John McLaren
Der Hellseher
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Calum Buchanan ist ein wahrer Pechvogel. Kein Erfolg i...
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John McLaren
Der Hellseher
scanned by ab corrected by moongirl
Calum Buchanan ist ein wahrer Pechvogel. Kein Erfolg im Beruf, kein Glück im Lotto, und nun hat ihn auch noch seine Frau Marianna verlassen. Aber dann entdeckt er, daß er über telepathische Fähigkeiten verfügt. Seine Karriere an der Börse hebt raketenartig ab, er knackt zweimal den Jackpot und ist auf einmal ein reicher Mann. Doch nicht nur Marianna interessiert sich jetzt plötzlich für ihn – auch die Unterwelt und verschiedene Geheimdienste möchten sein Talent für ihre Zwecke nutzen. ISBN 3-453-16089-4 Originalausgabe 7th Sense Aus dem Englischen von Ulrich Hoffmann 2000 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG Umschlagillustration: IFA-Bilderteam/International Stock Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Das Buch Calum Buchanan ist ein Looser. Der Amerikaner schottischer Herkunft hat weder in seinem Beruf als Börsenmakler noch in der Liebe Erfolg. Als ihn seine Frau Marianna, die er anbetet, verläßt, stürzt er in eine tiefe Krise. Nun hat er nur noch eines im Kopf: er will möglichst viel Geld machen, um Marianna, die den weltlichen Dingen sehr zugetan ist, zurückzugewinnen. Dafür reist er zunächst nach Schottland zu seiner Tante Morag, die Calum von ihren hellseherischen und telepathischen Fähigkeiten erzählt. Calum hofft natürlich, daß er die Gabe geerbt hat. Tatsächlich erweist er sich als begabt, und Morag weist ihn in ihre Kunst ein. Calum plant, mit Hilfe seiner neuentdeckten Fähigkeiten den Jackpot zu knacken. Doch bald muß er feststellen, daß ein Hellseher gefährlich lebt. Zu viele Leute wollen sein Können für ihre Zwecke nutzen …
Der Autor John McLaren war neun Jahre Diplomat und ist heute ein Direktor der Handelsbank Deutsche Morgan Grenfell in London. Auch sein erster Roman ›Das ComputerKomplott‹ ist bei Heyne erschienen. John McLaren lebt in London.
Für meine doch immer wieder erstaunlichen Eltern
Prolog Nummer zwölf. Er schaute weg vom Fernseher und runter auf seinen Notizzettel, was völlig unnötig war. Ja! Sein Puls wurde ein wenig schneller. Zweiundvierzig. Wieder derselbe unkontrollierbare Reflex. Ja, verdammt … O bitte, bitte, laß den nächsten kleinen gelben Ball die Sechzehn sein … Wie lange er brauchte, um an seinen Platz zu hopsen. SECHZEHN, großer Gott! Bumm, bumm, bumm. Er hatte das Gefühl, als würde sein Herz ihm gleich aus der Brust springen. Als nächstes war die Neun dran. Bei der war er am sichersten – im Geist beschäftigte er sich schon mit der Fünf. NEUN! Da war sie, die kleine Schönheit. Und jetzt kam der Augenblick der Wahrheit. Die Fünf war am verschwommensten, am unschärfsten, bei der war er nicht ganz sicher. Er war bislang nicht religiös gewesen, aber plötzlich war er reif zum Konvertieren. O Gott, wenn du ein Zeichen senden willst, dann laß es bitte die Nummer dreiundzwanzig sein. Neun Wochen hatte er es versucht, und nie hatte er mehr als drei aus sechs gehabt. Er war sicher, daß die sechste und die Zusatzzahl richtig kommen würden, wenn die Dreiundzwanzig gezogen wurde. Die Spannung tat weh. Schließlich die fünfte Zahl … YEAHÜÜ! O nein, nein, NEIN! Die hüpfende Kugel hatte ihn getäuscht. Die gottverdammte Siebenundzwanzig. Und jetzt kam auch schon die sechste, ebenfalls total falsch. Er konnte es einfach nicht glauben. All die Hoffnung, die Spannung, die steigende Erregung dahin. Dabei war er so zuversichtlich gewesen. Er hatte schon geplant, was er als nächstes tun würde, alles war bereit. 5
Und jetzt … nichts. Scheiße. Er stand auf, trat den Stuhl beiseite, griff sich mit beiden Händen in sein zerzaustes braunes Haar und zog laut schreiend daran. Es reichte nicht, um seine Frustexplosion auszuleben, also sprang er zur Seite und schlug seinen Kopf mit aller Kraft gegen die Wand; das tat weh, und schließlich ließ er sich elend zurück aufs Sofa fallen. Der Adrenalinstoß ließ nach, die Müdigkeit hing schwer in seinen Gliedern, die deprimierende Wirklichkeit bekam ihn erneut in den Griff. Schon wieder ein einsamer, leerer Sonntag, den er durchhalten mußte … und am Montag würde er wieder in die gottverfluchte Bank zurücktrotten, die voll war von diesen widerwärtigen englischen Clowns. Dann eine ganze Woche warten, bis er wieder eine Chance bekam. Der Jackpot beim Mittwochslotto war zu gering, um ihm etwas zu nützen, und bis Mittwoch hatte er auch noch nicht genug Energie gesammelt, um die ganze Prozedur erneut durchzuziehen.
6
1 »Hi, Calum. Schönes Wochenende?« »Soso.« »Warst du weg?« »Bei dem Wetter? Machst du Witze?« Kein Fahrstuhlgespräch, das nach drei Stockwerken nicht zu Ende wäre. Dann steht man stumm mit starrem Grinsen da, bis der erste aussteigt und sagt: »Also dann …« Normalerweise ignorierte Calum seine vertikalen Mitreisenden, aber zu den Sekretärinnen konnte er nicht unhöflich sein. Sie waren die einzigen, die überhaupt jemals nett zu ihm gewesen waren, seit er hier aufgetaucht war. Im Zwölften stieg Marjorie aus und sagte: »Also dann …« Calum drückte ungeduldig den ›Tür schließen‹Knopf, obwohl ihm absolut klar war, daß das den kapriziösen Takt des Fahrstuhls nicht im geringsten beeinflussen würde. Er fuhr an einem weiteren Stockwerk vorbei und ließ sich im Vierzehnten ausspucken. Als er rüber zu seinem Tisch ging, konnte er immer noch spüren, daß man sich den Kopf zerbrach, warum er sich am Freitag so verhalten hatte. Niemand in der City räumte seinen Schreibtisch auf oder aus, es sei denn, er war gefeuert oder wollte kündigen. Das gesamte Team fand sein Timing eigenartig. Heute war Bonus-Day, um Himmels willen. Calum war doch sicher nicht dumm genug zu glauben, daß so eine Nummer Bossman dazu bringen würde, seinen Bonus zu erhöhen. Aber was sonst sollte dahinterstecken? War vorstellbar, daß er von einer anderen Bank ein besseres Angebot bekommen hatte und daß ihm also wirklich alles egal war? 7
Sie waren höllisch neugierig. Am Freitag hatte er sich wie immer verabschiedet und war nach Hause geschlurft, und wie immer waren die anderen – Adam, Mike, Catherine, Doug und Borzo – rüber ins Corney & Barrow marschiert und hatten sich die ersten beiden Flaschen Haus-Champagner genehmigt. An jenem Abend hatten sie nur über Calum geredet. Anti-Calum-Sessions gehörten zu ihrem Lieblingszeitvertreib. Als er vor ein paar Monaten zu ihnen stieß, war es ihnen ganz normal erschienen, ihm Steine in den Weg zu legen, wie man das mit Neuen nun mal so machte. Sie betrachteten sich als die Platzhirsch-Gang und ihn als Eintrittswilligen. Daß er aus dem Ausland kam, machte es ihnen einfacher, aber es wäre genauso gelaufen, wenn er Engländer mit besonders peinlichem Akzent gewesen wäre. Die Aufgabe des Neulings bestand darin, für harmlose Unterhaltung zu sorgen, während man herausbekam, ob er schwimmen konnte oder unterging. Wenn er schwamm, wurde er einer von ihnen. Wenn er unterging, mußte er verschwinden – oder wurde zur peinlichen Pointe all ihrer Insider-Jokes. Sie dachten nicht im geringsten darüber nach, wie gemein sie pausenlos zu ihm waren, und als Calum anfing zurückzubeißen, hatte er bei ihnen endgültig verschissen. Den ganzen Montagmorgen versuchten sie, ihm sein Geheimnis aus dem Kreuz zu leiern, und ihre Bemerkungen wurden immer schärfer, je erfolgloser sie waren. Für Calum schleppte sich der Tag noch elender dahin als andere. Er hatte sich noch nicht von der Erschöpfung durch den Lotto-Versuch erholt, und seine Kopfschmerzen wären sogar für eine Kuh tödlich gewesen. Natürlich konnte man an einem so ruhigen Tag auch kaum an Arbeit denken. Der Handel mit 8
Eigentümerverschreibungen lebt von Volatilität, und die Märkte zeigten sich schrecklich lahm. Bis in den Nachmittag hinein glotzte er mit leerem Blick auf die Bildschirme, kritzelte vor sich hin und versuchte, die bösen Bemerkungen einfach zu ignorieren. Er war höchst erleichtert, als Bossman sie einen nach dem anderen in seine Glaskiste rief, um ihnen ihre Bonusse mitzuteilen. Calum schaute sie an, als sie herauskamen. Doug grinste, Adams Gesicht glich einer Gewitterwolke; Borzo war erleichtert, Cathy den Tränen nahe. Außerhalb des Handels-Teams war es immer dieselbe Geschichte, kein Gesamtmuster von Freude oder Schmerz. Die mit den Festgehältern, die ein echt gutes Jahr hingelegt hatten, schienen etwas enttäuscht, wohingegen die mit Erfolgsbeteiligung aussahen, als wären sie besser weggekommen als erwartet. Insgesamt war der Level aber in Ordnung; die schwächsten Performer brachten es immer noch auf sechs Stellen, und die Besten hatten die Million hinter sich gelassen. Für Calum war das ein gutes Zeichen. Wenn er im Lotto gewonnen hätte, wäre es egal gewesen. Jetzt aber brauchte er den Bonus unbedingt, und er klammerte sich an die Hoffnung, daß Bossman ihn trotz des Hasses, den er ihm immer spüren ließ, fair behandeln würde. In Wahrheit verstand er nicht das Geringste von Eigentümerverschreibungen, aber in den paar Monaten, die er hier gewesen war, hatte seine Geheimmethode der Bank mehr Geld eingebracht als irgendein anderer im ganzen Jahr hergescheffelt hatte. Das sollte ihnen doch wenigstens vier- oder fünfhunderttausend wert sein. Selbst die Hälfte davon wäre ein Anfang. Er trank den fünfzehnten Kaffee des Tages. Die Warterei machte ihn nervös. Schließlich, kurz nach fünf, war er dran. 9
»Setzen Sie sich, Calum. Wollen wir gleich zur Sache kommen?« Bossman raschelte mit irgendwelchen Papieren; offensichtlich machte es ihm Spaß, Calum noch ein paar Sekunden länger auf die Folter zu spannen. Er liebte Bonus-Days noch mehr als die Tage, an denen er Leute rausschmiß. Jemand zu feuern war die hohe Kunst, und man konnte es in die Länge ziehen; man konnte wie eine Katze mit einer Maus spielen, man konnte in aller Ausführlichkeit das Versagen des Opfers analysieren, man konnte das zarte Rämmchen der Hoffnung schüren, daß es doch noch gut ausginge – und dann konnte man ihnen ganz plötzlich die Köpfe abhacken. Das Problem bestand darin, daß man nur Nieten feuern konnte. Das wunderbare am Bonus-Day dagegen war das kurzfristige Machtgefühl, das ihn im Hinblick auf alle diese Arschlöcher überkam. Bossman hatte sich Calum als kleine Freude bis zuletzt aufgehoben. Er haßte jeden Zug an diesem Amerikaner, zumal er gezwungen worden war, ihn einzustellen, und insofern noch nicht mal gelobt wurde, wenn der Junge sich wacker schlug. Er wollte, daß Calum versagte, um einen Grund zu haben, ihn zu feuern. In der Zwischenzeit aber mußte er sich mit zarten Quälereien zufriedengeben. Mit neunundzwanzig Jahren war Calum Buchanan so alt wie die anderen, aber er hatte etwas Naives an sich, und Bossmans Laserinstinkt ortete mangelhaftes Selbstbewußtsein unter der aufgesetzten Lockerheit. Bossman war stolz auf seine Fähigkeit, kleine Fehler in der Oberfläche einer Persönlichkeit aufzufinden und darunter fundamentale Charakterschwächen auszumachen. Jetzt freute er sich darauf, herauszubekommen, was passieren würde, wenn er Calums grandiose Erwartungen einfach mit den Füßen zertrat. Mit ein wenig Glück stürmte der Junge vor lauter Wut einfach raus aus der Bank, und er war ihn los. 10
»Also, schauen wir mal. Es sind fünfzehntausend. Wie finden Sie das?« Es war nicht ganz einfach, ernst zu bleiben, so wie Calum schluckte. Was hatte er denn erwartet, was hatte er denn beruflich vorzuweisen? Einen Job bei irgendwelchen Brokern in Los Angeles, von denen man kaum je gehört hatte, und anschließend eine wenig zufriedenstellende und noch dazu ungeklärte Lücke nach diesem Job. Irgendwie hatte Calum einen wichtigen alten Klienten überredet, den Geschäftsführer der Bank zu bewegen, ihn an Bord zu holen. Bossman bezweifelte, daß der Kerl sonst überhaupt einen Job in der City gefunden hätte. Er sah zu, wie Calum versuchte, sich zu beruhigen. Es wäre schrecklich enttäuschend, wenn er einfach ohne ein Wort davonschlurfen würde. Er mußte ihn doch zu irgendeiner Reaktion provozieren … »Ich habe gefragt, wie finden Sie fünfzehntausend? Ich möchte wissen, was Sie davon halten.« »Kein Kommentar.« »Was soll das heißen, Calum? Ich hatte gehofft, Sie würden sich freuen.« »Ich habe Geld für Sie verdient, das wissen Sie. Aber wenn Sie glauben, fünfzehn sei mein Marktwert, was soll ich dazu sagen?« »Wenn Sie mal ein wenig darüber nachdenken, dann haben Sie eigentlich gar keinen Marktwert, nicht wahr, Calum? Welche andere Bank würde sich denn die Mühe machen, Ihnen eine Arbeitserlaubnis zu verschaffen?« »Oh, das ist es also.« »Kommen Sie, Ihnen ist doch klar, daß keine Bank auch nur einen Penny mehr zahlt als nötig, und in Ihrem Fall ist es eben nicht nötig. Sie haben Glück, überhaupt einen 11
Bonus zu bekommen. Trotzdem möchte ich keine Überraschungen erleben, wenn Sie das Geld aufs Konto kriegen. Also – kann ich davon ausgehen, daß das okay für Sie ist …? Kommen Sie, Calum, ich hatte einen langen Tag, machen Sie jetzt keinen Mist.« Calum kochte vor Wut über diese Ungerechtigkeit. Von so etwas war nicht die Rede gewesen, als sie ihn genommen hatten. Das Blut brodelte in seinen Adern. Er hatte sich vorgenommen, cool zu bleiben, wie die Summe auch ausfiele. Aber jetzt, wo ihm klar wurde, wie grandios sie ihn verarschten, war er trotzdem wütend. »Wenn ich mich je entscheide, zu kündigen, verspreche ich Ihnen, daß Sie der erste sind, der es erfährt.« »Hat das mit Ihrem Schreibtisch zu tun? Sie haben ihn am Freitag ausgeräumt. Was sollte das denn?« »Ich bin einfach nur ein ordentlicher Typ.« »Ist mir noch nie aufgefallen. Kann ich ehrlich mit Ihnen sein?« »Aber sicher. Ich fand Sie sowieso schon immer ganz erfrischend ehrlich.« Bossmans Augenbrauen schossen nach oben. Dieses Sackgesicht. Das würde er ihm heimzahlen. »Ehrlich gesagt, Calum, Sie sind ein wenig eigenartig. Und Sie geben sich keine Mühe, Teil des Teams zu werden …« »Wie undankbar von mir, nachdem man mich so herzlich willkommen geheißen hat.« »Ihre Kollegen verhielten sich ganz normal. Schließlich waren sie zuerst da. Es ist ihr Territorium. Die haben Sie nicht ausgesucht.« »Und Sie auch nicht.« Wunderbar, er hatte den Köder geschluckt, er wurde wütend. Jetzt konnte er ihn vorführen. 12
»Ja, das stimmt. Ich war dagegen, und vielleicht hatte ich recht. Es war die Idee des Geschäftsführers, und der ist mein Boß, also habe ich mein bestes gegeben, daß es funktioniert. Was mehr ist, als man Ihnen zuschreiben kann. Sie haben sich nicht die geringste Mühe gegeben, sich anzupassen. Natürlich muß ich auch auf das Teamwork Rücksicht nehmen, wenn ich die Bonuszahlungen kalkuliere, und das findet dann seinen entsprechenden Ausdruck – aber das ist nicht das Wichtigste.« »Und was ist dann das gottverdammt Wichtigste?« Jetzt klang er wunderbar sauer. »Ich kann nicht nachvollziehen, wie Sie Ihre Kauf- und Verkaufsentscheidungen treffen. Es ist, als agierten Sie blind, ohne jede solide Basis.« »Dann feuern Sie mich doch.« »Nichts würde mir größeres Vergnügen bereiten wenn Sie kein Geld machen würden. Aber das tun Sie, obwohl ich nicht weiß, warum und wieso. Selbst an schwierigen Tagen treffen Sie ein paar gute Entscheidungen, obwohl das immer nur Vermutungen zu sein scheinen. Kurzfristige Handelsvermutungen. Klappt prima an Tagen, wenn sich der Markt abrupt bewegt, ist aber ansonsten nutzlos. Sie machen nichts Langfristiges, nichts, was Sie erklären könnten. Den Großteil des Tages sitzen Sie nur rum und traden eigentlich erst, wenn die Märkte in London schon fast geschlossen haben.« »Ich arbeite nun mal lieber mit New York. Finden Sie das problematisch?« »Nicht unbedingt ...« Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, ihn sich winden zu lassen. 13
»… aber ich habe ein Problem mit Ihren kleinen Spielchen. Oh, ich weiß, ich weiß, unterschätzen Sie mich nicht. Sie machen keinen Deal, ohne vorher in den Konferenzraum zu gehen und aus dem Fenster zu schauen, nicht wahr? Was treiben Sie da drin, hm? Brauchen Sie einen kleinen Fix, um genug Mumm zu haben, oder was?« »Ich denke eben gern nach, daß ist alles. Ich überprüfe meine Handelsinstinkte in aller Ruhe.« »Diesen Gefühlskrempel kaufe ich Ihnen nicht ab. Calum, solange Sie mir nicht erklären, wie Sie Ihre TradeEntscheidungen treffen, können Sie nicht erwarten, an irgendwelchen Profiten teilzuhaben. Es geht hier um ein Kommunikations-Problem. Ehrlich gesagt weiß ich wirklich nicht, ob Sie gut sind oder einfach nur Glück haben …« Calum starrte ihn schweigend an. Plötzlich amüsierte sich Bossman viel weniger. Der Idiot schien von der Drogenandeutung nicht ganz so beeindruckt zu sein, wie er erwartet hatte. Er saß einfach bloß da, was langsam richtig ärgerlich war. »Und, wollen Sie einfach bloß dasitzen? Ich versuche hier, ein Gespräch mit Ihnen zu führen.« »Ach, das ist ein Gespräch? Ich dachte, das wäre so eine Art englischer Paarungstanz.« Jetzt wurde Bossman wütend. Sein Gesicht rötete sich ein wenig, seine Hände krampften sich um den Bleistift, den er hielt, und seine Stimme wurde härter. »Okay, Calum, wie’s Ihnen beliebt. Ich habe wirklich alles versucht, Ihnen zu helfen, aber wenn Sie nicht wollen, dann wollen Sie eben nicht. Manchmal frage ich mich, was zum Teufel Sie eigentlich in London treiben.« »Ich mag London. Ich mag bloß einige der Leute nicht, die hier leben, das ist alles.« 14
»Sie sind echt ein Klugscheißer, was? Na denn, raus mit Ihnen. Und sagen Sie nicht, ich hätte es nicht versucht… Ach, und noch ein letzter Rat. Am Bonus-Day betrinkt sich das ganze Team gemeinsam. Die Glücklichen zahlen, die Unglücklichen weinen in ihr Bier. Ich gehe selbst auch hin. Warum nicht einmal gesellig sein und einen neuen Anfang machen?« »Würde ich gern, aber ich hab’ heute abend schon was vor.« »Überraschung! Was haben Sie denn vor?« »Was privates.« »Oh, erzählen Sie es mir, Calum, ich möchte wirklich gern wissen, was so gottverdammt wichtig ist, daß Sie das Besäufnis Ihres Teams dafür verpassen.« »Wenn Sie es wirklich wissen wollen – ich geh’ zur Abendschule.« »Ach ja? Und in welchem Fach?« »Moderne Sprachen. Sprachen jedenfalls.« »Wirklich? Welche denn?« »Cockney-Englisch.« »Raus hier, Sie arroganter Ami-Arsch!« Nachdem Calum sich beruhigt hatte, gab er doch nach und kam auf ein Bier mit. Er beantwortete Dougs Frage nach seinem Bonus und nahm das Gelächter darüber gutwillig hin. Der Abend war erträglich, bis Borzo sich eine eiskalte Champagnerflasche holte und ihn damit vollspritzte. Dadurch hatte er eine plausible Entschuldigung, zu gehen, bevor Bossman auftauchte. Einsam und allein marschierte er zur Bahnstation. Die Rolltreppe war wieder kaputt, und er mußte fünfzehn Minuten auf den nächsten Zug der Central Line warten. Na toll. Wie kamen die Londoner 15
eigentlich darauf, zu behaupten, sie wohnten in der tollsten Stadt der Welt, bei so einer Infrastruktur? Was hatte man von all den Musicals, Konzerten und Theateraufführungen, wenn niemand pünktlich dort sein konnte? Die Zeit verging, und er wurde immer wütender und wütender, bis er nicht mehr wütender werden konnte und sich entspannte. In Wahrheit haßte er sich dafür, so wenig von London zu profitieren. Aber das Leben in der Großstadt war nach sechs Monaten extremer Ruhe ganz schön anstrengend, und im Oktober, zu Beginn des halbjährigen Winters, in London anzukommen, war auch nicht gerade angenehm gewesen. Einen Job anzunehmen, den er haßte, hatte es noch schlimmer gemacht. Aber was war ihm anderes übrig geblieben? Wenn er nicht bald richtig Kohle machte, würde er Marianna nie zurückkriegen, und wo in London konnte man schneller Megadollars verdienen, wenn nicht in der City? Allerdings – so wie man ihn heute behandelt hatte, wurde selbst das zu einem Witz. Als der Zug einfuhr, dachte er darüber nach, daß er tatsächlich seinen Teil dazu beigetragen hatte, wie es in der Bank lief. Er war ohne Freunde in der Stadt angekommen und hatte naiverweise erwartet, daß seine neuen Kollegen ihm eine Fülle von Sozialkontakten anbieten würden. Von der feindseligen Reaktion des Teams auf seine Ankunft war er total überrascht worden. Wochenlang hatte er sorgfältig seine Verzweiflung verborgen, wieder in der Finanzwelt arbeiten zu müssen, er hatte über ihre bösen Witze gelacht, hatte gegrinst, wenn sie seinen Akzent nachahmten, und hatte ihre gnadenlose, endlose Flut häßlicher Hänseleien geduldig heruntergeschluckt. Er wollte unbedingt akzeptiert werden, und ihre konstante Ablehnung verletzte ihn mehr, als sie ahnen konnten. Sie machten ihn fertig, und bald 16
zeigte er Stück um Stück sein wahres Gesicht und bekämpfte Feuer mit Feuer. Aber das machte alles nur noch schlimmer. Sich ein Sozialleben abseits der Bank aufzubauen war nicht einfach gewesen. Kurz nachdem er eingezogen war, hatte ihn das Mädchen in der Wohnung über ihm zu einer Party eingeladen. Ihre männlichen Freunde erwiesen sich als schrecklich langweilig, und noch dazu schauten diese kinnlosen Wunderknaben auf ihn herab. Worin sie sehr geübt schienen. Außerdem waren sie großkotzig genug, ihn mittels ihres exquisiten englischen Understatements wissen zu lassen, wie unglaublich erfolgreich sie alle waren. Calum fragte sich, ob er mit den Frauen besser klarkommen würde, ob er vielleicht sogar einen Vorteil daraus ziehen könnte, aus den Staaten zu sein. Aber sie waren nicht interessiert. Kaum hatte er es erwähnt, entdeckten sie einen langen nicht gesehenen Pierre, Toby oder Jason und ließen sich quietschend umarmen und auf die Wangen küssen. Er stand in einer Ecke, trank für sich allein ein Glas Wein und machte sich schließlich aus dem Staub. Nach kurzer Zeit versuchte er es gar nicht mehr mit den Briten und zog sich zu den Euros zurück, die man in den meisten Bars und Clubs traf. Die waren offen und freundlich und freuten sich immer, sich zum Brunch oder auf einen Drink zu treffen und darüber zu reden, daß auch sie in England nicht akzeptiert wurden. Calum war ein guter Zuhörer und lauschte ihrem Jammern geduldig. Wenn er sich dann jedoch auf das dünnere Eis seiner Scheidung von Marianna begab, und davon erzählte, wie unglaublich er sie vermißte, lächelten sie ihn starr an und gähnten verstohlen. Also gab er auch das auf und verbrachte den Großteil seiner Abende und Wochenenden in jenem langen, kalten Winter im Kino und im 17
Fitneßcenter. Er war so einsam, daß er manchmal sogar eines seiner Elternteile anrief, wobei er dann schnell im Alkoholdunst seiner Mum zu ersticken drohte oder sich über die Ich-hab’s-ja-gleich-gesagt-Bemerkungen seines Dads ärgerte. Manchmal stand er am Rande eines Zusammenbruchs und glaubte, das ganze verzweifelte Projekt abbrechen zu müssen. Wann immer er an diesen Punkt kam, starrte er stundenlang Mariannas Foto an, um sich zu vergegenwärtigen, wieviel schlimmer er sich noch fühlen würde, wenn er die Hoffnung aufgab, wieder mit ihr vereint zu sein – mit ihr, dem einzigen Außergewöhnlichen, das je in sein Leben getreten war. Schließlich erreichte der schlitternde, vibrierende, rasende Zug Notting Hill, und er machte sich auf die Suche nach einer Tiefkühlpizza. Er wollte noch arbeiten heute nacht, wie jede Nacht in dieser Woche, und er hatte keine Zeit mit etwas zu vertrödeln, was in der Mikrowelle sowieso nicht gar wurde. In seiner kleinen Souterrainwohnung machte er die Pizza nicht warm genug, aß sie noch halb gefroren und spülte sie mit einem Bier hinunter. Dann wickelte er sich in zwei Sweater und eine Windjacke, kickte die schief in den Angeln hängende Tür zu dem kleinen Betonviereck hinter dem Haus auf und trug den Holzstuhl raus. Die nächsten zwei Stunden saß er halb erfroren und reglos da und starrte himmelwärts, während die Wolken vorbeihasteten. Manchmal summte er ein altes Volkslied von den Hebriden. Als er schließlich steifgefroren und zitternd aufstand und sich aufwärmen ging, dachte er nur an den wechselnden Mond und seine verzweifelte Hoffnung, daß der Himmel am kommenden Samstag wieder klar sein würde. Er zog sich aus, putzte sich an dem gesprungenen alten Becken die Zähne und taumelte ins Schlafzimmer; halbherzig versuchte er noch, 18
die Laken geradezuziehen, bevor er ins Bett stürzte. Auf dem Nachttisch stand in einem Holzrahmen das Foto einer faszinierend schönen, jungen Blondine am Strand. Er schaute es stolz eine volle Minute an, bevor er das Licht löschte. Den Rest der Woche gingen sie nicht übler mit Calum um als sonst. Eigentlich sogar freundlicher. Vielleicht hatte sich das eine Bier doch ausgezahlt. Entweder das, oder es hatte geholfen, daß sie alle soviel besser als er behandelt worden waren. Cathy und Adam verbrachten halbe Tage damit, ins Telefon zu flüstern und irgendwas bei irgendwelchen Headhuntern anzuleiern oder sich bei ihren Freunden bei anderen Banken schlauzufragen. Für keinen von beiden würde es so einfach werden. Mehrere große Banken hatten dichtgemacht, und Eigentümerverschreibungen waren sowieso nicht gerade in. Jeder, der auch nur ein bißchen Bescheid wußte, würde auch von allein daraufkommen, daß sie nicht gerade erstklassig waren. Natürlich würden sie ohne Probleme einen neuen Job kriegen, wenn sie sich bereit erklärten, ins Ausland zu gehen. Ausland hieß alles außer britisch oder amerikanisch. Was nicht den Ort betraf, sondern das Management. Fast alle britischen und mehrere amerikanische Handelsbanken gehörten mittlerweile den Schweizern, den Deutschen oder den Holländern. Die zählten nicht als Ausland, und der Einfluß ihrer Eigentümer war begrenzt. Sie konnten schließlich nicht fünftausend Briten und Amerikaner feuern, weil sie nie im Leben fünftausend gerissene Holländer, Schweizer oder Deutsche finden würden, um sie zu ersetzen. Manchmal reagierten sie auf schreckliche Verluste oder unsägliche Fehler, indem sie ein oder zwei ángelsächsische Köpfe rollen ließen, aber dann schauten sie sich auf dem Markt um und zahlten einem anderen 19
Angelsachsen sogar noch mehr, um die Sache wieder ins Lot zu bringen. Die richtigen Auslandsbanken waren anders und wurden vor allem mit Versagern besetzt, die wie alternde Profi-Footballer alle paar Jahre die Leiter ein wenig weiter runterrutschten, bis sie am Boden der Liga landeten und schließlich verschwanden. Alles hing davon ab, ob Adam und Cathy zu diesem Abstieg schon bereit waren. Am Freitag war es schon wieder wie zuvor. Doug gab sich besonders hochnäsig, nervte aber so sehr, daß selbst er es bemerkte. Borzos Erleichterung hatte sich in einen milden Dämmerzustand gewandelt. Adam und Cathy mußten irgend etwas angeleiert oder aufgegeben haben. Mike, der genauso behandelt worden war, wie er selbst sich sah, hatte geduldig darauf gewartet, daß der Rest des Teams wieder zu sich kam, um den amerikanischen Störenfried vorzuführen. »Hey, Cath, hast du gehört, wofür der Yankee Doodle seinen Bonus ausgegeben hat?« »Ne, was denn, Mikey?« »Ein Bacon-Sandwich und ein Bier.« »Echt! Meinst du, daß er sich mit seinem Bonus ein ganzes Bier leisten konnte? Aber man muß ihm schon zugestehen, seine Aufräumerei hat’s gebracht, oder, Dougie?« »Zweifellos, der Typ ist gerissen. Dummerweise ist der Schreibtisch jetzt viel zu aufgeräumt, um es noch mal zu versuchen. Warum hilfst du ihm nicht, Borzo?« Borzo sprang auf und kippte seinen überquellenden Papierkorb auf Calums Tisch aus. Dann war Mike an der Reihe.
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»Hey, Furzfresse, wenn’s dir hier sowieso nicht paßt, wieso verpißt du dich nicht wieder nach Amerika?« »Nett, daß du fragst, Mike. Dummerweise kann ich nicht gehen, bis ich die Prüfungsarbeiten für meinen Masterabschluß fertig habe.« »Oh, ein Master, ja? Was für ein kluges Kerlchen! Worüber schreibst du denn, Kaugummi?« »Primaten und Eigentümerverschreibungen.« »Oh-ho, wie toll. Das findest du witzig, was?« Calum versuchte, das Gespräch zu beenden, indem er den Telefonhörer abnahm. Das hinderte Adam aber nicht daran, ihm eine Dose Coke über das Jackett zu gießen. Er entschied sich, es später sauber zu wischen; wahrscheinlich war es sowieso im Arsch. Großer Gott, was für Saftsäcke! In anderen Banken wurde der Handel mit Eigentümerverschreibungen von Menschen erledigt, die manchmal sogar Verstand hatten. Aber ihm war natürlich das Glück zugefallen, mit diesem Neandertal-Quintett zu arbeiten! Er betete, daß seine Methode morgen funktionieren, daß er im Lotto gewinnen und daß er keinen von ihnen je wiedersehen würde. Es wurde Samstag morgen. Er ging einen Cappucino trinken und blätterte in den Zeitungen; das einzige, was ihn interessierte, war die Wettervorhersage. Gemischt, aber nicht schlecht. Tagsüber bedeckt und möglicherweise Regen, am Abend verzogen sich die Wolken. Gar nicht übel für Anfang März. Er wollte noch nicht mit den Vorbereitungen beginnen, also bummelte er eine halbe Stunde durch die Schrottläden in der Portobello Road. Dann aber blieb ihm nichts anderes übrig, als zurück in seine Wohnung zu gehen und anzufangen, zu meditieren. Er setzte sich im Schneidersitz 21
auf sein Bett und schloß die Augen. Anderthalb Stunden vergingen, bevor sich etwas in ihm rührte. Ihm war schattenhaft bewußt, daß es länger dauerte als letzte Woche, aber er hatte keine Ahnung, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Gegen eins und gegen vier machte er kurze Pausen. Als er sich auf seine letzte Session vorbereitete, sorgte er sich so sehr im Hinblick auf die Tiefe seines Trance-Zustandes, daß er seinen Wecker auf sieben stellte. Jetzt konnte er die Energie in sich wachsen spüren. Er mußte darauf achten, nicht vorzeitig an Lottozahlen zu denken. In den vergangenen Wochen hatte das seine Konzentration gestört und ihn im wichtigsten Augenblick verwirrt. Drei Minuten vor sieben öffnete er seine Augen und stellte den Wecker ab. Er stand vom Bett auf und ging rüber zu dem Stuhl, auf den er sorgfältig seinen Mantel, seine Geldbörse, einen Stift, Fundstücke und die Hausschlüssel gelegt hatte. Unter dem Stuhl standen nur seine Slipper, ordnungsgemäß parallel. Er zog den Mantel an, steckte die anderen Sachen ein und verließ die Wohnung über die wackeligen Holzstufen Richtung Straße. Innerlich war er ruhig, aber er fühlte die Spannung in sich, als er den Himmel musterte. Viele Wolken, doch im Westen sah es besser aus. Er mußte an einer langen Zeile Reihenhäuser vorbeigehen, bevor er ihn sehen konnte. Und da war er. Ein großer, gelber, fetter Mond. Es dauerte acht Minuten bis zum Zeitungsladen. Er ging auf die andere Straßenseite und schloß die Augen, um die Kraft zu sammeln, dann öffnete er sie wieder und starrte mit brutaler Intensität den Mond an. Drei, vier, fünf Minuten vergingen. Ein paar Teenager marschierten an ihm vorbei, sie brüllten ihm irgend etwas zu. Calum hörte sie nicht. Sechs, sieben Minuten. Jetzt war es 22
sechsundzwanzig Minuten nach sieben, verdammt nah am Zeitlimit. Die Menschenschlange, die vor zehn Minuten noch dagewesen war, hatte sich aufgelöst. Niemand wollte so knapp abgeben, der letzte zahlte gerade. Aber er war nicht in Eile. Er ging gelassen über die Straße und in den Laden hinein. Ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, daß noch zwei Minuten blieben. Er nahm drei Scheine, kreuzte überall die gleichen Zahlen an und reichte sie zusammen mit dem Geld dem indischen Ladenbesitzer. Um sieben Uhr neunundzwanzig wurden sie abgestempelt. Sorgfältig steckte er die Quittung in seine Börse und ging. Jetzt hieß es eine Stunde warten. Er war weniger angespannt und erschöpft als sonst. Sein Appetit war zurückgekehrt, also stoppte er in einem Pub und bestellte sich einen Shepherd’s Pie und ein Bier. Während der letzten Wochen hatte er sich die Ziehung zu Hause angeschaut, aber in diesem Pub gab es einen Fernseher, und genug Leute redeten vom Lotto, um sicherzugehen, daß sie nicht umschalteten. Sein Puls beschleunigte sich, bevor die erste Kugel fiel, aber als er sah, daß es wirklich die einundzwanzig war, beruhigte er sich wieder. Diesmal war er sicher. Alle Zahlen waren mit überraschender Klarheit vor seinem geistigen Auge vorbeigezogen. Er zweifelte nicht daran. Sein Herz schlug kaum schneller, als seine Flotte, ein Schiff schön nach dem anderen, in den Hafen einfuhr.
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Rückblende: Im Frühling zuvor »Oh, hi. Wieso bist du noch auf?« »Ich hab’ auf dich gewartet.« »Das ist doch nicht nötig.« »Wo warst du, Marianna?« »Aus.« »Wo aus?« »Mit Freunden, wir haben ein paar neue Tanzschuppen am Hollywood Boulevard ausprobiert.« »Was für Freunde gehen denn an einem Montag abend bis halb drei aus?« »Fang doch nicht schon wieder damit an, Calum. Wenn du darüber reden willst, dann solltest du erst nüchtern sein. Wieviel Wodka hast du heute getrunken, hm?« »Du hast Nerven! Wer hat mich denn dazu gebracht?« »Du trinkst nur, weil du mit dem Leben nicht klarkommst.« »Mit dem Großteil des Lebens komme ich prima klar. Du bist das Problem.« »Es ist also alles meine gottverdammte Schuld, wie? Ist es meine Schuld, daß du es bei der Arbeit nicht bringst?« »Ich bringe es.« »Ach ja! Du nennst fünfzigtausend Bonus es zu etwas bringen? Hast du gehört, was andere Broker machen – so wie Charlie oder Mike? Charlie sagt, selbst ein 24
Schimpanse könnte in den Märkten richtig Geld verdienen. Klingt für mich, als wärst du noch nicht so weit, ganz zu schweigen davon, es zu bringen.« »Ich mach’ schon noch Geld dieses Jahr. Und jetzt rede dich nicht raus. Mit wem warst du weg?« »Cal, hast du jemals darüber nachgedacht, dein eigenes Leben zu leben, statt mir im Weg zu stehen? Du kannst es einfach nicht ertragen, daß ich mich weiterentwickle, meinen Horizont erweitere, während du einfach auf der Stelle trittst, was? Das ist bloß Eifersucht, und du kommst damit nicht klar.« »Ach ja? Wessen Freunde haben dir denn überhaupt den Job besorgt? Wie wärst du denn ohne meine Hilfe auch nur in die Nähe des Filmgeschäfts gekommen?« »Das hätte ich schon geschafft. Und du bist wirklich ein Heuchler. Ich bin erst einen Monat dabei, und du wünschst dir schon, du hättest es nicht getan. Oder …? Du versuchst so zu tun, als würdest du mich unterstützen, aber das stimmt gar nicht. Weißt du, Calum, wenn du so weitermachst, wirst du das letzte bißchen Respekt verlieren, das ich noch für dich habe. Du mußt lernen, dich zurückzuhalten.« »Verstehe. Meine Frau spricht kaum noch mit mir, bleibt jede Nacht ewig weg, höchstwahrscheinlich in Gesellschaft anderer Männer. Wenn ich den Mund halte, beachtet sie mich nicht, und wenn ich sage, daß mich das nicht glücklich macht, verliere ich ihren Respekt. So oder so verliere ich, was?« »Ist dir schon aufgefallen, wie oft du in der letzten Zeit in bezug auf dich das Wort ›verlieren‹ benutzt?« »Ist das denn so überraschend, wenn du dauernd darauf hinweist, daß ich ein Verlierer bin? Sag schon, Marianna, werde ich dich auch verlieren?« 25
»Ich muß morgen früh arbeiten. Wenn du um kurz vor drei über so was nachdenken willst, bitte. Ich gehe jetzt schlafen …« »Oder hab’ ich dich vielleicht schon verloren? Ist da jemand anders?« »Das ist typisch für dich. Du hast kein Vertrauen. Wenn du auch nur ein bißchen Selbstachtung hättest, dann würdest du solch lächerliche Fragen gar nicht stellen.« »Ist es Brett Marquardt?« »Ich muß wirklich nicht...« »Er ist’s, nicht wahr? Du hast den Abend mit diesem greisen Arschgesicht verbracht, oder?« »Woher nimmst du dir das Recht, jemanden wie Brett als Arschgesicht zu bezeichnen?« »Wie hat er dich gekauft, Marianna? Ein schöner großer, glitzernder Diamant? Ein Nerzmantel? Brett hat doch das Geld, das du so respektierst, nicht?« »Leck mich am Arsch.« »Komm, war’s denn nicht eklig, dieses faltige alte Fleisch anzufassen?« »Nein, es war... Ich schlafe im Gästezimmer.« Calums geistiger Recorder konnte jedes dieser Gespräche wiedergeben, so tief waren sie in sein Gedächtnis eingebrannt, von den ersten kleinen Streitigkeiten, bis zu den letzten bitteren Wortgefechten, die zwischen eisiger Zivilisiertheit und brutalen Wettschreiereien wechselten. Das, woran er gerade gedacht hatte, spielte er sich am häufigsten vor, weil er zum ersten Mal sicher gewesen war, daß sie tatsächlich eine Affäre hatte. Danach ging es nur noch bergab, unterbrochen von mühsamen Entschuldigungen Calums für seine Ausbrüche; er 26
umarmte ihren wunderbaren, unnachgiebigen Körper und bettelte eifrig um einen Neuanfang. Marianna verlor das Interesse an ihm, sie verlor ihre Geduld mit ihm und schimpfte nur noch: Versager, Versager, Versager. Er würde nie irgend etwas erreichen, nie Geld verdienen, nie von irgend jemandem wirklich respektiert werden. Am schlimmsten war, daß sie ihm sein Versagen im Bett vorwarf und endlose Zweifel daran weckte, ob es ihm je gelingen würde, eine Frau an sich zu fesseln. Er versuchte, ihre ständige Forderung nach einer schnellen mexikanischen Scheidung zu ignorieren und klammerte sich an die Hoffnung, daß er das Steuer noch irgendwie herumreißen könnte. Am 20. Januar dann riskierte er das schicksalhafte Spiel – er setzte jeden Cent, den er hatte, und viele, die er nicht hatte, auf eine wilde Options-Wette. Wenn der Markt sich in seine Richtung bewegt hätte, wäre er eine halbe Million reicher gewesen, was ihr Interesse bestimmt wenigstens für ein Weilchen wiedererweckt hätte. Aber der Markt tat ihm den Gefallen nicht, und er verlor zusammen mit seiner Wette auch seinen Job. Vier verwaschene Tage lang war Wodka sein einziger Begleiter. Sein Widerstand brach zusammen, und benommen begleitete er Marianna nach Guadalajara und unterschrieb. Auf der Hinfahrt war sie kühl und besorgt; sie fürchtete immer noch, daß er es sich anders überlegte. Auf der Rückfahrt machte sie sich keine Mühe mehr, ihre Freude zu verbergen. Es war das erste Lächeln, das er seit Monaten auf ihrem Gesicht sah. Calum saß taubstumm neben ihr, sein Herz hing in Fetzen in seinem Brustkorb, und er bewunderte immer wieder von der Seite ihre atemberaubende, unvergeßliche Schönheit. Sie gab ihm die Hand, riet ihm, es nicht persönlich zu nehmen, und
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sagte noch einmal, wenn er erfolgreicher gewesen wäre, hätte alles ganz anders kommen können. Als er dann in dem vollgestopften Flieger saß, hatte er die ganze Zeit Tränen in den Augen, wie schon so oft zuvor. Später mühte er sich mit aller Kraft, die Gedanken an sie zu verdrängen. Manchmal begrüßte er sie auch, die bittere Selbsterniedrigung war immer noch besser, als zu versuchen, über sie hinwegzukommen. Er wollte seine Freunde nicht sehen, die sich darin einig waren, daß sie ihn nie geliebt und ihn nur benutzt hatte und daß er froh sein sollte, sie los zu sein. Statt dessen spazierte er allein den Strand entlang oder saß stundenlang vor dem Telefon und zwang es, zu klingeln. Sie sollte dran sein. Nach einem Glas zuviel krabbelten seine Finger unkontrolliert zum Hörer: ihre harschen und immer kürzeren Antworten ließen ihn peinlich berührt darüber zurück, daß er überhaupt angerufen hatte. Der Schmerz wurde schlimmer und schlimmer, bis er ihn nicht mehr aushalten konnte. Jede Straße, jedes Café, jedes Restaurant schrie ihm Erinnerungen ihrer gemeinsamen Zeit entgegen. Wenn er nichts unternahm, wenn er LA nicht verließ, würde er unter diesem schwarzen Tuch nie mehr hervorkommen. Doch es gab nur einen Ort auf Erden, der ihn wie ein Magnet anzog, der Ort seiner Kinderträume. Er entschied sich, buchte den Flug und verschwand. Marianna aber war im Geiste immer bei ihm, auf der Taxifahrt zum Flughafen, auf dem langen transatlantischen Flug, und auf den langweiligen Aufenthalten in Heathrow und Glasgow. Schließlich war die anstrengende Reise fast vorbei, und er konnte Land sehen, niedrige grasbewachsene Hügel, die ihre Ausläufer wie verknorpelte alte Zehen in die bewegte See streckten. Es sah überhaupt nicht aus wie das schottische Lewis seiner Fantasie, wo immer eine kalte 28
Sonne schien. In Wirklichkeit war es erstaunlich naß. Der Regen trommelte gegen die Fenster, als die Turboprop schließlich schaukelnd niederging, hart auf die Landebahn knallte und schlingernd zum Stehen kam. Die dürre Stewardeß öffnete die Tür und wurde vom Wind fast von den Füßen gerissen. In dem lustigen kleinen Terminal gab es kein Kofferkarussel. Bevor er kapierte, wie es funktionierte, platzte eine Palette Koffer durch ein Loch in der Wand, und die Passagiere stellten sich in Reihe auf, um ihre vollgeregneten Gepäckstücke rauszusuchen. Eines der Schlösser an Calums Koffer hatte dem vollgepackten Inhalt nachgegeben, und das Ding grinste ihn nun an wie eine halboffene Auster; innen drin war alles klatschnaß. Egal, er würde sich von nichts die Magie verderben lassen, an diesem speziellen Ort angekommen zu sein. Der Mietwagen war wie gebucht vorhanden. Es war nicht das neueste Modell, und die Karosserie wirkte ein wenig rostzerfressen, aber das Ding hatte vier Räder und irgendeinen Motor. Calum hörte dem Mann kaum zu, der ihm erklärte, wie der Wagen funktionierte, so sehr überraschte ihn der Akzent. Bisher kannte er schottischen Akzent nur aus den Videos Braveheart und Highlander, und er vermutete bald, daß der Akzent immer irrer wurde, je weiter nördlich man sich begab. Wenn man sich also hier auf diesen Inseln aufhielt, klang es wie ein Wäschetrockner mit einem Katarrh. Die Stimme des Mannes war sanft, geschmeidig, beinahe weiblich. Nachdem Calum sich hatte bestätigen lassen, daß es in Ordnung wäre, den Wagen im Westen der Insel zurückzugeben, fuhr er los, und mit Hilfe von Kupplung und Schalthebel känguruhhopste er die Straße entlang. An Kreuzungen und Kreiseln links zu fahren war so, wie ein schwieriges Computerspiel zu spielen. 29
Ihm war durchaus bewußt, daß es Narretei war, so übermüdet Auto zu fahren, und es wäre definitiv vernünftiger gewesen, sich für eine Nacht in Stornoway einzumieten. Aber er entschied sich dagegen. Es würde noch ungefähr eine Stunde hell sein, und er wollte so sehr dort ankommen, in dem Dorf Sgurr nan Creag, dessen Name für ihn so wichtig gewesen war, seit sein Großvater ihn das erste Mal ausgesprochen hatte. Also fuhr er weiter durch die eigenartige, nackte Mondlandschaft und war sehr gespannt, wie es dort aussehen würde. Als er das Meer und das Dorf dann vor sich hatte, hielt er an und stieg aus. Selbst im Dämmerlicht wirkte die Landschaft dramatisch: einige schneebedeckte Berge schwangen sich hinab zum verblüffend weißen Strand einer halbmondförmigen Bucht. Obwohl er nie ein Foto davon gesehen hatte, war er irgendwie davon ausgegangen, daß es ihm beruhigend bekannt vorkäme. Aber dies hier sah fremd und unbekannt aus. Er zitterte. Teufel, war der Wind heftig. Besser, er fuhr ins Dorf und suchte sich etwas zum Schlafen, am besten ein billiges Bed & Breakfast-Quartier. Alles, was ihm geblieben war, waren die achthundert Pfund, die er in der Tasche hatte, und er konnte es sich nicht leisten, sie zu schnell zu verbrauchen. Aber was auch immer es kosten sollte, er war fest entschlossen, in diesem Dorf zu bleiben, seine Atmosphäre in seine Poren eindringen zu lassen – und so schnell wie möglich das Familienoberhaupt der Buchanans ausfindig zu machen. Langsam fuhr er durch die Straßen. Die Häuser waren klein und schmal, manche kuschelten sich aneinander, andere standen weit entfernt. Kein Anzeichen eines B & B oder eines Hotels. Ein eingemummeltes Wesen schwankte auf ihn zu, vornübergebeugt gegen den Wind. Calum
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fragte und bekam den Weg zu dem einzigen Hotel erklärt, dem Shobost, das ein wenig nördlich des Dorfes lag. Die ältere Dame, die auf das Klingeln der Glocke hin erschien, paßte zu der bescheiden spröden Atmosphäre des Hotels. Sie erklärte, wenig begeistert, daß das Frühstück im Preis eingeschlossen sei, andere Mahlzeiten jedoch nicht. Er war zu müde, um irgendwo anders hinzugehen, also bestellte er Abendessen. Sie holte ein uraltes Gästebuch heraus, in das er sich eintragen mußte, und dann überprüfte sie sorgfältig, ob sie seine Handschrift entziffern konnte. Bildete er sich das ein, oder atmete sie tatsächlich einmal tief durch, als sie seinen Eintrag las? So selten konnten amerikanische Touristen hier doch auch wieder nicht sein … Sie schlurfte vor ihm her und präsentierte ihm den strengen Charme von Zimmer 4 und dem Bad am gegenüberliegenden Ende des zugigen Flurs. Heißwasser war ebenfalls verhandelbar. Nachdem sie ganz eindeutig klargestellt hatte, daß die Gäste normalerweise morgens badeten, bekam er doch noch welches, allerdings durch Rohre, die zitterten und dröhnten, als wollten sie dagegen protestieren, noch einer weiteren Anforderung entsprechen zu müssen. Wenigstens war das Wasser wirklich warm, und Calum entspannte sich in dem ersten Komfort, seit er der kalifornischen Sonne Goodbye gesagt hatte. Er pfiff leise vor sich hin, während er sich anzog. Vom Baden war er hungrig geworden. Er traute dem Koch des Shobost nicht gerade Haute cuisine zu. Etwas einfaches wäre völlig in Ordnung, vielleicht ein Pizzabrot oder ein Chefsalat. Entschlossen ging er runter in das düstere Eßzimmer und begrüßte die anderen Gäste, ein etwas älteres englisches Paar. Die Frau zog eine 31
Grimasse, vielleicht sollte es ein Lächeln sein; der Mann aß einfach weiter. Calum wartete darauf, daß etwas passierte. Es gab keine Karte, bloß Besteck, einen Wasserkrug mit Glas, Salz- und Pfefferstreuer, einer verstopft, der andere leer, alles auf einem abgenutzten Wachstuch. Nach fünf Minuten ging die Küchentür quietschend auf, und die wächserne Empfangsdame stürmte mit einem Teller brauner Suppe herein. Die Suppe schwappte hin und her, aber nicht über den Tellerrand. Sie stellte ihm den Teller hin, und es begann eine Diskussion, die beide Beteiligte unbeeindruckt ließ, wobei die Dame es geradezu skandalös fand, daß der Amerikaner vorschlug, er müßte weniger zahlen, weil es so spät wäre. Die drei Gänge kamen und wurden fast vollständig wieder abgetragen. Die Empfangsdame schnaufte jedesmal lauter. Es war erst halb neun. Er hatte sich ordentlich ausruhen wollen, bevor er seine Erkundigungen anstellte, aber zum Teufel, warum sollte er nicht gleich in der Hotelbar anfangen? Er wollte nicht mehr haltlos trinken, aber ein oder zwei Glas würden ihm helfen, mit dem Jetlag klarzukommen. Und wer weiß? Wenn das die einzige Bar im Dorf war, konnte es durchaus sein, daß die Gäste wußten, mit welchem Buchanan er zuerst reden sollte. Vielleicht würde er sogar reinmarschieren und gleich einigen seiner verloren geglaubten Verwandten begegnen! Er drückte gespannt die Türe auf. Schweigen breitete sich aus, als er eintrat. Sein grüßendes Lächeln wurde nicht erwidert, und dann nahmen sie ihre Gespräche wieder auf. Er setzte sich an die Bar, hinter der der Barkeeper in einer fremden Sprache mit einem seiner Kunden redete. Wow, das mußte gälisch sein. Wie aufregend! Calum wartete in aller Ruhe ab, während sie weiterredeten, sah sich um und achtete darauf, 32
daß sein freundliches Lächeln nicht verschwand. Es gab zehn Gäste, lauter Männer, keiner unter fünfzig. Er wandte sich wieder der Bar zu und versuchte, den Barkeeper auf sich aufmerksam zu machen. Kein Erfolg. Schließlich rief er leise: »Entschuldigen Sie, Sir«, aber auch das half nichts. Erst nachdem der Barkeeper das Glas seines Gesprächspartners aufgefüllt und sich selbst einen Whisky eingegossen hatte, schlenderte er gelassen zu Calum rüber. »Was kann ich für Sie tun?« »Hi, ich hätte gern ein Bier.« »Was für eins?« »Was haben Sie? Beck’s Michelob? Können Sie was empfehlen?« »Die meisten Kunden nehmen das Eighteen Shilling.« »Ich wußte nicht, daß Sie hier noch die alte Währung haben. Wieviel ist das in … englischem Geld?« »Wir haben hier nicht die alte Währung, und die neue Währung ist nicht englisch, sondern schottisch. Das Bier heißt so. Wollen Sie ein Pint oder ein halbes Pint?« »Oh, ganz bestimmt ein Pint.« Das Bier begann im Glas zu schäumen. Calum beugte sich vor. »Entschuldigen Sie, gehört einer Ihrer Gäste hier zu den Buchanans?« Die Hand des Barkeepers verkrampfte sich ein wenig am Zapfhahn. Er brauchte ein oder zwei Sekunden für die Antwort. »Ich glaube nicht. Das macht zwei Pfund fünfzehn.«
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Calum ließ den Barkeeper in Ruhe und hoffte auf ein herzlicheres Willkommen bei den vier Männern, die langsam und ruhig Dart spielten. »Entschuldigen Sie, ist der Tisch hier frei? Stört es Sie, wenn ich mich hinsetze?« »Uns stört das nicht.« Er schaute ihnen zwanzig Minuten lang zu und applaudierte bei allen gelungenen Würfen, doch sie achteten nicht weiter auf ihn. Nach dem zweiten Spiel nahm er all seinen Mut zusammen. »Das sieht lustig aus. Spielen Sie nur für sich, oder darf ein Fremder mitmachen?« »Nur für uns.« »Ach so … Aber ist es Ihnen recht, wenn ich zusehe, oder?« »Wie Sie wollen.« Calum saß höflich ein weiteres Spiel ab, dann kehrte er zurück an die Bar und näherte sich dem einen zerzausten Trinker, der ebenfalls dort stand. »Entschuldigen Sie, Sir, ist dieser Stuhl frei?« »Es sieht nicht so aus, als säße jemand drauf, junger Mann.« »Ich fürchtete bloß, daß es der Stammplatz von jemand wäre, das ist alles. Ich bin heute erst angekommen und möchte nicht gleich am ersten Tag irgendeinen schrecklichen Fauxpax begehen … Es ist schön hier.« »Im Shobost?« »Nein, ich meinte Sgurr nan Creag, sofern ich das einigermaßen richtig ausspreche.« »Und was gefällt Ihnen daran so sehr?«
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»Alles, schätze ich. Die Schönheit, die heile Natur. Das Meer, die Berge, die Umgebung. Ist tausendmal besser als LA. Ganz bestimmt.« »LA?« »Los Angeles, da komme ich her. Die Heimat von Tinseltown, den Freeways und dem Smog. Waren Sie je dort?« »Ich war noch nie in Amerika. Ich war überhaupt erst zweimal auf dem Festland.« »Das kann ich verstehen. Wenn ich von hier wäre, würde ich auch nie weggehen.« »Und warum das?« »Weil ich es hier schön finde. Sie müssen doch das Gefühl haben, im Paradies zu leben.« »Meine Vorstellung vom Paradies ist ein wenig wärmer. Wenn sie länger an diesem Ort lebten, würden Sie dieses Paradies ganz schön langweilig finden. Es gibt hier nicht viel zu tun. Jetzt ist es für mich zu spät, aber wenn ich halb so alt wäre, würde ich verschwinden, wie die meisten unserer jungen Leute.« »Verrückt, oder? Die halbe Welt versucht, ruhiger zu werden und zu einem Ort wie diesem zu gelangen, und Leute wie Sie möchten in die Großstadt ziehen!« »Die menschliche Natur ist nun mal pervers.« »Das stimmt wohl. Sagen Sie, ich würde Sie gern wegen ein oder zwei Sachen um Auskunft bitten. Kann ich Sie vielleicht zu einem Drink einladen?« »Nett, daß Sie vorher fragen. Bitte seien Sie nicht beleidigt, wenn ich lieber keinen Drink von einem Fremden annehme. Junger Mann, wenn Sie mich jetzt entschuldigen möchten – ich muß mit meinen Freunden dort drüben sprechen.« 35
Calum schaute die kleine Bar auf und ab, konnte aber kein weiteres Opfer entdecken. Er versuchte, den Gesprächen zu lauschen. Dann und wann kam tatsächlich mal ein englisches Wort vor, aber viel zu selten, als daß er hätte herausbekommen können, worüber sie redeten. Er war sich nicht ganz sicher, ob Gälisch eine richtige Sprache war, in der sie sich immer unterhielten, oder ob das nur ein elaborierter Code war, um Neulinge auszuschließen. Was würde passieren, wenn er rausging und plötzlich, ohne Vorwarnung, wieder zurückkehrte? Würden Sie dann alle Englisch sprechen? Er versuchte sich darüber klar zu werden, warum sie so unfreundlich waren. Zu Hause würde fast jeder mit einem reden, solange man nicht besoffen oder komplett durchgedreht war. Er mußte also irgend etwas falsch machen. War er zu gradlinig, zu amerikanisch, wenn er so auf sie zuging? Das war ja wieder typisch für ihn, alles zu vermasseln. Vielleicht sollte er einfach mal damit anfangen, ein Weilchen ganz allein hier zu sitzen, Freundlichkeit auszustrahlen und darauf zu warten, daß die Eingeborenen auf ihn zukamen. Er leerte drei Pints Bier. Die übrigen Gäste hielten bei den Bieren in etwa mit, kippten aber noch beachtliche Mengen Whisky nebenbei. Keiner sprach mit ihm, und so ging der Abend zu Ende. Bevor sie verschwanden, kaufte jeder von ihnen ein Fläschchen Scotch und steckte es ein. Fraser, der Mann, mit dem Calum geredet hatte, nickte ihm beim Gehen zu. Die anderen kümmerten sich nicht weiter um ihn. Der Barkeeper erwiderte seinen Abschiedsgruß, ohne auch nur vom Tischwischen aufzuschauen. Calum zog sich auf sein Zimmer zurück und setzte sich traurig aufs Bett. So hätte das nicht laufen dürfen. Sein Großvater hatte ihm von Sgurr nan Creag erzählt, obwohl er selbst nie dort gewesen war. Er hatte immer 36
geschworen, wenn Calum je hinführe, würden ihn die wunderbaren Buchanans aus Sgurr ganz sicher ohne weitere Fragen in die Arme nehmen. Die lebhaften Bilder, die sein Großvater ihm vorgeführt hatte, waren die eines Ortes voll offener Herzen, fröhlicher Kinder und lächelnder Großmütter. Wo man tanzte, wo die Volksmusik dröhnte, wo längst vergessene Sagen noch am Leben waren. Wo alles noch stimmte und nichts jemals schiefging. Für Calum bedeutete das mehr, als seine Wurzeln zu finden. Nachdem sein Leben begonnen hatte, zu zerbrechen, war er in seiner Fantasie immer öfter bei den Buchanans in Sgurr gewesen; er hatte sie sich als freundliche, offenherzige Menschen vorgestellt, die es absolut nicht interessierte, daß er in allem bloß mittelmäßig war. Zum erstenmal in seinem Leben würde er irgendwo sein, wo er hingehörte, wo er seine Wunden lecken und sich wieder sammeln konnte. Wenn es hier nun nicht so war, wo sollte er denn dann noch hin? Er stand auf, schaltete das Licht aus, zwang den verrosteten metallenen Fensterrahmen hoch und schaute hinaus aufs Meer. Dichte Wolken verdeckten den Mond. Dort draußen herrschte nichts als tintenschwarze Dunkelheit. Die samtene Stille wurde nur durchbrochen vom Rauschen der Wellen. In seinem Apartment in LA, ein paar Blocks von Venice Beach, konnte er das Meer auch hören. Aber die schottische See klang viel älter. Es wurde kalt im Zimmer. Er machte das Fenster zu, zog sich aus und ging ins Bett. Ein paar Sekunden später schaltete er das Licht noch mal an, schleppte seine müden Glieder rüber zum Koffer und fummelte das gerahmte Bild Mariannas heraus. Er stellte es so nah wie möglich ans Bett, bevor er in tiefen, traumbeladenen Schlaf versank. 37
3 Er schlief lange und frühstückte wie ein Wolf. Heute ging es ihm viel besser. Es mußte doch ganz einfach sein, in so einem kleinen Dorf Familienangehörige der Buchanans zu finden. Die einsilbige Empfangsdame kannte jedoch keine und schlug ihm vor, es im Dorfladen zu versuchen. Auch der Ladenbesitzer konnte ihm nicht helfen und bat ihn frostig, die anderen Kunden nicht aufzuhalten. Das einzige öffentliche Telefon des Dorfes stand dem Laden gegenüber. Er blätterte durchs Telefonbuch. Keine Buchanans. Merkwürdig. Telefonauskunft? Auch kein Eintrag. Er stopfte Hände voll Münzen in das Gerät und telefonierte ebenso lange wie ergebnislos mit den Behörden in Stornoway. Nein, es gab keine Buchanans in der Datenbank von Sgurr. Das machte ihm Sorgen. Aber egal. Sie gaben selbst zu, daß in ihren Unterlagen nur Leute stünden, die ihre Fragebögen ausfüllten, insofern konnten durchaus welche fehlen. Was jetzt? Es schien keine Polizeiwache zu geben. Vielleicht die Kirche? »Oh, hi. Darf ich mich umsehen?« »Besucher in unserer Kirche sind immer willkommen.« »Könnte ich Sie etwas fragen, Vater?« »Das ist ein Begriff aus der katholischen Kirche. Hier benutzen wir den Begriff Pfarrer.« »Entschuldigen Sie, Herr Pfarrer. Draußen auf Ihrem Friedhof gibt es fünf oder sechs Grabsteine für Buchanans.« 38
»Ja, allerdings.« Der Pfarrer kniff die Augen zusammen. »Entschuldigen Sie mich? Ich habe zu tun.« »Nur noch einen Augenblick. Ich habe mich gefragt… der letzte Grabstein stammt von 1907. Ist das immer noch ein verbreiteter Name in der Gegend? Ich bin selbst ein Buchanan und suche nach meinen Vorfahren. Meine Ahnen stammen aus diesem Teil von Lewis.« »Vor langer Zeit gab es hier Buchanans. Das ist ein alter Name aus Lewis.« »Und inzwischen?« »Vielleicht finden Sie welche in Stornoway.« »Nein, ich meinte hier in Sgurr nan Creag. Ich konnte im Telefonbuch keine Buchanans finden, aber vielleicht sind sie bloß nicht aufgeführt. Kennen Sie welche?« »Es sind keine in meiner Gemeinde.« »Gehen denn die meisten der Dorfbewohner zur Kirche?« »Sie werden feststellen, daß wir diesen Ort nicht gerne als Dorf bezeichnen, so klein er auch sein mag. Ja, der Großteil von ihnen kommt regelmäßig. Dies ist eine gottesfürchtige Gemeinde.« »Und was ist mit denen, die nicht kommen? Kennen Sie überhaupt irgendwelche Buchanans?« »Mir fallen keine ein.« »Sie können doch nicht alle gestorben oder verzogen sein?« »So was passiert ab und zu auf diesen Inseln, bei all den Abwanderungen und der Armut. Viele Menschen waren gezwungen, auszuwandern. Zweifelsohne betraf das auch Ihre Vorfahren. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen möchten, junger Mann – ich muß meinen Pfarrerspflichten nachkommen. Schönen Tag noch.« 39
Okay, was nun? Das kleine Volksmuseum unten in der Nähe des Strandes? Vielleicht fand er dort etwas über Clans oder Familien, womit er anfangen konnte. Und wenn er so nicht weiterkam, mußte er zurück in die Bar und diesen Typen fragen. Das war schließlich nicht so schlecht gelaufen. Der hatte wenigstens überhaupt mit ihm geredet. Heute war sein neunter Tag in Sgurr, und der bislang kälteste. Oben auf dem Gipfel war seine Hi-Tech-Jacke nutzlos. Sie funktionierte vielleicht prima in der Arktis, aber die Erfinder dieser vielfach patentierten, vielfach getesteten superleichten Fasern hatten nicht mit den Hebriden gerechnet. Aber er würde sich von der Kälte nicht aufhalten lassen. Nachdem er zögernd hingenommen hatte, daß sich niemand an irgendeinen Buchanan erinnern konnte, egal ob lebend oder tot, hatte er sich vorgenommen, statt dessen alle acht Berge zu besteigen, die die Stadt umgaben. Ben Mhor war sein sechster, und er war steiler und zackiger als die anderen. Noch zwei Tage und zwei Berge, dann war er weg. Trotz der bitteren Enttäuschung, keine Verwandten gefunden zu haben, blieb es ein besonderer Ort für ihn, und er wollte jedes Fleckchen Erde sehen und tief in seine Erinnerungen einbrennen. Ganz sicher waren es nicht die Leute, die den Ort zu etwas Besonderem machten. Im besten Fall verhielten sie sich unterkühlt zivilisiert und völlig desinteressiert an seiner Suche. Es war die Gegend selbst, die ihn faszinierte, die ihn ein wenig beruhigte, seine Verzweiflung ein wenig linderte, seine Panik milderte und ihm Verbindung zur Erde verschaffte. Der Ort hatte etwas merkwürdig Absolutes an sich, eine Klarheit, die ihm half, seine Sorgen in der richtigen Perspektive zu betrachten.
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Seine nahe Zukunft sah düsterer aus als je zuvor. Weiter im Hotel zu wohnen konnte er sich nicht leisten, und hier zu arbeiten war völlig unmöglich. Er hatte gefragt, und er hatte es sofort bereut. Was konnte er denn? Fischen? Das war schwere körperliche Arbeit, und es gab wenig genug davon. Erntehelfer? Hier kümmerte sich jeder um seinen eigenen Acker. Wo sollten die Leute denn das Geld hernehmen, ihn zu bezahlen? Und sonst? Wußte er überhaupt, wie schlimm das mit der Arbeitslosigkeit hier war? Wollte er den Einwohnern etwa die wenige Arbeit wegnehmen? Ohne Buchanans, die ihm halfen, hatte er keine andere Wahl, als weiterzuziehen. Das war traurig, wo er doch gerade am einzigen Ort auf der ganzen Welt war, an dem er sein wollte. Wo sollte er hin? Glasgow oder London wären wahrscheinlich am günstigsten. Es sollte nicht allzu schwierig sein, dort irgendeine Arbeit aufzutreiben, bis er wieder auf die Beine kam. Er konnte einfach nicht zurück nach LA gehen, ohne eine müde Mark in der Tasche und so dumm wie zuvor. Wie sollte er es ertragen, nur ein paar Meilen von Marianna entfernt zu leben, aber nicht mit ihr zusammen zu sein? Selbstmord war keine schlechte Möglichkeit, obwohl seine Erfahrungen in diesem Bereich nicht gerade vielversprechend waren, nachdem man ihm mit sechzehn kurzerhand den Magen ausgepumpt hatte. Seine Mutter war nicht mal vorbeigekommen, und sein Dad hatte später immer wieder darauf herumgeritten, daß Calum wirklich auch gar nichts zustande brächte. Als er die letzte Windung vor dem Gipfel hinter sich brachte, konnte er plötzlich das Meer wieder sehen; der Ausblick raubte ihm den Atem, und zitternd kniete er sich auf einen Fels, um die Sicht zu genießen. Über sich konnte er durch ein paar Wolkenlöcher einen goldenen Adler mit einer Spannweite von zwei, vielleicht sogar zweieinhalb 41
Metern ausmachen, der mühelos im thermischen Aufwind kreiste. Calum war fasziniert. Der Adler schwebte höher und höher. Dann stürzte er plötzlich wie ein Geschoß erdwärts. Großer Gott, das verrückte Vieh würde auf den Felsen zerschellen! Im letzten möglichen Augenblick, als Calum schon keine Hoffnung mehr hatte, wechselte er die Richtung. Die Schwingen schlugen, dann schwebte er wieder himmelwärts; er hatte irgend etwas – vielleicht ein Kaninchen – in seinen Killerklauen. So verschwand er in den Wolken. Calum fand das sehr bewegend. Mit steifen Gliedern rappelte er sich auf und kletterte weiter. Als er den schneebedeckten Gipfel erreichte, dämmerte es schon, und er konnte nur eine kurze Pause machen, bevor er den Abstieg begann, für den er einen gradlinigeren, steileren Pfad als für seinen Aufstieg wählte. Endlich wurde der Weg flacher, doch da war es schon fast dunkel. Der Boden war sehr unebener, und er mußte näher am Meer entlanggehen. Wenn Ebbe war, könnte es einfacher sein, bis zum Strand zu gehen und dann zur Bucht. Aber es war zu dunkel, und er war froh, daß er eine Mini-Taschenlampe bei sich hatte. Der Strand konnte nicht weit sein, sofern das den Geräuschen nach zu beurteilen war. Die Wellen rauschten lautstark. Noch ein kleiner Hügel, dann hatte er es geschafft. Er erschrak zutiefst, als er den Umriß vor dem dunklen Himmel entdeckte. Mit zitternden Händen zog er seine Taschenlampe heraus, brauchte aber drei Versuche, bevor ein schmaler Lichtstrahl vor seinen Füßen tanzte. Er leuchtete wild um sich. Großer Gott, bitte, laß es kein schreckliches Monster sein! Es war ein keltisches Kreuz, sehr groß und ein wenig schräg stand es da. Calum schwang den Lichtstrahl nach 42
rechts und links. Die kleine Mauer war ihm noch gar nicht aufgefallen, obwohl er sie beinahe erreicht hatte. Der kleine Friedhof war nicht größer als fünfzehn mal acht Meter, ein alter Ruheplatz mit Blick aufs Meer. Abgesehen von dem Kreuz gab es noch sieben oder acht aufrecht stehende Grabsteine und eine ganze Reihe, die umgefallen waren. Er fand keinen Eingang, also kletterte er einfach über die Mauer und ging rüber zu den erhaltenen Steinen. Sie standen alle schief. Calum versuchte, die Inschriften im Taschenlampenlicht zu entziffern. Die erste war zu verwittert, die nächste erinnerte an einen MacDonald. Der dritte Name war unlesbar, aber er erkannte die Jahreszahlen 1832-1876. Zwei weitere unlesbare, dann ein ganz klarer Macintosh, ein Kindstod im Jahre 1904. Er fluchte, als er sich schmerzhaft den Zeh an einem umgefallenen Grabstein stieß. Ein MacLeod lag darunter, daneben ein Nicholson. Der letzte Stein stand stolz und gerade, wie ein alter Soldat bei seinem letzten Salut. Ein merkwürdiges Gefühl überkam ihn, als er darauf zuging, und er senkte den Lichtstrahl. Zuerst wollte er den Stein einmal fühlen. Er hatte harte, kantige Ecken und schien kaum verwittert; ganz offensichtlich war er jünger als die anderen. Er hob die Taschenlampe. Die Worte waren klar und eindeutig. Gormelia Buchanan, geboren 1898. Gestorben 1976. Betrauert von ihrer liebenden Tochter Morag. Calum schaltete die Taschenlampe aus und sackte vornüber gegen den Grabstein, er drückte sein Gesicht dagegen, umschlang die Seiten mit beiden Händen. Er wollte ihn gar nicht wieder loslassen. Seine Finger tasteten über das Wort Morag, den Namen auf der Rückseite des verblaßten alten Fotos, das sein Großvater von seinem Vater geerbt und an Calum weitergegeben hatte, 43
zusammen mit einer kaputten Uhr und einer gälischen Bibel. Konnte diese Morag das Kind auf dem Bild sein? Zurück zum Shobost zu gelangen, dauerte eine Ewigkeit, und er war klatschnaß, weil es inzwischen regnete. Im Hotel badete er lange und heiß, denn er mußte sich Zeit lassen. Schwanger mit seiner Entdeckung hätte er direkt in die Bar reinmarschieren und sie den Einwohnern wie einen Fehdehandschuh hinknallen können. Aber er mußte vorsichtiger und klüger vorgehen; er mußte herausfinden, was sich dahinter verbarg. Das Durchschnittsalter der Stammkunden ließ es undenkbar erscheinen, daß keiner von ihnen Gormelia Buchanan oder ihre Tochter gekannt hatte. Konnte das Whiskysaufen tatsächlich die kollektive Erinnerung an beide ausgelöscht haben? Bestimmt nicht. Diese Leute waren alle hier geboren und aufgewachsen. Es gab hier viel weniger Kommen und Gehen als in einer Stadt auf dem Festland. Und was war mit Morag selbst? War sie weggezogen, nachdem ihre Mutter gestorben war, oder schon vorher? Der Inschrift auf dem Grabstein konnte er auch nicht entnehmen, ob sie immer noch Buchanan hieß oder verheiratet war und einen anderen Namen trug. Da ihre Mutter 1891 geboren wurde, war die Tochter höchstwahrscheinlich irgendwann zwischen 1910 und den frühen i92oern zur Welt gekommen. Sie würde inzwischen also ganz schön alt sein, sofern sie überhaupt noch lebte. Wie standen die Chancen, daß sie sich hier aufhielt? Da es in Sgurr im Augenblick nicht unbedingt allzuviele Buchanans gab, wie viele Morag Buchanans konnte es dann damals gegeben haben? Er lag eine halbe Stunde in der Badewanne und dachte nach. Vielleicht gab es eine ganz vernünftige Erklärung. 44
Vielleicht hatten sie die Leute wirklich vergessen. Dann sollte er sich nicht darüber aufregen, er sollte ihnen einfach nur einen freundlichen Knuff geben, um ihrer Erinnerung nachzuhelfen. Aber wenn das nicht klappte, was dann? Und wenn es keine so unschuldige Erklärung gab, wenn sie ihn aus irgendeinem Grund tatsächlich in die Irre schicken wollten …? Dann mußte er sie notfalls eben austricksen. Er ging runter in die Bar. Inzwischen hatte er sich an ihr warmes Bier ganz gut gewöhnt. Das war ein prächtiges Gegenmittel, wenn man sich die Eier auf dem Berg abgefroren hatte. Innerhalb von zehn Minuten kippte er zwei Pints und nahm zum zweiten einen kleinen Whisky dazu. Fraser wirkte freundlicher als sonst und erzählte ihm ein oder zwei Geistergeschichten aus Lewis. Was hatte diesen plötzlichen Ausbruch menschlicher Wärme verursacht? Akzeptierten sie ihn jetzt endlich, oder hatte sich herumgesprochen, daß er bald abfuhr? Calum bestellte ein drittes Pint und überredete Fraser tatsächlich, sich von ihm einladen zu lassen. Damit war das Tor geöffnet. Er sah, wie Héctor, der älteste des DartQuartetts, und der größte dazu – er hatte schlohweißes Haar und eine Narbe unter dem rechten Auge –, auf gälisch mit dem Jüngsten sprach. Donald kam daraufhin zu Calum rüber und lud ihn mit Grabesstimme ein, mitzuspielen. Sie waren extrem duldsam. Calum spielte zum ersten Mal Dart, und das merkte man. Er brauchte eine Weile, bis er überhaupt die Zielscheibe traf, und auf bestimmte Zahlen zu zielen war noch lange nichts für ihn. Aber keiner sagte etwas darüber, außer Calum, der konstant über seine eigene Inkompetenz plapperte. Sie lobten ihn vorsichtig für jeden Treffer über zehn Punkte und reichten ihm die Pfeile zurück, die von den Wänden abprallten. 45
Auch sein Partner Sandy war keineswegs genervt davon, an dieses wandelnde Handicap gefesselt zu sein, und der kahle, dürre Hamish, der für ihn aussetzte, schaute mit höflichem Interesse zu. Manchmal sagte Hector etwas. Seine Stimme hatte denselben Akzent wie die anderen, aber sie war tiefer, düsterer. »Sie werden uns also bald verlassen, stimmt das?« »Ja. Geldprobleme. Sie wissen ja.« »Sie sind hergekommen, um Ihre Wurzeln zu finden haben Sie das nicht Fraser gesagt?« »Genau. Wir Amerikaner können nicht anders … Toller Wurf, Sandy.« »Ihre Vorfahren sind also aus Lewis, oder?« »Yup. Mein Urgroßvater ist 1923 emigriert, und zwar genau aus dieser Stadt. Er ging nach Kanada, später nach Detroit. Ich habe ihn nie kennengelernt. Er ist 1929 gestorben.« »Dann wird er auf der Metagama gesegelt sein?« »Der was?« »Der Metagama. Das war das Schiff, das die Auswanderer beförderte. Die meisten Jungs aus Lewis fuhren mit. Es gehörte der Canadian Pacific Trailway Company. Sie ließen sie auf dem Schiff arbeiten.« »Erinnern Sie sich daran?« »Nein, mein Freund, ich war damals erst zwei. Die Metagama gehört zu den Sagengeschichten hier.« »Die wird es dann wohl gewesen sein.« »Ihr Wurf.« »Was brauchen wir …? Doppelsechs …? Oh, nein … Warum bin ich so unglaublich schlecht?«
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»Sind Sie zufrieden mit dem, was Sie herausgefunden haben?« »So, so. Es war gut, mitzubekommen, wie man hier lebt, aber ich bin enttäuscht darüber, keinen meiner Verwandten gefunden zu haben. Es scheint hier keine Buchanans mehr zu geben, soweit ich das feststellen konnte.« »Vielleicht sind sie alle weggezogen.« »Könnte sein – oder sie sind gestorben. Von Ihnen erinnert sich auch niemand an jemand mit diesem Namen? Keine Buchanans, die im Laufe Ihres Lebens gestorben sind? Oder Frauen, die vielleicht geheiratet und ihren Namen abgelegt haben?« »Sie sind wieder dran ... Nein, ich glaube nicht.« »Doppeldrei? Na toll! Was für ein Mist. Sagen Sie, Hector, wo in Sgurr leben Sie?« Er lag bis zehn im Bett und wartete, daß das Adrenalin sich durch seinen dröhnenden Kater fraß. Zu zeitig anzufangen war sowieso nicht sinnvoll. Er konnte nicht allzu früh am Morgen an Türen klopfen. Obwohl er so viel getrunken hatte, war er noch in der Lage gewesen, sich aufzuschreiben, wo Hector und Donald wohnten, bevor er ins Bett gegangen war. Sandy und Hamish wohnten im nächsten Ort, also stellten sie kein Problem dar, und Fräsers Hütte lag irgendwo im Nirgendwo. Er wollte nicht riskieren, daß das erste Haus, an dem er klopfte, ausgerechnet das von Hector war. Sicher würden die Buschtrommeln in Sgurr nan Creag ziemlich gut funktionieren. Und wenn die Männer in der Bar zu früh herausbekamen, daß Calum herumschnüffelte, könnten ihm die Türen vor der Nase zugeschlagen oder gar nicht erst geöffnet werden. 47
Er haßte es, so vorgehen zu müssen. Drei Stunden lang hatte er an der Bar immer wieder Hinweise gegeben und gehofft, daß der Alkohol ihre Zungen lockerte. Doch jedesmal, wenn er das Thema anging, wechselten sie es abrupt. Es war völlig unnatürlich, und in den Blicken, die sie wechselten, lag eine gewisse Spannung. Er wußte jetzt ganz sicher, daß irgend etwas Merkwürdiges vorging; sie wollten ihm irgend etwas vorenthalten. Er mußte jetzt gegen sie antreten. In der Liebe, im Krieg und bei der Suche nach Vorfahren war alles erlaubt. Draußen war es so kalt wie immer, aber wenigstens trocken. Er wanderte einmal durch die ganze Stadt, um ein systematisches Vorgehen zu planen, trug Markierungen in seine handgemalte Karte ein und bedachte Hectors und Donalds Häuser mit großen schwarzen Kreuzen; noch war er sich nicht ganz sicher, ob er sich wie ein Geheimagent auf einer Mission oder wie ein Vollidiot fühlen sollte. Nachdem er das erledigt hatte, marschierte er bis zum Rand der Felder im Süden der Stadt und trat vor die erste Haustür. Keine Antwort. Noch ein Versuch. Immer noch keine Antwort. Nächstes Haus. »Entschuldigen Sie, Sir...« »Ja?« »Ich führe eine Umfrage über Familiennamen in Lewis und Harris durch. Würden Sie mir bitte helfen? Ich muß nur Ihren Nachnamen und den Geburtsnamen Ihrer Frau wissen.« »Wozu?« »Für das US Bureau of American History. Wir vergleichen die Immigrationen zu Beginn dieses Jahrhunderts mit der Entvölkerung in den Orten, aus denen die Leute kamen. Wir wollen feststellen, wie die Zahl der Familien in den Staaten zu- und in anderen Ländern abnahm.« 48
»Das geht mich nichts an.« »Ich brauche doch nur Ihren Namen.« »Ich werde nichts unterschreiben.« »Das ist auch nicht nötig. Sie können es mir einfach sagen.« »Ich will nicht, daß irgendwelche Vertreter meinen Namen notieren. Ich brauche keine Doppelglasfenster, und wir haben schon eine Satellitenschüssel.« »Darum geht’s doch gar nicht. Ich verspreche es Ihnen.« »Warten Sie hier, ich spreche mit meiner Frau … Na gut. Ich bin ein MacDonald, sie war eine Morrison. Und vergessen Sie nicht, was Sie mir versprochen haben, sonst werde ich mich an die Polizei wenden.« »Guten Morgen, Ma’am. Hätten Sie einen Augenblick Zeit, mir ein paar Fragen zu beantworten?« »Nein, habe ich nicht. Ich bin Mitglied der Free Church of Scotland und will mit den Mormonen nichts zu tun haben.« »Ich bin kein Mormone.« »Dann eben die Zeugen Jehovas. Ihr Leute habt wirklich Nerven, bei mir zu klopfen und euren Unfug loszuwerden!« »Darum geht’s doch nicht. Ich brauche nur Ihren Namen für eine Umfrage.« »Gehen Sie sofort!« Er entdeckte einen braunen Umschlag, der auf einem Tisch nur etwa einen Meter von der Tür entfernt lag, aber er konnte ihn nicht lesen. »Hey, kommt da nicht Rauch aus Ihrer Küche?« »Was ...?« 49
Die paar Sekunden, in denen sie sich umsah, reichten. MacIver. Gut. Dann mußte er eben ohne ihren Mädchennamen klarkommen. Die Frau wandte sich mit zornigem Blick wieder um. Calum versuchte, nicht zu grinsen. »Nein …? Dann muß ich mir das eingebildet haben. Wie auch immer, vielen Dank, Ma’am.« Sie knallte die Tür vor ihm zu. Er brauchte bis vier Uhr nachmittags, um alle Häuser abzuklappern, außer den beiden, die er bewußt ausließ. Bei drei der sechsundzwanzig Häuser hatte ihm keiner geöffnet. Vier Leute hatten sich geweigert, ihm ihre Namen zu sagen, drei davon waren Männer, und die eine Frau war höchstens sechzig. Die, die ihm antworteten, waren vorsichtig und auf der Hut, sie warteten auf den Pferdefuß abgesehen von einem alten Mann, der ihm einen Whisky anbot und dann völlig sinnlos eine halbe Stunde vor sich hinbrabbelte. Calum hatte dem Kerl wahrscheinlich den Höhepunkt seines ganzen Jahres verschafft, und ihn allein zu lassen, war das schwierigste gewesen. Keine Buchanans auf seiner Liste. Er war ja ein toller Geheimagent. Mittlerweile wußten die Stammtrinker im Shobost bestimmt Bescheid, und sie würden ziemlich sauer sein, daß er an ihnen zweifelte. Sein Ruf in Sgurr war jetzt wahrscheinlich nicht mehr viel besser als der in LA. Aber bevor er aufgab und zu ihnen zurückkehrte, würde er noch einmal bei denen klopfen, die nicht geöffnet hatten. Zwei waren jetzt da, ein Murray und ein Mackenzie. Es blieb nur ein vernachlässigtes Haus mit Blechdach und niedrigen dicken Mauern; ein Stück von 50
der Straße entfernt sah es älter aus als alle anderen. Er ging den kleinen Weg entlang und klopfte an die Tür. Keine Antwort. Die Dornenbüsche hinderten ihn daran, durch die kleinen Fenster zu spähen, die sowieso völlig verdreckt waren. Er kehrte zur Tür zurück und lauschte. War da was? Ein leises Geräusch? Er würde noch einmal laut klopfen. Nichts. Was hatte er zu verlieren? Entweder war sie hier – oder nirgends. Er trat zwei Schritte zurück und rief, fast brüllte er: »Morag Buchanan!« Noch einmal ihr Name. Nichts. Er ging rund um das Haus und klopfte heftig gegen eine dunkle Glasscheibe. »Morag Buchanan, ich bin Calum Buchanan. Der Großneffe Ihres Bruders!« Immer noch keine Antwort. »Miß Buchanan, machen Sie bitte auf. Ich muß mit Ihnen reden. BITTE.« Stille, abgesehen vom Pfeifen des Windes. Er klopfte noch ein letztes Mal halbherzig gegen die Haustür, dann ging er den Weg wieder zurück. Jetzt war der Augenblick gekommen für einen letzten verzweifelten Trick. Wenn man die drei verlassenen, verrottenden Ruinen nicht zählte, war das nächste Haus gut hundert Meter entfernt. Eine streng dreinschauende kleine Frau hatte ihm geöffnet und sehr zögerlich ihren Namen genannt. Er wanderte dorthin zurück. Sie öffnete noch einmal, und diesmal schaute sie noch mißtrauischer. Bevor sie die Tür wieder schließen oder irgend etwas verweigern konnte, redete Calum hastig auf sie ein. »Tut mir leid, Sie schon wieder zu belästigen, Mrs. Matheson. Das alte Haus die Straße herunter, wo die 51
alte Frau wohnt … Ich kann ihren Namen, den ich mir aufgeschrieben habe, nicht mehr lesen, und sie macht jetzt nicht auf. Könnten Sie ihn mir bitte sagen?« Sie schaute ihn an, als hätte er von ihr verlangt, Gift zu schlucken. »Im Moment kann ich mich an ihren Namen wirklich nicht erinnern …« »Wenn ich ihn nur noch lesen könnte! War es vielleicht Ballantyne?« Mrs. Matheson schaute ein wenig erleichtert, aber Calum hatte ihre spontane Verwirrung bemerkt. »Ja, ich glaube, das stimmt.« »Nein, Augenblick … Das heißt gar nicht Ballentyne … es heißt Buchanan, oder?« Sie wurde weiß, starrte ihn entgeistert an und knallte die Tür vor seiner Nase zu. Er ging zu der Hütte zurück und klopfte noch einmal, erwartete aber keine Antwort. Dann kritzelte er eine Nachricht auf ein Stück Papier und wickelte es um das vergilbte Foto eines jungen Mädchens mit Löckchen. Er schob es unter der Tür durch und stand einfach da; geduldig wartete er die zehn Minuten, die es dauerte, bevor die Tür sich quietschend öffnete.
