Die Jagd nach der Unsterblichkeit Bei der Entdeckung, die die Welt verändern soll, hat der Zufall die Hand mit im Spiel...
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Die Jagd nach der Unsterblichkeit Bei der Entdeckung, die die Welt verändern soll, hat der Zufall die Hand mit im Spiel. Da ist ein Mann, der Blut spenden muß, um sich ein paar Dollar zu verdienen. Und da liegt ein alter Mann im Sterben, der das Blut des Spenders empfängt – und daraufhin mit neuem Leben und neuer Jugend erfüllt wird. Als die Untersuchungen der behandelnden Ärzte ergeben, daß das Blut des anonymen Spenders einen Wirkstoff enthält, der das Altern verhindert, beginnt die größte Menschenjagd der Geschichte. Alle Träger dieses seltenen Wirkstoffs werden zu Freiwild – und normale Bürger begehen Verbrechen, nur um der Chance willen, ihr Leben um eine gewisse Spanne verlängern zu können.
TTB 340
James Gunn
Der Gamma-Stoff
ERICH PABEL VERLAG KG · RASTATT/BADEN Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
Titel des Originals: THE IMMORTALS Aus dem Amerikanischen von Tony Westermayr
TERRA-Taschenbuch erscheint monatlich im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt Copyright © 1962 by Bantam Books Redaktion: Günter M. Schelwokat Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck Verkaufspreis inklusive gesetzliche Mehrwertsteuer Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden; der Wiederverkauf ist verboten. Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich: Pressegroßvertrieb Salzburg, Niederalm 300, A-5081 Anif Abonnements- und Einzelbestellungen an PABEL-VERLAG KG, Postfach 1780, 7550 RASTATT, Telefon (0 7222) 13-2 41 Printed in Germany Juni 1981
ERSTER TEIL
Neues Blut 1. Der junge Mann lag flach ausgestreckt auf dem gepolsterten Krankenhaustisch, den linken Arm, muskulös und braun, neben sich auf dem Tischchen. Das breite, flache Band eines Blutdruckmeßgeräts lag straff um seinen Bizeps, und die Ellenbeuge mit der bläulichen schimmernden Vene war mit Seife und Wasser sorgfältig gewaschen, mit Alkohol betupft und mit Jod beträufelt worden. Seine Augen folgten den schnellen, geschickten Bewegungen der Assistentin im weißen Kittel. Sie öffnete die linke Tür des großen, alten Kühlschranks und nahm eine braune Flasche aus dem zweiten Fach. An der Unterseite der Flasche befand sich ein mit einem Metallband befestigter Griff, der hochgeklappt war. Darunter schwappte Natriumzitratlösung, zwei Zentimeter tief. Das übrige war Vakuum. Die Assistentin riß die Lasche ab, zog die Metallkappe von der Gummidichtung. Aus einem Karton unter dem Tisch nahm sie einen Kunststoffschlauch, der an beiden Enden mit Kanülen versehen war. Eine davon glitt in die novocainbetäubte Vene des Spenders, die andere wurde durch den Gummi in die Flasche gestoßen. Dunkelrotes Blut schoß durch den Schlauch,
spritzte in die Flasche; die Natriumzitratlösung quoll rötlich auf. Einen Augenblick später hatte sie die Farbe dunkelroten Beerensafts, mit Schaum bekrönt. Die Assistentin schrieb mit Druckbuchstaben Datum und Namen des Spenders auf das Etikett, fügte ihr Handzeichen an. Sie klebte ein Stück Leukoplast über das Etikett und schrieb eine Nummer darauf: ›31197‹; die gleiche Zahl wurde auf zwei kleinen Reagenzgläsern vermerkt. »Die Hand nicht öffnen«, sagte sie und drehte die Flasche. Als die Flasche voll war, klemmte sie den Schlauch ab und zog die Nadel aus der Gummidichtung. Über der Einstichstelle in der Ellenbeuge des Spenders befestigte sie mit zwei Leukoplaststreifen ein Stück Gaze. Das Blut aus dem Schlauch ließ sie in die Reagenzgläser laufen und steckte diese in die Fächer einer kleinen, über die Flasche gehängten Stoffschürze. Schlauch und Kanülen wurden beiseite geworfen, ein großes Stück Leukoplast auf die Flasche geklebt. Am Arbeitstisch vor dem Fenster betupfte die Assistentin zwei Objektträger, von denen einer mit A und B markiert war, mit drei Blutströpfchen. Sie zog die Objektträger näher und schob sie auf einen Kasten mit Glasdeckel; einem Tröpfchen fügte sie klares Serum aus einer grünen Flasche mit der Aufschrift ›Anti-A‹ hinzu; ›Anti-B‹ kam aus einer braunen Flasche; ›Anti-Rho‹ aus einer farblosen. Sie begann den Kasten zu schütteln. Der Spender hatte sich aufgerichtet und sah ihr interessiert zu. Sechzig Sekunden später waren die roten Blutkörperchen der Muster A und B noch gleichmäßig ver-
teilt. In der dritten Probe waren sie sichtbar verklumpt. »0 negativ, stimmt schon«, sagte die Assistentin. Sie kritzelte es auf das Etikett und auf das Leukoplast, mit dem der Hals verschlossen war. Die Mundwinkel des Spenders zuckten. »Wertvoll«, sagte die Assistentin, während sie eine Karteikarte und dann einen Zettel ausfüllte. »Anderes Blut nehmen wir nicht. Sollen wir Sie auf die Spenderliste setzen?« Der junge Mann schüttelte den Kopf, ohne zu zögern. Die Assistentin hob die Schultern. Sie gab ihm die Karte. »Trotzdem vielen Dank. Hier steht Ihre Blutgruppe. Bleiben Sie im Wartezimmer zehn Minuten lang sitzen. Für den Zettel bekommen Sie fünfundzwanzig Dollar. Sie können ihn an der Kasse einlösen – gleich beim Ausgang.« Die Assistentin starrte ihm eine Weile nach, auch als sein breiter Rücken schon verschwunden war. Dann drehte sie sich achselzuckend um und stellte die Flasche in das oberste Fach des Kühlschranks für spätere serologische Untersuchungen. Ein halber Liter gesundes Blut – neues Leben in der Flasche für einen Menschen, der sonst vielleicht sterben mußte. Binnen weniger Tage werden die weißen Blutkörperchen abzusterben beginnen, die Gerinnungsfähigkeit des Blutes nimmt ab. Mit Hilfe der Tiefkühlung und der Zitratlösung halten sich die roten Blutkörperchen – einige jedenfalls – drei Wochen lang. Anschließend gelangt das Blut zur Zentrifuge, um Plasma zu gewinnen, oder es wird an eine Firma verkauft, die dem Plasma wertvolle Stoffe entzieht,
die mehr als siebzig Proteine, das Serum Albumin, die Gammaglobuline. Ein halber Liter Blut: Handelspreis 25 Dollar. In ein paar Stunden wird die Flasche zusammen mit den anderen gleicher Gruppe im mittleren Fach rechts stehen. Aber dieses Blut war etwas Besonderes. Es hatte alles, was anderes Blut besaß, und noch etwas mehr. Solches Blut hatte es noch nie gegeben. Fünfundzwanzig Dollar? Wieviel ist Leben wert? Der alte Mann war siebzig Jahre alt. Sein Körper lag schlaff auf dem harten Krankenbett. In der plötzlichen Stille nach dem Verstummen der Klimaanlage klangen seine unregelmäßigen Atemzüge ungewöhnlich laut. Die einzige Bewegung im Zimmer war das krampfhafte Heben und Senken des Lakens über dem ausgezehrten Körper. Er lebte – gerade noch. Er hatte die in der Heiligen Schrift zugebilligten siebzig Jahre hinter sich. Bei ihm ging es nicht einfach um die Tatsache, daß er im Sterben begriffen war – das sind wir alle. Bei ihm stand der Tod vor der Tür. Dr. Russel Pearce hielt das knochige Handgelenk in seiner Rechten. Sein Gesicht war ernst, der Blick aus seinen dunklen Augen fest. Das Gesicht des alten Mannes war gelblich über bläulichem Grau, der Farbe des Todes. Es war knochig, die faltige Haut eine ledrige Hülle für den Totenschädel. Er mochte einmal gut ausgesehen haben; jetzt waren seine Augen eingesunken, die geschlossenen Lider dunkel verfärbt, die Nase ein schmaler, gebogener Span. Das Alter verbindet die Menschen wie die Kindheit
sie verbindet. Dazwischen unterscheiden sie sich voneinander, aber im Anfang und am Ende sind sie einander sehr ähnlich. Dr. Pearce hatte auf den Stationen alte Männer gesehen, die in den Slums aufgefunden worden waren, schmutzig, Alkoholiker. Das einzige, was seinen Patienten hier davon unterschied, waren ein wenig Gepflegtheit und ein paar Millionen Dollar. Wo das Haar dieses Mannes schneeweiß und frisiert war, hing das der anderen gelbgrau und strähnig in den runzligen Nacken. Wo die Haut dieses Mannes gepflegt und peinlich sauber war, hatten die anderen Schmutz in den Falten, wunde Stellen, Pickel. Dr. Pearce legte den Arm sanft auf das Bett zurück und schlug die Decke auf. Dieser alte Mann war einmal groß, stark, vital gewesen. Jetzt war der hagere Körper ausgezehrt; der Brustkorb drängte sich gegen die Haut, zitterte schwach, die alten Adern zeigten sich wulstig, blau an den stelzenartigen Beinen. »Pneumonie?« fragte Dr. Easter interessiert. Er war älter als Dr. Pearce, hatte graue Schläfen, wirkte distinguiert und überlegen. »Noch nicht. Unterernährung. Man möchte doch meinen, daß er mehr ißt und besser gepflegt wird. Wenn jemand soviel Geld hat ...« »Das ist nicht gesagt. Man kommandiert eine Million Dollar nicht herum.« »Anämie«, fuhr Dr. Pearce fort. »Blutung aus einem Zwölffingerdarmgeschwür, würde ich sagen. Puls schwach und beschleunigt, abgesunkener Blutdruck, Arteriosklerose und alles, was damit zusammenhängt.« Neben ihm machte eine Schwester Eintragungen
ins Krankenblatt. Ihr Gesicht war glatt und jung; ihre Haut glühte vor Gesundheit. »Blutbild«, sagte Dr. Pearce zu ihr. »Harnuntersuchung. Bestellen Sie einen halben Liter Blut.« »Eine Transfusion?« fragte Dr. Easter mit hochgezogenen Braunen. »Sie wird wenigstens vorübergehend etwas nützen.« »Aber er stirbt.« Es war beinahe eine Frage. »Sicher. Das tun wir alle«, meinte Dr. Pearce mit grimmigem Lachen. »Unser Beruf ist es, das Sterben so lange hinauszuschieben wie möglich.« Ein paar Minuten später, als Dr. Pearce die Tür öffnete und auf den Korridor hinaustrat, besprach sich Dr. Easter mit einem großen, blonden, breitschultrigen Mann, der einen eleganten Anzug trug. Der Mann war ungefähr in Easters Alter, zwischen fünfundvierzig und fünfzig. Das Gesicht machte einen seltsamen Eindruck; es paßte nicht zum Körper. Es wirkte hager und habgierig, die schiefergrauen Augen hatten einen kalten Ausdruck. Der Mann hieß Carl Jansen. Er war Privatsekretär des alten Mannes, der im Sterben lag. Dr. Easter stellte die beiden einander vor, und sie gaben sich die Hand. Pearce überlegte sich, daß der Titel ›Privatsekretär‹ eine Vielzahl von Pflichten umfassen konnte. »Dr. Pearce, ich möchte Ihnen nur eine Frage stellen«, sagte Jansen kalt. »Muß Mr. Weaver sterben?« »Selbstverständlich«, erwiderte Dr. Pearce. »Dem entgeht niemand. Wenn Sie meinen, ob er innerhalb der nächsten Tage sterben wird, würde ich ja sagen – wenn ich mich festlegen muß.« »Was fehlt ihm?« fragte Jansen argwöhnisch.
»Er hat seinen Körper verbraucht. Stellen Sie ihn sich als Maschine vor. Er ist abgenutzt, er fällt auseinander, die einzelnen Teile versagen.« »Sein Vater wurde einundneunzig, seine Mutter sechsundneunzig.« Dr. Pearce sah Jansen gleichmütig an. »Sie haben nicht eine Million Dollar gemacht. Wir leben in einer Zeit, die gegen jede Krankheit ein Mittel weiß, aber dafür muß ein Preis entrichtet werden. Die Belastung des modernen Lebens reißt uns auseinander. Jede Million, die Weaver gemacht hat, kostet ihn fünf Jahre.« »Was wollen Sie tun – ihn einfach sterben lassen?« Dr. Pearces Augen waren ebenso kalt wie die seines Gegenübers. »Wir führen so schnell wie möglich eine Bluttransfusion durch. Hat er Verwandte oder enge Freunde?« »Niemand, der ihm nähersteht als ich.« »Wir brauchen einen Liter Blut für jeden halben, den Weaver bekommt. Kümmern Sie sich darum.« »Mr. Weaver bezahlt alles, was er braucht.« »Er wird es ersetzen, wenn es irgend geht. Das ist Vorschrift hier.« Jansen wich seinem Blick aus. »Im Büro werden sich Freiwillige genug melden.« Als Dr. Pearce gegangen war, sagte Jansen: »Können wir nicht einen anderen bekommen? Er gefällt mir nicht.« »Das kommt nur daher, weil er härter ist als Sie«, meinte Easter leichthin. »Er wäre ein guter Gegner für Weaver gewesen, zu seiner Zeit.« »Er ist zu jung.« »Deshalb ist er ja gut. Der beste Fachmann für Ge-
riatrie im Mittelwesten. Er kann objektiv sein und über der Sache stehen. Alle Ärzte bedürfen einer Spur Rücksichtslosigkeit. Pearce braucht mehr als andere.« Easter sah Jansen lächelnd an. »In unserem Alter wird man weichherzig und dem Tod gegenüber subjektiv.« Die Anforderung über einen halben Liter Blut traf bei der Blutbank ein. Die übliche Prozedur begann. Eine Assistentin aus dem Labor im Erdgeschoß entnahm einer Vene des alten Mannes fünf Kubikzentimeter Blut, das beinahe purpurrot den schmalen Zylinder der Spritze füllte. Der alte Mann bewegte sich nicht. Seine Atmung klang röchelnd. Am Labortisch stellte die Assistentin die Blutgruppe fest. Sie schrieb die Angaben auf ein Formular: Name des Patienten, Datum, Zimmernummer, behandelnder Arzt ... Gruppe 0. Rhesusfaktor negativ. Die Assistentin öffnete die rechte Tür des Kühlschranks und studierte die Etiketten der Flaschen im mittleren Fach. Sie nahm eine heraus und vermerkte auf dem Formular den Namen des Spenders, die Nummer der Flache, die Blutgruppe und den Rhesusfaktor. Dann ließ sie Blut vom Spender und vom Patienten in zwei kleine Reagenzgläser tropfen. Ein Tropfen des Spenderserums in das Blut des Patienten: die roten Blutkörperchen formten sich nicht zu Klumpen, und sogar unter dem Mikroskop nach der Zentrifugierung zeigten sich die Blutkörperchen gleichmäßig verteilt. Ein, zwei Tropfen des Patientenserums in das Blut des Spenders, und die Gegenprobe war bestanden.
Die Assistentin unterschrieb das Formular und verständigte die Stationsschwester telefonisch, daß das Blut zur Abholung bereitstehe. Die Schwester holte es wenige Minuten später ab. Die Assistentin schrieb auf ein rotumrandetes Etikett: ›Für Leroy Weaver 9.4. Zimmer 305 Dr. Pearce‹ und klebte es neben das Originaletikett auf die Flasche. Die Stationsschwester nickte und nahm die Flasche mit. Dr. Pearce studierte das Krankenblatt. Er nahm sich den Bericht des hämatologischen Laboratoriums vor. Blutbild: 2,360000 mm3. Anämie. Schlimmer als er vermutet hatte. Das Zwölffingerdarmgeschwür blutete stark. Die Transfusion würde nützlich sein. Vorübergehend nur, aber mehr ließ sich nie erreichen. Letzten Endes war alles eine Frage der Zeit. Vielleicht würde sich Weaver soweit erholen, daß er Nahrung zu sich nehmen konnte. Es mochte durchaus sein, daß er sie alle überraschte und das Krankenhaus lebend verließ. Er nahm die Krankenakte und ging den langen, stillen Korridor entlang, in dem es roch wie in allen Krankenhäusern: nach Alkohol und Äther. Er öffnete
die Tür zum Zimmer 305 und trat in die Kühle. Er nickte der diensttuenden Schwester zu, die nicht zum Krankenhauspersonal gehörte. Sie war eine von drei Pflegeschwestern, die Jansen engagiert hatte. Dr. Pearce nahm das Fieberkurvenblatt und starrte es an. Keine Veränderung. Er betrachtete das Gesicht des alten Mannes. Die Atmung war nicht besser geworden; verfärbte Lider verbargen immer noch seine eingesunkenen Augen. Wer war er? Sein Name: fünf Millionen Dollar. Die Personifizierung des Geldes. Er erfüllte keinen nützlichen Zweck. Er tat nichts für die Gesellschaft, nichts für die Menschheit. Er war zu beschäftigt gewesen, um zu heiraten, zu beansprucht, um Kinder in die Welt zu setzen. Sein Beruf: Geld verdienen. Dr. Pearce war nicht der Ansicht, daß ein Mann mit Geld grundsätzlich ein Schurke sein mußte. Aber jeder, der eine Million Dollar oder ein Vielfaches davon machte, mußte zum großen Teil Raubvogel sein, der Rest Elster. Dr. Pearce wußte, warum Jansen sich Sorgen machte. Wenn Weaver starb, starb Geld, starb Macht. Geld und Macht sind nicht immun gegen den Tod, und wenn sie stürzen, reißen sie Reiche mit sich. Dr. Pearce starrte auf Weaver hinunter, während ihn die Gedanken bewegten, und es spielte keine Rolle. Er war trotzdem einer von uns, war ein Mensch, war am Leben. Also war es der Mühe wert, daß man ihn rettete. Keine andere Überlegung kam dagegen auf. Zwei Halbliterflaschen hingen von dem metallenen ›T‹ – die klare, antiseptische Salzlösung und der dunkle Lebenssaft. Ein gläsernes Gelenk vereinigte
zwei Kunststoffschläuche zu einem. Darunter ein Filter. Am Ende des Schlauches eine Kanüle. Die Krankenschwester nahm die Klammer vom Schlauch unterhalb der Kochsalzlösung. Das Salzwasser, kleine Blasen werfend, lief durch den Schlauch, das Gelenk, den Filter und spritzte aus der Kanüle. Die Schwester klammerte über der Kanüle ab. Jetzt waren die Schläuche gefüllt, keine Luftblasen zeigten sich mehr, die in der Vene des Patienten zu einer Embolie hätten führen können. Die Schwester wartete, während Pearce die Kanüle nahm und Weavers Arm betrachtete. Die Unterarmvene zeigte sich an der Ellenbeuge dick angeschwollen. Pearce betupfte sie mit Alkohol und Jod, führte die Kanüle ein und befestigte sie mit Leukoplast. Er nickte der Schwester zu. Sie entfernte die Klammer unter der Blutflasche. Langsam färbte sich das Wasser rot, dann begann es dunkel zu wirbeln, als sie vorsichtig die untere Klammer öffnete. Binnen einer Sekunde war alles Blut, lief langsam durch den langen, durchsichtigen Schlauch in die Vene, neues Blut, das dem alten, verbrauchten Mechanismus auf dem harten Krankenhausbett Leben zuführte. Neues Blut für altes, dachte Pearce. Mit Geld kann man alles kaufen. »Ein bißchen schneller.« Die Schwester öffnete die Klammer ein Stückchen weiter. Das Blut begann schneller zu rinnen. Leben, tropfend, fließend. Altes erneuernd. Der alte Mann atmete tief. Die erschöpften Bewegungen seiner Brust ließen nach. Dr. Pearce betrachtete das alte Gesicht, die geboge-
ne Nase, die schmalen, blutleeren Lippen, die selbst jetzt noch grausam wirkten. Neues Leben, vielleicht. Aber nichts vermag den Verschleiß der Jahre wettzumachen. Die Zellen verbrauchen sich. Nichts kann sie neu erschaffen. Tropfen um Tropfen rann das Blut aus der Flasche durch den Schlauch in die Vene des alten Mannes. Jemand hatte es gegeben oder verkauft. Ein junger und gesunder Mensch, der immer wieder purpurnen Lebensstoff zu erzeugen vermochte, voll von gesunden, roten Blutkörperchen, lebenskräftigen weißen Unratsverzehrern, Plättchen, vielfältigen Proteinen. Jemand, der diesen halben Liter in nicht einmal neunzig Tagen zu ersetzen vermochte. Dr. Pearce dachte an Richard Lower, den englischen Anatomen aus dem siebzehnten Jahrhundert, der die erste Transfusion durchgeführt hatte und an den Wiener Immunitätsforscher Karl Landsteiner, der die Gefährlichkeit der Transfusionen beseitigt hatte, als er die miteinander nicht verträglichen Blutgruppen entdeckte. Und hier lag dieser alte Mann, der durch Lowers und Landsteiners Bemühungen und – er schaute neugierig auf die Flasche und las den auf dem Kopf stehenden Vermerk – durch die Freigebigkeit eines Spenders namens Cartwright Blut in seine Venen saugte; dieser alte Mann, der es brauchte, der die roten Blutkörperchen nicht mehr schnell genug erzeugen, der ihren Verlust durch die Geschwürblutung nicht mehr wettmachen konnte. Was hier durch die Schläuche tropfte, war Leben, ein Geschenk der Jungen an die Alten, der Gesunden an die Kranken.
Die Lider des alten Mannes zuckten. Als Dr. Pearce seine Vormittagsvisite machte, beobachtete ihn der alte Mann mit matten blauen Augen. Dr. Pearce blinzelte erstaunt, griff noch einmal nach dem mageren Handgelenk und zählte automatisch. »Fühlen wir uns besser?« Zum zweitenmal wurde er verblüfft. Der alte Mann nickte. »Fein, Mr. Weaver. Wir flößen Ihnen ein bißchen Nahrung ein und nach einer Weile sind Sie wieder ganz auf dem Damm.« Er schaute auf seine Uhr, hob den Kopf, schaute wieder aufs Zifferblatt. Langsam und verwirrt ließ er den Arm auf das Bett zurücksinken. Er wickelte das breite, flache Band des Blutdruckmessers um den mageren Oberarm, pumpte es auf und lauschte mit dem Stethoskop an der Ellenbeuge. Er schaute zur Meßskala, ließ die Luft davonzischen und horchte einen Augenblick an der Brust des alten Mannes. Er setzte sich nachdenklich ans Bett, ohne auf die rührige Krankenschwester zu achten. Weaver erholte sich, gemessen an dem Zustand, in dem er sich befunden hatte, erstaunlich gut. Der Puls war kräftig und gleichmäßig, der Blutdruck gestiegen. Auf irgendeine Weise hatte die Transfusion verborgene Energie – und Widerstandsreserven freigesetzt. Weaver wehrte sich. Dr. Pearce spürte eine seltsame, nie gekannte Begeisterung in sich. Am nächsten Tag fand Dr. Pearce, daß die Augen, die ihn beobachteten, längst nicht mehr so matt wirkten.
