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Kriminalroman
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Eines Morgens wird in einer west...
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Kriminalroman
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Eines Morgens wird in einer westdeutschen Kleinstadt das Fabrikantenehepaar Uhlmann tot aufgefunden. Die Umstände ihres Todes sind mysteriös. In mühevoller Kleinarbeit ermittelt die Mordkommission der Kriminalpolizei Fakten und Zusammenhänge. Das verblüffende Ergebnis der aufwendigen Recherchen ist die Aufdeckung eines raffinierten Mordes. Diksen zeigt die gefährliche Oberflächlichkeit und Selbstzufriedenheit der westdeutschen Gesellschaft im Taumel des Wohlstandes. Zugleich verdeutlicht er die Hysterie und den verlogenen Idolhunger der Superheldenfabrikation reaktionärer Massenmedien, die den fruchtbaren Nährboden für Neofaschismus und Kriminalität aufbereiten. Dieser Mordfall, von Bernd Diksen brisant, spannend und logisch erzählt, ist symptomatisch für die gesellschaftlichen Verhältnisse im Westdeutschland der Gegenwart.
Bernd Diksen
Der halbe Tod _________________________________
Verlag Das Neue Berlin
I. Seit zwanzig Minuten pendeln wir zwischen zwei Zimmern hin und her. Wir, die Mordkommission. Voran Kommissar Schwenzer. Er ist ein richtiger Bulle, und es ist ganz selbstverständlich, daß wir ihn Bully nennen. Wir, das sind Plotzki und ich. Ich bin der Jüngste und vorläufig noch das Stiefkind der Familie. Ich bin erst vier Wochen dabei und darf eigentlich nur reden, wenn ich gefragt werde. War vorher auf Schule. Große Dressur: Spurensicherung, bißchen Chemie, etwas Rangertum und so weiter. Bei Schwenzer habe ich kaum eine Chance. Der will nur tüchtige Mitarbeiter mit Garantieschein, daß sie keine Ambition auf höhere Gehaltsstufen haben. Der will Duckmäuser wie Kommissar Plotzki. Er ist unser zweiter Mann, ist etwas jünger als Bully, sieht aus wie ein Filmkommissar und ist nichts als der Schatten des Chefs. Schwenzer brüllt, prügelt, erpreßt. Kriegt alles ’raus, sagt man. Manchmal mehr, als das Opfer selbst weiß. Seine Methoden sind ebenso altmodisch wie ekelhaft. Aber er kriegt alles ’raus. Sein Büro betritt man am besten mit einem notariell beglaubigten Geständnis in der Hand. Ich war selbst dabei, als er eine hübsche Kellnerin zwang, sich völlig zu entkleiden. Um den Preis von zwei Handtüchern für ihre Blößen verriet sie Vater und Mutter. Das ist Schwenzer. Ein Vollmondgesicht mit schmalem Bärtchen. Meist spricht er wie ein luftgekühlter Dieselmotor bei Standgas. Hämmernd, monoton und laut. Gefährlich wird er, wenn er höflich ist. Und jetzt ist er höflich. 7
„Den Junior zuerst“, weist er leutselig Plotzki an. Fast könnte man an Mitleid oder gar Mitgefühl glauben. Denn nebenan liegen die Eltern des Juniors. Friedlich, nebeneinander, in einem Bett, wie das bei Ehepaaren gelegentlich vorkommen soll. Hugo und Dorothee Uhlmann. Sie liegen im Schlafzimmer Dorothee Uhlmanns und sind tot. Frank Uhlmann kommt herein und bleibt abwartend stehen. „Sie …“, beginnt Bully und stockt. Frank Uhlmann ist erst sechzehn Jahre alt, und Bully würde lieber du zu ihm sagen. Aber der Junge ist mindestens zehn Zentimeter größer als er. Einsachtundachtzig, schätze ich. Und Frank ist der Erbe der Uhlmann-Chemie. „Sie sind also der Sohn. Und … Sie wissen Bescheid?“ Bully deutet träge hinter sich, als sei dort irgendwo ein Wasserrohrbruch. Wir sind im Salon der gnädigen Frau, die Tür zum Schlafzimmer ist nur angelehnt. „Ich weiß“, bestätigte der Junge ernsthaft. „So, und seit wann?“ „Seit halb acht. Onkel Daniel rief mich an.“ „Rief an? Sie waren demnach nicht zu Hause?“ „Nein. Ich bin kurz vor Ihnen gekommen.“ „Sie waren auch nachts nicht hier?“ „Auch nachts nicht.“ Die Auskünfte gefallen Bully nicht sonderlich. Vielleicht wird er gleich brüllen. Aber er brubbelt nur irgend etwas vor sich hin. Seine klobigen Hände spielen mit einer der unzähligen Dosen auf dem Tischchen, hinter dem er, den Hut halb im Genick, sitzt. Bully ist vielleicht der erste Mann, der je mit einem Hut auf dem Kopf in diesem Raum saß. 8
„Können Sie sich das …?“ Er deutet wieder hinter sich, es scheint wirklich nur ein Rohrbruch zu sein. „Ich meine, sprachen Ihre Eltern vielleicht …?“ Er winkt sich selbst zur Besinnung. Es wäre ja auch eine selten dämliche Frage geworden. „Ich meine, sehen Sie ein Motiv für so etwas?“ Frank Uhlmann schüttelt nur stumm den Kopf. „Bis später“, knurrt Bully, aber er läßt den Jungen nur bis zur Tür gehen. „Übrigens, wo waren Sie eigentlich heute nacht?“ Frank Uhlmann dreht sich halb um und sagt gehorsam: „Ich war bei Doktor Kippenhöfer, Saarlandstraße zwölf. Zu einer privaten Weihnachtsfeier.“ „Überprüfen“, knurrt Bully. Und damit meint er Plotzki. Vor uns steht das Dienstmädchen. Ein ungewöhnlich hübsches Kind. Dabei nicht einmal so gräßlich schlank, wie es das Twengesetz vorschreibt. Eher ein bißchen … wie soll ich sagen … wie junge Mutter vielleicht. Ein Kinderwagen wäre Schmuck für sie. Auch der Pagenkopf braucht keine Unterstützung der kosmetischen Industrie. Keinen Frisör, kein Schleifchen, kein Häubchen. Die Haare sind tief schwarz, die Augen sind schwarz, die Wimpern lang und schwarz … verdammt hübsches Kind. „Ihr Name?“ „Maria Pezzone.“ Ihre Sprache ist überraschend hart. „Sie sind Italienerin?“ Bully weiß es ohnehin. Als sie ruhig nickt, tut er höchst erfreut. „Porco Madonna! Ein herrliches Land, dieses Italien, molto bene! Hübsche Gegend … angenehm verloddert … Schon mal was von Rom gehört?“ Maria sieht ihn erstaunt an. Aber genau das ist Schwenzer! Fragt eine Italienerin, ob sie schon mal was 9
von Rom gehört hätte! Ich möchte seine Augen sehen, wenn sie ihn jetzt fragen würde: Haben Sie schon mal was vom Kölner Dom läuten hören? „Ganz in der Nähe gewesen“, schwärmt Bully weiter, „molto dicht dran! Sabinerberge, tadellose Gegend … Klasseweiber. Cistern di Roma hieß das Nest. Oder so ähnlich jedenfalls … Wo waren Sie heute nacht?“ „Im Haus.“ „So, im Haus. Und die Herrschaften? Auch im Haus?“ „No, Signore, kamen nach Mitternacht.“ „Und wo waren Sie da?“ „Im Bett.“ „Aha – aber Sie schliefen nicht?“ „No.“ „Und warum nicht?“ „Ich gewartet.“ „Auf was – den Hausherrn vielleicht?“ „No“, wiederholte sie ruhig. Sehr ruhig. Aber die Augen… Die Augen funkeln gefährlich. Ätna vor dem Ausbruch. „Auf was also, Signorina?“ „Auf Wünsche der Herrschaft.“ „Und hatten sie welche?“ „Si, zwei Glas Wasser.“ Bully blinzelte mir kurz zu und mustert dann die Mädchengestalt vor sich eingehend. Ungeniert beugt er sich dabei über das flache Tischchen. Er will ihre Beine sehen. „Weiter, schönes Kind“, mahnt er dann. „Fiel Ihnen vielleicht etwas an den Herrschaften auf? Waren sie traurig? Oder fröhlich? Oder besoffen? Oder … hatten sie vielleicht Krach miteinander? Sie verstehen, Krach wie Streit?“ 10
„Nix Krach. Signore und Signora sehr freundlich.“ Es ist sicher das dürftige Ergebnis auch dieses Verhörs, wenn Bully erst einmal pausiert. Er sitzt und brütet vor sich hin. Wer ihn nicht kennt, könnte glauben, er döst in aller Ruhe dem Feierabend entgegen. Bully döst nicht. Seine immer etwas verschwommenen Augen öffnen und schließen sich träge wie bei einer Katze nach erfolgreicher Mäusejagd. „Sonst noch was?“ fährt er Maria unvermittelt an, als wollte sie etwas von ihm und nicht umgekehrt. „Ist Ihnen denn überhaupt nichts aufgefallen? Vielleicht verdächtige Personen? Oder wenigstens Geräusche, Schreie? Nichts?“ Maria verneint anmutig mit dem Pagenkopf. „Wie Sie wollen.“ Und dann macht Bully seine berühmte Handbewegung. Er hält den Arm steif, im rechten Winkel, als müsse er einen Angriff abwehren oder nach der Uhr sehen. Ruckartig zucken dann die geschlossenen Finger hoch. Zweimal, dreimal. Gehen Sie! Sie sind mir lästig! „Kommissar Plotzki?“ Ein Wink mit dem Kopf: Mitgehen! Zimmer der Kleinen ansehen. Ein Zeichen mit dem Daumen: Brauche die Fingerabdrücke. „Und wir sehen uns wieder!“ Maria nickt nur. „Entsetzlich!“ Großer Auftritt für Daniel Uhlmann, Bruder des toten Hausherrn, Gast im Haus seit nunmehr zwölf Jahren. „Was ist denn so entsetzlich?“ Bully hat seinen Platz noch nicht um ein Zoll geändert. Er kann stundenlang in einer Stellung hocken. „Das … das da!“ Daniel deutet vorsichtig nach ne11
benan. Mäßiges Theater, finde ich. Bully sicher auch. Er liebt so etwas gar nicht. Er schielt den fettleibigen Menschen mürrisch von unten her an. Alles an dem muß ihm widerwärtig sein. Alles. Bully hat einen Haarwuchs, dicht wie eine Brombeerhecke. Daniel Uhlmann hat eine Glatze. Bully ist grob, offen bis zur Schamlosigkeit. Der da, in weibischem Morgenrock mit Motiven vom japanischen Kirschblütenfest, legt deutlich Wert auf Etikette. Bullys Kinn sieht immer unrasiert aus. Daniels Gesicht dagegen glänzt wie ein Badezimmer nach AjaxBehandlung. Bully ist ein Stier, der da bestenfalls eine Otter. „Das?“ sagt Bully endlich geringschätzig. „Aber doch nicht für Sie!“ „Wie soll ich das verstehen?“ Der Mensch tut empört. Aber er schauspielert schon wieder. „Erbe Junior ist erst sechzehn. Braucht also ’n Vormund.“ „Aber … ich muß doch sehr bitten, Herr Kommissar!“ Daniel Uhlmann zieht die Augenbrauen erstaunlich weit hoch. Sie wirken einen Augenblick lang wie die angemalten Brauen eines Zirkusclowns. Bully hat genug von dem Theater. „Wann haben Sie die Toten entdeckt? Genau, bitte!“ „So gegen halb acht …“ Er macht sich immer unbeliebter. „Sehr präzise, wirklich. Und was suchten Sie eigentlich so gegen halb acht bei Ihrer Schwägerin? Ist doch für feine Leute mitten in der Nacht?“ „Das ist reine Privatsache.“ Es sieht ganz so aus, als wolle Daniel Uhlmann den neuen Hausherrn spielen. Er steht da, die Hände provokatorisch in den weiten Taschen seines Morgenrocks, und sieht über Bully hinweg 12
durchs Fenster. Gleich wird Bully brüllen. „Privatsache, sieh mal an.“ Er brüllt wider Erwarten nicht. Kann böse ausgehen. Denn ein sanfter Bully ist ein Schwein. „War vielleicht die Kasse des Herrn leer?“ So etwas hat ein Daniel Uhlmann nicht nötig. Nein, er habe nur um den Wagen der Ärmsten bitten wollen. „Auch gut.“ Bully winkt bloß ab. „Und wo waren Sie heute nacht?“ Er fragt, als hätte er diese Frage schon zwei Dutzend anderen Zeugen gestellt und als hätten alle ihn verkohlt. „Im Hause natürlich. Auf meinem Zimmer.“ „Natürlich! Und sicher haben Sie friedlich im Bett gelegen?“ „Wo sonst?“ „Fein. Und wann geruhten sich der Herr niederzulegen?“ „Das war … ja, so gegen halb elf muß es gewesen sein.“ „Und was haben Sie bis so gegen halb elf angestellt?“ „Nichts!“ Daniel Uhlmann scheint ernstlich gekränkt zu sein. „Ich habe gelesen, wenn es Sie interessiert. In der Bibliothek!“ Er trumpft auf. Wahrscheinlich hat er tatsächlich gelesen. „Und wenn Sie es ganz genau wissen wollen: ‚Die Verlobten‘ von Manzoni habe ich gelesen!“ Bloß dann wird er wieder albern: „Ich liebe nämlich Italien!“ Bully grinst niederträchtig. „Soso, Sie lieben Italien … Italienerinnen wohl sicher auch, was? Achtzehnjährige zum Beispiel?“ Daniel Uhlmann reckt stolz den Kopf zur Decke. Eigentlich fehlt ihm jetzt nur noch ein Monokel. „Sie haben natürlich die Herrschaften auch nicht 13
kommen hören?“ „Nein, das heißt … nicht direkt jedenfalls.“ „Vielleicht könnten Sie es jetzt direkt sagen?“ „Bitte! Also, ich hörte lediglich, so halb im Einschlafen, Maria die Treppe hinuntergehen. Gegen Mitternacht. Oder kurz danach. Ich vermute, daß mein Bruder nach ihr geklingelt hatte.“ „Aus dem Schlafzimmer Ihrer Schwägerin, wohlgemerkt! Übrigens … wozu brauchten Sie eigentlich heute morgen den Wagen?“ „Oh, um noch pünktlich ins Geschäft zu kommen, natürlich. Ich hatte etwas verschlafen.“ „Aha!“ Bully tut höchst interessiert. „Und was halten Sie nun davon?“ „Wovon?“ Bully blinzelt nervös. „Von den Ereignissen hier, Mensch! Halten Sie einen Selbstmord für möglich? Oder für ausgeschlossen?“ Daniel Uhlmann überlegt ernsthaft. Seine Gedanken kann man bequem ablesen. Er schüttelt den Kopf, er wiegt den Kopf, er zieht die Clownsaugenbrauen hoch, er beißt sich auf die Unterlippe. Daniel prüft, verneint, bedenkt, wundert sich. Er ist ein mäßiger Schauspieler. „Ja“, beginnt er sehr vorsichtig, „ich habe natürlich schon darüber nachgedacht. Selbstverständlich. Aber ich weiß nicht … Selbstmord? Warum? Die kleine UhlmannChemie ist so gesund wie die große I. G. Farben, wenn ich recht informiert bin … . Und dann gleich beide? Wenn auch, nun ja, Hugo liebte die Abwechslung … Vielleicht Eifersuchtstragödie?“ „Ach … liebte wohl auch Italien, der Herr Bruder, was?“ Daniel Uhlmann zuckt zusammen. „Ich werde mich 14
über Sie beschweren! Unerhört … jawohl, beschweren! Das Andenken eines Toten …“ „Schwenzer“, unterbricht Bully bereitwillig, „Kommissar Schwenzer. Mordkommission. Genügt, kommt immer an. So, und jetzt gehen Sie bitte auf Ihr Zimmer und halten sich zur Verfügung.“ Die große Handbewegung ist diesmal sehr wirkungsvoll. Daniel Uhlmann schnauft beleidigt, es ist kein Theater dabei. Kommissar Plotzki werde ihn begleiten, gibt Bully dem Abschied den nötigen Pfeffer. Aber er ist noch nicht fertig. „Eine Frage noch: Warum riefen Sie eigentlich heute morgen nicht einfach ein Taxi? Stört man denn ein schlafendes Ehepaar?“ „Aber …“, murmelt Daniel Uhlmann und ergänzt etwas zu hastig: „Ich wußte doch gar nicht, daß Hugo …“ „Nicht wahr?“ fragt Bully geradezu liebenswürdig, als Daniel seinen Satz nicht beendet. „Wo Sie doch schon um Mitternacht glaubten, daß Hugo aus dem Schlafzimmer seiner Frau nach Maria klingelte.“ Eben haben sie die Toten abgeholt. Bully stelzt brummig durch das Schlafzimmer nebenan. Er schnüffelt, wie er seine Art zu durchsuchen selbst klassifiziert. Eben schmeißt er das Bettzeug durcheinander. Aber bis jetzt ist nichts gefunden worden, womit man sich vergiften könnte. Nun trampelt Bully ärgerlich in den Salon zurück. Ich sitze an einem flachen Couchtisch und markiere sofort intensive Tätigkeit, weil mir Bully sonst einen Aschenbecher oder ähnliches an den Kopf feuern würde. Ich habe ohnehin Mühe, mich zu konzentrieren. Ein wahnsinniger Kunstjünger hat auf die Tischplatte eine 15
bösartige Fratze aus bunten Kachelsplittern geklebt, und ich grübele hartnäckig, ob es sich um Hylismus, Perspektivismus oder einfach um das Resultat von einer Woche Magenkrämpfe handelt. „Komisch!“ sagt Bully eben laut und mahnend. Er redet nicht gern in die Luft. Bully braucht Zuhörer. „Was meinen Sie, Chef?“ „Ich meine, daß man bei Selbstmördern doch wenigstens erwarten darf, Röhrchen, Schachteln oder sonstige Behälterchen zu finden. Wer sich umbringen will, räumt doch nicht vorher erst noch auf? Hat doch sowieso die Schnauze gestrichen voll!“ „Also … kein Selbstmord?“ Bully scheuert mit der flachen Hand kräftig über sein stachliges Kinn. „Ein richtiger Mörder würde doch aber erst recht solch Zeug zurücklassen. Ohne Fingerabdrücke natürlich.“ Beinahe hätte ich gegrinst. Richtiger Mörder! Wenn bei Bully nicht alles nach Schema F läuft, wird er kribbelig. Für ihn hat ein Mörder gefälligst einen Selbstmord vorzutäuschen. „Na, machen wir weiter!“ Er pflanzt sich wieder auf den Polsterhocker. Er sitzt gern weich. „Go on!“ Da kennt er nichts. Man konnte bis zum Hals in Arbeit stecken – Bully ist Chef! Und obwohl ich gerade von den Wassergläsern aus dem Schlafzimmer nebenan Fingerabdrücke nehme, muß ich die nächste Vernehmung arrangieren. Wäre sonst Plotzkis Revier, aber der trabt munter durch die Nachbarschaft. Seine Spezialität: herumhorchen, forschen, spionieren. Kann er meisterhaft. Vielleicht nur aus Furcht vor Bullys Ungnade. Ich traue mir zwar auf dem Gebiet auch einige Erfolge zu, aber Bully nimmt offenbar die Worte, mit denen mich 16
der Kriminalrat bei ihm einführte, als unumstößlichen Leitfaden: Behalten Sie den jungen Mann im Auge. Bully tut das so gewissenhaft, daß ich wie unter unsichtbarem Leinenzwang stehe. Wir machen mit Madame weiter. Sie rauscht in großer Toilette an mir vorbei, vornehm und vom eigenen Wert überzeugt. Als ich ihr vor einer Stunde zum erstenmal begegnet bin, lief sie noch herum wie eine übernächtige Bardame zwischen hochgestellten Stühlen. „Ihr Name?“ Bully beginnt fast immer mit der gleichen Frage. Ich glaube, er könnte in Vollnarkose zu einem Tatort verschleppt werden, er würde sich vermutlich nicht einmal erkundigen, wo er sei und wie er dahin gekommen ist. „Elisabeth Zuivre geborene Kettner.“ Auch ihre Stimme klingt nach Bar. Rauchig, heiser, trotzdem angenehm. Sie setzt sich so, daß ich ihr Profil studieren kann. Es mahnt zur Vorsicht. Madame Zuivre könnte bei entsprechender Verkleidung in jedem Indianerfilm als Häuptling auftreten. „Zuivre …“, plappert Bully nach. „Ganz recht, Herr Kommissar. Und zwar seit neunzehnhundertneunundzwanzig.“ „Kennen wir uns?“ fragt Bully zurück. „Nein, woher auch?“ „So? Wieso wissen Sie dann, daß ich Kommissar bin?“ Bully stellt mitunter idiotische Fragen. Zwar hat er damit hin und wieder jemanden aus dem Konzept gebracht, aber diesmal gerät er in leichte Atemnot. Madame lächelt nicht einmal bei ihrer Antwort. Nur die großen mexikanischen, giftgrünen Ohrgehänge schaukeln leise mit. „Ganz einfach … weil nur große Männer, Kriminal17
kommissare und Flegel in Gegenwart von Damen ihre Hüte im Zimmer auf dem Kopf behalten.“ Bully sieht sich hilfesuchend um, als suche er eine Schere für die Haare, die Madame auf den Zähnen hat. Den Hut nimmt er natürlich nicht ab. „Also, Zuivre“, brummt er dann gekränkt. „Klingt bißchen ausländisch, was?“ „Mein Gatte war französischer Offizier!“ „War?“ „Bernard Zuivre fiel neunzehnhundertachtunddreißig als Kolonialoffizier in Marokko.“ „Ach,…“, macht Bully sanft und versucht die erste Rache für den Flegel. „Für Führer, Volk und Vaterland?“ „Nur fürs Vaterland“, korrigierte Madame spitz. „Eben“, sagt Bully blinzelnd, „die Franzmänner hatten ja außer Napoleon noch keinen gescheiten Führer.“ Madame ist zu klug, sich in eine Kontroverse über die Qualitäten verstorbener oder noch lebender Staatsmänner einzulassen. Sie schweigt und sieht zu mir herüber. Bestimmt weiß sie, was Daktyloskopie ist, und offenbar hält sie meine Tätigkeit für bedeutungsvoller als Bullys Vorpostengeplänkel. „Wo waren Sie heute nacht?“ Madame wendet den Kopf nur sehr widerwillig. „Ich? Im Haus natürlich.“ „Wieso natürlich?“ fragt Bully, noch immer erstaunlich sanftmütig. „Hier scheint überhaupt alles natürlich zu sein. Es soll Leute geben, die gehen abends aus. Wie die Herrschaften zum Beispiel. Übrigens … sind Sie hier in Stellung?“ Auch das ist Rache für den Flegel. „Ich bin … Dorothee Uhlmann ist meine Nichte!“ Es hat sie getroffen. „War“, verbessert Bully zufrieden. Er macht sich we18
der Notizen, noch läßt er sich welche machen. Er hat ein fabelhaftes Gedächtnis. Ich glaube, er wäre ein idealer Lügner. Bully könnte in zehn Jahren genau das gleiche schwindeln wie heute. „Also, Madame, den gestrigen Abend hätte ich gern ein wenig ausführlicher.“ Es kommt nichts dabei heraus. Madame gingen gegen neun Uhr zu Bett. Zwar habe sie noch etwas lesen wollen, aber die Bibliothek sei besetzt gewesen. „Wieso besetzt?“ Bully tut höchst verwundert. Madame vereitelt durch anhaltendes Schweigen, daß Bully seine Revanchepolitik fortsetzt. Gezwungenermaßen besinnt er sich. „Ach, richtig! Du, saß ja Uhlmann der zweite!“ Madame Zuivre lächelt etwas degoutant, schweigt aber auch auf diese Herausforderung. „Was ich noch fragen wollte“, sagt Bully verstimmt, „arbeitet Herr Daniel Uhlmann nicht im Werk? Ach nein, halt! Er hat ja ein Geschäft, nicht?“ „Geschäft!“ Bully hat, sicher aus Versehen, den wunden Punkt des Hauses Uhlmanns getroffen. In Madame Zuivres Stimme ist nur Verachtung. „Wenn Sie einen Zeitungsstand, in dem außerdem noch Druckerzeugnisse aller Genres vertrieben werden, sofern sie nicht über eine Mark kosten, und dazu einen Handel mit obszönen Fotos als Geschäft bezeichnen wollen – dann hat er eins.“ „Zeitungsstand? Der Bruder der Uhlmann-Chemie?“ Madame zuckt nur die Achseln. Kein Thema für eine Dame von Stand. Konnte man fast begreifen. Auch Bully wechselt den Gesprächsstoff. „Ihr Zimmer, wo ist das?“ Madame deutet sparsam zur Zimmerdecke. „Oben, nur nach hinten.“ „Und Sie haben nicht zufällig irgend etwas gesehen, 19
was uns helfen könnte?“ „Ich sagte bereits, ich bin gegen neun zu Bett gegangen.“ Bully knurrt böse. Solche zurechtweisende Antworten standen nur ihm zu. „Also gegen neun … Herr Daniel Uhlmann übrigens gegen elf, nicht wahr?“ „Möglich.“ Plötzlich klingt offene Feindschaft mit, die Ohrgehänge klirren Sturm. „Aber vorher hat der Herr erst noch … seine Liebe zu Italien unter Beweis gestellt. Oder stellen wollen.“ „Wie meinen Sie?“ „Halb zehn hörte ich Schritte auf der Mansardentreppe.“ Plotzki kommt händereibend zurück. „Wenn das hier ein Selbstmord war, fresse ich die ‚Verlobten‘ in Ziegenleder.“ „Weiter“, verlangt Bully grob. Er klebt immer noch auf meinem Hocker. Plotzki nickt etwas enttäuscht, offenbar hat er sich eine größere Wirkung seiner Erfolgsmeldung versprochen. Ich weiß bis heute nicht, ob man Plotzki bedauern oder bewundern soll. Anders als bei Bully wird bei Plotzki jede Charakterisierung zur reinen Denksportaufgabe. Bully ist, auf einen Nenner gebracht, eine Art artistischer Autokrat. Er hat ein ganz einfaches Regierungssystem eingeführt: Ich bestimme, und ihr dürft gehorchen. Die Methode ist nicht eben neu, dafür aber unkompliziert. Plotzki wäre vielleicht ein strammer SA-Mann gewesen. Vielleicht war er es auch, Ich kenne ihn nur in Langschäftern. Er sieht immer aus, als käme er geradewegs von der Reitbahn. Er riecht auch ein bißchen so. Ist aber vielleicht nur Einbildung. Reitbahn ist übrigens gut, er hat nicht einmal ein ge20
scheites Fahrrad. Man sagt, daß seine Frau alles verpulvert, was die beiden jungfräulichen Tochter übriglassen. Geld hat er jedenfalls nie. Und er macht furchtbar gern Überstunden. Nach Hause geht er nur, wenn es gar nicht anders geht. Und wenn es Gehalt gegeben hat, natürlich. Er kann allerdings verdammt schnell arbeiten. Vorausgesetzt freilich, er hat einen verständlichen Auftrag. Eigene Initiative kennt er nicht. Oder er tut so. Im übrigen ist er so uninteressant, daß er nicht mal einen Spitznamen hat. Plotzki ist Plotzki, mehr nicht. Seine Unterwürfigkeit kann nur einem realen Ziel dienen: die Stellung halten, koste es, was es wolle. Immerhin ist Plotzki bis heute der einzige, der es länger als ein Jahr unter Bullys Regime ausgehalten hat. „Natürlich, Chef“, sagt Plotzki eilfertig. „Also: die ganze Bande hier lügt. Der Heizer vom Palast nebenan zum Beispiel legt jeden gewünschten Eid ohne Zeugengebühren darauf ab, daß heute morgen kurz nach fünf Uhr ein Mann die Villa Uhlmann verlassen hat. In Eile, den Mantelkragen hochgeschlagen.“ Bully mustert den Berichterstatter, als wüßte er das alles seit Karfreitag. „Weiter“, wiederholt er hellseherisch. „Drüben …“, Plotzki deutet irgendwo durch das Fenster, „da unterm Dach, da haust ’n Student. Hat offenbar Prüfungssorgen. Jedenfalls will er die ganze Nacht gebüffelt haben. Bis früh. Und dieser Bursche behauptet nun wieder, um fünf Uhr herum sei eine weibliche Person hier aus dem Haus gekommen. Auch in Eile. Genaue Uhrzeit kann er leider nicht angeben. Seine Uhr ist im Leihhaus, und Radio zu hören ist ihm erst nach sechs Uhr gestattet. Und noch eins: Die fragliche Dame trug Hosen. Trotzdem, eine Frau, kein Mann.“ „Radio verboten, Uhr futsch … woher dann die Zeit21
angabe?“ „Er beruft sich auf den Heizer von gegenüber. Der beginnt sein Tagewerk jeden Morgen halb fünf, von da an brennt also Licht im Keller.“ Bully blinzelt zufrieden. „Komisch, was? Einer will einen Mann gesehen haben, einer ’ne Frau. Bloß, hier hat kein Mensch etwas von Besuchern verlauten lassen. Es will auch niemand das Haus so früh verlassen haben. Wundert ja auch keinen bei so feinen Leuten. Außerdem, sie müßten ja bis halb acht alle wieder hier eingetroffen sein. Wie finden Sie das, Doktor?“ Mit „Doktor“ meint er mich. Ist nicht etwa Hochachtung oder so etwas. Bißchen Hohn, bißchen Neid, letzteres wahrscheinlich überwiegend … Gott, er könnte mich auch „Waldheini“ nennen, wenn er unbedingt wollte. „Doktor“ ist noch ganz erträglich. „Komisch“, wiederhole ich seinen Lieblingsausdruck und räume meine Utensilien zusammen. Bin ohnehin soweit fertig. Vor mir stehen drei Gläser in Reih und Glied. Zwei aus dem Schlafzimmer der Gnädigen, eins brachte Plotzki aus Marias Zimmer. Dazu „Die Verlobten“ und einen Handspiegel von Madame. Junior Frank hat seine Abdrücke freundlicherweise gleich auf der Zimmertür hinterlassen, als er sie am Rahmenholz offenhielt. „Dagegen ist das hier evident. An den Gläsern aus dem Schlafzimmer je einmal die Abdrücke der Herrschaften und Marias. In Ordnung. Daniel dagegen hat sich ganz gewiß mit den ‚Verlobten‘ beschäftigt, ob gestern abend, weiß ich natürlich nicht. Nur hier …“ Ich halte vorsichtig das Grogglas aus Marias Zimmer hoch, der dunkelrote Rest am Boden muß erst noch untersucht werden. „Marias Abdrücke sind freilich dran. Nur, da 22
sind gleich noch ein paar, genauso frisch.“ „Daniel liebt Italien.“ „Sind nicht seine.“ „Schade“, meint Bully ohne größere Anteilnahme, und mit einer Handbewegung zu Plotzki: „Rufen Sie doch mal die Fleischer an.“ Weiß Gott, Bully ist ein Ekel. „Fleischer“, das sind bei ihm die Gerichtsmediziner, vom Pförtner bis zum leitenden Arzt. „Es war nachts jemand im Haus“, wendet er sich wieder an mich, „ein Fremder. Vielleicht auch zwei. Warum eigentlich nicht bei Maria?“ „Eben, warum nicht?“ Am. besten, man stimmt ihm zu. „Eins bloß ist mir … merkwürdig, Chef! Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß alle Hinterbliebenen so seltsam gefaßt waren? Keine Tränen, keine Schreikrämpfe, nichts. Hier grassiert offenbar eine fortgeschrittene Apathie.“ Bully blinzelt und sagt sehr sanft: „Sie sollten sich mit Ihrer latenten Schwäche für Psychoanalyse ins Vertriebenenministerium versetzen lassen. Die brauchen sicher noch einige Klugscheißer. Nee, nee, Tatsachen, Doktor, Tatsachen sind die halbe Hinrichtung. Stellen Sie doch mal scharfsinnige Betrachtungen darüber an, wieso Uhlmann der erste bloß lumpige zwei Mark in der Tasche hatte.“ Auch das ist echt Bully. Behält so etwas einfach für sich. „Sehn Sie“, kräht er überheblich, weil ich dieses Ergebnis seiner Ermittlungsarbeit erst verdauen muß. „Da hakt’s aus, was? Zwei ganze Mark! Die Herrschaften waren aus, wo, werden wir schnell wissen, wenn wir wollen … Und Hugo Uhlmann könnte sich doch sicher in 23
jede Tasche ein paar tausend Emmchen stopfen. Aber sogar seine Brieftasche ist leer. Ist das etwa die Art des feinen Mannes? Jeder halbwegs von sich überzeugte Mensch hat ’n paar Scheinehen in der Tasche … mit Ausnahme von Herrn Plotzki natürlich.“ Plotzki, der eben wieder hereinkommt, verzieht dazu keine Miene. Gehört hat er es bestimmt. „Viel wissen die Herren Mediziner selbst noch nicht“, berichtet er ungerührt und monoton, „nur die Todeszeit. Und die ist nicht ohne. Fünf Uhr morgens nämlich.“ „Wie wird mir denn?“ Bully richtet sich sogar etwas auf. „Früh um fünf? Um genau diese Zeit soll ein Fremder aus dem Haus gekommen sein. In Eile, wie ich hörte. Um die gleiche Stunde verläßt auch eine Frau das Schloß hier … und Hugo Uhlmann hat nicht einmal die paar Mark für ein standesgemäßes Begräbnis in der Tasche!“ Bully sieht mich mitleidig an, gähnt, blinzelt und steht dann träge auf. Ebenso träge latscht er zur Tür. Sein blankgesessener Mantel ist hinten bizarr gezeichnet wie ein gesplitterter Spiegel. Macht ihm nichts aus. „Reiner Zufall?“ fragt er überheblich. „Sicher auch bloß ’n Zufall, daß im Zimmer der Gnädigen kein Stückchen Schmuck zu finden ist. Komisch, was? Und das, obwohl sich die Dame von Welt mit solchem Kram behängt wie ’n indianischer Medizinmann mit blankpolierten Grizzlykrallen.“ Und dann geht er ab. Hinter ihm kracht die Tür wie ein Zeitzünder. Aber das war ihm offenbar noch nicht laut genug. Er stößt sie gleich wieder auf, winkt mir knapp zu und knurrt Plotzki an: „Hugos Zimmer auseinandernehmen!“ Wieder kracht die Tür, und diesmal ist Bully mit dem Knall zufrieden. 24
II. „Hello“, sagt Bully verdrießlich, als träfe er in einer Kneipe ausgerechnet den einzigen Menschen, dem er noch Geld schuldet. Dabei ist das Zimmer des Juniors alles andere als eine Kneipe: ein schönes, großes Zimmer. Genauer betrachtet, ein mit Möbeln verstelltes technisches Kabinett. Sieht aus wie der Arbeits-, Wohn- und Schlafraum eines fanatischen Raketenforschers oder Fernseherfinders. Dieser Junior hier scheint nicht von Langeweile geplagt zu sein wie andere Sprößlinge reicher Familien. Mitten im Zimmer steht außerdem eine lächerliche Figur in feierlichem Schwarz und rosa Filzlatschen. Onkel Daniel. „Paar Fragen“, murmelt Bully und wandert um Daniel Uhlmann herum wie ein müder Tourist um ein Kriegerdenkmal. Daniel steht da und macht ein Gesicht wie ein in der Sonntagspredigt gestörter Presbyter. „Frage eins“, sagt Bully zu Frank. „Wie ist die Adresse des zuständigen Rechtsanwaltes?“ Ich wundere mich, daß Bully nicht einfach die Firma anruft. Offenbar hält es Bully für ein besonders raffiniertes Manöver, nicht gleich auf den Kern zu stoßen. „Doktor Kippenhöfer“, gibt Frank bereitwillig Auskunft. Allerdings drückt seine Haltung weitaus weniger Bereitwilligkeit aus. Er steht mit dem Rücken am Fenster und mustert uns kritisch. Mir will wieder nicht gefallen, daß er unnatürlich gefaßt ist. Vorhin, bei der ersten kurzen Befragung, war es noch eher verständlich. Jungen in seinem Alter halten es meist für ein Attribut von Männlichkeit, Gefühle vor Erwachsenen zu verbergen. Aber 25
hier und jetzt? Es kann doch zwischen ihm und seinem Onkel nur ein Thema geben? „Kippenhöfer? Hab’ ich doch heute schon mal gehört?“ „Weihnachtsfeier“, sagt Frank knapp, stockt aber, als bliebe ihm die Luft weg. Seine wachen Augen verfolgen ausgesprochen mißtrauisch und doch irgendwie erstaunt Bully, der sich schwer in einen wuchtigen Ledersessel fallen läßt. „Nummer ist neun-zwo-vier-zwoeins“, fügt Frank abwesend hinzu und deutet auf seinen Schreibtisch. Bully winkt nur ab und sieht mich herausfordernd an. Ich weiß natürlich Bescheid : Wenn Bully sitzt, dann sitzt er. Er kann stundenlang auf einem Fleck hocken, besonders wenn der Fleck gut gepolstert ist. Ich reiche ihm ergeben den Apparat zu. Gegen das makellose Weiß des Telefons wirken seine Hände schmutzig. Er wählt, ohne zu zögern. Ich habe die Nummer schon wieder vergessen. „Ja“, knurrt er dann in die Muschel, richtet sich aber sogar etwas auf. „Doktor Kippenhöfer …? Freut mich. Hier Schwenzer, Mordkommission, kennen uns ja? … Eben! Ein paar Fragen … Jaja! Sagen sie, ein Testament …?“ Bully ist auf einen Mann vom Fach gestoßen. Er horcht nur noch, grunzt hin und wieder zustimmend, nickt vor sich hin, macht einige vage Gesten und faßt schließlich zusammen. „Kein Testament. Junior war bis heute morgen bei Ihnen, die Herrschaften auch, aber nur bis Mitternacht. Nichts Auffallendes oder Ungewöhnliches? Nein? Danke, genügt vorerst … hören noch voneinander.“ Bully stellt den Apparat übertrieben vorsichtig auf die breite Sessellehne und schielt zur Zimmerdecke. Lang26
sam wandert sein Blick eine imaginäre Linie entlang und trifft ganz zwangsläufig auf Onkel Daniel. „Na, noch immer nicht in Ihrer Würstchenbude?“ Daniel zuckt förmlich zusammen. „Aber … ich muß doch sehr …“ „… bitten, hatten wir heute schon.“ Bully nickt ihm. überheblich zu. Ich finde, daß er sich nun doch im Ton vergreift. Aggressiv ist er ja immer, aber er könnte seine Mittel ruhig etwas mehr variieren. „Sie hatten’s doch so furchtbar eilig heute morgen.“ „Aber, ich kann doch jetzt nicht … in dieser Situation!“ „Von mir aus schon“, brummt Bully. Jetzt endlich braust Daniel auf. „Sie selbst hatten verfügt, daß ich mein Zimmer nicht verlassen soll!“ „Und was suchen Sie dann hier, he?“ „Der arme Junge …“ Daniel Uhlmann deutet verwirrt auf Frank und wird wieder theatralisch. „Ein so schwerer Schlag, mein Gott!“ Bully seufzt falsch und wendet sich unvermittelt an Frank. „Was trug Ihre Frau Mama eigentlich gestern abend, junger Mann?“ „Mama?“ Uhlmann Junior strafft sich unbewußt, aber auf eigenartige Weise sieht er trotzdem lässigüberlegen aus. Und obwohl ich mit Sicherheit weiß, daß ich den Bengel nie vorher gesehen habe, kommt er mir doch für Sekunden merkwürdig bekannt vor. „Warten Sie … ja, ein hellblaues Abendkleid.“ „Schön frei?“ Bully macht dazu eine Handbewegung quer über seinen Magen, als sei Dorothee Uhlmann mindestens mit freier Brust herumgelaufen. Frank versteht vollkommen richtig. „Sie könnte es jedenfalls“, erklärt er lässig. 27
„Glaub’ ich. Und dazu …“ Bully wiederholt ungerührt die gleiche Handbewegung, ehe er fragt: „Dazu gehört doch sicher Schmuck, was? Welchen trug sie denn?“ „Was weiß ich? Irgendeine Halskette, Armringe passend dazu.“ „Echt?“ „Garantiert!“ „So, garantiert auch noch. Mhm … und wo wird in diesem Haus Schmuck aufbewahrt?“ „Überhaupt nicht.“ „Hör mal“, knurrt Bully, rappelt sich mühsam aus dem Sesselungetüm und tapst zwei Schritte auf den Jungen zu. „Solltest du etwas vergeßlich sein … ich bin immer noch Kommissar Schwenzer. Mordkommission, mein Junge. Gewisse Leute in meiner näheren Umgebung nennen mich auch Bully, klar? Und dieser liebe Onkel Bully erwartet höfliche und vor allem brauchbare Antworten, verstanden? Und darum: Wo wird in diesem Haus Schmuck aufbewahrt?“ „Ich sagte doch: gar nicht. Alles von Wert liegt in der Firma. In Pas Tresor.“ „Aha.“ Bully ist zufriedengestellt, nicht zuletzt wegen des Erfolges seiner Rede. Er wendet sich an Onkel Daniel. „Und Sie fanden heute morgen die Toten?“ Daniel nickt nervös. „Ja, natürlich … Aber warum fragen Sie?“ „Macht mir Spaß.“ Bully wird grob. „Vielleicht interessiert mich auch, ob Ihnen nicht zufällig heute morgen Schmuck bei der Dame des Hauses aufgefallen ist.“ Onkel Daniel hebt beschwörend die Arme. „Aber … in solch ungewöhnlicher Situation?“ „Natürlich!“ Bully grinst ironisch. „Immerhin dürfte die Situation auch für Herrn und Frau Uhlmann sehr un28
gewöhnlich gewesen sein, was? Ganz gewiß so ungewöhnlich, daß sie den Schmuck nicht mehr zur Firma bringen konnten … Übrigens, was trieben Sie eigentlich gestern abend? So um halb zehn herum?“ „Halb zehn? Aber ich war doch … Ich sagte doch schon: Ich saß in der Bibliothek!“ „Wirklich?“ Bully feixt ihn verschwörerisch an, nickt vor sich hin und geht zur Tür. Natürlich gehen wir nicht einfach, Bully hat eine Art Türenkomplex, sie wirken auf ihn ähnlich wie Zünder auf Granaten. Und obwohl ich keineswegs damit rechne, daß er sich eine lahme Entschuldigung abquälen wird, sondern eher den unglücklichen Onkel Daniel des Mordes an dessen nächsten Verwandten bezichtigt, fragt Bully sophistisch: „Sagen Sie, Herr Uhlmann, Perser sind Sie nicht zufällig?“ Daniel Uhlmann versteht die Frage ebensowenig wie ich oder Frank. Er stiert verloren auf meinen Chef und stottert verwirrt: „Perser? Ich … also ich begreife überhaupt nicht …“ „Schade“, brummt Bully hinterhältig, und dann gehen wir endlich. Ich strapaziere indessen mein Gedächtnis, muß aber kapitulieren. So unangenehm es mir auch ist, vor Bully als unwissender Trottel dazustehen. Ich erinnere mich nur, daß mitunter die Römer zur Untermauerung fraglicher Weisheiten herangezogen werden. Auch die alten Griechen kommen noch in Frage. Aber die Perser? Während ich noch grübele, ob Bully sich vielleicht schon in Erwartung eines mir noch nicht bekannten Schah-Besuches auf morgenländische Weisheiten umgestellt haben könnte, bleibt er am Treppenabsatz stehen. „Ist auch Ihnen zu hoch, was?“ Er reibt sich beglückt die Hände und klärt mich auf. „Die Perser nämlich, die 29
häkeln nicht nur hübsche Teppiche, die haben auch einige ganz gescheite Sprichwörter, Doktorchen. Zum Beispiel jenes, wonach die Tapferkeit aus zehn Teilen besteht. Neun Teile davon sind das Fliehen, und ein Teil das Nicht-vor-die-Augen-Kommen.“ „Und was hat das mit Onkel Daniel zu tun?“ „Viel“, sagt Bully, „sehr viel sogar. Dieser Daniel da wurde nämlich gegen Kriegsende vom Leutnant zum gewöhnlichen Grenadier degradiert. Wegen Feigheit vorm Feind.“ Wie gesagt, Bully ist ein unkomplizierter Charakter. Da sich seine Verachtung für das Opfer militaristischer Intoleranz über zwei Jahrzehnte erhalten hat, dürfte es sicher sein, daß der Onkel Daniel in den nächsten Tagen nichts zu lachen haben wird. Plotzki kommt eben aus Hugo Uhlmanns Zimmer. Er zuckt die Achseln und reicht Bully einen Briefbogen. „Das ist alles“, sagt er bescheiden. Bully braucht nur eine Sekunde, dann reicht er mir den Wisch. Es steht nicht viel drauf. Lediglich der Anfang eines Briefes: Lieber Georg, Du könntest mir in einer scheußlichen Angelegenheit helfen. Ich wäre Dir dankbar, wenn … Aus. Das ist weder der Abschiedsbrief eines Selbstmörders, noch trägt er ein Datum. Dieses Fragment kann schon zwei Jahre alt sein. „Wer ist Georg?“ frage ich so vor mich hin. Wir drei stehen unschlüssig in der Halle. Halle ist übrigens schamlos übertrieben. Das hier ist eher eine vergrößerte Diele. Vermutlich hat man ein überflüssiges Zimmer einfach entfernt, denn statt der Wände stehen hier und da schlanke Rundsäulen. Auch sie sind mit Keramiksplittern beklebt wie der Couchtisch der Uhlmanns. 30
Vielleicht war es auch früher eine Art Treppenhaus. Immerhin geht von hier aus die Treppe nach oben. Die Zimmeranordnung im Erdgeschoß ist nicht recht geglückt. Obwohl es vier Zimmer und die sehr geräumige Küche gibt, führen nur drei Türen ab. Je eine nämlich zu den zwei Zimmern der Gnädigen und ebenfalls eine zu denen des Hausherrn. So unglaublich es klingt, aber Hugo mußte tatsächlich die sogenannte Halle durchqueren, wenn er seine Frau besuchen wollte. Es gibt keine Verbindungstür zwischen den beiden „Abteilungen“. Hinter einer der Säulen steht abwartend ein Herr. Ein eleganter Herr, ein Gentleman. Der Mann mit den sprichwörtlichen grauen Schläfen. Weibertyp. In Bullys rundem Gesicht steht die besorgte Frage, ob es sich bei dem Fremden um einen ganz verdammten Presseheini handeln könne. „Und wer sind wir?“ Bully bleibt bei seiner sanften Tour. Seine Haltung ist wie seine Kleidung: nachlässig, sehr bequem, fast schlampig. Ein bemerkenswerter Kontrast, die beiden. „Gestatten: Siegmund.“ Der Gast verbeugt sich höflich. Bully rümpft die Nase. „Angenehm“, lügt er schamlos. Ihn ärgert der Parfümdunst, der Herrn Siegmund verschwenderisch umgibt. „Und was treibt uns durch die Lande?“ „Ich wollte der gnädigen Frau mein Beileid … Wenn Sie gestatten, ich bin Prokurist der Uhlmann-Chemie.“ Sieh an, Prokurist! Ich hätte ihn weit eher für einen Theatermenschen von einigem Format gehalten. Seine Mimik ist außerordentlich variabel. Lächelte er eben noch zuvorkommend höflich, drückt sein Gesicht jetzt tiefe Anteilnahme aus. 31
Bully blinzelt sein Katzenblinzeln. „Gnädige Frau ist verstorben.“ „Madame Zuivre …?“ Bully schielt ärgerlich nach oben. Madame haben offenbar gelauscht. Sie kommt, nein, sie schreitet majestätisch die Treppe herunter. Große Toilette raschelt. Herr Siegmund eilt zum Treppenfuß und wartet artig. Na bitte! Verbeugung, Handkuß, meine Verehrung, Gnädigste. Und – oh, Pardon – mein tiefempfundenes Beileid. „Bitte, verfügen Sie ganz über mich.“ „Amen“, sagt Bully fromm. „Und falls keine Einwände bestehen, würde ich jetzt erst einmal über Herrn Siegmund verfügen.“ Wirklich, Herr Siegmund ist das Opfer voreiliger Berufswahl. Er küßt Madame die Hand, bedauert, sieht ihr konspirativ in die Augen und hebt machtlos beide Hände. Die Gewalt, Gnädigste, die Gewalt. Madame retiriert. Bully hat für derartiges Zeremoniell wenig Verständnis. Er marschiert im Gefühl seiner augenblicklichen Superiorität in den Salon und pflanzt sich wieder auf den Polsterhocker. Den betrachtet er wahrscheinlich schon halb als sein Eigentum. Herrn Siegmunds Interesse an einem Gespräch mit Bully scheint indessen nur gering zu sein. Zwar kommt er in den Salon nach, aber sein Hang zur Absonderung von der örtlichen Polizeigewalt ist unverkennbar. Er verschmäht den angebotenen Stuhl, wählt sich sorgfältig einen besonders hochlehnigen aus und stellt ihn seitlich vor das Tischchen hin. Bully knurrt verhalten, obwohl er allerhand von Siegmund lernen könnte. Der Prokurist setzt sich zwar auch wie andere Menschen, aber er ordnet sehr gewissenhaft Bügelfalten und Mantelschöße, schlägt in froher Erwar32
tung ein Bein über und stülpt wohlerzogen den Hut über den Kniebuckel. Bully fühlt seine Autorität mißachtet. Er räuspert sich mahnend, ehe er beginnt: „Herr Siegmund … übrigens, Schwenzer ist mein Name. Kommissar Schwenzer. Ja, und wie finden Sie das?“ „Ich bin entzückt! Kommissar zu werden war mein Jugendtraum.“ Bully schnauft hörbar. Immerhin ist Siegmund schon der zweite, der ihm heute so harmlos dämlich kommt. Verträgt er schlecht, der gute Bully. „Verehrter Herr Sigismund, vielleicht …“ „Pardon“, unterbricht der Prokurist nachsichtig, „Siegmund bitte, nicht Sigismund!“ Bully hat einige Mühe, aber für diesmal kann er sein cholerisches Temperament zügeln. „Könnten Sie mir trotzdem erzählen, wann Sie vom Tod Ihres Chefs erfuhren?“ „Oh, selbstverständlich! Herr Daniel Uhlmann war vor etwa einer Stunde so freundlich … oh, Pardon! Ein peinlicher Ausdruck …“ „Beunruhigen Sie sich nicht“, tröstet ihn Bully. „Und hat Hugo Uhlmann irgendwann einmal geäußert, daß er …“ Bully geizt mit Worten. Er macht einfach die Geste des Kehleabschneidens. „Aber, wo denken Sie hin! Nein, nein! Und warum auch? Ein so gesundes Unternehmen, von gelegentlichen, konjunkturbedingten Störungen abgesehen … notabene, unmöglich ist freilich nichts!“ „Soso. Ja, was ich noch … ach so! Was produziert Ihr gesundes Unternehmen eigentlich?“ „Was?“ Siegmund lächelt etwas mitleidig. „Wie der Firmenname schon sagt – Chemikalien natürlich!“ 33
„Ach! Keine Hosenknöpfe?“ Im ersten Augenblick will mir scheinen, daß der elegante Prokurist die Situation völlig verkennt. Er lächelt nämlich, und zwar sehr selbstsicher. „Sie verstreuen attisches Salz“, sagt er dann milde. Bully blinzelt irritiert, und es ist keine Frage mehr: Wir haben Siegmund unterschätzt. Ich weiß nicht, ob er zielsicher oder nur zufällig eine empfindliche Stelle getroffen hat, getroffen hat er jedenfalls. Von Salzen nimmt Bully lediglich dann Notiz, wenn sie seine Geschmacksnerven belästigen. „Falls ich aber die Relevanz Ihre Frage unterschätzt haben sollte“, fährt Siegmund fort und lächelt freundlich, „die Uhlmann-Chemie ist ein hochspezialisierter Betrieb. Es wird Ihnen einleuchten, daß wir bei handelsüblicher Produktion gegen die allmächtigen Chemietrusts kaum konkurrenzfähig wären. Zwar stellen auch wir vorrangig Pflanzenschutzmittel her, beschränken uns aber ganz auf Spezialentwicklungen. Unsere Hauptabnehmer sind vor allem Züchter, botanische Gärten, Saatzuchtbetriebe. Mit einem Wort: Wir produzieren Spezialmittel.“ Bully hat die Zeit genutzt, um sein ins Schwimmen geratene Gleichgewicht aufzurichten. „Mit Blausäureverbindungen, wie?“ fragt er forsch. Damit kommt er auch endlich zum Thema und entgeht außerdem der Gefahr, weitere Bildungslücken eingestehen zu müssen. „Blausäure?“ Siegmund sieht sich besorgt um, als gelte es nun, streng gehütete Betriebsgeheimnisse zu verraten. Daß er aus der Frage nach der Verwendung von Blausäure im Fall des plötzlichen Ablebens seines Chefs schließen muß, versteht sich am Rande. Ein schwacher Geruch heute morgen im Schlafzimmer nebenan deutete auch ziemlich sicher darauf hin, daß irgendein Blausäu34
repräparat benutzt wurde. Die Frage ist nur, von wem. „Blausäure“, wiederholt Siegmund, „selbstverständlich Blausäure. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil bei Schädlingsbekämpfungsmitteln. Genau wie Sulfamide, Phosphate oder Pyridin. Natürlich sind die Anteile der Blausäure relativ gering …“ „Sie scheinen außerordentlich gut informiert?“ unterbricht Bully argwöhnisch. „Ich meine, als Prokurist haben Sie doch mit der reinen Produktion wenig zu tun?“ Siegmund sieht gelangweilt an die Zimmerdecke und erteilt Bully die nächste Lektion. „Die Bezeichnung Prokurist ist, wie einleuchten dürfte, von Prokura abgeleitet. Eine Prokura wiederum ist eine etwas begrenzte Vollmacht zur Vertretung einer Geschäftsleitung. Daraus ergibt sich logisch, daß ich auch Phosphatdünger von Dextropur unterscheiden können muß, vom primitiven Schulwissen im Lehrfach anorganische Chemie einmal ganz abgesehen. Ich darf Ihnen sogar gestehen, daß ich vor Jahren an der Entwicklung eines definitiv wirkenden Sonderpräparates für die berühmte Rosenzucht des ehemaligen Herrn Bundeskanzler Adenauer …“ Bully winkt so erbittert ab, als hätte ihn Adenauer um eine Riesenerbschaft betrogen. Viel mehr aber ergrimmt ihn, daß er den Chevalier vor sich nicht, wie gewünscht, in den Griff bekommt. Er wechselt erneut das Thema. „.Kannten Sie Ihren Chef näher? Privat, meine ich.“ „Selbstverständlich.“ „So, selbstverständlich auch noch! Na, trifft sich trotzdem ausgezeichnet. Nämlich … haben Sie Ihren Chef schon mal ohne Bargeld gesehen?“ Siegmund betrachtet den Frager nur schweigend. „Ob Hugo Uhlmann die Angewohnheit hatte, ständig ohne Bargeld herumzulaufen, zum Donnerwetter!“ 35
„Verwechseln Sie da nicht zwei Kriminalfälle?“ fragt Siegmund scheinbar besorgt, verhindert aber eine mögliche Katastrophe mit der sachlicheren Auskunft: „Herr Uhlmann pflegte meist ungebührlich viel Bargeld bei sich zu tragen. Er war, wie man so sagt, in Kleinigkeiten großzügig.“ „So, war er“, knurrt Bully, ist aber doch befriedigt. „Und nun: Wo waren Sie heute nacht?“ „Ich?“ „Sie!“ „In welchem Zusammenhang interessiert Sie das?“ „Sie machen sich mit Gewalt unbeliebt“, behauptet Bully gezwungen und ringt sich die aufrichtige Erklärung ab: „Sofern da überhaupt noch etwas zu verderben ist.“ „Sie sehen mich bestürzt“, bemerkt Siegmund. „Und von welchem Zeitpunkt an darf ich Ihnen mein gestriges Privatleben schildern?“ „Na, sagen wir … Sie hatten doch sicher irgendwann mal Feierabend, nicht?“ „Sicher, wenn auch nicht gerade nachts. Außerdem ist Feierabend, auf die Stellung eines Prokuristen bezogen, ein bedauerlicher Barbarismus … Aber zur Sache: Ich verließ gegen achtzehn Uhr das Werk, ging nach Hause, Mühlenweg. In zwangloser Folge nahm ich ein Bad, aß zu Abend, kleidete mich um und verließ halb acht meine Wohnung. Wünschen Sie es minutiöser, Herr Schwenzer?“ „Ich hielte für wesentlicher, wohin Sie gingen.“ „Das leuchtet ein. Nun, ich wollte einen fälligen Besuch abstatten.“ Bully wartet bloß. „Er galt übrigens Madame Zuivre.“ „Sie sagten, daß Sie wollten. Und?“ 36
„Madame Zuivre war zu meinem größten Bedauern nicht anwesend.“ „Nicht?“ Bully blinzelt endlich wieder einmal zaghaft. „Wann war denn das?“ „So gegen acht, glaube ich.“ Bully knirscht erst hörbar mit den Zähnen, weil er heute mit Zeitangaben einfach kein Glück hat, ehe er fragt: „Hat Madame Ihnen das persönlich gesagt?“ Bully mustert sein Gegenüber bei dieser albernen Frage freundlich. Er darf mit Genugtuung registrieren, daß Siegmund erstmals ein wenig aus dem Konzept gerät. Der bisher unerschütterlich überfreundliche Prokurist sieht etwas hilflos um sich. Ihm behagen offenbar nur Frechheiten mit Niveau. „Herr Uhlmann natürlich“, sagt er dann ungehalten. „Herr Uhlmann war ab neunzehn Uhr Gast bei Doktor Kippenhöfer.“ „Daniel Uhlmann!“ „Und … was wollten Sie eigentlich von Madame?“ „Ich verehre Madame!“ verweist Siegmund spitz. „Bitte, bitte … nur, als Sie Ihre Verehrung nicht anbringen konnten, was machten Sie dann? Gingen Sie nach Hause?“ „Ja … das heißt, natürlich nein, nicht direkt …“ „Nicht direkt, ja, das heißt natürlich nein … Mensch, wie Ihre Mottenvertilgungsindustrie bei so einem Prokuristen trotz des gewesenen Adenauer nicht längst Pleite ist, bleibt wohl unerforschlich!“ ‚Bully‘, möchte ich ihm zurufen, ‚du bist ein Rindvieh!‘ Da hatte er nun diesen verdammten Siegmund endlich in die Nähe jener Art von Psychasthenie, die unsere Arbeit so ungemein fördern kann, und dann will er weichgekochte Eier mit einer Brechstange öffnen. 37
Herr Siegmund nickt auch nur zustimmend, als sei er mit einem Geschäftsabschluß außerordentlich zufrieden. „Würden Sie es unnatürlich finden“, fragt er dann liebenswürdig, „wenn ich eine Beschwerde ernsthaft in Erwägung zöge?“ „Fein“, grunzt Bully zwar, aber überzeugend klingt sein Hohn nicht. „Sie finden hier im Haus eine verwandte Seele.“ Er deutet an die Zimmerdecke und grollt: „Aber vorher pflügen wir erst noch unseren Acker hier zu Ende. Wird Ihnen doch hoffentlich einleuchten, daß mich Ihr nächtliches Treiben interessiert, was? Also … nach Hause, nicht nach Hause, wie denn nun?“ „Ich ging noch etwas spazieren. Bewegung im Freien fördert bekanntlich die Blutzirkulation.“ „Spazieren! Was sonst?“ höhnt Bully aufgebracht. „Eben, was sonst?“ „Herr! Wollen Sie mich … Wann ungefähr kamen Sie zu Hause an? Erinnern Sie sich daran noch?“ „Gegen ein Uhr.“ „Was?“ Bully reißt die Augen auf. „Sie wollen geschlagene fünf Stunden durch die Nacht geirrt sein?“ „Spaziert“, korrigiert Siegmund höflich. „Weil Sie Aktien in der Schuhbranche haben, was?“ Gehässigkeiten klären zwar die Fronten, aber da sie in diesem Fall schon längst klar sind, war die Bemerkung nicht mehr als ein gequälter Witz auf einer stinklangweiligen Party. „Nur noch eins“, stöhnt Bully matt. „Sie kamen also müde, wie man denken sollte, früh gegen ein Uhr in Ihrer verödeten Junggesellenbude an. Ich irre mich doch nicht in der Annahme, daß Sie dann Ihren erschöpften Körper umgehend dem Bett anvertrauten?“ „Diesmal“, gesteht Siegmund mit fataler Betonung, 38
„irren Sie nicht, lieber Herr Kommissar.“ Bully gibt, und das ist eine kleine Sensation, jeden Widerstand auf. „Daß Sie anschließend schliefen, dürfte wohl auch keine Frage sein. Nur, schliefen Sie früh um fünf Uhr auch noch?“ „Um diese Zeit schlafe ich am liebsten.“ „Und“, Bully fragt eigentlich nur noch aus Gewohnheit, „dafür haben Sie natürlich keinen Zeugen?“ Noch ehe ich Siegmunds Antwort höre, habe ich das verdammte Gefühl, daß er mit uns ein Laienspiel aufgeführt hat. Bully freilich, der kaum noch eine Auskunft von Wert erwartet, glotzt etwa so wie ein Filmstar, dem man nach den Dreharbeiten zu einer erschütternden Heimatschnulze schonend beibringt, seine Frau sei ihm nicht nur im Film durchgebrannt. „Natürlich habe ich einen“, sagt der Prokurist.