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4 Sollte er, oder sollte er nicht? Die Vernunft sagte: wegbleiben. Der Draufgänger in ihm, den seine Freunde zweifelsohne seinen kriegerischen Hochland-Vorfahren zuschrieben, fordere eindeutig: Finde es raus. Warum hatten sie ihn angelogen? Haßten sie Amerikaner so sehr, daß sie einfach Freude daran hatten, ihn zu verarschen? War das ein Spiel? Würden sie alle lachen, wenn er jetzt in die Bar kam, und ihm zu seinem Sieg gratulieren? Oder verbarg sich dahinter etwas Merkwürdiges, Tieferes? Könnte es vielleicht einen wirklich guten Grund für ihr Benehmen geben? Wenn ja, dann mußte Calum herausbekommen, worin er bestand. Würden sie mit ihm jetzt wenigstens offener sprechen – jetzt, wo er Bescheid wußte? Oder wären sie so wütend über seine verlogene Umfrage, daß sie ihm endgültig die kalten Schultern zeigten? Dann würde er die Wahrheit vielleicht nur noch herausbekommen können, indem er sie unter Druck setzte. Reichte sein Selbstbewußtsein aus, eine so schwierige Situation geschickt zu meistern? Allerdings. Er dachte noch ein paar Minuten darüber nach, während er seine Klamotten in dem kleinen Waschbecken wusch, mit den letzten Überresten eines Seifenstücks. Dann war er schließlich neugierig und durstig genug. Er mußte nicht lange auf eine Reaktion warten. Fraser saß mit den anderen dreien an einem Tisch; als er hereinkam, schwiegen sie, dann sprachen sie leise auf gälisch weiter. Calums fröhlicher Gruß wurde nicht erwidert. Er bestellte sich ein Pint und ging rüber zu ihrem Tisch. 53
»Ich glaube, ich sollte noch ein wenig Dart üben. Ist Ihnen vielleicht nach einem Spiel?« Fraser schüttelte den Kopf. Hector starrte einfach durch Calum hindurch. »Nein …? Na gut, dann spiel’ ich einfach alleine. Gehören diese Pfeile irgend jemand?« Keine Antwort. Das gälische Murmeln wurde fortgesetzt. Er wurde jetzt nervös, und es fiel ihm schwer, das Zittern seiner Stimme zu unterdrücken. »Nun ja, wenn die niemandem gehören, dann versuche ich mich mal daran.« Er warf zehn Minuten lang sehr schlecht mit den Dartpfeilen und war ungemein unsicher, was er als nächstes tun sollte. »Ich bin nicht gerade ein Naturtalent. Ich sollte beim Trinken bleiben. Kann ich Ihnen vielleicht einen Whisky spendieren? Fraser? Hector? Sandy?« Fraser und Sandy schüttelten die Köpfe. Hector machte sich nicht die Mühe. Die anderen beiden starrten wie gelähmt in verschiedene Richtungen. Spannung und Unsicherheit knisterten geradezu in der Luft. Calum fühlte sich extrem unwohl, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Er mußte all seinen Mut zusammennehmen und weitermachen. Nachdem er noch ein Pint bestellt hatte, zog er einen Stuhl nah an ihren Tisch heran. »Wissen Sie was, Fraser, ich habe herausgekriegt, daß es doch einen Buchanan in Sgurr nan Creag gibt…« Das Gälisch verebbte. »… ja, eine alte Dame, bestimmt schon achtzig. Sie heißt Morag. Und sie hat ihr ganzes Leben hier gelebt. Sehr merkwürdig, daß Sie sie nicht kennen.« Schweigen. 54
»Sie jedenfalls hat von Ihnen allen schon gehört.« Hector murmelte etwas. Es klang nicht freundlich. »Es war schön, herauszubekommen, daß ich doch noch lebende Vorfahren hier habe.« Er hatte sich so sehr an ihr Schweigen gewöhnt, daß es ihn erschreckte, als Fraser zu reden begann. »Und nachdem Sie jetzt Ihre Wurzeln gefunden haben, werden Sie morgen glücklicher abreisen, nehme ich an.« »Glücklicher? Ganz bestimmt, aber ich habe meine Pläne geändert. Ich werde nicht abreisen.« Die Reaktion der Männer am Tisch war wortlos, aber trotzdem sehr deutlich. »Bleiben Sie im Shobost?« »Hier? Oh, nein, das kann ich mir nicht leisten. Morag hat mich eingeladen, ein Weilchen bei ihr zu wohnen.« Ein kurzer, scharfer Wortwechsel am Tisch. Was auch immer sie sagten, es schien, als hätten sie Fraser irgendwie zu ihrem Sprecher ernannt. »Junger Mann, wir hatten nicht vor, Sie zu täuschen. Was wir getan haben, taten wir aus gutem Grund. Wir taten es in Ihrem eigenen Interesse.« »Ach ja? Sprechen Sie weiter, Fraser.« »Es ist absolut verständlich, daß Fremde wie Sie Ihre Wurzeln entdecken wollen. Daran sind wir gewöhnt.« »Na, dann vielen Dank für die große Hilfe.« »In jedem anderen Fall hätten wir gerne so gut geholfen, wie wir können.« »Aber bei mir?« »Das liegt nicht an Ihnen, das liegt an Ihrer … Verwandten.« »Morag?« 55
»Ja.« Calum spürte, daß Fraser nicht einmal ihren Namen aussprechen wollte. »Es gibt da bestimmte … Dinge, die Ihnen nicht bewußt sein können.« »Dinge? Was für Dinge?« »Dinge, die vor sehr langer Zeit geschehen sind. Dinge aus der Vergangenheit, die … schmerzhaft sind, die man am besten ruhen läßt. Wir sind davon ausgegangen, daß niemand ein Interesse daran hat, auch Sie nicht, die Vergangenheit wieder aufzuwecken. Wir fanden es besser für Sie, zu erfahren und zu glauben, daß hier keine lebenden Verwandten von Ihnen existieren. Wenn Sie auch nur ein bißchen Vernunft haben, werden Sie selbst jetzt noch so tun, als wäre das der Fall.« »Und einfach abreisen, meinen Sie? Wieso sollte ich das tun? Mir gefällt es hier, und jetzt kann ich ja auch irgendwo wohnen.« »Nehmen Sie unseren Rat an und halten Sie sich von dieser Frau fern. Daraus kann nichts Gutes entstehen.« »Was reden Sie da, Fraser? Ist sie eine böse Hexe oder was?« Hamish atmete tief durch. Hector murmelte etwas, was wie ein Fluch klang. Fraser schaute unglücklich drein. »Ich kann es Ihnen nicht sage, Calum, aber glauben Sie mir, es wäre besser, wenn Sie abfahren.« »Ohne den Grund zu kennen? Hören Sie, Fraser, es tut mir leid, wenn Sie die Art verärgert hat, wie ich es herausbekommen habe, aber wenn ich hierüber etwas informiert werden sollte, dann müssen Sie ehrlich mit mir sein, sonst werde ich das Angebot der alten Dame auf jeden Fall annehmen. Sie ist alt, verdammt noch mal. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie ein bißchen … eigenartig ist. Aber sie ist auch mit mir verwandt, und sie war nett genug, mich einzuladen. Ich kann nicht 56
behaupten, daß ich mich wirklich darauf freue, in dieser kleinen Hütte zu wohnen, aber es ist umsonst, was bei meiner finanziellen Lage sehr wichtig ist. Also, wenn Sie keinen sehr guten Grund haben …« »Haben wir, Calum, aber es ist wirklich besser, die Vergangenheit nicht …« Hector unterbrach ihn, er schrie beinahe, aber er schaute dabei weder Calum noch Fraser an. »Sag’s ihm! SAG’S IHM!« Fraser sagte nichts. Calum gab nicht nach. »Kommen Sie, Fraser, ich bin einer Meinung mit Hector. Sagen Sie es mir … Oder noch besser, Hector, warum sagen Sie es mir nicht selbst?« Hector reagierte nicht auf ihn, weder mit Worten noch mit einem Blick. Fraser begann wieder zu sprechen, mühsam, zögernd: »Ihre Verwandte … Ich will mich jetzt nicht mit Details aufhalten, aber sie ist keine gute Frau. Im Gegenteil, sie ist böse. Man sollte sie bis zum Ende ihrer Tage allein lassen.« »Wieso böse? Was hat sie denn so Schreckliches getan?« »Sie hat böse Dinge getan. Aber schlimmer als das ist…« »Oh, ich verstehe, sie ist wirklich eine Hexe, ja?« »Junger Mann, Sie finden es lustig, darüber zu spotten, aber Sie sind näher an der Wahrheit dran, als Sie es sich vielleicht vorstellen können.« »Bin ich? Was macht Morag denn mit ihren Kräften? Es sieht ja nicht so aus, als hätte sie einen von Ihnen in einen Frosch verwandelt.« 57
Hector blitzte ihn zornig an, und Calum verfluchte sich, daß er einen so dummen Witz gerissen hatte. Er wollte sich gerade entschuldigen, als Fraser fortfuhr; seine Stimme klang jetzt ebenfalls unfreundlicher. »Hören Sie auf unseren Rat, oder Sie werden es bereuen.« »Fraser, ich bezweifle nicht, daß Sie ganz ernsthaft an irgend etwas glauben, aber worum geht es hier eigentlich? Es gibt keine Hexen. Wenn doch, dann hätten wir welche in LA. Keine Frage. Dort gibt’s auch alle möglichen anderen Spinner. Aber nichts da von Zaubersprüchen, Hexenversammlungen und Flüchen. Sie können doch nicht im Ernst von mir erwarten, daß ich Morags Angebot ausschlage, wenn Sie nicht irgend etwas Genaueres …« Calum wartete. Er wagte es nicht, noch ein Wort zu sagen. Natürlich hatte er alles sehr blöd angefangen, aber jetzt würden sie ihm bestimmt die Wahrheit verraten. Die Stille wurde durch ein scharfes Scharren unterbrochen, als Hector seinen Stuhl zurückschob und aufstand. Nach einem geknurrten gälischen Befehl erhoben sich die anderen ebenfalls. Hector baute sich turmhoch vor dem immer noch sitzenden Calum auf. »Wir haben Ihnen gesagt, daß wir die Vergangenheit nicht aufwühlen wollen. Wir haben versucht, Ihnen zu helfen. Sie haben darauf mit Zorn und Unglauben reagiert. Sie sollten auf uns hören, und wenn Sie das nicht tun, dann werden Sie es bereuen. Aber es ist Ihre Entscheidung. Tun Sie, was Sie wollen.« Mit diesen Worten wandte er sich ab, ließ sich ein Fläschchen Whisky geben und ging. Fraser und die anderen folgten ihm. Calum blieb allein in der Bar, er war erschütterter von dem Gespräch, als er zugeben mochte. 58
Dringend brauchte er jetzt einen anständigen Drink, doch der Barkeeper war verschwunden und kam auch auf sein Rufen nicht zurück. Hinter die Bar zu gehen und sich ein anständiges Glas einzugießen, galt ihm als kleines Symbol für seinen Widerstand gegen sie alle. Der Malt Whisky half ihm, sich für sein letztes Zusammentreffen mit dem harten Bett im Shobost zu entspannen, aber er verhalf ihm weder zu einem guten noch traumlosen Schlaf. »Na schön. Der Hahn ist draußen, links neben dem Eingang.« Er füllte sich ein gesprungenes Glas und setzte sich wieder. Sie starrte ihn durch ihre alte, vielfach reparierte Brille an, als hätte sie Mühe, ihn zu erkennen. Calum grinste zurück, und je länger das Schweigen dauerte, desto unwohler fühlte er sich. Nur die Uhr an der Wand tickte. Sie saß ganz klein auf ihrem winzigen Holzstuhl, strahlte aber eine kraftvolle Energie aus. Unter der wettergegerbten Haut deuteten die hohen Wangenknochen darauf hin, daß sie einmal schön gewesen war. Ihr dünnes weißes Haar hatte sie zu einem unsauberen Knoten hochgesteckt. Sie trug einen groben Tweed-Rock, einen formlosen Sweater, dicke braune Strümpfe, die so oft gestopft worden waren, daß von dem ursprünglichen Material kaum noch etwas zu sehen war, und zwei unterschiedliche hohe schwarze Schnürstiefel. Das helle Morgenlicht drang kaum in das dunkle Zimmer. Nachdem Calums Augen sich daran gewöhnt hatten, schaute er sich um. Die Wände waren von einem gleichmäßig dunklen Braun, wahrscheinlich in Jahrzehnten gefärbt vom Rauch des Ofens, der vor sich hin schmurgelte. Das kleine Wohnzimmer mit dem unebenen Kopfstein-Boden wurde von einem uralten, 59
eisengerahmten Webstuhl dominiert. In einer Ecke standen Waschbecken und Ofen, daneben eine alte Eichenholzkommode, in der Morags wenige Küchenutensilien, verbeulte Pfannen und Töpfe lagerten. Obendrauf standen zwanzig oder dreißig eselsohrige Bücher, dazu ein riesiges Holzradio, das aussah, als gehöre es in ein Museum. Es gab keine Nippessachen oder Bilder, auch konnte Calum weder einen Kühlschrank noch eine Spülmaschine, einen Fernseher oder ein Telefon entdecken. An den beiden gegenüberliegenden Seiten des Wohnzimmers befanden sich jeweils zwei kleine Schlafräume, deren Böden aus festgetretener Erde bestanden. Im Haus roch es auch nicht gerade toll. Calum schaute zurück zu Morag. Sie starrte ihn immer noch mit ihren stechend blaugrünen Augen an. Er fühlte sich langsam ziemlich komisch und wollte wenigstens irgendwas sagen. »Und, Morag, habt Ihr in diesem Haus schon als Kinder gewohnt? Ist mein Urgroßvater hier aufgewachsen?« »Nein, haben wir nicht. Hast du die drei Ruinen die Straße runter gesehen? Die mittlere war unseres. Es war auch ein Blackhouse, bloß ein bißchen größer als dieses.« »Ein Blackhouse?« »Das ist das Inselwort für diese alten Häuser. Die, die sie auf die neue Art bauen, nennen wir Whitehouses. Dieses hier war ursprünglich schindelgedeckt. Das rostige Blechdach haben wir vor ungefähr dreißig Jahren draufgemacht.« »Warum bist du umgezogen?« »Das Haus war in schlechtem Zustand und zu groß für nur meine Mutter und mich. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Ich war viel jünger als Murdo, dein Urgroßvater, und auch als meine Schwester Fiona. Unser 60
Vater verstarb drei Monate, bevor ich zur Welt kam, 1917. Er ist nicht im Krieg gefallen, sondern auf dem Rückweg. Die meisten Männer aus Lewis machten den letzten Teil ihrer Reise auf einem Schiff namens Iolaire. Der Captain nahm im Sturm den falschen Kurs, und das Schiff lief nicht weit von Stornoway entfernt auf Grund. Über siebzig Männer starben. Es heißt, so wäre in Lewis noch nie getrauert worden. Meine Mutter sprach nicht gern darüber; Fiona hat mir später davon erzählt.« »Was wurde aus Fiona?« »Sie hat Heringe eingesalzen und in Fässer gepackt. Das war damals eine Riesensache. Sie haben sie in die ganze Welt exportiert. Die Hering-Girls mußten viel reisen. Im Sommer nach Stornoway oder rüber aufs schottische Festland, im Winter in die Häfen Englands. In Yarmouth traf sie einen Engländer und heiratete ihn. Sie starb im Kindbett, das Baby ebenfalls. Es war dasselbe wie bei Murdo, wir haben sie nie wieder gesehen, nachdem sie gegangen war.« »Kannst du dich daran erinnern, wie dein Bruder die Insel verließ?« »Als wäre es gestern gewesen. Er war erst achtzehn, aber in meinen Augen war er ein richtiger Mann, eher ein Vater als ein Bruder. Ich habe ihn sehr geliebt.« »Und – hast du dich nicht verlassen gefühlt, wo er doch der einzige Mann in der Familie war?« »Für Murdo gab es hier keine Arbeit, und er wollte sein eigenes Leben führen. Er hat gesagt, er würde ein Vermögen machen und als reicher Mann zurückkehren, oder er würde uns zu sich nach Amerika holen.« »Wie traurig, daß es nicht geklappt hat.« »Das Leben kann schrecklich sein. Dabei hat es für ihn so gut ausgesehen. Er hat uns geschrieben. Er hat uns von 61
dem Mädchen erzählt, das er geheiratet hat – Mary, deine Urgroßmutter. Sie waren beide erst neunzehn. Er hat Fotos von ihnen beiden geschickt, und von deinem Großvater, als der auf die Welt gekommen war. In den nächsten paar Jahren hat Murdo nur noch selten geschrieben, bis wir von Mary hörten, daß er an Tuberkulose gestorben war. Diesen Tag werde ich nie vergessen. Auch meine Mutter zerbrach daran, aber sie wußte nicht, daß es noch schlimmer kommen würde.« »Und Mary blieb nicht mit euch in Verbindung?« »Oh, für eine Weile schon. Sie hat noch ein oder zwei Fotos von dem Kind geschickt. Dann kamen keine Briefe mehr von ihr, und unsere kamen zurück mit dem Vermerk ›verzogen‹. Wir haben nie herausbekommen, was damals geschehen ist.« »Wir sind nach New England gezogen. Sie ist wenig später gestorben. Mein Großvater wuchs in einem Waisenhaus in Maine auf. Er starb vor zwei Jahren an Krebs.« »Das tut mir sehr leid. Ich hätte ihn gerne kennengelernt.« »Ich bin sicher, Großvater hätte das auch gewollt. Er war ein sehr freundlicher, netter Mann. Er betrieb einen Laden für Angelzubehör. Ich stand ihm sehr nahe, näher als meinen eigenen Eltern. Er erinnerte sich sehr gut an seinen Vater, obwohl er erst fünf war, als er starb, vor allem an seine Erzählungen von Sgurr und Lewis. Großvater hat sie an mich weitergegeben. Deswegen hat mich dieser Ort so fasziniert.« »Wann wurde dein Vater geboren?« »1946. Er hat eine jüngere Schwester, Marnie, die jetzt in Seattle lebt. Dad ist in Mutters Heimatstadt gezogen, San Diego.« 62
»Und dort leben deine Eltern immer noch?« »Nein, Mom hält sich in Oregon auf, sie ist jetzt mit einem Tierarzt im Ruhestand verheiratet und Dad wohnt in Palm Springs, er hat seine vierte Ehe schon halbwegs hinter sich. Mom und er reden nicht miteinander.« »Du hast gesagt, ihr stündet einander nicht nahe?« »Nein, wir haben uns auseinandergelebt. Sie sind beide ziemlich beschäftigt mit ihrem Leben. Ich finde es ganz schön schwierig, mit ihnen auch nur zu reden. Dabei weiß ich noch, wie sehr ich sie geliebt habe, als Kind. Sie haben immer miteinander gestritten. Mom sah klasse aus, aber sie war schon damals ganz schön scharfzüngig! Als ich ungefähr zehn war, hat Dad sich entschieden, daß er ein ruhigeres Leben haben will und hat sie für eine ruhigere Kugel in LA verlassen. Zuerst fand ich das gar nicht so schlecht. Ich hab’ Dad einmal im Monat gesehen, und weil ich ein Einzelkind war, hatte ich Mom für mich. Dann hat sie sich mit einem anderen Typen eingelassen, Denny, einem DJ beim Lokalradio. Als der auftauchte, hat Mom irgendwie das Interesse an mir verloren. Sie war nicht gemein – es war bloß so, als wäre ihr Hirn einfach immer auf Urlaub. Sie war von dem Typ besessen. Ich habe ihn gehaßt, oder jedenfalls abgelehnt. Mom wollte mit ihm zusammenziehen, aber ich nicht, also habe ich ihn echt angenervt. Ich habe nicht damit gerechnet, daß er mich austrickst. ›Schaff das Kind weg, und ich zieh’ morgen mit dir zusammen. Wenn das Kind bleibt, kannst du mich vergessen.‹ Hat prima geklappt, sie hat meine Sachen gepackt, und ich lebte plötzlich bei Dad in LA. Das hat seine neue Frau natürlich richtig angemacht, wie du dir vorstellen kannst, und Dad fand es auch nicht so toll.« »Was ist mit dir, Calum? Hast du eine Freundin?«
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»Willst du ihr Bild sehen? Augenblick … Da, wie findest du’s? Sie heißt Marianna.« »Sie ist wunderschön. Wirst du sie heiraten?« »Hab’ ich schon. Wir sind geschieden.« »Tut mir leid. Liebst du sie immer noch?« »Wie verrückt.« »Armer Junge.« »Nein, eigentlich nicht. Marianna befindet ich in einer Phase, in der Geld ihr sehr viel bedeutet, und ich hatte einfach nicht genug. Brett, der Idiot, mit dem sie jetzt lebt, hat tierisch viel Geld. Er ist ein Riesentier in der Firma, wo sie arbeitet.« »Habt ihr Kinder?« »Ich wollte welche, aber Marianna nicht. Sie hat Angst, ihre Figur zu ruinieren. Aber sie hat auch noch richtig viel Zeit. Sie ist erst sechsundzwanzig. Wenn sie es sich anders überlegt, werden wir hoffentlich trotzdem noch Kinder haben. Sie sagt nur, daß sie mich nicht mehr liebt, aber vielleicht wird sie eines Tages wieder zu sich selbst finden. Und dann muß ich für sie da sein.« »Wenn sie aber so viel Wert auf Geld legt und ihr neuer Mann so reich ist … Ist es dann wahrscheinlich, daß sie sich besinnt?« »Bevor sie mich verlassen hat, sagte sie immer, wenn ich viel Geld hätte, fünf Millionen Dollar oder so, dann wäre alles anders. Ich habe die Wahl: Entweder ich komme über sie weg, oder ich schaffe fünf Millionen ran. So wie es mir jetzt geht, ist es viel, viel einfacher das Geld aufzutreiben, als über sie wegzukommen. Aber wer weiß? Noch ein paar Wochen hier, und ich vergesse vielleicht, daß es sie je gab.«
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»Ich hoffe es, um deinetwillen. In Lewis ist es wirklich nicht einfach, Millionen zu verdienen.« »Morag, entschuldigst du mich mal bitte? Wo ist das Bad?« »Hinten raus gibt’s ein Klohäuschen, aber ich habe kein Bad. Ich wärme mir einmal die Woche auf dem Ofen eine Wanne Wasser. Hinterher wasche ich darin meine Sachen.« Er besuchte das Klohäuschen und kehrte so schnell wie nur irgend möglich zurück. »Sag mal, Morag, ich kann mich doch sicher irgendwie nützlich machen, während ich hier bin. Kann ich dir mit irgendwas helfen?« »Da kannst alles mögliche für mich tun, aber lassen wir das doch erst mal. Vor allem möchte ich, daß du mit mir redest. Seit meine Mutter gestorben ist, hat mir nur das Radio Gesellschaft geleistet.« »Hast du denn überhaupt keine Freunde?« »Nein.« »Wieso nicht, Morag? Magst du keine Leute?« »Nicht unbedingt. Aber vor allem mögen die Leute mich nicht.« »Hast du nicht mal einen Hund?« »Ich hatte viele Hunde über die Jahre. Collies. Der letzte ist vergangenes Jahr gestorben, nachdem wir dreizehn Jahre zusammen waren. Jetzt bin ich zu alt, mir einen neuen zu holen. Wenn ich sterbe, würde sich niemand um das arme Tier kümmern … So, Calum, es wird spät, ich muß jetzt Essen für uns machen. Während du hier wohnst, gibt es Porridge zum Frühstück, mittags Suppe, und Fleisch und Kartoffeln zum Abendbrot. Danach webe ich Tweed, höre Radio und trinke ein Gläschen. Ich stehe um 65
sechs auf und bin um zehn im Bett. Du machst es genauso.« Calum nickte und bedankte sich bei ihr. Er wollte das einfache Leben kennenlernen, und es klang so, als wäre das hier auf alle Fälle möglich. Sie hatte gesagt, er könne einen Monat bleiben. Er hoffte, daß er solange durchhalten würde. Wie, zum Teufel, sollte er in diesem winzigen Bett schlafen?
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5 Nach ein paar Wochen bemerkte Calum, daß es ihm nicht wirklich etwas ausmachte, geächtet zu werden. Genaugenommen hätte er sich wahrscheinlich gar nicht so eng mit Morag solidarisieren können, wenn ihn nicht die ganze Stadt geschnitten hätte, seit er bei ihr eingezogen war. In Sgurr nan Creag gab es keine Heuchelei. Zickigkeit, Engstirnigkeit, offene Bosheit – ja; Heuchelei – nein. Calum kehrte nie in die Shobost-Bar zurück, und wenn er, was selten genug der Fall war, gelegentlich Fraser, Hector oder einen der anderen auf der Straße traf, ignorieren sie ihn einfach. Das hinderte ihn aber nicht daran, sich umzuschauen. In dem kleinen Laden beispielsweise bediente man ihn. Stumm nahmen sie sein Geld entgegen. Er mußte nicht oft dort hingehen, weil Morag ein gut funktionierendes System für die tägliche Lieferung entwickelt hatte. Da der Ladeninhaber und seine Frau sich weigerten, Morags Haus zu besuchen, wurde die Kiste von dem Tweed-Mann geliefert, der ohnehin zu ihr mußte. Der Tweed-Mann bezahlte im Laden und zog es von dem ab, was er Morag schuldete, und auf dieselbe Weise kümmerte er sich auch um ihre Nebenkosten. Er war der einzige Mensch, der einigermaßen freundlich zu ihr war, aber er lebte auch nicht in Sgurr, er reiste durch alle kleinen Orte in der Gegend und holte die frischgewebten Stoffe ab. Calums Beziehung zu Morag entwickelte sich sehr langsam. Als sie die Familiengeschichte erst einmal komplett durchgekaut hatten, wurde es schwieriger, Themen zu finden. Morag sagte zwar, daß sie gerne mit 67
ihm redete, sie hatte aber keine Übung darin und schien lange Gesprächspausen keineswegs störend zu finden oder auch nur zu bemerken. Calum fragte am ersten Abend beim Essen nach Hector und Fraser. Morag schüttelte den Kopf, stand auf, räumte die Teller weg und ging dann ohne ein weiteres Wort rüber an ihren Webstuhl. So lernte er, den Mund zu halten und nicht jede Minute nach Gesprächsthemen zu suchen. Das Leben in der kleinen Hütte war unglaublich einfach, aber überraschenderweise gewöhnte er sich daran. Die Luft von der See her war so kräftig, daß die harten Bretter und das kleine Brett ihn nicht davon abhielten, hervorragend zu schlafen. Morags Mahlzeiten waren einfach und nicht besonders vielseitig, aber zweifellos nahrhaft, wie ein kleiner Rettungsring um seine Taille bald bewies. Mit den Wochen dehnten sich seine Gespräche mit Morag aus und wurden auch häufiger. Am Anfang umgab sie trotz ihrer Freundlichkeit etwas freudloses; sie erinnerte Calum an ein vernachlässigtes Kind, dem nie jemand beigebracht hatte, wie man spielt. Aber dann veränderte sie sich. Ihr Blick verlor diese verzweifelte Leere, und manchmal entdeckte er sogar ein Funkeln in ihren Augen. Er freute sich, wenn sie anfing zu lächeln und Spaß an etwas hatte. Der Monat, auf den sie sich geeinigt hatten, verging, und keiner von ihnen empfand es als notwendig, eine neue Zeitspanne zu definieren. Das einzige, was ihm immer noch Schwierigkeiten machte, war das Waschen. Er gab sich alle Mühe, sich in seiner Koje zusammenzurollen, wenn Morag badete, sie tat ihm diesen Gefallen umgekehrt jedoch nicht. Beim ersten Mal erwärmte sie das Wasser in der kleinen Blechwanne und setzte sich dann davor. Als er freundlich 68
fragte, wohin sie gehen wolle, während er badete, sagte sie, sie fühle sich dort wohl, wo sie säße. Er stand noch ein Weilchen herum und hoffte darauf, daß sie sich wenigstens abwandte, erst als sie dazu keine Anstalten machte, zog er Hemd und Jeans aus; bestimmt würde sie jetzt wenigstens wegschauen. Aber auch das tat sie nicht. Er zitterte in seinen Boxer-Shorts und starrte sie entschlossen an. Sie starrte zurück. Ihm blieb nichts anderes übrig, als es auszusprechen. »Entschuldige, Morag. Ich möchte baden. Hättest du etwas dagegen …?« »Wogegen?« »Mich in Ruhe zu lassen.« »Wieso? Stell dich nicht so an. Ich bin deine Urgroßtante. Mach dir keine Sorgen. Steig einfach rein.« Was blieb ihm anderes übrig. Sie hatte die besseren Nerven. Beim ersten Mal stieg er noch samt seinen BoxerShorts in die Wanne und kam sich dabei vor wie ein Schuljunge. Beim nächsten Mal zog er sich aus, und sie betrachtete ihn in aller Ruhe, pudelnackt wie er war. Calum half ihr, Gemüse zu pflanzen, was verdammt anstrengend war, und er erledigte auch einige kleinere Reparaturen. Danach schmerzten ihn Muskelpartien, die kein Fitneß-Center in Kalifornien je entdeckt hatte. Sie schickte ihn auf das niedrige Dach, um die Bleche besser zu befestigen, und lachte lauthals, als er sofort wieder herunterrutschte und in einem Busch landete. Abends aßen sie früh, damit Morag anschließend noch weben konnte. Während sie webte, lief immer das Radio, so laut aufgedreht, daß das dauernde Klicken des Webstuhls übertönt wurde. Manchmal machte Morag eine Pause, nahm einen Schluck Whisky und gab präzise Kommentare zu den Meinungen der Nachrichtensprecher ab; Calum 69
war erstaunt, wie gut informiert sie war. Sie war unglaublich interessiert an allem Neuen und ließ sich von Calum erklären, wie das Internet funktionierte und wie das Leben in Amerika war. Im Gegenzug erzählt sie ihm alte Geschichten von den Inseln und ihrer frühen Kindheit, aber immer noch hatte sie ihm nicht erklärt, warum die Dorfbewohner sie schnitten. Das war das einzige, was ihn noch verunsicherte. Ab und zu dachte er an Fräsers Warnung und … nun ja, er dachte einfach daran. Bis er herausbekam, was dahintersteckte, würde er sich in Morags Gegenwart stets ein wenig unsicher fühlen. Aber er wartete den richtigen Augenblick ab, bevor er die Frage eines Abends noch einmal zu stellen wagte. »Morag, diese Männer im Shobost … Fraser und seine Freunde. Sie haben ein paar merkwürdige Sachen gesagt. Darf ich dich fragen, worum es dabei ging?« Sie hörte auf zu weben und schaute Calum an. Er konnte den Schmerz in ihrem Blick sehen und verwünschte sich. Aber nun war es dafür zu spät. »Was haben sie dir gesagt?« »Nicht viel. Bloß, daß du … daß es vielleicht keine so gute Idee wäre, wenn ich mich hier rumtreibe.« »Und was noch?« »Eigentlich nichts. Einer von ihnen hat dich eine Hexe genannt.« »Immer noch eine ›Hexe‹, nach all den Jahren, und das, nachdem sie doch selbst so alt sind … Na gut, Calum, ich werde dir die ganze lange, traurige Geschichte berichten. Es gibt Teile davon, die ich noch nie einem lebenden Menschen erzählt habe, nicht einmal meiner eigenen Mutter. Du mußt mir versprechen, daß du sie für dich behalten wirst, solange ich lebe. Wenn ich nicht mehr bin, ist es mir egal. Versprichst du das?« 70
»Natürlich.« »Es begann alles, als ich ungefähr fünfzehn war. Damals gab es noch andere Buchanans hier, vier Familien alleine in Sgurr nan Creag. In einer dieser Familien gab es einen Jungen in meinem Alter, Iain, einen Cousin von mir. Wir wurden in der gleichen Woche geboren, und als Kinder verbrachten wir viel Zeit miteinander. Eines Tages im Sommer spielten wir am Ufer eines Flüßchens bei Ruigh. Iain spritzte mich mit Wasser naß, und ich ihn auch. Das hatten wir schon oft gemacht. Aber diesmal war es anders. Ich fühlte mich komisch, ich zitterte beinahe, als ob irgend etwas über mich käme. Ich schaute Iain an, und ich konnte in seinen Augen lesen, daß es ihm genauso ging. Plötzlich küßten wir uns. Dabei verloren wir das Gleichgewicht und fielen ins Wasser, aber Iain ließ nicht los, und wir küßten uns immer weiter, während das Wasser um uns herum aufschäumte. Wir hatten Glück, daß es noch nicht mal einen Meter tief war, sonst wären wir ertrunken. Natürlich waren wir klatschnaß und zitterten vor Kälte, als wir herausstiegen. Wir sagten nichts; wir schauten einander nicht einmal an. Völlig durchnäßt konnten wir nicht heimgehen, also mußten wir unsere Sachen auswringen und in der Sonne herumrennen, bis wir wenigstens halb trocken waren.« »War das dein erster Kuß?« »Mit fünfzehn? Natürlich! Damals hatte man in dem Alter noch keine Freunde, so wie heute. Wenn meine Mutter gewußt hätte, daß ich irgendwen küßte, hätte sie mir die Haut bei lebendigem Leibe abgezogen. Und weil wir Cousin und Cousine waren, kam es uns noch verbotener vor. Ich hatte keine Ahnung, wie die Gesetze lauteten, aber ich war ganz sicher, daß es falsch war.« »Und was geschah dann?« 71
»Iain und ich sahen einander ein paar Tage nicht. Ich habe die ganze Zeit an ihn gedacht. Eines Abends war ich dann wieder in der Nähe des Flusses …« »Ganz zufällig?« »Was glaubst du denn?« »Erzähl weiter.« »Wir küßten uns wieder, eine Stunde lang. Aber diesmal achteten wir darauf, nicht ins Wasser zu fallen.« »Und …?« »Kein und. Wir küßten uns einfach. Du hast ja keine Vorstellung davon, wie rein und unverdorben wir damals alle noch waren. Danach trafen wir uns, so oft wir konnten. Es war ein schreckliches Geheimnis, und wir mußten sehr vorsichtig sein. Wenn man uns entdeckt hätte, wären nicht nur meine Mutter und Iains Eltern ausgerastet, auch der Priester wäre über uns gekommen. Die Kirche ist heutzutage immer noch mächtig, aber wie es damals war, würdest du mir bestimmt nicht glauben. Sie kamen jeden Monat ins Haus, um zu überprüfen, ob wir die Bibel auch richtig studierten. Wenn sie gewußt hätten, was wir vorhatten, hätten sie uns gehängt, gehackt und gevierteilt. Aber wir konnten nicht anders, so verliebt waren wir ineinander. Wir wollten warten, bis wir achtzehn waren, was in Schottland Volljährigkeit bedeutete, und dann klären, ob Cousin und Cousine heiraten konnten. Wenn nicht, würden wir gemeinsam davonlaufen und irgendwo anders unter falschem Namen leben.« »Und was geschah dann?« »Das schlimmste auf der ganzen Welt. Iains Vater war Kleinbauer und mußte vier hungrige Mäuler stopfen. Das war während der Depression nicht einfach. Du mußt wissen, Iain war der älteste in seiner Familie, die anderen waren noch zu jung, um zu helfen, die wollten bloß essen. 72
Ein Cousin von ihnen war nach Neuseeland ausgewandert; er schrieb und bot ihnen an, einen Teil seines Landes zu bewirtschaften. Iains Vater wußte hier nicht mehr weiter und entschied sich, ihm zu folgen.« »Sofort?« »Nein, Gott sei Dank nicht, wir hatten noch ein paar Monate, bevor sie abreisten. Wir schworen uns Treue und schlossen einen geheimen Pakt, daß wir wieder zusammenkommen würden, sobald wir alt genug wären. Aber trotzdem konnten wir es nicht aushalten, so lange getrennt zu sein. In jenem Alter schien das eine Ewigkeit zu sein. Wir mußten einander nahe bleiben. Damals brauchten Briefe drei Monate … Calum, mein Glas ist leer, und ich glaube, ohne einen weiteren Drink kann ich nicht zu Ende erzählen. Holst du die Flasche unter dem Ausguß hervor, die mir der Tweed-Mann zu Weihnachten geschenkt hat?« »Den Bowmore? Ich dachte, den wolltest du für einen besonderen Anlaß aufheben.« »Dies ist ein besonderer Anlaß... Also, wo war ich?« »Ihr wolltet einander nahe bleiben.« »Oh, ja. Zwischen ihm und mir gab es immer dieses Etwas – und damit meine ich nicht die Liebe. Schon als Kinder wußten wir, was der andere dachte oder fühlte. Ich wußte es einfach, wenn mit ihm etwas nicht stimmte, ohne ihn auch nur zu sehen. Wir fragten uns, ob das auch über Tausende von Meilen hinweg funktionieren würde, oder ob die Entfernung zu groß wäre. Also fingen wir an zu üben, miteinander in Verbindung zu treten. Wir setzten uns zusammen, einer von uns konzentrierte sich auf etwas, und der andere mußte raten, auf was.« »An was habt ihr da so gedacht?« 73
»Oh, irgendwas. Einfache Sachen – an einen Fisch oder einen Apfel. Am Anfang war es schwer. Einmal wollte ich ihn ärgern und konzentrierte mich auf den Slip, den ich trug. Iain riet den Pfarrer. Darüber haben wir uns kaputtgelacht. Mit der Zeit wurden wir besser, also vergrößerten wir die Entfernung. Jeder ging zwei oder drei Meilen in entgegengesetzte Richtungen, dann versuchten wir es noch einmal. Es ging gut. Wir übten so intensiv, daß wir nach zwei oder drei Monaten beinahe miteinander reden konnten. Nichts Kompliziertes natürlich – aber wie wir uns fühlten, was wir machten.« »Schließlich warst du bereit, ihn gehen zu lassen?« »Wir waren vorbereitet, ja. Trotzdem war es ein schrecklicher Tag. Sie sind mit einem Ponywagen bis zur Bushaltestelle gefahren, ich bin den ganzen Weg hinter ihnen hergegangen und hab’ mir die Augen ausgeheult. Dann kam der Bus und brachte sie nach Stornoway.« »Aber du und Iain, ihr habt die ganze Fahrt über ›geredet‹.« »Soviel wir konnten, auf dem Dampfer nach Glasgow, dann auf dem Schiff durch den Suez-Kanal, den Indischen Ozean und den Pazifik. Ich kann mich nicht mehr an alle Häfen erinnern, in denen sie ankerten.« »Und nachdem sie in Neuseeland angekommen waren?« »Die Farm lag auf South Island, nahe am Meer. Das Leben dort war schwerer, als sie erwartet hatten. Das Land war ungepflügt und zu nichts zu gebrauchen, außer zur Schafzucht, und sie hatten kein Geld, sich Schafe zu kaufen. Also mußte Iains Vater anfangs auf der Farm seines Cousins arbeiten.« »Das alles weißt du aus Iains >Berichten« »Einiges. Seine Familie schrieb außerdem an meine Mutter.« 74
»War Iain glücklich?« »Er war nur sechs Wochen dort. Hier war Winter, ein schrecklicher Winter. Eines Nachts erwachte ich von einem furchtbaren Schmerz. Ich zitterte vor Fieber, konnte kaum atmen und rief nach meiner Mutter. Sie entzündete eine Öllampe – damals hatten wir noch keinen Strom –, kam zu mir und war entsetzt. Wir hatten kein Fieberthermometer, aber ich hatte bestimmt über vierzig Grad. Ich wußte, daß Iain etwas zugestoßen war. Es war, als ob er nach mir schrie, aber ich verstand es nicht. Dann spürte ich etwas ganz klar. Iain sagte … er müsse sich von mir verabschieden. Tut mir leid, Calum, selbst nach all den Jahren kann ich nicht daran denken, ohne zu weinen … Vielen Dank, mein Lieber, das tut gut, wenn du mich berührst.« »Was war los? Ist er plötzlich krank geworden?« »Er ist ertrunken. Zum ersten Mal war er im Meer Schwimmen gegangen … Aber er war die Höhe der Wellen und den Sog der Strömung nicht gewöhnt, wurde hinaus gezogen und hatte keine Kraft, zurückzuschwimmen, Iains Mutter schrieb es uns. Zuvor hatte ich nicht gewußt, wie er gestorben war, aber ich wußte, daß er von uns gegangen war, das wußte ich. Es war, als hätte jemand ein Licht in mir drin ausgeschaltet.« »Großer Gott, das muß schrecklich sein, wenn man erst fünfzehn ist. Du mußt ewig gebraucht haben, um drüber wegzukommen. Wie lange hast du ihn noch geliebt?« »Inzwischen ungefähr siebzig Jahre.« »Und was hast du getan? Hast du jemandem davon erzählt?« »Niemandem. Ich war so unendlich allein ohne ihn. Auf meine Kinderart fragte ich mich, ob ich auch im Himmel mit ihm reden könnte. Ich dachte, wenn ich meine 75
Gedanken mit aller Kraft himmelwärts schickte, würden sie ihn irgendwann erreichen. Bloß – der Himmel ist so verdammt groß, und ich wußte sowieso nicht, wo genau die Engel sind, also dachte ich, ich fange mal mit dem Mond an, nur so zum Üben. Wann immer die Nacht wolkenlos war, ging ich raus und starrte ihn an, mit all meiner Kraft schickte ich meine Gedanken dorthin.« »Was hielt deine Mutter davon?« »Das war, bevor der Brief mit der Nachricht von Iians Tod kam, also sah sie den Zusammenhang nicht. Sie wußte nur, daß mich etwas bedrückte, und sie versuchte nicht, mich aufzuhalten. Ich machte es wochenlang, Nacht für Nacht. Wenn ich den Mond nicht sehen konnte, stellte ich ihn mir hinter den Wolken vor.« »Und was geschah dann?« »Es war gegen elf Uhr in einer kalten Nacht im März. Bei Vollmond. Ich habe es in dieser Nacht so sehr versucht, daran erinnere ich mich noch. Plötzlich hatte ich diese eigenartige Vision vor Augen – als wäre ich ganz von Weiß umhüllt. Ich konnte nichts genaues sehen, nur das Weiß, dachte aber, ich wäre im Himmel und würde gleich Iain treffen. In einer Art Trance rief ich nach ihm. Aber er antwortete nicht, da war nichts, nur dieses merkwürdige Weiß, das bald verblaßte. Als ich zurück ins Haus ging, begann es zu schneien. Ich kam gerade noch rechtzeitig heim. Augenblicke später schneite es heftiger, der Wind frischte auf und wurde zum Sturm. Eine halbe Stunde später war draußen alles weiß. Das war der schlimmste Schneesturm in diesem Winter.« »Augenblick mal, Morag, das versteh’ ich jetzt nicht. Was hat das mit Iain zu tun?« »Nichts. Aber das Weiß, der Schnee. Ich hatte es vorhergesehen. So etwas ist mir danach noch öfter 76
passiert. Wann immer ich zum Mond schaute und mit Iain reden wollte, hatte ich dieses merkwürdigen Vorahnungen, was bald geschehen würde.« »Iain hat also nicht mit dir geredet?« »Niemals. Ich habe meiner Mutter von diesen komischen Gefühlen erzählt, und sie hat gesagt, ich soll es niemandem sagen. Die Leute hätten Angst vor Menschen mit dem sechsten Sinn. Ihre Mutter, die gestorben ist, als ich sieben war, hatte ihn, und die Leute haben sich von ihr ferngehalten. Meine Mutter sagte, mir würde dasselbe drohen, wenn es jemand erführe.« »Aber sie haben’s herausgefunden? Nennen Sie dich deswegen eine Hexe?« »In jenem Juni, an einem wunderbaren Spätsommerabend, stand der Mond hoch am Himmel, obwohl es noch gar nicht dunkel war. Ich starrte ihn einfach nur an. Und sah Sturm und Tod. Ich wußte, daß die Fischer bald aufs Meer hinausfahren wollten, also rannte ich zu ihnen und sagte, sie sollten im Hafen bleiben. Darüber waren sie wütend. Es gilt hier als böses Omen, eine Frau zu sehen, bevor man zum Fischen fährt. Sie sagten, ich solle mich zum Teufel scheren und vom Hafen fernhalten.« »Also fuhren sie hinaus aufs Meer?« »Ein schlimmer Sturm kam auf. Drei von ihnen wurden über Bord gespült und ertranken. Einer von denen, die starben, war Hector MacDonalds Vater. Hector war damals elf. Im Dorf war die Hölle los. Manche dachten, ich wäre daran schuld, weil ich in den Hafen gekommen war, andere sagten, ich hätte den sechsten Sinn. Der Priester kam zu uns nach Hause und erklärte meiner Mutter, daß ich exorziert werden müsse. Als sie das
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ablehnte, schloß man sie aus der Gemeinde aus. Das war damals etwas Schreckliches. Wir waren abgegrenzt.« »Und seitdem schneiden sie dich, nur deswegen?« »Das ist nicht das Ende der Geschichte. Ich wuchs heran zu einem hübschen jungen Mädchen – sehr hübsch, auch wenn ich das nun selbst sage. Niemand hat die Ertrunkenen vergessen, aber die jungen Männer verdrängten es. In der Stadt gab es nur wenige Mädchen, und ich war das hübscheste. Sie wußten nicht, daß der einzige Junge, der mich interessierte, mein toter Iain war. Als ich sie alle abblitzen ließ, zogen sie über mich her. Dann kam der Krieg. Einige wurden gleich eingezogen, aber Hector und seine Freunde waren zu jung. Sie kamen erst 1942 dran. In ihrer letzten Nacht hier im Dorf betranken sich Hector und zwei seiner Freunde ganz schrecklich und trafen mich dann auf der Straße. Sie riefen mir … schlimme Dinge zu. Hector sagte, er würde es mir heimzahlen, seinen Vater getötet zu haben. Ich wehrte mich wie verrückt, aber ich hatte keine Chance. Zwei von ihnen hielten mich fest, während Hector Mc-Donald tat, was er wollte. Einmal bekam ich einen Arm frei. Die Narbe hat er heute noch.« »Ich hoffe bloß, diese Schweine saßen ewig im Knast.« »Als ich heimkam, rannte meine Mutter zum Haus des Pfarrers, doch er lehnte es ab, ihr zu helfen. Im Dorf gab es keine Polizei, die nächste Wache war zwölf Meilen entfernt. Wir gingen am nächsten Tag dorthin, aber da waren die Jungen schon bei der Armee. Die Polizeibeamten sagten, es gäbe keine Zeugen und nicht genug Beweise, um sie zurückzuholen. Die Ermittlung müßte warten, bis sie aus dem Krieg heimkehrten. Sie versuchten alles mögliche, daß wir die Anklage fallenließen, wiesen uns darauf hin, was für ein schrecklicher Skandal es sein würde. Ich weigerte mich, 78
die Anzeige zurückzuziehen, und meine Mutter unterstützte mich.« »Und als der Krieg vorbei war …?« »Sie kamen 1944 zurück, jedenfalls zwei von ihnen. Willie Nicholson fiel in Caen. Die Polizei vernahm sie, und die Sache sickerte an die Zeitungen durch. Doch sie behaupteten beide, ich hätte sie verführt. Die Zeiten waren gegen mich. Alle freuten sich über den Sieg, sie waren Kriegshelden. Die Polizisten sagten, das alles sei vor so langer Zeit geschehen, wir sollten es ruhen lassen.« »Und was geschah am Ende?« »Das war das Ende. Alle wußten, daß sie es getan hatten, aber man warf meiner Mutter und mir vor, Schande über das Dorf gebracht zu haben. Niemand sprach je wieder mit uns. Aber sie ließen uns leben. Ja, sie ließen uns leben! Wir waren bloß nicht länger Teil der Gemeinschaft.« »Ich kann es kaum glauben! Diese Ungerechtigkeit! Willst du damit sagen, daß Hector einfach laufengelassen wurde?« »Mehr oder weniger. Aber da sie ja der Meinung waren, ich wäre eine Hexe, entschied ich mich, es ihnen heimzuzahlen. Als ich ihn das nächste Mal auf der Straße traf, grinste er mich an. Ich ging zu ihm rüber und sagte ihm, ich hätte ihn verflucht. Natürlich war das nur Blödsinn. Ich wollte ihm Angst machen, das war alles. Aber er glaubt, der Fluch hat funktioniert. Er hat zwei Kinder. Eins ist gestorben, das andere ist behindert. Dieser Sohn ist jetzt auch schon fünfzig. Hectors Frau muß sich wie um ein Baby um ihn kümmern. Hector sagt, das wäre alles meine Schuld.« »Seit deine Mutter gestorben ist, bist du ganz allein?« »Ja.« 79
»Ich kann mir kaum vorstellen, wie einsam du gewesen sein mußt.« »Nicht so sehr, wie du denkst. Man gewöhnt sich dran. Die Gesellschaft von anderen Menschen wird meist überschätzt. Die meisten verbringen ihre Zeit sowieso mit Klatsch und Tratsch. So lügt mich wenigstens niemand an oder betrügt mich. Es klingt für dich vielleicht närrisch, aber ich rede mit dem Wind und dem Regen – das sind meine wirklichen Freunde. Wenn es jüngere Leute im Dorf gäbe, wäre es möglicherweise anders. Die würden diesen Blödsinn über Hexen vielleicht nicht glauben. Aber wie du sicher bemerkt hast, gibt es hier keine jungen Leute mehr. Sie sind alle weggezogen und werden nicht zurückkehren. Es sieht aus, als sollte das Dorf endgültig zugrunde gehen.«
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6 Ein weiterer Monat verging. Es gefiel ihm hervorragend hier. Aber sein Problem verschwand nicht. Er streichelte Mariannas Bild immer noch jeden Abend, bevor er einschlief, wagte aber nicht, mit ihr zu sprechen, nicht bevor er etwas erreicht hatte. Nachts schlich er sich manchmal zu der Telefonzelle und wählte ihre Nummer, nur um die paar Worte auf ihrem Anrufbeantworter zu hören. Sein Entschluß, mit Morag nicht viel über Marianna zu reden, brachte auch nichts. Er erzählte viel zu gern von den ersten Tagen, nachdem er sie auf der Reise nach Albuquerque kennengelernt hatte. Sie war damals vierundzwanzig und arbeitete dort in einer Fabrik. Calum hielt sich in einer Bar auf, er machte Urlaub mit seinem besten Freund Pete. Marianna und ihre Freundin kamen direkt zu ihnen und fragten, ob sie ihnen was zu trinken spendieren würden. Sie war das schönste Mädchen, das Calum je gesehen hatte. Pete behauptete immer, daß sie sich Calum an den Hals geworfen hätte, weil sie zwei Wochen später nach LA kam und einfach bei ihm einzog. Gut, Marianna hatte ihn angemacht, aber warum nicht? Er hätte das sowieso nicht alleine zustande gebracht. Als er ihr gestand, daß seine Angst, verletzt zu werden, es ihm schwermache, jemandem zu trauen, schwor sie bei allem, was ihr heilig war, daß sie bis ans Ende aller Zeiten bei ihm bleiben wolle. Calum war noch nie verliebt gewesen, und er hatte auch nicht viel mit Mädchen zu tun gehabt. Zwar ging er schon davon aus, daß er nicht so schlecht aussah, aber er wußte, daß es ihm an Selbstbewußtsein mangelte. Alle 81
schönen Mädchen standen auf Typen, die lustig daherredeten, locker drauf waren und einfach den Gewinnertyp markierten. Calum war schüchtern. Aber jetzt war es anders! Ausgerechnet er hatte ein Top-Girl wie Marianna abgestaubt! Wenn sie die Straße entlang gingen, verdrehten die Männer die Köpfe so sehr, daß ihre Halswirbel knackten. Im ersten Jahr war es wundervoll. Marianna war noch nie in Kalifornien gewesen, und Calum freute sich an ihrer Freude, wenn sie ein schickes Restaurant oder Hotel betraten. Sie überredete ihn, in ein teureres Apartment zu ziehen, eine wirklich schöne Wohnung, und gab jede Menge seines Geldes dafür aus, es als ihr Liebesnest einzurichten. Sie sagte, es sei ihr egal, daß der Job, den sie bei der lokalen Telefongesellschaft bekommen hatte, unfaßbar langweilig wäre. Wenn mit Calums Arbeit bei der Broker-Firma alles gut liefe, brauchten sie das zweite Einkommen ja sowieso nicht mehr lange. Seine Zuversicht stieg ein wenig von ihrem angestammten Platz weit unter Null nach oben, und er erkannte, daß das Leben mehr als nur ein langer Hindernislauf sein konnte. Marianna brachte ihn dazu, sich positiver zu sehen und zu verhalten, ja, sie bestand sogar darauf. Bald brachte sie ihn dazu, sich zu benehmen, als wäre er jemand. Morag hörte genau zu, äußerte sich aber nicht. So berichtete er von Mariannas Launenhaftigkeit, als er es nicht schaffte, richtig Geld zu verdienen, von ihrer Frustration über ihren dämlichen Job und dem gnadenlosen Druck auf ihn, ihr etwas besseres zu besorgen. Calum bettelte ein paar Freunde an und brachte sie als Assistentin bei einer der großen HollywoodAgenturen unter. Sie war begeistert, und für ein oder zwei Monate war alles gut. Dann hatte die Welt des Glamours sie fest im Griff. Sie ging auf Parties in schicken Häusern 82
in Beverly Hills und kam verändert zurück. Es reichte ihr nicht, diese Glitzerwelt anzustaunen: sie wollte selbst dazugehören. Calum kapierte lange nicht, was unausweichlich folgen mußte. Wenn Marianna sich erst einmal überlegt hatte, was sie wollte, konnte man sie nicht mehr davon abbringen. Doch Calum konnte nicht mithalten. Sein Einkommen als Broker reichte gerade, um einen aufwendigen Lifestyle vorzutäuschen, aber es war viel zu wenig, ihn richtig zu leben. Wenn es nicht Brett Marquardt gewesen wäre, dann irgendein anderer Jäger, der ihr Wohlstand, Macht und Prestige im Gegenzug für ihren geschmeidigen Körper und ihr tolles Aussehen bieten konnte. Morag seufzte mitleidig, was Calum dazu veranlaßte, seinen eigenen Anteil an der Katastrophe zu betonen und Marianna zu verteidigen. Es war doch nicht ihre Schuld, daß sie so auf Geld reagierte. Ihre Eltern hatten keins, und insofern war es nicht überraschend, daß es sie aus dem Gleichgewicht brachte. Die Trennung war in vielerlei Hinsicht seine Schuld, nicht die Mariannas. Anstatt ihr Raum und die Möglichkeit zum Experimentieren zu bieten, war er aufgrund seiner Angst besitzergreifend und fordernd geworden. Wenn er sie nicht so unter Druck gesetzt und verhört hätte, nicht so über sie hergezogen wäre, dann wäre sie vielleicht immer noch mit ihm zusammen. Morag ließ ihn reden und behielt ihre Gedanken für sich. Nun wenn sie über seine Arbeit sprachen, ähnelte es eher einem Dialog. Morag hatte etwas an sich, was Calum half, die Dinge unvoreingenommen zu betrachten. Zum ersten Mal gab er auch sich selbst gegenüber zu, wie weit er gegangen war, um mit den anderen Brokern Schritt zu halten. 83
Er hatte die Anzüge der Branchenstars kopiert, ihren Haarschnitt, ihre Redeweise, ihr manieriertes Auftreten und ihre Ansichten. Er war ihnen in den Arsch gekrochen, und sie hatten ihn als Witzfigur toleriert, aber irgendwann trieben sie es zu weit, und er schnappte zurück. Als Morag seine Stories von der Geschäftspolitik, der Hinterhältigkeit und dem unglaublichen Erfolgsdruck hörte, schüttelte sie nur erstaunt den Kopf. Es war ihr ein Rätsel, warum Calum sich eine Arbeit ausgesucht hatte, die er so offensichtlich haßte und für die er, wie er selbst einsah, auch keinerlei Talent besaß. »Ich verstehe dich nicht, Calum, mein Lieber. Du sagst doch selbst, daß du so gerne malst. Warum bist du dann nicht Künstler geworden?« »Oh, habe ich dir das nicht erzählt? Ein Jahr lang habe ich es probiert, bevor ich in das Broking-Geschäft eingestiegen bin. Man kann nicht gut vom Malen leben, wenn man nicht sehr erfolgreich ist.« »Was macht das schon, solange du das, was du tust, gern tust! Einige der großartigsten Maler lebten in Armut und wurden erst nach ihrem Tod berühmt.« »Was nützt es einem, als Toter berühmt zu sein, wenn man das nicht wenigstens schon vorher weiß? Morag, ich will doch nicht mein ganzes Leben ein Versager bleiben. Und wo ich herkomme, bist du ein Versager, wenn du nicht genug Geld verdienst.« »Das klingt sehr schäbig. Mißt man so den Wert eines Menschen?« »Es ist nicht nur eine Maßeinheit, es geht auch darum, was man davon hat. Obwohl ich kein guter Broker war, konnte ich mir doch alles mögliche leisten. Du weißt schon … Eine große Wohnung, einen netten Wagen, schöne Urlaube und so. Wenn ich nicht in dieser Liga 84
gespielt hätte, wäre ich bei meinen Freunden abgeschrieben gewesen, und ein Mädchen wie Marianna hätte mich nicht einmal angeschaut. Die Meinung der Menschen ist wichtig, verstehst du das?« »Calum, es gibt da etwas, das du niemals vergessen solltest. Wenn du alt wirst und auf dein Leben zurückschaust, dann erst wirst du sehen, ob du deine Jahre gut verbracht hast. Es ist nicht wichtig, was andere von dir denken, und große Häuser und Autos sind nicht viel wert. Irgendwann mußt du Rede und Antwort stehen, und zwar nicht anderen, sondern dir selbst.« »Ich weiß, daß du recht hast, Morag. Aber was ist mit dir? Siehst du das denn nicht?« »Meinst du, weil ich alt bin und keine Freunde habe?« »Nein, aber du bist du. Du weißt, wer du bist und was du bist. Mein Problem ist, daß ich noch nicht ich bin. Noch nicht.« »Das wird mit der Zeit schon noch kommen … Jetzt sei ein guter Junge und mach das Radio an. Es gibt da eine Sendung über den indonesischen Regenwald, die ich hören möchte.« Calum wartete ungeduldig darauf, daß die Sendung zu Ende ging. Schon seit Tagen wollte er ein bestimmtes Thema ansprechen. Heute abend würde er es tun. Er goß ihnen beiden noch Whisky nach und setzte sich dann dicht neben sie. »Morag, es gibt da etwas, das ich dich fragen möchte.« »Was liegt dir auf der Seele, mein Junge?« »Erzähl mir mehr von dem sechsten Sinn.« »Was willst du denn wissen?« »Fang mit deiner Großmutter an. Du hast gesagt, sie hatte ihn auch.« 85
»Oh, sie hatte diese Gabe allerdings.« »Wie zeigte sich das?« »Sie konnte voraussagen, wenn jemand starb. Wenn jemand bald sterben würde, sah sie ihn in einem Leichentuch, obwohl die Leute noch ganz normal angezogen waren und nicht krank wirkten.« »Glauben die Leute auf den Inseln immer noch daran?« »Die jüngeren vielleicht nicht, aber die älteren alle. Hat dein Großvater dir je von Coinneach erzählt?« »Nein, wer war das?« »Das ist sehr lange her, im siebzehnten Jahrhundert. Coinneach kam von hier. Er hatte die Gabe und starb daran. Sein Herr, der Earl of Seaforth, lebte in Paris, und dessen Frau zwang Coinneach, ihr zu sagen, was er dort trieb. Er sagte die Wahrheit, nämlich daß der Earl ein Verhältnis mit einer Französin hätte. Lady Seaforth war so wütend, daß sie den Seher auf den Scheiterhaufen bringen ließ. Als er dort hingeführt wurde, starrte er einen weißen Stein an, den seine Mutter ihm gegeben hatte, und schwor, daß die Seaforths aussterben würden.« »Was war denn das Besondere an diesem Stein?« »Eines Nachts, als ihr Sohn noch ein Baby war, hütete Coinneachs Mutter die Schafe in der Nähe des Friedhofs in Baile na Cille, zehn Meilen von hier. Im Mondlicht sah sie, wie die Gräber sich öffneten und die Geister herausflogen und in der Dunkelheit verschwanden. Sie blieb bis zum Morgengrauen, bis die Geister zurückkehrten und alle Gräber außer einem sich wieder füllten. Dann schlich sie auf den Friedhof und erinnerte sich an eine alte Sage, daß die Geister Ebereschenholz nicht durchdringen könnten, also legte sie ihren Stab über das leere Grab. Bald schon
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kam eine schöne Frau aus Norden durch die Luft geeilt, sie trug ein goldenes Band in ihrem schönen Haar. ›Nimm deinen Stab von meinem Grab, damit ich ins Land der Toten zurückkehren kann‹, bat sie. ›Ich bin die Tochter des Königs von Norwegen und vor langer Zeit hier ertrunken. Einmal im Jahr können alle Geister in ihre Heimat zurückkehren, aber für mich ist es so weit, und deshalb bin ich immer spät dran.‹ Coinneachs Mutter hob ihren Stab und ließ sie passieren. Bevor das Mädchen in der Erde verschwand, nahm es einen Stein aus seiner Brust und sagte. ›Gib dies deinem Sohn, wenn er sieben Jahre alt wird, das verleiht ihm die Gabe der Hellsichtigkeit.‹« »Und das tat der Stein?« »Coinneachs Vorhersage über die Seaforths bewahrheitete sich. Alle Söhne des Earls starben jung, und es dauerte nicht lange, bis die Familie nicht mehr existierte.« »Wird der sechste Sinn vererbt? Ich meine, ist das etwa genetisch veranlagt?« »Niemand weiß das. Es tritt nicht in jeder Generation auf. Aber es scheint in der Familie zu bleiben.« »Was ist mit unserer? Gab es da andere, abgesehen von deiner Großmutter?« »Nicht daß ich wüßte, jedenfalls was die Familie meines Vaters angeht. Meine Großmutter erzählte mir, daß auch ihre Mutter die Gabe hatte. Sie behauptete, wir wären verwandt mit diesem Coinneach, obwohl das vielleicht Unfug sein mag.« »Kann man ausprobieren, ob jemand diese Gabe hat?« »Was um Himmels willen hast du vor? Du solltest nicht solchen Unfug denken.«
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»Wenn es wirklich genetisch veranlagt wäre … Na ja, wir tragen dieselben Gene in uns. Wäre es möglich, daß ich die Gabe auch habe oder entwickeln könnte?« »Warum solltest du das wollen? Es ist eine Last, kein Glück. Schau, was aus meinem Leben geworden ist.« »Morag, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll … Verstehst du, ich bin verzweifelt. Und als ich spazierengegangen bin, hatte ich diese Idee … Wenn ich dieselbe Gabe hätte wie du … wenn ich nur ein wenig in die Zukunft sehen könnte und …« »Und was?« »Und ... du wirst es nicht mögen, was ich sage ...« »Was willst du damit tun, Calum?« »… ich könnte die Gabe benutzen, um Marianna zurückzugewinnen.« »Du meinst, um Geld zu verdienen? Oh, du … Calum Buchanan, ich will nie wieder ein Wort darüber hören!« »O Morag, ich wollte dich nicht beleidigen. Ich will doch nicht das Geld, ich will Marianna. Wie, zum Teufel, soll ich sie denn sonst zurückkriegen?« »Kein einziges Wort mehr … Was du da sagst, ist unmöglich. Unmöglich und falsch. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Mach das Radio an. Jetzt. Wir versäumen die Nachrichten.« »… die Zinsen werden sich höchstwahrscheinlich im Laufe des Monats um nullkommafünf Prozentpunkte erhöhen. In Hong Kong sind mittlerweile sechs Tote zu beklagen, und über vierhundert Personen wurden in Untersuchungshaft genommen. Die chinesische Regierung gebot den Protesten der Menschenrechtler gewaltsam Einhalt. In London verlas der Premierminister eine Erklärung, in der die chinesische Regierung um 88
Zurückhaltung und Verständnis gebeten wird. Zeitungen in Peking bezeichnen derartige Kritik ausländischer Regierungen als unverlangte Einmischung in Chinas Innenpolitik. Die World Trade Organisation in Genf hat bestätigt, daß diese Ereignisse keinerlei Auswirkungen auf die Verhandlungen über Chinas Mitgliedschaft haben werden. In Washington hat der republikanische Senator Thomas Dryboro genauere Untersuchungen der geplanten Liberalisierung des chinesischen Binnenmarktes gefordert, bevor …« »Morag...« »Pssst, ich höre zu. Und das solltest du auch, denn das ist wichtig.« »Warum, um Himmels ...« »Machst du dir keine Sorgen um China?« »Nein. Sollte ich?« »In den letzten zweihundert Jahren sind die Chinesen immer wieder gedemütigt worden. Und dieses Volk vergißt nicht. Für sie sind die Opiumkriege und Nanking immer noch aktuell. Und jetzt haben sie die ökonomische und militärische Kraft, die ihrer Größe entspricht, und sie werden dem Rest der Welt zeigen wollen, wer der Boß ist, glaub mir.« »Ich verstehe nicht ganz, inwiefern das mich oder dich betrifft. Wenn die Chinesen durchdrehen, werden sie nicht ausgerechnet Lewis als erstes Ziel anpeilen.« »Ich interessiere mich einfach dafür, was in der Welt vor sich geht, das ist alles. Und dir würde das auch nicht schaden.« »Vielleicht … Morag, was ich vorhin gefragt habe …« »Wie ich schon sagte: Kein Wort mehr.«
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»Ich weiß. Ich wollte sagen, daß ich unrecht hatte. Ich werde es nie wieder fragen. Tut mir leid.« »In Ordnung. Es ist Zeit, schlafen zu gehen. Schlaf gut, Calum.« Sgurr nan Creag ist ungefähr 1700 Kilometer (anders gesehen könnte man auch sagen eine halbe Million Kilometer) von dem Haus Nr. 10 in der Chemin de Bellefontaine entfernt. Dieses Haus war vor ein paar Jahren einmal bekannter, weil es als die schönste Konsulatsresidenz des gesamten britischen diplomatischen Corps beschrieben wurde. Es ist ›in‹, Genf als langweilig zu bezeichnen, der Ort unterscheidet sich auch nicht wirklich von vielen französischen Provinzstädten, und wenn tektonische Bewegungen die Stadt nur eine Winzigkeit nach Westen rücken würden, wäre sie genau das. Der britische Abgesandte der United Nations braucht sich mit diesem Thema aber nicht zu beschäftigen. Chemin de Bellefontaine liegt ein paar Kilometer südöstlich im Vorort Cologny, und die unglaubliche Aussicht aus dem Garten auf das Jura-Gebirge und den halben Genfer See wird nicht durch den Anblick Genfs selbst gestört. Tapfer läßt er sich in die Stadt chauffieren, arbeitet ein wenig und fährt zum Lunch wieder zurück. Einen kleinen Happen und eine kurze Siesta später macht er den Weg noch einmal. Nachts begibt er sich selten in die Stadt. An den Abenden finden zwar zahlreiche diplomatische Diners statt, aber der Großteil der wichtigeren Konsulate und UNBüros ist anspruchsvoll genug, im selben schicken Vorort wie der britische Botschafter zu residieren. Christopher Ransomes erste Entscheidung nach seiner Ankunft war gewesen, die Wochenendarbeit abzuschaffen. 90
Es gab so viele wunderbare Dinge in der Nähe, angefangen mit dem Mont Blanc – nur eine Autostunde in seinem schicken Cabrio entfernt –, und alles außer den seltenen Notfällen konnte zufriedenstellend von den aufmerksamen Augen und der flinken Intelligenz seiner Berater und Sekretäre gehandhabt werden. Ransome hatte diesen Posten als seine letzte Aufgabe vor der Pensionierung nicht angestrebt, um rund um die Uhr arbeiten zu müssen. Wenn das seine Absicht gewesen wäre, hätte er eine der größeren diplomatischen Vertretungen zu überzeugen versucht, daß seine Anwesenheit von Nutzen wäre, beispielsweise Rom, Tokio oder Paris. Dort gab es überall viel Personal, riesige, hallende Residenzen, ständige Besuche von Ministern, und einen Ritterschlag noch obendrein. Zum Ritter geschlagen zu werden, bedeutete ihm wenig. Er hätte einen Ritterschlag nicht abgelehnt, aber er war ganz sicher nicht vier hektische Jahre wert. Einer seiner großen Vorteile war, daß er als Single lebte. Wie viele Frauen, fragte er sich, wären lieber Mrs. geblieben, statt eine Lady zu werden? Obwohl er nun in Genf lebte, konnte er Madame Right, wenn er ihr denn noch begegnen sollte, wenigstens gelassen heiraten. Aber wahrscheinlich war es zu spät. Zu viele Abende, Wochenenden und Ferien waren in ungestörter Zufriedenheit vergangen, und wenn er sich das schreckliche Bild einer plaudernden Matrone ausmalte, die durch sein Leben stolperte … Kaum vorstellbar, daß Levines Aufnahme des Rheingold von einem Gespräch über Möbelbezüge unterbrochen würde oder daß er Trollope zugunsten einer wohlgemeinten Plauderei aufgeben müßte. Welch schrecklicher Gedanke! Nachdem er seine Antrittsbesuche bei den alteingesessenen UN-Offiziellen und den diplomatischen Kollegen absolviert hatte, verlief sein Leben nach einem 91
zufriedenstellenden Muster. Selten kamen Minister aus London zu Besuch, und wenn, dann nur für einen Tag. Die Residenz war vom Flughafen so weit entfernt, daß die meisten Minister lieber im Hotel wohnten. Wenn der Botschaftswagen sie am nächsten Tag zu ihrem Frühflug chauffierte, mußte Ransome deswegen nicht einmal persönlich aufkreuzen. Der Stab war erfreut über die Leichtigkeit, mit der Christopher Ransome seinen Aufgaben nachkam. Er erschien nicht sinnloserweise in Meetings, bei denen sowieso nur Experten das genaue Vorgehen verstanden, er kam nur dann, wenn seine Anwesenheit unbedingt notwendig war, beispielsweise bei dem monatlichen Treffen der EU-Vertreter. Nicht, daß er faul war; auf vorhergehenden Posten hatte er zufriedenstellend und viel gearbeitet. Er hatte auch durchaus zu tun: Manchmal mußten wichtige Telegramme verfaßt oder LobbyistenEssen besucht werden; aber andererseits glaubte er nicht daran, daß er die Arbeit neu erfinden müsse. Er hoffte, daß Genf ihm einigermaßen interessante Aufgaben bei Einhaltung eines einigermaßen angenehmen Tempos bot. Krisen wollte er keine. Insofern paßte ihm das morgendliche Gespräch mit Nick Whitney, seinem Konsulatsleiter, nicht sonderlich. »Botschafter ...« »Was ist, Nick?« »Haben Sie die Telegramme aus Washington und Peking wegen der World Trade Organisation gesehen? Klingt, als könnte es recht spaßig werden. Wenn China Mitglied wird, wollen die Amerikaner, daß die WTO die Liberalisierung des chinesischen Marktes ständig überwacht. Darüber regen sich die Chinesen auf. Unsere Botschaft in Peking möchte Großbritannien gern von dieser amerikanischen Initiative abgrenzen. Der 92
amerikanische Botschafter Art Pattersen hat um einen Termin gebeten, um das heute mit Ihnen zu besprechen. London möchte unsere Ansichten in dieser Frage spätestens morgen Abend.« »Wollen die auch wissen, wie wir die Reaktion in den anderen EU-Ländern einschätzen?« »Ja. Wir müssen die anderen Botschaften anrufen und uns umhören. Die Amerikaner werden natürlich ebenfalls mit ihnen sprechen. Die USA können die Mitgliedschaft der Chinesen nicht mehr länger verhindern, aber bei denen daheim gibt es einige mächtige Gruppen, die immer noch dagegen sind. Sie dürfen also nicht ganz nachgeben. Was richtigen Ärger bedeuten könnte.« »Mmmm. Nick, das klingt, als sollte ich ein bißchen genauer wissen, was die WTO eigentlich macht. Ob da einer Ihrer hellen Köpfe in der Lage wäre, mir ein wenig auf die Sprünge zu helfen?« »Natürlich. Sie haben den Bericht in einer Stunde auf dem Tisch.« »Du kriegst das schon noch raus. Nur Geduld. Weben ist wie Fahrrad fahren. Wenn man es erst mal kapiert hat, vergißt man es nie wieder.« »Wann bist du das letzte Mal Fahrrad gefahren, Morag?« »Wenn ich so darüber nachdenke – eigentlich habe ich es noch nie probiert.« »Na ja, ich glaube jedenfalls nicht, daß ich vom Weben leben könnte … Morag, ich habe nachgedacht. Vielleicht sollte ich weiterziehen.« »Tut mir leid, das zu hören, Calum. Was hast du vor, willst du zurück nach Hause?«
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»Nach LA? Nein, ich glaube nicht. Ich könnte es nicht ertragen, in Mariannas Nähe zu sein, wenn ich nicht mit ihr zusammen bin. Vielleicht versuche ich es irgendwo auf dem Kontinent.« »Was willst du da tun? Wovon willst du leben? Du sprichst doch weder Französisch noch Italienisch oder Deutsch.« »Kann ich lernen.« »Sicher. Aber ich würde mir Sorgen um dich machen. Ich glaube, du solltest noch ein wenig hierbleiben. Wenigstens hast du hier ein Dach über dem Kopf. Die Zeit heilt alle Wunden, weißt du. Dein Schmerz vergeht, glaub mir.« »Ach ja? Und das von jemand, der immer noch verliebt ist in einen Jungen, der vor siebzig Jahren gestorben ist.« »Das ist nicht dasselbe, Calum. Der Schmerz ist schon vor langer Zeit vergangen. Und vergiß nicht, Iain hat mir nie weh getan.« »Nein? Er wollte es vielleicht nicht, aber wenn du mich fragst, dann hat er dein Leben echt in die Scheiße geritten.« »Calum Buchanan, wenn du dieses Wort noch ein einziges Mal in diesem Haus sagst, dann lege ich dich übers Knie und prügele dich windelweich.« »Tut mir leid, Morag. Aber es wird eben nicht einfacher, und ich fühle mich immer deprimierter. Die Zeit ist leider nicht auf meiner Seite. Wenn ich es nicht bald in die Reihe kriege, vergißt Marianna mich ganz. Könnte ich bloß diese Geldgeschichte klären und mich dann bei ihr melden …« »Fang nicht schon wieder damit an, Calum, mein Lieber, du weißt doch, wie traurig mich das macht.«
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»Ich weiß, aber du kannst dir auch nicht vorstellen, wie ich mich wirklich fühle, Morag. Ich will doch gar nicht über sie wegkommen. Ich will sie nicht vergessen. Ich will sie wiederhaben. Und wenn ich sie nicht wiederhaben kann, dann bleibt mir nichts übrig, als …« »Bleibt dir nichts übrig als was? Dir das Leben nehmen, meinst du das? Calum, wie auch immer die Kirche mich und meine Mutter behandelt hat, ich glaube an Gott, und das ist etwas, das nur Gott entscheiden kann. Meinst du, ich hatte diese Idee nie, bei dem, was ich durchgemacht habe? Aber es wäre falsch gewesen, falsch und schwach. Denk an all das, was du wegwerfen würdest, all die Jahre, die noch vor dir liegen.« »Genau denen will ich ja entkommen: unglücklichen Jahren. Was soll denn das?« »Dann denk nicht an dich, denk an die, denen du weh tun würdest. Stell dir die Gefühle deiner armen Eltern vor.« »Die würden es wahrscheinlich nicht einmal bemerken.« »Das ist erbärmlicher Unfug. Du mußt aufhören, herumzujammern, das tut dir nicht gut.« »Ja, du hast recht. Aber, wie auch immer, ich denke, ich werde weiterziehen, und das kann ich genausogut gleich tun. Ich werde morgen abreisen.« »Morgen? Ohne Geld, ohne Pläne, ohne ein Ziel?« »Ich komm’ schon klar.« »Wenigstens mußt du etwas von mir annehmen. Ich hab’ da etwas in der Dose unter meinem Bett. Fast zweitausend Pfund.« »Ich werde dich auf keinen Fall um dein Erspartes bringen.«
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»Sag nicht nein, Calum. Wenn du nicht alles nimmst, nimm die Hälfte.« »Okay, ich nehme die Hälfte, und ich schick’ es dir zurück, sobald ich Arbeit habe. Morag …« »Was?« »Nichts.« »Du wolltest doch nicht schon wieder das fragen, oder? Ich dachte, du hättest versprochen …« »Ich weiß, deswegen habe ich ja auch gesagt, es ist nichts.« »Calum, es ist falsch. Und es ist so lange her. Ich glaube, ich könnte es selbst dann nicht mehr, wenn ich wollte.« »Natürlich. Weißt du, vielleicht gehe ich noch ein letztes Mal auf den Ben Mhor, bevor es dunkel wird. Ich möchte morgen ziemlich früh aufbrechen.« »Gute Idee. Ich hab’ das Essen fertig, wenn du zurück kommst.« »Dann bis später.« »Ja ... Calum, komm mal her.« »Was denn, Morag?« »Ich möchte dich etwas fragen. Bist du sicher, daß du glücklich wärst, wenn du Marianna wiederhättest?« »Nur dann. Du weißt ja nicht, wie es ist, von so einer Frau geliebt zu werden. Ich weiß, daß ich nichts besonderes bin, aber sie hat mir das Gefühl gegeben, etwas Besonderes zu sein. Marianna ist der Schlüssel für alles. Wenn Sie zu mir zurückkehrt, hab’ ich wieder einen Lebenssinn. Ohne sie … ist alles sinnlos.« »Du liebst sie genauso sehr wie früher?« »Ich werde nie damit aufhören.«
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»Wenn du für sie wirklich fühlst, was ich für Iain gefühlt habe, darf ich nicht so hart mit dir sein. Trotzdem ich hoffe, du kennst dein Unterbewußtes besser als ich meines. Ich bin wirklich nicht sicher, daß ich das tun sollte.« »Was tun sollte?« »Mich konzentrieren … während du draußen spazierengehst.« »Dich auf was konzentrieren?« »Auf eine Rübe oder eine Wurzel.« »Eine Rübe oder eine Wurzel?« »Genau. Und ich will, daß du dich ebenfalls mit aller Kraft darauf konzentrierst, um welches von beiden es sich handelt. Wenn du zurückkommst, sagst du es mir.« »Noch mal. Schreib die vier Dinge eins nach dem anderen auf.« »Ich bin müde, Morag. Machen wir den Rest morgen.« »Jetzt, wir machen es jetzt.« »Wir sind schon ohne Pause seit fünf Stunden damit beschäftigt.« »Iain und ich haben das länger gemacht.« »Das war was anderes. Ihr wart verliebt. Ihr hattet Spaß dabei.« »Dann tu so, als wärst du in mich verliebt.« »Du bist zu alt.« »Du könntest mein – wie heißt das? – kleiner Freund sein.« »Igitt.« »Igitt?« 97
»’tschuldigung, so hab’ ich’s nicht gemeint.« »Mach jetzt weiter, du Lügner. Wir sind erst vierzehn Tage zugange, und du willst schon wieder aufhören.« »Nein, will ich nicht. Ich will bloß eine Pause. Hör mal, da ist wieder der Tweed-Mann. Was soll ich ihm diesmal sagen?« »Sag ihm, ich sei immer noch krank. Er soll Freitag wiederkommen.« »Er sagt, das ist okay, aber dann braucht er wirklich den Stoff. Mach es lieber, Morag. Du sollst doch nicht meinetwegen Probleme kriegen.« »Ich krieg’ das schon hin. Das hier ist wichtiger. Wir haben noch Monate vor uns. Also gewöhn dich besser dran, du Schlappschwanz.« »Du nennst mich einen Schlappschwanz? Das Wort hast du doch erst letzte Woche von mir gelernt.«
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Schneller Vorlauf Kaum waren die Lottozahlen gezogen worden, nahm Calum Buchanan seine Gabel wieder in die Hand. Er hatte einen Bärenhunger, und der Shepherd’s Pie schmeckte gut. Er mampfte vor sich hin, grinste dabei und tagträumte davon, was Marianna wohl sagen würde. Hoffentlich waren sie und Brett nicht das Wochenende über irgendwo hingefahren; er konnte das einfach nicht mehr bis Montag für sich behalten. Vielleicht sollte er vorschlagen, ihr gleich die Hälfte des Geldes zu geben, damit sie von Anfang an gleichberechtigt waren. Ja, das klang gut. Er kratzte eine letzte Gabel voll auf dem Teller zusammen, dann ging er an die Bar und bestellte sich noch eine Portion und ein zweites Pint Bier. Am selben Samstag abend hatte Christopher Ransome in Genf das Gefühl, sein Abendessen nie beenden zu können. Zum dritten Mal in einer Stunde war er ans Telefon gerufen worden. Das Tamtam rund um Chinas Mitgliedschaft in der World Trade Organisation hatte sein Leben verändert. In den letzten Monaten war es ihm nur selten gelungen, zum Mittagessen zurück nach Cologny zu kommen, und seine Siestas waren nur noch eine Erinnerung. Die luxuriöse Ruhe, die er gesucht hatte, war verschwunden, sie war ersetzt worden durch Druck, Deadlines und Adrenalin. Und er fand es großartig.
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Seine ganze Karriere lang hatte er die Konfrontation mit kommerziellen oder ökonomischen Bereichen vermieden. Obwohl man heutzutage in der Lage sein mußte, auch in Handelsfragen zumindest formal mitreden zu können; so wurde es für Diplomaten immer schwieriger, zumindest ein kurzes Gastspiel zu vermeiden, wenn auch die meisten von ihnen es immer noch so angenehm wie Windeln wechseln fanden: Man konnte nicht Nein sagen, war aber so wenig begeistert bei der Sache, daß man meistens nicht noch mal gefragt wurde. Multilaterale Verhandlungen waren eine anerkannte Ausnahme und hatten Diplomaten in aller Welt schon viele heitere Erlebnisse beschert. Vor allem zu Beginn der Roundtable-Gespräche in Punta del Este 1986 und während der 94er-Meetings in Marrakesch, aus denen schließlich die World Trade Organisation hervorging. Dieser Spaß war Ransome bisher noch nicht zuteil geworden. Die WTO war eine der vielen Organisationen in Genf, mit denen er sich nur beschäftigte, wenn es eben nötig war. Das beherrschte er gut, hatte aber trotzdem bald alles in sich aufgenommen, was er wissen mußte. Ransom mußte auch nicht direkt an den Verhandlungen mit China über die Mitgliedschaft in der WTO teilnehmen. Die Aufnahmeverhandlungen mit den Staaten übernahm die Europäische Union selbst, also verhandelte Gerhard Hirsch, der Statthalter der EU in Genf, direkt mit der angesehenen Ministerin Tian Yi und ihren Begleitern aus Peking. Botschafter der übrigen europäischen Ländern waren bloß als Beobachter zugelassen. Wenn es schließlich darum ging, einen Mitgliedsantrag anzunehmen oder abzulehnen, hatten die Mitglieder theoretisch gleichberechtigte Stimmen. In der Praxis entschieden jedoch die USA, die EU und Japan. Japan war kein Problem für die Chinesen. Die Japaner würden 100
vielleicht im stillen über einige der chinesischen Forderungen jammern, aber als Chinas größter Handelspartner konnten sie die goldene Gans beileibe nicht erschrecken, ganz zu schweigen davon, sie zu töten. Amerika war da schon schwieriger. In den USA war China immer noch ein emotionales Thema, und die Hardliner hatten die Chinesen bisher jedes Jahr zum Schwitzen gebracht, wenn es darum ging, die Konzessionen im sogenannten Most Favoured Nation Treatment zu verlängern. Peking sorgte sich jedoch nicht nur hinsichtlich dieser Verlängerungen, die Regierung haßte vor allem die Demütigung, die dieser Prozeß mit sich brachte, zumal er eine regelmäßige Plattform für die Amerikaner war, auch noch auf die Menschenrechte hinzuweisen. Wenn Chinas Ökonomie sich stark genug zeigte und möglichst viele Amerikaner selbst in China investieren, würden die Verlängerungen fast automatisch erfolgen. Trotzdem war Peking davon angetan, daß eine Mitgliedschaft in der WTO diesen unangenehmen Vorgang ein für allemal aus der Welt schaffen würde. Nicht, daß die Amerikaner der Mitgliedschaft positiv gegenübergestanden hätten; bislang waren sie eifrig bemüht gewesen, sie zu verzögern. Aber wenn die EU erst einmal Chinas Antrag befürwortete, konnten die Amerikaner nicht ewig dagegenhalten. Also ging der Mitgliedsausweis schon mal klar, und es fehlten jetzt eigentlich nur noch die Details. China wollte grundlegende Ausnahmen von vielen der wichtigsten WTO-Regeln, woraufhin die übrigen Mitgliedsstaaten die Hände über dem Kopf zusammenschlugen – wozu waren die Regeln denn da? Die Chinesen gaben nach, jetzt ging es um Übergangsregelungen und deren Dauer. Jeder wußte, wie wichtig das war. Wenn die Chinesen zuviel Freiheiten 101
bekamen, würden sie die ausländischen Märkte angreifen, gleichzeitig aber den Zugang der Ausländer zu ihren eigenen Märkten blockieren, bis die chinesischen Firmen konkurrenzlos etabliert waren, wobei die Monopole, die die chinesische Armee innehatte, besonders besorgniserregend waren. Also tobte ein diplomatischer Krieg. Tian Yi arbeitete mit großem Geschick, und Stück um Stück erreichte sie weitere Zugeständnisse, was Stahl, Chemikalien, Luftfahrt, Maschinenbau und Autos anging. Es sah aus, als würden Finanzwesen und Urheberrechte denselben schlüpfrigen Weg gehen. Die Amerikaner waren dagegen, nachzugeben, sie wußten aber auch, daß ihre eigene Position nicht mehr wirklich wichtig war, wenn die Europäer erst einmal akzeptierten. Ganz offensichtlich konnte Großbritannien dabei in ein übles Kreuzfeuer geraten. Also schlug Christopher Ransomes Stunde. Er war der einzige Sinologe unter den europäischen Botschaftern in Genf; er hatte in Oxford chinesische Sprache und Literatur studiert, und deswegen war er in den Siebzigern nach Peking geschickt worden. Trotz der Weitläufigkeit der Genfer Diplomaten war China für sie ein Buch mit sieben Siegeln, und die Chinesen waren Wesen aus einer anderen Welt. Einen Kollegen zu haben, der China nicht nur kannte, sondern auch noch diese völlig unverständliche Sprache beherrschte, war eine faszinierende Sache, und so befragten sie ihn jedesmal, wenn sie ihren jeweiligen Regierungen melden mußten, was für Tricks die Chinesen möglicherweise anwenden würden. Ransome beriet auch Gerhard Hirsch diskret und vorsichtig. Natürlich durfte es nicht so aussehen, als ob er Hirschs Verhandlungsgeschick in Frage stellte, aber das hinderte die beiden nicht daran, ungewöhnlich oft 102
miteinander essen zu gehen. Hirsch war völlig verblüfft davon, wie die Chinesen an die Verhandlung herangingen, und er brauchte unbedingt den Rat eines Fachmannes. Christopher Ransome war der ideale Mann dafür, und wenn er dadurch die Möglichkeit bekam, Einfluß im Sinne ihrer Majestät zu nehmen, dann war auch das Teil seines Jobs. Letztlich klärte sich die Lage dann ungewöhnlich schnell. Großbritannien konnte fast alles durchsetzen, ohne wirklich laut zu werden. Lynne O’Neill, die Handelsbeauftragte, schnaubte zwar kräftig, stimmte dann aber im großen und ganzen zu, und Tian Yi hatte tatsächlich doch noch ein gutes Gespür dafür, wann auch sie einmal Zugeständnisse machen mußte und erklärte sich bereit, die Monopole der Armee aufzulösen. Man schloß einen Vertrag, und zum Ploppen der Champagnerkorken wurde China Mitglied in der WTO. Die begeisterte Stimmung in Genf und den Hauptstädten der westlichen Welt klang allerdings innerhalb weniger Monate ab, als klar wurde, daß China nicht die geringste Bereitschaft zeigte, die Vereinbarungen einzuhalten. Und deswegen wurde Christopher Ransomes Abendessen auch so nachdrücklich unterbrochen. Calum marschierte zügig vom Pub nach Hause und rief sofort die Hotline an, um sich seinen Gewinn bestätigen zu lassen. Sieben Scheine hatten gewonnen. Es spielten immer weniger Leute Lotto, und selbst am Samstag lag der Jackpot oft unter fünf Millionen Pfund. Diese Woche stand er ein bißchen oberhalb von 6,2 Millionen, und da Calum drei von den sieben Scheinen besaß, bekam er 2,85 Millionen Pfund, also ungefähr vier Millionen Dollar. Das war kein Superreichtum, aber auch nicht so schlecht für einen Einsatz von drei Pfund, und dicht genug daran, daß 103
er kein schlechtes Gewissen haben mußte, die Summe auf die magischen fünf Millionen aufzurunden. Tracy, das Mädchen der Lottofirma Avalen, klang attraktiv. Ob er wollte, daß sie gleich zu ihm käme, oder lieber erst morgen? Nein, nicht jetzt. Wenn er Marianna dranbekam, würden sie vielleicht stundenlang plaudern und planen. Also verabredeten sie ihren Besuch für elf Uhr am Sonntag morgen, und er goß sich einen Whisky ein und hob das Glas für einen Toast auf Morag. Er vermißte sie verdammt, doch sie hatte darauf bestanden, daß sie gar nicht wissen wollte, wie er sein Geld verdiente und daß er nicht versuchen sollte, sich bei ihr zu melden, bis er mit Marianna wieder zusammen war oder die Sache aufgegeben hatte. Wenn sein Anruf nach LA gut lief, würde er anschließend vielleicht versuchen, durch den Äther zu strahlen und es ihr noch heute nacht zu sagen. »Hallo, hier ist Marquardt Residence.« »Hi, ist Marianna da, bitte?« »Sie ist beschäftigt.« »Es ist sehr wichtig, können Sie mich bitte durchstellen?« »Tut mir leid, Sir, sie hat mich extra angewiesen, keine Störungen zuzulassen.« »Wie heißen Sie?« »Maria.« »Maria, ich bin Calum Buchanan, Mariannas … ehemaliger Ehemann. Es geht um eine lebenswichtige Familienangelegenheit. Würden Sie ihr bitte sagen, daß ich dran bin? Sie wird den Anruf dann annehmen, da bin ich ganz sicher.« »Okay, warten Sie bitte...« 104
»... Hallo.« »Marianna? Hi!« »Nein, Sir, ich bin’s wieder, Maria. Sie sagt, wenn Sie eine Nummer hinterlassen, ruft sie Sie zurück, sobald sie kann.« »Okay, kein Problem. Es ist hier jetzt neun Uhr fünfundvierzig nachts, also wäre es schön, wenn sie sich in der nächsten Stunde oder so melden würde …« Der Pegel in der Whiskyflasche sank mit den Stunden. Was war bloß los mit ihr? Jetzt sollte doch alles in Ordnung sein, aber das Warten machte ihn nervös. Er kritzelte ein weiteres Bildchen von Morags Blackhouse auf ein Blatt Papier, dann trommelte er wieder mit den Fingern. Schließlich wählte er erneut. »Maria, sind Sie’s? Calum Buchanan … Nein, ich weiß. Ich wollte nur sagen, daß ich noch wach bin, wenn Marianna anrufen möchte … Oh, mindestens noch eine Stunde. Ich bleibe vielleicht die ganze Nacht auf. Sagen Sie ihr, sie kann jederzeit anrufen … Danke. Bye.« Die Flasche war leer. Vor Lewis war er nicht so scharf auf Whisky gewesen, aber jetzt hatte er sich daran gewöhnt. Auf jeden Fall würde er in LA eine Sammlung aller Malt-Whiskys der ganzen Welt anlegen. Wieder Fingertrommeln. Was sollte er ihr am besten vorschlagen? Daß er sofort nach LA flog? Oder daß sie in einen Flieger nach Europa stieg? Vielleicht konnten sie in Lewis wieder heiraten, mit Morag als Zeugin. Was hätte er nur ohne Morag getan? Beim Abschied war sie ganz schön streng mit ihm gewesen, sie hatte ihm eine richtige kleine Standpauke gehalten. »Sag niemandem, wie du das gelernt hast, und niemandem, wie du es tust. Wenn 105
du damit ein Vermögen verdienst, möge Gott mit dir sein, aber sag niemals wie. Wenn du hast, was du brauchst, um Marianna zurückzubekommen, versuche nie wieder, diese Gabe zu nutzen. Ich habe dir nicht geholfen, um dich reich und mächtig zu machen, ich habe dir geholfen, weil dein Herz sonst bricht. Vergiß das nie, mein Junge. Wenn du dein Wort hältst, werde ich deine Freundin sein bis ans Ende meiner Tage. Wenn du mich verrätst, werde ich nie wieder mit dir sprechen, hast du das verstanden?« Sie hatte ihn das Versprechen dreimal wiederholen lassen, bevor sie sich beruhigte. Dann hatten sie ein letztes Glas zusammen getrunken, obwohl es erst zehn Uhr morgens war. Sie sah müde aus. Ihn zu unterrichten, hatte sie über die Monate hinweg sehr angestrengt. Er hoffte, daß sie sich jetzt entspannen und erholen würde. Als er ging, umarmte sie ihn ganz fest. Er spürte das Zittern, als sie die Arme von ihm löste und ihn gehen ließ. Calum erwartete, daß sie in der offenen Tür stand, bis er nicht mehr zu sehen war, und er hatte vorgehabt, sich umzudrehen und zu winken. Aber sie machte die Tür schnell hinter ihm zu, und er konnte nicht erkennen, ob sie ihm durch das schmutzige Glas nachsah. Er wußte auch nicht, ob sie geweint hatte. Seinen Nackenschmerzen nach mußte er ziemlich schräg auf dem Sofa eingeschlafen sein. Es war vier Uhr morgens. Acht Uhr abends in Kalifornien. Noch mal versuchen? Er hatte das Gefühl, daß diese Maria auf seiner Seite war. Mit ein bißchen Charme und Durchhaltevermögen würde es gehen. Er redete auf sie ein, bis sie ihn zu Marianna durchstellte. »Calum, bist du das? Wir haben Besuch. Bitte bedräng nicht noch mal mein Personal. Ich kann jetzt nicht mit dir reden. Wenn es wirklich einen Grund gibt, kannst du 106
Montag zurückrufen. Oder, besser noch, nächste Woche. Ich muß jetzt los …« »Marianna, ich hab’s geschafft.« »Was geschafft?« »Ich hab’ das Geld. Fünf Millionen Dollar.« »Wie hast du das denn hingekriegt?« »Die haben hier so eine Lotterie. Ich hab’ gewonnen. Jetzt können wir wieder zusammenkommen.« »Was?« »Du hast gesagt, wenn ich Geld hätte, wäre alles anders.« »Hör mal, Calum, ich kann mich vage daran erinnern, vor langer Zeit einmal etwas von fünf Millionen gesagt zu haben. Aber das war damals – als ich noch nicht diese tiefen Gefühle für Brett entwickelt hatte.« »Das verstehe ich nicht. Wie meinst du das?« »Ich meine, daß ich mich seitdem sehr verändert habe. Es hat vielleicht so ausgesehen, als ob Geld für mich wichtig wäre. Jetzt weiß ich, daß es nur die Reflexion eines tieferen Verlangens war. Ich verstehe jetzt viel mehr, was wirklich wichtig ist.« »Was denn?« »Einfache Dinge, die man mit Geld nicht kaufen kann. Beispielsweise unseren Strand auf Maui entlangzuspazieren oder durch die Weinstöcke zu gehen, die wir auf der Ranch in Napa pflanzen. Unser Haus hier in Brentwood Park ist vielleicht schön, aber Brett und ich würden es anstandslos aufgeben und in einer Holzhütte zusammenleben. Calum, letztendlich versuche ich dir zu sagen, daß ich mich weiterentwickelt habe, daß ich jetzt in Verbindung stehe.« »In Verbindung mit was?« 107
»Mit meinem innersten Ich, und damit, was ich wirklich von einem Partner brauche. Was mich zu Brett hingezogen hat, war nicht sein Geld, es war seine Kraft, seine Dynamik und seine Zuversicht. Du findest das vielleicht schwer nachvollziehbar, Calum, aber Erfolg ist etwas so Positives, erfolgreiche Menschen sind einfach mit sich selbst im reinen. Ich freue mich sehr für dich, daß du … Glück hattest und nun mit ein wenig Geld neu anfangen kannst – aber so wie ich dich kenne könntest du es genausogut zum Fenster rauswerfen und bald schon wieder der sein, der du vorher warst.« »Du meinst - ein Versager?« »Das hast du gesagt, nicht ich.« »Marianna, du hast immer wieder erklärt, wenn ich fünf Millionen hätte, würdest du zu mir zurückkommen. Ich habe Blut und Wasser geschwitzt, um es zu kriegen, und …« »Du hast Blut und Wasser geschwitzt, um im Lotto zu gewinnen? Jetzt halt aber mal die Luft an! Hast du überhaupt gearbeitet?« »Ja, habe ich, gottverdammt noch mal. Außerdem habe ich dir vertraut, ich habe meinen Teil des Deals eingehalten, und jetzt sagst du …« »Entschuldige, Calum, aber ich habe das satt. Das war kein Vertrag, das waren bloß … Worte. Wenn ich damit dazu beigetragen habe, daß du einen neuen Anfang machen kannst, bereue ich es nicht einmal. Es gab noch viele andere Gründe, daß unsere Ehe nicht funktioniert hat, nicht nur Geld …« »Was denn?« »Calum, was soll das? Wir haben darüber schon hundertmal gesprochen. Das ist Vergangenheit. Es ist vorbei, Calum. Brett und ich sind sehr glücklich 108
zusammen. Wir wollen heiraten und eine Familie gründen.« »Eine Familie gründen? Du hast immer gesagt, daß...« »Menschen ändern sich. Vielleicht habe ich unbewußt gefühlt, daß es mit dir nicht in Ordnung war, daß es nicht halten würde. Jetzt bin ich viel mehr ich selbst, ich habe mich genug entwickelt, um die enorme Verantwortung der Mutterschaft auf mich zu nehmen.« »Marianna, mach das nicht...« »Augenblick … sagen Sie ihm, ich bin gleich da … Calum, ich muß jetzt los. Es ist unhöflich unseren Gästen gegenüber und unfair im Hinblick auf Brett. Ich freue mich, daß du Glück hattest. Mach was aus dem Geld. Du wirst schon über mich wegkommen und jemand anders finden, der zu dir paßt.« »Ich hab’ jetzt genug Geld, daß wir uns beide bis ans Ende unseres Lebens jeden Luxus leisten können.« »Calum, hör auf damit. Wenn du es wirklich wissen willst – fünf Millionen sind für mich inzwischen Kleingeld. Wenn Bretts neuester Deal klappt, dann macht er mit dem alleine fünfzig, also hör auf so zu tun, als hättest du es geschafft.« »Marianna, ich liebe dich mit jeder Faser meines Körpers. Ich gebe nicht auf, ich komme zu dir zurück.« »Calum, vergiß nicht, du hast ein paar ziemlich abgefahrene Sachen angestellt, nachdem ich ausgezogen bin. Damals hab’ ich die Bullen gerufen, und ich werde das wieder machen. Du hast keine Ahnung, was Liebe bedeutet. Reiß dich zusammen und halt dich aus meinem Leben raus.« »Und jetzt schweig mich nicht an, Calum. Tut mir leid, daß ich so hart mit dir sein muß. Irgendwie tust du mir 109
immer noch leid, aber ich möchte jetzt wirklich nichts mehr von dir hören. Wenn du dich beruhigt hast und mit jemand anders zusammen bist, dann vielleicht … Aber im Augenblick möchte ich nichts von dir wissen, okay?« »Ich möchte wirklich nicht, daß es so zu Ende geht, aber wenn du jetzt schmollst … na gut, ich lege auf … Goodbye.« Er legte ebenfalls auf und sackte zu Boden. Wie konnte sie so zu ihm sein, nachdem er sich ein Jahr abgestrampelt hatte, um zu kriegen, was sie wollte? O Gott, tat das weh! Er spielte das Gespräch in seinem Kopf noch einmal ab, und die Schärfe ihrer Worte verletzte ihn wiederum. Nie war er auch nur auf die Idee gekommen, daß Marianna diesen ekelerregenden alten Mann lieben könnte. Wenn sie mit irgendeinem gutaussehenden Typen zusammen gewesen wäre, hätte Calum vielleicht gleich das Handtuch geworfen. Aber Brett Marquardt hatte ein Gesicht wie eine knittrige Süßkartoffel. Calum war so sicher gewesen, daß nur Marquardts Geld sie an ihn gebunden hatte, und wenn er da mit ihm gleichzog, hätte Marianna keinen Grund mehr, nicht zu ihm zurückzukehren. Aber wenn Brett und sie jetzt Kinder bekämen, würde es vielleicht Jahre dauern, bevor sie sich trennten. Teufel auch, was sollte er jetzt machen? Er ging ins Schlafzimmer, nahm Mariannas Foto und drückte es an seine Brust. Sie wußte ja gar nicht, was sie redete … anders konnte es nicht sein. Wenn sie überhaupt noch irgend etwas für ihn empfand, mußten die Neuigkeiten sie durcheinandergebracht haben. Würde sie ihn später wieder anrufen? Er verstand das mit der Lotterie. Wenn sie glaubte, daß er bloß Glück gehabt hatte, warum sollte sie dann auch beeindruckt sein? Lottogewinner waren nicht gerade Vorbilder, das konnte man jede Woche in den britischen Revolverblättern lesen; 110
sie zogen aus ihren Sozialwohnungen aus, kauften sich Villen in Marbella und verpraßten die ganze Kohle in drei Monaten. Wenn Marianna wüßte, was er wirklich geleistet hatte … Er schaute auf die Uhr. Großer Gott, zwanzig vor fünf. Besser, er schlief noch ein bißchen, bevor die Leute von Avalon kamen.
