Dorothy Cook
Der Geisterzwilling Irrlicht Band 384
»Es gibt keine Gerechtigkeit in dieser Welt. Da sind zwei Zwillin...
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Dorothy Cook
Der Geisterzwilling Irrlicht Band 384
»Es gibt keine Gerechtigkeit in dieser Welt. Da sind zwei Zwillingsschwestern, die doch gemeinsam alt werden müßten. Doch was geschieht? Ich finde einen frühen Tod im kalten Wasser, während du dich deines Lebens erfreust.« »Sagtest du nicht einmal, daß es dir besser geht als uns Erdenwürmern auf dieser Welt?« fragte Viola und wollte sich zur Seite drehen. Aber die Zwillingsschwester war schneller. Mit flatternden Gewändern stürzte sie sich auf Viola und schüttelte sie, bis ihr der Atem verging. »Ich darf das sagen, du Scheusal. Du aber nicht. Denn du bist schuld an meinem Tod. Dafür müßtest du mindestens sieben Tode sterben.« »Das aber geht nicht«, seufzte Viola. »Denn schon beim ersten wäre ich tot.« »Der Tod ist nicht das wirklich Schlimme, sondern die Todesangst. Und die wirst du siebenmal erleben, bis der Tod dich endlich von dieser Qual erlöst«, sagte Sibylle und kicherte dabei, als hätte sie soeben einen Scherz erzählt…
Es war ein wunderschöner Augusttag. Frühmorgens lagen zwar schon weiße Nebel auf den saftigen Wiesen und ließen den kommenden Herbst ahnen. Aber gegen Mittag hatte eine strahlende Sonne sie bereits vertrieben. Es war ein Tag, der so ganz der Stimmung der jungen Viola Dombrath entsprach. Heute war ihr Geburtstag, und selbst die Natur tat alles, um ihn zu einem besonderen Tag werden zu lassen. Sie stand im Garten ihres Elternhauses und schaute glücklich in das Land hinaus, das sich zu ihren Ehren geschmückt haben schien. Die nahe Ostsee blitzte und schimmerte im Sonnenlicht. Der Himmel war tiefblau, nur ein paar Schönwetterwolken zogen drüber hin. Im Garten blühten bunte Astern, Gladiolen und Gerbera. Violas Vater, der Landarzt Dr. Leo Dombrath, hatte den freien Vormittag zur Gartenarbeit benutzt und hatte den Rasen ganz kurz geschoren. So würde er am besten die Geburtstagsparty überstehen. Vor der Einfahrt zur Garage stand der reizende Kleinwagen, den Viola heute zum 18. Geburtstag von ihren Eltern bekommen hatte. Auch der Führerschein lag auf ihrem Gabentisch. Viola hatte schon in den vergangenen Monaten die Fahrschule durchlaufen und die Prüfung bestanden, aber der heißersehnte Schein wurde ihr erst am 18. Geburtstag ausgehändigt. Heute war es nun soweit: Sie war achtzehn Jahre alt geworden und war damit erwachsen. Das Auto war natürlich ein großartiges Geschenk, aber es war auch notwendig für Viola, die damit zur Schule nach Kappein fahren konnte. Bisher war sie im Sommer mit dem Rad gefahren. Bei schlechtem Wetter oder im Winter brachte ihre Mutter sie in die Stadt, manchmal konnte sie auch mit einer Mitschülerin fahren, die von ihren Eltern gebracht wurde. Aber nun war sie nicht mehr von anderen abhängig. Bei Unterrichtsausfall brauchte sie nicht länger die Zeit in der
Stadt zu vertrödeln, auch konnte sie eher einmal länger in Kappein bleiben, wenn die Schularbeit es erforderte. Gerade jetzt, wo das letzte Schuljahr bevorstand, war das Auto eine große Errungenschaft. Natürlich würde sie nun ihrerseits die Mitschülerinnen aus Hasselberg mitnehmen. Aber jetzt galt es, die Tische zu decken und alles vorzubereiten. Eingeladen hatte sie zu einer Kaffeetafel um vier Uhr und zu einem anschließenden Gartenfest mit Tanz. Sie hängte viele bunte Lampions in das Gebüsch. Sie sollten später mit den Sternen am Nachthimmel um die Wette leuchten. »Meinst du, Vati, ob es heute abend Sternschnuppen gibt?« fragte sie ihren Vater zweifelnd. »Aber natürlich, Viola. Der August ist schließlich der Monat der Sternschnuppen. Überleg dir schon einen Wunsch. Er wird in Erfüllung gehen, nur verraten darfst du ihn nicht.« »Keine Sorge, mir fällt schon etwas ein. Wirst du heute abend den Disk-Jockey spielen, Vati? Platten liegen hier schon bereit. Es ist alles da, vom Tango bis zum Bebop.« »Du wirst dich nicht über mich beklagen, Viola. Ich wollte schon immer als Disk-Jockey auftreten«, sagte der Vater lächelnd. »Wie gefällt dir übrigens dein Auto?« »Es ist… es ist überwältigend. Es ist genau das, was ich für mein letztes Schuljahr brauche. In der nächsten Woche gehen die Sommerferien zu Ende. Dann werden meine Schulkameraden Augen machen, wenn ich mit einem Auto zur Schule komme.« »Sei nur schön vorsichtig damit, Viola. Deine Mutter war dagegen, dir ein Auto zu kaufen. Sie sieht natürlich die Vorteile, aber sie hat Angst, du könntest einen Unfall haben.« »Unsinn!« sagte Viola. »Ich passe schon auf.« »Und wie fühlst du dich jetzt mit 18 Jahren?«
»Toll!« sagte Viola. »Endlich erwachsen, volljährig, geschäftsfähig, mündig… Wenn ich das alles höre, dann weiß ich erst, wie abhängig ich vorher war. Ihr nehmt den Tag ja auch sehr wichtig: Ich bekomme ein Auto mitsamt Führerschein, meine Patentante Leonie ist extra aus Berlin gekommen, um mitzufeiern, und du stellst dich sogar an den Plattenspieler, damit die Gäste tanzen können. Das ist doch schon allerlei. Aber ich glaube, Vati, die ersten Gäste kommen schon!« Gleich darauf war Viola von allerlei Jugend umringt. Die Mädchen umarmten das Geburtstagskind und wünschten ihr viel Gutes für das nächste Jahr. Die Jungen standen ein wenig verlegen im Hintergrund und murmelten etwas, was wie »Herzlichen Glückwunsch und vielen Dank für die Einladung« klang. Viola führte sie allesamt an die reich bestückte Kaffeetafel, und nun war es vorbei mit der Zurückhaltung und der Verlegenheit. Sie alle langten begeistert zu und ließen es sich schmecken. Die Kuchenberge schmolzen zusammen, so daß Viola bald Nachschub aus der Küche holen mußte. Die Gespräche drehten sich fast ausschließlich um die Schule und um die Aussichten für das Abitur, das sie – hoffentlich – im nächsten Jahr alle haben würden. »Was werdet ihr nach dem Abitur anfangen?« fragte Jessica Thorn, Violas beste Freundin. »Das weiß ich noch nicht«, meinte Mark Westhaus. »Nach all dem jahrelangen Schulstreß will ich erst einmal leben. Ohne Pflichten, ohne Druck von allen Seiten. Ich will mein Leben genießen, will reisen, will einfach tun, was mir gerade einfällt.« Er erntete nicht nur Zustimmung. »Nur Vergnügen?« fragte Bernhard, den sie Berni nannten, entsetzt. »Das wird dir bald keinen Spaß mehr machen, denn es
bringt dich ja nicht weiter. Ich will einen Beruf lernen, damit ich auf eigenen Füßen stehe und mir vom Urlaub bis zur Video-Kamera alles selbst kaufen kann.« »Der Beruf wird dich auffressen«, behauptete Mark. »Schaut euch doch unsere Eltern an. Pflichten, Termine, Streß. Im besten Fall haben sie Geld, aber keine Zeit, um es richtig auszugeben.« »Da ist was dran«, meinte Nicole Weber nachdenklich. »Aber heute wollen wir nicht philosophieren, sondern Spaß haben. Was hast du eigentlich zum Geburtstag bekommen, Viola?« »Habt ihr das Auto vor der Garage gesehen, das kleine rote?« »Mensch!« sagte Judith Braunfeld bewundernd. »Ist das etwa deins?« »Ja«, sagte Viola glücklich. »Jetzt werde ich nie mehr zu spät in die Schule kommen, weil ich mit dem Rad den Gegenwind zu spüren bekam. Jetzt genügt ein einziger kleiner Druck aufs Gaspedal, und ich sause schneller als der Wind!« »Du Glückliche!« seufzte Nicole. »Ich nehme euch doch mit«, versprach Viola. »Wollen wir eine kleine Probefahrt machen?« Begeistert stimmten alle zu. Viola fuhr zuerst die Mädchen bis nach Maasholm in der Schleimündung, dann holte sie auch die Jungen herbei. Sie krempelten alle ihre Jeans hoch und planschten im seichten Wasser am Ufer. Zufrieden kehrten sie später nach Hasselberg zurück, wo die Erwachsenen schon ein zünftiges kaltes Büfett im Garten aufgebaut hatten. Im Dämmerlicht leuchteten bereits die vielen Lampions im Gebüsch. Es war ein schöner Tag und ein wunderbarer Abend, da waren sich alle einig. Und das beste sollte ja noch kommen, die Freiluftdisko unter dem Sternenhimmel.
Es fing gleich an mit richtig fetziger Musik, die Viola mit Vorbedacht ausgewählt hatte. Sie liebte ihren Vater sehr, aber Verständnis für die aktuelle Jugendmusik, nein, das erwartete sie nicht von ihm. Dr. Dombrath wiederum war nur allzu bereit, seiner einzigen Tochter alle Wünsche zu erfüllen, die sie heute, an ihrem 18. Geburtstag haben mochte. Und so hüpften, tanzten und jubelten vier junge Paare über den geschorenen Rasen und die kiesbestreuten Wege. Die Lampions brachten das nötige Schummerlicht für eine romantische Stimmung. Glücklicherweise gab es auch Hecken und lauschige Winkel im Garten, in die sich die einzelnen Paare vom allgemeinen Betrieb ein wenig zurückziehen konnten. Als Mark Westhaus mit Viola tanzte, meinte er zu ihr: »Ihr habt doch eine Bank hinten in der Gartenecke. Wollen wir uns dort nicht ein wenig verschnaufen? Wir hatten heute so wenig Gelegenheit für ein persönliches Gespräch. Meinst du nicht auch, Viola?« »Warum nicht? Wir können dort auch die Sterne sehen. Es soll jetzt sehr viele Sternschnuppen geben.« Sie setzten sich auf die Bank, wobei Viola auf einen genügenden Abstand achtete. Das gefiel Mark nicht. Er rutschte näher zu ihr heran und zog sie mit einem energischen Griff an seine Seite. »So ist’s besser. Meinst du nicht auch?« sagte er zufrieden. »Dein Geburtstag war toll. Aber etwas fehlt doch noch.« »Was denn?« fragte sie. »Ein bißchen Liebe. Vergiß nicht: Du bist ab heute erwachsen. Die Zeit der Kinderspiele ist vorbei.« Viola war jäh ernüchtert. Sie % mochte Mark, sie mochte ihn sehr. Aber seine direkte Art störte sie. Sie war ja bereit gewesen, mit ihm ein wenig hier im Winkel zu flirten. Aber
diese Bereitschaft war vorbei. Sie fand ihn nur noch aufdringlich und unverschämt. Sie zitterte. »Was ist los mit dir?« fragte Mark verständnislos. »Magst du mich nicht?« »Doch!« sagte sie kläglich und riß sich von ihm los. »Du weißt doch, daß ich dich mag. Aber… da war wieder diese STIMME.« Die STIMME! Sie hatte Viola begleitet, seit sie sich erinnern konnte. Schon als kleines Mädchen hatte sie diese Begleiterin gehabt. Sie war ihr im Laufe der Jahre zu einem zweiten ICH geworden. Anfangs hatte sie darin nichts Besonderes gesehen. Als kleines Mädchen glaubte sie, daß jedes Kind eine solche Stimme als Begleiterin hätte. Erst spät ging ihr auf, daß nur sie so etwas kannte. Die STIMME warnte sie, wenn ihr irgendeine Gefahr drohte. Doch oft genug hatte sie ihr auch einen üblen Streich gespielt und hatte sie in eine Falle gelockt. Sie hatte ihr bei Klassenarbeiten geholfen, um ihr beim nächsten Mal nur falsche Lösungen zuzuflüstern. Aber jetzt und hier kam ihr die STIMME höchst ungelegen. Mark war ganz allein ihre eigene Angelegenheit. Geisterstimmen hatten sich nicht dareinzumischen. Aber wie sollte sie sie verscheuchen, wie ihr klarmachen, daß sie in diesem Augenblick unerwünscht war? »Nimm dich in acht, Viola«, hatte sie gesagt. »Mark ist ein Tunichtgut, er spielt nur mit dir. Er wird dich unglücklich machen. Trau ihm nicht!« Wie Viola die STIMME jetzt verwünschte! Sie mochte doch Mark, sie kannte ihn schon von der Grundschule her. Warum mußte sich diese STIMME gerade heute zwischen sie ‘und Mark stellen? Gab es denn nichts mehr, was sie allein entscheiden konnte? Zu allem Überfluß hatte sie sich mit ihrer spontanen Erklärung verraten. Wie sollte sie dem Freund erklären, wer diese STIMME war? Bisher hatte sie diesen
unbekannten Geist vor ihren Eltern und vor allen Schulkameraden geheimgehalten. »Was für eine Stimme?« fragte Mark denn auch erstaunt. »Mir war so, als hörte ich jemand sprechen«, sagte Viola leichthin. »Ich wollte nicht, daß wir von anderen Gästen überrascht werden.« Sie wurde ganz rot bei dieser Ausrede. Zum Glück fiel es nicht weiter auf, weil in der Nähe ein roter Lampion die ganze Umgebung in rotes Licht tauchte. Mark sah Violas Grund schließlich ein. Aber die Stimmung war verdorben. Viola erhob sich und erklärte, sich auch einmal um die Patentante kümmern zu müssen. »Sie ist berufstätig in Berlin, sie kann selten hierherkommen. Ich glaube, ich habe sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen.« Ehe Mark irgendwelche Einwände erheben konnte, war sie davongehuscht und ließ einen ziemlich ratlosen Freund zurück. Als sie sich bereitwillig von ihm in den hintersten Winkel des Gartens führen ließ, da glaubte er schon, mit ihr leichtes Spiel zu haben. Aber dann hatte sie seine Annäherungsversuche abgewiesen. Sie war eben zickig wie andere Mädchen auch. Und was sollte diese dumme Ausrede von Stimmen, die sie irgendwo im Garten gehört haben wollte? Drinnen im Haus begab Viola sich nicht in das Wohnzimmer, wo ihre Mutter sich mit Tante Leonie unterhielt, sondern suchte gleich das Bad im Obergeschoß auf. Sie wußte ja aus langer Erfahrung, wie man die STIMME für einige Zeit vertreiben konnte: Mit Wasser! Aus irgendwelchen Gründen verabscheute dieser Geist frisches, kaltes Wasser. Sie ließ also die kalte Dusche laufen und hielt ihren Kopf darunter. Es folgte das übliche Protestgeschrei, das ihr in beiden Ohren dröhnte, dann verstummte die STIMME. Danach wollte sie wieder zu den jugendlichen Tänzern zurückkehren, für die der Vater mit großer Geduld die
neuesten Tanzplatten auflegte. Auf dem Weg nach draußen kam sie am Wohnzimmer vorbei. Die Wohnzimmertür war nur angelehnt, so daß sie die Unterhaltung von Mutter und Tante in Bruchstücken verstehen konnte. »Warum seid ihr eigentlich damals von Bayern nach Norddeutschland gezogen?« hörte Viola die Tante fragen. Sie hielt den Atem an. Sollte sie jetzt Einzelheiten aus der Familiengeschichte erfahren, die ihr bislang unbekannt geblieben waren? Offensichtlich zögerte die Mutter mit einer Antwort. »Wir wohnten damals im Hohenreuth an der Isar. Das Dorf liegt südlich von Bad Tölz«, sagte sie schließlich. »Aber Leo hatte dort eine gute Praxis, nicht wahr?« fragte Tante Leonie. »So etwas gibt man doch nicht ohne Not auf.« »Ohne Not nicht. Wir hatten unsere Gründe.« »Aber Angela, wir sind doch Schwestern. Wir hatten niemals Geheimnisse voreinander. Da gibt es doch etwas, was ich nicht weiß. Ich mache mir oft Gedanken deswegen.« »Über manches kann man einfach nicht sprechen. Aber wahrscheinlich hast du recht. Du bist Violas Patentante. Da solltest du das Schicksal deines Patenkindes kennen.« »Du machst es spannend, Angela.« »Du weißt ja, daß wir Zwillinge hatten, zwei reizende kleine Mädchen, Viola und Sibylle.« »Ja«, antwortete Tante Leonie traurig. »Die kleine Sibylle ist leider viel zu früh an einer Infektionskrankheit gestorben.« »Das haben wir den Verwandten geschrieben, weil wir die Wahrheit nicht über die Lippen bekamen. Sibylle ist ertrunken, Leonie. Es war der schwärzeste Tag in meinem Leben.« »Ja, aber das verstehe ich nicht«, sagte Tante Leonie. Viola hörte förmlich, wie die Tante um Fassung rang. Auch sie selbst war zutiefst betroffen. Nie, nie, nie hatten die Eltern ihr gegenüber von einer Zwillingsschwester gesprochen. Ihr früher
Tod war gewiß ein großes Unglück für die Familie gewesen, aber warum hatte man ein solches Geheimnis daraus gemacht? Sie sollte es gleich erfahren. »Wir waren sehr glücklich mit unseren beiden süßen Zwillingen. Leos Praxis ging ausgezeichnet, wir konnten große Pläne machen. Schon hatten wir ein eigenes Haus. Leider hatte Leo wenig Zeit für seine junge Familie. Aber an einem Sonntag hatte er alle Besuche abgesagt. Er wollte endlich einmal mit den Kindern spielen und ganz der Familienvater sein. Wir machten einen Ausflug mit dem Auto. An einem Flußufer picknickten wir. Bis dahin lief alles nach Plan. Aber dann kam alles anders«, Viola hörte die Mutter schluchzen. Sie spürte förmlich, wie die Vergangenheit nach ihr griff. Es war etwas geschehen, von dem sie bisher nichts wußte. War es nicht besser, jetzt schnell nach draußen zu laufen, um mit den Schulkameraden fröhlich zu sein? Viola konnte es nicht. Sie wußte nun schon so viel. Jetzt mußte sie alles erfahren, auch wenn es schwer zu ertragen war. »Wenn es dir zu viel wird, Angela, dann kannst du es mir ein anderes Mal erzählen, oder auch gar nicht«, hörte sie Tante Leonie sagen. »Es tut mir leid, ich wollte dich nicht quälen.« »Nein, nein, es geht mir schon besser. Man kann seiner Vergangenheit nicht ständig davonlaufen, wie wir es seit fünfzehn Jahren tun. Damals lagerten wir auf einer Wiese, die zum Flußufer hinunterführte. Das Gelände war abschüssig. Ein Radfahrer kam den Hang herunter und stürzte über ein Hindernis. Er schlug mit dem Kopf auf einen Stein und verletzte sich schwer. Leo war Arzt. Er holte sogleich seinen Arztkoffer aus dem Auto und leistete erste Hilfe. Ich assistierte ihm dabei.« »Das war doch eure Pflicht«, entrüstete sich Tante Leonie.
»Aber unsere beiden dreijährigen Töchter tobten auf der Wiese herum. Es war auch unsere Pflicht, sie vor Schaden zu schützen. Mein letzter Eindruck von ihnen war, daß sie friedlich miteinander spielten. Aber während wir uns um den Verletzten kümmerten, haben die Kinder sich dem Ufer genähert. Es gab irgendeine Streiterei um ein Spielzeug und eine Rauferei. Sybille war die stärkere, aber Viola kämpfte. Sie wehrte sich mit einem heftigen Stoß, bei dem Sybille in das Wasser rutschte. Die Strömung war hier sehr stark. Wir haben erst nach zwei oder drei Minuten davon erfahren. Leo ist sofort ins Wasser gesprungen. Ich habe Viola festgehalten, denn sie wollte dem Papa helfen.« »Und?« fragte Tante Leonie tonlos. »Leo konnte das Kind leider nicht finden. Es gab dort viele Stromschnellen und am Ufer Schilf und Gestrüpp. Er hat weitergesucht, während ich mit dem Auto die nächstgelegene Gendarmerie benachrichtigte. Erst am nächsten Tag wurde Sybille gefunden. Tot.« »Das ist ja schrecklich«, sagte Tante Leonie mitfühlend. »Aber das ist ein furchtbares Unglück, an dem niemand Schuld hat.« »Das sagst du«, sagte Angela Dombrath mit müder Stimme. »Der Staatsanwalt sah es anders. Natürlich konnte niemand ein dreijähriges Kind vor Gericht anklagen. Man hat uns angezeigt, wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht. Der verletzte Radfahrer hat schließlich für uns ausgesagt. Die ganze Sache endete für uns mit einer sehr symbolischen Strafe auf Bewährung.« »Und dann?« fragte Tante Leonie. »Dann fing unser Unglück erst an. Die Praxis ging zurück. Unsere Patienten machten lieber weite Umwege in die Nachbardörfer, als sich weiter von meinem Mann behandeln
zu lassen. Schlimmer noch war, daß man Viola im Kindergarten eine ›Mörderin‹ nannte.« »Die Erzieherinnen?« fragte Tante Leonie entsetzt. »Nein, natürlich nicht. Aber die anderen Kinder. Die Mütter verboten ihren Kindern, mit Viola zu spielen. Wir waren nur froh, daß sich Viola schon bald nicht mehr an den Vorfall erinnerte. Wir beschlossen dann, den Wohnsitz zu wechseln und in eine weit entfernte Gegend zu ziehen. Wir haben Viola nichts von ihrer Zwillingsschwester erzählt, sie sollte keine Schuldgefühle entwickeln. Seltsamerweise konnte sie sich überhaupt nicht mehr an die Schwester erinnern, oder sie hält sie für eine beliebige Spielgefährtin.« »Ihr solltet dankbar und froh für diese eine Tochter sein«, meinte Tante Leonie. »Das sind wir ja auch. Aber die Erinnerung an das tote Kind quält mich doch sehr. Was hätte ich tun können, um das Unglück zu verhindern?« Viola hatte genug gehört. Auf Zehenspitzen schlich sie sich davon. Aber ihre Freude an ihrem Geburtstagsfest wollte sich nicht wieder einstellen. Dazu kam, daß sich die Freunde heftig stritten. »Was ist denn los mit euch?« fragte sie. Nicole Weber antwortete: »Dein Mark interessiert sich plötzlich für Judith. Du solltest dir besser einen anderen suchen, Viola. Wenn er dir nicht mal eine halbe Stunde treu sein kann…« »Er ist nicht mein Eigentum. Er kann tun und lassen, was er will. Mir ist es piepegal, ob er Judith sexy findet oder Jessica«, fauchte Viola. »Wahrscheinlich legt er auch keinen Wert darauf, mit mir im Auto zur Schule zu fahren. Mit dem Fahrrad ist er ja auch unabhängiger.«
»Ich habe nicht auf dein Auto gewartet«, sagte Mark bockig. »Und außerdem: Du fährst mir zu lahm. Da bin ich ja mit meinem Fahrrad schneller.« Mit einem Mißklang endete der 18. Geburtstag, der so glücklich begonnen hatte.
