Claudia Torwegge
Der Geistergeiger von Harleigh Castle Irrlicht Band 360
Silvia hörte ein Scharren. Ihre Augen wurde...
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Claudia Torwegge
Der Geistergeiger von Harleigh Castle Irrlicht Band 360
Silvia hörte ein Scharren. Ihre Augen wurden magisch zu dem Geräusch hingezogen. In der gähnenden Öffnung des Wappens erschien die durchsichtige Gestalt einer Frau. Silvia konnte kein Glied mehr rühren, sie bekam keine Luft mehr. Sie wollte schreien, aber eine gewaltige Faust preßte ihren Mund zusammen…
Joan Galini eilte durch die Straßen von Rimini. Es ging schon auf den Abend zu, aber noch immer brannte die Sonne heiß vom Himmel herunter. Obwohl sie bereits seit vier Jahren mit ihrem Mann Mario in Italien lebte, hatte sie sich noch nicht an das Klima des Landes gewöhnen können. Ihr Ziel war die Cafeteria Brioni, in der Mario als Kellner arbeitete und ihr elfjähriger Sohn Sandro den Gästen auf einer Geige vorspielte. Es war nicht ihr Wille gewesen, und sie machte sich oft bittere Vorwürfe, daß sie sich nicht energisch genug dagegen gewehrt hatte. Es hatte vor drei Jahren angefangen, als ihr Schwiegervater starb. Unter den wenigen Dingen, die er seinem Sohn hinterließ, befand sich eine Geige. Joan und Mario wollten sie verkaufen, aber Sandro bat sie so sehr darum, daß sie ihm das Instrument schenkte. Was die Eltern nicht wußten, war, daß Sandro bereits Geige spielen konnte. Er hatte sich mit Benio, einem alten Straßenmusikanten, angefreundet, der den musikbegeisterten Jungen auf seiner Geige üben ließ. Für Sandro gab es nichts Schöneres, als mit Benito herumzuziehen. Als er nun eine eigene Geige besaß, übte er so fleißig, daß er bald mit Benito zusammen auftreten konnte. Sandros einzige Sorge war, daß seine Mutter nichts davon erfuhr, weil diese ihm bestimmt den Umgang mit Benito verboten hätte, obwohl sie selbst untergeordnete Arbeiten ausführen mußte. Aber Joan Galini hatte trotz aller Armut noch ihren Stolz behalten. Ihre Großmutter war eine geborene Harleigh gewesen. Zwar war das berühmte schottische Geschlecht der Harleighs längst verarmt, einschließlich des jetzigen Besitzers des alten Stammschlosses, aber in ihrem entsagungsvollen
Leben hielt sie nur der Gedanke aufrecht: eine Angehörige des einst so stolzen Geschlechtes zu sein. Als Joan ihren Mann kennenlernte, war sie eine schlechtbezahlte Gesellschafterin bei einer ewig nörgelnden Dame in Edinburgh gewesen. Joan war nicht besonders hübsch. Wirklich schön an ihr war nur das blondrötliche, glänzende Haar. Da sie bereits siebenundzwanzig Jahre zählte und noch dazu arm war, fürchtete sie, bei der zänkischen Frau ihr Leben verbringen zu müssen. Es schien ihr daher wie ein Wunder, daß ein so gut aussehender Mann wie Mario um sie warb. Es störte sie zwar anfangs, daß er nur ein Kellner war, aber er verstand es, sie das vergessen zu machen. Wenn er sie küßte, ihr schönes Haar bewunderte und es mit seinen zärtlichen Händen durchwühlte, schmolz sie dahin. Er schwärmte ihr vor, daß er bald ein Hotel besitzen würde und schilderte es ihr in den glühendsten Farben. Und er malte ihr aus, daß er sie bald in Samt und Seide hüllen würde, und kein Schmuck wäre ihm dann für sie zu kostbar. Sie ließ sich von seinen Zukunftsträumen anstecken, und da sie es bei ihrer Herrin nicht mehr aushielt, nahm sie seinen Antrag an. Erst nach der Hochzeit entdeckte sie, daß er zu dem ihr versprochenen Hotel noch keinen Penny gespart hatte. Als Sandro sechs Jahre alt war, wurde Mario schwer krank. Seine Lunge vertrug das rauhe schottische Klima nicht. Ihre wenigen Ersparnisse und der Verkauf ihrer Habseligkeiten reichten gerade aus, daß Mario mit Frau und Kind in sein Heimatland Italien zurückkehren konnte. Joan kam gerade an dem Schaufenster eines Antiquitätengeschäftes vorbei. In einem alten reichverzierten Spiegel erblickte sie ihr verhärmtes Gesicht, umrahmt von hellrötlichem Haar, das längst seinen Glanz verloren hatte, und eine hagere Gestalt, gehüllt in ein ärmliches, fadenscheiniges
Gewand. In Samt und Seide wollte mich Mario kleiden, dachte sie verbittert. Sie beschleunigte ihre Schritte. Der Weg von Signora Peon, wo sie heute ausgeholfen hatte, bis zur Cafeteria war weit, und es dunkelte schon. Wieder machte sie sich Vorwürfe, es zugelassen zu haben, daß Sandro den Gästen vorspielte. Aber was blieb ihr schließlich anderes übrig? Sandro bekam dort gutes Essen und die paar Lire, die er von den Gästen erhielt, konnten sie auch gut gebrauchen. Ihr selbst war es gar nicht aufgefallen, wie musikbegabt ihr Sohn war, obwohl sie ihn oft zu Hause spielen hörte. Sie war nur überrascht gewesen, daß er es überhaupt konnte. Aber Mario hatte bemerkt, wie gut der kleine Bursche den Geigenbogen führte, und schon begann er wieder, sich in Träume einzuspinnen. »Du wirst sehen«, hatte er zu ihr gesagt, »Sandro wird der berühmteste Geiger Italiens, und dann wird es uns allen gutgehen!« Und er schwelgte erneut in schnell erbauten Luftschlössern. So kam es, daß Sandro seit seinem zehnten Lebensjahr fast jeden Nachmittag den Gästen vorspielte und Joan ihn gegen Abend abholte. Wenn sich auch bis dahin noch kein Gönner gefunden hatte, so blieb doch die Hoffnung darauf. Jäh wurde Joan aus ihren Gedanken gerissen: Zwei Feuerwehrautos rasten die Straße entlang, es roch nach Rauch. Menschen liefen an ihr vorbei, schreiend und gestikulierend. Einzelne Wortfetzen drangen an ihr Ohr: »Feuer…! Es brennt!« Bestürzt schaute sie nach oben. Eine dichte Rauchwolke stand über den Häusern. Angst ergriff sie. Wo brannte es? fragte sie sich, doch nicht etwa…? Aufgeregt lief sie hinter den Leuten her. Zwei Straßen weiter loderten aus einem freistehenden Gebäude helle Flammen. Ein Schild hing halb herunter, und
trotz der Brandspuren konnte man noch die Buchstaben erkennen: Cafeteria Brioni. Wie gelähmt stand Joan hinter der Absperrung und starrte auf das brennende Haus. Sie sah, wie sich die Feuerwehrmänner bemühten, des Brandes Herr zu werden, aber immer wieder schossen Flammen aus den Fenstern. Erst jetzt erwachte Joan aus ihrer Erstarrung. »Mein Kind, mein Mann!« schrie sie auf und durchbrach die Absperrung. Sie wollte zu den rauchenden Trümmern laufen, aber ein Karabiniere packte sie an den Armen und hielt sie fest. »Halt, zurück!« befahl er. »Wo ist mein Kind? Wo mein Mann?« rief Joan erregt und versuchte, sich loszureißen, was ihr nicht gelang. Besänftigend sagte der Karabiniere zu ihr: »Nur keine Panik! Die meisten Gäste und Hausbewohner sind davongekommen.« Er zögerte, dann fuhr er leise fort: »Allerdings, einige hat’s erwischt… Bitte bleiben Sie ruhig, es wird ja nicht unbedingt einer der Ihrigen darunter sein. Sie können sich selbst davon überzeugen, nur –, na, ja, es ist gerade kein schöner Anblick, auch wenn Sie keinen der Verunglückten kennen.« Er führte sie zu einem Haus, vor dem ein Krankenwagen hielt, und dachte: Hoffentlich ist wirklich keiner ihrer Leute dabei. Sie sieht schon erbärmlich genug aus. Aus dem Hof des Hauses drang lautes Wehklagen von Frauen, die das Stöhnen der Verletzten erstickte. Unter Decken lagen einige Gestalten. Schwankend näherte sich ihnen Joan. Der Karabiniere lüftete die erste, dann die zweite Decke. Schaudernd wandte sich Joan ab, der Anblick war zu furchtbar, jedoch die Toten waren ihr fremd. Aber als der Polizist die dritte und letzte Decke lüftete, erkannte sie Mario. Sein Gesicht war nicht verbrannt, sondern
nur verrußt, seine Kleidung beschmutzt und mit Brandflecken bedeckt. »Höchstwahrscheinlich Rauchvergiftung!« vermutete ihr Begleiter. Dann sah er in ihr Gesicht und fragte erschrocken: »Ist es etwa…?« Sie nickte und wandte sich ab. Verstummt war nun Marios Lachen für immer. Voller Furcht wandte sie sich der anderen Seite zu, dann weiteten sich ihre Augen voll Entsetzen: Zwei Krankenträger hoben eine Gestalt auf die Bahre, die Gestalt eines Kindes. Von gräßlicher Ahnung erfüllt, stürzte sie darauf zu. Sie erkannte ihn sofort an den Überresten seiner Kleidung. »Ist er tot? Ist mein Sohn tot?« schrie sie die Sanitäter an. »Warum ist über sein Gesicht eigentlich gebreitet?« Noch ehe sie jemand daran hindern konnte, riß sie das Tuch herunter. Dann schrie sie gellend auf. Fassungslos starrte sie auf die bewegungslose Kindergestalt, dann wurde es dunkel um sie, und sie brach ohnmächtig vor der Bahre ihres Sohnes zusammen.
*
Ermüdet von der langen Bahnfahrt, saß die achtzehnjährige Silvia Michaelis neben John MacKean, der seit fünfzehn Jahren der Mann ihrer Tante Elisabeth war. Sie hatte ihn erst jetzt kennengelernt, als er sie mit ihrer Tante Elisabeth und ihrer Kusine Pamela vom Edinburgher Bahnhof abholte. Verstohlen musterte sie ihn von der Seite. Obwohl sie für gewöhnlich rothaarige Männer nicht mochte, fand sie ihn sehr sympathisch. Irgendwie, überlegte sie, passen die Haare sogar gut zu ihm, zu seinem etwas derben Gesicht, den lustigen
blauen Augen und der fülligen Gestalt. Obwohl er bereits die Mitte der Fünfzig überschritten haben mußte, konnte sie bei ihm noch kein graues Haar entdecken. Aus den Briefen ihrer Tante, die hinter ihr saß, wußte sie, daß Johns Eltern aus Schottland stammten, die es in Amerika zu einem kleinen Vermögen gebracht hatten, aus dem unter den Händen des geschäftstüchtigen Sohnes ein paar Millionen geworden waren. Als John vor anderthalb Jahren der Erbe seines Vetters Lord Allan Harleigh wurde, übergab er seinen Betrieb dem einzigen Sohn aus erster Ehe und übersiedelte mit Elisabeth und Pamela nach Harleigh-Castle, weil er die Heimat seiner Ahnen überaus liebte. Jäh schreckte das junge Mädchen aus ihren Gedanken auf, als sich von hinten eine Hand auf ihre Schulter legte und Elisabeth fragte: »Nun, Silvi, wie gefällt dir Schottland?« Ehe sie antworten konnte, lachte John auf und meinte: »Aber Lissy, sie hat ja noch kaum etwas davon gesehen.« »Fahren wir nicht schon lange genug durch das schottische Hochland, um sich ein Urteil bilden zu können?« ereiferte sich Elisabeth. »Aber laß man«, sie strich ihrer Nichte liebevoll über das blondrötliche Haar, »von unserem Schloß wirst du entzückt sein.« »Silvi, das Schloß ist unheimlich romantisch!« rief Pamela, die neben ihrer Mutter saß. »Wie im Mittelalter, und Gespenster gibt’s dort auch.« »Aber Pam«, tadelte die Mutter, »Gespenster gibt es nicht! Nachher hat Silvi noch Angst.« Silvia wandte sich um und lächelte ihrer Tante zu. »Ich bin nicht abergläubisch. Und außerdem«, scherzte sie, »habe ich mir schon immer gewünscht, wenigstens einmal in meinem Leben in einem richtigen Gespensterschloß zu wohnen.«
»Dann geht dein Wunsch bei uns bestimmt in Erfüllung«, blieb Pamela bei ihrer Behauptung. »Da gibt es zum Beispiel…« »Pamela«, unterbrach die Mutter sie, »hör endlich mit dem Unsinn auf! Hast du schon einmal ein Gespenst gesehen?« »Leider nein«, antwortete Pamela bedauernd, »aber Ellen sagt…« »Was Ellen sagt, ist mir egal«, sagte Elisabeth energisch. »Ellen ist hier im Aberglauben aufgewachsen, aber ihre Geschichten sind nur Legenden.« »Kinder, zankt euch doch nicht!« warf John in die Debatte. »Schaut euch lieber die Umgebung an. Ob Gespenster oder nicht, es gibt keinen schöneren Ort als Harleigh-Castle. Ich bin froh, in die Heimat meiner Eltern zurückgekehrt zu sein, die auch die Heimat deines Vaters war, Silvi.« Pamela, dreizehn Jahre jung, kicherte und flüsterte ihrer Kusine zu: »Und es gibt doch Gespenster! Ich habe zwar noch keins gesehen, dafür aber das Spiel des Phantom-Geigers gehört.« »Des Phantom-Geigers?« fragte Silvia ebenso leise zurück. »Still, ich erzähle es dir später.« Pamela sah zu ihrer Mutter hinüber. Ihre blauen Augen blickten amüsiert. Sie hatte überhaupt ein fröhliches Gesicht. Ihre niedliche Stupsnase war mit Sommersprossen gesprenkelt, und ihre kurzen roten Locken hingen ihr immer wild um den Kopf herum. »Psst, ich glaube, Mama schläft.« Aber Elisabeth schlief nicht. Sie war nur etwas abgespannt und hatte sich mit geschlossenen Augen in ihre Ecke gekuschelt. Sie war eine sehr schlanke Frau mit kastanienbraunem Haar und braunen Augen, dreiundvierzig Jahre alt. Sie war die Schwester von Silvias Adoptivmutter Hannelore. Jetzt weilten ihre Gedanken wieder einmal in der Vergangenheit:
Vor neunzehn Jahren wurde ihr Vater als Ingenieur für ein Jahr von seinem Betrieb aus nach Edinburgh versetzt. Seine Frau und seine beiden jüngeren Töchter Charlotte und Elisabeth begleiteten ihn. In einem Edinburgher Café begegneten sie einige Wochen vor ihrer Rückkehr nach Deutschland Lord Allan Harleigh und seinem Vetter John MacKean. John war nach Schottland gekommen, um an dem Begräbnis seines verstorbenen Onkels, Lord William Harleigh, dem Bruder seiner Mutter, teilzunehmen. Lord Allan, der einzige Sohn Lord Williams, war nach dem Begräbnis mit seinem Vetter nach Edinburgh gefahren, um dort die Erbschaftsangelegenheiten zu regeln. Die Erbschaft bestand allerdings nur aus einem alten, verwitterten Schloß und einem kleinen Land- und Waldbesitz. Elisabeth öffnete ihre Augen und sah liebevoll auf den breiten Rücken Johns. Ihr selbst war es vergönnt gewesen, den Mann ihrer Liebe zu heiraten, wenn auch erst nach vier Jahren, denn John war noch verheiratet gewesen. Bei Charlotte war alles anders gewesen. Vom ersten Moment an hatte sie sich zu sehr in Lord Allan verliebt. Da er ledig und ihrer Meinung nach auch wohlhabend war – schließlich war er ja Schloßbesitzer –, gab sie seinem stürmischen Werben nur allzubald nach. Aber als dann die Eltern nach Deutschland zurückkehren mußten, hatte Allan noch immer nicht bei ihnen um Charlottes Hand angehalten, wie es das junge Mädchen erwartet hatte. Er kam auch nicht mehr zu dem vereinbarten letzten Rendezvous. Charlotte vergaß ihren Stolz und rief bei seinen Verwandten an, die ihn und John aufgenommen hatten. Zu ihrer grenzenlosen Bestürzung erfuhr sie, daß Lord Allan gleich nach der Abreise Johns das Haus in Hast und Eile verlassen hatte, um nach Harleigh-Castle zurückzukehren.
Elisabeths Augen wanderten zu Silvia, Charlottes Tochter. Als es nicht mehr zu verbergen war, daß Charlotte ein Kind erwartete, hatte sie die Schwester bestürmt, Allan zu schreiben, daß er Vater werden würde. Aber Charlottes Empfinden war schwer verletzt, sie fühlte sich zu sehr gedemütigt. Sie weigerte sich nicht nur, Allan diese Mitteilung zu machen, sondern Elisabeth mußte ihr sogar fest versprechen, keinem Menschen – auch nicht den Eltern oder John – zu verraten, wer der Vater ihres Kindes war. Als Charlotte an einer Grippe starb, war Silvia zwei Jahre alt gewesen. Das Kind Silvia wurde bei Verwandten ihrer Mutter untergebracht und von ihnen adoptiert. Und Elisabeth hatte keinen Anlaß gesehen, nun noch das Geheimnis um Silvias Vater zu lüften. Erst vor drei Jahren sprach sie aus einer redseligen Stimmung heraus mit ihrem Mann John darüber, der es für seine Pflicht hielt, seinen Vetter Allan zu informieren. Trotzdem war John im Testament des Verstorbenen als Erbe eingesetzt worden. Elisabeth erinnerte sich noch genau an den Wortlaut:… Da ich keinen männlichen Erben hinterlasse, setze ich als solchen meinen Vetter John MacKean ein, da nur er in der Lage ist, das Stammschloß unseres alten Geschlechtes in neuem Glanze erstehen zu lassen… Das Testament war vor Allans Tod geschrieben worden. Für seine ihm unbekannte Tochter hatte er einen Nachsatz hinzugefügt: Meine Tochter Silvia erhält lebenslanges Wohnrecht auf Castle Harleigh. Falls der Familienschmuck doch noch gefunden werden sollte, geht dieser in ihr Eigentum über. Unwillkürlich stahl sich ein amüsiertes Lächeln um Elisabeths Mund. Armer Allan, dachte sie, wenn du deiner Tochter nichts weiter zu vererben hattest, als einen imaginären Geisterschmuck!
Allerdings hatte der Anwalt noch einen Brief für Silvia in Händen, der ihr nach ihrem achtzehnten Geburtstag in Harleigh-Castle ausgehändigt werden sollte. Elisabeth konnte nicht anders, sie mußte einfach Silvia danach fragen: »Silvi, mein Kind, hast du eigentlich einen großen Schreck bekommen, als man dir sagte, daß du die Tochter von Lord Allan bist?« Silvia fuhr herum. »Ob ich einen…? Das schon, aber so schlimm war es nicht. Ich wußte doch schon seit meinem zwölften Jahr, daß ich adoptiert worden bin. Wenn ich das früher erfahren hätte, wer mein richtiger Vater ist, sicherlich hätte ich ihn dann gern kennengelernt, aber sonst? Vielleicht wirst du mich für herzlos halten, aber ich habe nun einmal bis vor kurzem nichts von ihm gewußt. Wenn meine Adoptiveltern nicht so gut zu mir wären, vielleicht…« Sie zögerte, dann brach es mit Begeisterung aus ihr hervor. »Aber sie sind einfach phantastisch! Glaub mir das, Tante Lissy!« Elisabeth lächelte. »Ich glaub dir das gern, Silvi.« Jetzt fuhren sie durch ein kleines Dorf – man sah den Häusern die Armut der Bewohner an –, dann führte der Weg wieder empor, bis eine große Lichtung vor ihnen auftauchte, die von einer verwitterten Mauer umgeben war.
*
John stieg aus und öffnete das schwere, schmiedeeiserne Tor. Gleich darauf fuhren sie zwischen zwei kleinen Häusern hindurch. »Die ehemaligen Wach- und Gesindehäuser«, erklärte John. »Sie waren halb verfallen. Ich habe sie für die Angestellten renovieren lassen. Ich wollte unsere Leute im Hintergebäude
des Schlosses unterbringen, aber nein, sie sträubten sich dagegen und erklärten, daß sie keiner zwingen könne, auch nur eine Nacht im Schloß zu verbringen. Nun, Silvi, durch unsere vorlaute Tochter weißt du ja schon, warum. Doch glaube mir, wir sind hier wirklich noch keinem Gespenst begegnet.« »Das kann ja lustig werden!« rief Silvia begeistert, und Pamela pflichtete ihr bei. »Fein, daß du jetzt hier bist, Silvi, dann können wir zusammen auf Gespensterjagd gehen.« Aber Silvi hörte nicht mehr auf ihre Kusine, sie starrte nur auf das Schloß, das vor ihnen aufgetaucht war. Sie stieß einen Schrei des Entzückens aus. Am Ende des Weges erhob es sich, ein zweistöckiges, viereckiges Gebäude, verwittert und altersgrau, an den Seiten flankiert von vier Türmen, die um ein Stockwerk das Schloß überragten. Es hätte vielleicht in der jetzt hereinbrechenden Abenddämmerung unheimlich gewirkt, wenn nicht die hellerleuchteten Fenster des Mittelbaues gewesen wären. Hinter dem Bauwerk ragten steile, kahle Felsen auf. Links hinter der Mauer zog sich der Wald den Hang hinauf, rechts aber, nur ein paar Meter vom Schloß entfernt, lief die Mauer an einem Abhang entlang. Jenseits des Abgrundes stiegen bewaldete Berge empor, und je höher der Blick glitt, um so spärlicher wurde das Grün, bis das nackte Gestein hervortrat. Von einem der Felsen stürzte ein riesiger Wasserfall in die Tiefe. Der Wagen hielt und John sagte: »Willkommen in HarleighCastle, mein Kind!« Elisabeth dagegen fragte voller Stolz: »Nun, hab’ ich dir zuviel versprochen?« »Nein«, versicherte Silvia strahlend, »das Schloß und die ganze Umgebung ist so wildromantisch, daß ich mir wie im Mittelalter vorkomme.« Ein älterer Mann hatte inzwischen die Autotüren geöffnet und half den Frauen beim Aussteigen.
»Unser Butler Jeff Parker«, sagte John und klopfte dem Mann leutselig auf die Schulter. Silvia stieg mit ihren Verwandten die paar Stufen der breiten Treppe zum Hauptportal empor, über dem das Wappen der Harleighs angebracht war. In den weit geöffneten Flügeltüren standen drei Frauen. Die älteste, eine mollige Person, trug eine schwarze Bluse und einen langen schwarzen Rock mit einer breiten weißen Schürze. Die anderen beiden waren blutjunge Mädchen mit langen Zöpfen. Die Frauen wurden Silvia als die Köchin Ellen und die Hausmädchen Evelyn und Mary vorgestellt. Eve – wie sie genannt wurde – machte einen schüchternen Eindruck, Marys Gesicht dagegen strahlte nur mühsam unterdrückte Lebensfreude aus. Während sie an den Angestellten vorbeigingen und eine hohe, große Halle betraten, erklärte Elisabeth ihrer Nichte auf Deutsch: »Die Mädchen stammen aus dem Dorf da unten und sind noch nie von hier fortgekommen. Ellen dagegen ist nicht nur eine perfekte Köchin, sondern spricht auch sehr gut Deutsch, da sie mit einem Deutschen verheiratet war. Sie kam später als Witwe in ihr Heimatdorf zurück und wurde uns vom Pfarrer als Köchin empfohlen.« Sie lächelte und setzte hinzu: »Wenn dich unsere Geister so sehr interessieren, mußt du dich an Ellen wenden. Sie kennt alle Legenden der Familie Harleigh.« Mit Interesse betrachtete Silvia die Halle. Obwohl in den Wänden uralte Jagdtrophäen hingen und in den Ecken mehrere Ritterrüstungen standen, war die Halle mit modernen Möbeln ausgestattet worden. John, der Silvias Erstaunen bemerkte, sagte: »Wir haben die meisten Zimmer renovieren und neu einrichten lassen. Nur das Hintergebäude mit den beiden Türmen ist noch im alten Zustand und…«
Elisabeth unterbrach ihn: »Lassen wir die Erklärungen vorläufig. Pam soll Silvi erst einmal ihre Zimmer zeigen, damit sie sich noch vor dem Essen frischmachen kann.« Gefolgt von den beiden Mädchen, die Silvias Koffer trugen, stieg Pamela mit ihrer Kusine eine breite Treppe hinauf, die auf einer Galerie im ersten Stock endete. Nun befanden sie sich auf einem um das gesamte Stockwerk führenden Gang, von dem kleine Fenster auf einen engen Innenhof zeigten. Gegenüber von ihnen lagen die Türen der einzelnen Gemächer. Zwischen den Türen und Fenstern hingen Gemälde, die teilweise bis zur Unkenntlichkeit nachgedunkelt waren. »Hier hast du die mehr oder minder ehrwürdigen Lords und Ladies von Harleigh-Castle«, sagte Pamela lachend mit einem spöttischen Knicks. »Alle Gänge des Schlosses sind voll von ihnen.« Während sie die nächste Treppe hinaufstiegen, erklärte Pamela: »Im ersten Stock befinden sich nur die Gesellschaftsräume.« Sie deutete auf die rechte Seite des zweiten Ganges hinunter: »Dort liegen die Schlafräume meiner Eltern.« Dann zog sie ihre Kusine bis zum Ende des linken Ganges und riß eine Tür auf. »So, da wären wir! Sind die Zimmer nicht süß?« Es waren zwei helle und freundliche Räume, mit modernen Möbeln und Gardinen versehen, und doch war Silvia etwas enttäuscht. Ihr wäre ein altertümliches Schloßmobiliar lieber gewesen. »Hübsch«, erwiderte sie etwas zögernd, »sehr hübsch.« Und um Pamela nicht ihre Enttäuschung merken zu lassen, fragte sie ablenkend: »Wohin führt diese Tür?« »Nur in das Badezimmer. Ich muß jetzt gehen, sonst schimpft Mam, wenn ich mich nicht zum Abendessen umgezogen habe. Eve kann dir beim Auspacken helfen.« Als Silvia wenige Stunden später im Bett lag und noch einmal ihre heutigen Erlebnisse an sich vorüberziehen ließ, fiel
ihr plötzlich ein, daß sie nicht ein einziges Mal an Peter gedacht hatte. Lag es daran, weil sie sich im Zorn getrennt hatten und sie noch immer böse auf ihn war? Sie liebte nun einmal die leichten Unterhaltungen, doch er war nur für ernste Musik zu haben. Daher hatte er nie Lust, mit ihr tanzen zu gehen, aber von ihr verlangte er, daß sie ihn ständig zu Konzertabenden begleitete. Da Peter selbst Geige spielte, hatten es ihm besonders Violinkonzerte angetan, die sie am langweiligsten fand. Und das hatte sie ihm auch wortwörtlich gesagt und noch hinzugesetzt, daß er genauso langweilig sei wie das Musikstück. Verbittert und enttäuscht hatte er sie mitten auf der Straße stehenlassen und sich nicht mehr gemeldet. Sie sann hin und her, darüber wurde sie müde und ihr fielen die Augen zu. Im Einschlafen hörte Silvia noch eine Uhr die zwölfte Stunde schlagen, und dann war ihr, als ob sie eine Geige hörte, erst sanftmütig, dann leidenschaftlich und voller Qual, danach wieder mild und zärtlich. Wie unirdisch, wie aus einer anderen Sphäre, dachte sie noch, bevor sie der Schlaf ganz einhüllte. Am anderen Morgen wachte Silvia sehr früh auf. Sie sprang aus dem Bett und eilte noch im Nachthemd an das Fenster. Die Sonne kam gerade hinter den Beigen hervor und übergoß den Horizont mit ihrem rötlichen Schein. Es schien ein herrlicher Sommertag zu werden. Sie ließ das Fenster weit offen. Obwohl es noch sehr früh war, hatte sie keine Lust mehr, ins Bett zurückzukehren. Sie lief ins Badezimmer, duschte sich und zog sich an. Leise öffnete sie die Tür und sah auf den Flur hinaus. Kein Laut war zu hören, es schien noch niemand aufgestanden zu sein. Sie suchte den Schalter und knipste das Licht an. Die drohenden Schatten verschwanden, und sie betrachtete in aller Ruhe die Frauen und Männer aus den früheren Jahrhunderten.
