Nr. 302
Der Gralshüter von Gorrick Atlan und Razamon im Bannkreis der Magie von H. G. Ewers
Sicherheitsvorkehrungen, ...
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Nr. 302
Der Gralshüter von Gorrick Atlan und Razamon im Bannkreis der Magie von H. G. Ewers
Sicherheitsvorkehrungen, die auf Atlans Anraten durch die SolAb, die USO und die Solare Flotte noch gerade rechtzeitig getroffen wurden, haben verhindert, daß die Erde des Jahres 2648 einem Überfall aus fremder Dimension zum Opfer gefallen ist. Aber die Gefahr ist durch die energetische Schutzschirmglocke nur eingedämmt und nicht bereinigt worden. Der Invasor hat sich auf der Erde etabliert – als ein plötzlich wiederaufgetauchtes Stück des vor Jahrtausenden versunkenen Kontinents Atlantis. Atlan, Lordadmiral der USO, und Razamon, der Berserker – er wurde beim letzten Auftauchen von Atlantis oder Pthor zur Strafe für sein »menschliches« Handeln auf die Erde verbannt und durch einen »Zeitklumpen« relativ unsterblich gemacht –, sind die einzigen, die die Sperre unbeschadet durchdringen können, mit der sich die Herren von Pthor ihrerseits vor ungebetenen Gästen schützen. Allerdings verlieren die beiden Männer bei ihrem Durchbruch ihre gesamte Kleidung und ihre technische Ausrüstung. Und so landen Atlan und Razamon – der eine kommt als Späher, der andere als Rächer – nackt und bloß an der Küste von Pthor, einer Welt der Wunder und der Schrecken. Ihre ersten Abenteuer bestehen sie am »Berg der Magier«. Dann bekommen sie es zu tun mit dem GRALSHÜTER VON GORRICK …
Der Gralshüter von Gorrick
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan und Razamon - Zwei Gefangene in der Gewalt der Technos. Kalkgraf, Eisenkaiser und Aminomeister - Technos von Zbahn. Mäjesto - Ein kleiner Dieb. Ichtbar - Gralshüter von Gorrick.
1. AUF DEM WEG NACH ZBAHN Als ich zu mir kam, hörte ich ein schrilles Heulen und Pfeifen. Es war, als bräche sich der GobiWind an den Kanten und Vorsprüngen meines Bungalows am Ufer des Goshun-Sees. Für einige Augenblicke war ich versucht, mich in der vollklimatisierten und robotbewachten Geborgenheit meines Bungalows zu fühlen, ein Gefühl, das ich in den letzten Jahren immer öfter hatte genießen dürfen. Seit rund zweihundert Jahren herrschte Frieden in dem uns bekannten Teil der Galaxis. Nicht zuletzt profitierte davon die Menschheit des Solaren Imperiums. Nach Jahrhunderten der kriegerischen Zusammenstöße mit fremden Mächten konnte sie sich der friedlichen Erforschung des Alls, der Knüpfung von wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zu anderen Völkern und nicht zuletzt dem Auf und Ausbau ihrer eigenen Zivilisation widmen. Doch dieser Anflug meiner Gefühle ging schnell vorüber. Aus meinem noch träge arbeitenden Geist kroch die Erinnerung an die letzten Geschehnisse dieses Jahres 2648 terranischer Zeitrechnung und ließ mich erschaudern. Vielleicht war es aber auch nur der kalte Wind, der in mein Gesicht schnitt. Angefangen hatte es mit dem sogenannten Atlantis-Fieber. Die Menschen der Erde vernahmen Gerüchte, die von einem Auftauchen von Atlantis sprachen, jenem Inselkontinent, dem ich einst meinen Namen geliehen hatte und dessen Untergang ich vor mehr als zehntausend Jahren miterlebte. Weder ich noch meine Freunde hatten geglaubt, daß den Gerüchten Realitäten zugrunde lägen. Wir sahen es als wahrscheinlich an, daß eine Sekte, wie sie immer wie-
der entstanden und vergingen, sich das Märchen ausgedacht hatte, um es als »Aufhänger« für ihre Thesen zu benutzen, die sie zu verkünden gedachte. Und dann war das terranische Zweigbüro der United Stars Organisation auf die Spur eines Mannes gestoßen, der sich Tervor Aretosa nannte. Aretosa verdiente sich seinen Lebensunterhalt mit dem Abschluß ungewöhnlicher Wetten – und diesmal hatte er zwei noch ungewöhnlichere Wetten abgeschlossen. Er hatte gewettet, daß demnächst ein Artefakt, eine uralte Metallplatte außerirdischen Ursprungs, auftauchen würde – und er hatte für den 30. August dieses Jahres auf das Wiederauftauchen von Atlantis gesetzt. Nach den ersten Ermittlungen schaltete ich mich selbst in die Arbeit meiner Leute ein. Wir fanden eine Kopie des Artefakts, ließen den Text von der lunaren Inpotronik NATHAN entschlüsseln und erfuhren dadurch, daß die Erde im Verlauf von Jahrmillionen von mehreren globalen Katastrophen heimgesucht worden war (was unsere Wissenschaftler natürlich wußten) und daß jede Katastrophe durch das Auftauchen und den Untergang von Atlantis verursacht worden war (was unsere Wissenschaftler nicht wußten). Bei diesen Katastrophen wären meist terranische Hochkulturen untergegangen. Wollte man dem Text glauben, dann stand ein neues Auftauchen von Atlantis und damit eine neue globale Katastrophe bevor. Eine solche Nachricht wurde selbstverständlich von den Verantwortlichen des Solaren Imperiums nicht ignoriert. Aber wir alle waren davon überzeugt, daß wir angesichts der Bedrohungen, die wir in der Vergangenheit bereits überwunden hatten, nichts zu fürchten brauchten, was von dem Auftauchen eines Inselkontinents auf uns zukommen konnte. Außerdem hätte, wollte
4 man allen entsprechenden Schriften und sonstigen Ankündigungen glauben, die Welt (gemeint ist die Erde) in den vergangenen zweitausend Jahren schon hundertmal untergehen müssen. Deshalb wurde nicht allzuviel unternommen. Immerhin aber erreichte ich, daß das mutmaßliche Auftauchgebiet von Atlantis von energetischen Schutzschirmen abgesichert wurde. Danach suchte ich weiter nach Aretosa und fand ihn schließlich. Nach anfänglichem Mißtrauen wurde unser Kontakt beinahe freundschaftlich. Ich erfuhr, daß Aretosa in Wirklichkeit Razamon hieß und ein unsterblicher Atlanter war, der bei den Herren von Atlantis in Ungnade gefallen und darum bei der letzten Invasion des Inselkontinents zurückgelassen worden war. Außerdem befand sich Razamon im Besitz des originalen Artefakts, eines metallisch aussehenden Bruchstücks mit eingeritzten Zeichen, das er Parraxynt nannte. Leider vermochte ich von Razamon nicht allzuviel über Atlantis zu erfahren; die Herren dieses Inselkontinents hatten ihm den größten Teil seiner Erinnerungen genommen, bevor sie ihn aussetzten. Aber der Atlanter wirkte so glaubwürdig, daß ich nicht sonderlich überrascht war, als etwas, das wir das Neue Atlantis nannten, tatsächlich am 30. August aus den Fluten des Atlantiks auftauchte. Mehr geschah nicht – wahrscheinlich, weil die starken Schutzschirme das verhinderten. Niemand konnte Atlantis verlassen – und niemand konnte von außerhalb hingelangen. Die Menschen, die es versuchten, verloren bei der Annäherung ihr Gedächtnis. Es befriedigte weder Razamon noch mich, daß wir nichts über das Neue Atlantis erfuhren. Razamon wollte Rache an den Herren von Atlantis üben, während ich darauf brannte, das Geheimnis von Atlantis zu lösen und die düstere Macht zu finden, die in der Vergangenheit das Auftauchen und Verschwinden von Atlantis bewirkt hatte. Ich veranlaßte, daß für eine kurze Zeit-
H. G. Ewers spanne in dem die Insel umspannenden Schutzschirm eine kleine Strukturlücke geschaltet wurde, denn Razamon hatte mir den tollkühnen Plan unterbreitet, wir beide sollten allein in einem Boot nach Atlantis vorstoßen. Er war sicher, daß nur wir allein dem Effekt der Amnesie nicht unterliegen würden. Das Vorhaben gelang, wenn wir auch nicht so auf Atlantis ankamen, wie wir es uns vorgestellt hatten. Und als wir uns auf Atlantis befanden und die ersten Einwohner kennenlernten, vermißten wir das technische Beiwerk der Macht, die angeblich in der Lage sein sollte, den Untergang einer ganzen Hochkultur herbeizuführen. Bis wir nach einigen gefährlichen, aber keineswegs aufschlußreichen Abenteuern in die Hände von Wesen gefallen waren, die mit Fluggleitern in der Ansiedlung Panyxan landeten und Razamon und mich mit Lähmwaffen außer Gefecht setzten …
* Als ich soweit mit meinen Gedanken gekommen war, gelang es mir endlich, den Rest der Lähmungserscheinungen zu überwinden und die Augen aufzuschlagen. Über mir wölbte sich eine blaue Kuppel scheinbar bis in die Unendlichkeit. Aber nur für die Dauer eines Herzschlags hielt ich es für eine Kuppel, denn dann wurde mir klar, daß ich den Himmel sah: den Himmel über Atlantis – und über der Erde (jedenfalls über dem Teil des Planeten Erde, wo Atlantis aufgetaucht war). Ich drehte den Kopf ein wenig und entdeckte die Rückenansicht eines athletisch gebauten humanoiden Lebewesens, das eine zweiteilige Lederrüstung trug, dazu einen breiten Gürtel mit einem Waffenfutteral und hochschäftige Stiefel. Der Mann – wenn es ein Mann war – stand auf einem metallischen würfelförmigen Podest von zirka fünfzig Zentimetern Kantenlänge und bediente zwei Hebel, die aus dem Podest ragten, sowie mehrere
Der Gralshüter von Gorrick Schaltungen, die sich an einem säulenförmigen Instrumentensockel befanden. Er schien sich nicht darum zu kümmern, was ich tat. Die Geräusche des Fahrtwinds und die eisige Luft, die mir ins Gesicht schlug, bewiesen mir, daß ich mich in einem Fahrzeug befand, das sich mit relativ hoher Geschwindigkeit bewegte. Daran, daß ich über den Rändern des schalenförmigen Fahrzeugs ausschließlich den Himmel sehen konnte, erkannte ich, daß es sich um ein Fluggerät handelte, mit großer Wahrscheinlichkeit um eine Art Fluggleiter. Ich musterte die Innenfläche der Schale und sah, daß zahlreiche unterschiedliche Werkzeuge an ihr befestigt waren. Da der Mann, in dem ich einen der von den Guurpel erwähnten Technos von Zbahn oder Zbohr vermutete, sich noch immer nur auf seine Schaltungen zu konzentrieren schien, wollte ich die Gelegenheit nutzen, um ihn eventuell zu überwältigen. Ich richtete mich auf – und ahnte sofort etwas, als ich hinter mir ein Klirren vernahm. Als ich mich umwandte, wurde meine Ahnung bestätigt. Ich war an die Stahlbänder zweier Ketten gefesselt, die aus der Innenwandung des Fluggleiters hingen, und zwar waren die Stahlbänder um meine Fußgelenke gelegt. Ein weiterer Blick zur Mitte des Gleiters zeigte mir, daß der Pilot, der zweifellos das Klirren der Ketten gehört hatte, mich noch immer nicht beachtete. Ich schob mich rückwärts an die Stelle der Bordwand, wo meine Ketten aus einem breiten Schlitz kamen. Es gelang mir, mich an der Bordwand aufzurichten und über sie nach draußen zu blicken. Das erste, was meine Aufmerksamkeit erregte, waren fünf weitere Flugmaschinen von der gleichen Art wie die, in der ich mitflog. Von den Besatzungen sah ich nur die Oberkörper der Piloten. Allerdings vermutete ich, daß in einem der anderen Gleiter Razamon war. Ich schaute in die Richtung, aus der wir gekommen sein mußten, und entdeckte am
5 Horizont einige Berge mit schneebedeckten Gipfeln und Hängen. In einem glaubte ich den rund dreitausend Meter hohen Skolion zu erkennen, auf dem Razamon und ich einen lebensgefährlichen Kampf gegen den Eskirten und später gegen den Vogelmagier bestanden hatten. Da ich inzwischen wußte, daß der Skolion zur »Großen Barriere von Oth« gehörte und daß dieses Gebirge sich an der Südküste von Atlantis hinzog, konnte ich mir leicht ausrechnen, daß wir nach Nordosten und damit tiefer ins Innere des Eilands flogen. Aus zusammengekniffenen Augen schaute ich in den Himmel über mir. Es erschien mir unglaublich, daß er nicht nur wolkenlos, sondern auch frei von jeglichen Luftfahrzeugen war. Meiner Meinung nach hätte es, nachdem Atlantis bereits vor einigen Tagen aufgetaucht war, über dem Inselkontinent von Luft und Raumfahrzeugen wimmeln müssen. Doch es schien, als würden die Menschen der Erde Atlantis oder Pthor einfach ignorieren. Für einen kurzen Augenblick fürchtete ich, das läge daran, daß die Herren von Atlantis die Herrschaft über die Erde an sich gerissen oder die Menschheit der Erde auf noch unbekannte Weise ausgeschaltet hätten. Doch dann sagte ich mir, daß das unmöglich sei. Schließlich lebte die Menschheit nicht nur auf der Erde, sondern auch auf den meisten solaren Planeten und Monden sowie in noch größerer Zahl auf den vielen Siedlungswelten des Imperiums. Selbst wenn es den Herren von Atlantis gelungen sein sollte, die Menschen der Erde zu besiegen, wäre die Menschheit damit noch lange nicht geschlagen. Sie würde im Gegenteil mit Tausenden von Kampfschiffen über der Erde aufkreuzen, um ihre Wiege zu befreien. Die Tatsache, daß der Himmel über Atlantis dennoch frei von Luftfahrzeugen und Raumschiffen war, mochte deshalb schlimmstenfalls bedeuten, daß die Herren von Atlantis und die Menschen der Erde »Gewehr bei Fuß« standen, wie ein altes terranisches Sprichwort es ausdrückte.
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H. G. Ewers
Oder verfügten die legendären Herren von Atlantis gar nicht über die Machtmittel, die irdische Zivilisation ernsthaft zu bedrohen? Schließlich hatte ich auf Atlantis noch kein einziges Energiegeschütz, keine Schutzschirmprojektoren und keine Raumschiffe entdeckt. Aber noch kannte ich zu wenig von Atlantis oder Pthor, um mir ein Urteil bilden zu können. Was hatten Razamon und ich bisher schon gesehen außer einem Stück leeren Strandes, einem Berg, einem Dorf und den Fluggleitern der Technos? Immerhin, ich befand mich in einem Fluggleiter, der über das Innere der Insel flog. Folglich sollte ich die Gelegenheit nutzen, mir einem Überblick aus größerer Höhe zu verschaffen. Ich zog mich höher und beugte mich über den Rand der Transportschale. Tief unter mir erblickte ich eine weite, steppenähnliche Ebene, die mit ausgedehnten, dunklen Flecken übersät war. Es schien mir im ersten Augenblick, als hätten dort Grasbrände gewütet. Aber dann hätten die verbrannten Flächen wenigstens teilweise miteinander in Verbindung stehen müssen. Als ich genauer hinschaute, merkte ich, daß die dunklen Flecken ihre Umrisse veränderten und daß über ihnen kleine Staubwolken hingen. Nach und nach erkannte ich die dunklen Flecken als Zusammenballungen von Objekten, die sich bewegten. Kurz darauf gingen die sechs Fluggleiter tiefer – und wenig später hielt ich den Atem an. Aus geringerer Höhe waren, wenn auch nur undeutlich, gewaltige Ansammlungen unterschiedlichster monströser Lebewesen auszumachen, die sich auf der Ebene drängten und sich ziellos hin und her bewegten. Eine Armee von Ungeheuern! durchfuhr es mich. Als ich hinter mir ein Geräusch hörte, wandte ich mich um.
* Der Pilot hatte sich zu mir umgedreht.
Obwohl der Wind mir jetzt genau ins Gesicht schlug, erkannte ich deutlich ein arrogantes rotbraunes Gesicht mit flacher Stirn und vorstehenden Wangenknochen, das von im Wind fliegendem schwarzen Haar umrahmt wurde. Auch die Augen in dem Gesicht waren schwarz. Sie schienen mich ironisch zu mustern. »Du wirkst erschrocken, Fremder!« rief er mir über das Heulen des Fahrtwinds zu. »Hast du die Horden der Nacht zum erstenmal gesehen?« Er sprach das Pthora, das ich vor dem Aufbruch nach Atlantis nach Razamons Angaben per Hypnoschulung erlernt hatte und das auch von den Guurpel verwendet worden war. Die Bezeichnung der Sprache kam von dem Namen, den die Bewohner von Atlantis für ihre Insel benutzten. Sie nannten sie Pthor. Da ich nicht verraten wollte, daß ich von der »Außenwelt«, also der Erde, kam und damit ein Eindringling war, erwiderte ich: »Ich weiß es nicht. Durch einen Unfall habe ich den größten Teil meiner Erinnerungen verloren. Ich kenne zwar meinen Namen, Atlan, aber sonst weiß ich kaum etwas. Die Horden der Nacht, wozu gibt es sie, Unbekannter?« Der Pilot blickte mich mit gerunzelter Stirn an. Anscheinend überlegte er, ob er mir glauben sollte oder nicht. Sein Gesicht wirkte auf mich nach näherem Hinsehen nicht mehr arrogant, sondern eher auf unbeschreibliche Weise unfertig. »Du kennst die Ebene Kalmlech und die Horden der Nacht nicht, Atlan?« fragte er. »Dann weißt du wahrscheinlich auch nicht mehr, daß die Horden der Nacht sich eigentlich über die Welt dort draußen ergießen sollten. Sie sind nur deshalb noch hier, weil die Energiebarriere der Menschen sie aufgehalten hat. Aber noch hat Pthor seine Macht nicht entfaltet, denn im Unterschied zu jenen Menschen draußen haben wir viel Zeit.« Ich ließ mir die letzte Bemerkung des Piloten durch den Kopf gehen. Der Logiksektor meines Extrasinns meldete sich und teilte
Der Gralshüter von Gorrick mir mit, die Bemerkung könnte bedeuten, daß die Zeitabläufe auf der Erde und auf Atlantis unterschiedlich seien. Es wäre aber ebensogut möglich, daß sie nur so dahingesagt sei und keine tiefere Bedeutung besäße. »Warum bin ich angekettet?« erkundigte ich mich. »Soviel ich weiß, habe ich gegen kein Gesetz verstoßen. Und wie kann ich dich nennen?« Der Pilot wandte sich ab, nahm einige Schaltungen vor, dann drehte er sich wieder nach mir um. »Ich bin Kalkgraf«, erklärte er. »Ein Techno von Zbahn. Ob du gegen ein Gesetz verstoßen hast, weiß ich nicht, Atlan. Es interessiert mich auch nicht. Ich weiß nur, daß mein Herr sich für alles Ungewöhnliche interessiert – und du bist ungewöhnlich, denn du gehörst nicht nach Panyxan, wo wir dich und deinen Begleiter entdeckten.« »Wer ist dein Herr?« fragte ich. Doch darauf erhielt ich keine Antwort. Abermals warf ich einen Blick auf die Ebene von Kalmlech und auf die unübersehbaren Horden monströser Lebewesen. Obwohl ich die Einzelwesen noch immer nur undeutlich erkannte, vermochte ich mir vorzustellen, daß sie in der Lage gewesen wären, Schrecken und Chaos auf der Erde auszulösen. Allerdings nicht eher, als bis die irdische Zivilisation von einer globalen Katastrophe schwer erschüttert worden war. Diese Katastrophe – möglicherweise eine Art Sintflut – war eventuell durch die starken Schutzschirme verhindert worden, mit denen Atlantis isoliert worden war. Aber Kalkgraf hatte gesagt, Pthor hätte seine Macht noch nicht entfaltet. Ich mußte also damit rechnen, daß die Herren von Atlantis über Möglichkeiten verfügten, die Schutzschirme zu zerstören. »Was geschieht, wenn die Menschen der Erde sich gegen Pthor wehren?« fragte ich weiter. »Niemand kann den Herren der FESTUNG widerstehen«, antwortete Kalkgraf. Zum zweitenmal war der Begriff aufgetaucht: die Herren der FESTUNG. Sie
7 mochten identisch mit den Herren von Atlantis sein, aber ich wollte vorerst nicht weiter in dieser Richtung fragen, um nicht unnötig den Argwohn des Technos zu wecken. Als ich sah, daß der Pilot eine weite Schleife einleitete, erkundigte ich mich nach dem Zweck. »Die Zugors dürfen je nach Herkunft bestimmte Luftkorridore benutzen«, antwortete Kalkgraf diesmal bereitwillig. »Wenn ein Zugor aus den für ihn bestimmten Luftkorridoren gerät, stürzt er ab. Weite Teile von Pthor sind überhaupt für Zugors gesperrt.« Der Flugapparat, in dem ich mich befand, wurde als »Zugor« genannt – und die Zugors durften sich nicht frei über Atlantis bewegen. Ich kniff die Augen zusammen, als ich im Norden und Nordosten am Horizont eine Art dunkles Band sah, das sich durch die Ebene von Kalmlech zog. Eine Straße vielleicht? Ich stellte keine diesbezügliche Frage, denn wir flogen genau auf den nordöstlichen Abschnitt des Bandes zu, so daß ich bald Genaueres zu erkennen hoffte. Aber bevor es soweit war, zog Kalkgraf den Zugor wieder höher, so daß ich auch nur eine dunkle Linie erkannte, als wir das Band überflogen. Plötzlich wirbelte an einem Punkt dieser Linie eine Staubwolke auf. Ich spähte angestrengt hinunter, vermochte aber keine Einzelheiten zu erkennen. Von den monströsen Lebewesen der Horden der Nacht war jedenfalls in der Nähe des Bandes nichts zu sehen. Als ich eine entsprechende Bemerkung machte, meinte Kalkgraf: »Das Band dort unten ist jener Abschnitt der Straße der Mächtigen, der zwischen Orxeya und Zbahn liegt. Die Staubwolke scheint zu bedeuten, daß Honir wieder einen Kampf zu bestehen hat.« »Honir?« fragte ich. Aber der Techno schien nicht länger gewillt, meine Fragen zu beantworten. Er konzentrierte sich wieder ganz auf die Steuerung des Zugors. Erst nach einer Weile wandte er sich wie-
8 der nach mir um und erklärte: »Wir werden bald in Zbahn landen, Atlan.« Ich hatte mich auf den Boden des Fluggleiters gesetzt, um dem Fahrtwind nicht so stark ausgesetzt zu sein. Nach Kalkgrafs Ankündigung richtete ich mich wieder auf und blickte in Flugrichtung. Ich sah, daß der Zugor seinen Kurs abermals geändert hatte. Weit vor uns erblickte ich ein seltsames Bauwerk, um das andere, kleinere, Bauwerke angeordnet waren, und hinter den Bauten sah ich die weite, im Sonnenlicht und unter dem blauen Himmel bläulich schimmernde Oberfläche des Atlantischen Ozeans. Mir war, als könnte ich die an sich unsichtbare Grenze erkennen, die die Schutzschirme zwischen dem Machtbereich der Pthorer und dem der Terraner zogen. Es schien, als fiele dahinter der Ozean leicht ab. Doch das konnte nur eine optische Täuschung sein, hervorgerufen vielleicht durch die Einbildung, es müsse zwischen der Meereszone um Atlantis und dem freien Ozean dahinter einen Unterschied geben. Aber vergeblich hielt ich nach Menschen oder Werken der Menschen Ausschau. Ich wußte zwar, daß Menschen ihr Gedächtnis verloren, wenn sie sich Atlantis auf eine bestimmte Entfernung näherten. Deshalb wurde auch von den Behörden darüber gewacht, daß niemand derartige Versuche unternahm. Aber es gab robotgesteuerte Unterseekreuzer, die sich eigentlich bis unmittelbar an die Energiebarriere wagen konnten – und auch von ihnen war nichts zu entdecken. Es sah aus, als befände sich Atlantis als einzige bewohnte Landmasse auf der Oberfläche der Erde. Ein unheimliches Gefühl beschlich mich. Möglicherweise nahm ich die von Atlantis ausgehende Drohung nicht ernst genug. Als ich sah, daß der Zugor zur Landung ansetzte, blickte ich auf die Bauwerke von Zbahn. Ich wußte nicht, was mich dort erwartete, aber ich war entschlossen, alles zu tun, um mehr über die Mächte zu erfahren, die hinter dem Auftauchen von Atlantis