*
Als Viola bald darauf weinend im Bett lag, dachte sie lange über das Gespräch nach, das ihre Mutter mit Tante Leonie geführt hatte. War sie eine Mörderin? War sie schuld am Tod ihrer Schwester? Sie waren damals drei Jahre alt gewesen, sie und ihre Zwillingsschwester Sibylle. Ein so kleines Kind kann die Folgen seiner Handlungen nicht übersehen. Sibylle hatte die Gefahren des nahen Flußufers unterschätzt oder überhaupt nicht wahrgenommen. Sie, Viola, hatte gewiß die Schwester nicht töten wollen. Sie hatte sich heftig gewehrt, ja, zu heftig. Sie war kaum vier Jahre alt, als die Eltern vom Süden der Republik bis in den äußersten Norden zogen. Viola hatte daher nur noch ganz vage Erinnerungen an ihre erste Heimat. Sie konnte die Eltern verstehen. Sie wollten einen Schlußstrich unter die tragischen Ereignisse ziehen. Aber konnten sie wirklich den Tod eines Kindes vergessen? Wahrscheinlich war es ein Ereignis, das seit damals auf der ganzen Familie lastete. Viola erkannte in diesen nächtlichen Stunden plötzlich, daß es die tote Zwillingsschwester war, die sie in all den Jahren ihrer Kindheit und Jugend begleitet hatte. Meistens hatte sie sich dabei zwischen Viola und ihre Umgebung gestellt und hatte sie aufgehetzt gegen Eltern, Lehrer und Freunde. Auch heute, an ihrem achtzehnten Geburtstag war sie dabei. Sie war
es, die sie vor Mark gewarnt hat, und sie war es, die den Streit mit den Freundinnen herbeiführte. Während sie über die Vergangenheit nachdachte, erhob sich draußen ein Sturm. Er rüttelte an den Fenstern und zauste die Bäume im Garten, er heulte um die Mauern des Hauses und er verstärkte das Brausen der nahen See. Ängstlich zog Viola die Decke über den Kopf, bis ein höhnisches Lachen ertönte. Vorsichtig schaute Viola unter der Decke hervor. Das Herz schlug ihr hoch bis zum Hals vor lauter Furcht. Sie wagte aber nicht, sich wieder zu verstecken, denn vor ihrem Bett stand die tote Schwester als ein Geist. Sie trug weiße Gewänder, die leicht im Nachtwind wehten. Ein sanftes Licht umgab sie. War sie es wirklich, oder narrte sie ein Traum. »Ich bin es«, sagte die Stimme jetzt. »Ich bin deine Schwester Sybille. Meinst du nicht, daß es Zeit wird, daß du mich endlich einmal kennenlernst?« »Ich kenne dich schon lange«, sagte Viola. »Aber ich lege keinen Wert auf deine Besuche. Warum hast du dich immer in mein Leben eingemischt? Ich brauche deine Ratschläge nicht.« »Du solltest meinen Rat annehmen. Gib deinem Freund Mark den Laufpaß. Er taugt nichts.« »Wann wirst du mich endlich in Ruhe lassen?« fragte Viola verzweifelt. »Nie!« antwortete Sybille. »Niemals, so lange du lebst.« »Warum verfolgst du mich?« »Weil du mich getötet hast. Wir gehören zusammen. Ich kann jedoch nicht wieder zu den Lebenden zurückkehren. Doch du kannst zu mir in das Reich der Toten kommen. Dann sind wir wieder vereint, wie es das Schicksal gewollt hat. Sei unbesorgt, wir leben glücklicher, als ihr Erdenwürmer. Du wirst froh sein, wenn du endlich bei mir bist.« »Ich werde dir schon entkommen!« sagte Viola trotzig, aber sie erntete nur Hohngelächter.
In den kommenden Wochen war Viola still und in sich gekehrt, so daß ihr verändertes Verhalten auch den Eltern auffallen mußte. Sie machten sich große Sorgen um die einzige Tochter. »Was ist eigentlich mit Viola los?« fragte Leo Dombrath einmal seine Frau, als sich ihre Tochter gleich nach dem Abendessen zurückzog, angeblich, um noch für die Schule zu arbeiten. »Ich weiß es nicht, Leo«, seufzte Angela Dombrath. »Sie ist so merkwürdig abweisend. Wenn ich sie frage, ob ihr etwas fehlt, dann zieht sie sich sofort zurück. Das hat an ihrem 18. Geburtstag angefangen. Es gab wohl eine Streiterei zwischen den jungen Leuten. Seither ist sie fast immer allein.« »Wenn man nur wüßte, wie man sie aufheitern kann«, klagte der Vater. »Sie hat so viele gute Eigenschaften, daß sie eigentlich viele Freunde haben müßte. Sie ist hübsch und gescheit und war bisher immer fröhlich und gesellig. Den Klassenkameradinnen hat sie stets bei den Hausaufgaben und sogar bei den Klassenarbeiten geholfen. Sie war also immer hilfsbereit und freundlich. Seltsam, daß sie sich plötzlich um Einsiedler entwickelt.« »Sie war nicht immer fröhlich und gesellig«, widersprach seine Frau. »Weißt du noch, welche Schwierigkeiten wir mit ihr hatten, als sie hier in Hasselberg eingeschult wurde? Sie wußte und konnte alles, was die Lehrerin von ihr verlangte, aber sie war nicht bereit, ihr die geforderten Antworten zu geben. In ihrem Kinderzimmer spielte sie offenbar mit einem anderen Kind. Als ich dann nachschaute, war dieses andere Kind nicht mehr da. Sie hat mit einem Geist gesprochen, Leo. Auch bei den Schularbeiten sprach sie mit einem fremden Kind. Wir haben damals oft daran gedacht, sie einem Kinderpsychologen vorzustellen.«
»Gut, daß wir’s nicht getan haben«, sagte der Vater. »Es hat sich ja alles im Laufe der Zeit von selbst gegeben.« »Äußerlich ja. Aber vielleicht hat sie diese Erscheinungen seither nur besser vor uns versteckt. Leo, ich möchte doch nur, daß unsere Tochter glücklich wird. Ganz gleich, wie dieses Glück aussieht. Aber sie ist jetzt gewiß nicht glücklich, das ist doch ganz offensichtlich.« »Weiß sie etwas von ihrer… hmm… Zwillingsschwester?« »Nein. Zumindest nicht von mir.« »Hast du noch Beziehungen zu alten Bekannten in Hohenreuth? Könnte sie Telefongespräche mitgehört haben?« »Unsinn, Leo. Ich habe damals vor unserem Umzug mit keinem Menschen über unsere nächste Heimat gesprochen und hier habe ich nie gesagt, wo wir früher gewohnt haben. Ich habe keine Telefongespräche mit alten Bekannten geführt und habe auch keine Briefe von ihnen bekommen. Allmählich frage ich mich allerdings, ob diese Form der Geheimniskrämerei richtig war.« »Was hätten wir denn sonst tun sollen?« fragte Leo müde. »Unser Ziel war es doch, sie unbeschwert wie jedes andere Kind aufwachsen zu lassen. Sie sollte keine Schuldgefühle entwickeln. Vielleicht ist es gut, wenn sie im nächsten Jahr ihr Abitur macht und dann irgendwo studiert. Dann lernt sie neue Leute kennen, andere Städte und interessante Aufgaben.« »Man kann nicht immerzu vor seiner eigenen Vergangenheit davonlaufen, Leo. Wir sind damals geflüchtet, nun willst du Viola dasselbe empfehlen.« »Weißt du etwas Besseres, Angela?« »Nein. Jedenfalls jetzt weiß ich es noch nicht.«
*
Am nächsten Tag kam Viola in die Sprechstunde ihres Vaters. Sie hatte brav im Wartezimmer gewartet, bis sie an die Reihe kam. Dr. Dombrath blickte auf, als jemand in das Sprechzimmer eintrat. »Du?« fragte er verwundert. »Ja, ich. Ich wollte dich sprechen, Vati.« »Ja, aber… da brauchst du doch nicht in die Sprechstunde zu kommen. Du kannst mich daheim immer und überall fragen, wenn du gesundheitliche Probleme hast. Natürlich auch bei anderen Schwierigkeiten. Schließlich bin ich nicht nur Arzt, sondern auch dein Vater.« »Zu Hause hast du noch weniger Zeit als hier, Vati. Du bist doch Arzt, da müßtest du doch auch die medizinischen Probleme deiner Tochter ernstnehmen. Das heißt, ich weiß nicht, ob es medizinische Probleme sind. Aber das wissen deine anderen Patienten auch nicht immer. Auf jeden Fall möchte ich dich an die ärztliche Schweigepflicht erinnern.« »Einverstanden, Viola. Wo drückt der Schuh?« »Hältst du mich eigentlich für verrückt, das heißt für psychisch krank, oder wie immer man das nennt.« »Wie kommst du darauf?« »Ich komme auf nichts. Ich bin eine Schülerin von 18 Jahren und bin ganz unerfahren in allen medizinischen Fragen. Ich will wissen, ob DU mich für krank in einem solchen Sinne hältst.« »Natürlich nicht, Viola. Hätte ich solch einen Verdacht, dann hätte ich dich längst einem Spezialisten vorgestellt. Man kann heute schon sehr viel für solche Patienten tun. Aber wie gesagt, du bist völlig gesund. Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran. So viel Urteilsfähigkeit traust du doch wohl auch einem Landarzt zu, nicht wahr?«
»Mark Westhaus hat heute zu mir gesagt, ich hätte ja nicht alle Tassen im Schrank, und Jessica Thorn meinte, ich tickte nicht ganz richtig.« »Aber Viola! Du nimmst doch wohl solche Redereien nicht etwa ernst? Das sind doch Kindereien, wenn auch geschmacklose. Ich finde es auch nicht richtig, wenn man in dieser Form böse Krankheiten zu Schimpfworten degradiert. Schick mir deine Freunde einmal her, damit ich mit ihnen ein ernstes Wörtchen reden kann.« »Ach, Vati, das bringt doch nichts. Nicht Mark und Jessica sind das Problem, ICH bin es. Hältst du es für denkbar, daß ich nicht normal bin?« »Du bist so normal wie deine Mutter und ich es sind. Wir haben niemals Grund gehabt, an deiner Gesundheit zu zweifeln. Zweifelst du denn selbst an dir?« »Jeder hält sich für normal, weil er niemals in der Haut eines anderen gesteckt hat. Daher fehlen ihm die Vergleichsmöglichkeiten.« »Hast du etwa Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Halluzinationen? Hörst du Stimmen, die aus dem Nichts zu kommen scheinen?« »Keine Stimmen, Vati. Ich höre nur die eine, einzige. Sie war schon bei mir, als ich noch ein Kind war. Ich glaubte, daß jedes Kind solch eine Stimme hat, bis ich irgendwann einmal merkte, daß nur ich davon begleitet werde. Es ist die Stimme meiner Schwester Sibylle.« Als Landarzt war es Dr. Dombrath gewohnt, mancherlei Schreckensgeschichten von den Patienten zu hören, auch wurde er gelegentlich zu schlimmen Unfällen gerufen. Er wußte, daß er dann ruhig erscheinen mußte, um den Patienten keine unnötigen Sorgen einzuflößen. Aber er erinnerte sich aus den vielen Jahren seiner Tätigkeit an keinen Augenblick, der ihm so zugesetzt hätte wie diese Worte seiner Tochter.
Da saß sie vor ihm, blond und schlank mit weitaufgerissenen blauen Augen. Ihre Wangen waren rosig wie immer, nur ihre Lippen zitterten ein wenig. Alles in allem war sie ein Bild von Gesundheit und jugendlichem Liebreiz. »Was weißt du von Sibylle, wer hat dir von ihr erzählt?« fragte Dr. Dombrath mit rauher Stimme. »Die STIMME selbst hat es mir erzählt. Aber es blieb nicht bei der STIMME. Sie kam auch als Geist sichtbar in mein Zimmer. Sie war totenbleich, aber bald darauf zerfloß ihr Bild irgendwie im Mondlicht. Sie will mich mein Leben lang verfolgen, bis ich bei ihr bin im Reich der Toten.« »Das ist natürlich völliger Unsinn, Viola. Glaub doch nicht an Gespenster«, ereiferte sich der Arzt. »Es können Albträume sein, vielleicht verarbeitet dein Unterbewußtsein auch Erzählungen, die du tagsüber gehört hast. Natürlich soll es auch übersinnliche Erfahrungen geben. Das müßte ein Psychologe herausfinden, ich habe mich nie mit diesen Dingen beschäftigt.« »Du glaubst mir aber, Vati?« »Natürlich glaube ich dir, mein Kind. Aber ich glaube nicht, daß diese Erlebnisse irgendeinen Einfluß auf deine Zukunft haben. Ich werde mich umhören. Wir sprechen dann in etwa einer Woche darüber, ja? Und, bitte, sprich nicht mit deiner Mutter darüber. Die Erinnerung an den Tod deiner Schwester sind schwer genug für sie. Oder hast du schon mit ihr gesprochen?« Viola schüttelte ihren blonden Kopf. Sie verließ das väterliche Sprechzimmer. War sie getröstet, war sie es nicht? Offenbar brauchte der Vater selbst Trost nach dieser Unterredung. Immerhin hatten sie sich einmal ausgesprochen und sie fühlte sich nicht mehr so allein, allein mit einer Schwester, an die sie sich nicht einmal mehr erinnern konnte.
*
Schon am Abend hörte sie wieder das Brausen des Windes und der See. Er blies so heftig, daß ein Flügel ihres Schlafzimmerfensters aufsprang und laut gegen die Hauswand prallte. Aber dieser Lärm erschreckte Viola nicht. Es war vielmehr die vielbekannte weiße Gestalt, die lautlos ins Zimmer schwebte und die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. »Was hast du mit unserem Vater gemacht?« fragte die STIMME. »Warum mußt du ihn beunruhigen? Was wir miteinander sprechen, geht nur dich und mich etwas an. Aber sei gewiß: Auch dein Vater weiß kein Mittelchen gegen meine STIMME und gegen meine Besuche. Ich bleibe bei dir, bis du einsiehst, daß dieses Leben nicht mehr lebenswert für dich ist. Darin wirst du gern und freudig mit mir kommen. Es gibt kein Entrinnen.« »Ich werde dir schon entkommen!« sagte Viola trotzig. Aber sie erntete nur wieder Hohngelächter. Blaß und übernächtigt saß sie am anderen Morgen am Frühstückstisch. Unlustig kaute sie auf einem halben Brötchen herum und ließ ihren Kaffee ungetrunken stehen. »Was ist eigentlich los mit dir, Viola?« fragte Frau Angela besorgt. »Mir fällt schon seit einiger Zeit auf, daß du keinen Appetit hast, daß du gereizt bist und daß keine deiner Freundinnen noch zu uns ins Haus kommt. Früher habt ihr doch immer gemeinsam Schulaufgaben gemacht.« »Ja, früher«, sagte Viola unmutig. »Das war auch etwas anderes. Damals bekam die ganze Klasse dieselben Aufgaben. Jetzt bearbeitet jeder ein anderes Thema, das wir dann im Unterricht gemeinsam besprechen. Wir sind nun mal in der
Klasse 13 und machen im nächsten Sommer Abitur. Da sollen wir uns an selbständiges Arbeiten gewöhnen. Aber jetzt muß ich fahren, sonst komme ich noch zu spät.« Sie knallte die Tür hinter sich zu, was beide Eltern mit einem erstaunten Kopfschütteln quittierten. »Was war nur plötzlich in Viola gefahren?« »Sie nimmt nicht einmal mehr die Freundinnen mit zur Schule«, bedauerte die Mutter. »Und dabei hatte sie es doch an ihrem Geburtstag versprochen. Schließlich ist sie früher oft genug von den Müttern der anderen mitgenommen worden.« »Wir sollten uns nicht einmischen«, meinte der Vater. »Junge Leute in Violas Alter sind manchmal schwierig. Elterliche Ratschläge bewirken oft das Gegenteil. Also lassen wir sie in Ruhe. Wenn sie unseren Rat will, dann wird sie schön selbst zu uns kommen.« Damit erhob sich Dr. Dombrath, verabschiedete sich von seiner Frau mit einem flüchtigen Kuß und begab sich in seine Sprechstunde. Auch er machte sich Sorgen um seine Tochter, kannte er doch ihr Geheimnis. Aber er hatte Viola Stillschweigen versprochen. Außerdem wollte er seine Frau damit nicht belasten. Als aufmerksame Mutter ahnte sie ja bereits, daß die Tochter Schwierigkeiten hatte. Dabei blieb ihm selbst alles unerklärlich. Wie war es möglich, daß die verstorbene Tochter viele Jahre nach ihrem Tod das Leben der kleinen Familie so sehr bedrückte?