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III. Bullys Dienstzimmer sieht im allgemeinen aus wie das Büro der Wells Fargo in irgendeinem gottverlassenen Nest Arizonas nach einem längeren Faustkampf unter verfeindeten Viehtreiberteams. Heute nicht, wir waren den ganzen Tag unterwegs. Der Raum ist nicht übermäßig groß, dafür aber erschreckend hoch. Ich glaube unbedingt an die Behauptung älterer Kollegen, wonach Bully alles in sein Büro schleppt, was sein zänkisches Weib aus der Wohnung feuert. Hin und wieder soll Bully auch brauchbare Gegenstände von Tatorten seiner Sammlung einverleiben. Das ganze Zimmer ist eine abenteuerliche Mischung aus Rumpelkammer und Geschichtsmuseum. Bully hat alle Angriffe gegen die Verunstaltung eines Behördenzimmers mit der Behauptung zerschmettert, er könne ohne häusliche Umgebung keine klaren Gedanken, geschweige denn Verbrecher fassen. Sein Schreibtisch ist ein Ungeheuer auf Füßen, die er für antik hält. Fachleute aus der Holzbranche haben vergeblich versucht, ihn davon zu überzeugen, daß die gedrechselten Holzklötze scheußlich mißlungene Imitationen von Dackelbeinen seien. Bully läßt sich selten beirren. Hinter diesem Ungeheuer hockt Bully, zwei Kissen unter dem Hintern. Er sitzt gern weich. Auf dem obersten Kissen steht, schön verschnörkelt und halbrund: Nur ein Viertelstündchen. Bully richtet sich selten danach. Er kann stundenlang in einer Stellung hocken. „Stenogramm!“ Das gilt mir. Bully betrachtet mich als eine Art Com40
puter. Oder es ist eine Art praktische Nutzanwendung des mir von ihm verliehenen Doktortitels. Und Stenogramm heißt nicht: Block und Bleistift; Stenogramm heißt: wichtige Tatsachen in Kürze. Gehorsam schnurre ich los. Viel ist es ohnehin nicht. Felsenfest steht bisher nur, daß beide Uhlmanns tot sind. Vielleicht hätten wir noch etwas von Wert entdeckt, aber Bully blies ziemlich abrupt zum Sammeln. Bis eben gab ich mich noch der trügerischen Hoffnung hin, wir könnten heute ausnahmsweise einmal pünktlich Feierabend machen. Ich bin müde. Bully hört gar nicht zu. „Verdreht, was?“ unterbricht er mich. „Diese Herrschaften! Klingeln Maria aus dem Bett wegen eines Glases Wasser. Sollte unsereiner mal riskieren. Und mag auch der Teufel wissen, warum solche Leutchen wie Uhlmanns überhaupt heiraten. In einem Zimmer wollen sie nicht schlafen, Kinder wollen sie, wenn’s geht, vom Weihnachtsmann, von Liebe scheint absolut keine Rede zu sein. Die heiraten bloß so aus Gewohnheit, wie Sie dauernd nach der Uhr sehen. Ich möchte wetten, daß Hugo gestern so besoffen war, daß er glatt aus Versehen zu seiner eigenen Frau ins Bett gestiegen ist.“ Bully feixt zufrieden über seine Weisheiten und zieht abschließend die fast logische Schlußfolgerung. „Wenn sie nicht tot wären, hätten sie sich heute morgen sicher gewundert.“ Tatsächlich, manchmal verrät Bully ganz gescheite Ansichten. Aber wie er sie anbringt, das kann einen hin und her schmeißen. Ist er bei seinen Ermittlungsgesprächen schon nicht sonderlich zimperlich, hier in seiner Rumpelkammer zügelt er seine rüde Ausdrucksweise gleich gar nicht. 41
„Die ganze Familie hat ’n Hammer“, bekräftigt er ungeniert. „Dieser Daniel zum Beispiel … warum mag er eigentlich den schneidigen Prokuristen verkohlt haben, was?“ „Vielleicht wüßten wir es, wenn wir Madame darüber befragt hätten?“ Zum Glück überhört Bully den Vorwurf. Ob mit Absicht oder ohne, er hat sein Stichwort: Siegmund! „Überhaupt“, poltert er los, „dieser Sigismund! Dem hätte ich mit Wonne irgendeine stinkende Mixtur aus dem Reservoir der famosen Uhlmann-Chemie in die lackierte Fresse geknallt Affe, parfümierter. Verehrt Madame! Das ist … entartete Kunst ist das! Die Exfranzosenbraut ist doch glatt zehn Jahre älter als er! Und dann – ausgerechnet für die mutmaßliche Todeszeit hat er ein Alibi! Warum, was?“ Das ist tatsächlich ein Punkt, über den eher wert wäre, nachzudenken als über den Irrweg alternder Herzen. Aber Bully ließe sich im Versuch, Siegmund wenigstens regressiv noch zu schlagen, nicht einmal stoppen, wenn eben der hessische Rundfunk die Monarchie ausrufen würde. „Was dann, wenn dieser schleimige Parfümhengst nun so schön lügt, wie er aussieht, und doch nachts bei Madame war? Was dann, ihr Helden? Und wenn er weiter die Villa erst nach Mitternacht verließ?“ Und dann geschieht etwas Seltenes. Bully kichert. Kichert wie weiland Rumpelstilzchen beim Freudentanz ums Feuerchen. Sogar Plotzki, der schweigsam und verloren in einem abgescheuerten Plüschsessel aus Bullys Kollektion hängt, horcht verwundert auf. „Müssen Sie sich mal vorstellen!“ Bully faltet sogar fromm die Hände. „Gedämpftes Licht, Madame Zuivre 42
im Nylonflatterhemd, Chevalier Sigismund in Unterhosen … Handkuß, meine Verehrung, Madame. Gestatten, Gnädigste? Oh, bitte nach Ihnen …“ „Und dann geht er hin und vergiftet Chef und Chefin“, werfe ich eilig ein, um seine blühende Phantasie zu bremsen. „Und angelt sich anschließend ein gewisses Fräulein Richter aus der Nachtbar ‚Oase‘ zwecks Alibi“, vollendet Bully ungerührt. „Na schön, aber sein Motiv?“ „Mhm, da liegt ja gerade der Hund begraben“, gesteht Bully mißmutig. „Ein gescheites Motiv hat eigentlich überhaupt keiner. Vorausgesetzt, es geht um Werk und Vermögen. Niemand kriegt den Laden in die Hand. Erbe ist Frank, der Junior. Hat aber noch ein paar Jährchen Zeit bis zur Volljährigkeit. Und es ist höchst fraglich, ob die Juristen einen Halbseidenen wie den Daniel zu seinem Vormund bestellen. Hätte also auch keinen Nutzen. Und die Madame? Mehr als einige Splitter kann auch sie nicht erwarten. Da muß sie obendrein noch mehr Glück haben als mit dem Sigismund. Der dagegen dürfte völlig leer ausgehen. Was ich ihm auch von Herzen gönne.“ Plotzki mischt sich ein! Macht er so selten, daß man ihn öffentlich belobigen sollte. Und was er von sich gibt, ist gar nicht mal so ohne. Er sagt übellaunig: „Vielleicht waren sie es alle zusammen und wollten eine Aktiengesellschaft gründen?“ Bully sieht mich an, als wollte er sagen: Nun hören Sie sich den Blödsinn an. Dann schielt er Plotzki an und fragt streng schulmeisterlich: „Was verstehen Sie unter ‚attischem Salz‘?“ „Nichts“, sagt Plotzki achselzuckend. „Dann kümmern Sie sich gefälligst“, schnauzt Bully. 43
„Rufen Sie meinetwegen den Lateinlehrer vom Gymnasium oder den Erzbischof von Köln an. Aber tun Sie es von nebenan, wenn es sich einrichten läßt.“ Plotzki steht widerspruchslos auf und verläßt das Zimmer. Ich bin absolut sicher, daß er nicht ohne genaueste Auskunft zurückkommen wird. Für einen Autokraten wie Bully ist er ein idealer Mitarbeiter. Plotzki ist alles auf einmal, Blitzableiter, Spürhund, Beichtvater und Sündenbock. „Irgend etwas stimmt bei der ganzen Schweinerei sowieso nicht“, grunzt Bully eine infantile Weisheit, mit der sich schon ganz andere Leute aus der Affäre gezogen haben. „Da sind ja immer noch diese beiden Unbekannten. Ein Mann soll gesehen worden sein, eine Frau soll gesehen worden sein. Einbrecher? Möglich, ja, aber … verdammt noch mal, denen hätten doch die mit Sicherheit fehlenden Wertsachen gereicht. Daß sie ausgerechnet in dieser Nacht einstiegen, wäre dann lediglich ein blöder Zufall. Nur ein bißchen viel Zufall, finde ich. Und dann auch noch Mord? Giftmord noch dazu? Weiß nicht … kommt zwar vor, daß einer von der Zunft mal jemanden umbringt, aber das ist dann sozusagen Notwehr. Aber Giftmord? So etwas ist geplant. Überhaupt, Gift!“ Er zieht die Tischlampe am Schirm näher zu sich heran und kramt einen zerknitterten Zettel aus der Brieftasche. Bei Bully ist alles zerknittert Mantel, Hosen, Kragen und Manschetten. Papiere auch. Letzteres ist bei der Qualität seiner Brieftasche aber kein Wunder. Aus diesem zusammengeflickten Stück Rindsleder hat vermutlich schon Heinrich der Vierte den Schuhmacher honoriert, der ihm die Sandalen für seinen Canossagang gebastelt hat. „Das hier soll ein vorläufiger Befund sein!“ Bullys 44
Verachtung ist ungeheuchelt. Studierte Leute sind für ihn eine Art potentieller Revolutionäre, die man besser an Ketten oder wenigstens auf Eis legen sollte. „Meinen Sie vielleicht, die Fleischer wissen auch nur ungefähr, woran die Herrschaften eigentlich gestorben sind? Nicht die Bohne! Faseln da was von Blausäureverbindungen! Das wußte ich schon heute morgen beim Rasieren, Mann! Ein Wunder, daß sie wenigstens feststellen konnten, daß das Zeug nicht intravenös in die Körper kam.“ Er sieht mich herausfordernd an, aber ich schweige andachtsvoll. Wenn nicht intravenös, dann eben durch die Gurgel, was gibt es da zu staunen? „Na“, mahnt er väterlich, weil ihm meine Haltung durchaus gefällt, „merken Sie denn nicht, daß dann unsere angenommenen Einbrecher unschuldig werden? Uhlmanns werden ihnen doch kaum anerkennend zugeprostet haben, was? Wie aber sonst sollten sie Gift in den Blutkreislauf bekommen? Oder … mit Gewalt eingeflößt? Wie gefällt Ihnen diese Variante?“ „Überhaupt nicht.“ „Eben. Man stelle sich vor: Da schläft man schön fest und denkt an nichts. Den Mund leicht geöffnet, man hat ja ewig einen Schnupfen, nicht? Und da kommt so ein Schweinehund, heimlich, still und leise, und tröpfelt einem ’n paar Tropfen Gift zwischen die BlendaxZähnchen … einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig – aus!“ Er schüttelt sich unangenehm berührt und haut mit der flachen Hand auf den Tisch. „Bloß, das stimmt auch wieder nicht mit dem Gefasel überein. Absolut sicher sind die sich auch nur, daß Uhlmanns tot sind und daß sie einen relativ friedlichen, sprich schmerzlosen, Tod gehabt haben müssen. Friedlich! Fein, was? Da zerhackt 45
dieser Oberfleischer mein Gehirn ’ne halbe Stunde lang mit einem Bombardement von lateinischen Splittern und erklärt mir am Ende hilflos, er stände vor einem Rätsel. Die nachgewiesenen Spuren seien an sich zu gering … Woran, zum Teufel, sind sie dann gestorben, was?“ „Attisches Salz“, leiert Plotzki von der Tür her und hält einen Papierbogen in der Hand, auf dem das komplette Geständnis des Mörders Platz hätte. „Witzige, geistreiche Bemerkung, nach der altgriechischen Landschaft Attika, dem Mittelpunkt der …“ „Sie …“, unterbricht Bully sanft. „Ihre Blödheit grenzt ja immerhin an Größe, aber … attisches Salz! Mittelpunkt! Attika!“ Er blinzelt mich verschwörerisch an und besinnt sich dann wieder auf den Urheber des augenblicklichen Ärgers. „Dieser Klugscheißer von einem Prokuristen! Na, der kann sich noch … für den erfinde ich noch extra ‚attischen Pfeffer‘, garantiert!“ Wie gesagt, Bully ist ein unkomplizierter Charakter. Zunächst mal läßt er seinen Groll an Plotzki aus. „Und Sie? Zur Strafe werden Sie sich jetzt nützlich machen. Zu Hause stören Sie sowieso bloß das harmonische Familienleben. Also: wir brauchen allerhand Angaben. Bekanntes und vor allem weniger Bekanntes. Dieses Fräulein Richter zum Beispiel, die angebliche Kronzeugin Siegmunds. Gehen Sie in die ‚Oase‘, aber besaufen Sie sich gefälligst nicht! Und den schönen Sigismund. Wie er lebt, wovon und warum. Suchen Sie jemanden, der Siegmund nicht leiden kann, von dem erfahren Sie sogar die Stunde des letzten Beischlafs.“ Plotzki leistet sich tatsächlich die vage Andeutung eines Lächelns, als er sich abwendet. Er braucht ja nicht weit zu gehen, wenn er Bullys letzten Satz wörtlich nähme. 46
Bully kichert deplaciert hinter ihm her. „Wobei hat uns der Plotzki doch gleich gestört? Ach ja … der Befund, nicht?“ „Noch recht verschwommen“, finde ich. „Verschwommen“, sagt Bully ärgerlich. „Überhaupt kein Ausdruck, Mann! So ähnlich habe ich mich auch ausgedrückt, und daraufhin haben sie mich rausgeschmissen. Zwar höflich, wie diese Sorte nun mal ist, aber draußen war ich trotzdem. Wenn ich nämlich noch länger ihre Untersuchungen stören würde, zerfielen auch noch die Restspuren, und sie müßten am Ende noch doppelseitige Lungenentzündung als Todesursache auf den Totenschein pinseln.“ Er schnipst den dürftigen Befund einfach vom Tisch. „Von mir aus Syphilis“, knurrt er abfällig. Ich höre nur noch mit halbem Ohr hin. „Sagen Sie … wenn die Giftspuren jetzt schon sehr gering sind, besteht doch die Möglichkeit, daß den Opfern das Gift Stunden vor dem Tod zugeführt wurde. Ein langsam wirkendes Mittel zum Beispiel würde vielleicht auch die Todesstunde erklären. Nur, hätten dann die beiden Unbekannten noch etwas damit zu tun? Oder gerade? Wer sagt denn, daß sie es wirklich nur auf die paar Wertsachen abgesehen hatten?“ Hinterher wird mir bewußt, daß ich unverzeihlich gegen interne Spielregeln verstoßen habe. Aber siehe da, Bully brüllt nicht, höhnt nicht und greift auch nicht nach harten Gegenständen. Bully fragt ganz verständig: „Auf was denn sonst?“ „Weiß nicht … eine Erfindung vielleicht?“ „Im Schlafzimmer? Und überhaupt, junger Mann, wenn eine Erfindung existierte und wenn Unbekannte davon wußten, dann wußten sie zumindest auch, daß Hu47
go jeden Quark im Betrieb aufbewahrt. Aber gut …“ Bully stemmt sich ächzend hoch und macht Bewegungen, die man mit viel gutem Willen als Kniebeugen bezeichnen könnte. „Kann sein. Kann aber auch sein, daß die beiden Frühaufsteher in ganz anderer Mission tätig waren. Gelogen hat Daniel, gelogen hat die Madame, und dieser attische Sigismund wird auch nicht aus der Reihe tanzen. Und Maria? – Jeder kann, einer muß sogar einen Besuch verschwiegen haben. Ohne Grund gewiß nicht. Und überhaupt, gehörten die geheimnisvollen Gäste denn zusammen? Vielleicht ist einer dem anderen ins Gehege gekommen? Oder sie sind vor Schreck ausgerissen, als sie auf die Leichen stießen?“ „Dann hätten sie aber doch etwas gesucht!“ „Sie landen doch noch mal in einem Ministerium“, lästert Bully, aber es klingt merkwürdigerweise etwas wohlwollend. „Aber sie hätten nichts gefunden, die Nachtschwärmer. Weil sie aber auch nur Statisten gewesen sein können und weil dann viel mehr als ein gewöhnlicher Doppelmord hinter der Geschichte stecken muß, dürfte es heute nacht in der Villa unter den Umständen etwas unruhig zugehen, was?“ Er knöpft energisch seinen Mantel zu. Ich mache ihn höflich darauf aufmerksam, daß er am Ende einen Knopf übrigbehalten wird. Er schielt mich zwar verweisend an, knöpft aber doch noch einmal von vorn. Manchmal habe ich die verwegene Hoffnung, man könnte aus ihm doch noch ein brauchbares Mitglied der Gesellschaft machen. „Hunger habe ich“, sagt er dann, und meine frisch erblühte Hoffnung welkt dahin. Er rechnet offenbar mit meiner Einladung. Ich murmele etwas von dürftiger Besoldung der unteren Gehaltsstufen, aber Bully ist hart48
näckig, wenn es um seinen Vorteil geht. „Mich können Sie schon mit Erbsen und Speck beglücken.“ Ich nicke gottergeben, denn wenn ich jetzt ablehne, wird er mir das noch bei seiner feierlichen Pensionierung vorhalten. Dafür knipst er eigenhändig die Deckenbeleuchtung aus und öffnet zuvorkommend die Tür. Die letzte Illusion zerstört er auf dem Flur. „Erbsen mit Speck“, grunzt er animalisch, „sind eine appetitanregende Vorsuppe.“
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IV. „Nichts Verdächtiges“, meldet leise unser Mann vor dem Villengrundstück Kronprinzenstraße 45. Bully nickt schwach. Wenn Kriminalassistent Rüger das sagt, kann man sich darauf verlassen. „Verdrücken Sie sich ins Dunkel.“ Bully macht die Andeutung seiner berüchtigten Handbewegung, „’reinlassen, wer Sehnsucht danach hat, ’raus darf keiner, klar?“ Rüger taucht wortlos in der Toreinfahrt gegenüber unter. Im Haus, oben unter dem Dach, brennt trübes Licht. Der Herr Studiosus büffelt wohl immer noch. „Los, Doktor, weiter!“ Bully boxt mir derb in die Seite. „Wir steigen vorsichtshalber von hinten ein!“ Fünf Minuten später quäle ich mich durch die dichte Ligusterhecke, die Uhlmanns Grundstück nach hinten sichert. Bully bricht sich nach mir durch wie ein flüchtender Elefantenbulle in der Serengeti. Auch unser Mann, der hier postiert ist, hat nichts Verdächtiges bemerkt. Notdürftig von kahlen Sträuchern gedeckt, schleichen wir auf den Steinklotz zu. Oben rechts brennt Licht hinter zwei Fenstern. Es muß bei Madame sein. Sonst ist alles finster. In den Palast hinein kommen wir ohne Schwierigkeiten. Bully ist im Besitz der passenden Schlüssel. Er schließt sorgfältig wieder ab. Im Haus ist alles ruhig. Kein Laut, nichts. Finsteres Schweigen. „Ich bleibe gleich unten“, flüstert Bully, als wir in der Halle stehen. Sein Flüstern ist Mittelsuper auf Zimmerlautstärke. „Und sie verkrümeln sich nach oben. Bauen Sie sich am besten am Treppenabsatz zur Mansarde auf. Aber Obacht, Juniors Zimmer ist unmittelbar daneben!“ 50
„Wird langweilig, wie?“ „Na und?“ Bully hat gut reden. Er kann stundenlang auf ein und demselben Fleck hocken. Aber … wo will er denn nun hin? Ich höre ihn eine Tür öffnen und verhalten fluchen. „Idiot“, knurrt er, als ich die Taschenlampe einschalte. Aber ich sehe genug. Bully ist ein erfahrener Praktiker. Er holt sich den Polsterhocker aus dem Salon. Ich halte es für möglich, daß dieses Möbelstück in absehbarer Zeit fester Bestandteil unseres Dienstzimmers wird. Nach einer guten Stunde öder Nachtwache ist mir, als säße ich in einem Termitenhügel. Trotz des Läufers ist die Treppe verflucht hart. Aber Stehen ist in Villen ebenso anstrengend wie an Straßenecken. Im Haus hat sich kaum etwas gerührt. Vor einer ganzen Weile rauschte irgendwo die Wasserspülung. Sonst nichts. Still, finster und langweilig. Eine Schnapsidee von Bully, diese Nachtwache. Er selbst nennt das freilich Intuition. Sehr leutselig hatte er mir zwischen Rumfordsuppe und Kalbsnierenbraten erklärt, daß wir im Anschluß an das bescheidene Abendmahl das Nachtleben in besseren Kreisen studieren müßten. Er habe da so eine Ahnung. Ich hingegen habe die Ahnung, daß Bully friedlich schläft. Er hustete vorhin so unbekümmert und ausgiebig, wie man mitunter im Schlaf hustet. Verdrossen lese ich die Zeit vom Leuchtzifferblatt meiner Uhr ab. Halb elf. Mitten in der Nacht Und ich bin so verdammt müde. Beim Gähnen schießen mir die Tränen in die Augen, kalt ist es auch, die Termiten scheinen sich entsetzlich zu vermehren … hol doch der Teufel alle Intuitionen … Ich wache blitzartig auf, als mir etwas hart an den Kopf knallt. Bully! Mein erster Gedanke ist nur böse 51
Vorahnung. Mein zweiter auch noch. Und erst der dritte Gedanke – Schreck geht offenbar vor Schmerz – : Haut das Rindvieh mir glatt seine eckige Kniescheibe zwischen die Augen! Der Schreck bleibt. Ich fahre hoch, meine Hand greift ins Leere. Unwillkürlich stütze ich mich an das Treppengeländer. Ein hochherrschaftliches Geländer übrigens. Nicht solche Attrappen wie in billigen Mietshäusern, wo man sich Splitter einreißt und Kleinkinder beim Anlehnen in Lebensgefahr schweben. Dieses hier ist kunstvoll gemauert, ebenso kunstvoll verfugt, und der Handlauf aus solider Eich« ist eine sanft geschwungene Hohlkehle, fast einen halben Meter breit. Wie eine Rutschbahn. Rutschbahn? Herrgott, dieses schleifende Geräusch jetzt …? Unten brüllt Bully los wie ein wehrloser Zoowärter, den ein ergrimmtes Nashorn durch das Freigehege scheucht. Im Strahl meiner Taschenlampe sehe ich meinen Chef kindisch auf allen vieren über die grauroten Fliesenquadrate krabbeln. Und über ihn hinweg, als hätte er bloß auf Beleuchtung gewartet, springt im gleichen Augenblick ein Mann. Er hat, alle Achtung vor Bullys Intuitionen, den Mantelkragen hochgeschlagen, und einen winzigen Moment sehe ich noch das kräftige Stollenmuster seiner schwarzen Gummisohlen. Dann ist er verschwunden. Lautlos wie eine ausgepustete Streichholzflamme. Dafür wird es hier oben sehr lebendig. Grelles Licht flammt auf. Hinter mir stürzt Frank Uhlmann aus seinem Zimmer, um die Ecke kommt Madame Zuivre gehastet. Beide sind vollständig angekleidet, als hätten sie durchaus ähnliche Überraschungen erwartet. Nur Onkel Daniel scheint tief und unschuldig zu schlafen. „Doktor!“ Bullys Hilferuf stört meine Gedanken. 52
„Mein Gott“, jammert Madame wie auf ein Stichwort los, „schnell doch! Einen Arzt! Hören Sie denn nicht?“ Und ob ich höre! Ihr Jammern nämlich hört sich weit mehr nach einem Halleluja an. Dann springe ich endlich die Stufen hinunter. Bully rappelt sich eben mühsam hoch. „Los, den Kerl her!“ Ich rase zur Tür. Sie steht weit offen. Draußen ist alles ruhig. An der Gartentür pralle ich auf Rüger. „Habt ihr ihn?“ „Wen denn?“ „Herrgott! Den Kerl eben, Mensch!“ Rüger schüttelt mitleidig den Kopf. „Hier ist keiner ’rein und folglich auch keiner ’raus.“ Dann mustert er mich ahnungsvoll, kratzt sich am Hals und murmelt: „Hat wohl unser Kamerad da hinten die Premiere verschlafen, wie?“ Na, bitte! Wir haben alle geschlafen. Aber ich gönne Bully den Reinfall. Immer seine blödsinnig altmodischen Methoden. Hier ein Posten, da ein Posten, und alle väterlich ermahnt, schön aufzupassen. Selbst in Entwicklungsländern arbeitet die Polizei mit ausgeklügelten technischen Hilfsmitteln. Es ist zwar sinnlos, aber ich schärfe Rüger noch hastig äußerste Wachsamkeit ein und spurte zu Bully zurück. Madame Zuivre bemüht sich um ihn. Er sieht ziemlich beschädigt aus. Quer über die linke Backe, vom Kinn bis zum Ohr, blutet eine schnurgerade Schramme. Sein rechtes Auge wird in absehbarer Zeit nur noch zu ahnen sein. Er soll bloß froh sein, daß der geheimnisvolle Besucher keine Nagelschuhe trug. Bully stöhnt und flucht. Ohne Rücksicht auf Madame. Ich weiß nicht, ob sie auch nur einen Bruchteil seiner 53
Festreden kapieren wird. Sie hört jedenfalls aufmerksam zu. „Nichts“, melde ich möglichst gefaßt. Bully knirscht mit den Zähnen und wischt abwechselnd mit dem Mantelärmel das gebrauchsfähige Auge und seinen Hut in der Hand sauber. Dann stülpt er sich den Filz wieder auf den Schädel und hält vorerst seine Regeneration für beendet. Aber Madame mischt sich resolut ein. „Kommen Sie! Ich habe oben einen Verbandkasten. Etwas Jod müssen wir auf alle Fälle …“ Bully richtet prüfend sein Auge auf sie, versucht zu blinzeln und stöhnt verhalten. Er hat wohl den gleichen Verdacht wie ich, daß Madame offenbar echtes Jod und nicht die milde Ersatztinktur vorrätig hat. Er stimmt trotzdem zu. Madames Zimmer ist ein preußischer Kasernenhof bei Mondschein. Kahl, nüchtern, feindselig. Die Möbel stehen streng ausgerichtet. Man möchte ihnen zurufen: ‚Rührt euch!‘ Auch Bully blickt ausgesprochen mitleidig mit dem einen Auge. Fast schüchtern setzt er sich auf den Rand einer ungepolsterten Eckbank und hält Madame bereitwillig sein ramponiertes Gesicht hin. Er ist zäh. Keinen Laut gibt er von sich, als Madame eifrig ihr karitatives Werk beginnt. Er sagt sogar höflich danke, als Madame die Flasche wieder verschraubt. „Na, dann wollen wir mal wieder, was?“ Madame erwartet mit Fug und Recht eine Gegenleistung. „Was war denn eigentlich los?“ „Keine Ahnung“, lügt er frech drauflos, „irgend etwas ist mir ins Gesicht geraten. Sieht man das nicht?“ 54
„Vielleicht ein Gespenst?“ fragt Madame pikiert. „Möglich. Nur, wenn es sich hier um ein solches gehandelt haben sollte … es war kein hiesiges.“ „Wie soll man das verstehen?“ Recht hat sie. Bullys Deutsch ist miserabel. „Stellen Sie sich vor: Das Luder konnte reden! Und obendrein noch fremdländisch. Er japste nämlich: ‚Mama mia’!“ „Vielleicht lieben in diesem Haus sogar die Gespenster Italien?“ Ich muß ja auch mal etwas Gescheites sagen. Bully grunzt anerkennend. Ganz neuer Zug an ihm. Aber er ist noch der Alte. In einem Anfall von klassischem Chauvinismus schnauzt er: „Soll gefälligst deutsch reden!“ Ein herrischer Wink, ich öffne eilig die Tür. Noch ein Wink – ich darf zuerst. Bully nämlich lebt in Traditionen. Von der Tür her fragt er beiläufig zurück: „Übrigens, wo waren Sie doch gestern abend gegen acht Uhr?“ „Wer … ich etwa?“ „Sie.“ Madame wird zusehends kühl. „Ich glaube mich erinnern zu können, daß wir dieses Thema bereits erschöpfend behandelt haben.“ „Mein Gedächtnis“, stöhnt Bully leidend. Ein theatralischer Griff an die Stirn soll den plötzlichen Schwund wirksam unterstreichen. „Schön, ich war hier. In diesem Zimmer.“ „Ach!“ Bullys Genesung macht Riesenfortschritte. „Wie aber erklären Sie sich, daß ein Mitglied Ihrer Familie, Herr Daniel Uhlmann nämlich, unverfroren behauptet, Sie wären zur fraglichen Zeit gar nicht im Hause gewesen?“ „Dieser Schuft!“ 55
Bully nickt fast andächtig. „Wie wär’s, wenn wir den Schuft gleich mal fragen, Madame? Wenn Sie uns bitte führen wollen?“ Führung ist imposanter Blödsinn. Daniel Uhlmann wohnt im gleichen Stockwerk, drei Türen weiter. Madame folgt nur widerstrebend bis zu Daniels Zimmertür, dann wird sie sogar störrisch. „Keinen Fuß setze ich über diese Schwelle!“ Zu meiner Verblüffung respektiert Bully Madames Grundsätze. Er klopft vernehmlich gegen das Holz der Türfüllung. Nichts. Bully sieht mich strafend an und wiederholt den Trommelwirbel mit erhöhtem Kraftaufwand. Wieder nichts. Bully drückt auf die Klinke. Die Tür gibt sofort nach. Bullys Hand raschelt über die Tapete zum Lichtschalter. Eine wahre Lichtflut ergießt sich aus einem glitzernden Kronleuchter, der besser in ein Spielkasino passen würde. „Komisch, was?“ grunzt Bully zufrieden. Auf dem dunkelblauen Schirasteppich liegt regungslos Daniel Uhlmann. Mit den Männern vom Rettungsdienst taucht überraschend Kommissar Plotzki auf. „Herr Kommissar … was, wieso …?“ „Was suchen Sie überhaupt hier?“ Bully ignoriert Plotzkis Mitgefühl. „Ich dachte … Rüger sagte mir …“ „Dachte, dachte! Verdammt, was Sie hier suchen, will ich wissen?“ Plotzki macht sich steif. „In Sachen Siegmund, Herr Kommissar. Er hat gegen einundzwanzig Uhr seine Wohnung verlassen, bummelte zu Fuß durch die halbe 56
Stadt und verschwand vor einiger Zeit hier, knapp hundert Meter entfernt, im Cafe ‚Engel‘.“ Bully stöhnt. „Herrgottnochmal! Was Sie hier suchen!“ „Kleine Panne“, quengelt Plotzki monoton weiter. „Dieser Siegmund … fast eine Stunde habe ich den ‚Engel‘ beschattet. Schließlich kam mir die Geschichte spanisch vor, und ich ging hinein. An sich wollte ich nicht, weil er mich ja kennt. Jedenfalls … Siegmund saß nicht drin.“ „Ihren Auftrag kennen Sie aber noch, was?“ Plotzki kennt auch seinen Chef. Er macht wortlos kehrt und stelzt gelassen die Treppe hinunter. Wir können absolut sicher sein, daß er für den Rest der Nacht Siegmunds Wohnung belagern wird wie Tilly die Festung Magdeburg. „ ‚Engel‘ beschatten“, knurrt Bully hinter ihm her. „Überhaupt, die Sache muß doch einen Haken haben? Daß Siegmund den Plotzki hinter sich gemerkt hat, schön, kommt vor. Aber warum schleicht der Kerl trotzdem in diese für ihn doch nicht ungefährliche Gegend? Und verschwindet obendrein spurlos? Vielleicht noch ’n Gespenst?“ Die Antwort ersparen mir die Jungens vom Rettungsamt. Eben tragen sie Daniel Uhlmann vorbei. Er sieht im Gesicht mindestens ebenso mißhandelt aus wie Bully. Mein Chef verschwendet weder Blick noch Mitgefühl an ihn. Er entert entschlossen die Mansardentreppe und treibt mich nach einem Blick auf die Uhr zur Eile. „Los, Doktor! Wenn wir uns sputen, schaffen wir es noch!“ Sein Ehrgeiz ist immer wach. Für ihn bedeutet es einen Triumph kriminalistischer Ingeniosität, noch am Tage der Tat wenigstens einen Verdächtigen verhaften zu 57
können. Es ist zwar gleich halb zwölf, und die Chance steht für Jäger und Gejagte fifty-fifty, aber Ehrgeiz ist die Mutter des Erfolges. Oben hämmert Bully mit den Schuhspitzen gegen Marias Zimmertür. Drinnen knarrt leise ein Bett; für Bully verstreichen kostbare Sekunden ungenutzt. „Uno momento!“ Zaghaft öffnet Maria. Vor der Brust hält sie ängstlich ein schwarzes Wolltuch von der Größe einer Tischdecke zusammen. Sie steht auf langen, braunen Beinen barfuß vor uns. Bully schiebt sie einfach zur Seite. Das Mädchen sieht mich besorgt fragend an. Ich kann nur verstohlen die Schultern heben: Bully ist Chef, take it easy, oder wie man sonst in Italien dazu sagt. Er stampft vehement durch das Mansardenzimmer, was nicht ungefährlich für ihn ist. Hauptsächlich nämlich besteht das Zimmer aus schrägen Wänden, das Fenster ist eine tiefe Nische. Die Einrichtung dagegen ist erstaunlich elegant, wenn auch ganz und gar stillos. Es handelt sich todsicher um Mobiliar, welches dem Geschmackswechsel der Herrschaften zum Opfer fiel. Bully kramt mit neiderweckender Vitalität in Schubkästen und reißt ordentlich gestapelte Wäsche auseinander. Er wühlt anscheinend ohne System, nur so aus Freude an der Sache. Aber ich kenne ihn. Er sucht überhaupt nichts Bestimmtes. Und ich weiß, daß er sehr genau auf jede Regung Marias achtet. Sie steht immer noch reglos neben mir. Die großen, schwarzen Augen folgen wachsam den unruhigen Händen des Kommissars. Die Tür steht offen, und Maria friert. Als er ihre Nachttischlampe anhebt, macht sie unwillkürlich eine abwehrende Bewegung. Bully brummelt 58
selbstzufrieden vor sich hin und fischt fast gelangweilt aus dem hohlen Porzellanfuß der Lampe einen zusammengerollten Briefbogen. „Herkommen!“ Zögernd und lautlos gehorcht Maria. „Was ist das?“ „Ein Brief … ich glauben.“ „Ach nee!“ Bully feixt tatsächlich, packt aber plötzlich das Mädchen hart am Unterarm, „’raus damit – wie heißt dein Clochard?“ Maria versucht sich loszureißen. Ihre Augen funkeln wild, Ätna vor dem Ausbruch. Aber Bully hat nicht nur das Gemüt eines Bullen. Er hat auch die Kraft. Maria stammelt einige Worte in ihrer Muttersprache, dann schreit sie wütend. Einen Augenblick erinnert sie mich an die um Nichtigkeiten temperamentvoll streitenden Mieter eines neapolitanischen Hinterhauses. Bully betrachtet sie amüsiert und reißt ihr unvermittelt den Arm nach hinten. „Sachte, Contessa“, knurrt er warnend. „Und bleib vor allem beim Thema, klar? Deine Schnatterei mag ja irgendeine Mitgliederversammlung beeindrucken, aber doch nicht mich! Und nun los! Wie heißt dein windiger Makkaronifresser? Was? Ich habe eine offene Rechnung mit dem Bambino … hier, sieh mich an!“ Das könnte sie nicht einmal, wenn sie wollte. Mit seinem üblen Griff zwingt er sie immer tiefer, das große, schwarze Tuch ist ihr von den Schultern gerutscht. Bully trampelt achtlos darauf herum. Herrgottnochmal … eine verfluchte Sauerei ist das alles. Man müßte einfach … Ich komme um die Pflicht, meinem Chef offenen Widerstand zu leisten, herum. „Lassen Sie sofort das Mädchen los!“ 59
Bully dreht schwerfällig den Kopf. Auf dem Flur, einen knappen Meter hinter mir, steht Frank Uhlmann. Groß, zu groß für sein Alter. Und in der Hand hält er eine Pistole. Es ist zwar nur eine handelsübliche Gaspistole, aber immerhin! Der Bengel ist erst sechzehn. Und wieder kommt mir der Junge eigenartig bekannt vor. Nicht eigentlich Frank selbst, es ist irgend etwas in seiner Haltung. Wie er dasteht, eine Schulter abwehrbereit vorgeschoben, die Augen spaltbreit offen, den Arm an der Hüfte angewinkelt … die Kopie eines Supermans. „Ich verbiete Ihnen solche Ausschreitungen hier im Haus!“ Sieh mal an! Ist zwar arrogant, fällt aber noch unter Notwehr. Und Bully kann weder spöttisch noch vertraulich blinzeln. Seine Blessuren behindern ihn ernstlich. Aber er nimmt die Kampfansage des Juniors keineswegs für voll. Ein kurzer Ruck am Arm, Maria schreit auf. Über Franks Gesicht unter dem kurzgeschnittenen, gescheitelten Haar breitet sich langsam Röte. Er schämt sich. Vielleicht sogar für uns, die Polizei. Aber er starrt auf Maria. Sie steht tief gebückt. Der weite Ausschnitt des Nachthemdes gibt alles frei, was ein achtzehnjähriges Mädchen freizugeben hat. Für Bully bedeutet es im Augenblick nichts, er steht hinter ihr. Für Frank Uhlmann ist es zuviel. „Sie Schwein“, keucht er. Die Hand mit der Gaspistole zittert, aber er zögert. Ich bin nun fast neugierig, was er tun wird. Die Situation verlangt Taten von ihm. Schießen, sich auf Bully stürzen oder wenigstens ein Rededuell. Nein, es reicht noch nicht zum Helden. „Der Mann heißt Cesare Machelli, Ledigenheim Kaiserstraße“, sagt er tonlos. 60
Bully nickt großmütig und läßt das Mädchen bereitwillig los. Aber er wird dem Jungen das „Schwein“ nicht vergessen, wenn er sich auch jetzt in einen Witz rettet. „Liebt wohl auch Italien, der Bengel, was?“
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V. Unser Krankenhaus hat genau die gleichen Nachteile wie andere auch. Es liegt an einer viel befahrenen Straße und ist entschieden zu klein. Letzteres könnte man zwar ändern, aber es kostet Geld. Außerdem ist unser Friedhof noch aufnahmefähig. Hübsch aber ist der Bau. Praktisch eingerichtet mag er auch sein. Zu klein ist er trotzdem. Auch der Parkplatz war nur für Landauer und Mietkutschen berechnet. Sein Fassungsvermögen hat sich noch wesentlich verringert, seit man auf seine Kosten vor den alten Eingang noch einen Kasten aus Beton, Glas und Messingleisten gesetzt hat. Diese Konstruktion wirkt sehr vornehm, halb wie Botanischer Garten und halb wie der Haupteingang der Allianzversicherung, der Nutzen für Kranke ist nur gering. Es ist morgens, zehn Minuten nach sieben. Die blonde Schwester in der Anmeldung hält uns für Störenfriede. Wir stehen auch ziemlich kleinlaut vor ihr. Diese verdammten Pförtnerlogen müssen aus teuflischer Überlegung überhöht gebaut worden sein. Kranker, betrittst du dieses Haus, wisse, du bist ein Bittender. Bully muß den spärlichen Rest der Nacht auf einer Rindslende geschlafen haben. Er kann tatsächlich wieder auf beiden Augen blinzeln. Auch scheint er stolz auf seine Verwundungen zu sein. Kein Pflaster verdeckt die lange Schmarre, sein rechtes Auge liegt eingebettet in Blau und Grün. „Ambulanz nächster Eingang“, fertigt uns das hübsche Kind hinter Glas voreilig ab. „Fein“, sagt Bully sanft. Er scheint vollkommen wie62
derhergestellt zu sein. „Wenn Sie so weitermachen, sind Sie noch vor mir da.“ Sie reißt verblüfft die Augen auf. Schöne, hellblaue Augen. Ein zu niedlicher Käfer. Ein wahrer Jammer, daß so etwas hinter lysolgeschwängerten Mauern verkümmern muß. Bullys Unverfrorenheit bewirkt weiter, daß sie nun energisch zum Telefonhörer greift. Da sie ihn einen Augenblick wie eine Streitaxt hält, hat Bully offenbar die ungemütliche Befürchtung, sie könnte mit diesem Stück Kunststoff den Heilprozeß in seinem Gesicht rückgängig machen. Er grinst mühsam und greift in die Tasche. Gott, was ist die Welt schlecht geworden. Die Kleine wird blaß und atmet erst sehr erleichtert auf, als Bully statt einer Kanone bloß seine Dienstmarke aus der Tasche zerrt. „Bitte?“ Die Kleine wird folgsam. Auch Bully blinzelt versöhnlich. „Wir haben einen Kunden hier. Uhlmann, Daniel Uhlmann. Gegen Mitternacht eingeliefert.“ „Uhlmann? Augenblick!“ Sie blättert hastig in einem umfangreichen Wälzer, bis sie wieder auf der Seite ist, bei der sie angefangen hat. „Hier, Zimmer dreiundvierzig … Aber erst müssen Sie zu Doktor Wolf. Dort entlang, bitte. Dritte Tür rechts. Ich melde Sie an.“ Der Name paßt schlecht zu dem Doktor. Lamm wäre besser. „Guten Morgen.“ „Morgen.“ Dr. Wolf wartet neben seinem Schreibtisch. Bully greift wieder in die Tasche. Der Doktor überzeugt sich gewissenhaft und nickt gemessen. „Herr Uhlmann also …“, sagt er bedächtig. Seine Stimme ist wohltuend einschläfernd. „Nichts Gefährliches. Kleine Gehirnerschütterung. In zwei Wochen kann 63
er Achterbahn fahren. Ansonsten …“ Er zuckt desinteressiert die Achseln. „Platzwunden, Blutergüsse, das Übliche. Hatte er einen Verkehrsunfall? Übrigens …“, es könnte Spott sein, was da um seine Mundwinkel geistert, „hatten Sie etwa auch einen?“ „Wir sind Mordkommission“, knurrt Bully gereizt. Dr. Wolf gibt sich auch damit zufrieden. Er macht eine einladende Handbewegung. Nummer 43 ist nicht weit. Ein Einzelzimmer, wie es Bully in der Nacht verlangt hatte. Daniel Uhlmann ruckt erschrocken hoch, als wir eintreten. Der Eisbeutel rutscht von seiner Stirn und platscht auf den Fußboden. In Lebensgefahr schwebt Onkel Daniel allerdings nicht. Der Eisbeutel wird wieder zurückbefördert, zehn Sekunden der Puls kontrolliert, reine Formsache. Dr. Wolf geht mit lässiger Geste. „Sie … auch?“ Daniel starrt etwas übertrieben auf Bully. „Auch.“ Bully nickt verschwörerisch, gleiche Leiden bringen die Menschen einander näher. Sein Tonfall ist überirdisch sanft, wie der Anschlag eines Klaviervirtuosen von Weltrang. „Was machen Sie uns nur für Kummer, lieber Freund?“ Daniels Hände wischen fahrig auf der Bettdecke hin und her. „Wie kam es eigentlich?“ „Keine Ahnung … wirklich, ich weiß es nicht, glauben Sie mir!“ „Nichts gesehen, nichts gehört?“ „Bestimmt nicht! Plötzlich, ich weiß nicht einmal ungefähr die Uhrzeit … ich muß auf der Couch geduselt haben, da riß mich jemand im Dunkeln hoch und … Sie sehen ja.“ Der liebe Onkel Daniel muß fürchterliche Dresche be64
zogen haben. Aber von wem? Und warum? Und wie kam der Kerl ins Zimmer? Und wo blieb er nach seinem unfreundlichen Auftritt? Daniel Uhlmann weiß von nichts. „Dieser Kunde ist ein mieser Kunde“, sagt Bully geringschätzig, als wäre er Vertreter für Waschmaschinen, und stapft zur Tür. Aber er geht natürlich noch nicht. Türen sind nun mal seine Schwäche. „Eins noch … Warum haben Sie eigentlich vorgestern abend Herrn Siegmund verkohlt?“ „Siegmund … vorgestern?“ „Siegmund, vorgestern.“ Gehässig plappert Bully alles nach. „Oder sagten Sie ihm nicht gegen zwanzig Uhr, Madame Zuivre sei außer Haus?“ Daniel schließt die Augen und rückt nervös den Eisbeutel tiefer in die Stirn, ehe er weinerlich fleht: „Mein Gott, mein Kopf! Ich kann mich an manches gar nicht mehr so recht erinnern.“ „Peinlich“, rügt Bully mitleidlos, „sehr peinlich für Sie.“ „Sie quälen einen Schwerkranken“, flüstert Daniel albern, aber dann fragt er sehr verständig: „Wieso eigentlich?“ „Weil ich Sie ohne die geringsten Hemmungen einlochen lasse, falls sich Ihr Gedächtnis nicht binnen vierundzwanzig Stunden ganz entschieden bessern sollte. Und zwar unter Mordverdacht, klar?“ Ich schließe hastig die Tür. Bully ist mitunter zu allem fähig. Er kommt aber doch einigermaßen manierlich mit. Die Schwester in der Pförtnerloge sieht uns neugierig nach. Ein zu hübsches Kind. Ich drehe mich verlangend um. Kalte Schulter. Schade. Dr. Wolfs Frage, ob Bully etwa auch in einen Ver65
kehrsunfall verwickelt worden sei, war eine hellseherische Glanzleistung. Bully fährt nämlich, wie er ist: brutal und rücksichtslos. Unser alter VW hat fast soviel Beulen wie Rundungen. Mit seinen Falten und Schrammen paßt er ganz gut zu Bully. Und ich hätte meinen Chef nicht reizen sollen. Bully fegt durch die Straßen wie eine gesengte Sau, um mit Plotzki zu reden. Für Bully ist unser „Buckel“ weniger ein unentbehrliches Fortbewegungsmittel als vielmehr eine nützliche Erfindung zum Abreagieren gelegentlicher Komplexe. „Sprechen Sie italienisch?“ fragt er mich unvermittelt. „Ich? Nein.“ Ist bei der großen Dressur kein Unterrichtsfach. „Dachte ich mir“, konstatiert Bully mit augenscheinlicher Befriedigung und geht kraftvoll auf die Pedale. „Sie haben doch sicher nichts gegen einen Kaffee?“ Er deutet befehlend auf das Cafe „Engel“ und lüftet spöttisch seinen Hut dazu. Nun, Widerstand ist bei Bullys Dickköpfigkeit halber Selbstmord. Mir bleibt nichts übrig, als gehorsam aus dem „Buckel“ zu klettern. „In einer Stunde“, mahnt Bully, als hätte ich um eine Erholungspause gebeten. ‚Hol dich doch der Teufel!‘ Das ist zwar furchtbar aufrichtig von mir, aber sonst auch weiter nichts wert Der VW schleudert längst um die nächste Kurve. Bully ist ein Schuft, bei Gott. Das Cafe „Engel“ mag durchaus verwöhnten Ansprüchen genügen oder sogar exquisit sein – morgens, fünf Minuten nach acht, ist es vor allen Dingen geschlossen. Überhaupt, Kaffee ist gewiß in vielen Lebenslagen eine Wohltat, aber im Augenblick würde mir nicht einmal 66
einer schmecken, der mit reichlich „Asbach“ aufgewertet ist. Bullys Benehmen deutet darauf hin, daß er einen seiner häufigen Sologänge plant. Das geschieht immer dann, wenn sich wichtige Details ergeben haben, die zu einigen Hoffnungen Anlaß geben. Sprechen Sie italienisch! Klar, der Brief aus Marias Zimmer. Bully hat ihn eingesteckt wie ein Theaterbillett an der Abendkasse. Dabei kann dieser Brief durchaus enorm wichtig sein. Aber, verdammt, doch nicht nur für Bully? Wir sind doch drei Mann, eben die Mordkommission! Ich stehe da und übe mich in Indifferenz. Aber wenn das ein Lehrfach bei der großen Dressur gewesen wäre, ich wäre bei der Prüfung glatt durchgefallen. Nach einigen Minuten keimt in mir der Wunsch, über eine bloße Statistenrolle hinauszukommen. Das ist freilich nicht weniger gefährlich, als zwei Kilo Ekrasit in einer überhitzten Ofenröhre zu lagern. Bully sitzt nicht nur fest im Sattel, er ist ein Teil des Sattels. Ich bin mir noch nicht einmal klar, ob wir hin und wieder mitreiten oder nur die Steigbügel halten dürfen. Zufall ist manchmal ein brauchbarer Regisseur. Eben kommt aus dem Seiteneingang des Cafes ein dürrer Mann. Er geht, ohne Hut und Mantel, mit weit ausholenden Schritten die Kronprinzenstraße hinunter. Weit kann er also nicht wohnen. Und als hätte auch er mit hochexplosiven Sprengstoffen zu tun, so vorsichtig balanciert er ein weiß eingeschlagenes Päckchen auf einer Hand vor sich her. Aber richtig fällt er mir erst auf, als er im Haus gegenüber der Uhlmannschen Villa verschwindet. Ohne Hut? Ohne Mantel? Der Student! Und schon bin ich dabei, die ersten Gramm Ekrasit in die Ofenröhre zu 67
