TOM ARDEN
Der Kreis den Orokons 4
Der goldene Baum
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Teuerste Constansia, ich antworte nur schweren Herzen...
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TOM ARDEN
Der Kreis den Orokons 4
Der goldene Baum
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Teuerste Constansia, ich antworte nur schweren Herzens auf Euren letzten Brief. Nach so vielen Jahren (muß ich das überhaupt noch erwähnen?) brauche ich meine Zuneigung zu Euch nicht mehr unter Beweis zu stellen, denn wir haben jede Notwendigkeit solcher Beteuerungen längst hinter uns gelassen. Unsere Liebe ist eine Schnur, die, für alle un sichtbar, von Eurem vornehmen Haus am Riel-Ufer zu diesem schäbigen Palast in den Mauern von Wrax führt. Nein, es ist sicher dieses umschlingende ... Dieses heilige Band um mein Herz, Das weder Zeit noch Seuche, noch der Tod zu trennen vermag. Aber seid nicht beunruhigt, meine Teure, wenn ich dennoch sage, daß Ihr grausam, daß Ihr, so behaupte ich, mein Folterknecht seid. Wie das angehen kann? Habe ich nicht so lange, eingeschlossen wie eine Gefangene in dieser kolonialen Einöde, die Briefe meiner heißgeliebten Constansia mit besonderer Freude erwartet? Habe ich durch diese Depeschen aus dem weit entfernten Mittelpunkt des Reiches nicht in der Vorstellung geschwelgt, daß auch ich mit Euch in dem Großen Tempel gewesen bin, in dem kaiserlichen Thronsaal, auf dem Ball des ersten Mondlichts, auf dem Festspielempfang? Wirklich, meine Teure, es hat Momente gegeben (so sind die Bürden einer Gouverneursgattin!), als ich in eben diesen Episteln meine einzige Glückseligkeit fand. Leider scheint es nun, daß dieses Glück für Eure arme Mazy vorbei ist (und zwar endgültig). Denn meine Constansia wird melancholisch, und wenn das Glück aus
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ihrem Herzen verschwindet, wie kann sie es dann (o betet!) in ei nem anderen auslösen? Doch selbst bei Eurem letzten Brief habe ich auch anderes als nur Schmerz empfunden. Wie eine sanfte Welle umspülte mich die Er innerung, und die Tränen, die ich vergoß, waren Tränen der Freude. Erneut, Teuerste, sah ich uns in unseren Jungferntagen, wie wir über den Riel stakten, noch bevor man die Regentenbrücke errich tete, lachend durch Gänseblümchen und Narzissen liefen, über Wiesen, auf denen sich jetzt die Villen von Ollon-Quintal erheben. Ja, Teuerste, es gab Augenblicke, die so mächtig in meiner Erinne rung aufstiegen, daß ich sie für wirklich halten mußte! In denen wir wieder Mädchen waren und das ganze Leben noch vor uns hatten! Aber schon bald verwandelte sich meine Fröhlichkeit in Trauer, als mir klar wurde, daß dies alles eine Illusion war, daß ich in Wirklichkeit niemals wieder an diesen Ort zurückkehren konnte, der jetzt für immer in goldenes Mondlicht getaucht und dessen Luft für immer von süßem Duft erfüllt ist, wo ich Mazy Tarfoot war und Ihr Consy Grace! Diese Traurigkeit müssen wir beide teilen, doch erneut behaupte ich, daß Ihr, meine Liebe, grausam gewesen seid. Unser Leben neigt sich dem Ende zu, und obwohl Ihr (im Gegensatz zu Eurer frühe ren Mazy) den besten Ehemann von allen verloren habt, habt Ihr nicht dennoch das schönste Leben geführt, das einer Frau gewährt werden kann? Wenn einmal die Geschichte unserer Zeit niederge schrieben wird, kann es dann eine Frau geben (die keine Königin war), die eine mächtigere und eindrucksvollere Rolle gespielt hat? Als Frau eines Gouverneurs, meine Teure, habe ich viele Würdenträger empfangen, das dürft Ihr mir glauben; aber seid auch versi chert, daß ich nur an ihren Lippen gehangen und auf Neuigkeiten aus Agondon gewartet habe. Und haben sie nicht immer und immer wieder von den Triumphen und Ruhmestaten der Lady ChamCharing berichtet? Und darf Eure alte Freundin, wenngleich auch behutsam, Euch nun zu bedenken geben, daß dies, was Ihr als das
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Ende Eurer Pracht anseht, nur das Ende (traurig, aber unausweichlich) unserer Epoche signalisiert? Wir sind alt, Constansia, aber Ihr habt ein großartiges Leben ge führt. Könnt Ihr Euch vorstellen, wie es Eurer alten Mazy geht, die in das entlegene Wrax verbannt wurde? Laßt Euch nicht davon täu schen, daß ich in einem Palast wohne. Wenn es auch einmal die Re sidenz von Monarchen gewesen sein mag, so ist dieses Regierungs gebäude doch nur ein schwacher Abglanz im Vergleich zu dem Besitz von Lady Cham-Charing! Stellt Euch nur das provinzielle, nein, das koloniale Leben vor, das ich ertragen muß und in dem die Vulgarität der Kolonialisten nur noch von der Primitivität der Ein geborenen übertroffen wird. Die einzige einigermaßen erträgliche Gesellschaft bieten mir gelegentliche Besuche, aus dem fernen Mittelpunkt des Reiches. Leider fürchte ich, daß solche Entbehrungen nicht einmal vom Vorstellungsvermögen der Person nachzuvollziehen sind, die, wie ich einmal sagen hörte, die Große Cham genannt wird. Vielleicht besteht ja auch nicht die Hoffnung, Euch von den neuen, zusätzlichen Sorgen berichten zu können, die mich hier in dieser gottverlassenen Provinz bestürmen. Ob wohl in Agondon auch nur ein friedlicher Salon erzittert, wenn bekannt wird, daß hier, im fernen Zenzau, wieder Krieg droht? Betet, teure Constansia, daß Euer Herz offenbleibt und ihr so vielleicht Mitleid mit Eurer vormaligen Mazy empfindet, wenn sie auf die Felder des Ajl blickt, die vor den Toren der Stadt liegen, und daran denkt, daß sie bald mit Blut getränkt sein werden! Es hat Zeiten gegeben - und Euch, meine Teuerste, kann ich es eingestehen -, in denen ich mir wünschte, daß mein Michan ein et was weniger tapferer Mann gewesen wäre! Hätte ich doch auch verzeih mir diese Bitterkeit! - einen bloßen Gecken geheiratet, einen Dandy in Seide und Spitze, und nicht jemanden, dem vom Schicksal bestimmt ist, in den Annalen des Krieges aufgeführt zu sein! Aber dennoch, und mißversteht mich nicht, meine Teure, liebe ich meinen
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Michan. In dem Kampf, der uns bevorsteht, befinde ich mich wenigstens in der frohen Gewißheit, daß er — denn auch Michan wird älter - nunmehr dem Gemetzel von den hinteren Linien aus zusieht; die Heldentaten überlassen wir heutzutage anderen. Mein teurer Gatte hat mir versichert, daß keine zenzanische Ar mee heutzutage die Mauern von Wrax auch nur erschüttern könnte. Doch warum erfüllt dann kalte Furcht mein weibliches Herz, wenn ich höre, daß in den entlegensten Gegenden des Königreiches, auf den Steppen von Derkold, in den Hügeln von Ana-Zenzau und an den felsigen Küsten von Antios, sich die Krieger um das Banner des Grünen Thronprätendenten scharen? Betet für mich, meine Teure, in den Zeiten, die vor uns liegen. Ach, wie sehr ich mir wünschte (und bitte mißversteht mich nicht!), daß diese süßen Träume wahr wären, in denen wir erneut über diese Wiesen mit Gänseblümchen und Narzissen liefen, daß wir in den Tagen lebten, in denen meine Constansia noch meine kleine Consy war und Eure Mazy T. ihre Briefe noch nicht mit Ihre Exzellenz Lady Michan unterzeichnete. PS: Eine Sache in Eurem letzten Brief verwirrt mich. Ihr sagt, daß Vlada Flay nach Agondon zurückgekehrt ist. Ihr spielt sicherlich auf die gegenwärtige Lady Hartlock an, die Witwe des ehemaligen Steuereintreibers von Derkold. Aber wie kann das sein? Ich bin si cher, meine Teure, daß Ihr selbst im entlegenen Agondon von dem berüchtigten Bob Scarlet gehört habt. Wißt Ihr denn nicht, daß die Kutsche von Lady Vlada zu Beginn der letzten Theron-Jahreszeit auf dem Wrax-Weg überfallen wurde? Andere Reisende sind nur be raubt worden, doch Lady Vlada wurde gefangengenommen und bisher nicht wieder gefunden. Aber vielleicht habt Ihr Euch ja nur verschrieben und eine andere Lady gemeint.
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An: Hauptm. P Veeldrop 5tes Füsilierreg. Der Tarn c/o Ollon-Kaserne Geehrter Herr, ich hatte vor, meinem Schreiben diesmal höchst ernsthafte und aus führliche Entschuldigungen beizufügen. Ein Mann meines Berufes ist eine Art Diener, der dazu neigt, seinen Vorgesetzten mit äußerstem Respekt zu begegnen. (Das jedenfalls ist meine Absicht: Ich spreche nicht für andere, denn - so ist die Welt nun mal - selbst in einem Beruf wie meinem findet man leider respektlose Elemente.) Aber für was für eine Art Diener würdet Ihr mich wohl halten, so fürchte ich, wenn Euch die Nachricht erreichte, daß mein Teil un seres kleinen Abkommens bis jetzt vollkommen unerfüllt geblieben ist? Ich kann nur die Zeiten dafür verantwortlich machen, weil sich dieses Jahr leider meine Absicht, nach Agondon zurückzukehren, ein wenig verzögert hat. Aber vielleicht habt Ihr ja auch bereits gehört, daß eine gewisse Art von Staupe in Varby ausgebrochen ist und alle Gentlemen meines Berufsstandes (so dringend werden un sere Fähigkeiten gebraucht) aufgefordert wurden, in der Stadt zu bleiben. (Schockierenderweise muß ich Euch berichten, daß einige tatsächlich zu entkommen versuchten! Glücklicherweise haben die Wachen sie in den Mauern halten können. Ihr seht, Herr, daß man klug wählen muß, wenn man sich der Dienste eines Mannes meines Berufsstands versichert.) Dennoch scheint es, als wären meine Entschuldigungen nicht ganz angebracht. In Eurer Bemühung um die Gesundheit einer gewissen jungen Dame habt Ihr mich gedrängt, auf jeden Fall dafür Sorge zu tragen, daß ein gewisser Trank regelmäßig über ihre Lip pen käme. Wie ich jetzt aus meiner Korrespondenz mit Agondon erfahre, ist diese junge Lady noch gar nicht in der Stadt angekom men. Ich vermute, Herr, daß auch Ihr die Stadt verlassen habt. Es scheint so, daß unser kleines Arrangement zumindest vorüberge 7
hend nichtig ist. Ich bete glühend um die Gesundheit der jungen Dame, die sich jetzt leider außerhalb der Reichweite meiner Künste befindet! Dennoch, Herr, möchte ich Euch versichern, daß meine Dienste Euch ständig zur Verfügung stehen. Ihr werdet es zu schätzen wis sen, daß ich während Eures Aufenthalts in Varby durchaus so etwas wie intime Kenntnisse von Euren Angelegenheiten erlangt habe. Vielleicht versteht Ihr mich auch, wenn ich hinzufüge, daß meine Pläne für das kommende Jahr beträchtlich auf den Arrangements fußen, die wir beide getroffen haben. Ich verbleibe, geehrter Herr, entzückt, Euer Diener sein zu dürfen, E Waxwell (Staatlich zugelassener Apotheker) IDSKAM IM DIENST SEINER KAISERLICHEN AGONISTISCHEN MAJESTÄT An Mjr. M. M. Heva-Harion, Generalsekretär AS A, c/o Überleg. Milit. Kommandozentrale, Ollon-Kaserne, Agondon, von Leut. V Vance, Untersekretär Seiner Exzellenz Lord Michan, Generalgouverneur & Oberkommandierender der Streitkräfte Seiner Kaiserlichen Agonistischen Majestät in Zenzau. Sir, Seine Exzellenz der Generalgouverneur hat mich gebeten, Euch sei nen Dank auszusprechen für Eure Information vom IWa/Vend., 999d, betreffend die Strafversetzung von Hauptmann Veeldrop. Seine Exzellenz möchte Euch hiermit mitteilen, daß er diese Idee großartig findet, und darum bitten, während dieser Versetzung regelmäßig Berichte über Hauptmann Veeldrop von seinem direkten Vorgesetzten zu erhalten. Seine Exzellenz möchte anmerken, daß
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gewisse Stimmen, die einst für verstummt gehalten wurden, sich wieder gegen die Unterstützung des älteren Veeldrop erhoben ha ben, dessen angebliche Erfolge bei der Regierung des Tarn nach An sicht einiger ein ungünstiges Licht auf die gegenwärtige zenzani sche Regierung werfen. Angesichts dessen erwartet Seine Exzellenz die unausweichliche und schandvolle Degradierung von Hauptmann Veeldrop, die seiner Meinung nach ausreicht, um ihn vor ein Kriegsgericht zu bringen, und so genügen dürfte, den Namen Veeldrop in das richtige Licht zu rücken. Seine Exzellenz möchte sich, bevor er diese Angelegenheit höheren Instanzen überantwortet, über den Wahrheitsgehalt eines Gerüchtes vergewissern, das mittlerweile Wrax erreicht hat. Danach soll der Siebzehnte Untersekretär in den Tarn versetzt werden, wo er sich für die Erhebung des Gouverneurs in den Adelsstand aussprechen soll. Seine Exzellenz widerspricht dieser Angelegen heit aufs schärfste und fragt sich, ob die Behörden auch die Wir kung bedacht haben, die ein solcher Schachzug auf die gegenwär tige Situation in Zenzau haben könnte. Gleichzeitig mit dieser Bemerkung möchte Seine Exzellenz aber auch darauf hinweisen, daß die Unterstützung, die der Grüne Thronprätendent in Zenzau ge nießt, in keiner Weise der jetzigen Regierung angelastet werden kann. Er möchte hinzufügen, daß eine Annahme dieser Art seiner Ansicht nach eine Verleumdung ersten Grades wäre. Seine Exzellenz möchte diejenigen Personen in Agondon an die Schwierigkei ten erinnern, die es bereitet, eine solch widerspenstige Kolonie zu regieren, und jene schelten, die nur gemütlich in Agondon herum sitzen und sich wie Parasiten im Pelz des Wohlstands dieses Reiches eingenistet haben. Sie verfügen nicht über das Recht, über koloniale Angelegenheiten zu urteilen. Ich verbleibe, Sir, hochachtungsvoll V Vance (Leut.) (Regierungsgebäude, Wrax, SM/Aros, 999d)
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»Nirry!« Die Klingel schrillte. »Nirry!« Wieder läutete es heftig. »Verdammt soll das Mädchen sein! Wohin ist sie jetzt wieder ver schwunden?« Umbecca Veeldrop thronte in ihrem riesigen Bett. Den Rücken hatte sie gegen bunte Kissen gestützt. Neben ihr auf der bestickten Überdecke stand ein Tablett mit den Resten eines reichhaltigen Frühstücks. Und auf einem kleinen Marmorschränkchen kündeten weitere Tabletts von dem immensen Hunger, der Umbecca des Nachts überfiel. Und davon, wie schlampig ihr Dienstmädchen war. »Nirry!« »Ich bitte Euch, teure Lady, regt Euch nicht auf!« Die gebildete Stimme gehörte einem schlanken Mann undefinierbaren Alters, der die schwarze Kleidung des Ordens des Agonis trug. Er hockte ne ben dem Bett auf einem schmalen Regentschaftsstuhl, hatte die Beine übereinandergeschlagen und weiße Handschuhe übergezo gen. Seine Schläfen waren bereits angegraut. Er sah gut aus, aber sein Benehmen war ein wenig kühl. Zu kühl. Eay Feval stand auf und trat ans Fenster. Der Garten des Lekto rats lag unter einer Schneedecke begraben. »Vielleicht erlaubt Ihr mir, Euch von diesem Ärgernis zu befreien?« Das fragliche Ärgernis war ein kleiner Vogel mit einer roten Brust, der vor dem Fenster auf und ab flog und zwitscherte. Ti-witt! Ti-woo! Der Vogel kehrte seit einigen Tagen immer wieder hierher zurück. Er hüpfte fröhlich auf einem hohen Zweig vor dem Fenster
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herum, ein einsamer Farbklecks vor dem öden Garten. Ob, dieses Gepiepse! rief Umbecca dann gewöhnlich. Oder: Nirry, den Besen! Streng klopfte Feval mit den Knöcheln gegen das Glas. Ti-witt! Ti-woo! Es hatte keinen Sinn. »Madam?« Nirry stand in der Tür und hielt eine hastig aufge brühte Kanne Tee in der Hand. Ihr Gesicht war gerötet, und eine Haarsträhne ragte unter dem Spitzensaum ihrer Haube hervor. Sie umklammerte die schwere Teekanne, während ihre Herrin sie dar über in Kenntnis setzte - was sich jeden Tag wiederholte -, daß sie ein undankbares, dummes Mädchen sei, dessen Nachlässigkeit nicht länger toleriert werden könne. »Nirry, du gibst dich doch wohl nicht mit einem Geliebten ab?« Das Mädchen errötete. »Zu viele Mädchen in diesem Dorf sind verdorben worden, seit die Soldaten einmarschiert sind. Und zwar Mädchen von genau dei ner Klasse und Art. Sei gewarnt, Nirry: Sollten mir Gerüchte über irgendeine schlampige Tändelei zu Ohren kommen, wirst du auf der Stelle ohne Zeugnis entlassen!« »Aber Madam!« Nirry ließ sich zu einer Erklärung hinreißen. »Ich habe doch nur den Tee gemacht!« »Also wirklich, Mädchen! Und warum hast du den Tee nicht auf meinem Tablett serviert?« Genau das hatte Nirry getan. Es war bereits die zweite Kanne Tee. Aber Nirry verzichtete auf weitere Einwände. Der Wortwech sel war zu Ende, bis zum nächsten Morgen. Umbeccas Wangen schwollen an wie bei einem Frosch, und sie deutete ungeduldig auf das Ärgernis am Fenster. Nirrys Lippen zitterten, als sie sich verbeugte und hinausging. Der Vogel war zu weit oben, um ihn vom Boden erreichen zu können. Kurz darauf erschien Nirry vor dem Fenster und tastete sich mit gespreizten Füßen auf einem Ast in hal ber Höhe des Baumes entlang. »Wirklich, Kaplan, ich weiß nicht, warum man dieses Mädchen
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behält. Eine strengere Gebieterin hätte sie schon längst auf die Straße geworfen ... ach, schon vor langer Zeit!« »Aber teure Dame, Ihr seid einfach zu mitfühlend. Moment, erlaubt mir ...« Eay Feval nahm die Teekanne und schenkte der Dame die Tasse voll. Umbecca lächelte ihrem Gefährten sehnsüchtig zu. Es war sein Wunsch - oder eigentlich eher ihrer -, daß sie sich jeden Morgen so trafen, bevor sich der Haushalt, die Familie, wie Um becca es gern ausdrückte, zum Frühstück versammelte. Für Umbecca bestand das Frühstück aus mindestens drei Gän gen. Wenn auch die Kekse, das Brot und der Käse, das Pökelfleisch, der Tarn-Fisch, die Gläser mit Marinade und Chutney nur für nächtliche Notfälle neben ihrem Bett standen, mußte man doch zugeben, daß keine Nacht ohne einen solchen Notfall verstrich. Ma dam schlief schlecht, und unweigerlich saß sie im Morgenmantel in ihrem Bett und stopfte das in sich hinein, was man vielleicht ihre er ste inoffizielle Mahlzeit nennen konnte. Umbecca betrachtete dies weniger als Frühstück, sondern vielmehr als ein Vorspiel, das zu der eigentlichen Mahlzeit etwa in demselben Verhältnis stand wie eine erste flüchtige Skizze eines Künstlers zu seinem fertigen Porträt in Öl. Auf die kalte Vorspeise folgte eine dampfende warme Mahlzeit, die von Nirry prompt - und wehe ihr, wenn nicht - zur üblichen Weckzeit der Dame serviert wurde. Es war keine besondere Ange legenheit, dieses Frühstück im Bett, nur ein paar dürftige Eier, Würstchen, Koteletts, gebratene Tomaten und Zwiebeln, einige Scheiben Schinken, solche Dinge eben, die nur dazu dienten, dem Hunger die Schärfe zu nehmen, der die Dame überfallen könnte, bevor sie sich schließlich, nach der umständlichen Zeremonie des Ankleidens, zum Eßzimmer hinunterbegab, zum informellen Eß zimmer versteht sich, dessen Anrichten sich bogen unter der Last von Porridge und Sahne, Aprikosen und Backpflaumen, noch mehr Eiern, Würstchen, Schinken, gegrillten Nierchen und Aal in Aspik, Schinken und Zunge, kaltem gebratenem Hühnchen, Ente, Reb huhn, Fasan, Hirsch, getrockneten und in Orandy eingelegten
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Früchten, Brötchen, Toast, Honig, Marmelade und Gelee und noch mehr Töpfen mit Tee und starkem Zaxos-Kaffee. Es gab ja so manche, die während der Zeit der Meditation faste ten. Doch weil diese Praxis anscheinend nirgendwo aufgeschrieben war, hatte Umbecca entschieden, daß es nicht nötig wäre. Die Die ner des Herrn Agonis mußten bei Kräften bleiben. »Habt Ihr gut geschlafen, teure Dame?« »Leider nicht besonders. Aber wie Ihr wißt, Kaplan, bin ich eine Märtyrerin meiner Verdauung.« »Ach, daß jemand so Gutes so leiden muß!« »Kaplan, Ihr seid sehr freundlich, aber ist es nicht eine kleine Last, die mir der Herr Agonis auferlegt hat? Soll ich meine eigenen dürftigen Beschwerden bedauern, wenn doch mein armer Ehe mann ...«, Umbeccas Augen wurden wie auf Kommando feucht, »... in einem Raum voller Grünzeug mit dem Tode ringt?« »Sprecht nicht davon, Teuerste!« Umbecca zerdrückte die Tränen und griff liebevoll nach der Hand des Kaplans. Oft kam ihr in den Sinn, daß diese gemeinsamen Sitzungen der schönste Teil ihres Tages waren, eine Entschädigung, die einzige Entschädigung für ihre Rückkehr nach Irion. Natürlich gab es Dinge, auf die sich die Gattin eines Gouverneurs freuen konnte. Die vornehmen Kleider, die Einweihungen, die Paraden, die Empfänge, die Besonders Wichtigen Personen, die man unterhalten mußte (vor allem Lord Margrave, ihr gegenwärtiger Besucher). Aber eine Frau in ihrer Position befand sich ständig in exponierter Stellung. Nur in Gesellschaft des Kaplans konnte Umbecca sie selbst sein. Dennoch hatte ihre Intimität nichts Ungehöriges. Ihre Beziehung war rein geistiger Natur. Leise und ruhig besprachen sie ihre Angelegenheiten. Und es gab vieles zu besprechen. Schließlich führte die Lady, deren Ehemann so krank daniederlag, nicht nur ei nen Haushalt, sondern eine ganze Provinz! Der Kaplan blätterte die morgendliche Post durch. Händlerrech nungen. Neueste Depeschen. Ein absolut geheimer Bericht über die
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Krise in Zenzau, an den Gouverneur persönlich gerichtet. Umbecca seufzte, und ihre Laune besserte sich erst beim Anblick der Ladies Gazette. »Es steht doch hoffentlich ein Artikel über den Festspielempfang bei Lady Cham-Charing darin?« »Davon bin ich überzeugt«, erwiderte der Kaplan spitz. Zum Schluß kam ein Brief. Geliebter VATER, leider verzögert sich meine Rückkehr nach HAUSE erneut. Zenzau ruft, und jeder SOLDAT DES KÖNIGS muß seine Pflicht erfüllen. Man spricht von Vergeltungsmaßnahmen in bisher nie gesehenem Ausmaß, jetzt, da die Streitkräfte des Thron prätendenten Wrax selbst bedrohen. »Ach, mein armer Poltiss!« Umbeccas Stimme schwankte. Fevals Stimme hingegen klang säuerlich, als er fortfuhr: » VATER, ich verwünsche alles, was mich von Euch fernhält! Wie sehr ich mich danach sehne, wieder in Eurer Liebe baden zu können! Doch wie könnte ich diesmal, dieses eine Mal, so frage ich mich selbst, den Grund dafür verdammen? Obwohl es keine Gnade gibt, die ich mehr ersehnen könnte, als mich meinem VATER zu Füßen zu werfen, muß ich zuerst doch - das weiß ich - seine EHRE auf dem Schlachtfeld des verhaßten feindlichen Königreiches wiederherstellen. VATER, wenn ich sterben sollte, weint nicht um mich, ich bitte Euch! Denn wisset, ob ich lebe oder ob ich sterbe, als ein MANN, ein EJLÄNDER - und mehr noch: als ein VEELDROP! Gebt meine Liebe an meine verehrte MUTTER UMBECCA weiter und an CATAYANE, meine Herzens SCHWESTER. »Hm.« Respektvoll wartete der Kaplan, bis Umbeccas Tränen versiegten. »Ich glaube kaum, daß der Vater den Verlust des Sohnes
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überleben würde.« »Keiner von uns würde das«, schnüffelte Umbecca. »Aber Catayane? Euer Ehemann ist fest entschlossen, sie mit dem Jungen zu verheiraten.« »Sprecht nicht von dem Mädchen! Ihr Benehmen regt mich noch mehr auf!« »Dann habt Ihr es ihr hinterbracht, teure Dame?« »Ihr was hinterbracht, Kaplan?« »Die Wünsche Eures Gatten? Ihr glaubt doch nicht, daß sie sich sträubt und wir etwa den väterlichen Wunsch ... ich will es so ausdrücken: erzwingen müssen?« Umbecca seufzte. »Das Mädchen benimmt sich wie immer, das heißt, wie immer, seit wir hierher zurückgekehrt sind. Ich wußte, daß es ein Fehler war, sie nach Irion zu bringen. Jeden Tag hat sie diesen abwesenden Blick. Und jeden Tag verwelkt der Nutzen ihrer kostspieligen Erziehung ein bißchen mehr.« Umbecca tupfte sich die Augen, und ihre Stimme klang bitter. »Und wo bleiben wir nur, wenn dieser Margrave sich als undankbar erweist und wir mit einem Mädchen dasitzen, das noch immer nicht in die Gesellschaft eingeführt und deren Blütezeit längst verstrichen ist?« »Lord Margrave mag sie jedenfalls«, stellte der Kaplan fest. »Kaplan! Lord Margrave ist ein verheirateter Mann!« Der Geistliche lächelte nur und räusperte sich. Nach einem Moment schenkte er Tee nach und sagte beiläufig: »Es gibt wieder Är ger im Tal von Rodek.« Das Vaga-Lager war dorthin verlegt worden, damit es den ehrba ren Leuten nicht unangenehm ins Auge fiel. »Wieder ein Aufstand?« Aber Umbecca war abgelenkt. »Entwendete Mistgabeln. Zertrampelte Hecken. Schafherden, die freigelassen wurden und herumliefen. Goody Orlys Scheune ist schon wieder abgebrannt. Das ganze Winterfutter ...« »Futter? Oh, wie schändlich!« Das funktionierte. »Kaplan, soll-
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ten wir, ich meine, sollte mein teurer Ehemann weitere Hinrichtungen anordnen?« »Genau daran habe ich gedacht.« Ti-witt! Ti-woo! zwitscherte der Vogel am Fenster. Umbeccas Miene verzog sich verärgert, aber sie erhob sich über diese erneute Störung und fuhr mit einem freundlichen Lächeln fort: »Vielleicht, nachdem Lord Margrave abgereist ist...« »Oder vielleicht besser, während er noch hier ist, teure Lady?« »Kaplan, Ihr überrascht mich. Kann Lord Margrave denn einen solchen Spaß genießen? Er scheint ein so vornehmer Mann zu sein.« »Er ist Politiker, meine Teure!« Fast schien es, als müsse nichts weiter gesagt werden. Aber dem war nicht so. »Bedenkt doch: Wir haben in diesen letzten Mondleben Zurück haltung geübt. Seit das Fünfte Königliche nach Süden befohlen wurde, fühlte man sich, das kann man nicht leugnen, ein we nig ... verletzlich, weil wir weniger Soldaten hatten als zuvor. Jetzt sind auch die Blauen von Irion nach Zenzau unterwegs. Aber diese Zurückhaltung ist trotz allem keine vernünftige Politik. Auf die niederen Klassen, auf diesen Tarnpöbel, diesen Vaga-Abschaum wirkt das wie ein Zeichen der Schwäche.« »Und auch auf Lord Margrave?« »Sicherlich. Wenn die Koros-Jahreszeit schwindet, wird dieser Gentleman uns verlassen. Sollten wir ihm nicht vorher die eiserne Rute enthüllen, die sich unter dem weichen Gewand unserer Gerechtigkeit, unserer Gnade, unseres Mitgefühls und unserer Milde verbirgt? Ich meine natürlich, die eiserne Rute unseres teuren Gou verneurs.« »Seine ... Rute?« »Seine Härte.« »Hm. Wirklich.« Umbecca schlug die Augen nieder. Die arme Lady! Vor ihrer Hochzeit mit Kommandeur Veeldrop
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hatte sie so manche Enttäuschung erfahren müssen. Aber es gab auch gewisse Enttäuschungen, die sie erst nach ihrer Hochzeit erlebt hatte. »Ihr habt also noch nicht mit Lord Margrave sprechen können?« fragte sie vorsichtig. Am Fenster raschelte es. Nirry führte endlich den Befehl aus, den man ihr gegeben hatte. Sie stand in den niedrigen Zweigen der Ulme und fuchtelte mit dem Besen nach dem Vogel. Ti-witt! Ti-woo! »Teure Dame ...« Der Kaplan zog es vor, die Unterbrechung zu ignorieren. »Man spricht täglich mit Seiner Lordschaft. Über das Wetter, die Krise in Zenzau, die Vorzüge von Coppergates Frühwerk und seinem Spätwerk ... Leider ist er ein sehr reservierter Gentleman. Und ausgesprochen formell...« »Ach was, Formalitäten!« rief Umbecca ein bißchen zu laut und übertönte die Geräusche, die aus Richtung des Fensters kamen. Nirry kletterte anscheinend höher in den Baum hinauf. »Was ist Formalität denn anderes«, fuhr ihre Herrin fort, »als eine Ermutigung der kalten Natur, die anscheinend diesen edlen Lord umklammert hält? Ich würde sofort darauf verzichten und nur noch ganz natürlich mit ihm verkehren!« Der Kaplan lächelte zustimmend. Er beugte sich vor, als wollte er eine Vertraulichkeit mitteilen. »Seine Lordschaft urteilt ebenso präzise wie kühl. Ein anderer hätte diese Mission als reine Erholung betrachtet, ein Amüsement für einen alten Gentleman, der kurz davor steht, sich aus dem Dienst des Königs zurückzuziehen und zur Ruhe zu setzen. Ein anderer, der so reichhaltig auf unsere Kosten unterhalten worden wäre, hätte bedenkenlos dieser Erhebung in den Adelsstand zuge stimmt. Aber ich fürchte, daß unser Lord hier abwägt und bedenkt, abwägt und bedenkt.« »Ich fange langsam an zu glauben, daß dieser Lord ein Monster ist!«
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»Er ist nur gewissenhaft.« »Aber könnte es denn sein, daß sein Bericht nicht günstig aus fällt?« Der Besenstiel knallte mit einem dumpfen Geräusch durch die trockenen Äste vor dem Fenster. Der Vogel ignorierte es, und der Kaplan tat es ihm gleich. »Der Lord ist peinlichst gerecht. Wie ein Goldschmied auf seiner Waage wägt auch er gegeneinander ab. Auf der einen Seite das Vergehen, das angenommene Vergehen, und auf der anderen Seite all das, was getan wurde, um es wiedergutzumachen. Leider, meine Teure, können wir nicht einfach außer acht lassen, daß Euer Ehemann sozusagen zu einer Art Bestrafung hierhergeschickt wurde, nachdem er vom Roten Rächer so gedemütigt wurde ...« Krack! machte der Besenstiel, und ein lautes Ti-witt! Ti-woo! antwortete ihm. Aber diesmal achtete Umbecca wirklich nicht darauf. Ihr massiger Körper bebte heftig, als sie sich an ihren lieben Torvester erinnerte, wie er sacht am Galgen des Dorfangers schaukelte. Ach, Tor! hatte sie damals geschluchzt. Warum nur, warum hast du mir das angetan? Anschließend war etwas in ihr verhärtet, aber manchmal überkam sie dennoch diese Woge von Gefühlen. Umbecca senkte den Blick, und der Kaplan erkannte seinen Fehler. Er reagierte mit seiner typischen Finesse und wechselte unauf fällig das Thema. Jetzt sprach er nicht mehr von den Demütigungen des Kommandeurs, denn das war ein recht ausuferndes Thema, sondern von den ungeheuer guten Dingen, die er hier im Tarn getan und aufgrund derer er eine Erhebung in den Adelsstand verdient hätte. Seine Worte klangen munter, aber im Inneren war er besorgt. Hätte er gebetet, was er nicht tat, jedenfalls nicht wirklich, dann hätte er ein verzweifeltes Flehen in den Himmel geschickt: Herr des Lichts, verleih dem alten Mann seinen Adelstitel, bitte, und sorge dafür, daß er noch lange genug lebt, um ihn entgegenzunehmen! Umbecca hatte ihre eigenen privaten Gedanken. Wenn sie sich
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vorstellte, daß alle Kinder, die sie in ihrer Obhut gehabt hatte, dem Bösen verfallen waren und dann für ihre Verruchtheit mit dem Le ben gebüßt hatten! Es war einfach ... ach, es war grausam! Tor ... Ela ... selbst der arme kleine Jem, der von einem gleißenden Blitz zu Asche verbrannt worden war. Der Junge war verdorben gewesen, korrumpiert vom Vaga-Bösen. Und dennoch, gerade im Au genblick seines Todes war die Rettung so nah gewesen. War er denn nun vollkommen verloren? Liebevoll hatte Umbecca darum gebetet, daß es nicht so sein möge. Tor, Ela, die mußte sie abschreiben, aber Jem, der liebe kleine Jem ... Und was sollte aus Catayane werden? Ihre Träumerei wurde abrupt unterbrochen. Bumms! Erneut knallte der Besenstiel gegen das Fenster, doch diesmal folgten dem mittlerweile vertrauten Geräusch ein lautes Klirren und ein spitzer Schrei. »Was?« Der Kaplan sprang hoch. Aber der Aufruhr hatte eine ganz einfache Erklärung. Das Dienstmädchen war zu hoch hinaufgeklettert, hatte das Gleichgewicht verloren und mit dem Besenstiel ein Fenster zertrümmert. Der Vogel war erschreckt weggeflogen, und Nirry war vom Baum gestürzt. »Oh, dieses dumme Mädchen!« brach es aus Umbecca hervor. »Das dumme, dumme Ding!«
3. Die Stimme im Nebel »Ist es hier?« »Ja.« »Dieser Nebel! Ich kann so gut wie nichts sehen.« »Ich würde sagen, daß es gegen Abend aufklart.« »Und wenn nicht?«
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Pellam lachte. »Eine Verschiebung, Nova, obliegt dem Geforderten. Wie alles andere auch, wenn ein Gentleman eine Herausforde rung annimmt. Wenn du dieses Duell verweigerst, kann Burgrove dir auflauern und dich auf offener Straße abschlachten. Mach das, und du spielst ihm in die Hände. Trotzdem, der Nebel könnte auch zu unserem Vorteil sein. Je weniger Menschen von dem Duell erfahren, desto besser!« Jem blickte in das milchige Weiß. Sie trugen ihre nüchternen Meditationsgewänder und waren vorausgefahren, um den Schauplatz des bevorstehenden Duells zu inspizieren. Das Bankett, ein schlam miges Stück Land im Westen der Neustadt, war das letzte Über bleibsel der alten Ollon-Felder. Auf der Stadtseite, hinter den hohen Hecken und einem spitzen Zaun verborgen, lagen die Lustgärten. Undeutlich konnte Jem das Riesenrad erkennen, das sich leise und geisterhaft in den Morgenhimmel erhob. Die ordentlichen Straßen der Händlerviertel Ollon-Quintal, Elabetha und Ejland-Park im Osten waren vom Nebel verhüllt. Ja, vielleicht war es gut, daß der Nebel gekommen war. An einem klaren Tag schützte nur eine Reihe von Lärchen, die jetzt in der Kälte kahl dastanden, das Bankett vor den Blicken der Neugierigen. Pellam trieb die Pferde an, und sie fuhren um den Rand herum. Verzweifelt betrachteten sie den Schlamm und den Dreck. Mitten in dem Gebiet stand Marmys Stumpf, erklärte Pellam. Früher einmal Marmys Baum. Dort hatte Marmy Heva-Harion Sir Rentby Dravil bezwungen, Agondons großen Dandy zur Zeit der Regierenden Königin. Jetzt war dieser Stumpf der Ort, an dem alle Duelle statt fanden. Jem betrachtete ihn neugierig. »Natürlich ist Marmy eine Mondphase später seinen eigenen Ver letzungen erlegen«, erklärte Pell. »Er ist innerlich verblutet. Sehr unschöne Angelegenheit. Nein, Nova«, fuhr er fort, »ich glaube nicht, daß du weißt, auf was du dich da eingelassen hast!«
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»Mußt du mir das die ganze Zeit unter die Nase reiben?« Jem rutschte verärgert auf dem Polster hin und her. Ihm war kalt, und der Drang, sich zu erleichtern, peinigte ihn. »Du hast mir schon eindeutig klargemacht, daß kein Gentleman sich jemals soweit her ablassen würde, einen Burschen wie Burgrove zu fordern. Also ist es schon schlimm genug, daß ich es getan habe. Und natürlich habe ich das auch noch ausgerechnet in der Meditationszeit getan, wenn jeder, der bei einem Duell erwischt wird, in den Kerker geschafft, verdroschen, ertränkt und gevierteilt wird.« Pell lachte. »Na, das nun nicht gerade! Aber wirklich, Nova, ist dir klar, was passiert, wenn die Wache dich erwischt? Als Heraus forderer bist du verantwortlich.« »Wofür?« »Einfach für alles! Oh, sicher, als Lord Empsters Zögling wirst du natürlich gegen eine Kaution auf freien Fuß gesetzt. Aber der Skandal, Nova! Willst du wie Burgrove enden, der aus der anständigen Gesellschaft ausgestoßen worden ist?« »Für einen Geächteten verbringt er aber sehr viel Zeit beim ›Würger‹.« »Sehr komisch, Nova! Aber ich glaube kaum, daß du ihn bei Lady Cham gesehen hast, richtig? Und das wirst du auch nicht. Niemals. Wirklich, Nova, ich sollte mal unter deiner Perücke nachsehen. Ich fürchte, daß du in deinem Hinterkopf nur ein schwarzes Loch hast, aus dem das ganze Wissen wieder heraustropft, das ich dir eingeflößt habe. Tropf, tropf, so läuft es hinaus.« Jem schnitt eine Grimasse. »Würdest du einen Augenblick damit aufhören, Pell?« Er sprang aus der Kutsche, zog sich sittsam in den Nebel zurück und fummelte am Verschluß seiner Hose. Von dem gurgelnden Bächlein stieg beißender Dampf auf. »Hallo, Nova«, ertönte eine Stimme. Jem drehte sich um und knöpfte die Hose zu. Eine zitternde Gestalt zeichnete sich im Nebel ab. »Raj? Was machst du denn hier?« »Dasselbe wie du. Ich wollte mir den Ort ansehen.«
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»Raj, geh nach Hause! Ich dachte, du wärst längst wieder im Royal. Weißt du nicht, was man mit Vaga macht, wenn man glaubt, daß sie in eine solche Angelegenheit verwickelt sind?« »Du könntest getötet werden.« Plötzlich wirkte Raj viel jünger und verletzlicher. »Raj, es handelt sich um Burgrove. Es wäre ein Wunder, wenn der Mistkerl sein Rapier geradehalten könnte.« »Er ist wütend, dumm und nicht fair. Dein vornehmer Freund hat eben den Kodex der Gentlemen erwähnt. Die Kinder des Koros haben auch einen Kodex, Nova, ihren eigenen.« »Nova!« ertönte eine Stimme aus der Kutsche. »Nova?« Jem achtete nicht darauf. »Was für einen Kodex?« »Gestern abend war ich ein Feigling. Du hast mich verteidigt. Und jetzt muß ich dich verteidigen. Ich werde an deiner Stelle kämpfen.« »Raj, du bist verrückt!« »Das bin ich nicht.« Raj blieb gelassen, und seine Miene verriet eine unerschütterliche Entschlossenheit. »Du bist zu wichtig, Jem. Wenn du stirbst, was passiert dann?« Jem brauchte eine Weile, bis er begriff. Er stolperte vor und packte die Hand seines Freundes. »Raj, wie hast du mich genannt... gerade eben?« »Jem ... Jemany. So heißt du doch, oder nicht? Und eines Tages wirst du Jemany der Erste sein.« »Du wußtest es? Die ganze Zeit? Aber ich dachte ...« »Nova!« rief Pell. »Also wirklich, Nova, bist du in der Kälte fest gefroren?« Sie ignorierten ihn erneut. »Ich wußte es nicht«, stieß Raj flüsternd hervor. »Ich wußte es lange Zeit nicht. Erst als ich mich am letzten Tag von dir getrennt habe. Das Wissen kam zu mir wie ... wie auf zarten Flügeln. Ich würde gern glauben, daß es ein Abschiedsgeschenk war.« »Myla?«
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»Und ich dachte, sie würde mich nicht lieben. Was war ich doch für ein Narr. Was für ein ungeheurer Narr! Aber das bin ich jetzt nicht mehr. Deshalb ist mir auch klar, daß ich an deiner Stelle kämpfen muß, Jem.« »Nein!« Jem war ebenso verwirrt wie beunruhigt. »Raj, es ist ganz gleich, wer ich bin: Du kämpfst nicht für mich oder für jemand anderen. Wie könnte ein Vaga wohl ein Duell gewinnen?« Rajal riß sich los, sichtlich gekränkt. »Du denkst, ich wüßte nicht, wie man ein Schwert führt, ist es das? Bei den Schwertkämpfen war ich immer besser als du, und ich habe bei den Masken eine Menge gelernt, Jem.« »Raj, darum geht es nicht. Ich sage dir doch, daß du nicht gewin nen kannst! Wenn er dich tötet, bist du tot. Aber wenn du ihn tö test, bist du ebenfalls tot. Burgrove ist Ejländer. Ihm läßt man einen solchen Mord durchgehen. Er hat es schon vorher getan und wird es auch wieder tun.« Erregt packte Jem seinen Freund und riß ihm den Handschuh herunter. »Raj, sieh dir deine Haut an! Geht es dir nicht in den Kopf? Du bist ein Vaga!« »Das weiß ich, Jem!« »Ach ja? Dann weißt du doch auch, was passiert, wenn du einen Ejländer tötest? Dein eigener Vater ist wegen eines weit geringeren Vergehens gehenkt worden. Raj, du bist mein Freund, und ich glaube allmählich, daß du mein bester Freund bist. Aber wenn du diese verrückte Idee nicht aufgibst, bist du es nicht mehr.« »Jem, bitte!« »Versprich es mir, Raj. Versprich es mir!« Rajal biß sich auf die Lippen. Schließlich nickte er. »Nova!« Pell hatte die Geduld verloren und schlenderte auf sie zu. »Du willst doch wohl nicht den ganzen Morgen mit diesem Vaga-Jungen verquatschen, oder? Ist es nicht schon genug, daß du gestern abend mit ihm getratscht hast?«
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»Wir haben nicht getratscht.« »Das kann ich besser beurteilen. Oder vielmehr, die große Welt wird das tun, und ehrlich gesagt, Nova, in diesem Moment fürchte ich, daß deine Karriere in der feinen Gesellschaft zu Ende ist, bevor sie überhaupt angefangen hat. Ich hoffe, du denkst nicht ernsthaft an Miss Vance, mehr kann ich nicht sagen. Für einen Vaga-Freund ist sie vollkommen tabu, meinst du nicht auch? Und jetzt komm, der erste kanonische Dienst fängt gleich an.« Während er sprach, sah Pell Rajal nicht ein einziges Mal ins Gesicht. Und er machte sich auch nicht die Mühe, seine Stimme zu senken. Jem kämpfte gegen seine Empörung an, aber als er wieder in der Kutsche saß, stieß er nur hervor: »Pell, du verstehst das nicht.« Sie. fuhren schweigend davon. Rajal sank neben Marmys Stumpf nieder und weinte.
4. Porzellan vom feinsten »Verliese? Niemals!« Der Kaplan mischte sich ein. »Teure Dame, es gibt Leute in Agondon, die ein Verlies mit ähnlichen Augen betrachten wie wir ein Theater. Stimmt das nicht, Lord Margrave?« Geübt entfernte Lord Margrave einen Streifen Schinkenspeck aus seinen Porzellanzähnen. Er stellte sich dabei so geschickt an, daß Umbecca den Gentleman unwillkürlich bewunderte. Sicher, er war kühl, aber war da nicht auch die Andeutung eines unterdrückten Feuers? Sie spürte, wie die Winkel ihres kleinen Mündchens zuckten, als wollte es das berühmte rätselhafte Lächeln formen. Statt dessen sagte sie seufzend: »Das Theater! Leider mangelt es unserer kleinen Provinz an derlei Vergnügungen. Was müßt Ihr nur von uns halten, Lord Margrave?«
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»Madam, ich habe mich nie sonderlich zum Theater hingezogen gefühlt.« »Ah.« »Aber wie ich vermute, Kaplan Feval, wart Ihr während Eurer Tage in Agondon mit solchen Etablissements vertraut?« »Das nicht gerade, mein Lord! Dennoch verhält es sich so, daß auch ein Mann vom Tuche das Leben in seiner ganzen Vielfalt studieren muß. Und wenn er in einer großen Metropole dient, ist es dann nicht vielleicht sogar doppelt so wichtig?« »Verliese?« ertönte eine andere Stimme wie ein langsames Echo. Lord Margrave drehte sich um und wollte gerade anheben, sein Interesse an den Verliesen von Irion zu erläutern. Seit ich in der Pro vinz angekommen bin, so hätte er formuliert, habe ich viel gesehen. Die spitzen neuen Gitter um den Dorfanger, den neuen, im VarbyStil angelegten Garten des Lektorats, den prächtigen neuen Tempel, der geschwind auf den Ruinen des alten errichtet worden war. Auf der Burg hatte er die neuen Türme gesehen, die Blauen von Irion in ihrer Ausgehuniform bewundert und gehört, wie das Jun genorchester die Hymne der Flagge spielte. Aber es war für seinen Bericht auch von entscheidender Bedeutung, daß er die weniger er freulichen Aspekte der Provinz erlebte. Was war dran an den Ge schichten über dieses Etablissement, das der Träge Tiger genannt wurde? Und warum wurde ihm der Anblick der Kinder des Koros vorenthalten? Und wie viele Elende würde er wohl in den Kerkern tief unter der Burg finden? Lord Margrave war ein Gentleman der alten Schule. Er wollte nicht nur nach dem äußeren Schein urteilen, sondern interessierte sich auch für das, was dahinter lag. »Ein Verlies ist ein Ort unter der Erde. Unter der Erde gibt es viele Geheimnisse. Wunderschöne Geheimnisse, fürchterliche Ge heimnisse ...« »Achtet nicht auf das Mädchen, Lord Margrave«, mischte sich Umbecca hastig ein. »Catayane, willst du nicht lieber dein Früh-
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stück essen, anstatt Lord Margrave zu beunruhigen? Witwe Waxwell, reicht dem Kind doch bitte noch etwas von dem Hirschbraten.« Umbecca senkte die Stimme. »Erkennt Ihr jetzt, mein Lord, das Mitgefühl meines Gatten, der solche Waisen und Streuner aufnimmt?« »Außergewöhnlich.« Der vornehme Lord blickte ungeniert zum Ende der Tafel. Bewundernd blieb sein Blick auf der Gestalt des dunkelhaarigen, faunartigen Geschöpfes in ihrem Kleinmädchenkleid aus reinem weißem Satin haften. Ihr langes schwarzes Haar war zu einem strengen Zopf geflochten, und ihre Miene hatte einen merkwürdig staunenden Ausdruck, als gäbe es ein Geheimnis, das sie einmal gekannt und nun vergessen hatte, ohne zu wissen, wie und wo. Er vermutete, daß sie in der letzten Saison in Varby gewesen war, aber ihm fiel es schwer, sich dieses Mädchen als junge vor nehme Lady vorzustellen. Madam Veeldrop hatte mehrere Male einfließen lassen, daß sich das zarte Geschöpf unwohl fühlte. Die Person, die Miss Catayane gegenübersaß, hätte kaum unterschiedlicher sein können. Es war ein runzliges altes Weiblein in frommem Schwarz, mit weißem Haar und von spindeldürrer Ge stalt. Lord Margrave war schon häufig von ihrem Verhalten gestört worden. Witwe Waxwell sprach nicht oft, und ihr pergamentartiges Gesicht zeigte nur selten eine Regung. Wenn ihre langsamen Bewegungen so etwas wie ein Muster besaßen, dann war es das, daß sie ihre Arme verschränkte und sie in ihrem Schoß, hinter dem Rücken oder unter dem Tisch verbarg. Und zwar um die Tatsache zu ver schleiern, daß ihr eine Hand fehlte. Doch die Deformität der alten Frau wurde grausam enthüllt, als sie stümperhaft versuchte, ihrer jungen Schutzbefohlenen gegen de ren Willen ein weiteres Stück Fleisch auf den Teller zu legen. Eine kleine Weile sah Umbecca der unbeholfenen Darbietung zu, schließlich winkte sie, mit einem gönnerhaft mitleidigen Lächeln, die Witwe zurück und griff nach der kleinen Glocke, die neben ihrem Teller stand. 26
»Madam?« Umbecca holte tief Luft, um einen ganzen Schwall von Instruktionen abzulassen, doch statt dessen sah sie ihr Dienstmädchen nur erstaunt an. »Mädchen, was willst du damit bezwecken?« Aber die Antwort war mehr als offensichtlich. Schon bei ihrem letzten Auftritt hatte Nirry gehumpelt. In der Zwischenzeit hatte sie anscheinend aus irgendeinem verstaubten Schrank ein Paar Krücken hervorgeholt. »Oh, Madam, mein Knöchel ist furchtbar geschwollen!« Schabend kratzten die Krücken über den Boden, als Nirry sich langsam durch das Zimmer schleppte. Es war ärgerlich, sicher, aber es erstaunte Lord Margrave trotzdem, daß Umbeccas Gesicht plötzlich aschfahl wurde. Noch mehr jedoch verblüffte ihn der merkwürdige Ausdruck, der über Miss Catayanes Gesicht flog - so als blitze eine Erinnerung in ihrem Kopf auf. Das Mädchen faszinierte ihn. »Und Ihr sagt, sie war eine wilde Kreatur, die im Wald lebte und nicht einmal der menschlichen Sprache mächtig war?« flüsterte er und drehte sich wieder zu Umbecca um. »Aber jetzt scheint sie doch beinahe ... nun, beinahe vornehm zu sein.« Der Kaplan lachte höflich. »Das Mädchen ist ein Produkt von Mistress Quick. Euer Scharfsinn macht Euch alle Ehre, Lord Margrave!« »Das hatte ich mit dieser Frage nicht beabsichtigt.« »Ah, aber erreicht ein Gentleman nicht oft mehr, als er eigentlich beabsichtigt?« Umbecca hatte sich wieder gefangen, und es zuckte erneut verdächtig um ihren kleinen Mund. »Aber nun kommt, Lord Margrave, wenn Euch auch Euer Scharfsinn alle Ehre macht, so tut es Euer Appetit keineswegs. Wollt Ihr etwa sagen, Ihr hättet reichlich gefrühstückt? Dabei ist das so lebenswichtig für die Ener gien, die ein Gentleman aufbringen muß, findet Ihr nicht?« »Madam, Eure Großzügigkeit ist wirklich grenzenlos. Werdet Ihr mir dann bei einem kleinen Stück Aal in Aspik Gesellschaft leisten?«
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»Lord Margrave, Ihr seid wahrlich ein Verführer. Aber eine Lady darf an ihrer Nahrung nur picken, wie ein kleines Vögelchen, nur picken, nicht mehr. Wie sie sonst diese Sanduhr-Figur behalten sollte, auf die ihr Gentlemen so besteht, ist mir ein Rätsel.« Umbecca setzte ihr rätselhaftes Lächeln auf. »Nun, oft schaffe ich es kaum, auch nur den winzigsten Bissen bei mir zu behalten ...« Der Kaplan räusperte sich vernehmlich. »Dieses Mädchen Catayane«, murmelte er, »ist ein Vogel, den wir gezähmt haben. Und steht nicht diese Zähmung als Symbol für das, was unser ruhmrei cher Kommandeur hier erreicht hat, in diesem wilden und geheim nisvollen Tal?« . Lord Margrave betrachtete das Mädchen mit keuscher Bewunde rung. »Natürlich war es unser Freund Goodman Waxwell, der sie ku riert hat«, mischte sich Umbecca ein wenig zu laut ein, während sie sich eine Riesenportion Aal, Zwiebelringe, Rebhuhn und Backpflaumen auf den Teller häufte. »Unser Hausarzt. Das Kind war der letzte Fall, den er vor seinem tragischen Tod behandelte, nicht wahr, Kaplan? Aber wir wollen Witwe Waxwell nicht aufregen ...» »Wie ich schon sagte«, fuhr der Kaplan fort. »Unser glorreicher Kommandeur ...« »Ich vermute, daß wohl kaum die Aussicht besteht, daß dieser vornehme Gentleman uns in absehbarer Zeit Gesellschaft leisten wird?« Lord Margrave blickte nachdrücklich zum Kopfende der Tafel, wo der thronartige Stuhl des Kommandeurs wieder einmal verwaist dastand. Seit der edle Lord in Irion angekommen war, hatte er nur ein kurzes Gespräch mit dem Kommandeur führen können. Das allein war schon schockierend, doch das Gespräch selbst hatte ihn ebenfalls bestürzt. Er erinnerte sich noch sehr gut an den großen Siegeszug durch Agondon, nachdem Veeldrop von der Belagerung Irions zurückgekehrt war! Wie konnte es angehen, daß der stählerne Sieger aus diesen glorreichen Tagen und der sieche alte Greis ein und
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dieselbe Person waren, diese monströse, reglose Puppe, mit ihren Epauletten und Schärpen, die ihre Augen hinter einem Schleier ver steckte und dem Kaplan gestattete, an seiner Statt zu antworten? »Leider muß mein armer Ehemann weiterhin durch seine Abwe senheit glänzen, noch eine Weile, eine klitzekleine Weile.« Umbecca lächelte wieder, doch Lord Margraves Miene war streng. »Aber er erledigt doch regelmäßig ...« »Erledigen? Mein guter Lord, was erledigt er nicht?« Eay Feval deutete weit ausholend um sich. »Fragen wir uns selbst jetzt nicht, Lord Margrave, ob der Kommandeur tatsächlich abwesend ist? Wie die Schöpfungen des Ur-Gottes umgeben uns auch überall seine Werke.« »Hm.« Das grenzte zwar hart an Blasphemie, aber Lord Margrave ließ die Bemerkung durchgehen. In Wahrheit war er etwas ab gelenkt und unternahm einen neuen, diesmal weniger erfolgreichen Versuch, ein Ärgernis - vielleicht ein Stück Aalgräte? - zwischen seinen Porzellanzähnen zu entfernen. Er gab auf und stürzte sich wieder auf das Thema. »Seit meiner Ankunft hier in Irion habe ich viel gesehen ...« »Und das Leben in all seiner Verworfenheit erkundet?« warf der Kaplan ein. Aber nicht alles, hatte der vornehme Lord sagen wollen. Der Ein wurf des Kaplans war etwas unglücklich. Lord Margrave ver schluckte sich und wurde plötzlich von einem Hustenanfall ge packt. Er beugte sich vor, und seine Zähne klapperten gefährlich in seinem Mund. »Meine Güte! Wasser!« rief Umbecca und sprang auf, während sie wie verrückt nach Nirry läutete. »Kaplan, klopft Lord Margrave auf den Rücken!« Ein hohles Bumm ertönte in dem Zimmer, als der Kaplan über raschend herzhaft dieser Instruktion Folge leistete. Lord Margrave stieß ein heiseres Bellen aus, und seine Zähne segelten klappernd auf den Teller vor ihm.
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»Mein Lieber, mein Lieber!« Umbecca packte seine Hände. »Lord Margrave, es geht Euch nicht gut. Kommt, Ihr solltet Euch hinlegen ...« »Madam, bitte ...« Es war im Nu vorbei, wirklich, es war nicht der Rede wert. Mit derselben Geschicklichkeit, die Umbecca schon zuvor an ihm bewundert hatte, richtete sich Lord Margrave stocksteif auf und schob die Zähne in seinen Mund zurück. »Nichts ... passiert ... Aber man muß vorsichtig sein, das stimmt. Ich bin ein alter Mann, und mein Herz hat nicht mehr die selbe Kraft wie früher. Aber dies hier war nichts, rein gar nichts.«
»Jetzt hab ich dich, Becca!« rief der Bösewicht triumphierend. »Dann nehmt mich!« Ich riß mir das Nachthemd vom Leib. Er stand vor mir, leckte sich die Lippen und starrte auf meine wo genden, nackten Brüste. Als er vortrat, wappnete ich mich gegen seine rauhe Umarmung, aber nichts geschah. »Aber nicht doch, Becca! Du bietest dich mir in überlegener Ver achtung dar? Bringst dich selbst zum Opfer, um deinen närrischen Bruder vor dem Zorn meiner Büttel zu schützen? Nein, meine hochmütige Schöne! Wenn du in mein Bett herabsteigst, dann nicht als Märtyrerin.« Er strich mit seinen heißen Fingern über meine Wange. Ich zitterte. »Becca, verstehst du denn nicht? Glaubst du, daß es mich nur nach deinem Körper gelüstet? Du bist eine schwache Frau, und ich bin ein Mann. Wir sind allein hier in diesem entlegenen Anwesen mitten im Sumpfgebiet, weit von jeder Hilfe entfernt. Du könntest
soviel schreien, wie du wolltest, aber niemand würde kommen. Jetzt, in diesem Augenblick, könnte ich dich aufs Bett werfen und mir mein Vergnügen einfach nehmen.« Seine Stimme klang leise und heiß an meinem Ohr. »Nein, Becca, ich begehre nicht nur deinen Körper. Verstehst du das denn nicht? Ich will auch dein Herz!« »Die arme Becca! Was soll nur aus ihr werden?« Aber die Lesezeit war zu Ende und wurde erst am nächsten Nachmittag fortgesetzt. Cata schob das Lesezeichen an seinen Platz und klappte das Buch zu. Seufzend schob der alte Mann den Schleier wieder vor seine Augen und wischte sich die Tränen ab. Wie oft hatte er die Geschichte schon gehört? Er hatte nicht mehr mitgezählt. Aber noch nie zuvor war es so bewegend gewesen. Sicher, die Lesekunst des Mädchens ließ zu wünschen übrig. Bei seiner Frau oder dem Kaplan hatte ein gewisses Feuer in der Stimme gelegen, eine Färbung, die weit über das hinausging, dessen eine Novizin in der Kunst des Lesens fähig war. Aber was machte das schon? Hinter den Worten des Kindes steckte eine Liebe, und in den anderen Stimmen, das wußte er, war davon nichts zu spüren gewesen. Voller Zärtlichkeit dachte der alte Mann an die Tage zurück, als das Kind zu ihm gekommen war, so verwirrt, daß es kaum sei nen eigenen Namen kannte. Aber er selbst hatte sich ebenfalls ver loren, das begriff er nun. Vielleicht fühlten sie sich gegenseitig durch ihre jeweilige Einsamkeit angezogen. Sie hatte ihn zu lieben gelehrt, selbstlos. Und er hatte ihr langsam und mühsam das Lesen beigebracht. Er hätte niemals zulassen dürfen, daß sie sie ihm wegnahmen. Das Feuer knackte auf einer kleinen Lichtung in dem Dickicht. Auf das Glas des Daches fiel sanft der Schnee, und die verzierte Lampe auf dem mit Intarsien verzierten Tisch neben dem Bett des Kommandeurs spendete mit schlangengleichem Zischen ihr ge dämpftes Licht.
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»Liebes Kind.« Der alte Mann preßte Catas Hand an seine Lippen, und sie lächelte scheu. Kann es sein, fragte er sich, daß dieses Geschöpf wahrhaftig Wolverons Tochter ist? Oft spürte der alte Mann, wie ein Drang in ihm hochstieg, ungeheuer stark, aber unklar. Eines Ta ges, das begriff er schwach, würde er seine sieche Gestalt hochwuchten und das Kind an sich drücken. Beccas erster Ball würde ihr dann aus den Händen gleiten und zu Boden fallen. Vielleicht wür den seine trüben Augen dann funkeln, und sein Blick würde sich in ihren brennen, während er schluchzend fragte: »Kind, wie kannst du mich lieben? Du bedauerst mich, aber weißt du nicht, warum diese Augen erblinden? Warum der Körper, in dem sie ruhen und der einst der Körper eines Helden war, zu einer verfallenen Hülle dahingeschwunden ist? Es ist die Strafe des Schicksals, die Strafe für meine Missetaten! Kind, ich bin derjenige, der deinem Vater das Augenlicht nahm, ihn quälte und in den Verliesen unter der Burg blendete!« Und dann? Da versagte die Vorstellungskraft, aber der alte Mann malte sich aus, noch undeutlicher freilich, wie das Kind dann liebevoll die Hand ausstreckte und mit den Fingern über sein zerstörtes Gesicht strich, durch sein Haar glitt. Dann würden sie gemeinsam schluchzen, und ihre Tränen der Verzeihung würden auf seinen Kopf fallen wie ein beruhigender Balsam. Doch nein! Welchen Sinn hatte es, diese Gedanken laut auszu sprechen? Waxwells Tränke hatten ihre Schuldigkeit getan, und das Kind erinnerte sich an nichts mehr aus ihren Tagen im Wildwald. Außerdem konnte ihr der Vater jetzt nicht mehr wiedergegeben werden. Eine Zeitlang hatte der Blinde in den Verliesen ausgehalten, aber er war gestorben, schon lange in Schmutz und Finsternis ge storben. Jetzt fühlte der Kommandeur seinen eigenen Tod nahen, und in diesen letzten Tagen empfand er eine starke Verbundenheit zu dem
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Mann, dem er so bitterliches Unrecht angetan hatte. In seiner Todesangst sah er sich selbst, immer und immer wieder, wie seine behandschuhte Faust den Stab nahm, wie sich seine Lippen zu einem grausamen Lächeln verzerrten, als er die glühende Spitze, einmal und dann ein zweites Mal, in die unerbittlichen, dunklen Augenhöhlen des Eremiten bohrte. Das Fleisch des Augapfels verglühte mit einem schlangengleichen Zischen, und dann zischte es noch einmal. Der Kommandeur erschauderte bei der Erinnerung an seine böse Tat, und Scham legte sich wie der nahende Tod, wie ein Leichen tuch, über seine kränkelnde Gestalt. Jetzt konnte er nichts mehr für den alten Wolveron tun. Wenn er es nur an seiner lieben, ahnungslosen Tochter wiedergutmachen könnte! Er hielt ihre Hand noch immer in seiner und drückte sie, lange und fest. Cata sah ihn nachdenklich an. Es war seltsam, wie sie sich zu diesem alten Mann mit den erloschenen Augen hingezogen fühlte! Aber obwohl sie ihn liebte, machte ihr etwas Kummer. Er hatte sie einmal gebeten, ihn Papa zu nennen, doch das brachte sie nicht über sich. Warum nur? Manchmal war ihr, als flüsterte ihr eine Stimme in der Luft etwas zu, aber so leise, daß sie die Worte nicht verstehen konnte. Doch jetzt war es der Kommandeur, der etwas flüsterte und sie dicht zu sich heranzog, wie ein Liebhaber. »Weißt du, was ein Notar ist, Kind?« »Ein Notar? Aber warum, Miss Cata?« »Oh, etwas, das der Kommandeur gesagt hat. Ich habe mich nur gewundert.« »Es gibt einen Gentleman im Dorf. Es hat etwas mit diesem ... etwas mit Edelleuten zu tun, hab ich recht? Es sind Dinge, die sie niederschreiben wollen.« »Hm. Ja.«
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Es war spät am Nachmittag. In ihre Pelze gehüllt, absolvierten das Dienstmädchen und Miss Cata ihren täglichen Spaziergang. Das heißt, eigentlich ging nur Miss Cata spazieren, während Nirry auf ihren Krücken unbeholfen hinterherhumpelte. Nirry wußte nicht genau, woher die Krücken kamen. Sie hatte sie vorher in dem Besenschrank nicht gesehen, aber dann standen sie da und schienen nur auf sie zu warten, gerade, als sie sie brauchte. Es war schon merkwürdig, was man sah - und auch, was man nicht sah. Aber es waren verteufelte Dinger, diese Krücken! Immer und immer wieder blieben sie im Schnee stecken und glitten an den Grasklumpen und Baumwurzeln darunter ab. Mehr als ein mal schwankte das Mädchen und wäre beinahe gefallen. Keuchend blieb sie zurück. Sicher würden sie bald nach Hause gehen. Die Sonne würde bald verschwunden sein. Noch tauchte sie den eisigen Friedhof aber in einen gleißenden Nebel aus Gold. »Nirry?« Cata drehte sich um. »Erzähl mir von meinem Ehemann.« »Miss Cata, was meint Ihr damit?« Dabei wußte Nirry genau, was Cata meinte. Diese Frage hatte Cata schon vorher gestellt, doch während die Tage verstrichen, schien ihre Neugier immer größer zu werden. Der Kommandeur hatte ihr in den Kopf gesetzt, daß sie eines Tages - ausgerechnet Meister Poltiss heiraten sollte. Nirry hätte erwartet, daß Miss Cata von dieser Vorstellung alles andere als begeistert sein würde, denn Nirry selbst mißbilligte dieses Ansinnen vollkommen. Doch Miss Cata schien sich nicht mehr genau an Meister Poltiss erinnern zu können - und noch weniger an die Zeit, bevor sie zu Quicks ge schickt worden war. »Euer zukünftiger Ehemann ...«, begann Nirry »Mein zukünftiger Ehemann!« Miss Cata schlug sich mit den Händen gegen die Arme und machte eine Pirouette. Sie bewegte sich trotz ihrer dicken KorosKleidung überraschend anmutig. Was stellte sie sich nur vor? Was
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war aus ihren Varby-Träumen geworden? Oh, sie war auch so schon ein merkwürdiges Mädchen! Nirrys Blick glitt über die Grabsteine, die Mauer, die kahlen Umrisse des neuen Agonis-Tempels. Jetzt sprang Miss Cata auf einen Grabstein und ließ den Schnee in alle Richtungen fliegen. »Miss Cata, also wirklich!« Hatte es jemals solch ein Mädchen gegeben? Einen Augenblick lang sehnte sich Nirry danach, sich wegzustehlen und das Mädchen einfach allein zu lassen. Aber natürlich würde sie das nicht tun. Sie konnte es nicht. Denn sie liebte Miss Cata genausosehr, wie sie ihre Herrin verabscheute. Natürlich war das Mädchen ungezähmt und verderbt. Seit ihrer Rückkehr nach Irion war sie immer schlimmer geworden. Man mußte sie die ganze Zeit beaufsichtigen. Wo ist Miss Catayane? Diese Frage ihrer Herrin mußte Nirry immer beantworten können. Einmal war das Mädchen im Wildwald spazierengegangen, ganz al lein und lange nach Einbruch der Dunkelheit. Mehr als einmal hatte sie ihre Suite verlassen und wurde aufgefunden, wie sie auf einem Haufen alter Kleider kauerte, die Nirry in einer Abseite neben der Spülküche als Putzlappen aufbewahrte. Manchmal konnte man kaum glauben, daß Miss Catayane eine vornehme Dame war. Aber war sie andererseits nicht auch eine Wilde und dazu noch von Vaga-Geblüt? Manchmal, so dachte Nirry, konnte man das fast zu deutlich erkennen. Damals, als sie auf die Giebelwand geklettert war und den Horn-Mond anheulte. Oder als sie in Nirrys Küche gestürmt war und einen großen Kessel mit Eintopf umwarf. Nirry hätte sich beinahe zu Tode verbrüht! Sie hätten sie niemals nach Irion zurückbringen dürfen! Miss Cata drehte sich weiter auf dem Grabstein. Über ihr bilde ten die Zweige einer uralten Eibe ein schützendes Dach. »Und wird mein Ehemann denn ein vornehmer Gentleman sein, Nirry?« Ein vornehmer Gentleman? Nirry erinnerte sich an Polty, als er
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noch ein fetter Säufer gewesen war und in seinem eigenen Kot in ei nem Raum im Trägen Tiger gelegen hatte. Aber sie erwiderte: »Meister Poltiss ist der Sohn des Gouverneurs. Einen feineren Gentleman könnt Ihr niemals bekommen.« Cata wirbelte unablässig um ihre eigene Achse. »Also kanntest du ihn, Nirry?« »Natürlich. Ihr kanntet ihn auch.« »Aus der Zeit, bevor ich krank war? Ich weiß, daß es da einen Gentleman gab, bevor ich krank war.« Nirry wurde blaß. »Ihr werdet wieder krank werden, wenn Ihr nicht vorsichtig seid. Und jetzt kommt nach Hause.« Die Dienstmagd wollte nur noch nach Hause gehen. Würde der Bluff funktionieren? Ihre Arme und ihr Rücken taten weh, ganz zu schweigen von ihrem Knöchel. Sie drehte sich heftig herum und schwang sich weiter. Doch das war nicht gut. Der Schmerz durch fuhr sie, und sie jammerte: »Oh, ich weiß nicht, wie der junge Herr Jem das ausgehalten hat!« »Was hast du gesagt?« Miss Cata hielt mitten in der Bewegung inne und schwankte nicht einmal. Nirry zögerte. »Ich habe nur gesagt, daß ich nicht weiß, wie ich das aushaken soll.« Was hätte sie sonst sagen können? Hatte die Herrin nicht ange ordnet, unter Androhung der sofortigen Entlassung, niemals, NIE MALS den jungen Herrn Jem zu erwähnen? Nicht mir gegenüber und auch nicht dem Kaplan gegenüber. Und vor allem niemals, verstehst du, Mädchen, NIEMALS vor Miss Catayane. Tränen traten dem Mädchen in die Augen, als das Bild des jungen Herrn vor ihrem inneren Auge emporstieg. Wie konnte er tot sein? Wie konnte ihr lieber kleiner Junge tot sein? Und wenn sie bloß daran dachte, wie sehr er dieses merkwürdige, wilde Mädchen geliebt hatte! Nirry sackte in die Armstützen der Krücken.
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»Arme Nirry!« Sofort war Cata neben ihr und legte dem Dienstmädchen den Arm um die Schultern. Einen Moment lang hoffte Nirry, sie würden zurückgehen, doch statt dessen ließ Miss Cata sich auf den Grabstein plumpsen. »Komm, Nirry, setz dich zu mir. Hast du Lust, mir eine Ge schichte zu erzählen?« Umständlich ließ sich das Dienstmädchen neben ihr nieder. Die Krücken fielen klappernd zu Boden, als sie unter ihren Armen weg rutschten. Eine Geschichte erzählen, mitten im Schnee? Sie würden sich den Tod holen. Aber wie erleichternd es war, einen Augenblick zu sitzen! »Erzählst du mir etwas von der Burg, Nirry? Oder von der Zeit, als die Soldaten kamen? Es muß eine wunderschöne Zeit gewesen sein, Nirry, stimmt's? Nur du und die Herrin? Arme Nirry, hattest du niemanden, um den du dich sonst kümmern konntest?« Nirry schnüffelte und betrachtete mürrisch einen kleinen Vogel, der unbekümmert über den Grabstein nebenan hoppelte. Seine rote Brust leuchtete in dem schwindenden Licht. Was konnte Nirry schon sagen? Viel, sehr viel, aber nichts, was nicht ihr Versprechen brechen würde, welches sie ihrer Herrin gegeben hatte. Der Vogel zwitscherte ein leises Ti-witt! Ti-woo! und flatterte auf einen niedrigen Ast der Eibe. In dem Augenblick hatte Nirry eine Idee und drehte sich mit sorgfältig verstecktem Eifer zu ihrer Gefährtin um. »Vielleicht könnt Ihr mir ja eine Geschichte erzählen, Miss Cata. Ich meine, eine Art von Geschichte ...« »Nirry! Du weißt doch, daß ich keine Erinnerung mehr habe!« »Schon, aber Ihr könnt lesen.« »Ich habe kein Buch dabei.« Das brauchten sie auch nicht. Das Dienstmädchen griff in die Ta sche seines mottenzerfressenen Mantels und holte einen zerknitterten Brief heraus. »Er ist doch an mich gerichtet, stimmt's?«
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Stolz deutete sie auf den Rücken, wo ein Tintenklecks in Form eines Ohrs prangte. »Zappelphilipp hat gesagt, er würde ... Damit ich weiß, daß er es ist, wißt Ihr? Ach, Ihr lest ihn mir doch vor, Miss Cata? Das tut Ihr doch?« Nirry schämte sich ebensosehr, wie sie aufgeregt war, und ihre Wangen waren knallrot, als Miss Cata den Brief entfaltete. Im ersten Moment wirkte der Brief wie dicke Balken aus sosenicanischer Tinte, die in dichten Strichen aufgetragen war und sich über viele Zeilen erstreckte. Was die Zensur übriggelassen hatte, bestand aus einer intelligent wirkenden Handschrift, die nicht an die unbeholfenen Buchstaben der unteren Klassen erinnerte. Die Sätze waren oft sehr gewunden. Miss Cata runzelte die Stirn, aber die Erklärung war einfach. Absender und Schreiber waren nicht derselbe, und die Verweise auf den Professor und den guten alten Morvy verrieten bald, wer letzterer sein mochte. »Der gute alte Morvy«, wiederholte Nirry Aber diese scharfe, kleine Handschrift war schwer zu lesen. Nur mühsam konnte Miss Cata entziffern, daß Zappelphilipp ausgerechnet nach Holluch auf dem Berge versetzt worden war. »Holluch!« jammerte Nirry »Dann haben wir ihn gerade verpaßt!« Und mochte man glauben, daß sein alter Vater immer noch am besten mit den Ohren wackeln konnte? Miss Cata geriet ins Stottern, aber Nirrys Augen leuchteten. Die liebe Miss Cata! Gab es eine bessere junge Dame? Abwech selnd lächelte das arme Dienstmädchen und runzelte die Stirn, und dann lachte und weinte sie, als sie erfuhr, daß ihr junger Mann mitt lerweile Korporal geworden war. »Oh, er wird herumstolzieren wie ein Gockel!« Und Sergeant Bunch ZENSUR und diese verfluchten Zenzaner ZENSUR ZENSUR und eines Tages, eines fernen Tages, wenn ZENSUR ZENSUR ZENSUR diese kleine Taverne, die
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Allmählich dämmerte es Miss Cata. »Nirry! Du hast auch einen zukünftigen Ehemann? Wie ich!« »O nein, Miss! Nicht wie Ihr! Nun, Ihr seid eine adlige Dame, und ich bin ... Ich meine, es wäre so, falls ... Oh, Miss Cata, Ihr werdet doch der Herrin nichts erzählen, nicht wahr?« Miss Cata lachte und schwor ihr, daß sie das nicht tun würde. »Nun, Nirry, vielleicht wirst du ja eines Tages mein Dienstmädchen! Und vielleicht werden dann du und dein Ehemann mei nen Mann und mich versorgen?« Das Mädchen hatte anscheinend Zappelphilipps Anspielung auf die kleine Taverne nicht verstanden. Nirry hielt es für das beste, jetzt nicht näher darauf einzugehen. Sie lächelte nur dankbar und zerdrückte ein paar Tränen, während sie den kostbaren Brief wie der in ihrem Mantel verstaute. Direkt an ihrem Herzen! Wie sollte sie Miss Cata dafür jemals danken? »Nirry«, sagte die junge Herrin, als sie sich auf den Rückweg zum Lektorat machten. Liebevoll ergriff sie den Arm der Dienstmagd und stützte sie. »Du möchtest doch bestimmt Zappelphilipp auch einen Brief senden, hab ich recht?« Nirry schnappte nach Luft. »Miss Cata, würdet Ihr das tun?« »Aber natürlich. Doch Nirry, du weißt ja, daß ich nur ein einfa ches Mädchen bin. Ich kann nicht so gut schreiben wie der Profes sor, nicht wahr? Ich frage mich ...« Hinter ihnen pfiff der kleine rote Vogel ein planloses Ti-witt! Ti-woo! Miss Cata blieb stehen und dachte nach. Dann drehte sie sich zu ihrer Gefährtin um und sah sie mit großen Augen an. »Nirry, dieser Notar ... Glaubst du, er würde uns heute empfangen?«
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»Zieht, Schurke!« »Was, gegen einen Frischling wie Euch?« »Kein Frischling, Schurke, sondern Euer Schicksal, das Euch end lich eingeholt hat!« Skyle Kelming-Skyle musterte den flachshaarigen Ejländer und schnaubte verächtlich. Der Schurke war die Verkörperung der Verworfenheit. Seine Nase war lang und gebogen, die Lippen dick und lüstern. Er war eine Promenadenmischung, und in seinen heißen Adern rauschte das degenerierte Blut von Zenzanern, Sosenicanern und sogar Vaga. Er schmückte sich mit goldenen Ohrringen und einem öligen Bart, nach der Mode der Kal-Theron. »Was?« rief Kel ming-Skyle. » Verdirbst mein junges Mündel, Frischling, und nennst mich einen Schurken?« Reeves Roamer konnte seine Verachtung nur mühsam zügeln. Um sie herum erhoben sich drohend und finster die Mauern der großen Burg. »Ich habe meine Hand geboten«, stieß Roamer zwi schen den Zähnen hervor, »um Lady Olwena in allen Ehren zu ehe lichen!« »Eure Hand? Ja, die wird sie auch bekommen, Frischling, wenn ich sie von Eurem Arm abgehackt habe!« Skyle zog sein Schwert. »Dann kann sie sie heute nacht an ihre Brust pressen, wenn ich mir endlich mein angestammtes Recht nehme und die zarte Membran ihrer Jungfräulichkeit durchbohre!« Die Schwerter klirrten. »Jemany?« Jem saß mißgelaunt in der Bibliothek von Lord Empster. Er hatte seit einiger Zeit den Seiten des Prinzen der Schwerter kaum noch Beachtung geschenkt. Früher einmal hatte ihn das Buch begeistert,
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doch jetzt kam es ihm merkwürdig schal vor, abgestanden. Es war später Nachmittag. Draußen war es immer noch neblig, und auf dem Kaminsims tickte die Uhr unbarmherzig die Mechs, Oltons und Fünfen herunter. Zu dieser Jahreszeit würde es bald dunkel werden. Bald schon, sehr bald würde Pell zurückkehren. Und dann führen sie gemeinsam zum Bankett. »Jemany?« wiederholte Lord Empster. Jem schrak zusammen. Sein Vormund stand am Kaminfeuer und wärmte sich die Hände. Er hatte die Handschuhe und seinen Spazierstock unter den Arm geklemmt, und er trug noch immer seinen Hut, als wäre er gerade erst von einem Ausflug zurückgekehrt. Auf seinen Stiefeln waren Schlammspritzer. Er drehte sich um, und sein Umhang zischte durch die Luft. Plötzlich bekam Jem Angst. »Ich habe gehört, Jemany, daß du Mr. Burgrove beleidigt hast.« »Mein Lord?« Ungeschickt schob Jem den Stuhl zurück und stand auf. Über dem Kaminsims befand sich ein großer goldener Spiegel. Der Raum schimmerte darin in einem bräunlichen Nebel, und Jem riß seinen Blick los. »Mein Lord, Ihr irrt Euch!« Lord Empster lächelte ironisch. »Also stimmt es nicht, daß ihr, du und Herr Burgrove, euch bei Anbruch der Dämmerung treffen wollt? Das freut mich zu hören. Ist es nicht ein trauriges Zeugnis für diese Epoche, daß solche Gerüchte selbst in heiligen Zeiten wie dieser von Ohr zu Ohr flattern? Sogar in den Kirchbänken des Großen Tempels hört man den Namen Nova, Nova flüstern.« »Ich meinte, mein Lord, daß ich Mr. Burgrove nicht beleidigt habe«, erwiderte Jem leise. »Dann hast du ihn in Websters Kaffeehaus also nicht niederge schlagen? Dann muß ich mich wohl mit dem alten Sprichwort trösten: Die Mühlen des Klatsches mahlen sehr fein, und gibt es denn ein Getreide ohne ein Körnchen Wahrheit darin? Aber selbstver ständlich ist mein junges Mündel kein solcher Narr.« »Ihr mögt vielleicht recht haben, mein Lord, daß ich ein Narr bin«, antwortete Jem leise. »Aber bin ich nicht Euer Narr? Habt Ihr
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mich nicht den Kodex eines Gentleman gelehrt? Nun, da ich diesem Kodex gemäß lebe, verurteilt Ihr mich. Burgrove hat meinen Freund aufs schwerste beleidigt.« »Deinen Freund? Einen Vaga-Jungen! Jemany, ich nenne dich einen Narren, und ich meine es auch so.« »Spart Euch die Mühe. Pell hat es mir schon zur Genüge vorge halten.« »Pellam ist genauso schlimm! Er sollte schließlich Euren Sekundanten bei dieser Narretei abgeben, oder nicht?« »Sollte? Was meint Ihr mit sollte?« Lord Empster trat vor und zündete seine Pfeife an. Blauer Rauch kräuselte sich um die Krempe seines Hutes. »Es wird kein Duell geben, Jemany Ich bin soeben erst von Mr. Burgroves ... Bleibe zurückgekehrt. Der Kodex eines Gentleman bedeutet, so fürchte ich, wenig für jemanden, der selbst kaum diesen Ehrentitel zu tra gen verdient. Stell dir doch die Frage, was unser Goldkrawattenträger vorzieht: ein Duell in der Dämmerung oder eine Börse mit Gold-Tirals am Nachmittag? Ich mußte mein Angebot nicht einmal wiederholen.« Einen Augenblick lang verstand Jem nicht. »Das könnt Ihr nicht tun! Ich werde es nicht zulassen.« »Ich habe es bereits getan. Es ist geschehen, Jemany« »Ihr habt ihn bestochen? Iht habt meine Ehre verkauft?« »Jemany, Burgrove hat keine Ehre. Soviel weißt du doch hoffent lich über ihn.« »Ich rede nicht über Burgrove! Ich rede von mir!« Jem zitterte. Heiße Wut durchströmte ihn plötzlich und beflügelte ihn zu einer ungewohnten Beredsamkeit. »Ihr nennt mich einen Narren, aber bin ich denn mehr ein Narr als Ihr? Mein Lord, Ihr seid es, der mich beleidigt! Bin ich denn nicht der Erbe dieses Königreiches? Ich bin Euer Mündel, sagt Ihr, aber wie erfüllt Ihr Eure Aufgabe als befähigter und ordentlicher Vormund? Was tut Ihr anderes, als mich hier festzuhalten und die Tage meiner Jugend verstreichen zu las
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sen? Ich habe mich in Eure Hände begeben, aber Ihr habt mich be trogen! Es ist doch zu Eurem Besten - oder etwa nicht? -, daß ich hier gelebt habe, als wäre die Zeit, die vor mir liegt, endlos, eine Endlosigkeit, die nur aus Vergnügungen und Oberflächlichkeiten besteht? Wenn ich mich mit Burgrove gestritten habe, dann mit vollem Recht. Pell nennt mich einen Vaga-Freund. Nun gut, ich bin ein Vaga-Freund! Wie sollte ich die Kinder des Koros nicht lieben, wenn ich ihren Kristall trage, der an meinem Herzen verborgen ruht? Mein Lord, der Harlekin hat mir gesagt, ich solle mich an Euch wenden. Ich wünschte nur, ich könnte verstehen, warum, denn ich fürchte, daß er sich geirrt hat.« Jem brach ab. Seine Wangen glühten, und er war den Tränen nahe. Er staunte über die Dinge, die er ausgesprochen hatte - Worte, die wie von selbst aus seinem Mund gekommen zu sein schienen. Lord Empster seinerseits war keineswegs erstaunt, sondern ging nur vor dem Kamin auf und ab und zog gelassen an seiner elfenbeinernen Pfeife. Er hätte auch der Direktor einer Schauspieltruppe sein können, der über den letzten Kandidaten beim Vorsprechen nachdachte. Jem hätte am liebsten losgebrüllt. Es stimmte, was er gesagt hatte: Lord Empster hatte ihn beleidigt, und er beleidigte ihn auch jetzt. Seine Ruhe und seine Passivität machten ihn rasend. »Jemany, es gibt vieles, das du noch nicht verstehst.« Die Stimme war kühl und gleichmütig. »Aber die Zeit rückt näher, wo du es erfahren wirst... wo du mehr erfahren wirst.« »Nein!« Das war einfach zuviel. »Erzählt mir alles, und erzählt es mir jetzt!« Jem ballte die Hände zu Fäusten und kniff die Augen zusammen. Was sollte aus ihm werden? Er fühlte sich vollkommen hilflos. War Lord Empster sein Freund oder sein Feind? Eine verrückte Idee überkam ihn. Er hatte sie schon einmal gehabt, und jetzt drängte sie sich ihm mit noch größerer Kraft auf. Es war alles nur ein Test. Lord Empster hatte versucht, ihn von seinem Weg ab zulenken. War dieser Lord in Wahrheit nichts als ein falscher Führer, der ihn mit modischem Tand und Ruhm zu verführen suchte?
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Jem sprang auf. »Ja!« rief er anklagend. »Das ist ein Test, ein Spiel!« Aber Lord Empster lächelte nur. Jem stöhnte. Er ballte die Hände zu Fäusten. Hektisch sah er sich um, betrachtete die schim mernden Rücken der über tausend Bücher, den Spiegel und die blauen Rauchfahnen, die sich langsam in der Luft auflösten. Auf dem kleinen runden Tisch neben dem Lesesessel lag das Buch von Silverby immer noch aufgeschlagen. Zieht, Schurke! Es klang wie Spott. Jem packte das Buch und warf es ins Feuer. Dann sank er in den Sessel zurück und schlug die Hände vors Gesicht. Es stimmte, er war hilflos und nutzlos. Wenn er nicht einmal gegen Burgrove kämpfen durfte, wozu war er dann gut? Die Aufgabe, die vor ihm lag, kam ihm irreal und unmöglich vor. Er dachte an die Nacht, in der er den Kristall gefunden hatte, und sehnte sich danach, erneut diese Erregung, diese Kraft zu verspüren. Und sein Beschützer lächelte bloß die ganze Zeit! »Meister Nova?« Jem zuckte zusammen. Ein Lakai stand vor ihm und hielt ihm ein Silbertablett hin. Darauf lag ein kleines, ordentlich gefaltetes Stück Papier. Ein Brief. Verständnislos nahm Jem ihn an sich. Er faltete ihn nicht einmal auseinander, sondern blickte nur neugierig auf die hastig hingekritzelte Adresse. Nova. Empster. In den Augen seines Vormunds glühte ein dunkles Feuer. Plötzlich durchfuhr es Jem heiß, und er hatte keinerlei Zweifel, wer diese Nachricht geschrieben hatte. Jeli! Die teure Jeli! Sein Vormund hatte behauptet, daß ganz Agondon von diesem Duell sprach. Das bedeutete, daß auch Jeli es wissen mußte. Sie machte sich Sorgen um ihn, so mußte es sein. Sie machte sich sicher schreckliche Sorgen. Wie konnte er gehen, ohne an sie zu denken! Jem zerknüllte den Brief ungelesen und schob ihn in seine Tasche. Er eilte an dem Lakai vorbei und riß ihm dabei das Silbertablett aus der Hand. Lord Empster kommentierte Jems Abgang mit einem schmerzli chen, traurigen Lachen. Das Kind war heißblütig, aber leicht zu
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narren. Leider mußten noch viele Mondleben vergehen, bevor er für die Aufgabe bereit war, die vor ihm lag. Schließlich durften sie ein Scheitern nicht riskieren. Sie hatten so lange darauf gewartet, so unendlich lange! Draußen sah Jem die Laterne einer Mietdroschke im Nebel leuchten. Er hielt das Gefährt an und ließ sich, in einem entsetzlich langsamen Tempo, zum Haus seines Onkels fahren. Ehrfürchtig stieg Jem die lange Treppe empor, während er dar über nachdachte, wie er seine Cousine trösten sollte. In den Hal tern an dem uralten Steingeländer brannten Fackeln. Ein Lakai in der Uniform des Erzherzogs öffnete die schäbige Tür einen kleinen Spalt weit. Jem nannte seinen Namen, und die Tür wurde geschlossen. Er wartete eine Weile, bis man ihm schließlich mitteilte, daß Miss Vance nicht zu Hause sei. Jem glaubte es nicht. Es war die Zeit der Meditation, und natürlich war sie zu Hause. Sie war da und sehnte sich danach, ihn zu sehen. Er nannte erneut seinen Namen und brachte flehentlich sein Anliegen vor, aber die Antwort war dieselbe. Diesmal schoß Jems Faust vor, bevor sich die Tür schließen konnte. »Jeli, Jeli!« Er stürzte in die Eingangshalle. Es war eine närrische Handlung. Der Lakai war ein kräftiger, un tersetzter Bursche und zuckte nur im ersten Moment zurück. Im nächsten Augenblick hatte er Jem gepackt, obwohl der sich heftig wehrte und um sich trat. Dabei warf er einen schnellen Blick durch die Halle und erkannte in dem dämmrigen Licht auf dem oberen Treppenabsatz seine Cousine. Sie betrachtete ihn. Von ihrem Fenster aus hatte sie Jem an der Tür gesehen. Er hatte in dem diesigen Licht der Fackeln einen eigenartigen Glanz um sich gehabt. Jetzt sah sie ihn erstaunt an. »Wartet!« rief sie, als der Lakai Jem hinauswerfen wollte. Sie huschte die Treppe hinunter und sah sich dabei nach beiden
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Seiten um. Ein Impuls ließ sie diese Konfrontation suchen, aber gleichzeitig war sie unsicher, ja fast schon furchtsam. Ihr blondes Haar glänzte wie Gold, und selbst in dem dämmrigen Licht war ihre Schönheit überwältigend. »Ich mußte Euch sehen!« stieß Jem schwer atmend hervor. »Mich sehen? Aber warum?« »Weil Ihr mich sehen wolltet!« »Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht!« »Aber Euer Brief ...« Jem wollte in seine Tasche langen, aber der Griff des Lakaien war zu fest. Ein zweites Mal fragte der Diener, ob er den Eindringling zur Tür hinauswerfen sollte. Jeli hob die Hand. »Ich habe keinen Brief geschrieben!« zischte sie, aber Jem nahm die ablehnenden Worte kaum wahr. »Ihr habt meine Hand gehalten!« jammerte er. Jetzt glühten Jelis Augen. Ihr Erstaunen hatte sich mittlerweile in Ärger verwandelt. Als sie den Jungen in den Armen des Lakaien zappeln sah, hatte sich ein Gefühl von Grausamkeit in ihr aufge baut. Jetzt brach es sich plötzlich Bahn. Sie trat dicht an Jem heran und zischte ihm durch zusammengepreßte Zähne zu: »Du dummer, grober Junge! Ich habe mich amüsiert, das war alles. Verstehst du das denn nicht? Auf mich wartet eine große Zukunft, und du spielst darin keine Rolle!« »Jeli, ich liebe dich!« »Wie kannst du es wagen!« Sie holte aus, als wollte sie ihn schlagen. Doch statt dessen wirbelte sie herum, brach in Tränen aus und stürmte die Treppe hinauf. Das letzte, was Jem sah, bevor man ihm die Tür vor der Nase zu schlug, war die grüne, gebieterische Gestalt von Tante Vlada, die von dem eisernen Kerzenleuchter beschienen wurde, der über dem Treppenabsatz hing. Weinend stürzte sich Jeli in die Arme dieser Frau. Draußen herrschte immer noch dichter, grauer Nebel. Jem rieb sich das Bein unter dem Karo-Mantel. Er konnte froh sein, daß er
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nicht die ganze Treppe hinuntergefallen war. Jetzt rang er nach Atem und schämte sich. Er marschierte vor dem Haus auf und ab und hockte sich schließlich am Fuß der Treppe auf die unterste Stufe. Irgend etwas stimmte nicht. Er hegte nicht den geringsten Zweifel daran, daß Jeli ihn sehen wollte. Diese verruchte Tante wollte das Mädchen von ihm fernhalten, ja, so mußte es sein. Aber was sollte er tun? Er mußte nachdenken, nachdenken. Er ging um das Haus herum, strich mit den Fingern über die Ziegelmauern und schob seine Hände in die Taschen seines Mantels. Da ertastete er den zerknüllten Brief - Jelis Brief. Er würde nicht gehen, bis er sie wiedergesehen hatte. Liebevoll malte er sich aus, wie sie in seine Arme fallen und ihm endlich ihre wahren Gefühle enthüllen würde. Zärtlich und ehrfürchtig würde er ihre Tränen wegküssen... Er ging über eine Allee in eine Gasse. Dort brannte kein Licht, und es war stockfinster. Jem hörte das Klingeln der Tempelglocken, das direkt über ihm zu ertönen schien. Der Turm mußte sehr nah sein, war aber in dem Nebel nicht zu erkennen. Jetzt überkam ihn der erste Zweifel. Du dummer, grober Junge! Wie grausam die Augen seiner Cousine gefunkelt hatten! Was tat er da? Wen wollte er eigentlich zum Narren halten? Einen Augenblick lasteten die Fehlschläge des Tages schwer auf Jem und überwältigten ihn. Tränen traten ihm in die Augen. Wie sehr er sich doch nach seinem früheren Leben sehnte, als er Cata geliebt hatte und von ihr geliebt worden war! Wie einfach damals alles gewesen war, dachte Jem jetzt, wie schön. Es schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß alles, seine Leidenschaft für Jeli und seine Schwelgereien beim ›Würger‹, diese feinen Anzüge und sein närrisches Duell, zu einem Stück gehörte, einen Teil der großen Korrumpierung dieser vom Nebel eingeschlossenen Stadt bildete, die ihn bösartig und hart näckig von allen Seiten zu bedrängen schien. Er lehnte sich gegen eine niedrige Tür in der Gasse, sank zusam men und schluchzte; Jem trauerte um die Unschuld, die er verloren hatte.