Die meisten wirkten steif und hölzern in ihren Staatsgewändern, und Silvia hatte den Eindruck, daß die Gesichter finster auf sie, den Eindringling, herabblickten. Unwillkürlich rann ihr ein Schauder über den Rücken. Weder blieb das junge Mädchen vor einem Gemälde stehen. Es zeigte einen hageren Mönch mit finsteren Gesichtszügen. Ganz in der Betrachtung dieses Bildes vertieft, fuhr Silvia erschrocken zusammen, als sich von hinten eine Hand auf ihre Schulter legte und eine tiefe Stimme sagte: »Ich bin der Geist des büßenden Mönches!« Dann ertönte ein helles Lachen, und Pamela fragte mit normaler Stimme: »Hab’ ich dich sehr erschreckt, Kusinchen?« Silvia wandte sich um und sah kopfschüttelnd Pamela an. »Da würde sich wohl jeder erschrecken, wenn plötzlich aus dem Hintergrund eine Grabesstimme…« »Ich dachte, du bist nicht abergläubisch?« wurde sie von Pamela unterbrochen. Pamela trug jetzt Shorts und einen Pulli und sah mit ihren kurzen Locken wie ein Lausbub aus. »Komm«, sagte sie, »ich zeige dir den Daphne-Tower! Wir haben noch viel Zeit bis zum Frühstück.« Sie faßte ihre Kusine an der Hand und lief mit ihr an ihren und Silvias Zimmern vorbei bis zu der Stelle, wo der Gang um die Ecke bog. Pamela wies dort auf eine schmale Tür. »Hier geht es in den West-Tower!« Silvia wollte die Tür öffnen, wurde aber von Pamela daran gehindert. »Der West-Tower ist vollkommen uninteressant. Meine Eltern haben dort Gästezimmer eingerichtet.« Sie lachte. »Nur die Gäste fehlen noch.« »Und was ist mit dem anderen vorderen Turm?« »Dem East-Tower? Noch uninteressanter! Dort ist Mike einquartiert worden.« »Mike?«
»Ein weitläufiger Verwandter von uns. Nun ist Mike Daddys Sekretär und gleichzeitig mein Hauslehrer.« Sie seufzte. »Arme Pam!« spottete Silvia. »Während ich mich hier meiner Freiheit erfreue, mußt du noch die Schulbank drücken.« »Ja, du hast’s gut!« erwiderte Pamela. »Ich wünschte, ich wäre schon so alt wie du.« Sie kamen an einigen weiteren Türen vorbei. »Wer wohnt hier?« fragte Silvia neugierig. »In den vorderen Räumen niemand und in den letzten beiden Joan.« »Joan? Ihr habt wohl sämtliche Verwandten hier aufgenommen?« fragte Silvia amüsiert. Sie waren vor dem Eingang zum Daphne-Tower stehengeblieben. »Eigentlich sind nur Joan und Mike direkt miteinander verwandt«, erwiderte Pamela. »Außerdem lebte Joan schon hier, ehe wir kamen. Sie hat genauso wie du durch Lord Allans Testament das Wohnrecht auf Lebenszeit. Jetzt ist sie unsere Wirtschafterin. Sie ist aber sehr menschenscheu und hält sich von allen zurück. Sie ißt auch nicht mit uns, sondern nimmt sich ihr Essen stets in ihre Zimmer hinauf. Sie hat es auch nicht gern, wenn man ihre Räume betritt und hält sie stets unter Verschluß.« Pamela schüttelte den Kopf. »Brr… Ich möchte nicht da wohnen, so nahe bei den Geistern, denn im Daphne-Tower und in dem hinteren Gebäude soll es am meisten spuken.« »Aber Pam, ich dachte, dir macht der ganze Spuk Spaß?« »Das schon, nur…« Pamela zögerte, dann fuhr sie fort: »Aber dort allein schlafen möchte ich trotzdem nicht.« Sie öffnete die Turmtür und sagte beherzt: »Jetzt, wo es Tag ist und wir zu zweit sind, nehme ich den Kampf mit den Gespenstern auf.« Lachend zog sie Silvia hinter sich her. Sie befanden sich nun in einem schmalen Gang, von dem eine Wendeltreppe auf- und abwärts führte. Durch eine enge,
mit Ornamenten verzierte Tür betraten sie einen viereckigen Raum mit kleinen Fenstern an den Außenwänden. An der fensterlosen Wand befand sich ein breites Bett mit einem zerschlissenen Baldachin aus Brokatstoff, der vor etwa hundert Jahren einmal rot gewesen sein mochte. Vorhänge aus demselben Material bedeckten halb die Fenster. Neben dem Bett stand ein breiter, tiefer Schrank und vor einem der Fenster ein mit verblichenem Brokat überzogener Sessel. Alles machte einen unbewohnten, verwahrlosten Eindruck. Selbst die Spinnweben fehlten in den Ecken und an den Fenstern nicht. »Das war Daphnes Schlafzimmer«, sagte Pamela. »Jetzt soll sie als Geist ihre ehemaligen Wohnräume mit Seufzern erfüllen. Ihr Wohnzimmer befindet sich über uns. Sie soll als junges Mädchen spurlos verschwunden sein… Komm, sieh dir mal den Inhalt des Schrankes an.« Sie ging zu dem Schrank hinüber und versuchte ihn zu öffnen, aber er klemmte. Erst als ihr Silvia zu Hilfe kam, bewegte sich ächzend die Tür. Im Schrank hingen noch guterhaltene Gewänder aus dem achtzehnten Jahrhundert. Neugierig wühlte Silvia in den Sachen. Ein weißes Kleid mit buschigen Puffärmeln und einer rotseidenen Schärpe gefiel ihr so gut, daß sie nicht widerstehen konnte. Sie zog das Gewand, dessen Farbe leicht vergilbt war, über ihr Kleid. Es paßte wie angegossen. Damit möchte ich zu einem Kostümball gehen, dachte sie. Wenn man das Kleid etwas auffrischt… »Prächtig siehst du in dem Kleid aus«, unterbrach Pamela ihre Gedanken. »Weißt du, fast genauso wie Daphne auf dem Bild im Salon. Der Maler hat sie in diesem Kleid porträtiert.« Erschrocken zog Silvia das Kleid aus, dann aber sagte sie lächelnd, um ihren Schreck zu überspielen: »Ich habe natürlich keine Lust, auch noch zu verschwinden.«
Pamela wollte sich ausschütten vor Lachen, dann rannte sie hinter ihrer Kusine her, die bereits das Zimmer verlassen hatte. Sie stiegen auf der steilen Treppe zur nächsten Etage empor und befanden sich jetzt in einem alten Wohnzimmer mit denselben verschlissenen Vorhängen wie unten. Als Mobiliar war nur ein Tisch mit zwei geschnitzten Stühlen und eine Truhe zu sehen. Silvia versuchte sich vorzustellen, wie Daphne in ihrem weißen Kleid am Fenster stand und sehnsüchtig hinaussah. Wieso sehnsüchtig, fragte sie sich erstaunt, war Daphne eine Gefangene? Auf einmal stieß sie jemand in die Seite, und eine erstaunte Stimme rief: »Träumst du am hellichten Tage? So komm doch schon, hier gibt’s weiter nichts zu sehen!« Pamela zog die Kusine die letzten Stufen der Treppe hoch, stieß eine Falltür auf, und gleich danach standen die beiden Mädchen hoch oben auf dem zinnenbewehrten Turm. Silvia vermeinte, noch nie eine so herrliche Aussicht genossen zu haben. »Nicht wahr, es ist himmlisch hier oben!« stellte Pamela fest. »Es ist einfach wunderbar!« erwiderte Silvia. »Man hat den Eindruck, als ob einem der Himmel hier besonders nahe ist.« Nur mit Mühe konnte sie sich vom Anblick dieser schönen, wilden Berglandschaft losreißen. Als die beiden Mädchen zum Eßzimmer hinuntergingen, lernte Silvia auch die anderen Mitbewohner des Schlosses kennen. Sie hatte mit Pamela die Halle betreten, da kam ihnen eine große schwarzgekleidete Dame entgegen. Obwohl sie nach Silvias Schätzung höchstens fünfundvierzig Jahre alt sein konnte, hatte sie bereits graues, in der Mitte gescheiteltes Haar. Ihr hageres Gesicht und ihr verkniffener Mund wirkten streng, ihre blaßblauen Augen dagegen sehr traurig. Sie wurde Silvia – von Pamela als Mrs. Joan Galini vorgestellt.
Joan reichte Silvia flüchtig die Hand und sagte mit monotoner Stimme: »Ich hoffe, Sie werden sich hier wohl fühlen, Miß Michaelis!« Dann öffnete sie die Tür zum Eßzimmer und schloß sie wieder hinter den Mädchen. Mike Welton, der Sekretär von Silvias Onkel, saß bereits mit John und Elisabeth am Tisch. Er sprang sofort auf, verbeugte sich weltmännisch vor Silvia und stellte sich ihr selbst vor. Er war erst spät in der Nacht aus Edinburgh, wo er für seinen Chef Besorgungen gemacht hatte, zurückgekehrt. Er schob ihr den Stuhl zurecht und fing sofort mit ihr zu flirten an. Mike war groß und schlank, hatte braune Augen und trug seine glatten braunen Haare nach hinten gekämmt. Er mochte vielleicht dreißig Jahre als sein. Silvia fand, daß er sehr sympathisch aussah. Vor allem war er sehr charmant, und so machte das Flirten mit ihm Spaß. Sie dachte an Peter und bedauerte, daß er nicht dabei war. Dann hätte er sehen können, wie sich noch andere Männer für sie interessierten.
*
Im Laufe des Vormittags zeigte Elisabeth ihrer Nichte die Räumlichkeiten des Schlosses, während Pamela sich zum Unterricht mit Mike in den Rauchsalon begab. Nachdem sie die oberen Räumlichkeiten besichtigt hatten, führte Elisabeth ihre Nichte ins Parterre zurück und machte dort vor einer Tür halt. Sie klinkte sie auf und erklärte: »Wir befinden uns jetzt im Torture-Tower. Dieses Zimmer enthält die Bibliothek.« An der linken Seite der Wand, hinter der die Felswand aufstieg, entdeckte Silvia etwa dreißig Zentimeter über dem
Fußboden ein auf die Wand angebrachtes Wappen der Harleighs. Es zeigte auf einem blauen Hintergrund einen aufsteigenden Adler mit einer Beute in den Krallen. Sie schätzte das Wappen auf ungefähr dreiviertel Meter Länge und Breite. Über dem Wappen hing eine große Tafel mit dem Stammbaum des Geschlechtes. Daneben stand ein großer Waffenschrank. Sonst war der Raum mit bis zur Decke reichenden alten Büchern angefüllt. Er wirkte sehr düster, da das kleine Turmfenster nur spärlich Licht hereinließ. Elisabeth, die Silvias Blicke immer wieder über die Bücherreihen gleiten sah, bemerkte: »Du wunderst dich wohl über die vielen Bücher? Ein Teil von ihnen ist sogar sehr wertvoll. Einer von Johns Vorfahren muß ein Gelehrter gewesen sein.« Sie zog ein dickes Buch heraus. Es war in Leder eingebunden und die Seiten waren vergilbt. »Dieses Werk zum Beispiel«, erklärte sie, »behandelt die Familienchronik der Harleighs seit der Schloßgründung.« »Kann ich es mal lesen?« fragte Silvia aufgeregt. »Das wirst du kaum entziffern können«, erwiderte Elisabeth. »Die einzelnen Handschriften sind oft unleserlich, ja, sogar noch teilweise in der gälischen Sprache, so daß sie auch für mich ziemlich unverständlich sind.« »Dann weißt du also auch nicht, ob in dieser Familiengeschichte irgendwelche Geheimgänge erwähnt werden?« fragte Silvia enttäuscht. »Schließlich hat jedes Gruselschloß doch solche Gänge.« Die Tante lachte und erwiderte: »Also sind wir Besitzer eines Gruselschlosses! Aber tatsächlich werden am Ende der Seiten über den Bau des Schlosses Geheimgänge erwähnt – wie Mike uns berichtete –, jedoch die folgenden Seiten sind herausgerissen worden.«
»O nein!« »Ja, so ist das leider! John nimmt an, daß dies ein späterer Schatzsucher getan hat. Vielleicht hat er sogar den Schatz gefunden, nur wurde das der Chronik nicht anvertraut.« Die beiden Frauen verließen den Türm, bogen um die Ecke und betraten nun das Arbeitszimmer des Hausherrn. Ein großer, wuchtiger Schreibtisch stand in der Mitte. Davor ein schwerer Sessel, von dem sich jetzt John höflich erhob. Der Raum war riesig, aber nur spärlich möbliert. An den Wänden hingen Geweihe und altersdunkle Gemälde mit Jagdszenen. Ein moderner Bücherschrank mit – wie Silvia feststellte – zeitgemäßen Büchern wirkte in diesem Zimmer wie ein Störenfried. »Die Bücher haben wir natürlich mitgebracht«, sagte John. »Lesen ist mein Hobby. Nur leider haben mir meine Geschäfte bisher nicht genug Zeit dafür gelassen. Auch jetzt noch nicht…« Er wies auf den mit Papieren überhäuften Schreibtisch. »Na, da werden wir nicht länger stören«, bemerkte die Tante etwas spitz und zog ihre Nichte in den benachbarten Rauchsalon. Dort wurden sie mit einem Freudengeheul empfangen. »Endlich befreit man die Prinzessin aus ihrem Gefängnis!« schrie Pamela so laut, daß sich Elisabeth die Ohren zuhielt, und schlug ihr Schreibheft zu. Mike stand mit einem Lehrbuch in der Hand an einem Fenster. »Aber Pam«, protestierte er, »der Unterricht ist noch nicht zu Ende.« »Von mir aus schon«, erwiderte Pamela vergnügt. »Und falls Sie es noch nicht wissen, gestrenger Herr Lehrer, wir haben hier einen Gast, und Gästen muß man sich widmen.« Mike lachte. »Da hast du ausnahmsweise recht. Was sagen Sie dazu, Mrs. MacKean?«
Elisabeth schmunzelte. »Seien wir heute gnädig mit ihr.« »Danke, Mam!« Pamela umarmte sie stürmisch. Mike war inzwischen an Silvia herangetreten und flüsterte ihr mit Verschwörermiene zu: »Sie haben es gehört! Sich den Gästen widmen… Wie gern möchte ich das auch, wenn Sie heute abend im Park Zeit für mich hätten. Neun Uhr, am Springbrunnen, okay?« Er hatte sich ihrem Gesicht so weit genähert, daß sie erschrocken zurückwich und rot wurde. Ehe sie antworten konnte, hängte sich Pamela bei ihr ein. »Silvi, ich begleite euch jetzt. Mama hat sich den schönsten Raum, den Salon, natürlich bis zuletzt aufgehoben. Er liegt neben der Halle, gegenüber dem Eßzimmer… So komm doch endlich!« Elisabeth war schon vorausgegangen. Die Mädchen liefen hinter ihr her und ließen einen mißvergnügten Mike zurück. Der Salon war geschmackvoll und überaus luxuriös ausgestattet worden. An seinen Wänden hingen wertvolle alte Gemälde. »Die Gemälde haben wir aus Amerika mitgebracht«, sagte Elisabeth, »mit einer Ausnahme.« Sie zeigte auf ein Porträt, das über dem offenen Kamin hing. Überrascht und fasziniert zugleich starrte Silvia auf das Bild. »Wer ist das, Tante Lissy?« flüsterte Silvia. »Daphne Harleigh!« rief Pamela triumphierend. »Nicht wahr«, sagte Elisabeth, »das Bild ist einzigartig schön! Leider ist uns der Künstler unbekannt, da die Signatur fehlt. Der Überlieferung nach hatte Daphne im linken Turm am Felsen gewohnt, der nach ihr auch benannt wurde.« Daß ich nicht von selbst darauf gekommen bin, dachte Silvia, es ist doch dasselbe Kleid wie im Schrank. Laut sagte sie: »Von Daphne hat mir Pam bereits erzählt, als wir heute früh den Daphne-Tower besichtigten. Ist sie wirklich spurlos
verschwunden, oder ist sie nur mit einem Mann davongelaufen?« »Ja, Silvi«, erwiderte Elisabeth, »da fragst du mich zuviel. Wir haben im Register der Dorfkirche nachgesehen. Sie wurde am 12. August 1842 geboren. Das ist aber auch die einzige Eintragung über sie. Ihr Vater soll ein jährzorniger Mann gewesen sein, und man erzählt sich, daß er sie wegen einer Liebschaft mit einem Geiger gefangengehalten habe.« »Daher also sieht sie auf dem Bild so traurig aus. Schade, ich hätte gern mehr über sie erfahren.« »Dann fragst du am besten Ellen nach ihr. Ich sagte dir ja schon, daß sie sämtliche Legenden und Spukgeschichten der Umgebung kennt, und sie glaubt wohl auch selbst daran. Sie behauptet zum Beispiel steif und fest, daß sie die Musik des Phantom-Geigers bereits selbst gehört habe.« »Des Phantom-Geigers«, wiederholte Silvia sinnend. »Heute nacht habe ich auch Geigenspiel gehört.« Verdutzt blickte Elisabeth sie an, während Pamela ein neidisches »Und ich nicht!« dazwischenwarf, dann meinte Elisabeth: »Versteh ich nicht! Hier gibt es keine Musikanten, und Gespenster erst recht nicht. Du hast gewiß nur geträumt.« »Und Pamela? Sie erzählte mir schon auf der Hinfahrt, daß sie mehrmals Geigenmusik vernommen habe.« »Das stimmt wirklich, Mam«, bestätigte Pamela. Elisabeth zuckte die Achseln und erwiderte: »Pam hat eine lebhafte Phantasie. Wer sollte hier Geige spielen? Außerdem habe ich im ganzen Schloß noch keine Geige gesehen. Im Musikzimmer steht zwar ein Klavier, aber das ist auch das einzige Musikinstrument hier im Schloß.« Um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, fügte sie hinzu: »Es wird dich bestimmt interessieren, wo wir das Bild gefunden haben. Du wirst es kaum glauben, unten in der
Folterkammer, mit der Vorderseite zur Wand gekehrt. Es war vollkommen verdreckt.« »Ihr habt hier auch eine Folterkammer?« rief Silvia erstaunt. »Ich war mit Daddy schon unten«, warf Pamela ein. Elisabeth sagte lächelnd zu Silvia: »So hatten die alten Schlösser und Burgen früher keine Folterkammer? Ist dir denn noch nicht der Name ›Torture-Tower‹ aufgefallen? Wir haben hier natürlich auch mehrere Verliese.« »Oh, Tante Lissy, darf ich sie mal sehen?« »Selbstverständlich, mein Kind, aber nicht jetzt. Onkel John wird sie dir bestimmt einmal zeigen. Übrigens«, die Tante betrachtete sinnend das Bild, »ich finde, das Mädchen sieht dir irgendwie ähnlich.« »Das habe ich ihr auch schon gesagt«, rief Pamela. »Meint ihr das wirklich?« fragte Silvia nachdenklich. »Na, ich weiß nicht recht. Ich bin zwar genauso schlank und habe auch eine ähnliche Haarfarbe, doch meine Augen sind blau und blicken kaum so traurig in die Welt.« Elisabeth sah in das strahlende Gesicht ihrer Nichte, dann strich sie ihr liebevoll über die Haare und meinte: »Ich wünsche dir von ganzem Herzen, daß du auch nie einen Grund dazu bekommen wirst.«
*
Nach dem Lunch zogen sich John und Elisabeth in ihre Zimmer zurück. Diese Gelegenheit benutzten Pamela und Silvia, um die Küche aufzusuchen. Die Küche war sehr modern eingerichtet, und durch die Fenster konnte Silvia die drei Garagen sehen, die an der Schloßmauer errichtet worden waren.
»Ja«, sagte Ellen, die mit einem alten Mann am Küchentisch saß und Kaffee trank, »mit der neuen Herrschaft ist hier das zwanzigste Jahrhundert eingezogen.« Sie erzählte, daß sich die Küche vor einem Jahrhundert sogar noch im Keller befunden habe. Während Pamela auf eine Eckbank zumarschierte und Silvia hinter sich her zog, erhob sich Ellen und räumte das Kaffeegeschirr ab. »Meine Kusine möchte etwas über die hiesigen Gespenster erfahren«, sagte Pamela. »Und Sie, Ellen, wissen doch darüber so gut Bescheid.« Der weißhaarige Mann blickte erschrocken auf und brummelte etwas vor sich hin, was Silvia nicht verstand. Fragend sah sie Ellen an, aber diese nickte ihr beruhigend zu und sagte auf Deutsch: »James meint nur, man solle die Toten in Frieden lassen, dann lassen sie auch uns in Frieden. Und er weiß, wovon er spricht, denn er hat hier viel Unglück gesehen. Er ist hier großgeworden und hat genauso wie sein Vater und Großvater sein ganzes Leben auf Schloß Harleigh verbracht. Da der verstorbene Lord – Gott sei seiner Seele gnädig! – sich keine Dienerschaft mehr leisten konnte, war James bei Mylord daher alles in einem: Gärtner, Kutscher, Diener und sogar noch Koch, bevor Signora Galini ins Schloß kam.« Ellen nahm ein Strickzeug aus einem Körbchen und setzte sich zu den Mädchen, während James kopfschüttelnd aus der Küche schlurfte. Silvia betrachtete das gutmütige Gesicht Ellens, dann konnte sie nicht mehr die Frage zurückhalten, die ihr schon längst auf der Zunge brannte: »Was für ein Mensch war eigentlich Lord Allan? Sie wissen doch sicherlich auch, daß er mein Vater war. Leider habe ich ihn nie kennengelernt, und ich möchte doch so gern Näheres über ihn wissen.«
»Das verstehe ich sehr gut, Miß Michaelis, aber ich habe ihn ja selbst kaum gekannt. Wenn man James Glauben schenken darf, dann war er bestimmt der Beste seiner wilden Vorfahren. Nur wurde er durch seine Armut und Einsamkeit immer mehr zum Sonderling.« »Er hätte ja heiraten können!« Unwillkürlich dachte sie dabei an ihre Mutter. Arglos erwiderte Ellen: »Er wollte höchstwahrscheinlich keine Frau nur ihres Geldes wegen heiraten, und eine ohne Vermögen konnte er sich nicht leisten. Seine einst reichen Vorfahren hatten zu wild und ausschweifend gelebt und das Geld zum Fenster hinausgeworfen. Sie verarmten immer mehr. Es heißt zwar, daß noch wertvoller Familienschmuck vorhanden war, der aber mit Lady Daphne verschwand.« »Ich weiß!« Silvia mußte lachen, als sie an den Passus in ihres Vaters Testament dachte. Und etwas nachdenklich fügte sie hinzu: »Vielleicht ist der Schatz doch noch vorhanden, und wir finden ihn.« Ellen, die das Testament kannte, schmunzelte. »Meinen Sie nicht, Miß Michaelis, daß die späteren Harleighs bereits alles sehr gründlich durchsucht haben? Unser verstorbener Herr hat oft gesagt, wenn der verlorengegangene Schmuck auftauchen würde, könnte das alte Geschlecht der Harleighs wieder im alten Glanz erstehen. Der Schmuck muß demnach sehr wertvoll gewesen sein, aber gefunden hat er ihn leider auch nicht.« Pamela mischte sich ein: »Du kannst mir glauben, Silvi, ich habe ihn ebenfalls nirgends finden können, obwohl ich schon tüchtig danach gesucht habe!« Ellen sah Pamela amüsiert an. »Na, für Sie, Miß Pam, wird der Schmuck wohl nicht so wichtig sein.« »Das mag sein«, maulte Pamela. »Nur hätte ich zu gern mal einen Schatz gefunden.«
»Wir werden zusammen danach suchen«, tröstete Silvia. »Bitte, Ellen, erzählen Sie mir jetzt von den Schloßgespenstern. Glauben Sie wirklich selbst daran?« »Eigentlich glaube ich nur das, was ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe, und der büßende Mönch ist mir noch nie erschienen. Allerdings…« Sie schwieg verlegen. »Was war mit dem Mönch?« drängte Silvia. »Er lebte im sechzehnten Jahrhundert und war, bis er die Mönchskutte anzog, der Schrecken seiner Umgebung. Er soll finsteren Gemütes gewesen sein, sehr grausam und gewalttätig. Es gab viele Gerüchte über ihn, zum Beispiel, daß er seine Feinde und diejenigen seiner Leute, die sein Mißfallen erregten, zu Tode martern oder für immer in den Verliesen verschwinden ließ.« »Dann hat man bestimmt doch Skelette darin gefunden?« »Nein, Miß Michaelis, die Kerker waren leer. Jedoch der Volksmund behauptet, daß es außer diesen Verliesen noch andere gäbe. Aber das wird sicherlich nur eine Legende sein, denn man hat bis heute keine anderen Gefängnisse entdecken können.« »Eine neue Arbeit wartet auf uns!« begeisterte sich Pamela. »Vielleicht finden wir diese Kerker. Wär doch auch was, oder?« »Laßt die Suche lieber bleiben«, mahnte Ellen. »Es könnte lebensgefährlich sein.« »Pah! Wegen der Gespenster?« »Natürlich nicht, Miß Pam! Aber wenn es die Geheimgänge und Kerker wirklich gibt, werden sie bestimmt im Laufe der Zeit verfallen sein.« »Wie kam es, Ellen, daß dieser Lord Mönch wurde?« fragte Silvia. »Nun, jemand hat ihn so sehr gehaßt, daß er auf ihn schoß. Man hat den Lord zwar wieder zusammengeflickt, jedoch
siechte er seitdem dahin. Da hat er wohl seiner vielen Missetaten wegen Furcht vor dem Tod und der Hölle bekommen. Er zog sich ein Mönchsgewand an, betete und fastete. Bald darauf starb er. Der Volksmund sagt, weil er in seinem weltlichen Leben so viel Unglück über andere gebracht hätte, müßte er nun nach seinem Tode herumwandern, um seine Nachfahren auf ein bevorstehendes Unheil hinzuweisen. Lord Allan will ihm auch kurz vor seinem Tod begegnet sein. Er sagte zu dem alten James, daß er nun bald sterben würde, denn der Mönch sei ihm in der Nacht erschienen. Und ein paar Tage später stürzte er abends die Treppe hinunter und brach sich das Genick. James behauptet bis heute steif und fest, daß er oben auf der Treppe eine Gestalt in einem Mönchsgewand gesehen habe, die sich in Nichts auflöste.« Erschrocken sah Silvia die Köchin an. »Dann war es vielleicht Mord! Womöglich hat ihn jemand die Treppe hinuntergestoßen.« Doch kopfschüttelnd wehrte die Köchin ab. »Jetzt geht aber die Phantasie mit Ihnen durch, Miß Michaelis! Wer soll denn das getan haben und warum? Der alte, treue James etwa? Mrs. Galini war zu dieser Zeit unten im Dorf. Und ein Fremder konnte nicht so ohne weiteres ins Schloß eindringen, denn Lord Allan war sehr mißtrauisch, und alle Türen mußten stets verschlossen sein. Außerdem hat auch die Polizei hier alles genau untersucht und nichts Verdächtiges gefunden. Selbst Mr. Mike Welton wurde stundenlang verhört, als er nach dem Unglück hier ankam. Er wohnte zwar damals noch nicht im Schloß, soll jedoch ab und zu hier zu Gast gewesen sein. Aber am Unglückstag war auch er nicht anwesend, das konnte James beschwören. Nein«, seufzte sie, »ich wüßte keinen, der so etwas getan haben könnte. Mylord hatte keine Feinde. Vielleicht hatte er sich über die nochmalige Erscheinung des
Geistes so erschreckt, daß er stolperte und die Treppe hinunterfiel.« »Geister kann man ja nicht zur Verantwortung ziehen«, bemerkte Silvia etwas spöttisch, deren Mißtrauen erwacht war. »Wo befindet sich eigentlich die Familiengruft der Harleighs?« fragte sie. »Unten auf dem Dorffriedhof«, meldete sich Pamela zu Wort, »gleich unter der Kapelle. Ich war mit Mam dort, du weißt schon, wegen Daphne.« »Ich möchte auch zu gern wissen, was für ein Schicksal Daphne ereilte«, sagte Silvia nachdenklich. »Vielleicht mußte sie in einem der geheimen Verliese sterben.« »Möglich wär’s schon«, erwiderte Ellen. »Die meisten Leute glauben, daß ihr eigener Vater sie umgebracht hat, da sie den von ihm ausgesuchten Mann nicht heiraten wollte. Aber ich kann es mir nicht denken, daß ein Vater sein leibliches Kind…« »Mein Adoptivvater würde mich niemals zu einer Ehe zwingen«, sagte Silvia. »Mein Daddy bestimmt auch nicht«, warf Pamela ein. »Und wenn, dann würde ich ausreißen, ganz bestimmt!« »Das glaub ich dir gern«, versicherte Silvia lachend. »Damals waren eben andere Zeiten«, sagte Ellen. »Vor allem von den Töchtern wurde unbedingter Gehorsam verlangt, auch in der Wahl ihrer Ehegatten. Daphnes Vater soll jähzornig und herrschsüchtig gewesen sein. Als seine Frau bei Daphnes Geburt starb, übergab der Lord den Säugling seiner in Edinburgh verheirateten Schwester. Dort wuchs Daphne auf und dort soll auch, als sie fünfzehn Jahre alt war, ihr Bild für ihren vom Vater auserwählten Bräutigam gemalt worden sein. Über den aufgezwungenen und noch dazu hochbetagten Bräutigam muß das Mädchen bestimmt sehr unglücklich gewesen sein, vor allem wohl auch,
weil sie sich in ihren Hauslehrer verliebt hatte, der auch ein wunderbarer Geiger gewesen sein soll. Man beschreibt Pierre als einen schönen Mann mit schwarzen lockigen Haaren und dunklen Augen… Augenblick mal«, unterbrach Ellen sich selbst, »mir ist eine Masche von der Nadel gesprungen.« Pierre… Peter, dachte Silvia plötzlich. Oh, Peter, ich hätte niemals gedacht, daß ich mich so nach dir sehnen würde! Pamela schnalzte ungeduldig mit der Zunge. »Weiter«, drängte sie, obwohl sie die Geschichte längst kannte. Ellen hatte die Masche wieder eingefangen. »Immer ruhig Blut, kleine Miß«, sagte sie, um dann in ihrer Erzählung fortzufahren: »Der Vater holte Daphne nach Hause, da die Hochzeit an ihrem sechzehnten Geburtstag stattfinden sollte. Pierre soll ihr nachgefahren sein, versucht haben, sie zu entführen. Was dann vorgefallen ist, hat niemand erfahren. Die Knechte des Lords schwiegen eisern, wohl aus Furcht vor ihrem Herrn. Pierre wurde schwer verletzt unterhalb des Schloßbeiges von einem Waldarbeiter gefunden.« »Unten am Schloßberg soll sich auch irgendwo der Ausgang eines Geheimganges befinden«, berichtete Pamela. »Ja, das behaupteten schon meine Großeltern«, sagte Ellen, »aber niemand weiß bis heute, ob das stimmt. Allerdings unmöglich ist die Existenz eines Geheimganges nicht, denn die meisten Schlösser und Burgen legten sich solche Fluchtwege für Zeiten der Gefahr an. Der Überlieferung nach wurde bei den Harleighs immer dem Erben die Lage des Geheimganges bekanntgegeben. Nur Lord Allan scheint das Geheimnis mit ins Grab genommen zu haben.« »Erzählen Sie bitte weiter, Ellen«, bat Silvia. »Was ist mit Daphne geschehen?« »Das hat kein Mensch je erfahren. Seit der mißglückten Entführung war sie spurlos verschwunden und mit ihr der Familienschmuck. Doch Pierre soll einige Wochen später
mehrmals gesehen worden sein, wie er um das Schloß herumstrich, gekleidet in einen weiten Umhang, den Kopf mit einem großen Schlapphut bedeckt. Man will sogar nachts gehört haben, wie seine Geige klagend nach seiner Liebsten rief. Eines Tages ritt der Lord ohne seine Begleitung aus, vielleicht, um eine seiner Geliebten heimlich zu besuchen. Nachts aber galoppierte sein Pferd ohne Reiter ins Schloß zurück. Der Suchtrupp fand ihn und seinen Todfeind Pierre noch fest umklammert im tödlichen Kampf, zerschmettert am Fuß eines hohen Felsens.« »Seither«, fuhr Ellen nach einer kurzen Pause fort, »gibt es immer wieder Leute, die behaupten, sie hätten den PhantomGeiger nachts gesehen, wie er geigend oben auf einem der Türme stand oder um das Schloß wandelte, weil er seine Liebste noch immer suchen würde. Auch in den Archiven des Schlosses sollen sich viele Berichte der Harleighs befinden, daß man ihn gesehen und sein Geigenspiel gehört habe!« »Haben Sie ihn auch schon einmal gesehen?« fragte Silvia voller Spannung. »Ja, ein einziges Mal aber nur«, erwiderte Ellen ernsthaft. »Ich bin zu später Stunde plötzlich wachgeworden, wohl durch die Geigentöne, die auf einmal in mein Ohr drangen. Ich stand auf und lief zum Fenster, und da sah ich ihn: Er lief langsam durch den vom Mondschein beleuchteten Park auf das Schloß zu und spielte dabei so wunderschön, daß ich ihm stundenlang hätte zuhören können. Aber dann übermannte mich die Angst vor diesem Phantom, und so verkroch ich mich schnell wieder in meinem Bett.« »Gesehen habe ich ihn leider noch nicht«, sagte Pamela, »denn ich werde ja immer viel zu früh ins Bett geschickt und schlafe dann wie ein Bär. Aber einige Male bin ich mitten in der Nacht doch aufgewacht, und da hörte ich durch das offenen
Fenster die Musik. Es hörte sich stets an, als käme es vom West-Tower her. Aber wenn ich am nächsten Tag nachsah, war nie etwas zu entdecken, nicht einmal eine Geige.« »Ich habe ihn in dieser Nacht auch gehört«, flüsterte Silvia. »Sein Spiel war einzigartig! Und dabei dachte ich, es wäre nur ein Traum. Müssen sich die beiden geliebt haben, noch über den Tod hinaus!« Es klang etwas wie Neid in ihrer Stimme. Sie mußte wieder an Peter denken und fragte sich, ob er sie auch so über den Tod hinaus lieben und überall nach ihr suchen würde. Aber dann stellte sie ihn sich vor, wie er mit der Fiedel in der Hand durch die Lande irrte, und sie mußte über ihren Einfall lachen.
