Jim Elliot
Der Geächtete Ronco Band Nr. 355/52
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stie...
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Jim Elliot
Der Geächtete Ronco Band Nr. 355/52
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stießen Bauarbeiter bei Abbrucharbeiten in einer kleinen Geisterstadt im Süden New Mexicos unter einem ausgebrannten Boardinghouse auf eine zugemauerte Kellernische. Sie fanden darin einen alten Revolver, der noch mit drei Patronen geladen war, ein silbernes US-Marshal-Abzeichen und einen indianischen Ledersack. Der mit Stachelschweinborsten und Perlen verzierte Sack enthielt fünf mit Lederriemen zusammengeschnürte Bündel alter Schulhefte. Es handelte sich um das Tagebuch eines Mannes, der in der Pionierzeit Amerikas gelebt hat. Dieser Mann ist nicht in die Geschichte eingegangen. Er hat sich auch nicht darum bemüht, Geschichte zu machen. Trotzdem hat er aufgeschrieben, was er erlebt hat. Vielleicht, weil er niemanden hatte, mit dem er über sein Leben sprechen konnte. Er nannte sich RONCO. Wir wissen nicht, ob das sein richtiger Name war. Vielleicht hat er aus Scham oder Stolz seinen Namen verschwiegen. Denn er war ein Outlaw, ein Gesetzloser, der Grund hatte, seinen Namen manchmal zu verschweigen. Obwohl aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht, daß er unschuldig in die Mühlen der Behörden geriet und verzweifelt um seine Rehabilitation kämpfte. Aber seine Berichte zeigen mehr: Sie sprengen den Rahmen unserer Vorstellungen von der Pioniergeschichte der USA. Sie schildern diese Zeit wesentlich härter, rauher und wilder, als wir sie bisher gesehen haben. Basierend auf diesen Unterlagen wurde die Romanreihe RONCO gestaltet. Jedoch handelt es sich bei den für die Serie ausgewerteten Aufzeichnungen nur um einen Teil der Tagebücher. Um Ihnen, unseren Lesern, die ganze Geschichte dieses faszinierenden Mannes RONCO offenzulegen, haben wir uns entschlossen, in Abständen von fünf Wochen die Tagebuchaufzeichnungen dieses Geächteten zu veröffentlichen. Bearbeitet von den Autoren der RONCO-Serie. In diesen Romanen erzählt der Mann, der sich RONCO nannte, seine
eigene Geschichte.
Die Hauptpersonen des Romans Ronco – Der Scout von Fort Calhoun wird zum Geächteten. Jicarilla – Das Halbblut rettet Ronco vor dem Strang und bringt ein letztes Opfer. Mascara – Der ehemalige Texas Ranger gewährt Ronco das erste Asyl. Teresa – Ein Mädchen, das zu Ronco hält, als sein Leben nicht einen Cent mehr wert ist. Hampton Lester – Der Colonel hält Ronco für schuldig und handelt wider seine Vernunft.
Der Geächtete 5. März 1882 Ich schildere etwas aus meinem Leben, das jeder von uns schon einmal erlebt haben wird. Etwas, das keinem von uns erspart bleibt, weil es notwendig zu der menschlichen Existenz gehört. Ich spreche von einer Krise. Vielleicht kennen manche, die diese Zeilen einmal lesen werden, so etwas nicht. Vielleicht steht sie ihnen erst noch bevor. Aber jeder, der ein verantwortliches Dasein in dieser Welt zu erfüllen hat, wird um eine Krise nicht herumkommen. Ich habe inzwischen viele Krisen in meinem Leben durchstehen müssen. Doch ich kann sie nicht mit dieser einen vergleichen, die auch heute noch meine Erinnerung und meine Träume beschäftigt, als wäre sie gestern erst geschehen. Das sind Pannen gewesen, Fehlschläge, aber nicht die Krise schlechthin. Davon ist die Rede. Von einer Krise, die so groß und ungeheuerlich ist, das alle anderen Erlebnisse daneben in der Erinnerung verblassen; weil sie auch anders hätten ablaufen können oder gar nicht. Weil sich unser Dasein dadurch nicht veränderte oder nur eine unbedeutende Wendung nahm. Pannen sind vermeidbar oder reparabel. Aber die echte Lebenskrise kann uns vernichten, uns aus der Bahn werfen oder dem Dasein eine radikale Wendung zum Guten oder Schlechten geben. Auf jeden Fall ist der Mensch, den sie trifft, nie mehr das, was er vor ihr gewesen ist. In meinem Leben war der 11. Juni 1866 das Datum, mit dem sich mein Dasein radikal änderte. Das war der Tag, an dem ich zwar eine schlimme Katastrophe überlebte, aber der Mensch, der ich bislang gewesen war, ausgelöscht wurde. Was sich an konkret nachweisbaren Dingen damals in Halcon Canyon und in Fort Calhoun in Texas abgespielt hat, ist in den Annaleu der Armee und in den Archiven der Presse und der Ministerien in den verschiedensten Versionen schriftlich festgehalten. Sie enthalten das, was man so gemeinhin als Wahrheit
zu bezeichnen pflegt. Nüchterne Zahlen von Menschenopfern, von Verlusten an Material und Soldaten, die ihr Leben im Dienst für die Nation verloren. Beschreibungen der geographischen Begebenheiten und historische Voraussetzungen eines Indianeraufstandes, der zu diesen Verlusten führte. Untersuchungsberichte von Militärgerichten, die sich mit Schuldfragen beschäftigen mußten. Und unzählige Zeugenaussagen von Personen, die in die Katastrophe verwickelt waren. Allerdings haben sie mit der Wahrheit dieses Tages wenig oder gar nichts zu tun. Ich habe das alles in meiner letzten Tagebuchaufzeichnung beschrieben, was zu diesem tragischen Ereignis im Halcon Canyon führte. Ich habe die Katastrophe selbst beschrieben, die ich als einziger Beteiligter überlebte, und auch die Gefühle geschildert, die mich während des Überfalls ergriffen. Das unbeschreibliche Entsetzen eines jungen Menschen angesichts einer grauenhaften Tat. Aber alles das hat nur mittelbar mit meiner Krise zu tun. Sie hängt nicht von der Größe oder Wucht eines äußeren Ereignisses ab, sondern allein von der augenblicklichen Beschaffenheit des Menschen, den sie trifft. Man kann sagen, daß das Schicksal einen Menschen erst auf das vorbereiten muß, was für ihn zu einer Krise werden soll. Manchen kann der Anblick einer Schlacht mit Tausenden von Opfern relativ unberührt lassen, weil dieses Ereignis nichts mit seinem persönlichen Schicksal oder seiner Bestimmung zu tun hat. Es mag ihn aufrütteln oder tief beeindrucken, aber es bedeutet für sein Leben nicht die Wendemarke, den Umsturz, die Entscheidung. Für mich war der 11. Juni 1866 das wichtigste Datum seit meiner Geburt. Und vielleicht wird es auch das wichtigste Datum bis zu meinem Tod bleiben. So wichtig ist die entscheidende Krise in dem Leben eines Menschen. Und nicht das äußere Ereignis, das eine Krise auslöst, ist wichtig – des kann eine ganz banale, belanglose Sache sein –, sondern wie der Mensch, dem das Schicksal sie als Prüfung auferlegt, damit fertig wird. Denn eine Krise trifft ihn meistens unvorbereitet.
* Es war noch keine Stunde nach dem Massaker im Halcon Canyon, als ich die Grenze von Mexiko erreichte. Das Grauen erfüllte mich so sehr, daß ich das gar nicht merkte. Ich trieb das Pferd in den Rio Grande, ohne mir bewußt zu sein, zu welchem Fluß dieses lehmige, lauwarme Wasser gehörte. Es hätte für mich ebenso gut der Rio Doro oder der Canadian River sein können. Oder auch der Mississippi. Ich hatte kein Gefühl mehr für Richtung oder Entfernung. Ich hatte kein Gespür mehr für Zeit oder Umgebung. Das Pferd, auf dem ich ritt, gehörte nicht zu mir. Der Sattel, auf dem ich saß, hätte auch eine Decke, ein Brett oder eine stinkende, noch nicht ausgetrocknete Büffelhaut sein können. Wahrscheinlich war es das. Ich hatte nur Gestank in der Nase. Gestank und den Geschmack von Rauch und Blut. Vor den Augen sah ich nicht eine heiße Halde aus blassen Steinen, die eine Uferböschung begrenzte, sondern die Wände des Halcon Canyon, von blutrotem Morgenlicht überzogen, in dem halbnackte Apachen einen Totentanz aufführten. Einen Tanz, der von donnernden Gewehren, sausenden Pfeilen und harten Tomahawkschlägen begleitet wurde. Ein Tanz, zu dem schreiende Frauen und wimmernde Kinder die Musik lieferten. Und ich war noch mitten drin. Ich ritt durch einen Fluß, aber das mußte mein Schatten sein. Ich war im Halcon Canyon geblieben. Ich wünschte, ich wäre tot. Aber ich bewegte mich durch ein Wasser, das in meine Stiefelschäfte lief. Ich spürte einen Wind, der nicht von einer Kugel oder einem Schädelbrecher stammen konnte, weil das Ufer vor mir und hinter mir so leer war wie ich selbst. Glaubten nicht die Rothäute daran, daß ein toter Krieger auf seinem Pferd über die Prärie reitet, bis seine Seele sich von dieser Welt lösen kann? Redeten ihre Mythen nicht davon, daß der Tote erst auf die Wonnen der Ewigen Jagdgründe vorbereitet werden muß, weil sie sonst seine Seele erschlagen und seinen Geist verwirren? Und daß er noch einige Prüfungen in dem Zwischenreich zwischen Diesseits und Jenseits bestehen muß, ehe er in die Ewigkeit eingehen kann? Das galt auch für die Tapfersten, und vor mir lag eine Wüste.
Ich schöpfte wieder Hoffnung. Ich war tot und hatte nur noch eine Wüste in der heißen Mittagssonne zu durchqueren, dann würde ich in Gnaden aufgenommen werden. Wo? Ich hatte gar nicht gekämpft. Ich hatte meine Revolver leergeschossen, aber ich hatte nicht gekämpft. Ich war geflohen und hatte zweihundert Frauen und Kinder von Apachen abschlachten lassen. Ich war ein Feigling! Feiglinge zogen nicht in die Ewigen Jagdgründe ein. Sie wurden in die Unterwelt verjagt, wo es keine Sonne, keine Tiere und kein Wasser gab. Nur gnadenlose Hitze und ewige Reue, daß die Seele die Prüfung, die das Dasein auf der Erde bedeutete, nicht bestanden hatte. Eine zweite Chance gab es nicht mehr. Ich hatte das Massaker an den Frauen und Kindern nicht verhindern können! Es waren mehr als hundert Apachen gewesen, und sie hatten Steine von den Schluchtwänden hinuntergeschickt, so daß ich vom Treck abgeschnitten war, den ich nach Fort Calhoun führen sollte. Ich allein konnte nichts ausrichten gegen hundert fanatisierte Rothäute! Ich hätte nichts tun können, auch wenn ich mir das sehnlichst wünschte. Du hättest mit ihnen sterben müssen, sagte eine Stimme vor mir. Sie begleitete mich schon seit Stunden. Jetzt mußte sie mich überholt haben. Es wäre deine Pflicht gewesen, mit den Frauen und Kindern zu sterben, die du geführt hast, Ronco! Du kannst dich nicht damit entschuldigen, daß du noch so jung bist und noch gar nichts von deinem Leben hattest. Nichts von dem, was das Dasein der Erwachsenen ausmacht: Liebe, Verantwortung, eine Familie. Du hast gerade erst hineingerochen. Du wolltest nicht abtreten, ohne zu wissen, was das Leben wirklich ist. Die Neugier darauf hat dich davon abgehalten, deine Pflicht zu tun. Hast du noch nichts davon gehört, daß ein Kapitän auf der Brücke seines Schiffes bleibt, wenn es untergeht? Hast du gedacht, die Verantwortung für einen Treck von zweihundert Frauen und Kindern wäre kleiner als die für ein Schiff? Glaubst du, die
kleinen Kinder auf den Wagen wären nicht genauso gern am Leben geblieben wie du? Welchen Rang hast du, daß du dir anmaßt, dein Leben wäre wertvoller als ihres? Und die Frauen, auf die nun ihre Männer vergeblich warten müssen? Hatten sie nicht ein viel größeres Anrecht, am Leben zu bleiben, als du? Ja! schrie ich. Ich hatte schon seit Stunden der Stimme recht gegeben. Warum schwieg sie nicht endlich still? Warum bist du dann noch am Leben, Ronco? Ich wollte, ich wäre tot wie die anderen! Warum bist du es nicht? Weil der Schrecken mir den Verstand raubte! Weil ich außer mir war vor Entsetzen! Das ist keine Entschuldigung. Man muß immer im Leben auf das Schlimmste gefaßt sein. Ich kann immer noch sterben! Jetzt bin ich wieder bei Bewußtsein und kann es nachholen! Das ist nicht das gleiche, du Narr! Der rechte Zeitpunkt dafür ist vorbei! Jetzt mußt du die Folgen deines Versäumnisses tragen! Ich habe keine Schuld an dem Massaker! Es geht nicht darum, ob du Schuld daran hattest. Es geht um den Anstand. Du trugst die Verantwortung. Wenn du sie nicht tragen konntest, hättest du sie nie übernehmen dürfen. Das ist auch eine Schuld, Ronco. Du kannst dir nicht die Rosinen aus dem Kuchen des Lebens heraussuchen, wenn der Teig dir zu bitter ist. Ich will sterben! Zu spät! Alles hat seine richtige Zeit im Leben. Wenn man sie versäumt, muß man die Konsequenzen tragen. Und du wirst jetzt die Folgen tragen müssen, daß du noch am Leben bist. Der einzige, der überlebt hat. Die Stimme vor mir lachte, und das Lachen versprach nichts Gutes. Ich trieb mein Pferd die Uferböschung hinauf und ritt in die Wüste, die sich als heißer Spiegel hinter den Steinen ausbreitete. Die Stimme verfolgte mich nicht weiter, und die Stille, die um mich herum entstand, war schlimmer als ihre Vorwürfe. Ich wußte nicht, wo ich war und wo ich hinritt. Ich überließ es
meinem Pferd, sich einen Weg zu suchen. Es tat mir nicht den Gefallen, mein Versäumnis für mich nachzuholen. Es brachte mich zu Menschen zurück. * Ich mußte fürchterlich ausgesehen haben, als ich wieder unter Menschen kam – abends, als mein Pferd genug davon hatte, immer nur im Kreis herumzulaufen oder ständig die Richtung zu wechseln. Es war ein gutes, sehr ausdauerndes Pferd, das ich damals ritt. Es gehorchte anfangs den sinnlosen Kommandos, die ich ihm gab, ohne es zu wissen. Dann setzten sich bei dem Tier der eigene Instinkt und der Wille durch, zu überleben. Es muß im Süden der Sierra del Burro gewesen sein, am Rande eines Trails, den nur Schmuggler und Banditen kannten und benutzten. Es war ein Weg, der auf keiner Karte verzeichnet war, und das Dorf, auf das mein Pferd zuhielt, hatte keinen mir bekannten Namen. Oder ich hatte ihn einfach vergessen wie die Gesichter der Frauen, die ich in ihr Verderben geführt hatte. Der Wallach witterte das Wasser, das ihm der Wind aus ein paar mesquiteüberwucherten Steinhügeln zutrug, und schwenkte vom Trail ab. Ich merkte erst, daß ich irgendwo an einem Ziel angelangt war, als er anhielt und den Kopf senkte. Er tauchte die Nüstern in einen steinernen Trog, der in der Mitte einer kleinen Plaza stand. Während das Tier gierig das Wasser in sich hineinsoff, begannen sich die grauen Steine der Hügel, die staubbedeckten Büsche und die gelben Adobehütten vor meinen Augen zu drehen und hielten erst wieder still, als ich aus dem Sattel rutschte. Ich blieb auf der Erde liegen, wühlte mit den Händen in dem heißen, lockeren Sand und überlegte, ob die Erde hier tief genug war für ein Grab. Oder ob ich einen Spaten brauchte, weil meine Hände nicht mehr genügend Kraft hatten, die festeren Schichten unter dem Staub aufzureißen. Ein heller Rock glitt auf mich zu, der bis zu einem Paar bloßen Füßen hinunterreichte. Ein Mädchen beugte sich zu mir hinunter –
sehr tief, daß ich über den Rand ihrer lose sitzenden Bluse schauen konnte und ihre vollen runden Brüste sah. »Gringo?« fragte es. »Gringo – Geld?« »Die Sonne ist rot. Sie trinkt sich am Blut satt.« »Du Gringo und auch Spanisch sprechen?« Ich wühlte im Staub und warf ihn dabei über ihre nackten Zehen, damit sie mir den Platz nicht wegnahmen, den ich unbedingt für mich brauchte. Das Pferd stampfte neben mir mit den Hufen, als wollte es mir beim Graben helfen. Noch mehr Röcke verstellten mir jetzt den Blick auf die Sonne. Ich würde mich beeilen müssen, dachte ich, denn sie würde bald hinter den Hügeln im Westen untergehen. Die Sonne, die bei ihrem Aufgang das Blutbad im Halcon Canyon gesehen hatte. Morgen würde es eine ganz andere Sonne sein, und sie würde sich weigern wie die Stimme, mich noch zu den Toten zu zählen, die im Halcon Canyon lagen. Es mußte hier sehr viele Mädchen geben, denn ich sah Röcke in allen Farben. Braune, gelbe, blaue, grüne und besonders viele rote Röcke, die wie Blut leuchteten, als die Sonne durch den Stoff hindurch schimmerte. »Er hat einen Sonnenstich«, sagte ein Mädchen. Es war nicht dieselbe Stimme, die mich nach Geld gefragt hatte, sondern eine viel jüngere Stimme, die auch nicht viel mehr vom Leben kannte als ich. »Er ist eine Abwechslung«, sagte eine Stimme, die tief und hart klang. »Mit diesen Haaren kann er ja nur ein Gringo sein. Von seinem Gesicht kann man nicht mehr viel erkennen. Er muß tagelang in der Sonne herumgeirrt sein.« »Sollen wir ihn in die Bodega bringen?« »Wohin sonst? Hier draußen kann er schlecht liegenbleiben. Wenn ein paar Männer hierherkommen, brauchen sie den Platz zum Tränken ihrer Mulis und Pferde.« »Er hat schöne Augen. So blau wie dein Rock, Carmelitta.« »Sie werden erst richtig schön, Teresa, wenn seine Taschen versilbert oder vergoldet sind.« Sie lachten so vielstimmig und lebhaft, wie die Farben ihrer Röcke waren. Und ihre nackten Füße ebneten die flache Kuhle wieder ein,
die ich mit den Händen bereits ausgehoben hatte. »Er versteht uns nicht! Wir werden ihn also gar nicht lange fragen«, sagte die harte Stimme von vorhin. »Schau mal in seinen Satteltaschen nach, Josefa!« »Sie sind mit Patronen und Dörrfleisch und Brot gefüllt, Anna! Und die Wasserflasche ist noch ganz voll! Er muß in dieser Gluthitze herumgeirrt sein, ohne einen Schluck zu trinken und ein Bissen zu essen!« »Vielleicht ist er ein Mönch, der ein Gelübde abgelegt hat und Buße für seine Sünden tut!« »Ein Mönch auf einem Armeepferd? Wer hat denn so etwas schon mal gehört!« »Solange er nur fastet und kein Keuschheitsgelübde abgelegt hat, kann es mir recht sein«, sagte die junge Stimme, die über meine Augen gesprochen hatte. Das vielstimmige Lachen gellte mir wieder in den Ohren. »Da er dir so gut gefällt, Teresa, wirst du dich auch um sein Pferd kümmern. Sag dem dicken Pablo, daß er unser Gast ist. Er wird dann das Pferd abreiben und es füttern, ohne lange nach dem Woher und Wohin zu fragen. Das Pferd kommt von drüben. Es könnte gestohlen sein.« »Der Gringo sieht mir nicht nach einem Dieb aus.« »O, Josefa, als könnte man jedem Muchacho gleich ansehen, was er ist oder in der Hose hat!« Sie brüllten vor Lachen, bis das Mädchen mit den schwarzen Zöpfen, das die Zügel meines Wallachs vom Boden aufhob, heftig in die Hände klatschte. »Diantre – hört auf, ihr dummen Puten! Seht ihr nicht, daß ihm hundeelend ist?« Das Lachen riß ab. »Dios me libre – er muß sehr krank sein! Er weint!« »Er hat nur Kummer, Carmelitta. Und dagegen haben wir die beste Medizin!« Ihre Heiterkeit kehrte zurück. Sie ließen mich nicht mehr graben. Sie packten mich bei den Armen und schleppten mich einfach mit sich fort.