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Ein kleines Guckloch in der Tür wurde geöffnet. »Verschwinde!« rief eine Stimme. Jem erschrak. Er wischte sich die Tränen weg und blickte in zwei boshafte Augen. Ihr Besitzer schien ihn für einen Ausgestoßenen zu halten, der in dem Eingang Schutz suchte. Jem trat zurück. Jetzt erst erkannte er den niedrigen, schmalen Eingang und die Laterne darüber. Jetzt war sie noch kalt und finster, doch in der Nacht würde sie mit ihrem leuchtenden roten Schein brennen. Konnte das sein? Jem stolperte zum Vordereingang des Hauses. Erstaunen und Entsetzen durchströmten ihn. Er hatte gedacht, daß er seinen geheimnisvollen Onkel Jorvel niemals kennengelernt hatte, den Verräter von Ejlands rechtmäßigem König. Doch jetzt sah er, daß er seinen Onkel gut kannte, sehr gut sogar. Jem kniff die Augen zusammen und blickte die steile Treppe zum Haus hinauf. »Der ›Würger‹«, stieß er atemlos hervor. Erneut ließ er sich auf die Treppenstufen sinken. Einen Moment hatte er das Bedürfnis, sich dort wie ein Hund zusammenzurollen und sich vor Sehnsucht nach Trost zu verzehren. Aber von den Be wohnern des Hauses war kein Trost zu erwarten. Der Gedanke durchfuhr ihn, daß Jeli dort gegen ihren Willen festgehalten wurde, in den Klauen ihres bösen Onkels und ihrer Tante gefangen war. Dann fiel ihm erneut die Grausamkeit in ihrem Blick ein. Und es schüttelte ihn. Jetzt endlich zog Jem zögernd den Brief aus der Tasche, den er fälschlich und absurderweise seiner Cousine zugeschrieben hatte. Was war er doch für ein Narr gewesen! Und nun rief sich Jem das dunkle Glühen in Erinnerung, das ei nen kurzen Moment in Lord Empsters Augen aufgeleuchtet hatte, nachdem der Lakai mit dem Brief gekommen war. Jem preßte die Lippen zusammen. Erneut hatte sein Vormund ihn hintergangen. Zitternd las er die Nachricht in dem flackernden Licht der Fackeln:
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Jem, ich habe dich angelogen. Versuche zu verstehen, daß ich nicht an ders handeln konnte. Ich habe dir versprochen, meinen Plan auf zugeben, aber das geht nicht. Du hast deinen Kodex, und ich habe meinen. In diesem Moment bin ich von Burgroves Quartier zurückgekehrt. Ich habe ihm meine Herausforderung überbracht, und er hat akzeptiert. Dich befreit er von allen Verpflichtungen, was seine Ehre angeht. Ich bitte dich nur darum, mein Sekundant zu sein - jemand anderen kann ich nicht fragen. Am Bankett, bei Sonnenuntergang, genau wie vorher. Dein Freund, Rajal. Jem ließ den Brief zu Boden sinken. »Ich muß ihn aufhalten!«
»Eine tugendhafte junge Frau dürfte das sehr wohl beunruhigen.« »Selbstverständlich.« »Eine ganz bestimmte Unruhe?« »Aber ja.« »Fühlt sie vielleicht, daß sie am Rande eines Abgrunds steht? Spürt sie die gähnende Tiefe vor sich?« »Mmh.« Sie gingen eine endlos scheinende Treppe hinunter. Cata war abgelenkt und sah sich ständig um. Von der kalten Helligkeit des Innenhofs waren sie in die unteren Bereiche der Burg hinabge stiegen. Kerzen säumten die Gänge und loderten rotgolden. Wachen standen in Hab-acht-Stellung da, und ihre Uniformen wirk ten in dem gebrochenen Licht wie schmutziges Purpur. Lord Margrave mußte seinen Gehstock benutzen. »Eine Heirat, Miss Catayane«, fuhr er fort, »ist schließlich ein enormer Schritt.
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Besonders für eine junge Lady Wie beliebt Coppergate es noch zu formulieren? Beansprucht die Hochzeit vom verzehrt sie der Miss ihr ganzes Herz.
Herrn
nur
einen
Teil,
Sehr passend ausgedrückt, findet Ihr nicht, Kaplan? Zutreffend, nicht wahr, Miss Catayane?« Der vornehme Lord lächelte die junge Frau hingebungsvoll an. Hörte sie überhaupt zu? Fasziniert starrte sie auf die schweren, vergitterten Türen, sichtlich beeindruckt von dem Stöhnen und dem Geschrei, das hinter ihnen widerhallte. In Agondon galten Ausflüge in die Kerker und die Besichtigung der Zellen als ein voll kommen normales Vergnügen; jede vornehme Lady in Miss Ca tayanes Alter hätte kaum eine Regung gezeigt. Doch Miss Ca tayane, rief sich Lord Margrave ins Gedächtnis zurück, war keine gewöhnliche Lady Sie wirkte nicht verängstigt, sondern sah eher merkwürdig besorgt aus. War es eine gute Idee gewesen, sie hierher einzuladen? Oh, aber wie froh er über die Gesellschaft des Mädchens war! »Lord Margrave«, meinte der Kaplan, »Ihr versetzt unsere junge Dame doch nicht in Angst und Schrecken? Sicherlich, es stimmt, daß sich dunkle Abgründe auftun, aber nur für die, welche gedan kenlos und aufgewühlt übereilte Verbindungen eingehen. ›VarbyHochzeiten‹? Schweigt mir davon! Aber mein guter Lord, Miss Catayane geht immerhin eine Verbindung mit...«, der Kaplan riß sich zusammen, »... ihrem teuren Freund und Gefährten ihrer frühen Jahre ein.« »Was Ihr nicht sagt.« Einen Augenblick verstummte Lord Margrave und setzte die Maske eines Staatsdieners auf, als ihr Begleiter das Gitter einer Zelle beiseite schob. Die beiden Gentlemen betrachteten unbeeindruckt die Szenerie vor ihnen. Ihr Blick glitt über das Stroh, die Pritsche,
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den Nachttopf, die Eisen. Sie rümpften die Nase. Ein heißer Ge stank von Exkrementen wehte durch das Gitter. Der Gefangene hatte eine wilde Mähne und einen langen Bart, Nägel wie Klauen, und seine Beine und Arme waren mit eiternden, stinkenden Ekze men bedeckt. Er plapperte und wiegte sich auf den Fersen vor und zurück. Um ihn herum huschten Ratten durch das Stroh. »Welches Verbrechen hat dieser Bursche begangen, Wärter?« »Diebstahl, mein Lord. Er hat eine Muttersau von Goody Orlys Hof gestohlen.« Lord Margrave gab ein mißbilligendes Schnalzen von sich. »Noch vor dem Brand dort?« fragte der Kaplan. »O ja, lange vor dem Brand, Herr. Ihm wird in der nächsten Jahreszeit der Prozeß gemacht. Und dann wartet der Galgen auf ihn.« »Hm.« Lord Margrave ging weiter. Alles schien in Ordnung zu sein und dem gewöhnlichen Standard zu entsprechen. Aber das Mädchen zögerte, betrachtete den Gefangenen beunruhigt und wandte sich erst ab, als der Kaplan ihren Arm mit einem nachdrücklichen »Kommt, Kind, kommt!« packte. »Und Ihr sagt also, es war der junge Veeldrop?« murmelte Lord Margrave. »Der das unschuldige Kind aus dem Wald gelockt hat?« Eay Feval räusperte sich. Bei diesem Thema war Vorsicht geboten. »Mein Lord, kein anderer Gentleman hätte jemals eine zärtlichere Fürsorge zeigen können. Aber diejenigen, die ihn kannten, konnte das kaum überraschen. Hauptmann Veeldrop, ein echter Veeldrop, ist ein bemerkenswerter junger Mann, so wie Miss Catayane, und da werdet Ihr mir zustimmen, eine bemerkenswerte junge Frau ist.« »Bemerkenswert! Ich würde sie eher exquisit nennen!« Ein Wächter glitt lautlos über den Korridor. In der Hand hielt er eine Schüssel mit klumpigem Brei. Eay Feval zog Catayane weiter, legte ihr einen Finger unter das Kinn und hob ihr Gesicht in das flackernde Licht der Fackel.
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»Sie muß keinen Vergleich selbst mit den schönsten Ejländerin nen scheuen, mein Lord. Wenn ein solches Geschöpf zu den vor nehmsten Damen am Hofe gehörte! Aber das arme Kind ... Mein Lord, wenn es nur ein Hindernis für ihr Glück gibt, dann dies, daß Hauptmann Veeldrop ihr nicht den Titel verleihen kann, dessen sie würdig ist. Wenn nur sein armer Vater in den Adelsstand erhoben würde! Lord Veeldrop, nun gut. Aber dann auch bald ... Lady Catayane!« Der Kaplan lächelte dem vornehmen Gast zu und verneigte sich äußerst höflich und respektvoll. War er zu weit gegangen? Aber sicher war genau das der richtige Ansatzpunkt ... Das Klappern eines Schlosses hallte in dem langen Korridor wider. Eine Tür wurde geöffnet, und der Wächter mit der Schüssel Brei in der Hand betrat die Zelle. Einen Augenblick später schrie er laut auf. Sein Tablett flog durch die Luft und landete mit einem lauten Scheppern auf den harten Steinen. Dann schrie jemand mit ho her Stimme: »Warum gibst du mir nicht gleich deine Kotze zu fres sen? Wer, glaubst du, bin ich? Eines von deinen hundsordinären Flittchen? Beim Herrn Agonis, weißt du nicht, daß ich eine wohlhabende Frau bin?« Cata trat fasziniert vor. Der Wärter stolperte benommen heraus, doch bevor er die Tür zuschlagen konnte, warf das Mädchen einen Blick in die Zelle. Cata sah eine scheußliche alte Frau, die aussah wie eine Hexe und mit den Fetzen eines ehemals vornehmen Kleides bedeckt war. Auf ihrem Gesicht klebten immer noch Reste von Schminke. Rote Linien, die wie Narben aussahen, umrahmten ihren zahnlosen Mund, und ein Kranz aus weißem, dünnem Haar umgab ihren verschorften, halb kahlen Schädel. Cata hielt die Luft an und stieß sie einen Moment später verblüfft aus, als das alte Weib zur Tür humpelte und ihre Hand packte. »Dolly! Meine Hübsche, bist du das? Ha, Dolly, du bist zu mir zurückgekommen, zu deiner alten Mutter, stimmt's?« Ihre Augen
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glitzerten, als sie erst Cata betrachtete und dann die beiden Gentlemen musterte, die hinter ihr standen. »Edle Herren, es gab kein bes seres Mädchen in meinen Diensten als Dolly. Oh, alle Gentlemen waren sehr zufrieden. Wir haben sogar ein kleines Lied über dich gemacht, Dolly, Liebes, hab ich recht? Wie ging das noch gleich?« Das Weib hielt immer noch Catas Hand und zwang das Mädchen, sich mit ihr im Kreis zu drehen, während sie sang: Dol-ly, Dol-ly, die Gentlernen sind sich einig Es gibt keine Bessere nirgendwo! Haare wie ein Rabe Feuchte Lippen, feuchte Augen Und jedes Begehren, wie gemein auch immer Wird befriedigt werden! Dol-ly, Dol-ly! Verdammt noch mal, ich sag 's ganz offen: Hab in ganz Ejland keine Feinere nicht getroffen ... Es hätte auch ein Zauberspruch sein können. Einen Moment standen die Gentlemen wie gebannt da, bis der Kaplan plötzlich rot an lief. »Sie ist ja verrückt! Vollkommen verrückt!« Der Schließer trat vor, stieß das Weib in die Zelle zurück und schlug die Tür zu. Wü tend drehte er sich zu dem unfähigen Wärter um. »Dummkopf, hast du die alte Wynda denn immer noch nicht im Griff?« rief er. Das Weib rüttelte an den Stäben der Zellentür und geiferte lüstern: »Aye, bei der alten Wynda hast du 'ne Menge, was du in den Griff bekommen mußt! Komm nur rein, Bürschelchen, dann werd ich dir schon eine Lektion erteilen!« Lord Margrave tröstete Cata. »Armes Kind, wie unerfreulich für Euch ... Es tut mir sehr leid. Schließer, Vorfälle wie dieser sind doch hoffentlich nicht an der Tagesordnung?« »Jeder Kerker hat seine schwierigen Fälle, mein Lord«, erwiderte der Mann seufzend, während der Wächter eingeschüchtert da
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vonschlich. »Aber Ihr erinnert Euch doch sicher an die alte Wynda, Euer Ehrwürden«, fügte er an den Kaplan gewandt hinzu. »Ich weiß noch genau, daß Ihr den Befehl zu ihrer Einlieferung unterzeichnet habt, Herr.« »Schließer, Ihr wißt doch sicher, daß solche Befehle nur vom Gouverneur kommen!« Ja, vor ein paar Monaten, stimmt 's? Als wir erfahren haben, daß Seine Lordschaft kommen würde. »Versteht Ihr, Lord Margrave, unser teurer Gouverneur gestattet nicht die kleinste Abweichung von den strikten Regeln der agonistischen Tu gend«, fuhr der Kaplan glattzüngig fort. Aber sein Lächeln wirkte angespannt. Wer wußte schon Genaueres über die Geschichte des Mädchens, bevor sie zu Umbeccas Familie gekommen war? Der junge Herr Polty hatte behauptet, sie sei die reine Unschuld, ein Kind der Natur, das unter den Bäumen ge lebt hatte, bis der verruchte Jemany sich ihrer bemächtigt hatte. Aber glaubte der Kaplan Meister Polty? Wohl kaum! Hier lag ein Geheimnis, ein Geheimnis, das er wohl besser genauer untersuchen sollte. Als der vornehme Herr erklärt hatte, daß Miss Catayane ihn zu den Verliesen begleiten sollte, hatte der Kaplan sein Bestes gegeben, das heißt, einen ganz bestimmten Schritt unternommen, damit das Mädchen sich nicht aufregte. Anscheinend war das Beste nicht gut genug. Jetzt lag das Mädchen schluchzend in den Armen Seiner Lordschaft, und der Kaplan war besorgt. Außerordentlich besorgt. »Schließer«, murmelte er, als sie sich zum Gehen wandten. »Ich glaube, wir sind ein bißchen hart mit Goody Throsh umgesprun gen.« »Herr?« Sie blieben zurück. »Sie ist vom Pfad der Tugend abgewichen, wohl wahr, aber war sie nicht tatsächlich eine Frau von, wie sie es ausdrückte, einigem Wohlstand? Gebt ihr, was sie will, hm? Keinen Brei mehr. Und ab und zu einen Krug Bier. Und vielleicht könntet Ihr auch dafür sor
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gen, daß die Lady neue Kleidung bekommt. Möglicherweise sogar ein wenig ... frische Schminke?« Er drückte dem Schließer eine Geldbörse in die Hand. »Wynda Throsh mangelt es nicht an gewissen Qualitäten. Ich werde mit der Frau sprechen. Vielleicht können wir sie ja für den Herrn Agonis zurückgewinnen.« Der Schließer strich sich übers Kinn, während er die Börse in seine Tasche schob. Wirklich, er verstand diese Adligen einfach nicht! Heute floß der Kaplan über vor Mitleid, war voller Gnade-desHerrn-Agonis. Aber hatte er nicht vor einem oder zwei Tagen einen ganz anderen Befehl geschickt? Und dazu noch höchst dringend? Ein anderer Gefangener, dieser alte blinde Kerl, sollte in den Schnee hinausgeschickt werden. Er hatte gesagt, auf dringlichsten Befehl des Gouverneurs, und zwar sofort. Hinaus in den Schnee? Wirklich, das war grausam! Aber schließlich war es kaum Sache des Schließers, das zu ent scheiden, und außerdem war dieser Befehl von einer noch viel größeren Börse mit Gold begleitet gewesen ... Der gute alte Kaplan; er war wirklich ein vornehmer Herr, daran gab es nichts zu rütteln!
»Oh, Miss Cata, was hat man Euch angetan?« Die Nachmittagssonne fiel grell durch die schmutzigen Glas scheiben des Flurfensters. Die arme Nirry hatte gerade erst die Krücken abgelegt, und ihr Knöchel tat noch immer weh. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt sie die junge Herrin fest und schleifte sie wie einen Sack die Treppe hoch.
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»Nur noch ein paar Schritte, Miss. Kommt, kommt nur.« Miss Catas Augen waren glasig, und sie konnte nicht sprechen. Sie stöhnte nur und zitterte. Was hatte sie bloß? Der Kaplan hatte nur knapp erklärt, daß sie übermüdet sei, weiter nichts, als er seine Last der verblüfften Nirry in die Arme gedrückt hatte. Übermüdet? Das mochte Nirry nicht glauben. Miss Cata hatte die Stärke eines Ochsen. War sie nicht noch vor ein paar Nächten im Schnee den ganzen Weg bis zum Dorfanger gestapft, nur um für den armen Kommandeur den Notar zu holen? Natürlich hatte sie das dem Ka plan nicht erzählen dürfen, auf gar keinen Fall. Die junge Herrin war so vorsichtig gewesen wie ein Katze und hatte den Burschen erst hierhergebracht, nachdem die anderen längst zu Bett gegangen waren. Nirry versuchte erst gar nicht, so zu tun, als verstehe sie, was Miss Cata vorhatte. Sie verstand Miss Cata sowieso nicht sonder lich gut. Aber heute war in der Burg etwas passiert, soviel verstand sie dann doch. Dieser Lord Margrave mit seinem gewaltigen Backenbart hatte einen komischen Ausdruck auf dem Gesicht ge habt, als sie zurückgekommen waren ... Einen wirklich merkwürdigen Ausdruck. »Hier, Miss! Da sind wir.« Miss Cata war schwer wie Blei, wehrte sich jedoch nicht, sondern ließ nur den Kopf pendeln und stöhnte, als Nirry ihr die Schuhe auszog, das Korsett löste und sie zwischen die frischen, sauberen Laken steckte. Man hätte meinen können, daß der alte Waxwell wieder da war und seine bösen Tricks versuchte. Miss Cata roch je doch nicht nach dem Schlaftrunk, wenn Nirry sich auch fast wünschte, daß sie es täte. Das würde wenigstens einen Sinn geben. Scheu küßte sie dem Mädchen die Wangen und betrachtete sie besorgt. »So, Miss Cata, schlaft!« Aber als Nirry die Bettvorhänge zuziehen wollte, stieß Cata plötzlich ein Wort aus: »Dolly.« »Miss?«
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Die Stimme klang hoch und gepreßt, gar nicht wie die von Miss Cata. Es hätte die Stimme einer alten Schachtel sein können, die gleich in ein lüsternes Kichern ausbrechen wollte. Nirry musterte ihre junge Herrin aufmerksam, aber sie schien jetzt endlich eingeschlafen zu sein. In der Eingangshalle im Erdgeschoß schlug die große Standuhr die Fünfzehn. »Ich wecke Euch zum Abendessen, Miss Cata«, versprach Nirry nervös. »Ihr wollt doch sicher nicht das Dinner verpassen.« Sie bekam keine Antwort, aber gerade als Nirry in der Tür stand, hörte sie erneut diese Stimme: »Dolly.« Nirry schüttelte es. Was hatte das zu bedeuten? Cata lag zitternd da, in diesem unangenehmen Schwebezustand zwischen Schlafen und Wachen. Dolly. Der Name hämmerte wie ein Mantra in ihren Schläfen und dröhnte hohl in der Finsternis hinter den zugezogenen Vorhängen. Dolly. Es lag an dem Lied, das die Alte gesungen hatte. War es ein Zauberspruch gewesen, eine böse Verwünschung? Irgend etwas regte sich in Catas Gehirn. Oh, es hatte schon oft Geistesblitze gegeben, Funken der Erinnerung. An ihrem Namenstag, an dem Tag, der angeblich ihr Namenstag war, hatte Onkel Olivan ihr eine Mi niatur geschenkt, ein kleines bemaltes Porzellanoval in einem Medaillon. Mach es auf, Kind. Hier, so. Kind? Das Medaillon zeigte das Bild eines jungen Mannes mit flammendroten Haaren. Kind, erkennst du denn nicht deinen zukünftigen Ehemann? Aber Cata hatte statt der Freude, die sie eigentlich hätte empfinden sollen, nur ein unvermitteltes, heftiges Entsetzen verspürt. Sie hatte aufgeschrien und das Medaillon zu Boden geworfen. Kind! Kind! Der Anfall war schnell vergangen, aber auch danach gab es diese kleinen Ausbrüche, subtil, aber trotzdem kräftig, die sie manchmal überkamen, wenn sie in dem Glasraum saß. Unter den tausend Farngewächsen und Blumen schien eine geheimnisvolle Präsenz zu lauern, und manchmal sah sie hinter den zerstörten Augen des
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Kommandeurs die Augen eines anderen alten Mannes; Augen, die bloß noch verkohlte, ausgebrannte Höhlen waren. Jetzt träumte Cata. Wie lange hatte sie nicht mehr geträumt? Ihr Gehirn hatte in Ketten gelegen, doch jetzt machte es sich frei. Zuerst sah sie nur Farben, helle und gleißende Farben, dann öde und finstere, die sich wie in einem Kaleidoskop verschoben. Geräusche waren zu hören, wie von Stimmen, die man von weit weg be lauschte. Dann lösten sie sich auf. Wohin? In den Glasraum? Nein, es war mehr. Ein Wald, zischend und knisternd vor Leben. Fische flitzten in dem glitzernden Bach, Vögel schossen tirilierend durch die grünen Äste. Wer will reiten? Aber nein, es war ein Jahrmarkt, mit bunten Zel ten und Buden. Überall rannten Kinder herum. Sie quietschten vor Vergnügen. Hier kommen die Puppenspieler, da die Clowns. Oh, seht nur diese wunderbare Seide! Zieht daran, zieht eine Bahn nach der anderen herunter. Und das? Was ist das? Ein Felsen, ein Stein? Cata drehte und wälzte sich im Bett. Jetzt träumte sie von einem Stein, der sich vor ihr erhob. Er schimmerte dunkelrot in einem un wirklichen Licht. Sie träumte von einem Jungen, der aus dem Him mel fiel und dessen Beine sich auf dem harten Boden verbogen. Sie nahm ihn bei der Hand, und zusammen flogen sie ins Licht hinauf, in das purpurschwarze Licht, das wie die Sonne strahlte und die ganze Welt verzehren würde. Wie sehr sie sich danach sehnten, selbst in diesem Licht zu verglühen! Ihre Glieder verschränkten sich in unvorstellbaren Windungen. Und sie rollten und taumelten durch die brennende Luft. Cata wachte verwundert auf. Sie war am ganzen Körper naßge schwitzt. Ihre Laken und die Tagesdecke waren zu einem einzigen Haufen zerwühlt. Sie lag am Fußende des Bettes und umklammerte aus Leibeskräften ein Samtkissen. Irgendwo vor ihr leuchtete ein purpurnes Licht.
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Es waren die Flammen des Kamins, die durch den Stoff der Bett vorhänge leuchteten. Langsam kroch Cata vom Fußende des Bettes herunter und kauerte sich wie ein verängstigtes kleines Tier vor dem Kamin zusammen. Dabei hielt sie unablässig das Kissen fest. Was für ein hübsches Kissen! Was für ein schöner Stoff! Es war aus demselben blauen Samt gefertigt wie die Bettvorhänge, aus eben dem blauen Samt, der überall im ganzen Lektorat zu finden war. Und die Füllung war so weich! Aber halt, war da nicht auch etwas Hartes in dem Kissen? Etwas, das fest gegen Catas Wange drückte? Sie fragte sich, was das wohl sein mochte. Hatte sie nicht zugesehen, wie Nirry dieses Kissen genäht und die Füllung aus ihrem Lumpenberg gefer tigt hatte? Dunkel erinnerte sie sich daran, wie sehr sie diese Lum pen liebte. Mit gekreuzten Beinen saß das Mädchen da, und ihr Haar hing ihr wirr ins Gesicht, während sie den Saum des Kissens aufriß. Leicht, fast zu leicht ging die Naht auf. Catas Herz hämmerte. Die einzige Beleuchtung spendete das weiche, rotgolden flackernde Glühen des Kamins, als sie den Inhalt des Kissens her auszog. Zuerst... was? Eine kleine schwarze Jacke, die für ein Kind gemacht worden war. Dann den zerrissenen Fetzen einer ... Jun genhose? Konnte das sein? Und ein Taschentuch, das mit rätselhaf ten Flecken bedeckt und ganz steif war. Cata stöhnte. Ihr Atem kam stoßweise, als sie als nächstes einen Streifen ... Was war das? Es gehörte zu dem weißen Nachthemd einer Frau. Dann zog sie einen Fetzen vom Kostüm ... ja, es schien tatsächlich so zu sein, vom Kostüm eines Harlekins heraus. Danach ein zerknittertes, schmutziges Hemd, eines der Hemden, das vielleicht ein armes Mädchen tragen mochte ... Cata hielt es hoch und sah zu, wie die Flammen durch das Sackleinen schienen. Unwillkürlich traten ihr die Tränen in die Augen. Und ja, da war etwas Geheimnisvolles in das Hemd eingenäht ... Krampfhaft zog, zerrte und riß Cata an der harten, metal lischen Scheibe, die in den Saum eingenäht war, eingenäht, das
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wurde ihr schlagartig klar, von ihren eigenen kindlichen Händen. Sie riß es heraus, und die Münze blitzte plötzlich hell in dem Licht des Feuers auf ... Das Goldstück des Harlekins! Cata schrie auf; es war ein primitiver Laut, wie der eines Tieres. In der Eingangshalle im Erdgeschoß schlug die Uhr. Cata schob die Münze in den Mund, sog und leckte daran. Sie schluchzte wie ein kleines Kind. Und schlagartig erinnerte sie sich. An alles.
Was war das für ein Geräusch? Es klang wie ein Jammern, das Jammern eines Tieres, und es schien von der anderen Seite der Wand zu kommen. Das Zimmer des Mädchens? Lord Margrave rührte sich und richtete sich gepei nigt in seinem Bett auf. Der Ausflug zu der Burg hatte ihn beinahe völlig ausgelaugt, und er hatte beschlossen, ein Schläfchen am Nachmittag zu halten. Er war schließlich ein alter Mann, viel zu alt für Regierungsarbeit. Zu alt für alles, dachte er grimmig. Aber er hatte nicht geschlafen. Eine Weile hatte er im Dunkeln dagelegen und durch einen Spalt in den Vorhängen die weiße Welt vor den Fenstern betrachtet, die jetzt Vorstellungen von Schlittschuhfahren, Schlittenfahren, knackenden Kiefernscheiten und fröhlicher Gesellschaft bei Glühwein in ihm auslöste. All das war für ihn vorbei, alles, bis auf die kalte Nähe des Todes. Nach einer Weile entzündete er die Lampe und las noch einmal den Bericht durch, den er vor ein paar Tagen geschrieben hatte. Seine Empfehlungen hatte er bereits notiert ... Waren sie zu um
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ständlich? Aber nein, er würde nichts ändern. Es war nicht nötig. Er würde sie vorausschicken, morgen früh würde er sie absenden, sie so losschicken, wie sie waren. Dann war es vorbei, seine Karriere, sein Leben. Ihm war schon so, als fühlte er seine letzten Tage nahen, die sich ihm wie in einem melancholischen Zwielicht näher ten. Nur noch die lange Rückreise nach Agondon lag vor ihm. Diesmal würde er die Vorhänge der Kutsche geschlossen halten ... War da nicht wieder dieses Klagen? Nein, das konnte nicht sein. Lord Margrave seufzte und sammelte die Seiten seines Berichts wieder ein, die vor ihm auf dem großen Bett verstreut dalagen. War er nicht gerade eingedöst? Von der Eingangshalle tönte ein sonorer Gong zu ihm empor. Nun, das war ein wirkliches Geräusch, ein eindeutiges Geräusch. War es nicht bald Zeit für das Dinner? Lord Margrave freute sich nicht einmal darauf. Welche Freude sollte auch essen für ihn haben, mit diesen schlecht sitzenden Zähnen und dem Schmerz in seinem Mund? Der Quacksalber in Agondon hatte gesagt, er habe eine Krankheit, eine Krankheit, die seinen Kiefer zerfressen würde. Nun, er würde ohnehin bald tot sein, Kiefer hin oder her. Es gab Zeiten, da er in seinem verrottenden Mund, den er vor her millionenmal in patriotischem Eifer geöffnet hatte, eine Allegorie auf den Niedergang des Staates sah, dem er diente. Sie nannten ihn zwar einen Lord, aber er war nur ein Diener. Ein Diener des Königs, wie alle guten Lords es sein sollten. Er diente dem neuen König, wie er auch dem alten König gedient hatte und wie er schon dem König davor gedient hatte ... Er war loyal, hatte seine Pflicht erfüllt und dabei die ganze Zeit geglaubt, daß diese Pflicht rechtens und gerecht war. Aber jetzt, als er wachlag und sein Kiefer ihn schmerzte, quälte ihn der schreckliche Gedanke, daß seine Pflicht vielleicht am Ende gar keine Pflicht gewesen war, ganz und gar nicht, gemessen an den Dingen, auf die es im Leben ankam ... Sor genvoll betrachtete er das Glas auf dem Nachttisch, in dem seine Porzellanzähne im Wasser glänzten. Dann hörte er das Schluchzen aus dem Nebenzimmer.
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Das war wirklich ... Er hatte den Schrei also tatsächlich gehört! Eine noch stärkere Unruhe überfiel den alten Mann. Er schleppte sich aus dem Bett und warf seinen Mantel über. Doch unmittelbar bevor er auf den Flur hinaustrat, drehte er sich um und löschte die Lampe. Er tat es erstens aus einem Impuls heraus, den die Eitelkeit ihm eingegeben hatte. Er biß auf die Porzellanzähne, und sein Kiefer schmerzte. Zweitens riet es ihm das Gebot der Heimlichkeit. Er nahm die Seiten seines Berichts und stopfte sie schnell in die Tasche seines Mantels. Dann hörte er, wie eine Tür zugeschlagen wurde. Lord Margrave riß seine eigene Tür auf und sah erschrocken, wie eine weißgeklei dete Gestalt an ihm vorbeihastete. »Miss Catayane!« Aber das Kind hörte ihn nicht und stürmte die Treppe hinunter. »Aber das Kind? Wo ist das Kind?« »Olivan, habt Ihr das vergessen? Catayane ist heute zur Burg ge gangen.« Umbecca ordnete mit einem liebenswürdigen Lächeln das Tablett ihres Mannes. Brühe, Brot und ein dünner Tee. Der arme alte Gentleman, mehr konnte er seinem Magen nicht zumuten! »Die Burg? Das ist ein schlimmer Ort.« »Ehemann, Ihr sprecht von meinem ehemaligen Heim.« »Vom Schauplatz Eures größten Triumphes, Herr«, fügte der Ka plan hinzu. Er saß auf der anderen Seite des Bettes. Die Beine hatte er übereinandergeschlagen und bog jetzt die Finger in seinen weißen Handschuhen, gähnte und starrte abwesend in den Blätterwald, der sie umgab. Wirklich, diese Konsultationen konnten doch kaum noch notwendig sein! Der Kaplan langweilte sich zu Tode. Neben dem Bett gab die Lampe ihr vertrautes Zischen von sich, und durch die gläserne Decke sah man den häßlichen purpurfarbenen Himmel. Die Farbe glich der auf den Wangen des Kommandeurs.
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Und außerdem auch der auf Umbeccas Wangen, wenn sie nicht genügend Schminke aufgelegt hatte. »Das Heim meiner Mädchenjahre!« erklärte Umbecca nachdrücklich und schlug demütig den Blick nieder. Als wäre die Tatsache, daß sie einmal in der Burg gelebt hatte, letztlich wichtiger als die Belagerung, die Ejlands Geschichte verändert hatte. »Herr, vielleicht möchtet Ihr ja diese Todesurteile unterschrei ben?« Eay Feval raschelte mit den Papieren in seinem Schoß. »Ja, Lieber, dann bekommt Ihr auch noch eine feine heiße Brühe.« Umbecca nahm einen Löffel und wehte das Aroma verführerisch ihrem Gatten unter die Nase. »Todesurteile?« Das Gesicht des Kommandeurs war wie aus Stein gemeißelt. Meine Güte, er bekam wieder eine seiner Launen! »Die Vaga, Herr.« »Ja, Olivan, Ihr wißt doch, wie sehr Ihr diese schrecklichen Vaga immer gehaßt habt.« Umbecca lächelte und schluckte den Löffel Brühe. Mmh, sie schmeckte wirklich bemerkenswert gut. »Ich kenne noch etwas viel Schrecklicheres«, knurrte der Kom mandeur. »Was denn, Lieber?« Mochte er nicht einmal die Brühe? Sie gab sich alle Mühe, ihm den Duft zuzuwedeln. »Es ist Nirrys beste Brühe. Ihr wißt doch, wie gern Ihr immer ihre Hühnerbrühe moch tet.« Umbecca schob sich, wie zur Ermunterung, noch einen Löffel in den Mund. Mmh, köstlich. Achtlos brach sie ein Stück Brot ab. Der Kommandeur drehte sich zu ihr um. Sein Schleier war zurückgeschlagen, und seine kraftlosen Augen bemühten sich, ihr aufgedunsenes Gesicht zu erkennen. »Wie konnte ich nur jemals glauben, daß Ihr ›Miss R...‹ seid?« flüsterte er. »Wenn ich mir vorstelle, daß ich Euch auch nur für ei nen Moment die Sensibilität dieses göttlichen Geschöpfs zugeschrieben habe.«
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Umbecca lachte nur. Aber es war ein verbittertes Lachen. Sie hatte das schon oft gehört, zu oft. Zuerst hatte ihr Ehemann sie verehrt, weil er glaubte, sie wäre diese geheimnisvolle Autorin. Als sie schließlich die Wahrheit zugegeben hatte, hatte er sich von ihr ab gewandt, sie verachtet und sie der Lüge beschuldigt. Das war eine Verleumdung! Hatte Umbecca ihn denn etwa in sei nen absurden Annahmen bestärkt? Außerdem, wer war ihr Ehe mann, daß er ihr ihre Verfehlungen vorhielt? Während der Belage rung war er ein Held gewesen, ein Löwe unter Menschen. Welche Frau in Ejland wäre nicht stolz gewesen, durch das Band der Ehe mit Olivan Veeldrop vereint zu werden? Aber er war verfallen, grotesk verfallen. Wenn sie auch als Frau gefehlt haben mochte, hatte er nicht viel schwerwiegender als Ehemann versagt? Umbeccas Gesicht rötete sich, während sie Brot in sich hineinstopfte und zwi schen den Bissen undeutlich weiterredete: »Es scheint, als wäre mein Ehemann ein wenig gereizt. Ihr wißt doch, daß der Teuerste verärgert ist, wenn er nicht seine Kapitel aus ›Miss R...‹ zu hören bekommt!« Auf dem kleinen Tisch neben der Lampe glänzten die goldenen Einbände der »Agondon-Ausgabe«. Manchmal hätte Umbecca die kleinen Bücher am liebsten gepackt und sie durch die gläsernen Wände geschleudert! Eay Feval räusperte sich. »Die Unterlagen ...« »Ach, Kaplan, unterschreibt diese verflixten Dinge doch selbst, seid so gut! Die Hand des alten Knaben zittert so sehr, daß sowieso kaum jemand den Unterschied merken würde.« Der Ausbruch war der Funke, der weitere Emotionen auslöste. Befremdet konnte der alte Mann seinen Blick nur zwischen dem Kaplan und seiner Frau hin- und herschweifen lassen. Sie kamen, wie die Liebenden in einer komischen Oper, plötzlich zusammen, faßten sich an den Händen und beugten sich über seine hinfällige Gestalt. Ihre Stimmen klangen heiß und flüsternd, wie die von Liebenden. »Teure Dame, regt Euch nicht auf, ich flehe Euch an! Es zerreißt
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mir beinahe das Herz, wenn ich Euch so trauern sehe! Noch liegt Eure Liebe verschmäht, zerschmettert und blutend darnieder. Was für eine Qual, denkt an die glorreiche Zukunft, die auf uns zurast wie eine sechsspännige Kutsche, mit ihren Pferden, die wie verrückt von der Peitsche angetrieben werden und die abschüssige Straße entlanggaloppieren! Ich habe den alten Porzellan-Tiger bearbeitet. Der Adelsstand ist so gut wie sicher, davon bin ich fest überzeugt. Teure Lady, begreift Ihr denn nicht? Der Kommandeur muß nur lange genug leben, um seine Ehrung auch entgegennehmen zu kön nen, das ist alles!« Umbecca stöhnte auf und küßte die behandschuhten Finger des Kaplans. »Oh, Eay!« »Stellt Euch vor! Eine Erhebung in den Adelsstand, und der alte Mann tot! Lady Umbecca, die zu sein Ihr schon immer verdient hattet!« »Und Ihr mein loyaler Gefährte, Eay!« »Eine Pension aus der königlichen Börse! Eine Wohnung in Agondon! Was macht da schon ein bißchen Knechtschaft in der Provinz aus?« »Oh, Eay!« Sie schienen außer sich vor Freude zu sein, doch ihrer Raserei wurde schlagartig Einhalt geboten. »Kind!« schrie der Kommandeur plötzlich. Sie hatten das Knacken im Unterholz nicht gehört. Umbecca drehte sich um, und der Kaplan folgte ihrem Beispiel. Vor ihnen stand Cata, nur mit Unterröcken bekleidet. Ihr Haar war zerzaust, und ihre Brüste wogten, aber ihr Blick war merkwürdig feurig und schien nur dem Kommandeur zu gelten. Die verlegenen Gestalten, die förmlich auf ihm lagen, schienen in diesem Moment gar nicht zu existieren. Langsam richteten sich der Kaplan und Umbecca auf und stellten sich neben das Bett. Meine Güte! Umbecca sah die Unordnung, die sie angerichtet hatten. Sie hatten das Tablett umgestoßen, und der Tee und die Milch aus dem Kännchen sickerten
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langsam in das Bettzeug. Als hätte der alte Kerl sich eingenäßt. Schon wieder eingenäßt! »Kind, da bist du ja! Wie sehr habe ich dich vermißt!« Der Kom mandeur lächelte und schien das Drama vergessen zu haben, das sich nur Momente zuvor vor seinen Augen zugetragen hatte. Bedeuten wir nicht mehr für ihn, dachte Umbecca später, als Spreu und Wind? Mühsam streckte der alte Mann seine Hände aus und nahm den Band Beccas letzter Ball von dem Tischchen neben sei nem Bett. »Komm, Kind, laß uns herausfinden, was mit der armen Becca passiert, ja?« Er hielt ihr das Buch hin, aber Cata nahm es nur zögernd, während sie weiterschlurfte wie eine mechanische Puppe. »Was hat das Mädchen?« zischte Umbecca. »Miss Cata?« fragte der Kaplan. Was konnte er schon sagen? »Komm, Kind. Kind? Warum setzt du dich nicht neben mich?« Das Mädchen konnte nur flüstern. »Ihr habt Papa die Augen aus gebrannt.« »Kind?« Der Kommandeur wurde leichenblaß. »Ihr seid ein böser Mensch. Ihr habt Papa die Augen ausgebrannt.« »Hübsches Kind, was ist das für ein Unsinn? Komm, lies mir von der armen Becca vor. Oh, was ist wohl jetzt aus ihr geworden?« Schweigen antwortete ihm. Das Mädchen stand nur da und be trachtete den alten Mann mit unverhohlener Verwunderung. Das kleine Buch hielt sie fest umklammert. Dann plötzlich segelte das Buch durch die Luft und prallte gegen die Lampe neben dem Bett des Kommandeurs. Die Lampe explodierte, und es wurde schlagar tig dunkel im Zimmer. Im selben Moment schrie Cata: »Mörder! Ihr verlogener Mörder!« Sie stürzte davon und rannte blindlings durch das Pflanzen dickicht. Gleichzeitig brach heillose Verwirrung aus. Der Kommandeur schrie. Umbecca schrie.
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Und der Kaplan stampfte verzweifelt auf die Flammen am Bo den, bevor sie die Tagesdecke erfassen konnten, die tief vom Bett herunterhing. Doch im gleichen Augenblick, als die Flammen erlo schen, schien ein anderes Licht grünlich zwischen den Blättern auf. Umbecca schrie erneut. »Madam?« »Nirry?« Das Mädchen trat auf die Lichtung und hielt die Lampe hoch in die Luft. »Oh, sie hat mich so erschreckt! Ich wollte nach ihr sehen, das wollte ich, und dann war sie weg! Ich wollte es Euch gerade sagen, Madam, doch da raste sie an mir vorbei. Ich wollte ihr folgen, Madam, aber ...« Nirry verstummte und deutete auf das Bett. Sie wurde plötzlich blaß und flüsterte: »Aber Madam, was ist passiert? Wa... was ist passiert?« Umbecca lachte. »Nein, Mädchen, es war nur eine Tasse Tee. Nur eine Tasse Tee, nicht das, was du denkst!« Doch dann sah sie den Ausdruck auf dem Gesicht des Dienst mädchens. Sie blickte den Kaplan an. Sein Gesichtsausdruck war ganz ähn lich. Verstehen flackerte in Umbecca auf, und sie drehte sich langsam, sehr langsam zum Bett um. Dann schrie sie zum dritten Mal. »Olivan!« In der nächsten Sekunde lag Umbecca, ungeachtet des Teeflecks, auf dem Bett, was einen ziemlich grotesken Anblick bot, und ver gaß alle Würde, während sie versuchte, ihren toten Ehemann wie derzubeleben. Doch all die Küsse und Zärtlichkeiten blieben genauso erfolglos wie die Ohrfeigen, die sie ihm versetzte. »Ach Olivan, Olivan!« schluchzte Umbecca. Sollte er denn tatsächlich gestorben sein, bevor er die Adelswürde verliehen bekommen hatte?
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Der Kaplan räusperte sich. »Teure Dame, vielleicht...« Umbecca hatte einige Sekunden gebraucht, bis sie begriffen hatte, daß ihr Ehemann tot war. Genausolange benötigte sie, bis sie gewahr wurde, daß noch jemand zu ihnen gestoßen war. »Eine wirklich anrührende Szene«, erklärte Lord Margrave. Der Kaplan lachte verlegen und lächelte. »Ja, die Lady ist ein wenig überspannt, was für das schöne Geschlecht ganz natürlich ist, wenn ihre Ehemänner ein wenig indisponiert sind. Aber, aber. Wie Ihr schon richtig gesagt habt, Lord Margrave, was könnte rühren der sein, als der Anblick einer tugendhaften Frau, die dem Übermaß ihrer Empfindsamkeit freien Lauf läßt?« Der vornehme Lord trat vor, doch der Kaplan verstellte ihm den Weg. »Kaplan Feval, darf ich den Kommandeur sehen?« »Den Kommandeur?« Der Kaplan lächelte freundlich und befahl dem Dienstmädchen, die Lampe höher zu halten, nur ein kleines Stück höher. »Leuchtet dem Kommandeur nicht in die Augen, seid ein gutes Mädchen. Nein, Lord Margrave, ich glaube, wir sollten lieber gehen, und zwar augenblicklich. Der Kommandeur ist... un päßlich.« »Kaplan Feval, der Kommandeur ist tot.« »Tot? Wie amüsant, Lord Margrave. Leider gibt es Zustände, in denen er wie ein Toter aussieht, aber nach einer kleinen Weile, ge pflegt von dieser tugendhaften Frau - aber, aber, Madam Umbecca, trocknet Eure Tränen -, vollzieht sich gewöhnlicherweise eine er staunliche Genesung.« »Was Ihr nicht sagt.« »Doch, Lord Margrave, das sage ich, wahrhaftig.« »Feval, Ihr seid eine Viper!« »Also wirklich, Lord Margrave ... Gib mir die Lampe, Mädchen! Und zurück an die Arbeit!« Zögernd gab ihm Nirry die Lampe. Der Dialog, der folgte, wur de von den Geräuschen untermalt, die Nirry machte, während sie
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sich durch den kleinen Dschungel im Raum des Kommandeurs kämpfte. »Lord Margrave ...« Der Kaplan beugte sich vertraulich vor. »Wie lange habt Ihr eigentlich in dem Dickicht gelauert?« Der vornehme Lord richtete sich auf. »Gelauert, Sir? Das weise ich entschieden zurück! Ich habe gesehen, wie die junge Dame aufgelöst ihr Zimmer verlassen hat, und bin ihr gefolgt. Und hier bin ich Zeuge von Dingen geworden, ich räume ein, bevor ich wußte, wie mir geschah, von Dingen, die genauso bemerkenswert sind wie dieses ungewöhnliche Zimmer.« »Ja, es ist außergewöhnlich, nicht wahr? Wie ich immer sagte, mein Lord, man erwartet nicht, daß man hier in den Provinzen auf eine wahrhaft neuartige Idee zur Inneneinrichtung stößt. Auch ich muß gestehen, daß mich dieses gläserne Zimmer verblüfft hat. Ich bin sicher, daß es nicht lange dauern wird, bis so ziemlich jeder eins hat. Ich sehe schon Constansia Cham-Charing unter Farnen ein herwandeln, hab ich recht? Nun, eher unter Kakteen. Doch kennt Ihr Constansia ... ?« Der Kaplan hätte noch weitergeredet, aber Lord Margrave packte ihn am Kragen. Die Lampe bebte in der Hand des Kaplans, und seine Augen traten aus den Höhlen, als der Lord näher trat. Seine Worte drangen auf einer Wolke übelriechenden Atems aus seinem Mund: »Ich habe Euch und dieses böse Weib auf dem Bett gesehen, auf dem Ihr Euch in der Aussicht auf eine Erhebung in den Adels stand wälztet. Ich habe das Mädchen gesehen, dieses wunder schöne, mißbrauchte Mädchen, das den verstorbenen Kommandeur genau als den Schurken entlarvte, als den ich ihn kannte. Dann sah ich Euren Kommandeur sterben. Oh, eine wirklich enthüllende Szene, Kaplan Feval. Eine entlarvende Szene und eine tragische dazu. Kaum auszudenken, daß ich meinen Bericht bereits geschrie ben habe!« »Bericht?« keuchte der Kaplan, als der Griff sich lockerte. Er prallte zurück und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren.
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Große Schatten tanzten über das Bett, über den Leichnam und über Umbecca, die immer noch weinte. »Gebt mir die Lampe, Kaplan. Ich habe etwas zu verbrennen!« Der vornehme Lord zog ein paar gefaltete Bögen Papier aus der Ta sche seines Mantels. »Das ist doch Ironie, findet Ihr nicht? Ich wußte, wer Ihr wart, die ganze Zeit über. Glaubt Ihr wirklich, Ihr hättet mich zum Narren halten können? Als ob Veeldrop nicht schon genug Schande für den Adel dieses Landes bedeutete ...« »Schande?« krächzte der Kaplan. »Närrischer alter Mann, habt Ihr Euch jemals die Aristokratie dieses Landes genauer angesehen?« »Kaplan, Ihr vergeßt Euch! Ich selbst gehöre zu dieser Aristo kratie!« »Und Ihr seid ein unwürdiger Teil davon, zu gehässig, um zu leugnen ...« »Zu leugnen? Nein, Kaplan, hier irrt Ihr Euch. Seht Ihr, mein Bericht ist voller Lügen. Ich habe ohne Bedenken empfohlen, Kom mandeur Veeldrop wieder auf seinen Platz als Helden dieses Landes zu setzen und ihm endlich die höchsten Ehren zu verleihen. O ja, Kaplan, Ihr habt meine Schwäche erkannt - das Mädchen, das ent zückende Mädchen. Nur um sie nach gebührender Zeit im Adelsstand zu sehen, hätte ich zugelassen, daß all Eure Ränke Erfolg zei tigen. Aber jetzt sind Eure Listen leider keine mehr. Für einen Toten gibt es keinen Ritterschlag. Gebt mir die Lampe, Kaplan, ich befehle es Euch noch einmal.« »Wartet!« Eay Fevals Stimme wurde heiser. »Ihr sagtet, Ihr hättet uns damit durchkommen lassen! Aber warum dann jetzt nicht mehr? Mein guter Lord, seht Euch doch den Kommandeur an. Er ist nicht einmal kalt! Ein kleiner Taschenspielertrick ... Wer wird es erfahren?« »Niemals! Was wäre meine lange Karriere im öffentlichen Amt wert, wenn sie nicht von absoluter Unbestechlichkeit geprägt gewesen wäre? Ihr hättet geduldet, daß ich die schlimmste Heuchelei begehe, gegen alle Gesetze Ejlands?«
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Eay Feval lachte. »Ihr Narr, Margrave - Ihr seniler alter Narr! Was gelten die Gesetze Ejlands schon, wenn sie aufgrund der klein sten Laune des Ersten Ministers beiseite geschoben werden kön nen? Was sind sie schon wert, wo doch Eure eigene jämmerliche Lust sie hätte beiseite schieben können? Habt Ihr nicht selbst ge rade gesagt, daß Euer Bericht voller Lügen ist?« »Ihr seid wahrhaftig ein Ungeheuer, Feval!« Der edle Lord sprang unbeholfen vor und schnappte nach der flackernden Lampe. Ohne Erfolg. »Wartet!« Diesmal war es Umbecca. »Ihr liebt das Mädchen? Aber ich habe über ihre Unschuld zu bestimmen! Kommt schon, kommt. Mein guter Lord, was würdet Ihr dafür geben, wenn Ihr der Mann wärt, der ihre Jungfernschaft durchstoßen dürfte?« Umbecca war vom Bett aufgestanden. Mit ihren fetten Armen packte sie Margrave von hinten. Ihre Stimme war ein verzweifeltes, unheimliches Flüstern, das sich erst zu einem Schrei erhob, als sie ihre Magd rief. »Nirry! Nirry! Such das Mädchen!« Die Antwort war ein Kreischen und ein lautes Krachen, das sich zu den bedrohlichen Geräuschen im Glas-Raum hinzugesellte, als Lord Margrave sich aus Umbeccas Umklammerung befreite und nach der Lampe griff. Seine Finger berührten das heiße Glas. Dann stürzte er zu Boden. In diesem Augenblick hatte sich Eay Feval nicht mehr unter Kontrolle. Wer war dieser vornehme Lord, dieser alte Narr, daß er ihm all das verweigerte, was er sich so lange ersehnt hatte? Der Kaplan trat zu. Lord Margrave stöhnte. Er rappelte sich mühsam hoch, hustete und keuchte, während seine Porzellanzähne schief in seinem Mund hingen. Der Kaplan trat erneut zu und schlug ihm mehrere Male hart auf den Rücken. Die Zähne flogen dem alten Mann aus dem Mund und landeten klappernd auf dem Boden. Umbecca sah zu, bestürzt und fasziniert, als der Kaplan auf ihnen herumtrampelte und sie mit dem Absatz zermalmte. Erst als es zu spät war, schrie sie: »Nein! Eay...!«
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Aber da war es schon vorbei. Umbecca fiel hintenüber und schluchzte. Die Schatten glitten über ihren massigen Körper, als der Kaplan sich bückte und die Pa piere aus Lord Margraves Hand riß. »Wie schade, daß der gute Lord gestorben ist, bevor er in unsere schöne Hauptstadt zurückkehren konnte. Trotzdem, sein exzellenter Bericht wird ihm vorauseilen. Am Ende hat er seine Sache doch gut gemacht.« Verborgen hinter dem dichten Schirm aus Blättern, verfolgte Nirry die entsetzliche Szene.
Bamm! In ganz Agondon läuteten die Meditationsglocken, als Jem durch die kalten, menschenleeren Straßen lief. Zweimal versteckte er sich rasch in Türbogen, und einmal entkam er über eine Gasse, als Sol daten der Wache vorbeimarschierten. Die Musketen hatten sie über die Schulter gelegt, und sie drehten ihre Köpfe mechanisch von rechts nach links, während sie versuchten, durch den kalten Nebel zu spähen. Es wurde schon dunkel, als er endlich das Bankett erreichte. »Jem, du bist gekommen.« »Natürlich bin ich gekommen. Das kannst du nicht tun!« »Ich muß es tun. Ich bin kein Feigling, Jem.« Aber in dem gebräunten Gesicht zeichnete sich kein Mut ab, son dern nur Furcht. Rajal hielt sich schützend umschlungen, um sich zu wärmen, und war in das Lärchengehölz zurückgetreten. Er trug zwar noch immer seine vornehme Kluft vom Abend zuvor, aber jetzt im Tageslicht hatte der purpurne Plüsch etwas Schäbiges.
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Jems Herz hämmerte schmerzerfüllt. Er blickte in die Mitte des schlammigen Feldes. Eine brennende Laterne thronte schief auf Marlys Stumpf, und ihr diffuses Licht beschien Mr. Burgrove und seinen Sekundanten - einen jungen Blaurock -, die in ihren dicken Wintermänteln dastanden. Eine Kutsche wartete in der Nähe, bereit zur raschen Flucht. Vielleicht kauerte ja sogar ein Chirurg in der Kutsche. Auch wenn Mr. Burgrove kein Gentleman war, hatte er anscheinend dennoch alle Maßnahmen ergriffen, die eines Gentleman würdig waren. Groteskerweise mußte Jem an Skyle Kelming-Skyle denken, Silverbys Schurken, der die Spitze seines Rapiers vergiftet hatte. Als Ra jals Sekundant mußte er die Waffen überprüfen. Der Blaurock schlenderte auf sie zu. »Es wird Zeit«, erklärte Jem. »Einen Moment. Nur noch einen Augenblick.« Rajal trat hinter einen Baumstamm. Man hörte, wie er sich übergab. »Leistet Ihr uns Gesellschaft, Gentlemen?« Der Blaurock gab sich gelassen und weltgewandt. »Wartet noch. Meinem Freund ist schlecht.« »Euer Freund ist ein Feigling.« »Nein. Man hat ihn ... betrogen. Das Duell wird unter falschen Voraussetzungen ausgetragen!« »Was?« Jem dachte hastig nach. »Wir sind doch hier, um Mr. Burgroves Ehre Genüge zu tun, stimmt's? Aber ist dieser Ehre nicht schon längst Genüge getan worden? Ich weiß, daß er heute nachmittag Besuch erhalten hat; und ich weiß auch, daß er eine Börse mit Gold-Tirals entgegengenommen hat. Er hat seine Ehre verkauft - das heißt, er hat keine mehr, die er verteidigen könnte!« Während Jem sprach, blickte er dem Blaurock ruhig in die Au gen. Die Gelassenheit des jungen Soldaten schmolz unter seinen Worten dahin, aber sie hatte ohnehin nicht sonderlich überzeugend 73
gewirkt. Der Mann runzelte die Stirn und schlenderte zu seinem Gefährten zurück. Sie flüsterten kurz miteinander, und ihre Ge stalten hoben sich dunkel gegen das Licht der Laterne ab. »Jem, was machst du da?« Rajal tauchte hinter dem Baum auf und wischte sich Erbrochenes von den Lippen. »Vertrau mir, Rajal, vertrau mir einfach.« Später sollte Jem diese Worte bedauern. Mr. Burgrove schrie auf. Wütend schob er seinen Sekundanten beiseite und ging zu Jem hinüber. Er bewegte sich schnell und sicher. Diesmal, das wurde Jem sofort klar, war Mr. Burgrove nicht betrunken, ganz und gar nicht. Die Krawatte glänzte merkwürdig in dem Nebel, der von der untergehenden Sonne rot gefärbt wurde. »Mr. Burgrove.« Jem verbeugte sich. Aber Mr. Burgrove verzichtete auf Höflichkeiten. Er verzog die Lippen. »Es stimmt, mein feiger junger Freund, daß Euer Vormund gekommen ist, um für Euch zu bitten. Er bettelte geradezu. Aber Ihr müßt einsehen, daß dies hier eine ganz andere Angelegenheit ist.« Er deutete mit dem Daumen auf Rajal. »Das hier ist eine Sache zwischen dem Vaga und mir!« »Und Ihr nennt mich einen Feigling? Burgrove, kein Gentleman würde sich mit einem Vaga duellieren! Was sollte das für ein Han del sein, bei dem einen der Tod erwartet, ganz gleich, ob er gewinnt oder verliert?« »Ihr frecher kleiner Vaga-Freund! Ihr wagt es, mich zu belehren, was sich für einen Gentleman geziemt? Komm, Vaga, und stell dich dem Tod! Oder bist du auch so ein kriecherischer kleiner Feigling wie dein Freund?« »Wartet! Burgrove, selbst wenn ich Euch dafür noch einmal schlagen müßte: Ich sage Euch, Ihr duelliert Euch mit mir! Vergeßt Rajal! Er hat nur für mich gekämpft. Jetzt aber bin ich hier und kämpfe für mich selbst.« Burgroves Augen glitzerten. »Was denn, Vaga-Freund! Ihr nehmt also die Herausforderung doch an?«
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»Nein!« rief Rajal. »Doch!« sagte Jem. »Ausgezeichnet.« Burgrove schnitt eine Grimasse. »Als Geforderter habe ich die Waffen vorbereitet. Kommt, inspiziert sie und trefft Eure Wahl.« Er drehte sich auf dem Absatz um und schritt mit demselben bewundernswerten, unbekümmerten Selbstbewußtsein zur Mitte des Banketts. Rajal packte Jems Arm. »Jem, bitte, nimm mir das nicht ab! Du glaubst, es ginge hier um deine Ehre oder die von Burgrove? Ver stehst du nicht, daß es um meine Ehre geht? Oder nimmst du etwa an, daß ein Vaga keine Ehre besitzt? Ist es das?« »Darüber hast du jedenfalls nicht nachgedacht, als du zu den Masken gegangen bist!« »Das ist nicht fair!« »Raj, es ist mir egal. Du weißt, wer ich bin, und du weißt auch, was ich tun muß. Wie sollte ich meine Aufgabe erfüllen, wenn ich nicht einmal in der Lage bin, einen Hund wie Burgrove zu besie gen? Nun komm, Raj, du bist mein Sekundant.« Jems Worte klangen zwar entschieden, aber es waren doch nur Worte. Sein Herz hämmerte wie wild. Unmittelbar bevor sie neben Burgrove traten, schloß er die Augen und wappnete sich für den be vorstehenden Kampf, in dem er nicht versagen durfte. Wieder traten groteskerweise Bilder aus Silverbys Romanen vor sein inneres Auge. Er sah sich auf den Zinnen der Burg von Wrax, wie er die Klinge mit dem bösen Grafen Malevol kreuzte; und er sah genauso bildhaft, wie er sich an einem Tau hinabschwang und die Handlan ger des Schurken auf dem Waldweg stellte. Kling, zing! »Die Waffen, Meister Empster.« Burgrove lächelte und gab seinem Sekundanten ein Zeichen. Jetzt wurde Jem endgültig bewußt, auf welch tönernen Füßen seine ganze Tollkühnheit stand. Der Blaurock hielt eine mit Samt bezogene Kiste hoch, und Jem öffnete den Deckel.
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In der Schachtel lagen zwei Steinschloßpistolen. Jem schluckte schwer, doch Burgrove lachte nur spöttisch. Er spürte das Unbehagen seines Kontrahenten. »Vergeßt nicht, mein Freund, Ihr kämpft an Stelle eines Vaga. Das Rapier ist sicherlich die Waffe eines Gentleman, das würde ich einräumen, aber habt Ihr mir nicht eindeutig klargemacht, daß Ihr mich nicht für einen Gentleman haltet? O doch, das habt Ihr. Möchte Euer Sekundant viel leicht die Waffen überprüfen?« Jem räusperte sich. »Raj, möchtest du für mich die Waffe wählen?« Zitternd trat Raj vor. In dem sanften Licht der Laterne glänzten die beiden Pistolen wunderschön. Sie lagen sich gegenüber wie Liebende auf einem seidenen Bett. Eine war mit Elfenbein und Silber verziert, die andere mit Perlmutt und Gold. Rajal nahm beide in die Hand. Die Wahl war bedeutungslos, beziehungsweise reine Geschmackssache: Elfenbein oder Perlmutt. Rajal wog die beiden Waffen in der Hand. Behutsam drehte er sie zwischen den Fingern. »Vorsicht, Vaga-Junge«, sagte Mr. Burgrove. »Sie sind natürlich geladen. Und sehr empfindlich.« Rajal strich mit dem Zeigefinger über den Abzug. Plötzlich hob er die Pistole und richtete sie direkt auf Mr. Burgroves Gesicht. »Raj!« Jem trat entsetzt vor. Aber irgendwie brachte er es nicht über sich einzuschreiten. »Es tut mir leid, Jem! Ich kann nicht zulassen, daß du stirbst! Dies ist meine Aufgabe, und ich werde sie auch hinter mich bringen!« Ein dumpfes Klicken war zu hören. Mr. Burgrove hatte sich nicht gerührt, und nun lachte er erneut, scheinbar liebenswürdig. Diejenigen, die ihn vor seinen Schwierig keiten gekannt hatten, wären vielleicht zu dem Schluß gekommen, daß er in dieser gegenwärtigen Krise seinen alten Charme wiedergefunden hatte, dessentwegen ihn die Erzieherinnen in Varby so ge fürchtet hatten.
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»Natürlich«, sagte er, »haben die Waffen einen Sicherungsmecha nismus.« Rajal wurde schlagartig nüchtern, als Jem ihm die Pistole aus der Hand nahm. »Du Narr! Ist das deine Auffassung von Ehre?« »Es tut mir leid! Es tut mir leid!« »Geh mir aus den Augen!« Doch selbst als er Rajal gegen die Brust stieß und sein Freund zurückstolperte, wußte Jem, daß hinter seinem eigenen berechtigten Ärger nur wenig Ehrgefühl steckte. Er war nicht wütend, weil Rajal versucht hatte, Mr. Burgrove zu erschießen. Sondern weil es ihm mißlungen war. »Ich denke, wir sind jetzt wohl fertig?« sagte Mr. Burgrove lächelnd. Die Nacht kam rasch. Der Sonnenuntergang tauchte den weißen Nebel in ein rotes Licht. Jem schluckte wieder, als er die Schläge seines Herzens beinahe schmerzhaft im Hals spürte. Die Pistole lag hart in seiner Hand. Rajal lag schluchzend irgendwo an der Seite, und im Nebel hörte man das leise Klingeln von Mr. Burgroves Pferden, die bereits für eine rasche Flucht angespannt waren. Dahinter gab es nur Leere und Stille, bis auf die Meditationsglocken, die leise in der Ferne läuteten. Zu einem anderen Zeitpunkt hätten vielleicht vornehme Kutschen das Bankett gesäumt, in denen Damen gesessen hätten, die sich für einen solchen Waffengang be geisterten, ihre Gesichter jedoch hinter Fächern verbargen. Doch zu dieser verbotenen Stunde rührte sich gar nichts. Ernst und ohne Überheblichkeit gab der Blaurock Jem ein paar gemurmelte Erläuterungen. »Vergeßt nicht, daß der Lauf der Waffe immer etwas nach unten schlägt, wenn Ihr feuert. Haltet sie ein bißchen höher, wenn Ihr ver steht, was ich meine. Aber natürlich schießt der Geforderte zuerst.« »Was?«
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»Er feuert zuerst, dann schießt Ihr. So wird es gemacht.« »Das ist nicht fair!« »So lauten die Regeln.« Dann fügte der Blaurock unerwartet hinzu: »Habe ich Euch nicht schon mal gesehen?« Jem verstand die Frage kaum. Er hatte nur Augen für seinen Geg ner, dessen Gesicht über seiner goldenen Krawatte ein liebenswür diges Lächeln zeigte. »Ich habe Euch schon früher einmal gesehen, das weiß ich ganz genau.« »Vielleicht beim ›Würger‹«, murmelte Jem. »Noch davor.« »Was spielt das für eine Rolle?« Was war überhaupt noch wichtig? Für Jem war nichts mehr von Bedeutung - bis auf seinen Herzschlag. Der Blaurock drehte sich verlegen weg. Es war Mr. Burgrove, der als erster die Kutsche hörte, die sich rasch aus der Neustadt näherte. Er spitzte die Lippen und bedeutete seinem Sekundanten, sich zu beeilen. Es könnte etwas zu bedeuten haben, vielleicht aber auch nicht. Wenigstens benutzten die Wachen keine Kutschen. Der Blaurock hatte das Ritual erklärt. Jetzt befolgte Jem wie in Trance die einzelnen Schritte. Er stand an Marmys Stumpf und stellte sich Rücken an Rücken mit Mr. Burgrove. Sie gingen vorwärts, und der Blaurock zählte. Eins, zwei, drei. Die Kutsche kam näher. Vier, fünf, sechs. Jem hatte das Gefühl, als würden seine Beine unter ihm nachgeben. Sein Adamsapfel schien geschwollen zu sein, und in seinen Gedärmen brannte ein heißes Feuer. Das Geräusch der nahenden Kutsche drang wie aus einer anderen Welt zu ihm. Näher und immer näher. Sieben, acht, neun. Rajal nahm allen Mut zusammen. Seine Tränen waren getrocknet, und seine Augen brannten, während er sich vollkommen auf Jem
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konzentrierte. Wenn er nicht sofort reagierte, würde Jem sterben, davon war er überzeugt. Irgendwo wieherte ein Pferd, und dann rief jemand besorgt in dem dichten Nebel seinen Namen. Zehn. Jem stand seitlich und schloß die Augen. Sein Finger am Abzug bebte. Aber was nützte es ? Er schießt zuerst. Was dann geschah, dauerte nur einen Augenblick. »Feuer!« Ein Knall ertönte, und ein feuriger Blitz zuckte im Nebel auf. »Nein!« Im selben Moment war Rajal vorgesprungen und hatte Jem gepackt. Ob er vorgehabt hatte, die Kugel abzufangen, oder nur seinen Freund aus der Schußlinie reißen wollte, wußte er nicht. Er hörte Jems lauten Schrei, als das Geschoß in seiner Schulter ein schlug, und den zweiten, ohrenbetäubenden Knall dicht an seinem Ohr, als Jem den Abzug drückte und blindlings feuerte. »Raj!« Jem sank zu Boden. »Was hast du getan?« »Jem, vergib mir! Ich mußte dich einfach retten.« »Nein, Raj. Was hast du getan?« Aschfahl im Gesicht, streckte Jem die Hand aus. Erst jetzt begriff Raj, was er eben gehört hatte, was der Nebel beinahe verschluckt hatte. War da nicht eine Stimme gewesen, eine fremde Stimme, die einen Namen gerufen hatte, drängend gerufen hatte? Diese Stimme war jetzt verstummt, und jemand lag ein Stück entfernt reglos auf dem Boden. »Nein, das kann nicht sein. Nein, bitte!« Der Schmerz schoß durch Jems Schulter. Er preßte die Hand dar auf, während das Blut durch seine Finger sickerte. Mühsam schleppte er sich durch den Schlamm. »Hilf mir, Raj.« Er würde gleich das Bewußtsein verlieren, doch kurz vorher sah Jem, daß seine schlimmsten Befürchtungen eingetroffen waren. Hinter ihnen knallte eine Peitsche, ein Pferd wieherte, und jemand fluchte. Mr. Burgrove ergriff die Flucht.
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Pellam Pelligrew lag vor ihnen, und sein Hinterkopf war nur noch eine klaffende Wunde. »Raj, nein!« »Jem, es tut mir leid.« Aber Jem war bereits ohnmächtig geworden, und Raj hielt seine reglose Gestalt in den Armen. Er blickte furchtsam auf, als eine fin stere, in einen Umhang gehüllte Gestalt aus dem Nebel auf ihn zutrat. Emotionslos betrachtete Lord Empster die Szenerie. »Ich nehme an, junger Mann, daß Ihr der Autor dieses Gekritzels seid?« Er hielt einen Fetzen Papier zwischen den Fingern und ließ ihn fallen. Er flatterte in den Schnee unmittelbar neben den Leichnam. Es war Rajals Brief. Einen Augenblick später war er vollkommen von Blut durch tränkt.
Das erste, was Jem sah, als er wieder zu sich kam, war der Schmet terling. Er hatte bunte Flügel und war fast unsichtbar vor der Sonne, flatterte unbeeindruckt über seinem Kopf, setzte sich einen Augenblick auf einen Zweig und war im nächsten Moment ver schwunden. Der Vogel, der kleine Vogel mit dem roten Brustgefie der, blieb länger. »Es ist ein Bob Scarlet«, sagte Rajal. Jem drehte sich um, aber nur kurz. Sofort spürte er wieder den Schmerz in seiner Schulter. Wieviel Zeit war vergangen? Er lag auf einem grasigen Hügel. Über seinem Kopf spendeten die ausladenden Äste wohltuenden Schatten, und der Hügel darunter war von goldenem Licht überflutet. Was war das hier für ein Ort? Jem hatte
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ihn noch nie gesehen, aber trotzdem kam er ihm vom ersten Mo ment an merkwürdig vertraut vor. Dennoch fragte er sich mit wach sender Beunruhigung, wie es überhaupt angehen konnte, daß sie sich hier befanden. Erneut überkam ihn das Gefühl, daß er einer Il lusion zum Opfer gefallen war. Er seufzte. Schwach erinnerte er sich an eine Kutschfahrt im Nebel, an das Blut, das seine Jacke durchtränkte, an das ärgerliche Gesicht seines Vormunds. Benom men war er immer wieder aus der Bewußtlosigkeit aufgewacht. Ja, er war jetzt sicher ohnmächtig und träumte. Er fühlte den Kristall in dem Beutel um seinen Hals. »Raj, sag mir, wie lange ich geschlafen habe.« Aber Raj hörte nicht zu. Er trug das bunte Kostüm eines Pagen und betrachtete verträumt den Vogel in den Zweigen. In der Hand hielt er eine verzierte Laute. »Ich habe ein Lied über ihn gelernt«, sagte er. »Über ihn?« »Über Bob Scarlet. Ein Grün-Gold-Lied, aus Wrax. Angeblich singen es dort alle. Soll ich es für dich spielen, Jem?« Er nahm das Schweigen seines Freundes als Zustimmung und zupfte die ersten Akkorde. Seine Stimme klang leise und etwas heiser, als er sang. Scarlet, Scarlet, der Mantel leuchtend rot Mit einem Hey-tschilp-tscherilp Tschilp tscherilp; In Vianas Königreich wurde er oft gesehen, In den Jahren, nachdem sie die Königin ermordet hatten. Mit einem Hey-tschilp-tscherilp, Tschilp, tschilp, tscherilp. Mit einem Hey-tschilp-tscherilp, Tschilp tscherilp! »Das ist schön, Raj. Kennst du noch mehr Strophen?« Jem hatte sich mittlerweile vorsichtig auf die Seite gedreht. Ohne sonderliche
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Überraschung stellte er fest, daß er einen schwarzen Umhang trug, der fast wie das Gewand eines Ordensbruders aussah. Was sollte das? Er griff zu seiner schmerzenden Schulter und fühlte Feuchtig keit. Das Blut sickerte durch den groben Stoff. Aber noch deutlicher spürte er, wie der Kristall glühte; er brannte, wie er es schon einmal getan hatte. Jem seufzte. Auf den sonnigen Hängen sah er Schafe. Vielleicht waren es auch Ziegen. Das Böse, das Böse, er kämpfte gegen das Böse, Mit seinem Hey-tschilp-tscberilp, Tschilp tscherilp; Obwohl Rot die wahre Farbe ist, Gibt es zu viele, die behaupten, es wäre Blau! Mit einem Hey-tscbilp-tscherilp, Tschilp tscherilp. Mit einem Hey-tschilp-tscherilp, Tschilp tscherilp! Rajal erinnerte sich noch an mehr Verse, doch nein: Es waren Strophen von ähnlichen Liedern, die den Fähigkeiten des Wegelagerers gewidmet waren. Die Lieder waren alle lang und ähnelten sich sehr. Sie unterschieden sich nur in den Mustern der »Tschilp tscherilps«. Es konnte sehr kompliziert werden, sich zu merken, welches Mu ster zu welchem Lied gehörte. Aber vielleicht fiel das Zenzanern ja leichter. Es gab die Geschichte von Bob und dem Bruder Mönch. Es gab das Lied über Bobs tollkühne Taten auf dem Oltby-Hof, wo auch immer das sein mochte. Ein Lied handelte von Bob und einer vornehmen Dame; ein anderes von Bob und der Flucht des zenzanischen Prinzen. Immer wieder überlistete Bob die Blauröcke, und ebensooft rettete er den einen oder anderen Unschuldigen. Und in jedem Fall blieb dem Gouverneur nur, in ohnmächtiger Wut zu schäumen. Ob diese Geschichten alle der Wahrheit entsprachen, war viel-
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leicht nicht unbedingt das wichtigste daran. Bob war ein Symbol des zenzanischen Widerstands, ob er nun real war oder nicht. Es gab viele Anspielungen auf seinen schwarzen Hengst, seine silberne Pistole, seine leuchtend rote Jacke; und auf die Furcht, die der We gelagerer allen Ejländern einflößte, woran es allerdings keinen Zweifel gab. Rajal lächelte. Die Bälle und die plüschigen Theater, in denen die Silbermasken auftraten, waren kaum der geeignete Ort für solch derbe Balladen! Außerdem wurde man als Verräter be handelt, wenn man dabei erwischt wurde, daß man sie sang. Leise spielte er die Akkorde. »Raj, dieser Baum«, sagte Jem. »Was ist das für ein Baum?« »Es ist ein Apfelbaum, Jem.« »Bist du sicher, Raj ?« »Ich bin sicher, Jem.« »Aber Raj, er trägt komische Früchte.« »Was meinst du mit ›komisch‹?« »Ich meine, sie sind aus Gold.« »Nein, das sind sie nicht. Es sind Äpfel, Jem.« »Äpfel? Bist du sicher?« »Grüne Äpfel, Jem.« »Raj, ist das hier wirklich?« Jems Blut war real, oder nicht? Vorsichtig stellte Rajal seine Laute weg. In den hellen Flecken des Sonnenlichts, das durch den Blätterwald fiel, musterte er den glänzenden, dunklen Fleck, der sich auf der Mönchsrobe abzeichnete. Jem sank zurück. Rajal schob den Stoff beiseite. Einen Augenblick glitten seine Finger über die Wunde, als könnten sie allein den Blutstrom stoppen. Eine schreck liche Traurigkeit erfaßte ihn und ließ ihn erbeben. Dunkel wurde er gewahr, daß das, was geschah, tatsächlich unwirklich war. Aber auf eine andere Art, das war ihm ebenfalls klar, war es realer und tiefgründiger als alles, was er zuvor erlebt hatte. Erinnerungen an die verflossenen Monate durchfluteten ihn. Seine Tage mit den Silbermasken schienen schon in der Vergangen-
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heit zu verblassen. Er sah sich in den Qualen des Trainings, wie er seinen Körper verbog und verdrehte; sah sich mühsam und sorgfäl tig bei seiner Toilette, wie er seine Perücke puderte; sah sich, wie er seinen regenbogenfarbenen Umhang hinter sich wehen ließ, als er stolz aus einer Kutsche stieg. Was für ein Narr war er doch gewe sen! An einem Nachmittag hatte er dem Clown die Schminke ge stohlen und sich damit das ganze Gesicht, den Hals und die Hände eingeschmiert. Als er fertig war, war seine Haut weißer, als die von Jem es jemals gewesen war. Fasziniert betrachtete sich Rajal und starrte endlos in das Gesicht im Spiegel. Dann verblaßte das Weiß in der Dämmerung, und der Clown fand ihn. Er nannte ihn, ja, er nannte ihn einen Narren! Sie bezeichneten ihn oft so, der Harlekin und der Clown. Manchmal nannten sie ihn auch einen niederträchtigen Undankbaren, den man am besten wieder in den Schmutz warf, wo sie ihn gefunden hatten. Dabei hatten sie ihn gar nicht im Dreck gefunden. Sie muß ten an einen ganz anderen Jungen gedacht haben. Trotzdem hatte Rajal etwas an sich, das ihnen gefiel. Das mußte so sein, denn sonst hätten sie ihn ja kaum zum Favoriten für das Schlafzimmer der Herren gemacht. Mit einer scheuen, stolzen Ehrfurcht hatte Rajal seine Rolle in der düsteren Hingabe von Harlekin und Clown ge spielt. Zuerst war er schockiert und beunruhigt gewesen, lernte je doch schnell, daß es nichts zu fürchten gab; nicht wirklich jeden falls, bis auf den Neid der anderen Jungen vielleicht. Aber obwohl er wußte, daß man ihn ablehnte, hatte es keiner gewagt, ihn öffent lich herauszufordern. Welcher Vaga-Junge, der von den Masken auserkoren wurde, hätte all dies für einen simplen Ehrenhandel aufs Spiel gesetzt? Das redete sich Rajal jedenfalls ein. Und es traf auch nicht ganz zu, ihn eine Hure zu nennen. Sein Körper war nicht besudelt worden, es sei denn, man zählte eine einfache Berührung als Besudelung. Die beiden alten Männer hat ten den Jungen oft gebeten, sich seiner Kleidung zu entledigen;
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und genausooft hatten sie ihn zu sich geholt, seinen jungen Körper gegen ihr altes, welkes Fleisch gedrückt, ihn geküßt und ihn mit feuchten Zungen geleckt, die sich ihm aus schildkrötenähnlichen Schlünden entgegengestreckt hatten. Aber sie gingen nicht weiter, und nach einer Weile wurde Rajal klar, daß sie auch zu nichts wei ter mehr in der Lage waren. Nur einmal, als sich der Clown mit seinem feuchten Mund besonders um ihn bemüht hatte, fühlte Rajal, wie sich unerwartet seine bebende Spannung löste. Danach be handelte ihn der Clown einige Tage lang mit einer besonderen Zärtlichkeit. Aber meistens forderten die alten Männer keine Reaktion, schienen sogar nicht einmal eine zu erwarten, und der Junge reagierte auch nicht. Er fing an zu begreifen, daß er in ge wissem Sinne genausogut nicht hätte dasein können. Sie wollten ihn nicht um seinetwillen, wie es schien, sondern nur als Erinnerung an vergangene Lieben, aus den Tagen, bevor die beiden alten Freunde der Altersschwäche verfallen waren. Was war er denn anderes als eine Art Geist? Schließlich dämmerte ihm, daß die beiden alten Männer ebenfalls nur Geister waren, Phantome einer Liebe, die er noch nicht ken nengelernt hatte. Der arme Harlekin! Der arme Clown! Rajal würde nicht mehr zurückgehen. Jetzt nicht mehr. Ruhig und behut sam schloß er die Tür zu dem Raum, in dem sie seiner Vorstellung nach warteten, für immer warteten und ihre kläglichen Erinnerungen an die Lust hätschelten. Er haßte sie nicht. Und er nahm es ih nen auch nicht übel. Sie waren ein Traum, den er einmal gehabt hatte, das war alles, ein naßkalter, beunruhigender Traum. Aber sie hatten ihn Dinge gelehrt, die er niemals mehr vergessen würde. Das Blut sickerte immer noch aus Jems Schulter. Rajal war beun ruhigt und berührte die Wunde. Dann wußte er, was zu tun war. Er kniete sich hin und trank das Blut. Als er fertig war, sah er, daß die Wunde verschorfte. Später sollte er sich fragen, wie das hatte geschehen können, denn er wußte ja, daß er keine Magie besaß. Nein,
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Myla war diejenige, die über magische Kräfte verfügte, und was Rajal bei den Masken gelernt hatte, war keine Magie, sondern nur eine bestimmte Art der Liebe. War das genug? Jem öffnete die Augen. Jetzt erst überkam Rajal die Erkenntnis, die ihn in den langen Jahren, die noch vor ihm lagen, vielleicht sogar bis zum Ende seiner Tage, quälen würde wie eine Folter: Ich liebe ihn. Es kam Rajal so vor, und das war natürlich unausweich lich, als ob er erneut diese Stimme hinter sich hörte, eine Stimme, die so hallte, wie sie an dem Abend gehallt hatte, als er den ganzen Nachmittag bis zum nahenden Abend vertrödelt und sein angemaltes Gesicht im Spiegel betrachtet hatte. Narr, sagte der Clown. Narr, Narr, Der Vogel, der Bob Scarlet, tirilierte in den Zweigen. Eine warme Brise ließ die Saiten von Rajals Laute klingen. Wolken segelten wie im Traum über den blassen Himmel. Jetzt rief sie eine Gestalt vom Fuß des Hügels und schritt ihn herauf, wobei sie sich auf einen gebogenen Stock stützte. Zuerst wirkte sie irgendwie klerikal, was wohl an dem Stock lag. Aber nein, die Kleidung der Gestalt war schwarz, wie die von Jem, und sie rauchte eine elfenbeinerne Pfeife. Der edle Lord ließ sich mit gekreuzten Beinen unter dem Baum nieder, und der Stock verschwand. Blaugrauer Rauch kräuselte sich in die Blätter empor, während der Mann zuerst Jem und dann Rajal musterte. Einen Augenblick waren die beiden beunruhigt, denn als sie Lord Empster das letzte Mal gesehen hatten, war sein Gesicht da nicht vor Wut verzerrt gewesen? Jetzt jedoch ist er ruhig. Viel zu ruhig. Er spricht. In dem Moment geschieht etwas Merkwürdiges oder vielmehr: etwas noch Merkwürdigeres. Die Freunde hatten gewußt, natürlich hatten sie es gewußt, daß dieser Baum, diese Hügelkette und dieser helle Sonnentag nicht real sein konnten. Und jetzt ver
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blaßt diese Täuschung allmählich. Langsam werden die Ziegelmauern um sie herum sichtbar. Statt des Himmels sehen sie eine fin stere, gewölbeartige Decke, Fackeln in eisernen Haltern, die an gewaltigen Säulen befestigt sind. Von irgendwoher, aus einer Öffnung im Dach, schimmert Mondlicht herein. Es ist eindringlich hell. Aber all dies geschieht langsam, ganz sachte. Jetzt spricht Lord Empster über Pell, den armen, närrischen Pell, der niemals wieder mit großer Geste seine Krawatte binden und in Quistos Spiegel blicken wird; dessen beeindruckende Stimme niemals wieder am Kanonischen Tag im Großen Tempel erklingen wird und der niemals mehr die Freuden des »Würgers« genießen kann. Denn natürlich wußte Seine Lordschaft auch davon! Genausowenig wird er wieder der Mode frönen können, eine Perücke zu tragen, denn das Gehirn des armen Pell ist so weit in der Gegend verstreut worden, daß sie nicht einmal hoffen können, es wieder aufzusam meln. Das entsprach nicht ganz dem üblichen Ende eines Duells, und trotzdem würde der arme Junge vielleicht froh darüber sein, daß man von ihm sagte, er habe seinen Tod auf Marlys Feld gefunden. Seine Lordschaft wirft Jem einen traurigen Blick zu. Pell, der arme Pell, war schließlich ein treuer Freund, oder etwa nicht? Ein guter Gefährte? Und dann wiederholt Seine Lordschaft den letzten Satz und sieht dabei Rajal an. Denn jetzt muß Rajal dieser Gefährte sein. Es gibt keinen anderen. Es kann kein anderer diese Pflicht übernehmen. Ehrfürchtig neigt Rajal den Kopf. Seine Lordschaft steht auf. Jetzt geht er auf und ab, und geheimnisvollerweise ist auch sein Stab wieder aufgetaucht. Als er spricht, nimmt seine Stimme einen drängenden Unterton an. »Morgen ver lasse ich sehr früh Agondon. Dringende Geschäfte rufen mich. Meine Diener sind alle entlassen worden, und ich werde das Haus in der Davalon-Straße schließen. Ihr beide müßt ebenfalls gehen. Sir Pellion Pelligrew ist schon erschüttert genug über den tragischen Tod seiner Tochter. Wenn er erfährt, was seinem Sohn zugestoßen
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ist, wird er den Vorfall mit der ganzen Schärfe des Gesetzes unter suchen lassen, dessen könnt Ihr sicher sein.« Jem ließ den Kopf hängen. Es tat ihm leid um Pell und auch um Pells Vater. Aber ein trotziger Impuls ließ ihn einwenden: »Mein Lord, aber Burgrove ist doch ein mörderisches Schwein, und dennoch muß er nicht fliehen. Ich habe gedacht, daß vornehme Gentle men nicht den Gesetzen unterliegen, die für das gewöhnliche Volk gelten.« »Der Gedanke, mein junger Prinz, ist unehrenhaft, auch wenn er oft genug zutrifft. Aber Burgrove, das solltet Ihr nicht vergessen, ist ein Liebling dieses Gentleman, den Ihr vielleicht als den ›Würger‹ kennt. Soviel wißt Ihr sicher, aber es ist weniger wahrscheinlich, daß Ihr auch den Grund dafür kennt. Man munkelt, daß Burgroves Wohlstand aus einem Kaufmannsvermögen stammt. Aber man könnte fragen, womit hat er gehandelt? Zufällig hat der ältere Burgrove, so sagt man, sein Geld nicht mit seinen eher unglücklichen Spekulationen erwirtschaftet, sondern vielmehr dadurch, daß er seine ungewöhnlich schöne junge Frau an den ›Würger‹ verkauft hat. Oder vielleicht sollte ich sagen, beim ›Würger‹ hat arbeiten lassen, was zweifellos auf dasselbe hinauslaufen dürfte. Der junge Jac ist einfach nur der am meisten Begünstigte unter vielen Bastarden.« Jem dachte darüber nach. Und sofort begriff er den wichtigsten Punkt. »Dann ist Mr. Burgrove ... Er ist mein Onkel?« »Sehr gut, junger Prinz. Wie ich sehe, habt Ihr die wahre Identität des ›Würgers‹ erkannt. In der Tat, er ist Euer Großvater, der Erzherzog von Irion. Und mehr noch: Er ist einer der wenigen Adligen, die Gehör bei Tranimel finden. Der Verräter von Ejard Rot wird ohne Zweifel als ein vertrauenswürdiger Bundesgenosse betrachtet. Also versteht Ihr sicher, junger Prinz, warum wir Mr. Burgrove seine, ehm, kleinen Indiskretionen nachsehen müssen. Leider fürchte ich, daß einer meiner Zöglinge weniger Nachsicht vor den Augen des Ersten Ministers finden dürfte.« »Mein Lord«, mischte sich Rajal ein. »Ihr sagtet, wir müßten
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morgen abreisen. Sollten wir nicht lieber sofort verschwinden? Noch heute?« Lord Empster tat die Frage mit einer Handbewegung ab. »Fürchte dich nicht, Junge. Du wirst bald gehen. Sehr bald.« »Mit Euch, mein Lord?« wollte Jem wissen. Seine Lordschaft dachte nach, oder jedenfalls sah es so aus, als würde er nachdenken. Aber die Antwort war rätselhaft. »Nein, Jem, nicht mit mir. Die Zeit ist wohl kaum reif dafür, denke ich.« »Mein Lord?« »Jem, ich hatte gehofft, daß Eure Ausbildung abgeschlossen wäre, wenn wir diesen Punkt erreichen würden. Ich habe dem ar men Pellam die schwere Aufgabe übertragen, aus einem unerfahre nen Burschen aus dem Tarn, einem Freund der Vaga, jemanden zu machen, der die Aufgabe erfüllen kann, die vor ihm liegt. Ja, Jem, das war mein Plan, obwohl Ihr ihn offenbar niemals begriffen habt. Und jetzt habt Ihr durch Eure Ungeduld diesen Plan entscheidend verkürzt. Ich werde über Euch wachen, denn Euer Auftrag ist lebenswichtig, aber Ihr - und Euer Vaga-Page natürlich - müßt jetzt allein ins tiefste Zenzau reisen. Sollte dieses Abenteuer erfolgreich enden, stellt es vielleicht eine Art Sühne für die Narretei dar, die Euer vornehmes Leben in Agondon so übereilt beendet hat.« »Also gehen wir nach Zenzau?« stieß Jem hervor. Mittlerweile sind der Hügel, die Bäume und die Sonne längst den Ziegelwänden, der gewölbten Decke, den Fackeln und dem kalten Licht des Mondes gewichen. Der Vogel, Bob Scarlet, ist weggeflattert, und statt auf Gras sitzen Jem und Rajal auf harten Holzbänken. Bänke wie in einem Tempel. Was ist das für ein Ort? Das kann doch nicht Lord Empsters Besitz sein! Aber Jem bemerkt die Szenerie kaum, die ihn umgibt. Rajal ist derjenige, der sich Sorgen macht. Jetzt erinnert er sich an die Kutsche, die sich die Straßen der Insel hinauf gequält hat. In seiner Erinnerung sieht er eine Tür - eine große Eichentür? -, die nur von den harten Strahlen des Mondes be schienen wird, der ihren Weg durch den wirbelnden Nebel begleitet
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hat. Verzweifelt und furchterfüllt sieht er, wie er hinterhergeht, als Jems Gestalt aus der Kutsche gehoben wird. Die gewundene Treppe führt immer tiefer. Dann legt sich eine Hand auf seine Stirn und auch auf die von Jem. Lord Empsters Hände? Jetzt flackert das Licht der Fackeln, und die Mondstrahlen in der Mitte des Bodens glänzen golden. Aber die Finsternis bedrängt neiderfüllt das Licht. Rajal muß sich anstrengen, um den vornehmen Lord zu erkennen, der, in diese mönchische Robe gehüllt, auf und ab geht. Rajal wird von einer langsamen, verzehrenden Furcht gepackt, aber Jem denkt nur über Lord Empsters Worte nach. Plötzlich scheint Seine Lordschaft wütend zu werden. Er bringt sein Gesicht unmittelbar vor das von Jem. »Narr, Junge. Du Narr! Du fragst mich, wohin du gehst? Wohin, wenn nicht nach Zenzau, wo immer noch Vianas Kristall sich danach sehnt, mit seinem dunklen Gefährten vereint zu werden! Hast du etwa die Brennenden Verse vergessen, die dir in den Tagen deiner Unschuld erschienen sind und dich zu deiner heiligen Aufgabe gerufen haben?« Lord Empster packt Jems Schulter, und mit einem Mal wird der Junge von seiner Angst geradezu verzehrt. Zum ersten Mal, so kommt es ihm vor, sieht er das dunkle Gewölbe, das ihn umgibt; zum ersten Mal erkennt er deutlich das umwölkte Gesicht seines Vormunds. Der Anblick erschreckt ihn. Aber warum? Es ist ein ganz gewöhnliches Gesicht eines Mannes in der Mitte seines Lebens, ein bißchen faltig, glattrasiert... Es ist.das Gesicht eines Mannes, der in seiner Jugend gut ausgesehen hat und jetzt nicht mehr ganz so attraktiv ist. Aber hat seine Haut (so scheint es Jem jetzt) nicht etwas Totes, etwas Wächsernes ? In den Augen glüht eine kalte Flamme, die wie der Glanz eines Gold-Tirals flackert, der sich dreht, bis er im Schnee liegenbleibt. Während Jem auf der kalten Bank hockt und sich vor und zurück wiegt, rezitiert er: DAS KIND, DER SCHLÜSSEL ZUM OROKON,
WIRD TRAGEN DAS MAL DES RIEL
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UND IN SICH HABEN DEN GEIST VON NOVA-RIEL;
ABER SEINE AUFGABE IST GRÖßER,
DENN DER BÖSE IST STÄRKER,
WENN DAS ENDE DES SÜHNEOPFERS KOMMT.
Rajal hätte beinahe laut aufgeschrien. Ist das Jems Stimme? Das kann nicht sein, es sei denn, daß sein Geliebter urplötzlich ein Teil von Lord Empsters wächsernem Tod wäre. Doch immer noch hält Seine Lordschaft Jems Schulter fest, die Schulter, in die die Kugel eingedrungen ist. Kann es sein, daß er diese Worte überträgt, sie durch Jems Lungen, seinen Kehlkopf zwingt? Aber nein, das kann nicht sein. Es sind Worte, die Jem unauslöschlich ins Gehirn einge brannt sind. Und in sein Herz. DENN SASSOROCH WIRD ERNEUT
AUS DEM NICHTSEIN ERSTEHEN,
UND SEINE MACHT WIRD HUNDERTFACH SEIN;
ABER DIESMAL WIRD ER SEINEN
WAHREN NAMEN TRAGEN
UND SEIN WAHRES GESICHT ZEIGEN,
DIE VOR DER WELT VERBORGEN,
ALS ER NOCH...
Natürlich geht es noch weiter, aber plötzlich zerrt Lord Empster Jem von der Bank weg und zieht ihn über den Boden in den fahlen Strahl des Mondes. »Sieh hinauf, Junge!« In dem Augenblick beginnt eine Glocke, es ist die Tempelglocke, zu schlagen, von irgendwo weit, weit oben. Sie hat noch nie so tief, so volltönend geklungen. Rajal kommt es vor, als würden selbst die Pfeiler um sie herum im Einklang mit ihren düsteren Schlägen vi brieren. Jem jedoch hört es kaum, sondern er sieht nur; und was er sieht, ist so hell, daß er aufschreit, fast als litte er Schmerzen. Er 91
blickt in das Gesicht des Mondes hinauf, das er am anderen Ende des langen, endlos langen Strahls erkennt. »Laßt ihn los!« Rajal versucht einzugreifen, entsetzt von dem Licht, das auf dem Gesicht seines Freundes glänzt. Aber es ist sinnlos. Der edle Lord schiebt Rajal einfach zur Seite und zwingt Jem, in den grellen Mond hinaufzublicken. Will er Jems Augen blenden? Rajals Laute gibt einen schauerlichen Klang von sich, als er stürzt. Jetzt murmelt eine Stimme dicht an Jems Ohr: »Horn-Licht! Junge, weißt du eigentlich, daß ein voller Mond in der Dunkelheit über dem Nebel glüht? Dennoch, laut dem Kalender ist das nicht der richtige Tag! Wie kann das sein? Hast du dich das jemals gefragt? Prinz Jemany, Schlüssel zum Orokon, habt Ihr jemals auf die Ruinen der Zeit geblickt?« Rajal liegt ausgestreckt am Boden und schreit: »Hört auf! Es ist verboten, in das Horn-Licht zu blicken!« Lord Empster wirft den Kopf in den Nacken und lacht lauthals. »Vaga-Junge! Erspare uns deinen albernen Aberglauben! Was weißt du schon von meiner alten Freundin, der süßen Herrin meiner mit ternächtlichen Wanderungen? Unablässig hat sie trauernd die Narreteien mit angesehen, die die Welt immer tiefer in den Verfall treiben ... Und doch ... Wenn die Zeit des Sühneopfers endlich endet, träumt sie dann etwa nicht davon, daß ihre Schönheit wiederkehrt? Es gibt einen Reim, den ich vor langer Zeit gehört habe. Bauern ha ben ihn rezitiert ... aber in einem anderen Land. Soll ich ihn Euch aufsagen, Jemany? Mondlady, Mondlady,
Ersteht wieder zum Leben:
Aber durch die Macht
Der Fünf Kristalle!