schieben. Ich folge ihm. Jeder Schritt auf den zahllosen Stufen zum Dachgeschoß bringt mich entweder dem Ruhm oder dem Ruin näher. Ich bin mir da nicht sicher. Sicher bin ich nur, daß sich unsere zukünftige Intelligenz auf steinigen Pfaden zu den Sternen bewegt. Ich habe mal gelesen, daß unsere Bundesrepublik im Verhältnis zu anderen Staaten ähnlicher Entwicklungsstufe wenig studentischen Nachwuchs duldet. Begreift schon das kein Mensch, so ist gleich gar nicht einzusehen, warum die Geduldeten weniger umsorgt werden als unsere Diensthunde. Hier oben zwischen Dachsparren, grob verputzten Kaminen, ausrangierten Möbeln und aufgehängter Wäsche wäre vielleicht nach Kriegsende eine ausgebombte Familie glücklich gewesen. Man kann sich auch nicht verirren. Es gibt nur einen abgegrenzten Raum und nur eine Tür. Ich klopfe an. „Come in!“ schreit es von innen mit verblüffendem Lebensmut. Meine Befürchtungen werden noch übertroffen. Das Zimmer ist mit Hartfaserplatten ausgenagelt. Ohne Anstrich, ohne Gemütlichkeit. Und doch sitzt der lange Mensch vergnügt am Kopfende seines zerwühlten Bettes. Aus der Nähe betrachtet, besteht sein Gesicht vorwiegend aus roten Haaren und Sommersprossen. „Setzen Sie sich“, kräht er kauend. Seine Höflichkeit steht im Widerspruch zu der verbreiteten Meinung, daß arme Schweine kein Benehmen hätten. Nur ist seine Aufforderung vorerst deplaciert. Sitz und Lehne des einzigen Stuhls sind mit Büchern und Kleidungsstücken überladen. Und was an Studienmaterial darauf keinen Platz hat, liegt in vollendet künstlerischer Unordnung auf einem Schreibschrank aus der Biedermeierzeit verstreut. 68
„O Pardon, Hochwürden“, kräht er weiter und springt hilfreich auf. Mühsam hebt er den Stuhl auf und kippt den ganzen Ballast einfach auf das Fußende seiner Liegestatt. „Bitte Platz zu nehmen.“ Jetzt geht es leidlich. Man darf sich auf dem Stuhl nur nicht zu impulsiv bewegen. „Welche Rate ist fällig?“ Der Bursche hat Humor, weiß Gott. „Keine Ahnung.“ „Sie sind mir sehr sympathisch“, gesteht er unbekümmert und angelt aus dem weißen Päckchen eine bunte Masse. „Heute ist Feiertag“, erklärt er. „Kuchenreste. Der ganze Ramsch für drei Groschen … Vorzugspreis, pro Woche zweimal.“ Ich sehe höflich zur Seite. Er mißdeutet das. „Lassen Sie sich nicht beirren, Meister! Mir ist es egal, ob ich Schwarzwälder Kirschtorte zerknautscht oder von Meißner Porzellan esse.“ Seine Vorstellung von Lebensstandard harmoniert mit seiner häuslichen Umgebung. Ich sehe auch nichts, was seine Frage nach der fälligen Rate rechtfertigt. Zwar bekommt man heute sogar Särge auf Raten, aber die sind dann wenigstens neu. Hier dagegen ist nur Gerumpel, inklusive Radio. Aus dem alten „Lorenz“ dürfte schon Goebbels seine Parolen geschnattert haben. „Wenn kein Vertreter, dann sicher Kripo … oder?“ „Genau“, sage ich anerkennend. „Ich hätte da noch einige Fragen wegen Ihrer Aussage.“ „Gefällt Sie Ihnen nicht?“ „Nicht besonders.“ „Paßt wohl nirgends ’rein?“ „So ungefähr. Wäre es nicht möglich, daß Sie sich in einem Punkt geirrt haben?“ 69
„Wieso?“ „Gott … vielleicht war es keine Frau?“ „Doch, ’ne Frau!“ Er sieht mich vorwurfsvoll an. „Mhm“, bohre ich sacht weiter, „könnte es nicht das Dienstmädchen gewesen sein?“ „Maria? Nein, nein!“ Er wird tatsächlich rot. Gottogott! Auch der hat eine Schwäche für Italien. „Und die Uhrzeit?“ „Stimmt immer noch. Fünf Uhr herum. Kann ein paar Minuten später gewesen sein. Aber nicht viel.“ Es scheint, als hätte ich ihm den Appetit verdorben. Er steht hastig auf und wickelt den Rest seiner Tagesration sorgfältig in das Seidenpapier. Mit gleicher Sorgfalt verstaut er das Päckchen zwischen den Doppelfenstern. Sonst ist nichts drin in seinem Kühlschrank. Er bleibt am Fenster stehen und sagt beiläufig: „Die Aussicht ist gut.“ ‚Hoffentlich haben sie das nicht auf die Miete aufgeschlagen‘, denke ich mitleidig und trete mehr aus Höflichkeit neben ihn. Es stimmt schon, schlecht ist die Aussicht nicht. Uhlmanns Grundstück schräg gegenüber läßt sich gut überblicken. Eben schlendert Frank Uhlmann aus dem Haus und geht langsam nach hinten in den Garten. „Armer Junge“, sage ich nachdenklich. „Mhm“, macht er nach einer ganzen Weile. Er scheint ganz und gar nicht überzeugt, daß Frank Uhlmann zu bedauern ist. „Wer ihm bekannte Details im Zusammenhang mit einem Verbrechen verschweigt, macht sich strafbar“, mahne ich väterlich. Er hält offenbar nicht viel von väterlicher Autorität. Er feixt und hebt die Schultern. „Ihre Lektionen haben Sie aber ganz gut gepaukt“, krächzt er dann fröhlich. „Muß 70
man auch“, fügt er ernster hinzu und seufzt in Erinnerung an seine schlaflosen Nächte. „Wie war’s, wenn Sie etwas mehr aus sich herausgingen?“ „Na, schön.“ Er deutet irgendwo hinunter auf das Villengrundstück und erzählt schleppend: „Dort, am Eingang zur Kellergarage, in der Kurve, da stand im Frühjahr ein exotischer Baum. Sie kennen diese Gewächse ja, nicht? Riesige Blätter, die leicht melancholisch nach unten hängen, dazu einen wunderlich geformten Stiel und alles zusammen in einem gewaltigen Blumentopf.“ Ich trete vorsichtig einen Schritt rückwärts. Exotische Pflanze? Was, zum Teufel, sollte die südländische Flora mit Frank zu tun haben? „Eines Tages fuhr Frau Uhlmann dieses Monstrum um. Beim Rückwärtsfahren. Zuviel Gas vielleicht.“ „Na und?“ „Der Baum war hinüber. Und die Gnädige gebärdete sich leicht verzweifelt. Ich dachte erst, sie würde den Verbandkasten nehmen und zur Ersten Hilfe schreiten.“ „Nehmen Sie es mir nicht übel“, sage ich gereizt, „aber ich kann beim besten Willen keinen Zusammenhang mit unserem Ausgangspunkt entdecken.“ „Oh, da habe ich ja vergessen … Vor dem exotischen Wunder hatte Frank gestanden. Nun ja, bei seinem verzweifelten Rettungssprung riß er natürlich das Bäumchen um. Er hinkte jedenfalls dann ins Haus.“ „Ja, aber …“ „Im allgemeinen“, sagt er mit Nachdruck, „sorgen sich Mütter doch wohl in solchen Situationen um ihre Kinder, nicht wahr? Frau Uhlmann kniete bei dem Tropengewächs und sammelte Tonscherben.“ Mhm, mein einsamer Studiosus dürfte ganz zwangs71
läufig der Typ eines visuellen Menschen sein, aber er konnte kaum von hier oben beobachtet haben, ob die gnädige Frau sich nicht schon den ganzen Vormittag über ihren Sproß geärgert hatte. Trotzdem aber, es hört sich etwas eigenartig an. „Die Zeitungen schreiben fast nichts.“ Der junge Mann wechselt plötzlich das Thema. „Wir haben den Verlobten Marias verhaftet.“ Ich wehre den vermeintlichen Vorwurf ab, daß nur deshalb nichts in den Zeitungen steht, weil wir unfähig seien. „Den Verlobten? Warum denn das?“ „Warum! Weil er ausgerechnet gegen fünf Uhr morgens die Villa verließ.“ „Beihilfe zum Selbstmord soll ja relativ selten sein, nicht wahr?“ Dumm ist er jedenfalls nicht, mein Herr Student. „Wie ich hörte, fand man die Toten im Schlafzimmer der Gnädigen?“ Nachdenklich deutet er hinunter auf die Vorderfront der Villa Uhlmann. Zuerst stutze ich einen Moment. Woher kennt er die Lage der Zimmer gegenüber? Aber dann erinnere ich mich, daß auch heute morgen die Vorhänge dort nicht zugezogen waren. Wahrscheinlich hat er gelegentlich Frau Uhlmann in ihrem Zimmer beobachten können. „Ja, gegen halb acht.“ „Soso“, murmelt er und schielt mich von oben her an, „um fünf brannte da drüben nirgends Licht.“ „Na und?“ Tod und Finsternis passen doch gut zusammen. „Und halb acht fand man die Toten?“ „Sagte ich bereits.“ „Und der Wetterbericht ist immer nach den Nachrichten. Bei mir aber sind die ersten Nachrichten des Tages 72
immer um sechs … also höre ich den Wetterbericht zirka zehn Minuten nach sechs.“ Ich habe das Gefühl, er will mich verladen. „Ich studiere zwar Philosophie“, faselt er unbeirrt weiter, „aber soviel weiß ich doch: Tot ist tot.“ „Auf Wiedersehen“, sage ich sehr höflich und lächele nachsichtig. Ich weiß nicht, ob man sich mit richtigen Philosophen ernsthaft unterhalten kann – mit halbfertigen offenbar nicht. „Zehn Minuten nach sechs aber“, sagt da das dürre Elend und dreht sich nicht einmal zu mir um, „brannte Licht drüben im Schlafzimmer. Wie paßt das in Ihren Streifen?“ „Sie hatten nicht Urlaub bis zum Wecken!“ knurrt Bully mich wegen meiner Verspätung an. Er hockt wie angeschraubt hinter seinem Schreibtisch und spielt mit einem Kugelschreiber. Ich grinse etwas schuldbewußt und schweige. Es ist besser, vorläufig zu schweigen. So oder so. Denn: Tote knipsen kein Licht an. Aber wenn es an der Zeit ist, kann man dem großmäuligen Bully ein Licht aufstecken. Plotzki kommt. Er dirigiert einen jungen Mann vor sich her. Ein kleiner, drahtiger Bursche mit ölig glänzendem Haar und einer Hakennase. Er trägt nagelneue Gummistiefel, eine abgenutzte Manchesterhose und einen dunkelblauen Rollkragenpullover. Cesare Machelli. Bully wartet geduldig, bis Plotzki den Burschen auf den Stuhl gegenüber gestupst hat. „Morgen“, sagt er dann trocken. Cesare mustert ihn kühl und schweigt „Name?“ 73
Cesare schweigt weiter. „Keine Lust?“ fragt Bully, noch immer friedlich. „Nix verstehn.“ „Wetten, daß er nach der fünften Ohrfeige sogar Esperanto versteht?“ Bully sagt das zu uns. Plotzki lächelt irgendwie gequält. Nach Bullys Reglement müßte ich eigentlich auch so etwas wie Zustimmung andeuten, aber ich schaffe es nicht. „Und nun zur Sache, Bambino! Du stehst unter Mordverdacht, capito? So etwas mag bei euch da unten halb so wild sein, hier in old Germany sieht die Sache etwas anders aus, verstehn?“ „Ich nix gemördert.“ „Natürlich nix gemördert. Aber was sonst gemacht in Palazzo Uhlmann, was?“ „Mama mia! Maria sein meine Braut!“ „Geschmack hat er ja wenigstens, der Vogel“, knurrt Bully und blinzelt fröhlich. „Maria sein Braut, soso. Und bei der warst du vorgestern bis früh, ja?“ „Si.“ „Und wann gegangen?“ „Porco madonna! Sie doch wissen. Fünf Uhr muß gehen, wegen Arbeit. Meister sein böse, wenn zu spät kommen.“ „Wird schon seine Gründe haben, der Meister. Kann ich mir gut vorstellen. Ihr Herren Gastarbeiter vergeßt ja mitunter, daß die Betonung auf ‚Arbeit‘ liegt. Also: bis früh um fünf. Und wann gekommen zu Amore?“ „Abend.“ „Knapp, aber auch fein. Und früh, als Amore finito, wo war da Braut Maria?“ „In Bett.“ „Möglich“, sagt Bully ohne Überzeugung. „Und du 74
bist direkt aus Bett auf Straße?“ „Si.“ „Nix kleinen Umweg?“ Cesare wendet träge den Kopf zu mir hin. Er hat die gleichen Glutaugen wie Maria. „Antworte, Kerl!“ Cesare hebt uninteressiert die schmalen Schultern und schweigt. „Wie du willst, mein Sohn“, brummt Bully. „Vielleicht erst mal etwas anderes. Wie war das gestern? Wohin ging da die Reise?“ „Maria sein meine Braut.“ Bully sieht ihn abschätzend an und fährt sich behutsam über seine Gesichtswunden. Die Erinnerung an die peinliche Niederlage bringt ihn auf. „Schluß jetzt mit dem Theater! Hier ist nicht Generalprobe in der Mailänder Scala, capito? Es sind zwei Menschen, hochangesehene Persönlichkeiten, getötet worden … und du Fadennudel hast da mehr als bloß den kleinen Finger drin!“ „Ich nix gemördert!“ „Und warum nicht, he? Eifersucht soll ja eine südeuropäische Volkskrankheit sein … und Hugo war bestimmt kein Kostverächter, was?“ „Und Frau?“ Nicht schlecht von Cesare. Aber jetzt wird Bully sanft. Und ein sanfter Bully ist ein Schwein. „Hör mal gut zu, Freund Cäsar! Wenn du unterentwickelter Makkaronifresser glaubst, du könntest einen deutschen Kriminalkommissar verschaukeln, dann sitzt du in einer falschen Gondel. Capito, Herr Signore?“ Machelli sieht ihn ruhig an und nickt leicht. Er dürfte durchaus verstanden haben. Immerhin, man wird nicht recht schlau aus ihm. Aus Bully freilich auch nicht. Ver75
dächtig mag der Italiener ja sein. Aber Mord? Ich finde, Bully vermengt da ganz ungeniert Vergeltungssucht für die sicher nur versehentliche Attacke auf seine „Schönheit“ mit objektiver Ermittlungsarbeit. Konnte ein liebeshungriger Cesare etwa ahnen, daß Bully friedlich neben dem Treppenfuß schlief, als er das Treppengeländer hinunterrodelte? „Und nun noch einmal“, verlangt Bully ungeduldiger, „wie war das gestern? Was wolltest du im Haus?“ „Maria …“ „… sein meine Braut“, fällt ihm Bully hitzig ins Wort. „Das Concertino kann ich schon singen. Aber ich will dir mal was sagen: Du wolltest etwas holen, was?“ Er zieht betont langsam den mittelsten Tischkasten auf und angelt den zerknitterten Brief heraus, den er in Marias Zimmer gefunden hat. Betulich glättet er den Bogen und grinst den Italiener verständnisinnig an. „Vielleicht diesen hübschen Schrieb hier?“ Cesares Augen werden schmal, aber er schweigt. „Ein feiner Brief, von der miserablen Schrift abgesehen“, brummelt Bully, und ich weiß, daß sich sein Solo gelohnt hat. „Auch sehr interessant, mein Sohn.“ Jetzt ist Bully in seinem Element. Wie er nun nochmals den Tischkasten aufzieht und einen zweiten Bogen herausnimmt, das ist, als wenn er sich selbst einen hohen Orden verleiht. „Darf ich dem Signore mal vorlesen? Paß gut auf, wie schön sich das in schlichtem Deutsch anhört.“ Er setzt sich noch bequemer zurecht und hüstelt hinterhältig. „Mein lieber Junge …“ Dabei mustert er mich strafend, als hätte ich den Brief achtlos in den Mülleimer werfen wollen. „Mein lieber Junge. Und nicht etwa meine liebe 76
Tochter, wie man denken sollte … Also weiter: Deinen lieben Brief, na, und so weiter, der übliche Schmus. Aber hier: Du hast ihn gefunden, nach so vielen Jahren noch gefunden. Er ist es! Nie werde ich dieses Gesicht vergessen, nie, solange ich lebe … Na, und dann noch mehr solch wirres Zeug. Können wir uns getrost sparen.“ Cesare Machelli begutachtet hartnäckig die Dackelfüße unter Bullys Schreibtisch. Aber ihm wird nicht sehr wohl sein. „Nun“, fragt Bully sanft, „von was für einem Richtigen mag hier in Mamas Brief wohl die Rede sein, Freund Cäsar? War vielleicht … Herr Uhlmann der Richtige?“ Machelli schweigt verbissen, er sieht nicht einmal hoch. Und Bully zeigt die Großmut des Siegers. Auf einen Wink von ihm packt Plotzki den Italiener formlos am Ärmel und bedeutet ihm, daß der Herr Kommissar die Audienz zu beenden wünsche. „Vergessen Sie nicht die Abdrücke seiner Pfoten für unser Bilderbuch“, schnauzt Bully hinter seinem zweiten Mann her. Cesares Gummistiefel poltern hohl über die Türschwelle. „Na, Doktorchen?“ Der Sieger ist bester Laune. „Tatsachen sind die halbe Hinrichtung, was?“ „Sieht so aus“, bekenne ich mißmutig. „Na, bitte! Sieht sogar verdammt so aus. Und es sieht auch so aus, als hätten die Machellis mit Uhlmanns eine alte Rechnung zu begleichen gehabt. Was für eine, mag der Teufel wissen. Eine trübe Ahnung habe ich ja … aber das hat noch Zeit. Wichtig ist zunächst, daß unser Cäsar in der Mordnacht in der Villa hockte.“ „Das schon, Chef, nur begreife ich den Leichtsinn Machellis nicht.“ „Was half’s? Der gefährliche Brief war noch bei Ma77
ria. Den hätte er am besten gleich verbrennen sollen. Und nicht erst noch angeberisch seiner Verlobten zeigen. Na, irgendeinen Fehler macht eben jeder.“ „Und der Schmuck der Gnädigen?“ „Wird sich finden.“ Bully winkt ab. „War vielleicht nur willkommenes Beiwerk. Oder der Versuch, den Verdacht in herkömmliche Bahnen zu lenken. Wird sich alles finden.“ Möglich, gewiß. Wenn auch nicht gerade bei Machelli. Zwischen dessen Sachen fand sich nichts von Wert, ein goldenes Kreuzchen an einer feingliedrigen Kette ausgenommen. „Plotzki soll nachher mal die Firma des Itackers anrufen und Bescheid geben, daß der Signore Machelli die nächsten Jahrzehnte nicht arbeiten kommen kann“, brummelt Bully vor sich hin, und eigentlich müßte ich stutzig werden. Solche vagen Andeutungen sind nicht seine Masche. „Wo arbeitet er eigentlich?“ frage ich statt dessen ahnungslos. „Wo? Warten Sie … Wie hieß der Haufen doch gleich? Hochtief AG oder so ähnlich. Vielleicht auch umgedreht: Tiefhoch. Bauhilfsarbeiter mimt er da. Irgendwo bei einem Autobahnbrückenbau.“ „Hier in der Nähe?“ „I wo! Ganzes Ende weg. Werden jeden Tag mit dem Bus geholt und gebracht.“ Bully scheint tatsächlich einiges über Machelli zusammengetragen zu haben. Merkwürdig ist nur, daß er auch so bereitwillig darüber plaudert. Er muß sich seiner Sache schon sehr sicher sein. Nur, wenn nun dieser Machelli wirklich nichts mit dem Doppelmord zu scharfen hatte, ging er dann nicht ganz ahnungslos zu Maria? Er wußte dann doch gar nichts vom Verbrechen? Woher 78
auch? In den Zeitungen stand so gut wie nichts, und lesen kann er es ja sowieso nicht. Bliebe der belastende Brief. Aber wer wußte, wem das galt, ‚den Richtigen gefunden‘ … Nein, Bully ist kein gewöhnlicher Schuft, er ist ein ausgekochter. Ich tapse kindisch in seine Falle. „Was Sie nicht sagen!“ staunt er, als ich meine Gedanken äußere. Dazu feixt er niederträchtig und zerrt sein Rindsleder aus der Brusttasche. „Hier“, sagt er mitleidig und reicht mir eine blaue Doppelkarte, „das ist die Lohnsteuerkarte Ihres unschuldigen Cäsars.“ Ich begreife diesmal sofort. Auf der Karte sind drei Arbeitsstellen eingetragen: die Bergischen Eisenwerke AG, Inhaber R. Uhlmann; die Firma Uhlmann und Söhne, Schachtbau, und die Hochtief AG. Bully blinzelt mich an. „Und was glauben Sie, wie der Bauleiter des Autobahnbrückenobjektes heißt?“ Ich winke bloß ab. „Uhlmann“, sagt Bully trotzdem.
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VI. Madame Zuivre macht heute in Trauer. Elegante Trauer, standesgemäße Trauer, versteht sich. Trauer ist heutzutage eine Modenschau. Und Madame hat uns entweder kommen sehen oder erwartet. Sie steht in der sogenannten Halle und empfängt uns mit Würde. „Madame?“ sagt Bully artig und lüftet sogar seinen Filz. Wer den Kommissar halbwegs kennt, weiß, daß er in einer Laune ist, in der man ihn bedenkenlos um größere Beträge anpumpen kann. Beinahe liebenswürdig bittet er Madame in den verwaisten Salon. „Paar Fragen“, nuschelt er und setzt sich mit schönster Selbstverständlichkeit auf den Polsterhocker. „Aber bitte.“ Auch Madame ist zuvorkommend höflich. „Punkt eins: Wie oft fuhr Hugo Uhlmann nach Italien?“ „Italien?“ Bully schielt ironisch an die Zimmerdecke. Im Geist sicher bis zur Mansarde. „Möglich“, sagt Madame zögernd, „das da!“ Auch sie hebt den Blick zur Zimmerdecke, freilich diskreter. „Aber nach Italien gefahren? Nie!“ Bully hat offenbar nie und nimmer für möglich gehalten, daß Hugo Uhlmann Reisen in den sonnigen Süden versäumte, obwohl die für jeden begüterten Deutschen eine Art heilige Pflicht sind. „Danke“, knurrt er Madame an und dreht ihr einfach den Rücken zu. Madame beißt sich gekränkt auf die Unterlippe, steht wortlos auf und schreitet aufrecht zur Tür. Bums! Noch einige Gespräche gleichen Charakters, und 80
sie wird in der Disziplin Türenknallen eine ernst zu nehmende Konkurrenz für Bully sein. „Und Ihnen, Doktor, könnte wahrhaftig auch mal etwas Gescheites einfallen. Oder soll ich alles allein machen, was?“ Sicht aus, als ob er einen Blitzableiter sucht. Aber es hat keinen Sinn, mit ihm zu streiten. Und im Grunde erwartet er das auch gar nicht. Ich könnte ihm zwar von dem mysteriösen Licht im Schlafzimmer erzählen, aber erstens bin auch ich kein begeisterter Altruist, und zweitens habe ich seit der Vernehmung Machellis das verdammte Gefühl, daß ich statt des Ekrasits eine Kilobüchse harmlose Trockenmilch in die Röhre gestellt habe. Bully kümmern meine Gefühle einen Dreck. Er hockt statuarisch auf seinem Hocker und sucht angestrengt nach einem Ausweg. Und er findet ihn. Denn manchmal hat Bully verdammt gescheite Einfälle. Er springt auf und fordert händereibend: „Los, Doktor! An die Arbeit!“ „Furchtbar gern, Chef, bloß …“ „Mein lieber Doktor!“ Er ist schon wieder herablassend mitleidig. „Alles ist so einfach, und Sie begreifen nichts. O mein Gott! Und mit solch grenzenlos unfähigen Mitarbeitern soll man nun raffinierte Verbrechen aufklären!“ Ich nehme auch das hin. Irgendwann, das schwöre ich, werde ich diesem arroganten Menschen alles heimzahlen. „Sonst wäre ich ja auch Ihr Vorgesetzter“, sage ich bissig. „Gut, gibt einen halben Pluspunkt. Aber nun strengen Sie Ihr mit Hilfe von Steuergroschen trainiertes Gehirn mal an. Was stand in diesem Brief? Na? Was schrieb die liebe Mammi dem Bambino? Es ist der Richtige. Nie 81
würde sie ein bestimmtes Gesicht vergessen, capito? Sie muß also jemanden wiedererkannt haben. Und wonach kann man das am besten?“ „Nach einem Foto natürlich.“ „Bravissimo! Genau, Doktorchen! Wenn Sie so weiterwachsen – bis zum Kommissar reicht es unter Umständen doch noch.“ „Danke“, sage ich verstimmt, „suchen wir also Bilder. Und was versprechen Sie sich außerdem noch davon?“ „Ein Tatmotiv.“ Bully reißt schon den ersten Kasten auf. Nach einer halben Stunde haben wir weiter nichts geschafft als zusätzliche Arbeit für Maria. Dorothee Uhlmann hat alles mögliche aufgehoben – Hochzeitskarten, Poesiealben, Trauer anzeigen, Reiseprospekte, getrocknete Gräser und Blumen –, ein Bild ihres Gatten ist nicht dabei. Alles zusammen liegt unordentlich in Schubkästen und Kistchen. „In einem solchen Wirrwarr soll man nun der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen.“ „Hugos Zimmer sind von pedantischer Ordnung“, erinnere ich ihn in bester Absicht. „Danke! Hätte ich glatt vergessen.“ Er stampft gereizt aus dem Salon. Man muß durch die Halle gehen, um die Zimmer des Hausherrn zu erreichen. „Möchte bloß wissen, wie die Herrschaften miteinander ausgekommen sind.“ Der Gegensatz ist wirklich frappierend. In Hugos Zimmer liegt alles ordentlich auf seinem Platz. Es sieht aus, als ginge hier höchstens zu besonderen Feiertagen jemand hinein. „Na, ist mir völlig schnuppe, wie Uhlmanns ihre Tage und Nächte verbrachten.“ Bully bückt sich zur linken Schreibtischtür. Mit einer Sicherheit, als hätte er hier schon öfter eingebrochen, zerrt er ein ledergebundenes 82
Fotoalbum heraus. Auf dem Einbanddeckel klebt ein kupfernes Stadtwappen Wiens. Darunter goldene Ziffern, sehr große Ziffern. Die Jahreszahl 1939. Ein Erinnerungsstück. Das erste Bild, spießbürgerlich exakt, Nacktfrosch Hugo mit staunenden Kinderaugen auf zottigem Eisbärfell. Danach Hugo als Einjähriger, etwas krummbeinig. Und so geht es sehr ordentlich und bürokratisch weiter. Hugo als Zweijähriger, als Dreijähriger. Später, etwas blöde grinsend, mit zwei fehlenden Schneidezähnen, Hugo mit Zuckertüte. Dann Hugo mit den ersten langen Hosen, Hugo mit Fahrrad und Hugo als strammer Hitler junge. Alles in allem: Hugo Uhlmanns Leben in chronologischer Bilderfolge. Es muß sich zeitweise sehr angenehm gelebt haben. Ganz gewiß in der Soldatenzeit, weil die oberste Heeresleitung aus staatspolitischen Gründen sowieso nur Aufnahmen gestattete, auf denen sich der Kommiß als eine Art teutonischen Lebenselixiers widerspiegelte. Hugos Lächeln wird immer selbstgefälliger, je höher die Dienstgrade steigen. Sieht sein Versuch als Obergefreiter noch etwas schüchtern aus, als Feldwebel mit Deutschem Kreuz in Gold auf der Brust und achtunggebietenden Kolbenringen an den Ärmeln hat er das siegreiche Lächeln eines berufsmäßigen Optimisten. Ohne Zweifel, Hugo war ein gewissenhafter Mensch. In sicher zeitraubender Arbeit wurde unter jede Fotografie aus dem fröhlichen Landserleben mit weißer Tusche der Name des Ortes gepinselt, an dem sich Hugo der Kamera stellte. Wir haben Hugo neben einem dürren Bäumchen am Rande einer zerfurchten Sandwüste, Exerzierplatz genannt. Wir haben ihn mit Stahlhelm, in Feldmütze, bar83
häuptig, allein und auch im Kreise mehr oder weniger ernster Kameraden. Alles zusammen unter „Torgau 1938“. Und so geht es weiter. Hugo neben einem zerschossenen Gebäude, über dessen Türloch schief der polnische Adler hängt. Hugo in Kopenhagen, zwischen zwei gezwungen lächelnden Blondinen. Hugo in Norwegen, je einmal zwischen steilen Bergen, auf einem Bootsrand hockend, neben einem ausgebrannten Autowrack mit stumpfer Schnauze. Und hier beginnt die Zeit des selbstbewußten Lächelns. Dann Hugo in Afrika, mit kurzen Hosen. Hugo unter Palmen, was sich immer gut macht. Hugo in einem VWJeep, und Hugo mitten in unendlicher Wüste. Immer lachend, ein Sieger von Format. Dann Hugo auf Sizilien, schon als Leutnant. Kühn, sehr selbstbewußt, lächelnd. Und so geht das hin bis zu den Südhängen der Alpen. Von hier an gab es anscheinend für Hugo nichts mehr zu lachen. Er taucht erst in harmlosem Zivil mit einem ganz gewöhnlichen Damenfahrrad wieder auf. „Na?“ Bully klappt das Album zu. „Scheint jedenfalls nichts zu fehlen“, sage ich vorsichtig. „Das heißt, man kann natürlich auch Fotokopien angefertigt haben.“ „Kann man, man braucht aber nicht.“ Und gekonnt klappt er die Sammlung wieder auf, genau bei der Italienzeit. Irgend etwas muß ihm aufgefallen sein. Mir fiel dagegen nur auf, daß Hugo kein Bild seines teuren Bruders Daniel eingefügt hat. Aber ich erinnere mich noch rechtzeitig, daß sich ein Durchhalteoberleutnant unmöglich mit einem „persischen“ Leutnant solidarisieren konnte. „Na, noch immer keine Erleuchtung?“ Bully fragt un84
gewöhnlich zaghaft, obwohl er jetzt gut mit seinem Scharfsinn brillieren könnte. „Nichts, Chef.“ Bullys klobiger Zeigefinger umkreist mahnend vier Aufnahmen, unter denen pauschal steht: Kämpfe in der Po-Ebene. Es muß schon ziemlich weit im Norden der Ebene gewesen sein. Bei allen Bildern sind die nahen Alpen imposante Kulisse. Drei der Aufnahmen sind die üblichen Sechs-mal-neun-Fotos, das vierte Bild dagegen ist in Postkartengröße. Und auf diesem Bild bleibt Bullys Zeigefinger hängen. Abgesehen davon, daß er mögliche Fingerabdrücke inzwischen total verdorben haben dürfte, die Aufnahme ist kein Meisterstück. Hugo Uhlmann dreht dem Fotografen nämlich den Rücken zu. Ansonsten steht er neben anderen Offizieren und grüßt ehrfurchtsvoll einen General, der leutselig aus einem Kübelwagen zurückwinkt. Bully bückt sich plötzlich und kramt hastig im Schreibtisch. Er scheint tatsächlich Bescheid zu wissen. Zielsicher fördert er eine gewöhnliche Zigarrenkiste zutage. Inhalt ebenfalls Fotos. Sie fanden sicher keine Gnade vor Hugos Augen. „So ähnlich habe ich mir das gedacht“, sagt Bully endlich, und ich habe keinen blassen Schimmer, was eigentlich los ist. Er tippt erneut auf das Bild in Postkartengröße. „Sehen Sie doch mal genau hin. Finden Sie auf dem Bild irgendwo Spuren von Kampfhandlungen? Granattrichter, Ruinen, Stellungen, Tote? Nicht die Bohne, was? Bei den Kämpfen in der verdammten Po-Ebene ging es aber ganz schön haarig zu, dürfen Sie mir getrost glauben. Und schon deshalb gehört das Bild hier nicht hin.“ „Vielleicht bloß ’n Irrtum von Hugo?“ 85
„Irrtum! Ein deutscher Offizier irrt sich nicht einmal, wenn er aus Versehen seinen Burschen erschießt, Mann! Nee, nee. Und vor allen Dingen …“ Er bricht ab und blinzelt endlich wieder einmal, wenn auch etwas müde. „Vor allen Dingen aber stimmt der Gruß hier nicht.“ „Wieso? Er macht das doch verflucht zackig?“ „Eben, Doktor! So schön zackig und militärisch, wie seit dem Alten Fritz in Germany gegrüßt wird. Sehr schneidig, wie unser verstorbener Hugo das macht. Ellenbogen in Schulterhöhe, rechte Hand ausgestreckt am Mützenschirm, linke Hand an der Hosennaht. Bloß … die richtigen Kämpfe in der Po-Ebene waren erst Ende neunzehnhundertvierundvierzig. Als von der Achsenmacht Italien nur noch Mussolinis Torsorepublik Salo übrig war.“ „Na und?“ „Na und! Mensch! Laut Führerbefehl hatten nach dem Attentat vom zwanzigsten Juli in der Wolfsschanze sämtliche Waffengattungen mit dem deutschen Gruß zu grüßen. So nämlich!“ Bully reißt im Rausch seiner Erinnerungen den Arm hoch und kontrolliert mit schrägem Kopf die Richtung der ausgestreckten Hand. Er hat noch nichts vergessen, der gute Bully. „Diktatoren kommen doch auf seltsame Ideen, nicht?“ sage ich, um überhaupt was zu sagen. „Na ja“, sagt er dann gnädig, „davon können Sie natürlich nicht viel wissen.“ Damit schließt er das Album und klemmt es besitzergreifend unter den Arm. „Sie nicht … und unser Makkaroni erst recht nicht.“
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VII. Nach dem Mittagessen legt Bully wortlos eine Flugkarte der belgischen Luftfahrtgesellschaft „Sabena“ auf den Schreibtisch. Er thront auf seinen Kissen und blinzelt uns abwechselnd an. Das Essen muß vorzüglich gewesen sein. „Einer muß nach Italien“, sagt er nach eindrucksvoller Pause. Plotzki hebt träumerisch den Blick von seinen Langschäftern. Italien, Land der Zitronen, Land der Sonne, auch im Winter, und Land der glutvollen Frauen. Er seufzt. Ich traue dem Frieden nicht. Bully weiß längst, wer nach Italien reisen wird. Jede Diskussion oder nur der Versuch dazu ist aussichtslos. Und doch tippe ich voreilig auf Kommissar Plotzki, weil er nun einmal für Schnüffeln und Spionieren prädestiniert ist. Ich drehe meinen Chef entschlossen den Rücken zu, als ginge mich ganz Italien einen feuchten Dreck an. Dabei … ich war noch nie im sonnigen Süden, trotz Neckermann. Und der Teufel mochte wissen, ob man je hinkam. „Kommissar Plotzki?“ Ich hatte also recht, denke ich traurig. Plotzki horcht allerdings weniger entzückt auf, als man annehmen sollte. Sein Gesicht drückt viele Empfindungen auf einmal aus. Frohe Erwartung, Ungläubigkeit und verstecktes Mißtrauen. Er kennt Bully länger und besser als ich. Bully tut zwar, als wäge er ernsthaft ab, aber er hat das Gefecht nur an der verwundbarsten Stelle eröffnet. „Können wir ihn schicken?“ Bully schüttelt besorgt 87
den Kopf und begründet seine Zweifel. „Riskante Sache, was? Kann mich am Ende meine Stellung. kosten … Der Mensch ist imstande und steuert einfach das nächste Casa del Nutto an.“ Daß er nun auch mir ähnliche Eigenschaften attestieren wird, liegt auf der Hand. Denn selbst wenn Bully nun die gesamte Landeskriminalpolizei Revue passieren ließe – er käme doch nur zu dem einen Resultat, daß einzig er allein vertrauenswürdig genug sei. Trotz seiner Schmarre und trotz des Veilchens am Auge. „Und den Doktor? Mhm, man könnte schon. Warum nicht? Ein gebildeter Mensch mit ganz passablen Manieren. Würde direkt angenehm zwischen den Zigeunern da unten auffallen. Aber leider … seine verdammte Schwäche für höhere Strategie! Hindert ihn glatt, die einfachsten Dinge unkompliziert zu sehen. Und unser Auftrag erfordert ein Höchstmaß an Scharfsinn und Entschlossenheit. Tja, da werde ich wohl tatsächlich selbst fahren müssen, was?“ Nach dieser Leistung steht er auf, reckt sich voller Vorfreude und erklärt salbungsvoll: „Außerdem, ich liebe nämlich dieses Italien.“ Um seinen Egoismus zu vertuschen, bringt ei dann noch einige Argumente vor. Immerhin könne er sich leidlich mit den Makkaronis verständigen. Ganz abgesehen vom reichen Schatz seiner Erfahrungen im Umgang mit den Einwohnern. „Und was machen wir inzwischen? Auf Sie warten?“ „Ein Spaßvogel, unser Doktor“, sagt er leutselig. „Auf mich warten! Selbstverständlich auch das. Aber völlige Tatenlosigkeit steht im krassen Gegensatz zu meiner Auffassung über die Verwendung öffentlicher Gelder, wozu auch Ihr Gehalt gehört. Nein, ihr beide dürft euch Tag und Nacht am Anblick der süßen Maria erfreuen. 88
Man könnte euch fast beneiden. Maria Pezzone! Das liebe Kind dürfte doch wohl kaum rein zufällig bei einem Uhlmann arbeiten, was? Niemand konnte besser als sie ein bestimmtes Foto entwenden und einen billigen Ersatz dafür einkleben.“ Bei dieser Rede ist Bully um seinen Schreibtisch herumgekommen. Aufreizend umständlich verstaut er die Flugkarte in seinem abgeschabten Rindsleder und schließt dann das Album Hugo Uhlmanns in den Panzerschrank ein. „So, sonst noch was?“ Er hat es eilig. „Wann dürfen wir Sie zurückerwarten?“ „Wann? Übermorgen ist der Heilige Abend! Welch guten Christen deutscher Nation zieht es da nicht in den Schoß seiner Familie?“ „Gestatten Sie noch eine Frage, Herr Kommissar?“ Plotzki scheint irgendwie verändert zu sein. Er wartet auch nicht ab, ob Bully gestattet oder nicht. „Vielleicht sollten wir die Beobachtungen in Richtung Siegmund doch fortsetzen? Bei Überprüfung seiner Angaben …“ Bully winkt fast angeekelt ab. „Lassen Sie mich bloß mit den Liebesaffären dieses Playboys in Ruhe. Vielleicht prügelt sich das Volk bloß ganz am Rande um die Gunst der alten Tante, dieser charmanten Madame. Nee, nee! Unsere Marschrichtung steht fest, der Kompaß weist nach Süden. Auf geht’s … halten Sie sich gefälligst an meine Anordnungen!“ Plotzki bringt es sogar fertig, gelangweilt die Schultern zu heben. Bully rächt sich postwendend. Er gibt nur mir zum Abschied die Hand. „Fröhliche Weihnachten“, sagt er und knallt die Tür hinter sich zu. 89
Ein Glück, daß ich mich von Bullys Verhalten gegen Kommissar Plotzki nicht habe inspirieren lassen. Ich fühle mich im Augenblick wie der oft zitierte Mann zwischen zwei Stühlen. Schließlich bin ich gerade Kriminalobermeister und kann es eventuell bis zum Kommissar bringen, wie Bully gnädig andeutete. Denn laut preußischer Rangordnung ist Plotzki jetzt Chef. Ob und wie er diese Gelegenheit nutzen wird, ist nicht abzusehen. Wenn er will, kann er sich nun mächtig aufspielen. Zögernd nehme ich meinen Hut. Befehl ist Befehl, also auf zu Maria Pezzone. Aber Plotzki setzt sich nur bequemer in dem alten Ohrensessel aus Bullys Kollektion zurecht. „Nicht gar zu hastig, Herr Kollege. Maria läuft uns schon nicht davon.“ Ich stehe unentschlossen an der Tür. Verdammt, will er mich ’reinlegen? „Sie halten mich für einen Trottel, stimmt’s?“ Er nickt trübsinnig vor sich hin. „Der Plotzki pariert, marschiert und galoppiert, bis er krepiert, nicht?“ Die Walze gefällt mir überhaupt nicht. Klar, besondere Hochachtung empfinde ich nicht für ihn. Eher ein Gefühl aus einer Mischung von Mitleid und milder Verachtung. Herrgott! Gehen wir lieber! „Na, lassen Sie man“, leiert er weiter, „mir ist sowieso bald alles egal. Scheißegal, wenn Ihnen das nicht zu unanständig ist.“ Langsam wird die Sache peinlich. Ich lenke schnell ab. „Sagen Sie, vorhin führten Sie den Siegmund an. Wollten Sie da nicht auf etwas Bestimmtes hinaus?“ Nachdenklich betrachtet er mich. Kein Muskel zuckt in seinem Gesicht. Dieses hagere Gesicht ist müde und 90
ohne Hoffnung. Ich frage mich unwillkürlich, wofür dieser Mensch eigentlich lebt. „Bitte“, sagt er jetzt überraschend, „Bullys Theorie hat mit einiger Wahrscheinlichkeit Löcher. Aber das ist bei seiner Auffassung von Demokratie auch kein Kunststück.“ Vorsicht, sage ich mir. Gegen Menschen, deren Devotismus bei der geringsten Chance in gehässigen Widerstand umschlägt, kann man gar nicht mißtrauisch genug sein. „Wir wollten über Siegmund reden“, erinnere ich ihn. „Sie wollten“, verbessert er pedantisch. „Der Mann lügt übrigens. Ich bin doch nicht blind. Siegmund ist gestern nacht ins Cafe ‚Engel‘ gegangen. Aber er kam nicht wieder heraus. Das Rätsel löste sich schnell. Der Garten des Cafes grenzt, so unwahrscheinlich es klingt, an Uhlmanns Grundstück. Ich kann Ihnen gern das Loch in der Hecke zeigen, durch das Siegmund gekrochen sein könnte.“ „Sie meinen also, daß Siegmund unseren Onkel Daniel so zugerichtet hat?“ „Möglich wäre es, wenn ich auch noch keinen Grund dafür sehe.“ Widersprüche im Benehmen Verdächtiger sind das Salz einer kriminalistischen Suppe. „Und wieso lügt er, dieser Siegmund?“ „Sehr einfach“, sagt Plotzki bereitwillig. „Er will ja gegen elf Uhr von Daniel Uhlmann über das Ableben seines Chefs unterrichtet worden sein. Telefonisch. Um elf Uhr war er nicht im Betrieb, sondern zu Hause.“ „Nun, er wird doch einen privaten Anschluß haben?“ „Hat er. Nur, Sie vergessen seine Kronzeugin, dieses Fräulein Richter. Sie war von ein Uhr nachts bis Viertel 91
zwölf am Vormittag in seiner Wohnung. Was glauben Sie, haben die beiden wohl getrieben?“ „Was weiß ich? Vielleicht die Offenbarung Johannes gelesen?“ „Sie sind tatsächlich ein Spaßvogel“, sagt Plotzki und lächelt müde. „Muß aber dazu ein Fräulein Richter den Fernsprechanschluß lahmlegen?“ „Lahmlegen? Wie meinen Sie das?“ „Wie schon! Sie hat den Stecker herausgezogen und den Kontakt erst unmittelbar vor ihrem Aufbruch wieder in Ordnung gebracht. Demnach gegen Viertel zwölf. Wozu das allerdings gut gewesen sein soll, darüber schweigt sie.“ „Woher aber wußte dann Siegmund …“ „Das“, unterbricht mich Plotzki hastig, als bereue er längst sein Mitteilungsbedürfnis, „könnte Ihre Hochzeit werden.“ Dabei bückt er sich und fährt mit einem Staublappen über seine Stiefel, untrügliches Zeichen baldigen Aufbruchs. „Übrigens“, sagt er dann und beendet das für mich einigermaßen überraschende Intermezzo mit einer Rückversicherung, „Bully würde eher an Hitlers Rückkehr glauben als daran, daß ausgerechnet ich ihm in die Quere gerate.“
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VIII. „Daraus wird aber nichts, junger Mann!“ Sehr entrüstet verweigert mir eine Riesendame den Eintritt in ein Haus, das früher die Pension „Weißes Roß“ gewesen sein soll. Jedenfalls kann man verwischte Farbspuren über dem Simsstreifen am ersten Stock so deuten. Gegenüber drohen die schwarzen Quadermauern des mehrgleisigen Bahndamms, und so ist es ein Wunder, daß man vor lauter Ruß überhaupt noch etwas enträtseln kann. Die Gegend hier ist verdammt ungemütlich, und die Riesendame leider auch. Daran kann aber das miese Aussehen unseres VW erheblichen Anteil haben. Und in einem Land, da man den Grad des erreichten Wohlstands am Wagen mißt, kann sie mich durchaus für einen Landstreicher halten. Nein, sie hält mich für einen ungeduldigen Kunden. Denn was früher eventuell eine gut renommierte Pension war, ist heute etwas anderes. Eine Nuttenabsteige, wie Plotzki feinfühlig bemerkte. Meine Dienstmarke beendet das Theater. Gelegentliche Passanten, offenbar Mieter der näheren Umgebung, mustern mich schon neugierig. „Oh“, macht sie besorgt, „Kriminalpolizei? Zu wem … Ist das nicht ein Irrtum?“ „Kein Irrtum“, sage ich kurz und frage nach Fräulein Regine Richter. „Doppel-R? Das kann nur ein Irrtum sein.“ Sie mustert mich feindselig, und wir stehen noch immer auf der Straße. Entweder hat dieses Fräulein Doppel-R Mietschulden, oder sie ist eine besonders pünktlich zahlende Kundin. Die Riesendame rechnet offenbar mit einem 93
schmerzlichen Verlust. „Zimmer zwölf, zweiter Stock“, sagt sie dann aber doch. Die ehemalige Pension besteht zum größten Teil aus Fassade. Wenn der Außenputz auch gleichmäßig verrußt ist, so ist er doch wenigstens lückenlos. Innen aber sieht die Sache weitaus ungemütlicher aus. An den Wänden lassen sich Anzahl, Muster und Tönung aller bisherigen Anstriche ziemlich genau bestimmen. Die Türen hingegen sind von zuviel Anstrichen verschont geblieben. Die verschnörkelte Zwölf kann ich im dämmrigen Halbdunkel des langen Korridors gerade noch erkennen. „Her-rein“, fordert eine tiefe Frauenstimme. Es ist verblüffend, was geschickte Frauenhände aus einem tristen Zimmerloch machen können. Zwei Betten mit zartblauen Steppdecken, zwei schneeweiße Schränke, bunte Polstersessel, ein knallroter Teppich. Das Hauptmöbel ist eine riesige Frisiertoilette. Trotzdem sehr hübsch. Sogar Blumen gibt es, jetzt, mitten im Winter. Wirklich nicht übel. Auch die beiden Mädchen hier drin sind verflucht hübsch. Ich werde fast verlegen. Besonders die Schwarze, die in hellblauen engen Hosen auf der ebenso hellblauen Steppdecke liegt. Könnte mir gefallen. Schade, daß sie raucht. Müßte sie sich bei mir unbedingt abgewöhnen, nicht nur, weil es kaum eine unsinnigere Art gibt, sein Geld loszuwerden. Die Gewaltblonde auf dem anderen Bett ist Regine Richter. Oder Doppel-R. Sie hat die tiefe, angenehme Stimme. Tief und etwas heiser, wie die Hildegard Knefs vielleicht nach dem achten Grog. Auch ihre Kleidung gefällt mir sehr. Sie ist ein sparsames Kind und schont 94