* Es waren zehn oder zwölf Mädchen, und ich konnte mich nicht gegen sie wehren, weil ich schwach war wie ein kleines Kind. Ich hatte schon beim Graben bemerkt, daß meine Hände nicht mehr die Kraft hatten, die Steine aufzuheben, die unter dem Sand lagen. Meine Beine waren gefühllos. Sie mußten mich mehr tragen als ziehen, während ich meine Stiefelspitzen in den Boden stemmte und eine Schleifspur im Sand der Plaza hinterließ. Sie schleppten mich in einen großen Schuppen, der mich an das Magazingebäude von Fort Calhoun erinnerte. Er hatte zwei Stockwerke, war groß wie eine Scheune und innen wie eine Schenke eingerichtet. Ich sah nicht viel von der Einrichtung, denn nach dem stundenlangen Schauen in die Sonne waren meine Augen fast so schwach geworden wie meine Muskeln. Sie setzten mich auf eine Bank hinter einen breiten Tisch, damit ich ihnen nicht mehr entrinnen konnte. Ich mußte der einzige Gast in diesem Schuppen sein, denn sie kümmerten sich nur um mich. Zwei Mädchen gingen in das Halbdunkel, wo auf einem Gestell aus Brettern und Holzböden ein paar kleine Fässer standen. Josefa schob mir ein strohgefülltes Kissen hinter den Rücken, während mir Carmelitta und Anna die Jacke auszogen. Oben, auf einer Galerie über einer primitiven Holztreppe, stand noch ein Mädchen und blickte auf mich herunter. In diesem Dorf, wohin mich mein Pferd gebracht hatte, schienen nur Frauen zu wohnen. Die Mädchen kehrten von den Fässern mit Tonkrügen und Bechern zurück. Sie gingen ein paarmal zwischen dem Tisch und den Fässern hin und her, bis alle mit Trinkgefäßen und Tellern versorgt waren. Es sah so aus, als wollten sie ein Gelage halten oder einen Heiligen feiern. Sie brachten auch ein gebratenes Huhn und eine Schale mit Obst. Ich spürte ein Würgen und Brennen im Hals, als ich das alles sah. Ich hielt es schon immer für einen scheußlichen Brauch, nach einer Beerdigung einen Totenschmaus abzuhalten. Aber die Mädchen verstanden das nicht. Sie glaubten, die Sonne hätte meinen Magen ausgetrocknet und der heiße Wüstenwind meine
Kehle. Sie deuteten meinen Brechreiz falsch. Anna, die älteste von den Mädchen, die so etwas wie eine Respektperson für die anderen darstellte, blickte mich mit ihren dunklen harten Augen prüfend an und sagte: »Ihr müßt ihn behandeln wie ein abgetriebenes Pferd. Zuerst nur kleine Bissen und dazwischen einen Schluck aus dem Becher. Teresa, du wirst ihn füttern. Josefa, du sorgst dafür, daß er nicht zu hastig trinkt.« Ich hatte weder Hunger noch Durst. Aber als ich die Zähne zusammenzupressen versuchte, spürte ich, daß meine Wangenmuskeln nicht gehorchten. Sie brannten wie Feuer unter die Haut. Mein Gesicht war so empfindlich wie ein rohes Ei, meine Lippen eine einzige Brandblase. Es hatte keinen Sinn, sich zu wehren. Jede heftige Bewegung löste in meinem Gehirn eine Lawine von Schmerzen aus. Sie stopften mir Hühnerfleisch in den Mund, daß ich fast daran erstickt wäre. Und dann gossen sie mir aus den Bechern Flüssigkeit nach. Kein Wasser, was ich vielleicht noch vertragen hätte, sondern Pulque, Tequila und Bier. Ich würgte es alles hinunter, weil ich es nicht ausspucken konnte. Nach dem ersten Becher Pulque fand ich Geschmack daran. Das Zeug schmeckte zwar ekelhaft, aber es nahm den Druck von meinem Herzen. Und dann wurde auch mein Kopf ganz leicht, und die Schmerzen ließen plötzlich nach. Das entsetzliche Bild des Massakers vom Morgen löste sich langsam in einem Nebel auf, obwohl ich versuchte, es festzuhalten. Die Gesichter der Mädchen vor mir waren nicht mehr von Blut und Beilhieben entstellt, sondern zeigten sich so, wie sie wirklich waren: mit Kohlestrichen an den Augenbrauen und roter Schminke auf den Wangen und Lippen. Sie waren auch nicht verzerrt, sondern lachten mich an. Nach einer Weile hörte ich mich selbst lachen. Ich konnte das nicht verhindern. Ich kannte mich selbst nicht mehr. Ich trank alles durcheinander, bis ich die Mädchen vor mir doppelt sah. Ich fühlte mich wohl, was ich überhaupt nicht begreifen konnte. Denn als ich vom Pferd fiel, war mir sterbenselend gewesen. Ich hatte oft betrunkene Soldaten in Fort Worth beim Ausgang
erlebt, und sie, wenn sie nicht mehr gehen konnten, aus der Taverne zurück in ihre Unterkunft gebracht. Ich wußte, daß nach dem Stadium des Wohlgefühls und der Heiterkeit wieder das heulende Elend einsetzte, wenn man hartnäckig weitertrank, obwohl man genug hatte. Es stand mir nicht zu, mich so leicht und unbeschwert zu fühlen. Ich mußte etwas dagegen tun. »Teresa«, sagte Anna, das älteste der Mädchen mit den harten Augen, »nimm ihm den Becher weg! Er ist jetzt wieder bei Kräften! Zu viel Tequila macht ihn wieder schlapp!« Ich wollte protestieren, aber ich brachte keine zusammenhängende Worte heraus. Und dann, als ich endlich die richtigen Buchstaben beisammen hatte, die ich brauchte, hörten sie mir nicht mehr zu. Ein Gast war erschienen. Der erste Gast seit Stunden. Noch dazu ein Mann. Und was für ein Mann, dachte ich, tief beeindruckt. Ein Hüne mit Schaftstiefeln, grünen Pluderhosen und einer Brust, an der alle Mädchenköpfe Platz gehabt hätten, die bei mir am Tisch saßen. Er hatte das grüne Hemd aufgeknöpft, und ich sah den Schweiß, der von den schwarzen Haaren tropfte, mit denen seine Brust bedeckt war. Sein breiter Gürtel war mit Patronen gespickt wie die Mauern von Fort Calhoun mit Palisaden. Man konnte sie gar nicht alle zählen. Vielleicht kam es daher, weil ich ihn doppelt sah. Doch Teresa flüsterte mir ins Ohr, sie könne so dicke Männer nicht leiden, die noch dazu so entsetzlich schwitzten und eine Uniform anhatten. Die junge Teresa mit den langen schwarzen Zöpfen hatte mit mir Brüderschaft getrunken und mir dabei ins Ohr geflüstert, sie wolle alles mit mir teilen, auch ihre intimsten Geheimnisse. »Wer ist das?« lallte ich, obwohl ich eigentlich ganz etwas anderes hatte sagen wollen. »Gerado, der Gendarm aus Corrida. Ich hoffe doch, du hast keine Angst vor einem Gendarm, Amigo!« flüsterte mir Teresa mit heißem Atem ins Ohr. »Warum sollte ich?« Teresa hatte inzwischen herausgefunden, daß ich gut Spanisch sprechen konnte und noch dazu hervorragend mit mexikanischer und amerikanischer Währung bestückt war. Sie hatte unter meinem Hemd meine Ledertasche entdeckt, die ich an einem
Lederband um den Hals trug. Ich hatte seit drei Monaten keine Gelegenheit gehabt, etwas von meinem Geld auszugeben. »Dein Pferd, Chico!« »Es gehört mir nicht, Teresa.« »Eben.« »Deswegen habe ich es noch lange nicht gestohlen!« »Dann bist du ein Gringo-Deserteur?« Das gab mir zu denken. Ich war nicht desertiert, weil ich ja nur als Zivilist bei der Armee diente. Ich war einfach weggelaufen. Aber nicht von der Truppe, sondern von diesem grauenhaften Gemetzel. »Ein Deserteur, der sein Pferd mitnimmt, ist auch ein Dieb, Chico. Siehst du das nicht ein?« »Ich bin ein Lump, Teresa.« »Das macht nichts, mein Kleiner. Hauptsache, du bist ein Mann. Ich schwärme von Männern mit blonden Haaren und blauen Augen.« »Was ist das – Corrida?« »Eine kleine Stadt hier in der Nähe. Du mußt sie gesehen haben, als du hierhergeritten bist.« »Ich habe nichts gesehen, Teresa.« »Aus welcher Richtung bist du denn gekommen?« »Vom Rio Grande, glaube ich. Da mußt du mein Pferd fragen. Das weiß es besser als ich.« Ich war immer noch in meiner heiteren Phase und fand meine Worte komisch. Ich lachte. Das gefiel dem Gendarmen offenbar nicht. Er hatte seinen mächtigen schwarzen Hut abgenommen und ihn über die Mündung seines Gewehrs gehängt. »Diablo, was gibt es da zu lachen, eh?« Er rollte die Augen und zog die Spitzen seines mächtigen Schnauzbartes über sein Doppelkinn herunter, weil er keine Jacke anhatte, die er militärisch straffziehen konnte, wie das Major Fly immer tat, wenn er Eindruck schinden wollte. »Nichts, Teniente«, sagte ich erschrocken. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie laut ich gelacht hatte. Mir klang es eher nach einem Kichern. »Willst du mich auch noch beleidigen? Siehst du nicht, daß ich ein General bin?«
»Ich sehe es jetzt, General.« Ich schluckte. »Es tut mir leid.« »Du lügst, Gringo! Ich sehe doch, daß es dir gar nicht leid tut, denn du lachst schon wieder so unverschämt dazu!« »Er ist ein ekelhafter Kerl, Amigo«, flüsterte Teresa mir ins Ohr. »Aber du darfst dich nicht von ihm herausfordern lassen! Die Gendarmen müssen oft ausrücken, um Deserteure einzufangen.« Anna, die am weitesten von mir entfernt saß und dem Kerl am nächsten, gab ihm einen kleinen Schlag mit der Hand gegen den Bauch. »Siehst du denn nicht, daß der Junge betrunken ist?« Sie schnippte mit zwei Fingern gegen seinen Hosenlatz. »Spiel dich nicht so auf, Gerardo! Wenn du die Uniform ausziehst, bist du lange nicht so stark, wie du jetzt redest!« Das hätte sie nicht sagen dürfen, dachte ich. Der Gendarm schien an seiner empfindlichsten Stelle getroffen worden zu sein. Er riß seinen Mund fast so weit auf wie sein Hemd und brüllte, daß die Katze, die auf einem der Fässer schlief, entsetzt die Leiter in den Oberstock hinauf floh: »Ich nehme es mit jedem Gringo auf, Anna! Im Saufen, Fressen und sonst auch! Aber ich bin zu einem Verhör hier. Ich spiele mich nicht auf, sondern ich bin im Dienst! Und ich habe dich ganz ordentlich und manierlich, wie es die Vorschrift ist, danach gefragt, ob sich Antonio und Jose bei dir aufhalten! Oder wenigstens einer von den beiden Strolchen! Und du beschwerst dich, daß ich mich aufspiele! Ich könnte dich und deine Mädchen festnehmen und nach Corrida bringen! Und …« »Ja, ja«, unterbrach Anna den dicken Gendarmen verdrossen, »du könntest uns alle mitnehmen und in einer verlausten Zelle übernachten lassen. Wir wissen es, Gerardo. Wir kennen dieses Lied inzwischen auswendig. Wir haben Antonio und Jose schon seit Wochen nicht mehr hier gesehen. Aber du tauchst jeden dritten Abend hier auf und betest diesen Vers. Wir wissen doch, daß du nur etwas umsonst haben willst. Wen heute?« Der dicke Gendarm ließ seine Schnurrbartspitzen los und dämpfte ganz unerwartet die Stimme. Dabei blickte er mich nachdenklich an: »Nun gut, Anna, ich werde nicht so sein und das Amtliche rasch hinter mich bringen. Ich frage noch einmal, und zwar laut genug, daß der ganze Tisch mich versteht. Weiß einer von euch etwas über den
Verbleib von Antonio und Jose?« »Ich nicht«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. »Zu dir komme ich noch!« sagte er, wieder ein wenig heftiger. »Ich habe die Damen gefragt!« »Wir wissen nichts über den Verbleib von Antonio und Jose!« riefen die Mädchen im Chor. Er schien zu zögern. »Ah ja – ich verstehe«, sagte er dann, immer noch mich anblickend. »Dann wäre das Dienstliche ja erledigt. Ich werde Feierabend machen und mich ein wenig erleichtern. Anna?« Der dicke Gendarm hob die Arme etwas an, und das hartäugige Mädchen am Tischende seufzte hörbar. Es stand auf und löste die schwere Gürtelschnalle des Gendarmen. Dann hängte sie den schweren, mit Patronen gespickten Gurt über eine Stuhllehne. Sie nahm ihm das Gewehr mit dem Hut ab und schob beides unter eine Bank. Der Gendarm blickte mich immer noch unverwandt an, und plötzlich begann er zu lächeln. »Meine Stiefel auch, Anna!« befahl er. »Verdammt, seit wann …« »Die Stiefel, sagte ich!« Der Gendarm setzte sich dem Mädchen, das mir gegenüber auf der Bank saß, einfach auf den Schoß, streckte die Beine von sich und schob ziemlich kräftig mit dem linken Stiefel nach, als Anna sich mit dem rechten abmühte und ihm das Leder vom Bein zog. Ich hatte zwar immer noch meine heitere Phase, aber ich fand das längst nicht so komisch wie er, besonders da seine Socken geradezu bestialisch stanken. Ich hatte das Gefühl, er wollte mir irgend etwas beweisen. »So«, sagte er, nachdem Anna ihm beide Stiefel ausgezogen hatte, »jetzt werden wir's uns richtig gemütlich machen! Der Gringo dort drüben hat ja eine Menge Sachen auffahren lassen, was er gar nicht alles schaffen kann! Ich werde ihm dabei helfen!« Er nahm das halbe Huhn, das noch auf meinem Teller lag, und hatte es mit drei Bissen tranchiert und verschlungen. Er spuckte die Knochen auf den Boden und holte einen der Krüge, die vor mir standen, zu sich herüber. Ehe ich das richtig bemerkte, hatte er ihn
schon leergetrunken und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Agavenschnaps«, sagte er großspurig, »vertragen die Gringos nicht. Ich habe dir den Gefallen getan und den Krug ausgetrunken. Laß mal sehen, was in dem anderen Krug ist!« Er angelte den nächsten zu sich herüber, roch daran und grinste. »Tequila ist erst recht nichts für dich!« Er trank den Krug mit einem Schluck aus, leckt sich die Lippen und holte den letzten Krug auf seine Tischseite herüber. »Bier«, sagte er. »Das können Gringos gerade noch vertragen. Da du aber sowieso schon besoffen bist, kannst du auf den Rest verzichten!« Er hob den Krug an die Lippen und gurgelte das Bier auch noch in einem Zug herunter. Ich hatte nichts dagegen einzuwenden, weil es eine lauwarme Brühe war, und ich nur davon getrunken hatte, weil man es mir fast mit Gewalt eingeflößt hatte. Doch ich saß ja nicht allein am Tisch, und vielleicht hatte eins der Mädchen noch Durst darauf. Ich fand den Gendarmen einfach unmöglich. Er schien meine Gedanken lesen zu können, grinste und deutete mit dem Finger auf mich. »Anna fragte mich eben, wer heute an der Reihe ist«, sagte er. »Du, Teresa!« »Nein!« rief Teresa leidenschaftlich. »Nein!« »Was will er von dir?« fragte ich begriffsstutzig. Ich muß es hier noch einmal betonen: Ich war außer mir, nicht mein gewohntes Selbst. Alles, was an diesem Tag nach dem Massaker geschah, war nicht normal. Ich war aus der Bahn geworfen und mußte mich in der Welt erst wieder zurechtfinden. Ich lachte, obwohl ich zutiefst verstört war, und ich berauschte mich, obwohl ich lieber in der Wüste verschmachtet wäre. Ich wußte wahrscheinlich, was für eine Bewandtnis es mit diesen Mädchen hatte. Aber ich dachte nicht daran. Ich war naiv wie ein kleines Kind und genauso hilflos. Im Grunde war es mir gleichgültig, was mit mir oder um mich herum geschah. Es hatte nichts mit mir zu tun. Mein Ich lag noch betäubt jenseits des Rio Grande im Halcon Canyon bei den toten Frauen und Kindern.
Der Mann, der hier bei diesen Mädchen in einer Taverne saß, hatte nur meine Gestalt und mein Ansehen. Aber mit meinem wahren Selbst hatte er nichts zu tun. »Er ist grob, und er stinkt«, flüsterte Teresa neben meinem Ohr. »Er ist ein Schwein und will mich quälen! Und dafür erhalte ich nicht einmal einen Dank oder sonst was!« »Dann bleib doch hier sitzen«, sagte ich zu Teresa. »Wir verstehen uns doch gut.« »Und du gefällst mir«, hauchte sie. »Ich möchte dich haben, nicht ihn.« Anna hielt das wohl auch für das vernünftigste. Sie wandte sich an den Gendarmen, der immer noch mit einem boshaften Lächeln zu mir herübersah. »Hier sitzen zwölf Mädchen, Gerardo, eins besser als das andere. Oder alle gleich gut. Und ausgerechnet Teresa, die am weitesten von dir entfernt sitzt, möchtest du haben!« »Ich bin ein ordentlicher Mexikaner, noch dazu ein Beamter der Regierung«, erwiderte der Gendarm und fiel in seinen alten lauten Ton zurück. »Und dort drüben sitzt ein verdammter Gringo, der uns das halbe Land gestohlen und nicht mal guten Abend sagen kann, wenn ein Gast zur Tür hereinkommt! Soll er sich doch ein anderes Mädchen aussuchen, Anna!« »Er hat nichts gestohlen, Gerardo! Im Gegenteil, er bezahlt alles, was hier auf dem Tisch steht!« »Ist ein gottverdammter Gringo etwa mehr wert als ein rechtschaffender Mexikaner, Anna?« »Gerardo, wir wäre es denn mit mir?« fragte Anna rasch, als der Gendarm bei den letzten Worten von der Bank aufgestanden war und wild mit den Augen rollte. »Oder sollen wir dir noch etwas zu trinken bringen?« »Du bist ein zähes, altes Maultier, Anna. Du magst was vom Kochen und Feilschen verstehen, aber im Bett bist du so langweilig wie eine Sonntagspredigt. Und dabei so dürr, daß man sich blaue Flecken bei dir holt. Doch diese Teresa ist noch jung und mit Vergnügen bei der Sache. Ich will Teresa und sonst keine!« Die Situation spitzte sich offenbar zu, denn Teresa klammerte sich
an meinen Arm und jammerte leise: »Ich will nicht, ich will nicht! Er ist grob und tut mir Gewalt an. Ich …« Ich nickte und faßte den Gendarm ins Auge. Wahrscheinlich glaubte er, ich grinste ihn wieder an. Aber über mein Gesicht hatte ich schon keine Kontrolle mehr ausüben können, als der gewichtige Gendarm die Taverne betrat. »Teresa will nicht«, erklärte ich schlicht und lallend. »Sie sagte, Sie seien grob. Und daß Sie stinken. Ich muß ihr da recht geben. Man riecht es bis hierher. Bei uns wäscht man sich jeden Abend die Füße, General. Und wir tun Salbeiblätter in die Stiefel. Das hilft zwar nicht gegen den Schweiß, aber gegen den Geruch. Ein Armeerezept. Sie sollten das auch mal ausprobieren …« Weiter gelangte ich nicht mit meinen wohlmeinenden Ratschlägen. Er verstand sie falsch, oder er wollte sie falsch verstehen. Ich hatte sie ernst gemeint, ohne bösen oder boshaften Hintergedanken. Doch der Gendarm hatte mich von Anfang an nicht leiden mögen. Es gibt Menschen, mit denen man einfach nicht zurechtkommt, und wenn man sich noch so sehr um sie bemüht. Und wie grotesk die Situation wirklich war, begriff ich überhaupt nicht. Ich sagte eben schon, daß ich nicht bei mir war. Ich hatte noch etwas in meinem Becher, und im nächsten Moment hatte ich es im Gesicht. Ich war noch nie ein Spielverderber und hatte für einen Scherz zur rechten Zeit schon immer Verständnis. Doch an diesem schrecklichen Tag wirkte ich vielleicht komisch für einen Beobachter, der nicht wußte, wo ich gewesen war und was ich erlebt hatte, möglicherweise sogar naiv. Aber im Grunde war ich natürlich keins von beiden. Ich war nur betrunken, und nun wurde ich sogar wieder nüchtern, statt das heulende Elend zu kriegen. Gerardo war groß und dick und unter normalen Umständen wahrscheinlich doppelt so stark wie ich. Aber an diesem Tag herrschten keine normalen Umstände. Ich sah sein grinsendes Gesicht hinter dem braunen, schlierigen Bier, und es sah aus wie der Apache, der vor meinen Augen eine Frau und ein Kind mit dem Tomahawk erschlagen hatte. Ich nahm meinen Becher und warf ihn dem grinsenden
Gendarmen ins Gesicht. Ich mußte sehr heftig ausgeholt haben, denn der harte glasierte, immerhin fingerstarke Ton zerplatzte auf seiner Stirn wie ein hartgekochtes Ei. Gerardo brüllte wie ein Ochse, der in einem brennenden Stall eingesperrt ist, obwohl der Schmerz unmöglich so groß sein konnte. Und da ich das Gebrüll für eine schreckliche Übertreibung hielt, sorgte mein Gerechtigkeitsgefühl für einen Ausgleich. Ich nahm die Krüge, die Gerardo der Reihe nach geleert hatte, und warf sie dem Becher noch schneller hinterher, als der Gendarm sie vorhin ausgetrunken hatte. Und das hatte er ziemlich fix getan. Den Agavenschnaps und den Tequila hatte er bis zum letzten Tropfen herausgelutscht, aber beim Bier hatte er gemogelt. Offenbar hatte es ihm genausowenig geschmeckt wie mir. Jedenfalls mußte noch ein beträchtlicher Rest in der Kanne zurückgeblieben sein, sonst hätte ihm die Brühe nicht in den Hosenbund laufen können. Es schien ihm, äußerlich angewendet, ganz gut zu bekommen. Es kühlte ihn etwas ab und nahm ihm etwas von seinem strengen Geruch. Er klaubte sich die Scherben aus den Haaren und dem Bart und wischte sich das Bier aus den Augen. Ich glaubte schon, jetzt würde er sich wieder hinsetzen, für ein anderes Mädchen entscheiden und einen ruhigen Feierabend verbringen, den ich ihm sogar bezahlt hätte, als er nach einem seiner Stiefel griff, die neben ihm auf der Bank standen. Ich dachte, es sei sein gutes Recht, wenn er sich für die Tonkrüge damit bedankt, daß er mir seine Stiefel ins Gesicht wirft. Sie hatten ungefähr die gleiche Größe. Aber er warf nicht damit. Er holte ein großes, zweiseitig geschliffenes Messer aus dem Futter heraus. Die Mädchen stießen kleine spitze Schreie aus und kletterten über die Lehnen zu den Nachbartischen hinüber. Teresa rief mir noch warnend zu, ehe sie flüchtete: »Vorsicht, er ist ein Meister mit dem Messer! Er hat schon mal einen Freier damit abgestochen! Und werfen kann er auch damit!« »Du gottverdammter Gringo!« brüllte Gerardo. »Nur dein Tod kann diese Beleidigung wieder abwaschen!« Das waren sehr hochtrabende Worte, dachte ich, denn für das Bier hätte auch ein Handtuch genügt. Ich hätte es an seiner Stelle nicht so
verbissen gesehen. Aber dieser Gendarm war offenbar von seinem Beruf zu sehr überzeugt. Die Mädchen flüchteten bis zur Treppe und kletterten die schmale Holztreppe in den Oberstock hinauf, als liefe ein wildes Tier frei im Schankraum herum. Gerardo konnte offenbar mit seinem Messer ziemlich weit werfen. Meine Jacke lag ein gutes Stück von mir entfernt. Und der Alkohol, den Teresa mir eingeflößt hatte, trübte meinen Blick und meine Reflexe. Ich würde ihm weder mit meinem Revolver noch mit einem Messer gewachsen sein, überlegte ich. Und was die Muskeln betraf, war ich ihm ebenfalls unterlegen. Am liebsten wäre ich zu den Mädchen die Treppe hinausgeflüchtet. Aber er versperrte mit den Weg zur Treppe. Und ich hatte auch noch einen Rest von Stolz in mir. Er grinste siegesgewiß, während er die Schärfe seines Messers am Daumenballen prüfte. Offenbar sah er mich in Gedanken bereits in Einzelteile zerlegt vor sich. Er hätte nicht so grinsen dürfen. Er wurde dadurch den Apachen vom Halcon Canyon immer ähnlicher. Er sah meinen Bauch vor sich und holte mit dem Messer aus. Die Mädchen, die von der Galerie aus zuschauten, schrien auf. Sie sahen mich wohl schon aufgespießt wie ein Spanferkel. Doch als Gerardos rechter Arm nach vorn schoß, hob ich mit dem rechten Knie die Tischplatte an, und das Messer steckte im Holz statt in meinem Bauch. »Ah!« stöhnte Teresa oben auf der Galerie. Das war noch einmal glücklich für mich abgegangen. Gerardo hatte viel Kraft in diesen Stoß hineingelegt. Er mußte den rechten Socken gegen die Tischplatte stemmen, um die Klinge wieder aus dem Holz herausziehen zu können. So hatte er es auch mit Anna getan, als sie ihm die Stiefel ausziehen mußte. Die Erinnerung daran heizte meine Wut an und auch meinen Verstand. Ich konnte ihm nur so beikommen, dachte ich. Im Kopf war ich vielleicht ein bißchen schneller als er. Sein Gewehr lag vor mir, daß Anna vorhin unter den Tisch gelegt hatte. Ich nahm es an mich. Es war ein altes Modell, lang und schwer wie eine Brechstange. Ich wollte auch nicht damit schießen. Ich
schob es nur über den Tischrand und drohte ihm damit: »Verschwinde, oder ich drücke ab!« »Es ist nicht geladen!« rief er und lachte höhnisch. »Das glaube ich nicht!« rief ich schrill, als wäre seine Flinte meine letzte Rettung. Er rückte auf mich zu, das Messer stoßbereit in der Faust, den Arm angewinkelt neben dem Kopf. Ich duckte mich, beide Hände am Gewehrschaft, als wollte ich einen heranstürmenden Büffel mit einer Kugel bremsen. Dann rammte ich ihm den Lauf mit voller Wucht in das Zwerchfell. Offenbar war das Gerardos empfindlichste Stelle. Seine Bauchmuskeln gaben nach wie ein mit Daunen gefülltes Kissen. Ich dachte schon, ich würde ihm noch das Rückgrat zerbrechen, weil der Lauf bis zum Handschutz in der zottelbedeckten Fleischmasse verschwand. Endlich federte er wieder zurück, während Gerardo den Mund weit öffnete und den Agavenschnaps und Tequila wieder von sich gab, den er vorhin so hastig heruntergeschluckt hatte. Es war eine Menge Flüssigkeit, die ihm aus dem Mund lief – mindestens zwei Liter –, und ich fand das auch ganz in Ordnung, weil er mich vorhin nicht gefragt und auch nichts dafür bezahlt hatte. Solange ihm das Zeug aus dem Hals lief, drang keine frische Luft hinein, die er offenbar dringend benötigte. Er war so rot im Gesicht wie eine frischgekochte Languste, und seine Augen fielen ihm fast aus dem Kopf. Ich nutzte die Zeit, indem ich meine Jacke und seinen Patronengurt in Sicherheit brachte und damit zur Treppe eilte, die hinauf zu den Mädchen führte. Ein paar von ihnen kicherten jetzt, weil sie mich der unmittelbaren Lebensgefahr entronnen sahen. Eine – ich glaube, es war Carmelitta – rief sogar: »Brav, Amigo, brav – gib es diesem Ochsen, gib es ihm!« Das war nun leichter gesagt als getan. Aber offenbar setzten die Mädchen jetzt viel mehr Vertrauen in mich als vorher. Und Teresa hatte sogar leuchtende Augen, während sie beide Fäuste über das Geländer streckte, um mir zu zeigen, daß sie mir beide Daumen hielt. Ich wäre viel lieber zu ihr die Treppe hinaufgestiegen. Aber ich wollte sie nicht enttäuschen. Ich sah mich nur hastig in der
halbdunklen Schenke um und rief dann hilfeheischend zu den Mädchen hinauf: »Womit soll ich es ihm zeigen, Muchachas, womit?« Gerardo hatte sich von dem Stoß in seinen Magen noch nicht ganz erholt. Aber das konnte nicht mehr lange dauern. Er hatte jetzt das Gewehr und sein Messer, und ich hatte einen Colt ohne Patronen. Damit würde ich ihn kaum aufhalten können. Anna hatte eine steile Falte auf ihrer Stirn und einen nachdenklichen Zug um ihren harten Mund. Einen Moment verschwand sie oben vom Geländer. Ich hörte eine Tür klappen. Dann tauchte sie wieder zwischen Carmelitta und Josefa auf, sagte: »Da!« und war etwas zu mir hinunter. Das Ding war etwas zu klein für eine Waffe – wie etwa eine Derringer oder ein Taschenrevolver, den die Damen gern benutzten. Es war eine kleine Schachtel, die ich auffing, und als ich sie betrachtete, leuchteten meine Augen auf. Sie ist schon ein kluges Mädchen, diese Anna, dachte ich. Sie weiß ganz genau, was einem Gringo blüht, der in Mexiko einen Gendarmen erschießt. Der Strick wäre mir sicher gewesen. Gerardo hatte sich inzwischen mit Luft vollpumpen können. Ich hörte es an seiner wiedererstarkten Stimme. »Jetzt ist es aus mit dir, du lausiger Gringo!« brüllte er. Er ging jetzt mit dem Messer und dem Gewehr auf mich los, wie ich es erwartet hatte. Und wie er es von mir erwartet hatte, floh ich vor ihm. Zuerst auf die Tür zur Plaza zu, weil das der logische Ausweg für einen Feigling war, der sich nicht mehr einem Kampf stellen wollte. Er vertrat mir den Weg und ließ dabei seine Flinte über dem Kopf kreisen. Hätte er mich getroffen, hätte ich meinen Schädel zu den Tonscherben neben dem umgestürzten Tisch werfen können. Als Alternative kam noch die Treppe zur Galerie in Frage. Ich lief in diese Richtung zurück und beeilte mich nicht sehr damit. Deshalb war er schon vor mir dort, holte wieder mit seiner Flinte zum Rundschlag aus und schmetterte die Treppe aus ihrer Verankerung. Das war keine besondere Leistung. Die Treppe war nur eine bessere Leiter.