Kommt, edler Prinz! Es ist Zeit, Euch Eurer Aufgabe zu stellen!«
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»Papa! Papa!« Es war verrückt. Aber war sie nicht auch verrückt? Catas weiße Unterröcke flatterten wie Segel um sie herum, als sie blindlings durch die gefrorene Welt stürmte. Überall lag Schnee, hoch und hart. Die Kälte stach wie eisige Nadeln durch die Sohlen ihrer nackten Füße und durch die Haut ihrer nackten Beine. Die Bäume des Wildwaldes standen ungerührt und abweisend da in dem kühlen silbrigen Licht des Horn-Licht-Mondes. »Papa! Papa!« War sie etwa schon tot? Sie war ein verzweifeltes Gespenst, ein jammernder Geist, der durch die Finsternis zum Ort des Jammers flog. Aber in der Höhle ihres Papas erwartete sie kein heimeliges Feuer. Keine Zärtlichkeit, kein Kuß, der sie gewärmt hätte. Nur Eiszapfen und Leere. Cata brach schluchzend vor der Höhle zusammen. Doch jetzt gefrieren ihre Tränen auf ihren gefühllosen Wangen, und ihre schmerzenden Lungen können in der eisigen Luft kaum atmen. Das war nicht gut, gar nicht gut. Sie hatten Papa schon vor langer Zeit getötet. Sie hatten Jem getötet - und auch Papa. Wie ein waidwundes Geschöpf des Wildwaldes, das bereit ist zu sterben, fällt das frierende Mädchen hintenüber in den Schnee. Die Kälte singt in ihren Ohren wie das rauschende Meer. Sie ertrinkt, und es küm mert sie nicht. Doch da geschah etwas Außergewöhnliches. Am Anfang schien es nichts zu sein, nur eine Illusion ihres ge quälten Hirns. Immerhin starb sie gerade. Also stimmte es, daß man unmittelbar vor dem Tod noch einmal die Zeit rückwärts durchläuft, als würde eine Bildrolle rückwärts gelesen. Zuerst war
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es nur ein Zwitschern in ihren Ohren, das bedeutungslose Piepen eines zarten Vögelchens. Ti-witt! Ti-woo! Bob Scarlet hier draußen, mitten in der Nacht? Sollte er seinen kleinen Kopf nicht in sein Gefieder stecken, während er sicher auf irgendeinem Balken in irgendeiner Scheune sitzt? Cata schloß die Augen und preßte ihr Gesicht in ein Kissen aus Schnee. Ti-witt! Ti-woo! Aber was wollte er denn? Nein, Cata konnte die Augen nicht öffnen. Die Lider waren zu sammengefroren. Aber dann kam es ihr vor, als würde, so wunder voll, so köstlich, eine warme Brise gegen ihre Schläfen wehen. Und der Schnee unter ihr, war er zu Gras geworden? Wenn ihre Lippen nicht fest verschlossen gewesen wären, dann hätte Cata gelächelt. Dann kam es ihr so vor, als ob sie es, in dieser Welt der Illusion, könnte. Und es schien ihr auch, als könnte sie die Augen öffnen. Cata tat es und schnappte überrascht nach Luft. Vor ihren Augen flatterten bunte Schmetterlinge dahin, purpur, grün, rot... Sie rap pelte sich hoch. Und sie sah: Sonnenstrahlen schienen hell auf die Lichtung. Gras (es stimmte wirklich!) wuchs unter ihr. Saftige Blätter hingen überall an den Bäumen, und um die Stämme wanden sich prächtige Kletterpflan zen. Der Duft von tausend bunten Blumen erfüllte die Luft und vermischte sich mit dem warmen Wind, dem Summen der Bienen, die schwer beladen mit Pollen waren, und dem Zwitschern der Vögel - Amseln, Nachtigallen, großartige Regenbogentauben, die überall ihre Lieder trällerten, als sich um sie herum die Tiere sam melten, wie Wachtposten ... Da der Hase mit seinen langen Ohren, die ständig in Bewegung sind. Dort der Maulwurf, der den Kopf aus seinem Hügel steckt. Hier das Eichhörnchen, das scheu umherhuscht und eine Nuß zwi schen seinen winzigen Pfötchen hält. Und wer ist das? Der Otter, dessen Fell vor Nässe glänzt. Der Fuchs, mit der roten Lunte. Der Braunbär, aus seinem Koros-Schlaf erweckt, streckt sich, reckt sich, stellt sich auf die Hinterpfoten und gähnt.
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Ja, sie sind alle da, Catas Freunde. Selbst die weise Damasteule ist hier, und ihr dunkler Ruf mischt sich in das helle, süße Zwitschern der anderen Vögel. Und dann blitzen Streifen zwischen den Bäumen auf. In stolzer, scheuer Ehrfurcht sinkt Cata auf die Knie. »Waldtiger?« Würde er zu ihr kommen? Aber Cata sollte es nie erfahren, denn jetzt sinkt sie in den duftenden Kreis und fühlt, wie sie emporgehoben wird. Und plötzlich, wie in einem krampfartigen Schock, ist sie sich all der Macht bewußt, die so lange in ihr geschlummert hat. In wilder Verzückung fließen Catas Sinne zusammen mit denen der Vögel, der anderen Tiere, der Pflanzen. Sie stöhnt und zittert, aber selbst jetzt stimmt etwas nicht. Selbst jetzt hat die Kälte sie nicht verlassen. »Aber warum?« flüsterte sie. »Warum diese Verzückung, wenn die Trauer mein Herz niemals verlassen kann?« »Du bist ein wenig voreilig, Königin von Ejland.« Eine Stimme? Eine wohlklingende, freundliche Stimme. Aber wem gehört sie? Warum nennt sie sie Königin? »Sieh doch hin, Königin von Ejland. Betrachte das Bild.« Und Cata vergißt, daß die Stimme sie Königin genannt hat, und sieht jetzt vor sich ein Bild ihres Papas, so klar, als wäre es real. Sie ruft ihn, aber natürlich hört er sie nicht. Der Schmerz zerreißt ihr fast das Herz. Der alte Mann wandert blindlings durch den Wild wald, und in dem Bild ist es kalt im Wald und weiß. Orientierungslos und verwirrt pflanzt er seinen Stock vor sich in die Erde, und die Kapuze flattert um sein zerstörtes Gesicht. Der arme Papa! Er kann nicht laufen und bricht im Schnee zusammen. Ja, er stirbt, wie Cata beinahe gestorben wäre, in der Dimension, die sie gerade verlassen hat. Cata schreit auf, ruft nach ihm. Warum kann sie ihn nicht retten? Aber sie kann nichts tun. Was sie sieht, ist nur ein Bild, eine grausame Widerspiegelung von etwas, das längst gesche hen ist.
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Doch da taucht plötzlich eine Hand auf. Der alte Mann, der ster bend im Schnee liegt, bemerkt nicht, daß die schreckliche Einsam keit endlich vorbei ist, bis die Hand die seine ergreift. Papa, schluchzt Cata, als sie hört, wie er spricht, wie er mit dem Fremden redet, der in der Stunde seines Todes zu ihm gekommen ist. Aber ich kann dich sehen, sagt der alte Wolveron. Ist seine Sehkraft wieder gekehrt? Die Gestalt, die über ihm steht, ist gewandet wie er selbst und trägt ebenfalls einen Stock; doch dieser Stock ist aus Silber, und die Robe ist aus Gold. Du siehst mich, entgegnet die Gestalt, weil ich es so will. Komm, alter Mann, du hast deine Arbeit getan. Du bist jetzt in Sicherheit. Komm mit mir. Jetzt erhebt sich der alte Wolveron wieder und steht mit einer Sicherheit, die er verloren glaubte. Und nun schwebt er sogar vom Boden empor, hinauf in die eisigen Zweige der Bäume, umgeben von der Aura seines goldenen Beschützers. Cata laufen Tränen über das Gesicht. Ist das der Tod ihres Papas? Die Frage ist nur ein Gedanke in ihrem Kopf, aber die Präsenz, die hinter ihr steht, hat es gehört, als hätte sie die Worte ausgesprochen. »Königin von Ejland, wie kann dein Papa tot sein? Er ist ein Wächter. Es ist bestimmt, daß er am Ende dasein wird. Und es ist vorherbestimmt, daß du ihn wiedersehen wirst.« »Ich verstehe das nicht. Sagt mir, was Ihr meint.« »Königin, ich spreche vom Ende. Das Ende ist kein Ende, son dern ein Anfang.« »Ihr sprecht in Rätseln. Und warum nennt Ihr mich Königin?« »Ich spreche von einer Zeit, in der das, was in den Brennenden Versen vorhergesagt wird, eintrifft.« »Die Brennenden Verse? Papa hat davon gesprochen.« »Und hat er nicht den Schlüssel des Orokon erwähnt?« »Und das ist doch Jem. Meine Liebe, mein Leben.« Cata schluchzte trocken. »Und er ist tot.« »Tot?« Lachen ertönte, doch es war ein freundliches Lachen. »Kind, und ich dachte, du würdest dich an alles erinnern! Wie
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könnte es bestimmt sein, daß du Königin wirst, wenn der König, der dich erheben wird, schon tot ist?« »Jem und ich werden König und Königin?« Erneut antwortete ihr nur Lachen. Cata versuchte sich zu dem Fremden umzudrehen, aber sie konnte es nicht. Schwach spürte sie die Anwesenheit einer Gestalt, eines großen Mannes, der merkwürdig gekleidet war, aber trotz ih rer Kräfte gelang es ihr nicht, ihn deutlicher zu erkennen. Eine knochige Hand ruhte auf ihrer Schulter, und eine Welle der Trauer spülte über sie hinweg. Es konnte doch nicht wahr sein, daß Papa noch lebte? Daß Jem eines Tages wieder mit ihr zusammen sein würde? »Nein, das ist alles irreal«, flüsterte sie. »Diese Theron-Jahreszeit, mitten im tiefsten Koros. Diese Tiere, die mich willkommen heißen. Und Ihr, der Ihr mit mir redet: Ihr existiert nicht. Ich liege hier im Schnee und sterbe!« Der Fremde legte die Lippen an ihr Ohr und flüsterte seine Erwiderung. »Oh, mein kostbares Kind, glaube an diese Visionen! Was ist real, was ist Illusion? Wir stehen in diesem Augenblick an einem besonderen Ort, aber was wäre, wenn dieser Ort noch realer und wahrer wäre als alles, was du in der gewöhnlichen Welt siehst? Teures Kind, es gab eine Zeit, da hättest du es im Inneren gewußt. Du bist dir selbst zu lange entfremdet gewesen. Einen ganzen Ab lauf der Jahreszeiten, nein, noch länger hast du in einer Welt ohne Visionen, ohne Träume und ohne Erinnerung gelebt, angekettet an das schleichende Gift des verderbten Waxwell. War das dein wahres Leben? Nein, Kind, dein wahres Leben ist jetzt. Hier. Es war vorherbestimmt, daß du diese Blindheit erleben solltest, damit die Vision noch viel wertvoller sei, wenn sie zurückkehrte. Und die Vi sion ist zurückgekehrt! Dreh dich zu mir um, Kind, und stelle dich deiner Bestimmung!« Die Hand packte Catas Schulter härter und drehte sie herum. Sie wehrte sich nicht und blickte den Fremden endlich an. Sie sah in eine silberne Maske.
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»Harlekin! Aber sie haben dich doch auf dem Dorfanger getö tet!« »Kind, vergiß eines nicht: Was ist real, was ist Illusion? Wisse dies: Wenn der Junge den nächsten Abschnitt seiner Suche antritt, wirst du selbst dich der Aufgabe stellen, ihn zu finden. Ich habe ge sagt, daß du Königin wirst. Aber nur, wenn die Kristalle vor TothVexrah gerettet werden können ...« »Toth-Vexrah? Ich kenne keinen ...« »Du wirst es erfahren, du wirst alles erfahren. Kind, ich muß schnell sprechen. Diese Realität ist sehr instabil. Wir können sie nur noch wenige Augenblicke aufrechterhalten, dann wirst du mich nicht mehr sehen können. Höre: Bald wird der Junge in die entlegensten Gebiete der Länder des Orok reisen müssen. Von dem Erfolg seiner Aufgabe hängt die Zukunft dieser Welt ab. Aber er wird diese Suche niemals ohne dich vollenden können. Denn so wie er der Schlüssel zum Orokon ist, bist du das Schloß. Suche ihn!« »Was? Aber wie? Wo?« »Die Zeit deiner Flucht naht. Du wirst den Pfaden folgen, die dich deinem Schicksal entgegenbringen.« »Und jetzt? In diesem Augenblick? Was soll ich tun?« Cata war verzweifelt und rang atemlos nach Luft. Sie glaubte alles mit einem unerschütterlichen Zutrauen. Sie glaubte alles und wußte doch nichts, und die Tiere um sie herum verschwanden allmählich. Die kleine Lichtung, auf der sie vom Tod wiederauferstanden war, ver sank wieder in der Jahreszeit des Koros. Die Blüten fielen ab, und die Blätter verwelkten. Das Grün verblich im weißen Schnee, und die Luft wurde wieder eisig. Im nächsten Moment würde alles vorbei sein und Cata im Schnee zusammenbrechen ... Und genau in diesem Augenblick stürmte die beunruhigte Nirry durch die Dun kelheit und rief ihren Namen. Aber der Augenblick dauerte noch einen Lidschlag an. Cata erschauderte, als der Harlekin sie fest umklammerte, wie ein Liebha ber. Aber er flüsterte ihr keine Zärtlichkeiten ins Ohr. »In einigen
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Tagen marschieren die Blauen von Irion nach Zenzau. Sie brauchen frische Soldaten, und sie sind eifrig auf der Suche danach. Du bist ein kühnes und furchtloses Mädchen. Ist dir klar, was du zu tun hast?«
»Ich verstehe Euch nicht! Warum tut Ihr mir weh?« Jem befreit sich plötzlich mit einem Ruck von seinem Vormund. Seine Blicke huschen hierhin und dorthin. Wie eindringlich der Raum wirkt, mit seinen Säulen, seinen Bankreihen - und irgendwo hinten im Schatten verborgen ein Altar! Jetzt dämmert es ihm, daß es sich um eine Kapelle handelt; es wird ihm klar, daß sie sich weit unter der Erdoberfläche befinden müssen. Und immer noch geht dieses Geläute der Glocke weiter. Das Echo klingt, als wären sie tief in einem Brunnen. Immer und immer wieder. Wie oft denn noch? Ist es vielleicht Mitternacht? Aber in dem Augenblick ertönt das hohle Echo von Schritten auf einer Steintreppe. Jem stolpert in dem strahlenden Mondlicht, aber Lord Empster lacht nur wieder kühl. »Ist das nicht genial, dieser Fokus des Horn-Lichts? Das Licht fällt aus der Spitze des Kirch turms und brennt sich den Weg durch die große Mittelsäule des Tempels. Die Glocken brennen ebenfalls, auf ihre eigene, merkwür dige Art und Weise ...« »Tempel?« fragt Jem verständnislos. »Aber natürlich! Tief, tief unter dem Tempel. Kommt, meine jungen Freunde, es wartet eine Szene auf uns, deren wir Zeuge sein müssen. Aber Vaga-Junge ...« Seine Lordschaft wirft Rajal einen ironischen Blick zu. »Ich habe versäumt, dich angemessen zu klei den. Dein Pagenkostüm glänzt wie der Anzug eines Narren. Ver-
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steck dich, verbirg dich tief in den Schatten. Und paß auf, daß die Saiten deiner Laute nicht klingen, hm?« Rajal bleibt nichts anderes übrig, als sich in den Schatten zu ver stecken, als erst eine, dann noch eine und schließlich viele schwarz gekleidete Gestalten die Krypta füllen. Wie schnell die Brüder ihre Plätze einnehmen! Seine Lordschaft setzt sich in den hinteren Teil und umklammert fest Jems Schulter. »Zieht die Kapuze fest um Euer Gesicht, Prinz.« Momente später ist alles bereit. Entsetzt späht Jem unter seiner Kapuze hervor. Niemand sagt ein Wort. Und niemand blickt sich um. Hier sieht er ein glitzerndes Auge, dort eine Wange. Aber kom men ihm das Auge oder die Wange nicht bekannt vor? Natürlich! Was sind diese schwarzgekleideten Gestalten anderes als Umrisse von Menschen, die Jem kennt. Wer sind sie denn sonst, die Mitglieder dieser Bruderschaft, als vornehme Lords, die herausgeputzt auf dem Ball des ersten Mondlichts herumstolzieren, beim Dienst des Kanonischen Tages oder bei Lady Cham-Charings Festpiel-Empfang? Ja, die Edelsten des ganzen Landes sind hier versammelt und verletzen die geheiligte Zeit der Meditation! Eine gedrungene Gestalt nimmt ganz vorn Platz, nur einen klei nen Schritt vom Strahl des Mondlichts entfernt. Diese Figur er kennt Jem sofort. Der Würger. Der verräterische Erzherzog hebt die Hände und fordert seine Brüder auf, sich zu setzen. Der Schwarze Kanonische Dienst kann beginnen! »Seht zu, Prinz. Seht zu und lernt.« Die Zeremonie fängt mit Gesängen und Gebeten an. Pflicht schuldig öffnet und schließt Jem den Mund. Er denkt an die Lita neien, die ihn seine Tante gelehrt hat. Doch hier gibt es keine Ge bete an den Herrn Agonis. Und es wird auch nicht um Frieden, Gnade und Liebe gebetet. Oh, Mächtiger, wir erwarten deine Ankunft!
Mächtiger, verzehre die Welt mit Feuer!
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Mächtiger, ertränke die Welt mit Wasser!
Mächtiger, versenke die Welt in Morast!
Mächtiger, bade die Welt in Blut!
Der, der als Sassoroch gekommen ist,
Kommt zu uns als TOTH ...
Immer und immer wieder hört Jem diesen unheimlichen Namen; dann, als die Betenden sich dem Ende nähern, verdorren auch die langen Litaneien, und nur noch ein einziges Wort wird wiederholt. TOTH, TOTH, singen die Brüder, bis es Jem so vorkommt, als sei das Mantra eine Säure, die sich durch sein Gehirn brennt. Wäre da nicht sein Vormund, der ihn mit sicherem Griff festhält, wäre Jem vorgestürzt, hätte sich die Hände über die Ohren gehalten und sie angeschrien, damit aufzuhören, endlich aufzuhören. Er beißt sich auf die Lippen und gräbt die Fingernägel in die Handballen, während er in den Strahl des Horn-Lichts blickt. Dann hört das Mantra unvermittelt auf. Jem sieht benommen die schlanke, asketische Gestalt unmittelbar vor dem gleißenden Brennpunkt des Lichts. Diesen Mann kennt er doch auch. Natürlich! Der Erste Minister. Jetzt zieht sich der Erzherzog in den Schatten zurück, wie jemand, der einfach nur den Weg bereitet hat. Tranimels Blick ist ein glühendes Starren. Er breitet die Arme aus und schreit seine Worte in die Lichtsäule hinein. In ekstatischer Verachtung denunziert er Orok, den falschen Orok und seine fünf üblen Kinder. Heftig preist er hingegen die Macht des TOTH, der schon bald ausbrechen wird, um seine Revanche zu nehmen. Aber jetzt geschieht eine merkwürdige Veränderung mit dem Licht. Während Tranimel die Worte ausstößt, beginnt über ihren Köpfen ein donnerndes Rumpeln. Jem sieht entsetzt hoch. Kündigt es das Kommen des Anti-Gottes an? Ist er schon da? Aber es ist das Geräusch des steinernen Gewölbes, das sich auf Befehl eines ver borgenen Mechanismus bewegt. Langsam verändert sich der
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Brennpunkt der Lichtsäule. Der Erste Minister tritt zurück und bleibt im Licht stehen, das nunmehr auf einen Vorhang hinter dem Altar fällt. Tranimel spricht immer noch, aber während er redet, wird Jem einer geheimnisvollen Gestalt gewahr, die hinter dem dunklen Stoff heftig pulsiert. »Komm zu uns, GROSSER ZAUBERER! Komm zu uns, VER BANNTER DES OROK! Komm zu uns, ERSTE DER ZURÜCKGEWIESENEN KREATUREN! O du Größter, o du Mächtiger, o du wunderbarer TOTH-VEXRAH!« Jetzt, als er den Namen des Anti-Gottes hinausschreit, tritt Tranimel aus dem Strahl der Lichtsäule. Und im selben Augenblick reißt er den Vorhang zur Seite. Jem kann nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken. Die hervorquellenden Augen sind eher rot als weiß, und sie liegen unter einer mißgestalteten, knotigen Stirn. Ein Ohr ist schein bar abgerissen, es gibt keine Nase, sondern nur ein eiterndes Loch, die Lippen sind zerrissen und blutig und entblößen lange, raub tierhafte Zähne. In den Wangen klaffen Wunden, aus denen der Ei ter tropft, und Maden laben sich an diesen Löchern des Verfalls. Es vergehen einige Augenblicke, bis Jem begreift, daß dieses Gesicht nur eine Reflexion ist, die in der schimmernden Glasscheibe ent setzlich vergrößert wird. »Narren, widerwärtige Idioten!« Voller Wut schreit der Anti-Gott seine Verachtung, seinen Haß und seine Wut über seine Anbeter hinaus. Hastig gibt Tranimel sei nen Brüdern ein Handzeichen. Sofort beginnt ein Gesang in ihren Reihen, noch lauter als zuvor, drängender, verzweifelter. Die Brüder stampfen mit den Füßen und brüllen förmlich: Auf einen Gott warten wir! Rührt die Trommeln! Eingeschlossen im Glas, bis der Kristall erscheint! Getrennt von seiner Liebe, brennen wir vor Zorn! Es gibt nur einen Gott, und dieser Gott ist TOTH!
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Mit dem ersten Kristall bricht TOTH hervor!
Dann findet er Kristall Nummer zwei!
Und wenn er die Kristalle drei, vier und fünf besitzt,
Dann entsteht der Orokon zu neuem Leben!
TOTH hat die Macht, zu zerstören und zu erschaffen!
TOTH hat die Macht, zu lieben und zu hassen!
Niemals mehr zerbrochen, für jetzt und immerdar,
Leuchtet dann hell der Orokon!
Er flammt auf und vernichtet die Welt im Zornesfeuer!
Alle werden sich der Macht des TOTH beugen!
Duckt Euch unter seinen Hieben! Kniet vor seinem Stab!
Tötet alle Kreaturen des Gott-Vaters!
Es gibt nur einen Gott! Und dieser Gott ist TOTH!
Er flammt auf und vernichtet die Welt mit Zornesfeuer!
Niemals mehr zerbrochen, für jetzt und immerdar,
Ist dann TOTH der Herrscher des Orokon!
Ist dann TOTH der Herrscher des Orokon!
Der Gesang wird immer eifernder, je länger er dauert. In einer Art Ekstase suhlt sich das Gesicht im Spiegel genüßlich in der Anbe tung. Blutige Tränen quellen aus seinen lidlosen Augen. Und aus den Wunden dringt frischer Eiter. Der entsetzliche Mund öffnet sich weiter, während er anscheinend sinnlose Laute ausstößt, und entblößt die zu einem bloßen Stumpf verrottete Zunge. Würmer quellen aus dem verfaulten Fleisch und scheinen sich in dem ver derbten Rhythmus des Gesangs zu winden. Angewidert dreht Jem sich weg; aber beinahe genauso entsetzlich ist der Anblick seines Vormunds, der neben ihm in einer Leidenschaft stampft, die ge nauso real zu sein scheint wie die der anderen. Warum hat sein Beschützer ihn hierhergebracht? Warum? Be
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stürzt umklammert Jem den Kristall an seiner Brust. Da überfällt ihn neuerliches Entsetzen. Was ist das, diese sengende, finstere Macht, die durch den Stoff seiner Tunika zu pulsieren scheint? Jem blickt nach unten. Er bemerkt das purpurschwarze Licht, das sich scheinbar durch den Stoff seiner Tunika brennt, ja sogar durch seine Hand! Er erschrickt. Wie kann das sein? Beunruhigt sieht er zu sei nem Beschützer, aber sein Vormund stampft immer noch und singt. Jem zieht die Tunika enger um sich und versucht, den merkwürdi gen Schein zu verbergen. Kurz darauf schluchzt er. Was hat diese Reaktion des Kristalls zu bedeuten, jetzt, wo er sich vor dem AntiGott befindet? Plötzlich ertönt aus dem Spiegel ein hoher, grotesker Schrei. Es ist ein Freudenschrei. Der Gott sabbert und geifert immer noch, aber seine Freude, so scheint es, hat neue Höhen erreicht. Der Ge sang bricht ab. Und der Erste Minister wendet sich ekstatisch zu seinem Gott um. »Oh, Mächtiger, schlürfe unsere Hingabe! Ja, Mächtiger, labe dich an unserer Liebe! Aber gewähre uns die Freude, dir unsere Liebe aufs neue beweisen zu können!« Seine Hand berührt den glühenden Mondstrahl, als er hastig einem niederen Bruder ein Zei chen gibt. Der nächste Teil der Zeremonie muß sofort beginnen. Ein Geschenk, eine Opfergabe. Zum ersten Mal nimmt Jem den Opferstein wahr, der auf dem Boden vor dem magischen Spiegel steht. Der niedere Bruder kommt mit einem zappelnden Bündel zurück, das in ein weißes Laken gehüllt ist. Ein Schaf? Oder vielleicht eine Ziege? »O mächtiger TOTH!« ruft Tranimel. »Nimm unsere Opfergabe an! Mit liebenden Augen und in flammender Hingabe an deine große Sache haben deine Brüder erneut das Reich durchstreift und nur nach den feinsten Opfergaben gesucht. Erneut habe ich persön lich das saftige Mahl begutachtet, das wir dir nun anbieten!« Während er spricht, hat Tranimel ein großes Messer aus den Falten seines Gewandes gezogen. In dem Spiegel beugt sich Toth gierig
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vor. Die blutunterlaufenen Augen treten noch weiter aus den Höhlen, die verrottete Zunge ragt aus dem Mund, und schleimiger Speichel tropft aus den Mundwinkeln. Erneut gibt Tranimel seinem Bruder ein Zeichen und bedeutet ihm, das Laken wegzuziehen. Jem starrt gebannt hin. Plötzlich packt eine schreckliche Faust sein Herz, schlimmer als alles, was er je zuvor empfunden hat, und droht es zu zerreißen. Und sein Vormund hält ihn noch fester an der Schulter gepackt, so fest, daß Jem fast aufschreien möchte. Und im mer noch fühlt er, wie der Kristall glüht. Er beugt sich vornüber und preßt die Arme über die Brust. »O mächtiger TOTH, möge dies Balsam für deine Wunden sein!« Dann kommt der Moment, an den sich Jem immer erinnern wird. Er ist unauslöschlich wie eine Narbe in sein Herz und sein Gedächtnis eingegraben. Alles passiert plötzlich, schnell, viel zu schnell. Tranimel hebt das Messer, bereit, es zum tödlichen Stoß herabsausen zu lassen. Das Laken fällt zu Boden. Und das Kind windet sich, gefesselt und geknebelt, auf dem Opferstein. Jem hätte geschrien, aber jemand anderer kam ihm zuvor. Im hinteren Teil der Krypta ertönt ein lautes Krachen und ein Echo, als eine Laute zu Boden fällt. Im gleichen Moment schrillt ein entsetzter Schrei durch das Gewölbe: »Myla!« Rajal stürzt vor, voller Verzweiflung. Sein buntes Kostüm leuch tet grell im Licht der Fackeln. Unruhe macht sich breit, und die Brüder drehen sich um. Sie schreien. Im Spiegel schreit auch Toth auf, und sein Schrei scheint sich mit Tranimels zu vermischen. »Verrat!« Jems Vormund springt als erster auf. Ob er es für Tranimel tut oder für Myla, wird Jem niemals erfahren. Aber im nächsten Mo ment hat Lord Empster Rajal gepackt und zwingt ihn zu Boden. Rajal schlägt wild um sich, schreit, stößt und tritt. Aber der schreckli che Schrei des Gottes im Spiegel ist noch schriller, noch lauter: »Mein Blut! GEBT MIR MEIN BLUT!«
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Tranimels Augen glühen im Strahl des Horn-Lichts. Der Dolch senkt sich. Myla dreht und windet sich. Im nächsten Moment wird sie sterben. Aber da stürzt Jem vor. Purpurschwarzes Licht glüht an seiner Brust. Er packt den Kristall und reißt ihn heraus. Tranimel schreit auf. Was ist das für ein Licht? Dieses schreckliche, blendende Licht läßt ja sogar den Glanz des Horn-Lichts verblassen. Doch dann wird es ihm klar. Die Prophezeiung! Sie ist wahr! In dem Spiegel werden die Schreie des Gottes immer lauter und wüster. Auf dem Boden windet sich Rajal und schlägt weiter um sich. Dann ist er plötzlich schlaff. Sein Stärke ist von ihm gewichen und in die Schulter geströmt, die seine Liebe geheilt hat. Jem holt weit aus. Und schleudert den Kristall mit aller Kraft. Was mit Myla in diesem Augenblick geschieht, wird noch viele Jah reszeiten ein Geheimnis bleiben. Tranimel hat das Messer fallen las sen. Aber wo ist Myla? Wohin ist sie verschwunden? Gerade eben lag sie noch auf dem Stein, den Tod vor Augen. Im nächsten Au genblick ist sie nirgendwo mehr zu sehen. Ist es die Macht des Kri stalls des Koros, die sie dem Moment höchster Gefahr entrissen hat? Oder ist sie nur in dem Durcheinander zu Boden gestampft worden? Gleich werden die Wände der Kypta erzittern, gleich werden uralte Säulen wanken und gewaltige Steine zu Boden fallen. Aber jetzt hat niemand Augen für Myla, nicht einmal Rajal - und auch nicht Jem. Der Kristall läßt das Glas zerbersten. Tranimel schwankt vorwärts. Er bückt sich und hebt den Kristall auf. Pur purschwarzes Licht glüht in seinen Händen. »Der Schlüssel! Mächtiger, genau wie es geschrieben steht!« Ekstase erfaßt seine schwankende Gestalt. Doch während er es ausruft, schlagen Flammen und Wolken ekelhafter Gase aus dem zertrümmerten Spiegel. Die Brüder fliehen in alle Winde. Jeder Gedanke an Anbetung ist jetzt vorbei. Verzweifelt denken sie nur noch an eins: an Flucht. Momente später verwandelt sich Tranimels Ekstase in Agonie.
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Wie verrückt dreht er sich auf dem Boden, und sein Licht strömt in einer gleißenden Spirale in den Brennpunkt des Horn-Lichts. Jem hat gerade noch Zeit, den Kristall wieder zu packen. Er verbrennt sich die Hände aufs neue. All seine Entschlossenheit ist verschwunden. Plötzlich packt ihn Lord Empster und zerrt ihn brutal vom Altar weg. »Hier entlang, rasch ...« »Nein! Myla ...«, schreit Rajal, aber sein Körper ist immer noch schlaff. Er muß weggeschleppt werden. Im letzten Moment, bevor die Krypta zerfällt und Gas, Staub und Flammen die Szenerie einhüllen, dreht sich Jem um, weil er se hen will, was mit dem wahnsinnigen Ersten Minister geschieht. Tranimel brennt. Sein Körper zuckt und windet sich in den Flammen. Dann reißt sein Körper auf, wie von einem Dolch aufgeschlitzt, und sein Herz, seine Lunge und seine Eingeweide platzen heraus. Sie fallen klatschend auf den Opferstein - wie eine Opfergabe. Und dann geschieht es. Noch bevor der Körper taumelt und zusammensinkt, schießt eine Flamme wie eine Schlange aus dem Spiegel hinter ihm, gleitet in ihn hinein und ergreift Besitz von der leeren Hülle. Der Körper setzt sich wieder zusammen. Tranimel steht da, doch es ist nicht mehr Tranimel. Stolz und hoch aufgerichtet steht er da, ungerührt inmitten der lodernden Flammen.
14. Schwarze Katze, weiße Katze Was war das für ein Geräusch? Es klang wie Klauen, die über den Boden kratzten, oder ein Zweig, der an das Fenster schlug. Wie ein Taucher, der an den entfernten Küsten von Tiralos mit langsamen Bewegungen aus den Tiefen des Ozeans emporsteigt, so erhob sich Miss Jelica Vance aus den Tiefen ihres Schlafs. Hatte sie
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geträumt? Wenn ja, dann war der Traum jetzt verschwunden und ließ sie verwirrt in der warmen Dunkelheit zurück. Jeli hob den Kopf von ihrem Kissen. Auf dem Kaminrost verbrannten die Holz scheite zu glühenden kleinen Höhlen, und durch das Schlafzim merfenster schimmerte trotz der zugezogenen Vorhänge das Licht der Scheibe des Horn-Mondes. Dann hörte sie das Geräusch erneut. Das Kratzen. »Ring? Rheen?« Aber Rings warmer Körper ruhte nicht an ihrem, und Rheen hockte auch nicht auf ihrem Bettpfosten. Jeli fühlte sich plötzlich seltsam verlassen und beunruhigt. Sie runzelte die Stirn, als hätte in dem vergessenen Traum die Antwort darauf gelegen, warum das Mondlicht auf einmal so bedrohlich und die roten Höhlen der Holzscheite so unheilvoll wirkten. Dann drang das Geräusch wieder an ihre Ohren. Diesmal war es eher ein ruheloses Klopfen, und gleichzeitig hörte Jeli leises Murmeln. Sie saß kerzengerade da. Es kam aus Tante Vladas Boudoir. Jeli steckte die Hand aus und zog den Vorhang zur Seite, nur ein kleines bißchen. Der Strahl des Mondlichts wurde breiter, und sie sah, daß die Tür zwischen den beiden Räumen nur angelehnt war. Schnell und so leise sie konnte tapste Jeli auf nackten Füßen durch ihr kleines Zimmer und ließ dabei den Türspalt nicht aus den Au gen. Ein merkwürdiges Gefühl von Neid zerrte an Jelis Herz. Seit Tante Vlada ihr junges Mündel in dieser Nacht ins Bett gesteckt hatte, hatten die Tempelglocken sehr oft geläutet. Es über raschte Jeli nicht, daß ihre Tante noch in dem angrenzenden Zimmer war. Tante Vlada hatte eine Bettkammer irgendwo anders im Haus, jedenfalls vermutete Jeli das, aber in letzter Zeit fand Jeli ihre Tante morgens oft auf dem Sofa in dem Zimmer nebenan, wo sie unruhig schlief. Es hätte Jeli beunruhigen können, aber statt dessen war sie
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dankbar dafür, daß ihre Tante, so schien es, sie nie allein lassen mochte. Es war gut. Und es war richtig so. Erst am Vortag hatte Jeli ihre schlafende Tante lange betrachtet. Sie hatte die Vorhänge zurückgezogen und unbeteiligt die bröckelnde Schminke, die Fal ten und das hängende Kinn gemustert. Mit einer merkwürdigen Verzückung hatte sie sich gebückt, ihr Gesicht dicht an das von Tante Vlada gebracht und ihren Atem gerochen. Eigenartig. Sie hatte bisher nie darüber nachgedacht. Tante Vlada erfrischte ihren Atem mit Minze und weißte ihre alten Zähne vorn mit Vanille. Aber im Schlaf kroch die Fäulnis in ihren Mund zurück und überwältigte alle Versuche, sie zu verbergen. Dann hatte Jeli gelächelt, und dieses Lächeln hatte sich noch verstärkt, als das Licht durch Tante Vladas Lider drang und die alte Frau, denn das war sie, eine alte, sehr alte Frau, erwachte. Sofort überflog Erleichterung das alte Gesicht; Erleichterung, daß Jeli dort stand und lächelte. Es war fast so, als fürchtete sie, das Kind sei nur ein Traum gewesen, der verschwunden wäre, sobald sie die Au gen öffnete. Doch heute schlief Tante Vlada nicht. Jeli spähte durch den Türspalt ins Zimmer, das von einer einzelnen Kerze erhellt wurde. Die gebeugte Gestalt ihrer Tante wurde von der Flamme beleuchtet, wie sie in einen Spiegel starrte. Was bezweckte die alte Frau damit, ihr Spiegelbild im Schein der Kerze zu betrachten? Vielleicht, dachte Jeli mit plötzlich aufkeimender Bosheit, wollte ihre Tante die Überbleibsel ihrer einstigen Schönheit nur im milden Schein dieser spärlichen Lichtquelle sehen. Aber Jeli ahnte, daß dies nicht die einzige Erklärung sein konnte. Zwischen Jeli und ihrer Tante hatte sich etwas verändert. Keine von beiden konnte sagen, wann es passiert war, aber das alberne Kind war kein Kind mehr. Das war zu erwarten gewesen. Jelis Eitelkeit war schnell gewachsen, da man ihr immer versicherte, wie wunderschön sie war, und
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ihr versprach, daß ihre Zukunft noch viel schöner sein würde. Zeugte es nicht vom Erfolg ihrer Tante, wenn Jeli jetzt anfing, sie herablassend zu behandeln? Was hatte Tante Vlada denn anderes gewollt, als dieses alberne »Qickie-Mädchen« in eine hochmütige Frau von Welt zu verwandeln? Erneut ertönten das Klopfen und die gemurmelten Worte. Das erste war einfach zu erklären, das sah Jeli. Tante Vlada schlug mit ihren Fingern - den gekrümmten alten Klauen! - einen Rhythmus auf dem Rand des Spiegels. Aber wenn es zuerst so ausgesehen hatte, als würde die alte Frau mitleiderregend mit sich selbst reden, wurde Jeli rasch klar, daß dem nicht so war. Sie konnte zwei Stimmen unterscheiden! Jeli sah sich in dem Boudoir um, aber wenn sich eine zweite Person hier versteckte, dann hatte sie ihre Sache gut gemacht. Die ge bückte Gestalt ihrer Tante drehte sich ein wenig. Jeli wollte schon zurückzucken, weil sie fürchtete, daß der Spiegel ihr Bild zeigte. Doch dann sah sie statt dessen das Gesicht im Glas. Es war nicht Tante Vladas Gesicht. In diesem Augenblick überfiel Jeli unerwartet die Erinnerung an ihren Traum. Er hatte von Ring und Rheen gehandelt. Jeli hatte oft an Tante Vladas Bemerkung gedacht, daß Rheen, die Maus, als Vo gel zu ihnen zurückgekehrt war. Es bestand kein Zweifel daran, daß dieser Vogel Rheens Rolle einnahm. Genausowenig konnte aber be zweifelt werden, daß eine Maus sich nicht so einfach in einen Vogel verwandelte, oder? Und doch hatte Jeli in ihrem Traum Rheen und Ring gesehen, wie sie ausgelassen in Tante Vladas Boudoir herum getobt waren. Dabei hatten sie sich ständig in andere Geschöpfe verwandelt. Ring war der Hund, Rheen der Fuchs, dann Ring das Pferd und Rheen der Bär; Ring die Ziege und Rheen das Lamm hat ten sich ständig gejagt, waren über Möbel, Kleider und Schachteln getrampelt und hatten den Raum mit einem nicht enden wollenden Gekläffe, Gewieher und Gebrüll erfüllt. Und obwohl jede Inkarnation in der nächsten Sekunde wieder vorbei war, war sich Jeli
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jedesmal sicher gewesen, daß es dieselben Tiere waren, mit denen sie die ganze Zeit zusammengelebt hatte, seit sie Tante Vlada getroffen hatte. Wer wollte auch daran zweifeln? Was für ein merkwürdiger Traum! Was sollte er bedeuten? Aber jetzt fehlte ihr die Zeit, darüber nachzudenken. Jeli drückte ihr Ohr an den Spalt und bemühte sich angestrengt, das gemur melte Gespräch zu hören, das der Betrachter und das Gesicht im Spiegel führten. BETRACHTER: Aber alter Freund, wie kann das sein? Oh, es ist zu früh, viel zu früh! GESICHT: Es ist vorherbestimmt. Wie hätte ich es verhindern können? BETRACHTER: Und dennoch geht Ihr? Ihr laßt mich hier in Agondon zurück, wo der Böse selbst im Anzug ist? GESICHT (höhnisch): Glaubt Ihr etwa, daß ich vor ihm fliehe? Nun, wenn er in diesem Teil des Reichs gegen wärtig ist, dann ist er doch auch in allen anderen Teilen präsent. Ihr wißt doch, daß ich weiter mit dem Jungen arbeiten muß. Denn wenn er schei tert, sind wir alle verloren! BETRACHTER: Aber wenn er Erfolg hat, werde ich dann nicht untergehen? GESICHT: Untergehen? Erfüllt Ihr nicht endlich Euer Schicksal? Schwaches Weib, hat Euer langes Festhalten an der Existenz Euch überheblich ge macht? Welche Gier ist das, einem Leben anzuhängen, das man schon lange, viel zu lange gelebt hat? BETRACHTER: Alter Gauner! Wer seid Ihr, daß Ihr Euch zu be haupten anmaßt, mein Leben sei zu lang gewe sen? (Sie schluchzt.) Ach, daß meine Herrschaft
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nun zu Ende sein soll. So bald! Dabei muß ich noch so viel tun! Es geht alles viel zu schnell, das sage ich Euch, viel zu plötzlich! GESICHT: Könnt Ihr denn jetzt nicht schnell arbeiten? Über diese Hochzeit wurde seit fünf Jahreszeiten geredet - oder sogar länger. Der Erste Mini ster, wenn wir ihn noch so nennen wollen, scheint darauf versessen, patriotischen Eifer zu zementieren und sich auf die schwierigen Zeiten vorzubereiten, die vor uns liegen. Wirklich, die Ereignisse der letzten Zeit erleichtern Euch Eure Aufgabe nur! BETRACHTER: Alter Freund, wie wenig Ihr doch das weibliche Wesen versteht! Ich hatte gehofft, sachte arbei ten zu können, behutsam, nach der Hochzeit, nicht nur kurz davor! Wie soll ich sonst die Kontrolle erlangen, die wir benötigen? Oh, ich brauche Zeit! GESICHT: Zeit! Immer Zeit, mehr Zeit! Haben wir nicht schon genug Zeit gehabt? Ich hatte angenom men, daß Ihr froh sein würdet, heilfroh, daß Euer Kampf bald vorbei sein wird! Ich würde gern den Platz mit Euch tauschen und bald zu Staub und Schmutz zerfallen sein! BETRACHTER: Herzloser, grausamer Mann! Wie könnt Ihr von Staub und Schmutz sprechen? Oh, ich spucke auf Eure männliche Arroganz! Ihr habt etwas an Euch, das ich genauso verachte wie ... wie den König der Schwerter. GESICHT (lacht): Also wirklich, ich bin kein König der Schwerter! BETRACHTER: Nein, denn er war verdammt, eine Lady zu besitzen!
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Sie redeten noch lange in diesem Stil weiter, aber Jeli verstand kaum etwas davon. Nur eines wußte sie genau: daß diese Hochzeit, von der sie geredet hatten, ihre Hochzeit war und daß es von äußerster Bedeutung schien. Beunruhigt und fasziniert kroch Jeli wieder ins Bett. Eine warme, schnurrende Gestalt schmiegte sich an sie. »Ach, Ring«, flüsterte Jeli und streckte die Hand aus, um ihn zu streicheln. Doch da bemerkte sie etwas Außergewöhnliches. Jeli hatte die Vorhänge nicht wieder zugezogen, die sie zuvor aufge macht hatte, um das Mondlicht hereinzulassen. Und in dem kalten, fahlen Licht sah sie die Veränderung, die mit Ring vorgegangen war. »Ring?« wiederholte sie flüsternd. Sie war sicher, daß es sich um Ring handelte; doch genauso fel senfest war sie davon überzeugt, daß sein einstmals schwarzes Fell jetzt schneeweiß war. Am nächsten Morgen wachte Jem in einer Kutsche auf, die durch die verschneite Landschaft rumpelte. Er war allein. Er öffnete den dicken Mantel und betrachtete neugierig die Kleidung, die er trug. Das war kaum der Putz, an den er sich gewöhnt hatte, sondern eher die Garderobe des Sohns eines Ladenbesitzers. Die Kutsche war ebenfalls ziemlich bescheiden und hatte ungepolsterte Bänke und Wände. Auf der gegenüberliegenden Bank lag ein Brief, der mit grünem Wachs versiegelt war. Jem nahm ihn vorsichtig in die Hand. Er war an ihn adressiert. Furcht durchzuckte ihn, als er das Siegel brach und den Brief öffnete. Jemany, die Zeit Deines Leidens ist gekommen, vielleicht zu früh. Doch die Bestimmung liegt vor uns, und wir dürfen nicht länger zau dern. Wenn Du das liest, befindest Du Dich auf dem Weg nach Zenzau. Am ersten Halt der Postkutsche jenseits der Grenze wird
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Dich der Kutscher absetzen. Dann mußt Du Deinen Weg in die zenzanische Hauptstadt allein finden. Es steht geschrieben, daß Du dort den zweiten Kristall finden wirst, aber damit das geschehen kann, mußt Du eine Botschaft mit Dir tragen. Diese Botschaft lautet: DIE ZEIT IST GEKOMMEN. Wem Du diese Botschaft übermitteln sollst, kann ich Dir nicht sagen; sondern nur, daß es ein Zeichen gibt, wenn die Zeit tatsächlich ge kommen ist. Mehr kann ich vorläufig nicht für Dich tun. Es ist lebenswichtig, daß Du diese Mission erfolgreich hinter Dich bringst, aber es ist genauso wichtig, daß Du sie ohne meine Hilfe erledigst. Die gestrigen Ereignisse haben zur Folge, daß Du Agondon verlassen mußt, bevor Du wirklich für die Aufgabe reif bist, die vor Dir liegt. Dennoch bin ich davon überzeugt, daß Du durch Erfah rung wettmachen wirst, was Dir an Ausbildung mangelt, fällst Du diese Etappe überstehst. Der böse Zauberer ist nun wiedergeboren, und wir haben noch Zeit, wenn auch nur wenig, bis seine Kräfte wieder zur alten Stärke gewachsen sind. Bete darum, daß wir in dieser Zeit den zweiten Kristall finden. Du wirst mich nicht mehr sehen, bis der zweite Kristall in Deinem Besitz ist. Wisse jedoch, daß ich auf Dich achtgebe, und wenn die Zeit reif ist, werde ich auch wieder vor Dir erscheinen. Du mißtraust mir, aber mit der Zeit wird dein Mißtrauen verschwinden. Denk nicht schlecht von mir, bis Du herausfindest, wer ich bin und warum ich mich so verhalten habe, wie ich es tat. Und vergiß nicht: DIE ZEIT IST GEKOMMEN. Dein Beschützer, E. Später sollte Jem diesen Brief noch oft lesen. Während seines Aufenthalts in Zenzau sollte er ihn immer bei sich haben. Wenn er ihn aus seiner Tasche zog, glättete er das Papier und las es aufmerksam, als rätselte er über eine Bedeutung, die er nicht ganz verstanden hatte. Vielleicht war es der Teil mit DIE ZEIT IST GEKOMMEN.
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Vielleicht aber auch der Satz: wer ich bin und warum ich mich so verhalten habe, wie ich es tat. Am ersten Tag jedoch ließ Jem das Blatt Papier einfach nur fallen und blickte hinaus in die eintönige Landschaft, die an dem Kut schenfenster vorüberglitt. Sein Leben in Agondon kam ihm bereits unwirklich vor. Er versuchte an Pell zu denken, an Mr. Burgrove, den »Würger« und an Jeli, aber alle verblaßten und vermischten sich mit dem Schrecken, den er tief unten im Tempel gesehen hatte. Traurig erinnerte sich Jem daran, daß Pell tot war, doch dann kam es ihm vor, als wären sie alle tot, alle Menschen, die er in Agondon gekannt hatte. Bis auf seinen Vormund. Aber wer war sein Beschützer? Und wo war Rajal? Plötzlich fühlte sich Jem schrecklich allein. Die Kutsche hatte an einer schlichten Herberge angehalten, die isoliert in der weißen Landschaft lag. In der Tasche seines Mantels fand Jem einige Münzen. Er bezahlte den Kutscher, der nicht von seinem Bock abstieg. Der sah zum Himmel hinauf, und Jem folgte seinem Blick. Es war später Nachmittag, und es würde bald wieder schneien. Doch der Kutscher fuhr weiter. Zögernd ging Jem zu der Herberge. Ihm fiel ein, daß er eine Grenze überschritten hatte. Er befand sich in einem anderen Land. Wie merkwürdig es ihm vor kam! Jem betrat die kleine Halle, die bis auf einen Burschen in der Tracht eines Dieners verlassen war. Der Mann wärmte sich an einem lodernden Feuer. Er kehrte Jem den Rücken zu, und zunächst drehte er sich nicht um. Jem betrachtete das Feuer, das rot glühte, und sah dann durch das Fenster auf die kahlen, weißen Felder. An seiner Brust fühlte er den Kristall des Koros, dessen scharfe Kanten sich in seine Haut gruben. Jem hüstelte. Doch der Mann am Feuer war kein Wirtshausbe diensteter. »Ich bin Euer Page. Ich warte auf meinen Mann.« Und plötzlich, obwohl er sich später dafür schämen sollte, warf sich Jem in Rajals Arme und schluchzte hemmungslos.
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Mein teuerster Herzenssohn, nur mit Trauer und schwer ums Herz (oh, wie schwer!) schafft es Eure liebste Herzensmutter, den Stift zur Hand zu nehmen. Kaum auszudenken! In der Schlichtheit meiner femininen Natur hatte ich gehofft, nur von Jux und Tollereien, von unschuldigen Freuden von Heim und Herd schreiben zu können, so daß mein edler POLTISS, der mutig dieses unser Königreich verteidigt, dessen Qualen kein unbedarftes Weib auch nur annähernd ermessen kann, vielleicht lächeln möge und liebevoll an diese weiblichen Seelen denkt, die ohne die Versteifung Eurer Männlichkeit wie Wein verdorren wür den, der nicht an einen Stock gebunden ist. Aber leider, ach, leider (teurer POLTISS, seid stark!) ist es meine traurige und melancholische Pflicht, Euch davon zu unterrichten, daß ein großes, edles Herz, ein Herz, das einst in einer so großen Sache wie der Rettung unseres Königreiches so dröhnend wie Trommeln geschlagen hat (und doch ein Herz, das auch bei den kleinsten häuslichen Zuwen dungen liebevoll pochte), nunmehr schweigt! Denn ja (teurer, teu rer POLTISS), das Weib, deren Stift diese Worte niederschreibt, ist ein Weib ohne GATTEN, und der Sohn, der diese Zeilen mit (wie sollte es auch anders sein?) tränenumflorten Augen liest, muß die langen Jahre, die noch vor ihm liegen, ohne einen liebenden VATER überstehen. Ach, mein SOHN! - denn ja, so muß ich Euch nunmehr nennen, denn liebe ich Euch nicht so, als (ach, wenn es doch so gewesen wäre!) hättet Ihr bei Eurer Ankunft diese meine zarten Lenden gedehnt? Wie sollen wir uns nun gegenseitig stützen? Wie sollten wir nicht unter diesem schweren Kummer schwanken? Und doch, ob
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wohl meine weiblichen Gefühle überreichlich aus mir herausströmen, bin ich ganz ohne Furcht, wenn ich an Euch denke, denn Ihr seid ein Mann, der zu seiner vollen Größe erwachsen ist, und ich weiß, daß der Glaube, den wir teilen, Euch stützen wird. In der Liebe des Herrn Agonis Für immer und gewißlich Bin und bleibe ich Eure Mutter UMBECCA Postskriptum: Mein teurer Sohn, auch wenn es bloß Spreu sein kann, die vom Sturmwind unserer Trauer verweht wird, so gibt es doch einen Trost, über den ich Euch informieren will. Es handelt sich um folgendes: In den Tagen, unmittelbar bevor unser geliebter Vater und Gatte von uns genommen wurde, hat es Seine Kaiserliche Agonistische Majestät durch seinen Untersekretär Lord Margrave letztendlich für angemessen erachtet, dem besten aller Männer die Beloh nung zuzusprechen, die ihm längst zustand. Natürlich können bloße weltliche Titel wenig (was sage ich: nichts!) für solch treue und demütige Agonisten wie uns bedeuten; dennoch, mein Sohn, liegt vielleicht eine kleine Freude für Euch (wie auch für mich!) darin zu wissen, daß der edelste der Helden Ejlands die Tore zum Reich des Unergründlichen mit dem Titel durchschritten hat, der (so hatten einige, die weltlicher sind als ich, gehofft) ihn eigentlich schon in seinem langen und tugendhaften Leben hätte schmücken sollen: LORD VEELDROP (nichts weniger als ein Vicomte!) IDSKAM Im Dienst Seiner Kaiserlichen Agonistischen Majestät Von: Seiner Exzellenz, dem Ehrenwerten OLIVAN THARLEY VEELDROP Oberkommandierender und Gouverneur der 9. Pro
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vinz (»Die Täler des Tarn«) Seiner Kaiserlichen Agonistischen Majestät EJARD VOM BLAUEN TUCH, Königreich von Ejland. An: POLTISS VEELDROP, Hauptmann im 5ten Füselierregiment »Tarn« (Mission Zenzau); Wie am heutigen Tag, dem 1. Schw (Arch) Ichios, SZ 999d, diktiert an Herrn Ebenezer Sulgwyn Wurmwud, kaiserlich zugelassener Notar. Geehrter und geliebter Sohn: In dem Schmerz meiner, davon bin ich überzeugt, letzten Tage in diesem Reich des Seins diktiert Euer Vater diese Worte an Euch: & da Ihr, mein Sohn, jetzt diese Worte lest, wißt Ihr, daß meine Äng ste keineswegs unberechtigt waren & Euer liebender Vater endlich dahingegangen ist; ob ins Unergründliche oder in das Reich des Nichtseins, kann nur der barmherzige HERR AGONIS sagen, der Gott unseres Volkes. Dennoch, mein Sohn, erkläre ich folgendes, während ich mein Ende erwarte: Selbst wenn ich zu Sassoroch & seinen Kreaturen verdammt würde, ins Reich des Nichtseins also, könnte ich dieses harte Urteil nicht in Frage stellen: Dennoch hoffe ich, daß die Reue, die jetzt mein Herz durchströmt, den HERRN AGONIS dazu bringt, mir ein gewisses Maß an Gnade zuteil wer den zu lassen, ganz gleich, wie unverdient es sein möge. Denn ja, mein Sohn, in diesen meinen letzten Tagen habe ich schließlich die Irrungen meines vergangenen Lebens eingesehen: Dieses Herz hat sich erweichen lassen, & ich betrachte jetzt mit Abscheu & Scham meine Verderbtheit: FÜNF BARMHERZIGKEITEN haben zu meiner Bekehrung geführt: EINE ist die Tugend & Güte, mit der ich auf den Seiten des Buches des größten Genies kommuniziert habe, das dieses Königreich jemals hervorgebracht hat: & doch ist es pa radox, daß sie unser stolzes Geschlecht in Unterröcken gedemütigt hat: die unvergleichliche »Miss R...«; EINE andere ist die religiöse Erziehung, die ich wie Muttermilch in diesem Endstadium meines beschränkten & kranken Zustands von meinem vertrauenswürdi gen KAPLAN eingesogen habe; EINE weitere die Liebe, die mich
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endlich in diesem Zwielicht meines Lebens zu einer ehrenhaften Ehe mit Eurer Herzensmutter UMBECCA führte: Immerhin gab es eine Zeit, in der sie eine gute Frau für mich zu sein schien. Und nun wundert es Euch sicher nicht, mein Kind, welche die beiden letzten Barmherzigkeiten sind: EINE die Entdeckung meines lange verschollen geglaubten Sohnes, EINE die gesegnete Herzenstoch ter, die zu mir in Gestalt der wunderschönen CATAYANE kam: Dies sind die Dinge, die mich verändert haben; & glaubt mir, mein Sohn, daß die beiden, die ich zuletzt aufgeführt habe, die beiden ausschlaggebenden sind; & wißt, daß in meinem bekehrten Zustand mein väterlicher Ernst für Eure moralische und geistige Lehenstreue wie die glühendste Kohle in meiner sterbenden Brust brennt: Denn mein Sohn, ich bin noch nicht so blind, daß ich unsensibel für den verruchten Drang wäre, der Euch in Eurer hitzigen Jugend be herrscht: Und genausowenig könnt Ihr mich täuschen, wie Ihr vielleicht andere mit der Heuchelei täuschen könnt, die Ihr als Bescheidenheit ausgebt: Denn habe ich Euch nicht, wie durch eine Ansteckung, das vergiftete Blut eines VEELDROP weitergereicht? & fließt nicht in Euren Adern ein noch viel schlimmeres Gift? Eigent lich, mein Sohn, hatte ich niemals vorgehabt, Euch diese Schande zu gestehen, die zu enthüllen jetzt als gläubiger Anhänger des HERRN AGONIS meine Pflicht ist: Ihr wurdet in der schwärzesten Sünde geboren. Denn Eure Mutter war nichts anderes als eine schändliche Hure, die Euer sündiger Vater in sein Bett holte. Sie wurde mir während der Belagerung von Irion von dem verfluchten Wirt des TRÄGEN TIGERS zugeführt. Dieser Mann war so tief in seiner Verworfenheit versunken, daß er seine eigene Frau als Prostituierte arbeiten ließ: Mein Sohn, Ihr seid die Frucht dieser sündigen Vereinigung. O betet darum, daß Ihr eines Tages Eurem irrigen Vater ver geben könnt. Aber mein Sohn, dies weiß ich: daß ich nun, wo ich kurz vor meinem Tode meine Angelegenheiten ordne, als Euer Vater alles unternehmen muß, was in meiner Macht steht, um Euch wieder auf den rechten Weg zurückzuführen. Aus diesem Grund habe
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ich beschlossen, meinen letzten Willen aufzuschreiben & mein Testament wie folgt festzulegen: Nur TUGENDHAFTE LIEBE mag die Wildheit zähmen, in die ein so sündhaft geborener junger Mann versinken kann. Aus diesem Grund verfüge ich, daß ich bis auf einen Unterhalt für meine Frau und meine Dienstboten meinem Sohn POLTISS VEELDROP alle meine weltlichen Güter, Titel & cetera hinterlasse, vorausgesetzt, er ERFÜLLT DIE BEDINGUNG, MEIN MÜNDEL MISS CATAYANE WOLVERON ZU EHE LICHEN & mit ihr sofort danach die Ehe zu vollziehen & cetera, was von meinen Testamentsvollstreckern überprüft werden soll. Ich weiß, mein Sohn, daß Ihr wild seid & herumstreunt, aber vertraut auch darauf, daß nach einiger Zeit der süße Einfluß dieser tugend haften Maid Euren Mannesstolz besänftigen wird, wie er auch den Eures liebenden Vaters besänftigte, der sich jetzt in liebevoller, wenn auch nicht ganz furchtloser Hoffnung von Euch verabschiedet, auf daß er Euch eines Tages wieder im Reich des Unergründlichen be grüßen darf. Mit männlichen Tränen und der tiefsten Liebe zu Euch, mein Sohn, verabschiedet sich von Euch: VATER
»Enger!« »Oh, Miss, dies Unterfangen widerstrebt mir wirklich!« »Was widerstrebt dir?« »Die junge Herrin zu schnüren! Enger und enger, sagt Ihr immer, aber ein paar Schwellungen kann man nicht verbergen. Miss, ich sage Euch, daß Ihr Euch damit schadet!« »Es muß gemacht werden, Nirry - ich habe gemerkt, wie sie sich gelockert haben.« 121
»Also wirklich, Miss Cata! Mich würdet Ihr jedenfalls nicht dazu bringen, alles zu quetschen und zu drücken, was der Herr Agonis mir geschenkt hat. Das mag nicht viel sein, ich weiß, aber ich würde nur ungern meinem Zappelphilipp über den Weg laufen und riskie ren, daß er mich nicht erkennt. Kommt, Miss Cata, wir sind weit von Irion entfernt. Warum gebt Ihr diesen Soldatenquatsch nicht auf und verwandelt Euch wieder in eine gute und ordentliche Dame?« Es war früh am Morgen irgendwo in den zenzanischen Wäldern. Die beiden Frauen waren noch vor dem ersten Klang des Signalhorns aufgestanden und hatten sich vom Lager weggeschlichen, um sich heimlich zu treffen. Die Blätter um sie herum waren grün und leuch teten frisch in dem hellen Morgenlicht der aufblühenden Jahreszeit. Cata glättete die Riemen um ihre Brüste und zog sich das Hemd über den Kopf. »Aber wie soll ich jemals wieder eine Lady werden, Nirry?« »Zieht für den Anfang diese Hose aus, Miss Cata!« Cata lachte. »Sei nicht albern, Nirry! Eine Lady macht mehr aus als nur Unterröcke, das weißt du genau. Was ist eine Lady ohne ihre Seide und Spitze? Ihr schönes Haus? Ihre vornehmen Freunde, die sie abschirmen und beschützen? Nein, Nirry, ich kann keine Lady mehr sein!« »Aber Miss Cata! Was wird der junge Herr Jem denken, wenn er Euch so sieht? Wenn es wahr ist, was Ihr sagt, und er doch noch am Leben ist...« »Oh, und ob er lebt, Nirry ... Und ich mache das alles nur für ihn.« Nirry seufzte. »Ihr seid zu tiefgründig für mich, Miss. Ich weiß nur eins, daß Ihr eine entzückende Lady gewesen seid.« Die Gefühlsaufwallung drohte ihre Stimme zu ersticken. »Ihr wart die be ste Lady, der ich jemals gedient habe, das wart Ihr!« »Die beste, Nirry?« Cata lächelte. »Ich dachte, ich hätte dich mit meiner Wildheit um den Verstand gebracht!«
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»Es stimmt, daß Lady Ela kaum eine Handvoll Mensch war. Aber es würde mir nicht gefallen, wenn Ihr wie sie wärt. Man kann auch zu ruhig sein, Miss Cata, und Euch konnte man nie lange ruhig hal ten. Ich will damit nicht sagen, daß Ihr mir keine Sorgen macht, denn Ihr macht mir welche.« Liebevoll betrachtete sie ihre junge Herrin. Cata hatte ihren blauen Uniformrock wieder angezogen und den Dreispitz aufge setzt. Es war wirklich unheimlich! Selbst Nirry traute ihren Augen nicht und hätte sich täuschen lassen. Zögernd gingen sie ins Lager zurück. Schon bald würde der Weckruf ertönen, und sehr bald würde Cata - oder vielmehr Rekrut Wolveron - die Ausrüstung für den nächsten Tagesmarsch zusammenpacken. Nirry, die Köchin, würde über ihren Kasserollen und Kesseln schwitzen und Eintopf für fünfhundert Männer anrühren. Sie hoffte nur, daß diese verflixten Mädchen heute morgen das Feuer in Gang gebracht hatten. Und die Kartoffeln geschält hatten. Manchmal hätte Nirry Miss Cata gern einen Floh ins Ohr ge setzt. Und dies war genau solch ein Moment. Na gut, hätte sie gesagt, Ihr könnt keine Lady sein. Aber könntet Ihr nicht wenigstens zu Eurem eigenen Geschlecht gehören? Ihr brauchtet nicht zu hun gern. Es gibt sicher einen Job in der Küche, keine Frage, Hauptsache, Ihr tragt wieder Frauenkleider. Und Ihr könnt Eintopf und Klöße essen und müßt nicht diesen ganzen Unsinn mit den Gewehren und dem Kämpfen auf Euch nehmen. Der Plan war vernünftig, natürlich war er das, aber irgendwie brachte Nirry es nicht fertig, ihn ihrer Herrin vorzutragen. Es kam ihr respektlos vor ... Eine Lady wie Miss Cata sollte Pfannen schrubben und Lammfleisch in kleine Stücke schneiden? Außer dem würde Miss Cata kaum einwilligen, dachte Nirry finster. Ach, sie war wirklich ein eigensinniges Ding, das war sie! »Arme Nirry! Ich mache dir das Leben schwer, stimmt's?« Nirry seufzte. »Wie meine alte Mutter immer sagte, Miss Cata, es steht mir nicht zu, an meiner Herrin herumzukritteln. Aber ich
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denke, daß es zumindest einen Vorteil gibt, zu unserem Geschlecht zu gehören, Miss. Da müssen wir uns wenigstens nicht mit dieser ganzen Kämpferei abgeben. Das ist ein Haufen Unsinn - und laut und schmutzig und obendrein auch noch gefährlich. Ihr könntet mit mir hinter den Linien bleiben. Und was tut ihr? Zieht Euch an wie ein Kerl und macht auch noch bei denen mit. Es ist nicht natür lich, Miss. Es ist einfach nicht natürlich.« »Du hast wohl recht!« Cata lachte. Doch dann runzelte sie die Stirn. »Aber heutzutage sind eine ganze Menge Dinge nicht natür lich, Nirry« »Das müßt Ihr mir gerade sagen!« Nirry senkte die Stimme. »In der Burg damals waren wir Rotröcke, durch und durch. Kaum auszudenken, was daraus geworden ist! Der arme Vater fährt jetzt Kut schen der Blauröcke. Und mein eigener Verlobter trägt Blau ... und jetzt auch noch meine junge Herrin! Wie könnt Ihr nur für sie kämpfen, Miss Cata? Wie könnt Ihr?« Cata lächelte. »Nirry, wie kannst du nur für sie kochen?« »Das ist meine Arbeit, Miss Cata, und ich habe keine andere. Hab ich nicht all die Jahre für die Herrin gekocht? Und ich hätte mich diebisch gefreut, wenn ich sie damit erstickt hätte, das könnt Ihr mir glauben. Wenn da nicht die Lady gewesen wäre ... und der junge Herr Jem ...« Nirry schüttelte sich. »Oh, ich gehe nie wieder zu der alten Kuh zurück, nie wieder!« Aber Cata hörte ihr kaum noch zu. Eine merkwürdige Kälte kroch ihr durch die Knochen. Während des langen Marsches hatte sie das gefühlt, wie die alte Macht in ihr immer stärker wurde. In den Vögeln, die am Himmel über ihnen flatterten, in den Füchsen und Eichhörnchen, die vor ihnen über den Weg huschten, selbst in den Pferden, die ihre Karren zogen, spürte Cata eine merkwürdige Aufregung. Jetzt konnte sie sie auch um sich herum spüren. Etwas war mit ihrer Welt nicht in Ordnung, das wußte sie. Irgend etwas stimmte überhaupt nicht. Die Trompete schrillte durch die kalte Morgenluft.
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»Gepökeltes!« »Euer Ehrwürden?« »Schweinefleisch!« schrie der Geistliche. »Habe ich gepökeltes Schweinefleisch bestellt, Bursche? Ich will Rindfleisch, frisches Rindfleisch.« »Das ist Rindfleisch, Euer Ehrwürden.« »Was?« Der Geistliche schlug mit der Faust auf den Tisch. »Du nennst das Rindfleisch, wo es doch offensichtlich das verrottete Fleisch eines Schweins ist, das man in Salzwasser eingelegt hat? Was soll diese Narretei? Haben Wörter hier im Königreich von Zenzau keine Bedeutung mehr?« »Die Wörter haben hier genausoviel Bedeutung wie überall sonst auch, Herr. Das hier ist Rindersoße auf Eurem Fleisch, aus Rinderknochen gewonnen. Wollt Ihr Hammel, gebe ich Euch Hammelsoße aus Hammelknochen. Wild und Rebhuhn haben wir auch, wenn der Preis stimmt.« Doch der Geistliche wollte sich nicht täuschen lassen. »Ihr serviert also nichts anderes als Pökelfleisch mit einer Soße nach Wahl?« »Ja!« Der Küchenjunge wirkte überrascht, daß jemand Einwände gegen etwas haben konnte, das für ihn eine Ehrensache war. »Nicht in jeder Taverne bekommt Ihr Rindersoße oder Hammelsoße auf Eurem Pökelfleisch. Einige haben überhaupt keine Soße, und bei einigen ist es nur Schweinefett. Unser Ziel ist es, unseren Gästen ein gutes Essen zu servieren. Und wir servieren es auch mit Zwiebeln und Kartoffeln!« »Zwiebeln und Kartoffeln?« Der Geistliche verdrehte die Augen und sprang fast hoch, als der Küchenjunge schließlich den Krug mit Bier auf den Tisch knallte, den er während des Wortwechsels in der Hand gehalten hatte. Frischer Schaum lief über die fleckige Oberfläche. »Unser Freund scheint sich dagegen zu sträuben, sich mit den Sitten des Landes abzufinden«, murmelte ein Gentleman am Ne125
bentisch. »Aber was können wir auch von einem Zenzau-Geistlichen erwarten, hm?« Er zwinkerte hinter seiner Drahtbrille dem Gefährten zu, der ihm am nächsten saß. Es war ein junger Bursche, der erst in Evion in die Kutsche gestiegen war. Er war genötigt ge wesen, mit seinem Vaga-Diener auf dem hinteren Kutschbock zu sitzen, und hatte deshalb erst wenige Worte mit den anderen Rei senden gewechselt. Er wirkte eher scheu als selbstbewußt. Der Gentleman fuhr fort: »Ich bin erst kurz vor Euch zu dieser Reise gesellschaft gestoßen. Aber vermutlich hat sich unser Freund hier den ganzen Weg von Agondon beschwert. Gleich wird er das wäßrige Bier kosten, merkt Euch meine Worte, und erneut bei dem Küchenjungen protestieren. Bin ich ein Kind, daß man mir Schwachbier vorsetzt?« Und es geschah genau so, wie der Gentleman vorhergesagt hatte. Der junge Bursche hatte bisher seinen Blick niedergeschlagen und sah jetzt seinen Gefährten interessiert an. Hinter der Brille be merkte er die Augen eines Gelehrten. Ihr Blick war sorgenvoll, aber dennoch freundlich. Der Gentleman seinerseits sah sich einem Jungen gegenüber, der keineswegs so nichtssagend war, wie er nach er stem Augenschein gewirkt hatte. Beide waren eindeutig adligen Geblüts, wenn sie auch vielleicht in etwas beschränkten Verhältnis sen lebten. »Eure Einschätzung war richtig, Herr«, meinte der Junge. »Das ist wohl kaum eine Einschätzung«, erwiderte der Gentle man lächelnd. »Eher eine Erfahrung. Seht Ihr dieses aufgedunsene Gesicht, die hervorquellenden Augen? Dieses Aufbrausen bei der kleinsten Irritation? Unser Freund scheint sich zweifellos für eine Person von besonderer Bedeutung zu halten. Er hat eine glitzernde Uhrkette vor dem Bauch und stützt sich beim Gehen auf den höchst unpassenden Spazierstock eines Dandys, der mit einem ver silberten Löwenkopf verziert ist. Das ist bedauerlicherweise nur zu typisch für Zenzau-Geistliche. Sie sind übergewichtig und faul, Prahler und Narren.«
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»Mein Herr, schämt Ihr Euch nicht?« zischte ihm eine alte Lady zu, die mit ihrer Gefährtin neben ihm saß. Letztere war ein sauer töpfisches Geschöpf mit bloß noch einem Auge. »Eine solche Re spektlosigkeit einem Mann vom Tuche gegenüber!« »Werte Dame, bitte verzeiht mir. Aber ich spreche nur aus, was allgemein bekannt ist. Glaubt Ihr denn, daß wir einen solchen Bur schen in den Kolonien fänden, wenn er sich ein schönes Lektorat in Agondon hätte unter den Nagel reißen können? Er ist hierhergeschickt worden, um die wahre Religion zu predigen, und dürfte leider nur wenig Mitgefühl mit seinen Schäfchen haben. Selbst jetzt schüttelt er den Kopf und murmelt: Diese Zenzaner, diese Zenzaner. Weiß er denn nicht, daß diesen Menschen nur Schweinefleisch erlaubt ist und Schwachbier das einzige zugelassene Getränk? Alles andere haben die vornehmen Herren ihnen weggenommen!« Er hob seine Stimme: »Fürchtet Euch nicht, Geistlicher. Wenn Ihr Euch erst in Eurem gemütlichen Lektorat eingerichtet habt, bekommt Ihr gutes Fleisch und Wein in Hülle und Fülle. Dann könnt Ihr vielleicht zufrieden darüber nachsinnen, daß diese Dinge Euren zenzanischen Vettern verboten sind.« »Zenzanische Vettern?« Der Geistliche vertilgte das Schweinefleisch mit mehr Genuß, als man hätte erwarten dürfen. Er schluckte und musterte mißtrauisch den Zwischenrufer. »Ihr redet doch hoffentlich nicht über Politik.« »Aber Ehrwürden, ich habe nur Eure üppige Zukunft ausgemalt. Ihr tretet doch eine Stelle an, stimmt's? Laßt mich raten: in irgendeinem uralten Tempel, in dem das Bildnis der Viana vom Altar ent fernt und der goldene Efeu von den Pfeilern gerissen wurde. Statt dessen wurden sie mit den Insignien des einen wahren Glaubens ausgestattet. Ich kann mir vorstellen«, fügte er rasch hinzu, »wie großartig das aussieht.« »Mein Auftrag«, erwiderte der Geistliche, »führt mich in eine Stadt namens Derkold-Vend.« »Derkold-Vend?« Der gelehrt wirkende Gentleman neigte den
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Kopf. »Mein lieber Herr, falls ich mich einer Impertinenz schuldig gemacht haben sollte, dann bitte ich demütig um Verzeihung. Ich hatte ja keine Ahnung, daß ich mit einem Gentleman von solcher Bedeutung reise.« Ahnungslos blähte sich der Geistliche auf und merkte geschwollen an, daß es in der heutigen Zeit an angemessenem Respekt Auszeichnungen gegenüber oft mangeln würde. »Genau dasselbe denke ich auch«, erwiderte der Gelehrte. Aber dem Jüngling flüsterte er zu: »Was für eine Schande für den Orden von Agonis muß jemand sein, der in die tiefste Provinz von AnaZenzau verbannt worden ist, was meint Ihr?« Die alte Dame hörte es und spitzte die Lippen, doch ihre Mißbilligung steigerte sich zu schierer Beunruhigung, als der Gelehrte weiterredete. »Ehrwürden, Ihr habt einen langen Weg vor Euch. Wrax wird nur eine weitere Station auf Eurem Weg sein. Ihr solltet dennoch unbedingt den schönen Tempel hier besuchen, der Euch si cherlich Kraft für die Aufgabe geben wird, die vor Euch liegt. Dort, wo Ihr hingeht, werdet Ihr einen solchen Tempel nicht finden. Ich habe sogar gehört, daß die Ana-Zenzaner - aber ich bin sicher, daß Ihr diese Angelegenheiten genauestens studiert habt - noch die Göttin Viana unter den Bäumen anbeten!« »Barbarisch!« giftete die alte Dame. »Ehrwürden, Ihr müßt das auf der Stelle verbieten!« Ihre Gefährtin zwinkerte zustimmend mit ihrem verbliebenen Auge; doch ihre Herrin warf ihr einen warnenden Blick zu, als wollte sie ihr das Wort verbieten, was gar nicht nötig war. Der Gelehrte sagte: »Zu verbieten ist eine Sache, einer Sache Achtung zu schenken eine andere. Ich habe meine Korrespondenz im Osten. Wißt Ihr, daß es Leute gibt, die sagen, daß Derkold-Vend der Musterplatz für die Rebellen sei - Ihr wißt doch, Ehrwürden, daß eine Rebellion bevorsteht?« »Natürlich weiß ich das, Herr! Aber das ist weit, weit im Osten! Was kann uns das interessieren, die wir im Westen sind?«
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»Wir sind zwar im Westen, reisen aber nach Osten. Die im Osten reisen vielleicht nach Westen, hab ich recht? Vor allem, wenn sie vorhaben, Wrax einzunehmen.« Der Geistliche verschluckte sich. »Wrax einnehmen? Absurd!« »W... Wrax?« Die Gefährtin der alten Dame sprach zum ersten Mal, und ihr Auge weitete sich vor Angst. »Shh, Baines!« befahl ihre Herrin, und das Auge wurde feucht. Wie Ehrwürden fühlten sich auch die beiden Damen höchst un wohl und erhoben sich zügig und mit sichtlicher Erleichterung von der Tafel, als der Kutscher in diesem Augenblick hereinkam und seine Passagiere bat, wieder ihre Plätze einzunehmen. Die Straße führte durch die Hügel von Wrax und war berüchtigt für ihre engen Kurven. Sie mußten Wrax noch vor Einbruch der Dunkelheit errei chen und hatten einen langen Weg vor sich. Der Jüngling hatte die ganze Zeit geschwiegen und blickte jetzt nachdenklich den gelehrt wirkenden Gentleman an. Der hob eine Braue. »Ich scheine unsere Freunde aufgeregt zu haben«, bemerkte er trocken. »Ihr dagegen, junger Herr, habt offensichtlich ein anderes Temperament, das spüre ich ganz genau.« Der Junge folgte ihm nachdenklich auf den schäbigen Hof der Taverne, wo sich der Schutt häufte, der Kalk von den Wänden blät terte und Abflußrohre offen über den Boden verliefen. In der Jahreszeit des Theron mußte es hier entsetzlich stinken. »Stimmt es, was Ihr sagt«, fragte er vorsichtig, »daß Wrax eingenommen wird?« Der Gelehrte lachte. »Woher sollte ich das wohl wissen, junger Herr? Es war nur eine übermütige Spekulation, um die Selbstzufriedenheit unseres ehrwürdigen Freundes ein wenig ins Wanken zu bringen! Trotzdem, was für einen stolzeren Traum kann ein Zenza ner haben, als diese uralte Reichsstadt zurückzuerobern?« Er hielt inne, und seine Brille glitzerte. »Der Herr Agonis möge verbieten, daß ein solches Unheil geschehe!« »Oh, sicher, der Herr Agonis möge uns davor behüten!« Der Gelehrte stellte seinen Fuß auf den Kutschtritt. »Eldric Hui-
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verside ist mein Name. Ein armer Gelehrter, der unterwegs zur Bibliothek von Wrax ist.« Er streckte die Hand aus. »Ich habe das Ge fühl, junger Herr, daß Ihr ein Freund seid.« »Jem. Jemany.« Ein Schatten huschte über das Gesicht des Gelehrten. »Ich kannte einmal jemanden, der ... der von einem Jungen namens Jemany gesprochen hat.« Er lächelte. »Aber ich vermute, daß dieser Name dort, wo Ihr herkommt, recht geläufig ist?« »Oh, es gibt Hunderte von Jems.« »Kommt, meine Herren. Bis zum Einbruch der Dunkelheit müssen wir es bis Wrax schaffen! Wenn wir zu spät abfahren, gehen wir vielleicht ungeahnte Risiken ein!« Der Kutscher saß auf seinem Bock und ließ die Peitsche knallen. Sein Kutschgehilfe saß vor ihm und spuckte von Zeit zu Zeit abwesend aus. Jem sprang wieder auf den Rücksitz, wo ein finster wirkender Rajal bereits auf ihn war tete. »Vermutlich hast du ein reichliches Abendessen genossen, hm? Für die niederen Klassen gab es muffiges Brot und Käse, wenn ich das mal sagen darf, und als Gesellschaft diesen Jungen, der vor Phlegma nur so strotzte. Aber was soll's? Wir saßen draußen am Schweinetrog, was ja auch ziemlich passend ist.« »Da, wo wir waren, gab es auch genug Schweine, Raj.« Sie wollten gerade abfahren, als der Gelehrte seinen Kopf zum Fenster der Kutsche hinausstreckte. »Junger Herr, wir sind weniger geworden. Ihr müßt nicht bei Eurem Vaga auf dem Rücksitz hocken. Kommt...« Er lächelte und senkte die Stimme. »Ihr wollt mich doch nicht unserem geistlichen Freund ausliefern?« Mißbilligendes Schnüffeln begrüßte Jem, als er sich in den muffigen Innenraum der Kutsche quetschte.
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Das Weiße wich allmählich aus der Welt zurück, aber es war immer noch früh in der Jahreszeit der Viana. Die Sonne zog ihre Bahnen am Himmel schon tiefer, und eine kalte Brise wehte die trockenen Blätter raschelnd durcheinander. Die Kutsche rumpelte manchmal recht heftig durch tiefe Löcher in der Straße, die an beiden Seiten von dichtem Wald gesäumt wurde. »Kaum vorstellbar, daß diese Straße ein Hauptverkehrsweg ist!« sagte der glupschäugige Geistliche. »Ich denke, wir können diese Zenzaner ziemlich genau einschätzen.« Der Gelehrte antwortete: »Darf ich Euch in Erinnerung rufen, wie lange die Besetzung dieses Reiches bereits dauert?« »Besetzung? Was wollt Ihr damit andeuten, Herr?« »Nur daß die Kriegsführung der Ejländer zum Zustand dieser Straße beigetragen hat. Und die ejländische Politik zu ihrem jetzigen Verfall.« »Beim Herrn Agonis! Ich muß schon sagen: Ihr redet wie einer dieser Rebellen. Ist es denn nicht allgemein anerkannt, daß die Zenzaner in Barbarei leben würden, wenn sie nicht unter der segensreichen Herrschaft Seiner Kaiserlichen Agonistischen Majestät stünden?« »Aber selbstverständlich.« Der Geistliche schien beschwichtigt. Er griff in seine Hose, zog eine silberne Jarvel-Schnupfdose aus dem Gürtel und spielte offen bar einen Augenblick mit dem Gedanken, sie dem Gelehrten anzu bieten. Er runzelte die Stirn und schlug einen versöhnlicheren Ton an. »Herr, ich bin ein Neuankömmling in diesem Land. Ihr dagegen scheint es gut zu kennen, soviel ist klar. Ihr habt das doch nicht ernst gemeint, was Ihr über Derkold-Vend gesagt habt ... Daß die Rebellen sich dort sammeln?«
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Dieser Dialog wurde von einem ständigen Murmeln untermalt. Die Gesellschafterin der alten Dame las in dem dämmrigen Licht ausdruckslos mit ihrem einen Auge aus einem alten, zerfledderten Roman. Von Zeit zu Zeit hielt sie inne, wenn sie glaubte, daß ihre Herrin eingeschlafen war, aber sofort befahl ihr die Dame mit einem verärgerten Knurren weiterzulesen. Der Gelehrte wandte sich an Jem. »Junger Freund, ich nehme an, Eure Geschäfte führen Euch ins schöne Wrax? Ich frage mich, was das wohl für Geschäfte sein mögen. Nein, laßt mich raten: Ihr seid ein Agent der Rebellen und überbringt dem Widerstand eine ge heime Nachricht?« Jem sah ihn entsetzt an, woraufhin der Gelehrte herzhaft lachte. »Pah!« ließ sich der Geistliche vernehmen und zog ungeduldig seine Uhr heraus. Jem erhaschte einen Blick darauf: Sie war aus Gold, und in das Zifferblatt waren Juwelen eingearbeitet. »Ich will meinen Vater treffen!« erwiderte Jem abgelenkt. Er wußte nicht genau, warum er das gesagt hatte. Es war einfach das erstbeste, das ihm eingefallen war. Er konnte nur hoffen, daß der Gelehrte nicht weiter nachfragte. Glücklicherweise tat er das auch nicht, sondern lächelte nur wissend. Aber was konnte er schon wissen? Seit mehr als drei Mondleben waren Jem und Rajal zum Herzen von Zenzau unterwegs. Die Reise war sehr gefährlich gewesen. Erst jetzt, kurz vor ihrem Ziel, benutzten sie die öffentliche Kutsche und aßen in Gaststätten. Den größten Teil der Strecke hatten sie zu Fuß zurückgelegt. Oft waren ihre Gedanken den ganzen Tag nur darauf konzentriert gewesen, eine warme Unterkunft für die Nacht zu fin den. Sie hatten nur wenig Geld und waren oftmals in Versuchung geraten zu stehlen. Eine Zeitlang hatten sie auf einem Bauernhof gearbeitet, und manchmal hatte sich Rajal als Sänger in einer Ta verne verdingt. Überall war die Erbärmlichkeit von Zenzau sicht bar - ebenso wie die Tyrannei der Blauröcke. Mehr als einmal waren sie Regimentern der Blauröcke begegnet, die unaufhaltsam in Richtung Hauptstadt marschierten.
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Die beiden Freunde hatten sich schnell versteckt, um ja kein Ri siko einzugehen. Baines las weiter aus dem zerfledderten Buch. Als sie es einmal ein wenig sinken ließ, konnte Jem den Titel lesen. Die Magd einer Lady? Eine Lady! Der Himmel verfinsterte sich, und es nieselte. Die alte Dame wickelte ihre Reisedecke fester um sich. An ihren Fingern glitzerten silberne und goldene Ringe, und an ihrem Hals trug sie eine blitzende Smaragdbrosche. Während sie durchgeschüttelt wurde, hörte Jem das gedämpfte Klingeln der Münzen, die sie in Beuteln unter ihren Röcken versteckt hatte. Die Wirkung war hypnotisierend. Aber sie sollten bald alle ziemlich unsanft aufgeschreckt werden. An der Stelle, wo die Straße durch die Hügel von Wrax hinauf stieg, wurde sie allmählich schmaler. Sie kamen zu einer scharfen Kurve. Die Ladies schrien auf, als die Kutsche sich plötzlich zur Seite neigte. Zu plötzlich. Die Insassen wurden durcheinandergeschüttelt. Baines Gesicht lag einen Augenblick im Schoß des Ge lehrten. Die Pferde wieherten, und die Kutsche schwankte, als sie zitternd stehenblieb. Es wäre übertrieben, das Malheur einen Unfall zu nennen. Es war nur eine kleine Unterbrechung, eine Ungelegenheit, aber für den Geistlichen war selbst das zuviel. Beleidigt hämmerte er mit der silbernen Spitze seines Gehstocks an die Decke der Kutsche. »Kutscher!« »Aye, Kutscher«, sprang ihm der Gelehrte bei. »Wollt Ihr etwa das hinterwäldlerische Volk von Derkold-Vend des Lichtes und der Liebe unseres Herrn Agonis berauben?« Jem hätte gelacht, aber er war abgelenkt. »Raj!« rief er schuldbe wußt und beugte sich aus dem Fenster. »Raj, ist mit dir alles in Ordnung?« Niemand antwortete. Besorgt sprang Jem aus der Kutsche. Er fand seinen Freund in der Kurve am Rand der Straße. Rajal hockte 133
wie ein Bild des Jammers im Straßengraben und wirkte so verdutzt, daß Jem lachen mußte. »Wie schön, daß du deinen Spaß hast! Ich hätte ums Leben kom men können!« »Entschuldige, Raj!« Jem reichte ihm die Hand. »Komm, ich sage denen, daß du bei uns in der Kutsche sitzen mußt.« »Ein schmutziger Vaga in der Kutsche? Zwecklos!« Aber sie kamen nicht dazu herauszufinden, ob Rajal mit seiner pessimistischen Einschätzung recht hatte. Denn in diesem Augen blick hörten sie Zweige krachen, Hufschlag und ein lautes Wiehern. Stimmen schrien durcheinander, doch eine Stimme übertönte alle anderen. »Halt! Überfall!« »Schnell!« Jem packte Raj als Arm und zog ihn in den Schutz der Bäume zurück. Es regnete jetzt stärker, aber durch den Schirm der Blätter sahen die Freunde genau, was nun geschah. Vor der verun glückten Kutsche tänzelte ein prächtiger Rappe, auf dessen Rücken ein stattlicher Mann mit einem roten Wams saß, der eine funkelnde Pistole schwang. Er trug einen Dreispitz, und seine Augen lagen verborgen hinter einer dunklen Maske. Zwei Gefolgsleute ritten neben ihm. Sie waren ebenfalls bewaffnet und maskiert. »Raus auf die Straße!« befahl der erste. »Hände hoch!« kam der Befehl des zweiten. Zögernd reihten sich die Passagiere auf der schlammigen Straße auf. Ihr Gepäck war in der Kiste am Ende der Kutsche zusammengepreßt, auf das Dach gebunden oder unter der Kutsche befestigt. Während die Gefolgsleute schon Kisten und Truhen aufbrachen und alles Wertvolle in ihre Satteltaschen stopften, stieg ihr Anführer erst nach ein paar Augenblicken ab. Er paradierte gelassen vor der zitternden Gruppe auf und ab und nahm dabei beiläufig die Pistole von der einen Hand in die andere. »Sieh an, sieh an, was haben wir denn da?« Die Stimme klang präzise und gebildet. »Einen feinen Zenzau-Geistlichen, vollgefres-
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sen mit Pökelfleisch, möchte ich vermuten. Hoffentlich ist seine Börse genauso voll wie sein Bauch. Und da haben wir eine respek table Witwe, die vielleicht ihre Verwandtschaft in den Kolonien be sucht? Und Ihr, Herr, seid Ihr ein vertrockneter Pedant? Dachte ich mir. Aber hier, was haben wir denn da? Nach der Klugheit kommt die Schönheit.« Baines lächelte geziert. »Schnauze, Baines!« zischte die alte Dame. »Aber, aber, dann müssen wir uns wohl von der Schönheit losreißen und der ... Beute widmen. Kutscher, natürlich muß ich Euch um Euer Fahrgeld erleichtern.« Der Kutscher gehorchte. Er stand am Rand der kleinen Gruppe und verzog das Gesicht zu einem salbungsvollen Lächeln, als würde er nur zu gern den ganzen Besitz seiner Fahrgäste herausgeben. Der Straßenräuber inspizierte den Inhalt eines klingenden Beutels und warf ihn dann beiläufig seinem Gefolgsmann zu. »Dein Kutschge hilfe wird natürlich mit keinen zusätzlichen Kosten belegt, das muß ich wohl kaum extra hinzufügen.« Er zerzauste dem Jungen liebe voll das Haar. »Das Los eines Kutscherjungen ist schon schwer ge nug. Behandle ihn gut, Kutscher, behandle ihn gut!« Der Junge zog geräuschvoll die Nase hoch. »Danke, Bob Scar let!« »Dummer Junge!« polterte der Geistliche los. »Ist dir nicht klar, daß wir von einem üblen Verbrecher überfallen worden sind? Ei nem Verräter und Mörder?« Der Wegelagerer verzog den Mund unter der schwarzen Maske. »Zenzau-Geistlicher! Ja, mit Euch ist es eine andere Angelegenheit, stimmt's? Eine ganz andere Angelegenheit. Mal sehen, was jemand, der sich der Völlerei hingibt und sich der unnachgiebigen Ausnut zung dieses gottverlassenen Königreichs und der Lästerung seines wahren Glaubens verschrieben hat, zur Linderung seiner Leiden beitragen kann.« »Linderung seiner Leiden? Um Himmels willen, wie könnt Ihr
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behaupten, die Leiden dieses Königreichs zu lindern, wenn es Euer Geschäft ist, unschuldige Reisende zu überfallen?« »Bob verteilt alles an die Armen von Zenzau«, mischte sich der Kutschgehilfe ein. Er schwelgte in Bewunderung. »Allerdings, Junge, das mache ich. Sieh nur, auf was für einen fei nen Spazierstab sich dein Freund stützt. Ein ziemlicher Dandy, nicht wahr? Und der Kopf eines Löwen, in Silber geschmiedet.« Der Kutscherjunge kicherte. »Meine Güte, und was ist das? Eine Uhrkette? Deine Hand junge, gib mir deine Hand! Folge der Kette bis zum Ende, hm? Wir kitzeln Euch doch nicht, guter Geistlicher, oder?« Baines mußte unwillkürlich lachen. Die alte Dame warf ihrer Gesellschafterin einen warnenden Blick zu. »Muß ich Euch daran erinnern«, zischte sie, »daß ich meine silbernen Stricknadeln in meiner Teppichtasche habe? Ihr macht mich so wütend, daß ich Euch am liebsten das andere Auge auch noch ausstechen würde!« »Silberne Stricknadeln?« Der Wegelagerer hatte mitgehört. »Eine gute Idee. Würdet Ihr mir bitte die Teppichtasche reichen, meine Schöne?« Baines gehorchte strahlend. »Ihr gewissenloser Halunke! Ihr Feigling!« brach es aus der alten Dame heraus. »Feigling? Habt Ihr jemals eine Kutsche überfallen, teure Dame? Überhaupt, in einer Kutsche, die ich letzten Monat gestoppt habe, saß auch so ein fetter Geistlicher wie der hier. Er hat es ebenfalls gewagt, mich einen Feigling zu nennen, und dann seinen Stock aus der Scheide gezogen.« Baines schnappte nach Luft. »Keine Angst, meine einäugige Schönheit, ich wollte keine unzüchtigen Bemerkungen machen. Nein, dieser Kerl hat es doch gewagt, seinen Degen gegen mich zu schwingen, und zwar vollkommen unerwartet. Und er hat mich, Robert Scarlet, der Feigheit be zichtigt. Natürlich hatte ich keine andere Wahl, als ihm auf der
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Stelle das Gehirn wegzublasen.« Der Wegelagerer schnitt eine Gri masse, setzte das Ende seiner Pistolenmündung an den Mund und blies, als hätte er sie gerade abgefeuert. »Wenn sie nicht hinsehen, laufen wir weg«, sagte Rajal zwischen den Bäumen. »Fertig, Jem?« »Sei nicht albern«, erwiderte Jem. »Was? Ich dachte, genau das wolltest du!« »Er ist ein Rotrock, siehst du das nicht? Er ist auf unserer Seite, Raj.« »Bist du sicher?« Das war Jem sich nicht, aber er sah gebannt zu, wie der Maskierte mit weiteren geistreichen Bemerkungen die widerwilligen Reisenden um ihre Wertsachen erleichterte. Selbst Baines verfügte über eine pralle Börse, die sie scheu unter ihren ausladenden Röcken hervorzog. Nur eins war merkwürdig. Der Wegelagerer hatte Eldric Hulver side nichts weggenommen. Sicher, man konnte erwarten, daß ein Gelehrter arm war. Aber während sie zusahen, bemerkte Jem, daß Bob Scarlet von Zeit zu Zeit Hulverside ansah und der den Blick er widerte. Dann trat der Gelehrte zu Jems Verblüffung vor und flü sterte dem Wegelagerer etwas ins Ohr. Der lachte. »Was denn, eine Jarvel-Schnupfdose? Eine schöne sil berne Schnupf dose? Geistlicher, mir scheint, Ihr wart nicht ganz aufrichtig zu mir. Ich bin schockiert: ein solches Verhalten bei einem Mann des Tuchs!« »Schnupfdose? Wovon redet Ihr?« Beleidigt sah der Geistliche zwischen dem Wegelagerer und dem Gelehrten hin und her, doch im nächsten Augenblick trat letzterer mit einem Lächeln vor, klopfte die Taschen des Geistlichen ab und zog mit einer Verbeugung den fehlenden Schatz hervor. »Ihr Schurke!« Der Geistliche versuchte, sich der Dose wieder zu bemächtigen, doch im selben Augenblick zog der Gelehrte ebenfalls eine Pistole hervor und setzte sie dem Geistlichen an die Schläfe.