»Fühlen Sie sich wohl?« fragte er. Der alte Mann nickte. Für einen Mann seines Alters war der Puls fast normal. Am dritten Tag begann Weaver zu sprechen. Die schwache Stimme des alten Mannes flüsterte unzusammenhängende, bedeutungslose Erinnerungen. Dr. Pearce nickte verstehend und nickte innerlich sich selbst zu. Die Arteriosklerose hatte ihre Spuren hinterlassen: Niereninsuffizienz, Herzklappenfehler, Unterfunktion des Gehirns nach Gehirnblutung. Am vierten Tag saß Weaver im Bett und sprach mit brüchiger, aber frischer Stimme auf die Krankenschwester ein. »Ja«, sagte er zahnlos, »da hab' ich sie fertiggemacht, aber restlos. Ich hab' sie nie leiden können. Sie müssen der Doktor sein«, sagte er plötzlich und wandte sich Dr. Pearce zu. »Sie gefallen mir. Ich werd' dafür sorgen, daß Sie einen dicken Scheck kriegen. Ich sorg' für die Leute, die ich mag. Aber ich kümmer' mich auch um die, die ich nicht leiden kann.« Er kicherte – ein böser, kindischer Laut. »Machen Sie sich darüber keine Sorgen«, sagte Dr. Pearce und griff nach Weavers Handgelenk. »Konzentrieren Sie sich aufs Gesundwerden.« Der alte Mann nickte glücklich und steckte einen Finger in den Mund, um an seinem Zahnfleisch zu reiben. »Sie kriegen Ihr Geld«, murmelte er. »Darauf können Sie sich verlassen.« Dr. Pearce starrte auf das Handgelenk hinunter, das er immer noch festhielt. »Was ist mit Ihrem Zahnfleisch?« »Es juckt«, erwiderte Weaver. »Und wie.«
Am fünften Tag ging Weaver ohne Hilfe auf die Toilette. Am sechsten Tag duschte er sich. Als Dr. Pearce hereinkam, saß er auf dem Bettrand und ließ die Beine baumeln. Weaver sah hastig auf, als Dr. Pearce eintrat; seine Augen wirkten wach und sie schienen auch nicht mehr so tief zu liegen. Seine Haut hatte eine gesunde Färbung. Wie Handgelenke und Arme war auch sein Gesicht voller geworden. Sogar seine Beine machten einen beinahe muskulösen Eindruck. Er verwandelte die wohlabgewogene Krankenhausdiät in Fleisch, Fett und Muskeln. Mit seinem schneeweißen Haar wirkte er wie das Idealbild eines Großvaters. Am nächsten Tag begann sein Haar zu dunkeln. »Wie alt sind Sie, Mr. Weaver?« fragte Pearce scharf. »Siebzig«, verkündete Weaver stolz. »Am fünften Juni bin ich siebzig geworden. In Wyoming geboren, mein Junge, in einer Hütte. Damals gab's dort noch Indianer. Hab' sie oft gesehen, wenn ich mit meinem Papa unterwegs war. Alles feige Kerle.« »Welche Farbe hatte Ihr Haar?« »Kohlschwarz. Ich hatte das schwärzeste und glänzendste Haar vom ganzen Bezirk. Die Mädchen wollten immer mit den Fingern durchfahren.« Er kicherte. »Hab's schon erlaubt. Eine ganze Schar schwarzhaariger Kinder in Washakie County, bevor ich dort wegging.« Er steckte den Finger in den Mund und rieb sich das Zahnfleisch. »Juckt's immer noch?« fragte Dr. Pearce. »Na und ob.« Er kicherte. »Wissen Sie, was mit mir
los ist? Ich bin in der zweiten Kindheit. Das ist es. Ich krieg' Zähne.« 2. In der zweiten Woche gab Weaver die Beschäftigung mit der Vergangenheit auf und wandte sich seinen Geschäften zu. Man stellte ihm ein Telefon ans Bett, und den halben Tag verbrachte er mit kurzen Gesprächen über Abschlüsse und Manipulationen. Die andere Hälfte war Jansen gewidmet, der jeweils sofort erschien, wenn Weaver ihn rufen ließ – so schnell, daß Dr. Pearce annahm, er habe sich ein Krankenzimmer reservieren lassen. Weaver nahm die Zügel seines Imperiums wieder in die Hand. Während seine Gedanken sich ruhelos mit Besitztümern, Methoden, sie zu behalten und zu vermehren, befaßten, regenerierte sich sein Körper wie von selbst. Der erste Zahn kam durch – ein Eckzahn. Danach erschienen sie rasch hintereinander. Sein Haar wurde immer dunkler; eine Woche später war es so schwarz, wie er es beschrieben hatte. Sein Gesicht wurde voller, die Falten glätteten sich wie die Oberfläche eines Sees, sobald der Wind erstirbt. Sein Körper wurde muskulös und kräftig; die Venen zogen sich unter die Haut zurück, zeichneten kaum noch Schatten. Die Augen dunkelten zu einem grimmigen Blau. Die Laboruntersuchungen bewiesen, was Dr. Pearce bereits vermutet hatte. Keine Spur von Arterioskle-
rose an den Blutgefäßen – oder die Schäden an den Geweben waren auf irgendeine Weise beseitigt worden. Die Nieren funktionierten vollkommen. Das Herz war eine so kräftige, leistungsstarke Pumpe wie nur je zuvor. Von Spuren einer Gehirnblutung war nichts zu bemerken. Am Ende dieser Woche sah Weaver aus wie ein Mann um die Dreißig. Von der Geburt an war sein Körper nicht mehr gealtert als um dreißig Jahre. »Carl«, sagte Weaver gerade, als Dr. Pearce das Zimmer betrat, »ich brauche eine Frau.« »Nichts leichter als das«, meinte Jansen achselzukkend. »Irgend etwas Bestimmtes?« »Sie verstehen mich nicht«, sagte Weaver beißend. »Ich will eine Frau zum Heiraten. Ich habe schon einmal einen Fehler gemacht, ich werde ihn nicht wiederholen. Ein Mann in meiner Position braucht einen Erben. Ja, Carl – und Sie dürfen diesen ungläubigen Blick ruhig ein bißchen besser verbergen. In meinem Alter!« Er wandte sich abrupt Dr. Pearce zu. »Ich hab' doch recht, nicht wahr, Doktor?« Dr. Pearce hob die Schultern. »Es gibt keinen Grund, warum Sie nicht ein Kind in die Welt setzen könnten.« »Kapiert, Carl? Ich bin so stark und schlau wie je zuvor. Vielleicht noch stärker und schlauer. Manche Leute werden das bald erfahren. Ich habe eine zweite Chance bekommen, nicht wahr, Doktor?« »So kann man es nennen. Was werden Sie damit anfangen?« »Ich werde es besser machen. Besser als vorher. Diesmal passieren mir keine Fehler. Und Sie, Doktor? Wissen Sie, was Sie tun werden?«
»Nein. Sagen Sie mir, was ich tun werde.« Weaver schaute zu Dr. Pearce hinüber. »Sie glauben, daß ich nur so dahinrede. Täuschen Sie sich nicht. Sie werden noch herausbekommen, warum.« »Warum?« »Warum ich mich so erholt habe. Mich können Sie nicht hinters Licht führen. Sie haben in Ihrem ganzen Leben so etwas noch nicht gesehen. Ich bin keine siebzig Jahre mehr alt. Mein Körper nicht, mein Gehirn nicht. Warum?« »Was meinen Sie?« »Ich meine nicht, ich weiß. Ich hole mir die Tatsachen bei denen, die sie haben, und dann treffe ich meine Entscheidungen. Und die will ich von Ihnen – Tatsachen. Ich bin verjüngt worden.« »Sie haben mit Easter gesprochen.« »Selbstverständlich.« »Aber diese Ausdrücke haben Sie nicht von ihm. Darauf würde er sich nie festlegen.« Weaver starrte Dr. Pearce unter dunklen Brauen an. »Was ist mit mir gemacht worden?« »Was spielt das für eine Rolle? Wenn Sie wirklich verjüngt worden sind, müßten Sie doch eigentlich zufrieden sein.« »Wenn Mr. Weaver eine Frage stellt«, warf Jansen eisig ein, »erwartet Mr. Weaver eine Antwort.« Weaver winkte ab. »Dr. Pearce läßt sich nicht ins Bockshorn jagen. Aber Dr. Pearce ist ein vernünftiger Mann. Er glaubt an Tatsachen. Er hält sich an die Logik. Verstehen Sie mich, Doktor! Jetzt mag ich dreißig sein, aber ich werde wieder siebzig werden. Vor diesem Zeitpunkt will ich wissen, wie man wieder dreißig wird.«
»Ah«, seufzte Dr. Pearce. »Jetzt reden Sie nicht von der Verjüngung, sondern von der Unsterblichkeit.« »Warum nicht?« »Sie ist nicht für die Sterblichen. Der menschliche Körper verbraucht sich. Siebzig Jahre, manchmal mehr, manchmal weniger, soviel steht uns zu. Danach fallen wir auseinander.« »Ich habe meine siebzig hinter mir, jetzt fange ich von neuem bei dreißig an. Ich habe vierzig vor mir. Und dann? Noch mal vierzig?« »Wir sterben alle«, sagte Dr. Pearce. »Dagegen gibt es kein Mittel. Es gibt nicht einen, der nicht am Ende auch ins Grab gelangt wäre. Bei der Geburt schon ziehen wir uns eine Krankheit zu, von der sich niemand erholt: den Tod.« »Und wenn nun jemand eine Resistenz dagegen entwickelt?« »Oh, ich habe nicht gemeint, daß der Tod eine spezifische Krankheit ist«, sagte Dr. Pearce schnell. »Wir sterben doch auf viele Arten: Unfälle, Infektionen –« Und das Alter, dachte Pearce. Auch das könnte eine Krankheit sein. Ätiologie: Virus, unisoliert, unvermutet, schleicht sich bei der Geburt oder kurz nachher ein – oder wird bei der Zeugung übertragen. Vorkommen: total. Symptome: langsame Degeneration der physischen Wesenheit, Auftreten kurz nach der Reife, zunehmende Debilität, Versagen des Kreislaufsystems durch Arteriosklerose und Herzschädigung, Versagen der Sinne und Organe, Verlust der Zellregenerationsfähigkeit, Anfälligkeit für sekundäre Infektionen ... Prognose: absolut tödlich. »Alles stirbt«, fuhr Dr. Pearce fort. »Bäume, Plane-
ten, Sonnen ... das ist natürlich unausweichlich ...« Aber das ist nicht wahr. Der natürliche Tod ist etwas relativ Neues. Es gab ihn erst, als das Leben vielzellig und kompliziert wurde. Vielleicht war das der Preis für die Fähigkeit des Denkens. Protozoen sterben nicht. Metazoen – Schwämme, Plattwürmer, Hohltiere – sterben nicht. Gewisse Fischarten sterben nicht, außer durch Unfall. ›Wühlmäuse sind Tiere, die nie zu wachsen aufhören und nie alt werden.‹ Wo hab' ich das gelesen? Und sogar die Gewebe der höheren Wirbeltiere sind unter den rechten Umständen unsterblich. Das haben Carrel und Ebeling bewiesen. Gib der Zelle genug von der richtigen Nahrung, und sie wird nie sterben. Zellen von allen Teilen des Körpers sind in vitro auf unbestimmbare Zeit hinaus lebendig erhalten worden. Differenzierung und Spezialisierung – das hieß, daß die individuelle Zelle nicht die idealen Bedingungen vorfand. Außer sich am Leben zu erhalten, hatte sie Pflichten für das Ganze zu erfüllen. Eine plausible Erklärung, aber traf sie zu? War es nicht ebenso plausibel, daß die Zelle starb, weil das Kreislaufsystem zusammenbrach? Das Kreislaufsystem gesund erhalten, selbstregenerierend und wirksam, und der Rest des Körpers mochte sehr wohl unsterblich sein. »Nichts ist natürlich«, sagte Weaver. »Sie haben mir eine Transfusion gegeben. Easter hat mir gesagt, daß sich Immunität mit Blut übertragen läßt. Wer hat dieses Blut gespendet?« Dr. Pearce seufzte. »Ein Mann namens Marshal Cartwright.«
Die Blutbank befand sich im ältesten Teil des Gebäudes. Dr. Pearce ging voran durch die stickigen, schmalen Korridore, im ersten Stock des Ostflügels, dann eine Wendeltreppe hinunter zu dem kleinen Arbeitsraum. »Wenn Sie schlau sind«, erklärte ihm Jansen auf der Treppe, »arbeiten Sie mit Mr. Weaver zusammen. Tun Sie, was er von Ihnen verlangt. Sagen Sie ihm, was er wissen will. Man wird sich um Sie kümmern; andernfalls –« Jansen lächelte unangenehm. Dr. Pearce lachte unsicher. »Was kann Weaver mir antun?« »Stellen Sie das lieber nicht fest«, riet ihm Jansen. Die Assistentin akzeptierte den Auftrag ohne Kommentar. Sie blätterte in einem großen Buch. »Weaver?« sagte sie. »Oh, da steht's. Am Vierten.« Ihr Finger glitt über die Seite. »0 negativ. Ist übrigens nicht ersetzt worden.« Dr. Pearce sah Jansen an. »Ich dachte, Sie wollten sich darum kümmern?« »Sie bekommen morgen Ihr Blut«, brummte der Sekretär. »Wer war der Spender?« »Marshal Cartwright«, sagte die Assistentin. »0 negativ. Kline: okay. Ersetzt – jetzt entsinne ich mich. Das war am Tag nach unserem Aufruf im Fernsehen. Wir hatten nur noch wenig 0-negativ-Reserven und konnten im Augenblick nicht auf die ständigen Spender zurückgreifen. Der Erfolg war beachtlich.« »Erinnern Sie sich an ihn?« fragte Jansen. Sie runzelte die Stirn und sah zum Fenster hinaus. »Das war der dritte. Wir haben am Tag oft über zwanzig Spender, und es war vor mehr als einer Woche.«
»Denken Sie nach!« sagte Jansen scharf. »Ich denke ja nach«, brauste sie auf. »Was wollen Sie wissen?« »Wie er aussah, was er gesagt hat. Seine Anschrift.« »War mit dem Blut etwas nicht in Ordnung?« Dr. Pearce grinste plötzlich. »Ganz im Gegenteil.« »Ich kann Ihnen die Anschrift natürlich geben«, sagte die Assistentin und begann in einer Kartei zu blättern. »Merkwürdig. Er hat sein Blut einmal verkauft, wollte aber nicht wiederkommen.« Sie ging zum Tisch an der gegenüberliegenden Wand und schlug ein Buch auf. »Das sind unsere Registrierungsformulare. Einen Moment mal, das dritte. Bean. Parker. Cartwright. Marshall Cartwright. Abbot Hotel. Keine Telefonnummer.« »Abbot«, sagte Jansen nachdenklich. »Scheint ein drittklassiges Haus zu sein. Fällt Ihnen dabei nicht etwas ein?« drängte er die Assistentin. »Er wollte seinen Namen nicht auf der Spenderliste haben?« Sie schüttelte den Kopf. »Worum geht es denn überhaupt? Weaver? Ist das nicht der alte Knabe in 305, der sich so wunderbar erholt hat?« »Stimmt«, sagte Jansen und wischte die Frage beiseite. »Wir brauchen Fotokopien der beiden Eintragungen. Sollen wir die Bücher gleich mitnehmen –« »Wir sorgen dafür, daß Sie sie bekommen«, warf Dr. Pearce ein. »Aber heute noch«, meinte Jansen. »Heute«, stimmte Dr. Pearce zu. »Das wäre alles«, meinte Jansen. »Wenn Ihnen etwas einfällt, setzen Sie sich mit Mr. Weaver oder mit
mir in Verbindung. Ich heiße Carl Jansen. Für Sie ist auch etwas drin.« Etwas drin, dachte Pearce. Das Schlagwort einer Klasse. »Und was ist für die Menschheit ›drin‹? Nun gut. Sie haben ja, was Sie wollten.« »Das bekomme ich immer«, meinte Jansen. »Mr. Weaver und ich – wir bekommen immer, was wir verlangen. Vergessen Sie das nicht!« Dr. Pearce dachte daran, während der ›junge alte Mann‹ namens Leroy Weaver ein staunenswertes Gebiß bekam und sein Handelsimperium vom Krankenzimmer aus dirigierte, sich über Dr. Pearces Zögern, ihm die Antwort auf seine Frage zu liefern, erregte, über die ständig wiederkehrenden Bitten um Blutproben, über seine erzwungene Untätigkeit. Untertags kniff er die Schwestern grinsend in den verlängerten Rücken. Dr. Pearce erkundigte sich nicht, was nachts geschah. Bevor die Woche vorbei war, hatte Weaver seine Entlassung aus dem Krankenhaus erzwungen und Dr. Pearce einen Privatdetektiv aufgesucht. Die schwarze Schrift auf der Milchglasscheibe verkündete: ›Jason Locke Vertrauliche Ermittlungen‹ Aber Locke entsprach nicht Pearces Vorstellungen von einem Privatdetektiv. Er hatte nichts Verwegenes an sich. Die Härte lag in seinem Innern verborgen, er zeigte sie nicht. Locke war schon über die Vierzig, sein Haar be-
gann grau zu werden, sein Gesicht war gebräunt; ein großer Mann im hellen, leichten Anzug. Er sah aus wie ein erfolgreicher Geschäftsmann. So gut schien das Geschäft aber nicht zu gehen: das Büro war schäbig, das Mobiliar wenig besser, und es gab weder eine Sekretärin noch eine Empfangsdame. Er war der Mann, den Pearce brauchen konnte. Er hörte Pearce zu und sah ihn mit dunklen Augen gleichmütig an. »Ich möchte, daß Sie für mich einen Mann finden«, sagte Pearce. »Sein Name ist Marshal Cartwright. Die letzte Adresse: Abbot Hotel.« »Warum?« »Kommt es darauf an?« »Ich möchte meine Lizenz nicht verlieren – und vor allem nicht ins Gefängnis kommen.« »Es handelt sich nicht um illegale Dinge«, fügte Pearce hastig hinzu, »aber es könnte gefährlich werden. Ich will Sie nicht anlügen; es geht um ein medizinisches Problem, das ich Ihnen nicht erklären kann. Es ist sehr wichtig für mich, daß Sie Cartwright finden. Es ist auch für ihn wichtig – sein Leben steht unter Umständen auf dem Spiel. Es könnte sogar für die ganze Welt wichtig sein. Die Gefahr liegt in der Tatsache begründet, daß ihn auch andere Leute suchen. Wenn man Ihnen auf die Schliche kommt, wird man nicht viel Federlesen machen. Sie müssen Cartwright vor den anderen finden.« »Wer sind diese anderen?« Pearce zuckte hilflos die Achseln. »Pinkerton, Burns, International Detectives – ich weiß es nicht. Vermutlich eine der großen Firmen.« »Ist das der Grund, warum Sie nicht dort ange-
klopft haben?« »Ein Grund. Ich will Sie aber nicht im dunklen lassen; der andere Auftraggeber ist Leroy Weaver.« Locke sah interessiert auf. »Ich habe gehört, daß der alte Knabe wieder mitmischt. Haben Sie Bilder oder eine Beschreibung, womit ich diesem Cartwright auf die Spur kommen kann?« Pearce starrte auf seine Hände hinunter. »Nichts, abgesehen vom Namen. Er ist ein junger Mann und hat am Dritten dieses Monats einen halben Liter Blut gespendet. Er lehnte es ab, seinen Namen auf die Spenderliste setzen zu lassen. Als Anschrift gab er das Abbot Hotel an.« »Das kenne ich«, sagte Locke. »Eine billige Bleibe in der 9th Avenue. Das bedeutet, daß er die Stadt verlassen hat, würde ich sagen.« »Wie kommen Sie darauf?« »Deswegen hat er sein Blut gespendet, um die Stadt verlassen zu können. Er hatte kein Interesse daran, noch einmal als Spender aufzutreten; er gedachte nicht mehr in der Nähe zu sein, und jeder, der sich in einem Stall wie dem Abbot Hotel aufhält, würde nicht auf die Chance verzichten, regelmäßig ohne Arbeit zu Geld zu kommen.« »Das habe ich mir auch gedacht«, meinte Pearce nickend. »Übernehmen Sie die Sache?« Locke drehte sich mit seinem Schreibtischsessel und starrte durchs Fenster auf die Transformatoren und Kabel der Twelfth Street. Kein interessanter Anblick, aber er schien dadurch zu einer Entscheidung zu kommen. »Fünfzig Dollar pro Tag und Spesen. Sechzig, wenn ich die Stadt verlassen muß.«
An diesem Nachmittag entdeckte Pearce, daß er beschattet wurde. Er schlenderte durch die warmen, herbstlichen Straßen, die dahinhastenden, anonymen Käufer strömten an ihm vorbei, und plötzlich war er seiner Sache sicher. Er streifte durch die Geschäfte, hastig oder an einer Theke stehenbleibend, schaute sich vorsichtig um, entdeckte nichts, war aber überzeugt, daß ihn jemand beobachtete. Er kannte die Symptome. Sonst traten sie vor allem bei hysterischen Frauen auf, meistens dann, wenn sie älter wurden, gelegentlich aber auch schon in jungen Jahren. Dr. Pearce hatte nie damit gerechnet, daß sie bei ihm auftreten würden: Empfindlichkeit am Genick und zwischen den Schulterblättern, die Verkrampfung in den Beinmuskeln, der Drang, davonzulaufen, in einem Haus, einem Lift zu verschwinden ... Dr. Pearce nickte nachdenklich und zwang sich dazu, ruhig zu bleiben. Er ging langsam zu seinem Wagen, sprach kurz mit dem Parkwächter, bevor er den Motor anließ und fuhr direkt nach Hause. Er konnte den Mann oder die Männer, die ihn beschatteten, nicht identifizieren, jetzt nicht und auch später nicht. Es ging Wochen so, und als es endlich vorbei war, kam er sich seltsam entblößt und nackt vor. Als er seine Wohnung erreichte, läutete das Telefon. An sich nichts Überraschendes. Das Telefon eines Arztes läutete weit öfter als das eines normalen Bürgers. Der Anrufer war Dr. Easter. Was er Dr. Pearce zu sagen hatte, war mit wenigen Worten wiederzugeben: Dr. Pearce solle nicht eigensinnig sein, sondern mit Mr. Weaver zusammenarbeiten. »Natürlich tu' ich das!« rief Dr. Pearce. »Das tu' ich bei allen Patienten.«
»So hab' ich es nicht gemeint«, erklärte Dr. Easter salbungsvoll. »Arbeiten Sie mit ihm zusammen, nicht gegen ihn. Sie werden sehen, daß es sich für Sie lohnt.« »Es lohnt sich für mich, Medizin so zu praktizieren, wie es in meinen Kräften steht«, erwiderte Dr. Pearce gleichmütig. »Darüber hinaus hat niemand Anspruch auf mich.« »Sehr lobenswert«, stimmte Dr. Easter freundlich zu. »Die Frage ist nur: Wird Mr. Weaver der Ansicht sein, daß Sie Medizin richtig praktizieren? Das würde ich mir überlegen.« Dr. Pearce ließ den Hörer auf die Gabel sinken, während er darüber nachdachte, wie es war, Arzt sein – und er wußte, daß er in keinem anderen Beruf glücklich sein konnte. Er beschäftigte sich mit der versteckten Drohung Easters; man durfte sie nicht einfach wegwischen. Der Vorwurf einer fahrlässigen Verhaltensweise war leicht zu erheben, und eine mächtige Partnerschaft von Geld und Ansehen mochte durchaus in der Lage sein, die Gefahr einer Approbationsentziehung heraufzubeschwören. Er dachte an Easter und wußte, daß es besser war, den Titel zu riskieren, als die Realität wegzuschenken. 3. Die nächste Woche bestand aus Nachdenken und Warten und Sich-Beschäftigen, ein Problem, dem ein Arzt selten gegenübersteht. Die Tage vergingen in ereignisloser Routine.
Dann hatte es den Anschein, als überschlügen sich die Ereignisse. Als er von seinem Wagen zur Haustür ging, griff eine Hand aus dem Schatten neben einer Ziertanne und zog ihn in die Dunkelheit. Bevor er etwas sagen oder sich wehren konnte, preßte sich eine Hand auf seinen Mund und eine Stimme flüsterte ihm ins Ohr: »Keinen Laut! Ich bin Locke, der Privatdetektiv. Erinnern Sie sich?« Dr. Pearce nickte. Die Hand löste sich von seinem Gesicht. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, sah er Lockes Züge. Sein Gesicht war dunkel und bärtig, und die Nase sah merkwürdig aus. Locke war in eine Schlägerei verwickelt worden; die Nase war gebrochen, das Gesicht war schlimm zugerichtet. »Halb so schlimm«, sagte Locke heiser. »Sie sollten die anderen sehen.« Als Dr. Pearce ein wenig zurückwich, konnte er sehen, daß Locke einen uralten, abgeschabten Anzug trug. »Tut mir leid, daß ich Sie da mit hineingezogen habe«, sagte er. »Gehört zu meinem Beruf. Hören Sie zu. Ich habe nicht viel Zeit und möchte meinen Bericht abgeben.« »Das hat Zeit. Kommen Sie mit 'rauf. Ich will mir Ihr Gesicht ansehen. Sie können mir einen schriftlichen Be...« »Ausgeschlossen«, sagte Locke schwerfällig. »Ich setze meinen Namen unter nichts Schriftliches. Zu gefährlich. Von jetzt an lasse ich mich auf keine Risiken mehr ein. Ein paar Tage lang kam ich gut voran, dann erwischten sie mich. Na ja, sie sind auch nicht ganz glücklich. Also, soll ich anfangen?«
Dr. Pearce nickte. Für eine Weile hatte Locke geglaubt, seinem Ziel näherkommen zu können. Er hatte sich im Abbot eingemietet, mit dem Empfangschef angefreundet und sich schließlich nach seinem Freund Cartwright erkundigt, der vor einiger Zeit auch im Hotel gewohnt habe. Der Empfangschef sei durchaus willig gewesen, nur habe er nicht viel gewußt, und was ihm bekannt war, hätte er nie einem Fremden erzählt. Die Gäste im Abbot pflegten von der Polizei und von Geldtreibern belästigt zu werden. Cartwright habe seine Rechnung bezahlt und sei plötzlich ausgezogen, ohne eine Anschrift zu hinterlassen. Man habe seither nichts mehr von ihm gehört, aber gewisse Leute hätten Erkundigungen über ihn eingezogen. »Er ist wohl in Schwierigkeiten, was?« fragte der Empfangschef. »Ich hatte aber so das Gefühl, daß Cartwright nach Des Moines wollte. Er sagte irgend etwas – ich kann mich nicht mehr erinnern.« Locke fuhr mit einer Probe von Cartwrights Handschrift aus dem Hotelregister nach Des Moines. Er klapperte alle Hotels, Pensionen und Motels ab. In einem erstklassigen Hotel fiel ihm der Name ›Marshall Carter‹ auf. Cartwright hatte das Abbot Hotel am Neunten verlassen und am Zehnten im Hotel in Des Moines ein Zimmer gemietet. Die Schriftzüge schienen übereinzustimmen. Locke holte Carter in St. Louis ein. Er entpuppte sich als älterer Vertreter von Fotoartikeln, der seit einem Jahr nicht mehr in Kansas City gewesen war. Ende der Spur.