*
Nachts, als alle bereits schliefen, stand Silvia noch lange am Fenster und starrte in die Finsternis hinaus. Wolken verbargen Mond und Sterne. Silvia redete sich ein, daß sie nur etwas Luft schöpfen wollte, um besser schlafen zu können, aber in Wirklichkeit wartete sie auf den Phantom-Geiger. In Hamburg hätte sie jeden ausgelacht, der behauptet hätte, es gebe Gespenster, jedoch hier war alles so anders. Sie fand, daß dieses uralte Schloß direkt zum Gespensterglauben herausforderte. Außerdem rührte sie Daphnes Geschichte, und sie zog Parallelen: Hatte Peter, ihr Freund, nicht auch dunkle Haare und Augen, ja, sogar denselben Vornamen? Denn Pierre ist ja die französische Fassung von Peter. Und beide spielten mit Begeisterung Geige. Dazu kam ihre eigene Ähnlichkeit mit Daphne. In ihre Gedanken hinein erklangen Geigentöne, erst leise, dann immer fordernder.
Sie beugte sich weit aus dem Fenster und sah zum WestTower hinauf, doch sie konnte in der Dunkelheit nichts erkennen. Die Geige schluchzte, rief, klagte. Plötzlich kam der Mond hervor, und die Finsternis wich seinem fahlen Licht. Sie erblickte auf der Zinne des West-Towers eine Gestalt, die in ein weites Cape gehüllt war und einen großen Schlapphut trug. Auf einmal war ihr, als ob sich unter ihr etwas bewegt hätte. Sie hatte zwar keine Schritte auf dem Kies gehört, aber doch stand da jemand und starrte zu ihr hinauf. Vom Gesicht konnte sie nichts erkennen, da ein großer Schlapphut es überschattete, und der Unbekannte sofort den Kopf abwandte, als er bemerkte, daß sie auf ihn hinabsah. Dann lief er fast unhörbar weiter. Das weite Cape wehte hinter ihm her. Das gibt’s doch nicht, dachte Silvia, als die Erscheinung um die Ecke gebogen war. Sie blickte wieder hoch. Die Zinne war leer, und die leisen Geigentöne erstarben immer mehr. Der Mond war wieder hinter den Wolken verschwunden und auch die Musik erstarb. Am Himmel war nicht mehr ein Stern zu sehen, einzelne Regentropfen sprangen ihr ins Gesicht, und dann begann es in Strömen zu regnen. Trotzdem blieb Silvia noch am Fenster stehen und starrte in die dunkle Nacht hinaus, aber außer dem Prasseln des Regens war nichts mehr zu hören. Vielleicht scheut das Gespenst den Regen, dachte sie amüsiert. Oder gab es zwei Gespenster in dieser Art, liefen ihre Gedanken weiter, denn wie konnte sonst ein Wesen zugleich oben und unten sein? Sicherlich war alles nur eine Halluzination! Plötzlich übermannte sie jedoch die Angst, ihr Herz klopfte wild. Sie schlug das Fenster zu, verschloß die Tür, warf sich in ihr Bett und zog die Decke über den Kopf. Dann aber fand sie ihren Humor wieder, und sie dachte belustigt: Wenn
Gespenster durch Wände gehen konnten, war es ihnen dann nicht auch möglich, von Dächern zu schweben? Am Morgen brach die Sonne durch die Wolken. Noch trieften zwar die Bäume und Sträucher vor Nässe, aber Silvia war bereits wieder auf Entdeckungsfahrt. Sie hatte einen Regenmantel über ihr Kleid geworfen und war in den Garten geeilt. Tief sog sie die frische Luft ein. Dann fiel ihr Blick auf den East-Tower. Erwartungsvoll öffnete sie die schwere Turmtür, wurde jedoch enttäuscht. An den Wänden des Raumes standen nur Gartengeräte. Sie lief zur gegenüberliegenden Tür. Dahinter befand sich genau wie im Daphne-Tower ein Gang mit einer Wendeltreppe. Auch der Raum im ersten Stock befriedigte ihre Neugierde nicht. Alles, was an frühere Zeiten erinnerte, war entfernt worden. Helle Tapeten bedeckten die Wände, und moderne Möbel zeugten vom zwanzigsten Jahrhundert. Da die Zimmer der nächsten beiden Stockwerke von Mike bewohnt wurden, stieg sie die steile Wendeltreppe bis zur Brüstung empor. Von hier aus war der Ausblick noch grandioser: Hinter der Schloßmauer senkte sich der Abhang ziemlich steil hinab bis zu einem Wildbach, der schäumend zwischen den mit Geröll bedeckten Ufern dahinschoß. Eine Hand legte sich plötzlich auf ihre Schultern. Erschrocken stieß Silvia einen Schrei aus und fuhr herum. Vor ihr stand Mike und grinste sie an. »Hab’ ich Sie erschreckt?« fragte er auf Deutsch. »Das wollte ich nicht. Ich hörte nur jemand an meinem Schlafzimmer vorbeihuschen, wurde neugierig, und wen sehe ich da, sich wie ein Burgfräulein über die Brüstung lehnen? Meine holde Kusine und…«
»Ich bin nicht Ihre Kusine«, unterbrach ihn Silvia. Mike lachte, seine Augen glitzerten. »Deine Ururgroßeltern waren meine Urgroßeltern«, erklärte er ironisch. »Wenn das keine Verwandtschaft ist! Auf jeden Fall ist das kein Grund, so kratzbürstig zu sein.« In seinen Augen stand Spott, als er hinzusetzte: »Ich muß allerdings gestehen, das reizt einen Mann besonders.« Röte stieg in Silvias Wangen auf. Wie kam es nur, daß sie sich auf einmal über ihn ärgerte? Zuerst hatte sie ihn doch so sympathisch gefunden. Vielleicht verglich sie ihn zu sehr mit Peter, der sie stets voller Zärtlichkeit umworben hatte. Mike dagegen war etwas zu dreist, ja, er ging gleich mit Kanonen vor, dachte sie. Unwillkürlich mußte sie über diesen Vergleich lächeln, was Mike sofort auf sich bezog. »Siehst du«, sagte er, »jetzt lächelst du mich an. Das steht dir vorzüglich. Wir werden doch noch Freunde werden, auch wenn du mich gestern abend versetzt hast, kleine Silvi.« Er wollte wieder seine Hände nach ihr ausstrecken, doch geschickt wich sie ihnen aus. »Wieso habe ich dich versetzt?« fragte sie. Sie merkte dabei gar nicht, daß sie auch »du« gesagt hatte. Verblüfft starrte er sie an. »Das weißt du nicht? Wir hatten uns doch am Springbrunnen verabredet.« Silvia dachte krampfhaft nach, dann fiel ihr die Szene im Rauchsalon ein und sie lachte hellauf. »Das habe ich nicht für ernst genommen«, sagte sie. »Soviel ich mich erinnere, habe ich doch nicht zugesagt, oder?« Sie merkte, daß er sich ärgerte und fuhr ablenkend fort: »Wie kommt es eigentlich, daß du so gut Deutsch sprichst?« »Ich war einige Jahre als Soldat in Deutschland stationiert«, erwiderte er. »Aber können wir jetzt die Zeit nicht nutzbringender anwenden?« Er trat wieder näher.
Silvia umging ihn geschickt und wollte zur Falltür, aber Mike vertrat ihr den Weg. »Laß mich!« sagte Silvia. »Es ist schon spät und die anderen werden längst mit dem Frühstück auf uns warten.« Mike lachte. »Und wenn! Laß sie doch…« »Was tut ihr denn hier oben?« unterbrach eine helle Stimme Mike. Aus der Falltür tauchte ein roter Schopf auf, und bald darauf stand Pamela vor ihnen. »He, was soll das? Hast du mir nicht versprochen, Silvi, daß ich bei deinen Entdeckungsfahrten stets dabeisein darf? Außerdem hat Mam schon Mary und Eve ausgeschickt, um dich zu suchen.« Silvia, über Pamelas Auftauchen sehr erleichtert, lachte. »Was gibt es eigentlich noch für dich zu entdecken? Wie ich dich kenne, hast du das Schloß doch längst in allen Winkeln untersucht.« Nach dem Frühstück bat Silvia ihren Onkel, ihr die Verliese zu zeigen. Unterwegs fragte sie ihn, ob er an Gespenster glauben würde. »Ich, an Gespenster?« lachte John dröhnend auf. »So ein Unsinn! Du hast wohl inzwischen über die HarleighSchreckgestalten allerhand erfahren? Sicherlich von Ellen, nicht wahr?« Als Silvia nickte, fuhr er fort: »Laß dir von ihr nicht bange machen! Solche alten Schlösser wie unseres hatten gewöhnlich eine stürmische Vergangenheit, und daraus entstehen dann die Legenden.« Sinnend antwortete Silvia: »Mein Vater sagt immer, es gebe viele Leute, die Dinge sehen, die gar nicht existieren, nur weil sie sie sehen wollen.« »Ist schon was Wahres dran!« erwiderte John, während sie die Wendeltreppe des Torture-Towers zum Keller hinunterstiegen. »Vor allem bei der gruselig-romantischen Geschichte von Daphne und Pierre. Empfindsame Gemüter
sehen seitdem in jedem Schatten oder Nebelbild ihre Gestalten.« »Aber Onkel John«, widersprach Silvia, »wir dürfen dabei nicht das Geigenspiel vergessen! Ich habe es selbst schon zweimal gehört, und außerdem oben auf dem West-Tower und fast zur gleichen Zeit auch unten auf dem Kiesweg dieselbe Gestalt gesehen. Und ich habe scharfe Augen!« »Trotzdem Sinnestäuschung, mein Kind! Wie sollte es auch angehen: zur gleichen Zeit an zwei Orten? Du scheinst dich so stark mit dieser unglücklichen Liebesgeschichte befaßt zu haben, daß auch du in Nebelfetzen und Schatten Gestalten erblickst und bei jedem Windgesäusel an ein Geigenspiel denkst. Tante Lissy und ich haben hier noch nie eine Geige gehört, weder am Tage noch in der Nacht.« John war am Ende der Wendeltreppe stehengeblieben. Er drehte sich zu Silvia um, brach in sein dröhnendes Lachen aus, das in dem Gang widerhallte, und stellte dann fest: »Allerdings würden wir auch nachts keinen Kanonendonner hören, denn wir schlafen beide so tief wie die Murmeltiere.« »Aber in der ersten Nacht wußte ich noch nichts von Daphne«, bemerkte Silvia eingeschüchtert. Indessen John achtete nicht auf ihre Bemerkung. Er versuchte eine verklemmte und verrostete Eisentür aufzubekommen, die in Augenhöhe mit einer winzigen, vergitterten Luke versehen war. Endlich öffnete sich die Tür knarrend. Modrige, dumpfe Luft schlug ihnen entgegen. John knipste das elektrische Licht an, und aufgeregt sah sich Silvia um. In den Wänden waren mehrere eiserne Halter eingelassen, die früher Pechfackeln aufgenommen hatten, wie John erklärte. In der Mitte des ziemlich großen Raumes befand sich ein langer Tisch, von dem Ketten herabhingen. »Das Folterbett«, erklärte John.
Schaudernd wandte sich Silvia ab. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie das jeweilige Opfer im schwelenden Licht der Pechfackeln gequält wurde. »Eigentlich hatte ich in diesem alten Schloß kein elektrisches Licht erwartet«, bemerkte sie aus ihren Gedanken heraus. »Unter meinem Vetter gab’s auch keins«, erwiderte John. »Aber kannst du dir einen Amerikaner ohne technische Errungenschaften vorstellen? Die Lichtanlage hat mich eine Stange Geld gekostet.« Silvias Augen glitten an den Wänden entlang. Sie fröstelte, als sie die verschiedenen Folterinstrumente sah. »Komm weiter!« befahl John. »Das ist kein Anblick für junge Damen, auch wenn diese Geräte längst verrostet sind.« Er öffnete neben der Folterkammer eine Tür. »Die Waffenkammer!« Alte, verrottete Waffen und Rüstungen lagen und standen hier herum. Danach führte John Silvia den Gang entlang und öffnete hintereinander drei Türen, die gleichfalls vergitterte Luken aufwiesen. Auch hier schlug ihnen eine kalte, feuchte Moderluft entgegen. »Das sind also die Verliese«, sagte John. »An den in den Wänden eingelassenen Ketten kannst du sehen, daß in jedem dieser kleinen Gelasse mehrere Menschen angeschmiedet werden konnten.« John zog die Türen wieder zu und ging zu einer schweren Bohlentür, die den Gang versperrte. Während er sie öffnete, und das Licht im Seitengang anknipste, erklärte er: »Hier befinden sich nur die Vorratsräume, die ehemalige Küche und einige unbenutzte Gewölbe, die selbst ich noch nicht betreten habe. Auf der anderen Seite sind die Weinkeller.« Er lächelte und fuhr fort: »Aber die werden dich kaum interessieren.« Er merkte, daß sie sehr enttäuscht war und meinte: »Du hast wohl mehr erwartet, Silvi?«
Silvia nickte. »Es sollen doch noch geheime Verliese und ein Geheimgang vorhanden sein?« »Tut mir leid, Kleines, aber so etwas haben wir bis jetzt noch nicht entdecken können. Es sind wohl nur Gerüchte, genauso unwahr wie die Geistergeschichten.« In diesem Augenblick knarrte eine Tür, ein Windstoß fegte durch den Keller, das Licht flackerte, um dann ganz zu verlöschen. Dann waren schlurfende Schritte zu hören, das Licht flackerte wieder auf, aber nur so weit, um den Gang mit Schatten zu erfüllen. Wie festgewurzelt am Boden waren John und Silvia stehengeblieben, und jetzt erblickten sie am Ende des Seitenganges, halb verborgen von der Treppe, vor einer geöffneten Tür eine Gestalt in einer Mönchskutte, das Gesicht unter einer Kapuze verborgen. Während Silvia noch voller Schrecken auf die Erscheinung starrte, schrie John: »Was soll der Unfug? Wer sind Sie? Was haben Sie hier zu suchen?« Er lief zu dem Mönch hin, prallte dann aber mit dem Kopf heftig gegen die geschlossene Tür. Die Erscheinung war spurlos verschwunden. »Verdammt!« fluchte John und faßte sich an den schmerzenden Kopf. Dann riß er die Tür auf, doch auch in dem Raum dahinter war keine Menschenseele. »Der büßende Mönch«, flüsterte Silvia erregt, die ihrem Onkel gefolgt war. »Unsinn!« fuhr John sie an und rieb sich seinen noch immer schmerzenden Kopf. »Da wollte sicher nur jemand an meinen Weinkeller, und um nicht entdeckt zu werden, spielte er den Geist. Na, wenn ich den erwische, der kann was erleben!« »Aber John«, sagte Elisabeth später beim Mittagessen, »das kann ich mir nicht denken. Niemand von der Dienerschaft würde so etwas wagen. Abgesehen davon, daß trotz unserer Befragung der Schuldige auch nicht gefunden worden ist.«
»Wer soll es sonst gewesen sein?« fragte John ärgerlich. »Etwa ein Gespenst?«
*
Nachts wälzte sich Silvia unruhig in ihrem Bett herum. Immer wieder wachte sie auf. Schlummerte sie schließlich ein, tauchte der Mönch vor ihren Augen auf, jedesmal wurde er größer. Leere Augenhöhlen starrten sie an und Knochenarme griffen nach ihr. Entsetzt fuhr sie hoch, ihr Herz klopfte wie wild, und mit dem Einschlafen war es wieder für eine Weile vorbei. Schließlich gab Silvia den Kampf auf. Sie sprang aus dem Bett und lief ins Badezimmer. Sie nahm eine Schlaftablette und spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter. Durch die Tablette beruhigte sie sich endlich. Sie ließ sich in ihr Bett sinken, und bald verkündeten ihre Atemzüge, daß sie fest eingeschlafen war. Es mochten vielleicht zwei Stunden vergangen sein, als Silvia plötzlich erneut hochfuhr. Irgend etwas hatte sie geweckt, sie vermochte nur nicht zu sagen, was es war. Sie lauschte, doch nichts unterbrach die Stille um sie herum. Sie fühlte aber, daß etwas anders war als sonst. Sie schaute zum geöffneten Fenster. Der Mond warf sein blasses Licht in das Zimmer hinein und ließ die Gegenstände darin unwirklich erscheinen. Ängstlich wanderten Silvias Augen durch den Raum, und dann sah sie es: Die Wand zur Turmseite war hinter einem nebelhaften Gebilde verborgen. Langsam formte sich daraus eine Frauengestalt in einem weißen wallenden Gewand. Aus einem bleichen Gesicht starrten sie zwei große Augen an und auf dem Hals leuchtete etwas wie ein roter Blutstropfen.
Merkwürdigerweise verspürte Silvia jetzt keine Furcht. Sie fühlte, daß diese Erscheinung sie nicht bedrohte, sie im Gegenteil nur bedrängte, um ihr etwas mitzuteilen, sie um etwas zu bitten! »Was ist?« flüsterte Silvia. »Was willst du?« Zwei dünne Arme hoben sich vom Kleid ab und streckten sich ihr wie flehend entgegen. Willenlos erhob sich Silvia und ging auf die Gestalt zu. Doch da verblaßte diese, wurde zu Nebel, der sich nach und nach auflöste, bis die Wand wieder voll und ganz dahinter auftauchte, ehe das Zimmer in Dunkelheit versank. Silvia trat ans Fenster. Der Mond war hinter den Wolken verschwunden. Alles war draußen ruhig. Doch dann klangen leise Geigentöne auf, rufend und lockend, bis sie wieder erstarben. Schwer atmend stand Silvia noch eine kurze Weile am Fenster, ehe sie sich erneut zur Ruhe begab. Ihre Augenlider fielen vor Müdigkeit wie von selbst zu, und sie schlief nun fest ein. Am Morgen weckte sie die Sonne, die ihr warm ins Gesicht schien. Silvia fühlte sich so zerschlagen, als ob sie die ganze Nacht gewacht hätte. Sie richtete sich auf, sank aber sofort wieder zurück, weil ihr Kopf schmerzte. Was ist nur mit mir los, dachte sie, doch dann fiel ihr die seltsame Nacht ein. Kein Wunder, überlegte sie, wenn ich mich durch diese fürchterlichen Alpträume jetzt so erschöpft fühle. Sie glaubte auf einmal, daß auch die Erscheinung von Daphne nur eine Halluzination gewesen war. Silvia wollte gerade aufstehen, als an die Tür geklopft wurde und gleich darauf Pamela hereinstürmte. »Na, so eine Langschläferin!« rief das Mädchen. »Die Sonne lacht vom Himmel und du liegst immer noch in den Federn!
Aufstehen, bitte!« Und schon zog sie ihrer Kusine die Decke herunter. Silvia verzog ihr Gesicht zu einem Lächeln, da ihre Kopfschmerzen noch immer nicht vergangen waren, und sagte: »Ich scheine tatsächlich verschlafen zu haben. Ich gehe nur schnell unter die Dusche. Warte hier auf mich!« Sie raffte ihre Wäsche zusammen und verschwand im Badezimmer. Kurze Zeit später stiegen die beiden Mädchen Arm in Arm die Treppe hinunter. Unten in der Halle trafen sie den Butler. »Die Herrschaften warten schon«, sagte er mit einem leisen Vorwurf in der Stimme. Während des Frühstücks war Silvia ziemlich wortkarg. Unaufhörlich mußte sie an die vergangene Nacht denken. Immer wieder sagte sie sich, daß es nur Angstträume gewesen waren. Auch die Geigenmusik versuchte sie sich dadurch zu erklären, daß sie diese nur gehört hatte, weil sie sie hatte hören wollen! »Silvi, schläfst du am hellichten Tag?« Silvia schreckte hoch, ihre Tante hatte sie angestoßen. »Mary hat dich schon zweimal gefragt, ob sie dir noch Kaffee nachschenken soll.« Erst jetzt sah Silvia, daß Mary mit der Kaffeekanne in der Hand neben ihr stand. »Entschuldigung«, murmelte Silvia. »Ja bitte, noch eine Tasse!« Während sie zusah, wie Mary sie geschickt bediente, bemerkte sie, daß Mike sie ungeniert musterte. »Du siehst wirklich unausgeschlafen aus. Bist du nachts noch einmal ausgegangen?« fragte er spöttisch. Silvia wurde rot und wollte ihm eine heftige Antwort geben, aber Pamela platzte mit einer Frage dazwischen: »Silvi, was willst du unternehmen, während ich büffeln muß?« »Ich werde mich mit einem Buch in den Pavillon setzen«, antwortete Silvia.
»Bedauerlicherweise kann ich dir dabei nicht Gesellschaft leisten«, sagte Mike, »ich muß ja Pam beim Büffeln helfen.« Pamela kicherte und sagte schadenfroh: »Das schadet Ihnen gar nichts, gestrenger Herr Lehrer!« Nach dem Frühstück ging Silvia in die Bibliothek, um sich ein Buch zu suchen, das über Schloß Harleigh und die Umgebung Auskunft geben konnte. Dabei fiel ihr Blick auf die Ahnentafel. Langsam wanderten ihre Augen von unten nach oben: …geb. 1955, …1904, …1880 … William geb. 1834! Das müßte Daphnes Bruder gewesen sein, überlegte sie. Und hier, wo diese weiß übertünchte Stelle ist, müßte da nicht Daphnes Geburtsdatum stehen? Silvia kannte ja Daphnes Geburtsjahr: 1848, und nirgendwo anders konnte sie diese Jahreszahl finden. Man hat Daphnes Geburtsdatum einfach ausgelöscht, dachte sie empört, als ob sie nie existiert hätte! Auf einmal glaubte sie, daß Daphne ihr tatsächlich nächtlich erschienen war, um sie zu bitten, ihr kurzes, verlorenes Dasein aus der Tiefe des Vergessens hervorzuholen. Und Silvia wußte, daß sie erst Ruhe finden würde, wenn sich Daphnes Schicksal aufgeklärt hatte. Silvia lehnte sich an die Wand und grübelte nach. Wo sollte sie nur mit der Suche anfangen? Ihr fiel der Mönch ein, wie er da unten in dem Kellergang stand. Wohl hatte Onkel John gemeint, die Gestalt sei nur hinter dem Wein her. Aber hatte er nicht vorher gesagt, daß sich die Weinkeller auf der anderen Seite befinden? Vielleicht hatte der Mönch nach dem Schatz gesucht. Da mit dem Schatz aber auch Daphne verschwunden sein sollte, war es da nicht wahrscheinlich, daß beide an einer Stelle zu finden waren? Noch grauste Silvia vor dem Gedanken, der sich aus ihren Überlegungen konsequent ergab: dort mit der Suche anzufangen, wo sich der Mönch befunden hatte. Wieder kam
ihr der Alptraum in den Sinn, wie vor ihrem Bett der Mönch immer größer und drohender hochwuchs. Sie erzitterte. Sie würde jemanden mitnehmen müssen, doch wen? Sie würde sich doch nur lächerlich machen! Silvia stellte sich lebhaft Onkel Johns dröhnendes Gelächter vor, wenn sie ihm erklärte, daß Daphne ihr erschienen sei, um sie um ihre Hilfe zu bitten. Eher könnte sie sich schon an Pamela wenden. Nein, sie durfte das Kind nicht mit hineinziehen, und im Notfall würde ihr Pamela auch keine Hilfe sein können. Und Mike? Silvia seufzte. Sie traute ihm schon zu, daß er es selbst mit Gespenstern aufnehmen würde, doch noch eher würde er die Situation ausnützen, wenn er allein mit ihr im Keller war. Mit einem Ruck warf Silvia ihren Kopf hoch. Sei kein Angsthase, befahl sie sich selbst, schließlich gibt es unten auch überall elektrisches Licht! Silvia lief in ihre Zimmer hinauf und zog sich Jeans und einen Pullover an. Dann steckte sie sich noch vorsichtshalber ihre Taschenlampe in die Hosentasche. Als sie unten im Keller stand, überlief sie ein Frösteln, und sie war drauf und dran, wieder nach oben zu flüchten. Dann schalt sie sich einen Feigling. Sie ging zu der Tür, hinter der der Mönch verschwunden war, und öffnete sie. Sie suchte nach dem Lichtschalter, fand aber keinen. In dem hereinfallenden Flurlicht entdeckte sie, daß in dem Raum auch nirgends eine Deckenlampe vorhanden war. Bis hierher, dachte sie seufzend, ist also das zwanzigste Jahrhundert noch nicht vorgedrungen. Froh, daß sie ihre Taschenlampe mitgenommen hatte, zog sie diese hervor und leuchtete das Gewölbe ab. Es war vollkommen leer. Das Licht ihrer Lampe strahlte die Wände an, aber nichts deutete auf versteckte Gänge hin.