*
Das letzte Schuljahr war für Viola Dombrath nicht gerade leicht. Wie schon bisher begleitete der Geist von Sibylle jeden ihrer Schritte. Manchmal meinte Viola, sie könnte die
Verstorbene fühlen. Wie ein kalter Hauch war sie neben ihr, sie blieb stehen, wenn auch Viola nicht weiterging, sie lief, wenn Viola beim Schulsport die Kurzstrecken hinuntersprintete, sie saß im Auto neben ihr und sie schlenderte neben ihr, wenn Viola einen Strandspaziergang machte. Nur eines tat sie nie: Sie folgte der lebenden Schwester niemals zum Schwimmen ins Meer oder ins Hallenbad der Stadt. »Bist du wasserscheu?« fragte Viola ihre Verfolgerin einmal. »Ja. Eigentlich solltest du ja wissen, warum das so ist«, lautete die Antwort. »Hast du vergessen, wie ich ums Leben kam? Du standest ja bei mir. Hast du mein Schreien nicht gehört und mein Zappeln nicht gesehen? Seither hasse ich das Wasser und mache einen weiten Bogen, wenn ich nur Wasser sehe.« Viola hielt sich die Ohren zu. Aber sie ging fortan viel häufiger zum Schwimmen als früher. Sie dehnte die Badezeiten ungewöhnlich lange aus und zahlte selbst im Hallenbad für zwei oder drei Schwimmbäder, nur, um länger bleiben zu können. Hörte sie auch nur von fern einen Ton, der ihrer STIMME ähnelte, dann tauchte sie beherzt unter, bis sie wieder Luft zum Atmen brauchte. Von ihrem Taschengeld kaufte sie sich einen Schnorchel, mit dem sie länger unter Wasser bleiben konnte. Aber was half das alles! Schon wenn sie in ihrem neuen Auto heimfuhr, saß ihr die STIMME im Nacken. »Glaubst du, daß du mir so entkommst?« wurde Viola gefragt. »Nun, das sehe ich ja«, antwortete sie wütend. »Nur im Wasser habe ich Ruhe vor dir. Vielleicht werde ich einmal Rettungsschwimmerin oder Bademeisterin oder Stewardeß auf einem Kreuzfahrtschiff. Wirst du mir dann auch folgen?«
»Ungern«, gab die STIMME zu. »Aber auch dann wird mir bestimmt etwas einfallen. Du könntest eigentlich ein bißchen herzlicher zu mir sein. Schließlich bin ich deine Schwester, und du schuldest mir einiges.« Nach solchen Unterhaltungen verhielt sich der Geist der toten Schwester ein wenig freundlicher. Sie bemühte sich offenbar um die Freundschaft ihrer Schwester. Sie half ihr bei den schwierigen Klassenarbeiten des letzten Schuljahres. Aber gerade, wenn Viola anfing, sich darauf zu verlassen, wurde sie arg von Sibylle enttäuscht. Die STIMME sagte ihr falsche Lösungen ins Ohr, oder verwirrte die arme Viola, die nicht wußte, wem sie trauen sollte, ihrem eigenen Kopf oder dem Rat Sibylles. Im 13. Schuljahr ließen Violas Leistungen erheblich nach, dabei war sie doch früher immer eine recht gute Schülerin gewesen. »Was ist los mit Ihnen, Viola?« fragte sie die Mathematiklehrerin einmal. »Sie sind doch nicht etwa irgendwie krank? Früher schafften Sie das alles mit Leichtigkeit. Sie können doch nicht plötzlich alles vergessen haben?« Viola schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen? Etwa: Der Geist meiner toten Schwester macht mir Schwierigkeiten. Oder: Eine STIMME verfolgt mich seit Jahren. Sie wußte selbst, daß niemand ihr eine solche Erklärung glauben würde. Im Gegenteil, man würde an ihrem Verstand zweifeln. »Vielleicht bin ich ein wenig überarbeitet«, sagte sie nach einigem Zögern. »Möglich«, meinte die Lehrerin und zuckte die Achseln. Sie glaubte nicht recht an diese Erklärung, denn bisher hatte sie wenig von Violas Übereifer gemerkt. »Wenn es so ist, dann sollten Sie sich ein paar Tage Ruhe gönnen. Vielleicht geht es Ihnen danach wieder besser. Aber vielleicht schicken Sie mir
einmal Ihren Vater oder Ihre Mutter in meine Sprechstunde. Ich möchte mich gern mit ihnen unterhalten.« Auch das noch! Viola griff zum bewährten Mittel der kleinen Schulmädchen, über die sie doch längst hinausgewachsen war. Sie ›vergaß‹ es einfach, die Eltern zu informieren. Aber auch diese Vogelstrauß-Politik half ihr nichts. Es gab schließlich Telefone, und die hinterhältige Lehrerin hatte mit dem Vater telefoniert, um ihm von beängstigenden Leistungsabfall seiner Tochter zu berichten. »Diese falsche Ziege!« sagte Viola wütend und schleuderte ihre Schultasche in die Ecke. »Ich bin ihr dankbar«, sagte Dr. Dombrath ruhig. »Nun weiß ich doch, daß dein Abitur gefährdet ist. Gemeinsam können wir überlegen, was da zu tun ist. Heute abend nach der Sprechstunde erwarte ich deine Vorschläge, denn ich möchte nichts über deinen Kopf hinweg entscheiden.« »An was denkst du denn, Vati?« fragte Viola. Ihr war das Weinen näher als das Lachen. »In deiner Lage hilft nur intensive Arbeit, das ist doch wohl klar. Entweder du arbeitest allein, wenn du dir eines erfolgreiche Aufholjagd zutraust. Oder du arbeitest mit tüchtigen Nachhilfelehrern, einen für jedes Fach, in dem du schlecht stehst. Wenn beides nicht in Frage kommt, dann könnten wir auch über ein strenges Internat nachdenken.« »Ein Internat?« fragte Viola entsetzt. »Ja. Was spricht dagegen? Allerdings wird man dich dort nicht in die 13. Klasse übernehmen. Du müßtest freiwillig in die 12. Klasse zurückgehen. Dann bleiben dir 18 Monate Zeit bis zum Abitur und nicht sechs, wie im Augenblick hier.« »Ich soll noch zwölf Monate dranhängen? Vati, sag, daß das nicht dein Ernst ist«, forderte Viola mit verstörtem Gesicht. »Mein voller Ernst. Es gibt ja noch die beiden anderen Möglichkeiten.«
Weinend lief Viola in ihr Zimmer. Hatte sich denn alles gegen sie verschworen? Und an allem war nur Sybille schuld. Sie meinte sogar, ihr heimliches Kichern zu hören. Am Abend teilte sie dem Vater ihren Entschluß mit: »Ich werde mein Abitur im Sommer machen, Vati. Aber ich hätte gern zwei oder drei Nachhilfelehrer. Mit ihnen könnte ich den Stoff aus dem Unterricht wiederholen. Sollte ich die Prüfung nicht bestehen, dann bleibt ja immer noch das Internat. Dort könnte ich es im nächsten Schuljahr noch einmal versuchen. Aber ich verspreche dir, daß es soweit nicht kommt.« »Hoffentlich«, sagte der Vater. »Sag mal, macht dir deine Schwester Sibylle Schwierigkeiten in der Schule und beim häuslichen Lernen?« Viola schaute verlegen auf ihre Schuhspitzen. »Sie ist mein größtes Problem, Vati. Sie legt es darauf an, mir zu schaden, mich zu verwirren und mich zu täuschen. Ich kann mich nicht mehr konzentrieren, ich kann nichts behalten und ich verliere die Orientierung.« »Ich habe mal mit deinem Psychiater über dieses Phänomen gesprochen, aber er wußte auch keine Lösung. Er versprach, sich in der Literatur zu informieren. Vorerst rät er zur Ruhe, aber auch zu Ablenkungen aller Art.« »Na fein«, sagte Viola ironisch. »Dann werde ich mich erst einmal mit Mathematik und Physik ablenken, und mich zwischendurch mit Shakespeare im Original entspannen. Ciao, Vati.« Den Rat nach Ablenkungen nahm Viola ziemlich wörtlich, denjenigen nach Ruhe ignorierte sie. Sie stürzte sich förmlich in allerlei Betriebsamkeiten. Plötzlich sah man sie auf allen Diskotheken in der Umgebung. Die Begleiter dafür fand sie nicht unter den Klassenkameraden, sondern im Schwimmverein, in den sie kürzlich eingetreten war.
Schwimmen war überhaupt ihre neue Leidenschaft, war sie doch im Wasser vor ihrer Schwester und ihrer quälenden STIMME sicher. Außerdem hatte sie zwei Nachhilfelehrer, einen für die Mathematik und den anderen in Englisch. Sie waren Studenten in Kiel und wohnten in einem Nachbarort von Hasselberg. Auch sie besuchten mit ihrer Schülerin manchmal eine Disko. Natürlich wurde sie von ihren neuen Freunden auch zu allerlei häuslichen Feten eingeladen. Sie führte also ein sehr reges Vergnügungsleben, obwohl sie doch eigentlich intensiv arbeiten mußte. Ihre neue erwachte Vergnügungssucht lenkte sie ab. Allerdings machte sie immer wieder die Erfahrung, daß auch hier Sibylle zugegen war. Immer dann, wenn Viola neue Freunde gefunden hatte, mischte sich die Schwester ein. Offenbar verbreitete sie Gerüchte über Viola, die ihr die neuen Freunde entfremdeten. Aber diese böse Nachrede war nicht zu greifen. Wenn Viola die Bekannten direkt danach fragte, verstummten diese und wandten sich ab. Nun, es war ihr egal. Für einen verlorenen Freund fand sie schon morgen zwei oder drei neue Freunde als Ersatz. Diese kurzlebigen Freundschaften waren Viola auch lieber, als eine enge Beziehung. So war ihr Verlust leichter zu ertragen und verursachte keine Schmerzen. Das Erstaunliche war allerdings der Erfolg dieses Lebens, das die Eltern anfangs nur mit Sorge beobachtet hatten. Violas Leistungen in der Schule besserten sich langsam aber stetig. Als der Vater sie danach fragte, lachte sie nur. »Vielleicht liegt es an der Nachhilfe, Vati. Vielleicht aber auch an der Ablenkung. Die hatte mir dieser Psychiater doch empfohlen, nicht wahr? In den Diskos ist die Musik so laut, daß ich die STIMME gar nicht mehr hören kann. Seit sie mich nicht mehr ständig verfolgt, geht es in der Schule besser. Ich
fürchte mich darum auch nachts nicht mehr und kann wieder besser schlafen.« »Ich bin sehr froh über diese Besserung. Wirst du das Abitur bestehen, Viola?« »Wie soll ich das wissen, Vati? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich hoffe, daß es klappt, dann kann ich im Herbst endlich auf die Uni gehen.« »Hast du Vorstellungen, was du studieren willst?« »Nein. Nur wo ich studieren will, das weiß ich.« »In Kiel«, sagte der Vater. »Natürlich in Kiel. Dort bist du mit deinem Auto schnell zu Haus, und wir können dich hin und wieder auch mal besuchen.« »Nein!« sagte Viola energisch. »Ich studiere im Süden, in München oder Freiburg oder allenfalls auch in Heidelberg. Dann bin ich weit entfernt von der Ostsee, von Hasselberg und von der STIMME.« »Mach erstmal dein Abitur, dann sehen wir weiter«, sagte Dr. Dombrath. Zum erstenmal kam ihm zu Bewußtsein, daß er bald Abschied nehmen mußte von seiner Tochter. Fast wünschte er, sie würde das Abitur nicht bestehen. Dann blieb sie noch ein Jahr länger zu Haus. Aber so etwas durfte er natürlich nicht laut sagen und als Vater nicht einmal denken.
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Was zeitweilig ganz ausgeschlossen schien, wurde doch noch Wahrheit. Viola bestand ihr Abitur, nicht glänzend, aber immerhin. Ihr 19. Geburtstag stand kurz bevor, aber sie verzichtete auf eine große Geburtstagsfeier.
»Aber warum denn nur, Viola?« fragte die Mutter erstaunt. »Wir hätten doch diesmal gleich zwei Gründe für ein kleines Fest, dein Abitur und deinen 19. Geburtstag.« »Ich mag nicht, Mutti. Solch ein Fest bedeutet doch für dich viel Arbeit und für Vati eine Menge Ausgaben. Voriges Jahr wurde ich achtzehn und damit volljährig. Das war ein anderer Anlaß. In diesem Jahr sollten wir sparsam sein. Wenn ich erst im Studium bin, werde ich sowieso ziemlich teuer für euch.« »Seit wann machst du dir Gedanken um unser Geld?« fragte die Mutter kopfschüttelnd. Aber Viola blieb bei ihrer Ablehnung. »Mein Geburtstag fällt dieses Jahr auf einen Sonntag. Da hat Vati Zeit. Wir könnten ja mal einen Familienausflug machen, nur wir drei. Vielleicht nach Flensburg oder Eckernförde oder sogar nach Dänemark. Auch die Tagesfahrt mit einem Schiff wäre denkbar.« Angela Dombrath durchschaute die Tochter. Viola wollte nicht mit den Klassenkameraden zusammen feiern. Die Sparsamkeit war nur ein Vorwand, denn die Ausflüge, die sie vorschlug, waren für drei Personen keinesfalls billiger als ein häusliches Fest. Doch das war Violas Entscheidung. Sie mußten sie wohl oder übel akzeptieren. Auch Dr. Dombrath war überrascht, als er von den Wünschen seiner Tochter erfuhr. »Ich dachte doch, daß dein achtzehnter Geburtstag ein voller Erfolg war. Wir hätten ihn mit einigen Programmänderungen in diesem Jahr wiederholen können. Oder liegt dir nichts mehr an den alten Freunden und Freundinnen?« Viola zuckte die Achseln. »Ich mag keinen, der mich an die Schule erinnert«, sagte sie trotzig.
»Nun gut. Aber mit uns willst du zusammen sein? Immerhin haben wir dich auch während deiner ganzen Schulzeit begleitet und sogar all die Jahre vorher auch.« »Natürlich. Wir müssen ja auch irgendwie Abschied feiern.« »Abschied wovon?« »Abschied vom bisherigen Leben. Ich gehe an die Uni und werde nur noch selten zu Haus sein.« »Wir haben Ende Juli. Das Wintersemester beginnt Mitte Oktober. Wir haben noch einige Zeit für das Abschiedsfest. Aber nun zu deinem Geburtstag. Welcher Ausflug wäre dir am liebsten?« Viola zögerte einen Augenblick. Aber dann spürte sie den kalten Hauch, den Sibylle immer verbreitete. Sie war da! Sie stand neben ihr und wartete gespannt auf ihre Antwort. »Ich möchte eine Seefahrt machen. Vielleicht können wir mit einem Motorschiff zur dänischen Insel Alsen fahren. Noch lieber wäre mir eine Fahrt mit einer Segeljacht.« »Warum denn das?« »Segeln ist überhaupt mein Traum. Man ist dem Wasser so nah. Man spürt die Wellen und den Wind. Man kann die salzige Gischt schmecken, die einem ins Gesicht schlägt. Aber man ist vom Wetter abhängig. Wenn der Wind ausbleibt, dann ist es eine müde Angelegenheit.« »Vielleicht haben sie für solche Fälle ja einen Außenbordmotor an Bord!« sagte der Vater, der sich über die Begeisterung seiner Tochter wunderte. Er ahnte ja nicht, daß sie das Wasser liebte, weil sie dort einmal Ruhe vor der STIMME hatte. »Soll ich mich nach solch einer Fahrt einmal umhören?« fragte Viola, während ihr Sibylle böse Beschimpfungen ins Ohr zischte. Wie gut, daß Vati das nicht hören konnte.
»Nicht nötig, Viola. Schließlich soll ein solcher Segeltörn ja unsere Belohnung für das doch noch bestandene Abitur und gleichzeitig unser Geburtstagsgeschenk für dich sein. Ich denke, daß deine Mutter das erledigt. Sie kennt einige Bootseigner, die solche Fahrten unternehmen. Laß dich überraschen!« Es war abgemacht. Die Fahrt an Bord der LUISE wurde zu einem wunderbaren Geburtstagserlebnis für Viola. Über den blauen Himmel zogen weiße Wolken, dabei wehte eine ordentliche Brise vom Westen her, so daß die LUISE schnelle Fahrt machte. Viola stand am Bug der Jacht und schaute begeistert zu, wie sie die Wogen durchschnitt. Weiße Schaumkronen tanzten auf den Wellen. »Hast du es dir so ähnlich vorgestellt, Viola?« fragte der Vater. »Genau so, Vati. Da wohnen wir so direkt am Meer und sind doch reine Landratten geblieben. Ich sollte Stewardeß werden.« Der Vater lachte. »Du wirst besser als Passagier reisen. Eine Stewardeß muß hart arbeiten, auch wenn du das jetzt nicht glaubst. Außerdem gibt es auf diesen kleinen Segeljachten keine Stewardessen. Auf den großen Schiffen bist du jedoch viele Meter von der Wasserfläche entfernt. Vielleicht leistest du dir später einmal eine Segeljolle.« Die Unterhaltung wurde allmählich schwierig, weil der Wind zu laut wurde. Auch Sybille schwieg, was Viola riesig erleichterte. War sie etwa nicht mitgekommen, oder hatte es ihr die Sprache verschlagen, angesichts der großen Wasserfläche? Oder verschluckte das Brausen von Meer und Wind jedes andere Geräusch? Wie auch immer, es war Viola egal. Die Hauptsache war doch, daß ihr Quälgeist sie in Ruhe ließ. Sie
war glücklich und genoß den Frieden. Auch die Eltern staunten über Violas heitere und gelassene Stimmung. »Ich glaube, es war doch wichtig, daß wir diese Fahrt gemacht haben«, sagte Angela Dombrath zu ihrem Mann. »Ja, ich sehe es. Viola ist zufrieden. Wie konnte ich auch ahnen, daß sie solch eine Wasserratte ist! Sie liebt das Meer und ist froh über jeden Wassertropfen, der ihr ins Gesicht schlägt.« Es gab eine einfache Mahlzeit an Bord, denn Viola hatte keinen Landgang gewünscht, der die Seefahrt unterbrochen hätte. Ihr Vater öffnete eine Flasche Wein, die er vorsorglich mitgebracht hatte. Ihre Eltern und die kleine Besatzung stießen auf das Wohl des Geburtstagskindes an, auf ihre Zukunft und auf die bestandene Prüfung. »Ich könnte ewig so weiterfahren!« seufzte Viola, als sie sich abends wieder ihrem Heimathafen näherten. Zu ihrer großen Freude wehte immer noch ein steifer Westwind. Am Morgen hatte er das Boot schnell hinaus in die Ostsee getrieben, jetzt am Abend verzögerte er ihre Heimkehr. Als sie allesamt wieder festen Boden unter den Füßen hatten, bedankte sie sich noch einmal bei ihren Eltern für die herrliche Geburtstagsfeier. Dr. Dombrath und seine Frau schauten sich verdutzt an. Wann hätte sich Viola je für ein Geburtstagsfest bedankt? Sie hatte es immer als selbstverständlich hingenommen, so wie ein Kind Nahrung und Kleidung, Schulbänder und Spielzeug von den Eltern erwartet. »Ich glaube, unsere Viola ist erwachsen geworden«, flüsterte der Vater seiner Frau in einem unbedachten Augenblick zu. »Sie denkt sogar schon über uns nach.« »Wahrscheinlich macht ihr schon der kommende Abschied zu schaffen«, meinte seine Frau.
»Jedenfalls freut es mich, daß sie plötzlich viel umgänglicher geworden ist.«
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Seeluft macht müde. Die ganze Familie Dombrath erfuhr es an diesem Tag und legte sich darum schon früh am Abend schlafen. Nur Viola fand keinen Schlaf. Sie hatte sich kaum in ihr Bett gelegt, als ein Geräusch sie beunruhigte. Sibylle, die Frühverstorbene, stand in einem wehenden Gewand am Fußende ihres Bettes und ließ ihr keine Ruhe. »Heute wäre ich neunzehn Jahre alt geworden«, sagte sie. »Ja, ich weiß«, gähnte Viola. »Es gibt keine Gerechtigkeit in dieser Welt. Da sind zwei Zwillingsschwestern, die doch gemeinsam alt werden müßten. Doch was geschieht. Ich finde einen frühen Tod im kalten Wasser, während du dich deines Lebens erfreust.« »Sagtest du nicht einmal, daß es dir bessergeht, als uns Erdenwürmern auf dieser Welt?« sagte Viola und wollte sich zur Seite drehen. Doch die Zwillingsschwester war schneller. Mit flatternden Gewändern stürzte sie sich auf Viola und schüttelte sie, bis ihr der Atem verging. »ICH darf das sagen, du Scheusal. Du aber nicht. Denn du bist schuld an meinem Tod. Dafür müßtest du mindestens sieben Tode sterben.« »Das geht aber nicht«, seufzte Viola. »Denn schon beim ersten wäre ich tot.« »Der Tod ist nicht das wirklich Schlimme, sondern die Todesangst. Und die wirst du siebenmal erleben, bis der Tod dich endlich von dieser Qual erlöst«, sagte Sybille und kicherte dabei, als hätte sie soeben einen Scherz erzählt.
»Kannst du mich nicht wenigstens an meinem Geburtstag in Ruhe lassen?« bettelte Viola verzweifelt. »Es ist auch mein Geburtstag und ich wünsche mir auch eine Freude zum Fest.« »Was wünschen sich tote Zwillingsschwestern zum Geburtstag?« spottete Viola. »Nun… daß ich in eurer Runde sitzen darf und teilhaben kann an eurer Freude. Aber du hast mir den Tag total verdorben mit diesem schrecklichen Segeltörn.« »Das ist gut zu wissen. Ich werde jetzt oft schwimmen gehen und vielleicht auch das Segeln lernen. Notfalls tut es ja auch eine Dusche, um dich zu vertreiben.« »Wie kann man nur so herzlos sein!« klagte Sibylle. »Aber ich werde mich rächen. Auf Heller und Pfennig wirst du deine Schuld bezahlen. Ich werde keine Ruhe geben, bis du bei mir bist. Unseren nächsten Geburtstag werden wir gemeinsam im Reich der Toten feiern. Du kannst dich schon darauf freuen.« Ein Rauschen und Flattern war zu hören. Die weißgekleidete Gestalt entschwand durch das Fenster, obwohl es doch geschlossen war. Viola zitterte vor Angst. Der nächste Geburtstag? Das waren noch 364 Tage, Tage und Nächte voller Angst. Aber Sibylle hatte nicht einmal gesagt, daß sie bis zum nächsten Geburtstag noch leben würde. Sie hatte lediglich angekündigt, daß sie dann gemeinsam im Reich der Toten feiern würden. Der Tod konnte also irgendwann im Laufe des, kommenden Jahres stattfinden. Vielleicht morgen schon? Oder übermorgen? Vielleicht erst in der kommenden Woche oder im nächsten Monat? Kalter Schweiß stand auf Violas Stirn, wenn sie an die Zukunft dachte. War es das, was Sibylle wollte? Sollte die Todesangst sie töten? Was konnte sie tun, wie konnte sie sich wehren? Sie wollte schließlich nicht Tag und Nacht im Schwimmbad verbringen
oder in der Badewanne. Sie erinnerte sich, einmal in der Zeitung von einem Kurs für Wassergymnastik gelesen zu haben. Sollte sie sich zur Heilgymnastin ausbilden lassen, um dann ausschließlich für Wassergymnastik tätig zu sein? Aber auch diese Damen waren nicht ununterbrochen im Wasser. Der mißgünstige Geist eines Zwillings würde auch dann noch genügend Zeit finden, wenn sie auf dem Trockenen war. Sie wälzte viele verzweifelte Pläne in dieser Nacht, aber sie endeten alle damit, daß sie ihre Ohnmacht einsehen mußte. Vielleicht war es gerade das, was Sibylle erreichen wollte. Es schien fast so. Denn wenn sie wirklich Violas Tod gewollt hätte, dann hätte sie schon viele Male Gelegenheit dazu gehabt. Sie weidete sich an ihrer Angst und ihrer Unfähigkeit, dem kommenden Unheil auszuweichen. Viola war jung, gerade neunzehn Jahre alt. In diesem Alter denkt man über die Zukunft nach, nicht über den Tod. Viola aber dachte jetzt ständig an ihren Tod. Wann würde er kommen und wie würde er sein schauriges Werk vollenden? Am anderen Morgen erschien sie völlig unausgeschlafen und blaß am Frühstückstisch, während die Eltern behaupteten, nach der Seereise vorzüglich geschlafen zu haben. Dr. Dombrath sah seine Tochter prüfend an. »Du siehst wirklich reichlich mitgenommen aus, Viola. Fühlst du dich nicht gut? Gab es da vielleicht eine verspätete Seekrankheit?« »Unsinn!« wehrte die Tochter ab. »Ich konnte nicht schlafen, das ist alles. Das passiert euch doch auch mal, oder?« »Vielleicht ist dir die Bootsfahrt wirklich nicht bekommen, Viola«, meinte die Mutter besorgt. »Im Gegenteil. Ich würde gern immer so unterwegs sein«, widersprach Viola. »Das Leben an Land bekommt mir nicht.«
»Und du willst ausgerechnet nach Freiburg zum Studium. In Freiburg gibt es keine Ostsee zum Segeln. Da fließt nur die Dreisam, aber das ist ein Gebirgswasser. Dort hätte nicht mal ein flaches Boot genügend Wasser unter dem Kiel.« »Aber im Schwarzwald gibt es Seen, die tief genug sind. Auch da kann man segeln.« »Ich sehe, du bist schon sehr gut informiert. Bist du sicher, daß du noch immer dorthin willst?« »Ganz sicher, Vati.« »In Kiel hättest du die Ostsee vor der Tür, genau wie hier in Hasselberg. Dort veranstaltet die Uni Segelkurse für interessierte Studenten.« »Gib dir keine Mühe, Vati. Ich will nach Freiburg gehen. Vielleicht wechsele ich im Laufe des Studiums nach Kiel, aber erst einmal fange ich im Südwesten an.« Es waren noch sechs Wochen bis zum Beginn des Wintersemesters, mit diesem Gedanken tröstete sich die. Mutter. Aber die Zeit flog nur so. Es war so viel zu tun und zu bedenken. Violas Garderobe mußte durchgesehen und hergerichtet werden. Für den Geschmack der Tochter packte die Mutter viel zu viel ein. Zwei Jeans, zwei T-Shirts und zwei Pullover, das mußte doch genügen, dazu zwei Paar Schuhe und die nötige Unterwäsche. Natürlich auch einen winterfesten Anorak. »Wenn etwas fehlt, dann ruf mich an oder schreib«, meinte die Mutter, »ich schicke es dir sofort.« »Man kann auch da etwas kaufen«, lachte Viola. »Vorerst habe ich ja nicht einmal ein Zimmer, wo ich den ganzen Kram lassen kann. Und zwei Monate nach Beginn komme ich sowieso nach Hause, weil dann Weihnachten ist. Bis dahin weiß ich, was ich wirklich brauche und kann das Fehlende mitnehmen.«
»Wo wirst du in der ersten Zeit wohnen?« fragte der Vater besorgt. »Ein alter Studienfreund hat sich in Freiburgs Umgebung niedergelassen. Soll ich ihn mal fragen, ob er etwas weiß?« »Vati, macht euch doch nicht so viele Sorgen. Ich will allein mit allen Problemen fertig werden, wie andere Studienanfänger auch. Notfalls gehe ich für ein paar Tage in die Jugendherberge. Oder irgendwo im Schwarzwald in eine billige Pension. Traut ihr mir das nicht zu?« »Natürlich kannst du das. Nur…« »Ich freue mich doch darauf, wenn ich mein Leben allein organisieren kann. Also, laßt mich nur machen. Und wenn ich etwas falsch mache, auch gut. Daraus kann ich nur lernen.« Daraufhin sagten die Eltern nichts mehr. Aber vor allem der Mutter war das Herz schwer, wenn sie an den Abschied dachte, der immer näher rückte.