H. G. Ewers standen.
2. ALCHIMISTEN UND TECHNIKER Mannan blieb im Schatten eines halbverfallenen Gebäudes stehen und sah sich um. Die Sonne stand hoch am Himmel und brütete über dem Elendsviertel, in dem sich um diese Tageszeit nichts regte. Nur handlange Nager huschten beinahe lautlos auf der Suche nach Abfällen umher, die von Fliegenschwärmen übersät waren. Der Geruch war abscheulich. Mannan nahm den Geruch allerdings nicht wahr, denn er hatte sich selbstgefertigte Filter in die Nase gesteckt. Aber er sah den Unrat und die Tiere und empfand Ekel. Als sein Blick auf den Patorgh fiel, wünschte er, er wäre bereits wieder dort. Der Patorgh im Zentrum von Zbahn war ein kolossales Bauwerk, dessen Form an ein Schneckenhaus erinnerte – allerdings an ein Schneckenhaus, dessen Grundfläche einen Durchmesser von fünfhundert Metern besaß und dessen oberer Abschluß zweihundert Meter über dem Boden lag. Aus dem basaltgrauen Material traten an manchen Stellen die blutroten Eisenstäbe hervor, die beim Bau in glühendem Zustand eingeführt worden waren. Mannan seufzte. Der Patorgh war seine Heimat, auch wenn er dort nicht wohnte, sondern nur arbeitete. Aber für ihn bedeutete die Arbeit den einzigen sinnvollen Gehalt seines Lebens – und dementsprechend hielt er sich meist in seinem Labor auf. Es gab noch andere Arbeitsstätten innerhalb des Patorghs, beispielsweise weitere Labors, aber auch die Grundstofflager mit ihren vielen geheimnisvollen Substanzen, die aus den Extrakten von Mineralien und Pflanzen zahlloser unterschiedlicher Welten gewonnen worden waren. Außerdem arbeiteten viele Technos in Werkstätten und Montagehallen, wo sie die Fronarbeit von Sklaven überwachten – und tief unter dem
Der Gralshüter von Gorrick Patorgh lagen die Verliese, in denen die Sklaven nach der Arbeit schliefen. Doch nicht alle Sklaven schliefen dort. Obwohl weder die Diebe noch das andere Gesindel, die zwischen und außerhalb der Vorstädte hausten – wie beispielsweise in dem Elendsviertel, in dem sich Mannan gerade befand – normalerweise Sklaven in ihrer Nähe duldeten, hausten einige dieser von einer fremden Welt entführten Lebewesen hier. Es waren Sklaven, die zu alt für die Arbeit im Patorgh geworden waren und durch Unfälle und Mißhandlungen Verkrüppelte. Sie fristeten ihre meist nur noch kurze Restspanne des Lebens in den entlegensten Winkeln von Ruinen und schienen seltsamerweise von Dieben und Straßenräubern mit Lebensmitteln versorgt zu werden. Mannan vermutete, daß manche von ihnen über besondere Fähigkeiten verfügten, die sie ihren Almosengebern zur Verfügung stellten. Von einem der ausrangierten Sklaven wußte Mannan, daß er über besondere Fähigkeiten verfügte. Es war ein Gorrick, der einst in seinem Labor gearbeitet hatte. Er hieß Ichtbar und hatte mehrmals dadurch Aufsehen erregt, daß er das Ergebnis chemischer Versuche vorhergesagt hatte, bevor Mannan es errechnen konnte. Allerdings kam Mannan nicht ohne weiteres an Ichtbar heran. Die Gesetzlosen, die in den Elendsvierteln lebten, ließen keinen Außenstehenden in ihre Bezirke, die sie auch untereinander erbittert verteidigten. Aber Mannan wußte, wie er diese Klippe umschiffen konnte. Als zu seiner Linken ein Geräusch zu hören war, fuhr er herum, die rechte Hand um den Sprühbeutel gespannt, mit dem er den Geist eines eventuellen Angreifers für einige Stunden verwirren konnte, wenn er ihm ein wenig der selbstgebrauten Flüssigkeit auf die Haut sprühte. Er mußte nur darauf achten, daß er selber nichts davon abbekam. Aber es war kein Angreifer, der da aus einer Mauerlücke trat, sondern der Dieb, den Mannan an diesem Ort erwartet hatte. Mäjesto war nur ein kleiner Dieb – und das so-
9 wohl körperlich als auch in übertragenem Sinne –, aber er hatte manchmal als Mittelsmann für Mannan gearbeitet, wenn es darum ging, gestohlene Ware von einer Diebesbande gegen den halben Handelspreis zurückzukaufen. Mäjesto zuckte ängstlich zusammen, als er den Sprühbeutel in Mannans Hand sah. Aber dann erkannte er den Labortechno, und sein Gesicht legte sich in zahllose Falten, womit er ein freundliches Lächeln demonstrieren wollte. Unterwürfig näherte er sich Mannan, aber sein Blick wirkte keineswegs unterwürfig, sondern zeugte von einer Art Bauernschläue. »Was hast du mir mitgebracht, Mannan?« fragte er. Mannan blickte den kleinen, mageren Dieb hochmütig an. »Hast du den Weg zu Ichtbar überprüft, Mäjesto?« fragte er. »Ja, und er ist noch für eine Stunde frei, Mannan«, antwortete der Dieb. Zögernd setzte er hinzu: »Belohnungen werden bei uns vorher kassiert.« Mannan steckte den Sprühbeutel in sein Gewand zurück. Als seine Hand wieder zum Vorschein kam, hielt sie den Griff eines Dolches mit halbmondförmig gekrümmter Klinge umklammert. Mäjesto wich erbleichend zurück, aber Mannan sagte ironisch: »Das ist deine Belohnung, Mäjesto – und ich habe nicht vor, sie dir durch die Kehle zu ziehen. Dennoch rate ich dir, keinen Betrug zu versuchen. Auch Verrat würde dir schlecht bekommen. Ich habe vorgesorgt.« Er hielt dem Dieb den Dolch auf der flachen Hand hin. Mäjesto griff hastig danach, fuhr prüfend mit einem Finger über die Klinge, nickte zufrieden und ließ den Dolch zwischen den Falten seines weiten Gewandes verschwinden. »Danke, Mannan. Das scheint eine gute Waffe mit einem vortrefflichen Zauber zu sein. Ich pflege meine Geschäftspartner weder zu verraten noch zu betrügen, brauche also keine Rache zu fürchten. Folge mir, bit-
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H. G. Ewers
te!« Er wandte sich um und verschwand wieder in der Mauerlücke, durch die er gekommen war. Mannan folgte ihm durch einsturzgefährdete Ruinen, über schiefe Treppen und durch modrig riechende Gewölbe. In den Gewölben herrschte Dämmerlicht, ohne daß eine Lichtquelle zu sehen gewesen wäre. Mannan erinnerte sich, daß diese Bauten in einer weit zurückliegenden Epoche von Sklaven einer fremden Welt errichtet worden waren und daß sie eine Magie verwendet hatten, die in Vergessenheit geraten war. Als sie eine kleine rechteckige Kammer erreichten, blieb Mäjesto stehen und sagte: »Wir sind am Ziel, Mannan!«
* Mannan spähte in die Kammer, die ebenfalls in Dämmerlicht getaucht war. Er erkannte Mauerwerk, aus dessen Fugen teilweise grauweiße Kristalle quollen. Sofort erwachte in ihm der Gedanke, sich einige dieser Kristalle anzueignen und zu untersuchen. Doch er verdrängte ihn, denn er war zu einem ganz anderen Zweck hergekommen. Im Hintergrund der Kammer kauerte auf einer schmutzigen Matte ein beinahe nacktes Lebewesen, das nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen schien. Es hätte mitleiderregend gewirkt, wenn nicht die Augen gewesen wären, die trotz der fehlenden Iris und Pupillen in ihrem makellosen Weiß auf undefinierbare Art dominierend wirkten. Sie richteten sich auf Mannan, obwohl sie ihrem Träger keine optischen Eindrücke vermitteln konnten. Alle Gorricks, wie die Sklaven der Technos hießen, waren blind – und stumm. Mannan wußte, daß der Gorrick ihn erkannte, auch ohne ihn zu sehen. Außerdem hatte Mäjesto seinen Namen genannt – und taub waren die Gorricks nicht. Mannan hatte allerdings Mühe, in dem abgemagerten Gorrick seinen früheren Laborsklaven wiederzuerkennen. Ichtbar war früher gutgenährt gewesen. Er mußte inzwischen schlimme Zeiten durchgemacht ha-
ben. Doch das interessierte Mannan nur am Rande. Er trat in die Kammer, ging vor dem Gorrick in die Hocke und sagte: »Pthor hat auf dem Planeten Erde angehalten, Ichtbar. Das ist unwichtig für dich und vorläufig auch für mich. Aber ich weiß, daß die Chemie der Erde anders funktioniert als die Chemie von Pthor – jedenfalls teilweise. Angeblich soll außerhalb des Wölbmantels keine Magie erforderlich sein, um chemische Prozesse in nutzbare Bahnen zu lenken. Es interessiert mich, wie das geschehen kann. Da du von einer Welt kommst, auf der es angeblich ebenfalls keine Magie gegeben haben soll, kannst du mir vielleicht helfen.« Ichtbar machte eine zustimmende Geste. Er hatte während seiner Sklavenzeit eine Zeichensprache gelernt, mit der er sich recht gut ausdrücken konnte. Mannans Augen leuchteten zufrieden auf. »Gut«, sagte er. »Nehmen wir als Beispiel die Herstellung von reinem Eisen aus sogenanntem Eisenerz, in dem Eisen mit Sauerstoff fest verbunden ist. Wir Labortechnos reißen den Sauerstoff mit Hilfe des blauen Leuchtens und geheimer magischer Handlungen aus dem Eisenerz. Wie würden die Erdbewohner, die sich Menschen oder Terraner nennen, das gleiche Resultat ohne Magie erzielen?« Da der Gorrick eine solche Frage selbstverständlich nicht mit Hilfe der Zeichensprache beantworten konnte, hielt Mannan ihm eine Schreibtafel und einen Schreibstift hin. Ichtbar kritzelte eine einfache Formel auf die Tafel und reichte sie dem Labortechno zurück. Mannan las: »Fe2O3 u. 3 C ist 3 CO u. 2 Fe.« Verwundert blickte er von der Tafel auf. »Die Erdbewohner führen dem Eisenerz Kohlenstoff hinzu und erhalten als Produkte Kohlenmonoxid und reines Eisen?« Ichtbar machte eine bejahende Geste. »Aber es gehören magische Kräfte dazu,
Der Gralshüter von Gorrick um das Eisenerz zu veranlassen, seinen Sauerstoff an zugeführten Kohlenstoff abzugeben«, wandte der Labortechno ein. Der Gorrick machte eine verneinende, dann eine auffordernde Geste und hielt seinem Gesprächspartner die Hand hin. Als Mannan ihm die Schreibtafel zurückgab, schrieb er eine Erläuterung darauf. Mannan las: »Durch Hinzufügen von Kohlenstoff und sehr starke Erhitzung findet eine chemische Verbindung zwischen dem Kohlenstoff und dem Sauerstoff des Eisenerzes statt. Aus dem Kohlenstoff wird Kohlenmonoxid. Übrig bleibt reines Eisen. Das ist das Prinzip – und statt Magie wird die Kraft des Feuers verwandt.« Nachdenklich blickte Mannan von der Tafel zu dem ehemaligen Sklaven. Die Antwort war aufschlußreich gewesen, aber sie warf unzählige neue Fragen auf. Im Grunde genommen war es unwichtig, ob Mannan die Antworten auf alle sich ergebenden Fragen fand, denn der Aufenthalt von Pthor auf der Erde war zeitlich beschränkt – und danach würde es vielleicht den Anfang einer neuen irdischen Kultur geben, die sich ebenfalls der Magie bediente. Das Interesse des Labortechnos war lediglich privater Natur. Möglicherweise sollte ich nicht zu neugierig sein! überlegte Mannan. Er hätte gern etwas darüber erfahren, wie auf amagischen Welten die Kräfte des Atoms nutzbar gemacht wurden, aber da erinnerte er sich daran, daß er den Besuch bei Ichtbar nur als Abstecher auf dem Weg zu seinem eigentlichen heutigen Ziel eingeplant hatte. »Ich danke dir, Ichtbar«, sagte er und ließ in die Hand des ehemaligen Sklaven ein Döschen mit einem Pulver gleiten, das Ichtbar früher gern geschnupft hatte. »Wenn ich wiederkomme, werden wir noch einiges zu besprechen haben.« Ichtbar schloß seine knochige Hand um das Döschen, ansonsten bewegte er sich nicht, bis sein früherer Herr ihn verlassen hatte. Danach öffnete er das Döschen und führte seiner Nase mit zitternden Fingern
11 zwei große Prisen des weißen Pulvers zu. Anschließend sank er mit einem entrückten Lächeln zurück.
* Als Mannan den Patorgh betreten hatte, wandte er sich nicht in die Richtung, in der die Labors von Aminomeister, seines Herrn, lagen. Er ging vielmehr in die entgegengesetzte Richtung. Nach wenigen Minuten betrat er einen Lagerraum und öffnete eine in die Wand eingelassene Geheimtür. Ungefähr eine halbe Stunde später stand er in einer winzigen Kammer, in der außer ihm nur ein seltsames Gestell Platz hatte, in dem der MAGISCHE SPIEGEL aufgehängt war. Der MAGISCHE SPIEGEL war das Endglied in der Kette eines Systems von sieben Spiegeln, die innerhalb des Patorghs in bestimmter Weise angeordnet waren, und zwar so, daß sie die unsichtbaren Strahlungen auffingen, die durch die Anwendung technisch orientierter Magie entstanden. Das Ergebnis wirkte so, wie auf einer anderen Welt – beispielsweise auf der Erde und außerhalb des Einflußbereichs Pthors – ein System gewirkt hätte, das aus mehreren Fernsehkameras und einem Bildschirm bestand. Nur wirkte es in diesem Fall plastischer. Für Mannan entstand nach einer Zeitspanne äußerster Konzentration der Eindruck, als stünde er körperlich zwischen den Objekten, die ihm der MAGISCHE SPIEGEL zeigte. Und sogar die Geräusche, die von den Objekten beziehungsweise Subjekten hervorgerufen wurden, vermochte er zu hören. Es war eine große, in düsteres Licht getauchte Halle, die vom MAGISCHEN SPIEGEL gezeigt wurde. In ihr standen Hunderte angeketteter humanoider Lebewesen – Gorricks wie Ichtbar –, die mit silberfarbenen Werkzeugen Gegenstände bearbeiteten beziehungsweise zusammenbauten. Ihre Augen waren so blind wie die aller Gorricks – jedenfalls aller, die Mannan je gesehen hatte.
12 Zwischen den Sklaven schritten hochgewachsene kräftige Technos in zweiteiligen Lederrüstungen mit gepanzerten Brustplatten, auf denen Symbole prangten. Sie erteilten mit halblauten Stimmen Anweisungen, die von den Sklaven widerspruchslos befolgt wurden. Trotz der emsigen Tätigkeit war es relativ still in der Halle. Die Werkzeuge arbeiteten in den Händen der Gorricks beinahe lautlos. Nur manchmal ertönte ein leises Klirren, und die Anweisungen der Technos klangen so ähnlich wie das Murmeln eines entfernten Baches. Mannans Blick richtete sich nach einiger Zeit auf eine Empore hoch über dem Boden der Werkstatthalle. Dort thronte auf einem gewaltigen Sessel aus schimmerndem Stahl die hünenhafte Gestalt eines anderen Technos. Dieser Techno war erheblich älter als die anderen, die den Sklaven Anweisungen erteilten. Er unterschied sich von ihnen außerdem durch seine Kleidung, die nicht in dem schmucklosen Braun gehalten war wie die der normalen Technos, sondern in Purpur und Gold glänzte. Der Brustschild auf seinem Lederharnisch bestand aus massivem Silber, das in Pthor wertvoller war als Gold, weil es vielseitiger verwendet werden konnte. Es zeigte die Reliefdarstellung zweier Werkzeuge. Mannan wußte, wer dieser Mann war. Er durfte sich Eisenkaiser nennen und war Herr über die Technos der Magophysik. Gleichzeitig war er der erbitterte Konkurrent von Mannans Herrn Aminomeister und Herrn über die Technos der Magochemie. Aus diesem Grund befand sich Mannan auch vor dem MAGISCHEN SPIEGEL. Er sollte im Auftrag von Aminomeister herausfinden, ob die Technos von Eisenkaiser sich mit neuen Erfindungen befaßten. Eisenkaiser befand sich im Zustand der Halbtrance und schien seine Technos und Sklaven nicht zu beachten. Dennoch entging ihm augenscheinlich nichts, was in seiner Werkstatt geschah, denn ab und zu rief er
H. G. Ewers seinen Technos Anweisungen zu, die diese an ihre Sklaven weitergaben. Mannan kannte den Grund für den Zustand, in dem sich Eisenkaiser befand. Nur in Halbtrance vermochte er eine Art telepathischer Verbindung zu den Initiatoren herzustellen. Die Initiatoren ihrerseits standen in Verbindung mit den Herren der FESTUNG, erhielten Anweisungen von ihnen und gaben sie an Eisenkaiser und andere führende Technos von Zbahn und Zbohr weiter. Plötzlich öffnete sich im Hintergrund der Werkstatt eine Tür. Augenblicklich erwachte Eisenkaiser aus seiner Halbtrance. Er wandte den Kopf und richtete seine Augen auf die hochgewachsene Gestalt in zweiteiliger Lederrüstung, die durch die Tür getreten war und mit festen Schritten auf den Platz unterhalb der Empore zuging. Obwohl alle Technos sich so ähnlich wie Brüder sahen, erkannte Mannan den Techno Kalkgraf, der ein Vertrauter Eisenkaisers war und oft mit Sonderaufgaben betraut wurde. Offenbar war er soeben von einer Mission zurückgekehrt. Kalkgraf blieb unterhalb der Empore stehen und blickte zu Eisenkaiser auf. »Du kannst sprechen!« erklärte Eisenkaiser gönnerhaft. »Ich bin soeben mit meinen Leuten aus Panyxan zurückgekehrt, Eisenkaiser«, berichtete Kalkgraf. »Wir haben dort zwei seltsame Männer aufgegriffen und als Gefangene mitgebracht. Ich vermute, daß es sich bei ihnen um Besucher von der Erde handelt, denn einer von ihnen, er nennt sich Atlan, sieht irgendwie anders aus als alle anderen Bewohner von Pthor. Der andere Gefangene allerdings besitzt Merkmale, wie sie auf die Mitglieder der Familie Knyr zutreffen, die am Fuß des Taambergs gelebt hat.« Eisenkaiser richteten sich auf. Sofort erstarrten die Sklaven mitten in ihren Bewegungen. Ihre eben noch silbern schimmernden Werkzeuge nahmen einen stumpfgrauen Farbton an. Die Technos, die sie beaufsichtigten, hockten sich wartend auf
Der Gralshüter von Gorrick den Boden. »Wo sind die Gefangenen?« fragte Eisenkaiser mit kraftvoller Stimme. »Sie werden eben in das Verlies unter dieser Halle eingeliefert, Eisenkaiser«, antwortete Kalkgraf. »Führe mich zu ihnen, Kalkgraf!« befahl Eisenkaiser. »Und sorge dafür, daß Befragungsmeister nachkommt!« Als Eisenkaiser und Kalkgraf die Werkstatt verließen, hielt es Mannan nicht länger vor dem MAGISCHEN SPIEGEL. Wenn es stimmte, daß die beiden Gefangenen von der Erde gekommen waren, mußte Aminomeister so schnell wie möglich informiert werden, denn die Befragung der Gefangenen verschaffte Eisenkaiser vielleicht Informationen, die ihm Vorteile gegenüber Aminomeister einbrachten …
3. IN DEN VERLIESEN DES PATORGHS Zwei andere Technos hatten mich von den Ketten im Innern des Zugors befreit, mir aber draußen gleich andere Ketten angelegt. Ich achtete jedoch weniger darauf als auf das riesige und seltsame Bauwerk, vor dem die Zugors gelandet waren. In der Form glich es dem rundlichen Gehäuse einer terranischen Weinbergschnecke, das auf der glatten Seite lag und die sich verjüngenden Windungen nach oben streckte. Aber seine Unterseite hatte einen Durchmesser von mindestens fünfhundert Metern, während die Spitze zirka zweihundert Meter über dem Boden lag. Das Material des Bauwerks sah aus wie grobporiger dunkelgrauer Basalt, wodurch das Gebilde den Eindruck erweckte, als wäre es tatsächlich das versteinerte Gehäuse einer gigantischen Schnecke, das für Wohn und andere Zwecke nutzbar gemacht worden war. Hier und dort traten schmale blutrote Streifen an die Oberfläche. Sie wirkten wie später hinzugefügt. Ich vermochte allerdings nicht zu erkennen, woraus sie bestanden. Gegen die Annahme, vor dem versteiner-
13 ten Gehäuse einer Riesenschnecke zu stehen, sprachen allerdings die sechs gleichartigen, nur erheblich kleineren Bauwerke, die ich aus der Luft gesehen hatte und die in gleichen Abständen rings um das Hauptgebäude angeordnet waren. Jedoch konnten auch sie auf natürliche Weise entstanden und erst lange danach zu ihren heutigen Standorten transportiert worden sein. Ich wandte den Kopf, als ich schräg hinter mir das Klirren von Ketten vernahm. Das Klirren war von den Ketten gekommen, mit denen Razamons Hände aneinander gefesselt worden waren. Auch er wurde von zwei Technos bewacht. Seine dicht beieinander stehenden schwarzen Augen funkelten zornig. Er empfand seine Gefangenschaft offenkundig als entwürdigend. Ich nickte ihm zu und schaute mich nach dem Parraxynt um, dem bruchstückhaften Artefakt, das von Pthor stammen sollte und das Razamon mit nach Atlantis gebracht hatte. Doch es war nirgends zu sehen. Entweder hatten die Technos, die uns gefangennahmen, es in Panyxan zurückgelassen, oder sie bewahrten es noch in einem der Zugors auf. Razamon verstand, warum ich mich umsah. »Es befindet sich noch in dem Zugor, in dem ich geflogen bin«, erklärte er. Seine Augen blitzten. »Ich werde jeden umbringen, der sich an ihm vergreift.« »Mit gefesselten Händen?« fragte ich ironisch, konnte aber ein Schaudern nicht unterdrücken. Ich hatte nicht vergessen, was Razamon mir auf der Erde berichtet hatte – soweit seine Erinnerungen nicht gelöscht waren. Danach hatte er einst zu den Berserkern von Pthor gehört, jenen Lebewesen, die dazu bestimmt waren, mit ihren gewaltigen Kräften auf die Bewohner zivilisierter Welten losgelassen zu werden, um in blinder Raserei, der »Berserkerwut«, alles zu zerstören, was ihnen in den Weg kam. Zwar war Razamon während seines langen Lebens auf der Erde und zwischen den Menschen weitgehend »vermenschlicht« worden, aber ab und zu brach »es« doch wieder über ihn herein.
14 Auf der Erde pflegte er sich dann in sein Haus zurückzuziehen, um seine Berserkerwut in einer Stahlkammer auszutoben. Hier aber gab es keine Stahlkammer, in die er sich zurückziehen konnte. Ich zweifelte nicht daran, daß er seine Fesseln zerreißen und unsere Wächter niederschlagen konnte, wenn das Böse in ihm hervorbrach, aber damit hätten wir sicher nichts gewonnen. Razamon schien meine Befürchtung zu ahnen, denn sein verzerrtes Gesicht glättete sich wieder. »Noch kann ich mich beherrschen, Atlan«, sagte er. Aus der Richtung des riesigen Bauwerks kam ein harter Zuruf. Als ich mich umsah, erblickte ich einen weiteren Techno. Er winkte unseren Wächtern, die uns daraufhin in Richtung des Bauwerks trieben. Sie gingen dabei nicht gerade zartfühlend vor, aber auch nicht bösartig. Mir schien es eher, als wäre es ihnen völlig gleichgültig, was mit uns geschah. Zuerst dachte ich, der Techno bei dem Bauwerk wäre Kalkgraf, doch als wir näher kamen, merkte ich, daß es sich um einen anderen Techno handelte. Diese Männer sahen sich so verblüffend ähnlich, daß man sie erst aus der Nähe und bei genauem Hinsehen voneinander unterscheiden konnte. »Wohin bringt ihr uns?« fragte ich einen der Wächter. »Zuerst in den Patorgh von Zbahn, dann wird Eisenkaiser entscheiden, was mit euch geschehen soll«, antwortete einer der Technos. Das Bauwerk wurde also »der Patorgh« genannt. Aber wer war Eisenkaiser? Ich blickte Razamon fragend an, aber der Atlanter zuckte nur die Schultern. Wenn er früher gewußt hatte, wer Eisenkaiser war, dann gehörte diese Information zu jenen, die ihm genommen worden waren, als er auf die Erde verbannt wurde. Immer wieder fragte ich mich, warum ich damals – vor zehntausend Jahren –, als der Inselkontinent Atlantis und mit ihm die arkonidische Kolonie auf dem Planeten Erde
H. G. Ewers untergegangen war, nicht das geringste vom Auftauchen Pthors bemerkt hatte. Razamon hatte es mir bereits erklärt. Seines Wissens und nach seinen Berechnungen war Atlantis vor zehntausend Erdjahren durch den Druck untergegangen, den Pthor aus dem Korridor der Dimensionen auf den Inselkontinent ausgeübt hatte, bevor Pthor selbst materialisierte. Die verlustreichen Kämpfe der arkonidischen Flotte gegen die Druuf, die aus einem anderen Universum heraus angriffen, hatten verhindert, daß sich das Große Imperium länger mit dem Schicksal der Erde und dem Inselkontinent befaßte. Nachdem ich in meiner Tiefseekuppel bei den Azoren in Sicherheit gebracht worden war – nicht ahnend, daß ich einer zehntausendjährigen Verbannung entgegenging –, war Pthor über dem untergegangenen Atlantis materialisiert. Kein Arkonide hatte den Vorgang beobachten können, denn die Raumschiffe des großen Imperiums waren durch die Druuf vernichtet oder geflohen – und ich selbst befand mich zu diesem Zeitpunkt bereits in einem künstlichen Tiefschlaf, der erst lange nach der Invasion von Pthor enden sollte. Trotz aller Erklärungen Razamons aber hätte ich ihm wahrscheinlich nicht alles geglaubt, wenn Pthor – beziehungsweise das Neue Atlantis – nicht tatsächlich aufgetaucht wäre, um die menschliche Zivilisation auf der Erde zu zerstören. Ich schaltete diese quälenden Gedanken ab, als unsere Wächter uns durch ein Tor am Fuß des Patorghs stießen. Die bevorstehende Begegnung mit Eisenkaiser erregte mich. Vielleicht erfuhr ich dabei mehr darüber, wie die nach außen gerichtete Vernichtungsmaschinerie Pthors funktionierte und welche Möglichkeiten es gab, sie unschädlich zu machen – denn ich ahnte, daß die Mächte, die Pthor regierten, stärker waren, als die übrigen Verantwortlichen des Solaren Imperiums annahmen.