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8 »Na, Hallo, Mr. Buchanan. Ich bin Tracy. Das ist Emma, unsere Finanzberaterin. Herzlichen Glückwunsch zu ihrem Gewinn. Dürfen wir reinkommen?« »Natürlich … Hier sieht es etwas merkwürdig aus. Ich war lange auf … hab’ gefeiert.« »Ich verstehe.« »Oh, schmeißen Sie das irgendwohin, setzen Sie sich … Wo sollen wir anfangen?« »Mit dem Wichtigsten. Dürften wir bitte die Lottoscheine sehen?« »Aber klar ... hier.« »Alles bestens. Es freut mich, Ihren Gewinn bestätigen zu können. Zwei Millionen achthundertvierundvierzigtausend Pfund. Sie müssen wissen, es ist verhältnismäßig ungewöhnlich für unsere Kunden, mehrfach auf dieselben Zahlen zu setzen.« »Aber es ist nicht verboten, oder?« »O nein.« »Gut.« Wie blöd, dachte Calum. Wieso habe ich nicht mehr Scheine ausgefüllt? »Wie viele andere Kombinationen haben Sie diese Woche gespielt?« »Keine anderen. Ich hatte eben so ein ... Gefühl.« »Na, da haben Sie aber Glück gehabt, würde ich sagen. Ich wünschte, ich hätte auch solche Gefühle, was, Emma …? Wie auch immer, ich will Sie nicht aufhalten, machen wir weiter. Ich sage Ihnen, was wir jetzt tun sollten. Erst mal nehmen wir Ihre persönlichen Daten auf. Das ist nur 112
für unsere Unterlagen und wird an niemanden weitergegeben, wenn Sie nicht möchten. Wie Sie wissen, liegt es ganz allein bei Ihnen, zu entscheiden, ob wir Ihren Erfolg vertraulich behandeln oder die Medien informieren … Nein, habe ich mir gedacht. Wenn wir Ihre persönlichen Daten haben, kommen wir zum Geld. Wir haben festgestellt, daß viele unserer Gewinner keine großen Erfahrungen im Investmentbereich haben, deswegen wird Emma Ihnen ein paar Tips geben, wie Sie damit umgehen könnten. Dann würden wir gerne mit Ihnen darüber reden, wie Sie auf den Hauptgewinn reagieren. Viele Leute finden es sehr verunsichernd, vor allem, wenn sie nie zuvor viel Geld hatten …« Sie konnte gar nicht damit aufhören, ihren Blick durchs Zimmer wandern zu lassen und diese Tatsache zu unterstreichen. Calum wollte gerade lässig darüber hinweggehen und den beiden versichern, mit was für großen Summen er tagtäglich jonglierte, aber dann biß er sich doch noch auf die Zunge. Er brauchte den Rat vielleicht nicht, aber dann würden sie verschwinden, und er hatte keine Lust, schnell alleine zu sein. Also murmelte er dankbar vor sich hin und tat so, als würde er sich etwas aufschreiben, während Emma gnadenlos ihre Kindergarten-Erklärungen von Stammaktien, Dividenden und Pfandbriefen losließ. Die ganze Zeit dachte er darüber nach, wie er die schicke Tracy zum Essen einladen könnte, ohne daß ihre Begleitung mitkam. Er hatte aber weder die richtige Idee noch den entsprechenden Mut, und so gingen die Mädels, nachdem sie ihm noch einmal fröhlich gratuliert hatten. Der Schlaf und der Besuch hatten den Schrecken über Mariannas Reaktion verdrängt. Jetzt kehrten die Gefühle wieder zurück. Sie hatte überhaupt nichts Freundliches gesagt. Wie hatte er sich so täuschen können? Gab es 113
wirklich keine Chance, sie zurückzubekommen, oder hatte er es nur falsch angefangen – vielleicht weil er sie so überfallen hatte? Hätte er ihr schreiben sollen, oder sie wenigstens erst dann anrufen, wenn Brett gerade nicht da war? Fast eine Stunde lang lag er auf dem Sofa; er marterte sich selbst, und sein Kater knurrte in seinem Kopf vor sich hin. Er mußte sich aus dieser düsteren Stimmung reißen. Vielleicht würde es ihm helfen, spazierenzugehen. Er duschte, rasierte sich, zog warme Sachen an und fuhr mit dem Taxi in den Hyde Park. Es war zu düster, als daß es ein richtiger Park-Tag gewesen wäre. Der Wind pfiff, Regen drohte. Die wenigen Spaziergänger marschierten in strammem Tempo, mit gesenkten Köpfen und den Händen in den Taschen. Die Wolken joggten athletisch über den Himmel. Calum war das alles egal; er war zu beschäftigt damit, an Marianna zu denken. Sie interessierte sich nicht für sein Geld? Vor ein paar Jahren hätte sie ihre Seele noch für ein Zehntel davon verkauft. Er wußte, was sie meinte, wenn sie ihm empfahl, sich jemanden zu suchen, der zu ihm paßte. Sie meinte eine weniger schöne, weniger herausfordernde, weniger glamouröse Frau; eben jemand durchschnittlicheren, einfacheren, uninteressanteren, mit niedrigeren Zielen im Leben – jemanden, dem es egal war, mit einem Versager zusammen zu sein. Ach, zur Hölle mit dem Versager, er würde sich ein Mädchen suchen, das genauso großartig war wie Marianna, dem Talent und Güte nur so aus jeder Pore troffen. Wie schön wäre es, wenn seine Göttin bald käme und seine schrecklichen Schmerzen vertrieb. Er schlenderte rüber zum Speaker’s Corner. Die Redner waren langweiliger und dämlicher als sonst, und der eisige Wind riß ihnen die Rhetorik aus dem Mund. Calum hörte 114
nicht lange zu und ging schließlich die Park Lane runter. Es war nach eins, und er wollte etwas trinken. Er würde einen im Dorchester zur Brust nehmen, wenn die ihn dort in seinem Aufzug bedienten, und wenn nicht, dann im Metropolitan. Auf dem Weg dorthin ging er an einem Autohändler nach dem anderen vorbei, woraufhin er zum erstenmal an das Geld selbst dachte. Jetzt konnte er sich leisten, was er wollte. Einen Mercedes? Zu plüschig und konservativ, obwohl der neue SL richtig scharf aussah. BMW? Den hätte er sich in Kalifornien gekauft. Jetzt wußte er nicht so richtig, was er von dem Image halten sollte. Borzo, Dougie und Cathy fuhren welche – das sagte doch alles. Sowohl Audi als auch Lexus waren zu empfindlich. Er ging ein paar Blocks weiter. Die Jaguars sahen für seinen Geschmack zu amerikanisch aus. Porsche? Hübsche Form, gut gebaut, aber die armen Fahrer. Lamborghini? Wenn er sich das metallische Lila des Schaufensterwagens anschaute, dann war das mehr AutoStatement, als er vertragen konnte. Keine weiteren Händler. Was fehlte? Rolls-Royce? Vergiß es. Hey, wo war Ferrari, die Marke, die Marianna sabbern ließ, wenn nur einer vorbeikroch? Er grinste, als er daran dachte, wie sehr er damals einen gewollt und wie sehr Lewis ihn verändert hatte. Jetzt wäre ihm wahrscheinlich ein Landrover lieber gewesen – wenn er sich überhaupt einen Wagen kaufen würde. Aber warte mal, falls Marianna es sich anders überlegte und zu ihm nach England flog, wäre es dann nicht toll, sie am Flughafen in einem brandneuen Ferrari abzuholen? Dann konnten sie darin ein paar Wochen über den Kontinent brausen und schließlich hoch nach Lewis fahren, um mit Morag eine Runde zu drehen. Hey, da würde sie aber schauen mit ihren achtzigjährigen Augen! Wieso bestellte 115
er nicht einfach morgen einen? Er konnte auch ein paar andere Sachen für Marianna kaufen, ein bißchen Schmuck und Klamotten. Wenn sie dann auf Reisen gingen, würde er die heimlich mitnehmen und ihr jeden Tag ein wundervolles Geschenk machen. Und was war mit Sachen für ihn selbst? Er mußte schick aussehen für Marianna. Davon abgesehen gab es nichts, was er wollte. Es war wirklich traurig. In Georgetown, im Haus der US-Handelsbeauftragten Lynne O’Neill, begann der Sonntagmorgen sehr unangenehm. Lynne war Samstagabend erschöpft von einer Reihe Verhandlungen in Santiago, Lima und Buenos Aires zurückgekehrt und hatte ihrem genervten Mann Ed versprochen, daß der Sonntag heilig wäre. Das Telefon hatte sie um halb acht geweckt. Jetzt war es fast neun, Ed war alleine zum Spazierengehen gestürmt, und sie wurde dieses Arschloch in der Leitung einfach nicht los. Der Typ wurde sogar immer noch schlimmer. »Wenn da jetzt nicht mal langsam was passiert, dann wenden wir uns an die Öffentlichkeit. Ich bluffe nicht, Lynne. Mich haben die Chinesen lange genug herumgestoßen.« Sie haßte es, wie Tyne mit ihr redete. Ein so hohes Amt zu bekleiden und dann so belehrt zu werden, machte sie rasend. Sie legte ihn für eine Minute auf Hold, nur um ihn zu ärgern. »... tut mir leid, Bob.« »Ich sagte, Lynne, daß Hunderte meiner Leute monatelang in Shanghai für mich tätig waren. Ich habe den Chinesen nie getraut. Warte, haben Sie gesagt, seien Sie geduldig, das wird schon alles. Jetzt sehe ich, wie es wird.« 116
Sie entfernte den Hörer von ihrem Ohr. Der Sturm war noch nicht abgeklungen. »… nicht genug, daß wir keine Verträge mit der Regierung kriegen, jetzt hat ihre tolle Sunrise Corporation auch noch unsere Produkte kopiert. Ja, unsere Produkte. Sie bringen vielleicht da oder dort kleine Änderungen an, aber letztendlich sind es unsere Programme. Was die meisten Geräte angeht, ist die Ausstattung identisch. Aber Sunrise verkauft sie für die Hälfte von dem, was wir nehmen. Wenn wir mit dem Preis runtergehen, greifen sie uns wegen Dumping an, und Sie werden sie auch noch unterstützen. Auf wessen gottverdammte Seite stehen Ihre Jungs eigentlich?« Sie haßte jeden Augenblick dieses Gesprächs, aber im Augenblick hatte sie keine andere Wahl, als es über sich ergehen zu lassen. Die Beziehung zwischen den USA und China war während der Aufnahmeverhandlungen beschädigt worden. Völlig sinnlos. Die Europäer, mal abgesehen von den Briten, hatten nachgegeben und sie im Regen stehengelassen. Die US-Regierung war zwischen zwei Stühlen auf dem Boden aufgeschlagen, und alle waren gleichermaßen sauer. Seit Jahren behaupteten Typen wie Bob Tyne, wenn man nicht ganz hart mit China umginge, würden die USA voll verarscht werden, und er war beinahe ausgenippt, als sie und das Weiße Haus in Genf nachgaben. Wie die Chinesen sich benommen hatten, seit sie Mitglied geworden waren, hatte Lynne O’Neill schon genug Probleme eingebracht, und daß Tyne seine Anti-China-Stimmung in der Geschäftswelt verbreitete, machte die Sache nicht besser. Sie mußte einfach die richtigen Worte finden, und ihn bei der Stange zu halten. »Bob, dem Präsident und mir ist klar, wie Sie die Sache sehen. Wir glauben aber fest daran, daß es nur anfängliche 117
Kindereien sind. Es dauert halt eine Weile, bis sie die Vereinbarungen vollständig implementiert haben. Wie Sie ja wissen, sind das sowieso von Anfang an nur Übergangsvereinbarungen …« »Sie wollen unsere Urheberrechte wahren?« »Man hat uns mitgeteilt, daß die Implementierung anderer Vereinbarungen in anderen Bereichen einen Großteil der Möglichkeiten …« »Quatsch. Entschuldigen Sie, wenn ich das so klar sage …« Selbst Tyne wußte, daß er mit einer Handelsbeauftragten sprach. »Es gibt keinen Grund dafür, daß das Ministerium die Regelungen für SoftwareVerträge nicht augenblicklich umsetzt. Aber etwas anderes macht uns noch größere Sorgen. In Genf haben sich die Chinesen verpflichtet, ihre Armee-Monopole aufzulösen. Richtig?« »Ja.« »Nun, wir alle wissen, wie wichtig Sunrise ist, und ich habe gehört, daß das chinesische Militär die Firma immer noch kontrolliert. Diese neuen Eigentümer, denen sie den Laden überschrieben haben, sind nur Strohmänner …« Großer Gott! Woher wußte Tyne denn das? Sie hatte den CIA-Bericht selbst erst Freitag gelesen. Es sah aus, als stimmte es. Die offiziellen Eigentümer waren lediglich Blödmänner. Wenn Sunrise weiterhin den chinesischen Softwaremarkt dominierte, würde die Armee alleine aus dieser einen Investition Milliardengewinne abschöpfen. Falls Tyne öffentlich machte, was er hier behauptete, konnte niemand vorhersagen, was für einen Ärger es geben würde. Sie mußte Zeit schinden, schnell. »Bob, Sie sollten wissen, daß wir hier nicht einfach nur tatenlos zusehen. Vertraulich kann ich Ihnen mitteilen, daß wir uns gerade sehr genau mit den Methoden zur 118
Problemlösung innerhalb des Reglements der WTO beschäftigen. Sie wurden noch nie zuvor zum Einsatz gebracht, aber sie haben Biß, und wenn uns Beweise vorliegen, daß die Chinesen gezielt die Vereinbarungen unterlaufen, dann wird die US-Regierung keinesfalls zögern …« »Sie rauszuschmeißen …? Können Sie sie aus dem Laden rausschmeißen?« »Nein.« »Toll. Jetzt sind sie also drin, und sie dürfen machen, was auch immer sie wollen.« »Das stimmt nicht. Wenn wir protestieren, wird die WTO ein Komitee in Genf zusammenrufen und die Schwierigkeiten unter die Lupe nehmen. Liegt ein eindeutiger Regelverstoß vor, würden sie in unserem Sinne entscheiden, und die Chinesen müßten sich beugen.« »Und wenn sie das nicht tun?« »Dann könnten wir Strafen verhängen.« »Und wie schnell können Sie diese Versammlung einberufen?« »Höchstwahrscheinlich nicht vor nächstem Jahr.« Als Tyne einatmete, wurde O’Neill klar, daß das genau der falsche Weg gewesen war, um ihn zu beruhigen. Und dann explodierte er auch schon wie ein Vulkan. »NÄCHSTES JAHR …? Haben Sie irgendeine Vorstellung, was so eine Verzögerung bedeutet? Dann spielen wir schon längst nicht mehr mit!« »Augenblick, Bob, ich habe gesagt, es ist wahrscheinlich, ich habe nicht gesagt, daß etwas anderes unmöglich ist. Wenn der Präsident und ich uns energisch dahinterklemmen, dann könnten wir …« 119
»Ich sage Ihnen eins, Lynne, wenn Sie nicht irgend etwas unternehmen, und zwar schnell, dann werde ich mit all meinen Mitteln an die Öffentlichkeit gehen.« Na toll. Jetzt waren sie wieder genau da, wo sie mit dem Gespräch angefangen hatten. Was für ein Arschloch, Multimilliardär hin oder her. Das war das letzte Mal, daß sie einen Anruf von ihm zu Hause entgegennahm. Und bevor sie ihn aus der Leitung werfen konnte, erzählte er ihr noch einmal die ganze Scheiße von vorn. Calum verbrachte den Sonntag abend in Gesellschaft von ein oder zwei Flaschen Wein zu Hause. Er gab der Versuchung nach, Marianna noch mal anzurufen, legte aber immerhin auf, als ein Mann ranging. Mühsam zog er sich daran hoch, was für Möglichkeiten er jetzt hatte, seinen Job in der Bank hinzuschmeißen. Bisher war er davon ausgegangen, daß er ohne ein Wort abhauen würde, daß er einfach nicht wieder hinging. Aber wenn er darüber nachdachte, könnte vielleicht ein bißchen Ärger auch nicht schaden. Also ging er am Montag vormittag wieder zur Bank, gezielt verspätet um halb elf. Er spazierte ganz locker in den vierzehnten Stock, holte sich einen Kaffee und setzte sich ohne einen Blick oder einen Gruß an jemand zu verschwenden an seinen Tisch und schaltete seinen Schirm an. Er hatte es sich genau überlegt. Er wollte, daß sie herausbekamen, daß er Kohle gemacht hatte, wollte aber nicht zugeben, daß es im Lotto gewesen war. Scheinbar konzentriert starrte er auf den Schirm, tippte mit dem Radiergummi seines Bleistifts gegen das Glas, seufzte dann und wann, lehnte sich schließlich in seinem Stuhl zurück und legte die Füße auf den Tisch. »Guuuuut, wieder eine halbe Million.« 120
»Wer, die Schweden?« Er antwortete Cathy so abwesend, als wäre er sich ihrer Anwesenheit gar nicht wirklich bewußt. »Nein, nicht die Schweden, die haben wir Freitag verkauft. Ich rede jetzt über mein eigenes Konto. Ich hab’ ein bißchen mit meinem Bonus rumgespielt.« »Und du hast eine halbe Million gemacht? Eine halbe Million was? Yen?« »Greenbacks. Und ich hab’ nicht gesagt, ich hätte eine halbe Million gemacht, ich sagte, ich habe wieder eine halbe Million gemacht.« Doug wurde aufmerksam. »Dein Bonus war doch nur … Wieviel war das noch?« »Fünfzehn.« »Ja, das meine ich doch. Und wieviel hast du jetzt mehr?« Einen Augenblick warten, dachte Calum, genießen, und dann ganz langsam und ruhig sagen: »Viereinhalb Millionen.« Borzos Kopf lagerte wie üblich auf seiner rechten Hand. Jetzt rutschte sein Ellbogen vom Tisch, sein Kinn knallte auf die harte Tischoberfläche. »Blödsinn.« Doug suchte nach Worten. »Was für ein beschissener Blödsinn.« Aber obwohl er es angeblich nicht glaubte, sah er nicht gerade glücklich aus. Mike kam der Wahrheit schon näher. »Was hast du gekauft? Optionen auf die Drei-Fünfzehn im neuen Markt?« »Neiiin.« Calum lutschte an seinem Bleistift, beugte sich wieder zum Bildschirm vor und grinste ein zufriedenes Grinsen. Das gesamte Team sprang simultan auf und umkreiste seinen Stuhl. Er wechselte auf die Bloomberg121
Page, bevor sie sehen konnten, was er sich angeschaut hatte. »Was, zum Teufel, ist los, Calum, alter Kumpel? Jetzt sag schon.« Jetzt hatte er sie. »So eine Art kleine Wette, die ich mir ausgedacht habe. Geht ganz gut ab, muß ich sagen.« »Und du bist immer noch dabei?« »Na klar, das geht immer weiter. Ich schätze, bis zum Ende der Woche habe ich noch mal verdoppelt. Es ist nicht so durchgeknallt, wie es klingt. Bossman hat mir gesagt, ich soll mehr kommunizieren. Also, ich sage euch, ich hab’ ein paar sehr geheime Informationen in dieser Sache.« »Können wir einsteigen?« Cathys Augen funkelten. »Ich würde euch ja gern helfen, aber meine Quelle hat mich schwören lassen, daß ich niemandem was sage.« »Scheiß doch drauf, wir erzählen’s ja nicht weiter, oder?« »Tut mir leid, Adam, ich hab’ mein Wort gegeben.« »Du … Schwein. Wenn wir so ’ne Nummer hätten, würden wir dich mitmachen lassen, gar keine Frage.« »Klar, Mike. Weißt du noch, was ihr mir letzte Woche für Nettigkeiten gesagt habt?« »Das hat doch nichts zu bedeuten. Wir haben bloß Spaß gemacht, das ist alles. Kannst du denn keinen Spaß vertragen? Komm schon, Alter, tu uns den Gefallen, nächstes Mal helfen wir dir auch.« Sehr langsam schüttelte Calum den Kopf. Doug übernahm wieder die Führung.
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»Ich glaube, daß er uns total voll verarscht. Der hat keine Million gemacht, der will uns bloß reinlegen.« Der geplante Anruf kam genau im richtigen Augenblick. Calum mußte dick auftragen, damit sie es kapierten. »Vielen Dank, Mr. Williams. Und wie läuft es mit dem neuen Wagen …?« Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. »… Nein, mich interessiert nur der 555. Der 375 ist zu langsam … Ja, ich weiß von der Warteliste … Ich zahle auch gerne den Zuschlag, wenn er rot ist … Nein, sonst nichts. Und spätestens nächste Woche! Gut. Sie melden sich? Dann bis heute nachmittag. Vielen Dank.« Adam wirkte ernsthaft beeindruckt. »Du kaufst dir einen Ferrari?« »Das reicht für den Anfang. Ich hol’ mir vielleicht auch noch ein paar andere Wagen.« Borzo hatte eine Idee und sprang vergnügt von seinem Platz auf. »Oh, hast du ein Handelsformular ausgefüllt? Du mußt ein Handelsformular ausfüllen, das ist ’ne Bankregel. Wenn du uns nicht sofort sagst, wo du investiert hast, gehe ich direkt zu Bossman, das kannst du mir glauben.« »O nein, Borzo, bitte nicht, ich brauch’ doch diesen Job.« Borzos Großkotzigkeit war so vehement, daß er die Ironie nicht registrierte. »Wart’s nur ab, du Yankee-Scheißhaufen.« Er verschwand in dem Glaskasten, redete einen Augenblick, marschierte dann wieder zurück und zeigte Calum seinen Mittelfinger. Bossman öffnete die Glastür und brüllte: 123
»Buchanan, ich will mit Ihnen reden. Jetzt.« »Da winkt meine Beförderung.« Calum hatte größeres schauspielerisches Talent, als er gedacht hatte. Nur Borzo grinste triumphierend. »Geschieht dir recht, du selbstsüchtiger Arsch.« Mit leicht geneigtem Kopf ging Calum in den Glaskasten und machte die Tür hinter sich zu. »Setzen.« Er setzte sich. »Als erste möchte ich gern wissen, warum Sie erst jetzt kommen?« »Da gab’s was Interessantes im Frühstücksfernsehen …« »Was...?« »… offensichtlich kehren Spatzen in einige städtische Gegenden zurück, in denen sie fast schon ausgestorben sind.« »Schnauze. Borzo sagt, Sie hätten unautorisiert gehandelt? Stimmt das?« »Wissen Sie, ich wollte Sie schon immer etwas fragen. Kämmen Sie Ihre Haare nur deshalb quer über den Kopf, um zu betonen, wie kahl Sie sind?« »Beantworten Sie meine Frage … JETZT!« »Ja, ich hatte da so eine Idee. Bis jetzt habe ich, äh … sagen wir mal, zehnmal Ihren Bonus geschafft.« »Wußten Sie, daß kaufen oder verkaufen, ohne ein Handelsformular auszufüllen, zu einer Kündigung führen kann? Und ich spreche hier von einer fristlosen Kündigung!« »Oh, nein! Das nicht!« »O doch, mein Lieber. Also können Sie schon mal damit anfangen, alle Details der Käufe und Verkäufe 124
aufzuschreiben, die Sie getätigt haben, und dann fummeln wir das auseinander. Alle unautorisierten Profite, die Sie erzielt haben, gehören der Bank, so lautet die Regel.« »Hören Sie, ich muß Ihnen etwas sehr Vertrauliches sagen. Sehr persönlich. Ich kann es nur flüstern. Kommen Sie näher.« Calum krümmte den Zeigefinger. Bossman wirkte erschöpft, beugte sich aber trotzdem ein wenig vor. »Näher. Ich will auf keinen Fall, daß jemand anders es hört …« Er kam noch ein wenig näher und wandte Calum sein Ohr zu. »Es ist wirklich sehr persönlich. Das müssen Sie verstehen. Es muß unser kleines Geheimnis bleiben. Versprechen Sie, es niemandem zu erzählen?« Bossman nickte ungeduldig. »Es ist … Ich möchte … daß Sie sich meinen Job in den Arsch schieben.« »WAS? Wie bitte, du beschissenes kleines ...« Wenn er nahe genug gewesen wäre, hätte Bossman ihm eine reingehauen. Calum sprang auf und tanzte aus dem Glaskasten hinaus; Bossman hatte ein Gesicht wie ein Veilchen und hämmerte zornig Worte in sein Telefon die Security solle Calum sofort rauswerfen. Calum blieb an seinem Tisch gerade noch lange genug stehen, um etwas aufzuschreiben und in einen Umschlag zu stecken. Das Team starrte ihn stumm mit großen Augen an. Er lächelte freundlich zurück. »Na, ich bin draußen. Vielleicht sehen wir uns mal wieder. Hat wirklich Spaß gemacht, mit euch zu arbeiten. Vielen Dank, daß ihr mich so freundlich aufgenommen habt. Ich hab’s mir anders überlegt, ich gebe euch 125
tatsächlich einen kleinen Tip. Aber macht den Umschlag erst auf, wenn ich im Fahrstuhl bin, und dann handelt, so schnell ihr könnt.« Er legte den Umschlag vorsichtig auf seinen Tisch und ging dann die Runde ab; ganz ernsthaft gab er jedem die Hand. Dann schritt er zum Fahrstuhl und drückte auf den Knopf. Er sah sich um, Borzo bewegte sich schon. »Nein, nein, Borzo, sitz! Erst schauen, wenn ich weg bin. SITZ!« Borzo gehorchte. Ihre Blicke klebten an ihm, als die Türen sich öffneten und er mit einem süßen Abschiedswinken verschwand. Im gleichen Augenblick, in dem die Türen sich schlossen, sprang Borzo von seinem Stuhl auf und riß den anderen den Umschlag unter den Händen weg. Er riß ihn auf und quietschte wütend. Obwohl er für seine üblen Flüche bekannt war, fehlten ihm jetzt die Worte. In diesem Augenblick hätte er vielleicht ein paar brandneue Bezeichnungen für selten gesehene Körperteile stanzen können, wenn er nicht zu blöd dafür gewesen wäre; so blieb ihm nichts übrig, als einfach nur aus seinem üblichen Repertoire zu rezitieren. Der Zettel segelte zu Boden. Doug nahm ihn auf. Er las laut vor. Der Vorschlag hatte nichts mit Investments zu tun. Drei einfache Worte. Leckt mich mal. Sie sprangen alle auf und jaulten mit Borzo im Chor.
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9 Den Job hingeschmissen zu haben, war ein paar Stunden lang ganz toll. Danach bedeutete es einfach nur, daß er jetzt noch mehr Zeit hatte, sich an seinem Unglück zu weiden. Spät am Montag nachmittag lenkte er sich mit einem Shopping-Ausflug für Marianna in der Bond Street ab, er kaufte ganz aufgeregt total extravagante Sachen und stellte sich fröhlich ihre Begeisterung über jedes seiner Geschenke vor. Montag abend blieb er daheim. Er versuchte, das Telefon dazu zu bringen, zu klingeln; sie sollte dran sein. Es schwieg. Unruhig schaute er Fernsehen und ging kurz nach zehn ins Bett. Dienstag mittag schien der schön eingepackte Geschenkestapel nur Mariannas Abwesenheit zu betonen, wie ein vollgeschmückter Weihnachtsbaum in einem Haus ohne Kinder. Er hatte das dringende Gefühl, raus zu müssen, weg von dem Geschenkestapel. Am Nachmittag schaute er sich zwei Filme an, dann marschierte er ziellos durchs West End. Keinesfalls durfte er sich jetzt unterkriegen lassen. Wenn er nur ein bißchen weibliche Gesellschaft hätte, damit er seinen Schmerz eine Weile vergaß. Es war ja egal, wenn es keine Göttin war, jede Frau wäre gut genug. Er hing hoffnungsvoll in ein paar Clubs rum, und ein paar Frauen schauten ihn tatsächlich an; einige kicherten, aber keine sprach ihn an. Um Mitternacht war er zurück in seiner Wohnung und höllisch einsam. Mittwoch sperrte ihn der Regen ein, bis er am frühen Abend wieder ins West End ging. Drei Stunden lang hatte er verzweifelt versucht, seine Schüchternheit zu überwinden, dann bat er schließlich den Kellner in der Bar 127
oben im Park Lane Hilton zwei Mädels an einem Fenstertisch Drinks zu spendieren. Er lehnte sich ein wenig zurück und schaute im Spiegel zu, damit er nicht peinlich direkt zu ihnen hinüberstarrte. Er sah, wie sie erst gar nicht verstanden, wie der Kellner dann den Kopf zur Seite neigte, um auf den Spender hinzuweisen, und erkannte dann das unfreundliche Blitzen in ihren Augen und wie sie gleichzeitig ablehnten. O Gott, jetzt saß er in der Falle. Sie waren zwischen ihm und der Tür, und er konnte ihr herausforderndes Gestarre nicht ertragen. Irgendwann kam noch eine Frau in die Bar und setzte sich an einen eigenen Tisch. Sah gut aus, prima Beine, hübsches grünes Kleid, die beiden Tussen beobachteten, wie er sie beobachtete und waren lästerbereit. Die neue Frau schaute in Calums Richtung, und sie sahen einander für einen Augenblick an. Drinks rüberzuschicken schien nicht besonders gut zu klappen, sollte er es riskieren, tatsächlich selbst hinzugehen? Er war nervös. Lieber noch ein paar Minuten warten. Unruhig starrte er hinaus auf das nächtliche Panorama. Als er sich ganz locker noch einmal umsah, brachte der Kellner ihr schon die Rechnung. Panisch winkte Calum nach seiner. Der Kellner nickte, blieb aber bei der Frau, bis sie bezahlt hatte. Teufel, sie unterschrieb! Das hieß ja wohl, daß sie im Hotel wohnte. Allein, wahrscheinlich einsam. Sie stopfte die Quittung in ihre Handtasche, stand auf und ging nach einem letzten Blick in Calums Richtung raus. Wo blieb seine verdammte Rechnung? Komm schon, Mann, sonst entwischte sie ihm. Wieviel konnten seine beiden Whiskys schon gekostet haben? 15 Pfund? 20 Pfund? Der Kellner daddelte immer noch an der Kasse rum. Durch die Glastüren sah er den Fahrstuhl aufgehen, er spuckte Neuankömmlinge aus. Die Frau stand immer noch da, sie wollte einsteigen. Calum warf 30 Pfund in 128
Zehnern auf den Tisch und ging an dem naserümpfenden Duett vorbei; die beiden wünschten wohl mit derselben Kraft, daß die Fahrstuhltür sich schloß, wie er betete, daß sie offen blieb. Sie gewannen. Das grüne Kleid verschwand in der Kabine, die Tür ging zu und verhöhnte seinen verzweifelten Sprint. Scheiße! Wie dumm, daß er es nicht früher versucht hatte! Er würde noch einen letzten Drink im Inn on the Park nehmen und dann heimgehen. Sie plauderte mit dem Barkeeper und spielte mit ihrem Cocktailquirl; ihre langen Beine hatte sie halb um die des Barhockers geschlungen, und die Schultern, die das schwarze Kleidchen freigab, waren für die Jahreszeit ungewöhnlich braun. Sie hatte bereits drei Tonics hinter sich und den Abend schon fast abgeschrieben, als der schlanke junge Amerikaner hereinkam und sich an die Bar setzte, anstandshalber ließ er noch einen Stuhl frei zwischen sich und ihr; er bestellte einen BowmoreWhisky. Sie bezweifelte, daß er der richtige Typ war, aber man konnte nie sicher sein. Vielleicht war er allein oder langweilte sich, vielleicht war er weit weg von zu Hause. Offenkundig nicht interessiert, betrachtete er die Flaschenreihen hinter der Bar, manchmal warf er ihr einen schnellen Blick zu. Sie konnte Entgegenkommen geradezu ausstrahlen lassen, aber diesmal klappte es nicht. Würde er denn nie etwas sagen? Sie mußte die Initiative ergreifen. »Sie kommen aus Amerika, wie? Ich liebe die Staaten. Woher genau?« »Kalifornien.« »Sie Glücklicher!« 129
»Waren Sie mal da?« »Mmmm. War wunderbar. Was führt Sie nach London?« »Ich bin geschäftlich hier.« »Steigen Sie dann immer im Inn on the Park ab?« »Nein, ich wohne hier nicht … Ich habe ein Apartment in London. Und Sie?« »Ich lebe hier. Ich wollte mich hier eigentlich mit einer Freundin treffen. Aber die hat mich wohl versetzt.« »Mir geht es ähnlich. Ich hatte einen … meiner Mitarbeiter hierher bestellt. Hat wohl zu viel zu tun. Sagen Sie, wo wir beide versetzt worden sind, was halten sie davon, wenn wir zusammen was essen? Die haben hier doch bestimmt ein vernünftiges Restaurant.« Ihr Instinkt sagte, daß das zu nichts führen würde, aber andrerseits hatte sie noch nichts gegessen, und in ihrer Wohnung warteten bloß Sardinen und Toast auf sie. Also lächelte sie freundlich. »Und was ist mit Ihrem Kollegen? Der kommt doch bestimmt jeden Augenblick, oder?« »Zum Teufel mit ihm. Verschwinden wir einfach, bevor er auftaucht … Hallo, ich hätte gern die Rechnung … Nein, zusammen bitte.« »Ich kann für mich selbst zahlen.« »Oh, ich bestehe darauf. Sehen Sie, schon erledigt.« »Wie war das Filet Mignon?« »Sehr gut, und der Wein ist großartig.« »Es geht eben nichts über Lafitte.« »Also, erzählen Sie mir mehr von Ihrer Arbeit, Calum. Sind es nur Kinofilme, oder haben Sie auch mit dem Fernsehen zu tun?« 130
»O ja, wir machen viel Fernsehen. Und Musik.« »Wie faszinierend. Es muß wunderbar sein, eine Arbeit zu haben, die so stimulierend ist und noch dazu viel Geld bringt.« »Ich hab’ wohl Glück gehabt. Aber es gibt auch Schattenseiten, die Reiserei zum Beispiel.« »Wenn Sie jetzt über Privatflugzeuge und Concorde reden, dann hab’ ich kein großes Mitleid mit Ihnen. Wo wohnen Sie in London?« »Holland Park. Manchmal, wenn es spät wird, mache ich mir nicht mal die Mühe, dahin zurückzufahren; ich nehme mir einfach ein Zimmer im nächstbesten Hotel. Mach’ ich heute vielleicht auch. Hey, das ist jetzt aber nicht so nett, Sophie. Wir reden die ganze Zeit über mich. Reden wir doch mal über Sie. Wo wohnen Sie?« »Maida Vale. Na ja, ehrlich gesagt eher in Kilburn. Da waren Sie bestimmt noch nie. Zu uns kommen nicht besonders viele Film-Mogule.« »Und gefällt’s Ihnen da?« »Es ist okay. Na ja, eigentlich ist es nicht okay. Es handelt sich um eine kleine Mietwohnung. Ich würd’ gern umziehen und mir was kaufen – aber die Bank spielt nicht mit. Es ist nicht ganz einfach, wenn man freiberuflich ist.« »Die Banken sind wirklich überall gleich, die wollen Unternehmern nie helfen. Sie haben gesagt, daß Sie selbständig sind, aber Sie haben noch gar nicht gesagt, in welcher Branche.« Sie holte eine lange, elegante Zigarette heraus und berührte Calums Hand, als er sie ihr anzündete, dann inhalierte sie tief und schaute ihm direkt in die Augen, während sie den Rauch durch die Nase ausstieß. Jetzt war es soweit. Wenn sie richtig vermutete, würde er rot 131
werden, zahlen und ohne einen Abschiedsgruß verschwinden. Sie senkte ihre Stimme um eine Oktave auf superverführerisch. »Nun ja, mein Geschäft besteht darin, Männern Vergnügen zu bereiten.« Er wurde rot, aber sie konnte nicht genau sagen, ob aus Peinlichkeit oder wegen seines Hustenanfalls. Sophie drückte ihre Zigarette wieder aus und schaute amüsiert zu. Wahrscheinlich war es das erste Mal, daß er mit einer Hure auch nur gesprochen hatte. Sie hatte außerdem das Gefühl, daß er völlig ratlos war, was er jetzt machen sollte. Würde er versuchen, sich davonzustehlen, ohne total uncool zu wirken – oder lockte ihn das Angebot? Wenn ja, dann mußte sie es ihm leichter machen. »Ich hoffe, das hat Sie nicht schockiert, Calum. Ich dachte, Sie wären schon daraufgekommen. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich meine damit nicht, daß Sie und ich irgend etwas … tun müssen, obwohl Sie vielleicht Spaß daran hätten. Aber ich bin sehr spezialisiert. Wenn Sie nach einem richtig großen Deal völlig fertig sind, könnte ich Ihnen helfen, den Streß abzubauen. Sie verstehen eine Art alternative Heilmethode.« Er konnte immer noch nichts sagen, und es fiel ihr schwer, nicht zu grinsen. Natürlich hatte sie seinen ganzen Filmquatsch nicht geglaubt. Sophies nicht zu verachtender Erfahrung nach tröteten Männer immer großkotzig in der Welt herum. Wenn sie ihn jetzt so anschaute, wirkte seine Angeberei noch lächerlicher. Er hatte das Gesicht eines kleinen Jungen, der hoffnungslos zwischen den Wünschen schwankte, wegzulaufen oder zu beweisen, daß er ein Weltmann war. Nun, es war spät geworden, und sie konnte sich nicht mehr länger mit ihm abgeben.
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»Calum, ich gehe mal in die Lobby, während Sie bezahlen. Wenn Sie sich ein bißchen vergnügen wollen, dann gesellen Sie sich zu mir und nehmen Sie uns ein Zimmer. Wenn nicht, dann war’s ein netter Abend mit Ihnen. Das Essen hat mir Spaß gemacht.« Kaum waren sie auf dem Zimmer, verschwand Sophie im Bad und schaute auf die Uhr. Teufel, es war schon halb eins. Jetzt mußte sie schnell machen; sie wollte heim in ihr eigenes Bett. Keine Zeit mehr für süße Verführungen. Sie zog alles außer Unterwäsche, Strümpfen und Strumpfhaltern aus und kehrte zuversichtlich ins Zimmer zurück. Calum hatte sein Jackett ausgezogen und eine kleine Flasche Champagner aus der Minibar geöffnet. Er sah schrecklich nervös aus und schwitzte wie ein Schwein, unter den Armen war sein Hemd schon dunkelblau. Als er ihr das Glas reichte, zitterte seine Hand stark. Es sah aus, als würde er schon bereuen, ins Tiefe geschwommen zu sein. Wenn sie jetzt nicht direkt loslegte, bekam er vielleicht Angst und weigerte sich dann, zu bezahlen. Also am besten erst mal abkassieren. Sie nahm einen Schluck Champagner, stellte das Glas dann hin und hob ihre beiden Hände hinter den Rücken zu ihrem BH-Verschluß. Der Mini-Striptease dauerte knappe zwanzig Sekunden. Calum schaute mit starrem Grinsen zu, während Sophie ihren BH über seinen Kopf warf und ihn damit näher zu sich zog. »Okay, Calum, jetzt wird’s lustig.« »Sophie, was hältst du davon, wenn wir erst noch ein bißchen reden?« 133
Genau das hatte sie befürchtet. Sie stieß ihn rücklings auf das riesige Bett, sprang auf ihn rauf, knöpfte sein Hemd auf und begann dann, an seinem Gürtel herumzuzerren. »Okay, Mister Movie Man, dann schauen wir doch mal, was du da unten für mich hast.« Was auch immer er da unten für sie gehabt hatte, war jetzt nur noch geschmolzenes Wachs. Er langte ebenfalls nach seinem Gürtel, und sie kabbelten sich ein wenig. »Komm schon, Calum, entspann dich. Wie soll ich deinen Streß abbauen, wenn ich dich nicht mal anfassen darf? Ich versprecht’ dir, du wirst dich amüsieren wie noch nie zuvor.« Sie hatte vor, diesen lächerlichen Witzbold in höchstens fünf Minuten abzufackeln. Was, zum Teufel, war los mit ihm? Er grinste sie an wie blöd und klammerte sich an seinem Gürtel fest … Sie versuchte weiter, ihn auszuziehen. Er ließ es nicht zu. »Hör mal, wenn du keine Lust hast, ist das in Ordnung, solange du mich bezahlst. Möchtest du irgendwas anderes von mir?« »Sophie, wieviel kostet denn dein … normaler Service?« »Dreihundert, aber wenn du etwas Ungewöhnliches willst, kostet das extra.« »Ich zahl’ dir das Doppelte … wenn ich tun darf, was ich wirklich will.« »Und das wäre?« Ihre Stimme klang unsicher. »Ich möchte, daß du das Licht ausmachst, mich eine Weile im Arm hältst und …« »Und was?« »Mich Marianna zu dir sagen läßt.« 134
»Wenn’s dich anmacht, mein Lieber...« Er bezahlte Sophie und das Hotel, dann setzte er sie in ein Taxi und stieg selbst in ein anderes. Er schämte sich und kam sich billig vor. Warum nur hatte er so angeben müssen? Das war definitiv das letzte Mal gewesen, daß er eine Fremde ansprach. Wieso war er nicht abgehauen, als sie es ihm gesagt hatte? Wäre es wirklich so peinlich gewesen, wie ein Idiot dazustehen? Nein, da steckte mehr dahinter. In diesem Augenblick war ihm alles, selbst das, besser erschienen, als elend und allein zurück in sein leeres, kaltes Apartment zu fahren. Erst als sie in dem Zimmer standen, war ihm klar geworden, daß er es nicht brachte. Wenn sie es langsamer angegangen, wenn sie ein bißchen romantischer gewesen wäre, wenn sie sich nicht bloß die Klamotten vom Leibe gerissen hätte, dann wäre es vielleicht gegangen … Wieso hatte er sie nicht einfach bezahlt und war verschwunden? Gott sei Dank hatte niemand sie zusammen gesehen, und abgesehen von seinem Vornamen wußte sie nicht, wer er war. Das Taxi bog in seine Straße ein. Er war froh, nach Hause zu kommen, ging rein und brach auf dem Sofa zusammen. Vielleicht sollte er es noch einmal bei Marianna versuchen, vielleicht war sie jetzt zugänglicher geworden. Nach dem Schrecken und der Scham des Abends würde es angenehm, vertraut und anständig sein, mit Marianna zu reden, selbst wenn sie schlechte Laune hatte. »Maria? Hier ist Calum. Calum Buchanan. Wie geht es Ihnen? Ich hab’ neulich Marianna was zu sagen vergessen. Es ist sehr wichtig … Vielen Dank.« »… Calum, das ist das letzte Mal, daß ich einen Anruf von dir entgegennehme. Du hast am Samstag unsere ganze 135
Party verdorben. Wenn Brett jetzt hier wäre, würde er wütend sein, daß ich überhaupt noch mit dir rede. Ich hab’ ihm versprochen, daß ich das nicht mehr tue. Ich will mit dir nichts zu tun haben, Calum. Wir haben nichts gemeinsam, und wenn du lästig werden solltest, dann können wir nicht einmal mehr Freunde sein. Also – laß mich in Ruhe!« »Marianna, hör mir zu. Ich hab’ dir eine Sache wegen des Lottogewinns noch nicht erzählt…« »Ich glaube keinen Augenblick, daß du wirklich fünf Millionen Dollar gewonnen hast. Diesen Quatsch hast du dir doch nur ausgedacht, um mich zu beeindrucken.« »Wenn du mir nicht glaubst, dann ruf das Mädel bei der Lotterie an, ich geb’ dir ihre Nummer …« »Ich habe absolut nicht vor ...« »Es stimmt. Aber der Witz ist - es war kein Glück.« »Was redest du da für einen Mist? Wie kann es kein Glück sein, im Lotto zu gewinnen?« »Ich habe ein ... System.« »Du kannst also im Lotto gewinnen, wann immer du willst?« »Wenn ich möchte.« »Diese Woche auch? Du könntest es wieder tun?« »Wenn ich einen Grund dafür hätte. Im Augenblick habe ich mehr als genug Geld für meine Bedürfnisse. Aber wenn ich mehr brauche, klar könnte ich. Sooft du willst. Stell dir vor – wenn wir zusammen leben würden, hättest du alles, was immer du dir wünschst…« »Calum, trinkst du wieder?« »Nein, tu’ ich nicht.« »Na ja, warum auch immer du so bist, mir reicht’s.« 136
»Ich werde dir beweisen, daß es stimmt. Ich werde Samstag noch mal gewinnen. Um eins LA-Zeit ruf ich dich an.« »Du bist wirklich ein Arschloch, und jetzt fängst du an zu fantasieren. Du kannst ja am Samstag anrufen, dann wirst du schon sehen, was passiert. GOODBYE.« Die richtigen Nummern rauszukriegen, strengte Calum mehr an als am Samstag zuvor. Er kehrte direkt in seine Wohnung zurück und ließ sich aufs Sofa fallen, um bei der Ziehung zuzuschauen. Als es vorbei war, rührte er sich nicht; er fühlte nichts, er lag einfach nur da und dachte an den ihm bevorstehenden Anruf. Würde es anders laufen, wenn sie jetzt begriff, daß es nicht bloß Glück gewesen war? In der Nacht zuvor hatte er kaum geschlafen, seine Gedanken geisterten endlos zwischen Marianna und seinem schlechten Gewissen Morag gegenüber hin und her. Brach er sein Versprechen, indem er es wieder tat? Der erste Gewinn hatte es einfach nicht gebracht. Morag hätte jetzt sicher nicht gewollt, daß er aufhörte, wo doch immer noch eine Chance bestand. Aber wenn Marianna ihn trotz seines zweiten Gewinns ablehnen würde? Was sollte er denn dann noch machen, um sie nicht für immer zu verlieren? Er kam sich vor wie eine Katze auf einem heißen Blechdach und beschloß schließlich, sich lieber zu entspannen und später anzurufen, wenn er sich lockerer fühlte. Vielleicht sollte er Tracy von Avalon noch mal herbitten und dann versuchen, sie zum Abendessen einzuladen? Dabei fiel es ihm wieder ein: Er mußte anrufen und seinen Gewinn bestätigen, das auf jeden Fall. Es dauerte eine Weile, bis sie ihn durchstellten.
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»Ich kann es nicht glauben! Das ist noch nie passiert! Unglaublich! Wie machen Sie das, Calum?« »Wieder so ein Gefühl, schätze ich.« »Und diesmal mit sechs Gewinnscheinen, also bekommen Sie zwei Drittel der Gesamtsumme! 4,6 Millionen Pfund.« »Toll. Wann kommen Sie vorbei?« »Wieso?« »Na ja, müssen wir nicht wieder das alles durchgehen, wie letzte Woche?« »Eigentlich nicht. Wir haben Ihre persönlichen Daten, und Emma hat Ihnen schon die Investment-Ratschläge gegeben. Ich glaube, dem ist nicht viel hinzuzufügen.« »Oh ...« »Natürlich würde das anders aussehen, wenn Sie bereit wären, diesmal in die Öffentlichkeit zu gehen. Das wäre eine großartige Story. In der letzten Zeit sind unsere Gewinner selten in der Zeitung erschienen. Wenn es nichts Besonderes zu schreiben gibt, finden die Zeitungen die Sache ziemlich langweilig. Aber das hier wäre richtig aufregend. Und daß Sie Amerikaner sind, macht die Sache noch besser. Aber ich nehme nicht an, daß Sie interessiert sind.« »Ich könnte ja mal drüber nachdenken.« »Im Ernst?« »Ich will mich jetzt noch nicht festlegen. Ich muß darüber nachdenken – und würde gern mit jemand reden, mit jemand, der entsprechende Erfahrung hat.« Er wußte, daß es falsch war, sie so zu drängen, aber er fühlte sich so verzweifelt allein. »Na ja, wenn Sie wirklich darüber nachdenken, sollten wir vielleicht tatsächlich morgen vorbeischauen.« 138
»Ich möchte das heute abend entscheiden, so oder so.« »Tut mir leid, heute abend kann ich nicht. Ich könnte einen meiner Kollegen fragen, Mike.« »Vergessen Sie’s. Ich gehe nicht in die Öffentlichkeit.« »Calum, ich würde Ihnen wirklich gerne entgegenkommen, aber ich hab’ meinem Freund versprochen, daß ich mit ihm auf eine Party gehe. Der bringt mich um, wenn ich absage. Bitte – geht’s nicht morgen?« »Jetzt oder nie.« Er wußte, daß er ein Arschloch war, aber er brauchte sie mehr als ihr Freund sie brauchte. »Okay, ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen.« »Wir könnten doch beim Reden auch was essen. Treffen wir uns doch um Viertel vor zehn im Savoy.« »In der Lobby. Wenn Sie in die Öffentlichkeit gehen, übernimmt Avalon die Rechnung.« Es war ein wundervoller Abend. Der einzige Fehler, den er machte, war der, ihr zu erzählen, daß er einen Ferrari bestellt hatte. Wie unglaublich dämlich, ausgerechnet sie beeindrucken zu wollen. Als er fragte, was ihr Lächeln zu bedeuten hätte, gab sie schüchtern zu, daß sie insgeheim eine Liste dessen führte, was die Leute kauften. Seit sie bei Avalon angefangen hatte, war der Stand auf sechsundzwanzig Rolls-Royces, fünfzehn Bentleys, siebenundvierzig Porsches und, jetzt kam’s, vierundfünfzig Ferraris gestiegen. Danach wurde es besser. Okay, da war die Sache mit ihrem Freund, aber sie vergoß keine Tränen. Zwar machte sie ihm nicht gerade Mut, aber es war nett, mit ihr zusammenzusein, und sie benahm sich, als fände sie ihn auch attraktiv. Er war fasziniert davon, wie sie das 139
Gespräch immer wieder zum Hauptthema zurücklenkte und versprach ihr, darüber zu schlafen und sie am nächsten Morgen anzurufen. Sie wollte sich keinen Wagen mit ihm teilen, ließ sich aber auf beide Wangen küssen, bevor sie in ihr Taxi stieg. Calum ging zu Fuß nach Hause. Sie hatte es zwar ganz geschickt angefangen, aber er würde die Sache auf keinen Fall publik machen. Beim Essen hatte er dann und wann mit der Idee geliebäugelt, aber nachdem die Wärme des Abends und die Wirkung des Weins verflossen waren, kamen ihm Morags Worte wieder in den Sinn. Was auch immer jetzt geschah, die Geschichte war vorbei. Kein Lottospielen mehr, und seine Gabe konnte er jetzt auch vergessen. Für immer. Entweder klappte es jetzt oder nie. Es lag jetzt in Mariannas Händen. Sie würde ganz sicher begreifen, daß ihm etwas Besonderes gelungen war und würde sich bestimmt wenigstens mit ihm treffen und darüber reden. Wenn er sie dann nicht überzeugen konnte – finito. Er würde sich irgendwo ein neues Leben aufbauen, weit entfernt von LA und London. Kaum war er zu Hause, rief er sie an. »Tut uns leid. Unter der Nummer, die Sie gewählt haben, gibt es zur Zeit keinen Anschluß. Bitte überprüfen Sie die Nummer und wählen Sie erneut.« Er wählte wieder. Dieselbe automatische Ansage. Er fragte die Vermittlung. Kein Fehler. Er rief die Auskunft an. Nicht eingetragen. Dieses Aas! Sie hatte ihre Nummer gewechselt. Wie sollte er sie jetzt erreichen? Sie hatten keine gemeinsamen Freunde mehr. Die wenigen von früher waren lange aufgespalten in getrennte Gruppen. Er versuchte es bei zweien ihrer Freundinnen. Eine hatte den Anrufbeantworter an, die andere war daheim, behandelt ihn aber wie eine Tiefkühltruhe. Sie sagte, sie hätte die 140
Nummer nicht und würde sie ihm auch nicht geben, wenn sie ihr bekannt wäre. Er legte sich im Dunkeln aufs Bett. Wie ein Krebsgeschwür breitete sich die brennende Ablehnung in seinem Körper aus. Er war anständig gewesen, er hatte alles richtig gemacht, so wie Morag es gewollt hatte. Er hatte nicht aufgegeben – und was war nun? Wenn er Marianna jetzt wirklich verloren hatte, was blieb ihm dann noch? Er war jemand, der etwas Unfaßbares geschafft hatte, aber keine Anerkennung dafür ernten durfte, ein einsamer Multimillionär, der sein Geld nicht genießen konnte, ohne daß das Gesicht einer alten Frau vor seinem inneren Auge aufstieg. Der Gewinn war doch nicht nur Morags Verdienst, verdammt noch mal! Vielleicht hatte Morag die Methode erfunden und ihn eingewiesen, aber es war seine Idee gewesen, überhaupt Geld auf diese Art zu verdienen, und er hatte es auch geschafft. Was würde Morag jetzt von ihm erwarten? Was sollte er mit dem Geld tun, wenn Marianna nicht zu ihm zurückkam? Es spenden und in Armut und Elend den Rest seines Lebens verbringen? Mein Gott, er hätte sogar Spaß daran, das alles in Ein-Dollar-Scheinen von der Bank zu holen und mit einem Laster zu Mariannas Haus zu fahren, nur um ihr zu zeigen, daß es wirklich stimmte. Er war also immer noch ein Versager, ja? Wieviel Versager machten denn fünfzehn Millionen Dollar in ein paar Wochen, nur mit ihrer reinen Willenskraft? Vielleicht sollte er der Welt ein oder zwei Dinge beweisen. Nein, Morag, Augenblick mal, es kann nicht immer nach deiner Nase gehen, ich hab’ hier auch was zu sagen. Und wenn ich Marianna nicht kriegen kann, warum soll ich dann nicht wenigstens allein Spaß haben? Und zwar jetzt! Wieder stiegen die Visionen von Morags traurigem Gesicht, dem einfachen Blackhouse und dem Umriß des Ben Mhor in seinem Geist auf. Doch 141
ganz bewußt schob er sie beiseite, bis er endlich einschlafen konnte. Als er erwachte, schaute er auf die Uhr. Zehn nach acht. Zu früh. Er öffnete die Vorhänge und ging wieder ins Bett. Ein humorloses, kaltes Lächeln lag um seine Lippen. Schlag neun rief er die Privatnummer an, die Tracy ihm gegeben hatte. »Hi, Calum, das Essen war wirklich nett. Und? Machst du es?« sagte sie.
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10 Und so kam Calum zu seiner Pressekonferenz, seinem TV-Auftritt des Ruhms, seinem Stapel Presseberichte, darunter auch einem in der LA Times. Die Konferenz selber lief einigermaßen gut. Sie wollten unbedingt wissen, wie er das geschafft hatte, ließen ihn aber in Ruhe, nachdem er dreimal wiederholt hatte, daß er eine ›Methode‹ habe, sie aber nicht verraten würde. Natürlich wollten sie wissen, wo er herkam, wie alt er war, seit wann er sich in Großbritannien aufhielt. Keiner fragte nach seiner Zeit in Lewis, wieso auch, und er erzählte nicht freiwillig davon. Ob er verheiratet wäre? Nein. Freundin? Nein. Wo er arbeitete? Er würde hier eine Auszeit einlegen. Wo er wohnte? West London. Adresse? Vertraulich. Die Leute von Avalen hatten ihn gut gebrieft und wußten genau, welche Fragen sie selbst beantworten mußten. Nein, es gab keine Regel im Hinblick auf Seriengewinner, und nein, sie hätten auch nicht das Gefühl, daß sie eine aufstellen müßten. Sie hielten es nicht für sonderlich wahrscheinlich, ha ha, daß sie mit so einer Situation häufig konfrontiert würden. Ob die Damen und Herren von der Presse wüßten, wie die Chancen stünden, daß so etwas in zwei Wochen nacheinander passierte? Mr. Buchanan hatte auch noch etwas dazu zu sagen. Er würde nicht wieder Lotto spielen, und er habe vor, zehn Prozent seines zweiten Gewinns für wohltätige Zwecke zu spenden. Nach den Fragen wurden viele Fotos gemacht. Händeschütteln mit dem Avalon-Chef, erhobene Champagner-Flöten, ein riesiger Scheck. Was auch immer 143
die Fotografen wollten, erfüllte er ihnen gerne. Später stöhnte er über das Foto im Evening Standard, über sein idiotisches Grinsen und die hochgereckten Daumen, und seine Furcht, daß ähnliche Bilder anderswo – inklusive der LA Times – gedruckt wurden, bestätigte sich. Wie blöd er aussah! In Zukunft würde er sich von der Presse fernhalten. Aber wenigstens waren die Artikel selbst in Ordnung. Sie wußten nicht viel über ihn, also konnten sie auch nichts Negatives schreiben. Soweit zu den Tageszeitungen von Dienstag. Der Mittwoch lief anders. Jemand stopfte ihm eine Sun durch den Brief schlitz. Er war die zweite Schlagzeile. Freundlicherweise verriet die Zeitung auch gleich seine Adresse und beschrieb in aller Breite, wie er von den Security Guards rausgeworfen wurde, nachdem man ihn in der Bank gefeuert hatte. Ungenannte ehemalige Kollegen beschrieben ihn als ›faul‹, ›hoffnungslos‹, ›arrogant‹ und ›unflätig‹. Unflätig? Das war gar nicht so dumm wie erwartet. Sie wären ›froh gewesen, ihn das letzte Mal zu sehen‹. Außerdem sei er ein ›notorischer Lügner‹ und ›furchtbarer Angeber‹. Calum kotzte fast auf seine Couch. Welches von diesen Arschlöchern hatte die Zeitung angerufen? Borzo, bestimmt war es Borzo gewesen. Aber dem würde er es schon noch zeigen. Er würde einfach jemanden dafür bezahlen, diesen Schwachkopf zu kastrieren. Es klopfte an der Tür, ein Reporter der Sun und ein Fotograf. Der Reporter war klein und übergewichtig, seine Hand war feuchtkalt, er hatte haufenweise Schuppen und einen lächerlichen Bleistiftbart. Frech behauptete er, daß er versucht habe, Dienstag abend anzurufen, aber als Calum nicht rangegangen wäre, hätten sie die Geschichte einfach bringen müssen, weil sich die Quellen sonst vielleicht mit einem anderen Blatt in Verbindung gesetzt 144
hätten. Jetzt würde er aber Calum gerne helfen, seine Version der Geschichte in seinen eigenen Worten zu schildern. Calum verpaßte ihm einen Zwei-WortKommentar. Kluge Idee. Am nächsten Tag stand er wieder auf der Titelseite, inklusive eines Fotos, wie sie ihn in seinem eigenen Heim überrascht hatten, und seines Zitats in Großbuchstaben, natürlich mit entsprechenden Sternchen. Am Donnerstag tauchten ein paar Schreiber und Fotografen auf, die aussahen, als könnten sie ihn noch sechs Monate belagern. Außerdem kam der erste Sack Post. Bettelbriefe, Fanbriefe, Haßbriefe. Angebote, einige sogar sehr exotisch, von hoffnungsvollen Frauen aller Altersstufen, Größen, Rassen und Interessen. Es klingelte wieder. Er hörte nicht darauf, wie schon den ganzen Tag. Aber es klingelte weiter und weiter. Irgend jemand rief draußen seinen Namen. Sollte er doch verrecken. »Mr. Buchanan, Mr. Buchanan ...« Wie lange es wohl dauerte, bis der es auch begriff? Irgendwann hörte es auf. Gut. Dann wurde die Stille durch lautes Autohupen unterbrochen. Was sollte denn das? Calum war am Ende. Diesen Typen würde er niederschreien, und wenn er mit diesem Auftritt dann noch mal in die Zeitung kam, was soll’s? Er polterte zur Wohnungstür, riß sie auf und brüllte eine Wiederholung seines Sun-Zitats. O Gott, der Ferrari! Am Montag, bevor der ganze Presserummel losgegangen war, hatte er die Bestellung bestätigt, das Geld überwiesen und die Lieferung für heute veranlaßt. Er hatte am Montag noch so viel mehr gekauft – unter anderem drei Schweizer Uhren, neue Garderobe und 145
haufenweise Schuhe –, daß es ihm völlig entfallen war. Wie hatte das nur wieder passieren können? Das würde sie lieben. Er konnte die Schlagzeilen schon vor sich sehen: ›Lotto-Arschlochs Ferrari-Schande.‹ Ärgerlich tappte er die Stufen hinunter und reichte dem Typen die Hand, während die Snapparazis vor sich hin klickten. »Guten Morgen, Mr. Buchanan. Ich bin Brian Williams. Tut mir leid, daß ich hupen mußte. Diese Herren waren relativ sicher, daß Sie daheim sind, und ich wollte nicht ohne weiteres zurückfahren. Natürlich habe ich versucht, Sie zu erreichen, bevor ich losgefahren bin, aber Sie sind nicht rangegangen. Ich hab’ Ihnen eine Nachricht hinterlassen.« »Meine Schuld. Ich hab’ das Band nicht abgehört.« »Kein Problem, jetzt habe ich Sie ja gefunden. Soll ich Ihnen den Wagen zeigen? Ich glaube, es ist das erstemal, daß ich ein Auto so öffentlich ausliefere.« Bildete Calum sich das ein, oder war Williams nicht sehr begeistert darüber? Das war verständlich; nach den ganzen Schlagzeilen war er vielleicht nicht mehr wirklich der Vorbildkunde, den Ferrari sich wünschte. Vor allem, wenn sie davon ausgingen, daß er es so geplant hatte. Ach, zum Teufel, es war bloß ein Wagen, und es gab keine Anzeichen dafür, daß sie sein Geld nicht gern genommen hätten. »Für Türen und Zündung brauchen Sie das hier, es gibt keinen Schlüssel. Setzen Sie sich doch auf die Fahrerseite, und ich zeige Ihnen dann die Instrumente …« Sie stiegen beide ein und schlossen die Türen. Die ganze Erklärung lang drückten sich zahlreiche fettlinsige Kameras an die Fahrerseite des Wagens. Eines dieser Ekelpakete legte sich sogar auf die AluminiumMotorhaube des Wagens, um ein Großbild durch die 146
Windschutzscheibe zu schießen. Calum kam sich vor wie der exotische Neuzugang in einem Aquarium. Williams gab sein Bestes, die Fotografen zu ignorieren. »… sieben Gänge, geschaltet wird mit diesen FormelEins-Tasten … Hier, zwischen den Speichen des Steuers. Mit der rechten Tastatur schalten Sie rauf, mit der linken runter. Sie können in nullkommaeinszwofünf Sekunden schalten, schneller als ein Rennfahrer. Mit diesem Schalter hier stellen Sie das Getriebe auf Automatik. Die Klimaanlage reguliert automatisch. Licht und Scheibenwischer schalten Sie an, indem Sie hier drehen … Und die Hupe ist hier an der Lenksäule …« »Ich denke, die haben Sie schon ausführlich genug vorgeführt.« »Natürlich. Die Sitze können Sie mit diesen Knöpfen hier elektronisch einstellen. Die Motorhaube öffnen Sie mit dem Hebel … dort unten. Als nächstes würde ich Ihnen gern das Werkzeug zeigen und wie das Gepäck hineinpaßt.« »Mr. Williams, könnten wir es jetzt dabei belassen? Ich kann mich sowieso kaum konzentrieren, während diese Arschlöcher mich anglotzen. Ich bin sicher, ich kriege das schon hin.« »Wie Sie wünschen. Sie müßten bitte noch … hier unterschreiben. Wir empfehlen, die ersten tausend Kilometer nicht über fünftausend Umdrehungen zu fahren. Die erste Inspektion findet anschließend statt. Wenn Sie möchten, können Sie mich anrufen, dann holen wir den Wagen ab. Soll ich ihn jetzt für Sie einparken?« »Nein, ich werde einfach gleich damit fahren, eine kleine Auszeit wird mir guttun.«
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»Dann auf Wiedersehen. Ich gratuliere noch mal zu Ihrem Kauf. Der Wagen ist wunderbar, das richtige Auto für einen guten Fahrer.« Calum konnte im Rückspiegel noch sehen, wie dieser Reporter-Abschaum Williams in die Enge trieb. Wieviel hatte Buchanan dafür bezahlt? Wie schnell fuhr der Wagen? In wieviel Sekunden kam er von null auf hundert? Er fuhr zum erstenmal seit Lewis selbst ein Auto. Auf der falschen Straßenseite zu fahren, war immer noch ein Problem, zumal die Straßen schmal waren; mühsam drückte er sich an den auf beiden Seiten geparkten Wagen vorbei. Bis zum Ende der Straße schaffte er es; ohne zu zögern hatte er den Wagen auf Automatik geschaltet. Diese serielle Schaltung war ja vielleicht ganz nett zum Angeben, aber im Londoner Verkehr mußte man nicht unbedingt Schumacher spielen. Die Ampeln schienen alle auf Rot zu stehen. Oh, Scheiße, da war einer von diesen Reporterwagen hinter ihm. Den mußte er abhängen. Wie konnte man überhaupt irgend jemand bei diesem Verkehrstempo abhängen? Ach was, die würden früher oder später klein beigeben. Er hatte einen Tank voll Benzin, und die höchstwahrscheinlich nicht. Warum also nicht entspannen und den Wagen genießen? Es fühlte sich gut an. Selbst mit vierzig Kilometer die Stunde die Straße entlangzukriechen fühlte sich anders an als in jedem anderen Wagen, den er je gefahren war. Dieser war in allem unglaublich präzise. Die Kontrollinstrumente waren perfekt, das Gaspedal reagierte superfein. Er konnte es kaum abwarten, ein bißchen Platz zu haben und diese Blechschlangen hinter sich zurückzulassen. Entschlossen bog er in den Ladbroke Grove ein.
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Das Radio. Wie sich das wohl anhörte? Wow, was für ein Sound! Da steckten bestimmt dreihundert Watt Power dahinter. Dummerweise war ein Klassiksender eingestellt. Laß uns doch mal ein bißchen Rock suchen. Nicht ganz einfach, diese kleinen Knöpfe … Sie hatte zwanzig Minuten lang nach einer Parkuhr gesucht. Es war nervtötend. Liz würde bestimmt schon weg sein, wenn sie nicht bald im Café auftauchte. Endlich hatte sie eine freie entdeckt, aber der Kretin auf dem nächsten Stellplatz war zu nah dran gewesen, als daß sie mit dem großen Volvo hineingepaßt hätte. Sie fuhr immer wieder im Kreis um den Block. Es war hoffnungslos! Nirgendwo ein Platz. Jetzt bog sie zum drittenmal in den Ladbroke Grove ein. Oh, da, der Mann fuhr vielleicht weg. Eine Sekunde früher, und er hätte sie noch rechtzeitig gesehen. Beim vierten Druck auf den kleinen Suchknopf hatte er seinen Sender gefunden und schaute wieder hoch. Scheiße! Panisch trat er zu spät auf die Bremse. Die weiße Wolke des Airbags explodierte ihm ins Gesicht und drückte ihn gegen den Sitz. Einer der Reporter öffnete seine Tür und fragte, ob mit ihm alles in Ordnung sei. Calum taumelte heraus. Victoria Llewelyn-Smith stand neben dem eingedrückten Ende ihres Wagens, die Hände in die Hüften gestemmt. »Du beschissener ANGEBER!« Der Fotograf packte seine dritte Kamera, um noch einen Film durchzujagen. Einige der Bilder wurden unscharf. Wenn man vor Lachen fast zusammenbrach, war es nicht einfach, die Kamera stillzuhalten.
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Christopher Ransome war überrascht, daß diese ChinaAngelegenheit für das Außenministerium wichtig genug zu sein schien, ein gesondertes Meeting anzuberaumen. Nicht, daß Ransome einen Extra-Ausflug auf Steuerzahlerkosten nach London nicht zu schätzen wußte; es waren ein paar neue CDs erschienen, die er in Genf nicht bekam, aber gerne hören wollte. Nach dem Meeting konnte er durch den Park zum HMV in der Oxford Street gehen. Sie mußten fünf Minuten im Vorraum warten, bis der Bürovorsteher die Türen aufriß und sie in das übergroße Eckbüro des Außenministers wedelte, von dem man einen wunderbaren Ausblick über St James’s Park und die Pferdewache hatte. Acht Männer waren anwesend, aber ohne Zweifel waren die Schlüsselfiguren Tom Ferguson, der Ständige Unterstaatssekretär, und Christopher Ransome. Der Außenminister legte los: »Die Amerikaner regen sich furchtbar über die Chinesen auf; der Präsident hat gestern Nacht sogar den Premierminister angerufen. Dieser Tyne hat Lynne O’Neill dazu gebracht, zu fordern, daß das Komitee der World Trade Organisation augenblicklich zusammentritt. Ich glaube, daß wir größte Schwierigkeiten mit Washington bekommen, wenn wir sie dabei nicht unterstützen. Tom, was glauben Sie, wie wichtig diese Sache ist?« »Die Antwort ist: enorm. Es wird nicht mehr lange dauern, dann haben die Chinesen die USA als größtes Exportland der Welt hinter sich gelassen. Wenn sie anderen Ländern ordnungsgemäß Zugang zu ihrem eigenen Markt verschaffen, dann werden die Folgen für die Ökonomie westeuropäischer Länder nicht allzu schrecklich sein. Quasi ein Gleichgewicht des Schreckens, bloß in Handel statt mit Waffen. Aber wenn die Chinesen 150
ihre Privilegien als WTO-Mitglied nutzen, um den Weltmarkt mit ihren eigenen billigen Produkten zu überschwemmen, während sie gleichzeitig Wege finden, es Fremden unmöglich zu machen, Waren in China abzusetzen, dann werden Massen von Funken fliegen. Und damit meine ich eine Weltkrise, die sich gewaschen hat.« »Nun, wenn das so eindeutig ist, werden dann die Euros nicht einfach ins Horn der Amerikaner blasen?« Der Außenminister kratzte sich hoffnungsvoll am Kinn. »Höchstwahrscheinlich nicht. Die Franzosen und die Deutschen werden sie auf keinen Fall unterstützen, wenn nicht absolut unbezweifelbare Beweise chinesischer Regelverstöße vorliegen. Die Deutschen glauben immer noch, daß sie als Hardliner mehr zu verlieren als zu gewinnen haben. Die Franzosen werden einen Streit begrüßen, weil sie hoffen, daß ihre Firmen davon profitieren, wenn die Chinesen gegen die Amerikaner antreten. Bleiben noch die Japaner; wenn sie dafür stimmen, dann wird die Versammlung im Sinn der Amerikaner einberufen, egal was die Europäer wollen. Und die Japaner sind zwar grundsätzlich gegen Strafmaßnahmen, aber im Augenblick beugen Sie sich möglicherweise dem amerikanischen Druck.« »Mmmm. Womit wir beim praktischen Vorgehen wären. Wir wissen, was Lynne O’Neill will, aber wie lautet denn die Satzung? Wie schnell kann diese blöde Versammlung überhaupt einberufen werden, Christopher?« »Im Reglement der WTO ist überhaupt kein Zeitraum angegeben. Aber die Gemeinschaft so schnell zusammentreten zu lassen, wie die Amerikaner wollen, ohne daß China vorher eine Möglichkeit hat, den Vorwürfen zu widersprechen, wäre ganz sicher provokativ. Andererseits sind die Sorgen der Amerikaner eindeutig gerechtfertigt, und ein Meeting könnte 151
tatsächlich der beste Weg sein, dieses Problem aus der Welt zu schaffen.« »Und was passiert, wenn das Komitee zusammentritt?« »Zuerst einmal erarbeitet es ein vorläufiges Urteil, und dann wird eine Vollversammlung der WTO einberufen, die es annehmen oder verwerfen kann. Wenn man in Betracht zieht, wie sich die Chinesen benommen haben, seit sie beigetreten sind, dann wird das vorläufige Urteil gegen sie ausfallen. Aber das Endergebnis hängt einzig und allein von den Stimmen der wichtigen Mitgliederstaaten ab.« »Haben die Amerikaner irgendwelche Alternativen, wenn die Endabstimmung nicht in ihrem Sinne ausfällt? Können Sie irgendwelche Steuern auf Importe aus China aufschlagen oder sie im Alleingang auf irgendeine andere Weise abstrafen?« »Das ist das viel gefährlichere Szenario. Nationale Steuern wieder einzuführen, wäre extrem riskant. Und wenn die Amerikaner Strafen einführen, dann endet das in Chaos, in Anarchie. Die ganze Struktur der WTO könnte zusammenbrechen. Die Chinesen würden …« »Würden was, Christopher?« »Ich wage hier keine Vermutung, aber um einen Ausdruck unserer amerikanischen Freunde zu bemühen: man kann seinen letzten Dollar darauf setzen, daß irgend etwas passieren würde.« »Nun, dann lassen Sie uns hoffen, daß wir das vermeiden können. Selbst Lynn O’Neills Vorgehensweise klingt verdammt riskant. Der Premierminister will mit mir darüber sprechen, bevor er noch einmal mit dem Präsidenten redet. Ich denke, ich werde ihm raten, sich schnellstmöglich zurückzuziehen. Ich selbst habe keinerlei Lust auf einen weiteren Zusammenstoß mit den Euros.« 152
Die Mitarbeiter wurden verabschiedet, und Ransome konnte sich in Richtung Oxford Street begeben. Der Außenminister genoß in seiner Partei den Ruf, mit ruhiger Hand zu agieren, aber kein ›Visionär‹ zu sein. Es war nicht schwer zu erkennen, wieso. Am Freitag nachmittag hatte Calum das Gefühl, sein Leben läge in Scherben. Er hatte keinen Ton von Marianna gehört. Diese ganze Medien-Geschichte war völlig außer Kontrolle geraten. Avalon haßte den Verlauf, den die Geschichte genommen hatte, und Tracy war nicht gerade wild darauf, seine Anrufe zu erwidern. Mittlerweile schien er sich in einem Alptraum zu befinden. Die Prostituierte Sophie hatte ihre Geschichte an News of the World verkauft und deren betriebsamer Reporter rief ihn an, damit er eine Stellungnahme abgeben könnte. Als er keine bekam, wünschte er Calum bloß noch einen schönen Sonntag. Der nächste Anruf besserte seine Laune. Channel 5 lud ihn zu einer Live-Talkshow am Samstag nachmittag ein. Perfekt. Dann konnte er die Geschichte im Fernsehen darbieten und dem Beschuß durch die Zeitungen entgehen. Vielleicht war das nicht so klasse für ihn, aber wenn er es gut erzählte, könnte es ganz lustig sein. Jedenfalls konnte er damit die Zeitungslüge im Keim ersticken, daß er Standardkunde bei Callgirls war. Er akzeptierte sofort und verbrachte den Abend damit, seinen Auftritt zu proben. Eins war ganz toll am Live-Fernsehen: Sie konnten nichts rausschneiden. Daran könnte er sich gewöhnen. Es war ganz lustig, berühmt zu sein, geschminkt zu werden, mit den anderen Gästen zu plaudern und das Gefühl zu haben, daß er jemand war. Er kam als letzter dran und wurde nervös, während er in dem grünen Zimmer wartete und die 153
routinierten Auftritte der übrigen Gäste im Fernsehen verfolgte. Als das Mädchen ihn holen kam und mit ihm plauderte, war er noch vergnügt gewesen, bis hinter der Tür das Signal ertönte, ihn hereinzuschicken. Er konnte hören, wie der Talkmeister Marvyn Mitchell ihn ansagte: »Haben Sie jemals gedacht: ›Das könnte mir auch passieren?‹ Nun, die meisten von uns wären glücklich, einmal im Lotto zu gewinnen, aber heute nachmittag treffen wir einen jungen Mann aus den Vereinigten Staaten, der das nicht nur einmal, sondern zweimal geschafft hat. Insgesamt über neun Millionen Pfund hat er gewonnen, aber er sagt, daß das kein Glück gewesen sei. Bitte heißen Sie mit mir willkommen … CALUM BUCHANAN.« Calum joggte ganz locker die gewundene Treppe herunter, so wie er es die Stars tausendmal hatte machen sehen. »Calum, über Sie wurde diese Wochen viel in den Zeitungen geschrieben, aber Sie haben immer noch nicht verraten, wie Sie es geschafft haben.« »Ja, Marvyn, das ist mein kleines Geheimnis.« »Und Sie wollen unseren Zuschauern wirklich keinen kleinen Hinweis geben, wie es funktioniert?« »Das kann ich leider nicht. Würde ja auch nichts nützen, oder? Dann könnte ja jeder im Lotto gewinnen, und dann gab’s dafür weniger als ein Pfund.« Der Witz war Tracys Idee gewesen; er hatte sie um Rat gefragt. »Na, da haben Sie wahrscheinlich recht. Aber sagen Sie, hilft Ihre geheime ›Methode‹ nur beim Lotto, oder auch bei anderen Sachen?« »Ich ... glaube schon, daß es immer funktioniert.«
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Worauf sollte das hinauslaufen? Ihm blieb nichts anderes übrig, als mitzumachen. »Nehmen wir mal Pferderennen. Wenn jemand wie Sie vorhersagen könnte, welches Pferd gewinnt, dann würde er doch ein Vermögen machen, oder? Und die Buchmacher ein für allemal um ihr Geschäft bringen. Wie war’s damit? Könnten Sie das?« Was für ein Dilemma. Sag Ja, und du steckst noch tiefer drin. Sag Nein, und du mußt von Nächten und dem Mond erzählen. Er brauchte Zeit, die hatte er aber nicht. »Ich … ich … schätze, daß … im Prinzip, vielleicht … könnte ich das. Ich mag Pferde aber nicht so gerne, deswegen würde ich mir die Mühe nicht machen.« »Aber Sie glauben, Sie könnten es?« »Ich denke schon.« »Nun, dann haben wir eine kleine Überraschung für Sie. Auf dem Monitor dort drüben … Wir schalten jetzt live nach Kempton Park, wo in fünf Minuten das dritte Rennen, das Zwei-Fünfzehn, beginnen wird. Wir möchten Sie um eine kleine Demonstration bitten. Es ist ganz einfach, weil in diesem Rennen nur sieben Pferde starten werden. Das sollte für jemanden wie Sie kein Problem sein. Werden Sie es versuchen?« »Marvyn, ich glaube nicht, daß es angemessen ist, zu …« Er haßte Livesendungen. Das war schrecklich. Was sollte er denn jetzt machen? Sicher, er konnte stur rausstapfen und die ganze Prostituierten-Geschichte im argen lassen. Keine gute Idee. Dann würden die Zeitungen ihn erst recht fertigmachen. Oder er konnte sich weigern, ein Pferd auszusuchen und so tun, als fände er das spaßig. Dann würden sie alle sagen, daß er tatsächlich ein beschissener Angeber war. O Gott! 155
»Wir wollen es Ihnen leichter machen, sich zu entscheiden. Wir wissen, daß Sie genug Geld für sich selbst gewonnen haben, aber wie ich hörte, spenden Sie gern etwas für wohltätige Zwecke. Wenn Sie bereit sind, es zu versuchen, wird Channel 5 fünftausend Pfund auf das Pferd setzen, das Sie benennen, und der gesamte Gewinn geht an eine wohltätige Organisation Ihrer Wahl.« Das Studiopublikum war begeistert. Sie mußten nicht zum Klatschen aufgefordert werden. Sie klatschten ganz von alleine. Auch Marvyn Mitchell war außer sich. Seine Einschaltquoten waren im Keller, und der ganze Rest der heutigen Show war Blödsinn gewesen, aber das hier war eine großartige Sache, eine gigantische Idee. Gott sei Dank für Liza, die Redakteurin, die er im Augenblick vögelte. »Calum, die Uhr tickt. Noch vier Minuten bis zum Start. Was sagen Sie? Es ist nur ein Spaß. Kein Problem, wenn Sie verlieren.« »MACH ES! MACH ES! MACH ES!« Sie jubelten weiter. Dann fingen sie an, im Takt zu klatschen. Es war ohrenbetäubend. Ach, zum Teufel. Jedenfalls hatte er sie dann von der Hacke und konnte seine Geschichte erzählen. »Okay, okay. Ich mach’ es.« Die Menge johlte. »Gut, Calum, wir haben nicht mehr viel Zeit. Können Sie die Liste der Pferde sehen …? Sagen Sie mir, welches gewinnen wird.« »Augenblick, Augenblick, ich brauche einen Moment.« Er versuchte verzweifelt, sich zu konzentrieren. Ohne den Mond, ohne Meditation, würde es nie klappen. Trotzdem versuchte er es mit geschlossenen Augen. Er nahm sich ganz fest zusammen … Es waren bloß sieben 156
gottverdammte Namen, eine kleine Vision reichte. Hilf mir, Morag! Nichts. »Calum, Sie müssen es jetzt sagen. Wir haben einen Buchmacher am anderen Ende der Leitung. Wenn Sie sich nicht in den nächsten … fünfzehn Sekunden entscheiden, ist die Wette geplatzt.« Die Menge johlte lauter. Er schaute auf die Liste, wartete auf Inspiration, ein Gefühl. Die Zeit war gegen ihn. Er mußte einfach irgendein Pferd aussuchen. »Parson’s Pulpit.« »Vielen Dank … Parson’s Pulpit. Fünftausend Pfund auf Sieg. Sind wir dabei …? Gut. Jetzt lehnen wir uns zurück und genießen das Rennen.« Calum sackte zurück in seinen Stuhl. Alle Blicke klebten an den großen Monitoren, und eine erwartungsvolle Stille breitete sich aus, damit alle den Kommentar hören konnten. Es war ein Hürdenlauf über drei Meilen. Die Pferde tänzelten am Start, dann der Startschuß, und sie galoppierten los. Der Kommentator begann in einem ruhigen, fast verschwörerischen Flüstern. Parson’s Pulpit legte einen schlechten Start hin und war letzter, nachdem alle mühelos über die ersten drei Hürden gesprungen waren. An der vierten stürzte einer, dann der nächste. Der Jockey und sein Pferd lagen so sehr im Weg, daß sie Calums Wahl beinahe ins Straucheln gebracht hätten. Das Publikum hielt den Atem an. Der Jockey verdiente sein Geld mit einem geschickten Ausweichmanöver, und in der Kurve hatte er den Abstand zu den anderen Pferden wieder wettgemacht.
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Die Stimme des Kommentators wurde lauter, das Raunen des Publikums ebenfalls. Calum war der ruhigste von allen. Er war der einzige, der die Wahrheit kannte. Parson’s Pulpit hatte dieselbe Chance von eins zu sieben – oder jetzt eins zu fünf – wie die anderen. Während er zusah, wie die Pferde für die letzte Runde beschleunigten – Parson’s Pulpit war immer noch letzter –, wurde ihm klar, daß er vielleicht das Glück gehabt hatte, das schlechteste Pferd zu wählen. Den Gewinner vorherzusagen würde Channel 5 natürlich gefallen … Aber was dann? Wenn sie glaubten, daß er das schaffte, würde der Druck noch schlimmer werden, viel schlimmer. Er liebte Parson’s Pulpit dafür, so völlig untalentiert zu sein. »Noch drei Hürden! Victoria’s Dream kämpft jetzt gegen Silver Slipper. Irish Lament gewinnt auf der Innenseite Raum. Es sieht aus, als entschiede es sich zwischen diesen dreien, Happy Camper und Parson’s Pulpit verlieren den Anschluß.« Das Publikum stöhnte. Calum war damit beschäftigt, sich zu überlegen, wie er dieses Versagen als Sprungbrett für das Prostituierten-Debakel nutzen konnte. »Über die vorletzte Hürde! Happy Camper hat nachgezogen. Parson’s Pulpit wird ebenfalls schneller, hat aber zu spät das Tempo angezogen. Irish Lament ist jetzt drei Längen hinter der Spitze. Immer noch gleichauf sind Silver Slipper und Victoria’s Dream. Parson’s Pulpit hat ein paar Längen zugelegt … Aber jetzt kommt die letzte Hürde, und es entscheidet sich zwischen diesen beiden, Silver Slipper sieht ein bißchen besser aus …« Das Publikum sah aus, als hätte man die Luft herausgelassen. Das Grinsen in Mitchells Gesicht wirkte aufgemalt. 158
»… sie sind an der letzten und … o nein, Silver Slipper ist gestürzt …! Und er hat Victoria’s Dream mitgerissen! Einen Augenblick dachte ich, Tommy Ellery hätte es geschafft, dranzubleiben … Jetzt ist es Irish Lament, der beim Mercury Chase führt … Oder wird …?« Das Publikum hatte es noch vor dem Reporter gesehen und war aufgesprungen, sie brüllten alle durcheinander. Parson’s Pulpit hatte von irgendwoher einen Turbolader bekommen und flog nur so dahin. Irish Laments Jockey knallte seinem müden Tier die Peitsche in die Seite. »Und jetzt ist Irish Lament in Führung, nur noch hundert Meter zu laufen … Parson’s Pulpit galoppiert großartig auf der inneren Bahn, aber er wird es nicht schaffen …« Das Publikum hatte noch nicht aufgegeben. Die Leute waren richtig aufgeregt. Calum versuchte, Irish Lament zur Ziellinie zu zwingen. »PARSON’S PULPIT HOLT IMMER WEITER AUF. IRISH LAMENT HÄLT SICH GUT. EINE HALBE LÄNGE. JETZT NUR NOCH EINEN KOPF … Und im Ziel ist es Irish Lament …! Es wird ein Zielfoto geben, aber ich bin ziemlich sicher, daß Irish Lament gerade Parson’s Pulpit geschlagen hat …« Die Menge stöhnte, und dann stöhnten die dünnen Bänke, als dreißigtausend Pfund schwabbeliges Fleisch gleichzeitig wieder auf sie knallten. Calum wischte sich erleichtert die Stirn. »Schauen wir uns noch einmal die Zeitlupe an … Ich denke, wir werden feststellen, daß Irish Lament um eine Nasenlänge … Nein, Augenblick, ich bin nicht sicher, können wir das anhalten …?«
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Sie waren wieder aufgesprungen. Lag das am Studiolicht oder war Calum grün geworden? Dieses beschissene Pferd! »… ja, ich habe mich geirrt! Es sieht so aus, als hätte Parson’s Pulpit um eine Haaresbreite gewonnen. Unglaublich! Wir müssen natürlich auf das offizielle Foto warten, aber es scheint tatsächlich so, als hätten Parson’s Pulpit mit Frankie Daventry den Mercury Chase gewonnen.« Die Frauen hopsten auf und ab, die Männer boxten triumphierend überall hin, Marvyn Mitchell versuchte, das Publikum soweit zu beruhigen, daß er Calum eine Frage stellen konnte, aber es half nichts. »… und, ja, es stimmt, Parson’s …« Das Gegröle und Gejohle war lauter als der Sportreporter. Sie brauchten Minuten, sich zu beruhigen. Marvyn Mitchell sah aus wie eine vollgefressene Katze. Er schüttelte Calums schlaffe Hand. »CALUM BUCHANAN, das war unglaublich! Fantastisch! Absolut wahnsinnig! Wie haben Sie das gemacht? Und man sagt mir gerade, Channel 5 hat … Wieviel, Tina? … Fünfünddreißigtausend Pfund gewonnen! Gigantisch! Ladies und Gentlemen, ein Applaus für Calum Buchanan.« Sie klatschten weiter, sie pfiffen und schrien. Calum lächelte schwach, ihm war kotzübel. Vergiß diesen ganzen Blödsinn. Konzentrier dich auf die Nutte. Er mußte die Nutte zur Sprache bringen! »Nun, das war ja wohl der unglaublichste Auftritt...« »Marvyn, darf ich mal etwas sagen?« »Unsere Zeit ist schon fast vorbei, Calum. Sie haben noch zehn Sekunden …« 160
»Nein, ich muß Ihnen da was erzählen. Neulich abends kam es zu dieser komischen Verwechslung. Ich war in einer Hotelbar und …« »Calum, ich muß Sie jetzt leider unterbrechen, aber ich freue mich natürlich, wenn Sie noch mal wiederkommen und uns Ihre Geschichten erzählen. Vielen Dank, daß Sie heute abend bei uns zu Gast waren, und … nächstes Mal, wenn Sie mit Ihrem Ferrari losfahren, vergessen Sie nicht, daß wir hier links fahren, hm …??? Nächste Woche sind bei mir die Jazzsängerin Ulma Shaw, der Stürmer Steve Derry von Tottenham Hotspur und ein Überraschungsgast aus Ontario, Kanada. Bis dahin … Staaaay cooool.« Calum dachte nicht daran, nach Hause zu gehen. Er schlich zur Hintertür des Studios hinaus, und weil er nicht mal dem Minicab von Channel 5 traute, nahm er die UBahn nach Piccadilly, kaufte sich eine sehr dunkle Sonnenbrille und checkte in ein Hotel ein. Er ließ sich das Essen vom Zimmerservice bringen und schaute keine Nachrichten. Dem Hotelmanager bot er zwanzigtausend Pfund, wenn er zwei Wochen unentdeckt hier wohnen könnte. Beruhigenderweise klingelte das Telefon nicht, und seine Anrufe zu Hause konnte er fernabfragen. Der einzige Anruf, auf den er hoffte, war sowieso nicht gekommen. Und nicht einmal seinen ständigen Begleiter, ihr Bild, hatte er bei sich.
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11 Aus Langeweile döste er immer öfter auch tagsüber. Seit sechs Tagen hatte er das Hotelzimmer nicht verlassen, und langsam machte ihn das verrückt. Wenn er schlief, verging wenigstens die Zeit. Zuerst hatte er keinen Plan, sofern man sich unter einem Laken zu verstecken nicht als Plan zählen wollte, aber inzwischen hatte sich eine Idee herauskristallisiert. Gottlob war seine Kreditwürdigkeit gut genug. Er wollte das Land verlassen. Schließlich interessierten sich nur die Briten für ihn, und in etwas geringerem Ausmaß auch die Amerikaner. Seine Geschichte hatte vielleicht auch auf dem Kontinent in den Zeitungen gestanden, aber sie würden sein Gesicht nicht kennen, sie würden sich vielleicht nicht einmal an seinen Namen erinnern. Allerdings, wie konnte er, ohne entdeckt zu werden, aus England entwischen? Flughäfen waren die schlechteste Möglichkeit. Sie waren so öffentlich: Hunderte von Leuten würden ihn erkennen und bei den Zeitungen anrufen. Der Euro-Star-Zug würde gleichermaßen gefährlich sein. Blieb, zu Fuß auf die Fähre zu gehen – auch riskant, und vorher mußte er noch nach Dover –, oder er konnte ein Boot bzw. ein Privatflugzeug chartern. Wenn die Crew vertrauenswürdig war. Er traute niemandem mehr. Nein, es gab keinen Weg ohne Risiko, und auch die Paßkontrollen ließen sich nicht vermeiden. Die insgesamt beste Möglichkeit war also der Tunnel unter dem Kanal hindurch, mit dem Wagen. Er konnte die ganze Fahrt über im Auto bleiben. Nur die Grenzbeamten würden seinen Namen erfahren, und da er kein Gesetz gebrochen hatte, durften sie ihn nicht aufhalten. Die Sonnenbrille sollte die Kassierer im Tunnel daran hindern, 162
ihn zu erkennen. Und wenn er erst mal drüben war, würden sie ihm kaum noch folgen. Sein neuer Wagen war Dank der Zeitungsberichte zu bekannt, außerdem würde es Wochen dauern, ihn in Ordnung bringen zu lassen. Einen auf seinen eigenen Namen zu mieten war viel zu gefährlich, also mußte er einen neuen kaufen. Aber was für einen? Er konnte genausogut einen nehmen, der Spaß machte … Vielleicht doch einen Porsche? Er suchte sich einen Händler aus den gelben Seiten und rief unter falschem Namen an. Am Anfang ging alles glatt, alle Modelle waren lieferbar. Aber als sie zum Papierkram und der Versicherung kamen, wurde es schwieriger. Es war natürlich nicht unmöglich, sich einen Wagen ins Hotel liefern zu lassen, vorausgesetzt, das Geld wurde vorher überwiesen, aber der Verkäufer war nicht besonders begeistert davon. Entweder man verarschte ihn hier und er verschwendete seine Zeit, oder dieser Typ war ein Dealer oder Gangster. Er schöpfte Verdacht, und Calum legte abrupt auf. Es gab nur einen sicheren Weg: Brian Williams vom Ferrari-Laden. Der besaß schon alle Versicherungsinfos, und er hatte sie bestimmt nicht verlegt. Ferrari hatte sowieso schon im Zusammenhang mit ihm in der Zeitung gestanden, ob das nun gut gewesen war oder schlecht, denen würde es also ziemlich egal sein, ob er noch einen kaufte. Und ein Ferrari würde Spaß machen, verdammt noch mal. Also rief er den amüsierten Williams an und machte seinen Deal. Sie kauften seinen verwundeten 555 extrem günstig zurück und verkauften Calum einen 375Vorführwagen in Titan-Silber. Die Banküberweisung war kein Problem, dann vereinbarten sie die Übergabedetails. 163
Williams würde Samstag um Mitternacht ins Westend fahren, und dann wollte Calum ihn übers Handy anrufen und ihm genau sagen, wo er den Wagen hinbringen sollte. Calum entschuldigte sich für diese Agentennummer, aber das war ganz unnötig. Williams hatte die Story fasziniert verfolgt. Es blieb einem auch kaum etwas anderes übrig. Channel 5 hatte die Sendung noch ein paarmal wiederholt, außerdem war da noch der ekelhafte News of the WorldBeitrag, und alle fragten sich, wo er steckte. Tausend Theorien über sein System geisterten durch die Welt, und jeder – Politiker, wohltätige Organisationen, Pfarrer und alle anderen Wichtigtuer – hatte etwas dazu zu sagen. Dann mußte Calum noch entscheiden, ob er einen Hotelangestellten bestechen sollte, um seinen Paß und das Bild zu holen, oder ob er selbst einen nächtlichen Besuch riskieren wollte. Es war Freitag morgen, ihm blieben noch sechsunddreißig Stunden, das zu entscheiden. So oder so würde er nichts anderes mitnehmen. Die Läden im Hotel hatten ihm Interims-Klamotten verkauft, nur die Größen und Formen paßten nicht so ganz. Sich die Sachen vom Zimmerservice bringen und die Kosten dafür einfach auf die Rechnung schreiben zu lassen war ungewöhnlich, aber was ging es die schon an. Ein Teil von ihm wollte sofort verschwinden, solange er noch Zeit hatte, aber seine Vernunft riet ihm, bis Sonntag nacht zu warten, wenn die Tageszeitungen Pause machten und die Sonntagszeitungen schon gedruckt wurden. Sei geduldig, bleib cool. »Meester Buchanan?« Er schrak auf. 164
»Meester Buchanan, sind Sie wach, Sir?« Er lauschte wieder. Das war keiner der beiden Kellner, die sonst seinen Zimmerservice übernahmen. Sein Puls raste. Er ging zur Tür und versuchte durch das Guckloch zu schauen, konnte aber nichts erkennen. »Meester Buchanan, Sir, ich muß mit Ihnen reden. Hier ist Ernesto Perotti, der Hotelmanager.« Calum entspannte sich ein wenig. »Was gibt es, Mr. Perotti?« »Unter vier Augen, wenn es geht, Meester Buchanan. Es tut mir leid, Sie zu stören. Hätten Sie etwas dagegen … Vielen Dank, Meester Buchanan.« Calum legte die kleine Kette vor und zog die Tür ein paar Zentimeter auf. Als er den zweiten Mann sah, knallte er sie sofort wieder zu. Reingelegt. Dieses Arschloch. Es klopfte wieder. »Meester Bu-cha-nan.« Was sollte er machen? Er mußte aufmachen, oder? Er konnte sich hier schließlich nicht für Monate verbarrikadieren, zumal man seine Minibar heute noch nicht aufgefüllt hatte. Was war das für ein Typ, den dieser italienische Schleimscheißer von einem Manager angeschleppt hatte? Er sah zu gut für einen aus, dem ersten Eindruck nach zu urteilen. Vielleicht ein FernsehChef? Oder ein Verleger? Wer auch immer das war, er mußte richtig Kohle haben, wenn er es sich leisten konnte, seine zwanzigtausend zu überbieten. Scheiße. Er öffnete die Tür wieder. »Vielen Dank, Meester Buchanan. Können wir reinkommen? Dann werde ich Ihnen alles erklären.« »Ich kann Sie kaum daran hindern. Ganz wie Sie wünschen.« 165
Calum starrte den Manager wütend an und ignorierte die hingestreckte Hand des Fremden. »Dieser Herr ist von der … Regierung. Er hat darauf bestanden, daß …« »Vielen Dank, Mr. Perotti, wieso lassen Sie mich nicht den Rest der Erklärungen liefern? Ich bin sicher, Sie haben viel zu tun. Wir müssen Sie nicht länger von Ihrer Arbeit abhalten.« »Sie wollen, daß ich ...?« »Ja.« »Entschuldigen Sie, Meester Buchanan, ich hoffe, das hat keinen Einfluß auf unsere … Vereinbarung.« Calum starrte ihn wütend an. Dann schaltete sich sein Hirn wieder ein. Jetzt die Vereinbarung zu brechen, würde definitiv für einen Anruf bei der Presse sorgen. »Nein, unsere Vereinbarung steht.« »Vielen Dank, Meester Buchanan.« Der Manager war genauso überrascht wie begeistert. »Dann entschuldigen Sie mich, die Herren.« Der Besucher streckte Calum erneut die Hand hin, doch Calum deutete nur kühl in Richtung eines Sessels. Der Fremde seufzte, dann flackerte ein verärgerter, irritierter Ausdruck über sein Gesicht. Er zog seinen Mantel aus, warf ihn aufs Bett, fuhr sich mit der Hand durch die reiche Silbermähne und setzte sich. Seine selbstsichere Kühle stieß Calum ab. Tatsächlich wirkte der Typ wie die ältere Ausgabe dieser Engländer auf einer ihrer ekelhaften Stehpartys. Calum hatte das Gefühl, dieser Mann schaute so sehr von oben auf ihn herab, daß er bestimmt gleich zu schielen beginnen würde. Das war gut: Die Abneigung sollte es Calum einfacher machen, jedwede Information zu verweigern. Während seines 166
Aufenthalts im Hotel war Calum immer unsicherer geworden, was Morag von seinem Verhalten denken würde. Jetzt durfte er die Sache nicht noch schlimmer machen, indem er irgend etwas über sie oder das Wesen seiner speziellen Gabe verriet. Stell dich so dumm du kannst. Der Großteil der Welt hielt ihn eh schon für einen Blödmann, ob nun einer mehr diese Meinung teilte, war auch egal. »Mr. Buchanan, tut mir leid, daß ich unangemeldet bei Ihnen reinplatze …« Der Besucher schaute Calum kritisch an. Der schien auseinanderzufallen. Seit einer Woche unrasiert, das braune Haar ungekämmt, ein Hemd, das verdammt schlecht saß, und nackte Füße, die aus seinen Jeans ragten. Es sah aus, als würde diesem Typ ein kleiner Ausflug in die Army gar nicht schlecht bekommen. »Ich bin Charles Rivett-Carnac. Und ich arbeite für MI6. Wir haben die Hotels in London und der näheren Umgebung überprüft, weil wir Sie suchten. Ich glaube, daß eine Reihe Mitarbeiter der Presse dasselbe tun. Sie haben mein Wort, daß wir denen nicht mitteilen werden, wo Sie stecken.« »Vielen Dank. Also, was wollen Sie von mir?« »Ich möchte zwei Dinge mit Ihnen besprechen. Erstens ihr persönliches Wohlergehen. Sie sind sich bestimmt des öffentlichen Interesses an Ihrer Person bewußt …« »Ist mir aufgefallen. Besten Dank.« »Natürlich. Der Druck muß schrecklich sein.« »Das geht vorbei.« »Wie wahr, wie wahr, aber ich würde nicht darauf warten wollen. Das Interesse ist schon … sehr groß. Das
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wird vielleicht noch einige Zeit unangenehm sein, aber, wie Sie schon sagten, es wird vorbeigehen.« »Und, worauf wollen Sie raus?« »Meine Sorgen bezieht sich nicht so sehr auf den Druck auf Ihr Privatleben, sondern auf ihre persönliche Sicherheit.« »Was geht die denn das MI6 an?« »Dazu komme ich noch. Lassen Sie uns erst einmal über das Problem selbst sprechen. Ist Ihnen klar, wie ernst die Lage ist? Sie scheinen eine beachtliche Gabe zu besitzen. Jede Menge Leute könnten finanzielle Vorteile daraus ziehen, wenn Sie Ihnen helfen, Vorhersagen zu machen. Vorhersagen der Lottozahlen oder der Rennergebnisse beispielsweise.« »Klar, deswegen haben mich auch schon viele Leute belästigt. Mach’ ich nicht. Damit bin ich durch. Ich sag’ einfach nein.« »Mr. Buchanan, bitte entschuldigen Sie die offenen Worte, aber Sie sind ein wenig … naiv. Ist Ihnen noch nie der Gedanke gekommen, daß es vielleicht auch Leute geben könnte, die sich mit einem Nein nicht zufriedengeben?« »Klar.« Er log. Das war offensichtlich. »Aber die müßten mich erst mal finden.« »Und Sie glauben, das wäre nicht möglich?« »Nun ...« Natürlich hatte dieser Schnüffler recht. Sobald der Kerl weg war, würde er Williams anrufen und alles auf heute nacht vorverlegen. »Was glauben Sie, wie lange Sie sich im Hotel verstecken können? Doch nicht ewig, oder? Haben Sie
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vor, in die USA zurückzukehren? Diese Leute können ebenfalls dorthin fliegen, verstehen Sie?« »Ist mir klar. Ich habe vor, noch ein paar Wochen in diesem Hotel zu bleiben. Danach weiß ich nicht. Vielleicht fahre ich irgendwo aufs Land.« »Vielleicht nach Lewis?« »Wo ist das denn?« »Mr. Buchanan, wofür halten Sie uns? Wir haben die Unterlagen über Ihre Flüge nach und von Stornoway. Wo haben Sie dort die ganze Zeit gesteckt?« »Das haben Sie noch nicht rausbekommen? Wie beschämend.« »Das schaffen wir schon noch.« Die gegenseitige Abneigung nahm zu. Calum war schon fast wieder amüsiert. Was glaubte der Kerl denn, wen er mit diesem Auftreten überzeugen konnte? Doch Rivett-Carnac riß sich zusammen und versuchte es noch mal etwas freundlicher. »Sie haben jetzt verschiedene Möglichkeiten, und die Risiken sind entsprechend. Wir können Ihnen absolute Sicherheit bieten, solange es nötig ist – entweder in Großbritannien oder auch an verschiedenen Orten in Übersee.« »Warum sollten Sie das tun?« »Oh, das bringt mich auf das zweite Thema, über das ich mit Ihnen sprechen möchte.« »Das habe ich mir beinahe gedacht.« »Es geht um Ihre … Begabung. Wir wissen nicht, ob das etwas ist, was Sie gezielt entwickelt haben oder ob Sie … wie soll ich sagen? … ein Freak sind.« Calum starrte ihn an. Rivett-Carnac quakte weiter. 169
»Aber woher auch immer Sie diese Fähigkeit haben, sie könnte für uns sehr wichtig sein. Lassen Sie mich das erklären. Was glauben Sie, wer die fortgeschrittenste militärische Technologie sein eigen nennt?« »Die USA, schätze ich.« »Stimmt. Und wir sind in einigen Bereichen auch nicht schlecht.« »Schön für Sie.« »Nächste Frage. Wer wird in – sagen wir mal in zehn Jahren die Nase vorn haben?« »Keine Ahnung. Wer denn, wenn nicht die Guten?« »Die Antwort ist: niemand, jedenfalls nicht in Hardware. Denken Sie mal darüber nach, was entscheidend ist. Doch nicht die Sprengköpfe oder irgendwelche anderen Waffen, die haben wir alle. Raketen sind ja nur Schießpulver und Elektronik. Vor zwanzig Jahren hatte niemand unsere Elektronik, nicht mal die Japaner, und ganz bestimmt nicht die Sowjets. Aber heute? Da sitzen jede Menge Halbleiterhersteller in Asien. Und was ist mit den Tarnkappenbombern und all dem? Ein alter Hut. Die Sensor-Systeme werden schneller entwickelt, als wir uns neue Stealth-Tricks ausdenken können. Dasselbe gilt für die Kriegsschiffe. Die Militärtechnologie wird demokratisiert, jeder Tom, Dick und Harry kann das Zeug haben, genau wie Autos und Videos, und wenn die Hardware gleich ist, dann liegt der Vorteil nur noch in überlegenen Informationssystemen.« »Und da treten Sie auf den Plan, stimmt’s?« »Falsch. Natürlich wird das Faktensammeln der Geheimdienste weitergehen, aber das meine ich nicht. Ich meine Technologie, die einem überlegene Informationen verschafft. Und ich rede dabei nicht von Lauschangriffen und Satellitenfotos. Schon seit Jahren arbeitet unser 170
Verteidigungsministerium an einem Programm, das die Kraft des menschlichen Geistes für militärische Zwecke kanalisieren soll. In vielen Ländern setzt die Polizei schon standardmäßig Menschen mit übersinnlichen Fähigkeiten ein, um Opfer oder Verbrecher zu lokalisieren. Manche von ihnen haben die Fähigkeit, sich die Grundrisse von Gebäuden vorstellen zu können, in denen sie noch nie waren. Ist Ihnen klar, wie wichtig das bei Militärbasen ist, sowohl offensiven als auch defensiven?« »Natürlich.« »Das ist ein wichtiger Forschungsbereich. Aber es gibt noch einen anderen, der potentiell noch größere Bedeutung hat. Vorhersagen. Stellen Sie sich mal vor – wenn wir jemanden mit einem sechsten Sinn hätten, der uns vor Angriffen warnen kann, der wüßte, wann und wo die Infanterie aufmarschiert oder eine Rakete abgeschossen werden soll.« »Das wäre sicherlich ein großer Vorteil.« »Groß?« schimpfte Rivett-Carnac enttäuscht. »Das wäre entscheidend. Unglücklicherweise sind unsere Fortschritte in diesem Bereich … enttäuschend. Das wäre vielleicht nicht wichtig, wenn wir die einzigen wären, die daran arbeiten. Das sind wir aber nicht. Unsere Verbündeten, die Amerikaner, haben ein viel größeres Programm als wir gestartet. Und die Franzosen arbeiten ebenfalls daran.« »Wer noch?« »Die Russen.« »Ich dachte, die wären schon längst erledigt.« »Wenn Sie das glauben, dann glauben Sie alles. Die arbeiten schon viel länger mit paranormalen Phänomenen als wir. Bei denen ist der Groschen, oder eher der Rubel, gefallen, als die NATO das noch für Altweiber-Märchen gehalten hat. Und der Bereich paßt den Russen ganz gut, 171
weil sie finanziell nicht mehr viel zu melden haben und weil hier Geld nicht unbedingt für Erfolge sorgt … Und es gibt noch eine Weltmacht, von der wir glauben, daß sie in diesem Bereich aktiv ist. China.« »Aber die Chinesen sind doch keine militärische Bedrohung?« »Wenn Sie damit meinen, daß sie nicht die USA oder Großbritannien angreifen würden, dann haben Sie wahrscheinlich recht. Aber in ihrer Region könnten sie extrem destabilisierend wirken. Wissen Sie, wie groß die Volksarmee ist? Ist Ihnen klar, was sie in den letzten fünf Jahren in Waffen investiert haben? Ihre Nachbarländer in Asien bekommen immer größere Angst, und wenn in der Gegend tatsächlich ein Problem auftritt, dann könnten wir alle mit hineingezogen werden. Wenn ich Buchmacher wäre, dann würde ich darauf setzen, daß der Dritte Weltkrieg in Ostasien losgeht.« »Da haben Sie ja vielleicht recht, und ich finde das auch alles sehr interessant, aber was habe ich damit zu tun?« »Ich dachte, das wäre einigermaßen offensichtlich. Sie haben unter Beweis gestellt, daß Sie extrem akkurate Vorhersagen abgeben können. Wenn Sie bereit sind, uns zu sagen, wie das geht – und an unserem Programm mitzuarbeiten –, wäre das eine riesige Hilfe.« »Sie meinen damit das britische Programm, nicht das amerikanische?« »Im Augenblick würden wir vorziehen, wenn Sie unser … Verbündeter wären.« »Mister ... wie war Ihr Name noch?« »Rivett-Carnac.« »Mr. Rivett-Carnac, wenn das hier mein Land wäre, würde ich vielleicht darüber nachdenken. Aber ich mag 172
die Briten nicht besonders. Seit ich hierhergekommen bin, war praktisch jeder, den ich getroffen habe, unangenehm oder unfreundlich zu mir, und ihre ekelhaften Zeitungen und Fernsehsender haben das Faß zum Überlaufen gebracht.« »Ich würde eher sagen, daß dieses Land verdammt gut zu Ihnen war. Denken Sie doch mal daran, wieviel Geld Sie hier gewonnen haben.« »Das hätte ich überall tun können.« »Hören Sie, Buchanan, ich habe versucht, vernünftig mit Ihnen zu reden, aber wenn wir so nicht weiterkommen …, dann können wir Ihnen das Leben auch ganz schön schwermachen. Vielleicht würde Ihr Visum nicht verlängert werden.« »Fuck you. Ich will sowieso nicht mehr lange hierbleiben. Und wenn Sie mir drohen, dann sollten Sie sich nicht wundern, wenn ich einem ihrer netten Landsleute von der Zeitung von Ihrem Besuch erzähle. Würden Sie jetzt bitte gehen?« »Ich finde Sie erstaunlich, wissen Sie das? Und Sie stellen sich wirklich seltsam an. Sie besitzen diese außerordentliche Fähigkeit, aber ganz offensichtlich haben Sie überhaupt nicht über die philosophischen oder praktischen Implikationen nachgedacht. Sie könnten der wichtigste Sicherheitsfaktor der westlichen Welt sein! Und was machen Sie mit Ihrer Gabe? Geld. Schämen Sie sich denn gar nicht…? Offensichtlich nicht, so tickt ihr Amerikaner ja, oder? ›Was habe ich davon?‹ An was anderes denkt ihr nicht. Na gut, dann reden wir doch mal in Ihrer Sprache miteinander. Wir haben ein Budget, und für Ihre volle Kooperation kann ich Ihnen drei Millionen US-Dollar anbieten. Das könnten Sie ›davon haben‹, Mr. Buchanan.« 173
»Mr. Rivett-Carnac, ich habe genug Geld, und ich würde Ihres nicht einmal anrühren, wenn ich keins hätte. Ich möchte nur, daß Sie jetzt gehen. JETZT … falls Sie nichts dagegen haben.« Calum ging zur Tür und öffnete sie. Rivett-Carnac seufzte, stand auf und nahm seinen Mantel. An der Tür blieb er stehen. »Sie können uns einen Korb geben, aber weil Sie dumm genug waren, der ganzen Welt von Ihren Fähigkeiten zu berichten, werden Sie den Geist nie wieder zurück in die Flasche bekommen. Früher oder später wird jemand Sie zwingen, Ihre Fähigkeit einzusetzen, und ich hoffe Ihnen und uns zuliebe, daß es nicht die falschen Leute sind. All Ihr Geld und der Ruhm gibt Ihnen vielleicht das Gefühl, Sie hätten es geschafft, aber ich gehe davon aus, daß Ihre Reise in Wirklichkeit erst beginnt. Ich lasse Ihnen meine Karte da, falls sie es sich anders überlegen.« Er griff in seine Jackettasche und zog eine Visitenkarte aus einem hübschen Etui. Calum schüttelte den Kopf. Mit einem letzten verächtlichen Schnauben schwebte RivettCarnac hinaus. Calum schloß die Tür und lief rüber zum Telefon. Brian Williams Nummer stand auf dem Block direkt daneben.