»Könnte ihn sonst jemand finden?« erkundigte sich Dr. Pearce. »Nein, wenn er nicht gefunden sein will«, sagte Locke. »Eine Fahndung im ganzen Land – eine große Kampagne, damit wäre es vielleicht zu schaffen. Aber wenn er seinen Namen gewechselt hat und den neuen nicht auf jedes zweite Blatt Papier schreibt, wird ihn kein Mensch finden. Das wollten Sie doch, nicht wahr?« Dr. Pearce sah ihn lange an, ohne etwas zu sagen. »Er ist nicht vorbestraft«, fuhr Locke fort. »Das ist günstig. Ich habe bei den größeren Polizeipräsidien und beim FBI Erkundigungen angestellt. Nichts zu finden. Keine Unterlagen, keine Fingerabdrücke. Nicht unter diesem Namen.« »Wie haben Sie sich diese Verletzung zugezogen?« fragte Dr. Pearce nach kurzer Pause. »Sie warteten vor meinem Büro auf mich, als ich zurückkam. Zwei Kerle. Geschickt, aber nicht geschickt genug. ›Finger weg!‹ sagten sie. Okay, ich bin nicht dumm. Ich lasse die Finger davon, aber ich wollte zuerst den Auftrag erledigen.« Dr. Pearce nickte. »Ich bin zufrieden. Schicken Sie mir eine Rechnung.« »Von wegen Rechnung!« knurrte Locke. »Fünfhundert Dollar. Stecken Sie das Geld in einen Umschlag und schicken Sie es mir mit der Post – keinen Scheck. Ich könnte mehr verlangen, weil Sie mich als Lockvogel verwendet hatten, aber vielleicht hatten Sie Ihre Gründe. Seien Sie vorsichtig, Doc!« Er war verschwunden, so schnell und lautlos, daß Dr. Pearce zu sprechen begann, bevor er entdeckte, daß der Detektiv nicht mehr vor ihm stand. Dr. Pear-
ce starrte ihm einen Augenblick nach, dann hob er die Schultern und schloß die Haustür auf. Auf dem Weg nach oben im Lift starrte er nachdenklich vor sich hin. Vor seiner Wohnungstür kramte er geistesabwesend den Schlüssel heraus und steckte ihn ins Schloß. Als der Schlüssel sich nicht drehen ließ, nahm er ihn heraus, um ihn anzusehen. Erst dann fiel ihm auf, daß die Tür einen winzigen Spalt offenstand. Dr. Pearce gab ihr einen Stoß, und sie ging lautlos auf. Das Licht vom Korridor strömte über seine Schulter, aber es drang nicht weit ins dunkle Zimmer. Er starrte einen Augenblick hinein und zog den Kopf zwischen die Schultern, als helfe ihm das weiter. »Kommen Sie 'rein, Dr. Pearce«, sagte jemand leise. Das Licht ging an. Dr. Pearce blinzelte. »Guten Abend, Mr. Weaver. Sie auch, Jansen. Wie geht es Ihnen?« »Gut, Doktor«, sagte Weaver. »Ausgezeichnet.« Er sah nicht gut aus, dachte Dr. Pearce. Er wirkte älter, hager, erschöpft. Machte er sich Sorgen? Weaver saß in seinem Lieblingssessel, dem grünledernen, neben dem Kamin. Jansen stand am Lichtschalter. »Sie haben es sich bequem gemacht, wie ich sehe.« Weaver lachte leise. »Wir haben dem Hausmeister erzählt, daß wir Freunde von Ihnen sind, und das hat er natürlich nicht bezweifelt. Aber es stimmt doch auch, nicht wahr?« Dr. Pearce sah zuerst Weaver, dann Jansen an. »Wer weiß? Haben Sie überhaupt Freunde – oder nur Söldlinge?« Er richtete den Blick wieder auf Weaver. »Sie sehen nicht besonders gut aus. Sie sollten ins Krankenhaus zu einer Nachuntersuchung –«
»Ich fühle mich gut, habe ich gesagt.« Weavers Stimme hob sich ein wenig, bevor sie in Gesprächston zurückglitt. »Wir wollten uns ein bißchen unterhalten – über Zusammenarbeit.« Dr. Pearce sah zu Jansen hinüber. »Ich bin heute nicht sehr gesprächig. Ich habe einen harten Tag hinter mir.« Weavers Augen blieben auf Dr. Pearces Gesicht gerichtet. »Verschwinde, Carl«, sagte er ruhig. »Aber Mr. Weaver –«, begann Jansen mit zusammengezogenen Brauen. »Verschwinde, Carl«, wiederholte Weaver. »Warte im Wagen auf mich.« Als Carl fort war, ließ sich Dr. Pearce in einen Sessel sinken, schaute sich im Zimmer um, betrachtete das polierte, dunkle Holz des Stereo-Plattenspielers und den Kontrast des helleren Schreibtisches in der Ecke. »Haben Sie etwas gefunden?« fragte er. »Nicht das, was wir suchen«, gab Weaver gelassen zurück. »Und was wäre das?« »Cartwrights Aufenthaltsort.« »Wie kommen Sie auf die Idee, daß ich den wüßte?« Weaver verschränkte die Finger. »Können wir nicht zusammenarbeiten?« »Gewiß. Was möchten Sie wissen – über ihre Gesundheit?« »Was haben Sie mit den Blutproben gemacht, die Sie mir abgenommen haben? Sie müssen ja beinahe alles zurückgenommen haben, was ich bekommen habe.«
»Beinahe. Einen Teil haben wir zentrifugiert, um das Plasma zu gewinnen. Das Gammaglobulin haben wir mit Zink herausgeholt. Damit stellten wir Tierversuche an.« »Und was kam dabei heraus?« »Die Immunität ist im Gammaglobulin. Ganz klar. Das ist ja der Immunitätsfaktor. Sie sollten meine alte Ratte sehen. Lebendig wie eine junge.« »Die Immunität ist also auch in mir?« erkundigte sich Weaver. Dr. Pearce schüttelte den Kopf. »Die OriginalGlobuline sind in Ihrem Blut nur aufgelöst.« »Um ewig zu leben, müßte ich also in regelmäßigen Abständen Transfusionen bekommen?« »Wenn es möglich ist, ewig zu leben«, sagte Dr. Pearce achselzuckend. »Ist es. Das wissen Sie. Es gibt mindestens einen Menschen, der ewig leben wird – Cartwright. Wenn ihm nicht etwas zustößt. Das wäre doch eine Tragödie, nicht wahr? Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen lassen sich Unfälle oft nicht vermeiden. Manche werden ermordet. Können Sie sich vorstellen, daß irgendein Halbwüchsiger dieses goldene Blut in eine dreckige Gasse tropfen läßt – oder daß irgendeine eifersüchtige Frau ein Messer in diesem unschätzbaren Körper treibt?« »Was wollen Sie, Weaver?« fragte Dr. Pearce. »Sie haben Ihre Gnadenfrist bekommen. Was können Sie noch verlangen?« »Noch eine. Und immer wieder ein. Warum soll ein Niemand das durch einen Zufall haben? Was nützt es ihm oder der Welt? Es muß geschützt werden – und richtig eingesetzt. Bei richtiger Behandlung wäre sein
Wert – nun, was immer man für Leben zu zahlen bereit ist. Ich würde eine Million im Jahr hinlegen – mehr, wenn es sein muß. Andere Männer würden dasselbe bezahlen. Wir könnten die besten Männer der Welt retten, diejenigen, die ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt haben, indem sie reich wurden. O ja. Auch Wissenschaftler; wir würden eine gute Auswahl treffen. Auch Leute, die nicht im Geschäftsleben stehen – Persönlichkeiten, Staatsmänner ...« »Und was ist mit Cartwright?« »Was soll mit ihm sein?« Weaver blinzelte, als sei er aus einem herrlichen Traum gerissen worden. »Glauben Sie, daß jemals ein Mensch ein besseres Leben geführt hätte, mehr verwöhnt worden wäre? Du meine Güte, er könnte haben, was er wollte! Niemand würde ihm etwas abschlagen können, aus Angst, daß er sich etwas antut. Er wäre die Gans, die goldene Eier legt.« »Er hätte alles, bis auf die Freiheit.« »Sie wird überbewertet. Der einzige unsterbliche Mensch auf der Welt. Genau das«, sagte Weaver und beugte sich vor. »Statt dieses einen gäbe es viele.« Dr. Pearce bewegte den Kopf hin und her, als habe er nichts gehört. »Eine zufällige Kombination der Gene – eine winzige Veränderung durch kosmische Strahlung oder vielleicht etwas noch Diffizileres – und Unsterblichkeit entsteht. Immunität gegen den Tod – ein Mittel, das Kreislaufsystem jung und widerstandsfähig zu erhalten, es immer wieder zu erneuern. ›Der Mensch ist so alt wie seine Arterien‹ heißt es. Sorgen Sie für Ihre Arterien, und Sie werden Ihre Zellen unsterblich erhalten.« »Sagen Sie es mir! Sagen Sie mir, wo Cartwright ist,
bevor all das für immer verloren ist.« »Ein Mann, der weiß, daß er eine Million Jahre zu leben hat, wird verdammt vorsichtig sein«, meinte Dr. Pearce. »Das ist es ja«, erwiderte Weaver. »Er weiß es nicht. Wenn er es gewußt hätte, wäre er niemals bereit gewesen, sein Blut zu spenden.« In Weavers Gesicht verändert sich etwas. »Oder weiß er es – jetzt?« »Was meinen Sie damit?« »Haben Sie es ihm nicht gesagt?« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« »Wirklich nicht? Entsinnen Sie sich nicht, am Abend des Neunten zum Abbot Hotel gegangen zu sein, nach Cartwright gefragt und mit ihm gesprochen zu haben? Das sollten Sie eigentlich. Der Empfangschef hat sie nach einem Foto erkannt. Und in derselben Nacht reiste Cartwright ab.« Dr. Pearce erinnerte sich gut an das Abbot Hotel, an die schmale, dunkle Eingangshalle, verschmutzt, schäbig. Er hatte an Cholera und Pest gedacht, als er sie durchquerte. Er erinnerte sich auch an Cartwright – an dieses wundersame Wesen, heruntergekommen und ganz normal aussehend, das ihm aber zugehört und geglaubt, das Geld genommen hatte und verschwunden war ... »Das glaube ich nicht«, sagte Dr. Pearce. »Ich hätte es sofort wissen müssen«, meinte Weaver wie zu sich selbst. »Sie wußten gleich auf Anhieb seinen Namen, als ich danach fragte.« »Unterstellen wir einmal, daß es so war. Selbst wenn ich alles das getan hätte, was Sie behaupten, glauben Sie, daß es für mich leicht war? Für Sie ist er
Geld. Was glauben Sie, war er für mich? Das phantastischste Labor auf zwei Beinen! Was hätte ich nicht dafür gegeben, ihn studieren zu dürfen! Herauszufinden, wie sein Körper funktioniert, den Versuch zu wagen, die Substanz synthetisch herzustellen. Sie haben Ihre Antriebe, Weaver, ich die meinen.« »Warum tun wir uns nicht zusammen, Pearce?« »Wir haben grundverschiedene Meinungen.« »Spielen Sie nicht den Heiligen, Pearce. Das Leben ist nicht heilig.« »Das Leben ist das, was wir daraus machen«, sagte Pearce leise. »Ich gebe mich nicht zu den Dingen her, die Sie vorhaben.« Weaver stand abrupt auf und trat einen Schritt auf Pearce zu. »Leute von Ihrer Sorte haben manchmal eine merkwürdige Ethik«, sagte er zischend. »Nicht alle. Ein paar. An dem, was Sie tun, ist nichts Heiliges. Ihr seid nur Techniker – Mechaniker. Ihr macht eure Arbeit, man bezahlt euch dafür. Ich sehe nicht ein, warum ihr eine Religion daraus machen müßt.« »Das ist absurd, Weaver. Wenn Sie nicht an das glauben, was Sie tun, sollten Sie die Finger davon lassen. Sie machen eine Religion aus dem Geldverdienen. Das Geld ist Ihnen heilig. Nun, mir ist es das Leben. Damit habe ich zu tun, den ganzen Tag, jeden Tag. Der Tod ist mein alter Feind. Ich werde ihn bis zum Ende bekämpfen.« Dr. Pearce stand auf. Er trat zu Weaver, starrte ihm ins Gesicht. »Hören Sie mir zu, Weaver. Was Sie vorhaben, ist unmöglich. Was wäre, wenn man uns alle verjüngen könnte? Haben Sie auch nur die leiseste Ahnung, was
geschehen würde? Haben Sie sich überlegt, was das für die Zivilisation bedeuten könnte? Nein, man sieht, daß Sie das nicht getan haben. Nun, Ihre ganze Gesellschaft würde über ihren goldenen Säulen zusammenbrechen. Die Zivilisation würde auseinanderfliegen wie ein falsch zentriertes Schwungrad. Unsere Kultur ist auf der Annahme aufgebaut, daß wir zwei Jahrzehnte wachsen und lernen, weitere zwei oder drei Jahrzehnte Reichtum und Nachkommen produzieren, und daß wir im Verlauf eines oder zwei weiterer Jahrzehnte langsam zerfallen, bevor wir sterben. Denken Sie doch nach! Sehen Sie sich an, was Forschung und Medizin im vergangenen Jahrhundert geleistet haben. Sie haben der durchschnittlichen Lebenserwartung ein paar Jahre – nur ein paar Jahre – hinzugefügt, und unsere Gesellschaft kann das kaum verkraften. Überlegen Sie sich, was geschehen würde, wenn wir niemals sterben müßten! Es gibt nur eine Möglichkeit, dergleichen in die Menschheit aufzunehmen – stufenweise, damit sich die Gesellschaft anpassen kann, ohne daß sie sich dessen überhaupt bewußt wird. Alle Kinder Cartwrights werden diese Mutation erben. Es muß so sein. Eine solche Eigenschaft dominiert. Und sie werden überleben, weil das der größte Überlebensfaktor ist, den es je gegeben hat.« »Wo ist er?« fragte Weaver. »Es hat keinen Sinn, Weaver«, erwiderte Pearce mit lauter Stimme. »Ich will Ihnen sagen, warum es keinen Sinn hat. Weil Sie ihn töten würden. Sie glauben es nicht. Aber Sie würden ihn so sicher töten, wie Sie ein Angehöriger der menschlichen Rasse sind. Sie würden ihn zu Tode bluten lassen oder ihn umbrin-
gen, weil Sie es nicht aushalten könnten, etwas Unsterbliches um sich zu wissen. Sie oder irgendein anderes verkrüppeltes Exemplar Mensch. Sie würden ihn töten, oder er würde beim Aufruhr derjenigen umkommen, denen man das Leben verweigerte. Man würde ihn den Wölfen vorwerfen. Was die Menschen nicht haben können, vernichten sie. Dafür gibt es Beweise genug.« »Wo ist er?« wiederholte Weaver. »Es gibt noch einen Grund, warum es keinen Sinn hat.« Pearces Stimme klang tiefer, als schwinge eine Spur Mitleid mit. »Aber den werde ich Ihnen nicht sagen. Sie kommen von selbst dahinter.« »Wo ist er?« drängte Weaver. »Ich weiß es nicht. Sie wollen das natürlich nicht glauben. Aber ich weiß es nicht. Ich wollte es nicht wissen. Ich habe ihm die Wahrheit gesagt. Ich habe ihm Geld gegeben und ihm geraten, die Stadt zu verlassen, seinen Namen zu ändern, sich zu verbergen – alles, nur sich nicht finden zu lassen; fruchtbar zu sein, die Erde zu bevölkern ...« »Ich glaube Ihnen nicht. Sie haben ihn irgendwo versteckt, für Ihre eigenen Zwecke. Niemand gibt ohne Gegenleistung tausend Dollar.« »Sie kennen die Summe?« fragte Pearce. Weaver kräuselte die Lippen. »Ich weiß genau, welche Beträge in den letzten fünf Jahren auf Ihre Bank eingezahlt wurden und was Sie abgehoben haben. Sie sind klein, Pearce, und Sie sind billig, und ich werde Sie fertigmachen.« Pearce lächelte ohne Sorge. »Nein, das werden Sie nicht. Sie wagen nicht, Gewalt anzuwenden, weil ich vielleicht wissen könnte,
wo sich Cartwright versteckt hat. Dann würden Sie alles verlieren. Und Sie unternehmen auch nichts anderes, weil ich sonst den Artikel freigebe, den ich über Cartwright geschrieben habe – ich schicke Ihnen eine Abschrift –, und dann wäre wirklich der Teufel los. Wenn alle Menschen über Cartwright Bescheid wüßten, hätten Sie keine Chance, die Kontrolle zu behalten, selbst wenn Sie ihn finden könnten.« Weaver drehte sich an der Tür um und sagte gelassen: »Wir sehen uns wieder.« »Stimmt«, sagte Pearce, und er dachte, ich bin dir keine Hilfe gewesen, weil du niemals glauben wirst, daß ich keine Verbindung zu Cartwright habe. Aber du bist nicht der Mensch, den ich bedaure. Zwei Tage später kam die Nachricht von Weavers Eheschließung; er war mit einem fünfundzwanzig Jahre alten Mädchen aus dem Country-Club-Bezirk, einer Patricia Warren, durchgegangen. Die Sensation des Weekends – Reichtum und Schönheit, Alter und Jugend. Dr. Pearce betrachtete das Bild des Mädchens in der Sonntagszeitung und sagte sich, daß sie wirklich bekommen hatte, was sie wollte. Und Weaver – Pearce kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß für ihn dasselbe galt. Weavers Erbe war bereits gesichert. Sonst hätte Weaver sich und sein Imperium nie den Händen einer Frau anvertraut. Es gab verläßliche Tests schon in diesem Stadium. Die vierte Woche seit der Transfusion verging ereignislos, und die fünfte Woche brachte eine Aufforderung Jansens, zu ihm zu kommen. Dr. Pearce ignorierte sie. Der Anfang der sechsten Woche brachte einen verzweifelten Anruf von Dr. Easter. Dr. Pearce
weigerte sich, Weaver in seiner Villa zu besuchen. Man brachte ihn mit einem Krankenwagen unter Sirenengeheul ins Krankenhaus. Dr. Pearce stand neben dem harten Krankenhausbett, prüfte den Puls im knochigen Handgelenk und starrte auf den ausgezehrten Körper hinunter. Er rief in der Matratze keine Vertiefung hervor. Die rauhe ungleichmäßige Atmung klang in der Stille unnatürlich laut. Die einzige Bewegung war das krampfhafte Heben und Senken des Lakens über dem alten Körper. Er lebte – gerade noch. Er hatte seine siebzig Jahre hinter sich. Es war nicht nur einfach so, daß er starb – das tun wir alle. Bei ihm stand der Tod unmittelbar bevor. Der Puls war kaum zu tasten. Das Geschenk der Jugend war ihm genommen. Innerhalb weniger Tage war Weaver der Farbe, war er vierzig Jahre seines Lebens beraubt worden. Er war ein alter Mann, der im Sterben lag. Sein Gesicht war gelblich über bläulichem Grau, der Farbe des Todes. Es war knochig, und die runzlige Haut ließ den Totenschädel erkennen. Er mochte einmal gutaussehend gewesen sein. Jetzt waren seine Augen tief eingesunken, die geschlossenen, verfärbten Lider verbargen sie, und seine Nase war ein schmaler, gebogener Span. Diesmal, dachte Dr. Pearce, diesmal gibt es keine Gnadenfrist. »Ich verstehe das nicht«, murmelte Dr. Easter. »Ich dachte, er hat vierzig Jahre –« »Das war seine Schlußfolgerung«, sagte Dr. Pearce. »Vierzig Tage dürfte eher stimmen. Dreißig bis vier-
zig Tage – so lange bleibt das Gammaglobulin im Kreislauf. Die Immunität war nur passiv. Die einzige Person mit dauernder Immunität gegen den Tod ist Cartwright. Und die einzigen, denen er sie weitergeben kann, sind seine Kinder.« Easter blickte sich nach der Krankenschwester um und flüsterte: »Könnten wir das nicht klüger machen? Der Zufall braucht manchmal eine hilfreiche Hand. Mit künstlicher Befruchtung könnte man die Menschheit in ein paar Generationen verändern –« »Wenn wir nicht vorher alle ausgelöscht werden«, sagte Dr. Pearce und wandte sich ab. Er wartete mit geschlossenen Augen, lauschte den mühsamen Atemzügen Weavers, dachte an die Tragödie des Lebens und des Todes – an das Geborenwerden und Sterben, ineinander verflochten, alles eins, und hier war Weaver, dessen Leben vorbei war, und da war sein Kind, das erst nach Monaten auf die Welt kommen würde. Eine Fortsetzung, ein Gleichgewicht – ein Leben für das Leben, und es hatte die Menschheit seit Millionen Jahren stabil erhalten. Und doch – Unsterblichkeit? Was mochte sie bedeuten. Er dachte an Cartwright, den Unsterblichen, den Verfolgten. Solange sich die Menschen zu erinnern vermochten, würden sie ihn nicht ruhen lassen, und wenn er es müde wurde, sich zu verstecken, zu fliehen, war sein Schicksal besiegelt. Die Suche würde weitergehen – behindert jetzt, zum Glück seit Weaver aus dem Rennen war –, und Cartwright würde mit seiner Last nie leben können wie andere Menschen. Er dachte an ihn, versuchte sich angesichts des Todes mit der Unsterblichkeit zu befassen, und er
dachte, daß Unsterblichkeit – das größte Geschenk, das einem Menschen zuteil werden konnte – eine entsprechende Gegenleistung verlangte, wie alles andere auch. Für die Unsterblichkeit mußte man das Recht zu leben aufgeben. Gott sei dir gnädig, Cartwright. »Transfusion, Dr. Pearce?« wiederholte die Krankenschwester. »O ja«, sagte er hastig. »Auf jeden Fall.« Er starrte noch einmal auf Weaver hinunter. »Schicken Sie eine Bestellung hinunter. Wir kennen ja seine Blutgruppe. 0 negativ.«
ZWEITER TEIL
Der Spender 1. Die Suche war auf hundert Jahre hinaus geplant worden. Die Hälfte dieser Zeit war bereits vergangen, und ein Erfolg zeichnete sich ebensowenig ab wie zu Anfang. Nur die letzte Verzweiflung kann ohne regelmäßige Transfusion mit Resultaten die Hoffnung am Leben erhalten. Das nationale Forschungsinstitut war in seiner Art einmalig. Es hatte keine Kunden, es stellte nichts her. Die Jahresabrechnung wies nur Verlustzahlen auf. Aber die schmallippigen Spender leisteten ohne Murren regelmäßig ihre Beiträge. Sobald einer von ihnen starb, fiel sein Vermögen dem Institut anheim. Der Zweck des Instituts war Lernen, aber nicht Erziehung. Es hatte einen ungeheuren Appetit für Informationen aller Art, vor allem schriftlicher Natur: Statistiken, Zeitungsausschnitte, Krankenakten, Berichte ... Ein Strom von Papier floß durch das graue, bombensichere Steingebäude in der Nähe von Washington, wurde zu bedeutungsvollen gestanzten Löchern oder Anordnungen von Elektronen reduziert, aus denen Datenrechner komplizierte Vergleiche oder Schlußfolgerungen verschiedenster Art zogen. Möglicherweise kannte ein einziger Mann im Institut seine Funktion. Die Tausende anderer Angestellten, von denen viele nicht einmal auf der Ge-
haltsliste standen, erfüllten ihre Pflichten blindlings, steckten ihre großzügige Entlohnung ein und stellten keine Fragen, wenn sie Wert darauf legten, ihre Stellung zu behalten. Das Institut lebte durch die Hoffnung und blühte durch den Tod. Der große Prüfsaal barg geschäftiges Durcheinander, das nur durch Zufall dem Abgleiten ins Chaos zu entrinnen scheint. Post wurde geöffnet, gestempelt, zusammengeheftet und auf Förderbänder gebracht. Zeitungen wurden von Lesemaschinen überflogen und dann Zeile für Zeile von menschlichen Lesern überprüft. Auf Rollschuhen rasten Boten zwischen den langen Reihen von Schreibtischen dahin, Prüfer strichen mit Blaustift an, hefteten Unterlagen aneinander und sprachen in die automatischen Schreibmaschinen. Techniker stanzten Löcher in leere Karten und lenkten Elektronen an Speicherstellen. Edwin Sibert schlängelte sich aufgeregt zwischen den Schreibtischen hindurch, als sei er unterwegs zu einem Stelldichein mit der begehrenswertesten Frau der ganzen Welt. Der Prüfsaal bot ihm nichts Neues; er hatte dort sechs Monate zugebracht, ohne auch nur das geringste zu lernen. Er verschwendete keinen Blick, als er die Treppe hinter dem wie ein Wachtturm über einem Gefängnishof emporragenden Bürotrakt hinaufstieg. Im Vorzimmer standen an allen vier Wänden abgeschlossene Karteikästen; ihr Inhalt war bedeutungslos. Ein farbloser, älterer Registraturangestellter kramte in einer der Schubladen. »Tag, Sanders«, sagte Sibert. Der Arbeitsplatz an der zum inneren Büro führen-
den Tür war mit einem Vermittlungsschrank, einem Codiergerät, einem automatischen Bandgerät und einer hübschen dunkelhaarigen Sekretärin ausgestattet. Ihre Augen hatten sich geweitet, als Sibert eingetreten war. »Tag, Liz«, sagte er. »Ist Locke da?« Er ging an ihr vorbei zur Tür, ohne die Antwort abzuwarten. »Nicht, Ed –«, rief sie und sprang auf. »Mr. Locke wird –« »– sehr wütend sein, wenn er meine Neuigkeiten nicht sofort erfährt«, sprach Sibert den Satz zu Ende. »Ich habe den Schlüssel gefunden, Liz. Verstanden?« Er berührte mit den Fingern die glatte Wölbung ihrer Kehle. Sie ergriff seine Hand, preßte sie für einen Augenblick an ihre Wange. »Oh, Ed!« stammelte sie. »Ich –« »Schön brav sein, Liz«, sagte er fröhlich, und seine blauen Augen lächelten. »Vielleicht – ein bißchen später – wer weiß?« Aber es gab kein ›später‹ – das wußten sie beide. Er hatte einen Monat mit ihr vergeudet, bevor er überzeugt davon war, daß sie nichts wußte. Er zog seine Hand zurück, öffnete die Tür und betrat das Arbeitszimmer. Die Wand hinter Locke bestand aus Einsichtglas. Von hier aus konnte der Direktor den Prüfsaal unmittelbar oder auch nach Wunsch indirekt die anderen Zimmer und Büros des fensterlosen Gebäudes überblicken. Locke sprach über sein Privattelefon. »Geduld ist unser größter Aktivposten«, sagte er gerade. »Schließlich hat Ponce de Leon ...« Sibert drehte schnell den Kopf, aber er sah nur für den Bruchteil einer Sekunde ein Gesicht, in dem
durch das hohe Alter das Geschlecht nicht mehr zu erkennen war. Es war runzlig und grau und tot, bis auf die Augen, in denen immer noch Leben und Begierde brannten. »Unterbrechung«, sagte Locke. »Rufe zurück.« Der Bildschirm an der Wand gegenüber verdunkelte sich, als er die Lehne seines Sessels berührte. »Sibert«, sagte er, »Sie sind entlassen.« Locke war selbst kein junger Mann mehr, dachte Sibert. Er mußte neunzig sein, obwohl er gesund wirkte. Er hatte seinen Körper leistungsfähig erhalten; Geriatrie und Hormoninjektionen hatten seine Schultern breit, seine Muskeln fest und elastisch erhalten. Aber sie vermochten sein altes Herz, seine alternden Arterien nicht zu verjüngen. »Gut«, sagte Sibert, »dann werden Sie ja an meiner Information nicht mehr interessiert sein –« »Vielleicht war ich voreilig«, sagte Locke. Die Worte kamen ihm schwer über die Lippen. »Wenn Ihre Information wichtig ist, überlege ich mir es vielleicht noch einmal.« »Und eine Prämie?« setzte Sibert nach. »Vielleicht«, knurrte Locke. »Was ist so welterschütternd, daß es nicht auf dem üblichen Weg weitergegeben werden kann?« Sibert betrachtete Lockes Gesicht. Es hatte nicht ein ganzes Leben im Büro hinter sich. An den Augen und schräg über eine Wange zeigten sich Narben; die Nase war mindestens einmal gebrochen. Locke war ein alter Bär. Man mußte vorsichtig sein, dachte Sibert, durfte ihn nicht zu sehr reizen. »Ich glaube, daß ich eines von Marshal Cartwrights Kindern gefunden habe.«
Lockes Gesicht verzerrte sich für einen Augenblick, bevor er die Beherrschung wiedergewann. »Wo? Welchen Namen benützt er? Was ist er –« »Nur langsam«, sagte Sibert gelassen. Er ließ sich in den Sessel neben dem Schreibtisch sinken und zündete sich eine Zigarette an. »Ich habe fünf Jahre lang im dunkeln gearbeitet. Bevor ich etwas verrate, möchte ich wissen, was eigentlich gespielt wird.« »Sie werden gut bezahlt«, sagte Locke kalt. »Wenn die Sache klappt, brauchen Sie sich über Geld nie mehr Gedanken zu machen. Aber versuchen Sie nicht, ins Spiel einzusteigen, Sibert. Es ist zu groß für Sie.« »Daran muß ich ja die ganze Zeit denken«, meinte Sibert nachdenklich. »Ein paar hunderttausend Dollar. Bedeutet diese Summe für eine Organisation, die im Jahr mindestens hundert Millionen ausgibt, überhaupt etwas? Mit fünfzig Jahren multipliziert, ergibt das fünf Milliarden Dollar. Nur, um die Kinder eines bestimmten Mannes zu finden.« »Wir zapfen Ihnen die Informationen schon ab.« »Nicht rechtzeitig. Und Zeit ist genau das, was ihr nicht habt. Ich habe einen Brief hinterlassen. Wenn ich nicht bald zurückkomme, wird er zugestellt, und Cartwrights Sprößling wird erfahren, daß man ihm auf der Spur ist ...« »Ich möchte diese Feststellung mit Skopolamin nachprüfen.« »Nein. Nicht, weil sie nicht wahr wäre. Sie könnten auch noch andere Fragen stellen. Und es würde zu lange dauern. Deswegen konnte ich ja nicht auf einen Termin warten. Versuchen Sie doch, mein Wissen aus mir herauszuquetschen, wenn Sie wollen.« Er nahm die rechte Hand aus der Jackettasche, zeigte eine
zehnschüssige Pistole vor. »Aber es kann zu lange dauern. Und Sie verlieren vielleicht alles in dem Augenblick, da es in Reichweite kommt. Sie könnten sterben, oder ich könnte sterben.« Locke seufzte und lehnte sich zurück. »Was wollen Sie wissen?« »Was ist so bedeutsam an Cartwrights Kindern?« »Wenn ihnen kein Unfall zustößt, werden sie ewig leben.« Der ältere Mann ging langsam durch den Bahnhof, mit nachdenklichem Gesicht, die Hände tief in den Taschen vergraben. Er holte eine Reisetasche aus einem Schließfach und trug sie in den nächstgelegenen Waschraum, wo er eine Zelle betrat. Er verließ den Waschraum nicht. Ein bestellter Platz im TalgoExpreß nach Toronto wurde nicht eingenommen. Ein junger Mann mit Schlapphut und Spitzbart stieg vor dem Bahnhof in ein Taxi, verließ es bei einer Verkehrsstockung im Geschäftszentrum, hastete zwischen den bewegungslosen Autos dahin, bis er die Parallelstraße erreichte, wo er ein zweites Taxi nahm, das in die entgegengesetzte Richtung fuhr. Am Flughafen kaufte er eine nichtabgeholte Flugkarte für die nächste Maschine. In Detroit stieg er in eine Düsenmaschine nach St. Louis um. Dort wechselte er in ein langsames Turboprop-Flugzeug nach Wichita über. Er mietete ein altes zweisitziges Sportflugzeug, gab seinen Flugplan bekannt und kümmerte sich nicht mehr darum. Zwei Stunden später landete er auf dem Flughafen von Kansas City und stieg in einen klapprigen Omnibus, der über die zerfallende New Hannibal Bridge in das Einkaufsviertel fuhr.