* Als Mannan die Halle des Großlabors be-
Der Gralshüter von Gorrick trat, schlugen ihm vielfältige Gerüche entgegen. Über den zahlreichen Feuerstellen, auf denen blaue Flammen tanzten, hingen große eiserne Kessel, gläserne Kolben und andere gläserne Apparaturen, in denen es zischte und brodelte. Verschiedenfarbige Dämpfe stiegen empor und schwängerten die Luft in der riesigen Halle. Zwischen den Feuerstellen und den Wandregalen bewegten sich zahlreiche blinde und stumme Sklaven, die an langen dünnen Ketten festgebunden waren. Sie holten getrocknete Kräuter, mumifizierte Kleintiere, pulverisierte Minerale und in Flaschen gefüllte Destillate aus den Regalen und fügten sie nach den Anweisungen der überwachenden Labortechnos in die Behälter über den Feuerstellen. Andere Sklaven rührten mit gläsernen Stäben in den Kesseln, hantierten mit Glaskolben und Destillierapparaten. Wieder andere zerstießen mit silbernen Stampfern in goldenen Mörsern irgendwelche Drogen, während andere mit Tiegelzangen verschlossene Tontiegel in die blauen Flämmchen der Feuerstellen hielten. Mit dem Rücken zu einem offenen Kamin, in dem ein echtes Holzfeuer brannte – jedenfalls sah es echt aus –, saß ein massiger Techno in einem mit kostbaren Pelzen aus den Fellen choonischer Flughunde bezogenen Sessel. Das ausdruckslose Gesicht verriet, daß er sich ebenso in Halbtrance befand wie Eisenkaiser in der Werkstatt, die ebenfalls im Patorgh lag. Ab und zu erteilte der Techno mit gedämpfter Stimme Befehle an die anderen Technos, die sie an die Sklaven weitergaben. Mannan näherte sich langsam dem Mann im Sessel. Er wußte, daß er Aminomeister nicht in einer Konzentrationsphase stören durfte, denn die Anweisungen, die er von den Initiatoren empfing, mußten von ihm erst in die Fachsprache der Magochemie übersetzt werden, damit ihre Ausführung den beabsichtigten Effekt erzielte. Andererseits durfte Mannan mit der Überbringung seiner Information nicht zu lange warten,
15 denn erhielt Aminomeister sie zu spät, würde er den Überbringer dafür verantwortlich machen und entsprechend bestrafen. Endlich erkannte Mannan an dem wechselnden Gesichtsausdruck, daß Aminomeister keine weiteren Anweisungen der Initiatoren empfing. Er räusperte sich. Aminomeister erwachte aus seiner Halbtrance. Sein Gesicht wirkte finster. »Was störst du mich, Mannan?« fragte er. »Verzeih bitte, Aminomeister!« bat Mannan unterwürfig. »Aber ich habe eine wichtige Information zu überbringen. Ich beobachtete die Hauptwerkstatt Eisenkaisers und wurde dabei Zeuge, wie Kalkgraf dort erschien und seinem Herrn meldete, daß er zwei seltsame Gefangene mitgebracht hat.« »Zwei Gefangene?« fragte Aminomeister verwundert. »Seit wann läßt Eisenkaiser Gefangene machen? Soviel ich weiß, schickt er seine Technos immer nur zu den Guurpel von Panyxan. Ich wüßte nicht, warum ein paar dieser einfältigen Fischer gefangengenommen worden sein sollten.« Mannan trat noch einen Schritt näher an Aminomeister heran und flüsterte: »Kalkgraf vermutet, daß es sich bei den Gefangenen um Besucher von der Erde handelt.« »Besucher von der Erde?« wiederholte Aminomeister nachdenklich. »Die Erdmenschen haben Pthor mit Energieschirmen abgeriegelt und sich dadurch vorerst vor dem Untergang ihrer Zivilisation bewahrt. Aber wie können dann zwei Erdmenschen den Energieschirm durchdringen und nach Pthor kommen?« »Wir könnten es von ihnen erfahren, Aminomeister«, erwiderte Mannan. »Du brauchst nur zu befehlen, daß wir die Fremden unserem Rivalen entreißen. Übrigens sagte Kalkgraf noch, daß einer der Gefangenen wie ein Mitglied der Familie Knyr aussähe, die am Fuß des Taambergs gelebt hat.« Aminomeister erhob sich. »Hole mir die Gefangenen, Mannan!« befahl er. »Bringe sie zum Umwandler! Ich werde dort auf euch warten.«
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H. G. Ewers
»Ich eile, Aminomeister!« versicherte Mannan – und setzte sein Versprechen sofort in die Tat um. Aminomeister rief einige Befehle, dann folgte er seinem Vertrauten. Die Technos gaben die Befehle an die Sklaven weiter, die daraufhin ihre Arbeiten unterbrachen. Nur die blauen Flämmchen flackerten weiter und hüllten die reglos dastehenden Sklaven und die auf dem Boden hockenden Technos in gespenstisches Licht.
* Die Technos führten uns durch mehrere gewundene Gänge, die von birnenförmigen Lampen in blaues Licht getaucht wurden. Ich musterte die an der Decke befestigten Lampen genau, vermochte aber weder Zuleitungsrohre für Gas noch Stromkabel zu entdecken. Die birnenförmigen Leuchtkörper schienen einfach an die dunkelgraue poröse Decke geklebt zu sein. Woher die Energie beziehungsweise der Energieträger kam, der ihr Leuchten ermöglichte, war nicht zu erkennen. Nach einiger Zeit ging es eine ausgetretene Wendeltreppe hinab. Wieder einmal fragte ich mich, weshalb Pthor für die Welten, auf denen es materialisierte, eine Gefahr darstellen sollte, die die betreffenden Zivilisationen bedrohte, obwohl die auf Pthor lebenden Wesen nur recht bescheidene technische Erzeugnisse besaßen. Dennoch zweifelte ich nicht daran, daß Pthor die irdische Zivilisation auslöschen konnte, wenn es den Pthorern gelang, die Paratronschutzschirme rings um das Neue Atlantis zu zerbrechen. Entweder beruhte die Macht der Herren von Atlantis nicht auf wissenschaftlichtechnischen Errungenschaften, sondern auf etwas anderem, von dem weder die Verantwortlichen draußen noch ich etwas ahnten, oder ihre Macht war nur ein Schreckgespenst. Es ging zirka hundert Meter hinab. Danach kamen wir in ein langgestrecktes Gewölbe, in dessen Wände Gittertüren einge-
lassen waren. Hinter den Gittertüren lagen Zellen, wie ich sie aus terranischmittelalterlichen Burgverliesen kannte. Nur gab es hier keine faulenden Strohschütten, sondern fleckige Plastikmatten – und die Luft war nicht modrig, sondern frisch und wurde ständig bewegt. Unsere Bewacher sperrten Razamon und mich in zwei gegenüberliegende Zellen. Sie schlossen die Gittertüren mit silberfarbenen Schlüsseln ab. Als die Technos sich zum Gehen anschickten, rief Razamon zornig: »Was sollen wir hier? Ich denke, wir sollen zu Eisenkaiser gebracht werden.« Einer der Technos drehte sich um und erwiderte: »Kalkgraf hat Eisenkaiser eure Ankunft gemeldet. Ihr werdet nicht lange auf Eisenkaiser zu warten brauchen und euch vielleicht wünschen, ihm niemals begegnet zu sein, wenn er euch erst verhört.« Razamon rüttelte an den Gitterstäben seiner Zelle, hörte aber auf, als ich ihm einen warnenden Blick zuwarf. Als die Technos gegangen waren, sagte ich: »Kannst du dich an Eisenkaiser erinnern, Razamon?« »Nein, Atlan«, antwortete der Atlanter. »Ich habe auch nicht den Eindruck, als hätte ich früher etwas über ihn gehört. Aber das bedeutet nicht viel. Als Berserker hatte ich sicher Zugang zu den wesentlichen Informationen. Kleinigkeiten am Rande aber werden mir oft entgangen sein.« »Ich möchte wissen, welche Rolle der Patorgh und Eisenkaiser in der Hauptfunktion von Pthor spielen«, erklärte ich und zog prüfend an den Gitterstäben meiner Tür. Sie kamen mir sehr massiv vor und bestanden weder aus Gußeisen noch aus gewöhnlichem Stahl. Obwohl sie sich wie Stahl anfühlten, waren sie von blutroter Farbe – und das erinnerte mich an die blutroten Streifen, die ich an manchen Stellen der Oberfläche des Patorghs gesehen hatte. »Alles auf Pthor hat seinen bestimmten
Der Gralshüter von Gorrick Platz und seine bestimmte Funktion im Rahmen der Bestimmung dieses Vernichtungsinstruments«, erwiderte Razamon. Abermals rüttelte er an den Gitterstäben seiner Zelle, diesmal stärker als zuvor. Aber die Stäbe gaben keinen Millimeter nach. Ich trat einen Schritt von meiner Tür zurück und band meine rechte Sandale fester. Danach trat ich mit aller Kraft gegen das primitiv wirkende Schloß meiner Zelle. Meiner Meinung nach mußte es sich herausbrechen lassen. Aber nachdem ich so oft dagegen getreten hatte, daß mein Fuß schmerzte, war es immer noch unversehrt. Ich gab es auf. Dafür versuchte ich, das Schloß einer genauen Musterung zu unterziehen. Aber ich war noch nicht weit damit gekommen, als ich Schritte hörte, die sich uns näherten. Ob das Eisenkaiser war? Ich sah an mir herab. In dem weiten Gewand aus netzartigem Gewebe, das ich von den Guurpel erhalten hatte, kam ich mir lächerlich vor. Auf jeden Fall aber fand ich die Kleidung entwürdigend, obwohl ich damals bei den Guurpel froh gewesen war, mich mit ihr bedecken zu können. Sekunden später wurden im Gewölbe mehrere Technos sichtbar. Fünf Bewaffnete schritten voran; hinter ihnen erkannte ich Kalkgraf – und hinter Kalkgraf stapfte die hünenhafte Gestalt eines anderen Mannes, dessen zweiteilige Rüstung in Purpur und Gold glänzte und der einen silbernen Brustschild auf dem Lederharnisch trug. Das mußte Eisenkaiser sein! Beinahe hätte ich die achte Gestalt übersehen. Sie trug ebenfalls die Kleidung eines Technos, war aber klein und unscheinbar. Seine dürren spinnenfingrigen Hände hielten einen kleinen schwarzen Kasten und preßten ihn an die Brust. Gefahr! signalisierte mir mein Extrasinn. Von dem kleinen schwarzen Kasten strahlt die Aura von Gefahr aus! Ich trat einen Schritt von der Gittertür zurück, obwohl mir klar war, daß mir das Gefängnis keinen Schutz bot. Als die Gruppe
17 zwischen meiner und Razamons Zelle anhielt, sah ich, daß Eisenkaiser das Parraxynt trug, das man Razamon abgenommen hatte. »Holt sie heraus!« befahl Kalkgraf den fünf Wachen. Unsere Zellen wurden aufgeschlossen, während drei Technos ständig ihre Lähmwaffen schußbereit hielten. Es gab keine Möglichkeit, überraschend auszubrechen. Anschließend wurden wir in ein geräumigeres Verlies geführt, wo die Technos unsere Ketten an Eisenringen befestigten, die in der Wand verankert waren. Während der ganzen Zeit musterte Eisenkaiser – ich zweifelte nicht daran, daß der prächtig Gekleidete Eisenkaiser war – abwechselnd Razamon und mich, ohne ein Wort zu sagen. Als wir angekettet waren, blickte Eisenkaiser mich an und sagte: »Du nennst dich Atlan?« »Und du nennst dich Eisenkaiser?« antwortete ich mit einer Gegenfrage. Eisenkaiser nahm meine Antwort als Bejahung seiner Frage. »Kommst du von draußen – von der Erde?« erkundigte er sich. »Ich habe keine Ahnung, denn ich verlor mein Gedächtnis«, erklärte ich. Eisenkaiser gab nicht zu erkennen, wie er meine Antwort beurteilte. Er mochte sie als Bestätigung dafür auffassen, daß ich ein Besucher von der Erde war – denn jeder, der sich Atlantis-Pthor von draußen bis auf eine bestimmte Entfernung näherte, verlor sein Gedächtnis –, aber er konnte auch annehmen, daß meine Erinnerungen auf andere Weise verlorengegangen waren. Er wandte sich an Razamon. »Ich nehme an, du hast ebenfalls dein Gedächtnis verloren?« »So ist es«, antwortete Razamon. Eisenkaiser lächelte düster und wandte sich an den Unscheinbaren mit dem schwarzen Kästchen. »Walte deines Amtes, Befragungsmeister! Ich nehme an, unsere ›Gäste‹ werden ihr Gedächtnis bald zurückbekommen, wenn die Schockwürmer ihnen nachhelfen.«
18 Der Unscheinbare kicherte irr, stellte sein schwarzes Kästchen auf den Boden und klappte den Deckel auf. Ich erblickte ein Gewimmel wurmähnlicher Tiere von Garnelengröße. Die Färbung der Tiere war rostrot, aber sie änderte sich – offenbar unter Lichteinwirkung –, bis die Tiere beinahe durchsichtig waren. Immer noch kichernd, nahm Befragungsmeister mit spitzen Fingern zwei der Schockwürmer aus dem Kästchen. Er tänzelte auf mich zu und setzte sie mir auf die freie Haut des Brustausschnitts meiner Kleidung. Kaum hatte er die Tiere losgelassen, als ich das Gefühl hatte, von einem Blitz getroffen zu werden. Ich prallte mit dem Rücken gegen die Wand des Verlieses. Im nächsten Moment traf mich der zweite Schlag. Kein Zweifel, diese Schockwürmer versetzten mir starke elektrische Schläge! Langsam sank ich an der Wand zu Boden. Ich merkte, wie meine Glieder unkontrolliert zuckten und bebten, und sah wie durch rötliche Schleier, daß Razamon ebenfalls mit Schockwürmern bedacht wurde und die gleiche Wirkung zeigte. Als Befragungsmeister sich mir abermals näherte, nahm ich den ganzen Rest meiner Willenskraft zusammen und trat ihm hart gegen die Kniescheibe seines linken Beines. Aufheulend flog er mehrere Meter zurück, prallte gegen Kalkgraf und riß ihn ebenfalls mit zu Boden. Eisenkaiser rief einen scharfen Befehl. Zwei Technos kamen zu mir und stießen mir die Mündungen ihrer Lähmwaffen so heftig gegen die Brustplatte, daß mir die Luft wegblieb. Danach stellten sie sich rechts und links von mir auf. Ich begriff, daß sie mich vor weiteren Aktionen warnen wollten. Unterdessen hatten Kalkgraf und Befragungsmeister sich wieder aufgerappelt. Befragungsmeister humpelte auf sein Kästchen zu, langte hinein und holte diesmal gleich sechs der wurmähnlichen Tiere heraus. »Woher kommst du, Atlan?« fragte Eisen-
H. G. Ewers kaiser. Sag ihm die Wahrheit! übermittelte mir der Logiksektor meines Extrasinns. Die starken Elektroschocks zerrütten die Nerven und bringen auf die Dauer zu viele Gehirnzellen zum Absterben! Unwillkürlich schüttelte ich den Kopf. Ich spürte dort, wo mein Zellaktivator in den Brustraum eingedrungen war, ein hartes Pulsieren. Das Geschenk von ES verstärkte seine regenerierende Arbeit. Es sollte eigentlich auch in der Lage sein, zerstörtes Nervengewebe zu erneuern. Ich beschloß, das Risiko einzugehen und weitere Elektroschocks über mich ergehen zu lassen. Doch seltsamerweise kam Befragungsmeister nicht näher. Als ich ihn genauer betrachtete, sah ich, daß er den Kopf in den Nacken gelegt hatte und zur Decke starrte. Die Schockwürmer wanden sich zwischen seinen Fingern. Ich folgte der Richtung seines Blickes mit den Augen und entdeckte an der Decke des Verlieses einen dunklen Fleck, der sich schnell vergrößerte. Sekunden später bog sich an dieser Stelle die Decke durch, brach teilweise herab und fiel auf Befragungsmeister. Der Unscheinbare brach schreiend zusammen. Im nächsten Augenblick schossen gelbe Dampf oder Rauchschwaden aus der Öffnung in der Decke. Sie hüllten Kalkgraf und Eisenkaiser ein. Auch Razamon, ich und meine beiden Bewacher erhielten etwas von den Dämpfen ab. Ich hielt die Luft an, als ich merkte, daß der erste mit den Dämpfen geschwängerte Atemzug meine Sinne zu verwirren drohte. Aus den Schwaden ringsum hörte ich ersticktes Husten und Keuchen sowie Schritte, die sich rasch entfernten. Die Technos zogen sich offenbar fluchtartig zurück und überließen Razamon und mich unserem Schicksal. Verzweifelt zerrte ich an den Ketten, die mich an die Wand fesselten. Sie gaben nicht nach – und innerhalb der nächsten Sekunden würde ich wieder Atem holen müssen, ganz egal, wie die Dämpfe auf mich wirkten.
Der Gralshüter von Gorrick Plötzlich zischte etwas. Ich hörte ein Brodeln hinter mir, dann gaben die immer noch angespannten Ketten nach. Anscheinend waren sie von einer hochkonzentrierten Säure teilweise zerfressen worden. Demnach galt der Angriff von oben nicht Razamon und mir, sondern es sah aus, als wollte jemand uns befreien. Gerade, als aus dem Loch in der Decke zwei Taue mit stumpfen Haken daran fielen, mußte ich Luft holen. Ich spürte, wie meine Sinne vernebelt wurden. Doch ich wußte noch, daß ich handeln mußte, um aus der Gewalt von Eisenkaiser und Befragungsmeister zu entkommen. Ich zögerte nur noch, weil ich Razamon nicht zurücklassen wollte. Aber da sah ich die Gestalt meines Gefährten durch die Schwaden auf mich und die beiden Taue zutaumeln. Ich zögerte nicht länger. Halb betäubt wankte ich auf das nächste Tau zu, stellte die Füße in den gebogenen Haken und klammerte mich am Tau fest. Die Welt drehte sich um mich, aber ich merkte noch, daß ich emporgezogen wurde – fort von Eisenkaiser und in die Freiheit.
4. VOM REGEN IN DIE TRAUFE Eisenkaiser tappte mit tränenden Augen und verwirrtem Geist durch das Gewölbe und versuchte, die nachdringenden Dämpfe mit den Armen zu vertreiben. In diesen Minuten kam er nicht dazu, sich Gedanken darüber zu machen, was geschehen war und wer das alles veranlaßt hatte. Er folgte lediglich seinem Selbsterhaltungstrieb. Irgendwann stieß er mit der Stirn gegen eine Mauer. Sekundenlang blieb er noch aufrecht stehen, dann setzte er sich so hart auf den Steinboden, daß er das Gefühl hatte, als würde seine Wirbelsäule in sein Gehirn gerammt. Aufseufzend kippte er um. Als er erwachte, spürte er etwas Nasses und Kaltes in seinem Gesicht und unter dem Oberteil seiner Rüstung. Er öffnete die Augen, schaute blinzelnd hoch und sah einen Techno mit einem Ledereimer in den Hän-
19 den vor sich stehen. Hinter ihm stand offenbar noch jemand, denn er spürte kräftige Hände unter den Achseln, die ihn stützten und in sitzender Lage hielten. »Kalkgraf?« lallte er benommen. »Ich bin es, Eisenkaiser«, sagte die Stimme von Kalkgraf hinter ihm. »Die Dämpfe verziehen sich. Du bist anscheinend mit der Stirn gegen eine Mauer gerannt und bewußtlos geworden.« »Und ich bin sehr unsanft geweckt worden«, erwiderte Eisenkaiser und spürte, wie die Benommenheit allmählich wich. Dadurch kamen die Erinnerungen an die letzten Geschehnisse in sein Bewußtsein. »Hilf mir hoch, Kalkgraf!« befahl er. Als er stand, blickte er sich suchend um. Der Ort, woher er gekommen war, ließ sich daran erkennen, daß nur dort noch dünne Dampf oder Gasschwaden wallten. Eisenkaiser schüttelte die hilf reichen Arme Kalkgrafs ab und stapfte zielstrebig, wenn auch mühsam, auf diesen Ort zu. Wenig später blickte er auf die staubbedeckte, verkrümmt und steif auf dem Boden liegende Gestalt von Befragungsmeister. Zahlreiche Schockwürmer krochen über den Toten, der offenbar an einem Übermaß von Elektroschocks gestorben war. Die Dämpfe hatten sich inzwischen vollständig verzogen. Dennoch war von dem herabgestürzten Deckenteil nichts mehr zu sehen. Auch das Loch in der Decke war spurlos verschwunden. Und verschwunden waren auch die beiden Gefangenen …! Eisenkaiser starrte mit rollenden Augen umher, ballte die Fäuste und stieß schließlich hervor: »Das war das Werk von Aminomeister! Nur mit Hilfe der Magochemie können Löcher in Decken entstehen und spurlos wieder verschwinden! Außerdem neidet Aminomeister mir schon lange meine Erfolge sowie mein Ansehen bei den Initiatoren. Er hat die Gefangenen an sich gebracht, um die Informationen, die er von ihnen bekommt, für
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sich auszuwerten.« »Aber wie könnte er von unseren Gefangenen erfahren haben?« fragte Kalkgraf. »Außerdem haben wir keine Beweise dafür, daß die Gefangenen von Aminomeisters Leuten entführt wurden. Die giftigen Dämpfe raubten uns die Sicht und vernebelten unsere Sinne.« Eisenkaiser zertrat wütend einen Schockwurm, der sich in seine Nähe gewagt hatte. »Wir haben keine Beweise – aber wir brauchen auch keine. Es genügt, wenn wir den Initiatoren die Ereignisse so darstellen, als besäßen wir eindeutige Beweise für Aminomeisters Schuld. Wir müssen Sie dazu bringen, daß sie Aminomeisters Räume durchsuchen lassen. Dabei werden die Gefangenen gefunden werden, so daß es zusätzlicher Beweise nicht bedarf. Kalkgraf, das ist deine Aufgabe! Begib dich schnellstens zu den Initiatoren und trage ihnen die Geschichte so vor, daß sie nicht umhin können, eine gründliche Untersuchung zu veranlassen!« »Ich bin sicher, daß es mir gelingen wird«, erwiderte Kalkgraf. »Es muß dir gelingen, Kalkgraf!« sagte Eisenkaiser. Er wandte sich an die anderen Technos und befahl: »Tötet die Schockwürmer und bringt Befragungsmeister fort! Er soll in der ersten Grabkammer bestattet werden.« Nach einem letzten Blick auf die unversehrte Gewölbedecke wandte er sich um und stapfte davon.