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12 Der Geheimagent hatte ihm Angst gemacht. Jetzt konnte er den Leuten im Hotel auf keinen Fall mehr soweit vertrauen, daß er sie bat, seine Sachen zu holen. Er durfte sie auch nicht alarmieren, indem er auscheckte. Seine Kreditkarte hatten sie schon durchgezogen, also würden sie nicht zu den Verlierern gehören. Außerdem würde das Schweigegeld für den Manager sie daran hindern, einen großen Aufstand zu machen. Und was waren im schlimmsten Falle ein paar weitere Schlagzeilen unter Freunden? Er beobachtete auf seiner schönen neuen, weißgoldenen Blancpain, wie es Mitternacht wurde. Mit Sonnenbrille fuhr er im Fahrstuhl in den Keller und irrte dort herum, bis er eine Feuertür fand. Sie führte hinaus auf eine Gott sei Dank verlassene Seitenstraße. Es war kühl, aber trocken, nach den Schauern den Tag über eine Erlösung. Zügig marschierte er zu der verabredeten Stelle in der Mount Street, vor Scotts Restaurant. Der treue Williams war da; seine Firma zahlte deutlich mehr für Sonderaufträge. Sie schüttelten einander die Hände, und Calum setzte sich auf den Beifahrersitz. Er unterbrach Williams’ Versuch, ihm den Wagen zu erklären. »Meinen Sie nicht, wir haben das schon hinter uns gebracht?« »Die beiden Wagen sind durchaus unterschiedlich.« »Dann fahren Sie ein Weilchen, ich schau zu und lern dabei.« »Wie Sie wollen. Wohin soll ich denn fahren?«
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»In die Nähe meiner Wohnung in Notting Hill. Ich sag’ Ihnen dann, wo Sie anhalten sollen.« Sie bogen in eine Parallelstraße und hielten. Williams schaltete den Motor aus. »Okay, hier sind die Schlüssel. Dieser ist für das obere Schloß, der dünne für das untere. Vorsicht auf den Stufen, wenn sie naß sind, kann man leicht ausrutschen. Der Lichtschalter ist rechts, wenn Sie reinkommen. Mein Paß sollte entweder in meiner Tasche auf dem Tisch liegen, oder irgendwo auf dem Tisch selbst. Das Foto steht in einem Holzrahmen auf dem Nachttisch. Sie können es gar nicht übersehen. Okay …? Vielen Dank.« Williams brauchte länger als erwartet. Calum hatte schon angefangen, sich Sorgen zu machen. »Tut mir leid, daß es gedauert hat, aber der Paß war nicht da, wo Sie sagten.« »Wo war er dann?« »Im Kühlschrank.« »Großer Gott, ich hab’ ganz vergessen, daß ich ihn da reingelegt habe. Das war mein Safe, nur falls die Reporter einbrechen. Waren irgendwelche von denen da?« »Ein paar. Einer von ihnen hat ein Foto gemacht, aber ich glaube nicht, daß er mich erkannt hat. Ich hab’ Ihre Sachen in meine Tasche gesteckt, damit sie nichts mitbekommen.« »Gut. Hey, vielen Dank, daß Sie mir geholfen haben, Brian … ist echt klasse. Wo soll ich Sie rauslassen?« »Irgendwo. Wo wollen Sie hin?« »Ich fahr’ zurück ins Hotel. Paßt Ihnen Mable Arch?« »Bestens.« Sie fuhren schweigend. Calum konzentrierte sich auf die Wagen vor ihm, damit er nicht schon wieder jemandem 176
hinten reinfuhr. Er hatte also keine Chance, den schwarzen Siebener-BMW zu bemerken, der seit ihrer Abfahrt in der Mount Street einen großen Abstand zu ihm hielt. Er ließ Williams raus, reihte sich wieder in den Verkehr ein und fuhr Richtung Park Lane. Ab Limehouse Link kam er mit dem Wagen schon besser klar, und nach zehn Meilen auf der Mao fühlte er sich wohl und entspannt genug, es noch mal mit dem Radio zu versuchen. Dieselben Scheinwerfer hinter ihm klebten seit mindestens zehn Kilometer in hundert Meter Entfernung in seinem Rückspiegel. Der Ferrari beschleunigte auf hundertfünfzig. Laß das lieber, es wäre nicht so klasse, jetzt angehalten zu werden, und die Bullen würden jemandem in so einem Wagen nur zu gern eine reinwürgen. Er ging wieder runter auf hundert. Jetzt sollte ihn der Wagen da hinten eigentlich überholen. Das waren vielleicht gar keine Bullen, aber Vorsicht war besser als Nachsicht. Der Wagen blieb in konstanter Entfernung hinter ihm. Calums Nerven begannen zu flattern. Er schaltete das Radio wieder aus und schaute jetzt mehr in den Rückspiegel als auf die Straße vor sich. Was sollte er machen? Wenn das bis zum Tunnel so weiterging, wäre er ein Wrack. Sollte er auf dem Randstreifen anhalten? Oder war das ein Vergehen? Nach vier weiteren Kilometern hielt er es nicht mehr aus. Er bremste, wechselte die Spur, wurde extrem langsam – und war unglaublich erleichtert, als die Scheinwerfer an ihm vorbeirollten. Es war ein großer, dunkler BMW, vielleicht ein feister Geschäftsmann, der heimgefahren wurde. Calum trat aufs Gas, beschleunigte auf die Überholspur und brauste daran vorbei. Wow, dieser Wagen war schon richtig toll! Jetzt, wo er sicher 177
war, daß keine Bullen in der Nähe herumschnüffelten, konnte er in aller Ruhe den Ferrari genießen. Die Tachonadel erreichte die Zweihundert, dann schwang sie in Richtung zweihundertfünfzig. Calum war erst einmal so schnell gewesen, und zwar in einem Flugzeug. Teufel, war das klasse … klasse, aber beängstigend. Plötzlich sah er im Rückspiegel wieder Scheinwerfer. Wer war da jetzt hinter ihm? Verdammt noch mal, das war derselbe BMW. Was hatte dieser Arschloch-Fahrer denn vor? War das irgend so eine Macho-Nummer? Nervte es den Typ so sehr, von einem Sportwagen überholt zu werden? Oder waren es vielleicht doch die Bullen? Aber das war doch Blödsinn. Sie hatten mehr als genug Beweise, daß er viel zu schnell fuhr. Wieso hielten sie ihn dann nicht an und machten ihn fertig? Sie waren direkt hinter ihm, sie fuhren genauso schnell wie er. Langweilten sie sich, hatten sie nichts Besseres zu tun? Versuchten Sie, es in die Länge zu ziehen, oder brauchten sie bloß eine Entschuldigung, auch mal so schnell fahren zu können? Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals, als irgendein Idiot mit hundert auf seine Spur wechselte und er auf der feuchten Straße abrupt bremsen mußte. Als der Idiot wieder zurück auf seine Spur scharwenzelte, trat Calum das Gaspedal bis zum Boden durch … Quietschend beschleunigte der V8. Er brauste davon, aber als ihn bei zweihundertfünfzig der Mut verließ, kam der BMW schon wieder näher. Der mußte auch ganz schön was unter der Haube haben. Sie ließen ihn noch vier oder fünf Kilometer leiden, bevor sie ihn erlösten. Die blauen und roten Lichter leuchteten auf, und fluchend wechselte er auf den Randstreifen und bremste. Seine Verfolger hielten fünfzig Meter hinter ihm. Er sah sich um. Sie schienen nicht 178
aussteigen zu wollen. Funkten sie nach Verstärkung? Er hatte alle Papiere bei sich, die Quittung, die Versicherungsnummer, also brachte er es besser hinter sich. Er öffnete die Tür, stieg aus und ging auf sie zu. Es war nur sein Instinkt, der ihn rettete. Er war noch zwanzig Meter von dem BMW entfernt, als er plötzlich zögerte. Sie bemerkten es, und im gleichen Augenblick gingen die beiden Vordertüren auf. Langsam kamen sie auf ihn zu. Sie trugen keine Mützen. Sollten sie das? Er hatte keine Ahnung. Aber er wußte, daß ihm das nicht gefiel. Sie waren noch zehn Meter von ihm entfernt. Noch eine Sekunde, dann wäre es zu spät. Er wandte sich um, rannte davon, sprang in den Wagen und knallte die Tür zu. Den Bruchteil einer Sekunde, bevor der erste von ihnen nach dem Türgriff langte, schlug er auf den Knopf der Zentralverriegelung. Spring an, Scheißkarre, spring an. Großer Gott im Himmel, der Typ hatte eine Kanone! Der Motor heulte auf, der Ferrari schleuderte los, und sie sprangen zur Seite. Calum duckte sich verzweifelt in seinem Sitz, er warteten auf den ersten Schuß, hörte aber keinen. Er fuhr so schnell wie sein Mut es erlaubte, und die ganze Zeit schaute er in den Spiegel. Teufel, sie holten wieder auf. Eine Ausfahrt kam näher. Verwaschen las er Leeds Castle und Landen. Egal wohin. Er mußte runter von der Autobahn, er mußte sie abschütteln oder irgendwohin fliehen. Wohin fliehen? Eine Polizeiwache? Das waren doch Polizisten, und jetzt waren sie garantiert richtig sauer. Oder … konnte es sein, daß sie nur so taten, als wären sie Polizisten? Bitte, nicht das! Die Bullen machten ihm vielleicht das Leben zur Hölle. Sie schlugen einen zusammen, aber danach ließen sie einen gehen. Wie konnten irgendwelche Gauner ihn 179
gefunden haben? Vom Hotel aus war ihm niemand gefolgt. Er war schon fast an der Ausfahrt, immer noch auf der Überholspur. Bis zum letzten Augenblick wartete er, dann nagelte er grausam quer über die Spuren, direkt vor zwei entsetzten langsameren Fahrern. Die Rampe hoch, durch ein paar Kreisel, und dann hinein in die kurvige, naßkalte Nacht. Es hatte nicht geholfen. Sie hatten es auch geschafft. Er konnte sie in seinem Spiegel sehen, und jetzt war es schlimmer. Die Straße war kurvig und schmal, und die berühmte Straßenlage des Ferrari war in seinen Anfängerhänden kein Vorteil. Die Oberfläche war schrecklich, überall Löcher, Buckel und große Pfützen, die sein rasendes Projektil für entsetzliche Augenblicke aus der Bahn warfen. Es war schwer, überhaupt irgend etwas zu sehen. Der Nieselregen hatte zugenommen, der Gegenverkehr blendete ihn. Er raste ins Nirgendwo. Aber er mußte die Nerven behalten und davonkommen. Konzentrier dich einfach nur darauf, diese Karre zu fahren. Die Straße wurde ein wenig breiter. Das war seine Chance. Er trat das Gaspedal voll durch und raste davon. Jetzt in die nächste Linkskurve, schnell, zu schnell. Scheiße. Der Wagen brach aus, das Heck überholte ihn beinahe. Er kurbelte am Steuerrad, und wunderbarerweise bekam er den Wagen unter Kontrolle und wieder in die richtige Richtung. Jetzt war er fünfzig Meter vor ihnen, vielleicht mehr. Ihm blieb nichts anderes übrig, als weiterzumachen. Es regnete jetzt richtig. Schneller, schneller. Er raste mit hundert auf eine weitere Kurve zu, schlingerte und hoffte nur, daß der BMW noch größere Probleme bekam und ein paar Sekunden verlor. 180
Gut hundert Meter Vorsprung. Mein Gott, konnte er gewinnen? Wenn er noch zwei- oder dreihundert Meter gutmachte, dann könnte er in irgendeine Straße abbiegen und sie endgültig abschütteln. Endlich eine lange Gerade. Los jetzt! Adrenalin beflügelte ihn, die schlimmste Angst war verschwunden. Zweihundert. Der BMW fiel zurück. Jetzt half ihm eine Folge von Kurven, ihre weißen Scheinwerfer tanzten weit hinten durch seinen Rückspiegel. Bald würden sie ihn aus den Augen verlieren. Wow, er würde es schaffen! Noch ein paar Kurven, an zwei Trantüten vorbei und … Was, zum Teufel, machte denn hier eine Ampel? Dreihundert Meter, zweihundert, immer noch rot. Er nahm den Fuß vom Gas. Wann kam grün? Zu spät, er würde einfach bei Rot fahren müssen. Er hatte Glück, daß von links oder rechts kein Auto kam, als er durch die Ampel raste. Dummerweise ging es geradeaus nicht mehr weiter. Erst als seine Scheinwerfer Büsche beleuchteten, wo doch Asphalt hätte sein müssen, trat er mit aller Kraft aufs Bremspedal. Wenn der Wagen sich nicht gedreht und dabei Geschwindigkeit verloren hätte, wäre er tot gewesen. Die Drehung und die Bremswirkung und daß er seitlich in die dichten Büsche kippte, retteten ihm das Leben. Kaum machte der Ferrari-Händler am Samstag morgen auf, war die Polizei am Telefon. »Mein Name ist Brian Williams. Was kann ich für Sie tun?« »Sergeant Trafford der Maidsone Police. Ich rufe wegen eines silberfarbenen Ferrari 375 an, von dem wir vermuten, daß Sie ihn ausgeliefert haben. Die Nummernschilder wurden abgeschraubt, aber wir haben Unterlagen 181
Ihrer Firma im Innenraum gefunden. Wir würden Sie gern bitten, die Motor- und Karosserienummern zu überprüfen, damit wir das klären können.« »Das sollte kein Problem sein. Wie lauten die Nummern?« Williams wartete auf die Durchsage, aber er wußte sowieso schon Bescheid. Auch wenn er Calum Buchanan nicht verraten wollte – er hatte keine andere Wahl. »Lassen Sie mich nachschauen … Ja, das ist einer von unseren, Officer. Ich hab’ ihn selbst gestern abend ausgeliefert.« Er gab dem Beamten Calums Name und Adresse. »Ist der Wagen stark beschädigt?« »Na ja, ich würde ihn nicht unbedingt selbst ausbeulen wollen, Sir.« »Und wie geht es Mr. Buchanan?« »Ich weiß nicht, Sir. Er scheint den Unfallort verlassen zu haben, ohne den Unfall zu melden. Auch in den Krankenhäusern der Gegend findet sich keine Spur von ihm. Aber wir werden der Sache nachgehen. Wenn Mr. Buchanan keine sehr gute Geschichte erfindet, wird er höllische Probleme kriegen.« Die Airbags und Seitenairbags harten gute Dienste geleistet, aber Calum harte trotzdem jede Menge abbekommen. Nacken und Rücken waren ziemlich angeschlagen, und auch seine Innereien waren nicht begeistert von dem Vorfall. Sie hatten ihm eine Augenbinde umgelegt und ihn geknebelt, hatten ihn an Händen und Füßen gefesselt und dann in den Kofferraum ihres BMW geworfen.
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Bei jeder Unebenheit der Straße zuckte er vor Schmerzen zusammen, und die Fahrt von vielleicht einer Stunde schien ihm endlos. Er vermutete, daß sie wieder nach London fuhren. Als sie ankamen, schubsten sie ihn gnadenlos eine Treppe hinauf, durch einen Flur und in ein Zimmer, wo sie ihn losbanden und zu Boden warfen. Er hörte, wie abgeschlossen wurde, und brauchte zehn Minuten, bis er den Mut fand, die Augenbinde und den Knebel zu entfernen. In dem Raum gab es ein Oberlicht, aber keine Fenster. Ein Wasserkrug, ein dreckiges Glas und ein kleiner Topf, in den er reinpissen konnte, standen auf dem Boden. Daneben eine durchgelegene Matratze ohne Laken. Eine nackte Glühbirne. Calum saß da und wartete, zitternd vor Kälte und Angst. Schlafen kam gar nicht in Frage. Großer Gott, was hatten sie mit ihm vor? Sie hatten ihm seine Uhr genommen, also war das Oberlicht seine einzige Möglichkeit, die Zeit zu schätzen. Nach langer Dunkelheit und vielleicht vier Stunden Tageslicht öffnete sich die Tür, und ein kleiner, dünner, häßlicher Mann brachte ihm ein fettiges Bacon-Sandwich und eine Tasse Tee. Er sagte nichts, und Calum fragte auch nichts. Der Mann ging. Sechs Stunden später derselbe Mann, dasselbe Mahl. Diesmal erkundigte sich Calum vorsichtig, was man mit ihm vorhabe. Die Antwort war nur ein Grunzen. Etwa gegen sechs Uhr abends hörte er laute Schritte näher kommen, und dann traten zwei breit gebaute bösartig aussehende Männer ein; jeder von ihnen trug so mühelos einen Holzstuhl, daß die Dinger auch aus Plastik hätten sein können. Der eine hatte eine Römernase, seine Augen lagen zu weit auseinander, und die schwarzen Haare waren verziert mit langen, völlig unmodischen 183
Koteletten. Der andere schien überhaupt keine Haare zu haben. Das Fehlen seiner Augenbrauen verlieh seinen kleinen Schweinsaugen einen noch bösartigeren Ausdruck. Sie setzten sich rittlings auf die Stühle und stützten ihre Ellbogen auf die Rückenlehnen, während sie sorgfältig den Fang des Tages betrachteten, der schüchtern vor ihnen kniete. Calum hatte zuviel Angst, um sie anzuschauen. Seine Augen weiteten sich, als er die bedrohliche Sammlung von großen Ringen an den Händen der beiden Männer entdeckte. Vorsichtig schaute er hoch. Sie starrten immer noch auf ihn herab. Als Calum seinen Blick wieder senkte, packte ihn der Kahle an den Haaren und riß seinen Kopf zurück. »Fünfzig Mille, dann bist du draußen.« »Was?« »Dein Lösegeld - fünfzig Millionen.« »Ich hab’ keine fünfzig Millionen Pfund.« »Wie blöd, dann müssen wir dich umlegen ...« Er ließ Calums Haare los, holte eine riesige Knarre aus seiner Jackentasche und kratzte sich mit dem Lauf am Kinn. Calum wand sich. »... falls du die Kohle nicht für uns herschaffst.« »Wie meinen Sie das, herschaffen?« »Du kannst verdammt schnell Geld machen. Und nicht nur schnell, sondern auch fast legal. Gleich heute abend solltest du mit dem Lotto anfangen.« »Ich kann das nicht auf Befehl.« »Mach es, wie du willst, Alter. Je schneller es geht, desto schneller bist du draußen.« Denk, denk, versuch zu denken. Spiel auf Zeit, sag ja. 184
Was hast du zu verlieren, wenn du mitmachst? Was für eine Wahl hast du denn? »Okay.« »Das hören wir gerne, nicht wahr, Dessie? Hier is’n Stift und Papier. Denk nach und schreib die Zahlen auf. Wenn du recht hast, dann bringt dir der kleine Ted nachher noch ein schönes kleines Steak.« »Nein, nein, so geht das nicht. Ich kann das nicht hier machen, ich muß nach draußen.« Jetzt war der Dunkle dran mit sprechen; seine Stimme war so heiser wie grobes Sandpapier. »Bullshit. Du bleibst hier drin.« »Aber ich muß den Himmel sehen können ...« »Hast du was gegen das Oberlicht?« »Sie verstehen das nicht …« Jetzt schwang echte Verzweiflung in Calums Stimme mit. »Ich kann höchstens eine Stunde in die Zukunft sehen und muß mich in letzter Minute entscheiden. Das Pferderennen war … anders.« »Okay, du kannst es auch mit den Pferden versuchen. Dauert länger, aber wir haben Zeit, stimmt’s, Sam?« »Moment mal, Dessie, das dauert viel länger. Denk doch mal darüber nach, auf wieviel Rennen wir dann setzen müssen. Lotto ist viel besser.« »Ja, da hast du recht, Sammy. Aber er« – Dessie zeigte mit dem Finger auf Calum – »darf nicht raus. Weißt du, Sam, ich schätze einfach, das kleine Arschloch möchte uns an der Nase rumführen.« Calum schüttelte so eifrig den Kopf, daß ihm fast schwindlig wurde. Das hinderte den kahlen Sammy aber nicht daran, einen Schalldämpfer aus der Tasche zu holen und auf seine Kanone zu schrauben. Dessie versuchte es noch einmal im Guten mit dem Gefangenen. 185
»Soll ich dich mit ’ner kaputten Flasche kastrieren?« Calum schüttelte den Kopf noch heftiger. »Dann schreib die Scheißzahlen auf.« »Okay.« Wenn er nur Zeit gewann. Und nicht mit der Flasche konfrontiert wurde. »Gut. Wir sind gleich wieder da.« Sammy schraubte den Schalldämpfer wieder ab und steckte die Kanone weg. Sie standen beide auf, schauten ihn noch einmal drohend an und gingen dann; die Tür knallten sie hinter sich zu. Calum begann unkontrolliert zu zittern. Er hatte nicht mehr viel Zeit, sich einen Ausweg zu überlegen. Was konnte er jetzt tun? Das Oberlicht war nicht zu erreichen, es lag sicherlich vier Meter über ihm. Was dann? Denk nach, um Himmels willen. In den Filmen versteckten sich die Geiseln immer, brachten die Wärter dazu, hereinzukommen, und dann knallten sie ihnen irgend etwas über den Schädel. Die einzigen Waffen, die er hatte, waren die Matratze, die ihm nicht wirklich was brachte, und der randvolle Nachttopf. Sicher, damit könnte er nach ihnen werfen, aber wahrscheinlich bekamen sie davon bloß schlechte Laune. Es sah aus, als bliebe ihm nichts übrig, als einfach bloß dazusitzen und abzuwarten. Er kauerte sich elendiglich in die Ecke. Wenn sie wirklich bereit wären, ihn freizulassen, dann hätten sie ihm ganz bestimmt nicht ihre Gesichter gezeigt. Sie wollten ihn kaltblütig erschießen und seine Leiche auf den Müll werfen. Würde Morag spüren, daß er tot war? Wie würde sich Marianna fühlen, wenn sie davon erfuhr? Vielleicht freute sie sich, daß sie ihn endgültig los war. Und wo er darüber nachdachte – sie würde dann sein ganzes verdammtes 186
Geld kriegen. Als sie heirateten, hatte sie ihn ein Testament machen lassen, in dem er ihr alles vererbte, und er hatte es nie geändert. Dann würden Brett und sie sein Geld ausgeben können. Ließ sich gar nichts dagegen tun? Selbst wenn er mit dem Stift und dem Papier jetzt ein neues Testament verfaßte, war es unwahrscheinlich, daß Sammy und Dessie ihre vollen Namen und Adressen als Zeugen angaben. Er versuchte an etwas anderes zu denken und bekam wieder Angst. Wenn er sich mit aller Kraft konzentrierte, konnte er es vielleicht schaffen. Er schloß die Augen. Aber auch nur der Versuch zu meditieren war ein Witz. Er gab es auf und spähte zum Oberlicht, um herauszufinden, ob er irgendwie den Mond sehen könnte. Wolken zogen auf. Na toll. Er versuchte wieder, sich zu konzentrieren. Nichts. Ihm war schmerzhaft bewußt, wie die Zeit verging. Warum um Himmels willen hatte er das Angebot des britischen Geheimdienstmannes abgelehnt? Was war er nur für ein gottverdammter Idiot! Die Tür öffnete sich, und Dessie schlug mit der Hand auf den Lichtschalter. »Is sieben. Bist du fertig?« Calum schaute hoch und sah Dessie auf sich zukommen. Bevor er bei ihm war, nahm Calum den Stift und kritzelte eifrig irgendwelche zufälligen Zahlen auf den Zettel. »Besser, die stimmen, sonst wirst du’s bereuen.« Er schlug Calum kräftig gegen den Hinterkopf, riß ihm den Zettel aus der Hand und marschierte wieder hinaus, dabei schaltete er das Licht aus. Calum rollte sich wie ein Fötus zusammen. Ihm blieben noch anderthalb Stunden, bevor sie zurückkamen. Was 187
sollte er machen? Sich auf sein letztes Stündlein vorbereiten? Die Zeit verging immer schneller. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern. Er konnte fast schon spüren, wie sie ihn mit ihren rauhen Händen wie eine Spielzeugpuppe zur Exekution zerrten. Wie würde er sich verhalten? Würde er wimmern, heulen, jammern? Sollte er noch einmal auf den Topf gehen, damit er sich wenigstens nicht naß machte? Er krabbelte rüber zu dem Topf. Als er seinen Reißverschluß herunterzog, schaute er hoch zum Oberlicht. GROSSER GOTT IM HIMMEL. Er starb beinahe vor Schreck. Ein schwarzer Helm drückte sich gegen die Scheibe, das Visier war heruntergelassen und undurchsichtig. Calum zuckte entsetzt zurück. Er sah gerade noch eine behandschuhte Faust, die durch das Glas boxte. Hunderte von Splittern fielen zu Boden. Augenblicke später segelte eine Leiter herunter, die wild hin und her schwang. Calum schaute wieder hoch. Der Helm war verschwunden. Schwere Schritte näherten sich der Tür. Sie mußten es gehört haben. Die Angst drängte die Furcht vor dem Unbekannten zurück, und mit einem wilden Adrenalinstoß warf er sich auf die schwingende Leiter. Er war immer noch fast einen Meter unter dem Oberlicht, als die Tür aufgerissen wurde. »Was zum … DU KLEINES ARSCHLOCH!« Dessie raste ins Zimmer, Sammy war nur einen Schritt hinter ihm. Calum krabbelte die Leiter hoch, als wären die Höllenhunde persönlich direkt auf seinen Fersen. Schließlich ließ er die Leiter los und streckte seine Hände hoch zum Rahmen des Oberlichts, um sich 188
herauszuziehen. Er spürte nicht einmal die Schnitte der Glasscherben im Rahmen, aber er war sich des brutalen Zugs an seinem rechten Bein bewußt, als Dessie hochsprang und es packte. Calums Arme verkrampften sich, er wäre beinahe hinabgestürzt. Schnürschuhe wären sein Todesurteil gewesen. Glücklicherweise rutschte ihm der Slipper vom Fuß. Dessie stürzte zu Boden, den Schuh immer noch mit beiden Händen umklammernd, dann sah er Calums Beine verschwinden. Calum richtete sich auf und schaute sich panisch um. Das Dach war flach, mit niederen Brüstungen an beiden Seiten. Links und rechts breiteten sich ebensolche Dächer aus soweit er sehen konnte, sie waren nur durch Kamine und kleine Ziegelmauern voneinander getrennt. Das Seil der Strickleiter war um einen Kamin geknotet, aber bevor Calum das alles wirklich begriff, dehnte es sich schon wieder unter neuer Belastung. Scheiße. Einen Augenblick später streckte Sammy seinen kahlen Kopf durch das Oberlicht und brüllte unartikuliert. Calum erstarrte. Dann verschwand der Kopf wieder. Was zum …? Als Calum die Stimme Dessies gedämpft nach Ted rufen hörte, wurde ihm ihr Problem klar. Sammy und Dessie waren nicht schlank genug für das Oberlicht. Sie würden nie im Leben das kleine Loch passieren können. Ihm blieben wenigstens noch ein paar Sekunden, um zu entkommen. Aber in welche Richtung? In diesem Augenblick fiel ihm wieder die rätselhafte Helm-Figur ein. Warum hatte sein Retter das getan? Wo war er hin? Calum wirbelte verzweifelt auf der Suche im Kreis herum.
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Da war der Helm-Mann, zwei oder drei Dächer weiter stand er da, wie ein Geist, der in aller Ruhe auf Calum wartete. Calum hatte keine Ahnung, ob er mehr Angst vor diesem Mann oder vor seinen Verfolgern hatte. Ein weiterer lauter Schrei von unten entschied die Sache. Kaum sah der Retter, daß Calum auf ihn zulief, wandte er sich ab und ging weiter. Calum folgte ihm blind, er sprang über die ersten drei kleinen Mauern, dann wandte er sich um und sah Ted aus dem Oberlicht herausfluppen wie ein Kaninchen aus einem Zylinder. Für einen kleinen Mann hatte Ted eine verdammt laute Stimme. »He ... KOMM ZURÜCK!« Calum ignorierte den Schmerz seiner geschwollenen Knöchel und sprang immer schneller über Mäuerchen um Mäuerchen, bis er zehn oder fünfzehn Häuser überquert hatte, aber Ted war ihm immer noch auf den Fersen. Die Dächer gingen immer weiter, eine andere Fluchtroute war nicht in Sicht. Zwanzig Meter vor ihm lief sein Retter plötzlich auf eine der kleinen Brüstungen zu, stieg darüber und … verschwand. Was, zum Teufel, …? Plötzlich kam von unten wütendes Gebrüll. Dessie und Sammy waren auf der Straße und verfolgten ihn ebenfalls. Scheiße. Calum schwebte fast über die nächsten drei Mäuerchen, bis dorthin, wo das mysteriöse Wesen verschwunden war, und dann schaute er hinab. Direkt hinter der Brüstung war eine Leiter. Der schwarze Mann war schon fast unten, er sprang jetzt auf den Boden und trat zur Seite, so daß Calum ihn nicht mehr sehen konnte. Augenblicke später kehrte er auf einem Motorrad zurück. Sammy und Dessie kamen schnell näher. 190
VROOM, VROOM, VROOM … Die stille Nachtluft wurde vom Grollen des Motorrads zerfetzt. Der kleine Ted hatte Calum schon fast erreicht, er war höchstens noch ein Haus entfernt und wirkte auf eine höchst ekelhafte Weise begeistert. Was, zum Teufel, sollte Calum jetzt machen? Wenn er sich ergab, war er ein toter Mann. Er hatte nur noch eine Chance. Er warf sich über die Brüstung, tastete mit den Füßen nach der Leiter und kletterte und rutschte sie panisch hinunter. Er konnte das Duell unter sich eher fühlen als sehen; quietschend und grollend zuckte das Motorrad in Sammys und Dessies Richtung wie ein Stier, der die Pikadores im Zaum hält. Als Calum unten ankam, spürte er Teds Fuß auf der obersten Sprosse. Das Bike zuckte immer noch nach rechts und links. Calum wandte sich um. Sammy versuchte an dem Motorrad vorbeizukommen und seine Beute zu greifen. Dessie rannte in Richtung des BMW, der vor dem Haus stand. In einer fetten Abgaswolke bockte das Motorrad plötzlich zurück in Richtung Leiter. Calum war in der Klemme. Unwillkürlich spreizte er die Beine und landete fast automatisch hinter dem Fahrer, dem er instinktiv die Arme um die Taille schlang. Mit aller Kraft hielt er sich fest, als das Bike vorne hochgerissen wurde, an Dessie vorbeibrauste und die leere Straße entlangschoß. Calum sah sich um. Sammy bremste den BMW ein wenig ab, um die anderen beiden einzusammeln, und dann begann die Verfolgungsjagd. O nein, nicht schon wieder! Nein, nicht schon wieder. Diesmal war es anders. Münchener Pferdestärken brachten vielleicht einen Ferrari zur Strecke, aber keine Ducati. Der Fahrer rauschte auf die Hauptstraße, er legte sich dabei so tief in die Kurve, daß 191
ihre Knie fast über den Asphalt schrammten. Der BMW schaffte die Kurve mit quietschenden, durchdrehenden Reifen gerade noch, aber innerhalb weniger Minuten war die Jagd entschieden. Das Motorrad raste davon, mühelos fädelte es sich zwischen den Autos hindurch. Calum sah sich wieder um. Der BMW lag weit zurück, er hatte keine Chance mehr. Was den Motorradfahrer zu veranlassen schien, nur noch schneller zu rasen. Calum hatte solche Angst gehabt, daß er alles andere verdrängt hatte. Jetzt gelang es ihm nachzudenken. Wer, zum Teufel, war dieser Kerl? Jedenfalls fühlte es sich an, als wäre sein Oberkörper aus Teak. Das mußte einfach irgendeine Gangstergeschichte sein. Er war befreit worden, nur damit irgendwelche anderen Typen ihn in ihre Fänge bekamen. Was hatten sie jetzt mit ihm vor? Und es war so gottverdammt arschkalt hier hinten drauf. Für den da vorne mit Helm und Lederklamotten war es okay, aber die kalte Nachtluft schnitt durch Calums dünnes Hemd und seine Chinos. Wenn die Fahrt noch lang dauerte, würde er Frostbeulen bekommen. Er drückte sich dichter an den Fahrer. Wohin fuhren sie eigentlich? Seine Augen tränten so sehr, daß er sie nicht lange offenhalten konnte. Sie donnerten Meile um Meile zwischen gleich aussehenden niedrigen Gebäuden und Läden dahin, von denen viele vernagelt waren. Er richtete sich eine Winzigkeit auf und warf einen schnellen Blick über die Schulter des Fahrers. Ein paar Hochhäuser kamen in Sicht. Minuten später dröhnte das Donnern der Ducati durch die verlassenen Canyons der Innenstadt. Sie röhrten jetzt in Richtung Embankment. Calum konnte ganz normale Leute sehen, die ganz normale Leben lebten und ganz normal die Straßen entlang gingen. Er war verdammt nahe 192
dran an der Freiheit. Sollte er versuchen abzuspringen und wegzulaufen – wenn seine Knöchel das aushielten? Das könnte seine einzige Chance sein. Er mußte sie wahrnehmen, bevor es zu spät war. Das Problem bestand darin, daß dieser Typ nicht viel davon hielt, an roten Ampeln oder aus irgendeinem anderen Grund langsamer zu werden. Bei diesem Tempo herunterzuspringen würde mit Sicherheit einige Knochenbrüche bedeuten, und wenn er einem Auto in den Weg kullerte, dann war er tot. Bevor er noch weiter darüber nachdenken konnte, jagten sie nach rechts auf die Northumberland Avenue und dann auf den Trafalgar Square zu. Hier waren jede Menge Leute. Unter dem Admiralty Arch hindurch, mit einer Wahnsinnsgeschwindigkeit die Mall hinauf und dann mit immer noch über hundertzwanzig nach Constitution Hill. Er witterte schon seine Rettung, als der Riesenlärm einen Polizisten dazu veranlaßte, wild wedelnd ein Haltezeichen zu geben, aber der Motorradfahrer umkurvte ihn bloß und nutzte dann Hyde Park Corner als Trainingskurve für ein Rennen. Schließlich Knightsbridge. Das Bike zuckte nach links, dann scharf nach rechts, und tauchte in eine dunkle Sackgasse ein. Am Ende befand sich eine offene Garage. Das Motorrad bollerte hinein und bremste abrupt. Die Tür rollte hinter ihnen herunter, ein Licht ging an. Calum versuchte abzusteigen, aber seine Beine waren zu kalt, um ihm zu gehorchen; er taumelte einfach rücklings zu Boden. Dort blieb er liegen, er konnte sich nicht mehr rühren. Dem Fahrer schien das egal zu sein. Er saß immer noch auf dem Motorrad, wandte Calum den Rücken zu und zog in aller Ruhe die obere Hälfte seiner Ledermontur aus, unter der eine schußsichere Weste zum Vorschein kam. Dann nahm er seinen Helm ab. Eine seidige, schwarze 193
Haarmähne fiel herab. Calum zog scharf den Atem ein, als der Fahrer sich zu ihm umdrehte. Sie hatte ein wirklich wunderschönes orientalisches Gesicht. Und sie lächelte ihn milde an. »Hi. Ich bin May Chang – vom CIA. Geht es Ihnen gut?« Calum brachte irgend etwas zwischen Nicken und Kopfschütteln zustande. »Wir brauchen Ihre Hilfe. Im Gegenzug können wir Ihnen absoluten Schutz anbieten und Sie noch heute nacht in die Staaten zurückbringen. Was halten Sie davon?« Calum wurde schwarz vor Augen, und die Wirklichkeit verschwand.
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13 Christopher Ransome war genervt. Zwar amüsierte ihn das Ganze auch, und vielleicht erregte es ihn sogar ein wenig. Jedenfalls faszinierte es ihn, wenn das Außenministerium intern überkochte; außerdem genoß er den Stil, mit dem diese Konflikte trotz allem abgehandelt wurden. Das hier stellte sich als ein ganz besonders zufriedenstellendes Beispiel heraus. Trotzdem nervte es ihn. Die immer zahlreicheren Telegramme aus der Botschaft in Peking waren durchdacht und vernünftig. Vom Botschafter abwärts agierten dort lauter SinologieExperten, die hervorragend dafür qualifiziert waren ihre Kommentare abzugeben, und sie hatten den Außenminister überzeugt. Es schmerzte ihn, daß seine eigenen Instinkte eher in Richtung der Skepsis von Downingstreet Nummer zehn tendierten. Ransome hatte keine Ahnung, ob der Premierminister wirklich dieser Meinung war oder es bloß dem Weißen Haus rechtmachen wollte. Auf alle Fälle nahm der Druck von Seiten der USIndustrie stetig zu, und alle, die für ein vorsichtiges Vorgehen plädierten, wurden von dem schrillen Geschrei übertönt. Washington war sehr erleichtert, daß Bob Tyne es unterlassen hatte, auf der Konferenz der Herald Tribune seine Ansichten publik zu machen, aber dennoch blieb sein Potential eine Zeitbombe, die jederzeit in der Öffentlichkeit hochgehen konnte. Er hat nur kurzzeitig seine Energien darauf verlegt, gleichgesinnte Geschäftsleute aufzutreiben, um die Schraube noch ein wenig anzuziehen. Aber nicht nur die amerikanischen Geschäftsleute wollten Taten sehen. Auch das britische 195
Handelsministerium wurde von Firmen bestürmt, die sich in China über den Tisch gezogen fühlten oder befürchteten, die Warenflut von dort würde sie ruinieren. Wobei die Regierungsmitglieder durchaus begriffen, daß dieses Problem aller Wahrscheinlichkeit nach zunehmen und der westlichen Ökonomie unschätzbaren Schaden zufügen konnte. Auch sie betrachteten die Ratschläge aus der britischen Botschaft in Peking ebenso sorgenvoll wie unruhig. Die Position der Pekinger Botschaft blieb dabei unverändert. Sie verwies auf ›wilde Verschwörungstheorien‹, die es den Chinesen erschweren sollten, ihren WTO-Pflichten nachzukommen, und sie betonte, daß die Unbeweglichkeit und Unfähigkeit der chinesischen Bürokratie als solche es verdammt schwer machten, Veränderungen zügig durchzusetzen. Sie betonte auch – was ein lautes Grunzen des Premierministers hervorrief –, daß die Chinesen genau deswegen längere und umfassendere Übergangsmaßnahmen gefordert hätten und daß sie nur durch den Druck der westlichen Länder gezwungen worden wären, diesen unrealistischen Zeitplan zu akzeptieren. Letztlich lief die Position der Botschaft darauf hinaus, daß man durch Druck nichts gewinnen könnte. Ich frage mich, dachte Christopher Ransome, ich frage mich wirklich, was Tommy Wu davon hält. Tommy Wu war schon ein altgedienter ChinaBeobachter gewesen, als Ransome noch ein DiplomatenLehrling war. Er hatte chinesische Eltern, war in Malaysia zur Welt gekommen, hatte überall auf der Welt gelebt und manchmal für dieses oder jenes Institut gearbeitet. Dann und wann hatte er ein kleines Büchlein oder einen Essay veröffentlicht; er war immer unterwegs und hatte nirgends ein Heim. Selbst jetzt, in seinen Siebzigern, machte er so 196
weiter. Im Augenblick lebte er in Montana, wo er an seinem neuesten Werk arbeitete. Sie trafen sich selten, blieben aber stets in Verbindung, und nach ein paar Anrufen hatte Ransome die Nummer in Montana. Ransome redete zunächst ganz allgemein. »Und, Tommy, was haben die Chinesen vor?« »Was ist denn das für eine Frage, Chris? Was soll das heißen – was haben sie vor? Reich werden, vor allem.« Als Ransome noch klein gewesen war, hatte er es nur sehr wenigen erlaubt, ihn Chris zu nennen. Tommy war der einzige, der das immer noch tat. »Und das ist alles, Tommy?« »Die Schlagkraft der Armee nimmt zu. Jede Menge neues Zeug. Dasselbe gilt für Luftwaffe und Flotte. Sie bauen drei weitere Flugzeugträger. Wenn ich in Japan wohnte, dann hätte ich verdammte Angst.« »Aber was sie sagen, klingt nicht so beunruhigend. Die Sicherheit Südkoreas zu garantieren, war eine schwere Schlappe für den Norden, oder?« »Chris, denk doch mal darüber nach. Sie betreiben schon seit Jahren vernünftig Handel mit Seoul. Was glaubst du wohl, warum sie so weit gegangen sind? Sie wollen, daß die Amerikaner ihre Militärpräsenz in Korea zurückschrauben oder ganz abbauen. Die Amerikaner sind nur dort, um den Süden vor dem Norden zu schützen. Bei dem ganzen Nationalismus in Korea hätten sie die Amerikaner schon vor Jahren rausgeschmissen, wenn diese Bedrohung nicht bestünde. Jetzt könnte sich das ändern. Der Norden ist in miserablem Zustand. Er könnte auf keinen Fall ein Land angreifen, dessen Sicherheit China garantiert. Also werden die Amerikaner obsolet. Ich gebe ihnen dann noch fünf Jahre, Maximum. Und rechne mal nicht damit, daß es bei Korea bleibt. Als 197
nächstes ist Japan dran. Jetzt, wo die Bedrohung durch die Sowjetunion verschwunden ist, wozu brauchen die Japaner da noch US-Schutz? Von den hunderttausend GIs in Asien ist die Hälfte in Japan stationiert. Wart mal, bis die alle ihr Heimflugticket kriegen. Ich sage dir, Chris, China wird nicht aufgeben, bis es die militärische Gesamtmacht in Ostasien an sich gebracht hat.« »Wie können wir sie daran hindern?« »Gar nicht. Es ist unausweichlich. Abgesehen davon ist es nicht faszinierend, zuzuschauen, wie Geschichte geschrieben wird?« »Werden sie ihre Macht auch einsetzen?« »Du meinst, werden sie in andere Länder einmarschieren …? Nein, im Augenblick nicht. Warum sollten sie? Die Chinesen interessieren sich nicht wirklich für irgendwas anderes. Das brauchen sie auch nicht, solange sie ihren Willen ökonomisch und auf allerlei andere Arten durchsetzen können. Nimm doch mal das Meer. China hat das UN-Gesetz über die Seerechte 1996 ratifiziert. Dadurch erlangen Länder die Macht, exklusive ökonomische Zonen von zweihundert Meilen rund um jedes Fleckchen Erde festzulegen. China streitet sich mit fast jedem darüber, wem was gehört; Vietnam, Japan, Brunei, den Philippinen, Malaysia und beiden Koreas. Wenn du einen Kreis von zweihundert Meilen um jedes kleine Inselchen ziehst, kannst du dir vorstellen, wieviel das ist und was alleine die Schürfrechte wert sind. Und wenn China eine unangefochtene Supermacht ist, dann rate mal, wer diese Streitigkeiten gewinnen wird … Sie brauchen nicht einzumarschieren.« »Was ist mit Taiwan?« »Das ist was anderes, da könnte es passieren. Taiwan ist ein Teil Chinas. Seine Unabhängigkeit nervt sie, es 198
erinnert sie stets an die vergangenen Grenzen ihrer Macht.« »Und was hältst du von dieser Handelsgeschichte?« »Du weißt doch, wie die Chinesen sind, Chris. Sie sind klug. Sie versuchen, alles auszureizen. Sie brauchen die Auslandsinvestitionen und die Technologie, aber höchstens noch für acht oder zehn Jahre. Dann haben sie mehr oder weniger, was sie benötigen.« »Wie schätzt du also die Chancen für Auslandsgeschäfte dort ein?« »Die Firmen werden es weiterhin versuchen, wie hoch das Risiko auch sein mag, weil sie den Gedanken nicht ertragen können, einen so gigantischen Markt zu verlieren. Aber wenn ich in ihren Schuhen steckte, würde ich nicht unbedingt auf die großen Profite warten.« »Augenblick mal, Tommy. Die Zeiten haben sich geändert. Die Chinesen können doch nicht wieder Firmen konfiszieren oder ihnen ihre Gewinne verweigern, jedenfalls nicht, wenn sie mit dem Rest der Welt weiterhin Handel treiben wollen.« »Du mußt schon davon ausgehen, daß sie die Sache subtiler angehen; sie werden ihren eigenen Weg finden, das durchzusetzen. Aber stell dir doch mal eine Frage: Glaubst du wirklich im Ernst, daß ein Volk von einskommadrei Milliarden Unternehmern irgendwelchen Ausländern einen Großteil seiner Wirtschaft abtreten möchte? Sie werden es geschickt anstellen. Sie werden den Ausländern genug Knochen hinwerfen, daß sie dableiben, aber das Fleisch werden sie selbst essen. Und wo wir schon dabei sind was auch immer ihr in Genf mit den Chinesen vereinbart habt –, ihrer Armee die saftigsten Steaks wegzureißen wird leichter gesagt als getan sein.«
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»Danke, Tommy. Kann ich deiner Enkelin irgendwie helfen, wenn sie nach Europa kommt…?« Ransome legte schließlich auf und ging raus auf die Terrasse. Er setzte sich in seinen Lieblingsstuhl, trank einen großen Gin Tonic und schaute über den schimmernden See. Wieder einmal erinnerte er sich an Napoleons Satz: ›Lassen wir China schlafen, denn wenn es erwacht, wird es die Welt erschüttern.‹ Wenn Tommys Einschätzung stimmte, dann hatte der Wecker schon geklingelt. »Willkommen im Monument Base, Mr. Buchanan. Wie war Ihr Flug?« »Anders – das erste Mal in einem Privatflugzeug. Haben die alle geschwärzte Fenster?« »Ja, Sir. Jedenfalls die vom Militär. Business-Flieger natürlich nicht. Ich zeige Ihnen jetzt ihre Räume. Es sind die besten Gästezimmer, über die wir verfügen, obwohl sie leider nicht ganz dem Standard eines Hyatt entsprechen. Dort ist das Bad. Die Klimaanlage ist auf konstante zwanzig Grad eingestellt. Mit dem Telefon können Sie nur interne Anrufe tätigen. Die TV-Fernbedienung liegt neben dem Bett. Wir kriegen CNN, MTV und drei Spielfilmkanäle. Wenn Sie etwas essen oder trinken möchten, wählen Sie einfach die Fünf, und ich bringe es Ihnen sofort. Betrachten Sie mich als Zimmerservice. Ich bin Private Wiltshire und arbeite im Wechsel mit den Privates Harry Clark und Jack Delaney. Wir stehen Ihnen vierundzwanzig Stunden zur Verfügung. Man hat uns gesagt, daß Sie eine ganz besondere Aufgabe übernehmen werden, und wir wollen Ihren Aufenthalt so angenehm wie möglich gestalten, Sir.«
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»Ich muß einen internationalen Anruf machen … Wie kann ich das tun?« »Darüber müssen Sie mit Colonel Montgomery selbst sprechen, Sir. Dies ist eine Hoch-Sicherheits-Basis. Colonel Montgomery ist …« »Das hat Miß Chang mir schon im Flieger erzählt.« »Er wird Ihren Fall persönlich betreuen. Er hat mir gesagt, ich soll Ihnen ausrichten, daß er sich darauf freut, Sie kennenzulernen. Wenn Sie sich frischgemacht und ein wenig ausgeruht haben, dann rufen Sie mich an. Ich bringe Sie zu ihm.« »Private Wiltshire … Hey, ich kann Sie doch nicht einfach ›Private‹ nennen. Wie heißen Sie?« »Na ja … Ich bin Dean, aber meine Freunde nennen mich Dino.« »Ist es in Ordnung, wenn ich das auch mache?« »Sicher, Sir, das wäre … sehr freundlich.« »Gut, und ich bin kein ›Sir‹, ich heiße Calum … So, und nachdem wir das geklärt haben, Dino, wie spät ist es hier? Ich hab’ meine Uhr verloren.« »Zwanzig nach zwei nachmittags, Mountain Standard Time. Sie werden in Ihrer Nachttischschublade eine Quarzuhr finden, und in dem Schrank dort drüben neue Kleidung.« »Und in welchem Staat sind wir? Mey wollte es mir nicht sagen.« »Arizona, Sir... Entschuldigung, Calum.« »Und wo in Arizona? Norden? Westen?« »Das ist ...« »Geheim …? Hab’ ich mir gedacht. Ich verstehe langsam. Okay, Dino, ich geh’ dann mal duschen und leg’ 201
mich hin. Wären Sie so freundlich, mich um vier zu wecken …? Vielen Dank. Ich bin schon sehr gespannt, Colonel Montgomery kennenzulernen. Er ist bestimmt ein sehr interessanter Mann.« »Das finden alle, die hier arbeiten. Dann bis später.« Calum ging rüber zum Fenster und schaute über den dreifachen Sicherheitszaun hinweg zu den rostbraunen Bergen. Zum erstenmal seit seiner Befreiung war er ganz allein mit sich und seinen Gedanken. Sie als Gedanken zu bezeichnen, war eigentlich übertrieben. Über der Garage in London hatten die CIA-Jungs ihn von einem Arzt kurz durchchecken lassen und ihm ein paar Schmerz- und Schlaftabletten gegeben. Dann hatten sie ihn direkt zu einem Terminal in Heathrow verfrachtet. Seine Versuche, im Flieger lange genug wachzubleiben, um vernünftig nachzudenken, wurden von den Tabletten vereitelt; hinzu kamen seine unglaubliche Erschöpfung und vielleicht sogar eine Art Schock. Er hatte das Gefühl, als wollte sein Hirn alle neuen Informationen ausblenden, nur für den Fall, daß die Überlastung ihn endgültig außer Gefecht setzen würde. Auch jetzt schien sein Hirn immer noch durchgeknallt, die Sicherungen waren noch nicht ersetzt. Er kapierte nicht recht, in was er jetzt wieder drinsteckte. Nicht, daß er groß die Wahl gehabt hätte. Er wäre zu allem bereit gewesen, nur damit diese Schläger ihn nicht wiederfanden. Aber würden die Leute hier jetzt davon ausgehen, daß sie quasi einen Blankoscheck hatten, was auch immer sie mit ihm anstellen wollten? Und was würden sie mit ihm tun, und wie lange würde es dauern? Würde es reichen, in groben Zügen zu erklären, wie seine Methode funktionierte, und es dabei zu belassen, oder verlangten sie mehr? Er mußte aufpassen und Morag heraushalten. Gottlob hatte er zu viele Spionagefilme gesehen, um 202
blindes Vertrauen zur CIA zu haben, er mußte wachsam bleiben. Vielleicht würde es das beste sein, von Anfang an ganz klarzustellen, was er tun und was er nicht tun würde, und von Anfang an zu klären, wie lange sie ihn brauchten, und niemandem zu vertrauen; was, zum Teufel wollten sie eigentlich von ihm? Er hoffte nur, daß er nicht im Privatflugzeug einfach nur aus dem Regen in die Traufe geflogen war. Teufel, war das alles verwirrend. »Na endlich. Willkommen im Monument, Calum.« Calum fragte sich, ob Jason Montgomery selbst das Monument war. Er füllte jedenfalls den Türrahmen aus. Einsneunzig, vielleicht sogar über einsneunzig und seine Schultern wußten auch nicht, wo sie aufhören sollten. Er sah aus, als wäre er achtunddreißig, vielleicht auch vierzig, aber das war bei den in Granit gemeißelten Gesichtszügen schwer zu sagen. Sein kurzgeschorenes, drahtigbraunes Haar zeigte keine Spur von Grau. Beim Händeschütteln zerdrückte er fast Calums Finger. Dann führte ihn Montgomery in eine Art Lounge und deutete auf zwei tiefe, äußerst bequeme Ledersessel. »Wir sind sehr froh, daß Sie sich bereit erklärt haben, mit uns zusammenzuarbeiten.« Er bedachte Calum mit einem breiten, freundlichen Grinsen. »In den letzten Tagen haben Sie ja viel erlebt. Sie müssen das Gefühl haben, als wären Sie in einer Kampfeinheit. Ich hoffe, Sie konnten sich unterwegs ein wenig erholen?« Montgomerys Stimme war tief und voll, ohne dabei zu dröhnen. Weder Ost- noch Westküste, in Calums Ohren klang sie ganz neutral. In seinem Timbre lag etwas sehr Beruhigendes. 203
»Danke, es geht mir gut. Ich hab’ im Flieger ein paar Stunden geschlafen, und hier auch, es ist also nicht allzu schlimm.« »Haben Sie sich von all der ... Aufregung erholt?« »Ich will das nicht unbedingt gleich wieder durchmachen. Ich bin immer noch erstaunt, wie Sie mich gefunden haben. Mey wollte mir das nicht erklären.« »Sie hatte die Anweisung, nicht zuviel zu verraten, aber ich kann Ihnen ein bißchen mehr sagen. Ihre Dankbarkeit sollte sich nicht an ›uns‹ richten. Sie gilt der CIA in London. Die haben uns zwar stets informiert, aber sie haben es auch hingekriegt. Und zwar sehr gut.« »Und wer ist >uns« »Oh, das hätte ich natürlich schon erklären sollen. Wie Miß Chang Ihnen ja bereits sagte, bin ich der Kommandeur hier im Monument. Dies ist eine Armeebasis der Special Forces. Ich werde Ihnen morgen genauere Informationen darüber geben, was wir hier tun. Um jetzt erst einmal Ihre Neugier zu stillen: Wie die CIA Sie im Auge behalten hat, war eine ganz normale Operation. Wir haben herausbekommen, wo Sie wohnten, und daß der britische Geheimdienst schon Kontakt zu Ihnen aufgenommen hatte. Wir wußten außerdem, wie ernst die Bedrohung Ihrer persönlichen Sicherheit zu nehmen war, also blieben wir in der Nähe, ohne dabei zu stören. Es war … wie soll ich sagen … ein bißchen naiv von Ihnen, zu glauben, Sie könnten den Ferrari-Händler anrufen, ohne andere auf sich aufmerksam zu machen. War Ihnen nicht klar, daß Ihr Zimmer voller Wanzen sein würde?« »Großer Gott, wie blöd kann man sein? Ich habe nicht ein einziges Mal daran gedacht.«
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»So wußten eine ganze Reihe Leute, was Sie vorhatten. Die Jungs von der CIA wurden angewiesen, Sie nicht zu stören, die Situation aber sehr sorgfältig im Auge zu behalten. Sie bemerkten den BMW, der Ihnen aus Mayfair nach Notting Hill folgte …« »Da haben die Kerle mich aufgelesen …? Aber … Augenblick. Was ist dann passiert? Die CIA kann mir doch nicht den ganzen Weg gefolgt sein. Ich schwöre, daß mir kein weiterer Wagen gefolgt ist, zumindest nicht, nachdem ich den Freeway verlassen hatte.« »Das mußten unsere Leute auch nicht. Die haben da ein hübsches kleines Teilchen. Funktioniert wie ein Blasrohr. Mit Druckluft kann man Kleinstteilchen mit hoher Geschwindigkeit herausschießen, und das Kleinstteil ist ein sehr kleiner Peilsender. Seine gesamte Oberfläche ist magnetisch, also klebt er einfach an dem ersten Metallteil fest, auf das er trifft. Er ist so klein – nicht mehr als zwei Millimeter Durchmesser –, daß die Leute in dem BMW ihn nicht gefunden hätten, wenn sie danach gesucht hätten, und sie konnten auch nicht fühlen, wie er hinten gegen Ihren Wagen ploppte. Danach konnte die CIA dem Signal fast mühelos folgen. Wir vermuteten, daß diese Leute vorhatten, Sie zu kidnappen; wichtig war nur, herauszubekommen, wo.« »Und was ist mit dem britischen Geheimdienst? Wenn die mich belauscht haben, haben sie dann nicht …?« »Natürlich, in der Nacht hatten jede Menge Leute viel zu tun. Die haben sich an den Ferrari herangemacht, als Ihr Händler in der Park Lane auf Ihren Anruf gewartet hat; und sie haben ihren Sender direkt an den Wagen geklebt. Aber sie schätzten die Bedrohung falsch ein. Sie interessierten sich mehr dafür, wohin Sie ausreisen wollten. Solange Sie in Großbritannien geblieben wären, hätten sie Sie in Ruhe gelassen, aber sobald Sie in 205
Richtung eines Hafens oder des Tunnels gefahren wären, was Sie ganz offensichtlich vorhatten, dann wären Sie angehalten worden.« »Und ich habe mich für so klug gehalten. Sieht so aus, als hätte halb London gewußt, was ich vorhatte.« »Na ja, diese Leute spielen das Spiel schon ein bißchen länger als Sie.« »Na gut ... Und was ist nach meinem Unfall passiert?« »Die CIA konnte nicht wissen, daß Sie einen Unfall hatten, aber als sie den BMW wieder zurück nach London fahren sahen, war ziemlich klar, daß man Sie gefangengenommen hatte. Dann mußten sie nur noch herausfinden, wo Sie steckten und wie man Sie herausholen konnte.« »Und was hätte das geholfen, wenn die mich gleich kaltgemacht hätten … da in diesem Haus?« »Wieso hätten sie denn das tun sollen? Sie haben Sie doch aus einem guten Grund gekidnappt – und Sie vergessen noch etwas. Die CIA hatte das Haus voll im Griff, unsre Leute konnten jeden Raum abhören. Die haben jedes Wort belauscht, das gesagt wurde. Sie wußten auch, daß man mit Ihnen Samstagslotto spielen wollte; erst wenn Sie das nicht hinbekämen, wären Sie in Gefahr. Deswegen wurden Sie ja auch über das Dach herausgeholt, bevor die Ergebnisse feststanden.« »Warum haben Sie nicht einfach die Kavallerie durch die Eingangstür geschickt?« »Erstens versucht die CIA so diskret wie möglich vorzugehen, vor allem im Ausland. Die Kavallerie ist deutlich auffälliger. Zweitens schätzten sie das Risiko als zu groß ein, daß Sie bei einer Schießerei verletzt würden.«
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»Und als ich die Leiter runtergeklettert bin? Die Typen hätten mich doch einfach abknallen können!« »Deswegen hatten wir ja auch die beiden Scharfschützen auf den Dächern der anderen Straßenseite. Wenn irgend jemand auch nur eine Waffe gezogen hätte, wäre er niedergeschossen worden. Sie waren wirklich abgesichert.« »So hab’ ich mich überhaupt nicht gefühlt. Aber es hat ja geklappt. Was zählt ist das, was am Ende rauskommt.« »Da haben Sie allerdings recht. Und wenn Sie jetzt nichts dagegen haben … Kommen wir zur Sache. Wir fangen erst morgen richtig an, damit Sie eine Nacht durchschlafen können, aber ich kann Ihnen ja schon mal verraten, wie wir die Sache angehen wollen. Erstens müssen Sie mir unterschreiben, daß Sie die Existenz dieses Programmes geheimhalten, und zwar alles, was Sie hier sehen und tun. Zweitens möchte ich Ihnen die wichtigsten Leute vorstellen, mit denen Sie hier zu tun haben werden. Professor Lee ist der Leiter unseres wissenschaftlichen Programms. Er ist eingebürgerter Amerikaner. In Hong Kong aufgewachsen, hat er über die Jahre an verschiedenen Universitäten in den Staaten gearbeitet; die letzten fünf wurde er direkt von der Regierung angestellt. Eine Welt-Autorität in Parapsychologie. Dann ist da Rita Osborne, unsere Armeeärztin im Range eines Majors. Psychologin. Sehr wichtig für unsere Organisation. Und schließlich Lieutenant Jones. Sieht nicht aus wie ein Jones. Amerikanischer Vater, Mutter aus Singapur, aber die asiatischen Gene müssen gewonnen haben, zumindest was sein Äußeres angeht. Er ist unser Beobachter. Er wird bei all Ihren Sessions dabei sein. Seine Aufgabe besteht darin, alles genau zu protokollieren, aber wir wollen, daß Sie sich verhalten, als wäre er nicht vorhanden.« 207
»Was ist mit May?« »O ja, May … Sie ist unsere Verbindung zur CIA und wird hier im Monument bleiben, solange das Projekt läuft. May wurde kurz nach der Emigration ihrer Eltern aus Taiwan in den USA geboren. Sie wird an den meisten Sessions nicht teilnehmen, aber sie wird präsent sein. Wenn Sie möchten, dann wird sie ihre Freizeit mit Ihnen verbringen. Wir haben einen kleinen Club hier auf der Basis. Ganz amüsant, wenn man nicht zu hohe Ansprüche stellt. Billard, Juke Box, solche Sachen. Im Augenblick wird dort gerade renoviert, aber in ein paar Tagen macht der Laden wieder auf. May kann mit Ihnen dort rübergehen.« »Vielen Dank; das wäre schön. Colonel Montgomery, kann ich Ihnen eine Frage stellen?« »Natürlich können Sie das, aber darf ich mal raten …? Sie finden, daß wir eine ganze Menge Asiaten in diesem Programm beschäftigen. Stimmt’s?« »Nein, das war es nicht. Aber wo Sie es schon ansprechen … Wie kommt das?« »Ich finde es gar nicht so überraschend, heutzutage, wo unsere Nation doch der große Schmelztiegel geworden ist. Aber in diesem Fall gibt es einen besonderen Grund, der mit einem unserer Hauptziele zusammenhängt. Ich erkläre Ihnen das morgen. Aber da ich jetzt falsch geraten habe – wie lautet Ihre Frage?« »Ich muß ein Auslandsferngespräch führen. Geht das?« »Das ist leider das einzige, das wir Ihnen nicht gestatten können. Wir müssen, was die Kommunikation angeht, strengste Regeln einhalten, aber wenn Sie jemandem eine Nachricht übermitteln lassen möchten …« »Nein, das nicht, ich muß bloß meinen Anrufbeantworter in London abhören, das ist alles.« 208
»Das können wir für Sie erledigen. Wenn Sie Private Wiltshire den Code geben, dann wird er Ihnen ein vollständiges Transkript Ihrer Nachrichten besorgen.« »Ich will gar kein vollständiges Transkript. Einige der Nachrichten sind bestimmt sowieso Scheiße. Ich will nur wissen, ob eine bestimmte Person angerufen hat, das ist alles.« »Kein Problem. Geben Sie Wiltshire Bescheid, er wird das klären. So, das war’s dann wohl für heute. Wir halten es für das beste, daß unsere Gäste ihre Mahlzeiten auf ihren Zimmern einnehmen. Was halten Sie von einem dicken, saftigen amerikanischen Steak …? Gut. Private Wiltshire wird Sie jetzt zurückbegleiten, und ich freue mich schon darauf, daß wir uns morgen früh wiedersehen. Was halten Sie von acht Uhr morgens? … Sehr gut. Dann einen schönen Abend noch. Im Auftrag der US-Regierung möchte ich mich noch einmal bei Ihnen bedanken, daß Sie bereit sind, uns zu helfen. Die potentielle Wichtigkeit Ihres Beitrages ist kaum zu überschätzen.« Calum wollte widersprechen, aber bevor ihm das gelang, nahm Jason Montgomery schon seine Hand, zerquetschte sie erneut beinahe und schickte ihn auf sein Zimmer.
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14 Am nächsten Morgen saßen sie, nachdem sie einander vorgestellt worden waren und Calum die Geheimhaltungsvereinbarung unterschrieben hatte, an einem Tisch; auf der einen Seite Professor Lee und Major Osborne, auf der anderen Montgomery und Calum. Lieutenant Jones saß am Ende, einen Spiralblock aufgeschlagen vor sich. Jones sah tatsächlich unzweifelhaft asiatisch aus. Montgomerys Mahagoni-Stimme dröhnte los: »Calum, ich möchte Ihnen zu Anfang erzählen, was wir hier im Monument tun, und warum es so wichtig ist. Wie Sie vielleicht schon selbst bemerkt haben, beschäftigen wir uns innerhalb dieses Forschungsprogramms mit der Nutzung paranormaler und parapsychologischer Phänomene. Ich möchte gleich zu Anfang betonen, daß wir diese Worte zwar benutzen, daß wir aber keineswegs glauben, daß irgend etwas Abnormales oder Übernatürliches diesen Phänomenen anhaftet. Es handelt sich hier zweifellos um ganz normale Vorgänge, die wir bloß noch nicht verstehen. Man könnte sie mit Funkwellen vergleichen. Wie Sie wissen, wurden Funkwellen ja nicht erfunden, sie wurden entdeckt. Sie waren die ganze Zeit da. Wir glauben, dasselbe gilt für paranormale Phänomene, weswegen das Pentagon uns ein großes Budget zur Verfügung gestellt hat, um diese Kräfte zu verstehen und zur Anwendung zu bringen. Aber wir sind nicht die einzigen. Einfach formuliert handelt es sich um ein Wertrennen, und wir wollen Erste werden. Wenn die Russen und die Chinesen uns nicht den Rang ablaufen, dann bestimmt nicht, weil sie’s nicht versucht hätten.« 210
»Ja, der britische Agent hat so etwas ähnliches erzählt.« »Das überrascht mich nicht. Aber das britische Programm ist … sehr bescheiden. Die scheinen noch nicht begriffen zu haben, daß man mehr als eine Strippe und ein bißchen Siegelwachs braucht, um in diesem Bereich Fortschritte zu machen … Doch lassen Sie uns wieder zu unserem Programm zurückkehren. Wir haben drei operationelle Schwerpunkte: Ortung, Beeinflussung und Vorhersagen. Lassen Sie mich das erklären … Möchten Sie noch einen Kaffee …? Lieutenant Jones, würden Sie das übernehmen? Zuerst einmal die Ortung. Speziell ausgebildete Wesen mit hochentwickelten psychokinetischen Fähigkeiten könnten Schlüsselobjekte oder Ziele orten. Das könnten Raketenbatterien sein, die getarnt in der Wüste stehen, oder Atombasen. Es könnte auch eine Sprengkopffabrik sein. Es könnte sogar ein Mensch sein, zum Beispiel ein Militärkommandeur oder ein politischer Anführer. Viele totalitäre Herrscher fürchten oft aus gutem Grund –, daß fremde Regierungen oder auch ihre eigenen Leute versuchen könnten, Attentate auf sie auszuüben. Sie nutzen Doubles, geheime Tunnels, Spezialtransporte, sie sind immer in Bewegung, sie variieren ihre Routen, sie versuchen so unvorhersehbar wie nur möglich zu agieren. Wenn die USA so jemanden ausschalten wollten, dann könnte ein Psychokinet entscheidende Informationen liefern.« Calum nickte und nippte an seinem Kaffee. Das war nicht schlecht. Er würde sich verdammt bemühen müssen, daß ihm das nicht alles zu Kopfe stieg; nicht nur, diese ganzen Geheimnisse zu erfahren, sondern auch, daß diese wichtigen Leute ausgerechnet ihn benötigten. Wenn Marianna ihn jetzt sehen könnte … Das wäre der Hammer! Er nickte wieder, als Montgomery sich dem
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Thema Beeinflussung zuwandte. Calum hatte keine Ahnung, was das hieß. »… man benutzt diesen Begriff in allen möglichen militärischen Situationen, aber ich werde jetzt versuchen, Ihnen zu erklären, was er für uns bedeutet.« Montgomery beugte sich vor und verlagerte sein Gewicht auf seine muskulösen Unterarme. Unwillkürlich tat Calum dasselbe mit seinen dünnen Äquivalenten. »Sie haben sicher schon von Leuten gehört, die Löffel verbiegen können, indem sie sie bloß streicheln?« »Natürlich.« »Und es gibt andere, denen es sogar möglich ist, Dinge zu verbiegen, ohne sie überhaupt zu berühren. Mit reiner Geisteskraft. Diese Kraft versuchen wir in den Griff zu bekommen, und zwar über beachtliche Entfernungen. Natürlich wollen wir keine Gewehre oder Raketenabschußbasen verbiegen …« Calum war froh, daß er den Mund gehalten hatte, denn genau das hatte er vermutet. »… aber stellen Sie sich vor, was mit einem Raketenlenksystem oder einem RadarComputer los ist, wenn jemand anfängt, mit den Elektronen in den Chips herumzuspielen. Man muß keine großen Veränderungen hervorrufen, um die Kalkulationen zu ruinieren oder sogar das ganze System lahmzulegen, unentdeckt und sicher. Wir gehen dabei keinerlei Risiko ein, und Zivilisten können auch nicht verletzt werden. Bis heute gibt es keine Verteidigungsmöglichkeit dagegen. Kein Bunker ist tief, keine Stahlplatte dick genug. Das Potential ist unbegrenzt. Leider haben unsere Experimente bislang nur begrenzten Erfolg gehabt, und unser Einsatzgebiet ist immer noch zu klein, aber wir werden das schon schaffen.« »Das ist erstaunlich.« 212
»Das finden wir auch. Aber vergessen Sie nicht, wenn die sich nicht gegen uns verteidigen können, dann gilt das auch umgekehrt. Psychokinetische Abwehrkräfte zu entwickeln, könnte also genauso wichtig sein …« Calums Nickerei wurde langsam zur Gewohnheit. »Und schließlich die Vorhersagen. Das erklärt sich ja im Grunde selbst, und natürlich ist das der Bereich, in dem wir mit Ihnen arbeiten möchten.« Montgomery lehnte sich in seinem Stuhl zurück, nur den Bruchteil einer Sekunde vor Calum. »Die Großmächte werden sich, was die technologischen Ausstattungen angeht, immer ähnlicher. Nehmen Sie mal Radar. Vor ein paar Jahren hatten wir da noch einen Vorsprung, aber der ist mittlerweile erodiert. Wenn wir eines unserer Kampfflugzeuge gegen eines von denen antreten lassen, dann stehen die Chancen fifty-fifty, ob der Gute oder der Böse zuerst dem Radar-Lock zum Opfer fällt. Selbst sich mit Gaunern in der Dritten Welt anzulegen wird immer riskanter, weil auch die sich moderne Waffensysteme leisten können. Aber jetzt stellen Sie sich mal vor, wie sehr es helfen würde, zu wissen, wo und wann ein feindlicher Angriff stattfindet – wenn unsere Piloten wüßten, wann sie auf dem Radar erscheinen, wenn unsere U-Boote wüßten, wann sie entdeckt werden. Das Ergebnis wäre absolute Überlegenheit, und zwar zu einem Bruchteil der Kosten für bessere Hardware. Deswegen brauchen wir Ihre Hilfe, Calum.« Calum verschränkte die Hände, beugte sich vor und lächelte schüchtern. Sein ganzes Leben lang hatte niemand jemals so mit ihm geredet, als wäre er etwas wert, als wäre er jemand. Er spürte, wie sich ein ganz unbekanntes warmes Gefühl in ihm ausbreitete. »Ich habe keine Ahnung, ob ich Ihnen helfen kann, aber ich werde versuchen, alles zu geben.« 213
»Wunderbar, das hoffte ich zu hören. Jetzt werde ich Ihnen erklären, wie unser Programm aufgebaut ist, aber vorher möchte ich Ihnen noch den besonderen Grund erläutern, den ich letzte Nacht erwähnt habe.« Er lehnte sich zurück und senkte seine Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Das ist sehr geheim. In den letzten paar Jahren hat China in mehreren Fällen Marineübungen und militärische Manöver im Golf von Taiwan durchgeführt. Die in den meisten Fällen vor allem politische Zwecke hatten, sie sollten die Taiwanesen einschüchtern. Aber die Manöver im letzten Jahr waren deutlich realistischer, im Grunde schon eine Trockenübung für eine echte Invasion. Calum, wie gut kennen Sie sich in der internationalen Politik aus?« »Nicht besonders. Jedenfalls in letzter Zeit …« Calum kam sich ganz schön dumm vor. Er wünschte, er hätte ein paar Bücher gelesen oder wenigstens bei Morags Radiosendungen genauer zugehört. »Nun, dann bringe ich Sie mal auf den neuesten Stand. Die Spannung zwischen China und den USA in Handelsdingen ist gewachsen. Wir waren nicht unbedingt dafür, China der World Trade Organisation beitreten zu lassen. Das ist eine Art Club, der die Handelsregeln zwischen den Nationen festlegt. Für China war es sehr wichtig, dort Mitglied zu werden. Die USA glauben nicht, daß die Chinesen sich an die Regeln halten wollen, aber die Europäer und die Japaner haben einen Kotau gemacht und sie reingelassen. Jetzt scheint sich herauszustellen, daß wir recht hatten, und die Chinesen werden sich wohl in Genf ein paar Ohrfeigen abholen.« »Klingt, als geschähe es ihnen recht.« »Das ist wahr, aber leider wird es dabei nicht bleiben. Bestraft man die Chinesen wirklich, dann werden Sie sauer sein. Das ist für sie ein großer Gesichtsverlust, und 214
es kann gut sein, daß sie den Staaten dann eins auswischen wollen. Vor allem könnte es eine gute Entschuldigung für etwas sein, was sie schon seit langem vorhaben: in Taiwan einzumarschieren. Vielleicht rechnen sie sich aus, daß die USA es nicht riskieren würden, sie nach Genf auch dort noch anzugreifen und einen Weltkrieg auszulösen. Ehrlich gesagt, Calum, vermute ich mal, daß diese Annahme nicht allzu falsch sein könnte.« »Hmmm.« Calum nickte beeindruckt. »Die USA haben sich niemals offiziell bereit erklärt, Taiwan zu verteidigen, wir hätten also die Möglichkeit, einfach wegzuschauen. Wenn wir das aber täten, dann würden wir unser Gesicht verlieren und dem Rest Asiens signalisieren, daß die Chinesen machen können, was sie wollen. Wir stecken also in einem großen Dilemma: Intervenieren und einen Krieg riskieren, oder dumm dastehen und zuschauen, wie das amerikanische Prestige und unser Einfluß im Pazifik zusammenbricht.« »Nicht ganz einfach.« Wie dumm von ihm, das zu sagen. Ihm war nichts Besseres eingefallen: Dilemma war das bessere Wort, aber Montgomery hatte es als erster gesagt. »Es gibt aber eine Antwort. Keine ganz sichere, aber immerhin eine vernünftige.« Montgomery schwieg. Calum hoffte, daß er nicht raten sollte, er hatte keine Ahnung. Wenn es wenigstens wie bei einem Pferderennen gewesen wäre, dann hätte er raten können. Er war sehr erleichtert, als Montgomery weitersprach: »Taiwans Armee ist klein, aber sie ist stark genug, den Chinesen eine blutige Nase zu verpassen und sie abzuschrecken, wenn – aber auch nur wenn – sie geschickt eingesetzt wird. An genau dem richtigen Ort zu genau der richtigen Zeit. Und es gibt nur eine Möglichkeit, das zu garantieren: Vorhersagen. Nur so können wir unseren taiwanesischen 215
Freunden die Möglichkeit verschaffen, sich selbst zu verteidigen, ohne daß die USA sich in diesen Krieg einmischen müssen. Deswegen sieht man im Augenblick im Monument so viele asiatische Gesichter. Wir trainieren taiwanesische Piloten. Als letztes sollte ich Ihnen noch sagen, daß ein Angriff auf Taiwan keine reine Vermutung unsererseits ist. CIA-Leute aus China haben Berichte geschickt, die dafür sprechen, daß eine Einmarschtruppe zusammengestellt wird. Jetzt verstehen Sie sicher, warum Sie für uns so wichtig sind und warum wir Sie so dringend brauchen.« »Was genau wollen Sie denn nun von mir? Und wann fangen wir an?« »So ist’s richtig ... Der erste Teil der Übung besteht aus zwei Teilen, die zwei bis drei Wochen dauern. Professor Lee wird mit Ihnen versuchen herauszubekommen, was Sie da eigentlich tun. Major Osbornes Aufgabe besteht darin, zu eruieren, wer sie eigentlich sind, wie Sie so geworden sind, wieviel ihrer besonderen Gabe vererbt wurde und wieviel Sie gelernt haben. Das schließt auch ein, Ihre Herkunft und Persönlichkeit ausführlich zu analysieren, und dazu kommen jede Menge IQ-, Begabungs- und andere psychologische Tests. Im zweiten Teil werden wir dann versuchen, Ihre Methode weiterzuentwickeln und zu replizieren. Heute morgen sollten Sie mit Major Osborne beginnen, am Nachmittag gibt’s dann Ihre erste Session mit Professor Lee. Wenn Sie nicht zu kaputt sind, würde Miß Chang heute abend gern noch mit Ihnen etwas trinken. Die Bar in der Basis ist erst morgen fertig, also müßten Sie sie auf Ihrem Zimmer empfangen.« »Kein Problem.« Es gefiel Calum, wie Montgomery mit ihm redete. Höflich, respektvoll, fast so, als wären sie gleichgestellt. Mußte er da wirklich klären, wie lange das 216
insgesamt dauern würde? Wenn es nur zwei oder drei Wochen in Anspruch nahm, plus vielleicht noch einigen weiteren für den zweiten Teil, dann … Dann konnte er damit bestimmt leben. Wieso sollte er daraus jetzt eine große Sache machen? Wenn nötig, konnte er das später immer noch klären. »Gut, dann holen wir Ihnen mal frischen Kaffee.« Rita Osborne wirkte angespannt, der harte Zug um ihre Lippen deutete auf eine kontrollierte Wut über irgend etwas hin, daß ihr das Leben nicht bot. Auch die professionelle Wärme ihrer sorgfältig modulierten Stimme stand in krassem Gegensatz zu der Kälte ihrer stahlgrauen Augen. So wie sie ihr braunes Haar streng zurückgekämmt trug, betonte sie nur das Alter, das sie schon fast erreicht hatte. »Okay, Calum, wo wollen wir anfangen? Wir haben eine ganze Menge Informationen über Sie.« »Bestimmt faszinierende Akten, Rita.« »Haben wir. Aber in Ihrem Fall brauchten wir sie kaum. Das Portrait in der LA Times hat den Großteil der Arbeit für uns erledigt.« »Was für ein Portrait war das denn?« »Kennen Sie es etwa nicht? Sie haben es kurz nach Ihrer Pferderennen-Vorhersage gebracht. Eine Kolumne auf der Titelseite, und dann eine ganze Seite im Innenteil.« »Und wie war’s?« »Für uns war es interessant; Ihnen hätte es wahrscheinlich nicht so gefallen. Die meisten Kommentare stammten von Leuten, die Sie kannten, und waren nicht allzu schmeichelhaft; und natürlich haben sie auch die britischen Schlagzeilen zitiert.« 217
»Oh.« Calum dachte an Marianna. Hatte sie Spaß daran gehabt, daß er durch den Dreck gezogen wurde, oder hatte sie es einfach nur gehaßt, mit ihm in Verbindung gebracht zu werden? »Ich kann Ihnen eine Kopie machen, wenn Sie möchten.« »Nein, danke. Haben sie auch meine Ex zitiert, Marianna?« »Dort stand, daß sie keinen Kommentar abgäbe, daß das alles Vergangenheit sei. Eine Ihrer Freundinnen, Mandy irgendwas, sagte, Marianna betrachte Sie als Versager, und sie sei froh, Sie nicht mehr sehen zu müssen.« »Wie nett von ihr.« Die Wärme war verschwunden. Plötzlich fühlte Calum sich miserabel. Hätte Marianna zugelassen, daß Mandy so etwas sagte, wenn auch nur eine kleine Chance bestünde, daß sie wieder mit ihm Zusammensein wollte? Jones war freundlich genug, auf seinen Block hinabzuschauen und keine Notizen zu machen. Rita Osborne gab ihrer Stimme einen fröhlicheren Ton. »Lassen wir das mal beiseite. Wie Colonel Montgomery sagte, müssen wir so viel wie möglich über Ihren Hintergrund und ihre Persönlichkeitsentwicklung herausbekommen. Hier ist ein Fragebogen, den wir Sie bitten, bis morgen auszufüllen. Vielleicht finden Sie ihn sehr inquisitorisch, aber Sie müssen alle Fragen so ausführlich und offen wie nur möglich beantworten. Wir garantieren Ihnen, daß diese Informationen nur für den Colonel, Professor Lee und mich bestimmt sind. Sie werden sehen, daß der erste Abschnitt sich vor allem mit Ihren direkten Angehörigen und entfernteren Verwandten beschäftigt. Im nächsten Bereich geht es um die Zeit von Ihrer Kindheit bis heute. Welche Menschen und Ereignisse 218
haben Sie am meisten beeinflußt? Ihre größten Erfolge und Niederlagen, Ihre Ziele und Sorgen. Der dritte Abschnitt schließlich verlangt eine Selbsteinschätzung. Wie beurteilen Sie Ihre Erfolge in Schule und College, in den Jobs, die Sie innehatten, und in Ihren persönlichen Beziehungen? Wie steht es mit Ihrem Selbstbewußtsein? Was für Verhaltensmuster haben Sie, die Beziehungen und persönliche Leistungsstärke beeinflussen? Schließlich kommen da noch ein paar einfache psychometrische Tests. Wenn Sie mir den Fragebogen morgen früh geben, analysiere ich ihn und gehe ihn morgen nachmittag mit Ihnen durch. Und jetzt fangen wir doch einfach damit an, uns zu unterhalten, damit Ihnen klar wird, worauf’s ankommt.« Das gebratene Huhn war perfekt gewesen, der Mondavi Cabernet Shiraz wunderbar. Am Abend war May in einem chinesischen, langen türkisen Kleid aufgetaucht, und sie sah so wunderbar aus, daß es ihm schwerfiel, sie nicht den ganzen Abend anzustarren. Ganz offensichtlich hatte sie sich Mühe gegeben, ihm zu gefallen. Was hatte sie bloß vor? Es war sehr unwahrscheinlich, daß sie das nur wegen seiner faszinierenden Persönlichkeit oder seines guten Aussehens tat. Sollte sie ihn checken, ihn quasi in seiner Freizeit überprüfen? Oder war sie offiziell um gute Stimmung bemüht? Wo er so darüber nachdachte, sollte sie vielleicht auch zu seiner Entspannung beitragen. War geplant, daß …? Wenn er doch nur wüßte, was man von ihm erwartete. Er konnte sie schließlich nicht gut fragen, oder? Aber warum sonst hätten sie das Mädchen auf sein Zimmer geschickt? Wollten sie seine sexuellen Vorlieben überprüfen? Wenn er nicht versuchte, sie anzubaggern, würde Montgomery dann denken …? »Und wie lief es mit Professor Lee?«
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»Oh, es war ja nur ein Anfang. Er hat mir sein Labor und all seine Sachen gezeigt und mir den Rest des Vorhersageprogramms erklärt. Richtig fängt er mit mir erst morgen an … Laß uns über was anderes reden, May. Ich will mich noch ein bißchen entspannen, bevor ich mit Rita Osbornes Fragebogen anfange. Noch ein Glas?« »Nein danke, Calum. Noch ein Tropfen, und ich bin betrunken. Aber wenn du so müde bist, was hältst du dann von einer Massage?« »Klingt toll.« »Dann zieh dich mal aus. Ich hab’ Öl in meiner Tasche … Zieh deine Sachen aus und leg dich auf den Bauch … Na, wie fühlt sich das an? Drücke ich zu fest?« »Es ist wunderbar. Wo hast du das denn gelernt?« »Ich hab’ letztes Jahr in Taiwan einen Kurs gemacht, als ich meinen Großvater besuchte. Es ist eine spezielle chinesische Massage.« »Tatsächlich – ganz speziell … Mmmm … Wie oft fährst du dorthin?« »Ein- oder zweimal im Jahr.« »Wie ist es dort?« »Ich finde es toll. So grün. Gutes Essen. Eines der besten Museen der Welt. Und mein Großvater ist nett. Du würdest ihn bestimmt mögen.« »Und wo sind deine Eltern?« »San Francisco. Sie haben ein Restaurant in Chinatown. Da bin ich groß geworden … So, das war’s. Wenn du ein braver Junge bist, mach’ ich das irgendwann mal wieder.« »May …« Er drehte sich um, streckte die Arme aus und versuchte, sie zu sich herunterzuziehen. »Oh-oh … das ist nicht erlaubt. Die Gäste müssen schön artig bleiben. Siehst du da oben? Das ist eine 220
Videokamera. Hier auf der Basis gibt es Regeln. Sie würden mich sofort rauswerfen … Du füllst jetzt den Fragebogen aus und legst dich dann hin zum Schönheitsschlaf. Morgen hast du einen langen Tag mit Professor Lee vor dir. Und ich muß jetzt los. Gute Nacht.«
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15 »Guten Morgen, guten Morgen. Wie Colonel Montgomery bereits erklärt hat, wird Lieutenant Jones bei all unseren Sessions anwesend sein, genau wie Major Osborne. Wie fühlen Sie sich? Leiden Sie noch unter Jetlag?« »Es geht mir prächtig, Professor.« »Gut, gut. Dann legen wir mal los. Erzählen Sie, erzählen Sie. Ich kann’s kaum erwarten.« »Was soll ich Ihnen erzählen?« »Wie es funktioniert, wie es funktioniert natürlich.« Lee rutschte auf seinem Stuhl hin und her wie ein aufgeregtes Kind, er fuhr sich mit beiden Händen durch sein dünnes Haar, schob sich mit einer entschiedenen Bewegung des Zeigefingers die rutschende Brille wieder die Nase hoch und beugte sich über den Tisch. »Raus damit, raus damit. Frisch von der Leber weg. Kommen Sie, erzählen Sie …« »Ich weiß nicht recht, wo ich anfangen soll.« »Am Anfang natürlich.« »Okay. Ich mußte schnell Geld verdienen, aus … einem persönlichen Grund. Dann hatte ich diese Idee wäre es mir möglich ein kleines bißchen in die Zukunft zu schauen, dann könnte ich jede Menge Kohle machen.« »Sie hatten diese Idee? Einfach so?« »Ich habe Urlaub in Schottland gemacht und nach meinen Ahnen gesucht. Da oben glauben sie alle an den sechsten Sinn. Ich hab’ mit ein oder zwei Leuten geredet, die angeblich über diese Gabe verfügen, und dann hab’ ich mehr oder weniger mein eigenes System entwickelt.«
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Selbst für Calum klang das unglaublich lächerlich, obwohl er die ganze Nacht gehabt hatte, um sich diese Geschichte auszudenken. Aber lächerlich oder nicht, er mußte Morag aus dieser Sache raushalten. »Sehr merkwürdig. Aber halten wir uns damit nicht auf. Wir müssen zum Kern der Sache vorstoßen. Wie funktioniert Ihr System?« Lee hopste auf seinem Stuhl vor und zurück, als hätte er irgendwelches Gummizeug am Hintern. »Ich schätze, es ist so eine Art Gedankenübertragung. Ich versuche, meine Gedanken über große Entfernungen zu projizieren, so eine Art Telepathie zurück zu mir selbst.« »Ich wußte es, ich wußte es.« Lee tanzte auf seinem Stuhl. »Damit ich mich auf etwas konzentrieren kann, habe ich mir den Mond ausgesucht. Ich habe ihn angestarrt und angestarrt, ich habe meine ganze Kraft zusammengenommen, um meine Gedanken auf die Reise zu schicken.« »Und was ist passiert?« »Erst mal gar nichts. Dann hatte ich dieses komische Gefühl, als läge da ein Nebel vor meinen Augen, nichts Konkretes, nichts was man erkennen oder interpretieren konnte. Aber ich hab’ weitergemacht. Nicht jede Nacht. Es war viel zu anstrengend, und der Mond ist da oben in Schottland sowieso nur jede fünfte Nacht zu sehen. Das Gefühl aber wurde immer verläßlicher, weniger unscharf. Wenn ich mich genug anstrengte, konnte ich ahnen, wer die Straße entlang kam oder was meine … Vermieterin sagen würde, wenn ich das Haus betrat. Es war immer noch ganz schön vage und reichte nur ein paar Minuten in 223
die Zukunft. Ich habe Monate üben müssen, um weiterzukommen.« »Wie weit?« »In Schottland nicht weiter als eine halbe Stunde.« »Und jetzt?« »Es blieb lange so, auch die ersten paar Monate, die ich in London verbrachte. Dann habe ich mal das Experiment gemacht, stundenlang zu meditieren, bevor ich mit der eigentlichen Konzentrationsübung begann. Plötzlich war die Zeitspanne fast eine Stunde. Erst dadurch wurde das mit der Lotterie möglich. Na ja, eine Stunde ist immer noch meine Grenze, und ich sage Ihnen, es ist höllisch anstrengend, viel anstrengender als eine kürzere Zeitspanne.« Lee schaute enttäuscht drein. Auf Jones Gesicht war nichts zu lesen, er schrieb einfach weiter. »Hab’ ich irgendwas Falsches gesagt?« »Überhaupt nicht, überhaupt nicht. Ich hätte das erwarten sollen … in diesem Stadium.« Sein Lächeln kehrte zurück. »Und wie funktionierten die Vorhersagen in Ihrem Job?« »Ich mußte mich auf sehr große, kurzfristige Bewegungen konzentrieren, auf Märkte, wo sich innerhalb von Minuten massive Veränderungen durchsetzen konnten, also nahm ich mir die wichtigen Erklärungen vor, zum Beispiel die US-Arbeitslosenzahlen oder die Außenhandelsergebnisse. Ich hatte noch einen weiteren Grund, mir amerikanische Ereignisse auszusuchen. Zumindest im Winter werden diese Meldungen erst veröffentlicht, wenn es in England schon dunkel ist. Ich bin in den Konferenzsaal im obersten Stockwerk unseres Handelshauses gegangen und habe in den Nachthimmel geschaut. Wenn der Mond nicht zu sehen war, habe ich 224
ihn mir vorgestellt. Es hat nicht immer geklappt, aber meine Trefferquote war ganz gut.« »Und den Rest der Zeit? Sie mußten doch wohl auch andere Geschäfte tätigen?« »Ah … da griff dann mein anderes System. Als ich erst mal sicher war, daß ich ungefähr neunzig Prozent Treffer landen konnte, habe ich angefangen, mit Informationen zu handeln. Entsprechende Tips habe ich an meine Freunde in New York oder sonstwo weitergegeben, die wußten, daß meine Ahnungen normalerweise funktionierten, und die haben sich dann bei mir revanchiert, wenn sie einen Insider-Tip hatten. Auf diese Weise konnte ich die ganze Sache beschleunigen.« »Klug, sehr klug. Kommen wir jetzt mal zum Inhalt Ihrer Vorhersagen. Stellt sich bei Ihnen ein Gesamtgefühl davon ein, was in der nächsten Stunde passieren wird, oder ist es spezifischer?« »Es muß sehr spezifisch sein, sonst funktioniert es nicht. Ich kann zum Beispiel die Lottozahlen nur vorhersagen, wenn ich alle anderen Gedanken aus meinem Hirn verdränge.« »Das überrascht mich nicht …« Lee rammte wieder seine rutschende Brille die Nase hoch, dann faltete er die Hände und schaute Calum mit leuchtenden Augen an. »Genau darauf habe ich so gewartet. Ich habe hunderte von Experimenten mit Leuten durchgeführt, die telepathische Fähigkeiten besitzen, aber Sie sind der erste, der über einen zuverlässigen, reproduzierbaren Weg verfügt, das Potential telepathischer Gedankenströme tatsächlich auszuschöpfen.« »Glauben Sie, daß es so ist? Ich bin gar nicht sicher, wie das alles zustande kommt.« 225
»Nur noch Dummköpfe behaupten, daß es keine Telepathie gäbe, oder daß sie unwichtig sei. Alle Beweise deuten darauf hin, daß es stimmt. Institute in aller Welt führen Experimente durch, die den Skeptikern klarmachen sollen, daß es funktioniert. Sie fragen Menschen in abgedunkelten Räumen, wie per Zufall ausgesuchte Dinge aussehen. Wen interessiert es schon, was die Skeptiker glauben? Wenn wir auf die Skeptiker hören würden, dann hätten wir immer noch Lehmhütten. Die Forscher sollten ihre Zeit nicht damit verschwenden – sie sollten sich auf die Wissenschaft der Telepathie konzentrieren.« »Wie meinen Sie das, die ›Wissenschaft‹ der Telepathie?« »Natürlich die Physik. Telepathie liegt ein Übertragungsmechanismus zugrunde wie allen anderen ähnlichen Vorgängen auch. Vielleicht weiß man noch nicht, wie es funktioniert, aber im Grunde ist es dasselbe. Ein Funkspruch, ein Fernsehbild, ein Anruf … Das sind alles Übertragungen, und sie alle gehorchen physikalischen Gesetzen.« »Ich bin nicht sicher, ob ich...« »Wenn jemand hier in Arizona jemandem in – sagen wir mal, New York, eine telepathische Nachricht schickt, wie lange dauert es dann, bis der sie empfängt?« »Passiert das nicht sofort?« »Sofort? Das kann nicht sein. Alles dauert seine Zeit. Wenn Sie in einem dunklen Zimmer das Licht einschalten, vergeht Zeit, bis es Ihre Augen erreicht. Es ist eine sehr kurze Entfernung, und das Licht bewegt sich verdammt schnell, also sieht es so aus, als geschehe es sofort, aber dem ist nicht so. Es vergeht ein ganz einfach berechenbarer Augenblick. Und wie ist das nun bei Telepathie? Hängt an einem telepathischen Gedanken 226
irgendeine Masse, die ihn verlangsamt, oder ist es eher eine Art Strahlung, die sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreitet? Brauchen sie mehr mentale Energie, um ein Signal von hier nach New York zu schicken, als zu einem näheren Ort, vielleicht nach Utah oder Nevada? Wie weit können die Signale überhaupt übertragen werden? Wir wissen bereits, daß es kein Problem ist, telepathische Gedanken in den Weltraum zu schicken. Sowohl die NASA als auch die Russen haben erfolgreiche Experimente vom Boden zu den Crews im Shuttle oder den Raumstationen durchgeführt.« »Und was ist mit meinen Vorhersagen? Wissen Sie, wie die funktionieren?« »Nein, aber ich habe tatsächlich ein paar Vermutungen. Sie haben ja schon gesagt, daß es Ihnen gelingt, in einer Person die Rollen des Senders und des Empfängers der telepathischen Nachricht zu vereinen. Aber das erklärt noch nicht den Zeitsprung. Es kann nicht wirklich etwas mit dem Mond zu tun haben, das wäre absurd. Der hilft Ihnen bloß, sich zu konzentrieren. Wenn Sie einen Gedanken zum Mond schickten, und von dort käme er wieder zu Ihnen zurück – und nehmen wir mal an, er würde sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegen – dann würde das nur drei Sekunden dauern. Selbst wenn er schneller wäre als das Licht, könnte so niemals eine Zeitverschiebung von einer Stunde entstehen. Mit den Planeten wäre es nicht viel anders. Eine Reise zum Mars beispielsweise, und zwar hin und zurück, würde nur etwa sechs Minuten dauern, wenn er gerade der Erde am nächsten ist. Ich sehe da eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Die erste, die ich für nicht besonders wahrscheinlich halte, bestünde darin, daß Ihre Gedanken eine unglaubliche Entfernung zurücklegen – Tausende oder Millionen von Meilen –, und dann irgendwie zu 227
Ihnen zurückkehren. Wenn es weit genug und schnell genug wäre, dann könnte es so sein, aber das ist sehr weit hergeholt.« »Und die andere Möglichkeit?« »Die ist schwieriger zu erklären. Es geht dabei um Quantenmechanik und eine sehr bekannte Erfahrung das Déjà vu. Wie Sie wissen, haben ja die meisten von uns dann und wann Déjà vu-Erlebnisse. Aber es gibt Leute, die haben sie öfter. Sie haben besonders lebhafte Erfahrungen, die ein ganz klares Vorhersageelement beinhalten. Sie wissen, was irgend jemand sagen oder tun wird, bevor es geschieht. Ich habe Jahre damit verbracht, das zu untersuchen. Die Schlüsselfrage ist, wie kommt es dazu? Niemand ist sich sicher, aber ich habe da eine Theorie, und die hängt mit der Quantenmechanik zusammen.« »Ich sollte Sie warnen; in der Schule habe ich alle naturwissenschaftlichen Fächer abgewählt.« »Dann formuliere ich es mal ganz einfach. Es gibt ein Naturphänomen, das man ›verbundene Paare‹ nennt. Das tritt beispielsweise auf, wenn zwei identische Atome sich vom selben Ausgangspunkt in verschiedene Richtungen bewegen. Wie weit jedoch sie auch immer voneinander entfernt sind, sie bleiben einander verbunden wie siamesische Zwillinge. Wenn eines dieser Atome zu schwingen anfängt, gibt es eine Strahlung mit exakt der richtigen Frequenz ab, um seinen Zwilling in Schwingung zu versetzen, wo auch immer im Universum der sich befindet. Das Interessante daran ist, daß man eigentlich einen Zeitunterschied erwarten würde, bis die Strahlung, die sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegt, den Zwilling erreicht; Physiker im europäischen CERN-Institut haben aber schon in den Achtzigern bewiesen, daß der Effekt 228
augenblicklich eintritt. Die Lichtgeschwindigkeit wird überschritten, die normalen Regeln greifen nicht.« »Sie haben gesagt, daß alles seine Zeit braucht.« »In diesem Fall stimmt das so aber nicht, und darauf basiert meine Theorie. Natürlich kann ich das nicht beweisen, aber ich bin überzeugt davon, daß etwas ähnliches mit dem menschlichen Geist passiert. Es gibt eine Verbindung zwischen ihrem gegenwärtigen und zukünftigen Bewußtsein, die auf irgendeine Weise aktiviert wird und zumindest teilweise die Zeit überbrückt. Bei einem Déjà vu glauben die Leute, daß ihr Geist entweder Schwierigkeiten damit hat, Informationen abzulegen, oder daß sie eine alte Erfahrung zum zweiten Mal erleben. Ich dagegen meine, daß es ein kurzer Zeitsprung vorwärts ist. Unser Geist springt nach vorn – normalerweise nicht mehr als zehn Sekunden – und dann wieder zurück, er behält aber im Kopf, was gleich geschehen wird, und wenn es dann tatsächlich passiert, kommt es uns irgendwie bekannt vor. Ich glaube, daß es sich hierbei um telepathische Gedankenströme handelt, die sich vor und zurück bewegen, statt von einem Mensch zum anderen. Das Problem dabei ist nur: es scheint nutzlos. Es passiert unregelmäßig und unfreiwillig, und der Zeitsprung ist auch viel zu kurz, um hilfreich zu sein. Deswegen ist Ihr Fall so faszinierend. Ihr intensives Training und die große geistige Energie, die Sie freisetzen, wenn Sie versuchen, Ihre Gedanken über eine so große Entfernung zu projizieren, machen es Ihnen möglich, diesen Vorwärtssprung sozusagen willentlich auszulösen, und über eine viel größere Zeitspanne. Das ist eine einzigartige Kombination aus Telepathie und dem sechsten Sinn. Eigentlich kann man es nur einen siebenten Sinn nennen. Sie müssen mit dieser außerordentlichen
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Gabe geboren worden sein, sonst wäre Ihnen das nicht möglich.« »Keine Ahnung, woher ich das habe.« »Das wissen auch die Löffelbieger nicht. Aber auf jeden Fall funktioniert es. Wir werden zusammen versuchen, es besser zu verstehen und herauszufinden, wie weit wir gehen können. Mit etwas Glück müßte es Ihnen möglich sein, uns zu helfen, es auch an andere weiterzugeben, so daß sich ein größeres Einsatzkommando bilden ließe. Ich wollte Sie noch etwas fragen. Wenn Sie immer den Nachthimmel sehen müssen, um eine Vorhersage stellen zu können, wie haben Sie dann das mit dem Pferderennen im Fernsehen hinbekommen? Das war sehr beeindruckend.« »O... da muß ich Ihnen etwas erzählen ...« »Okay, Rita, habe ich es vermasselt?« »Oh, das würde ich nun überhaupt nicht sagen, Calum. Ein paar kleine Knitterfalten hier und da, das ist alles. Ich erzähle Ihnen mal, wie die Analyse ausgegangen ist. Sie sind intelligent und können sich artikulieren, aber Sie haben nur ein sehr geringes Selbstbewußtsein; das ist die Wurzel Ihrer Probleme. Darauf fußt ihr mangelnder Erfolg als Künstler und als Broker, und höchstwahrscheinlich ist das auch der Grund für Ihre Schwierigkeiten mit Frauen. Irgend etwas in Ihnen weigert sich, daran zu glauben, daß etwas klappen kann. Bei der Arbeit geben Sie deshalb zu schnell auf, und in Beziehungen bringt es Sie zur Verzweiflung, so daß Sie einen unerträglichen Druck sowohl auf sich als auch auf Ihren Partner ausüben. Klingelt’s da bei Ihnen?« »Kann schon sein.« 230
»Irgend etwas in Ihrer Kindheit hat Ihnen dieses Muster eingeprägt, das sehr destruktiv ist, genauso wie mißbrauchte Kinder eben ihre eigenen Kinder mißbrauchen. Sie trauen niemandem und halten sich selbst nicht für vertrauenswürdig. Sie finden es okay, Leute sitzenzulassen, weil sie sich selbst sitzengelassen fühlen.« »Aber nicht bewußt.« »Natürlich nicht. Doch um jetzt mal zur Hauptsache zu kommen – ich glaube, daß es möglich ist, aus diesem negativen Kreislauf auszubrechen, und die Vorgehensweise dabei ist sehr eindeutig.« »Ist sie das?« »Wenn Sie bei einer Sache einen großen Erfolg verbuchen könnten, bei einer wirklich richtig wichtigen Sache, dann würde Ihnen das genug Schwung verleihen, anzufangen, an sich selbst zu glauben. Sie müssen mit Leuten arbeiten, bei denen Sie fest überzeugt sind, daß die Sie nicht sitzenlassen. Und im Gegenzug müssen Sie bereit sein, diesen Leuten alles zu geben und dürfen nie daran denken, sie sitzenzulassen. Wenn Sie dann einmal erfahren haben, wie weit Vertrauen und Respekt Sie bringen, dann werden Sie Berge versetzen können. Die Dividenden für Ihre Zukunft, sowohl im Arbeitsleben als auch privat, sollten unermeßlich sein.« »Ich schätze, es geht wirklich um Selbstvertrauen, im Grunde genommen.« »Das steht außer Frage. Bitte entschuldigen Sie, wenn ich es so formuliere, Calum, aber nicht nur wir haben sicherlich Glück gehabt, Sie kennenzulernen, vielleicht gilt das auch umgekehrt. Ich wage zu bezweifeln, daß irgend jemand Ihnen eine bessere Chance hätte maßschneidern können, einen Durchbruch zu erreichen,
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als die, die Ihnen hier im Monument direkt in den Schoß gefallen ist.« Es war beinahe Mitternacht. Tian Yi streckte sich, erhob sich aus ihrem Sessel und ging hinüber zum Fenster. Aus ihrem Büro im sechsten Stock in der Chang ’an Avenue konnte sie über den Tiananmen Square hinwegschauen. Tian war eine der glücklichen Frauen, die im mittleren Alter attraktiver wirkten als in ihrer Jugend. In ihren Zwanzigern war sie eher hübsch als schön gewesen, jetzt aber schauten viele Männer ihren feinen Gesichtszügen und ihrer kühlen Eleganz hinterher. Aber das bedeutete ihr nur wenig. Sie war nur mit ihrem Job verheiratet. Sie hatte eine Tochter im Teenageralter, doch ihr Mann hatte sich schon vor Jahren scheiden lassen, weil er mit ihren Arbeitszeiten oder ihrem Erfolg nicht klargekommen war. Mit achtundvierzig war sie nicht nur die jüngste Ministerin der chinesischen Regierung, sondern auch eine der angesehensten. Sie stand am Fenster und dachte darüber nach, wie ihre Zukunft aussehen würde. Daß sie es geschafft hatte, China in die WTO einzuschleusen, hatte sie dem Parteisekretär Liao nähergebracht. Als führender Modernisierer im allmächtigen ständigen Ausschuß des Politbüros war er wirklich überzeugt von den Vorteilen des freien Handels und der WTO-Mitgliedschaft. Nachdem sich gezeigt hatte, daß der Antrag der Chinesen vielleicht abgelehnt würde, weil die Armee so wertvolle Monopole wie Sunrise besaß, war es Liao, der erfolgreich eine Lobby zusammengetrommelt hatte, um Peking dazu zu bewegen, die Armee zum Einlenken zu drängen. Liaos aggressives Vorgehen wurde vereinfacht durch den erbärmlichen Zustand des dahinsiechenden Präsidenten Zhang, der sich in seine Privatgemächer zurückgezogen, aber seine Unterstützung erklärt hatte. 232
Ohne diese entschiedene Aussage wäre der ständige Ausschuß wie immer gefangen gewesen zwischen Liao und den beiden anderen Modernisierern sowie Premier Chen und dessen Gefolgs-Hardlinern. Chen und seine Alliierten sahen die Welt deutlich anders als Liao. Sie waren durchaus nicht von den Vorteilen der WTO-Mitgliedschaft überzeugt, vor allem nicht, wenn sie dafür irgendwelche Zugeständnisse machen mußten. Die Differenzen zwischen Chen und Liao dauerten schon beinahe ewig an. Chen teilte Liaos Bedauern über Tiananmen nicht. Er fand, der Vorfall hätte den Doppelnutzen gehabt, das Volk in seine Schranken zu weisen und den Westen davon zu überzeugen, daß es vergebens war, den Chinesen reinreden zu wollen. Außerdem betonte er, daß die Ausländer zwar eine Weile die Menschenrechte proklamiert hatten, aber nach einer kurzen, gerade noch angemessenen Trauerperiode waren sie ohne ihre schwarzen Anzüge und wieder schick gekleidet dem chinesischen Mammon hinterhergelaufen. Chen schloß daraus, daß man nichts Wichtiges freiwillig hergeben sollte. Wenn die Ausländer unrealistische Erwartungen an ihre Investitionen in China stellten, sollte das den Chinesen keine großen Sorgen bereiten. Hatten die Briten etwa immer ehrlich gehandelt, als sie den Urahnen die unfairen Deals aufgezwungen hatten? Diesmal hatten sich die Hardliner nicht durchsetzen können. Doch der Kampf war noch nicht vorüber. Seit China in die WTO eingetreten war, arbeiteten Chen und seine Freunde immer trickreicher daran, die versprochene Liberalisierung des Marktes aufzuhalten, und sie hatten sogar einen Plan ausgetüftelt, der es der Armee ermöglichen sollte, Sunrise zu behalten. Tian Yi wußte, wenn das Ausland bemerkte, was hier los war, dann würde es Ärger geben. Und wenn es schlußendlich zum 233
Showdown zwischen Liao und Chen kam, dann würden viele Karrieren – auch ihre eigene – entweder erfolgreich enden oder zerstört sein. Während sie über das nächtliche Peking schaute, betete sie, daß sie mit Liao auf das richtige Pferd gesetzt hatte. »So, Calum, jetzt haben Sie ihren ersten Monat bei uns hinter sich. Was halten Sie von der Arbeit dieser Woche?« »Nun, ich habe das Gefühl, daß ich Fortschritte mache, Rita. Vielleicht ein bißchen langsamer, als ich möchte, aber ich glaube, ich werde es schaffen. Vor allem geht es darum, die nötige Ausdauer aufzubauen. Obwohl die Vorhersagen selbst genauso anstrengend sind wie bisher, brauche ich nicht mehr so lange, mich zu erholen.« »Ist denn Ihre Überzeugung, an diesem Projekt mitarbeiten zu wollen, wirklich so stark, wie Sie immer sagen?« »Natürlich. Warum fragen Sie?« »Ich wollte es bloß wissen. Nennen Sie es weibliche Intuition. Ich habe das Gefühl, daß Sie uns irgend etwas vorenthalten. Professor Lee denkt das übrigens auch. Wir wissen nicht genau, was. Vielleicht, wie Sie diese Fähigkeit überhaupt entwickelt haben. Waren Sie da ganz ehrlich mit uns?« »Natürlich war ich das.« Es fiel ihm schwer, nicht rot zu werden. Er konnte spüren, wie seine Haarwurzeln vor lauter Peinlichkeit zu prickeln begannen und wußte genau, daß sie sehen konnte, daß er log. Ihm blieb nichts anderes übrig, als es auszusitzen. »Denn, Calum, Sie dürfen nicht vergessen – wenn Sie aus irgendeinem Grund, aus welchem auch immer, nicht 234
ganz ehrlich sind, dann werden Sie am Ende derjenige sein, der darunter leidet. Sie werden nie aus diesem elenden Kreislauf ausbrechen können, wenn Sie nicht lernen, volles Vertrauen zu haben. Sonst werden Sie nur den neuesten Ihrer zahllosen Mißerfolge erleben, verstehen Sie das? Ich bin anders als die anderen Mitglieder des Teams; die interessiert vor allem das Projekt. Ich sehe hier eher die menschlichen Aspekte. Ich möchte, daß Sie das Monument als stärkerer, zufriedenerer Mensch verlassen, und nicht als jemand, der bis zum Ende seiner Tage ein Versager bleibt. Calum, für mich geht es um Sie.« »Danke, Rita.« »Finden Sie, daß das restliche Team Sie ausreichend unterstützt? Wir wissen alle, wie anstrengend das alles für Sie sein muß.« »Die sind prima. Jason hilft mir sehr mit seinen morgendlichen Ansprachen. Ich mag vor allem, wie positiv und energiegeladen er an die Sache herangeht, selbst wenn es nicht so toll läuft. Und der Prof ist auch in Ordnung, und die wöchentlichen Sessions bei Ihnen helfen natürlich auch sehr.« Er log. Sie war das einzige Mitglied des Teams, mit dem er nicht warm wurde. So gut gemeint ihre Lektionen auch waren, manchmal vermittelte sie ihm das Gefühl, genau so ein Versager wie immer zu sein. Er fühlte sich von ihr stets unter Druck gesetzt, natürlich durfte er sich diese Chance nicht entgehen lassen. Das wußte er. Aber mußte sie ihn unbedingt so oft daran erinnern? »Sie haben May gar nicht erwähnt. Wie finden Sie sie?« »May ist okay.« Er wurde rot und wollte eigentlich nicht weiter darüber sprechen. Zwar war er immer noch von Marianna 235
besessen, aber wenn er tagträumte, dann schoß ihm manchmal auch der Gedanke an May durch den Kopf. Und das wollte er ganz bestimmt nicht mit Rita Osborne besprechen. Er wand sich jedesmal, wenn sie mit ihm über seine vergangenen Beziehungen reden wollte, und er hatte beschlossen, ihr so wenig wie nur möglich davon zu erzählen. »Finden Sie sie attraktiv?« »May sieht gut aus.« »Das meine ich nicht. Wie fühlen Sie sich ihr gegenüber? Macht es einen Unterschied für Sie, daß wir all das hier für ihre Leute tun, die Taiwanesen?« »Ich will einfach nur darüber nachdenken, wie ich hier meine Arbeit erledigen kann.« »Es ist völlig in Ordnung, wenn Sie sie attraktiv finden, verstehen Sie? Solange Sie es nicht zu schlimm treiben. Ich glaube nicht, daß das Colonel Montgomery passen würde.« Was sollte das denn nun schon wieder heißen? War es bloß unprofessionell, oder war Jason selber auf sie scharf? Er hätte die Frage beinahe gestellt. Besser das Thema wechseln. Wieso interessierte das Rita eigentlich so sehr? Und warum preßte sie jetzt die Lippen so aufeinander? »Und Marianna? Denken Sie immer noch so oft an Sie?« Jetzt ging das schon wieder los. Er konnte die Antwort nicht verweigern. Aber er konnte kurz bleiben. »Ich versuche, so wenig an sie zu denken, wie ich kann. Mir ist klar – wenn ich mein Selbstbewußtsein nicht aufbauen kann, indem ich irgend etwas erreiche, dann wird sie mich nicht einmal anschauen.« Kurz, aber ehrlich.