Der Stadtteil ging zugrunde. Mit der Mittelklasse waren die Geschäfte in die Vororte hinausgezogen. Seit einem Jahrzehnt waren Gebäude und Läden nicht mehr repariert worden. Auf der Straße hielten sich nur wenige Leute auf, aber der junge Mann mit dem Bart tat, was er konnte, tauchte in Arkaden unter, wartete in Hausdurchgängen und zwängte sich schließlich in einen Kaufhauslift, kurz bevor sich die Türen schlossen. Der Aufzug stieg knarrend nach oben. Als er den vierten Stock erreichte, waren nur der junge Mann und der Liftführer, ein gebückter, runzliger Gnom über Achtzig, übriggeblieben. Der junge Mann ging den Korridor entlang und verschwand in der Herrentoilette. Zwei Minuten später spülte er eine häßliche schwarze Haarmasse hinunter, vergrub einen Hut unter einem Wust von Papierhandtüchern und grinste sein Spiegelbild an. »Guten Tag, Mr. Sibert«, sagte er fröhlich. »Was hat Locke zu Ihnen gesagt?« »›Sie waren doch Schauspieler, nicht wahr, Sibert?‹« »›Früher mal. Kein sehr guter, fürchte ich.‹« »›Warum haben Sie aufgehört?‹« »›Es war nicht das, was ich mir vorgestellt hatte.‹« »›Und was wäre das?‹« »›Wenn Ihre Psychologen nicht dahintergekommen sind, werde ich es Ihnen nicht sagen. Das würde Ihnen Ihre Aufgabe zu sehr erleichtern.‹« »›Ihr Fehler, Sibert. Ein lebendiger Schauspieler – selbst ein schlechter – ist besser als ein toter Abenteurer. Und das werden Sie sein, wenn Sie sich unterstehen, etwas auf eigene Faust zu unternehmen. Wir ha-
ben Sie in der Hand, Sibert – mit allen Maßen, auf Film, Papier und Kunststoff. Wo immer Sie sich auch verstecken, wir werden Sie herausholen ...‹« »Wenn Sie mich finden, Locke«, sagte Sibert zum Spiegel. »Und für den Augenblick bin ich Ihnen entwischt!« Er hastete die Feuertreppe zum Main-StreetAusgang hinunter, ging durch die Abteilungen im Erdgeschoß, fuhr mit dem Paternoster nach oben, rannte die Treppe hinunter und verließ das Haus durch einen Seitenausgang in der Twelfth Street. Als ein Omnibus gerade anfuhr, zwängte sich Sibert zwischen den zuklappenden Türen ins Innere. Zwei Kilometer nach dem Rathaus stieg er aus, lief durch zwei Gassen und stieg in ein Taxi. »Nach Westen. Ich sag Ihnen schon, wenn Sie halten sollen«, keuchte er. Der Taxifahrer warf ihm einen scharfen Blick durch den Rückspiegel zu, kehrte um und fuhr in westlicher Richtung. Sibert verglich die Gesichtszüge des Mannes mit dem Bild in der Plastiktasche des Rücksitzes. Er konnte Übereinstimmung feststellen, wenn er auch nicht wußte, wieviel Sicherheit ihm das gab. Als er bezahlt hatte, wartete er, bis das Taxi verschwunden war, bevor er sich nach Norden wandte. Die Straße war verlassen, der Himmel klar. Er beschleunigte seine Schritte und spürte die krankhafte Erregung in sich wachsen, als die Wohnsilos der Quality Towers vor ihm emporragten. Die Gabelung, wo der Kansas River in den Missouri mündete, konnte er nicht sehen, weil der Rauch von den Industriewerken einen dichten Nebelschleier über das Tal legte.
In den Anfangszeiten war die Anhöhe des Quality Hill eine gute Wohngegend gewesen, aber sie hatte den Kreislauf von Geburt und Tod zweimal durchlaufen. Je mehr die Stadt sich ausgebreitet hatte, desto stärker waren die Wohnhäuser hier zu Slums herabgesunken. Man hatte sie abgerissen, um die Quality Towers zu errichten, aber fünfzig Jahre Vernachlässigung, Mietsenkung und gedankenlose Mieter hatten ihr Werk getan. Es war Zeit, neu zu beginnen, aber es würde keinen Anfang mehr geben. Dichter Smog drang vom Tal herauf, und Sibert hustete heftig. Das Geld verließ die Stadt. Diejenigen, die es sich leisten konnten, suchten saubere, gesündere Luft und das bessere Leben in den Vororten auf und überließen die Stadt denen, die nicht entfliehen konnten. Sie sollten miteinander zugrunde gehen. Sibert drehte sich vor dem Eingang um und blickte zurück. Niemand war zu sehen. Sein Blick glitt hinüber zu der Erhebung über der Autostraße. Nur hier wurde gebaut; so war es seit Jahren schon. Hospital Hill entwickelte sich zu einem riesigen Komplex. Inmitten des allgemeinen Verfalls zeigte es sich neu und schimmernd. Es griff hinaus, verschlang die grauen Slums, verwandelte sie in schöne, glänzende Aluminium- und Glaswände, in Märkte der Gesundheit und des Lebens. Es würde nie aufhören, bis die ganze Stadt ein einziges Krankenhaus war. Das Leben bedeutete alles. Nichts sonst hatte Wert. Die Menschen würden der Medizin und den Krankenhäusern nie Hindernisse in den Weg legen, gleichgültig, was sonst verlorengehen mochte. Und doch wurde es trotz der gestifteten Gel-
der und der großen Fortschritte, die die Wissenschaft von der Gesundheit und vom Leben im letzten Jahrhundert erzielt hatten, immer teurer, so gesund zu bleiben, wie man es zu sein wünschte. Vielleicht würde das eines Tages mehr kosten, als ein Mensch zu verdienen vermochte. Deswegen war man hinter Cartwrights Kindern her – deswegen jagte man diese wunderbaren Wesen mit dem unstillbaren Durst nach Leben, mit der unerträglichen Furcht vor dem Tode. Die Menschen sind wie Kinder, dachte Sibert, sie haben Angst vor der langen Dunkelheit. Wir alle. Er schauderte und verschwand dann im Haus. Der Aufzug war, wie üblich, defekt. Sibert stieg schnell die Treppen hinauf. Im vierten Stock blieb er stehen, um Atem zu holen, zufrieden, daß er nicht weiter hinauf mußte. Treppensteigen war eine gefährliche, herzbelastende Tätigkeit, selbst für einen jungen Mann. Was ihm das Herz im Leibe umzudrehen schien, war der Anblick der Frau vor einer Tür in der Nähe und der lange, weiße Umschlag, den sie in der Hand hielt. Eine Sekunde später hatte Sibert sie erreicht und den Briefumschlag abgenommen. »Der Brief sollte doch erst um sechs abgeliefert werden, Mrs. Gentry«, rügte er. »Und jetzt ist es erst fünf.« »Ich muß mich um das ganze Haus kümmern«, beschwerte sie sich. »Ich habe mehr zu tun, als den ganzen Tag herumzulaufen und Briefe zuzustellen. Ich war gerade hier oben, und da wollte ich ihn gleich abgeben.«
»Wenn es nicht wichtig gewesen wäre, hätte ich Ihnen das nicht eingeschärft.« »Na ja« – das schmale, alte Gesicht mühte sich ein Lächeln ab –, »tut mir leid. Ist ja nichts passiert.« »Nein. Guten Abend, Mrs. Gentry.« Als die Schritte der Hauswirtin verklungen waren, drehte er sich um, um den Namen an der Tür zu studieren: ›Barbara McFarland‹. Stumm ergänzte er ›unsterblich‹. Die Schritte näherten sich der Tür, verstummten. Finger machten sich am Schloß zu schaffen. Sibert dachte an Rückzug, verzichtete darauf. Die Tür öffnete sich. »Eddy!« Die Stimme des Mädchens war sanft, überrascht und erfreut. »Ich habe nicht gewußt, daß du zurück bist.« Sie ist nicht schön, dachte Sibert. Ihre Züge sind unauffällig, ihre Haarfarbe neutral. Bestenfalls: anziehend. Und doch sah sie gesund und frisch aus. Sogar strahlend. Das war das richtige Wort. Oder spiegelte sich darin nur sein neues Wissen wider? »Babs«, sagte er zärtlich und schloß sie in die Arme. »Ich bin eben eingetroffen. Ich mußte gleich wissen, ob alles in Ordnung ist.« »Kindskopf«, sagte sie schwankend, schien die Aufmerksamkeit zu genießen, aber die Besorgnis doch für übertrieben zu halten. »Was kann mir schon passieren?« Sie wich etwas zurück und lächelte ihn an. Er senkte kurz den Blick, dann sah er ihr in die Augen. »Ich weiß es nicht, und ich will es auch nicht erfahren. Pack in eine Tasche, was du denkst. Wir verschwinden.«
»Ich kann nicht einfach weggehen«, sagte sie hastig. »Was ist denn –« »Wenn du mich liebst, Babs«, sagte er gepreßt, »tust du, was ich sage, ohne zu fragen. Ich bin spätestens in einer halben Stunde zurück. Inzwischen mußt du fertig sein. Ich erkläre dir dann alles.« »Gut, Eddy!« Er belohnte ihre Folgsamkeit mit einem zärtlichen Lächeln. »Fang schon an. Sperr die Tür ab und öffne nur für mich!« Er schob sie hinein, schloß die Tür und wartete, bis der Riegel vorgeschoben wurde. Sein Zimmer befand sich am Ende des Korridors. Als er dort angekommen war, überfiel ihn grenzenlose Erschöpfung. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und versuchte sich zu entspannen. Fünf Minuten später raffte er sich auf und öffnete den Brief, den er Mrs. Gentry abgenommen hatte. Er begann so: ›Liebe Babs, wenn ich recht habe – und du wirst diesen Brief nur unter der Voraussetzung bekommen –, so bist du das Objekt der größten Menschenjagd, die es in der Geschichte der Menschheit je gegeben hat ...‹ Er las ihn hastig durch, riß ihn in Fetzen und verbrannte sie im Aschenbecher. Er zerdrückte die Asche zu unverwendbaren Stäubchen, setzte sich an den Schreibtisch und legte ein Blatt Papier in die Schreibmaschine ein. Seine Finger tanzten über die Tasten: ›In der Nähe der Hauptstadt dieses Landes, in einem sechsstöckigen, bombensicheren Gebäude, befindet sich die Zen-
trale einer Organisation, die im Jahr hundert Millionen Dollar ausgibt und dafür nicht ein einziges Produkt hervorgebracht hat. Sie gibt diese Beträge seit fünfzig Jahren aus und wird es ein weiteres halbes Jahrhundert lang tun, wenn sie ihr Ziel vorher nicht erreicht. Sie jagt etwas Bestimmtes. Sie veranstaltet eine Jagd nach der Unsterblichkeit. Wenn Sie bis hierher gelesen haben, sind Sie außer den Gründern dieses Unternehmens der dritte Mann, der an diesem Geheimnis teilhat. Sorgen Sie dafür, daß es kein Geheimnis mehr bleibt. Die Organisation ist das Nationale Forschungsinstitut. Es jagt die Kinder Marshal Cartwrights. Warum sind Cartwrights Kinder eine Suche wert, die bereits fünf Milliarden gekostet hat? Marshall Cartwright ist unsterblich. Man nimmt an, daß seine Kinder diese Immunität geerbt haben. Diese Tatsache allein wäre unwichtig, stünde nicht auch fest, daß der Immunitätsfaktor sich im Blut befindet. Es handelt sich um eines der Gammaglobuline, die Widerstand gegen Krankheiten entwickeln. Cartwrights Körper stellt Antikörper gegen den Tod selbst her. Sein Kreislaufsystem wird ständig erneuert; infolge reichlicher Ernährung sterben seine Zellen nie ab. Im Blut. Und Blut läßt sich übertragen. Gammaglobulin kann injiziert werden. Das Ergebnis: neue Jugend für die Alten. Unglücklicherweise verschaffen sie wie alle Gammaglobuline nur eine passive Immunität, die nur andauert, solange die Proteine im Blut verbleiben – dreißig bis vierzig Tage. Um wie Cartwright widerstandsfähig und für immer jung zu bleiben, würde ein Mann jeden Monat eine Transfusion von Cartwrights Blut benötigen. Das könnte für Cartwright das Ende bedeuten. Auf jeden Fall wäre es
ungesund für ihn. Und es wäre erforderlich, ihn gefangenzusetzen, um sicher zu sein, daß er immer zur Verfügung stände. Vor fünfzig Jahren erfuhr Cartwright durch eine zufällige Transfusion von seiner Unsterblichkeit. Er rannte um sein Leben. Er wechselte seinen Namen. Er verbarg sich. Man nimmt an, daß er der biblischen Ermahnung, fruchtbar zu sein und die Erde zu bevölkern, Folge leistete. Das war für ihn Sicherheit: seine Nachkommenschaft so zu verbreiten, daß er nicht vernichtet werden konnte. Das war seine Hoffnung: daß die Menschheit eines Tages unsterblich werden würde. Auf keine andere Weise konnte er auch nur hoffen, mehr als ein paar Jahrhunderte zu überleben. Denn er konnte durch einen Unfall oder durch die Gier der Menschen getötet werden. Sollte man ihn finden, so wäre sein Schicksal besiegelt. Cartwright ist spurlos verschwunden, obwohl man seinen Weg bis zu einem Zeitpunkt vor etwa zwanzig Jahren verfolgen konnte. Im Zentralbüro des Instituts gibt es eine Karte, auf der die Flucht vor der entsetzlichen Angst der Menschen vor dem Tode nachgezeichnet ist. Beauftragte haben jenen Weg wieder und wieder zurückgelegt, um Kinder zu finden, die Cartwright in die Welt gesetzt haben mochte. Wenn man eines davon findet, wird man ihm sein Blut abzapfen, mit Überlegung, aber seine Hauptfunktion wird darin bestehen, weitere Kinder in die Welt zu setzen, damit es endlich einmal Gammaglobulin gibt, um fast fünfzig Männer zu verjüngen. Früher einmal waren es hundert. Die reichsten Männer der Welt. Über die Hälfte ist gestorben, und ihr Vermögen fiel – in gegenseitigem Einverständnis – dem Institut zur Weiterführung der Suche anheim.
Schon üben diese alten Männer einen gewaltigen Einfluß auf die Regierungen der Welt aus. Sie schrecken vor nichts zurück – außer vor dem Tod. Wenn sie Erfolg haben, wird es keine Rolle mehr spielen, ob der Mensch unsterblich wird. Er wird nichts haben, wofür zu leben sich lohnt.‹ Sibert las den Brief durch, machte ein paar Korrekturen und grinste. Er faltete die Blätter einmal längs und zweimal quer zusammen. Auf einen kleinen Umschlag tippte er: »Ich vertraue das Ihnen, Ihrem Gewissen und Ihrer Ehre als Journalisten an. Öffnen Sie den Umschlag dreißig Tage lang nicht. Wenn ich ihn vorher zurückverlange – ich legitimiere mich, indem ich diese Nachricht wiederhole –, erwarte ich, daß Sie ihn mir ungeöffnet zurückgeben. Ich vertraue Ihnen.« Er steckte die Blätter in den Umschlag und klebte ihn zu. Auf ein größeres Kuvert tippte er: ›Chefredakteur des Kansas City Star.‹ Den Beamten durfte man nicht mehr trauen. Es handelte sich nicht nur darum, daß sie zu kaufen waren, sie boten sich feil. Vielleicht waren auch Zeitungen und ihre Reporter zu kaufen. Aber normalerweise machten sie sich nicht auf den Weg, um einen Käufer zu finden. Er überprüfte die kleine Pistole, um gewiß zu sein, daß sie durchgeladen und entsichert war. Er steckte sie wieder in die Jackettasche. Vorsichtig öffnete er die Tür, starrte auf den dunklen Korridor hinaus und runzelte die Stirn. Die Birne über dem Treppenhaus war erloschen. Er glitt hinaus, den mit Briefmarken beklebten Um-
schlag in der Hand unter dem Jackett verborgen, um sich nicht durch das Weiß des Papiers zu verraten. An der Treppe zögerte er, dann wandte er sich dem Postschacht zu. Er holte eine Münze aus der Tasche und warf sie in den Schlitz. Ein paar Sekunden lang klirrte sie an der Schachtwandung. Der Schacht war nicht verstopft. Mit einer endgültigen Geste schob Sibert den Brief durch den Schlitz. »Versicherung, Eddy?« Sibert fuhr herum, die Hand tief in der Jackettasche. Langsam lehnte er sich an die Wand, als ein Schatten aus dem Dunkel an der Treppe auftauchte und auf ihn zukam, sich zu einem mageren Mann mit schmalen Lippen formte. »Genau das, Les«, sagte Sibert leichthin. »Was machst du hier oben?« »Aber, aber«, protestierte Les. »Wir sind doch keine Kinder. Du weißt, was ich will. Den Jungen, Eddy.« »Ich weiß nicht, wovon du redest, Les.« »Zier dich nicht, Eddy. Locke schickt mich. Das Spiel ist aus.« »Wie hast du mich gefunden?« »Ich hatte dich nicht aus den Augen verloren. Ich bin dein Schatten, Eddy. Locke mag alt sein, Eddy, aber er ist nicht dumm. Er ist sogar recht raffiniert. Er kennt alle Tricks. Du hättest dich nicht mit ihm anlegen sollen, Eddy. Jeder hat einen Schatten. Ich wohl auch. Ich weiß nicht einmal, wer er ist. Ich brauchte dir nicht zu folgen, Eddy. Locke hat mir gesagt, daß du heimkommst. Also los, Eddy, den Jungen. Wo ist er?« Deshalb hatte Les also die Wohnung im Erdgeschoß, dachte Sibert betroffen. Und deswegen saß er
dort Stunden um Stunden im Dunkeln bei offener Tür. »Mach dir doch nichts vor, Les. Ich kann es dir nicht sagen, ich weiß zuviel.« »Das hat Locke auch gesagt«, erwiderte Les leise. »Der Junge ist im Haus, Eddy, das wissen wir. Vielleicht in diesem Stockwerk. Du kannst ihn nicht aus den Augen lassen. Deswegen bist du ja auch sofort zurückgekommen. Ich möchte es dir leicht machen, mein Junge. Aber wenn du nicht mittust –« In seiner Hand tauchte eine kleine Pistole auf. Sibert schoß zweimal hintereinander schnell durch die Tasche. Überraschung verzerrte Les' knochiges Gesicht; Schmerz zuckte darüber hinweg, als er sich vornüber beugte, mit eingezogenen Schultern, während die Hand mit der Pistole nach unten sank. Mit grotesker Langsamkeit brach er auf dem Boden zusammen. Sibert holte die Waffe aus der Tasche, klopfte auf das Durchschußloch, um den Glimmbrand zu löschen, als ein dritter Schuß durch den Korridor dröhnte. Eine Flamme zuckte die Treppe hinunter. Die Kugel warf Sibert gegen den Postschacht. Seine linke Hand preßte sich an die Brust, als er dreimal hintereinander auf die Stelle schoß, wo er das Aufblitzen gesehen hatte. In die Stille hinein drang ein Seufzer. Wie ein Sack alter Knochen fiel ein Körper die Treppe herunter. Er kam unten zur Ruhe und lehnte den Kopf müde an die Wand. Das runzlige alte Gesicht, von grauem Haar umrahmt, war vom Tod beherrscht. Trotz der Schmerzen lächelte Sibert.
»Sie führen wirklich ein reizendes Hotel, Mrs. Gentry«, sagte er leise. Er begann zu lachen, aber das Gelächter endete in einem Hustenanfall. Rosiger Schaum trat auf seine Lippen. Jemand schlug ihm ins Gesicht. Jemand sagte: »Eddy! Eddy!« immer wieder. Sein Kopf schwankte hin und her, als er sich frei zu machen und seine Augen zu öffnen versuchte. Hinter ihm war der Postschacht, er lehnte immer noch daran, aber er kam sich körperlos vor, als sei er gar nicht hier. Ich habe für einen Augenblick das Bewußtsein verloren, dachte er fiebrig. Nur noch ein paar Minuten. Es ging gleich wieder. »Eddy!« Die Stimme klang hysterisch. »Was ist passiert? Du blutest!« »Hallo, Babs«, sagte Sibert schwach. »Komisch –« Er begann zu lachen, aber wieder überfiel ihn der Husten. Als er den Anfall hinter sich hatte, war seine Hand blutbefleckt. Er kam wieder zu sich. »Du – du bist gefährliche Gesellschaft, Babs«, keuchte er. »Los – wir müssen verschwinden!« Er packte sie beim Arm und wollte zur Treppe. Sie hielt ihn zurück. »Du bist verletzt. Du brauchst einen Arzt. Wir können nicht weg, bis du beim Arzt gewesen bist. Und diese Toten – das eine ist Mrs. Gentry –« »Wunderbare Frau, Mrs. Gentry«, sagte Sibert ironisch. »Vor allem als Tote. Sie hat auf mich geschossen. Los, Babs. Wir haben keine Zeit. Sie – sie sind hinter dir her!« Sie ließ sich zur Treppe ziehen. Dort knickte er in den Knien ein. Sie nahm seine rechte Hand, zog den
Arm über ihre Schultern. Den linken Arm legte sie um seine Hüften. Sie war überraschend stark. Gemeinsam, während er sich mit der linken Hand verzweifelt an das Geländer klammerte, stiegen sie die endlosen Stufen hinunter, im Halbkreis herum, hinunter, bis sie unten ankamen, und er kaum mehr zu stehen vermochte. Die breite Eingangshalle im Erdgeschoß war undeutlich, wie eine alte Fotografie. Sibert runzelte die Stirn, versuchte, ein klares Bild zu bekommen, und dachte: so ist es, wenn man alt wird, wenn die Sinne nachlassen, die Muskeln schlaff werden, die lebenden Organe sterben. Und endlich der Tod ... Jemand sprach auf ihn ein. Barbara, die ihn zum Reden bringen wollte. »Wohin jetzt?« sagte sie immer wieder. Er versuchte nachzudenken, aber die Qual war zu groß. »Verstecken. Irgendwo. Keinem trauen. Alle – gegen uns.« Und dann gab es keine Erinnerung mehr, nur die Ironie, die ihm blieb, die seine Träume über einen jungen Mann färbte, der auszog, das Leben zu suchen, aber statt dessen den schwarzen Begleiter fand. 2. Er erwachte in einer perlgrauen Nebligkeit und hielt sie für einen Traum. Er war allein. Seine Brust brannte. Er drückte mit der Hand dagegen. Als er sie wegzog, war sie dunkel verfärbt.