»Du entwischst mir nicht!« schrie er triumphierend. Ich habe es auch gar nicht vor, dachte ich, aber hütete mich natürlich, das laut zu sagen. Ich flüchtete jetzt in die einzig mir noch verbliebene Richtung – hinter die aufgebockten Bretter, auf denen die Fässer standen. Dort gab es weder eine Tür noch ein Fenster. Nur ein von Panik ergriffener Mensch konnte dort Schutz suchen, wo es ihn am wenigsten gab – in einer ausweglosen Sackgasse. Sein Triumph war vollkommen – aus diesem Winkel konnte ich nicht entrinnen. Es war die dunkelste Ecke der Schenke, und dorthin hatte ich mich von Anfang an flüchten wollen. Aber er sollte keinen Verdacht schöpfen, und deswegen hatte ich scheinbar erst einmal andere Möglichkeiten ausprobiert. »Es ist aus mit dir, Gringo, aus!« Er lachte dröhnend. Und er ließ sich Zeit. Offenbar war er ein Sadist. Ich öffnete hinter dem Bierfaß die Schachtel und streute ihren Inhalt auf den Boden. Ich warf ihn mit einer Hand so dicht und locker auf die Dielen, wie das ein Sämann tut, der mit einer Schürze voller Getreidekörner über den gepflückten Acker geht. Nur ging ich rückwärts, während ich säte, und etwas gebückter, damit es nicht so schepperte. »Es hat keinen Sinn, sich unter den Fässern zu verkriechen!« höhnte er. »Ich ziehe die Stützen unter den Brettern weg, und du bist so platt wie eine Briefmarke!« Meine Schachtel war leer. Ich steckte sie schnell in die Tasche, flüchtete bis an die Wand zurück, warf die Arme vor das Gesicht und schrie: »Nein, nein – ich ergebe mich, General!« »Dazu ist es jetzt zu spät!« antwortete der Gendarm und ging mit dem Messer auf mich los. Er gelangte auf demselben Weg hinter die Theke wie ich. Ich hatte mir kurz überlegt, was ich tun solle, wenn er über die Fässer kletterte. Dann wäre es Essig mit meinem kleinen Hinterhalt. Dann hätte ich mich nur noch mit dem Holzhammer wehren können, der auf dem Pulquefaß lag. Aber er wählte zu meinem Glück den bequemsten und sichersten Weg. Er stürmte sogar hinter die Theke mit mächtigen, kraftvollen
Sätzen, und das steigerte die Wirkung kolossal. Es waren anderthalb Zoll lange Reißnägel mit sehr breiten Köpfen. Und schon beim ersten Sprung hinter die Theke hatte er mindestens zwanzig oder dreißig davon in seinen Socken. Seinem Geheul nach zu schließen, mußten sie alle bis zum Kopf in seinen Fußsohlen stecken. Er versuchte, sich hastig wieder zurückzuziehen. Ich hatte die Dinger ziemlich breit ausgesät, und jetzt hatte er in jedem Socken mindestens vierzig oder fünfzig Reißnägel stecken. Mehr hatten wohl unter seinen Sohlen keinen Platz. Er hatte verhältnismäßig kleine Füße. Statt sich nun irgendwo hinzusetzen, hüpfte er in der Schenke herum, als würde er von einem Bienenschwarm verfolgt. Und da sich ein Mensch bekanntlich nicht sehr lange mit beiden Beinen zugleich in der Luft halten kann, hielt ich mir jedesmal die Ohren zu, wenn er auf den Dielen aufsetzte. Er war schließlich kein Fakir, sondern nur ein ganz gewöhnlicher Gendarm. Er brüllte so laut, daß es sogar den Mädchen oben auf der Galerie zu viel wurde. Er hatte sein Messer und sein Gewehr fortgeworfen, und statt auf dem Hosenboden zu einer Bank oder zur Tür zu rutschen, versuchte er immer wieder, mit den Sohlen aufzutreten, und gelangte so seinem Ziel keinen Zoll näher. Schließlich tat er mir sogar leid. Ich stieg über die Fässer, hob sein Gewehr vom Boden auf und ging auf ihn zu. Er wußte ganz genau, was ich vorhatte, aber er hielt sogar einen Moment still. Wahrscheinlich mußte ich ihm, obwohl ich nur ein gottverfluchter Gringo war, wie der Erlöser erschienen sein. Ich schlug nur so fest zu, daß er ohnmächtig auf die Dielen hinschlug. Dann stellte ich die Leiter wieder an die Galerie und rief zu den Mädchen hinauf: »Helft mir mal, die Nägel aus seinen Sohlen zu ziehen! Es sind so viele, daß ich allein die halbe Nacht dazu brauchen würde!« Sie halfen mir gern. Schließlich hatten sie noch andere Pläne mit mir, wozu die Nacht am besten geeignet ist. *
»Es war ein guter Einfall von dir, Anna«, sagte ich, als die Mädchen alle wieder die Treppe hinunterstiegen wie die Hühner beim Anbruch der Morgendämmerung. »Es wäre sehr peinlich für euch gewesen, wenn ich ihn mit meinem Colt umgelegt hätte.« Ich deutete auf meine Jacke auf dem Tequilafaß. Ich hatte meinen Patronengurt in das dünne Wildleder der Jacke eingerollt. »Aber es ist gar keine so gute Idee, ihm alle Nägel aus den Sohlen zu ziehen. Er blutet, als hätte ich ihn mit dem Messer angestochen.« »Wir wischen das schon auf«, sagte Anna mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Das hast du gut gemacht, Chico. Erst hast du so verloren und verzagt ausgesehen, und dann …« »Du warst wunderbar, Amigo«, flüsterte Teresa neben meinem Ohr. »Du hast mich vor diesem Ekel bewahrt. Dafür werde ich dich fürstlich belohnen, mein Schatz!« Und mit heißem Atem setzte sie hinzu: »Ganz umsonst, mein blonder Held!« Die kleine Auseinandersetzung mit dem Gendarmen hatte mich völlig ernüchtert. Der Alptraum von Halcon Canyon erwachte wieder in mir. Ich mußte ihn so rasch wie möglich verdrängen. Mit einem frischen Krug Tequila und Pulque. Nüchtern war dieser Zustand keinesfalls zu ertragen. Aber mein Gewissen sträubte sich dagegen, daß ich ihn in den Armen eines Mädchens vergessen sollte. Das hatte ich nicht verdient. Die Toten, die ich in ihr Verderben geführt hatte, blickten mich vorwurfsvoll an. Teresa drückte meinen Arm. »Was hast du denn, mein Schatz! Gefalle ich dir etwa nicht?« Sie war die Appetitlichste und Schönste von den Mädchen. Es wäre gelogen gewesen, wenn ich ja gesagt hätte. Statt dessen wich ich einer Antwort aus, die sie sowieso nicht verstanden hätte. Ich deutete auf den Gendarmen. »Wenn er wieder zu sich kommt, gibt es ein böses Erwachen für uns alle«, sagte ich. »Dann werde ich nicht umhin können, eine Waffe gegen ihn zu gebrauchen. Das müssen wir vermeiden. Wenn ihr mir sagt, wie ich nach Corrida gelange, lege ich ihn dort vor die Tür der Gendarmeriewache.« Anna blickte mich an. Ihre Augen waren gar nicht so hart, wie ich geglaubt hätte. »Teresa hat recht. Du hast eine Belohnung verdient.
Nimm ihn mit hinauf auf dein Zimmer, Teresa! Carmelitta wird euch noch etwas zum Essen und Trinken hinaufbringen! Um Gerardo werden sich zwei andere Hombres bemühen, mein Junge!« Sie blickte mich wohlwollend an, steckte zwei Finger in den Mund und stieß gellende Pfiffe aus. Es dauerte eine Weile, und dann tauchten zwei wenig Vertrauen erweckende Gestalten aus einem dunklen Gang oben auf der Galerie auf. Sie blickten vorsichtig über das Geländer, und der ältere der beiden Hombres fragte besorgt: »Ist der Gendarm wieder fort, Anna?« »Nein«, antwortete das dunkelhaarige Mädchen mit den scharfen Zügen. »Er ist nur ohne Besinnung.« »Ihr habt ihn niedergeschlagen?« fragte der jüngere der beiden Männer auf der Galerie stirnrunzelnd. »Er wird sich an euch rächen, Anna, und von nun an jeden Tag erscheinen! Dann ist das hier kein sicheres Versteck mehr für uns!« »Dieser Gringo hier hat es getan, Jose. Also könnt ihr ganz unbesorgt sein. Er ist morgen gewiß schon wieder über alle Berge, und dann ist unsere Taverne für euch so sicher wie Abrahams Schoß!« »Ein Gringo?« Der Ältere der beiden beugte sich über das Geländer, bis er mich neben den Fässern erkennen konnte. Er hatte ein dunkles, von Wind und Sonne gegerbtes Galgenvogelgesicht. Das Gesicht des Jüngeren neben ihm konnte nicht viel älter sein als meins, aber zu jung für einen Henkerstrick schien es auch nicht zu sein. »Ein Gringo?« wiederholte der Ältere mißtrauisch. »Das gefällt mir gar nicht. Was sucht er hier? Ist er etwa ein Spitzel für die Yankee-Polizei?« »Du bist ein Dummkopf, Antonio!« rief Anna zur Galerie hinauf. »Er hätte wohl kaum Gerardo mit dem Gewehr niedergeschlagen, wenn er für die Polizei arbeiten würde.« »Wie ein Schmuggler sieht er aber auch nicht aus«, meinte Jose, der Jüngere der beiden, und blickte mich argwöhnisch an. »Sieht aus, als wäre er irgendwo weggelaufen.« »Das ist er auch«, sagte Anna rasch, um die beiden dort oben zu
beruhigen. »Er ist ein Deserteur!« Sie ahnte wohl nicht, wie recht sie damit hatte. Antonios Galgenvogelgesicht hellte sich etwas auf. »Das ist eine Empfehlung, die ich gelten lasse«, brummte er. »Aber sie reißt mich noch nicht vom Stuhl.« »Er hat sein Pferd und seine Waffen mitgenommen.« Antonio nickte und sagte: »Gut. dann kommen wir runter. Ein Mann, dem der Strick so gut wie sicher ist, wird uns nicht verraten. Und wenn er auch nur ein Gringo ist.« Sie kletterten die Leiter in den Schankraum hinunter und beugten sich über den besinnungslosen Gendarm. »Dieser geile Bastard hat uns schon ein Vermögen gekostet«, sagte Antonio gereizt. »Am besten wäre es, wir machten ihn ganz kalt und verscharrten ihn irgendwo in der Wüste!« »Das geht nicht, Antonio«, widersprach ihm Anna energisch. »Er sagt immer auf dem Revier Bescheid, wo er hinreitet.« »Ihr sagt eben einfach, er wäre nie hier gewesen«, meinte der junge Jose. »Das ist zu riskant, Jose. Und sehr unklug. Dann schicken sie einen noch jüngeren Gendarmen hierher, der es noch besser in der Hose hat als Gerardo, und die Sache wird für euch in Zukunft noch teurer.« »Da ist was Wahres daran, Jose«, brummte der ältere Antonio mißmutig. »Diese Gendarmen wachsen ja leider immer wieder nach: Und geil sind sie auch alle, weil sie als Beamte eine ruhige Kugel schieben können. Also, was sollen wir mit ihm tun, wenn wir ihn nicht abmurksen dürfen?« »Zieht ihm die Stiefel wieder an, setzt ihn auf sein Pferd und reitet mit ihm so weit fort, daß er uns heute nacht nicht mehr stören kann.« »Hm – wir werden mit ihm ein Stück weit in die Wüste reiten und seinem Pferd dann eine von diesen Reißzwecken in den Hintern stecken«, meinte Jose grinsend. »Ich schätze, das wird ihn weit genug von hier fortbringen!« »Das ist gar kein so dummer Vorschlag, mein Junge«, stimmte der alte Antonio seinem Freund zu. »Da brauchen wir gar nicht so weit zu reiten und können hier auch noch ein bißchen feiern. Wir müssen
ihn nur ziemlich fest auf seinen Gaul binden.« »Und damit er nicht so rasch zurückkehrt«, sagte Jose, »werden wir ihm noch ein kleines Andenken mitgeben.« Er sammelte alle Reißzwecken wieder auf, die die Mädchen dem Gendarmen aus den Socken herausgezogen hatten, und warf sie in die Schaftstiefel des Gendarmen. Er kramte lange mit der Hand auf dem Boden der Schäfte herum. Ich vermutete, er sortierte sie sorgfältig, bis sie alle mit den Spitzen nach oben zeigten. Dann trug er die Stiefel vorsichtig zu der Bank, auf den die Mädchen den bewußtlosen Gerardo gelegt hatten. »Hilf mir mal, diesem Bastard die Stiefel wieder anzuziehen! Ganz vorsichtig, damit die Nägel nicht umkippen! Und die Schäfte nicht ganz bis zum Knie hinaufziehen! Er braucht noch ein bißchen Luft unter den Sohlen! Die Dinger sollen ihn nur kitzeln. Und wenn er dann aus dem Sattel springt …« Sie gönnten es ihm wohl sehr. Sie trugen ihn vorsichtig zur Tür hinaus, und ich hörte sie draußen laut lachen, als sie ihn im Sattel festbanden. »Jetzt sind wir beide endlich ungestört«, hauchte Teresa neben meinem Ohr und zog mich die Treppe zur Galerie hinauf. Und ich hatte keinen Vorwand mehr, mich dagegen sträuben zu können. Carmelitta trat kurz darauf mit einem Tablett in Teresas Zimmer. Ein Krug mit Tequila stand darauf, drei Becher und eine Schüssel mit scharfgewürzten Hammelnieren und frischgebackenen Tortillas. Ich hatte tatsächlich inzwischen etwas Appetit gekriegt. Jeder weiß ja selbst, daß Körper und Seele des Menschen oft getrennte Wege gehen oder unterschiedliche Bedürfnisse haben. Carmelitta hatte auch drei Teller mitgebracht. Und da Teresas Bett ziemlich breit war, blieb Carmelitta nach dem Essen auch noch zum Schlafen da. Ich mußte mich ein zweites Mal an diesem Abend betrunken haben, weil ich gar nicht merkte, daß ich mit zwei Mädchen in einem Bett lag. Carmelitta sah Teresa ziemlich ähnlich, und ich dachte wohl, ich sähe schon wieder alles doppelt. Ich wunderte mich nur, daß Teresa einfach nicht satt zu bekommen war.
* Als ich wieder aufwachte, mußte es bereits Nachmittag sein. Die Sonne hing fast schon wieder über demselben Hügel im Westen wie gestern. Gestern? Ich wollte aus dem Bett springen, als mir das Gestern wieder einfiel. Aber kaum hob ich den Kopf vom Kissen, als mir glühende Nadeln durch alle Gehirnzellen fuhren. Ich weiß nicht, wie viele graue Zellen der Mensch in seinem Schädel beherbergt. Ein paar Millionen oder sogar Milliarden. Nach dem Schmerz zu urteilen, den ich spürte, waren es eher ein paar Milliarden. Es war fürchterlich heiß, und ich lag schweißgebadet und nackt in einem großen Bett, das fast das ganze Zimmer ausfüllte. Das Fenster nach Westen hin zeigte mir ein paar hitzeflimmernde Hügel mit staubbedeckten Agaven und Mesquitebüschen. Ich wußte, daß gestern der einschneidendste Tag in meinem Leben gewesen war. Ein entscheidender Tag, wichtiger als jenes sehr weit in meiner Kindheit zurückliegende Datum, als die spanischen Padres mich in einem Prärieschoner gefunden und adoptiert hatten. Dieses Datum hatte ich nicht bewußt erlebt. Aber das Gestern war so übermächtig für mein Bewußtsein gewesen, daß es dabei fast zerbrochen wäre. Ich hatte einen schrecklichen Kater, und ich wußte, daß ich in meinem Leben noch nie so viel Alkohol getrunken hatte wie gestern – und noch nie solche Ausschweifungen erlebt hatte. Und noch nie so viele Grausamkeiten gegen hilflose, unschuldige Menschen. Und noch nie so versagt hatte in meinem Leben. Oder noch nie so hilflos gewesen war. Die Superlative häuften sich an diesem Tag. Ich wußte nur eins, was keine Steigerung mehr zuließ: Ich fühlte mich so elend wie nie zuvor in meinem Leben. Und noch etwas spürte ich: Ich war nicht mehr der gleiche Ronco wie gestern! Ich war gestern gestorben, und meine Wiedergeburt war keine reine Freude. Vage kehrten die Erlebnisse des gestrigen Abends in mein Gedächtnis zurück. Es waren belanglose Dinge gewesen, grotesk,
verzweifelt komisch. Und sie hatten mit einer Raserei geendet und mit Tränen spät in der Nacht. Teresa – sie hatte mich umarmt wie einen Mann, zu dem selbst sie aufschauen konnte, wie sie mir ins Ohr flüsterte, obwohl sie sonst keinen Respekt für Männer empfand, eher Haß oder Ekel. Ich wäre für sie so etwas wie ein Ideal ihrer Kindheitsträume, hatte sie mir gebeichtet – ein Mann, wie sie ihn sich als Ehemann erträumt hätte, wenn sie sich nicht an Männer verkauft hätte. Es war die Nacht der Ausgestoßenen und Verachteten gewesen, die sich gegenseitig getröstet hatten, dachte ich mit schmerzendem Kopf. Noch gehörte ich äußerlich nicht dazu, aber innerlich hatte ich mich bereits unter die Verbannten eingereiht. Ich ahnte schon die künftigen Ereignisse voraus. In den Zeiten der Krise sind die Menschen hellsichtig wie Götter. Deshalb wurde ich nicht verzagt oder verzweifelt. Die Welt war heute nur ein bißchen grimmiger, härter und düsterer geworden. Oder ich sah sie nur so, weil ich selbst härter, ernster und kritischer geworden war. Der Schmerz in meinem Schädel hätte mich vor zwei Tagen noch dazu veranlaßt, im Bett zu bleiben und Jicarilla zu bitten, mir einen Eimer mit kaltem Wasser und ein Handtuch zu bringen. Dann hätten wir ein paar Witze gerissen, während er mir kalte Kompressen auf die Stirn gelegt hätte. Jicarilla, der ohne Alkohol gar nicht mehr nüchtern sein konnte, hätte sich darüber amüsiert, daß ich nichts vertragen könne, und ich hätte ihn damit gehänselt, daß er ohne Alkohol zu nichts mehr zu gebrauchen wäre. Also würden wir uns eigentlich prächtig ergänzen. Der gute Jicarilla. Ich vermißte ihn jetzt sehr. Im Grunde gehörte er schon zu den Ausgestoßenen, solange ich ihn kannte. Es war schrecklich heiß in dem kleinen Zimmer. Die Wände bestanden aus mit rohem Lehm beworfenen Holzbrettern. Da war doch noch ein Mädchen neben mir im Bett gewesen, das sich jedesmal danach auf dem Rücken gewälzt hatte wie eine Katze, die nicht genug davon kriegen kann. Ich hatte einen schrecklichen Geschmack im Mund, als hätte ich Blei gegessen oder Putzlumpen. Ich richtete mich entschlossen auf –
obwohl mein Schädel so weh tat, als stecke ein Tomahawk darin. Wußte ich eigentlich, wie weh das wirklich tat? Ich hatte gestern im Halcon Canyon eine Frau mit einem Beil im Kopf … Nicht mehr daran denken! Du wirst nicht damit fertig, wenn du dir immer wieder dieselben Bilder in dein Gedächtnis zurückrufst! Die Mädchen waren nicht mehr da, Ich sah einen Kübel mit Wasser neben der Bettstatt auf dem Boden stehen. Es war sauberes Wasser. Ich steckte meinen Kopf hinein, obwohl ich glaubte, die Besinnung zu verlieren, als sich das Blut in meinem Schädel staute. Dann prüfte ich nach, ob ich bestohlen worden war. In meiner Geldtasche fehlten ein paar Dollar. Das mußte mir Teresa abgezogen haben, weil ich ein paar Tonkrüge am Kopf des Gendarmen zerbrochen hatte. Und ein paar Dollar hatte sie für das Essen und Trinken berechnet. Für die Liebe hatte sie sich nichts herausgenommen. Sie hatte es gern mit mir getan, aus Spaß an der Freud. Mein Gürtel hing über einem Bettpfosten. Mein Colt steckte im Holster. Meine Satteltaschen lagen unter dem Bett. Meine Jacke hatte ein paar Brandlöcher. Das mußten Andenken an den Halcon Canyon sein. Nicht daran denken! Ich zog mich so rasch an, wie es mein Brummschädel zuließ. Ich betrachtete mein Gesicht in einer Spiegelscherbe neben dem Fenster. Blonde Stoppeln wucherten in einem mit Brandblasen bedeckten Gesicht. Die blauen Augen über den scharf hervorspringenden Wangenknochen gehörten einem viel, viel älteren Mann. Ich bin erst zweiundzwanzig, dachte ich erschrocken. Der Mann, der mich im Spiegel kalt und skeptisch betrachtete, mußte mindestens dreißig Jahre alt sein. Ich schnallte den Gürtel um und prüfte meinen Patronenvorrat nach. Er mußte reichen bis zurück zur Grenze. Wenn ich keinen Apachen begegnete, würde er reichen. Ich hörte irgendwo Hufschläge. Sie klangen näher und hämmerten jetzt auf harten Fels. Diese Bodega mitten in der Wüste der Sierra del Burro, die Männer mit allem versorgte, was sie brauchten, gehörte nicht zu einem Pueblo. Es mußte sich um einen Schlupfwinkel oder
Stützpunkt für Schmuggler und flüchtige Verbrecher handeln. Was es wirklich war, ging mich nichts mehr an. Ich mußte zurück. Wohin? Zum Fort natürlich. Ich hatte einen Tag lang den Verstand verloren. Doch jetzt war ich wieder so kühl und nüchtern wie ein Kieselstein in einer Gebirgsquelle. Hinter mir ging die Tür auf, und ich schwang mich so rasch herum, daß mein Gehirn wieder aus tausend glühenden Nadeln zu bestehen schien. »Ausgeschlafen, Gringo?« fragte mich eine kühle, harte Stimme, bis ich sie erkannte. Es war Anna, die »Chefin« der Mädchen. Sie trug ein schmuckloses, ungefärbtes Leinenkleid, oben offen, daß ich ihre schweißglänzenden Brüste sehen konnte. Sie war barfuß und trug ein paar Halme Stroh und Stallgeruch in die Kammer. Sie blickte mich an, als hätten wir nie zusammen an einem Tisch gesessen. »Ich würde an deiner Stelle so rasch wie möglich von hier verschwinden«, sagte sie mit ihrer rauhen, harten Stimme. »Gestern hast du gastfreundlicher mit mir geredet«, erwiderte ich ein wenig gekränkt. »Das war gestern, Gringo. Heute ist ein anderer Tag.« »Nicht weniger heiß.« Ich deutete mit der Hand zum Fenster hinaus. »Genauso klar und wolkenlos. Hast du dir eine größere Zeche von mir versprochen? Oder hast du nur schlechte Laune, daß du so mit mir sprichst, als wäre ich ein Fremder?« »Ich habe dir gestern geholfen, Gringo, weil du halbtot vom Pferd gefallen bist. Und weil du nicht so aussahst, als wärst du irgendwo vor dem Galgen weggelaufen.« »Das bin ich auch nicht.« »Gerardo ist zurückgekehrt. Mit einer halben Kompanie Rurales.« »Dann kann ich dich verstehen, Anna. Das Hemd ist dir näher als der Rock.« »Das ist es nicht, Gringo. Wir führen hier einen ständigen Krieg mit den Gendarmen, weil wir an den Männern verdienen, die sie jagen. Aber dich haben wir hier aufgenommen, weil du meinen Mädchen gefallen hast. Sie wollten eine Abwechslung haben, einen
Mann, der nicht so ist wie die anderen, mit denen sie sonst schlafen.« »Hat Teresa sich über mich beschwert?« fragte ich zynisch. »Sie ist maßlos enttäuscht.« »Warum?« fragte ich, noch gekränkter als vorher. »Gerardo ist mit einer Patrouille der Gringos in der Nähe des Rio Grande zusammengestoßen. Sie hat ihn von seinen Stricken und den Nägeln, in seinen Schaftstiefeln befreit.« Sie sagte das jetzt ganz nüchtern, ohne einen Funken Humor. »Die Yankees erzählten ihm, das sie einen blonden Gringo suchen, der einen Treck mit zweihundert Frauen und Kindern in ein Fort in Sicherheit bringen sollte. Statt sie in das Fort zu bringen, hat er den Treck in einen Hinterhalt der Apachen geführt.« »Und deswegen ist er jetzt hier?« fragte ich. »Natürlich. Die Beschreibung der Yankees paßte auf dich, Gringo!« »Er will sich nur wegen der Sache heute nacht rächen«, sagte ich erbittert. Ich wußte es besser. »Wenn es um Apachen und Verrat an die Rothäute geht, werden sogar Gringos und Mexikaner Freunde. Und Teresa sagte mir, du hättest im Schlaf ziemlich wirres Zeug geredet. Eben von Apachen und überfallenen Frauen und Kindern. Deswegen packst du sofort deine Sachen und verschwindest. Und ich kriege noch zwanzig Dollar für die Unterkunft und andere Dienstleistungen.« »Du sagtest, es wäre alles umsonst!« »Das sagte ich gestern. Heute spreche ich anders.« »Du glaubst, was dieser Gendarm behauptet?« »Wenn du mich noch so weit bringst, daß ich alles glaube, was er über dich sagt, Gringo, würdest du nicht mehr lebend dieses Haus verlassen«, sagte sie erregt. »Die Rurales suchen schon im Stall nach dir. Durch die Tür kommst du sowieso nicht mehr hinaus. Du mußt dir einen anderen Weg suchen. Mehr kann ich nicht für dich tun«, sagte sie hart und streckte fordernd die Hand aus. »Die zwanzig Dollar, Gringo!« Ich holte sie aus meiner Ledertasche und warf sie auf das zerwühlte Bett. »Du hast keine Veranlassung, empfindlich oder beleidigt zu sein,