* Für kurze Zeit mußte ich bewußtlos gewesen sein, denn ich sah mich plötzlich in einem riesigen Kellergewölbe, während oberhalb des Loches, durch das Razamon und ich in die Freiheit gezogen worden waren, ein Lager voller Maschinenteile gelegen hatte. Die Trage, auf der ich lag, wurde von zwei Technos abgesetzt. Ich drehte den
Kopf und sah, daß Razamon nicht weit von mir ebenfalls auf einer Trage lag – und auch er schien eben erst aus einer Bewußtlosigkeit erwacht zu sein. Ich stemmte mich in sitzende Haltung hoch und blickte mich um. Es waren insgesamt elf Technos bei uns. Kleine Metallplatten auf ihren Brustharnischen zeigten je eine blaue Flamme, über der die schematische Darstellung einer Art Retorte hing. Aufgrund meiner großen Erfahrungen erkannte ich in einem der Technos sofort den Anführer der Gruppe. Ich blickte ihn auffordernd an und erreichte dadurch, daß er neben mich trat. »Ich heiße Atlan«, erklärte ich. »Wie heißt du?« »Mannan«, antwortete der Techno, ohne zu zögern. »Bist du ein Besucher von draußen – von der Erde?« »Das hat mich auch Eisenkaiser gefragt«, sagte ich. »Aber ich weiß es nicht, da ich durch einen Unfall mein Gedächtnis verloren habe. Vielen Dank, daß ihr uns befreit habt.« Er erwiderte nichts darauf – und zum erstenmal kam mir der Gedanke, daß Mannan und seine Helfer uns nicht aus uneigennützigen Gründen aus der Gewalt Eisenkaisers befreit haben mochten. Je länger ich mich mit diesem Gedanken beschäftigte, desto wahrscheinlicher erschien er mir. Razamon schien zu einem ähnlichen Schluß gekommen zu sein. Er setzte sich ebenfalls auf und hob die Hände, die durch Kettenreste immer noch aneinander gefesselt waren. »Könnt ihr uns die Dinger nicht abnehmen?« fragte er. »Darüber wird Aminomeister entscheiden«, erklärte Mannan. Aminomeister! In Gedanken zerpflückte ich diese Wortverbindung. Sie mochte im ersten Teil von Aminosäuren abgeleitet sein – oder auch von Aminen. Beide Produkte aber waren Substitutionsprodukte der Kohlenwasserstoffe, und beide Namen stammten aus der Terminologie der Chemie. Der zwei-
Der Gralshüter von Gorrick te Teil der Wortverbindung, »Meister«, sollte demnach mit großer Wahrscheinlichkeit ausdrücken, daß der Träger des Namens – oder des Titels – bestimmte chemische Prozesse zu meistern verstand. Handelte es sich demnach bei »Aminomeister« um einen Wissenschaftler, der eine chemische Fabrik oder chemische Labors leitete? Ich stellte eine entsprechende Frage. Mannan antwortete mir mit einer Gegenfrage. »Beherrschst du die Magochemie, Atlan?« Magochemie! Schon wieder ein neuer Begriff. Eine Wortverbindung, die Magie und Chemie in sich vereinte? Vorsicht bei deiner Antwort! mahnte mein Extrasinn. Du hast keine Ahnung von Magochemie, darfst aber auch nicht behaupten, etwas von Chemie zu verstehen, da es Chemie in unserem Sinne des Wortes hier nicht zu geben scheint! »Ich beherrsche sie nicht, habe aber eine vage Erinnerung an gewisse Kenntnisse, die damit zusammenhängen. Leider verhindert meine Amnesie, daß die Erinnerungen klar hervortreten.« »Ich hoffe, daß deine Erinnerungen bald zurückkehren, Atlan«, sagte Mannan. »Wenn du allein gehen kannst, dann stehe auf, damit wir weitergehen!« Ich erhob mich – und auch Razamon stand auf. Mannan übernahm die Führung, aber die meisten der Technos hielten sich hinter Razamon und mir. Sie hielten einige Schritte Abstand. Für mich war es klar, daß sie damit keineswegs ihren Respekt uns gegenüber ausdrückten, sondern im Fall eines Fluchtversuchs Zeit genug haben wollten, ihre Lähmwaffen zu ziehen und abzufeuern. Wir waren also wieder Gefangene und durchaus keine Gäste, die sich frei bewegen durften. Wahrscheinlich waren Eisenkaiser und Aminomeister Rivalen, von denen jeder versuchte, den anderen zu übertrumpfen. Nach kurzer Zeit erreichten wir einen Teil
21 des Kellergewölbes, in dem es durchdringend und schleimhautreizend roch. Zu beiden Seiten waren faßähnliche Behälter in die Wände eingelassen, die aus keramischem Material bestanden. Aus einigen undichten Behältern sickerten verschiedene farbige Flüssigkeiten, die an manchen Stellen große Lachen auf dem Boden gebildet hatten. Genau wie in Eisenkaisers Bezirk kam das Licht auch hier von birnenförmigen Lampen, die ohne erkennbare Energiezufuhr an den Decken angebracht waren. Mannan schien sich nicht an dem beißenden Geruch zu stören. Mir tränten allerdings schon bald die Augen, und ich sah Razamon an, daß es ihm nicht besser erging. Da Mannan sorgfältig darauf achtete, daß seine Stiefel nicht mit den Flüssigkeiten in Berührung kamen, hüteten Razamon und ich uns ebenfalls, die unbekannten Substanzen zu berühren. Mit unseren offenen Sandalen, die wie die netzähnliche Kleidung von den Guurpel stammte, waren wir noch schlechter geschützt als die Technos. Ich atmete auf, als wir nach zirka zehn Minuten das Gewölbe verließen und eine Wendeltreppe hinaufstiegen. Hier herrschte einigermaßen saubere Luft. Auf dem ersten Treppenabsatz blieb Mannan stehen. Im ersten Moment erkannte ich keinen Grund dafür. Dann bemerkte ich, daß der Techno eine Statue anblickte, die in einer Wandnische stand und ein unbekanntes Wesen darstellte. Das Wesen war annähernd humanoid, ungefähr zwei Meter groß und trug eine flammenförmige Frisur. Aus dem Rücken kamen zwei nach oben gerichtete Flügel, und aus den Schultern wuchsen kurze Arme, die in je ein Büschel langer, sich verjüngender Tentakel ausfächerten. Die Füße waren als halbkugelförmige Klumpen dargestellt, und auf der Brust befand sich eine Erhebung, die dem Auge eines terranischen Chamäleons glich. Mannan zog einen kunstvoll bemalten kleinen Lederbeutel aus einer Tasche, schüttete etwas daraus auf seine Hand (was es
22 war, vermochte ich nicht zu sehen) und blies es in Richtung der Statue. Für den Bruchteil einer Sekunde schien es mir, als bewegte sich das erhabene Auge und als blitzte es in der kleinen Öffnung darin auf. Doch das konnte nur eine optische Täuschung sein. Oder war es ein mit einfachen technischen Mitteln bewirkter Trick, der Eindruck schinden sollte? Mannan steckte den Lederbeutel zurück und setzte seinen Weg fort. Ich ging ganz dicht an der Statue vorbei, die aus einem jadeähnlichen Material hergestellt war. Aber obwohl ich genau in die Augenöffnung sah, bemerkte ich nichts darin, was aufgeblitzt haben könnte. Wir stiegen noch siebzehn Treppen hinauf. Ich bemerkte nichts Ungewöhnliches mehr. Schließlich führte Mannan uns durch einen langen Korridor, der an einer glatten grauen Tür endete. Interessiert betrachtete ich die Schriftzeichen, die sich als schmales Band in Augenhöhe über die Tür zogen. Irgendwo und irgendwann hatte ich solche oder ganz ähnliche Schriftzeichen schon einmal gesehen. Als Mannan mit einem fingerlangen Stab, der am vorderen Ende eine kugelförmige Verdickung besaß, an die Tür klopfte, fiel es mir ein. Die Schriftzeichen bestanden aus Runen, wie ich sie während meiner zehntausendjährigen irdischen Verbannung mehrmals im nördlichen Europa gesehen hatte. Aber als ich sie las, ergaben sie keinen Sinn. Offenbar unterschieden sie sich in ihrer Bedeutung von den Runen der alten Germanen. Inzwischen hatte Mannan siebenmal gegen die Tür geklopft. Kurz darauf öffnete sie sich knarrend. Mannan ging durch die Öffnung und als ich ihm folgte, gelangte ich in einen relativ kleinen, aber hohen Raum mit gewölbter Decke. Und als ich sah, was sich in dem Raum befand, spürte ich gleichzeitig mit dem warnenden Impuls meines Extrasinns Beklemmung und Abscheu.
H. G. Ewers
* Die Hälfte des Raumes wurde von einem zirka neun Meter hohen birnenförmigen Glasgefäß eingenommen, dessen unterer Rundkolben etwa vier Meter durchmessen mochte. Über dem Rundkolben verjüngte sich das Gefäß allmählich. Der Rundkolben war zu ungefähr einem Drittel mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit gefüllt, die brodelnd kochte und dabei irisierende Dämpfe entwickelte, die nach oben stiegen und sich dabei verdichteten. Dort, wo der Hals des Gefäßes nur noch etwa zwei Meter durchmaß, befand sich ein mit schmierigen Ablagerungen bedeckter Gitterrost – und an dem Gitterrost hingen an eisernen Haken drei fledermausähnliche Lebewesen. Die Lebewesen waren etwa so groß wie ein zehnjähriger Terraner – und sie lebten! Daran, daß sie immer wieder versuchten, mit ihren Flughäuten den ganzen Körper einzuhüllen, und daran, daß ihre zusammengebundenen Füße ab und zu zuckten, war eindeutig zu erkennen, daß sie noch lebten. Aber sie schienen große Qualen zu erleiden, denn die an ihnen vorüberziehenden Dämpfe beeinträchtigten sicherlich die Atmung ganz erheblich. Außerdem hatten sich auf den Flughäuten Ablagerungen gebildet, die ihre Beweglichkeit herabsetzten. Ich blickte zu Mannan, um ihn zu fragen, warum er uns diesen Raum und diese gequälten Lebewesen zeigte, da öffnete sich auf der gegenüberliegenden Seite eine Tür. Ein Techno in blütenweißer Lederrüstung trat ein. Finster musterte er Razamon und mich. Ich wußte sofort, daß es sich nur um Aminomeister handeln konnte. Mannan deutete auf Razamon und mich und nannte unsere Namen. Danach stellte er den Mann als Aminomeister vor. Aminomeister näherte sich Razamon und mir bis auf fünf Schritt Entfernung und sagte: »Seid ihr Besucher von der Erde?«
Der Gralshüter von Gorrick »Wir wissen es nicht«, antwortete ich. »Wir haben unser Gedächtnis verloren. Sie haben uns aus der Gewalt Eisenkaisers befreit. Warum lassen Sie uns dann nicht den Rest unserer Ketten abnehmen, so daß wir uns als Freie bewegen können?« Aminomeisters Miene wurde noch düsterer, als er erwiderte: »Niemand auf Pthor ist frei. Über jedem steht immer ein Höherer. In diesem Bezirk des Patorghs stehe ich über allen anderen Lebewesen.« Er streckte einen Arm aus und deutete auf die drei bedauernswerten Geschöpfe in dem Glasgefäß. »Diese Wesen können nicht begreifen, daß sie mir zu gehorchen haben. Deshalb hängen sie dort oben in den Dämpfen des Umwandlers. Sie werden nach einiger Zeit von den Dämpfen durchdrungen und von den Ablagerungen wie in einem Kokon gefesselt sein. Dann fängt ihre Umschmelzung an.« Er warf mir einen drohenden Blick zu und ließ den Arm wieder sinken. »Ihr beide werdet entweder mir gehorchen oder das Schicksal dieser Ungehorsamen teilen!« Ich blickte mich nach Razamon um und las in seinem Blick die gleiche Entschlossenheit, die auch ich verspürte: die Entschlossenheit, sich niemals einem anderen Wesen zu unterwerfen, aber auch die Entschlossenheit, unser Leben zu retten, da wir nur dann auf einen günstigen Augenblick zu unserer Befreiung warten konnten. Dieser Augenblick war noch nicht gegeben, wie mir ein Blick auf die zehn Wächter bewies. Sie hielten ihre Lähmwaffen auf uns gerichtet und hatten sie so im Raum verteilt, daß ein Durchbruchsversuch aussichtslos gewesen wäre. »Was verlangen Sie von uns, Aminomeister?« erkundigte sich Razamon. Aminomeister blickte den Atlanter durchdringend an. »Im Patorgh kann nur einer herrschen – und das bin ich«, erklärte er. »Eisenkaiser
23 möchte mir meinen Herrschaftsanspruch jedoch streitig machen. Für meine Technos gibt es allerdings bestimmte Regeln, die sie niemals mißachten können. Sie sind daher nicht besonders gut dafür geeignet, den entscheidenden Sieg über Eisenkaiser herbeizuführen. Ihr dagegen scheint diesen Regeln nicht unterworfen zu sein. Ich werde euch nach einer gewissen Vorbereitungszeit einsetzen und mit eurer Hilfe Alleinherrscher im Patorgh werden.« »Was werden wir zu tun haben?« fragte ich. »Das erfahrt ihr, wenn ihr entsprechend vorbereitet seid«, antwortete Aminomeister. Ich wechselte einen kurzen Blick mit Razamon, dann wandte ich mich wieder an Aminomeister. »Wir sind bereit, dir zu helfen«, erklärte ich. In unserer derzeitigen Lage blieb Razamon und mir gar nichts anderes übrig. Allerdings war unsere Zustimmung nur ein Lippenbekenntnis. Weder Razamon noch ich waren daran interessiert, für Aminomeister die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Aminomeisters Gesicht bekam einen zufriedenen Ausdruck. »Dann folgt mir!« befahl er und wandte sich um. Während ich mich in Bewegung setzte, überlegte ich, warum Aminomeister derartig zufrieden über unsere Zustimmung war. Es handelte sich schließlich nur um Worte, und er mußte sich klar darüber sein, daß erst unsere Taten über unsere Brauchbarkeit für seine Zwecke entschieden. Vergiß nicht, daß auf Pthor außer den Naturgesetzen noch andere Gesetze herrschen! teilte mir der Logiksektor meines Extrasinns mit. Magie! gab ich verächtlich zurück. Jeder weiß, daß es in Wirklichkeit keine Magie und nichts Magisches gibt. Es kommt immer auf die Definition des Begriffes Magie an! erwiderte mein Logiksektor. So könnte man beispielsweise auch Telepathie, Telekinese und Teleportation als Magie bezeichnen, denn die Wirkungsweise
24 dieser sogenannten Parakräfte ist wissenschaftlich noch nicht exakt erklärbar. Ich erinnere dich auch daran, daß es in der Atomphysik sogenannte magische Zahlen gibt, das heißt, für den Atomkernaufbau wichtige Zahlen, die Erfahrungstatsachen wiedergeben, aber nicht aus einer wissenschaftlichen Theorie abgeleitet werden können. Weil wir eben noch nicht alle Naturgesetze erkannt haben! entgegnete ich verärgert. Richtig! Deshalb solltest du auch nicht über Magie spotten, denn sie erscheint dir vielleicht nur deswegen absurd, weil du die Gesetze nicht kennst, nach denen sie funktioniert. Ohne Naturgesetz geht absolut nichts! gab ich zurück. Dennoch fühlte ich mich verunsichert, denn ich hatte begriffen, daß auch dann, wenn Magie nur mit uns noch unbekannten Naturgesetzen erklärbar war, sie dennoch funktionieren mochte. Diejenigen, die sie anwandten, mußten die ihr zugrunde liegenden Gesetze nicht einmal kennen. Sie brauchten nur die Regeln zu kennen, denen diese Gesetze und damit die Kräfte der Magie gehorchten. Vielleicht war es tatsächlich möglich, daß in diesem eventuell von magischen Feldern durchwobenen Gebiet unsere zustimmende Äußerung zu Aminomeisters Ansinnen genügt hatte, um Verstöße dagegen zu verhindern. Unterdessen waren wir Aminomeister drei Treppen abwärts gefolgt und betraten hinter ihm einen Raum mit quadratischem Grundriß, in dem auf Sockeln aus bearbeitetem Felsgestein fünf transparente Bassins standen, in denen sich eine schwach grünlich getönte Flüssigkeit befand. Bevor Razamon und ich es uns versahen, hatten unsere Wächter uns gepackt und uns die Kleidung und Schuhe ausgezogen. Danach hoben sie uns auf. Wir ahnten, was kommen sollte und versuchten, uns zu wehren. Aber da auf jeden von uns fünf kräftige Technos kamen, blieb es bei vergeblichen Versuchen. Wir wurden jeder in ein Bassin gelegt – und ich spürte,
H. G. Ewers wie sich die Flüssigkeit um meinen Körper schloß. Als die Hände der Technos mich freigaben, wollte ich mich aufrichten und wieder aus dem Bassin klettern. Doch da legte sich ein Gitter darüber und rastete in Verankerungen am Bassinrand ein. Außerdem war der Boden des Bassins glatt, beinahe glitschig. Ich rutschte aus, verlor den Halt und fürchtete schon, mit dem Kopf unter den Flüssigkeitsspiegel zu geraten. Aber da wurde mein Kopf von einer transparenten Erhöhung gestützt, so daß er immer über dem Flüssigkeitsspiegel blieb. Da meine Füße ans gegenüberliegende Ende des Bassins stießen und mir Halt gaben, konnte mein Kopf auch nicht von der Erhöhung gleiten. »Euer Laugenbad dient der Vorbereitung auf eure Aufgabe, mir zu gehorchen und Eisenkaiser zu besiegen!« dröhnte die Stimme Aminomeisters auf. »Die Ionen der Lauge werden durch die magischen Kernkräfte eurer Körperzellen angelockt und sickern in sie ein. Eure Körperzellen sind Kristallkeime, von denen die Ionen der Lauge in magische Kristalle verwandelt werden, die euch vollständig durchdringen und euch selbst so verwandeln, daß ihr wie Teile von mir sein werdet – Teile, die mir gehorchen.« »Verfaulen sollst du!« schrie Razamon in ohnmächtigem Zorn. »Dann würdet auch ihr verfaulen – sobald die Ionen der Lauge nach einiger Zeit mit ihrer Wanderung und Verwandlung begonnen haben«, erklärte Aminomeister. »Es wäre also besser von euch, ihr wünscht mir nur Gutes.« Zusammen mit den anderen Technos verließ er den Raum und ließ Razamon und mich zurück. Ich lauschte in mich hinein, als könnte ich dadurch merken, wann die Ionen der Lauge anfingen, in meinen Körper zu sickern. Wenn das stimmte, was Aminomeister uns erklärt hatte, dann stand uns ein grauenhaftes Schicksal bevor. Wir würden zu lebenden Kristallansamm-
Der Gralshüter von Gorrick lungen werden, mit einem völlig veränderten Metabolismus, der uns abhängig von Aminomeister machte. Doch das durfte nicht sein, denn wie sollten wir in einem solchen Zustand unsere Ziele verfolgen: die Macht hinter dem Fahrstuhl durch die Dimensionen zu ergründen und sie zu zerbrechen?
5. ELEMENTEMAGIER, TEILCHENKENNER UND PHANTASIERITTER Kalkgraf steuerte den Zugor auf dem vorgeschriebenen Kurs nach Westen. Das ergab einen beträchtlichen Umweg, denn sein Ziel lag keineswegs im Landesinnern von Pthor, sondern wie Zbahn an der teils felsigen, teils sandigen Küste der Bucht der Zwillinge. Der Techno hätte also Kurs Ost-Nordost halten müssen, um auf dem kürzesten Wege von Zbahn nach Zbohr zu gelangen. Aber für die Zugors der Technos waren nur bestimmte Luftkorridore erlaubt. Ein Zugor, der den für ihn bestimmten Luftkorridor verließ, stürzte ab, ohne daß der Pilot etwas dagegen unternehmen konnte. Kalkgraf wußte das – und es genügte ihm. Er hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht, warum das so war, wer das angeordnet hatte und auf welche Weise Zugors, die vom vorbestimmten Weg abwichen, zum Absturz gebracht wurden. Ihm genügte es, die Luftkorridore genau zu kennen. Als er am Horizont den Abschnitt der Straße der Mächtigen sah, der Zbohr und Donkmoon miteinander verband, änderte er seinen Kurs und steuerte nach Ost-Südost. Er beachtete die Ansammlungen der Ungeheuer, die er zeitweilig überflog, kaum. Die Horden der Nacht waren für ihn etwas, das ebenso zu Pthor gehörte wie er selbst. Auch die Tatsache, daß die Horden der Nacht sich noch immer auf der Ebene Kalmlech drängten, anstatt sich über eine verwüstete Erde zu ergießen, störte ihn nicht. Es war bei den Aufenthalten des Dimensionsfahrstuhls immer wieder vorgekommen,
25 daß die Angehörigen einer planetarischen Zivilisation Widerstand geleistet hatten – in dem irrigen Glauben, sie könnten das für sie bestimmte Unheil aufhalten. Die Macht von Pthor hatte sich in jedem dieser Fälle durchgesetzt, also würde sie sich auch diesmal durchsetzen. Dennoch spürte Kalkgraf eine gewisse Neugier, als er weit voraus hinter den Bauten der Stadt Zbohr die scheinbar unendliche Wasserfläche des Ozeans erblickte, der von den Eingeborenen Atlantischer Ozean genannt wurde. Jenseits der unsichtbaren Raum-Zeit-Barriere, jenes Wölbmantels, der genau hundert Meter außerhalb von Pthor verlief und sich zehn Kilometer in die Höhe erstreckte und dort zu einer Kuppel verschmolz, mußte sich der Energieschirm befinden, der von den Eingeborenen errichtet worden war und der sie bisher geschützt hatte. Kalkgraf hätte gern einen Blick auf besiedelte Gebiete der Erde geworfen. Aber Pthor war mitten in einem riesigen Ozean angekommen, hoch über einem vor zehntausend Erdjahren versunkenen Erdteil, den die Erdbewohner Atlantis nannten. Nur kurz überlegte er, warum sowohl im Namen des Pthor umgebenden Ozeans als auch im Namen des versunkenen Erdteils der Name »Atlantis« enthalten war, also ausgerechnet der Name jenes Gefangenen, der mit Razamon zusammen auf rätselhafte Weise in Panyxan aufgetaucht war. Aber der Techno verwarf den Gedanken, ob dieser Atlan etwas mit der Benennung des Ozeans und des versunkenen Kontinents zu tun hatte, sogleich wieder. Außerdem wurde seine Aufmerksamkeit nunmehr von dem Anblick Zbohrs voll beansprucht. Diese Stadt war in einem völlig anderen Stil erbaut worden als Zbahn. Ihr Westteil hieß Groonhain und bestand aus einer Ansammlung kleiner Gebäude, in denen die Technos von Zbohr wohnten. Weiter östlich lag ein prunkvoller Park mit Rasenflächen, Baum und Buschgruppen, zahlreichen blumengesäumten Brunnen und kleinen Pavillons. Noch weiter östlich erhob sich der
26 Palast aus der Landschaft. Der Palast war ein Bauwerk aus gewaltigen Steinquadern, das einen quadratischen Grundriß mit einer Seitenlänge von 1500 Metern besaß und 50 Meter hoch war. In der Mitte jeder Seite befand sich ein großes Tor, und an vielen Stellen der Außenmauer waren Rundfenster eingelassen. In diesem Palast lebten die Initiatoren. Von dort aus leiteten sie die Arbeiten in Zbahn und Zbohr. Außerdem arbeiteten im Palast die rund achttausend Technos von Zbohr. Im Unterschied zu den Technos von Zbahn befaßten sie sich nicht mit körperlicher Arbeit. Sie entwarfen und konstruierten unter Leitung der Initiatoren das, was dann von den Technos in Zbahn realisiert wurde. Das erhob sie jedoch nicht über die Technos von Zbahn. Zwischen den Technos beider Städte gab es keine Standesunterschiede. Als Kalkgraf seinen Zugor tiefer drückte, ruhte sein Blick auf dem sogenannten Erker, einem Bauwerk, das zwischen dem Palast und der Küste aus dem Boden ragte. Der Erker war das Seltsamste und Geheimnisvollste, das Kalkgraf je gesehen hatte. Er hätte nicht sagen können, wie er eigentlich aussah, denn er bot sich dem Betrachter von jedem Standort anders dar. Fest schien lediglich zu stehen, daß es sich um ein halbtransparentes, in sich verschlungenes Gebilde von blauer Färbung handelte, das vier Meter hoch war. Unter den Technos von Zbahn und Zbohr ging das Gerücht um, der Erker sei in Wirklichkeit ein Monolith aus der Schwarzen Galaxis. Die Nennung der Schwarzen Galaxis genügte, um weitergehende Spekulationen über den Erker zu verhindern. Kalkgraf wußte nur noch, daß eine Berührung des Gebildes angeblich die Intelligenz erhöhte. Er hatte jedoch noch nie gewagt, den Erker zu berühren, denn eine unerklärliche Scheu hielt ihn davon ab, sich dem Gebilde auf weniger als zehn Schritt Entfernung zu nähern. Kalkgraf nahm den Blick von dem rätselhaften Gebilde und konzentrierte sich auf die Landung. Unter ihm lagen die zahlrei-
H. G. Ewers chen Innenhöfe und Flachdächer des Palasts. Alle Flachdächer waren als Landeplätze für Zugors hergerichtet, aber Kalkgraf durfte als Bürger von Zbahn und als Mitarbeiter Eisenkaisers nur auf einem bestimmten Dach landen. Sicher setzte er seinen Zugor auf dem betreffenden Dach auf, dann stieg er aus und begab sich auf den Weg zu den Initiatoren, um seine Mission zu erfüllen, die ihm von Eisenkaiser aufgetragen worden war.