Das zweite Erwachen brachte die Wirklichkeit. Er befand sich in einem Keller. Er stützte sich auf einen Ellbogen, fand die Kraft dazu in einem verborgenen Winkel. Er lag auf einem Feldbett. Barbara kniete neben ihm. Auf dem Bettrand saß ein fremder Mann im weißen Kittel. Er hatte eine Injektionsspritze in der Hand. »Weg!« rief Sibert heiser. »Es hat keinen Sinn –« Barbara schob ihn sanft zurück. »Das ist ein Arzt, Eddy. Ich habe einen Arzt.« Er ließ sich zurücksinken, fühlte sich kräftiger, blieb wachsam. Vielleicht war der Mann wirklich ein Arzt, vielleicht auch etwas anderes. Jeder war verdächtig. Er ließ die Hand an seinem Körper entlanggleiten, aber die Tasche war leer. Die Pistole war weg. Die Spritze kehrte in ihren Behälter zurück, und das Futteral verschwand in der schwarzen Tasche. Das bedeutete also, daß die Injektion schon gegeben war, dachte Sibert. »Ich habe getan, was ich konnte«, sagte der Arzt mürrisch. »Ich habe die Schußlöcher in seiner Schulter behandelt, aber gegen die Löcher in der Lunge läßt sich nichts tun; das könnte nur die Zeit heilen und die richtige Pflege. Ich glaube, daß es schon zu spät ist. Der Mann stirbt. Ich wundere mich, daß er nicht schon im Koma ist.« »Würde eine Transfusion etwas nützen?« fragte Barbara. »In diesem Stadium möchte ich das bezweifeln. Es hat keinen Sinn, Wasser in ein Sieb zu gießen. Außerdem habe ich kein Blut bei mir. Wenn Sie erlauben, daß ich ihn in ein Krankenhaus bringe –«
»Nehmen Sie mein Blut.« »Unmöglich! Ich kann keine Blutgruppenuntersuchung durchführen, ganz zu schweigen von den unhygienischen Verhältnissen hier.« »Ich habe gesagt, nehmen Sie mein Blut«, sagte Barbara hart. Sibert sah sie an. Sie hatte eine Waffe in der Hand – seine Pistole. Sie war ohne das geringste Zittern auf den Arzt gerichtet. Barbaras Knöchel spannten sich weiß um den Kolben. Der Arzt runzelte unsicher die Stirn. »Was haben Sie für eine Blutgruppe?« fragte er Sibert. »0 negativ«, sagte Sibert. Seine Stimme schien von weit her zu kommen. »Und Sie?« »Was spielt das für eine Rolle? Wenn Sie es nicht versuchen, muß er auch sterben.« Das war roh, dachte Sibert. Er hatte nicht gewußt, daß Barbara so hart sein konnte. Stumm holte der Arzt einen kleinen würfelförmigen Kasten aus der Tasche. Ein Fraktionierungsgerät, dachte Sibert. Der Arzt befestigte einen mit Kanülen versehenen Schlauch an dem Kästchen. »Das ganze Blut«, sagte Barbara, »nicht nur das Plasma!« Die Umgebung begann zu verschwimmen. Sibert fühlte sich wieder schwach, alt und verbraucht. Er bemühte sich, bei Bewußtsein zu bleiben. Barbara sank neben dem Feldbett auf die Knie, die Waffe fest in der rechten Hand. Der Keller war dunkel und schmutzig, angefüllt mit Abfall. Sibert fühlte undeutlich, wie der Arzt seinen Arm betupfte, dann, wie die Nadel eindrang. Aber als das
Blut zu fließen begann, fühlte er sich kräftiger. Es war, als gieße man ihm verflüssigtes Leben ein. »Das ist ein halber Liter«, sagte der Arzt. »Gut. Hören Sie auf.« »Ich muß das melden, verstehen Sie? Das ist eine Schußverletzung.« »Das macht nichts. Inzwischen sind wir längst fort.« »Wenn Sie den Mann noch einmal transportieren, stirbt er am Schock.« Die Stimmen wurden leiser. Er begann wieder einzuschlafen, erkannte Sibert entsetzt. Er kämpfte gegen die mächtige schwarze Flut, aber es war hoffnungslos. Kurz bevor er versank, sah er, wie der Arzt den Kopf wandte, um die Sachen in die Tasche zu tun. Eine Hand zuckte an Siberts Augen vorbei. Sie hielt etwas Metallisches. Es klang seltsam hohl, als es auf dem Kopf des Arztes aufschlug. »Aufwachen, Eddy! Du mußt aufwachen!« Wieder berührte die Kühle sein Gesicht, beruhigte sein Fieber. Er bewegte sich. Er zwang seine Lider dazu, sich zu öffnen. Barbaras Gesicht schwebte über dem seinen, mit weiten, besorgten Augen. Sie wischte ihm wieder mit einem feuchten Lappen über das Gesicht. »Versuche es!« drängte sie. »Wir können nicht mehr lange hierbleiben.« Ich werde sterben, dachte er. Das hat der Arzt gesagt. Dann fiel ihm Locke ein, dann wußte er wieder, wofür er kämpfte. Er versuchte sich aufzuraffen. Nachdem er sich ein
paar Sekunden lang verzweifelt abgemüht hatte, sank er stöhnend zurück. Das zweitemal half ihm Barbara. Sie schob einen Arm unter seinen Körper und stemmte ihn hoch. Er setzte sich auf, und der dunkle Keller begann zu rotieren. Etwas später stand er, obwohl er sich nicht zu erinnern vermochte, wie er in die Höhe gekommen war. Seine Beine schienen kilometerweit entfernt zu sein. Er befahl ihnen, sich zu bewegen, aber sie waren eigensinnig. Er mußte jedes Bein sorgfältig hochheben und ebenso vorsichtig niedersetzen. Nur Barbara hielt ihn aufrecht. An dem dunklen alten Oktopus, der sich als uralter Kohlenheizofen entpuppte, lehnte der Arzt, das Kinn auf die Brust gestützt. »Ist er tot?« fragte Sibert. Seine Stimme klang dünn. »Nicht reden. Er ist betäubt, das ist alles. Man wird ihn bald suchen. Er kam eben aus dem Krankenhaus, als ich ihn ansprach. Gesehen hat uns niemand, aber man wird sich Gedanken machen, wenn er nicht zum Dienst zurückkommt. Ich habe dich in Ruhe gelassen, solange es ging, aber jetzt müssen wir weg.« Irgendwie gelang es ihnen, die Treppe zu erreichen. Barbara, die ihn immer noch stützte, schluchzte plötzlich. »Eddy, Eddy! Was sollen wir nur tun?« Sibert flehte stumm um Kraft, reckte seine Schultern und stützte sich kaum mehr auf Barbaras Arm. »Los, Babs«, sagte er. »Wir können jetzt nicht aufgeben.« »Gut, Eddy.« Ihre Stimme klang stärker und fester. »Sie werden dich töten, nicht wahr, Eddy? Nicht mich?«
»Ja.« Mühsam stiegen sie die abgetretenen Stufen hinauf. »Mich werden sie umbringen. Dich nicht – wenn sie es irgendwie vermeiden können.« Als sie in den Sonnenschein hinaustraten, der die Risse im Beton, die Abfallhaufen in krasser Deutlichkeit hervortreten ließ, spürte er eine Art schwindliger Stärke. Sie brandete heran, ebbte ab, wie ein schwacher Puls. Plötzlich befanden sie sich in einer Gasse. Ein eleganter, zwei Jahre alter Cadillac Turbojet 500 stand dort. Er lehnte sich an den Wagen, und Barbara schob die Tür auf. »Wo hast du ihn her?« fragte er schwach. »Ich habe ihn gestohlen.« »Das hat keinen Sinn, er ist zu auffällig.« »Das glaube ich nicht. Außerdem haben wir keine Zeit mehr. Steig hinten ein und leg dich auf den Boden.« Der Wagen war wunderbar kühl an seinem heißen Körper. Er versuchte, sich eine Alternative auszudenken, aber sein Gehirn funktionierte nicht. Er ließ sich von Barbara in den Wagen helfen. Dankbar sank er auf den Boden. Sein Brustkasten fühlte sich klebrig und heiß an; er blutete wieder. Auf dem Rücksitz lagen Koffer. Barbara stapelte sie auf, bis er völlig verborgen war. Ein winziger Sonnenstrahl wurde hindurchgefiltert. Er starrte ihn gedankenlos an, als der Wagen mit der mächtigen Beschleunigung der Turbine anfuhr. Der Sonnenstrahl begann zu zucken. Sibert schlief ein. Als er erwachte, hatte der Wagen gehalten, und eine rauhe Stimme sagte: »Tut mir leid, Miß, ich habe
Befehl, alle Autos anzuhalten, die die Stadt verlassen. Wir suchen einen Verletzten. Er hat jemand bei sich.« Sie wußten also weder etwas von Barbara noch von der Schwere seiner Verletzung. Sie waren noch weit im Rückstand. Kalte Vernunft machte sich geltend. Optimismus war unsinnig. Man hatte Macht genug, sich der Hilfe der Polizei zu versichern; die Entdeckung konnte jeden Augenblick erfolgen. Und sobald der Arzt wieder bei Bewußtsein war, würde man weit mehr wissen. Es wäre klüger gewesen, ihn zu töten. »Dann kann ich Ihnen nicht helfen«, erklärte Barbaras Stimme. »Mit verletzten Männern habe ich nichts zu schaffen. Ich bin da eher für Ihren Typ, Wachtmeister. Stark und tüchtig. Aber«, fügte sie sorglos hinzu, »Sie können nachsehen, wenn Sie wollen.« Der Polizist lachte. »Führen Sie mich nicht in Versuchung. Sie verstecken ihn wohl unter Ihrem Rock. Den meisten Platz nimmt ja doch die Turbine ein. Was schafft sie denn so?« »Ich habe selbst 320 geschafft«, meinte Barbara gleichmütig. »Die Spitze soll bei 400 liegen.« »Was Sie nicht sagen!« »Passen Sie auf!« Der Wagen schoß davon wie eine Rakete. Nach wenigen Sekunden begannen die Reifen zu singen. Sibert spürte, wie der Wagen sich emporreckte, als die an den Stabilisatoren vorbeizischende Luft das Fahrzeug anhob. Die Beschleunigung hielt lange über den Zeitpunkt hinaus an, der noch Gefahr bringen konnte. ›Sollte es so leicht sein?‹ dachte er. Die Beschleunigung ließ nach. Sie rollten mit sirrenden Reifen dahin. Sibert schlief wieder ein.
Er wurde so abrupt ins Wachsein zurückgerufen, daß seine Brust zu schmerzen begann. Der Wagen stand, und das Singen der Reifen war erstorben. Zum zweitenmal dachte er: ich werde sterben. Das hatte der Arzt gesagt. Mit einer Klarheit, die er seit der Schießerei im Treppenhaus nicht mehr gekannt hatte, dachte er: Mrs. Gentrys Kugel hat eine Lunge zerfetzt. Ich verblute innerlich. Jede Bewegung trägt dazu bei. Er war zornig auf Barbara, die sein Leben so wenig achtete, die nicht viel fragte, ob er lebte oder starb, die ihn blindlings nach einem Versteck suchen ließ, obwohl er im Sterben war. Sofortige ärztliche Behandlung hätte ihn retten können. Das war aus den Worten des Doktors herauszulesen gewesen. Sie hatte ihm Blut gegeben, gewiß. Aber was bedeutete ein halber Liter Blut, wenn die dicke, rote Lebensflüssigkeit so unaufhaltsam davonrann. Selbst das Blut einer Unsterblichen vermochte da nichts zu retten. Sinnlose Wut stieg in ihm hoch. Zum Teufel mit ihr! dachte er. Ich sterbe, und sie wird ewig leben. Sterben war etwas Seltsames, in vielem dem Geborenwerden ähnlich, langes Dahindösen, unterbrochen von halbwachen Augenblicken. Jedesmal, wenn sich die Düsternis für einen Augenblick lichtete, entdeckte Sibert überrascht, daß er immer noch lebte. Die Restspuren des Lebens trieben in einem langen Schlummer dahin, bis er endlich zu einer kühlen, vollkommenen Wachheit zurückkehrte. Graues Licht drang durch ein staubiges Fenster, spielte auf den vielfarbigen Quadraten der dicken Decke auf seinem Körper. Ich werde am Leben bleiben, dachte er.
Er drehte den Kopf zur Seite. Barbara schlief in einem dicken Sessel neben seinem Bett. Die Polster waren aufgerissen und zerfetzt. Barbaras Gesicht war hager vor Erschöpfung; sie wirkte unschön. Ihre Kleidung war schmutzig und zerknautscht. Sibert sah sie nicht gerne an. Er hätte sich abgewandt, aber ihre Augen öffneten sich, und er lächelte. »Es geht dir besser«, sagte sie heiser. Ihre Hand berührte seine Stirn. »Das Fieber ist weg. Du wirst gesund.« »Ich glaube, du hast recht«, sagte er schwach. »Das verdanke ich dir. Wie lange –?« Sie begriff. »Eine ganze Woche. Schlaf wieder!« Er nickte, schloß die Augen und versank in einem dunklen, erfrischenden Teich. Als er wieder erwachte, bekam er etwas zu essen, eine Hühnerbrühe, die ihm Kraft gab, Kraft zum Sprechen. »Wo sind wir?« fragte er. »Auf einer alten Farm. Sie ist schon vor mindestens zehn Jahren aufgegeben worden.« Sie hatte Zeit gefunden, ihre Sachen zu waschen und ein Kleid anzuziehen, das sie in einem Schrank entdeckt haben mußte. Es war alt, aber wenigstens sauber. »Die Entwicklung der Hydroponik hat den Farmer wohl um sein Geschäft gebracht. Die Straße hier ist fast ohne Verkehr. Ich glaube nicht, daß uns jemand gesehen hat. Den Wagen habe ich in der Scheune versteckt. Dort gibt es übrigens noch ein paar Hühner. Was waren das für Leute, die du erschossen hast?« »Später«, sagte er. »Zuerst – erinnerst du dich an deinen Vater?«
Sie schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich hatte keinen Vater. Keinen richtigen Vater. Kommt es darauf an?« »Für mich nicht. Hat dir deine Mutter nichts von ihm erzählt?« »Nicht viel. Sie starb, als ich zehn Jahre alt war.« »Warum hast du dann darauf bestanden, daß der Arzt für die Transfusion dein Blut verwendet?« Barbara starrte eine Weile auf den Holzboden. Als sie sich Sibert wieder zuwandte, war ihr Blick fest. »Eines hat mir meine Mutter erzählt – ich mußte ihr versprechen, es niemanden weiterzusagen. Es schien furchtbar wichtig zu sein.« Sibert lächelte schwach. »Du brauchst es mir nicht zu sagen.« »Ich will aber«, sagte sie schnell. »Das nennt man doch Liebe, nicht wahr – wenn man alles teilen und nichts geheimhalten will?« Sie lächelte schüchtern. »Das sei mein Erbteil, sagte meine Mutter – was mein Vater mir gegeben habe. Sein Blut. Es habe einen Zauber an sich, der mich jung erhalten würde, der nicht zuließe, daß mir das Alter etwas anhat. Wenn ich einem anderen Menschen Blut spenden würde, könne er wieder gesund oder jung werden. Aber wenn ich je davon spräche oder zuließe, daß man mein Blut untersucht – könne sich der Zauber verflüchtigen.« Siberts Lächeln wurde breiter. »Du lachst mich aus«, sagte sie. »Du denkst, daß das nur die Phantasien eines kleinen Mädchens sind, oder daß meine Mutter nicht bei Verstand war.« »Nein, nein.« »Vielleicht waren es Phantasien«, sagte sie leise. »Vielleicht dienten sie nur dazu, ein einfaches kleines
Mädchen vor Tränen zu bewahren, weil es nicht schön war, weil niemand mit ihm spielen wollte. Vielleicht sollte es der Meinung sein, daß es in Wirklichkeit eine verkleidete Prinzessin war, daß sich unter dem häßlichen Entchen ein schöner Schwan verbarg. Damals glaubte ich daran, und als du im Sterben lagst, glaubte ich es wieder. Ich wollte glauben, daß ich die Macht hatte, dich zu retten, daß der Zauber Wirklichkeit war.« »Deine Mutter hatte recht«, sagte Sibert schläfrig. »Du bist eine Prinzessin, ein Schwan – der Zauber ist echt. Beim nächsten Mal ...« Beim nächsten Mal gab es weißes Hühnerfleisch für Sibert, und frische Brühe. Er setzte sich ein wenig auf. In der Brust hatte er nur noch geringe Schmerzen. Er wurde schnell müde und sank nach ein paar Minuten auf das Kissen zurück. »Deine Mutter hatte recht«, wiederholte er. »Aber es handelt sich nicht um ein Märchen. Du hast neues Blut, dessen Immunitätsfaktoren – die Gammaglobuline – der Zelldegeneration Einhalt gebieten, als wäre der Tod nicht mehr als eine Krankheit.« Er erzählte ihr die Geschichte Marshall Cartwrights, dieses wunderbaren Wesens, das insgeheim durchs Land gezogen war, um eine unsterbliche Sippe in die Welt zu setzen. Er berichtete ihr vom Institut und seinen Gründern, er erzählte ihr, daß er, ohne es zu ahnen, die Absichten dieser Organisation gefördert hatte, bis ihm durch einen Zufall in die Hände geriet, was alle anderen suchten. »Wie hast du mich gefunden?« fragte sie. »Ich stöberte in alten Krankenakten. Dabei stieß ich auf die Unterlagen über einen Geburtsfall: Janice
McFarland, ledig. Sie hatte eine Tochter namens Barbara geboren. Sie brauchte Blut; sie lag im Sterben. Der behandelnde Arzt war ein Dr. Russel Pearce. Er muß deinen Vater gekannt haben.« »Warum?« »Ich fand diesen Zettel an einen der Laborberichte geheftet: ›Baby gesund, Mutter liegt im Sterben. Cartwright verständigen. Einzige Chance.‹« »Das ist aber doch sehr wenig.« »Als ich Locke die Informationen herauslockte, wußte ich, daß ich recht hatte. Es paßte alles zusammen.« »Du hast mich also vorher aufgespürt«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Ja«, sagte er leise, »aber dann passierte etwas Merkwürdiges. Ich verliebte mich in das Mädchen, das ich suchte.« Ihr Gesicht veränderte sich. »Oh, welch ein Glück!« sagte sie befreit. »Einen Augenblick lang dachte ich –« »Daß ich ein Vampir bin, der sich nur für dein Blut interessiert?« Er schüttelte mahnend den Kopf. »Babs! Babs!« »Verzeih.« Sie drückte ihm die Hand. »Dann bist du zu mir zurückgekommen«, drängte sie. »Les – ich habe ihn nur unter diesem Namen gekannt – erwartete mich von seinem Beobachtungsposten in der Wohnung im ersten Stock aus. Und Mrs. Gentry beobachtete ihn, wahrscheinlich ohne zu wissen, welche Aufgabe er hatte.« »Dann wollte er dich also erschießen, weil du ihm meinen Namen nicht gesagt hast«, sagte Barbara schnell. »Nein, das nicht. Er wußte, daß ich ihn nicht preis-
geben würde – ich mußte möglichst schnell stumm gemacht werden. Als ich sofort in das Appartementhaus zurückkam, waren sie davon überzeugt, dich finden zu können. Aber ich schoß zuerst. Mrs. Gentry schoß mich an und kam ums Leben, als ich zurückfeuerte. Das übrige weißt du.« »Das übrige?« Sie lächelte. Ihr Lächeln schien das ganze Zimmer zu erhellen. »Das übrige wird ausgleichen, was wir durchgemacht haben. Es wird so herrlich werden, Eddy – so wunderbar, daß es unmöglich und unwirklich klingt. Wenn das stimmt, was du sagst, werde ich nie sterben, und ich kann dich jung erhalten, und wir können immer Zusammensein.« »Wenn es nur so einfach wäre!« Er seufzte. »Und warum sollte es nicht so sein?« »Die Macht des Reichtums und die Angst vor dem Tod sind eine schreckliche Allianz. Nach fünfzig Jahren der Enttäuschung hat das Institut Blut geleckt. Es wird die Spur nicht aufgeben, bis es dich findet – und mich beseitigt.« »Was können wir tun?« »Ich denke dauernd nach: Was für eine Art Mensch war dein Vater? Und ich überlege mir: er muß doch irgendeine Vorsorge getroffen haben, um dich zu schützen, irgendein Versteck, Hilfe. Sobald ich reisefähig bin, machen wir uns auf die Suche.« 3. Der Zwölfzylinder-Ford rollte mit weniger als hundertzwanzig Stundenkilometern auf der Autostraße
dahin. Es war ein staubiger, regenbespritzter, zehn Jahre alter Wagen, das Fahrzeug eines Farmers. Als es den alten Mann erreichte, der auf der Straße dahintrottete, schien es zu zögern, dann hielt es. Ohne Hast marschierte der alte Mann weiter, bis er zu dem Auto kam. Hinter dem Lenkrad saß ein älterer Farmer. Der alte Mann nickte kurz, als er einstieg. »Kann mich nicht an Sie erinnern«, sagte der Farmer fröhlich. »Sind Sie neu hier oder nur auf der Durchreise?« »Durchreise«, erklärte der alte Mann mit brüchiger Stimme. »Heutzutage sind viele Leute unterwegs«, meinte der Farmer. »Alte Männer wie Sie zum Teil. Die Hydroponik hat sie fertiggemacht und jetzt, diese neuen Fischereibetriebe, die Meeresfarmen, wie sie heißen – man braucht nur ein paar Jahre zu warten, dann kann man kaum noch seine Arztrechnungen bezahlen. Woher sind Sie gleich wieder?« »Ich habe nichts gesagt.« Der Farmer hob die Schultern und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Zehn Minuten später kam der Ford an derselben Stelle vorbei, diesmal in entgegengesetzter Richtung. An einer Straßeneinmündung bog er nach links ein und hielt. Der Farmer war verschwunden. Am Steuer saß der alte Mann. Ein Mädchen mit so blondem Haar, daß es beinahe farblos wirkte, kam hinter einer Baumgruppe hervor und rannte zum Wagen. Bevor sie die Wagentür ganz geschlossen hatte, schoß das Fahrzeug davon. Als sie sich dem alten Mann zuwandte, zeigte der Tachometer auf zweihundert Stundenkilometer.
»Warum hast du den Plan geändert?« fragte Barbara. »Wir haben ausgemacht, daß ich eine Stunde warte und mich dann von einem Auto mitnehmen lasse, damit wir uns in Joplin treffen könnten.« »Das wäre das klügste gewesen«, meinte Sibert, »aber ich habe es nicht fertiggebracht. Ich könnte dich nicht so weit von mir weglassen.« Er betrachtete sein Gesicht im Rückspiegel und nickte. Der Bart und die Schuhschwärze hatten sein Gesicht radikal verändert. Durch die überstandene Krankheit wirkte es ausgemergelt. Er sah tatsächlich alt aus. Geschult durch seine Ausbildung, ging und sprach er wie ein alter Mann. Er kam sich beinahe alt vor. »Was hast du mit dem Farmer gemacht?« Sibert warf ihr einen Blick zu. Mit noch geringeren Mitteln hatte sie ihr Aussehen verändern können. Es war erstaunlich, was mit Wasserstoffsuperoxyd zu erreichen war. Das blonde Haar veränderte ihr ganzes Gesicht. Der Kontrast mit ihren dunklen Augen war erstaunlich. Sibert fühlte, wie sein Herz schneller schlug. »Ich habe ihn niedergeschlagen und ins Unterholz gelegt. Es ist ihm nichts Ernsthaftes passiert. Er wird zu sich kommen und Hilfe holen.« »Wenn wir sowieso miteinander fahren, hätten wir genausogut den Cadillac nehmen können.« »Man ist uns inzwischen längst auf die Spur gekommen, und der Wagen ist mit einem Hubschrauber schon von weitem auszumachen. In diesem Stadium der Jagd wird das Gebiet sektorenweise abgesperrt. Solange wir uns nicht vom Fleck gerührt haben, waren wir sicher, aber jetzt erregen wir Auf-
merksamkeit und müssen damit rechnen, daß man uns entdeckt.« Barbara starrte auf ihre Hände hinunter. »Ich mag das nicht, dieses Schießen und Stehlen und Schlagen ...!« »Babs!« sagte Sibert scharf. »Schau mich an.« Er hielt ihren Blick fest. »Wem gefällt das schon? Aber es bleibt uns nichts anderes übrig. Es liegt an der Zeit, in der wir leben. Es liegt an dir. Du ziehst die Gewalttat an. Du bist die Prinzessin, vergiß das nicht, die Erbin des größten Vermögens auf der Erde – des ewigen Lebens. Wohin du auch gehst, werden Menschen deinetwegen kämpfen, lügen und töten.« »Ich habe das Erbe nicht gewollt.« »Du hast es als Geschenk bekommen. Wie wir den Tod geerbt haben. Es gibt nichts, was du tun könntest, nichts läßt sich mehr ändern.« Dann blieb es still. Als sie Joplin erreichten, setzte Sibert die Geschwindigkeit herab. »Es fällt mir furchtbar schwer, aber wir haben nur eine Chance, wenn wir uns trennen. Sie suchen nach zwei Personen, die gemeinsam reisen; wahrscheinlich wissen sie auch schon, daß die Flüchtigen ein Mann und eine Frau sind. Steig hier aus, nimm ein Taxi zum Flughafen und flieg mit der ersten Maschine nach Washington –« »Warum nach Washington?« fragte sie. »Ich habe jetzt keine Zeit, dir das zu erklären. Du mußt mir vertrauen. Ich werde versuchen, dieselbe Maschine zu erreichen. Du mußt so tun, als hättest du mich noch nie gesehen. Gleichgültig, ob ich in der Maschine bin oder nicht, nimm im Flughafen-Motel
in Washington ein Zimmer unter demselben Namen, den du beim Kauf der Flugkarte benützt – sagen wir: Maria Cassatta. Du kannst dich als Italienerin ausgeben. Wenn ich binnen vierundzwanzig Stunden nicht auftauche, kannst du mich vergessen. Dann bist du auf dich selbst gestellt.« Stumm stieg sie aus und der Wagen fuhr davon. Sibert sah sich nicht um. Der alte Mann wankte, so schnell es seine gebrechlichen Beine erlaubten, auf das ungeduldig wartende Flugzeug zu. Als er an Bord war, rollte die Düsenmaschine zur Startbahn. Zwei Minuten später schwebte sie in der Luft. Sibert sah sich von seinem Sitz aus mit der Neugier des Alters um. Als er weiter rückwärts Barbara entdeckte, unterdrückte er einen Seufzer der Erleichterung. Ihr Blick begegnete dem seinen ohne Ausdruck, dann wandte sie sich wieder ihrer Zeitung zu. Während des ganzen Fluges blickte Sibert nicht mehr nach hinten – sie konnte ja nicht aussteigen. Obwohl im Flughafen von Joplin niemand aufgefallen war, stand für ihn fest, daß man sie beschattet hatte. Als er in Washington aus dem Flugzeug stieg, gelang es ihm ebensowenig, Beauftragte des Instituts zu entdecken. Er ließ sich mit einem Seufzer auf eine Bank sinken, von der aus er sowohl das Anmeldebüro des Motels wie auch den Wartesaal des Flughafens beobachten konnte. Er sah, wie Barbara ein Zimmer mietete und zu einem der kleinen Bungalows geführt wurde. Nach einer halben Stunde hatte Sibert immer noch keinen Verfolger ausmachen können.
Er schlürfte zur Bungalowtür und klopfte. Barbara ließ ihn stumm ein. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, richtete er sich auf und umarmte sie. »Wir haben es geschafft«, sagte er begeistert. »Wirklich?« sagte sie tonlos. »Selbstverständlich. Was ist denn mit dir?« Sie schob ihn weg und nahm eine Zeitung vom Tisch. Sie hatte sie noch in Joplin gekauft. Die Schlagzeile lautete: ›Mord an einem Farmer Leiche neben der alten Autostraße gefunden‹ »Du hast mich angelogen«, sagte sie. Er nickte, beobachtete ihr Gesicht, versuchte, die Motive ihrer Enttäuschung auszuloten. »Warum hast du ihn umgebracht?« »Zur Sicherheit. Ich habe dir gesagt, wie es sein wird. Ich konnte das Risiko nicht eingehen, daß er Alarm schlägt, bevor wir verschwunden waren.« »Ja, das hast du mir gesagt.« »Was ich getan habe, geschah für dich.« »Wirklich?« Sie schloß die Augen, öffnete sie langsam. »Du hast recht. Sag mir – ich möchte es jetzt wissen –, warum wir nach Washington gekommen sind?« Sibert hob hilflos die Schultern. »Ein wilder Einfall, eine Ahnung, Intuition. Ich habe versucht, mich an Cartwrights Stelle zu versetzen. Er konnte seine Kinder nicht beobachten lassen, er durfte sich nicht einmal mit ihnen in Verbindung setzen oder sie wissen lassen, was sie in Wirklichkeit waren. Alles Unge-
wöhnliche würde sich in den Registraturen oder Datenrechnern des Instituts niederschlagen und die Aufmerksamkeit gerade auf jene Personen lenken, die Cartwright zu decken versuchte.« »Was hat das mit Washington zu tun?« »Cartwrights Problem war demnach mit dem des Instituts identisch: seine Kinder zu finden, die über die ganzen Vereinigten Staaten verstreut waren. Er mußte sein Hauptquartier dort aufschlagen, von wo aus er Ereignissen von überregionaler Bedeutung auf der Spur bleiben konnte: also nur in Washington. Aber er verfügt über keine Organisation; der Versuch, derartiges auch nur aufzubauen, hätte das Institut hellhörig gemacht. Es gab nur wenige Menschen, denen er vertrauen konnte. Vielleicht eine Person, ganz bestimmt nicht mehr als zwei. Wo konnte er einen Mann hinstellen, um zu erreichen, was nötig war? Es gibt nur eine Stelle, wo ein einzelner nützlich sein könnte: im Institut selbst. Solange das Institut keines von Cartwrights Kindern findet, sind sie relativ sicher. Aber sobald das Institut Erfolg hat – kann Cartwrights Beauftragter eingreifen.« Barbara nickte. »Klingt logisch. Was wirst du tun?« »Mich mit dem Beauftragten in Verbindung setzen – wer immer es auch sein mag. Ich werde ihn aus seiner Reserve herauslocken, und du bist der Lockvogel. Ich melde mich wie versprochen beim Institut und biete an, dich zu verkaufen – für einen gewissen Preis. Der Beauftragte wird davon hören; er muß sich in einer Position befinden, wo er alles erfährt, und er wird sich mit mir in Verbindung setzen. Paß auf: sobald ich weg bin, ziehst du aus. Miete dir irgendwo ein Zimmer – möglichst privat. Ver-
wende einen anderen Namen. Nein, sag ihn mir nicht. Was ich nicht weiß, kann mir Locke nicht entreißen. Wenn ich mich mit dir in Verbindung setzen will, gebe ich eine Anzeige in die Zeitung. Ich richte sie an Marie, nicht Maria. Das wird unser Kennzeichen sein.« »Warum so viele Vorsichtsmaßregeln?« Sibert lächelte grimmig. »Von jetzt an bist du meine Sicherheitsgarantie. Solange du frei bist, werden sie es nicht wagen, mich umzubringen.« Sobald das Taxi vor dem Monolithen hielt, wurde Sibert umzingelt. Aus dem Wagen dahinter sprangen vier bewaffnete Männer. Vier andere stürmten aus dem Haus. Sie durchsuchten ihn schnell und gründlich und fanden die kleine Pistole. Man brachte ihn direkt zu Lockes Büro durch einen unterirdischen Gang, von dessen Existenz Sibert nichts geahnt hatte. Im Vorzimmer standen nur Sanders, der Registraturangestellte und Liz, Lockes Sekretärin, als er hindurchgeführt wurde. Sie sahen ihn nicht an; es war, als existiere er nicht. Locke war unverändert, aber eine Ecke seines Arbeitszimmers war hinter einer undurchdringlichen Schranke grellen Lichts verborgen. Wortlos schickte Locke seine Leute hinaus. Sibert reckte die Schultern und glättete sein Jackett. Erfolglos äugte er in die verborgene Ecke. »Wer ist da?« fragte er. »Für Sie spielt das keine Rolle«, meinte Locke aufgeräumt. Er starrte Sibert unverwandt an und lächelte. »Der verlorene Sohn kehrt also zurück, bärtig, er-
schöpft, aber mehr als willkommen, wie? Auch beträchtlich gealtert. Sollen wir das gemästete Kalb schlachten?« »Vielleicht.« Lockes Gesicht wurde ernst. »Was hat Sie zurückgebracht?« »Geld.« »Wofür?« »Für Cartwrights Kind.« »Haben Sie Beweise dafür, daß es wirklich Cartwrights Kind ist?« »Wie Sie wissen«, sagte Sibert und knöpfte sein Hemd auf, »bin ich vor über zwei Wochen niedergeschossen worden.« Er zeigte die rosige Narbe an seiner Brust. »Genügt das?« Lockes alte, gierige Augen richteten sich auf Siberts Gesicht. »Was wollen Sie?« »Sicherheit: Geld und eine Garantie, daß ich am Leben bleibe, um Transfusionen zu bekommen, sobald ich sie brauche.« »Das Geld ist kein Problem. Wie wollen Sie das andere erreichen?« »Ich brauche die Geschichte Cartwrights, mit allem Drum und Dran«, sagte Sibert gleichmütig. »Dokumente, eidesstattliche Erklärung, rundweg alles. Die Unterlagen müssen niedergelegt werden, wo niemand herankann. Es muß sichergestellt werden, daß an dem Tag, da ich nicht mehr bestätige, daß ich am Leben bin, die gesamten Unterlagen an alle Nachrichtenagenturen in den Vereinigten Staaten hinausgegeben werden.« Locke nickte nachdenklich. »Dann würden Sie sich
sicher fühlen, nicht wahr? Klar, das würde jeder. Wir müßten dann dafür sorgen, daß Sie am Leben bleiben, gleichgültig, wer dann ohne das Blut auszukommen hätte. Es wäre höchst peinlich für uns, aber wir hätten keine Wahl. Wenn Sie Cartwrights Kind überhaupt hätten.« »Das habe ich.« »Sie hatten es«, korrigierte Locke sanft. Er berührte die Lehne seines Sessels. »Bringt das Mädchen herein.« Drei Männer brachten sie in das Arbeitszimmer. Sie trug den Kopf hoch, ihre dunklen Augen sahen sich im Zimmer um. Locke nickte. Die Männer verschwanden. Als sich die Tür schloß, rollte aus der verborgenen Ecke des Zimmers ein motorisierter Rollstuhl. In ihm kauerte der älteste Mann, den Sibert je gesehen hatte. Er war vollkommen kahlköpfig. Gesicht und Kopf waren eine runzlige Masse grauen Fleisches, bedeckt mit Leberflecken. Blasse Augen starrten daraus hervor, wie Glas aus verdorrendem Moos. Speichel rann aus dem schlaffen Mund. Die Augen starrten Barbara an. Trotz ihrer Selbstbeherrschung wich sie etwas zurück. »Noch nicht, Mr. Tate«, säuselte Locke, als spreche er mit einem kleinen Kind. »Sie muß erst gründlich untersucht werden, bevor wir ihr Blut abzapfen können. Sie hat erst vor kurzem einen halben Liter abgegeben, und ihre Gesundheit hat Vorrang. Die Kinder, wissen Sie.« Barbara starrte in ihre Zukunft: Mr. Tate. Sie schauderte. Als sie Sibert ansah, war ihr Gesicht leichenblaß.