Sie durchquerte die beiden nächsten Gewölbe, die nur durch schmale Öffnungen voneinander getrennt wurden, doch nichts Geheimnisvolles war zu entdecken. Und je tiefer sie in diese unheimliche Welt eindrang, um so mehr fürchtete sie sich. Die Taschenlampe genügte nicht, um das Dunkel zu enthüllen. Auch die Stille, die hier herrschte, fiel ihr auf die Nerven. Nur noch zaghaft wagte sie sich weiter. Doch dann blieb sie erschrocken stehen. Unbestimmte Laute waren an ihr Ohr gedrungen. Sie lauschte angestrengt in die Dunkelheit hinein. Es hörte sich wie ein dumpfes Klopfen an. Erneut überflutete sie die Angst. Schon wollte sie umkehren, und wieder siegte ihre Neugierde. Vorsichtig mit ihrer Taschenlampe den Boden ableuchtend ging sie den Geräuschen nach. Dann entdeckte sie auf dem Boden einen Lichtschimmer, der durch eine Öffnung drang. Sofort machte sie ihre Lampe aus und schlich sich an den Durchlaß. Sie schaute in ein Gewölbe, das genauso wie die schon durchquerten aussah, nur daß an der einen Wand eine brennende Pechfackel befestigt war, die hin und her flackerte und bizarre Muster auf die Steinwände zeichnete. In diesem unheimlichen Licht stand eine Gestalt in einer Mönchskutte, den Rücken ihr zugewandt, und schlug mit einem Hammer gegen die Wand. Das Schlagen wurde immer heftiger, dann warf der Mönch plötzlich den Hammer auf den Boden. Ein Fluch kam über seine Lippen, der von den Wänden widerhallte, und dann erfolgte der Ausruf: »Wieder alles umsonst!« Hatte Silvia eine unvorsichtige Bewegung gemacht, oder fühlte sich der Mönch beobachtet? Jedenfalls fuhr er plötzlich herum, das übrige Gesicht im Schatten der Kapuze verborgen, prallten stechende, unheimliche Augen auf Silvia.
Gellend schrie sie auf, als der Mönch sie jäh mit einer Taschenlampe anstrahlte. Geblendet schloß sie die Augen. Sie wurde von Panik ergriffen und stürzte wie blind davon. Obwohl Silvia um ihr Leben lief, hatte sie das Gefühl, nicht voranzukommen, denn die verfolgenden Schritte näherten sich ihr mehr. Aufstöhnend rannte sie weiter. Dann hatten sie die Schritte erreicht. Vor Schreck stolperte sie, die Taschenlampe entfiel ihren kraftlosen Händen und erlosch. Sie verspürte kaum mehr den heftigen Schlag auf ihren Hinterkopf, der sie ins Dunkel riß. Aus einer schwarzen Tiefe heraus erwachte Silvia. Verwundert blickte sie um sich. Sie lag in einem Bett, das viel zu hoch war, um ihres zu sein. Über sich erblickte sie einen zerschlissenen Baldachin. Erschrocken fuhr sie hoch, ihre Augen wanderten unstet hin und her: Sie befand sich in Daphnes Schlafzimmer! Entsetzt sprang sie aus dem Bett heraus, stürzte zur Tür und riß sie auf. Erst als sie wieder in ihrem Schlafzimmer war, faßte sie sich. Sie wankte zum Spiegel: Ein kreideweißes Gesicht sah ihr entgegen, das von zerzausten Haaren umrahmt war. Nein, so kann ich mich unten nicht sehen lassen, dachte sie. Was soll ich ihnen erzählen? Sie müssen mich ja für irre halten! Stürmisch wurde die Tür aufgerissen. »Hier steckst du also jetzt! Ich habe dich schon überall gesucht, Silvi, im Pavillon, im Schloß und sogar in deinen Zimmern. Ich fand dich aber nicht, du warst spurlos verschwunden.« »Ich war draußen vor dem Schloßtor«, log Silvia hastig, »da bin ich gestolpert und mit dem Kopf hart aufgeschlagen. Ich habe mich dann durch den Daphne-Tower ins Schloß geschlichen, um ungesehen in mein Zimmer zu kommen, so wie ich ausschaue!« »Ach so!« Pamela betrachtete ihre Kusine mitleidig. »Du siehst tatsächlich sehr ramponiert aus.«
Ablenkend fragte Silvia: »Warum hast du mich eigentlich gesucht? Ich dachte, du hast Schulstunden bei Mike?« »Das schon, aber Mike gab mir eine Übersetzung ins Französische, und damit ich ungestört arbeiten konnte, ließ er mich allein. Das macht er bei solchen Gelegenheiten oft.« Pamela lachte. »Sehr zu meiner Freude, denn wenn ich früher mit der Übersetzung fertig werde, habe ich frei, da Mike meine Arbeit immer erst nach dem Essen kontrolliert. Heute war ich besonders früh fertig… Aber nun komm, es ist Essenszeit.« »Ich kann nicht, ich habe Kopfschmerzen! Kannst du mich nicht entschuldigen?« »Natürlich! Man wird dir dann das Essen hinaufschicken. Bye-bye!«
*
Am darauffolgenden Sonntagvormittag hielt vor dem Schloß ein Rolls-Royce. Heraus stieg ein kleines dünnes Männchen mit einem faltigen Gesicht und grauem Haar. James führte ihn in Johns Arbeitszimmer. Tante Elisabeth erklärte Silvia, daß es sich bei dem Besucher um den Anwalt Richard Lacy handeln würde. Bald darauf kam der Butler Jeff Parker und bat Silvia in das Arbeitszimmer. Bei ihrem Eintritt erhob sich Richard Lacy aus dem breiten Ledersessel und ging ihr einige Schritte entgegen. Ganz Kavalier alter Schule verbeugte er sich und reichte ihr die Hand. »Ich freue mich ganz besonders«, sagte er herzlich, »die Tochter meines langjährigen Klienten und Freundes kennenzulernen.« Er betrachtete sie prüfend, während er ihre
Hand noch immer festhielt, und meinte dann: »Sie haben eine große Ähnlichkeit mit dem Mädchenbildnis im Salon. Schade, daß unser teurer Verstorbener Sie nicht mehr kennengelernt hat. Er wäre stolz auf seine schöne Tochter gewesen.« Silvia lächelte verlegen und sagte leise: »Ich habe bis vor kurzem nichts davon gewußt, daß ich seine Tochter bin. Und ich weiß leider nur sehr wenig von ihm.« »Vielleicht erfahren Sie mehr von Ihrem Herrn Vater, wenn Sie seinen Brief lesen, den er noch vor seinem Tode geschrieben hat.« Er kramte in seiner Aktentasche und zog einen Brief hervor, den er ihr übergab. Zögernd nahm ihn Silvia an sich. Eine wehmütige Stimmung hatte sie erfaßt. Es war der erste und zugleich letzte Brief, den ihr Vater an sie geschrieben hatte. Sie starrte auf den Umschlag, der in Deutsch die Worte trug: An meine innig geliebte Tochter Silvia. Silvia sah ihren Onkel an und sagte: »Bitte versteh, sei mir nicht böse, aber ich möchte den Brief allein auf meinem Zimmer lesen.« »Selbstverständlich, Silvi«, erwiderte John, »geh nur!« In ihrem Wohnzimmer angekommen, drehte Silvia das Schreiben erst unschlüssig in ihren Händen. Dann setzte sie sich an das Fenster und riß entschlossen den Umschlag auf. Mein liebes Kind! Gern hätte ich Dich sofort besucht und Dich in meine Arme genommen, aber nach vielen Überlegungen sah ich ein, daß ich kein Recht hatte, Dich aus der Sorglosigkeit einer behüteten Kindheit herauszureißen. Dazu muß man schon erwachsen sein, um die Verirrungen seiner Eltern verstehen zu können. Daher hatte ich mich schweren Herzens entschlossen, mit Dir erst an Deinem achtzehnten Geburtstag zusammenzukommen. Leider hat nun ein Vorkommnis mich belehrt, daß meine Zeit gekommen ist und ich Dich wohl nicht mehr persönlich kennenlernen werde.
Ich schreibe Dir diesen Brief, damit Du mich wenigstens nicht für schlecht und verantwortungslos hältst. Als mir Dein Onkel John schrieb, daß ich eine Tochter habe, weinte ich zwar um die verlorenen Jahre mit Dir, freute mich aber auch gleichzeitig darüber, daß ich nicht ganz umsonst gelebt habe und wenigstens einen Nachkommen hinterlasse. Ich habe Deine Mutter wirklich geliebt, aber aus vielen Anzeichen und Äußerungen ihrerseits glaubte ich annehmen zu müssen, daß sie mich nur deshalb gern hatte, weil sie mich für einen reichen Schloßbesitzer hielt. Ich hatte nicht den Mut, ihr zu gestehen, daß ich arm bin und daß mein Schloß dem Verfall entgegengeht. Ich räumte aus Feigheit das Feld. Hätte ich geahnt, daß sie ein Kind von mir erwartete, wäre sicherlich alles anders gekommen… Aus dem mehrseitigen Brief war ein Bild herausgefallen. Es zeigte einen schlanken Mann mit dunklen Haaren und einem sehr sensiblen Mund. Auf der Rückseite des Bildes stand: Für meine geliebte Tochter Silvia. Zum ersten Mal nach dem Tode ihres richtigen Vaters weinte Silvia heiße Tränen um ihn. Als Silvia den Brief in den Umschlag zurückstecken wollte, entdeckte sie noch ein Papier. Sie zog es heraus. Es war eine Zeichnung, die die Überschrift trug: Fluchtweg von Daphne Harleigh. Auch Ort des Schatzes? Und dann hatte Lord Allan noch mit seiner schönen Handschrift dahinter geschrieben: Hoffentlich hast Du, mein Kind, mehr Glück als ich! Zu ihrer Überraschung entdeckte Silvia, daß in diesem Plan nicht die von ihr untersuchten Kellergewölbe als Eingang zum Geheimgang bezeichnet wurden, sondern eine Kapelle im Schloß, von der Silvia bisher nichts gewußt hatte. Sie dachte wieder voller Schrecken an ihr verflossenes Abenteuer. Was suchte der Mönch denn da unten? Suchte er
lediglich an der falschen Stelle? Und warum überhaupt diese ganze Maskerade? Es konnte doch nur jemand aus ihrer nächsten Umgebung sein, der nicht erkannt sein wollte. Warum hatte er sie niedergeschlagen und wie war sie in Daphnes Bett gekommen. Allerdings, wenn Silvia daran dachte, kam ihr alles mehr wie ein Traum vor, denn einige Stunden nach ihrem Abenteuer war sie in das Turmzimmer gelaufen, um das Bett wieder in Ordnung zu bringen. Doch die Decken lagen ganz glatt auf dem Bett, und nichts deutete darauf hin, daß das Bett benutzt worden war! Silvia seufzte und stand auf. Es hatte keinen Zweck, noch länger darüber zu grübeln. Sie ging ins Badezimmer und wusch sich ihr Gesicht. Nach dem Lunch verabschiedete sich Richard Lacy sehr wortreich. Er drückte Silvia immer wieder die Hand und sagte ihr, daß sie, wenn sie jemals Rat und Hilfe benötigte, sie sich auch immer vertrauensvoll an ihn wenden könne. Und mit Verschwörermiene flüsterte er ihr zu: »Hoffentlich finden Sie das, wonach Ihr Herr Vater vergeblich gesucht hat. Es wäre für ihn im Jenseits bestimmt tröstlich zu wissen, daß wenigstens seine Tochter das Verlorene wiedergefunden hat.« Als endlich der Anwalt abgefahren war, fragte John seine Nichte neugierig: »Ist es ein Geheimnis zwischen euch, was Anwalt Lacy dir so intensiv zugeflüstert hat?« Silvia lachte hellauf: »I wo, Onkelchen! Dem Brief meines Vaters lag noch eine Zeichnung über die Lage des Geheimganges bei, und man scheint anzunehmen, daß sich dort auch irgendwo der Schmuck befindet.« Überrascht sah John sie an. »Dann hat Allan also doch den Geheimgang gekannt!« Mike sagte, und seine Stimme klang heiser vor Aufregung: »Wo ist der Plan, zeige ihn uns!«
»Ja, zeig ihn her!« rief Pamela begeistert. »Daddy, wir gehen doch gleich zum Gang?« Sie drehte sich jubelnd im Kreis herum. »Auf zur Schatzsuche!« Dann lief sie zur Tür. »Ich hole uns sofort Taschenlampen.« Erst ein donnerndes »Halt!« ihres Vaters brachte sie zum Stehen. »Zur Schatzsuche dürfte es heute wohl zu spät sein«, sagte er. »Wir müssen uns erst darauf vorbereiten. Vielleicht ist der Gang längst nicht mehr betretbar.« Sein Blick fiel auf Joan, die den Tee gebracht hatte. Ihr Gesicht wirkte noch blasser als sonst. »Ist Ihnen nicht gut, Joan?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Sie kennen doch das Schloß und dessen Geschichte besser als wir. Was halten Sie von einer solchen Erkundigung?« »Nichts!« erwiderte Joan mit harter Stimme. »Der Gang ist bestimmt verfallen, das Betreten gefährlich. Und Schmuck?« Sie lächelte spöttisch. »Seit Jahrhunderten wird danach gesucht, nur gefunden hat man ihn nie! Auch San…« Erschrocken hielt sie inne, dann fuhr sie hastig fort: »Auch Sanders, ein Freund des Verstorbenen, suchte vergeblich danach.« »Da hört ihr’s!« sagte John zu den Mädchen. »Wir können es doch aber versuchen«, sagte Pamela bittend. »Laßt das lieber sein«, mischte sich nun auch Elisabeth ein. »Joan hat recht, es ist sicherlich gefährlich. Wer weiß, wie verfallen der Gang schon ist.« »Du bist eine Spielverderberin!« entrüstete sich Pamela. »Benimm dich!« wies sie die Mutter zurecht. »Onkel John«, sagte Silvia energisch, »du kannst doch nicht den Wunsch deines verstorbenen Vetters ignorieren. Mein Vater hat es gewünscht, daß ich nach dem Schmuck suche.« »Das stimmt allerdings«, gab John nach, »aber dann können wir das Unternehmen erst am Mittwoch starten.« »Warum erst dann?« fragte Silvia erstaunt.
»Weil Mike mich wegen seiner kranken Mutter um Urlaub gebeten hat und erst am Dienstagabend wieder zurückkommt. Ich halte es aber für besser, wenn außer Jeff noch Mike mitkommt. Und ihr Mädchen müßt mir fest versprechen, ohne Widerrede umzukehren, wenn es gefährlich wird. Einverstanden?« »Einverstanden!« jubelten Silvia und Pamela. Nur die Tante stand mit saurem Gesicht dabei. »Oh, Kinder«, stöhnte sie, »ich weiß nicht recht. Aber schließlich macht ihr ja doch, was ihr wollt!« »Danke, Mam!« rief Pamela. »Und wenn du um uns so große Sorgen hast, dann komm doch einfach mit.« »Nein, nein, lieber nicht! Sicherlich gibt’s da unten Ratten und dann drehe ich bestimmt durch.« »Ich werde ein Schwert mitnehmen, um gegen die Ratten zu kämpfen«, warf Mike ein. Silvia sah ihn erstaunt an. Seine Stimme hatte irgendwie anders geklungen, nicht mehr so liebenswürdig, sondern eher wütend. Als Silvia zur Nachtzeit ihren kleinen Wohnbereich betrat, blieb sie erschrocken stehen. Die Zimmer sahen aus, als ob ein Tornado hindurchgefegt wäre. Schubkästen waren herausgerissen und der Inhalt auf dem Boden verstreut. Unwillkürlich faßte sie sich an ihren Busen, wo sie unter dem Büstenhalter den Brief ihres Vaters mit dem Plan gesteckt hatte. Dabei hatte sie ihn gar nicht verstecken, sondern nur ihrem Onkel zeigen wollen, was sie aber dann nachher doch vergessen hatte. Bestimmt hatte der Eindringling nur nach dem Plan gesucht, denn wie sie sich überzeugen konnte, war ihr nichts gestohlen worden. Im ersten Impuls wollte sie zu ihrem Onkel laufen, aber dann unterließ sie es. Es würde nur eine große Aufregung und viele Verhöre geben, und sicherlich kam dabei doch nichts heraus.
Der Schuldige würde schweigen, und beweisen konnte man nichts. Schließlich hatte sie den Plan ja noch. Sie würde lediglich die Konsequenzen daraus ziehen und ab jetzt ihre Zimmer immer verschließen. Sie räumte ihre Zimmer wieder auf, dann schloß sie die beiden Flurtüren ab und stellte noch vor jeder einen Stuhl mit der Lehne so davor, daß die Türklinken nicht ganz heruntergedrückt werden konnten. Als sie im Bett lag, überlegte sie noch lange, wer der Eindringling gewesen sein könnte. Der Mönch oder vielleicht sogar der Phantom-Geiger? Verbarg sich hinter ihnen jemand von der Dienerschaft? Sie traute es keinem von ihnen zu. Joan? Sie konnte es sich nicht denken. Aber irgendwie war ihr Joan nicht aufrichtig vorgekommen. Sie hatte gesagt: »Auch San…«, schien sich aber dabei versprochen zu haben, denn sie hatte sich schnell verbessert. »Sanders…« Wen hatte sie gemeint? Von einem Freund ihres Vaters namens Sanders war noch nie die Rede gewesen. Dann dachte Silvia an Mike. Aber auch der kam nicht in Frage. Hatte sie doch selbst gesehen, wie er gleich nach ihrer Unterhaltung in sein Auto gestiegen und abgefahren war. Der ungebetene Gast in ihren Zimmern schien es auch sehr eilig gehabt zu haben, sonst hätte er nicht diese Unordnung hinterlassen, sondern wenigstens versucht, seine Spuren zu tilgen. In der Nacht war Sturm aufgekommen, der wild an den Fensterläden rüttelte. Silvia schreckte aus einem kurzen Schlaf hoch. Unheimlich pfiff der Wind um das Schloß. Es hörte sich an, als ob eine wilde Meute in der Luft umhertobte. Da sie nicht wieder einschlafen konnte, knipste sie das Licht an und nahm ein Buch vom Nachttisch.
Plötzlich zuckte sie zusammen. War da nicht eben ein Geräusch an der Tür? Dann sah sie bestürzt, wie die Klinke heruntergedrückt wurde. Bis sie auf der Stuhllehne auflag. Jemand rüttelte leise an der Tür. Eine Weile rührte sich nichts, bis auf einmal etwas klirrte. Sie sah entsetzt, wie der Schlüssel langsam aus dem Schlüsselloch geschoben wurde. Da wich endlich die Erstarrung von ihr und sie schrie: »Ist da jemand? Was wollen Sie?« Stille! Dann war ihr, als ob sich leise Schritte davonstahlen. Sie hielt den Atem an, um besser hören zu können, aber der Wind heulte wieder laut auf, und sie wußte nicht mehr recht, ob sie wirklich auf dem Flur die Geräusche gehört hatte oder nicht. Sie sprang aus dem Bett und schob noch die Kommode vor die Schlafzimmertür. Lange lag sie wach und zermarterte sich den Kopf, wer vor ihrer Tür gewesen sein könnte. Nachts schliefen nur ihre Verwandten im Schloß und dann noch Joan und Mike, aber Mike war diese Nacht nicht hier! Ihr war plötzlich klar, daß sie nicht mehr bis zur Rückkehr Mikes warten konnte. Der Eindringling hatte es sicher nur auf den Plan abgesehen, und solange nicht jeder den Geheimgang kannte, war sie in Gefahr.
*
Gleich am nächsten Morgen verbündete sich Silvia mit Pamela, allerdings ohne ihr das nächtliche Erlebnis zu verraten. Dem Ansturm beider Mädchen war der gutmütige John nicht gewachsen, und so begaben sich gleich nach dem
Frühstück John, Silvia, Pamela und der Butler auf ihre Entdeckungstour. Sie hatten sich mit Taschenlampen und sogar einem Seil ausgerüstet. Die beiden Mädchen sahen in ihren Jeans und Pullovern wie Buben aus. Die Kapelle lag im Erdgeschoß des hinteren Gebäudes. John öffnete die mit wunderschönen Ornamenten versehene Tür in der Mitte des Ganges. Sie betraten einen sehr düsteren Raum. Er hatte nur kleine Fenster, die kaum Licht durchließen, da sich hinter ihnen steil die Felswand aufreckte. An den Wänden hingen alte, brüchige Gobelins, die so nachgedunkelt waren, daß man kaum mehr darauf die Farben erkennen konnte. Außer einigen Gebetsschemeln befand sich nur noch ein Altar in der Kapelle. Seine Seiten waren mit Reliefs bedeckt, ein wohl früher rot gewesenes, goldbesticktes Tuch lag darauf. Darauf standen zwei Kelche, und dazwischen befand sich ein Schrein mit der Mutter Gottes. Vom Plan geleitet ging John zielstrebig auf den Altar zu, hantierte rechts und links an der Verzierung, bis sich je eine Schiene vom Boden löste und den Altar beweglich machte. Gemeinsam schoben sie ihn beiseite. Sie erblickten eine steile Treppe, die in eine unbekannte Tiefe führte. »Der Geheimgang, endlich!« rief Pamela, die sich über die Schulter ihres Vaters gebeugt hatte. John schob sie zurück und betrat zuerst die Treppe. Ihm folgten die anderen. Nach einigen Stufen blieb John stehen und blickte zur Öffnung zurück. Eng drängte sich seine Gefolgschaft um ihn, soweit es die einzelnen Stufen zuließen. »Wie ich es mir gedacht habe«, sagte er. »Seht ihr die beiden Riegel an der Seite? Mit deren Hilfe kann man auch von dieser Seite aus die Schienen bewegen, und das Rad in der Mitte unterhalb des Altars dient sicher zu seiner Verschiebung. Ihr dürft nicht vergessen, der Geheimgang war als Fluchtweg
gedacht. Die Verfolger durften also nicht wissen, wohin die Flüchtlinge verschwunden waren. Daher mußte man den Altar auch vom Geheimgang aus zurückschieben können.« John stieg weiter die Stufen hinunter. Diese waren zwar abgetreten, aber noch gut erhalten. Er entdeckte an der Seite eiserne Haken, durch die sich ein Seil zum Festhalten hindurchzog. John zog an den Haken, sie saßen noch fest in der Mauer. Als er aber das Seil probierte, stutzte er. »Das ist doch unmöglich!« rief er. »Was ist?« fragte Silvia. »Das Seil ist neu«, behauptete John. »Schaut es euch an! Und das in einem so alten, unbekannten Geheimgang!« Er schüttelte den Kopf. »Aber Daddy!« rief Pamela erstaunt. »Lord Allan hat doch den Gang gekannt. Sicher hat er…« »Mein Vetter Allan?« unterbrach John seine Tochter und lachte. »Allan hätte lieber Kopf und Kragen riskiert, als sich wegen eines neuen Seils in Ausgaben zu stürzen. Nein, hier stimmt was nicht! Trotzdem werde ich mal James danach fragen, der war ja damals sein Faktotum. Also dann kommt, haltet euch am Seil fest!« Mit der linken Hand sich am Seil festhaltend, in der rechten die Taschenlampen, stiegen alle vier vorsichtig die steilen Stufen hinunter. Plötzlich war die Treppe zu Ende, und sie befanden sich in einem sehr engen, sich schräg nach unten neigenden Gang. Langsam schritten sie dahin. Ab und zu mußten sie über Geröll steigen, das von der Decke herabgefallen war. »Es ist besser, wenn ich die Decke von Handwerkern ausbessern lasse«, murmelte John vor sich hin, »ehe noch was passiert.« Es kamen wieder viele steile Stufen, die reichlich schlüpfrig waren, denn die Wände und die niedrige Decke wiesen jetzt
feuchte, glänzende Flecke auf. Der Gang neigte sich noch schräger und wurde sehr eng, so daß der korpulente John Mühe hatte, sich hindurchzudrängen. Als sie einmal stehenblieben, um wieder zu Atem zu kommen, vernahmen sie ein Geräusch. »Was ist das?« flüsterte Silvia. Sie horchten, doch jetzt war plötzlich alles still. »Vielleicht Ratten«, antwortete der Butler. Sie richteten ihre Taschenlampen nach vorn, doch da der Gang nicht gerade war und Winkel aufwies, fiel das Licht nur gegen Mauern. Sie gingen vorsichtig weiter, und immer wieder klangen undefinierbare Laute zu ihnen herüber, die aber sofort verstummten, sobald sie stehenblieben. »Das ist ja direkt unheimlich«, sagte Pamela leise, »als ob jemand vor uns ist.« »Das können nur Ratten sein«, sagte John. »Ein Eindringling hätte ja durch die Kapelle kommen müssen, und das ist unmöglich! Wer sollte denn von dem Geheimnis des Altars wissen?« »Vielleicht derjenige, der auch das neue Seil gespannt hat«, mutmaßte Silvia und dachte dabei an die beiden Spukgestalten, die ihrer Meinung nach höchst lebendig waren. Einer von ihnen ist bestimmt für das neue Seil verantwortlich, überlegte sie. John aber war anderer Meinung. »Nein, mein Kind«, entgegnete er, »das glaube ich nicht! Das Seil muß zur Zeit meines Vetters erneuert worden sein, denn niemand wußte ja bisher, wo der Gang war.« Endlich standen sie vor einer schweren Eisentür, die bis zur niedrigen Decke reichte. Obwohl sie einen schweren, rostigen Riegel hatte, war sie halb aufgeschoben. Nacheinander zwängten sie sich durch. Links von ihnen gähnte plötzlich eine Spalte in der Felswand.
»Vielleicht ist hier der Schmuck versteckt«, sagte Silvia. Sie leuchteten mit ihren Taschenlampen hinein: Die Spalte lief vielleicht drei Meter weit etwas schräg nach oben, dann machte sie eine Krümmung. »Sicherlich hinter der Krümmung«, überlegte Pamela laut. »Unsinn!« erwiderte ihr Vater. »Wie soll der Schmuck denn dahingekommen sein? Durch diesen Spalt kann höchstens ein kleines Kind kriechen. Laßt uns weitergehen!« Der Gang wand sich noch um eine Ecke, und dann standen sie vor einer… Nein, es war einmal eine Mauer gewesen. Jetzt klaffte in der Mitte ein großes Loch. »Der Gang wurde also zugemauert«, stellte John fest. »Sicherlich zu einem Zeitpunkt, wo kein Bedarf mehr für Fluchtwege bestand. Aber wer hat sie dann wieder zerstört und wann?« Erregt rief er aus: »So kann doch jeder Unberufene ins Schloß eindringen, da ja auch die Eisentür anscheinend außer Betrieb ist und offensteht!« Besänftigend sagte Silvia: »Könnten die Steine nicht von selbst herausgefallen sein?« John stieg als erster durch das Loch hindurch und stand jetzt in einer kleinen Höhle. An der einen Seite des Loches lagen die herausgehauenen Mauersteine säuberlich aufgeschichtet. Grimmig deutete John auf die Steine. »Von selbst haben sich die Steine wohl kaum aufgeschichtet! Nein, das ist Menschenwerk und Schatzsucher werden demnach die Geister sein, die ab und zu hier im Schloß ihren Spuk treiben. Sie kommen also von draußen! Vielleicht hat jemand durch Zufall den Ausgang des Geheimganges entdeckt und die Steine herausgehauen.« »Wer mag das aber nur sein?« fragte Pamela. »Ja, wer?« wiederholte Silvia. »Wenn du recht hast, Onkel John, weißt du, was das bedeutet? Daß der Lord – ich meine, mein Vater, vielleicht nicht von selbst die Treppe
hinuntergestürzt ist. Wer die Bresche geschlagen hat, konnte doch jederzeit ungesehen in das Schloß hineinkommen und…« Sie sprach nicht weiter. »Ich sehe keinen Grund dafür«, widersprach John. »Allan hatte keine Feinde, und als Erbe war ich doch eingesetzt worden.« Scherzend fügte er hinzu: »Und mich verdächtigst du hoffentlich nicht! Ich habe ein felsenfestes Alibi: Ich war zu dieser Zeit noch in Amerika.« Pamela fand dieses Argument ihres Vaters sehr spaßig, sie kicherte vor Vergnügen. Aber Silvia ärgerte sich, daß ihr Onkel sie nicht ernst nahm, und so sagte sie beleidigt: »Du vergißt den Schatz, Onkel! Alle wissen davon, die ganze Umgebung. Man brauchte also nur von der anderen Seite den Ausgang zu suchen, um in das Schloß eindringen zu können und sich auf Schatzsuche zu begeben. Sicherlich hat sich der Täter als Mönch getarnt. Es war also bestimmt von James keine Halluzination. Vielleicht überraschte mein Vater den Mönch bei der Schatzsuche und mußte das mit seinem Leben bezahlen.« »Du hast eine lebhafte Phantasie«, wandte John ein, fuhr dann aber beschwichtigend fort, »und doch könnte es tatsächlich so gewesen sein.« »Und wenn er danach den Schatz bereits gefunden hat und damit längst über alle Berge ist?« rief Pamela protestierend. »Das wäre gemein! Ich habe mich doch so auf den Schatz gefreut.« »Pamela«, wies sie der Vater zurecht, »wichtiger ist wohl, wenn es sich wirklich um einen Mörder handelt, daß dieser seiner Strafe nicht entgeht! Außerdem, Pam, brauchst du dich doch nicht über den eventuellen Verlust aufzuregen. Die Verliererin ist nur Silvia.«
»Ach, Onkel John«, sagte Silvia, »was man nicht besessen hat, kann man auch nicht verloren haben. Nur möchte auch ich nicht, daß der Mörder frei ausgeht.« »Falls es einen Mörder gibt«, gab John nochmals zu bedenken. »Aber auch dann, wie willst du nach so langer Zeit noch die Wahrheit herausfinden? Die Polizei hatte damals wirklich alles versucht, um Licht in das Dunkel zu bringen, und…« »Die Polizei wußte damals noch nichts von der tatsächlichen Existenz des Geheimganges und der Bresche hier in der Mauer«, unterbrach ihn Silvia. Wieder war sie versucht, ihrem Onkel zu erzählen, was ihr selbst passiert war, und abermals hatte sie Angst, daß dann nur unnötiges Mißtrauen um sich greifen würde. Denn wenn sich auch jetzt herausgestellt hatte, daß man von draußen jederzeit ins Schloß eindringen konnte, so hatten doch nur wenige davon gewußt, daß ihr der Anwalt mit dem Brief ihres verstorbenen Vaters auch einen Geheimplan dieses Ganges überbrachte. John unterbrach ihre Gedankengänge: »Es ist hier nicht der richtige Ort, uns darüber zu unterhalten, aber wenn die Geschichte mit Daphne und ihrem Schmuck tatsächlich stimmen sollte, warum hat man bisher von beiden noch keine Spur gefunden? Du hast jetzt selbst gesehen, daß auch der Geheimgang dieses Rätsel nicht gelöst hat.« »Wir haben diesen Gang ja noch kaum untersucht«, erwiderte Silvia. »Außerdem soll es noch einen anderen Geheimgang mit Verliesen geben.« »Ich habe von dem einen genug«, entgegnete John. Pamela hatte sich bei der Debatte ihres Vaters mit Silvia gelangweilt und daher den Ausgang der Höhle gesucht. Es war nicht schwer gewesen, denn Dämmerlicht drang durch eine große Spalte hinein. Gestrüpp verdeckte sie zwar von außen, aber es ließ sich leicht beiseite biegen.