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»Okay, Calum, ich denke, dann reden wir nächste Woche weiter. Ich lasse Sie jetzt besser gehen, damit Sie mit den taiwanesischen Piloten arbeiten können.« Calum war so froh, Rita zu entkommen, daß ihn die Arbeit mit den Piloten viel weniger störte als sonst. Es war der ödeste Teil der inzwischen ziemlich eingefahrenen Routine, vor allem deshalb, weil sie praktisch keine Fortschritte machten. Danach erteilte May ihm eine kurze Lektion in taiwanesischer Geschichte und beschrieb ihm die Topographie der Insel. Dann Mittagessen, am Nachmittag eine Pause, und dann arbeitete er mit Lee weiter. Jeden Tag mentale Übungen und Meditationen, und die Vorhersagen versuchte er des nachts, wenn ihm danach war. Es war ein ermüdender, monotoner Plan, der manchmal dazu führte, daß er sich wie ein Zirkusaffe vorkam – oder wie ein Freak, wie der Brite ihn ja auch genannt hatte. Nur die Drinks mit May und die Massage hinterher lösten die Spannung ein wenig. »Ich nehme ein Bud, du dasselbe, Calum …? Wie war’s heute?« »Alles wie immer. Hast du Lust auf Billard, May? Was hältst du davon, wenn wir Dino und Harry zur Revanche fordern?« »Nachher vielleicht. Soll ich irgendwas in der Juke Box für dich aussuchen?« »Mir egal, bloß nicht Country … O nein, nicht das, ich hasse Elvis.« »Zu spät. Du kannst dir das nächste Lied aussuchen.« »Kann ich dir mal eine persönliche Frage stellen, May?« »Kommt drauf an.« »Wie oft warst du schon verliebt?« 237
»Noch nie.« »Komm schon.« »Es stimmt. Ich hatte Liebhaber, aber ich war nie verliebt.« »Wieso?« »Weiß nicht. Vielleicht schätze ich zu sehr meinen Freiraum.« »Gibt es im Augenblick in deinem Leben einen Mann?« »Wie kommst du darauf?« »Ich bin bloß neugierig. Gibt es einen?« »Woher soll ich denn die Zeit für einen Freund nehmen?« »Vielleicht jemand im Monument? Jason zum Beispiel.« »Jason? Wie kommst du denn darauf? Nein, Calum, da gibt’s niemand. Aber da wir gerade von Jason sprechen, ich habe gehört, daß er mit dir über das Timing geredet hat.« »Yup. Das Pentagon glaubt, im August bestünde die größte Gefahr. Wenn die Chinesen in Genf eins auf die Nase bekommen, dann könnten sie losschlagen.« »Bist du denn bis dahin bereit? Ich meine, kannst du deine Zeitspanne auf zwei bis drei Stunden steigern, wie sie es wollen? Für mich klingt das, als wäre es zu früh.« »Ich hoffe eben auf einen plötzlichen Durchbruch, wie es in London auch passiert ist. Wenn ich einfach mit aller Kraft weitermache, dann schaffe ich es vielleicht.« »Du darfst dich nicht diesem Druck aussetzen.« »Ich komm’ damit schon klar. Zumindest hoffe ich das.« »Ich weiß, daß ich es dir schon oft gesagt habe, aber ich möchte dir wirklich noch mal klarmachen, wie toll ich es 238
finde, was du hier für mein Volk tust. Ehrlich, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.« »Mir würde da schon was einfallen.« »Darauf möchte ich wetten, du … Oktopus. Wenn du das noch einmal probierst, massiere ich dich nie wieder.« »Wo wir gerade von Massagen sprechen – vergessen wir doch das Billardspielen und gehen wir auf mein Zimmer.« So toll die Massage auch war, sie machte ihn nicht so dösig wie sonst. Als May fertig war, konnte er sie lange genug festhalten, um ihr einen schnellen Kuß auf die Wange zu hauchen, dann entwand sie sich ihm. Hätte er versucht, sie festzuhalten, wenn die Kamera nicht dagewesen wäre? Ihm war wirklich nicht klar, ob sie wollte oder nicht. Wenn sie allein miteinander waren, lächelte sie ihn so unglaublich an, und ihr ansteckendes Lachen schien darauf hinzudeuten, daß sie sich bei ihm wirklich wohl fühlte. Ihre Hände auf seinem Rücken, seinen Schenkeln, seiner Stirn waren so zart, daß es ihm schwerfiel zu glauben, daß sie gar nichts für ihn empfand. Oh, wie sehr er sich danach sehnte, daß diese Hände ihn nur ein wenig mehr erforschten! Wenn sie seine Schenkel knetete, dann rutschte er eine Winzigkeit herunter, um es ihr leichter zu machen. Aber ihre Hände rutschten einfach auch ein wenig herunter, und wie immer verschaffte sie ihm nicht die gewünschte wahrhafte Erleichterung. Er versuchte, sich an einem neuem Taschenbuch müde zu lesen, aber die ersten paar Seiten packten ihn nicht, also warf er es oben auf den Stapel, der zurück in die Bibliothek sollte. Die Sicherheitsmaßnahmen auf der Basis waren so lächerlich, daß sie ihn nicht mal in die Bibliothek ließen. Er mußte Bücher aus einer Liste raussuchen, wie beim Zimmerservice. Aber der Service 239
war immerhin beachtlich. Er mußte nur etwas bestellen, dann brachte es ihm einer der kurzgeschorenen Privates, so schnell es ging. Calum hatte das Gefühl, daß er der einzige auf der ganzen Basis war, der überhaupt irgendwas las. Kein Buch, das er bestellte, war je ausgeliehen, und alle Bücher sahen ungelesen aus. Verdammte Banausen. Die Filme waren alle uralt. MTV hatte er satt, CNN langweilte ihn zu Tode. Er schaltete den Fernseher aus, das Licht ebenfalls, dann ging er zum Fenster. Sein Zimmer lag in der Nähe des Randes der Basis, und er schaute oft auf die Berge hinaus, von denen Dino gesagt hatte, sie würden Navajos genannt. Über deren Umrissen blinkten die Sterne hell in der klaren Wüstennachtluft. Er wünschte, er könnte mehr davon sehen, vielleicht sogar des Nachts einmal durch die Wüste fahren. Den Nachthimmel konnte er nur von der Aussichtsplattform aus betrachten, inmitten der Teleskope und dem anderen Elektrokram. Es war toll, im Zentrum des Interesses zu stehen, jemand zu sein, aber langsam litt er ein wenig unter Klaustrophobie. Nun, das würde vorbeigehen. Teufel, er wollte diese Erfahrung für nichts in der Welt hergeben. Vielleicht konnte er damit sogar in Morags Ansehen steigen. Er hatte ihr Geheimnis immer bewahrt, trotz des Drucks, den sie auf ihn ausübten. Wenn Morag wüßte, was er hier im Monument tat, dann wäre sie vielleicht nicht gerade stolz auf ihn, aber sie würde auf ihre ganz eigene Art schniefen und dann knurrig zugeben, daß möglicherweise doch noch etwas aus ihm werden könnte. Leider konnte er nicht einschlafen. Er machte das Licht wieder an, holte ein paar Zettel und Bleistifte aus der Nachttischschublade und verfaßte eine Liste all der wilden 240
Urlaube, die er machen würde, wenn er irgendwann seinen Kram auf die Reihe bekäme und hier weg konnte. Quer durch die Sahara; den Amazonas erkunden; den Kilimandscharo besteigen. Bald hatte er keine Ideen mehr und begann zu zeichnen. Eine Karikatur von Professor Lee, der eine Brille trug, die dreimal so groß war wie sein Kopf. Rita mit Fängen, Hörnern und einem Schwanz. Die Freiheitsstatue mit Jasons Gesicht. Dann May beim Karate, von dem sie ihm erzählt hatte. Er hatte noch nie zuvor ein exotisches Gesicht gezeichnet; er hatte noch nie eine Exotin attraktiv gefunden, wo er so darüber nachdachte. Bei den wenigen Kurzbeziehungen vor Marianna hatte er stets Blondinen bevorzugt. Fand er May nur toll, weil er hier eingesperrt war? Würde sie ihm neben einem Haufen blonder kalifornischer Strandschönheiten unattraktiv erscheinen? Er versuchte noch einmal, ihre Augen und diese erstaunlich hohen Wangenknochen hinzubekommen. Aber es klappte nicht. Erschöpft schloß er die Augen und stellte sich statt dessen ihren biegsamen, schlanken Körper vor. Ohhhh … Besser, er dachte an etwas anderes. Sonst würde er nie einschlafen.
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16 Bob Tyne war ein Großmeister darin, den Druck aufrechtzuerhalten. Den WTO-Ausschuß so schnell zusammenzutrommeln war ein Schritt in die richtige Richtung, aber auch nicht mehr als das. Wenn das Urteil nicht entsprechend ausfiel und dann auch durchgesetzt wurde, dann wären seine Geschäfte in China noch immer unwiderruflich gefährdet. Er hatte dort fast eine Milliarde investiert, und er wollte das Geld keinesfalls einfach abschreiben. Er wollte sich auch nicht eine der größten geschäftlichen Chancen entgehen lassen, die er je gesehen hatte. Es ging nicht nur darum, den Druck auf Lynne O’Neill aufrechtzuerhalten, sondern ihn zu verstärken. Er hatte es so weit getrieben, wie es im direkten Austausch mit ihr ging, und jetzt war die Zeit reif, die Vorsitzenden der wichtigsten US-Internet-, Entertainment- und SoftwareFirmen ins Rennen zu schicken. Tyne konnte ein Grinsen kaum unterdrücken. Natürlich merkte er, daß Lynne das haßte. Was hieß, daß er es genau richtig angefangen hatte. »Bob, ich glaube, das waren jetzt genug Beispiele ...« »Tut mir leid, Lynne, aber diese Herren sind extra nach Washington geflogen, um Sie zu treffen. Sie haben noch nicht gehört, was die Chinesen unserer Film- und Musikindustrie antun. Darren, könnten sie bitte der Handelsbeauftragten eine kurze Zusammenfassung geben?« »Aber natürlich. Kurz gesagt, wir werden einfach komplett beschissen. Unsere CDs und die Filme auf DVD 242
werden in großen Mengen kopiert. Wir schätzen, daß etwa fünfundachtzig Prozent aller Verkäufe in China auf Raubkopien basieren.« »Gentlemen, wir haben der chinesischen Regierung gegenüber so deutlich wie nur möglich diese Problematik dargelegt, und wir haben sie um zügige und effektive Umsetzung ihrer eigenen Gesetze gebeten.« »Bei allem Respekt, Ihre Gespräche haben bislang zu nichts geführt. Die Chinesen betreiben das als eine Art Kunst. Sie verzögern die Untersuchungen der Firmen, indem sie behaupten, sie müßten noch mehr Beweise sammeln. Damit verschaffen Sie sich ein paar Monate. Wenn sie dann schließlich doch bereit sind, etwas zu unternehmen, gibt jemand der Firma einen Tip, so daß sie schnell alles verkaufen und den Laden schließen kann. Durchsucht man dann alles, gibt es nichts mehr, was man beschlagnahmen könnte, und kein Geld, um die Strafen zu zahlen. Sie engagieren Strohmänner als Firmendirektoren, wenn also tatsächlich jemand verurteilt wird, dann hat er mit der Firma nichts zu tun. Und natürlich haben die Verbrecher selbst inzwischen eine neue Firma gegründet und die nötigen Maschinen gekauft; damit geht alles wieder von vorne los.« »Können Sie nicht mit irgendeinem elektronischen Trick das Kopieren unmöglich machen?« »Die Antwort ist: Nein. Das sind kluge Leute. Unsere Kopierschutzmechanismen zu umgehen, ist ein Kinderspiel für sie.« »Verstehe, Bob. Ich habe nicht ewig Zeit, können wir uns jetzt auf das konzentrieren, was Ihre Gruppe wünscht?« »Aber natürlich, Lynne. Wir alle sind überzeugt davon, daß wir es hier mit einem Land zu tun haben, das den 243
international ratifizierten Verpflichtungen entweder nicht nachkommen kann oder nicht will. Wenn Sie dagegen nichts unternehmen, und zwar schnell, dann werden sämtliche US-Firmen, die aufgrund der Urheberrechtsvereinbarungen ihr Geld verdienen – und wahrscheinlich noch alle möglichen anderen Firmen – die größte Businesschance aller Zeiten verpassen. Und die Schuld daran trägt dann ganz unzweifelhaft unsere Regierung.« »Ich verstehe, Bob, aber wir haben schon alles getan, was möglich ist. Wir mußten Berge versetzen, um das WTO-Gremium so zügig zusammenzubekommen. Wenn die WTO im August ein erstes Urteil ausspricht, dann ist das ein absoluter Schnellschuß. Zustande gekommen in weniger als zehn Wochen.« »Das haben Sie gut hingekriegt, Lynne, und wir sind Ihnen alle dankbar dafür …« – Großer Gott, wie sie diesen hochnäsigen, dämlichen, schuppigen kleinen Arschkriecher haßte! – »… aber meiner Ansicht nach, und ich glaube, diese Ansicht teilen alle diese Gentlemen hier, ist die Zeit gekommen, nicht mehr nur das Mögliche zu tun. Die Chinesen halten sich schließlich auch nicht mit dem auf, was möglich ist.« »Was genau schlagen Sie also vor, Bob?« Sie verlor langsam die Geduld mit dieser gehässigen kleinen Schlange. »Wenn Sie effektive Sanktionen mittels der normalen WTO-Möglichkeiten initiieren können, wunderbar. Wenn die irgendwas unternehmen, daß die Chinesen sich am Riemen reißen, prima. Damit meine ich angemessene Umsetzung, angemessene Transparenz in der Verteilung von Verträgen und Franchise-Verträgen, und angemessene 244
Verkäufe in den bisher durch die Armee kontrollierten Geschäften. Wenn wir das hinkriegen, wunderbar. Aber wenn das Urteil des Gremiums gegen uns ausfällt, oder wenn die Chinesen sich nicht danach richten, dann glauben wir, daß die US-Regierung tatsächlich im Alleingang handeln sollte. Das ist das einzige, was die Chinesen verstehen werden.« O’Neill gab ihr bestes, gelassen zu bleiben. Sie versuchte, unbeschwert zu formulieren. »Bob, Sie wissen ungemein viel über Hightech, aber internationale Handelsbeziehungen sind nicht Ihre Stärke. Die USA sind Mitglied der WTO. Wir können nicht einfach tun, was wir wollen.« Jetzt war Tyne sauer. »Was werden Sie denn tun, Lynne? Lassen Sie denen das alles durchgehen? Sollen die chinesischen Militärs soviel Geld machen, daß sie sich das Pentagon kaufen können, ohne daß Ihre Regierung was dazuschießen muß? Wollen Sie das wirklich?« Jetzt war er zu weit gegangen. Und nicht nur das. Es war geradezu peinlich, daß er ausgerechnet genau den Punkt getroffen hatte, der sowohl der CIA als auch dem Pentagon Sorge bereitete. Sie konnte sich nicht überwinden, ihm zum Abschied die Hand zu geben, vor allem weil er ihr vorher noch einmal drohte, den Präsidenten anzurufen, wenn sie nicht ›ohne jede Verzögerung‹ mit ihm in Verbindung bliebe. Dieses kackige Arschgesicht! Calum hatte sehr lange Ritas immer direkteren Fragen und Professor Lees immer subtileren Versuchen, es aus ihm herauszuleiern, widerstanden. Erst als er seinen Tiefpunkt erreichte, gab er nach und betrog Morag. Hatten sie alles 245
so geplant? Wenn es besser gelaufen wäre, hätte er vielleicht die Kraft gehabt, ihnen allen Widerstand zu leisten, selbst Montgomery. Dummerweise aber lief es anders. Die Sessions mit den taiwanesischen Piloten waren ganz besonders enttäuschend gewesen. Man hatte sie alle wegen ihrer hohen psychokinetischen Sensibilität ausgewählt. Es war einfach für Calum, mittels eines Übersetzers die Theorie zu erklären, aber das in die Praxis umzusetzen, war etwas ganz anderes. Den Mond anzustarren hatte nichts geholfen, und der Lehrer, die Schüler und die Beobachter waren allesamt frustriert. In seinem Herzen war Calum traurig darüber, daß er für sich behielt, wie Morag und er miteinander trainiert hatten, daß er einen entscheidenden Teil der Methode für sich behielt und damit jede Chance auf Fortschritt blockierte. Aus der Sicht des Teams war es am schlimmsten, daß Calum selbst keine Fortschritte machte. Es hatte alles so vielversprechend angefangen. Lee hatte die einfachste aller Versuchsanordnungen gewählt, nach dem Zufallsprinzip gefärbte Lichter, die in bestimmten Zeitabständen aufleuchteten, und er hatte Calums Vorhersagespanne innerhalb von zwei Wochen auf zuverlässige eineinviertel Stunden festgelegt. Das machte alle sehr optimistisch. May war begeistert, und das zeigte sich in ihrer Körpersprache. Osborne strahlte, und Colonel Montgomery verpaßte ihm ein paar herzerwärmende Klapse auf den Rücken. Eines Nachts schaute er sogar mal selbst in der Bar vorbei, setzte sich zwischen Calum und May und erzählte ihm, wie stolz er darauf sei, mit einem ›echten Profi‹ zu arbeiten. Was Calum als einen der großartigsten Augenblicke in seinem Leben empfand. 246
Aber jetzt war alles anders. Seine Vorhersagespanne hatte sich nicht weiterentwickelt, und Lee konnte auch nichts dagegen tun, daß Calum auf den Nachthimmel und den Mond angewiesen war. Das barg natürlich das Problem, daß er tagsüber nicht eingesetzt werden konnte. Das Team war freundlich und gab sich unterstützend wie immer, aber das Lächeln schien in ihre Gesichter geklebt. Sie rieben sich erschöpft die Grimassen, und selbst Mays Stimmung änderte sich. Eines Abends in der Bar deutete sie an, daß er sich nicht genug bemühte. Das war verdammt gemein, wo sie doch sah, daß er sich geradezu fertigmachte. Sie bat ihn, es ihretwegen noch intensiver zu versuchen, ihres Volkes wegen, ihres Großvaters wegen. So müde er auch war, schwor er sich also, in der Nacht darauf noch mehr zu geben. Aber auch in der nächsten Nacht kam er trotz aller Bemühungen nicht weiter als zu den achtzig Minuten, die er schon Wochen zuvor erreicht hatte. Nachdem May ihn abgeholt hatte, um mit ihm in die Bar zu gehen, sah er die Frage in ihren Augen. Lee beantwortete sie für ihn mit einem müden Kopfschütteln. Bei einem Bier sagte sie zu ihm, daß Montgomery am nächsten Morgen mit ihm sprechen wollte. Calum lag die halbe Nacht wach, er fragte sich, was der Colonel sagen würde, und er fürchtete sich vor der Enttäuschung in den Augen dieses Mannes. »Nun gut, die Entwicklung geht ein bißchen langsamer vor sich, als wir gehofft hatten, das muß ich Ihnen ja nicht sagen, aber ich weiß, daß Sie Ihr Bestes geben. Am Ende kommt es wohl einfach darauf an, ob Ihr Bestes gut genug ist.« Calum hoffte verzweifelt, daß es das wäre.
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»Wir stecken da alle zusammen drin, Calum. Ich kriege mächtig Druck vom Pentagon. Obwohl ich denen sage, daß sie sich gedulden sollen und daß ich zuversichtlich bin, es schon noch hinzukriegen.« »Ich tue bereits, was ich kann, Colonel. Ich gebe mir alle Mühe. Es dauert halt nur ein wenig.« »Braver Junge … Calum, das Pentagon setzt mich noch wegen etwas anderem unter Druck. Ich frage mich, ob Sie mir da vielleicht weiterhelfen könnten? Das wäre wirklich nicht schlecht.« »Natürlich. Worum geht es?« »Wir müssen wöchentliche Berichte darüber schicken, wie wir vorankommen, und die lesen sie ziemlich gründlich. Auf einer Sache reiten sie immer wieder herum. Sie sagen, unsere Berichte wären zu vage, wenn es darum geht, wie Sie Ihre Fähigkeit erlernt haben. Wir haben ihnen gesagt, daß das oben in Schottland auf dieser Insel passiert ist … Wie hieß sie noch?« »Lewis.« »Genau. Lewis. Die Leute im Pentagon glauben, daß Sie die Idee mit dieser Mond-Geschichte von jemandem dort oben aufgeschnappt haben, und was auch immer wir ihnen sagen, wir werden sie in dieser Sache nicht los. Sie glauben, daß unser Team, oder vielleicht auch Sie, ihnen etwas verschweigt.« »Wieso ist denn das so wichtig?« »Sie haben zwei Gründe. Der erste ist, daß sie fürchten, wenn Sie uns in dieser Sache etwas verschweigen … Nun, ganz einfach, was verschweigen Sie uns dann sonst noch? Das verhindert das absolute Vertrauen. Der zweite Grund ist aber wichtiger. Wenn es dort noch eine andere Person oder andere Personen mit dieser Gabe gibt, müssen wir das wissen. Was wäre, wenn sie in die Hände von 248
Verbrechern oder unseren Feinden fallen? Denken Sie doch einmal daran, was Ihnen passiert ist. Vielleicht hat schon irgend jemand dieselben Schlüsse gezogen wie das Pentagon und verfolgt denjenigen, der es ihnen beigebracht hat. Wir müssen dafür sorgen, daß das nicht passiert.« »Wie können Sie das denn?« »Wir nennen es ›passiven Schutz‹. Die betroffene Person braucht davon nichts zu erfahren. Die Jungs von der CIA würden sie ganz diskret aus der Ferne überwachen. Wie Sie ja aus London selbst wissen, kriegen die eigentlich so ziemlich alles mit.« »Colonel, ich würde Ihnen ja wirklich gerne helfen. Aber für mich ist das sehr schwierig. Andererseits möchte ich Sie nicht im Stich lassen. Wissen Sie, es gibt da … jemanden, der mir geholfen hat, aber ich habe geschworen, daß ich niemals …« »Niemals was, Calum? Diese Person in Gefahr bringen? Sie wären ein schlechter Freund, wenn Sie bei dem, was Sie jetzt wissen, nicht täten, was Sie können.« »So habe ich das noch nie betrachtet.« »Also, wo stehen wir, Calum? Helfen Sie mir, sind Sie mein Freund, oder muß ich dem Pentagon melden, daß ich Sie nicht dazu bringen kann, zu kooperieren?« »Geben Sie mir Ihr Wort, daß sie – ich meine, diese Person – nicht kontaktiert wird, daß sie nie davon erfährt?« »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.« »Oh … Ich bin immer noch nicht sicher. Okay, es ist eine alte Verwandte von mir, Morag Buchanan. Sie ist über achtzig.« »Und wo in Lewis wohnt sie?« 249
»In einem kleinen Dorf, es heißt Sgurr nan Creag, im Westen der Insel.« »Ist es klein genug, daß man sie leicht finden kann?« »Sie wollen doch nicht …?« »Nein, natürlich nicht. Aber wir können sie nicht schützen, wenn wir nicht wissen, wo sie ist, verstehen Sie?« »Es ist klein genug. Das ist kein Problem.« Wenn ich sie finden konnte, dann wird das ja wohl kein Problem für die CIA sein, dachte Calum. »Und das war’s? Nur Morag Buchanan? Sonst niemand?« »Niemand sonst.« »Gut. Hören Sie, ich bin Ihnen wirklich dankbar, daß Sie mir diese Leute vom Hals schaffen. Und noch etwas. Morgen nacht ist Neumond. Wir wissen, daß Sie es am Tag nicht schaffen, aber Professor Lee denkt, daß der Mond sie vielleicht auch davon ablenkt, weiterzukommen. Vielleicht könnte es den entscheidenden Unterschied machen, wenn Sie Ihre Energie auf die Planeten oder die Sterne lenken. Wir finden, Sie sollten heute und morgen freimachen, um Ihre Batterie nachzuladen. Bleiben Sie heute lange in der Bar und entspannen Sie sich. Trinken Sie mehr als ein Bier, trinken Sie ein paar. Spielen Sie ein bißchen Billard oder Dart. Amüsieren Sie sich, und morgen packen Sie’s. Wie klingt das für Sie?« »Gut. Sehr gut.« Die beiden schrankgroßen Männer bezogen ihre Zimmer im Shobost. Die alte Frau, die ihnen ihren Tee brachte, war überhaupt nicht hilfsbereit, und die Telefonauskunft hatte keinen Eintrag, also mußten sie herumfragen. Das 250
würden sie morgen machen, aber es konnte nicht schaden, einmal zu klären, ob die Eingeborenen in der Bar wußten, wo die alte Schachtel wohnte. Aber sie mußten vorsichtig sein, das hatte man ihnen eingeschärft. Die Leute in der Bar waren vielleicht Freunde oder Nachbarn von ihr und konnten sie warnen, wenn sie mißtrauisch wurden. Von dem Augenblick an, in dem die beiden hereinkamen und sich etwas zu trinken bestellten, war Fraser mißtrauisch. Er murmelte etwas auf gälisch; Hector und Sandy nickten Zustimmung. Es war sehr merkwürdig, mitten in der Touristensaison zwei Männer in Anzügen zu sehen. Geschäftsleute kamen selten genug hier hoch, und wenn, dann immer allein, und normalerweise aus Glasgow. Die meisten kannten sie auch schon. Diese beiden standen schweigend an der Bar, tranken ihre Biere und schauten sich um. Was auch immer sie wollten, Fraser hatte das Gefühl, daß es nichts Gutes war. Sie rochen nicht nach Polizei oder nach wieselhaften Steuerfahndern. Arbeiteten sie vielleicht für die englischen Landbesitzer, denen große Teile der Insel gehörten? Aber dafür waren sie nicht unauffällig genug, weder der Kahle noch der mit der großen Nase und den langen Koteletten. Wer konnten sie sein? Hector äußerte die erste Vermutung. Der ganze Blödsinn in den Zeitungen über den jungen Amerikaner, und dann war er plötzlich verschwunden. Das war ein faules Ei gewesen, genau wie sie vermutet hatten. Hingen die hier vielleicht mit ihm zusammen? Privatdetektive, die versuchten, ihn aufzuspüren? oder Anwälte, die der alten Hexe eine Erbschaft brachten, weil der Kerl tot war? Oder Zeitungsleute? Das wäre ja toll, wenn sie die Alte interviewen würden, wenn sie von der einen ganz bestimmten Geschichte erführen. Nicht abzusehen, was die alte Hexe damit anrichten könnte. Hector und Fraser 251
hatten gerade zu Ende geredet, als die beiden Männer an ihren Tisch traten. Aus der Nähe spürte man direkt ihre physische Präsenz. »Hallo, dürfen wir uns zu Ihnen setzen? Wie war’s mit einem Bier?« »Uns geht’s bestens, danke.« In Sandys Stimme lag ein leises Zittern. Sie setzten sich trotzdem. »Wir suchen nach einer alten Dame, die hier wohnt. Sie heißt Morag Buchanan.« Fraser wurde im stillen Einverständnis zum Sprecher ernannt. »Eine nette Frau, eine sehr nette Frau.« »Das freut uns zu hören. Kennen Sie ihre Adresse?« »Eine traurige Sache, nicht wahr, Hector?« »Sehr traurig, Fraser.« »Was ist denn so traurig?« Sammy schaute verwirrt. Fraser guckte dem Mann direkt in seine merkwürdigen kleinen Augen. »Das Feuer, das schreckliche Feuer.« »Bei ihr gab’s ein Feuer? Hat sie sich verletzt?« »O ja, das hat sie. Sie ist verbrannt, und das in ihrem eigenen Bett. Unsere Feuerwehr hatte Probleme mit der Pumpe. Wir haben getan, was wir konnten, haben eine Menschenkette mit Wassereimern gebildet, aber die Flammen zwangen uns zurück. Es war eine schreckliche Nacht. Ich hoffe nur, Sie sind jetzt nicht vergebens gekommen. Sie sind doch nicht mit ihr verwandt, oder?« Dessie versuchte, betroffen zu klingen.
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»Nein, wir sind Bekannte, entfernte Bekannte. Gibt es ein Grab, zu dem wir gehen können, um … ihr unseren Respekt zu erweisen?« »Gibt es nicht. Morag Buchanan, Gott sei ihrer Seele gnädig, war keine Gläubige. Sie hat immer gesagt, daß sie mit der Kirche nichts zu tun haben will, weder lebend noch tot. Sie hat gesagt, wenn sie von uns ginge, solle ihre Asche über die Hänge des Ben Mhor verstreut werden. Als die Feuerwehr schließlich kam, war ihr Haus nur noch eine verkohlte Ruine. Es war schwer, die arme Morag von der restlichen Asche zu unterscheiden, also haben wir einfach alles zusammengekratzt und auf dem Berg ausgeschüttet. Wie sie es sich gewünscht hatte, ist Morag nun in alle Ewigkeit dort vereint mit der Asche ihrer Kleidung, ihrer Bücher und ihrer Möbel.« »Können wir vielleicht einen Blick auf ihr Haus werfen?« Sammys Blick bohrte sich in Fräsers Schädel. »Natürlich können Sie das. Es ist schon Monate her, und das Gras hat schon zu wuchern begonnen. Das Dach ist zusammengebrochen, verstehen Sie, und deswegen verfällt jetzt alles. Es sieht aus, als wäre es schon zwanzig Jahre eine Ruine. Sie können es kaum von den beiden daneben unterscheiden, und in denen hat wie lange keiner mehr gelebt, Hector, fünfundzwanzig Jahre?« »Ganz genau, fünfundzwanzig Jahre. Und jetzt sehen alle drei gleich aus. Das Klima hier ist hart, und ohne Schutz verrotten die Dinge sehr schnell. Aber wenn Sie es sich ansehen wollen … Morags Haus war das mittlere. Nehmen Sie einfach die erste Seitenstraße rechts ab von der Hauptstraße, dann gehen Sie dreihundert Meter, Sie können es gar nicht übersehen. Direkt hinter dem alten schwarzen Haus mit dem Blechdach.«
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»Wir schauen es uns an, da können Sie ganz sicher sein.« Dessie knackte mit seinen Fingerknöcheln und sprach Hector ganz direkt an. »Wissen Sie, Leute am Arsch der Welt wie ihr hier schicken Besucher aus London manchmal in die Irre. Das würde uns gar nicht gefallen, verstehen wir uns richtig?« Sandy zuckte zusammen und verriet sie beinahe. Hector nahm sich der Sache an. »Ich sage Ihnen jetzt mal, was mir gar nicht paßt – wenn jemand in meine Heimat kommt und andeutet, ich wäre ein Lügner.« »So haben wir das nicht gemeint.« »Das höre ich gern.« Trotz ihrer Brutalität beeindruckte sie irgend etwas an Hectors Auftreten. Sie zogen sich an die Bar zurück, tranken ihre Biere aus und gingen hoch auf ihre Zimmer. Am nächsten Morgen untersuchten sie die grasbewachsene Ruine. Als sie dann noch an ein paar Türen klopften und im Laden fragten, erinnerten sich alle mit ungewöhnlicher Klarheit an das schreckliche Feuer. Calum genoß den Tag. Die Vorstellung, daß diese CIATypen Morag wie Schutzengel im Auge behielten, ohne daß sie je erfahren würde, daß er dahintersteckte, beruhigte und amüsierte ihn. Jason hatte ihn aufgemuntert, er glaubte jetzt wieder an sich selbst, genau in dem Augenblick, wo ihn die Angst überfallen hatte, daß er auch diesmal versagen könnte. Er würde die Zweistundengrenze durchbrechen, und er würde es ohne den Mond schaffen. Es war nur eine Frage der Willenskraft. Entspann dich. Er mußte in Hochform sein. 254
Es war eine Schande, daß er nicht Spazierengehen oder überhaupt irgendwas alleine machen konnte. Er mußte noch ein paar Stunden vertrödeln, also versuchte er noch einmal, May zu zeichnen. Diesmal gelang es ihm sehr gut. Das Portrait entsprach ihr tatsächlich. Er würde es später mit in die Bar nehmen und ihr zeigen. Mal abgesehen von dem Abend, an dem Montgomery auf ein Bier vorbeigeschaut hatte, war es sein nettester Abend in der Bar. Die ganzen Taiwanesen waren da, sie spielten Dart, hatten Spaß und krakeelten herum. Vier der Amerikaner luden ihn zum Billard ein. Calum war glücklich und zufrieden; May saß auf dem Hocker neben ihm, und ihre Augen strahlten fröhlicher denn je. Als sie einmal auf die Toilette ging, legte er sein Bild auf den Bartresen, um sie zu überraschen, wenn sie zurückkam. Sie fand es toll und bat ihn, es behalten zu dürfen. Calum aber bestand darauf, es selbst zu behalten; er sagte, er brauche es nötiger als sie. Sie gab nach und schien sich sogar zu freuen, daß er es haben wollte. Sie tranken noch ein Bier, dann noch eins, und dann sangen sie mit den anderen Jungs die blöden Juke-Box-Lieder. Es überraschte ihn, wie viele Textzeilen er kannte. Als ein langsames Stück kam, zog er May von ihrem Hocker und legte einen Engtanz mit ihr hin. Ihre Körper paßten zueinander, als wären sie füreinander gemacht. Nachdem der Song ausgeklungen war, flüsterte er ihr etwas ins Ohr, rief den anderen Jungs gute Nacht zu, stieß die Tür auf, hielt ihre Hand in seiner und lief mit ihr die Treppe hinunter und den Weg entlang. Sie kam kaum mit und stolperte beinahe, lachte aber die ganze Zeit. Vielleicht würde es wieder mit einer Massage enden, aber heute könnte es auch anders laufen. Plötzlich blieb Calum stehen. 255
»SCHEISSE!« »Was ist?« »Das Bild, ich hab’ das verdammte Bild liegenlassen. Ich hol’ es schnell.« »Laß doch, Calum, die heben es schon für uns auf. Ich ruf von deinem Zimmer aus an.« »Auf keinen Fall. Ich will es heute haben. Bleib hier.« »Ich gehe mit.« »Ich bin schneller.« Bevor sie wußte, wie ihr geschah, war er zehn, zwanzig Meter vor ihr. Sie rannte, konnte ihn aber nicht einholen. »Calum, Calum. CALUM, WARTE!« Er kümmerte sich nicht um Sie, rannte die Treppe hinauf und rief ihr triumphierend zu: »Ha, ich hab’ gewonnen!« Dann riß er die Tür auf. Und erstarrte. Was zum … Teufel … war hier los? Wie merkwürdig. Die Musik plärrte immer noch aus der Juke Box, aber alles andere hatte aufgehört. Kein Darts, kein Billard. Niemand saß mehr auf den Barhockern, keiner sang, keiner trank. Sie machten sauber. Nicht nur Tom, der Barkeeper. Alle zusammen. Calum erschauerte. May kam hinter ihm die Treppe hoch und stieß ihn um, als sie durch die Tür fegte. Zwei der Jungs kamen rüber und halfen ihm auf. Die Taiwanesen fingen wieder an, Dartpfeile zu werfen. Ein Corporal griff nach einem Billard-Queue. Jemand orderte ein Bier. Dino sprach als erster. »Hey, Calum, alles in Ordnung? Das war ja ein ziemlich böser Sturz. Wie schön, daß du zurückgekommen bist. War nicht mehr viel los, ohne den Star der Show und seine Freundin …« 256
Er grinste May an. Sie lächelte scheu und klopfte Calums Rücken ab. »Yes sir, wir wollten uns gerade zu MTV oder einem Playboy zurückziehen, aber jetzt, wo Sie wieder da sind …« »Ich bleibe nicht, Dino, ich hab’ nur was vergessen, ein Blatt Papier, da drüben auf der Bar.« »Tom, hast du ein Blatt Papier gesehen, das Calum liegengelassen hat …? Prima. Und wollen wir jetzt nicht noch einen Absacker trinken? Was meinen Sie, Miß Chang?« »Ich nehme einen, wenn Calum auch Lust hat.« »Nein, danke, für mich nicht. Ich hab’ morgen einen großen Tag vor mir, ich geh’ jetzt lieber schlafen.« »Na gut, passen Sie auf sich auf. Gute Nacht.« »Gute Nacht.« May schob ihre Hand in die Calums. Sie gingen langsam, ohne miteinander zu sprechen. »Du bist so still. Ist irgendwas, Cowboy?« »Nein … nichts. Ich bin bloß ein bißchen müde, das ist alles.« »Du bist hingefallen. Es tut mir so leid, daß ich gegen dich gerannt bin. Es muß weh tun. Ich werde mich gleich um dich kümmern.« »Das wäre schön, May. Aber mach schnell. Ich bin wirklich kaputt.« Zum erstenmal schienen ihre Hände aufwärts zu wandern, aber Calum gähnte laut und bedankte sich bei ihr. Sie war sogar bereit für einen Gutenachtkuß und bekam auch einen, aber auf die Stirn. Zögernd sagte sie gute 257
Nacht und verließ sein Zimmer. Calum schaltete das Licht aus, ließ die Vorhänge offen und lag voll angezogen im sanften Glimmen der Außenbeleuchtung auf seinem Bett; er dachte nach. Er dachte und dachte, bis nach drei. Um halb vier wachte er plötzlich auf, naß geschwitzt. Sein Alptraum von Morags anklagendem Gesicht war noch erschreckend frisch in seinem Gedächtnis.
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17 An seinem großen Tag erwachte er nervös. Wie immer begann der Tag mit dem Colonel. »Guten Morgen, Calum. Ausgeschlafen?« »Aber klar, Colonel. Heute abend packe ich’s, keine Frage.« »Freut mich, das zu hören. Kann ich noch etwas für Sie tun?« »Ja, allerdings. Letzte Nacht habe ich noch mal ausführlich darüber nachgedacht, warum es in der letzten Zeit nicht so gut gelaufen ist.« »Und?« »Als ich mit diesem … Zeug in Lewis begonnen habe, bin ich immer aus dem Dorf rausgegangen, manchmal sogar die Berghänge hinauf; das hat mir geholfen, mich zu konzentrieren und störende Gedanken aus meinem Geist zu verdrängen. Später war es dann so, daß ich auch näher an Menschen und Gebäuden dran sein konnte, solange nur der Mond in meinem Gesichtsfeld war. Jedenfalls habe ich mir gedacht, wenn ich auf einen neuen Level kommen will, sollte ich vielleicht wieder dasselbe machen. Obwohl der Himmel über dem Observatorium des Professors kristallklar ist, sind da die Leute, die Sachen, die ganze Basis … Ich glaube, das stört meine Konzentration.« »Was schlagen Sie vor, Calum?« »Heute ist Neumond, und ich bin ganz sicher, daß ich es schaffen kann. Zwei Stunden, vielleicht sogar mehr. Aber ich glaube nicht, daß ich es hier schaffe. Nicht das erste Mal. Deswegen dachte ich, vielleicht könnte ich in die Navajo-Berge gehen und die Nacht über dort bleiben …« 259
»Calum, wir können Sie nicht einfach allein lassen. Sie könnten sich verlaufen, alles mögliche könnte passieren. In den Bergen gibt es jede Menge Schlangen. Es ist zu gefährlich. Und wer würde das Experiment überwachen?« »Oh, ich wollte auch gar nicht allein gehen. Der Professor könnte mitkommen. Ich bin sicher, seine Ausrüstung ließe sich an die Batterie eines Jeeps anschließen.« »Der Professor wäre nicht sicherer als Sie. Wir können es uns nicht leisten, einen von ihnen zu verlieren. Ich müßte eine ganze Garnison mitschicken, um Sie zu beschützen … Die Antwort muß nein sein. Es ist zu riskant. Es bleibt uns nichts übrig, als hier im Monument zu tun, was möglich ist.« »Colonel, ich werde mein Bestes geben, wo auch immer, aber ich muß Ihnen sagen, daß ich wirklich nicht glaube, daß es von hier aus geht. Lassen Sie es mich doch versuchen. Für die USA, für die Menschen in Taiwan, für Sie.« »Ich muß darüber nachdenken.« »Soll ich ...?« »Nein, warten Sie hier. Ich muß sowieso einige dringende Anrufe erledigen. In zehn Minuten bin ich wieder da. Lieutenant, würden Sie bitte mitkommen? Sie müssen mir helfen, eine Telefonnummer ausfindig zu machen.« Es dauerte weniger als fünf Minuten, bis Montgomery wieder erschien. »Okay, Calum, ich habe darüber nachgedacht, und ich werde Sie unterstützen. Wir schicken Sie mit zwei Jeeps raus; Professor Lee und vier Männer begleiten Sie.«
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»Das ist toll, Colonel, aber bitte nicht zu viele Männer. Auf einem Berggipfel sind vier Soldaten und ein Professor eine Menschenmenge. So viel Schutz brauche ich nicht.« »Ich denke, wir könnten es tatsächlich bei Ihnen beiden und drei Soldaten belassen. Aber weniger unter keinen Umständen. Sie brauchen zwei Jeeps, das auf jeden Fall, für die Sachen des Professors, Ausrüstung und Schlafsäcke.« »Das ist viel besser, aber ich mache Ihnen noch einen Vorschlag: Belassen Sie es doch bei zwei Soldaten, und schicken Sie statt dessen May mit. Sie ist so eine Art Glücksbringer für mich geworden. Sie lockert die Atmosphäre auf. Wenn sie dabei ist, hilft mir das sehr. Und sie ist besser als ein Soldat, sie hat schließlich einen schwarzen Gürtel in Karate.« Bildete Calum es sich ein, oder rümpfte Montgomery ein wenig die Nase? War das eine so merkwürdige Forderung? »Das geht auf keinen Fall, tut mir leid.« Lieutenant Jones rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl umher. Calum und Montgomery schauten einander an. Jones hüstelte nervös. Dann flackerte Montgomerys Blick ein wenig. »Lassen Sie mich noch einen Moment darüber nachdenken, Calum. Gehen Sie davon aus, daß es nicht klappt, aber wenn ich es mir anders überlege, rufe ich auf Ihrem Zimmer an. Auf jeden Fall ist die Expedition als solche in Ordnung. Ich werde Professor Lee informieren, und Sie sollten Private Wiltshire wissen lassen, was Sie sonst noch brauchen.«
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»Pierre Alain, ich bin immer richtig erleichtert, wenn wir diese ermüdenden Formalitäten hinter uns lassen und zu einem kleinen privaten Gespräch in den Garten fliehen können. Ganz bestimmt müssen wir diesen ganzen Mist nur ertragen, damit unsere Begleitung sich wichtig fühlt. Warum kündigen wir nicht einfach an, daß in Zukunft Frankreichs Präsident und Deutschlands Kanzler alle Entscheidungen persönlich treffen, ohne unsere Beamten und Minister? Ich bin sicher, unsere Wähler wären davon begeistert.« »Das wäre wunderbar, Hartmut. Aber ich bin nicht sicher, ob ich die damit verbundene Arbeit haben möchte. Wie geht es Inge?« »Sie jammert. Sie will nicht, daß ich mich noch einmal zur Wahl stelle. Sie sagt, Deutschland verdiene mich nicht.« »Was wirst du tun?« »Du darfst nicht vergessen, das sie meine Frau ist. Ich werde mir sehr genau anhören, was sie zu sagen hat.« »Und dich aufstellen lassen?« »Natürlich.« »Das freut mich zu hören. Ich bin zu alt, um mich an ein neues Gesicht gewöhnen zu können. Du und ich, wir sind ein gutes Team. Europa verdient uns vielleicht nicht, aber Europa braucht uns.« »Ich werde mich aufstellen lassen, aber vielleicht gewinne ich nicht. Die Umfragen sind nicht allzu freundlich.« »Du hast doch noch viel Zeit, acht Monate, oder …? Wenn die Koalition zusammenhält und deine Kabinettskollegen nicht durchdrehen. Ich kann nicht glauben, daß die Deutschen einen solchen Augenblick 262
nutzen würden, um in die falsche Richtung zu marschieren.« »Hoffentlich nicht. Übrigens – der Garten des ElyseePalastes sieht schöner aus denn je. Ich glaube, du bist der erste französische Präsident, der einen grünen Daumen hat. Pierre Alain, möchtest du sonst noch etwas mit mir besprechen, bevor wir uns wieder zu den Arbeitsbienen gesellen?« »Eines noch. Die französischen Medien sind schrecklich. Sie deuten immer wieder an, daß die besondere Beziehung zwischen unseren beiden Ländern unterminiert wird.« »Wir wissen beide, daß das Unfug ist. Wieso fügen wir nicht einen Satz an das Kommunique an, um die Wichtigkeit zu betonen, die wir unseren Beschlüssen zuschreiben?« »Das würde die Flammen höchstens anfachen, fürchte ich. Dummerweise wissen wir ja auch beide, daß etwas dahintersteckt. Der Streit zwischen unseren Verteidigungsministern war … unpassend.« »Ja, Fassbender ist ein Idiot. Ich habe mit ihm gesprochen.« »Jallon ist nicht besser. Aber es ist nicht nur das. Es ist der Eindruck entstanden, daß du England nähergerückt bist – daß deine Ansichten in vielen ökonomischen Bereichen eher ihren entsprechen als unseren. Mein lieber Hartmut, sie sagen, daß du dem jungen britischen Premierminister fast hörig geworden bist.« »Spotte nicht, Pierre Alain. Worauf willst du hinaus?« »Es sieht so aus, als könnte diese China-Geschichte zu einer Art Test werden, ein öffentlicher Test, wie die Dinge stehen. Wenn es tatsächlich zum Konflikt mit den Chinesen kommt, wissen wir, wie die Amerikaner reagieren werden, und die Engländer werden wie ein 263
Pudelchen hinter ihnen herhecheln. Die Angelsachsen zeigen keinerlei … Finesse in ihrer Auseinandersetzung mit China. Sie verstehen die Denk- und Verhaltensweisen der Asiaten einfach nicht.« »Du warst immer stolz auf deine Kenntnisse in dieser Hinsicht.« »Hoffentlich nicht unbegründet. Schau dir doch Hong Kong an und die lächerlichen Mühen, die die Briten sich wegen dieser Stadt gegeben haben. Und wie dumm sie jetzt dastehen. Diese WTO-Geschichte wird ähnlich laufen. Wir müssen mit den Chinesen im Geschäft bleiben. Was für eine Alternative gibt es denn? Wenn wir sie wie Kriminelle behandeln, wird es am Ende nur noch schlimmer sein. Und nicht nur das, Hartmut: Wenn die Deutschen eine Hardliner-Position unterstützen, würde das den Eindruck verstärken, daß du unserem britischen Kollegen nacheiferst. Und – offen gesagt, Hartmut – das würde dich schwach aussehen lassen. Das würde deine Wiederwahlchancen nicht unbedingt erhöhen, und es wäre ein weiterer Schlag gegen die franko-germanische Freundschaft.« »Bist du sicher, daß du dich einer harten Position widersetzen kannst? Daß die Industrie keinen Druck auf dich ausübt? Die Großkonzerne bei uns jammern dauernd bei mir herum. Sie sind sehr unglücklich über das, was in China passiert. Viele fühlen sich verraten und verkauft. Und gleichzeitig fürchten sie, daß unser Heimatmarkt mit billigen chinesischen Produkten überschwemmt werden könnte.« »Oh, natürlich jammern sie bei uns auch. Geschäftsleute jammern immer. Aber das ist egal. Du und ich, wir müssen in die Zukunft schauen. Als ich letzten Monat in China war, habe ich all das mit Premier Chen besprochen.« 264
»Nicht mit Präsident Zhang? Man nimmt dich nicht mehr wichtig, Pierre Alain.« »Keine Ironie, Hartmut. Natürlich habe ich bei einem formellen Treffen und auf einem Bankett mit Zhang geredet. Er ist immer noch aufmerksam und hat die Zügel in der Hand, aber es geht ihm zu schlecht, als daß er wirklich etwas unternehmen könnte. Auf mich machte er nicht den Eindruck, als würde er noch lange leben. Jedenfalls hat Chen, von dem unsere Botschaft annimmt, daß er sein Nachfolger wird, mich vor großen Problemen gewarnt, wenn wir die Chinesen zu sehr drängen. Mit den Amerikanern sind sie schon ganz über Kreuz, und auch an unseren britischen Freunden haben sie kaum noch Interesse. Sie bauen auf uns, die beiden führenden europäischen Staatsmänner, und hoffen darauf, daß wir vernünftige politische Positionen deutlich machen. Wenn die Angelsachsen sich stur stellen, werden sie auf lange Sicht darunter leiden, und unsere Länder könnten davon profitieren. Die Chinesen haben ein Gedächtnis wie ein Elefant. Kann ich davon ausgehen, daß du mich unterstützt?« »Das kannst du sicherlich, Pierre Alain, aber zuerst muß ich mich noch ein wenig darüber schlau machen. Ich bin nicht so geübt im Umgang mit den Chinesen wie du. Aber ich bin überzeugt davon, daß ich meine Leute dazu bringen kann, deine Sichtweise zu teilen.« »Gut. Jetzt sollten wir wohl wieder zurückkehren. Wie immer hat mich unser kleines Gespräch sehr gefreut.« »Das Gleiche gilt für mich. Abgesehen davon, daß unsere Gespräche meine Beamten nervös machen.« »Meine auch. Das steigert mein Vergnügen noch.«
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Drei Stunden vergingen, bevor Montgomery anrief, um zu sagen, daß May mitkommen dürfe. Allerdings hatte seine Stimme dabei einen strengen Unterton. Dino war höflich amüsiert über Calums Bitte um große Mengen Sandwiches, Schokoriegel, Obst, Wasser und Softdrinks. Auch Schlafsäcke, Fackeln und weitere Campingartikel wurden eingepackt. In den Jeeps gab es ein Global Positioning System und Funkgeräte, also konnten sie nicht wirklich verlorengehen. Die Soldaten hatten Pistolen und Gewehre dabei. Es wurde Nachmittag und Abfahrtszeit. May und der Professor tauschten ihre Zivilkleidung gegen gröbere Armeeklamotten um. Calum tat es ihnen gleich. Dann fuhren sie los, May steuerte einen der Jeeps, Calum saß neben ihr, Harry Clark hinten. Dino und Lee folgten mit dem Großteil der Ausrüstung im anderen Wagen. Ohne es Calum zu sagen, hatten sie einen Gipfel in der Nähe der Basis ausgesucht, der höchstens acht Kilometer über einen gewundenen, unebenen Weg entfernt war. Als sie dort ankamen, kletterten die Soldaten aus den Jeeps und begannen das Camp aufzubauen. Calum marschierte hin und her, schüttelte unschlüssig seinen Kopf und zeigte auf den nächsten kleinen Gipfel, ca. sechs Kilometer entfernt. Aber auch der paßte ihm dann nicht. Lee war erstaunt, gab aber nach, und auch May hatte nichts dagegen. Dino meldete sich per Funk, dann fuhren sie wieder zurück ins Tal und ungefähr fünfzehn Kilometer über eine steinübersäte Möchtegern-Straße. Erleichtert seufzten sie alle auf, als Calum endlich einen passenden Hügel fand und sich auf dessen Gipfel ganz zufrieden zeigte. Ihnen blieb noch eine Stunde, bis es dämmerte, also setzten sie sich in einem kleinen Kreis zusammen, plauderten und erzählten Witze. Alle benahmen sich ein wenig anders als 266
unter dem strengen Regiment des Monuments, fast so als wären sie auf einem Schulausflug; die Atmosphäre war herzlich, warm und angenehm. Calum brachte sie alle dazu, mit ihm um die Wette Steine zu werfen; er setzte Geld und verlor zweihundert Mäuse an Harry und Dino. Selbst Lee nahm ihm fünfundzwanzig ab. Keiner der Beteiligten hatte Geld bei sich, also stellten sie imaginäre Schuldscheine aus. Natürlich wußten sie genug über Calums Kontostand in England, um zu hoffen, daß sie vielleicht tatsächlich eines Tages ihr Geld bekämen. »Noch dreißig Minuten, dann fange ich an. Wie wäre es mit einer letzten Wette, Dino? Tausend Mäuse gegen deine zehn, daß ich besser schieße als du.« »Ich wußte nicht, daß du Scharfschütze bist, Calum.« »Ich hatte noch nie im Leben eine Waffe in der Hand. Aber trotzdem wette ich. Siehst du den kleinen Felsen mit dem Höcker dort drüben? … Nein, den dahinter. Den meine ich. Ich wette, den kannst du nicht treffen.« »Mit meinem Gewehr?« »Nein, mit deiner Pistole. Ein Schuß.« »Die Beretta ist eine gute Waffe. Wenig Rückstoß, Double-action-Funktion. Aber man kann damit nur auf vierzig oder fünfzig Meter präzise treffen. Der Felsen ist mindestens siebzig Meter weit weg.« »Tausend Dollar für dich, wenn du triffst, zehn für mich, wenn du ihn verfehlst. Willst du es versuchen …? Komm schon.« »Weiß nicht … Wir dürfen nicht mit unseren Waffen rumspielen.« »Das enttäuscht mich richtig, Dino. Ich dachte, du hättest Mumm. Aber dann habe ich ja wohl recht, du kannst einfach nicht schießen.« 267
»Kann ich wohl. Sag’s ihm, Harry.« »Der Kerl ist gut, Calum, wirklich gut.« »Hörensagen reicht mir nicht. Du bist dir einfach nicht sicher, daß du es schaffst. In Ordnung. Man kann nicht alles. Laß dich davon nicht runterziehen.« »Professor Lee – Sie haben hier das Kommando. Wäre es in Ordnung, wenn ich …?« »Ich bin nicht sicher, Private. Aber es wird ja niemand erfahren. Haben Sie ein Problem mit dem Waffenmeister, wenn Sie mit einer Patrone weniger zurückkommen?« »Nein, kein Problem, wir könnten sagen, daß da eine Schlange oder so war.« »Na gut. Einen Schuß.« Er legte den Sicherungshebel um, zielte und schoß knapp daneben. Die Kugel traf einen Felsen weit dahinter. Der Knall hallte durch die Berge. »Scheiße. Daneben. Die Pistole zieht nach rechts. Wenn ich einen zweiten Schuß hätte, würde ich bestimmt treffen.« »Zehntausend dagegen.« »Zehntausend? Prof, darf ich bitte noch einmal?« »Ich habe einen Schuß gesagt, Private, und dabei bleibt es.« »Nun seien Sie doch nicht so, Sir. Nur einen noch. Hier stehen zehntausend Dollar auf dem Spiel. Und wir haben ja noch Zeit.« In Wahrheit fanden sie es jetzt alle spannend. Viel Geld als Einsatz ist immer faszinierend, und auch Lee war dagegen nicht immun. »Okay, okay. Aber erzähl keinem, daß ich es erlaubt habe.« 268
»Prima, danke, Prof. Ich schulde Innen was.« Er zielte jetzt sehr sorgfältig, zögerte und ließ die Waffe wieder sinken. Tief durchatmen, Arme in die Horizontale, Beine gespreizt, ein Auge geschlossen. Bevor der Knall verhallt war, verpuffte die Felsnase zu Staub. »Yippee!« »Nicht schlecht, Dino. Du kriegst deine zehntausend. Aber du hast zwei Schüsse gebraucht, ich hätte das mit einem geschaffte« »Auf keinen Fall.« »Hundert Riesen auf mich.« »Wie bitte?« »Du hast mich verstanden.« »Der Felsen ist weg. Ich hab’ ihn getroffen.« »Ein Stummel ist immer noch da.« »Den kann man in der Dämmerung kaum sehen. Den treffen Sie nie mit einer Handfeuerwaffe.« »Wenn du recht hast, dann könnt ihr vier euch das Geld teilen. Fünfundzwanzig Riesen für jeden. Ach, ich verdopple, fünfzig für jeden.« »Sie machen Witze.« »Ich mein’ das ernst. Wenn der Prof es mich versuchen läßt …?« Die beiden Soldaten bettelten im Duett. »Professor ...« Lee wußte, daß er jede Menge Regeln verletzte, aber das war eben ein besonderer Augenblick! Er war begeistert. Und es war sicher kein Problem, ein bißchen Spaß zu haben. Die Spielerei schien Calum sogar zu entspannen, was vor dem Streß der Nacht nur gut war. Er würde sich 269
als Spielverderber vorkommen, wenn er den Jungs jetzt nicht diese Revanche ermöglichte. »Na ja – meinetwegen, okay. Aber diesmal nur einen Schuß und keine Widerrede, Calum!« »Klar, Professor. Hey, ist das nicht lustig …? Dino, zeig mir mal lieber, wie ich das Ding halten soll. So …? Und jetzt muß ich einfach nur abdrücken …? Hey, ihr lenkt mich ab. Geht mal da rüber, wo ich euch nicht sehen kann – nein, hinsetzen, sonst habe ich euch im Gesichtsfeld … So ist es besser.« Sie waren jetzt alle ganz aufgeregt, setzten sich brav hinter ihm auf den Boden und grinsten gespannt. Die Waffe war leichter, als Calum erwartet hatte. Er machte es wie Dino, streckte die Arme aus, ließ sie sinken und hob sie dann wieder; langsam bekam er ein Gefühl für die Pistole. Er versuchte, seinen Puls ein wenig zu beruhigen, hob die Waffe dreimal, viermal, fünfmal – und dann drehte er sich mit einer geschmeidigen Bewegung um, bis der Lauf genau auf die anderen zeigte. Sie keuchten. Harry Clark sprach als erster. »Hey, laß das, das ist gefährlich. Nimm die Waffe runter, Mann …« »Hände hoch, alle miteinander.« Als nächstes war Dino dran. »Calum, mach jetzt keinen Scheiß. Das ist nicht lustig.« »Hände hoch! SOFORT.« Sie gehorchten. »Und Schnauze halten. Clark, wirf deine Pistole hier rüber … Langsam.« »Leck mich am Arsch.« Clark war sauer.
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May versuchte, ihre Angst zu überwinden und die anderen zu beruhigen. »Tu, was er sagt, Harry. Calum wird uns das sicher gleich erklären, oder, Calum?« Clark tat, wie befohlen. Calum nahm die Pistole und steckte sie in seine Tasche. »Sitzen bleiben.« Er ging hinüber zu den beiden Gewehren der Soldaten, nahm sie beide, warf eines in den Jeep mit dem Proviant und der Ausrüstung, das andere trug er zu dem zweiten Jeep. Dino machte eine hastige Bewegung, überlegte es sich dann aber doch anders. Clark war wütend, mit rotem Kopf schimpfte er leise. May flüsterte dringlich auf ihn ein, daß er ruhig bleiben solle; das sei vielleicht nur ein dummer Spaß. Lee hatte die Vermutung, daß Calum unter Druck ausrastete. Wenn dem so war, dann mußten sie vorsichtig mit ihm umgehen und durften ihn nicht erschrecken. Alle vier zuckten zusammen, als Calum mit dem Kolben des Gewehrs des Funkgerät und die GPS-Einheit eines Jeeps zerschmetterte. Dann öffnete er die Motorhaube und rief: »May, gib mir dein Messer, bitte … Nein, wirf es rüber!« Sie hatte ein Messer in einer Scheide an der Hüfte stecken. Er hob es von dort auf, wo sie es hingeworfen hatte, beugte sich unter die Motorhaube und durchtrennte die ganzen Kabel; zur Sicherheit steckte er noch die Schlüssel ein. Dann packte er die Decken, den Proviant und die Schlafsäcke in den anderen Jeep; er ließ nur drei Flaschen Wasser übrig. »Okay, Jungs, Schuhe ausziehen. Du kannst deine anbehalten, May.«
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In Lees Stimme lag jetzt Panik, nicht so sehr aus Angst, sondern weil ihm dämmerte, daß das ganze Programm den Bach hinunterging. »Calum, was machst du da? Ich weiß nicht, was mit Ihnen los ist, aber das ist verrückt. Denken Sie doch mal daran, was wir zusammen erreicht haben. Das wollen Sie doch nicht alles hinschmeißen?« »Schnauze, Prof. Schuhe ausziehen. Sofort!« Lee fing an, die Schnürsenkel aufzuschnüren. Clark rührte sich nicht. Wiltshire tat es ihm gleich. Was auch immer hier los war, jetzt mußten sie Rückgrat zeigen. Calum spürte den Widerstand, trat hinter sie und drückte den Lauf seiner Waffe in Lees Genick. Fünf Sekunden später hätten sie versucht, ihn zu überwältigen. »Ausziehen. JETZT!« Sie schnürten ihre Stiefel ebenfalls auf. Erst als sie sie ausgezogen und weit genug weggeworfen hatten, nahm er die Waffe von Lees verschwitztem Kopf. Er warf die Stiefel auf den beladenen Jeep. »Vielen Dank, Jungs. Ihr habt einen langen Fußmarsch vor euch, und ich will nicht, daß ihr allzu schnell seid. May, steig in den Jeep.« »Calum, ich kann nicht. Ich weiß nicht, was hier los ist, aber du reitest uns alle immer tiefer rein. Die Jungs, Professor Lee und mich. Können wir vielleicht darüber reden, bevor du irgendeinen Mist baust? Worum auch immer es hier geht, ich bin sicher, daß sich die Sache klären läßt.« »May, wir werden das auf meine Art klären, und das heißt, wenn du deinen hübschen kleinen Arsch nicht jetzt sofort in den Jeep bewegst, dann werde ich ihn dir ein wenig kaputtschießen … Ja, so ist es besser … Nein, du fährst … Ihr haltet die Hände in die Luft, bis wir nicht 272
mehr zu sehen sind. Wenn nicht, dann übe ich zielschießen.« Clark stieß einen üblen, ausgesucht ordinären Fluch aus, rührte sich aber nicht, als Calum einstieg. May startete den Jeep und trat voll aufs Gas. »Hey, nur mit der Ruhe, wir haben es nicht eilig.« Calum schaute zurück. Clark stand auf, zeigte ihm den Stinkefinger und brüllte irgend etwas. In der Dämmerung sah es aus, als wollte er hinter dem Jeep herlaufen, aber der unebene Boden erlaubte keine schnellen Barfußschritte. »Runter ins Tal und dann nach links. Schnauze halten.« Sie tat, was er wollte. Calum zielte mit der Pistole auf sie. Es war zu gefährlich, irgend etwas zu riskieren. Sie wartete, bis sie abgebogen waren, in die Richtung weg vom Monument. Dann versuchte sie es noch einmal. »Calum, sag mir, was los ist. Das ist doch Wahnsinn. Die MP wird bald hinter uns her sein, die erwischen uns, verlaß dich drauf. Hast du irgendeine Vorstellung davon, wie viele Gesetze du gebrochen hast? Vertrau mir, Calum. Noch ist es nicht zu spät. Wir können einfach zurückfahren und die anderen aufsammeln.« »Fahr einfach weiter.« »Hat es irgendwas mit letzter Nacht zu tun? Wenn ja ... Mann, dann reagierst du echt über.« »Schnauze halten.« Ihm war ziemlich klar, was sie vorhatte. Und sie wußte, daß er versuchen würde, sich zu konzentrieren, daß er versuchen würde, einen Blick darauf zu erhaschen, was in der nächsten Stunde auf ihn zukam. Also wollte sie auf jede nur erdenkliche Weise versuchen, seine Konzentration zu brechen. Aber das war gar nicht nötig. 273
Zwar hätte er es gern versucht, aber so nervös wie er war, und ohne Meditation oder Mond, hatte er sowieso keine Chance. Weil sie keine Antwort bekam, hielt sie eine Weile still. Aber nicht lange. »Und was hast du jetzt mit mir vor? Wie sieht dein toller Plan aus? Wieso nimmst du mich überhaupt mit?« Jetzt klang sie echt wütend. Er sah keine Gefahr darin, zu antworten. »Ich sage dir, wie es laufen soll. Was letzte Nacht in der Bar vor sich ging, ist für mich unerklärlich. Da ist etwas sehr Merkwürdiges abgegangen. Ich habe keine Ahnung, was, aber ich will es rausfinden. Sobald wir eine Stadt oder eine Tankstelle erreichen, werde ich ein paar Anrufe machen und mal genau klären, was ihr da im Monument eigentlich treibt. Außerdem werde ich versuchen, einer armen alten Dame, die vielleicht in großer Gefahr ist, eine Nachricht zukommen zu lassen. Wenn sie mich vorher erwischen, kann ich nichts machen, aber ich werde es wenigstens versuchen. Und ich sage dir noch was: Bevor ich keine anständige Erklärung habe, werde ich auf keinen Fall weiter für irgendeinen von euch arbeiten … Und warum ich dich mitgenommen habe? Weil es mir so vorkommt, als ob es vielleicht möglich wäre, daß du ehrlich mit mir bist, und wenn nicht, dann muß ich wenigstens irgendeinem Sheriff erklären, daß ich aus einem supergeheimen Militärlager geflohen bin, und zumindest bist du der lebende Beweis dafür, daß ich nicht voll durchgeknallt bin. Also, May? Erzählst du mir jetzt, was los ist? Halt den Wagen an und erzähl’s mir.« Sie bremste langsam ab und schaltete den Motor aus. Das Licht war noch an, aber plötzlich war es verdammt unheimlich in der stillen Wüste. 274
»Ich sage dir alles, Calum, was du willst, aber zuerst einmal: Das ist ein riesiges Mißverständnis. Wenn du jetzt das Programm kaputtmachst, dann ist alles hin, und die Menschen in Taiwan werden abgeschlachtet. Willst du das wirklich?« Tränen liefen ihr übers Gesicht, sie schluchzte, zuerst nur ein wenig, dann immer schlimmer. Es war schwer für sie, trotzdem zu reden. »Bitte laß uns zurückfahren, Calum. Bitte. Laß zu, daß ich das Funkgerät benutze und ihnen erzähle, was passiert ist. Es wird schon okay sein. Wirklich, ich versprech’ es. Bitte, laß mich.« Calum seufzte enttäuscht. Er nahm das Mikrofon des Funkgeräts aus seiner Halterung, betrachtete es einen Augenblick und schlug es dann mit aller Kraft auf das Armaturenbrett. Es war kaputt. »Fahr.« Sie fuhren über zwei Stunden den Weg entlang und sprachen nicht mehr miteinander. Schließlich erreichten sie eine asphaltierte Straße. Calum atmete auf. Jetzt mußten sie ja irgendwann eine Stadt, einen Laden oder eine Tankstelle erreichen. Das GPS war nutzlos für ihn, weil Calum sich mit der Geographie Arizonas nicht auskannte und keinerlei Vorstellung von Längen- und Breitengraden in irgendeiner Form hatte. May versuchte noch einmal, mit ihm zu reden, und außerdem griff sie nach seiner Pistole. Erfolglos. Sie schwiegen weiter. Zehn, zwanzig, dreißig Kilometer. Teufel, das war wirklich der Arsch der Welt. Die Straße war in einem entsprechend schandbaren Zustand, pockennarbig von Schlaglöchern. Der Staat Arizona mußte ein massives Budget-Problem haben!