»Warum hast du das getan?« fragte sie. »Du irrst dich, Babs –«, begann er verzweifelt. »Nein«, sagte sie tonlos. »Endlich ist mir alles klar. Ich habe vorher nicht darüber nachdenken wollen, warum du dich in ein so unscheinbares Mädchen verliebt hast. Ich war immer noch die verkleidete Prinzessin; ich wollte keine Zweifel hochkommen lassen. Jetzt ist alles klar.« »Nein, Babs«, protestierte Sibert heiser. »Ich habe mich an den Plan gehalten –« »An deinen Plan vielleicht. Den Ausgang hast du ein bißchen verändert. Du wolltest mich verkaufen. Ich hätte die absurde Geschichte, die du mir im Motel erzählt hast, nicht glauben dürfen. Ich hätte wissen müssen, daß du selber nicht daran glaubst. Du bist zu rücksichtslos, um einen menschlichen Impuls zu begreifen. Du hast schon drei Leute getötet –« »Babs, ich schwöre, daß das hier nicht dazugehört!« »Oh, das glaub' ich dir. Du warst schlau, aber nicht schlau genug. Die anderen gewinnen. Du verlierst alles. Du tust mir leid, Eddy. Ich habe dich geliebt. Du hättest Unsterblichkeit haben können, aber du hast sie weggeworfen.« Siberts Gesicht verzerrte sich, als er den Kopf abwandte, weil er das kalte Wissen in ihren Augen nicht zu ertragen vermochte. Als er wieder zu ihr hinübersah, standen die drei Männer wieder vor ihr. Sie führten Barbara zur Tür; sie drehte sich nicht um. »Bringt sie in die Wohnung unten«, sagte Locke. »Ihr kennt sie – sie steht lange genug bereit. Alle Wachstationen bemannen; sie muß pausenlos beobachtet werden. Sie wird versuchen, Selbstmord zu
begehen. Derjenige, der das zuläßt, wird ein Jahr brauchen, bis er endlich sterben darf.« Dann war sie fort. Locke wandte sich Sibert wieder zu. Er lächelte. »Gegen die Organisation kommen Sie nicht an; das hätten Sie wissen müssen. Niemand schafft es.« Er machte eine Pause. »Sie haben mir einmal erzählt, daß Sie kein besonders guter Schauspieler waren, Sibert. Sie hatten recht; wir haben Sie in Joplin eingeholt. Als Sie das Motel verließen, fingen wir das Mädchen. Mein Problem ist jetzt, was ich mit Ihnen anfange.« »Ich bin gesichert«, sagte Sibert schnell. »Der Brief, den Sie vor der Schießerei geschrieben haben?« Locke schüttelte mitleidig den Kopf. »Es war doch selbstverständlich, daß wir nach Ihrer Flucht den Briefkasten ausgeleert haben.« Die Lippen des Wesens im Rollstuhl bewegten sich; kaum hörbares Flüstern erreichte Lockes Ohr. »Mr. Tate meint, es gäbe kein Problem: Sie müssen sterben. Sie haben sein Gesicht gesehen. Selbstverständlich müssen Sie sterben. Die Frage ist nur: wie? Wir würden Sie gern wegen Mordes der Polizei übergeben, aber Sie wissen zuviel. Zunächst sperren wir Sie ein. Sie werden Zeit haben, Ihre Sünde zu bedenken. Sie ist uralt – auch Adam und Eva haben sich dieser Sünde schuldig gemacht. Sie kann nicht vergeben werden: zuviel Wissen.« Die Zelle irgendwo in einem der vielen Stockwerke unter dem Monolithen enthielt nur ein Bett. Sibert saß regungslos auf dem Bettrand, unfähig zu schlafen,
unfähig, mit dem Denken aufzuhören. Irgendwo hatte er einen Fehler gemacht. Aber soviel er auch nachdachte, er konnte keinen Augenblick bestimmen, in dem ihm anders zu handeln möglich gewesen wäre. Er mußte sich um sein Wohlergehen kümmern. Kein anderer würde es tun. Er hatte den einzig möglichen Handel abschließen müssen, der ihm Unsterblichkeit und Sicherheit vor einem gewaltsamen Tod einbringen sollte. Gegen die Organisation war man machtlos. Er und Barbara hätten nie endgültig entfliehen, sich nie auf die Dauer verstecken können. Eines Tages hätte man sie gefunden, und dann kam für ihn das Ende und für sie das unvermeidbare Schicksal. Sie war ein zu seltenes Wesen, um jemals eine Privatperson zu werden, um mehr als ein Besitz sein zu können. Sie war etwas, das man ausnutzen wollte. Ja, Barbara hatte ihn geliebt; viele Frauen hatten ihn geliebt. Aber nur, weil er sie verstand, weil er sie geschickt und mit unendlicher Geduld umwarb. Der Riegel an der Stahltür der Zelle wurde zurückgeschoben. Sibert sprang auf. Die Tür öffnete sich. »Liz!« Sie stand in der Tür, den Blick auf sein Gesicht gerichtet. Mit zwei Schritten war er neben ihr. »Ich dachte, du – Liz!« sagte er mit schwankender Stimme. »Bin ich froh, daß du es bist!« Sie hatte eine Pistole in der Hand und streckte sie ihm hin. Er nahm die Waffe, berührte ihre Hand. Sie zog sie weg. »Liz!« sagte er. »Ich weiß nicht, was ich –« »Sag's nicht«, erwiderte sie. »Du hast mich als Werkzeug benutzt wie alle Menschen, mit denen du
in Berührung gekommen bist. Du bist ein kaltblütiger Verbrecher. Aber ich konnte nicht zulassen, daß sie dich umbringen. Von jetzt an mußt du allein weitermachen. Laß dich bei mir nie mehr blicken; ich könnte dich sonst selbst erschießen.« Sie drehte sich um und ging davon. »Liz!« zischte Sibert. »Wo ist das Mädchen?« Sie schaute sich um, deutete mit dem Finger zur Decke und war verschwunden. Vorsichtig schlich Sibert durch den dunklen Korridor; bis er eine Rampe erreichte, die nach oben führte, waren sogar ihre Schritte verklungen. Sibert wagte sich weiter. Der Korridor im nächsten Stockwerk war leer. Er stieg eine zweite Rampe hinauf, verblüfft von der Stille. Im zweiten Korridor lag ein Mann auf dem kalten Betonboden. Sibert beugte sich über ihn. Er atmete schwer; weder im Gesicht noch am Kopf war eine Verletzung zu sehen. Ein ohrenbetäubendes Heulen erfüllte plötzlich den Korridor! Sibert richtete sich auf und rannte davon. Nach ein paar Schritten stieß er auf einen zweiten Mann, der ausgestreckt am Boden lag. Sibert lief weiter. An der ersten Rampe lief er wieder nach oben, direkt in die Hände einer Gruppe von Bewachern. Sie nahmen ihm die Pistole ab. Nach kurzer Diskussion führten ihn zwei von den Wächtern zu Locke. Im Arbeitszimmer herrschte Chaos. Über eine Wand zuckten Szenen, zeigten ein Zimmer nach dem andern mit dahinhastenden Männern. Locke brüllte Befehle. In der Ecke kauerte Mr. Tate in seinem Rollstuhl, die Lider über eingesunkenen Augen geschlossen.
Mit einer abschließenden scharfen Geste packte Locke die Armlehne seines Sessels, und die Wand verdunkelte sich. In die Stille hinein stöhnte er: »Sie ist verschwunden.« »Verschwunden?« wiederholte Sibert. »Wo ist sie?« fauchte Locke. »Wie haben Sie es gemacht?« »Wie kommen Sie auf die Idee, daß ich es gewesen sein könnte?« »Irgendwie sind Sie aus Ihrer Zelle ausgebrochen. Auf irgendeine Art haben Sie fünf Bewacher kampfunfähig gemacht und das Mädchen entführt. Warum Sie zurückgeblieben sind, weiß ich nicht, aber ich würde Ihnen raten, jetzt auszupacken.« Sibert schüttelte den Kopf. »Es ist schwer, die Gans zu finden, die die goldenen Eier legt«, sagte er leise, »aber noch schwerer, sie festzuhalten.« »Bringt ihn in den Verhörraum«, befahl Locke. Die Wachen ergriffen ihn. Das Wesen in der Ecke rollte vorwärts; sein Mund öffnete sich. »Wartet!« sagte Locke. Die Wächter zögerten. »Mr. Tate hat recht. Sie sind ein halsstarriger Mann, Sibert, und unsere einzige Verbindung zu dem Mädchen. Wir arbeiten mit Ihnen zusammen. Notfalls zahlen wir Ihren Preis. In der Zwischenzeit werden Sie bewacht. Sie werden keine Chance haben, zu entkommen. Ich möchte nur eines wissen: Wer hat Ihnen geholfen?« »Ist sonst noch jemand verschwunden?« sagte Sibert ruhig. »Sanders«, knurrte Locke. »Sanders kann es nicht sein. Er war zwanzig Jahre lang hier tätig.«
»Na und?« meinte Sibert achselzuckend. Liz gedachte er zu retten; vielleicht konnte er sie wieder einmal brauchen. Er hatte Barbara verloren, aber eine Gnadenfrist gewonnen. Sie würde so lange dauern wie die Geduld der Männer, die Tag für Tag dem Tod näherrücken und die Nacht nicht ertragen können. Barbara würden sie nicht fangen. Nicht das Mädchen, daß einen Schwerverletzten versteckt und wieder gesundgepflegt hatte, das Mädchen, das nur gefangen worden war, weil dieser Mann es verraten hatte. Barbara war jetzt klüger. Sie würde niemandem mehr vertrauen. Das war eine Lehre, die die Unsterblichen sehr früh beherzigen sollten. Irgendwann in naher Zukunft, dachte Sibert, würde er eine Chance zur Flucht finden; er mußte bereit sein. Er würde ihr Spiel mitspielen, warten und lauern, und bevor sie dahinterkamen, daß er mit Barbaras Flucht nichts zu tun hatte, würde seine Chance kommen. Die Zeit danach würde nicht angenehm sein. Solange er lebte, würde er vor mächtigen, angstgepeinigten Männern flüchten, und er selbst würde zu seiner fruchtlosen Suche nach einer verlorenen Prinzessin getrieben sein, die als gewöhnliche Sterbliche verkleidet war – die ein unschätzbares Geschenk besaß, daß er weggeworfen hatte. Aber daran wollte er jetzt nicht denken. Er verzog den Mund angesichts der ironischen Wendung: die unwahrscheinliche Geschichte, die er Barbara erzählt hatte, entsprach der Wahrheit. Sanders! Zwanzig lange Jahre hindurch hatte dieser farblose, nahezu anonyme Mann in staubigen Akten
gewühlt und auf eine Gelegenheit gewartet, die niemals kommen mochte. Zwanzig Jahre! Und Cartwright war vor zwanzig Jahren verschwunden. Die Übereinstimmung war zu auffällig, um Zufall sein zu können. Er konnte sich keine Schuld geben. Wer hätte geträumt, daß ein Mann, der ewig leben mochte, die Unsterblichkeit für ein Kind riskieren würde, das er nie gesehen hatte?
DRITTER TEIL
Der Arzt 1. Er erwachte schmerzgepeinigt. In der Magengrube spürte er ein scharfes, zuckendes Brennen. Es zog ihm die Knie an die Brust, verzerrte sein hageres, gelbliches Gesicht. Wieder schlug der Schmerz zu. Er stöhnte auf; sein Körper bäumte sich hoch. Langsam ebbte die Qual ab, wie eine zurückweichende Flut, die gefolterten Nervenendungen wie Strandgut zurücklassend. »Coke!« schrie der Mann im achtundzwanzigsten Stockwerk. Das Wort hallte in dem großen Raum, wurde von der hohen Decke und den holzgetäfelten Wänden zurückgeworfen. Keine Antwort. »Coke!« schrie er. »Coke!« Irgendwo tönten Schritte, klatschten auf Marmorboden, wurden verschluckt von Teppichen. Sie erreichten das breite, seidene Bett. »Ja, Chef?« Die Stimme klang unterwürfig. Der Mann duckte sich. Er wirkte noch kleiner, als er schon war. Die kleinen Augen in dem affenartigen Gesicht glitten hin und her. Der Kranke wälzte sich auf dem Bett. »Die Medizin!« Coke nahm die braune Flasche von dem grauen, metallenen Nachttisch und schüttete drei Tabletten in
die zitternde Hand. Eine Tablette fiel auf den Boden, er hob sie auf. Er streckte sie dem anderen hin, und der Kranke ergriff sie gierig und steckte sie in den Mund. Coke gab ihm ein Glas Wasser, das er aus einem Silberkrug gefüllt hatte. Der Kranke trank, während sein Adamsapfel krampfhaft zuckte. Nach ein paar Minuten setzte er sich auf. Er preßte die Knie an die Brust und keuchte. »Ich bin krank, Coke«, stöhnte er. »Ich brauche einen Arzt. Ich sterbe, Coke.« In seiner Stimme schwang Entsetzen mit. »Ruf den Arzt!« »Ich kann nicht«, krächzte Coke. »Erinnern Sie sich nicht?« Der Kranke runzelte die Stirn, als versuchte er zu begreifen, dann verzerrte sich sein Gesicht, und seine linke Hand zuckte vor. Sie landete in Cokes Gesicht und schleuderte ihn in die Ecke. Dort kauerte er und beobachtete den Kranken mit den flinken Augen einer Ratte. »Du hast hier zu sein!« fauchte der Kranke. »Laß dich nicht immer rufen!« Er vergaß Coke. Sein Kopf sank tiefer. Er schlug verzweifelt mit der Faust auf das Bett. »Verdammt, verdammt!« stöhnte er. Minutenlang saß er so da. Coke kauerte in der Ekke, ohne sich zu bewegen. Endlich richtete sich der Kranke auf, warf die schwere Decke zurück und stand auf. Schmerzgebeugt ging er zum Fenster. Unterwegs wimmerte er: »Ich bin krank, ich muß sterben.« Er zog an einer dicken Samtkordel; die Vorhänge glitten auseinander. Sonnenschein flutete ins Zimmer,
blendete den Kranken; es verwandelte seinen scharlachroten Schlafanzug in Flammen, sein Gesicht in Teig. »Es ist schrecklich«, sagte der Kranke, »wenn ein Sterbender keinen Arzt bekommen kann. Ich brauche das Elixier, Coke. Ich brauche etwas gegen diese Schmerzen. Ich halte sie nicht mehr aus.« Cokes Blick löste sich nicht von dem großen, hageren Mann, der in der Sonne stand und blindlings über die Stadt hinausstarrte. »Besorg mir einen Arzt, Coke«, sagte der Kranke. »Es ist mir egal, wie du das machst. Bring ihn her.« Coke raffte sich auf und hastete aus dem Zimmer. Der Kranke starrte zum Fenster hinaus, ohne ihn zu hören. Von hier aus waren die Ruinen nicht so deutlich erkennbar. Die Stadt sah beinahe noch so aus wie vor fünfzig Jahren. Aber wenn man genau hinsah, erkannte man die Löcher in den Dächern, die Stellen, wo die falschen Porzellanfassaden abgebröckelt und die Ziegel dahinter auf die Straße hinuntergestürzt waren. Auf der Twelfth Street war kein Durchkommen mehr möglich. Schuttberge versperrten den Zugang zu vielen anderen Straßen. Die Hand der Zeit wirkt nicht so schnell wie die des Menschen, aber sie ist unbarmherziger. Der bogenförmige Verlauf der Südwestautobahn zog den Blick auf sich wie eine Bewegung, hellschimmernd durch die graue Farbe des Verfalls. Das medizinische Zentrum war hinter den Anhöhen im Süden verborgen, aber der Komplex auf Hospital Hill funkelte im Sonnenlicht.
Er war eine Insel, die sich aus einer stinkenden See erhob, eine Enklave des Lebens in der sterbenden Stadt. Der Kranke starrte hinunter auf die ersten Spuren des Smogs, die vom Fluß heraufzogen, zu der riesigen Festung auf dem Hospital Hill zu gelangen versuchten. Aber so weit würden sie nie kommen. »Zum Teufel mit ihnen!« wimmerte der Kranke. »Zum Teufel mit ihnen!« Flowers starrte durch die Schlitzfenster der EinMann-Ambulanz in die rußschwarze Nacht hinaus; der Regen begann sich mit dem Smog zu vermischen. Der Nebelscheinwerfer kämpfte vergeblich dagegen an. Seit Flowers die Autostraße mit ihren Laternen und Streifenwagen verlassen hatte, wußte er nicht mehr, wo er sich befand. Selbst die Autostraße bot keine Sicherheit mehr. Ein großkalibriges Geschoß, das vom gepanzerten Dach des Krankenwagens abprallte, verursachte einen Höllenlärm. Wo war da die Polizei gewesen? Die Karten, auf denen die Truman Road als ›passierbar‹ bezeichnet wurde, waren veraltet. Er mußte sich auf der Truman Road befinden; sie war zu breit, um etwas anderes sein zu können. Aber er wußte nicht genau, wie weit er nach Osten gefahren war. Zu beiden Seiten der Straße herrschte Dunkelheit; rechts schien sie um einen Schatten undurchdringlicher zu sein. Wenn es sich nicht um einen von Wind, Bränden oder Dynamit verwüsteten Streifen handelte, mußte das ein Park sein. Er stellte sich die Stadtkarte vor. Es war entweder der Parade Park oder der Grove Park.
Unter dem linken Vorderrad explodierte etwas. Der Ambulanzwagen wurde hochgeschleudert, prallte schwer auf. Bevor die Stoßdämpfer den Schock absorbieren konnten, verlor der Roboterchauffeur die Kontrolle, und das Fahrzeug schleuderte nach links. Flowers ergriff das für Notfälle vorgesehen Lenkrad und schaltete den Roboter ab. Er steuerte dagegen, und die Reifen begannen zu quietschen. Unerwartet tauchten Lichter auf, trübrote Laternen in der Nacht, im wirbelnden Smog beinahe unsichtbar. Sie schwebten in Hüfthöhe, was bedeutete, daß irgend etwas sie stützte. Flowers drehte das Lenkrad nach rechts und klammerte sich fest, als der Wagen über den Randstein holperte, auf schlammigen Grund geriet und wieder zu schleudern begann. Es war also doch ein Park. Er raste hindurch, versuchte verzweifelt, die Kontrolle über das Fahrzeug wiederzugewinnen, wich Bäumen und schrägstehenden Telefonmasten aus, bis er den Wagen wieder auf die Straße zurücklenken konnte. Er hielt. Flowers saß schwitzend am Steuer. Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Zum Teufel mit der Stadt! dachte er wild. Zum Teufel mit dem Straßenamt! Zum Teufel mit dem Oberarzt, der es fertigbringt, einen Menschen in einer solchen Nacht hinauszuschicken. Aber niemand konnte etwas dafür. Der Nachtreisende war auf eigenes Risiko unterwegs. Es gab nicht so viele, daß es sich gelohnt hätte, Steuern für Ausbesserungsarbeiten der Straßen auszugeben, und bei Tageslicht war es kein Problem, den
Löchern, Rinnen und Aufbrüchen auszuweichen. Er dachte an sein Erlebnis. Es war wohl kein Loch gewesen, sondern eher eine Mine, und die Laternen mochten auf einer Barrikade gestanden haben, hinter der sich eine Bande von Straßenräubern verbarg. Flowers fröstelte, trat auf den Anlasser und wünschte sich, daß er im Zentrum wäre und seine Schicht in der antiseptischen, kugelsicheren Bequemlichkeit der Notaufnahmestation beenden könnte. Der Roboterchauffeur schien wieder zu funktionieren. Als Flowers das Fahrzeug auf die Mitte der Straße hinausgesteuert hatte, nahm er die Hände vom Lenkrad. Der Smog hob sich ein wenig, und er sah das Licht. Flowers rollte an dem Café mit abgeschalteten Scheinwerfern vorbei. Hinter einer langen Theke stand ein Kellner, davor ein einziger Gast. Flowers steuerte die Ambulanz in die Ecke in die Dunkelheit. Bevor er die Tür öffnete, brach er ein neues Filterpäckchen auseinander und steckte die Filter in seine Nase, dann nahm er die Nadelpistole aus dem Halfter an der Wagentür. Das Magazin war voll. Er stellte den Regler auf ›Automatische Kontrolle‹ ein und trat in die Nacht hinaus. Er schnüffelte vorsichtig. Die Luft war nicht gereinigt, das konnte man beim besten Willen nicht behaupten, aber der Geruch ließ sich ertragen. Ein paar Minuten würden seine Lebenserwartung nicht meßbar einschränken. Der Smog wirbelte um ihn, versuchte sich in seine Lungen zu drängen. Boyd hatte recht: wir schwimmen in einem Meer krebserregender Stoffe. Es gab zwei Möglichkeiten, mit diesem Problem
fertig zu werden, man konnte das Meer verlassen oder die Carzinogene entfernen. Aber während man daran war, das erste zu erreichen, die ideale Lösung, mußte man für diejenigen, die im Meer zu leben hatten, sein möglichstes tun. Der Regen hatte fast aufgehört, aber Flowers zog seinen Mantel am Kragen zusammen. Die schwarze Tasche war im Wagen, aber sogar ein Aufschimmern seiner weißen Jacke war hier gefährlich. Man mußte immer damit rechnen, plötzlich Straßenräubern gegenüberzustehen oder auch einem gewöhnlichen Bürger, der besonderen Groll hegte. Flowers ging schnell an dem breiten Fenster vorbei, durch den gelben Lichtschein, den Kopf mit dem kurzgeschorenen Haar gebeugt. Seine rechte Hand ruhte auf der Manteltasche, wo er die beruhigenden Umrisse der Nadelpistole fühlte. Das Hausnummernschild über der Tür war längst verschwunden. Flowers betrat durch die Luftschleuse das hell erleuchtete Lokal. Der Kellner war ein stiernackiger Stadtbewohner mit einer gebrochenen und schlecht zusammengeheilten Nase; vom Haaransatz bis zum Hals verlief eine lange Narbe. Er trug eine schmutzigweiße Jacke, eine deutliche Imitation der Uniform eines Arztes. Er sog nachlässig an einer Zigarette, die zwischen seinen dicken Fingern fast verschwand. Flowers verzog angeekelt das Gesicht. Nicht genug, daß die Stadtbewohner im schmutzigen Meer leben mußten; sie fügten noch Karzinogene hinzu. Flowers stellte automatisch die Diagnose für den rattengesichtigen Gast: Schilddrüsenüberfunktion. Blutüberdruck. Er gab ihm noch fünf Jahre. Der Gast
beäugt Flowers von der Seite, während er aus einer Schale etwas in seinen schiefen Mund löffelte. »Was wollen Sie?« fragte der Kellner eifrig. »Wir haben ein neues Gesundheitsmenü, ein Aufbaumittel frisch vom Labor – alle bekannten Vitamine, dazu Spurenelemente, Eisen und einen neuen geheimen Zusatz in medizinischem Alkohol. Wollen Sie die Laborberichte sehen?« »Nein«, begann Flowers, »was ich –« »Konzentrierten Fruchtsaft?« fuhr der Kellner fort. »Gemüsesaft? Ich habe einen Extrakt hier, in dem achtzehn verschiedene Gemüsearten enthalten sind. Ein Glas liefert den gesamten Wochenbedarf von elf Vitaminen, acht Mineralien und –« »Ich möchte nur –« »Hören Sie«, sagte der Kellner mit vertraulichem Flüstern, »ich habe etwas unter der Theke – echten Kentucky Bourbon Whisky, keine Vitamine, keine Mineralien.« »Ich möchte nur die Adresse wissen«, sagte Flowers. Der Kellner sah ihn verständnislos an. Dann deutete er in die Richtung, aus der Flowers gekommen war. »Da drüben liegt Benton.« »Danke«, erwiderte Flowers kalt. Er wandte sich zur Tür, während ihm eine Gänsehaut über den Rükken lief, dann trat er in die Nacht hinaus. »Psst!« zischte es hinter ihm. Flowers schaute sich um. Der Mann mit dem Nagetiergesicht war ihm nachgeeilt. Flowers blieb stehen. »Wohin wollen Sie? Vielleicht kann ich Ihnen Bescheid sagen.«
Flowers zögerte. »Tenth Street«, sagte er. »Block dreiviernullnull.« Was konnte diese Auskunft schaden? »Zwei Straßen weit nach Osten, dann links. Sie verläuft direkt nach Norden«, flüsterte der Mann. Flowers bedankte sich und wandte sich ab. Eben war ihm aufgefallen, daß der Mann keine Filter in der Nase trug; er wurde verlegen. »Hören Sie«, sagte der Mann schnell, »brauchen Sie Penicillin?« Flowers stand einen Augenblick wie angewurzelt, zu überrascht, um etwas tun zu können. Dann verschwand seine rechte Hand in der Tasche, um den Pistolenkolben zu umklammern, während die linke an seinem Gürtel zwei Tasten drückte. Er lauschte angestrengt und hörte, wie der Motor der Ambulanz anlief. »Was haben Sie gesagt?« fragte er. »Penicillin«, wiederholte der andere. »Direkt vom Labor und zu günstigem Preis.« »Wieviel?« »Ein Dollar pro Hunderttausend. Schauen Sie.« Er streckte die schmutzige Hand aus. Das gelbliche Licht aus dem Lokal ließ die Ampulle in seiner Handfläche hervortreten. »Hier sind dreihunderttausend Einheiten. Stellen Sie sich vor, daß Sie heute nacht eine Infektion bekommen. Das kann Ihr Tod sein. Mit der kleinen Ampulle sind Sie gesichert. Drei Dollar, was?« Flowers starrte die Ampulle neugierig an. Das Penicillin mußte stark verdünnt sein. Ein Dollar pro hunderttausend Einheiten – das lag unter dem Großhandelspreis.