*
Als der Tag der Abreise gekommen war, war Viola wie erlöst. Jetzt war sie frei von der elterlichen Aufsicht, die Schulkameraden blieben zurück im Norden. Es war wie ein Neuanfang. Sie reiste in ihrem roten Kleinwagen, denn sie brauchte ihn in Freiburg. Auch konnte sie ihr Gepäck besser im Auto unterbringen. Allerdings war es fraglich, ob sie die Fahrt an einem Tag bewältigen konnte. Vater und Mutter standen an der Gartenpforte ihres Hauses und winkten ihrer Tochter nach, solange der rote Wagen noch sichtbar war. Mit Tränen in den Augen kehrte die Mutter ins Haus zurück, während der Vater seine Frau zu trösten versuchte.
»Sie wird schon heute abend anrufen«, sagte er. »Da bin ich ganz sicher.« »Es ist ihre erste längere Trennung von zu Haus«, schluchzte Angela Dombrath verzweifelt. »Ob ich sie einmal in Freiburg besuchen kann?« »Später, Angela, später. Viola ist erwachsen, wir müssen ihr Gelegenheit geben, sich zu bewähren. Sie wird es schaffen, verlaß dich drauf!« Während die Eltern so sprachen, hatte Angela in flotter Fahrt Kappein erreicht. Sie war überhaupt nicht traurig, im Gegenteil! Übermütig pfiff sie ein Lied vor sich hin. Das Leben zeigte sich ihr von der schönsten Seite. Endlich war sie frei, frei, frei! Niemand konnte ihr noch Vorschriften machen, niemand sie länger bemuttern. Anfangs war ihr die Gegend noch bekannt und vertraut. Die Landstraße war nicht sonderlich belebt, so daß sie gut voran kam. In Schleswig erreichte sie die Autobahn nach Neumünster und Hamburg. Der Verkehr wurde immer dichter, je mehr sie sich Hamburg näherte. Im Elbtunnel hatte sie das Gefühl, jetzt das Tor zu einer anderen Welt erreicht zu haben. Als sie auf der Autobahn Hamburg-Hannover fuhr, atmete sie auf. Ein gutes Stück Weg lag schon zwischen ihr und dem Elternhaus. Als sie dann auch Hannover hinter sich gelassen hatte, suchte sie sich eine Tankstelle mit einer angeschlossenen Raststätte. Dort bestellte sie sich ein Mittagessen. Die mitgebrachten Butterbrote verschmähte sie. Vielleicht würden sie ihr am Abend schmecken. Im Augenblick wollte sie noch nicht an die mütterliche Fürsorge erinnert werden. Mit einer Tasse Kaffee munterte sie sich auf und setzte sie sich wieder ans Steuer. Das Fahren machte ihr längst keinen Spaß mehr, zumal sie in Frankfurt in den Feierabend-Verkehr geriet. Sie wurde immer müder und mußte doch hellwach bleiben: Hin und wieder geriet sie in einen Stau, das war eine ganz neue
Erfahrung für sie. Sie fand es ziemlich unheimlich. Da fuhr sie noch flott dahin, und plötzlich ging die Fahrt nicht weiter. Gerade noch rechtzeitig war ihr die Bremsung geglückt. Als sie das nördliche Baden erreicht hatte, verließ sie die Autobahn und suchte sich einen kleinen Landgasthof für die Nacht. Sie war jetzt völlig erschöpft. Zum ersten Mal fand sie den Rat des Vaters gar nicht so übel. Ein Studienplatz in Kiel hätte sie vor solchen Strapazen bewahrt. Wenn man aus dem hohen Norden kommt und in Freiburg studiert, dann ist der Weg eben reichlich weit, besonders, wenn man ihn in einem Kleinwagen zurücklegen muß. An Wochenendfahrten war gar nicht zu denken. Sie nahm sich darum fest vor, Weihnachten mit der Bahn zu fahren. Das Gasthaus war einfach, aber gemütlich. Der Wirt servierte ihr ein belegtes Brot und einem Weißwein. »Wir schenken nur echte Viertele aus«, erklärte er ihr. Echte Viertele? Der Begriff war ihr unbekannt. »Was gibt es denn anderswo?« fragte sie verwundert. »Meistens nur noch 0,2 Liter. Aber damit wird der Gast getäuscht. Hier gibt es ein echtes Maß.« »Ich weiß es zu schätzen«, lachte Viola. »Wenn ich noch mal hier in die Gegend komme, steige ich wieder bei Ihnen ab.« Völlig erschöpft zog sie sich zurück. Als sie dann ihr Zimmer betrat, spürte sie es sofort. Da war schon jemand, der auf sie wartete. Sibylle, in weiße Schleier gehüllt, saß auf ihrem Bett. Es hätte nicht viel gefehlt, und Viola hätte laut aufgeschrien. »Glaubst du, ich könnte dich hier nicht finden? Da irrst du dich aber«, höhnte der Geist. »Ich bin überall dort, wo du auch bist, und ich bin schneller. Ich kenne keine Autobahnen und keinen Stau. Ich komme mit der Luft und mit dem Wind.« »Was willst du von mir!« stöhnte Viola mit letzter Kraft und warf sich schluchzend auf ihr Bett. »Das weißt du doch: Du sollst sterben.«
»Worauf wartest du noch? Tu, was du tun mußt, aber tu es schnell.« »Du sollst sieben Tode sterben. Sieben Tode der Angst und der Verzweiflung, bis der Tod dich wirklich trifft. Aber das wird eine Erlösung sein gegen alles, was du vorher erlebst.« »Ich dachte, du hättest Ruhe gegeben. In den letzten Wochen hast du mich verschont.« »Das gehört zu meinem Plan. Zeiten der scheinbaren Ruhe wechseln mit höchster Anspannung. Angst wird dein Leben beherrschen, bis du es nicht mehr erträgst.« »Warum tust du das alles? Ich habe dir nie etwas Böses tun wollen. Ich war ein kleines Kind und konnte nicht ahnen, welche Folgen eine harmlose Kinderrangelei haben würde. Niemals wollte ich dich töten. Ich wußte doch gar nicht, was das ist, nicht mehr am Leben zu sein.« »Bald wirst du es wissen.« »Kannst du nicht verzeihen? Es hätte doch auch mich treffen können. Ich glaube nicht, daß ich dich dann bedrängen würde, wie du es mit mir tust. Was hast du davon, wenn ich auch tot bin?« »Rache ist süß. Dabei geht es mir nicht um Rache, sondern um Gerechtigkeit. Wir waren zwei ganz gleiche Kinder. Fremde konnten uns nicht unterscheiden. Wir hatten dieselben Eltern. Ein ganz ähnliches Leben erwartete uns. Warum mußte ich sterben, während du weiterlebtest? Ich stelle nur die alte Gerechtigkeit wieder her.« »Tu, was du willst. Aber jetzt laß mich schlafen.« Hatte Sibylles Geist endlich ein Einsehen? Viola wußte es nicht. Jedenfalls fiel sie in einen unruhigen Halbschlaf, der sie allerdings mehr erschöpfte als erquickte. Sie war froh, daß sie schon den größten Teil der Strecke zurückgelegt hatte. Völlig zerschlagen, erschien sie am anderen Morgen am Frühstückstisch, wo sie sich einen extrastarken Kaffee
servieren ließ. Dann telefonierte sie kurz mit ihrer Mutter, die schon verzweifelt auf einen Anruf gewartet hatte. »Ich war so erschöpft von der Fahrt, Mutti. Ich konnte nicht mehr anrufen. Wir telefonieren heute abend, wenn ich in Freiburg bin, ja? Ist Vati da?« »Der ist längst in seiner Sprechstunde«, sagte die Mutter vorwurfsvoll. »Dann grüß ihn von mir«, sagte Viola kurz und legte auf. Oh, wie sie das alles haßte! Diese Vorwürfe, weil sie sich nicht pünktlich gemeldet hatte. Natürlich würde man ihr die Müdigkeit nicht recht glauben. Da dachte sie, endlich in der Freiheit zu sein, die sie sich wünschte, und würde doch von der verstorbenen Zwillingsschwester schon erwartet. Wie daheim wurde sie auch hier von ihr gequält. Ob es ihr je gelingen würde, diesen Geist abzuschütteln?
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Der nächste Reisetag verlief viel angenehmer, vor allem, weil die Strecke so viel kürzer war. Schon um die Mittagszeit erreichte Viola die Schwarzwaldmetropole, die sich jetzt im schönsten Sonnenlicht präsentierte. Das Herbstlaub leuchtete golden in der Sonne. Viola stand fassungslos vor dem Colombi-Park. Gab es denn so etwas, einen Weinberg mitten in der Stadt! Und über allem thronte der herrliche Münsterturm. Nicht einmal die schlechte Auskunft im Verkehrsamt konnte sie beunruhigen. »Nein, wir können keine freien Zimmer vermitteln. Auch die Hotels und Pensionen sind ausgebucht. Die Studienanfänger kommen alle in diesen Tagen und mieten alles, was ihnen ein
Dach über dem Kopf bietet. Die Lage wird sich in wenigen Tagen beruhigen, wenn erst das Semester angefangen hat.« »Das klingt sehr schön. Aber ich brauche jetzt und heute eine Unterkunft. Ich kann schließlich nicht bei meinen Eltern in Schleswig-Holstein übernachten. Der Weg ist reichlich weit.« »Sind Sie mit dem Auto gekommen?« »Ja.« »Dann käme vielleicht auch eine Unterkunft in der Umgebung in Frage. Warten Sie, ich rufe mal eine Pension an.« Wirklich, es klappte. Eine kleine Pension in Horben, 8 km von der Stadtmitte entfernt, hätte noch ein Zimmer frei, so wurde ihr gesagt. Sie müßte nur nach Günterstal fahren und dort in Richtung Horben weiter. Eine wunderschöne Schwarzwaldlandschaft erwarte sie, und erstklassige Restaurants wären in der Nähe. Der Preis sei nicht hoch, da es sich um ein Mansardenzimmer handele und außerdem nur eine Etagendusche vorhanden sei. Viola atmete auf. Es war ihr alles recht. Sie brauchte nur ein Bett für ihr müdes Haupt und sonst gar nichts. Am nächsten Tag begann die Suche nach allem und jedem. Zuerst mußte sie sich immatrikulieren lassen. Für Jurastudenten gab es keine Zulassungsbeschränkung, entsprechend lang waren die Schlangen vor dem Sekretariat. Danach kaufte sie sich in einer Buchhandlung ein Vorlesungsverzeichnis, das sie zwar aufmerksam studierte, aber dennoch nicht ganz verstand. Also auf zur Studienberatung! Auch hier waren wieder lange Schlangen. Die gleichen langen Reihen warteten in der Mensa auf ein warmes Essen. War das die hochgerühmte studentische Freiheit? Warten, warten, warten auf etwas, das eigentlich ganz selbstverständlich war?
Viola sehnte sich nach ihrem Mansardenzimmer in Horben. Sie wollte nur noch schlafen. Aber dann fiel im Sibylle ein. Die Zwillingsschwester würde ihr auch dieses ganz natürliche Vergnügen verleiden. Wohin also? Ein Telefongespräch mit der Mutter steigerte ihren Verdruß noch. Natürlich hatte sie gestern abend wieder vergessen, daheim anzurufen und bekam wieder Vorwürfe, auf die sie nicht weiter einging. »Ich wohne in einer netten kleinen Pension am Rande des Schwarzwalds. Es gefällt mir gut dort. Natürlich will ich auf die Dauer in der Nähe der Uni wohnen, Mutti. Aber jetzt kann ich in Ruhe danach suchen. Ich gebe dir mal die Telefonnummer der Pension. Dann kannst du mich immer anrufen, wenn du dir Sorgen machst. Grüß Vati! Tschüß«, damit hängte sie auf. Sie hatte so schnell gesprochen, daß die Mutter gar nicht dazu kam, unangenehme Fragen zu stellen. Aber die Mutter hatte nun die Telefonnummer. Sie würde gleich zurückrufen. Kurz entschlossen machte sie sich auf den Weg zum nächsten Restaurant. Sie rief der Wirtin noch zu, daß sie auswärts zu Abend essen würde, dann trabte sie davon. Ihr war, als hätte sie das Telefon noch läuten hören. Auch in diesem Lokal gab es »echte Viertele« mit dem Wein der Region, dazu eine Speisekarte, die keine Wünsche offenließ, allerdings den Etat einer Studentin bei weitem überstieg. Viola überlegte nicht lange und bestellte munter drauflos. Was erwartete sie denn in ihrer Pension? Ein Telefonanruf ihrer Eltern, ein paar neugierige Fragen der Wirtin und in ihrem Zimmer ein warmer Empfang durch Sibylle. Da blieb sie doch lieber so lange es ging in dieser gepflegten Gaststätte.
*
Viola lebte sich langsam ein. In den Seminaren begegnete sie immer denselben Gesichtern. Es waren zumeist Neulinge wie sie. Auch in der Mensa sah sie oft Bekannte. Man kam ins Gespräch, man suchte gegenseitig Rat und erfuhr wichtige Tips. Viele suchten noch immer Zimmer oder Wohnungen, sehr wenige suchten Nachmieter. Viola wartete noch ab. Sie suchte vor allem nach einem studentischen Sportverein. »Was treibst du denn für Sportarten?« wurde sie gefragt. »Wassersport in allen Formen: Schwimmen, Tauchen, Segeln.« »Und da kommst du nach Freiburg zum Studium? Hier wird gewandert, man läuft Ski. In Hinterzarten gibt es sogar Sprungschanzen, anderswo Rodelbahnen und alpine Hänge. Segeln kannst du im Sommer auf dem Titisee. Im Winter friert er zu.« »Da hätte ich noch einen rasanten Vorschlag für dich«, sagte ein kesser Student. »Auf dem Flughafen werden HobbyFallschirmspringer ausgebildet. Wetten, daß dir da der Mut vergeht?« »Ich habe keine Angst«, sagte Viola kühl. Sie dachte an Sibylle. Wahrscheinlich war es nicht, daß diese in ihrem kurzen Leben einen Fallschirm kennengelernt hatte. Vielleicht war ihr ein Fallschirm genau so unangenehm wie das Wasser. Versuchen konnte sie es ja einmal. Wenn sie dann zwischen Himmel und Erde zum Boden schwebte, dann hatte sie ein paar glückliche Minuten ohne Sibylle. Schon bald suchte sie den Flughafen auf und fragte sich nach dem Verein der Fallschirmspringer durch. »Hast du schon Erfahrungen mit dem Fallschirm?« wurde sie gefragt.