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Schließlich konnte er ein Straßenschild sehen. Ein kleines, unbeleuchtetes Schild. Aber egal, solange darauf nur die Entfernung zur nächsten Stadt stand. »Halt vor dem Schild.« Hundert Meter, achtzig, fünfzig, er konnte es immer noch nicht lesen. May beschleunigte und fuhr an dem Schild vorbei. »Halt an und fahr zurück. Sofort!« Er drückte ihr die Pistole an die Schläfe. Sie tat, was er wollte, sagte nichts, fuhr aber hundert Meter zurück, bis sie direkt vor dem Schild standen. Es war alt und zerschrammt. Der Scheinwerferstrahl des Jeeps war zu niedrig, und in dem schwachen Lichtschimmer, der das Schild erreichte, war es unlesbar. Er behielt May wachsam im Auge, holte von hinten eine Taschenlampe, schaltete sie an und hob sie hoch. Es war schwer, bei all dem Rost und den Beulen irgendwas auf dem Schild zu lesen. May schaute zur Seite, in die Dunkelheit der Wüste. Calums Mund blieb offen stehen, er glotzte das Schild verständnislos an, sein Gehirn verweigerte verzweifelt, was seine Augen ihm meldeten. Keine Buchstaben, die er lesen konnte. Als ihm klar wurde, was das bedeutete, schloß er die Augen, und sein Kopf sank in Zeitlupe hinab in seine Hände. »O ... mein ... Gott!«
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18 Es dauerte ein paar Minuten, bis seine wirbelnden Gedanken sich so weit geklärt hatten, daß er wieder etwas sagen konnte. Seine Stimme bebte vor Zorn. »Redest du jetzt mit mir?« »Ich habe nichts zu sagen.« Jede Sanftheit war aus ihrer Stimme gewichen. »Na gut. Weiterfahren. Schneller. Wenn du langsamer wirst oder bremst, erschieße ich dich, ohne auch nur darüber nachzudenken.« Er bohrte ihr den Pistolenlauf in den Schädel. Sie fuhr zu schnell für den Straßenzustand; der Jeep karriolte über die Schlaglöcher wie ein Eselskarren durch einen Orkan. Aber irgendwie blieb er trotzdem auf der Straße. Sie hätten die Scheinwerfer jedes Gegenverkehrs auf zwanzig Kilometer Entfernung gesehen, aber es gab keinen. Er mußte den Schock der Erkenntnis verdrängen und sich auf die unmittelbare Zukunft konzentrieren. Was, zum Teufel, sollte er jetzt machen? Jetzt, wo er es wußte, war er tot, wenn sie ihn erwischten. Es war ein Uhr nachts, und er hatte keine Ahnung, wann sie damit anfingen, ihn zu suchen. Ohne Stiefel würden die drei Männer warten müssen, bis Verstärkung kam, aber vielleicht gab es ja einen Funkmeldeplan. Vielleicht wußten sie im Monument schon jetzt, daß irgend etwas schiefgegangen war. Sollte er sich so schnell wie möglich verstecken, oder sollte er versuchen, die Entfernung zwischen sich und der Basis noch zu vergrößern, egal in welche Richtung ihn das führte? Je größer der Bereich war, den sie absuchen 277
mußten, desto schwerer war es, die Beute zu finden. Er mußte das Risiko eingehen, noch mindestens eine Stunde auf dieser Straße zu bleiben. Mal abgesehen von der Angst und der Verwirrung wurde er immer wütender auf May. Er hatte sie gemocht, er hatte ihr vertraut, er war bereit gewesen, sich ihrer gottverdammten Verwandten wegen anzustrengen – und womit wurde es ihm gedankt? Sie war ein perfides, beschissenes, verräterisches Miststück. Was sollte er jetzt mit ihr machen? Ganz offensichtlich wollte sie keinen Finger rühren, um ihm zu helfen, und sie würde ganz bestimmt versuchen, ihn hereinzulegen. Wenn sie das tat, hatte er dann wirklich den Mut, abzudrücken? Es würde heißen: Sterben oder sterben lassen. Sollte er sie einfach gleich loswerden? Nicht in Straßennähe, wo sie um Hilfe rufen könnte, sondern irgendwo zwischen den Bergen, die die Straße umgaben? Sollte er ihr die Stiefel wegnehmen, wie den Jungs, und sie sich selbst überlassen? Aber was würde er dann tun? Er mußte mehr erfahren. Wenn er sie nur irgendwie zum Reden bringen könnte. Sie fuhren bis kurz vor drei. Adrenalin strömte noch immer durch Calums Adern, und seine Gedanken rasten die ganze Zeit. Das Risiko wurde immer größer. Schließlich befahl er May, von der Straße abzubiegen und in Richtung der Berge zu fahren. Es war gut, daß die Oberfläche steinig war, und das bißchen Sand verwehte der warme Wüstenwind. Ihre Spuren würden bald unsichtbar sein. Sie fuhren Kilometer um Kilometer über die holprigen Steine und die Steilhänge hinauf, bis die Straße weit hinter ihnen lag. Endlich bedeutete er ihr, anzuhalten und das Licht auszuschalten. Im Schein der Taschenlampe sah es um sie herum beängstigend aus, als wären sie auf einem merkwürdigen, dunklen Planeten gelandet. Er leuchtete sie an, und sie wandte den Kopf ab. 278
»Du kannst wegschauen, solange du willst, aber du kannst mich sehr gut hören. Willst du jetzt endlich reden, du Miststück?« »Nein.« »Bist du dir sicher?« »Ja.« »Na gut, dann zieh deine Stiefel aus.« »Du willst mich doch hier nicht alleine lassen? Hier finden sie mich nie. Bring mich näher an die Straße oder laß mir meine Stiefel. Hier sind überall Schlangen.« »Rede.« »Nein.« »Okay, Stiefel aus.« Er stieß ihr die Pistole unters Kinn, und in seiner Stimme lag etwas, das ihr riet, nichts zu riskieren. War er kurz davor, durchzudrehen, würde er sie wirklich erschießen? Sie wollte diesen Alptraum überleben, wenn es nur irgend möglich war, also schnürte sie ihre Stiefel auf und warf sie über die Schulter nach hinten in den Jeep. Verdammt, dachte Calum, sieht so aus als ob diese verrückte Tante lieber hier im Nirgendwo bleiben würde, als ein Wort auszuspucken. Was sollte er noch machen? Es hatte so geklungen, als wäre sie kein großer Schlangenfan. Konnte er irgendwo eine finden und ihr damit vor dem Gesicht rumwedeln? »Magst du keine Schlangen, May? Ich finde sie ganz niedlich.« Sie schwieg, aber er sah, wie sie zitterte. Wenn sie solche Angst vor Schlangen hatte, wie verwundbar würde sie sich dann nicht nur ohne Stiefel, sondern ohne Klamotten fühlen? Etwas besseres fiel ihm nicht ein. »Zieh deine Sachen aus.« 279
»Was …? Du perverses Schwein! Faß mich an, und ich …« »Schreie? Ich glaube nicht, daß dir das viel helfen wird, aber mach dir keine Sorgen, ich hab’ andere Dinge im Kopf, als mir an dir die Finger schmutzig zu machen. Ausziehen!« »NEIN.« »Du kannst dein T-Shirt und die Unterwäsche anbehalten. Hauptsache, die Schlangen haben mehr Gelegenheit, sich in dich zu verbeißen.« »Ich habe kein T-Shirt an.« »Pech gehabt. Los, ausziehen!« Er hatte das Gefühl, daß er sie jetzt in den Griff bekam, und er mußte seinen Vorteil nutzen. Ganz langsam begann sie, ihren Reißverschluß vorne herunterzuziehen. Calum leuchtete hin und her, dann sogar hinter den Jeep. Plötzlich schoß er. May erschrak beinahe zu Tode. »Verdammt – verfehlt! Großer Gott, diese Schlangen sind aber schnell.« Sie begann zu keuchen. Gut. Er ließ den Motor an, um den Druck weiter zu erhöhen. »Ich muß weiter. Zieh dir sofort deine restlichen Sachen aus und leg sie nach hinten.« »Calum, tu mir das nicht an. Bitte. Bitte!« »Sofort!« »Okay, okay, ich rede. Aber laß mich hier nicht zurück.« Er leuchtete ihr ins Gesicht. Tränen liefen ihr über die Wangen, und diesmal tropfte auch ihre Nase. Calum vermutete, daß Mädchen nur dann die Nase tropfte, wenn
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die Tränen echt waren. Er schaltete den Motor wieder aus und die Taschenlampe auch. »Dann rede. Sag mir erst mal, wo wir sind.« »In China.« »Das hab’ ich mir schon von dem Kritzelkratzel auf dem Straßenschild zusammengereimt. Wenn ich nicht verdammt schnell mehr erfahre, dann kannst du weiterstrippen.« »Im Nordwesten. Xinjiang, in der Nähe der Grenze zur Provinz Gansu.« »Na, das klärt ja einiges.« »Wenn es einfacher für dich ist: Willkommen auf der Seidenstraße, am Rand der Wüste Gobi.« »Jetzt mach hier nicht die Klugscheißerin, sonst blase ich dir das Hirn raus. Wie weit ist es zur nächsten Küste?« »Zweitausendfünfhundert Kilometer.« »Und zur nächsten Stadt?« »Dunhuang. Dreihundert Kilometer nach Osten.« »Und um auf dem Landweg aus China herauszukommen?« »Die Mongolei und Kasachstan liegen im Norden, Pakistan im Westen.« »Nicht so weit dorthin?« Er spürte eher, daß sie den Kopf schüttelte, als daß er es sah. »Nein …? Na toll. Dann vergessen wir mal für einen Augenblick die Erdkundestunde. Monument ist also in Wirklichkeit …?« »Der chinesische Luftwaffenstützpunkt Nr. zwei-sechsvier.« 281
»Mm-hm. Verstehe. Du gehörst also zum chinesischen Militär, und ich habe euch geholfen … was genau eigentlich zu tun? Ganz bestimmt jedenfalls nicht, Taiwan zu verteidigen … Eher, es anzugreifen, oder? Ist es das?« Ihr Schweigen reichte als Antwort. »Na, großartig! Dieser ganze sentimentale Blödsinn über deinen alten Großvater war also …« »Blödsinn.« »Prima. Und ich bin schön drauf reingefallen. Und Montgomery? Bißchen groß für einen Chinesen, oder? Und ’ne andere Augenform hat er auch.« »Er war lange beim US-Militär. Sein letzter Posten war der eines Leiters des amerikanischen paranormalen Programms. Man warf ihm sexuelle Belästigung vor und hat ihn unehrenhaft entlassen.« »Und dann hat er sich an die Chinesen verkauft? Mein Superheld Jason?« »Er hat sich nicht verkauft. Die USA wollten ihn nicht mehr. Wir schon. Was ist denn dagegen einzuwenden?« »Nichts. Mal abgesehen von Landesverrat.« »Wieso Verrat? Niemand will die USA angreifen, und Taiwan ist ein Teil Chinas.« »Wenn das so ist, dann werden sie doch sicherlich sowieso gern in euren Schoß zurückkehren. Ihr braucht nur nett genug zu fragen.« »Es ist eine widerspenstige Provinz.« »Laß mich in Ruhe mit der Politik. Belassen wir es mal dabei, ich glaube nicht, daß mein Hirn noch mehr Überraschungen verdauen kann. Ich muß mich jetzt verstecken und nachdenken. Kommst du mit? Sonst mußt du dich leider ausziehen.« »Ja.« 282
Sie fuhren noch eine halbe Stunde zwischen den Hügeln hindurch, ruinierten halbwegs die Stoßdämpfer und blieben einmal fast in einer kleinen Vertiefung stecken. Die merkwürdigen Erhebungen des Terrains machten die Scheinwerfer beinahe nutzlos, einmal leuchteten sie zu steil abwärts, einmal strahlten sie nutzlos in den sternübersäten Himmel. Er überprüfte ein halbes Dutzend Einschnitte und Abhänge, war aber mit nichts zufrieden. Von der Straße aus würde sie niemand sehen können, aber aus der Luft wären sie leicht zu entdecken. Dann fanden sie schließlich einen Bereich mit anderer Bodenbeschaffenheit; hier hatten sich wilde Wirbelmuster gebildet, merkwürdige Dellen und – Wunder über Wunder – kleine Höhlen. Er entdeckte eine, in die der Jeep gerade eben hineinpaßte. Sie mußten hinten über die Heckklappe hinausklettern. Sie tat ihren Teil, indem sie die Decken, die Vorräte und Taschenlampen in die kleine Nachbarhöhle schleppte. Die Pistole ließ er nicht aus der Hand. Jeder von ihnen aß ein Sandwich und trank ein wenig Wasser. Er stellte keine Fragen, und sie schwieg weiterhin nervös und aufmerksam. Er konnte es nicht riskieren, einzunicken. Sie mißtraute ihm ebensosehr, und obwohl er sie zwang, sich unter eine Decke zu verkriechen, konnte sie nicht richtig schlafen. Calum saß am Ausgang der kleinen Höhle und schaute hinaus. Er schaffte es nicht, sich zu konzentrieren, und er hatte das unangenehme Gefühl, daß seine Fähigkeit, in die Zukunft zu schauen, ihn gerade in dem Augenblick verließ, wo er sie am nötigsten brauchte. Der Adrenalinschub ebbte ein wenig ab. Das war ja wieder einmal typisch für ihn. Er hatte all seinen Mut verbraucht, um zu versuchen, ein Telefon zu finden, und jetzt das. Der gute alte Calum Buchanan. Er hatte sich den 283
beschissensten Flecken Erde ausgesucht, um ein Held zu sein. Wenn er jetzt in das Camp zurückkehrte, würden sie ihn ganz sicher umbringen. Er konnte nicht entkommen, und er hatte für allerhöchstens eine Woche zu essen und zu trinken, wenn sie eisern sparten. Na toll. Er saß da, stützte den Kopf in die Hände und bemitleidete sich mehr als je zuvor. So saß er noch eine Weile, bis ihm etwas einfiel … Nein, das konnte er bestimmt nicht. Wie auch immer man es betrachtete, es war verdammt unwahrscheinlich. Nein, ganz bestimmt nicht. Aber was hatte er sonst für Möglichkeiten? Er warf einen Blick auf das Deckenbündel May, dann schaltete er eine Taschenlampe ein, ging die paar Schritte zu der anderen Höhle und krabbelte ungeschickt über die Ladeklappe des Jeeps. Wie funktionierte ein GPS? Wenn er bloß bei der Marine gewesen wäre. Das Ding einzuschalten, war das einfachste. Trotzdem fummelte und fluchte er, bevor er die richtigen Knöpfe fand. Dann erschien ein grünes Display. 91 Grad 49 Minuten, 41 Grad und 36 Minuten. Er hatte nichts zum Schreiben dabei und rezitierte die Angaben deshalb rhythmisch wie ein mathematisches Paßwort, während er in ihre Schlafhöhle zurückkehrte. May wandte sich ihm zu. Sie hatte geglaubt, er hätte sie verlassen, war aber zu verängstigt gewesen, um nachzuschauen. Calum nahm seinen Platz am Ausgang der Höhle wieder ein und schaltete die Taschenlampe aus. Die Nummern hatten sich mittlerweile fest in seinem Geist eingeprägt. Er schloß die Augen und begann mit den Atemübungen. Dann runzelte er konzentriert die Brauen, und so blieb er Stunde um Stunde sitzen. 284
Die Diskussion auf Radio 4 über die Zukunft der anglikanischen Kirche näherte sich dem Ende. Es war eine hitzige, lebhafte Diskussion gewesen, und die Kleriker und Theologen hatten sich erfrischend pointiert gestritten. Noch eine Nacht, und der Pullover für den nächsten Winter war fertig. Sie hatte ihn aus derselben alten Wolle wie immer gestrickt. In Morags Welt änderte sich die Mode nicht. Zuerst war es wie ein kleiner Elektroschock, der sie zusammenzucken ließ, dann ein Gefühl wie das leise Pulsieren eines weit entfernten Motors. Es tat nicht weh, war aber unangenehm und störend. Sie wollte es ignorieren und ließ sich dabei von einem großen Glas Whisky unterstützen. Es ärgerte sie, daß es nicht verschwand, obwohl sie fest entschlossen war, daß es verschwinden sollte. Was auch immer er ihr zu sagen versuchte, sie wollte in der Hölle schmoren, wenn sie sich damit beschäftigte. Der Whisky versagte, und zu Bett zu gehen half auch nicht. Sie konnte nicht schlafen, so stark war der Schmerz, als die Botschaft immer klarer wurde. Zwischen vier und fünf gab sie auf. Verdammter Junge. Sie spürte den Schrecken, den er erlebte, immer deutlicher, und konnte ihr geistiges Ohr vor seiner Not genausowenig verschließen wie eine Mutter vor dem Schreien ihres Säuglings. Dann hatte sie sich entschlossen, lag in der Dunkelheit da und begann einen Plan zu schmieden. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie Flughäfen funktionierten oder wie schrecklich es war, zu fliegen. Aber egal, sie würde es herausfinden müssen. Sie schlief noch eine Stunde, wusch sich mit Eiswasser, zog sich an, angelte die zerknitterten alten Banknoten aus der Kakaodose unter dem Bett hervor 285
und marschierte durch die kühle Morgenluft zur Bushaltestelle. Eine freundliche junge Dame am BA-Schalter half Morag geduldig, alles herauszubekommen; sie ignorierte einfach das erschöpfte Stöhnen der immer länger werdenden Schlange. Morag bekam den letzten freien Platz. Auf dem Flug redete sie mit niemandem; auf dem nächsten, von Glasgow aus, auch nicht, aber der Taxifahrer von Heathrow nahm sie mit seinem CockneyCharme für sich ein, und sie belohnte ihn mit einem sanften, lang anhaltenden Lächeln. Er fand es merkwürdig, daß sie ohne Gepäck, ja sogar ohne eine Handtasche unterwegs war. Bei diesem Wetter mußte sie doch in dem alten Wollmantel fast kochen. Er hoffte, daß sie bei Sinnen war, daß sie nicht in der Großstadt durcheinandergeraten und verlorengehen würde. Sorgenvoll sah er ihr hinterher, als sie vor den geschwungenen Eisengittern der Downing Street aus seinem Wagen krabbelte. »Sergeant, ich möchte mit dem Premierminister sprechen.« »Das wollen alle … Gehen Sie jetzt bitte weiter, meine Liebe.« »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich mit ihm sprechen möchte, Officer. Bitte sagen Sie ihm, daß es sehr wichtig ist.« »Madam, wir müssen hier unsere Arbeit machen. Jetzt seien Sie so nett und gehen Sie weiter.« »Dann muß ich wohl mit Ihrem Vorgesetzten reden; bringen Sie mich zu einer Polizeiwache.« 286
»Wieso sollten wir das denn tun, hm? Und jetzt verschwinden Sie, werden Sie nicht lästig, meine Liebe.« »Sehen Sie ... ich hab’ mein Tuch fallenlassen.« »Dann heben Sie es halt wieder auf, Sie nervige alte Ziege.« »Nein, verhaften Sie mich … Na los, worauf warten Sie?« »Was soll man davon nun wieder halten, Dave …? Ich schwöre, die werden jedes Jahr durchgedrehter … Verschwinden Sie! Es ist mir völlig egal, was Sie hier fallenlassen, wir werden Sie nicht verhaften. Und jetzt weg mit Ihnen!« »Seien Sie doch nicht so streng mit ihr, Sarge, sie ist harmlos.« »Nein, ist sie nicht, sie ist total nervig. VERSCHWINDEN SIE!« Morag stellte fest, daß der nächste Bauhandel nicht weit weg war, in einer kleinen Gasse, die von der Great Peter Street abging. Der pakistanische Besitzer brauchte eine Weile, ihren ungewöhnlichen Wunsch zu verdauen. Er hatte noch nie zuvor einen Kunden gehabt, der zwar Farbe wollte, dem es aber egal war, welche Farbe. Sie wollte einen großen Eimer mit einem Henkel dran, und er sollte ihn ihr aufmachen. Und einen Pinsel. Na gut, der Kunde ist König, dachte er. Sergeant Whaley sah sie wieder an Whitehall entlang zurückkommen und wandte ihr bewußt den Rücken zu. »Großer Gott, Dave, sie ist wieder da. Ich hab’ schon genug Verrückte heute gehabt. Ich werde sie jetzt einfach ignorieren.« 287
»Entschuldigen Sie, Officer.« Er wandte ihr konstant den Rücken zu. »Wenn ich sie lange genug ignoriere, wird sie wohl irgendwann aufhören, mich zu nerven.« »Sind Sie sicher, Sarge? Da scheint irgend etwas hinten auf Ihrer Uniform zu sein.« Der junge Constable Dave kicherte fröhlich. Für diese Farbe hatte sein Berufszweig wenig Verwendung. Das Khaki paßte nicht besonders gut zum Blau der Uniform. »Du verrückte … Na gut, du alte Schachtel, jetzt sind Sie gottverdammt noch mal verhaftet.« An sechs von sieben Tagen wäre es ihnen entgangen; sie hätten sie einfach nur nach einer Gardinenpredigt freigelassen. Aber in der Polizeiwache Cannon Row saß ein heller Constable, der mithörte, was die alte Frau seinen Kollegen so engagiert begreifbar zu machen versuchte. In diesem Zusammenhang fiel ihm etwas ein. Vor ein paar Monaten war in den Zeitungen dauernd gemeldet worden, daß irgendwer irgendwo den berühmten Calum Buchanan gesehen hatte. Allerdings hatte sich die Sache dann erledigt. Es verschwanden halt dauernd Leute. Der junge Constable erinnerte sich trotzdem an die ungewöhnlichen Polizeimeldungen in der ganzen Angelegenheit. Er schaute in den Akten nach und überredete den diensthabenden Inspektor, einen Anruf zu machen. Es war beeindruckend, wie schnell die beiden jungen Geheimdienst-Mitarbeiter auf der Wache eintrafen, selbst wenn man in Betracht zog, wie nahe Vauxhall am SIS-Hauptquartier lag. Der Constable war enttäuscht, als sie darauf bestanden, die Alte allein zu verhören.
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»Miß Buchanan, das ist sehr … ungewöhnlich. Sie sind sicher, daß er es ist?« »Wenn ich das nicht wäre, dann wäre ich ganz bestimmt nicht nach London gekommen. Ich habe andere Dinge zu tun.« »Wann standen Sie das letzte Mal in Kontakt – damit meine ich in konventionellem Kontakt – mit Calum?« »Nicht, seit er letzten Herbst aus Lewis abgereist ist.« »Er hat nicht angerufen, nicht mal nach seinem Gewinn?« »Ich habe kein Telefon.« »Er hat nicht geschrieben?« »Nein. Ich habe natürlich im Radio davon gehört. Und war enttäuscht von seinem Benehmen.« »Das überrascht mich nicht. Miß Buchanan. Wissen Sie irgend etwas über Calums besondere Begabung?« »Ja, weiß ich. Er hat das gelernt, während er bei mir in Lewis war.« »Möglicherweise müssen Sie uns erzählen, wie er das gelernt hat. Es geht dabei um die nationale Sicherheit sowohl unseres Landes als auch der USA.« »Nationale Sicherheit hin oder her, ich muß Ihnen leider mitteilen, daß ich Ihnen das nicht sagen werde.« »Belassen wir es erst einmal dabei. Wissen Sie, ob diese Gabe funktioniert? Kann Calum wirklich in die Zukunft sehen?« »Ich glaube, das kann er, wenigstens ein bißchen.« »Und diese Koordinaten, sind Sie ganz sicher …? Das ist eine sehr abgelegene Gegend in China …« Sie machte ein Gesicht, das sie nicht gerade ermutigte, an ihren Worten zu zweifeln. 289
»Okay, mal abgesehen davon, daß er in China ist – können Sie uns sonst noch irgend etwas verraten?« »Alles ist ein bißchen vage. Er wird verfolgt. Er hat irgend etwas Schreckliches getan, was er den Behörden mitteilen muß, aber ich weiß nicht, was. Aber es ist wichtig, was auch immer es sein mag. Und er muß unbedingt gerettet werden.« »Würden Sie bitte einen Augenblick hier warten, Miß Buchanan? Wir sind gleich zurück.« »Ich habe alle Zeit der Welt, bitte vergessen Sie aber nicht, daß es für meinen armen Großneffen vielleicht anders aussieht.« »Tut mir leid, daß Sie solange warten mußten, Miß Buchanan. Haben Sie einen Paß?« »Wozu brauche ich einen Paß? Das war das erste Mal, daß ich je die Insel verlassen habe.« »Machen Sie sich keine Sorgen darum. Wir müssen Sie bitten, eine Reise zu unternehmen.« »Ich hoffe, nicht nach China. Ich bin nicht sicher, ob es mir dort gefallen würde.« »Nicht nach China. Der Ort heißt Langley, er liegt in den Vereinigten Staaten von Amerika. Wir haben Sie auf die Concorde um sechs Uhr abends gebucht. Einer unserer jungen Mitarbeiter wird sie zum Flughafen begleiten. Auf der anderen Seite des Atlantiks wird Sie Mr. Rose von der britischen Botschaft und jemand von der amerikanischen Central Intelligence Agency in Empfang nehmen.« »Ich schätze, Calum zuliebe sollte ich mal diese Ausnahme machen. Ich war heute zum erstenmal an Bord
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eines Flugzeugs und habe nicht erwartet, jetzt mit der Concorde zu fliegen. Ist es schön in Langley?« »Ich glaube, Sie werden es ganz interessant finden. Ohne Sie hetzen zu wollen …, aber wenn Sie das Flugzeug noch erwischen wollen …« Christopher Ransome nahm die meisten Dinge gelassen. Abgesehen von Wagner brachten nur wenig Ereignisse seinen quarzgesteuerten Puls zum Rasen. Als seine Sekretärin ihm sagte, daß Downing Street Number 10 am Telefon sei, war das eine dieser Ausnahmen, und sein Puls legte zu, als hörte er die Opferszene der Götterdämmerung. Das wirklich Beeindruckende daran war, daß seine Sekretärin selbst jetzt seiner Stimme nichts davon anmerkte. »Guten Morgen, Mr. Ransome.« »Guten Morgen, Premierminister.« »Ich frage mich, ob wir ein absolut inoffizielles Gespräch führen könnten?« Natürlich war das höchst ungewöhnlich, aber was sollte er schon sagen? »Durchaus.« »Diese China-Sache … Wir kommen da nicht weiter. Wie Sie wissen, bin ich morgen in Washington. Der Präsident bedrängt mich, eine klare Aussage dahingehend zu machen, daß wir Amerika unterstützen. Das Wirtschaftsministerium stimmt ihm zu. Dort ist man der Meinung, daß die Chinesen eine immense Bedrohung für den Welthandel darstellen. Andererseits sind das Außenministerium und unsere Botschaften in Peking, Paris und Berlin alle davon überzeugt, daß es problematisch wäre, in dieser Sache eine Hardliner291
Position einzunehmen, weil die Amerikaner am Ende gezwungen sein könnten, nachzugeben, und wir dann zwischen allen Stühlen sitzen würden.« »Mmmm.« Sehr präzise Zusammenfassung, dachte Ransome und war erleichtert, daß er nicht tagtäglich solche Entscheidungen treffen mußte. »Ich habe Ihre Berichte gründlich gelesen. Sie wissen über die Sache Bescheid, und wenn ich es richtig sehe, dann kennen Sie sich auch mit China aus. Ich möchte Ihnen zwei Fragen stellen: Erstens, wenn ich die harte Position Amerikas unterstütze, glauben Sie, daß wir damit durchkommen?« »Nur wenn wir die Europäer gegeneinander aufhetzen.« »Okay, zweite Frage. Das Außenministerium glaubt, es wäre den Ärger nicht wert. Ich wüßte jetzt gern, ob Sie der Meinung sind, daß ich tatsächlich Position gegen die Chinesen beziehen sollte …? Mir ist klar, daß ich Sie damit in eine schwierige Lage bringe.« »Premierminister, ich bin nicht sicher, ob ich zu diesem Thema …« »Mr. Ransome, darf ich Ihnen einen Vorschlag machen? Wenn Sie als Privatmann der Position, die ich einzunehmen vorschlage, zustimmen, dann schweigen Sie doch einfach einen Augenblick.« »Vielen Dank, Mr. Ransome, das hat mir sehr geholfen, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.« »Ich Ihnen auch, Premierminister.« Ransomes Sekretärin wartete, bis der Anruf erledigt war, bevor sie ihm seinen Kaffee brachte. Ihre Augen blitzen, 292
und sie trieb sich lange genug in seinem Zimmer herum, um ihm die Möglichkeit zu geben, sich ihr anzuvertrauen. »Rachel, wir sollten demnächst entscheiden, wen wir zum Lunch zu Gunsten des Roten Kreuzes einladen.« Sie nickte, seufzte und ging ihren Notizblock holen. Er wußte, daß sie ihn sowohl am Boden als auch aus der Luft suchen würden. Dauernd hörte er das ferne Dröhnen der Dieselmotoren, aber von der Höhle aus konnte er die Straße nicht sehen, und es war viel zu riskant, auf einen der Hügel zu steigen, um zu überprüfen, ob sie es waren, oder nur normaler Verkehr. Die ersten Hubschrauber waren früh am Morgen über sie hinweggeknattert, andere kamen in regelmäßigen Abständen den Tag über. Einer war so nahe, daß Calum glaubte, sie müßten sein Herz klopfen hören. Während der Helikopter über ihnen schwebte, zielte Calum mit der Pistole direkt auf Mays Kopf. Sie wagte nicht, sich zu rühren. Wie lange würden sie brauchen, jeden Hügel zu überprüfen, jede Vertiefung und Höhle? Er hatte es geschafft, ganz schön weit vom Camp wegzukommen. Wenn man einmal davon ausging, daß seine Spuren inzwischen verweht worden waren, dann konnte es eine Weile dauern. Würden sie ihn aussitzen? Sie wußten, wieviel Wasser und Verpflegung er hatte. Selbst wenn sie vermuteten, daß Calum seine Begleiterin erledigt hatte, würden die Vorräte auch für eine Person nicht länger als zehn oder zwölf Tage reichen. Wieso nicht einfach darauf warten, daß er auftauchte? Aber warum sollte Calum überhaupt darüber spekulieren? Es blieb ihm sowieso nichts anderes übrig, als abzuwarten.
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Mays Bereitschaft, Fragen zu beantworten, war versickert, nachdem sie die einigermaßen sichere Höhle erreicht hatte, und nicht einmal seine Schlangendrohungen überzeugten sie noch länger. Sie überschüttete ihn bloß mit wilden Versprechungen, wie gut man Calum behandeln würde, wenn er sich ergab, und zwischendurch drohte sie ihm mit den schrecklichsten Konsequenzen, wenn er das nicht täte. Da sie aber weder so noch so eine Reaktion erreichte, schwieg sie meistens und wartete einfach ab. Die Höhle war zu klein, um die Hitze der brennenden Sonne abzuhalten. Da sie Wasser sparen mußten, tranken sie wenig, ihre Lippen waren trocken. Sie saßen ein paar Meter voneinander entfernt und nutzten ihre Decken als Kissen auf dem Steinboden. Er beobachtete sie, wie sie ihn beobachtete. Sobald seine Aufmerksamkeit abschweifte, würde sie versuchen, ihn zu überwältigen. Er durfte nicht vergessen, daß sie Karatemeisterin war, mußte auf jeden Fall Sicherheitsabstand wahren und die Pistole immer in der Hand halten. Der Tag verging, es wurde dunkel. Die zweite Nacht in Folge saß Calum aufrecht da, weil er wußte, daß Schlaf tödlich wäre. Auch der nächste Tag verging schweigend. Calum übte zu meditieren, ohne die Augen zu schließen. Es war fast sechs Uhr nachmittags, und die stickige Hitze nahm langsam ab. Er starrte aus der Höhle hinaus, der Schlaf überwältigte ihn beinahe und er vergaß die Gefahr, die ihm von May drohte. Plötzlich schrak er hoch. Hatte sie sich gerührt? Wischte sie sich da eine Träne weg? Was hatte sie vor? Seine Hand krampfte sich um die Pistole. Als er fragte, sagte sie ihm nichts, warum sie weinte, aber ihre Stimmlage war anders, die harte Aggressivität war verschwunden. Sie klang müde und resigniert.
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Mit bewußt sanfter Stimme bat er sie, doch ehrlich zu ihm zu sein. Sie schaute ihn an, seufzte und überraschte ihn dann damit zu fragen, was er wissen wolle. Es schien, als würde ihr endlich doch noch klar, daß sie nicht zurückkehren würden, daß es sich nicht mehr lohnte, zu schweigen oder die Täuschung aufrechtzuerhalten. Ruhig und gelassen gab sie alles zu. Wie die jungen amerikanischen Soldaten, die zu Montgomerys Team in den Staaten gehört hatten und empört über seine Entlassung waren, bei der Army alles hinschmissen und ihm als Söldner bei dieser lohnenswerten Eskapade zur Seite standen. Wie sie die Bar für Calum hergerichtet hatten obwohl ihnen die Idee zu spät gekommen war, um sie rechtzeitig fertig zu haben; wie sie ganz einfach die Fernsehsender mitschnitten und ihm dann später vorspielten, so daß die Sendezeiten stimmten. Wie sie die Gangster in London engagiert hatten, um ihm Angst zu machen und seine Befreiung zu inszenieren. »Ist May dein wirklicher Name?« »Ja.« »Und bist du Montgomerys Frau?« Sie schwieg einen Augenblick, bevor sie antwortete. »Osborne ist seine Frau, schon seit Jahren. Sie langweilt ihn aber, und er will mich. Ständig versucht er, mich zu betatschen, wenn keiner dabei ist. Er sagt, er kriegt mich als Geschenk mit einer Schleife drum, wenn seine Mission Erfolg hat.« »Was …? Das würden sie tun?« »Vielleicht stimmt es wirklich. So wie Rita mich anschaut, muß sie es wissen oder zumindest ahnen.« »Und du akzeptierst, daß du das Dessert für ihn bist?«
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»Wenn man mir befiehlt, etwas zu tun, dann habe ich keine Wahl – aber das ist jetzt egal. Ich habe versagt. Das Vorhersageprogramm wird bei der Invasion nicht mehr von Nutzen sein.« »Das ist ja wohl kaum deine Schuld. Es war Montgomerys Entscheidung, meinen Streifzug zuzulassen.« »O nein, war es nicht. Derjenige, den du als Lieutenant Jones kennst, hat diese Entscheidung getroffen. Bei ihm handelt es sich um Colonel Bo, den militärischen Leiter des Programms. Montgomery hat sich bis zum Schluß gegen die Expedition gewehrt, und Bo hat Lee und mich angewiesen, genau aufzupassen. Wir haben ihn enttäuscht. Das wird auch Bos Karriere schaden, obwohl die wirkliche Schuld Lee und mir zuzuweisen ist.« »O ja, Lee hab’ ich ganz vergessen. Wer ist das? Ein Charakterdarsteller aus Hollywood?« »Er ist der echteste von uns allen. Er stammt aus Hong Kong, aber er arbeitet schon seit fünfzehn Jahren für uns und ist unser wichtigster Experte im Hinblick auf paranormale Phänomene, die sich militärisch nutzen lassen.« »Was werden sie mit euch beiden machen?« »Sie brauchen Lee. Das ganze paranormale Programm hängt von ihm ab. Meine Situation ist anders, und mein Versagen ist auch größer. Sie werden glauben, weil du mich mitgenommen hast, hätte ich größere Chancen gehabt, dich zu überreden, zurückzugehen, bevor du die Wahrheit entdeckst. Wenn sie dich kriegen, so wie es jetzt steht, werde ich vielleicht mit einer scharfen Degradierung bestraft. Wenn du stirbst und nicht mehr für sie arbeiten kannst, werde ich vielleicht eingesperrt. Wenn du in den
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Westen entkommst, werden sie mich wahrscheinlich exekutieren.« »Nettes System habt ihr hier. Benutzerfreundlich und ermutigend. Das gibt einem doch bestimmt ein gutes, warmes Gefühl, wenn man so bis zum Ende mitgetragen wird.« »Calum, dies ist mein Land. Ich habe bei einer wichtigen Aufgabe versagt. Du findest das vielleicht hart, aber es ist kein Spiel, das sie spielen. Die Einheit unseres Landes ist ein hohes Ziel. Glaubst du, daß die Amerikaner bei Fehlern gnädiger vorgehen?« »Großer Gott, ich weiß absolut nicht, wie unsere Leute so was handhaben, aber ich hoffe auf jeden Fall, daß wir uns anders verhalten als ihr. Zumindest respektieren wir das Individuum.« »Wie die jungen Schwarzen in euren Großstadt-Ghettos? Findest du, mit denen geht ihr fair um …? Entschuldige, Calum, aber ich glaube nicht, daß es wirklich klug ist, sich über diese Dinge zu unterhalten. Also, jetzt rede mal du – werden wir jetzt hier ausharren, bis Wasser und Essen alle sind, oder wie? Hast du irgendeinen Plan?« »Ich bin ziemlich sicher, daß sie mich früher oder später umbringen, wenn ich zu euch zurückgehe. Und nach dem, was du sagst, würde dir einiges Unangenehme zustoßen, wenn ich entkomme. So oder so ist zumindest einer von uns tot. Du hast mich vielleicht komplett verarscht, aber ich will ganz bestimmt nicht Schuld daran sein, daß du ermordet wirst oder in irgendeinem Straflager endest. Wenn ich es irgendwie hinbekäme, daß wir gerettet werden – würdest du dann mitkommen?« May schüttelte sanft den Kopf. Zum erstenmal, seit sie das Monument verlassen hatte – oder Basis Nummer soundsoviel –, entspannten sich ihre Züge. Vielleicht war 297
es auch das erstemal, daß er ein echtes Lächeln von ihr zu sehen bekam. Herrje, konnte die niedlich sein. »Du bist süß, Calum, wirklich süß. Aber du hast Wahnvorstellungen. Es wird keine Rettung geben.« »Stell es dir doch nur mal vor, hypothetisch. Würdest du mitkommen?« »Darüber können wir uns Sorgen machen, wenn es soweit ist.« Sie schwiegen wieder und sahen zu, wie der Himmel sich verdunkelte. Er konnte die Augen kaum noch offen halten. Zwar traute er May noch immer nicht im geringsten, aber es half nichts, er konnte nicht länger wachsam bleiben. Was würde sie versuchen? Die Pistole würde ihr nicht unbedingt helfen. Sie hatte ganz sicher nicht die Entscheidungsgewalt, ihn zu erschießen. Vielleicht konnte sie davonlaufen und ihre Leute alarmieren, aber das war zu Fuß eine ganz schöne Reise. Der Jeep? Er wandte sich ab, so daß sie es nicht sehen konnte, und schob die Schlüssel in seine Unterhose. Sollte sie doch versuchen, an die ranzukommen, ohne ihn zu wecken. Dann schloß er seine Augen und schlief sofort ein. Als er aufwachte, war es pechschwarz und … was, zum Teufel, war das …? May hatte sich irgendwie an ihn gekuschelt. »Hey, was soll das, Feindin?« »Es ist kalt in der Nacht, und ich war ein bißchen einsam.« »Ist das alles? Du hattest vielleicht nicht zufällig vor, mich zu verführen?« »Träum ruhig weiter.«
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»Gut. Ich hab’ mir schon Sorgen gemacht. Wenn mein neues System funktioniert, dann ist es nämlich erst morgen nacht soweit.« »Was für ein neues System? Was ist erst morgen nacht soweit?« »Daß du mich verführst.« »Blödsinn.« »Es stimmt. Du unterschätzt mich. Ich wußte schon lange vor dieser Bar-Geschichte, daß irgendwas stinkt. Vierundzwanzig Stunden kann ich inzwischen vorausschauen. Ich hab’ einfach bloß den Mund gehalten, das ist alles.« »Was für ein Quatsch. Glaubst du, daß ich blöd genug bin, darauf reinzufallen?« »Warten wir’s ab, oder? Keiner von uns kann was daran ändern. Jedenfalls nicht bis morgen.« »Das meinst du nicht ernst, oder? Willst du behaupten, daß ich … dich … morgen … verführe?« »Genau.« »Unfug.« »Wie du meinst.« »Ich kann nicht glauben, daß du so was behauptest. Du willst mich verarschen, das muß es sein … Komm schon … Nein …? Also, nur mal aus Neugier. Wie fange ich es denn an … was mache ich …? Ich kann nicht glauben, daß ich dämlich genug bin, dich das zu fragen.« »Du ziehst deine Sachen aus und … Nein, wart’s ab, ich will dir nicht den Spaß verderben.« »Mir den Spaß verderben? Und was ist mit dir?« »Ist doch egal, belassen wir es dabei. Ich muß noch schlafen. Gute Nacht.« 299
»Nein, du Arschloch. Jetzt kann ich sowieso nicht mehr schlafen. Ich komme mir total lächerlich vor, als hätten wir es schon miteinander gemacht. Du klingst so gottverdammt selbstsicher dabei.« »Warum auch nicht? Es wird auf jeden Fall passieren, aber erst morgen, also gute Nacht.« »Und das war’s? Ich habe dabei nichts zu sagen?« »Du hast morgen noch jede Menge zu sagen.« »Es steht also alles schon fest …? Ich hab’ überhaupt keine Kontrolle über mich …? Ich kann nicht nein sagen?« »Kannst du, wirst du aber nicht.« »Und was wäre, wenn ich – nur mal hypothetisch dich jetzt sofort verführe? Würde das dann nicht deine hübsche kleine Vorhersage kaputtmachen?« »Na klar, aber das kannst du nicht.« »Kann ich nicht, ja?« »Nein, schlaf jetzt … Hey, was machst du da, May …? Geh von mir runter.« »Das ziehst du jetzt sofort aus, Calum … und das auch. Oh, da hast du die Schlüssel also, ja? Das werde ich mir merken.« »Laß mich in Ruhe. Das klappt nie. Das Timing stimmt nicht … Nein, ich befehle dir, deine Sachen anzubehalten.« »Hey, du zitterst doch nicht etwa? Du, ein erfahrener Liebhaber.« »Das ist die Kälte.« »Lügner.« »May, du darfst das nicht tun. Nein … Ich habe gesagt Neiin … neinnnnnn.« 300
»Wie fühlt sich das an?« »Kein Kommentar ... Uuuuuuuuuh ...« »Und was ist jetzt mit deiner Vorhersage?« »Ich hab’ keine Ahnung, was schiefgelaufen ist … Wow, deine Brüste sind toll.« »Nicht zu klein?« »Perfekt ... Mmmm.« »Bleib liegen. Ich dreh’ mich ein wenig ... Okay?« »Wunderbar.« »Und wie fühlt es sich an, wenn ich … das mache?« »Ich wußte nicht, daß du auch darin einen schwarzen Gürtel hast. Ooooh … Nein, stop. STOP! Gib mir einen Stift. Ich brauche einen Stift.« »Einen Stift? Wozu?« »Um Notizen zu machen … Oooooooooh …« »Hör auf, Blödsinn zu reden und konzentrier dich.« »Genau das will ich vermeiden. Je mehr ich mich konzentriere, desto schneller wird es gehen.« »Mach dir keine Sorgen. Entspann dich und genieße es. Ich werde einfach nur …« »O nein, nicht das, nicht das … May, der Cowboy kann nicht mehr länger im Sattel bleiben.« »Dann laß dich fallen, Cowboy.« »Oooooooooh … uuuuuuh … aaaaaaaaaaaaah …« Sie lagen ein paar Minuten still. Sanft zog er sie an sich. »May, das war unglaublich! Ich meine, wirklich intergalaktisch …« Keine Antwort. 301
»Für dich wahrscheinlich weniger intergalaktisch. Ich meine, das kann ja nicht sehr …« Sie küßte seine Wange. »Mach dir da mal keine Sorgen. Es war ... nett.« »Nett?... Die Höhle hat nicht gebebt?« »Ssssssch. Schlaf jetzt.« »Weißt du, was ich denke, May?« »Was?« »In Amerika glauben wir zu wissen, was Sex ist. Aber wir haben ja keine Ahnung.« Er döste langsam ein. Ihm war noch halbwegs bewußt, daß die Schlüssel zum Jeep irgendwo auf dem Höhlenboden lagen, aber seinetwegen konnte May sie sich schnappen und abhauen. Was auch immer sie für Tricks im Ärmel versteckt hielt, nach dem, was ihm gerade widerfahren war, hatte sie sich eine ›Du kommst aus dem Gefängnis frei‹-Karte für jedes Spielchen verdient, das sie spielen wollte. »Calum?« »Mmmm?« Er wollte seine samtige Abwärtsspirale nicht zerstören. »Was ist jetzt mit deinem System, der VierundzwanzigStunden-Vorhersage? Wenn das stimmt, dann könnte es sehr …« »May, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll …« »Was? O nein, du hast doch nicht etwa …« »Hey, so wie du mich reingelegt hast, kannst du dich nicht beschweren.« »Also war das totaler … du … Schleimscheißer.« Sie schlug mit ihren Fäusten nach ihm, aber ohne Kraft. 302
Er versuchte nicht, sie zu stoppen. Als sie fertig war, legte sie ihren Kopf wieder sanft auf seine Brust.
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19 Es heißt, daß in den letzten Jahren in Peking und Shanghai mehr hohe Kräne standen als in ganz Westeuropa. Ob das nun stimmt oder nicht, Pekings Verlangen nach neuen Gebäuden war unersättlich, und die zahlreichen Kräne ragten über der Stadt auf wie eine riesige Besatzerarmee. In der sich stetig ausbreitenden Innenstadt wurden neue Hotels, neue Büroblocks, neue Restaurants und neue Einkaufszentren hochgezogen. In den Außenbezirken baute man neue Fabriken sogar noch zügiger auf oder renovierte alte. Die traditionsbeladene alte Silhouette der Stadt war von den neuen Betonmonumenten praktisch ausradiert worden. Bald würde der Endsieg der Autos über die Fahrräder noch mehr Lärm in die Stadt bringen, mehr Hitze, mehr Schmutz, mehr Dreck, mehr Durcheinander, und dann würde die Stadt endgültig kopfüber in die kosmopolitische, handy-infizierte Modernität stürzen. Es ist vor allem der kommunistischen Partei zu verdanken, daß es in Peking wenigstens noch einige wenige ruhige Ecken gibt, sorgsam manikürte Gärten, die schöne Villen mit wunderbaren alten Innenhöfen umgeben. Diese Orte bleiben Oasen des Friedens, weil bloße Sterbliche sie nicht betreten dürfen. Vielleicht ist der schönste von allen der Diao Yu Tai, was FischerPlattform heißt, eine herrliche Oase, auf der die ältesten Parteimitglieder großzügig, grenzenlos und stilsicher ihre Gäste bewirten konnten. Der Koch hier bereitet nur die erlesensten Delikatessen zu, so daß nichts, was den Gästen serviert wird, auch nur im entferntesten gemein wirkt.
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Manchmal gibt es viele Gäste, manchmal, wie an diesem Abend, nur einen. Dieser Gast, Gao Xin Min, und sein Gastgeber, der Premier Chen, bildeten ein sehr unterschiedliches Paar: Gao war groß; er hielt sich wie ein Militär und hatte ein offenes Gesicht. Chen hingegen war klein und dick und sein Gesicht war so ausdruckslos, daß selbst seine engsten Vertrauten nicht darin lesen konnten. Aber diese beiden verband viel mehr als die Liebe zu gutem Essen. Sie waren im Jahre 1938 nur wenige Tage nacheinander geboren worden, beide als Söhne von Parteigründern. Ihre Lebenswege waren unterschiedlich gewesen, hatten sich aber sooft überschnitten, daß sie einander nahe blieben; nahe genug, um Freunde zu bleiben und einander zu helfen. Wie in allen Ländern gibt es in China offizielle Strukturen, aber persönliche Freundschaften und Bündnisse negieren diese Strukturen weit mehr als in westlichen Ländern. Diese Freundschaften halten länger als die sich verändernden Strukturen, und sie entwickeln sich sogar noch weiter. Chen wußte in seinem Herzen, daß er ohne die manchmal entscheidende Unterstützung seines Freundes möglicherweise nicht Premierminister geworden wäre. Insofern war es nur ganz natürlich, daß er sich revanchierte, indem er erfolgreich und kraftvoll dafür zu sorgen versuchte, daß Gao zum Obersten Befehlshaber der Armee ernannt wurde. An diesem warmen Juliabend genossen sie die Gegenwart des anderen so sehr wie immer. Diesmal aber gab es nur wenig zu plaudern. Chen würde Peking bald verlassen, um die anderen Mitglieder des ständigen Ausschusses des Politbüros im Sommerferiendorf Beidaihe zu treffen. Sie wußten beide, daß dieses Treffen die Bühne für die von ihnen so sorgfältig geplanten Ereignisse bilden würde. Chen sagte: 305
»Die Kommandeure der Armee … stehen sie immer noch hinter dir?« »Ich bin absolut zuversichtlich. Sie wissen, daß ihre Macht sonst stark eingeschränkt würde.« »Und die jüngeren Offiziere?« »Wie Hündchen, die spielen wollen, sind sie wild auf ein großes Abenteuer. Sie vergessen, daß die Kugeln nicht nur in eine Richtung fliegen können.« »Mit deinem Plan sollten unsere Verluste … akzeptabel sein?« »Ja, aber wir müssen sofort und hart zuschlagen. Massive Raketenangriffe auf allen Basen. Sechzigtausend Fallschirmspringer, und danach eine totale Invasion vom Meer aus. Absolute militärische Überlegenheit. Nur so kann es gelingen.« »Und die Sabotage-Operation?« »Wenn es funktioniert, dann wird das Blutvergießen gemindert und die Abwehr verhindert. Aber wenn wir entdeckt werden, könnte es fatal sein. Ich glaube nicht, daß es das Risiko wert wäre. Ich nehme lieber fünfzigtausend Gefallene in Kauf, als die ganze Operation in Gefahr zu bringen. Wir müssen entschieden agieren.« »Ich bin deiner Meinung, mein alter Freund, aber es gibt andere, die vielleicht anderer Ansicht sind. Die Sabotageoperation und der ›Aufstand‹ in Taipeh sind schon lange Teil des einvernehmlich verabschiedeten Plans. Es wird schwierig sein, die Befürworter zu überreden.« »Du bist der Politiker, nicht ich. Du mußt den ständigen Ausschuß dazu bringen, mir freie Hand zu geben. Ich werde ihren Traum wahr werden lassen, wenn sie mir die richtigen Werkzeuge zur Verfügung stellen.« 306
»Ich werde es versuchen.« »Wie geht es Präsident Zhang?« »Der Krebs breitet sich weiter aus. Er wird noch ein wenig im Krankenhaus bleiben und dann direkt nach Beidaihe kommen. Ich habe ihn gestern wieder besucht. Seine Kraft hat ihn verlassen, und sein Wille zu regieren ist beinahe verschwunden. Ich halte es für unwahrscheinlich, daß er dieses Jahr noch überlebt.« »Wird er einen Nachfolger ernennen?« »Wenn ja, dann auf keinen Fall mich. Seine Instinkte leiten ihn eher in Richtung der Modernisierer. Dieser Schurke Liao hat ihn überredet, daß die Armee nun tatsächlich alle ihre Geburtsrechte abtritt und ihr Eigentum verkauft. Andererseits ist Zhang durchaus klar, daß die gesamte kommunistische Struktur zusammenbrechen könnte, wenn die Partei die vollständige Unterstützung der Armee verspielt. Deswegen muß er uns unterstützen, wenn du in letzter Minute deine Bitte entsendest, die Sunrise-Entscheidung zurückzunehmen, und ich ihn darüber informiere, daß wir die Franzosen in der Tasche haben und deshalb das Verdikt der WTO nicht in Frage steht.« »Bist du sicher, daß Liao nichts von deiner Vereinbarung mit dem französischen Präsidenten weiß?« »Ich habe niemandem außer dir davon erzählt. Bleibt nur noch das Problem des Timings. Wenn Liao etwas davon erführe und mit Zhang spräche, dann könnte er ihn vielleicht überreden, und das dürfen wir auf keinen Fall riskieren. Wir müssen bis zum letzten Augenblick abwarten, wenn Liao auf dem Rückflug aus Seoul ist, und wir müssen Tian Yi in Genf zwingen, gemäß ihrer neuen Instruktionen zu agieren, bevor er sie stoppen kann.« »Und dann?« 307
»Die Amerikaner werden ausrasten. Aber ohne europäische Unterstützung können sie kein endgültiges WTO-Urteil gegen uns erreichen, und der französische Präsident hat mir garantiert, daß er den deutschen Kanzler überzeugt. Das klärt den Faktor Europa. Es gibt also nur zwei mögliche Ergebnisse. Entweder ziehen sich die Amerikaner mit den anderen zusammen zurück. Dann wissen wir, daß sie uns nichts entgegenzusetzen haben und können tun und lassen, was wir wollen, ohne auch nur einen blassen Anschein von Vertragstreue zu bewahren. Anstandshalber würden wir den Schlag gegen Taiwan ein paar Monate verschieben, aber nicht länger. Die andere Möglichkeit ist, daß die US-Regierung sich so sehr aufregt, daß sie im Alleingang Strafen gegen uns verhängt. Das wäre eine Provokation und damit ein Signal für uns, sofort anzugreifen. Die Amerikaner würden dann überall, daheim und im Ausland, für ihre Unsensibilität und Sturheit kritisiert werden. Sie müßten also still in der Ecke stehen, während wir die Insel übernehmen … Oh, natürlich werden sie eine Protestnote ablassen und bei der UN ihren entschiedenen Widerspruch erklären. Aber die großen Schlachten der Historie wurden nicht rhetorisch entschieden. Unsere Väter haben Chiang Kai-sheks Nationalisten nicht auf dem Papier in die Flucht geschlagen.« »Wie auch immer es ausgehen wird, für Parteisekretär Liao wäre das …« »Entwürdigend. Der totale Zusammenbruch seiner Macht.« »Und Zhang würde ihn als möglichen Nachfolger entthronen und dich an seiner statt benennen.« »Er hätte keine Wahl. Wenn nicht, würde man ihn sofort absetzen.« 308
»Das Warten ist also beinahe vorbei?« »Beinahe. Ich kann die Hände schon nach dem Ziel ausstrecken. Trinken wir im Angedenken an unsere Väter.« Sie hoben ihre Gläser, die bis zum Rand mit dem schicken Mix aus Rotwein von der chinesischen Mauer und Seven Up gefüllt waren. Gao strahlte breit. Chen steuerte ein dünnes, kühles Lächeln bei. Marianna wartete nicht gern, nicht einmal fünf Minuten und nicht einmal in einem komfortablen Sessel in dem luxuriös getäfelten Empfangsbereich. Vor allem nicht auf einen Anwalt, den sie bezahlte, oder jedenfalls bezahlen würde. Sie seufzte überdeutlich, damit die Empfangsdame sich ungemütlich fühlte. Dann endlich kam Larry Abraham heraus und führte sie in sein Büro. »Marianna, Sie sehen besser aus denn je, falls das überhaupt möglich ist.« Es war keine Schmeichelei. Das Geld stand ihr gut. Schließlich war der beste Friseur in ganz LA tätig gewesen, und sie hatte im letzten Jahr mehr für Klamotten ausgegeben, als ein paar Drittweltländer den USA schuldeten. Heute war es ein wunderbares Kleid aus Rohseide. Lieber Himmel, sie war schon ein wunderbares Wesen. »Vielen Dank, Larry.« Sie belohnte ihn mit einem Lächeln. »Und, Marianna, hat Brett zugestimmt?« »Er sagt, er sei zu beschäftigt, um darüber nachzudenken.« »Ich glaube immer noch, daß sie unrealistisch sind. 309
Brett wurde von seiner ersten Frau böse über den Tisch gezogen, und die letzte hat einen sehr strengen Ehevertrag akzeptiert. Es würde mich überraschen, wenn er ohne heiraten würde, vor allem, wo sich sein Vermögen so massiv vergrößert hat.« »Was sollte ihn das kümmern, wenn er mich haben will? Er ist zweiundfünfzig, großer Gott, es ist doch höchste Zeit, daß er sich mal an jemanden bindet.« »Ich bin älter als er, Marianna, und es gibt einfach Tage, an denen ich mich noch jung fühle. Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, dann würde ich versuchen, einer großzügigen Einigung zuzustimmen. Aber das ist ganz offensichtlich nicht Ihr Weg.« »Am Ende wird er schon ja sagen. Ich verpasse ihm gerade die Kühlschrank-Therapie, damit er es begreift. Aber deswegen bin ich nicht hier. Was verstehen Sie von englischen Gesetzen, Larry?« »Absolut gar nichts. Warum?« »Mein Ex – Calum. Sie erinnern sich an die ganzen Zeitungsberichte über das Geld, das er gewonnen hat?« »Wer könnte das vergessen?« Marianna schlug ihre göttlichen Beine übereinander und offerierte einen kurzen Blick auf straffe, seidige Schenkel. Larry Abraham holte ein Taschentuch heraus und wischte sich die Stirn trocken. Brett Marquardt konnte sich glückselig schätzen. »Er ist seit über drei Monaten verschwunden. Ganz sicher ist er tot. Vor Jahren, als wir gerade geheiratet hatten, hat Calum ein Testament gemacht, in dem er mir alles vererbt. Wenn wir geschieden sind, wird das dann automatisch ungültig?« »Nicht, wenn er es nicht geändert hat.« 310
»Das halte ich für unwahrscheinlich.« »Und Sie haben eine Kopie dieses Testaments?« »Ja. Jetzt muß ich nur noch herausbekommen, wie man ihn für tot erklären kann, damit ich das Geld kriege.« »Das hat höchstwahrscheinlich gar nichts mit dem englischen Gesetz zu tun, selbst wenn sein Hauptvermögen sich dort befindet. Das könnten die Gerichte hier in Kalifornien entscheiden.« »Wunderbar! Und was machen wir dann?« »Immer mit der Ruhe, Marianna. Da werden sie noch lange nicht darüber nachdenken müssen. Minimum sind fünf Jahre.« »Verdammt. Und kann man das nicht irgendwie beschleunigen? Wir müssen einfach warten?« »Das stimmt. Wenn Sie meinen Rat hören wollen, dann konzentrieren Sie sich auf den Spatz – das heißt Brett – in der Hand, oder zumindest fast in der Hand.« »Keine Sorge, Larry, das geht schon klar. Ich weiß, was ich tue.« »Wie ist der Cheeseburger, Morag …? Ist doch in Ordnung, wenn wir sie Morag nennen, oder?« »Wenn Sie das für richtig halten, bitte. Der Cheeseburger ist … interessant.« »Nennen Sie mich Jack.« »Vielen Dank, Mr. Balletto.« »Ist das wirklich Ihr erster Burger überhaupt? Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Ich bin zweiundvierzig Jahre alt und muß inzwischen Millionen von den verdammten Dingern gegessen haben. Deswegen bin ich so fett.«
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»Ich glaube, Sie sind der fetteste Mensch, den ich je gesehen habe. Steht Ihnen sehr gut.« Ballettos Kollegen kicherten. »Tja, was soll man zu so einem Kompliment sagen …? Was halten Sie von einer Coke …? Man macht sie so auf … Lassen Sie mich … Nein, hier bei uns trinken wir direkt aus der Dose.« »Wie zivilisiert. Essen Sie Baked Beans auch direkt aus der Dose?« »Nein … Hey, Morag, jetzt treiben Sie ihre Späßchen mit mir. Aus irgendeinem Grund veralbern mich alle … Aber normalerweise dauert es einen oder zwei Tage, bevor es losgeht. Sie sind doch erst … eine halbe Stunde hier, und Sie fangen jetzt schon damit an. Was hat das zu bedeuten?« »Vielleicht hat es zu bedeuten, daß ich Sie mag.« »Morag, Sie machen mich sprachlos … Es ist lange Jahre her, daß jemand mich hat erröten lassen. Ich sollte besser wieder arbeiten gehen, sonst werde ich noch ganz eitel.« »Und ich glaube, ich habe mich doch entschlossen, Sie Jack zu nennen.« »Oh, vielen Dank.« »Keine Ursache … Das sagen die Amerikaner doch, oder?« »Genau. Sie haben das schon gut raus. Soll ich Ihnen doch ein Glas für die Coke holen?« »Nein, ich sollte mir die landestypischen Sitten aneignen, wie primitiv sie auch erscheinen mögen … Schmeckt ein bißchen wie Hustensaft.« »Mögen Sie es nicht …? Was können wir Ihnen sonst anbieten? Mineralwasser? Fruchtsaft?« 312
»Whisky. Der hilft mir beim Denken. Wenn wir viel Arbeit vor uns haben, was der einzige Grund sein kann, daß Sie mich bis hierher geschafft haben, dann brauche ich vielleicht eine ganze Flasche.« »Gut, wir besorgen sofort eine, und außerdem lasse ich Ihnen ein paar Sachen zum Wechseln bringen. Also, dann erkläre ich Ihnen mal, wer hier wer ist. Ich bin Leiter der Ostasien-Abteilung der CIA, Tom und Radek arbeiten für mich. Major Gillespie dort drüben – seine wenigen Freunde nennen ihn Paul – kommt vom Pentagon … Entschuldigen Sie, Morag, aber wissen Sie, was das Pentagon ist?« »Allerdings. Das ist ein fünfseitiges Ding.« »Ja-a, schon, aber hier bei uns nennen wir auch … Morag! Das war das letzte Mal, daß ich Ihnen eine dumme Frage stelle, damit das klar ist. Nun denn, dann haben wir hier links noch Orson Wells. Sein wirklicher Name ist Peter, wenn ich mich recht erinnere, aber so nennt ihn niemand. Orson ist der Crack aus unserem übernatürlichen Programm. Wir alle danken Ihnen sehr, daß Sie hier nach Langley gekommen sind. Da Calum ein US-Bürger ist, haben wir uns mit dem britischen Geheimdienst darauf geeinigt, daß ab jetzt wir die gesamte Operation durchführen … Wie Sie wissen, haben wir es eilig, also kommen wir direkt zur Sache. Morag, wie funktioniert diese Kommunikation zwischen Calum und Ihnen? Ist das wie ein Gratis-Anruf?« »Ich habe noch nie jemanden angerufen. Aber was Calum und ich tun, ist jedenfalls viel unklarer und viel anstrengender, als sich zu unterhalten.« »Wie funktioniert es überhaupt?« »Wenn ich eine Botschaft von ihm empfangen will, dann versuche ich, meinen Geist so leer wie möglich zu 313
machen, am besten ganz leer. Wenn er mir dann etwas übermittelt, entsteht in mir irgendwann ein ungefähres Gefühl für seine Gedanken. Es läßt sich kaum beschreiben. Es sind keine Worte, es ist eher, als hätte mir jemand einen Gedanken oder ein Gefühl in meinen eigenen Geist eingepflanzt. Manchmal ist das sehr schwer zu interpretieren.« »Das sicherlich. Und wenn Sie eine Botschaft senden wollen, wie funktioniert das?« »In diesem Fall konzentriere ich mich so sehr ich kann auf einen bestimmten Gedanken. Wenn es funktioniert, dann erreicht er seinen Geist auf dieselbe Weise.« »Was haben Sie versucht, Calum zu sagen, als er sie … kontaktiert hat?« »Daß ich ihm helfen will. Das ist alles.« »Gut. Und haben Sie noch irgendwas empfangen?« »Er wiederholt, daß er Hilfe braucht, daß er gerettet werden muß. Es ist wichtig, daß Sie ihn aus China herausholen, damit er Ihnen sagen kann, was er getan hat.« »Das ist alles …? Bis jetzt, meine ich.« »Das ist alles, abgesehen von den Zahlen. Die wiederholt er oft. Es ist nicht viel, tut mir leid, aber ich bin außer Übung.« »Nein, nein, Morag. Das ist ein toller Anfang. Orson hier hat einen speziellen Raum für Sie vorbereitet, in dem sie sich entspannen können – meditieren, senden, empfangen … Was auch immer. Es gibt ein Bett darin und einige Möbel und der Raum ist total schallgedämmt, Sie werden also nicht gestört. Ich gebe Ihnen dann eine Liste mit Fragen, von denen wir hoffen, daß Sie sie beantworten können. Machen Sie sich keine Sorgen, wenn es nicht geht. Orson wird direkt vor Ihrer Tür warten, und wann 314
immer Sie etwas mitzuteilen haben, wird dieses Team sich zusammenfinden, um Sie anzuhören und neue Fragen zu formulieren. Ist das in Ordnung?« »Legen Sie los, Jack.« »Okay, als … Ist er verletzt? Ist er allein? Wie lange kann er noch durchhalten? Das ist die erste Gruppe. Außerdem müssen wir irgend etwas über die Arbeit wissen, die er für die Chinesen getan hat. Wir haben keine Vorstellung, warum er das getan hat oder was passiert ist, sollten das aber in Erfahrung bringen. Uns ist klar, daß es schwierig sein wird, mit solchen Fragen zu kommunizieren, aber es ist wichtig, daß Sie es versuchen. Wenn man Calums einzigartige Begabung in Betracht zieht, ist es verdammt offensichtlich, daß er an irgendwelchen Vorhersagen gearbeitet hat. Und wir glauben nicht, daß es dabei um die Pekinger Lotterie geht. Höchstwahrscheinlich irgend etwas Strategisches, irgendwelche militärischen Dinge. Alles, was sie darüber herausfinden können, wäre von unschätzbarem Wert. Bildet er ihre Leute aus oder arbeitet er direkt für sie? Gibt es ein bestimmtes Ziel oder Thema? Wann wollen Sie ihn einsetzen …? Das war’s. Es ist eine lange Liste. Tut mir leid. Orson wird sie jetzt hinführen und … Nein, ich werde ganz bestimmt nicht vergessen, Ihnen den Whisky rüberzuschicken. Möchten Sie auch einen Eimer mit Eis …? Oh, oh, schon wieder eine dumme Frage, schätze ich. Nochmals vielen Dank, Morag, wir sind Ihnen sehr dankbar, daß Sie es versuchen … Ich bin hier an meinem Schreibtisch, wenn sie irgendwas brauchen.« »In Ordnung, Jack, und einen schönen Tag noch.« Sie stapfte mit Wells davon und kicherte ein bißchen mädchenhaft vor sich hin.
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»Was heißt May eigentlich?« »So was wie möglicherweise, vielleicht.« »Hä …? Oh, hör auf, mich zum Narren zu halten. Was heißt es wirklich?« »Schön.« »Das paßt. Deine Eltern konnten gut vorhersagen. Sind sie immer noch zusammen?« »Ja.« »Wo sind sie? In Peking?« »Rom.« »Wie? In Rom, Italien?« »Ja. Mein Vater arbeitet für das AnQuianBu. Das ist so etwas wie die CIA. Er ist dort in der Botschaft.« »Sind sie zum erstenmal fort von zu Hause?« »Nein, nein. Sie waren den Großteil der letzten zwanzig Jahre unterwegs. Paris, Washington, London, Tokio.« »Warst du bei ihnen?« »Aber natürlich. Nicht in Tokio, aber sonst. So gutes Englisch kann man nicht im Schulzimmer lernen, vergiß das nicht.« »Nein, natürlich nicht. Also ist Spionage bei euch quasi eine Art Familiengeschäft?« »Scheint so.« »Sind deine Brüder und Schwestern auch dabei?« »Ich habe keine.« »Oh, hab’ ich vergessen, ihr Chinesen dürft ja nur ein Kind pro Paar haben, oder?« »Das ist nicht der Grund. Ich hatte einen Bruder. Er ist gestorben.« »Tut mir leid. An was ist er gestorben?« 316
»An einer Kugel. Er war als Student auf dem Tiananmen Platz dabei.« »Er wurde exekutiert?« »Offiziell nicht. Aber so wie die Soldaten auf sie geschossen haben, war es eine Massenexekution. Ja.« »Ich hab’ das im Fernsehen gesehen. Wie konnten diese Soldaten das ihren eigenen Leuten antun?« »Sie mußten Soldaten kommen lassen, die Deng Xiaopeng loyal ergeben waren. Meistens handelte es sich um Bauernsöhne, die keine Ahnung hatten, worum es ging. Die Pekinger Soldaten weigerten sich, die Dreckarbeit zu machen.« »Gut für die Pekinger Soldaten.« »Eigentlich nicht. Zweiundneunzig dieser Soldaten, die sich weigerten, wurden erschossen.« »Großer Gott … May, ich begreife das nicht. Diese Menschen töten ihre eigenen Studenten, ihre eigenen Soldaten, sie töten deinen Bruder … und du arbeitest immer noch für sie?« »Mein Bruder hat meinem Vater nicht gehorcht. Er hätte niemals dort …« »Bist du so hart und gefühllos, daß dich nur das kümmert? Daß er deinem Vater nicht gehorcht hat? Dein Bruder tat vielleicht etwas Dummes, aber verdammt Tapferes, und er wurde dabei getötet, und dir ist das egal?« »Ich habe nicht gesagt, daß es mir egal ist. Ich habe meinen Bruder geliebt.« »Aber der Regierung gibst du keine Schuld?« »Auch das habe ich nicht gesagt.« »Immerhin hast du dich entschieden, für sie zu arbeiten.« 317
»Ich habe das nicht entschieden, man hat es mir befohlen. Ich hatte in dieser Angelegenheit überhaupt keine Wahl. Wir sind hier nicht in Kalifornien, Calum.« »Wenn ich dich richtig verstehe ...« »Du verstehst nichts. Mein Vater war entehrt und wurde wegen meines Bruders strafversetzt. Er und meine Mutter sind niemals über seinen Tod hinweggekommen, aber sie mußten leben. Glaubst du, ein chinesischer Spion kann einfach kündigen und sich eine andere Arbeit suchen? Denk doch mal nach. Und hast du eine Ahnung davon, was ihnen zugestoßen wäre, wenn ich abgelehnt hätte?« »Tut mir leid, May. Mir war nicht klar ...« »Ist doch egal. Vergiß es einfach. Calum, du mußt jetzt ehrlich mit mir sein. Daran, daß du stundenlang meditierst, sehe ich, daß du irgendwas zu erreichen versuchst. Kannst du mir sagen, was? Wir haben nicht mehr viele Vorräte. Wenn ich schon verhungern muß, dann sollte ich wenigstens wissen, warum.« »Ich bin nicht sicher, ob ich ...« »Was …? Wenn du mit mir schlafen willst, dann solltest du auch bereit sein, mir zu vertrauen. Vielleicht haben wir auf verschiedenen Seiten angefangen, aber jetzt stecken wir da zusammen drin. Können wir die Vergangenheit nicht einfach ruhen lassen und versuchen, uns etwas zu überlegen? Einfach zu verhungern klingt für mich nicht wie ein toller Plan.« »Okay, ich mach’ es, ich vertrau’ dir. Aber wenn du mich dann im Stich läßt …« »Halt den Mund und erzähl schon.« »Die Frau, die mir das alles beigebracht hat … Morag. Ich versuche, sie telepathisch zu erreichen, damit sie eine
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Nachricht überbringt … keine Ahnung an wen – damit sie Hilfe holt.« »O mein Gott.« »Was?« »Deine Lehrerin, Morag Buchanan … Nachdem du Montgomery von ihr erzählt hast, haben wir …« »Was? O nein, ihr habt doch nicht … Ihr elenden Schweine.« »Nein, nein, nein. Ich weiß wirklich nicht, ob sie getötet oder gefangengenommen werden sollte. Es war auch egal. Sie ist vor ein paar Monaten bei einem Brand ums Leben gekommen.« »Augenblick mal, das kann nicht stimmen, sonst würde ich mir nur einbilden … Haben sie ihr Grab wirklich gesehen?« »Nein, es gab keins. Unsere Leute haben es von den Nachbarn erfahren. Die haben ihre Asche ausgestreut.« »Das ist lächerlich.« »Lächerlich? Deine einzige Hoffnung ist tot, und du findest das lächerlich?« »Sie ist nicht tot. Ich weiß, daß sie lebt. Eure Leute sind an der Nase herumgeführt worden. Ich wette, mein alter Freund Fraser hatte damit zu tun. Morag geht es gut, sie ist schon unterwegs.« »Calum, ich weiß nicht, wer nun recht und wer unrecht hat, aber wenn diese Frau tatsächlich noch am Leben ist, wer wird sich dann ihrer annehmen? Sie ist einfach nur eine merkwürdige alte Frau, oder?« »Sie ist sehr merkwürdig, aber trotzdem bin ich verdammt sicher, daß ihr irgend jemand seine Aufmerksamkeit schenken wird.« 319
Morag machte es sich bequem. Sie untersuchte kritisch die komplizierten Duscharmaturen und entschied sich dann doch für ein Bad. Natürlich hatte sie es diesen Amerikanern nicht zeigen wollen, aber sie war hundemüde und litt unter arthritischen Schmerzen, von denen sie noch nie einer Menschenseele erzählt hatte. Entschlossen kippte sie ein Glas Whisky und schlief fünf Stunden. Als sie aufwachte, war es vier Uhr morgens, und das Licht schlich sich schon durch die Vorhangritzen. Morag zog sie fester zu und lag da; die Dunkelheit verbarg die grimmige Entschlossenheit ihres Gesichtsausdrucks. Stundenlang kam nichts. Schlief er? Hatte er aufgegeben? Sie wartete und wartete. Sie winkte den fragenden Orson weg, sie kümmerte sich nicht um die Sandwiches, die er neben ihr abstellte, sie nahm nur ab und zu einen Schluck Whisky. Dann spürte sie es, wie ein leises Flüstern im Wind, es war schwer auszumachen. Zuerst war sie nicht sicher, sie mußte es oft versuchen, um überhaupt irgend etwas zu begreifen. Bis in den späten Nachmittag machte sie so weiter, dann ging sie zur Tür und sagte dem geduldigen Orson, es sei Zeit für ein Meeting. Orson telefonierte die Gruppe zusammen – knallharte Skeptiker, trotz ihres netten Lächelns – und begleitete Morag durch lange Flure zurück in den Konferenzsaal. Ihr war eine stille Würde eigen, die alle veranlaßte aufzustehen, als sie hereinkam. Radek trat sofort zu ihr, um den Stuhl zurechtzurücken. »Okay, Jack, ich glaube, ich habe ein paar Informationen für Sie.« »Sehr gut, Morag, legen Sie los.« »Er kann noch ein paar Tage durchhalten, und er ist nicht verletzt. Er ist nicht allein, ein Mädchen ist bei ihm. Sie haben versucht, seine Gabe für sich auszunutzen, aber 320
es hat nicht funktioniert. Das Ziel ist Taiwan. Die Chinesen wollen angreifen, er glaubt, schon bald … das ist alles.« »Alles? Das ist verdammt erstaunlich, findet ihr nicht, Leute?« Sie klatschten freundlich. Morag erlaubte sich den Luxus eines schüchternen Lächelns. »Morag, wir müssen mehr über dieses Mädchen wissen. Weiß sie, daß er mit Ihnen in Verbindung steht, gehört sie zum Personal der Basis, ist sie Teil des Programms? Schaffen Sie das?« »Er wird jetzt schlafen, und ich muß mich auch ausruhen. Wenn er aufwacht, mache ich weiter.« »Wunderbar. In der Zwischenzeit bespreche ich mit unseren Vorgesetzten, was er als nächstes tun soll.« Morag ließ sich von Orson mit in die Kantine nehmen, war aber zu erschöpft, um auf seine Plaudereien einzugehen. Die Reise, der Jetlag, die unbekannte Umgebung und vor allem die Konzentration hatten fast ihre gesamten Kräfte aufgebraucht. Calums wegen mußte sie aber weitermachen und ihre Müdigkeit verbergen. Wenn sie das Gefühl bekamen, daß sie nicht mehr durchhielt, würden sie sich vielleicht nicht mehr mit ihr abgeben und die Verbindung zu ihm abbrechen. Sie würden sie nach Hause schicken, und dann würde sie nichts tun können, um den armen Jungen zu retten. Für May zogen sich die Tage länger hin, weil sie ihren Geist mit nichts ablenken konnte. Manchmal unterbrach Calum seine mentalen Eskapaden, um mit ihr zu reden oder Lieder zu singen, damit sich ihre Laune besserte. Die restliche Zeit konzentrierte er sich oder schaltete sein Hirn bewußt in den Leerlauf. Als er seine Gedanken wieder einmal umherstreifen ließ, fiel ihm auf, daß er seit seinem 321
Ausbruch nicht ein einziges Mal an Marianna gedacht hatte, und selbst als er es jetzt tat, fühlte es sich … anders als vorher an. Dieses Brennen in seinem Bauch war verschwunden, und ebenso der Wunsch, Brett Marquardt zu erwürgen. Ganz gezielt dachte er ein Weilchen an Marianna und wartete darauf, daß die bekannten Emotionen zurückkehrten. Das taten sie aber nicht. Er zuckte mit den Schultern und beschloß, daß es wohl mit der Hitze zu tun haben müsse, dann fing er wieder an zu meditieren. Zwei Stunden später stand er auf und ging rüber zu May. »Es wird spannend; irgend etwas tut sich, ich spüre es.« »Meinst du wirklich, Calum?« »Warte, bis ich eine vernünftige Antwort bekomme. Drücken wir uns einfach nur die Daumen, daß sie uns hier rausholen, bevor unsere Verfolger uns finden. Mir ist nicht klar, wie sie uns befreien könnten, ohne daß die Chinesen es mitbekommen. Gut, sie haben diese Tarnkappenflieger, und vielleicht haben sie auch entsprechende Hubschrauber. Oder glaubst du, sie werden irgendwo anders landen und uns dann mit Wagen abholen …? Und wo wir schon dabei sind, wie sollen wir uns eigentlich bei ihnen bemerkbar machen, ohne daß die ganze gottverdammte chinesische Armee ebenfalls hier angerannt kommt …? Keine Ahnung. Aber ich schätze mal, sie haben einen Plan … Wird schon nicht das erste Mal sein, daß sie so was machen.« »Könnte Morag dir nicht sagen, was wir tun sollen?« »Das möchte ich doch hoffen. Aber jetzt müssen wir erst mal abwarten. Hey, May, ich frage mich schon eine Weile … Weißt du noch, wie du gesagt hast, du würdest dich lieber nicht verlieben? Wieso eigentlich?« »Ich kann meine Loyalität nicht riskieren.« 322
»Du meinst, zu deiner Arbeit?« »Nein, zu meinen Eltern. Seit dem Tod meines Bruders fühle ich mich für sie verantwortlich, und meine Vorgesetzten haben sehr deutlich gemacht, daß meine Leistungen über ihr Schicksal entscheiden könnten. Ich muß sie über alles andere stellen. Wenn ich einen Mann liebte, würde sich das ändern.« »Liebe muß ja nicht so absolut sein.« »Für mich wäre sie das aber.« »Und was passiert mit deinen Eltern, wenn wir zusammen fliehen?« »Calum, ich glaube nicht wirklich, daß jemand dich befreien könnte, aber wenn ich mich irre, wenn sie tatsächlich kommen, dann kann ich auf keinen Fall mit dir gehen. Täte ich das, würde man meine Eltern schrecklich bestrafen. Ich werde nicht versuchen, dich aufzuhalten, aber du darfst auch nicht zulassen, daß deine Befreier mich zwingen, mitzukommen. Wenn du aus China weg bist fahre ich zurück zur Basis und lasse mich dann bestrafen. Meine Eltern werden trotzdem darunter leiden, aber meine Rückkehr wird das Schlimmste verhindern.« »Und wenn die USA dazu bereit wären, sie auch zu retten und ihnen Asyl anzubieten?« »Unmöglich. Bo wird Peking schon alarmiert und unser Botschafter in Rom wird ihnen untersagt haben, das Botschaftsgelände zu verlassen. Sie werden vierundzwanzig Stunden am Tag überwacht.« »Hör mal, im Vergleich dazu, uns mitten aus China herauszuholen, sollte es doch ein Kinderspiel für unsere Jungs sein, deine Eltern in Rom zu befreien. Ich will dich nicht so einfach aufgeben.« May lächelte und küßte Calum sanft auf die Schläfe. 323
Jetzt wurde es immer klarer, es durchschnitt ihr Bewußtsein manchmal so kraftvoll, daß sie aus tiefem Schlaf hochschreckt. Dann wieder ließ es sie in Frieden, daß sie sich erholen und beruhigen konnte. Das arthritische Pulsieren war ein wenig abgeebbt, aber jetzt spürte sie Schmerzen in der Brust. Doch sie wagte nicht, nach einem Arzt zu fragen. Wenigstens war ihr Appetit zurückgekehrt, was fast schon ein gutes Zeichen war. Die Sandwiches und Pickles waren prima, und sie probierte dann doch noch mal die Coca Cola aus dem kleinen Kühlschrank. Hmmm, vielleicht schmeckte es jetzt nicht mehr ganz so schrecklich wie beim ersten Mal. Selbst wenn Calum keinen Kontakt mit ihr hielt, sorgte sie sich andauernd um ihn, was sie ebenfalls anstrengte. Um sich also eine Weile abzulenken, ließ sie sich von Orson erklären, wie der Fernseher funktionierte, und dann spielte sie eine halbe Stunde mit dem kleinen grauen Plastikkästchen herum, das so praktisch die Programme wechselte. Dann spürte sie es wieder kommen, schaltete sofort den Fernseher und das Licht aus und machte sich an die Arbeit. Stück für Stück zog sie ihn an Land. »Sie gehört zur Basis, hat für die anderen gearbeitet aber jetzt die Seiten gewechselt. Sie weiß von der Kontaktaufnahme.« »Okay, Morag. Sehr gute Arbeit. Jetzt kommt der schwierige Teil. Sie müssen Calum eine Nachricht übermitteln, die für ihn eine große Enttäuschung sein wird. Ich weiß, daß er eine Rettungsaktion erwartet, aber unglücklicherweise sind wir hier nicht in einem Film mit James Bond. Wir können nicht einfach in China auftauchen und ihn aufsammeln, wir würden nicht mal in 324
seine Nähe kommen. Die Chinesen würden unsere Hubschrauber auf dem Radarschirm sehen und zur Landung zwingen oder einfach abschießen. Außerdem wäre das ein verdammt übler internationaler Zwischenfall. Ich habe gefragt, Morag, aber die Antwort war ein sehr klares Nein. Tut mir wirklich leid, Sie enttäuschen zu müssen. Aber es geht einfach nicht.« Morag fühlte sich im Stich gelassen und war sehr wütend auf Jack. Sie bemühte sich jedoch, es nicht zu zeigen, bis ihr klar wäre, was für Pläne sie nun hatten. »Was kann Calum also tun, Jack?« »Er muß sich auf jeden Fall stellen, wenn er nicht verhungern will. Er kann von dort aus nicht entkommen. Wir möchten, daß Sie ihn bitten, sich nicht nur zu stellen, Morag … Calum muß zurückkehren und wieder anfangen, mit den Chinesen zusammenzuarbeiten.« »Das verstehe ich nicht, Jack.« »Er darf natürlich nur so tun, als ob er mit ihnen zusammenarbeitet. In Wirklichkeit würde er für uns arbeiten, er könnte uns über Sie von ihren Plänen in Kenntnis setzen. Er könnte uns warnen, wann und wie sie Taiwan angreifen wollen. Glauben Sie, er wäre bereit, das zu tun?« »Ich weiß es nicht. Das ist sehr viel verlangt. Wenn ich danach gehe, wie er sich in der Vergangenheit verhalten hat, würde ich sagen: nein. Er weiß, wenn er sich stellt, dann foltern sie ihn vielleicht oder bringen ihn um. Der Calum, den ich kenne, würde sich lieber selbst töten, als das zu riskieren. Andererseits war ich sehr überrascht, daß er überhaupt den Mut hatte, zu fliehen. Vielleicht hat der Junge sich doch irgendwie verändert.« »Hoffen wir’s. Aber wir müssen ihm eine weitere Anweisung geben, die vielleicht noch schmerzhafter für 325
ihn sein könnte. Das Mädchen – haben Sie das Gefühl, daß er ihr nahesteht?« »Ich glaube schon.« »Wenn sie beide zurückkehren und wenn sie den Chinesen sagt, daß er mit Ihnen in Kontakt stand, ist alles hinüber. Sie würden nicht wieder mit ihm arbeiten und würden ihn sofort töten.« »Vielleicht verrät sie es nicht.« »Aber sie könnten es aus ihr herausprügeln. Dieses Risiko dürfen wir nicht eingehen. Ich wünschte, es gäbe eine andere Möglichkeit, aber leider bestehen meine Vorgesetzten darauf: Calum muß sie zum Schweigen bringen.« »Das heißt, er soll sie töten?« »Ja.« »Das wird ihn sehr mitnehmen. Er gibt sich alle Mühe, niemanden mehr im Stich zu lassen, und Sie zwingen ihn, sich zwischen zwei Formen des Verrats zu entscheiden. Ein Menschenleben auf dem Gewissen zu haben, ist schrecklich, aus welchem Grund auch immer. Ich bin nicht sicher, daß er das tun wird. Ich in seiner Lage täte es nicht.« »Morag, er muß.« Morag schaute Jack Balletto an. Jetzt weiter zu reden, brachte nichts. Ob Jack sie nun bisher an der Nase herumgeführt hatte oder nicht, er hatte wahrscheinlich wirklich keine Möglichkeit, eine Rettungsaktion anzuordnen. Und obwohl sie den armen Jungen wirklich wieder zurück in die Höhle des Löwen schicken wollten, bestand Calums einzige Überlebenschance tatsächlich darin, zu tun, was diese Leute sagten. Sie versuchte, ihre
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Sorge nicht zu zeigen, daß Calum sich von ihr betrogen fühlen und vielleicht ganz einfach aufgeben würde.