»Schaut«, rief sie, »hier kann man hinaus, und gar zu steil ist der Abhang auch nicht!« Sie beugte sich in ihrem Eifer so weit vor, daß sie beinahe abgerutscht wäre, wenn Butler Jeff sie nicht zurückgehalten hätte. »Vorsicht, Miß Pamela!« warnte er. »Die Höhe ist noch beachtlich genug, um sich alle Knochen zu brechen!« Der Ausgang der Höhle befand sich einige Meter über dem mit Steingeröll bedeckten Uferrand, an dem der Wildbach vorbeischoß. Es ging zwar ziemlich steil hinab, aber für einen guten Kletterer war die Höhle durchaus erreichbar. »Wer die Höhle kennt, für den ist der Weg ins Schloß allerdings leicht«, sagte John kopfschüttelnd, der nun auch hinunterblickte. »Ich werde veranlassen, daß die Wand sofort ausgebessert wird. Vielleicht können wir auch die Eisentür wieder instand setzen, so daß der Mönch wirklich ein Geist sein muß, um das Schloß weiterhin ungebeten heimsuchen zu können.« Eng hatte sich der Mönch an die Wand eines versteckten Seitenganges der Höhle gepreßt, in Angst, daß die in sein Reich Eingedrungenen die Höhle näher untersuchen und ihn entdecken würden. Er kochte vor Wut, daß sie ihn die ganze Zeit vor sich her gejagt hatten. Und zornig ballte er seine Fäuste, als er hörte, daß John davon sprach, den Gang wieder zumauern zu lassen. Das durfte nicht sein, denn dann war seine Bewegungsfreiheit wesentlich eingeschränkt. Erleichtert hörte er, wie sich die Eindringliche in den Tunnel zurückbegaben.
*
Oben im Schloß wurde Elisabeth von tausend Ängsten geplagt, da inzwischen die Lunchzeit schon um eine Stunde
überschritten und John mit seiner Gefolgschaft noch nicht zurückgekommen war. Ungeduldig lief sie gerade wieder hinaus auf den Gang, der zu den hinteren Zimmern führte, als die Erwarteten endlich in der Tür der Kapelle auftauchten. »Es wird Zeit«, seufzte Elisabeth. »Meine Güte, wie ihr nur ausseht! Ganz verschmutzt!« »Nicht schimpfen!« sagte John lachend. »Einen Geheimgang findet man nicht alle Tage.« »Es war himmlisch, Mam«, jubelte Pamela. »Weißt du, daß…« »Ich will jetzt nichts hören«, unterbrach sie die Mutter. »Ellen ist schon ganz sauer und jammert um ihr Menü. Zieht euch lieber erst um, damit serviert werden kann, ehe sie uns kündigt. Jeff, sagen Sie bitte Ellen Bescheid, daß in einer halben Stunde serviert werden kann.« »Ja, Mylady!« Bevor sich John in das Eßzimmer begab, stieg er wie gewöhnlich selbst in den Keller hinunter, um den Tischwein auszusuchen. Doch als er die Stufen der steilen Treppe betreten hatte, stolperte er und stürzte kopfüber mehrere Stufen hinunter. Dann bekam er das Geländer zu fassen und hielt sich krampfhaft daran fest. Keuchend blieb er liegen, noch halb auf der Treppe ausgestreckt. Ihm war, als hörte er im Keller ein leises Geräusch. Er wollte rufen, war aber noch zu benommen. Kamen da nicht leise Schritte heran? Atmete nicht jemand über ihn gebeugt? Vergeblich versuchte er sich umzudrehen. Furcht kroch in ihm hoch. Warum war der Unbekannte so still? Warum sagte er nichts? Plötzlich wurde es oben auf dem Gang lebhaft. Ellen schimpfte laut mit einem Mädchen. John war es, als ob in diesem Augenblick jemand an ihm vorbeischlich. Er versuchte erneut zu rufen, brachte jedoch nur ein heiseres Krächzen
hervor. Inzwischen war auch oben wieder Ruhe eingetreten. Man hatte noch nicht einmal die offene Kellertür bemerkt. Vorsichtig kroch John auf dem Bauch ganz nach unten. Dabei durchfuhren ihn heftige Schmerzen. Er drehte sich halb auf die Seite und entdeckte, daß sein rechtes Bein seltsam verrenkt neben dem anderen lag. »Sicherlich gebrochen!« schimpfte er vor sich hin, und langsam schwoll auch seine Stimme wieder zur alten Lautstärke an, als er noch einige saftige Flüche folgen ließ. Nachdem er sich dadurch etwas beruhigt hatte, drehte er sich ganz herum, so daß er sich hinsetzen konnte. Dabei kam ihm auch sein übriger Körper wie zerschlagen vor. Dann brüllte er, was seine Lungen hergaben, um Hilfe. Evelyn war mit dem Servierwagen schon um die Ecke gebogen, ehe ihr zum Bewußtsein kam, daß hinter ihr aus der offenstehenden Kellertür furchterregende Schreie drangen. War da nicht auch noch ein Kettengerassel? Vor Schreck schrie sie laut auf und gab dem Servierwagen einen solchen heftigen Stoß, daß er selbständig den Gang entlangfuhr und beinahe Elisabeth umgefahren hätte, die auf den mörderischen Schrei hin aus dem Eßzimmer gelaufen kam. Ihr wankte Evelyn entgegen, bleich vor Entsetzen und hysterisch schluchzend: »Die Geister sind los, die Geister sind los!« Erst als sie von Elisabeth derb an den Schultern gerüttelt wurde, kam sie wieder zur Besinnung. Es folgten einige hektische Stunden. Ellen, die sich auf Krankenpflege verstand, hatte ihrem Herrn gleich am Ort des Geschehens eine schmerzstillende Spritze gegeben. Dann legte sie ihm mit Hilfe des Butlers eine Notschiene um das gebrochene Bein. Dabei wollte John wissen, ob sie jemand im Keller angetroffen hätten, als sie hinuntereilten.
Erstaunt erwiderte Elisabeth, daß niemand auf dem Kellergang gewesen wäre. Auch die anderen Anwesenden schüttelten die Köpfe. »Warum fragst du?« erkundigte sich Elisabeth. »Was ist denn hier eigentlich passiert?« John zuckte die Achseln. »Ich weiß nur, daß ich gestolpert bin. Alles ging so schnell. Und dann glaubte ich, eine Person neben mir zu spüren. Aber sicherlich habe ich mir das nur eingebildet. Ich war schwer benommen.« »Ich kann mir das auch nicht denken«, erwiderte seine Frau, »daß jemand vor uns hier war. Er hätte dich doch nicht ohne Hilfe hier liegenlassen.« Nachdem John notdürftig versorgt war, trugen der Butler und James ihn die Treppe hinauf, was nicht ohne Flüche von Seiten Johns vor sich ging. Etwas später war John in die geräumige Limousine gebettet worden, während sich Elisabeth an das Steuer setzte. Bedrückt gingen die anderen ins Schloß zurück. Sie fanden sich dann alle in der Küche wieder, wo Ellen ihnen einen kleinen Imbiß servierte. Während sie lustlos aßen, rief Silvia plötzlich: »Die arme Tante Lissy! Sie ist ja ohne Essen losgefahren!« Erschrocken sagte Ellen: »Wie konnte ich auch nur so unachtsam sein! Daran hätte ich denken müssen. Auch der Herr hat nichts mehr bekommen. Na, die Herrschaft wird während der langen Fahrt zum Krankenhaus schön auf mich schimpfen.« »Sie konnten nicht an alles denken, Ellen«, tröstete Silvia. »Sie hatten genug mit Samariterdiensten zu tun.« »Ich hätte auch daran denken müssen«, warf Joan ein, die gegen ihre Gewohnheit gleichfalls in die Küche gekommen war. »Wir waren aber alle zu kopflos. Der Unfall kam so gänzlich unerwartet.«
Joan lehnte an dem großen Eisschrank und sah noch blasser aus als sonst. Ihre Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepreßt. »Unfälle kommen immer unerwartet«, erwiderte Silvia. Sie hatte versucht, einige Bissen des aufgewärmten Essens hinunterzubringen, war aber noch zu aufgeregt. Sie wurde einen furchtbaren Verdacht nicht los, und so fuhr sie fort: »Wenn es ein Unfall war!« Und sie dachte: Vater und Onkel – bei beiden Treppenstürze, nur daß es bei meinem Vater ein tödlicher Sturz war. Und bei beiden war jemand anwesend. Denn sie glaubte nicht daran, daß sich ihr Onkel geirrt hatte.
*
»Was wollen Sie damit sagen, Miß Michaelis?« rief Joan in ihre Gedanken hinein, und Pamela sagte etwas vorwurfsvoll: »Aber Silvi, du denkst doch nicht etwa, daß man auch Daddy… Ausgeschlossen, mein armer Daddy hat keine Feinde!« Sie sagte das im Brustton vollster Überzeugung. Als Pamela und Silvia die Küche verließen, hörte sie noch, wie Ellen fast ehrfurchtsvoll sagte: »Ob es der Mönch war, den der Herr gespürt hat?« Selbst Ellen glaubt, daß jemand in Onkels Nähe war, dachte Silvia. Und aus einem plötzlichen Einfall heraus fragte sie: »Pam, hast du Angst? Ich möchte gern noch einmal in den Keller gehen. Nur…« Sie zögerte, dann fuhr sie fort: »Also ehrlich, mir ist nicht ganz wohl bei dem Gedanken, da allein hinunterzugehen.« Pamela kicherte. »Kann ich verstehen. Also los, wagen wir uns in die Höhle des Löwen.«
Silvia untersuchte sorgfältig die Kellerstufen, und schon bei der dritten fand sie die verdächtigen Spuren, nach denen sie Ausschau gehalten hatte. In der Wand, knapp über der Stufe, entdeckte sie ein kleines Loch, das ziemlich frisch aussah, und direkt gegenüber am Geländer eine hauchdünne Perlonschlinge, an der noch ein Rest des abgerissenen Fadens hing. »Siehst du das?« fragte Silvia triumphierend und zeigte auf das Beweisstück. »Glaubst du wirklich, daß…« »Das glaub ich nicht nur, das weiß ich!« unterbrach sie Silvia scharf. »Hier ist noch der Rest des Perlonfadens und auf der anderen Seite das Loch für den Nagel. Man hat den Faden über die Stufen gespannt, dein Vater ist darüber gestolpert und hat dabei den Faden abgerissen.« »Dann müßten der übrige Teil und der Nagel doch auch noch hier zu finden sein. Ich sehe aber nichts«, entgegnete Pamela zweifelnd. »Höchstwahrscheinlich hat sie der Täter mitgenommen«, entgegnete Silvia. Sorgfältig löste sie die Schlinge vom Treppengeländer, um sie als Beweisstück aufzuheben. Oben auf dem Gang blieb Pamela stehen und fragte verzweifelt: »Wer steckt nur dahinter? Daddy ist doch immer so großzügig zu seinen Angestellten, und von ihnen kommt bestimmt keiner in Frage. Mike ist unterwegs und außer James und dem Butler sind doch nur Frauen hier. Es muß ein Außenstehender sein!« Silvia erwiderte entschieden: »Nein, der Täter muß ein Schloßbewohner sein. Wer konnte sonst wissen, daß Onkel John höchstpersönlich den Wein aus dem Keller holen würde? Außerdem, um eine Schnur zu spannen, braucht man keine Kräfte. Es kann also auch eine Frau gewesen sein. Und wissen
wir wirklich, wo Mike ist? Jedenfalls kann jeder von außen durch den Geheimgang ungesehen in die Kapelle zurückkommen, der offen durch das Schloßtor davongegangen ist…« Erregt griff sie nach dem Arm Pamelas. »Komm mit!« rief sie. »Wohin?« »Zur Kapelle natürlich!« Eilig hasteten die Mädchen durch die Gänge. Dann standen sie vor der Kapellentür. Beherzt drückte Silvia die Klinke herunter. Die Tür sprang auf, obwohl sie John, wie Silvia selbst gesehen hatte, abgeschlossen und den Schlüssel eingesteckt hatte. Erschrocken warf Silvia die Tür wieder zu und flüsterte: »Er muß einen Ersatzschlüssel haben!« Verängstigt hasteten die Mädchen zurück in den bewohnten Teil des Schlosses. Die darauffolgende Nacht verbrachten die beiden Mädchen gemeinsam in Silvias Zimmer. Sie hatten Angst, denn jeder, der den Gang kannte oder zufällig entdeckt hatte, konnte ungesehen und ungehindert bis in das Innere des Schlosses vordringen, und außer ihnen schlief nur noch Joan im Schloß. Sie hatten zuerst überlegt, ob sie Joan warnen sollten, aber irgend etwas hielt sie davon zurück, und Joan war ja auch so furchtbar unnahbar und unergründlich. Außerdem wußten sie, daß Joan die Türen zu ihren beiden Räumen sowieso immer gut absperrte. Sorgfältig hatten die beiden Mädchen vor die beiden verschlossenen Türen des Schlafzimmers noch Möbelstücke gerückt. Lange konnten beide nicht einschlafen. Vor dem geöffneten Fenster bauschten sich die Vorhänge, und dann wehten leise Geigenklänge herein, sanft und unendlich traurig, voll flehender Inbrunst und entsagungsvoller Melancholie.
»Der Phantomgeiger«, seufzte Pamela. »Wie unirdisch schön«, flüsterte Silvia. Und sie lauschten beide wie verzaubert den seltsam schönen Tönen. Am übernächsten Tag kam Elisabeth zurück. »Wo ist Mike?« fragte sie und war sehr erstaunt, als sie erfuhr, daß er noch nicht zurückgekehrt war. »Hoffentlich ist es mit seiner Mutter nicht schlimmer geworden«, sagte sie mitfühlend. Elisabeth machte einen sehr erschöpften Eindruck, aber erst, nachdem sie auf die vielen Fragen immer wieder versichert hatte, daß es John verhältnismäßig gutginge und daß er außer dem Beinbruch keine ernsthaften Verletzungen davongetragen habe, ließ man sie in Ruhe und sie konnte sich endlich in ihr Schlafzimmer flüchten. Silvia saß am offenen Fenster ihres Zimmers und starrte in die warme Nacht hinaus. Über ihr war der sternenklare Himmel. Der Mond warf sein Licht auf den Kies vor dem Schloß und tauchte die Bäume und Büsche des Parks in Licht und Schatten. Silvia war sehr enttäuscht und mutlos. Das Rätsel um Daphne aufzudecken, war für sie zu einer Verpflichtung geworden, aber obwohl sie nun den Geheimgang gefunden hatten, war das Geheimnis noch immer nicht gelöst, dafür aber ihr Onkel auch noch zu Schaden gekommen. Sie grübelte und grübelte und vergaß dabei vollkommen die Zeit. Einmal war ihr, als ob eine hohe Gestalt in einem Umhang und Schlapphut quer über den Rasen eilte, doch als sie sich aus dem Fenster beugte, war niemand zu sehen. Dann schlug die Turmuhr. Waren es elf oder zwölf Schläge? Sie hatte nicht mitgezählt. Halb war sie am Fenster eingenickt, da hörte sie es wieder: zärtliche Geigentöne schwangen leise durch die Nacht, wurden
kraftvoller, fordernder und brachen plötzlich mit einem schrillen Mißton ab. Als Silvia im Bett lag, fiel ihr wieder die Spalte in der Mauer ein und ließ ihr keine Ruhe. Gewiß, sie war zu eng, um hindurchzukriechen, aber sie kam doch nicht von ihr los. Sie hatte große Lust, diesen Teil des Ganges und die Höhle noch einmal, und zwar gründlicher, zu untersuchen. Allerdings grauste ihr davor, von der Kapelle aus und ganz allein durch den langen Geheimgang zu laufen. Aber vielleicht konnte sie die Höhle von der anderen Seite aus gemeinsam mit Pamela durchstöbern. Die Stelle mußte doch zu finden sein! Gleich am nächsten Morgen verkündete Silvia am Frühstückstisch, daß sie sich mit Pamela den Wildbach aus der Nähe ansehen wolle. Elisabeth war freilich besorgt und meinte, die Wege da hinunter seien zu steil. Silvia schmollte und sagte vorwurfsvoll: »Du tust geradeso, als ob ich noch ein kleines Kind wäre!« Aber um ihre Tante nicht zu kränken, war sie schließlich doch damit einverstanden, daß diese sie bei dem Ausflug begleitete. Eine Stunde später bekam Pamela plötzlich heftige Zahnschmerzen. Sie wurden so stark, daß Elisabeth mit Pamela in den nächsten Ort zum Zahnarzt fahren mußte. »Laß dir aber nicht einfallen, nun alleine zum Wildbach zu gehen!« schärfte sie ihrer Nichte ein. »Du hast später noch Zeit genug dazu.« Eigentlich wollte Silvia ihrer Tante auch gehorsam sein, aber nach dem Lunch, den sie allein einnehmen mußte, wurde ihr Forschungsdrang zu groß. Sie eilte auf ihr Zimmer, zog ein paar feste Halbschuhe an, dazu einen ärmellosen Pulli und kurze Jeanshosen, da es sehr heiß war. Um ihre Schultern hängte sie ihre Umhängetasche, in der sie eine Taschenlampe verstaute.
Nachdem sie das Schloßtor hinter sich gelassen hatte, ging sie den Fahrweg hinab, bis sie zu ihrer linken Seite einen Pfad entdeckte, der sich zwischen Büschen steil nach unten schlängelte. Sie mußte eine längere Strecke abwärts klettern. Immer näher kam das Rauschen des Baches und dann stand sie endlich davor. Dicht am Abhang führte ein schmaler Weg entlang, der kaum noch zu erkennen war, denn dort lagen viele große und kleinere Steine, über die sie klettern mußte. Die meisten von ihnen mochten wohl im Laufe der Zeit von den Felsen herabgestürzt und von dem dahinschießenden Wildbach angeschwemmt worden sein. Silvia wandte sich wieder nach links, denn nur unterhalb des Schlosses konnte der Ausgang der Höhle liegen. Oft über Steine stolpernd schritt sie dahin. Von Zeit zu Zeit schaute sie nach oben, ob die Mauern des Schlosses schon zu sehen waren. Der Weg war länger und mühseliger, als sie gedacht hatte. Sie schaute auf ihre Armbanduhr: schon sechzehn Uhr vorbei! War es nicht bereits zu spät, noch weiter zu suchen? Doch sollte sie jetzt aufgeben und zurückkehren? Dies war nicht ihre Art, und so ging sie weiter. Als der Weg eine Krümmung machte, erblickte sie endlich hoch über sich die Mauern des Schlosses. Somit mußte auch hier irgendwo über ihrem Kopf hinter einem Gebüsch der Ausgang des Geheimganges zu finden sein. Sie bedauerte es, daß sie nicht, als sie in der Höhle waren, ein Zeichen an den Busch gemacht hatte. Mühsam kletterte sie nun auf dem Abhang herum und untersuchte jedes Strauchwerk. Doch sie hatte kein Glück, sie fand die Höhle nicht. Sie mußte auch ihrer Tante recht geben, so ungefährlich war der Abhang wirklich nicht. Ein paarmal wäre sie beinahe abgestürzt, und sie konnte sich nur noch mühsam am Strauchwerk festhalten.
Als sie nach unten blickte, stellte sie fest, daß sie viel zu hoch und wohl auch zu weit nach rechts geklettert war. Unter ihr war kein Pfad mehr, sondern nur noch Gehölz. Ihre Augen wanderten nach oben. Auf dieser Seite des Abhanges war das Gebüsch spärlicher geworden. Hier und da traten sogar die nackten Felsen hervor. Sie wollte schon zurückklettern, da fielen ihre Blicke plötzlich auf ein Stück Felsen über ihr. Aus einer schmalen Spalte schaute irgend etwas hervor. Zuerst sah sie nur flüchtig hin, doch dann wanderten ihre Augen wie magisch angezogen wieder zurück zu diesem merkwürdigen Ding. Sie zog sich vorsichtig noch etwas höher. Nachdem sie für ihre Füße einen sicheren Halt gefunden hatte, streckte sie behutsam ihre rechte Hand nach dem Gegenstand aus. Eng an die Bergwand gepreßt zog sie daran. Sie konnte noch immer nicht erkennen, was es war, nur so viel: Es war verwittert und undefinierbar, fühlte sich aber an wie Leder. Je mehr sie das Ding aus der Spalte herausbekam, um so schwerer wurde es und entpuppte sich schließlich als eine Art Tasche. Auf einmal ahnte sie, nein, wußte sie, daß die Tasche den verlorenen Daphne-Schmuck enthielt. Aufgeregt zog sie mit aller Kraft das letzte Stück hervor, und dann schrie sie vor Schreck laut auf. Beinahe wäre sie abgestürzt. Mit aller Gewalt preßte sie sich wieder gegen den Felsen und starrte auf das, was mit der Tasche zum Vorschein gekommen war: Eine bleiche Knochenhand streckte sich halb aus dem Spalt heraus, als ob sie die Tasche wieder zurückholen wollte, und dahinter grinste sie ein Totenschädel an. Zuerst dachte Silvia, daß es sich um Daphnes Kopf handeln würde. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, stieß die Knochenhand zurück und preßte ihre Augen an den Spalt. In dem Halbdunkel konnte sie die Konturen des Skeletts erkennen. Es kam ihr merkwürdig klein vor. Ein Kind,
sinnierte sie, ja, es könnte ein Kind gewesen sein, aber von einem Kind war in der Überlieferung nicht die Rede gewesen, und wie kam es dorthin? Rätsel über Rätsel! Vorsichtig kletterte Silvia nach unten. Sie setzte sich am Fuß des Beiges ins Gras und untersuchte die Tasche. Sie war vom Alter und der Witterung arg mitgenommen und mußte wohl einst eine Jagdtasche gewesen sein. Noch einige Pelzreste hingen an dem rissigen Leder. Silvia hatte zuerst Mühe, die Tasche aufzubekommen, dann aber riß der verrostete Verschluß auseinander, und nun lag er vor ihr, der verlorengegangene Schatz der Harleighs: Ringe, Kolliers, Diademe, einige Goldmünzen und ein kleiner Lederbeutel. Sie machte auch diesen auf. Mindestens drei Dutzend kleine und große Edelsteine brachen sich in den Strahlen der untergehenden Sonne. Silvia war voller Freude, daß sie den Schatz gefunden hatte, und sie war so damit beschäftigt, die herrlichen Steine zu bewundern, daß sie das Knacken des Unterholzes nicht wahrnahm. Als sie darauf aufmerksam wurde, war es bereits zu spät: zwei Hände legten sich um ihren Hals und drückten zu. Die Tasche entfiel ihren Händen, sie wehrte sich verzweifelt. Doch dann wurde es ihr schwarz vor den Augen. Unendlich war der Abgrund, in den sie immer mehr versank. Sie wollte Luft holen, doch ein Feuer schien in ihrer Kehle zu wüten, und sie stöhnte auf… Sanfte Hände fuhren über ihr Gesicht und drückten ihr etwas Nasses auf die Stirn. Sie schlug die Augen auf und sah direkt in den nachtdunklen Himmel, von dem die Sterne herabfunkelten. Etwas bewegte sich neben ihr, sie wandte den Kopf und erstarrte: Da war der Schlapphut, der weite Umhang. Er war es, der Phantomgeiger!
Dann wich die Furcht von ihr, denn das war kein Geist, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, der ihr erneut ein nasses Tuch auf die Stirn legte. Plötzlich trat der bis dahin unsichtbare Mond hinter einer Wolke hervor und warf auch sein Licht auf den Unbekannten, dessen Gesicht bis dahin im Dunkeln geblieben war. Entsetzt fuhr Silvia hoch und schrie gellend auf, denn das war kein Gesicht, sondern nur eine furchtbare Grimasse! Der Unbekannte sprang erschrocken auf und verhüllte mit dem Umhang sein Gesicht. Nur seine noch sehr jugendlichen Augen blickten sie mit solcher Qual an, daß sie glaubte, seinen Blick nicht mehr ertragen zu können. Ehe sie noch etwas sagen konnte, drehte er sich um und war verschwunden. Es dauerte eine Weile, bis sich Silvia gefaßt hatte. Dann stand sie auf und berührte ihren Hals, er tat ihr noch immer schrecklich weh. Ob er es war, der mich würgte? fragte sie sich. Nein, entschied sie, er hat mir bestimmt nur helfen wollen. Der Arme, was war nur mit seinem Gesicht geschehen? Ihr fiel die Tasche mit dem Schmuck wieder ein. Wo war sie geblieben? Sie entdeckte im Mondlicht nur ihre Umhängetasche. Sie holte die Taschenlampe heraus und leuchtete damit den Boden ab, auch das Unterholz, aber sie fand sie nicht. Plötzlich blitzte etwas zwischen den Steinen hervor. Es war ein Brillantarmband in altertümlicher Goldfassung. Wenigstens ein Beweis, dachte sie bitter, daß ich nicht geträumt habe und den Schmuck der Daphne wirklich in den Händen hielt. Wer mochte ihn gestohlen haben? Bestimmt nicht der Phantomgeiger, sondern der Würger. Bei diesem Gedanken kam ihr erst richtig die Erkenntnis, daß sie beinahe hier ermordet worden wäre. Die Angst überwältigte sie, sie warf
sich ihre Tasche über die Schulter und hastete den Weg zurück, den sie so frohgemut am Nachmittag gekommen war. Der Rückweg war alles andere als erfreulich. Die Taschenlampe beleuchtete nur eine kurze Strecke des holprigen Weges. Unheimlich schoß das dunkle Wasser an ihr vorbei, und wenn sie daran dachte, daß sie bergaufwärts noch ein Stück durch den dunklen Wald mußte, drohte sie in Panik auszubrechen. Sie hatte Glück. Als sie den Weg am Wildbach verließ, sah sie Laternenschein und hörte aufgeregte Stimmen. Es waren Elisabeth, Jeff und Eve, die den Pfad des Abhanges herunterkletterten. Elisabeth umarmte Silvia mit Tränen in den Augen. »Daß du nur wieder da bist!« stammelte sie aufgeregt. »Wie kannst du uns nur solch einen Schrecken einjagen! Jetzt ist es schon bald zehn Uhr. Ich bin vor zwei Stunden mit Pam nach Hause gekommen, und du warst nicht da. Nachdem du nach einer Stunde noch immer nicht zurückkamst, haben wir uns aufgemacht, dich zu suchen. Dabei hast du mir so fest versprochen, nichts allein zu unternehmen.« »Verzeih, Tante Lissy…«, wollte sich Silvia entschuldigen. »Verzeih!« rief Elisabeth aus. »Ich habe dir nichts zu verzeihen. Aber hast du einmal daran gedacht, was ich deinen Eltern sagen soll, wenn dir unter meiner Obhut etwas passiert?« Elisabeth konnte sich noch immer nicht beruhigen. »Erst die Aufregung mit Mary und dann mit dir!« Erstaunt fragte Silvia: »Wieso mit Mary? Was ist mit ihr?« »Ach so, das kannst du ja noch nicht wissen. Ellen erzählte es mir bei unserer Rückkehr. Mitten beim Küchenschrubben fiel Mary ohnmächtig hin.« »Ist sie krank?« »Krank? Ja, so kann man es natürlich auch nennen«, erwiderte Elisabeth spöttisch. »Ihre Eltern werden uns die
Schuld daran geben, weil wir nicht genug aufgepaßt hätten. Die halten uns Amerikaner sowieso für zu leichtlebig. Nur gut, daß Mary wenigstens Ellen eingestanden hat, wer’s war.« »Ich versteh kein Wort«, erklärte Silvia. »Ist das wirklich so schwer zu verstehen? Sie bekommt ein Kind, ist schon im fünften Monat, und wir haben nichts bemerkt! Und weißt du auch von wem? Von einem Geist in einem Umgang und Schlapphut!« »Aber Tante Lissy, das ist unmöglich«, rief Silvia erstaunt aus, da sie an das verwüstete Gesicht des Unbekannten dachte. »Unmöglich?« wiederholte die Tante. »Kind, ich verstehe ja deine Enttäuschung, daß sich dein romantischer Phantomgeiger als ein simpler Bauernbursche entpuppt. Er hat sich als Phantomgeiger nur vermummt, um sich zur Mitternachtsstunde im Pavillon ungestört mit Mary treffen zu können.« Etwas spöttisch fügte Elisabeth hinzu: »Und du hast ihn genauso wie die anderen für einen Geist gehalten.« Beschämt senkte Silvia den Kopf, doch dann fiel ihr etwas ein. »Und die Geige?« rief sie. »Hat er auch Geige gespielt?« Die Tante lachte: »Wahrscheinlich nicht! Wie soll er auch? Hier spielen die Bauernburschen höchstens den Dudelsack.« »Das arme Ding!« sagte Silvia mitleidig. »Was soll nun aus ihr werden?« Elisabeth zuckte die Achseln. »Was schon! Wir werden sie trotzdem behalten. Ich werde auf ihren Freund einwirken, daß er sie heiratet, und wenn er das nicht tut, kann Mary auch nach ihrer Entbindung bei uns bleiben.« Sie waren inzwischen vor dem Schloß angekommen. »Tante Lissy, du bis ein Schatz!« rief Silvia aus, ehe sie durch die Halle lief und die Treppe hinaufstürmte. In ihrem Schlafzimmer betrachtete Silvia vor dem Spiegel ihren Hals, der deutlich rote Würgemale aufwies. Bestimmt
würde ihre Tante bei der Abendbeleuchtung diese Flecken entdecken und sie danach fragen. Sollte sie ihr die Wahrheit sagen, auch warum Onkel John gestürzt war? Nein, entschloß sie sich, es war besser, ihr alles vorläufig zu verschweigen, nachdem sie an diesem Tag schon so viele Aufregungen gehabt hatte. Sobald Onkel John wieder da war, wollte sie ihm alles erzählen. Sie suchte unter ihren Kleidern, dann holte sie ein dunkelblaues ärmelloses Kleid hervor, das am Hals einen Stehkragen aufwies. Kritisch betrachtete sie sich im Spiegel, die Flecken waren tatsächlich verdeckt. Es war Nacht. Silvia lag noch hellwach in ihrem Bett, da wehten wieder die Geigentöne durch das offene Fenster, schmeichelten sich in ihr Ohr, hüllten sie ein und erzählten ihr von einer unerfüllten Liebe. Himmlische Geigenmusik. Sphärenmusik, dachte sie und stand auf. Sie blickte aus dem Fenster zum West-Tower hinauf. Da sah sie ihn deutlich im Licht des Mondes an der Brüstung stehen, erkannte seinen Umhang und den tief ins Gesicht gezogenen Schlapphut. Diesmal aber erblickte sie auch die Geige, über die er unermüdlich seinen Bogen führte. Sie kniff die Augen zusammen, aber das Bild blieb. Sie wußte nicht mehr, was sie glauben und denken sollte. War es der Geist von Pierre, oder war es Marys Freund? Sie konnte es sich nicht vorstellen, daß dieser Bursche mit dem Phantomgeiger vom Wildbach identisch sein sollte. Ach, dachte sie, wenn doch nur Peter hier sein könnte! Er würde den Gespenstern schon zu Leibe rücken. Plötzlich vernahm sie Motorengeräusch, in dem der Klang der Geige erstarb. Mikes Wagen schoß den Zufahrtsweg hinauf. Schnell zog sich Silvia vom Fenster zurück. Am nächsten Morgen kam sich Silvia wie gerädert vor. Alle Knochen taten ihr weh. Sie hatte eigentlich keine Lust
aufzustehen, raffte sich aber dann doch dazu auf. Um sich aufzumuntern, wollte sie ein Liedchen trällern, brachte aber nur ein heiseres Krächzen zustande. Erst jetzt bemerkte sie, daß auch ihr Hals noch immer schmerzte. Als sie ihn vor dem Spiegel näher untersuchte, entdeckte sie, daß der Hals geschwollen war und die Flecken eine blaurote Farbe angenommen hatten. Ihr ganzes gestriges, beinahe tödliches Abenteuer kam ihr wieder voll zum Bewußtsein, und sie fragte sich von neuem erschauernd, wer der Täter wohl gewesen sein könnte. Eins stand für sie fest, daß er sich in der Umgebung gut auskennen mußte, sonst hätte er sie nicht ungesehen beobachten können. Und er mußte sie beobachtet und den Schatz in ihren Händen gesehen haben, ehe er sie überfiel. Jedenfalls blieb ihr wieder nichts anderes übrig, als nochmals das hochgeschlossene Kleid anzuziehen. Als sie sich dann auf den Weg nach unten begab, kreisten ihre Gedanken erneut um den Überfall. Warum war Mike so lange fortgeblieben? Konnte er nicht früher heimlich zurückgekommen sein und sie von der Höhle aus beobachtet haben? Hätte er dann aber so leise herunterklettern können, daß sie ihn nicht hörte? Ihr fiel auf einmal der Sohn der Köchin ein. Wenn auch seine Mutter behauptete, er besuche sie nur selten, konnte er nicht ohne ihr Wissen hierhergekommen sein, um nach dem Schatz zu suchen? Er kannte bestimmt hier viele Verstecke und brauchte vielleicht auch dringend Geld! Sie seufzte. Jetzt jedenfalls war der Harleigh-Schmuck mit Ausnahme des Armbandes sowieso für sie unwiederbringlich verloren und damit das einzige Vermächtnis ihres Vaters. Den Täter würde man kaum mehr entlarven können, da dieser sicherlich mit dem Schmuck bereits über alle Berge war.