ganz offensichtlich ihre Obergarderobe. „Bitte?“ „Kriminalpolizei.“ Ich weiß nicht warum, aber ich feixe. „Ach sooo!“ Ernüchtert blickt sie weg. Mit uns kann man kein Geschäft machen. Callgirls nennt man diese Damen. Anruf genügt, komme sofort. Na, auch ein Job. „Ich hätte Sie gern allein gesprochen.“ Die Schwarze bläst provokatorisch Rauch durch die Nase und tut, als wäre ich nicht recht bei Trost. Sie rührt sich jedenfalls nicht vom Bett. Ich muß meinen Wunsch schärfer wiederholen. „Und wo soll ich hin?“ „Von mir aus aufs Klosett“, sage ich ungewollt grob, dafür aber verständlich. Dieser Ton kommt an. Sie steigt königlich aus den Kissen wie Aphrodite aus dem Meeresschaum und stakt hochbeinig und qualmend aus dem Zimmer. „So“, sagt Doppel-R, als hätte sie das eben arrangiert. „Und worum handelt es sich? Oder kommen Sie etwa auch wegen der verklemmten Büronudel?“ Sie ist weder aufgeregt noch etwa ängstlich. „Falls Sie Herrn Siegmund meinen, ja.“ „Trauriger Knabe“, sagt sie mitleidig und setzt sich umständlich vor den Frisierspiegel. Das ist fast wie im Kino. Sooft ich nämlich einen Krimi gesehen habe, der irgendwo in einem ähnlichen Milieu spielte, immer saßen von Kripo verhörte Damen vor einem Spiegel. Wahrscheinlich ist das reine Effekthascherei der Kameramänner. „Erzählen Sie trotzdem. Am besten der Reihe nach.“ „Sie dürfen sich setzen“, fordert sie mich auf und deutet mit einem Stielkamm auf ihr Bett. Mein Gesicht muß 95
meine Gedanken verraten. Sie feixt geradezu niederträchtig. „Keine Angst, hierher kommen keine Kunden, obwohl …“ Sie lehnt sich langsam vor, lächelt mich im Spiegel an, und ich darf ihre triumphgehobene Brust bewundern. Ich bleibe trotzdem stehen, wenn es mir auch nicht ganz leichtfällt. Ich bin schließlich im Dienst. Sie seufzt und erzählt lustlos, daß Herr Siegmund vorgestern für nachts ein Uhr eine Dame aus der „Oase“ bestellt habe. Einzige Bedingung: blond sollte sie sein. Gott, das Übliche. Ein Taxi stand zur Zeit bereit, na, und sie fuhr eben hin. „Und – verzeihen Sie die Indiskretion – wie weiter?“ Eine saublöde Frage, zugegeben. Doppel-R feixt auch prompt belustigt. „Nichts weiter, junger Mann. Der traurige Knabe stand schon wartend vor seiner Gartentür und brachte mich in die Wohnung.“ Sie seufzt wieder und schüttelt sich dann angewidert. Die Arbeit „on call“ scheint bisweilen auch ein harter Job zu sein. Es kann auch in feinster Interlockwäsche kein reines Vergnügen sein, empfindungslos von Bett zu Bett zu nomadisieren. „Weiter, Fräulein …“ „Ich sagte doch: nichts weiter! Ich glaubte zunächst auch, er hätte Geschäftspartner aufzuheitern, wie üblich. Dabei war der Knilch ganz allein in der Wohnung.“ Die Sache wird allmählich peinlich. Wie fragt man denn nun unverfänglich weiter? Gottlob bringt mich Doppel-R hilfsbereit über die Klippe. „Und sonst nichts, junger Freund. Der Bubi trank noch zwei gewöhnliche Doppelwachholder und schlief sacht ein. Ich saß dabei und drehte Däumchen. Aber etwas anderes: Sie sind nun schon der zweite von Ihrem Haufen 96
… Worum geht es denn eigentlich?“ „Um Mord, mein Kind.“ „Sieh mal an! Hätte ich dem Versager gar nicht zugetraut.“ „Er war’s ja auch nicht.“ „Wie? Na, Sie wissen wohl auch nur halb, was Sie wollen.“ Dabei mustert sie mich prüfend, als hätte sie mich in Verdacht, meine ganze Fragerei sei nur eine Finte. „Aber, mir soll’s egal sein, wie und wofür Sie Ihr Gehalt schlucken. Und damit die Fanny nicht ewig draußen hocken muß – früh wollte er mich einfach abschieben. Ohne Frühstück auch noch. Von Honorar überhaupt nicht zu reden. Also blieb ich einfach im Bett liegen und streikte. Seine Bemerkungen über mein Verhalten waren alles andere als gentlemanlike. Schließlich schloß er mich wütend ein, um noch pünktlich seinen Büroschemel zu erreichen.“ „Sie blieben aber nicht lange allein, nicht?“ „Wissen Sie doch längst. Nach knapp zwei Stunden kam er wieder. Machte einen ziemlich miesen Eindruck. Ich dachte erst, er hätte Angst um sein Tafelsilber. Esel! Wir sind eine reelle Firma. Der Chef würde mir vielleicht was erzählen! Na ja, und dann …“ „Und wie war das mit dem Telefon?“ „Hören Sie, ich habe das alles schon dem Muffligen aus Ihrem Verein erzählt. Telefon! Wer läßt sich schon gern stören?“ „Danke“, lenke ich hastig ab und lüfte höflich meinen Hut, Auf Details wollen wir gern verzichten. Wichtig ist ohnehin nur, daß Plotzkis Ermittlungen bemerkenswert bleiben. Woher also wußte Siegmund vom Tod der Uhlmanns? Denn selbst wenn er es per Zufall unterwegs gehört haben sollte, warum das Märchen von Daniel Uhl97
manns Anruf gegen elf Uhr? „He, Sheriff! Wollen Sie sich an der Miete beteiligen?“ Ich nicke schnell noch Doppel-R zu, riskiere einen Abschiedsblick auf das Angebot im Spiegel und klinke auf. Langbeinig und verlockend dicht tänzelt die Schwarze an mir vorbei. Verflucht dicht sogar, viel länger darf ich auf keinen Fall bleiben. Obendrein pfeift sie auch noch. Sie hat natürlich gelauscht. Sie pfeift: Was kann der Sigismund dafür, daß er so schön ist. In diesem Augenblick habe ich Verständnis für Bullys Angewohnheit. Auch ich knalle die Tür herzhaft hinter mir zu. Draußen auf der Straße merke ich, daß es endgültig auf Weihnachten zugeht. Es fallen große, weiße Flocken. Ab heute wird uns Bing Crosbys Traum von der weißen Weihnacht wieder richtig ans Gemüt gehen. Und obwohl man schon Pfingsten weiß, daß irgendwann im Jahr der erste Schnee fallen wird, man ist immer wieder überrascht. Ich jedenfalls. Es wird einem auch immer ein bißchen anders. Wie, kann man nur schwer beschreiben. Auf jeden Fall weihnachtlich. Aber das hält bei mir diesmal nicht lange an. Der „Buckel“ sieht mit seinem flockigen Überzug zwar bedeutend netter aus, aber er hat vorn links einen Platten. Auch eine Bescherung. Die Uhlmann-Chemie liegt ein ziemliches Stückchen außerhalb in einem eingemeindeten Vorort. Vielleicht, weil dort draußen das Bauland billiger war, vielleicht auch, weil Chemie bisweilen stinkt. Herr Siegmund, der nach Plotzkis Ermittlungen auf öffentliche und private Verkehrsmittel verzichten soll, hat jeden Tag einen hüb98
schen Fußmarsch zurückzulegen. Sehr groß und bedeutend ist die Firma nicht. Von weitem sieht sie wie eine Miniaturerdölraffinerie aus. Drei weiße, langgestreckte Gebäude, viel Glas. Dazwischen Rohrleitungen und senkrecht stehende Druckkessel. Vorn quer, mit einer modernen Tunneldurchfahrt, ein zweistöckiger Glasbetonbau, repräsentativer Blickfang. Alles zusammen relativ neu und gut in Schuß. Das Tor vor dem Tunnel ist offen, und ich fahre kühn durch. Sofort stürzt der Pförtner aus seinem Glaskäfig und schnauzt mich an, als ich kaum stehe. Auch er mustert meinen Wagen verächtlich. Ein verlodderter VW ist für ihn offenbar Attribut für einen erfolglosen Vertreter auf Arbeitssuche. „Herr Siegmund da?“ Meine Dienstmarke stimmt ihn sofort sanftmütiger. „Selbstverständlich! Oben links, das letzte Zimmer.“ Herr Siegmund sitzt tatenlos hinter einem komplizierten Möbel, das man nur zögernd als Schreibtisch akzeptieren kann. Es ähnelt weit mehr einer expressionistischen Flurgarderobe. Der Rest des Zimmers ist allerdings Büro. Regale und eine ansehnliche Masse Aktenbündel. „Da sind Sie ja! Was kann ich für Sie tun?“ Der Pförtner ist ein übereifriger Esel, und Herr Siegmund wirkt hier noch selbstbewußter. Er sieht überhaupt nicht aus, wie man sich allgemein einen Büromenschen in leitender Stellung vorstellt. Mit seiner gestutzten Haarbürste erweckt er eher den Eindruck eines energiegeladenen Werbefachmanns aus Gottes eigenem Land. „Hello“, grüße ich unwillkürlich und erfreue ihn mit der Bemerkung: „Ein schönes Plätzchen haben Sie hier.“ „Darin divergieren unsere Ansichten zwar, aber darum geht es bei Ihrem Besuch doch sicher nicht?“ 99
„Man könnte neidisch werden.“ Kann man wirklich, wenn man seine Tage in Bullys Rumpelkammer verbringen muß. „Kann ich gelegentlich den Zweck Ihres Erscheinens erfahren?“ „Ich wollte Sie bitten, mir das Chefzimmer zu zeigen.“ „Bitte“, sagt er bereitwillig und kommt hinter seinem Möbel hervor. „Wenn Sie die Güte hätten, mir zu folgen?“ Ich habe die Güte. Das Zimmer des Chefs liegt am anderen Ende des langen Flurs. Und es ist weitaus komfortabler eingerichtet als das des Prokuristen. Es fehlt einfach nichts zur Behaglichkeit, weder eine Sesselgruppe noch die obligatorische Hausbar auf Gummirädern. In den Teppich von ganz zartgrüner Farbe könnte ich mich direkt verlieben, aber meine Gefühle sind hier nicht gefragt. „Danke“, sage ich besonders hochnäsig und probiere die Wirkung von Bullys berühmter Handbewegung. Herr Siegmund beherrscht die Kunst, überlegen zu reagieren, bis zur Vollendung. Obwohl ihn der Hinauswurf aufregen müßte, nimmt er ihn hin und geht aufrecht aus dem Zimmer, als hätte er mich eben abgekanzelt. Ich könnte ihn aber auch hier nicht brauchen. Ich weiß selbst nicht genau, was ich hier eigentlich suche. Mich hatte viel mehr sein Telefon und seine Sekretärin interessiert. Aber dieser übereifrige Esel von einem Pförtner hat mir mit seiner Anmeldung das Überraschungsmoment genommen. Mehr routinemäßig nehme ich alles mögliche in die Hand und stelle es wieder an seinen Platz zurück. Etwas aufmerksamer blättere ich in einer Korrespondenzmappe mit säuberlich abgehefteten Geschäftsbriefen. Aber ob 100
hier alles unverändert ist? Es wäre ja auch zu schön, hier etwas Brauchbares zu finden. Zum Beispiel einen Brief an einen oder von einem gewissen Georg. Mochte der Teufel wissen, wer dieser Georg eigentlich war. Jedenfalls ging an ihn eine Art Hilferuf. Oder er war zumindest geplant. Aber warum? Fühlte sich Hugo Uhlmann bedroht? Wurde er vielleicht erpreßt? Ob es nicht doch eine Unterlassungssünde von uns ist, in dieser Richtung nicht intensiv zu kramen? Aber Bully mit seinem Italienkomplex … In ärgerlichen Gedanken vertieft, stehe ich vor einem Panzerschrank. Damit war doch auch etwas? Ach ja! Hugo pflegte allen Schmuck und sonstige Wertsachen in diesem soliden Kasten aufzubewahren. Vielleicht hat er berechtigte Gründe zu übertriebenem Mißtrauen gehabt? An dieses Monstrum kam wohl niemand ohne Schlüssel und Kenntnis der Zahlenkombination heran. Und ganz plötzlich fällt mir etwas ein. Ich vergesse sogar, hinter mir abzuschließen, so hastig eile ich zum Prokuristen zurück. Der sitzt noch immer tatenlos, raucht und sieht mich reserviert an. „Sagen Sie, der Panzerschrank … Ich hätte ganz gern mal einen Blick ins Innere getan.“ Herr Siegmund lächelt fein. „Ich muß Sie leider enttäuschen. Nur Herr Uhlmann kannte die Kombination, und nur er besaß die Schlüssel.“ „Bißchen ungewöhnlich, wie?“ „Nicht bei einer hegemonischen Geschäftsführung“, belehrt er mich. „Außerdem schließe ich aus gewissen Andeutungen, daß Herr Uhlmann auch rein private Dinge im Schrank deponierte.“ „Dann sagt mir die Logik, daß noch alles drin sein müßte.“ „Mir eigentlich auch …“ 101
„Und Sie können nicht ’rein?“ „Wir werden wohl gezwungen sein, einen Fachmann der Herstellerfirma anzufordern. Einige wichtige Forschungsergebnisse und Verträge brauchten wir schnellstens zur Weiter arbeit.“ „Und wie ist das mit dem Schlüssel? Hatte den Herr Uhlmann immer bei sich?“ „Da bin ich nun wirklich überfragt.“ Herr Siegmund hebt bedauernd beide Hände und erhebt sich. Es ist nicht zu übersehen, daß diese Andeutung eines Hinauswurfs die Revanche von vorhin sein soll. Na, mir reicht es auch so. Ich nicke kühl und wende mich zum Nebenzimmer. „Sie ersparen sich einen Umweg, wenn Sie jene Tür dort benutzen“, mahnt Herr Siegmund hinter mir her. „Ich weiß“, sage ich und verschwinde trotzdem im Nebenzimmer. Die Sekretärin hat zu tun. Sie telefoniert. Dienstlich aber kaum. So vergnügt behandelt eine bezahlte Arbeitskraft keine Geschäftskunden. Nach fast fünf Minuten legt sie endlich auf. „Bitte?“ „Tag, mein Kind“, sage ich leutselig. „Wann ging ihr Herr Prokurist gestern nach Hause? Und nun fragen Sie bloß nicht, was mich das eigentlich angeht. Hier!“ Die Blechmarke ist mitunter wertvoller als ein Scheckheft. „Herr Siegmund? Nach Hause? Das weiß ich beim besten Willen nicht. Ich weiß nur, daß er gleich morgens, kurz nach sieben Uhr, die Firma wieder verließ.“ „Und da wunderten Sie sich nicht?“ „Wieso denn? Herr Siegmund hat selbstverständlich oft außerhalb zu tun. Im übrigen, das habe ich alles schon einmal einem Ihrer Kollegen erzählt.“ „Haben Sie das wenigstens für sich behalten?“ „Muß ich doch! Ihr Kollege hat mir ja verboten, dar102
über zu reden! Vor allem nicht mit Herrn Siegmund.“ „Ausgezeichnet. Das Verbot wird auf unbestimmte Zeit verlängert. Und noch etwas: Auf Herrn Siegmunds Schreibtisch stehen zwei Telefone. Das eine ist doch sicher an das öffentliche Netz angeschlossen?“ „Natürlich!“ „Folglich braucht Herr Siegmund nicht Ihre Hilfe, und Sie wissen nicht in jedem Fall, wer ihn anruft oder mit wem er gerade spricht?“ „Nein, bei Ortsgesprächen nicht.“ „Schön. Vergessen Sie also nicht: Schweigen ist Gold für Sie. Und damit leben Sie vorläufig wohl.“ „Fräulein Bauch?“ Siegmunds Stimme aus der Sprechanlage stoppt meinen Rückzug. „Ist der Mensch weg?“ Fräulein Bauch sieht mich verlegen an und drückt hastig auf den Umschalter. Ich beuge mich über sie und sage freundlich: „Der Mensch will gerade gehen.“ Das tue ich dann auch. Es gibt Stoff zum Nachdenken. Wenn Siegmund nämlich kurz nach sieben wieder gegangen war, konnte er nicht nach halb acht hier angerufen worden sein. Wer aber wußte kurz nach sieben vom Tod der Uhlmanns? Wer? Mit absoluter Sicherheit der Mörder. Falls der aber kurz nach sieben hier angerufen haben sollte, wieso informierte er ausgerechnet den Prokuristen?
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IX. Wüßte ich nicht schon, daß Direktor Niedermeyer von den Vereinigten Sprengstoffwerken der reichste Mann der Stadt ist, ich würde Dr. Kippenhöfer dafür halten. Knapp fünf Minuten von Uhlmanns entfernt, bewohnt er eine Traumvilla, die auch auf Mallorca viel Neid wecken würde. Ein schneeweißes Haus, raffiniert in den Südhang eines Hügels eingefügt, eine architektonische Glanzleistung aus Stein, Glas, Kunststoffen und Geschmack. Ein Gedicht, wenn auch ein verdammt teures. Und in diesem Gedicht wohnt ein einziger Mann mit Frau. Dienstboten natürlich auch noch. Aber die wohnen nicht direkt, die haben bloß Unterkunft im Haus. Im Vergleich zu dieser Villa wirkt der Rechtsanwalt Kippenhöfer ausgesprochen salopp. Er gilt als Mensch von klugem Witz und soll eine herablassende Ironie bevorzugen. Er ist eben der Anwalt der Stadt. Es gibt zwar noch mehr Paragraphenreiter, aber keiner erreicht annähernd sein Format. „Was kann ich für Sie tun?“ Sehr zuvorkommend geleitet er mich zu einer Sesselgruppe unter üppigen Gummibäumen und anderen großblättrigen Tropengewächsen. Ich kenne mich da nicht so aus. Aber seine Halle, das ist wenigstens eine. Kein Provisorium wie bei Uhlmanns. Vielleicht ist es auch keine Halle mehr, sondern schon ein Wohnsaal. „Ich möchte Sie keineswegs lange aufhalten“, beginne ich etwas beeindruckt. Er schiebt mir sein Zigarrenetui hin, aber ich rauche nun mal nicht. Er ist so höflich, daß auch er darauf verzichtet. „Bitte, fragen Sie nur.“ Er lächelt, er weiß Bescheid. 104
„Sie können sich bestimmt denken … die Sache Uhlmann.“ „Abscheulich“, stimmt er sofort zu. „Aber, ich nehme an, der Täter ist bereits gefaßt?“ „Gewiß, gewiß. Nur, es gibt da einige Umstände … Vielleicht werden Ihnen meine Fragen etwas ungewöhnlich erscheinen?“ „Wozu die Umwege, junger Freund?“ Er intensiviert sein Lächeln. „Im übrigen, ich kenne natürlich Kommissar Schwenzer. Damit natürlich auch seine, nun, sagen wir, nonchalante ‚Großzügigkeit‘ bei der Ausübung seiner Macht. Leider auch ist er damit nicht allein auf weiter Flur, und es haben auch deswegen schon international anerkannte Juristen interveniert. Es wird in der Bundesrepublik zuviel und zu schnell verhaftet, der Wert einer Generalprävention ist ja ohnehin sehr umstritten. Im Ergebnis sind damit logisch eine hohe Zahl Verdächtiger unschuldig oder zumindest ungerechtfertigt in Untersuchungshaft. Aber … ich schweife wohl ab?“ „Wie bitte?“ frage ich abwesend. Wie dieser Dr. Kippenhöfer generös mit Begriffen um sich wirft, macht mich nervös. Irgendwie hat man dann immer Komplexe. „Ja“, sage ich dann eilig, „Sie sind doch der Rechtsbeistand der Uhlmann-Chemie, nicht wahr?“ Er nickt nicht einmal dazu, er sieht mich nur an. „Ich komme gerade von dort, wissen Sie?“ Allmählich komme ich mir selbst reichlich albern vor und sage entschlossen: „Mich interessiert der Panzerschrank.“ „Ein vortreffliches Modell“, sagt er zustimmend. Mehr nicht. „Leider gibt es gewisse Schwierigkeiten mit dem Öffnen.“ Dr. Kippenhöfer lächelt etwas und nickt leichthin. „Verstehe. Immerhin, junger Freund, solche Schwierig105
keiten setzt man bei einem guten Modell voraus. Aber Sie meinen sicher Herrn Uhlmanns Eigenart, keinem Fremden zuviel Vertrauen zu schenken, nicht wahr? Leider kann auch ich Ihnen da kaum von Nutzen sein.“ „Schade“, sage ich und frage aufs Geratewohl: „Bestimmt sind Dinge von großem Wert darin. Die Firma steht doch gut da, nehme ich an?“ Er sieht mich fast neugierig an und verblüfft mich mit der trockenen Feststellung: „Sie sind Optimist, nicht wahr?“ „Sie steht also nicht gut da“, konstatiere ich möglichst harmlos. Der schöne Sigismund behauptete vor ungefähr vierundzwanzig Stunden: ‚Ein so gesundes Unternehmen wie die Uhlmann-Chemie … ‘ Warum, zum Teufel, wollte uns der Bursche diesen Eindruck oktroyieren? „Überrascht Sie das?“ Dr. Kippenhöfer scheint verwundert. „Einigermaßen“, gestehe ich zögernd. „Auch den Jungen wird es überraschen“, sagt Dr. Kippenhöfer mitfühlend. „Sie mögen ihn wohl sehr?“ „Ich kann es nicht bestreiten. Ich halte ihn für einen Menschen mit Zukunft, sehr talentiert, sehr zielstrebig, entschlußfreudig, er vereint viele Anlagen in sich.“ „Armer Junge.“ „Ja, er kann einem leid tun“, sagt er, aber ich habe das komische Gefühl, man kann dieses Zugeständnis auch dahin interpretieren, daß er mehr den Verlust eines Vermögens bedauert. „Eigenartig, wie?“ Ich sehe den Rechtsanwalt scharf an und ernte ein herablassendes Lächeln. Dieser Fuchs ist wirklich vom Fach, man sollte so etwas nie vergessen. „Frank Uhlmann“, sagt er erstmals etwas betonter, 106
„war bis morgens in meinem Haus. Ich hoffe, Sie finden das nicht auch eigenartig, junger Mann. Selbstverständlich weiß ich, daß Sie nicht die kleinste Spur übersehen dürfen – aber Tatsachen schon gar nicht. Und“, wieder lächelt er, diesmal einwandfrei ironisch, „Frank hat ein ausgezeichnetes Alibi. Darauf zielte doch wohl die Provokation in Ihrer Frage, nicht wahr?“ Damit steht er auf, aber ich übersehe die Aufforderung. „Ein Mißverständnis“, lenke ich rasch ein und huste gekünstelt. „Ziemlich absurd, in der Tat.“ Ich weiß nicht, ob ihn nun diese Art von Opportunismus milder stimmt oder ob ihn einfach mein dickes Fell imponiert. Er steht nachdenklich vor seinem „Botanischen Garten“ und mustert mich abwägend. Eben denke ich, er ist eigentlich ein ganz gerissener Halunke, das wäre aber in seinem Beruf höchstens eine Art Diplom, als er mich auffordert: „Kommen Sie bitte … nach oben.“ Er läßt mir höflich den Vortritt auf der breit geschwungenen Treppe, die frei aus der Halle emporsteigt. Mit gleicher Höflichkeit dirigiert er mich weiter bis in sein Arbeitszimmer. Wenn ich an Bullys Rumpelkammer denke, wird mir wieder einmal ganz anders. Was leben wir doch rückständig! Wieder bietet er mir einen Sessel an, setzt sich selbst hinter den Schreibtisch und legt, ohne ein Wort zu sprechen, ein Tonband in ein bereitstehendes Bandgerät ein. Er scheint noch zu überlegen, ob ich dessen, was er mir jetzt enthüllen will, auch wert bin, dann aber entschließt er sich. „Um keine Irrtümer aufkommen zu lassen, ich habe nicht unbedingt die Absicht, Ihnen das Leben leicht zu 107
machen. Aber – ich mag den Frank wirklich sehr. Und nur deswegen, und zwar ausschließlich deswegen, bitte ich einige Minuten um Ihre Aufmerksamkeit.“ Dann drückt er auf den Schaltknopf, lehnt sich bequem zurück und sieht zum Fenster hinaus, als störe ihn mein Anblick. Es beginnt mit Geräuschen, wie sie bei flüchtiger Bewegung von Papierbogen entstehen. Etwas, vielleicht ein Bleistift, fällt auf Holz. Dann klappt gedämpft eine Tür, kurze, stöckelnde Frauenschritte knallen hart auf Steinholzfußboden … „Ich hatte dich schon vor einer Stunde erwartet!“ Eine ungehaltene Männerstimme, die ich nicht kenne. „Na und?“ Eine etwas schrille Frauenstimme, hochmütig. „Viel Zeit habe ich sowieso nicht. Ich bin verabredet.“ „Dann wirst du dir etwas Zeit nehmen müssen, mein Kind.“ „Was ist denn überhaupt passiert?“ „Gott, passiert! Es ist nur … der Junge gefällt mir in letzter Zeit nicht.“ „Und das wundert dich?“ „Weil du dich zuwenig um ihn kümmerst, Dorothee! Sieh mal, ich habe weiß Gott den Kopf voll genug. Das Geschäft …“ „Und deine Liebschaften, nicht wahr?“ „Ich muß doch sehr bitten!“ „Spiel dich nur nicht auf! Und was den Jungen angeht – meinst du, der weiß nicht, was manchmal hinter deinen sogenannten Geschäftsreisen steckt? Oder die Geschichte mit Käthe? Du machst doch nicht einmal vor dem Dienstpersonal hält!“ „Das ist doch wohl erledigt.“ 108
„Für dich vielleicht! Du hast)a der Käthe glücklich mit fünftausend Mark …“ „Zum letzten Mal: Schluß damit!“ „Und Maria? Noch keine zehn Tage ist das schwarzhaarige Luder da, und schon steigst du ihr nach! Denkst du, ich wüßte das nicht?“ „Ach, du spionierst mir nach?“ „Nonsens! Da müßte ich ja ein ganzes Detektivbüro beschäftigen. Und im allgemeinen ist mir das auch ziemlich gleich, ob, wann, wie und wo. Aber nicht hier im Haust Niemand läßt sich gern lächerlich machen, auch ich nicht. Und vor allem: Stell dich nächstens wenigstens nicht so ungeschickt an, daß auch noch Frank Augenzeuge deiner Anstrengungen wird!“ Sekunden Pause, dann die Männerstimme, etwas verlegen: „Ob der Junge deswegen vielleicht …?“ „Was weiß ich! Komisch ist er ja immer. Fast, als wenn man fremd wäre. Dabei hat er alle Freiheiten, die sich ein Junge nur wünschen kann, kriegt alles, darf tun und lassen, was er will, macht sogar aus seinem Zimmer ein halbes Labor.“ Einige Sekunden Schweigen, dann nachdenklich: „Aber vielleicht sollten wir uns wirklich mehr mit ihm beschäftigen? Eines Tages wird er ja hier der Erbe sein. Unser Erbe.“ „Wenn es dann noch etwas zu erben gibt“, murmelt die Männerstimme. „Was heißt das?“ Scharf und ängstlich die Gegenfrage. „Nichts, nichts … Mein Gott, manchmal sagt man einfach etwas so hin, nicht der Rede wert. Aber, Erbe? Ich weiß nicht, der Junge hat doch nur Interesse für seine Funktechnik … manchmal … Herrgott, man hat doch 109
kaum noch Zeit! Aber du, Dorothee!“ „Ich? Habe ich nicht genug gesellschaftliche Verpflichtungen? Und überhaupt, ich habe eine Verabredung. Was wolltest du eigentlich von mir?“ „Ach sooo … ja! Mein Prokurist, der Siegmund, ich weiß nicht … Ich habe da so ein dämliches Gefühl. Hast du ihn in letzter …“ Aus. Herr Kippenhöfer beugt sich langsam vor und nimmt sorgfältig das Band aus dem Gerät, verstaut es im Mittelfach und schließt nachdrücklich ab. „Das waren Herr und Frau Uhlmann“, sagt er dann sachlich. Ich nicke und warte, obwohl ich nicht genau weiß, worauf eigentlich. Siegmund beschäftigt mich weit mehr als Frank. Was veranlaßte Hugo Uhlmann, ein dämliches Gefühl zu haben? „Ja“, beginnt Dr. Kippenhöfer von neuem, „Herr und Frau Uhlmann also. Eine grausame Zeit, nicht wahr? Gewiß, es kann keine Entschuldigung dafür sein, daß man vor lauter Geschäften seine Kinder vergißt oder einfach kaum noch Zeit für sie findet, aber … eine Art Teufelskreis, nicht wahr? ‚Beati possidentes‘ – vielleicht hat diese angenehme Lebensmaxime nur noch historischen Wert? Was meinen Sie?“ „Ich meine vor allem, daß Sie mir das Band nicht ohne Grund vorgespielt haben.“ Darauf mustert er mich wie einen leichtfertig unterschätzten Gegner vor Gericht und lächelt dann endlich wieder einmal. „Nun, ich habe eine Schwäche für den Jungen, das sagte ich ja bereits. Und ich möchte vermeiden, daß Sie aus dritter Hand etwas über Spannungen innerhalb der Familie Uhlmann hören und daraus“, und dazu lächelt er stärker, er ist eben vom Fach, „ganz und 110
gar abwegige Schlußfolgerungen ziehen.“ „Er hat ein Alibi, ein unangreifbares.“ Das kann ich mir nun doch nicht verkneifen. „Er ist ein guter Junge“, wiederholt Dr. Kippenhöfer störrisch. „Trotz des gestörten Verhältnisses zu seinen Eltern. Er hat es jetzt überwunden, jedenfalls ließ er sich kaum noch etwas anmerken. Gewiß, er verkroch sich etwas zu sehr in sein Zimmer, entdeckte sogar eine gewisse schwärmerische Vorliebe zum Fernsehen, besonders zu Kriminalfilmen. Aber darin sehe ich keine Abweichung von der Norm, im Gegenteil, junge Menschen dürfen noch ungehindert für Helden schwärmen, nicht wahr?“ Allmählich geht mir seine Schwärmerei etwas auf die Nerven. Verstehen kann ich seine Sorgen, aber nun könnte es gut sein. Und doch bleibe ausgerechnet ich beim Thema. „Sie sagten, Frank dürfte das, wie Sie sich ausdrückten, gestörte Verhältnis überwunden haben. Demnach war das nicht immer so?“ Daß er nun wieder lächelt, leuchtet mir sofort ein. Eine idiotische Frage, wahrhaftig. Aber er geht bereitwillig darauf ein. „Ich will Ihnen eine kleine Begebenheit erzählen. Sehen Sie, Franks stiller Ärger war, daß er ausgerechnet in Deutsch die Note Vier hatte. Ein dunkler Fleck sozusagen, nicht wahr? Aber, auch wenn Sie es unglaubhaft finden, der Junge ist so zielstrebig und selbstbewußt, daß er fast eine Art Wunder vollbrachte. Es bestand in einer glatten Eins auf dem Frühjahrszeugnis. Damit kam er voll Stolz nach Hause. Es war immerhin eine beachtliche Leistung aus eigener Kraft, speziell für ein halbes Kind. Wir saßen damals auf der Terrasse, Herr und Frau Uhl111
mann und ich.“ Wir sind inzwischen wieder auf der eleganten Treppe angekommen, und ich finde, daß er ein typischer Rechtsanwalt ist. Redet, redet und sagt dabei nicht viel. „Ich saß übrigens mit dem Rücken zur Toreinfahrt“, plaudert er umständlich weiter. „Frank kam strahlend auf uns zugelaufen, die Uhlmanns sprangen gleichzeitig auf, und Frank winkte schon aus einigen Metern Entfernung fröhlich mit dem Zeugnis.“ „Sehr hübsch bis jetzt“, sage ich etwas ungehalten, weil Dr. Kippenhöfer wieder eine Pause einlegt. „Ja, bis jetzt … nur, Uhlmanns waren nicht wegen des Jungen aufgesprungen. Verstehen Sie?“ „Nee“, grunze ich. „Nun, junger Mann, im gleichen Augenblick war nämlich ein funkelnagelneuer Mercedes in die Einfahrt eingebogen. Uhlmanns neuste Erwerbung.“ „Ja, und Frank?“ „Frank stand im wahrsten Sinne des Wortes im Wege. Herr Uhlmann warf überhaupt keinen Blick auf das Zeugnis, und Frau Dorothee sagte nur flüchtig jaja und lief auch weiter.“ „Und Frank?“ wiederhole ich, nun doch interessiert. „Er mußte zusehen, wie begeistert seine Mutter in den Polstern des Wagens lehnte und den Super bediente, während sein Vater fachmännisch die Heckfederung prüfte und sich besonders für das eingebaute Telefon interessierte. Ja, da ging der Junge. Still, sehr still.“ Dr. Kippenhöfer steht in der offenen Tür und sieht mir nach. „Übrigens“, sage ich über die Schulter zurück, „woher haben Sie eigentlich das Tonband?“ „Lieber Freund“, antwortet Dr. Kippenhöfer und lä112
chelt natürlich dabei. „Auch Rechtsanwälte unterliegen einer Schweigepflicht.“ Kommissar Plotzki sitzt gemütlich in Uhlmanns Küche und ißt. In Mantel und Hut und mit ausgezeichnetem Appetit. Er nickt nicht unfreundlich und deutet einladend auf den Stuhl neben sich. „Was Neues?“ frage ich. Er schüttelt den Kopf und kaut. Muß sein Leibgericht sein. Sehr viel Hackepeter, viel Zwiebeln, etwas Pfeffer, wenig Weißbrot. Ich glaube aber, er würde überall wie ein Überkopflader ’reinschaufeln, wenn es nichts kostet. „Und Sie?“ „Besonders operativ scheint Kommissar Schwenzer nicht zu arbeiten“, sage ich vorsichtig. Kritik an abwesenden Vorgesetzten erweist sich mitunter als Bumerang. „Soll ich Sie ablösen?“ „Wozu?“ Er kaut unentwegt. „Fühle mich ausgesprochen wohl hier.“ Man sieht es ihm an. Aber man sieht ihm nicht an, was er denkt. Zum Beispiel über mich, über Bully und darüber, ob man die Spur Siegmund weiterverfolgen soll oder nicht. Denn dieser Gentleman verdient einige Aufmerksamkeit. Plotzki aber ißt mit der Hingabe eines Islamiten, der den Ramadan vor sich weiß. Eben angelt er sich eine Zwiebel von der Größe eines mittleren Kohlrabi und schält sie unbekümmert. Mir hat mal jemand aufgeschwatzt, daß man gute Augen habe, wenn man beim Schneiden einer Zwiebel mächtig heulen müsse. Ich muß fabelhafte Augen haben. Plotzki grinst hinterhältig, als ich flüchte. Dann stehe ich unschlüssig in der sogenannten Halle. 113
In der oberen Etage klirrt irgendwo leise Geschirr. Ohne besonderes Interesse schleiche ich auf dieses Geräusch zu. Die Tür zu Franks Heiligtum steht halb offen. Er selbst steht mitten im Zimmer und starrt unverwandt in Marias Nacken. Das Mädchen deckt mit flinken Bewegungen den Tisch, wieder klirrt Geschirr. Plötzlich dreht sie sich um, reckt sich hoch und nimmt den Kopf des Jungen in beide Hände. Stumm, fast ein wenig verlegen, hält Frank still. Als sie sich ebenso unvermittelt wieder abwendet, hebt er hastig beide Arme, als wollte er sie an sich reißen. Sie hat mich entdeckt. Es muß ihr peinlich sein, sie sieht mich nicht an, als sie mit dem leeren Tablett an mir vorbeigeht. Als hätte ich nichts gesehen, trete ich ein und sage: „Lassen Sie sich nicht stören.“ Ist natürlich Unsinn. Ich habe schon gestört und bin jetzt noch weniger willkommen als sonst. Aber unsereiner kann selten die Gebote der Höflichkeit beachten. Und als Frank jetzt zu seinem Schreibtisch geht und einen gewöhnlichen Geschäftsbrief aus einem ganzen Berg von Trauerpost wühlt, weiß ich, daß er mich nur möglichst schnell loswerden will. „Woher?“ frage ich und sehe an dem langen Jungen hoch. Der Brief hat weder Marke noch Absender und ist an Daniel Uhlmann adressiert. „Nachmittag“, sagt er bereitwillig. „Mit der zweiten Post, nehme ich an. Er steckte jedenfalls im Kasten.“ Ich drehe den Umschlag hin und her. „Was meinen Sie … sollen wir?“ „Müssen Sie wissen. Ich bin nicht neugierig.“ „Ich zwar auch nicht, aber …“ Ich schlitze den Brief schon auf. Natürlich bin ich neugierig. Neugier ist ein 114
bedeutender Faktor meines Berufs. Der Briefinhalt ist ebenso kurz wie bemerkenswert. „Wirklich nicht gelesen?“ „Ich sagte schon“, fährt er auf, „ich bin nicht neugierig.“ „Schön“, sage ich friedfertig und stecke den Brief ein. Irgendwie muß es wohl eine Gedankenverbindung sein, denn ich frage etwas überraschend: „Kennen Sie einen guten Bekannten Ihres Vaters mit Vornamen Georg?“ „Nein“, sagt er nach kurzem Zögern, „glaube nicht.“ „Auch schön“, sage ich und bin doch absolut überzeugt, daß der Junge lügt. Warum aber? Nur aus Trotz? Kindische Rache für die Störung eben? Sehr in Gedanken steige ich die Treppe wieder hinunter. Dieser Junior benimmt sich merkwürdig. Und er lügt. Denn er muß zum Beispiel auch wissen, daß die Bundespost keinen unfrankierten Brief befördert, zumindest aber nicht ohne den Nachzahlungsstempel, Und dann die Szene mit Maria vorhin. Wie paßt das zu Kippenhöfers Lobpreisungen? Und das Tonband! Maria und Hugo? Eifersucht auf den Herrn Papa? Na na, diese Logik ist denn doch zu waghalsig. Wer bringt schon mit sechzehn Jahren seinen Vater aus nackter Eifersucht um? Und die Mutter gleich noch dazu? Widerlich der Gedanke. Plotzki trinkt jetzt Kaffee. Dabei sieht er Maria zu, wie sie hin und her huscht. Ohne von uns Notiz zu nehmen, bindet sie schließlich ihr Schürzchen ab und hängt es in den Besenschrank. „Sie mich noch brauchen?“ „Finde mich schon allein zurecht“, sagt Plotzki großmütig. So satt wie heute war er wohl lange nicht. Ich sehe sogar so etwas wie Interesse in seinen grauen Augen, 115
als er Marias Rundungen nachblickt. „Und was nun? Augenpflege?“ Plotzki mustert mich neugierig. „Wer schläft, der sündigt nicht. Nutzbringendes aber“, sagt er schleppend, steht auf und reckt sich ungeniert, „schaffen nur tätige Menschen.“ „Soll ich Sie jetzt ablösen?“ „Wie Sie das derzeitige Interregnum nutzen, das ist ganz und gar Ihre Hochzeit. Ich halte es hier aus. Von mir aus braucht Bully erst Mitte des nächsten Jahres wiederzukommen.“ „Dann kann ich also gehen?“ „Nichts dagegen“, sagt er zögernd. „Das heißt … eine kleine Stunde könnten Sie mich mal vertreten. Muß mal an die frische Luft.“ Und ohne weitere Erklärungen schiebt er ab. Gleich darauf fällt die Haustür laut zu. Ungesehen komme ich in Daniels Zimmer. Der gute Onkel Daniel wird langsam interessant. Was in dem mysteriösen Brief ohne Absender steht, könnte ein Tatmotiv sein. Sollte ich nicht wie verabredet bis zum 24. 12. im Besitz der fälligen Summe sein, werden Sie einige Schwierigkeiten bekommen. Das ist alles, die Unterschrift fehlt natürlich. Umschlag und Brief sind mit Maschine geschrieben. Nur die Straße der Adresse ist mit Kugelschreiber krakelig hinzugemalt. Ich vermute, daß der Bote den Brief ursprünglich im Zeitungskiosk abgeben sollte. Aber dort hängt seit heute morgen ein Schild: Wegen Trauerfall vorübergehend geschlossen. Fällige Summe … Wieviel ist das, fällige Summe? Und an wen ist sie fällig? Und wofür? 116
Doch vor allem: Wie paßt das zum fehlenden Schlüssel des Panzerschranks? Bei dem Toten wurde er nicht gefunden. Wundert mich eigentlich auch nicht. Fällige Summe! Schwierigkeiten 1 War Daniel Uhlmann in Nöten? Dann wäre ihm ein Panzerschrankschlüssel sehr gelegen gekommen. Plotzkis Orakel von gestern fällt mir ein: Vielleicht waren sie es alle zusammen! Mhm, Daniel und Siegmund? Das brennende Licht kurz nach sechs. Siegmunds verwegene Erklärung vom Erhalt der Todesnachricht, sein Alibi, Franks Alibi? Und wie sollte Machelli dazu passen? Wo aber ist der Schlüssel geblieben? Daniel Uhlmann wurde, wenn man ihm wenigstens darin glauben darf, überraschend niedergeboxt. Abgesehen von der Unfairneß gegen einen älteren Herrn – er hätte nichts mehr aufräumen oder verbergen können. Es hilft nichts, ich muß suchen. Daniels Zimmereinrichtung könnte schon ein Grund für Geldverlegenheiten sein. Der Schirasteppich, selbst wenn er auf einer Versteigerung ergattert wurde, muß ein Sündengeld gekostet haben. Auch die Möbel waren nicht billig. Eine ganze Wand wird von einer Konstruktion aus Anbaumöbeln eingenommen, deren Kernstück eine Fernsehtruhe ist. Gewiß, für meinen Geschmack ist alles etwas süßlich, feminin. Diese Empfindung verstärkt sich, als ich im Wäschefach Oberhemden mit Rüschen und zartblaue Unterwäsche entdecke. Hellblaue Unterhosen! Mit spitzen Fingern, aber durchaus gründlich untersuche ich Fach für Fach, leider ohne Erfolg. Ich steige sogar auf das zerbrechliche Couchtischchen, um den Kronleuchter zu untersuchen. Einen Panzerschrankschlüssel finde ich nicht. 117
Enttäuscht lasse ich mich in einen dieser albernen Kugelsessel fallen, in denen man sich immer ausnimmt, wie ein hungriger Buntspecht im Winter in seinem Bau. Ein kleiner Trost, daß gleich daneben Daniels Hausbar steht. Er liebt nicht nur kostbare Möbel, er hat auch eine Schwäche für Alkohol. Die Flaschen in der Bar sind zwar eine ansehnliche Sammlung aller Markenspirituosen, aber voll ist keine mehr. Ich nehme die erstbeste und fülle mir einen Doppelten ein. Nach dem Trinken huste ich und sehe verblüfft auf das Etikett. Hätte ich vorher machen sollen. „Puschkin“, für harte Männer. immerhin, zur Schmerzbekämpfung mag et taugen. Für das Innere einen „Puschkin“ und für das Äußere einen schwarzen Anzug. Wie jener, der gleich neben der Tür an einem Haken hängt. Große Trauer ist Mode. Daniel Uhlmann trug ihn schon gestern mittag. Erstens habe ich ihn noch nicht kontrolliert, und zweitens habe ich ein Faible für Qualitätsstoffe. Und dort hängt Qualität. Die Taschenkontrolle geht schneller als das Prüfen zwischen Daumen und Zeigefinger. Wirklich, vorzügliche Qualität. Glücklich sind die Besitzenden, sagte Dr. Kippenhöfer. Und ich bin auch glücklich. Über der inneren Brusttasche ist nämlich ein Monogramm eingestickt, bestehend aus den ineinandergefügten Initialen H und U. Hugo Uhlmann! Das ist Hugos Anzug! Ein Gauner, dieser Daniel. Wenn er auch den Anzug bei der demnächst fälligen Teilung wahrscheinlich sowieso erhalten würde, vorerst ist es halbe Leichenfledderei. Denn bei der Liebe, die unter den Bewohnern dieses Hauses herrschte und bei den Übriggebliebenen noch immer herrscht, ist der Anzug sicher kein Geschenk. Ich stiere eine ganze Weile auf das Monogramm und 118
denke mit Bullys abgedroschener Weisheit, daß hier etwas nicht stimmen kann. Und dann rase ich los zu Madame. Sie steht in der Tür ihres klösterlichen Gemachs, als habe sie mich längst erwartet. „Paar Fragen“, murmele ich aufgeregt wie ein Anfänger und drücke Madame nervös in ihr Zimmer zurück. „Was erlauben Sie sich?“ faucht sie mich echauffiert an. „Was ist das für ein Benehmen?“ „Sie haben recht“, sage ich gequält, worauf sie zu Konzessionen bereit ist. „Fragen Sie schon!“ „Danke. Also erstens: Herr Daniel Uhlmann entdeckte die Toten gegen halb acht. Wo befanden Sie sich zu diesem Zeitpunkt?“ „Hier im Zimmer natürlich. Ich kleidete mich gerade an.“ „Gut. Und wie war das eigentlich, rief er von unten oder kam er nach oben?“ „Er schrie! Wie … Gott, wie ein Verrückter eben.“ „Weiter!“ „Sie meinen, was ich …? Natürlich stürzte ich sofort nach unten. Ich wußte doch überhaupt nicht … Und da stand er im Salon meiner Nichte und zeigte verstört nach nebenan.“ „Aha! Und dann?“ „Ich lief sofort zu Hugos Zimmer.“ „Warum das?“ „Hören Sie!“ Ich sehe erst jetzt, daß sie ausgehfertig ist. Sie schwenkt ein Körbchen jener Art vor mir hin und her, wie ich es noch aus der Kinderzeit als eines der Merkmale Rotkäppchens in guter Erinnerung habe, und sagt hoheitsvoll: „Ich beabsichtige, die Öffnungszeiten 119
der Geschäfte noch zu nutzen. Und Sie halten mich hier mit völlig belanglosen Fragen auf!“ „Bitte, Madame!“ Ich flehe buchstäblich. „Na, schön – ich wollte Hugo wecken.“ „Wecken?“ frage ich verblüfft. Kann man neuerdings Tote wecken? „Irren Sie sich auch nicht? Wenn ich mich recht entsinne, war er tot und lag neben seiner Frau.“ „Aber, ich hatte ihn doch gar nicht gesehen! Ich … nie wäre ich auch nur einen Schritt in das Zimmer gegangen. Der Schreck, das Entsetzen! Mein Gott, verstehen Sie das denn nicht?“ „Doch, doch! Nur, was dachten Sie nun, als Sie Herrn Uhlmann nicht in seinen Zimmern fanden?“ „Ich konnte doch gar nicht hinein! Die Tür war verschlossen.“ „Ach!“ „Was ist daran so ungewöhnlich, junger Mann? Selbstverständlich pflegte Hugo Uhlmann seine Zimmer stets zu verschließen, wenn er länger ausbleiben wollte.“ „Danke, Madame.“ „Dann darf ich jetzt wohl endlich …?“ „Sie dürfen“, sage ich bereitwillig und gehe voran in den Flur. In diesem Hause ist das Mißtrauen offenbar oberstes Gesetz. Auch sie verschließt ihre Zimmertür sorgfältig und prüft sogar durch festen Druck auf die Klinke, ob das Schloß noch zuverlässig ist. „Nur eine Kleinigkeit noch, Madame. Haben Sie eigentlich Telefon in Ihrem Zimmer?“ „Haben Sie eins gesehen? Es gibt nur drei Anschlüsse im Haus. In Hugos Arbeitszimmer, in Dorothees Schlafzimmer, und Frank hat auch eins. Das hätte aber ein guter Kriminalist selbst feststellen können.“ „Danke für die Blumen“, knurre ich und folge ihr hin120
unter in die Halle. Als Madame durch die Haustür verschwunden ist, reibe ich mir zufrieden die Hände und schlendere in die Küche. Plotzki ist noch nicht da. In den nächsten Sekunden bin ich bereit, Bullys alberne Theorie über mögliche Umtriebe von Gespenstern zu akzeptieren. Laut und deutlich sagt eine Stimme von irgendwoher: „Aber wieso muß ich …?“ Wieder rase ich die Treppe hoch. Das war so sicher Daniels weinerliche Stimme, wie ich ihn heute morgen mit einem Eisbeutel auf der Stirn habe liegen sehen. Verdammt, ist der Kerl etwa ausgerissen? Heute morgen wollte unser Falstaff doch noch sterben? Sein Zimmer ist natürlich leer. Ich stehe unschlüssig zwischen Tür und Angel, haste weiter zu Madames Zimmer. Verschlossen. Sekunden später bin ich bei Frank. Er steht mit verschränkten Armen am Fenster und lauscht leiser Radiomusik. Ich muß mich erst sammeln. Radio? „Ist was?“ fragt Frank trocken. „Hier ist immer was“, entfährt es mir. Zum Glück gerät mir sein Telefon ins Blickfeld. „Haben Sie eben telefoniert?“ „Wozu?“ „Also nicht. Aber gleich noch eins: Hat gestern gegen elf Uhr jemand Ihren Apparat benutzt?“ „Niemand“, sagt er abweisend, als wäre das eine persönliche Kränkung. „Ich habe jedenfalls nichts bemerkt.“ Unten klappt die Haustür. Ich renne die Treppe wieder hinunter. In der Halle steht Plotzki und klopft sich den Schnee vom Mantel.