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Die Damen schrien auf, der Kutschgehilfe hüpfte vor Freude, und der Geistliche ging augenblicklich in die Knie und fiel in den Schlamm der Straße. »Herr Agonis, verschone mich!« »Schieß, Hui!« »Sollten wir uns jetzt nicht auf sie stürzen?« flüsterte Rajal in der sicheren Deckung der Bäume. Aber im nächsten Moment sollten sie vom Lauf der Dinge überrascht werden.
»Raus!« »Köchin, laßt Gnade walten!« »Raus hier, sag ich! Sergeant oder nicht, ich werde nicht zulassen, daß Ihr mit Euren Drecksfingern meine Klöße betatscht.« »Da werden bald jede Menge Finger drauftatschen!« »Eure Anspielungen könnt Ihr Euch sparen, Sergeant Floss. Macht mit meinen Klößen, was Ihr wollt, wenn sie serviert sind, aber vorher: Raus aus meiner Küche, sag ich!« Der Sergeant nahm einen Schluck aus seiner Feldflasche und sah sich grinsend um. Hinter ihnen erhob sich ein Gewirr von wackli gen Zelten. Nirrys Kessel blubberte unter freiem Himmel. »Ist ja schon eine merkwürdige Küche.« Nirry schnaubte ungnädig. »Es ist meine Küche, ob sie in einer Burg oder auf einem Misthaufen wie dem hier steht. Und Ihr soll tet wissen, Sergeant Floss, daß ich zu meiner Zeit auch in einer Burg gedient habe.« »Ha, das habe ich auch. Ich habe im besten Verlies des Königs gedient, jawohl.« »Nur schade, daß man Euch nicht dortbehalten hat«, knurrte
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Nirry und hob dann ihre Stimme. Sie schrie die Mädchen an, die sich um den Kessel kümmerten und die ihrer Meinung nach nicht schnell genug waren. Sie drehte sich ungehalten um. »Was für ein Leben! Ich muß die ganze Zeit auf einem klapprigen Wagen fahren. Meine armen Kno chen werden durchgeschüttelt wie ein Sack Holz ... Und ich dachte, die Blauen von Irion wären ein gutes Regiment. Jetzt sitze ich hier mit einem traurigen Haufen von Helferinnen und schmierigen Ser geanten, die nach dem Essen gieren, bevor es überhaupt auf dem Tisch steht! Kaum auszudenken, daß ich für die vornehmsten Ad ligen gekocht habe!« »Die vornehmsten?« fragte der Sergeant. »Ha! Ich war Lakai in einem der größten Häuser von Agondon. Ich war Diener bei Lady Cham-Charing!« »Wirklich?« fragte Nirry mißtrauisch. »Bis sie mich dabei erwischten, wie ich Silber geklaut habe. Und was habt Ihr angestellt, mein Mädchen?« Nirrys Mißtrauen schlug in Zorn um. »Sagt nicht ›mein Mädchen‹ zu mir, Carney Floss! Wer, glaubt Ihr, bin ich? Eine von Euren schmutzigen Lagermetzen? Ich bin eine anständige Frau, das sag ich Euch, und ich habe gar nichts angestellt.« Mit gerötetem Gesicht schob Nirry die Ärmel hoch und widmete sich energisch ihrem Kloßteig. »Arme Köchin!« Sergeant Floss lachte. »Ihr seid noch nicht lange unterwegs, was? Na, macht nichts. Wir sind bald in den Kasernen von Wrax. Da ist Schluß mit Zelten und Kochen unter freiem Him mel. Dort wird man Euch gut behandeln, wartet nur! Ordentliche Quartiere, weiche Betten, eine große Steinküche - und alles für Euch allein!« Nirry strahlte. »Wirklich?« »Würde ich Euch anlügen?« Mit einem Grinsen legte der Sergeant seinen Arm um Nirrys Hüfte und hielt ihr seine zerschrammte Feldflasche hin. Nirry bedachte die Flasche mit einem Naserümp-
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fen, ließ aber den Arm, wo er war. Jedenfalls für den Moment. Es war ein Trost, wenn auch nicht der, den sie gern gehabt hätte. »Sergeant?« »Köchin?« »Diese Stadt, wo wir hinziehen ... Wrax ... Werden dort alle Regimenter lagern?« »Jedenfalls eine Menge.« »Auch das Fünfte Königliche?« »Das kann ich nicht sagen. Was wißt Ihr denn über das Fünfte, Köchin?« »Nicht viel. Nur ... Ich habe gehört, daß es ein gutes Regiment ist, mehr nicht.« Der Sergeant prustete. »Das Fünfte! Hurenböcke, das ganze Pack! Ha, eine Maid wie Ihr wäre in Begleitung eines Mannes vom Fünften keine fünf Ticks auf einer Olton-Uhr sicher! Er steckt Euch mit den Pocken an, schwängert Euch, und dann gibt er Fer sengeld, und Ihr seht ihn nie wieder!« Nirry blickte ihn erstaunt an. »Nein! Na ja, ich kenne einen Burschen beim Fünften, und er ... er ist gar nicht so.« »Das glaubt Ihr.« Erneut grinste der Sergeant und setzte die Fla sche an. »Ihr kennt also doch ein paar Kerls aus der Armee, hm, Köchin?« »Och, Ihr ... Nicht so, wie Ihr glaubt! Merkt Euch eins: Ich bin eine ehrbare verheiratete Frau!« »Ha! Verheiratet? Das hör ich zum ersten Mal!« »Dann eben verlobt.« Der Sergeant lachte schallend. »Den habe ich auch schon mal gehört!« Nirry riß sich zusammen. »Es ist wahr, wenn ich es Euch doch sage! Ich habe einen entzückenden jungen Mann. Er kann mit den Ohren wackeln«, fügte sie stolz hinzu, »ohne den Rest seines Gesichts zu bewegen. Was eine Menge mehr ist, als Ihr tun könnt, Carney Floss. Steckt Euch das in Eure Pfeife und qualmt es!«
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Der Sergeant umfaßte Nirrys Taille fester. »Und was wird er sagen, dieser wackelohrige Bursche, wenn er hört, was ich gerade heute morgen gesteckt bekommen habe?« »Was Ihr gesteckt bekommen habt? Was meint Ihr?« »Ach, nichts Besonderes. Wenigstens glaube ich, daß es nicht wichtig ist. Nur ...« Der Mann warf ihr einen verschlagenen Blick zu. »Es wurde getratscht, als Ihr heute morgen aus dem Wald ge kommen seid, mit einem Kerl. Ihr wißt, was ich meine?« Er grinste erneut und zeigte seine schwarzen, krummen Zähne. »Wißt Ihr, was ich meine?« fragte er noch einmal und zwinkerte. »Oh, Ihr niederträchtiger Mensch!« Nirry riß sich aus dem Griff des Mannes los. »Wie könnt Ihr es wagen? Ich habe Euch doch ge sagt, daß ich eine ehrbare Frau bin, und das bin ich wirklich! Die Pocken sollt Ihr kriegen, Ihr und Eure Anspielungen! Raus aus meiner Küche, sag ich! Raus! Raus!« Nirry schnappte sich eine Schöpfkelle und hätte dem frechen Kerl liebend gern eins übergezogen, aber der sprang schnell außer Reichweite und nahm einen Schluck aus der Flasche. Die Küchenmägde kreischten vor Vergnügen, aber ihr Gelächter brach abrupt ab, als Nirry sich zu ihnen umdrehte. »Was gibt es da zu glotzen, ihr schmutzigen Schlampen? Zurück an die Arbeit ... Beim Herrn Agonis, der einzige Ort, an dem ihr jemals gearbeitet habt, ist, wenn ihr flach auf dem Rücken liegt!« Entzückt brach Sergeant Floss in schallendes Gelächter aus, doch einen Augenblick später fluchte er wie ein Rohrspatz, als Nirry ihm einen Kloß an den Kopf warf und ihm die Feldflasche aus der Hand flog. »Schon das Neueste von Zappelphilipp gehört?« »Was?« »Zappelphilipp. Er hat ein Mädchen.« »Seine Geheimhaltungsfähigkeiten müssen bemerkenswert sein. Oder ist sie vielleicht sehr klein?«
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»Was?« »Ich frage mich, wo er sie versteckt hält.« »Morvy, du bist albern.« Seite an Seite ritten Soldat Morven und Soldat Crum eine öde Landstraße entlang. Ihre Wurzeln, Löcher und holprigen Stellen kannten sie mittlerweile bis zum Überdruß. Sie waren den ganzen Tag auf und ab patrouilliert, und es war ziemlich langweilig gewesen. Drei Kutschen waren an ihnen vorbeigefahren, ein oder zwei fahrende Händler und Rübenkarren, die zum Markt gebracht wur den. Crum erinnerte sich besonders gern an die Rübenkarren. Ihm knurrte der Magen. Ihre Brote hatten sie schon lange verzehrt. Es mußte längst Zeit sein zurückzukehren! Ihre Rücken schmerzten, und ihre Musketen hingen schwer von ihren Schultern herunter. Sie klirrten im Rhythmus der Schritte ihrer Pferde. »Eigentlich weiß ich alles darüber, Crum.« Morvens Brille blitzte in der untergehenden Sonne. »Wer hat wohl die ganzen Liebesbriefe geschrieben? Ha, ich habe die beredtesten Hymnen an die schöne Nirry verfaßt, an ihre Schönheit, ihren Charme und ihre Grazie.« »Kennst du sie denn?« »Überhaupt nicht. Es gibt gewisse Techniken«, erklärte Morven gewollt beiläufig, »wenn es um Frauen geht.« Crum sah ihn erstaunt an. »Morvy?« Aber Morven schwieg. Kaum auszudenken, daß er in seinen Fähigkeiten so reduziert war! Patrouillen, Paraden, Märsche ... und zwischendurch ... was war er? Ein Schreiberling für ungebildete Soldaten! Manchmal sehnte er sich danach, an die Universität von Agondon zurückzukehren und die Studien wiederaufzunehmen, die die Armee unterbrochen hatte. Es gab so viel, was er nicht ver stand, so vieles, was er wissen wollte. Dann wiederum sehnte er sich nach etwas anderem. Nicht nach dem alten Leben, sondern nach ei nem neuen, anderen. Aber wie das aussehen sollte, konnte er auch nicht genau sagen. »Hm?«
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»Zappelphilipps Mädchen. Die aus Irion.« »Hat er denn mehr?« »Eine ist ja wohl genug! Morvy?« Crum lenkte sein Pferd um sichtig um eine Wurzel auf der Straße und ritt ein bißchen näher an seinen Kameraden heran. Die ausladenden Äste der Bäume schwangen über ihren Köpfen, und der Regen rauschte und tropfte von ih nen herunter. »Wie, glaubst du, bekommt man ein Mädchen?« Morven seufzte. »Dreh deine Hose um.« Crum errötete. »Was?« »Dreh deine Taschen nach außen, und zähl deine Münzen.« »Sehr komisch! Du weißt genau, daß man mir den Sold gekürzt hat.« »Dann glaube ich kaum, daß du ein Mädchen kriegst. Du vielleicht?« Pause. »Morvy?« »Was ist denn noch?« »Hattest du schon ein Mädchen?« »Crum, halt die Klappe!« Crum ging es schlecht. Es war schon schlimm genug, daß ihm al les weh tat, daß er fror und Hunger hatte. Aber Zappelphilipp auch noch beneiden zu müssen, war viel schlimmer. Der hatte nicht nur ein Mädchen, sondern alle sagten auch, daß er bald wieder beför dert werden sollte. Korporal Olch war eine Sache, aber Sergeant? Rottsy sagte, daß Nirry dann aus Irion kommen und Zappelphi lipp sie heiraten würde. Das wäre so sicher wie der Donner nach dem Blitz. Schon der Gedanke flößte Crum Ehrfurcht ein. Heira ten war eine außerordentliche Angelegenheit. Es mußte das allergrößte Glück sein. Ob er auch so viel Glück hätte, wenn er mit den Ohren wackeln könnte? Manchmal des Nachts, wenn niemand zusah, setzte sich Crum in seinem Bett aufrecht hin und versuchte es. Es war sehr schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, jedenfalls für Crum.
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»Das Leben ist wirklich nicht gerecht, stimmt's?« sagte er laut. Einen Augenblick später bereute er es. »Das Leben? Gerecht? Na, das ist vielleicht eine Frage, Crum.« Morven rückte mit gelehrter Miene seine Brille zurecht. Der arme Crum verstand von dem, was sein Kamerad dann vom Stapel ließ, nur sehr wenig. Es ging um die menschliche Natur und die Kör perschaften und etwas, das Morvy das Gemeine Wohl nannte. Crum versuchte sich vorzustellen, wie jemandem etwas »Gemei nes« wohltun würde, und dachte an die Gicht seines Onkels in Varl, der damit immer seinen Weinkonsum erklärte. Aber das war ein ganz besonderes Wohl gewesen. Dann dachte er an ein Pferd, das sie in Varl hatten, das Kutschpferd seines Vaters. Es hieß Wohltan. Man hatte sich ihm nie von hinten nähern können, ohne Gefahr zu lau fen, gemein getreten zu werden. »Der arme alte Wohltan!« Crum sprach wieder laut. »Was?« Morven unterbrach seinen Monolog. »Er ist umgefallen und gestorben, mitten in einem Hopfenfeld. Einfach umgefallen und bumms: tot. Und zwar einen Tag bevor ich zu den Soldaten ging.« »Crum, wovon redest du eigentlich?« »Von demselben wie du. Dem Gemeinen Wohl.« »Mein lieber Crum, ich habe über Vytonis Diskurs der Freiheit doziert.« »Weiß ich. Kenn ich genau.« »Ach wirklich?« Das war höchst unwahrscheinlich. Morven wußte sehr gut, daß Crum nur schlecht lesen konnte. Er schaffte es gerade zu entziffern, was auf Pfosten an der Straße oder auf Schildern an Wirtshäusern geschrieben stand. Damals in seiner Kindheit in Varl hatte er das Alphabet anhand des Grabsteins seines Großvaters gelernt. Jedenfalls hatte er das Morven erzählt, und zwar oft genug. Aber Vytoni? »Natürlich kenne ich es. Es hat einen braunen Ledereinband, der völlig zerkratzt ist, und die Seiten sind aufgequollen, wo es naß ge-
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worden ist, als du einmal mit deinem Rucksack durch den Fluß marschieren mußtest. Es stinkt ranzig, Morvy. Und außerdem wohnt ein Wurm im Buchrücken, wußtest du das? Er hat neulich abends seinen Kopf herausgestreckt, als du am Feuer gesessen hast. Ich habe ihn gesehen. Ein kleiner gelber Kerl. Ich wollte es dir sagen, aber du warst so mürrisch. Also habe ich es mir anders überlegt.« Crum hielt inne. Es regnete stärker, und die Tropfen fielen regel mäßig auf seine Hutkrempe. Vor ihnen verengte sich die Straße und machte eine Kurve. Sie verschwand in einem dichten Blätterwald. Die untergehende Sonne tauchte alles in einen rötlichen Glanz. »Bist du denn schon durch damit?« fragte Morven säuerlich. »Ist es denn sehr gemein oder nur ein bißchen gemein?« »Was?« »Das Gemeine Wohl.« »Also wirklich, Crum! Was verstehst du denn davon? Du bist nur ein Bauer. Ein ungebildeter varlanischer Bauer! Wenn du nur zuhören würdest! Ich wollte dir bloß sagen, daß Vytoni erklärt, wie die Regierung das Gemeinwohl repräsentieren und die Freiheit eines jeden Mitglieds maximieren muß. Wir sind alle gleich! Crum, verstehst du denn nicht, was das bedeutet? Wir sind die Knechte eines korrupten Regimes! Als Junge war ich ein glühender Patriot sogar an der Universität. Ich glaubte, daß Ejlands Werte die besten waren, und strebte danach, daß sich seine Hegemonie über alle Län der des El-Orok verbreitete wie ... wie die verflüssigte Schwemme von Schweineschmalz.« Schmalz? Crum dachte wieder liebevoll an die Rüben. Er stellte sich vor, wie sie im Ofen seiner Mutter gebacken und dann mit But ter bestrichen wurden ... und mit Sahne! Wenn das nur wahr wäre! Es mußte längst Zeit sein zurückzureiten. Zwar waren die Rationen hier nicht besonders groß, aber Rationen waren Rationen. Ihre Brote waren sehr gut gewesen, wirklich, wenn es nur ein bißchen mehr davon gegeben hätte! Er beugte sich vor und klopfte seiner
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müden Mähre auf den Hals. »Und du hast auch Lust auf deinen Hafer, stimmt's, Myrtle? Da wette ich drauf.« Morven ignorierte ihn. Er breitete die Arme aus und achtete überhaupt nicht mehr auf seinen Kameraden. »Dann lese ich Vyto nis Diskurs der Freiheit«, sagte er. »Garolus Vytoni, der geniale Märtyrer von Zenzau! Vom Erzmaximus verraten! Und von der Heiligen Kaiserin eingekerkert! Und bis heute von Professor Mercol und anderen loyalen Speichelleckern geschmäht! Verstehst du denn nicht, wie er mir die Augen geöffnet hat? Crum, ich würde mir am liebsten die Uniform vom Leib reißen und darauf herum trampeln!« Morven streckte pathetisch die Arme aus. Unglücklicherweise suchte sich sein Pferd ausgerechnet diesen Moment aus, um vor ei ner Senke in der Straße zu scheuen. Morvens Muskete rutschte ihm von der Schulter. Er verlor das Gleichgewicht und landete rücklings im Schlamm. »Morvy, du Dummkopf!« Crum mußte lachen. Er wollte gerade absteigen und seinem Freund helfen, als plötzlich ein schriller Schrei ertönte. Er kam von der Straße auf der anderen Seite der Kurve. »Das klingt nach einer Lady!« Crum gab seinem Pferd die Sporen und galoppierte davon. »Crum!« Morven rappelte sich schmutzbedeckt wieder auf und tastete suchend nach seiner Muskete. Aber wo war sein Pferd? Schlammspritzer bedeckten seine Brille, und er konnte nichts sehen. Er stolperte vorwärts und versuchte den Schmutz wegzuwi schen. Deshalb kam er zu spät, um zu sehen, was hinter der Kurve geschah. »Blauröcke!« Es war Hui, der den Schrei ausgestoßen hatte, aber es war Bob Scarlet, der seine Pistole von der Schläfe des schluchzenden Geistlichen riß und sie auf den nahenden Soldaten abfeuerte. Crums Pferd bäumte sich auf und warf seinen Reiter ab. Baines schrie erneut auf, 146
diesmal durchdringender. Die Passagiere rannten in alle Richtungen davon und suchten Deckung. Doch es war schon vorbei. Im nächsten Augenblick schwangen sich der Wegelagerer und seine Gefährten, einschließlich Hüls, in die Sättel, brachen hinter ihrem roten Führer durchs Unterholz und galoppierten davon. »Los, Bob!« Der Kutscherjunge tanzte begeistert im Schlamm. Jem verließ die Deckung. »Raj, komm schon! Wir müssen sehen, m welche Richtung sie verschwinden!« »Jem, nein! Es sind Mörder!« »Sie sind auf unserer Seite, Raj!« »Du bist verrückt.« »Nun komm schon!« »Wie denn?« Jem streckte die Hand aus. »Pferde.« »Ich habe sie, Mister!« Der Kutscherjunge machte einen schnellen Schritt und schnappte sich die Zügel eines reiterlosen Pferdes. Es war Morvens, aber Morven bemerkte es in diesem Moment nicht. Außerdem hätte es ihn auch nicht gekümmert. »Crum!« Sein Kamerad lag reglos mit dem Gesicht nach unten im Schlamm. Morven brach entsetzt über ihm zusammen. »O Crum, Crum!«
15. Ein Geschöpf aus Schlamm gemacht... »Jem, warte!« Rajal war kein besonders guter Reiter. Zunächst fürchtete er sogar, daß er sein Pferd überhaupt nicht kontrollieren könnte. Verängstigt wehrte es sich gegen den neuen Reiter und rannte krachend
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hier und da durchs Unterholz, sprang über Steinhaufen, über Farnbüsche und Schlammpfützen. Nur weil das Pferd müde war, gelang es Rajal, es zu beruhigen. Bis dahin war er unter mehreren niedrigen Zweigen hindurchgezerrt worden und oft nahe daran gewesen, auf den Boden zu stürzen. Er saß schief im Sattel und versuchte sich wieder aufzurichten. »Jem!« rief er. Aber Jem hatte schon angehalten und blickte zu ihm zurück. »Wir haben sie verloren!« »Was?« keuchte Rajal, als er sein Pferd neben ihm anhielt. »Ich sagte, ich weiß nicht, welchen Weg sie eingeschlagen haben.« »Gut! Vielleicht können wir dann wieder zu unserer Kutsche zurückreiten?« »Kutsche? Wir haben Pferde, Raj!« »Klar doch. Gestohlene Pferde«, meinte Rajal mürrisch. Jem mußte lachen. »Du müßtest dich sehen, Raj!« Sein Freund war nicht nur schlammbespritzt, sondern am ganzen Körper mit Blättern, Zweigen und Stöckchen bedeckt. Er hatte seinen Hut ver loren, und sein Haar stand in alle Richtungen ab. Aus einer Rißwunde in der Wange tropfte Blut. »Na toll!« rief Rajal. »Es genügt wohl nicht, daß ich mich die ganze Zeit an einer schwarzen Kiste festgeklammert habe und eine dünne Brühe an einem Schweinetrog gegessen habe - sogar aus ei nem Schweinetrog, das trifft es wohl eher. Es reicht nicht, daß ich überall blaue Flecken habe, zerschunden und blutig bin. Nein, ich muß auch noch Prinz Jemany unterhalten. Ich bin doch nicht den ganzen Weg gereist, um dein Hofnarr zu sein, oder doch?« Jem war zerknirscht. »Es tut mir leid, Raj. Aber wir mußten einfach hinter ihnen her.« »Ich verstehe nicht, warum. Willst du auch erschossen werden?« »Sie würden uns nicht erschießen! Dieser Kerl, dieser Gelehrte, hat sich mit mir unterhalten. Einiges von dem, was er gesagt hat ... ach, ich weiß nicht.« Jem sah nachdenklich zu Boden. Der
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rötliche Schein des Sonnenuntergangs umspielte ihn und ließ die Regentropfen an den Blättern glänzen. »Er hat gesagt, daß es ein Zeichen geben würde.« »Der Gelehrte?« »Lord Empster. Er sagte, ich wüßte, wann ich meine Botschaft aussprechen müßte. Raj, in dieser Gaststätte ist etwas passiert. Ich habe dem Gelehrten meinen Namen genannt und ... Er schien ihn schon zu kennen. Er hat mich angesehen ... Es war, als könnte er in mich hineinblicken.« »Was du nicht sagst.« Rajals Stimme troff vor Ironie. »Aber das war nicht alles. Es war ein sehr merkwürdiges Gefühl. Als würde ich ihn kennen. Als wenn wir uns schon einmal getrof fen hätten. Raj, verstehst du das denn nicht? Was ist, wenn dies das Zeichen war? Was, wenn ich es verpaßt habe? Ach, ich hätte genauer darauf achten sollen!« »Vergißt du nicht etwas?« Rajal deutete auf die Gegend um sie herum. »Kommt das Zeichen nicht erst, wenn wir Wrax erreichen?« »Und?« »Ich erinnere dich nur ungern daran, aber wir sind Längen von jedem beliebigen Ort entfernt und haben uns hier im Wald voll kommen verirrt.« »Wir waren doch fast da, stimmt's? Wir müssen nur einfach die Straße wiederfinden, mehr nicht.« »Hm.« Die Freunde ritten weiter in die Abenddämmerung. Eine Weile glaubten sie, sie würden dorthin zurückreiten, wo sie hergekom men waren. Dann wiederum fiel es ihnen schwer, genau zu sagen, in welche Richtung sie eigentlich ritten. Die Hügel von Wrax stiegen nicht sanft und allmählich an, sondern es gab überall Felsrücken und Senken, als wäre das Land vor langer Zeit von einem Giganten zerknittert und achtlos beiseite geworfen worden. Mittlerweile wurde es dunkel. Schon bald mußten sie absteigen und ihre Pferde vorsichtig über den wurzelübersäten Waldboden führen.
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Nur einmal stießen sie auf Menschen. Es waren zwei zerlumpte, dunkelhäutige Zenzaner, die genauso dürr waren wie die Stöcke, die sie mühsam über den zugewachsenen Pfad schleiften. »Sprich mit ihnen, Raj.« »Warum ich?« »Du siehst eher aus wie ein Zenzaner.« Rajal trat hinter dem Baum hervor, hinter dem er in Deckung ge gangen war. »Entschuldigung ...« Das erste Kind kreischte los. »Das Vichy!« schrie das zweite. Sie gaben Fersengeld und verschwanden zwischen den Bäumen. Im nächsten Augenblick war es wieder ruhig im Wald. Nur die Zweige auf dem Weg kündeten davon, daß die Kinder überhaupt dagewesen waren. »Ich glaube, ich habe nicht den richtigen Ton getroffen.« Jem war verwirrt. »Was ist ein Vichy?« »Weiß ich nicht.« Rajal pickte sich Zweige aus dem Haar. »Das heißt, na gut, die Bediensteten munkeln hinter vorgehaltener Hand davon ... Es ist ein böses Monster, das im Wald lebt. Angeblich ist es aus Flußschlamm gemacht und mit Blättern bedeckt.« »Ach Raj!« Jem mußte wieder lachen. »Das ist überhaupt nicht komisch. Wir haben uns verirrt, vergiß das nicht!« »Na und? Laß uns diesem Pfad folgen.« Aber der Pfad verlor sich, gerade so wie die Kinder, schon bald zwischen den Bäumen. »Die Stadt muß einfach in der Nähe sein.« »Da wäre ich mir nicht so sicher.« Jem leckte an einem Finger und hielt ihn in die Luft. »Hier lang. Hinter dem nächsten Hügel, merk dir meine Worte.« Hinter dem nächsten Hügel lagen - noch mehr Bäume. »Wrax liegt doch im Osten, oder nicht?« sinnierte Jem.
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»Willst du etwa wieder an deinem Finger lecken? Was soll das sein? Irgendein agonistischer Zauber?« »Ich messe die Windrichtung.« »Es gibt keinen Wind, du Idiot! Nur Regen und Schlamm und dornige Zweige und Tausende von Bäumen, die alle gleich aussehen. Und bald ist es vollkommen dunkel, und wir wandern immer noch in diesem Wald herum, bis wir tot umfallen oder erfrieren oder verhungern oder ein Mörder vorbeikommt und uns abschlachtet! Warum sind wir nicht bei der Kutsche geblieben? Wir finden nicht mal die Straße, geschweige denn die Stadt!« Jem schnitt eine Grimasse. »Du bist vielleicht ein Jammerlappen, Raj! Warum mußt du bloß immer alles so schwarz sehen? Warum hast du nicht ein bißchen Mumm, erklär mir das! Ich kann schon nicht mehr zählen, wie oft du dich über dieses und jenes beschwert hast! Es befriedigt dich irgendwie, kann das sein? Wenn ich wie du wäre, wäre ich immer noch der Krüppel in Irion, der sich in einem Stuhl herumschieben läßt wie ein nutzloser Sack ...« »Jem! Hör mal!« Sie standen in einer Mulde, und die Zweige der Bäume bildeten ein spinnenwebartiges Netzwerk über ihnen. Von irgendwo in der Nähe kam ein merkwürdiger Gesang. Es war eine Mädchenstimme, die wortlos summte. Doch die Melodie kam ihnen bekannt vor. Be gleitet wurde sie von dem Klang einer Harfe. Sie wehte durch die Luft bis zu ihnen und erzeugte einen merkwürdigen Zauber. Sie banden ihre Pferde an einen dicken Ast und suchten sich ei nen Weg bergan. Als sie am Kamm des Hügels angekommen waren, legten sie sich auf den Bauch und spähten im Schutz der Blätter über den Grat. Von dicken Bäumen umgeben, stand ein baufälliger Turm auf einer kleinen Lichtung, vielleicht der letzte Rest einer uralten, einstmals prächtigen Feste. Eine Tür war nicht zu sehen, aber in einem Fenster hoch oben sahen sie den warmen Schimmer von Kerzenlicht. Von dort aus war die reine, hohe Melodie, wie eine Rauchfahne, bis zu ihnen gedrungen.
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»Dieses Lied«, flüsterte Jem. »Ist es das, für was ich es halte?« Statt zu antworten, stand Rajal auf. »Raj! Was tust du da?« Rajal ging auf den Turm zu. Ein winziges, murmelndes Flüßchen lief zwischen den Steinen entlang, die sich an seinem Sockel häuften. Rajal baute sich daneben auf und sang, erst leise und eher mur melnd, rasch jedoch in der glockenklaren Stimme aus seiner Zeit bei den Masken die Worte, die zu der Melodie gehörten. Alles ist Zitrone, und nichts ist Limone, Aber selbst die Wahrheit wird bald enthüllt werden; Dann werden wir aus den Scheinbaum-Kalebassen trinken Und speisen mit dem König und der Königin der Schwerter! Jems Herz hämmerte heftig. War das vielleicht das Zeichen, das er erwartet hatte ? Im Turm schrie jemand erschrocken auf. Die Musik brach ab. Ein Mädchen tauchte im Fensterrahmen auf, beschienen vom Licht der Kerzen. Sie öffnete die Fensterflügel und spähte hinaus in die Däm merung. Jem erkannte einen schlanken Arm, das weiße Mieder und sandfarbenes Haar, das zu zwei Zöpfen geflochten war. Das genügte. Das Mädchen war wunderschön. »Oh, wer ist da?« flüsterte sie. »Orvik, bist du das?« Rajal begann eine weitere Strophe. Das Mädchen blickte hinun ter. Und schrie auf. »Das Vichy!« Jem stürmte vor. »Schöne Maid, bitte!« Er packte Rajal und nahm seinen schmutzstarrenden Kopf zwischen die Arme. »Er ist nicht das Vichy, das versichere ich Euch.« Hastig, als wolle er es beweisen, drückte Jem Rajal zu Boden und hielt sein Gesicht in den mur melnden Fluß. Rajal spuckte und wehrte sich. Das Mädchen hatte zugesehen und kicherte unwillkürlich.
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»Seht Ihr?« rief Jem. »Er ist nur in den Schlamm gefallen, das ist alles. Wir sind brave Reisende, die sich verirrt haben. Könntet ihr uns nicht für die Nacht Schutz gewähren?« »Oh!« Das Mädchen schlug die Hand vor den Mund, als wäre sie beunruhigt. Rasch verschwand sie aus dem Fensterrahmen und schlug die Flügel zu. »Da hast du deine Antwort«, meinte Rajal und wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel ab. »Ich nehme an, sie hält mich immer noch für das Vichy. Oder glaubt, daß du noch was viel Schlimmeres bist.« Jem lachte erneut, doch sein Gelächter verstummte rasch. Rajal hatte sich trübsinnig am Flüßchen zu Boden sinken lassen. Jem setzte sich neben ihn und blickte in das kalte Wasser. Es rann hurtig über die harten, schimmernden Kiesel. »Raj, das Lied. Warum hast du es gesungen?« Der hohe Turm hinter ihnen glühte im Licht der untergehenden Sonne. »Ich wollte es singen«, sagte Rajal. »Du wolltest es?« »Ich mußte es einfach.« Er drehte sich um und blickte seinem Freund ins Gesicht. »Ich konnte nicht anders, Jem.« »Was ist das hier für ein Ort?« Eine Stimme unterbrach sie. »Willkommen, Ihr jungen Herren.« Jem sprang hoch. Hinter ihnen stand ein alter Mann. Er ging ge beugt, und sein Gesicht war runzlig. Am Körper trug er die schäbigen Reste einer Livree. Eine Livree, deren Farben Jem noch nie gesehen hatte. Mit einer Hand stützte sich der alte Mann auf einen Eschenstock, und mit der anderen hielt er eine Laterne hoch. »Kommt. Wir werden doch in Schloß Oltby keine Reisenden ab weisen.« Offensichtlich erwartete er, daß dies als selbstverständlich angesehen wurde. Die Freunde warfen sich gegenseitig Blicke zu und folgten dem alten Mann. Seine Lampe leuchtete wie Gold in dem rötlichen Abendlicht, als er die beiden auf die Rückseite des Turms führte.
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Jem sah sich um. Zwischen den Bäumen sahen sie die Reste von Mauern, die schon lange mit Kletterpflanzen und Moos überwuchert waren. Hier und da standen baufällige Schuppen, die sich verloren an die Ruinen der Burg zu klammern schienen. Der alte Mann drehte sich um und winkte sie durch eine uralte niedrige Tür, die er ihnen aufhielt. Im Inneren sahen sie eine Wen deltreppe. Das Zeichen, dachte Jem. Es ist jetzt nah, ich weiß es. Aber warum das so sein sollte, konnte er nicht sagen. Doch er nahm das Licht, die tropfenden Zweige und die moosigen Steine merkwürdig genau wahr. Der Augenblick war so seltsam und verzaubert, daß er zusam menschrak, als er sich an die Pferde erinnerte. Der alte Mann kicherte leise und führte sie zu einem baufälligen Schuppen, der ein wenig abseits des Turmes stand. »In Schloß Oltby können wir alle unterbringen. Alle unsere Freunde«, fügte er nach einer Weile hinzu und strich Jems Braunem über die Flanke. Es durchfuhr Jem siedendheiß, als er das Sattelzeug des Pferdes bemerkte. Auf dem groben Stoff war das Wappen der Blauröcke eingebrannt. Erneut warf er Rajal einen Blick zu. Hatte der alte Mann es bemerkt? Es mußte offensichtlich sein, daß ihre Pferde gestohlen waren. »Meine Tochter wird sich gleich um Eure Pferde kümmern. Aber entschuldigt mich, junge Herren, daß ich mich nicht vorgestellt habe. Ich bin Dolm, Verwalter dieses Schlosses, wie mein Vater schon Verwalter hier war. Und sein Vater vor ihm.« Jem hielt es für das beste, Vorsicht walten zu lassen. Er dachte rasch nach. »Ich heiße Mej. Und das ist mein Freund ... ehm ... Jaral. Wir sind arme Reisende auf dem Weg nach Wrax.« »Nun, dann habt Ihr Euch wirklich verirrt. Kommt, Euch ist kalt, und Ihr habt sicher Hunger. Ihr solltet Eure Kleidung ablegen und Eure Bäuche füllen.« Der alte Mann lächelte und entblößte dabei die gelben Zahnstummel.
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Die Zeit verstrich. Draußen war es mittlerweile dunkel, und es regnete ununterbrochen. Jem und Rajal hatten sich in dicke Decken gehüllt, während ihre Kleider vor dem Kaminfeuer trockneten. Die Kammer am oberen Ende der Wendeltreppe war warm und heimelig und prachtvoll mit Sofas, Kissen, Teppichen und Gobelins, Vasen und Lampen möbliert. Und alles in dem typischen zenzani schen Muster aus Efeu, Blättern und Blumen. Sie setzten sich zum Abendessen an einen Tisch mit einem prächtig bestickten Tischtuch. Vor ihnen standen Silberteller, die sanft in dem Kerzenlicht glänzten, und ihre Kelche waren randvoll mit dunkelrotem Wein gefüllt. Auf den ersten Blick war es ein Bild des Überflusses. Doch das Tischtuch war mottenzerfressen und ausgefranst, die Pokale waren zerbeult und angelaufen, und das Essen war schlichte bäurische Kost. Ein dickflüssiges Ragout mit Brotstücken, das von einem humpelnden Weib ohne viel Aufhebens serviert wurde. In der Luft hing eine melancholische Ahnung längst vergangenen Reichtums, von Dingen, die man aus den Trümmern gerettet hatte. Jem kam die Szene schmerzhaft vertraut vor. Die Luft roch nach Staub und Moder. Er dachte an Irion, an die Burg, auf der er als Junge gelebt hatte. »Nach der Belagerung«, sagte er laut. »Ihr kennt unsere Geschichte, junger Herr?« »Vater, unsere Geschichte kennen sicher alle.« »Alle, Kind?« Der alte Mann wandte sich zu seiner Tochter um. »Ich glaube, unsere Freunde sind von weither gekommen, denkst du nicht auch?« »Ihre Pferde waren müde. Sehr müde.« Das Mädchen schlug den Blick nieder. Sie spielte gedankenverlo ren mit ihren langen Zöpfen und nippte geziert an einem silbernen Pokal. Jem beobachtete sie. Ihr Name war Landa. Ihr Kleid war
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grob und schmucklos, aber ihre Schönheit war ungekünstelt und strahlend. Jem bemerkte, daß er unwillkürlich versuchte, sie in ein Gepräch zu verwickeln. Und als sie mit ihrer melodischen Stimme scheu antwortete, blickte er ihr in die Augen. »Mein Diener und ich sind weit gereist«, improvisierte Jem. »Ich suche meinen Vater. Er lebt in Wrax.« »Euren Vater? Und wer ist Euer Vater, Sir?« »Ein Gelehrter, schöne Maid. Leider haben ihn seine Forschungen hier festgehalten, obwohl er längst zu meiner Mutter hätte zurückkehren sollen. Jetzt geht es meiner Mutter schlecht, und ich wurde geschickt, um ihn zurückzuholen.« »Nach Agondon?« »Nach Orandy«, mischte Rajal sich ein. Jem warf ihm einen ver ärgerten Blick zu. »Orandy!« sagte Dolm. »Junge Herren, Ihr habt ja fast das ganze Reich durchquert! Aber eßt... und vergeßt das Trinken nicht! Hier in Schloß Oltby haben wir zwar viel verloren, aber es ist mir wenigstens gelungen, meinen Weinkeller zu retten.« Der alte Mann lachte und klatschte in die Hände. »Mutter Rea! Wein, mehr Wein für meine jungen Gäste!« Jem errötete. Es machte ihn verlegen, daß dieser Befehl offenbar seinetwegen gegeben wurde. Ob Mutter Rea Dienerin oder die Frau des Verwalters war, wußte er nicht genau. Auf jeden Fall behandelte Dolm sie ziemlich respektlos. Sie tauchte hinter dem Wandschirm in der Ecke auf und trug einen großen Silberkrug. Es war eine schwere Last, und er schwankte in ihren Händen, so daß Wein auf den Teppich schwappte. Dolm fluchte. Jem sprang auf und bot der Frau an, den Krug zu tragen, aber sie drehte sich um und wich seiner Geste aus. Sie trug die typische »Schleierschnute« einer zenzanischen Bäuerin, und ihr Gesicht war kaum zu erkennen. Jem bemerkte nur den verzogenen Mund und die Augenlider, die sie gesenkt hatte. Die Frau hatte nicht einmal
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gesprochen oder die Gäste direkt angesehen. Wenig anmutig knallte sie den Krug auf den Tisch und verschwand wieder im Schatten. Im Laufe des Abends hörte man gelegentlich Schnaufen und Knurren hinter dem Schirm und sogar gelegentliches Sum men. Aber Dolm unterbrach das sofort und befahl dem Weib, die Klappe zu halten, sich den Finger ins Maul zu stecken und ihren Schleier zu fressen. Jem war schockiert. Aber der Wein war kräftig, und es gab reichlich davon. Er brachte es nicht über sich zu prote stieren. »Ich würde sagen, das war bemerkenswert gut«, meinte er, nach dem er den letzten Bissen seines Mahls verzehrt hatte. »Wir hatten seit Tagen nur Pökelfleisch, stimmt's ... Jaral?« »Zusammen mit schimmligem Brot und Käse ... Mej.« Landa rümpfte die Nase. »Mutter Rea kocht nur Gemüse, stimmt's, Mutter Rea?« Doch die Alte hinter dem Wandschirm antwortete nicht. »Aber sie versteht es. Ich meine, sie weiß, wie man kocht. Es ist wie Magie, hab ich recht, Vater?« Dolm knurrte nur. »Magie!« Jem lächelte das Mädchen an. Rajal verdrehte die Au gen. Er war noch hungrig, brach ein Stück Brot ab und tunkte die Soße von seinem Silberteller auf. Als er ihn sauberwischte, be merkte er das Muster, das bisher von dem Ragout überdeckt wor den war. Ein großer Baum mit vielen Zweigen, der zu beiden Seiten von den Gestalten einer Frau und eines Mannes flankiert war. Sie hielten Schwerter in den Händen, und auf den Köpfen trugen sie fünfzackige Kronen. Rajal runzelte die Stirn. »Noch mehr? Mutter Rea!« Dolm klatschte in die Hände. »O nein!« sagte Jem schnell. »Wir sind satt. Stimmt's, Jaral?« Er stieß seinen Freund mit dem Ellbogen an. »Hab ich recht, Jaral?« »Ja, Mej. So satt, wie es nur geht«, erwiderte Rajal abwesend. Er hätte gern das Muster seines Tellers gezeigt und fragte sich, ob Jems
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Teller das gleiche Muster hatte. Dann wurde ihm klar, daß er immer noch hungrig und keineswegs satt war. Aber er mußte sich keine Sorgen machen. Dolm bestand darauf, daß sie hungernde Reisende waren und sich unmöglich mit solch mageren Portionen zufriedengeben konnten. Jem dankte der Alten überschwenglich, als sie den vollen, dampfenden Teller zurückbrachte. Sie grunzte jedoch nur. Dolm zwinkerte ihnen fröhlich zu und füllte ihre Pokale mit Wein. »Das muß einmal eine schöne Burg gewesen sein«, sagte Jem. Er nahm einen tiefen Schluck. Die Dunkelheit senkte sich auf sie herab. Jem bemerkte die Wandgobelins, die Steine der Mauern, das wurmstichige Holz unter dem Tischtuch und die geschwungenen, kratzigen Armstützen ihrer gepolsterten Stühle. An der Wand über dem Kamin hing ein Porträt in einem goldenen Rahmen. Es wurde kaum noch von dem Kerzenlicht beschienen. Jem sah nur, daß es ei nen Mann zeigte, einen Mann in Uniform. »Eine schöne Burg?« fragte der Verwalter nach einer Pause. »Es war die schönste Burg in ganz Zenzau.« »Die schönste«, wiederholte das Mädchen. Ihre Stimme klang bitter. »Deshalb mußte sie auch zerstört werden.« Es herrschte Schweigen, doch dann lachte Dolm zu Jems Über raschung. »Aber natürlich. Denn hätte diese Burg nicht ihr Schick sal ereilt, hätte dann unser Königreich auch die Freude der Erlösung erfahren?« Er drehte sich zu Jem um. »Herr, Ihr seid ein Ejländer, stimmt's? Ihr wißt natürlich, daß dieses Reich einmal in der Anbetung der Königin Viana schmachtete. Wir trauern um unsere Burg, und das ist nur natürlich. Aber können wir auch das bedau ern, was wir dafür bekommen haben: die Weisheit und die Gnade Seiner Kaiserlichen Agonistischen Majestät?« Die Augen des alten Mannes funkelten. Jem beschlich nicht zum ersten Mal an diesem Abend das Gefühl, daß er in eine Art Spiel
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verwickelt war. Aber er wußte nicht genau, um was für ein Spiel es sich handelte und wie es enden würde. Konnte der alte Verwalter denn wirklich Loyalität gegenüber seinen Eroberern empfinden? Es schien jedenfalls so. Dolm schlürfte seinen Wein und begann die Vorzüge aufzuzählen, die Ejland seinem Reich beschert hatte. Hinter dem Wandschirm hörte man Schlurfen und Scharren. Dolm brüllte Mutter Rea zu, sie solle sich gefälligst ihren Sorgenkranz in die Nase schieben, und sprach von Rebellen, die ihre neuen Herren bekämpften. Seine Abscheu gegenüber ihrer Narrheit und ihrem Mangel an Visionen wurde mehr als deutlich. Eifrig erwartete er den Tag, so sagte er, an dem ganz El-Orok zum ejländischen Reich gehören würde, vereint unter der Agonistischen Erlösung. Er hob seinen Pokal und schob den Stuhl zurück. »Auf die Erlösung!« Zögernd, wenn auch nur unmerklich, erwiderten Jem und Rajal den Toast. Das war zuviel für Landa. Während der Rede ihres Vaters hatte sich ihr Gesicht gerötet; jetzt, bei dieser letzten Steigerung, knallte sie ihren Pokal auf den Tisch und rief: »Erlöse uns von der Erlö sung!« Es war ein Rebellenruf. Ihr traten Tränen in die Augen, und sie rief einen Namen, offenbar den eines Gottes. Aber es war weder der von Viana noch der von Agonis. Sie sprang vom Tisch auf, sank auf die Knie und richtete den Blick auf das Gemälde über dem Feuer. Dolms Antwort war ein gackerndes Lachen. Jem schämte sich furchtbar, und außerdem war er ziemlich betrunken. Bei seinem Versuch, dem Mädchen zur Seite zu eilen, wäre er beinahe über die Decke gefallen, in die er sich gehüllt hatte, und stürzte, heftiger, als er es eigentlich vorgehabt hatte, auf den Boden neben Landa. Verlegen streckte er die Hand aus. »Schöne Maid, bitte. Niemand hat Euch aufregen wollen, ganz bestimmt nicht.« »O Orvik, Orvik!« jammerte das Mädchen schluchzend. Orvik? Jem erinnerte sich an die Worte des Mädchens, als sie am
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Fenster gestanden hatte, während Rajal von dem König und der Königin der Schwerter sang. Orvik, bist du das? Schlagartig wurde es ihm klar. Orvik war ihr Geliebter, ein Rebell, der sich mit ihrem Vater zerstritten hatte. Er betrachtete das Porträt über dem Kamin. Es zeigte das Bildnis eines gutaussehenden, dunkeläugigen jungen Mannes, der steif in seiner Militäruniform dastand. Es war eine Uniform, die Jem noch nie gesehen hatte. Alles daran war ihm unbekannt: die Epauletten, der Kragen, der Schnitt der Jacke und der kleine viereckige Hut auf dem Kopf des jungen Mannes. Aber das Merkwürdigste von allem war die Farbe. Sie war grün. Fasziniert und auch ein wenig neidisch auf diesen Orvik, sah Jem aufmerksam von dem Mädchen zu dem Porträt und wieder zurück zu dem Mädchen. Dann fiel ihm noch etwas auf. Seine Hose, sein Wams und sein Mantel hingen zum Trocknen direkt über dem Kamin. Unter der Decke war er splitternackt. Und er fühlte eine un verkennbare, höchst beunruhigende Schwellung darunter. Oh, er war betrunken! Schnell arrangierte er die Falten der Decke neu. Hatte das Mädchen es bemerkt? Konnte sie es wissen? Sie sprang plötzlich auf und wischte sich die Augen. »Es tut mir leid, Vater!« »Komm zu mir, Tochter, und gib mir einen Kuß! Meine Tochter«, erklärte Dolm dann seinen Gästen, »ist ein bißchen überspannt. Und auch ein bißchen einfältig, wie junge Mädchen so sind. Es ist bedauerlich, aber was soll ich tun? Mädchen sind Mädchen«, sagte er lachend. »Ich glaube an die Realität, sie schwört auf Romantik. Ich hätte das alte Porträt längst verbrannt, wenn sie nicht meine Tochter wäre. Wenigstens sollte ich den Tag verfluchen, an dem ich es aus den Flammen gerettet habe. Aber ich ... Ich habe einfach nicht das Herz dazu. Seit Landa klein war, hat sie es so geliebt.« »Ein altes Porträt?« fragte Jem lauter als beabsichtigt. Er blieb sitzen und beschäftigte sich immer noch mit der Decke. »Alt!« meinte Dolm lachend. »Nun, Landa war nicht einmal ge-
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boren, als dieses Porträt in der Großen Galerie hing, deren Ruinen jetzt im Wald hegen! Es ist Orvik, der Prinz von Wrax, der frühere Orvik der Erste. Dem dieses Schloß gehörte. Tot, schon seit so vie len Zyklen ist er tot. Ist das nicht so, Tochter?« Das Mädchen nickte wie betäubt. »Und außerdem war er ein Tyrann. Seht Ihr, sie weiß es. Aber die Phantasien eines Mädchens ... Ach, die Phantasien eines Mädchens! Es wird keine Orviks mehr auf dem Thron von Zenzau geben. Und das ist auch gut so!« Der alte Mann kicherte. »Aber nun komm, Tochter, das ist keine Unterhaltung für unsere Gäste. Willst du nicht lieber für uns singen? Ihr Herren, würde es Euch gefallen, wenn Landa singt?« Die Gäste stimmten sofort zu, doch Landa protestierte. »Vater, stell mich nicht so bloß! Warum erzählst du nicht lieber eine Geschichte? Du kannst das so gut. Erzähle ... erzähle die Geschichte vom ›Ladenbesitzer von Wrax‹. Du weißt doch, wie sehr ich es liebe, wenn du diese Geschichte erzählst.« Der alte Mann betrachtete das Mädchen. »Tochter, ich dachte, wir wollten unsere Gäste unterhalten. Anscheinend kümmerst du dich nur um dein eigenes Vergnügen. Werden diese jungen Herren denn solche albernen, uralten Geschichten genießen können? Na gut, ich schlage dir einen Handel vor: Ich erzähle die Geschichte, und dann singst du.« Das Mädchen fiel ihrem Vater um den Hals. »Oh, Vater, ich danke dir!« Der alte Mann räusperte sich. Zuerst hörte Jem seiner Geschichte kaum zu. Er hatte nur Augen für Landa. Doch dann, ganz langsam, spürte Jem unter der bloßen Oberfläche der Worte des alten Dolm die wahre Bedeutung, die beharrlich an der Schwelle des Bewußt seins pochte. Aber was es genau war, konnte er nicht sagen. Und dies ist die Geschichte:
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Der Ladenbesitzer von Wrax Einstmals vor der Zeitrechnung lebte in der Stadt Wrax, in Reich weite der Tempelglocken, ein Ladenbesitzer. Er war ein armer Mann, denn er verkaufte nur Krimskrams und Überflüssiges. Die Menschen aus der Nachbarschaft waren ebenfalls arm und entspre chend schlechte Kunden. Dennoch träumte der Ladenbesitzer von Reichtümern, die ihm eines Tages gehören würden, wenngleich er deshalb noch kein habgieriger Mann war. Er liebte seine Frau und seinen Sohn. Seine schöne Frau wollte er in Seide und Spitze hüllen, und sein Sohn war sehr intelligent. Ihn würde er auf ein Kolleg schicken, so daß der Junge vielleicht einmal ein gelehrter Mann würde. Nun trug es sich zu, daß eines Tages, als der Ladenbesitzer gerade seinen Krimskrams abstaubte, die Glocke bimmelte und die Tür aufschwang. Ein vornehmer Gentleman trat ein. Der Ladenbesitzer sah ihn erstaunt an. Denn ein feiner Gentleman verirrte sich nur selten in sein Geschäft. Der Gentleman trug einen schwarzen Um hang, und an seinen Fingern glitzerten viele Ringe mit eingefaßten Edelsteinen. »Ladenbesitzer«, sagte der Gentleman. »Ich möchte Euren Krimskrams und Euren Tand kaufen.« »Herr ...« Der Ladenbesitzer lächelte. »Ich habe nur Krimskrams und Tand. Was genau möchtet Ihr erwerben?« Jetzt war es an dem Gentleman zu lächeln. »Ladenbesitzer, ich möchte alles kaufen, und ich zahle Euch dafür diesen Beutel Silber.« »Herr, mit soviel Geld könntet Ihr meine Waren mehr als einmal kaufen. Meint Ihr Euer Gebot wirklich ernst?« Der vornehme Gentleman nickte. »Das Gebot steht. Allerdings ist eine Bedingung daran geknüpft.« Bei diesen Worten trübte sich die Freude des Ladenbesitzers, und er fragte, um was für eine Bedingung es sich wohl handele. Doch
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der vornehme Gentleman sagte nur: »Erst nachdem Ihr mein Angebot angenommen habt, werde ich Euch die Bedingung verraten.« Sehnsüchtig blickte der Ladenbesitzer auf das Silber. Dann schüt telte er traurig den Kopf. »Herr, meine Frau ist wunderschön. Woher soll ich wissen, daß Ihr sie mir nicht einfach nehmt? Wie soll ich wissen, daß Ihr ihr kein Leid zufügt? Was sollte mir dann der ganze Reichtum nützen? Nein, Herr, ich muß Euer Angebot ablehnen.« »Ladenbesitzer, ich respektiere in meinem Herzen Eure Ehrenhaftigkeit. Aber leider wird die Welt Euch wenig dafür ehren.« Mit diesen Worten verbeugte sich der vornehme Gentleman und ver schwand. Jetzt war der Ladenbesitzer stolz auf sein Verhalten, doch als er es seiner Frau erzählte, wurden ihre Augen rot vor Tränen. »Aber mein Gatte, habt Ihr vergessen, wie arm wir sind? Wie könnt Ihr die Bedingung des Gentleman ablehnen? Vielleicht ist es ja gar nicht das, was Ihr befürchtet. Vielleicht ist sie so leicht wie Luft! Denkt nur, welche Chance Ihr ausgeschlagen habt. Ach, mein Gatte, ich fürchte, Ihr seid ein Narr!« Und jetzt fürchtete der Ladenbesitzer, daß seine Frau recht haben könnte. Die Jahreszeiten verstrichen, und eine Hungersnot lastete schwer auf dem Königreich. Die wenigen Kunden des Geschäfts schwan den dahin. Welchen Nutzen hatten Krimskrams und Tand in einer Stadt, deren Bewohner Mühe hatten, ihre Bäuche zu füllen? Der Ladenbesitzer sah sich vor dem Ruin. Ihm sank der Mut, und die Regale des Ladens wurden immer staubiger. Oft dachte er an den vornehmen Gentleman und an das Angebot, das er so voreilig ausgeschlagen hatte. Doch auch wenn er zustimmte, daß er ein Narr gewesen war, plagten ihn immer noch Zweifel. »Was hätte mir der Reichtum gebracht«, fragte sich der Ladenbesitzer, »wenn ich dafür meine Frau verloren hätte?« Als er eines Tages hinter dem Tresen saß, klingelte die rostige Türglocke. Der Ladenbesitzer blickte überrascht hoch, denn erneut 163
stand der vornehme Gentleman vor ihm, in seinem schwarzen Um hang und mit seinen vielen Ringen an den Fingern. »Ladenbesitzer«, begann der Gentleman ohne Umschweife. »Mein Angebot gilt immer noch, nur daß ich jetzt die Summe er höhe.« Der Gentleman leerte erst einen Beutel mit Silber und dann einen mit Gold auf dem Tresen aus. »Ihr macht Euch immer noch Sorgen«, fügte er hinzu, »wegen meiner Bedingung? Nun, laßt Euch eins sagen und nur das: Ich suche nicht Eure Frau, und ich werde ihr kein Leid antun.« Sehnsüchtig betrachtete der Ladenbesitzer die Reichtümer auf dem Tresen. Doch dann schüttelte er erneut traurig den Kopf. »Herr, mein Sohn ist ein kluger Junge. Wie kann ich sicher sein, daß Ihr ihn mir nicht nehmt? Und wenn, welchen Nutzen sollte dann all dieser Reichtum haben? Leider, Herr, muß ich Euer Angebot ablehnen.« »Ladenbesitzer«, sagte der vornehme Gentleman erneut, »ich re spektiere in meinem Herzen Eure Ehrenhaftigkeit. Aber leider wird die Welt Euch wenig dafür ehren.« Und wieder verbeugte sich der vornehme Gentleman und ver schwand. Dieses Ereignis beunruhigte den Ladenbesitzer. Trotzdem glaubte er, daß er richtig gehandelt hatte, doch als er es seinem Sohn erzählte, blickte der nachdenklich zu Boden. »Vater, habt Ihr die Bedingung des Gentleman beurteilt, obwohl Ihr doch gar nicht wußtet, um was es sich handelte? Vielleicht war sie ja so sanft wie eine Feder! Armer, lieber Vater, ich fürchte, Ihr wart ein Narr!« Und wieder fürchtete der Ladenbesitzer, daß sein Sohn recht ha ben könnte. Jetzt lastete eine Zeit der Pestilenz schwer auf der Stadt, und überall um den kleinen Laden sah der Ladenbesitzer, wie seine alten Kunden starben. Die Leiterkarren mit den Toten rumpelten jeden Tag an der Ladentür vorbei. Der arme Mann fürchtete um seine Frau und seinen Sohn. Oft schalt er sich einen Schurken und Nar
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ren, weil er zum zweiten Mal das Angebot des vornehmen Mannes ausgeschlagen hatte. Wie könnte eine Bedingung in Zeiten wie die sen anders als leicht zu erfüllen sein? schalt er sich. Schon bald wurden sie vielleicht alle vom Tod hinweggerafft, und das nach einem Leben in Armut und Verzweiflung! Wie die merkwürdige Bedin gung auch ausgesehen hätte, wenigstens wäre seine Frau dann in Seide und Spitze gehüllt einhergegangen. Doch in einem Winkel seines Herzens nagte der Zweifel an dem Ladenbesitzer, ob er nicht vielleicht doch richtig gehandelt hatte. Denn wie hätte er den Schmerz ertragen können, wenn der vornehme Gentleman ihm den Sohn genommen hätte? Was hätte er tun sollen? Oft ließ der arme, närrische Mann in seinem dunklen Laden den Tränen freien Lauf. Dann hielt der Todeskarren eines Tages vor seiner Tür, und vom Kutschbock sprang eine Gestalt, die er kannte. Es war der vor nehme Gentleman, und diesmal leerte er auf dem Tresen nicht nur einen Beutel mit Silber und einen Beutel mit Gold, sondern auch noch einen Beutel der schönsten Edelsteine. Der Gentleman ver teilte die Schätze auf der Platte, beugte sich vor und flüsterte: »Ladenbesitzer, dies alles gehört dir, falls du meine Bedingung akzep tierst. Und obwohl ich dir die Bedingung nicht verraten kann, so wisse dies: Ich will nicht deinen Sohn und werde ihm auch kein Leid zufügen.« Diese Worte beseitigten die letzten Zweifel im Herzen des Ladenbesitzers. »Dann akzeptiere ich! Edler Herr, ich nehme Euer Angebot an!« Er lief in die Wohnung hinter dem Laden, um seiner Frau und seinem Sohn die Neuigkeiten zu erzählen. Und so bot die kleine Familie mitten in diesen Zeiten der Pest ein Bild des Glücks. Sie umarmten einander und lachten und weinten gleichzeitig. Es dauerte lange, bis sie sich wieder an die Bedingung erinnerten. Ein wenig beunruhigt scharten sie sich hinter dem Tresen zu sammen, vor dem der Gentleman immer noch geduldig wartete. Mit einem Lächeln durchsuchte er die Edelsteine und hob einen be-
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sonderen Stein hoch. Es war ein merkwürdiger grüner Stein, den er dem Ladenbesitzer in die Hand legte. »Die Bedingung lautet wie folgt: Ihr könnt das ganze Vermögen so benutzen, wie Ihr wollt. Aber diesen Stein müßt Ihr behalten, bis einer kommt, der danach sucht und ihn für sich beansprucht.« Jetzt war die Freude der Familie grenzenlos, denn was wog diese Bedingung schon? Nichts, sie war wie Luft, so leicht wie Daunen. Der vornehme Gentleman entfernte sich mit einer Verbeugung. Er vergaß sogar, die Waren mitzunehmen, die er einmal hatte kaufen wollen. Nun verwirklichte die kleine Familie all ihre Träume. Der Ladenbesitzer wurde zu einem großen Mann in der Stadt. Er lebte in einem vornehmen Haus und leistete sich eine sechsspännige Kut sche. Seine Frau kleidete sich in Seide und Spitze, und sein Sohn wurde aufs Kolleg geschickt. Es wurde ein Gelehrter aus ihm. Die Jahre verstrichen. Der Ladenbesitzer wurde Lord Bürgermeister von Wrax. Er gründete Schulen und Krankenhäuser. Und oftmals dachte er darüber nach, wie ein Mann, der in solchem Elend gelebt hatte, so glücklich werden konnte. Den vornehmen Gentleman sah er niemals wieder. Doch oft dachte er über die Bedingung nach, die ihm so geheimnisvoll aufer legt worden war. Manchmal drehte er den grünen Stein in seiner Hand und fragte sich, wann wohl der Suchende kommen würde. Dann lachte er und dachte an all die langen Jahre, die er mit seinen närrischen Ängsten verbracht hatte. Wie leicht, wie einfach die Be dingung gewesen war! Schließlich wurde der Ladenbesitzer älter und älter, doch der Sucher war immer noch nicht gekommen. Mittlerweile hielt er die Bedingung für einen Witz, einen Scherz, den er nur noch nicht ver standen hatte. Es begab sich, daß seine Frau starb. Der Ladenbesitzer war traurig, denn er hatte sie sehr geliebt. Aber er trauerte nicht übermäßig. Sie hatte ihr Leben gelebt und war alt geworden, und bald würde
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auch er ihr Gesellschaft leisten und unter die Erde kommen. Außer dem hatte der Ladenbesitzer ja noch seinen Sohn. Mittlerweile wurde der Ladenbesitzer immer älter und überschritt bei weitem das normale Menschenalter. Seuchen suchten die Stadt heim, doch keine schien ihm etwas anhaben zu können. Der Sohn starb, doch der Vater lebte weiter. Bald wurde gemunkelt, daß ein so alter Mann sicherlich mit den Mächten des Bösen einen Pakt geschlossen haben mußte. Der Ladenbesitzer hatte ein reges gesell schaftliches Leben geführt, doch nun wurde er in die Einsamkeit getrieben. Bürger, die ihn früher einmal bewundert hatten, machten jetzt einen Bogen um sein Haus. Steine zerschmetterten seine Fen ster. Bald wurde er aus seinem vornehmen Haus vertrieben, und er verlor seinen ganzen Reichtum. Was ihm blieb, war nur der merkwürdige grüne Stein. Der La denbesitzer hätte den Stein verkauft, aber niemand wollte ihn erwerben. Einmal wollte er ihn voller Wut wegwerfen, doch der Stein löste sich einfach nicht aus seiner Hand. Erst jetzt, aber viel zu spät, erkannte der Ladenbesitzer, auf was für einen Handel er sich eingelassen hatte. Er hatte sich zum Wächter des Steins gemacht, bis der Suchende kam. Aber wie lange mußte er auf ihn warten? Epizyklen verstrichen, und der Ladenbesitzer lebte immer noch. Er lebt auch jetzt noch, allein und traurig, dort, wo alles angefangen hat, in einem schäbigen Laden, in Hörweite der Tempelglocken. Das ist also die Legende vom LADENBESITZER VON WRAX. Der Ladenbesitzer hat einen Handel abgeschlossen, der ihm zunächst Freude bereitete und dann ewiges Leid. War es richtig, daß er diesen Handel abschloß, ohne vorher die Bedingung zu kennen? Meine Freunde, diese Frage überlasse ich Euch. Das war das traditionelle Ende eines zenzanischen Volksmärchens. Lange Zeit blickte Jem nachdenklich zu Boden, und Rajal tat es ihm gleich. Dann fuhren sie zusammen, als Dolm plötzlich in die Hände klatschte und erneut Landa aufforderte zu singen. 167
Diesmal protestierte das Mädchen nicht. Mit einem scheuen Lächeln nahm sie die Wrax-Harfe zur Hand. »Was soll ich spielen, Vater?« Sie setzte die Harfe unters Kinn und konzentrierte sich. Rajal räusperte sich. »Wenn ich so kühn sein darf, schöne Maid ... Ihr habt ein wunderschönes Lied gesungen, als wir ange kommen sind.« »Der König und die Königin der Schwerter?« »Blödsinn!« fuhr ihr Vater hoch. »Ein Kinderlied. Willst du nicht lieber die Schlacht von Geizin oder Mein Liebchen ist auf und davon mit dem Derkold-Häuptling singen?« Sein Mund war vom lan gen Reden ausgetrocknet, und er stürzte einen Becher Wein hinun ter. »Ach, wie unhöflich bin ich! Sing, Landa-Kind, sing dein süßes Wiegenlied.« Landa strich mit den Fingern über die Saiten. Sie wirkte zer brechlich, fast wie ein Gespenst in dem blassen Bauernhemd, und stand neben dem Kamin vor dem Bildnis, das sie so liebte. Die Flam men züngelten golden hinter ihr und knackten und flackerten wie im Takt zu dem faszinierenden, langsamen Rhythmus, den sie zupfte und strich. Dolm betrachtete sie liebevoll, und selbst das alte Weib kam hinter dem Wandschirm hervor. Sie blieb im Schatten ste hen, während die Melodie des Liedes den Raum erfüllte. Zuerst glich die Stimme des Mädchens ihrer Zartheit, sie war dünn und hohl wie ein Schilfrohr. Doch während sie sang, gewann sie an Zuversicht und erfüllte die Worte mit einer feierlichen, unheimlichen Schönheit. Alles ist verborgen, und nichts ist bekannt. Denn selbst die Wahrheit ist wie die Knochen Eines alten Köters; Kommt, laßt uns auf den Scheinbaum-Bohlen niederknien Und für den König und die Königin der Schwerter beten! Rajal konnte nicht anders. Erst summte er wie unter einem Zwang mit, und im nächsten Moment schob er den Stuhl vom Tisch
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zurück. Seine Stimme vermischte sich mit der von Landa in einem kehligen Akkord. Das Mädchen nickte ihm zu und bedeutete ihm vorzutreten. In Agondon wäre das eine anzügliche Geste gewesen. Hier jedoch war es ungekünstelt, ein Ausdruck schierer Freude. Rajal hatte die Decke wie eine Robe um sich gerafft und stand neben dem Mädchen am Feuer. Die exquisite Reinheit ihrer Stimmen erfüllte den ganzen Raum. Alles ist Wasser, und nichts ist naß.
Und selbst die Wahrheit ist wie eine unbezahlte Schuld;
Was, du willst die Lords des Scheinbaums ärgern?
Dennoch, vielleicht liegst du neben der Königin der Schwerter!
Zunächst empfand Jem einen eifersüchtigen Stich. Doch dann wurde dieses Gefühl von einem anderen verdrängt. Das Wissen um Landas Reinheit erfüllte ihn plötzlich, machte ihn verlegen. Ihre Schönheit blendete ihn, aber es war die Schönheit der Unschuld. Verschämt dachte er an die Lust, die ihn überkommen hatte, selbst in dem Augenblick, in dem er das Mädchen hatte trösten wollen. Dieses Lied, das sie jetzt sang, dieser Augenblick mit Rajal war eine bessere, schönere Sache. Jem dachte wieder an sein Leben in Agondon und fühlte, daß die Nächte beim »Würger« ihn rauher gemacht, ihn verdorben hatten. Er schloß die Augen, und anstelle der wun derschönen Landa stiegen zwei andere Bilder aus seinem Gedächt nis hoch. Das von Cata, seiner ersten Liebe, und das von Jeli, seiner zweiten. Er hatte sie beide verloren. Hatte er sie denn überhaupt verdient? Jem blinzelte, als ihm Tränen in die Augen stiegen. Er wagte es nicht hochzublicken, damit Dolm sie nicht bemerkte. Alles ist Kiesel, und nichts ist ein Stein. Wenn selbst die Wahrheit liegt allein: Narr, du willst den Schatz des Scheinbaums plündern? Dann stirb mit dem König und der Königin der Schwerter!
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Jem tupfte mit seinem Brot die Soße von seinem Teller. Da bemerkte er, wie zuvor schon Rajal, das merkwürdige Muster, das in die silberne Oberfläche eingraviert war. Jem war zwar betrunken und seine Wahrnehmung etwas verschleiert, aber später glaubte er, daß das Lied zum Leben erweckt worden war, eine Bedeutung angenommen hatte, die es zuvor noch nie gehabt hatte. Die Sänger san gen von einem merkwürdigen Königspaar, und hier waren sie, ein graviert in Silber, derselbe König und dieselbe Königin, die er auf den Karten gesehen hatte, die über den grünen Filz der Spieltische beim »Würger« geflogen waren. Die Sänger besangen einen Baum, dessen Zweige sich unter der Last der reifen Früchte bogen. Was für eine Art Baum war ein Scheinbaum? Warum sangen die Sänger von Zitronen und Limonen? Die Früchte, die hier hingen waren doch Äpfel, oder nicht? Aber andererseits hatte Jem noch nie Zitronen oder Limonen gesehen. Es waren Früchte der warmen Provinzen des Südens... Es gab viele Dinge, die er nicht verstand. Auf dem grasigen Bo den zu Füßen der Königin und des Königs lag eine Reihe von Ge genständen. Zuerst erkannte Jem nicht, was es war. Dann dachte er an die Worte des Liedes. Hier lagen bei einer wunderschönen Blume zwei hornförmige Gefäße. Waren das die Kalebassen des Scheinbaums? Und dort, an einem Felsbrocken, lagen zwei Boh len ... Mit einem Pelz überzogen, vielleicht moosbewachsen. Die Bohlen des Scheinbaums? Es gab noch andere Dinge, aber was Jem am meisten faszinierte, war eine Reihe von kleinen Kisten, die wie Schmuckkästen aussahen. In jeder steckte ein goldener Schlüssel. Narr, willst du den Schatz des Scheinbaums plündern? Jem betrachtete wieder den König und die Königin der Schwerter, dann den Baum und seine schweren Früchte. Es waren Äpfel, goldene Äpfel. Und dort, in der Mitte des Baumes, nicht an einem Ast befestigt, schien direkt im Stamm ein noch größerer anderer Apfel eingebettet zu sein. Die Harfe und die Stimmen wanden sich schön und schmerzhaft
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um Jems Herz. Ja, es gab vieles, was er nicht verstand. Er hatte seine Nachricht - DIE ZEIT IST GEKOMMEN - und wartete nur auf den Moment, an dem er sie weitergeben mußte. Doch immer noch wußte er nicht, wann dieser Moment eintreten würde. Doch im gleichen Augenblick wurde ihm das Wichtige, das Entscheidende klar. Was war er doch für ein Narr! Wie viele Zeichen hatte er die ganze Zeit gesehen? Irgendwie mußte er hier, in dem riesigen Reich von Zenzau, den Kristall der Viana finden. Dieses Lied war kein Unsinn, kein Wiegenlied, wie er immer angenommen hatte. Dieses Lied war seine Anleitung, der Schlüssel für seine Suche. Der König und die Königin der Schwerter! Sie waren die Hüter des Kristalls! Alles wird fallen, doch nichts stürzt herab, Obwohl selbst die Wahrheit verschwindet, wenn du sie rufst... Jem achtete nicht mehr auf das Lied. »Ich weiß alles«, flüsterte er. »Und gleichzeitig weiß ich überhaupt nichts.« Er erhob sich schwankend vom Tisch. Die Decke glitt zu Boden und entblößte ihn in seiner Nacktheit. »Der König und die Königin!« rief er aus. »Wer sind sie? Wo sind sie?« Er benahm sich albern. Aber die anderen bemerkten es kaum. Denn im gleichen Augenblick hämmerte jemand dröhnend gegen die Haustür. Das Lied verstummte, und Landa setzte ihre Harfe ab. »Die Blauröcke!«
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»Blauröcke?« Jem griff hastig nach seiner noch feuchten Hose. Rajal suchte ebenfalls seine Kleidung zusammen. »Junge Herren!« Dolm hob die Hände. »Beruhigt Euch, ich bitte Euch, beruhigt Euch doch - Ihr seid unsere Gäste. Die Patrouillen kommen ... ach, sie kommen sehr oft! Wir haben doch nichts zu be fürchten, nicht wahr? Wir sind doch alle loyale Untertanen Seiner Kaiserlichen Agonistischen Majestät, hab ich recht?« Aber Jem glaubte Dolms beruhigenden Worten nicht. Die Szene rie verwandelte sich. Während Landas Lied durch den Raum klang, wirkte der Raum wie eine verzauberte Höhle, ein Ort voller Magie und bevorstehender Offenbarungen. Jetzt jedoch herrschte an diesem Ort nur noch die Furcht. Das Hämmern an der Haustür ertönte erneut. »Tochter, was denkst du denn? Geh, geh, rasch, öffne die Tür.« Seine Tochter eilte hinaus und schützte die Flamme der Kerze, die sie trug, mit der hohlen Hand. Dolm stürzte zu der schwarzge wandeten alten Frau. Sie reinigte den Tisch wie eine nachlässige Dienerin, die durch einen unerwarteten Besuch aufgescheucht worden war, räumte schnell die fettigen Teller ab, die Löffel, die Pokale und das Brot. Nachdem sie die Krümel auf den Teppich gewischt hatte, drehte sie sich um und sah den Verwalter an. Sein Verhalten ihr gegenüber änderte sich schlagartig. Plötzlich behandelte er sie mit einem ungewohnten Respekt. Sein verächtliches Verhalten ihr gegenüber schien nur gespielt gewesen zu sein. Aber warum? Was hatte das zu bedeuten? Die beiden alten Leute flüsterten hastig miteinander, Jem und Rajal zogen sich schnell an. »Das gefällt mir nicht!« zischte Jem. »Irgendwas ist faul!«
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»Aber was? Und warum?« »Der alte Mann ist ein Loyalist.« Jem dachte schnell nach. »Die Pferde ... Er weiß, daß wir sie gestohlen haben. Er wird uns verra ten, Raj.« »Gibt es denn keinen anderen Ausgang?« Doch ihre Hoffnungen schwanden, als auf der Treppe Schritte von schweren Stiefeln polterten. Sie versteckten sich hinter einem Sofa. Den Schritten nach vermutete Jem, daß mindestens drei oder vier Blauröcke den Raum betreten hatten. Er hörte, wie sie mit den Füßen schlurften, hörte ihr schweres Atmen und das Klirren ihrer Musketen, die sie über der Schulter trugen. Sie hatten offenbar im mer noch ihre wasserdichten Umhänge an, von denen stetig Wasser auf den Boden tropfte. »Seid gegrüßt, Meister Dolm«, sagte einer von ihnen. »Mein teurer Hauptmann! Eine schlimme Nacht, um Streife zu gehen, nicht wahr?« Dolms Stimme war unterwürfig. Jem stellte sich vor, wie er die runzeligen Hände rang. Doch nein, er stützte sich auf seinen Stock. Während er sprach, tappte der Stock auf ein blankes Dielenbrett, tappte und kratzte und erzeugte ein nervöses Muster. »Ich hoffe doch, daß Euer Besuch reine Routine ist?« Der Hauptmann seufzte. »Ach, Meister Dolm, ein Routinebesuch bei den Ruinen Eures Schlosses wäre eine schöne Angelegen heit und ganz bestimmt kein Fehler - vor allem in Anbetracht des Entzückens, das einen hier immer erwartet.« Tap. Kratz. »Bedanke dich bei dem Hauptmann, Landa.« Es folgte eine verlegene Pause, und Jem beschlich der Verdacht, daß dieser Hund von einem Blaurock das Mädchen liebkoste, ihr in die Wangen kniff oder ihr den Finger unter das Kinn legte. Würde ihr Vater einfach daneben stehen und eine solche Unverschämtheit dulden? Einen Augenblick war Jem versucht, aus seiner Deckung hervorzuspringen. Rajal streckte die Hand aus und hielt ihn zurück. 173
»Aber mein Besuch«, sagte der Hauptmann, »ist leider nicht nur Routine, auch wenn ich es mir wünsche. Leider dient er nicht nur dem Vergnügen.« Tap. Kratz. »Nein! Es gibt doch keinen Ärger?« »Zwei meiner Männer sind verschwunden.« »Deserteure? Wie schändlich!« Rajal lockerte seinen Griff. »Jem?« flüsterte er. »Warum machen wir uns überhaupt die Mühe, uns zu verstecken?« »Schhh!« »Ich meine, die Sache könnte auch gegen uns ausgehen.« »Raj, sei nicht albern! Sind wir Deserteure?« Rajal war verwirrt. Aber Jem ging es nicht anders. Er hatte schon vorher das Gefühl gehabt, daß Dolm mit ihnen spielte. Und jetzt empfand er es wieder, nur noch stärker. Dolm war ein Loyalist. Wie lange würde es dauern, bis er sie verriet? »Deserteure?« fragte der Hauptmann. »Ihr habt wohl keine sehr hohe Meinung von meinen Leuten, Meister Dolm?« Kratz. »Aber nicht doch, Herr Hauptmann, nein!« Der Hauptmann lachte. Jem spähte über den Rand der Couch und sah nur wenig von der großen Gestalt im königlichen Blau, nur den leuchtenden Rock und die blasse Hand, die den Dreispitz hielt. Dolm dagegen sah er ganz deutlich. Der Mann wand und krümmte sich, und jeden Moment erwartete Jem, daß sich der Mann erniedrigte, katzbuckelte und den anderen lobpreiste. »Wie unwürdig!« fauchte er aufgebracht. »Ich wäre tausendmal lieber ein Rebell, bevor ich zu solch einem Speichellecker herabsinken würde.« »Jem! Komm runter!« Rajal zog den Freund am Hemdschoß zurück. »Entscheide dich!« »Unsere Männer waren heute nachmittag auf dem Wrax-Weg«, sagte der Hauptmann. »Es war eine Routinepatrouille, aber sie sind nicht zurückgekehrt. Man hat mir ebenfalls berichtet, daß die ›Son
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nenuntergangskutsche‹ immer noch in der Stadt erwartet wird. Sie hat ziemlich viel Verspätung, findet Ihr nicht auch?« Dolm stimmte ihm mit einem weiteren Kratzen seines Stocks zu. »Und die Kutsche befährt ebenfalls den Wrax-Weg.« »Es hat schon viele Unfälle auf der Straße gegeben, Hauptmann.« »Deucht Euch, daß die Kutsche einen Unfall erlitten hat?« Tap. »Nein, nein, Hauptmann. Ich habe nur ganz allgemein ge sprochen, ganz allgemein.« »Nicht etwa aufgrund eines besonderen Wissens?« Kratz. »Aber nein, überhaupt nicht.« »Gut für Euch, Dolm. Und gar nicht gut für mich. Ihr versteht doch sicherlich, welchen Verdacht diese beiden Vorfälle bei meinem kommandierenden Offizier ausgelöst haben?« »Verdacht?« Jem hörte, wie der Hauptmann dicht an den alten Mann heran trat. »Bob Scarlet!« flüsterte er. »Nein!« Dolm wich zurück. »Aber der ist doch längst tot?« »Tot, Meister Dolm? Warum sollte ich das glauben?« Dolms Stimme klang pfeifend und klagend. »Hauptmann, ich kenne doch die Macht und die Pracht Eurer Armee, stimmt das nicht? Ich kenne die Streitkräfte, die gegen den Verräter aufgeboten worden sind, hab ich recht? Ich kenne Eure Entschlossenheit, den Verrat mitsamt den Wurzeln herauszureißen, wo immer Ihr ihn an trefft, nicht wahr?« Tapp. Kratz. Schweigen senkte sich herab. Als der Hauptmann schließlich antwortete, klang seine Stimme kalt. »Wißt Ihr, was man unter Iro nie versteht, Meister Dolm?« Tapp. »Falls Ihr nämlich versuchen solltet, zu ihr Zuflucht zu nehmen, wäre ich unangenehm berührt. Höchst unangenehm berührt.« Dolm erwiderte nichts, aber man hörte ein heftiges Klopfen und Kratzen. Der Hauptmann drehte sich geschickt auf dem Absatz
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um. »Ihr wißt, wo wir liegen, Meister Dolm. Wir haben Grund zu der Annahme, daß die Rebellen wieder in dieses Gebiet zurückge kehrt sind. Wenn Ihr etwas seht oder hört, möchte ich das erfahren. Vertraue niemals einem Zenzaner, sagen meine Offizierskollegen. Aber Ihr seid ein guter Mann, Dolm, das glaube ich. Bald wird diese Burg vielleicht wiederaufgebaut. Sie würde eine schöne TheronZeit-Residenz für den Gouverneur abgeben, findet Ihr nicht?« Tapp. Tapp. »Und der Gouverneur braucht natürlich einen Verwalter. Oder nicht?« Kratz. »Sehr gut. Vergeßt nicht, Dolm, alles Verdächtige. Fremde hier in der Gegend, alles Auffällige ... Ich will es wissen. Ich werde morgen wiederkommen. Und übermorgen. Und auch überübermorgen.« Jem sah Rajal an, der seinen Blick erwiderte. Noch vor wenigen Augenblicken waren beide überzeugt gewesen, daß Dolm sie verra ten würde: seine Gäste mit einer plötzlichen Verbeugung auslieferte und vielleicht darauf setzte, den zynischen Applaus des Haupt manns zu gewinnen. Doch jetzt waren sie sich nicht mehr sicher. Warum sollte Dolm sie retten? Er hatte genug Gründe, sie zu verraten. Es dauerte noch einen Augenblick, bis sich die Blauröcke zurückzogen. Jem vermutete, daß der Hauptmann in dieser Zeit das Mädchen wieder beäugte - vielleicht sogar betatschte. Nutzloser Ärger stieg heiß in ihm auf, und er konnte einfach nicht widerste hen, noch einen letzten Blick über die Rückenlehne des Sofas zu werfen. Er hatte recht gehabt. Der Hauptmann spielte mit einem Zopf von Landas Haar und lächelte wissend, während ihr Vater zusah, mit angespannter Nachsicht auf den Boden tappte und hin und her schlurfte. Aber nicht das war es, was Jem den Atem nahm. Während der Hauptmann sprach, hatte sich die ganze Zeit eine merkwürdige Ahnung in ihm gerührt. Es war seine Stimme: dieser kühle, überle-
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gene Tonfall. Seine Art, sie war liebenswürdig und gleichzeitig bedrohlich. Seine Hände, mit denen er das Mädchen liebkoste. Jetzt sah Jem zum ersten Mal das Haar des Hauptmanns. So rot wie Feuer. Und das Gesicht. Jem sank hinter das Sofa zurück. Sein Atem ging stoßweise. Jetzt packte er Rajals Arm. »Das kann doch nicht sein!« »Jem? Was hast du?« Die Blauröcke liefen polternd die Treppe hinunter. »Raj, erin nerst du dich an Poltiss Veeldrop?« »Veeldrop? Dieser Name ist verflucht bei den Kindern des Koros.« »Das war er!« »Der Kommandeur?« »Schlimmer! Sein Sohn ... Polty! Mein Todfeind! Raj, er hält mich für tot. Er darf nicht wissen, daß ich hier bin. Ich habe einmal versucht, ihn zu töten. Und ich sage dir eins: Wenn ich noch einmal die Chance dazu bekomme, dann werde ich ihn töten.« Aber es blieb keine Zeit mehr für Gespräche. Es wurde still in der Kammer, als wäre ein Vorhang gefallen. Jetzt war nur noch das Knacken des Feuers zu hören, das allmählich herunterbrannte und das endlose Prasseln des Regens. »Junge Herren?« Dolms Stimme. Jem biß sich auf die Lippen und stand auf. »Meister Dolm, anscheinend müssen wir uns bei Euch bedanken.« Dolm hielt den Blick gesenkt. Er schlurfte herum und stützte sich schwer auf seinen gedrechselten Stock. Hinter ihm wartete das alte Weib schweigend im Schatten. Nur Landa sah ihre Gäste offen an. Ihr Blick wirkte erstaunt und nachdenklich. Rajal stieß Jem an. »Was ist los? Was stimmt mit ihnen nicht?« »Kommt her, junge Herren. Näher, so ist es recht.« Verlegen gehorchten sie Dolms Ersuchen und gingen durch den vollgestellten Raum. Der alte Mann blickte hoch. Er warf den Stock
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beiseite und stand plötzlich kerzengerade da, ehrfurchteinflößend in seiner schäbigen Uniform. In seiner Hand glänzte eine Pistole. »Hände hoch! Ihr haltet uns wohl für Narren, wie?« »Was?« Jem schrak zurück, aber das alte Weib war hinter ihn getreten. Sie nahm einen schweren Kerzenleuchter vom Tisch. Flehend und fragend blickte Jem Landa an. Sie hielt etwas in den Händen. Langsam hob sie die Satteltasche hoch, in der das Wappen der Blauröcke eingebrannt war. »Ihre Papiere sind noch drin«, sagte sie verbittert. »Selbst die Namen, die sie uns genannt haben, waren falsch. Einer heißt Morven. Der andere Crum. Es sind Soldaten Sei ner Kaiserlichen Agonistischen Majestät.« »Ich habe es dir doch gesagt!« zischte Rajal. »Sie glauben, wir wären Deserteure!« Jem versuchte, gelassen zu bleiben. »Nein, nein! Meister Dolm! Ihr habt es falsch verstanden ...« »Halt den Mund, du Blaurock-Schwein!« »Schwein? Ich dachte ...« »Maul halten, hab ich gesagt!« Drohend winkte Dolm mit seiner Pistole. »Deserteure? Ihr seid Spione! Der alte ›Verirrte Reisende im Wald‹-Trick, also wirklich! Mit wem, glaubt Ihr, habt Ihr es hier zu tun? Mit ahnungslosen Bauern? Ihr tut, als hättet Ihr Angst vor den Blauröcken. Eine Patrouille kommt, wir beschützen Euch. Und dann entlockt Ihr uns unsere Geheimnisse und denunziert uns anschließend!« »Nein! Ihr versteht das völlig falsch!« Aber Dolm wollte nicht hören. »Mutter!« rief er dem alten Weib zu. Ein plötzliches lautes Krachen ertönte. Jem schnappte nach Luft, als Rajal neben ihm auf dem Boden zu sammensackte, gefällt von einem Hieb mit dem Kandelaber. Jem drehte sich um und wollte protestieren, doch bevor er dazu kam, ertönte wieder dieses Krachen, und diesmal war es sein eigener Schä del, der das Geräusch erzeugt hatte.
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Es war das letzte, was Jem an diesem Abend hören sollte. »Vater! Ich dachte schon, du wolltest sie töten!« meinte Landa schluchzend. »Für was hältst du mich? Für einen Ganoven der Blauröcke? Nein, Tochter. Und jetzt hilf mir, wir schleppen sie in die Vorratskammer. Unser Anführer soll entscheiden, was mit diesen beiden passiert.« »Was für eine Schande!« Landa seufzte. »Der Dunkle singt so schön. Und der Schöne ist ... so schön.« Sie schüttelte sich und wollte gerade helfen, die beiden bewußtlosen Jungen wegzuschlep pen, als Mutter Rea einen lauten Schrei ausstieß. Sie schlug die Hand vor den Mund und wich stolpernd zurück, bis sie auf einem Stuhl zusammenbrach. »Dolm! Du Narr, du alter Narr! Das sind keine Spione!« stieß die alte Frau stöhnend hervor. »Oh, warum habe ich nur auf dich gehört! Wie schrecklich, wie tragisch mich meine Kräfte im Stich gelassen haben!« Dolm riß der Geduldsfaden. »Wovon redest du, Weib? Rasch, hilf uns lieber!« Aber Mutter Rea stöhnte nur: »Oh, was habe ich getan?« Im nächsten Augenblick fiel sie in Ohnmacht. Landa war verwirrt und wollte der alten Frau zu Hilfe kommen, aber ihr Vater fuhr sie ungeduldig an: »Spione oder nicht, diese Jungen können uns gefährlich werden. Tochter, hilf mir, sie im Vorratsraum zu verstecken. Und zwar schnell. Die Blauröcke sind gerissen. Vielleicht kommen sie noch heute nacht zurück.«
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Ein ganzes Stück entfernt im Wald drehte sich Poltiss Veeldrop um und blickte zu Schloß Oltby zurück. Durch das Gewirr der Zweige drang das Licht aus einem Fenster hoch oben im Turm bis zu ihnen. Liebevoll dachte er an das Mädchen in dem Gebäude. Legte sie sich jetzt zur Nacht auf ihre schmale Pritsche, den süßen Mund zu ei nem Gähnen geöffnet und mit schweren Lidern, die ihr über die Augen fielen? Eigentlich hätte er dort neben ihr zunächst mit Küssen - und dann auch anders - die Leidenschaft erregen sollen, die in ihr schlummerte, unerkannt und geheim! Hinter ihm tauschten die Männer seiner Patrouille murmelnd Bemerkungen aus. »Der Alte träumt mal wieder.« »Er denkt ziemlich viel nach, was?« »Wie Morvy?« »Nein, nicht wie Morvy Es ist eher wie sein rotes Haar.« »Wie sein rotes Haar?« »Irgendwie tief.« »Rot, sagst du? Aber Morvy? Was ist mit Morvy?« »Und Crummy?« »Crummy auch.« »Bob Scarlet?« »Nein! Der arme Crummy!« »Und Morvy?« »Morvy auch.« Sie marschierten weiter. Über ihnen woben die Zweige der Bäume ein dichtes Netz, von dem der Regen tropfte und das im fah len Licht der Laterne schwankte. Poltys Gedanken glitten wieder zu dem Turm zurück. Er seufzte, als er sich den Körper des Mädchens vorstellte, ihre straffen Brüste unter dem einfachen Bau-
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ernkleid. Er war sicher, daß dieses Kind die körperliche Liebe nicht kannte. Hah, sie war sicher so unschuldig wie der neue Tag! In der Kaserne hatte Polty oft von ihr geträumt, wenn er in seiner Koje lag. Und oft, zu oft, hatte Penge nach ihr verlangt. Das war auch kein Wunder. Zenzau war eine harte Prüfung für ihn. Und da sein Herr immer nur die frischesten Vergnügungen aussuchte, gestaltete sich in diesem ruinierten Land die Suche danach nicht gerade ein fach. Manchmal zwang er ihn auch dazu, Früchte zu pflücken, die noch so wenig gereift waren, daß Penge sich verletzte, wenn er ihre Saftigkeit kosten wollte. In glücklicheren Tagen hatte Penge wie ein befriedigter Sultan auf Poltiss Schenkel geruht, wenn er seine Won nen genossen hatte, glatt und warm. Doch heute zog sich Penge nach der einen oder anderen Wonne, die, wenn sie erst einmal vor bei war, sich als gar nicht so wohltuend herausstellte, geradewegs zurück und wurde blaß und kalt, als würde er schon verloren und weinend vor dem Regimentsarzt kuschen. »Was ist das?« »Ein Zweig!« »Ein Zweig?« »Er ist abgebrochen.« »Ich dachte, es wäre ein Mann.« »Ein Mann mit einem Umhang.« »Ein roter Umhang?« Sie marschierten weiter. Ja, Penge sehnte sich nach der schönen Landa, und ihn zu befriedigen wäre ein Kinderspiel, das wußte Polty. Was sollte Dolm, der alte Narr, schon dagegen unternehmen, wo doch ein einziges Wort von Hauptmann Veeldrop Eisen, Kerker und ein Rendezvous mit dem Erschießungskommando bedeutete? »Man sagt ja, er war ein Killer.« »Ich glaub nicht, daß es ihn gibt.« »Daß es wen gibt?« »Bob Scarlet.« »Oh, der. Den gibt's.«
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»Ich meine, daß es ihn nicht gibt. Das heißt, ich glaube es.« »Sei nicht albern.« Aber Penge mußte sich einem größeren Erfordernis unterordnen. Polty hatte sich zu einer Politik der Zurückhaltung entschlossen. Seit er nach Zenzau versetzt worden war, hatte er sich vollkommen gehenlassen, das stimmte. Kein Tag war vergangen, an dem sein Ver stand nicht von Jarvel und Rum-und-Orandy benebelt gewesen wäre. Saufen und Kartenspiel füllten jede freie Stunde. Und oftmals hatten die Partien Orokon-Tarot mit einer Schlägerei geendet. Kaum war Poltys arme Nase verheilt, hatte er auch schon ein blaues Auge oder eine gebrochene Rippe zu beklagen. Mehr als einmal war er zu seinem Kommandeur befohlen worden. Und einmal war er der Degradierung nur um Haaresbreite entgangen. Es war wirklich sehr knapp gewesen. Ohne Bohnes mäßigenden Einfluß kannte Poltys Ruchlosigkeit keine Grenzen. Ja, selbst die Forderungen von Penge schienen noch drängender geworden zu sein. »Und was ist mit den Zens?« »Was soll mit denen sein?« »Die Schlacht!« »Die Zens?« »Es soll eine Schlacht geben, das sagen alle.« »Denk bloß nicht soviel über Schlachten nach.« »Wir sind schließlich in der Armee.« Sie marschierten weiter. Es wäre zu schwach ausgedrückt zu behaupten, Polty sei von der Todesnachricht seines Vaters ernüchtert gewesen. Polty war schockiert, und dann wallte heiße Wut in ihm auf. Allein daß sein Vater sein Benehmen überhaupt in Frage stellte, war für Polty eine unverzeihliche Demütigung. Jedenfalls genügte es, um jede Trauer zu ersticken, die er vielleicht über den Tod seines Vaters empfunden haben mochte. Und daß der ihm dann auch noch die Identität seiner wahren Mutter - und was für eine Mutter! enthüllte, steigerte diese Beleidigung ins Unerträgliche. Natürlich hatte Polty Wynda Throsh gemocht; hatte sie ihm nicht seine ge-
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liebte Herzensschwester zugeführt? Dennoch, man mag ja auch die Dienste eines Metzgers schätzen und trotzdem keine enge Beziehung zu ihm wünschen. Polty entsetzte einfach die Vorstellung, daß er den Lenden einer so heruntergekommenen Kreatur entsprungen sein sollte. Und obendrein bedeutete es, daß Bohne, der schlaksige, verblödete Bohne, Poltys Bruder war! Polty schwor sich augenblicklich, daß Bohne dies niemals erfah ren würde. »Was ist mit dem Blitz?« »Was für ein Blitz?« »Weißt du das nicht?« »Nein.« »Bei der Belagerung von Wrax.« »Was war da?« »Da war dieser Blitz.« Doch allmählich legte sich Poltys Ärger. Schande und Scham verflüchtigten sich wie Rauch, und er dachte nur noch an die Zukunft, die vor ihm lag. Wie sehr er sich danach sehnte, nach Irion zurück zukehren und sich seiner Herzensschwester vor die Füße zu wer fen! Was konnte es schon schaden, wenn er den letzten Willen seines Vaters erfüllte? Er zweifelte nicht daran, daß dieses Mädchen ihn heiratete. Würde nicht sofort seine Herzensmutter einschreiten, wenn sie sich weigerte? Polty jubilierte. Ja, das war gut! Ja, das war Schicksal! Titel, Wohlstand und der Körper seiner Schwester, all das durfte er genießen! Sie marschierten weiter. »War es ein Gewitter?« »Nein, ein Blitz. Wie von einer Bombe.« »Eine Bombe?« »Die Zenzaner haben sie gemacht.« »Ein Blitz, sagst du?« »Und?« »Was, wenn sie es noch einmal machen?« »Sei nicht albern.«
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Polty hatte an seinen Regimentskommandeur geschrieben. Sein Ton war ehrfürchtig, ja respektvoll. Mit süßlichen Worten informierte Hauptmann Veeldrop seinen Vorgesetzten von der bevorstehenden Heirat und bat um Urlaub, damit er seinen Dienst in Zenzau aufgeben und in sein geliebtes Heimatland zurückkehren konnte. Diskret deutete er an, daß seine Erhebung in den Adels stand nach angemessener Zeit bekanntgegeben würde. Er wurde immerhin nichts Geringeres als ein Vicomte! Sie marschierten weiter. »Warum ist das albern?« »Sie haben doch verloren, oder etwa nicht?« »Ja, aber ...« »Eine Menge Kameraden sind erblindet.« »Shh. Was war das?« »Ein Eichhörnchen. Und nein, es ist keins.« »Was keins?« »Kein rotes Eichhörnchen!« Polty hatte diesen Brief vor fast einem Monat abgeschickt. Seit dem hatte er seinen Dienst wie in Trance versehen. Die Zeit schien stehengeblieben zu sein. Er wartete, das war alles, aber er war aus gezeichneter Laune. Die Mühlen der Behörden mahlten schließlich langsam, und Polty zweifelte nicht daran, daß er schon bald über den Wrax-Weg zurückrumpeln und dieses gottverlassene Land für immer hinter sich lassen würde. Doch trotzdem, unter seinem Optimismus spürte Polty, wie eine gewisse Beunruhigung schwelte, die gespannt war wie eine Trosse. Auf einmal benahm er sich vorsichtig, fast schon duckmäuserisch, wo er früher gepoltert hatte und vorgestürmt war. Kein Jarvel mehr und auch kein Rum-und-Orandy. Beim Glücksspiel war Haupt mann Veeldrop ein Unbekannter geworden, und zum ersten Mal, seit Poltiss mit Penge gesegnet worden war, legte er ihm Zügel an. Leicht war das nicht. Aber notwendig. Nichts durfte Poltys neue Tugend beflecken. Und nichts durfte den gespannten Draht zum Schwingen bringen.