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20 Natürlich hatten sie den Präsidenten stets auf dem laufenden gehalten; jetzt wollte er mit ihnen allen im Oval Office reden. Für jemanden, der täglich in der Presse, im Fernsehen und in allen möglichen Meinungsumfragen eins auf den Deckel bekam, sah er unglaublich gut aus. Nur wenige Staatsoberhäupter wären vom Druck so schwieriger Jahre so ungebeugt geblieben. Sicher hatte ihm seine Größe dabei geholfen. Und sein Filmstar-Aussehen – genausogut für Nahaufnahmen geeignet wie aus der Entfernung –, das sich einfach weigerte, zu verblassen oder auch nur herabzusacken. Sein Haar war so dicht und fest, daß Toupethersteller sich die eigenen Haare rauften. Die große Macht und die Verantwortung für das Schicksal einer ganzen Nation hatten dem Schimmer seiner blauen Augen höchstens noch neue Kraft gegeben. Es hieß, es läge daran, daß er so gut schlafen könne, jederzeit und überall. Und sein zeitlos gutes Aussehen noch vier Jahre zu bewahren, würde nicht der Hilfe eines Chirurgenskalpells bedürfen, sondern der exotischeren, unendlich viel teureren Droge einer zweiten Amtszeit. »Jim, was meint das Pentagon dazu?« »Ganz einfach, Mr. President, die Insel ist nicht zu verteidigen. Wenn die Chinesen frontal angreifen, sind sie nicht zu stoppen. Was die Waffenlieferungen angeht, haben wir getan, was wir konnten. Die Taiwanesen haben gerade noch weitere zwölf F 15 und dreißig mobile Raketenwerfer erhalten. Das sollte ihnen helfen, eine erste Raketen- und Bomben-Angriffswelle zu überstehen. Vielleicht könnten sie damit sogar der ersten Welle der 328
Invasionstruppen eine böse Überraschung bereiten. Aber am Ende wird man sie doch überwältigen. Wenn die Chinesen sich einer Sache verschrieben haben, dann stecken sie nicht mehr zurück. Der Gesichtsverlust wäre zu groß, er würde die gesamte Partei und den militärischen Apparat zerbrechen. Sie hätten keine andere Wahl, als zu siegen, wie hoch auch immer der Preis wäre.« »Können wir noch irgend etwas tun?« »Wir gehen davon aus, daß wir nach Kriegsausbruch nur noch direkt eingreifen könnten. Und wir alle wissen, wohin das führen würde.« »Ja, ich glaube nicht, daß Raketeneinschläge in Kalifornien meine Wahlchancen erhöhen.« Sie wußten alle, wann es klug war, zu lachen. Jeder versuchte, am längsten zu grinsen. »Flugzeugträger in der Nähe zu stationieren, wäre völlig irrelevant, wenn sie wüßten, daß wir sie sowieso nicht einsetzen. Es würde nur unsre Schwäche demonstrieren, wenn wir untätig herumstehen. Die Chinesen fänden das natürlich toll. Wir sollten daher alle Kriegsschiffe aus der Region abziehen.« »Wenn sie Taiwan haben wollen, dann nehmen sie es sich also einfach? Johnny, glaubt die CIA, daß sie es wagen?« »Wir glauben, daß die Wahrscheinlichkeit dafür steigt, Mr. President. Die Chinesen versuchen schon seit Jahren, in Taiwan einen Konsens im Sinne der Wiedervereinigung zu erreichen, indem sie Schlüsselinstitutionen infiltrieren und den wichtigsten taiwanesischen Firmen gute Geschäfte anbieten. Aber die alten taiwanesischen Führer sind stur, und Peking wird ungeduldig. Sie glauben vielleicht auch nicht, daß die Zeit auf ihrer Seite ist. Im Augenblick tun die Chinesen trotz ihrer schicken neuen 329
Sachen und Aktienspekulationen noch, was die Partei ihnen sagt. Aber die Militärs fürchten, daß sich das ändern könnte, wie drüben in Vietnam. Noch zehn Jahre Wohlstand, Auslandsreisen, und dann? Die nächste Generation findet ethnische Säuberungen vielleicht schon viel weniger gut. Die Armee meint also im Grunde: wenn sie nicht bald etwas tut, dann wird sich die Gelegenheit dazu vielleicht nie wieder bieten.« »Und was hält der Geheimdienst von den Truppenbewegungen?« »Darf ich Sie, was das anbetrifft, auf die Karte in Ihrem Briefing-Pack verweisen, Sir …? Auf den Basen in der Straße von Taiwan, speziell auf der kleinen Insel Xian Men, ist jede Menge Flottenaktivität zu verzeichnen. Sie haben sechs Han-U-Boote dorthin verlegt, außerdem eine ganze Reihe Kriegsschiffe. Das ist viel mehr als sonst. Wir glauben außerdem, daß sie auch eine Großzahl Transportflugzeuge auf ihre Basen hier in Shantou und hier im Süden Fuzhous verlegt haben. Und es gibt noch eine weitere Information. Die allerdings sehr wackelig ist. Wir sollten ihr nicht allzu viel Wichtigkeit beimessen. Es scheint, als hätte ein junger Zivilist, ein Amerikaner, den Chinesen bei einem paranormalen Militär-Training geholfen. Er ist immer noch in China, aber er hat versucht, uns mitzuteilen, daß der Sinn des Programms in einem Angriff auf Taiwan läge.« »Was ist das für ein Kerl? Arbeitet er für uns?« »Nein, wir glauben, daß ihn möglicherweise die Chinesen angeworben haben und daß er es sich dann anders überlegt hat – oder vielleicht haben sie ihn auch entführt. Er scheint tatsächlich über paranormale Fähigkeiten zu verfügen.«
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»Also – was genau macht er? Ruft er die CIA aus China an?« »Nein, Sir. Er meldet sich bei uns … telepathisch, mittels einer älteren weiblichen Verwandten als Medium.« »Johnny, seid ihr jetzt völlig durchgedreht? Was ist denn das für ein New-Age-Blödsinn?« »Wie gesagt, Mr. President, wir weisen dem nicht unbedingt entscheidende Wichtigkeit zu.« »Belassen Sie es besser dabei, sonst lasse ich Langley schließen und hole mir statt dessen ein paar Kartenleger. Das würde den Steuerzahlern eine Menge Geld ersparen … So, und jetzt im Ernst. Lynne, wie steht es in Genf?« »Es läuft zäh. Der WTO-Vorsitzende Signor Fratelli regt sich immer noch auf, aber das Gremium hat sich mittlerweile zusammengefunden. Nach immensem Druck hat es sich bereit erklärt, innerhalb von zwei Wochen ein provisorisches Urteil abzugeben, genauer gesagt, am sechsten August. Das bedeutet eine große Abweichung vom normalen Vorgehen, ist aber nun immerhin akzeptiert worden. Die Franzosen waren dagegen und meckern immer noch. Ihr Anruf bei Premierminister Nakamoto war entscheidend. Wie Nakamoto ihnen bereits sagte, werden sie beim Urteil selbst auf keinen Fall gegen die Chinesen stimmen, aber für uns ist im Augenblick vor allem das Timing wichtig. Es bedeutet, daß die Genfer Verhandlungen mit den Chinesen am siebten August beginnen können. Wir planen, unseren Botschafter Patterson den Anfang machen zu lassen, und dann werde ich eine Woche später hinfliegen, um mit der Ministerin Tian zu sprechen.« »Ist Tyne glücklich?«
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»Glücklich ist das falsche Wort. Seine Leute sagen, daß sie uns Zeit bis Ende August lassen, bevor sie sich an die Öffentlichkeit wenden.« »Was glauben Sie, wie die chinesische Delegation damit umgehen wird?« »Sie dürfen eigentlich wissen, daß ihr Bruch der Vereinbarungen so offensichtlich ist, daß das vorläufige Urteil gegen sie ausfallen muß. Alles wird davon abhängen, wie ihre Lobby aussieht und was sie zu riskieren bereit sind. Bei dem Druck, den wir ausüben, sollten sie die Notwendigkeit erkennen, echte Zugeständnisse zu machen.« »Und wie verhalten sich die Europäer?« »Die Briten sind immer noch auf unserer Seite, die Franzosen definitiv nicht. Wir vermuten, de Murville hat irgendeine Vereinbarung mit den Chinesen geschlossen, es sieht also so aus, als entscheide sich alles mit den Deutschen. Sie sollten vielleicht noch einmal mit dem Kanzler sprechen.« »Okay … War’s das? Ich will den Mexikaner nicht länger warten lassen.« »Calum, ich halte das nicht mehr aus. Du hast seit Stunden kein Wort gesagt. Du sitzt einfach nur da und starrst ins Nichts. Verdammt noch mal, sag mir, was los ist. Ich möchte es lieber wissen. Alles ist besser, als das. Was, zum Teufel, ist los? Hängt es mit deiner Rettung zusammen? Kommen sie nicht?« »So ist es.«
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»Du Armer. O Gott, das tut mir so leid. Wie konnten sie denn Hoffnung schüren und dich dann so im Stich lassen? Hey, nicht weinen, laß mich dich in die Arme nehmen.« »O May, o May …« »Ich weiß. Du mußt dich wirklich elend fühlen … Calum, ich weiß, wie schwer das ist, aber wenn sie dich nicht retten, dann solltest du darüber nachdenken, was wir jetzt unternehmen. Wir haben fast kein Wasser mehr, und es ist auch nicht mehr viel zu essen da. Sollen wir einfach hier verrotten? Kannst du nicht versuchen, allein zu entkommen? Wenn wir irgendwo einem Laster auflauern, könnten wir versuchen, ihn zu kapern. Urumqi ist sechshundert Kilometer weit weg, aber es ist groß. Gut verkleidet kannst du dich dort möglicherweise verstecken. Ich könnte zumindest einen Teil des Weges noch mitkommen und behaupten, daß du mich mit der Pistole gezwungen hättest. Die Chancen stehen gegen dich, aber das ist bestimmt allemal besser als das hier …« »Ich gehe zurück ... zur Basis.« »Was?« »Du hast mich verstanden.« »Wieso das so plötzlich?« »Ich habe keine Wahl.« »Nun, das überrascht mich, aber wenn du das für das beste hältst … Was für einen Plan hast du? Willst du versuchen, ihnen weiszumachen, daß du einfach durchgedreht bist? Vielleicht glauben sie dir sogar. Mach dir keine Sorgen um mich. Was auch immer sie tun, ich bin eine Überlebenskünstlerin, ich schaffe das schon … Calum, komm schon, nicht mehr weinen. Du hast es wirklich versucht. Das war unglaublich mutig und tapfer von dir, aus der Basis auszureißen, damit du deine Leute warnen kannst … Weißt du, wenn du dich dafür 333
entschieden hast, daß wir auf jeden Fall zurückkehren, dann laß uns doch gleich losfahren, während es noch hell ist.« »May ...« »Warum versuchst du nicht, ob der Jeep anspringt? Ich bring’ das restliche Wasser rüber?« »May ...« »Was?« »Du darfst nicht mit zurück … Sie haben mir befohlen, daß ich alleine zurückgehen soll.« »Wer denn? Deine Stimmen?« »Ja.« »Und was passiert mit mir …? Warum schaust du mich so komisch an …? Hey, du meinst doch nicht …? Nein, das kann nicht sein … Sie haben dir gesagt, du sollst mich töten, ja? Großer Gott, ich glaube das einfach nicht … Sag es. Hast du das wirklich vor?« »Ja.« »Na toll. Und wie willst du es anstellen? Mich erschießen, mich erwürgen, mich verhungern lassen? Wie soll’s denn sein, du Arschloch?« »Ich hab’ keine Ahnung.« »Deine goldigen Stimmen sind ja nicht besonders präzise. Ich kann’s einfach nicht glauben, daß du diesen Mist auch nur sagst. Wir könnten beide zurück zur Basis fahren und es irgendwie durchstehen, aber weil irgendwelche beschissenen Stimmen dir was anderes einflüstern, wirst du mich einfach umbringen. Du bist verrückt, Calum. Das sind wahrscheinlich nur Halluzinationen. Denk doch mal an den Druck, unter dem du gestanden hast, denk daran, wie wenig du gegessen und getrunken hast. In der Wüste passieren den Menschen 334
merkwürdige Dinge. Überleg dir mal, wie du dich fühlen wirst, wenn du eines Tages nach Hause zurückkehrst und herauskriegst, daß du mit niemandem in Kontakt standest … Wer ist dieser lächerliche Kontakt? Eine verrückte alte Frau. Warum glaubt sie, das Recht zu haben, Todesurteile über ihren persönlichen Hirnsender auszusprechen?« »Das ist nicht Morag, die mir das sagt. Sie gibt es bloß weiter.« »Aus ihrem Nervenzentrum auf den Hebriden, was?« »Sie ist nicht mehr auf den Hebriden, sie ist in Amerika.« »Woher willst du das denn wissen …? So ein … BLÖDSINN … Du willst es also wirklich durchziehen, was? Du willst mich wirklich kaltmachen?« »Ich habe keine Wahl. Zum erstenmal in meinem Leben kann ich meine persönlichen Präferenzen nicht an erster Stelle setzen. Von meinem Verhalten könnte das Leben von Tausenden von Menschen abhängen.« »Ich verstehe. Hoffentlich verrottet ihr dafür alle in der Hölle. Aber wenn du es schon tust, dann tu es jetzt. Ich meine das ernst …« »Willst du ein Abschiedsmahl oder so? Du kannst den letzten Schokoriegel haben.« »Du erstaunst mich. Nein, will ich NICHT. Erschieß mich jetzt. Mein Gott, wie ich dich hasse … Worauf wartest du?« »Willst du nicht vielleicht deinen Eltern irgendwas schreiben …?« »Nein, du Scheißer ... JETZT!« »Okay … Tut mir wirklich leid, May, … das ist das letzte, was ich je …«
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»Ich will keinen Ton mehr von dir hören. Drück den verdammten Abzug, sonst trete ich dir die Knarre aus deiner beschissenen Pfote.« »Okay … Hey, bleib stehen …! Geh zurück, oder ich schieße.« »Du schießt? Das wolltest du doch sowieso, du Blödmann.« »Geh zurück ...« Ihr Fuß zuckte hoch, sie trat ihm die Waffe direkt aus der Hand, und die Pistole klapperte über den Höhlenboden; sie sprangen ihr beide nach und schrammten sich Knie und Ellbogen auf. Calum hatte die längeren Arme und bekam sie zu fassen, aber bevor er sich zu ihr umdrehen konnte, hatte sie sich wie eine Wildkatze auf ihn gestürzt, schlug ihm mit der Faust in den Solarplexus und knallte ihm eine Handfläche mit aller Kraft ins Gesicht; sie preßte seine Nase schmerzhaft nach oben, und er gab Geräusche wie ein Schwein auf der Schlachtbank von sich. »Ggggggggg … Aaaacccchhhhhhh … Eeeeeeeeeoooooow …« »Laß die verdammte Knarre los, du Scheißer …!« schrie sie ihm ins Gesicht. Calum schlug ihr mit der Beretta auf den Hinterkopf, während er mit der anderen Hand verzweifelt versuchte, ihre Finger aus seinem Gesicht zu biegen. Ihr Handballen glitt in seinen offenen Mund, und er biß mit aller Kraft zu. May schrie auf vor Schmerz und zog ihre Hand weit genug zurück, daß er die Pistole auf sie richten konnte. Dann lagen sie beide am Boden und keuchten wie wild. Calum lachte triumphierend. »Ha, du dachtest, du könntest mich schlagen, was?« 336
Sie keuchte ihre Worte nur so heraus. »Du bist wirklich ein Scheißkerl. Was machst du jetzt? Willst du zu Hause damit angeben, daß du eine Frau besiegt hast, bloß mit einer Pistole in der Hand …? Du machst mich krank. Ich hab’ die Schnauze voll. Mach es jetzt!« O Gott, er hatte ganz vergessen, daß er sie ja erschießen wollte. Wieder zögerte er. »Du beschissenes Arschloch, jetzt spiel nicht auch noch mit mir …« Calum sprach leise und beinahe sanft. »Ich kann nicht, May, ich kann es einfach nicht.« Er ließ die Pistole fallen. »May …« Er lag noch am Boden und streckte sich, um sie zu umarmen. Sie stieß sich von ihm weg und krabbelte erschöpft zu der Pistole hin. Ihr Gesicht war verzerrt vor Wut und Haß, langsam stemmte sie sich hoch. Vor allem der Zorn ließ ihre Hände zittern, als sie auf ihn zukam und ihm direkt zwischen die Augen zielte. Er lag einfach nur mit ausgestreckten Armen da und ignorierte die Waffe. »May, May …« »Hinknien, du Schwein, jetzt bist du dran.« Er stemmte sich ein wenig höher und streckte die Arme in ihre Richtung aus. Sie trat mit aller Kraft nach ihm. »HINKNIEN!« Er reagierte nicht. Sie packte seine Haare, zog wütend daran und zwang seinen Kopf hoch und zurück. Seine Stimme klang müde und resigniert. »Okay, May, ich knie’ mich hin.« Sie ließ seine Haare los; mit einem dumpfen Seufzen kniete er sich hin. May keuchte nicht mehr. Jetzt blieb ihr die Luft weg vor dampfender Wut. 337
»Okay, du Arschloch. Meine Stimmen haben mir gesagt, daß ich dich umbringen soll, also werde ich das tun. Willst du einen letzten Bissen? Willst du noch mal deiner tollen Ex-Frau schreiben?« »Nein, danke.« »Dann bettle um dein Leben.« »Hat das irgendeinen Sinn?« »Nein, ich will dich bloß betteln hören. Bettle. JETZT!« Sie trat ihm kräftig gegen den Schenkel. »BETTLE!« »Nein, May, ich werde nicht betteln. Du kannst es jetzt tun. Ich bin bereit.« »Glaub ja nicht, daß ich mich reinlegen lasse. Ich werde es tun, was auch immer du sagst.« »Auf was wartest du dann noch? Nach allem, was ich durchgemacht habe, wird das eine Erleichterung sein.« »Na dann, du kleiner Scheißer.« Sie preßte den Lauf seitlich an seinen Kopf, und er schloß die Augen. Ein paar Sekunden vergingen, dann brüllte sie mit explodierender Wut: »O SCHEISSE! Scheiße, Scheiße, Scheiße …! Ich bin genauso dämlich wie du.« Wütend warf sie die Pistole zu Boden. PENG!!!!!!! Ein Schuß löste sich. Die Kugel prallte gegen die Höhlenwand, sirrte als Querschläger zurück und verfehlte sie beide nur knapp. Der Lärm betäubte und erschreckte sie. Calum brauchte eine ganze Weile, um sich darüber klar zu werden, daß er unverletzt und noch am Leben war. May preßte den Kopf auf den Boden, verfluchte sich selbst und schlug mit den Fäusten auf die Steine. 338
Plötzlich wollte Calum nicht mehr tot sein. Er krabbelte rüber zu May und legte seine Arme um ihre Schultern. Sie hörte auf, um sich zu schlagen, schien aber seine Berührung nicht zu bemerken. Er streichelte ihren Hinterkopf. Immer noch keine Regung von ihr, nur leises Weinen. »Schon gut, Liebling, May, es ist okay, es ist vorbei.« Vorsichtig faßte er sie an den Schultern und drehte sie um. Sie half ihm nicht, leistete aber mit geschlossenen Augen auch keinen Widerstand. Ihre Lippen bewegten sich nicht, als er sie küßte. Das führte zu nichts, also tat er das nächstbeste und zog sie aus. Immer noch keine Regung. Er zog sich auch aus. Sie öffnete die Augen, reagierte aber nicht. Als sie es dann doch tat, erfolgte es mit einer Wildheit, Leidenschaft und Hingabe, die ein neues Kapitel in Calums Lebensbuch aufschlugen. Als sie einander danach in die Augen sahen wußten sie, daß etwas Kraftvolles, Ungewöhnliches zwischen ihnen vorgefallen war. Keiner von ihnen wollte oder konnte es benennen. Calum und May sprachen eine Stunde lang ernsthaft und zielgerichtet miteinander. Dann rangierten sie den Jeep aus der Höhle und fuhren schweigend über das unebene Gelände zurück zur Straße. Eine Patrouille las sie auf, bevor sie auch nur einen Kilometer hinter sich gebracht hatten. Als die Soldaten auf sie zukamen, flüsterte er ihr ins Ohr: »Wirst du mich betrügen?« »Ich habe dich monatelang betrogen.« »Nein, in Zukunft. Kann ich dir glauben?« »Glaub nicht mehr an Worte. Warte ab.«
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»Was sagt er, Morag? Hat er es getan? Hat er sie ausgeschaltet?« »Er sagt, er hat.« Morag mochte Jack, aber sie fand, daß ihre Aufgabe darin bestand, ehrlich wiederzugeben, was Calum kommunizierte, und nicht ihre eigenen Weisheiten dazuzupacken. Sie tat das alles für ihren Jungen, nicht für das Prestige der Amerikaner oder den Weltfrieden. »Und er ist wieder zurück in der Basis?« »Ja.« »Sind sie bereit, erneut mit ihm zu arbeiten?« »Er ist sich nicht sicher, sie sind sehr mißtrauisch. Er glaubt, sie haben sich noch nicht entschieden.« »Na gut, keine Nachrichten sind besser als schlechte Nachrichten. Er soll alles tun, um sie zu überzeugen. Glauben Sie, daß seine Vorhersagekraft durch seine Erfahrungen jetzt gestört wird?« »Ich weiß nicht. Ich glaube, er wird die Kraft dafür nur aufbringen, wenn er absolut überzeugt davon ist, das richtige zu tun.« »Ist er das?« »Keine Ahnung. Im Augenblick glaube ich, daß er nicht einmal sich selbst kennt. Er muß sich ausruhen. Er hat Schreckliches durchgemacht. Wir können nur hoffen, daß er unter dem Druck nicht zerbricht.« »Allerdings … Und wo wir schon von Torturen sprechen – es ist Jahre her, daß wir was anderes zu essen bekommen haben als Kartoffelchips und Erdnüsse. Ich kenne da einen Laden, in dem es das absolut leckerste Blackened Chicken gibt. Was halten Sie davon, Morag?« »Hängt davon ab, wie es schmeckt. Aber man sollte ja immer bereit sein, neue Dinge auszuprobieren. Dabei fällt 340
mir etwas ein, Jack. Ich muß Ihnen etwas gestehen. Ich habe noch mal Coca Cola versucht. Das hilft mir fast genauso gut wie Whisky, mich zu konzentrieren. Ich habe Geschmack daran gefunden.« »Ich weiß. Orson mußte beim Senat unser Budget erhöhen lassen, soviel trinken Sie davon.«
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21 »Und Sie glauben ihm?« »Ich bin nicht sicher, Montgomery. Es ist sehr wichtig, daß Major Osborne ihn weiterhin sehr genau beobachtet.« »Was halten Sie von einem Lügendetektor oder einem Wahrheitsserum?« »Dummerweise ist es nicht so einfach. Wenn es stimmt, daß er eine Art Zusammenbruch hatte, den der unglückliche Zwischenfall in der Bar ausgelöst hat, der aber vor allem durch den unglaublichen Druck verursacht wurde, ist vorstellbar, daß er die Wahrheit sagt. Seine geistige Stabilität könnte immer noch sehr fragil sein. Wenn wir seine vollständige Kooperation erreichen wollen, müssen wir ihm den Eindruck vermitteln, daß wir ihm vergeben haben und ihm glauben. Er muß sich mit vielem zurechtfinden. Wir haben ihn belogen und betrogen. Wir müssen sein Vertrauen wiedergewinnen, und zwar möglichst vollständig, um ihn zu motivieren, für uns zu arbeiten. Bei der Aufgabe, die vor ihm liegt, hilft nur absolutes Engagement. Er muß sich ausschlafen, sich erholen, und er muß das Gefühl haben, daß er unter keinerlei unangemessenem Druck steht. Jeder Wahrheitstest – wenn man ihn erkennbar durchführte – würde dieser Entwicklung nur entgegenwirken.« »Colonel Bo, bitte entschuldigen Sie die offenen Worte, aber ich glaube, das könnte eine Falle sein. Wir wissen, daß Buchanan über telepathische Fähigkeiten verfügt. Die alte Frau, die sie ihn gelehrt hat, ist vielleicht tot, aber möglicherweise steht er mit jemand anderem in Kontakt.«
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»Das ist tatsächlich möglich, obwohl Lee sagt, daß es unwahrscheinlich sei. Aber nur, wenn May sich darin täuscht, wie hörig er ist, oder wenn sie lügt. Sie wissen ja, daß wir sie hart rangenommen haben; wir haben ihr sogar Schlaf entzogen, um ihre Abwehr zu schwächen. Sie ist absolut sicher, daß es in der Zeit, in der er sich versteckt hat, keinerlei Anzeichen dafür gab, daß er mit irgendwem in Kontakt stand. Es sieht einfach so aus, als wäre er weggelaufen und hätte sich verkrochen wie ein dummer Schuljunge, bis ihm die Schokoriegel ausgegangen sind. Sein Verhalten paßt eher zu einer unausgeglichenen, verwirrten Persönlichkeit als zu einer internationalen Verschwörungstheorie.« »Ich persönlich finde es schwierig, diese Liebesgeschichte zu glauben, Colonel. Bis zu seiner Flucht hat Rita von ihm nur gehört, daß er seine Ex in alle Ewigkeit lieben wolle. Und jetzt hat er sich genauso toll in May Chang verknallt. Können wir ihm das wirklich abnehmen?« »Ich stimme da Osbornes Ansicht zu, daß wir es hier mit einer speziellen Verhaltensweise zu tun haben. Wenn er sich in eine Frau verliebt, dann absolut, dann wird er alles für sie tun. Vergessen Sie nicht, daß wir nicht wissen, wie seine Ex-Frau ausgesehen hat, aber ich möchte bezweifeln, daß sie attraktiver als Chang war.« Montgomery konnte seinen Zorn gerade noch unter Kontrolle halten, gerade noch. »Colonel Bo, wie können Sie so sicher sein, daß May sich nicht in ihn verliebt hat? Wenn man so eine Erfahrung teilt, kann das merkwürdige Verbindungen verursachen.« »Also wirklich, Montgomery, ich erwarte doch mehr Verstand von Ihnen als so etwas. Ich weiß, daß Sie das alles im Hinblick auf unsere Vereinbarung, was Chang 343
angeht, verärgert. Aber wir haben unseren Teil eingehalten. Während Buchanan hier war, wurde Chang instruiert, ihm nahe zu sein, aber nicht körperlich. Aus Gründen, die sich absolut unserer Kontrolle entziehen, hat sich die Situation dramatisch verändert, und May Chang mußte improvisieren. Buchanan ist ein armer kleiner Junge. Glauben Sie wirklich, daß er mehr als Mitleid in einer Frau wie Chang auslösen könnte? Ich bin sicher, daß nur ein wirklicher Mann ihr Interesse wecken kann.« Montgomery akzeptierte das Kompliment schweigend, und seine Wut nahm ein wenig ab. »Da ist noch etwas. Buchanan besteht jetzt darauf, daß Chang so viel Zeit wie nur möglich mit ihm verbringen soll; er möchte, daß sie auch nachts bei ihm schläft.« »NEIN. Das ist inakzeptabel.« Jetzt reichte es Montgomery. Er konnte nicht mehr länger sitzen bleiben, stampfte wütend wie ein eingesperrter Grizzly durchs Zimmer und wandte Bo den Rücken zu. »AUF KEINEN FALL, niemals.« Der Gedanke daran, daß dieses Nichts, dieser Buchanan, es jede Nacht mit seiner Wunschfrau trieb, war mehr, als er ertragen konnte. Es schmerzte ihn auch, daß Bo all das sagte, der Bo, der seine Warnungen ignoriert und May mit Buchanan dort hinausgeschickt hatte. Und er war noch nicht einmal in der Lage, seine Frustration zu lindern, indem er das aussprach. Bo wartete geduldig, bis der Ausbruch vorüber war. »Ich habe bereits zugestimmt. Buchanan besteht darauf, daß ihre Anwesenheit entscheidend ist, um sich ausreichend zu entspannen. Ob das stimmt oder nicht … Sie ist wahrscheinlich der einzige Mensch hier, dem er genug traut, und insofern könnte sie tatsächlich zu seiner 344
Genesung beitragen. Außerdem haben wir dann bessere Möglichkeiten, seinen Geisteszustand mit Hilfe ihrer Gespräche zu überwachen. Wir haben auch mehrere neue Kameras und Mikrofone installiert.« »Colonel Bo, ich muß noch einmal darauf zurückkommen. Wie können Sie so absolut sicher sein, daß er May nicht überredet hat, die Seiten zu wechseln …? Wenn wir das nicht absolut ausschließen können, dann steuern wir direkt in eine Katastrophe hinein.« »Nun, ich nehme Ihre Besorgnis zur Kenntnis, aber wir haben keine andere Wahl. Buchanans Beitrag ist unverzichtbar, das wissen Sie.« »Ehrlich gesagt bin ich überrascht, daß Peking es überhaupt zuläßt, ihn wieder einzusetzen – nach seiner Flucht. Wenn ich in deren Schuhen steckte, dann würde ich jeden Auftrag, an dem Buchanan teilhat, als gescheitert betrachten.« »Peking wäre zweifellos Ihrer Meinung, wenn man dort Bescheid wüßte.« »Was?« »Ich habe niemanden informiert. In der Basis habe ich allen gesagt, die Flucht wäre eine Übung gewesen, Buchanan und Chang würden die Unterwanderung des Feindes proben und herausfinden, wie lange sie durchhalten könnten. Deswegen habe ich Lee, Sie und Ihre Amerikaner abgeschottet, nachdem er geflohen ist. Natürlich hätte Peking das Projekt sonst gestrichen. Aber ohne Buchanan wären wir alle von diesem historischen Ereignis ausgeschlossen. Sie und ich hätten komplett versagt. O ja, ich hätte als erster darunter zu leiden gehabt, man hätte mir meinen Posten genommen und mich gedemütigt. Aber denken Sie auch an die Konsequenzen für sich. Keine zehn Millionen Dollar, keine Luxusvilla, 345
keine May Chang. Montgomery, wir haben keine andere Wahl, als das Risiko einzugehen. Aber nur für den Fall, daß Ihre Sorgen Chang betreffend berechtigt sind … Wir haben May nicht über die erweiterten Sicherheitsvorkehrungen in den Wohnbereichen informiert. Wenn sie auch nur miteinander flüstern, oder auch nur ein Wort aufschreiben, im Hellen oder im Dunkeln, dann haben wir sie.« »Und ...« »Dann werden wir sie beide töten. Wir sind nicht der Meinung, daß es notwendig wäre, unsere vielbeschäftigten Gerichte mit diesen Fällen zu belasten.« »Wir sollten ihn sowieso töten, selbst wenn wir ihn in Taiwan einsetzen.« »Warum nicht? Was hätten wir auch sonst noch für eine Verwendung für ihn?« »Ich werde mitmachen, wenn Sie mir eine Bitte erfüllen. Ich möchte derjenige sein, der ihn tötet.« »Ich glaube nicht, daß meine Vorgesetzten damit ein Problem haben könnten. In der Zwischenzeit müssen Sie sich aber alle Mühe geben, die Beziehung zu ihm wieder aufzubauen. Er wird Sie jetzt vielleicht nicht mehr wie einen Held verehren, aber Sie müssen wieder sein Freund werden. Die negativen Gefühle könnten sonst seine Konzentration stören. Jetzt, wo ich darüber nachdenke … Wenn er sie gleich zu Gesicht bekäme, könnte das vielleicht eine zu starke Reaktion verursachen. Wahrscheinlich wäre es gut, zuerst eine Art Normalität einkehren zu lassen in der Zusammenarbeit mit Lee. Vielleicht sollten Sie ihn erst kurz bevor wir ihn wieder einsetzen wollen aufsuchen.«
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Tian Yi war froh, daß sie diesmal im Hotel des Bergues nächtigen konnte und nicht beim chinesischen Botschafter in Genf. Sie war lieber allein und mochte den Blick über den See, das Treiben auf dem Pont du Mont Blanc und die berühmte windverwehte Fontäne der Stadt. Liao und sie hatten alles genau ausgearbeitet, und sie ging davon aus, daß sie gerade genug Munition hatte, um alles hinzubekommen. Ihre ersten Zugeständnisse waren sorgfältig und strategisch geplant. Autos und Arzneimittel für die Deutschen. Textilien für ASEAN. Zollbestimmungen für die Japaner. Ein bißchen hier, ein bißchen da. Nichts für die Briten, um sie für ihre dumme Kritik Hong Kongs abzustrafen. Insgesamt aber ein positiver Ton, und Zugeständnisse, die umfassend genug waren, eine Blockade zu verhindern. Denn dann könnte es gefährlich werden. Die Amerikaner würden sich trotzdem aufregen; das war ein notwendiger Teil des Dramas. Wenn sie die USA mit einem einzigen Zugeständnis auf ihre Seite ziehen wollte, dann mußte dieses Zugeständnis geschickt verpackt sein. Sie mußte das Gefühl haben, daß sie das Ergebnis nur durch massiven Druck und faszinierendes Verhandlungsgeschick den Chinesen gegenüber erreicht hatten. Das würde ihnen Freude machen, und sie würden triumphierend heimziehen und nicht über die Kosten nachdenken. Dann bekamen die Chinesen das Wohlwollen der WTO zum Sonderpreis, und als gute Weltbürger galten sie obendrein! Das Timing des Zugeständnisses war entscheidend. Wenn sie zu schnell nachgab, würden die Amerikaner Blut riechen und mehr fordern. Wenn sie zu lange wartete, würde sich die Stimmung in Europa gegen sie wenden. Tian Yi mußte das einfach perfekt hinbekommen. 347
Was auch sonst immer passierte, sie mußte auf jeden Fall verhindern, daß die WTO das vorläufige Urteil des Ausschusses gegen China bestätigte. Alleingänge der USA könnten schmerzhaft sein und sollten, wenn irgend möglich, vermieden werden. Aber irgendwann würde man sie schon wieder zurücknehmen. Es lag nicht in der Natur der Amerikaner, sich lange der Kritik der internationalen Gemeinschaft auszusetzen. Aber eine konzentrierte WTOAktion war etwas ganz anderes. Dann würde China leiden, und nicht Amerika. Ein endgültiges WTO-Urteil war nicht mehr verhandelbar, und China würde schwere, demütigende Strafen zahlen müssen, bis es wieder anerkanntes Mitglied war. »Wow, schaut euch Morag an, Jungs! Was für eine Veränderung, und ein toller neuer Haarschnitt. Und diese sexy neue Brille. Das ist ein absolutes Wunder!« »Vielen Dank, daß Sie das arrangiert haben, Jack, und auch für die neuen Sachen.« »War mir ein Vergnügen. Es gibt übrigens einen Grund, daß Sie noch einige zusätzliche Sachen brauchten. Wir machen alle zusammen Urlaub, jedenfalls so eine Art Urlaub. Morag, es könnte demnächst ernst werden, und wir müssen näher dran sein. In China werden Handelsgespräche geführt, bei denen auch die Chinesen anwesend sind. Wenn dort alles gut läuft, wird vielleicht nichts passieren, aber wenn es schlecht läuft, dann nutzen die Chinesen es vielleicht als Entschuldigung, in Taiwan einzumarschieren. Wenn sie vorhaben, Calum einzusetzen, dann könnte plötzlich alles in Echtzeit passieren. Wir müssen dort sein, jedenfalls in der Nähe. Natürlich hat das keine Auswirkungen auf die Geschwindigkeit, mit der Sie sich verständigen können, das ist nicht der Grund. 348
Aber wir haben das Problem, daß Calum und sie nicht im selben Rhythmus schlafen. Also sollten sie in derselben Zeitzone sein. Und für den Fall, daß Calum versucht, Ihnen Informationen über einen Angriff auf Taiwan zu übermitteln, müssen wir Sie auch mit der Geographie dort vertraut machen, damit Sie verstehen können, was er denkt. Deshalb fliegen wir morgen alle Richtung Pazifik, nach Okinawa. Von dort aus wird die Air Force mit Ihnen einen Rundflug über Taiwan machen. Danach werden wir je nach den gegebenen Umständen entweder auf unserer Basis in Okinawa bleiben oder an Bord eines nuklearen Unterseebootes gehen. Bevor Sie nach Asien fliegen, dachten wir, hätten Sie nichts gegen eine kleine Hintergrundinformation über Taiwan. Radek, legen Sie los.« »Jetzt gleich, Jack? Ich dachte, wir machen das vielleicht morgen … Ich hatte noch nicht genug Zeit, um …« »Bringen wir’s hinter uns, Radek.« »Okay, Morag, es geht los. Ich bin selbst kein großer Experte darin, wenn ich es vermassle, dann ist mein CIAUnterrichtsmaterial schuld daran … Also, Taiwan ist jemand Ihres Alters … Ihrer Generation vielleicht eher bekannt als Formosa, abgeleitet von dem Wort für ›schön‹ in spanisch …« »Oder portugiesisch?« »Irgend so was, Morag. Jedenfalls ist Taiwan zweihundertfünfzig Kilometer lang und ungefähr achtzig breit, Bevölkerung zweiundzwanzig Millionen. Geschichtlich betrachtet war es immer ein Teil Chinas.« »Sofern das siebzehnte Jahrhundert als >immer< gilt.« »Oh, tut mir leid, ich hab’ das nicht richtig gelesen. Ja, das heißt … im siebzehnten Jahrhundert hat ein Holländer namens Koxinga es an sich gerissen und …« 349
»Ich will Sie nicht verbessern, Radek, aber ich glaube, dort wird stehen, daß Koxinga es den Holländern weggenommen hat. Er kämpfte für den letzten MingHerrscher gegen die Mandschu.« »Äh, richtig. Und … Augenblick mal … hier steht’s … 1683, die Mandchu verteidigten Koxingas Nachkommen. Seitdem, schätze ich, gehörte es zu China, zumindest bis Chiang Kai-sheks Volkspartei es 1948 besetzt hat…« »Haben Sie da nicht die Japaner vergessen?« »Habe ich? Richtig, habe ich. Die Japaner hatten es von 1895 bis zum Ende des zweiten Weltkrieges besetzt. Seit 1950 bestimmt die taiwanesische GDSP das Leben – das heißt Grass Development Product, Morag, und ist eine Art Maßeinheit dafür, wie gut es einem Land geht, und es …« »Radek ...« »... hat sich im Durchschnitt um ...« »Radek.« »Ja, Jack?« »Wieso hören Sie nicht einfach auf, bevor es richtig peinlich wird?« »Tut mir leid, Jack, ich hatte keine Zeit, das alles zu lesen.« »Schon in Ordnung, Radek, uns wäre das nicht aufgefallen. Aber Morag scheint deutlich mehr zu wissen als jeder von uns. Woher wissen Sie das alles, Morag?« »Aus dem Radio. Und weil ich alt bin. Ich erinnere mich an den chinesischen Bürgerkrieg, als wäre es gestern gewesen.« Lee hatte seinen Schwung verloren. Er hatte Calum die Nacht auf dem Berg noch nicht verziehen, und das hatte seinen natürlichen Enthusiasmus geschwächt. Seine 350
übrigen Manierismen waren unverändert. Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und schob sich die Brille die Nase hoch, aber er verhielt sich jetzt zurückhaltender als vorher. In den ersten beiden Wochen, die sie wieder auf der Basis verbrachten, sahen sie sich nur kurz. Bo hatte angeordnet, daß Calum sich ausruhen und wieder zu sich finden sollte, außerdem sollte er von Rita einem psychologischen Test unterzogen werden. Erst jetzt hatten sie vor herauszufinden, was mit seiner Gabe geschehen war. Calum war genauso nervös wie sie, und er brauchte seine ganze Kraft, um es zu schaffen. »Wir sind erleichtert, Calum, Ihre Fähigkeiten scheinen intakt zu sein. Die Zeitspanne hat sich ein wenig verkürzt, es sind jetzt nur noch siebzig Minuten. Aber selbst das kann im Ernstfall sehr nützlich sein.« »Soll ich auch wieder die Taiwanesen … entschuldigen Sie, die Chinesen trainieren, Professor? Ich finde es nämlich eigentlich anstrengend genug, meine Arbeit hier mit Ihnen zu machen. Und Sie wissen ja, daß mich vor allem der massive Druck hat ausflippen lassen.« »Ich glaube, wir können Ihnen das ersparen. Es ist sowieso unwahrscheinlich, daß diese Leute entscheidende Fortschritte machen und in naher Zukunft einsetzbar sind. Später vielleicht, später. In der Zwischenzeit haben wir noch viel vor. Ich möchte Sie sobald wie möglich wieder bei achtzig Minuten haben. Wenn wir das schaffen, dann können wir uns zufrieden schätzen. Aber wir werden aus unseren Fehlern lernen und nur noch zwei Sessions die Woche abhalten. Sie scheinen sich inzwischen von den direkten physischen Auswirkungen Ihrer Flucht erholt zu haben, aber wir brauchen sie in tiptop Verfassung, mental und physisch. Sie werden weiter die proteinreichen Mahlzeiten zu sich nehmen, und wir haben Ihnen einen 351
Trainer aus dem Fitneßbereich der Basis zugewiesen, der Sie wieder in Form bringen soll.« Manche erachteten es als amüsantes Paradoxon, daß der führende Modernisierer Liao auf alte Art in einem Privatzug nach Beidaihe fuhr, der greisenhafte, erzkonservative Chen jedoch lieber flog. Natürlich wagte Premier Chen es nicht, Präsident Zhang für dessen Präferenz zu kritisieren, ebenfalls seinen alten Zug zu benutzen. Sein Spott war für Liao reserviert, dem er, allerdings nicht von Angesicht zu Angesicht, eine absurde Selbstgefälligkeit vorwarf, weil er den veralteten Pomp der Zug-Zeremonie so liebte. Die Wahrheit war einfacher, aber sie zu kennen, hätte Chens Spott nicht gemildert. Liao hatte die Zeremonie einst wirklich sehr geliebt. Inzwischen war es anders. Es lag auch nicht an dem extremen Luxus des Zuges, der ohnehin eher altmodisch war. Nein, es war viel einfacher. Parteisekretär Liao fuhr gerne Zug, weil er Züge mochte. Er mochte auch Beidaihe, sowohl den Ort als auch das, was ihn dort erwartete. Er liebte die Lage an der geschwungenen Bucht und die sanfte, unveränderte Atmosphäre. Dort hatten die Bulldozer noch nicht so viel vernichtet wie sonst fast überall in China, und die ganze Stadt strahlte eine angenehme Vertrautheit aus. Er liebte die pompöse Villa, die ihm zur Verfügung gestellt wurde, mit ihrem wunderbaren pinienbewachsenen Garten und dem berühmten Privatstrand für das Politbüro, der ganz prosaisch Badebereich Nummer fünf hieß. Liaos Ansicht nach war das beste aber das Zusammentreffen selbst. Die zahllosen Flüstergespräche mit niedereren PolitbüroMitgliedern in Villen, Clubs und Restaurants, die Pläne, die geschmiedet und verworfen wurden, die ganzen Splittergruppen, die ihre Kleinkriege austrugen wie 352
mittelalterliche europäische Ritterorden. Die wunderbaren, endlosen Bankette in der Villa des Präsidenten, und die angespannten, oftmals streitbaren Treffen in seinem Konferenzsaal, die üblicherweise vorweggingen. Schade, daß Zhangs Krankheit dieses Jahr die Zeit verkürzte, die sie dort sein würden. Normalerweise wären sie schon Anfang Juli nach Beidaihe gereist, aber da der Präsident in Peking im Krankenhaus lag, mußten sie alle aus Respekt bis weit in den August hinein warten, bis Zhang endlich reisefähig war. Liao hatte viele wichtige Sommer in Beidaihe verbracht, wo Entscheidungen gefallen waren, die China verändert und wieder verändert hatten, aber als sein Zug den Pekinger Bahnhof verließ, wußte er, daß dieses der wichtigste Besuch von allen werden würde. In höchstens drei Monaten, vielleicht noch früher, würde er entweder als Zhangs Nachfolger ausgerufen, oder als gebrochene Unperson in die Dunkelheit verstoßen werden. Mit Chen konnte es keinen Kompromiß geben. Der Haß war zu groß, die Rivalität zu stark. Wenn er siegte, würde er mit Chen genauso hart verfahren. Es gab keine andere Lösung. Liao glaubte, daß er die Ansichten der Hardliner genauso gut vertreten konnte, wie sie es selbst taten. Sie dachten, nichts dürfe die Macht der Partei über den Staat auch nur in Frage stellen. Sonst wäre alles umsonst gewesen, der lange Marsch, die Jahre der Opfer und Mühen, die ganze kommunistische Revolution. Sie wollten damit nicht zum Ausdruck bringen, daß ökonomische Veränderungen an sich schädlich seien; Wohlstand lenkte die Menschen von politischem Denken ab, was gut war. Und China brauchte ausländisches Know how und Export-Länder für seine Waren, also mußte man den Fremden ein paar der Nuggets zugestehen, die in dem unglaublichen chinesischen Goldrausch zu finden waren. Aber es mußte ein 353
kontrollierter Teil sein, überschaubar, und wenn nötig widerrufbar. Es durfte kein Silikon-Opium geben, keine elektronischen Glasperlen, man durfte keiner ausländischen Macht auch nur die mindeste Kontrolle über den chinesischen Markt oder die Industrien zugestehen. Wichtiger noch, die Hardliner bestanden darauf, daß die Position der Armee gefestigt wurde. Sie waren entsetzt über die ausländischen Forderungen, daß die Monopole der Armee aufgelöst und ihre Besitztümer verkauft werden sollten. Das Geld, das diese Firmen generierten, bedeutete nicht nur, daß die Armee gut genährt und gut bewaffnet war, es war zugleich ein Honigtopf, in den die Offiziere auch ihre eigenen Pranken stecken konnten und der die älteren Befehlshaber zufriedenstellte. Trotz des einlullenden Rhythmus’ der Räder auf den Schienen konnte Liao nicht schlafen, weil er versuchte, zu ergründen, warum die Armee ohne großes Theater bereit gewesen war, Sunrise aufzugeben, und warum Chen selbst keine kraftvollere Opposition gegen den Verkauf gemacht hatte. Diese Konzession den Amerikanern gegenüber sollte einen sehr erfolgreichen Vertragsabschluß in Genf ermöglichen, was im Grunde Liao die Präsidentschaft nach Zhang sicherte und Chens absurden Gedanken, Taiwan gewaltsam an sich zu reißen, ausschloß. Was für eine Strategie verfolgte Chen da? Liao wünschte sich sehr, daß er seinen lang geplanten Ausflug nach Seoul absagen könnte. Von den Ereignissen in Beidaihe fernzusein, auch nur für ein paar Stunden, wäre beunruhigend. Sie hielten es nicht mehr aus. Nacht um Nacht hing es in der Bar des Shobost über ihnen wie eine dunkle Wolke, Woche um Woche. Der Inhalt ihres Zettels für den TweedMann hatte sich herumgesprochen: Sie würde ein oder zwei Tage weg sein. Jetzt war schon mehr als ein Monat vergangen. Wo konnte die alte Hexe stecken? Der 354
Busfahrer hatte gesagt, sie sei zum Flughafen gefahren, und wenn man nach der Ankunftszeit dort ging, dann war sie nach Glasgow geflogen. Dort hatte sie bestimmt niemanden, bei dem sie bleiben konnte, und auch sonst nirgends auf dem Festland. Sie hatte überhaupt keine Freunde oder Verwandte, wenn man diesen dummen Jungen nicht zählte. Aber wie schrecklich, wenn sie irgendwie von dem Besuch dieser beiden Männer Wind bekommen hatte und es ihr gelungen war, Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Damals waren Hector und Fraser stolz auf sich gewesen, die beiden in die Irre zu führen. Aber jetzt kehrte die Gefahr vielleicht zurück. Wenn die beiden tatsächlich von einer Zeitung oder einem Fernsehsender waren, konnte die alte Schnecke mächtig Ärger machen. Wie ließe sich bloß herausfinden, was sie vorhatte? Hector war derjenige, der entschied, daß sie es tun mußten, und der seine alte Taschenlampe mitbrachte. So verhaßt sie auch war, sie waren nicht überzeugt davon, daß ihr Handeln von allen mitgetragen würde, also schworen sie sich, es niemandem zu erzählen, nicht einmal ihren nächsten Verwandten. Mit ein paar Whiskys mehr als sonst tranken sie sich etwas Mut an und stapften dann hinaus in die schwarze Nacht. Sie wußten nicht wirklich, wonach sie suchten. Aber trotzdem waren sie ziemlich sicher, daß sie dort drin irgendeinen Hinweis finden würden, einen Brief oder sonst was. Fraser ging den kleinen Pfad voran. Hector ließ sich drei- oder viermal mit der Schulter gegen die Tür fallen, er hoffte, daß die alten Angeln nachgäben. Aber sie rührten sich nicht. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als eine Scheibe einzuschlagen und eines der schmierigen kleinen Fenster zu öffnen. Hector nahm einen Stein, beugte sich vorsichtig über einen niedrigen Dornbusch und tat, was er 355
mußte. Er befahl dem kleineren Fraser, zuerst hineinzuklettern. Fraser zögerte. Die kühle Nachtluft hatte seinen betrunkenen Mut gemildert, und er war nicht mehr ganz so überzeugt davon, daß einzubrechen eine kluge Idee war. Und nicht nur das – jetzt, wo er hier war, hatte er ein ganz komisches Gefühl, das ihn wurmte, in dieses Haus zu gehen. Hector wedelte seine Einwände beiseite und half ihm über den Busch hinweg und durch das Fenster. In dem düsteren, feuchten Inneren bekam Fraser noch mehr Angst. Mit keuchender Falsettstimme quiekte er nach der Lampe. Sie konnten es nicht riskieren, das Licht anzumachen. Von draußen zischte Hector, er solle die Tür öffnen. Verdammt. Es war eine von denen, die man nicht ohne Schlüssel aufbekam, selbst von drinnen. Hector fluchte, hatte aber keine andere Wahl, als seinen massigen Körper ebenfalls durch das Fenster zu zwängen. Im Licht der alten Taschenlampe schauten sie sich im Wohnzimmer um, fanden aber nichts Nützliches. Fraser hatte jetzt Gänsehaut, er klammerte sich an Hector und bedrängte ihn, dieses stinkige, böse Haus zu verlassen. In harschem Gälisch befahl Hector ihm, die Klappe zu halten. Vor was sollten sie denn Angst haben, wenn die Hexe nicht hier war? Trotzdem – wenn Fraser so weitermachte, würde auch er Angst bekommen. In der Luft hier drin lag zweifelsohne etwas merkwürdig Muffiges, Beklemmendes. Seine Hände begannen zu zittern, die Haare in seinem Nacken stellten sich auf, und das Licht der Taschenlampe versickerte langsam von hellweiß zu dunkelgelb. Sie legten besser einen Zahn zu. Hector marschierte rüber zur Tür zu Morags Schlafzimmer. Als er die Hand auf den Griff legte, zischte Fraser. »Hector …« »Was ist, Mann?« 356
»Glaubst du nicht, die Hexe wäre vielleicht zurückgekommen, ohne daß jemand was bemerkt hat. Und jetzt ist sie … tot da drinnen?« Genau in diesem Augenblick gab die Taschenlampe endgültig ihren Geist auf. Vorher war ihnen der Wind, der geheimnisvoll durch den Kamin pfiff, noch nicht aufgefallen, aber jetzt klang er wie eine klagende Seele. Das Blechdach quietschte schrill. Plötzlich war keinem von ihnen danach, als letzter diesen düsteren Ort zu verlassen, und sie hasteten rüber zum Fenster. Der kräftigere Hector stieß Fraser beiseite und schob seinen Kopf und seine Schultern zuerst durch die Fensteröffnung. Fraser hatte panische Angst. Er schubste Hectors Hintern und Beine hindurch, so daß der kopfüber in den Dornenbusch fiel und einige ganz besonders saftige gälische Flüche ausstieß. Einen Augenblick später hechtete Fraser geradezu durch den Fensterrahmen, wobei er natürlich direkt auf seinem unglücklichen Freund landete.. Schmerzlich berührt richteten sie sich auf und liefen den Pfad entlang, so schnell ihre alten Beine sie tragen wollten. Als sie ungefähr hundert Meter die Straße hoch waren, ebbte ihre Panik ein wenig ab, und sie gingen wieder langsamer. Am dringendsten brauchten sie jetzt etwas Beruhigendes. Das Shobost würde schon geschlossen haben. Glücklicherweise waren die Flachmänner, die jeder von ihnen in seine Tasche gestopft hatte, nicht herausgefallen, also setzten sie sich an den Straßenrand und schraubten sie auf. Während sie die letzten Tropfen tranken, kam Fraser ein schrecklicher Gedanke. »Hector, meinst du … sie könnte uns verfluchen, weil wir da drin waren?«
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Hectors Kopf drehte sich so ungefähr in Fräsers Richtung. Im Dunkeln fand er es unverantwortlich schwierig, das Gesicht seines Freundes scharf einzustellen. »Was soll’n das, Mann? Wie soll die Hexe denn wissen, daß wir das waren?« »Kann sie nicht. Es sei denn …« »Es sei denn, was?« »Es sei denn, sie wüßte es … irgendwie.« »Sie hat mich sowieso schon verflucht, ich hab’ also nichts zu befürchten.« »Es sei denn ...« »Es sei denn was, du besoffener Idiot?« »Es sei denn, sie hätte die Macht, Menschen in Tiere zu verwandeln oder so.« »Blödsinn.« Fraser schwieg und Hector war erleichtert. In seinem Kopf drehte es sich, und er war froh, die Augen schließen zu können. Es war lange Jahre her, seit er so viel Whisky in einer Nacht getrunken hatte. Wenigstens war er nicht so besoffen wie Fraser, der diesen kindischen Blödsinn von sich gab. Menschen in Tier verwandeln! Die Dämmerung weckte sie gegen vier. Trotz ihrer schädelsprengenden Kopfschmerzen waren sie beide insgeheim froh, nicht mehr weiter zu träumen und sich in ihre bekannten, wenn auch ungewöhnlich aufgedunsenen Gesichter zu sehen. Mitte August war nicht die beste Zeit, um den Ausblick von Christopher Ransomes Terrasse zu bewundern.
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Der diesige Nebel verwischte die Berge, und die Mücken waren eine Plage, also erlaubte Ransome seinem Gast Gerhard Hirsch nur ein einziges Glas des perfekt gekühlten Pommery, bevor er ihn freundlich zum Abendessen drängte. »Sagen Sie, Gerhard, wie wurden die Neuigkeiten der letzten Woche in Brüssel aufgenommen?« »Das war keine Überraschung. Die Kommission ist immer schon davon ausgegangen, daß das vorläufige Urteil gegen die Chinesen ausfallen würde. Einige meiner Kollegen fragen sich, ob Tian Yi vor allem nach Genf gekommen ist, um zu verhandeln, oder eher, um einen Protest gegen das vorläufige Urteil des Gremiums zu inszenieren.« »Das halte ich für unwahrscheinlich.« »Sagen Sie, Christopher, glauben Sie, daß Sie bei dem Meeting mitbekommen können, was die Chinesen miteinander flüstern? Das wäre ein wunderbarer Vorteil für uns.« »Unglücklicherweise nicht. Unsere chinesischen Freunde sind klug und haben exzellente Unterlagen. Sie wissen, daß ich in der Botschaft in Peking gearbeitet habe und ihre Sprache beherrsche. Wenn sie überhaupt flüstern, dann mit den Händen vor dem Mund, so daß nicht einmal eine Fledermaus sie hören könnte. Meistens schreiben sie einander aber einfach Zettel. Ich kann Ihnen in dieser Sache also leider nicht helfen, Gerhard. Sie werden einfach ihre – oder eher unser aller Karten auf den Tisch legen müssen … Noch ein Gläschen von diesem eher enttäuschenden Pommery?« »Vielen Dank … Ich finde ihn großartig. Was halten Sie bis jetzt von der ganzen Chose, Christopher?«
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»Steife Gavotten, ablenkende Menuette. Beide Seiten tänzeln auf der Stelle, damit die anderen zuerst Zugeständnisse machen. Die Amerikaner können froh sein, Art Patterson hier zu haben. Nur wenige Botschafter spielen das Spiel so geschickt.« »Finden Sie wirklich? Wenn die Amerikaner weiter so einen harten Kurs fahren, bin ich nicht sicher, wie lange wir so tun können, als würden wir Sie unterstützen. Meine aktuellen Anweisungen aus Brüssel begrenzen das ganz klar, wie Sie ja wissen.« »Mmmm. ich denke, es wird viel davon abhängen, wie Lynne O’Neill sich benimmt, wenn sie morgen ankommt. Ist sie der gute Cop nach Arts bösem Cop, oder hat er sie mit einer Portion richtigem Vitriol ausgestattet? Was meinen Sie, Gerhard?« »Ich glaube nicht, daß Lynne O’Neill unbedingt den Part des guten Cops spielen wird. Und bei dem Druck, dem sie ausgesetzt ist, bezweifle ich auch, ob sie sich das leisten könnte.« »Ich fürchte, daß Sie recht haben. Und dann können wir allerdings ein faszinierendes Feuerwerk erwarten. Sagen Sie, mein Freund, was für Neuigkeiten gibt es denn hinsichtlich der Franzosen? Die bearbeiten die Kollegen ja immer noch ganz gewaltig. Glauben Sie, die haben Ihre Landsleute in der Tasche?« »Auf jeden Fall üben sie massiven Druck auf Berlin aus. Ich habe gestern abend mit Gunter Hoch gegessen. Der Kanzler persönlich hat ihn angerufen. Die Franzosen haben vor, aus der ganzen Sache einen Test für die französisch-deutsche Freundschaft zu machen. Vielleicht sollte ich das nicht sagen, Christopher, aber ich habe den Eindruck, daß sie zugleich beweisen wollen, daß wichtige
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politische EU-Entscheidungen von ihnen getroffen werden, und nicht von den Briten.« »Mmmm. Plus ça change, Gerhard, plus c’est la même France.«
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19. August Montag »Hi, Calum, lange nicht gesehen.« »Ja. Ich weiß gar nicht, was ich jetzt zu Ihnen sagen soll. Sie müssen entschuldigen, wenn ich den Colonel weglasse.« »Jason ist in Ordnung, wenn Sie das okay finden. Wie geht’s Ihnen?« »Das wissen Sie doch schon von Lee, oder?« »Sicherlich. Ich meinte, wie fühlen Sie sich jetzt?« »Oh, nicht schlecht, schätze ich. Es ist alles ein bißchen anders als vorher. Rita erzählt mir nicht mehr, was für ein Versager ich bin, und Sie bringen nicht mehr alles in Ordnung. Aber die Manipulation hat ganz gut funktioniert.« »Calum, ich weiß, wie Sie sich fühlen, und ich kann es verstehen. Aber Sie müssen verstehen, daß das alles notwendig war, um das beste aus Ihnen herauszuholen. Militärisches Standardvorgehen. Finde heraus, was jemand motiviert, und dann gib ihm jede Menge davon. Wir wußten, wie hart das Programm für Sie werden würde, daß Sie übermenschliche Anstrengungen unternehmen mußten, um den Druck und die Erschöpfung auszuhalten. Wir mußten Sie bei der Stange halten. Einfach nur Bitte und Danke zu sagen, wäre niemals genug gewesen.«
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»Das kann ich nachvollziehen.« Calum bewunderte den Kerl. Seine Stimme war beruhigend wie immer, fast gut genug, ihn wieder einzulullen. Montgomery füllte die kurze Pause mit einem warmen Lächeln und fuhr fort: »May wird Ihnen erzählt haben, unter welchen Umständen ich die US-Army verlassen habe. Das war der düsterste Tag meines Lebens. Ich habe mich eintausend Prozent für die Army engagiert, hatte eine blütendweiße Weste und nannte den Respekt meiner Männer und Mitoffiziere mein eigen. Und dann kommt da eine böse Lieutenant-Hure, erzählt einen Haufen Lügen, und nur aufgrund ihres Wortes ohne irgendwelche Beweise werde ich rausgeworfen. Der Staatsanwalt war ein junger Klugscheißer. Hat mich immer wieder in die Irre geführt, damit nicht etwa die Fakten ans Licht kamen und Gerechtigkeit geübt würde, sondern um selbst gut rüberzukommen und mich als Lügner hinzustellen. Es hat funktioniert. Ich gebe Ihnen mein Wort als Offizier, daß nichts von den Anschuldigungen stimmte. Natürlich hatte ich ein bißchen Spaß mit dem Mädel, aber ich sage Ihnen, auch sie fand das super. Erst viel später, als ein Gremium, in dem ich saß, ihre Beförderung ablehnte, hat sie ihre Beschwerde eingereicht. Glauben Sie, gute Männer wären mir hierher gefolgt, wenn sie den Vorwürfen Glauben schenken würden?« »Wahrscheinlich nicht. Und warum sind Sie hergekommen? Hätten Sie nicht einfach einen normalen Job annehmen können?« »Calum, ich bin zweiundvierzig und war seit meinem achtzehnten Lebensjahr Soldat. Für was für einen Job wäre ich denn qualifiziert? Nach einer so befriedigenden und erfüllenden Laufbahn wie meiner … Glauben Sie, ein Heimwerkerladen wäre da das richtige für mich gewesen?« 363
Da mußte Calum ihm recht geben. »Nein, ich kann begreifen, daß Sie ein Kämpfer bleiben wollten. Aber hätten Sie nicht irgendwo auf der Welt, in Afrika oder so, den Guten beistehen können?« »Den Guten? Wenn man einem Stamm hilft, den anderen auszurotten? Können Sie mir einen Konflikt nennen, irgendwo auf der Welt, wo ein amerikanischer Söldner kämpfen und stolz auf seinen Einsatz sein kann?« Verdammt, warum war er immer im Fach Allgemeinwissen so schlecht? Wahrscheinlich liefen gerade Hunderte passender Kämpfe. Aber er hatte keine Ahnung davon. »Ich muß zugeben, mir fallen keine ein.« »Eben. Und die Chinesen sind vielleicht nicht auf unserer Seite, aber sie sind wohl auch kaum der Feind. Sie waren immerhin unsere Alliierten im Zweiten Weltkrieg.« »Waren sie? Ein bißchen kenne ich mich auch in Geschichte aus, Jason. Und ich weiß, daß die USA über fünfzig Jahre damit verbracht haben, gegen den Kommunismus zu kämpfen.« »Klar, und wir haben gewonnen. Es gibt keinen Kommunismus mehr. Die Chinesen tun vielleicht noch so, aber schauen Sie sich doch irgendeinen Zeitungsartikel über China an. Den Aktien geht’s blendend. Die ganze Nation investiert, die sind noch bessere Konsumenten als wir. Einskommadrei Milliarden Menschen, und jeder von ihnen ein geborener Unternehmer. Können Sie im Ernst behaupten, daß das für Sie klingt wie angewandter Kommunismus?« Schon wieder, dachte Calum. Diese unglaublich überzeugende Stimme. Besser, er versuchte es anders.
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»Immerhin kann ich nicht einsehen, daß ein paar friedliche Inselbewohner anzugreifen nach angewandter Demokratie klingt.« »Calum, wie fänden Sie es denn, wenn sich nach dem Bürgerkrieg ein paar unterlegene Südstaatler die FloridaKeys geschnappt, sich bis an die Zähne bewaffnet und eine Gegenregierung ausgerufen hätten, die schwört, eines Tages das ganze Land zu übernehmen? Wären Sie dann dagegen, daß unsere Regierung die nationale Souveränität wieder herstellt, und zwar mit minimalem Krafteinsatz? Sie wissen doch aus den Unterrichtsstunden, daß Taiwan einem Angriff auf keinen Fall standhalten kann. Das war keine Lüge. Wenn die Menschenleben den Chinesen egal wären, dann müßten Sie Ihre Fähigkeiten nicht zum Einsatz bringen. Man könnte den Laden da einfach in die Luft sprengen und anschließend über die Asche einmarschieren. Gerade weil sie Menschenleben retten wollen, strecken sie sich so sehr.« »Weswegen mußten Sie mich dann an der Nase herumführen? Warum konnten Sie nicht offen mit mir sprechen?« »Sie hatten die Briten schon weggeschickt. Wollen Sie etwa behaupten, Sie hätten freiwillig mit den Chinesen zusammengearbeitet?« »Wohl kaum.« »Calum, ich weiß, wie schwierig es war, und wie benutzt Sie sich fühlen, wahrscheinlich vor allem von mir. Aber ob Sie es glauben oder nicht, ich habe es gehaßt, das zu tun. Ich wollte ehrlich mit Ihnen sein, aber das ließen Sie selbst nicht zu. Jetzt, wo alles geklärt ist, würde es mich freuen, wenn Sie und ich wieder Freunde sein könnten. Wenn wir einander wieder vertrauen. Was meinen Sie – Hand drauf?« 365
Calum schaute ihm geschlagene zehn Sekunden in die Augen, dann lächelte er. »Klar, Jason, meinetwegen.« »Braver Junge. Dann wollen wir mal.« Sie standen auf, gaben sich die Hände und schauten einander mit warmer, gegenseitiger Ernsthaftigkeit an. Mit einem letzten Winken verließ Montgomery das Zimmer Calums und kehrte zurück in sein Büro. Calum setzte sich wieder aufs Bett. Jeder der beiden dachte darüber nach, was für eine ekelhafte Handlung er gerade vollbracht hatte und wie er den anderen haßte. Morag wurde immer besser im Daumen-hoch-zeigen. Der Helikopter war höllisch laut, und sie fand das einfacher, als in das komische kleine Mikrofon zu brüllen, das wie ein riesengroßer Kartoffeltrieb unten aus ihrem Helm herauswuchs. »Okay, Miß Buchanan, das ist die letzte der wichtigen militärischen Einrichtungen. Jetzt werden wir über den Südteil der Insel fliegen, um Ihnen mögliche Landestellen zu zeigen. Schauen Sie bitte einmal auf die Karte – wir fangen im Westen in Taiwan an, fliegen dann über die Stadt Kaosiung und weiter nach Tung-Chiang, Fang-Liao und Chu-K’eng. Es gibt dort ein paar Buchten, in denen sie es versuchen könnten, und danach wollen wir Ihnen noch den Südosten zeigen. Es ist nicht gerade wahrscheinlich, daß sie den langen Weg dorthin nehmen würden, aber vielleicht wollen sie uns austricksen. Vor allem wenn sie ein paar Saboteure vor der Hauptmacht losschicken. Aus naheliegenden Gründen ist der Bereich dort weniger gut abgesichert. Wir fliegen also im Süden eine Kurve und zeigen Ihnen dann Ta-Wu, Ta-Ma-Li, T’aitung, Shanyuan Beach und am Schluß noch Hsing366
Ch’ang. Die Namen müssen Sie sich nicht merken. Wir haben eine große Karte im U-Boot, die Sie sich morgen ansehen können, dann gewöhnen Sie sich auch an die Aussprache. Sie müssen bloß ein Gefühl für die Gegend bekommen. Okay … Jetzt nähern wir uns Taiwan. Alles in Ordnung?« Daumen hoch, ein kleines Grinsen. Der Pilot grinste zurück und reckte ebenfalls die Daumen.
Dienstag »Hallo, Lynne, wie läuft es in Genf?« »Ganz gut, Mr. President. Tian Yi tut unberührbar, aber ich glaube, wir werden sie bald im Sack haben. Art Patterson hat die Abgesandten schon ganz schön zurechtgestutzt. Ich fahre den harten Kurs, wie wir es besprochen hatten, und das fängt an, sich auszuzahlen. Sie haben bei den Raubkopien schon nachgegeben und sind bereit, tatsächlich empfindliche Strafen durchzusetzen. Wir mußten bei einigen Zollvorgängen kürzertreten. Nichts, womit wir nicht leben könnten.« »Was ist mit der Army und dieser Software-Firma, von der Bob Tyne dauernd redet?« »Sunrise. Bisher weigern sie sich, da nachzugeben. Sie reden nicht einmal inoffiziell mit uns darüber, aber die Briten sagen, den Europäern gegenüber würden sie sich verhandlungsbereit zeigen. Mein Instinkt sagt mir, daß wir auch da demnächst ins Geschäft kommen.« »Wie das, Lynne?« »Erstens müssen wir den Druck auf die Europäer aufrechterhalten, damit die Chinesen robuste Antworten von ihnen bekommen. Wir tun hier in Genf, was wir 367
können, aber Sie müssen den deutschen Kanzler anrufen, den EU-Präsidenten, und nur zur Sicherheit auch den Briten.« »Ich dachte, die Briten wären auf unserer Seite?« »Das sollten sie auch sein. Aber wenn die Franzosen hier eine große europäische Geschichte daraus machen, dann könnten sie versuchen, sie zu überfahren. Der britische Außenminister ist ein schwächlicher Feigling. Ich möchte da Rückendeckung haben, nur für den Fall.« »Ich kümmere mich darum. Was noch?« »Um diese Sunrise-Sache unter Dach und Fach zu kriegen, müssen wir vielleicht bei ein paar anderen Dingen nachgeben.« »Was denn?« »Finanzdienstleistungen, Versicherungen. Außerdem wollen sie eine Verlängerung der Übergangsvereinbarungen.« »Wie lange?« »Sie wollen acht Jahre. Ich schätze, fünf werden reichen.« »Damit kann ich leben. Banken und Versicherungen bringen nicht viele Stimmen.« »Vielen Dank, Mr. President. Das war’s im Augenblick. In den nächsten Tagen wird sich alles klären. Entscheidend ist das Meeting am Donnerstag. Ich treffe mich morgen allein mit Tian Yi und versuche, eine Vereinbarung auszuhandeln. Wenn wir das schaffen, dann ist das Meeting nur noch eine Formalie.« »Viel Glück, Lynne, halten Sie mich auf dem laufenden. Wir müssen das schaffen.«
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»Was, zum Teufel, machen Sie hier? Sie sollten doch in Maui sein.« Larry Abraham freute sich immer, wenn Marianna ihn besuchte, vor allem, wenn sie sich so minimalistisch sommerhaft anzog. Das sanfte Beben unter ihrem limonengrünen Designer-T-Shirt war absolut fabelhaft. Geschäft war aber Geschäft, und er fing langsam an, sich Sorgen zu machen, wieviel sie seiner Kanzlei schon für die geleistete Arbeit schuldete. Das dumme Mädchen hatte viel zu lange gebraucht, um zu kapieren, daß Brett sie ohne Ehevertrag nie im Leben heiraten würde. Jetzt versuchte sie noch darauf zu bestehen, daß der Vertrag absurde Vereinbarungen beinhaltete. So wie es klang, verlor Brett die Geduld mit ihr. Und wenn Marianna diesen großen Fisch nicht an Land zog, wie sollte sie dann Larry Abraham bezahlen? »Wir haben uns am Flughafen gestritten. Ich habe ihn dann am Schalter stehenlassen; er sah wie der größte Vollidiot aus.« »Warum, Marianna, warum!« »Ich habe ihm meinen Wunsch klargemacht, daß er ja sagen soll, bevor wir in Urlaub fahren. Das wird es ihn lehren. Wenn man allein ist, ist Maui der langweiligste Fleck auf Erden. Ich wette, er ruft an, sobald er gelandet ist, und macht alles mit.« »Und wenn nicht? Ich glaube, Sie sind verrückt, sich so weit aus dem Fenster zu lehnen. Natürlich, Marianne, Sie sind eine verdammt gutaussehende Frau – aber Sie sind nicht die einzige Frau auf der Welt. Wenn Brett sich dort einsam fühlt, dann sucht er vielleicht jemand anderen.« »Das würde er nicht wagen …«
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»Calum, wir sind wirklich alle sehr zufrieden mit Ihren Fortschritten und Ihrer neuen Begeisterung für das Projekt.« »Vielen Dank, Colonel Bo.« »Montgomery und ich möchten Sie bald über etwas unterrichten, das Timing betreffend. Unsere Vorgesetzten haben uns bereits signalisiert, daß möglicherweise in den nächsten Tagen eine Notwendigkeit für Ihre besonderen Fähigkeiten auftreten könnte. Ich hoffe, das paßt Ihnen nach all der Überei.« »Ich freue mich darauf, meinen Teil dazu beizusteuern.« »Meine Vorgesetzten haben mich auch gebeten, Ihnen mitzuteilen, daß man Sie – wenn Sie Erfolg haben – mit einer Summe entschädigen will, die der entspricht, die man Ihnen in England angeboten hat. Damit können Sie dann hingehen, wohin Sie wollen, oder auch, wenn Ihnen das lieber ist, ein luxuriöses, sicheres Leben in China genießen.« »Vielen Dank. Was ist mit May? Mehr interessiert mich nicht.« Links von Bo starrte Montgomery zu Boden, sein Gesicht war eisern, und unter dem Tisch verkrampfte und öffnete er seine Fäuste. Bo lächelte ruhig. »Wir leben in einem freien Land, Calum, obwohl Ihnen das vielleicht nicht so erscheinen mag. Wir können May nicht zwingen, etwas zu tun, was sie nicht möchte. Und wenn sie bei Ihnen leben will, dann sehen wir keinerlei Schwierigkeiten, das zu ermöglichen.« »Vielen Dank.« »Gut. Sicherheitshalber möchten wir schon einmal in die Nähe des voraussichtlichen Einsatzortes reisen, zu einer Basis in der Nähe der Straße von Taiwan. Ich werde 370
mitfahren, und Colonel Montgomery wird Sie begleiten, um Ihren Einsatz zu leiten.« »May, was ist mit May?« »Calum, ich habe Ihnen das doch schon gesagt. Wenn sie einverstanden ist …« »Nein, das meinte ich nicht. Ich möchte sie dort bei mir auf der Einsatzbasis haben. Ich kann einfach nicht ohne sie sein. Wenn sie nicht da ist, kann ich nicht denken, ich funktioniere nicht.« »Calum, ich glaube nicht, daß das nötig ist. Sie wird wieder bei Ihnen sein, sobald die Operation vorüber ist. Das sind nur ein paar Tage.« »Sie muß auch dort bei mir sein.« Montgomery grunzte drohend. Bo versuchte es mit freundlicher Überredungskraft. »Calum, das ist wahrscheinlich gar nicht möglich. Es könnten sich durchaus bedrohliche Situationen ergeben. Das möchten Sie Miß Chang doch sicherlich nicht zumuten?« »Ohne sie schaffe ich es nicht. Das kann ich nicht ändern. Ich meine es ernst, Colonel Bo.« »Nun gut. Lassen Sie mich darüber nachdenken. Selbst wenn es machbar wäre, dann ist es sicherlich nicht möglich, daß sie dort bei Ihnen nächtigt. Die Räume sind sehr klein und immer nur für einen ausgelegt. Sie könnte sie nur tagsüber besuchen.« »Das ist besser als nichts.« »In der Zwischenzeit wäre es gut, wenn Sie sich auf Ihre Abreise vorbereiteten. Wir fliegen Sie heute nachmittag dort hin.« »May muß dabei sein.« »Wie gesagt, ich werde darüber nachdenken.« 371
Mittwoch Liao flog wie geplant aus Beidaihe nach Seoul. An der Oberfläche sah alles gut aus. Er hatte vor dem Flug Tian Yi in Genf angerufen. Sie unterbrach ihr Gespräch mit O’Neill, um seinen Anruf anzunehmen, und berichtete, daß alles nach Plan zu verlaufen schiene. Offensichtlich war es ihr gelungen, die Europäer einzuwickeln und die Amerikaner auszuziehen. Jetzt war es Zeit, Tácheles zu reden, wie die Verhandlungspartner sagen würden. Sie wollte O’Neill bis in die frühen Mittwochsstunden Genfer Zeit hinhalten, um die Spannung zu erhöhen, dann wollte sie Sunrise offerieren und im Gegenzug die zweifelsohne sorgfältig geplanten Zugeständnisse der Amerikaner akzeptieren. Da keine weiteren Überraschungen mehr zu erwarten waren, würde das Meeting anschließend ein freundliches Geplänkel unter Freunden werden. Die Verlautbarungen würde man schon vorher abfassen und abnicken, damit sie freigegeben werden konnten, sobald dann das Meeting endete. Es sah alles ganz einfach aus. Und genau das machte Liao Sorgen. Es war zu einfach, es gab zu wenig Gegenwehr. Bei den zwei Treffen des ständigen Ausschusses, seit sie alle in Beidaihe angekommen waren, hatte Chen nicht ein einziges Mal Genf erwähnt. Warum verhielt er sich so still? Jack machte sich Sorgen um Morags Gesundheit, wußte aber nicht, was er unternehmen sollte. Obwohl sie gut gelaunt zu sein schien, sah sie erschöpft aus, und manchmal schien sie Atemschwierigkeiten zu haben. Als sie Okinawa erreichten, schlug er vor, daß ein Arzt sie von Kopf bis Fuß durchchecken solle. Sie lehnte das rundweg 372
ab und wies ihn barsch an, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Von da an versuchte er, ihr keine weiteren unangemessenen Fragen zu stellen, vor allem nicht, nachdem sie ins U-Boot umgezogen waren. Jetzt lief es sowieso vor allem andersherum; Morag informierte sie darüber, was mit Calum los war. »Jetzt ist er angekommen, er ist in der Einsatzbasis.« »Was sagt er, Morag?« »Nichts. Er hat Angst. Er glaubt, sie wollen ihn hinterher umbringen.« »Ich sage das nur ungern, aber da hat er wahrscheinlich recht.« »Jack, Sie müssen mir versprechen, daß Sie alles tun, was in Ihrer Macht steht, um ihn zu retten. Ich habe Ihnen geholfen, so gut ich kann, und Calum auch. Sie schulden das mir und ihm.« »Natürlich, Morag, wir werden tun, was wir können.« »›Was wir können‹ ist nicht gut genug. Wenn Sie mir nicht Ihr Ehrenwort als Gentleman geben – ich hoffe, Sie sind einer –, daß Sie alles nur menschenmögliche tun, dann werde ich …« »So aufgeregt habe ich Sie ja noch nie gesehen, Morag. Was werden Sie dann genau tun?« »Ich verwandle Sie in einen Molch. Vergessen Sie nicht meinen Ruf in Sgurr nan Creag.« »Da lege ich keinen Wert drauf, Morag; Molche kriegen keine Cheeseburger. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß wir es versuchen. Ich bin bloß nicht sicher, wie es zu schaffen wäre, das ist alles. Es könnte schwierig sein, nah genug heranzukommen. Lassen Sie mich darüber nachdenken … Und – gefällt es Ihnen in Ihrer Kabine? Captain Farrell hat sie extra freigemacht.« 373
»Ich werde nicht vergessen, mich bei ihm zu bedanken, Jack. Ich hatte keine Ahnung, daß U-Boote so groß sind.« »Die Hammerhead ist eins unserer neuesten. Hundertsechzig Meter lang und über vierzehntausend Tonnen Verdrängung unter Wasser. Morag, sind Sie sicher, daß Sie mit Calum in Kontakt bleiben können, wenn wir unter Wasser sind?« »Bisher scheint es überhaupt keinen Unterschied zu machen.« »Gut. Können wir noch irgend etwas für Sie tun?« »Ja, Jack, ich möchte sie sehen.« »Wen meinen Sie mit sie.« »Die Bomben.« »Morag, es ist ein Staatsgeheimnis, ob eines unserer Kriegsschiffe Atomsprengköpfe an Bord hat oder nicht.« »Erzählen Sie das mal der Besatzung. Ich habe einen der Männer an Bord gefragt, und er hat es sofort zugegeben.« Balletto seufzte und zuckte mit den Schultern. »Okay, Morag, Sie haben gewonnen. Ich werde Captain Farrell bitten, Sie persönlich herumzuführen – Kontrollraum, Maschinenraum, Abschußrohre, und natürlich auch die tollen Sprengköpfe. Danach treffen wir uns im Kommandoraum, um etwas zu essen und uns noch mal die Karte anzuschauen.« »Vielen Dank für Ihren Rückruf, Mr. President. Entschuldigen Sie, daß ich Sie so früh aufschrecke. Wir konnten Sie letzte Nacht nicht erreichen.« »Ja, Lynne, gestern war es etwas tricky.« Das konnte viel bedeuten, wie sie ihr Staatsoberhaupt kannte. 374
»Wir haben es, die Sache ist im Sack. Sie hat aufgegeben.« »Wie lange habt ihr zwei geredet?« »Elf Stunden, bis drei Uhr morgens.« »Wie hat sie sich verhalten?« »Sie hat sich Stunde um Stunde geziert, hat sich in diese oder jene Richtung gewunden, aber am Ende konnte ich sie festnageln. Offen gesagt ist sie beim Verhandeln nicht halb so gut wie sie glaubt.« »Sie ist aber auch gegen eine Weltklassespielerin angetreten, vergessen Sie das nicht.« »Oh, vielen Dank … Das Entscheidende ist jedenfalls, daß wir Sunrise haben, ohne weitere Bedingungen. Vollständige Auflösung der Monopolgewalt, Verkauf von einhundert Prozent der Firma an die chinesische Öffentlichkeit und internationale Investoren.« »Wunderbar. Was für Zugeständnisse mußten wir machen?« »Was die Banken betrifft, blieb mir nichts übrig, als mich auf sechs Jahre heraufhandeln zu lassen. Davon abgesehen ist es so gelaufen, wie wir vereinbart hatten.« »Ausgezeichnet.« »Mr. President, ich glaube, es wäre eine gute Idee, wenn Sie Bob Tyne anrufen und ihm die Neuigkeiten durchgeben.« »Lynne, in Kalifornien ist es vier Uhr.« »Na und? Dann wecken wir den Kerl eben auf. Er hat auch nichts dagegen, mich jederzeit anzurufen … Aber im Ernst, es gibt einen Grund. Das Meeting fängt in einer Stunde an, um zwei Uhr hiesiger Ortszeit. Dann wird es sich herumsprechen, und danach kommt es in den Nachrichten. Er wird wie ein verwundeter Kojote heulen, 375
wenn wir es ihm nicht zuerst sagen. Natürlich will er bei seinen Freunden damit angeben können.« »Ich kann ihn anrufen, wenn Sie möchten, aber wäre es nicht besser, abzuwarten, bis der Deal wirklich unter Dach und Fach ist? Stellen Sie sich mal vor, ich erzähle das Tyne, und dann gibt es noch irgendwelche Schwierigkeiten …« »Der Deal ist unter Dach und Fach, Mr. President. Es wird keine Schwierigkeiten geben, glauben Sie mir. Sie würden es nicht wagen, jetzt nicht zu unterschreiben.« »Okay, wenn Sie meinen. Hey, toll gemacht, Lynne. Gute Arbeit.« Liaos Besuch beim koreanischen Präsidenten war langweilig gewesen, das Abendessen zog sich unendlich hin, Toast um dämlichen Toast. Die warme Sommerluft auf dem holprigen Rückflug bescherte viele Luftlöcher. Aber richtig wütend wurde er, als man es ihm sagte, kurz vor Mitternacht bei seiner Landung. Chens Plan war exzellent getimet gewesen. Wenn er es bei dem formellen Zusammentreffen des Ausschusses am Nachmittag versucht hätte, wäre Liao für seine Verbündeten in Seoul erreichbar gewesen. Dann hätte er mit Zhang sprechen und versuchen können, die Sache zu verhindern. Aber Chen hatte gewartet bis zum Bankett der Ausschuß-Mitglieder, als Liao schon wieder im Flugzeug gesessen hatte und das WTO-Meeting nur wenige Minuten vor seinem Anfang stand. Als Premier Chen sie aus dem Bankettsaal anrief, wurde Tian Yis Gesicht aschgrau, und sie riskierte ihre Zukunft, indem sie darauf bestand, den Befehl vom Präsidenten selbst zu hören. Tian erschrak, als die feste, wohlbekannte Stimme eine Bestätigung murmelte. Ihr Rückzug wurde vollständig abgeschnitten, 376
indem Chen ihr jedes vorherige Gespräch mit den Amerikanern verbot. Wenn sie O’Neill hätte anrufen können, wäre vielleicht noch irgend etwas zu retten gewesen. Aber das war jetzt unmöglich. Schlimmer noch, Chen bestand darauf, daß sie die Amerikaner zuerst sprechen ließ. Tian Yi würde ihre Ehre verlieren, sie würde nichts von dem einhalten können, was sie besprochen hatte. Wer in der weiten Welt würde ihr jemals wieder trauen? Lynne O’Neill sah großartig aus, ob nun ausgeschlafen oder nicht. Art Pattersons Leute hatten einen Friseur kommen lassen, und sie hatte ein schickes neues Kleid angezogen. Nach dem Meeting würde es jede Menge Presse geben, und auch viel TV, und sie wollte gut aussehen. Art schätzte, daß das Meeting nicht länger als eine Stunde dauern würde. Eine, vielleicht zwei Stunden mit Presse und einem schnellen Glas Champagner, dann konnte sie spätestens gegen sechs nach Washington zurückfliegen. Als sie den neuen, extra für diesen Zweck gebaute Saal betrat, strahlte sie nach rechts und links, und sie strahlte Goodwill aus. Die Ministerin Tian kam als letzte. Sie setzte sich, umgeben von ihrer Entourage, und O’Neill versuchte, ihren Blick zu erhaschen. Es funktionierte nicht. Gott, sah sie schrecklich aus! Der Schlafmangel hatte sie ganz offensichtlich fertiggemacht. Soviel zum chinesischen Durchhaltevermögen. O’Neill versuchte es noch mal, aber Tian Yi schien von dem Boden vor sich besessen zu sein. Komische Frau, daß sie so einen Augenblick nicht genoß. Die Kammer war voll mit Abgesandten und WTOBediensteten. Obwohl nur Hirsch für die Europäer 377
sprechen würde, waren alle Botschaften als Beobachter hier. Lynne O’Neill winkte dem deutschen Botschafter Gunter Hoch zu, und Christopher Ransome ebenfalls; mit beiden hatte sie im Lauf der letzten Woche diniert. Der Vorsitzende eröffnete die Sitzung. Er erklärte in seinem kalabrischen Singsang den Hintergrund, den sowieso jeder Anwesende kannte, dann durften sie reihum alle etwas sagen, und keiner hörte zu. Alle warteten auf Lynne O’Neill. Sie wählte ihre bedachteste, offiziellste Stimmlage. »Herr Vorsitzender, verehrter Delegierte, Botschafter, es war immer der große Wunsch der Regierung der Vereinigten Staaten, Probleme freundschaftlich und unter dem Dach unserer großen internationalen Institutionen wie der World Trade Organisation zu lösen. Wie Sie alle wissen, haben die USA eine große Rolle in der Entwicklung der GATT gespielt, und bei ihrer Weiterentwicklung zur WTO. Die WTO ist immer noch eine sehr junge Organisation, und Organisationen zeigen ihre Stärken und ihren Wert erst dann, wenn sie auf die Probe gestellt werden. Die Schwierigkeiten, über die wir jetzt hier in Genf gesprochen haben, sind der erste große Test für die WTO. Nun, unserer Meinung nach sind die Gespräche, obwohl sie zeitweise sehr offen und direkt waren, immer positiv und auf eine Art geführt worden, die zeigt, wie sehr die internationale Gesellschaft diesen Rahmen braucht und weiter entwickeln sollte.« Die Anwesenden murmelten zustimmend. Waren sie weniger bewegt von ihrer Eloquenz, als sie erwartet hatte? Egal. Sie machte weiter. »Deswegen sind die USA trotz zahlreicher Schwierigkeiten bereit, ihren Beitrag dazu zu leisten, diese Probleme im Rahmen und gemäß der Vorgaben der WTO 378
zu klären. Kommen wir zur Sache. Die USA haben einige Vorschläge zu machen, ergänzend zu denen, die letzte Woche und im Verlauf dieser Woche angenommen wurden. Ich beziehe mich dabei insbesondere auf die Übergangsvereinbarungen mit China, was Banken und Versicherungen betrifft. Zum Zeitpunkt der WTORatifikation der chinesischen Regierung waren wir damit einverstanden, daß die Übergangsfrist in beiden Fällen drei Jahre dauern sollte. Das hat unserer Erfahrung nach aber schwere praktische Probleme aufgeworfen. Ausgehend von der Annahme, daß andere Einigungen ebenfalls getroffen werden können …« – sie versuchte, Tian Yi anzulächeln, aber wieder schaute die Chinesin nicht zu ihr her – »… sind die USA bereit, einer Verlängerung der Vereinbarung für Versicherungen und Banken auf fünf bzw. sechs Jahre zuzustimmen.« Im ganzen Saal wurde genickt und zustimmend gemurmelt. Dann wurde es wieder still, und alle Blicke wandten sich der chinesischen Ministerin zu, die am anderen Ende des riesigen Tisches saß. Sie brauchte dreißig oder vierzig Sekunden, sich zusammenzureißen. Christopher Ransome beobachtete die Körpersprache ihrer Begleiter. Er hatte freundliche Chinesen gesehen, knallharte, verängstigte, unergründliche. Aber daß sie alle wie geschlagene Hunde zu Boden starrten, war höchst merkwürdig. Was war hier los? Tian Yi räusperte sich. »Herr Vorsitzender, verehrte Abgesandte, Botschafter. Die Regierung der Volksrepublik China möchte betonen, daß sie eindeutig mit der Handelsbeauftragten O’Neill übereinstimmt, was die Notwendigkeit angeht, Schwierigkeiten des Welthandels gemäß der Gesetze und Vorgehensweisen in den Vereinbarungen der World Trade Organisation zu lösen. Wir sind dankbar für den positiven und freundschaftlichen Weg, auf dem die WTO379
Delegierten versucht haben, diese Programme anzusprechen, und wir wünschen uns von Herzen, daß es möglich sein wird, eine endgültige Vereinbarung zu finden.« Oh-oh, dachte Ransome, da ist was im Busch. Könnte sich O’Neills Deal in Rauch aufgelöst haben? »Wir freuen uns auch über die Zusage der Handelsbeauftragten O’Neill, was Banken und Versicherungen angeht.« Sie machte eine kurze Pause. »Ich komme nun zu Vorschlägen der letzten Woche, die Veräußerung einiger dem Militär gehörender Firmen betreffend …« Einer ihrer Mitarbeiter vergrub seinen Kopf in den Händen. Großer Gott, dachte Ransome, die Sache ist wirklich gekippt. Er schaute zum anderen Ende des Saales, weil er so das Gefühl hatte, daß in den nächsten paar Sekunden Lynne O’Neill die interessantere Körpersprache bieten würde. Tian Yi fuhr fort: »Wir haben das Ganze sehr sorgfältig abgewogen und in aller Ausführlichkeit mit den Vertretern der Volksarmee besprochen. Der Verkauf derartiger Firmen wirft eine neue Fragestellung auf, die in unserer Verfassung nicht direkt angesprochen wird. Aber unsere Rechtsberater haben uns mitgeteilt, daß man ihrer Meinung nach die Armee nicht zwingen kann, diese Firmen abzugeben. Es sei denn, sie würde dem zustimmen …« O’Neills Gesicht war ein Kaleidoskop wechselnder Gefühle. Verwirrung war die einzige Konstante. »Meine Regierung hat wirklich und guten Willens versucht, einen Konsens herbeizuführen …« Man hätte jetzt eine Stecknadel fallen hören können … »Leider sieht es nicht so aus, als ob das möglich wäre.« O’Neills Kopf drehte sich wild von links nach rechts. 380
Ransome hatte das Gefühl, daß sie es noch nicht begriffen hatte. Die übrigen Anwesenden staunten stumm. Dann donnerte O’Neills Stentorstimme los. »Augenblick mal, Ministerin Tian. Habe ich Sie richtig verstanden? Wollen Sie damit sagen, daß die Armee Sunrise behalten wird?« »Das ist korrekt.« »Ich glaube das nicht … und Sie haben dann auch noch den Nerv zu behaupten, die Armee müßte das selbst entscheiden, und Ihre tolle Partei könnte das nicht kontrollieren? Das haben Sie doch gerade gesagt, oder?« »Das ist unsere Position – unseren Rechtsberatern zufolge.« »Nun, ich kann Ihnen gleich jetzt sagen, Ministerin, daß die US-Regierung kein Wort davon glaubt, und das sollten auch alle anderen Staaten, die einigermaßen bei Verstand sind, nicht tun. Sie leben in keinem freien Land, Ministerin, Sie haben keine richtigen Wahlen, keine demokratischen Rechte. Und wenn es irgend etwas Gutes an diesem barbarischen Unterdrückungssystem gibt, dann ist es die Tatsache, daß die kommunistische Partei jedem befehlen kann zu tun, was sie will.« »Wir vertreten da eine andere Ansicht. Unsere Regierung hat uns andere Anweisungen gegeben, und wir werden ihnen Folge leisten.« »Das kaufe ich Ihnen nicht ab, tut mir leid. Sie reden Blödsinn, und Sie wissen es …« Tian Yis Augen blitzten. Der Saal war kurz davor, überzukochen, die Spannung war körperlich spürbar. Niemand kümmerte sich auch nur im geringsten um den Vorsitzenden, der um Ruhe bat. Ransome betrachtete jetzt
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wieder Tian Yis Gesicht, um zu sehen, wie sie mit den Tiefschlägen O’Neills fertig wurde. »… die Regierung, die Partei, die Armee … das ist alles, gottverdammt noch mal, dasselbe, oder zumindest liegt ihr alle in einem einzigen großen Bett miteinander.« Ransome sah, wie Tian Yi sich an einen ihrer Mitarbeiter wandte. Ihr Kommentar war halb geflüstert, halb gespien. Zum ersten Mal waren ihre Worte deutlich hörbar gewesen. Dann sah er ihren Blick durch den Saal fliegen, als suchte sie nach etwas. Er blieb an seinem Gesicht hängen, an seinen Augen; sie hielt seinen Blick für einen Moment, bevor der Schlagabtausch weiterging. Ransome blieb lange genug, um Signor Fratelli eine Vertagung des endgültigen Urteils auf den nächsten Montag ansagen zu hören, dann brauste er zurück zur britischen Botschaft und rief direkt den Ständigen Unterstaatssekretär an. »Sind Sie sicher, Christopher?« »Absolut, Tom, sie wußte, daß ich dort bin. Ich bin überzeugt, daß sie es für mich gesagt hat.« »Ich werde es sofort an den Außenminister und Downingstreet Nummer zehn weitergeben. Wiederholen Sie es besser noch mal. Ich schreibe es phonetisch auf.« »Vier Zeichen. Tong Chuang Yi Meng. Das ist ein altes Sprichwort.« »Und es heißt ›Gleiches Bett, verschiedene Träume‹?« »Ja. Es bedeutet, daß zwei Menschen oder Gruppen zwar physisch beieinander sind, aber weit voneinander abweichende Meinungen haben. O’Neill hatte ihr gerade vorgeworfen, daß sie alle zusammen in einem großen Bett säßen.« 382
»Und Sie sind sich Ihrer Interpretation ganz sicher?« »Unter den gegebenen Umständen, ja. Ich glaube, daß sie mir sagen wollte, daß es Streit gegeben hat. Gott allein weiß, zwischen welchen Gruppierungen. Aber nur so ist es zu erklären. Es entspricht durchaus nicht der chinesischen Art, einer Vereinbarung erst inoffiziell zuzustimmen, wie bei O’Neill, und dann in der Öffentlichkeit abzulehnen. Ihre Instruktionen müssen sich im allerletzten Augenblick geändert haben.« »Sehr interessant, Christopher. Aber ich frage mich, was Tian Yi sich davon verspricht, Sie darüber in Kenntnis zu setzen.« »Vielleicht möchte sie uns wissen lassen, daß es in Peking drunter und drüber geht und daß sie es sich einfach anders überlegt haben. Wie Sie und ich ja wissen, können Regierungen durchaus wankelmütig sein …« »Allerdings!« »… aber ich glaube, es gibt eine wahrscheinlichere Erklärung für Tian Yis Sprichwort und den ganzen Aufruhr; nämlich daß derjenige, der die Instruktionen änderte, den höchstmöglichen Schaden anrichten wollte.« »Mmmm. Und vielleicht auch noch die höchstmögliche Blamage für die Amerikaner. Aber Christopher, was würde das bringen? Wer auch immer in Peking die Entscheidungen trifft, kann doch nicht die ganze WTO gegen sich haben wollen.« »Sicher nicht. Einerseits möchten sie also nicht, daß die Armee diese Firmen verkauft, andererseits wollen sie die WTO daran hindern, Strafen gegen sie auszusprechen …« »Nun, damit ziehen Sie sich aus dem Deal mit den Amerikanern zurück, zwingen sie zu einem spontanen Alleingang und lassen sie als die Bösen dastehen! Perfekt. Sehr klug.« 383
»Tom, vielleicht wollte sie uns Europäer warnen, damit wir versuchen, die Amerikaner zu bremsen. Vielleicht wollte sie darauf hindeuten, daß es unbedingt nötig wäre, die Chinesen innerhalb der WTO dranzukriegen; daß wir streng mit ihnen sein sollten und versuchen müßten, die Bösen in ihren eigenen Reihen auszuräuchern.« »Christopher, selbst wenn es die ›Bösen‹, wie Sie sie nennen, gäbe, haben wir keine Ahnung, wer das ist, wie stark sie sind oder ob das irgendeinen Unterschied machen könnte. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich mag ihr Sprichwort und bezweifle nicht, daß sie Ihnen etwas sagen wollte. Aber was glauben Sie, zu welchen Reaktionen sollte uns das veranlassen?« »Das müssen Sie und die Minister entscheiden. Aber eines ist klar: Wenn wir die Europäer nicht dazu bringen, harte WTO-Sanktionen zu unterstützen, dann können wir die Amerikaner nicht aufhalten. Und falls Tian Yi mich nicht ganz böse an der Nase herumführt, würde ich vermuten, daß ein Alleingang der USA zu ungeahnten Schwierigkeiten führen könnte. Ich denke, wir sollten versuchen, herauszufinden, ob sich der Sturm in Washington ein wenig beruhigen läßt; vielleicht hören sie uns noch einmal vernünftig zu. Und dann müßten wir noch vor Montag in Europa mit den wichtigsten Leuten sprechen.« »Viel zum Nachdenken, Christopher. Ich werde mich darum kümmern.«
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Donnerstag Das Protokoll verlangte, daß Präsident Zhang niemals vor elf Uhr gestört wurde. Liao kam um zehn. Chen hatte damit gerechnet und war schon da; er wartete im Vorzimmer. Liao hatte das äußerst unangenehme Gefühl, daß er geschickt ausgetrickst worden war, daß er das Mahjong-Spiel verlor. Sie saßen schweigend da und tranken Tee, bis sie von Zhangs erstem Privatsekretär hereingebeten wurden. Zhangs geisterhafte Blässe deutete mehr als je zuvor darauf hin, daß sein Vertrag mit dem Leben beinahe abgelaufen war. Seine weißen Haarsträhnen wurden immer dünner. Er saß steif aufgerichtet, um die Schmerzattacken zu verbergen, die sein Drogencocktail nicht mehr unter Kontrolle bekam. Liao kam sofort zur Sache. »Präsident, ich möchte mit aller Entschiedenheit gegen Inhalt und Art der Entscheidung protestieren, die der ständige Ausschuß gestern getroffen hat.« »Ach ja?« Präsident Zhang hatte Widerstand erwartet. Aber selbst so schwach, wie er sich fühlte, paßte ihm Liaos Ton überhaupt nicht. »Diese Befehle haben großen Schaden angerichtet. Wir hatten ein sehr zufriedenstellendes Paket ausgehandelt, viel günstiger als die Bedingungen, zu denen wir anfangs Mitglied der WTO geworden sind.« 385
»Das mag sein, Parteisekretär Liao, aber vergessen Sie nicht, daß wir zum Zeitpunkt unseres Eintretens etwas mehr Gelassenheit erwarteten, was die Umsetzung dieser Vereinbarungen betrifft. Das hat sich nicht bewahrheitet. Wir sind mit Adleraugen beobachtet worden.« »Dennoch wäre die Vereinbarung, die wir schon provisorisch geschlossen hatten, auf jeden Fall zufriedenstellend.« »Nicht für die Armee.« Chens ruhige, nur ein wenig gehässige Stimme war ein harscher Kontrast zu der Leidenschaft und Anspannung in Liaos Stimme. »Genosse Liao, Sie brauchen nichts zu fürchten. Ihre Unterstützer im ständigen Ausschuß haben in Ihrer Abwesenheit für Sie gesprochen. Offen gesagt, hätte es keinen Unterschied gemacht, ob sie dabei gewesen wären. Der Präsident teilte meine Ansicht, daß unser Vorgehen Erfolg verspräche.« »Und wieso wurde das überhaupt vor den Ausschuß gebracht? Es war doch alles schon von offizieller Seite beschlossen. Die Armee war zu Rate gezogen worden …« »Zu Rate gezogen worden, ja – aber sie war nicht zufrieden. Ihr oberster Kommandeur, Gao Xin Min …« »Gao. Natürlich … Ihr alter Freund.« »Ich werde diese Bemerkung ignorieren … Gao Xin Min hat berichtet, daß der Plan, der Armee Sunrise wegzunehmen, große Sorgen unter den jüngeren Offizieren auslöste; sie fragen sich, in welchem Umfang die Armee noch Unterstützung von der Regierung erwarten kann. Gestern sandte er eine dringende Anfrage an den ständigen Ausschuß, die Angelegenheit noch einmal zu überdenken, bevor es zu spät wäre. Normalerweise hätten wir auf Ihre Rückkehr gewartet, aber diese Möglichkeit bestand nicht. Die WTO stand kurz davor, in Genf zusammenzutreten, und wir mußten unserer 386
Delegation rechtzeitig die neuen Instruktionen übermitteln. Natürlich wurden Sie so bald wie möglich informiert, nämlich als Ihr Flugzeug aus Seoul landete.« »Sie hätten auch einen Funkspruch an das Flugzeug schicken können.« »Was hätte das für einen Unterschied gemacht? Und das Thema ist viel zu sensibel, um es per Funk zu behandeln.« »Auf jeden Fall, Präsident, muß ich darauf bestehen, daß wir die Sachlage erneut beraten. Es ist nicht zu spät, Ministerin Tian anzuweisen, mit …« »Parteisekretär, wir haben entschieden.« Zhangs Stimme war müde. »Aber bedenken Sie doch die Konsequenzen! Wenn die WTO jetzt gegen uns entscheidet …« Chen mischte sich wieder ein. »Das tut sie nicht. Die Franzosen werden schon dafür sorgen, daß die Europäer das nicht unterstützen, sonst wird Frankreich einige äußerst umfassende Verträge zum Ausbau unserer Seehäfen verlieren.« Seine Stimme war hochnäsig und nasal geworden. Das Spiel würde bald vorbei sein, und dann war er Liao los … für immer. »Dann werden die Amerikaner im Alleingang gegen uns vorgehen. Das wird enorme Kosten verursachen. Milliarden von Dollar.« »Die wir uns leisten können …« Chen hatte eine Antwort auf jeden Einwand parat. »Und wenn nicht, dann werden die Japaner sie uns leihen. Aber seien Sie nicht so sicher, daß die Amerikaner das tun werden. Sie sind nicht dumm. Wenn sie gegen uns vorgehen, werden sie es sein, die am Ende nachgeben müssen. Ihre Firmen, die hier investiert haben, werden es fordern.« 387
»Sie verstehen die Lage der Amerikaner nicht, Chen. Deren Präsident kann das nicht einfach hinnehmen, und sei es nur deshalb, weil er gewählt werden will. Er muß handeln.« »Unsinn. Sie behaupten, daß ich die Amerikaner nicht verstehe, aber sie verstehen nicht einmal sich selbst. Die Amerikaner interessieren sich für niemanden außer Amerika. Solange sie genug Benzin, Coca Cola und Hamburger haben, ist es ihnen völlig egal, was sonst irgendwo passiert. Und wenn der Präsident trotzdem dumm genug ist, uns Schwierigkeiten zu machen, dann wird er schon bald wissen, was er sich damit eingehandelt hat.« »Sie meinen Taiwan?« Chen wollte schon antworten, dann aber unterbrach er sich und überließ das dem Präsidenten. Der alte Mann beugte sich ein paar Zentimeter von seiner weichen Rückenstütze vor. Das war sichtlich anstrengend, und er mußte danach erst einmal wieder zu Atem kommen. »Wie Sie wissen, Parteisekretär, haben wir sehr lange auf den Tag gewartet, an dem Taiwan wieder mit uns vereinigt wird. Oft standen wir kurz davor, ein direkteres Vorgehen zu autorisieren, haben uns aber stets aus Furcht vor internationalen Sanktionen zurückgehalten. Damals war diese Entscheidung richtig. Unsere Armee war nicht stark genug, und auch unsere Flotte nicht ausreichend. Wichtiger noch war unsere ökonomische Situation. Der Westen hätte uns zu leicht die Daumenschrauben ansetzen können – damals, als wir noch nicht interessant genug für ihre Geschäftsinteressen waren. Wenn sie den Nachschub an Geld und Technologie abgeschnitten hätten, wäre unsere ökonomische Entwicklung zum Erliegen gekommen. Aber jetzt ist alles anders. Die Ausländer haben sich hier so sehr engagiert, daß sie sich nicht 388
zurückziehen können, ohne tief in ihr eigenes Fleisch zu schneiden. Sie haben gar keine andere Wahl, als weiter in China zu investieren, was auch immer wir tun. Auch die militärische Situation hat sich geändert. Mittlerweile sind unser Armee und die Flotte mit den modernsten Waffen ausgerüstet. Die Taiwanesen werden sich vielleicht trotzdem noch wehren, aber sie können nicht siegen. Genosse Liao, ich habe lange darauf gewartet, und Premier Chen berichtet, daß die Armee bald zuschlagen möchte, bevor die jüngeren Männer vom Wohlstand verweichlicht werden und die Lust am Kämpfen verlieren.« »Präsident, wurde auch das gestern entschieden?« »Nein, die endgültige Entscheidung kann erst getroffen werden, wenn wir erfahren, wie Washington auf seine große Niederlage am Montag in Genf reagiert.« Liao wurde klar, daß er nichts mehr gewinnen konnte, indem er die Debatte verlängerte. »Vielen Dank, Präsident. Selbstverständlich werde ich Ihnen jederzeit, Tag und Nacht, zur Verfügung stehen.« »Hartmut?« »Pierre Alain, wie schön, von dir zu hören. Du bist in der Provence, habe ich mir sagen lassen. Wie ist das Wetter?« »Zu heiß. Ich hasse Urlaub. Die Presse verlangt aber, daß ich Urlaub mache. Ist es nicht verrückt, daß man sie davon überzeugen muß, daß der Präsident der Republik seinen Job im Griff hat, weil er diesen Job mal nicht ausübt?« »Wie immer gut aufgelegt, Pierre Alain. Was kann ich für dich tun?« 389
»Diese China-Geschichte in Genf ...« »O ja, unser britischer Freund hat schon mit mir gesprochen, und der amerikanische Präsident wird in einer Stunde anrufen. Alle ereifern sich so über diese Sache. Mir ist eigentlich nicht klar, warum. Es ist Sommer, Saure-Gurken-Zeit, es gibt keine richtige Krise, also erfinden sie eine.« »Absolut richtig. Es ist wichtig, daß unsere beiden Länder Augenmaß bewahren, daß wir einen kühlen Kopf behalten, wenn ihn alle anderen um uns herum verlieren, nicht wahr?« »Allerdings.« »Also, Hartmut, kann ich davon ausgehen, daß deine Meinung in dieser Sache unverändert ist?« »Im Grunde genommen schon. Ehrlich gesagt, Pierre Alain, glaube ich, daß die Briten durchaus recht haben, wenn sie sagen, die Chinesen hätten sich unehrenhaft und provokativ verhalten. Sie betonen durchaus überzeugend, daß ihre Forderungen kein Ende mehr nehmen könnten, wenn wir ihnen jetzt nachgeben.« »Ich bin davon überzeugt, daß sich damit umgehen läßt.« »Die Briten haben auch absolut recht, wenn sie sagen, daß ein Alleingang der Amerikaner der WTO großen Schaden zufügen würde.« »Ja, das mag so sein, und deswegen ist es auch besser, wenn wir davon ausgehen, daß die USA letzten Endes allein gar nichts unternehmen wird.« »Mmmm. Hast du die britische Vermutung gehört, daß sich irgendein Machtkampf unter den chinesischen Regierungsmitgliedern entwickelt hat?«
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»Das könnte stimmen. Zhang ist krank, und wer weiß, was für ein Kampf um seine Nachfolge ausgebrochen ist. Aber die Briten übertreiben mal wieder in ihrem Sinne. Im Augenblick hat Zhang die Zügel noch in der Hand, und das wissen sie auch. Die Engländer stehen wie immer hinter den Amerikanern und wollen der ganzen Sache Wichtigkeit verleihen. Sie wollen für eine harte Linie in Genf sorgen, das ist alles. Wir sollten uns nicht weiter darum kümmern.« »Vielleicht. Vielleicht …« »Wie du weißt, wird das endgültige WTO-Urteil erst am Montag nachmittag gefällt. Die EU will ihre Position beim Treffen der Außenminister in Brüssel am Montagmorgen festlegen. Kann ich mich auf die deutsche Unterstützung verlassen?« »Aber sicher, Pierre Alain, sofern sich nichts mehr ändert.« »Gut, dann kehre ich jetzt zurück zu meiner Frau, und du kehrst … zu was zurück?« »Dem Ozonloch. Beziehungsweise zu dem hohen Preis, den ich dafür zahle, die Grünen in der Koalition zu haben.« »Ich würde sie gegen meine Frau eintauschen.« »Mr. President. Bob Tyne ist am Apparat.« »Nicht schon wieder! Sagen Sie ihm, ich rufe nächste Woche an. Versuchen Sie, ihn zu beruhigen. Sagen Sie ihm, ich gehe davon aus, daß er sein Versprechen hält, uns bis Ende des Monats Zeit zu geben. Großer Gott, der macht mich noch wahnsinnig. Lynne O’Neill will, daß ich Peking in die Luft sprenge – wahrscheinlich hat sie ihre Tage –, die CIA behauptet, man wolle Taiwan angreifen, 391
und die Briten kommen mir mit irgendwelchen Machtkämpfen in Peking. Und wieso das alles? Ein Verrückter, der in die Zukunft schauen kann, und ein Botschafter, der von den Lippen abliest. Wenn irgend jemand wüßte, wie wir hier Entscheidungen treffen, würde ich keine einzige Stimme kriegen. Kommt schon, Leute!« »Mr. President, es liegt nicht nur an dem Psychokineten. Auch die Satelliten zeigen massive Luftwaffenbewegungen rund um Fuzhou. Alles deutet darauf hin, daß dies tatsächlich ein ernstzunehmender InvasionsAufmarsch ist.« »Säbelrasseln. Das haben die schon öfter gemacht. Ich wette, sie wollen bloß Druck ausüben wegen dieser Handelssache.« »Bei allem Respekt, Sir, da sind wir anderer Meinung. Wir sehen durchaus die Verbindung zu Genf – das Timing kann kein Zufall sein –, und zweifellos wird der Beschluß dort seinen Einfluß haben. Sowohl das Pentagon als auch wir glauben, daß der Aufmarsch ernst gemeint ist.« »Okay, Johnny. Jetzt Sie, Gerry, wie sieht das State Department die britische Theorie?« »Man kann nicht sicher sein. Es könnte etwas hinter diesem Sprichwort stecken. Aber das macht uns weniger Sorgen als das Gesamtbild. Wenn die CIA und das Pentagon recht haben, dann besteht tatsächlich die Möglichkeit einer Invasion, wenn wir im Alleingang Strafen gegen die Chinesen verhängen. Deswegen raten wir, keinerlei Strafmaßnahmen anzukündigen, zumindest nicht, solange wir nicht mit absolut allen Mitteln versucht haben, die Europäer dazu zu bewegen, uns zu unterstützen. Das könnte eine kleine Reise in der Air Force One bedeuten, und ein Treffen mit den Deutschen. Die sind der Schlüssel in dieser Sache.« 392
»Großer Gott, Gerry, haben Sie mein Programm der nächsten paar Tage angesehen?« »Sie könnten das Ganze in fünfzehn Stunden schaffen, hin und zurück. Es ist vielleicht die einzige Möglichkeit. Sonst werden die Deutschen so sicher mit den Franzosen stimmen, wie Hunde Flöhe haben.« »Ich verstehe die Franzosen immer noch nicht. Die tun mehr für die Chinesen als die chinesische Botschaft. Was haben sie davon?« »Das wissen wir nicht, Mr. President. Aber es könnte etwas Spezielles sein, das Zhang oder Chen diesem de Murville versprochen haben, oder’ es könnte einfach nur genereller Opportunismus sein. Vielleicht gehen sie davon aus, daß unser Anteil am Chinahandel runtergehen wird, was auch immer jetzt passiert. Und wollen sich was von den Resten sichern. Aber es gäbe natürlich auch noch eine andere Erklärung … Vielleicht sind sie tatsächlich nicht unserer Meinung.« »Blödsinn. Sie müssen irgendwas davon haben. Ich weiß es, Johnny. Hat die CIA wirklich versucht, das rauszukriegen?« »Wir haben in Peking alles versucht, was in unserer Macht steht, Sir. Wenn es einen Deal gibt, dann wissen nur sehr wenige davon.« »Und was ist mit Paris?« »Unsere üblichen Quellen haben nichts gemeldet.« »Versuchen Sie’s noch mal. Drehen Sie jeden Stein um. Mir ist egal, was es kostet. Meinetwegen machen Sie irgendeinen Franzmann reich. Aber kriegen Sie es raus.« »Wir werden unser Bestes tun, Sir ...« »Entschuldigen Sie, daß ich unterbreche, Mr. President.« »Was ist, Carla?« 393
»Ihr Anruf beim deutschen Kanzler. Wir haben ihn jetzt am Telefon.« »O großer Gott, was sage ich denn dem? Okay, stellen Sie ihn durch … Hallo, Hartmut, wie geht’s dir?«
Freitag Ein übergewichtiger Franzose von etwa fünfzig Jahren und ein jüngerer, gesund aussehender Amerikaner aßen desinteressiert in einem knallvollen kleinen Bistro in der Nähe des Boulevard St. Michel; danach spazierten sie zurück zur Seine. An diesen diesigen Sommertagen war das Wasser wegen der Millionen glitzernder Libellen – den bateaux mouches, die sich Tag und Nacht paarten – kaum zu sehen. Die beiden Männer nahmen eine der Schrägen hinunter zu den alten Wegen und spazierten weiter. Das Schweigen, das ohne Peinlichkeit vom Aperitif bis über den Kaffee hinaus gereicht hatte, endete nun. »Wir müssen Sie bitten, noch einmal darüber nachzudenken, Francois, und die Zeit drängt sehr.« »Wieso das?« »In der Welt passiert alles mögliche. Die Information, die wir benötigen, hat an Wert gewonnen. Gestern war’s noch der übliche Preis …« »Also nicht viel.« »Heute und morgen ist der Wert gigantisch. Sonntag wird er abstürzen, Montag nachmittag ist die Information nichts mehr wert.« »Wie steht denn die Börse heute?« »Besser als du dir vorstellen kannst. Rat doch mal.« 394
»Fünfzigtausend Dollar? Vielleicht hundert …? Mehr? Zweihundert …? Du machst Witze. Ihr seid die geizigsten Leute der Welt.« »Fünf Millionen.« »Fünf Millionen …? Du machst wirklich Witze. Für wen hältst du mich?« »Ich halte dich für jemand, der weiß, was man für Geld kaufen kann. Claudine eingeschlossen.« »Ah, du kennst mein neuestes … Hobby? Wie interessant.« »Fünf Millionen Dollar auf Schweizer Nummernkonten. Natürlich nicht nur ein Konto. Uns ist selbstverständlich klar, daß du die Information nicht alleine liefern kannst. Das Geld ist zum Teil dafür bestimmt, dich zu bezahlen, und zum Teil soll es dir die Möglichkeit geben, die Verschwiegenheit deiner Kollegin im Elysée Palast zu lockern. Wir bieten diese Summe, weil wir vermuten, weniger könnte nicht ausreichen, um die … Skrupel einiger deiner Bekannten auszuräumen. Wirst du es versuchen?« »Wieso nicht, für einen alten Freund.« »Hast du irgendeine Vorstellung, wen du … ansprechen wirst?« »Eine Ahnung schon.« »Wen denn? Ich muß es wissen.« »Mein Freund, du bringst jetzt ›müssen‹ und ›möchten‹ durcheinander. Du möchtest es wissen. Aber wenn ich das für euch besorge, dann nur unter der Bedingung, daß du niemals erfährst, woher die Information kommt. Ich muß entsprechende Versicherungen abgeben.« »Na gut, aber dokumentierbar. Es muß dokumentierbar sein. Hörensagen reicht nicht.« 395
»Verstehe. Eh bien, da es jetzt so eilig ist, sollte ich nicht mehr weiter plaudern, sondern in die Rue du Faubourg Saint Honore zurückkehren.« »Du weißt, wie du mich erreichen kannst.« Der Franzose winkte noch einmal über seine linke Schulter, schaute aber nicht zurück; er ging die nächste Abschrägung hoch und über die Brücke hinweg. Die Sonne war hinter Wolken verschwunden, so daß er seine Sonnenbrille abnehmen konnte.