Gringo«, sagte Anna, während sie das Geld einsammelte. »Wenn es nach mir ginge, müßtest du durch die Wüste laufen!« »Das sagt mir genug«, erwiderte ich böse. Ich spannte meinen Colt und steckte ihn schußbereit ins Holster zurück. »Trotzdem bedanke ich mich für die gastliche Aufnahme. Vielleicht hast du gestern nicht bemerkt, daß ich lieber in der Wüste verschmachtet wäre, als mit einem deiner Mädchen zu schlafen. Doch das war gestern. Und heute ist ein anderer Tag.« Sie blieb an der Tür noch einmal stehen und blickte mich mit kalter Neugierde an. »Warum?« fragte sie. »Wenn du den Treck verraten hast, tatest du das doch nur für Geld. Und weswegen sind Männer so scharf auf das Geld? Damit sie sich Weiber kaufen können und andere Dinge, die ihre Eitelkeit und Lust befriedigen!« »Ich würde meine Dollar an deiner Stelle nicht annehmen, Anna«, sagte ich so schroff wie sie, »wenn du glaubst, sie stammen aus einem Judaslohn.« »Apachen pflegen in Nuggets zu bezahlen, und das Gold ist zu schwer dazu, um es in einer Satteltasche mit sich herumzuschleppen, Gringo.« »Ich war bei dem Treck, Anna, aber ich habe ihn nicht verraten.« »Warum bist du dann über den Rio Grande geflüchtet, he?« »Weil ich die Schreie der Frauen und Kinder nicht ertragen konnte«, erwiderte ich gequält. »Sie haben dich bis hierher verfolgt?« »Sie tun es immer noch.« Sie trat noch einmal auf mich zu. »Weißt du, was ich getan hätte, wenn ich ein Mann wäre und an diesem Treck teilgenommen hätte?« Ich fragte sie nicht, sondern wandte mich von ihr ab. »Ich wäre gestorben wie ein Mann«, sagte sie verächtlich. Dann hatte sie schon das Zimmer verlassen, und ich hörte nur noch die Tür zufallen. * Die Vergangenheit hatte mich rascher eingeholt, als ich erwartet
hätte. Oder sollte ich lieber sagen – mein Vorleben, mein gestorbenes Ich? Ich hörte unten ein scharfen Wortwechsel zwischen ein paar Männern und den Mädchen. Sie würden das ganze Haus nach mir durchsuchen. Ich mußte sofort die Bodega verlassen. Aber wie? Ich warf meine beiden Satteltaschen über die Schultern und trat an das schmale Fenster. Wenn der Boden an der Rückseite des Hauses nicht gerade aus purem Fels bestand, konnte ich es riskieren, aus dem Fenster zu springen. Ich mußte gar nichts riskieren, stellte ich fest. Ich konnte sogar bequem aus dem Fenster klettern, weil keine zwei Yards unter mir ein Schuppen mit seinem Dach gegen die Hauswand stieß. Und dann, ungefähr zehn Yards von meinem Fenster entfernt, bemerkte ich einen gedrungenen Giebel, der im rechten Winkel an den Schuppen grenzte. Der mußte zum Stall gehören, denn dahinter sah ich die windschiefen Pfähle und Querstangen eines Korrals. Harte Männerschritte hallten durch das Haus. Es war höchste Zeit, daß ich es verließ. Ich zwängte mich durch das enge Fensterviereck und sprang auf das Schuppendach hinunter. Hinter dem Anwesen, das früher offenbar ein Rancho gewesen war, ragte ein Hügel mit kahlen, spitzen Felsen in die niedrigstehende Sonne. Er warf einen langen blauen Schatten auf das Schuppendach. Ich lief geduckt in den Schatten und erreichte unbemerkt den Stallgiebel. Ich beugte mich ein wenig vor und konnte jetzt den Hof des Anwesens überblicken, den ich gestern für die plaza eines Dorfes gehalten hatte. Ich entdeckte ein gutes Dutzend Pferde am Trog, wo ich gestern meinen Wallach getränkt hatte – oder er sich selbst, nachdem er mich aus dem Sattel geschüttelt hatte. Ein Milizsoldat hielt mit geschultertem Gewehr bei den Pferden Wache. Zu meinem Glück hatte er nur Augen für die Mädchen, die im Halbkreis vor ihm standen, sonst wäre ich mit meiner Flucht nur bis zum Stallgebiet gelangt. Die Mädchen schienen offenbar von dem Besuch der Rurales auf
ihrem Anwesen überrascht worden zu sein. Sie trugen heute keine bunten Röcke und weite Blusen, sondern Kleider, Schürzen oder Kittel, die nicht sehr verführerisch wirkten. Sie mußten heute ihren freien Tag haben, dachte ich, oder ihren Hausarbeitstag. Unter mir knarrte eine Tür in den Angeln. Zwei Milizsoldaten verließen den Stall und schoben sich in die grelle Sonne des Hofes. Sie schienen sich so langsam wie Schnecken zu bewegen. Sie hatten einen dicken, schweren Mann zwischen sich, der die Arme um ihre Schultern geschlungen hatte. Der dicke Mann trug die Uniform eines Gendarmen. Es war Gerardo, der sich auf zwei Milizsoldaten stützte und in seinen Stiefeln so sacht auftrat, als hätte er rohe Eier als Einlegesohlen. Seine Stimme hatte unter den Reißnägeln nicht gelitten. Im Gegenteil – sie war noch etwas kräftiger geworden. Sie hallte donnernd vom Stallgiebel wider: »Ihr verdammten Hurentöchter – wo habt ihr den Gringo versteckt?« Die Mädchen drehten sich zu ihm um. Es waren nur ein paar von den Mädchen, die gestern mit mir am Tisch zusammengesessen hatten. Maria, Luisa, Josefa und Carmelitta. Anna und Teresa waren nicht darunter. Carmelitta sagte: »Wir sagten dir doch schon, daß er bereits wieder fortgeritten ist, Gerardo!« Gerardo brüllte zurück: »Du lügst, wenn du nur den Mund auftust, du verdammte Puta!« »Er hat dich heute nacht in die Wüste begleitet, Gerardo. Und seitdem haben wir ihn nicht mehr gesehen!« Ich mußte also doch ein wenig Eindruck auf Carmelitta gemacht haben, dachte ich, weil sie meinetwegen log. »Auf diese Geschichte kommen wir später noch zurück!« rief der Gendarm mit seiner Donnerstimme. »Nach Feierabend!« Man sah, daß den Mädchen der Feierabend jetzt schon verleidet war. Josefa, ein etwas pummeliges, energisches Mädchen, stemmte die Arme in die Hüften und rief: »Wenn du uns von der Arbeit abhältst, gibt es heute keinen Feierabend, Gerardo! Und glaubst du wirklich, wir würden einen Gringo vor dir verstecken, der Frauen und Kinder
den Apachen ans Messer liefert?« »Für Geld tut ihr doch alles!« höhnte der Gendarm. »Wir haben auch unseren Stolz, Gerardo!« rief Carmelitta beleidigt. »Oder meinst du, sein Pferd wäre allein weggelaufen und hätte den Gringo hiergelassen?« Sie haben mein Pferd versteckt, dachte ich überrascht. Oder sie hatten es im letzten Augenblick, ehe die Rurales den Stall durchsuchten, ins Freie bringen können und laufenlassen. Ich wunderte mich nur, warum sie das getan hatten. Anna hatte doch zu mir gesagt, sie hielten mich für einen Verräter! Da sah ich eine Bewegung auf der vom Hof abgewandten Seite des Stalls. Ein Pferdekopf ragte aus den silbergrauen Blättern der Mesquitebüsche am Hang heraus. Und ein Mädchen bemühte sich hastig, den Kopf mit dem Zügel wieder in die Deckung herunterzuziehen. Teresa hatte mein Pferd aus dem Stall geführt! Ich ließ mich vom Schuppendach hinuntergleiten und lief auf die Büsche am Hang zu. * Sie weinte und schüttelte meine Hand von ihrem Arm ab. »Es ist nicht wahr, was sie von mir erzählen!« »Sie wußten sogar den Namen, den du mir heute nacht verraten hast!« schluchzte Teresa. »Warum hast du dann mein Pferd vor den Rurales versteckt?« fragte ich. »Anna sagte, es wäre besser, dein Pferd aus dem Stall zu jagen als eine halbe Kompanie Rurales bei uns aufzunehmen. Sie hätten dich nur zum Vorwand genommen, um sich bei uns kostenlos einzuquartieren. So bleibt uns das wenigstens erspart! Sie müssen weitersuchen, und wir sind sie alle los.« »So ist das also«, sagte ich lahm. »Und ich hatte geglaubt, du hättest es aus Zuneigung zu mir getan!« Sie deutete mit abgewandten Gesicht in die Wüste hinaus. »Du
reitest in diese Richtung, Ronco«, sagte sie verbittert. »Nimm die Sonne als Wegweiser. Folge dem Kamm der niedrigen Hügel, die hier wie eine erstarrte Welle aus dem Wüstensand ragen. Der Schutt nimmt keine Spuren an. So fällst du den Rurales nicht so schnell in die Hände. Beeile dich!« »Du willst mich so rasch loswerden wie Anna«, sagte ich verstimmt. »Ich will nicht, daß sie dich in der Nähe unseres Hauses einfangen und wieder hierher zurückbringen.« »Und wo endet dieser Hügelkamm?« fragte ich. »In einer Falle, die über mir zuschnappen soll? Oder an einem Abgrund, wo ich mir den Hals breche, weil es zu dunkel ist, um ihn rechtzeitig erkennen zu können?« »Er endet in einem kleinen Bergkessel, Colina del Oro genannt, weil dort die Spanier einmal nach Gold gegraben haben. Es sind noch alte Stollen dort mit Sickerwasser. Du wirst also nicht verdursten müssen. Und zu essen hast du ja noch reichlich.« Sie deutete auf meine Satteltaschen, die ich gerade an der Pausche befestigte. »Ich dachte, du solltest mein Pferd nur in die Wüste hinausjagen, Teresa! Warum hast du es auch noch gesattelt!« »Damit es glaubhafter aussieht. Ich meine …« Sie begann wieder zu schluchzen. »Gestern hast du mich für einen Deserteur gehalten, heute hältst du mich für einen Judas. Ich bin keins von beiden, Teresa. Wahrscheinlich werden wir uns im Leben nie mehr wiedersehen. Doch eins sollst du wissen! Du hast einem Mann, der gestern aus Verzweiflung sterben wollte, getröstet und zurückgeholfen ins Leben. Aber ich war nicht verzweifelt, weil ich jemanden verraten habe, sondern weil ich Frauen und Kinder nicht vor den Folgen eines Verrats retten konnte. Ich weiß nur nicht, wer es getan hat. Und es wird von nun an meine Aufgabe sein, diesen Verräter zu suchen!« Ich spürte, daß ich keinen Trost für sie aussprechen wollte, sondern die Bestimmung, die das Schicksal mir auferlegte, weil ich dem Massaker im Halcon Canyon als einziger lebend entronnen war. Teresa blickte mich wieder an. »Du hast die Frauen und Kinder
nicht verraten?« »Nein.« »Aber du fühlst dich schuldig?« »Ja.« »Dann glaube ich dir«, sagte sie leise. »Ich habe heute nacht gespürt, daß du verzweifelt bist. So verzweifelt wie ich, als ich als kleines Mädchen an ein Bordell in Juarez verkauft wurde. Auch ich hatte damals nicht den Mut, mich umzubringen.« »Das ist etwas, was wir nicht tun sollten, Teresa.« »Mag sein, Amigo«, sagte sie leise. »Heute nacht habe ich dich zuerst als Mann in meinen Armen gehalten. Und dann, als du eingeschlafen warst, wie ein Kind. Beides habe ich geliebt. Ich bin nur eine Hure, aber meine Gefühle sind so sauber und sicher wie bei jeder Frau, die sich nach Liebe sehnt. Ich habe mich also nicht getäuscht. Ich wünsche dir Glück. Ich spüre, daß du sehr viel Glück brauchen wirst!« Sie umarmte mich und gab mir einen Kuß. Sie mußte eine hellseherische Begabung haben, denn als ich ihren Kuß erwiderte und den Kopf hob, sah ich auf dem Schuppendach einen Milizsoldaten der zu mir hinüberstarrte. Er hob das Gewehr. Aber als Teresa neben mir aufschrie, zielte er in die Luft und gab einen Alarmschuß ab. * Ich floh in die Richtung, die Teresa mir gezeigt hatte. Die Rurales verfolgten mich wie ein Rudel Wölfe – nicht sehr sinn- und planvoll, sondern besessen davon, die Beute so rasch wie möglich einzuholen und zu schlagen. Gerardo war nicht bei dem Rudel der Verfolger. Er mußte den Milizsoldaten schreckliche Dinge über mich erzählt haben, weil sie mich so gnadenlos hetzten. Ich hatte einen Beamten in Uniform niedergeschlagen, und das war in Mexiko schon fast so schlimm wie ein Mord. Und angeblich hatte ich Kinder und Frauen an die Apachen verraten, und das war in ihren Augen ein Verbrechen, das mich zu einem Tier degradierte. Sie waren mit Gewehren bewaffnet, und ich hatte nur einen Colt.
Ich ritt in die tiefstehende Sonne und bildete ein vorzügliches Ziel. Aber sie hielten ihre Pferde nicht an, um mich aus dem Sattel zu schießen. Vielleicht glaubten sie, eine Kugel wäre ein zu schöner Tod für mich. Sie wollten mich unbedingt einholen, um mir ihre Messer in den Rücken stoßen zu können. Aber so dicht ließ ich sie nicht an mich heran. Mein Pferd hatte sich in der Nacht von den Strapazen der letzten Tage gut erholt. Ich ließ ihm die Zügel frei, denn der Boden, über den ich ritt, war tückisch. Ich spürte, wie das Geröll unter den Hufen des Wallachs federte und rutschte, obwohl der Wind es mit Sand ausgefüllt hatte, daß es eben und glatt aussah wie solider Fels. Ich merkte, wie er ab und zu im Galopp langsamer wurde und einen kleinen Bogen schlug. Und an manchen Stellen setzte er sogar zu einem kurzen Sprung an, wo ich gar kein Hindernis sah. Er war ein so guter Scout wie ich, wenn man den Instinkt eines Pferdes mit dem Verstand eines Menschen gleichsetzen kann. Er erkannte die Fallen und Vorzüge eines Geländes viel besser als ich, wenn ich ihm meinen Willen nicht aufzwang. Und wir waren schon so lange zusammen und wußten, daß wir uns in kritischen Situationen blind aufeinander verlassen konnten, wenn jeder seine besondere Stärke ausspielte. Die Rurales, die in einem lockeren Rudel hinter mir her jagten, gaben ihren Pferden die Sporen und Zügel zu spüren, als sie sahen, daß mein Wallach langsamer wurde. Das Pferd des Soldaten, das am dichtesten aufgeschlossen hatte, bockte plötzlich. Ich hörte einen lauten Fluch und dann ein berstendes, polterndes Geräusch. Ich drehte mich kurz im Sattel um. Der Milizsoldat hatte es besser wissen wollen als sein Pferd. Jetzt überschlug er sich im roten Sand, während sein Pferd mit zuckenden Flanken in einem Erdloch steckte. Einer von den Rurales hielt neben dem Pferd an, das sich die Vorderbeine gebrochen haben mußte. Die anderen hetzten weiter hinter mir her. Es waren noch zehn. Mein Wallach schlug wieder einen kleinen Haken. Er galoppierte den Abhang hinauf, an dem wir bis jetzt auf halber Höhe entlanggeritten waren, setzte über ein niedriges Mesquitegestrüpp und tauchte in eine flache Senke ein. Es war eine flache trockene
Rinne, die auf eine kahle Bergkuppe zuführte, wahrscheinlich ein kleines Flußbett, das sich im Winter für kurze Zeit mit reißenden Wasserfluten auffüllte. Hier schien es keine verborgenen Löcher mehr im Boden zu geben, denn der Wallach bewegte sich auf dem lockeren Kies so sicher und zielstrebig wie auf einer OverlandStraße. Das behagte mir nicht so sehr. Nach dem Sturz einer ihrer Companeros hatten die Rurales ihren Verstand wieder eingeschaltet und ritten genau auf der Fährte meines Wallachs, der ihnen den besten Weg durch das tückische Gelände zeigte. Ich hörte das Knirschen und Poltern der Kiesel hinter mir, als sie alle an derselben Stelle über die Büsche setzten und in das flache Arroyo eintauchten. Wenn sie bessere und ausgeruhtere Pferde ritten als ich, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie mich eingeholt hatten. Und falls einer von ihnen auch noch erkannte, daß ich in dieser flachen Rinne mit einem Gewehr so leicht zu verwunden war wie ein Fisch, der an einem Haken hängt, würde ich den wahren Verräter des Frauen- und Kindertrecks wohl nie mehr finden und als einer der schlimmsten Schurken in die Annalen eingehen, die Amerika in seiner kurzen Geschichte hervorgebracht hat. Selbst mit verbundenen Augen konnte man kaum danebenschießen. Die Wände des Arroyos würden die Kugel so ablenken, daß sie mich als Querschläger aus dem Sattel holten oder den Wallach unter mir töteten. Wenn sie jetzt anhielten und eine ganze Salve auf mich abgaben … Ich versuchte nicht, den Wallach aus dem Arroyo herauszulenken. Es war mir gleichgültig, was jetzt mit mir geschah. Ich überließ es dem Zufall oder dem, was wir Vorsehung nennen. Ich hatte mir eine Woche lang überlegt, welche Route ich wählen sollte, um zweihundert Frauen und Kinder ungefährdet aus dem Gebiet der aufständischen Apachen herauszubringen. Alle meine Überlegungen hatten nichts genutzt. Die sicherste Route war der Weg in den Tod für alle meine Schützlinge gewesen. Vielleicht war jetzt der gefährlichste Weg der sicherste für mich. Ich hatte immer an die Vernunft geglaubt, die unser Leben beherrscht. Ich war grausam widerlegt worden. Die Verrückten kommen auf dieser Welt oft weiter als die Vernünftigen.
Die kahle Bergkuppe, auf die das Arroyo fast pfeilgerade zulief, wurde rasch größer und schien die späte Nachmittagssonne vor mir zu verschlucken. Ein langer Schatten nahm mich auf und breitete einen schützenden Mantel um mich aus. Ich bot jetzt kein gutes Ziel mehr für meine Verfolger. Aber sie holten auf. Ihre Pferde waren sicher nicht besser als mein Brauner. Aber sie schonten ihre Tiere nicht. Ich hörte das schnaubende Stöhnen ihrer Pferde, das scharfe Keuchen, wenn ein Reiter das Letzte aus seinem Tier herausholt. Auch mein Wallach schlug jetzt eine noch schärfere Gangart an. Er spürte, daß ich mich gehen ließ. Er hatte mich gestern gegen meinen Willen aus einer tödlichen Gefahr gerettet. Er fühlte, daß mein Selbstbehauptungstrieb noch nicht so stark war wie früher. Also übernahm er wieder das Kommando und zwang mir seinen Willen auf. Er lief ihnen wieder ein Stück davon. Die Böschung neben mir wurde zu einer unersteigbaren Mauer und war bald so hoch wie ein Turm. Aus einer flachen Rinne war eine Schlucht geworden. Jetzt gab es kein Ausweichen mehr nach links oder rechts, nur noch ein Wettrennen geradeaus. Ich ließ den Braunen laufen. Das sah mir ganz nach einer Sackgasse aus. Aber er mußte es ja wissen. Er führte das Kommando. Die Hufschläge hallten zwischen den Schluchtwänden wider, als würde ich von einem ganzen Regiment Kavallerie verfolgt. Das Echo fand keinen Ausweg aus den Felswänden und kehrte aus der Richtung zurück, in die wir galoppierten. Ich lächelte müde. Teresa hatte mich in eine Falle geschickt, wenn dieser Berg über mir der Colina del Oro war. Die Schlucht verengte sich vor mir, wand sich in einer doppelten Krümmung durch den roten, heißen Fels und endete in einem Kessel. Mein Wallach stutzte, bremste sich zu einem leichten Trab ab und blieb schnaufend vor einer Geröllhalde stehen. »Es ist nicht meine Schuld, Amigo«, sagte ich mit leisem Spott zu meinem Braunen. »Sie müssen es gewußt haben. Daher haben sie nicht auf mich geschossen. Das werden sie jetzt um so gründlicher
nachholen.« Ich zog den Colt aus dem Halfter und zielte auf die Stelle, wo sich die Schlucht durch ein enges Felsentor in den Kessel zwängte. Sie würden hintereinander in den Kessel reiten müssen, wenn sie mich fangen wollten. Und das konnte für sie ein kostspieliges Abenteuer werden. Ich zielte in den Schatten und nahm mir einen Knick im Felsen als Anhaltspunkt. In dieser Höhe mußte die Brust des Reiters liegen, der als erster nach mir in den Kessel einbog. Ob ich wirklich abdrücken wollte, wußte ich noch nicht. Ich war ziemlich sicher, daß ich es nicht tun würde. »Sie werden dir nichts tun, mein Junge«, sagte ich zu meinem Wallach, während ich auf den ersten Verfolger wartete. »Pferde sind manchmal kostbarer als Menschen. Sie haben schon einen Gaul verloren. Sie brauchen dich, also werden sie dich schonen.« Ich hörte das Klicken meines Hammers über dem Visier, während die Hufschläge in der Schlucht zu einem Donnern anschwollen. Es klang irgendwie unwirklich, zu heftig oder zu laut. Ich wurde von Reitern verfolgt, nicht von einer Kanone. Und der Boden konnte auch nicht so heftig schwanken, daß das Korn vor meinen Augen zu tanzen begann. Der Kater, der mir noch immer in den Gliedern steckte, mußte daran schuld sein, daß es in meinen Ohren so laut dröhnte wie in meinem Schädel. Aber der Staub, der in einer dichten Wolke hinter dem Felsknick aufstieg und sich in der schrägen Sonnenbahn über der Schluchtwand in Gold zu verwandeln schien, konnte keine Einbildung sein. Und dann trieb die Staubwolke auch um den Felsen herum und verstopfte mir die Nasenlöcher, so daß ich husten mußte. Eine Steinlawine mußte vom Berg heruntergerutscht und in die Schlucht gerollt sein! Ich senkte den Colt, hielt ihn unschlüssig in der Hand und schob ihn dann in das Holster zurück. Immer noch quoll der Staub in dunklen Wolken aus der Schlucht in den Kessel, in dem ich gestrandet war. Aber kein Reiter in grüner Uniform tauchte in der Staubwolke auf. Lawinen kündigen sich schon einige Zeit vorher an. Lawinen
entstehen an steilen Geröllhangen, und der Berg über mir war glatt und kahl wie ein Kinderpopo! Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Ich war ein unverbesserlicher Esel. Ich dachte an Verschüttete und Verletzte statt an mich. Ich durfte nicht wieder so versagen wie im Halcon Canyon. Ich war so verrückt und ritt wieder auf das dunkle, staubwolkenverhüllte Tor zwischen den Schluchtwänden zu! Da hörte ich mexikanische Flüche und Hufgetrappel, das sich auf der Stelle zu bewegen schien. Und vor mir war der enge Schlauch des Canyons bis zum letzten Knick vor der Biegung mit Steinen ausgefüllt. »Ich habe nur die Tür zu meiner Wohnung geschlossen!« rief eine Stimme über mir auf englisch. »Ich denke, es wird Ihnen recht sein, daß ich sie Ihren Verfolgern vor der Nase zugeschlagen habe, Mister Ronco!« Ich erschrak so sehr, daß ich meinen Wallach herumriß und in den Kessel zurückgaloppierte. Ich muß an Halluzinationen leiden oder am Delirium tremens, dachte ich. Ich war dreißig oder vierzig Meilen von der Grenze entfernt mitten in der Wildnis, und der Berg über mir redete mich mit meinem Namen an! »Sie sind doch der Scout aus Fort Calhoun?« fragte die Stimme. Das klang schon etwas weniger verrückt und unheimlich. Das war eine Frage, die ich mir bestimmt nicht stellen würde, wenn ich phantasierte oder schlecht träumte. Ich hielt meinen Wallach an und wagte, mich umzusehen. »Sie dürfen nicht erschrecken, Mister Ronco, wenn Sie mich …« Es war bereits zu spät für die Warnung. Ich schlug mit der linken Hand ein Kreuz, während ich mit der rechten Hand meinen Colt wieder aus dem Leder zog, um mich doppelt vor dieser unheimlichen Gestalt zu schützen, die über mir aus dem Felsen herauswuchs. Das Wesen sah aus wie ein Mann. Aber es hatte kein Gesicht. * »Ich sagte doch, Sie sollen nicht erschrecken!« rief die Gestalt über mir vorwurfsvoll. »Ihr Pferd scheint vernünftiger zu sein als Sie!«