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Nein, die kleine Landa war sicher! »Sind sie denn Feiglinge?« »Wer?« »Morvy Und Crummy« »Morvy? Crummy? Ich vermute schon.« »Ich meine, sind sie weggelaufen?« »Sei nicht albern!« Polty hatte keine Angst vor der bevorstehenden Feldschlacht. Sicher, er hatte zwar noch nie an einem Kampf teilgenommen, und er hatte auch wenig Lust dazu. Hirnlose Gewalt praktizierte man seiner Meinung nach viel besser in einem privaten Rahmen. Auf seinen Patrouillen hatte er ein paar Bauern erschossen und bei einer Gelegenheit eine Frau mit seinem Bajonett aufgespießt. Daß solche Aktivitäten Spaß machten, konnte man schwerlich abstreiten, aber dieses Vergnügen würde erheblich gedämpft werden, wenn ähnliche Grausamkeiten die ganze Zeit um ihn herum geschahen. Und wenn sie sich darüber hinaus auch noch gegen seine eigene Person richten konnten! Aber wieso sollte Polty sich fürchten? Bei den Feinden handelte es sich schließlich nur um Zenzaner, schäbige Bauern mit Mistgabeln und Knüppeln. Welche Chance hatten die schon gegen eine Armee der Blauröcke? Es würde außerdem noch einige Zeit vergehen, bis es zur Entscheidung kam. Bis dahin war Polty längst verschwunden und über den Wrax-Weg nach Hause gerumpelt! Sie marschierten weiter. »Warum ist das albern?« »Wohin willst du denn weglaufen?« »Würdest du nicht weglaufen?« »Wovor?« »Vor dem Blitz.« »Ach, halt die Klappe!« Poltys Gedanken richteten sich wieder auf seine Zukunft. Wo würde er als vornehmer Lord leben? In Irion? Wohl kaum! Er malte sich ein Anwesen in Agondon aus, vollgestopft mit bunten Reichtü mern, wo sich die vornehmsten Adligen ein Stelldichein und ihm
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die Ehre geben würden. Sich diesen Haushalt genauer vorzustellen war schwierig, jedenfalls für Polty Er war schließlich bei den Wax wells aufgewachsen. Er würde Bohne zu seinem Kammerdiener machen. Ja, Bohne wäre sicher dankbar dafür, ihm dienen zu dürfen. Seine Herzensmutter würde auch ihren Platz finden. Zweifellos gab sie eine großartige Haushälterin ab und würde auf seine Ehefrau aufpassen, solange er unterwegs war. Polty begann sogar, sich an die Vorstellung zu gewöhnen, daß seine natürliche Mutter in dieses Bild paßte. Er wußte zwar noch nicht genau, welchen Titel er ihr geben würde, aber sie würde jedenfalls irgendeine höhere Diener position bekleiden und gewisse diskrete Arrangements für die Zeit treffen, in der man die Mistress behutsam behandeln mußte. Polty lächelte. Was für eine liebevolle Familie sich um ihn versammeln und sich in dem Bestreben vereinen würde, ihren Herrn und Mei ster glücklich zu machen! All diese erfreulichen Gedanken gingen ihm durch den Kopf, während die Patrouille wieder in die sichere Wrax-Kaserne einritt. Als er sich auf seine Pritsche warf, die Stiefel auszog und Bohne schmerzlich vermißte - wenn Bohne nur da wäre und an seiner Statt an dem Stiefel zerren könnte! -, klopfte ein Adjutant zackig an die Trennwand und überreichte Polty zwei Briefe. Der eine stammte vom Oberst Heva-Harion. IDSKAM
IM DIENST SEINER KAISERLICHEN
AGONISTISCHEN MAJESTÄT
Hauptmann Veeldrop, da Ihr offiziell Lord E...s Division unterstellt bleibt, ist mir Euer Schreiben vom 4Scbw/Evos überbracht worden. Ihr werdet mein Zögern bei der Beantwortung entschuldigen, aber Ihr werdet ver stehen, daß die Angelegenheiten des Königreichs ein verzweifeltes Stadium erreicht haben. Demgemäß erachte ich es für selbstver
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ständlich, daß bei der Drohung eines möglicherweise jederzeit aus brechenden Krieges kein Offizier von seinem Dienst in Zenzau befreit werden kann. Ich muß hinzufügen, daß die Berichte über Eure Führung während dieser Expedition mir Anlaß zu großer Sorge gegeben ha ben. Weiterhin betrachte ich dieses Gesuch, das Ihr an mich gestellt habt, als eine Impertinenz, die einer Insubordination gleichkommt. Es ist die letzte, die Euch gestattet wird. Ihr solltet ernsthaft bedenken, daß Ihr hiermit eine letzte Warnung erhalten habt. Ich verbleibe etc. (Oberst) M. Heva-Harion Der zweite Brief trug das Siegel von Irion. Teuerster Herzenssohn, oh, wenn ich nur bei Euch wäre und Eure Standhaftigkeit stählen könnte! Armes, armes Kind, wappnet Euch! Oh, welche Drangsal! Oh, welche Plage! Seht nur, wie meine Tränen diese Seite aufwei chen! Ich bin immer noch feucht, so sehr ich auch dagegen ankämpfe, und wie sollten sich Eure feuchten Tränen nicht mit meinen vermischen, wenn ich Euch nun sage (was mir schwerfällt nach dem Verlust meines Ehegatten), daß Eure Herzensmutter nun auch noch ih rer HERZENSTOCHTER beraubt wurde? O welches Leid! O welche Trauer! Denn Catayane, Catayane, Trost meiner schwin denden Jahre, ist aus diesem unserem Heim geflohen und kann nir gends gefunden werden! O betet, daß sie zu uns zurückkehren möge! In tiefster Zuneigung verbleibe ich Eure Mutter UMBECCA Polty blieb einige Augenblicke blaß und zitternd auf seiner Pritsche sitzen. Dann zerknüllte er die beiden Briefe zu einer Kugel, warf sie
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in den Ofen der Baracke und verschwand stehenden Fußes in der Offiziersmesse. Er würde sich betrinken, und zwar schnell und äußerst gründ lich.
23. Das Gespenst im Rauch »Elpetta!« Jeli verdrehte die Augen. »ELPETTA!« Diesmal stampfte sie mit dem Fuß auf. Also wirklich, was war das nur für eine nutzlose Bagage? Sie rief erneut, und diesmal ant worteten ihr endlich Schritte. Jemand mit plumpen Stiefeln kam die Treppe herauf. Das Dienstmädchen trat mit roten Wangen und schwer atmend ins Zimmer. Jeli stemmte ihre Hände in die Hüften. »Elpetta, was hat das zu bedeuten?« »Zu (keuch, keuch) bedeuten, Miss?« Jeli holte tief Luft. »Die Olton-Uhr hat kaum die zwölfte geschlagen, als du meine Mieder geschnürt hast. Bei der dreizehnten habe ich meinen Hüfthalter festgeschnallt und meinen Reifrock angelegt. Jetzt ist die vierzehnte schon vorbei, und wo bleibt meine Kutsche? Wo ist meine Tante? Soll der Empfang bei Lady Bolbarr, auf den ich mich ein ganzes Mondleben mühsam vorbereitet habe im Schweiße meines Angesichts -, ohne seinen begehrtesten Gast vorübergehen? Siehst du denn nicht, daß ich meine schönsten Sa chen trage? Sieh dir nur diesen Satin an, diese faszinierenden Perlenarbeiten! Ich habe mir den ganzen Nachmittag von Meister Car rousel die Haare machen lassen! Und jetzt laufe ich auf und ab, klingle, rufe ... Ich bin tatsächlich gezwungen, zu schreien wie ein
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Marktweib, Elpetta! Und trotzdem läßt man mich allein. Schätzt es denn niemand, daß ich eine Frau mit einer Bestimmung bin? Und außerdem singt auch noch Miss Tilsy Fash heute abend. Soll ich mitten in ihre Vorstellung platzen und die Wirkung meines Auf tritts dämpfen, für die ich so schwer gearbeitet habe?« Jelis Stimme brach, und sie warf sich aufs Sofa, allerdings vor sichtig, und unterdrückte ein trockenes Schluchzen. Das Dienst mädchen stand daneben und rang nach Luft. Man konnte ihr nach sehen, daß sie annahm, MISS Jeli erwarte nicht von ihr, etwas auf diese Vorwürfe zu antworten. Jedenfalls bis die junge Dame aufblickte und schrie: »Hast du nichts dazu zu sagen, du dummes Weib?« Elpetta - oder Berthen Spratt - straffte die Schultern. Sie hätte eine ganze Menge sagen können, nach all den Jahreszeiten, die sie schon im Dienst der Bewohner dieses Hauses stand. Statt dessen bemerkte sie jedoch nur, daß es ihr leid täte, sehr leid, daß die junge Miss gewisse Unannehmlichkeiten ertragen müsse, aber etwas - irgend etwas - ginge dort unten vor. Da sie die Natur dieses Etwas er raten hatte, hatte sich Berthen - oder Vanta Shessey - entschlossen, es zu respektieren. »Was für ein Etwas?« fragte Jeli mißtrauisch. »Verzeiht, Miss, aber wir haben Besuch.« Das Dienstmädchen versuchte ein scheues Lächeln. »Wenn Ihr einen Blick aus Eurem Schlafzimmer werft, könnt Ihr vielleicht etwas sehen, das Euch ... das zu Eurem Nutzen ist, Miss.« Das Mädchen lächelte weiter schüchtern, während ihre junge Herrin zum Fenster hinüberlief. Jeli sah die steile Treppe hinunter, auf der vor langer Zeit Ju-Ju zusammengebrochen und gestorben war. Jetzt verschwendete Jeli keinen Gedanken mehr an ihre alte Erzieherin. »Elpetta, was geht hier vor?« Es war schon spät, und Jeli hatte erwartet, in die Dunkelheit hin auszublicken, die höchstens vom Mond oder gelegentlich von den
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Laternen der Lampenträger erleuchtet wurde. Statt dessen sah sie jedoch Fackeln, die in den rostigen Haltern neben der Treppe flackerten. Die Nacht war hell erleuchtet, und am Fuß der Treppe wartete eine sechsspännige Kutsche. Es war die prächtigste, die sie jemals gesehen hatte. Und wer war das ? Ein gebeugter alter Mann mit einer wallenden Perücke ging langsam die Treppe hinunter, wobei er sich schwer auf den Arm eines Dieners stützte. Und aus der Kutsche stieg ein Mann in Weiß, ein großer, dünner, hoch aufgerichteter Mann, dem eine plumpe, rotgesichtige Gestalt folgte. Sie trug einen Umhang aus blauem Samt mit Hermelinbesatz. Jeli schnappte nach Luft. Sofort stand das Mädchen neben ihr und drückte ihr vertraulich den Arm. »Seht Ihr, Miss, das ist doch kein Geheimnis, oder? Das da ist Euer Onkel, und die anderen sind seine Gäste. Seht nur, wie freundlich er sie willkommen heißt: den Ersten Minister - und den König!« Jelis Gesicht war blaß. Sie schaffte es gerade noch, nicht ohn mächtig zu Boden zu sinken und damit ihr schönes Gewand zu zer knittern und die komplizierte Hochfrisur zu ruinieren, an der Agondons bester Friseur so lange gearbeitet hatte. Statt dessen fühlte sie, wie jemand von hinten seine Arme um ihre Taille schlang und sie festhielt. Erschrocken drehte Jeli sich um. Es war ihre Tante. Tante Vlada hatte in letzter Zeit oft verblaßt gewirkt, schwach, und sie hatte ganz und gar nicht mehr der großartigen Persönlich keit geähnelt, von der Jeli anfangs so fasziniert gewesen war. Manch mal lag die alte Frau zu Jelis Verdruß den ganzen Tag auf dem Sofa herum, graugesichtig und abgehärmt, nippte an ihrem schwachen Tee und hatte sich wenig attraktiv in eine Daunendecke gehüllt. Jetzt jedoch strahlte sie wieder in ihrem alten Glanz in einem prachtvollen grünen Kleid. Ihre Augen glühten und blitzten, und ihre langen Locken, mit Henna frisch gerötet, wanden sich wohlfrisiert um ihren Kopf und waren mit großartigen Federn festgesteckt.
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Lächelnd führte sie ihr junges Mündel zur Tür. »Kommt, mein Liebes. Ich fürchte, wir haben Euch ein bißchen hintergangen, aber das war notwendig, damit Euer kleines Herz vor Aufregung nicht zerspringt! Nein, es gibt heute keinen Empfang bei Lady Bolbarr! Euren Putz habt Ihr für ein privates Treffen an gelegt - und was für ein Treffen das ist! Kommt, Euer Schicksal wird sich gleich erfüllen!« Der Erzherzog von Irion führte seine Gäste in einen Salon, der eilig mit neuen Vorhängen und Teppichen ausgestattet worden war. Natürlich hatte Vlada alles organisiert. Trotzdem wirkte der Raum noch immer ein wenig schäbig. In einigen Ecken brannten Weihrauchkerzen, um den muffigen Geruch zu überdecken. Der Erzherzog benutzte dieses Zimmer nur selten, und daß er es überhaupt benutzen mußte, mißfiel ihm sichtlich. Er stützte sich schwer auf den Arm eines Dieners. Formelle Zusammenkünfte waren ihm ein Greuel. Schon seit langer Zeit verzichtete der alte Mann darauf, sich bei Hofe zu zeigen, und er kleidete sich nur noch selten in der ganzen Pracht seines Standes. Seine Perücke juckte, die Schuhe drückten, und das Kor sett und die Strümpfe brachten ihn schier um. Er sehnte sich danach, sich wieder in die dunklen Gewölbe unter dem Haus zurückziehen zu können! Vor Zyklen, ja, jetzt kam es ihm schon fast wie ein ganzes Leben vor, hatte Jorvel Ixiter beschlossen, daß ein Mann ein besonderes Interesse entwickeln mußte, wenn er die Schande und die Langeweile des Lebens überstehen wollte. Und das mußte er bis zur Vernachlässigung aller anderen Dinge verfolgen. Die Wahl war freiwillig oder sollte es zumindest sein. Wichtig war allein, daß dieses Interesse eine so starke Faszination auslösen, so un ausweichlich erscheinen mußte, so lebensnotwendig, daß es das Le ben selbst mit einem gewissen Sinn erfüllte. Jorvel Ixiter hatte beschlossen, sich der Verworfenheit zu wid men. Er wollte sie hätscheln und tätscheln, und es war eine so wich-
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tige Mission für ihn geworden, diese Zwecke zu verfolgen, daß sein ödes Leben vor neuer Bedeutung geradezu brannte. Er war ein wortkarger Mensch, der niemandem traute, aber wäre ihm jemals eine Person nahe genug gekommen, um das Räderwerk zu erkennen, das in seinem Kopf mahlte, hätte sie sicher gesehen, daß Schuld der Mechanismus war, der es antrieb. Hatte der Verräter von Ejard Rot beschlossen, sich immer und immer wieder zu bestrafen und immer tiefer in dem Abgrund zu versinken, den er selbst ersonnen hatte? Der Erzherzog hätte sicher behauptet, daß er keine Schuld gefühle kannte. Die Belagerung von Irion war längst Geschichte. Er steckte mittlerweile so tief im Rachen des Bösen, daß der Verrat an Ejlands rechtmäßigem König nur ein kleines Vergehen in der langen Liste der Verbrechen war, die Ixiters Lebensweg säumten. Dennoch, manchmal, in der Nacht, wenn er auf der schmutzigen Couch des Bordells unten im Keller schlief, stellte der vornehme Lord, der sich in den »Würger« verwandelt hatte, fest, daß seine Gedanken in diese Richtung wanderten, und verlangte lauthals nach Jarvel oder Rum oder nach der Aufmerksamkeit einer seiner entehrten jungen Damen. Säuerlich musterte der Erzherzog den kleinen Salon. Vladas Möblierung widerte ihn an. So weibisch und schnörkelig! Einen winzigen Augenblick dachte er an seine tote Frau und erstickte den Gedanken sofort wieder. Wie verteufelt mies er sich fühlte! Die Lampen waren zu hell für ihn, und seine Augen tränten. Er unter drückte den starken Impuls, sein Gemächt zu richten, und begnügte sich damit, heftig unter der Perücke zu kratzen. Als er seine Hand zurückzog, hing ein blutiges Stück Schorf unter einem Fin gernagel. Diskret schnippte er es auf den schönen Teppich. Mit bedachter Finesse und Grazie stellte sich die kleine Gruppe in einem Kreis vor dem Kamin auf, wobei alle sehr genau darauf achteten, die Vorrangstellung des Königs zu wahren. Sofort tauch ten Diener mit Krügen voller Rum-und-Orandy neben ihnen auf. Der König und der Erzherzog leerten ihre Becher sofort und war
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teten ungeduldig darauf, daß man sie neu füllte, was auch beinahe augenblicklich geschah. Der Krug des Ersten Ministers stand während der ganzen Szene, die jetzt folgte, unberührt neben ihm. »Was für ein ungeheures Privileg, Eure Kaiserliche Agonistische Majestät in diesen Wänden begrüßen zu dürfen«, startete der Erz herzog einen Versuch, die Etikette zu wahren, und rang salbungs voll die Hände. »Ein Privileg, aber auch ein Vergnügen. Wäre ich ...«Er suchte nach Worten. »Würde ich jetzt von einem herab stürzenden Kranzgewinde erschlagen, das mir den Kopf zer schmetterte und mich vor den Füßen Eurer Majestät verbluten ließe, würde ich dennoch als glücklicher Mensch sterben.« »Seine Majestät fühlt sich ebenso privilegiert, hier sein zu kön nen«, erwiderte der Erste Minister trocken, »da Seine Majestät weiß, wie abenteuerlich das Treffen zu werden verspricht.« Der König war bereits ziemlich betrunken. Diskret, wie er glaubte, ließ er einen mächtigen Furz fahren. »Das Mädchen«, stieß er undeutlich hervor. »Wo ist das Mädchen?« »Geduld, Sire«, erwiderte der Erste Minister. »Ich zweifle nicht daran, daß sie bald bei uns sein wird. Nicht wahr, edler Erzher zog?« »Bald, sehr bald. Meine, ehm, meine Herzensschwester bereitet sie zu, ehm, vor. Aber vielleicht erinnert sich Eure Majestät ja an das letzte Treffen mit ihr? Man hat mir erzählt, daß sie beinahe die Auserwählte des Königs geworden wäre.« Der Erste Minister warf ihm einen warnenden Blick zu. »Maddy!« stöhnte der König, unmittelbar bevor ihm der Erste Minister auf den Fuß trampelte. Der Erzherzog rutschte auf dem unbequemen Stuhl hin und her. Wenn diese Sache vorbei war, würden ihm alle Knochen weh tun! Wie oft hatte er Vlada heute schon verflucht, weil sie ihn zu dieser albernen Scharade gezwungen hatte! Und dennoch hatte sie darauf bestanden und behauptet, es sei die Sache wert. Der Erzherzog mußte zugeben, daß sie recht hatte. Natürlich würde ihm dieser 193
Handel nicht besonders viel Freude bereiten. Ein Verleih war in sei nen Augen dem Verkauf immer vorzuziehen, und außerdem kam der Handel vor allem dem Mädchen zugute. Eine königliche Hoch zeit? Daran konnte man wohl schwerlich etwas Demütigendes fin den, ganz gleich, was für einen Charakter der zukünftige Ehemann hatte. Hätte Vlada ihm jedoch gestattet, das Mädchen vorher mit nach unten zu nehmen, wäre ihr Onkel sicher stärker mit dem Her zen dabeigewesen. Wäre es etwa nicht sinnvoll gewesen, sie erst ordentlich zuzureiten? Oft hatte er sich die Lippen geleckt und sich ein Gespann von Blauröcken und dazwischen diese Regimentsziege ausgemalt... Der alte Mann seufzte. Er mußte sich daran erinnern, daß er nach diesem Geschäft endlich das Haus nebenan kaufen konnte, um, wie schon lange geplant, die Größe seiner unterirdi schen Domäne verdoppeln zu können. Vlada kam herein, an ihrer Seite das Mädchen. Die Frauen ver beugten sich tief vor der Königlichen Person, aber es war der Erste Minister, der sprach. »Was für eine Schönheit, Sire!« zischte er. »Wollt Ihr sie nicht neben Euch bitten?« Der König schwankte auf seinem Stuhl gefährlich zur Seite. Er sabberte ein wenig und um klammerte mit seiner verstümmelten Hand den Becher. Jeli setzte sich zitternd hin. Zweifellos wäre jetzt ein verlegenes Schweigen eingetreten, wenn Vlada nicht mit der Kunstfertigkeit, die allen Frauen eigen zu sein scheint, die Kluft überbrückt hätte. Das Gespräch drehte sich um Staatsangelegenheiten, natürlich um die frivolen, ohne dabei allerdings die Tugend des Mädchens zu ver letzen. Dann plauderte man über das neue Opernprogramm und Lady Cham-Charings traurigen Niedergang. Sie redeten über die Morde auf der Regentenbrücke und die schwerwiegenden Über flutungen in Agondons Neustadt. Als dieses Jahr das Eis getaut war, hatte schlammiges Wasser alle Keller von Ollon-Quintal überflutet. »Die Keller?« hakte der Erzherzog ein wenig beunruhigt nach. »Allerdings, Herzensbruder, hast du denn nichts davon gehört?
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Ich kann nur sagen, daß du Glück hast, auf der Insel zu wohnen. Erster Minister, gibt es nicht immer Bedenken, was beanspruchtes Land angeht?« »Spielt Ihr da auf etwas Bestimmtes an, Lady?« erwiderte der Er ste Minister. Vlada blickte ausdruckslos in das hagere, asketische Gesicht. »Ich habe außerdem gehört, daß in Varby eine Art Seuche ausge brochen sein soll. Man bezweifelt sogar, daß es dieses Jahr eine Varby-Saison gibt! Erster Minister, wird das nicht eine Krise erster Größe nach sich ziehen?« »Erster Größe? Meine werte Dame, es wird eine Krise geben, deren Größe unsere Vorstellungskraft übersteigt.« »Eure Leute sollten rastlos daran arbeiten, Erster Minister.« »Sicherlich, sofern sie nicht abgelenkt werden.« Vlada nahm einen Becher von dem Tablett eines Lakaien und stürzte den Inhalt in einem Zug hinunter - wie ein Mann. Dann knallte sie den Becher mit überraschender Kraft auf den kleinen, mit Intarsien geschmückten Tisch zwischen ihnen. Was für eine Frau! Man erwartete fast, daß sie ihr Kleid griff und ein Tarotspiel und eine Börse mit Gold-Tirals herauszog! Statt dessen schlug sie zuckersüß vor: »Wollen wir die jungen Leute nicht lieber allein lassen?« Die gute alte Vlada! Der Erzherzog mußte sich wieder die Hände reiben, diesmal ganz unwillkürlich. Vlada, dachte er, ist die einzige Frau, deren Intelligenz ich respektiere. Wenn sie als Mann geboren worden wäre, was wäre dann wohl aus ihr geworden? Andererseits wollte er keineswegs, daß sie ein Mann war. Liebevoll erinnerte er sich an die Zeit, als sie noch jünger gewesen waren und sich auf un gemachten Betten herumgewälzt hatten. Was für Vergnügen sie ge nossen hatten! Ihr glaubt, daß ich meinen Ruf ruiniert habe, stimmt's? hatte Vlada ihn eines Tages lachend gefragt. Nun, laßt Euch eins sagen, Jorvel Ixiter: Das habe ich keineswegs. Männer sind Narren, und ich werde die spektakulärste Hochzeit eingehen,
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die ich kriegen kann. Nicht aus Liebe, sondern wegen der Macht, nur wegen der Macht! Die arme Vlada! Ihrem Ehrgeiz war ein ziemlicher Dämpfer ver setzt worden. Zenzau-Blut und Skandale waren eine hochbrisante Mischung, damals wie heute, und hatte sie sich nicht außerdem auch noch die unsterbliche Feindschaft von Uly Quick zugezogen? Jorvel wußte allerdings bis heute nicht, warum eigentlich Quick, die sauertöpfische Wächterin derselben Tugend, die Jorvel so genüßlich zerstörte, war in Agondon schon immer viel zu mächtig gewesen. Vlada Flay wurde in die Kolonien verbannt. Und doch, dachte Jorvel, hätte ich sie retten können. Was hat mich daran ge hindert? Ein verrücktes Verantwortungsgefühl. In Ruanna, der Frau, die er zu guter Letzt heiratete, hatte er gehofft, etwas von Vladas Feuer zu finden. Aber das war ein Irrtum gewesen. Wie sehr er sich dann gewünscht hatte, das Zenzau-Blut zu heiraten und darauf zu pfeifen, was die Welt - und Uly Quick dazu sagen würde! Aber diesen Fehler konnte man nicht mehr un geschehen machen. Die Ehe war für Jorvel Ixiter Vergangenheit. Trotzdem, wenn das Mädchen gegangen war, konnte er Vlada viel leicht fragen, ob sie mit nach unten kommen und ihm bei der Ver waltung seines ständig wachsenden Gewerbes helfen wollte. Aber nein. Sie würde bei dem Mädchen bleiben und in eine Ke menate im Koros-Palast umziehen wollen. Was tat Vlada letztlich anderes, als durch das Mädchen die spektakuläre Heirat einzuge hen, die sie einst für sich selbst geplant hatte? Das dachte Jorvel. Graziös und elegant führte Vlada den Erzherzog und den Ersten Minister ein wenig vom Feuer weg. »Vielleicht sollten wir uns hinter den Wandschirm zurückziehen, Gentlemen, wo ich einige der unschätzbarsten Drucke aus der Sammlung meines Herzensbru ders arrangiert habe. Immerhin muß man diese Dinge vor dem Licht schützen.« Sie waren kaum hinter dem Schirm verschwunden, als der Erste
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Minister dem Erzherzog einen Beutel Edelsteine, die noch viel wertvoller als jeder Druck waren, in die gierige Klaue drückte. »Und der Restbetrag, Erster Minister ... ?« »Am Tag der Hochzeit, Erzherzog. Am Tag der Königlichen Hochzeit.« Als Jeli mit Seiner Kaiserlichen Agonistischen Majestät allein war, wurde sie von einem Tumult widerstreitender Gefühle geschüttelt. So lange, fast drei volle Jahreszeiten lang, hatte man dem Mädchen versichert, daß ein großes Schicksal auf sie wartete. Doch nun end lich das Wesen dieses Schicksals zu erfahren, brachte sie ein wenig aus der Fassung. Sie war begeistert. Denn es war mehr, viel mehr, als sie sich vorgestellt hatte. Und trotzdem ... Der Monarch, der der Herrscher über alle Länder dieser Erde zu sein beanspruchte, saß mit glasigen Augen und schlaffen Lippen ne ben ihr, schob seinen Stuhl näher an ihren heran und umklammerte ihren Arm. Jeli blickte zu Boden und holte tief Luft, als sie die verstümmelte Hand bemerkte. »Man sagt mir also, daß ich eine Ehefrau nehmen muß«, stammelte der Ur-Erzmaximus und Verteidiger des wahren Glaubens. »Ihr seid ein hübsches Ding, das kann man nicht leugnen. Trotzdem glaube ich nicht, daß ich Euch lieben werde, meine Teure! Ich habe nur einmal die Liebe erfahren, und das ist vorbei, sie ist tot! Ich will Euch sagen, daß ich grausam zu Euch sein werde. Ich werde Euch schlagen, und ich werde bei unserem Verkehr keine Freude empfinden. Ich habe kein Verlangen nach Eurer Gesellschaft, Eurem Witz und Euren Fertigkeiten. Eure Schönheit und Euer Putz können mich nicht im geringsten locken. Und bald werde ich allein Euren Anblick hassen. Dennoch bin ich ein Mann und muß meine Lust lindern. Außerdem bin ich auch ein König und habe die Pflicht, einen Erben zu zeugen.« Bei diesen Worten lehnte sich Oroks Stellvertreter im Reich des
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Seins ein wenig zu weit auf seinem Stuhl zur Seite und schlug mit einem lauten Knall auf dem Boden auf. Aber da er sich trotzdem der Delikatheit der Situation bewußt war, krallte er sich am Kleid des Mädchens fest, zog sich an dem dicken Stoff hoch, hielt sich fest und fragte sie mit einem Schwall seines alkoholisierten Atems, ob sie seine Frau werden wolle. Tante Vladas kleine Gruppe war von dem Knall alarmiert worden und unauffällig hinter dem Wandschirm hervorgetreten, weil sie diesen entscheidenden Augenblick in Miss Jelica Vance' Karriere mit ansehen wollte. Leider wurde sie statt mit einem dahinschmel zenden Seufzer und einem mädchenhaften Erröten mit einem durchdringenden Schrei konfrontiert! Meine Güte, das Kind mußte verrückt geworden sein! Sie sprang auf, warf ihren schwankenden Freier rücklings zu Boden und stürmte schluchzend aus dem Zim mer. Der Erste Minister hastete zum König, weil er fürchtete, daß Seine Majestät sich den Schädel eingeschlagen haben könnte. Tante Vlada machte sich an Jelis Verfolgung. Nur der Erzherzog blieb hinter dem Wandschirm zurück. Besorgt wog er die Edelsteine in der Hand. Jeli lief und lief. Sie stürmte an den Lakaien vorbei in die Halle. Sie wußte weder, was sie vorhatte, noch, wohin sie wollte. Sie konnte kaum denken. Alles, was sie sah, war die ruinierte Hand, die erst ihren Arm und dann ihr Gewand gepackt und zerknautscht hatte. »Liebes! Liebes!« Tante Vladas Schritte tappten hinter ihr. Hätte Jeli nachgedacht und wäre bei Besinnung gewesen, dann wäre sie in ihr Zimmer geflüchtet und hätte die Tür zugeschlagen. Jetzt jedoch konnte sie nur an Flucht denken und stürmte durch einen unbe kannten Durchgang. Wie schäbig und häßlich die Wände waren! Sie mußte irgendwo im hinteren Teil des Hauses sein, den sie noch nie inspiziert hatte. Vermutlich waren es die Quartiere der Diener. Der Boden bestand
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aus nackten Bohlen, und die Farbe blätterte in großen Flecken von dem rissigen Putz der Wände. Plötzlich wurde hinter ihr eine Tür geschlossen. Jeli stand im Dunkeln. Zitternd wischte sie sich die Tränen ab und tastete sich weiter. Vor lauter Aufregung hatte Onkel Jorvel seine üblichen Vorsichtsmaßnahmen außer acht gelassen. Jeli wußte es nicht, aber sie befand sich in dem Teil des Hauses, der normalerweise verschlossen war. Sie stieg eine Steintreppe hinab. Was als nächstes passierte, war - natürlich - unausweichlich. Von irgendwo weiter vorn drang ein grünliches Licht zu ihr, der Klang wüster Lieder und Stimmen, die heiter, wütend oder begehr lich durcheinanderriefen. Der Gestank von abgestandenem Bier war beinahe unerträglich. Mittlerweile hatte Jeli längst die Szene vergessen, die sich oben ereignet hatte. Fasziniert und staunend starrte sie in das Kellerge schoß des Hauses ihres Onkels: auf die verspiegelten Wände, den beißenden Rauch, die grünen Filztische, auf die Spielkarten, die darüberhuschten, und ... auf die Gestalt des Mädchens, das sich da zwischen hindurchwand. Was für ein Mädchen! Jeli war schockiert. Es trug nur einen durchscheinenden Umhang, unter dem ihre Brüste schwangen, und hatte das Haar gelöst. Das Mädchen amüsierte sich auf die schamloseste Art und Weise, strich mit den Händen diesem und jenem trunkenen Burschen über den Kopf oder die Schultern und lachte entzückt auf, wenn Hände sich hochreckten, um ihre Brüste und Schenkel zu betatschen. In den dichten Rauchschwaden wirkte das Mädchen wie ein Traumge spenst, doch als sie sich unter einer schwingenden Laterne umdrehte, konnte Jeli ihr Gesicht ganz deutlich erkennen. War das möglich ? Aber sie kam nicht einmal dazu, einen Schrei auszustoßen, son dern flüsterte kaum vernehmlich. Erinnerungen an ihre Tage bei Quick schossen ihr durch den Kopf, Bilder von einem kichernden
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Mädchen, das sich den Ehemann, das Heim und die Kinder aus malte, die sie einmal haben wollte. Jilda. Jilda Quisto. Jemand verlangte ein Lied, und dann stellte sich das Mädchen mitten in den Raum und wiegte sich sacht, während sie mit rauher Stimme eine Melodie intonierte. Die Männer gierten sie immer noch an und betatschten sie, während sie sang, doch Jeli achtete nur auf die Worte.
JILDAS LIED Das ist mein Leben,
Es zerrinnt mir zwischen den Fingern,
Weggepustet an einem windigen Tag:
Alles in allem werden alle Versprechungen, die Männer gehen,
schnell gebrochen,
Und alles in allem kannst du von Glück reden, wenn sie dir über-
haupt etwas lassen.
Das ist meine Liebe,
die man mir entrissen hat
Und die auf einer stürmischen See wogt und krängt:
Alles in allem werden die Hoffnungen einer Frau bestimmt ent-
täuscht,
Und alles in allem kann sie von Glück reden, wenn sie nicht traurig
und verlassen endet.
Das ist mein Herz,
ganz rot vor Blut,
dem man übel mitgespielt hat auf einem schmutzigen Bett:
Alles in allem war mein Leben und meine Liebe nicht mal ein An-
denken wert.
Ach, ich frage mich, warum mein Herz gebrochen werden mußte!
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Jeli traten Tränen in die Augen. Zitternd wollte sie gerade wieder in den Schatten zurückweichen, so weit sie nur konnte, und vergessen, daß sie diesen Ort und dieses Mädchen gesehen hatte. Doch im gleichen Moment legten sich Hände um ihre Taille. Das war heute abend schon einmal passiert, doch diesmal hätte Jeli fast kreischend aufgeschrien. Sofort drang ihr die tröstende Stimme ins Ohr. »Nein, mein Lie bes, fürchte dich nicht. Ich dachte mir schon, daß du diesen Weg entlanglaufen würdest. Es ist vielleicht ganz gut, daß du zu guter Letzt die Wahrheit erfährst.« »Die Wahrheit?« »Sieh einfach hin«, riet ihr Tante Vlada. Jeli drehte sich wieder um. Jetzt konnte sie das Mädchen, das wie Jilda aussah, nicht mehr sehen. Doch statt dessen erkannte sie fünf, zehn, fünfzehn Mädchen, die wie unkeusche Gespenster durch den Raum glitten. Einen Moment lang empfand Jeli wieder etwas von der alten Liebe, als sie sich in die Arme ihrer Tante zurücklehnte. Es sollte das letzte Mal sein, daß sie es spürte. Denn jetzt schenkte Tante Vlada ihr wieder das, was sie ihr am Anfang gegeben hatte, die tiefste und schönste Versicherung, die dieses Mädchen jemals erfahren sollte. »Sieh sie dir genau an, mein Liebes«, flüsterte Tante Vlada. »Sieh sie dir einmal an, nur dieses eine Mal, und vergiß niemals, daß sie so sind wie du. Alle Frauen sind Huren. Was sonst sollte unsere Bestimmung sein? Aber, Liebes, denk an das Schicksal dieser herun tergekommenen Kreaturen und dann an die Bestimmung, die vor dir liegt. Denn wenn wir schon Huren sind, ist es dann nicht unser größter Triumph, uns wenigstens an den Meistbietenden verkaufen zu können?« Jeli schwindelte, aber vielleicht regte sich selbst in diesem Augenblick eine andere Wahrnehmung in ihr. Sie zweifelte nicht daran, daß Tante Vlada die Wahrheit sagte. Sie mußte sich verkaufen, das stand außer Frage. Aber dann erinnerte sich Jeli an einen jungen
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Mann, einen schlanken, jungenhaften, blonden Mann, der an einem nebligen Tag zu ihr gekommen war und ihr gesagt hatte, daß er sie liebe. Dieser Junge war jetzt verschwunden, und wer er war, wer er wirklich gewesen war, wußte Jeli nicht. Sagten die Leute nicht, daß er in diese schreckliche Sache mit Pellam Pelligrew verwickelt gewesen sei? Meine Güte, wahrscheinlich war er sogar ein Mörder! Aber in den Tagen, die noch vor ihr lagen, sollte dieses süße Gesicht des Jungen noch oft vor ihrem inneren Auge auftauchen und Jelis Gemüt beunruhigen, sie verfolgen wie ein Geist. Wie ein Gespenst im Rauch. Dann würde sie das Gespenst verwünschen und es bit ten zu verschwinden. Sie mußte hart werden. Und das würde sie auch tun.
24. Biddie-Biddie Boppel Es war nicht mehr viel Zeit. Keuchend lief Cata tiefer in den Wald hinein. Sie mußte Nirry treffen, noch bevor der Weckruf ertönte. Aber zuerst mußte sie etwas anderes erledigen. Sie blieb stehen, sah sich um und überzeugte sich, daß sie allein war. Die Kühle der Nacht hing noch in der Luft, und von den Bäu men tropfte der Morgentau. Die Morgendämmerung glühte pur purn durch das raschelnde Blätterdach. Cata zog ihren blauen Rock aus und warf ihn achtlos über einen Zweig. Sie ging in die Hocke und rief die Kreaturen dieses fremden Waldes herbei. Ihr Ruf war leise, aber dennoch leidenschaftlich, wortlos, aber von einer Bedeutung durchdrungen, die tiefer war als alle Worte. Er schien durch die rötlichgrüne Luft zu schweben wie Rauch, als wäre er nicht nur mehr als Worte, sondern auch mehr als ein schlichter Klang.
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Ein Rotkehlchen setzte sich leicht wie eine Feder auf ihre Hand. Dann schlich sich vorsichtig ein Eichhörnchen heran, danach ein Dachs und eine Wildkatze. Ein Bär spähte träge durch die Zweige, und eine Eule, die aus dem Schlaf aufgeschreckt war, zwinkerte mit ihren hellen Augen. Summend streckte Cata die Hände nach den Geschöpfen aus und verband sie in wortloser Kommunikation. Sie legte den Kopf in den Nacken, schloß die Augen und atmete lang sam, ganz langsam. Früher einmal wäre sie von einem tröstenden Gefühl durchflutet worden. Doch jetzt war es anders. Cata spürte ein merkwürdiges Unbehagen, das unter der Oberfläche dieses geliebten, vertrauten Rituals wogte. Die Tiere hatten Angst, und als sie sie fragte, warum, bekam sie keine Antwort. Cata runzelte die Stirn und versuchte tiefer in den Verstand der Kreaturen einzutauchen. Aber alles, was sie fand, war ein geheimnisvolles, dunkles Pulsieren, ein dröhnendes Tamm-Tamm, das mit ihrem eigenen sanften Mantra kollidierte. Plötzlich bekam auch Cata Angst. Dieses Pulsieren hatte sie schon früher gespürt, und sie wußte, daß sich irgend etwas Böses in der Welt regte. »Schinken?« Eine rote Nase erschien unter einem wasserdichten Zelttuch. »Würde sagen, das kann doch kein Schinken sein, den ich da rie che?« Die Männer am Lagerfeuer lachten. »Ich glaube, unser Bruder ist endlich aufgewacht!« »Ich würde sagen, das ist Schinken!« Der roten Nase folgte ein Kopf mit einer Tonsur, ein Gesicht mit kleinen, glitzernden Augen und einem feuchten, erwartungsvollen Mund. Der Bruder ent ledigte sich rasch des wasserdichten Segeltuchs und beeilte sich, an dem Festmahl teilzunehmen. »Haben wir auch Brot und Zwiebeln, Marinade und Käse? Ach, es gefällt mir, wenn wir nach Oltby zurückkommen.«
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Wieder lachten die Männer. Es war ein wunderschöner Morgen. Im Wald war es warm, und sie badeten in der lockenden Jahreszeit der Viana. Die Sonne schien durch die Blätter und warf goldgrüne Muster auf den Boden der verborgenen Lichtung, die in der Nähe von Dolms Turm lag. Helle Strahlen tanzten im Rauch des Lagerfeuers und auf dem Bratspieß, der von einer dunklen Hand gedreht wurde, und blinkten auf den Rändern der Brille, die auf einer gelehrt wirkenden Nase saß. Der Bruder war, wie immer, der letzte, der wach wurde. Beim ersten strahlenden Licht des Morgens waren Hui und Bando zum Fluß gegangen und in den kalten Fluten ausgiebig geschwommen. Als Belohnung wartete das Frühstück auf sie. Raggle und Taggle, Bandos kleine Söhne, hatten schon längst gefrühstückt und spielten in der Nähe. Schwarzbacke, der Fährtensucher, hielt Wache, damit sie nicht von Blauröcken überrascht wurden, während die Priesterin, die mittlerweile ihre Gebete schon beendet haben mußte, über ihren Anführer selbst wachte. Obwohl der Maskierte ihre Hingabe nicht teilte, ging er immer mit ihr zusammen in den tiefsten Wald. Diese Hügel, so pflegte er zu sagen, waren kein Ort für eine Frau, nicht einmal für eine, die sich »Tochter der Viana« nannte. Auch wenn die Priesterin murrte, schien sie trotzdem froh zu sein, daß sie nicht allein in den Wald gehen mußte. Aber sie behauptete, daß allein ihre Kräfte sie in jedem neuen Lager vor Schaden bewahren konnten. Es stimmte, daß sie niemals gefangen worden waren. Aber sie hatten sich auch niemals lange an einem Platz aufgehalten. Für Rebellen der Rotröcke gab es keine langen Ruhepausen. »Bruder, du bist heute morgen ja richtig in Form«, meinte Hui. »Gestern abend warst du ziemlich unausstehlich.« »Gestern abend hat es geregnet«, protestierte der Bruder mit vollem Mund. »Und ich war hungrig.« Sehnsüchtig betrachtete er den fetttriefenden Schinken, der sich um Bandos Gabel ringelte. Die Brille glitzerte. »Siehst du, Bruder, die Göttin hat dich erhört. Sie hat uns alle beschützt, nicht nur ihre eigenen Leute.«
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Feuchte Brotkrümel fielen aus dem übervollen Mund. »Meister Hulveron, Ihr seid ein Agonist wie ich selbst! Wollt Ihr etwa gegen den wahren Glauben blasphemieren?« »Bruder, wenn es der wahre Glaube wäre, würdest du dich dann jetzt hier mit uns vollstopfen? Vergleiche dich doch mit der Priesterin Ajl.« Aus dem Wald hörten sie gerade noch die hohen, traurigen Gesänge der Priesterin. »Heidnischer Mummenschanz!« Der Gelehrte lächelte. Er hatte seinen Glauben schon vor langer Zeit verloren und würde nur schwerlich einen anderen annehmen. Aber er genoß es, den Ordensbruder zu necken. Der fette kleine Mönch war wegen Völlerei und Faulheit aus seinem Orden geworfen worden und tat nun so, als wäre er ein Mann mit ehernen Prinzipien. »Vorsicht, Bruder. Willst du den armen Bando hier beleidigen? Denk daran, daß er ein Zenzaner ist, von Geblüt und Erziehung!« »Pah!« Bando spuckte ins Feuer. Er war plump und dunkelhäu tig, hatte einen schwarzen Schnurrbart und trug ein rotes Stirn band. »Hier, Kapaun! Oder sollte ich lieber sagen: Hier, Junge!.« Er warf einen brutzelnden Streifen Schinken über das Feuer. Mit einem Schrei fing der Mönch ihn auf und warf das heiße Stück Fleisch hektisch von Hand zu Hand, bis er es schließlich in seinen gierigen Schlund stopfte. Seine Wangen glühten, und er riß seine kleinen Augen weit auf, als der heiße Schinken köstlich und gleichzeitig schmerzhaft seine Speiseröhre hinunterrutschte. Hui lachte. »Armer Bruder! Hier, ein Krug Bier gegen deine Lei den!« Bando spuckte erneut aus und öffnete einen kleinen Lederbeutel. Er rollte sich einen Tobarillo und intonierte sarkastisch: Fütter mich! Fütter mich! schreit der gierige Vielfraß Und entreißt das Brot dem Armen und Bedürftigen: Arm und bedürftig,
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Dünn und hager, Spieß doch einfach den gierigen Vielfraß auf! »Hast du das auf den Knien deiner Mutter gelernt, Bando?« fragte Hui lächelnd. »Pah! Hier gibt es ja wohl kaum einen Armen und Bedürftigen, oder?« ließ sich der Bruder zwischen einzelnen Schlucken des kühlenden Biers vernehmen. Bando stieß den Rauch aus. »Kapaun, du bist vielleicht ein Narr! Erzähl es ihm, Hui. Arm und bedürftig ist das Volk von Zenzau, das unter dem Joch seiner Unterdrücker, der Blauröcke, schmachtet.« »Ihr, Meister Bando? Aber Ihr seid ja so fett!« »Fett? Er nennt mich fett? Kapaun, du sprichst mit einem Vete ranen des Widerstands!« »Aber mit einem ziemlich fetten!« meinte Hui lachend und schlug dem Zenzaner wohlwollend auf den Bauch. »Siehst du, Bru der, die Göttin hat die gesegnet, die ihr dienen!« »Meister Hulveron, Ihr solltet mir dieses heidnische Gerede ersparen!« Der Bruder zog sich beleidigt an den Rand der Lichtung zurück und hob seine Kutte hoch. Ein dicker Strahl Urin verschwand gurgelnd im Gras. Bando knurrte. »Wenigstens hat der Kapaun noch diese eine Ver wendung für sein Würmchen.« »Meister Bando, ich wünschte, Ihr würdet mich nicht so nennen. Ich habe alles, was auch Ihr habt.« Hui lachte. »Dessen können sich nur wenige rühmen! Meine Güte, Bruder, die Huren müssen bei dir Schlange gestanden haben. Vermutlich hat die Erschöpfung dich zu deinem Leben in der Abgeschiedenheit gezwungen.« Doch die Frotzelei endete unvermittelt, als ein Knacken im Wald ertönte und dann ein hohes, ängstliches Pfeifen. Ti-witt! Ti-woo! Im nächsten Moment stürmte eine weißgewandete Gestalt auf die Lichtung.
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Hui war sofort auf den Beinen. »Landa! Was ist los?« Cata stand auf und zog ihren Uniformrock wieder an. Sie war froh über die Wärme, die er ihr spendete. Manchmal fragte sie sich, was sie da eigentlich tat, wieso sie der verhaßten Armee in die Schlacht folgte. Während sie über die schlammigen zenzanischen Straßen marschierten, packte sie oft das Verlangen, ihren Rucksack einfach abzuwerfen und blindlings in den Wald zu stürmen. Viele junge Blauröcke empfanden ganz ähnlich. Nirry hatte herausgefunden, daß man sich für fünf Gold-Tirals aus der Armee frei kaufen konnte. Doch das war mehr Geld, als die meisten Rekruten in ihrem ganzen Leben zu Gesicht bekommen würden. Also blieb ihnen als einzige Fluchtmöglichkeit die Desertion. Was sie davon abhielt, war Furcht. Wenn man sie fing, erwartete sie die Todes strafe, und wie sollte ein gemeiner Soldat überhaupt in diesen Wäldern überleben? Cata spürte, daß diese Aussicht für ihre Kameraden ein weit größeres Wagnis zu sein schien als die täglichen Gewaltmärsche oder selbst die blutige Schlacht, die am Ende drohte. Cata plagten solche Ängste nicht. Für die Blauröcke hatte sie nur Verachtung übrig, und wenn die Zeit kam, würde sie ihre Reihen mit einer Fröhlichkeit verlassen, zu der kein Mann fähig wäre. Was sie hier hielt, war nur das Versprechen des Harlekins. Er hatte gesagt, daß sie ein Zeichen sehen würde, und je weiter sie sich dem Herzen von Zenzau näherten, desto sicherer war sich Cata, wo die ses Zeichen erscheinen würde. Es würde ihr vor den Toren von Wrax erscheinen, wenn die Blauröcke mit den Streitkräften der Re bellen zusammenstießen. Es würde ihr am Schlachtfeld erscheinen. Landas Gesicht war gerötet, und sie atmete schwer. »Die Blauröcke! Ach, Hui, Bando, ich mache mir solche Sorgen! Sie sind gestern abend wieder zum Schloß gekommen. Und sie werden zurückkommen! Dieser rothaarige Hauptmann ...«
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»Landa, hat er dir weh getan?« »Nein, nein. Es ist das Lager. Hier ist es nicht mehr sicher ...«_ Der Mönch stöhnte. »Und das, wo wir gerade erst hier angekommen sind! Und nach diesem großzügigen Essenskorb von Mutter Rea!« »Halt die Klappe, Kapaun!« knurrte Bando ihn an. Instinktiv hatte der Zenzaner nach dem Gewehr gegriffen, das er immer in Reichweite hatte. Er hätte wie der Ordensbruder ein dicklicher, verweichlichter Kerl sein können, aber Bandos Sinne waren scharf und seine Gefühle untrüglich. Selbst jetzt blieb er wachsam, als erwartete er, daß sich der Feind jeden Moment auf sie stürzen würde. »Doch das ist noch nicht alles«, sagte Landa. »Gestern abend ...« Sie erzählte ein wenig atemlos die Geschichte von den merkwürdi gen Besuchern der Burg. »Ich dachte zunächst, es wären Königs treue. Dann dachte ich wieder, es wären keine. Aber sie ritten Pferde der Blauröcke ...« »Spione!« spie Bando aus. »Wir haben sie in der Speisekammer eingeschlossen. Sie heißen Morven und Crum.« Hüls Brille funkelte. »Wie sehen sie aus?« Bevor das Mädchen etwas sagen konnte, wurde sie unterbrochen. »Biddie-Biddie Boppel!« »Diddie-Diddie Doppel!« Zwei kleine Jungen stürmten auf die Lichtung. Sie hüpften und sprangen umher wie Gummibälle. »Raggle!« rief Landa entzückt. »Taggle!« Lachend sprangen die Jungen hoch und klopften sich den Staub von den Hosen. Ihre Augen funkelten vor Vergnügen. Mit ihren dicken Bäuchen, den Locken und ihren kleinen roten Halstüchern sahen die beiden Jungen aus wie identische Miniaturausgaben von Bando. Früher einmal hatten sie auch ordentliche Namen gehabt; damals hatte der eine Junge ein grünes und der andere ein gelbes Halstuch getragen, aber es war sinnlos. Sie antworteten auf die
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falschen Namen und tauschten die Halstücher. Jetzt wurden sie einfach nur Raggle und Taggle genannt, und welcher wer war, wußte nicht einmal ihr Vater genau zu sagen. »Wir kennen ein Geheimnis!« krähten sie unisono. »Ein Geheimnis!« Landa kniete sich hin. »Was denn für eins?« Das Mädchen erwartete irgendeinen unschuldigen Streich. Sie lächelte freundlich, doch dann schlug sie die Hand vor den Mund, als die Jungen riefen: »Schwarzbacke hat Gefangene gemacht!« »Was für Gefangene?« »Ihre Gesichter sind ganz rot!« »Aber ihre Jacken sind blau!« Hui und Landa warfen sich besorgte Blicke zu. »Dieser Narr!« rief Bando. »Was hat er jetzt wieder angestellt?« »Ich würde sagen«, mischte sich der Mönch nervös ein, »daß man Gefangene nicht sonderlich gut zu füttern braucht, oder? Brot und Wasser reichen doch aus, nicht?« »Wir werden sie foltern!« erwiderte Bando wütend. »Aber zu erst werden wir an dir ein bißchen üben!« »Foltern!« quietschten die Zwillinge entzückt. »Oh, Papa, darf ich ihnen die Finger abhacken?« »Und ich die Zehen?« »Shh, Jungs.« »Da kommen sie!« Nirry blickte sich unsicher um. Sie stand auf einer Anhöhe am Waldrand. Unter ihr lagen die Zelte des Regiments, in denen die Soldaten schliefen, die Wagen, die angebundenen Pferde. Und hin ter ihr erhoben sich schimmernd die Bäume. Sie ging ein kleines Stückchen in den Wald hinein. »Miss Cata? Miss Cata, wo seid Ihr?« Nirry machte sich Sorgen. Normalerweise hätte Miss Cata längst auf sie gewartet, und außerdem wurden diese Treffen allmählich
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immer tollkühner. Je näher sie dem Schlachtfeld kamen, desto ange spannter war die Stimmung im Lager. Jeden Morgen wachte Nirry ein bißchen nervöser auf. Sie fürchtete nicht so sehr um sich selbst wie um ihre junge Herrin. Die Wachen wurden immer gewissenhafter. Wie leicht Miss Cata in Verdacht geraten konnte! »Miss Cata?« Nirry flüsterte zwar nur, aber ihr Flüstern war sehr vernehmlich. Sie war schon überall von Bäumen umgeben und drehte sich in dem grünlichen Schimmer immer wieder um die eigene Achse. Sie fühlte, wie ihr Herz immer stärker in ihrem Busen hämmerte. Irgendwo zwischen den Bäumen raschelte es. Nirry hielt die Luft an. In diesem Augenblick überfiel sie eine neue Angst. Es hatte mit etwas zu tun, das ihr Sergeant Floss vor ein paar Nächten gesagt hatte, während er sie über seine Feldflasche hinweg angegiert hatte. Natürlich hatte er sie nur erschrecken wol len, aber Nirry war sicher, daß auch etwas Wahrheit in seinen Worten lag. Scarlets Flecken ... Diese Worte hatte er benutzt. »Scarlets Flecken?« hatte Nirry gefragt. »Aye. Wir sind schon weit drin, würde ich sagen.« »Aber was sind Scarlets Flecken?« wollte Nirry wissen. »Köchin, kann das sein? Habt Ihr denn noch nie von dem berüchtigten Bob gehört?« »Berüchtigt? Der Vogel?« Da hatte Carney Floss gelacht. Ausführlich erzählte er ihr von dem Wegelagerer, der in diesen Wäldern lauerte, ein rücksichtsloser Bandit, der eine Jacke trug, die vom Blut seiner Opfer gerötet war. Gerade jetzt konnte es sein, daß auf dem Wrax-Weg ein Reiter oder ein einsamer Wanderer ausgeraubt und ermordet wurde. »Er... ermordet?« stammelte Nirry. »Allerdings«, versicherte ihr der Sergeant. »Es gibt nur wenige, die Bob Scarlet begegnet sind und darüber eine Geschichte zum besten geben könnten.«
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Dann hatte er trunken ein Lied über den Wegelagerer gegrölt, das mit Hey-Tschilp-Tscherilps nur so gespickt war. Jetzt, in dem grünlichen Schimmer des morgendlichen Waldes, schlug Nirry die Hand vor den Mund. Als sie diesmal Miss Catas Namen rief, machte sie sich keine Mühe, die Stimme zu senken. Zwei Dinge geschahen gleichzeitig. Erst packte eine Hand Nirrys Schulter. Und als sie herumwirbelte, stieß ihr Fuß gegen ein Hindernis, gegen etwas, das im Unterholz lag. Es war schwer und weich. Nirry schrie. »Shh! Nirry, Nirry!« »Oh, Miss Cata, was habt Ihr mir für eine Angst eingejagt, also wirklich! Wißt Ihr denn nicht, daß wir auf Scarlets Flecken sind? Wir könnten beide ermordet werden, jawohl, wenn wir uns einfach vom Lager wegschleichen!« Bei einer anderen Gelegenheit hätte Cata gelacht, doch jetzt sog sie nur scharf die Luft ein und deutete auf eine Stelle am Boden ne ben Nirrys Fuß. »Miss Cata?« Unsicher folgten Nirrys Augen der Richtung des Fingers. Dann sah sie es. Zwischen ihnen lag, tief im Gras und un ter den Farnen, ein Leichnam. Sie stolperte würgend zurück. »Oh, dieser Wegelagerer! Dieser schlimme, böse Wegelagerer!« Aber Cata blieb einen Augenblick wie gebannt stehen. Wenn das ein Opfer des Wegelagerers war, wie Nirry annahm, dann war es jedenfalls kein frisches Opfer. Moos überwucherte bereits sein Ge sicht, und Gräser wanden sich um die Glieder und den Körper. Zuerst konnte man nicht einmal das Geschlecht genau bestimmen, doch dann erkannte Cata zwischen der wuchernden Vegetation Reste der verfaulenden Kleidung. Es war eine Frauenleiche, und sie trug ein grünes Kleid. »Miss Cata, kommt da weg!« rief Nirry Was konnten sie schon tun? Sie hatten nicht einmal die Möglichkeit, ihren Fund zu mel den. Sollten sie sich Ärger einhandeln? Und Fragen heraufbeschwören? Nein, sie mußten es vergessen, das war alles.
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Aber gerade als Cata sich umdrehen wollte, sah sie noch etwas anderes. Etwas viel Schlimmeres. Ein heller Sonnenstrahl fiel durch den Blätterwald über ihnen und erhellte auch das Gesicht der Leiche. Cata fiel es wie Schuppen von den Augen. Sie kannte diese Gesichtszüge. Nein, das konnte doch nicht sein! Es war natürlich ein Streich, den ihr das Licht spielte. Aber einen Moment lang, nur einen winzigen Moment, war Cata sich sicher. Und in diesem Moment starrte sie angsterfüllt auf den Leichnam. »Tante Vlada!« flüsterte Cata. Schwarzbacke band sein Pferd an einem kräftigen Kiefernstamm fest. Landas Herz schlug heftig. Der große Mann machte ihr angst. Vielleicht waren es seine immensen Gliedmaßen oder sein buschi ger schwarzer Bart. Er war schlichten Gemüts, und seine Loyalität war genauso glühend wie die von Bando. Aber in ihm schlummerte eine Gewalttätigkeit, eine Wut, die ihr Furcht einflößte. »Gefangene?« fragte jemand. »Das verheißt nichts Gutes«, antwortete jemand anderer. Landa drehte sich erleichtert um. Es waren der Kommandeur und die Priesterin Ajl. Der Kommandeur schritt voran, in prächtiges Rot gekleidet. Er hob seine Pistole und starrte grimmig durch seine Maske, während Schwarzbacke knurrend die Blauröcke vorwärts schubste. Im gleichen Augenblick entspannte sich die Miene des Anführers. Und im nächsten Moment lachte er. »Was denn, Schwarzbacke, das ist dein Fang? Aber das sind ja kleine Fische!« Die Gefangenen waren schlammverkrustet und benommen. Man hatte ihnen die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden und sie aneinandergefesselt. Der eine war ein untersetzter Bursche mit hervorquellenden Augen und der andere schlaksig und bebrillt. Sie waren noch Jungen, sehr jung und sehr verängstigt. Nach ein
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paar Schritten waren sie zu Boden gefallen, ihre Gliedmaßen hoffnungslos ineinander verstrickt. Raggle und Taggle quietschten vor Vergnügen. Sofort stürzten sie sich wie Wilde auf die Gefangenen und sangen dazu. Herunter mit ihren Halstüchern!
Weg mit den Mänteln!
Schärft die Klingen!
Schneidet ihnen die Hälse durch!
Brennt ihnen die Augen aus! Oh, wie das zischt! Herunter mit den Hosen! Und schneidet ihnen die ... »Raggle! Taggle! Das reicht!« Bando klatschte in die Hände. Die beiden Jungen ließen sich ins Gras plumpsen und quietsch ten und kicherten vor Vergnügen. Die Gefangenen winselten um Gnade. »Bitte, H... Herr, wir hab... haben nur Hil... Hilfe gesucht. Es g... g... gab einen Unfall mit der Ku... Kutsche ...« »Wir ha... ha... haben uns im Wa... Wa... Wald verirrt...« »Wir wo... wo... wollten nur eine Abkü... Abkü... Abkürzung suchen ...« »B... b... bitte, Herr, mein F... F... Freund ist v... v... verwundet ...« »Ich st... st... sterbe! Oh, b... b... bitte, laßt uns f... frei, b... bitte ...!« »Kleine Fische?« dröhnte der Wegelagerer und brachte das Geplapper zum Schweigen. »Ich sollte wohl eher sagen: abgestochene Schweine! Was hältst du jetzt vom Feind, Landa, hm? Wenn sie nur alle so wären, was? Ich glaube, wir haben euch Burschen schon ein mal gesehen, stimmt's?«
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»N... nein, Herr! O nein!« »N... noch nie!« Beinahe wohlwollend betrachtete Bob Scarlet seine Gäste und rieb sich mit der Mündung seiner Pistole nachdenklich übers Kinn. Dann lächelte er. »Fürchtet euch nicht, meine Freunde. Wir lassen Raggle und Tag gle nicht auf euch los. Noch nicht. Schwarzbacke hat euch schon unwürdig genug behandelt. Er ist ein gutmütiger Kerl, der gute Schwarzbacke, aber auch leicht erregbar, jedenfalls ein kleines bißchen.« Er senkte die Stimme. »Und auch ein bißchen einfach. Werdet ihr meine Entschuldigung annehmen? Leider können wir euch nicht laufenlassen. Ihr könntet uns vielleicht sogar nützlich sein, auf eine etwas merkwürdige Art und Weise jedenfalls. Wie heißt ihr?« »M... Morven, Herr.« »C... Crum, Herr.« »Steht auf, wenn ihr mit dem Kommandeur sprecht!« Bando war aufgesprungen und hob sein Gewehr. »Aber mein Freund ...«, protestierte Morven. »Hoch mit euch!« Die Gefangenen rappelten sich mühsam hoch und versuchten ihre Gliedmaßen zu sortieren. Morven riß sich zusammen und nahm Haltung an, jedenfalls bemühte er sich darum, aber er stolperte zurück, als Crum versuchte, sich aufzurichten, und sich an ihm festklammerte. Er zog ihn zu Boden. Jetzt erst sahen die Umstehenden den roten Fleck, der Crums Jacke oberhalb der linken Schulter durchtränkte. Crum hatte die Augen geschlossen, und sein Gesicht war leichenblaß. »Ist er tot?« fragte Landa atemlos. Ihre Gedanken überschlugen sich. Konnten das hier wirklich Morven und Crum sein? Aber wer waren dann die beiden anderen, die im Turm eingesperrt waren? Raggle und Taggle hüpften auf der Stelle. »Blut! Blut!« »Ich habe Euch doch gesagt, daß mein Freund verwundet ist! O
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bitte, laßt ihn nicht sterben, bitte!« Tränen rannen Morven über die Wangen. »Du grausamer Schwarzbacke! Und du hast ihn durch den Wald gezerrt!« rief Landa. »Er ist ein Blaurock!« Bando spie das Wort förmlich aus. Die Priesterin trat nach vorn. »Er ist noch ein Kind!« Sie kniete sich neben den Soldat, hob ein Augenlid an und zog ihm die Uniformjacke aus. »Er ist ohnmächtig. Bob, er ist schwer verletzt.« Der Wegelagerer betrachtete Crum. »Ich fürchte, der Schuß kam von mir. Ich hatte zwar schon Grund genug in meinem Leben als Rebell, Leute zu töten, aber nur im äußersten Notfall. Furcht, nicht Tod ist mein Geschäft.« Er kniete sich hin und legte Morven eine Hand auf den Kopf. »Ich dachte, ich hätte in die Luft geschossen, aber mein Schuß ging zu tief. Robert Scarlet ist ein Mann von Ehre. Der Junge mag zwar ein Blaurock sein, aber sein Blut ist so rot wie meins. Wie könnte ich meine Hände damit beflecken? Landa, hol Mutter Rea. Schwarzbacke, geh mit ihr. Schnell, beeilt euch!«
25. Jeder Tag ein kleiner Tod »Oh, mein Kopf!« Jem schlug die Augen auf und sah ein schimmerndes Grün. Lange nahm er nichts anderes wahr, doch dann fühlte er, wie der Schmerz allmählich von seinem Schädel zu seinem Steißbein wanderte. Nur langsam stellten sich seine Augen auf seine Umgebung ein. Er lehnte an einem Stapel mit Säcken auf dem Boden eines klei nen, unordentlichen Raums. In der Luft hing ein stechender Geruch nach Staub, Kaffeebohnen, Bienenwachs, Feigen, Äpfeln und hundert anderen Düften. Auf den Regalen um ihn herum stapelten sich
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Gläser, Schachteln und Kästen, und das grüne Schimmern kam vom Wald, als das erste Tageslicht durch das hohe, schmale Fenster fiel. Auf seinen Beinen lag ein schweres Gewicht. »Raj, wach auf!« »Wa... Was? W... Wo ... ? Oh, mein Kopf!« »Shh!« »Warum soll ich leise sein?« »Sie haben uns in der Speisekammer eingeschlossen.« »Hah! Dann werden wir wenigstens nicht verhungern.« Mühsam befreite sich Jem von seinem Freund. Er hielt sich den Kopf, stand vorsichtig auf und schlich über den staubigen Boden. Die Tür war fest verriegelt. Er suchte nach einem Spalt, einem Loch, etwas, durch das er hindurchspähen konnte. Nichts. »Ich verstehe das nicht«, sagte Rajal erschöpft. »Zuerst dachte ich, sie wären königstreu, dann dachte ich, sie wären es nicht. Und jetzt bin ich nicht mehr sicher.« »Sieh dir diese Säcke an.« Sie trugen eingebrannte Kronen, das Siegel der Blauröcke. »Meinst du, das ist Schmuggelware?« »Oder eine Bezahlung?« »Was auch immer, uns halten sie jedenfalls für ihre Feinde.« »Was du nicht sagst.« Rajal rieb sich den Kopf. »Wir haben die Wahl. Entweder fliehen wir oder überzeugen sie, daß wir Freunde sind.« »Ich will mich nicht mit Leuten anfreunden, die mir auf den Kopf geschlagen haben.« »Also bleibt noch die Flucht.« »Und wie willst du das bewerkstelligen?« Jem blickte zu dem grünlichen Schimmer hinauf. »Raj, hilf mir hoch.« »Was ? Ach so, verstehe. Du willst das ganze Zeug auf uns herun terstürzen, ja? Um herauszufinden, ob unsere Freunde schon wach sind?«
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Die Regale knarrten, als Jem unbeholfen auf das Licht zuklet terte. Rajal stöhnte. Jems Stiefel hatte sein Ohr geschrammt. Mürrisch stellte er sich den gewaltigen Krach vor, die zerschmetterten Knochen und das wütende Geschrei auf der anderen Seite der Tür. Ob er eine Verletzung vermeiden konnte, wenn er sich ganz eng an die Wand drückte? Oder Jem? Halbherzig zog Rajal einen Sack von der Wand weg, weil er glaubte, daß er vielleicht den Sturz seines Freundes etwas abmildern würde. Er ließ jedoch sofort los, als eine große Ratte, gefolgt von einer zweiten, über den Boden huschte. Jem hielt sich an dem obersten Regal fest, das gefährlich schwankte, und spähte über einige Gläser mit Eingemachtem durch das Fenster. »Wir sind ziemlich weit oben!« sagte er atemlos. »Nicht hoch genug für die Ratten. Was machst du da, Jem?« »Die Äste eines Baums drücken sich gegen die Außenwände. Auch dicke Äste. Wenn ich nur dieses Fenster aufbekäme ... Ich glaube, sie sind dick genug. Komm schon, Raj.« »Wohin soll ich kommen?« »Komm hinter mir her. Kletter hoch!« »Oh, wunderbar. Und wer hält mir den Steigbügel?« Rajal hätte noch mehr gemault, aber mittlerweile huschten schon fünf Ratten über den Boden. Bei der Vorstellung, daß sie ihn in der Nacht hätten beißen können, schüttelte es ihn förmlich. Er streckte die Hand aus und erwischte die splittrige Ecke eines Regals. »Na gut, ein Sturz erledigt es schnell und sauber. Wie lange dauert es wohl, bis man an der Pest stirbt?« Bis Rajal endlich das Fenster erreichte, wäre er zweimal fast zu Boden gefallen. Er war schmutzig und vollkommen mit Spinnweben bedeckt. Gleichzeitig kämpfte er gegen einen enormen Nieszwang. Er atmete nur ganz vorsichtig. »Jem, bist du sicher, daß das eine gute Idee ist?« »Hast du vielleicht eine bessere? Du mußt deinen Kopf durch strecken. Hier, halt dich an meinem Arm fest.« Jem war schon auf der anderen Seite des Fensters und umklammerte einen großen Ast.
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»Ich kann nur hoffen, daß dieser Zweig stabil genug ist...» »Es ist eine Eiche! Komm schon, Raj ...« »Ich muß meinen Fuß irgendwo abstützen.« Rajal tastete mit dem Fuß durch die Luft, als unten etwas laut und metallisch knirschte. Die Tür schwang auf, und die Ratten gin gen in Deckung. »Was? Verrat!« Dolm stand verwirrt in der Speisekammer. Wo waren die Gefangenen? Rajal nieste. Dolm griff nach seiner Pistole. Im selben Augenblick stieß Rajals Fuß gegen etwas. Es war fast so, als habe er einen geheimen Schal ter betätigt. Dolm schrie auf. Mit einem gewaltigen Krachen stürzten die vollgepackten Regale auf ihn und begruben ihn unter einem gewaltigen Haufen von Äpfeln, Pökelfleisch, Mehlsäcken, Eingelegtem, Honig und Marmelade. »Gerade noch rechtzeitig.« Schweigen. »Glaubst du, daß wir ihn umgebracht haben?« Schweigen. »Jem, du reißt mir gleich den Arm ab!« »Shh! Raj, sieh nur!« Die beiden Freunde hockten auf einem hohen Ast. Rajal spähte zurück durch das Fenster. Von dem Müllhaufen unter ihm stieg eine Staubwolke auf. Jem hatte sich von dem Turm weggedreht und blickte durch das Blätterdach. Das helle Morgenlicht beschien einen grünen Wald, ausgedehnte Weiden und gewundene Straßen, die alle zu einer großartigen Stadt führten. »Raj, es ist Wrax! Ich wußte doch, daß wir nahe dran waren!« Rajal rieb sich die Schulter. »Nah? Das ist noch ziemlich weit!« »Raj! Sieh doch nur!« Auf ihrer langen Reise nach Osten hatten sie stets nur das Elend und die Not von Zenzau gesehen. Sicher, es gab die Wälder, die Fei
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der und die Blumen, aber wo Menschen lebten, fanden sie nur Bruchbuden, schäbige Häuschen und heruntergekommene Ka schemmen, in denen es nach Pökelfleisch, Schweiß und gekochtem Kohl stank. Wrax war anders. Aus der Ferne blitzten ihnen Gold und Juwelen entgegen, gefärbtes Glas und der Glanz polierter Schindeln. Woher stammten sie, diese Wälle, diese Türme, diese Kuppeln? Sofort sah Jem den Reichtum und die Brillanz, die unter den erstickten Feuern dieses eroberten Volkes glühten. Wie verrottet und häß lich Agondon dagegen plötzlich schien! Selbst der Fluß, der durch Wrax führte, war wunderschön, sauber und glitzernd. Es war kaum zu glauben, daß sie noch in Zenzau waren! Vielleicht lag etwas Trügerisches über dieser Schönheit. Später, als Jem näher an die Stadtmauern herankommen sollte, würde er die Pockennarben und die zerkrümelten Steine sehen, die bitteres Zeugnis vom Krieg ablegten. Innen sollte alles etwas schäbiger sein, als es von außen wirkte. Unter den Kuppeln und Türmen befanden sich die unvermeidlichen dunklen Gassen und schmutzigen kleinen Geschäfte, mit ihrem Krach, ihrem Müll und ihrem Dreck. Es gab Straßen, wo die Abwässer durch die Gosse flossen, Bettler, deren Gliedmaßen in eitrigen Bandagen steckten. Was Jem jetzt sah, war etwas Schöneres. Man sagt, daß alles aus der Entfernung gut aussieht, aber die Dinge, die man aus der Entfernung erblickt, sind trotzdem keine Lügen. Jem sah Wrax, und Wrax war eine Vision. Die Vision war echt. Und dann sah Jem ein merkwürdiges Blitzen, als wäre ein Glas in der Sonne gekippt worden. Er runzelte die Stirn. Dieses Blitzen wies eine gewisse Regelmäßigkeit auf, eine Absicht. Konnte es ein Signal sein, das man über die weite Distanz hinweg sandte? Ein Signal, ja. Ein Zeichen. »Jem?« »Hm?«
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»Meinst du nicht, daß wir langsam hinabsteigen sollten?« »Hm? Ach ja. Ja!« Jem drehte sich aufgeregt zu seinem Freund um. »Raj, laß uns nach Wrax laufen!« »Was?« Jem packte den Freund am Arm. »Der Kristall ist nah, ich weiß es. Gestern abend hatte ich einen merkwürdigen Traum. Die Dinge in dem Lied ... ich habe sie alle gesehen. Die Königin und der Kö nig, der Scheinbaum ...« »Das war kein Traum, das war ein Teller.« Aber Jem hörte nicht zu. Er deutete auf die Stadt. »Kannst du das Zeichen nicht erkennen? Laß uns loslaufen und nicht stehenblei ben, bis wir die Tore erreicht haben!« Auf diesen Vorschlag gab es mehrere gute Einwände, aber Rajal bekam nicht die Chance, auch nur eine Silbe zu antworten. Der Ast, auf dem sie saßen, hatte schon mehrmals verdächtig geknarrt. Jetzt gab er ein lautes Knacken von sich. »Kletter los!« befahl Jem. Rajal kletterte rasch und unbeholfen hinter seinem Freund her. Die Haut an seinen Händen war bald aufgesprungen, und alle Kno chen taten ihm weh. Blätter und Zweige schlugen ihm gegen die Wangen, und einmal krächzte ihm ein Vogel, ein verärgertes, rotbrüstiges kleines Wesen, ins Gesicht und pickte nach seinem Haar, be vor er unter lautem Gezeter auf einen höheren Ast davonflatterte. Aber Rajal beunruhigte etwas anderes. »Jem«, sagte er keuchend. »Mir gefällt das nicht. Dolm könnte tot sein. Sollten wir nicht etwas unternehmen?« »Glaubst du, mir gefällt das, Raj? Wir sind auf einer wichtigen Reise. Und jetzt wird es gefährlich.« »Gefährlich für Dolm!« »Vielleicht wollte er uns ja töten.« Das konnte Raj nicht beschwichtigen, aber Jem dachte an nichts anderes mehr als an den Kristall, die Aufgabe. Rajal fragte sich, ob er grausam werden würde, so grausam vielleicht wie der rothaarige
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Hauptmann. Er dachte mit Furcht an das, was noch vor ihnen lag. Sie hatten die halbe Strecke bewältigt, und glücklicherweise wurden die Äste immer dicker. Jem konzentrierte sich vollkommen auf die Kletterpartie und streckte vor Eifer die Zunge aus dem Mund winkel. Rajal hielt inne und atmete schwer. Er spuckte in die Hände und rieb sie aneinander. »Jem?« »Hm?« »Dieser Krach. Die anderen müssen es doch ebenfalls gehört ha ben, glaubst du nicht auch?« »Ach ja? Sie werden glauben, daß wir ebenfalls unter dem Müll begraben worden sind.« »Jem?« »Was ist denn nun schon wieder?« »Da wäre ich nicht so sicher.« Jem blickte hinauf. Sein Freund sah hinunter und zeigte nach un ten. Langsam drehte sich Jem und folgte mit den Augen der Richtung von Rajals Finger. Am Fuß des Baumes stand das alte Weib, Mutter Rea. Zuerst drehte sie den Kopf hin und her. Und dann hob sie den Blick in den Baum. »Raj!« »Jem!« Es war nicht nur die Anwesenheit der Alten, die die Freunde er staunte. Wenn sie sie bedroht hätte, hätten sie die Frau mit Leichtigkeit zur Seite schieben können. Es war etwas anderes, das ihnen den Atem nahm. In der vorigen Nacht war die alte Frau ihren Gä sten aus dem Weg gegangen und hatte sich geheimnisvoll im Schat ten gehalten. Und ihr Gesicht war hinter diesem Schleier verborgen gewesen. Jetzt fiel das weite Kopfgewand zurück. Rajal kletterte freudig erregt an Jem vorbei und schwang sich mit einem kühnen Satz auf den Boden. Die alte Frau rief: »Kind Rajal!« »Große Mutter!« Entzückt zog Xal erst Rajal und dann Jem in die Arme. »Meine
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Kinder! Oh, wie sehr mich meine Kräfte im Stich gelassen haben! Wenn ich mir vorstelle, daß ihr mich getäuscht habt! Kaum auszudenken, daß ich auf diesen Narren Dolm gehört habe! Aber ich wußte, daß ihr kommen würdet, ich wußte es. Ich hatte nur Angst, daß ihr wieder weggeht, bevor ich die Chance hatte, mich euch zu zeigen.« »Große Mutter, aber wie ... warum? Wo ist Zady?« Zumindest die letzte Frage wurde im nächsten Augenblick be antwortet. Ein Ruf ertönte: »Mutter Rea, kommt schnell! Schnell!« Sie drehten sich um. Es war Landa, die atemlos auf sie zustolperte. Dann blieb das Mädchen wie angewurzelt stehen. Jem und Rajal zuckten zusammen, aber nicht wegen Landa. Hinter ihr brach ihr schwarzbärtiger Gefährte durch das Unterholz. »Zady!« Die Augen des großen Mannes weiteten sich vor Überraschung. Sein Mund stand offen, und er sah die Große Mutter verwirrt an. Die lächelte und nickte. Mit einem Schrei stürmte der Riese vor und riß die beiden Burschen in seine gewaltigen Arme. »Schwarzbacke? Mutter Rea? Mej? Jaral?« Landas Verwirrung war so groß wie die von Dolm, der gerade in diesem Augenblick um die Ecke des Turms humpelte. »Vater! Du blutest ja!« »Oh, mein Kopf!«
»Verblüffend!« Es war später Nachmittag. Jem lag im hohen Gras. Träge perlten die Wassertropfen über seinen nackten Körper. In dem Weiher
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schwammen Hui und Bando immer noch durch das tiefe, klare Wasser. Irgendwo in der Nähe spielten Raggle und Taggle, rannten vergnügt in den sumpfigen Untiefen herum, versteckten sich im Schilf und kugelten sich über die grünen Wiesen. Ihre hohen, kind lichen Stimmen klangen durch den Wald wie die freudigen Schreie von Tieren. »Verblüffend!« Jem blickte hinauf in das Grün der Blätter. Konnte es denn wahr sein, daß diese Wälder verzaubert waren? Die Jahreszeit der Viana kam mit aller Macht. Am Tag zuvor noch war der Himmel grau und öde gewesen, und es hatte genieselt. Jetzt erstrahlte er in einem wol kenlosen, glänzenden Blau. Aber es war diese Reihe von merkwür digen Begegnungen, die Jem sich fragen ließ, ob er in Wahrheit eine verzauberte Welt betreten hatte. Er betrachtete Hui und Bando und dachte an die Geschichte, die sein Onkel Tor ihm vor langer Zeit erzählt hatte. »Verblüffend ?« Hui ließ seinen blassen Körper neben Jem ins Gras fallen. Auf der Brust des Gelehrten wuchsen spärliche graue Haare. Die Rip pen waren deutlich zu sehen, aber seine Arme waren kräftig und drahtig. Er fummelte in seinem Kleiderbündel und zog eine mu schelartige Dose hervor. Vorsichtig setzte er seine Brille auf. »Die Dinge sind immer dann verblüffend«, erklärte Jem, »wenn man sie nicht erwartet.« »Manchmal sogar, wenn man sie erwartet.« Hui sah Jem freundlich blinzelnd an. »Als ich Euch in der Kutsche nach Wrax gesehen habe, hatte ich schon eine Ahnung, wer Ihr sein könntet. Ich wußte es nicht genau, aber ich hatte eine Ahnung.« »Aber woher wußtet Ihr es?« »Nun, von Mutter Rea! Sie hat gesagt, daß Ihr kommen würdet.« Jem stützte sich auf den Ellbogen. »Hui, warum nennt Ihr sie Mutter Rea?« Hui lächelte. »Mittlerweile aus Gewohnheit. Es war der Name
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von Dolms Ehefrau. Sie starb gerade, als Xal auf den Turm stieß, und alle Macht von Xal reichte nicht aus, um sie zu retten. Aber ihr Tod gewährte Xal den idealen Schutz. Sie nahm Mutter Reas Identität an. Die Patrouillen der Blauröcke achten nicht auf eine unterdrückte Bäuerin. Eine Vaga-Seherin dagegen ist eine ganz andere Sache. Xals Kräfte sind eine Bedrohung für sie, fürchte ich. Wir haben oft Angst gehabt, daß Zady sie verraten könnte.« »Sie verraten? Aber er liebt sie doch!« »Ich meine, nicht absichtlich. Aber wenn Zady wütend wird ...« »Das stimmt!« »Es schüttelt mich immer noch, wenn ich an die Risiken denke, die sie eingegangen sind, um hierherzukommen. Wußtet Ihr, daß sie sich in einen Konvoi der Blauröcke eingeschlichen haben? Wie Xal ihn ruhiggestellt hat, ist mir immer noch ein Rätsel.« »Sie hat Macht.« »Nicht diese Art Macht. Wir haben beschlossen, daß er im Lager bleiben muß, bei uns, nicht im Turm, den die Blauröcke immer wieder aufsuchen. Ich fürchte, daß ihn das nicht sehr glücklich macht.« Jem senkte nachdenklich den Blick. Die Schreie der Kinder ver klangen allmählich und drangen wie ein trauriges Rufen durch den Wald. »Von Myla gibt es keine Spur?« fragte er. Hui schüttelte den Kopf. Jem erschauderte, als er an die Szene unter dem Tempel zurückdachte. »Aber Xal muß doch wissen, ob sie überlebt hat!« »Mit der Macht der Prophetie hat es eine merkwürdige Bewandtnis, Jem. Xal hat gesehen, wohin Euch Eure Suche führen würde, und ist hierhergekommen. Aber stellt Euch vor, was das bedeutet. Wenn man die Zukunft von jemandem sieht, heißt das, daß man Macht über ihn hat. Kann man Macht über etwas haben, das so stark ist wie man selbst? Myla war ... ist zwar noch jung, aber ihre Kräfte sind so groß wie die von Xal. Sogar größer, wie Xal behaup tet. Sie kann das Kind nicht sehen und ihm auch nicht helfen.« »Also wissen wir nicht, ob Myla tot ist oder lebt?«
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Erneut konnte Hui nur den Kopf schütteln. Der arme Raj! Jem hatte seinen Freund bei Xal und Zady im Lager gelassen. Aber so sehr Rajal sie auch liebte ... Jem wußte, daß er Myla mehr liebte. Das Kind hatte Macht, aber es war die Macht der Vision. Wie konnte sie auf sich allein gestellt in der Welt überleben? Wie konnte sie dem Zugriff des Bösen entkommen? Dennoch spürte Jem, daß er sie eines Tages wiedersehen würde. Bando gesellte sich am Ufer zu ihnen. »Nun, wo sind meine Bälger? Raggle! Taggle!« »Sie sind endlich ruhig!« sagte Jem. Bando setzte sich auf und schüttelte sich das Wasser aus dem Haar. Unruhe machte sich auf seinem Gesicht breit. Er rief erneut nach den Kindern. Schweigen. Dann brachen die Jungen plötzlich aus dem Unterholz hervor. Zwei nackte Satyrn, die sprangen, hüpften und schrien. »Biddie-Biddie Boppel!« »Diddie-Diddie Doppel!« Bando schrie auf. Es gab ein großes Durcheinander, und im näch sten Augenblick flogen seine Kleider, sein Halstuch und auch alles andere ins Wasser. »Ihr kleinen Miststücke!« Jetzt war es Bando, der aufsprang, her umhüpfte und schrie und die Jungen um den Weiher jagte und dann in den Wald. Sie rannten zwischen den Bäumen umher, und Bandos fetter Bauch - und auch sein Gemächt - schwang grotesk auf und ab. Mitten im Weiher schwamm das rote Halstuch. Ein Frosch lugte unter den Algen hervor, reglos und ohne zu blinken. »Armer Bando!« Hui lachte. »Die armen Jungen. Wird er sie verprügeln?« »Bando? Er ist harmlos. Es sei denn natürlich, es handelt sich um Blauröcke.« »Haben die Jungen keine Mutter?« fragte Jem.
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Hui seufzte. »Ihr Name war Iloisa. Sie gehörte zu unserer Bande und lebte mit uns. Sie war eine Kriegerin aus den Steppen von Der kold. Sie war tapfer, vielleicht die Tapferste von uns allen. Wenn Iloisa einen Pfeil abschoß, dann fand er immer sein Ziel.« »Immer?« »Immer. Bis zum Ende. Wie gesagt, sie war die Tapferste von uns.« »Die armen Jungen! Wenigstens haben sie Bando.« »Sie haben uns alle.« Schließlich war die Verfolgungsjagd vorbei. Triumphierend stieß Bando die Jungen in den Teich und watete hinter ihnen her, um seine Kleidung herauszufischen. Der fette Frosch hüpfte flink davon. Jem beobachtete sie und dachte an seine Kindheit. Wie eine Wolke senkte sich Trauer über ihn. Wenn er nur fähig gewesen wäre, her umzulaufen und zu springen! Er beneidete die Jungen, aber wie er hatten auch sie den Schmerz des Verlustes erfahren, und zwar sehr früh. Die Erinnerung an seine Mutter wallte in ihm auf. Am Ende war auch sie eine tote Heldin gewesen, und Jem wünschte sich nichts sehnlicher, als daß sie noch am Leben wäre! Ein Vogel flatterte von den Zweigen herunter. Hui erzählte gerade etwas über die Jahreszeit, über den Wald, aber Jem hörte kaum zu. Er lehnte sich zurück, sah in das Blätterdach hinauf und dachte an einen anderen Wald, eine andere Jahreszeit. Das war ebenfalls in einem verzauberten Wald gewesen, aber dieser Zauber war lange vergangen, und diese Jahreszeit würde niemals wiederkehren. Jem war noch jung, aber er war sich bewußt, wie die Zeit verging. Er dachte daran, wie Cata die Hand nach ihm ausgestreckt hatte, wie die Macht ihrer Liebe durch seine Glieder geströmt war. Er schloß die Augen. Konnte es wirklich sein, daß er sie verloren hatte? In ihm wallte ein tiefer Schmerz auf, der die Wärme des schönen Nachmittags verdunkelte. 226
Er setzte sich auf und rieb sich die Arme. Eine Brise ließ die Blät ter rascheln und trug die Erinnerung an die kalte Trostlosigkeit mit sich, die die Welt bis vor kurzem in ihrem Griff gehabt hatte. »Es ist plötzlich kalt geworden, nicht wahr?« stellte Hui fest. »Ich denke, wir sollten lieber zurückgehen.« Er spürte Jems Trau rigkeit und mußte nicht lange nach dem Grund fragen. Es gab Grund genug dafür, mehr als genug. Jem kleidete sich schweigend an. Als er in seine Schuhe schlüpfte, nahm er die Präsenz im Wald wahr. Hui war abgelenkt und half den Jungen in ihre kleinen Jacken. Bando beklagte sich über seine nasse Hose. Jems Augen glitten schnell und wachsam von Baum zu Baum. Es war kein Klang und keine Bewegung, die ihm aufgefallen war, sondern ein scharfer, animalischer Instinkt, der ihm sagte, daß ihn jemand beobachtete. Ein Vogel oder ein anderes Tier. Nichts weiter. Aber einen Augenblick lang hatte Jem gespürt, daß es etwas Bö ses war. Die Jungen und Bando waren noch vor einem Moment im Kreis um den Weiher gelaufen und lautstark durch das Unterholz gebro chen. Jem schüttelte den Kopf. Es war fast so, als hätten diese Erinnerungen, die ihn so schmerzhaft durchströmt hatten, ein Echo wachgerufen, eine geisterhafte Spur von Catas merkwürdigen Kräften.
26. »Er schläft.« »Glaubst du wirklich?« »Er hat die Augen zu und schnarcht.« »Brummer liegt auch immer so da.«
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»Wer?« »Brummer, unsere Katze. Zu Hause in Varl.« Morven verdrehte die Augen. »Wie so? Wie was liegt er immer da?« »Als wenn er schliefe. Dann kommt Jardy Rot zu nah an ihn heran, und Brummer springt. Er hat es immer wieder versucht, der Brummer, aber der gute alte Jardy war immer zu schnell!« Morven zerrte an seinen Fesseln. Es war sinnlos. Er seufzte. »Ich nehme an, dieser Jardy war wohl eine andere Katze?« »Natürlich nicht.« Crum schien allein von dieser Vorstellung beleidigt zu sein. »Er war eine Ratte. Ich habe ihn eines Tages in Bauer Ryles Scheune gefunden, im hinteren Teil neben den Kleiesilos. Sein Fell war ganz rot, Morvy. Ich meine Jardys, nicht das von Bauer Ryle.« Crum lachte, und Morven stimmte in sein Lachen mit ein, allerdings klang es bei ihm ziemlich gezwungen. »Weißt du, daß ich niemals rausgekriegt habe, woher er gekom men ist?« »Woher die Ratte gekommen ist?« Crum fand das vollkommen einleuchtend: Immerhin stolpert man nicht jeden Tag über eine rote Ratte, stimmt's? »Der arme Jardy. Er war so verspielt, Morvy« Crums Stimme klang plötzlich belegt. »Und dann ist er eines Tages Birne über den Weg gelaufen.« Schweigen. »Birne war Bauer Ryles Basset«, fügte Crum hilfreich hinzu. »Ach, halt die Klappe, Crum!« platzte Morven heraus. »Shh. Du willst ihn doch nicht aufwecken, oder?« Morven verzog das Gesicht, während er einen lautlosen Schrei ausstieß, und das nicht zum ersten Mal. Sie waren Rücken an Rücken gefesselt, und während Crum seine Geschichten spann, er ging sich Morven in dieser stummen Zurschaustellung von blanker
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Verzweiflung. Es hätte den Bruder Mönch sicher belustigt, wenn der Bruder, wie damals Brummer in Varl, wach gewesen wäre und sie durch halbgeöffnete Augen beobachtet hätte. Doch das war recht unwahrscheinlich. Der fette, kleine Mann lag mit dem Kopf auf einem Holzscheit am Lagerfeuer und schien die gefesselten Blauröcke vollkommen vergessen zu haben. Hühner knochen lagen in dem hohen Gras neben ihm. Sie waren peinlichst saubergeknabbert. Welche Verachtung die Banditen für sie empfinden mußten, wenn sie nur einen solchen Wächter bei ihnen zurückließen! »Crum?« fragte Morven einen Moment später seufzend. »Morvy?« »Dein Kater ... Warum wurde er Brummer genannt?« Crum lachte. »Habe ich dir die Geschichte nicht erzählt? Seit damals, als er den Brummer gefressen hat.« »Den was?« »Die Schmeißfliege. Wahrscheinlich nennen sie den da aus dem selben Grund ›Kapaun‹.« Er deutete mit einem Kopfnicken auf die Hühnerknochen. »Das glaub ich kaum, Crum.« Eine Fliege - war es vielleicht eine Schmeißfliege? - flog an Morvens Ohr herum. Oh, besäße er jetzt nur die Gabe von Zappelphi lipp! Er zerrte wieder an den Seilen. »Beruhige dich, Morven. Dieses Gezerre ist ja fürchterlich. Du willst doch wohl nicht weglaufen, oder?« »Ich versuche, unsere Fesseln zu lockern«, flüsterte Morven hei ser. »Ich hätte eigentlich angenommen, daß du mir dabei helfen würdest, Crum. Oder haben deine schrecklichen Verwundungen dich völlig außer Gefecht gesetzt?« Morven hielt seinen Sarkasmus für vernichtend, aber natürlich dankte Crum seinem Freund nur für dessen Mitgefühl und versi cherte ihm, daß es keinen Grund zur Sorge mehr gebe. Morvy solle sich bloß keine Gedanken machen.