»Nein. Aber ich interessiere mich sehr dafür.« »Bist du Segelfliegerin oder Sportfliegerin? Hast du je Paragleiten betrieben?« »Nichts von alledem«, bekannte Viola. »Ich dachte, daß ich vorerst mal das Fallschirmspringen lernen sollte. Dann weiß ich später bei den anderen Sportmöglichkeiten, wie ich mich im Notfall retten kann.« »Der Gedanke ist gar nicht dumm«, meinte der Ausbilder. »Bist du wenigstens schwindelfrei?« »Ich weiß es nicht, ich habe es nie versucht. Meine Eltern wohnen unmittelbar an der Ostsee. Da wird man nicht schwindelig. Aber ich habe ein Rieseninteresse an allen Extremsportarten.« »Na, wir versuchen es einmal. Aussteigen kannst du immer noch, wenn dir die Sache mulmig wird.« Viola war angenommen. Sie wandte ihren Kopf zur Seite, dorthin, wo sie Sibylle vermutete und sagte: »Ätsch. Ich glaube nicht, daß du zu mir ins Flugzeug steigst.« »Warum auch?« kam die Antwort. »Ich fliege in Sekundenschnelle von Sylt bis Berchtesgaden, wenn es sein muß. Und von Rom nach Stockholm. Aber was soll ich da? Ich habe nur ein einziges Ziel: Dich ins Jenseits zu befördern, aber erst, nachdem du sieben Mal vor Angst fast umgekommen bist. Mir ist es ganz recht, wenn du dich in Gefahr begibst. Vielleicht stellt sich dann schon die erste Todesfurcht ein, ganz ohne mein Zutun.« Die erste Zeit als Fallschirmspringerin war langweilig und zeitraubend. Da gab es Theorie und Gymnastik, vor allem aber Fallschirmfalten, immer und immer wieder von neuem. Es gab nichts Wichtigeres als Fallschirmfalten, denn davon hing die Sicherheit des. Springers ab. Verhedderte Leinen und schlecht gefaltete Schirme konnten zur tödlichen Gefahr für den Springer werden, so wurde es den Neulingen immer und
immer wieder eingebleut. Viola lernte jetzt, was Klinkhaken sind und was ein Hilfsschirm, sie lernte das verwirrende Gurtwerk kennen. Wenigstens theoretisch erfuhr sie, daß es sportliche Wettbewerbe gibt, bei denen es Zielspringen und Stilspringen gibt. »Aber so weit sind wir noch nicht«, meinte der Übungsleiter. »Alle Neulinge müssen erst einmal die Angst vorm Sprung überwinden.« Der erste Informationsflug folgte. Die Neuen gewöhnten sich an die Maschine und beobachteten aufmerksam die Fortgeschrittenen, die sich offenbar mit dem größten Vergnügen aus der Luke in die Tiefe stürzen. Hatte Viola Angst? Ihre Bedenken waren anderer Art, und niemand konnte ihr helfen. Sie konnte schließlich keinem der Flugsportler sagen: »Meine verstorbene Zwillingsschwester will mich töten, und ich suche eine Möglichkeit, ihr zu entkommen. Im Wasser ist es mir gelungen, aber ich kann nicht pausenlos im Wasser sein. Jetzt versuche ich es darum in der Luft.« Man würde an ihrer Zurechnungsfähigkeit zweifeln und doch war es bittere Wahrheit für Viola. Und dann wurde es ernst. Ein Übungsspringen für die Neulinge war angesetzt worden. Viola war eine der ersten, die springen sollten. Sie fand es gut so, denn so konnte sie einerseits beobachten, wie die ersten zu Boden kam, brauchte dann aber nicht mehr lange auf den Einsatz zu warten. Ein banges Gefühl stieg in ihr auf, als sie an der offenen Luke stand. Die Stadt Freiburg lag unter ihr, begrenzt vom Schwarzwald. Das Flugzeug flog Schleifen über dem Flugplatz, der etwa tausend Meter unter Flugzeug und Besatzung lag. Jetzt! Das Kommando erklang. Ohne Zögern sprang Viola in die Hefe. Eine unbändige Freude erfaßte sie. Sie fühlte sich
wie ein Vogel, der sich in die Lüfte schwingt. Noch war sie mit der Leine mit dem Flugzeug verbunden. Erst als sie die Reißleine zog, war auch diese Verbindung gelöst. Frei schwebte sie dem Boden entgegen. Doch dann geschah es! Ein heftiger Windstoß erfaßte ihren Fallschirm und trieb ihn unaufhaltsam auf ihren Vorgänger zu. Die Schnüre beider Schirme waren sofort ein heilloses Gewirr. Höhngelächter dröhnte in Violas Ohren. Es war Viola wohlbekannt. Sibylle war ihr hier gefolgt. »Ich finde dich überall, und wenn es im Fallschirm ist«, sagte sie dann auch triumphierend. »Du entkommst mir nicht.« »Was habe ich dir eigentlich getan, und was hat dieser Fremde dir getan? Wie viele willst du denn noch ins Unglück stoßen?« Wieder dieses Hohngelächter. Viola sah die Erde mit rasender Geschwindigkeit auf sich zukommen. Das Ende war nah. Sie hatte sich in Gefahr begeben und würde jetzt darin umkommen. Sibylle hatte gesiegt. Sie schloß die Augen, so sah sie nicht, was kommen mußte. Ihr war schwindelig und schlecht. Was hatte sie falsch gemacht? Sie hatte alles getan, was man ihr gesagt hatte. Es war dieser unberechenbare Windstoß, der sie aus der Bahn geworfen hatte. Was konnte sie jetzt noch tun, wie sich retten? »Zum Donnerwetter, nun tun Sie doch endlich was!« rief ihr der Schicksalsgenosse zu. »Mein Hilfsschirm ist schon offen, aber er reicht nicht für zwei.« Dann ging alles sehr schnell. Wer hatte im Gewirr von Schnüren im letzten Augenblick die richtige Leine gezogen? Viola wußte es nicht. Plötzlich verlangsamte sich der Sturz. In einer trudelnden Bewegung fielen sie irgendwie zu Boden. Der Aufprall war hart und schmerzhaft. Um sie herum war ein
wahres Chaos von Fallschirmbahnen, Leinen, Gurten. Neugierige drängten sich um die Unfallstelle. Viola verlor sofort das Bewußtsein. Sie erwachte erst wieder, als sie schon im Krankenhaus lag. Dort erzählte sie viel von ihrer Zwillingsschwester, die ihr diesen Streich gespielt hätte. Man fragte sie nach dem Namen, und der Anschrift dieser Schwester. »Sie heißt Sibylle, aber sie ist tot. Sie will mich töten, darum hat sie mir diesen plötzlichen Sturm geschickt«, sagte Viola. Die Ärzte schauten einander ratlos an. »Die Patientin steht noch unter Schock. Wir müssen noch ein paar Stunden mit der Befragung warten«, meinte einer. Aber auch nach ein paar Stunden wollte Viola weder ihren Namen noch ihre Adresse verraten. »Nun seien Sie doch vernünftig«, sagte ein Arzt zu ihr. »Wir brauchen die Anschrift Ihrer Eltern, um sie zu benachrichtigen. Wohin sollen wir später die Rechnung schicken?« Schließlich nannte Viola die Pension, in der sie zur Zeit wohnte. »Ich heiße Viola Dombrath, das müßte Ihnen doch genügen. Die Studentische Krankenkasse zahlt für mich oder ich selbst. Ich will nicht, daß meine Eltern beunruhigt werden.« Nach ein paar Tagen konnte sie wieder entlassen werden. Innere Verletzungen waren nicht festgestellt worden, und der Schock war überwunden. »Werden Sie jeder Fallschirm springen?« wurde sie gefragt. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich weiß es auch nicht. Schließlich bin ich nach Freiburg zum Studieren gekommen. Ich sollte mich auch mal um mein Studium kümmern.«
*
Nach ein paar Tagen konnte sie entlassen werden. Überall am Körper war sie blaugeschlagen, aber sonst war sie unverletzt. In Horben erwartete sie eine Überraschung: Ihre Mutter saß im Aufenthaltsraum der Pension mit versteinertem Gesicht. »Du, Mutti?« fragte Viola. »Ja, ich. Woher kommst du, Viola? Seit drei Tagen rufen wir hier pausenlos an und immer bekommen wir die Auskunft, daß du nicht nach Hause gekommen bist. Ich bin heute früh von Hamburg nach Frankfurt geflogen und von dort mit dem Zug nach Freiburg gefahren. Ich bin umgekommen vor Angst um dich.« »Ich war im Krankenhaus, Mutti. Ich bin übel gestürzt, hatte einen Schock und viele Prellungen, aber zum Glück keine inneren Verletzungen. Ich war meist bewußtlos, darum konnte ich mich nicht bei euch melden. Beruhigt?« »Nur teilweise. Wie und wo bist du gestürzt? Schließlich ist dein Vater Arzt. Er hätte sich gleich bei deinen Ärzten erkundigt.« »Das kann er ja noch immer machen. Weißt du, Mutti, ich bringe dich nebenan im Hotel unter. Jetzt im Herbst werden sie freie Zimmer haben. Und morgen fährst du wieder nach Hause. Einverstanden?« »Wo ich nun mal hier bin, könnte ich ja auch ein paar Tage bleiben. Wir würden uns gemeinsam hier in der Gegend umschauen, und ich könnte alle Aufregungen vergessen.« »Mutti, ich habe ein paar wichtige Klausuren vor mir und ein Seminar, das ich nicht versäumen darf. Du hättest gar nichts von mir. Natürlich könntest du bleiben, aber dann wärest du meistens allein.« »Gut, ich gehe dann also ins Hotel. Von dort aus rufe ich Vati an und frage ihn nach seiner Meinung. Spätestens übermorgen fahre ich wieder nach Haus.«
Es ging, wie es Viola vorausgesagt hatte. Die Mutter sah sich in Freiburg um, und Viola ging zur Uni. Vor ihrer Heimfahrt überraschte Angela Dombrath ihre Tochter mit der Mitteilung, daß sie ein Studentenappartement für sie gemietet habe. »Was hast du?« fragte Viola entsetzt. »Ich habe ein sehr schickes Appartement für dich gefunden. Ein geräumiges Wohn-Arbeits-Schlafzimmer, eine kleine Teeküche, ein Bad und ein netter Balkon mit der Aussicht auf die Dächer der Altstadt.« »Klingt nicht schlecht«, stöhnte Viola. »Aber das wird ein Vermögen kosten.« »Billig ist es nicht«, räumte Frau Angela ein. »Aber ich bin sicher, daß Vati den Preis akzeptiert. Schließlich bist du unsere einzige Tochter. Weshalb sollst du auf den gewohnten Komfort verzichten?« »Vielleicht, weil ich keine Sonderrolle spielen will, sondern so leben möchte wie alle anderen. Es gibt hier viele, die mit dem Pfennig rechnen müssen«, seufzte Viola. »Wahrscheinlich war dieses Appartement nur noch zu haben, weil es viel zu teuer ist. Eigentlich hättest du mich fragen können, ob ich es überhaupt haben will.« Der Protest half ihr nichts. Das Appartement war fest gemietet und bereits für einige Monate im voraus bezahlt. Sogar ein Telefon war vorhanden, so daß die Verbindung nach Hasselberg nie abreißen konnte. Mit Unbehagen fügte sich Viola ins Unvermeidliche. Der Umzug in die Stadtmitte brachte für Viola auch einige Vorteile. Vor allem waren die Kontakte zu den Kommilitonen viel enger als vorher. Sie lernte andere Leute kennen, hörte von deren Sorgen und Zukunftshoffnungen. Aber sie erfuhr auch von nützlichen Adressen und günstigen Angeboten. Kurzum, sie fühlte sich viel schneller als eine richtige Freiburger Studentin.
Kurz vor Weihnachten lernte sie einen norwegischen Studenten kennen, der am Tisch in der Mensa neben ihr saß. Er war schon ein wenig älter als die Studienanfänger, die sie sonst kennengelernt hatte, denn er hatte in Norwegen bereits ein Germanistik-Studium absolviert. Wegen guter Leistungen hatte er ein Stipendium für ein Aufbaustudium in Deutschland bekommen. Er fühle sich wohl hier, erzählte er ihr. Nur die Freunde in der Heimat vermisse er. Er hieß Lasse Björnson und sah genau so aus, wie sich Viola einen echten Wikinger vorstellte: Groß, schlank, blond und blauäugig. Er geriet ins Schwärmen, wenn er von seiner Heimat sprach. Begeistert hörte Viola ihm zu, wenn er von blauen Fjorden erzählte, von der Mitternachtssonne und vom Nordkap. »Wo genau ist denn deine Heimat?« »Weiter im Süden, ganz in der Nähe von Bergen. Das ist eine herrliche Stadt. Ich habe ein Haus in der Nähe von Bergen. Es liegt auf einer Anhöhe, man hat einen herrlichen Blick über den Fjord, den Hafen und die Stadt. Ich wünschte, ich könnte es dir zeigen.« »Warum nicht?« sagte Viola zu seiner Verwunderung: Er hatte natürlich angenommen, daß eine Studentin nicht genug Geld für eine so weite Reise hatte. Doch Viola sah das wohl anders. »Solch eine Reise könnte mich schon reizen«, fuhr sie fort. »Treibt man eigentlich viel Wassersport in deiner Heimat?« »An was denkst du dabei?« »Nun, Schwimmen, Segeln, Tauchen. Meinetwegen auch Kanufahren und Rudern. Nur nicht Fischen und Angeln.« Lasse war ein wenig ratlos. »Natürlich haben wir Schwimmhallen und irgendwo ist auch eine Ruderregatta möglich. Segeln wird sehr gern betrieben, aber da müßtest du schon eine Menge können. An der Küste
gibt es nämlich viele Weststürme und in den Fjorden ist es windstill. Beides mögen die Segler nicht so gern. Von Tauchern habe ich wenig gehört. Das Wasser ist ziemlich kalt.« Viola hörte nur heraus, daß er ihr nicht unbedingt zu einem Urlaub in Norwegen raten wollte, obwohl er doch gerade von seinem Haus bei Bergen mit Stolz erzählt hatte. Im Laufe der Wochen trafen sie sich immer wieder in der Mensa. Lasse erzählte von seinen Plänen für die Weihnachtsferien. Er wollte in Österreich einen Skiurlaub machen. Er träfe sich dort mit ein paar Studienfreunden aus Norwegen, die jetzt an anderen deutschen Universitäten studieren. »Schade!« sagte. Viola. »Ich würde gern auch so etwas unternehmen. Aber ich werde von meinen Eltern erwartet. Weihnachten gehört der Familie, das muß ich eben zu Haus verbringen.« Täuschte Viola sich, oder atmete Lasse auf, weil sie nicht mitkommen würde? Jedenfalls wechselte er schnell das Thema. An diesem Abend bekam sie Besuch von ihrer Zwillingsschwester. In den letzten Wochen war Viola wenig von ihr gestört worden, so daß sie die Hoffnung hatte, dieser Quälgeist hätte sich endgültig verabschiedet. »Was willst du denn nun schon wieder!« sagte sie wütend. »Es langweilt mich, es immer wieder zu wiederholen. Du weißt, was ich will und du weißt auch, daß du mir nicht entkommst. Sind alle deine blauen Flecken ausgeheilt? Du weißt doch, die Spuren deines mißglückten Fallschirmsprungs. Hast du es schon mal wieder versucht?« »Nein. Ich weiß, daß du mir den Sturm geschickt hast. Darum lasse ich es in Zukunft lieber. Da wäre doch ein Taucherkursus
besser geeignet. Wenigstens kann ich im Wasser vor dir sicher sein.« »Wie du meinst. Aber du solltest dabei nicht unbedingt in Norwegen tauchen. Das Wasser ist zu kalt, und Lasses Ehefrau ist zu nah. Oder willst du einen Streit mit ihr riskieren?« »Lasse sollte verheiratet sein?« fragte Viola. »Das ist doch lächerlich.« »Frag ihn doch selbst. Er IST verheiratet, und dein Besuch in Bergen wäre ihm höchst unangenehm.« »Ich mag ihn, weil er schon ein paar Jahre älter ist als ich. Er ist viel vernünftiger als die Gleichaltrigen. Lasse mag mich auch.« »Davon war nie die Rede«, sagte Sibylle spöttisch. »Du bildest dir etwas ein, was Lasse nie gesagt hat.« »So etwas spürt man, da braucht es keine Worte. Weshalb sollte er sonst meine Nähe suchen und sich mit mir unterhalten wollen?« »Dummkopf. Er ist allein im Ausland, weit entfernt von seiner Heimat. Er sucht nette Gesprächspartner, vielleicht auch nur, um seine Deutschkenntnisse zu verbessern. Natürlich fährt er nicht nach Österreich, sondern fliegt nach Norwegen über Weihnachten. Auch da kann man Skilaufen.« »Also gut. Er ist verheiratet, er belügt mich oder verschweigt mir wichtige Dinge. Ich bin nicht in ihn verliebt, ich finde ihn nett, das ist alles. Was soll ich also tun, deiner Meinung nach?« »Wachsam sein. Du findest ihn nett, das ist manchmal der Anfang einer großen Leidenschaft oder es führt zu einer großen Enttäuschung, gelegentlich auch beides zusammen. Liebe kann tödlich sein.« »Ach, was verstehst du denn davon, Sibylle? Du hast doch die Erfahrung einer Dreijährigen. Oder gibt es in deiner Welt auch Liebe, Leidenschaft, Eifersucht und ähnliches?«
Ein wütendes Geheul war die Antwort. Viola hielt sich die Ohren zu, dann war der Geist wieder durch das Fenster entschwunden.
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Weihnachten zu Haus war sehr schön, abgesehen vielleicht von dem Empfang durch den Vater. Dr. Dombrath hatte sich nämlich einen Bericht über Violas Verletzungen aus der Freiburger Klinik schicken lassen. Gleich am ersten Abend bat er seine Tochter in sein Sprechzimmer. »Du hast mich enttäuscht, Viola. Ich hätte nie erwartet, daß du in Freiburg solch einen gefährlichen Sport betreibst. Ich glaube, daß eine Studienanfängerin genügend andere Aufgaben zu erledigen hat.« »Aber es bleibt auch noch Freizeit, Vati. Fallschirmspringen ist wunderbar, man fühlt sich frei wie ein Vogel.« »Und gerät gleich beim ersten Fallschirmabsprung in Lebensgefahr.« »Das war ein dummer Zufall, Vati. Eine plötzliche Windböe kam auf, die niemand erwarten konnte. Und wie du siehst, bin ich lebend davongekommen.« »Nur weil ein anderer Springer beherzt genug war. Du hast aber nicht immer solch einen Springer zur Seite.« »Woher weißt du denn alles?« fragte Viola. »Es stand in der Badischen Zeitung. Als mir deine Mutter von deinem Klinikaufenthalt erzählte, habe ich mir zuerst den Bericht von der Klinik schicken lassen und dann die Zeitung, die ausführlich darüber berichtet hat.« »Das liegt doch alles schon Wochen zurück«, murrte Viola.
»Ja, aber wir möchten hier nicht in ständiger Angst leben, daß du dein Leben riskierst. Versprich mir, daß du nie wieder mit dem Fallschirm abspringst.« »Gut, Vater, ich verspreche es.« Dieses Versprechen fiel Viola nicht schwer. Nach ihrem Sturz hatte sie bereits die Fallschirmspringergruppe verlassen. Sie fand das Springen sehr reizvoll und hätte es bestimmt bald gelernt, aber sie fand auch in der Luft keine Sicherheit vor Sibylle. In den Weihnachtswochen gab es nach dieser Unterredung keine Probleme mehr im Doktorhaus von Hasselberg. Viola half ihrer Mutter beim Plätzchenbacken, sie fuhr mit ihr nach Kappein, um die letzten Einkäufe zu bewältigen und sie übernahm es, Freunden und Verwandten Weihnachtsgrüße zu schicken. Am Weihnachtsabend schmückte sie den Baum, eine herrliche Edeltanne. Am ersten Weihnachtstag galt es eine Klippe zu überwinden. Ein Vetter ihres Vaters, ein Jurist, kam mit seiner Familie zu einer Kaffeestunde nach Hasselberg. Er machte sich einen Spaß daraus, Viola als angehende Juristin ein wenig zu examinieren. Sie wurde blutrot im Gesicht vor Aufregung, verstand sie doch nicht einmal seine Fragen. Jetzt rächte es sich, in Freiburg alles Mögliche getan, aber die Vorlesungen und Seminare weitgehend vermieden zu haben. »Ich bin ja erst ein paar Wochen dabei«, erklärte sie schließlich, »die Fachsprache ist mir noch nicht geläufig.« Dann sprang sie auf, um der Mutter die Kaffeekanne abzunehmen und den Gästen einzuschenken. Dabei waren wenigstens keine verfänglichen Fragen mehr zu erwarten. Aber sonst verliefen die Ferien harmonisch. Eltern und Tochter bemühten sich, den Frieden zu erhalten und keine Streitpunkte zu berühren. Als sie wieder Abschied nahm, sagte Viola sogar:
»Es war schön zu Haus. Vielleicht sollte ich zum nächsten Wintersemester doch nach Kiel überwechseln oder aber wenigstens nach der Zwischenprüfung. Freiburg ist so weit entfernt.« Die Eltern hörten es mit Freude. Sie gönnten ihrer Tochter noch einige Zeit im Süden der Republik, aber dann würde sie zurückkommen. Die Verbindung würde wieder ein wenig enger werden. Viola fuhr mit der Eisenbahn zurück. Sie hatte sich auf eine erholsame Fahrt gefreut. Genügend Lesestoff hatte sie in ihrem Gepäck. Zwischendurch gab es Gelegenheit, die Landschaften zu betrachten. Aber aus alledem wurde nichts. Sie hatte nicht einmal Hamburg erreicht, als sich Sibylle wieder meldete. »Ihr habt Weihnachten gefeiert, und habt mich mit keinem Wort erwähnt«, klagte sie. »Weil du unseren Frieden störst. Und nach so langen Jahren wird auch die tiefste Trauer geringer.« Viola dachte es nur, denn sie wußte, daß Sibylle auch ihre Gedanken erraten konnte und weil sie inmitten der vielen Mitreisenden nicht scheinbare Selbstgespräche halten konnte. Sie selbst verstand die Worte der Zwillingsschwester, so wie man ein Gespräch in normaler Lautstärke versteht. Aber sie wußte aus Erfahrung, daß Sibylle für andere Menschen nicht zu hören war. Vorsichtig schaute sie sich um. Wirklich hatte niemand irgend etwas bemerkt. »Es ist dir wohl peinlich, wenn ich mit dir rede«, höhnte Sibylle. »Laß mich endlich in Ruhe. Ich möchte ungestört lesen.« »Lesen, was ist das? Ich habe es nie gelernt, denn eine Schule habe ich nie von innen gesehen. Mit drei Jahren war ich noch nicht schulreif.« Verdrossen nahm Viola ihr Buch und schlug es auf. Doch Sibylle blies so stark, daß alle Seiten umschlugen.
»Laß das!« dachte Viola wütend. »Wir kommen gleich in einen Tunnel. Dort wird es einen Zwischenfall geben, bis schließlich alle Wände herunterstürzen und den Zug unter sich begraben. Du wirst stundenlang begraben liegen, bis dich der Rettungstrupp erlöst. Aber bis dahin wirst du Stunden der Todesangst verbringen. Beim Fallschirmsprung hast du kaum eine Minute um dein Leben gezittert. Jetzt brauchst du mehr Ausdauer.« Viola antwortete nicht mehr. Verbissen beschäftigte sich mit ihrem Buch, aber sie verstand den Text nicht mehr. Die Buchstaben verschwammen ihr vor den Augen, so sehr sie sich auch bemühte, sie zu entziffern. Und wirklich… es war keine halbe Stunde vergangen, als der Zug in einen Tunnel einfuhr, der ziemlich lang zu sein schien. Mitten im Berg gab es einen Ruck, dann stand der Zug. Alle Lampen erloschen. »Wir haben einen technischen Defekt«, ertönte die Lautsprecheransage. »Wir bitten alle Reisenden, Ruhe zu bewahren und auf ihren Plätzen zu bleiben. Wir hoffen, die Panne bald beheben zu können.« Angst stieg in Viola auf, furchtbare Angst. Der erste Teil von Sibylles Prophezeiung war schon wahr geworden. Wann würden die Mauern zusammenbrechen und den Zug unter sich begraben? Jedes kleine Geräusch ließ sie zusammenzucken. Nach einiger Zeit flackerte eine trübe Notbeleuchtung auf. Eisenbahntechniker liefen mit Warnlampen am Zug entlang. Viola überlegte, ob sie nicht einfach den Zug verlassen sollte, um zu Fuß aus dem Tunnel hinaus ins Freie zu gelangen. Aber eine Ansage warnte gerade davor. Gelegentlich polterte es irgendwo. Kamen etwa schon die ersten Steine herunter? Viola überlegte. Hatte es jemals solch ein Zugunglück gegeben? Sie konnte sich nicht erinnern. Konnte sie also den Worten Sibylles Glauben schenken? Sie wußte, daß es keine absolute Sicherheit gab. Auch ein ungewöhnlicher Unfall
konnte einmal der erste seiner Art sein. Andererseits: Die Zwillingsschwester wollte sie töten, töten mit der Todesangst. Dann war zu vermuten, daß sie nur eine dumme Vermutung ausgesprochen hatte, um sie in Angst und Schrecken zu versetzen. Das war ihr ja auch gelungen. Viola zitterte vor Angst. Was konnte sie nur tun gegen diese schreckliche Furcht? Nach entsetzlichen 80 Minuten setzte sich der Zug langsam wieder in Bewegung, um kurz vor Ende des Tunnels noch einmal anzuhalten. Doch nun war das Schlimmste vorbei. Fünf Minuten später erreichten sie wieder die freie Strecke. In Frankfurt mußte dann der Zug ausgewechselt werden. Alle Reisenden wurden zusätzlich in den nächsten planmäßigen Zug nach Basel gesteckt. Der war aber schon bereits gut besetzt gewesen, so daß die meisten Leute aus dem Unglückszug keinen Platz mehr fanden. Viola stand im Gang, noch immer mit weichen Knien und zitternden Händen. »Warum tust du das?« dachte sie leise. »Warum stellst du immer dieselben dummen Fragen?« kam die Gegenfrage von Sibylle. »Ich schäme mich, solch eine Schwester zu haben«, dachte Viola. »Und ich schäme mich, daß meine Schwester eine Mörderin ist«, sagte Sibylle. »Was das angeht, bist du nicht besser. Du bist auf dem besten Weg, eine Mörderin zu werden. Während ich ein unwissendes Kind war«, dachte Viola. In ihrem Freiburger Appartement angekommen, fiel Viola förmlich in ihr Bett. Sie weinte hemmungslos. Was konnte sie tun, um den Geist ihrer Schwester für immer loszuwerden?