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X. Die Nachtschwester ist fassungslos. Was mir einfiele? Ob ich etwa nicht lesen könne? Direkt neben dem Haupteingang seien die Besuchszeiten angeschlagen, sogar hinter Glas! Hier sei nämlich ein Krankenhaus und keine Heilanstalt für … „Sie sind im Begriff, eine Beamtenbeleidigung zu begehen“, unterbreche ich sie mahnend. Sie weiß natürlich, von welcher Firma ich bin. Trotzdem will sie mich nicht ’reinlassen. Ich soll warten. Wie lange, mag der Teufel wissen. Vor wenigen Minuten sei ein Unfall eingeliefert worden, der diensthabende Arzt habe folglich Dringenderes zu tun. „Und ich bin nicht befugt, Sie einzulassen.“ Wenn ich das schon höre: nicht befugt! Solche idiotischen Ausdrücke kennt sicher keine andere Sprache. Ich bin nicht befugt, ich bin befugt. Er, sie, es sind befugt. Alle sind befugt. Bloß die Nachtschwester nicht. Die strickt Strümpfe. „Seien Sie wenigstens so nett, und sehen Sie nach, ob der Patient Uhlmann gehorsam in seinem Bett liegt.“ Es ist zwecklos. Geschlagene anderthalb Stunden beobachte ich das stetige Wachsen einer Herrensocke, dann erscheint endlich der Medizinmann vom Nachtdienst. Er hat so miese Laune, daß ich vorsichtshalber auf die Bemerkung verzichte, ich hätte in der verflossenen Zeit mindestens sieben Unfälle kuriert. „Uhlmann? Jetzt, zwei Stunden vor Mitternacht?“ „Ich will ja nur sehen, ob er da ist!“ Er betrachtet mich besorgt, zwinkert der Schwester zu und bringt mich mit dem Vorwurf aus der Fassung, daß 122
ich das doch auch ihr hätte sagen können. „Na, schön“, sagt er dann, „ausnahmsweise! Kommen Sie!“ Vor der Nummer 43 hält er mich zurück, geht allein ins Zimmer, und ich bin schon wieder mal nicht befugt. „Er ist da“, sagt er trocken, als er wieder herauskommt und lächelt etwas müde. „Wenn Sie sich überzeugen wollen – fünf Minuten haben Sie Zeit.“ Daniel Uhlmann liegt im Bett und versucht leidend auszusehen. Er ist ein mäßiger Schauspieler. Leider habe ich nur fünf Minuten, und damit verbieten sich hinterhältige Fragen. „Sie haben Post“, überfalle ich ihn rücksichtslos, hole den geheimnisvollen Brief aus der Tasche und lasse ihn ungeschickt fallen. Das Aufheben verbinde ich mit einer Prüfung seiner Hausschuhe. Sie sind trocken, und andere Schuhe sehe ich nicht. Ihm gefällt nicht, daß der Brief geöffnet ist. „Ich werde mich über Sie beschweren!“ „Hatten wir alles schon“, sage ich und beobachte, wie er den Brief hastig unter das Kopfkissen schiebt. Er muß ihn also schon erwartet haben und folglich den Absender kennen. „Außerdem gibt es einige Unklarheiten.“ „Ich verstehe nicht.“ „Noch wissen Sie ja auch nicht, um was es geht“, knurre ich ihn an. „Also … Sie fanden die Toten gestern morgen gegen halb acht. So war es doch?“ „Und deshalb quälen Sie einen Kranken mitten in der Nacht?“ „Auch. Und wenn Sie Ihre Qualen verkürzen wollen, antworten Sie möglichst schnell.“ „Herrgott! Selbstverständlich fand ich sie! Ist das denn jetzt so wichtig? Hier im Krankenhaus?“ „Und Sie informierten dann sofort uns, die Mord123
kommission?“ „Natürlich doch! Ich sah die … die Bescherung, rief um Hilfe oder was weiß ich, und als Madame Zuivre kam – sie kam als erste –, rief ich sofort an!“ „Sie riefen die Mordkommission?“ „Aber ja doch!“ „Und warum eigentlich nicht einen Arzt?“ Daniel Uhlmann richtet sich unwillkürlich auf, stützt sich auf die Ellenbogen und glotzt mich an. Ihm ist das Theaterspielen vergangen. „Warum nicht den Arzt?“ wiederhole ich hartnäckig. Er plumpst in das Kissen zurück, stiert einige Sekunden die Zimmerdecke an und greint wie ein Kind: „Mein Gott … ich weiß nicht … die Aufregung, das Grauen … und dann sahen die beiden auch so aus …!“ „Schön … Schreck, Grauen, Aussehen. Muß sich aber schnell gelegt haben, der Schreck. Nicht wahr?“ „Wie meinen Sie das nun wieder?“ „Ich denke an den schwarzen Anzug Ihres Bruders“, sage ich sanft wie Bully in Hochform. „Das … das war doch viel später.“ „Dann wären Sie ein verkanntes Genie, mein Bester. Sieben Minuten nach Ihrem Anruf waren wir schon am Tatort. Und nur bis zu diesem Zeitpunkt hatte Hugo Uhlmann seinen Zimmerschlüssel in der Tasche. Demnach müssen Sie den also unter Aufsicht der Mordkommission an sich genommen haben.“ „Ich … mein Kopf!“ „Ich muß gehen.“ Der Arzt wartet in der Tür. Daniel wird über meinen Entschluß gewiß nicht böse sein. „Aber ich möchte nicht scheiden, ohne Ihnen gesagt zu haben, warum Sie keinen Arzt anriefen und außerdem einen vornehmen Traueranzug besitzen, der das Mono124
gramm Ihres Bruders trägt. Weil Sie nämlich schon vor halb acht vom Tod der beiden Uhlmanns wußten.“ Daniel liegt schön still und friedlich. Und doch bricht ausgerechnet er mir fast das Genick. Die „Oase“ ist ein ganz verfluchtes Nepplokal. Ehe man die Inneneinrichtung auch nur zu Gesicht bekommt, ist man schon zwölf deutsche Mark los. Fünf davon treibt die Dame an der Garderobe ein, für den Rest wird einem von einer rassigen Schönheit in gestreiftem Tigerdreß eine ordinäre Papierblume aufgeschwatzt. Ein Glück, daß ich auf dienstliche Pflichten pochen kann. Ich poche so lange, bis ich ungeschoren an den beiden Hetären vorbeikomme. Mein Ziel ist zunächst die Bar. Sie nimmt eine ganze Stirnwand ein. Größer und pompöser ist auch keine Rednertribüne bei den amerikanischen Wahlkämpfen. Besitzer und Personal solcher Unternehmen wie dieses hier sind meist sehr feinfühlige Menschen. Also klettere ich auf einen der hohen Schemel und tue harmlos. Neben mir hocken drei Damen unbestimmbaren Alters, deren makellose Rücken ich schon beim Marsch auf die Bar bewundern durfte. Der Keeper läßt mich nach einem abschätzenden Blick vorerst in Ruhe. Ich bin ihm dankbar, Bully würde einen Spesenwisch mit dem Stempel dieser Firma hier kaum gegenzeichnen. Die Ruhe dauert fast zehn Minuten, und diese Zeit reicht mir, meinen weiteren Plänen endgültig zuzustimmen. Der Keeper fühlt derartig fein, daß er erst jetzt die Interessen seines Chefs wahrnimmt. Ein dezenter Wink mit dem Kopf, und die Rückenfreie neben mir dreht mir langsam ihr Gesicht zu. Es hat den gelangweilten Ausdruck eines englischen Lords uralten Adels, der vorneh125
muntätig das Schloß seiner Ahnen abbrennen sieht. „Zwei Whisky“, übernimmt sie gehorsam die Initiative und lächelt mühsam. Ich habe an sich nichts gegen Whisky, nichts gegen mühsam lächelnde Girls, auch wenn sie für diesen Beruf etwas zu alt sind, und nichts gegen Mixer, die zauberhaft flink Alkohol aus Flaschen in Gläser umfüllen. Aber ich habe etwas gegen die Preise hier. „Prost!“ Meinen schwachen Protest übersieht sie. Also trinke ich auch, schmecken tut das Zeug ja. „Fremd hier?“ „Bißchen.“ „Ich könnte Sie bekannt machen.“ „Keine Zeit.“ „Was suchen Sie dann hier?“ „Doppel-R.“ „Ganz ausgekochter Junge.“ Sie bestellt vor lauter Bewunderung noch zwei Whisky. Der Keeper ist nicht nur feinfühlig, er hört auch ausgezeichnet. „Geht leider nicht, mein Herr“, bedauert er. „Wenn der Herr vielleicht eine andere der Damen …?“ Der Herr will nicht. Er will Doppel-R. Und zwar etwas plötzlich. „Benehmen Sie sich gefälligst“, zischt er und bringt das Kunststück fertig, dabei freundlich zu lächeln. Ich muß wieder mal in die Tasche fassen. Den Kerl beeindruckt das noch viel weniger als vor einer knappen Stunde den sockenstrickenden Zerberus in gestärktem Leinen. Er zuckt die Achseln, sieht wachsam über die Szenerie und sagt leichthin: „Den Gang dort, dritte Tür links.“ Ganz zufrieden mit mir, rutsche ich vom Hocker und will losgehen. Den Gang entlang, dritte Tür links. 126
„Ich bekomme noch neunzehn Mark, mein Herr!“ „Von mir? Habe ich etwas bestellt?“ „Getrunken!“ „Gut beobachtet“, lobe ich ihn und gehe meiner Wege. Soll er es doch auf Unkosten buchen und von der Steuer absetzen. Doppel-R liegt verwegen über einem Sessel und raucht aus einer langen Spitze. Ihr Anblick verwirrt mich. Es ist zu schade, daß ausgerechnet die hübschesten Mädchen nicht zu einem monogamen Dasein zu bewegen sind. „Sieh da!“ sagt sie verwundert, aber nicht unfreundlich. „Ich brauche Sie für ein Stündchen“, sage ich. „Wie bitte?“ Ein katastrophales Mißverständnis! Ich spüre, wie ich rot werde. Jetzt fehlt nur noch, daß sie sagt, wir hätten doch gleich heute vormittag einen Termin festlegen können. „Aber … nein, nicht doch! Ich meinte, Sie müssen mir behilflich sein.“ „Wie das?“ sagt sie mißtrauisch und richtet sich steif auf. Aber das ist weniger Abwehr, als Sorge um ihren Haaraufbau. An dem muß sie den ganzen Nachmittag gebastelt haben. „Sie müssen mir den Siegmund aus seinem Bau locken.“ „Siegmund? Den Blindgänger? Kommt überhaupt nicht in Frage.“ Dazu stößt sie Rauchwolken aus wie ein Rheindampfer stromauf. „Nein, mein Bester – Sie brauchen meine Arbeit nicht zu machen, und mich kümmert Ihre einen Dreck. Mehr als Scherereien springt dabei sowieso nicht ’raus.“ 127
Man sollte ihr einen beeindruckenden Vortrag über die tiefere Bedeutung des Wortes Arbeit halten. Aber erstens sind die Erfolgschancen nur sehr mäßig, und zweitens habe ich nicht vor, sie mit aller Gewalt zu verärgern. „Ich sagte bereits am Vormittag, es handelt sich um Mord. Und da hört gewöhnlich jeder Spaß auf. Verstehen Sie das?“ Sie tut so. „Nur, wer bezahlt mir das? Die Zeiten sind nicht so rosig. Für euch, die Polente vielleicht!“ „Leider Gottes“, stimme ich ihr zu und bin zu Opfern bereit. „Wieviel?“ „Hundert.“ „Sie sind verrückt!“ „Sie etwa nicht?“ „Aber … eine Stunde sagte ich!“ „Und ich sagte hundert.“ „Hören Sie! Hundert Mark in einer Stunde kassiert nicht mal mein höchster Vorgesetzter, der Innenminister!“ Ganz genau weiß ich das zwar nicht; aber ich kann es mir einfach nicht vorstellen. „Und auf Erpressung steht Gefängnis, wissen Sie das?“ „Die größten Gauner sind bei der Polizei“, seufzt sie und gibt widerstrebend nach. „Nehmen wir an, ich täte Ihnen den Gefallen. Wie soll denn die Show abrollen?“ „Sehr einfach. Sie warten jetzt noch zehn Minuten und bitten ihn per Telefon hierher.“ „Und was soll ich ihm sagen? Vielleicht, daß ich mich unsterblich in ihn verliebt hätte – oder was?“ „Unsinn. Sagen Sie ihm die Wahrheit. Das wird ihn beeindrucken. Sagen Sie ihm, die Kripo hätte Sie ausgefragt, und Sie fürchten daher Komplikationen. Für sich, für ihn und so weiter.“ 128
„Und was soll ich eine geschlagene Stunde lang mit dem Kerl anfangen? Vorausgesetzt, er kommt überhaupt.“ „Das bleibt Ihrer Phantasie überlassen. Versuchen Sie’s mit Striptease oder mit ’ner Partie Schach. Wenn Sie sich geschickt anstellen, können Sie ihm von mir aus sogar die Brieftasche klauen.“ Darauf wiederholt sie ihre Meinung, daß die größten Gauner bei der Polizei wären, und lehnt sich wieder zurück. „Der Schnaps steht bei ihm im Bad“, sagt sie zum Abschied. Dumm ist sie nicht, die Regine. Hätte weiß Gott auch etwas Vernünftigeres mit ihrem Leben anfangen können. Die Mühlenstraße ist schon halb Prominentenviertel. Keine Supervillen, aber doch recht nette Ein- und Zweifamilienhäuser. Ich parke frech keine fünf Schritte von der Gartentür des Hauses entfernt, in dem Herr Siegmund die untere Etage bewohnt. Der „Buckel“ ist kein auffallendes Fahrzeug, von den Beulen und Schrammen mal abgesehen. Schließlich ist jeder vierte Wagen in der Bundesrepublik ein VW. Doppel-R ist entweder sehr zuverlässig, oder sie gehört zu jener Kategorie Menschen, die Unangenehmes möglichst rasch hinter sich bringen. Ich parke noch keine drei Minuten, da verläßt Herr Siegmund das Haus. Er sieht zwar prüfend zu mir herüber, aber ich liege wie schlafend mit Armen und Kopf auf dem Lenkrad und schiele zu ihm hinüber. Wie sich das für einen passionierten Fußgänger auch um Mitternacht gehört, tippelt Herr Siegmund tapfer in Richtung Stadtmitte los. Bei der großen Dressur hatten wir einen langen Berli129
ner, der lästerte hin und wieder: „Die bilden uns hier zu hochqualifizierten Verbrechern aus. Bloß anders herum.“ Und darum sind Türen für unsereinen nur da, damit es in Wohnungen nicht zieht. Es dauert keine zwei Minuten, und ich stehe in Herrn Siegmunds Wohnzimmer. Über mir dudelt leise eine Musikmaschine, und das wird die Leute da oben hindern, merkwürdige Geräusche unter sich zu hören. Unbekümmert knipse ich die Deckenbeleuchtung an. Die Fenstervorhänge sind geschlossen. Die Wohnung des Prokuristen besteht in der Hauptsache aus dem Wohnzimmer. Die Küche ist nur eine flache Nische und der Schlafraum eine Art Jungmädchenzimmer. Aber das Bad ist ein Gedicht. Meergrün gekachelt, sehr geräumig, und die Wanne ist ein im Fußboden eingelassenes Quadrat. Auch systematisches Durchsuchen war Lehrfach der großen Dressur. Eine Art Wissenschaft, die aus Kenntnissen der Psychologie und der Innenarchitektur besteht. Wo also versteckt ein Mensch vom Schlage eines Siegmund Geheimnisse? Einen Safeschlüssel zum Beispiel? Oder auch Schmuck? Dinge, die sich bei Daniel Uhlmann und erst recht bei Cesare Machelli nicht fanden? Nach einer guten halben Stunde bin ich überzeugt, daß ich beim Unterricht Wichtiges verschlafen haben muß. Oder meine Erfahrungen reichen nicht aus, hinter die Geheimnisse eines besonders gerissenen Burschen zu leuchten. Die dritte Möglichkeit, daß Siegmund nur aus Zufall in den Strudel der Ereignisse geraten sein könnte, hat er selbst widerlegt. Wenn ihn die Reize meiner augenblicklichen Verbündeten eine ganze Nacht kaltgelassen haben, warum ist er dann jetzt so prompt einem nächtlichen Telefonanruf gefolgt? 130
Falls er jetzt überraschend auftauchte und mich wie ein Rehlein am Waldessaum abknallte, könnte ich ihn noch nicht einmal verklagen. Vorausgesetzt, er schießt weniger gut, als er riecht. Immerhin haben auch wir nichts in fremden Wohnungen zu suchen, und vom Amt für Verfassungsschutz bin ich nicht. Ich gerate in Zeitnot. Schließlich finde ich im Bad meiner Träume wenigstens die Andeutung von etwas Ungewöhnlichem. In einem eingebauten Schrank, in dem man bestenfalls Schuhe, Staublappen und ähnlichen Wirtschaftskram vermutet, steht eine Schmalfilmkamera. An sich ist das heutzutage nichts Besonderes, auch wenn dieser Apparat hier die letzte Neuheit der HannoverMesse ist. Die Sache aber muß einen Haken haben. Ich habe nirgends auch nur den Rest eines Filmstreifens gesehen. Hobby hin und Hobby her – wer kauft schon einen teuren Apparat, nur um ihn im Bad zu verstecken. Ich erinnere mich des Hinweises, daß der Schnaps auch im Bad stehen soll. Außerdem war der Tag anstrengend, und mein Eifer wäre eine Belohnung schon wert. Aber nicht einmal diese kleine Freude wird mir gegönnt. Im Wohnzimmer klingelt gerade das Telefon. Es klingelt zwar ganz gewöhnlich, aber mir scheint es von einer Lautstärke, die dem Pausenzeichen in einem Walzwerk angemessen wäre. Jetzt kommt ein heikles Problem auf mich zu. Abheben kann ebensogut einen Schritt nach vorn wie einen Sturz ins kalte Wasser bedeuten. Ich tue es trotzdem. „Hallo?“ Eine Frauenstimme. Ich bin noch unentschlossen, da spricht sie schon weiter: „Vorsicht! Er ist eben abgehauen!“ Nett von Doppel-R. Weniger nett freilich, daß sich 131
Herr Siegmund auch heute nicht von ihr beeindrucken ließ. Es wird langsam Zeit, einen geordneten Rückzug anzutreten. Manchmal hat man so merkwürdige Ahnungen. Drei Minuten später husche ich lautlos in den dunklen Treppenflur. Im schwachen Licht der abgedunkelten Taschenlampe bücke ich mich zum Schlüsselloch. Und da passiert es. Ich höre zwar noch ein leises Rascheln, aber dann kracht es auch schon abscheulich hart auf meinen Hinterkopf.
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XI. Diesen 23. Dezember werde ich wohl einige Jahre im Gedächtnis behalten. Nicht nur, weil ich gegen Viertel drei Uhr morgens jämmerlich frierend im VW erwachte. Auch nicht, weil mir nach einem halben Liter extra starkem „Jacobs“ der Schädel noch immer abscheulich brummt. Ich habe, als ich gegen acht Uhr zum Dienst fahre, das seltsame Gefühl, als teilten sich nacheinander sämtliche Gewebezellen vom Kinn aufwärts unter schmerzhaften Wehen. Außerdem muß ich auf meinen Hut verzichten, und mit der Baskenmütze komme ich mir immer so albern vor. Doch das alles gehört noch zum Berufsrisiko. Aber zum physischen Niederschlag kommt natürlich auch noch ein versuchter Meuchelmord an meinem seelischen Gleichgewicht. Kein Mensch weiß mit Sicherheit, was ihm alles so bevorsteht. Wer Lotto spielt, ist auch nie vor dem Gewinnen sicher. Aber ich muß gleich frühmorgens beim obersten Chef antanzen. Wer da nichts ahnt, gehört zu jenen Glücklichen, denen die Heilige Schrift für später das Himmelreich verspricht. Kriminalrat von Beierstorff ist nicht nur edlen Geblüts, er hat auch die Manieren eines Granden. Er sieht zu jeder Tageszeit aus, als warte er auf die Vorführung seines Pferdes, um den Manöverball eines Garderegimentes mit seiner durchlauchten Anwesenheit zu ehren. Auch sein Zimmer hat einen deutlichen Stich ins Aristokratische. Er bevorzugt dunkle Möbel, reichlich verziert, Ledersessel, Plüschteppiche und Ölschinken mit röhrendem Rotwild zwischen düsteren Fichten im Morgennebel. 133
Kurz, er ist so, wie ich mir einen Aristokraten vorstelle. Da ich mein Wissen über diese Gesellschaftsschicht nur aus Filmen und Romanen habe, halte ich mein Urteil über den Kriminalrat für goldrichtig. Seine Stimme klingt, als sei sie leicht eingerostet. Bemerkenswert ist dabei nur, daß er damit einen herablassendwohlwollenden Tonfall zustande bringt. Obwohl mein Alter Herr nur Statist bei der Zollverwaltung ist und vor adligen Leuten höchstens den Hut ziehen darf, eine Ähnlichkeit ist dennoch vorhanden. Auch mein Alter Herr begann häufige Strafpredigten mit vorgeblichem Verständnis, händeringend und beschwörend, um am Ende doch zum Rohrstock auf dem Küchenschrank zu greifen. Herr von Beierstorff erwidert meinen beflissenen Morgengruß mit einem äußerst sparsamen Neigen des weißhaarigen Hauptes. Er läßt mich stehen wie einen Angeklagten bei einer Vernehmung zur Person. „Sie sind uns vor Wochen als hoffnungsvoller Nachwuchs avisiert worden.“ Dabei sieht er mich an, als täte ihm der Vorwurf herzlich leid. „Und es war ein Vertrauensbeweis, daß wir Sie auf Grund dieser Einschätzung gleich der Mordkommission zuteilten.“ Und so geht das eine ganze Weile weiter. Ganz ähnlich würde er einem Stallburschen erklären, warum Pferdeurin ausgerechnet nach Salmiak riecht. Dann aber gibt er sich die Sporen. „Darf ich mal Ihre Dienstmarke sehen?“ „Dienstmarke? Bitte“, sage ich bescheiden und fasse gehorsam in die Manteltasche. Nichts. Hat Siegmund sauber eingefädelt. „Bemühen Sie sich nicht unnötig.“ Sehr distinguiert, mit einem Finger, schiebt er meine Marke über den ma134
kellosen Lack der Schreibtischplatte. „Sie wissen natürlich längst, wie ich dazu gekommen bin?“ „Ich kann es mir denken.“ „Das erspart uns lange Debatten. Leider aber hat Ihre Eigenmächtigkeit den peinlichen Umstand zur Folge, daß nun gegen einen Angehörigen der örtlichen Kriminalpolizei eine Strafanzeige wegen Einbruchs vorliegt. Ich bin weit entfernt, Ihnen etwa die Absicht der persönlichen Bereicherung auf Kosten wohlhabender Bürger zu unterstellen, wüßte aber doch gern, was Sie bewogen hat, unsere Reputation so leichtfertig aufs Spiel zu setzen.“ Viel kann ich ihm nicht sagen. Und das wenige, womit ich dienen kann, findet nur bedingt seinen Beifall. „Voilâ! Sie bringen Herrn Siegmund mit dem Fall Uhlmann in enge Verbindung. Wie dem aber auch sei, Ihr Verdacht allein rechtfertigt nicht die nun zur Sprache stehenden Praktiken. Es sei denn, Sie hätten etwas gefunden, was Ihr Vorgehen nachträglich rechtfertigen könnte.“ „Ich bin untröstlich …“ „Dann …“, sagt er und erhebt sich zum Zeichen, daß es nun rein amtlich wird, „dann kann ich leider nicht umhin, Ihnen mit allem Nachdruck meine Mißbilligung auszusprechen. Ich wünsche, daß Sie sich in aller Form bei Herrn Siegmund entschuldigen. Wenn Sie sich nicht zu dilettantisch anstellen, besteht die Hoffnung, daß er nicht philiströs auf seinem Recht beharren wird.“ „Ich werde Blumen kaufen“, verspreche ich treuherzig und möchte viel lieber mit der Faust auf den Schreibtisch donnern. Für die Beule auch noch bedanken! Ich fresse bereitwillig den ganzen Aristokraten mitsamt seinem Sessel, wenn Siegmund nicht genau wußte, daß er mir und keinem Einbrecher auf den Schädel gedroschen hat. 135
Das Lehrgeld für die primitive Erfahrung, daß auch ein beharrlicher Fußgänger unter Umständen mit einem Taxi fahren kann, erscheint mir unangemessen hoch. „Sie täten gut, Ihren Hang zur Insubordination zu zügeln“, mahnt der Kriminalrat, nun wieder väterlicher. Ich finde, daß ich eigentlich noch ganz gut weggekommen bin, und frage artig: „Gestatten, Herr Kriminalrat, daß ich an meine Arbeit gehe?“ Zu meiner Verblüffung gestattet er nicht. Schön, daß er seinen Stolz hat, weiß man. Aber nun, da das Wesentlichste gesagt ist, könnte er ruhig etwas mehr Großmut aufbringen. „Im allgemeinen“, beginnt Herr von Beierstorff, „schätze ich selbständiges Handeln bei meinen Mitarbeitern sehr. Vorausgesetzt freilich, es steht im Einklang mit unseren Dienstvorschriften. Notwendigen Reformen stehe ich ebenso wohlwollend gegenüber, wie ich auch genügend Einsicht habe, kleine Pannen nicht überzubewerten, nicht wahr?“ „Ich verstehe nicht …“ Das ist die lautere Wahrheit. „Herr Oberwachtmeister! Wenn ich Ihre kleinen Abenteuer richtig einschätze, so resultieren sie doch vornehmlich aus der Tatsache, daß bei Ihnen eine gewisse Inkongruenz zu Kommissar Schwenzers Auffassungen über die Affäre Uhlmann vorhanden ist. Wenn auch dagegen noch wenig einzuwenden wäre – verdächtigen Sie nicht ein wenig voreilig?“ „Es ist die vornehmste Pflicht eines Kriminalbeamten, bei einem Verbrechen auch die ärmlichste Spur zu verfolgen“, leiere ich die simpelste Grundregel der Kriminalistik herunter. Auch das findet nicht seinen Beifall. Er sieht mich rügend an. „Ärmlichste Spur, selbstverständlich, junger Freund. Nur, unser Beruf verlangt von uns flicht nur Härte und 136
Entschlossenheit, sondern ebenso Einfühlungsvermögen wie Takt, Letzteres aber müssen Sie bei einem Krankenhausbesuch völlig außer acht gelassen haben, was Sie bitte nicht nur auf die Tageszeit beziehen wollen.“ „Sie meinen … Daniel Uhlmann?“ Darauf geht er nicht ein. Steif, fast würdevoll geht er ans Fenster und sagt, ohne sich umzuwenden: „Kommissar Schwenzer befindet sich mit meiner Billigung auf Dienstreise. Seine Rückkehr ist mit Sicherheit für morgen zu erwarten. So lange also hätten Sie immerhin Zeit.“ Und dann scheint er melancholisch zu werden, als er vor sich hin meditiert: „Das Jahr neigt sich dem Ende zu, ein neues beginnt …“ Herrgottnochmal! Ich kann vor lauter Schädelbrummen sowieso nur mit aller Energie seinem Sermon folgen, und der Mensch hält da eine Art Nekrolog auf ein Jahr, das so miserabel war, daß man glauben möchte, man hätte für alle Zeiten das Schlimmste hinter sich. Aber dann kommt der Rohrstock. „Entlassungen machen sich zum Jahresende immer besonders gut“, sagt er und dreht sich zu mir um. „Ja, aber … Entlassung? Wieso … ich meine …“ „Herr Daniel Uhlmann war nach Ihrem Besuch offenbar so deprimiert, daß er aus dem Leben scheiden wollte. Eine bedauerliche Konsequenz, die leider auch noch zu Ihren Lasten geht. Die Ärzte geben ihm nur geringe Chancen, Herr Kriminalobermeister!“ Ich weiß nicht, wie elend einem Hund ist, der sich hundeelend fühlt. Wenn ihm dann aber so schlecht sein sollte wie mir, dann ist das Tier von Herzen zu bedauern. Ich bin in einer Verfassung, in der ich sogar meiner Hauswirtin die Ehe versprechen könnte. Und die Dame 137
ist immerhin zweiundsiebzig und vom letzten Schlaganfall linksseitig gelähmt. Lieber verspräche ich so etwas natürlich der anmutigen Schwester im Glaskasten, vor dem ich nach waghalsiger Fahrt über die glattgewalzte Schneedecke etwas kläglich stehe. „Zu Doktor Wolf, nicht wahr?“ fragt sie kühl und mustert mich strafend. Also weiß auch sie Bescheid. Und wie sie so dasteht und das Telefon bedient, überfällt mich der rasende Wunsch, neben ihr zu sitzen und meinen geschundenen Kopf bei ihr anzulehnen. Am liebsten da, wo es sich unter dem gesenkten Kinn so erregend vorwölbt. Jetzt nickt sie mir zwar zu, aber das heißt bloß: freie Fahrt, Sie können gehen. Dr. Wolf steht wieder neben seinem Schreibtisch und wartet. „Guten Morgen“, sage ich sehr bescheiden. „Ist es schlimm?“ „Schlimmer als gestern ganz gewiß.“ „Aber wie konnte das bloß passieren? Kann man denn hier so einfach …?“ „Wer will, kann auch“, versichert er mit Anteilnahme. „Wir können ja unmöglich alle zehn Minuten jedes Krankenzimmerkontrollieren. Wozu auch? Herr Uhlmann warf sich ganz unverhofft vor einen eben ausfahrenden Krankenwagen. Den Fahrer trifft bei dem Malheur nicht die geringste Schuld.“ „Was? Krankenwagen?“ „Sicher doch. Gleich hinten am C-Flügel, direkt an der Hausecke. Uhlmann sprang regelrecht in den Wagen hinein. Und wie das so i«t – Unfallwagen fahren meist recht flott.“ „Und … steht es wirklich so schlecht um Daniel Uhl138
mann?“ Dr. Wolf hebt unschlüssig die Schultern. „Jedenfalls nicht gut, vorsichtig ausgedrückt. Vernehmungsfähig dürfte er in den nächsten Tagen nicht sein.“ „Aber wie kam er denn in den C-Flügel? Und im Schlafanzug?“ „Nun, Rekonvaleszenten sind ja nicht ans Bett gebunden, und ein leeres Bett fällt auch nicht auf. Außerdem, Herr Uhlmann trug einen Mantel über dem Schlafanzug und dazu feste Straßenschuhe.“ Er steht noch immer neben seinem Schreibtisch, schweigt einige Sekunden, und dann hat er den Finger auf der wunden Stelle. „Sie sind ein bißchen in Druck, scheint mir.“ „Bißchen“ ist eine dezente Verniedlichung. Bis heute nacht war mein Treiben für niemanden besonders gefährlich, am wenigsten für mich. Aber morgen kommt Bully wieder, und Beierstorffs Jovialität kann kaum darüber hinwegtäuschen, daß Bully mich abschießen wird wie einen Satz Tontauben beim Schützenfest. Was sagte der Medizinmann da eben? Feste Schuhe? Wieso hatte Daniel auf einmal feste Schuhe? Und Mantel? Bully sagte doch unlängst: ‚Wer sich umbringt, räumt doch nicht erst noch auf, er hat sowieso die Schnauze voll.‘ Aber, zieht man sich etwa einen Mantel dazu an? Und überhaupt: Bloße Unschuld läßt doch einen Daniel Uhlmann nicht in Hysterie verfallen! „Na, Kopf hoch“, mahnt Dr. Wolf. „Möchten Sie den Unfallort sehen?“ Das will ich ganz gewiß. Bereitwillig führt mich der Arzt hin. Viel zu entdecken ist freilich nicht, außer der fraglichen Hausecke und der gepflasterten Fahrbahn. Vom Pflaster wiederum sieht man auch nicht viel, Schnee deckt alles mildtätig zu. Ist auch unwichtig. 139
Viel wichtiger ist, daß das Krankenhaus U-förmig gebaut ist. Folglich liegen sich A- und C-Flügel gegenüber. In der Ecke, wo C- und B-Flügel zusammenstoßen, ist eine flache Rampe. Von dort kam der Wagen. „Allmählich leuchtet mir ein, warum Daniel Uhlmann einen Mantel trug“, sage ich. „Wie meinen Sie das?“ „Ganz einfach – er wollte sich ja schließlich überfahren lassen und nicht ganz gewöhnlich erfrieren. Woher will er denn gewußt haben, wann ein Krankenwagen abfahren wird?“ Dr. Wolf reibt sich fröstelnd die Hände, als er kritisch bemerkt: „Es gibt fraglos idealere Methoden des Freitods. Unter Umständen muß Uhlmann eine Stunde gewartet haben …“ „… daß ihn der Teufel endlich holt“, vollende ich sarkastisch. „Und für so tapfer halte ich diesen Daniel nicht.“
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XII. „Bin verreist. Fröhliche Weihnachten!“ Das, mit Kreide säuberlich auf die Tür gemalt, ist alles, was der Student unterm Dach hinterlassen hat. Und eine Art Fischgräte, die wohl einen Tannenzweig darstellen soll. Auch mit Kreide. Ich gönne jedem Menschen Erholung, aber nun hat sich wohl alles gegen mich verschworen. Der Student war meine letzte Hoffnung, irgend etwas über das einzige Wesen zu erfahren, das bis jetzt noch völlig im dunkeln geblieben ist, jenes Wesen, das in der Mordnacht früh die Villa Uhlmann verlassen haben soll. Wer war die Frau eigentlich? Und was wollte sie? Und zu wem hatte sie gewollt, oder von wem kam sie? Ich muß System in die Sache bringen. Wenn bloß nicht die verfluchte Zeitnot wäre! Und wenn man nicht so eklig allein wäre. Lieber Gott, schick mir ’ne gescheite Idee! Also: Von wem kann die Frau gekommen sein? Ganz ruhig, alter Junge, Beharrlichkeit führt mitunter auch zum Ziel. Die Fragestellung ist schon schlecht. Es muß besser heißen: Von wem kann sie nicht gekommen sein? Und da fällt Hugo aus. Es sei denn, sie hätte ihn umgebracht. Aber, erstens hatte sich Hugo Uhlmann zu seiner eigenen Frau verirrt, und zweitens ist auch Dorothee tot. Weiter. Frank Uhlmann. Der Bengel jongliert ohnehin etwas mit der Wahrheit und ist immerhin schon sechzehn. Aber er war nachweislich nicht im Haus, konnte also keine Besuche empfangen. Madame Zuivre? Möglich, nur, warum sollte sie das verschwiegen haben? Einzig, wenn sie und der mysteriöse Besuch gemeinschaft141
lich … Und Maria? Na, die kann wohl gestrichen werden. Verlobte haben Dritte nicht besonders gern. Bliebe nur der Onkel Daniel. Warum soll ausgerechnet er wie ein Eremit gelebt haben? Zumal er ohnehin tiefer in die Geschichte verstrickt zu sein scheint, als ich zur Zeit weiß. Aber ich bin so ratlos, daß ich mir wünsche: Wäre ihm doch sein Vorhaben heute nacht geglückt! Dann hätte man die unbekannte Frau unter Umständen unter den Trauergästen entdecken können. Außerdem könnte dann das Schild an seiner „Würstchenbude“ noch lange hängenbleiben: Wegen Trauerfall vorübergehend geschlossen. „Würstchenbude“? Ich habe nur noch zu gewinnen, und für Benzinkosten brauche ich nicht aufzukommen. Je weiter ich mich der Gegend nähere, in der Daniels Geschäftsbereich liegt, desto sicherer werde ich, einen längst fälligen Schritt nachzuholen. Der Kiosk steht unmittelbar am Rand des sogenannten Industriegeländes. Daniel Uhlmann hat immerhin Geschäftssinn bewiesen, als er auf die Kaufkraft der Arbeiter reflektierte. Wegen Trauerfall vorübergehend geschlossen. Schief hängt das handgebastelte Schild aus grüner Pappe hinter der Türscheibe. Die Vorder- und zwei Seitenfronten bestehen zur Hälfte aus Glas, die Rückwand aus Fußbodenbrettern. Einigemale umkreise ich unentschlossen den ockergelb gestrichenen Kasten. Für die Auslagen habe ich kein Interesse. Ringsum stehen die letzten Mietshäuser der Stadt, und ich habe das unbehagliche Gefühl, daß aus jedem Fenster mein hilfloses Ringelspiel amüsiert beobachtet wird. Hin und wieder sehe ich mein Spiegelbild in den 142
Scheiben. Sie sind so blank, daß ich die Verdrießlichkeit auf meinem Gesicht gut erkennen kann. Ob Daniel diese Scheiben immer höchst persönlich putzt? Ich bin schon so bescheiden geworden, daß ich es als Erfolg verbuche, nach einigen Umfragen die Reinemachefrau aufgestöbert zu haben. Frau Wagenknecht sitzt zu Hause in ihrer Küche und trinkt Kaffee. Sei ist eine kleine, verarbeitete Frau, Ende Fünfzig, Frau eines Arbeiters, selbst Arbeiterin. Für sie ist es noch ganz selbstverständlich, daß man der Polizei hilft, wenn es geht. „Der Kiosk?“ Sie taucht das Ende einer Brötchenhälfte in den Kaffeetopf und mummelt dann kraftlos an der feuchten Backware. „Den Kiosk, ja, den halte ich in Ordnung.“ „Sie haben sicher einen Schlüssel?“ „Hab’ ich“, bestätigt sie ruhig. „Den darf ich aber niemanden aushändigen.“ „Versteht sich, Frau Wagenknecht. Mich interessiert auch eigentlich etwas anderes. Sehen Sie, wenn Herr Uhlmann mal während der Geschäftszeit dringende Besorgungen hat – das kommt doch vor? –, wie ist das dann? Schließt er einfach ab und geht? Oder vertreten Sie ihn dann?“ Sie trinkt erst sorgfältig die Krümel ab, die auf der Oberfläche des Kaffees schwimmen, ehe sie sagt: „Aber wo! Ich doch nicht! Da kommt dann meist eine Bekannte von Herrn Uhlmann. Oder Verwandte, weiß ich nicht so genau. Ja, ja, die Frau Steinert kommt dann.“ „Aha! Und wissen Sie zufällig auch, wo Frau Steinert wohnt?“ „Aber klar! Ich mußte sie doch schon oft holen.“ „Ist das weit von hier?“ 143
„Es geht“, sagt sie trocken. Sie ist die Ruhe selbst. Das Frühstück ist für sie eine heilige Handlung. „Wo wohnt sie denn?“ „Na, in der Mühlenstraße. Die Nummer weiß ich aber nicht. Es ist genau dem Sportplatz gegenüber.“ Mühlenstraße? Ich betaste unwillkürlich meine Beule am Hinterkopf und denke hoffnungsfroh, daß soviel Zufall selten ist. Frau Wagenknecht steht mißtrauisch auf, als ich mich etwas überstürzt verabschiede. Das Haus gegenüber dem Sportplatzeingang ist das kleinste in der Mühlenstraße. Ein flaches Gebäude im Bungalowstil und leidlich erhalten. Herr Siegmund wohnt fünf Häuser davor. Ich bin ziemlich schnell daran vorbeigefahren. Merkwürdig, die Haustür ist unverschlossen. Auch die Wohnungstür hinter der flachen Veranda ist nicht gesichert. Dafür klemmt sie zwar, aber verquollenes Holz ist kein Ersatz für ein solides Schloß. In unserem Beruf muß man immer auf Überraschungen gefaßt sein, wenn sie auch zum Glück nicht immer mit Beulen enden. Die Überraschung hier besteht in einer dunkelhaarigen, vielleicht vierzig Jahre alten Frau, die in einem sparsam möblierten Zimmer auf einer Couch liegt und schläft. Sie ist weit weg, auf Urlaub im Paradies gewissermaßen. Wenn nicht alles täuscht, hat sie sich auf eine LSDReise begeben. Wohin zum Teufel, führt diese Spur nun wieder? Ist es überhaupt eine? Ich stehe ratlos vor der Couch. Was nützt mir diese Frau Steinert? LSD – oder genauer: Lyserg-SäureDiäthylamid! Und was hat Daniel damit zu tun? Es ist zwecklos, die Rückkehr aus dem Paradies abzuwarten. Der Rausch völliger Erschöpfung kann noch 144
Stunden dauern. Sie merkt auch nicht, daß ich eine knallrote Handtasche unter ihrem Kopf hervorziehe. Als ich sie einfach auf dem Tisch umstülpe, fällt mir als erstes ein Stück Würfelzucker auf. Zwar schnuppere ich daran, aber das ist ziemlich witzlos. LSD wird verbreitet in Form von getränktem Würfelzucker gehandelt, es ist jedoch völlig geruchlos. Aber dann habe ich die Verbindung! Im Seitenfach der Tasche steckt jener Brief, in dem Daniel Uhlmann zur Zahlung der fälligen Summe aufgefordert wurde. Dieser Daniel! Von wegen Freitod – ein besserer Betriebsunfall war das! Ein Blick durch das Fenster über den Sportplatz hinweg untermauert diese Theorie. Hinter dem Sportplatz fließt der sogenannte Mühlgraben. Überquert man ihn auf der zierlichen Fußgängerbrücke und klettert über einen abgrenzenden Scherengitterzaun, steht man schon auf Krankenhausgelände, im Park. Ich weiß, es gab um diesen ausgedehnten Komplex schon stürmische Stadtverordnetensitzungen, Bis heute aber hat die allmächtige Kirche, als Eigentümer des Krankenhauses, jeden Angriff auf dieses kostbare Gelände eigensinnig abgewiesen. Daniel muß gestern nacht also hier gewesen sein, wie anders wäre der Brief in Frau Steinerts Handtasche gekommen. Was aber hat diese Frau mit dem fälligen Betrag zu tun? Und was hat das alles mit dem Doppelmord zu tun? Ich bin keinen Schritt weiter. Kain soll zwar seinen Bruder Abel erschlagen haben, aber Daniel und Hugo …? Dem guten Onkel fehlt zwar ein stichhaltiges Alibi, dafür aber auch ein handfestes Motiv. Und welche Rolle hätte dann Siegmund gespielt? Und ich kann weder Daniel Uhlmann vernehmen, noch kann ich den Studenten auftreiben, damit er die 145
Frau hier identifiziert. Sie selbst ist für die nächsten Stunden außer Gefecht. Siegmund wird mich bestenfalls ’rausschmeißen, wenn ich ihn aufsuche. Ich komme mir allmählich so hilflos vor, wie ein Antragsteller bei einer Behörde, der von Tür zu Tür rennt und nirgends die zuständige Abteilung findet. Ausgerechnet Plotzki scheint das zu haben, was Kriminalrat von Beierstorff mir absprechen wollte, nämlich Taktgefühl. Eine ganze Stunde lang sitze ich schon im leichten Dämmerlicht in Frau Uhlmanns Salon und versuche, irgendwo den berühmten Haken zu entdecken. Ohne Ergebnis freilich. Nach dieser Stunde siegt in Plotzki entweder die Neugier oder das Mitleid. Er kommt leise herein, setzt sich wortlos mir gegenüber und sagt nach einer ganzen Weile: „Wir müssen ja Bully nichts davon erzählen.“ Nett von ihm. Viel netter, als man es von ihm erwartet hätte. Hilft mir aber auch nicht. Denn Plotzki geht ja von der längst überholten Vorstellung aus, daß ich das Interregnum nur benutzt habe, um Bully Talentlosigkeit zu beweisen. „Sie waren eben immer hier, und fertig“, bietet er seine Unterstützung an. „Wer will das schon bestreiten?“ Der Mann hat ja keine Ahnung! Obwohl ich lieber noch eine Weile in völliger Isolierung vor mich hin meditiert hätte, erzähle ich widerstrebend von jenen Abenteuern, die Herr von Beierstorff zum Anlaß nahm, mir die Vorzüge eines Ausscheidens aus dem Polizeidienst zum Jahreswechsel auszumalen. Plotzki schüttelt bedenklich den Kopf. „Wenn Bully das erfährt, und er wird es erfahren, dann …“ Er spricht gar nicht aus, was mir dann bevorsteht. Ich weiß es auch 146
so. „Der Fehler liegt ein wenig auch bei Ihnen“, fährt er besorgt fort. „Ich glaube, Sie unterschätzen Bully, auch seine Fähigkeiten. Meinen Sie nicht auch, daß er kaum so rücksichtslos mit den Leuten umspringen würde, von uns ganz zu schweigen, wenn er nicht auf beachtliche Erfolge pochen könnte? Bloß, er ist manchmal wie eine Lokomotive. Einmal in der Spur und Dampf im Kessel, rast er unbeirrt weiter. Besonders, wenn ein sozusagen klassisches Motiv vorzuliegen scheint, wie Geld, Rache, Eifersucht – Bully rast bis zum Ziel. Nee, nee, Sie kennen ihn noch nicht.“ „Und morgen kommt er wieder“, sage ich dumpf und glaube schon, Erdschollen auf einen Sarg poltern zu hören. „Nur wer sich selbst aufgibt, der ist verloren“, sagt Plotzki. Eine abgedroschene Weisheit. „Aber Sie selbst glaubten doch auch, daß Bully nicht die richtige Fährte verfolgt“, fahre ich auf, weil weise Sprüche besonders fehl am Platze sind, wenn man richtig in der Tinte sitzt. „Was heißt das schon bei Bully! Außerdem, falsche Fährte ist schon wieder voreilig von Ihnen. Ich glaube lediglich, daß er sich zu sehr auf eine Möglichkeit versteift. Er spielt gern Hasard, unser Chef. Das wird ihn aber nicht hindern, Sie einfach auszubooten – es sei denn, Sie sind schneller als er. Denn immerhin lautet einer seiner Leitsprüche: Man muß am besten KZ-Wächter gewesen sein, um einen guten und erfolgreichen Polizeimann abzugeben. Nach solcher Schule leistet man sich kaum noch Gefühle. Die sind bloß Ballast beim Aufstieg. Entweder du oder ich, höchst einfach.“ 147