Ich sah, daß er nur redete, statt den Colt zu ziehen, den er am Gürtel trug wie ich. Es war sogar das gleiche Modell, und wer hätte schon einmal davon gehört, daß sich Geister von der amerikanischen Kavallerie mit Waffen ausrüsten lassen! Ich betrachtete die Gestalt mit etwas mehr Zutrauen als zuvor. Vielleicht war er nur ein Deserteur aus Fort Calhoun wie ich, weil er meinen Namen kannte. Doch in der Zeit, seit ich im Fort als Scout tätig war, hatte sich niemand unerlaubt von der Truppe entfernt. Der Steinstaub wehte noch über die dunkle Felswand. Er schien an der steilen Wand zu kleben – schwarz und düster, als wäre er gerade aus der Hölle heraufgestiegen. Nur sein Gesicht war ein Nichts. Ein weißer Fleck zwischen Kragen und Hut! Es war wahrhaftig keine angenehme Erscheinung, und für einen Mann mit überreizten Nerven wie mich war er ein Schock. Ich überwand ihn. »Haben Sie die Steine in die Schlucht gewälzt?« »Ihnen zuliebe, mein Freund!« »Und wie viele Tote mir zuliebe?« »Gar keinen. Soviel ich sah, hat sich einer der Rurales den Arm gebrochen. Die anderen haben nur Beulen im Kopf und ein paar Risse und Löcher in den Uniformen. Nicht der Rede wert!« »Wenn sie das hören, werden sie Ihnen an den Kragen gehen, sobald sie sich von ihrem Schrecken erholt haben!« »Sie können mich nicht hören, weil sie jenseits der Barrikade in der engen Schlucht stecken. Sie werden glauben, die Steine haben Sie lebendig begraben, und das wird sie freuen. Sie werden wieder umkehren und falsche Gerüchte in die Welt setzen. Mich haben sie gar nicht gesehen.« »Dann sind Sie ja so etwas wie ein Schutzengel für mich!« rief ich zu ihm hinauf. »Obwohl Sie eher aussehen wie – hm …« Er konnte sogar lachen mit diesem Gesicht, das keins war: »Sie dürfen gern ehrlich mit mir sein, Mister Ronco. Ich sehe eher aus wie ein böses Gespenst. Und wenn Sie sich von Ihrem Schrecken erholt haben, steige ich zu Ihnen hinunter!« »Ich sehe nicht, wie Sie das schaffen wollen. Die Wand ist ziemlich steil!« »Sie ist hohl wie ein Schweizer Käse!«
»Bergwerksstollen?« »Wie ich höre, wissen Sie Bescheid!« »Nicht weit von hier hat sich eine kleine Kolonie von Mädchen angesiedelt. Eins davon schickte mich hierher und redete etwas von einer alten Goldmine der spanischen Eroberer!« »Die Chicas meinten es gut mit Ihnen, Mister Ronco. Sie kennen mein Geheimnis wie ich das ihre. Wir sind gute Nachbarn, die Mädchen und ich. Wir helfen uns manchmal gegenseitig. Warten Sie, ich komme zu Ihnen hinunter!« Die Bergwand über mir schien ihn zu verschlucken. Aber ich sah gerade noch, wie ein Felsblock nach innen schwang und sich in die Wand einpaßte, als wäre er mit dem Berg verwachsen. Es dauerte eine gute Weile, bis sich dort, wo mein Wallach vor der Geröllhalde angehalten hatte, die Steine bewegten, als würde sich ein riesiger Maulwurf an die Oberwelt graben. Wäre ich nicht schon mit dieser Erscheinung vertraut gewesen, wäre ich sicherlich in wilder Panik auf meinem Wallach wieder im Kreis herumgeritten. »Sie stehen vor dem ehemaligen Hauptstollen oder Grubeneingang der Goldmine, Mister Ronco«, sagte die unheimliche Gestalt so liebenswürdig wie ein Herbergsvater, der einen Gast begrüßt. »Ich hatte viel Zeit, das verlassene Bergwerk mit den Errungenschaften der modernen Technik und Zivilisation auszustatten. Willkommen in meiner Wohnung. Ich nehme nur Gäste bei mir auf, die unschuldig verfolgt werden oder unter der Ungerechtigkeit dieser Welt leiden müssen!« Ich ritt näher und betrachtete staunend den mit Grubenlampen ausgeleuchtete Gang, der in den Berg führte. Ich sah die Winde, mit deren Hilfe mein »Gastgeber« eine Eisenplatte heruntergelassen hatte wie die Ziehbrücke einer mittelalterlichen Burg. Die Eisenplatte war kunstvoll mit Steinen verblendet, und nur mein kluges Pferd hatte erkannt, daß sich dahinter eine Herberge versteckte. »Das sieht ja eher aus wie eine Festung«, sagte ich betroffen. »Das ist es auch. Aber deshalb kann sie trotzdem gemütlich sein!« Er nahm, ohne mich viel zu fragen, mein Pferd am Zügel und führte es in den Stollen. Ich mußte rasch aus dem Sattel steigen, um nicht mit dem Kopf gegen die Felsendecke zu stoßen. Es war
angenehm kühl hier und so geräumig, daß ein Pferd und zwei Männer bequem nebeneinander gehen konnten. Die Wände waren sauber verschalt. Wir gingen an ein paar Leitern vorbei, die zu Nischen hinaufführten, die oberhalb des Ganges in den Felsen gehauen oder aus ihm herausgesprengt worden waren. Von dort aus schienen Nebenstollen in andere Richtungen abzugehen oder schräg nach oben zu führen. Schließlich erreichten wir eine große Höhle, die mit indianischen Teppichen und Strohmatten ausgelegt war. Ein kleines Haus hätte in ihr Platz gefunden. Sie mußte von der Natur in diesem Berg erschaffen worden sein, und die Menschen hatten nur die Gänge erweitert, die von dieser Höhle abzweigten. Ich drehte mich staunend im Kreis. Möbel standen an den Felswänden, Säcke waren in den Nischen gestapelt, Gewehre und Munition in Regalen und Ständern geordnet. Alles hatte seinen Bereich und den ihm zugeteilten Ort. Die Höhle war tatsächlich ein Haus mit vielen Zimmern, in dem nur die Zwischenwände und die Türen fehlten. Selbst ein Herd und eine komplette Kücheneinrichtung waren vorhanden. »Sie haben sich das aber eine Menge kosten lassen«, sagte ich staunend. »Und nun haben Sie sich meinetwegen den Zugang zu Ihrer Wohnung verbaut!« Er lachte nur. »Das Haus hat viele Ausgänge. Ich wollte die Schlucht sowieso schon lange zuschütten. Ich habe im Oberstock mein Haus erweitert und wußte nicht, wohin mit dem Schutt. Also habe ich ihn vorhin kurzerhand in den Hinterhof gekippt.« Er lachte und deutete nach oben. »Wollen Sie sich das Haus mal in Ruhe ansehen? Ich habe auch einen Stall mit zwei Pferden. Sie können dort auch Ihr Pferd unterstellen!« »Zu liebenswürdig von Ihnen«, erwiderte ich. »Ich muß mich erst zurechtfinden. Es kommt mir so vor, als träume ich nur oder wäre in einer anderen Welt!« Mein Gastgeber nahm eine Lampe von einem Tisch, der in einer Nische stand. »Dort ist ein bequemer Sessel neben der Anrichte. Machen Sie es sich bequem, während ich Ihr Pferd im Stall versorge. Sie finden dort alles, was Sie an Ihr irdisches Dasein erinnert: Whisky, Zigarren und Zwieback zum Beispiel.«
Er entfernte sich mit meinem Pferd in einen Seitengang. Ich ließ mich in dem Lehnstuhl nieder, auf den er gedeutet hatte, und wartete auf seine Rückkehr, ohne vorher sein Angebot wahrzunehmen. Aus der Nähe betrachtet, hatte er viel von seinem Schrecken verloren. Er war so groß wie ich und offenbar auch so muskulös gebaut. Er trug nur eine graue Maske vor dem Gesicht, die seine dunklen Augen, seinen Mund und seine Nase freigaben. Sein Hals war mit einem grauen Tuch verdeckt, und die Ohren – er hatte keine, obwohl er offensichtlich sehr scharf hörte. Ich dachte noch über seine seltsame Erscheinung nach, als er schon wieder in die Höhle zurückkehrte. Er setzte sich in den Sessel, der links neben dem Sideboard stand, und sagte: »Ich heiße Mascara. Daß ich kein Schreckgespenst bin, sondern nur ein verstümmelter Mensch, haben Sie inzwischen festgestellt, wie ich sehe. Ich pflege mich allerdings so zu kleiden, daß ich aus meiner Verstümmelung einen für mich vorteilhaften Effekt heraushole. Ich passe mich mit meiner Kleidung meiner Umgebung an wie ein Chamäleon.« Er lachte leise, ohne Spur von Bitterkeit. Ich sah auch keinen Mund, nur eine dunkle Rachenhöhle mit Zähnen. »Woher kennen Sie mich?« »Ich bin Ihnen gestern eine ganze Weile gefolgt. Sie haben es nicht bemerkt, weil ich meine gelbe Maske trug und meine Tarnkleidung für die Wüste. Aber mein Pferd hätten Sie sehen müssen. Sie haben doch sonst so scharfe Augen.« Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern fuhr mit einer Spur von Mitleid fort: »Ich half wenigstens Ihrem Pferd auf den richtigen Weg. Ich sagte schon, daß es vernünftiger sei als Sie. Wir haben uns prächtig verstanden. Ich hoffe, daß ich mich jetzt auch mit Ihnen so gut verstehen werde.« »Warum?« »Ich wünschte mir, wir würden Partner.« »Weshalb sollten wir Partner werden?« erwiderte ich erschrocken. Er sah mich mit seinen dunklen scharfen Augen eine Weile an. »Sie können hier wohnen, und für alle Ihre Bedürfnisse ist reichlich gesorgt. Hier findet Sie niemand, und selbst auf Frauen brauchen Sie
nicht zu verzichten. Und sie können sich wie ich ganz auf Ihre neue Aufgabe konzentrieren.« »Welche neue Aufgabe?« fragte ich höflich, um ihn nicht zu kränken. »Ich habe schon eine. Ich bin Armeescout, Mascara.« »Das sind Sie bis gestern gewesen. Von heute an sind Sie ein Ausgestoßener der Gesellschaft wie ich. Ein zu Unrecht Ausgestoßener. Aber das habe ich schon seit langem kommen sehen. Von nun an besteht Ihre Aufgabe darin, sich für das Unrecht zu rächen und die Männer zu bestrafen für das, was sie Ihnen und den ermordeten Frauen und Kinder im Halcon Canyon angetan haben. Sie werden von nun an gegen das Böse kämpfen. Oder für das Gute.« »Mein Gott, was wissen Sie davon!« »Alles. Ich weiß alles, was hier im Grenzgebiet vor sich geht. Ich habe seit langem beobachtet, wie Sie ganz allein einen Kampf gegen verbrecherische Waffenschmuggler führten, die tausendmal stärker und mächtiger sind als Sie. Sie mußten diesen Kampf verlieren. Sie waren ahnungslos, und nun sind Sie sogar verfemt, weil diese Verbrecher Sie in eine Falle gelockt haben. Mir ist es ähnlich ergangen wie Ihnen. Nur ging es damals nicht um Waffen-, sondern um Menschenhandel. Doch im Grunde lief es nach dem gleichen Schema ab. Reiche, skrupellose Geldgeber im Hintergrund. Eine Bande von Handlangern und Erfüllungsgehilfen. Indianer, die dazu mißbraucht werden, einsame Ranchos oder Farmen zu überfallen und die jungen Frauen und Mädchen wegzuschleppen, nachdem die Männer getötet worden waren. Frauen und Mädchen, die dann irgendwo in Mexiko in Bordellen gefangengehalten wurden. Ein paar von den Mädchen, die Sie kennengelernt haben, verdanken mir wenigstens ihr Leben oder ihre beschränkte Freiheit.« Er holte nur kurz Luft, als sollte ich keine Gelegenheit erhalten, ihn zu unterbrechen. »Ich war diesen skrupellosen Geldgebern auf der Spur. Wie Sie, Ronco. Ich kämpfte auch allein, ohne Auftrag, obwohl ich Texas Ranger war. Aber meine Vorgesetzten mochten meinen Berichten nicht glauben. Sie glaubten, nur Indianer brächten es fertig, weiße Frauen als Sklavinnen in ihre Dörfer zu verschleppen. Und wie Sie wurde ich, als ich den Organisatoren des Mädchenhandels zu
gefährlich wurde, in eine Falle gelockt. Sie verwendeten mein eigenes Haus dafür, nicht einen Canyon in der Wüste.« Die Stimme des Maskierten überschlug sich fast, so sehr wurde er von seinen Erinnerungen mitgerissen: »Sie zündeten mein Haus an, als meine Frau und meine beiden Kinder bereits schliefen. Sie hatten vorher alle Fenster und Türen verriegelt und verrammelt. Und dann schickten sie mir eine Nachricht, daß ich schnell nach Hause eilen solle, wenn ich meine Familie noch einmal lebend sehen wolle.« Er schauderte in seinem Lehnstuhl zusammen, als sähe er jetzt ein Gespenst. »Sie hatten Posten vor dem brennenden Haus aufgestellt, die mich töten sollten. Sie rechneten mit einer Panik, sobald ich das brennende Haus sehen würde. Aber ich war auf der Hut und konnte sie überwältigen. Nur für meine Familie kam ich nicht mehr rechtzeitig. Ich habe mir das Gesicht und die Arme verbrannt, um sie aus dem brennenden Haus herauszuholen. Meine Anstrengung war vergeblich. Sie waren schon vorher im Rauch erstickt.« Marcaras Stimme wurde wieder so sachlich und nüchtern wie am Anfang. »Ich quittierte meinen Dienst und jagte die Mörder meiner Familie auf eigene Rechnung. Fünf Jahre hat es gedauert, bis ich sie alle gefunden und getötet hatte. Ein Akt der Gerechtigkeit, Ronco. Aber für die Außenwelt waren es Morde, weil ich es ohne eine Gerichtsverhandlung tat. Und seither lebe ich in selbstgewählter Verbannung. Mit meinem Gesicht könnte ich mich sowieso nicht mehr unter Menschen blicken lassen. Dafür sehe ich um so schärfer zu, wenn sie sich unbeobachtet glauben.« Er beugte sich weit in seinem Sessel vor. »Den Waffenschmugglern zum Beispiel, die seit dem Ende des Bürgerkrieges mit überflüssigen Gewehren ein großes Geschäft erzielen wollen. Ihren Agenten, die heimlich in den Reservaten mit den Apachen über Waffenlieferungen verhandeln. Den Agenten und Handlangern, die alle, die ihren Geschäften im Wege stehen, mit Gewalt beseitigen. Wie zum Beispiel den alten Häuptling Taglio!« »Auch das haben Sie beobachtet?« rief ich überrascht. »Ich habe sie nach dem Mord wegschleichen sehen. Ich habe auch
Sie oft bei Ihren Patrouillen am Rio Doro und Rio Grande beobachtet und gesehen, daß Sie meistens zu spät eintrafen wie ich damals. Aber ich habe nicht eingegriffen, weil ich wußte, daß diesmal der Gegner zu übermächtig ist!« Ich war erregt von meinem Sessel aufgesprungen. »Nennen Sie mir Namen, Marcara! Liefern Sie mir Beweise, und ich reite noch heute nacht nach Fort Calhoun zurück!« »Sie wollen dem Tod in die Arme laufen, dem Sie gerade erst mit knapper Not entronnen sind, Ronco?« fragte er mit bitterem Spott. »Ich werde dort berichten, was im Halcon Canyon geschehen ist. Ich werde die Beweise vorlegen, die Sie mir vielleicht geben können. Ich werde Verständnis dort finden und Gerechtigkeit …« Er konnte sich nicht mehr halten. Er lachte mir ins Gesicht. »Haben Sie immer noch nicht erkannt – trotz Ihrer monatelangen Nachforschungen – daß die Armee mit den Waffenschmugglern verbündet ist?« Das traf mich wie ein Keulenschlag. »Colonel Lester, Mörder und Waffenschmuggler – das glauben Sie doch selbst nicht!« rief ich empört. Er blickte mich mitleidig an. »Ihre Empörung ehrt Sie, Ronco. In der Jugend will man es nicht wahrhaben, daß die meisten Ideale einer näheren Prüfung nicht standhalten und sich als hohle Tongötzen oder leere Phrasen entpuppen. Doch das ist eine Erfahrung, die keiner Jugend erspart bleibt. Vielleicht weiß Lester nichts von den Plänen der Waffenschmuggler. Vielleicht reichen seine Skrupellosigkeit und sein Verstand für so ein Unternehmen nicht aus. Aber ich kann Ihnen ein kleines Gehöft unweit der Grenze zeigen. Ein Rancho auf mexikanischem Gebiet. Dort haben sich vor ein paar Tagen zwei Offiziere in amerikanischer Uniform mit einem großen, stiernackigen Zivilisten getroffen. Sie haben eine Stunde lang miteinander verhandelt. Und drei Tage später findet das Massaker im Halcon Canyon statt. Sie sehen sehr blaß aus, Ronco. Nehmen Sie einen Schluck von meinem Whisky …« »Was Sie da vorbringen, ist ungeheuerlich!« »Aber wahr. Ich war nur nicht nahe genug an dem Haus, um die Gesichter der Gentlemen erkennen zu können. Der Zivilist erschien
mit einer Kutsche. Ich habe auch die Kutsche schon öfter beobachtet. Sie tauchte immer dort auf, wo größere Mengen Waffen in kleinere Lieferungen abgepackt wurden. Der Mann gehört zu den Bossen der Organisation. Das steht für mich außer Frage!« »Warum sind Sie nicht zu uns ins Fort geritten und haben uns Ihre Beobachtungen mitgeteilt!« Er betrachtete mich kopfschüttelnd. »Habe ich Sie immer noch nicht von Ihrer Naivität heilen können? Sagte ich nicht eben, daß sich dieser Waffenschmuggler mit Kavallerieoffizieren aus Fort Calhoun traf?« »Das sagten Sie nicht!« protestierte ich wild. »Dann habe ich das eben nachgetragen, Ronco.« »Es können Männer gewesen sein, die sich als amerikanische Offiziere verkleideten, um Sie in die Irre zu führen!« »Mich?« Mascara lachte bitter. »Sie fühlten sich unbeobachtet. Sie kennen mich gar nicht. Eine blaue Yankee-Uniform ist auf mexikanischem Gebiet die denkbar schlechteste Verkleidung. Also war es auch keine. Und diese Gentlemen müssen sich so sicher fühlen, daß ihnen nichts passieren kann, daß sie sich nicht als Zivilisten verkleiden mußten!« »Sie würden vor ein Kriegsgericht gestellt, Mascara! Sie würden dafür sogar gehenkt! Sie kennen die Yankee-Armee nicht!« »Ich kenne nur die Texas Rangers, als es in den Staaten noch eine einzige Armee gab. Schon damals gab es korrupte Offiziere in der Armee. Schlechter Sold, unbefriedigter Ehrgeiz, keine KarriereAussichten – Offiziere sind auch nur ganz gewöhnliche Menschen. Die Uniform ist ein Kleid wie jedes andere. Sie hat nicht den geringsten Einfluß auf den Charakter eines Menschen, gibt ihm aber nur mehr Möglichkeiten, Vollmachten auszubeuten.« »Können Sie mir die Offiziere beschreiben, die Sie gesehen haben wollen, Mascara?« »Ich habe sie gesehen. Sie waren beide groß und schlank.« »Das gilt für fast alle Offiziere in Fort Calhoun.« »Natürlich gilt das für fast alle Offiziere der Armee der Vereinigten Staaten«, erwiderte Mascara. »Und ich bin sicher, daß diese mächtigen Waffenschmuggler noch andere Helfer in blauer
Offiziersuniform haben, nicht nur die beiden Gentlemen aus Fort Calhoun. Offiziere, die in höheren Stäben sitzen, in anderen Forts, sogar ganz oben im Kriegsministerium in Washington. Sie müssen sich im klaren sein, daß Sie gegen eine Armee kämpfen, wenn Sie die Waffenschmuggler entlarven wollen. Sie warten doch in Fort Calhoun nur darauf, daß Sie sich auf ihren Posten zurückmelden, damit Sie kaltgestellt werden können.« »Ich dachte. Sie kämpfen gegen das Böse!« »Das sagte ich«, antwortete er trocken. »Aber nicht als Amokläufer oder Selbstmörder, sondern mit meinen bescheidenen Mitteln und Möglichkeiten. Ich helfe Ihnen, Verdächtige zu beobachten und Namen zu ermitteln. Ich biete Ihnen Hilfe und Partnerschaft an. Und wenn sich der Schleier für Sie lüftet und Sie Gewißheit haben, schlagen Sie zu. Ich werde Ihnen auch dabei helfen.« »Zu töten?« »Zu töten.« »Das wäre Lynchjustiz, Mascara.« »Anders kommen Sie gegen so ein anonymes Monster, wie die Armee es darstellt, gar nicht an.« Ich war entschlossen, es auf andere Weise zu versuchen. Dafür brauchte ich tatsächlich seine Hilfe, aber nicht seine Partnerschaft. »Können Sie mich zu dem Rancho bringen, wo Sie die beiden Offiziere beobachtet haben?« »Das kann ich.« »Sofort?« »Nein«, wehrte er ab, »das wäre zu gefährlich. Die Rurales werden noch die ganze Nacht hier in der Nähe herumstreifen.« »Mit Anbruch der Morgendämmerung?« »Ja.« »Ich wäre Ihnen unendlich dankbar dafür«, sagte ich ehrlich. Ich wußte nicht, was hinter seiner Maske in seinem Gesicht vorging. Nur seine Stimme verriet eine gewisse Enttäuschung. Vielleicht suchte er nur einen Partner, der ihm in seiner unterirdischen Festung Gesellschaft leistete. Doch seine Antwort verriet mir, daß er nur an mich dachte: »Sie wollen anschließend
über die Grenze zurück nach Fort Calhoun.« »Das habe ich vor.« »Sie begehen den gleichen Fehler wie ich damals«, sagte er nachdenklich. »Sie werden dort nichts erreichen und sich mehr verbrennen als nur ein Stückchen Haut. Vielleicht wird man Sie hängen und nicht irgendeinen korrupten Offizier.« Er seufzte. »Aber wenn Sie wider mein Erwarten jemals dieses Fort lebend verlassen sollten, sind Sie hier bei mir jederzeit willkommen.« »Vielen Dank, Mascara!« »Ich sollte Sie eigentlich festbinden, statt Sie in Ihr Verderben rennen zu lassen. Aber wir müssen alle im Leben die gleichen bitteren Erfahrungen machen …« * Staub lag auf den kümmerlichen Maispflanzen, die am flachen Hang über dem Haus angebaut waren. Der Rio Grande war ein fernes rotes Band in der Morgensonne. Ich konnte die Berge im Westen sehen, wo Eagle Paß liegen müßte. Wenn ich nach Norden blickte mochte ich vielleicht auch ein paar schwarze Rauchschleier über den Hügeln entdecken – Spuren der Zerstörung, die der Nordwind aus dem Tal des Rio Doro über die Grenze nach Mexiko hinübertrug. Noch standen ein paar Farmhäuser am Trail zum Fort, die bisher den aufständischen Apachen für einen Überfall zu heikel gewesen waren, weil die Soldaten zu nahe waren. Aber vielleicht hatten inzwischen die Apachen ihre letzte Scheu vor den Blaujacken verloren und im Schutz der Dunkelheit auch die Farmen in unmittelbarer Nähe des Forts angezündet. Die Feuer hätte ich aus dieser Entfernung nicht sehen können, nur dünne Rauchschleier in dem rosigen Blau über den Hügeln. Da war nichts. Die Luft war so friedlich, als gäbe es hier nicht einmal eine Grenze zwischen Nachbarn, die miteinander verfeindet waren. Das kleine Adobehaus mit dem flachen Dach unter mir lag geduckt hinter einer hohen Hecke aus Christusdornen und dünnen, rankenden Lianenkakteen. Ich sah nur die Stange eines Ziehbrunnens hinter dieser natürlichen Hofmauer hervorragen.