* An zwei Sklaven vorbei, die mit der Pflege der Blumenbeete eines Innenhofes beschäftigt waren, ging Kalkgraf zur Tür eines Innengebäudes, in dem sich die Wache der Initiatoren befand. Als der Techno klopfte, wurde die Tür von einem anderen Techno geöffnet. Aber der Wächter gab den Eingang nicht frei. »Was willst du?« fragte er unwirsch. »Ich bin Kalkgraf aus Zbahn und komme im Auftrag von Eisenkaiser, um bei den Initiatoren vorzusprechen«, antwortete Kalkgraf. »Da mußt du aber schon gute Gründe nennen, Kalkgraf«, erwiderte der Wächter. »Die Initiatoren sind sehr beschäftigt und können sich nicht mit allen kleinlichen Anliegen befassen, mit denen irgend jemand zu ihnen kommen möchte.« »Das weiß ich«, erklärte Kalkgraf. »Aber mein Anliegen ist wichtig. Richte den Initiatoren aus, daß ich ihnen im Auftrag Eisenkaisers von einem groben Verstoß Aminomeisters gegen die Regeln berichten muß!« »Damit kann ich den Initiatoren nicht kommen«, entgegnete der Wächter. »Ihnen ist bekannt, daß es zwischen Eisenkaiser und Aminomeister ständig Reibereien gibt. Sie haben keine Zeit, um sich in interne Intrigen von Zbahn einzumischen.« »Aber das ist längst nicht alles!« begehrte Kalkgraf auf. »Es geht in erster Linie darum, daß zwei Fremde auf Pthor angekommen sind. Sie waren Eisenkaisers Gefangene,
Der Gralshüter von Gorrick aber Aminomeister entführte sie und hat offenbar vor, ihre Anwesenheit vor den Initiatoren geheimzuhalten und sie für seine finsteren Absichten zu mißbrauchen.« »Zwei Fremde – auf Pthor angekommen?« fragte der Wächter interessiert. »Soll das heißen, daß sie von außerhalb, von der Erde, stammen?« »Wahrscheinlich kamen sie von der Erde, aber bevor Eisenkaiser sie befragen konnte, wurden sie von Aminomeister entführt. Eisenkaiser hält die Fremden für so wichtig, daß er mich beauftragte, mit den Initiatoren darüber zu sprechen.« »Das ist allerdings ein gewichtiger Grund, um eine Audienz zu bitten«, räumte der Wächter ein. »Warte hier! Ich werde die Initiatoren fragen, ob sie dich empfangen können.« Er schloß die Tür wieder. Kalkgraf schaute sich im Innenhof um, schlenderte zu einem Progobaum und pflückte von einem herabhängenden Ast eine reife Frucht. Er biß herzhaft in die faustgroße, rot und gelb gezeichnete Frucht und genoß den herbsüßen Geschmack. Die beiden Sklaven blickten zu dem Techno herüber, als wollten sie ihm dadurch klarmachen, daß die Früchte von Zbohr nur für die Bewohner von Zbohr bestimmt waren. Aber als er sie scharf ansah, blickten sie eingeschüchtert weg. Kalkgraf hatte das Fruchtfleisch gerade gegessen, da öffnete sich die Tür des Wachgebäudes erneut. Er warf das Kerngehäuse achtlos weg und befolgte die einladende Geste des Wächters. »Die Initiatoren haben in ihrer Gnade geruht, dich zu empfangen, Kalkgraf«, sagte der Wächter, als Kalkgraf die erste Wachstube betreten hatte. Kalkgraf erwiderte nichts darauf. Er folgte dem Wächter durch die zweite und die dritte Wachstube, in denen weitere bewaffnete Wächter an Tischen saßen und sich die Zeit mit Brettspielen vertrieben. Als der Wächter die vierte Tür öffnete, sah Kalkgraf im ersten Augenblick nichts.
27 Er war dadurch aber nicht irritiert, denn er wußte, daß die Initiatoren in einer abgedunkelten Halle des Palasts lebten. Langsam ging er an dem Wächter vorbei durch die Öffnung. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Lichtarmut der düsteren Halle; er nahm schattenhafte Bewegungen wahr. Die Bewegungen wurden von Technos und Sklaven ausgeführt, die, wie Kalkgraf wußte, die drei Initiatoren bedienten und pflegten. Kalkgraf erkannte an drei weiß strahlenden, wolkenförmigen energetischen Ballungen, die zirka anderthalb Meter über dem Boden schwebten, wo die Initiatoren sich befanden. Diese Energieballungen hießen Palos, und mit ihrer Hilfe kam zwischen den Initiatoren und den Herren der FESTUNG eine Kommunikation zustande, die für die Initiatoren allerdings nur die Entgegennahme von Befehlen bedeutete. Die Palos dienten den Initiatoren außerdem dazu, Verbindung mit den führenden Technos – wie beispielsweise Eisenkaiser und Aminomeister – aufzunehmen und ihnen Anweisungen zu erteilen. Als Kalkgraf sich den Initiatoren bis auf etwa fünf Schritt Entfernung genähert hatte, konnte er sie deutlich sehen. Ihr Körperbau glich dem der Technos, aber sie waren so verfettet und aufgeschwemmt, daß sie sich kaum noch aus eigener Kraft bewegen konnten. Deshalb hockten sie, auf jeweils drei Seiten von Kissen gestützt, auf weichen Otomanen. Jeder von ihnen besaß mehrere Technos und Sklaven, die nichts weiter zu tun hatten, als ihren Herren Speisen und Getränke zu reichen, sie an und auszuziehen, zu waschen und zu pflegen. Kalkgraf musterte die weißen Symbole auf den schwarzen, hemdähnlichen Gewändern der Initiatoren. An diesen Symbolen erkannte er, daß vor ihm – von links nach rechts genannt – Elementemagier, Teilchenkenner und Phantasieritter saßen. Die Ehrfurcht vor den gewaltigen Fähigkeiten, die sich in den Namen der drei Initiatoren ausdrückten, zwang Kalkgraf in die
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Knie, obwohl ein solches Verhalten keineswegs verlangt wurde. »Kalkgraf, steh auf!« ertönte eine volle und doch weiche Stimme. Sie kam von links, daher mußte es Elementemagier gewesen sein, der gesprochen hatte. Kalkgraf erhob sich.
* »Berichte!« befahl Teilchenkenner mit scharf akzentuierter Stimme. »Aber laß nichts aus!« fügte Phantasieritter mit leicht verträumter Stimme hinzu. Kalkgraf räusperte sich. »Als ich mit meiner Gruppe in Panyxan eintraf, um den Stand der Lebensmittelbeschaffung zu kontrollieren, entdeckte ich zwei Fremde. Sie trugen die Kleidung der Guurpel, doch ansonsten hatten sie keine Ähnlichkeit mit ihnen. Derjenige der Fremden, der sich Razamon nannte, sieht aus wie ein Mitglied der Familie Knyr, die am Fuß des Taambergs gelebt hat. Er trug ein Artefakt bei sich. Der andere Fremde, Atlan genannt, hatte etwas derartig Fremdartiges an sich, daß ich sofort auf den Gedanken kam, er könnte ein Besucher von der Erde sein. Wenn aber Atlan von der Erde kam, muß auch Razamon von der Erde gekommen sein, denn beide Männer gehören offensichtlich zusammen. Ich nahm die Fremden gefangen und brachte sie in den Patorgh von Zbahn. Eisenkaiser befragte die Fremden, aber beide behaupteten, ihr Gedächtnis verloren zu haben. Daraufhin befahl Eisenkaiser Befragungsmeister, sie mit Hilfe von Schockwürmern zu verhören. Das Verhör hatte noch kein Ergebnis gebracht, als es durch einen Zwischenfall gestört wurde. In der Decke des Verhörraums entstand plötzlich ein Loch, durch das beißende Dämpfe quollen. Ein herabfallendes Trümmerstück begrub Befragungsmeister unter sich; er wurde anschließend von seinen Schockwürmern getötet. Wir anderen aber mußten vor den Dämpfen fliehen, da sie die
Sinne verwirrten. Als wir zurückkehrten, waren die Gefangenen verschwunden. Das Loch in der Decke hatte sich wieder geschlossen, als ob es niemals eines gegeben hätte. Alle Umstände deuten darauf hin, daß Aminomeister die Gefangenen geraubt hat. Nur ein Meister der Magochemie vermag Löcher in Decken entstehen und sie anschließend spurlos verschwinden lassen – und nur er vermag die magischen Kräfte zu aktivieren, die aus an sich harmlosen Substanzen beißende, die Sinne verwirrende Dämpfe entstehen lassen. Im Auftrag von Eisenkaiser klage ich Aminomeister der Rebellion, der Intrige und der Sabotage sowie der Entführung zweier wichtiger Gefangener an! Ich bitte euch, etwas gegen Aminomeister zu unternehmen!« Geduldig wartete er auf die Erwiderung der Initiatoren. Es dauerte lange, bis sie sich äußerten. »Der Streit zwischen Eisenkaiser und Aminomeister beruht auf einer alten Rivalität«, erklärte Elementemagier. »Er geht uns im Grunde genommen nichts an. Was meint ihr, Teilchenkenner und Phantasieritter?« »Das ist richtig«, sagte Teilchenkenner. »Eine gewisse Rivalität ist sogar erwünscht. Sie sollte aber von den Beteiligten in Grenzen gehalten werden, damit sie sich nicht nachteilig auf die Arbeit auswirkt.« »Ich schlage vor, daß Kalkgraf seinem Herrn ausrichtet, er solle selbst versuchen, den Streit mit Aminomeister beizulegen«, erklärte Phantasieritter. »Was die beiden Fremden angeht, so halte ich es jedoch für geraten, daß wir uns um sie kümmern. Falls es sich um Besucher von der Erde handelt, sind sie gewiß nicht mit positiven Absichten nach Pthor gekommen. Wenn wir sie sich selbst überlassen, könnten sie zu Störfaktoren werden.« »Ich stimme dir zu«, meinte Elementemagier. Er wandte sich an Kalkgraf. »Richte deinem Herrn aus, er soll zusehen, daß der Streit zwischen ihm und Aminomeister beigelegt wird! Er braucht sich nicht mehr um
Der Gralshüter von Gorrick die beiden Fremden zu kümmern, da wir selbst das Notwendige veranlassen werden. Bist du auch einverstanden, Teilchenkenner?« »Ich bin einverstanden«, antwortete Teilchenkenner. Kalkgraf war enttäuscht. Er hatte gehofft, die Initiatoren würden zugunsten seines Herrn eingreifen. Doch er wußte auch, daß er nicht berechtigt war, die Entscheidung der Initiatoren zu kritisieren. So neigte er den Kopf und sagte: »Ich danke euch und werde meinem Herrn eure Botschaft ausrichten.« Er wartete noch einige Sekunden, aber als er sah, daß die Initiatoren keine Notiz mehr von ihm nahmen, wandte er sich um und verließ die düstere Halle.
6. UNTER DIEBEN UND RÄUBERN Ich spürte, wie mir in kurzen Intervallen Schauer über die Haut jagten. Sickerten die Laugen-Ionen schon durch die Haut in meinen Körper und begannen mit ihrem grauenhaften Werk? Oder war es die Furcht vor der Verwandlung, die mich erschaudern ließ? Ich streckte einen Arm aus der Lauge und musterte ihn prüfend. Er schien äußerlich unverändert zu sein. Aber ich wußte, daß Kristalle nur langsam wuchsen – und wenn sie noch dazu sehr klein waren, mikroskopisch klein vielleicht, dann konnte es Stunden dauern, bis ich ihr Vorhandensein sah oder fühlte. Durch die Wand meines Bassins hindurch sah ich Razamon. Der Atlanter hatte es fertiggebracht, sich aufzurichten und die Finger durch das Gitter zu krallen, das sein Bassin verschloß. Aus seinen Bewegungen ersah ich, daß er versuchte, das Gitter hochzustemmen. Da seine Füße jedoch auf dem glitschigen Boden des Bassins immer wieder ausglitten, blieben seine Versuche fruchtlos. Aber immerhin – wenn man aufrecht stand, reichte die Lauge nur bis zu den Knien. Sie konnte demnach auch nur in diesem
29 Bereich des Körpers wirksam werden. Warum sollte ich das, was Razamon geschafft hatte, nicht ebenfalls schaffen? Es mochte mir nur eine zusätzliche Gnadenfrist geben, aber hatte ich nicht die Pflicht, bis zum letzten Augenblick gegen das Schicksal anzukämpfen, das Aminomeister mir zugedacht hatte? Ich versuchte mich hochzustemmen, rutschte wieder und wieder aus und mußte vor Erschöpfung eine Pause einlegen. Aber ich spürte, daß mein Zellaktivator mir schneller frische Energien zuführte, als ich angenommen hatte. Erneut versuchte ich es. Aber wieder schaffte ich es nicht. »Du mußt dich ruckartig hochschnellen, Atlan!« hörte ich Razamons Stimme. Ich hob den Kopf und sah, daß Razamon sich so gedreht hatte, daß sein Gesicht mir zugewandt war. Es war schweißüberströmt, aber die schwarzen Augen verrieten, daß der Wille des Atlanters noch längst nicht gebrochen war. Sollte ich mich von diesem Wesen beschämen lassen, das genauso lange wie ich als Verbannter auf der Erde geweilt hatte? Ich konzentrierte mich auf den nächsten Versuch, spannte meine Muskeln mehrmals an und entspannte sie wieder. Als ich glaubte, genügend vorbereitet zu sein, schnellte ich meinen Körper mit aller Kraft hoch, streckte die Arme aus und packte zu, als meine Finger Metall berührten. Die Finger der linken Hand glitten ab, aber die der rechten Hand konnten sich um die Gitterstäbe krallen. Da meine Füße auf dem Boden des Bassins ausrutschten, hing ich praktisch nur an der rechten Hand. Die Gitterstäbe schnitten schmerzhaft ins Fleisch, aber ich biß die Zähne zusammen und hielt durch, während ich mich bemühte, auch mit der linken Hand Halt zu finden. Endlich war es geschafft – und ich war so schweißüberströmt wie Razamon. Der Atlanter lachte leise. »Aminomeister hat uns unterschätzt, denke ich. Er wird sich wundern, wenn er wiederkommt und wir ihm hinter der Tür auf-
30 lauern. Ich reiße ihn in Stücke!« Ich stöhnte und kämpfte gegen das Zittern der Muskulatur des rechten Armes an. Als es sich gelegt hatte, sagte ich: »Du glaubst tatsächlich, wir könnten uns aus den Bassins befreien, Razamon?« Razamon gab ein heiseres Knurren von sich. »Wenn es mir gelingt, mich in den Zustand berserkerhafter Raserei zu versetzen, zerfetze ich das Gitter, zertrümmere das Bassin und befreie anschließend dich!« stieß er hervor. »Leider kann ich diesen Zustand nicht beliebig herbeiführen.« Er versetzte sich in Schaukelbewegungen, dann hob er die Füße aus der Lauge und trat mit aller Kraft gegen die Bassinwand. Ich vernahm einen dumpfen Schlag und danach das Knirschen von Razamons Zähnen, als er gegen den Schmerz in seinen Füßen ankämpfte. Das Bassin aber war heil geblieben. Razamons Füße sanken wieder herab. Trotz seiner schlechten Erfahrung versuchte ich es ebenfalls. Doch auch ich erntete nichts als stechende Schmerzen in den Füßen, die bis zu den Knien ausstrahlten. Als die Schmerzen abgeklungen waren, mußte ich gegen einen Krampf in der Muskulatur des linken Armes ankämpfen. Mir wurde klar, daß ich mich nur eine begrenzte Zeit an dem Gitter halten konnte. Wenn meine Armmuskeln nicht vorher versagten, würden meine Finger gefühllos werden und von den Stäben gleiten. Doch da Razamon sich immer noch an seinem Gitter festhielt und schon länger daran hing als ich, wollte ich auf keinen Fall vor ihm aufgeben. Ich versuchte, mich abzulenken, indem ich an Perry Rhodan dachte und daran, was mein Freund wohl inzwischen unternommen hatte, um der vom Neuen Atlantis drohenden Gefahr wirksam zu begegnen. Er wußte, daß die Paratronschirme auf die Dauer nicht genügen konnten, einen Feind abzuwehren, der seit undenklichen Zeiten mit dem Fahrstuhl der Dimensionen ungezählte Zivilisationen auf ebenso vielen Planeten zerstört
H. G. Ewers hatte. Pthor ließ sich mit keiner der Gefahren vergleichen, der die Menschheit seit dem Beginn ihrer kosmischen Geschichte getrotzt hatte, denn Pthor war seit Äonen unbesiegt geblieben – und das konnte nicht mit Glück geklärt werden, sondern nur mit einer Machtfülle, die die Herren von Pthor bis jetzt erst zu einem Bruchteil ins Spiel gebracht hatten. Achtung, jemand nähert sich diesem Raum! raunte mir mein Extrasinn zu und unterbrach damit meinen Gedankengang. Ich spürte wieder, wie meine Finger allmählich gefühllos wurden. Als sich die Tür öffnete, durch die man uns hereingebracht hatte, fühlte ich mich versucht, einfach loszulassen, da der Befreiungsversuch noch sinnloser als zuvor geworden war. Aber statt dessen umklammerte ich die Gitterstäbe nur noch fester, wahrscheinlich in einer Aufwallung meines Stolzes, der nicht zulassen wollte, daß unsere Gegner mich in einer absolut hilflosen Lage erblickten. Erstaunte Ausrufe entlockten mir sogar ein flüchtiges Lächeln. Die Technos hatten es offensichtlich nicht für möglich gehalten, daß Razamon und ich die Gitterstäbe fassen und uns längere Zeit an ihnen festhalten konnten. Ich hielt immer noch fest, als Mannans Gesicht in meinem Blickfeld auftauchte. Sekunden später wurde ich mitsamt dem Gitter hochgehoben, sofort von kräftigen Händen gepackt und von den Stäben gelöst. Als meine Füße festen Boden berührten, wurde mir schwarz vor Augen. Ich kämpfte gegen die Bewußtlosigkeit an – aber vergebens.
* Als ich zu mir kam, war es dunkel. Ich lag auf einer rauhen Unterlage und atmete stickige Luft ein. Dennoch blieb ich einige Zeit ruhig liegen, öffnete meine Sinne weit und versuchte, Anhaltspunkte dafür zu finden, wo ich mich befand. In meiner unmittelbaren Nähe
Der Gralshüter von Gorrick schien jedoch kein lebendes Wesen zu sein. Nur aus größerer Entfernung vernahm ich einmal laute Stimmen und danach einen schrillen Schrei, der auf seinem Höhepunkt abrupt verstummte. Ich bewegte mich vorsichtig und merkte, daß ich überall an Hindernisse stieß. Allerdings waren meine Hände nicht mehr gefesselt. Mannan mußte dafür gesorgt haben, daß mir die Ketten abgenommen wurden. Nach kurzer Zeit wußte ich, wo ich mich befand – jedenfalls, was die unmittelbare Umgebung betraf. Ich stak in einem Sack aus dickem, juteähnlichen Material, der früher einmal zur Aufbewahrung von Chemikalien gedient haben mußte. Jedenfalls enthielt das Gewebe Staubpartikel, die bei jeder meiner Bewegungen aufstoben und die Schleimhäute reizten. Als ich ruhig lag, um einen starken Niesreiz zu unterdrücken, vernahm ich in der Nähe gedämpfte Geräusche. Es schabte, polterte und kratzte, dann war es still, um kurz darauf von neuem anzufangen. »Razamon?« rief ich leise. Die Geräusche brachen ab. »Atlan!« rief eine dumpfe Stimme. »Steckst du auch in einem verdammten Sack?« »Allerdings«, gab ich zurück. »Ich möchte bloß wissen, was das bedeuten soll. Wie ich festzustellen glaube, hat die Lauge ihren Zweck nicht erfüllt. Was kann Aminomeister bewogen haben, die Prozedur dennoch abzubrechen?« Denke an die Rivalität zwischen Aminomeister und Eisenkaiser! mahnte der Logiksektor meines Extrasinns. Aminomeister mag sich gezwungen gesehen haben, seine Rolle bei eurer Entführung zu vertuschen. Was liegt näher, als euch an einen Ort zu bringen, der außerhalb seines Bezirks liegt. »Und wo wir nicht lange genug leben, um von Eisenkaisers Leuten gefunden zu werden und auszusagen«, ergänzte ich, unwillkürlich meine Gedanken laut aussprechend. »Sprichst du mit deinem Extrasinn, At-
31 lan?« erkundigte sich Razamon. »So ist es«, erwiderte ich und berichtete, welchen Schluß der Logiksektor meines Extrasinns gezogen hatte. »Wir müssen uns schnellstens aus diesen verwünschten Säcken befreien!« erklärte der Atlanter. »Da kein Lichtschimmer durch die Säcke dringt, ist es draußen Nacht. Jeden Augenblick können irgendwelche Ungeheuer auftauchen und uns zerreißen.« »Also, los!« sagte ich. »Ich verspüre ebenfalls keine Lust, einem Ungeheuer als Nahrung zu dienen.« Ich suchte mit den Händen nach der Stelle, wo sich der zusammengebundene Zipfel des Sackes befand. Als ich sie gefunden hatte, stemmte ich die Füße gegen den Boden und streckte mich. Meine Absicht war, den Strick, der den Sack zusammenhielt, stückweise nach oben zu schieben, bis er herabfiel und ich hinauskriechen konnte. Leider waren meine Bemühungen vergeblich – und bald erkannte ich auch, warum. Meine Fingerspitzen spürten nämlich an einer Stelle durch das Material des Sackes hindurch harten, unnachgiebigen Draht, der so fest um den Zipfel gewickelt war, daß er sich nicht verschieben ließ. Wenn ich wenigstens ein Messer, ein Stück Blech oder eine Glasscherbe bei mir gehabt hätte! Ich drehte und wand mich mühsam, bis ich in zusammengekrümmter Haltung zwischen den derben Sacknähten lag. Anschließend streckte ich mich abermals. Ich hoffte, daß durch meine Bemühungen entweder die Sacknähte nachgaben oder das Gewebe an den Nahtstellen reißen würde. Als ich nach zirka zehn Minuten schweißüberströmt eine Pause einlegte und mit einem Erstickungsanfall kämpfte, ahnte ich, daß auch diese Bemühungen erfolglos bleiben würden. Dennoch wollte ich es weiter versuchen, sobald ich mich etwas erholt hatte. Von dort, wo Razamon sich befand, hörte ich ebenfalls ersticktes Husten und Würgen. Der Atlanter war demnach auch nicht besser
32 dran als ich. Plötzlich hörte ich noch ein anderes Geräusch – in dem gleichen Augenblick, in dem mein Extrasinn mir einen Warnimpuls übermittelte. Ich unterdrückte den Hustenreiz gewaltsam, schnappte mit weit geöffnetem Mund nach Luft und lauschte. Bei Razamon war es ebenfalls still geworden, also hatte er das verdächtige Geräusch auch gehört. Doch auch das Geräusch war verstummt. Es dauerte lange, bis ich wieder etwas hörte – und diesmal identifzierte ich die Geräusche als schleichende Schritte. Ein Ungeheuer? Vielleicht ein Monstrum von den Horden der Nacht! Aber ich hatte, wenn auch undeutlich, erkennen können, daß die Ungeheuer der Horden der Nacht in der Ebene Kalmlech aus großen schweren Wesen bestanden. Das mußte nicht bedeuten, daß diese Wesen nicht leise anzuschleichen vermochten, aber es ließ es doch weniger wahrscheinlich erscheinen. Die Schritte kamen näher, wurden deutlicher – und dann wußte ich, daß das anschleichende Wesen ein Zweibeiner war, der wahrscheinlich weniger wog als ich. Ich fühlte mich etwas erleichtert, aber noch keineswegs beruhigt. Schließlich war ich, solange ich in dem Sack steckte, so gut wie hilflos. In meiner Lage hätte ein Zwerg mich mit einem Knüppel erschlagen können. Die Schritte verhielten, ich hörte ein Geräusch, das sich anhörte, als schlüge ein Pfeil in eine als Ziel dienende, mit Stoff umhüllte Strohpuppe. Reißende Geräusche folgten. Im nächsten Augenblick spürte ich einen frischen Luftzug. Ich atmete tief durch, verhielt mich ansonsten jedoch weiterhin ruhig, obwohl die letzten Geräusche und der Luftzug bewiesen, daß jemand meinen Sack mit einem Messer aufschlitzte. Als mehr frische Luft hereinströmte, hörten die reißenden Geräusche auf. Dafür entfernten sich Schritte – zirka drei Meter weit, schätzte ich. Ich zögerte nicht länger, sondern ließ
H. G. Ewers mich nach vorn fallen, bekam die Schnittränder des Sackes zu fassen, zog sie auseinander und zwängte mich ins Freie. Draußen fiel ein bleicher Lichtschimmer durch ein Loch in schweren finsteren Wolken. In seinem schwachen Schein erkannte ich eine Gestalt, bei deren Anblick ich mich unwillkürlich an die Zeit meiner zehntausendjährigen Verbannung erinnerte, die ich bei nordafrikanischen Hirtenvölkern zugebracht hatte. Das weite Gewand, das die Gestalt trug, glich verblüffend einem Burnus – und auch die gekrümmte Klinge des Dolches, den die Gestalt hielt, erinnerte an einen nordafrikanischen Wüstenbewohner der präkosmischen Zeitalter. Ich richtete mich so auf, daß die Gestalt meine leeren Hände sehen konnte, und sagte: »Vielen Dank, mein Freund. Ich heiße Atlan.« Die Gestalt vollführte einige Luftsprünge, die sie als »tanzenden Derwisch« erscheinen ließ. »Ich bin Mäjesto!« stieß sie hervor. »Wie kommst du hierher, Atlan? Und woher stammst du?«
* In diesem Augenblick rissen die Wolken weit auseinander. Ich sah die dreiviertelvolle Mondscheibe und konnte die Gestalt, die sich Mäjesto genannt hatte, zum erstenmal richtig sehen. Mäjesto war zweifellos ein männlicher Bewohner von Pthor, denn er trug einen dünnen Kinnbart. Außerdem war er humanoid gebaut. Für einen Techno dürfte er allerdings zu klein sein – und außerdem zu dürr. Er hatte das, was man auf Terra ein »Fuchsgesicht« nannte – und wenn man auch auf Pthor daraus auf seinen Charakter schließen konnte, dann war Mäjesto ein Mann, der sich hauptsächlich aufgrund eines erheblichen Maßes an Listen und Einfallsreichtum durchs Leben geschlagen hatte,
Der Gralshüter von Gorrick aber im Zweifelsfall lieber Fersengeld gab. »Ich würde mich gern an eurer Konversation beteiligen«, sagte Razamons Stimme dumpf aus seinem Sack. »Aber dazu hätte ich gern frische Luft geschnappt.« »Mäjesto, würdest du auch meinen Freund Razamon befreien?« fragte ich und deutete auf den staubigen Sack, in dem sich der Atlanter ungeduldig bewegte. Mäjesto hörte auf, wie ein Derwisch herumzutanzen. Er blickte mich argwöhnisch an. »Vielleicht fallt ihr über mich her, sobald ich auch deinen Freund befreit habe«, meinte er. »Ich besitze zwar außer meinem Dolch nichts, aber hier sind schon Leute wegen weit weniger Besitz umgebracht worden.« »Du kannst ganz beruhigt sein, Mäjesto«, sagte ich zu dem kleinen Kerl. »Wir bringen niemanden um, wenn wir nicht angegriffen werden. Außerdem müssen wir dir dankbar sein.« Der Kleine schaute mich verwundert an. »Du bist bestimmt nicht in Zbahn aufgewachsen, wenn du nicht weißt, daß man zwischen den Vorstädten nachts niemandem trauen darf, Atlan. Man stiehlt oder wird bestohlen; man tötet oder wird getötet.« Ich lächelte. »Dann hast du in meinem Fall leichtfertig gehandelt, Mäjesto, denn woher wolltest du wissen, daß ich dich nicht umbringen würde, sobald du mich befreit hattest.« Mäjesto lächelte listig – und ein wenig verloren. »Ich war neugierig, was in den Säcken steckt, die Aminomeisters Leute heimlich an diesen Ort brachten.« Er ging zu Razamons Sack und schlitzte ihn kunstgerecht mit seinem Dolch auf. Der Atlanter zwängte sich hastig ins Freie, hustete und holte anschließend mit tränengefüllten Augen und rasselnden Lungen Luft. Danach warf er dem Kleinen einen zornigen Blick zu und sagte: »Du warst wohl noch nie in einem Sack gefangen, in dem man zuvor Chemikalien
33 transportierte? Vielleicht sollte ich dir zu dem entsprechenden Erlebnis verhelfen!« Mäjesto wich hastig einige Schritte zurück, blieb aber stehen, als Razamon in lautes Gelächter ausbrach. »Leise!« sagte er beschwörend. »Die Nachträuber der Druuhd-Bande treiben sich in dieser Gegend herum. Wenn sie uns finden, seid ihr verloren.« »Und du wohl nicht, wie?« erkundigte sich Razamon leise. »Mich kennen sie«, erklärte der Kleine. »Wenn sie mich nicht mit euch zusammen sehen, lassen sie mich in Ruhe. Aber sagt mir, woher ihr kommt!« Er schaute mich an. »Du trägst die Kleidung der Fischmenschen, Atlan, aber du siehst weder aus wie sie noch wie ein Techno. Du entsprichst in deiner Erscheinung auch keiner Beschreibung der Mitglieder der berühmten Familien – und ich kenne viele solche Beschreibungen.« Er blickte kurz zu Razamon, darin wieder zu mir. »Dein Freund entspricht so ziemlich den Beschreibungen der Mitglieder der Familie Knyr, die am Fuß des Taambergs gelebt hat. Allerdings wirkt sein Gesicht weniger hart – und er zieht beim Gehen sein linkes Bein etwas nach.« »Du besitzt eine scharfe Beobachtungsgabe, Mäjesto«, stellte Razamon fest. »Wovon lebst du eigentlich? Du bist kein Techno – und doch scheinst du in Zbahn zu Hause zu sein.« »Ich nehme das, was niemandem gehört – oder worauf andere schlecht aufpassen«, antwortete der Kleine. »Also bist du ein Dieb!« stellte Razamon fest. »Aber ich bestehle niemals meine Freunde!« beteuerte Mäjesto mit treuherzigem Augenaufschlag. Ich lachte leise. Im nächsten Augenblick erstarrte Mäjesto. Langsam wandte er sich um und spähte zu einer undeutlich erkennbaren Ruine hinüber, dann huschte er dichter zu uns. »Dort drüben ist jemand!« flüsterte er
34 kaum hörbar. »Wahrscheinlich die Nachträuber. Wir müssen verschwinden, bevor sie uns bemerken. Wenn ihr mir folgt, kann ich euch wahrscheinlich in Sicherheit bringen.« Ich hatte keinen greifbaren Grund, dem kleinwüchsigen Dieb zu vertrauen. Dennoch glaubte ich, daß wir ihm vertrauen konnten, jedenfalls, solange wir nichts besaßen, was zu stehlen sich lohnte. »In Ordnung!« flüsterte ich zurück. Mäjesto wandte sich nach links. Razamon und ich folgten ihm. Ich mußte höllisch aufpassen, daß ich nicht in Löcher im Boden trat oder über Steinbrocken stolperte. Es war kaum vorstellbar, daß dieses verwahrloste Gelände zu Zbahn gehören sollte; aber angesichts dessen, daß wir uns zuletzt in der Gewalt eines führenden Technos von Zbahn befunden hatten, erschien mir Mäjestos entsprechende Aussage glaubhaft. Nach wenigen Minuten tauchte der Dieb in einem Graben unter, winkte kurz und lief weiter. Er bewegte sich beinahe lautlos, während Razamon und ich es nicht vermeiden konnten, ab und zu an Steine zu stoßen. Als mein Blick auf Razamon fiel, wurde ich mir wieder der Tatsache bewußt, daß der Atlanter das linke Bein nachzog. Angeblich hing ein Zeitklumpen daran; jedenfalls hatte er das allen Ernstes behauptet. Und ich glaubte ihm, obwohl ich mir unter einem Zeitklumpen nichts vorstellen konnte. Als ich schon glaubte, der Graben würde kein Ende nehmen, sah ich Mäjesto einen breiten Mauerrest hinaufklettern. Razamon und ich folgten ihm, ohne zu zögern. In zirka acht Metern Höhe legte der Dieb sich flach hin, und wir folgten seinem Beispiel. Nach einer Weile erblickte ich im Graben schräg unter uns geduckt dahinhuschende Gestalten. Sie waren humanoid, bewegten sich aber gleich einem Rudel hungriger Wölfe. Ich vermochte nicht zu erkennen, wie sie bewaffnet waren, aber da wir waffenlos waren – bis auf Mäjestos Dolch –, waren sie uns auf jeden Fall überlegen. Ich zählte insgesamt neun Gestalten und
H. G. Ewers zweifelte nicht daran, daß sie zur DruuhdBande gehörten. Als der letzte von ihnen nicht mehr zu sehen war, regte sich Mäjesto wieder. »Die Nachträuber haben noch keine Beute gefunden«, flüsterte er. »Sie werden die ganze Nacht weitersuchen. Wir müssen schnellstens untertauchen.« »Nichts anderes haben wir vor, mein Freund«, gab ich zurück.