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»Keine Sorge, das tue ich auch nicht!« Morvens Wangen glühten vor Scham. Wie sehr er sich gedemütigt hatte - und für was? Für eine Fleischwunde, eine schlappe Fleischwunde! Ich sterbe, Morvy. Halt meine Hand, Morvy. Pah! Morvens Schweigen mündete in eine pantomimische Kakophonie. Hätte der selig schlafende Bruder die beiden Gefangenen beobachtet, hätte er bei einem ein Gesicht gesehen, das sich verzerrte, als würde es in den Klauen eines unseligen Krampfes geschüttelt. Crum lachte. »Jardy hat auch immer so fürchterlich gezappelt. In meiner Hand, wenn ich ihn gefüttert habe. Ich habe ihm immer ein bißchen von meinem Käse aufgehoben. Na ja, eigentlich sogar fast alles. Aber ich hab den Käse noch eine Weile unter meinem Kissen liegen lassen, bis er schimmlig wurde. Kannst du dir vor stellen, daß er ihn so lieber mochte? Am liebsten, wenn er beson ders alt war. Du bist doch so schlau, Morvy Weißt du, warum das so ist?« Morven versteifte sich. »Crum!« flüsterte er plötzlich hitzig. »Meine Hand ist frei!« »Was?« »Ich habe meine Hand befreit. Der Knoten ist gerade aufgegan gen! Ist dir klar, was das heißt, Crum? Man muß einfach nur ein bißchen herumzerren, das ist alles.« »Ich weiß.« »Was?« »Oh, ich habe meine Hände schon lange befreit, Morvy Zu Hause in Varl haben Zohnny Ryle und ich die ganze Zeit ›Lös den Knoten‹ gespielt. Ich war ganz gut darin, aber Zohnny war noch viel besser. Der arme Zohnny Habe ich dir schon erzählt, was aus ihm geworden ist?« Morven antwortete nicht. »Hui«, sagte Jem, »erzählt mir von meinem Onkel.« Sie folgten einem schmalen Pfad durch das Unterholz zurück
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zum Lager. Bando stapfte mürrisch hinterdrein, während Raggle und Taggle voraussprangen. »Tor? Er war für uns ein ebenso großes Geheimnis, wie er es für Euch gewesen sein muß. Er sprach oft von Euch und von dem Schicksal, das Euch erwartete.« »Er wußte alles? Schon als ich noch ein Kind gewesen bin?« »Er war ein großer Rebell, aber er war noch mehr. Es gab gewisse Dinge, die er wußte, Dinge, die er erfahren hat.« Hüls Stimme klang ernst, als er sich an ihren verlorenen Anführer erinnerte. »Vom ersten Augenblick an war er ein Mann von äußerster Inte grität. Der Verrat seines Vaters während der Belagerung von Irion war die Wunde, von der sich Tor niemals erholte. Danach wollte er nicht einmal sein Erbe antreten. Was nützt es mir schon, sagte er oft, der Erbe eines korrupten Erzherzogs zu sein? Er wandte sich von allem ab und ging weg. Ich weiß nicht genau, wie es dazu kam, daß er bei einer Vaga-Truppe Unterschlupf fand. Ich weiß nur, daß er eine Zeitlang Schüler eines mächtigen Magiers war.« »Der Harlekin mit der Silbermaske?« fragte Jem. »Kennt Ihr ihn?« »Ich habe ihn gesehen. Raj war auch eine Weile bei den Masken. Der Harlekin ist jetzt sehr alt, alt und krank. Ich wußte nie, ob er gut oder böse war. Zuerst dachte ich ... aber ich weiß nicht.« »Jem?« »Hui, der Harlekin ... Ihr habt ihn seitdem nicht mehr gesehen, stimmt's? Seit mein Onkel gestorben ist?« Jetzt war Hui verwirrt. »Ich habe die Masken noch nie gesehen.« »Nein, ich meinte ...« Jem sprach nicht weiter. Natürlich hätte er es wissen müssen. Hui konnte den Harlekin gar nicht sehen. Konnte das denn überhaupt jemand außer ihm selbst? Er erinnerte sich daran, daß diese geheimnisvolle Gestalt ihm erst in dem Au genblick erschienen war, als er seine Bestimmung erfuhr, in dem Moment, als ihm zum ersten Mal seine Mission enthüllt wurde. War das Tors Geist? Oder eine merkwürdige Projektion von Tor, die den
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Tod seines Körpers überlebt hatte? Konnte der alte Harlekin, Tors Mentor, vielleicht dieses Geheimnis erklären? Jem runzelte die Stirn. »Ich glaube, mein Onkel verfügte über ge wisse Kräfte«, sagte er. »Kräfte, die er von dem Harlekin erlernt hatte.« »Waren das vielleicht finstere Kräfte?« »Hui?« Aber Hui wollte sich nicht weiter erklären, noch nicht. Im gleichen Augenblick ertönte ein hoher, merkwürdiger Gesang zwi schen den Bäumen. Er kam von einer menschlichen Stimme, die wie in einem Flehen oder in Schmerz erhoben war. Jem war beunruhigt und sah seine Gefährten fragend an. Hui lächelte. Bando holte sie ein. Der Zenzaner grinste plötzlich und legte einen Finger auf die Lippen. »Frauenwerk«, flüsterte er. »Aber wir können heimlich zugucken, hm?« Sie standen hinter einem Dickicht aus Zweigen. Vorsichtig und lautlos schob Bando die Blätter dicht über dem Boden zur Seite und öffnete einen kleinen Ausschnitt, durch den sie wie durch ein Fenster die Szene betrachten konnten, die sich dahinter abspielte. Die kleine Gruppe hockte sich ins Unterholz und sah auf eine winzige Lichtung hinter einem dichten Kreis von Bäumen. Selbst Raggle und Taggle waren unerwartet still und schmiegten sich an die fetten Schenkel ihres Vaters. Aber wer war da? Jem konnte niemanden erkennen. Und eine Weile wurde auch der merkwürdige Gesang nicht wiederholt. Sie hörten nur ihren eigenen Atem, das Summen der Insekten und das leise Tröpfeln von Bandos nasser Kleidung in das Farnkraut unter ihnen. »Ich verstehe nicht...«, flüsterte Jem. Dann sah er es. In ihrer grünen Robe, die sie im Unterholz fast unsichtbar machte, lag Priesterin Ajl ausgestreckt auf der Erde. Um ihren Kopf waren ihre Haare wie kupferrote Lianen drapiert, die
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zäh und wirr über ihren Rücken fielen und sich in den dicken Wur zeln verloren, die wie Sehnen durch die fruchtbare Erde verliefen. Über ihr breiteten sich die Äste einer uralten Eiche aus. »Ul... ul... ul... ul...« Jem zuckte zusammen. Diesen Ruf hatte er schon früher gehört, doch diesmal kam er von den Lippen der Priesterin. Wie ein merkwürdiges Geschöpf, halb Vogel, halb Pflanze, hob sie den Kopf mit der kupferroten Mähne und starrte gebannt auf die Rinde der Ei che. Einen Augenblick zerrten ihre Hände wie im Krampf an den Wurzeln, dann zog sie sich langsam daran hoch. Ihre langen Nägel kratzten zunächst wie in einer leidenschaftlichen Liebkosung und dann schmerzhaft über die zerfurchte Oberfläche der Rinde. Die Priesterin warf den Kopf in den Nacken und blickte in die Äste hinauf. Dann wankte sie, und ihr Haar schwang hin und her. Als sie sprach, flüsterte sie zunächst, doch ihre Stimme wurde im Verlauf der leidenschaftlichen Litanei schnell lauter. »Tochter des Orok, sieh deine flehentliche Dienerin. Schwester des Koros, erhöre ihren Schrei. Geheiligte Viana, weich wie die Blätter, zeige dich deiner unwürdigen, irrenden Tochter. Viana, komm zu mir an diesen waldigen Ort, komm zu einer, die mit dir in süßer Harmonie verweilt und verspricht, dein Element Erde nicht zu verletzen. Wickle den Mantel deines Grüns um mich, hülle mich ein, beschütze mich und die, die ich hege und pflege; aber Göttin, ich bitte dich, entziehe denen, die nach dir schlagen, dich hacken und aushöhlen, deine Gnade. Laß für sie dieses Land ein Land voller Dornen sein! Heiligste Viana, vergiß in deiner alles umhüllenden Gnade nicht die Bosheit derjenigen, die dich foltern, der Blau-Menschen, die mit haßerfüllten Herzen hierhergekommen sind. Wie du die MännerPriester verfluchtest, die in deinem Namen Tempel errichteten, auf dich aus goldenen Kelchen tranken, so verfluche auch die BlauMenschen, die den Namen des Agonis auf den Lippen führen und dennoch keine andere Gnade anbieten als eine Herrschaft des Ter-
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rors! Tochter des Orok, sieh deine flehentliche Dienerin. Schwester des Koros, höre ihren Ruf!« Die Priesterin verstummte, schluchzte, stöhnte und umarmte den Baumstamm mit leidenschaftlicher Hingabe. Schließlich stolperte sie zurück und gewann ihre Fassung wieder. Sie kreuzte die Arme über ihren Brüsten, verneigte sich und sagte feierlich: »Möge keine Axt in den Hügeln von Wrax zuschlagen!« Das war der Anfang eines Mantras. Jem betrachtete seine vier Gefährten. Mit den Zwillingen war eine verblüffende Veränderung vorgegangen. Einer nuckelte am Daumen, und der andere rieb sich die Knie. Beide hatten schüch tern den Blick gesenkt, als schämten sie sich, dem Ritual offen zuzusehen. Selbst Bando war bar jeder Ironie und blickte mit ehrfürchtigem Respekt auf die Szene vor ihm. Seine Augen waren feucht, und er hatte die Hände auf seine Brust gepreßt, als hätte der uralte Ruf seines Glaubens wenigstens für eine Weile sein übliches Benehmen ausgelöscht. »Der wahre Glaube von Zenzau«, flüsterte Hui. »Der wahre Glaube?« fragte Jem. »Ich habe von Tempeln reden hören, von Götterbildern, von Altären, die von goldenen Lianen umwunden sein sollen.« »Das ist der Götzendienst der Männer-Priester. In uralten Zeiten waren es die Töchter der Viana, die die Anbetungen leiteten. Damals war es noch Frauenwerk, weil nur den Frauen der Anblick der Göttin gewährt war. Aber als die Dörfer und Städte in den Ländern Zenzaus wuchsen, wurden die mächtigen Männer eifersüchtig auf die Töchter. Mit den Tempelriten lockten sie die Menschen an, Frauen wie Männer gleichermaßen. Die Töchter wurden allmählich zu einem Kult reduziert und in die Wälder und Hügel von Wrax ge trieben.« »Sie wurden verbannt?« »Lächerlich gemacht. Geschmäht. Sicher, einfache Bauern kamen immer noch zu ihnen und glaubten, daß ihre Art der Anbetung die
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richtige wäre. Aber in den Städten ging die Macht auf die Priesterschaft über. Juwelen, Gold und Silber flossen in die Kassen der Männer-Priester; und wer ihnen spendete, wurde mit Segnungen überschüttet. Eine Weile blühte die Stadt, und das Königreich er starkte. Aber so wie die Männer-Priester die Töchter der Viana beneidet hatten, so warfen jetzt auch ihre westlichen Nachbarn gierige Blicke auf die Reichtümer von Wrax.« Neugierig schaute Jem wieder auf die Lichtung, wo die Priesterin einsam das Mantra rezitierte. »Was ist aus der Schwesternschaft geworden?« Hui senkte traurig den Blick. »Jem, denkt an die Worte in diesen Gebeten. Wir erinnern uns, daß Viana die Schwester-Frau des Gottes Koros ist, die reiche Erde, die seine unendliche, steinerne Finsternis fruchtbar macht. So wie er Tod ist, ist sie Leben, und des halb sind sie eins. Und genau da liegt die Gefahr. Unsere Rasse hat die Kinder des Koros beinahe vollkommen ausgerottet. Und deshalb schlägt die selbe Unterdrückung, mit der wir einst die Vaga verfolgt haben, jetzt auf die Anhänger der Viana zurück, die keinen Nutzen für die Blauröcke haben. Früher einmal führte Ajl einen großen Kreis von Schwestern an; jetzt jedoch wäre sie ohne uns für immer allein.« »Sie hat keine Anhänger?« Hui lächelte. »O doch - einen hat sie!« Jem runzelte die Stirn. Er hatte gedacht, das Ritual wäre vorbei. Dabei hatte es gerade erst begonnen. »Warum, Crum?« »Warum?« »Ja. Warum?« Pause. »Crum, du fragst warum?« In den vielen Monaten, die Plaise Morven in der Gesellschaft von Crum verbracht hatte, hatte er sich an den Schwachsinn gewöhnt,
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der dem Varianer über die Lippen sprudelte. Vielleicht hatte er sich schon zu sehr daran gewöhnt. Daß Crum unfähig war, abstrakt zu denken, hatte Morven ja von Anfang an gewußt. Und ihm war auch sofort klar gewesen, warum er, ein Mann von gewissem Intellekt und Raffinesse, für die Wachpatrouille ausgerechnet mit einem so blödsinnigen Kameraden bestraft wurde. Es war eine Demütigung, eine rituelle Demütigung. In den Streitkräften Seiner Kaiserlichen Agonistischen Majestät mußte jeder Mann gebrochen und gebeugt werden. Man erlaubte keinen anderen Stolz als den der Loyalität, den des bedingungslosen Gehorsams. Sergeant Bunch war gerissen, soviel war sicher. Er hätte Morven auch zwingen können, die Latri nen zu reinigen. Doch statt dessen hatte er etwas gefunden, was Morven viel mehr Kummer bereitete. Und das war Crum. Der arme Morven! War es wirklich erst die vorletzte Jahreszeit des Koros gewesen, in der sein Aufsatz Fragen der Verslehre in »Der Jelandros« mit besonderem Bezug auf die Herkunft und die Moral der Großen Zäsur die Jagenam-Medaille gewonnen hatte? War erst so wenig Zeit vergangen, seit er bei Websters gesessen hatte, mit einem Halben vor sich auf dem Tisch, den er kaum beachtete, und eifrig mit dem einen oder anderen Gelehrten über die Unzulänglichkeiten der Jambensetzung in Coppergates Satiren oder die Stich haltigkeit von Vytoni diskutiert hatte? War so wenig Zeit verstri chen, seit er sich bewundernd zurückgelehnt hatte, als Kollegen vom Tempel-Kolleg mit ihren weißen Kragen Reden über die Ewige Trennung oder über die Korosische Schöpfung oder die Endgültigkeit oder Nicht-Endgültigkeit der Zeit des Sühneopfers gehalten hatten? Mittlerweile hatte selbst die gepflegte Langeweile in den Vorlesungen von Professor Mercol für Morven den Ruch eines ver lorenen Paradieses angenommen. Manchmal glaubte er, fühlen zu können, wie sein Gehirn allmählich verrottete. Und manchmal dachte er, daß er soviel, vielleicht sogar mehr, über das bäuerliche Leben in Varl erfahren hatte, wie er über die Große Zäsur wußte. Nichts würde Crum dazu bringen, die Klappe zu halten. Doch
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noch schlimmer als das war Crums völlige Ignoranz seiner Ignoranz gegenüber. Hatte er einmal darüber nachgedacht oder auch nur mit dem Gedanken gespielt, daß es schönere Dinge, vornehmere Dinge gab als das Leben auf einem Bauernhof in Varl? Nein, nicht für fünf Zens! Bei Crum trug jede Einzelheit seiner ganz gewöhnlichen Kindheit die Patina der Faszination. Das trieb Morven beinahe zur Verzweiflung. Wie irgendein empfindsames Wesen, das sich über die Klasse der Tiere erhob, selbst wenn es ein Varianer war, so wenig Vorstellungsvermögen haben konnte, blieb ihm ein Rätsel. Aber nun gut. Letzten Endes hatte sich Morven daran gewöhnt. Was Crum betraf, konnte ihn nichts überraschen. Bis jetzt. Morven war ehrlich erstaunt. »Crum, ich mag dir kaum glauben! Weißt du denn nicht, was Vytoni sagt? Kein Verbrechen ist schlimmer als das, einen Mann seiner Freiheit zu berauben; kein Bestreben edler als der Wunsch, sie wiederherzustellen. Du hast keinen Verstand, natürlich nicht, aber hast du denn auch keine Instinkte? Da sitzen wir hier mitten im tiefsten Wald und werden von gewalttätigen und heruntergekom menen Banditen gefangengehalten. Wir sitzen in der Falle, werden eingeschüchtert, sind gefesselt - und Gott weiß, was sie noch mit uns vorhaben. Und wenn wir es dann endlich schaffen, uns von den Ketten zu befreien, während unser Häscher bewußtlos vor uns liegt, und ich dich triumphierend auffordere: Crum, wir sind frei! Crum, laß uns gehen!... Was tust du? Du läßt dich auf den nächsten freien Scheit am Lagerfeuer fallen, knabberst an einem Hüh nerbein und fragst mich warum?« »Morvy, shh! Der Bruder!« Der fette Kerl schnarchte jetzt vernehmlich, und sein schweinisches Grunzen bildete einen rumpelnden Baß unter Morvens schrillen Protesten. Crum spuckte ein Stück Knorpel aus und blickte bedauernd auf den fetten Bauch unter der braunen Kutte, der sich im Rhythmus des Atems hob und senkte. Die Banditen
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aßen gut, schien es! Crum sah sich um. Sättel, Satteltaschen und ein oder zwei Körbe lagen auf der Lichtung herum. Er machte sich daran, sie zu untersuchen, und stöberte zunächst hier und dann dort herum. »Crum, was machst du da?« Auf diese Frage gab es eine einfache Antwort. Morvens Plan war undeutlich und ungeheuerlich: Sie sollten alle Fährnisse meiden und allen Gefahren entkommen und sich in den Wald flüchten - in etwas, das Freiheit hieß. Wie allerdings ihre blauen Uniformröcke ins Bild paßten, hatte Morven noch nicht genauer bedacht. Crums Plan dagegen war denkbar einfach: eine kurze Untersu chung des Lagers, während der Bruder noch schlief, alle verfügba ren Lebensmittel packen und in sich hineinstopfen und sich dann wieder in Position begeben, samt Fesseln und allem, bevor die an deren zurückkamen. Der Varianer wollte gar nicht fliehen.
Ul... ul... ul... ul! Der Ruf ertönte wieder, und eine zweite Gestalt, die bisher ver borgen gewesen war, trat aus dem Unterholz neben die Priesterin. Es war Landa. Sie trug dieselbe grüne Kleidung wie die ältere Frau, aber ihr Verhalten war vollkommen anders. Es war klar, daß sie nur eine Novizin war. Als die Priesterin zurücktrat und die Hände zum Segen erhob, führte das Mädchen unsicher eine Reihe von rituellen Niederwerfungen aus und sah von Zeit zu Zeit zu der älteren Frau hoch, als wollte sie sich vergewissern, daß sie es auch richtig machte. Bald würde Landa vor der Eiche zu Boden fallen und der Göttin ihre eigenen leidenschaftlichen Gebete darbringen.
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»Ich habe sie schon einmal gesehen«, flüsterte Jem. »Aber bei ei ner anderen Anbetung.« »Ihr meint, als sie den Prinzen in Grün angebetet hat? Aber ist das wirklich ein Widerspruch, Jem? Ich kann verstehen, warum Landa die Gottheit anfleht. Sie fürchtet, daß sie Orvik niemals wiedersieht.« »Aber das ist doch nur ein Bildnis«, erwiderte Jem verwirrt. Hui lächelte. »Jem, es gibt Lügen, die man besser erzählen sollte, wenn man glaubt, es mit einem Blaurock zu tun zu haben! Das Gemälde zeigt tatsächlich einen Ahnen, aber der heutige Orvik ähnelt ihm aufs Haar. So wie Ihr Thronerbe von Ejland seid, ist Orvik der Erbe des Throns von Zenzau. Orviks Eltern wurden vor langer Zeit getötet. Dolm hat ihn aus Wrax herausgeschmuggelt und ihn in dieses zerstörte Schloß gebracht, wo er ihn als seinen eigenen Sohn ausgab. Orvik und Landa wuchsen zusammen auf, und schon als Kinder wurden sie einander versprochen. Sie hätten sicher längst geheiratet, aber Orvik kämpft mit den Rebellen in der großen Schlacht, die uns bevorsteht.« Jetzt betrachtete Jem Landa mit einem ganz neuen, zärtlichen Blick und dachte an die Gefühle, die ihn gestern abend im Turm durchströmt hatten. »Ich schäme mich«, sagte er, »wegen ... wegen der Qualen, die unser Reich diesen Leuten zugefügt hat.« »Ihr habt ein gutes Herz, Jem«, meinte Hui. »Aber es gibt einige - und die Priesterin ist eine davon -, die nicht nur die ›Blauen‹ für das Elend im Königreich verantwortlich machen. Was sind die ›Blauen‹ schon anderes als ein Symptom? Und was soll man in einem Reich anderes erwarten, dessen Volk vom wahren Glauben abgefallen ist?« Jem dachte über diese Worte nach. Er dachte an den Glauben, den er als Kind eingeflößt bekommen hatte, von seiner Tante Umbecca, von Kaplan Feval. Er dachte an den armen Pellam Pelligrew, der ebenso kraftvoll im Großen Tempel die Hymnen schmetterte, wie er später seiner Lust beim »Würger« freien Lauf ließ.
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»Hui, ich habe an den Kanonischen Tagen im Tempel gestanden, während die Preisungen der Lady um mich herum aufbrandeten. Ich habe meinen Mund für die Lobgesänge geöffnet und geschlossen und das Kettengebet mitgesprochen. Wir sind eine Rasse von Siegern, von Eroberern. Aber können wir denn wirklich glauben, daß unsere Religion die einzig wahre Religion ist?« Hui sah ihn ironisch an. »Erinnert Ihr Euch an den Zenzau-Ka non? Jem, es gibt kein verrufeneres Thema als den Glauben. In mei ner Jugend habe ich im Tempel-Kolleg studiert. Ich war durch drungen vom Reformationseifer. In meiner Zelle habe ich über dem El-Orokon gebrütet und voller Stolz von dem großen Traktat geträumt, das ich eines Tages schreiben würde und in dem ich die fünf verschiedenen Glaubensrichtungen des El-Orok miteinander ver söhnen wollte. Eitelkeit, bloße Eitelkeit!« »Muß das denn für immer so bleiben?« »Wie anders, wenn schon jeder einzelne Glaubensstrang in sich zerstritten ist?« Hui seufzte. »Bei unserem Kampf gegen die Blauröcke haben wir mit den zenzanischen Rebellen gemeinsame Sache gemacht. Doch sind sich die Rebellen etwa einig? Die reichen Tempel sind längst zum Agonismus übergetreten. Dann gibt es an dere, die nur zu Viana zurückkehren und die Tage des alten Prie stertums Wiederaufleben lassen wollen. Andere wiederum fordern, daß die Töchter wieder in Amt und Würden eingesetzt werden. Ich fürchte allerdings, daß innerhalb der Mauern von Wrax letztere Auffassung nur wenig Begeisterung auslösen würde.« »Und außerhalb dieser Mauern?« Hui lächelte. »Bando, wie ich sehe, bist du heute für die Prieste rin eingenommen. Oder hast du deine Meinung schon wieder geändert?« Doch Bando hörte nicht zu. Die Intensität von Landas Anbetung steigerte sich. Das Mädchen umklammerte den Baumstamm und kratzte einmal über die Rinde; dann wiederum liebkoste sie sie und schwenkte ihren Zopf hin und her. Sie rief die Göttin an, sie zu er-
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hören, sie zu erkennen. Ihre Schüchternheit war verflogen, und sie war jetzt von einer Leidenschaft erfüllt, neben der die der Priesterin geradezu lahm wirkte. Jem war erschrocken. Wohin war es verschwunden, das scheue Mädchen vom Abend zuvor? Ihre Wildheit steigerte sich immer mehr, als sie die Göttin beschwor, ihren teuren Orvik zu beschützen, ihn für die Schlacht feurig zu stählen und alle seine Feinde zu vernichten. Zu guter Letzt mußte die Priesterin das Mädchen von dem Baumstamm wegziehen. Landa schluchzte, aber sie wischte die Trä nen ab und faßte sich. Ihre Miene verriet eiserne Entschlossenheit. Das Ritual mußte weitergehen, sie mußte stark sein. Während Landa flehte und schrie, hatte die Priesterin ihr Mantra weitergesprochen: Möge keine Axt in den Hügeln von Wrax zuschlagen. Jetzt begann Landa auf ein Zeichen der Priesterin hin ihr eigenes Mantra: In dem grünen Walde laß mich liegen, Laß mich leben und laß mich sterben. Die Mantras waren kein einfacher Gesang. Während die Frauen sie intonierten, kreuzten sich ihre Melodien, und das Ende des einen Mantras fiel in die Mitte des anderen. Manchmal schienen die Worte sich hoffnungslos zu verwirren, dann wieder dominierte anscheinend erst das eine, dann das andere. Auf Jem hatte es sowohl eine bewegende als auch eine absurde Wirkung. Bewegend, weil religiöse Rituale einen oft anrühren, selbst wenn man nur wenig da von versteht. Und absurd, weil er die Bedeutung der Worte nicht begriff. Hatten denn nicht schon viele Äxte in diesen Wäldern zu geschlagen? Würde Orvik, wenn er seinem Land die Freiheit brachte, mit seiner Braut im Wald leben statt in einem Palast? Aber die Bedeutung wurde sehr bald von dem Klang übertönt. Die bei den Frauen faßten sich an den Händen und bewegten sich erst lang
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sam, dann immer schneller im Kreis. Der Gesang wurde lauter, wil der, und sie drehten sich dabei immer schneller. In dem Augenblick geschah etwas Außergewöhnliches. Erst spä ter sollte Jem begreifen, daß er, und nur er, die Vision hatte sehen können, die der Gesang heraufbeschworen hatte. Ob sie durch die Blätter aus dem Himmel herabgestiegen oder aus dem Boden vor ihren Füßen aufgestiegen war, wußte Jem nicht. Er wußte nur, daß eine geheimnisvolle grüne Gestalt zwischen den beiden Frauen Form annahm. Zuerst war sie diffus wie der Gesang, ein zerstreu tes Glühen, eine grüne Aura, die erst hier, dann dort auf der grünen Lichtung schimmerte. Es hätte auch eine Illusion sein können, die von der Sonne verursacht wurde. Aber schon bald erkannte Jem, daß es mehr war. Die Aura wurde zu einer schimmernden Wolke und erfüllte die Luft mit smaragdenem Glanz. Als der Gesang der Frauen schließlich seinen Höhepunkt erreichte, nahm die Wolke endgültig Gestalt an. Erst erschien ein ungeheures grünes Gesicht und dann der gewaltige Körper einer dritten Frau. Sie schwebte über den Kreis, den die beiden singenden Frauen schlugen, und war vollkommen in Blätter gehüllt. »Die Göttin!« flüsterte Jem. Erstaunt betrachtete er die grüne Vision. Mittlerweile blendete ihn das Strahlen, doch Vianas Schönheit war noch viel überwältigender. Langsam, sehr langsam drehte sie sich in der Luft. Ihr blätt riges Gewand raschelte und glitzerte wie Juwelen. Ihr langes Haar bestand aus Efeuranken und wirbelte um ihren Kopf. Sie war wild und verrückt, und das Wäldchen hinter ihr schien allein durch ihre Anwesenheit von neuem Leben durchdrungen. Efeuranken, Blu men, Farne und Gräser schossen hoch, brachen durch das Erdreich und strahlten in demselben merkwürdigen Glanz wie die Vision. Das Mantra wurde immer schriller, aber die Göttin schien kaum darauf zu achten. Erst blickte sie nur zu Boden, als wollte sie in die Erde selbst hineinsehen, dann hob sie langsam den Blick. Er war ernst und traurig. Ihre Augen strahlten wie Smaragde, als sie das
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Blätterdickicht durchdrangen und geradewegs ... in Jems Augen blickten. Er stürmte vor und durchbrach die abschirmenden Zweige. »Jem!« Erst versuchte Hui, ihn zurückzuhalten, dann Bando. Aber es nützte nichts. Jem sprang durch die Barriere und platzte auf die strahlende, fruchtbare Lichtung. Die Frauen schrien auf und stoben auseinander. Achtlos drängte sich Jem an ihnen vorbei und warf sich der Vision der Göttin zu Füßen. Er schrie ihren Namen, doch als er hochblickte, war die Vision verschwunden. Ebenso wie das neue Leben. Als habe das alles gar nicht stattgefunden. Illusion. Alles Illusion. Langsam nahm er die Gesichter der Frauen wahr. Landa sah ihn verwirrt an. Der Blick der Priesterin dagegen war zunächst nur erstaunt, verriet dann jedoch Beunruhigung. Höchste Beunruhigung. Jems Freunde stürzten mit schamroten Gesichtern aus ihrem Versteck. »Jem! Jem! Was fällt dir ein?« Bando war wütend. »Priesterin, es tut mir leid. Wirklich, wir wollten nicht...« Bob Scarlet trat zwischen den Bäumen hervor. »Keine Angst, Hui. Du bist nicht der einzige Mann, der dieser Zeremonie beige wohnt hat.« Der Wegelagerer wedelte ironisch mit seiner Pistole durch die Luft. Im Licht des Spätnachmittags hob sich sein rotes Wams scharf, beinahe schmerzhaft deutlich gegen das satte Grün des Wäldchens ab. Seine Augen hinter der Maske, die er niemals abnahm, leuchteten ebenfalls hell. »Die Priesterin ist zwar nicht besonders erfreut über dich, Hui, aber ich vermute, daß sie über eine Bande Blauröcke noch weniger erfreut wäre. Oder, Priesterin?« Doch die Priesterin atmete nur schwer und ließ Jem, der immer noch am Boden lag, keine Sekunde aus den Augen. »Das Mann-Kind!« stieß sie schließlich hervor. »Es hat die Göttin gesehen!«
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»Viana«, murmelte Jem. »Viana. Viana.« Die Priesterin kreuzte die Arme über der Brust. »Es steht geschrieben, daß ein Mann-Kind kommen wird, dem unsere gehei ligtste Vision erscheinen soll. Dann, so sagt man, käme das Ende des Sühneopfers. Heilige Viana, was soll nur aus uns werden?« Jem stand auf und verneigte sich tief. Als er sprach, klang seine Stimme verändert. Sie war tief und volltönend und schien aus sei nem tiefsten Inneren zu kommen, von einem Ort jenseits der Oberfläche alltäglicher Gedanken. »Priesterin, ich stehe hier vor dir im Griff der Prophezeiung. Das Ende des Sühneopfers ist endlich gekommen. Nun muß das, was in den Brennenden Versen geweissagt wurde, eintreten, sonst werden wir alle untergehen.« Er umklammerte den Beutel, der von seinem Hals herunterhing. »Ich trage den Kristall des Koros bei mir. Und ich bin hier, um den Kristall der Viana zu suchen.« »Nein. Nein!« »Was ich suche, ist der Scheinbaum, der von dem König und der Königin der Schwerter bewacht wird. Aber was das für ein Baum ist, kann ich nicht sagen. Wo ist dieser König? Und diese Königin, wo ist sie? Priesterin, führe mich, gib mir endlich das Zeichen, nach dem ich gesucht habe.« Zitternd sank die Priesterin auf die Knie. Es war eine außerordentliche Szene. Bando und die Jungs waren verwirrt und schwiegen. Landas Gesicht war vor Entsetzen verzerrt. Hui stand einfach nur fasziniert und beunruhigt da. Er hatte gewußt, ja fest daran geglaubt, daß diese Dinge eintreten würden. Doch niemand hatte ihn auf die Realität vorbereitet. Nur der Wegelagerer schien ungerührt. Er hatte die Lippen zu sammengepreßt, und sein Blick hinter der Maske war hart wie Stahl. Er drehte sich ärgerlich um. »Was soll dieser Irrsinn? Der Junge ist ein armer Reisender, nicht mehr! Steht er vielleicht unter dem Einfluß eines närrischen Traums? Entweder er schließt sich uns an und kämpft, oder er geht seiner Wege!«
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Hui rebellierte. Er ging zu dem Kommandeur und umklammerte seinen Arm. Er wollte versuchen, diese unerbittliche Kluft zu überbrücken. Aber es war die Priesterin, die letztlich auf die Worte des Kommandeurs reagierte. Die Veränderung, die mit ihr vorging, war erstaunlich. Sie richtete sich auf. Ihr Gesicht, das eben noch be stürzt, ja beinahe entsetzt ausgesehen hatte, veränderte sich. Einen Augenblick schien es, als wollte sie sich auf den Kommandeur stürzen, doch dann wandte sie sich, fast erleichtert, gegen Jem. Sie packte ihn grob. »Nein!« rief Landa. Die Priesterin ignorierte sie. Ihre Finger mit den langen Nägeln waren wie Klauen, alte, häßliche Klauen, die sich brutal in den Arm ihres Opfers gruben. Das Gesicht unter ihrem kupferroten Haar war hager und unheimlich. Eine Ader pochte sichtbar an ihrem Hals, und sie stieß die Worte hastig aus, mit einem Unterton bitter wie Galle. »Mann-Kind, was bist du für ein Narr! Du wagst es, unsere hei ligsten Riten zu unterbrechen? Du wagst es, so zu tun, als hättest du auch nur den Schimmer der Vision wahrgenommen? Was küm mert mich der Stein um deinen Hals? Was kümmern mich deine Worte, bloße, verführerische Worte ... mich, die ich mich der tiefsten Gemeinschaft verschrieben habe? In der Vergangenheit hat es viele wie dich gegeben, Mann-Kinder, die nach Macht und Wohlstand gierten und das Rätsel des Scheinbaums zu lösen suchten. Aber, Mann-Kind, was gibt es für einen größeren Spott als den: Der Baum ist verschwunden und kann nir gendwo gefunden werden! Als unsere Schwesternschaft gebildet wurde, war es unser Auftrag, den Baum zu bewachen. Epizyklen lang erfüllten wir diese heilige Aufgabe, bis die Mann-Kinder in ihrer Gier und Bosheit uns dazu getrieben haben, allein und geächtet umherzuwandern! Heute, da die Schwesternschaft zerschlagen da niederliegt, gibt es niemanden mehr, der die Weisheit unserer Urah nen kennt. Welcher Baum ist der Scheinbaum? Der hier? Oder je
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ner da? Mann-Kind, du wirst ihn niemals finden, und wenn doch ...« Die Priesterin warf ihr Haar zurück und lachte keckernd. »Glaubst du wirklich, du würdest die Prüfung bestehen, die der Baum für dich bereithält? Narr! Narr! Deine Suche wird dich in den Wahnsinn treiben!« Wieder lachte sie schrill auf und stieß Jem zu Boden, der immer noch den Kristall in seinem Halsbeutel umklammerte.
Es gibt einen Unterschied zwischen einem Mann der Tat, auch Mann des Mutes genannt, und einem Gelehrten. Die Rolle des er steren schreibt ihm vor zu handeln, das Denken dagegen obliegt letzterem. Der Unterschied ist ebenso offensichtlich wie tiefgründig. Mancher mag glauben, daß es Zeiten gibt, in denen das Denken schwerlich das wichtigste ist. Es gibt Zeiten, und das werden selbst Denker zugeben, wo es nur darum geht zu handeln. Wenn solche Zeiten kommen, kennt der Mann der Tat kein Zögern. Seine Rich tung liegt sofort klar vor ihm, und er wird agieren. Während der Gelehrte seinerseits nur über das Tun nachdenkt. Während der eine sich auf den Weg macht, wägt der andere noch ab und denkt nach. Natürlich denkt er scharf nach, und sein Denken wird ihn auch beträchtliche Zeit beschäftigen. Mehr noch: Während er in die Tiefen der Gedanken abtaucht, denkt er nicht nur darüber nach, a, b oder c zu tun. Er mißt bedächtig ab. Quält sich. Überlegt. Brütet. Diese Tendenz ist tödlich. Schon bald gelangt er an eine Kreuzung, an der sich mehrere Pfade treffen, und er kann nicht sagen, warum der eine Pfad besser sein soll als der andere. Man kann das so sehen, beginnt er. Möglicherweise aber auch ... Bevor er sich's versieht, steckt er in einem Labyrinth fest, in dem es heißt: Einerseits muß
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man bedenken ... oder Unter einem anderen Gesichtspunkt be trachtet ... oder Für dieses Argument spricht... Und deshalb tut er gar nichts. »Und du bist sicher, daß du nichts von diesem Varl-Brot möch test, Morvy?« fragte Crum, während er gierig an dem Brotlaib zerrte. Wie der Mönch das übersehen haben konnte, war ihm ein Rätsel. Aber immerhin war es in der Satteltasche von jemandem versteckt worden. »Varl-Brot?« Morvens Stimme klang abwesend. Er hockte elend vor dem erlöschenden Feuer. Gerade eben hatte er über mehrere Möglichkeiten nachgedacht: (a) Weglaufen und Crum hierlassen, (b) Weglaufen und Crum gewaltsam mitzerren, (c) Hier bei Crum bleiben und - als wäre er ein Held - die Banditen überfallen, wenn sie es am wenigsten erwarteten, und ... Aber er hatte noch nicht alle Einzelheiten ausgearbeitet. »Brot aus Varl? Das muß ja ganz schön schimmlig sein!« Mehr sagte er dazu nicht. »Ach, Morvy. Es kommt nicht wirklich aus Varl! Man nennt es einfach nur Varl-Brot, das ist alles. Jedenfalls hat Zappelphilipp das gesagt. Wußtest du eigentlich, daß ich es früher auch nicht besser wußte? Mmh. Mmmh!« Crum stopfte sich den Rest Brot in den Mund und griff tiefer in die Satteltasche. Aber es gab dort keine weiteren Schätze. Jedenfalls nicht für Crum. »Ist das nicht dein Buch, Morvy?« Crum hielt eine zerschlissene Ausgabe hoch. »Zeig mal her.« Zum ersten Mal an diesem Nachmittag war Morven froh darüber, daß seine Hände frei waren. Neugierig nahm er den kleinen Band und fuhr mit den Fingern über den rissigen Kalbsledereinband und die Kanten der Seiten. War das möglich? Er schlug das Buch vorsichtig auf und betrachtete den Titel.
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Freiheit oder Kontrolle? EIN DISKURS oder eine Untersuchung von Mr. VYTONI über die NATUR, den Reiz & die Errungenschaften, die Bedingungen der FREIHEIT, POLITIK, GESELLSCHAFT & MORAL in diesem STAATE Gedruckt in der Stadt Agondon,
für die Freie Philosophische Gesellschaft
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Morven spürte seinen langsamen, kräftigen Herzschlag. Ja, es war »sein Buch«, aber nicht sein Exemplar. Oben auf der Seite stand eine verblaßte Signatur in gelehrter Handschrift: Eldric Huherside. Natürlich. Zum ersten Mal an diesem Tag klärten sich Morvens verwirrte Sinne. »Ich weiß, wer er ist«, sagte er laut. »Wer?« »Hui. Derjenige, den sie Hui nennen.« Mehr Zeit blieb ihnen nicht für Erklärungen. Sie hörten schnelle Schritte im Unterholz. Schnell setzten sich die Gefangenen so hin, daß niemand merkte, daß sie frei waren, und taten, als schliefen sie. Im nächsten Augenblick stürmte Rajal auf die Lichtung. »Wo sind sie?« Die Frage galt dem Bruder. Rajal schüttelte ihn. Der fette, kleine Mann wachte langsam auf. »Hm? Oh, der Vaga. Junge, ich dachte, du wärst ein Hühnchen ... Ich habe von einem Hühnchen geträumt. Kannst du
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das glauben? Ein großes, fettes Huhn, das um das Lagerfeuer schlich. Es war sogar schon gerupft! Ich habe versucht, es ins Feuer zu treiben.« Er lachte keuchend vor Vergnügen. »Und das habe ich auch geschafft!« Der Vaga zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Die anderen, wo sind sie?« Mehr sagte er nicht, und der Mönch bemerkte die Dringlichkeit in dem braunen Gesicht. Er deutete mit seiner dicken Hand in die entsprechende Richtung. Rajal verschwand sofort wieder mit großem Getöse im Wald. Der Bruder blinzelte mürrisch, als der Rauch vom Lagerfeuer ihm in die Augen stieg. »Da braut sich irgendwas zusammen«, murmelte er. »Meine Güte, irgendwas braut sich zusammen.« Und ausgerechnet dann, als sie gerade erst nach Oltby zurückgekommen waren! Im Unterholz raschelte es. Jem drehte sich um. »Priesterin, du irrst dich!« meldete sich eine neue Stimme zu Wort. »Du nennst dieses Kind einen falschen Sucher, aber es ist der wahre Suchende! Ist deine Macht unter der Bürde deiner Trauer so verblaßt, gedemütigt und verzerrt, daß du den Schlüssel zum Oro kon nicht erkennst, selbst wenn er sich vor dir manifestiert? Ich bin jetzt alt, und meine Kräfte lassen nach, aber was ich sehe, wenn ich sehen kann, ist wahr. Schenkst du dem, was ich dir gesagt, was ich vorhergesagt habe, denn gar keinen Glauben? Halte die Hände in die Luft neben dich, und ertaste das Verhängnis, das selbst hier droht! Ohne dieses Kind wird dieses Verhängnis uns überwältigen. Eitle, närrische Schwester Ajl! Und du, Wegelagerer, dein Verrat ist kaum zu fassen. Aber du mußt dein eigenes Schicksal erfüllen!« Es war Xal. Sie hatte die Gewänder von Mutter Rea abgelegt und war ihnen jetzt in ihrer wahren Gestalt erschienen. Vielleicht sah sie keinen Nutzen mehr in ihrer Verstellung, oder sie war ihrer über-
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drüssig geworden und wollte nur noch die Wahrheit. Die alte Frau humpelte in die Mitte des Kreises und wirkte gleichzeitig ehrfurchteinflößend und äußerst gebrechlich. Jem sah sie an und wußte, daß ihre Lebensuhr allmählich ablief. Eine entsetzliche Trauer überkam ihn. Sie würde bald sterben, während ihr Volk in alle Winde verstreut und ihre Nachfolgerin verschwunden war und das Böse die Welt zu erdrosseln drohte. Jem traten Tränen in die Augen. »Große Mutter«, flüsterte er. »Sag mir, wo ist der Weg?« Die alte Frau sah ihn freundlich an und nahm seine Hand in ihre. Ein dunkler Stein schimmerte in der Mitte ihrer Stirn, eingenäht in das rote Tuch ihres Turbans. Niemand sprach, aber das Schweigen verriet Jem, daß seine Frage bald beantwortet werden würde. Xal hielt fest seine Hand, als hinter ihnen im Unterholz Geräusche er tönten. Es war, als wisse sie, was gleich geschehen würde. Und natürlich wußte sie es. Rajal stürmte auf die Lichtung. Er war die ganze Strecke vom La ger gerannt und völlig außer Atem. Er sank zu Boden und hielt sich die Seite. »Dolm sagt...«, stieß er hervor. »Dolm? Was ist mit Dolm?« Der Wegelagerer trat vor. »Sprich, Vaga!« »Dolm sagt, unsere Agenten ... in Wrax ... haben das Signal ... gesendet... Er sagt... er sagt: DIE ZEIT IST GEKOMMEN!« Alle schrien durcheinander. »Dann ist es also soweit!« flüsterte Hui. »Endlich«, meinte Bando. Raggle und Taggle tollten herum und tanzten. Landa sah sich unsicher um, hin- und hergerissen zwischen Freude und Entsetzen. Der Wegelagerer drehte sich um, damit die anderen seine Beunru higung nicht bemerkten. Nur Jem rührte sich nicht. Er starrte fasziniert in die Augen der weisen Frau. Man hätte glauben können, daß er nicht begriff, nicht begreifen konnte, was um ihn herum ge schah. Doch das Gegenteil war der Fall. Er begriff es mit einem
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Schlag. Der Stein in Xals Turban glühte, und Jem spürte, wie sie seine Hand fest drückte. Er dachte an das Blitzen des Spiegels, das er heute morgen gesehen hatte, das aus dem Wald von der anderen Seite der Hügel gekommen war. DIE ZEIT IST GEKOMMEN. Jetzt übernahm der Wegelagerer das Kommando. »Orviks Ar meen versammeln sich vor der Stadt. Die Schlacht, die wir so lange herbeigesehnt und gefürchtet haben, steht unmittelbar bevor. Er neut werden die Felder von Ajl mit Blut getränkt werden. Aber es ist zu früh, viel zu früh!« »Kommandeur«, meinte Bando. »Wie kann das sein? Nach all den Zyklen?« »Es ist zu früh, ich sage es dir! Prinz Orvik ist ein Narr, ein voreiliger Narr!« »Nein«, widersprach Landa. Die Antwort des Wegelagerers war barsch, beinahe grausam. »Närrisches Mädchen, was verstehst du schon davon? Wir haben uns unserer Arbeit im geheimen gewidmet. Und was will Orvik tun? Seine Leute für seinen Stolz opfern? Seine ›Mistgabelarmee‹ hat in den Einöden von Ana-Zenzau ein Scharmützel gewonnen. Aber Wrax einzunehmen - und es jetzt einzunehmen ...! Was kann schon anderes dabei herauskommen als ein Massaker an Hunder ten, Tausenden schlecht ausgebildeter, ahnungsloser Zenzaner? Be greift der Narr denn nicht, daß eine so katastrophale Niederlage den Widerstand zerstören kann, und zwar vielleicht für immer?« »Ihr grausamer Bandit!« rief Landa. »Wie könnt Ihr nur so an Orvik zweifeln ... Oh, wie könnt Ihr nur so gemein sein?« Der Wegelagerer antwortete nicht auf die Frage. Wut stieg in Jem hoch - und ein brennendes Mitleid mit dem Mädchen. Aber er ließ Bob Scarlet nicht aus den Augen, als der Maskierte sich umdrehte und erst Hui und dann Bando anblickte. »Wir dürfen diese Schlacht nicht verlieren. Hui, es bleibt uns nur eins zu tun. Bando, willigst du ein?«
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Hui wurde plötzlich bleich. »Der Ladenbesitzer ...« »... von Wrax?« beendete Bando den Satz. Jems Herz hämmerte heftig. DIE ZEIT IST GEKOMMEN. Schlagartig wurde ihm klar, daß das Zeichen, auf das er so lange gewartet und dessen Erscheinen er gefürchtet hatte, dasselbe war wie das, das diese Bande von Rebellen tief im besetzten Königreich von Zenzau erhalten hatte. Alles paßte plötzlich zusammen. Oder fast alles. Was der König und die Königin der Schwerter damit zu tun haben sollten, war Jem immer noch nicht klar. »Es ist Tors Vermächtnis«, sagte der Wegelagerer. »Ein Vermächtnis, das ihn getötet hat!« Hui weinte. »Es ist böse«, sagte Bando. »Ist es denn böser als der Feind?« Verachtung klang in der Stimme des Wegelagerers mit. Er drehte sich zu Rajal um. »Vaga, geh zum Verwalter zurück. Mein Pferd soll gesattelt bereitstehen. Bei Anbruch der Dunkelheit reite ich nach Wrax.« »Bob, bitte!« widersprach die Priesterin. »Die Wachen! Die Patrouillen! Oh, es ist so gefährlich, und wofür ...?« »Wofür?« unterbrach sie der Bandit. »Priesterin, gerade du solltest doch begreifen, daß wir diese Schlacht gewinnen müssen, weil wir sonst am Ende sind. Es hat keinen Sinn, mir zu widersprechen. Ich habe mich entschieden. Man muß dem Ladenbesitzer die Bot schaft überbringen: DIE ZEIT IST GEKOMMEN!« Der Bandit wäre gegangen, doch Jem erhob sich und ließ die Hand der Großen Mutter los. Seine Augen funkelten. Schnell trat er dem Wegelagerer in den Weg und wich nicht zurück, nicht einmal, als der Mann um ihn herumgehen wollte. Mit einem Anflug von Stolz bemerkte er, daß er beinahe so groß war wie dieser merkwürdige, grausame Mann. Furchtlos blickte er in die Augen hinter der Maske. »Was gibt es, Junge? Noch mehr Lügen oder närrische Phanta sien? Aus dem Weg, ich habe keine Zeit für dich. Ich reite heute abend los.«
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»Nein. Ich reite.« »Du, Junge? Du?« Jem ließ sich Zeit mit der Antwort. Und als er schließlich sprach, schwang eine Autorität in seiner Stimme mit, die nicht einmal der Wegelagerer in Frage stellen konnte. »Ich muß gehen«, sagte Jem nur. »Es ist meine Botschaft!«
30. Der Schrei hinter der Tür »Ich erhöhe!« »Ihr blufft.« »Kommt schon, ich erhöhe!« »Sehr gut, Liebes!« »Ha, ha!« Jelis Lachen war beinahe ein Juchzen, als sie wieder einmal alle Karten einsammelte. Wirklich, es war zu einfach! »Tante, Ihr versucht es ja gar nicht mehr.« »Ich versuche es schon, Liebes. Aber ich kann nicht mehr, das ist alles.« Tante Vlada lächelte schwach. Die Erneuerung ihres Glanzes war nur von kurzer Dauer gewesen. Wieder lag sie rücklings auf dem Sofa am Kamin und hatte eine grüne Decke um sich gehüllt. Ring lag auf ihrem Schoß und betrachtete seine Herrin mit großen, besorgt blickenden Augen. Jeli dagegen zeigte keine Sorge. Ein ande res Mädchen hätte sich vielleicht gefragt, wieso seine Tante so plötzlich und unvermittelt diesen Rückfall in eine Krankheit erlitten hatte, die sie besiegt zu haben schien. Ein anderes Mädchen wäre vielleicht beunruhigt gewesen. Doch Jeli dachte nur an ihren bevorstehenden Ruhm. Sie war unruhig, warf die Karten auf den Tisch und ging in ihrem kleinen Boudoir auf und ab. 253
»Paß auf Rheen auf«, stieß Tante Vlada hervor und hustete. Offenbar bereitete es ihr Schmerzen. »Er liegt auf dem Boden, glaube ich.« Rheen, also wirklich! Vor ein paar Tagen war der Vogel entflogen, doch ein bißchen später hatte Tante Vlada eine kleine Eidechse hin ten im Schrank gefunden und behauptete eigensinnig, daß dies Rheen sei. Sie erwartete offenbar von Jeli, ihre helle Freude zu teilen. Angewidert wollte Jeli das Ding ins Feuer werfen, das heißt, sie wollte Elpetta befehlen, es zu tun. Aber ihre Tante hatte heftigst protestiert. Es war einfach zu absurd. Jeli trat ans Fenster und zog wütend die Vorhänge beiseite. Sie spähte in die Dunkelheit hinaus und bemühte sich, etwas im Strahl des Mondes oder im Flackern von Fackeln und Laternen zu erken nen. Es war Abend, und sie war hier oben eingesperrt! Wie sehr sie sich danach sehnte, in die große Welt hinauszukommen, dorthin, wo Gelächter, Musik und Fröhlichkeit waren! Aber nein, sie mußte wie ein Kind eingesperrt bleiben und auf den Moment warten, da ihre Bestimmung öffentlich verkündet wurde. Niemand darf es erfahren, hatte der Erste Minister gesagt. Niemand, bis die Zeit reif ist. Eine Kutsche fuhr in der Nebenstraße vorbei. Jeli sah ihr hinterher, und ihr Blick glitt zu den Stufen zurück, auf denen ihre alte Duenna zu Tode gestürzt war. Nun, Ju-Ju würde diese vorübergehende Einkerkerung ihres Mündels sicher gutheißen! Einen Augenblick kam Jeli die merkwürdige Idee, daß die alte Frau, statt auf der Treppe zu sterben, sich an dem Tag nur in Tante Vlada verwandelt hatte. Sie drehte sich um und betrachtete die Invalide auf dem Sofa. Sie konnte nur hoffen, daß Tante Vlada bald wieder gesund sein würde. Immerhin mußten sie einige Vorkehrungen treffen. Mehr als je zuvor! Ein Mädchen in ihrer Lage brauchte einfach eine Tante! Einen Moment lang vergaß Jeli ihre klägliche Situation und dachte freudig an die Zukunft, die vor ihr lag. O ja, sie war wahrhaftig an den höchsten Bieter verschachert worden!
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Auf dem Fensterbrett raschelte etwas. Jeli sah hinunter. Es war die Eidechse, die mit einem zusammengeknüllten Ball aus Papier spielte. Pfui! Jeli fegte die häßliche Kreatur zu Boden. Im nächsten Augenblick war der angebliche Rheen unter einem Lehnstuhl ver schwunden, aber der Papierball, der einen schwarzen Rand hatte, wie Jeli jetzt erst bemerkte, lag immer noch auf dem breiten Fensterbrett. Ein Brief. Woher war der gekommen? Dann erinnerte sich Jeli. Seit ihre Tante siech daniederlag, war ihr Onkel mehrmals die steile Treppe zu ihrem Boudoir hinaufgeklet tert. Er schien nur bei Vlada sitzen, mit ihr reden und ihr schmeicheln zu wollen. Angewidert hatte sich Jeli in ihre Schlafkammer zurückgezogen, aber sie konnte einfach nicht die häßliche Stimme ihres Onkels überhören, die durch die Tür dröhnte. Wirklich, Jeli mochte ihn überhaupt nicht! Wie sehr sie sich danach sehnte, die ses ekelhafte Haus verlassen zu können! Vor einigen Stunden hatte er aus einem Brief vorgelesen. Jeli hatte nicht genau verstanden, worum es ging, und durch die Tür nur ein Murmeln gehört. Aber am Ende hatte ihr Onkel gelacht und den Brief zusammengeknüllt. Jeli hatte angenommen, daß er ihn ins Feuer geworfen hatte. Anscheinend hatte er sich jedoch statt dessen bemüht, ihn aus dem Fenster zu schleudern. Langsam faltete Jeli die schwarzgeränderte Seite auseinander. Mein teurer Bruder, ich schreibe Euch voller Trauer und informiere Euch über den Tod meines Ehemannes, Lord Veeldrop. Ich weiß, daß Ihr einst dem teuren Mann nahestandet und mit ihm zur Zeit der Belagerung, die unser Königreich so aufgewühlt hat, gewisse Intimitäten teiltet. Ich hege keinerlei Zweifel daran, daß Ihr ebenso um ihn trauert wie ich; und glaubt mir, Jorvel, ich fühle mit Euch in Eurem Leid. Wie tra gisch, da werdet Ihr mir sicher zustimmen, daß dieser beste aller
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Gentlemen (und zärtlichste aller Ehemänner, nicht zu vergessen: mutigste aller Helden) seinen letzten Seufzer unmittelbar nach unserer Erhebung in den Adelsstand getan hat. Die doch schon so lange fällig gewesen wäre. Wie tragisch auch, daß diese Provinz, Eure Provinz, eines so weisen, so gerechten und so gnädigen Verwalters beraubt wird! Die Täler müssen jetzt in andere Hände gelegt werden. Ich hatte gehofft, daß ich, schwache Frau, die ich bin, die Zeit bis zum Ende der Verwaltung hier hätte dienen können und Moral und geistige Sphäre beeinflussen könnte. Leider wäre es für mich jetzt unerträglich, länger hierzubleiben, wo ich doch in jeder Hütte, in jedem Baum und in jeder Straße den geliebten Namen meines Ehegatten sehe. Ihr werdet sicher begreifen, daß ich nach Agondon zurückkeh ren muß und dort die Tage, die mir noch verbleiben, in demütigem Gebet verbringe. Jorvel, ich werde bald wieder bei Euch sein und Eure teure Nichte Catayane mitbringen. (Betet, daß sie bald sicher verheiratet sein wird!) Vielleicht, teurer Bruder - und sagt mir, daß es so sein wird! —, können wir uns ja gegenseitig halten, gemeinsam laut weinen und uns trösten, wenn ich zurückgekommen bin, und uns an die Tage er innern, als die beste Ehefrau von allen (meine teure, teure Ruanna!) noch lebte und die Eure war und der beste aller Ehemänner der meine! Ach, welch ein Glück wir doch verloren haben! Aber wir müssen uns demütig dem Willen des Herrn Agonis ergeben. Ich bin, mein liebster und geliebter Bruder, Eure Schwester, Becca (Lady Veeldrop) Postskriptum: Leider sind zwar meine Vorbereitungen abgeschlossen, aber meine teure Nichte Catayane kann nicht reisen! Das Leid über den Tod ih res Onkels hat sie niedergezwungen, aber dennoch besteht sie dar
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auf (so besorgt ist das süße Kind um mich!), daß ich meine Über fahrt nach Agondon nicht versäume, solange das Wetter gut ist und meine Gesundheit diese lange Reise noch zuläßt. Es schmerzt mich sehr, das Mädchen allein zurückzulassen, aber ich weiß, daß sie in der Obhut meiner klugen und umsichtigen Dienerin Nirrian gut aufgehoben ist. (Die treue Seele! Was für ein Segen! In diesen letz ten Jahren wäre ich ohne sie gewißlich verloren gewesen!) Mein Spi ritus rector, Kaplan Feval, wird mich in die Stadt begleiten. Also fürchtet nicht um mich, teurer Bruder, wegen der beschwerlichen Reise, die mir bevorsteht. Ich nehme doch an, daß es der kleinen Jeli gutgeht. Catayane läßt sie grüßen und ist sehr traurig, daß sie nicht ein mal in der Lage ist zu schreiben. Wie sehr ich mir wünschte, daß wir alle zusammen wären! Ich sehne mich danach, mich endlich meiner übrigen Familie widmen zu können. Jeli runzelte die Brauen und ließ den Brief zu Boden fallen. Einen Augenblick hatte ihr Herz heftig geschlagen, als sie glaubte, daß Catty bald wieder bei ihr wäre. Um so niedergeschlagener war sie, als sie erfuhr, daß es doch nicht so sein würde. Doch dann dachte Jeli daran, wie Catty letztes Jahr angegeben hatte ... Sie hatte mit diesen paar fadenscheinigen Triumphen in Varby geradezu ge schmacklos herumgeprahlt! Jeli konnte eine klammheimliche Ge nugtuung nicht unterdrücken. Daß Catty jetzt krank in den Pro vinzen daniederlag und bloß von irgendeinem schlampigen Dienst mädchen gepflegt wurde, war letztlich doch eine gerechte Bestrafung für ihre Überheblichkeit! Jeli lachte und versuchte, ein paar Akkorde auf dem Spinett zu spielen, um so ihrer Freude Ausdruck zu verleihen. Aber da sie das Instrument kaum beherrschte, langweilte es sie bald. Sie warf sich in einen Stuhl gegenüber der Liege ihrer Tante und nahm die JarvelRolle, die halbgeraucht im Aschenbecher lag. Jeli hatte in letzter Zeit ab und zu an einem Tobarillo gezogen. Sie schnüffelte an dem
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scharfen Kraut und sah sich suchend nach einem Streichholz um. Ihre Tante protestierte nicht. »Tante«, sagte Jeli, während sie kräftig paffte. »Erzählt mir eine Geschichte. Ihr könnt immer so schöne Geschichten erzählen.« Ihre Tante hatte die Augen geschlossen, ihre Stimme klang schwach. »Leider kann ich Euch diesen Gefallen nicht tun. Wenn die eigene Geschichte bald zu Ende geht, dann haben andere Ge schichten wenig Reiz.« Bei diesen Worten miaute Ring kläglich und kuschelte sich enger an Tante Vladas Gesicht. Aber Jeli war verärgert. Ihre Tante redete in letzter Zeit immer häufiger so. Was hatte sie denn bloß? Und warum machte sie solche Fisimatenten? »Erzähl mir eine Geschichte, verflixt noch mal!« begehrte Jeli auf. Sie hatte diesen Temperamentsausbruch nicht beabsichtigt, und ihre Worte schockierten sie selbst, noch während sie sie hervorstieß. Sie ließ sich zitternd zurücksinken. Lag es vielleicht am Jarvel? Tante Vlada beobachtete ihre Nichte traurig. Sachte und geistesabwesend streichelte sie Rings Fell. Was war sie doch für eine När rin gewesen, was hatte sie für einen dummen Fehler gemacht! Ihr Blick glitt zum Spieltisch. Sie streckte die Hand aus und nahm ein paar Karten von dem grünen Filz. Die Acht der Scheiben. Die Vier der Stäbe. Der König der Schwerter ... ah, der König der Schwer ter. Es war bereits zu spät. Die Zeit schien sich auszudehnen, viel zu schnell. Tante Vlada mischte die Karten und dachte an die Mädchen, die sie ebenfalls wie Karten gemischt hatte ... Pelli ... Cata ... Jeli... Karten zum Spielen, mehr nicht. Jedenfalls hatte sie das angenommen. Und sie würde das Schicksal eines Königreichs bestimmen. Vielleicht wäre es mit Cata besser gegangen. Ja, Cata hatte etwas Vornehmes in sich, etwas Edles. Peli war zu schwach gewesen, so wie auch Jeli, jedenfalls in gewisser Weise. Cata. Ja, Vlada hatte es falsch angefangen. Und jetzt lief ihr die Zeit davon, zerrann ihr zwischen den Fingern.
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Tante Vlada sah wieder auf die Karten und bemerkte, daß sie den König der Schwerter anstarrte. Dann erzählte sie Jeli ihre letzte Geschichte. Als sie sprach, erhob sie sich ein wenig vom Sofa, und ihre Stimme, die zunächst schwach geklungen hatte, nahm einen neuen Ernst an. Hätte Jeli richtig hingehört, was sie allerdings nie tat, wäre ihr vielleicht der Gedanke gekommen, daß eine andere Stimme, eine sehr, sehr weit entfernte Stimme durch die gegrämte, sterbende Gestalt ihrer Tante Vlada zu ihr sprach.
Der König und die Königin der Schwerter »Früher einmal, vor langer, langer Zeit, als mein Volk in die Länder Zenzaus kam, führte es den Kristall der Viana mit sich. Die Hohepriesterin Hara war die Vertreterin der Göttin. Sie trug den Kristall an ihrem Herzen, wo ihn niemand ohne ihre Zustimmung wegneh men konnte. Mit ihrer Schwesternschaft kontrollierte sie die Hügel von Wrax, und es herrschten Ordnung und Harmonie. Aber mit der Zeit entstanden andere Kräfte im Land. Männersekten, die Zenzaler, die eifersüchtig auf die Macht der Priesterin waren, untergruben ihre Autorität und trieben sie in Scham und Schande da von. Fünf zenzalische Sekten kämpften gegen sie. Da waren die Federkiele, die versuchten, sich durch die Macht des Wissens ihr überlegen zu machen. In naßkalten Klöstern und abgeschiedenen Klau suren entwickelten sie ihre quälenden Lehren, bis schließlich ihre äußeren Sinne so vernebelt waren, daß sie weder Wald noch Bäume sahen und nicht einmal die Düfte in der Luft wahrnahmen. Dann gab es die Sekte der Scheiben, deren Symbol in Wirklichkeit eine Münze repräsentierte. Sie waren diejenigen, die versuchten, die Macht des Goldes anzubeten. Sie bemächtigten sich aller Künste, die das Gold bot, und sie konnten sich jede Befriedigung erkaufen, außer der, die aus den tiefsten, wahren Quellen entspringt. Eine
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Münze fällt in solchen Brunnen machtlos durch den finsteren, leeren Raum, ohne jemals am Boden aufzuschlagen. Ihre Herzen wur den kalt und hart. Die Stäbe waren ein Klan der blasphemischen Männerpriester, die Gottesdienste abhielten, die von der Göttin nicht sanktioniert worden waren. Sie kombinierten die Lehren der Federkiele mit der Habgier der Scheiben. Die Ringe wiederum waren Männer der Liebe, die die Frauen mit den Ketten der Lust fesselten und ihnen keine andere Kunst gestatteten als die der Leidenschaft. Als letztes war da noch die Sekte der Schwerter, die sich den Waffen widmete. Deren Kräfte waren weder die des Geistes noch die des Herzens, sondern nur die der brutalen Gewalt. Allmählich wurde jede dieser zenzalischen Sekten groß und stark und zog viele Schüler an. Sie fanden nicht nur Zulauf unter den Männern, sondern auch unter vielen Angehörigen unseres Geschlechts. Sie warfen sich wie Närrinnen vor den hohlen, verführerischen Mächten in den Staub. Und so kam es, daß jede Sekte ihren eigenen König erwählte, der sich nach einiger Zeit auch eine Köni gin nahm. Die fünf Könige verdarben das Leben meines Volkes. Von den Fe derkielen bekam es Gesetze und Verfügungen und lernte, alles in Frage zu stellen. Von den Scheiben lernte es Begehrlichkeit, Gier und Habsucht. Die Stäbe unterrichteten es in Kriecherei und falscher Demut. Und von dem Stamm der Ringe wurde die Gleich heit zwischen Mann und Frau für immer und unwiederbringlich zerstört. Die Schwerter propagierten die Kunst des Krieges. Mein Volk hatte im Wald gelebt. Doch jetzt bauten die Könige große Burgen und zogen Wälle aus Steinen hoch, wo früher einmal nur Wald ge wesen war. Schließlich kamen die fünf Könige zu dem Schluß, daß keiner die Macht des anderen länger tolerieren wollte. Jeder König war eifersüchtig auf seinen Bruder-König, aber am meisten lehnten sie Prie-
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sterin Hara ab. Also entwickelte jeder König Pläne, wie er sie vernichten und den Kristall der Viana ihrer Hand entreißen könnte. Durch diesen Diebstahl, so glaubte jeder König, würde er nicht nur die weibliche Macht Haras zerstören, sondern auch seine Vorherrschaft über seine vier Bruder-Könige unter Beweis stellen. Die Könige beschlossen, zunächst Hara ihrer weiblichen Gefolg schaft zu berauben, damit sie allein und wehrlos wäre. Erst kamen die Abgesandten des Königs der Federkiele. Mit der Macht ihrer falschen Argumente verwirrten sie Haras Frauen und machten ihnen weis, daß sie einem Irrglauben anhingen. Einige wenige ließen sich von ihrer hinterhältigen Spitzfindigkeit überzeugen. Dann kamen die Scheiben, mit ihren goldenen Versprechungen. Die Schwe sternschaft war zwar stark, aber nicht alle waren stark genug. Einige erlagen den glänzenden Verlockungen. Doch noch mehr Schwestern gaben den Argumenten der Stäbe nach. Mit ausgefeilten Ritualen und mit Weihrauch, mit Pokalen und prächtigen Roben gelang es der Priesterschaft, viele - zu viele - von Haras hingebungsvollsten Frauen wegzulocken und sie in dem falschen Glauben zu wiegen, daß ihr Verrat eigentlich der Sache der Göttin diente. Sie ahnten nicht, daß die Roben, die Pokale und der Weihrauch - der ihnen so heilig erschien - niemals von weiblichen Händen berührt werden sollten. Sondern daß die Frauen nur passive Zuschauerinnen des priesterlichen Spektakels sein sollten, das sich vor ihnen abspielte. Aber es blieb den Ringen vorbehalten, die Schwesternschaft wirklich in eine verheerende Krise zu stürzen. Es gibt keine verlockendere Macht als die der fleischlichen Lust, und diejenigen, die sich ihrer Verblendung nicht willig hingaben, wurden bald gewaltsam oder durch Hinterlist zum Gehorsam gezwungen. Nur Hara blieb standfest und klarsichtig und wankte nicht. Also war sie schließlich allein, vollkommen allein, als sie sich ihrer größten Herausforderung stellen mußte. Der König der Schwerter jedoch schickte keine Männer. Statt dessen kam er selbst zu Hara und brachte nur seine Königin mit. Diese sprach freundlich
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mit Hara, aber die Priesterin erklärte, daß sie niemals nachgeben würde. ›Närrische Priesterin‹ erwiderte die Königin. ›Welchen Sinn kann dein Widerstand denn jetzt noch haben? Komm, wir wollen dich nicht verletzen. Gib uns nur das, was uns rechtmäßig zusteht.‹ Hara hatte nur einen verächtlichen Blick für ihre schöne Besucherin übrig, die einmal die Erste ihrer eigenen Gefolgsfrauen gewesen war. ›Böse Königin, du bist hier die Närrin. Hast du denn deine Zeit im grünen Wald vergessen, als wir uns vor der Gegenwart der Viana zu Boden geworfen haben? Glaube nicht, daß der Kristall jemals dir gehören kann, wo du doch deine Göttin so schrecklich betrogen hast.‹ Der ergrimmte König wollte die Priesterin nach diesen Worten niedermetzeln, aber die Königin gebot ihm Einhalt. Sie wollte mit Hara sprechen, aber Hara hielt sich die Ohren zu. Sie bot ihr Wein und köstliche Mahlzeiten an. Die Priesterin verschüttete den Wein und warf das Essen zu Boden. Die Königin bot ihr Gold an, aber Hara trat es in den Staub. Dann sagte ihr die Königin, daß sie ihr ei nen neuen großen Tempel bauen wolle, in dem die Priesterin als lebendes Götterbild angebetet werden könnte. Verächtlich wies die Priesterin dieses blasphemische Ansinnen von sich. ›Sie ist eine hochmütige Schönheit‹, mischte sich der König ein. ›Aber wo wäre sie ohne ihre Reinheit? Sehen wir doch, wie stolz sie ist, wenn sie auf die Ebene ihrer Schwestern heruntergeholt wird!‹ Mit diesen Worten packte er die Priesterin, die trotz ihrer verzweifelten Gegenwehr machtlos gegen ihn war. Die Königin sah mit glühenden Augen zu, wie ihr Ehemann sich an Haras Körper verging. Nachdem er seine Lust befriedigt hatte, sprang er eifrig auf, überzeugt, daß ihre Macht nun verschwunden wäre, daß sie mit dem Blut ihres verletzten Körpers verrinnen würde. Erneut for derte er den Kristall, und erneut weigerte sich Hara. Sie erklärte, daß sie eher sterben würde, als ihm diesen letzten und kostbarsten 262
Preis auszuhändigen. Jetzt kochten König und Königin gleicher maßen vor Wut. Die Priesterin mußte ihnen den Preis freiwillig herausgeben, das wußten sie, aber welche Frau hatte das Recht auf einen solchen Stolz, auf einen solchen Trotz, nachdem man ihr die Jungfräulichkeit genommen hatte? Erneut nannte die Königin die Priesterin eine Närrin, und der König beschimpfte sie als arrogante Hure. ›Du willst sterben?‹ Er zog sein Schwert. ›Dann sollst du sterben!‹ Mit diesen Worten meuchelte er die Priesterin, aber ihr Tod bedeutete keinen Sieg für den König und die Königin der Schwerter. Denn sie wußten nicht, daß die Priesterin selbst nach ihrem Tod den Kristall nicht einfach hergeben konnte, nicht, bis endlich der wahre Sucher kam. Also wurde die Priesterin im Augenblick ihres Todes in einen Apfelbaum verwandelt, der den Kristall als seine wertvollste Frucht bewahrte. Dieser Baum wurde der Scheinbaum genannt, denn weder Feuer noch Axt, weder Flut noch Zeit konnten dem Baum etwas anhaben oder ihn dazu zwingen, sein Geheimnis preiszugeben. Und der König und die Königin der Schwerter konnten sich nicht vom Ort des Kampfes entfernen, weil die Sehnsucht, die in ihnen brannte, niemals gestillt werden konnte. Ihr Schicksal war es, für alle Zeiten Wache zu halten und alle anderen abzuschrecken, die zu dem Baum kamen, und mit ihrer eifersüchtigen Wut den Schatz zu schützen, von dem sie in ihrer Verderbtheit und Blindheit noch immer glaubten, daß er ihnen rechtmäßig zustehen würde.« Tante Vlada sank zurück, als ihre Geschichte zu Ende war. Speichel rann der alten Frau von den Lippen, und ihr Gesicht war kalkweiß geworden. Jeli betrachtete ihre Tante mit Abscheu. Was sollte das für eine Geschichte sein? Einst hatte ihre Tante von realen Men schen erzählt, von Menschen, die sie kannte. Was sollte diese alberne Geschichte, dieses Ammenmärchen? Irgend etwas daran war krank, ekelhaft.
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Jeli war schwindlig von dem Jarvel, und sie hatte Angst, daß ihr schlecht werden würde. Sie rappelte sich hoch und wollte sich auf ihr Bett legen. Dann sah sie, daß ihr Onkel Jorvel in der Tür stand. Jedesmal, wenn sie ihn sah, schien er sich weniger um die vornehme Kleidung zu kümmern, die er zum Besuch des Königs noch ange legt hatte. Mittlerweile ähnelte er immer mehr einem alten, widerlichen Ausgestoßenen von der Regentenbrücke. Er ignorierte das Mädchen und legte sich auf das Sofa. Der alte Mann war betrunken, das sah Jeli sofort. Oh, wie schrecklich er war! Sie stürmte in ihr Zimmer und schlug die Tür heftig hinter sich zu. In dem Augenblick, als sie sich auf das Bett warf und sich fürchtete, nicht vor ihrem Onkel, sondern vor der Abscheu, die er in ihr auslöste, in dem Moment dachte Jeli wieder an den Brief, den sie gelesen hatte. Die arme Catty. Aber nein, dies mal dachte Jeli nicht an Catty. Sie dachte an Tante Umbecca. Umbecca Veeldrop war eine fette, sentimentale alte Närrin, daran zweifelte Jeli keine Sekunde. Sie war jedenfalls nicht gerade eine vornehme Lady. Ha, sie war sogar kaum mehr als eine Dienerin. Eine sehr ergebene Dienerin. Jeli lächelte und dachte erneut an ihre Zukunft. Durch die geschlossene Tür hörte sie schwach die trunkene Stimme ihres Onkels. »Vladdy«, murmelte er undeutlich. »Vladdy, ich hab wirklich gemeint, was ich gesagt hab. Du glaubst mir nicht, nicht wahr? Aber ich habe dich immer geliebt, o ja, das hab ich. Ach, Vladdy, sag mir, daß es nicht zu spät ist... Vladdy? Vladdy!« Und plötzlich schrie der Erzherzog, er schrie und schrie und heulte wie ein Mann, der der Verdammnis anheimgefallen war.
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Wo war das Licht? Poltys Blick war zwar verschleiert, aber er hätte das Licht sehen müssen. Während der ganzen langen Koros-Jahreszeit, in der die Zweige kahl waren und der Schnee hoch lag, patrouillierte Polty jetzt schon durch diese Wälder. Immer hatte er durch das Gewirr der Zweige den goldenen Schimmer gesehen; für Polty war es ein Leuchtfeuer gewesen, ein Versprechen, das den Schmerz seiner Ein samkeit und seines Begehrens linderte. Es war Landas Licht, das als Willkommen in dem hohen Fenster geleuchtet hatte. Aber jetzt war das Licht verschwunden. Was war geschehen? Polty gab seinem widerwilligen Pferd die Sporen. Er war ziemlich betrunken. Das Verhängnis, das in der Nacht zu vor begonnen hatte, war noch nicht zu Ende. Polty wirbelte in einer strudelnden Spirale nach unten und hatte den Boden noch längst nicht erreicht. Seine Vorsätze, sein ganzes gutes Benehmen, lagen weit hinter ihm und waren heillos zerstört. Lange nach Mitternacht hatte man ihn aus der Offiziersmesse geworfen, als er drohte, gewalttätig zu werden. Das war schon schlimm genug. Am nächsten Morgen sollte er sich zum Rapport melden, aber Polty war gar nicht erst in sein Quartier zurückgegangen. Statt dessen war er durch die Stadt gestreift. Mochte die Kaserne auch Zapfenstreich haben, für Wrax galt das nicht. Erst ging er in ein Bordell, dann in ein Bierhaus, anschließend in eine Ginkneipe und eine Jarvel-Höhle . . . An den Rest konnte sich Polty nicht mehr erinnern. Mittlerweile war seine Uniform zerrissen und schmutzig, und er stank entsetzlich. Er hatte ein blaues Auge, auf der Wange klaffte eine Wunde, und an seinen Lip
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pen und am Kinn klebten Blut und Schleim. Er war den ganzen Tag ohne Genehmigung dem Dienst ferngeblieben! Als es dunkel ge worden war, hatte er ein Pferd gestohlen und war tollkühn durch die sich formierenden Schlachtreihen geritten. Jemand hatte versucht, ihn aufzuhalten, andere hatten ihn verfolgt. Aber wie durch ein Wunder war Polty allen entkommen. Jetzt, hier im Wald, würde ihn niemand finden. Nicht heute nacht. Heute nacht war er frei, frei von allem, und würde endlich den Preis einstreichen, den er sich so lange aufgespart hatte. Landa. »Es ist meine Botschaft«, wiederholte Jem. »Ich weiß. Aber ich gehe trotzdem mit dir.« »Raj, denk an die Große Mutter! Sie ist alt, und ihr Ende ist nah. Sie hat schon Myla verloren ... Soll sie dich auch noch verlieren?« Rajals Blick war traurig. Es war Nacht geworden, und sie waren ins Lager zurückgekehrt. Durch die Flammen des Lagerfeuers sah er die Große Mutter, die Raggle und Taggle in den Armen hielt, Landas Hand drückte und Zady aufmunternd zulächelte, während der auf einer alten Fidel spielte. Er hatte keinen Bogen mehr, und so mußte der große Mann die Saiten mit den Fingern zupfen. Dennoch schaffte er es, eine Art von Musik hervorzuzaubern. Erst spielte er eine Reihe von Arpeggios, und schon bald mäanderten sie in einer Melodie durch die Nacht. Rajal kniff die Augen zusammen und versuchte, das Gesicht der Großen Mutter zu erkennen, das neben dem von Landa im Dunkeln schimmerte. Aber es flirrte und ver schwamm hinter der wabernden Hitze, die vom Feuer aufstieg. Rajal seufzte. Er liebte die Große Mutter und wußte, daß auch sie ihn liebte. Zumindest davon hatte ihn dieser Tag überzeugt. Sie würde bald sterben, und das stimmte ihn traurig. Aber er würde nicht bei ihr bleiben, er konnte es nicht. Er liebte Jem zu sehr, um ihn jetzt einfach allein zu lassen. »Also glaubst du, daß du sterben wirst, Jem?« fragte er.
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Jem schüttelte langsam den Kopf. »Glaubst du, daß ich sterben werde?« »Es ist gefährlich, Raj.« »Dann gehe ich mit dir, Jem.« Jem schwieg. Wie oft hatte sein Freund ihn schon wütend ge macht? Jetzt jedoch erkannte er nur Loyalität in Raj als dunklen Augen, Loyalität und eine grimmige, unerschütterliche Entschlossen heit. Sie würden bis Mitternacht warten und sich dann auf den Weg machen. Ernst malte sich Jem die Mission aus, die ihnen bevorstand. Hui hatte es ihm erklärt, Bando hatte es wiederholt, ja selbst der Wegelagerer hatte sich zu ihnen gesetzt und überprüft, ob er wirklich wußte, was zu tun war. Es war im Prinzip ganz einfach: Im Herzen von Wrax, knapp außerhalb des Tempelbezirks, lag ein schäbiger kleiner Laden hinter einem Eisengitter. Dort wohnte der Ladenbesitzer von Wrax. Ob er wirklich der Mann aus der Legende war, konnte niemand sagen. Geh zu ihm, meinten sie nur. Geh zu ihm und sag ihm: DIE ZEIT IST GEKOMMEN. Die Zeit war gekommen. Vor den großen Eichentüren von Dolms Turm rutschte Polty vom Pferd und wäre beinahe gestürzt. Die gequälte Kreatur, deren Flanken von den Sporen des Reiters aufgerissen waren, wieherte er leichtert auf und galoppierte davon. Polty achtete kaum darauf. Er brabbelte Landas Namen vor sich hin und hämmerte gegen die Türen. Oh, wie sehr er das entzückende Mädchen brauchte! Wie sehr er sie begehrte! Sein Kopf hämmerte, und er erinnerte sich schwach an die vergangene Nacht. Als er einmal von einer Taverne zur nächsten geschwankt war, hatte er eine schmutzige, alte zenzanische Hure an einer Häuserwand genommen. Die Gasse stank nach Pisse und Kotze, aber in Poltys ekelhafter Erinnerung war der Gestank wie ein eitriger Ausfluß von der Hure aufgestiegen, als er ihr die derben, feuchten Röcke hochgezerrt hatte.
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»Landa! Landa!« stieß er lallend hervor. Das entzückende Mädchen würde ihn reinigen, alle seine Schandtaten vergessen machen. Aber wie sollten sie dorthin gelangen? Um die ganze Stadt herum würde es schon jetzt von Blauröcken nur so wimmeln. Sie bereiteten sich auf die Schlacht vor, die unaus weichlich kommen mußte. Ihr einziger Plan konnte es sein, im Schutz der Dunkelheit zu reisen. Aber was konnte die Dunkelheit schon nutzen, wenn heute nacht endlich Zenzaus Krise zu ihrem Ausbruch kam? »Wir müssen eben vorher in die Stadt gelangen«, meinte Rajal. »Weißt du noch, in Varby?« »Raj, das hier ist Wrax.« Hui setzte sich neben sie. Er deutete auf Zady. »Das ist ja nicht gerade eine Trippel-Laute«, meinte er. »Ihr wißt davon?« Sehnsüchtig dachte Rajal an die Tage zurück, als er mit den Wohnwagen der Vaga umhergezogen war. »Die Große Mutter hat uns viel erzählt«, sagte Hui. »Sie hat alles verloren, um hierherzukommen und sich uns anzuschließen, Rajal. Sie hat viel verloren und noch mehr riskiert.« Sie schwiegen, und Jem betrachtete Hui. Der Gelehrte hatte ihm viel von der Welt und der Vergangenheit erzählt. Für Jem war es, als würden sich die Teile eines Puzzles zusammenfügen, eins nach dem anderen. Das Puzzle war immer noch weit davon entfernt, vollstän dig zu sein, aber heute sollte ein weiteres Stück dazukommen. Jem war immer noch benommen von dem Zeichen, nach dem er so lange gesucht hatte, und dachte kaum über die Natur seiner neuen und ge fährlichen Mission nach. Er blickte vom Feuer auf und sah den We gelagerer, der am Rand des Lagers im Schatten stand. Er spürte den prüfenden Blick hinter der Maske, und einen Augenblick durchströmte ihn Angst. Er dachte an andere Masken, andere Augen. »Hui«, sagte er. »Was meintet Ihr noch über den Harlekin? Ihr habt gefragt, ob seine Macht dunkel oder hell war, stimmt's?«
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»Ich habe mich oft gefragt, Jem, ob nicht etwas in Eurem Onkel war, das sich nach der dunklen Seite sehnte.« »Ich verstehe das nicht. Er war doch ein Held!« »Wißt Ihr, warum er gestorben ist?« Jem riß sich zusammen. »Er wurde betrogen!« »Ja, aber vergeßt nicht: Er war krank, lag schon im Sterben. Selbst wenn er nicht auf dem Dorfanger aufgeknüpft worden wäre, hätte er trotzdem bald auf dem Friedhof gelegen. Es war die Belagerung von Wrax, die ihn vernichtet hat, als Veeldrop seine Truppen auf den Feldern der Ajl zusammengezogen hat, entschlossen, endlich die Macht von Zenzau zu zerschmettern.« »Genau wie heute nacht«, murmelte Jem. »Nur umgekehrt«, meinte Rajal. »Hui, warum muß ich zu dem Ladenbesitzer gehen?« Hui schien die Frage nicht gehört zu haben. »Ihr habt vielleicht von der Explosion gehört? Von der Geheimwaffe des Roten Rächers?« Jem nickte. »Sie hat Veeldrop krank gemacht. Aber sie hat auch meinen Onkel zerstört.« Er dachte an Tor, wie er sich in seinen letzten verzweifelten Monaten durchgeschlagen hatte, verborgen hinter dem Gobelin in der Kammer seiner Mutter. Wäre er gestorben, wenn die Blauröcke ihn niemals gefunden hätten? Jem redete sich gern ein, daß Tor irgendwie überlebt hätte. Selbst in diesen letzten Tagen hatte Tor von den Abenteuern gesprochen, die vor ihnen la gen - so als ob sie bald beide gesund sein würden und zusammen über die Fahle Landstraße marschieren könnten. Jem rieb sich die Arme. Das Feuer loderte hell in der Mitte des Lagers, aber es war trotzdem kalt. Durch die Flammen sah er Landa, die zart und bleich dasaß. Er wußte, daß auch sie zitterte und Angst hatte, trotz der Wärme, die sie umhüllte. Die arme Landa. Er hätte sie gern getröstet, aber er wußte, daß sie nur an ihren Liebsten dachte. Würde Orvik in der morgigen Schlacht ster ben?
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Jem dachte wieder an Tor. »Erzählt mir von dieser Waffe.« »Die Lage hatte ein verzweifeltes Stadium erreicht. Die Blauröcke hatten uns bereits in Stücke geschlagen. Veeldrop war der große Sieger von Irion. Als sie ihn schickten, dachten wir, daß alles vorbei wäre. Und nach menschlichem Ermessen war es das auch ... Allerdings nur, wenn man die Rechnung ohne den Roten Rächer machte. Euer Onkel hat an einer Geheimwaffe gearbeitet. Woraus sie letztlich gemacht war, sollten wir niemals erfahren. In Wrax gibt es einen Alchimisten, der angeblich große Macht besitzt und der ihm bei dieser Arbeit half. Ich glaube, daß es ein Versuch war, Mächte zu beschwören, die in dieser Dimension eigentlich nichts zu suchen haben. Aber was weiß ich letztlich schon? Nur eins: Als Veeldrop endlich angriff, gab es einen blendenden Blitz, und die Felder der Ajl waren mit Leichen übersät.« »Was für ein Blitz?« wollte Rajal wissen. »Ich habe ihn nicht gesehen. Aber ein Bauer sagte mir, es sei ein grüner Blitz gewesen, ein kurzes Zucken, das Erde und Himmel gleichermaßen erhellte. Der arme Bauer wurde davon geblendet. Der Blitz war das letzte, was er gesehen hat.« »Der Alchimist, wo ist er?« fragte Jem. Hui sah ihn an. Er hätte gelächelt, wenn die Sache nicht so ernst gewesen wäre. »Nun, Jem, dort, wo alle Fäden zusammenlaufen.« »Zusammenlaufen ?« »Ein weiteres Stück des Puzzles. Wißt Ihr, man nennt ihn den La denbesitzer. Den Ladenbesitzer von Wrax.« Jem war verwirrt. Der Ladenbesitzer? Der echte - oder der aus der Geschichte? Oder war das nur ein Deckname? »Aber Dolm hat nichts davon gesagt... Ich meine ... Die Geschichte geht doch anders ...« Jetzt genehmigte sich Hui doch ein kurzes Lächeln. »In den Ge schichten herrscht wie in den Träumen mancherlei Verwirrung. Geschichten verändern sich wie das Licht, das durch die Zweige fällt, oder die Blätter, die am Boden liegen. Das ist unausweichlich. Ge
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schichten, selbst die einfachsten, sind immer widersprüchlich. Es ist ihre Natur. Denn was ist eine Geschichte schon anderes als eine Lüge, aber eine, die die Wahrheit erzählt?« Jem senkte den Blick. Jetzt sprach Rajal. »Der blendende Blitz?« flüsterte er. »Das ist der Plan? Soll es wieder geschehen?« »Es ist der einzige Weg«, erwiderte Hui. »Nein«, murmelte Jem langsam. »Nein.« »Jem, erinnert Euch an das Zeichen!« Jem schlug die Hände vors Gesicht. Der Turm war verlassen. Polty hatte immer wieder gegen das Por tal gehämmert. Am Ende hatte er sogar dagegen getreten und sich den Fuß verstaucht. Humpelnd und fluchend ging er um das uralte Bauwerk herum, als hoffe er, vielleicht einen anderen Eingang zu finden, als hege er die Hoffnung, daß die schöne Bewohnerin viel leicht mit klopfendem Herzen dort auf ihn wartete. Eine schreckliche Verzweiflung packte Polty Er wollte schreien oder sich hinwerfen und mit den Fäusten auf den Boden trom meln. Wie sehr es ihn jetzt nach einem Glas gelüstete! Liebevoll hatte er sich den ganzen Weg zum Schloß die Szene ausgemalt, die ihn dort erwartete, beschienen vom sanften Licht der Lampen. Erst würden die besten Weine aus Dolms Keller aufgefahren werden, dann folgten Musik, Gelächter, unschuldige Spiele. Scheu würde Landa den Blick niederschlagen und erröten, wenn er ihr den Finger unter das Kinn legte. Aber wenn er sie unvermutet an blickte, würde er sie dabei ertappen, wie sie ihn mit kühner Liebe betrachtete. Beiläufig würde er einfließen lassen, daß er jetzt ein Adliger war, und Dolm würde ehrfürchtig die Luft anhalten. Ja, selbst die Alte würde ihm Respekt bezeugen. Sie würden sich tief verneigen und diesen Tag preisen, als wäre ihr Schloß plötzlich in alter Pracht wiederhergestellt und ein neuer Herr wäre zu ihnen gekommen, getragen auf einer Wolke des Ruhms. Eifrig würde die
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Alte herumschlurfen, um die Laken von ihrem besten Bett neu zu beziehen. Wenn dann die Zeit für das schöne Opfer kam, würden die alten Eltern stolz daneben stehen und vor Dankbarkeit für den vornehmen Herrn weinen. Sicher wünschten sie sich dann, hun dert Töchter zu haben, um jeden Abend den Tribut einer Un schuld anbieten zu können. Bittere Tränen brannten in Poltys Augen. Wie sehr er sich nach dieser zärtlichen Szene gesehnt hatte! Wie sehr er sich nach dieser liebenden Familie verzehrte! Ja, verzehrt hatte er sich, und sie hatten ihn betrogen! Er ballte die Fäuste und stürmte in den Wald. Wenn er das Mädchen jetzt fände, würde er keine Gnade walten las sen. Er hätte ihr seine ganze Liebe geschenkt, sie langsam ausgezo gen, sie geküßt und sie liebkost, doch diese Vorzugsbehandlung hatte sie jetzt verwirkt. Für Polty war es, als hätte sie seine edelsten Gefühle verlacht und mit Füßen getreten. Wenn er sie jetzt fände, würde er sie zu Boden werfen, ihr den Rock herunterreißen und seiner Lust freien Lauf lassen, brutal und rücksichtslos, ohne dabei auf ihren Schmerz zu achten. Polty schwankte und krachte gegen einen Baumstamm. Er um klammerte ihn und hielt sich an der Rinde fest. Dunkelheit umgab ihn, und es war ruhig, bis auf das unheilvolle Klopfen und Rasseln, das von den weit entfernten Feldern der Ajl zu ihm herüberdrang. Polty dämmerte, daß die Schlacht unmittelbar bevorstand, und ihm wurde klar, daß er seine Karriere ruiniert hatte. Einen Augenblick versuchte er nachzudenken. Aber was gab es schon viel zu denken? Er würde nicht in die Kaserne zurückkehren. Irgendwie mußte er sich bis nach Ejland durchschlagen. Und irgendwie mußte er dieses Miststück Cata finden und sie zwingen, ihn zu heiraten. Ja, das war die Lösung. Hatte er erst einmal Cata, dann waren alle Schwierigkeiten vorbei. Niemand würde Hand an einen Adligen legen. Diese unbedeutende Sache mit seiner militärischen Karriere und ihrem unrühmlichen Ende würde rasch der Vergessenheit anheimfallen. Ja, er brauchte nur Cata, verdammt sollte sie sein!
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Polty lehnte sich gegen den Baumstamm und atmete schwer. Immer noch erfüllte der Lärm vom Schlachtfeld die Luft. Er hob die Hand und wischte sich die Tränen aus den Augen. In dem Augen blick hörte er noch ein anderes Geräusch, das näher war und sich einen Weg durch das finstere Labyrinth des Waldes bahnte. Polty raffte sich auf. Was mochte das wohl sein?