Der Händler rollte die Ampulle auf der Hand hin und her. »Drei Dollar, und ich gebe eine Spritze dazu. Mehr kann man wirklich nicht verlangen. Na ja« – er zog die Hand zurück, als wolle er sie in die Tasche stecken und weggehen – »es ist ja schließlich Ihr Leben. Dann landen Sie eben im Krankenhaus.« Flowers trat in die Dunkelheit zurück, näher zu seiner Ambulanz und lauschte dem Rhythmus der Rotoren. Die Nacht war still. »Es gibt Schlimmeres«, sagte er. »Zum Beispiel?« forderte ihn der Händler heraus und rückte näher. »Ich will Ihnen was sagen: ich verlange zwei fünfzig. Was meinen Sie jetzt – zwei fünfzig, was? Zwei fünfzig und die Spritze?« Der Preis fiel schließlich auf zwei Dollar. Inzwischen war der Mann näher gekommen. Zu nahe, dachte Flowers. Er wich zurück. Der Händler packte ihn beim Mantel, um ihn festzuhalten. Der Mantel öffnete sich. Flowers verfluchte den Techniker, der die Revers nicht ausreichend magnetisiert hatte. Der Händler taumelte zurück, als er die weiße Jacke sah, und blickte sich verzweifelt nach Hilfe um. Flowers zog die Pistole aus der Tasche. »Stehenbleiben«, sagte er. Der andere kam sofort zurück. »Hören Sie zu. Wir können doch trotzdem ein Geschäft machen. Ich gebe Ihnen das Penicillin, und Sie vergessen, daß wir uns gesehen haben, was?« »Wieviel haben Sie?« Der andere machte ein Gesicht, als wolle er lügen, habe aber nicht den Mut dazu. »Zehn Millionen. Nehmen Sie es. Nehmen Sie alles.«
»Hände weg von den Taschen.« Zehn Millionen. Hundert Dollar. Ein beachtliches Vermögen für einen Mann dieser Sorte. »Wo haben Sie es her?« Der Händler hob die Schultern. »Sie wissen, wie das ist. Jemand hat es mir gegeben, ich weiß nicht, woher es stammt. Vielleicht ist es gestohlen. In der Fabrik abgezweigt.« »Bone?« Der andere sah ihn überrascht an. Er starrte ängstlich in das Dunkel. »Was glauben Sie? Los, geben Sie mir eine Chance. Sie schießen mich doch nicht nieder, oder? Ein Arzt wie Sie?« »Doch«, sagte Flowers. »Wem würde das etwas ausmachen?« Plötzlich flutete grelles Licht über die beiden Männer. Flowers hörte die Rotoren und blinzelte. »Keine Bewegung«, sagte die Stimme. »Sie sind verhaftet.« Der Händler tauchte ins Dunkel. Flowers zielte sorgfältig. Die Nadel traf den Händler ins Genick. Er machte noch einen Schritt und brach zusammen. Der Polizeisergeant hörte sich Flowers' Bericht mit unverhohlener Ungeduld an. »Sie hätten ihn nicht niederschießen sollen«, sagte er, »was hat er denn getan?« »Illegaler Medikamentenhandel«, zählte Flowers auf. »Bestechung, Medikamentenfälschung, wenn Sie die Ampulle untersuchen.« Sie lag wie durch ein Wunder unbeschädigt auf dem Gehsteig. Der Sergeant bückte sich widerwillig danach.
»Das ist kein Beweis«, sagte er mürrisch. »Glauben Sie, wir haben nichts Besseres zu tun, als wegen jeder Kleinigkeit einzugreifen. Ich sollte Sie verhaften.« Er warf einen Blick zum Ambulanzwagen und starrte dann die Nadelpistole an. »Beweis?« wiederholte Flowers grimmig. »Was wollen Sie? Da ist ein Mann mit zehn Millionen Einheiten Penicillin. Sie haben meine Aussage. Und das hier.« Er drückte auf den Rückspulknopf an seinem Gürtel. Die Stimme klang sonor und kultiviert. »Kontraindikationen der folgenden Art sind besonders zu beachten –« Flowers drückte hastig auf die Taste und ließ ein paar Meter Band ablaufen, bevor er von neuem begann. »Penicillin«, sagte die heisere Stimme des Händlers. »Direkt und zu günstigem Preis ...« Als die Aufnahme abgespielt war, löschte Flowers den Rest von Dr. Currys Vortrag über innere Medizin und fügte seine eigene Erklärung an: ›Ich, Benjamin Flowers, Arzt im siebten Jahr, schwöre hiermit bei Äskulap und Hippokrates, daß ...‹ Die widerwillig abgegebene Bestätigung des Polizisten drückte dem Ganzen den Stempel des Gesetzlichen auf, und Flowers gab dem Wachtmeister die kleine Spule. »Das müßte genügen. Hier ist Ihr Gefangener.« Der Händler lag auf Händen und Knien und bewegte den Kopf hin und her wie ein schläfriger Elefant. Flowers setzte ihm einen Fuß in den Rücken und stieß ihn um. »Ich werde der Sache nachgehen«, sagte er. »Ich verlange, daß der Mann streng bestraft wird. Die
Nummer Ihres Dienstabzeichens habe ich mir gemerkt. An Ihrer Stelle würde ich ihn nicht entkommen lassen.« »Sie brauchen gar nicht so ekelhaft zu sein«, winselte der Sergeant. »Ich erfülle meine Pflicht. Sie sollten aber einsehen, daß die Leute leben müssen. Das ist eine schwere Zeit. Der Mann versucht wahrscheinlich nur, die Zahlungen für einen medizinischen Kontrakt zu leisten! Sehen Sie's doch mal von unserer Seite. Wenn wir jeden Händler in der Stadt einsperren würden, müßten wir zehn neue Gefängnisse bauen. Wie sollen wir sie ernähren? Wie sollen wir sie festhalten, wenn sie nicht bleiben wollen?« »Das ist Ihr Problem, Sergeant. Solche Kerle wie der würgen die Medizin ab. Wenn Medikamente und Antibiotika ohne Überwachung zirkulieren, wird die durchschnittliche Lebenserwartung auf siebzig oder noch niedriger sinken. Wir haben schon Schwierigkeiten genug mit den neuen Bakterienkulturen.« Flowers starrte wieder auf den Händler hinunter. Der setzte sich auf und schaute sich verständnislos um. Er rieb sich das Genick und starrte seine Hand an. »Ich bin nicht tot«, sagte er. »Meine Aufgabe ist, Leben zu bewahren, nicht, Leben zu vernichten«, sagte Flowers rauh. Der Händler sah auf und fauchte: »Sie! Sie lausiger Filzer! Quacksalber! Das werden Sie teuer bezahlen! John Bone macht Sie fertig, Sie Metzger!« »Schluß jetzt!« fuhr der Sergeant dazwischen und zerrte den anderen hoch. »Sie sind jetzt ruhig.« Aber er ging erstaunlich sanft mit dem anderen um. Flowers verzog den Mund. Der Händler überschrie das gedämpfte Brummen
der Hubschrauberrotoren: »Sie und Ihre Sorte – ihr seid für alles verantwortlich!« 2. Der Scheinwerferstrahl glitt über das Verandadach und ließ zwei verrostete Nummernschilder hervortreten. Zum Glück waren es die letzten zwei. Das Haus stand neben einem unbebauten Grundstück, auf dem Rohrleitungen und Maschinen verrotteten. Früher einmal war der Hof gepflastert gewesen. Jetzt rollte Flowers' Ambulanz über pulverisierten Kies dahin. Er schaltete das Licht ab und betrachtete das Haus. Es war zweistöckig, wenn man den Speicher mitrechnete. Eine baufällige Veranda verlief quer über die Frontseite. Die Fenster starrten dunkel und blind in die Nacht. Hatte sich der Oberarzt geirrt? Das wäre wieder einmal typisch. Dann sah er hinter dem linken Fenster im ersten Stockwerk ein Flackern. Vorsichtig stieg Flowers die verfaulenden Holzstufen hinauf. Das Licht der in die schwarze Tasche eingebauten Lampe erhellte die alte Tür. Flowers klopfte. Nichts rührte sich. Das einzige Geräusch war das tröstliche Vibrieren des Ambulanzmotors. Er drückte auf die Messingklinke. Die Tür ging auf. Er zog die Nadelpistole und trat vorsichtig ein. Zur Rechten war ein Durchgang mit vom Holzwurm zerfressenen Brettern vernagelt. Vor sich sah er eine Treppe.
Er stieg lautlos hinauf, und das Licht spiegelte sich auf handgeschnitzten Geländerstäben, von Generationen kleiner Hände glattpoliert. Wenn er sich einmal ein eigenes Haus auf dem Land leisten konnte, wollte er auch dergleichen haben – alte Sachen, in denen die Vergangenheit wohnte. Oben sah er sich mehreren Türen gegenüber. Flowers wandte sich nach rechts. Die Tür, deren Klinke er drückte, war verschlossen. Unsicher lauschte er den Geräuschen des Hauses. Es knarrte und ächzte und flüsterte, als sei es im Lauf der Jahrhunderte lebendig geworden. Die Tür öffnete sich. Das Licht von der schwarzen Tasche badete das Mädchen wie in Quecksilber. Es starrte, ohne zu blinzeln, in die Lampe. Flowers riß die Augen auf. Sie war ungefähr eins sechzig groß. Ihr dunkles Haar mußte sehr lang sein, dachte er, denn es war geflochten und wie eine Krone um ihren Kopf gewunden. Sie hatte ein zartes, schmales Gesicht mit strahlend weißer Haut; ihre Züge waren regelmäßig. Sie trug ein gelbes, fließendes Kleid mit Gürtel. Es wirkte unpraktisch und wenig schmeichelnd; es hatte keinerlei Ähnlichkeit mit den engen, glatten Sachen, die man heutzutage trug. Aber die Andeutung ihres Körpers unter dem Stoff und die nackten, weißen Füße ließen sein Herz schneller schlagen. Erst dann entdeckte er, daß sie blind war. Die Hornhaut der Augen war undurchsichtig und ließ das helle Blau der Iris dunkler erscheinen. »Sind Sie der Arzt?« fragte sie leise und sanft. »Ja.« »Kommen Sie herein, bevor unsere Untermieter
wach werden. Sie könnten gefährlich sein.« Während das Mädchen die Tür hinter ihm verriegelte, sah sich Flowers in dem verhältnismäßig großen Raum um. Es war einmal ein Schlafzimmer gewesen und diente jetzt als Einzimmerwohnung. Das Mobiliar bestand aus zwei Stühlen, einem Gasofen, einer Kiste, die als Tisch und Untersatz für eine rauchende Petroleumlampe diente und einem Holzbett. Auf dem Bett lag ein etwa sechzigjähriger Mann. Er hatte die Augen geschlossen und atmete keuchend. »Philip Shoemaker?« fragte Flowers. »Ja«, sagte das Mädchen. Wieder fielen ihm ihre Augen auf. In der Sonne mußten sie von der Farbe wilder Hyazinthen sein. »Tochter?« »Nicht verwandt.« »Was tun Sie hier?« »Er ist krank«, sagte sie schlicht. Flowers studierte ihr Gesicht. Es verriet ihm nichts. Er setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und schloß seine schwarze Tasche auf. Mit geübten Händen holte er eine Anzahl Instrumente mit Anschlußkabeln heraus. Eine kleine Elektrode wurde über dem Herzen des alten Mannes befestigt, eine andere an seinem Handgelenk, eine dritte in der Handfläche. Er wickelte ein Blutdruckmeßband um den Bizeps und sah, wie es sich spannte, schob ein Mundstück zwischen die blassen Lippen, setzte dem Kranken eine Art Käppchen auf. Shoemaker wurde zu einer im Netz gefangenen Fliege, die schwache Impulse an die in der Tasche lauernde Spinne übertrug. Diese Spinne war jedoch durch unsichtbare Fäden mit der Ambulanz vor dem
Haus verbunden, und gemeinsam würden sie Leben in die Fliege zurückpumpen, statt es abzusaugen. Es dauerte eine Minute und dreiundzwanzig Sekunden. Dann fiel Flowers der Heftpflasterstreifen am Unterarm des Patienten auf. Er runzelte die Stirn und riß ihn ab. Darunter befand sich eine glutgetränkte Kompresse, und ein kleiner Schlitz in der Vene. »Wer ist hiergewesen, seit der Mann krank wurde?« »Ich«, erklärte das Mädchen mit klarer Stimme. Eine Hand ruhte leicht auf der Kiste. Unter dem Kopfteil des Bettes stand ein Glaskrug, der etwa einen halben Liter Blut enthielt; es war im Gerinnen, fühlte sich aber noch warm an. »Warum haben Sie einen Aderlaß vorgenommen?« »Es gab keine andere Möglichkeit, ihm das Leben zu retten«, sagte sie leise. »Wir sind nicht mehr im Mittelalter«, erklärte Flowers. »Sie hätten ihn umbringen können.« »Sie haben Ihren Lehrern nicht zugehört«, erwiderte sie. »In manchen Fällen nützt ein Aderlaß, wenn nichts anderes mehr helfen kann – bei Gehirnblutungen zum Beispiel. Vorübergehend fällt der Blutdruck, so daß das Blut in dem geplatzten Gefäß Gelegenheit hat, zu gerinnen.« Unwillkürlich schaute Flowers in seine Tasche. Vom Boden war die Diagnose abzulesen. Eine Gehirnblutung, ohne Zweifel, und die Prognose war gut. Die Blutung hatte aufgehört. Er nahm eine Kompresse aus der Tasche, zog an dem Etikett und sah, wie sich die Verpackung auflöste. Er drückte die Kompresse fest auf die Schnitt-
wunde. Sie blieb automatisch an der Haut haften. »Es ist verboten, ohne Lizenz zu praktizieren«, sagte er langsam. »Ich muß das melden.« »Hätte ich ihn sterben lassen sollen?« »Es gibt Ärzte.« »Er hatte einen gerufen. Sie haben eineinhalb Stunden gebraucht. Wenn ich abgewartet hätte, wäre er gestorben.« »Ich bin gefahren, so schnell ich konnte. Bei Nacht läßt sich so ein Haus schwer finden.« »Ich kritisiere nicht.« Sie streckte die Hand nach hinten, bis sie den Stuhl ertastete, dann setzte sie sich und faltete die weißen Hände im Schoß. »Sie haben mich gefragt, warum ich ihn zur Ader gelassen habe. Ich habe es Ihnen erklärt.« Flowers schwieg. Gegen ihre Logik ließ sich nichts sagen, und doch war sie im Unrecht. Es gab keine vernünftige Entschuldigung für die Übertretung der gesetzlichen Vorschrift. Die Ausübung der Medizin mußte das Monopol von Männern sein, die vorsichtig waren, die entsprechende Ausbildung hatten und in der alten Ethik geschult waren. Niemand sonst durfte sich an das Heiligste heranwagen, das es auf der Welt gab. »Sie hatten Glück«, sagte er. »Sie hätten sich irren können.« »Der Tod ist nicht graduell.« »Wahrscheinlich wird er sowieso sterben.« Sie stand auf und ging zu ihm, legte eine Hand auf seine Schulter und berührte Shoemakers Stirn. »Nein«, sagte sie mit merkwürdiger Sicherheit, »er wird gesund werden. Er ist ein guter Mann. Wir dürfen ihn nicht sterben lassen.«
Die Nähe des Mädchens erregte ihn. Flowers fühlte, wie sein Blutdruck anstieg. Warum nicht? dachte er. Sie ist nur eine Stadtbewohnerin. Aber er brachte es nicht über sich, und es lag nicht nur daran, daß er an die Ehre des Arztstands dachte oder an die Tatsache, daß sie blind war. Er bewegte sich nicht, aber sie wich zurück und nahm ihre Hand fort, als sie spürte, welche Gefühle ihn bewegten. »Ich muß ihn ins Hospital schaffen«, sagte Flowers. »Wir müssen mit einer Infektion rechnen.« »Ich habe den Arm mit Seife und dann mit Alkohol gereinigt«, erklärte sie. »Ich habe das Messer in der Flamme sterilisiert und eine Bandage über dem Lampenzylinder angesengt.« Ihre Finger wiesen Brandwunden auf. »Sie haben Glück gehabt«, sagte er kalt. »Beim nächstenmal wird jemand sterben.« Sie wandte sich seiner Stimme zu. Flowers empfand die Bewegung als seltsam rührend. »Was soll man tun, wenn man gebraucht wird?« Die Ähnlichkeit mit der Reaktion eines Arztes auf das Flehen der Welt um Hilfe war zu groß. Ein Arzt hatte das Recht, auf dieses Flehen zu reagieren – sie nicht. Er wandte sich Shoemaker wieder zu, nahm die Instrumente ab und verstaute sie wieder in der Tasche. »Ich muß ihn zum Krankenwagen hinuntertragen. Können Sie die Tasche nehmen, damit ich Licht habe?« »Sie dürfen ihn nicht mitnehmen. Er hat keine Zahlungen für seinen Kontrakt mehr geleistet. Sie wissen, was man mit ihm tun wird.«
Flowers richtete sich auf. »Wenn er insolvent ist ...« »Was würden Sie tun?« fragte sie leise. »Wenn Sie im Sterben lägen und allein wären, würden Sie nicht um Hilfe rufen? Würden Sie zuerst juristische Probleme wälzen? Er hatte einmal einen Kontrakt, aber die Zahlungen haben ihn ruiniert, haben ihn sein Heim auf dem Land gekostet und hierher getrieben. Aber als er krank wurde, kehrte er zu seinem alten Glauben zurück, wie ein sterbender Katholik nach seinem Priester ruft.« Flowers erschrak vor dem Vergleich. »Und er hat mehrere Menschen um lebenswichtiges, dem Gesetz entsprechendes Eingreifen betrogen. Es spricht einiges dafür, daß er sein Leben auf Kosten eines anderen Menschen gerettet hat; deshalb wurden die Gesetze erlassen. Diejenigen, die ihre ärztliche Behandlung bezahlen, sollten nicht von denjenigen bestraft werden können, die dazu nicht in der Lage sind oder – was häufiger ist – nicht zahlen wollen. Wenn Shoemaker nicht zahlen kann, muß er einen anderen Beitrag leisten.« Er bückte sich über den alten Mann. Sie zog ihn mit erstaunlicher Kraft zurück und stellte sich zwischen ihn und den Kranken. »Ihr habt doch sicher genug Blut, genug Organe. Sie werden ihn umbringen.« »Es gibt nie genug«, sagte Flowers. »Und wir brauchen ja auch Material für die Forschung.« Er legte ihr ungeduldig die Hand auf die Schulter, um sie wegzuschieben. Unter dem Stoff fühlte sich ihr Körper warm und weich an. »Sie müssen zu den Antivivisektionisten gehören.« »Allerdings, aber das ist nur ein Grund. Ich bitte
für ihn, weil er es wert ist, gerettet zu werden. Sind Sie so hart, so vollkommen, daß Sie nicht – vergessen können?« Er starrte einen Augenblick auf seine Hand und ließ sie sinken. Er lehnte es ab, mit dem Mädchen um den Körper dieses Mannes zu kämpfen. »Gut«, sagte er. Er hob die schwarze Tasche auf und ging zur Tür. »Warten Sie!« sagte sie. Er schaute sich nach ihr um, als sie blindlings auf ihn zutrat, die Hand ausgestreckt, bis ihre Finger seinen Ärmel berührten. »Ich möchte Ihnen danken«, sagte sie sanft. »Ich habe gedacht, daß es bei den Ärzten keine Barmherzigkeit mehr gibt.« Einen Augenblick lang krampfte sich sein Magen zusammen, dann brach sich der Zorn Bahn. »Mißverstehen Sie mich nicht«, sagte er brutal und schüttelte ihre Hand ab. »Ich werde ihn anzeigen und Sie auch. Das ist meine Pflicht.« Sie ließ die Hand sinken, gleichsam um Verzeihung bittend für ihren Irrtum, vielleicht auch für die Natur der Menschen. »Wir tun, was wir müssen.« Sie ging an ihm vorbei, schob den Riegel zurück und wandte sich ihm zu. »Ich glaube nicht, daß Sie so hart sind, wie Sie tun.« Das traf ihn. Er war nicht hart. Er ärgerte sich über die Behauptung, daß die Ärzte kein Verständnis besaßen, daß ihnen das Mitgefühl fehlte. Jene, die inmitten von Krankheit und Tod zu leben hatten, von deren Geschicklichkeit und Urteilsfähigkeit, Gesundheit und Leben und ihr Begleiter, das
Glück abhingen, durften sich nicht von der Tragik, von den menschlichen Gesichtspunkten, berühren lassen. Das wäre unerträglich. »Unten liegt ein alter Mann, der Hilfe braucht«, meinte sie zögernd. »Würden Sie ihn sich ansehen?« »Ausgeschlossen«, erwiderte er scharf. Sie hob für einen Augenblick den Kopf. Das ist der Stolz, dachte er. Dann nickte sie. »Verzeihung«, sagte sie leise. Licht zu machen sei gefährlich, meinte sie und bot ihm an, ihn zu führen. Ihre Hand war warm, fest und zuversichtlich. Auf dem Weg nach unten erreichten sie einen Treppenabsatz, wo sich im Dunkeln eine Tür öffnete. Flowers riß seine Hand los und steckte sie in die Tasche, um die beruhigenden Umrisse der Nadelpistole zu ertasten. Im schwarzen Rechteck der Tür schimmerte ein blasses Gesicht. »Leah?« sagte es. Es war die Stimme eines Mädchens. »Ich hab' mir schon gedacht, daß du es bist. Gib mir deine Hand. Laß sie mich für eine Weile halten. Ich habe gedacht, daß ich die Nacht nicht überstehen werde.« »Na, na«, sagte Leah. Sie streckte eine Hand nach dem Gesicht aus. »Es wird schon alles gut werden. Du mußt nur fest daran glauben.« Flowers knipste die Lampe in seiner Tasche an. Das Licht traf das Mädchen in der Tür wie ein Schlag; es wich stöhnend zurück, legte den Arm über die Augen. Flowers knipste das Licht aus – er hatte genug gesehen. Das Mädchen in seinem dünnen, geflickten Nachthemd war ein Bündel Knochen, eng verpackt in
blasse Haut. Abgesehen von zwei fiebrigroten Flekken auf den Wangen war das Gesicht leichenblaß. Das Mädchen ging an Tuberkulose zugrunde. Tuberkulose. Heutzutage! Warum tun sie das? »Geh hinauf und bleib bei Phil«, sagte Leah. »Er braucht dich. Er hat einen Schlaganfall erlitten, aber es geht ihm schon besser.« »Gut, Leah«, sagte das Mädchen. Die Stimme klang kräftiger, zuversichtlicher. Es glitt an ihnen vorbei und stieg die Treppe hinauf. »Was ist los mit ihnen?« fragte Flowers gepreßt. »Tuberkulose ist kein Problem. Wir können sie leicht heilen. Warum lassen Sie zu, daß sie sterben?« Sie blieb vor den Holzbrettern stehen und wandte ihm das Gesicht zu. »Weil es billiger ist. Mehr können sie sich nicht leisten.« »Billiger, zu sterben?« rief Flowers ungläubig. »Soll das etwa wirtschaftlich sein?« »Die einzige Art von Wirtschaftlichkeit, die sie kennen. Die einzige Art, die zu praktizieren die Krankenhäuser ihnen erlauben. Ihr habt die Gesundheit zu teuer werden lassen. Ein paar Monate Bettruhe«, sagte sie müde, »hundert Gramm Streptomycin, tausend Gramm PAS, vielleicht Pneumothorax und Rippenresektion. Sie hat in ihrem ganzen Leben noch nie mehr als fünfzig Dollar gesehen. Selbst wenn sie hundert Jahre alt wird, könnte sie nicht die Hälfte dessen ersparen, was sie für die Behandlung braucht. Sie muß Kinder ernähren. Sie kann nicht einen einzigen Tag mit der Arbeit aussetzen, geschweige denn monatelang –« »Es gibt Klinikverträge –«, sagte Flowers ungeduldig.