Beinahe wäre Silvia in der Halle mit Joan zusammengestoßen. »Geht es Ihnen nicht gut, Miß Silvia?« fragte die Wirtschafterin. Das junge Mädchen fuhr zusammen. Sah sie so schlecht aus? Sie sah Joan an, doch dann erschrak sie nochmals, weil es ihr schien, als ob die Augen der anderen so merkwürdig wissend ihren Hals betrachteten. Sollte sie etwa…? Silvias Augen wanderten zu Joans Händen hinunter. Diese waren schmal und lang und machten einen kräftigen Eindruck. Ein Schauder rann über ihren Rücken, und sie antwortete hastig: »Ich habe nur etwas Kopfschmerzen.« Sie wandte sich um und riß die Tür zum Eßzimmer auf. Mike sprang sofort auf, als sie eintrat. Er schien sehr gut aufgelegt zu sein. »Heut so zugeknöpft, schöne Kusine?« fragte er. »Bei diesem herrlichen Sommerwetter?« Mißtrauisch sah sie ihn an, denn seine Stimme kam ihr spöttisch vor, dann antwortete sie schnippisch: »Du bist ja sehr heiter, Mike! Daher kann ich annehmen, daß es deiner Mutter wieder bessergeht.« Sie beobachtete dabei sein Gesicht. Und sofort war die Heiterkeit aus seinem Gesicht verschwunden und hatte einer Trauermiene Platz gemacht. »Leider nicht, Silvi«, antwortete er. »Ich glaube, man muß mit dem Schlimmsten rechnen. Daher muß ich euch heute schon wieder verlassen. Ich habe meine Sachen bereits gepackt.« »Es kommt immer alles zusammen«, sagte Elisabeth. »Erst muß John ins Krankenhaus, und nun muß auch Mike fort.« »Es tut mir selbst leid«, murmelte Mike. Silvia dachte noch immer über den jähen Wechsel seines Gesichtsausdrucks nach. Wenn die Mutter auf den Tod daniederliegt, benimmt man sich da nicht etwas anders? Fuhr er nur deshalb fort, weil er hier erreicht hatte, was er wollte?
Plötzlich fiel Silvia auf, daß Pamela am Frühstückstisch fehlte. »Wo bleibt Pam?« fragte sie erstaunt. »Pam hat wieder Zahnschmerzen«, erwiderte Elisabeth, »und wollte noch etwas im Bett bleiben.« »Ich dachte, der Zahn ist ihr gestern plombiert worden?« »Das schon, aber der Zahnarzt meinte gleich, daß sie noch nachträglich etwas Schmerzen haben könnte.« Als Silvia den Eßraum verlassen wollte, wurde sie von Mike zurückgehalten. »Silvi, warum weichst du mir immer aus? Bin ich dir so zuwider?« Überrascht blickte ihn Silvia an. Sie betrachtete sein charmantes Gesicht und dachte: Nein, zuwider ist er mir nicht, eigentlich ist er mir sogar sympathisch, und doch… Er ist irgendwie unergründlich. Aber sind das nicht die meisten hier? »Nein«, erwiderte sie, »natürlich nicht! Wie kommst du darauf?« »Aus meinen Erfahrungen mit dir«, antwortete er. »Dann darf ich wohl hoffen, daß du jetzt mit mir in den Park gehst. Ich möchte mich von dir verabschieden.« »Das kannst du doch auch hier«, entgegnete Silvia. »Außerdem hat das noch Zeit. Soviel ich gehört habe, fährst du erst nach dem Lunch fort.« »Allerdings, aber dann habe ich keine Zeit mehr!« Wütend blitzten sie Mikes Augen an, ehe er sich umwandte und die Halle durchquerte. Sinnend blickte ihm Silvia nach, von widerstrebenden Gefühlen geplagt. Hatte Mike jetzt eben seinen wahren Charakter gezeigt? Konnte er nicht doch der Täter sein? Oder verdächtigte sie ihn zu Unrecht? Sie lief die Treppe empor und stieß beinahe mit Pamela zusammen. »Pam, du bist aufgestanden?« fragte sie erstaunt. »Was machen deine Zahnschmerzen?«
»Sind wie weggeblasen! Wollen wir nicht heute nachmittag wieder auf Entdeckungsfahrt gehen?« »Mal sehen«, erwiderte Silvia und legte ihren Arm um Pamelas Schultern. Zusammen gingen die Mädchen in den Damensalon. Elisabeth saß dort an einem Fenster und hatte eine Stickerei zwischen ihren Händen. Doch sie stickte nicht, sondern blickte wie verloren zum Fenster hinaus. Silvia hatte ihre Tante noch nie traurig gesehen. Mitleidig trat sie zu ihr und legte den Arm um sie. »Du machst dir doch nicht etwa Sorgen um Onkel John? Das brauchst du nicht, es ist ihm ja nichts Ernstliches passiert.« »Das sage ich mir auch immer wieder«, antwortete Elisabeth und seufzte. »Aber weißt du, wir waren nach unserer Heirat noch nie getrennt. Ich sehne mich unsagbar nach ihm. Ich komme mir sehr allein vor.« »Liebste Mam«, rief Pamela, »wir sind doch bei dir!« Sie umarmte ihre Mutter stürmisch, die die Liebkosungen der Tochter herzlich erwiderte. In dieses Idyll platzte Mike hinein. Aber wie sah der sonst so adrette junge Mann aus! Sein Gesicht war gerötet, die Haare hingen ihm wirr in die Stirn, und seine Augen blitzten vor Wut. Er sagte mit nur mühsam beherrschter Stimme: »Wer hat noch einen Schlüssel zu meinen Zimmern? Ich bin während meiner Abwesenheit bestohlen worden!« Elisabeth fuhr hoch. »Wie können Sie so etwas behaupten, Mr. Welton? Und was ist das für ein Benehmen?« fragte sie scharf. »Verzeihen Sie bitte, Mrs. MacKean«, erwiderte Mike und versuchte, seiner Stimme einen ruhigeren Klang zu geben, »aber Sie müssen meine Aufregung verstehen. Da die Schlösser zu meinen Zimmern nicht aufgebrochen worden sind, muß der Dieb Nachschlüssel gehabt haben.«
»Wer soll das gewesen sein?« fragte Elisabeth erregt. »Für die Dienerschaft lege ich die Hand ins Feuer.« Sie läutete, dann fuhr sie fort: »Was ist Ihnen abhanden gekommen?« Mike zögerte einen Augenblick, bevor er antwortete: »Meine beiden schon gepackten Koffer sind durchwühlt und verschiene Wertgegenstände, wie ein goldenes Zigarettenetui, Ringe usw. entwendet worden.« In der Tür erschien Eve. »Gehe sofort zu Mrs. Galini«, befahl ihr Elisabeth, »und sage ihr, sie möchte bitte zu mir kommen!« Dann wandte sie sich wieder Mike zu und sagte mit kalter Stimme: »Wenn Sie wollen, rufe ich auch die Polizei.« Mike fuhr zusammen und wehrte sofort ab: »Von mir aus können wir die Polizei aus dem Spiel lassen.« Verächtlich setzte er hinzu: »Der Dorfpolizist dürfte wohl kaum in der Lage sein, den Diebstahl aufzuklären.« »Ich halte es gleichfalls für besser, die Polizei nicht einzuschalten«, erklärte Elisabeth. »Ich möchte keinen Skandal.« »Bitte, Mrs. MacKean, Sie wünschen?« fragte Joan von der Tür her. »Ah, Joan! Es tut mir leid, daß ich Sie in Ihrer Arbeit stören mußte, aber es ist etwas Unangenehmes passiert. Bei Mr. Welton sind die Zimmer vermutlich mit einem Nachschlüssel geöffnet und aus den Koffern verschiedene Wertgegenstände gestohlen worden. Wissen Sie, ob es hier noch irgendwo Ersatzschlüssel für die einzelnen Räume gibt?« Silvia, die bisher mit ihrer Kusine stumm die Szene beobachtet hatte, sah die Wirtschafterin aufmerksam an. Diese wirkte in ihrem schwarzen Kleid mit dem streng gescheitelten Haar genauso unnahbar wie immer. Aber Silvia entdeckte, daß Joans sonst so blasse Wangen hektische rote Flecken aufwiesen. Jedoch ihre Stimme war ebenso ruhig wie stets, als
sie nach einer kurzen Pause antwortete: »Nein, leider nicht! Als Ihr Gatte die Zimmer renovieren ließ, sind auch neue Schlösser angebracht worden. Höchstwahrscheinlich hat er die Ersatzschlüssel, wenn es welche gibt, selbst in Verwahrung.« »Glauben Sie, daß jemand von der Dienerschaft in Frage kommt?« »Auf keinen Fall!« erwiderte Joan. »Ich kenne die Leute schon jahrelang.« »Ich kann’s mir auch nicht denken, Joan. Trotzdem horchen Sie doch einmal bei der Dienerschaft herum. Wenn es nicht zu umgehen ist, durchsuchen Sie mit Mike auch deren Zimmer.« Dann wandte sie sich Mike zu: »Sollte sich der Dieb und die gestohlenen Gegenstände nicht einfinden, komme ich selbstverständlich für den Schaden auf.« Mike zog ein Gesicht, als hätte er auf eine saure Zitrone gebissen, dann erwiderte er mit heiserer Stimme: »Sehr gütig, Mrs. MacKean, doch der Erinnerungswert ist leider unersetzbar.« »Darf ich in Ihr Zimmer?« bot sich Pamela an. »Vielleicht finde ich eine Spur.« »Verbrecherjagd ist nichts für Kinder«, antwortete Mike unfreundlich. »Dann eben nicht!« trotzte Pamela. Sie zog Silvia mit sich fort. »Pah, Kinder hat er gesagt!« Sie sagte das so laut, daß es die Zurückbleibenden noch hörten. »Dabei bin ich schon dreizehn. Dieses Ekel!« Sie hängte sich an Silvias Arm. »Ich komme mit dir in dein Zimmer.« Als sie im zweiten Stock angelangt waren, holte Silvia ihren Schlüssel hervor. »Nanu«, rief Pamela erstaunt, »seit wann schließt du ab? Ist dir auch schon etwas gestohlen worden?« »Nein, das nicht«, erwiderte Silvia etwas verlegen, »man hat nur meine Zimmer durchsucht.«
»Na, so was!« wunderte sich Pamela von neuem. »Warum hast du uns nichts davon erzählt?« »Es hätte nur unnötige Aufregung gegeben«, murmelte Silvia, »und da mir nichts gestohlen worden ist…« Pamela tänzelte im Zimmer umher und warf sich dann mit einem Schwung auf das Bett. Gleich darauf schrie sie: »Aua!« Erschrocken wandte sich Silvia zu ihr um. »Ich habe mich auf etwas gesetzt«, sagte Pamela und zog einen Gegenstand unter sich hervor, den sie mit ungeheurem Erstaunen betrachtete. »Ist das dein Schmuck?« fragte sie. »Den hab ich ja noch nie bei dir gesehen! Bißchen altmodisch, nicht?« Entgeistert starrte Silvia auf die Kette. In einer altertümlichen Fassung waren wunderschöne Saphire eingebettet. Sie hatte das Halsband sofort erkannt: Es war mit in der Jagdtasche gelegen! Und wieder wirbelten ihre Gedanken durcheinander: Wer hatte ihr die Kette auf das Bett gelegt? War es Mike, dann mußte er auch der Täter sein! Aber es paßte einfach nicht zu ihm, ihr dann ein Schmuckstück heimlich zurückzugeben. War doch der Phantomgeiger derjenige, der sie gewürgt und den Schmuck an sich genommen hatte? Aber warum brachte er ihr diese Kette zurück? Und wie kamen er oder Mike in verschlossene Räume hinein? Sie konnte die ganzen Geschehnisse einfach nicht mehr verstehen. Doch dann lächelte sie vor sich hin: Wenn der Phantomgeiger tatsächlich ein Geist war, bei ihm wäre es schon möglich, durch verschlossene Türen zu gleiten. »Pam«, fragte sie aus ihren Gedanken heraus, »gibt es hier Geheimtüren?« Pamela war zum Spiegel gelaufen und hatte die Kette um ihren Hals gelegt. »Geheimtüren? Nicht, daß ich wüßte!
Glaube ich auch nicht, denn die hätten die Arbeiter bestimmt bei den Renovierungsarbeiten entdeckt… Die Kette«, murmelte sie dann, »ist ja recht hübsch, die Steine glitzern so schön, aber mir ist sie zu unmodern. Komm, binde du sie mal um!« Schon hatte sie das Schmuckstück um Silvias Halt gelegt und das Schloß zugemacht. »Auf deinem Kleid sieht sie sogar sehr gut aus«, stellte sie fest. Silvia trat vor den Spiegel und mußte Pamela recht geben. Auf ihrem dunklen Gewand sah der Schmuck entzückend aus. Der Gong ertönte. Schnell wollte Silvia die Kette von ihrem Hals lösen, doch sie bekam das Schloß nicht auf. »Behalte sie doch um«, riet Pamela. »Die anderen sollen ruhig staunen.« Silvia überlegte. Ja, sie sollen staunen, entschied sie in Gedanken. Vielleicht lockte sie dann den Mörder aus seinem Versteck hervor, denn woher wollte sie wissen, ob Täter und Geber in einer Person zu finden waren? Sie betraten das Eßzimmer, als Elisabeth und Mike schon am Tisch saßen, während Joan gerade im Begriff war, hinauszugehen. »Nanu«, fragte Elisabeth, »was hast du denn für eine antiquarische Kette um? Aber so etwas soll ja heute wieder modern sein, und die synthetischen Steine sind wirklich wunderhübsch.« Joan, die wieder zurückgekommen war, warf ein: »Vielleicht sind sie echt!« Silvia, die sich inzwischen auf ihren Platz gesetzt hatte, sah zufällig zu Mike hinüber und erschrak. Sie vermeinte, aus seinen Augen einen Strahl des Hasses hervorbrechen zu sehen, der nur ihr galt. Sie hörte nicht, wie Elisabeth sagte: »Aber ich bitte Sie, Joan, wie soll meine Nichte zu so einem teuren Schmuck kommen? Aber wertvoll muß er trotzdem sein, denn es ist eine sehr gute Imitation.«
Dann fühlte Silvia eine Hand auf ihrer Schulter, und ihre Tante fragte besorgt: »Was hast du? Ist dir nicht gut?« Silvia fuhr zusammen und löste ihren Blick von Mike. »Tante Lissy, was meinst du? Ich war so in Gedanken.« Sie sah Joan an, die noch immer neben ihnen stand, und zu ihrer Überraschung entdeckte sie, daß diese ihr warm und herzlich zulächelte.
*
Nach dem Lunch war Mike trotz des angeblichen Diebstahls seiner Wertgegenstände fortgefahren. Silvia mußte sich gestehen, daß sie sehr froh darüber war. Er hatte ihr zuletzt Furcht eingeflößt. Gleich nach seiner Abreise begannen Silvia und Pamela in der Bibliothek nach Geheimtüren zu suchen, da Silvia einmal gelesen hatte, daß in alten Schlössern und Burgen die Bibliotheken oft verborgene Türen aufwiesen. Obwohl die jungen Mädchen sogar die Bücher aus den Regalen räumten, konnten sie nichts Ungewöhnliches entdecken. In der Nacht wälzte sich Silvia ruhelos im Bett herum. Schließlich stand sie auf und setzte sich, wie schon so oft zur nächtlichen Zeit, an das geöffnete Fenster. Mild fächelte die Nachtluft ihr Gesicht. Die alten Bäume des Parks hoben sich dunkel gegen die Berge ab. Der Himmel war von unzähligen Sternen erhellt, und der Mond schien milde auf die Erde herab. Irgendwo schrie ein Käuzchen. Ihre Augen fielen auf den Schmuck, der vor ihr auf einem kleinen Tisch lag und selbst in der Nacht glitzerte. Sie griff danach und spielte nachdenklich mit den beiden
Schmuckstücken. Noch immer hatte sie keine Erklärung dafür, wer die Halskette auf ihr Bett gelegt hatte, und warum. Ein leichter Windstoß fuhr vorbei und wehte ihr wieder die Töne einer Geige zu. Es kam ihr vor, als ob sie diesmal besonders wehklagend klang. Silvia lauschte voller Mitgefühl. Sie verglich unwillkürlich die Musik mit dem Aufschrei einer suchenden Seele. Seufzend stand sie auf und ging in ihr Bett zurück. Doch noch immer konnte sie keinen Schlaf finden. Sie hatte plötzlich das Gefühl, als ob die Mauern Daphnes Geist aushauchten, die höchstwahrscheinlich irgendwo im Schlosse ihren Tod gefunden hatte. Nein, so geht es nicht weiter, dachte sie. Sie mußte das Rätsel lösen, wo und wie Daphne gestorben war. Wenn Pierre wirklich ein Geist war, würde er dann endlich seine Ruhe finden und nicht immer wieder aus seinem Grabe auferstehen müssen, um seine Liebste zu suchen. Vielleicht würden sich dann auch die anderen Geheimnisse klären, und sie brauchte keine Furcht mehr zu haben. Silvia stand auf, um eine Schlaftablette zu holen. Noch einige Minuten des Wachseins, dann war sie endlich fest eingeschlafen. Leise machte sich jemand an Silvias Schlafzimmertür zu schaffen. Der Schlüssel, der innen im Schloß steckte, fiel zu Boden. Einige schabende Geräusche am Schloß, dann öffnete sich die Tür, ein Lichtstrahl fuhr ins Zimmer hinein, erlöschte wieder. Im Schein der noch brennenden Nachttischlampe betrat eine vermummte Gestalt den Raum. Ein Mönchsgewand umhüllte sie, die Kapuze war tief ins Gesicht gezogen. Mit einigen schnellen Schritten war die Gestalt am Bett. Der Fremde streckte seine Hände mordgierig vor, doch dann zog er sie wieder zurück. Er holte aus seiner Kutte etwas hervor und
preßte es auf Silvias Gesicht. Sie zuckte ein paarmal auf, dann sank ihr Kopf zur Seite. Alptraumhafte Träume quälten Silvia: Sie war in der Bibliothek und suchte. Sie wußte zwar nicht was, aber sie war verzweifelt bemüht, es zu finden. Sie riß die Bücher aus den Regalen heraus, die bald den ganzen Boden bedeckten und immer höher stiegen. Nackte Wände starrten sie an, während sie versuchte, sich aus dem Wust der Bücher zu befreien. Dann hörte sie ein Scharren. Ihre Augen wurden magisch zu dem Geräusch hingezogen. Das Wappen hatte sich weit geöffnet, und in der gähnenden Öffnung erschien die durchsichtige Gestalt einer Frau. Silvia wollte auf sie zugehen, doch sie konnte kein Glied mehr rühren, die Bücher reichten ihr bis zum Hals, sie bekam keine Luft mehr. Sie wollte schreien, aber eine gewaltige Faust preßte ihren Mund zusammen. Schweißgebadet fand sie sich im Bett sitzend vor. Durch das Fenster sickerte die Morgendämmerung. Sie hatte rasende Kopfschmerzen. Sie legte sich wieder zurück und schloß die Augen. Nach einiger Zeit ließen die Kopfschmerzen nach. Doch nun bemerkte sie einen merkwürdigen Geruch im Zimmer, irgendwie kam er ihr bekannt vor. Sie überlegte, und dann wußte sie: Es roch nach Krankenhaus! Sie hatte einmal eine schwere Grippe gehabt und einige Wochen in einem Krankenhaus zubringen müssen. Daher kannte sie diesen typischen Geruch. Wie kam er hierher? Sie richtet sich erneut auf und erstarrte: In ihrem Schlafzimmer herrschte ein wüstes Durcheinander. Sie sprang aus dem Bett und lief ins Nebenzimmer. Auch dort sah es nicht anders aus. Sie lief zur Tür, die zum Gang führte. Sie war fest verschlossen. Als sie die Gangtür des Schlafzimmers untersuchte, entdeckte sie, daß diese unverschlossen und der Schlüssel seitlich von der Tür am Boden lag.
Sie drückte die Tür zu und blieb einen Moment an ihr gelehnt stehen, bis das Zittern ihrer Knie nachließ. Das zweite Mal, daß jemand ihr Zimmer durchsucht hatte, nur diesmal hatte er es nachts getan und sie davor betäubt. Um was war es ihm diesmal gegangen? Plötzlich ahnte sie es: Wo waren die beiden Schmucksachen? Sie überlegte krampfhaft. Sie hatte, als sie am Fenster saß, mit ihnen gespielt und sie dann auf dem Tischchen liegenlassen. Silvia lief zu dem kleinen Tisch. Weder dort noch auf dem Sessel davor konnte sie die beiden Schmuckstücke entdecken. Resigniert ließ sie sich auf ihr Bett fallen. Am Frühstückstisch herrschte eine ungewöhnliche Stille. Selbst die sonst so lustige Pamela sagte kaum etwas. Nur hin und wieder warf sie Silvia einen Verschwörerblick zu. Silvia hatte ihr alles erzählt, was ihr bisher passiert war, da Pamela in ihr Zimmer kam, bevor sie es hatte aufräumen können. Was war ihr also anderes übriggeblieben, als ihrer Kusine die Wahrheit zu sagen. Hatte sie zuerst gefürchtet, Pamela dadurch zu sehr zu erschrecken, so mußte sie erkennen, daß das alles für Pamela nur ein wunderbares Abenteuer war. »Schade, daß ich nicht dabei war!« hatte sie voller Neid ausgerufen. »Wollen wir nicht gemeinsam Jagd auf den Täter machen?« »Das kann tödlich sein«, gab Silvia zu bedenken. »Ach was«, fegte Pamela mit einer Handbewegung die Bedenken ihrer Kusine über Bord. »Ich glaube nicht, daß er dich töten wollte. Dazu hätte er doch in der Nacht die beste Gelegenheit gehabt. Dem geht’s nur um den Schmuck.« »Ich weiß nicht«, entgegnete Silvia. »Die beiden Schmuckstücke müßte er eigentlich sofort gefunden haben. Da brauchte er doch nicht so die Zimmer zu durchwühlen.«
»Vielleicht vermutet er auch die übrigen Schmucksachen bei dir.« Silvia sah ihre Kusine verdutzt an, dann sagte sie nachdenklich: »Wenn du recht haben solltest, dann kann er doch nicht der Würger vom Wildbach gewesen sein, der mir den Schmuck gestohlen hat.« Mit gerunzelten Brauen dachte das junge Mädchen jetzt noch bei Tisch immer über diese Frage nach, während sie rein mechanisch aß. Nicht nur sie, auch Elisabeth war mit ihren Gedanken nicht beim Frühstück. Schließlich faßte sie einen Entschluß. Sie trank ihre Tasse leer, stellte sie klirrend auf den Unterteller zurück und sagte energisch: »Kinder, ich habe mich entschlossen, sofort zu John zu fahren. Seit seinem Wegsein herrscht hier nur noch eine trübsinnige Stimmung. Und dann ist da auch noch die mir so peinliche Diebstahlsgeschichte. John wird eher damit fertig.« Sie schaute zum Fenster hinaus und setzte dann zögernd hinzu: »Außerdem liegt auch sonst noch irgend etwas in der Luft. Ich kann es nicht näher beschreiben, aber es versetzt mich in Unruhe. Da hab ich mir überlegt, wenn es mit John keine Komplikationen gegeben hat – in diesem Fall hätte man mich auch bestimmt benachrichtigt –, mit seinem Gipsbein braucht er nicht unbedingt im Krankenhaus zu liegen.« Sie lächelte. »Ich glaube bestimmt, daß John mit seinem Lachen die Gespenster hier wieder vertreiben wird. Und darum, Mädchen, beeilt euch! Ihr wollt doch mit?« Die beiden Kusinen sahen sich an, dann schüttelten sie den Kopf. »Bitte, Tante Lissy«, bat Silvia, »sei mir nicht böse, aber ich habe starke Kopfschmerzen, und da vertrage ich keine Autofahrt.« »Und ich, Mam«, warf Pamela ein, »kann Silvi doch nicht allein lassen! Das siehst du doch ein?«
»Aber Kinder«, wunderte sich Elisabeth, »ich glaubte, ich machte euch eine Freude!« »Sonst schon, Mam! Es geht auch aus einem anderen Grund nicht. Daddy braucht doch mit seinem Gipsbein den ganzen Rücksitz im Wagen. Wo sollen wir da noch Platz finden? Daddy kann schließlich sein Bein nicht zur Tür heraushalten.« Pamela lachte hellauf. Unwillkürlich mußten Silvia und Elisabeth mitlachen, und es schien, als ob der Druck, der auf ihren Gemütern gelegen hatte, auf einmal gewichen wäre.