32. In den Klauen des Vichy Zadys Geklimper war zu einem Lied geworden, und im Licht des Lagerfeuers sang Bando leise mit. Seine Stimme klang rauh und nicht sehr melodisch, aber sie war von einem etwas schäbigen, trö stenden Charme durchdrungen. Raggle und Taggle fielen in den Refrain mit ein, und ihre hellen, kindlichen Stimmen woben sich um die ihres Vaters wie zarte Stengel um einen groben Stamm. Als ich noch ein Kind war, war die ganze Welt hell, Ich sah, was ich sah, im klarsten Licht. Nie kam mir in den Sinn, daß sich das Leben ändern würde. Und wenn doch, hätte ich das merkwürdig gefunden Denn die Sonne war hell, und die Sonne schien fröhlich, Und die Sonne tanzte den ganzen Tag. »Wie kann er jetzt singen?« flüsterte Morven. »Weiß er denn nicht, was diese Schlacht bedeutet?« »Er ist halt ein Zenzaner«, erwiderte Crum ebenfalls flüsternd. »Genau. Er wird abgeschlachtet werden.« Tief im Wald hab ich einen Mann in Grün getroffen, Der dort schon ewig lebt und selten gesehen wird: 274
Er hat mir ein Leben geboten, so tief und so merkwürdig, Wenn ich ihm folge und niemals meine Meinung ändere. Während die Sonne hell war und fröhlich schien Und die Sonne den ganzen Tag tanzte. »Morvy?« »Crum?« »Diese Schlacht... Es ist doch genauso, als wären wir gefangen genommen worden, nicht wahr? Ich meine, sonst müßten wir ja kämpfen.« »Crum?« »Hm?« »Bist du ein Feigling?« »Ich will nur nicht sterben, Morvy. Das wäre dumm.« Draußen auf der Straße traf ich einen Mann aus Gold, Der nur in dem Traum lebte, den er verkaufte. Er bot mir ein Leben voll Hektik und Veränderung Ich griff danach und dachte, es wäre so reich und seltsam! Doch die Sonne war hell, und die Sonne schien fröhlich, Und die Sonne tanzte den ganzen Tag. »Crum?« »Morvy?« »Du hast recht. Wir sind keine Blauröcke, stimmt's nicht? Nicht von ganzem Herzen. Ich dachte zuerst, wir wären vielleicht in die Hände von gewöhnlichen Verbrechern gefallen. Jetzt begreife ich je doch, daß ihre Sache die edlere ist, nicht unsere.« »Ich habe nur gesagt, daß ich nicht sterben will, Morvy« »Du willst nicht sterben? Meine Güte, Crum, gibt es denn etwas Edleres, als sein Leben für die Freiheit zu opfern?« Crum schluckte. »Tot bist du dann aber trotzdem, Morvy« »Crum, also wirklich! Ich schäme mich für dich!«
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Jetzt bin ich also in einer Welt voller Veränderungen. Ich schlafe unruhig, und meine Träume sind merkwürdig. Ich denke an den Tag, an dem ich den Mann aus Gold traf, Aber nur der Grüne weiß, was ich verkauft habe Während die Sonne hell war und fröhlich schien Und die Sonne den ganzen Tag tanzte! »Der Ladenbesitzer«, sagte Jem nachdenklich, als das Lied verklun gen war. »Ist er grün oder golden?« Hui lächelte wieder. »Ach Jem! Vielleicht ist er beides?« Eine melancholische Stimmung hatte sich über das Lager gelegt. Für eine Weile herrschte Schweigen. Es war eine Stille, die niemand zu brechen wünschte, aber während sie andauerte, bemerkten alle, daß es eigentlich gar keine richtige Stille war. Man hörte das Knacken des Feuers, den Schrei einer Eule, und aus der Ferne drang das Heulen eines zenzanischen Dudelsackpfeifers zu ihnen. Und dann schlug irgendwo eine Trommel. Fast hätten sie Zadys Gefangene vergessen. Die Aufregungen des Abends waren zuviel gewesen. Doch jetzt passierte etwas Außerge wöhnliches. »Entschuldigt bitte.« Morven rappelte sich hoch. »Morvy, was machst du denn da?« »Sie haben sich befreit!« Vom Lagerfeuer drehten sich verblüffte Gesichter zu ihnen um. Bando griff nach dem Gewehr und spannte das Schloß. »N... nein, bitte nicht.« Morven streckte sofort die Hände in die Luft. »N... nicht. Ihr ha... habt das miß... mißverstanden. Wir wo... wo... wollten euch nicht überrumpeln. Ich meine, euch überwäl... wältigen ...« Hui mußte lachen, und auch Bando entspannte sich. »N... nein, g... gar nicht. Versteht ihr, Crum ist ziemlich gut in, ›Lös-den-Knoten‹ und außerdem ... Versteht ihr, wir wollen euch helfen.«
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Landa rannte durch den finsteren Wald. Gefangen wie in Trance von Bandos Lied, hatten die anderen nicht bemerkt, daß sie davonge laufen war. Sie mußte allein sein. Dort im Licht des Lagerfeuers zu sitzen und darauf zu warten, daß die Jungen nach Wrax davonrit ten, war plötzlich zuviel für sie. Schon den ganzen Abend über war Landa den Tränen nahe gewesen, als sie gehört hatte, daß die Schlacht um Wrax unmittelbar bevorstand. Sicher, sie hatte versucht, tapfer zu sein, sie hatte es wirklich versucht! Aber Bandos Lied war mehr, als sie hatte ertragen können! Die schweren, düste ren Worte beunruhigten sie, aber noch mehr war es die Melodie, die sich immer enger um ihr Herz schloß. Für das Mädchen schien sie alle Traurigkeit der Welt zu beinhalten. Sie sank an einem Baumstumpf zusammen. Jetzt rannen ihr die Tränen heiß und ungehindert über die Wangen. In dem Moment, so sollte Landa später begreifen, erkannte sie, daß ihr Königreich dem Untergang geweiht war. Orvik war ein Narr, das sagten alle, daß er sich der Macht der Blauröcke offen entgegenstellte. Landa hatte es immer abgestritten, doch jetzt, in ihrem Herzen, mußte sie zugeben, daß es stimmte. Sie liebte ihn, aber er war ein Narr. Ob er es überleben würde, wußte sie nicht. Vielleicht waren sie in der Welt, die nach dem Morgen bestand, immer noch ein Liebespaar, aber Or vik würde niemals König werden und sie niemals Königin. Der Lauf der Zeit war gegen sie und konnte nicht umgekehrt werden. Ihr Schicksal war schon besiegelt, selbst das ihrer Hauptstadt. Das einstige Weltwunder war jetzt nur noch ein kolonialisierter Außen posten, in dem die Eingeborenen eingeschüchtert und gedemütigt unter den Monumenten eines Ruhms dahinschlurften, den sie nicht länger schätzten. Und sie würden ihn in den Zeiten, die kommen sollten, nicht einmal ansatzweise wiederherstellen können. Es war vorbei - die Geschichte ihres Königreichs war vorbei. Morven wandte sich an den Wegelagerer. »H... Herr, ich weiß nicht, wer Ihr seid, aber ich glaube, Eure Sache ist eine gerechte Sache.
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Und Ihr, H... Herr ...« Er drehte sich zu Hui um. »Ich weiß, wer Ihr seid, und von Euch weiß ich, daß Ihr gut seid.« »Was soll das heißen, Blaurock? Du behauptest, mich zu ken nen?« »Aber Mr. Hulverside, s... selbstverstän... ständlich. Ihr wart immerhin eine Le... Legende an der Universität von Agondon!« »Ach, tatsächlich?« Der Wegelagerer trat neugierig näher. »Allerdings.« Morven wurde zuversichtlicher. Zunächst hatte er vor Nervosität gestammelt, aber jetzt sprudelten ihm die Worte vor Begeisterung nur so über die Lippen. Er sprach den Wegelagerer direkt an. »Nun, Herr, bei Websters, das ist ein Kaffeehaus, Ihr kennt es sicher, reden alle die ganze Zeit von Mr. Hulverside. Er war der größte Gelehrte seiner Generation! Wie ich ihn beneidet habe! Könnt Ihr glauben, daß er kaum älter war als ich, als man ihn in die Aon-Vereinigung gewählt hat? Seine Zukunft wäre gesichert gewe sen, doch weil ihm mehr an der Lehre denn an Lügen lag, hat er sich in fürchterliche Schwierigkeiten gebracht.« Der Wegelagerer blickte neugierig zwischen den beiden Gelehr ten hin und her. Sie waren sich seltsam ähnlich. Mit seiner schlanken Gestalt, seinem hageren Gesicht und der glitzernden kleinen Brille hätte Morven gut eine jüngere Ausgabe von Hui sein können. »Nun, Hui, sag mal: Ist das etwa dein verschollener Sohn?« meinte der Wegelagerer spöttisch. Auf Hüls Wangen zeigten sich rote Flecken. »Sprich weiter, Bursche. Das ist uns neu. In was für ›fürchterliche Schwierigkeiten‹ hat sich unser Freund denn ge bracht? Sind sie so schlimm wie Eure?« »Aber Herr, viel schlimmer! Deshalb ist Mr. Hulverside ja auch ein Held, versteht Ihr? Ich meine, für uns, die wir das Leben im Geiste führen.« Morven runzelte die Stirn. »Ich will es Euch erklären. Seht Ihr, Mr. Hulverside hat die Freie Philosophische Ge sellschaft gegründet. Nun, das war schon schlimm genug - jeden falls sagte man das später. Aber es war Vytoni, der die eigentlichen Schwierigkeiten heraufbeschworen hat. Dieser Garolus Vytoni, V
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Y-T-O-N-I, der berühmte zenzanische Philosoph, der zur Zeit von ...« Der Wegelagerer lachte. »Vytoni kennen wir in- und auswendig, mein Junge. Wir haben Hüls Vorträge oft genug mit anhören dür fen.« Morven ließ sich nicht einschüchtern. »Aber Herr, versteht Ihr denn nicht? Wenn Mr. Hulverside nicht gewesen wäre, würde niemand von uns Vytoni kennen!« »Wie das?« »Nun, er hat Leib und Leben riskiert! Könnt Ihr Euch vorstellen, daß er sich Nacht für Nacht in die Kammer mit den verbotenen Texten geschlichen hat? Der Diskurs der Freiheit stand schon seit Epizyklen auf der Roten Liste! Das Werk war fast vergessen. Man munkelte und flüsterte davon, das war alles. Aber Mr. Hulverside hier hat dieses ganze Buch mit der Hand abgeschrieben. In der Nacht. Heimlich. Und dann hat er es drucken lassen ... Gab es je mals ein gefährlicheres Unterfangen für einen Gelehrten? Wenn er nicht geflohen wäre, hätte man ihn auf die Insel Xorgos verbannt! Versteht Ihr, Herr, deshalb ist Mr. Hulverside mein absoluter Held ... unser absoluter Held, und ich, das heißt, Crum und ich, wenn wir Ihnen helfen können ... also das heißt...« »Uns helfen?« fragte der Wegelagerer. »Uns helfen?« wollte Hui wissen. Eine Weile schluchzte Landa ungehemmt und vergoß bittere Tränen, die über ihre heißen Wangen liefen. Aber ihre Trauer sollte nicht andauern. Sie würde bald einem anderen Gefühl weichen. Der Angst. Der Baumstamm, an dem sie lehnte, war dick, so dick, daß er eine andere Gestalt verbergen konnte, die in der Dunkelheit auf der anderen Seite des Stammes lauerte. Bevor dieses Wesen sich auf sie stürzte, stinkend, mit zerrissenem Gewand, einem aufgedunsenen Gesicht und hervortretenden, schwarzgeränderten Augen, durch
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lebte Landa alle Ängste ihrer Kindheit, denn was konnte dieses Monster anderes sein als das furchterregende Ding, das die Zenza ner das »Vichy« nannten? Aber natürlich war es nicht das Vichy Erst schlurfte jemand im Unterholz, dann glitt eine Hand um die Rinde des Baums. Landa war mit Weinen beschäftigt und hörte das Schlurfen genausowenig, wie sie die Hand sah. Dann jedoch packte die Hand plötzlich zu, und Finger gruben sich in ihre weiche Schul ter. Landa kreischte. Crum unterdrückte ein Stöhnen. O Morvy, Morvy! Was war denn jetzt in ihn gefahren? Dann sprach Jem. Er sprang auf, und seine Augen leuchteten. »Aber natürlich! Warum haben wir nicht vorher daran gedacht? Die Uniformen. Sieh doch ihre Uniformen!« Er drehte sich zu Rajal um. »Wir wollen doch nach Wrax, stimmt's ? Ein Brückenkopf der Blauröcke, hm?« Der Wegelagerer lachte; Rajal wirkte nicht sonderlich überzeugt. Crum hüllte sich enger in seine Jacke. Daß seine Zähne klapperten, lag nur teilweise an seiner Furcht. Hauptsächlich war der kalte Wind dafür verantwortlich. Würden sie auch noch seine Hose wollen? Nur Morven begriff Jems Begeisterung. »Ihr habt recht! Wie könnt Ihr allein nach Wrax gelangen? Heute nacht würdet Ihr niemals an den Wachen vorbeikommen - und wenn doch, wie wollt Ihr Euch zurechtfinden? Das Risiko ist viel zu groß! Aber Crum und ich ... Unsere Garnison liegt dort. Wir nehmen Euch mit... als unsere Gefangenen!« Jem und Rajal warfen sich Blicke zu. Aber bevor einer von beiden antworten konnte, gellte plötzlich ein durchdringender Schrei durch die Nacht. 280
»Was war das?« fragte Rajal. Jem sah sich hastig um. »Landa!« Jem fand sie als erster. Er stürmte durch die Dunkelheit und folgte ihren Schreien. So stieß er beinahe zufällig auf sie. Sie tauchte plötzlich in einem Strahl des Mondlichts vor ihm auf. Das Mädchen wehrte sich verzweifelt gegen brutale Hände. Jem stürzte sich, ohne nachzudenken, auf den Angreifer, trat, schlug und würgte. Der drehte sich um und entlud seine Wut auf Jem. Landa kroch rasch da von und sah entsetzt zu, wie der völlig wahnsinnige Blaurock Jem zu Boden warf und sich auf ihn setzte. »Ich bring dich um!« schrie der Mann. »Ich bring dich um! Ich bring dich um!« Er war betrunken, aber stärker als Jem. Und dann glitzerte plötz lich eine Pistole im Mondlicht. Jem wehrte sich verzweifelt und ver suchte sich unter dem Mann herauszuwinden. Dann schrie er auf, als der Angreifer seinen Schädel packte und heftig drückte. Der Trunkenbold versuchte Jem die Mündung seiner Waffe in den Mund zu stecken. Jem preßte die Kiefer zusammen, aber sein Widerstand steigerte nur die Wut des Angreifers. Mit einem wilden Schrei hob er die Waffe und wollte Jems Schädel zerschmettern. Das wäre auch zweifellos passiert. Doch in dem Augenblick schien die Zeit wie eingefroren, als der Angreifer in das Gesicht unter sich blickte und Jem in das Gesicht des anderen sah. Wegen der blauschwarz umränderten Augen, der Wunden und Prellungen hätte Jem den Mann vielleicht nicht erkannt, aber das Haar, das über dem zerstörten Gesicht flammte, war unverwechselbar. »Polty!« »Jem!« Der Moment des Erkennens war zwar nur kurz, aber dennoch lang genug, um Jem vor Poltys Wut zu retten. Landas Schreie hat ten die anderen herbeigerufen. Zady hätte sich als Held erwiesen, denn er sprang Polty an und schubste ihn beiseite. Und Zady wäre
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es auch gewesen, auf den Polty sich gestürzt und den er erschossen hätte. Aber auf Polty wartete ein anderes Schicksal, und auch Zady war etwas anderes vorherbestimmt. Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubendes Gebrüll, und die Dun kelheit schien aufzureißen. Der Schrei war nicht menschlich und so grauenhaft, wie Jem ihn nur in der furchtbaren Zeremonie unter dem Tempel gehört hatte. Das Ding hatte ihn ausgestoßen, das Ding, das durch das Glas gestürzt war. Es war der Schrei einer Kreatur des Bösen. Polty schwankte, die Pistole schußbereit, aber das entsetzliche Wesen war schon über ihm, hüllte ihn ein und geiferte, nach Beute gierend. Hätte ein Mensch aus Erde gemacht werden können, aus Blättern, Zweigen und Schlamm, und wäre dieser Mensch ein ge waltiger, besessener Gigant, dann war es eine solche Kreatur, die Polty jetzt angriff, ihn in ihrer bösartigen Umarmung hielt und ihn in die Finsternis zerrte. Jetzt war es an Polty zu schreien, und Landa konnte diesmal nur flüstern. Ihr Gesicht war kreidebleich vor Entsetzen. »Das Vichy!«
»Kommt«, sagte der Wegelagerer. »Es ist Zeit.« Crum kratzte sich im Schritt. Wirklich, dieses Kleidung des Vaga-Jungen paßte hinten und vorne nicht! Mißmutig betrachtete er die beiden Burschen, die ihre Uniformen angezogen hatten. Wenn das keine blöde Idee war, dann wußte er nicht, was eine blöde Idee war. Natürlich hatte Morvy sie in diese Bredouille gebracht. Die Re bellen waren von seinem Plan entzückt gewesen, hatten aber in letz
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ter Sekunde ein kleines Detail abgeändert, natürlich! Eins nur, hatte derjenige gesagt, den sie Jem nannten. Warum sollten wir euch vertrauen? Wir werden die Blauröcke spielen - und ihr die Gefangenen. Wenn wir sicher in der Stadt sind, dann tauschen wir wieder die Kleidung. Crum hätte ihnen gern geflüstert, was er von dieser Idee hielt, aber welchen Sinn hätte das gehabt? Finster erinnerte er sich an die Geschichte von Onkel Franta und Onkel Hans, die seine Mutter ihm erzählt hatte. Sie hatten auch mal die Uniformen getauscht, als Onkel Franta bei der Küstenwache war und Onkel Hans Lakai im Rathaus. Eins kam zum anderen, war es etwa nicht so gewesen? Was als Schabernack begonnen hatte, endete für beide auf der Insel Xor gos! Crums Mutter spitzte immer die Lippen wie ... na, wie Brum mer, wenn sie zu diesem Teil der Geschichte kam. Es war eine Legende, die man sich in ganz Varl erzählte! Ja, Crum hätte so einiges aus dem Nähkästchen plaudern können. Hui legte Morven die Hand auf die Schulter. »Und Ihr sagt, Pro fessor Mercol weilt immer noch unter uns? Das hätte ich nicht gedacht. Er war derjenige, der meine Aufnahme bei der Aon-Vereini gung unterstützt hat. Doch als er herausfand, was ich getan habe, hat er mich denunziert.« »Er ist ein alter Narr«, erwiderte Morven verbittert. »Wußtet Ihr, daß er immer noch Seavil - ausgerechnet Seavil! - als eine Autorität zitiert, was die Große Zäsur angeht?« »Schockierend!« Crum blickte mürrisch drein, während Morven stolz mit seiner Vergangenheit prahlte, den preisgekrönten Aufsatz erwähnte und gleichzeitig jede Verantwortung für die Tatsache ablehnte, daß er Soldat war. »Wißt Ihr, Herr, ich hatte keine Wahl. Ich hatte nur ein Stipendium, und zwar auch noch von den Jugendwerken. Das wurde von dem jetzigen Regime als unwesentlich abgetan, könnt Ihr Euch das vorstellen? Als dann der Ärger in Zenzau losging, hat
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man mich vor das Verpflichtungskommando zitiert und mich genauso weggerissen, wie man den armen Crum hier von seinem Bau ernhof in Varl geholt hat!« Morven lachte bei dem Vergleich, und Crum zwinkerte nur traurig und zuckte zusammen, als das alte Weib, die weise Frau, seinen Arm berührte. »Fürchte dich nicht, armer Junge. Du wirst für dei nen Mut heute nacht belohnt werden. Wenn nicht in dieser Welt, dann im Reich des Unergründlichen.« »Im Reich des Un... Uner... Unergründlichen?« Crum zitterten schon seit einiger Zeit die Knie. Jetzt hätten sie fast unter ihm nachgegeben. »Holluch.« »Die Kaserne?« »Die Stadt.« »Wußte gar nicht, daß es da eine Stadt gibt.« »Aber sicher ist das eine Stadt. Jedenfalls war es mal eine. Als ich noch ein Säugling war. Jetzt ist es nicht mehr so. Wie damals, meine ich. Aber es ist immer noch meine Heimat. Das heißt, es war meine Heimat.« »Erhöhst du?« »Hah! Wir sind eine Weile dorthin zurückgekehrt. Erst sind wir aus dem Tarn hinuntermarschiert. Dann hieß es: Holluch. Ich denke: gut, zurück nach Hause. Und wenn sie mich jetzt dazu zwingen, noch weiter zu marschieren? Macht jedenfalls keinen Sinn.« »Nichts macht Sinn.« »Dann sind wir wieder zurückgekommen. Hierher.« »Hast viel von der Welt gesehen, was? Erhöhst du?« »Einige Teile besser nicht.« »Nicht was?« »Hah!« Die Männer schwiegen. In einem schäbigen Raum hinter den To ren von Wrax warteten sie darauf, wieder Streife zu gehen. Karten,
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Geld und zerbeulte Becher häuften sich auf dem wackligen Tisch, an dem sie saßen. Die Luft war geschwängert von dem Rauch zahlloser Tobarillos, und durch das Gitterfenster schien der HornLicht-Mond in das Zimmer. »Aber das mit dem Tarn tut mir nicht leid.« »Daß du ihn gesehen hast?« »Nee. Ich hab mein Mädchen da oben kennengelernt, das hab ich.« »Was, Zappelphilipp? Du hast ein Mädchen?« »Erhöhst du?« »Hah! König der Schwerter!« »Und was ist mit dir, Rottsy?« »Was soll mit mir sein?« »Wo wärst du denn am liebsten? Wenn du nicht hier sein müßtest?« »In Agondon.« »In dem Drecksloch? Warum?« Soldat Rotts machte ein gieriges Gesicht. »Hab von diesem Ort gehört, wo die Offiziere hingehen.« »Was für ein Ort?« »Königin der Schwerter.« »Arschloch!« »Sie nennen es den ›Würger‹. Edeldamen. Du weißt schon, was ich meine, hm?« »Dreckiges Arschloch!« »Was ist mit dir, Zappelphilipp, hm? Mit dir und dem Mädchen?« Der Korporal riß sich zusammen. »Wag es ja nicht, was über meine Nirry zu sagen! Sie ist ein gutes Mädchen, das ist sie!« »Schon gut, Zappelphilipp. Rauf dir nicht gleich die Haare!« Sergeant Bunch tauchte in der Tür auf. »Olch! Rotts! Raus auf Streife!« »Ach«, seufzte Zappelphilipp, während er seine Muskete schulterte. »Ich wünschte, ich wäre jetzt bei meiner Nirry!«
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»Kommt. Wir müssen gehen.« Der Wegelagerer war ungeduldig. Es war stockfinster, und die Pferde waren gesattelt. Auf dem ersten Stück wollte der Maskierte die kleine Gruppe begleiten und sie bis zum Rand des Waldes führen. Dann würde er ihnen den Weg zeigen, den sie einschlagen mußten. Jem umarmte Bando und dann Hui. »Ihr wart die Hauptperso nen in einem Stück, das mir mal jemand erzählt hat. Eine Ge schichte, die mir Tor erzählt hat.« Bando lächelte. »Genau wie du es für uns warst, Jem«, sagte er und benutzte die vertrauliche Anrede. »Genau wie du für uns.« Ei ner seiner Jungen schlief in seinen Armen. Zärtlich wiegte er die kindliche Last und strich eine Locke glatt. »Wie sehr Tor dich liebte!« fuhr der Zenzaner fort. »Er sprach immer von dir, Jem.« »Eigenartig, wenn man dann feststellt, daß diese Personen plötzlich real sind! Teure Freunde, werde ich euch jemals vergessen? Wie Giganten seid ihr durch meinen Verstand geschritten, damals, als die Welt noch neu für mich war. Ihr wart damals Helden für mich und seid es auch heute noch!« »Ach, Jem, wir sind nur Spieler in einer Ouvertüre. Du wirst der Held der Geschichte sein, die jetzt vor uns liegt.« Jem nahm Hüls Hand. »Hui, das ist nicht wahr. Magie und Pro phezeiung haben mich zu dem gemacht, was ich bin. Du, Bando und Bob Scarlet... ihr seid die Helden. Und Orvik. Nicht ich.« Er drehte sich zu Landa um. »Zukünftige Königin, vielleicht ist Euer Geliebter voreilig. Vielleicht tut er aber auch gut daran, die Schlacht vom Zaun zu brechen. Jedenfalls weiß ich, daß er für eine gerechte Sache kämpft. Wie sollte er sich sonst Eurer Liebe sicher sein können?« Mit scheuer Ehrerbietung küßte Jem dem Mädchen die Hand. »Weit entfernt und vor langer Zeit gab es einmal eine, die ich so sehr geliebt habe, wie Ihr Orvik liebt. Ich weiß jetzt, daß ich sie trotzdem nicht genug geliebt habe, so, wie ich es hätte tun sollen,
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und dieses Wissen erfüllt mich mit Trauer. Aber, zukünftige Königin, Ihr habt mir den wahren Weg der Liebe gezeigt. Dafür werdet Ihr immer einen Platz in meinem Herzen haben.« Xal hörte bewegt zu. Sie streckte die Arme aus und umarmte Jem. Lange Zeit hielt die alte Frau ihn einfach nur fest. Dann trat sie zurück und berührte mit ihren knochigen Fingern leicht die Stelle, wo er den Kristall des Koros auf seiner Brust trug. Im selben Moment glühte der Stein in ihrem Turban. »Koros wird über dich wachen, Gesegneter. Und sehr bald, oh, bete, daß es bald eintritt, wird seine Schwester, die so sanft ist wie die Blätter, ebenfalls mit dir reisen.« »Große Mutter ...« Jem mußte diese Frage einfach stellen. »Was ist mit Polty? Ich habe schon einmal gedacht, er wäre tot. Aber ... Aber er kann doch das Vichy nicht überlebt haben - oder doch?« »Frag nicht nach dem Schicksal des Rothaarigen. So wie du dein Schicksal hast, hat er auch seins. Was wir gesehen haben, war Teil seiner Bestimmung. Die Zeit wird erweisen, ob es sein endgültiges Schicksal gewesen ist.« Die Worte der Großen Mutter waren geheimnisvoll, und Jem hätte sie sicher gebeten zu erklären, aber sie drehte sich zu Rajal. »Du bist ein tapferer Junge, Kind-Rajal. Aber warum nenne ich dich noch Kind? In diesen letzten Mondleben bist du zum Mann gereift.« Rajal fiel ihr um den Hals. »Oh, Große Mutter! Ich fürchte, du täuschst dich! Wenn ich ein Mann bin, warum weine ich dann so schnell?« »Du wärst immer noch ein Mann, mein Enkelsohn, wenn deine Tränen wie der Regen strömten.« Dann sah Rajal Zady an und wußte, daß es stimmte. Xal wischte sich ihre eigenen Tränen aus den Augen. »Wie stolz mein armer Sohn, dein Vater, Rajal, auf dich gewesen wäre! Ich werde von dem Tag träumen, an dem wir wieder vereint sind, mein Rajal. Du und ich. Zady und Jem.«
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»Und Myla?« »O ja, auch Myla.« Rajal wünschte sich nichts sehnlicher, als daß dieser Tag kommen möge! Aber leider wußte er, daß dies nur im Reich des Unergründ lichen geschehen konnte. Rajal besaß keine Zauberkräfte; die Ver zückung war nicht stark in ihm, aber als er sich in dieser Nacht aus den Armen der Großen Mutter löste, wußte er, daß er sie zum letz ten Mal umarmt hatte. Sie würde bald sterben, und absurderweise mußte Rajal daran denken, wie weit von zu Hause entfernt sie ster ben würde. Andererseits, wo war schon zu Hause? Ihr ganzes Leben lang war sie von einem Ort zum anderen getrieben worden, eine Ausgestoßene aus einem Volk von Ausgestoßenen. Doch wenn ihr langes Leben jetzt endete, würde nicht einmal ihre Familie bei ihr sein. In dieser Nacht gelang es Rajal nur mit äußerster Selbstbeherrschung, die Trauer zu besiegen, die sonst wie Blut aus einer Wunde aus ihm herausgesprudelt wäre. Jem sah sich um. »Wo ist die Priesterin Ajl?« Aber der Wegelagerer unterbrach ihn. Während der traurigen Abschiedsszene hatte niemand bemerkt, daß die Priesterin sich ent fernt hatte. Und sie hatten jetzt keine Zeit mehr, nach ihr zu suchen. »Klöße? Um diese nachtschlafende Zeit?« »Kommt schon, Köchin. Meine Männer sind den ganzen Tag marschiert!« »Und was kann ich dafür, wenn Ihr solch dumme Befehle gebt? Nein, Sergeant, meine Küche ist geschlossen.« Nirrys Stimme klang hohl, und sie hatte tiefe Schatten unter den Augen. »Köchin, seid vernünftig. Morgen früh gibt es eine Schlacht. Die Blauen von Irion müssen ihre Stellung halten.« »Eine armselige Stellung, wenn Ihr mich fragt. An die Flanke dieses Hügels geschmiegt. Nun, Ihr habt mir eine schöne warme Kaserne versprochen, und jetzt hocke ich hier in diesem zugigen Zelt, das schief im Wind steht und kalt...«
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»Wenn Euch kalt ist, Köchin, kann ich Euch gerne wärmen!« Doch heute lächelte Nirry nicht einmal, als sie die Hand des Sergeanten wegschlug. »Genug von Eurem Quatsch mit Soße!« Der Sergeant seufzte. »Aber Köchin, wir brauchen Eure Soße! Hört Ihr nicht die Kriegstrommeln auf den Feldern? Meine Männer brauchen Kraft für morgen früh, und jetzt wollen sie etwas zu essen. Also, wo sind Eure Mädchen?« »Die meisten liegen flach auf dem Rücken!« »Unsinn, Köchin! Kommt schon, ich befehle ihnen, die Feuer zu schüren!« Der Sergeant begriff, daß er die Sache selbst in die Hand nehmen mußte, duckte sich und verließ das Zelt, in dem Nirry zitternd saß. Seine gebellten Befehle drangen durch die Zeltwand. »Saufen, das wollen Eure Männer, Sergeant Floss. Saufen und nichts anderes«, murmelte Nirry. »Laßt sie doch saufen, sag ich! Was für ein Unsinn, einem armen Kerl gutes Essen in den Bauch zu stopfen, nur um ihn anschließend erschießen zu lassen! Laßt sie saufen, sag ich, bis ihnen Hören und Sehen vergeht!« Bei diesen Worten brach Nirry in Tränen aus. Das war eher ungewöhnlich. Auf der langen Reise von Irion hierher war sie gereift und hatte sich stark verändert. Die Herrin mit ihrem ständigen »Mädchen! Mädchen!«-Gekeife hatte die arme Nirry viel zu lange unterdrückt. Aus dem Mädchen war eine Frau geworden, und zwar eine ehrfurchteinflößende. Nur jetzt, und nur für einen kurzen Moment, verließen Nirry die Kräfte. Der Tag war zu lang gewesen, und sie war erschöpft. Aber mehr noch war es das Schlachtfeld, das sie überwältigte. Erinnerungen an eine andere Schlacht hatten sich tief in Nirrys Gedächtnis eingegraben. Während der Belagerung von Irion war sie noch ein Kind gewesen und hatte gerade mit ihrer langen Karriere als Dienstbotin angefangen. Aber sie erinnerte sich immer noch an die donnernden Kanonen, an die Schreie, die fallenden Steine. Damals waren Männer vor ihren Augen gestorben, mit aufgerissener
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Brust und aufgeschlitzten Bäuchen. Einmal hatte sie einen jungen Mann gefunden, als sie frühmorgens in den Küchengarten hinaus gegangen war. Er lag zwischen den Radieschen und war so ein gut aussehender junger Mann gewesen! Er lag verkrümmt und zer schmettert da wie eine achtlos weggeworfene Puppe. Er mußte von den Zinnen herabgestürzt sein, war auf der Erde aufgeschlagen und hatte sich das Rückgrat gebrochen. Noch viele Monate danach erin nerte sich Nirry an sein Gesicht, das so merkwürdig friedlich und so eigenartig kalt ausgesehen hatte. Jetzt, so viele Jahre später und so weit von Irion entfernt, kehrte die Erinnerung an den Jungen, dessen Namen Nirry niemals erfah ren hatte, wieder, in all ihrer Traurigkeit und in ihrem ganzen Ent setzen. Wieder sah sie das tote Gesicht. Sie dachte an Miss Cata. Und sie dachte an Zappelphilipp. Sie wiegte sich stöhnend auf ihrer Decke. »Arme Köchin, was habt Ihr denn?« Die Stimme des Sergeanten klang beinahe zärtlich, als er wieder ins Zelt schlüpfte. Er setzte sich neben sie und legte ihr behutsam einen Arm um die Schultern. »Hm, ich glaube kaum, daß ein Mädchen wie Ihr vor einer albernen Schlacht Angst hat, hm?« Er bot ihr seine Feldflasche an. »Kommt schon, das wird Euch guttun!« Nirry schnüffelte. »Na gut.« »Braves Mädchen. Ich habe schon hundert Schlachten miterlebt und Narben an Stellen davongetragen, die ich nicht oft zeige.« Er lächelte sie mit seinen schwarzen Stummelzähnen an. »Kommt schon, schenkt mir ein kleines Lächeln, hm? So ist es richtig. Ich wußte doch, daß meine Nirry ein gutes Mädchen ist.« »Vergeßt das mit dem ›meine Nirry‹!« Aber Nirry lächelte. Sie drehte sich zu dem Sergeanten um. Eine Kerze brannte im Zelt, und in ihrem Schein wirkte das Gesicht des Sergeanten mit all seinen geplatzten Äderchen und dem unrasierten Bart weich und warm. Es war irgendwie tröstlich. »Carney?« sagte Nirry »Nirry?«
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»Wißt Ihr das mit den fünf Gold-Tirals?« »Gold-Tirals? Was soll das werden, eine Traumgeschichte?« »Ihr habt doch gesagt, daß ein Mann soviel braucht. Um sich frei zukaufen. Glaubt Ihr, daß viele Leute das tun würden? Wenn sie die fünf Tirals hätten?« »Wenn sie welche hätten? Ich glaube, wir hätten dann keine Ar mee mehr!« Der Sergeant grinste, aber das Lächeln verging ihm schnell. Er sah traurig auf den Boden. »Carney?« sagte Nirry erneut. »Nirry?« »Wenn ich einen Soldaten finden wollte ...« »Nun, Liebes, ich würde sagen, da seid Ihr genau am richtigen Ort.« »Ach, Ihr! Das habe ich nicht gemeint!« »Nun, ich würde sagen, daß Ihr dann das Regiment kennen müß tet.« »Das Fünfte«, sagte Nirry scheu. »Hoh, schon wieder das Fünfte!« »Ich habe Euch doch gesagt, daß ich heiraten will, Carney.« Der Sergeant nahm einen Schluck aus der Flasche. »Und ich habe Euch erzählt, daß die Burschen vom Fünften nichts taugen.« »Mein Zappelphilipp schon!« »Euer Zappelphilipp? Nun, ich nehme an, Ihr habt Euch ent schieden, was den angeht, hm?« Der Sergeant blickte zu Boden und betrachtete ausführlich seine Stiefelspitzen. Als er wieder hochblickte, waren seine Augen feucht, aber er versuchte tapfer zu grin sen. Dann sagte er leise: »Die vom Fünften sind auch in der Ka serne. Sie waren die ganze letzte Jahreszeit hier.« »Wirklich?« Freude erhellte Nirrys Gesicht. »Oh, Carney, wirklich?« Und bevor sie sich's versah, küßte sie ihn auf die Wange. Der Sergeant lachte. »Immer sachte, Mädchen! Hier, ich könnte noch einen auf die andere Wange vertragen!«
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»Ach, Ihr!« »Schon gut, einer tut's auch! Aber ich sage Euch was, Mädchen: Wenn dieser wackelohrige Bursche Euch nicht richtig behandelt, kommt Ihr und steckt es dem alten Carney Floss. Auf Carney Floss könnt Ihr immer zählen.« Erneut traten Nirry Tränen in die Augen. »Ach, Carney!« »Ihr seid eine gute Frau, Nirry Jubb. Ihr zählt zu den Besten, die es gibt, und ich weiß Bescheid.« »Hallo, wer hat Euch gesagt, daß Ihr mich Nirry nennen dürft?« »Ihr habt mich oft genug Carney genannt, oder etwa nicht?« Nirry kicherte. »Aber nur, weil das so ein alberner Name ist!« »Albern? Wessen Namen nennt Ihr albern?« »Euren!« Nirry wiederholte ihn, und jedesmal bemühte sie sich, ihn alberner klingen zu lassen. »Carney Floss! Carney Floss!« »Oh, Ihr böses Mädchen. Ich kriege Euch!« Mit einem Mal rangen Sergeant Floss und Nirry auf der Decke. Quietschend streckte Nirry ganz undamenhaft die Beine in die Luft. So benahm sich schwerlich eine anständige Frau, aber im Au genblick kümmerte das Nirry nicht. Sie war glücklich, so glücklich! Plötzlich gab es einen dumpfen Knall. Der Sergeant fiel bewußtlos auf Nirrys Busen. »Nirry, alles in Ordnung mit dir?« »Was?« Nirry blickte hoch. In dem sanften Schein der Kerze sah sie einen jungen Blaurock stehen, der Nirrys beste Pfanne schwang. Einen Augenblick lang hatte Nirry Angst, bis sie den Soldaten erkannte. »Oh, Miss Cata, was habt Ihr getan?« Der Sergeant stöhnte. »Keine Sorge, Nirry Ich habe ihn nur außer Gefecht gesetzt. Jedenfalls für heute nacht. Dieser Drecksfink! Ich habe ihn beobach tet, seit du gesagt hast, daß er dir Ärger macht.« Cata holte aus, als wollte sie dem Mann in die Rippen treten. »Nein, Miss Cata, nicht! Es ist nicht, was Ihr denkt. Es ist ... Ach, was soll's?« Mit einem Stöhnen wand sich Nirry unter dem
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Sergeanten heraus. »Der arme Carney! Er ist gar kein schlechter Kerl. Nur ein bißchen deftig, das ist alles!« »Er ist ein besoffenes Schwein«, erklärte Cata und schüttelte sich. Es war sinnlos, sich zu streiten. Nirry hielt die Kerze dicht an den Kopf des Sergeanten. Der arme Carney, er würde am nächsten Morgen eine schöne Beule haben! »Oh, jetzt habt Ihr es übertrie ben, Miss. Merkt Euch meine Worte: Wenn er herausfindet, daß Ihr es wart, kommt Ihr vor Gericht.« »Das glaube ich kaum, Nirry« »Ach wirklich? Er ist ein scharfer Hund, der Sergeant, unterschätzt ihn nicht.« »Nirry, ich will damit sagen, daß ich nicht mehr hier sein werde.« »Was?« Nirry ließ langsam die Kerze sinken. »Ich bin gekommen, um auf Wiedersehen zu sagen.« »Miss Cata, was sagt Ihr da?« »Erinnerst du dich, Nirry, daß du mich gefragt hast, wie ich für die Blauröcke kämpfen könnte? Nun, genau das ist es, verstehst du? Ich werde es nicht tun - das hatte ich auch nie vor. Ich laufe zur an deren Seite über.« Nirry wurde leichenblaß. Sie schlug sich die Hand vor den Mund. »Nein, Miss Cata! Die Zenzaner werden abgeschlachtet, das sagen alle! Oh, Ihr dummes Ding! Ich dachte, Ihr wolltet nach dem jungen Herrn Jem suchen, wie ich meinen Zappelphilipp gesucht habe! Was werdet Ihr ihm nutzen, beantwortet mir das, wenn ihr hingeht und Euch abschlachten laßt? Und für nichts und wieder nichts?« »Es ist nicht für nichts, Nirry Es geht um die Freiheit!« Nirry traten erneut Tränen in die Augen. »Ach, behaltet Eure Freiheit doch für Euch! Ich hab ein bißchen Geld zurückgelegt, und wenn mein Zappelphilipp auch noch was übrig hat, dann gehen wir morgen weg und machen eine kleine Taverne auf, und der Rest soll sich doch gegenseitig aufhängen! Blauröcke, Rotröcke, Zenzaner sei's drum! Ihr könnt den ganzen Haufen haben und Eure Freiheit obendrein für Euch behalten!«
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»So einfach ist das nicht, Nirry!« meinte Cata. »Einfach? Ja, Miss Cata, ich bin vielleicht eine einfache Frau, aber ich lebe schon ein bißchen länger auf dieser Welt als Ihr. Zu lange, um nicht zu wissen, daß alles Wichtige einfach ist, nur zu einfach. Leben, Liebe und Gesundheit! Und dann kommen da diese Männer mit ihren albernen Kämpfen daher und ruinieren es für alle und jeden. Ich hätte große Lust, sofort durch diese Kaserne zu marschieren, mir meinen Zappelphilipp zu schnappen und ...« Nirry hätte weitergeredet, aber jetzt liefen ihr Tränen über die Wangen, und in Catas Augen glitzerte es ebenfalls verdächtig feucht. »Ach, Miss Cata!« Nirry wischte sich die Tränen aus den Augen. »Ihr geht Eurer Wege und tut, was Ihr tun müßt ... Ich weiß das. Ich bin ... Ich werde Euch einfach nur vermissen, das ist alles.« »Ach, Nirry!« Die beiden Frauen umarmten sich lange und innig.
34. Reiter unterwegs Es gab noch ein weiteres Lebewohl in dieser Nacht. Es fand etwas später statt, am Waldrand. Während die kleine Gruppe von dem Lager wegritt und vorsichtig über die Waldwege vorankam, schwiegen alle. Die vier jungen Männer waren abwechselnd aufgeregt und ver ängstigt. Vielleicht hätten sie über ihre Ängste gesprochen, über ihre Hoffnungen und ihre Trauer. Aber die Anwesenheit des Wege lagerers hemmte sie. Erst am Ende, als sie vom Wald auf die Felder der Ajl unter ihnen blickten, drehte sich ihr Führer zu ihnen um und sprach. Der Mond schimmerte und tauchte sie in ein geheimnisvolles, silbriges Licht. »Es ist gut, daß wir Horn-Licht haben. Doch warum sage ich 294
das? Wir brauchen es kaum. Seht nur auf die Wachfeuer, die dort unten brennen. Wenn die Dunkelheit vergeht, werde ich meine Männer auf diese Felder führen und mich mit Orviks Truppen vor der Stadt vereinen. Die Schlacht, die er plant, mag verrückt sein, aber ich kann nicht zulassen, daß man sagt, Bob Scarlet habe ihn im Stich gelassen. Nun, junge Freunde, Eure Aufgabe ist klar. Überbringt Eure Botschaft, und der Rest wird sich ergeben.« Er schüttelte allen die Hand. Jem war der letzte, der sich verabschiedete. Eindringlich blickte er, vielleicht ein letztes Mal, in diese scharfen Augen hinter der Maske des Wegelagerers. »Denkt nicht schlecht von mir, junger Prinz. Vielleicht habe ich Euch verwirrt, aber ich wünsche Euch alles Gute. Wisset, daß ich Euch in Wahrheit alles Gute wünsch!l« Die Worte kamen unerwartet und waren überraschend emotio nal. Jem beschlich ein merkwürdiges Gefühl. Er hatte es schon vorher in der Gegenwart des Wegelagerers empfunden, aber noch nie so intensiv, wie er es jetzt empfand. Nein. Nein, das konnte nicht sein. Es war absurd. Jem runzelte die Stirn und drehte sich beunruhigt um. Nur einen Moment später überkam ihn das Gefühl so stark, daß er beinahe aufgeschrien hätte und zurückgeritten wäre. Aber das tat er nicht. Statt dessen starrte er nur mit tränenverschleierten Augen auf den Wegelagerer, der hoch aufgerichtet auf seinem dunklen Roß geheimnisvoll auf die Welt vor sich starrte. Er war so allein. So geisterhaft. Und so vertraut. »Harlekin!« flüsterte Jem. »Harlekin, warum?« Aber Jem irrte sich. Er war nicht der Harlekin. »Ihr habt es ihm nicht gesagt, stimmt's?« Die Stimme ertönte, als Jem schon außer Hörweite war. Der Wegelagerer drehte sich ohne ein Zeichen der Überraschung zu Hui um. Der Gelehrte hatte sich um ihn gesorgt und war ihm in einiger Entfernung gefolgt.
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»Es ihm sagen?« murmelte der Maskierte. »Hui, wie könnte ich das tun? Ihr seid ein Mann von beträchtlicher Geistesschärfe und habt meine Tarnung durchschaut. Aber soll ich mich freiwillig jemandem gegenüber zu erkennen geben, dem diese Wahrheit nur Schmerzen bereiten würde? Sollte ich den Schlüssel zum Orokon mit einem Wissen belasten, das ihn nur von seiner Suche ablenkt? Nein, Hui, niemand außer Euch darf mein Geheimnis kennen. Nie mand.« Hui senkte besorgt den Blick. »Aber Sire, denkt an das Morgen!« »Nennt mich nicht Sire!« fuhr der Maskierte ihn an. »Das Morgen, Hui? Was ist damit?« »Diese Schlacht von Orvik ist sinnlos und kann nicht gewonnen werden. Ihr selbst habt das gesagt.« »Hui, vergeßt Ihr die Mission des jungen Jemany?« »Natürlich nicht! Seine Mission wird aus der Niederlage einen Sieg machen! Aber noch bevor die Sonne wieder über diesem Land aufgeht, Sire, kann es sein, daß Ihr Euren letzten Atemzug getan habt!« Die Augen hinter der Maske funkelten im Mondlicht. »Was soll das heißen? Wollt Ihr, daß ich dem Schlachtfeld fernbleibe? Oder wollt Ihr mich nicht dorthin begleiten? Ich habe Euch schon für vieles gehalten, mein alter Waffengefährte, aber nicht für einen Feig ling!« »Sire, Ihr versteht nicht!« flehte Hui. »Ich sage erneut, daß Ihr morgen vielleicht sterben werdet, und dennoch wollt Ihr Euch dieser Halsstarrigkeit schuldig machen? Laßt mich hinter Prinz Je many herreiten und ihn noch einmal vor Euch bringen!« Plötzlich griff der Wegelagerer nach seiner Waffe. »Reitet hinter ihm her, Hui, und Ihr seid es, der stirbt - und zwar auf der Stelle!« »Aber Sire!« »Ich meine es ernst, Hui! Wenn ich sterbe, dann habe ich es ver dient zu sterben! Wenn ich lebe, was dann? Es ist nur mein Sproß, der zählt, und da ich ihn jetzt gesehen habe und weiß, daß er ein
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Held werden wird, werde ich ohne Zögern sterben, wenn ich denn sterben muß!« Bitter blickte Hui in die Augenschlitze der Maske. »Dann, Sire, seid Ihr ein Narr!« spie er förmlich hervor. »Habt Ihr Euch so lange verborgen, nur um ein Märtyrer zu werden? Sire, denkt an Jemany! Denkt an Euren Sohn!« »Hui, ich habe Euch gesagt, nennt mich nicht Sire! Und nennt ihn nicht meinen Sohn! Alter Waffengefährte, ich vertraue Euch mehr als jedem anderen Menschen, aber wenn Ihr mir jetzt trotzt, seid Ihr nicht mehr mein Mann! Hört mir zu, und hört genau zu, denn ich leiste jetzt einen weiteren Schwur: Ich werde Jemany niemals als meinen Sohn anerkennen, bis dieses Reich wieder frei ist, bis mein thronräuberischer Bruder von meinem Thron vertrieben wurde und die Welt mich wieder in meiner wahren Kleidung sieht, als Seine Kaiserliche Agonistische Majestät König Ejard vom Roten Tuch!« Damit gab der Maskierte seinem Pferd die Sporen und ritt davon. Hinter den zenzanischen Linien vibrierte förmlich die Luft vor Anspannung. In den langen Tagen und Nächten, in denen die Truppen nach Wrax marschiert waren, hatten die Herzen im Takt mit den aranischen Kriegstrommeln geschlagen. Und mit den hohen Tönen der derkoldschen Sackpfeifer waren die Hoffnungen gestie gen, gesunken und wieder verworfen worden. Erst jetzt, mitten in der Nacht vor der Schlacht, war Ruhe in Orviks Lager eingekehrt. Aber es ist nicht die Ruhe des Schlafes. Es ist eine Stille leidenschaftlichen Wartens, denn Orvik, der Prinz und heilige Erbe von Zenzau, wird seine Worte an die fünfzigtausend Mann richten, die sich unter seinem Banner versammelt haben. Auf einer hohen Bühne erhellen Fackeln die Dunkelheit. Und von oben bescheint das Licht des Horn-Mondes die Szenerie. Fünfzigtausend Augen paare blicken hoch, als der rechtmäßige Monarch vor ihnen er scheint. Er ist in seinen prächtigen grünen Mantel gekleidet, der seine Verbindung zu seinem Volk und seinem Land veranschaulicht.
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Auf dem Kopf trägt er die goldene Krone, und in der Hand hält er sein goldenes Schwert. Seine Stimme ist voller Leidenschaft, als er jetzt zu seinen Anhängern spricht. »Mein Volk«, ruft der Prinz. »Unser Schicksal wird sich endlich erfüllen. Lange, viel zu lange hat mein Land im eisernen Griff des Erobererkönigs geschmachtet. Der Ejländer namens Blaurock hat den rechtmäßigen König, seinen Bruder, vertrieben. Und er hat auch mir mein Land genommen. Nun jedoch werde ich mir zurückholen, was mir gehört! Männer, ihr seid die mächtigste Armee in den Annalen von Zenzau! Ich sage die mächtigste und weiß, daß ich keinen Widerspruch ernten werde. Ihr seid aus allen Ecken meines rechtmäßigen Reiches gekommen, aus den entferntesten Steppen Derkolds, aus den Hügeln Ana-Zenzaus, von den felsigen Küsten Antios und noch von weit dahinter. Ihr seid weit gereist, um heute abend hier zu sein. Ihr habt viel gelitten. Ihr habt vieles ertragen. Vielen von euch ist kalt, und viele sind hungrig. Ich wünschte, ihr würdet alle grüne Uniformen tragen! Aber manche von euch sind nur in Lumpen gekleidet. Ich wünschte, ihr hättet alle Pferde, Gewehre und Musketen. Leider gibt es viele unter euch, die nur Mist gabeln haben, Sensen und Sicheln von den Feldern, die jetzt unbe stellt daliegen, Hämmer von den Schmieden, deren Essen jetzt erkaltet sind. Aber Männer, ich sage euch dies: Wir kämpfen für eine gerechte Sache, und Göttin Viana ist auf unserer Seite. Und ich sage auch dies: Sollte unter uns ein Mann sein, der nicht für mich kämpfen will, möge er vortreten und in mein Zelt kommen. Ich gebe ihm eine Börse mit Gold, auf daß er sich aus meinen Diensten freikaufen kann. Denn dem König, der sich den Gehorsam seiner Gefolgschaft erzwingen muß, kann kein Sieg beschieden sein.« Prinz Orvik sagte noch viel mehr. Am nächsten Tag war Haras Fest, der heiligste Feiertag des alten Almanachs von Zenzau, der längst von dem Kalender der Eroberer ersetzt worden war. Nach sei nem Sieg, so sagte Orvik, sollte dieser Almanach wieder eingeführt
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werden, und die Männer, die den nächsten Tag überlebten, sollten seinen Ruhm durch die Feier der Hara begehen. Und wenn dieser Tag sich jährte, würde das Herz jedes Mannes schneller schlagen, er würde den Ärmel zurückschlagen, seine Narben zeigen und erklären: Diese Wunden habe ich an Haras Festtag erhalten. Niemals, so meinte Orvik, sollte dieser Tag verstreichen, und zwar von morgen an bis zum Ende der Zeitrechnung, ohne daß man ihn als Tag seines Ruhmes begehen würde. Niemals, so Orvik, sollte er vergessen, daß jeder Mann, der neben ihm gekämpft hatte, sein Bruder sei. O ja, es wurde noch mehr gesagt, viel mehr, aber nur die Männer in der vordersten Reihe konnten es hören. Der Rest verstand nichts, weil die Worte vom Winde verweht wurden. Aber sie betrachteten staunend die goldene Krone, das Schwert und auch - erst hörte man bewunderndes Seufzen, dann lauten Jubel - die goldene Rüstung, in der der Prinz am Ende dastand, nachdem er die grüne Robe auf das Podest hinter sich hatte gleiten lassen. Orvik sah im Mondlicht und im Schein der Fackeln herrlich aus, als er das Schwert hoch über den Kopf hob. Im nächsten Augen blick verließ er rasch die Bühne und zog sich mit seinen Beratern in sein Zelt zurück. »Autsch!« sagte Crum. »Beruhige dich, sag ich!« zischte Morven ihn an. »Jammert nicht herum!« Jem verdrehte die Augen. »Ihr seid schließlich Gefangene!« »Angebliche Gefangene. Ihr müßt die Fesseln doch nicht so eng binden, oder?« »Ich verstehe nicht, warum wir unsere Pferde nicht behalten kön nen«, sagte Crum. Jetzt verdrehte Morven die Augen. »Also wirklich, Crum. Wir sind Gefangene!« »Gefangene, Gefangene! Könntet Ihr nicht einfach nur unsere Hände binden?«
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»Das wäre nicht sehr überzeugend, oder? Wir sind schließlich selbst Blauröcke. Wir wissen doch, wie es gemacht wird.« »Ihr habt wohl viele Gefangene gemacht, hm?« fragte Rajal. »Nun, eigentlich ...« Morven zuckte zusammen, als Jem mit sei ner Arbeit endlich fertig war. Erst wurden ihnen die Hände gefes selt, dann wurde ihnen ein Seil um den Körper geschlungen, und die Arme wurden an die Seite gebunden. Das lose Ende des Seils wurde am Zaumzeug von Jems Pferd befestigt. Dem Gefangenen blieb nichts anderes übrig, als hilflos hinter dem Pferd herzustol pern und zu hoffen, daß sein Häscher nicht auf die Idee kam, los zugaloppieren. »Wir haben keinen einzigen Gefangenen gemacht«, erwiderte Crum schniefend. »Statt dessen hat man uns in den beiden letzten Tagen gleich zweimal gefangengenommen!« »Einmal als Blaurock und einmal als Rebell.« Rajal lachte. »Das nächste Mal wird man euch als Vaga ergreifen, wenn ihr so weiter macht.« »Komm.« Jem lachte nicht. »Die Blauröcke sind nah. Ich meine, die echten.« In seinem Zelt fand Orvik zwei unerwartete Besucher vor. Der erste war ein junger Mann, der ernst darauf wartete, mit dem Prinzen zu sprechen. Aber es war Cata in ihrer Verkleidung als Bauer. Sie wollte ihren Treueschwur ablegen. Sie hatte sich ihre Rede schon zurechtgelegt, eine Rede, die genauso schön war wie die des Prin zen. Leider kam sie nicht dazu, sie zu halten. Der Prinz war tief in Gedanken versunken, und noch bevor er den ersten Besucher über haupt erblickte, griffen seine Ratgeber ein. Sie hatten bereits Schwierigkeiten vorausgesehen und vermuteten, daß Cata ein feiger Soldat war, der das Versprechen mit der Börse Gold gehört und wörtlich genommen hatte. Ein Berater zog sein Schwert, und Cata blieb nichts anderes übrig, als Fersengeld zu geben. Der zweite Besucher stürmte ungeachtet dessen vor. Es war eine
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Gestalt in einem langen Umhang, und zunächst wirkte sie wie ein weiterer junger Mann. Die Schwerter blitzten, doch dann fiel der Umhang zu Boden, und Orvik blickte in Landas Augen. Das Mädchen stürzte sich hastig auf ihren Geliebten. Sie habe einfach kommen müssen, schluchzte sie unter Tränen, und habe sich von ihrem Vater weggeschlichen. Diese Nacht, diese besondere Nacht, müsse sie mit Orvik verbringen. Der Prinz nahm sie in die Arme, aber er umarmte sie nur leicht. Sie ist doch ein närrisches Mädchen, dachte er. Diese Nacht ist der Taktik gewidmet, nicht der Liebe. Die Felder der Ajl umgaben die Stadt in einem breiten grünen Gür tel und waren in zwei große Terrassen unterteilt. Unten lag der Rheen, oder der untere Ajl, in dem Gebiet zwischen den Hügeln und der Stadt. Mittlerweile hatte Jems kleine Gruppe, die den Wegen folgte, die der Wegelagerer ihnen gezeigt hatte, den sanften Kamm erreicht, der den Rand dieser unteren Felder markierte. Da hinter befanden sich die Streitkräfte von Orvik. Sie waren kampfbereit. Mittlerweile schliefen einige und bereiteten sich auf den nächsten Tag vor. Doch weit mehr, so schien es, hielten Nachtwache. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, wenn sie an die Herausforderung des Morgens dachten. Lieder, Dudelsackpfeifen und Trommeln ertönten; und in der Dunkelheit flackerte eine un endlich scheinende Reihe von Feuern. Wenn sie Leuchtfeuer der Hoffnung sein sollten, dann konnte das nur eine verzweifelte Hoffnung sein. Wie die Blauröcke schon während der Belagerung von Wrax hatten feststellen müssen, bot der Rheen nur einen höchst un sicheren Ausgangspunkt, um die Stadt anzugreifen. Alle Vorteile lagen in diesem Fall beim Feind. Die oberen Felder umgaben die ummauerte Stadt wie ein Schutzkragen. Man nannte sie Ring. Bei der großen Belagerung von 996d rückte der Sieg für die Blauröcke erst in greifbare Nähe, nachdem sie den Ring eingenommen hatten. Aber es hatte einen langen Stel
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lungskrieg erfordert, mit einer Armee, die weit besser ausgerüstet gewesen war als jede, die Orvik hätte aufstellen können! Jetzt wa ren die Karten andersherum verteilt, und der Ring war fest in der Hand der Blauröcke. Ihr minimales Ziel in diesem Kampf mußte sein, dafür zu sorgen, daß dies auch so blieb. Es war ein Ziel, das sie mit Leichtigkeit erreichen konnten. Ja, sie würden es auch bestimmt übertreffen können. Konnten die Zenzaner mit den Blauröcken das machen, was diese ihnen angetan hatten? Nämlich die Stadt Mond leben für Mondleben als Geisel zu halten? Das schien undenkbar. »Wir müssen es schaffen«, murmelte Jem. »Jem?« fragte Rajal. »Was wir auch tun müssen, Rajal... Wir müssen es schaffen.« »Ich fürchte, es könnte böse enden.« »Es ist der einzige Weg«, erklärte Jem. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, aber ein Flüstern durchdrungen von harscher, beinahe grausamer Entschlossenheit. Doch im Inneren war Jem unsicher und besorgt. Schweigend folgten sie der Straße in die Stadt. Unten hatten sie Abstand zu Orviks Armee gehalten. Jetzt waren überall um sie herum Blauröcke. Zelte, Karren und Wagen übersäten die grünen Felder. Lieder und heiseres Lachen drangen durch die Nacht. An den Lagerfeuern flössen Bier und Wein in Strömen, und kleine Gruppen von Huren streiften durch das Lager. Es war fast wie auf einem Jahrmarkt. Aber da standen auch die Wachen. Sie blickten grimmig drein und säumten alle Straßen und Kämme zum Ring. Batterien schwerer Kanonen waren in Stellung gebracht worden, und ihre großen eisernen Mündungen funkelten unheilvoll im Mondlicht. Auf Jem wirkte es so, als wäre eine zweite Stadt um die erste gewachsen - wie ein Krebsgeschwür. Es war eine Stadt ohne Ziegel und Mauern, aber sie wirkte fast bedrohlicher als die eigent liche Stadt. Vielleicht würde ja etwas schiefgehen, vielleicht sollte etwas den
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glatten Ablauf des Plans stören. Und als sie die Stadttore erreich ten, entwickelten sich die Dinge plötzlich in rasender Geschwindigkeit. Die Pferde trabten hufklappernd über eine schwere Zugbrücke. »Halt!« rief ein Posten. »Grüßen!« zischte Morven. Jem grüßte, und Rajal tat es ihm gleich. Bis jetzt hatten die Wachen sie kaum beachtet. Warum auch? Reiter mit gefangenem Fußvolk waren kein seltener Anblick. Bauern wurden immer wieder zusammengetrieben und wegen aller möglichen Dinge ange klagt. Aber die Wachtposten am Tor gingen kein Risiko ein. »Papiere!« rief der Posten. »Tasche!« zischte Morven. Jem zog seine Papiere heraus, vielmehr die von Morven. Steif und ausdruckslos reichte er sie dem Wachtposten. Erst später fiel Jem auf, daß der Mann ihm irgendwie bekannt vorgekommen war. Aber woher? Er war vollkommen durchschnittlich, ein kleiner Kerl mit einem offenen, sommersprossigen Gesicht und großen, sehr biegsam wir kenden Ohren. Hatte Jem ihn nicht schon einmal gesehen? Die Uniform, die Jem trug, hätte ihm eigentlich den Hinweis liefern sollen. Auf der Tasche und dem Hut war das Regimentswappen, dasselbe, das der Wachtposten vor ihm trug. Bei all den Geschehnissen des Tages war Jem nie der Gedanke gekommen, daß seine Gefangenen vom Fünften Füsilierregiment »Der Tarn« waren. Morven und Crum hingen hinter den Pferden und zitterten vor Angst. »Morvy?« »Crum?« »Wir sind erledigt, stimmt's?« Ein zweiter Wachtposten verlangte Rajals Papiere - oder vielmehr die von Crum. Rajal suchte sie hastig. Einen Augenblick
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fürchtete er, daß er sie nicht finden würde, doch dann zog er sie er leichtert hervor. Er reichte sie vom Pferd herunter und sorgte dafür, daß sein Gesicht im Schatten blieb. Große Fackeln brannten neben den Stadttoren und erhellten die Nacht mit einem gelblichen Licht. Würden sie seine dunkle Haut bemerken? »Crum?« »Morvy?« »Ich glaube, wir sind geliefert.« Und sie sollten recht behalten. Es hätte nur eine Formalität sein sollen. Eigentlich hätte man ihnen die Papiere zurückgeben und sie zum Weiterreiten auffordern sollen. Statt dessen rief der Wachtposten laut: »Eindringlinge!« Im nächsten Augenblick war die kleine Gruppe von Blauröcken mit gezücktem Bajonett umstellt. Jem fluchte. Sein Blick glitt über die Bajonette, die Soldaten und die gepflasterte Straße vor ihnen. Im nächsten Moment würden sie von den Pferden gezerrt und in eine Zelle eskortiert werden. Das durfte nicht sein, und es würde nicht passieren. Verzweiflung überkam ihn. Sein Pferd bäumte sich bereits angsterfüllt auf. Jem schrie wie ein Krieger, gab dem Pferd die Sporen und durchbrach die Reihe der Soldaten. »Raj! Schnell!« Im nächsten Moment galoppierten sie durch die vollen fremden Straßen und zerrten die bockigen Gefangenen hinter sich her. Schüsse und Schreie hallten ihnen in den Ohren. Hinter ihnen herrschte heilloses Chaos und vor ihnen heillose Verwirrung. Fen ster, Türen, Zwiebeltürme, Abfälle und glitzerndes Gold flogen förmlich an ihnen vorbei. Die Stadt fieberte den Ereignissen des kommenden Tages entgegen. Ängstliche, wütende Gesichter sahen ihnen nach. Fackelträger sprangen zur Seite, und ihre Fackeln zisch ten. Ein Pferdetrog kippte um, und sein Inhalt ergoß sich schäu mend auf die Straße. Sie fegten über einen Marktplatz, dessen Pfla ster mit Resten von Kürbissen und Rüben übersät war.
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»Halt! Halt!« Die Wachen rannten hinter ihnen her. »Halt! Halt!« riefen auch Morven und Crum. Es gab keinen anderen Weg vom Marktplatz herunter. »Sackgasse!« »Jem, nein! Da drüben, eine Gasse!« »Da kommen wir nicht durch!« »Spring!« Sie sprangen von ihren Pferden. Einen Augenblick später kletter ten sie über Klapptische, Kisten und glitschige Bohlen. Als die Blauröcke durch den Müll stürmten, waren Jem und Rajal in dem Labyrinth der dunklen Gassen verschwunden, die sich zwischen dem Markt und dem Tempelbezirk erstreckten. »Teilt euch auf, Männer!« bellte Korporal Olch. »Sucht sie!« Aber es war sinnlos. Die Jagd war vorbei. Grimmig sah sich der Korporal Zappelphilipp um. Das Mond licht schimmerte unheilvoll und kühl in den hohen Fenstern rund um den Platz. Er trat gegen eine zerquetschte Rübe und seufzte. Das war schlecht, ganz schlecht. Sergeant Bunch würde sicher einen Bericht wollen, aber was sollte er sagen? »Hilfe ...«, meldete sich eine klägliche Stimme. »Hilfe ...«, ertönte eine zweite. »Morvy! Crum! Wir dachten, ihr wärt erledigt!« »Das sind wir auch«, meinte Morven atemlos. Sie lagen mitgenommen auf den Pflastersteinen, immer noch an die Pferde gefesselt. Zappelphilipp seufzte. Er wollte seinen angeschlagenen Freunden helfen, aber m dem Augenblick ertönte eine andere Stimme hinter ihm, hoch und atemlos. Zappelphilipp wirbelte herum. Plötzlich hatte er Morven und Crum vergessen - und Sergeant Bunch erst recht. »Ach, Zappelphilipp, ich bin völlig außer Atem! Ich habe dich gesehen und ... und mußte dir einfach hinterherlaufen. Ich konnte keinen Moment länger warten!«
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»Nirry?« fragte Zappelphilipp atemlos. »Nirry, bist du das?« Nirry hielt sich die Seite. »Ich habe die Herrin verlassen, Zap pelphilipp«, stieß sie hervor. »Ich hab die alte Kuh einfach sitzen lassen und werde niemals mehr zu ihr zurückgehen. Nie mehr ... Oh, was war das für ein Abenteuer, davon erzähl ich dir, bis wir alt und grau sind! Aber jetzt laß ich dich nicht mehr aus den Augen, Zappelphilipp Olch ... Und wenn du dich morgen umbringen läßt, dann steckst du richtig in Schwierigkeiten, das verspreche ich dir!« Bei diesen Worten brach Nirry in Tränen aus. »Nirry, meine liebe, liebe Nirry!« Ein wenig später klopfte das junge Paar an der Tür des Armeegeistlichen. Es war eine Blitzhochzeit - und eine einfache dazu. Doch für Nirry war es der schönste Augenblick in ihrem Leben.
35. Köing und Königin der Schwerter »Jem, warte! Ich kann nicht... ich bin völlig außer Atem!« »Ich auch!« »Wir sind ihnen entkommen, hab ich recht?« »Scheint so.« »Was für eine Hatz!« Verzweifelt waren sie herumgelaufen, hierhin, dorthin, zurück, durch ein Labyrinth von Gassen im dunkelsten Viertel der Stadt. Es gab Orte, wo die Giebel der Häuser so dicht zusammenstanden, daß nicht einmal die Strahlen des Horn-Lichts die tunnelartigen Tiefen darunter erhellen konnten. Fackeln gab es selten, geschweige denn Lampen, die den Weg beleuchteten. Sie huschten wie Ratten durch die Unterwelt. An einigen Orten war der Gestank nach Müll 306
und Abwässern so überwältigend, daß allein dieser Geruch sie weitertrieb. Manchmal hörten sie Schreie, manchmal Schritte hinter sich. Und immer spürten sie ihre Glieder, ihre heftig schlagenden Herzen und fühlten, wie der Atem in ihren Lungen brannte. Sie wären beinahe an einer efeubewachsenen Wand zusammengebrochen. Die dunklen Tunnel lagen hinter ihnen, und der Mond schien ihnen fast schmerzhaft hell in die Augen. »Jem?« »Raj ?« »Wir haben jetzt nur noch ein Problem.« »Und das wäre?« »Wir haben die Blauröcke verloren. Wie sollen wir den Ort finden?« »Ich glaube, wir sind nah dran.« Jem lachte plötzlich. »Sogar göttlich nah.« Eine Glocke schlug über ihren Köpfen. Jem trat von der efeube rankten Wand auf die gepflasterte Straße zurück. Ja, es war genauso, wie er es sich gedacht hatte. Manchmal waren die Alleen angestiegen, seltener hatten sie sich gesenkt, aber Jem war es immer so vor gekommen, als wären sie hochgelaufen, höher in die Stadt hinein. Er deutete nach unten. Sie sahen über die Zinnen auf der anderen Seite der Straße und erblickten die dunkle Stadt, die sich dahinter erstreckte. Noch weiter entfernt sahen sie die Wachfeuer, die orange, rot und golden glänzten wie wütende Sterne. Sie drehten sich um. Jetzt deutete Jem nach oben, und über der efeuberankten Wand sahen sie Bäume und Pflanzen eines überwucherten Gartens, in dessen Mitte ein riesiger goldener Turm stand, der von goldenen Efeuranken umgeben war. Der Anblick war erstaunlich, denn der Turm hätte auch ein merkwürdiger goldener Auswuchs des Gar tens sein können. »Der Tempel!« stieß Jem hervor. »Wir haben ihn von den Hügeln aus gesehen.« »Dann muß hier irgendwo in der Nähe ...«
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»Der Ladenbesitzer!« »Aber wo?« Einen Augenblick spähten sie neugierig um die Kurve der Straße. Sie wollten ihre Suche gerade ernsthaft beginnen, als hinter ihnen Stimmen ertönten. »Blauröcke!« »Jem, da, der Durchgang. Rasch!« Jem hatte sich so auf den Tempel konzentriert, daß ihm die schmale Passage entgangen war. Sie schossen hindurch, und das Efeu kratzte an ihren Schultern. Der Durchgang mündete nach we nigen Schritten in einen schmutzigen Hinterhof. Auf einer Seite, der Straßenseite, befand sich eine niedrige Tür. Neben der Tür war ein Fenster mit Fensterläden, und in dem Fenster brannte eine Laterne. Auf der anderen Seite befand sich ein Schild aus Wurzeln und Ranken, die von den dicken Pfosten darüber herabhingen. Eine kleine Steintreppe, die gänzlich mit Moos bewachsen war, führte zu dem Tempelgelände. Die Stimmen ertönten wieder und hallten jetzt in dem Durchgang hinter ihnen. »Verdammt, wo können sie stecken?« »Sie folgen uns!« sagte Jem. »Ob sie uns gesehen haben?« »Ich weiß es nicht.« Schnell verbargen sie sich hinter dem schützenden Laub. Über ihnen im Tempel schlug immer noch die Glocke. Sie würde die ganze Nacht schlagen, tief und langsam, und ihre einsame Nacht wache würde bis zum frühen Morgengrauen andauern. »Sie müssen hier irgendwo sein«, sagte der erste Blaurock. »Lange können sie sich jedenfalls nicht verstecken«, meinte der zweite. Er trat vor und hämmerte gegen die Tür. Ein protestierendes Stöhnen antwortete ihm. Die Laterne wurde vom Fensterbrett genommen. Dann ertönte ein zweites müdes Stöhnen und das Geräusch eines Riegels, der zurückgezogen wurde. »Was ist das hier für ein Ort?« fragte der erste Blaurock.
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»Das Büro des Verwesers.« »Verweser? Was verwest er denn?« »Na ja, den Friedhof natürlich.« Sie lachten grölend. »Da ist er«, flüsterte Jem. Ein alter Mann erschien in der Tür. Er trug das Kapuzenhemd ei nes zenzanischen Bauern und hob die Laterne in seiner Hand. Ärgerlich musterte er die beiden Blauröcke. Es war ein abgerissenes Pärchen. Der eine rasierte sich anschei nend nicht sehr oft. Sein Kinn war stopplig wie ein Kornfeld nach der Ernte. Der andere trug eine Jacke, die wirklich überall mit Bier bekleckert war. Der alte Mann antwortete nur mit einem Knurren auf ihre Fragen. Hatte er die beiden Burschen gesehen? Kerle, die vorbeigegangen waren? Hatte er Schritte auf der Straße gehört? Laufen? Flüch ten? Die Sätze hallten hohl auf dem Hof wider. Gefährliche Rebellen. Zwei junge Banditen. Gestohlene Uniformen. »Was war das?« Der alte Mann sprach zum ersten Mal. »Sie waren als Blauröcke gekleidet? Wie ihr?« Die Blauröcke nickten. »Na ...«Er lachte pfeifend. »Woher soll ich dann wissen, daß ihr nicht sie seid? Und woher ...« Wieder dieses pfeifende Lachen. »Woher wißt ihr selbst das? Seht euch an, Ihr feinen jungen Herren, seht Euch selbst an, bevor Ihr nach anderen sucht!« Der alte Mann hustete heftig. Während dieses Wortwechsels bemerkten Jem und Rajal etwas, das sie beunruhigte. Sie waren nicht allein in ihrem Versteck! Etwas, ein atmendes Etwas, strich um ihre Beine. Und dann fühlte Jem das Piksen einer tastenden Pfote. Bitte! dachte er und preßte die Lippen zusammen. Bitte! »Der Alte spinnt!« sagte Bierjacke.
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»Komm«, meinte Harion Kornfeld. »Wir verschwenden hier nur unsere Zeit. Sollen wir den Friedhof absuchen?« »Müssen wir das denn? Es ist ein zenzanischer Friedhof. Diese schiefen Bäume! Dort ist es unheimlich.« »Ach, mach dir nicht ins Hemd!« Jem und Rajal stießen langsam die Luft aus, als die beiden Solda ten die moosigen Stufen hinaufgingen. Aber der alte Mann schloß die Tür seines Hauses nicht. Statt dessen blieb er noch eine Weile stehen und überzeugte sich, daß seine beiden Besucher tatsächlich verschwunden waren. »Ring!« flüsterte er. »Ring!« Ein tiefes, dissonantes Geräusch antwortete ihm. Rajal schnappte nach Luft, und Jem zuckte zusammen. Ein massiger Schwanz strich an ihren Waden vorbei, als ein großer, häßlicher Kater sich zwischen den Ranken hindurchzwängte. »Ja, mein Hübscher. Ach ja.« Der alte Mann schlurfte auf den Hof. Sein krummer Rücken verkrümmte sich noch weiter, und er streckte die Hand aus. Der Schein seiner Laterne tanzte über die Pflastersteine. »Mein armer Hübscher. Du bist hungrig, nicht wahr? Und hast Angst? Mach dir keine Sorgen, die bösen Männer sind weg.« Während er das sagte, blickte der alte Mann hoch, und einen Moment lang waren Jem und Rajal fest davon überzeugt, daß er sie an schaute und geradewegs in ihr Versteck sah. Konnte das sein? Der Verwalter war alt, sehr alt. Seine Augen mußten schwach sein, und außerhalb des Scheins der Laterne war es sehr dunkel. »Lieber Ring! Süßer Ring!« sagte er jetzt. Hast du heute viele Ratten gefangen? Was ist das? Eine kleine Mausemutter und ihre sechs haarlosen Babys?« Das Miauen war jetzt ein vernehmliches Schnurren. Die Katze schmiegte sich an die Beine des Mannes und stieß aufgeregt mit dem Kopf dagegen. »Glücklicher Ring, was für ein vortrefflicher Leckerbissen! Nun, während der Belagerung wäre diese Maus nicht für dich übriggeblieben, hm? Und ihre Ba-
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bys auch nicht ... Was denn? Ein großer, saftiger Maulwurf? Komm, du hast dir deine Milch verdient.« Der alte Mann schlurfte durch die Tür, doch kurz bevor er sie schloß, drehte er sich noch einmal um und fügte ruhig hinzu: »Und ich glaube, ihr solltet uns besser Gesellschaft leisten, meine jungen Freunde.« Jem und Rajal sahen sich an. Zögernd traten sie aus ihrem Versteck. Während sie das Häuschen betraten, dämmerte ihnen, daß sie ja eigentlich durch die Passage auf die Straße zurückgehen könnten. Kurz darauf wären sie weit weg. Sollten sie etwa an einem schäbigen Ort wie diesem dem Befehl eines schwachen alten Mannes ge horchen? Aber irgendwie hatten sie das Gefühl, daß sie es nicht tun konn ten. Noch nicht. Der alte Mann führte sie in eine Wohnung, die ge nauso ordinär war wie die niedrige Schwelle. Ein säuerlicher Gestank begrüßte sie, und sie sahen sich in dem Licht um, das die Laterne spendete. Der Boden war aus Lehm, und es gab nur wenig Möbel. Ein wurmstichiger Tisch am Fenster, ein paar wacklige Stühle und unter dem Fenster eine schmale, muffige Couch. In einem kleinen schwarzen Ofen in der Ecke brannte ein Feuer, das aber kaum etwas gegen die Grabeskälte ausrichten konnte. Es gab keine Bücher und keinen Schmuck. Alles war ein fach, häßlich und ordinär. Nur ein einziges Stück in dem Raum ver mittelte einen anderen Eindruck. Allerdings linderte es nicht gerade den überwältigenden Anschein der Armut, sondern deutete nur an, daß die Dinge früher einmal besser gestanden hatten. Es war ein schwerer grüner Vorhang, der wie ein Theatervorhang wirkte und die gesamte rückwärtige Wand bedeckte. Er war stockig und mot tenzerfressen und machte den Eindruck, als habe man ihn aus dem Salon irgendeines Adligen ... vielleicht sogar gestohlen und zurechtgeschnitten, damit er in diese Bruchbude paßte. Mit unerwarteter Grazie, so als führe er seine Besucher tatsäch-
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lieh in einen Salon, bat der alte Mann sie, sich hinzusetzen. Er ging zum Ofen und klapperte mit schwarzen Töpfen, um die zweifelhafte Milch zu erhitzen, die er einer ebenso zweifelhaften Kanne entnahm. »Wie erfreulich, Besucher zu haben«, plapperte er. »Hm, Ring? So selten, so selten. Doch heute nacht ... Gleich zweimal! Aber wartet mal! Irre ich mich da?« Der alte Mann drehte sich um und musterte seine Gäste. Er stellte die Laterne auf den Tisch, so daß ihr Schein Jem und Rajal beleuchtete. »Ihr seid doch dieselben, die eben noch an meine Tür geklopft haben, hab ich recht? Aber ganz be stimmt seid ihr das! Habt ihr immer noch nicht gefunden, wonach ihr gesucht habt? Soso! Hab ich nicht gesagt, ihr sollt bei euch selbst suchen?« Wieder lachte er pfeifend. In der heruntergekommenen Wohnung wirkte es lauter und gröber und hatte einen merkwürdig unheilvollen Unterton. Dann war die Milch fertig, und der alte Mann stellte drei Teller auf den Tisch. Einer war für Jem, der andere für Rajal. Der dritte war für Ring. Zärtlich hob der alte Mann den Kater vom Boden hoch. Jem und Rajal tauschten einen vielsagenden Blick. Ring war nicht nur außergewöhnlich häßlich, hatte zerfetzte Ohren, entzündete Augen und eitrige Schorfstellen, sondern er stank auch noch bestialisch. Jem zuckte zurück, als der Kater seinen haarlosen Schwanz in die Luft streckte und einen warzigen Anus sowie einen einzelnen geschwollenen Hoden entblößte. Der alte Mann blieb am Tisch stehen und rieb sich die Hände. »Ring trinkt fleißig, was? Seht ihr, er erinnert sich noch an die Zeit der Belagerung. Seine Rippen standen damals aus seinen Seiten her aus, stimmt's nicht, Hübscher? Aber kommt, Freunde, warum trinkt ihr nicht wie Ring?« Die Antwort lag auf dem Tisch. Jem blickte in den dampfenden Teller vor sich. Die Milch war grün.
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»Aber werter Herr, wir wollen Euch nichts wegessen ... Bitte.« Jem schob dem alten Mann den Teller hin, doch der winkte ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung fort. Jem rutschte unbehaglich auf dem Stuhl hin und her. Hatte er seinen Gastgeber beleidigt? Die Stimme unter der Kapuze bekam plötzlich einen scharfen Unterton. »Ihr schätzt meine Gastfreundschaft also nicht? So, wir sind ein bißchen etepetete, ja?« Er lachte wieder. »Nun, andere wissen sie dafür zu schätzen.« Der alte Mann ging zu dem grünen Vorhang. Für Rajal, der mit dem Gesicht zum Vorhang saß, wirkte es so, als wollte ihr Gastgeber mit dem Kopf durch die Wand laufen. Doch im nächsten Augenblick blähte sich der Vorhang auf, und Rajal begriff, daß es nur ein Raumteiler war, der einen anderen Teil des Raumes verbarg. Man hörte Klappern, als wäre dieser Teil des Ladens so vollge stopft, wie der andere hier leer war. Etwas fiel krachend zu Boden. Der alte Mann kehrte mit einem kleinen Käfig in der Hand zurück. »Ring?« sagte er schmeichelnd. »Ich habe etwas für dich, mein Hübscher. Etwas ganz Besonderes.« Rajal schlug die Hand vor den Mund. Jem umkrampfte unwillkürlich den Tellerrand. Beide wollten protestieren, aber es kam ihnen kein Wort über die Lippen. Ring blickte hoch. Milch tropfte von seinen Barthaaren, als er leise schnurrte. In dem Käfig hockte ein weißer Hamster. Mit einem Klicken öffnete sich der Käfig, und der Hamster lief auf den Tisch. Schockiert packte Jem seinen Teller noch fester und setzte ihn krampfhaft an die Lippen. Er schluckte. Und spuckte. Fäulnis, fast wie Erbrochenes, brannte in seinem Hals. Aber was als nächstes passierte, war nicht das, was zu erwarten gewesen wäre. Der Hamster lief auf den Kater zu. Der gab dem Hamster einen leichten, freundlichen Stups. Dann hockten sie ne
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beneinander auf dem Tisch und schleckten mit einer Begeisterung, die Jem bedauerlicherweise nicht aufbringen konnte, die ekelhafte Milch, als wäre es frischer Rahm. Der alte Mann lachte. Er beugte sich über den Tisch und tät schelte den Kopf und die zerfetzten Ohren des Katers. »Der gute Ring liebt Rheen ja so sehr.« »Rheen?« Rajal runzelte die Stirn. »Aber ich lasse ihn nicht jeden Tag zu Rheen. Nur wenn Ring ein ganz besonders lieber Kater gewesen ist. Nun, junge Herren, wollt Ihr ein Spielchen sehen, das die beiden spielen?« Der alte Mann wartete nicht auf eine Antwort, sondern verschwand wieder hinter dem Vorhang. Erneut ertönte das Klappern, bevor etwas zu Boden fiel und zersprang. Jem schob den Stuhl zurück. »Nun, Rajal«, sagte er laut. »Ich glaube wirklich ...« Aber bevor er fortfahren konnte, kam der alte Mann zurück. War er eben noch beleidigt gewesen, schien er jetzt von einer fieberhaf ten Erregung gepackt zu sein. In den Händen hielt er zwei kleine Holzkreuze. Jedes war aus einem langen und einem kleineren Querstück gefertigt, die zusammen ein T formten. Das längere Ende von beiden war angespitzt, und an dem kürzeren war ein Stück Leder seil befestigt. Es waren Schwerter, kleine Holzschwerter. Mit einem entzückten Keckem befestigte der alte Mann ein Schwert an einer Tatze von Ring. Rheen rüstete er ebenso aus. Dann räumte er schnell die Teller weg, als Kater und Hamster ihr freundliches Duell begannen. Wie ein Held aus den Silverby-Romanen, der geheim nisvollerweise in ein Nagetier verwandelt worden war, stellte sich Rheen auf die Hinterpfoten und parierte kühn den ersten Schlag. Jem stöhnte. Das war einfach verrückt. Er schob seinen Stuhl zurück. »Ich glaube wirklich ...« Aber zum dritten Mal war der alte Mann verschwunden. Zum dritten Mal blähte sich der Vorhang auf, und zum dritten Mal klap-
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perte es. Aber diesmal folgte kein Krachen, sondern ein hohes, be unruhigendes Heulen. Rajal zuckte zusammen. Jem sprang auf, aber er wäre von dem Alten beinahe umgerannt worden, als der durch den Vorhang stürmte. Seine Ärmel flatterten, als er mit heftigen Armbewegungen eine Melodie aus einer schäbigen Quetschkommode preßte. Während das absurde Duell weiterging, hüpfte der Alte mit einer verrückten Freude um den Tisch, während seine Arme wie Blasebälge arbeiteten und seine Knie unter seinem Umhang hochzuckten. Gleichzeitig stimmte er mit atemloser Stimme ein Lied an: Alles ist... Kätzchen, und nichts ist... Girlande Und was? Wird der Hamster etwa von Salzwasser gekitzelt? Kommt, laßt uns... unsere Waffen mit Kordeln ... befestigen Und kämpfen wie der Ring und der Rheen der... »Hört auf!« rief Jem. Das Lied drang wie Säure in seine Ohren. Es hatte etwas Wider wärtiges an sich, etwas Krankes. Welchen Bann wollte der alte Mann über sie legen, welche schreckliche Verlockung spann er da? Jem fegte mit dem Arm über den Tisch. Die kleinen Schwerter flo gen durch die Gegend. Ring sprang herunter, und Rheen ver schwand. Jem konnte nicht genau sehen, wohin. Der alte Mann brach unterdessen hustend und lachend auf dem Sofa unter dem Fenster zusammen.
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Zuerst war alles finster. Aber es war nicht die Dunkelheit der Nacht, die von den Strahlen des Mondes erhellt wurde. Dies hier war eine völlige Schwärze. Und es stank, es stank nach ekelhafter, naßkalter Fäulnis. In diesem Ausfluß schien die Bosheit der ganzen Welt kon zentriert zu sein. Es war der Gestank einer Folterkammer, deren Boden mit Eingeweiden übersät ist, der Gestank von Leichen, wenn die Haut verfault und die verwesten Organe im Inneren zerplatzt sind. Polty hätte aufgeschrien, aber etwas preßte sich auf seinen Mund. Er wäre zusammengezuckt, aber auch das ging nicht: Etwas legte sich auf die Muskeln seines Gesichts. Er wollte den Arm heben und die Last beiseite schieben. Doch dann bemerkte er, daß seine Arme unter demselben merkwürdigen Gewicht steckten. Nur langsam erinnerte sich Polty wieder an die Geschehnisse. Aber er empfand kein Entsetzen, sondern nur eine ruhige Gelassenheit, als er in seiner Erinnerung wieder das Bild von dem Ding wahrnahm, daß man das Vichy nannte. Es war ungeheuerlich, und es stürzte sich auf ihn. Was danach passiert war, konnte er nicht sagen. Er hatte gedacht, daß diese schlammige Umarmung ihm den Tod bringen würde. Aber er war gerettet worden, um sein neues und merkwürdiges Schicksal zu erfüllen. Jetzt fragte sich Polty, wie er überhaupt atmen konnte. Wie konn ten seine Lungen in seiner Brust anschwellen? Wie konnte auch nur das kleinste Partikelchen Luft durch diese Lehmschichten dringen, denn es war eindeutig Erde, von der er überall eng umgeben war. Doch dann überkam ihn ein merkwürdiges Wissen, und er stellte sich keine Fragen mehr. Ruhig und gelassen akzeptierte Polty die Tatsache, daß er tatsächlich tot war, oder vielmehr, daß das Leben, das er nun führte, kein natürliches Leben war. Seine Sinne verliehen
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ihm eine Wahrnehmung weit über die Fähigkeiten der Sinnesorgane Sterblicher hinaus. Erst dachte Polty, er wäre unter der Erde begraben. Dann wußte er, daß das nicht stimmte. In der Erde selbst, die sich an ihn preßte, war eine Wesenheit, ein Wesen. Es war die Quelle, die ihm seine tödliche Wahrnehmungsgabe verlieh. Und es war diese Macht, die ihn hielt. Er befand sich im Inneren des Vichy. »Komm, Raj«, sagte Jem. »Wir gehen.« Aber Rajal saß am Tisch und starrte auf die Stelle, wo das absurde Duell stattgefunden hatte, und wenn er den Blick vom Tisch hob, dann nur, um noch faszinierter auf den grünen, wallenden Vorhang zu starren. »Raj, ich hab gesagt, komm. DIE ZEIT IST GEKOMMEN.« Aber Rajal erwiderte nur: »Der Ring und der Rheen der Schwer ter?« »Warum dort aufhören?« keckerte der alte Mann. Plötzlich sprang Rajal auf. Mit leerem Blick zuckte er wie eine Marionette. Er sprang in dem Zimmer umher, stampfte und plapperte. »Warum dort aufhören? Warum dort aufhören? Stachel und Stein der Schwerter. Ting und Tang! Das Fing und Fang. Das Ving und Vang!« Mit irrem Lachen stimmte der Alte mit ein. »Das Ying und Yang! Das Bing und Bang!« »Das Hing!« »Das Hang!« »Das Jing und Jang!« »Hört auf!« schrie Jem. Aber sie hörten nicht auf. »Das Ling und Lang!« »Das Ding und Dang!« »Das Drin und Drauß!«
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Der Alte sprang hoch. »Das Grien!« schrie er. Schweigen folgte. Einen Augenblick schien es, als wäre es vorbei. Tränen strömten über Rajals Gesicht, als er den Arm hob und zit ternd auf den Vorhang deutete. »Das Grün«, flüsterte er. »Das Grün.« Dieselbe Farbe hatte auch Jems Gesicht angenommen. Er trat vor und wollte mit einem einzigen kräftigen Ruck an dem Vorhang zie hen. Doch statt dessen zuckte er zusammen, als sein Fuß auf etwas Glitschigem ausrutschte. All das Stampfen. All das Springen. Es hatte Rheen erwischt. Er war plattgetreten worden, und seine Eingeweide waren auf dem Lehmboden verschmiert. Ring sah zu und maunzte mitleiderregend. Zitternd blickte Jem den alten Mann an; der stand auf und winkte ihn zu sich. Eine Hand tauchte in seinen Umhang und för derte ein abgegriffenes Kartenspiel ans Licht. Er mischte es schnell und achtlos, teilte dann ein Blatt an Jem aus und knallte die Karten auf den Tisch. Jem suchte den Blick des Alten, doch das Gesicht un ter der Kapuze wandte sich ab. Er blickte Rajal an, und der starrte immer noch ohne zu zwinkern auf den Vorhang. Langsam nahm Jem seine fünf Karten hoch. Die beiden ersten waren ganz gewöhnlich. Eine Acht der Ringe, die Vier der Federkiele. Die dritte war der Harlekin. Und die vierte und fünfte? Natürlich. Der König und die Königin der Schwerter. »Wer seid Ihr?« Jems Stimme hatte einen gewalttätigen Unterton. Er schien den alten Mann packen und schütteln, ja schlagen zu wollen. Doch er tat nichts dergleichen. Der Alte hatte sich gebückt und raffte die schmierigen Reste des sen zusammen, was einmal ein Hamster gewesen war. Kühl und lei denschaftslos sammelte er die Eingeweide, das Fell und den schmut-
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zigen Rest auf, während die Katze miaute. Gerade als Jem eine Frage stellen wollte, wrang der alte Mann die Hände. Blut quoll zwischen den verkrampften Fingern hervor, und als er sie öffnete, flatterte ein bunter Vogel in die Luft empor. Es war ein Lockvogel, eine Wenaya-Taube. »Wer seid Ihr?« rief Jem erneut. Die Wenaya-Taube flatterte wie verrückt an die Decke des Raumes und flog Richtung Vorhang. In diesem Moment schrie Rajal laut auf. Und gleichzeitig gab der alte Stoff nach und fiel herunter. Dahinter wurde der merkwürdige Raum sichtbar, der schmutzig und voller Spinnweben war. Das Licht fiel in den staubigen Raum und beleuchtete Wände, die mit zahllosen Regalen vollgestellt waren. Auf ihnen türmten sich Flaschen, Kisten, Beutel, Bücher, Stoffe und die Lehne einer langen Bank. Aber natürlich war es keine Bank. Es war ein Tresen, und die Wenaya-Taube landete darauf. »Ul... ul... ul... ul...«, schrie sie. Jetzt schaute Jem genauer hin. Er sah, daß das Fenster und die Tür des Geschäfts vollkommen zugewachsen waren. Auf der Straße, erinnerte er sich, hatten sie sich gegen eine Wand gelehnt, die mit Efeuranken bewachsen gewesen war. In Wahrheit war das das Fen ster oder vielleicht die Tür des Geschäfts des Ladenbesitzers von Wrax gewesen. Jem drehte sich zu dem alten Mann um. Er hätte ihn bitten können, sich zu erklären, doch statt dessen flüsterte er nur: »DIE ZEIT IST GEKOMMEN.« Die Zeit war gekommen. Während Polty im Griff seiner dunklen Paralyse dalag, wurde ihm klar, daß sein Leben eine neue und entscheidende Wendung genommen hatte. So lange, viel zu lange, hatte er nur für sich selbst gelebt. Für Polty hatte es nichts anderes gegeben als sein eigenes lär mendes Ego, das die Wände eines leeren Heiligtums bestürmte.
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Jetzt, allmählich, wurde dieses Heiligtum gefüllt. Und jetzt, langsam, wurde ihm sein Schicksal enthüllt. In dem Vichy wurde es wärmer, der feuchte Schlamm trocknete. Schon bald würde die Hitze sengend werden, verzehrend, allerdings nur für einen Mann, der sich nicht im Griff der finsteren Mächte befand. In dieser Hitze hätte Poltys Haut sich röten müssen und wäre dann schwarz angelaufen. Seine Lippen wären verbrannt, und seine Augäpfel und die Lider hätten eigentlich zu flüssigem Gelee werden müssen. Vielleicht geschahen diese Dinge ja auch in einer bestimmten Dimension. Aber Polty empfand keine Schmerzen mehr und auch kein Entsetzen. Statt dessen dehnte sich seine Wahr nehmung weit über seinen Panzer hinaus, wie auf den Fäden eines Netzes, eines Netzes, das so gewaltig war, daß es den ganzen Erdball umspannte. Er war eins mit den Kreaturen des Bösen. Er sah vor seinem inneren Auge, wie sich riesige, unheimliche Schlangen, Spinnen und Ma den durch seinen Kopf drehten, er sah Frauen und Männer mit Tiergesichtern, Wölfe, Affen, Elefanten und Vögel, die mit flammenden Flügeln über das Firmament fegten. In Agondon sah er Dinge wie Eingeweide, die unter dem Dreck auf dem Fluß Riel dahintrieben. In Varby sah er die verrückten, herumtollenden Gespenster, die aus ihren Höhlen ausbrachen und den Hügel hinabliefen. Sie verbreite ten im Tal fröhlich ihre Infektion. Poltys Wahrnehmung reichte bis in die entferntesten Winkel der Welt, vibrierte entlang dem gespannten Netz, und überall sah er dieselben verachtenswerten Dinge, die sich in dem Wissen ihres kommenden Triumphes suhlten. »Ja«, flüsterte er. »DIE ZEIT IST GEKOMMEN.« Doch die Zeit schien für einen Moment merkwürdigerweise stillzustehen. Einen Augenblick lang sagte der Ladenbesitzer gar nichts. Er hatte sich abgewendet und tätschelte die räudige Katze, aber als er sich wieder aufrichtete, war sein Rücken unerwartet gerade, und seine Stimme hatte sich unerklärlicherweise verändert.