*
Als Viola einmal in ihrem Vorlesungsverzeichnis blätterte, fiel ihr Blick auf die Schlagzeile PARAPSYCHOLOGIE. Noch immer hatte sie kein rechtliches Verhältnis zur Juristerei gewonnen, sie hörte hier und da auch schon mal andere Vorlesungen. Aber daß man in Freiburg etwas über Parapsychologie erfahren konnte, das war ihr neu. Was war das eigentlich genau? Sie schlug ihr Lexikon auf und erfuhr, daß man sich in diesem Teilgebiet der Psychologie mit außersinnlichen Wahrnehmungen, mit Spuk und okkulten Überlieferungen beschäftige. Konnte sie etwa dort Hilfe bekommen? Konnte sie lernen, wie sie sich gegen die Angriffe der toten Zwillingsschwester zu wehren hatte? Die ersten Besuche einer solchen Vorlesung waren eher enttäuschend. Viola schrieb eifrig mit, verstand aber dennoch nur sehr wenig. Immerhin erfuhr sie, daß sie nicht allein das Opfer eines Gespenstes war. Überall auf der Welt gab es Berichte über solche Störenfriede. Alpträume waren noch das mindeste, was ihre Opfer zu erdulden hatten. Aber sie mußte auch erleben, daß Sibylle sich vor Lachen ausschüttete über ihre Versuche. »Es gibt keine Ruhe für dich, sieh es doch endlich ein«, spottete sie bei ihrem nächsten Besuch. »Nur im Tod wirst du Ruhe finden und ich auch. Du und ich, wir gehören eben zusammen, glaub es mir doch. Ihr Erdenwürmer glaubt, daß das Leben lebenswert ist. Es gibt Besseres. Darum solltest du dich nicht länger sträuben. Wir werden unseren nächsten Geburtstag gemeinsam im Reich der Toten feiern.« Viola hielt sich die Ohren zu, obwohl sie längst wußte, daß das vergebens war. Sibylles Worte drangen immer durch, ganz gleich, was sie dagegen unternahm.
Eine Abwechslung waren ihr immer die Gespräche, die sie mit Lars Björnson führte. Die Warnungen der Schwester schlug sie in den Wind. Dennoch war sie neugierig geworden. »Wie war es in Österreich?« fragte sie ihn, um ihn bei einer Lüge zu ertappen. Aber Lasse schüttelte nur den Kopf. »Ich mußte nach Norwegen fliegen, weil mein Vater schwer erkrankt war. Deshalb fiel Österreich aus. Ich konnte es dir nicht mehr erzählen, weil du schon abgereist warst. Deine Heimatanschrift wußte ich nicht, und deine Wirtin in Horben wollte ich nicht informieren. Sie hätte dich ja auch nicht mehr erreichen können. Hattest du eine schöne Zeit bei deinen Eltern?« Viola schämte sich, daß sie Sibylle fast geglaubt hätte. So wechselte sie gern das Thema und erzählte von zu Haus. »Ja. Es war wie immer, und es war schön. Es duftete nach Tannen und Wachskerzen, nach Weihnachtsgebäck und Gänsebraten, und ich wünschte mir, nie wieder hierher an die Arbeit zu müssen. Ich weiß gar nicht mehr, warum ich Jura studiere.« »Dann studiere doch etwas anderes. Was für Bücher hast du denn da in deiner Mappe?« Sie legte ihm einige Bücher aus der Parapsychologie vor. Er schüttelte nur den Kopf. »Du hältst nichts davon?« fragte Viola. »Es ist sicher sehr interessant. Aber wie willst du damit dein Geld verdienen?« »Vorerst denke ich nicht an Geld. Ich will mein Wissen in diesen Dingen erweitern. Zum späteren Broterwerb greife ich wohl doch auf meine Jurakenntnisse zurück.« »Vorausgesetzt, du hast welche!« spottete er. »Bis zum Examen werde ich welche haben«, erklärte sie. »Kein Mensch war schon im 1. Semester ein Rechtsexperte.«
Das Wintersemester näherte sich seinem Ende. Vorher waren noch ein paar Klausuren fällig, für die Viola tüchtig arbeitete. Sie sah Lasse zwar täglich in der Mensa, aber ihre Begegnungen waren nur flüchtig. Schließlich bot er sich an, sie abzuhören und ihr so bei den Vorbereitungen zu helfen. »Willst du dir das wirklich antun?« fragte sie überrascht. »Das wäre natürlich klasse! Warum tust du das?« »Erstens interessiert mich das und zweitens will ich mit dir zusammen sein und das ist leider zur Zeit nur möglich, wenn wir gemeinsam lernen.« »Du bist ein guter Freund!« lobte sie ihn. Von nun trafen sie sich täglich, manchmal in der Cafeteria der Uni, manchmal in einem Cafe in der Stadt, gelegentlich auch in Violas Appartement. Beim Lernen machte Viola große Fortschritte, denn sie wollte sich vor Lasse nicht blamieren. Und so schnitt sie denn auch in allen Klausuren mit guten und sehr guten Noten ab. »Das verdanke ich dir!« lobte sie ihn. »Ich hab’s gern getan«, wehrte er ab. Viola konnte also am Ende des Semesters mit ihren Leistungen zufrieden sein und war der Meinung, sie hätte sich eine Belohnung verdient. Sie wollte nicht die ganzen Semesterferien zu Haus in Hasselberg verbringen. Es konnte nichts schaden, wenn sie vor Ostern noch einen Urlaub nach eigenem Geschmack verlebte. Als sie im Studentensekretariat ein Plakat entdeckte, auf dem der BESONDERE AKTIVURLAUB für Studenten angeboten wurde, meldete sie sich spontan für einen Kurs im Paragleiten in Österreich und für einen zweiten im Bungeespringen in der Schweiz an. Die Schweiz und Österreich, diese Länder lagen beide sehr nah. Und vielleicht konnte sie ja auch Lasse überreden, daran teilzunehmen. Aber Lasse winkte ab. Freunde aus Norwegen
wollten den Frühling in der Toskana erleben und auf der Fahrt dorthin ein paar Tage Rast in Freiburg machen. »Schade«, sagte Viola. »Meinst du, wir könnten im Sommer etwas gemeinsam unternehmen? Am liebsten würde ich mal wieder Wassersport betreiben.« »Ich höre mich mal um«, versprach Lasse, und damit mußte sich Viola zufriedengeben. Den Eltern teilte sie mit, daß sie in der zweiten Märzhälfte nach Hause käme. Am 14. April finge das Sommersemester wieder an, dann müßte sie zurück in Freiburg sein. Sie hätte also ungefähr vier Wochen Heimaturlaub und freue sich schon darauf. Natürlich sei das Wintersemester jetzt schon zu Ende gegangen, aber es gäbe noch ein paar studentische Veranstaltungen, an denen sie teilnehmen wolle. Es war nicht direkt gelogen, das nicht. Aber es war auch nicht die ganze Wahrheit. Wenn sie aber den Eltern schrieb, daß sie Bungeespringen und Paragleiten lernen wollte, dann würden sie ihr das mit Sicherheit verbieten. Möglicherweise kam sofort die Mutter nach Freiburg, um sie selbst heimzuholen. Sie hatte ihrem Vater versprochen, nie wieder mit dem Fallschirm abzuspringen, und hatte dieses Versprechen auch gehalten. Aber was sie jetzt plante, war eben kein Fallschirmspringen. Sie dachte lieber nicht daran, ob er auch hier Einwendungen haben könnte. Vorsichtshalber fragte sie ihn gar nicht erst nach seiner Meinung. Viola war keineswegs eine Draufgängerin. Als Kind war sie eher ängstlich gewesen und später als Teenager recht zurückhaltend. Wenn sie sich jetzt auf diese waghalsigen Unternehmungen einlassen wollte, dann tat sie es nur, um endlich, endlich ihre Zwillingsschwester abzuschütteln. Bisher hatten ihre Bemühungen keinen Erfolg gehabt, aber das konnte sich ändern.
Jetzt war Mitte Februar, noch sechs Monate, dann feierte Viola ihren zwanzigsten Geburtstag. Bis zu diesem Tag, das hatte Sibylle versprochen, würden die beiden Schwestern gemeinsam tot sein. Noch sechs Monate, einhunderteinundachtzig Tage. Mit jedem Tag kam Viola ihrem Tod ein Stück näher, falls es ihr bis dahin nicht gelang, Sibylle zu vertreiben. Aber sie hatte noch kein passendes Rezept gefunden, weder in den parapsychologischen Büchern, noch in ihren eigenen Überlegungen. Doch sie wollte es zumindest versuchen. Sie dachte an den Schmerz ihrer Eltern, wenn sie auch noch die zweite Tochter verlieren sollten, an die Patentante, und an Lasse. Sie alle würden Violas Tod nicht begreifen. Vielleicht ahnte ihr Vater ein wenig von ihren Problemen, hatte sie ihn doch einmal deswegen in der Praxis aufgesucht. Aber daß sie sich aus solchen Gründen in allerlei Abenteuer eingelassen hatte, würde er nicht verstehen. Von beiden Veranstaltungen fand zuerst das BungeeSpringen in der südlichen Schweiz, im Tessin, statt. Hier gab es eine enge Schlucht, die sich gut für das Bungee-Springen eignete. Auf einer Plattform standen die Springer mit erwartungsvollen, aber zum Teil auch mit ängstlichen Gesichtern. Ihre Lehrer gaben letzte Ratschläge, auch ein paar Techniker waren dabei. Sie wechselten einander ab, um das Gummiseil und die Gurte ständig zu überprüfen. Als Viola in die Tiefe schaute, schauderte es sie. Freiwillig wollte sie dort hinabspringen? Nur gesichert durch ein Gummiseil? Plötzlich erschien ihr alles der helle Wahnsinn zu sein. »Du kannst oben bleiben, Viola!« kam die Stimme ihrer Schwester. »Niemand wird dich tadeln deswegen. Es gibt immer einige, die sich nicht überwinden können.«
»Halt den Mund!« flüsterte sie zurück. »Ich will springen, und ich werde springen. Es wäre mir lieb, wenn du mich endlich in Ruhe ließest.« »Warum sollte ich?« kicherte Sibylle. »Ich habe meine Aufgabe noch nicht erfüllt. Vergiß nicht, im August werden wir beide zwanzig Jahre alt. Das Fest feiern wir zusammen. Aber nicht in dieser Welt. Es sind noch einhundertundsiebzig Tage bis dahin.« Viola antwortete nicht. Die Angst vor dem Sprung erfüllte sie und lähmte sie fast. Noch einhundertundsiebzig Tage? Vielleicht war sie schon in dreißig Sekunden tot, zerschellt auf dem Felsengrund des Tales. »Ich hatte auch einmal diese Angst«, sagte die schreckliche Stimme, die Viola bis in ihre Träume verfolgte. »Ich weiß, was Todesangst ist. Du sollst dieses Wissen mit mir teilen. Es dauert nicht mehr lange, Viola…« Ein höhnisches Lachen erklang, ein Windstoß wirbelte alles durcheinander. Kaum drang das Kommando des Lehrers an Violas Ohr: »Springen! Eins, zwei; drei, JETZT!« War sie wirklich kopfunter gesprungen? Pfeifender Wind umgab sie, die Tiefe schoß pfeilschnell zu ihr empor, oder war sie es selbst, die ihr entgegenstürzte. In wenigen Sekunden würde sie zerfetzt am Boden liegen. Niemand konnte einen Aufprall in diesem Tempo überleben. Aber nein! Ein plötzlicher Ruck hielt sie auf, noch ehe sie den Grund erreicht hatte. Hilflos pendelte sie an ihrem Seil, bis ein Helfer kam und sie aus ihrem Gurt befreite. »Herzlichen Glückwunsch!« sagte er zu dem Neuling. »Das haben Sie großartig gemacht. Wie fühlen Sie sich?« »Es ist… es ist ein großartiges Erlebnis«, stammelte sie. »Ich fasse es noch nicht.«
»So geht es allen Neuen«, schmunzelte der Mann. »Aber der große Eindruck bleibt. Er steigert sich noch. Warten Sie, bis Sie erst Ihren zehnten Sprung hinter sich haben.« Viola antwortete nicht. Sie würde nie ihren zehnten Sprung erleben, weil sie heute das erste und zugleich letzte Mal gesprungen war. Sibylle war auch hier gewesen und hatte ihr gedroht. Man konnte ihr auch beim Bungee-Springen nicht entkommen. Es lohnte also nicht, hier noch weitere Versuche zu unternehmen. Aber sie wollte ihren Helfer nicht kränken. Er war so stolz auf die Sprunganlage. Mochte er glauben, daß sie auch in den nächsten Tagen zu seinen Gästen zählte. Viola schaute sich nicht einmal mehr um, als die anderen Springer sich in die Tiefe stürzten. Sie verließ die Schweiz vorzeitig, um ihr Glück bei den Paragleitern in Österreich zu versuchen. Weil sie ihren Kurs im Bungeespringen viel zu früh beendet hatte, blieb ihr für das Paragleiten im Zillertal weit mehr Zeit. Das war gut so, dann so konnte sie sich vorher viel intensiver mit dem neuen Sport befassen. Sie las die einschlägige Literatur, die im Sportlerhotel auslag, sie beobachtete die Kursteilnehmer, die vor ihr dran waren, und sie führte eingehende Gespräche mit den Fluglehrern und Schülern. So glaubte sie sich bestens gerüstet für die Praxis. Als sie den ersten kleinen Flug bewältigt hatte, war sie glücklich. Endlich, dachte sie, endlich der richtige Sport für mich! Keinen Augenblick der Angst hatte sie verspürt, als sie wie ein Vogel über das Tal schwebte. Hier brauchte sie nicht zu springen und nicht zu fallen, hier gab es nur ein sanftes Gleiten unter der Sonne und mit dem Wind. Die Landschaft lag wie ein großes Bilderbuch unter ihr. Es war ein ungetrübtes Vergnügen, wie sie noch keines erlebt hatte.
Aber als sie problemlos gelandet war, hörte sie wieder die Stimme, Sibylles Stimme: »Bilde dir nur nichts ein, meine Liebe. Nicht DU hast einen guten Flug vorgeführt. ICH habe dich heute einmal verschont und habe dir keinen Sturm und keinen Wolkenbruch geschickt. Du solltest noch einmal Hoffnung schöpfen, um dann umso bitterer enttäuscht zu werden. Warte es ab, was morgen mit dir geschieht!« Violas erster Impuls war: Abreisen! Sofort abreisen! Aber dann erwachte der Trotz in ihr. Sollte sie ihr Leben lang auf der Flucht vor dem Geist ihrer verstorbenen Schwester sein? Was erwartete sie, wenn sie nach Freiburg oder nach Hasselberg fuhr? Wahrscheinlich wurde sie auch dort schon von Sibylle empfangen und mit Drohungen gequält. Da sie ihr nirgendwo entgehen würde, konnte sie auch hierbleiben. Hier hatte sie einen Sport gefunden, der ihr wirklich Spaß machte. Viola beschloß zu bleiben und der Schwester die Stirn zu bieten. Am nächsten Tag war das Wetter wie geschaffen fürs Paragleiten. Eine ganz leichte Brise wehte, die Sonne schien von einem fast wolkenlosen Himmel herab. Violas gute Laune stieg. Zufrieden schwebte sie über das Tal hinweg. Schade, daß sie nicht jodeln konnte, es hätte genau zu ihrer Stimmung gepaßt. Wie gut, daß sie sich nicht von Sibylles Warnung hatte einschüchtern lassen. Was sollte jetzt noch passieren? In wenigen Minuten würde sie ihren Flug beenden und eine Bilderbuchlandung hinlegen. Aber es kam anders. Ein anderer Flugschüler hatte die Herrschaft über sein Fluggerät verloren und rammte von hinten den rechten Flügel von Violas Gleiter. Beide stürzten senkrecht zu Boden und schlugen ziemlich unsanft auf den Hang.