7. DER BLINDE SEHER Als wir um die Ecke eines halb verfallenen Gebäudes bogen, dachte ich zuerst, das Bauwerk rund tausend Meter vor uns wäre der Patorgh, in dem Razamon und ich den Besitzer gewechselt hatten. Doch dann erkannte ich, daß dieses Bauwerk viel kleiner war, obwohl es die gleiche Form wie der Patorgh, nämlich die eines auf der flachen Seite liegenden Schneckenhauses, besaß. Es mußte sich demnach um eine der sechs Vorstädte handeln, die ich beim Anflug auf Zbahn gesehen hatte. Das Bauwerk selbst strahlte kein Licht aus, dennoch war es in eine Glocke bläulicher Helligkeit gehüllt. Das Licht ging von zahlreichen glasartigen Stäben aus, die in sieben Kreisen rund um die Vorstadt im Boden staken. »Das ist Emzig, die nördlichste Vorstadt von Zbahn«, flüsterte Mäjesto. »Hinter ihr liegt der Anfang des Abschnitts der Straße der Mächtigen, der nach Zbohr führt. Hier soll vor undenklichen Zeiten Odin geherrscht haben. Er liebte diesen Abschnitt der Straße so sehr, daß er entschied, ihn nicht an seine Söhne zu vererben.« Ich spürte, wie die Erregung mich packte und meine Augen sich mit wäßrigem Sekret füllten. Odin, uralter indogermanischer Gott, dessen Name mit Wodan identisch war! In den Augen der Vorläufer der indogermanischen Völker war er Allvater und Götterkönig, Herrscher der Welt und der Menschen sowie Herr der gefallenen Krieger in Walhall. Als
Der Gralshüter von Gorrick Gott der Herrscherfunktion vertrat Odin deren magischen und mystischen Aspekt: Er sollte einäugig gewesen sein, seit er ein Auge dem Riesen Munir zum Pfand gab, um Weisheit zu erlangen. Er sollte die Runen erfunden haben und die Zukunft voraussagen können, indem er den Kopf des Mimir zu Rate zog. Odins Tier war das Pferd, besonders der achtfüßige Sleipnir. Als Reiter sollte er die »wilde Jagd« angeführt haben, das Gefolge der Verstorbenen, das in stürmischer Nacht dahinbraust. Aber das alles war Bestandteil der Sagen gewesen, die ich während der Wachperioden meiner zehntausendjährigen Verbannung bei den indogermanischen Stämmen gehört hatte. Da ich wußte, daß es vor dem Untergang von Atlantis auf der Erde keinen Odin gegeben hatte, war ich davon überzeugt gewesen, daß er nur eine Phantasiegestalt war. Und plötzlich hörte ich von einem Pthorer diesen Namen – und Mäjesto sprach so von ihm, als hätte es ihn auf Pthor wirklich gegeben. Deutete das nicht darauf hin, daß vor zirka zehntausend Jahren, nachdem Atlantis versunken und ich in meine Tiefseekuppel gegangen war, ein mit »übernatürlichen« Kräften ausgestattetes Wesen namens Odin von Pthor auf die Erde gegangen war und dort sein »Unwesen« getrieben und sich als Gott aufgespielt hatte? Du hast zu lange in deiner Kuppel geschlafen! erklärte der Logiksektor meines Extrasinns. Deine Weckautomatik war nur darauf eingestellt, beim Auftauchen von Raumschiffen über der Erde Alarm zu geben. Dadurch hast du den wahrscheinlich interessantesten Teil der Menschheitsgeschichte verpaßt. Ich erschauderte. Pech für mich – und vielleicht auch für die heutige Menschheit! gab ich zurück. Ich dachte anfangs nicht daran, die Entwicklung der Überlebenden der Großen Sintflut zu beeinflussen. Ich wartete nur auf ein Schiff, mit dem ich nach Arkon gelangen konnte. Es wäre sicher sehr aufschlußreich gewesen, wenn ich damals Odin und den anderen
35 »Sagengestalten« begegnet wäre – und es hätte der heutigen Menschheit wahrscheinlich geholfen, sich besser gegen den neuerlichen Angriff Pthors zu wappnen. Ein stechender Schmerz in meinem linken Arm riß mich aus der Versunkenheit, in die mein Geist geglitten war. Ich beherrschte meine Reflexe glücklicherweise gut genug, um einen Dagor-Befreiungsschlag zu vermeiden – und ich wußte noch, wo ich mich befand und daß es nur Razamon sein konnte, der meinen linken Arm in seinem stahlharten Griff hielt. »Ich weiß, es fesselt den Geist, wenn Sagengestalten und Mythen plötzlich Gestalt annehmen«, flüsterte mir Razamon zu und ließ gleichzeitig meinen Arm los. »Aber Mäjesto sagte mir, daß sich jemand nähert.« Ich sah den Kleinen nur undeutlich, weil der Mond sich wieder hinter Wolken verborgen hatte. Aber wenn er die Annäherung von Nachträubern bemerkt hätte, wäre er sicher nicht so ruhig geblieben. »Wer kann das sein?« flüsterte ich. »Eine einzelne Person«, flüsterte Mäjesto zurück. »Sie muß in unserer Nähe vorbeikommen und bewegt sich durch offenes Gelände. Das ist äußerst unvorsichtig.« Wir preßten uns gegen die morsche Wand des halbverfallenen Gebäudes und verhielten uns ruhig. Nach kurzer Zeit hörte ich ebenfalls Schritte. Hin und wieder wurden kleine Steine angestoßen. So bewegte sich bestimmt niemand, der in diesem Gebiet zu Hause war. Eigentlich konnte es nur ein Techno sein, der nach Emzig zurückkehrte. Wenig später sah ich, daß meine Vermutung stimmte. Ein einzelner Techno ging zirka fünf Meter an uns vorüber. Er bemerkte uns nicht – und er bewegte sich in Richtung Emzig. Plötzlich rissen die Wolken wieder auseinander. Die Gestalt des Technos wurde vom bleichen Licht Lunas übergossen. Ich hielt den Atem an, als die Teile der Körperoberfläche, die nicht von der zweiteiligen Rüstung bedeckt wurden, sich auf rätselhafte Weise veränderten. Sie wurden bei-
36 nahe durchscheinend – und ich glaubte, im Innern des Körpers ein stählernes Gerüst zu erkennen, um das schwach pulsierende Gebilde angeordnet waren. Im nächsten Moment schob sich eine neue Wolke vor den Mond. Die Transparenz des Techno-Körpers verschwand, obwohl von vorn aus Richtung Emzig ausreichend Licht auf ihn fiel. »Hast du das gesehen?« wandte ich mich an Razamon. »Der Körper des Technos wurde im Mondlicht seltsam durchscheinend – und in seinem Innern befanden sich Elemente, die ich nur als robotisch bezeichnen kann.« »Roboter werden nicht im Mondlicht transparent, Atlan«, gab Razamon zu bedenken. »Vielleicht handelte es sich nur um eine optische Täuschung, denn wenn jemand im Mondlicht durchscheinend wird, müßte er es auch im Schein anderer Lichtquellen werden.« »Es war keine optische Täuschung«, warf Mäjesto ein. »Ich habe dieses Phänomen schon mehrmals beobachtet, seit Pthor auf der Erde angehalten hat.« »Aber dann müßte das Licht des Erdmonds eine bislang nicht entdeckte Eigenschaft besitzen, die ihm die Fähigkeit verleiht, ausgerechnet die Körper von Technos transparent erscheinen zu lassen«, erklärte ich. »Man könnte meinen, bei einem der früheren Besuche von Pthor auf der Erde hätte jemand etwas mit der Mondoberfläche gemacht, damit ihre Rückstrahlung eine Eigenschaft bekommt, mit deren Hilfe Technos als solche identifiziert werden können.« »Auch frühere irdische Zivilisationen werden versucht haben, sich gegen ihre Vernichtung aufzulehnen«, sagte Razamon bedeutungsvoll. Ich überhörte die Anspielung auf das Vergebliche aller Versuche, sich gegen die katastrophale Auswirkung des Dimensionsfahrstuhls auf alle Zivilisationen zu wehren, denn ich wollte nicht wahrhaben, daß auch die Macht des Solaren Imperiums zu gering sei, um das Verhängnis abzuwenden.
H. G. Ewers »Jedenfalls sind die Technos keine organischen Lebewesen, sondern Roboter oder bestenfalls Androiden«, stellte ich fest. »Aber sie essen; das habe ich selbst beobachtet«, widersprach Razamon. »Außerdem lassen sie sich von Gefühlen leiten, sonst gäbe es keinen Konkurrenzkampf zwischen Eisenkaiser und Aminomeister.« Ich zuckte die Schultern. Auch Androiden konnten ein Gefühlsleben besitzen, wie ich aus eigener Erfahrung wußte. Es war, jedenfalls vom Standpunkt eines Unsterblichen, noch gar nicht so lange her, daß die USO mit dem Problem der Helothas konfrontiert worden war. Die Helothas waren künstlich erzeugte intelligente Lebewesen und dienten ihren Erzeugern als Söldner, die an jede galaktische Macht vermietet worden waren, die dafür entsprechend hatte zahlen können. Es war schwierig gewesen, den Erzeugern von Androiden, die ein ausgeprägtes Gefühlsleben besaßen, das Handwerk zu legen. Noch schwieriger war es allerdings gewesen, für die Helothas die Personenrechte zu erkämpfen, wie sie laut galaktischer Konvention allen natürlich entstandenen intelligenten Lebewesen zustanden. Mit Hilfe der Diplomaten des IPC hatten wir es schließlich geschafft. Die Zeit dieser turbulenten Ereignisse war als DAS JAHR DER ZOMBIES in die galaktische Geschichte eingegangen. Während meiner Überlegungen hatte ich den Techno keinen Moment aus den Augen gelassen. Deshalb sah ich die Gestalten, die neben ihm aus Deckungen sprangen und sich auf ihn stürzten, sofort. Nachträuber!
* Ich ballte unwillkürlich die Fäuste, denn was sich da vor meinen Augen abspielte, war brutaler Raubmord. Dennoch konnten wir, nur mit einem Dolch bewaffnet, nicht eingreifen. Es fiel mir schwer, mich zu beherrschen.
Der Gralshüter von Gorrick Ich schaffte es nur unter Aufbietung aller Willenskräfte. Mäjesto dagegen schien es gewohnt zu sein, Zeuge solcher Gewalttaten zu werden. Er zeigte keine Spur von Erregung. Was Razamon anbelangte, so zweifelte ich keine Sekunde daran, daß er sich genauso in der Gewalt hatte wie ich mich. Deshalb zuckte ich heftig zusammen, als der Atlanter ein wildes Gebrüll ausstieß und mit einer Geschwindigkeit, die ich ihm nie zugetraut hätte, auf die an ihrem Opfer zerrenden Mörder zustürmte. Die Nachträuber hatten den Schrei natürlich ebenfalls gehört. Ich sah, wie sie sich aufrichteten und in Razamons Richtung schauten. Doch sie reagierten viel zu langsam, wahrscheinlich, weil sie in Razamon nur ein weiteres Opfer sahen. Bevor sie ihre Meinung auch nur im Ansatz korrigieren konnten, war der Atlanter über ihnen. Nur wenige Sekunden lang vermochte ich den Anblick des zum Berserker zurückverwandelten Freundes und sein Wüten zu ertragen, dann wandte ich mich erschüttert ab. Die Mörder hatten gewiß keine Gnade verdient, aber in diesen Augenblicken war Razamon selber ein Mörder, eine reißende Bestie mit der Körperkraft eines Oxtorners und dem Blutdurst eines Amokläufers. Ich zwang mich dazu, daran zu denken, daß Razamon nicht für seine Handlungsweise verantwortlich war. Vor über zehntausend Erdjahren hatte er zu den Berserkern von Pthor gehört, die jedesmal dann, wenn der Dimensionsfahrstuhl auf einer Welt materialisiert war und ihre Zivilisation zerschlagen hatte, grauenhaften Terror über die Überlebenden brachten. Beim vorletzten Besuch von Pthor auf der Erde, bei dem Atlantis untergegangen war, hatte sich in Razamons Denken und Fühlen die entscheidende Wende ergeben. Anstatt die von der Sintflut Betroffenen zu terrorisieren, hatte er sich der Hilflosen angenommen und versucht, sie vor den anderen Berserkern zu beschützen.
37 Daraufhin hatten die Herren von Atlantis ihn seiner Erinnerungen beraubt, ihm – als Strafe – die relative Unsterblichkeit gegeben und ihn verstoßen. Als Pthor wieder von der Erde verschwand, hatte er zurückbleiben müssen. In den darauffolgenden zehntausend Jahren hatte Razamon unter vielen Namen als Mensch unter Menschen gelebt. Seine Wandlung vom Berserker zum mitfühlenden Wesen hatte weitere Fortschritte gemacht und sich verfestigt. Er war »menschlicher« geworden, als manche echten Menschen es werden wollten. Nur in bestimmten Zeitabständen, die sich nicht exakt voraussehen ließen, war das Berserkerhafte in ihm wieder durchgebrochen. Äußere Umstände konnten diese Zeitabstände verkürzen. Damit er während dieser Phasen nicht gegen seinen Willen zum Mörder wurde, baute er sich einen mit Stahlwänden gepanzerten geheimen Raum, das sogenannte Stahlbad. Dort tobte sich der Unglückliche aus, wenn er das Böse in sich nicht mehr bezähmen konnte. Als ich ein Splittern und Bersten hörte, schaute ich wieder in die Richtung, in die der Atlanter gestürmt war. Ich sah die Nachträuber gleich zerdrückten Kleiderbündeln auf dem Boden liegen – zwischen ihnen ihr Opfer –, und ich sah, wie Razamon durch den äußeren Kreis der Leuchtstäbe raste, wobei die Stäbe unter dem Anprall seines Körpers wie Streichhölzer zersplitterten. Es konnte nicht lange dauern, bis die durch den Lärm aufgeschreckten Bewohner von Emzig kamen, um nach der Ursache des Lärms zu sehen. Sie würden den Tobenden entdecken und ihn logischerweise ausschalten. Gegen den konzentrierten Beschuß zahlreicher Lähmwaffen aber nützten dem Atlanter auch die Berserkerkräfte nichts. Ich sprang los, schrie Razamons Namen, nannte meinen Namen und versuchte dadurch, ihn zur Vernunft zu bringen. Statt dessen machte er plötzlich kehrt und raste auf mich zu. Ich konnte nur versuchen zu fliehen, denn gegen seine entfesselten Ber-
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serkerkräfte waren auch meine Dagor-Künste machtlos. Aber er hätte mich zweifellos eingeholt und getötet, wenn der Ausbruch nicht ebenso schnell vorbeigegangen wäre wie er gekommen war. Razamons Lauf wurde langsamer, dann taumelte der Atlanter und brach schließlich völlig verausgabt zusammen. Ich eilte zu ihm und kniete nieder. Razamon war bewußtlos. Wie lange er es bleiben würde, wußte ich nicht. Aber ich wußte, daß wir schnellstens von hier verschwinden mußten, denn in der Außenwand der Vorstadt hatten sich einige Türen geöffnet. Technos mit Lähmwaffen in den Händen drängten ins Freie, um zu sehen, was den Lärm verursacht hatte. Zum Glück befanden Razamon und ich uns nicht in der Nähe der leuchtenden Stäbe. Ich lud mir den Bewußtlosen auf die Schultern und eilte zu Mäjesto zurück. Der kleine Dieb lehnte zitternd und mit bleichem Gesicht an der Gebäudewand. »Ein Berserker!« flüsterte er immer wieder. »Hör auf damit!« fuhr ich ihn an. »Kannst du uns in ein Versteck führen, in dem wir die Nacht verbringen?« Mein barscher Ton half, wie es beabsichtigt war. Mäjesto hörte auf zu zittern, blickte mich aus großen Augen an und sagte: »Ich werde euch zu Ichtbar führen, Atlan. Bei ihm werden wir für diese Nacht sicher sein.«
* Nach einem beschwerlichen Marsch durch einsturzgefährdete Ruinen, über schiefe Treppen und durch modrig riechende Gewölbe erreichten wir den Eingang einer in düsteres Licht getauchten kleinen Kammer. »Wir sind da!« sagte Mäjesto. Ich spähte in die Kammer, dessen gemauerte Wände teilweise mit weißen Kristallen bedeckt waren, die aus den Fugen quollen beziehungsweise wuchsen. Sie brachen und reflektierten das Licht, das aus den Wänden
sickerte. Im Hintergrund der Kammer kauerte auf einer schmutzigen Matte ein fast völlig nacktes Lebewesen, das nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien. Es war äußerlich humanoid und besaß weiße Augäpfel ohne Iris und Pupillen. Diese Augen hatten sich auf uns gerichtet, aber ich erhielt den Eindruck, daß sie blind waren. »Das ist Ichtbar«, sagte Mäjesto. »Er ist blind und stumm, ein ehemaliger Sklave von den Technos Aminomeisters.« Ich trat hinter dem Dieb in die Kammer und ließ Razamon von meinen Schultern gleiten. Anschließend reckte ich mich, froh, von dem Gewicht befreit zu sein. »Ichtbar, ich habe zwei Freunde mitgebracht: Atlan und Razamon«, teilte der Dieb dem ehemaligen Sklaven mit. »Ich bitte dich, uns bis zum Ende dieser Nacht bei dir aufzunehmen.« Ichtbar machte eine Handbewegung. Mäjesto drehte sich zu mir um. »Er ist einverstanden, Atlan. Nimm bitte Platz!« Ich setzte mich so, daß ich mich mit dem Rücken an die Wand lehnen und gleichzeitig die Türöffnung und Ichtbar im Auge behalten konnte. Der ehemalige Sklave schien harmlos zu sein, aber ich wollte lieber vorsichtig sein. Als mein Magen hörbar knurrte, wurde ich mir der Tatsache bewußt, daß Razamon und ich fast vierundzwanzig Stunden lang nichts gegessen hatten. Ich hätte viel darum gegeben, wenn ich ein paar Konzentratriegel, die ich bei zahllosen Einsätzen oft verwünscht hatte, gehabt hätte. Außerdem brauchte ich etwas zu trinken. »Kannst du etwas Wasser besorgen, Mäjesto?« erkundigte ich mich. Der Dieb zog einen halbgefüllten Lederbeutel aus seinem weiten Gewand und reichte ihn mir. Ich zog den Stöpsel heraus und roch an der Öffnung. Ein fauligbitterer Geruch schlug mir entgegen und drehte mir fast den Magen um.