Samstag »Da … nein … höher … Oh, ich liebe es, wie du mich berührst, May. Es ist das einzige, was mir Spaß macht.« »Ich bin so stolz, wie du dich zusammenreißt. Ich werde dir dafür nie genug danken können, mein lieber Calum. Machst du dir Sorgen?« »Sorgen? Ich habe eine Scheißangst. Aber ich habe vor, es nicht zu vermasseln. Ich muß es hinbekommen, nicht nur für dich und deine Leute, sondern noch aus einem anderen Grund. Wenn ich es nicht hinkriege, dann nehmen sie dich mir weg. Ich weiß es.« »Das macht mir auch Sorgen. Ich möchte dich nicht verlieren, also ist es wirklich wichtig, daß du es schaffst. Ich werde dich ein bißchen länger als sonst massieren. Du mußt dich entspannen. Haben sie gesagt, wann es richtig losgeht?« »Jason sagt, ich soll es heute und morgen locker angehen, aber am Montag sollte ich einsatzbereit sein. Sie wissen, daß ich den Mond brauche, also schätze ich, das heißt Montag nacht. Ich bin so angespannt, daß ich bei jedem Atemzug quietsche.« 396
»Dafür bin ich ja hier, damit du an etwas anderes denkst. Und da du mit Bo und Jason zusammenarbeiten wirst, ist es auch gut, daß du wieder besser mit ihnen klarkommst.« »Ja, hat eine Weile gedauert. Ich habe sie dafür gehaßt, wie sie mich benutzt haben, aber inzwischen ist mir klar, daß sie auch nur ihre Arbeit taten. Gerade gestern erst dachte ich, daß es verdammt anständig von Bo war, mir noch eine Chance zu geben, nachdem ich abgehauen bin. Und Jason nur wegen des Geredes eines Mädels aus der Army zu werfen, war schon verdammt hart. Solange es nicht gegen die USA geht, denke ich, ist es okay, was er hier macht. Was hast du für ein Gefühl im Hinblick auf ihn?« »Ich bin froh, daß er auf unserer Seite steht. Du hast noch nicht erlebt, was für ein Stratege er ist. Das ist schon was. Und er ist einfach ein geborener Anführer.« »Hey, bist du in ihn verknallt, oder was? Ich würde sterben, wenn ich das Gefühl hätte, daß du scharf auf irgend jemand anders wärst.« »Dummer Junge. Wie könnte ich in meinem Herzen noch Platz für jemand außer dir haben?« »Stimmt das wirklich? Oh, das freut mich. Komm her.« »Nein, mein Lieber, ich muß jetzt gehen. Vergiß nicht, ich darf nur bis acht bleiben. Wir sehen uns morgen.« Calum war froh, daß sie die Mikrofone in der neuen Basis noch nicht gefunden hatten. Sein natürliches Verlangen, sich ihnen zuzuwenden und seine Ansprache direkt hineinzuhalten, wäre vielleicht zu groß geworden. »Montag nacht. Er wartet auf Montag nacht.« »Um was zu tun, Morag?«
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»Ich habe keine Ahnung, Jack. Ich glaube, daß er es selbst nicht weiß. Er hat jetzt richtig Angst. Er muß gar nicht versuchen, mit mir zu kommunizieren. Ich kann das alles ganz klar spüren.« »Es scheint, als wären fünfzehn Stunden etwas zu optimistisch gewesen, Sir. Das State Department hat darauf hingewiesen, nur den deutschen Kanzler zu besuchen, wäre zu offensichtlich. Wir müssen sie also zuerst noch in London und Paris auftauchen lassen.« »O nein!« »Uns ist klar, wieviel Ihnen Ihr Golf-Match mit dem Tiger morgen bedeutet, Mr. President.« »Ich weiß, ich weiß. Keine Sorgen, ich werde mein Motto nicht vergessen. ›Wiederwahl, Wiederwahl‹ Wann fliegen wir?« »Heute abend acht Uhr. Der britische Premierminister hat sich bereit erklärt, am Sonntagmorgen raus nach Brize Norton zu kommen, für ein kurzes Gespräch. Dann weiter nach Paris. Der Präsident besteht darauf, Sie in den Elysées zu treffen. Wenn es Sie etwas beruhigt – er unterbricht seinen Urlaub im Süden Frankreichs mit seiner Frau, nur um zurückzukommen.« »Tolle Sache! Erinnern Sie sich an seine Frau? Wahrscheinlich liebt er mich, weil er ihn meinetwegen unterbrechen muß … Und was soll ich ihm überhaupt sagen?« »So wenig wie möglich. Das übliche. Sie sagen einfach ›bitte‹, er sagt ›non‹, und dann geht’s weiter nach Berlin.« »Und Sie sind sicher, daß es okay ist, dem deutschen Kanzler dieses fünf Millionen schwere Mémo des französischen Präsidenten zu zeigen? Wenn ich das 398
riskiere, dann sollten Sie mir besser ganz genau sagen, was diese Hafenverträge für französische Firmen wert sind.« »Unsere Leute in Peking schätzen sie auf acht bis zehn Milliarden Dollar über die nächsten sechs Jahre.« »Und deutsche Firmen müßten auch darunter leiden?« »Eindeutig. Zwei haben schon in aller Form erklärt, daß sie sich an den Ausschreibungen beteiligen wollen. Sie wissen ja nicht, daß sie keine Chance haben.« »Okay das reicht mir erst mal. Wenn ich schon auf diese Reise gehen muß, dann möchte ich heute nachmittag ein bißchen frei haben. Kann es jemand irgendwie arrangieren, daß meine Frau beschäftigt ist?«
Sonntag Calum lag zitternd in der Dunkelheit wach. In der Wüstenbasis hatte ihn Mays physische Anwesenheit des nachts sehr beruhigt, obwohl sie niemals ein ehrliches Wort riskieren konnten und sich auch nicht vor den Kameras lieben wollten. Es war egal; sie neben sich zu haben, war genug. Sie hatte heute den ganzen Tag bei ihm verbracht, aber jetzt war sie auf ihrem eigenen Zimmer, und er fühlte sich verdammt allein und hatte höllische Angst. Das Schreckliche war, daß er jetzt so viel Zeit zum Nachdenken hatte und daß er immer wieder zu dem unausweichlichen Schluß kam, daß sie ihn töten würden, sobald sie ihn nicht mehr brauchten. Wie würden sie ihn beseitigen? Wenn sie herausbekamen, daß er sie reingelegt hatte, dann wollte er gar nicht erst daran denken, was ihnen dazu einfallen könnte!
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Wie ging es May wohl? In der Höhle, bevor sie zurück zur Basis gefahren waren, hatten sie sich überlegt, daß sie keinen richtigen Plan machen könnten; sie mußten improvisieren. Sie einigten sich nur darauf, daß sie ihre Massagen als Code verwenden wollten, falls es Calum gelang, May für sich zu beanspruchen. Wenn sie seine Füße ausließ, dann folterten oder quälten sie sie. Wenn sie seine Schläfen ausließ, dann wußten sie Bescheid. Jeden Abend lag er da, und seine Anspannung wuchs, wenn sie diesen Bereichen näher kam. Bisher jedoch waren die Füße und die Schläfen massiert worden, so daß das kleine Flämmchen seiner schwachen Hoffnung am Leben blieb. War es verrückt, zu hoffen? Es war nicht besonders wahrscheinlich, daß sie ihr Wort halten würde. Wahrscheinlich hatte sie ihnen alles erzählt, kaum daß sie zurück in der Basis gewesen waren. Wieso auch nicht, sie war schließlich eine professionelle chinesische Agentin. Was also wäre normaler? Sollte sie sich wirklich von dem enthusiastischen, aber inkompetenten Sex mit einem amerikanischen Versager umdrehen lassen? Warum sollte sie für ihn irgendwelche Gefühle über Sympathie oder Mitleid hinaus entwickelt haben? Sie hatten einander hundertmal gesagt, wie sehr sie sich liebten, aber das war nur für die Mikrofone bestimmt. Für Calum bestand das Problem darin, daß seine Liebesbeteuerungen der Wahrheit entsprachen. Der Schraubstock-Griff seiner Gefühle für Marianna hatte sich aufgelöst wie eine ekelhafte Migräne und war ersetzt worden durch eine neue, sehr andere Art der Liebe: erotisch, diamantenklar und knallhart. Er mußte sich immer wieder daran erinnern, daß May vielleicht nur mit ihm geschlafen hatte, um in der Höhle zu überleben.
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Aber wenn sie es nicht hatte erzählen wollen? Hatten sie es trotzdem aus ihr herausbekommen, mitsamt MassageCode, indem sie ihr drohten, ihre Familie für ihr Versagen zahlen zu lassen, oder mittels irgendwelcher bösen Foltermethoden, die keine Spuren hinterließen? Dann wüßten sie, daß er mit jemand in Kontakt stand. Hatten sie das in irgendeinen ihrer Pläne eingearbeitet, so daß er Morags Freunde vielleicht direkt in eine Falle lotste? O Gott, er durfte gar nicht daran denken. Und wer waren Morags Freunde? Das konnten ja nur Regierungsbeamte Großbritanniens oder der USA sein. Es schien, als wollten sie, daß er nicht zuviel wußte, falls er gefoltert würde. Vor ein paar Tagen hatte die Angst ihn überfallen, und seitdem verfolgte sie ihn. Stimmte irgend etwas an dieser ganzen Sache nicht? Er war so unglaublich zuversichtlich, daß Morag ihn hörte. Aber wenn sie überhaupt nicht da war? Wenn sie tot war, wie May gesagt hatte, oder wenn sie einfach nur in Sgurr nan Creag vor sich hinwebte und von Calums Nöten nichts wußte? Wenn das alles seine Einbildung war? Das Hirn war ein seltsames Ding: Es konnte einen reinlegen. Wieso sollte Morag, deren Vertrauen er mißbraucht hatte, all das tun, um ihm zu helfen? Dabei spürte er doch so deutlich, daß sie ihm sagte, er solle jetzt das richtige tun und sie nicht wieder enttäuschen. Konnte das alles eine verrückte, durch Schuldgefühle ausgelöste Einbildung sein? Wollte er es ihr gegenüber so sehr wiedergutmachen, wollte er sich überzeugen, daß sie ihn nicht aus ihrem Leben gestrichen hatte, daß er unbewußt diese ganze Fantasiewelt erschaffen hatte? Lieber Gott, bitte, laß das nicht wahr sein. Und wenn doch? Was sollte er dann machen? Sollte er sich Bos Gnade ausliefern und alles gestehen? Fast wäre es eine gewisse Erleichterung, die Mühsal aufzugeben. 401
Wenn er die Wahrheit erzählte, bevor es zu spät war, wenn er vollständig mit ihnen kooperierte, dann würden sie ihn vielleicht verschonen … Nein. Er wußte, daß er das nicht tun konnte. Irgendwo in ihm drin hatte sich etwas ganz Wichtiges verändert, und das nahm ihm endlich und endgültig die Möglichkeit, den ausgetretenen Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Morags Spruch kam ihm in den Sinn. Diesmal würde er sich selbst antworten müssen, und obwohl es zu neunundneunzig Prozent wahrscheinlich war, daß May ihn reingelegt hatte oder dazu gezwungen worden war, würde er nicht den Glauben an das eine Prozent verlieren, daß es anders sein könnte. Er liebte diese Frau. Auch wenn man ihn vielleicht betrog, er konnte sich nicht mehr selbst betrügen. Was für ein schreckliches Schicksal auch immer ihm bevorstand, einmal in seinem Leben mußte er das Richtige tun. Auch für Morag. Der telepathische Kontakt mit ihr war vielleicht nur seine Einbildung, vielleicht aber auch nicht: Er konnte das nicht herausfinden. Er hatte durch den Äther um ihre Hilfe gebeten. Ob ihre Antwort nun real war oder nicht, er mußte sich verhalten, als wäre sie es. Wenn er das alles durchstehen wollte, dann mußte er tiefer graben, als er je zuvor gegraben hatte. Konnte er die Geister seiner kämpferischen Vorväter erwecken und sich von ihnen ein wenig ihres Mutes, ihrer Wut und ihrer gnadenlosen Gradlinigkeit leihen? Airforce One landete zum letzten Mal vor dem Rückflug nach Washington. Den Briten und den Franzmann hatte der Präsident mit Standardgeplänkel abgespeist. Mit dem Deutschen wollte er anders umgehen. Natürlich mußte der Offizier mit dem Nuklear-Köfferchen mitkommen; davon abgesehen würde er aber nur noch einen weiteren 402
Begleiter zulassen. Er war enttäuscht, daß der Kanzler von einer ganzen Bande eskortiert wurde. »Hartmut, wie schön, dich wiederzusehen. Wie lange ist es her …?« »Vier Monate. G-Seven in Toronto.« »Toronto, natürlich. Was für ein nichtiges Ereignis.« »Es war wirklich sehr langweilig. Ich habe ein paar hübsche Bildchen gekritzelt.« »Du machst das auch? Ich dachte, ich wäre der einzige Künstler.« »Alle Regierungschefs sollten mal vergleichen. Wir könnten eine Ausstellung machen. Die Psychologen würden vielleicht irgendeinen Zusammenhang zwischen unseren Kritzeleien und unseren Gesprächsbeiträgen feststellen können.« »Was für eine schöne Idee … Pierre Alain hat mich übrigens gebeten, schöne Grüße auszurichten.« »Das ist sehr nett, aber völlig unnötig. Er hat das auch selbst noch mal telefonisch erledigt, fünf Minuten nachdem du ihn verlassen hast. Es klingt nicht so, als wärt ihr weitergekommen.« »Nein. Aber ich fand es trotzdem wichtig, mit ihm in Verbindung zu bleiben. Er ging davon aus, daß deine Ansichten in dieser Angelegenheit den seinen sehr ähnlich sind.« »Es wäre mir lieber, wenn Pierre Alain mich das selbst sagen lassen würde, aber im Prinzip stimmt es. Es sei denn, du hast irgendwelche wichtigen Einsichten aus Washington mitgebracht.« »Möglicherweise einige neue Perspektiven, Hartmut. Bei der ganzen Sache gibt es einen sehr wichtigen strategischen Aspekt.« 403
»Ja?« »Die CIA hat extrem überzeugende Beweise zusammengetragen, daß China kurz davor steht, einen Militärangriff auf Taiwan durchzuführen. Ich habe dir einige Satellitenfotos mitgebracht, die das illustrieren. Dan, gib mal her … vielen Dank. Dies sind Fotos der Luftwaffenstützpunkte in der Nähe von Fuzhou und Shantou. Auf diesem Bild hier kannst du sehen, wie nah sie an Taiwan liegen. Diese Bildfolge zeigt den Unterschied zwischen normalen Aktivitäten vor sechs Monaten und dem Aufmarsch in den letzten paar Wochen.« »Das sieht allerdings beachtlich aus. Aber die Chinesen machen so was doch öfter, oder? Die haben doch sicherlich schon manchmal in dieser Gegend Übungen durchgeführt?« »Ja, aber niemals in dieser Größenordnung.« »Es gibt etwas, das ich nicht verstehe, Bobby. Wenn die Chinesen tatsächlich einen Angriff vorbereiten, würden sie dann nicht versuchen, das zu verbergen? Diesen Fotos nach zu urteilen scheint es, als würden sie in aller Öffentlichkeit operieren. Nicht mal ein Versuch, die Flugzeuge zu tarnen. Schau, da stehen sie alle in Reih und Glied und warten darauf, daß eure Spionagesatelliten sie aufnehmen.« »Dafür könnte es einen Grund geben. Vielleicht wollen sie, daß die USA es wissen? Vielleicht rechnen sie damit, daß uns das entweder dazu bringt, in Genf nachzugeben – oder daß wir Kriegsschiffe in die Nähe Taiwans schicken. Im ersten Fall haben sie einfach das Spiel gewonnen. Im zweiten wäre es eine intolerierbare Provokation der imperialistischen Papiertiger, und als Ergebnis könnten sie Taiwan einkassieren.« 404
»Und wozu führt das nun alles, Bobby? Worauf willst du hinaus?« »Hartmut, die erste dieser beiden Möglichkeiten ist keine Option. Du weißt genausogut wie ich, wie dreist die Chinesen sich in Genf verhalten haben. Die Vereinigten Staaten können nicht einfach nachgeben, und wir werden das auch nicht tun. Aber wenn uns die übrigen WTOMitglieder nicht unterstützen und wir gezwungen sind, allein vorzugehen, dann wird das Ergebnis wahrscheinlich ein chinesischer Militärangriff und ein riesiges Blutbad sein. Das müssen wir verhindern. Die USA werden tun, was sie können, aber wir brauchen die Hilfe unserer wichtigen Verbündeten. Dies ist einer dieser Augenblicke, Hartmut, in denen wir alle bereit sein müssen; jeder einzelne zählt. Du weißt, daß das Meeting morgen in Genf unsere letzte Chance ist, und so wie es aussieht, ist Deutschlands Stimme entscheidend.« »Was soll ich sagen? Ich habe Pierre Alain und meinen übrigen europäischen Kollegen schon eindeutige Hinweise gegeben, wie unsere Position in dieser Sache höchstwahrscheinlich sein wird. Wir Deutschen gelten nicht gerne als wankelmütig. Aber ich werde natürlich eingehend darüber nachdenken, was du gesagt hast, und …« »Hartmut, könnte ich vielleicht fünf Minuten mit dir in den Garten gehen? Allein?« »Wie du möchtest. Hier entlang, bitte ... Nach dir.« »Vielen Dank … Ich möchte mir einmal deine Rosen ansehen. Und während ich das tue, könntest du ein Blatt Papier studieren, das dich vielleicht interessiert. Ich habe eine Übersetzung gebraucht, aber du kannst, glaube ich, französisch lesen.«
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»Nicht ohne Brille. Augenblick, ich muß sie suchen … Hmmm … Sehr interessant. Kannst du für die Echtheit garantieren?« »Ja, kann ich.« »Darf ich das behalten?« »Das wäre ungünstig. Wenn es je herauskäme, würden die Franzosen unsere Botschaft in Paris dichtmachen.« »Ich verstehe. Und ich kann dir versichern, daß diese Sache mich beschäftigen wird. Ich hoffe, du hast einen schönen Rückflug. Als nächstes sehen wir uns, glaube ich, in Madrid.« »Laß uns doch danach mal Kritzelbildchen vergleichen.«
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18. August Dienstag Die Schockwellen des Montags-Ergebnisses aus Genf erreichten Beidaihe kurz nach Mitternacht. Zhangs Sekretär informierte Chen und Liao, daß der Präsident es ablehnen würde, das Meeting von elf Uhr vormittags am Dienstag vorzuziehen. Als es dann soweit war, knisterte der Saal von Spannung und Emotionen. Dies war die wichtigste Versammlung des ständigen Ausschusses, an der je eines der Mitglieder teilgenommen hatte. So schwach sein Körper auch sein mußte, es war deutlich zu sehen, wie wütend Zhang war. Chens zwei Mitläufer wirkten extrem verunsichert, aber er selbst sah guten Mutes drein, selbst als Zhang ihn direkt anklagte. »Premier Chen, Sie haben mir versichert, daß das nicht geschehen würde.« »Präsident, es war falsch, den Franzosen zu vertrauen. Wir werden das nicht noch einmal tun.« »Sie haben ihnen vertraut. Ihr Urteil war falsch.« Noch brennt Feuer in dem alten Mann, dachte Liao. Chen schaute säuerlich, aber er war noch nicht schwer verwundet. Der letzte Kampf, der tödliche Kampf, begann erst. Zhang wandte sich an Liao. »Parteisekretär, was halten Sie davon? Wie sollten wir auf diese Frechheit reagieren?« »Präsident, es ist schwer zu sagen, was jetzt das beste wäre. Premier Chens Spiel ist verlorengegangen. Die 407
WTO kann ihr Urteil gegen uns jetzt nicht mehr zurücknehmen. Sie haben uns noch einmal letzte vierundzwanzig Stunden gegeben, um die Sache zu überlegen, bevor ihre Entscheidung zu Konsequenzen führt. Diesem Ultimatum nachzugeben, wäre schmerzhaft und sogar peinlich …« – Chen schnaufte wütend – »… aber nicht so demütigend, wie nach Monaten der Sturheit weiter stur zu bleiben. Wenn wir jetzt in den sauren Apfel beißen, wird die ganze Sache in den internationalen Medien kaum zur Sprache kommen: ein Tagesereignis, mehr nicht. Die Öffentlichkeit, sowohl hier als auch dort, versteht wenig von Handelsgesprächen, und es interessiert auch niemanden. Aber wenn wir diesen kleinen Pickel zu einer riesigen Eiterbeule anwachsen lassen, dann wird die ganze Welt zuschauen, und bei dieser Konfrontation können wir nicht gewinnen. Ich bin dafür, nachzugeben. Insgesamt sind die Vereinbarungen gut. Es ist schade, daß wir unser Spiel schlecht gespielt haben, aber das ist alles.« »Wir haben nicht schlecht gespielt.« Jetzt verlor Chen die Beherrschung. Wenn sie jünger gewesen wären, dann wären sie einander an die Gurgel gegangen. »Das war nicht mehr als ein Vorspiel. Wir werden diese Demütigung niemals akzeptieren. Wenn diese Barbaren glauben, sie könnten uns so behandeln, dann sollen sie einmal sehen, wie wir darauf reagieren. Parteisekretär Liao, Sie wollen, daß die Zeitungen der Welt von unserem Rückzug in Genf berichten. Aber Sie werden das nicht durchsetzen können. Die Zeitungen werden von anderen Dingen berichten. Von einem großartigen Sieg.« »Sie sind verrückt, Chen. Sie können mit diesem Wahnsinn doch nicht weitermachen wollen.« »Kann ich nicht? Sprechen Sie, Präsident! Sagen Sie ihm, was Sie wollen.« 408
»Es geht nicht um meinen Willen. Es muß der dieses Ausschusses im ganzen sein. Und ich sage jedem einzelnen von Ihnen, bevor wir abstimmen, daß ich von jedem erwarte, wie auch immer das Ergebnis ausfallen wird, es zu respektieren und zu unterstützen. Akzeptieren Sie das?« Alle nickten düster. »Sehr gut. Ihre Meinungen, bitte. Ich spreche als letzter.« Chen und Liao warteten, während ihre vier Kollegen kurze Ansprachen hielten und ihre Stimmen abgaben. Zwei für Handeln, zwei dagegen, wie erwartet. Zhang wandte sich jetzt an die Anführer. »Bleiben Sie beide. Stimmen Sie so, wie Sie plädiert haben?« Sie schauten einander an und nickten. Von Anfang an hatten alle gewußt, daß es in Zhangs Händen lag. »Meine Freunde, es gibt Augenblicke im Leben, wo man den Ruf des Schicksals spürt. Ich werde nicht mehr lange dieses Amt bekleiden, ich werde nicht mehr lange auf der Erde sein. Seit 1948 war es mein fester Wille, unser Land wiedervereinigt zu sehen. Hong Kong und Macau sind zu uns zurückgekehrt. Jetzt ist es mein größter Wunsch, bevor ich sterbe Taiwan als eine Provinz der Volksrepublik zu besuchen …« Er mußte Atem holen. Liao sah zu Boden. »Aber ich würde dieses persönliche Bedürfnis freudig unterdrücken, wenn die Voraussetzungen nicht stimmen. Wenn ich das Gefühl hätte, es wäre zu früh, wenn die Chancen, die Insel ins Reich zurückzuholen, in Zukunft größer wären – dann würde ich zu Geduld raten und den Traum begraben, dies zu meinen Lebzeiten zu sehen …« Es fiel ihm immer schwerer zu atmen, es war mühsam für ihn, zu sprechen. »Aber so ist 409
es nicht. Unser Militär ist der Ansicht, daß dies vielleicht nicht nur unsere größte Chance ist, sondern auch unsere letzte. Ich habe darüber nachgedacht, ob das stimmt … und habe beschlossen, daß es so ist. Ich stimme für den Angriff.« »Heute nacht.« Chen war erneut obenauf. Jetzt war es sein Spiel. Es war offensichtlich, daß alles vorbereitet war. Liao konnte nur noch Fragen stellen. »Was für ein Plan liegt vor?« »Der Oberste Befehlshaber hat einen massiven Raketenangriff empfohlen, gefolgt von Fallschirmjägern. Wenn die Hauptbasen gesichert oder zerstört sind, können wir von See aus nachstoßen.« »Was ist mit Sabotageplänen?« »Er hat sich dagegen ausgesprochen.« »Und Sie unterstützen ihn?« »Nicht zwangsläufig. Das muß der Ausschuß entscheiden. Ein direkter Angriff wird sicher Erfolg haben, aber zu einem hohen Preis. Die Taiwanesen haben mobile Raketenwerfer, die unsere fliegenden Truppentransporter gefährden könnten. Wenn der Kampf andauert, könnten sie auch unserer Flotte Schaden zufügen. Vielleicht greifen sie sogar das Festland an. Am Ende werden wir sie aber so oder so besiegen.« »Wie sehen die Alternativen aus?« »Wenn unsere Spezialeinheiten fünf oder sechs Stunden lang unentdeckt bleiben, dann könnten ihre Sabotageoperationen der taiwanesischen Verteidigung so großen Schaden zufügen, daß der Widerstand viel geringer ausfiele. Ihre Möglichkeiten, die Befreiungsarmee anzugreifen, wären sehr beschränkt. Die Verluste auf beiden Seiten wären maßgeblich kleiner. Aber wenn sie 410
enttarnt werden, bevor sie ihre Aufgabe beenden können, würde das taiwanesische Regime unser Vorhaben entdecken und vielleicht präventive Raketenangriffe gegen unser Vaterland befehlen.« Falls sie geglaubt hatten, daß der Präsident, der vornübergesunken war und unregelmäßig atmete, nicht mehr mitreden konnte, hatten sie sich geirrt. »Ich werde ein Versagen nicht dulden. Aber ich will auch nicht als Schlächter unserer eigenen Leute in die Geschichte eingehen. Man wird mir die Schuld geben, keinem von Ihnen. Premier Chen, wenn unsere Armee nicht garantieren kann, daß die wichtigsten Verteidigungsstellungen ausgeschaltet sind, bevor die Kämpfe beginnen, werde ich den Angriff selbst niemals genehmigen. Haben Sie verstanden?« »Ja, Präsident. Wie gesagt, ich stimme da nicht unbedingt mit General Gaos Ansichten überein. Es wird so ablaufen, wie Sie sagen.« »Gut. Dann steht es fest. Lassen Sie mich jetzt allein. Ich bin müde. Ich möchte ans Wasser gehen und baden. Ich liebe Beidaihe, und dies könnte mein letzter Sommer hier sein … Premier Chen, ich möchte auf dem laufenden gehalten werden. Es gibt keinen Grund – ob ich schlafe oder mich schlecht fühle –, der Sie daran hindern könnte, mich exakt darüber zu informieren, was heute nacht vorgeht. Ich möchte absolut alles wissen. Haben Sie verstanden?« Calum konnte sich zwei Stunden lang im Konferenzsaal abkühlen. Es überraschte ihn nicht, als Montgomery allein erschien. Den hatte es bestimmt gefreut, Calum warten zu lassen.
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»Okay, Calum, die Chinesen haben zuviel zu tun, deshalb haben sie mich gebeten, dich zu unterrichten. In einer Stunde, um neun Uhr, werden wir an Bord eines UBoots gehen und unter Wasser in See stechen, bis wir fünfzehn nautische Meilen östlich von T’aitung sind. Du weißt ja, wo das ist, am südöstlichen Ende der Insel. Wir werden von einem weiteren U-Boot begleitet. An Bord dieser U-Boote befinden sich hundert Mitglieder einer Spezialeinheit. Sie werden an Land gehen, um den Weg für den großen Angriff zu ebnen. Dabei sollen sie militärische und kommunikative Einrichtungen sowie Flughäfen angreifen, Radio und Fernsehsender ausschalten und politische Anführer töten, die den Widerstand schüren könnten. Von dir wollen wir nur eines, Calum: Wenn unser U-Boot auf Position ist, wird es für einen Augenblick auftauchen und dich, mich und ein paar Soldaten in einem Schlauchboot aussetzen. Dann werden wir dir sagen, wo die Spezialeinheit landen will. Deine Aufgabe besteht darin, herauszufinden, ob sie unentdeckt angreifen können. Ja oder nein, das ist alles. Danach verteilen sie sich über die ganze Insel. Ihr weiteres Vorgehen abzusichern, wäre zu komplex, und die Zeitspanne wäre auch zu groß, als daß du uns etwas darüber vorhersagen könntest. Das war’s, Calum, darauf hast du so intensiv hingearbeitet, es ist der größte Augenblick deines Lebens. Wenn die Sabotage-Operation mißlingt, wird möglicherweise die gesamte Invasion abgeblasen. Wirst du dein Bestes geben?« »Klar, Jason; solange ich einen kühlen Kopf bewahren kann, damit ich’s hinkriege.« »Braver Junge. Der Himmel ist wolkenlos. Der Mond ist zu sehen. Das Meer ist vielleicht ein bißchen unruhig, aber das ist nicht schlimm. Tja, das war’s. Wenn du keine
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Fragen mehr hast, dann geh mal besser auf dein Zimmer und mach dich fertig.« »Können wir May mit ins U-Boot nehmen?« »Nicht schon wieder, Calum. Das ist keine Übung, jetzt ist es ernst. Da darf uns nichts ablenken. Und das U-Boot ist sowieso schon voll.« »Jason, glaub mir, ich komme mir blöd vor, daß ich auch nur frage. Ich wäre gern so ruhig und entschlossen wie du. Aber das bin ich nicht, und ich brauche jede Hilfe, die ich kriegen kann. Du weißt, wenn ich Bo frage, dann wird er ja sagen. Wieso lassen wir ihn nicht raus aus der Sache und machen es einfach unter uns Amerikanern aus?« Montgomery nickte und lächelte. Er wußte, daß Buchanan mit Bo recht hatte, und ihm war überhaupt nicht danach, von diesem inadäquaten kleinen Vollidioten als Botenjunge eingesetzt zu werden. »Okay, Calum, ich rede mit ihm.« »Braver Junge, Jason.« Montgomery schnitt eine Grimasse, dann lächelte er. Dieser Wichser machte sich doch nicht über ihn lustig? Nein, den Nerv hätte er nie im Leben. Wahrscheinlich imitierte er ihn bloß unbewußt, wie ein Kind. »Jack, Jack, sie sind unterwegs.« »Wohin?« »Östlich von T’aitung. Er versucht mir zu sagen, wie weit entfernt, aber ich bin nicht sicher. Er ist unheimlich angespannt. Das stört die Übertragung. Er hat ewig gebraucht, mich überhaupt zu erreichen.« »Kennt er den Angriffsbereich?« »Ich versuche es weiter, aber ich glaube nicht.« 413
»Okay, Morag. Captain Farrell, wie nah können wir uns an sie ranhängen, ohne daß sie uns bemerken?« »Es geht dabei weniger um Entfernung, als um Geräusche. Wenn man Lärm macht, kann man im Umkreis von hundert Seemeilen entdeckt werden. Wir müssen also langsam sein. Oberhalb einer bestimmten Geschwindigkeit erzeugt unsere Schiffsschraube die sogenannte Kavitation. Wenn die Schraube sich dreht, bilden sich VakuumTaschen, und das ergibt ein typisches Geräusch, das sich durchs Wasser hervorragend fortpflanzt. Die Kavitationsgeschwindigkeit hängt von der Form des UBootes und der Fahrttiefe ab. Bei der Hammerhead sind es direkt unter der Oberfläche bloß neun Knoten, weiter unten sehr viel mehr. Diese chinesischen U-Boote werden genau wie wir eine halbe Meile Kabel hinter sich herziehen, an denen Sensoren hängen, die auf Kavitationsgeräusche geeicht sind. Aber dank Morags Hilfe sollten wir kein großes Problem haben. Weil wir wenigstens ungefähr wissen, wo sie hinwollen, können wir einfach vorher hinfahren und dann auf sie warten. Wenn sie Truppen an Land schaffen möchten, werden sie nicht allzu weit von T’aitung entfernt bleiben wollen. Ich würde schätzen, zwanzig Seemeilen, jedenfalls nicht mehr. Um ganz sicher zu gehen, werden wir noch mal fünfzehn Meilen weiter draußen warten.« Die Anspannung im Oval Office war unglaublich. Seine Leute hatten den Präsidenten noch nie so still gesehen. Natürlich war es für seine Wiederwahl gut, aber das hier ging darüber hinaus. Aus irgendeinem Grund war es ihm wichtig, und er hatte offensichtlich sogar Freude daran.
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Wenn man nach der Kaffeemenge ging, die er trank, dann waren seine Nerven genauso angespannt wie die aller anderen Anwesenden. »Caria, du mußt sie mir vom Hals halten. Ich darf das nicht verpassen. Sag ihnen, daß ich eine Rede umschreibe.« »Das glauben sie mir nie, Sir.« »Wie wäre es, wenn ich die neuen Benzinsteuern überdenke?« »Sie müssen sich schon was Besseres einfallen lassen, Mr. President.« »Okay, dann sagen Sie, daß ich mit meiner Geliebten im Bett liege.« »Damit kann ich arbeiten. Das Pentagon wird Sie informieren, sobald es etwas neues gibt.« »Ist alles bereit, wenn sie frontal angreifen?« »Alles. Das Fernsehen wird hier sein. Ihr Statement ist vorbereitet. Madeleine Milne in der UN weiß Bescheid.« »Gut, dann bitte keine weiteren Anrufe.« »Calum, wir werden jetzt gleich auftauchen. Sind Sie bereit?« »So gut es geht, Colonel Bo.« »Dann hören Sie mir gut zu: Aus Sicherheitsgründen wird das U-Boot sehr schnell wieder abtauchen. Wenn wir oben sind, werden Sie, Montgomery und zwei bewaffnete Soldaten in ein Schlauchboot springen. Wir werden so schnell wie möglich wieder untertauchen, nur unsere Hochfrequenz-Antenne ragt dann noch aus dem Wasser. Bis auf einen kurzen Augenblick halten wir Funkstille. Wenn sie wissen, wie es aussieht – ja oder nein –, wird Colonel Montgomery uns die Antwort herunterfunken. 415
Wenn es nein ist, warten Sie, bis wir eine alternative Stelle ausprobiert haben. Wenn es dann wieder ein Nein ist, brechen wir ab. Kommt es in einem der beiden Fällen zu einem Ja, dann fahren wir und das andere U-Boot direkt in den Landebereich. Fünfhundert Meter vom Strand entfernt werden wir die Spezialeinheit absetzen und die Männer mit ihren Waffen ans Ufer bringen. Erst wenn die Spezialeinheit bereit zum Einsatz ist, werden wir zurückkehren und Sie aufsammeln. Wenn alles gutgeht, feiern wir dann, okay?« »Ja, Sir. Colonel Bo, kann ich Miß Chang bitte mit raufnehmen? Ich bin so angespannt, ich kann mich kaum konzentrieren. Sie ist die einzige, die mich soweit beruhigen kann, daß ich eine Vorhersage hinbekomme.« »Colonel Montgomery, was meinen Sie?« »Das ist verrückt. Sie sollte auf keinen Fall so einem Risiko ausgesetzt werden. Was ist, wenn jemand auf uns schießt oder das Boot kentert?« »Da hat er recht, Calum, das wäre ein ganz schönes Risiko für sie. Und Sie wollen uns doch nicht wieder reinlegen, oder? Sie wollen doch nicht wieder abhauen …?« »Nein, ich wollte …« »War bloß ein Witz, Calum. Sie können sich hier nirgendwo verstecken, und das Schlauchboot hat keinen Motor … Vielleicht sollten wir Miß Chang fragen … Wo ist Sie? Was meinen Sie, Miß Chang, wollen Sie es riskieren, mit in das Boot zu steigen?« »Wenn Sie mir das befehlen ...« Montgomery mischte sich wieder ein: »Colonel Bo, ich möchte gern allein mit Ihnen sprechen.«
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»Wir haben nicht mehr viel Zeit, Montgomery, beeilen Sie sich. Kommen Sie hier rüber.« Sie gingen ein paar Meter zur Seite. Montgomery zischte: »Ich möchte nicht, daß May sieht, wie ich ihn erschieße.« »Chang ist klüger und härter als Sie denken, Montgomery. Sie hat mich gefragt, ob wir ihn töten wollen und hat gelächelt, als ich es ihr gesagt habe. Sie weiß bloß nicht, daß es so bald geschehen wird. Wenn ihr Haß auf Buchanan so groß ist, wie ich annehme, dann wird es ihr sogar Spaß machen, zuzusehen. Es könnte die Verbindung zwischen Ihnen beiden besiegeln … Also – weiter jetzt.« Sie gingen zurück zu Calum und May; die beiden sagten kein Wort, schauten einander aber genau in die Augen. »Okay, Chang, das hätten wir geklärt. Ziehen Sie sich besser auch eine Rettungsweste an … Und, Calum, Sie müssen sich jetzt konzentrieren. Der Landebereich der Wahl ist Shanyuan Beach. Erinnern Sie sich noch von der Karte daran? Zwölf Kilometer nördlich von T’aitung. Wollen Sie noch einmal nachschauen?« »Nein, Sir. Ich weiß Bescheid.« »Dann los, Calum. Das ist Ihr großer Augenblick … Okay, sagen wir dem Captain, daß er auftauchen soll.« Im U-Boot war es traulich wie in einem Kokon gewesen; sie waren von der Wirklichkeit abgeschottet, als spielten sie bloß ein Spiel. Die mörderische Wirklichkeit packte ihn wieder, als sie aus der Luke kletterten und eine Strickleiter herunter in das wild schaukelnde schwarze Schlauchboot stiegen. Calum war der letzte, er verlor den
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Halt. Wenn ihm nicht einer der Soldaten aufgefangen hätte, wäre er gleich über Bord gegangen. Sie setzten sich hin. Die Soldaten trugen Maschinenpistolen; Montgomery hielt das Funkgerät in der Hand, er wollte die Meldung sofort weitergeben können. Etwa fünfzig Meter von ihnen entfernt war gerade noch die Antenne des U-Bootes zu erahnen. Fünf Minuten vergingen. Calum kniff die Augen zusammen und ballte die Fäuste vor Konzentration. Gott, es war so schwierig mit all dem Adrenalin im Blut und dem rasenden Puls. In diesem Zustand hätte er auf keinen Fall eine richtige Vorhersage machen können. Jetzt kam es ja auch nur darauf an, eine telepathische Botschaft zu schicken, aber selbst das war Wahnsinn. »Mach schon, Calum, warum dauert das so lange?« »Hältst du jetzt den Mund und störst mich nicht weiter?« »Komm schon, Jason ... Gib ihm eine Chance.« Mays Intervention reichte nur zwei Minuten weit. Montgomery war aufgeregt. Wenn sie jetzt nicht bald mit der Landeoperation begannen, war das Timing der ganzen Invasion im Eimer. Vielleicht war das U-Boot schon vom taiwanesischen Radar entdeckt worden? »Calum, du mußt es jetzt schaffen, sonst ruinierst du alles.« »Schnauze!« Seine Nerven vibrierten, seine Gedanken kamen immer wieder aus dem Gleichgewicht. Er würde es bestimmt vermasseln. Noch einmal versuchen … Hundert Faden tiefer und fünfunddreißig Seemeilen östlich von Taiwan glitt die USS Hammerhead leise und langsam durch das schwarze Wasser. Der Kreis rund um 418
Morag im Kontrollraum war auf fünfzehn Leute angewachsen; alle warteten und sorgten sich. Sie wußten, daß sie sie nicht ablenken durften, trotzdem war es für die CIA-Jungs und die U-Boot-Besatzung schwierig, stillzuhalten, nichts zu tun und abzuwarten, wie der Druck Minute für Minute zunahm. »Nein, er schafft es immer noch nicht. Es ist wie ein Nebel …« »Können Sie ihm irgendwas übermitteln, das ihn für eine Minute beruhigt, irgend etwas? Wir müssen unbedingt wissen, wo sie landen wollen. Ihren U-Booten dorthin zu folgen, hilft uns gar nichts, wenn es uns nicht möglich ist, die Taiwanesen vorzuwarnen. Sonst sind sie schon über die ganze Insel verstreut, bevor wir sie aufhalten können.« Morag versuchte, an ein altes Volkslied aus ihrer Heimat zu denken und spielte es wieder und wieder in ihrem Kopf ab. »Ich glaube, jetzt wird es klarer. Er kommt durch … Ja! Jack, Jack, es ist Shangyuan Beach!« »Diese Schleimscheißer, ich wußte, daß sie von Osten kommen würden. Captain Farrell, melden Sie sich sofort bei unseren Freunden auf der Insel. Morag Buchanan, Sie sind ein Superstar.« Calum öffnete die Augen, er entspannte seine Fäuste und rief: »JA …! Sag Ihnen – Ja!« Montgomery drückte den Knopf am Funkgerät. »Können Sie mich hören? Können Sie mich hören? Es ist ein ›Ja‹, ich wiederhole – ›Ja‹. Viel Glück.« Sie sahen alle zu, wie die Antenne eingezogen wurde und verschwand. Jetzt war das U-Boot unterwegs. 419
Montgomery verschwendete keine Zeit. Er tippte einem der Soldaten auf die Schulter, woraufhin der ihm seine Maschinenpistole gab. Jetzt war das Schauspiel vorbei, und Montgomerys Gesicht, das man im Mondlicht sehr genau sehen konnte, verzerrte sich vor Haß und Wut. Mit geübtem Griff lud er die Waffe durch. Niemand rührte sich. »Okay, Buchanan, du hast deinen Teil getan. Jetzt kriegst du, was schon seit sehr langer Zeit auf dich wartet … Leute, rutscht rüber. Du auch, May. Los. Sofort!« Sie rutschten alle zur Seite, so daß Calum allein an einem Ende des Schlauchbootes saß, das dadurch ein wenig aus dem Wasser ragte. Montgomery saß ihm direkt gegenüber. Und zielte genau zwischen Calums Augen. »Seit Wochen überlege ich mir schon, was ich dir in diesem Augenblick sagen möchte. Aber jetzt, wo es soweit ist, werde ich mir die Mühe nicht machen. Nur zwei Dinge: Erstens, daß ich dich zusammen mit diesem beschissenen Anwalt, der mich so verarscht hat, mehr hasse als jeden anderen Menschen, den ich je getroffen habe. Das andere, woran du denken sollst, wenn du deinen letzten Atemzug tust, wäre folgendes: Während du am Meeresboden verrottest, werde ich mit dieser Frau hier im Bett liegen und ihr zeigen, wie es sich anfühlt, mit einem Mann zusammen zu sein.« Montgomery sabberte bösartig. Allerdings war er etwas irritiert, daß Calum überhaupt nicht zu reagieren schien, er wirkte nicht einmal ängstlich, also redete er weiter. »Okay, mein Lieber, dann bete mal besser zu jeder Gottheit, die du kennst …« Ohne hinzuschauen, schob er den Hebel auf Einzelfeuer. »Bye, bye, mein Kleiner ...« May Chang sprang auf. 420
»WARTE! Nein, noch nicht, Jason. Ich habe noch was zu sagen. Er hat meinen Körper geschändet. Du hast recht, Jason, ich hätte von Anfang an dir gehören sollen. Und was habe ich statt dessen bekommen? Dieses ekelhafte, abstoßende, widerliche Reptil. Ich kann dir sagen, Buchanan, wenn du mich auch nur berührt hast, ist mir schlecht geworden. Schau dich doch an, was bist du denn? Ein Versager … ein Verlierer … ein Nichts!« Calum hob wegwerfend eine Hand. Unter den gegebenen Umständen blieb seine Stimme erstaunlich ruhig. »May, ich verderbe dir ja nur ungern den Spaß, aber du warst für mich bloß ein Zeitvertreib. Ich hab’ den ganzen Blödsinn über Liebe nur gesagt, um dich bei der Stange zu halten. Du warst eine … Ablenkung. Besser als Fernsehen, jedenfalls meistens. Dein Gesicht ist ganz hübsch, aber wenn du dich ausziehst … was für eine Enttäuschung. Im Bett warst du nie besonders gut. Immer wenn wir es gemacht haben, träumte ich die ganze Zeit von Marianna. Montgomery kann dich gerne benutzen. Er wird sich sowieso bald langweilen.« »Du … kleines … ARSCHLOCH.« Sie machte einen Satz quer durch das Schlauchboot und brachte es fast zum Kentern, als sie versuchte, Calum die Augen auszukratzen. Calum packte ihre Hände, und Montgomery hob die Waffe. Die Soldaten klammerten sich überrascht am Bootsrand fest. »Laß meine Hände los, du Dreckschwein!« Calum ließ los, und sie kippte rücklings auf den Boden des Schlauchboots. Unsicher trat sie nach ihm und spuckte ihm voll ins Gesicht. Dann drehte sie sich um. »Jason, gib mir das Ding. Gib es mir!« 421
»Setz dich hin, blöde Kuh, sonst fallen wir alle ins Wasser.« »GIB MIR DIE BESCHISSENE KNARRE …!« Man hätte sie auch noch auf den Philippinen hören können. »Oder ich gehöre dir niemals, NIEMALS, verstehst du? Ich meine es ernst, Jason!« »May, ich glaube nicht …« »JETZT!« »Ich hoffe, du weißt, was du tust, May …« »JETZT! JETZT, JETZT!!!« »Okay …« Die chinesischen Soldaten schauten erleichtert. Gab es ein weiteres Handgemenge, dann war es verdammt wahrscheinlich, daß sie kenterten. Montgomery hielt ihr die Waffe hin. »… Aber ziel um Himmels willen auf seinen Kopf, damit du das Boot nicht triffst.« Sie riß Montgomery die Waffe aus den Händen und war mit einem Satz wieder bei Calum. »Okay, du elender ...« Sie taumelte, rutschte aus und drehte sich im Fallen um. Als ihr Rücken gegen den Rand des Schlauchbootes knallte, vielleicht fünfzig Zentimeter neben Calum, zielte sie schon direkt auf Montgomerys Bauch. »O nein! O nein! Du kleine FOTZE ...!« »Schnauze, Jason.« Sie schaute den Soldaten mit der zweiten Maschinenpistole an. »Du da, Waffe hinlegen.« Ihr Mandarin klang hart. Der Soldat gehorchte. »Okay, Jason, jetzt deine Pistole.« 422
»Leck mich am Arsch, blöde Schnalle. Das tust du mir nicht an! Ich laß mich doch nicht zweimal von derselben Frau reinlegen. Du hast nicht den Mumm, zu schießen, und wenn doch, dann wirst du ein Riesenloch in dieses Boot machen.« Er ließ das Funkgerät fallen, glitt zur Seite, griff an seine Hüfte und hob langsam und herausfordernd die Klappe seines wasserdichten Holsters. »Nein, Jason! Du zwingst mich ...« Montgomery grinste und zog zuversichtlich seine Pistole heraus. Mays Finger krümmte sich um den Abzug. BAAANNGGG! Die Pistole flog ins Wasser, Montgomery kippte vornüber, dunkles Blut sprudelte überall hin. Bis sie seinen rauhen Atem hörten glaubten alle, er wäre tot. Unter größter Mühe stemmte er sich wieder hoch, dann ließ er sich gegen die Seite des kleinen Bootes sacken. Es sah aus, als wäre seine halbe Schulter weggefetzt worden. Trotz des irrsinnigen Schmerzes und seiner Schwäche schaffte er es irgendwie, zu reden. »Warte … nur … bis das … U-Boot … kommt … oh, Scheiße, du dumme Fotze …« Montgomery hatte recht behalten. Die Kugel hatte seine Schulter durchschlagen und tatsächlich die Seitenwand des Boots getroffen, Wasser strömte herein. Das Schlauchboot hatte verschiedene Luftkammern und verlor nicht die ganze Luft auf einmal, aber der Rand lag jetzt schon zu niedrig, um die Wellen abzuhalten. Die Soldaten schaufelten verzweifelt mit ihren Helmen Wasser heraus, aber sie hatten keine Chance. Erst zwei Zentimeter, dann vier, und wenige Augenblicke später stand das Wasser schon fast zehn Zentimeter hoch. Calum half ebenfalls 423
schöpfen, und May tat, was sie konnte, während sie mit einer Hand immer noch die MP festhielt. Wie lange konnten sie im Wasser mit ihren Westen überleben, wenn das Boot sank? Einer der Soldaten richtete Montgomery ein wenig auf, so daß sein Kopf nicht im steigenden Wasser hing. May flüsterte Calum etwas ins Ohr. Er schüttelte den Kopf, und sie arbeiteten alle trotz der Erschöpfung weiter. Montgomery schwieg; es fiel ihm jetzt schwerer, zu atmen. Wenn nicht bald Hilfe kam, würde er zuviel Blut verlieren, um zu überleben. Ihn zu verbinden, war bei der unruhigen See absolut unmöglich. Wie schnell war das UBoot? Wie lange würden sie brauchen, die Einsatztruppe rauszulassen und zurückzukehren? Lange konnten sie in dem Boot nicht mehr durchhalten. Calum zog seine Schwimmweste aus und zwang sie über Montgomerys Kopf, um dessen durchschossene Weste zu ersetzen, woraufhin Montgomery vor Schmerzen brüllte. Sie hatten es fünfzigmal geübt. Die Spezialeinheit in schwarzen Taucheranzügen über leichter Kleidung verließ die beiden U-Boote in weniger als fünf Minuten. Die UBoote tauchten wieder ab und verschwanden, eines direkt zurück zur Basis, das andere wollte die Gruppe im Schlauchboot einsammeln. Die hundert schwarzen Gestalten schwammen kraftvoll in Richtung Ufer. Geschmeidig glitten sie durch die niedrigen Wellen und zogen ihre schweren, schwarzen Lastsäcke mühelos hinter sich her. Jeder von ihnen war ein Scharfschütze und Sprengexperte. Sie waren alle in Nahkampftechniken ausgebildet, waren unglaublich fit und konnten wochenlang auf feindlichem Territorium überleben. Sie schwammen, bis ihre Füße einige Meter 424
vom Wasserrand entfernt den Boden berührten, lautlos krochen sie an den Strand und zogen die großen Säcke aus dem Wasser und auf den Grasstreifen zu, wo sie ihre Waffen auspacken wollten. Sie waren keine zehn Meter vom Gras entfernt, als die Scheinwerfer aufflammten; die Helligkeit erschreckte sie. Eine knacksende Stimme verkündete per Megafon die Anwesenheit eines Bataillons taiwanesischer Soldaten, ihre Maschinengewehre wären auf den Strand gerichtet. Die Schwimmer hatten zehn Sekunden, sich zu ergeben, und die Entscheidung mußte ihr Anführer treffen, einer der fähigsten und tapfersten Soldaten der gesamten chinesischen Armee. Er wäre jedes Risiko eingegangen, wäre gegen jeden Gegner angetreten, wie gering seine Erfolgschancen auch standen. Aber er war auch Profi, und ihm war klar, daß die Chancen hier bei Null lagen. Also hob er die Hände und bellte seinen Männern den Befehl zu, dasselbe zu tun. Das war das Ende. Die nächste Welle war größer als die anderen, sie überrollte sie und brachte das Boot zum Kentern. May ließ die Waffe los, und sie ging unter. Die Luft in ihrer Schwimmweste brachte sie schnell wieder an die Oberfläche, und sie rang nach Atem. Einen Augenblick glaubte sie, Calum wäre verschwunden, doch dann tauchte auch sein Kopf wieder auf, und sie schwamm zu ihm hinüber. Die beiden Soldaten versuchten, Montgomerys Kopf über Wasser zu halten, damit er atmen konnte. Er war ein kräftiger Mann und kämpfte verzweifelt gegen die schwarzen Wellen des Schmerzes an, weil er wußte, daß Ohnmacht jetzt den Tod bedeutete. Mit aller Kraft versuchte er, bei Bewußtsein zu bleiben. Bald mußte das U-Boot zurückkehren … 425
Calum und May klammerten sich aneinander; ihre Schwimmweste hatte genug Auftrieb, sie beide über Wasser zu halten. May versuchte etwas zu sagen: »Besser, ich hätte uns beide umgebracht ... solange ich noch … die Möglichkeit dazu hatte. Ich werde mich auf keinen Fall zurück in das U-Boot bringen lassen. Weißt du, was sie mit uns machen werden? Lieber ertrinke ich.« Eine Welle überspülte sie und riß sie auseinander; Wasser drang in Calums Lunge. Er spuckte es aus und kämpfte sich zurück in ihre Arme. »Morag sagt, wir sollen warten … Vorsicht, Wellen … Wir müssen noch ein bißchen durchhalten.« »Okay … Scheiße …« Wieder überrollte sie eine Welle. »… aber wenn das U-Boot vorher kommt, muß du mir versprechen, meinen Kopf unter Wasser zu drücken.« »Ich verspreche es. Vorsicht, da kommt schon wieder eine.« Um elf Uhr nachts rief der taiwanesische Präsident in Beidaihe an. Die Nummer von Zhangs Villa, ein chinesisches Staatsgeheimnis, war sowohl den Taiwanesen als auch ihren amerikanischen Alliierten bekannt. Sobald der erste Sekretär die Wichtigkeit der Nachricht verdaut hatte, stellte er den Anruf ohne jedes weitere Zögern in das Arbeitszimmer des alten Mannes durch. Das Gespräch war kurz, energisch, hitzig und entschieden. Zhang mußte sich bereit erklären, den obersten Militärkommandeur Gao persönlich anzurufen. Kaum hatte er es erfahren, wollte Chen den Präsidenten sprechen. Sein Wunsch wurde abgelehnt.
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»Nein, Jack, die Antwort ist negativ. Ich kann dieses Risiko nicht eingehen.« Sie standen dicht beieinander im Kommandoraum auf dem Oberdeck: Farrell, sein diensthabender Offizier, außerdem Balletto, Radek, Orson und Morag. Die alte Frau sah im Vergleich zu ihnen allen winzig aus, und jetzt, wo das Blitzen aus ihren Augen verschwunden war, unglaublich müde. Alle Anwesenden waren zutiefst erschöpft. »Es geht hier um ein Menschenleben, Farrell.« »Und ich werde dafür nicht die hundertvierzig Menschenleben in diesem U-Boot riskieren.« »Wie können Sie das sagen, nach dem, was er gerade getan hat?« »Tut mir leid, Jack, aber so ist es nun einmal.« »Hören Sie mal, Captain, die Hammerhead ist doch viel schneller als das chinesische U-Boot, oder? Wenn wir es versuchten, könnten wir dann eher da sein als sie?« »Schwer zu sagen. Unsere Höchstgeschwindigkeit beträgt neunundzwanzig Knoten. Die können vielleicht einundzwanzig oder zweiundzwanzig machen, aber sie sind etwas näher dran. Im Augenblick machen sie zwölf bis fünfzehn Knoten. Wenn wir beide auf Höchstgeschwindigkeit gehen, wäre es ein Kopf-an-KopfRennen. Ich glaube aber nicht, daß sie es versuchen. Sobald einer von uns aufdreht, ist es ein Blindflug. Wenn ein U-Boot soviel Lärm macht, können die Sensoren nichts unterhalb der Explosion eines Torpedos ausmachen.« »Wären die Chinesen autorisiert, auf ein US-U-Boot zu schießen?«
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»Woher, zum Teufel, soll ich das wissen? Und ich habe nicht vor, es herauszufinden. Glauben Sie wirklich, ich wäre dumm genug, direkt auf ein feindliches U-Boot zuzusteuern?« »Selbst wenn sie einen Torpedo auf uns abschießen würden – könnten Sie den nicht ablenken?« »Balletto, wenn die auf uns schießen, haben wir nur zwei Möglichkeiten. Die erste ist weiterfahren und sich auf unser Ablenksystem verlassen. Das Gerät ist vollgestopft mit Elektronik und kostet eine Million Dollar das Stück. Da es allerdings noch nie im Ernstfall benutzt wurde, haben wir keine Ahnung, ob es wirklich funktioniert. Wenn nicht – Atom-U-Boote kriegt man nicht mit einer Ein-Jahres-Zufriedenheits-Garantie. Die andere Möglichkeit wäre, zu wenden und das Tempo zu drosseln, um das akustische Ortungssystem des Torpedos zu verwirren. Was Sie kapieren sollten ist folgendes: keine dieser Möglichkeiten ist narrensicher. Letztlich wäre es eine Runde Russisches Roulette, und ich sage Ihnen, daß wir das heute nicht spielen. Wenn Sie keine Autorisierung vom Pentagon oder dem Präsidenten selbst haben, ist die Antwort: nein.« Die anderen Offiziere schauten weg. Jack sah Morag neben sich an. Er hatte es wirklich versucht, er hatte alles getan, was er konnte, das würde sie doch sicher einsehen. Morag hatte die Augen geschlossen. Ihre Arme hingen schlaff herunter. Sie weinte. Jack schaute sich bei Radek und Orson nach Verständnis um. Sie starrten ihn herausfordernd an. Er wollte sich bei Morag entschuldigen … Langsam öffnete sie die Augen. Die Bitte in ihrem Blick machte ihn fertig. O Scheiße, so eine Sache konnte ihn seine Pension kosten. 428
»Captain Farrell, ich habe eine besondere Generalvollmacht vom Präsidenten bei mir. Sie befindet sich in einer Tasche in meiner Koje.« »Das glaube ich Ihnen nicht; ich muß sie sehen.« »Wir haben keine Zeit dafür! Ich zeige sie Ihnen später. Sie ist echt, verdammt noch mal.« »Wollen Sie mich verarschen, Balletto?« Jack trat einen Schritt vor und starrte den Kapitän an. »Behaupten Sie, ich sei ein Lügner, Captain? Wollen Sie im Weißen Haus anrufen?« Farrell wandte sich ab und ging auf seinen Posten. »Okay, Diensthabender. Volle Kraft voraus.« »Voll voraus, aye.« »Und Ablenktorpedos bereitmachen.« Die USS Hammerhead durchschnitt das Wasser. Im Kontrollraum standen die drei CIA-Männer schweigend beisammen. Als sie sicher war, daß Farrell sie nicht beobachtete, schaute Morag Jack an und dankte ihm stumm mit dem feuchten Glitzern ihrer Augen. Dann machte sie sich wieder daran, Calum zu zwingen, nicht aufzugeben. Schon seit zehn Minuten behielt Balletto besorgt die jungen Männer mit den Kopfhörern im Auge, die so intensiv auf ihre Bildschirme starrten. Dann sah er sie wie unter Elektroschocks zusammenzucken. Einer von ihnen rief: »TORPEDO, TORPEDO, TORPEDO …! Torpedo auf vier null!« Farrell schrie zum diensthabenden Offizier hinüber: »Dreißig Steuerbord!« 429
»Steuerbord dreißig, aye.« »Herunter auf fünf Knoten.« »Fünf Knoten, aye.« »Abfeuern der Ablenktorpedos vorbereiten.« »Abfeuern Ablenktorpedos vorbereiten, aye.« »Abschießen der Ablenktorpedos eins und zwei.« »Abschuß Ablenktorpedos eins und zwei, aye.« »Abtauchen auf hundertfünfzig Faden.« »Abtauchen auf hundertfünfzig Faden, aye.« Balletto war blasser als die anderen. Für einen Augenblick hatte er Farrell in die Augen gesehen, aber er wußte nicht, was der Kapitän jetzt vorhatte. Farrell ging rüber und stellte sich hinter die Männer an den Bildschirmen. Der älteste rief: »Torpedo zweitausend Meter, kommt näher …! Fünfzehnhundert Meter. Zwölfhundert Meter. Tausend Meter.« »Abschuß Ablenktorpedos drei und vier.« »Abschuß Ablenktorpedos drei und vier, aye.« Jack Balletto betete zu all den italienischen Heiligen, die seine Mutter ihn je gelehrt hatte, daß der chinesische Torpedo auf den Trick reinfiel. »Achthundert Meter, kommt näher. Er reagiert nicht auf die Ablenktorpedos! Sechshundert Meter.« »Scheiße …« Farrell wandte sich hastig an den Diensthabenden. »Luft ablassen.« »Luft ablassen, aye.« Balletto hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, was, zum Teufel, das sollte. 430
»Vierhundert Meter. Zweihundert Meter. Auf Treffer vorbereiten …« Jeder klammerte sich an irgend etwas. Jack sah, daß Radek Morag festhielt. KERRRROOOOOOOOOOMMMM. Sie wurden alle durcheinandergewirbelt. Das U-Boot bebte, das Licht ging aus, Menschen fielen zu Boden. Dann flammte das Licht wieder auf und das Boot kam zur Ruhe. Farrell war als erster wieder auf den Beinen. »Schadensbericht!« »Schadensbericht, aye.« Über die interne Sprechanlage verständigte sich der Diensthabende schnell mit mehreren Männern, dann sagte er: »Keine Schäden zu melden, Sir.« Farrell wischte sich mit dem Rücken der rechten Hand über die Stirn. »Es muß der Luftblase gefolgt sein.« Die Bemerkung brachte Balletto nun doch dazu, Farrell fragend anzusehen. »Die alten Tricks funktionieren am besten. Die Luft, die wir ablassen, steigt als gigantische Luftblase nach oben. Lenkt die Torpedos immer noch besser ab als die neueste Elektronik. Und jetzt aus dem Weg, Jack. Diensthabender, wie ist unsere Kavitationsgeschwindigkeit auf zweihundert Faden?« »Sechzehn Knoten, Sir.« »Okay, runtergehen auf zweihundert und Wiederaufnahme des ursprünglichen Kurses, fünfzehn Knoten.« 431
»Zweihundert Faden und fünfzehn Knoten, aye.« Morag und Radek kamen rüber zu Jack, die Frage stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Jack zuckte mit den Schultern. Er hatte keine Ahnung, was Farrell da tat. Fünf Minuten beließ er es dabei, bevor er den Mut hatte, neue Erkundigungen einzuholen. Farrell antwortete, ohne den Blick von den Bildschirmen zu lösen: »Sie mußten ein Ausweichmanöver fahren, falls wir zurückschießen. Das hat sie drei Meilen vom Kurs abgebracht. So wie sie sich jetzt bewegen, würde ich sagen, daß sie nicht sicher sind, ob sie uns getroffen haben oder nicht. Bei ihrer derzeitigen Tiefe und einer Geschwindigkeit von zwölf Knoten machen sie einen Höllenlärm, wir haben also kein Problem, sie zu orten. Sie versuchen, unsere Spur aufzunehmen, können aber nicht schneller fahren, ohne ihr eigenes Sonar unwirksam zu machen. Wenn sie lange genug nach uns Ausschau halten, haben wir vielleicht tatsächlich eine kleine Chance, diese Leute einzusammeln, ohne daß sie uns entdecken. Aber wenn sie vielleicht denken, daß wir getroffen sind und auf volle Kraft schalten, dann können wir sie auf keinen Fall überholen.« Plötzlich zischte es links von ihnen; es schäumte, die Wasseroberfläche brach kochend auseinander. May begann an ihrer Weste zu zerren – sie wollte auf keinen Fall lebend gefangengenommen werden. Aber bevor sie das Ding herunterbekam, brach der Bug wunderbar in die Nachtluft wie ein riesiger Wal. Irgendwoher nahm Montgomery die Kraft, einen schwachen Triumphschrei auszustoßen. Jetzt kam langsam
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die ganze schlanke Schiffsform in Sicht, turmhoch über ihnen. »Was zum …?« Lag das an seiner Wunde? Bildete er es sich nur ein? Für seine wilden, glasigen Augen sah das Boot viel größer aus als vorher.
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25 Es war ein sonniger Mittwochmorgen in Genf, und die tiefhängenden Wolken, die tagelang den Blick auf den Mont Blanc versperrt hatten, waren verschwunden. Die chinesische Delegation im Hotel des Bergues hatte die weich gepolsterten Betten am Wochenende kaum genießen können. Wenn sie demnächst ihre Rechnung beglichen, dann würden die Zimmerpreise ein Witz sein im Vergleich zu den Telefonkosten nach Peking. Tian Yi hatte kein neues Kleid mehr, das sie für diesen Anlaß anziehen konnte. Aber eine kleine Variante ihres Make-ups reichte aus, sie einigermaßen anständig aussehen zu lassen. Sie wollte noch etwas frische Luft schnappen, bevor sie den Saal betrat, und sagte dem Fahrer, sie würde lieber zu Fuß gehen. In Gedanken versunken wählte sie den schönen Weg am Restaurant Perle du Lac vorbei und durch die Gärten am See hindurch zum WTO-Gebäude. Die Atmosphäre war elektrisch geladen, und der Saal brechend voll. Alle waren gekommen, alle außer dem französischen Botschafter, der unentschuldigt fehlte. Jemand hatte sich ans Sekretariat gewandt und Signor Fratelli gebeten, gleich zur Sache zu kommen. Der Vorsitzende fand das unangenehm, weil er glaubte, daß das Ansehen seiner Organisation am besten gewahrt würde, indem man stets gemäß der korrekten Prozeduren vorging. Aber schließlich gab er dann nach und bat Tian Yi, als erste zu sprechen. »Herr Vorsitzender, verehrte Delegierte und Botschafter. Ich freue mich, ich freue mich wirklich sehr, Ihnen im Auftrag der chinesischen Regierung mitteilen zu können, 434
daß wir nach ausführlichen Beratungen den die Urheberrechte betreffenden Vorschlägen, die vor einigen Tagen hier unterbreitet wurden, nun zustimmen dürfen. Die chinesische Armee hat sich, nachdem sie noch einmal in Ruhe darüber nachgedacht hat, freiwillig bereit erklärt, ihren Anteil an Sunrise aufzugeben. Die Firma wird sobald wie möglich vollständig privatisiert werden. Wir bieten Ihnen außerdem Möglichkeiten, eine größere Transparenz speziell bei Softwarefirmen zu erzielen …« Sie machte weiter, sie verlas todernst das vorbereitete Statement. Christopher Ransome mußte lächeln. Er freute sich sehr auf den Abend und hatte schon heimlich seinen Koch angerufen, bei dem er etwas Besonderes bestellte. Eigentlich hatte er die Einladung gar nicht aussprechen wollen; sie war ihm einfach so herausgeflutscht, als er auf dem Weg in den Saal an Ministerin Tian vorbeigegangen war. Wie bereitwillig sie angenommen hatte, und wie freundlich sie ihn dabei angestrahlt hatte! Kaum war er sicher, daß niemand zuschaute, da hüpfte er vor Vergnügen ein wenig auf und ab. Der Hubschrauber flog tief über den Hügel, er trieb die Schafe auseinander und wirbelte die Heidegräser auf. Der Pilot suchte ein Weilchen, bis er die richtige Stelle fand, dann ging er ganz vorsichtig auf der schmalen Straße nieder. Vorhänge wurden zur Seite gezogen, neugierig gerunzelte Gesichter schauten heraus. Ein paar schamlosere Erwachsene traten ins Freie. Die Rotorblätter kreisten lange weiter, bis sie endlich zur Ruhe kamen. Wer ging denn da in Morag Buchanans Haus, in einer leuchtend orangefarbenen Jacke, Blue Jeans und NikeTurnschuhe? Nein, das konnte nicht sein. Nicht sie, nicht so. Wenn sie es wirklich war, warum war sie dann so 435
angezogen, und warum kam sie in einem Hubschrauber! Sie mußten den Tweed-Mann bei ihr vorbeischicken und es herausfinden, sobald das Teufelsding weg war. Der Co-Pilot behielt den Hubschrauber im Auge. Der Pilot selbst bereute es schon, daß er angeboten hatte, ihre Kiste zu tragen und die Einladung auf eine Tasse Tee anzunehmen. Im Inneren roch es definitiv altmodisch. Er war sehr erleichtert, als sie nach nur einer halben Stunde fertig war. Sie nahm keine Kleidungsstücke mit, nur ein paar Bücher, einige alte Briefe und Familienfotos. Alles paßte mühelos in die kleine Flugtasche, die sie ihr gegeben hatten. Die Kiste war voller Jack Daniels Flaschen. Sie ließ sie mit einer Notiz für den Tweed-Mann da. Wenn die Einwohner Sgurrs überrascht gewesen waren, sie so kommen zu sehen, waren sie noch entgeisterter, als sie auf die gleiche Art wieder davonflog. Der Co-Pilot half ihr beim Einsteigen und beim Anlegen des Sicherheitsgurts, und Sekunden später begannen die Rotorblätter erneut zu surren. Die Leute traten zurück, sie schauten alle entgeistert drein. Als der Hubschrauber aufstieg, um seine Achse schwang und die Nase herunterstreckte, bevor er beschleunigte, schaute Morag noch einmal ihr Haus und den Gipfel des Ben Mhor an. Aber sie verschwendete keinen Blick auf ihre verwirrten ehemaligen Mitbürger. Calums Besuch im Weißen Haus arrangierten sie, ohne daß jemand etwas davon mitbekam. Die Geschichte mit seinem Lotto-Gewinn war lange vergessen, und Chinas Ausflug nach Taiwan hatte sich nie herumgesprochen. Carla führte ihn einmal umher, bevor sie ihn ins Oval Office brachte. Die Zeremonie war zügig und 436
hemdsärmelig, aber keineswegs würdelos. Dann kam ein Mann in einem weißen Jackett mit einem Silbertablett voller Champagner-Flöten herein. »Schade, daß Sie niemals erzählen dürfen, wofür wir Ihnen diese Medaille gegeben haben.« »Das paßt mir gut, Mr. President. Sie haben in ihr Ehrenwort, daß ich es nicht verraten werde.« »Ihr Ehrenwort ist gut genug für mich. Diese Gentlemen hier wollten Sie etwas unterschreiben lassen, aber unter den gegebenen Umständen halte ich das nicht für notwendig … Calum, ich möchte Ihnen noch einmal meinen persönlichen Dank und meine Bewunderung aussprechen für alles, was Sie getan haben. Wir werden nie genau wissen, wie wichtig es war, aber ich vermute, daß das Leben der meisten Taiwanesen heute ganz anders aussehen würde, wenn Sie nicht gewesen wären.« »Vielen Dank, Sir, ich weiß die Ehre zu schätzen. Mr. President, wegen Miß Chang …« »Oh, ja, haben Sie gehört, daß ihre Eltern um Asyl gebeten haben? Wir ermöglichten es Miß Chang, noch aus unserem U-Boot eine Nachricht zu schicken, und sie verdrückten sich zu den nächstbesten Carabineri. Ich habe mir sagen lassen, daß man ihnen hilft, sich in San Francisco niederzulassen.« »Ich meinte Miß Chang selbst.« »Ich weiß. Nun, das könnte noch eine Weile etwas schwierig sein. Sie hat zahlreiche chinesische Gesetze gebrochen, wissen Sie, und sie fordern nachdrücklich ihre Rückkehr. Wir legen großen Wert darauf, unsere guten Beziehungen zur chinesischen Regierung wieder aufleben zu lassen. Parteisekretär Liao wird nächsten Monat nach Washington kommen. Wie Sie sicher wissen, hat Präsident Zhang ihn zu seinem Nachfolger gekürt, und wir haben die 437
Pflicht, ihn entsprechend zu behandeln. Leider müssen wir Miß Chang bis dahin in unserem Gewahrsam behalten und abwarten, bevor wir über ihre Zukunft entscheiden.« »Ich verstehe. Und was ist mit Montgomery?« »Das haben wir zu unserer, und ich möchte auch einmal vermuten Ihrer Zufriedenheit gelöst. Zunächst dachten wir darüber nach, ihn hier anzuklagen. Aber Montgomery ist kein Mitglied des US-Militärs mehr, also hätte es eine Zivilklage geben müssen. Wobei gar nicht so klar war, weswegen wir ihn hätten anklagen können. Unser Rechtssystem ist nun leider mal verdammt unberechenbar und unangenehm öffentlich. Eine Anklage wäre unschön gewesen, zumal wir uns mit den Chinesen darauf geeinigt haben, daß Kleinigkeiten nicht nur Kleinigkeiten sein sollten, sondern stillschweigende Kleinigkeiten. Also haben wir uns das noch einmal genauer überlegt. Und dann stellte sich heraus, daß Montgomery vor einem Jahr seine amerikanische Staatsbürgerschaft abgegeben und die chinesische angenommen hat. Also haben wir entschieden, den Herrn einfach heimzuschicken. Das sollte ihm gut gefallen, vorausgesetzt er mag chinesisches Essen und will nicht verreisen oder überhaupt mal ausgehen. Aber immerhin ist Miß Osborne bei ihm. Ach, übrigens, Calum, die CIA hat mich gebeten, Sie zu fragen, ob Sie bereit wären, für Spezialeinsätze in Zukunft zur Verfügung zu stehen, wenn es notwendig sein sollte.« »Ich enttäusche Sie nur ungern, Sir. Aber ich finde, das war genug Aufregung für ein Leben. Ich habe vor, mich ab jetzt vom Malen anregen zu lassen.« »Es tut mir leid, das zu hören. Aber wenn ich in Ihren Schuhen steckte, würde ich mich vielleicht genauso entscheiden. Wären Sie so nett, Morag Buchanan zwei Nachrichten von mir zu übermitteln?« 438
»Aber gern, Sir.« »Erstens sagen Sie ihr bitte, daß ich ihrem Wunsch nachgegeben habe, Jack Balletto nicht aus der CIA zu entlassen. Da hat er Glück gehabt, zumal die Navy immer noch richtig sauer auf ihn ist. Und zweitens, wenn ihr am Wahltag danach ist, den Kandidaten der Republikaner in eine Kröte zu verwandeln, dann wäre das ganz reizend von ihr.« Es dauerte einige Zeit, bis das Haus fertig war. Die Aussicht hatte Calum fasziniert, und die war tatsächlich außergewöhnlich: der funkelnde Ozean, perfekt von verkrüppelten alten Pinienbäumen umrahmt. Das Haus selbst war ein Mischmasch aus japanischem und kalifornischem Stil, und er ließ es so umfassend renovieren, daß es einfacher gewesen wäre, es einzureißen und ein neues zu bauen. Es war unglaublich teuer, aber die Bauarbeiten waren superschnell, und jetzt, umgeben vom Duft neuen Holzes und dem sanften Sonnenschein, der die Sinne streichelte, schien es das wert zu sein. Er konnte sich keinen schöneren Ort vorstellen, um alt zu werden. Morag konnte es gar nicht richtig fassen. Das Zimmer, das Calum für sie hatte einrichten lassen, war ganz neu. Doch waren die ganzen Mühen des Architekten, ihr irgendeinen Wunsch zu entlocken, was Materialien und Stoffe anging, fehlgeschlagen. Sie hatte ratlos gelächelt und den Kopf geschüttelt, also hatte Calum den Leuten freie Hand gegeben. Das war die richtige Entscheidung gewesen. Da der Klient nicht dreinredete, kreierten sie einen Stil und ein Dekor, die erstaunlich gut ankamen. Das einzige, worauf Calum bestanden hatte, war ein kleines Schränkchen, das er mit jedem nur käuflichen Jahrgang Bowmore-Whisky füllte. Er verbarg es in der Bauphase vor Morag, damit es eine um so größere Überraschung 439
würde. Seine Belohnung kam, als er mit ihr den fertigen Raum inspizierte und selbst die Tränen in ihren Augen sehen konnte und wie sie die Hände vor den Mund schlug in sprachloser Freude. Ihre erste Nacht in dem Zimmer war allerdings weniger erfolgreich, da das Luxus-Bett ihr zu weich vorkam. Also bastelten ihr die Schreiner eine Art Holzkoje wie die in Sgurr nan Creag, und darin schlief sie hervorragend. Tagsüber saß sie stundenlang auf ihrer kleinen Veranda und schaute in den Garten und aufs Meer hinaus. Ein seliges Lächeln lag auf ihren Lippen. Als der Besuch Liaos sich näherte, war Calum mit den Nerven am Ende und schon fast überzeugt davon, daß irgendeine dumme Knitterfalte in der Beziehung zwischen den beiden Ländern dafür sorgen würde, daß sie nach China zurück mußte und die Tür trotz seiner Träume und Gebete für immer zugeschlagen würde. Täglich las er in den Zeitungen Berichte über China, wenn ein zorniger amerikanischer Politiker oder Geschäftsmann die Chinesen wieder einmal wild beschimpfte. Aber es lief anders. Liao kam und ging über einen magischen roten Teppich lächelnden Goodwills, und das Pressefoto der Hände schüttelnden Regierungschefs wanderte direkt in Calums Sammlung. Am Tag nach Liaos Rückflug rief Jack Balletto bei Calum an und meinte, daß man eine kleine Party feiern könne. Vorausgesetzt, man würde ihn einladen. Er könnte dann auch ein Geschenk mitbringen, eine Handvoll Greencards für drei Changs und eine Buchanan. Als sein Wagen zwei Tage später in der Auffahrt hielt und May ausstieg, glaubte Calum, vor Glück zu sterben.
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Der Anruf von Marianna kam früh eines idyllischen Morgens, als sie drei auf der Terrasse frühstückten. Calum meldete sich an dem schnurlosen Telefon. Sobald ihm klar war, wer ihn sprechen wollte, stand er auf und verschwand im Garten. »Bist du das, Cal? Hi, ich bin’s. Lange nichts von dir gehört. Wie geht’s dir?« »Oh, ganz gut.« »Seit wann bist du zurück?« »Zwei oder drei Monate.« »Warum hast du nicht angerufen? Ich hab’ es erst gestern gehört. Mein Anwalt, Larry Abraham, hat es herausgefunden, ganz zufällig.« »Ich hatte viel zu tun und kaum Zeit, meine alten Freunde anzurufen.« »Na ja, ich hoffe, ich bin doch mehr als eine alte Freundin. Wie ich höre, hast du eine tolle neue Wohnung in den Bergen oberhalb von Santa Barbara.« »Eine kleine Holzhütte.« »Ich habe was ganz anderes gehört. Und was machst du jetzt, wo du zurück bist?« »Jedenfalls nicht bei der Bank arbeiten.« »Ich hab’ mich gefragt, ob du es noch mal mit Malen versuchen solltest. Du bist doch so begabt. Ich war immer überzeugt davon, daß du als Künstler ganz groß rauskommst, wenn du nur eine Chance erhältst. Vor allem jetzt, wo du dir keine finanziellen Sorgen mehr machen mußt.« »Wir werden sehen. Wie geht’s Brett?« »Ehrlich gesagt, Cal, ich weiß es nicht. Und ich bin nicht sicher, ob es mich interessiert. Wir haben dann doch nicht 441
geheiratet. Vielleicht trennen wir uns. Eigentlich haben wir das schon getan. Ich bin ausgezogen.« »Warum?« »Er benimmt sich ekelhaft, Cal, wirklich ekelhaft. Offensichtlich muß er sich etwas beweisen, verstehst du daß er in seinem Alter noch alle Frauen der Welt bekommen kann. Ich hab’ es rausbekommen, und ich kann dir sagen, er hat sich mit der falschen angelegt.« »Du hast ihn sitzenlassen?« »Ja, kann man so sagen. Jetzt ist diese Nutte bei ihm eingezogen … Na ja, ich hab’ ihn sowieso satt, ich bin jetzt erwachsen geworden, wenn du weißt, was ich meine. Brett kann nach außen hin sehr attraktiv sein, der ganze Schicki-Micki-Kram eben. Aber tief drinnen ist er hohl.« »Und was wird jetzt mit dir?« »Erinnerst du dich noch an Laura von der Telefonfirma? Ich wohne seit einiger Zeit bei ihr. Aber genug von mir. Was gibt es bei dir Neues? Wo warst du? Nachdem du von England weg bist, meine ich.« »In Asien.« »Habe ich mir gedacht. Du klingst so viel ruhiger, viel gesammelter. Du weißt schon, was ich meine … Sie sagen, in Asien könnte man sein wirkliches Ich finden.« »Bei mir hat’s geklappt.« »Cal – ich hab’ dich vermißt. Ich kann es gar nicht abwarten, dein neues Heim zu sehen. Einer der Gründe, daß ich jetzt anrufe, ist nämlich, daß ich heute abend mal bei dir vorbeischauen möchte. Ist das in Ordnung? Wir könnten am Strand Spazierengehen und dann vielleicht was essen. Was hältst du davon?« »Heute paßt es mir nicht so gut, Marianna. Ich bin immer noch mit der Einrichtung des Hauses beschäftigt. 442
Vielleicht ein andermal, oder wenn ich in LA bin.« »Oh, sei doch ein wenig spontan.« »Ich ruf dich in ein paar Tagen an. Einverstanden?« »Vergiß es. Ich will einfach keinen Tag mehr vergehen lassen, ohne dich wiederzusehen.« »Marianna, das ist keine gute Idee. Ich brauch’ noch etwas Zeit, bevor wir uns begegnen.« »Ich komme gegen sieben. Deine Adresse weiß ich schon.« »Es gibt da noch etwas, was du wissen solltest ...« »Wenn es eine andere Frau ist, mach dir keine Sorgen. Ich hatte meinen Typen, also werde ich dir keine Vorwürfe machen. Wenn sie zu lange bleibt, dann jagen wir sie einfach zum Teufel.« »Marianna, du verstehst nicht ...« »Bis später. Bye.« Er schaltete das Telefon aus und ging wieder zurück. Mays Stimme klang fröhlich, aber sie schaute ein wenig besorgt. »Das war sie, oder? Und ...? Wie fühlst du dich?« »Ich wußte immer, daß ich mir nicht sicher sein könnte, wie ich mich fühle, bis ich mit ihr gesprochen oder mich mit ihr getroffen habe. Ich dachte, daß ich zumindest mit ihr befreundet bleiben wollte, und sei es nur um der alten Zeiten willen. Und jetzt merke ich, daß ich nichts fühle. Ich möchte sie weder wiedersehen noch je wieder von ihr hören.« »Das mußt du auch nicht, wenn du nicht willst.« »Na ja, sie kommt heute her.« »Heute? Wann?« 443
»Um sieben. Ich habe versucht, sie abzuwimmeln, aber so was wie ein Nein kennt sie nicht. Irgendwoher hat sie die Adresse. Ich kann es nicht ertragen, sie zu sehen. Warum verstecken wir uns nicht oder gehen alle aus?« »Würde sie dann nicht einfach ein andermal wiederkommen? Sei nicht so hart mit ihr, Calum. Sie ist doch glücklich verheiratet, oder? Solange du sie nicht mehr liebst, was kann denn da passieren, wenn du mit ihr befreundet bist?« »Ja, aber die Sache sieht etwas anders aus. Sie haben dann doch nicht geheiratet, und sie lebt nicht mehr mit Brett zusammen. Ich glaube, sie sucht jetzt nach alternativen Wohnmöglichkeiten … hier zum Beispiel.« May riß erschrocken die Augen auf. »Das ist etwas anderes. Calum, bist du dir absolut sicher, daß du nichts mehr für sie empfindest? Wenn du das noch einmal überdenken willst, kann ich es verstehen. Ich könnte eine Weile auf Reisen gehen, damit du Zeit für dich hast.« Morag sagte nichts, beobachtete Calum aber sehr genau. »Nein, May, ich möchte nicht, daß du oder auch Morag mich allein laßt. Ich muß mir nur etwas einfallen lassen, sie davon zu überzeugen, daß es vorbei ist.« »Wenn du ihr sagst, daß es eine neue Frau in deinem Leben gibt, wird sie doch sicher …« »Du kennst Marianna nicht. Das wäre eine Herausforderung für sie.« »Wieso denn dann kein einfaches ›Nein‹?« »Marianna hat Schwierigkeiten mit der englischen Sprache. Es gibt Ausdrücke wie ›Vielen Dank‹, die sie versteht, aber nie benutzt, und andere wie ›Nein‹, die sie selbst dauernd benutzt, aber bei anderen nicht versteht.« 444
»Sag mal, Calum, wenn sie nur hinter deinem Geld her ist, warum gibst du es ihr dann nicht und hast es hinter dir? Solange wir noch ein bißchen übrig behalten, ist es mir egal. Ich kann mir ja einen Job suchen.« »NEIN ...!« Calum und May waren beide gleichermaßen überrascht, wie energisch Morag das Wort hervorgestoßen hatte. Es war das erstemal, daß sie irgendeinen Kommentar in Sachen Marianna abgab. »Nur über meine Leiche! Diese Frau hat keinen Penny verdient. Ich werde ihr das auch ins Gesicht sagen. Und daß sie euch allein lassen soll.« Calum lächelte erfreut. »Danke, Morag, aber das wäre vergebliche Liebesmüh. Wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, ist sie nicht so leicht vom Gegenteil zu überzeugen.« Morag ließ sich davon nicht beirren. Sie hatte entschieden, daß es jetzt an der Zeit war, die Fronten zu klären. Diese Marianna würde auf eine würdige Gegnerin treffen. Morag wandte sich an May. »Kindchen, ich habe nie ein Wort darüber verloren, aber du hast meinem armen Großneffen ein paar schreckliche Dinge angetan …« May ließ den Kopf hängen. Sie liebte Morag und haßte die Vorstellung, daß sie unzufrieden mit ihr sein könnte. »… aber ich wäre bereit, dir zu vergeben – unter einer Bedingung.« »Welcher denn, Morag?« »Daß du deine Durchtriebenheit nun einsetzt, um diese Marianna loszuwerden. Normalerweise bin ich kein Freund von Täuschungsmanövern. Aber hier ist eine 445
Ausnahme nötig. Wenn ich von Nutzen sein kann, dann werde ich begeistert mitmachen. Also, setz dich in deine Denkerecke. Und du, mein Junge …« – Morag wandte sich an Calum – »… wirst tun, was auch immer May sich ausdenkt.« Calum und May nickten wie gehorsame Schulkinder. Sekunden später funkelten Mays Augen auch schon. »Oh, hallo. Ist dies das Haus von Mr. Buchanan?« »Ja. Willkommen im Tempel der Schönheit.« May verneigte sich tief und führte Marianna in die Halle, wo Morag stand. Sowohl May als auch Morag trugen weite weiße Roben, die sie eilig aber geschickt aus Bettlaken genäht hatten. »Entschuldigen Sie, aber ich verstehe nicht ganz … Sind Sie Mr. Buchanans Bedienstete?« »Wir sind seine Sklaven, seine Dienerinnen. Das ist Schwester Andromeda. Ich bin Schwester Klytemnästra.« »Hi, ich heiße Marianna. Kann ich mit Calum reden? Wo ist er denn?« »Er betet vor dem Altar der Großherzigkeit und bittet Sie zu warten, bis er zu Ende gebetet hatte. Bitte kommen Sie mit und machen Sie es sich auf unserer Terrasse bequem.« Sie folgte ihnen hinaus. May verstand, warum Männer ihr hörig wurden. Was für eine tolle Figur! Es war offensichtlich, daß sie sich extra für das Treffen schick angezogen hatte; toll, diese honigfarbenen langen Beine und der Superbusen im Ausschnitt. »Wow, was für eine Aussicht. Entschuldigen Sie, aber ich bin irgendwie durcheinander. Mir ist immer noch nicht klar, wer ihr zwei seid und was ihr hier zu suchen habt. Seid ihr Calum auf seiner Asienreise begegnet?« 446
»Wir sind Teil seiner Schwesterngemeinschaft.« »Seiner Schwesterngemeinschaft? Wie viele von euch gibt es denn?« »Fünfundzwanzig. Aber es werden immer mehr. Wir haben fast jede Woche Initiations-Zeremonien.« »Und was genau macht diese Schwesterngemeinschaft? Ich meine, habt ihr einen Gott oder so?« »Calum ist unser Gott.« »Ihr macht Witze, oder? Bist du eine Schauspielerin, die er engagiert hat, um mir einen Streich zu spielen? Er kann doch nicht davon ausgehen, daß ich darauf reinfalle. Sag ihm, er soll sich nicht mehr anstellen und sofort hierher kommen.« May und Morag schauten einander fragend an, ihre Gesichter blieben rätselhaft verschlossen. Marianna fing an, ihre Zuversicht zu verlieren. War das wirklich kein Witz? Es gefiel ihr auch überhaupt nicht, wie diese alte Schachtel sich vorbeugte und ihr langes blondes Haar anstarrte. »Hey, was soll das? Warum schaust du meine Haare so an?« »Sie sind so schön. Wie schade, daß sie herunter müssen.« »Was, zum Teufel, soll das heißen, daß sie herunter müssen?« May übernahm wieder. »Calum hat uns gesagt, daß Sie sich vielleicht der Schwesterngemeinschaft anschließen wollen. Morgen führen wir unsere nächste Initiations-Zeremonie durch. Wir müssen Sie zuvor reinigen, indem wir Ihr Haar abschneiden und sie in Eselsmilch baden … Aber Sie
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dürfen Ihr Haar später wieder wachsen lassen, so wie wir es getan haben.« »Das ist wirklich kein Witz, oder? Ihr seid echt?« »Natürlich. Die Initiation ist heilig, der heiligste Ritus der Welt. Für Sie ist alles vorbereitet. Übermorgen gehen wir nach Beverly Hills, wo wir um Almosen bitten. Es wird wunderbar sein, wenn Sie uns dabei zur Seite stehen. Sie haben sicher viele großzügige Freunde, bei denen wir vorsprechen können.« Marianna sprang auf. »Ich möchte sofort mit Calum sprechen.« »Sie können seine Gottesverehrung nicht unterbrechen, wenn Sie nicht angemessen gekleidet sind. Hier, entledigen Sie sich ihrer Kleider und ziehen Sie eine weiße Robe der Schwesternschaft an. Wir werden Ihnen helfen.« »Pfoten weg von mir. Sag mal, wenn das alles stimmt, wieso hat Calum das nicht am Telefon gesagt?« »Er meinte, er hätte es versucht, aber Sie hätten ihm nicht zugehört.« Marianna erinnerte sich, daß Calum tatsächlich versucht hatte, ihr etwas zu sagen. Na egal, sie würde das mit ihm besprechen. Sie würde ihn schon wieder zurechtstauchen. Keinesfalls durfte sie sich von diesem religiösen Blödsinn abhalten lassen, nicht so wie die Dinge mit Brett standen. Es gab im Augenblick keine anderen Kandidaten, und wenn sie nicht schnell handelte, dann würde sich herumsprechen, daß ihr Mindesthaltbarkeitsdatum schon fast abgelaufen war. Sie brauchte Calum wie nie zuvor. Ohne ein weiteres Wort rannte sie ins Haus und brüllte mit schriller Stimme immer wieder ›CALUM!‹ Morag und May ließen sie gehen und blieben auf der Terrasse stehen; sie achteten darauf, daß ihr Kichern nicht zu hören war. 448
Marianna fand ihn im vierten Zimmer, in das sie schaute. Bis zum Nachmittag war das sein Studio gewesen. Die Farben, Pinsel und Leinwände hatten sie gut versteckt. Ein Tisch auf Böcken mit einem roten Tischtuch darauf bildete den Altar, komplett mit zwei der größten weißen Kerzen, die man in Santa Barbara kaufen konnte. Die Luft war dick von Räucherstäbchenrauch. Seine Robe war leuchtend blau. Er kniete mit ausgestreckten Händen und sang in den unbekannten Lauten einer exotischen Fremdsprache. »Calum?« Er schien sie nicht zu hören. »Hari Krishna, Hari Krishna ...« »Calum, tut mir leid, daß ich deine Gebete unterbreche …« »Hari Rama, Hari Rama ...« »Calum, Ca-lum!« »Alleluja, Alleluja ...« Er verfluchte sich dafür, daß er nicht daran gedacht hatte, sich ein paar anständige Gebetsworte zu überlegen. Glücklicherweise trat Marianna in diesem Augenblick hinter ihn und tippte ihm auf die Schulter. Er schaute erschrocken auf, als hätte sie ihn aus tiefster Trance gerissen. »Schwester Harridana!« »Nein, Calum, ich bin’s ... Marianna.« »Ich weiß, ich weiß … Ich habe Harridana als deinen Namen für die Schwesterngemeinschaft ausgewählt. Gefällt er dir nicht?«
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»Er ist … sehr schön, Calum, aber was ist hier los! Wieso verlassen du und ich nicht mal kurz das Haus und deine … Schwestern, um in Ruhe miteinander zu reden?« »Ich habe geschworen, den Tempel der Schönheit niemals zu verlassen. Du mußt hierher zu mir kommen. Es wird dich mehr erfüllen, als du dir vorstellen kannst, wenn du deine Tage in der Nähe meiner geheiligten Gegenwart verbringen kannst, wenn du mich verehrst und mir dienst. Oh, Marianna, du weißt gar nicht, wie glücklich ich bin. Ich habe mein wirkliches Ich gefunden. So viele Jahre war ich verwirrt und unglücklich und habe versucht, Geld zu verdienen. Warum habe ich nicht schon früher daran gedacht, ein Gott zu werden?« »Komm schon, Calum. Ich bin ganz sicher – wenn wir ein bißchen Zeit miteinander verbringen, dann wird alles wieder ganz normal.« »Normal? Was für eine extrem langweilige Vorstellung. Ich möchte nie wieder auf eine weltliche Ebene zurückkehren. Aber, Schwester Harridana, warum entledigst du dich nicht der schweren Last dieser Kleidung und ehrst mich mit deinem Körper?« »Du bist krank, weißt du das? Auf keinen Fall werde ich mich deinem perversen Schwesternclub anschließen! Ich bin hergekommen, um mit dir einen neuen Anfang zu versuchen. Jetzt ist mir klar, daß das nicht möglich sein wird. Du brauchst keine Frau, du brauchst Hilfe, dringend! Ich bemitleide dich.« »Bist du wirklich sicher, daß du nicht zu uns gehören willst?« »Ich will nie wieder ein Wort von dir hören.« »Wie schade, Marianna. Nun, dann wünsche ich dir noch ein schönes Leben. Du bist doch damit einverstanden, daß 450
ich knien bleibe, während du alleine hinaus findest? Ich muß noch zu Ende beten.« Sie zögerte einen Augenblick, dann machte sie ohne ein weiteres Wort auf dem Absatz kehrt und marschierte eilig aus dem Zimmer. Auf dem langen Weg zur Haustür klingelte dieses merkwürdige fremdartige Gesinge in ihren Ohren. »Hará Kiri, Hará Kiri ...« Calum bekam Angst. Er mußte weiter singen, falls sie zurückkehrte. »Erd Nuß But Tah, Erd Nuß But Tah …« Sie blieb vor der Haustür stehen. Augenblick mal, dieser Gesang klang fast wie … Wollte dieser kleine Vollidiot sie vielleicht …? Wütend wirbelte sie herum. Die beiden merkwürdigen Schwestern waren plötzlich hinter ihr erschienen und standen ihr im Weg; sie hatten die Arme gekreuzt, und die Asiatische sah ganz schön gemeingefährlich aus. Marianna horchte noch einmal nach der fernen Stimme. Jetzt sang sie wieder Allelujas. Nein, das mußte ihre Einbildung gewesen sein. Sie knurrte die beiden Frauen an, dann stürmte sie hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Morag und May traten hinter die dicke Holztür und lauschten gespannt. Als sie den Wagen kiesaufwirbelnd die Einfahrt hinunterrasen hörten, drehten sie sich langsam zueinander um, streckten die Arme aus und hielten sich engumschlungen fest.
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Danksagung Für Hilfe und redaktionelle Arbeit bedanke ich mich bei Nick Webb, Martin Retcher und Jacquie Cläre von Simon & Schuster, ohne die nur wenig in diesem Buch einen Sinn ergeben würde. Viele gute Freunde, die ich hier aufführe, haben mir sehr geholfen. Ganz besonders danke ich: Jeremy Black Ning Ning Chang Robert Enslow Cement Freud Miriam Gillinson Cliff Higgerson Jacqueline Koay Finlay MacLeod Klyner Mann Nick Marston Karen & Jay Mistry Paul O’Neill Cati & Peter Patel Christopher Roberts Roberto Quarta Colin Southgate Caroline Watt Nigel Williams Larry Winston 452