„War Bully …?“ „Nein, nein. Aber er war Feldwebel bei der Feldgendarmerie. Und das ist eine Art Vorstufe zum Henker.“ Meine Chancen sind nur noch mäßig, ich weiß. Auch Plotzkis Anteilnahme klingt schon verdammt nach Leichenrede. Wenn man nur nicht so scheußlich allein wäre! Oder ob man Plotzki herumkriegen kann, ihn, den Rückversicherer? Ich erzähle ihm nun auch noch von Frau Steinert und den vermutlichen Zusammenhängen mit Daniel Uhlmann. Er hört mir aufmerksam zu, ohne mich zu unterbrechen. „Steinert“, sagt er nach einer ganzen Weile, „Frau Erika Steinert? Die hatten wir schon mal wegen einer Rauschgiftaffäre in ‚Behandlung‘. Konnten ihr allerdings wenig nachweisen.“ „Aber diesmal könnte man.“ „Sie hoffen, daß sie jene Frau gewesen sein könnte, die morgens um fünf dieses Haus hier verließ? Zur Todeszeit der Uhlmanns?“ Das ist es ja eben! Ich war vorhin noch in der Pathologie. Und seitdem bin ich erst richtig fertig. Die Sache wird immer komplizierter. Und was Plotzki da will, das wollte ich zwar auch, aber es geht nicht. Mit LSD kann man keinen halbwegs gesunden Menschen auf Anhieb umbringen. „Fehlanzeige“, sage ich mißmutig. „Doktor Hollwitz ist da ziemlich sicher. Die Gifte müssen den Opfern Stunden vor dem Exitus zugeführt worden sein.“ „Gifte? Wieso Gifte?“ „Ja, sehen Sie, das habe ich auch gestottert. Darauf hat er mir einen sicher sehr interessanten, aber eigentlich nur verwirrenden Vortrag gehalten. Er bleibt dabei, daß 148
Blausäure im Spiel war. Blausäure werde vom Blut aufgenommen und verhindere die Fälligkeit der roten Blutkörperchen, Sauerstoff abzugeben. Und ohne Sauerstoff ist man ja passe. In dem Zusammenhang hat er mich gleich noch über die Gaskammern der KZs aufgeklärt.“ Plotzki findet denselben Haken wie ich. „Aber Uhlmanns konnten doch frische Luft einatmen, wie sie wollten!“ „Konnten Sie. Und genau deshalb, meint jedenfalls Doktor Hollwitz, müsse die eingenommene Menge der Blausäuremixtur relativ gering gewesen sein. Eine stärkere Dosis hätte schon nach einigen Minuten zu einem Starrkrampf geführt.“ „Woran sind sie dann aber gestorben?“ „Denken Sie jetzt bitte nicht, ich will Sie verkohlen, Herr Kommissar! Hören Sie zu – der Doktor hat mir versichert, daß er sich auf geschichtliche Quellen bezieht. Früher nämlich pflegten sich Bischöfe und Kardinäle, die auf den Papststuhl reflektierten, durch sogenannte päpstliche Hausmittelchen gegenseitig aus dem Weg zu räumen. Und diese Hausmittelchen sind langsam, aber höchst zuverlässig wirkende Gifte gewesen.“ Plotzki zieht skeptisch die Stirn kraus. Es scheint ihm ungeheuerlich, daß ausgerechnet hohe Würdenträger der Kirche dem lieben Gott so rücksichtslos ins Handwerk pfuschten. „Es geht noch weiter. Damals nämlich sind schon Opiate bekannt gewesen, zum Beispiel das aus dem arabischen Raum stammende Haschisch. Und mit der Entdeckung Amerikas kam nicht nur die Kartoffel nach Europa, sondern auch das Kokain. Alle diese Gifte sind sogenannte Nervengifte, die hauptsächlich Gehirn und Rückenmark lähmen. Ja, er hat auch Spuren von Morphi149
um gefunden, der Doktor. Das Zeug hat für Giftmorde gewisse Vorteile. Bloß, wie das nun alles im einzelnen zusammengebraut war, darüber konnte oder wollte er sich nicht äußern.“ „Päpstliche Hausmittelchen?“ Plotzki tut zwar, als überlege er angestrengt, aber ich weiß genau: Jetzt kommt die Frage, die auch mich umgeworfen hat. „Damit rückt ja nun Italien wieder mächtig in den Vordergrund, wie?“ Genau. Und Italien heißt nicht nur Machelli, es heißt vor allen Dingen Bully. Plotzki nickt vor sich hin, als verstände er mich ohne Worte. „Was werden Sie tun?“ fragt er dann. „Nach mir die Sintflut? Oder …?“ „Ich weiß es nicht.“ Und das ist keine Lüge. „Bully kann natürlich recht haben“, murmelt Plotzki abwesend. „Aber – er kann sich auch mächtig irren, nicht wahr? Das müßte man ihm allerdings beweisen.“ „Sehr schön, aber wie?“ „Sehen Sie“, sagt Plotzki, steht auf und beginnt einen Fußmarsch durch das Zimmer. „Wenn man hier so wartet, dann sitzt man nicht nur so herum. Irgend etwas denkt man, überlegt, kombiniert oder phantasiert.“ Trotz meiner fast hoffnungslosen Lage muß ich unwillkürlich schmunzeln. Dieser Plotzki! Er kämpft offenbar den Kampf seines Lebens. Er möchte mir helfen, wie es scheint, aber mehr als passiven Widerstand gegen unseren Chef will er sich auch nicht leisten. „Und wissen Sie, was mir eigentlich an der ganzen Geschichte nicht gefallen will? Sie können jeden beliebigen Verdächtigen nehmen – keiner hat ein gescheites Alibi. Selbst dieser Siegmund nicht, sein stundenlanger Spaziergang könnte eher ein klassischer Beweis seiner 150
Mitschuld sein, und dann die Ansicht der Mediziner, daß die Gifte Stunden vor dem Exitus zugeführt …“ Er bricht unvermittelt ab, marschiert aber weiter durch den Raum. „Vielleicht war’s ein Versehen?“ Was als reiner Galgenhumor gedacht war, Plotzki nimmt es völlig ernst. „Wäre doch möglich? Paßt doch gut zu Ihrer anfänglichen These, daß man etwas gesucht haben könnte? Nur …“ Wieder bricht er unentschlossen ab, bleibt stehen und fragt mich diplomatisch: „Warum versteifen wir uns eigentlich unbedingt darauf, daß die Giftdosis ab Mitternacht, also hier im Haus zugeführt wurde? Wenn doch die Mediziner sagen, daß …“ Er hat einfach Angst, zuviel zu sagen. Aber was er da sagt, verdammt, verdammt! Wo waren denn die Herrschaften vor Mitternacht? „Und nun rufen Sie mal den Inspektor Grimmer vom Rauschgiftdezernat an. Na, machen Sie schon!“ Ich gehorche nur widerwillig. Ich habe größte Sorge, den schwachen Faden wieder zu verlieren. „Und was soll ich ihm sagen?“ Irgendwie färbt wohl alles ab, wenn es nur lange genug auf jemanden einwirkt. Plotzki steht jetzt neben der Tür zur Halle und spielt den Chef. „Ich kann mich zwar irren“, sagt er ganz ruhig, „aber ich würde den Grimmer mal fragen, wer die Erika Steinert damals vorm Gefängnis gerettet hat.“ Behutsam schließt er die Tür hinter sich.
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XIII. Genau wie am Tage zuvor bietet Dr. Kippenhöfer mir Platz in einem Sessel in der Halle an. „Bitte?“ fragt er dann, als hätte er mich erwartet. Ich mache keine Umwege, bei einem Mann seines Formats ist das nicht nötig. Mehr, als er will, verrät er ohnehin nicht. „Ja … also, Frau Steinert … Der Name sagt Ihnen wohl nichts?“ Nun mache ich zwar doch einen Umweg, aber er lächelt schon, als ich nur den Namen nenne. Und er mustert mich prüfend. „Eine bedauernswerte Frau“, sagt er schließlich vorsichtig. Ich kann nicht feststellen, ob ihm das Thema angenehm oder peinlich ist. „Nun ja“, meine ich, „Sie hatten sie aber doch vor zwei Jahren ganz gut beraten, nicht?“ „Nur den Erfordernissen entsprechend“, schwächt er meine Anerkennung ab. „Volenti non fit injuria … Pardon, ich sagte eben: Eine mit Zustimmung des Betroffenen ausgeführte Tat ist nicht strafbar. Mit anderen Worten, ich plädierte damals für die volle Freiheit der Person, für die völlige Entscheidungsfreiheit. Im übrigen“, und dazu lächelt er deutlich mokant, „beachten Sie bitte trotz Ihres Unwillens, daß die alten Lateiner mit vier Worten sagen konnten, wozu wir immerhin zehn brauchen.“ „Eine bemerkenswerte Auslegung“, knurre ich gereizt. „Wenn ich jemandem Rauschgift verschaffe, weil er es unbedingt haben will, mache ich mich also nicht strafbar. Weil ja jeder so frei sein muß, sich auf seine Weise ruinieren zu dürfen. Mit dieser Theorie könnte man ja auch jeden Versicherungsbetrug legalisieren.“ Dazu lächelt er nur. Wahrscheinlich ist er überzeugt, 152
daß man bei entsprechender Wortgewandtheit auch einen Versicherungsbetrüger vor drohender Verurteilung bewahren kann. „Trotzdem“, nimmt er dann den Faden wieder auf, „eine sehr unangenehme Geschichte damals. Zum Glück fehlten auch einige Beweise. Zum Glück für die Frau, meine ich. Und wie gesagt, sie ist nur zu bedauern. Vor Jahren war sie noch eine der angesehensten Frauen der Stadt. Ein fabelhaft moderner Betrieb, die Firma Steinert, Baumschulen und Pflanzenzucht. Leider verstarb Herr Steinert zu früh …“ Man munkelt, Herr Steinert habe sich erschossen. Offiziell hieß es zwar Jagdunfall, aber offizielle Erklärungen stimmen bei uns nur selten. Und ob Herr Steinert tüchtig war oder nicht, weiß ich nicht, und es interessiert mich auch nicht. „Und seither“, fährt Dr. Kippenhöfer fort, „ist Frau Steinert sehr anfällig für gewisse Drogen. Das heißt, vielleicht war sie es schon früher, wer weiß? Leider gelingt es nur sehr wenigen, eine einmal vorhandene Heteronomie zu Rauschgiften aus eigener Kraft zu überwinden.“ Er hebt bedauernd die Schultern und nimmt sich eine Zigarre. „Aber warum fragen Sie nun wirklich?“ „Ich machte heute ihre Bekanntschaft, eine etwas einseitige Angelegenheit übrigens. Die Umstände …“ Er versteht. „Ich sagte ja, eine bedauernswerte Frau. Und seit bestimmte Präparate ohne größere Schwierigkeiten zu beschaffen sind, flüchten immer mehr Menschen in die Irrealität.“ „Sie spielen auf LSD an?“ „In der Tat. Diese Droge verbreitet sich mit ähnlicher Geschwindigkeit wie einstmals die Zigarette.“ Er betrachtet etwas kummervoll seine noch nicht brennende Zigarre und legt sie, von seiner eigenen Anklage beein153
druckt, behutsam in die Kiste zurück. „Leider sind die behördlichen Gegenmaßnahmen bisher so schwunglos, daß LSD fünfundzwanzig in absehbarer Zeit eine Volkskrankheit zu werden verspricht, gegen die die Lungenschwindsucht nur als harmloser Husten zu werten ist.“ „Es wird Ihnen auch bekannt sein, daß gerade unter Einfluß dieser Droge die scheußlichsten Verbrechen begangen werden?“ Er seufzt zur Bestätigung, lächelt dann aber nachsichtig. „Ich glaube zu ahnen, auf was Sie hinsteuern, junger Mann! Phonomanie als Nebeneffekt einer LSD-Reise, nicht wahr? Und da wir trotz aller Plauderei ein zentrales Thema haben … zu Uhlmanns stand Frau Steinert ganz gut. Das ist es doch, was Sie primär interessiert.“ „Ein bißchen schon. Zumal sie auch mit Herrn Daniel Uhlmann befreundet zu sein scheint. Oder irre ich mich da?“ „Sie irren nicht“, sagt Dr. Kippenhöfer kurz. Das Thema Daniel schmeckt ihm nicht, der gute Onkel Daniel war offenbar keine Persona grata. „Und um das unerquickliche Thema :Zu beenden – Sie wissen natürlich längst, daß Frau Steinert am Abend unserer privaten Weihnachtsfeier … sie ist so eine Art Tradition geworden, die Feier … Also kurz: Frau Steinert besuchte uns an jenem Abend.“ Ich habe mich ganz gut im Griff. Er hält mein Schweigen für ausgeklügelte Taktik. „Aber ich fürchte“, versichert er etwas eilig, „ich muß Ihre Hoffnungen enttäuschen. Frau Steinert war zwar gegen halb elf Uhr hier, hatte aber lediglich ein kurzes Gespräch mit Herrn Uhlmann, dem allein der Besuch galt. Worum es freilich ging, kann ich Ihnen natürlich nicht sagen. Aber mit Bestimmtheit doch soviel, daß es 154
auf die folgende Tragödie keinerlei Einfluß haben konnte. Es mag Ihnen merkwürdig erscheinen, aber ich habe beide während des Gesprächs keine Sekunde aus den Augen gelassen.“ Dann lächelt er wieder, diesmal deutlich ironisch. „Herr Uhlmann war, nachdem Frau Steinert sich verabschiedet hatte, weiterhin lustig und munter.“ Sein ewiges Grinsen macht mich langsam nervös. Vielleicht benehme ich mich ausgesprochen blöde. Dieser Kippenhöfer ist nicht nur vom Fach, er ist ein ganz gerissener Halunke, Als könnte er meine Gedanken erraten, bestätigt er sie auch gleich. „Da Sie aber dennoch gewisse Zweifel zu hegen scheinen“, sagt er fast belustigt, „ich habe da unter anderem eine der zahllosen Fotografien von dem Abend für Sie. Der Abschied der Uhlmanns in vollkommener Harmonie und Gesundheit. Ein Tonband existiert wahrscheinlich auch noch. Wie Sie wissen, hat Frank Uhlmann eine ausgeprägte Schwäche für technische Feinheiten. Unter anderem spielte er ein wenig den Reporter, fragte wahllos die Gäste nach Ihren Eindrücken zu den verrücktesten Themen, und da niemand Spielverderber war, lief das alles recht vergnügt ab.“ Er steht auf und sagt: „Lassen Sie uns nach oben gehen. Sie, kennen den Weg ja.“ Schweigsam, aber doch verbindlich lächelnd, wenn ich mich nach ihm umsehe, folgt er mir in sein Arbeitszimmer, bietet Platz an und bückt sich zur rechten Schreibtischseite. „Entschuldigen Sie das Durcheinander“, sagte er, während er einen flachen Karton voller Fotografien auf die Tischplatte stellt. „Man hat eben zuwenig Zeit für sein Privatleben.“ 155
Er sucht eine Aufnahme heraus und reicht sie mir. „Hier, sehen Sie? Sowohl Frau als auch Herr Uhlmann bei völliger Gesundheit und bester Laune. Das neben Dorothee Uhlmann bin übrigens ich.“ Auch dazu lächelt er natürlich. Die Aufnahme ist sehr gut. Hugo Uhlmann im Abendanzug, Frau Dorothee im langen Kleid, über den Schultern ein helles Pelzcape. Vor ihr, mit dem Rücken zur Kamera, lang und steif, Sohn Frank. Das Bild wirkt auf mich trotzdem wie die Nachricht vom Dahinscheiden eines halbwegs verträglichen Freundes. Ich muß auch an Bully denken: Frau Uhlmanns linkes Handgelenk ziert eine schwere Kette, ganz sicher aus Gold. Die tote Dorothee Uhlmann trug keinen Schmuck mehr. „Wenn es Ihnen nutzt“, bietet Dr. Kippenhöfer mir an, „behalten Sie es ruhig. Es beweist zumindest, daß Uhlmanns noch anderthalb Stunden nach Frau Steinerts etwas unprogrammgemäßem Besuch ebenso vergnügt waren wie eigentlich den ganzen Abend. Und falls ich an unser gestriges Gespräch anknüpfen darf – auch mit Frank schienen sie ausgesöhnt zu sein. Wie Sie dem Bild entnehmen können, verabschiedet er sich doch recht artig von seinen Eltern, nicht wahr?“ „Warum ging er eigentlich nicht mit?“ „Nun, Feiern pflegen meist um Mitternacht ihren Höhepunkt zu erreichen. Und die Jugend hat da mehr Kondition als unsereiner. Und selbstverständlich hatte ich für ausreichend Übernachtungsmöglichkeiten gesorgt. Frank hielt übrigens bis früh durch. Was unter anderem beweist, daß auch ein ausgeprägtes Faible für Krimmalgeschichten, wie er es neuerdings verrät, keine bösen Vorahnungen erzeugt.“ 156
„Bliebe noch das Tonband“, sage ich unlustig. Dr. Kippenhöfer sieht mich abwesend an, er ist in Gedanken noch in der Vergangenheit. „Tonband? Oh, entschuldigen Sie, da war ich wohl etwas voreilig … Ich erinnere mich, daß sich Frank das Band ausgebeten hat. Es war wirklich nichts von Wichtigkeit darauf, nur … nun ja, es waren die letzten Worte seiner Eltern.“ Dr. Kippenhöfer beginnt wieder in dem Berg Fotografien zu wühlen. Ich glaube tatsächlich, er muß seine Ergriffenheit verbergen. Trotz des mir bescheinigten Mangels an Taktgefühl gehe ich zum Fenster und blicke hinunter in den Garten. Der Rechtsanwalt läßt sich die ausgedehnte Anlage allerhand kosten. Sie reicht bis zum Kamm des Hügels. Neben einem runden Bassin steht ein Hundezwinger. Nach den Ausmaßen dieses Zwingers zu urteilen, muß Dr. Kippenhöfer eine Vorliebe für Hunde von der Größe eines Neufundländers haben. „Sie haben einen Hund?“ frage ich vorsichtshalber, weil der Käfig leer ist und weil Hunde mich im allgemeinen nicht leiden können. „Wie bitte? Ach so!“ Nun lächelt Dr. Kippenhöfer wieder so überlegen. „Sie sind doch nicht etwa ängstlich?“ „Na ja, manchmal wissen diese Viecher nicht zwischen Waden- und Hammelbeinen zu unterscheiden.“ „Keine Sorge, junger Freund. Unser ‚Satan‘ hatte zwar einen furchteinflößenden Namen, war aber ausgesprochen phlegmatisch. Außerdem war er älter als das Riesengebirge, wie mein Chauffeur sich auszudrücken beliebte.“ „War? Lebt er nicht mehr?“ Genaugenommen interessiert mich die Bestie überhaupt nicht mehr, aber tote 157
Hunde beißen jedenfalls nicht. „Ja, ja, unser alter ‚Satan‘. Er wird im Hundehimmel einen Logenplatz beanspruchen können. Nicht etwa, weil er zum Hause Kippenhöfer gehörte, aber können Sie sich das vorstellen – er überstand sein erstes ‚Interview‘ nicht!“ „Interessant“, sage ich höflich. „Nicht wahr?“ Er wird sogar lebhaft. „Bei den Vorbereitungen für unsere Feier sind mir Frank und zwei seiner Freunde ein bißchen zur Hand gegangen. Ich mag es, wenn hier Leben in der Bude ist, wie man so sagt. Der Übermut der Jungen ging so weit, daß sie schließlich partout den alten ‚Satan‘ interviewten. Als sie ihm dann seine gebellten und geknurrten Antworten vom Band vorspielten, hat er sich wohl über Gebühr aufgeregt. Um ein Haar hätte er das ganze Tonbandgerät zerfleischt. Na, er war ein alter Herr, der Weg zum Tierarzt stand ohnehin bevor. Alte Hunde werden lästig. Und am Morgen vor unserer Party lag er tot im Zwinger.“ Anscheinend merkt er, daß mich sein toter Köter herzlich wenig interessiert. „Requiescat in pace – er ruhe in Frieden“, beendet er seinen Nachruf, natürlich auf lateinisch. Ich möchte bloß wissen, was unsere Juristen ohne die römischen Vorfahren machen würden. „Und nun“, damit beendet er auch unser Gespräch, „verzeihen Sie bitte, müssen Sie mich entschuldigen. Morgen ist Heiliger Abend, ich möchte einige Dinge erledigen. Frank wird selbstredend unser Gast sein. Vielleicht ist das für Sie von Interesse.“ Ein Gefühl sagt mir, daß Dr. Kippenhöfer irgendwie besorgt ist. Aber warum? Meine Stimmung ist nicht ein bißchen nach Weih158
nachten, als ich zu Plotzki zurückkomme, der wieder oder immer noch in unserem Hauptquartier Küche sitzt. „Fehlanzeige“, sage ich mißvergnügt auf seine Frage nach meinen Erfolgen. „Frau Steinert war zwar tatsächlich bei Rechtsanwalts, aber mit Gift ist nicht«. Gut war Ihr Tip aber trotzdem.“ Soll wenigstens er seine Freude haben. „Und warum ist nichts?“ Ich kann erst einmal gar nichts antworten. Daß der Kaffeekonsum der Restfamilie Uhlmann dank Plotzkis Hilfe enorm gestiegen sein muß, mag noch angehen. Aber der Plotzki schaufelt sich eben Zucker in die Tasse, als wollte er Pudding anrühren. Entsetzlich! Ich muß mich erst wieder konzentrieren. „Weil Frau Steinert sicher irgend etwas von Hugo Uhlmann wollte, leider aber mit Dorothee Uhlmann gar nicht in Berührung gekommen ist.“ „Sie haben kein Glück“, stellt Plotzki darauf zutreffend fest. Ich habe auch keine Lust zu langen Reden und gehe hinüber in den Salon der Gnädigen, Bullys Ankunft rückt näher und näher, die Galgenfrist schrumpft immer mehr. Wäre man fromm genug, könnte man singen: O wie nah ist mir mein Ende. Ich setze mich bequem zurecht, lege meine müden Beine auf die Kachelsplitterfratze und halte nach einer halben Stunde die Behauptung der Amerikaner, daß diese Stellung außerordentlich entspannend sei, für plumpen Schwindel. Mir geht es wie einem etwas schußligen Bauleiter, der für ein Projekt zwar sämtliche Schnitte und Ansichten besitzt, dem aber der Lageplan abhanden gekommen ist. Oder mir fehlt der Bleistift, um aus meinem Berg von 159
Bausteinen ein abnahmewürdiges Haus zu konstruieren. Bauelemente hingegen gibt es genug, eher zuviel. Daniel, fehlender Schmuck, fehlender Schlüssel, Siegmund, Machelli. Dazu ein geisterhafter Georg, ein Frank, ein lateinisierender Rechtsanwalt, eine süchtige Gärtnerwitwe und vielleicht noch einen toten Hund. Man müßte einfach alles in einen Martinofen schmeißen können und die Füllung so lange schmelzen, bis unten ein gescheites Material herausfließt. Wie sagte Dr. Kippenhöfer so furchtbar gescheit? Phonomanie als Nebeneffekt einer LSD-Reise, sagte er. Mordsucht unter Einfluß der Wahnsinnsdroge LSD also. Schön, und weiter? Im LSD-Rausch benehmen sich selbst überängstliche Menschen wie Voltigeure ohne Netz und sogar ohne Seil. Mordsucht …? Ich nehme unwillkürlich die Beine vom Tisch, lege sie aber enttäuscht wieder hoch. Der Gedanke, der mir eben kam, taugt nichts. Gewiß, Frau Steinert wollte etwas von Hugo Uhlmann, bekam aber nichts. Obwohl es mir verwegen erscheint, es ist da eine Verbindung. Chemie und Drogen. Jeder halbwegs fähige Chemiker soll LysergSäure-Diäthylamid in einigen Tagen selbst produzieren können. Aber Mordsucht hin und Mordsucht her – Gift paßt einfach nicht dazu. Auch die Zeit stimmt nicht, selbst wenn Frau Steinert früh um fünf die Villa verlassen haben sollte. Und wenn man aus ihr und Siegmund ein Gespann machte? Siegmund ist zwar Prokurist, versteht aber nach eigener Darstellung genügend von Chemie. Und Daniel? Dieser traurige Onkel muß mit Siegmund im Bunde stehen, unklar ist nur, auf welcher Basis. Das wäre dann schon ein Trio. Und der Junior? Und, nicht zu vergessen, Machelli? 160
Samiel, hilf! denke ich gerade und will mein Gedankenkarussell in Bewegung halten, als nebenan in Frau Uhlmanns Schlafzimmer das Telefon klingelt. Als sich Dr. Wolf meldet, wird mir flau im Magen. „Ich hörte, daß ich Sie unter Uhlmanns Nummer erreichen kann“, sagt er etwas umständlich. „Vielleicht findet es Ihr Interesse … Wir haben da etwas, wissen Sie?“ „Was denn, zum Teufel?“ „Sie sind zu nervös“, stellt Dr. Wolf sachlich fest. „Sie sollten sich ruhig mal einen längeren Urlaub gönnen.“ Der hat gut reden. Unter Umständen kann ich in Kürze einen ganz großen Urlaub antreten. „Hören Sie eigentlich noch? Also … beim Umbetten fand eine Schwester ein Tonband. Verstehen Sie? Ein Tonband! Von befremdlich winziger Bauart. Sie fand es zwischen den Heizungsrippen, gleich am Kopfende des Bettes.“ „Dann können Sie es in einen Ihrer zahlreichen Eimer schmeißen“, fauche ich grimmig, weil mich allein die Ruhe aufregt, mit der er spricht. „Wenn es ein paar Wochen zwischen der Heizung gesteckt hat, ist es jetzt völlig unbrauchbar.“ „Wie kommen Sie auf ein paar Wochen? Herr Uhlmann ist erst zwei Tage bei uns.“ „Uhlmann? Daniel? Was hat denn der …?“ „Mann! In seinem Zimmer steckte es doch! Sagte ich das nicht schon?“ „Nein!“ schreie ich. „Bin in zehn Minuten da!“ Und das schaffe ich trotz der Gefahren im winterlichen Straßenverkehr. Aber als ich das kleine Etwas endlich in der Hand halte, kann ich nur hilflos stöhnen. Na, tröste ich mich, es wird ohnehin schon durch viele Hände gegangen sein. Mehr aus Gewohnheit wickele ich es 161
trotzdem in mein Taschentuch. Den Kollegen vom Labor muß ich zu dieser Tageszeit erst von zu Hause abholen. Die haben ein Leben! Pünktlich Feierabend, und das Gehalt stimmt auch. Als er neben mir im VW sitzt und ich ihm meinen Fund zeige, macht er eine Bewegung, als wollte er gleich wieder aussteigen. „An dem Ding werden Sie wenig Freude haben“, nörgelt er. „Und warum nicht?“ frage ich beflissen, um ihn ja bei Laune zu halten. „Na, unsachgemäße Lagerung.“ Die Brüder von der Technik spielen sich mitunter auf wie Halbgötter. „Brennholz kann man ja in jede beliebige Ecke schmeißen, mit solchen Dingern hier sollte man jedenfalls etwas pfleglicher umgehen. Sehen Sie, wie wellig das Band ist? Was sage ich! Wellen? Das sind schon Blasen, Mann! Würde mich tatsächlich wundern, wenn es nicht entmagnetisiert ist.“ „Versuchen wir es trotzdem.“ Der Versuch scheint seine Skepsis vollauf zu rechtfertigen. Man hört zunächst nur verzerrte Stimmen und sonstigen undefinierbaren Lärm. Der Mensch von der Technik feixt triumphierend. Aber zu früh. Ich fahre ruckartig von meinem harten Hocker hoch und fuchtele wild mit beiden Armen. Verdammt! Das war doch …? Daniels weinerliche Stimme! Genau die gleiche Stimme, die ich gestern abend in der Villa gehört habe, obwohl Daniel mit absoluter Sicherheit nicht anwesend war. Klar, ein Tonband erklärt alles, nur, wer hat es abgespielt? Und wie kam es dann ins Krankenhaus? „… hübsch bei der Stange … Zahlen nicht … an diesem Morgen nicht …“ 162
Mir stockt der Atem. Das war ganz deutlich Siegmunds Stimme. „… besorgen gleich früh … zwanzig Minuten vor sieben … Treffpunkt Bedürfnisanstalt Hohenstaufenstraße … Fall erledigt … Milch kaufen oder Backpulver … wieder zurück … nicht schief …“ Dann kommt nichts Brauchbares mehr, bis das Bandende flattert. Aber dies ist ein unanfechtbarer Beweis dafür, daß Daniel und Siegmund miteinander etwas planten. Und durchführten? Wer aber hat das Gespräch aufgenommen? Und wo wurde es geführt? Und was noch viel undurchsichtiger ist: Wie könnte das Band zu Daniel ins Krankenhaus gelangt sein? Hatte er es bei sich, als er nachts k. o. ging? Doch wohl kaum. Woher sollte ich sonst diese Stimme gestern gehört haben? Aber bei aller Rechenkunst – wie ist das Band noch in der Nacht zwischen die Heizungsrippen gekommen? Wie? Es muß ihm jemand gebracht haben, ganz einfach. Nur wer? Und wie? Selbst mich ließ der Arzt ja nur mit Mühe zu Daniel. „Na, nützt es Ihnen etwas?“ Ich tauche aus meinen Gedanken auf. „Ob es … Mann, sind Sie immer so witzig?“ Er nimmt es nicht krumm. Mehr noch, es stachelt seinen Ehrgeiz an. „Wenn Sie wollen, hole ich da noch viel mehr ’raus. Diese verworrenen Satzfetzen machen mich glatt neugierig. Allerdings, das dauert seine Zeit.“ „Und wie lange ist das, ‚seine Zeit‘?“ „Wenn Sie mein Schlafbedürfnis einkalkulieren, mindestens bis morgen mittag.“ „Bißchen lange.“ „Na, dann schicken Sie es meinetwegen zum CIA. 163
Wenn ich nicht irre, benutzt der Verein mit Vorliebe solche Mini-Bänder.“ „Ich warte lieber“, sage ich bescheiden und bitte um die leere Spule. Die scheint mir wichtig zu sein.
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XIV. Frank Uhlmann liegt halb aufgerichtet auf seinem Bett. Das Zimmer wird nur vom wechselnden Licht des Fernsehers erhellt. Ohne auf die Sendung zu achten, knipse ich die Deckenbeleuchtung an und gehe zu dem Jungen hin. Er macht eine Bewegung, als wollte er gegen meine Eigenmächtigkeit protestieren, sieht mich aber dann doch aufmerksam an. Ich halte ihm unvermittelt die leere Bandspule entgegen. „Kennen Sie das hier?“ Ich beobachte ihn scharf, aber er zeigt keine besondere Reaktion. Nur seine Antwort will mir nicht gefallen. „Nein“, sagt er und dreht die Spule hin und her, ohne aufzustehen übrigens. „Dutzendware. Können Sie auch beim Otto-Versand bestellen.“ Ich weiß, daß man das nicht kann. „Sie haben doch sicher nichts dagegen, wenn wir das Ding einmal auf Ihr Gerät legen?“ „Muß das jetzt sein?“ Er verfolgt schon wieder die Geschehnisse auf dem Bildschirm., wo ein heller Sportwagen über eine schnurgerade Chaussee rast. „Es muß.“ „Bitte“, sagt er, und nun steht er gehorsam auf. Es dauert auch nur Sekunden, und er hat aus der rechten Schreibtischseite einen formschönen kleinen „Telefunken“ herausgeholt. Die Spule ist um einige Nummern zu klein. Und ich bin ehrlich erleichtert. Seit einer knappen Stunde ging mir ein gräßlicher Verdacht durch den Kopf. „Danke“, sage ich beruhigt und klopfe dem Jungen väterlich auf die Schultern. „Wirklich, hat mich sehr gefreut.“ Und das ist kein Scherz. 165
Als ich unten im Salon der Gnädigen ankomme, sitzt auch Plotzki bequem vorm Fernseher, und der schnittige Sportwagen rast noch immer über das Asphaltband. Ich muß den Kommissar anstandshalber fragen, ob er mich hier braucht. Auf mich wartet ein Herr Siegmund. Zwar weiß der noch nichts von seinem Glück, aber das kann lediglich die Wiedersehensfreude steigern. Inzwischen ist auf dem Bildschirm endlich etwas los. Ein langer Kerl mit fröhlichen Augen kämpft mit drei weniger angenehmen Kerlen vermutlich um sein Leben. Soweit es die Kameraeinstellung erlaubt, wird dabei der Kassenraum einer Großtankstelle zu Lasten einer Versicherungsgesellschaft demoliert. Und jetzt erkenne ich ihn. Der Held ist dieser Simon Templar! Und das ist ein Held, Junge, Junge! Obwohl zwei seiner Gegner mit großkalibrigen Schießeisen herumfuchteln und der dritte eben einen Drehstuhl schwingt wie Thor seinen Hammer, Mister Templar macht das bißchen schon. Die Pistolenhelden landen nacheinander zwischen Putz- und Lackiermitteln und könnten eigentlich noch dankbar sein für die Bedienung. Denn der mit dem Drehschemel fliegt mitsamt seinem Möbelstück durch die riesige Frontscheibe und kracht draußen gegen die nächste Tanksäule. Ein Glück, daß beim Fernsehen Fensterscheiben nur aus Kristallzucker sind. Held Templar säubert sich nach vollbrachter Tat laut Drehbuch die Hände am schneeweißen Taschentuch und geht gelassen seiner Wege. „Finden Sie daran eigentlich Gefallen?“ frage ich erstaunt, als Plotzki sich zu mir wendet. Diese Sorte Krimis hat nach meiner Auffassung mit der Realität sowenig zu tun wie ein Märchenfilm mit einer Dokumentation. So viel Heldentum auf einen Haufen ist mir zu plump. 166
„Gefallen oder nicht“, sagt Plotzki und schaltet die Stehlampe neben sich an, „mitunter kann man auch daraus etwas lernen.“ „Na, Hilfe!“ Ich beschließe, umgehend zu verduften. „Nicht wieder so voreilig“, mahnt Plotzki ernsthaft. „Wenn man ohne Vorurteil herangeht, sieht man durchaus noch mehr als die für uns Berufskriminalisten lächerliche Tatsache, daß jene Sorte Helden alles mit einer Hand löst. Zum Beispiel spielen diese Burschen da, Templar, Scott, Moran, Drake und wie sie alle heißen, gleich noch ihre eigenen Richter. Daß sie auch noch klüger sind als die Polizei, versteht sich am Rande. Es ist fast ein Wunder, daß sich überhaupt noch jemand an uns wendet, wenn etwas passiert ist. Oder man tut’s aus Gewohnheit.“ Sieh mal an! Plotzki, langweilig, geduldig und eigentlich farblos, hat also auch sein Hobby. Und dann gleich noch so eins! Macht ein bißchen in Sozialkritik oder wie man das nennen soll. Aber ist es eigentlich nicht ganz natürlich, daß der ewig unterdrückte Plotzki solche Auffassungen vertritt? Zwangsläufig fördert ein Leben im Bannkreis einer Autokratie nach Bullys Muster eine kritische Einstellung zur Umwelt. Jedenfalls könnte ich mir das vorstellen, zumal sich Plotzki nicht zu mehr als zu passiver Resistenz aufraffen kann. Eigentlich schade … Doch dann werde ich hellhörig. „Ist Ihnen schon mal bewußt geworden, daß es den Templars, von einem gewissen James Bond ganz zu schweigen, rein nichts ausmacht, andere Menschen zu töten? Gehörten diese Supermen nicht selbst vor Gericht?“ „Nun ja“, sage ich zögernd, „ist doch nur Film.“ 167
„Film!“ Plotzki wird sogar ärgerlich. „Ob ich Verbrecher im Film oder im öffentlichen Leben heroisiere, wo ist da der Unterschied? Filme sollen etwas sagen, sollen Anleitung sein, Mahnung, Warnung, Lehre oder was weiß ich. Aber wenn Sie diese Sorte Film als Leitmotiv nehmen, werden Sie bestenfalls zum Herostraten.“ „Klingt verdammt einleuchtend.“ „Nicht wahr? Sehen Sie, wenn einer dieser Herren zum Beispiel erfährt, daß in seinem Wagen eine Ladung Dynamit versteckt ist, die bei Kilometer zwölf explodieren wird, was macht er dann? Selbst wenn er weiß, wer ihm die Höllenmaschine eingebaut hat? Den Mann anzeigen? Nicht daran zu denken! Er arrangiert spielend alles so, daß der Attentäter selbst damit in die Luft fliegt. Und so etwas nennt man noch immer Mord, Herr Kollege! Ob ich einen Verbrecher oder einen Unbescholtenen umlege, Mord bleibt Mord. Und was wird da erstochen, erschlagen, von Brücken gestürzt, vor den Zug oder über Bord geschmissen! Da wird skrupellos das ihnen zugedachte Whiskyglas ausgetauscht, weil sie natürlich wissen, daß Gift darin ist. Dann sagen sie noch freundlich Prost und sehen zu, wie der andere es austrinkt. Auch das ist Mord. Gesetze werden nicht nur negiert, sie werden auf den Kopf gestellt. Eins dieser Gesetze verlangt zum Beispiel, daß jemand, der von einem geplanten Verbrechen weiß, unverzüglich die Polizei zu informieren hat. Sie tun es nicht, obwohl sie sich ja vorgeblich im Strafgesetzbuch bestens auskennen. Wo da die Moral bleibt, ist für mich nicht zu ergründen.“ Ich bin ganz still. Das war eben die längste Rede, die ich bisher von Plotzki gehört habe. Aber nicht nur deswegen bin ich so still. Mir ist, als schwebe von irgendwoher, lautlos und noch sehr verschwommen, wie Fäden 168
im Altweibersommer, jener Faden heran, nach dem ich so verzweifelt suche. Plotzki ist noch nicht fertig. „Und nun sehen Sie sich mal die Wirklichkeit an. Nehmen Sie sich selbst! Haben Sie nicht schon Ihre Papiere halb in der Tasche, bloß weil dieser undurchsichtige Daniel nach Ihrem Besuch in wilde Panik fiel? Oder weil Sie, wenn auch in löblicher Absicht, in eine fremde Wohnung eindrangen? Lappalien gegen Templars Gewaltakte … Hören Sie überhaupt noch zu?“ „Ich weiß nicht“, sage ich zu seiner Verblüffung und gehe langsam aus dem Zimmer. Als ich an der Treppe stehe und nach oben starre, fallen mir wieder meine Beobachtungen ein, die ich am Morgen nach der Entdeckung des Verbrechens Bully vorgetragen habe: Alle Hinterbliebenen waren so seltsam gefaßt. Keine Tränen, keine Schreikrämpfe, nichts. Und das, obwohl sie erst unmittelbar zuvor mit der Tat konfrontiert worden waren. Das heißt, Daniel Uhlmann kannte das Drama schon länger. Wenn aber Daniel und Siegmund in Gemeinschaft gehandelt hätten, und das Mini-Tonband bestätigt den Verdacht, wie kam das Band ins Krankenhaus? Siegmund war doch nicht hier, als ich Daniels Stimme hörte. Es muß noch einen dritten Mitwisser oder gar Mittäter im Hause geben! Schön, lassen wir Daniel und Siegmund beiseite, bleiben immer noch drei. Madame Zuivre, Maria – und Frank. Und plötzlich weiß ich auch, warum mir der Junge immer so eigenartig bekannt vorkam! Er kopiert in seiner Haltung und seinen Gebärden diesen Simon Templar. Ich stehe noch immer an der Treppe. Kopiert er wirklich diesen Templar? Und … wenn Frank nun auch die 169
Handlungen des Fernsehhelden nachahmt? Ich muß mich jetzt zwingen, kühl zu überlegen. Wenn Frank wirklich …? Ich muß zurück zu Plotzki. Dessen kritische Einschätzung über Templar und Konsorten muß einer genauen Kenntnis vieler solcher Filmstreifen entspringen. Ein so vorsichtiger Mensch wie Plotzki urteilt kaum so entschieden, wenn er sich nur einmal geärgert hat. Ich überfalle ihn gleich an der Tür mit der Frage: „Sagen Sie, Herr Kommissar … harmlose Bürger hat Mister Templar doch noch nicht umgebracht – oder?“ Plotzki steht überrascht auf und dreht erst dem Nachrichtensprecher der Tagesschau den Ton weg, ehe er nachdenklich antwortet: „Harmlose, also rechtschaffene, was? Nein, eigentlich nicht – zuviel kann man auch dem abgebrühtesten Krimikonsumenten nicht zumuten. Wie kommen Sie darauf?“ „Also“, frage ich weiter, ohne mich um die Gegenfrage zu kümmern, „in jedem Fall hat der von Templar zur Strecke gebrachte Mensch ein Verbrechen auf dem Gewissen, ja?“ „Zumindest geplant.“ Plotzki mustert mich unsicher. „Haben Sie eigentlich keine anderen Sorgen?“ „Im Augenblick nicht.“ Langsam verlasse ich die Villa und bleibe unschlüssig auf der Außentreppe stehen. Es ist sehr kühl, die Luft riecht nach Schnee. Und natürlich habe ich Sorgen. Es scheint, als sei der kaum gefundene Faden schon wieder gerissen. Die Hand spielt mit der leeren Tonbandspule in meiner Manteltasche. Diese Spule muß gestern am späten Abend irgendwo im Haus benutzt worden sein. Aber von wem? Maria besitzt kein Bandgerät, Madame auch nicht. 170
Aber Frank, der leidenschaftliche Funkamateur? Nur, die Spule paßt nicht. Und es paßt auch nicht die eben noch so einleuchtende Theorie, daß er vielleicht mehr als nur die Haltung Templars kopiert haben könnte. Plotzki muß es wissen: Templar bringt keine Unschuldigen um. Verdammt, Plotzkis Überlegungen wirken wie Wechselbäder, mal heiß, mal kalt. Meist kalt. Bemerkenswert ist auch, daß er überhaupt welche anstellt. ‚Warum versteifen wir uns eigentlich darauf, daß die tödliche Dosis erst hier im Haus zugeführt wurde?‘ Auch das war seine Überlegung. Und wenn wir es nicht tun? Dann fallen alle Personen als Täter aus, die nachweislich hier in der Villa waren. Es bleiben zuviel übrig. Da wäre Siegmund, trotz des Alibis. Frau Steinert? Wird durch Kippenhöfer stark entlastet. Und es bleiben – Dr. Kippenhöfer selbst und Frank. Leider aber ist die Methode, Gift in Speisen oder Getränke zu mischen, noch immer am verbreitetsten. Und damit müßte man sämtliche Gäste der Feier verdächtigen. Im Trubel solcher Geselligkeiten fällt ein Giftmixer kaum auf, ein Anlaß zu einem Drink findet sich auch immer, und sei es ein Toast auf den verstorbenen Hund des Hausherrn. Zu Tode interviewt? Am Morgen lag er tot in seinem Zwinger? Merkwürdige Parallele, auch Uhlmanns lagen morgens tot. Obwohl ich es nicht begründen kann, bin ich doch überzeugt, daß des Rätsels Lösung irgendwie bei Kippenhöfer liegen muß. Und während ich erst langsam, dann immer eiliger in Richtung auf Kippenhöfers Grundstück losstiefele, weiß ich auch endlich, mit welcher Frage ich meinen nächtlichen Besuch rechtfertigen kann. Dr. Kippenhöfer ist schon im Bademantel und betrach171
tet mich weniger freundlich als bisher. „Sie haben sicher einen Grund?“ fragt er, zum Schein verbindlich. „Eine Frage, ja.“ „Bitte.“ „War Frank seit der Feier noch einmal bei Ihnen?“ „Nein. Wieso?“ „Dann“, sage ich und freue mich im voraus auf sein verdutztes Gesicht, „hätte ich gern einen Spaten und eine Hacke. Außerdem wüßte ich gern den Fleck, wo ‚Satan‘ begraben liegt.“ Dieser verdammte Jurist ist wohl wirklich ein Meister seines Metiers. Er tut mir nicht den Gefallen, mich verdutzt anzustarren. „Da Sie sicher nicht scherzen“, sagt er langsam, sieht dabei mit leicht schräg gehaltenem Kopf irgendwo in die Dunkelheit, und nur die unruhigen Hände in den Bademanteltaschen verraten eine gewisse Anteilnahme, „das Werkzeug muß noch neben dem Zwinger stehen. Und die Ruhestätte finden Sie oben am Zaun, am Fuß der letzten Birke.“ Dann nickt er kühl und schließt die Tür, als hätte er einen lästigen Vertreter abgewiesen.