Violas Gesicht war blutüberströmt. Ehe sie recht begriffen hatte, was ihr geschehen war, hatten schon einige Sanitäter sie auf eine Trage gelegt und sie zu einer Unfallstation geschafft. Dort wurde erste Hilfe geleistet. Ein Gendarm befragte sie nach dem Unfallhergang. Er machte Viola keine Vorwürfe, denn er hatte mitangesehen, wie der andere Sportler den Zusammenstoß verursacht hatte. Aber Viola wußte es besser: Nur Sibylle hatte Schuld daran. Hatte sie ihr nicht schon gestern ein schlimmes Ereignis vorausgesagt? Aber das konnte sie dem Gendarm nicht sagen. »Warum eigentlich nicht?« fragte die unbekannte Stimme. »Soll er doch wissen, daß hier übersinnliche Kräfte am Werk sind. Du schämst dich noch immer deiner Schwester.« »Weil du nur Unglück und Schrecken verbreitest.« »Heute habe ich dich zum Beispiel gerettet. Dein Flugkamerad hat dich in Lebensgefahr gebracht, aber ich habe dafür gesorgt, daß du nur leicht verletzt wurdest. Aber Dankbarkeit ist wohl nicht deine Sache.« »Du tust es ja nicht, um mich zu retten, sondern um mich weiter quälen zu können. Wie sagtest du doch? Siebenmal soll ich Todesangst haben, dann wäre ich tot…« »Sieh es doch so: Dann bist du endlich erlöst von aller Todesangst.« »Ich werde aufhören mit allen Extremsportarten. Dann fehlt die Gefahr, und ich kann ruhiger leben.« »Was bist du doch für eine Närrin. Todesgefahren gibt es auch im täglichen Leben, im Straßenverkehr, in der Eisenbahn. Ja, selbst im Haushalt. Es gibt genügend Gelegenheiten, dich in Furcht und Schrecken zu versetzen.« Nach diesem Unfall verbrachte Viola noch ein paar Tage in Österreich. Sie wurde ambulant behandelt, weil ihre Verletzungen nicht schwerwiegend waren. Sie wollte hierbleiben, bis auch die letzte Spur der Verletzungen nicht
mehr sichtbar war. Es war schließlich nicht nötig, daß ihre Eltern von diesem neuen Unfall erfuhren. So verbrachte sie ihre Tage mit harmlosen Spaziergängen und Faulenzen und erholte sich gut dabei. Auch ihre strapazierten Nerven kamen wieder zur Ruhe. Nicht einmal Sibylle störte diese friedliche Zeit. Sie hatte wohl eine Verschnaufpause eingelegt, ehe sie zum letzten Angriff startete. Mitte März traf Viola pünktlich in Hasselberg ein, herzlich begrüßt von ihren Eltern und Tante Leonie, die auch für ein paar Tage gekommen war. Sogar ein paar ehemalige Schulkameradinnen kamen, um alte Erinnerungen aufzufrischen und über ihre Zukunftspläne zu plaudern. Viola war merkwürdig schweigsam, wenn von der Zukunft gesprochen wurde. Ihre Zukunft betrug nur noch einhundertfünfundfünfzig Tage. »Ich studiere Jura. Mehr kann ich dazu nicht sagen«, sagte sie, wenn sie nach den eigenen Plänen gefragt wurde. Als die Eltern eines Abends ausgegangen waren, stöberte sie im Bücherschrank nach alten Fotoalben. Endlich hatte sie gefunden was sie suchte: Ein Album aus ihren ersten Lebensjahren. Mit großen Augen betrachtete sie die Bilder: Mutti mit je einem Säugling auf beiden Armen, strahlend vor Glück. Auch Vati sah man mit seinen beiden Töchtern. Noch nie hatte Viola diese Fotos gesehen. Offenbar hatte Mutti sie vor ihr versteckt. Sie sollte nicht wissen, daß sie eine Schwester gehabt hatte. Vor allem aber sollte sie niemals erfahren, daß sie den Tod der kleinen Sibylle verursacht hatte. Man sah die beiden Krabbelkinder. So sehr Viola sich auch anstrengte, sie konnte nicht erkennen, wer Viola und wer Sibylle war. Sie ähnelten einander wahrhaftig wie ein Ei dem anderen. Und sie taten wie lebende Spiegelbilder immer das Gleiche. Brüllte die eine, dann brüllte auch die andere. Lachten sie, dann lachten beide gleichzeitig. Um sie
auseinanderzuhalten, hatte Mutti die eine Tochter in blaue und die andere in rosa Kleider gesteckt. Aber Viola wußte nicht, wer von ihnen hellblau und wer rosa gekleidet war. Ratlos stellte sie also die Alben wieder in den Schrank. Sie würde Mutti einmal nach eigenen Kinderfotos fragen. Dann mußte sie zwangsläufig darauf stoßen, daß es von ihr ein Ebenbild gegeben hatte. Ob Mutti endlich bereit war, mit ihr über die Vergangenheit zu sprechen? Sie war eigentlich nach Haus gekommen, um in den letzten Ferienwochen wieder zur Ruhe zu kommen. Sie hatte es aufgegeben, ihr zweites ICH durch allerlei waghalsige Unternehmungen abzuschütteln. Sibylle konnte man nicht vertreiben. Sie war ein Geist und lebte in einer Welt, die Viola bisher verschlossen war. Wenn sie allein war, dachte Viola angestrengt über die Worte ihrer Schwester nach. Sie zweifelte nicht mehr daran, daß diese alle ihre Voraussagen wahrmachen würde. Sibylle hatte ihr versprochen, daß sie sieben mal Todesangst erleben würde, ehe sie durch den Tod selbst davon erlöst wurde. Sie begann nachzuzählen: Da war der Fallschirmunfall gewesen, und dann die Betriebsstörung im Eisenbahntunnel, danach folgte der Bungee-Sprung und zuletzt das Paragleiten. Viermal Todesangst. Noch einhundertfünfzig Tage… Wenn Sibylle die Wahrheit gesprochen hatte und wenn sie gemeinsam im Totenreich ihren 20. Geburtstag feiern sollten, dann mußte sie in diesen einhundertfünfzig Tagen noch zweimal Todesangst erleben, um beim dritten Mal wirklich den Tod zu finden. Je näher der Tag kam, umso weniger fürchtete Viola den Tod. Sie würde in eine andere Wirklichkeit eintreten, wie Sibylle es schon lange vor ihr getan hatte. Der Gedanke verlor seine Schrecken für sie. Aber dann gab es auch wieder Augenblicke, wo sie sich gegen das drohende Schicksal aufbäumte. Dann wollte sie leben, leben, leben…
Noch einhundertundzwanzig Tage bis zu ihrem Geburtstag. Jessica Thorn, die ehemalige Schulfreundin kam zu Viola und fragte sie, ob sie Lust zu einem Segeltörn auf der Ostsee hätte. Ihr Bruder sei ein guter Segler und habe eine Jolle gemietet. Wenn der Wind gut stehe, dann könnte man vielleicht sogar nach Alsen segeln und sich dort an echtem dänischen Plundergebäck laben. Viola nachte nach. Hatte sie nicht auf einer Segelfahrt die besten Stunden verlebt, seit Sibylle in ihr Leben getreten war? Sibylle verabscheute das Wasser und würde Viola auch diesmal wieder in Ruhe lassen, so lange diese auf dem Meer war. »Das ist ein guter Gedanke!« sagte sie nach einigem Zögern. »Allmählich wird es langweilig zu Haus. Ich kann nicht einmal arbeiten, weil alle meine Bücher in Freiburg geblieben sind.« Es war abgemacht, und Viola begann, sich darauf zu freuen. Sie bekam viele gute Ratschläge von den Eltern mit und versprach, alles zu beachten. Im übrigen seien sie alle vier gute Schwimmer, sagte sie ihren Eltern, und könnten jederzeit die Küste schwimmend erreichen, da sie sich immer im Küstenbereich aufhalten wollten. Der Tag ließ sich gut an. Das Wetter war herrlich, die Sonne wärmte sogar. Allerdings war das Wasser noch viel zu kalt, um ein Bad zu nehmen. Ein leichter Südwind unterstützte ihre Fahrt nach Norden. Kaffee und Kuchen auf der Insel Alsen übertraf alle ihre Erwartungen. Als sie jedoch zur Jolle zurückkehrten, hatte sich der Wind verstärkt. Schaumkronen waren auf den graugrünen Ostseewellen. »Kommen wir gegen diesen Wind nach Haus zurück?« fragte Viola. Jessicas Bruder lachte nur. »Kein Problem«, sagte er. »Wir müssen kreuzen. Eine Windstille wäre schlimmer. Aber wenn man die Segel richtig
setzt, dann kann man auch mit dem Wind von vorn gute Fahrt machen. Für den äußersten Notfall setzen wir den Außenbordmotor ein.« Es war, als hätte sich einfach alles gegen sie verschworen. Der Wind frischte auf, je mehr sie sich von Alsen entfernten. Das Boot neigte sich weit zur Seite. Es war ja nur eine Jolle, die keinen Kiel hat, sondern nur einen flachen Boden. Sie kann darum leicht kentern und wird vorzugsweise auf Binnengewässern verwendet. Ernste Sorgen hatten die vier noch nicht. Zur Sicherheit wollten sie die Schwimmwesten anlegen. »Falls doch mal einer über Bord gespült wird«, sagte der verantwortliche Segler und grinste dabei. Alle lachten. Ein solches Ereignis erschien ihnen völlig ausgeschlossen. Aber selbst das Anlegen der Schwimmwesten wurde schwierig, denn sie wußten nicht einmal, wo diese vom Bootseigner untergebracht waren. Es dämmerte ihnen, daß sie reichlich leichtfertig am Morgen die Fahrt begonnen hatten. Als sie endlich fündig geworden waren, war das Anlegen schon fast unmöglich geworden. Der Sturm riß sie ihnen fast aus den Händen. Sie waren kaum fertig damit, als eine gewaltige Welle heranrollte und sie alle ins Meer stieß. Das Wasser war eisig kalt und stach wie mit Nadeln. Viola schloß die Augen und ließ sich treiben. Als sie kurz einmal aufblickte, war nichts mehr von den Freunden zu sehen. Auch die Jolle war verschwunden. Viola wußte in etwa die Richtung und versuchte, dorthin zu schwimmen. Sie rechnete, daß es von Alsen aus bis zum nächstgelegenen Küstenabschnitt von Schleswig-Holstein etwa 4 km sein würden. Davon hatten sie noch auf der Jolle ungefähr 2 km zurückgelegt. Sie hatte also noch einmal die gleiche Strecke zu schwimmen. Im Sommer, bei normalen
Temperaturen, wäre das kein Problem für sie gewesen. Aber jetzt war es fast unmöglich. Sie fühlte, wie die Kälte in ihrem Körper aufstieg, wie sie mehr und mehr von ihr Besitz ergriff und wie sie förmlich erstarrte. Viola sah keinen Ausweg mehr. Sie würde ertrinken und schon heute sterben. Dann hatte Sibylle es geschafft. »Wie schön ist doch der Tod im kalten Wasser«, höhnte die Stimme Sibylles ganz in ihrer Nähe. »Weißt du jetzt, wie ich gelitten habe? Dabei war ich doch noch ein ganz kleines Kind.« Viola wollte antworten, aber eine Welle schwappte ihr in den schon geöffneten Mund. Sie hustete und spuckte und brachte kein Wort heraus. »Du hast geglaubt, daß du im Wasser vor mir sicher bist, nicht wahr?« fuhr Sibylle fort. »Es hat bisher gestimmt, aber auch ich lerne dazu. Ich mußte erfahren, daß du im Wasser Zuflucht vor mir suchst. Also suche ich dich künftig auch dort auf. Ich habe meine Angst überwunden, du wirst sie auch überwinden. Ich freue mich schon auf dein Kommen. Weißt du noch, welch schöne Kindheit wir hatten?« »ICH hatte sie, du nicht«, sagte Viola mit letzter Kraft. »O nein, ich auch. Erinnerst du dich nicht, wie wir zusammen gesprochen haben, beim Spielen oder wenn du Hausaufgaben machtest? Ich war deine STIMME, dein zweites ICH. Damals durfte ich dich begleiten, unerkannt und ungesehen. Bald hole ich dich zu mir, dann sind wir für immer vereint.« »Ich will nicht!« stöhnte Viola. »Du wirst nicht gefragt. Auch mich hat niemand gefragt.« Sibylles Stimme wurde fast vom Rauschen des Meeres übertönt. Leiser und leiser drang sie an Violas Ohren, bis sie völlig verstummte. Kraftlos wurde sie zum Spielball der Wellen. War dies das Ende? Eine gnädige Ohnmacht umfing sie.
Viola erwachte einmal wieder in einem Krankenhausbett. Ihre Eltern saßen an ihrer Seite. Zufrieden schloß sie ihre Augen wieder, ein Lächeln spielte um ihre Lippen. »Bin ich tot?« fragte sie. Dr. Dombrath ergriff die Hand seiner Tochter und streichelte sie. »Nein, mein Kind, du lebst, und wir sind dem Schicksal sehr dankbar dafür. Aber es hat tatsächlich nicht viel gefehlt. Du wärest wahrscheinlich nicht ertrunken, sondern an Unterkühlung gestorben. Die Ostsee ist noch reichlich kalt für stundenlange Bäder.« »Was ist mit den anderen?« fragte Viola angstvoll. »Sie leben alle drei. Auch die Jolle ist herrenlos an den Strand gespült worden. Die drei anderen haben das Ufer schwimmend erreicht und haben gleich den Seenotdienst alarmiert. Ein Hubschrauber hat dich geortet und das Seenotboot an die richtige Stelle geleitet. Jessica hat uns informiert. Übrigens, du bist in einer Flensburger Klinik. Wir sind gleich hierhergekommen. Und jetzt hoffen wir, dich bald nach Hause holen zu dürfen.« »Wir hatten große Sorgen um dich, Viola«, sagte die Mutter leise. »Wann wirst du mit deinen waghalsigen Unternehmungen endlich aufhören?« »Ihr wußtet doch, daß ich segeln wollte. Ihr habt mir viele gute Ratschläge mit auf den Weg gegeben«, verteidigte sich Viola. »Nur eins habt ihr auch nicht gewußt: Wie man einen plötzlichen Sturm verhindert.« Zwei Tage später konnte Viola nach Haus entlassen werden. Ihre Mutter holte sie in der Klinik ab. Viola fand ihr Zimmer blumengeschmückt vor. Alle ihre Leibspeisen hatte Mutti für sie gekocht und auch den Lieblingskuchen gebacken. Fast hätte Viola vor Rührung geweint.
Sie verbrachte die restliche Zeit der Semesterferien fast ausschließlich zu Hause. Auch das Osterfest fiel noch in diese Zeit. Sogar ein Ostereiersuchen im Garten gab es. Viola fühlte sich lebhaft an ihre Kindheit erinnert. Sie nahm sich vor, sich nicht länger gegen die Schwester zu wehren. Wenn ihr der Tod bestimmt war, wie Sibylle es sagte, dann wollte sie ihn hinnehmen, ganz ohne Kampf und ohne Auflehnung. Sie war des Kämpfens müde geworden. Noch einhundertundzehn Tage, bis es soweit war. 110 Tage, das waren 2640 Stunden. Viola ertappte sich dabei, wie sie die Tage in ihrem Taschenkalender markierte.
*
Sie war froh, als sie wieder nach Freiburg zurückkehren konnte. Freiburg, das bedeutete ein Wiedersehen mit Lasse, das hieß aber auch Arbeit und vielerlei Aufgaben. Eigentlich war es gut, wenn sie Pflichten hatte, dann konnte sie nicht soviel grübeln. Dann würde sie nicht immer an das Ende im August denken. Dann hatte auch die Angst keinen Platz mehr in ihrem Herzen. Kam der Tod, dann würde sie mit ihm gehen. Aber es war sinnlos, sich schon vorher vor diesem Augenblick zu fürchten. Lasse freute sich, als er sie sah. Er war schon vor einigen Tagen aus Skandinavien zurückgekommen. Er berichtete aus seiner Heimat, von den Treffen mit Freunden und von dem Wiedersehen mit seinen Eltern. »Gibt es auch Freundinnen in Norwegen?« fragte Viola neugierig. »Keine ist wie du!« behauptete er.
»Es gibt sie also!« beharrte Viola: »Nichts Ernstes«, erklärte Lasse und schaute sie aus blauen Augen treuherzig an. »Ein paar ehemalige Studienkameradinnen, ein paar Kusinen aus der großen Sippe… wie es halt so ist.« »Wann läuft eigentlich dein Stipendium aus?« fragte Viola. »Mit dem Ende des Sommersemesters. Das ist etwa Mitte Juli vorbei. Aber da ich nun mal so weit im Süden bin, dachte ich an einen zusätzlichen Sommerurlaub in Spanien oder Italien. Nach Norwegen komme ich dann immer noch früh genug zurück. Hast du Lust mitzukommen, Viola? Wir könnten gemeinsam eine Tauchschule besuchen? Du hast dich doch dafür interessiert, nicht wahr?« Mitte Juli? Dann hatte sie jetzt noch 31 Tage zu leben. Sollte sie dann noch Tauchen lernen? Hatte sie jemals einen solchen Wunsch geäußert? Das Interesse daran war ihr inzwischen vergangen. Sie suchte gar keine Abenteuer mehr. Aber das konnte sie Lars nicht erklären. So sagte sie nur: »Du kannst dich ja mal unverbindlich erkundigen, Lars. Dann kann ich mich immer noch entscheiden.« Vorerst waren ihre Ziele bescheidener. Sie wanderten zusammen am Wochenende durch den Schwarzwald und erzählten sich gegenseitig aus ihrem Leben. Viola war noch nie in Norwegen gewesen. Sie lauschte darum interessiert seinen Berichten. »Es muß schön sein bei euch«, sagte sie. »Warum kommst du nicht einmal? Es lohnt sich.« »Ich fürchte, ich habe nicht mehr die Zeit dazu.« Viola dachte an die neunzig Tage, die sie jetzt noch hatte, und an die dreißig Tage, die ihr nach Semesterschluß noch blieben. Natürlich verstand Lasse ihren Einwand nicht. »Ich würde mich sehr freuen, wenn du kämest. Ich würde dir alle Sehenswürdigkeiten zeigen.«
»Er lügt«, flüsterte die STIMME Viola ins Ohr. »Laß das. In neunzig Tagen hast du dein Ziel erreicht«, dachte Viola. »Bis dahin will ich nichts von dir wissen.« »Das solltest du aber, Lasse ist ein Lügner. Er ist in Norwegen verheiratet. Dir sagt er, daß er dich liebt und seiner Frau schreibt er zu gleicher Zeit, wie sehr er sie vermißt.« »Ich glaube eher, daß du lügst«, dachte Viola. »Habe ich dich je belogen?« ereiferte sich Sybille. »Ich will dir beweisen, wie aufrichtig ich bin: In fünfzehn Minuten kommt ihr an einen Aussichtspunkt. Man kann dort weithin alle Schwarzwaldgipfel sehen und hat eitlen Fernblick bis zu den Vogesen. Sogar ein kleiner Aussichtsturm steht dort. Er ist aus Holz und schon ziemlich baufällig. Steigt nicht hinauf, denn ein Blitz wird ihn in Brand setzen.« Viola lachte nur. Weit und breit waren keine Wolken zu sehen, ein Gewitter war daher mehr als unwahrscheinlich. »Warum bist du so schweigsam?« fragte Lasse in Violas Gedanken hinein. Daß sie sich gerade mit Sybille unterhalten hatte, konnte sie ihm nicht sagen. Sie schaute auf ihre Uhr, die gerade 15.25 anzeigte. Um 15.40 sollte sich der Brand ereignen. Viola war gespannt. Wirklich, sie erreichten kurz darauf den angekündigten Aussichtspunkt. Hier gab es Tafeln, die die umliegenden Gipfel nannten und ein Fernrohr, das man für 50 Pfennig bedienen konnte, aber auch der erwähnte Aussichtsturm stand auf dem höchsten Punkt ihrer Anhöhe. Lasse freute sich wie ein Kind über die vielen Möglichkeiten und probierte eine nach der anderen aus. »Jetzt nur noch der Turm! Kommst du mit? Wir werden einen überwältigenden Blick haben«, forderte er Viola auf. »Ich gehe nicht da rauf!« weigerte sich Viola. »Der Turm ist baufällig. Und dann das verwitterte Holz. Ein einziges
brennendes Streichholz und er steht in Flammen. Bitte, Lasse, bleib unten bei mir. Wir haben hier die gleiche Aussicht!« Verstohlen schaute sie auf ihre Uhr. Noch eine Minute, dann war es so weit. Sie mußte Lasse von seinem Vorhaben abbringen, mußte ihn wenigstens noch für diese kurze Zeit zurückhalten. 15.40 Ein Knall und ein Donner zerrissen die friedliche Stimmung. Ein Blitz zuckte auf und setzte in Sekundenschnelle den hölzernen Turm in Brand. Weinend verbarg Viola ihr Gesicht an Lasses Brust. In einiger Entfernung setzten sie sich in das Gras und beobachteten, wie der Turm den Flammen zum Opfer fiel. Zeitweilig sah er wie eine riesige brennende Fackel aus. Dabei war der Himmel noch immer wolkenlos, und die Sonne schien wie zuvor. Ein Gewitter konnte es also nicht gewesen sein. Lasse fand des Rätsels Lösung: Gleich hinter dem Turm hatte sich eine elektrische Leitung befunden, die sich aus unbekannten Gründen in einem Kurzschluß entladen hatte. »Wenn es nach mir gegangen wäre, dann wären wir jetzt mit dem Turm verbrannt«, sagte Lasse nachdenklich. »Wie konntest du das nur wissen?« »Ich wußte es nicht. Ich hatte plötzlich schreckliche Angst, den Turm zu besteigen.« »Ein sechster Sinn. Bei uns sind die Trolle dafür zuständig.« Höhnisches Gelächter drang an Violas Ohr. Sybille meldete sich wieder. »Glaubst du mir nun? Ich sage dir, Lasse ist schon verheiratet, er ist ein Lügner.« »Er hat mir nie die Ehe versprochen«, dachte Viola. »Er ist ein netter Begleiter und ein guter Freund. Ich brauche keinen Ehemann für die letzten neunzig Tage meines Lebens.«
Lasse überraschte Viola eines Tages mit der Ankündigung, daß er einen Tauchkursus für Studenten an der Costa Brava gefunden habe. »Ich habe gleich für uns beide gebucht«, sagte er, »denn die Nachfrage war groß. Wenn ich noch gewartet hätte, dann wären wir nicht mehr untergekommen.« »Und wann ist das genau?« fragte Viola. »Vom 20. Juli bis zum 8. August.« Viola zögerte. Sie wollte keine Abenteuer mehr, aber sie wollte auch Lasse die Freude nicht verderben. So sagte sie zu, plante aber, die Zeit vorwiegend für einen Badeurlaub zu verwenden. Mochte Lasse inzwischen tauchen, sie würde schwimmen, lesen, faulenzen. Als es soweit war, fuhren sie mit einem Trupp unternehmungslustiger Studenten und Studentinnen im Bus von Freiburg bis an die Costa Brava. Unterwegs wurde viel gesungen und gelacht. Viola fühlte sich wie ein Fremdling unter ihnen. Aber sie konnte es ihnen nicht übelnehmen. Nur sie wußte, daß sie in dreißig Tagen sterben mußte. Die anderen hatten noch ein langes Leben vor sich. Ihr Ziel lag nah an der französischen Grenze. Hier fielen die Pyrenäen ins Meer, so daß es überall Felsenriffe und kleine Buchten gab. Für die Meerestiere boten die Klippen vorzügliche Schlupflöcher, die sich zusätzlich unter den Algen versteckten. Diese bewegten sich anmutig im Meeresstrom. See-Anemonen leuchteten im dunklen Meer. Bunte Fische und Krebse suchten ihre Beute. Es war eine zauberhafte, unbekannte Welt. Bei einem Einführungsvortrag, wurden herrliche Filme und Dias gezeigt. Viola machte große Augen. Sollte sie tauchen oder nicht? Als alle anderen schon ihre ersten Tauchversuche machten, hielt sie sich noch zurück. Es war ja richtig, sie hatte kein neues Abenteuer gewünscht. Aber was erwartete sie denn
sonst? Täglich rückte der Termin ihres Todes näher, jeden Tag wurde ihr Leben kürzer. War es nicht besser, jetzt noch einmal die Gefahr zu suchen? Dieses Mal nicht, um ihrer Schwester Sibylle zu entkommen, sondern selbst den Tod zu finden. Auch drängten die anderen Teilnehmer und der Kursleiter, Viola sollte sich doch endlich zum Tauchen entschließen. Es sei eine wunderbare Welt, die ihr am Strand verschlossen bliebe. Die ersten Versuche verliefen auch zufriedenstellend. Viola wunderte sich jedesmal wieder, wenn sie hernach lebend in das Sonnenlicht zurückkehrte. Allmählich fand sie Geschmack an diesem neuen Sport. Von Sibylle hörte sie nichts mehr, seit sie mit den anderen tauchte. Das war ein Grund mehr, täglich auf den Meeresgrund hinabzusteigen. Doch dann ereignete sich ein verhängnisvoller Unfall. Bisher hatte Viola nur mit Schnorchel, Maske und Flosse getaucht. Das bedeutete, daß sie keine großen Tiefen und auch keine lange Tauchdauer erreichen konnte. Jetzt sollte sie es einmal mit einem Gerät versuchen. Die Luft wurde ihr von der Oberfläche aus durch Pumpen und Schläuche zugeführt. Sie konnte sich also viel weiter in die Tiefe wagen. Doch schon bald wurde ihr schwindelig. Sie wußte nicht mehr, wo oben und unten war und geriet in Panik. War das der gefürchtete Tiefenrausch? Kurz darauf bekam sie Atemnot und bediente das Alarmgerät. Doch eine Wirkung stellte sich nicht ein. Niemand kam ihr zu Hilfe. Offensichtlich war sie nicht gehört worden. Das Wasser war nicht länger eine Wunderwelt für sie, es wurde zur tödlichen Gefahr. Wie lange kämpfte sie schon? Sie wußte es nicht. Es schien Ewigkeiten her zu sein, seit sie hinabgetaucht war. Ihr letzter Gedanke war: Dies ist das Ende. Dann wurde sie ohnmächtig. Dunkle Nacht herrschte plötzlich um sie, dabei hatte das Meer noch vor kurzem im Sonnenlicht türkis geleuchtet. Haltlos taumelte Viola durch die Wogen.