Der Gralshüter von Gorrick »Was soll das sein, Mäjesto?« fragte ich. »Ein Aufguß aus der Kalmus-Wurzel«, antwortete der Kleine mit müdem Lächeln. »Es ist gut für meinen schwachen Magen.« Ich roch noch einmal an der Öffnung und erkannte diesmal den Geruch wieder. Vor vielen Jahren hatte mir der gute alte Reginald Bull einmal einen Schnaps angeboten, der mit Kalmus aufgesetzt worden war. Schon damals hatte ich den Geruch nicht ausstehen können. Aber der Geschmack war erträglich gewesen – und vor allem hatte ich das Zeug gut vertragen. Ich überwand mich auch diesmal. Allerdings hielt ich mir – genau wie beim Kalmus-Schnaps – beim Trinken die Nase zu. Nach ein paar Schlucken reichte ich den Beutel zurück. »Danke, Mäjesto! Zu essen gibt es hier sicher nichts, oder?« Ich warf einen bedeutungsvollen Blick auf Ichtbar. Der ehemalige Sklave machte wieder eine Handbewegung. »Er hat keine Vorräte«, übersetzte Mäjesto. »Ich habe auch nichts bei mir. Morgen könnte ich etwas beschaffen.« Ich nickte. Es war nicht das erstemal, daß ich notgedrungen eine Fastenzeit einlegen mußte. Ich würde es auch diesmal überstehen. »Warum lebt Ichtbar nicht mehr bei Aminomeister?« erkundigte ich mich. »Er war zu alt für manuelle Arbeiten – und für etwas anderes werden die Gorricks nicht eingesetzt«, antwortete der Kleine. »Gorricks?« wiederholte ich fragend. »So nennen sie sich«, erklärte Mäjesto. »Die Gorricks wurden auf einem fremden Planeten eingefangen und werden von den Technos in Zbahn und Zbohr als Sklaven eingesetzt.« Interessiert schaute ich Ichtbar an. Ich bedauerte es, daß der Gorrick stumm war. Könnte er reden, würde ich sicher einiges über seine Heimatwelt erfahren können – und darüber, ob und wie Ichtbars Artgenossen versucht hatten, sich gegen die von Pthor ausgelöste Katastrophe zu schützen.
39 Leider besaß ich auch kein Schreibzeug, ja nicht einmal etwas, das ich als Ersatz hätte verwenden können. »Wovon lebt Ichtbar, wenn er keine körperliche Arbeit mehr leisten kann?« fragte ich. Mäjesto musterte mich lange Zeit prüfend, bevor er antwortete: »Ichtbar vermag sich zu bestimmten Zeiten in Trance zu versetzen. Dann kann er sich Dinge und Geschehnisse vorstellen, die sich in der Vergangenheit ereignet haben oder in der Zukunft ereignen werden. Wir von der Diebesgilde der blauen Mohnblume holen deshalb manchmal seinen Rat ein und liefern ihm dafür Lebensmittel.« »Satt wird er offenbar davon nicht«, erwiderte ich, während ich überlegte, ob Ichtbar nur eine Art Wahrsager war oder ein echter Seher. »Das liegt nicht an uns, sondern daran, daß Ichtbar außer den Bodenknöllchen des Belchenkrauts keine Nahrung zu sich nimmt«, erklärte der Kleine beleidigt. »Hier wächst aber nur wenig Belchenkraut. Es stammt offenbar von Samen ab, die aus der Welt der Gorricks eingeschleppt wurden.« »Was weißt du über die Welt der Gorricks, Mäjesto?« erkundigte ich mich. »Nichts«, sagte der Dieb. »Ich wurde als Säugling in dem Jahr zwischen den Felsen gefunden, in dem Pthor die Welt der Gorricks heimsuchte.« »Schade!« Ich zuckte die Schultern. »Es würde mich interessieren, wie es auf Gorrick aussah, bevor Pthor dort ankam. Wie holt ihr euch eigentlich Ichtbars Rat ein, wenn er nicht sprechen kann?« »Gildenmeister Usins besitzt eine Schreibtafel – und Schreiben kann Ichtbar besser als ich«, erwiderte Mäjesto. »Ich kann nämlich weder lesen noch schreiben«, fügte er verschämt hinzu. »Aber willst du nicht ein paar Stunden schlafen, Atlan?« Ich nickte. Mein Zellaktivator sorgte zwar für eine ständige Regenerierung aller Zellen, aber dennoch brauchte ich – besonders nach
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großen körperlichen oder geistigen Anstrengungen – hin und wieder einige Stunden Schlaf. Während ich noch überlegte, ob ich es überhaupt riskieren durfte, hier zu schlafen, fielen mir bereits die Augen zu …
8. DIE DENKENDEN KRISTALLE Als ich erwachte, waren die Erinnerungen an die letzten Ereignisse sofort verfügbar. Dadurch war ich von einem Augenblick zum andern hellwach und bereit, mich gegen jeden Angreifer zu verteidigen. Doch ich sah in der Kammer niemanden außer dem alten Gorrick und Razamon. Der Atlanter war bei Bewußtsein. Er hatte sich an der mir gegenüberliegenden Wand niedergesetzt und sah mich mit stumpfen Augen an. Sein Gesicht wirkte eingefallen und verhärmt. Offenbar dachte er daran, wie er in der Nacht zum Berserker geworden war. »Du kannst nichts dafür, Razamon«, sagte ich. »Außerdem hat es keine Unschuldigen getroffen, sondern eine Mörderbande. Wo ist Mäjesto?« »Er wollte Nahrungsmittel und Wasser besorgen«, antwortete Razamon. »Demnach ist die Nacht vorüber«, meinte ich. Ich stand auf, reckte mich und ging in der Kammer hin und her, um meine versteiften Glieder zu lockern. Leicht irritiert stellte ich fest, daß die Augäpfel Ichtbars sich bewegten, als könnte der Gorrick mir mit Blicken folgen. Ich blieb vor ihm stehen. »Darf ich etwas fragen, Ichtbar?« Der ehemalige Sklave machte eine Geste, die ich als Bejahung verstand. Ich ging vor ihm in die Hocke. »Werden alle Gorricks blind und stumm geboren?« Wieder die bejahende Geste. »Wie orientiert ihr euch dann – vor allem in einer fremden Umgebung? Und wie ver-
ständigt ihr euch untereinander?« Die blicklosen Augen des Gorricks starrten mich lange an, dann machte Ichtbar eine Geste der Verneinung oder Ablehnung. Er wollte demnach meine Fragen nicht beantworten. Das konnte eigentlich nur bedeuten, daß die Gorricks ihre Möglichkeiten der Verständigung und Orientierung geheimhielten. »Und du kannst in die Vergangenheit und in die Zukunft sehen?« wechselte ich das Thema. Ichtbar hielt seine Hände seitlich vom Körper, spreizte die Finger und vollführte drehende Handbewegungen. Ich übersetzte diese Geste mit »Jein«, einer terranischen Wortschöpfung. Das hieß in seinem Falle wahrscheinlich, daß er nicht eigentlich in die Vergangenheit und Zukunft »sah«, sondern nur gewisse Vorstellungen über Dinge und Geschehnisse hatte, die sich in der Vergangenheit abgespielt hatten oder sich in der Zukunft abspielen würden. Doch auch das war schon eine überaus bemerkenswerte Fähigkeit. Ich wünschte, ich könnte Informationen über die Zukunft der Erde und der irdischen Menschheit von ihm einholen – und über meine eigene Zukunft. Als ich von draußen Schritte hörte, die sich der Kammer näherten, erhob ich mich. Auch Razamon stand auf. Sekunden später steckte Mäjesto seinen Kopf herein. Er sah unglücklich aus, was mich nicht wunderte, da ich die Platzwunde an seiner linken Schädelseite bemerkte. Der Kleine schob sich weiter herein. In der rechten Hand hielt er einen schmutzigen Stoffbeutel, in der linken einen mit klarem Wasser gefüllten Ledereimer. Er setzte beides ab, öffnete den Beutel und holte drei kleine Fladenbrote und ein paar getrocknete Früchte heraus. Obwohl mir beim Anblick der Nahrungsmittel das Wasser im Mund zusammenlief, beherrschte ich mich noch und deutete auf Mäjestos Wunde. »Wie ist das passiert?« wollte ich wissen. »Ein paar Kinder haben mich mit Steinen
Der Gralshüter von Gorrick beworfen, als ich am Brunnen Wasser holte«, berichtete der Kleine. »Die sind schlimmer als die Großen.« Ich sah mir die Platzwunde an. Sie war nicht gefährlich und würde sich bald schließen. Beruhigt setzte ich mich mit Mäjesto und Razamon zum Essen nieder. Die getrockneten Früchte schmeckten ausgezeichnet, aber das Brot schien zur Hälfte aus Sand zu bestehen. Jedenfalls knirschten meine Zähne beim Kauen ständig auf Sandkörnern. Aber mein Hunger war groß; deshalb aß ich meinen Brotfladen auf. Ich hätte sogar noch mehr gegessen, wenn mehr dagewesen wäre. Nachdem wir auch unseren Durst gestillt hatten, wandte ich mich wieder an Mäjesto und sagte: »Ich hätte gern mit Usins gesprochen, eurem Gildenmeister. Ist das möglich, Mäjesto?« Der Kleine wich meinem Blick aus und erwiderte stockend: »Er ist nicht mein Gildenmeister, Atlan. Ich werde nur im Gebiet der Mohnblumengilde geduldet, weil Ichtbar sich bei Usins dafür eingesetzt hat. Aber wenn die anderen wüßten, daß ich euch zu Ichtbar gebracht habe, würden sie mich davonjagen.« Ich fühlte plötzlich Mitleid mit dem Kleinen – und er stieg in meiner Achtung, denn er hatte uns, obwohl er selbst nur geduldet war, durch die Nacht geführt und in Sicherheit gebracht, und er hatte riskiert, daß er dafür von den anderen Dieben fortgejagt wurde. Und ich konnte mir ausrechnen, daß ein Ausgestoßener auf Pthor nur geringe Überlebenschancen besaß. »Ich wollte, wir könnten dir einen gleichwertigen Gegendienst erweisen, Mäjesto«, erklärte ich. Mäjestos Gesicht leuchtete auf. »Das könnt ihr!« rief er. Dann senkte er die Stimme. »Begleitet mich zu jenem Abschnitt der Straße der Mächtigen, der zwischen Zbahn und Zbohr liegt! Ich weiß, daß dort kürzlich ein Zugor abgestürzt ist – mit einer sehr wertvollen Ladung.«
41 Ich mußte innerlich lachen. Dieser kleine Dieb war also doch nicht so uneigennützig gewesen, wie ich zuerst angenommen hatte. Wahrscheinlich hatte er, als er uns fand, sofort daran gedacht, uns dazu zu bringen, ihn zu dem abgestürzten Zugor zu begleiten. Aber wieso war der Zugor abgestürzt? Hatte der Pilot den vorgeschriebenen Luftkorridor verlassen – und warum? Ich wollte eine entsprechende Frage stellen, als in Mäjestos Augen ein gespannter Ausdruck trat. Der Kleine blickte zu dem Gorrick hinüber. Als ich mich nach Ichtbar umsah, bemerkte ich, daß der ehemalige Sklave heftig gestikulierte – und je länger das dauerte, um so blasser wurde Mäjesto. Als der Gorrick die Hände sinken ließ, sagte der Kleine: »Ichtbar hat mich soeben davon unterrichtet, daß ein Ungeheuer von den Horden der Nacht in das Gebiet eingebrochen ist, das diese Bestien eigentlich nicht betreten dürfen. Es nähert sich Zbahn und wird großes Unheil anrichten.« »Die Technos werden es mit ihren Lähmwaffen ausschalten«, erwiderte ich. »Nicht alle Bestien lassen sich von Waggus lähmen«, erklärte er. »Wir müssen fliehen!« »Zur Straße der Mächtigen, nicht wahr?« warf Razamon ironisch ein. »Nein, nicht nach draußen!« rief Mäjesto. »Ichtbar meinte, wir sollten in die Kristallhöhlen fliehen, denn dort käme das Ungeheuer nicht hin.« »In die Kristallhöhlen?« fragte ich. »Folgt mir, dann seht ihr sie«, sagte der Kleine. Er ging zu dem Gorrick und wartete. Ichtbar vollführte einige Bewegungen mit den Händen, dann verdeckte er seine Augen. Im nächsten Moment verschwand hinter ihm ein Teil der Wand – und dahinter wurde ein schmaler Korridor sichtbar, aus dem düster rotes Licht fiel.
*
42 Als wir den Korridor betreten hatten, sah ich, daß das Licht von den Wänden kam. Es handelte sich scheinbar um gewachsenen Fels. Ich sage »scheinbar«, weil ich mir keinen natürlich gewachsenen Fels vorstellen konnte, der düster rot leuchtete und dabei kalt war. Aber er fühlte sich tatsächlich wie rauhes Felsgestein an. Als sich die Öffnung hinter uns wie von Geisterhand wieder schloß, sagte ich: »Warst du schon einmal hier, Mäjesto?« »Ja«, antwortete der Kleine. »Aber es ist schon sehr lange her. Damals wurde ich von den Mitgliedern der Diebesgilde ständig verfolgt, mit Steinen beworfen und verprügelt. Auf meiner Flucht verirrte ich mich und entdeckte Ichtbar. Als die anderen Diebe mir folgten, schickte der Gorrick mich in die Kristallhöhlen. Er verhandelte danach mit Usins und erreichte, daß ich fortan geduldet wurde. Aber die anderen Diebe wissen bis heute nicht, daß es die Kristallhöhlen gibt, obwohl immer wieder Gerüchte darüber umgehen.« »Was für Gerüchte?« wollte Razamon wissen. Der Kleine blieb stehen und deutete nach oben. »Die verfallenen Gebäude über uns sollen von versklavten Gefangenen errichtet worden sein, die eine längst vergessene Magie beherrschten. Sie und ihre Nachkommen mußten den Technos dienen. Aber eines Tages verschwanden sie spurlos. Niemand hat wieder etwas von ihnen gehört. Aber angeblich will jemand vor der Flucht das Gespräch mehrerer Sklaven belauscht haben, in dem davon die Rede war, daß sie ihre Aufgabe erfüllt hätten und nunmehr in die Kristallhöhlen gehen könnten, die von jenen geschaffen worden seien, die sie, die Sklaven, zu einem bestimmten Zweck nach Pthor eingeschleust hätten.« Allerdings galt der Lauscher als nicht richtig im Kopf. Deshalb wurde seine Geschichte nicht geglaubt. Aber die Erinnerung daran taucht von Zeit zu Zeit als Gerücht auf. Viele haben schon nach den Kristall-
H. G. Ewers höhlen gesucht, doch niemals hat jemand sie gefunden. Manche sind allerdings verschollen, nachdem sie zur Suche nach den Kristallhöhlen aufgebrochen waren. Ich blickte Razamon an. »Hast du während deiner Zeit auf Pthor jemals etwas von Kristallhöhlen gehört?« Der Atlanter schüttelte den Kopf. Genau wie ich hatte er während seiner zehntausendjährigen Verbannung auf der Erde die Mimik und Gestik der Menschen übernommen. »Noch nie, Atlan. Aber die Kristallhöhlen könnten ja erst nach meiner Zeit entstanden sein – oder ich habe die Informationen darüber genauso vergessen wie das meiste andere.« Sein Gesicht wurde nachdenklich. »Diese Sklaven, die die halb verfallenen Gebäude über uns bauten, müßten nach den Worten Mäjestos so etwas wie eine fünfte Kolonne jener Wesen gewesen sein, die die Kristallhöhlen schufen. Es hat also schon erfolgreiche Gegenaktionen gegeben, die sich gegen Pthor richteten. Zumindest verliefen sie teilweise erfolgreich. Vielleicht konnten die Anfangserfolge nur nicht ausgebaut werden, weil ihre Initiatoren inzwischen von den Pthorern besiegt oder vernichtet wurden.« »Ob die Herren der FESTUNG nie etwas von diesen Gerüchten gehört haben?« überlegte ich laut. »Wenn ja, dann halten sie sich für unbesiegbar. Andernfalls hätten sie längst eine organisierte Suchaktion veranlaßt – und die Höhle wäre gefunden worden«, meinte der Atlanter. Wir beendeten unser Gespräch, da Mäjesto sich wieder in Bewegung setzte. Der Korridor war leicht abwärts geneigt und bog sich kaum merkbar nach links. Ich schätzte, daß wir ungefähr zweieinhalb Kilometer zurückgelegt hatten, als der Korridor vor einer Felswand endete. Das heißt, er endete, nicht aber unser Weg, denn in der glatten Felswand befand sich eine zirka drei Meter hohe und etwa einen Meter breite Öffnung. Aus der Öffnung drang das Rauschen von
Der Gralshüter von Gorrick Wasser. Ich trat hinter Mäjesto und blickte über seine Schulter. Hinter der Öffnung befand sich eine Art Cañon, durch den ein rund fünf Meter breiter reißender Fluß schoß. Von den Wänden und der Decke kam das gleiche düster rote Leuchten wie im Korridor. Auf der gegenüberliegenden Seite war eine ebenfalls rechteckige Öffnung in der Felswand. »Wie geht es jetzt weiter?« erkundigte ich mich. Der Kleine wandte den Kopf und sah mich erwartungsvoll an. »Siehst du das Glitzern über dem Wasser – zwischen uns und der Öffnung dort drüben?« Ich schaute genauer hin – und mit einiger Mühe vermochte ich so etwas wie einen glitzernden Schleier zu erkennen, der sich zwischen unserer und der gegenüberliegenden Öffnung spannte. Da die starke Reibung des Wassers an den Felswänden aufstiebende Wasserschleier erzeugte, wurde das Glitzern immer wieder fast völlig überdeckt. »Eine energetische Brücke?« fragte ich. »Ein Steg«, antwortete Mäjesto. »Woraus er besteht, weiß ich nicht. Aber er hat mich schon einmal getragen. Wir dürfen nicht länger warten, denn wer vor dem Steg zu lange zögert, verfällt den Dämonen der Unterwelt.« »Wer hat das gesagt?« fragte Razamon. »Ichtbar«, erklärte der Kleine. »Dieser Ichtbar scheint sehr viel zu wissen – für einen ehemaligen Sklaven, der zudem blind und stumm ist«, meinte der Atlanter. »Wenn wir zurückkommen, habe ich einige Fragen an ihn zu richten.« »Kommt jetzt!« rief Mäjesto. Ich sah deutlich, daß der Kleine sich fürchtete. Aber die Furcht vor dem Ungeheuer aus den Horden der Nacht schien größer zu sein als die Furcht vor einem kaum sichtbaren Steg, obwohl es eigentlich unwahrscheinlich war, daß die Bestie ausgerechnet zu Ichtbar kam und danach den verborgenen Korridor fand. Gespannt sah ich zu, wie der Kleine
43 scheinbar in die Luft über dem reißenden Wasser trat. Wenn der Steg ihn nicht trug, war er verloren, denn der Fluß würde ihn so schnell mit sich reißen, daß wir ihn sicherlich nicht einholen konnten. Aber der Steg trug. Langsam balancierte Mäjesto hinüber, teilweise in Schleier aus zerstäubtem Wasser gehüllt. Ich gab mir einen Ruck und folgte ihm. Als meine Füße den Steg berührten, glaubte ich ein Kribbeln zu spüren. Doch es hielt nur einen Augenblick an, so daß es vielleicht auf Einbildung beruht hatte. Auf jeden Fall aber trug der Steg auch mich. Hätte ich nur einen Detektor dabei gehabt, dann hätte ich feststellen können, ob der Steg aus Energie bestand oder etwa von magischen Kräften aufrechterhalten wurde, die sich der Messung durch einen Detektor entzogen. Als ich die andere Seite erreichte, war ich nicht nur naß, sondern auch heilfroh, daß der Steg nicht verschwunden war, während ich ihn benutzte. Kurz darauf kam auch Razamon an – und Mäjesto führte uns durch einen weiteren Korridor, der allerdings schon nach wenigen Metern in eine Höhle mündete, deren Wände von zahllosen unterschiedlichen Gebilden aus weißen Kristallen bedeckt waren.
* Im Unterschied zu den Korridoren und dem Cañon herrschte hier kein düster rotes Licht. Vielmehr war es so blendend hell, wie bei strahlendem Sonnenschein auf einem Gletscher – und das Licht schien aus den Kristallgebilden zu kommen. »Das sieht faszinierend aus«, bemerkte ich. »Aber ich frage mich dennoch, warum wir ausgerechnet hier vor dem Ungeheuer sicher sein sollen, Mäjesto.« »Die Kristalle beschützen uns«, erklärte der Kleine. »Du meinst wahrscheinlich, daß ein Ungeheuer aus den Horden der Nacht die blendende Helligkeit nicht verträgt und umkehrt, wenn es hierher gerät«, warf Razamon ein.
44 Mäjesto blickte den Atlanter verwirrt an. Er war es sicher nicht gewohnt, daß jemand versuchte, irgend etwas mit einer Logik zu erklären, die analytischem Denken entsprang. Seine Überzeugung, daß die Kristalle uns beschützten, mochte einfach daher kommen, daß er Ichtbar vertraute und deshalb erwartete, daß er dort, wohin der Gorrick ihn schickte, sicher war. »Schon gut«, meinte Razamon. »Du sprachst von Kristallhöhlen, also gibt es nicht nur diese eine Höhle. Ich würde gern auch die anderen Kristallhöhlen sehen, Mäjesto.« »Wir müssen warten!« beschied ihn der Kleine. »Worauf, zum Teufel?« fuhr Razamon ihn ungeduldig an. »Darauf, daß uns der Weg freigegeben wird«, erklärte Mäjesto unbeirrt. »Ich sehe nichts, was uns den Weg versperrt!« gab der Atlanter zurück. Er ging an Mäjesto vorbei auf die gegenüberliegende Seite der zirka dreißig Meter langen, fünfzehn Meter breiten und sieben Meter hohen Höhle zu. Dort war eine Öffnung zu sehen – allerdings wegen des blendenden Funkelns und Gleißens der Kristallgebilde nur undeutlich. »Das darfst du nicht!« rief Mäjesto ihm nach. Razamon lachte nur darüber. Ich folgte ihm, denn auch ich war überzeugt davon, daß es in Mäjestos Gehirn von allen möglichen Phantasiegebilden wimmelte, angefangen von Dämonen bis hin zu allen Dingen innewohnenden Geistern. Für einen rational denkenden Geist existierte so etwas selbstverständlich nicht. Dein Denken ist überheblich! warnte der Logiksektor meines Extrasinns. Magie mag in den Vorstellungen primitiver Geister als Werk von Dämonen und Zauberern herumspuken, dennoch wird sie real sein. Im Unterschied zur wissenschaftlich hochgezüchteten Technik wirkt Magie auch, ohne daß man sie als solche erkennt. Ich sehe nur Kristalle, aber keine Magie!
H. G. Ewers gab ich verärgert zurück. Und Kristalle existieren auch auf der von Wissenschaft und Technik beherrschten Erde, ohne daß sie magische Kräfte freigeben. »Kommt zurück!« rief Mäjesto. Ich drehte mich um und winkte auffordernd – und ich wollte etwas sagen. Aber Mäjesto war plötzlich nicht mehr da, genauso wenig wie der Teil der Kristallhöhle, in der er eben noch gestanden hatte. Statt dessen erblickte ich etwa fünf Meter vor mir eine pechschwarze Wand. Ich wirbelte herum. »Razamon!« Aber auch Razamon war verschwunden. Nur gab es auf dieser Seite keine schwarze Wand, sondern den ganz normal wirkenden Rest der Kristallhöhle mit der ebenfalls normal wirkenden Öffnung. Ich hatte dich gewarnt! übermittelte mir mein Logiksektor. »Was soll das schon weiter sein!« erwiderte ich laut. »Lichtwellenumlenkung oder pseudomaterielle Projektion! Das haben wir alles schon so oft erlebt, daß es mich nicht mehr aufregt.« Ich ging die fünf Meter bis zu der pechschwarzen Wand zurück, streckte die Hand aus und berührte die Stelle, an der die Wand zu sein schien. Im nächsten Augenblick zog ich die Hand mit einem Schmerzensschrei zurück und betrachtete meinen Mittelfinger, der wie Feuer brannte. Auf der Fingerkuppe entdeckte ich einen dunklen, fast schwarzen Fleck. Als ich ihn berührte, bröckelte ein kleiner Hautfetzen ab. Darunter kam rohes Fleisch zum Vorschein. Unwillkürlich wich ich einige Schritte vor der schwarzen Wand zurück. Ich überlegte, ob sie aus thermisch aufgeheizter Energie bestand oder ob dort die molekulare Bewegung »eingefroren« war, so daß die Temperatur den absoluten Nullpunkt erreichte. In beiden Fällen stellte ich mir die Wirkung auf organische Materie ähnlich vor, denn sowohl große Hitze wie auch enorme trockene Kälte mußte der Haut schlagartig alles Was-
Der Gralshüter von Gorrick ser entziehen. Ich schauderte bei dem Gedanken daran, wie ich jetzt wohl aussähe, wenn ich einfach in die schwarze Wand hineingegangen wäre. Aber was war mit Mäjesto geschehen? War er verbrannt oder erfroren? Da ich keine Möglichkeit sah, mir Gewißheit über sein Schicksal zu verschaffen, wandte ich mich wieder um und ging auf die Öffnung zu. Wenigstens wollte ich feststellen, wo Razamon geblieben war. Als ich die Öffnung erreichte, verlangsamte ich meinen Schritt, obwohl dort alles normal zu sein schien. Aber Razamon war verschwunden, bevor er die Öffnung erreicht haben konnte – und das war alles andere als normal. Vorsichtig schob ich mich durch die Öffnung. Die Nachbarhöhle schien noch viel mehr Kristalle zu enthalten als die erste, denn das Geflimmer aus ihr blendete mich derart, daß ich keine Einzelheiten erkannte. Als ich meinen Fuß auf die andere Seite der Öffnung setzte, erscholl ein ohrenbetäubendes Kreischen. Gleichzeitig schienen grelle Lichter rasend schnell um mich herum zu rotieren. Ich hob die Hände vor die Augen und versuchte, rückwärts in die erste Halle zurückzukehren. Doch ich hatte den Eindruck, als käme ich keinen Millimeter von der Stelle.