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XV. Am nächsten Morgen kommt Bully zurück. Und wie er kommt. Wuchtig, sicher, Herr im Haus. Und das ist er ja auch. Er begrüßt Plotzki wie einen lange vermißten Skatbruder der Stammtischrunde und sagt zu mir bloß: „Na, Sie Ritter von der traurigen Gestalt?“ Kriminalrat von Beierstorff hatte also nichts Eiligeres zu tun, als mir, dem angeblich hoffnungsvollen Nachwuchs, eine Weiche falsch zu stellen. Bully ist schon wieder vollends zu Hause in unserer „Rumpelkammer“. Er setzt sich bequem zurecht. „Was Neues?“ „Was soll es hier schon Neues geben?“ In Plotzkis Gegenfrage schwingt das Bedauern darüber mit, daß die schöne Zeit der relativen persönlichen Freiheit vorbei ist. „Das will ich ja gerade wissen!“ Dabei schielt Bully natürlich mich an. „Unser ‚Doktor‘ hatte doch bestimmt keine Langeweile, was?“ Klar, mir ist allerhand passiert. Vorerst schweige ich verbissen. Ich weiß aber, daß ich noch mächtig auftauen werde. Denn wenn die mich sowieso aus der Firma graulen wollen, dann aber bitte mit dem nötigen Spektakel. „Zum Beispiel könnte sich Maria erhängt haben“, sagt Bully und fährt sich über das stachlige Kinn. „Grund genug hätte sie eigentlich dazu.“ „Sie hatten also Erfolg?“ „Dachten Sie etwa, ich mache mit den lausigen Makkaronis da unten viel Umstände?“ Plotzki scheint ihm jedoch als Gesprächspartner nicht recht zu passen. Immer wieder schielt Bully zu mir hin. Ich schweige weiter. „Na, schön. Dann hätte ich gern einen kurzen Bericht 173
über Ihre Tätigkeit. Allerdings nur, soweit sich diese Tätigkeit auf Ihren Auftrag beschränkt.“ Das geht natürlich wieder auf mich, Plotzki kommt mir zu Hilfe. Er erzählt in seiner bescheidenen, aber doch gewissenhaften Art, was Maria im einzelnen wie im besonderen angestellt hat. Viel ist es sowieso nicht. Nein, einen Brief nach Italien habe sie nicht geschrieben. Vielleicht doch geschrieben, aber nicht in den Kasten geworfen. Auch ihren Verlobten habe sie mit keiner Silbe erwähnt. „Verlobten!“ Bully hat sein Stichwort. „Einen feinen Bären hat uns der liebe Cäsar da aufgebunden.“ „Sind sie etwa nicht …?“ „Maria und ihr Cäsar sind – Geschwister!“ „Das gibt’s doch nicht!“ „Doch, mein Bester, gibt es. Sie haben dieselbe Mutter. Väter sind natürlich verschieden. Also Stiefgeschwister. Fein, was?“ „Aber warum geben sie sich als Verlobte aus?“ frage ich bestürzt. „Als Geschwister konnten sie sich doch ebenso besuchen. Jederzeit!“ „Kleiner Trick“, sagt Bully sanft. „Auf den Grund kommen wir noch. Tatsache ist, daß Cesares Vater, eben der alte Machelli, Ende neunzehnhundertvierundvierzig starb. Merken Sie was? Na, jedenfalls konnte Mama Machelli nicht genügend Makkaronis für drei hungrige Bambinos beschaffen und heiratete ein Jahr später einen gewissen Pezzone, Eisenbahner übrigens. Gesehen habe ich ihn nicht. Lege auch keinen Wert auf seine Bekanntschaft.“ „Schön“, gebe ich widerstrebend zu, „aber wo ist da das: Motiv für unser Verbrechen? Und darum ging’s uns doch?“ 174
„Nicht frech werden, Doktorchen“, mahnt Bully sanft. „Sie haben schon ihr Motiv, die Machelli-Pezzones. Papa Machelli starb, wie schon gesagt, Ende des Jahres neunzehnhundertvierundvierzig, am dreiundzwanzigsten November übrigens. Unter etwas mysteriösen Umständen, wie ich sagen möchte. Oder in treuer Pflichterfüllung, wie die anderen sagen. Er war damals Vorarbeiter in einer unbedeutenden Arzneimittelfabrik. Für unruhige Kriegszeiten ein ganz hübscher Job, den Papa Machelli einem steifen Knöchel verdankte, den er aus den Kämpfen in der libyschen Wüste zurückbehalten hatte. Und dieser brave Untertan wollte wohl wenigstens einmal in seinem traurigen Leben so etwas wie eine Heldentat vollbringen. Im Kriege, als Soldat, hat es dazu offenbar nicht ganz gereicht. Na, als wir damals die Gegend räumen mußten, in der Papa Machelli die Produktion von Papierbinden und Aspirinersatz beaufsichtigte – unter anderem auch deshalb räumen mußten, weil die Reste unserer tapferen Verbündeten scharenweise durch Weinberge und Olivenhaine verschwanden –, da legte man nach alter Tradition an einige Gebäude eine hübsche kleine Ladung Dynamit. Ja, und nun geht das Gerücht, daß der alte Machelli diese kriegsnotwendige Kleinigkeit absolut nicht einsehen wollte. Kurz, er wollte die Sprengung seiner Giftbude verhindern. Leider aber trat er bei diesem kühnen. Unternehmen ganz zwangsläufig seine Himmelfahrt an. Druck aufs Knöpfchen,, kleiner Krach, Staubwolke, Feierabend.“ Bully lehnt sich zufrieden zurück. Aber das kann noch längst nicht alles sein. Und schon angelt er auch sein Rindsleder aus der Tasche, denn er hockt natürlich in Hut und Mantel hinterm Schreibtisch. 175
Dann grinst er mich überheblich an und muntert mich auf. „So ist das nämlich, Doktorchen: Tatsachen sind die halbe Hinrichtung. Aber Sie wollen ja nicht auf Fachleute hören. Schade um die Steuergroschen für Ihre Ausbildung. Na, ist Ihre Fastnacht … Da war also eine kleine Sprengung vonnöten. Dynamit aber wird doch nicht einfach blind in der Gegend versteckt wie Ostereier, was? Irgend jemand muß das doch alles anordnen, entscheiden, durchführen.“ Bully blinzelt mir zu. Sonst gefiel mir seine Blinzelei immer ganz gut. Sie hatte so etwas JungenhaftSpitzbübisches. Aber es kommt wahrhaftig darauf an, aus welcher Sicht man so ein Mienenspiel betrachtet. „Fein“, sagt Bully, als ich zustimmend nicke. „Und nun dürfen Sie raten, wer damals die Sprengung anordnete. Das heißt zwar richtiger ‚befehlen‘, aber Sie sind ja eine militärische Null.“ Ich spiele erst mal mit. „Kleinigkeit … sicher Uhlmann.“ „Na, bitte! Wirklich, es ist schade um Sie. Vielleicht sollte man sich doch noch ernstlich um Ihre Erhaltung für den Polizeidienst bemühen? Was meinen Sie, Herr Plotzki?“ Der nickt auch noch überzeugt. „Ach!“ schreit Bully und reißt die Augen auf. „Wohl dicke Freunde inzwischen geworden, was? Sieh einer an! Plotzki, Plotzki! Setzen Sie bloß nicht aufs falsche Pferd!“ „Herr Kommissar …“ „Maul halten“, knurrt Bully gemütlich. Er fühlt sich wohl, der gute Bully. „Ja, lieber Doktor, der Mann hieß Uhlmann. Und so …“, dabei klappt er geübt sein Rindsleder an der richtigen Stelle auf und präsentiert eine et176
was zerknitterte Fotografie in Postkartengröße, „so sah er damals aus!“ Hugo Uhlmann als Oberleutnant. Dieses Bild hier würde schon besser in das Album passen. Er steht neben den rauchenden Trümmern eines abgestürzten Flugzeuges. „Die Sorte Flugzeug da war übrigens der Schrecken der Prärie. ‚Mosquito‘ hießen die Dinger, made in USA. Die Spitzbuben am Steuerknüppel waren auf den Mann dressiert. Die ballerten auch auf Maikäfer, wenn die sich bloß bewegten. Und trafen sogar. Gräßliche Dinger.“ „Und wo haben Sie das Bild nun her?“ „Wie vermutet Von Mama Pezzone verwitwete Machelli. Steckte bei ihr hinterm Kruzifix. War ganz einfach. Die waren überhaupt nicht darauf gefaßt, daß ihnen jemand hinter die Schliche kommen könnte.“ „Und wissen sie es jetzt?“ „Kaum“, grunzt Bully stolz, „habe ich nämlich einfach geklaut. Und unserem kühnen Cäsar wird es wohl endlich zur Einsicht verhelfen, nehme ich an.“ „Ich frage mich nur, warum Machellis, nicht die Auslieferung Hugo Uhlmanns beantragt haben, wenn bei der Sprengung damals eine Schweinerei passiert sein sollte.“ Bully glotzt mich überrascht an. „Wie war das? Schweinerei? Auslieferung? Plotzki, haben Sie das gehört? Der macht Spaße hier, was? Auslieferung! Auf was für Beweise hin denn? Etwa, weil ein Itacker im Laufe der Kriegshandlungen ums Leben kam? Sie sind wohl nicht recht bei Trost, was? Was hatte denn der Esel in eine militärische Aktion hineinzupfuschen? Soviel Naivität hätte ich Ihnen eigentlich gar …“ Bully ist so in Rage, daß er zusammenzuckt, als sein Telefon klingelt. „Blöde Bande“, knurrt er den Hörer an 177
und klemmt ihn ans Ohr. „Was’n los?“ Und dann horcht er. Erst verwundert, dann nervös. Zwischendurch blinzelt er mich heftig an. „Moment doch mal“, schnauzt er endlich und verdeckt die Sprechmuschel mit der Pranke. „Ich werde hier nicht schlau aus den Fleischern. Es gilt Ihnen, Doktor. Sie möchten sich wegen eines Hundes noch etwas gedulden. Verstehen Sie das?“ „Durchaus“, sage ich möglichst forsch. „Es hängt, hoffentlich jedenfalls, mit Uhlmanns zusammen.“ „Ein Hundekadaver? Mit Uhlmanns?“ Er schnauft, knallt den Hörer auf die Gabel und brüllt: „Ein Köter! Menschenskind! Und ich Hornochse beschwichtige noch den Kriminalrat. Aber Sie scheinen tatsächlich nicht recht bei Trost zu sein. Sie sind … direkt gemeingefährlich sind Sie!“ Er springt auf und brüllt unbeherrscht weiter: „’raus! Alle beide ’raus! Plotzki, Sie scheren sich wieder zu Maria! Und Sie, Doktor“, er ist knallrot im Gesicht, „sollten sich vielleicht ein wenig im Stadtpark ergehen, was? Schonen Sie um Gottes willen ihre angegriffenen Nerven für Ihren späteren Broterwerb! Mittags Punkt ein Uhr will ich Sie wieder hier sehen. Sie, Plotzki, mit der glutäugigen Maria. Und Sie, Herr Kriminalobermeister, mit soweit regeneriertem Verstand, daß Sie wenigstens noch das Abschlußprotokoll in Mordsachen Uhlmann so einigermaßen heruntertippen können. Und nun ’raus! Aber rasch!“ Ich komme absichtlich einige Minuten zu spät. Bully hat ohnehin den Finger am Abzug, um mich abzuschießen. Aber höchstwahrscheinlich schieße ich noch ein bißchen mit. Dr. Hollwitz hat mir fest zugesichert, den 178
Befund über die Hundeleiche im Laufe des Nachmittags abzuschließen. Ja, und dann ist da auch noch mein Kollege vom Labor … „Aah?“ sagt Bully albern. „Der Herr sind schon da? Fein, unser lieber Freund Plotzki wird sicher auch in den nächsten Sekunden … Na, da ist er ja schon!“ Plotzki schiebt den Italiener ins Zimmer. Maria sehe ich nicht. Bully wartet wieder geduldig, bis Machelli dicht vor ihm sitzt. Durch die natürliche Bräune wirkt sein Gesicht doppelt fahl. Rasiert ist er auch nicht. Aber er erscheint ruhig. „Wie geht es uns?“ Bully fängt sein Spielchen sehr freundlich an. Machelli schweigt und tut, was viele tun, die tagelang in einer engen Zelle hocken müssen: Er sieht begierig zum Fenster hinaus. „Na, schön“, sagt Bully, „sieht nicht aus, als hätten wir uns besonnen. Oder doch?“ „Ich nix gemördert.“ Cesare betrachtet seine Gummistiefel. „Ich weiß, ich weiß. Nix gemördert, nix geräubert … und nix verlobt, was? Antworte gefälligst!“ „Si“, gibt Machelli überraschend zu, „nix verlobt.“ „Aha.“ Das ging Bully nun doch zu schnell. Er will gern überführen oder zumindest einen Druck erzeugen, vor dem jeder Delinquent kapituliert. „Na, schön. Bei soviel Entgegenkommen sparen wir unter Umständen allerhand Umwege. Heute abend kommt nämlich für brave Leute der Weihnachtsmann, und da möchte man natürlich zu Hause sein … Also, nix verlobt, fein. Und warum erst die Eierei?“ „Nix verstehn“, sagt Cesare, und das kann man getrost glauben. 179
„Ist besser, du verstehst alles, mein Sohn“, mahnt Bully vorsorglich und hält ihm unverhofft die Fotografie des Oberleutnants Uhlmann vor die Nase. „Und den? Nix kennen – oder?“ Machelli macht schmale Augen, zögert und gibt zu: „Kennen.“ „Geht doch prima! Und woher haben wir das Bildchen wohl?“ „Sie doch wissen.“ „Stimmt. Ich weiß allerhand, mein Sohn. Bloß eins weiß ich nicht. Das heißt, ich weiß es natürlich doch, möchte es aber gern von dir hören. Nämlich, warum mußten Uhlmanns eigentlich unbedingt sterben?“ „Ich nix gemördert.“ „Hatten wir doch alles schon, Mann! Bring doch mal was Neues. Na, fragen wir andersherum: Du suchst doch diesen Signore Uhlmann schon länger. Warum eigentlich?“ „Er gemördert!“ Voller Haß deutet Machelli auf das Foto. „Ach nee! Mußt du mir schon ein bißchen genauer erklären.“ „Sie doch wissen“, sagt Machelli knapp und tut, als ginge ihn der ganze Kram wahrhaftig nichts mehr an. Ich komme bei solcher Vernehmung mit meinem Protokoll bequem nach. „Und ob ich weiß, Mensch! Aber der Herr dort …“, dabei deutet Bully theatralisch auf mich, „der will deine Aussagen aufs Papier hämmern, verstehn? Und der Ärmste weiß nichts.“ Und er feixt über den Doppelsinn. Cesare Machelli sieht Bully abschätzend an und sagt dann überraschend fließend: „Bene, wenn Sie alles wollen wissen … Ich Ihnen sagen. Diese Mann da, Hugo 180
Uhlmann, Oberleutnant von Faschisten, er meine Vater getötet. Gemördert, Sie verstehn? Si, ich lange gesucht nach richtige Uhlmann. Ich ihn wollen nach Italie bringen, wie … wie Juden Eichmann nach Israel.“ Bully grinst geradezu amüsiert. „Recht ordentliche Hübsches Heldenlied, molto bene. Aber abgesehen vom Wahrheitsgehalt – damals war Krieg. Und dabei gibt es meist eine Menge Tote. Doch wenn ein Pionierleutnant auf Grund eines Befehls eine Bruchbude in die Luft jagt, damit der Feind keinen Nutzen daraus ziehen kann, dann ist das weder ein Verbrechen noch etwa ein Grund, ihn dreiundzwanzig Jahre später abzuschlachten. Capito? Von seiner Gattin dabei ganz zu schweigen. Und wenn ein alter Trottel starrsinnig durch ein Fabrikchen humpelt, an dem einige Kilo Sprengstoff kleben, dann ist es einzig seine Schuld, wenn er mit in die Luft fliegt. Dann ist das bestenfalls ein spektakulärer Selbstmord. Verstehn?“ Zu Bullys Erstaunen nickt Machelli völlig einverstanden; dann fragt er sehr gelassen: „Sie auch Faschist?“ „Vorsicht“, knurrt Bully gefährlich leise, „ganz vorsichtig!“ „Warum? Sie nix kennen Logik?“ „Darüber werde ich wohl ausgerechnet mit dir streiten, was? Wir haben ganz andere Sorgen, Bambino.“ „Ich noch nicht fertig. Uhlmann also unschuldig? Bene. In Nürnberg, vor Tribunal, auch alle unschuldig. Nix gewußt, nix gemacht. Alles bloß Befehl von Hitler. Aber“, und jetzt kommt er langsam in die Nähe eines ausbrechenden Vulkans, „diese Herr Offizier da! Er nix Befehl zu Sprengen! Der meine Vater in Fabrik gemördert. Oberleutnant nix brave Soldat – das sein Räuber, Dieb, Mörder …“ 181
„Halt die Schnauze!“ brüllt Bully los. „Komm mir bloß nicht mit solchen faulen Tricks, verstanden? Hört sich ja an, als sei Herr Uhlmann selbst schuld!“ Und nun brüllt auch der Italiener. „Und Sie? Sie sagen von Vater: selbst schuld! Deutsche alle Engel – Italiano alle Banditos! Uhlmann gemördert, capito? Uhlmann Bandit … und Sie sein eine ganz beschissene Commissare!“ Bully braucht einige Sekunden. So deutlich hat er das wohl noch nicht gehört. Dann aber steht er umständlich auf und geht um sein Monstrum von Schreibtisch herum. Dicht vor Machelli bleibt er stehen und faßt ihn grob unter das Kinn. „Hör mich gut an, dio mio … ich mache aus deinen Gräten ein kompliziertes Puzzlespiel. Du kriegst solche Prügel, daß du …“ Cesare reißt sein Kinn aus Bullys Pranke und springt auf. „Uno momento, Commissare! Du wollen Wahrheit? Bene, ich sagen, Uhlmann sein Verbrecher, Räuber, Mörder. Warum nicht gehen fragen, wovon Uhlmann hat Fabrik hier gebaut? Gehen doch fragen, wo ist geblieben alles aus Safe von Fabrica del Marima! Patenten, Experimenten, Wertsachen? Warum nicht gehen?“ Bully scheint einen Augenblick unsicher zu sein. „Was soll ’n das heißen?“ „Heißen Wahrheit, Commissare. Vater haben gesehen, daß Oberleutnant alles haben genommen aus Safe und in große Tasche gesteckt. Und Vater will wieder wegnehmen, capito? Aber Uhlmann ihn sehr viel niedergeschlagen, k. o., verstehn? Dann erst Befehl zu Sprengung! Warum denn kleine Fabrik sprengen, die machen Medikamente für Kranke? Uhlmann schon wissen, warum. Und Vater später gefunden unter Steine. Tot! In Chefbü182
ro. Und Uhlmann sein Mörder!“ „Tolles Märchen, mein Söhnchen. Ganz geschickt zusammengebastelt. Bloß, wie willst du das Märchen beweisen? Beweis muß ja sein, capito?“ „Oh, haben Beweis!“ Cesare mißt Bully mit seinen Glutaugen, als wäre der selbst der Mörder. „Vater hatten eine … porco Madonna! Wie heißen auf deutsch … Kollegen bei Arbeit sagen ‚Lametta‘ … Epaulette, capito?“ „Ach! Ein Schulterstück etwa?“ „Si, si! Schulterstück von Oberleutnant haben Vater noch in Hand. Und wie das gekommen in Hand? Porco Madonna!“ „Abführen“, sagt Bully völlig programmwidrig und blinzelt auch noch zufrieden. Der Befehl gilt diesmal mir. Wortlos gehe ich mit dem Italiener aus dem Zimmer. Unterwegs klopfe ich ihm tröstend auf die Schulter. Aber er schüttelt mich ab und rattert einige Sätze in seiner Muttersprache, von denen ich, wahrscheinlich zu meinem Glück, kein Wort verstehe. Auf dem Rückweg verschwinde ich im Labor. Was mein Kollege dort in einer Ecke aufgebaut hat, sieht beängstigend nach einem Geheimsender aus. „Na?“ frage ich hoffnungsvoll. „Dauert noch“, sagt er abwehrend und dreht sich nicht einmal um. „Immerhin, soviel weiß ich schon, daß sich zwei Figuren verabredet haben, einen bestimmten Schlüssel von einem gewissen Hugo zu entleihen. Von einer heimlich gefilmten Öffnung eines Panzerschrankes ist auch die Rede, wobei es vermutlich um die Zahlenkombination ging.“ „Gibt es einen Anhaltspunkt, wo das Gespräch geführt wurde?“ „Mit Sicherheit in der Wohnung des Partners, der 183
ziemliche Hemmungen bei dem Unternehmen zu haben schien.“ Also bei Daniel. Mit anderen Worten: in der Villa Uhlmann. Und gerade dort gibt es jemand, der eine Schwäche für die Methoden gewisser Kriminalhelden hat Wenn sie nicht bloß erfunden wären, könnten diese sagenhaften Recken der Schrecken aller Geheimdienste sein. Diese cleveren Jungen haben in Manschettenknöpfen Mikrokameras, in Streichholzschachteln Tonbandgeräte, im Zigarrenetui einen Kurzwellensender und im Goldzahn einen Geigerzähler. Mikrofone verschenken sie in Ohrringen oder lassen sie im silbernen Löffel zum – five-o’clock-tea – servieren. Und alle anderen fallen prompt darauf ’rein … Als ich wieder bei Bully ankomme, gibt Plotzki gerade einen Bericht. „Die Uhlmann-Chemie ist tatsächlich erst seit neunzehnhundertachtundvierzig im Handelsregister eingetragen. Vor dem Krieg, bis neunzehnhundertsiebenunddreißig, war Hugo Uhlmann nur Laborant bei der Internationalen Schädlingsbekämpfungs-GmbH in Hamburg. Eine anrüchige Firma übrigens …“ „Anrüchig?“ unterbricht Bully mißtrauisch. Er reagiert auf alles Belastende für Hugo Uhlmann befremdlich sauer. „Wieso ist die Hamburger Firma anrüchig, was?“ „War“, korrigierte Plotzki sachlich. „Von ihr stammte in den Kriegs Jahren jenes Zyklon B, mit dem man in Auschwitz und ähnlichen Lagern Menschen vergaste.“ „Um was für Nichtigkeiten Sie sich alles kümmern! Mensch, am Ende behaupten Sie noch, daß unser Makkaroni mit seinem Märchen recht hat, was?“, Und während er abschätzend den schneidigen Oberleutnant auf dem Foto mustert, ringt er sich tatsächlich zu einer Einschrän184
kung durch. „Das heißt … kann natürlich stimmen, daß unser Hugo bei der Geschichte da unten ein bißchen an seine Zukunft gedacht hat. Rückversicherung wurde ja damals allmählich aktuell. Aber“, bagatellisiert er dann umgehend, „schließlich ist das in solchen Zeiten gang und gäbe. Oder haben uns die Amis nicht auch alles geklaut, was bloß halbwegs nach Erfindung, Formel oder Patent aussah, von Kunstschätzen ganz zu schweigen? Und wir haben uns natürlich auch schadlos gehalten. Warum auch nicht? Wem wäre denn zum Beispiel gedient gewesen, wenn Hugo Uhlmann den ganzen Plunder mit in die Atmosphäre gejagt hätte? Dem Trottel Machelli doch ganz gewiß nicht. Wozu also aufregen? – Und außerdem, wer sagt uns denn, daß der alte Machelli den Hugo nicht mit einer Waffe bedroht hat? Ein Kampf muß ohnehin stattgefunden haben. Siehe Schulterstück. Dann aber handelte Hugo Uhlmann nicht nur aus Notwehr, es war sogar seine militärische Pflicht, einen Angriff auf seine Person mit allen Mitteln abzuwehren.“ „Hugo Uhlmann hätte aber nach dem Krieg seine Beute zurückgeben können“, sage ich forsch. Schön, wenn die Amis eigenwillige Auffassungen von den Rechten eines Siegers hatten, was soll man machen? Aber Notwehr oder nicht – Bully verwechselt ohne die geringsten Hemmungen Ursache und Wirkung. „Sagten Sie was?“ Bully sieht mich kaum an. „Und überhaupt Schluß jetzt. Hugo Uhlmann ist jedenfalls tot. Ermordet. Und wir haben hier weder die Blutrache nach dem Muster der Mafia, noch ist es Sache eines hergelaufenen Itackers, eine fragwürdige Strafe an einem Deutschen zu vollstrecken. Mord bleibt Mord. Und ein solches Verbrechen zu sühnen ist unsere einzige Aufgabe.“ Plotzki sitzt durchaus bescheiden wie immer im Hin185
tergrund, als warte er auf Befehle des Chefs. Auch wie immer. „Alles schön und gut“, sagt er jetzt, „aber die schwache Stelle bleibt noch immer Frau Uhlmann. Sie heiratete diesen Mann erst nach dem Krieg, und nichts kann ihren Tod motivieren.“ „Ach nee! Sie haben auch eine Meinung? Und gleich so eine? Hier ist wohl eine Art Revolution gegen mich im Gange, was? Aber, wenn es euch beruhigt: noch heute, und darauf könnt ihr meinetwegen einen ganzen Chemiekonzern gründen, noch heute habe ich ein unterschriebenes Geständnis in der Hand! Werde mir doch die Feiertage nicht von so einer lausigen Fadennudel versauen lassen!“ „Das wird Ärger geben.“ Plotzki spricht zu meiner Freude und Bullys Verblüffung unbeirrt weiter. „Dicken Ärger. Schließlich werden die Angehörigen Machellis von der Verhaftung erfahren, wenn sie es nicht schon wissen. Und so gut ein Geständnis ist, man kann es vor Gericht spielend widerrufen. Lückenloser Beweis auf fundamentaler Basis ist immer besser. Und da bedeutet Dorothee Uhlmann einen ziemlichen Widerspruch.“ Bully bleibt befremdlich ruhig. Ich habe das verdammte Gefühl, als hätte er noch etwas in petto. „So, lückenlos und fundamental! Und die Frau Uhlmann macht Ihnen Sorge? Ihnen machen ja alle Frauen Sorge, was? Vor allem die eigene. Aber wenn Sie sich schon Gedanken machen, dann tun Sie’s gefälligst gründlich. Nach Ansicht der Fleischer muß das Verbrechen um Mitternacht begangen worden sein. Bis jetzt ist noch nicht einmal sicher, wie Uhlmanns vergiftet wurden. Was besagen schon die beiden harmlosen Wassergläser? Die können noch vom Morgen dagestanden haben, das von 186
Hugo wurde einfach dazugestellt. Müde, wie sie von der albernen Feier waren, den Blutkreislauf sicher mit Alkohol angereichert, werden sie gar nicht gemerkt haben, was für ‚Wasser‘ sie da getrunken haben!“ „Und warum auch Frau Uhlmann?“ Plotzki ist allmählich zu bewundern. „Herrgottnochmal! Hören Sie bloß endlich mit der blöden Frau Uhlmann auf! War vielleicht bloß Pech für Machelli – oder auch Berechnung. Falls nämlich meine Theorie mit den vertauschten Wassergläsern stimmt. Frau Uhlmann hätte doch ganz gewiß aussagen können, daß ihr Mann nach dem Genuß eines harmlosen ‚Wassers‘ verstorben ist.“ „Dann hätten wir zunächst Maria als Hauptschuldigen“, widerspricht Plotzki auch hier. „Uhlmanns hätten einen Wasser servierenden Cesare wahrscheinlich hinausgeworfen. Wir beweisen Machelli also überhaupt nichts. Und wenn nun noch die Machellis und Pezzones nebst allen noch lebenden Zeugen von damals vor Gericht auftauchen und das Beweisstück, dieses Schulterstück, vorlegen?“ „Es hat wahrhaftig keinen Sinn“, knurrt Bully geringschätzig und geht zum Panzerschrank. Während er ihn umständlich öffnet, sagt er ungnädig: „Sie scheinen sich in den Gedanken verbissen zu haben, daß ich partout einen Itacker hängen sehen will, was? Aber bis jetzt ist er der einzige, der ein handfestes Motiv hat. Oder sehen Sie irgendwo ein anderes? Und was Ihre leichtfertige Faselei von einem Beweisstück angeht … es würde ihn keineswegs entlasten, sondern ganz im Gegenteil. Wenn die Herren bitte einmal sehen wollen?“ Langsam zieht er die wuchtige Tür auf und deutet stolz ins Innere. Stumpfsilbern, verschmutzt, liegt im 187
Mittelfach einsam ein länglicher Gegenstand. Dunkle Flecken am runden Ende könnten alte Blutspuren sein, oxydiertes Messing der kleine Stern gegenüber. Das Schulterstück eines Oberleutnants der ehemaligen Wehrmacht. „Na?“ sagt Bully und blinzelt zufrieden. Er fühlt sich im Augenblick ganz als Ehrenretter der gesamten Kriegsmaschinerie des Dritten Reiches.
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XVI. Kerzen brennen hinter Fenstern. Geheimnisvolles Treiben, festliche Stimmung. Heiligabend. Friede auf Erden und allen Menschen ein Wohlgefallen. Amen. Fröstelnd stehe ich im Schatten der Brüstung am Villeneingang. Endlich verlischt im ersten Stockwerk das Licht in Franks Zimmer. Es geht auf sieben Uhr, Dr. Kippenhöfer wird vielleicht schon warten. Ringsum ist alles still. Wohltuend still, gemessen am sonst üblichen Abendlärm einer motorisierten Wohlstandsgesellschaft. Es ist fast echter Friede auf Erden. Schräg über mir poltert die Haustür. „Bleib doch, bitte! Ich bin doch ganz allein!“ Die Stimme gehört Madame Zuivre. Ohne besondere Vorsicht richte ich mich auf und sehe, wie sie Frank am Arm festhält. „Na, und?“ Frank, aus meiner Perspektive noch größer, schüttelt die Hand einfach ab. „Ich“, sagt er dann, und er sagt es ebenso bitter wie schadenfroh, „ich war auch immer allein.“ „Aber …“ Hilflos flattert Madame zwei, drei Schritte hinter dem Jungen her. „Frank! Du weißt doch, ich konnte gar nichts dafür …“ Frank dreht sich nicht einmal mehr um. Schnee knirscht, dann ist die lange Gestalt um die Ecke verschwunden. Kaum eine halbe Minute später schießt der schwarze Mercedes aus der Toreinfahrt auf die Straße. Madame steht noch immer an der Haustür und schrickt zusammen, als ich so unvermutet vor ihr auftauche. „Was … Sie? Maria ist doch auch schon … und ich bin ganz 189
allein im Haus.“ Fast könnte man Mitleid mit ihr haben, aber das wäre reine Gefühlsvergeudung. „Wer soll denn bloß die ganze Arbeit machen?“ „Vielleicht versuchen Sie es mal selbst?“ Ich weiß, ich bin nicht gerade fein. Von wegen: allen Menschen ein Wohlgefallen! Auch für Maria ist heute Weihnachten. Und Madame hat nur Sorge, daß sie sich hin und wieder bücken müssen. Ich bin schon halb im oberen Stockwerk, während Madame noch in der offenen Haustür steht und hinter mir herstarrt „Los, kommen Sie schon ’rein!“ „Ja, aber … was erlauben Sie sich eigentlich?“ „Sie sollen kommen, zum Teufel!“ Ohne weitere Umstände dirigiere ich sie bis in ihr Zimmer und. schließe sie einfach dort ein. Ich kann jetzt wirklich niemanden gebrauchen. Frank hat sein Zimmer natürlich abgeschlossen, und während ich mit einem Nachschlüssel hantiere, erinnere ich mich zwangsläufig an Siegmunds Quittung für unerwünschtes Eindringen in fremde Häuslichkeit. Schon deshalb schließe ich hinter mir ab; Erfahrungen haben nur dann einen Sinn, wenn man sie beachtet. Von dem, was ich hier suche, habe ich bis jetzt zwar nur eine unvollständige, aber durchaus konkrete Vorstellung. Nur der Bewohner dieses ordentlich aufgeräumten Zimmers hat ausreichend technisches Wissen, um hier im Hause Tonbandaufnahmen machen zu können. Man lernt bei der großen Dressur alles mögliche. Unter anderem auch Abwehrmaßnahmen primitiver Art gegen die sogenannten Minispione, die seit einiger Zeit das Wirtschaftsleben und zum Teil auch die private Atmosphäre regelrecht vergiften können. Meist genügt schon ein gewöhnliches Kofferradio. Mit solch einem netzlosen 190
Störenfried kann man mehr anfangen als nur Beatmusik hören, vorausgesetzt, er hat eine Rückkopplung. Franks „Telefunken“ erfüllt alle Voraussetzungen, die ich im Augenblick an ein Kofferradio stelle. Mit dem eingeschalteten Gerät in der Hand durchsuche ich die Schränke, das Bett und befürchte schon, in übertriebenem Optimismus geschwelgt zu haben, als ich den „Telefunken“ resignierend auf die breite Lehne des wuchtigen Ledersessels stelle. Sofort pfeift die Rückkopplung warnend los, und das bedeutet, daß sich im Sessel eine verborgene Stromquelle befinden muß. Es dauert aber ein ganzes Weilchen, bis ich den sauber konstruierten Verschluß an der breiten Handleiste entdeckt habe. Und das Versteck ist nicht nur raffiniert angelegt, der Sessel schützte Frank auch ausgezeichnet vor Überraschungen. Kam jemand, saß er eben friedlich und las die Tageszeitung. Technik ist Trumpf, das kann man wohl sagen. Im geräumigen Hohlraum der Lehne finde ich einen Kurzwellenempfänger, der im Umkreis von einigen Kilometern alles gewissenhaft einfangen und auf das angeschlossene Tonbandgerät übertragen kann. Alles, was dort gesprochen wird, wo sich das dazugehörige Mikrofon befindet. Eine Ausrüstung, zwergenhaft winzig und von sicher vorzüglicher Qualität, made in USA, wie sie Franks Idole als Standardausrüstung besitzen. Beschämend dagegen ist, daß uns, der Mordkommission, ein sechzehnjähriger Bengel demonstrieren muß, wie man praktisch arbeiten sollte. Aber dieser starrköpfige Bully ist mit seinen Methoden glatt vor zwanzig Jahren stehengeblieben. Ich bin auch nicht überrascht, daß die leere Bandspule, die ich bei mir habe, auf das Gerät paßt. Sorgfältig durch 191
ein Kunststoffkästchen von der eigentlichen Stromquelle getrennt, um eine Entmagnetisierung durch die Transistoren zu vermeiden, liegen daneben vier Tonbänder, wovon eins wegen seiner Größe zunächst wie ein Fremdkörper wirkt. Und auf keinen Fall gehört ein in ein Tuch gewickeltes Mikrofon, das unter dem Kästchen liegt, zu der Anlage. Frank ist ein ordentlicher Junge. Die winzigen Bänder sind sogar numeriert. Ich setze mich zurecht und lege das erste Band auf. „… glaube, Sie sehen doch etwas zu schwarz, lieber Doktor. Er ist gewiß in letzter Zeit ein schwieriger und sehr eigenwilliger junge, aber er wird sehr gut allein fertig.“ „Sie entschuldigen, wenn ich widersprechen muß, gnädige Frau. Kein Mensch kann mit sechzehn Jahren allein mit allen Problemen fertig werden. Dazu ist das Leben denn doch zu kompliziert geworden. Ich möchte Sie auf gar keinen Fall kränken, aber …“ „Aber ich bitte Siel Gerade Frank bekommt alles, was er sich nur wünscht. Ihm fehlt es wahrhaftig an nichts. Nein, nein! Und dann, Sie glauben gar nicht, wie konsequent und erwachsen er eigentlich schon ist. Denken Sie nur an die Umwandlung einer Vier in eine glatte Eins, nicht wahr?“ Der „liebe Doktor“, Herr Kippenhöfer, hüstelt dazu etwas anzüglich, ehe er aber etwas antworten kann, ruft Dorothee Uhlmann erleichtert: „Ah, da kommt ja Hugo endlich!“ „Hallo, Doktor, nett Sie zu sehen.“ „Tag, verehrter Herr Uhlmann. Wie geht es?“ „… . unterhalten uns gerade über Franky …“ 192
„Aber, liebe Dorothee! Langweile doch unseren Gast nicht mit privaten Sorgen!“ „Nein, nein, wirklich, sehr interessant für mich.“ „Na bitte, Hugo!“ „Trotzdem, liebe Dorothee, was soll denn der Doktor von dem Jungen denken? Darf ich Ihnen nicht besser einen Drink anbieten? Dir auch, Dorothee?“ „Nein, nein, danke, Herr Uhlmann. Besser nicht, ich bin mit dem Wagen.“ „Aber Doktor! So ängstlich?“ „Nun, das ist weniger Furcht als angebrachte Vorsicht. Und außerdem … eigentlich kam ich mir wegen unserer nun schon traditionellen Weihnachtsfeier auf einen Sprung … Ich weiß, natürlich, es eilt noch nicht … aber wir dürfen doch auf Sie zählen?“ „Aber sicher doch. Es war doch immer recht hübsch. Nicht wahr, Hugo?“ „Selbstverständlich, mein Kind. Hoffentlich macht es Ihnen nicht zu viele Ungelegenheiten, lieber Doktor?“ „Aber, ich bitte Sie, Herr Uhlmann! Ist also abgemacht? ]a? Mit Sohn natürlich. Er ist wie immer herzlich willkommen. Ich darf mich dann wohl verabschieden. Gnädige Frau? Herr Uhlmann?“ „Ich begleite Sie selbstverständlich, lieber Doktor.“ Schritte, Türen klappen. Frau Dorothee gähnt laut, steht auf, Glas klirrt gegen Glas. Pause. Dann kommt Hugo zurück. „Paßt mir überhaupt nicht“, nörgelt er, „diese alberne Feierei.“ „Ach, laß doch! Voriges Jahr war es doch wirklich nett.“ „Für dich vielleicht. Weil dieser mickrige Assessor dir den Hof …“ 193
„Und an Frank denkst du nicht? Du weißt doch, wie gern er bei Kippenhöfers hockt.“ „Frank! Frank! Herrgott, ich habe wirklich andere Sorgen. Ganz andere. Und überhaupt … ob er sich auch nur das geringste aus solchen zweifelhaften Vergnügen macht?“ „Sag mal … du hast doch nicht schon anders disponiert?“ „Und wenn? Aber beruhige dich, ich habe nichts anderes vor.“ Einige Sekunden läuft das Band leer, dann wechselt Frau Uhlmann ohne sonderliche Anteilnahme das Thema. „Darf man von deinen Sorgen erfahren? Geschäftlich?“ „Wenn’s bloß das wäre! Aber … ich sah gestern abend den Siegmund hier aus dem Haus kommen, verstehst du? Was wollte er?“ „Siegmund? Also … was geht mich dein Angestellter an?“ „Wo soll er sonst gewesen sein?“ „Sicher bei der Tante.“ „Bei der alten Schachtel? Soll das ein Witz sein?“ „Für dich ist das noch immer Madame Zuivre!“ „Ergebensten Dank! Madame! Das hebt euch für ihre Grabinschrift auf. Madame!“ „Immerhin lebst du hier in einem Haus, das du ihr verdankst.“ „Na und? jetzt gehört es jedenfalls mir. Aber … wollen wir uns nicht streiten. Mir macht dieser Siegmund ernsthaft Sorge. Sehr sogar.“ „Ich dachte immer, er ist die reinste Perle für die Firma?“ „Dachte ich auch. Aber neuerdings stimmt irgend et194
was nicht mehr mit ihm. Er gibt sich seit einiger Zeit, als wären wir nahe Verwandte. Und ich werde den blödsinnigen Verdacht nicht los, daß er irgend etwas gegen mich im Schilde führt. Ob er etwa bei Daniel war?“ „I was! Der war gar nicht da, gestern abend.“ „Hoffentlich, mein Kind. Das fehlte nämlich noch, daß die beiden in schöner Eintracht gegen mich intrigieren.“ „Ich verstehe sowieso nicht, warum du deinen saldieren Bruder noch im Haus duldest. Die Geschichte von damals ist doch so gut wie vergessen, und doch läßt du dich immer noch von ihm erpressen.“ „Wenns nur um die alte Geschichte ginge! Damals war schließlich Krieg, na ja, anfangs war’s besser, kein Mensch wußte etwas davon. Aber Daniel ist weitaus gerissener, als du denkst … Und fetzt zieh dich endlich um. Ich habe noch eine wichtige Besprechung im ‚Kronprinz‘“ „Du bist wirklich reichlich nervös in letzter Zeit.“ „Weiß der Teufel, manchmal glaube ich sogar, ich sehe schon Gespenster. Hast du dir diesen Verlobten Marias schon mal angesehen?“ „Werde bloß nicht noch eifersüchtig auf den Abruzzenhäuptling.“ „Unsinn! Aber seit ich mir ihre Papiere genauer betrachtet habe … interessant, sage ich dir.“ „Ich verstehe nicht …“ „Sie stammt nämlich aus einem Nest namens Campagiochetti. Und wenn mich triebt alles täuscht, hieß das Kaff, damals neunzehnhundertvierundvierzig, auch so. Oder zumindest so ähnlich.“ „Schmeißen wir sie doch einfach ’raus!“ „Vielleicht wäre das … Ich möchte aber wissen, ob das nun bloß ein blöder Zufall ist oder nicht. Ich weiß 195
nicht … vielleicht brauche ich bald einmal deine Hilfe.“ „Du siehst bestimmt zu schwarz, Hugo.“ „Irgendwie habe ich das Gefühl, daß man mir einen Strick drehen will. Vor allem dieser Siegmund … du wirst mir wirklich helfen müssen. Ich muß wissen, was mit dem Burschen los ist. Verstehst du?“ „]a, doch … aber nun komm endlich …“ Das nächste Band ist vier Tage später datiert. Frau Uhlmann trällert vor sich hin, eine Uhr schlägt erst viermal, dann volltönend neunmal. Es ist die Standuhr in ihrem Salon. Ich kenne den Klang. Jetzt muß jemand unhörbar ins Zimmer gekommen sein. „Oh, du bist pünktlich!“ Dorothee Uhlmann sagt es zärtlich. Dann leichte Schritte. „Eine schöne Frau läßt man nicht warten“, antwortet eine Männerstimme, und ich glaube meinen Ohren nicht zu trauen. Es ist die Stimme Siegmunds! „Schmeichler.“ Stille. Man spürt förmlich, daß sich beide gegenüberstehen und Zärtlichkeiten tauschen, bis Siegmund fragt: „Es kann uns doch niemand überraschen?“ „Keine Sorge – Hugo kommt nicht vor morgen früh.“ „Gut arrangiert“, lobt Herr Siegmund, nimmt offenbar ein gefülltes Glas und sagt: „Auf Hugos Gesundheit also.“ Gläser klirren, die Uhr schlägt Viertel zehn, und Herr Siegmund meint selbstbewußt: „Im übrigen … wir haben ohnehin nicht viel von ihm zu befürchten.“ „Wie soll ich das verstehen?“ „Ganz einfach – er ist in gewissen Dingen zu sorglos, vielleicht auch ein bißchen zu sehr von seiner unantast196
baren Größe überzeugt.“ „Ich verstehe noch immer nicht.“ „Gut denn, reden wir von Geschäften. Entschuldige, das klingt, bei unseren Beziehungen, sicher etwas gefühllos, aber höre mich bitte zu Ende an … Also, ich weiß seit einiger Zeit, woher ist im Augenblick sekundär, von nicht ungefährlichen Geschäften, die dein Mann betreibt. Außerdem muß es Funkte in seiner Vergangenheit geben, die nicht zum Image eines erfolgreichen Geschäftsmanns passen. Na, passen vielleicht schon, nur sollte man solche Dinge nicht publik werden lassen. Kurz, dein Mann zahlt jeden Monat eine bestimmte Summe auf das Konto eines gewissen Ingenieurs Neumann, angeblich für Forschungsaufträge. Die Methode ist gewiß nicht übel, wenn auch keineswegs neu. Sie hat lediglich den einen Vorteil, daß man solche Gelder als Betriebsunkosten buchen kann, einen vertrauensseligen Betriebsprüfer vorausgesetzt.“ „Ich weiß nicht … so sehr gefährlich finde ich das nicht.“ „Nicht so voreilig – es gibt weder diesen ominösen Neumann noch Forschungsaufträge. Und dann wäre da noch die Kleinigkeit, daß dein Herr Schwager regelmäßig das fragliche Konto leert.“ „Daniel?“ „Natürlich. Beachtet man aber das gespannte Verhältnis zwischen den Brüdern Uhlmann, ist die Lösung nicht allzu schwer.“ „Nun, vielleicht ist Daniel stiller Teilhaber der Firma?“ „Deine Naivität ist süß. Wozu denn ein geheimnisvolles Tarnkonto, wenn es sich um rein geschäftliche Beziehungen handelt? Nein, nein, ich tippe mit einiger Über197
zeugung auf gewöhnliche Erpressung. Allerdings, eine gewisse Hochachtung will ich deinem Mann auch nicht versagen. Die Auslagen für sogenannte Forschungsaufträge fließen nämlich umgehend wieder in seine Tasche. Das hängt mit … na, sagen wir, Medikamenten zusammen, die er selbst produziert, leider ohne die unerläßliche Sorgfalt in Fragen völliger Diskretion.“ „Willst du nicht deutlicher werde?!?“ „Nicht gern. Nur soviel solltest du wissen, daß Daniel für seine Freundin, Frau Steinert nämlich, diese Medikamente bezahlt. Ein gefährliches Geschäft, besonders für deinen Mann – und ganz besonders, seit ich zu gut informiert bin. Und ich bin entschlossen; mein Wissen nutzbringend zu verwerten.“ „Und an mich denkst du gar nicht?“ „Sei unbesorgt. Sobald ich genügend Beweise habe … nun ja. Und, entschuldige meine Offenheit, ich fürchte, du wirst dich entscheiden müssen, nicht wahr?“ „Ich habe mich schon entschieden“, gesteht Dorothee Uhlmann werbend. „Du sollst es nicht bereuen …“ Das dritte Band trägt das Datum des 18. Dezember. Uhlmanns hatten noch knapp vier Tage zu leben … „Was schreibst du da eigentlich?“ Das ist wieder Frau Uhlmanns Stimme. „Schließ erst mal ab!“ „Gott, hab dich doch nicht so. Es ist niemand im Haus, außer Frank.“ „Trotzdem, schließ lieber ab.“ Die Schließgeräusche sind überdeutlich zu hören. „Darf ich fetzt erfahren, was du so Geheimnisvolles schreibst?“ 198
„An Georg. Aber ich weiß auch nicht recht …“ „Bitte, Hugo! Deine Art ist manchmal einfach gräßlich.“ „Mein Gott, es geht natürlich um uns. Georg ist, das weißt du vielleicht nicht, bei irgend so einer Organisation. Freies Europa, glaube ich. Ich dachte, er könnte vielleicht gewisse Dokumente besorgen. Über Ostkontakte zum Beispiel. Macht sich immer gut, wenn jemand wie Siegmund einen Selbstmord wegen Landesverrats begeht.“ „Ich weiß nicht … vielleicht wäre das auch unvorsichtig?“ „Nun ja“, gesteht Hugo zögernd, „Dritte sind immer gefährlich, stimmt schon …“ Er unterbricht sich und pfeift anerkennend vor sich hin. „Ich weiß etwas viel Besseres! Daß ich nicht gleich daraufgekommen bin!“ „Und worauf?“ „Glänzend … hör zu! Ich, Chef der Uhlmann-Chemie, werde nach dem Freitod meines bisher untadeligen Prokuristen ganz erschüttert registrieren müssen, daß er seine Vertrauensstellung schamlos mißbraucht hat. Hat er doch jahrelang bestimmte Beträge auf ein Deckkonto eingezahlt. Angeblich für Forschungsaufträge, die ein erfundener Ingenieur Neumann für die Firma ausgeführt haben sollte. Gut, was?“ „Und Daniel? Ein Wort von ihm genügt doch.“ „Damit würde er eine nicht unbedeutende Einnahmequelle verlieren, und ganz so dumm wird er wohl doch nicht reagieren, denke ich.“ „Und Siegmund? Ich fürchte fast, du unterschätzt ihn. Es war übrigens scheußlich …“ „Bitte, Dorothee! Reden wir nie mehr darüber! Allein die Vorstellung, daß du … Vergessen wir es! Nur, wir 199