Lasse vermißte sie und schlug Alarm. »Sie hat sich nicht mehr gemeldet«, sagte der Einsatzleiter beunruhigt. »Können Sie nach unten gehen? Wir holen sie beide langsam hoch. Achten Sie unbedingt darauf, daß sie nicht zu schnell aufsteigt. Das Auftauchen muß in Stufen erfolgen.« Lasse sprang ins Meer. Die Sorge um Viola trieb ihn nach unten. Aber er durfte nichts übereilen, sonst waren sie beide gefährdet. Als er Viola fand und sie vorschriftsmäßig langsam nach oben brachte, fiel ihm ein Stein vom Herzen. Aber noch war die Gefahr nicht gebannt. Viola lag kreidebleich und leblos vor ihm im Sand. Ein Arzt aus der Gruppe bemühte sich um sie. »Wird sie leben?« fragte Lasse den Arzt. »Ich glaube schon. Aber auf das Tauchen sollte sie doch lieber verzichten. Nicht jeder ist dafür geeignet.« Man schaffte die Bewußtlose in einen Sanitätsraum am Strand. Lasse saß neben ihr und hielt ihr die Hand. Es dauerte im viel zu lange, ehe sie endlich, endlich die Augen aufschlug und wieder auftauchte. Ihre ersten Worte waren rätselhaft. »Warum hast du mich nicht sterben lassen, Sibylle? Das ist doch sowieso dein Ziel. Ob heute oder in 25 Tagen.« »Was redest du da, Viola?« fragte Lasse verwundert. »Hier ist keine Sibylle. Nur ich bin hier, Lasse.« »Ja, du, Lasse. Sag mir die Wahrheit. Bist du in Norwegen verheiratet?« Er seufzte tief. Aber er hatte das Gefühl, daß er jetzt nicht lügen durfte. »Ja, ich bin verheiratet. Es tut mir leid, wenn du dir Hoffnungen gemacht hast, Viola. Aber ich habe dir nie etwas versprochen. Du und ich, wir hatten eine sehr schöne Freundschaft miteinander. Das war keine Beziehung, die meine Ehe hätte stören können.«
»Geh jetzt, Lasse, ich bin müde.« Auf Zehenspitzen verließ Lasse den Raum. Aber Viola fand noch keine Ruhe. Ihr Quälgeist war zur Stelle und fragte: »Glaubst du nun, daß ich es ernst meine? Bald haben wir beide Geburtstag. Dann hole ich dich zu mir.« Viola antwortete nicht. Sie rollte sich auf ihrer Pritsche. Schon am nächsten Tag fuhr sie mit dem Zug zurück nach Deutschland. Mit dem Hispania-Express erreichte sie Freiburg bereits in zwölf Stunden.
*
Sobald Viola sich wieder etwas besser fühlte, stürzte sie sich wieder in die Arbeit. Aber die juristischen Bücher legte sie bald wieder beiseite. Sie erwartete in Kürze ihren Tod, da war ihr das Bürgerliche Gesetzbuch und auch das Strafgesetzbuch herzlich egal. Sie wandte sich wieder der Parapsychologie zu und versuchte, in der Fachbibliothek einige einschlägige Bücher zu finden. Hoffte sie etwa auf eine Rettung in letzter Minute? Nach langem Suchen fand sie einen Titel, der vielleicht Hilfe für ihr Problem versprach. »Tote, die zurückkamen und ihr Umgang mit den Lebenden.« Sie griff danach, aber eine andere Hand wollte dasselbe Buch ergreifen. Die beiden Hände begegneten sich auf dem Bücherregal. Unwillig schaute Sybille auf. Die fremde Hand gehörte einem Studenten, der offensichtlich das gleiche Interesse hatte wie sie. »Ich brauche das Buch!« sagte sie verzweifelt. »Es ist für mich eine Frage von Leben und Tod.«
»Ich brauche es auch«, sagte der Student. »Mein Grund ist nicht so dramatisch. Aber mir fehlt es sehr für eine schriftliche Hausarbeit.« »Sollen wir losen?« schlug Viola vor. »Nein«, sagte er. »Ich lasse Ihnen den Vortritt. Unter einer Bedingung…« »Ja?« fragte sie mit klopfendem Herzen. »Wir machen jetzt einen kleinen Ausflug in den Schwarzwald. Ich weiß ein hübsches Lokal in Weilersbach, das liegt kaum 15 Autominuten von hier entfernt. Dort trinken wir ein Viertele, und Sie erzählen mir, warum Sie das Buch brauchen. Abgemacht?« Viola schaute zu ihm auf und blickte in zwei schöne braune Augen, die sie voll Mitgefühl betrachteten. Hatte er ihre Todesnot bemerkt? Plötzlich faßte sie Vertrauen zu diesem Mann, den sie nicht kannte und der vielleicht nur heute ihren Weg kreuzen würde. Wäre es nicht gut, sich einmal alle Qual vom Herzen zu reden, zu einem Menschen, dem man vertraute? Daß er ein Unbekannter war, konnte ihr nur recht sein. In zehn Tagen war ihr 20. Geburtstag und zugleich ihr Todestag. War sie erst gestorben, dann war es ihr egal, wer ihr Geheimnis mit ihr teilte. Der Fremde sah, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. »Na, wie ist’s?« munterte er sie auf. »Was halten Sie von meinem Vorschlag?« »Ich bin einverstanden. Aber Sie müssen mir Ihr tiefstes Schweigen versprechen. Kein Mensch außer ihnen darf je erfahren, was ich Ihnen anvertraue!« »Versprochen!« sagte er. Sie fuhren in seinem Wagen aus der Stadt heraus. An einer wunderschönen Waldwiese lag das Lokal, von dem er gesprochen hatte. Jetzt am späten Nachmittag waren sie noch die einzigen Gäste.
»Übrigens: Ich heiße Kevin Reimann und studiere Psychologie im zehnten Semester. Ich werde mich also bald dem Examen stellen. In meiner Examensarbeit tauchen verschiedene Fragen auf, die die Parapsychologie berühren. Daher auch mein Interesse für das Buch. Ich habe Sie noch nie in den psychologischen Vorlesungen gesehen. Sind Sie auch vom Fach? Oder fangen Sie erst an?« »Ich habe zwei Semester Jura studiert. Im Oktober würde ich mit dem dritten beginnen, wenn, ja wenn ich dann nicht tot bin.« »Wieso?« fragte Kevin entsetzt. »Sind Sie krank? Oder verfolgt man Sie?« »Zunächst einmal: Ich heiße Viola, Viola Dombrath. Wir sollten DU sagen, wie es unter Studenten üblich ist. Ich bin nicht krank, aber meine verstorbene Zwillingsschwester will meinen Tod. Noch im August feiern wir beide unseren 20. Geburtstag, er soll zugleich mein Todestag werden, so will es meine Schwester. Wir wären dann im Tod vereint, so wie es sich für Zwillinge gehört.« »Und wie verständigt sich deine Schwester mit dir?« »Sie spricht mit mir, schon seit meiner frühen Kindheit. Sie prophezeit mir Böses, was eigentlich immer eingetroffen ist. Sie spielte mir oft Streiche und jetzt will sie meinen Tod.« »Das interessiert mich allerdings«, sagte Kevin und trank Viola zu. »Kannst du mir alles der Reihe nach erzählen, was sich zugetragen hat?« Viola berichtete. Von dem verhängnisvollen Picknick mit den Eltern, bei dem Sibylle ums Leben kam. Von dem Kindergartenkind Viola und der kleinen Schülerin, die immer eine heimliche Begleiterin hatte. Von der Schulzeit im Gymnasium und vom Abitur. Sie berichtete von ihren verzweifelten Versuchen, den Schatten der Schwester
loszuwerden, angefangen vom Fallschirmspringen, dem der Betriebsunfall beim Eisenbahnfahren folgte, dem Bungeespringen und dem Paragleiten, dem Kentern der Jolle in der Ostsee, dem Feuer, das einen Aussichtsturm im Hochschwarzwald vernichtete, sowie von der Tauchschule an der Costa Brava. »Das ist ja wahrhaftig eine lange Liste von Mordversuchen einer Verstorbenen«, sagte Kevin nachdenklich. »Was versprichst du dir von dem Buch, das du dir in der Bibliothek geholt hast?« »Irgendeinen Rat, wie ich dem Schicksal vielleicht noch entkommen kann, das mir meine Zwillingsschwester zugedacht hat. Oder weißt du etwas?« »Ich denke mal darüber nach. Es gibt Sammlungen, die über bekanntgewordene Fälle von Geistererscheinungen berichten. Wie man diesen Störfrieden allerdings beikommt, das berichten sie auch nicht. Ich werde mich sofort dranmachen und meine Bücher überfliegen. Vielleicht findet sich irgendwo ein Rat. Morgen weiß ich vielleicht schon mehr. Bist du noch so verzweifelt?« Viola schüttelte den Kopf. »Es tat schon gut, daß ich mich einmal aussprechen konnte. Ich habe bisher wenig Verständnis gefunden. Immer hielt man mich gleich für verrückt oder wenigstens nicht ganz normal. Mein Vater ist Arzt. Er hat mir zwar zugehört, aber er wußte auch keinen Rat.« »Morgen früh hörst du von mir. Jetzt in den Semesterferien gibt es zwar keine Vorlesungen und Seminare, aber die Bibliotheken sind geöffnet, die Mensa und die Cafeteria auch. Wo wollen wir uns treffen?« »Um zehn Uhr in der Cafeteria«, schlug Viola vor. Kevin war es recht. Sie verließen das Gasthaus in Weilersbach und machten noch einen Abendspaziergang durch
die umliegenden Wiesen. Ein rauschender Bach schlängelte sich durch das Gelände. Bald legte Kevin seinen Arm um Violas Schultern. Es war ihr nicht einmal unangenehm, ganz im Gegenteil. Diese Berührung verlieh ihr das Gefühl von Geborgenheit. Endlich war da jemand, der ihre Ängste ernst nahm und der bereit war, ihr zu helfen. Es war ein Versuch, man mußte ihn unternehmen, auch wenn er am Ende zu nichts führte. Schließlich war alles besser, als nichts zu tun. Als die Ufer des Baches flach wurden, setzten sie sich auf einen Stein und kühlten ihre Füße im silbrigen, frischen Naß. »Das tut gut«, sagte Viola. »Sibylle haßt das Wasser. Als Kind habe ich mich unter die Dusche gestellt, um vor ihr sicher zu sein.« »Sie ist im Wasser umgekommen, vergiß das nicht.« Noch ehe sie zum Auto zurückgingen, küßten sie sich. »Ich danke dir, Kevin«, sagte Viola. »Du bist meine Hoffnung.« »Ich wäre gern noch mehr als das. Dankbarkeit und Hoffnung, das sind beides schöne Empfindungen. Aber sie sind gar nichts gegen… na, sagen wir… Zuneigung.« »Mein Leben dauert noch zehn Tage. Und du sprichst von Zuneigung.« »Warum nicht? Gerade, wenn man ein mögliches Ende vor Augen hat, sollte man die Tage und Stunden genießen. Aber erst einmal wollen wir dieses Ende noch für ein paar Jahrzehnte hinausschieben. Bis morgen, Viola! Dann weiß ich mehr.« Sie fuhren schweigend in die Stadt zurück. Als Kevin sie vor ihrem Haus absetzte, küßte er sie sie noch einmal. Mit schwerem Herzen schaute sie ihm nach. Sollte sie ihrem Glück begegnet sein, nur, um bald darauf zu sterben?
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Als Viola sich am anderen Morgen der Cafeteria näherte, winkte ihr Kevin schon von weitem zu. Sie suchten sich einen Platz, und Kevin besorgte zwei Tassen Cappuccino von der Theke. Er sah müde aus, aber er strahlte. »Ich habe die ganze Nacht hindurch Bücher gewälzt und viele Überlegungen angestellt. Wahrscheinlich kenne ich die Lösung: Sibylle ist verbittert, weil sie keine Familie mehr hat. Man hat sie totgeschwiegen, obwohl sie doch so gern noch dazugehört hätte.« »So ähnlich hat sie es mir auch einmal gesagt. Aber meine Eltern haben absichtlich so gehandelt. Sie wollten mir die Schuldgefühle ersparen. Ich habe nie von ihnen erfahren, daß ich eine Zwillingsschwester hatte. Was kann man tun?« »Deine Mutter sollte Fotos von beiden Kindern aufhängen, wie das so üblich ist. Sie sollte Kerzen und Blumen daneben stellen. An eurem Geburtstag könnte man ein zusätzliches Gedeck für Sibylle auflegen. Es schadet ja nichts, wenn niemand es benutzt. Ihr Grab müßte regelmäßig besucht und gepflegt werden.« »Ich werde meine Eltern darum bitten. Aber ob das alles in neun Tagen zu machen ist? Dann soll ich sterben, vergiß es nicht.« »Weißt du, wo Sibylle beerdigt ist?« »Dort wo wir wohnten und wo wir beide auch geboren wurden. Der Name des Ortes steht in meinem Personalausweis.« »Die Zeit drängt. Dann fahren wir morgen dorthin«, schlug Kevin vor. »Entweder in meinem oder deinem Auto.«
»Glaubst du, daß sie sich durch unseren Besuch tatsächlich besänftigen läßt?« fragte Viola zweifelnd. »Wir versuchen es. Ich bin ganz zuversichtlich.« Schon am nächsten Morgen fuhren sie in Violas Auto nach Osten. Es war eine herrliche Fahrt durch allerschönste Landschaften und schöne alte Städte, aber sie achteten kaum darauf. Sie sprachen wenig miteinander, jeder hing seinen Gedanken nach. In Kaufbeuren aßen sie eine Kleinigkeit, weil gerade Mittagszeit war. Hunger verspürten sie kaum. In Bad Tölz nahmen sie noch einen Kaffee zu sich. »Hohenreuth muß hier ganz in der Nähe sein«, sagte Viola, die die Spannung kaum noch ertragen konnte. Sie fanden das Dorf schnell und bekamen auch im einzigen Gasthof zwei kleine Zimmer. Nach dem Abendessen machten sie noch einen Spaziergang und fanden auch den Friedhof, auf dem jetzt viele Besucher dabei waren, ihre Familiengräber herzurichten. Schweigend wanderten sie durch die vielen Gräberreihen, in denen ganze Generationen ihre Ruhestätte gefunden hatten. Kindergräber fanden sie jedoch nicht. Schließlich fragte eine alte Frau: »Sie sind nicht von hier, gelt? Suchen Sie etwas Bestimmtes?« »Wir möchten die Kindergräber sehen«, sagte Kevin. »Auf der anderen Seite der Kirche«, wurde ihnen gesagt. Nach einigem Suchen fanden sie das kleine Grab. Es gab keine Blumen, aber eine grüne Dauerbepflanzung, und einen weißer! Marmorstein, der auch von Efeu überwuchert war. Hier ruht unser Liebling Sibylle. Sie ging schon nach drei Jähren von uns. Weinend las Viola die wenigen Worte. Es war kein Zweifel möglich, hier war das Grab der frühverstorbenen Schwester. Als sie sich schluchzend an Kevins Brust lehnte, hörte man ein Rauschen in der Luft, der Himmel verdunkelte sich plötzlich. Eine Stimme ertönte, die diesmal auch für Kevin verständlich
war: »Kommst du endlich einmal zu mir, Viola? Wie lange habe ich auf dich gewartet!« »Ich weiß doch erst seit kurzem, daß ich eine Schwester hatte«, antwortete Viola unter Tränen. »Was kann ich tun, damit du mir nicht länger mit dem Tode drohst? Und was kann ich tun, um dich endlich zu versöhnen?« »Du hast es schon getan, Viola. Du bist an mein Grab gekommen, du hast mir gezeigt, daß ich eine Schwester habe. Denk mal an mich, bring mir Blumen ans Grab und häng ein Bild von mir auf. Mehr will ich gar nicht von dir. Ich bin tot, aber ich will meine Familie nicht verlieren.« »Sibylle!« sagte Viola erleichtert. »Wir werden dich künftig jedes Jahr an unserem Geburtstag besuchen. Du sollst die schönsten Blumen haben, die der Gärtner von Hohenreuth hat. Und in unserem Haus in Hasselberg wirst du nie mehr versteckt werden. Dein Bild soll uns jederzeit an dich erinnern.« »Wer ist der Mann an deiner Seite, Viola. Wirst du ihn heiraten?« Viola errötete. Sie schaute zu Kevin auf, um zu sehen, wie er auf diese Frage reagierte. Er nickte ihr zu. »Ja, Sibylle«, sagte Viola jetzt. »Wir werden heiraten. Und unsere erste Tochter soll Sibylle heißen. Bist du nun zufrieden?« Wieder erklang das Rauschen in der Luft. Diesmal klang es wie Orgelmusik. Kurz darauf war der Himmel wieder wolkenlos wie zuvor. »Du hast gehört, was deine Schwester gesagt hat?« fragte Kevin. »An eine Heirat hatten wir bisher noch nie gedacht. Aber so übel ist der Gedanke nicht.« »Wir haben es ihr versprochen, Kevin. Wir können jetzt nicht mehr zurück.« »Wäre ich dir als Ehemann so unangenehm?«
»Nein, gar nicht. Ein wenig überraschend kommt es schon.« Da nahm Kevin sie in seine Arme und küßte sie, bis sie keine Luft mehr bekam und ihn um Einhalt bat. »Da sind wir nun verlobt, und nur, weil dein Geisteszwilling es so wollte.« Es wurden noch ein paar schöne Urlaubstage, die Kevin und Viola in Oberbayern verbrachten. Jeden Morgen besuchten sie Sibylles Grab, das sie vom Gärtner Sorgsam herrichten ließen. Zusätzlich stellte Viola täglich einen selbstgepflückten Strauß aufs Grab. Sie suchten auch die Unglücksstelle auf, an der Sibylle damals den Tod gefunden hatte. Ein Marterl war dort aufgestellt, ein hölzernes Kreuz, das an das tragische Geschehen erinnerte. Auch dort legte Viola täglich Blumen nieder. Daneben machten sie viele Ausflüge in’ die schöne Umgebung. Eines Tages schaute Viola auf den Kalender und erschrak. »Übermorgen ist mein zwanzigster Geburtstag«, sagte sie zu Kevin. »Eigentlich sollte ich dann tot sein. Doch diese Gefahr ist wohl vorbei. Aber meine Eltern werden mich erwarten, sie wollen doch mit mir feiern. Meinst du, wir schaffen es, pünktlich in Hasselberg zu sein, Kevin?« »Sagtest du WIR?« »Aber ja. Ich will meinen Eltern doch den künftigen Schwiegersohn vorstellen. Und du wirst gewiß auch gern meine Eltern kennenlernen. Oder hast du es dir inzwischen anders überlegt? Denk an Sibylle. Sie hält uns für ein Paar. Ich glaube, sie nimmt es übel, wenn das alles nur erfunden war.« »Ich denke an deine Eltern, mein Schatz. Vielleicht solltest du sie schon vor unserem Kommen ein wenig von unseren Plänen informieren. Ruf doch mal zu Hause an!« Viola tat es sogleich. Mutti war am Apparat. Sie war sehr zurückhaltend, um nicht zu sagen ärgerlich.
»Wir haben uns große Sorgen gemacht, Viola. Wo steckst du nur? Seit einer Woche versuche ich vergeblich, dich in Freiburg zu erreichen.« »Ich bin in Hohenreuth und habe das Grab meiner Zwillingsschwester besucht.« »Wie bitte? Woher weißt du… ich meine, wir haben dir immer Sibylles Tod verschwiegen. Aber wir hätten doch zusammen fahren können. Wozu diese Heimlichkeit?« »Das könnte ich euch auch fragen, Mutti. Wozu die Heimlichkeit. Seit siebzehn Jahren habt ihr mir verschwiegen, daß ich eine Zwillingsschwester hatte. Aber darüber später mal mehr. Wir waren hier an ihrem Grab und haben es schön bepflanzen lassen. Wir waren auch an der Unglücksstelle. Ich werde künftig jedes Jahr einmal hierherkommen.« »Wer ist wir?« fragte die Mutter argwöhnisch. »Bist du nicht allein dort?« »Nein. Mein Zukünftiger hat mich begleitet. Mutti, wir werden pünktlich an meinem Geburtstag in Hasselberg sein. Ihr sollt doch euren Schwiegersohn kennenlernen. Grüß Vati von mir. Und vergiß nicht, künftig Sibylle als ein Mitglied der Familie zu behandeln. Häng Bilder von ihr auf, und stell ein Gedeck für sie auf den lisch. Es freut sie, auch wenn du es nicht recht glaubst. Bis dann!« Damit legte sie auf. »Du bist herzlich willkommen!« erklärte Viola ihrem Kevin, als sie vom Telefon zurückkehrte. »Mutti freut sich schon, dich kennenzulernen.« Und so war es denn auch. Angela Dombrath hatte noch 48 Stunden Zeit, mit ihrer Überraschung fertig zu werden. Dann erwachte die Mutterliebe in ihr. Viola hatte so glücklich geklungen, so erleichtert. Offenbar hatte sie den Rechten gefunden. Und da durften die Eltern ihr Einverständnis nicht verweigern.
Sie plante also ein großes Fest, das gleichzeitig Geburtstag und Verlobung sein würde. In aller Eile wurde ein Festmenü bestellt, das ins Haus geliefert werden sollte. Kuchen und Torten wurden herbeigeschafft, auch Tante Leonie wurde auf die Schnelle herbeizitiert. Nur das Gedeck für Sibylle vergaß sie, als sie den Tisch deckte. Aber Viola korrigierte sogleich das Versäumnis. »Mutti, ab heute gehört Sibylle immer zu uns. Wir werden sie nie mehr vergessen, nicht wahr, Kevin?« »Nie mehr«, bestätigte auch ihr Verlobter. »Schließlich war sie es, die uns zusammengeführt hat.«