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»Die Zeit? Die Zeit? Ach, aber ich habe so lange Wache gehalten, so unvorstellbar lange, daß sich das Gewirr der Zeit so zu dehnen schien, als wollte das Ende der Zeit niemals kommen. Dann haben wir plötzlich scharf an ... an dem Gewirr gezogen, und alles, was wir in Händen halten, ist ein loses Ende. In dem Augenblick ist die Unendlichkeit zu einem Nadelstich zusammengeschmolzen, und die Ewigkeit verwandelt sich zum Klicken einer Uhr. Dieser Mo ment liegt jetzt vor uns.« Jem hielt den Atem an. Diese Stimme kannte er doch, aber noch bevor er seinen Verdacht äußern konnte, ertönte ein jammerndes »Miau« vom Boden. Als der Vorhang heruntergefallen war, hatte er Ring zugedeckt. »Mein armer Hübscher!« Der Ladenbesitzer lachte, machte jedoch keine Anstalten, die Katze zu befreien. Die Bewegungen unter dem Stoff wurden wilder, und das Miau wurde lauter, dröhnender. Anscheinend wuchs die Kreatur und veränderte sich. Rajal trat schließlich vor und zog den Vorhang weg. Entsetzt wich er zurück. Die räudige Katze war groß, wunderschön und schwarz-gold gestreift. »Waldtiger!« rief Jem. Der Tiger lief auf leisen Sohlen um sie herum und betrachtete sie traurig aus goldenen, funkelnden Augen. »Das ist nicht der wahre Tiger«, erklärte der Ladenbesitzer. »Aber dennoch eine überzeugende Version, findet Ihr nicht? Ring und Rheen sind Metamorphe. Früher einmal haben viele solche Ge schöpfe die Länder durchstreift, bis sie in das Reich des Nichtseins verbannt wurden. Meine Kräfte beschützen Ring und Rheen und halten sie hier, während all ihre Gefährten leider verblichen sind. Da sie keine feste Essenz haben, können sie die Gestalt jeder Krea tur annehmen, die ihnen gefällt. Manchmal ist Ring der Jäger, und manchmal ist Rheen ein machtvolles, wildes Biest.« »Ich glaube, Ladenbesitzer«, sagte Jem ruhig, »daß auch Ihr eine Art Gestaltwandler seid.«
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Mehr mußte nicht gesagt werden. Der Ladenbesitzer schob die Kapuze zurück und ließ den Umhang zu Boden gleiten, den er getragen hatte. Darunter kam ein grünes Gewand zum Vorschein. Und lange, kupferrote Haare fielen über die Schultern der Person. »Priesterin Ajl!« rief Rajal. Die Priesterin lachte. »Aber selbstverständlich, meine jungen Freunde. Wer sonst sollte der Wächter des Scheinbaums sein? Der ›Ladenbesitzer‹ ist nur eine Legende, das ist alles, eine Geschichte, die sich im Wirrwarr der Zeit entstellt und verdreht hat.« »Aber Priesterin!« rief Jem. »Ihr habt gesagt, ich sei ein Narr! Ihr sagtet, meine Suche werde scheitern ...« »Woher hätte ich wissen sollen, daß Ihr der wahre Suchende seid, derjenige, auf den ich so lange, so unendlich lange gewartet habe? Selbst als Ihr die Göttin gesehen habt, konnte ich nicht wissen, ob das mehr war als Spiegelfechterei. Konnte ich sicher sein, daß Ihr mich nicht betrügt? Ach, in all den Äonen sind so viele falsche Su chende gekommen ... so unendlich viele ...« »Äonen?« Aber die Priesterin antwortete nicht. Einen Augenblick wirkte sie geistesabwesend. Plötzlich packte sie die Laterne, die auf dem Tisch stand, und schoß zur Tür. »Kommt. Rasch!« »Priesterin, wohin?« »Wohin, Prinz Jemany? Habt Ihr nicht gesagt: DIE ZEIT IST GEKOMMEN?« Sie lief in die Nacht hinaus, und ihr grünes Gewand bauschte sich hinter ihr, als sie die moosigen Stufen zum Friedhof hinauf lief. Jem und Rajal blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Gurrend und schreiend flog Rheen über ihren Köpfen dahin, und Ring sprang auf seinen dicken Pfoten hinterher. »Priesterin, die Blauröcke!« rief Rajal beunruhigt. »Diese Narren! Was wollen sie tun? Dem Schicksal selbst Einhalt gebieten?«
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Konnte das denn Schicksal sein? Ob das, was er sah, Prophetie war oder Realität, wußte Polty nicht. Dennoch schien es ihm sicher, daß selbst jetzt, während er wie paralysiert dalag, die Kreaturen des Bösen sich erhoben und sich reckten, wie aus einem langen Schlaf erwacht. Epizyklen lang hatten sich einige in den Wäldern versteckt, an Orten verborgen, die von den Menschen gemieden wurden. Jetzt kamen sie heraus, frech und kühn. Andere, die lange in das Reich des Nichtseins ver bannt worden waren, glitten, krochen und krabbelten durch die Millionen Ritzen und Spalten in den Wänden in diese Welt. Manche kamen durch einen Abfluß in der Straße, andere durch einen Riß in einer Kristallkugel. Sie erhoben sich aus Gräbern und ließen die Leichen einfach liegen. Die schlimmsten unter ihnen waren Relikte des Ur-Gottes, seine eigenen mißlungenen Geschöpfe, die er hatte zerstören wollen. Nun kamen diese Wesen ans Licht und vermehrten sich, denn jetzt war ihr Meister gekommen, ihr König. Nein, halt, nicht ihr König. Ihr Gott, ihr neuer Gott. TOTH, erscholl das Mantra. TOTH, TOTH. Ein neues Zeitalter zog herauf, ein Zeitalter der Pestilenz, der Kriege und der ungeheuren Katastrophen. Polty sehnte sich schmerzhaft danach. In seinem Kopf wirbelten Bilder des Entsetzens durcheinander. Sein Herz hämmerte immer wilder, als wollte es vor Aufregung die Lehmform zerbrechen. Dann waren diese Myriaden böser Dinge plötzlich verschwunden, und an ihrer Statt stieg ein einziges Gesicht vor seinem inneren Auge auf. Ein Ge sicht, das schrecklicher war als alles andere zuvor. Es war ein Gott, der sich einst in einem Spiegel befunden hatte, in einer Kammer tief unter dem Großen Tempel. Jetzt war der Gott auf diese Welt losgelassen. Nachdem er aus seiner fast endlos langen Gefangenschaft befreit worden war, sammelte er langsam Kräfte. Und er scharte seine Diener um sich und bereitete sich darauf vor, mit seinem fin steren Werk zu beginnen.
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TOTH, trommelte es in Poltys Schläfen und in seinem Hirn. Und um ihn herum begann der Panzer aus Lehm zu bröckeln. Polty schlüpfte wie aus einem Ei. Oben im Tempel schlug die Glocke immer noch, als sie weiter zwi schen den Bäumen hindurchliefen. Das Licht der Laterne flackerte unruhig durch die Finsternis und warf tanzende Schatten auf die Blätter. Das war der Forst der Toten, wo seit Epizyklen die Adligen des Reiches nach den Riten der Viana begraben worden waren. Über den Körpern der Toten hatte man Bäume gepflanzt, und diese Bäume, so stand es geschrieben, durften niemals beschnitten werden. Lange vorher schon hatten die Ejländer in ganz Zenzau diese heiligen Orte zerstört. Nur dieser älteste Friedhof auf der höchsten Anhöhe der Hügel von Wrax war verschont geblieben. Vielleicht als eine Sehenswürdigkeit, vielleicht auch, weil er mit dem Alten Tem pel in der Mitte ein einzigartiges Juwel in Ejlands Krone war. Oder vielleicht auch, weil die Macht der Heiligen, wenn sie stark genug war, selbst Zenzaus Eroberer berühren konnte. »Priesterin!« rief Jem drängender. »Was meint Ihr mit Äonen?« Die Glocke wurde immer lauter. Sie folgten einem verschlunge nen Pfad, der direkt zum Tempel führte. Ein riesiges Portal erhob sich vor ihnen. Es war mit Gold und Edelsteinen reich verziert und erhob sich wie ein ungeheures Grabmal aus dem Forst der Toten. Die Priesterin drehte sich erst jetzt, unter dem Vordach, um. Das Licht der Lampe tauchte ihr Gesicht in ein Muster aus Licht und Schatten und ließ die Edelsteine auf dem kostbaren Tor funkeln wie Sterne am Himmel. Sie antwortete schnell und leise, aber die Frage, auf die sie antwortete, war nicht die, die Jem gestellt hatte. »Prinz Jemany, seit Äonen hat es Menschen gegeben, die die Macht des Kristalls besitzen wollten. Torvester von Irion war einer von ihnen. Er hatte die Künste des Koros-Volkes studiert und ver stand viel von Magie. Und er war außerdem selbst mit einer Schat tenmacht ausgestattet.«
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»Schattenmacht?« fragte Jem. »Was für ein Schatten? Wessen Schatten?« »Nun, Prinz Jemany, Euer Schatten natürlich. Wenn eine Person über große Macht verfügt, dann finden wir in denen, die ihnen na hestehen, eine Reflexion dieser Macht. Torvester ist Euer Onkel, aber als Euer Vater für Euch verloren war, ist er im geistigen Sinn an seine Stelle getreten. Folglich war seine Macht groß, so groß, wie eine Schattenmacht sein kann. Aber leider, leider ... Zu was hat er sie mißbraucht! Bei der Belagerung von Wrax hat er sich selbst eingeredet, daß wir nur durch eine besondere, magische Waffe triumphieren könnten, und er war davon überzeugt, daß dieser Triumph jedes Opfer wert sei. Ich spürte seine Macht und war dumm genug zu glauben, daß wir ihn für unsere Zwecke einspannen könnten, die ... die ... Aber nein!« Die Priesterin machte eine wegwerfende Handbewegung. »Mehr braucht Ihr nicht zu wissen, um Euren Auftrag zu erfüllen. Nur soviel und nicht mehr.« Sie berührte ein Gesicht aus Gold an der Tür, und in dem gewaltigen Portal öffnete sich eine Luke. »Kommt!« »Wartet!« Jem hielt sie am Arm fest. Plötzlich erschien es ihm wichtig, alles zu erfahren, wirklich alles. »Das Experiment... diese Explosion ...« »Das war der Scheinbaum, der sich gegen eine Verletzung wehrte.« Die Priesterin seufzte. Einen Augenblick lang sah sie alt aus, schrecklich alt. Sie unternahm nicht einmal den Versuch, sich aus Jems Griff zu befreien. »Ach, was war Torvester doch für ein Narr! Und was war ich für eine Närrin, ihn nicht aufzuhalten!« »Aber der Wegelagerer ...!« »Der Scarlet! Er glaubt, man könnte das Experiment wiederholen. Aber er irrt sich. Ich habe ihn geblendet. Jemandem, der der Wahr heit den Rücken zukehrt, kann man die Wahrheit nicht erklären.« Jem hätte gern noch mehr Fragen gestellt, aber die Priesterin fing sich wieder. Barsch befahl sie: »Kommt!« und zog ihn tiefer in das
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Innere des Tempels. Er trat vor, doch als Rajal folgen wollte, hob die Priesterin gebieterisch die Hand. »Es tut mir leid, Kind des Koros. Dies ist nicht für deine Augen bestimmt!« Jem wollte gerade protestieren, als ein Schrei hinter ihnen ertönte. Sie liefen wieder zur Vorhalle zurück. »Die Blauröcke!« rief Rajal. Sie stürmten zwischen den Bäumen hervor, die Bajonette aufgepflanzt und zum Stoß bereit. Im selben Augenblick ertönte ein mächtiges Brüllen. Ring setzte zum Sprung an, und Rheen sank aus der Luft herab. Von einer Regenbogen-Taube hatte sich der Vogel jetzt in einen machtvollen schwarzen Geier verwandelt. Die Solda ten warfen entsetzt die Waffen weg und versuchten vergeblich, sich mit den Händen zu schützen. Erst vor den gewaltigen Pranken des Tigers, vor den scharfen Klauen des Geiers und schließlich auch vor dem hackenden Schnabel, der auf ihre Augen zielte. »Nein!« rief Jem. »Sie sollen aufhören!« rief Rajal. Er sprang vor, und die Priesterin schnappte nach Luft, als er ihr die Laterne aus der Hand riß und sie in das Getümmel schleuderte. Glas splitterte, und Flammen zuckten auf. Doch es war zu spät, viel zu spät. Jem rang nach Luft, und Rajal schlug die Hand vor den Mund. Die Priesterin jedoch lachte nur. Ihr Lachen klang rauh und grausam, und es schien, als wäre das Keckem des verrückten alten Verwesers letztendlich doch nicht nur eine Illusion gewesen.
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37. Die Karten erwachen zum Leben
In dem Mondlicht, das durch die hohen Fenster drang, erkannte Rajal ein prunkvoll eingerichtetes Gewölbe mit juwelengeschmückten Pfeilern und einer glänzenden Kanzel. Efeu, Blätter und Zweige waren aus Gold und Silber gearbeitet. Ein merkwürdi ges Gefühl überkam ihn, und er erschauderte. Mit einem Schlag wurde ihm klar, daß er noch nie in seinem Leben in einem Tempel gewesen war. Man hätte es ihm nicht erlaubt. Aber die Priesterin machte keine weiteren Anstalten, ihn jetzt noch aufzuhalten. Sie schien sogar vergessen zu haben, wer er war. »Was ist das für ein Glanz?« flüsterte er. »Mondlicht?« spekulierte Jem. Aber es war mehr als das. Dann bemerkte es auch Jem. Es war dieses grüne Leuchten, das sie schon zuvor gesehen hatten, auf der Lichtung, als die Göttin herabgestiegen war. Jetzt flackerte es über die massiven Pfeiler, die die Decke trugen. Wie verstreute Smaragde leuchteten kleine grüne Flecken auf den reich verzierten Steinen des Bodens und schimmerten und tanzten über die goldenen Blätter, die über dem riesigen Altar hingen. »Sie glauben, daß es nur ein Bild ist, ein Kunstwerk«, meinte die Priesterin und schritt langsam den Mittelgang hinauf. Sie schien mit sich selbst zu sprechen, und ihre Stimme klang alt und müde. »In Wahrheit jedoch ist es der Baum des Glaubens, der von den Männerpriestern vor Jahrhunderten vergoldet wurde, nachdem sie die Schwesternschaft von diesen Höhen vertrieben haben. Diese Narren! Bei all ihren Lügen haben sie ihre eigenen verbrecherischen Blasphemien vergessen! Um den Baum herum haben sie diesen törichten Palast errichtet und das dann die wahre Religion genannt. Pah! Wo ist ihre Religion jetzt? Hilft sie uns vielleicht?« Jem achtete kaum auf ihre Worte, sondern folgte ihr beunruhigt.
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Der Zwischenfall an der Tür hatte ihn erschüttert, und er wußte nicht mehr, ob er der Priesterin vertrauen durfte. Ja, er war nicht einmal mehr sicher, ob sie überhaupt eine Priesterin war. Konnte sie vielleicht ebenfalls eine geheimnisvolle Gestaltwandlerin sein, mit einer äußeren Form, nicht stabiler als die von Ring und Rheen? Er neut beugte sie den Rücken, und ihre Schritte waren beinahe ein Schlurfen, als würde sie unwissentlich wieder in die Verkleidung des alten Ladenbesitzers zurückfallen. Vor dem Altar drehte sie sich um. Steif erklomm sie die Kanzel. Erst da, als sie von der Höhe auf ihn herunterblickte, sah Jem ihr Gesicht. Er schnappte nach Luft und stolperte zurück. Seit sie den Tempel betreten hatten, war die Priesterin entsetzlich schnell geal tert. Sie sah aus, als hätte sie die groteske Maske eines Schauspielers aufgesetzt. Nur ihre Augen schienen noch zu leben. Sie glühten in demselben unirdischen Grün, das in jeder Ecke dieses riesigen, grabähnlichen Gewölbes schimmerte. Jetzt begann die Priesterin wieder zu sprechen. Während sie redete, wurde auch der grüne Schimmer um sie herum intensiver, und der Altar zeichnete sich deutlicher in der Dämmerung ab. Jem konnte seine Augen nicht davon lassen, und Rajal erging es genauso. Der Altar war mit grünem Filz gesäumt, und aus diesem Filz erhob sich ein gewaltiger Baum. Sein dicker Stamm, seine vielen Zweige und seine herabhängenden Blätter waren vergoldet, und von den Ästen hingen viele goldene Früchte. Ehrfürchtig sank Jem auf die Knie. Rajal hielt sich zitternd im Hintergrund an einem Pfeiler fest. Die Priesterin sprach mit einer feierlichen, gleichmütigen Stimme, als würde sie eine Lektion rezitieren, die sie schon oft, zu oft, gehalten hatte. Es war die Geschichte vom König und von der Königin der Schwerter, dieselbe Geschichte, die sie dem Mädchen im weit entfernten Agondon durch den Mund der Projektion »Tante Vlada« erzählt hatte. Wie sehr hatte es sie erschöpft, diese Projektion aufrechtzuerhalten!
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Fasziniert hörte Rajal die Legende in seinem Kopf widerhallen. Aber Jem achtete immer noch kaum auf die Worte, sondern starrte nur fasziniert und gebannt auf den goldenen Baum. Der schillernde Glanz, der von seinen Zweigen ausging, formte eine Art Aura, ein geisterhaftes Strahlen, das ihn in seine Umarmung zu locken schien. Zunächst zitternd, doch dann mit plötzlicher Kühnheit trat Jem vor. Im gleichen Augenblick ging eine bemerkenswerte Veränderung mit der Umgebung vor. Der grüne Glanz intensivierte sich zu einem diffusen Blitz. Einen Moment lang war Jem geblendet, doch als der Blitz abklang, fand er sich im strahlenden Sonnenlicht in der Nähe des Kammes eines grasigen Hügels wieder. Löwenzahn und Gänseblümchen wiegten sich sanft in der warmen Luft. Winzige Insekten surrten träge vorbei. Jem sah sich um. Es war ein Ort, an dem er schon einmal gewesen war, doch jetzt war er viel realer. Unter ihm lagen zwei große, halbkreisartige Ebenen. Fünf dicht bewaldete Hügel umgaben die Anhöhe, auf der er stand. Denn er befand sich nach wie vor an der selben Stelle, an der er eben noch gestanden hatte. Nur waren jetzt der Tempel, die Stadt und die Armeen verschwunden. Das Land war zu seiner ursprünglichen Unschuld zurückgekehrt. Vor ihm stand gebieterisch auf dem Gipfel des Hügels der Scheinbaum. Alles Gold war von dem Baum abgefallen, und er trug nur seine Rinde und grüne Blätter. Jem seufzte. Ehrfürchtig näherte er sich dem Baum. Hinter ihm stand Priesterin Ajl und sah zu. Sie erstrahlte wieder in ihrer verlo renen Jugend und Schönheit, aber ihre Gestalt war merkwürdig substanzlos, verschwamm und flimmerte, als wäre sie nur eine Luftspiegelung. In einiger Entfernung von ihr lag Rajal im hohen Gras. Er war von der Trägheit des schönen Tages angesteckt und be wegte sich nicht. Während der Szene, die sich jetzt abspielte, hatte er sogar Schwierigkeiten, die Augen offenzuhalten, und fühlte sich verloren in einem merkwürdigen und beunruhigenden Traum. Und während dies alles geschah, stand die Zeit still.
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Haras Festtag dämmerte hell über den Feldern von Ajl. Das Dröh nen der Trommeln begann beim ersten Licht. Dann ertönten die gebieterischen Rufe der Fanfaren, als Truppen, einige in Blau, andere in Grün, wieder andere in Rot, sich entlang des Randes von Ring und Rheen aufbauten. Ein erwartungsvolles Schweigen senkte sich über die Felder. Als erstes galoppierten einzelne Reiter ungestraft den Hügel hinauf und hinunter. Sie überbrachten Botschaften der beiden Kommandeure. Die ersten Schüsse fielen, als die Sonne ihre goldene Wärme über das Grün ergoß, das unter ihr lag. Dieses Jahr hatte die Jahreszeit der Viana sehr früh ihre Reife erlangt. Blätter sprossen ringsum auf den Hügeln. Auf den Feldern lugten Löwenzahn und Gänse blümchen durch das Gras, das bald zertrampelt und mit Blut ge tränkt sein sollte. Die Infanterie rückte zuerst vor. Tausende und aber Tausende junger Fußsoldaten, die mit aufgepflanzten Bajonetten vorrückten. Die ersten Gefechte wirkten noch prüfend, beinahe scheu. Aber schon bald verwandelten sie sich in ein blutiges Gemetzel. Die Ar meen erhoben sich wie gewaltige, fürchterliche Bestien nur langsam aus dem Schlaf, doch dann gewannen sie schnell an fürchterlicher Macht. Bald wird der goldene Sonnenschein von einem Nebel aus Rauch verdeckt. Und rasch lösen sich die ordentlichen Schlachtrei hen in Chaos auf. Hier erfolgt die Attacke des Mistgabelregiments aus Derkold, dort ertönt das Klirren von Stahl gegen Stahl, hier schwankt eine Lafette der Blauröcke, und dort rollt ein Heukarren brennend ins Tal. Und irgendwo in dem ganzen Durcheinander sind Gesichter, die wir kennen. Irgendwo kämpft der rechtmäßige König von Ejland und versucht, die Ehre wiederherzustellen, die er verlor. Irgendwo ist Orvik, der heldenhafte Tor, der in seiner goldenen Rüstung vor anschreitet. Irgendwo sind Hui, Bando, Zady, Zappelphilipp, Rotts und Sergeant Floss. Und mitten in dem ganzen Chaos befindet sich auch Cata.
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Langsam umkreist Jem den Scheinbaum. Jetzt erkennt er aus dem Augenwinkel Ring und Rheen ... Er ist sicher, daß sie es sind. Sie haben sich wieder verändert, sind jetzt ein großartiger Panther und ein wolliges Lämmchen. Sie warten in der Nähe, spielen und umkreisen sich und halten sich gerade außerhalb seines Blickfelds. Unter den weit ausladenden Zweigen sinkt Jem in die Knie. Er blickt hoch, in das grüne Blätterwerk. Dieser Moment scheint eine Bedeutung zu haben, eine so tiefe Bedeutung, daß es ihn für den Rest seines Lebens mit Verwunderung und Dankbarkeit erfüllen wird. »Jemany«, ertönt eine Stimme. Jemand hält ihm ein Pergament hin, ein Pergament, das über und über mit merkwürdigen Hieroglyphen bedeckt ist. Erst betrachtet Jem das Pergament, dann mustert er das Gesicht der Person, die es ihm hinhält. Aber er kann es nicht genau erkennen. »Harlekin?« fragt er. »Harlekin, bist du das?« Er sieht sich um, aber es ist ein träger, müßiger Blick. Ja, er sollte alle Weisheit dieser Welt erhalten, und der Harlekin sah zu. Wohl wollend und lächelnd. Ihm kam der Gedanke, daß er alles wissen würde, was er wollte, wenn er aufwachte, nachdem er hier eingeschlafen war, was so wunderbar einfach wäre. Mittlerweile hatte Rajal die Augen geöffnet. Er konnte die Gestalt nicht sehen, die das Pergament hielt, sondern nur Jem, der sich zum Schlafen zusammenrollte wie ein Hund und sich an den Stamm des Scheinbaums schmiegte. Aber nein, da war noch etwas. Etwas anderes. In den Zweigen er schien eine Reihe merkwürdiger Objekte. Es gab silberne Pokale, goldene Kisten und Kalebassen aus langen, gebogenen Hörnern; es gab Lauten und Violinen ... Einen Augenblick glaubte Rajal sogar zwei Sänger zu erblicken, die auf diesen Instrumenten spielten. Sicher, es war eine Illusion, aber ihm war so, als würde eine vertraute Melodie durch die Luft dieses magischen Hügels schwingen,
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wie der Duft des Grases und der Blumen. Rajal überkam plötzlich eine tiefe, unerbittliche Traurigkeit. Dieses Lied hatte er so oft gesungen, warum nur machte es ihn derart traurig? Er versuchte genauer hinzusehen, und zwischen den vielen Ge genständen, die unter dem Baum lagen, blieb sein Blick an den gol denen Truhen haften. Auf den Deckeln der Truhen waren mensch liche Gestalten abgebildet. Und langsam, verschwommen durch das hohe Gras, erkannte Rajal, um was es sich handelte. Er begriff es plötzlich. Ja, es waren die zenzalischen Stämme. Die erste Truhe trug das Zeichen der Federkiele, die anderen symbolisierten die Scheiben, die Stäbe und die Ringe. Aber es schien keine Truhe für die Schwerter zu geben. Dann sah Rajal das Gesicht, das durch den Baumstamm spähte. Der bohrende Blick, der gegabelte Bart! Es war der König der Schwerter, und er sah genauso aus, wie er auf den Karten abgebil det wurde! Der böse König rieb sich die langen Hände und be trachtete erfreut Jems hingestreckten Körper, der wie betäubt neben dem Scheinbaum lag. Plötzlich bekam Rajal Angst. Schlagartig verstand er - oder glaubte wenigstens zu verstehen. Es war ein Spiel, ein Spiel, das sie gewinnen mußten. Er konnte sich immer noch nicht aus dem Gras erheben, in dem er lag. Er rief die Priesterin, aber sie konnte nicht helfen. Sie war jetzt nur noch ein Gespenst, transparent und flackernd. Er sah zu Ring und Rheen hinüber. Aber die Gestalt wandler, die jetzt eine weiße Gans und ein roter Fuchs waren, jagten einander glücklich, hierhin und dorthin unter den ausladenden Zweigen. »Jem!« rief Rajal, einen Augenblick bevor ihm das Bewußtsein wieder schwand. »Jem! Die Truhen!« Mehr konnte Rajal nicht tun, aber es genügte, fürs erste. Jem rührte sich und hob den schweren Kopf. Was war das für ein Trick? Vor seinen Augen schwebte das Per gament, aber er sah jetzt, daß die Hände, die es hielten, lange, grau
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same Klauen waren, und von dem Gesicht darüber hing ein langer,
flammender, gezackter Bart.
»Der König der Schwerter!«
Es war eine chaotische Schlacht, und sie war ungerecht, aber nicht so ungerecht, wie manche geglaubt hatten. Die Generäle der Blauröcke waren übersättigt von ihrer Macht, faul und unaufmerksam. Sie verachteten die Zenzaner zu sehr, um zu glauben, daß die auch nur die winzigste reale Bedrohung darstellten. Folglich wurden ihre ersten Verteidigungslinien rasch durchbrochen. Sofort wurde dringend benötigte Verstärkung herangeschafft. Orviks Streitkräfte kämpften mit dem Mut der Verzweiflung. All ihre Hoffnungen ruhten auf dieser Schlacht, und die Männer glaub ten leidenschaftlich an ihre Sache. Es durfte keine Niederlage geben. Sie würden an diesem Tag durch die Tore von Wrax stürmen oder auf den Feldern der Ajl sterben. Im Kampf Mann gegen Mann waren Orviks Männer eindeutig überlegen. Aber all ihr Mut half ihnen nichts gegen eine Armee, die den Mangel an Glauben durch Masse, Ausrüstung und Ausbildung mehr als wettmachte. Kanone nach Kanone feuerte aus den Stellun gen der Blauen. Die Kavallerie von Ejard Blau stürmte vor. Trium phierend kamen die blauen Eroberer den Berg herab und schlugen die schäbigen Reihen der grünen und roten Angreifer zurück. Und hoch über der Schlacht läuteten die Tempelglocken in dem goldenen Turm. Jem packte das Pergament und zerriß es. Der König fluchte und verschwand hinter dem breiten Baumstamm. Jem sah den Berg hinunter. Außerhalb der breiten Äste lag jetzt alles wie im Nebel, aber am Rand seines Blickfelds erkannte er die goldenen Truhen und sah, daß die mit dem Symbol der Federkiele aufgesprungen war. Ein häßlicher Springteufel schwankte auf seiner Feder hin und her und grinste schwachsinnig.
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Aber jetzt hörte Jem eine Melodie, die von unsichtbaren Spielern vorgetragen zu werden schien, als ob der Wind die Instrumente, die vor Jem lagen, berührt hätte und das genügte, um eine Melodie zu erzeugen. Einen Augenblick hielt Jem es für ein fröhliches Lied, dann dachte er, es wäre ein trauriges, und ihm fielen Bruchstücke von anderen Liedern ein, die er kannte. He, ho, der Kreis ist rund... Lady fein, Lady schön, streicht mit den Fingern durch sein Haar... Während die Sonne hell und fröhlich schien... Dann kam die letzte, unausweichliche Modulation: Alles ist Zitrone, und nichts ist Limone... Ah, aber was bedeutete das, was konnte es bedeuten? Träu merisch hörte Jem hin, während Ring und Rheen um seine Knie strichen. Eigenartigerweise waren sie jetzt beide Wölfe. Er streichelte ihre Rücken, und sie leckten seine Hände. Mit gekreuzten Beinen saß Jem unter dem Baum und drohte erneut in einen Zu stand der Zufriedenheit abzugleiten, als etwas seinen Kopf traf. Plötzlich waren Ring und Rheen verschwunden. Oder? Vielleicht lag es an dem Schlag auf den Kopf, daß Jem jetzt das merkwürdige Gefühl hatte, er und auch Rajal wären irgendwie ge teilt. Es war fast so, als wären sie gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten. Immer noch spielte sich die Szene unter dem Scheinbaum ab, aber dahinter fühlte Jem eine andere Wesenheit, die wie ein Fluß unter oder über der Realität strömte, die er jetzt erlebte. In einer Ecke seines Verstandes sah er, wie die Wölfe die Flügel spreizten und losflogen. Sie stiegen hoch über den sonnigen Hügel. Aber jetzt waren es keine Wölfe mehr. Sie waren zu gewaltigen Vögeln geworden. Allerdings waren es Vögel mit Schuppen, wie Schlangen. Es waren Drachen, und Jem wußte, daß Ring und Rheen jetzt ihre höchste Inkarnation erreicht hatten. Dann sah er sich selbst, sich und Rajal, wie sie auf ihren Rücken ritten. Aber nein ... Nein. Jem saß immer noch unter dem Scheinbaum. War das auch
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ein Teil des Scheins, dieser närrische Traum? Er rieb sich den Kopf und blickte sich um. Dann erregte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Im Gras neben ihm lag ein Apfel. Aber es handelte sich um einen höchst bemerkenswerten Apfel. Er hielt ihn an die Lippen und leckte daran. Konnte das sein? Er hatte gedacht, daß die Vergoldung von diesem Baum gewichen war, aber dieser Apfel war aus Gold. Jem sah in die Zweige über sich. Erst dachte er, es wäre nur die Sonne, die durch das grüne Blätterdach fiel, aber dann kniff er die Augen zusammen und sah noch einmal hin. Ja, es stimmte! Alle Äpfel in dem Baum waren aus Gold. Jem sprang auf. Plötzlich erschien es ihm ungeheuer wichtig, diese goldenen Früchte zu besitzen. Er schüttelte die Zweige, aber die Früchte wollten nicht fallen. Er versuchte, den Stamm hinaufzuklettern, aber alle Äste waren zu hoch. Dann sah er sich hastig um. Die Priesterin war mittlerweile kaum noch zu erkennen, aber in dem Moment bemerkte Jem Rajal, der ihn ansah, ihn bestürzt ansah. Ra jal stand am Rand des Hügels in einer eigenen Dimension und ver suchte, aufrecht stehen zu bleiben. Aber die ganze Zeit schien ein wütender Wind an ihm zu zerren, ihn immer wieder zurückzuwerfen, ohne daß er sich dagegen wehren konnte. Der Wind spielte die Melodie von dem König und der Königin der Schwerter, und plötz lich hörte Raj al auf, sich zu wehren, und sang. Er fiel auf die Knie und krabbelte weiter, aber die ganze Zeit sang er, und die Melodie schwang mit seinen heftigen Atemstößen auf und ab. Alles ist Zitrone, und nichts ist Limone ... Erneut blickt Jem auf die Äpfel über sich. Ja, jetzt versteht er! Während der langen Epizyklen haben sich die Worte erheblich ver ändert, so wie sich die Geschichte des Ladenbesitzers verändert hat, wie das Zeichen der Münzen zu Scheiben wurde. Aber die Bedeu tung ist trotzdem klar, ist ihm jetzt vollkommen klar. Zitrone steht für gelb.
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Limone steht für grün. Aber es gibt keine grünen Äpfel in diesem Baum. Die Früchte, die sich Jem hier zeigen, sind nicht die, die er sucht. Sie sind unfruchtbar, tot. Er lacht triumphierend und hört wie hinter dem Baum stamm der König der Schwerter wütend flucht. Zu seinen Füßen springt der Deckel der Truhe auf, die das Zeichen der Scheiben trägt. Staub und Asche steigen daraus empor und bilden grünliche, rauchige Wolken. Nirry befindet sich sicher in den Mauern von Wrax und beobach tet die Schlacht aus einem Fenster des Wachhauses. Sie seufzt und ringt die Hände. Unter sich sieht sie nur eine Wolke aus Rauch, die hier und da von einem roten Glühen durchzuckt wird. Selbst hier ist der Lärm der Kanonen ohrenbetäubend und zerreißt wie Don nerhall die Luft. Der Raum hinter ihr ist voll mit anderen Armee frauen. Einige hocken bewegungslos da, andere gehen mit ernsten Mienen auf und ab oder spielen Karten. Mittlerweile sind alle Männer aufs Schlachtfeld befohlen worden. »Ach, Zappelphilipp!« murmelt Nirry leise. »Ach, Zappelphilipp, paß bloß auf deine Ohren auf!« Eine junge Frau neben ihr schluchzt. Vor einigen Augenblicken hat sie die Nachricht erhalten, daß ihr Verlobter tot ist. Er wurde auf einer Bahre vorbeigetragen, mit einer klaffenden Wunde auf der Brust. Jetzt scheint das Herz des Mädchens zu zerspringen. Sie bringt es einfach nicht über sich, zu der Leiche zu gehen. Alles, was sie tun kann, ist schluchzen und schluchzen. Alles, was Nirry tun kann, ist, sie in den Arm zu nehmen. Aber jetzt ertönen Hochrufe und Jubelschreie im Flur. Irgendwo knallt eine Tür. Man hört eilige Schritte. Die Kanonen weiter unten haben nicht aufgehört zu feuern, aber der Siegesschrei dringt be reits durch die Luft. »Sieg!« schreit eine fette Dame und wirbelt herum. Dabei ver schüttet sie Bier aus einem Krug. »Der Sieg ist sicher, sagt man!«
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Die fette Dame sieht ein bißchen aus wie Umbecca, und Nirry empfindet sofort eine gründliche Abneigung gegen sie. Die Umbecca-Doppelgängerin hopst freudig durch den Raum und versucht Nirry an die Hand zu nehmen. Sie hätte mit ihr getanzt, aber Nirry schüttelt nur ärgerlich den Kopf und schließt das schluchzende Mädchen fester in die Arme. Sieg? Was für ein Sieg? Doch trotzdem empfindet Nirry einen Anflug von Erleichterung, als sie daran denkt, daß ihr Zappelphilipp dann wieder sicher bei ihr sein wird. Aber was ist mit Miss Cata? Nirrys Erleichterung verpufft mit einem Schlag. Jem stolperte und würgte in dem Rauch. Einen Augenblick lang war er geblendet, doch als sich sein Blick wieder klärte, sah er einen Tisch, einen langen Tisch mit einem weißen Tischtuch, der für ein üppiges Bankett gedeckt war. Vorsichtig setzte sich Jem, und Rajal tat es ihm gleich. Sofort überfiel sie ein mörderischer Hunger. Sie blickten auf die Teller vor sich. Sie waren aus Gold, aber es lagen nur alte Knochen darauf, die schon sauber abgenagt waren. Sie fielen stöhnend hintenüber. Aber war es wirklich Hunger, was sie fühl ten? Jetzt schien es ihnen so, als wäre die Leere in ihnen etwas Tieferes, etwas Schrecklicheres. Tränen traten ihnen in die Augen. In der Luft klang immer noch Rajals Lied, und von irgendwo, wie aus der Dimension, die sie verlassen hatten, hörten sie immer noch das Läuten der Tempelglocken. »Willkommen, meine Freunde!« Sie blickten hoch. Am Kopfende der Tafel saß der König der Schwerter. Am Fußende seine Königin. Doch zwischen ihnen sahen Jem und Rajal viele vertraute Gesichter. Im Innersten wußten sie, daß auch dies wieder ein grausamer Trick war, aber die Gesichter vor ihnen waren so real, so lebendig. Der Wegelagerer saß da, Hui und Bando daneben, die Priesterin, Lord Empster, Tor und auch der Tor-Harlekin waren da und sogar der Harlekin der Silbermasken. Rajal sah die Große Mutter, Zady und auch Myla. Jem sah den
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Zwerg Barnabas, der auf einer besonderen Truhe saß; er sah Pellam und Lady Elabeth, er sah sogar seine Tante Umbecca, die gierig einen großen Brandypudding verschlang. Cata, Jeli und Landa saßen nebeneinander, redeten hinter vorgehaltener Hand und kicherten kindisch. Mit jedem Moment, der verstrich, kamen mehr Gäste, und der Tisch wurde anscheinend immer länger und länger. Und dennoch wurde er die ganze Zeit von den Zweigen des Scheinbaums beschattet. Um die Gäste kümmerten sich fünf vornehme Lakaien. Sie waren wie die gemeinen Karten in dem Tarot gekleidet, mit Schwer tern und großen Nummern auf ihren Wämsern. Das Gelächter, die Gespräche, das Gluckern des Weins, das Klirren der Bestecke, Kel che und Teller bildeten einen fröhlichen Kontrapunkt zu der Glocke, die unaufhörlich schlug. »Trinkt!« forderte sie der König der Schwerter jetzt auf. Er hatte seinen Platz verlassen, stand hinter Jem und hielt ihm einen Kelch hin. »Trinkt«, sagte die Königin der Schwerter und trat hinter Rajal. Sie sahen sich auf dem Tisch um. Er war beladen mit großen, saf tigen Hühnchen, mit Truthähnen, Gänsen, Schwänen, Mastschweinen, Rehbraten, Rinderhälften, Eutern in Sahne, Lungen, gespickt mit Zwiebeln, und Kuhmägen mit Rübenfüllung. Und alles troff vor Soße und Fett. Es gab große Kuchen, Torten und Küchlein, aber nichts davon wollten sie wirklich. Nichts davon konnte ihren Hun ger wirklich befriedigen. Jem und Rajal fühlten sich allein, schreck lich allein, obwohl alle, die sie einmal geliebt oder geschätzt hatten, an diesem Tisch bei ihnen saßen. Dennoch schien es so, als könnte keiner von ihnen, kein einziger, sie sehen, sie erkennen oder berühren. »Trinkt!« sagte der König der Schwerter. »Trinkt«, wiederholte die Königin.
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»Morvy, komm und sieh dir das an!« »Ich will gar nicht zusehen!« »Ach, nun komm schon!« »Crum, geh wieder ins Bett!« »Spielverderber!« Die beiden Freunde lagen im Krankenhaus von Wrax. In der ganzen Station standen alle, Schwestern, Ärzte und Patienten, an den Fenstern und bemühten sich, einen möglichst guten Ausblick auf die Schlacht zu bekommen, die weit unter ihnen tobte. »Spielverderber?« murrte Morven. Er hätte sicher einen langen Sermon über die Schlechtigkeit des Krieges vom Stapel lassen kön nen, über den Marsch der Verrücktheit, über die Unmenschlichkeit der Menschen den Menschen gegenüber ... und so weiter. Statt des sen begnügte er sich mit einem Seufzer. »Es ist vollkommen sinnlos«, meinte er, »Worte an einen Blödmann zu verschwenden.« »Du kriegst nicht jeden Tag eine Schlacht zu sehen, Morvy. Komm schon, hoch mit dir.« Morven schmollte. »Du hast leicht reden, Crum. Du hast schließ lich nur einen Arm in der Schlinge. Du vergißt wohl, daß einer von uns ein Gipsbein hat.« »Ach, der arme Morvy. Komm, ich helfe dir.« »Crum, hör auf!« Es nützte nichts. Crum war fest entschlossen, seinem Freund zu helfen. Mit seinem gesunden Arm schwang er Morvens Gips vom Bett. Morven hatte keine andere Wahl, als seinen Körper zu verdrehen. Sein Fuß schlug auf den Boden, und er schrie auf. »Ach, nun hör schon auf, Morvy Die Jungs da unten erleiden entschieden mehr Qualen.« »Es freut mich, daß du die Kosten des Krieges abzuschätzen
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weißt, Crum. Einen Augenblick dachte ich, du betrachtest das als ein reines Spektakel.« »Was meinst du? Ach so, dein Spekataku... Spec... deine Brille. Wie schade, daß sie zerbrochen ist, Morvy. Kannst du etwas sehen?« »Nicht viel«, erwiderte Morven mürrisch. »Eigentlich gibt es auch nicht viel zu sehen. Hauptsächlich Rauch.« »Nichts anderes?« »Doch. Mehr Rauch.« »Ah.« »Sag mal, ich habe ein kleines Buchregal im Schwesternzimmer gesehen. Vielleicht kann ich dir ja ein Buch holen, Morvy« »Ich habe doch eben gesagt, daß ich nichts sehen kann.« »Ich meine, ich könnte dir was vorlesen, Morvy.« »Crum, du kannst doch gar nicht lesen.« Crum war beleidigt. »Na gut, du kannst große Schilder entziffern. Aber ich glaube nicht, daß du ein Buch schaffst. Außerdem bin ich davon überzeugt, daß sie nur Schund haben. Bücher sind nicht alle gleich, Crum. Das wüßtest du, wenn du überhaupt etwas wüßtest. Nimm zum Beispiel Romane von Bartel Silverby Dieser Trivialautor würde das Schlachtfeld da unten als ein Feld des Ruhmes beschreiben. Reine Propaganda für die ahnungslose Jugend. Andererseits, ein Autor wie Garolus Vytoni zum Beispiel ...« Crum grinste. »Das kannst du wohl sagen!« »Was?« »Ich meine, ich mag diesen Vytoni.« Morven seufzte. »Ach ja? Den Einband? Oder den Bücher wurm?« Crum senkte die Stimme. »Ich meine, wir erleben doch schließ lich seinetwegen dieses Abenteuer, stimmt's nicht, Morvy? Ich meine, wenn er nicht gewesen wäre, dann hätten wir den Rebellen doch niemals geholfen, oder?«
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»Crum!« Morven war entzückt. »Ich glaube tatsächlich, daß dir langsam ein Licht aufgeht.« Crum grinste erneut. »Ich meine, Morvy, wenn die Rebellen nicht gewesen wären, dann lägen wir jetzt wohl kaum in diesem netten, warmen Krankenhaus, oder? Wir wären statt dessen da un ten auf dem Schlachtfeld und würden erschossen werden, da wett ich drauf. Der gute alte Vytoni!« »Ach, Crum!« Morven wollte noch mehr sagen, doch in diesem Augenblick gab es Unruhe unter den Zuschauern am Fenster. Einige schnappten nach Luft, andere schrien. Wieder andere wurden einfach nur ohnmächtig. Ein entsetzlicher Donnerschlag ließ die Wände erbeben, aber es war kein Donnern von Trommeln, Gewehren oder Kanonen. »Crum, was ist das?« Es dauerte eine Weile, bis Crum wieder sprechen konnte. Und dann zitterte seine Stimme. »Morvy, das würdest du nicht glauben! Zwei riesige ... Vogelwesen sind über die Felder geflogen.« »Vogelwesen?« »Aber riesig, Morvy.« »Riesig?« »Ich meine wirklich riesig. Es sind ... Drachen, Morvy!« Und der arme Crum konnte nichts mehr sagen, sondern nur zu sehen, wie die Monster über die Felder hinwegfegten. Eins war grün und das andere rot. Sie vertrieben mit ihren mächtigen Schwingen den Rauch und enthüllten, daß die Blauröcke und auch die Rebellen in alle Richtungen flohen. Ernst blickte Jem in den Trinkbecher, den man ihm vorhielt, und sah, daß er den schönsten, rotesten Wein enthielt, den er jemals ge sehen hatte. Eine starke Sehnsucht überkam ihn, und er berührte ihn mit der Zunge. Es war ein köstliches Gefühl. Wellen des Entzückens spülten über ihn hinweg, denn das war der süßeste Nektar,
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den er jemals gekostet hatte. Und dann wußte er plötzlich, mit ei ner an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit, daß all seine Einsamkeit verschwunden sein würde, wenn er von diesem Becher getrunken hatte. Dann würde er wirklich an diesem Bankett teilnehmen, das jetzt nichts weiter als eine Illusion war. Er wollte schon den Kopf in den Nacken legen und den Wein hinunterstürzen. Aber in diesem Moment flatterten zwei hungrige Spatzen - oder waren es Ring und Rheen? - auf den Tisch. Jem sah hin und stellte entsetzt fest, daß sich die Szenerie verändert hatte. Wie lange hatte er in den Becher gestarrt? Jetzt war das ganze prachtvolle Essen auf dem Tisch verrottet und verdorben, nur noch Beute für Kakerlaken und Würmer. Aber etwas anderes war noch viel schlimmer, entsetzlicher. Jem schrie auf, als er sah, daß die Gäste nur Kadaver waren, verwesende Leichname, die von Fliegen übersät waren und in der Hitze des Tages entsetzlich stanken. »Raj, nicht!« Jem beugte sich vor und schlug dem Freund im letz ten Augenblick den Becher aus der Hand, als der gerade benommen trinken wollte. Erschrocken fiel Rajal vom Stuhl und verschwand unter dem Tisch. Jem schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, saß er zwar immer noch an dem Tisch, aber der war mittlerweile abgeräumt. Das Essen, die Gäste und auch die bösen Gastgeber waren verschwunden, als hätte es sie niemals gegeben. »Raj?« Jem machte sich Sorgen um seinen Freund und wollte gerade vom Tisch aufstehen. Da bemerkte er, wie sich etwas Seltsames zu seinen Füßen abspielte. Stieg da Wasser hoch? Aber wie konnte das sein? Dann sah Jem, daß sich die Truhe der Stäbe geöffnet hatte und die rote, blutige Flüssigkeit, die er nicht hatte trinken wollen, wie aus einer Quelle daraus hervorsprudelte. Gleichzeitig bemerkte er noch etwas Erstaunliches: Ohne genau sagen zu können, wann das pas siert war, schien der Hügel, auf dem er eben noch gesessen hatte, plötzlich eine tiefe, brunnenartige Vertiefung in der Erde zu wer den. Und dieser Brunnen lief allmählich voll.
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Ehrfürchtig blickte Cata in den Himmel hinauf. Um sie herum herrschte heillose Verwirrung. Einige warfen vor Entsetzen sogar ihre Waffen weg, und andere liefen blindlings Pferden vor die Hufe. Eine Kanonenlafette hatte sich aus ihren Befestigungen gelöst, raste bergab und krachte gegen einen Wagen der Grünröcke. Plötzlich schienen alle auf den Feldern der Ajl von derselben Furcht gepackt zu sein, Blaue, Grüne, Rote - einfach alle. Nur Cata blieb ruhig ste hen. Sie achtete nicht einmal auf die blutigen Gestalten zu ihren Füßen. Und sie sah auch den Hengst nicht, der panisch austrat, weil sich die Lanze eines Soldaten in seine Flanke gebohrt hatte. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte sie ihm geholfen zu sterben. Genau sowenig beachtete sie den schwarzbärtigen Mann, einen wahren Riesen, der schon kalt auf dem Boden lag, eine zerbrochene Laute schief über der Brust befestigt. Zu einer anderen Zeit hätte dieses klägliche Bild sie selbst auf diesem Schlachtfeld gerührt. Cata hatte an diesem Tag tapfer gekämpft, obwohl sie nicht ge nau wußte, wofür sie eigentlich kämpfte. Sie hatte sich in das Lum penregiment eingereiht und war in der ersten Welle gewesen, die sich den Gewehren der Blauröcke entgegengeworfen hatte: Mit ei nem wilden Schrei - sie imitierte die Männer um sie herum - hatte Cata ihr Bajonett in den Bauch eines Blaurocks gerammt. Später, in ihren Träumen, würde Cata wieder das Gewicht an ihrer Muskete spüren, das sie nach unten gezogen hatte, als der Junge zusammenbrach. Später sollte sie sich auch an das erstaunte Gesicht des Jungen erinnern, mit Augen, die er unglaublich weit aufgerissen hatte, als ihm klar wurde, daß er starb. Wie das Blut gespritzt hatte, als sie die Klinge herauszog! Bald hatte Cata ihre zerlumpten Gefährten hinter sich gelassen und kämpfte statt dessen Seite an Seite mit einer anderen Gruppe. Unter ihnen befand sich ein Mann in Rot, der eine schwarze Maske über den Augen trug. Cata wußte nicht, um wen es sich handelte, aber sie spürte sofort, daß er ein Kommandeur war, wie auch der in
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Gold gerüstete Orvik einer war. Heldenhaft focht Cata, mitten in den Explosionen, den Schreien und dem Gebrüll, mit vom Rauch tränenden Augen für die Sache von Bob Scarlet. Neben ihr kämpf ten, ohne daß sie sie kannte, Hui, Bando und Zady, der arme Zady, der jetzt ein paar Meter von ihr entfernt tot dalag. Er war von den Pferden der Blauröcke getötet worden, als er eine Schar verängstigter Bauern retten wollte, die noch nie zuvor die Steppen von Derkold verlassen und nicht den Schimmer einer Vor stellung von einem Kavallerieangriff hatten. Aber all das war vergessen. Die Drachen wirbelten donnernd durch die rauchige Luft. Cata hob die Arme, als wollte sie nach ihnen greifen. Sie hatte keine Angst, denn ihr war sofort klargewesen, daß sie Verbündete waren. Der eine war grün, der andere rot, und sie waren gekommen, um die Schlacht für die Rebellen zu ent scheiden, und zwar in dem Augenblick, als alles verloren zu sein schien. Die Drachen flogen ein zweites Mal über das Feld, schwenkten dann um und nahmen Kurs auf Wrax. »Raj! Raj!« Aber Jem blieb keine Zeit, seinen Freund zu suchen, denn kurz danach schwamm er in der rauschenden roten Flut und bemühte sich, den Kopf oben zu halten. Seine Blicke glitten hierhin und dorthin, zu den grasigen Wänden des Lochs und dem blubbernden roten Wasser, zu den Zweigen des Scheinbaums, der jetzt hoch über ihm aufragte, fünfmal höher über seinem Kopf als zuvor. Dann streckten sich ihm Hände entgegen. »Jem! Rasch!« Es war Cata. Verzweifelt schwamm Jem auf sie zu. »Nova! Nein, hierher!« Plötzlich war Cata verschwunden. Jetzt rief Jeli ihm von der an deren Seite des Ufers zu. Dann war auch sie plötzlich weg. »Mej! Komm, ich helfe dir - Mej, bitte!« Es war Landa.
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»Jem! Jem!« Wieder rief Cata nach ihm. »Nova!« Jeli. »Mej!« Landa. Das blutige Loch war voll und lief über. Jetzt rutschten die drei Mädchen an dem glitschigen Ufer umher, erschienen und verschwanden, mal gleichzeitig, mal nacheinander, und alle streckten ihm die Hände entgegen. Erschöpft und verzweifelt hätte Jem jede Hand gepackt, die er hätte erwischen können, aber etwas sagte ihm, daß diese Prüfung wichtig war, mehr als nur eine Frage des Überle bens. Cata war seine Liebe, seine einzige wahre Liebe: Er mußte sie er wählen, oder er war verloren. Manchmal streckten sich ihm zwei Hände gleichzeitig entgegen, manchmal nur eine, manchmal keine. Als Jem schließlich endgültig in den roten Fluten zu versinken drohte, streckten sich ihm gleich zeitig drei Hände entgegen, die von Cata, von Jeli und von Landa. Er wappnete sich, bereit, für immer zu versinken, aber sein Selbsterhaltungstrieb war zu groß. Mit letzter Kraft streckte er die Hand aus und ergriff eine Hand, ohne zu wissen, welche es war. Es war die von Cata. Catas Arme vibrierten wie gespannte Taue, und Tränen rannen ihr über das gefühllose Gesicht. Vorher hatte ihr der Rauch die Tränen in die Augen getrieben, jetzt war es das goldene, helle Sonnenlicht - und das scharfe Glitzern der Schuppen und Klauen. Sie bemühte sich, die Drachen nicht aus dem Blick zu verlieren, denn sie sehnte sich mit jeder Faser ihres Körpers nach ihnen. Selbst jetzt wußte Cata, daß diese Kreaturen nicht wirklich existierten, nicht in dieser Dimension. In Wahrheit, das spürte sie, wa ren sie Projektionen einer anderen Schlacht, einer, die entscheidend für das Ergebnis dieser Schlacht war. Und sie wußte, daß die Drachen ein Geheimnis trugen, ein Ge heimnis, das sie in Erfahrung bringen mußte.
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Dann wurde es ihr klar. Durch den blendenden Sonnenschein er haschte sie einen kurzen Blick auf die Reiter, die sich mühsam auf den schuppigen Rücken hielten. »Jem!« rief Cata. Natürlich konnte das Jem-Phantom sie weder hören noch ihre winzige Gestalt von so weit oben erkennen, aber als Cata den Na men des Geliebten rief, strömte mystisches Wissen in ihr Herz. Sie verband ihren Verstand mit denen der Metamorphe, erfuhr auf ei nen Schlag ihre Geschichte und damit auch die von Jem. Welch eine Enthüllung! Es war eine Vision! Es war das Zeichen, das ihr der Harlekin versprochen hatte.
Die Prüfung war vorüber, jedenfalls schien es so. Plötzlich befand sich Jem wieder auf dem grünen Hügel. Hinter ihm verschwand das blutige Loch im Nichts, seine Kleidung war trocken, und alles war so wie zuvor. Fast. Jemand lag neben ihm. Es war Cata. Die Cata, wie sie im Wildwald gewesen war. Jem traten Tränen in die Augen. Er umarmte sie zärtlich und dann leidenschaftlich, und dann küßten sie sich. Während sie sich küßten, sang jemand eine langsame, melancholische Melodie. Ein Mann mag eine Lady lieben, Gekleidet in feinste Seide und Spitze, Aber wenn sie ihn nicht auch liebt, Dann sind alle seine Mühen vergeblich ... Feine Ladies, schöne Ladies Glätten seine sorgenvolle Stirn, Aber ist er sich auch sicher, daß sie ihn wirklich verstehen?
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Rajal trug wieder Pagenkluft und saß neben dem Scheinbaum. Er zupfte eine Laute, die bis jetzt unbeachtet unter den Ästen gelegen hatte. Neben ihm dösten friedlich ein Löwe und eine Antilope. Jem achtete nicht auf sie. Ehrfürchtig streichelte er Catas Brüste, ihre Schenkel. Das Mädchen reagierte leidenschaftlich. Jede Faser von Jems Körper vibrierte, als sie über seinen Rücken strich, mit den Händen zwischen seine Schenkel glitt, seinen Bauch streichelte und seine Brust. Seine Brust. »Narr! Du willst die Schätze des Scheinbaums plündern?« Plötzlich verwandelten sich ihre zärtlichen Hände in Fäuste, die an dem Beutel zerrten, den er um den Hals trug. Jem schrie auf, aber es war schon zu spät. Mit einem Ruck, der eine ungeheure Qual in Jem auslöste, riß die Königin der Schwerter, denn niemand anders war es, den Kristall des Koros los und schleuderte ihn verächtlich zur Seite. »Nein!« Das war Rajals Stimme. Er packte den Kristall, als er bergab rollte. Zwar verbrannte er ihm die Hände, aber er hielt ihn fest und wollte ihn nicht loslassen. Die Königin schrie auf. Sie drehte sich zu ihm um und griff ihn wie eine wilde Bestie an, doch Rajal wollte nicht nachgeben. Jem eilte seinem Freund zu Hilfe. Er ergriff eine der großen, schweren Kalebassen, die unter dem Baum lagen, und holte weit aus. Die Königin schrie auf und stolperte, als Jems Hieb sie traf. Er schlug erneut zu. Die Krone flog ihr vom Kopf und rollte davon. Sie griff danach, aber Rajal stand ihr im Weg und hielt den Kristall fest umklammert. Die Königin kreischte, und die Truhe der Ringe sprang auf. Es war wieder ein Springteufel darin, und er schrie ebenfalls. Seine kleinen Augen glühten wie Meteore, als er schrille, mißtönende Laute ausstieß, die die Luft zu zerreißen schienen. Er beschwor das Chaos, aber Rajal blieb standhaft. Zwischen seinen Fingern zuckten machtvolle Strahlen hervor. Die Königin sah sich verwirrt um
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und fluchte. Der Stamm des Scheinbaums blähte und kräuselte sich. Jem schwang die Kalebasse erneut, und diesmal riß der Schlag ein großes Loch in den Hals der Königin. Die fürchterliche Wunde sta chelte ihre Wut nur noch mehr an. Ihr Kopf schwang weit zur Seite, als sie vorsprang und Rajal zu Boden stieß. Aber auch jetzt ließ er den Kristall nicht los. Jem hätte die Königin erneut geschlagen, doch in dem Moment trat ihm der König in den Weg. Er schwang ein ungeheures Breit schwert in einer Hand. In der anderen hielt er noch eines, das er Jem zuwarf. Jem stolperte und hatte Schwierigkeiten, selbst mit beiden Händen die eiserne Last aufzuheben. Mit einem grollenden Schrei stürzte sich der König auf ihn. Jetzt näherten sich die Drachen der Stadt. Die Grünen, die Roten und die Bauern sammelten sich wieder um ihre Standarten und ju belten diesen erstaunlichen magischen Verfechtern ihrer Sache zu. Auf den Feldern klangen ihre mächtigen Schwingen wie Sturm, der stärkste Sturm, der jemals die uralten Mauern von Wrax erschüttert hatte. Auf den Zinnen legten die Eroberer die Waffen nieder. Einige warfen sich zu Boden, andere flehten den Himmel um Hilfe an. Es ist vorbei. Die Schlacht ist gewonnen. Doch in dem Augenblick gebiert die Luft einen neuen Schrecken. Denn plötzlich fegt ein dritter Drache aus einer Wolke am Himmel heran. Er ist noch mächtiger als der grüne und der rote! Dieser Drache ist blau. Cata schreit auf, denn sie erkennt diesen Drachen sofort, dank der Kräfte, die sie aufs neue durchströmen, und sie kennt auch sei nen Reiter. Es ist Polty, der aus den Klauen des Vichy wiederauferstanden ist. Seine Haut ist blau, und sein Haar glüht wie Flammen. In seiner Hand trägt er eine lodernde Brandfackel, und sein Mund ist weit offen, entblößt schreckliche Hauer. Poltys Brüllen vermischt sich mit dem Grollen seines Drachens, als er sich auf die Felder unter ihm stürzt.
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Während das Klirren des Stahls ertönt, erkennt Jem im Unterbe wußtsein, daß es mit dem Schlagen der Tempelglocken zusammenfällt, deren Läuten immer noch die Luft erfüllt, obwohl er sie nicht sehen kann. Der König und er treiben sich rund um den Scheinbaum, während die Königin genausowenig nachgibt wie Rajal. Sie beißt und tritt, aber nichts bringt ihn dazu, die Hände zu öffnen. Rajal fühlt, wie seine Haut verglüht, und sein Körper zuckt und dreht sich in den Klauen der Macht. Die Zähne hat er zusammengepreßt, und seine Augen sind weit aufgerissen. Er dachte nicht nach und erinnerte sich an nichts, aber nach die sem Tag sollte sich Rajal niemals mehr schämen, ein Kind des Koros zu sein. Es war sein Schicksal, und zwar ein ruhmreiches, für das er, wie er jetzt weiß, von seinem Gott auserwählt wurde. Der Kristall wirkt in ihm und ruft nach seinem Schwester-Kristall, der in dem Baum verborgen ist. Der Baum bläht sich immer heftiger. Die Zweige verdrehen sich und winken wie Finger von Hunderten verrückter Hände. Grünes Licht zuckt knisternd aus den Blättern. Jetzt flattern tausend Regenbogentauben aus den Zweigen, und der Lärm ihres Flügel schlags ist ohrenbetäubend. Jetzt fallen die Blätter und die goldenen Äpfel zu Boden. Sie zischen wie Kanonenkugeln durch die Luft. Ring und Rheen jagen sich kreischend und fauchend um den Baum und verändern bei jeder Umrundung ihre Gestalt. Schwein, Bär, Adler, Elefant und dann alle Arten von mutiertem Grauen: eine geflügelte Schildkröte, ein Lufthai, ein zweiköpfiger Affe, ein Kamel mit Federn und einem Vogelschnabel. Die Schwerter klirren immer noch gegeneinander, und der Kampf wird immer schneller, als Jem fühlt, wie seine Kräfte wachsen. Er schlägt und hackt auf den bösen König ein. Der Himmel über dem Hügel ist dunkel, dann wieder hell, und dann fegt ein hef tiger Sturm über ihn hinweg. Jem blickt den Abhang hinab und sieht plötzlich die Armeen auf den Feldern der Ajl. Kanonen schießen, Musketen feuern, und er hört die Schreie und das Ge-
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brüll, wenn Bajonette zustechen. Jetzt nimmt Jem dieses Geschehen genauso real wahr, wie er auch seinen eigenen Kampf erlebt. Dann begreift er, daß diese beiden Schlachten in Wahrheit eine sind: Denn indem er den König der Schwerter bekämpft, ringt er auch gegen die Bedrohung der Blauröcke. Die beiden ersten Drachen sind nichts gegen dieses Monstrum. Nur durch ihre reine Existenz, ihre Macht, haben der grüne und der rote Drache Furcht in die Herzen der Soldaten gesät. Als der blaue Dra che jetzt über den Rand des Rheen fegt, speit er gewaltige Feuer teppiche aus. Orviks Armee ist in wenigen Augenblicken vernich tend geschlagen. Und Momente später fühlt auch Cata die glühende Hitze. Was jetzt folgt, ist ein Kampf, der gräßlicher ist als alles andere, was an diesem Tag stattgefunden hat. Die Schreie von brennenden Menschen gellen wie das Kreischen der Verdammten über die Fel der, die im Reich des Nichtseins eingeschlossen sind. Die Rebellen fliehen, die Grünen, die Roten und die Bauern gleichermaßen, sie alle haben jede Hoffnung fahrenlassen. Es scheint, als würden die Götter selbst Ejard Blau zur Seite stehen. Denn obwohl der grüne und der rote Drache zu Hilfe kommen - sie sind zu schwach. Und dem Untergang geweiht. »Nein!« schreit Cata, aber ihre Stimme geht unter. Dann plötz lich verliert sie ihre Macht, und auch ihr bleibt nur noch die Flucht. Doch für einen Moment, während die Flammen um sie herumzi schen, gleitet ihr Blick zu dem grünen Drachen. Verzweifelt preßt sie die Hände auf ihr Herz und läßt ihre Liebe in einem Strahl zu Jem wandern. Sie explodiert mit all ihrer Macht und Sehnsucht um ihn herum. Noch nie hat sie ihn leidenschaftlicher, inniger geliebt. Doch es scheint sinnlos. Sie hat ihn wieder verloren. Vielleicht ist es nur eine Täuschung der glühenden Sonne, aber es scheint so, als würden die Drachen von Jem und Rajal verblassen und wieder in ihre eigentliche Dimension zurückkehren.
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Es endete unvermittelt. Rajal bäumte sich auf und schrie mit der Intensität seiner Kristall-Macht. Er stieß die Königin von sich weg, und ihr Kopf, der schon gefährlich hin und her geschwungen hatte, löste sich von ihrem Hals. Schnell trat Rajal darauf, zertrat ihn wie eine Kakerlake, und ihr Körper fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Das Innere der Königin war voll mit Kakerlaken, Maden und verwesendem Fleisch, gefüllt mit all der Boshaftigkeit, die auf der Festtafel gelegen hatte, der Tafel, die zunächst einen so schönen Eindruck erweckt hatte. Im Augenblick des Todes seiner Königin schrie der König auf, als wäre ein Teil von ihm ebenfalls gestorben. Das war Jems Chance. Er sprang vor und stieß sein großes Schwert durch die Brust des Kö nigs. Der Schrei, den er daraufhin ausstieß, war so jämmerlich, wie Jem noch nie einen gehört hatte. Ein Schrei, so kummervoll, als wäre die Welt selbst zerstört worden. Ungläubig sank der König zu Boden und starb, Seite an Seite mit seinem niederträchtigen Weib. Aber die Mächte des Bösen waren an diesem Tag zu stark. Nur eine der Schlachten konnte gewonnen werden. Cata blieb nicht mehr die Zeit, weiter zuzusehen, denn Polty stürzte sich wieder auf die Reihen der Fliehenden, um sein Werk zu beenden. Nur noch eine Gestalt wehrt sich mutig gegen ihn, nur einer ist nicht geflohen. Es ist Orvik, der heilige Prinz, der mit gezücktem goldenem Schwert auf die Felder stürzt. Endlich ist seine Stunde gekommen: Er wird den Drachen besiegen. Leider wirkt Orvik gegen den Drachen nur wie ein kleiner, goldschimmernder Käfer. Orviks Schlachtroß bäumt sich auf. Das Schwert zischt durch die Luft. Aber ein kurzes Zucken der Drachenschwinge zermalmt die letzte Hoffnung Zenzaus. Orvik segelt in einen Dornbusch und
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bricht sich das Rückgrat. Dann setzt der Drache den Dornbusch in Brand, und der Prinz wird in seiner goldenen Rüstung geröstet. Die Schlacht ist vorbei. Im nächsten Moment war auch das Chaos in der Luft zu Ende. Es war wieder ein schöner, heller Tag, und Jem und Rajal standen un ter dem Scheinbaum. Jem sah Rajal an: Sein Freund trug wieder die Uniform der Blauröcke, aber irgendwie, auf eine unerklärliche Weise, schien er sich verändert zu haben. Dann fühlte Jem einen Verlust, eine Leere in seinem Herzen. Er griff nach dem Kristall des Koros, aber in dem neuen Frieden, der die Szenerie erfüllte, war der Kristall nicht wieder an seine alte Stelle zurückgekommen. Jem überkam eine Ahnung, als er zu Rajal trat und an dessen Brust ertastete, was sich hinter dem blauen Rock verbarg. Rajal trug den Kristall des Koros um den Hals. Besorgt blickte Jem Rajal in die Augen. Doch Rajal starrte nur auf den Scheinbaum. »Jem«, flüsterte er. »Sieh doch!« Jem drehte sich um, und voller Freude sah er die hohe, klaffende Öffnung in dem Baumstamm und darin das Geheimnis, den grünen Stein, den zu finden er nach Zenzau gekommen war. Er streckte die Hand aus und nahm den schimmernden Preis in die Hand. Über rascht rang er nach Luft, als im gleichen Augenblick der uralte Baum verwelkte und zu Pulver zerfiel, das in die Luft stieg und ein Bildnis formte, das er schon einmal gesehen hatte. »Heilige Viana.« Jem sank auf die Knie und hielt den Kristall wie eine Opfergabe hoch. »Schwester meines Gottes.« Rajal folgte Jems Beispiel. Lange verharrten sie ehrfürchtig auf den Knien, die Köpfe ge senkt und die Augen geschlossen, und als sie sie wieder öffneten, sahen sie, daß der ursprüngliche vorzeitliche Hügel verschwunden war und sie sich wieder in dem Tempel befanden, wo das Abenteuer begonnen hatte, vor dem Altar mit dem goldenen Baum.
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Liebste, teuerste Mazy: Wie könnt Ihr mir nur so unrecht tun? Habt Ihr denn wirklich angenommen, ich würde Eure Leiden nicht beachten? Ach, ich fürchte, Ihr habt Eure alte Consy vergessen und Eure Worte nur an einen Namen, einen Schatten geschickt! Denn wie sollte mein Herz nicht im gleichen Rhythmus wie Eures schlagen, wenn ich an Euch denke, die Ihr in diesen weit entfernten Regionen lebt und Euch dem Zorn der barbarischen Horden gegenüberseht? Dann, fürchte ich, wallt Ärger in mir auf, und ich verfluche den Ehemann, der eine so feine Blume ausreißt, um sie in der Einöde der Kolonien wieder in die Erde zu pflanzen. Verzeiht mir, meine Liebe, aber mein eigener, verstorbener Lord war, wie Ihr ja richtig angedeutet habt, nur ein Geck. Ich danke dem Herrn Agonis, daß er in seidenen Laken starb, seine Hand verschränkt mit meiner, und nicht in einem blu tigen Gemetzel weit weg von der Heimat! Wenn Ihr dies lest, dann dürfte Zenzaus Schicksal wohl besiegelt sein. Alle hier in Agondon (denn natürlich sprechen wir darüber) sind siegessicher und sehen keine Chance für den Grünen Thron prätendenten. Warum also blicke ich so beunruhigt in die Zukunft? Vielleicht liegt es ja nur daran, daß ich alt werde und der Schatten auf meinem Weg der Schatten meines eigenen Todes ist. Doch oft glaube ich, es ist mehr als das, und ich vermute, daß sich etwas in den Zeiten selbst geändert hat. Nur noch einige Jahreszeiten tren nen uns vom tausendsten Zyklus (wie weit entfernt schien der, als wir noch Mädchen waren!). Aber sollte ich ein Omen in dem Kalender selbst erblicken? Ich habe immer die Primitiven unseres Glaubens verspottet, die vom Ende der Zeit des Sühneopfers fasel ten. Doch jetzt finde ich, fast selbst eine Primitive, überall um mich herum Vorzeichen eines Endes.
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Während ich das schreibe, blicke ich aus dem Fenster meines Hauses auf das bewegte Wasser des Riel. Es ist Abend, und die Strahlen der untergehenden Sonne färben den Fluß golden. Aber Jahreszeiten gehen schnell vorbei: Schon bald wird es in der Stadt unerträglich heiß sein, und der Fluß wird sich zurückziehen wie eine Haut und die stinkende Schwärze darunter enthüllen. Darin, so fürchte ich, in diesem Schwarz unter dem Gold, sehe ich ein Sinnbild unseres Reiches und seines Schicksals. Doch es gibt zahllose Sinnbilder für die, die sehen wollen. Erst letzten Monat, nach den schweren Regenfällen, gab es heftige Über schwemmungen in Agondons Neustadt. An einem Tag wurde die Davalon-Straße überschwemmt. Schrecklich, sagten viele, aber purer Zufall. Dennoch, als ich an diesem Tag über den Fluß blickte, dachte ich unwillkürlich, daß die Neustadt schließlich auf einem Sumpf erbaut wurde und daß vielleicht die Zeit käme, daß dieser Sumpf sich das zurückholte, was er verloren hatte. Und es gibt auch Neuigkeiten aus Varby Dieses Jahr hätte ich Tishy gern dorthin gebracht (verzeiht einer liebenden Mutter, wenn sie einfach nicht mit ihren fruchtlosen Bemühungen aufhören kann). Doch das ist jetzt unmöglich, und wir müssen zu Freddy Chayn reisen. Unglaublich, daß die Seuche die schönste unserer Städte ausgelöscht haben soll! Man sagt, es käme alles von den Hü geln von Holluch herunter, obwohl niemand genau erklären kann, wie und warum das geschieht. Aber was sage ich? Teuerste Mazy, ich werde Euch damit nur traurig stimmen, eine armselige Rückzahlung für die Freude, die mein Herz erfüllte, als ich von Eurem Traum las, daß wir wieder Mädchen wären und in Musselin gehüllt durch die Löwenzahnund Gänseblümchenwiesen tanzten! Vergebt einer alten Frau, die allein dasitzt und auf einen Fluß bei Sonnenuntergang blickt. Ihr stellt Euch vor, daß sie im Mittelpunkt einer fröhlichen Runde säße, aber diese letzte Saison war sehr traurig für sie. Sie hat unter den Nachwirkungen dieser Angelegenheit mit Feval gelitten. (Ich kann
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nur hoffen, daß ich diesen Menschen niemals mehr wiedersehen werde!) Ihr teurer Freund Lord Empster ist weggegangen. Ihre Tochter hat ihre Studien aufgenommen. (Ich fürchte, daß sie eine dieser »Grünstrümpfe« wird!) Und es hat einige tragische Todes fälle gegeben, Menschen, die ihr nah genug standen, auf daß sie um sie trauerte. Ihr habt sicherlich von dem armen Lord Margrave gelesen? Ich habe Elsan bei mir aufgenommen, weil ich fürchte, daß sie kaum allein durchkommen wird. In Wahrheit habe ich nie ge ahnt, wie sehr sie ihren Ehemann geliebt hat, bis die Nachricht ein traf, er sei tot. Dann gibt es noch Sir Pellion ... der erst seine Enke lin und dann ihren Bruder verlor! Ich fürchte, er wird niemals wieder unter Menschen gehen können. Aber genug: Ihr seht, ich bin melancholisch, und ich kann mich leider zu keiner anderen Stimmung aufraffen. Ich wollte Euch mehr schreiben und auch fröhlichere Dinge berichten. Teuerste Mazy, ich werde es bald wiedergutmachen. Man munkelt von einer königli chen Hochzeit, also seht Ihr, daß bald über neue Aufregungen zu berichten sein wird. Ich habe lange über Eure Bemerkungen über Vlada Flay gerät selt. Es seid tatsächlich Ihr, meine Teuerste, die sich irren muß. Denn dieses Geschöpf hat sich ganz gewißlich während der letzten Saison in Agondon unter uns getummelt. Das ist eine weitere Bürde, die ich zu tragen habe. Ich bleibe, meine Teuerste, Jetzt und immerdar Eure liebende Herzensschwester Constansia Postskriptum: Oh, meine Teuerste! Ich wollte gerade diesen Brief versiegeln, als Elsan mit bestürzenden Neuigkeiten in mein Zimmer kam. »Die Metze ist tot!« rief sie. »Metze?« fragte ich. »Ja, Constansia, Ihr wißt doch, wen ich meine. Diese Hure Vlada Flay!« Elsas Stimme
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klang triumphierend, aber leider (sehr zu ihrer Überraschung) war ich plötzlich in Tränen aufgelöst. Ich habe Vlada Play oft verabscheut, aber jetzt denke ich, daß sie (trotz all ihrer Fehler) doch eine von uns war. Und nun ist auch sie dahingegangen.
41. Ende und Anfang Es war Abend, der Abend nach der Schlacht. Die Sonne ging unter, und grünliches Licht drang durch die hohen Fenster des Tempels und flackerte wie kalte Flammen über den Scheinbaum, der jetzt nur noch eine Hülle war, ein Kadaver von etwas, das gestorben war. Draußen ordnete sich die Welt wieder oder nahm vielmehr eine neue Ordnung an. Auf den Feldern der Ajl waren die Bahrenträger fleißig am Werk. Die Leichenkarren, die über schlammige Wege fuhren, waren bald voll mit Toten. Später würde man am Waldrand große Gruben ausheben, bis, wie manche sagten, die Stadt selbst ein Grabmal war, das über einem Ring von Gräbern thronte, der es umgab. Die Schlacht von Ajl würde bald zur Legende werden, oder viel leicht war sie es schon jetzt, denn nur wenige konnten sich genau daran erinnern, wie sie geendet hatte. Und wenn doch, sollten sich ihre Erinnerungen rasch verwischen. Am nächsten Morgen, wenn sie von der Siegesfeier erwachten, sollte sich so mancher Blaurock fragen, ob er nicht nur einen merkwürdigen Traum gehabt hatte. Die Verlierer murmelten düster von Zaubereien der Blauröcke. Später, wenn immer noch welche von Drachen sprachen, würde man diese Drachen als Symbol nehmen, ein Symbol für die Wildheit der Schlacht an diesem Tag. Nirry zum Beispiel würde sich an wenig erinnern. Allerdings
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hatte sie auch ganz andere Dinge im Kopf. Als Nirry später am Tag ihren Zappelphilipp wiederfand, öffnete sie eine Börse mit GoldTirals. Es waren all ihre Ersparnisse, die sie die ganze Zeit unter ihren Röcken getragen hatte. Es war nicht viel, gemessen an der Arbeit, die sie dafür geleistet hatte. Aber Zappelphilipp traten fast die Augen aus dem Kopf. Er hatte noch nie soviel Geld auf einen Hau fen gesehen und fragte sich, ob Nirry ihre Herrin vielleicht beraubt hatte. Allerdings wagte er es niemals, diese Frage laut zu stellen, weil sie ihm nämlich zu seiner Verblüffung fünf Tirals in die Handfläche zählte. Und während sie ihren Ehemann ernst ansah, erteilte sie ihm den ersten einer Reihe von Befehlen, die den Rest seines und ihres Lebens beherrschen sollten. »Hör mir zu, Zappelphilipp Olch, Korporal hin oder her, das ist mir egal. Du bleibst keine Minute länger in dieser Armee. Du gehst jetzt sofort zu deinem Kommandeur und kaufst dich frei. Wir rei sen morgen nach Ejland zurück und eröffnen dort unsere eigene kleine Taverne.« »Taverne?« meinte Carney Floss grinsend. Er hatte beschlossen, sich mit dem jungen Paar anzufreunden. Nirry drehte sich zu ihm um. »Ich sage Euch gleich, daß es ein anständiger Ort wird. Weiche Betten und meine gute Küche. Und ich sage euch beiden eins ...« Sie deutete auf das Schlachtfeld. »Wenn einer von euch Männern auf die Idee kommt, eine Schlacht in meinem Haus anzuzetteln, dann hole ich meinen besten Besen, das tu ich, und prügle euch grün und blau!« Von denen, die heute auf dem Schlachtfeld gekämpft hatten, würden sich nur fünf an die Wahrheit erinnern. Der erste war ein junger Überlebender der Rebellen, der gerade noch rechtzeitig vor dem blauen Drachen weggelaufen war. An die sem Tag hatte der Rebell ein Zeichen gesehen, aber dieses Zeichen war unvollständig. Wohin um alles in der Welt sollte unser junger Rebell sich wenden? Zunächst einmal hatte er es allerdings eilig,
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den Blauröcken zu entkommen. Als Bob Scarlets Bande in dieser Nacht in die Wälder zurückkehrte, fehlte einer. Aber Zadys Platz wurde von dem neuen Freund eingenommen, den sie an diesem Tag gewonnen hatten. Wolveron, hatte er gesagt. Nennt mich Wolveron. Dann war da Landa. Verzweifelt hatte sie am Ende versucht, ihren Orvik daran zu hindern, in die Schlacht zu ziehen, da ja alle Hoffnung verloren war. In dieser Nacht wand sich Landa vor Trauer. Doch selbst da sah sie ihren Weg klar vor Augen. Obwohl sie die Erinnerung an Orvik ehren und ihn immer lieben würde, würde sie ohne ihn vielleicht eine bessere und stärkere Frau werden. Orvik hatte versprochen, sie zu seiner Königin zu machen. Nun, jetzt würde sie sich selbst zu etwas machen, vielleicht sogar zu etwas mehr ... Am nächsten Morgen wollte sie in die Wälder zurückgehen und die Gottesdienste fortsetzen — so, wie es ihr die Prieste rin gezeigt hatte. Landa wußte, daß es ihre Bestimmung war, Ajls Platz einzunehmen und den wahren Glauben von Vianas Anhän gern lebendig zu halten. Dann waren da noch die drei Reiter der Drachen. In dieser Nacht fand sich Polty in der Kaserne wieder. Er mußte außerdem feststellen, daß er das Objekt von Bewunderung, ja sogar von Ehrfurcht war. Und das lag nicht an seiner blauen Haut oder seinem flammenden Haar. Denn beides war verschwunden. Polty sah genauso aus wie vorher, nur strahlten vielleicht seine Augen et was heller. Aber er hatte keine Zeit, sich im Spiegel zu betrachten. Alle wollten ihm unbedingt die Hand schütteln. Offiziersfrauen, selbst die prüdesten, warfen sich ihm ungeniert an den Hals. Auf den Schultern von Angehörigen seines Regiments wurde Polty im Triumph über den Exerzierplatz getragen. Hochrufe erschollen, Lieder, und sogar sein Regimentskommandeur suchte ihn auf. Noch bevor der Abend vorbei war, stand der junge Hauptmann Veeldrop, der Held des Tages, vor Lord Michan, dem Gouverneur von Zenzau.
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Nun war Lord Michan selbst einer der größten Helden Ejlands. Im letzten Krieg hatte Michan Wrax eingenommen, nach den ver geblichen Bemühungen von Poltys entehrtem Vater. In dieser Stadt, so erzählte Michan Polty, war der Name »Veeldrop« nur als Fluch ausgesprochen worden. Damit war es jetzt vorbei. Er hatte gehört, daß der junge Veeldrop ein ungebärdiger Kerl sei. Wenn das stimmte, dann sei ihm alles vergeben. Hatte sich denn jemals ein Mann triumphierender gerechtfertigt? Geziert breitete der Gouverneur die Arme aus, um diesen vor nehmen jungen Mann zu umarmen, der nicht nur die Stadt gerettet, sondern auch den Namen seiner Familie reingewaschen hatte. Was Jem und Rajal angeht, verweilen wir noch ein wenig im Tem pel. Als die beiden Freunde sich vom Altar erhoben, schlugen die Glocken über ihnen noch ein letztes Mal. Da fiel ihnen auf, daß das Läuten niemals aufgehört hatte, kein einziges Mal während ihres ganzen phantastischen Abenteuers. Sie blickten die Treppe zum Glockenturm hinauf, die sich von der Seite des Altars in einer engen Spirale nach oben wand. Jetzt hörten sie das Poltern von Schrit ten. Jem und Rajal warfen sich einen Blick zu. Das Sonnenlicht fiel auf die Gestalt, die mitten auf der Treppe über ihnen innehielt. Jem kniff die Augen zusammen, aber er erkannte zuerst die Stimme, die in dem kühlen Gewölbe laut widerhallte. »Ich vermute, Jemany, daß Ihr nun fragen wollt, wer ich bin. Wer seid Ihr, wer seid Ihr? Diese Frage habt Ihr im Verlauf dieses Abenteuers immer wieder vergeblich gestellt. Es gibt so viele Identitäten, die sich ständig verändern. Aber in Wahrheit, Jemany, war es immer die falsche Frage, hab ich recht? Oder vielleicht auch die richtige, nur nicht an die richtige Person gerichtet?« »Ich verstehe es nicht«, flüsterte Jemany Langsam stieg die Gestalt die Treppe hinunter. Ihr langer Um hang bauschte sich hinter ihr, und der breitkrempige Hut verbarg
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die Augen des Mannes. Während er sprach, entzündete er seine Elfenbeinpfeife, und um ihn herum kräuselte sich der Rauch in dem unregelmäßigen Licht. »Versteht Ihr es denn wirklich nicht, Jemany?« fragte Lord Empster. »Vielleicht geht es hier nicht um die Frage, wer ich bin, sondern wer Ihr seid?« »Ich bin der Schlüssel zum Orokon«, antwortete Jem nach einem kurzen Zögern. »Und habt Ihr diese Tatsache manchmal nicht vielleicht verges sen, hm?« »Das ist wahr.« Jem senkte den Blick. Der Kristall schimmerte immer noch in seinen Händen, aber sein Strahlen ließ schon nach, wurde matter, wie auch der erste Kristall dumpfer geworden war, nachdem er ihn gefunden hatte. Jem hätte seinem Vormund vieles sagen können. Fragen und Anschuldigungen lagen ihm auf der Zunge. Und er fand auch, daß er das Recht hatte zu erfahren, wer dieser merkwürdige Lord in Wirklichkeit war. Doch er murmelte nur: »Mein Lord, es gab auch Zeiten, in denen Ihr mir kaum zu trauen schient.« Lord Empster drehte sich um. Er rauchte seine Pfeife und blickte zum Altar. Als er antwortete, sprach er ruhig, doch seine Worte hallten durch den ganzen Tempel. »Nicht mehr, Jemany, nicht mehr. Ich hatte Furcht vor Euren un erprobten Kräften und versuchte es hinauszuzögern ... Ich habe mich geirrt. Ich versuchte Euch von den Bindungen zu Eurer Ver gangenheit zu lösen... Ich habe mich geirrt. Ich habe nicht erkannt, daß Ihr in dem Jungen, der dort neben Euch steht, einen standfe steren Freund finden würdet als in jedem anderen, der Euch begeg nen wird.« Jem packte Rajals Hand. »Mein Bruder.« »Sozusagen.« Aber Lord Empster lächelte nicht. »Von jetzt an müssen wir rasch arbeiten, um den Orokon zu vervollständigen. Die Gefahren, die vor uns liegen, sind ungeheuerlich, jedoch der
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Preis des Scheiterns ... Nun, Jemany, Ihr habt die Brennenden Verse gelesen. Hätten Vianas Anhänger heute den Sieg davongetragen, wäre das Böse, das diese Länder unterdrückt, vielleicht eine Weile in seine Schranken verwiesen worden. Der Kristall setzt eine gewisse positive Energie frei, wenn er gefunden wird. Ihr erinnert Euch noch daran, wie Ihr den Kristall des Koros gefunden habt?« »Der Irion-Tag«, antwortete Rajal an seiner Stelle. »Genau«, antwortete Lord Empster. »Aber heute war es anders. Als die ersten Drachen über dem Feld erschienen, schien es so, als würde Zenzau letztlich doch triumphieren, aber die Energie war nicht stark genug. Ihr konntet den König und die Königin der Schwerter besiegen, aber nicht mehr. Toths Handlanger sind bereits fleißig unter uns am Werk und schaffen Chaos und Terror.« »Der blaue Drache«, murmelte Rajal. »Drache?« Jem sah zwischen seinen Gefährten hin und her. »Dann war es also Wirklichkeit, was heute auf dem Schlachtfeld passiert ist?« »Natürlich«, erwiderte Lord Empster. »Die Wahrheit schlüpft leicht durch die Ritzen zwischen den Dimensionen. Aber die Dra chen waren die Realität, die Essenz von dem, das unter dem lag, was heute passiert ist.« Jem dachte an Polty, aber noch bevor er seine Frage stellen konnte, antwortete Lord Empster. »Ist das denn nicht klar, Jemany? So wie Ihr Eure Bestimmung gefunden habt, hat auch er seine gefunden. Dieser junge Mann ist Euer unerbittlichster Feind, und ich bin davon überzeugt, daß wir ihn wiedersehen werden. Aber nun kommt.« Erst jetzt gestattete sich der merkwürdige Lord ein Lächeln. »Dieser Heidentempel ist kein Ort für einen vornehmen Ejländer und sein junges Mündel ...« Er warf Rajal einen kurzen Seitenblick zu. »... und seine beiden jungen Mündel. Meine Kut sche wartet schon, und wir haben eine lange Reise vor uns.« »Nach Agondon?« wollte Jem wissen. »Nein, Jemany, Ihr werdet vielleicht nie wieder dorthin zurück
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kehren. Sicher jedoch nicht solange, bis Ihr Eure Aufgabe erfüllt habt. Wir müssen sofort zur Küste aufbrechen. Hier sind wir nicht mehr sicher, und wir müssen den roten Kristall finden, den Kristall des Theron. An der Küste wartet Kapitän Porlos Schiff auf uns. Morgen stechen wir in See und segeln zu den glühenden südlichen Ländern von Unang Lia.« »Kapitän Porlo? Unang Lia?« Jems Herz hämmerte vor Aufregung. Dann jedoch überkam ihn Furcht, als er daran dachte, daß die Prophezeiung ihn in ihrem unerbittlichen Griff hielt. Seine Suche hatte gerade erst begonnen! Sie gingen zur Tür. Aber eine merkwürdige Angelegenheit mußte noch vollendet werden, bevor sie den Tempel verlassen konnten. Während ihres Gesprächs hatten sie die Priesterin vergessen. Sie je doch hatte im schimmernden Schatten gewartet, bewegungslos und schweigend. »Priesterin?« Jem trat auf sie zu, doch im gleichen Moment fiel sie nach vorn und zerkrümelte, wie schon der Scheinbaum zerkrümelt war. Einen Moment glaubte Jem, er habe sie getötet. Aber nein, sie war schon tot gewesen. Lord Empster stieß den Rauch aus. »Die arme Hara! Ihre Wacht ist endlich vorbei. Aber sie war ihrer auch müde, sehr müde, und wir brauchen sie nicht zu bedauern.« »Hara?« fragte Rajal. »Ihr wirklicher Name. Der, den sie schon zur Zeit der Unschuld trug, noch bevor sie ihre schreckliche Bürde auf sich nehmen mußte. Ajl ist ein altes zenzanisches Wort, das Wächter bedeutet, mehr nicht. Priesterin Ajl war nur eine Projektion des Scheinbaums. Sein Wesen war ihr Wesen, und ihr Wesen war das des Bau mes. Jetzt ist der Baum gestorben - und die Priesterin mit ihm. Wie ich sagte, sie war wirklich Hara. Hara, die mit dem Kristall in dem Baum eingeschlossen worden war, nachdem der König der Schwer ter sie vergewaltigt hatte.« Jem betrachtete nachdenklich den Staub zu seinen Füßen. Er
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wollte vorschlagen, ihn aufzusammeln und ihn vielleicht in dem grünen Wald zu verstreuen, den die Priesterin geliebt und wo sie ihre Gottesdienste abgehalten hatte. Aber Lord Empster schritt bereits zur Tür und zeigte mehr als nur sanfte Ungeduld, während er von den Herausforderungen sprach, die vor ihnen lagen. Jem ver barg den Kristall schnell in seiner Jacke, lächelte Rajal an und folgte ihnen. Als der Riegel des großen Portals wieder geöffnet wurde, wirbelte der Staub, der einmal Vianas Priesterin gewesen war, über den Steinboden. Einiges davon wehte bis zum Altar, wo eine kleine Maus und ein glänzender Käfer nervös hin und her huschten und von Zeit zu Zeit an zwei alten Spielkarten knabberten, Überbleib sel eines beendeten Spiels, das auf dem grünen Filz unter dem toten, goldenen Baum lag.
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JEM, der Held, der Suchende nach dem Orokon
CATA, die Heldin, der man ihr Gedächtnis geraubt hat
UMBECCA VEELDROP, ihre hinterhältige Großtante
POLTY, ein böser junger Armeeoffizier
VLADA FLAY (TANTE VLADA), die bemerkenswerte alte Dame
RAJAL, ein Vaga-Junge und Freund von Jem
MYLA, ein Vaga-Mädchen, Rajals Schwester
XAL, die Große Mutter der Vaga, eine Zauberin
ZADY, ein Gimpel, Xals Vetter
GOUVERNEUR VEELDROP, Umbeccas kränkelnder Ehemann
EAY FEVAL, Umbeccas geistlicher Berater
NIRRY JUBB, ihr leidendes Dienstmädchen
HARLEKIN MIT DER SILBERMASKE, ein älterer Unterhalter
CLOWN, sein langjähriger Gefährte
WYNDA THROSH, eine ältere Schlampe
ARON THROSH (BOHNE), ihr Sohn, Poltys Freund
JAC BURGROVE, der bestaussehende Junggeselle in Varby
PELLI PELLIGREW, eine unschuldige junge Dame
WITWE WAXWELL, eine moderne Apothekerin
FRANZ WAXWELL, ein moderner Apotheker
LORD MARGRAVE, ein loyaler Staatsdiener
HEKA und JILDA QUISTO, Mädchen der feinen Gesellschaft
STEPHEL, Kutscher, Nirrys Vater
HARION KORNFELD und BIERJACKE, Soldaten
EDELLEUTE, SOLDATEN, VAGA, TRUNKENBOLDE,
HUREN, GEFANGENE
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IN AGONDON: EJARD BLAU, der unrechtmäßige König
TRANIMEL, sein böser Erster Minister
MATHANIAS EMPSTER, ein vornehmer Lord, Jems Beschützer
JORVEL VON IXITER, Erzherzog von Irion, Jems Großvater
CONSTANSIA CHAM-CHARING, vornehme Gastgeberin
JELICA VANCE, eine junge, moderne Dame
PELLAM PELLIGREW, Pellis Bruder
SIR PELLION PELLIGREW, sein alter Großvater
ELSAN MARGRAVE, Freund von Lady Cham-Charing
FREDDY CHAYN, Sproß eines unbedeutenden Fürstentums
MISTRESS QUICK, Leiterin eines exklusiven Mädcheninternats
GOODY GARVICE, ihre treue Assistentin
OBERST HEVA-HARION, ein hochnäsiger Blaurock
JU-JU, Gesellschafterin von Jelica Vance
MADDY CODA, eine rothaarige Schauspielerin
JAPIER QUISTO, Agondons bester Herrenschneider
WEBSTER, Kaffeehausberühmtheit
BERTHEN SPRATT, ein Dienstmädchen,
wird auch ELPETTA und VANTA gerufen
DER ERZMAXIMUS und andere MÄNNER DER KUTTE
DER AUSGESTOSSENE auf der Regentenbrücke
HÖFLINGE, DIENER, PÖBEL
etc.
IN ZENZAU:
BOB SCARLET, ein geheimnisvoller Wegelagerer
LANDA, ein wunderschönes Zenzanermädchen
DOLM, ihr Vater, Diener auf Schloß Oltby
ORVIK, ihr Verlobter, ein einfältiger Prinz
MORVEN und CRUM, Blauröcke
HUL und BANDO, Rebellen der Rotröcke
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RAGGLE und TAGGLE, Bandos Söhne
PRIESTERIN AJL, die Hüterin von Vianas Glauben
KORPORAL OLCH (Zappelphilipp), Nirrys Verlobter
SOLDAT ROTTS, Zappelphilipps Freund
SERGEANT BUNCH, ihr Kompaniesergeant (Spieß)
SERGEANT FLOSS, Sergeant eines anderen Regiments
LORD MICHAN, Kolonialgouverneur von Zenzau
LADY MICHAN, seine Frau, ehemalige Mazy Tarfoot
Ein fauler MÖNCH
MILITÄRS, ZENZANER, REBELLEN
etc.
HINTER DEN KULISSEN - ODER TOT:
EJARD ROT, der abgesetzte König
SILAS WOLVERON, Catas Vater
GOODMAN WAXWELL, ein verruchter Mediziner
BARNABAS, ein zauberkundiger Zwerg; gilt als vermißt
LADY ELABETH, Jems Mutter
TOR, Jems geheimnisvoller Onkel
ULY und MARLY, Tante Vladas Cousinen
ONKEL ONTY, ihr ehrgeiziger Vater
PELLEAS PELLIGREW, Bruder von Sir Pellion
HARTIA FLAY, die Diva von Wrax
MISS TILSY FASH, die Nachtigall von Zaxon
MISS VYELLA REXTEL und andere VERMISSTE PERSONEN
LADY LOLENDA, die vielleicht zurückkehrt
DER ZUKÜNFTIGE PRINZ von Urgan-Orandy
GAROLUS VYTONI, Zenzaus größter Philosoph
LADY RUANNA, Schwester von Umbecca,
eine berühmte Schriftstellerin
SIR BARTEL SILVERBY, ebenfalls ein berühmter Schriftsteller
HERR COPPERGATE, ein berühmter Poet
DR. TONSON, HERR EDDINGTON und andere AUTOREN
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PROFESSOR MERCOL von der Universität von Agondon
HELDEN und BÖSE WICHTER aus Silverbys Romanen
HISTORISCHE GESTALTEN aus Ejlands Vergangenheit
etc.
GÖTTER UND MERKWÜRDIGE WESEN:
OROK, Ur-Gott, Göttervater
KOROS, sein Erstgeborener; Gott der Finsternis
VIANA, Göttin der Erde
THERON, Gott des Feuers
JAVANDER, Göttin des Wassers
AGONIS, Gott der Lüfte
TOTH-VEXRAH, böser Anti-Gott, ehemaliger SASSOROCH
LADY IMAGENTA, seine Tochter, die zurückkehren wird
DER HARLEKIN, der vielleicht Tor ist, oder auch nicht
DER LADENBESITZER VON WRAX
DER GRÜNE und DER GOLDENE MANN, aus Bandos Lied
KÖNIG UND KÖNIGIN DER SCHWERTER
EO, ein Vertrauter von Myla
PENGE, ein Vertrauter von Polty
BOB SCARLET, der gleichnamige Vogel
RING und RHEEN, Metamorphe
DER VORNEHME GENTLEMAN in der Geschichte
vom Ladenbesitzer
DIE VARBY, Bewohner einer geheimnisvollen Höhle
DAS VICHY, ein Monster aus Schlamm und Blättern
Andere KREATUREN DES BÖSEN
etc.
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Digitalisiert und korrigiert von Minichi Nightingale Abbyy 8: Sehr schnell, sehr komfortabel für Scanner, macht aber noch immer Fehler bei manchen Umlauten und Ausrichtung von Textzeilen funktioniert nicht so richtig Omnipage 15: Macht weniger Übersetzungsfehler und daher gut für die K-Leser, ist aber langsamer, haut jede Menge waagerechte und senkrechte Striche in das Worddokument, wandelt schwarze Falzschatten in Grafiken um und formatiert das Word-Dokument an vielen Stellen falsch. Dafür funktioniert das De-Skewing einwandfrei.
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