*
»So«, sagte Pamela befriedigt, als sie etwas später in der Bibliothek standen, »nun sind wir ganz ungestört.« Die Mädchen waren so mit ihrem Vorhaben beschäftigt, daß sie bei ihrem Eintritt nicht den Schatten bemerkt hatten, der blitzschnell hinter dem schweren Fenstervorhang verschwunden war. Silvia war zum Wappen gegangen und betrachtete es sinnend. »Meinst du wirklich, daß das Wappen eine Geheimtür verbirgt?« fragte Pamela aufgeregt. »Ich weiß nicht, ich muß nur immer an meinen Traum denken.« Silvia kniete sich hin und versuchte, das Wappen von der Wand zu drücken, was ihr aber nicht gelang. Es war aus Metall und schmiegte sich eng an die Wand an. So holte sie vom Schreibtisch einen Brieföffner und versuchte damit, unter die Metallscheibe zu kommen, in der Hoffnung, dort eine Öffnung zu ertasten.
Doch der Brieföffner schob sich nur bis zur Spitze unter die Platte. Entmutigt stand Silvia wieder auf und sagte: »Du siehst, Pam, das Sprichwort stimmt doch, ›Träume sind Schäume!‹« »Was nun?« fragte Pamela. Silvias Augen glitten über die langen Bücherwände hin, dann fielen sie auf den Waffenschrank. »Vielleicht birgt der Schrank das Geheimnis«, überlegte sie laut. »Da sind doch nur alte Waffen drin«, sagte Pamela. »Trotzdem kann die Rückwand eine Geheimtür sein«, erwiderte Silvia und öffnete die Schranktür. Die antiken Waffen interessierten sie nicht. Sorgfältig untersuchte sie die Rückwand und den Boden nach dem Mechanismus einer Geheimtür. Auch hier fand sie keinen. »Es ist hoffnungslos«, seufzte sie. »Komm, laß mich mal nachsehen«, rief Pamela hinter ihr und wollte Silvia an ihren Jeans zurückziehen. Dadurch verlor Silvia ihre Balance. Um nicht zu fallen, griff sie nach dem erstbesten was sie erreichen konnte, und klammerte sich daran mit aller Kraft fest. Doch gleich darauf gab der Halt nach, sie verlor endgültig das Gleichgewicht und fand sich auf dem Boden wieder. »Hast du dir weh getan?« fragte Pamela erschrocken und half Silvia beim Aufstehen. »Nein«, erwiderte Silvia, »nur der Schrank scheint sehr altersschwach zu sein.« Sie betrachtete die Schrankrückwand. Von den dunklen Stäben, die oben zwischen den einzelnen Gewehren angebracht waren, zeigte einer schräg nach unten. »Anscheinend habe ich mich hier festgehalten«, fuhr sie fort, »und ihn beschädigt.«
Sie versuchte, an ihm zu rütteln. Er fiel jedoch nicht aus der Schrankwand, sondern glitt wieder in seine vorhergehende Stellung zurück. Gleichzeitig gab es ein schnarrendes Geräusch. »Was war das?« rief Pamela aufgeregt. »Ich weiß nicht«, erwiderte Silvia. »Es sieht beinahe so aus, als ob dieser Stab ein Hebel ist, vielleicht für die gesuchte Geheimtür. Aber die Rückwand hat sich nicht bewegt. Achte einmal auf die Umgebung des Schrankes! Ich werde den Hebel noch einmal nach unten drücken.« Silvia mußte fest ziehen, ehe sich der Hebel erneut bewegte. Wieder kam das schnarrende Geräusch, dann schrie Pamela auf: »Silvi, da!« Sprachlos starrten nun beide Mädchen zur Wand. Das Wappen hatte sich mit dem Stück Mauer, an dem es befestigt war, wie eine Drehtür geöffnet und eine dunkle Öffnung freigegeben. Endlich hatte sich Silvia wieder gefaßt. »Wir sind am Ziel«, flüsterte sie erregt. »Am besten, wir holen Jeff. Allein ist es vielleicht doch zu gefährlich.« »Aber Silvi«, sagte Pamela schmollend, »was soll schon hier gefährlich sein? Der andere Geheimgang war’s doch auch nicht! Außerdem wissen wir nicht, ob wir Jeff trauen können. Und wenn, dann wird er uns auch nicht helfen, so ohne Anweisung von oben. Sicherlich würde er erst Joan fragen, und diese verhindert dann unsere Unternehmung auf jeden Fall. Du willst doch bestimmt nicht so kurz vor dem Ziel aufgeben, oder?« Silvia hatte noch immer starke Bedenken, vor allem, weil sie sich für Pamela verantwortlich fühlte. Schließlich gab sie nach. Mit Taschenlampen bewaffnet stiegen die Mädchen durch die Öffnung. Auf einer steilen Treppe gelangten sie nach unten in
einen schmalen Gang. Nach einer kurzen Strecke führte sie eine Treppe steil nach oben. »Wo mögen wir uns befinden?« fragte Silvia. »Ich nehme an, im Felsen, der hinter dem Schloß aufsteigt«, antwortete Pamela. Wieder öffnete sich ein Gang vor ihnen, aber dieser wies jetzt auf der rechten Seite zwei eichene Türen auf, wovon eine offenstand. Die Mädchen richteten ihre Taschenlampen in die kleine Höhle, die höchstens zwei Meter hoch und breit war. Bis auf einen Haufen verfaultes Stroh war sie vollkommen leer. Silvia und Pamela begaben sich zur zweiten verriegelten Tür. Nachdem sie den schweren Riegel beiseite gedrückt hatten und die Tür öffneten, schlug ihnen eine solch dicke Moderluft entgegen, daß es ihnen fast den Atem raubte. Diese Höhle war größer und höher noch als die erste und wies in der Felsenwand eine Spalte auf, die wohl von Menschenhand vergrößert worden war. Spärliches Tageslicht sickerte hindurch. Darunter befand sich ein Tisch mit einem Stuhl. Vorsichtig gingen Pamela und Silvia in die Höhle hinein. Auf dem Tisch lag ein Buch, daneben stand ein Leuchter mit einer abgebrannten Kerze, ein Tintenfaß mit vertrocknetem Inhalt und einem Federkiel. In der einen Ecke befand sich eine winzige Kommode mit einem blinden Spiegel, einer Waschschüssel und einem zerbrochenen Krug. Alles war mit einer dicken Staubschicht bedeckt. In der Ecke links neben der Tür hing ein zerschlissener Vorhang, der etwas offenstand und einen verrosteten Eimer halb verdeckte. Pamela wandte sich zur anderen Seite und schrie entsetzt auf. Silvia drehte sich erschrocken zu ihr um und erstarrte: Auf schimmligem Stroh und verrotteten Decken lag ein verkrümmtes Skelett. Vermoderte Stoffetzen, die keine Farbe
mehr erkennen ließen, bedeckten es nur noch stellenweise. Um den Knochenhals hing eine goldene Kette mit einem Kreuz, das in der Mitte einen Rubin trug. Silvia erkannte die Kette sofort, und vor ihren Augen tauchte ein schönes junges Mädchen in einem weißen Kleid auf, dem die Kette schmeichelnd um den schlanken Hals lag. »Daphne Harleigh«, flüsterte sie. »Welch furchtbares Ende!« Sie verbarg schaudernd ihr Gesicht in den Händen, während Pamela vor sich hin weinte. In ihrer Erschütterung bemerkten sie nicht die vermummte Gestalt, die in der Tür auftauchte. Erst als die Tür donnernd zuflog, schraken sie auf. Sie wollten sich noch der Tür entgegenstemmen, doch es war zu spät, knirschend wurde der Riegel vorgeschoben. Sie schrien und hämmerten gegen die Tür, aber nur ein schauerliches Gelächter antwortete ihnen.
*
Die beiden jungen Mädchen waren heiser vom Schreien, ihre Hände blutig vom Schlagen gegen die harte Eichentür. Endlich rasselte etwas an der Tür, eine Klappe fiel in Augenhöhe herunter. Entsetzt wichen Pamela und Silvia zurück. Ein Lichtstrahl erschien in der Öffnung und blieb an den beiden Mädchen hängen. Angestrengt versuchte Silvia hinter dem Licht etwas zu erkennen, doch es war vergeblich. »Wer sind Sie?« rief sie. »Was wollen Sie von uns?« »Den Schmuck!« klang es scharf zurück. »Den Schmuck? Den haben wir doch nicht!«
Ein hämisches Lachen kam von der Tür her. »Genug mit dem Versteckspiel! Ich weiß genau, daß die Kette, die du gestern getragen hast, zu dem Schatz gehört, den ich dir selbst am Wildbach abgenommen habe.« Er war es also, der Würger! »Warum wollten Sie mich dabei gleich umbringen?« fragte Silvia entsetzt. »Ich wollte, ich wäre dabei nicht gestört worden! Dann wäre ich schon längst mit dem Schatz über alle Berge. Du hast mir von Anfang an ständig dazwischengepfuscht. Es fing schon damit an, daß Lord Allan dir den Schmuck vermachte, obwohl du doch nur ein Bastard der Harleighs bist.« Haßerfüllt schwieg die Stimme. Voller Angst hatte ihr Silvia gelauscht. Immer bekannter kam ihr die Stimme vor. Doch obwohl sie ahnte, wer hinter der Tür stand, wollte sie es noch immer nicht wahrhaben. »Schon in jungen Jahren«, fuhr die Stimme fort, »träumte ich von dem Schatz der Harleighs. Aber nie hatte ich Gelegenheit, ungestört nach ihm zu suchen, obwohl mir die Lage des Fluchtganges durch die Lektüre der Familienchronik bekannt war. Daher suchte ich vom Bach aus die Höhle und zertrümmerte die Mauer, so daß ich nun jederzeit ohne Wissen Allans Gang und Schloß betreten konnte.« Er lachte höhnisch. »Als die neuen Herren hier einzogen, riß ich die betreffenden Seiten aus der Chronik heraus, damit sie nicht in der Lage waren, mich bei der Schatzsuche zu stören. Aber meine Suche war vergeblich. Meine Hoffnung setzte ich daher auf den zweiten Geheimgang, nur gelang es mir nicht, diesen zu finden. Als Anwalt Lacy dir den Brief deines Vaters mit der Zeichnung übergab, nahm ich an, daß diese auch über den
zweiten Gang Aufschluß gab. Aber in deinem Zimmer fand ich die Zeichnung nicht. Ich hatte dich unterschätzt!« Das harte Lachen ertönte wieder. »In vielem! Denn du kamst einfach daher und fandest auf Anhieb den Schatz, wonach ich und Generationen davor vergeblich gesucht haben. Und dann spieltest du weiterhin die Ahnungslose, obgleich du mich am Waldbach erkannt haben mußtest, denn nur du kannst mir den Schmuck aus meinem Koffer gestohlen haben. Wie wärst du sonst wieder in den Besitz der Kette und des Armbandes gelangt? Wo hast du den übrigen Schmuck versteckt? In deinen Zimmern konnte ich ihn nicht finden.« Silvia war es, als verlöre sie den Boden unter ihren Füßen. Sie hielt sich krampfhaft am Tisch fest. Also doch Mike, dachte sie! Mike, dem Onkel John in allem so vertraut hatte! »Du irrst dich, Mike«, verteidigte sie sich, »das Armband fand ich am Wildbachufer und die Kette auf meinem Bett.« »Wohl vom großen Unbekannten?« höhnte Mike. »Erzähl mir keine Märchen! Sag mir, wo der Schmuck ist, und ich lasse euch frei, bei meiner Ehre!« Jetzt übermannte Silvia die Wut. Sie wußte, daß es in ihrer Lage unklug war, ja, sie vergaß in diesem Augenblick sogar Pamela. Aber sie konnte sich nicht länger beherrschen, und so schrie sie: »Seit wann hat ein Mörder Ehre? Du hast doch meinen Vater ermordet und beinahe auch Onkel John und mich!« Eine unheilvolle Stille breitete sich aus. Es war, als ob die Zeit stehengeblieben war. Dann stieß Mike ein rauhes Gelächter aus. »Du weißt tatsächlich alles! Du bist wirklich ein kluges Kind. Der gute Vetter Allan war mir im Wege bei meiner Schatzsuche, da er diese selbst noch nicht aufgegeben hatte. Außerdem hielt ich mich für den nachfolgenden Erben des Schlosses. Als solcher
hätte ich ungestört nach dem Schatz suchen können! Doch da taucht ein Amerikaner aus dem Nichts auf und beansprucht die Erbschaft. Und nicht genug damit, der Ausländer, den das alles hier nichts angeht, will mir sogar noch den Ausgang verschließen, meine beste Möglichkeit, auch dann ungesehen ins Schloß zu kommen, wenn ich offiziell nicht anwesend war. Ich mußte schnell handeln, bevor John die Möglichkeit hatte, die Maurer kommen zu lassen.« Ein Wimmern drang an Silvias Ohr. Sie wandte sich um. Pamela hatte sich hinter ihr in die Ecke gekauert und zitterte am ganzen Körper. Flehend blickte Silvia wieder zur Tür. »Laß wenigstens das Kind frei«, bat sie. »Nein«, klang es hart zurück, »ihr wißt zuviel! Ich kann mir die Chance, unnötige Mitwisser zu beseitigen, nicht entgehen lassen. Hier wird niemand eure Schreie hören und niemand euch finden. Doch sage mir, wo du den Schmuck versteckt hast, und ich werde euch den Tod leichtmachen. Sagst du es mir aber nicht, dann«, Mikes Stimme dröhnte durch das Gefängnis, »dann ergeht es euch wie Daphne Harleigh! Ich komme um Mitternacht wieder. Bis dahin hast du genug Zeit zum Überlegen.« Die Klappe fiel herunter, die Schritte verloren sich im Gang. Silvia wankte, dann sank sie aufschluchzend neben Pamela in die Knie. Sie nahm die Dreizehnjährige in die Arme und drückte sie heftig an sich. Sie machte sich die heftigsten Vorwürfe, auch Pamela mit hineingezogen zu haben, denn sie wußte, es gab keinen Ausweg mehr. Niemals würde ihr Mike glauben, daß sie den Schatz nicht hatte. Sie brauchte nur in die Ecke zu sehen, wo Daphnes Überreste ruhten, um ihr eigenes und Pamelas Ende vorausschauen zu können. Während ihr die Tränen über die Wangen liefen, dachte sie an ihren geliebten Peter, den sie nun nie wiedersehen würde.
Langsam versickerte die Zeit. Kein Tageslicht schimmerte mehr durch den Spalt, und im Gefängnis herrschte eine unheimliche Stille. Plötzlich schrak Silvia hoch. Verwundert stellte sie fest, daß sie eingeschlafen war. Ihre Glieder waren klamm von der Kälte des Felsenbodens. Ihr linker Arm, auf dem der Kopf Pamelas ruhte, war gefühllos. Sie zog ihn vorsichtig hervor und versuchte, ihn wieder bewegungsfähig zu machen. Dann richtete sie sich auf und suchte auf dem Tisch nach einer der Taschenlampen, die sie abgeschaltet hatte, um die Batterien zu schonen. Sie knipste sie an und richtete den Strahl auf Pamela. Diese lag ausgestreckt auf dem Boden und starrte sie mit fiebrigen Augen an. »Hoffentlich hast du etwas geschlafen, Liebling«, sagte Silvia mitleidig. »Ich glaube«, murmelte Pamela. »Oh, Silvi, kommen wir denn nie wieder hier heraus? Ich fürchte mich grenzenlos in dieser Dunkelheit – und vor dem Skelett da drüben.« »Vor Toten brauchst du dich nicht zu fürchten«, sagte Silvia bitter, »nur vor den Lebenden.« »Ob er uns wirklich töten wird?« fragte Pamela, und wieder zitterte sie am ganzen Körper. »Ach, sicher hat er uns nur einen Schrecken einjagen wollen«, versuchte Silvia ihre Kusine zu beschwichtigen. Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Noch eine halbe Stunde bis Mitternacht«, sagte sie so forsch wie möglich, »bald sind wir erlöst und werden oben in unseren Schlafzimmern denken, wir hätten alles nur geträumt.« »Glaubst du das wirklich?« fragte Pamela hoffnungsvoll. »Ich habe auch solchen Hunger! Ich glaube, ich werde nachher die ganze Speisekammer leer essen.«
Silvia versuchte zu lächeln. »Ich auch! Was denkst du, wie mir der Magen knurrt? Seit dem Vormittag haben wir ja nichts mehr zu uns genommen.« Sie zog ihre Kusine hoch. »Du bist ganz kalt, und wir haben nicht einmal Decken.« Sie begann, Pamela warmzureiben. Jäh hielt sie in ihrer Beschäftigung inne. Sie hatten keine Schritte gehört, aber laut schnappte der Riegel zurück, eine Laterne tauchte auf und dahinter erschien eine Gestalt, gehüllt in einen dunkeln Umhang, einen Schlapphut auf dem Kopf, das Gesicht mit einem Tuch verhüllt. Entsetzt schrie Pamela auf, doch da preßte sich schon die Hand des Unbekannten auf ihren Mund. »Still!« zischte er. »Wir müssen schnell von hier weg, ehe er kommt.« Er wollte Pamela mit sich zerren, doch das Mädchen wehrte sich. »Aber Pam!« flüsterte Silvia, die sich vor Freude nicht fassen konnte, als sie die ihr vertraute Erscheinung des Phantomgeigers wiedersah. »Du brauchst keine Angst vor ihm zu haben, denn er hat mir schon einmal geholfen.« Sie zog Pamela aus dem Gefängnis und schob, nachdem sie alle drei draußen waren, rein mechanisch den Riegel wieder vor die Tür. Sie waren noch nicht weit gekommen, als aus ihrer Fluchtrichtung Schritte zu hören waren. Abrupt blieb der Fremde stehen. »So ein Pech«, flüsterte er. »Er kommt!« Er drängte die beiden Mädchen zurück und durch die offene Tür des anderen Verlieses. »Versteckt euch dahinter«, befahl er, »und keinen Laut!« Er löschte die Laterne und verschmolz mit der Dunkelheit. Die näher kommenden Schritte hallten durch den Gang, ein Lichtschein huschte an den Wänden entlang. Die Schritte
machten vor der verschlossenen Tür halt. Die drei Versteckten hörten die Türklappe fallen und dann Mikes Stimme: »Na, ihr Täubchen, seid ihr endlich zahm geworden? Wo ist der Schmuck?« Stille, dann ein häßliches Lachen. »Das Schweigen nützt euch gar nichts! Ihr seid hier wie in einer Mausefalle.« Er schien mit seiner Lampe den ganzen Raum abzuleuchten. »Was soll der Blödsinn?« schrie er dann. »Ihr könnt nur hinter dem Vorhang stecken. Kommt endlich hervor!« Wieder Schweigen, dann sagte er drohend: »Ich lasse mich nicht von euch an der Nase herumführen. Ich komme herein, und macht ja keine Dummheiten! Ich habe einen Revolver in der Hand.« Der Riegel rasselte, und die Tür wurde aufgerissen. Ein Geräusch folgte, als wenn Stoff zerreißen würde, und dann war ein lauter Fluch zu hören. Entsetzt hatten die Mädchen auf die Geräusche gelauscht. Sie zitterten beide wie Espenlaub. Doch noch ehe sie einen Gedanken fassen konnten, schnellte etwas an ihnen vorbei, warf die benachbarte Tür zu und schob den Riegel vor. Ein wütender Schrei ertönte, dann folgten heftige Schläge gegen die Tür, schließlich schlugen Kugeln in das harte Holz ein. Voller Angst schrien die Mädchen auf. »Aber meine Damen«, sagte neben ihnen der Unbekannte, »jetzt braucht ihr doch keine Angst mehr zu haben!« Sein Lachen klang sehr jugendlich. »Da kann er nicht mehr raus, auch nicht mit einem Revolver.« Er schwang seine wieder brennende Laterne unternehmenslustig hin und her, während sie den Gang entlangliefen und das Toben des Eingesperrten hinter sich ließen.
Doch plötzlich war Silvias Kraft zu Ende, ihre Knie knickten ein, und sie kippte um.
*
Silvia schlug die Augen auf. Zuerst wußte sie nicht, wo sie sich befand. Es war dunkel um sie herum, und sie lag auf einem weichen Lager. Sie richtete sich auf, tastete um sich und riß dabei die Nachttischlampe um. Eine Tür wurde aufgerissen, helles Tageslicht drang ein, und in dem Licht stand die rothaarige Mary. »Miß Michaelis, was ist passiert?« Schwerfällig stapfte sie zu den Fenstern, um die Jalousien hochzuziehen. Silvia sah, daß sie in ihrem eigenen Schlafzimmer war. »Wie komme ich hierher?« fragte sie. »Ja, wissen Sie das denn nicht?« erwiderte Mary erstaunt. »Signora Galini hat mir heute früh befohlen, bei Ihnen Wache zu halten, weil ich ja doch nicht mehr schwere Arbeit verrichten kann.« Silvia betrachtete Mary und sah, daß sich deren Zustand nicht mehr verbergen ließ. Verlegen sagte sie: »Es tut mir leid, Mary, daß…« Mary strahlte sie jedoch an. »Es ist alles in Ordnung, Miß Michaelis. Mein Freund heiratet mich. Er hat in Edinburgh Arbeit gefunden.« »Das freut mich für Sie!« erwiderte Silvia herzlich. »Ist Mrs. MacKean schon zurück?« »Schon seit dem Vormittag, Miß Michaelis. Sie war bereits hier oben und hat sich mächtig aufgeregt.« Mary lachte und ihre Sommersprossen tanzten auf den Wangen. »Es war
überhaupt gestern was los! Signora Galini, die sonst so ruhig ist, war außer sich, als Sie und Miß Pamela nicht zum Lunch erschienen sind. Sie hat mit uns den Park und das ganze Schloß durchsucht, sogar den Fluchtgang. Sie waren jedoch unauffindbar.« Neugierig sah Mary Silvia an, dann platzte sie heraus: »Ich weiß, daß es mir nicht zusteht, danach zu fragen, aber wo waren Sie nur?« Ja, wo waren wir nur? dachte Silvia. Da war das schreckliche Gefängnis, Mike, der Phantomgeiger, die Flucht, die Wutschreie des Eingeschlossenen… Doch weiter konnte sie sich an nichts mehr erinnern. »Wo ist Pam?« fragte sie plötzlich beunruhigt. »Miß Pamela? Sie ist schwer erkältet und darf das Bett vorläufig nicht verlassen.« »Wie spät ist es, Mary?« »Nach vierzehn Uhr!« Bittend sah Silvia Mary an: »Können Sie mir etwas zum Essen heraufbringen?« »Gern, aber…« Man sah Mary die noch unbefriedigte Neugierde an, da aber Silvia nicht reagierte, verließ sie das Zimmer. »Wie konntest du nur!« schalt Elisabeth, als sie das Zimmer betrat. »Du als die Ältere hättest vernünftiger sein müssen.« Sie balancierte vorsichtig ein Tablett in den Händen und stellte es auf ein Tischchen, das sie dann an Silvias Bett rückte. Während sich Silvia aufrichtete, fuhr die Tante fort: »Joan ist ein Schatz! Wenn sie und ihr Sohn nicht gewesen wären, nicht auszudenken, was dann mit euch…« Jetzt konnte sich Elisabeth nicht länger beherrschen, sie lehnte sich an die Wand und weinte. »Bitte, Tantchen, bitte nicht!« bat Silvia. »Es tut mir so leid, aber nun ist ja alles vorbei.«
Elisabeth zog ihr Taschentuch hervor, wischte sich damit über die Augen und sagte: »Ja, es ist vorbei! Nun iß endlich, sonst wird alles noch kalt.« Silvia aß heißhungrig einige Bissen, dann aber konnte sie ihre Frage nicht länger unterdrücken: »Weißt du vielleicht, wie ich hierhergekommen bin?« »Du bist ohnmächtig geworden. Sandro…« »Wer ist Sandro?« unterbrach verwundert Silvia die Rede ihrer Tante. Die Tante lächelte jetzt: »Joans Sohn und dein Phantomgeiger! – Sandro brachte dich also in dein Zimmer, und Joan holte den Dorfarzt. Du kamst kurz zu dir, und der Arzt gab dir eine Beruhigungsspritze.« »Wie geht es Pam?« fragte Silvia besorgt. »Um sie brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Sie muß nur einige Zeit im Bett bleiben.« Silvia schob den Teller beiseite, dann fragte sie: »Du sagtest, der Phantomgeiger sei Joans Sohn. Ich dachte, Joans einziger Sohn sei bei einem Brand in Italien umgekommen?« Elisabeth schüttelte den Kopf. »Das dachten wir alle! Doch als wir heute vormittag hier ankamen…« Silvia unterbrach sie freudig: »Dann hast du also Onkel John aus dem Krankenhaus freibekommen?« »Ja, er ist unten im Salon und telefoniert mit der Edinburgher Polizei. Der Dorfpolizist ist schon hier.« Sie seufzte. »Welch ein Skandal, ein Freudenfest für die Presse. Ein Verwandter von uns, ein Mörder!« »Was war mit Joans Sohn?« unterbrach sie Silvia ungeduldig. »Ja, als wir hier eintrafen, herrschte große Aufregung. Keiner wußte was Genaues, nur daß ihr verschwunden und wiederaufgetaucht seid. Dann hat uns Joan eine Beichte abgelegt. Wenn Joan das nur früher getan hätte!
Als Joan vor sechs Jahren nach dem Brand, bei dem sie ihren Mann verloren hatte, Lord Allan von ihrer Notlage schrieb, lud dieser sie trotz seiner eigenen Armut ein, mit ihrem von Brandwunden entstellten Sohn nach Schloß Harleigh zu kommen. Doch Lord Allan hatte eine große Charakterschwäche…« Elisabeth zögerte, dann sagte sie entschuldigend: »Bitte, nimm es deinem Vater nicht übel. Welcher Mensch ist schon fehlerfrei? Allan wußte zwar, daß Joans Sohn schwer verletzt worden war, aber er ahnte nicht… Als er Joan mit dem damals elfjährigen Sandro vor sich sah, konnte er sein Entsetzen über dessen Aussehen nicht verbergen. Sandros Gesicht ist entstellt, ich hab’s vorhin selbst gesehen.« Silvia nickte. »Ich weiß«, sagte sie. Elisabeth fuhr fort: »Nun, Allan verlangte von Joan, ihm Sandro ja vom Leibe zu halten. Und so versteckte sie ihn in ihren beiden Räumen. Sie gab ihm selbst Schulunterricht. Er ist ein sehr intelligenter Junge, aber er hatte eine trostlose Kindheit. Nur nachts wagte er sich in den Park. Und doch hatte er eine Entschädigung dafür. Er konnte ungestört am Tage Geige spielen, da Allan und der alte Butler James von seiner Existenz wußten. Die Geige hatte er in der Truhe von Daphnes Wohnzimmer gefunden. Es war die Geige ihres Geliebten, denn auf der Rückseite ist ›Pierre Lenne, 1851‹ eingraviert.« Erstaunt warf Silvia dazwischen: »Wie ist sie denn in Daphnes Truhe gekommen?« Elisabeth zuckte mit den Schultern. »Das werden wir wohl nie erfahren. – Und nun kamen wir, die neuen Herren! Joan fürchtete, daß auch wir an dem entstellten Jungen Anstoß nehmen würden, und so verschwieg sie seine Existenz, und James half ihr dabei. Für Sandro allerdings war die Lage noch schwieriger geworden, denn jetzt hatte sich das Schloß mit Menschen gefüllt. Nicht um einen Geist zu spielen, hüllte er
sich in den Umhang, sondern um sich der Dunkelheit besser anzugleichen, wenn er nachts spazierenging. Und nur noch nach Mitternacht spielte er, wenn er glaubte, daß alles schlief. Trotzdem wurde er nachts ab und zu gesehen oder sein Geigenspiel gehört, und so kam das Gerede auf, daß der Phantomgeiger wiederaufgetaucht sei, um seine Liebste zu suchen. Und das Gerücht wurde noch durch Marys Freund bestärkt. Joan wußte, daß das auf die Dauer für Sandro kein Leben war, und daß er unter seiner Entstellung furchtbar litt. Ihm konnte nur ein Chirurg helfen, doch dazu hatte sie kein Geld. Sie wußte, daß Allan stets nach dem Schmuck gesucht hatte. Solange er lebte, hätte sie ihm den Schmuck nicht streitig gemacht, aber nach seinem Tode sah sie nicht ein, warum sie nicht selbst danach suchen sollte. Wir waren reich, dachte sie, wir brauchten ihn nicht, und auch du, Silvi, hast ihn nicht so nötig wie ihr Sohn, um diesem ein normales Leben zu ermöglichen.« »Damit hat sie vollkommen recht«, warf Silvia spontan ein. Liebevoll nickte die Tante ihrer Nichte zu, um dann fortzufahren: »Daher fingen sie an, das ganze Schloß systematisch zu untersuchen einschließlich Daphnes Zimmer und des Fluchtganges, den Joan aus der Familienchronik kannte, bevor Mike die entsprechenden Seiten herausriß. Als Mike die Stelle des Hauslehrers antrat, merkten sie bald, daß sie einen Konkurrenten bekommen hatte. Joan wußte, daß Mike das schwarze Schaf der Familie war und stets hohe Spielschulden hatte.« »Warum hat sie das nicht Onkel John gesagt?« fragte Silvia empört. »Höchstwahrscheinlich, weil sie selber ein schlechtes Gewissen wegen Sandro hatte«, vermutete Elisabeth. »Die beiden hielten es nun für ihre Pflicht, Mike zu beobachten,
besonders, wenn er angeblich zu seiner kranken Mutter fuhr, die in Wirklichkeit längst verstorben war. Es fiel Sandro nicht schwer, sich vor Mike in dem großen Keller-Labyrinth zu verbergen, wenn er ihn verfolgte, denn er kannte sich dort gut aus. So fand er auch dich, nachdem Mike dich niedergeschlagen hatte, in einem der Kellergewölbe, und er brachte dich in Daphnes Zimmer, da er sich nur in einem der Türme ungesehen bewegen konnte. Eines Tages sah er von der Höhe aus…« Sie schauderte. »Warum hast du uns nicht erzählt, daß man dich beinahe… Kind, du hättest dir und Pam viel ersparen können!« »Ich wollte euch nicht beunruhigen«, antwortete Silvia schuldbewußt. »Na, für Vorwürfe ist es jetzt sowieso zu spät! Jedenfalls entdeckte Sandro, daß Mike auf der anderen Seite des Wildbachs stand und dich beobachtete. Dann überquerte Mike den Wildbach, indem er die im Bach liegenden Steine als Brücke benutzte und verschwand im Gestrüpp. Sandro erkannte sofort, daß du in Gefahr warst und eilte durch den Gang nach unten. Beinahe wäre er zu spät gekommen. Sandro vermutete, daß du den Schmuck gefunden hattest, denn weshalb hätte Mike dich sonst überfallen? Somit mußte ihn jetzt Mike haben. Als Mike dann am nächsten Tag schon wieder fortfahren wollte und diesmal mit gepackten Koffern, war es für Sandro der Beweis. Als Mike unten zum Essen war, ging Joan in sein Schlafzimmer – sie hatte doch die Duplikatschlüssel! – und fand tatsächlich in einem seiner Koffer, die er noch nicht abgeschlossen hatte, den Schmuck. Sie hat dir dann die Kette auf dein Bett gelegt, weil sie dir eine kleine Entschädigung geben wollte.« Silvia mußte herzhaft lachen. »Von meinem eigenen ererbten Schmuck!« bemerkte sie.