Im Schuppen und dem kleinen Stall, die im rechten Winkel an das Wohnhaus stießen, rührte sich nichts. Schlieriges Wasser blinkte am Grund der beiden Gräben, die über die schmalen Felder hinter der Hecke zum Rio Grande hinunterliefen. Ein kleiner, steiniger Weg führte an dem Rancho vorbei. Wer sich dem Haus näherte oder wieder von ihm fortritt, konnte vom Fluß aus nicht beobachtet werden. Mascara, der irgendwo hinter mir zwischen den hohen Yuccas am Rand des Wüstenplateaus auf seinem Pferd wartete, das Gewehr quer vor sich im Sattel, hatte mir das Rancho sehr genau beschrieben. Ich wunderte mich nur, daß sich dort unten nichts regte. Die Morgenröte war im Sommer die günstigste Arbeitszeit auf den Feldern, weil die Hitze sich noch nicht zwischen den Steinen eingenistet hatte und jede Bewegung zu einer schweißtreibenden Qual werden ließ. Ich trieb meinen Wallach auf die Lücke in der Dornenhecke zu. Die Spuren auf dem Sand, der den Hof bedeckte, waren erst ein paar Stunden alt. Es waren nicht die Spuren von Mokassins, die ich in den letzten Wochen jenseits des Flusses so oft auf den Farmen weißer Siedler gesehen hatte wie nie zuvor. Es waren die Abdrücke von Holzsandalen und Stiefelsohlen. Ein Esel schaute mich mit hängenden Ohren an. Zwei Schafe blökten in einem kleinen Pferch an der Hecke. Ich hörte das dumpfe Schnauben einer Kuh im Stall. Apachen konnten dieses Rancho nicht heimgesucht haben. Sie hungerten, und die Tiere wären ihnen als erstes zum Opfer gefallen. Ich klopfte gegen die Tür und die geschlossenen Läden vor den kleinen Fensterhöhlen. »Ist da jemand?« rief ich immer wieder auf spanisch. »Hallo, ist da jemand?« Ich hörte ein schwaches Geräusch über meinem Kopf. Als ich rasch nach oben blickte, blickte ich in die Mündung einer alten Muskete. »Hau ab, Hombre!« sagte der schwere, gedrungene Mann, der mit der Muskete auf mich vom Dach herunterzielte. »Geh fort! Wir nehmen keine Flüchtlinge auf. Bleibe auf der Seite, wo du hingehörst.« Er deutete mit einer Bewegung seiner rechten Schulter
auf den Fluß hinter sich. »Ich will nur eine Auskunft, Amigo«, sagte ich und trieb dabei mein Pferd mit einem Schenkeldruck zwei Schritte rückwärts in den Hof, damit ich den Mexikaner in seiner ganzen Länge sehen konnte. Wer Waffenschmuggler in seinem Haus aufnahm, dem konnte ich nicht trauen. Es war schon ein älterer Mann mit dem schweren, breiten Gesicht des Peon, der mehr Indianerblut geerbt hatte als weißes und mehr Sorgen als Segen. Ich konnte mir diesen Mestizen schwerlich als Verbündeten von amerikanischen Offizieren oder reichen Waffenhändlern vorstellen. Er sah ziemlich einfältig aus, und deshalb beschloß ich, ihn mit einer Lüge zu überrumpeln. »Der Senor schickt mich«, sagte ich mit forscher, kühler Stimme. »Er möchte sich hier wieder mit den Offizieren treffen. Na, du weißt schon Bescheid!« »Der Patron?« sagte er rasch, ohne die Muskete nur um Haaresbreite zu senken. »Hast du auch das Geld mitgebracht? Wenn er das Haus schon wieder mieten will, hätte er mich benachrichtigen sollen. Ich habe schließlich auch im Haus zu tun! Und mich draußen auf dem Feld zu verstecken nach dem Blutbad, das diese roten Teufel angerichtet haben, kann der Patron jetzt nicht mehr von mir verlangen. Das ist zu gefährlich!« »Mag sein«, erwiderte ich. Ich drängte mein Pferd noch ein Stück weiter vom Haus weg. »Der Patron meint, durch den Überfall der Apachen habe sich die Lage verändert. Er muß die beiden Offiziere sprechen. Sie wissen noch nicht Bescheid. Kannst du mir sagen, wo ich sie finde?« Ich war anscheinend zu weit gegangen. Er starrte mich an, und auf seinem einfältigen, breiten Gesicht zeigte sich Mißtrauen: »Entweder bezahlst du, oder du verschwindest von meinem Hof! Die Offiziere benachrichtigen! Zum Teufel, ich wurde dafür bezahlt, daß ich sie nicht sehe und mir die Ohren verstopfe, damit ich nicht höre, was hier in meinem Haus geredet wird! Aber sicher hing es mit den Apachen zusammen, die jetzt das Land unsicher machen. Ich glaube, es war nicht gut, daß ich dem Patron mein Haus vermietete. Das Geld war gut, ja, aber was nutzt es mir, wenn mich diese roten Teufel
umbringen. Sag dem Patron, daß ich nichts mehr mit ihm zu tun haben möchte. Sag es ihm und verschwinde!« Der Alte zielte unmißverständlich mit seiner Muskete auf meine Brust. So eine Musketenkugel reißt größere Löcher, als ein Doc wieder zunähen könnte. Ich zog mich wieder hinter die Hecke zurück, die den Hof umfriedete. Ich wußte jetzt, daß Mascara die Wahrheit gesagt hatte. Ich wußte aber nicht mehr als zuvor. Zwei Offiziere hatten sich auf mexikanischem Boden mit einem Zivilisten getroffen, der gut zahlte. Ich kannte keinen Namen und hatte keine Beschreibung. Ich hatte seit Monaten Anhaltspunkte dafür, daß es in Fort Calhoun einen Verräter gab. Aber ich konnte keinen Namen nennen, nicht einmal mit dem Finger auf einen deuten und sagen: »Ich habe Zeugen dafür, daß du ein Verräter bist! Sie haben dich genau beschrieben! Sie werden dich wiedererkennen, wenn wir dich ihnen gegenüberstellen!« Ich mußte nach Fort Calhoun, um dem Colonel von den Verrätern zu berichten. Aber ich konnte ihm keine Namen nennen. * Mascara hatte mich gewarnt. Doch ich hielt es für meine Pflicht, Colonel Hampton Lester so rasch wie möglich mitzuteilen, was ich in Mexiko erfahren hatte. Ich war mir nicht bewußt, in welcher Gefahr ich eigentlich schwebte. Ich war zu jung dafür, um mir nüchtern eingestehen zu können: Es sind schon viele Menschen unschuldig verurteilt und hingerichtet worden. In der Tat ist so etwas keine Seltenheit, daß Unschuldige für Verbrechen anderer büßen müssen – die Frauen und Kinder meines Trecks zum Beispiel. Ich glaubte nicht daran, daß ich das Opfer einer Ungerechtigkeit werden könnte. Dafür war ich zu jung. Hätte Mascara mich davor gewarnt, daß ich vielleicht das Opfer einer Intrige werden könnte, wäre ich vorsichtiger gewesen. Außerdem war es meine Pflicht, auf meinen Posten zurückzukehren. Wohin sonst? In diese Berghöhle mitten in der
Sierra del Burro? Ich fühlte mich noch nicht als Ausgestoßener, nur heimatlos und traurig, daß ich eine Katastrophe nicht hatte verhindern können. Ich verlor nur immer mehr an Zuversicht und Selbstvertrauen, als ich an den verbrannten Ruinen der Farmen im Tal des Rio Doro vorbeiritt. Die Hitze war unerträglich, und der süßliche Geruch verwesender Tierkadaver bereitete mir Übelkeit. Eine unwirkliche Stille lag über den Hügeln und Bergen im Westen. Ich begegnete keinem Menschen und sah nur ein paar Geier bei der Mahlzeit. Das Siedlerland am Rio Doro erinnerte mich an den Bürgerkrieg. Es sah aus, als wäre eine Armee hier durchmarschiert, das seine Leidenschaften in einer Schlacht ausgetobt hatte und seinen letzten Groll und seine Gereiztheit noch an den Farmen und Bewohnern dieses Tals abreagierte, ehe es aufgelöst wurde, weil ein Friede vernünftiger ist als ein Krieg. Aber diese Stille war nicht der Vorbote des Friedens. Für die Indianer gab es nur die Rache und die Bestrafung, keine Schonung und keine Regeln, die für Weiße auch im Krieg eine ehrenhafte Behandlung versprachen. Gegen Mittag erst kam ich in die Nähe des Forts, wo es keine verpestete Luft und keine Spuren der Zerstörung mehr gab. Ich lenkte in den ausgefahrenen Karrenweg ein, der direkt zum Palisadentor des Forts führte. Nur noch drei Meilen trennten mich von meiner Vergangenheit und der Rechtfertigung, warum ich nach dem Massaker nicht sofort wieder auf meinen Posten zurückgekehrt war. Ich sah die Patrouille erst, als sie mir bereits den Weg versperrte. Sie ritt aus den Büschen am Weg heraus, als wäre ich ein Kundschafter der Apachen, der das Fort ausspionieren wollte. Meine jähe Freude, daß ich endlich wieder die vertrauten blauen Uniformen sah, verwandelte sich schon nach den ersten Worten des Patrouillenführers in eine tiefe Bestürzung. Der Anführer war ein Sergeant. Er hieß Ulster und erwiderte meinen Gruß nicht. Ulster war ein kalter, berechnender Mann, ein Streber, den ich nie gemocht hatte. Ich wußte, daß er um jeden Preis Karriere machen und Offizier werden wollte. Er hatte fünf Soldaten bei sich, und sie verteilten sich so, daß drei vor mir standen und drei
hinter mir. Und keiner von ihnen erwiderte meinen Gruß. Sie sahen mich an, als hätten sie mich noch nie gesehen. »Übergeben Sie mir Ihre Waffen«, befahl Sergeant Ulster. »Wie?« Ich mußte den Sergeanten nicht richtig verstanden haben. Ich war Zivilist, und ein Sergeant hatte mir keine Befehle zu erteilen. Ein Scout hatte den Status eines Offiziers. »Haben Sie nicht gehört?« wiederholte Sergeant Ulster mit kalter, schneidender Stimme. »Sie sollen Ihre Waffen abgeben!« »Sie haben wohl den Verstand verloren!« erwiderte ich erbittert. Ulster sagte kein Wort. Er bewegte nur den Kopf. Zwei Soldaten sprangen sofort aus den Sätteln und rissen ihre Spencer-Karabiner aus den Scabbards. Sie stürzten sich auf mich. Ich war so verblüfft, daß ich wie ein Stück Holz im Sattel sitzen blieb. Einer der Soldaten packte mein rechtes Bein und riß mich einfach aus dem Sattel. Ich warf beide Arme hoch, um den Sturz abzufangen, und prallte hart auf dem Boden auf, noch immer völlig überrascht von dieser Aktion der Soldaten. Ich war nur noch ein Stück vom Fort entfernt und hätte die paar Meilen ganz gut auf meinem Pferd zurücklegen können. Das Ganze war eine sinnlose Bösartigkeit. Ich wälzte mich herum, um wieder vom Boden aufstehen zu können. Da traf mich ein Kolbenhieb in die Seite. Das tut verdammt weh und war ebenfalls unnötig. Stöhnend krümmte ich mich zusammen. »Warte nur, du Verräter«, knurrte einer der Soldaten. »Du kriegst schon noch, was du verdienst.« Eine Hand riß mir den Revolver aus der Halfter. Dann packten mich harrte Fäuste und zerrten mich wieder auf die Beine. »Seid ihr verrückt geworden?« rief ich empört. »Sie sind verhaftet«, sagte Ulster mit kalter Verachtung. Er saß wie eine Statue im Sattel. »Und warum?« »Das fragen Sie noch?« Ulster gab seinen Soldaten wieder ein Zeichen. Sie packten meine Arme und zogen sie brutal auf meinen Rücken. Ich bäumte mich vergeblich auf. Lederriemen schnürten sich um meine Gelenke. Ich erhielt einen Kolbenstoß in den Rücken und sie zerrten mich wieder auf meinen Wallach. Sie nahmen mich in die Mitte und ritten
mit mir zum Fort. * Die Palisaden von Fort Calhoun tauchten vor mir auf. Ich hatte es noch nie mit den Augen eines Gefangenen betrachtet. Einzelheiten fielen mir jetzt auf, die ich früher nicht beachtet hatte. Zum Beispiel, daß man alle Sträucher und Bäume bis zu den Hügeln hin, die das Fort umgaben, gerodet hatte, um den Soldaten auf den Wehrgängen freies Schußfeld zu verschaffen und ein Anschleichen an die Palisaden zu erschweren. Ich betrachtete die Mauern des Forts mit düsterer Vorahnung. Ich hatte keine Ahnung, weshalb ich festgenommen und so brutal behandelt worden war. Man konnte mir nur einen unerlaubten Urlaub von der Truppe vorwerfen. Aber auch das rechtfertigte keine Verhaftung. Ich war kein Soldat, sondern ein Zivilangestellter. Als wir das Tor erreichten, beugten sich die Turmwachen aus den schmalen Fenstern und rissen die Augen auf, als wäre ich ein Wundertier. Die Flügel schwangen auf. Die Soldaten ritten mit mir ins Fort. Neben dem Tor stand ein Corporal und salutierte. Er rief: »Wo habt ihr denn den aufgestöbert? Na, da ist bestimmt ein Orden oder eine Beförderung für Sie fällig, Sergeant!« Ich schaute mich um, als käme ich zum erstenmal auf den Exerzierplatz des Forts. Vor dem Arsenal und den Magazingebäuden standen ungewöhnlich viele Frachtwagen, die mit Waffen, Munition und Lebensmitteln beladen wurden. Kuriere liefen hin und her. Auf den Übungsplätzen hinter den Ställen sah ich eine Truppeneinheit, die nicht zum Regiment gehörte. Verstärkungen mußten inzwischen im Fort eingetroffen sein. Vor den Mannschaftsbaracken standen auch ungewöhnlich viele Farmwagen. Männer saßen auf ausgebreiteten Decken im Sand und schienen sich mit Würfeln und Karten die Zeit zu vertreiben. Ein paar saßen nur da und starrten ins Leere. Doch alle schauten jetzt auf, als ich mit meiner Eskorte auf dem Exerzierplatz erschien. Ich kannte ein paar von ihnen. Es waren Farmer vom Rio Doro.
Sie grüßten mich nicht. Im Gegenteil, ihre Gesichter verzerrten sich vor Wut und Haß. Und dann liefen sie auch schon über den Exerzierplatz. Mindestens zwanzig Männer jagten auf mich zu. Ulster drehte sich im Sattel. Er sah plötzlich ziemlich blaß aus. Er rief etwas zum Tor hinüber, was ich nicht verstand, weil ich nicht begriff, was die Welt plötzlich so radikal verändern konnte. Freunde waren plötzlich Feinde, Männer, denen ich geholfen hatte, haßten mich. »Hängt ihn auf!« hörte ich den Farmer rufen, der an der Spitze des Rudels auf mich zujagte. Die Torwache blies ein Signal. Aus der Baracke neben dem Tor stürmten zehn Soldaten mit durchgeladenen Spencer-Karabinern. Ich sah das alles wie ein unbeteiligter Zeuge, der einen Bericht für eine Zeitung schreiben soll. Ich rührte mich auch nicht, als die Farmer mit schwingenden Fäusten auf Ulsters Leute losgingen, um an mich heranzukommen. Die Pferde keilten aus. Es waren bange Sekunden für Ulster. »Stehenbleiben!« brüllte er. »Verdammt noch mal, er steht unter militärischem Arrest.« »Wir wollen euch nur die Arbeit ersparen!« rief ein rothaariger Farmer, der die anderen fast um einen Kopf überragte. »Laßt uns nur an ihn heran! Wir erledigen das sogar mit der blanken Faust. Wir brauchen keinen Strick!« Da drängten sich die Soldaten von der Wachreserve zwischen die Patrouille und die Farmer und schoben die tobenden Männer mit Kolbenstößen wieder zurück. »Jetzt aber im Galopp!« rief Ulster mit verkniffenem Gesicht. Sie nahmen mein Pferd am Zügel und sprengten an den Farmern vorbei auf die Kommandantur zu. Sie rissen mich einfach aus dem Sattel und schleiften mich wie einen Kartoffelsack auf den Bohlensteg hinauf. Hinter mir versuchten die Farmer, die Postenkette der Soldaten zu durchbrechen. Ich hörte das Toben hinter mir und redete mir ein, ich träume das alles nur. Ich wurde durch den Gang der Baracke zum Büro des Kommandanten geführt. Ich kannte hier jeden Fleck an der Wand und jede Unebenheit in den gehobelten Dielen. Aber das konnte
trotzdem nicht das Fort Calhoun sein. Die Besatzung mußte inzwischen gewechselt haben, oder der Bürgerkrieg war erneut ausgebrochen, und er richtete sich ausschließlich gegen mich. Draußen brandeten die Farmer gegen die Vortreppe der Kommandantur. Ich hörte, daß sie mich aufhängen wollten, weil ich ein Verräter sei. Ich verstand das Wort sehr gut, nur begriff ich es nicht. Ich sollte ein Verräter sein? Mit welcher Begründung? Ich hatte keine Zeit, gründlich darüber nachzudenken. Die Tür des Kommandanten wurde vor mir aufgerissen. Ich wurde vor den breiten Schreibtisch des Kommandeurs geschoben. Sergeant Ulster stand neben mir stramm. Er meldete mit klirrender Stimme meine Gefangennahme. Ich hörte das alles wie im Trance. Ich sah, wie Colonel Lester sich hinter seinem Schreibtisch erhob und mir nicht wie sonst die Hand zur Begrüßung reichte. Er schien sie vor mir verstecken zu sollen. Seine Augen wirkten kalt wie Eis. »Sie haben es also für besser gehalten, sich zu stellen«, hörte ich den Colonel sagen. »Sie haben sich überlegt, daß Sie keine Chance haben, nicht wahr? Deshalb kehrten Sie zurück, nicht wahr?« Er schien gar keine Antwort von mir zu erwarten. Es war mir, als ginge ich zum zweiten Male in eine vorbereitete Falle. Doch diesmal nicht mit zweihundert Frauen und Kindern, sondern ganz allein zur Strafe dafür, daß ich nicht mit ihnen zusammen gestorben bin. Da kam es auch schon. Colonel Lester sprach es mit schneidender Verachtung aus. »Bestreiten Sie, daß Sie den Ihnen anvertrauten Treck in eine Falle der Apachen geführt haben?« »Ich? Den Treck in eine Falle …?« Ich fand meine Stimme wieder, doch sie klang anders als sonst. Heiser und seltsam verstört. Mascara hatte mich gewarnt. Du hast es mit der ganzen Armee zu tun. Gegen dieses Monster kommst du nicht an! Ich versuchte es wenigstens. »Ich kann nichts für die Falle. Ich habe sie nicht voraussehen können. Die Indianer tauchten plötzlich überall auf. Sie stürmten von den Felsen herunter, als hätten sie dort auf uns gewartet. Und am Tag zuvor hatte ich keinen einzigen Ponyabdruck
in der Nähe entdecken können. Das Ganze ist mir unerklärlich …« »Natürlich ist es Ihnen unerklärlich, weil Sie sich gar keine andere Ausrede hätten einfallen lassen können«, erwiderte der Colonel mit eiskalter Ironie. »Wieviel hat man Ihnen für den Verrat bezahlt?« »Ich bitte Sie …« »Es sind über zweihundert Menschen im Halcon Canyon getötet worden«, unterbrach mich der Colonel. »Haben Sie für jeden Toten eine Kopfprämie ausgehandelt, oder hat man Ihnen eine Pauschale gezahlt?« Ich blickte ihn nur noch fassungslos an. »Wie können Sie so etwas nur von mir annehmen?« fragte ich leise. »Ich frage Sie, Ronco. Ich nehme nichts an.« »Dann muß ich die Frage noch einmal zurückgeben, Colonel«, erwiderte ich erbittert und zornig. »Wie kommen Sie zu der ungeheuerlichen Behauptung, ich hätte den Treck verraten und sei schuld an dem Tod der Frauen und Kinder?« »Und der fünfzehn Soldaten, die man Ihnen mitgegeben hat. Die sollten Sie nicht vergessen«, erwiderte der Colonel ebenso zornig. »Wer behauptet, daß ich der Verräter bin?« »Sie geben also wenigstens zu, daß es Verrat gewesen sein muß«, erwiderte der Colonel kalt. »Gut, das übrige werden Sie auch noch zugeben müssen. Die Beweise gegen Sie sind erdrückend.« Er holte tief Luft, als schnürten ihm die Beweise sogar die Kehle ein. »Sie sind der einzige Überlebende«, fuhr der Colonel fort. »Zuerst hofften wir noch, die Indianer hätten Sie als Gefangenen mitgeschleppt, weil das für Ihre Unschuld gesprochen hätte. Doch wir entdeckten Ihre Hufspuren, die schnurgerade zur mexikanischen Grenze führten. Sie waren der einzige, der die Gelegenheit zu diesem Verrat hatte. Und Sie waren der einzige mit einem Motiv. Sie lieben ja die Apachen. Und Sie haben sie immer verteidigt. Sie haben ja sogar einige Jahre bei ihnen gelebt. Wir wissen nur eins noch nicht: Wer sind Ihre Hintermänner? Ich vermute bestimmt richtig, daß es die Indianerhändler sind, die Ihre Apachen so hilfsbereit mit modernen Gewehren ausrüsteten. Und ich verstehe jetzt auch, warum
Sie so eifrig hinter Waffenschmugglern her waren und hier sogar einen von ihnen an den Galgen brachten. Das waren nur die Konkurrenten Ihrer Bande, die Sie aus dem Weg räumten, damit Ihre Hintermänner allein das große Geschäft tätigen konnten. Das entspricht genau Ihrer nicht unbeträchtlichen Intelligenz. Nur schade, daß sie mit einem so niederträchtigen Charakter gepaart ist. Nicht mehr lange, denke ich, und dann werden wir beides voneinander trennen. Mit einem Strick um den Hals!« Er hatte sich in eine leidenschaftliche Empörung hineingesteigert. Er glaubte jedes Wort, das er sagte, dachte ich bestürzt. Er ist ein schlichter, gerader Mann. Jede Andeutung, daß ein Offizier in Uniform den Verrat begangen haben könnte, hätte er sofort als Hinterlist meines niederträchtigen Charakters und meiner teuflischen Intelligenz entrüstet von sich gewiesen. Ich erkannte mit niederschmetternder Klarheit, daß ich für Colonel Lester schon so gut wie verurteilt und tot war. Ich war nur noch ein Outlaw in seinen Augen, auf den der Strick wartete. Und doch riß er sich noch einmal zusammen, weil er merkte, daß er sich selbst ins Unrecht setzte, wenn er dem Gericht Vorgriff. Er beherrschte sich mühsam und sagte dann: »Sie werden Ihren Prozeß kriegen. Keine Angst. Alles wird mit rechten Dingen zugehen.« Es hatte keinen Zweck, ihm zu widersprechen, spürte ich. Aber ich sagte es doch: »Ich weise Ihre Beschuldigungen zurück, Sir. Ich habe keinen Verrat begangen.« »Sagen Sie das dem Gericht.« Der Colonel vollführte eine schroffe Handbewegung. »Abführen, Sergeant!« Als ich mich umwandte, las ich in den Augen der einfachen Soldaten die gleiche Verachtung wie bei ihrem obersten Vorgesetzten. Auch für sie war ich schon so gut wie tot. Ich vergaß, auf den merkwürdigen Umstand hinzuweisen, daß sich zwei Offiziere kurz vor dem Massaker mit einem Zivilisten jenseits der Grenze getroffen hatten. Der Colonel hätte das in seinem gegenwärtigen Zustand nur als eine Lüge und Schutzbehauptung zurückgewiesen. Die Indizien gegen mich waren klar und eindeutig. Und wenn erst einmal das Urteil über mich gesprochen war, würde
die Armee es nicht mehr zurücknehmen. Ich kam vor ein Kriegsgericht, das keine Revision und keine unparteiischen Richter kannte. Jeder von ihnen trug eine Uniform, und ich war ein Zivilist, der ihren Ruf und ihre Ehre beschmutzt hatte. Ich hatte keine Chance. »Führen Sie ihn ab«, hörte ich den Colonel wie aus weiter Entfernung sagen. »Im Arrestgebäude ist eine Einzelzelle vorbereitet worden, obwohl wir nicht damit rechneten, daß wir ihn schnappen würden. Es ist gut, daß wir vorgesorgt haben.« »Draußen stehen die Farmer, Sir«, sagte Ulster. »Sie werden ihn lynchen, sobald wir mit ihm erscheinen!« »Gehen Sie hinten mit ihm raus, Sergeant. Und anschließend melden Sie sich wieder bei mir.« Ulster würde seine Belobigung erhalten, daß ich freiwillig ins Fort zurückgekehrt war, dachte ich wütend. Ich wurde gepackt und zur Hintertür gestoßen. Ich merkte es kaum. Ich beschäftigte mich nur mit der ungeheuerlichen Anschuldigung des Colonels. Ich sollte ein korrupter Scout gewesen sein, der für zweihundert Frauen und Kinder Kopfprämien kassiert hatte! Der Colonel hätte es wahrhaftig besser wissen müssen. Wie oft hatte ich ihm schon meine Loyalität bewiesen! Irgendwelche Elemente im Fort mußten pausenlos auf ihn eingeredet haben, daß ich ein Verräter sei! Wer wohl, dachte ich. Natürlich nur diejenigen, die selbst an diesem Verrat schuld waren! Man brachte mich im Laufschritt in das Arrestgebäude. Ich hörte die Wutschreie der Farmer, als sie entdeckten, daß ich ihrer Selbstjustiz vorläufig entzogen war. Dann wurde ich in eine winzige, düstere Einzelzelle gestoßen, die nach Unrat und Exkrementen stank. Sie hatte ein winziges Gitterfenster über der Pritsche, auf der ein löchriger Strohsack lag. Die Tür fiel hinter mir ins Schloß, und ich hörte das Polter und Klirren der Riegel. Ich war allein mit meiner fassungslosen Bestürzung. Und ich hatte das Gefühl, bereits tot zu sein. *
Die nächsten drei Tage waren die schlimmsten meines bisherigen Lebens. Möglicherweise waren es sogar die schlimmsten Tage meines Lebens überhaupt. Es waren die Tage meiner Einzelhaft in Fort Calhoun, in denen ich Rechenschaft vor mir selbst ablegen mußte. Merkwürdigerweise war ich fast selbst überzeugt von meiner Schuld, natürlich nicht von einem Verrat. Aber der Tod der zweihundert Frauen und Kinder, die mir anvertraut worden waren, war eine ungeheuere Last in der Einsamkeit meiner Zelle. Ich hätte nie mit einer so ungenügenden Eskorte ausrücken dürfen. Ich hätte mich nicht zufriedengeben dürfen, daß keine Indianerspuren in der Nähe meiner Route entdeckt worden waren. Ich hätte mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Ich hatte doch vorher schon Indizien dafür gehabt, daß ein Verräter in unseren Reihen steckte! Ich hätte auch das berücksichtigen müssen. Die Anklage von Colonel Lester war nur die Quittung für meinen bodenlosen Leichtsinn. Nicht ein Kriegsgericht würde mich dafür verurteilen, sondern eine höhere Instanz. In den Augen des Allmächtigen war ich schuldig. Es war meine Selbstanklage, vor der ich verzagte. Der Prozeß selbst interessierte mich lange nicht so sehr wie meine Rechenschaft vor meinem Ich. Der Prozeß endete mit einem Schuldspruch und der Verurteilung zum Tode durch den Strang. Da wir Menschen – zu unserem Glück oder Unglück – nicht in die Zukunft sehen können, konnte ich natürlich auch nicht ahnen, daß ich zwar verurteilt werden, aber nicht am Galgen sterben würde, weil mir jemand zur Flucht verhalf. Ich will den Ereignissen nicht vorgreifen. Aber jeder, der mein Tagebuch liest, weiß natürlich, daß mein Leben nicht im Juni 1866 enden sollte oder gewaltsam beendet wurde. In diesen drei Tagen stand es aber für mich mit fast absoluter Sicherheit fest, daß ich in den nächsten Wochen am Galgen sterben mußte und deshalb über mein kurzes Leben Rechenschaft vor meinem Gewissen abzulegen hatte. Es waren keine Tage voller Empörung über die Ungerechtigkeit der Welt. Im Gegenteil, es waren Tage der Reue und der Zerknirschung. Ich protestierte nur gegen die Unwahrheiten während
der kurzen Gerichtsverhandlung. So eigenartig das heute klingen mag: Ich fand mich damals mit meiner Verurteilung ab. Hätte ich noch weiter in die Zukunft sehen können und geahnt, daß ich über zehn Jahre als Verbannter und Ausgestoßener keine Ruhe finden würde, hätte ich vielleicht den Tod vorgezogen. Vielleicht damals in der Zelle. Heute, da sie hinter mir liegen, urteile ich natürlich wieder anders über die Jahre meiner Verbannung. Im Rückblick gewinnen immer die positiven Elemente ein Übergewicht über die negativen Erfahrungen. Was den Prozeß betrifft, so war er in meinen Augen nur eine Farce. Die Offiziere, die sich damals so wichtig erschienen, waren im Grunde nur Statisten in einem Spiel der Vorsehung, das sie noch weniger durchschauten als ich. Ich meine, es mußte alles so kommen, wie es gekommen ist, weil wir Menschen eine ganz bestimmte Rolle in diesem Leben übernehmen müssen. Daß wir daneben auch noch einen freien Willen haben, gehört zu den Rätseln und unerforschlichen Gegebenheiten unseres Daseins. Was die Tage betrifft, in denen mein Prozeß vorbereitet und durchgeführt wurde, so schildere ich nur das Wichtigste davon. Der Prozeß ist in vielen Dokumenten beschrieben und niedergelegt worden. Fast in allen Zeitungen des Landes erschienen längere oder kürzere Artikel darüber. Man kann sie heute noch in vielen Archiven nachlesen. Und die Tatsachen, die zu meiner Verurteilung führten, habe ich ja bereits in meiner letzten Tagebuchaufzeichnung ausführlich beschrieben. Ich würde mich also nur wiederholen. Ich schreibe heute nur das nieder, was mich damals bewegte und mir besonders auffiel. Diese drei Tage damals in der Zelle waren eine Vorbereitung auf den Tod – und gleichzeitig gegen die Geburtswehen des neuen Ronco, der als Outlaw und Geächteter gegen Verbrecher kämpfen mußte, die von einer nachsichtigen oder gleichgültigen Gesellschaft gedeckt und sogar unterstützt wurden. In diesen drei Tagen streifte ich meine Jugend und meine Vergangenheit ab wie eine zu enge Haut und wurde zu dem Mann,
der ich auch heute noch bin. Ein Mann, der sich immer nur auf sein eigenes Urteil verläßt und sich nie geschlagen gibt, wenn es um die Wahrheit und Gerechtigkeit geht. * Ich erhielt verschimmeltes Brot und abgestandenes Wasser. Das störte mich nicht, weil ich weder Hunger noch Durst spürte, nur quälende Selbstvorwürfe. Ich achtete auch nicht auf den Wechsel von Tag und Nacht vor meinem Zellenfenster. Ich war auch viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um mich um den Wechsel meiner Bewacher zu kümmern, die mich alle mit gleichbleibender Verachtung und Härte behandelten. Nur in der Nacht vor meinem Prozeß geschah ein Zwischenfall, den ich für übertrieben fand, weil ich seine Hintergründe nicht kannte. Er wurde von einem Mann ausgelöst, der mich jahrelang verfolgen sollte. Ich wußte nicht, daß er mich haßte, weil ihm seine Braut meinetwegen den Laufpaß gegeben und sich dann dem verhängnisvollen Treck angeschlossen hatte, weil sie sich in mich verliebt hatte. Das war ein Motiv, das mich noch jahrelang beschäftigen sollte, obwohl ich in diesem Augenblick nicht die geringste Ahnung davon hatte. Es war der Ex-Verlobte von Helen Gardner, über die ich in meiner letzten Aufzeichnung ebenfalls ausführlich berichtete. Das junge Mädchen, das ich auf einer Farm vor den Apachen rettete, die ihr Gewalt antun und sie anschließend wahrscheinlich töten wollten. Ich rettete sie vor dem Tod und rettete sie auch wieder nicht. Denn schon eine Woche später kam sie auf dem Todestreck im Halcon Canyon um. Doch vorher hatte sie ihrem Verlobten noch einen Brief nach Fort Calhoun geschrieben, in dem sie ihre Verlobung löste und ihm beichtete, daß sie einen anderen Mann liebe – mich. Ich wußte nichts von diesem Brief. Ich wußte nur, daß ich von diesem Mann noch vor wenigen Tagen buchstäblich auf Knien angefleht worden war, seine Verlobte aus dem Gebiet der
aufständischen Apachen zu retten. Und jetzt stand er draußen vor meinem Zellenfenster und versuchte, die Farmer, die im Fort Schutz vor den Indianern gefunden hatten, noch einmal zu einer Lynchjustiz aufzuwiegeln. Er setzte sogar eine Prämie auf meinen Kopf. Hundert Dollar für jeden, der ihm dabei half, mich noch in der Nacht vor dem Prozeß ins Jenseits zu befördern. Dieser Mann hieß Sadie Duke, ein elegant gekleideter mittelgroßer Gent aus dem Osten mit guten Manieren und offenbar solider Bildung. Er trug eine auffällige Brandnarbe im Gesicht. Eine Narbe, die in den nächsten Jahren noch oft für mich ein Warnungszeichen sein sollte, daß Sadie Duke seine gekränkte Eitelkeit nie verwinden würde. Dieser Mann setzte so viel Geld auf meinen Kopf, daß ich mich in meiner Zelle wunderte, weshalb er der Regierung die Arbeit abnehmen wollte. Für mich stand es schon in der Nacht vor meinem Prozeß fest, daß ich zum Tode verurteilt werden würde. Warum vergeudete er sein Geld für etwas, was er in wenigen Tagen umsonst erhielt? Wollte er vielleicht meinen Kopf als Andenken in Spiritus einlegen. Sadie Duke brachte es in dieser Nacht fertig, daß ich keine Minute Schlaf fand. Seinetwegen mußte eine halbe Kompanie unter das Gewehr treten und seine lynchwütigen Kopfgeldjäger mit Warnschüssen auseinandertreiben, als sie bereits die Tür des Arrestgebäudes eingerannt hatten. Sadie Duke mußte die beschädigte Tür bezahlen. Und ich fürchtete, das schürte seinen Haß gegen mich noch mehr. Am nächsten Vormittag versuchte man mich dann mit einem rechtmäßigen Todesurteil auf legale Weise ins Jenseits zu befördern, nachdem man vorher zweimal versucht hatte, mich zu lynchen. Und ich lebe immer noch. Man soll im Leben nie zu früh aufgeben. Das war die erste Lektion, die dem neuen Ronco damals in der Todeszelle von Fort Calhoun erteilt wurde, während der alte Ronco noch nicht beerdigt war.