* Im nächsten Augenblick verstummte das Kreischen – und auch der irre Tanz der grellen Lichter hörte auf. Ich blieb dennoch mißtrauisch. Zögernd nahm ich die Hände von den Augen. Etwa einen halben Meter vor mir war die Öffnung. Dahinter befand sich eine Kristallhöhle, die der ersten glich – und auf ihrem Boden lag die verkrümmte Gestalt Razamons. Ich spürte, wie sich alles in mir verkrampfte. Erst war Mäjesto in dem schwarzen Etwas gestorben und dann mußte ich den Atlanter, der längst nicht nur Gefährte,
45 sondern ein echter Freund geworden war, tot in der zweiten Kristallhöhle entdecken. Und das alles nur, weil wir nicht auf die Warnungen eines kleinen liebenswerten Diebes gehört hatten! »Atlan!« Ich zuckte heftig zusammen, denn die Stimme, die meinen Namen rief, gehörte einem Toten. Tote sprechen nicht! spottete mein Logiksektor. Doch da hatte ich den Schock bereits überwunden. Langsam drehte ich mich um – und erblickte Mäjesto, der unversehrt dort stand, wo ich ihn zurückgelassen hatte. »Mäjesto!« rief ich erleichtert. »Hat dir die schwarze Wand also nicht geschadet!« »Welche schwarze Wand?« fragte der Kleine und kam näher. »Bleib stehen!« sagte ich. »Der Weg ist freigegeben«, erwiderte Mäjesto und kam unbeirrt näher. »Woher weißt du das?« fragte ich. »Woher?« wiederholte Mäjesto verständnislos. Ich gab es auf. Anscheinend vermochte ich zwar das Pthora einwandfrei zu beherrschen, das auf dem Neuen Atlantis gesprochen wurde, aber Mäjesto und ich sprachen dennoch nicht die gleiche Sprache. Zögernd wandte ich mich wieder um, zögernd deshalb, weil ich davor zurückschreckte, Gewißheit über den Tod Razamons zu bekommen. Der Atlanter lag noch auf dem gleichen Fleck wie vorhin und hatte seine Haltung nicht verändert. Etwas hatte ihn getötet. Aber während ich das noch dachte, ahnte ich plötzlich, daß er noch lebte – und diese Ahnung verdichtete sich zur Gewißheit, bevor ich den Freund erreichte. Das ist nicht normal! ließ sich mein Logiksektor vernehmen. Der Umschwung von der Gewißheit, daß Razamon tot sei bis zur Gewißheit, daß er lebt – und beides ohne Beweise –, kam zu plötzlich. Er kann nicht in dein mentalitätsbedingtes Verhaltensmuster eingeordnet werden.
46 Im Unterbewußtsein erkannte ich die Stichhaltigkeit dieses Arguments an, aber in meinem Bewußtsein war kein Platz dafür, solange ich nicht wußte, wie es Razamon ging. Als ich ihn erreicht hatte, kniete ich neben ihm nieder und legte ein Ohr auf seine Brust. Deutlich waren die einzelnen Atemzüge zu hören und auch zu spüren. Ich untersuchte den Atlanter, vermochte aber keine Verletzungen festzustellen. Die Schädeldecke tastete ich besonders sorgfältig ab, denn er konnte ja bei seinem Sturz auf den Kopf gefallen sein und eine Fraktur erlitten haben, die für seine Ohnmacht verantwortlich war. Doch auch hier gab es keine sicht oder tastbaren Verletzungen. Erst danach wagte ich es, mit leichten Ohrfeigen zu versuchen, Razamon ins Bewußtsein zurückzurufen. Sekunden später öffnete er die Augen. Im nächsten Moment verzerrte sich sein Gesicht. Er stieß einen gellenden Schrei aus und fiel erneut in Ohnmacht. Ich stand vor einem Rätsel. Aufmerksam musterte ich die Umgebung, konnte aber nichts Verdächtiges entdecken, etwas, das möglicherweise Razamon so sehr entsetzte, daß ihm der Schock das Bewußtsein raubte, sobald er erwachte und es sah. Lediglich das vielfältige kalte Glitzern der Kristallgebilde war zu sehen. Doch an ihm war nichts Erschreckendes. Jedenfalls nicht für mich. Mich faszinierten die Kristallgebilde nur. Allerdings war mir klar, daß es außer den Kristallgebilden hier noch etwas geben mußte, etwas, das die schwarze Wand erzeugt und das schrille Kreischen und das schnelle Rotieren der Lichter bewirkt hatte. Mäjesto kniete neben mir nieder und musterte den Atlanter besorgt. »Dein Freund beherrscht das Böse in sich – bis auf Ausnahmen –, aber es ist immer vorhanden, nicht wahr?« fragte er leise. »Ja«, antwortete ich, erstaunt über die verblüffend klare Formulierung, die eigentlich nur bei analytischem Denken zustande kommen sollte.
H. G. Ewers »Die Kristalle beschützen uns, aber sie beschützen uns vor allem Bösen«, erklärte der Kleine. »Vielleicht bekämpfen sie das Böse auch in Razamon.« Bestechende Logik! übermittelte mir der Logiksektor meines Extrasinns. Ich hob mir den Atlanter über die Schultern und kehrte um. Wenn es zutraf, daß die Kristalle sich negativ auf Razamon auswirkten, dann mußte sich sein Zustand bessern, sobald er die Kristallhöhlen verlassen hatte. Aber ich hatte die erste Höhle noch nicht zur Hälfte durchquert, als der Atlanter sich auf meinen Schultern bewegte und flüsterte: »Sie sind weg!« Überrascht ließ ich ihn zu Boden gleiten, aber er packte meine Hände und zog sich hoch. »Es geht mir gut«, erklärte er. »Diese Gedanken übermittelten mir grauenhafte, unnennbare Dinge, die mich in Entsetzen und Finsternis stießen. Aber sie sind verschwunden.« »Gedanken?« wiederholte ich, wandte mich um und blickte nachdenklich in die zweite Halle hinein. Waren es die Kristallgebilde dieser Höhle gewesen, die Gedanken in Razamons Geist geschickt und ihn dadurch so schockiert hatten, daß er nach dem Erwachen sofort wieder bewußtlos geworden war? Aber konnten Kristalle denken? Es gibt nichts, was es nicht gibt! wiederholte der Logiksektor meines Extrasinns einen meiner eigenen Aussprüche. Gerade ihn hatte ich oft terranischen Raumfahrern gegenüber zitiert, wenn wir bei unseren kosmischen Vorstößen etwas gefunden hatten, das unseren bisherigen geistigen Horizont sprengte und dadurch im ersten Augenblick unmöglich erschien. Unwillkürlich mußte ich lächeln. »Wartet hier!« sagte ich. »Ich muß in die zweite Höhle zurück – und danach in die dritte. Vielleicht dringen einige Gedanken auch zu mir durch.«
9. DER TOD DES
Der Gralshüter von Gorrick
GRALSHÜTERS VON GORRICK Ich lauschte angespannt in mich hinein, während ich die zweite Kristallhöhle durchquerte. Aber nichts geschah. Kein einziger Gedanke erreichte mich. Entweder lag Razamons Empfangsschwelle erheblich tiefer als die meine – oder er hatte sich alles nur eingebildet. Als ich mich am Ende der Höhle umwandte, sah ich Razamon und den Kleinen durch die Öffnung nebeneinander stehen und mir nachblicken. Ich winkte ihnen zu und schritt durch die Öffnung, die in die dritte Kristallhöhle führte. Schon beim ersten Schritt in diese Höhle merkte ich, daß etwas anders war als in den beiden ersten Höhlen. An Äußerlichkeiten konnte es nicht liegen, denn die Kristalle schimmerten, funkelten und gleißten hier nicht anders als in den anderen Höhlen. Und auch die Gebilde, zu denen sie zusammengewachsen waren, unterschieden sich nicht wesentlich von den anderen. Es war mehr ein Gefühl – so etwa als empfände ich mich als Stimmgabel, die von einer anderen Stimmgabel ganz zart angeschlagen worden war und plötzlich mittönte. Und die in der gleichen Schwingungszahl schwingen wird, wenn sie es kann! fügte mein Logiksektor hinzu. Ich begriff sofort, was er meinte. Aber es schreckte mich nicht, sondern erfüllte mich dagegen mit freudiger Erwartung. Ich wollte mitschwingen, wollte mithören! Unbeirrt ging ich weiter – und plötzlich empfing ich etwas. Oder hatte etwas meine Gehirnzellen so auf sich eingestimmt, daß sie das in Gedanken umwandelten, was in anderer Form auf sie einwirkte? Eine unbestimmbare Zeitspanne später war mein Ich eins mit einer Art gedanklicher Sinfonie, die durch den Kosmos dröhnte und von dem verzweifelten Kampf einer Zivilisation kündete, die von etwas Fremdem schon einmal beinahe vernichtet worden
47 war, sich dank ihres unbeugsamen Lebenswillens aber regeneriert hatte und sich darauf vorbereitete, dem in der Zukunft erwarteten zweiten Angriff entweder wirksam genug zu begegnen oder dem Angreifer trotz seines Sieges den Keim der eigenen Niederlage einzupflanzen. Diese Zivilisation hatte sich mit einer anderen verbündet, deren Vertreter gewisse magische Strömungen beherrschten. Als der zweite Angriff – viele tausend Umläufe nach dem ersten – erfolgte, fand der Angreifer (scheinbar) einen Planeten vor, dessen geringe Bevölkerung keine technische Zivilisation besaß, dafür aber einige wenige magische Kräfte erfolgreich anwenden konnte. Der Angreifer stieß dennoch auf starke Abwehrfelder aus fünfdimensionaler Energie, die den Dimensionsfahrstuhl einschlossen und durch heftige Kontraktionen zu zerstören suchten. Daraus schloß der Angreifer, daß es auf dem Planeten außer den der Magie Huldigenden verborgene Stützpunkte gab, in denen Vertreter der wissenschaftlichtechnisch orientierten Zivilisation lebten, die einst diese Welt beherrscht hatten. Es gelang dem Angreifer, die Energieschirme zu zerbrechen und die Stützpunkte auszulöschen. Bevor er weiterzog, raffte er einige tausend Gefangene zusammen, die ihm wegen ihres positiven Verhältnisses zur Magie willkommen waren. Er setzte diese Gefangenen später als Sklaven ein. Dabei vergaß er entweder – oder er hielt es für unerheblich –, daß er schon beim ersten Angriff auf den bewußten Planeten Gefangene gemacht hatte. Diese Gefangenen hatten sich, ohne daß der Angreifer es ahnte, freiwillig in seine Gewalt begeben und etwas nach Pthor mitgenommen, das sie später heimlich in Höhlen unterbrachten und vervollkommneten. Sie nannten ihn den Gral – und auch die Wesen, die beim zweiten Angriff eingefangen worden waren, nannten ihn so, obwohl sie einem anderen Volk angehörten. Aber das wußten die Erbauer des Grals nicht, denn sie waren geflohen, bevor ihre Nach-
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folger auf Pthor ankamen. Aber diese zweite Gruppe von Gefangenen wurde durch eine Unachtsamkeit durch die intakte Raum-Zeit-Barriere geschleust, die Pthor als sogenannter Wölbmantel umgibt, anstatt wie üblich durch eine Strukturlücke. Dadurch verloren sie ihr Gedächtnis und wußten nichts mehr von ihrer Bestimmung. Nur ein Gefangener unterlag dem Amnesieeffekt nicht. Da seine Mitgefangenen ihm jedoch nicht glaubten, was er ihnen über ihre Bestimmung erzählte, konnten sie dem Gral nicht dienen. Der eine allein vermochte die wahre Bestimmung nicht zu erfüllen. Deshalb mußte er sich darauf beschränken, als Gralshüter zu fungieren. Aber seine Lebensspanne war bald verstrichen – und Gorrick würde den Untergang seiner Zivilisation niemals rächen können. Das alles dachte ich – bis diese Gedanken so plötzlich erloschen wie eine ausgeblasene Kerzenflamme. Ich fand mich allein wieder in der riesigen Kristallhöhle und kam mir in den ersten Augenblicken verloren vor. Erst allmählich begriff ich, was mir mitgeteilt worden war: die Geschichte einer Tragödie. »Was kann ich tun, um euch zu helfen?« rief ich, ohne zu wissen, zu wem ich eigentlich sprach, denn mir war keine deutliche Vorstellung davon vermittelt worden, was ich unter dem Gral zu verstehen hatte. Niemand antwortete. Dafür verblaßte der grelle Glanz der Kristallgebilde allmählich. Sie wurden dunkler und färbten sich gelb. Gleichzeitig war mir, als führe ein eisiger Windstoß durch die Höhle. Als ich hörte, daß Razamon und Mäjesto nach mir riefen, war ich froh darüber, einen Grund gefunden zu haben, die Höhle so schnell wie möglich zu verlassen.
* »Die Kristallhöhlen stürzen ein!« schrie der Kleine, als ich in die erste Höhle stürm-
te. Tatsächlich hörte es sich nach einem drohenden Einsturz an. In der Decke knirschte und knackte es bedrohlich, und einzelne der vergilbten Kristallgebilde fielen herab und zerschellten auf dem Boden. Ich zog unwillkürlich den Kopf ein, als ein zirka zehn Kilogramm schweres Gebilde kaum einen Meter neben mir zerbarst. Mäjesto rannte in wilder Panik davon. »Hier haben wir nichts mehr verloren, Atlan«, sagte Razamon. »Was ist mit dir? Träumst du?« Ich sah den Atlanter grübelnd an. »Mir ist, als hätte ich etwas geträumt, mein Freund. Aber jedesmal, wenn ich eine konkrete Erinnerung ins Bewußtsein rufen will, weicht sie mir aus, und ich greife ins Leere.« Der Boden schwankte, als mindestens fünfzig schwere Kristallgebilde auf dem Boden zerschmettert wurden. Razamon packte meinen rechten Arm und schrie mir zu: »Wenn wir nicht sofort verschwinden, werden wir nie mehr Erinnerungen sammeln können, Arkonide!« Er riß mich förmlich mit sich fort. Es dauerte noch einige Zeit, bis ich mich aus dem Bann des rätselhaften Traumes lösen konnte und die Gefahr, in der wir schwebten, bewußt erkannte. Nebeneinander stürmten wir durch die Öffnung der ersten Höhle und auf den Korridor hinaus. Als wir den Cañon erreichten, blickten wir in das riesige Loch eines Einbruchs, in dem das rasende Wasser knapp fünfzig Meter oberhalb unseres Standorts mit donnerndem Tosen verschwand. Von dem glitzernden Steg, der über die Schlucht führte, war nichts mehr zu sehen. Dafür erblickte ich unten am nassen Grund des Cañons eine kleine Gestalt, deren dürrer Körper von einem viel zu weiten Umhang umflattert wurde: Mäjesto! Der kleine Bursche hatte tatsächlich den Abstieg über die steile und ausgewaschene Felswand gewagt und geschafft. Jetzt schickte er sich an,
Der Gralshüter von Gorrick die gegenüberliegende Felswand zu erklimmen. Es mochte in erster Linie die Furcht sein, die ihn vorwärtstrieb; dennoch empfand ich in diesem Augenblick Hochachtung vor dem Mut des Diebes. Eine heftige Erschütterung schleuderte Razamon und mich gegeneinander. Wir stürzten, hörten, wie die Wände des Korridors knallend barsten, und wußten, daß das von den Kristallhöhlen ausgehende Beben uns noch immer töten konnte. Nach kurzem Blickwechsel machten wir uns ebenfalls an den Abstieg. Glücklicherweise ereignete sich während dieser Zeit kein neues Beben, sonst wären wir unweigerlich abgestürzt. Aber auch so war es eine Tortur, bei der wir uns Hände und Knie zerschunden. Unten angekommen, sahen wir, daß Mäjesto von der gegenüberliegenden Wand erst knapp fünf Meter bezwungen hatte. Die Kräfte schienen ihn zu verlassen. Wir liefen los und erreichten den Fuß der Wand in dem Augenblick, in dem ein weiteres Beben die Unterwelt unter Zbahn erschütterte. Razamon und ich hatten die gleiche Eingebung. Wir warfen uns gegen die Wand und streckten die Arme aus. Eine Sekunde später gingen wir unter dem Anprall Mäjestos in die Knie. Kurz entschlossen ließen wir uns fallen und warteten das Ende des Bebens – oder unser eigenes Ende – ab. Als es schlagartig still wurde, hob ich den Kopf. Links und rechts von uns lagen Felsbrocken, und dort, wo der Fluß in den Einbruch stürzte, war eine ganze Steinlawine herabgekommen und hatte den Cañon blockiert. Es war fast ein Wunder, daß wir überlebt hatten. Razamon blickte mich über Mäjesto hinweg an und grinste verzerrt. Ich rüttelte den Kleinen an den Schultern und sagte: »Wir müssen weiter, Mäjesto!« Aber der Dieb blieb liegen und wurde plötzlich von lautlosem Schluchzen geschüttelt. Er war nicht nur am Ende seiner körper-
49 lichen Kräfte, sondern auch am Ende seiner Nervenkraft. Razamon und ich schauten uns an, dann packten wir den Kleinen an den Armen und zogen ihn hoch. Unverdrossen machten wir uns an den Aufstieg, wobei wir uns den Kleinen einander abwechselnd zureichten. Wir durften ihn schließlich nicht zurücklassen und damit zum Tode verurteilen. Doch die ganze Zeit über bangten wir vor einem neuen Beben. Aber es blieb still. Es blieb auch still, als wir die Wand überwunden hatten und durch den ansteigenden Korridor zurückeilten. Offenbar waren die Kristallhöhlen zur Gänze eingestürzt, so daß es keine neuen Beben gab. Wir gingen langsamer, da kein Grund mehr zur Eile bestand. Dadurch erholte sich Mäjesto allmählich – körperlich und geistig. Als wir uns dicht vor dem Ziel befanden, konnte er sogar wieder ohne Hilfe gehen.
* Wir waren schätzungsweise noch fünfzig Meter vom Ziel entfernt, als Mäjesto nach vorn deutete und rief: »Da, Ichtbar hat schon für uns geöffnet!« Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und spähte nach vorn. Tatsächlich war ein bläulicher Lichtschein zu sehen. Er konnte nur von der Lampe in Ichtbars Kammer kommen. Also hatte der Gorrick uns bereits erwartet. »Es wäre nicht auszudenken gewesen, wenn er fortgegangen wäre oder uns nicht mehr öffnen würde«, sprach Razamon meine Gedanken aus. »Ichtbar verläßt seine Kammer nie«, erklärte Mäjesto. »Außerdem würde er mich, seinen Freund, niemals im Stich lassen.« »Hoffentlich ist das Ungeheuer wieder aus Zbahn abgezogen«, meinte ich. »Sonst müssen wir noch länger in der Unterwelt warten. Aber ich will endlich hinaus.« Razamon war auf dem letzten Teil der Strecke einige Meter vorausgegangen und
50 erreichte die Öffnung zu Ichtbars Kammer deshalb früher als wir. Er drehte sich um und erwiderte auf meine letzte Bemerkung: »Das Ungeheuer wird Zbahn nie wieder verlassen – aber es wird auch niemanden mehr umbringen.« Ahnungsvoll holte ich ihn ein und spähte in die Kammer – beziehungsweise in das, was einmal Ichtbars Behausung gewesen war. Als erstes sah ich die tonnenschwere Felsplatte, die aus der Decke gebrochen und herabgestürzt war. In der düsteren Beleuchtung entdeckte ich ein mit schwarzem Pelz bedecktes Lebewesen, das mich im ersten Moment an einen Haluter erinnerte. Doch ein Haluter wäre niemals von einem »nur« tonnenschweren Felsstück erschlagen worden. Außerdem besaß die Bestie einen riesigen Schädel, der in erster Linie aus messerscharfen langen Reißzähnen bestand. Der Rumpf war beinahe kugelförmig und besaß zwei kurze Säulenbeine sowie zwei mächtige Arme mit tellergroßen Pranken, an denen je sechs handspannenlange Krallen saßen. Ein halb erstickter Schrei Mäjestos ließ mich herumfahren. Aber es gab keine neue Gefahr für uns – und für den alten Gorrick, der halb vor der Felsplatte und von dem Ungeheuer verdeckt war, würde es niemals mehr Gefahren geben. Ichtbar war so tot, wie man nur sein konnte, wenn man von einer tobenden Bestie wie diesem Ungeheuer aus den Horden der Nacht angefallen worden war. Mäjesto wollte zu seinen sterblichen Überresten eilen, aber ich hielt ihn zurück. Der Anblick war schon so schlimm genug; aus unmittelbarer Nähe mußte er für den Kleinen unerträglich sein. Wir umgingen das Untier, das einen beinahe betäubenden Gestank ausströmte, auf der dem toten Gorrick abgewandten Seite und machten uns auf den Rückweg in die Oberwelt. »Der letzte Gralshüter ist tot – und der Gral ist zerstört!« hörte ich mich zu meiner
H. G. Ewers eigenen Überraschung unterwegs sagen. Razamon blieb stehen und packte mich an den Schultern. »Wovon redest du, Atlan?« fragte er erregt. Ich blickte ihn an und erwiderte seinen forschenden Blick, dann schüttelte ich den Kopf. »Ich weiß es nicht, Freund«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Ich habe so etwas wie eine Traumerinnerung, die sich nicht ins Bewußtsein zurückholen läßt.« »Versuche, dich zu erinnern!« drängte der Atlanter. »Du mußt dort unten etwas erlebt haben, das vielleicht wichtig für uns – und für die Menschheit der Erde – ist! Was meintest du mit Gral? Mit dem letzten Gralshüter hast du zweifellos Ichtbar gemeint. Doch auch das verstehe ich nicht.« »Gral!« wiederholte ich. »Das kommt doch aus der terranischen Mythologie und bedeutet soviel wie ›heiliges, wundertätiges Ding‹ oder ›heiliger Stein‹. Es soll auf der Gralsburg Monsalvatsch aufbewahrt und von Gralsrittern gehütet worden sein. Sollte dieser Gralsmythos ebenfalls durch das Einwirken von Pthor entstanden sein?« »Hast du dort unten so etwas gesehen, das an den Gral oder an die Gralsburg erinnerte?« fragte Razamon. »Ich weiß es nicht mehr«, erklärte ich und befreite mich von Razamons schmerzhaftem Griff. »Gehen wir endlich weiter! Ich will frische Luft atmen!« »Gehen wir zur Straße der Mächtigen, die von Zbahn nach Zbohr führt, Atlan?« fragte Mäjesto bittend und von unserem Gerede über den Gral sichtlich leicht verstört. »Ich werde euch führen.« Ich lächelte. »Und dabei unter unserem Schutz den abgestürzten Zugor erreichen, Mäjesto. Ja, wir werden auf die Straße der Mächtigen gehen, denn wir wollen sowieso nach Zbohr, weil wir aus Gesprächen zwischen Technos erfahren haben, daß dort die Initiatoren residieren, die ihrerseits mit den Herren der FESTUNG in Verbindung stehen.«
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Razamon holte tief Luft. Anscheinend hatte er seine Enttäuschung darüber, daß ich nicht mehr wußte, was ich in der dritten Kristallhöhle erlebte, überwunden. »Gehen wir endlich!« pflichtete er uns bei. Mäjesto strahlte vor Freude und eilte uns mit hüpfenden Schritten voraus. Ihn lockte offenbar der Zugor mit seinen kostbaren Schätzen – aber ich war ziemlich sicher, daß ihn auch das bevorstehende neue Abenteuer lockte.
Und lockt es dich nicht auch? fragte der Logiksektor meines Extrasinns. Sicher! gab ich zu. Aber nicht um seiner selbst willen, sondern um der bedrohten Menschheit willen, die anscheinend das wahre Ausmaß der Gefahr nicht einmal erahnt!
ENDE
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