Elisabeth lachte mit. »Na, wir haben ihnen ganz schön die Leviten gelesen. Sie haben feierlich Besserung gelobt. Und schließlich sind sie ja auch eure Lebensretter. John kennt einen guten Chirurgen in Amerika. Zu dem wird er den Jungen schicken. Außerdem soll er auch noch dort Musikunterricht bekommen. Der Schmuck befindet sich jetzt einstweilen in unserem Safe. Du bist nun ein reiches Mädel!« Silvia umarmte ihre Tante stürmisch. »Ihr seid die besten Menschen, die ich kenne«, rief sie begeistert. »Außer meinen Eltern natürlich«, setzte sie schnell hinzu. Dann wurde sie wieder nachdenklich. »Aber wie hat uns Sandro aus dem Geheimverlies retten können? Diese Verliese wurden doch anscheinend in der Familienchronik nicht erwähnt.« »Trotzdem kannte er sie, denn schließlich leben er und seine Mutter ja schon seit sechs Jahren hier. Als er eines Nachts wieder einmal die Bibliothek auf Geheimtüren absuchte, entdeckte er das Geheimnis des Wappens, nur brachte ihn diese Entdeckung auch nicht in den Besitz des Schmucks. Als die anderen die Suche nach euch vorläufig abbrachen, suchte Sandro weiter und zu eurem Glück zuletzt auch im Geheimgang, obwohl er sich sagte, daß er euch dort nicht finden würde, da ihr ja dieses Geheimnis nicht kennen konntest… So, mein Kind, nun ruhe dich noch aus! Vielleicht kannst du zum Essen herunterkommen, sonst schicke ich es dir herauf.« Beim Dinner fanden sich alle außer Pamela im Speisezimmer zusammen. Die Stimmung war sehr bedrückt, denn als die Polizei Mike aus dem Verlies hatte abholen wollen, ertönte ein Schuß. Mike hatte sich selbst gerichtet. Später saßen Elisabeth, John und Silvia noch lange im Salon zusammen.
»Ich werde nicht schlafen können«, behauptete Elisabeth. »Da haben wir monatelang in einem Haus gelebt, unter dem sich ein Skelett befand. Wie grausig!« »Es befindet sich ja jetzt unten in der Dorfkapelle«, erwiderte John, um seine Frau zu beruhigen. »Es ist kein Grund vorhanden, sich jetzt noch zu fürchten.« »Wenn unsere Pam nun einen bleibenden Schaden davongetragen hat?« »Ausgerechnet Pam! Dazu ist sie viel zu robust. Sie ist mein Schlag«, verkündete John stolz. Dann fiel ihm das Buch ein. Er zog es aus seiner Tasche hervor und musterte es. Die Seiten waren vergilbt, die Tinte zum Teil verschmiert und verblaßt, so daß die Buchstaben schwer zu entziffern waren. »Was ist das?« fragte Elisabeth. »Anscheinend Daphnes Tagebuch«, erwiderte John. »Es lag im Verlies auf dem Tisch. Der Dorfpolizist hat es mir gebracht.« »Oh!« rief Silvia erregt. »Ich erinnere mich, dort ein Buch gesehen zu haben. Vielleicht erfahren wir nun daraus ihr Schicksal. Bitte, gib es mir!« Sie riß es ihrem Onkel beinahe aus der Hand. Aber als sie das Buch durchblätterte, sagte sie enttäuscht: »Schade, dieses Englisch ist leider zu schwierig für mich. Bitte, Tante Lissy, übersetze es mir.« »Ich?« rief Elisabeth. »Das Tagebuch einer Toten? Und dann noch zur Nachtzeit? Ich soll wohl die ganze Nacht vor Angst nicht einschlafen können? Nein, ich gehe jetzt zu Bett und nehme ein paar Schlaftabletten.« Als sie das betrübte Gesicht ihrer Nichte sah, setzte sie hinzu: »Ich habe ja nicht gesagt, daß ich es nicht übersetzen will, aber erst muß ich über den Schrecken hinweggekommen sein. Wenn Daphne mit allen
Ehren in der Familiengruft ruht, haben wir noch Zeit genug, ihr Tagebuch zu lesen. Gute Nacht, meine Lieben!« Das Mondlicht schien in Silvias Zimmer, Geigentöne klangen jubelnd durch das offene Fenster, umhüllten ihr Denken, erfüllten sie mit Sehnsucht nach ihrem Peter. Wie im Traum – vielleicht war es sogar ein Traum, sie wußte es am nächsten Morgen nicht mehr – ging sie zum Fenster. Sie erblickte unten auf dem Schloßplatz eine Gestalt, ein Umhang bauschte sich um sie, ein großer Schlapphut bedeckte den Kopf. Silvia konnte alles gut erkennen und doch wirkte die Erscheinung irgendwie verschwommen. Jetzt ließ der Mann seine Geige sinken und sah erwartungsvoll zum Schloß hinauf. Daphne schwebte in einem weißen Kleid auf ihn zu, ihr rötliches Haar schimmerte. Sie sank in seine ausgebreiteten Arme. Weiße Schwaden stiegen vom Boden auf, breiteten sich aus und die beiden eng umschlungenen Gestalten verschwanden im Nebel, der langsam nach oben stieg, bis er verflog. Der Schloßplatz lag wieder leer vor Silvia, und die Büsche wiegten sich sanft im Nachtwind. Sie sind endlich erlöst, dachte Silvia.
*
Zwei Tage waren vergangen. Joan war mit ihrem Sohn Sandro nach Amerika abgereist. John hatte ihr einen Brief an seinen Sohn mitgegeben. Die polizeilichen Untersuchungen waren abgeschlossen und das, was von Daphne noch übrig war, feierlich in der Familiengruft der Harleighs bestattet worden.
Nach dem abendlichen Diner hatten sich Elisabeth, John, Silvia und Pamela in den Salon begeben. Der Butler servierte ihnen den Kaffee und zog sich dann zurück. Elisabeth hatte Daphnes Tagebuch mitgebracht. Sie blätterte darin herum und sagte: »Die Schriftzüge, vor allem die letzten, sind oft unleserlich und verwischt. Ich habe das Wesentliche übersetzt, damit du, Silvi, es besser verstehst.« Sie drückte dem Mädchen verschiedene mit der Schreibmaschine beschriebene Seiten in die Hand. Eine Weile hielt Silvia die Blätter unschlüssig in der Hand. Sie hatte plötzlich Scheu, das Tagebuch eines fremden Mädchens zu lesen, obwohl es längst gestorben war. Da fühlte sie sich angestoßen, und Pamela bat ungeduldig: »So lies doch endlich!« Sie rückte dicht an ihre Kusine heran, und beide Mädchenköpfe beugten sich über die Blätter: Edinburgh, den 1.9.1857. Heute ist Vater angekommen. Ich sollte mich darüber freuen, sagte Tante Amabel, als sie bemerkte, daß ich am liebsten in meinem Zimmer geblieben wäre. Seit ich denken kann, habe ich immer Angst vor Vater gehabt. Tante Amabel meint, daß er mich sicherlich bald nach Hause holen wird. Das wäre schrecklich. Schon allein der Gedanke daran läßt mich erzittern! Edinburgh, den 2.9.1857. Beim Lunch erklärte uns Vater, warum er gekommen sei. Ein Maler soll mich porträtieren, da mein Verlobter das verlangt habe. Ich war vor Entsetzen wie gelähmt, hatte ich doch bisher nichts von meiner Verlobung gewußt. Auch Tante Amabel war sehr bestürzt darüber und fragte Vater, warum er sie nicht früher davon unterrichtet habe, da sie sich nach meiner Geburt nach besten Kräften bemüht habe, mir die Mutter zu ersetzen. Auch Onkel Lionel mischte sich ein und gab zu bedenken, daß ich schließlich erst fünfzehn Jahre alt sei. Vater lachte und sagte, daß meine
Mutter auch sehr jung gewesen sei, als er sie heiratete. Verzweifelt lief ich in mein Zimmer und preßte mein tränenüberströmtes Gesicht an das kühle Fenster. Ich konnte an nichts mehr denken, als an die Trennung von Pierre Lenne, den ich liebe. Edinburgh, den 20.11.1857. Mein Bild ist fertig. Voller Stolz zeigte mir der Maestro sein Werk. Das sollte ich sein? So schön war ich doch gar nicht! Aber das Gesicht auf dem Bild weist einen schwermütigen Ausdruck auf. Der Maler hat demnach meine Traurigkeit bemerkt, und so bleibt mir nur die Hoffnung, daß ich meinem Bräutigam zu trübsinnig erscheine, und er auf mich verzichtet. Edinburgh, den 25.3.1858. Meine letzte Hoffnung ist dahin. Heute kam Vater, um mich abzuholen. Mein Verlobter wäre begeistert von meinem Bild, und die Hochzeit sei an meinem sechzehnten Geburtstag festgesetzt worden. Meine Tränen rührten meinen Vater nicht. Er betonte, daß sein Freund sehr reich sei, und als Vater habe er das Recht, meinen Mann zu bestimmen… Es ist Nacht. Habe mich mit Pierre im Pavillon getroffen. Er war verzweifelt und ich ebenfalls. Wir herzten und küßten uns, machten Fluchtpläne und verwarfen sie wieder. Wovon sollen wir leben? Er, der arme französische Haus- und Musiklehrer meiner Tante, und ich, die Geflohene! Harleigh, den 29.4.1858. Nun bin ich in Harleigh, wo ich geboren wurde. Alles ist mir hier fremd. Die dicken Mauer erdrücken mich, und die große Empfangshalle macht mir Angst mit den vielen Tierköpfen und Waffen an den Wänden. Das Personal besteht fast nur aus rauhen, unfreundlichen Männern. Meine Zofe heißt Anne, ist siebzehn Jahre alt und hat genau solche Angst vor meinem Vater wie ich. Ebenso wie unser kleiner Puck, der Spaßmacher meines Vaters. Er ist zwanzig Jahre alt, hat aber die Größe eines vierjährigen Kindes und ist verwachsen.
Harleigh, den 30.4.1858. Heute habe ich meinen Verlobten kennengelernt. Er ist mindestens sechzig Jahr! Er sagte zu mir: »Willkommen, meine holde Braut!« und griff nach meinem Gesicht, um mich zu küssen, aber ich stemmte mich voller Ekel gegen ihn. Mein Vater schimpfte: »Daran wirst du dich gewöhnen müssen.« »Niemals!« schrie ich, riß mich los und lief davon. Kurz darauf kam mir Vater nach. Er sagte mir, sollte ich ihn noch einmal so blamieren, werde er mir mit Schlägen das Glück begreiflich machen, daß mich der reichste Mann der ganzen Umgebung zu seiner Frau machen will. Harleigh, den 2.5.1858. Nein, ich kann diesen Menschen nicht heiraten! Ich schrieb einen Brief an Pierre, legte etwas Geld hinein, das mir noch Tante Amabel geschenkt hatte, und bat ihn, zu mir zu kommen, um mir bei der Flucht zu helfen. Anne besorgte den Brief. Harleigh, den 10.7.1858. Die Hochzeitsvorbereitungen sind im vollen Gange, das Hochzeitskleid ist fertig, und ich spiele die gehorsame Braut trotz allem Abscheu vor meinem Verlobten, nur damit mein Vater von meinen Fluchtplänen nichts ahnt. Aber ich komme um vor Angst, daß Pierre nicht mehr rechtzeitig hier ist. Harleigh, den 11.7.1858. Heute rief mich Vater in die Bibliothek, um mir den Schmuck meiner Mutter zu zeigen, weil ich mich ihm als eine gehorsame Tochter erwiesen habe. Er werde mir an meinem Hochzeitstage gehören. Aufmerksam sah ich ihm zu, wie er das Geheimfach in seinem Schreibtisch öffnete, denn da der Schmuck meiner Mutter sowieso mein Eigentum ist, wäre damit meine Flucht und ein Leben mit Pierre gesichert. Mein Vater freute sich über mein Interesse und legte den Schmuck wieder sorgfältig zurück. Harleigh, den 19.7.1858. Ich weiß mich vor Glück kaum zu fassen, er ist endlich da! Unten am Wildbach haben wir uns in
der Nacht getroffen. Ich ging durch den Geheimgang hinunter. Ich gab Pierre mein letztes Geld, damit er die Pferde besorgen kann. Anne kann ich nicht zurücklassen, da mein Vater erraten würde, daß sie mir bei der Flucht geholfen hat. Übermorgen werden wir durch den Geheimgang entfliehen. Pierre wird unten am Wildbach mit den Pferden auf uns warten. Harleigh, den 22.7.1858. Alles ist aus! Nun sitze ich hier am Fenster, zerschlagen, gefangen im Turm, denn alle Türen nach außen sind versperrt. Während ich schreibe, fallen meine Tränen auf die Zeilen. Meine einzige Freundin Anne habe ich auch verloren. Sie ist aus dem Schloß hinausgepeitscht worden. Was aus Pierre geworden ist, daran wage ich nicht zu denken. Zuerst ging alles so gut. Gestern nach Mitternacht schlichen wir uns zur Bibliothek, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Ich ging zum Schreibtisch, öffnete das Geheimfach, leerte die Etuis und stopfte den Schmuck in eine Jagdtasche. Dann schloß ich die leeren Etuis wieder zu, damit es so aussah, als ob der Schmuck noch vorhanden sei. Nachdem ich auch das Fach verschloß, gingen wir zur Kapelle. Dort erlebten wir eine Überraschung. Puck stand vor der Tür! Er hatte uns belauscht und wollte unbedingt mit. So stiegen wir drei in den Geheimgang hinab. Anne zog mit Hilfe des Rades den Altar wieder über die Öffnung zurück. Ich hatte inzwischen eine der Fackeln angebrannt, die wir mitgenommen hatten… Anne riß den schweren Riegel beiseite und zog die Eisentür auf, und wir erstarrten. Kein Tosen des Wildbaches war zu hören, kein Pierre zu sehen, denn eine Mauer bis zur Decke schloß beides aus. »Wir müssen verraten worden sein«, flüsterte ich. Ein Stöhnen war die Antwort. Erstaunt blickte ich Anne an. Das Mädel stand an der Mauer gelehnt, die Augen weit aufgerissen. Ich stieß mühsam hervor: »Was ist?« Anne weinte auf. »Bob«, sagte sie
kaum hörbar. »Ich liebe ihn und wollte ihn nicht ohne ein Abschiedswort verlassen. Ich bat ihn, sobald wir irgendwo Fuß gefaßt haben, nachzukommen, und er versprach es mir.« »Wie konntest du nur«, erwiderte ich, »Bob, der treueste und listigste Knecht meines Vaters, der für ein Trinkgeld selbst seine Großmutter verkaufen würde!« Anne fiel mir vor die Füße und stammelte: »Verzeiht mir, Mylady!« »Was soll ich dir verzeihen«, antwortete ich. »Ich wollte aus Liebe mit meinem Freund fliehen, und du wolltest nicht ohne ein Wort von deinem fort. Du hättest doch hierbleiben können!« »Das hätte mir nichts genützt. Daß ich Ihnen bei der Flucht half, hätte seine Lordschaft mir nie verziehen und ich wäre erledigt gewesen.« »Das bist du jetzt sowieso«, erwiderte ich hart, »und ich mit dir!« Die Verzweiflung packte mich, und ich schlug wild gegen die Mauer, aber es half nichts, sie trennte uns von der Freiheit und meinem Geliebten, und ich wußte, für immer! Dann hörten wir von weither eine Stimme, die von den Tunnelwänden widerhallte: »Da unten scheinen zwei Täubchen gefangen zu sein! Flattert herauf, damit ich euch die Flügel für immer stutzen kann!« In seiner Angst verkroch sich Puck in der Felsspalte hinter der Tür. Ich schob ihm die Jagdtasche zu: »Bewahr sie auf, vielleicht gelingt mir ein anderes Mal die Flucht!« Anne und ich liefen zurück, und unsere Herzen waren voller Angst. Harleigh, den 5.8.1858. Mein Vater war hier, um mir zu sagen, daß ich so lange den Turm nicht verlassen darf, bis ich seinen Freund geheiratet hätte. »Und wenn er mich mit Gewalt vor den Traualtar schleppen würde«, entgegnete ich, »bekäme der Priester mein Nein zu hören.« Da schlug er mich.
Harleigh, den 10.8.1858. In der vergangenen Nacht habe ich ihn endlich wiedergesehen, ihn, den ich schon für tot hielt! Der Mond schien hell. Ich konnte wieder einmal nicht schlafen und schaute zum Seitenfenster hinaus. Ich sah zur Mauer hinüber und zuckte zusammen. Da stand Pierre mit der Geige in der Hand. Jetzt hob er sie ans Kinn und spielte trotz der schmalen Mauerkante, auf der er stand. Er trug einen dunklen Umhang und einen großen Hut, und doch erkannte ich ihn sofort. Ich öffnete das Fenster, er hob seinen Kopf und der Mond beschien voll sein ach so geliebtes Gesicht. Ich winkte ihm traurig zu. Plötzlich wurde ich vom Fenster brutal zurückgerissen. Vor Schreck schrie ich laut auf. Dann stand mein Vater mit wutverzerrtem Gesicht am Fenster und schoß mit einer Pistole auf Pierre. Ich sah noch, daß die Mauer plötzlich leer war, dann wurde ich ohnmächtig. Harleigh, den 13.8.1858. Jetzt bin ich lebendig begraben. Ich mußte meine nötigsten Sachen zusammenpacken, und Vater brachte mich in dieses Höhlengefängnis, von dem ich bisher nichts wußte. Die Luft ist kaum zum Atmen, und nur wenig Licht fällt durch eine kleine Spalte oben an der Decke. Manchmal denke ich schon daran, nachzugeben, aber dann sehe ich diesen Mann vor mir, den ich heiraten soll, und mich schaudert’s. Nein, lieber sterben! Warum soll ich weiterleben, wenn mein geliebter Pierre tot ist, wie mein Vater behauptet? Er kommt jeden Tag einmal zu mir und bringt mir mein Essen. Wenn ich nur nicht solche Angst vor der Dunkelheit und diesem unheimlichen Verlies hätte! Wieviel Menschen mögen hier schon umgekommen sein? Harleigh, den 17.8.1858. Ich bin so unbeschreiblich müde und hoffnungslos. Oft denke ich an den Schmuck. Er scheint ihn noch nicht vermißt zu haben, sonst hätte er mich schon danach gefragt. Puck wird längst damit in Sicherheit sein. Er
konnte bestimmt, nachdem sich alles im Schloß beruhigt hatte, ungesehen durch die Kapelle entkommen, zumal man nicht wußte, daß er an dem Fluchtversuch mitbeteiligt war. Und das wird meine Rache sein, daß der Schmuck für meinen unmenschlichen Vater verloren ist! Harleigh, den 22.8.1858. Lohnt es sich noch, dies Tagebuch weiterzuführen? Die Tage vergehen so qualvoll langsam, doch am schlimmsten sind die Nächte! Dazu quält mich der Hunger, denn seit zwei Tagen hat sich mein Vater nicht mehr sehen lassen. Will er mich jetzt durch Hunger nachgiebig machen? Harleigh, den… Ich weiß nicht mehr, was für ein Datum der heutige Tag trägt. Mein Kopf dröhnt, mir ist schwindlig, und meine Hände zittern. Ich weiß, daß jetzt mein Ende naht, aber falls meine Leiche jemals gefunden wird, soll die Nachwelt auch erfahren, daß mich mein eigener Vater verhungern ließ! Das Schlimmste aber ist der Durst. Meine Lippen sind ausgetrocknet und aufgesprungen. Ich bin so schwach, daß ich mich kaum mehr von meinem Lager erheben kann. Mühsam habe ich mich zum Tisch geschleppt, doch die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen, und ich fürchte, daß der Finder meines Tagebuches meine letzten Worte nicht mehr entziffern kann… Pierre, bald bin ich bei dir und… Während Pamela die Tränen über ihr Gesicht rannen, flüsterte Silvia erschüttert: »Der eigene Vater hat sie also verhungern und verdursten lassen!« Elisabeth zuckte die Achseln und sagte: »Es folgen noch ein paar Worte, aber ich konnte sie nicht mehr entziffern. Dann war ein dicker Strich quer über die letzte Seite gezogen, als ob ihre Hand den weiteren Dienst verweigert hätte und ausgerutscht wäre. Sie muß sich danach noch zum Lager zurückgeschleppt haben.« »Er hat sie verhungern lassen!« murmelte Silvia. Sie kam nicht darüber hinweg.
»Nein, Silvi, verhungern lassen wollte er sie kaum«, sagte John bedächtig. Er schob sein Gipsbein noch bequemer auf den Stuhl zurecht und fuhr fort: »Lord Edward war ein schlechter Vater, da er mit einer grausamen Methode Daphne seinen Willen aufzwingen wollte, aber ihren Tod wollte er sicherlich nicht: Ihre vorletzte Eintragung war am 22.8.1858, aber am 20.8.1858 – dieses Datum steht auf seinem Grabstein – stürzten Edward und Pierre gemeinsam in den Abgrund. Da keiner im Schloß den Aufenthaltsort von Daphne kannte, mußte sie verhungern.« »Und ihr Halbbruder?« rief Silvia erregt. »Er soll doch seine Schwester nach seiner Rückkehr überall gesucht haben! Warum hat er sie nicht gefunden? Als Familienmitglied muß er von den Geheimverliesen gewußt haben.« »Das braucht nicht der Fall gewesen zu sein«, antwortete John, »da er als Achtzehnjähriger davongelaufen ist. Vielleicht erfuhren die Söhne erst im reiferen Alter von den Familiengeheimnissen. Und in der Familienchronik wurden die Geheimverliese überhaupt nicht erwähnt. Außerdem war Daphne bei der Rückkehr ihres Bruders längst nicht mehr am Leben.« »Aber der arme kleine Puck«, sagte Pamela, indem sie sich ihre Tränen abtrocknete, »warum hat er sich nicht retten können? Man konnte doch auch den Gang von innen öffnen!« »Ich glaube«, erwiderte John, »das kann nur jemand, der eine normale Größe hat. Der Zwerg wird nicht an das Rad herangekommen sein. Außerdem dreht es sich schwer, und er ist bestimmt nicht sehr kräftig gewesen. Wahrscheinlich ist aber, daß man trotz der Mauersperre die Eisentür vom Gang aus wieder verriegelt hat, so daß er überhaupt nicht mehr in den Gang gelangen konnte und zwischen Tür und Mauer gefangen war.«
»Schrecklich! Mir ist das Schloß richtig verleidet worden«, klagte Elisabeth. »Aber nicht doch«, besänftigte John. »Was kann denn dieses alte entzückende Schlößchen für die Leidenschaft seiner früheren Bewohner? Ich werde die Spuren dieser Vergangenheit beseitigen lassen. Zum Beispiel kann man durch eine kleine Sprengung der Felsspalte das Skelett des kleinen Mannes befreien und ihm dann ein christliches Begräbnis geben. Du wirst sehen, Lissy, wie bald du dann die schrecklichen Ereignisse hier vergessen wirst.«
*
Einige Zeit war vergangen. John hatte seine Absichten sofort wahrgemacht. Auch der kleine Puck war auf dem Dorffriedhof bestattet worden. Die Räume in den beiden hinteren Türmen wurden zu modernen Zimmern umgestaltet, die Folterkammer, Gefängnisse und Geheimverliese zugemauert. Elisabeth, die behauptet hatte, in diesem Schloß nicht mehr schlafen zu können, schlief wieder wie ein Murmeltier. Selbst Silvia hatte ihre frühere Fröhlichkeit wiedergefunden, zumal sie das Gefühl hatte, Daphne und Pierre erlöst zu haben. Wenn sie aber an den unglücklichen Geiger dachte, übermannte sie oft die Sehnsucht nach ihrem Peter, und schon einige Male war sie nahe daran gewesen, ihm zu schreiben, aber ihr Trotz war stärker. Elisabeth, John, Silvia und Pamela saßen im Eßzimmer und warteten auf das Diner. Pamela hatte die entsetzlichen Erlebnisse ziemlich schnell vergessen. Nur von dem abwesenden Sandro sprach sie oft und gern.
Draußen dunkelte es bereits. Mary fuhr gerade den Servierwagen herein, weil sich die schüchterne Eve noch immer zu ungeschickt beim Servieren anstellte. John erzählte währenddessen einige lustige Geschichten aus seinem Land, und die beiden jungen Mädchen kamen aus dem Lachen nicht heraus. Die Fenster waren weit geöffnet. Auf einmal drangen Geigentöne herein, erst leise, dann lauter, jubelnd, voller Süße und wieder voller Leidenschaft. Was für eine Musik, dachte Silvia, unirdisch schön, Sphärenmusik! Plötzlich aber sprang sie erregt auf und rief: »Das ist unmöglich! Pierre ist doch…« John lachte dröhnend auf: »Fängt das schon wieder an? Bist du noch immer so abergläubisch? Glaubst du wirklich, daß Tote Geige spielen können? Na, und noch dazu einige Stunden vor Mitternacht! Schau dir lieber mal deinen Geist an! Er hatte sich bei uns schon längst angekündigt.« Eine Ahnung stieg in Silvia auf. Sie lief aus dem Eßzimmer durch die Halle auf die Terrasse hinaus. Mitten auf dem Weg, einige Schritte von ihr entfernt, stand ein Mann. Ein dunkler Umhang umgab seine Gestalt, und ein großer Schlapphut beschattete sein Gesicht. Das Kinn auf die Geige gesenkt, den Bogen hin und her bewegend spielte er hingebungsvoll. Erschrocken war das junge Mädchen stehengeblieben. Und es ist doch Pierre, dachte sie, und wich langsam zurück. Doch da hob der Mann seinen Kopf, lachende Augen sahen das Mädchen an. »Peter!« rief es jubelnd. »Peter!« Silvia stürzte auf ihn zu. Er hatte seine Geige sinken lassen und schlang seinen freien Arm um die Taille der Geliebten. Nachdem Silvia wieder zu Atem gekommen war, fragte sie voll heiterer Empörung: »Was soll diese Maskerade?«
»Da ich gehört habe, daß du nur Geistermusik liebst«, antwortete Peter lächelnd, »blieb mir doch nichts anderes übrig, als dir als Geist aufzuspielen.« »Ach, Peter, als Lebender bist du mir schon lieber! Verzeih mir meine häßlichen Worte von damals! Ich weiß jetzt, welche wunderbare Musik man einer Geige entlocken kann. Und du hast wirklich herrlich gespielt!« Sie gab ihm einen liebevollen Kuß.
*
Fünf Jahre waren vergangen. Der Konzertsaal in Hamburg war überfüllt. In einer Loge nahe dem Podium befanden sich mehrere Personen. Da war das Ehepaar Peter und Silvia Volkmann. Neben ihnen saß die jetzt achtzehnjährige Pamela MacKean. Sie trug ein grünes Abendkleid und sah mit ihren roten Locken allerliebst aus. An ihrer linken Hand glänzte ein Verlobungsring, den sie immer wieder verliebt betrachtete. In der zweiten Reihe der Loge saßen Silvias Eltern, Sebastian und Hannelore Michaelis, sowie Pamelas Eltern, John und Elisabeth MacKean. Und noch jemand befand sich in der Loge: Joan Galini, kaum mehr wiederzuerkennen. Sie trug ein elegantes dunkelblaues Abendkleid. Ihre Gesichtszüge wirkten nicht mehr verkniffen und vergrämt, ihre Haare waren nicht mehr grau, sondern schwarz gefärbt und modern frisiert. Jetzt erhob sich Beifallssturm. Der berühmte Geiger Sandro Galini hatte das Podium betreten. Er verbeugte sich leicht vor dem Publikum. Diejenigen, die ein Opernglas benutzten, bemerkten in seinem interessanten Gesicht feine, dünne Narben.
Jetzt legte er die Geige an das Kinn, seine Augen suchten die Loge und seine Braut Pamela. Sekundenlang hob er den Geigenbogen zum Gruß. Dann spielte er, und alles versank in seiner Musik.