* Das Kriegsgericht trat am nächsten Vormittag im Offizierskasino des Forts zusammen. Ich zähle nur die wichtigsten Personen auf, die auch später in meinem Leben noch eine Rolle spielen sollten. Besonders Major William Fly, der als Erster Beisitzer fungierte. Colonel Hampton Lester führte natürlich den Vorsitz im Gericht, und Captain Fernwood, der das Magazin unter sich hatte, war als Protokollführer bestellt. Ich wurde über meine Rechte belehrt, obwohl ich eigentlich keine hatte, weil ich mir nicht einmal einen Verteidiger aussuchen konnte. Man ordnete mir einen blutjungen Leutnant aus der A-Kompanie zu, den ich nicht kannte und der eine denkbar klägliche Figur abgab. Der kriegte jedesmal einen roten Kopf, wenn er die höheren Dienstränge angreifen mußte, um meinen Standpunkt zu vertreten. Er tat es selten. Ich glaube, er schämte sich in Grund und Boden, daß er mich überhaupt verteidigen mußte. Er hätte wohl lieber die Anklage vertreten. Zu den Richtern gehörten auch drei Stabsoffiziere, die eigens aus Washington angereist waren, um, wie man mir sagte, eine streng neutrale Prozeßführung zu garantieren. Die drei Gentlemen standen im Rang eines Oberstleutnants, was mir signalisieren sollte, wie wichtig man meinen Prozeß an oberster Stelle nahm. Ich habe die drei Gentlemen offenbar nicht für so wichtig gehalten, denn ich habe ihre Namen inzwischen vergessen. Von Anfang an hatte der Prozeß etwas Unwirkliches. Ich hatte das Gefühl, daß mehr über meinen Kopf hinweg verhandelt wurde als mit mir. In den Worten und Meinungen, die die Herrn Richter und der Protokollführer miteinander tauschten, waren Unter- und Obertöne, die ich nicht verstand, aber die mir später noch oft zu denken gaben. Irgendwie schien es um ganz andere Dinge zu gehen, die den Gentlemen wichtiger waren als das Leben eines jungen, völlig unbedeutenden Scouts. Und noch etwas war sehr merkwürdig: Soldaten, die unter Umständen zu meinen Gunsten hätten aussagen können, wie zum Beispiel Captain Lewis Clay oder Corporal Madox, befanden sich im Kampfeinsatz gegen die Apachen und wurden von Major Fly
vertreten, der in meiner Sache vernommen wurde, obwohl er zu den Richtern gehörte. So etwas war nur bei einem Kriegsgericht möglich, dachte ich kopfschüttelnd. In einem Zivilgericht hätte kein Offizier von Fort Calhoun am Richtertisch sitzen dürfen, weil sie natürlich alle befangen und voreingenommen waren. Ich spürte sofort, daß sie alle das Urteil längst beschlossen hatten, ehe die Verhandlung gegen mich begann. Als Ankläger fungierte ein Captain von der B-Kompanie, ein schneidiger West-Point-Offizier namens Jefferson, der jeden Satz mit einem Schlag seiner knochigen Hand auf die Tischplatte ankündigte. »Der Angeklagte wird beschuldigt, am 11. Juni 1866 mit der Aufgabe, die von einem Indianeraufstand gefährdeten Frauen und Kinder der Farmer im Gebiet am Rio Doro zu evakuieren, diesen Treck mit besagten Frauen und Kindern in einen Hinterhalt der Apachen geführt zu haben, mit vollem Wissen und ohne Rücksicht darauf, daß niemand mit dem Leben davonkommen würde …« »… beschuldigt, den Tod von über zweihundert Menschen vorsätzlich herbeigeführt zu haben, und zwar …« Es folgte eine fast endlose Namensliste. »… beschuldigt, mit dem Feind, den Apachen, konspiriert zu haben. Jeden dieser Anklagepunkte wird die Anklagevertretung durch Indizien und Zeugenaussagen erhärten. Ich möchte schon jetzt darauf hinweisen, daß der Angeklagte laut Artikel 8, Paragraph a des Kriegsrechts der Armee der Vereinigten Staaten, bereits mit dem Tode bestraft werden müßte, wenn er auch nur in einem Punkt der Anklage schuldig gefunden wird.« Sie einigten sich rasch darauf, daß nur ich ein Motiv gehabt haben konnte, den Treck an die Apachen zu verraten, weil nur ich immer leidenschaftlich für sie eingetreten war. Und weil ich ihre Sprache verstand und mich mit ihnen unterhalten konnte. Und weil nur ich immer und jederzeit Gelegenheit hatte, mich mit den Apachen zu treffen. Und weil ich allein die Route durch den Halcon Canyon ausgesucht und befürwortet hatte. Und weil nur ich lebend dem Massaker entkommen und die Apachen keinen anderen geschont hatten. Und weil ich nicht erklären konnte, warum ich nach Mexiko geflüchtet sei, statt sofort ins Fort zu reiten und dort die Katastrophe
zu melden. Und weil – weil – weil … Nur der letzte Punkt sprach als Indiz wirklich gegen mich. Es genügte, daß das Gericht sich nach fünfzehnminütiger Beratung wieder im Saal versammelte und mich in allen drei Punkten schuldig sprach. »Verurteilen wir Sie zum Tode durch den Strang. Das Urteil wird binnen einer Woche vollstreckt, falls nicht neue Beweise ans Licht kommen, die die Unschuld des Verurteilten eindeutig belegen, die er so hartnäckig uns gegenüber behauptet.« Major Fly lächelte ironisch bei diesen Worten, die Colonel Lester mit leiser Empörung vortrug. Das war das Ende meines Prozesses. Er hatte anderthalb Stunden gedauert. Ich hatte nicht ein Wort davon erwähnt, daß sich zwei Offiziere unerlaubt in Uniform auf mexikanischen Territorium mit einem Zivilisten getroffen hatten. Was konnte ich damit schon beweisen? Erst nach dem Prozeß ging mir die Bedeutung eines Satzes auf, den einer der Oberstleutnants hatte einfließen lassen, als ich mich in eigener Sache verteidigte. »Wie kommt es, daß wir in den letzten drei Wagen Ihres Trecks, die angeblich Lebensmittel transportiert haben, leere Waffenkisten gefunden haben?« Leere Waffenkisten! Major Fly hatte davon nicht gewußt, obwohl ich ausdrücklich auf seinen Befehl diese drei angeblichen Fouragewagen in den Treck hatte einreihen müssen. Ich hatte jetzt so eine Ahnung, daß dieser West-Point-Major mehr über diesen Verrat an die Apachen wußte als ich selbst! * Die Nacht nach meiner Verurteilung begann unerwartet ruhig. Ich war zum Tode verdammt und sollte hängen. Das sprach sich schnell bei den Farmern herum, die zwei Tage lang versucht hatten, mich zu lynchen. Binnen einer Woche sollte ich baumeln. Sie würden dabei sein. Das gab ihnen ihre Frauen und Kinder nicht zurück, aber es würde ihren Schmerz lindern.
Daß der Falsche baumeln sollte, ahnten sie nicht. Es kümmerte sie wohl auch nicht. Auch ich war sehr ruhig, für meine Jugend erstaunlich fatalistisch. Die Nähe der Männer vom Rio Doro, die keine zwanzig Yards vom Gefängnis entfernt ihre Wagen aufgefahren hatten mit den wenigen Habseligkeiten, die sie retten konnten, übte eine mächtige Wirkung auf mich aus. Ich hörte sie sprechen, und ich konnte sie von meinem Zellenfenster aus sogar beobachten. Männer, die mit hölzernen, maskengleichen Gesichtern in der Sonne saßen und ihre Hände kneteten, als könnten sie daraus etwas Nützliches formen. Männer, die auf einer Decke beisammen saßen und sich den Lederbecher mit Würfeln zureichten, als wäre das harmlose Spiel um ein bißchen Glück und ein paar Dollar eine willkommene Unterbrechung in einem arbeitsreichen, sinnvollen Alltag. Männer, die vergaßen, die Augen der Würfel zu zählen und ihren Gewinn einzusammeln, weil die Leere und Trostlosigkeit sie mitten beim Spiel überfiel. Männer, die nur beisammensaßen und würfelten, weil sie sonst zu oft zur Flasche greifen würden. Für viele war das Spiel eine Flucht, um nicht allein im Wagen bleiben zu müssen, wo ihre Gedanken immer nur im Kreis herumlaufen würden: Warum mußte ich meine Familie hergeben? Warum soll ich hier warten, bis die Apachen wieder gezähmt sind? Damit ich eine Farm wieder aufbauen soll? Warum? Ich habe das für meine Familie getan, und sie lebt nicht mehr. Soll ich es für mich allein tun? Wofür von vorn anfangen, wenn ich Unersetzliches verloren habe? Es ist härter, als es sein dürfte. Ich sah auch, wie ein älterer Farmer am Morgen meines Prozesses tot aus seinem Wagen getragen wurde. Er hatte zu viel getrunken, hörte ich die Wachen sagen. Ich wußte es besser. Er hatte sich mit Alkohol vergiftet. Und ich hatte als einziger überlebt – jung, ohne Familie, ohne Verantwortung. Ich hatte ihre Frauen und Kinder in den Tod geführt. Angeblich gegen Belohnung. Es war ein Wunder, daß sie sich so weit beherrschen konnten, meine Hinrichtung abzuwarten. Ich vermochte mich immer besser in andere Menschen hineinzuversetzen.
Es würde ihnen eine kurze Befriedigung in ihrem Leid verschaffen, einen Schuldigen hängen zu sehen. Es war ein Akt der Gerechtigkeit für diese Leute, die eine Ermutigung bitter nötig brauchten. Und für diesen Akt genügte auch ein falsches Opfer. Den wahren Verräter würden sie nie baumeln sehen. Er würde niemals gehenkt werden, vielleicht niemals entlarvt. In diesen drei Nächten, in denen ich selbst am Abgrund des Todes saß und zusah, wie blind und seltsam die Würfel im Leben fallen können, rührte mich das Schicksal anderer Menschen viel tiefer an als mein eigenes. Und das Rätsel unseres Daseins beschäftigte mich so sehr, daß ich darüber vergaß, mich selbst zu bedauern, weil ich mein eigenes so rasch wieder hergeben sollte. Es waren unglaublich lebendige Tage damals, erfüllt von Gedanken und dramatischen Empfindungen, als wäre der Tod weit weg, noch hinter dem Horizont. Das Fort, das ebenfalls aufregende Tage und Nächte seit meiner Rückkehr oder »Verhaftung« erlebt hatte, war ganz ruhig und friedlich, als wäre mit meiner Verurteilung endlich wieder der normale Alltag eingekehrt. Ich lag auf meiner Pritsche, die Arme unter dem Nacken verschlungen, und wunderte mich über meinen eigenen Frieden. Die Schlinge würde wehtun – ohne Zweifel war ein zu früher Tod eine grausame Sache. Doch dieses Schicksal teilte ich mit Millionen anderer Menschen vor mir und nach mir Ich war kein Einzelfall. Fragte man einen Soldaten danach, ob er sterben wollte? Ich wehrte mich gegen einen ungerechten Tod, aber hatten das nicht Millionen vor mir versucht? Wenn es sein mußte, konnte ich es nicht verhindern. Wir sind nicht Herr unseres Lebens, wir können nur etwas daraus machen. Ich hörte leise Geräusche in meiner Nähe, aber sie lenkten mich nicht von meinen Gedanken ab. Der Tod konnte nicht das Ende sein. Das ergab keinen Sinn. In uns ist ein Streben, das nicht darauf angelegt ist, das Nichts zu erreichen. Wir streben nach einem reicheren, tieferen, besseren Leben. Der Tod ist ein Rätsel, aber er kann nicht das Ende sein. Die Geräusche in meiner Nähe wurden deutlicher. Sie störten mich fast, weil ich mich aus meinen Gedanken herausdrängen wollten.
Ich hätte nie geglaubt, daß die schweren Riegel an meiner Tür so geräuschlos bewegt werden könnten. Ich dachte immer noch, irgend jemand bei den Wagen der Farmer fände keine Ruhe und beschäftigte sich mit seiner Plane oder schöbe leise ein paar Kisten hin und her. Viel lauter war das Geräusch nicht gewesen. Meine Zellentür schwang auf. Einen Moment erfaßte mich ein kalter Schreck: Vielleicht versuchten sie es in dieser Nacht auf eine leise Tour, mich zu lynchen. Ich schoß auf meiner Pritsche in die Höhe, bereit, mich mit Fäusten und Zähnen gegen eine Lynchjustiz zu wehren. Ich spürte, wie wenig ich im Grunde bereit war, zu sterben. Lynchen bedeutete eine doppelte Ungerechtigkeit. Das wollte ich nicht hinnehmen. »Leise, du Idiot!« Es war die Stimme von Jicarilla, des Apachen-Halbbluts und zweiten Scouts. Ich hatte ihn seit Tagen nicht mehr gesehen. Er konnte nicht im Fort gewesen sein, als ich verhaftet wurde. Er roch, wie immer, penetrant nach Schnaps. Für mich war es diesmal ein paradiesischer Geruch. Wenn Jicarilla diesen Fuselduft um sich verbreitete, war er topfit und wußte genau, was er tat. »Du bist ein Unglücksrabe«, sagte er leise, während er mir die Lederriemen von den Handgelenken schnitt, »aber auch ein riesiger Glückspilz, daß du mich hast!« Er grinste mich im Dunkeln an. Er war bis zu den Zähnen mit seiner Flinte und seinen vernickelten Colts bewaffnet. Ich massierte meine Handgelenke. Ich konnte es nicht fassen. »Du – du glaubst nicht an meine Schuld, Jicarilla?« flüsterte ich. »Dir muß das faule Stroh in den Kopf gestiegen sein, du Hornochse«, flüsterte er leise zurück. »Ich kann doch Spuren lesen! Du hast durchgedreht, erster Scout! Hätte ich vielleicht auch an deiner Stelle! Die weißen Gents aus West-Point brauchen einen Sündenbock, Junge. Mahon Tabor, der spielwütige Zahlmeister, ist bereits vom Dienst suspendiert und mußte mit Sack und Pack das Fort verlassen. Er hat sich auffallend oft von seinem Urlaubsort entfernt, als der Aufstand losging. Das heißt, er war gar nicht dort, wo er sein sollte! Ein paar Gentlemen aus Washington haben Major Fly in der Mache, Junge. Er tut sich verflucht schwer, zu erklären,
warum er dir eine so erbärmliche Eskorte mitgegeben hat. Und warum er dich nicht an die drei angeblichen Verpflegungswagen heranließ, die am Schluß des Trecks fuhren. Und warum die Wagen mit Gewehren und Munition beladen waren und von Soldaten kutschiert wurden, die er selbst für diese Wagen ausgesucht hat. Und warum einige Zeugen nicht bei diesem Prozeß aussagen durften.« Jicarilla grinste wie ein Wolf, der Zahnschmerzen hat. »Junge, dein Prozeß hat ein Jauchefaß hier im Fort geöffnet, und die Gentlemen aus Washington rühren jetzt mit einem Stecken darin herum, um den wahren Verräter zu finden!« »Dann gibt es einen neuen Prozeß!« flüsterte ich mit jäh erwachter Hoffnung. Er tippte mir heftig mit seiner knochigen Faust an die Stirn. »Wach auf, Junge!« zischte er. »Die Armee frißt doch nicht ihre eigenen Kinder! Für so blöd darfst du die nicht halten! Sie müßte ein irres Geld Entschädigung für die armen Teufel zahlen, die da draußen in ihren Wagen sitzen und trauern! Abgesehen von dem Riesenskandal im Land, können die sich einen neuen Prozeß gar nicht leisten! Sie haben doch einen Schuldigen – dich! Du wirst baumeln, und alles andere bügeln die Gentlemen still und heimlich unter sich selbst aus. Je eher du baumelst, um so lieber ist es ihnen. Begreifst du das nicht?« »Ungeheuerlich!« »Ja – deine Dummheit. Da hast du allerdings recht. Und ich habe alle Beweise, die ich brauche, daß du unschuldig bist, Ronco. Ich kann sie nur nicht gegen die Armee verwenden!« Er lachte still in sich hinein. »Was für Beweise, Jicarilla!« flüsterte ich erregt. Er kicherte. »Sie stehen draußen! Du kannst sie dir in aller Ruhe betrachten. Aber nicht zu lange, wir haben nicht viel Zeit!« Ich folgte ihm benommen in die Wachstube des Gefängnisses. Es ist nicht so leicht, eine jähe Kehrtwendung vom Tod ins Leben zurück zu vollführen. Es war eine mondlose Nacht. Das Sternenlicht über den dunklen Hügeln gab nicht viel her. Die Lampe in der Wachstube war erloschen. Die beiden Blauröcke, die mich bewachen sollten, hingen
mit gesenkten Köpfen leblos in ihren Stühlen. »Tot?« fragte ich, erschrocken. Jecarilla grinste böse. »Dir zuliebe haben wir sie nur betäubt.« »Wer ist wir?« »Sind deine Augen schon so schlecht, erster Scout, daß du im Dunkeln so schlecht siehst?« Er deutete auf die Wand neben der Tür, die nur angelehnt war. »Mein Gott!« hauchte ich. »Wie kommen denn die ins Fort?« »Ganz einfach«, erwiderte Jicarilla mit leisem Grimm, »über eine Strickleiter!« »Dann – dann bist du also der Verräter, Jicarilla?« Er tippte mir wieder gegen die Stirn, diesmal etwas heftiger. »Mir scheint, dir muß wirklich dein Verstand abhanden gekommen sein! Ich tue eine Menge für Schnaps, aber ich verschachere dafür keine Frauen und Kinder!« Er sah mich fast böse an. »Die beiden kennen den Verräter. Sie wollen es nur nicht sagen. Kann ich auch gut verstehen! Dann kriegen sie keine Gewehre und keine Munition mehr für ihren Aufstand!« »Mein Gott, Jicarilla, du kannst dich gleich neben mir aufhängen lassen, wenn das auffliegt!« flüsterte ich wie betäubt. Neben der Tür warteten zwei Apachen mit voller Kriegsbemalung und steinernen Gesichtern, nagelneue Sharps in der Hand, Tomahawks im Gürtel. »Ich denke nicht daran, mein Junge! Ich quittiere noch heute nacht den Dienst! Mit weißen Kriegern, die ihre eigenen Frauen und Kinder ans Messer liefern, will ich nichts mehr zu tun haben!« »Teufel, wo hast du die beiden her?« fragte ich leise und starrte dabei die beiden Apachenkrieger an. Sie blieben so unbewegt, als wären sie mit der dunklen Wand verwachsen. »Frag nicht so viel, Ronco! Wir müssen hier weg!« »Ich gehe nicht eher, bis ich es weiß? Wenn sie uns aufhalten, sind die beiden doch ein endgültiger Beweis, daß ich den Treck an die Indianer verraten habe!« »O, du unbelehrbarer Hornochse!« Er wandte sich an den einen der beiden Indianer an der Wand und sagte im Chiricahua-Dialekt: »Klär diesen Narren auf. Das Urteil hat seinen Geist verwirrt!« Die Stimme des Indianers mit der Feder in der Kopfbinde tönte
wie raschelndes Laub aus dem Dunkeln. Seine Worte waren kurz und überzeugend: »Ta-pe und Little Raven, Kriegshäuptlinge der Apachen, kennen den Verräter. Er mit ihnen verhandelt. Er ihnen Waffen liefern. Du immer gerecht zu uns, Gelber Falke. Du nicht sollst sterben für einen Verräter!« »Himmel – wer ist dieser Verräter!« begehrte ich heftig gegen das Schweigen auf, das nach diesen kurzen Worten des Apachen wieder einkehrte. Der Krieger schüttelte den Kopf. »Nicht Jicarilla, Gelber Falke. Er ist wieder ganz roter Bruder. Er mit uns kämpfen wollen. Wir nehmen keinen Verräter als Krieger bei uns auf!« »Wer ist es?« Jicarilla kicherte. »Du kriegst kein Wort mehr aus ihm heraus, Ronco. Ich habe es auch schon bei Little Raven versucht. Sie beißen sich lieber die Zunge ab, als uns den Namen zu verraten. Kann ich ihnen nicht verdenken. Sie kämpfen ums Überleben. Dafür brauchen sie Waffen.« »Meine Feinde helfen mir, und meine Freunde lassen mich im Stich!« »So ist das Leben nun einmal, mein Junge. Außerdem ist das gelogen. Die Apachen waren nie deine Feinde, und du warst nicht Feind der Apachen. Und wenn du mich zu deinen Feinden rechnest, haue ich dir den Colt über den Schädel, den ich dem Corporal der Wache abgenommen habe!« Es war ihm offensichtlich ernst damit. Er holte sogar damit aus. Ich nahm ihm die Waffe aus der Hand und steckte sie in meinen Gürtel. »Auf was warten wir noch?« sagte ich, als erwachte ich endlich aus einem bösen Traum. * Wir hasteten an den dunklen Planwagen der Farmer vorbei und liefen geduckt auf die Ställe zu, wo Jicarilla seine Strickleiter über die Palisaden geworfen hatte. Die beiden Apachen bewegten sich vor mir so lautlos wie Katzen. Ich sah nur ihre Sharps im Sternenlicht blinken.