befinden uns fast wie in einem Krieg, verstehst du? Und Gott sei Dank wissen wir nun wenigstens, was Herr Siegmund plant. Und darum – er muß weg.“ „Hugo … ich kann das nicht. Alles, aber nicht das!“ „Ruhig, Dorothee! Jetzt nämlich unterschätzt du ihn. Er wird kaum zögern, seinen ehrgeizigen Plan zu verwirklichen. Und … eigentlich ist mein Vorhaben nichts als Notwehr.“ „Aber was will er denn erreichen, wenn er zur Polizei geht?“ „Polizei? Mein Gott, wenn’s bloß das wäre! Wüßte er nur die Sache von Daniel, würde ich ruhig schlafen. Aber er weiß von gewissen Drogen. An diesen Präparaten verdient man heute genug, um nicht die geringsten Skrupel zu haben. Ich bin nicht mehr als eine sehr lästige Konkurrenz für weitaus bekanntere Firmen. Ein Wink von Siegmund, gegen angemessenes Honorar natürlich, und ich sterbe ganz banal an einem bedauerlichen Autounfall oder an einem Herzinfarkt. Und darum müssen wir uns sogar beeilen – entweder er oder ich, noch stehen die Chancen gleich.“ „Ich habe Angst.“ „Warum denn? Was hast du für die Öffentlichkeit mit dem Selbstmord eines ungetreuen Angestellten zu tun? Nichts, gar nichts.“ „Und wenn Siegmund gar nichts beweisen könnte?“ „Nichts beweisen. Mein Gott, manchmal bist du doch wirklich zu naiv! Ich habe sehr wohl das Surren seiner Kamera gehört, als ich vor Tagen den Panzerschrank öffnete. Ganz sicher kennt er jetzt die Kombination, ich muß sie ohnehin schleunigst ändern lassen. Ihm fehlt nur noch der Schlüssel. Ich will nur hoffen, daß er den Film bei sich aufhebt. Die Polizei wird sich später schon ihren 200
Vers darauf machen, nach seinem Selbstmord.“ „Aber wie willst du denn nur …?“ „Endlich wirst du vernünftiger. Ich habe da so meine Mittelchen. Hör zu: Siegmund hat doch eine Schwäche für Doppelwacholder, dieses schauderhafte Gesöff, nicht wahr? Gut, eine Flasche davon stelle ich umgehend in die Bar vom Wagen.“ „Und … was ist mit dem Zeug?“ „Oh, ich habe da ein altes Rezept aus dem sonnigen Süden. Sehr altes sogar. Eine kleine Dosis in erhitzten Alkohol, nicht einmal tödlich. Und, sobald der Alkohol wieder abgekühlt ist, völlig geschmacklos. Zur Not könntest du sogar ein Gläschen riskieren.“ „Ach … ich soll wohl …?“ „Kapier doch endlich – wir haben wirklich keine andere Wahl.“ „Das ist mir egal. Ich kann das nicht. Und überhaupt … das hat doch gar keinen Sinn, wenn der Wacholder doch … nun ja, eben nicht wirkt?“ „Du mußt mich nicht dauernd unterbrechen. Paß auf! Du ladest Siegmund ein, am zweiten Feiertag. Zu einer kleinen Autofahrt, natürlich mit dem Mercedes. Dich können so viel Leute sehen, wie es gerade kommt, macht nichts. Aber du fährst nicht weit, genau bis Friedrichshöhe. Das sind zehn Kilometer, genügt vollkommen. Gegen vierzehn Uhr triffst du mit ihm dort ein und parkst, etwas abseits, aber doch so, daß ich das Wagenheck von der Bundesstraße aus gut sehen kann. Dann animiere ihn zu einem Schlückchen, aber faß ja die Flasche nicht an! Hat er getrunken, schaltest du unauffällig das Standlicht ein. Auf dieses Signal, das er ja nicht sehen kann, fahre ich ‚ahnungslos‘ auf der Bundesstraße vorbei. Du wirst mich sehen, wirst erschrecken 201
und sofort nach Hause wollen. Ich bin zwar angeblich auf Reisen, komme aber unverhofft früher zurück. Noch besser ist, wenn er mich auch sieht. Verständlich eigentlich, daß du nun unbedingt nach Hause willst, und zwar ohne ihn. Die Zeit müssen wir allerdings präzise einhalten; gegen fünfzehn Uhr fährt ein Linienbus von Friedrichshöhe nach hier. Es wird besser sein, man sieht dich am Bus nicht mehr mit ihm. Versprich ihm, daß du ihn so bald als möglich in seiner Wohnung anrufst, und er wird den Linienbus verschmerzen.“ „Ja, aber …“ „Richtig! Das ist sozusagen nur der halbe Tod. Die andere Hälfte liegt im Handschuhfach in Vorm einer handelsüblichen Spraydose. Sie wird mit wohlriechenden Essenzen gefüllt sein. Damit wirst du Siegmunds Atem verbessern, seine ‚Fahne‘, verstehst du? Benutze den Spray ruhig ausgiebig – Siegmund schwärmt ohnehin für Duftwasser, und er wird sich bestimmt bereitwillig dieser Prozedur unterziehen. Übrigens … ich muß mich verbessern. Trinke du lieber doch keinen Wacholder mit. Man muß damit rechnen, daß du auch etwas von dem Sprayduft einatmest, und wir brauchen)a kein Risiko eingehen. Denn: Der Spray hat zwei Auslöser, und du mußt beide Knöpfe drücken.“ „Und was verströmt dann außer diesem Atemverbesserer noch?“ „Oh, eine zwar geruchlose, aber in Verbindung mit dem ‚angereicherten‘ Wacholder recht gefährliche Mixtur. Siegmund wird nach einiger Zeit von der ersten Hälfte Tod sehr müde werden und einschlafen. Den entscheidenden Rest besorgt dann das Teufelszeug aus der Dose. Etwas umständlich, gewiß, dafür aber geht die Sache auch so langsam vor sich, so daß wir genügend Zeit ha202
ben, ein solides Alibi aufzubauen, falls überhaupt danach gefragt werden wird.“ Dann, nach einigen Sekunden Pause, Dorothees noch immer zaghafte Frage: „Nur, warum muß ausgerechnet ich …?“ „Aber, das liegt doch auf der Hand! Mein Verhältnis zu Siegmund hat sich so weit abgekühlt, daß er von mir kaum einen Schnaps nehmen würde. Und dann – ich könnte ihm höchstens in der Firma einen Drink anbieten, aber das nützt uns schon deshalb wenig, weil ich keinen Anlaß hätte, die Spraydose zu handhaben. Wenn du ihn zu einer Autotour einladest, warum sollte er nicht zustimmen? Nun noch zu dem Punkt, den man eine Schwierigkeit nennen könnte: Man muß bei einem Selbstmörder irgendwo das Zeug finden, mit dem er sich von dieser Welt verabschiedete. Und genau darum auch der Linienbus, denn du folgst mir ja mit dem Wagen. Ich warte auf dich, du übergibst mir die Flasche und sein Glas. Aber ohne Fingerabdrucke zu hinterlassen! Diese Beweisstücke bringe ich in die Firma, in sein Zimmer. Wahrend er zu Hause auf deinen Anruf wartet, rufe ich ihn an und schicke ihn unter einem Vorwand zur Firma. Siegmund wird sich kaum die Chance entgehen lassen, ungestört in meinem Zimmer zu wühlen, wobei er obendrein noch Finger ab drücke hinterläßt, hoffentlich auch am Panzerschrank. Da er ja immer noch auf deinen Anruf wartet, wird er sich nicht lange im Büro aufhalten, sondern auf dem kürzesten Wege in seine Wohnung zurückkehren. Zu einem Zeitpunkt, da wir beide hier schon lange zusammensitzen und den Feiertag genießen, wird er sanft entschlafen. Das ist alles.“ „Ich weiß trotzdem nicht …“ 203
Pause. Dann fragt Hugo Uhlmann eindringlich, fast zärtlich: „Du läßt mich doch nicht im Stich?“ Es ist heutzutage wahrlich keine Leistung mehr, heimlich Lauscher zu sein. Schwieriger wird es schon, immer zur rechten Zeit am rechten Ort seinen Spion zu haben. Aber seit es Mikrofone in den ungewöhnlichsten Abmessungen und Formen gibt, ist auch das zu schaffen. Manch einer ahnt gar nicht, daß ihm ausgerechnet der Nagel zum Verhängnis werden kann, an dem er das Farbfoto seiner Liebsten aufhängt. Skeptisch betrachte ich das große Mikrofon, das in ein Tuch eingewickelt war. Ich halte für ausgeschlossen, daß man ein Mikrofon von dieser Größe zur rechten Zeit am rechten Ort verstecken kann. Wie soll man unbemerkt in jenes Zimmer gelangen, in dem Pläne geschmiedet oder Pläne begraben werden? Und woher wußte Frank eigentlich immer, wann und wo Entscheidendes gesprochen wurde? Noch einmal gehe ich durch jene Zimmer der Villa, in denen vermutlich Gespräche belauscht wurden. Eigentlich ein sinnloses Unternehmen, wenn nicht die Tatsache wäre, daß alles andere der Anlage sauber beieinanderlag. Als ich ohne Ergebnis Hugos Arbeitszimmer verlassen will, fällt mein Blick auf den Türschlüssel, und ich erinnere mich, daß Schließgeräusche besonders deutlich zu hören waren, überdeutlich sogar. Das bringt mich schließlich auf den entscheidenden Gedanken. Nur – ich darf Bully nicht erzählen, wo ich das Mikrofon schließlich finde. Des Rätsels Lösung ist ein Universalschlüssel, der in jedes normale Schloß paßt. Und in ihm, im Schaft, steckt das Mikrofon. Beinahe genial. Die ahnungslosen Verschwörer konnten nach Belieben Türen verschließen oder gar den Schlüssel abziehen. Frank hör204
te immer mit. Zuletzt ganz sicher jene Weisheiten, die Bully bei den ersten Vernehmungen zum besten gab. Meine natürlich auch. Der Schlüssel steckte in der Verbindungstür zwischen dem Salon und dem Schlafzimmer Dorothee Uhlmanns. Von Madame Zuivre mit bitterer Empörung verabschiedet, wandere ich in stiller Nacht den gleichen Weg, den vor fast zwei Stunden Frank Uhlmann mit einem Mercedes gefahren ist. Schon von weitem wirkt die hell erleuchtete Villa Kippenhöfers wie ein Wintertraum. Unmittelbar neben dem Eingang parkt Uhlmanns großer Mercedes. Ich kann den Wagen ungestört durchsuchen. Ich finde auch die Spraydose im Handschuhfach und eine halbvolle Flasche Wacholderschnaps zwischen anderen Flaschen. Vorsichtiger, als es nötig wäre, stecke ich diese Beweisstücke in eine Reisetasche, die ich aus Uhlmanns Wohnung mitgenommen habe. Beides, Flasche und Dose, wird vielleicht einmal die Sammlung im Kriminalmuseum vervollständigen. Dr. Kippenhöfer, der auf mein Klingeln selbst öffnet, ist zwar ein Mensch von vorzüglicher Erziehung, aber eben auch nur ein Mensch. „Oh“, sagt er, „das könnte man fast eine Überraschung nennen.“ Es ist nicht nur das Wörtchen „fast“, das mehr verrät, als er vielleicht selbst wollte. Auch seine einladende Geste ist irgendwie verkrampft, eigentlich ist es mehr eine Abwehrbewegung. „Sie kommen also“, murmelt er dann, sieht nach hinten, zögert, als wollte er seinem jungen Gast Gelegenheit zur Flucht geben, gibt dann aber den Weg frei. „Der Hund, nicht wahr?“ fragt er, als er die Tür hinter 205
mir verschließt. Es ist schon richtig, der Mann ist vom Fach. „Der Hund auch“, bestätige ich ruhig. „Bei ‚Satan‘ ließen sich die gleichen Giftspuren wie bei Uhlmanns nachweisen.“ „Ja“, sagt er, geht voraus in die weihnachtlich geschmückte Halle, stellt sich hinter den Sessel, in dem Frank sitzt, und sagt über dessen Schulter: „Ich glaube, du mußt jetzt gehen.“ Und ich stehe da, eine große Reisetasche in der Hand, finde es schön, daß Dr. Kippenhöfer meine Abneigung gegen elektrische Weihnachtskerzen teilt, und bin nicht abgebrüht genug, jetzt Genugtuung über einen Erfolg zu empfinden. Verständnislos, aber unverkennbar vorwurfsvoll sehen mich aus tiefen Sesseln zwei Augenpaare an, entrüstet, daß in Heiliger Nacht irgend so ein Mensch hereinplatzt und die ganze Stimmung vernichtet. Nach der lärmenden Fröhlichkeit der Vorweihnachtsfeier ist dieses hier nur ein stiller Abend, das Genießen milden Friedens. Ich sehe zum erstenmal die Frau des Rechtsanwaltes, eine recht zarte Person, etwas zerbrechlich, aber wohl doch energisch genug, sich gegen den souveränen Gatten zu behaupten. Die andere Dame, offenbar die Schwiegermutter Kippenhöfers, betrachtet abwechselnd Frank, ihren Schwiegersohn und mich. Der Ausdruck ihrer Augen wechselt von Verwunderung zu Vorwurf. Die beiden Frauen sind so ahnungslos, daß sie mir leid tun. Frank, den Kopf noch immer mir zugewandt, steht endlich langsam auf, und sofort wirkt er wieder selbstsicher, fast überheblich. Er sieht seinen väterlichen Freund nicht einmal an, als er nach vorn zur Garderobe geht. 206
„Ist kein Irrtum möglich?“ fragt Dr. Kippenhöfer leise, aber ohne den Schwung der Hoffnung. Ich schüttele nur den Kopf. Der Junge da, der sich nun den Mantel anzieht, als wolle er bloß zum Bäcker um die Ecke, hat sein Idol Templar, oder wie er sonst heißen mag, weit übertroffen. Er hat einen gutmütigen „Satan“ als Generalprobe zu Tode interviewt und sich nicht mit dem Beweis zufriedengegeben, daß seine Eltern mit dem „halben Tod“ nicht spaßen wollten. Der Irrtum liegt woanders.
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XVII. Zu meinem Erstaunen brennt noch Licht in Bullys Rumpelkammer. Das zwingt mich, meinen Plan kurzfristig zu ändern. Ich liefere Frank Uhlmann vorerst in der Wache ab. Und damit ist der Junge endgültig in das gutgeölte Räderwerk der Justizmaschine geraten. Kein Mensch kann voraussagen, wie er da wieder herauskommt. Ohne anzuklopfen, dringe ich bei Bully ein und bin fast noch überraschter als meine Kollegen. Denn auch Plotzki ist noch anwesend, und das an einem Tag wie heute, gegen zweiundzwanzig Uhr. „Herein ohne anzuklopfen, was?“ schnauzt Bully auch gleich los. Aber dann grinst er und deutet auf meine Reisetasche. „Ach, der Herr wollen sich offenbar von uns verabschieden?“ „Will er nicht“, sage ich und stelle die Tasche mitten auf sein antikes Schreibmöbel. Er knurrt zwar Mißbilligung, nimmt es aber doch hin. „Also kein Abschiedsbesuch. Dann wollen Sie vielleicht bloß gratulieren und kleine Geschenke überreichen, was?“ „Gratulieren? Wozu?“ Und nun wird er vollends affig. „Gottchen, immerhin habe ich soeben den Fall Uhlmann so gut wie abgeschlossen.“ Dabei tippt er selbstgefällig auf einen Schnellhefter neben sich. „Hier drin liegt ein durchaus brauchbares Geständnis des Mörders.“ „Ach! Und der heißt sicherlich Machelli?“ „Wie sonst?“ „Und er lebt noch?“ „Hören Sie, Doktor … ich hatte anfangs eigentlich ei208
ne Schwäche für Sie. Aber wie gesagt, anfangs. Und denken Sie mal an: Machelli lebt tatsächlich! Warum auch nicht? Das heißt, so ganz unterentwickelt ist Ihre Kombinationsgabe auch wieder nicht. Herr Cesare Machelli hat sich leider einige Verletzungen zugezogen.“ Sein Gehabe ist widerlich. „Das war vorauszusehen.“ „Nicht wahr? Aber wie kann man auch auf die Idee kommen, einfach türmen zu wollen, was? Mir ausreißen! Ausgerechnet so’n windiger Dogendiener will mir ausreißen! Stürzte plötzlich los, der Esel, als ich ihn in die Zelle zurückbringen wollte. Ich konnte ihm gerade noch ein Bein stellen. Leider fiel er dabei ein Stück die Treppe hinunter.“ „Treppe? Sind wir hier nicht im Erdgeschoß, genau wie die Haftabteilung auch? Sie werden sich etwas Besseres einfallen lassen müssen.“ Bully blickt mich mitleidig an. „Ich genieße einen guten Ruf, mein Bester, Und der Medizinmann, auf den wir hier noch warten, wird den lieben Cäsar ohne große Anstrengungen soweit in Form bringen, daß man sich mit ihm sogar auf der Straße sehen lassen kann.“ Als ich mich an Plotzki wenden will, der stumm an unserem zweiten Schreibtisch hockt und in Gedanken überall ist, nur nicht hier, klingelt das Telefon. „Aha“, sagt Bully prophetisch, „wird der Arzt sein.“ Es ist sogar das Krankenhaus. Aber mit Bullys vorgeblichem Samariterdienst hat es offenbar nichts zu tun. Er starrt nämlich unverwandt auf mich, während er den Hörer am Ohr hält. „Danke“, sagt er schließlich und legt den Hörer ungewöhnlich zart auf die Gabel zurück. Ich spüre förmlich, daß er jetzt im Geist durchlädt, um auf mich zu schießen. 209
„Ja“, sagt er dann, und es klingt tatsächlich so etwas wie leises Bedauern mit, „nun wird es wohl doch der Abschied werden, was?“ Es folgt eine Kunstpause, und dann kommt der Scharfschuß. „Herr Daniel Uhlmann ist soeben seinen Verletzungen erlegen.“ So, denke ich automatisch, ist er also gestorben, der Daniel. „Daniel Uhlmann soll noch gesagt haben, daß es Herr Siegmund gewesen wäre. Damit meint er wohl, daß ihn der Herr Prokurist vor einigen Tagen so zugerichtet hat. Gott, davon waren wir ja immer überzeugt, nicht? Ja, und es wäre um einen Schlüssel gegangen, den Daniel versteckt und nicht herausgerückt habe. Verstehn Sie das? Was für’n Schlüssel eigentlich?“ „Der vom Panzerschrank natürlich.“ Sieh an, dieser Daniel. Er scheint noch der harmloseste aus dem Ring der Uhlmannsippe gewesen zu sein. Aber vielleicht war er es auch nicht? Wer kann heute noch wissen, was Daniel nun wirklich gemacht hätte, wenn er nicht völlig programmwidrig zehn Minuten nach sechs Uhr die toten Uhlmanns entdeckt hätte? Er sollte ja den Schlüssel zum Panzerschrank besorgen und später wieder abliefern, ehe Bruder Hugo von den üblichen Folgen einer Feier erwachte, klar. Aber es spricht sehr für Daniels Cleverness, daß er die Gunst der Stunde sozusagen nutzte und nicht nur den Schlüssel, sondern gleich noch Bargeld und allen Schmuck einsteckte. Dagegen ist zu bezweifeln, daß er nur wegen des schwarzen Anzugs in das Zimmer seines Bruders schlich. Soviel berechnende Fassung dürfte selten sein. Ihm ging es sicherlich weit eher um gewisse Drogen für die vielleicht schon lästige Freundin, die Frau Steinert. Es könnte doch sein, daß tatsächlich sie es war, 210
die mit der besessenen Ausdauer eines unheilbar Süchtigen bis frühmorgens um die Villa wanderte. Auch möglich, daß sie in ihrer Blindheit dem ahnungslosen Machelli folgte … Bully knurrt mahnend. Er begreift wohl im Augenblick überhaupt nichts. „Am besten“, sage ich entschlossen und wende mich zur Tür, „wir gehen mal vor zur Wache.“ „Und wozu?“ „Um den Mörder der Uhlmanns zu holen.“ Bully verschlägt es die Sprache. Frank Uhlmann sieht uns eher neugierig als zerknirscht entgegen. Wir, die Mordkommission, stehen auch mehr wie neugierige Gaffer bei einem Familiendrama in der offenen Tür. Plotzki mustert mich skeptisch von der Seite, Bully dagegen fühlt sich verkohlt. „Was soll der Unfug? Und obendrein zum Heiligen Abend, was?“ Er macht nur widerwillig Platz, als ich Frank mit einem Wink auf den Flur beordere. Murrend kehrt Bully mit uns zur Rumpelkammer zurück. Und doch scheinen ihm die paar Schritte für einen Stimmungsumschwung gereicht zu haben. Er stellt sich mit verschränkten Armen vor seinen Schreibtisch und sagt: „So sieht das also aus? Sie können das doch hoffentlich beweisen, Doktor?“ „Ich kann.“ „Das ist ja … überhaupt nicht zu fassen ist das!“ Allmählich leuchtet mir ein, warum so viele ehemalige Nazis noch vorhanden und unter uns tätig sind. Sie waren einfach erstaunlich wandlungsfähig. Auch Bully schwenkt einfach um. Kleiner Irrtum gewesen, na und? „Der eigene Sohn!“ Fast genußvoll stößt Bully das 211
aus, als hätte er nicht eben noch auf ein prachtvolles Geständnis gepocht. „Ein tolles Früchtchen! Ein Superfrüchtchen sozusagen. Bringt die eigenen Eltern um! Und ich dachte immer, solche Gruselgeschichten erfindet bloß die ‚Bild-Zeitung‘ fürs treudeutsche Gemüt. Von wegen ‚beinamputierter Schrankenwärter rettet Prinz von Hohenzollern aus fahrendem Schnellzug‘ und so … Das heißt“, wendet er sich lauernd an mich, „vorausgesetzt, es stimmt überhaupt, was?“ Ich kann es mir leisten, einfach nur zu nicken. Bully stapft zwei Schritte auf Frank zu und brubbelt vor sich hin: „Und so was hat mich, den leitenden Kommissar der Mordkommission, ein Schwein genannt. Mich!“ Und urplötzlich holt er aus. Frank Uhlmann wäre es bei einem Volltreffer schlecht ergangen. Ich kann meinem Chef gerade noch in den Arm fallen. Einige gutgelernte Griffe, und er taumelt verblüfft gegen das Waschbecken. „Pardon“, entschuldige ich mich etwas gönnerhaft, „große Dressur … die sanfte Kunst, Herr Kommissar.“ „Das … das werden Sie bereuen!“ „Nicht ausgeschlossen“, gebe ich trocken Zu und schiebe ihm höflich seinen Stuhl zurecht. „Setzen Sie sich erst einmal. Ich hätte da etwas anzubieten.“ Bully ist so beeindruckt, daß er wortlos gehorcht und stumm meine Vorbereitungen an Franks Tonbandgerät beobachtet. Schweigend hört er sich alle Tonbandaufnahmen an, wenn er auch manche Passagen mit unbewußten Gesten quittiert. Ganz besonders scheint ihn zu ergötzen, daß sein besonderer Freund, der „attische“ Siegmund, von Hugo Uhlmann mit vielen Seitenhieben bedacht wurde. 212
Dann braucht er noch einige Zeit, um sich zu fassen. „Das sind also die feinen Leute in unserer Stadt?“ Dabei blickt er Frank sichtlich enttäuscht an, als hätte es nun gar keinen Sinn mehr, auch in jene Klasse aufsteigen zu wollen. „Bloß …“, er besinnt sich auf seine Dienststellung, „ich verstehe nicht ganz … Uhlmann senior fühlte sich bedroht, richtig, aber was hatten denn Daniel Uhlmann und dieser famose Parfümonkel eigentlich vor?“ „Daniel vielleicht weniger“, kläre ich ihn auf. „Motor der Aktion war zweifellos Siegmund, sein Ehrgeiz, den Platz Hugos in jeder Beziehung einzunehmen, obwohl ich nicht sicher bin, daß er Frau Uhlmann ernsthaft einbezogen hat. Wozu hätte er sonst diesen Daniel gebraucht, den er durch sein Wissen doch in der Hand hatte? Ihm wird es wohl mehr darum gegangen sein, an der Produktion und natürlich vor allem am Gewinn gewisser Drogen beteiligt zu sein. Hugo Uhlmann wird seine miese Geschäftslage durch Herstellung einer dem LSD verwandten Mixtur korrigiert haben. Für einen guten Chemiker kein Problem. Und dann das Geschäft, denn das ist schon eins! Ein einziges Gramm dieser Satansdroge bringt den hübschen Gewinn von glatten zweihunderttausend Mark. Und mit einem Gramm lassen sich beispielsweise runde zehntausend Stück Würfelzucker präparieren. Ist das etwa nichts? Und Hugo Uhlmann hätte zahlen müssen und vielleicht noch mehr. Er selbst wußte genau Bescheid – es sind weitaus mächtigere ChemieUnternehmen an solchem Geschäft interessiert. Ein zarter Wink von Herrn Siegmund und … na ja. Begräbnis erster Klasse.“ „Und woran ist Ihrer Meinung nach diese feine Idee gescheitert?“ 213
„An einem jungen Mann, der trotz guter Zensuren einen sehr begrenzten Horizont hat.“ Dabei sehe ich Plotzki an und nicke ihm anerkennend zu. „Bildröhrenhelden zum Beispiel töten mit staatlicher Lizenz, gegen Honorar und für Publicity.“ Plotzki nickt mir fast gerührt zu, während sich Bully wieder benachteiligt fühlt. „Wovon ist nun schon wieder die Rede, was?“ „Vom Fernsehen“, sage ich. Dann wende ich mich an Frank. „Übrigens, wie kam eigentlich ein Tonband ins Krankenhaus? Daß Sie es gewesen sein müssen, leuchtet mir ja ein, nur warum das?“ Im Augenblick scheint ihm wohl ein bißchen das Drehbuch zu fehlen, aber die Überheblichkeit seiner Vorbilder hat er noch nicht abgestreift. „Nur so“, sagt er leichthin. Bully steht unvermittelt auf, als wolle er nun nachdrücklichst demonstrieren, daß er jetzt seine eigene Beweisführung für eine bedauerliche Fehlleistung hält. „Es kann einem wahrhaftig grausen“, murmelt er verdächtig ruhig, aber dafür trifft er diesmal. Ich kann gar nicht so schnell reagieren, wie Bully seine Rechte abfeuert. Für den Helden Frank dürften die folgenden Sekunden fast eine Bestätigung seiner Lebensauffassung sein. Plötzlich ist alles genauso dramatisch wie in einem harten Krimi mit Templar oder Drake. Nur die Leichen fehlen. Ich springe meinen Chef von hinten an und zerre ihn rücklings über die Schreibtischplatte. Bully rudert verzweifelt mit den Armen. Die Tischlampe poltert auf den Fußboden, der altmodische Schirm reißt aus der Halterung und kullert durch die Rumpelkammer. Es hätte noch bunt werden können, denn auf die Dauer 214
kann ich einen entfesselten Bully kaum bändigen. Aber da mischt sich Plotzki ein. Plotzki, der unscheinbare, folgsame und ewig gehorchende Mitläufer Plotzki! „Stopp!“ brüllt er, und allein dieses Brüllen verändert sofort die Situation. Ich habe ihn bisher weder laut sprechen, geschweige denn brüllen hören. Und was er brüllt, ist eine halbe Kriegserklärung. „So nicht, Bully! Einen haben wir ja schon fertiggemacht, einen Unschuldigen, wie wir nun genau wissen! Und jetzt den nächsten? Und warum? Weil du eine Einbahnstraße von Verstand hast!“ Bully ist fassungslos. Er hangt noch immer halb auf dem Schreibtisch und stiert seinen zweiten Kommissar verdattert an. Aber er erholt sich. Langsam, aber dafür sehr gründlich. „Mensch! Wohl total übergeschnappt, was? Und so’n verlaustes Mistvieh ist meine rechte Hand? Es wird höchste Zeit, daß ich dir zeige, wie Bullys Einbahnstraße funktioniert!“ „Nimm bloß den Mund nicht immer so voll!“ Plotzki ist keineswegs beeindruckt. Jetzt ist er und nicht ich der Sieger. Und merkwürdig selbstsicher geht er hinter unseren zweiten Schreibtisch, bückt sich, drückt hörbar auf eine Taste und sieht Bully abwartend an. Obwohl Bully kein Wort sagt, ist doch seine Stimme plötzlich im Raum. „… los, du Apeninnenferkel, ’raus mit der Sprache! Wird’s bald … ich höre noch immer nichts …“ Dann klatschende Schläge, Wimmern, ein Stuhl poltert. Italienische Brocken, Schluchzen, Schreien … „Avanti! Spuck’s aus, verdammte Fadennudel! Oder willst du noch immer nicht? Oh, bitte …“ Bully in Hochform. „Das bißchen Scheißkerl muß doch kleinzukriegen 215
sein?“ Bully hat längst genug. „Stellen Sie sofort das Ding ab! Plotzki, Sie sollen … Sind Sie denn verrückt geworden? Wie kommen Sie überhaupt dazu, einfach etwas auf Band aufzunehmen, was? Abstellen, zum Teufel!“ Plotzki beeilt sich nicht sonderlich, und Bully wird vorübergehend kleinlauter: „Mensch! Plotzki! Wie konnten Sie denn um Gottes willen bloß … Wir sind doch nicht unter uns?“ Er deutet unsicher auf Frank Uhlmann, der uns betrachtet, als sei er nur deswegen hier. „Und wenn schon“, sagt Plotzki ungerührt. „Aber merke dir endlich und für alle Zeiten: Plotzki hat sich immer alles gefallen lassen. Aber auch wirklich alles. Und wie ich mich kenne, werde ich kein Revolutionär. Und es lohnt sich ja auch gar nicht, etwa deinetwegen zum Märtyrer zu werden. Damit du es weißt, solche Geschichten wie mit Machelli kotzen mich an. Bei dir ist ein Italiener oder ’n Nepalese schon deshalb auch ein Mörder, weil er eben Italiener oder Nepalese ist. Deutschland noch immer über alles. Du bist doch glatt vor dreißig Jahren in der Entwicklung stehengeblieben, Mensch!“ Und ich begreife: Man kann die Plotzkis herumkommandieren, man darf sie Idioten oder Nachtwächter nennen – das Denken kann man ihnen nicht verbieten. Und das ist gut so. „Aber damit du nicht denkst, das wäre schon alles …“ Plotzki bückt sich erneut und sagt: „Und damit auch unser ‚Doktor‘ den richtigen Eindruck von seinem großartigen Chef gewinnt – falls er ihn nicht längst hat – hier, noch eine Kostprobe!“ „Unterstehen Sie sich!“ brüllt Bully aufgeregt, als wüßte er genau, was noch kommt. Plotzki aber ist so weit 216
über sich hinausgewachsen, daß er Bullys berühmte Handbewegung nachahmt, und drückt erneut die Taste. „… unterschrieben hat er ja. Aber ob wir die Kurve richtig kriegen?“ In Bullys Stimme schwingt tatsächlich Zweifel mit. „Wie meinen Herr Kommissar?“ „Mann! Stellen Sie sich doch wenigstens heute nicht so dämlich an. Zwangsläufig muß es ja zu einer Gerichtsverhandlung kommen, und der Scheißkerl Machelli wird doch bestimmt mit Uhlmanns Beuteverfahren von damals kommen, was? Haben wir solche idiotische Prozesse nicht schon genug am Halse?“ „Außerdem kann er widerrufen.“ „Weiß ich auch! Wie wohltuend wäre doch ein tödlicher Unfall, was? Damit wäre der ganze Fall zur Zufriedenheit aller Beteiligten abgeschlossen, mit Ausnahme des Verunglückten natürlich.“ „Und Maria?“ „Wird abgeschoben. Und wenn sie vorm Papst persönlich Machellis Unschuld beschwört – Geständnis bleibt Geständnis. Sorgfältig in einem Panzerschrank versenkt, straft es ihn und Maria noch in hundert Jahren Lügen. Bliebe eigentlich nur das Achselstück. Es ist zwar nicht so alt wie Preußens ruhmreiche Armee, gewiß aber über zwanzig Jahre. Meinen die Chemiker. Aber wozu haben wir eine Zentralheizung?“ „Ich weiß nicht …“ „Jetzt ist aber Schluß!“ fährt Bully dazwischen, und seinem Gesichtsausdruck kann man die wilde Entschlossenheit ablesen, jeden weiteren Angriff auf seine Reputation mit allen Mitteln zu unterbinden. „Wie Sie meinen“, sagt Plotzki. Es klingt, als sei er schon wieder im alten Trott. Aber dann nimmt er um217
ständlich das Band aus dem Gerät und verstaut es sorgfältig in seiner Manteltasche. „Schluß, richtig“, fährt er fort. „Und zwar mit verschiedenen Dingen, Chef. Auch mit Ideen, die in tödliche Unfälle ausarten. Obwohl im Laufe eines Lebens manche Illusion zum Teufel geht – ich bin einstmals aus Überzeugung zur Polizei gegangen. Recht und Gesetzlichkeit sind für mich mehr als nur Begriffe aus einem Kreuzworträtsel. Und wenn ein schäbiger Uhlmann ein Verbrecher in Offiziersuniform war, dann war er eben einer. Was haben wir mit solchen Figuren zu tun? Und Sie, Herr Kommissar, Sie wußten doch spätestens beim Fund des Schulterstücks, daß Machelli keineswegs spinnt. Nur ist Ihnen ein Machelli gleichgültiger als die zweifelhafte Ehre eines ehemaligen deutschen Offiziers. Ansonsten aber – ich bin auch weiterhin Ihr getreuer Mitarbeiter. Denn, wie gesagt, ich habe kein Talent zum Märtyrer.“ „Dafür aber haben Sie ganz neue bewiesen“, knurrt Bully bissig. Aber Plotzki reagiert nicht mehr darauf. Er reicht Bully sogar die Hand zum Abschied, verabschiedet sich auch von mir und geht zur Tür. „Übrigens“, sagt er noch, „der Bengel da …“, er sieht freilich nicht einmal zu Frank Uhlmann hin, „gewiß, Mord bleibt Mord. Aber wenn man’s genau betrachtet, so hat er zu einem Teil nur eine Strafe vollzogen, die mehr als zwei Jahrzehnte überfällig ist. Es wurde sogar ein geplanter Mord verhindert, wenn auch leider – wie abscheulich ist das alles – durch einen Doppelmord. Aber eigentlich war es doch ein treffliches Arrangement, um nicht von sogenannter höherer Gerechtigkeit zu reden, daß Uhlmanns an einem Rezept starben, das offenbar auch nur um den Preis eines Toten erworben war. ‚. Tja, 218
und der Junge hier? Er hat ein Faible für Fernsehhelden, deren Taten gegen die üblichen Fernsehgebühren frei Haus geliefert werden. Mord und Totschlag von der Stange sozusagen. Aber wenn ein vom Staat gefördertes Unternehmen mit dem bombastischen Titel ‚Anstalt des öffentlichen Rechts der Rundfunk- und Fernsehanstalten Deutschlands‘ dies zum Wohle der Bürger ihres Landes darf, dann darf es uns eigentlich auch nicht wundern, wenn solche fraglichen ‚Lehren‘ auf fruchtbaren Boden fallen.“ „Nanu?“ Bully tut verwundert. „Unser ‚Doktor‘ ist da wohl auch anderer Meinung?“ Bully hat richtig gesehen, ich habe wirklich, wenn auch in Gedanken, zu Plotzkis Argumentation den Kopf geschüttelt. Außerdem ist Bully gerissen; er vermutet in mir einen unverhofften Bundesgenossen gegen den abtrünnigen Plotzki. „Und überhaupt“, kräht Bully schnell noch, „was heißt, da fallen Lehren auf fruchtbaren Boden? Wieviel Stunden pro Woche psalmen uns denn Pfaffen vom Bildschirm an? Rennen denn deswegen mehr Leute in die Kirche?“ Plotzki hört zwar zu, wendet dann aber wortlos den Blick auf mich. „Nun ja“, sage ich zögernd, „ich weiß nicht recht, aber ganz so einfach sollte man die Dinge wohl doch nicht sehen. Falsche Vorbilder, gewiß, nur … wie kann es überhaupt so weit kommen? Hier, im speziellen Fall, mit Frank Uhlmann?“ Einen Augenblick zögere ich noch, weil wir ohne Rücksicht auf Franks Anwesenheit so frei sprechen, aber dann finde ich, daß es weder uns noch ihm schaden kann. „Schön, der Junge da … er ist weder schlecht erzogen 219
noch ein Verbrecher aus Veranlagung, denke ich. Vielleicht ist er wirklich, um mit Doktor Kippenhöfer zu reden, in den Teufelskreis der heutigen Zeit geraten. Aber ist das eine Entschuldigung? Sind nicht schon einmal Hunderttausende in einen gefährlichen Teufelskreis geraten? Wer sich ein eigenes Urteil erspart, folgt zwangsläufig der Meinung anderer Leute, auch wenn sie falsch ist. Vielleicht ist auch die eigene durchaus nicht immer richtig. Und hier? Vielleicht hat Frank für Verlorenes – oder etwas, was er nie besaß – Ersatz gesucht, wer weiß? Und wenn einem Elternpaar der Mercedes wichtiger ist als das Kind – traurig, gewiß. Aber Jugend kann nicht alles entschuldigen, denke ich. Denn was immer er gelitten haben sollte, eine Rechtfertigung für eine derartige Vergeltung sehe ich nicht, Frank Uhlmann kann es ja nicht darum gegangen sein, ein Verbrechen an diesem Herrn Siegmund zu verhindern. Oder gar einen alten italienischen Vorarbeiter zu rächen. Vielleicht wird er das jetzt als Motivierung anbieten, eine Art Glorienschein um einen imitierten Templar … Aber diese Sorte Helden kann man eben nicht auf das Leben übertragen oder ihnen gar nacheifern. Und genau das hat Frank Uhlmann versucht. Denn ich glaube auch nicht, daß er seine Tonbandaufzeichnungen mit dem Vorsatz begann, daraus ein Verbrechen zu entwickeln. Möglich, daß ihn erst ein Held á la Templar dazu inspirierte. Aber wichtig ist, und das verdeckt weder angebrachtes Mitleid noch gar Verständnis für diesen hierzulande herrschenden Idolhunger, daß Frank Uhlmann mit Vorbedacht einen Doppelmord beging, wenn ihm die Planung auch andere abnahmen.“ Plotzki, noch immer an der Tür, fragt besorgt: „Und wie wollen Sie gerade diesen Punkt beweisen?“ 220
„Sehr einfach. Von der Minute an, als Kippenhöfers Hund tatsächlich draufgegangen war, wußte Frank mit absoluter Sicherheit, daß seine Eltern wahrhaftig zu einem Mord an Siegmund entschlossen waren. Aber er tat nichts dagegen. Er ging nicht zur Polizei, nicht zu seinem väterlichen Freund Kippenhöfer, obwohl es ihm an Beweismaterial nicht gemangelt hätte. Er ging nicht, und …“, ich deute auf Frank, der ruhig an der Stirnwand sitzt, „wenn Sie ihn so ansehen, sehr schuldbewußt sieht er mir auch jetzt noch nicht aus.“ „Aber zum Teufel“, faucht Bully, „soll denn solch grüner Bengel wirklich allein schuld sein?“ In Bullys Ausruf schwingt so etwas wie höhere Erkenntnis mit; es scheint, als zeige Plotzkis Erziehungsmethode erste Erfolge. „Allein? Wenn ich dabei an Doktor Kippenhöfer denke, so steht zu erwarten, daß er zu Franks Rechtfertigung sogar altrömische Dogmen vom Sockel ihrer Aussagekraft stoßen wird. Vorausgesetzt, er überwindet den Schock, den Frank Uhlmann bei ihm ausgelöst hat. ‚Beati possidentes‘, sollen die Römer gesagt haben. Und diese These, daß die Besitzenden glücklich sind, wird Doktor Kippenhöfer an Hand von Franks Tat ad absurdum führen wollen. Immerhin behaupten auch Soziologen, daß der Segen des Wohlstandes schuld sei an der enorm wachsenden Kriminalität bei uns. Mithin können die Besitzenden also nicht glücklich sein. Im Gegenteil, sie haben ein furchtbar schweres Leben. Und das hört sich sogar noch logisch an: Habe ich Geld, bin ich Sklave, muß mich rühren, hetzen, Geschäfte machen, ohne Rücksicht auf andere, die Familie zum Beispiel, also auch auf Kosten der Kinder. Wenn ich oben bleiben will, kann ich diesen sogenannten Teufelskreis also nicht verlassen. 221
Oder kann ich doch? Was stimmt hier nicht? Etwa unsere …“ „Vorsicht“, unterbricht mich Plotzki. „Sie rühren am Blutkreislauf unserer fabelhaften Demokratie!“ Das geht Bully nun doch entschieden zu weit. Und er hat auch schon den Ton gefunden, mit dem er für die nächste Zukunft mit Plotzki verkehren wird. „Würden Sie bitte die Güte haben“, sagt er höhnisch, „und den Herrn Uhlmann da in eine solide Zelle bringen?“ Und dann zu mir: „Wenn der Bursche morgen früh noch drinhocken sollte, was ja einem Templar keinesfalls passieren würde, melde ich bereitwillig meinen Fernseher ab.“ „Moment noch!“ Ich bitte Plotzki, der schon wieder ganz diensteifrig zu sein scheint, noch einen Augenblick mit Frank zu warten. „Eins ist mir noch unklar – wie hatte sich denn Herr Siegmund den Verlauf der Schlüsselaktion vorgestellt?“ „Recht einfach“, antwortet Frank Uhlmann. Er ist gelassen und sachlich. „Onkel Daniel sollte lediglich den Schlüssel des Panzerschranks zur Bedürfnisanstalt in der Hohenstaufenstraße bringen, genau zwanzig Minuten vor sieben. Dort wollte ihn Herr Siegmund übernehmen und zehn Minuten nach sieben wieder abliefern, diesmal in der Milchverkaufssteile unmittelbar vor dem Werkseingang. Onkel Daniel sollte Backpulver oder sonst etwas kaufen, damit er nicht auffiele. Herr Siegmund holte jeden Morgen seine Milch dort.“ „Danke.“ „Gestatten Sie mir auch eine Frage? – Danke. Was habe ich verkehrt gemacht?“ Es ist nicht die Frage an sich, die mich aufbringt, es ist der familiäre Ton, den Frank Uhlmann anschlägt. „Al222
les“, sage ich knapp. „Ich meinte doch …“ „Ich weiß, was Sie meinen. Wie ich auf Sie gekommen bin, nicht wahr? Nun, auch recht einfach, und nicht erst heute. Durch Doktor Kippenhöfer.“ „Kippenhöfer?“ „Erstaunt Sie, wie? Stimmt aber trotzdem. Obwohl Sie nämlich heute zum erstenmal seit jener Vorweihnachtsfeier bei ihm waren, haben Sie sich jenes Tonband, auf dem die letzten Worte Ihrer Eltern aufgezeichnet sind und das dort liegt, noch in der Nacht von ihm ausgebeten. Folglich wußten Sie, daß es die letzten Worte Ihrer Eltern waren, und zwar lange vor morgens halb acht.“ „Aber ich habe doch niemals gesagt …“, fährt er fast empört auf, weil ich ihm einen derartig groben Regiefehler zutraue. „Nein, nicht gesagt, aber gedacht! Und Doktor Kippenhöfer hat es Ihnen nachempfunden und ausgesprochen. Er sprach also aus, was Sie gedacht haben müssen.“ „Warum gehen Sie eigentlich nicht?“ fragt Bully sehr höflich seinen zweiten Mann. „Dieses Christkind da bringt mich noch um den Rest meiner Weihnachtsstimmung.“ Plotzki gehorcht wortlos. Bully schweigt geraume Zeit, aber er schweigt nicht aus Ergriffenheit. Ihn reut seine kampflose Kapitulation vor meiner Beweisführung. „Na“, fragt er endlich scheinheilig, „wie fühlen wir uns so?“ „Drei bis vier.“ „Hoffentlich bleiben die Noten so erträglich, was? Ich nämlich, verehrter Meisterdetektiv, habe da so meine Bedenken.“ 223
„Tatsächlich?“ „Werden Sie nicht üppig, junger Mann! Mir scheint nämlich, da ist ein Loch in der Logik Ihrer Strategie. Denn … Uhlmanns hatten doch eine verflucht eigenwillige Vorstellung vom ‚Selbstmord‘ des lieben Herrn Siegmund, nicht wahr? Spraydose, Wacholderpulle, na, und so weiter. Nun frage ich mich nur, was hätte wohl Papa Uhlmann gesagt oder getan, wenn ihm sein Sprößling ausgerechnet mit der Spraydose vor der Nase herumgefuchtelt hätte?“ „Ich würde auf schwere Kindesmißhandlung tippen.“ „Na also!“ „Ich weiß nicht, Chef! Irgendwie unterschätzen Sie die heutige Jugend.“ Dabei krame ich in Dorothee Uhlmanns Reisetasche nach dem großen Mikrofon, das so harmlos aussieht wie ein gewöhnliches Reportermikrofon. „Wenn Sie sich einmal dieses Ding hier betrachten wollen, Chef? Sieht aus wie echt, nicht? Ist es auch. Sogar der kleine Knopf am Schaft fällt nicht auf, es könnte ein Mechanismus zum Trennen des Tons sein. Könnte, wohlgemerkt. Es ist aber keiner, sondern der Auslöser der von Frank aus der Spraydose ausgebauten Ampulle. Er hat sie einfach in das Mikrofon eingebaut. Muß allerhand Arbeit gekostet haben. Ja, sicher hatten Uhlmanns den präparierten Wacholder in irgendeinem der üblichen Mixgetränke vorgesetzt bekommen. Und den Knopf der Ampulle drückte Frank Uhlmann nur bei seinen Eltern, die schon deshalb ahnungslos sein mußten, weil Frank den ganzen Abend und mit allen Gästen Tonbandaufnahmen machte.“ Während Bully vorsichtig am Mikrofon herumbastelt, knurrt er mißmutig: „Wahrhaftig, ich scheine die heutige Jugend in der Tat zu unterschätzen.“ Dabei sieht er mich 224
von unten her an. „So schlimm ist es nun auch wieder nicht.“ Ich muß ihm noch diesen Brocken hinwerfen. „Schließlich liefert ja unsere Filmindustrie genügend Gebrauchsanweisungen. Helle Köpfe brauchen mitunter derartige ‚Unterhaltungsbeiträge‘ nur den jeweiligen Bedingungen anzupassen.“ „Gute Nacht“, flötet Bully falsch. „Fröhliche Weihnachten“, antworte ich, und das meine ich auch nicht unbedingt aufrichtig.
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Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten 1. Auflage • 1970| Verlag Das Neue Berlin, Berlin Lizenz-Nr.: 409-160/8/70 • ES 8 C Lektor: Gisela Bentzien Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Gesamtherstellung: Völkerfreundschaft, Dresden Scan & Ebook By *MM*
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