Unten am Fuß der Fortmauer versammelten wir uns wieder. Bis jetzt war alles so leicht gegangen wie ein Kinderspiel. Und keiner im Fort hatte wohl mit einem Befreiungsversuch der Apachen gerechnet – ich am wenigstens. Die Apachen turnten vor mir die Strickleiter hoch. Es war so still im Fort, als wäre es von seiner Besatzung aufgegeben worden. Drüben am Tor bewegten sich die Posten auf dem Wehrgang als dunkle Silhoutte vor dem glimmenden Himmel ein paar Schritte hin und wieder zurück wie Pendel einer großen Standuhr. Jicarilla kletterte vor mir die Strickleiter hinauf. Die beiden Apachen kauerten auf der Mauerkrone, den Blick ins Fort gerichtet, so regungslos, als gehörten sie zu den Palisadenspitzen. Jicarilla erreichte über mir den Wehrgang. Er glaubte wohl, die Gefangenschaft in der Einzelzelle mußte mich arg geschwächt haben. Er streckte den rechten Arm zu mir hinunter, um mir hinaufzuhelfen, und erstarrte plötzlich mitten in der Bewegung, den Kopf vorgeneigt. Ich hing an der obersten Sprosse und drehte mich um. Einen Moment schien mein Pulsschlag auszusetzen. Es mußte einer der Farmer sein. Er war bis an die Palisadenwand gegangen, um dort im Schatten eines abgestellten Planwagens der Armee seine Notdurft zu verrichten. Er torkelte schlaftrunken hin und her. Und dabei starrte er mit offenem Mund zu mir hoch. Und dann schrie er ganz laut – einen einzigen, sehr hohen und schrillen Ton, der noch im Anschwellen steckenblieb, weil ein Pfeil ihn mitten durchschnitt. Er reichte aus, dieser abgeschnittene Ton. Im Wachturm über dem Tor sprühte eine kleine Flamme auf. Dann wurden daraus drei brennende Fackeln, die den Wehrgang hinunterliefen – direkt auf Jicarilla und die Apachen zu. Ein Schuß dröhnte in die Nacht, und riß das Fort aus seiner Nachtruhe. Eine Trompete blinkte auf dem Exerzierplatz im Sternenlicht. Das Signal war nicht sauber geblasen und blieb zweimal hinter dem richtigen Ton zurück. Doch jeder im Fort erkannte es trotzdem. »Alarm – Alarm – Überfall – Überfall!«
Lichter gingen schlagartig überall im Fort an. Die Besatzung war auf so ein Signal nicht ganz unvorbereitet. Im Süden von Texas herrschte das Kriegsrecht, und alle Soldaten schliefen neben ihrem Gepäck, ihre geladenen Handwaffen griffbereit. »Da – Apachen!« brüllte eine Stimme, die auf dem Wehrgang heranjagte. Eine Sharps bellte über mir auf. Der Soldat, der auf uns zulief, warf die Arme in die Luft, drehte sich um seine Längsachse und fiel von der Palisadenwand herunter. Wieder ein Opfer dieses verfluchten Verräters, dachte ich erbittert. »Herauf mit der Leiter!« zischte Jicarilla über mir. Ich schwang mich über den Wehrgang hinauf und zog wie rasend an den Stricken. Eine Kugel wehte heiß an meinem Kopf vorbei. Die beiden Apachen gaben keinen Laut von sich. Sie bewegten sich mit der geschmeidigen Wildheit von Tieren, die nach langer Entbehrung endlich überreiche Beute vor sich sehen. Sie schienen uns völlig vergessen zu haben, stürmten geduckt den Wachen auf dem Wehrgang entgegen, schnellten in die Höhe, schossen, duckten sich wieder zwischen die Palisaden. »Das ist Selbstmord!« keuchte ich. »Es ist ein Jammer«, erwiderte Jicarilla leise, während er mit fliegenden Händen die Strickleiter an der Außenseite der Palisadenwand wieder ausrollte. »Sie haben sich freiwillig für den Auftrag gemeldet, Junge. Es sind in jüngster Zeit nicht nur weiße Frauen und Kinder umgekommen.« »Das Ganze ist ein Wahnsinn.« »Sicher, denn es wird mit der Ausrottung der Apachen enden. Von den Weißen gibt es meiner Meinung nach schon viel zu viele. Und Indianer wirst du eines Tages nur noch ausgestopft im Museum besichtigen – autsch!« Er zuckte zusammen und griff sich an den linken Arm. »Jicarilla!« flüsterte ich erschrocken. »Es ist ein alter Fehler von dir«, erwiderte er bissig, »daß du zu viel redest! Nichts wie weg hier!« »Die beiden Apachen!« »Denen kannst du nichts vorschreiben, Junge. Wenn sie uns folgen
wollen, ist das ihre Sache. Wenn nicht, auch gut. Los, die Leiter hinunter!« Er hatte Mühe mit dem verwundeten linken Arm. Ich half ihm hinunter. Wir beeilten uns so sehr, daß die Strickleiter hin- und herpendelte, als wäre sie an der Reling eines in schwerer See schlingernden Schiffes befestigt. Die beiden Apachen über uns schienen das ganze Fort in Atem zu halten. Auf dem Wehrgang der Westseite blitzte es immer wieder an einer anderen Stelle auf, und die Mündungsfeuer zeigten von uns weg. Ich erreichte den Fuß der Palisaden. Vor mir lag der frischgerodete Streifen Sand, der dem Fort ein vollkommenes Schußfeld garantierte. »Ohne Pferde gelangen wir nicht weit«, hauchte ich. »Ich hole dich hier doch nicht heraus, ohne Pferde mitgebracht zu haben, Idiot«, flüsterte Jicarilla rauh. »Sie stehen dort drüben am Hang, wo die Felsen anfangen. Bis dahin mußt du dich leider zu Fuß bemühen!« Er setzte sich in diese Richtung in Bewegung. Das Knattern der Schüsse im Fort nahm zu. Offenbar glaubte man dort, den Angriff einer größeren Apachen-Streitmacht abwehren zu müssen. Das Tor des Forts blieb geschlossen, damit die roten Krieger, die dort draußen im Dunkeln zu lauern schienen, nicht in einer stürmischen Attacke das Fort erobern konnten. Dann hörte ich, wie das eine Gewehr auf der Palisadenwand in die Luft schoß. Kurz darauf fiel es dumpf in den Sand, keine zehn Schritte von mir entfernt. Ich lief hinter Jicarilla her um mein Leben. Sie hatten offenbar im Fort eingesehen, daß die Apachen auf der Mauer nur noch aus einem Krieger bestanden, dem die Munition ausgegangen war. Der andere Apache hing leblos an den Palisadenspitzen. Die beiden opferten sich, dachte ich benommen. Sie wollten nicht mehr zu ihren Pferden zurück. Und der eine, der noch lebte, würde noch möglichst viele Weiße ins Jenseits befördern, ehe er selbst getötet wurde. Fackeln bewegten sich auf den Wehrgängen und schlossen sich zu einer Kette zusammen. Aber sie wagten sich noch nicht aus dem Fort
heraus. Sie fürchteten einen Hinterhalt. Sie trauten der Ruhe und der weiten Leere nicht, die das Fort umgaben. Die Apachen warteten dort oben auf den Hügel nur darauf, daß die Blauröcke erschienen und sich auf dem gerodeten Vorfeld des Forts tummelten. Denn der Vorteil der freien Schußbahn galt auch im umgekehrten Sinne: Wenn sich die gutbewaffneten Apachen auf den Hügeln um das Fort verschanzt hatten, konnten sie den Soldaten bei einem Ausfall einen verheerenden Kugelhagel entgegenschicken. Eine reine Hypothese. Dort oben lauerte kein einziger Apache. Nur zwei Männer versuchten, so rasch wie möglich vom Fort wegzukommen. Ich mußte an Küchenschaben denken, die sich in ein dunkles Loch flüchten, weil ein Licht sie in der Speisekammer überrascht hat. Oben auf der Mauer brannte plötzlich eine Karbidlampe so hell wie eine große Sternschnuppe im November. Ich hörte das Dröhnen der Schüsse ganz laut diesmal, und die Mündungsfeuer waren jetzt auf uns gerichtet. Ich lief im Zickzack. Um Jicarillas Beine wirbelte der Sand in kurzen, sprühenden Fontänen. Er hing schief und hatte Schlagseite nach links. Aber laufen konnte er immer noch wie ein Hase. Ich sah die Felsen vor mir und den Lichtschein, der nur noch ein fahler, blasser Schimmer auf den grauen Steinen war. Doch der Schlag, der mich nach vorn warf, war ein grelles, heißes Licht hinter meinen Augen. Die Felsen rasten auf mich zu. Und sie waren so schwarz, daß sie alles Licht um mich herum erstickten. * Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einer Höhle, die mindestens vierzig Meilen von Fort Calhoun entfernt sein mußte. Ein Mann beugte sich über mich, der kein Gesicht hatte, nur eine Maske mit Augenschlitzen und Nasenlöchern. Ich konnte das nicht begreifen. Entweder hatte ich den Berg des Colina del Oro in der Wüste von Sierra del Burro nie verlassen. Dann
mußte mein Prozeß ein Fiebertraum gewesen sein, der mich davor gewarnt hatte, ins Fort zurückzukehren. Oder – oder ich träumte von dieser Höhle und lag in Wirklichkeit noch auf meiner stinkenden Pritsche in der Todeszelle von Fort Calhoun. Dann war meine Befreiung auch nur ein Wunschtraum, und ich mußte rasch wieder die Augen schließen, um nicht in eine grausame Gegenwart zurückkehren zu müssen. Ich hatte aber meine Augen bereits geöffnet, und Mascara bewegte sich über mir, als hätte ich von einem Galgen wirklich nichts mehr zu befürchten. »Sie haben mehr Glück als Verstand«, sagte der ehemalige Texas Ranger mit seiner kehligen dunklen Stimme und den merkwürdigen, lispelnden Verschlußlauten, weil er keine Lippen mehr hatte, mit denen er sie korrekt formen konnte. »Ich glaubte nicht, daß wir uns noch einmal sehen würden.« »Wo ist – ist Jicarilla?« fragte ich mühsam. »Das Halbblut, das Sie aus dem Schlangennest herausgeholt hat?« »Mein bester Freund, ja. Wo ist er?« »Nur keine Aufregung, mein Freund. Er hat Sie auf ein Pferd geladen und ist in die einzige Richtung geflüchtet, die Ihnen noch offenstand als zum Tode Verurteilter. Nach Mexiko.« »Und ich …« »Sie haben eine Kugel in der Hüfte eingefangen. Eine Erinnerung an Ihre Tage bei der Armee in Fort Calhoun. Möge die Narbe Sie immer daran erinnern, daß Sie weglaufen müssen, wenn Sie einen Blaurock in Ihrer Nähe auftauchen sehen.« »Ich denke nicht daran, vor den Blauröcken wegzulaufen!« erwiderte ich grimmig. »Einer von ihnen ist ein Verräter. Und ich werde nicht eher ruhen, bis er seine gerechte Strafe erhält.« »Ihr bester Freund, das Halbblut, hat mich davor gewarnt, Sie auch nur einen Schritt aus meinem Bau herauszulassen. Er meinte, Sie würden mit offener Wunde über den Rio Grande reiten und das Fort Calhoun stürmen, damit die Gerechtigkeit siegt. Er meint, Sie seien ein unverbesserlicher Optimist!« »Solche Worte gebraucht Jicarilla nicht, Mascara!« »Ich übersetze sie nur in Ihre Sprache. Lassen Sie mich
nachdenken. Er sagte, wortwörtlich: ›Richten Sie ihm aus, wenn er aus seinem Tiefschlaf erwacht, daß die Armee auf ihn Jagd macht wie auf einen tollwütigen Kojoten. Er soll in Mexiko bleiben und sich dort verkriechen wie ein Erdferkel. Wahrscheinlich wird er das nicht tun, weil er ein Hornochse ist. Er glaubt, daß er nicht leben kann mit dem Ruf eines Verräters und eines zum Tode Verurteilten. Statt seinen Namen zu wechseln, wird er alles tun, um seinen alten Namen, der auch nicht sein richtiger ist, von jedem Makel reinzuwaschen. Er glaubt, daß die Gerechtigkeit am Ende siegen müsse. Kaum ist er wieder gesund, rennt er zurück nach Texas und kämpft gegen Windmühlen. Ich kenne ihn in- und auswendig. Er wollte mir ja auch mit Gewalt das Trinken abgewöhnen. So etwas kann nur ein unverbesserlicher Weltverbesserer versuchen.‹« »Jicarilla muß sehr nüchtern gewesen sein, wenn er so viel und so klug über mich gesprochen hat«, sagte ich gerührt. »Er war stinkbesoffen.« »Das ist bei ihm dasselbe.« Ich versuchte mich, auf dem Fellager aufzurichten. Aber als ich einen stechenden Schmerz in der Hüfte spürte, gab ich es wieder auf. »Wie kam ich hierher?« fragte ich. »Auf einem Travois. Jicarilla hatte vier Pferde zur Verfügung, und deshalb konnte er Sie auf zwei langen Stangen hinter einer Quadrige herschleifen. Zum Reiten hätte er Sie nicht bewegen können. Nicht mit einem Stück Blei in der Hüfte.« »Er war selbst verwundet. Wie hat er das nur geschafft?« »Oh!« Marcara verzog seine verbrannten Lippen zu einem gespenstischen Lächeln. »Sie haben offenbar mehr Freunde in der Not, als Sie ahnten. Und da sagt man doch immer, daß gerade in Kriegszeiten Freunde so rar sind wie das Wasser in der Wüste. Vielleicht kommt es daher, daß die Apachen froh sind darüber, daß die Yankee-Soldaten in Fort Calhoun gleich zwei Scouts auf einmal verloren haben. Und wie ich hörte, die beiden besten Scouts zwischen dem Rio Grande und dem Yellowstone River.« »Er hatte noch mehr Apachen zum Fort mitgebracht?« fragte ich betroffen. »Ich dachte, es waren nur zwei!« »Er hatte noch ein paar in Reserve. Das heißt – hm …«
»Was heißt das?« fragte ich mißtrauisch. »Ich habe mir erlaubt, auch ein wenig mitzuhelfen, Ronco. Ich gehe nicht gern auf das amerikanische Ufer des Rio Grande hinüber. Aber nachts, wenn alle Katzen grau aussehen, kann ich das mit meinem Gesicht schon mal riskieren.« »Sie also auch?« »Ich kenne Ta-pe und Little Raven sehr gut. Es wird Ihnen natürlich nicht gefallen, daß ich ihnen ein kleines Geschenk überreicht habe. Etwas, was die beiden Häuptlinge dringend brauchen. Aber leider konnte ich sie damit auch nicht bewegen, mir die Namen des Verräters in Uniform zu verraten, Ronco.« »Jicarilla hat mir davon kein Wort gesagt.« »Er meinte, Sie brauchen nicht alles zu wissen. Wir haben uns in Little Ravens Kriegszelt in den Bergen westlich von Eagle Paß kennengelernt. Wir sind wohl beide gleichzeitig auf den gleichen Gedanken verfallen, daß nur ein paar Apachen Sie noch aus der Todeszelle herausholen können.« »Teufel, Mascara – das haben Sie alles für mich getan, ohne mich eigentlich zu kennen. Ich meine, nicht richtig …« »Unsinn. Freund. Man tut, was man kann. Ich habe Ihnen doch gleich gesagt, was Sie in Fort Calhoun erwarten wird. Als ich sah, daß Sie von dem kleinen Rancho aus direkt zum Rio Grande ritten, dachte ich mir, der Junge rennt ins offene Messer. Und als Unschuldiger am Galgen zu sterben, das haben Sie wahrhaftig nicht verdient.« »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken kann, Mascara!« Seine dunklen Augen funkelten. »Sie werden mein Partner und bleiben hier in Mexiko. Sie wechseln Ihren Namen, und ich färbe Ihnen die Haare schwarz. Ich verwandle Sie in einen Mexikaner, und Sie werden sich selbst nicht wiedererkennen. Ich verstehe mich auf so was.« Ich lächelte schwach. Ich wußte, was ich zu tun hatte, wenn meine Wunde wieder verheilt war. Ich würde genau das tun, was Jicarilla von mir prophezeit hatte. Aber ich wollte Mascara nicht enttäuschen. Nicht jetzt. Also nickte ich nur gedankenverloren und sagte: »Die Kugel –
steckt sie noch im Knochen?« »Die habe ich Ihnen schon vor ein paar Tagen herausoperiert, Ronco.« »Vor Tagen?« Ich blickte ihn verwundert an. »Wie lange bin ich denn hier?« »Fast eine Woche.« Mascara grinste hinter seiner Maske. »Ich hatte Jicarilla gesagt: Wenn er nicht freiwillig mitkommt, gibst du ihm mit einem Colt eins über den Schädel.« »Das hätte er beinahe getan.« »Und wenn er erst mal aus dem Fort heraus ist, sagte ich zu ihm«, fuhr Mascara fort, »und sich sträubt, sich nach Mexiko in Sicherheit zu begeben, habe ich noch ein Mittel, ihn dazu zu überreden. Aber der Schuß in die Hüfte, Ronco, hat dafür gesorgt, daß ich Sie nicht erst überreden mußte.« »Hm«, sagte ich nachdenklich, »ich war bewußtlos. Aber ich kenne die Wirkung eines Travois. So ein Stangenschlitten, der von vier Pferden über Stock und Stein geschleift wird, ist ein Folterinstrument für Verwundete. Ich habe schon Häuptlinge vor Schmerzen weinen sehen, als sie verwundet mit so einem Schlitten vom Kampfplatz abtransportiert wurden. Häuptlinge, die bei einer Folterung nicht einen Ton von sich gegeben hätten!« »Richtig, mein Junge. Ich habe Ihnen vorher eine Flasche mit Mohnsaft in den Magen geträufelt. Mit Hilfe eines kleinen Bambusrohres mit Gummimundstück. Opium ist ein hervorragendes Schmerz- und Schlafmittel. Es gibt kein besseres.« »Sie haben mich also regelrecht entführt, Masacara! Mit allen Tricks eines Banditen.« Sein Mund wurde hart. »Ich habe nur von den Banditen gelernt, die meine Frau und meine Kinder auf dem Gewissen haben. Die Mädchen, die von diesen Verbrechern entführt und an Freudenhäuser verkauft wurden, wollten auch nicht freiwillig mitkommen. Sie wurden mit Mohnsaft eingeschläfert.« »Nun«, sagte ich, »wenn Sie und Jicarilla nicht gewesen wären, würden mich jetzt schon die Geier am Galgen fressen.« »Wahrscheinlich«, sagte er. »Höchstwahrscheinlich. Ich hätte auch Jicarilla gern hierbehalten. Aber er wollte nichts davon hören.
Er ist wieder drüben in Texas. Die Wunde am Arm war nur ein Kratzer.« »Wo ist er?« »Er hilft Little Raven. Nicht als Scout, sondern als Berater. Er hat ja lange genug bei der Armee gedient, um dem Kriegshäuptling der Chiricahuas Ratschläge geben zu können, wie man die Yankees zu packen hat.« »Er ist also auch zum Verräter geworden«, murmelte ich nachdenklich. »Nein, Ronco. Er hat sich nur auf sein rotes Erbteil besonnen. Die Niedertracht, mit der man Sie im Fort Calhoun behandelte, hat ihn tief getroffen. Das hat den Weißen in ihm getötet. Ich glaube, wenn Sie ein halber Indianer wären, hätten Sie sich auch so entschieden wie er.« »Vielleicht.« Ich schüttelte nach einer kurzen besinnlichen Pause den Kopf. Ich spürte das Opium in meinem Blut. Alles schien wie hinter einem rosigen Schleier versteckt zu sein, entrückt und seltsam verklärt, als wäre ich wirklich gestorben und sähe aus einer großen luftigen Höhe auf das Treiben der irdischen Welt hinunter. Ich lachte, obwohl ich voll Bedauern und Bitterkeit an Jicarillas Zukunft dachte. Er hatte sich mit den Apachen identifiziert und würde mit ihnen zugrunde gehen. Daran gab es keinen Zweifel mehr. Die Soldaten von Fort Calhoun würden ihn genauso erbarmungslos jagen wie mich. »Ich weiß nicht, wie er ohne seinen Schnaps Little Raven auch nur einen brauchbaren Vorschlag machen könnte, Mascara.« »Dafür habe ich gesorgt.« Mascara deutete auf seine Waffenregale, die gegenüber seiner Schlafnische an der Höhlenwand aufgebaut waren. Ich entdeckte, daß zwei Fächer leergeräumt waren. »Die Waffen, die dort fehlen, habe ich Little Raven geschenkt. Die Whiskyflaschen, die in meiner Anrichte dort drüben lagerten, hat Ihr zweiter Scout erhalten. Sie werden solange reichen, bis die beiden in die Ewigen Jagdgründe einreiten.« Mascara seufzte. »Sie werden sich nicht lange halten können gegen die Yankee-Armee. Das wissen Sie genausogut wie ich.« »Und weshalb haben Sie dann …«
Er unterbrach mich mit einer schroffen Handbewegung. »Little Ravens wird mit meinen Gewehren nicht auf Frauen und Kinder schießen, weil es keine Frauen und Kinder mehr im Aufstandgebiet gibt, Ronco. Wenigstens keine weißen Frauen und Kinder mehr. Er wird damit die roten Frauen und Kinder verteidigen. Und Jicarilla wird ihm dabei helfen!« Ich sagte nichts mehr. Die Wirkung des Opiums überwältige mich. Ich hörte seine letzten Worte nur noch aus weiter Ferne. Dann mußte ich wieder eingeschlafen sein. * Nach einer Woche war ich so weit wieder hergestellt, daß ich mit Mascara zusammen nachts wieder kurze Steifzüge in die Umgebung unternehmen konnte. Ich ritt ein Indianerpony wie Mascara. »Die mexikanischen Rurales fürchten im Augenblick nichts mehr als die Apachen«, meinte mein maskierter neuer Freund grimmig. »Und nichts jagen sie lieber als einen zum Tode verurteilten Gringo, den sie den Yankees ins Haus liefern möchten.« »Weshalb?« »Ich hörte ein Gerücht, Ronco, daß man eine hohe Belohnung auf Ihren Kopf gesetzt hat.« »Wieviel?« »So viel, daß sich ein mexikanischer Gendarm davon ein Haus kaufen könnte. Und eine hübsche Frau dazu.« Ich schwieg. Ich hatte ihn eigentlich bitten wollen, unsere Streifzüge bis zum Rio Grande auszudehnen. Aber vielleicht war es doch klüger, noch damit zu warten. In Mascaras Berghöhle war ich zwar so gut wie lebendig begraben, doch das war immer noch besser, als in der Mittagssonne an einem Strick zwischen Himmel und Erde zu schweben. Doch meine Ungeduld und Rastlosigkeit nahmen von Tag zu Tag zu. Ich hörte von Truppenbewegungen am Eagle Paß und von ein paar unentschiedenen Gefechten am Eagle Horn und in den Carrizos. Ich mußte immerzu an Jicarilla denken, der sich auf die Seite der
Verlierer hatte schlagen müssen, um mein Leben zu retten. Vielleicht konnte ich ihn auch mit so einem kleinen Trick, wie ihn Mascara bei mir angewandt hatte, über den Rio Grande nach Mexiko verschleppen und in unserem Berg verstecken, bis Gras über die Sache wuchs! Über was sollte jetzt noch Gras wachsen? dachte ich gequält. Jicarilla und ich gehörten zu den Outlaws. Daran würde sich nichts ändern, bis ich vor der Armee und der Öffentlichkeit in den Vereinigten Staaten rehabilitiert war. Bis ich dieses Ziel erreichte, konnten Monate ins Land gehen. Ich ahnte noch nicht, das es viele Jahre dauern würde, bis ich dieses Ziel erreichte. Mehr als zehn schreckliche, entbehrungsreiche Jahre. Dann mußte ich eben dafür sorgen, daß Jicarilla nicht zusammen mit den Chiricahuas für das Massaker im Halcon Canyon bestraft wurde. Er hatte damit nichts zu tun. Er sollte auch nicht für das Verbrechen anderer büßen – genausowenig wie ich. Ich mußte ihn in unser Bergversteck verschleppen, bis der Aufstand der Apachen niedergeschlagen war. Und dann wollten wir weitersehen. Das verstand ich darunter, daß erst einmal »Gras über die ganze Sache wachsen« sollte. Und dann, eines Nachts, als wir fast bis zum Rio Grande vorstießen, traf ich unvermutet mit Jicarilla zusammen. Mascara entdeckte ihn. Vielmehr entdeckte er noch vor mir das Mesquitegebüsch am Rande des Rio-Grande-Tals, aus dem ein merkwürdiger Geruch aufstieg. Es roch nach warmer Asche und billigem Kornwhisky und verbranntem Fleisch. Mascara hielt mich mit einer kurzen, energischen Handbewegung zurück und ritt in die dunklen Zweige der mannshohen Büsche. Ich sah die vielen Hufspuren, die den Hügel hinauf- und wieder hinunterführten. Eine Patrouille von drüben war hier auf das mexikanische Ufer des Rio Grande vorgedrungen. Ich hatte plötzlich einen ekelhaften Geschmack im Mund und einen ganz trockenen Hals. Ich kannte die Hufabdrücke. Eisen aus der Schmiede von Fort Calhoun. Nach einer Weile tauchte Mascara wieder zwischen den dunklen Zeigen des Gestrüpps auf. Er führte sein Pony am Zügel. In seiner
hellen Gesichtsmaske konnte ich natürlich nicht lesen, was in ihm vorging. Ich sah es nur in seinen Augen, die merkwürdig starr und leblos wirkten. »Ich hätte Little Raven noch viel mehr von meinen Gewehren und meinen Patronenvorräten schenken sollen«, sagte er erbittert. »Und Jicarilla so viel Whisky, wie ich für mein Geld in Corrida …« Seine Stimme riß ab. Seine Lippen wurden zu einem Strich. »Wir werden ihn in unserem Berg begraben, Amigo.« Da wußte ich es. »Jicarilla.« »Sie haben ihn verfolgt bis hierher. Und dann haben sie ihn gefoltert. Sie haben ihn schlimmer behandelt, als die Apachen es tun würden! Sie wollten wahrscheinlich aus ihm herausbringen, wo du dich versteckt hältst.« »Mein Gott«, flüsterte ich erschüttert, »was haben sie mit ihm angestellt?« »Ich sage es dir lieber gleich, damit du darauf vorbereitet bist. Sie haben die Glut benutzt, um ihn zu foltern. Dann haben sie ihn skalpiert und auf seinen nackten Schädel ein Plakat geklebt.« »Was für ein Plakat?« fragte ich heiser. »Einen noch druckfrischen Anschlag der Armee der Vereinigten Staaten, daß fünftausend Dollar auf deine Ergreifung ausgesetzt sind. Fünftausend Dollar zahlen die Blauröcke Kopfprämie für dich. Tot oder lebendig. Das bist du ihnen wert.« »Dann hat er nichts verraten«, sagte ich erschüttert. »Die Patrouille wäre sonst nicht mehr auf das amerikanische Ufer zurückgekehrt!« Ich deutete auf die Spuren im Sand. Sie verschwammen plötzlich vor meinen Augen. »Du gehörst jetzt auch offiziell zu den Geächteten und Gejagten, Ronco. Jeder Sheriff, jeder Marshal, jeder Kopfgeldjäger wird dieses Plakat lesen und sich die Prämie verdienen wollen. Ich glaube, erst von jetzt an wird es zwischen uns beiden eine echte Partnerschaft geben. Ich werde dir die Haare schwarz färben und dir einen anderen Namen aussuchen. Ich werde deine Haut mit Walnußöl behandeln und deine Augen mit einer Tinktur, damit die Regenbogenhaut fast so dunkel wird wie deine Pupillen! Ich werde …« Ich ließ ihn reden, weil ich ihn nicht kränken und nicht
enttäuschen wollte. Ich wußte, daß Mascara auf die gleiche Weise enden würde wie der tapfere, treue Amigo, der verstümmelt zwischen den Mesquitebüschen lag. Fünftausend Dollar waren ein Vermögen. Dafür würde mich wahrscheinlich sogar eins der Mädchen auf dem Rancho an die Yankees verkaufen, das keine fünf Meilen von Mascaras Schlupfwinkel entfernt lag. Denn die Belohnung war für die Ergreifung eines Verräters ausgesetzt, und keiner außer Mascara und mir wußte, daß ich unschuldig war. Jeder, der von nun an mit mir in Berührung geriet oder mir Asyl gewährte, war seines Lebens nicht mehr sicher. Ich wußte, was ich zu tun hatte. Ich mußte zurück in die Vereinigten Staaten und darum kämpfen, daß dieser schändliche Pfandbrief wieder von Anschlagtafeln der Sheriff-Büros und Marshal-Offices verschwand. Ich mußte dafür sorgen, daß mein Todesurteil wieder zurückgenommen wurde und Plakate gedruckt wurden, die meine Unschuld verkündeten. Das war ich Jicarilla schuldig. Das war ich allen schuldig, die mir geholfen hatten und noch helfen würden. Und am meisten war ich es den Toten schuldig, die im Halcon Canyon einem gemeinen Verrat zum Opfer gefallen waren. Denn wer das Unrecht duldet, verdient keine Gerechtigkeit. Jicarillas Tod war das Vermächtnis und der Auftrag für mein neues Leben als Geächteter. Lieber untergehen als Unrecht tun oder sich der Gewalt beugen …
ENDE
Vorschau Sie brausten um die Biegung in dem engen Canyon – eine geschlossene Front von Leibern, Köpfen und spitzen Hörnern. Blutunterlaufene, stiere Augen unter schmutzigen Fellhaaren, schaumiger Geifer und heißer, keuchender Atem, der wie eine Wolke über den heranjagenden Kolossen hing. Fox, der braune Hengst Roncos, wieherte schrill, stieg mit den Vorderbeinen in die Höhe und schoß wie eine Rakete los – mitten in den Canyon. Eine Panik hatte den Hengst ergriffen, wie sie Ronco noch nie bei ihm erlebt hatte. Er wollte nicht gehorchen. Er war so kopflos wie ein Mensch, der plötzlich eine haushohe Flutwelle auf sich zubrausen sieht. Stampede! Sie würde sie beide niederwalzen und zu Brei zerquetschen … Das ist Ronco, der Texas Ranger. Lesen Sie nächste Woche Band 356 dieser großen deutschen Western-Serie:
Der wilde Haufen