»Aber nicht für eine Behandlung, wie sie sie braucht«, sagte Leah. Eine Tür hinter ihr öffnete sich. »Gute Nacht, Arzt.« Dann war sie verschwunden. An der Tür drehte er sich impulsiv um, und die Worte drängten sich auf seine Lippen. »Wenn nicht für alle genug da ist, wen wollt ihr behandeln – die Bedürftigen oder die Wohlhabenden, die Faulen oder die Sparer, die Fässer ohne Boden oder diejenigen, die die Zukunft finanzieren können, mehr Medizin, mehr Gesundheit für jeden.« Aber die Worte erstarben auf seinen Lippen. Er konnte durch einen Spalt in den Brettern in den Raum dahinter sehen; dort stand ein altes Aluminiumsofa – moderner Stil des zwanzigsten Jahrhunderts – ein alter Mann lag darauf, so starr und still, daß Flowers ihn zunächst für tot hielt. Er war sehr alt. Flowers dachte, daß er noch nie einen so alten Menschen gesehen hatte, obwohl die Behandlung von Greisenkrankheiten eine Spezialität des Medizinischen Zentrums war. Er hatte schlohweißes, dichtes Haar. Sein Gesicht war brüchig wie altes Leder. Leah war neben dem Sofa auf die Knie gesunken. Sie hielt eine der knochigen Hände in den ihren, preßte sie, hatte die Augen geschlossen. Flowers öffnete die Holztür und starrte in das Zimmer. Das alte Gesicht schien ihm irgendwie vertraut. Er bemerkte plötzlich, daß die Augen des alten Mannes offen waren. Er schien von den Toten auferstanden zu sein. In den alten, blassen Augen funkelte Leben, und die
Falten seiner alten Haut schienen sich zu glätten. Der Körper belebte sich, als der Alte lächelte. »Kommen Sie herein«, flüsterte er. Leahs Gesicht wandte sich Flowers zu. Auch sie lächelte. »Sie sind gekommen, um zu helfen«, sagte Leah. Flowers schüttelte den Kopf, dann fiel ihm ein, daß sie nicht sehen konnte. »Ich kann nichts tun.« »Niemand kann etwas tun«, flüsterte der Alte. »Sie wissen auch ohne Ihre Geräte, was mit mir los ist. Man kann nicht einen ganzen Körper erneuern, wenn er sich verbraucht hat. Bei den meisten geht das stufenweise vor sich. Bei ein paar Menschen kommt es schlagartig. Sie könnten mir ein neues Herz von irgendeinem unglücklichen säumigen Zahler geben, aber meine Arterien wären trotzdem sklerotisch. Und selbst wenn ihr die austauschen könntet, ohne mich zu töten, hätte ich immer noch eine defekte Leber, vernarbte Lungen, versagende Drüsen. Und selbst wenn ihr mir einen neuen Körper geben würdet, könntet ihr mir nicht helfen, weil tief unten, wohin eure Messer nicht reichen, wo eure Instrumente nicht zu messen vermögen, mein Ich liegt, das nicht mehr wiederherzustellen ist.« Als Leah Flowers wieder das Gesicht zuwandte, sah er erschrocken, daß aus den blinden Augen Tränen liefen. »Können Sie denn nichts tun?« Ihre Stimme brach. »Taugen Sie denn zu gar nichts?« »Leah!« flüsterte der alte Mann mahnend. »Das würde eine unlöschbare Aufzeichnung in den Geräten der Ambulanz hinterlassen«, erklärte Flo-
wers. »Das kann ich mir nicht leisten und ihr auch nicht.« Sie preßte ihre Stirn wild an den Handrücken des Alten. »Ich kann es nicht ertragen, Russ. Ich kann es nicht ertragen, dich zu verlieren.« »Für einen Mann, der seine Generation, fast seine eigene Ära überlebt hat, ist jede Träne Verschwendung«, sagte Russ. Er lächelte Flowers an; es war beinahe wie ein Segen. »Ich bin einhundertfünfundzwanzig Jahre alt. Das ist eine lange, lange Zeit.« Leah erhob sich zornig. »Es muß doch etwas geben, was Sie tun können – bei all eurem großartigen Wissen, den teuren Geräten, die wir euch gekauft haben!« »Da wäre nur das Elixier«, sagte er gedankenlos. Russ lächelte wieder. »Ah ja – das Elixier. Ich hatte es beinahe vergessen. Elixier vitae.« »Würde es helfen?« fragte Leah. »Nein«, sagte Flowers fest. Er hatte schon zuviel gesagt. Laien konnten mit medizinischen Informationen nichts anfangen; sie verwirrten sie nur und verwischten das medizinische Bild. Was der Patient mehr als alles andere brauchte, war nicht das Verständnis seines Zustands, sondern uneingeschränktes Zutrauen zu seinem Arzt. Wenn jegliche Art von Behandlung vertraut ist, wirkt keine mehr. Es ist besser für die Medizin, Zauberei zu sein, als etwas Alltägliches. Außerdem war das Elixier immer noch nicht mehr als eine Laboratoriumserscheinung. Vielleicht würde es niemals mehr sein. Es handelte sich um eine Synthese eines seltenen Blutproteins – eines Gammaglo-
bulins –, das im Blut von einer Handvoll Personen entdeckt worden war. Dieses Protein, dieser Immunitätsfaktor, schien seine Immunität weiter zu vermitteln, als sei der Tod selbst nicht mehr als eine Krankheit ... »Ein außerordentlich komplizierter Prozeß«, sagte er. »Die Herstellung kostet mehr, als sich aufbringen läßt.« Er wandte sich Russ zu und sagte anklagend: »Ich kann nicht verstehen, warum Sie ihr nicht neue Hornhäute haben einpflanzen lassen.« »Ich könnte keinem Menschen das Sehvermögen wegnehmen«, sagte Leah leise. »Es gibt ja auch Unfalltote«, meinte Flowers. »Wie wollen Sie das unterscheiden?« »Wollen Sie nicht, daß sie sieht?« fuhr Flowers Russ an. »Wenn das Wollen genügt hätte«, flüsterte der Alte, »hätte sie meine Augen vor vielen Jahren bekommen können, aber die Kosten, mein Junge. Immer wieder läuft es darauf hinaus.« Flowers wandte sich zum Gehen. »Warte, mein Junge«, flüsterte Russ. »Komm her.« Flowers wandte sich um und ging zum Sofa; er sah auf Leah hinunter, dann auf Russ. Der alte Mann streckte ihm die Hand entgegen, mit der Handfläche nach oben. Automatisch gab ihm Flowers seine Hand. Als sich die Hände berührten, fühlte Flowers eine seltsame elektrische Empfindung, als sei ein Nerv angeregt worden, eine Botschaft über seinen Arm zu seinem Gehirn zu senden und eine Antwort zurückzubringen. Russ' Hand sank zurück. »Ein guter Mann, Leah. Verwirrt, aber ehrlich. Wir
könnten einen schlechteren finden.« »Nein«, sagte Leah fest. »Er darf nicht mehr hierherkommen. Es wäre nicht klug.« »Machen Sie sich darüber keine Sorgen«, meinte Flowers. Er würde nicht zurückkommen. Er hatte solche Gefühle nicht mehr empfunden, seit ihm in seiner Jugend sein Vater von der Medizin erzählt hatte. »Wenn Sie einmal Zeit haben«, sagte Russ mit schwacher Stimme, »könnten Sie über eine Schlußfolgerung nachdenken, zu der ich vor vielen Jahren gelangt bin: es gibt zu viele Ärzte und nicht genug Heilende.« Leah erhob sich graziös vom Boden. »Ich bringe Sie zur Tür.« Die unbewußte Verwendung dieser Phrase schnürte Flowers vor Mitleid die Kehle zusammen. Es war tragisch, weil sie schön war – er empfand sie jetzt als schön – so voll friedlicher Schönheit. Sie zur Anzeige zu bringen würde ihm Schmerz verursachen. Er fragte sich, wie ihr seine Hand in der ihren vorgekommen sein mochte: heiß, nervös, feucht? Welchen Eindruck hatte sie von ihm bekommen? Er blieb an der Haustür stehen. »Es tut mir leid, daß ich Ihrem Großvater nicht helfen konnte.« »Er ist mein Vater. Ich bin geboren worden, als er hundert Jahre alt war. Damals war er noch kein alter Mann. Alle hielten ihn für fünfzig. Erst in den letzten Monaten ist er alt geworden. Ich glaube, daß wir uns aufgeben, wenn wir sehr müde werden.« »Wie leben Sie denn – wenn er krank ist und –« »Und ich blind? Die Menschen sind großzügig.« »Warum?«
»Sie sind wohl dankbar. Für die Zeiten, in denen wir ihnen helfen. Ich sammle alte Rezepte von Großmüttern und braue die Mittel zusammen; ich fungiere als Hebamme, wenn man mich braucht; ich sitze bei den Kranken, helfe, wo es geht, und begrabe diejenigen, bei denen jede Hilfe zu spät kommt. Sie können auch das melden, wenn Sie wollen.« »Ich verstehe«, sagte Flowers, wandte sich ab und zögerte. »Ihr Vater – ich habe ihn schon irgendwo gesehen. Wie heißt er?« »Er hat seinen Namen vor über fünfzig Jahren verloren. Hier in der Stadt nennen ihn die Leute den Heilenden.« Sie reichte ihm die Hand. Flowers nahm sie widerstrebend. Das war das Ende. Die Hand war warm. Seine Hand erinnerte sich an diese Wärme. Sie war gut zu halten, wenn man sich krank fühlte. »Leben Sie wohl«, sagte sie ernsthaft. »Ich mag Sie. Sie sind menschlich. Das kommt selten vor. Aber kommen Sie nicht wieder. Das wäre für uns alle nicht gut.« Flowers räusperte sich laut. »Ich habe doch schon gesagt, daß ich nicht mehr komme«, erklärte er; sogar in seinen Ohren klang das trotzig und kindisch. »Leben Sie wohl.« Sie blieb in der Tür stehen, als er sich umdrehte, die Tasche in die rechte Hand nahm und die Stufen hinunterstieg. Die Tasche fühlte sich schwer an. Das Zentrum hatte sie ihm auf längere Zeit geliehen. An der Außenseite waren zwei Worte mit goldenen Buchstaben angebracht: ›Benj. Flowers‹. Eines Tages würden dort noch zwei Worte stehen: ›Dr. med.‹ Noch ein paar Monate, dann würde er sie sich verdient haben. Er konnte die Tasche kaufen, eine An-
zahlung auf die Bibliothek leisten und die staatliche Prüfung bestehen. Er würde vom Staat eine Lizenz erhalten, an den Bürgern Medizin zu praktizieren. Dann erst würde er ein richtiger Arzt sein. Zum erstenmal in seinem Leben freute er sich nicht darauf. Vor dem Vorderrad der Ambulanz lag ein Mann. Neben ihm, auf dem Gehsteig, ein Brecheisen. Flowers rollte ihn auf den Rücken. Die Augen des Mannes waren geschlossen, aber er atmete normal. Er war zu nahe herangekommen und von den Ultraschallwellen ausgeknockt worden. Eigentlich mußte Flowers auch jetzt die Polizei verständigen, aber er fühlte sich zu erschöpft. Er zerrte den Körper zur Seite und öffnete die Tür des Krankenwagens. Er wurde sich bewußt, daß sich hinter ihm etwas regte. »Vorsicht!« schrie Leah. Ihre erschreckte Stimme kam aus weiter Ferne. Flowers wollte sich umdrehen, aber es war zu spät. Die Nacht fiel herab und hüllte ihn ein. 3. Er öffnete seine Augen in die Dunkelheit, und der Gedanke kam wie von selbst: So ist es, wenn man blind ist. Das muß Leah immer ertragen. Sein Schädel pochte. Am Hinterkopf hatte er eine große Beule. Das Haar war mit getrocknetem Blut verklebt. Er zuckte zusammen, als er mit den Fingern die Wunde untersuchte, aber sie war nicht gefährlich.
Eine Gehirnerschütterung hatte er nicht erlitten. Er fühlte sich nicht blind. Wahrscheinlich fehlte nur das Licht. Er hatte eine ungewisse Erinnerung an eine wilde Fahrt durch die Straßen der Stadt; an eine schwere Tür, die klirrend hochklappte, an den Eintritt in einen höhlenartigen, muffig riechenden, hallenden Ort; er mußte eine Treppe hinaufgetragen worden sein. Jemand hatte etwas gesagt. »Er kommt zu sich. Soll ich ihm noch mal eins draufgeben?« »Nein. Leg ihn nur hin, bis wir ihn wieder brauchen. Er kann nicht weg.« Peng! Wieder die Dunkelheit. Unter sich spürte er Beton, kalt und hart. Er stand schwankend auf; alles tat ihm weh, nicht nur der Kopf. Er tat vorsichtig einen Schritt vorwärts, einen Arm ausgestreckt, den anderen schützend vors Gesicht gelegt. Nach dem fünften Schritt berührten seine Finger eine vertikal verlaufende Fläche. Eine Wand. Er drehte sich, schlurfte an der Wand entlang zu einer Ecke, an einer zweiten, kürzeren Wand entlang bis zu einer Tür. Sie war aus Metall und besaß eine Klinke, die sich aber nicht nach unten drücken ließ. Die anderen Wände waren ohne Eingang. Als er seinen Rundgang vollendet hatte, sah er einen fensterlosen Raum, ungefähr fünf Meter lang und drei Meter breit. Er setzte sich auf den Boden und ruhte sich aus. Jemand hatte ihn überfallen, bewußtlos geschlagen und eingesperrt. Es gab nur eine Person, die es gewesen sein konnte. Der Mann, den er von der Ambulanz weggezerrt
hatte. Er war ganz langsam an den Wagen herangekrochen, so daß die verschiedenen Detektoren nicht reagiert hatten. Als Flowers erschienen war, schalteten sie ab, und der Mann konnte sich erheben, um ihn niederzuschlagen. Wenn er ein Straßenräuber war, wenn er die Medikamente und die Geräte in seinen Besitz bringen wollte, warum hatte er sich die Mühe gemacht, den Arzt mitzuschleppen? Er durchsuchte seine Taschen – ohne Ergebnis. Sie hatten ihm die Nadelpistole abgenommen. Er beschloß, sich hinter der Tür zu verstecken. Sobald sie sich öffnete – sie ging nach innen auf –, würde er dahinterstehen. Er besaß große und starke Fäuste. Er hatte durchaus eine Chance, die Straßenräuber zu überraschen. Inzwischen saß er in der dunklen Stille und erinnerte sich an den Traum, aus dem er erwacht war. Er war wieder ein kleiner Junge gewesen, und sein Vater sprach mit ihm wie mit einem Erwachsenen. »Ben, es mag wichtigere Dinge als die Medizin geben«, sagte sein Vater, »aber man kann ihrer nicht sicher sein.« Er legte seine Hand auf die Schulter des Jungen. Sie war schwer, und Ben wollte sie abschütteln, aber er wagte es nicht. »Bei der Medizin ist alles anders. Du hast es mit dem Leben zu tun, und das Leben ist immer wichtig. Du wirst es jeden Tag fühlen, weil du jeden Tag persönlich mit dem Tod kämpfen, ihn zurückwerfen, einen Meter aufgeben und dich wieder zum Kampf stellen mußt. Denn das Leben ist heilig, Ben. Gleichgültig, wie gemein oder verkrüppelt es sein mag, es ist heilig. Davor beugen wir uns, Ben.«
»Ich weiß, Papa«, sagte Flowers mit hoher Stimme. »Ich will Arzt werden. Ich will –« »Dann beuge dich, mein Junge. Beuge dich!« Aber warum mußte er jetzt an Leahs Vater denken? Warum rief ihm die Erinnerung an einen Vorfall, den es wahrscheinlich nie gegeben hatte, Russ ins Gedächtnis zurück? Lag es an den Worten des Sterbenden: Wenn Sie einmal Zeit haben ... Und hatte er jetzt nicht Zeit? Zu viel Ärzte und nicht genug Heilende, das hatte der alte Mann gesagt! Absurd. Es glich nur zu sehr den vielen bedeutungslosen Phrasen, die gerade wegen ihrer Verschwommenheit bedeutsam erscheinen. Er dachte an die Diskussionen mit den anderen Ärzten. In der Dunkelheit schien sich der Krankenhausgeruch auszubreiten – Äther und Alkohol. Der gute Geruch. Der ehrwürdige Geruch. Jeder, der sich erlaubte, die Medizin zu kritisieren, wußte einfach nicht, wovon er sprach. Er erinnerte sich, daß er an kugelsicheren Fenstern des Schlafsaals gestanden hatte und auf die Häuser hinausstarrte, die man abriß, um Platz für die zwei neuen Flügel zu schaffen. Die Zwillingsprozesse der Zerstörung und des Aufbaus schienen kein Ende zu finden. Irgendwo an der Peripherie des Zentrums wuchsen ständig neue Flügel über den alten Ruinen hoch. Wie viele Straßenzüge umschlossen die Mauern des Zentrums? Vierzig? Fünfundvierzig? Er hatte es vergessen. Er mußte es laut ausgesprochen haben, weil Charly
Brand ihm von seinem Schreibtisch aus Antwort gab. »Einundsechzig.« Brand war ein merkwürdiges Wesen, eine Ansammlung unzähliger Informationen, ein Gedächtnisspeicher, der auf jede Frage eine Antwort wußte. Aber es fehlte ihm etwas; er war kalt und mechanisch. Er war der Synthese unfähig. »Warum?« fragte Hal Mock. »Nur so«, sagte Flowers gereizt. »Ich habe vor ein paar Tagen einen Besuch gemacht, in der Stadt.« »So macht Gewissen Feige aus uns allen«, zitierte Brand, ohne von seinem Schreibtisch aufzusehen. »Was bedeutet das?« fauchte Flowers. »Manchmal wünsch' ich mir, daß ein paar Leuten in unserer Klasse etwas zustößt – daß sie krank werden, nicht ernsthaft, verstehst du – sich ein Bein brechen. Die Schule darf nur eine gewisse Anzahl passieren lassen. Sie hat eine Quote. Aber wir sind alle so gesund, so vorsichtig. Es ist ekelhaft.« Er dachte nach. »Überlegt euch das. Sieben Jahre Quälerei, und der Erfolg hängt von den Antworten auf ein paar idiotische Fragen ab. Mir wird schlecht, wenn ich nur daran denke.« Brand wechselte hastig das Thema. »Was wählst du als Spezialgebiet, Ben? Nach der Prüfung?« »Ich weiß es nicht«, sagte Flowers. »Aber ich«, sagte Brand. »Psychiatrie.« »Warum denn das?« fragte Mock verächtlich. »Ganz einfache Rechnung«, meinte Brand. »Das Vorkommen von Geisteskrankheiten in diesem Land beträgt 65,3 Prozent. Beinahe zwei von je drei Personen brauchen im Lauf ihres Lebens die Dienste eines
Psychiaters. Dazu kommen die Neurosen und Belastungserkrankungen wie Magenkrämpfe, rheumatische Arthritis, Asthma, Zwölffingerdarmgeschwüre, Überdruck, Herzkrankheiten, Cholitis. Und das Leben wird nicht einfacher. Gegen diese Zahlen kann keiner an.« »Und was ist mit Geriatrie?« fragte Mock. »Alt wird jeder.« »Bis man das Elixier in großen Mengen auf den Markt wirft!« »Dazu kommt es nie«, meinte Mock. »Man weiß schon, wo die Moneten stecken –« Flowers lauschte angestrengt in die Dunkelheit hinein. War da nicht eben auf der anderen Seite der Tür ein Geräusch gewesen? Ein Klirren oder Rasseln? Er sprang auf, aber das Geräusch – wenn er es nicht überhaupt nur geträumt hatte – wiederholte sich nicht. Es hatte keinen Sinn, Risiken einzugehen: Er tastete sich in die Ecke hinter der Tür und lehnte sich wartend an die Wand. »An der Medizin ist nicht nur das Geld interessant«, sagte er leise. »Sicher«, sagte Mock, »aber man darf auch die wirtschaftlichen Tatsachen nicht übersehen, weil man sonst seinen Beruf nicht richtig ausfüllt. Schau dir die Einkommensteuerrate an. Sie beginnt bei fünfzig Prozent. Bei Zehntausend im Jahr macht sie achtzig Prozent aus. Wie willst du deine Tasche, deine Instrumente, deine Bibliothek bezahlen? Ohne sie kannst du nicht praktizieren. Wie willst du deine Beiträge zur örtlichen medizinischen Gesellschaft, zum Ärztebund und so weiter bezahlen ...?«
»Warum ist die Einkommenssteuer so hoch?« wandte Flowers ein. »Warum sind die Instrumente so teuer? Warum sind hundert Millionen Menschen ohne ausreichende medizinische Versorgung zu einem langsamen Dahinsiechen in einem Meer krebserregender Stoffe verurteilt, ohne sich leisten zu können, was die Redner hochtrabend ›die Hochblüte der Medizin‹ nennen?« »Es liegt an den Lebenshaltungskosten«, meinte Mock. »Man muß bezahlen, was man sich wünscht. Bist du noch nicht dahintergekommen?« »Nein«, sagte Flowers aufgebracht. »Was meinst du damit?« Mock sah sich vorsichtig um. »Ich bin nicht so dumm«, sagte er. »Man weiß nie, wer gerade zuhört. Irgendeiner läßt vielleicht sein Bandgerät mitlaufen, nur weil er damit rechnet, daß wir vielleicht einmal ein Wort zuviel sagen. Eines steht jedenfalls fest: Man kann auch zu gesund sein!« »Wahnsinnige!« murmelte Flowers im Dunkel der Betonzelle. Er ließ sich an der Wand nach unten gleiten, bis er den Boden erreichte. Sie irrten sich alle, Mock und Russ und Leah und die übrigen. In einem anderen Zeitalter hätte man sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Er hatte Dr. Cassner solche Ansichten in einer herrlichen dreistündigen Demonstration mikrochiurgischer Virtuosität widerlegen sehen. Es begann als gewöhnliche Arterienresektion und Transplantation. Das schattenlose Licht über dem Operationstisch flutete kalt und forschend über den zugedeckten Körper des alten Mannes. Die assistierenden Chirurgen und Operationsschwestern arbeiteten mit jener Präzision zusammen, die das Ergebnis
jahrelanger Ausbildung und Erfahrung ist. Die Klimaanlagen summten unaufhörlich, aber Schweiß sammelte sich in unzähligen Tröpfchen auf Cassners breiter Stirn und rann nach unten in seine Maske, bevor die Schwester ihn mit steriler Watte abtrocknen konnte. Aber Cassners Hände ruhten keinen Augenblick. Sie waren selbständige, vom Körper losgelöste Organe. Seine Finger bedienten die komplizierte Steuerung der Chirurgiemaschine mit einer Sicherheit, einer Geschicklichkeit, wie sie in diesem Teil des Landes, vielleicht in der ganzen Welt nicht erreicht wurde. Genie ist unnachahmbar. Flowers sah mit einer hypnotisierten Faszination zu, vor der die Zeit nichtig wurde. Die Skalpelle schnitten mit unheimlicher Präzision durch die Haut, legten die geschwollenen alten Arterien offen. Geschickte Metallfinger klemmten sie ab, schnitten sie auseinander, ein lyophiliertes Transplantat, und pfropften die gesunde junge Arterie auf den Stumpf der alten; die Wundnaht-Maschine trat sofort in Aktion, bestäubte das freigelegte Gebiet mit Antibiotika, klemmte die Inzisionsränder zusammen und vereinigte sie mit einer schnellen, flachdrückenden Bewegung ... Cassners Augen zuckten von dem Patienten auf dem Operationstisch zu den physiologischen Monitor an der Wand dahinter, nahmen mit einem einzigen Blick das komplizierte Zustandsbild des Patienten wahr: Blutdruck, Herzschlag, Atmung ... Der Mikrochirurg sah die Gefahr als erster. Die Operation war vergleichsweise eine temporeiche Angelegenheit, und es gab Nachteile. Das zu behan-
delnde Gebiet hatte eine beachtliche Größe, und nicht einmal der Chlorpromazin-Promethazin-DolosalCocktail und die Abkühlung vermochten den Schock ganz auszugleichen. Und das Herz war alt. Es erwies sich als unmöglich, die Instrumente schnell genug auf das neue Gebiet anzusetzen. Cassner nahm das Skalpell in die Hand und öffnete die Brusthöhle mit einem langen, sicheren Schnitt. »Herzmaschine«, sagte er mit seiner scharfen, hohen Stimme. Sie pumpte nach dreißig Sekunden, die Schläuche an die Aorta und die linke Vorkammer angeschlossen. Zwei Minuten später lag ein noch pulsierendes, neues Herz in dem alten Brustkasten. Cassner schloß die Arterien und Venen an. Zehn Minuten nachdem der Monitor das Herzversagen festgestellt hatte, zog Cassner das alte Herz heraus und hielt es in den Händen, ein totes Organ, ein verbrauchter Muskel. Erschöpft wies er seinen ersten Assistenten an, das Digitalis zu injizieren. Als die Brusthöhle geschlossen wurde, begann das neue Herz, kraftvoll Blut durch die Arterien zu pumpen. Cassner hätte Grund genug gehabt, die routinemäßige Arbeit seinem Assistenten zu überlassen, aber er beendete die Arterienüberpflanzung, bevor er sich abwandte, um den Umkleideraum zu betreten ... Das war es, was die Spötter vergaßen – was man für sein Geld bekam, dachte Flowers: Die Geschicklichkeit, die Medikamente, die Instrumente. Ohne die moderne Medizin wäre der Mann auf dem Operationstisch zwanzig Jahre zuvor gestorben. Er war nicht übermäßig gesund. Wenn er noch kränker gewesen
wäre, hätte er sterben müssen. Jetzt hatte er noch fünf bis zehn Jahre vor sich. »Das ist noch gar nichts«, sagte Mock. »Ich habe Smith-Johnson einen fünf Monate alten Fötus retten sehen. Das brachte mich auf den Gedanken: Warum?« Flowers schnitt eine verächtliche Grimasse. Er wußte warum: weil das Leben heilig war, jedes Leben, alles Leben. »Manchmal in der Nacht«, sagte Mock leise, »kann ich ihre Stimmen wimmern hören, gedämpft durch die Inkubatoren, alle die Vorzeitigen, die zu schwach zum Leben waren, die die Natur von sich stoßen wollte – die wir gerettet haben – für die Blindheit, die Krankheit und ständige Pflege. O ja, Cassner ist gut, aber ich frage mich, wieviel hat die Operation gekostet?« »Woher soll ich das wissen?« »Warum fragen Sie nicht?« Flowers schauderte in der Dunkelheit, obwohl der Raum heiß war und schob die Hände in die Taschen. Er berührte seinen Gürtel. Er zuckte zusammen und wunderte sich, daß er nicht vorher schon daran gedacht hatte. Hastig drückte er auf den Alarmknopf. Es war eine Chance, und er mußte jede Chance ergreifen. Die Straßenräuber würden den Ambulanzmotor wohl abgestellt haben, nachdem das Fahrzeug irgendwo verborgen stand. Flowers sank wieder an die Wand zurück und erinnerte sich, wie er zum Verwaltungsbüro gegangen war. Man hatte seinen Namen verlangt, ihm aber die Rechnung gezeigt. Der
alte Mann hatte eine Anzahlung von zweihunderttausend Dollar geleistet. Das Verwaltungsbüro hatte sehr gut kalkuliert. Die Gesamtrechnung belief sich auf einige hundert Dollar weniger. Er starrte auf die Spalte ›zu zahlen‹ mit ihren vierund fünfstelligen Zahlen: Operationsraum 40 000 Dollar Nun ja, warum nicht? Die Herzmaschine allein hatte fünf Millionen Dollar gekostet, und das Gerät war das Wunderding des Mittelwestens gewesen, als man es konstruiert und gebaut hatte. Jemand mußte dafür bezahlen. Danach: Verpflegungskosten, Anästhesie, Laborgebühren, Röntgenaufnahmen, Gewebeuntersuchung, EKG, EEG, Metabolismusprüfung, Medikamente und Verbände, und an wichtigster Stelle die Preise für neue Organe und Arterien: Neue Arterien (1 Satz) 30 000 Dollar Neues Herz (1) 50 000 Dollar Irgendein armer Teufel von säumigem Schuldner hatte seine Rechnung bezahlt. Flowers saß in seiner Betonzelle und sagte sich, daß ein Arzt nicht verpflichtet sein sollte, Fragen relativer Wertmaßstäbe zu prüfen. Nun gut, die Operation hatte den alten Mann dreißig- bis vierzigtausend Dollar für jedes Jahr Leben, das ihm versprochen wurde, gekostet. Das lohnte sich – vom Standpunkt
des alten Mannes aus. Gab es einen anderen Standpunkt? Beglich ein anderer die Rechnung? Die Gesellschaft vielleicht. Lohnte es sich für die Gesellschaft? Vielleicht nicht. Der alte Mann war jetzt ein Konsument. Er aß und verbrauchte, was er in jüngeren Jahren klug oder stark oder unbarmherzig genug war, produziert zu haben. Also lohnte es sich für die Gesellschaft nicht! Das war ein brutaler, unmenschlicher Standpunkt. Das war der Grund dafür, daß niemand die Gesellschaft als Richter darüber anerkennen wollte. Die Medizin hatte seit Jahrhunderten gegen diese Möglichkeit gekämpft. In dieser Hinsicht ließ sich der Ärztebund nicht beeinflussen. Ein Mensch hatte das unwiderrufliche Recht auf den Arzt seiner Wahl und die medizinische Behandlung, die er sich leisten konnte. Selbstverständlich, selbstverständlich. Das demonstrierte die Gefahr, das Problem von der falschen Seite zu sehen, wie Hal Mock es tun mochte. Das Wissen war vorhanden; die Geschicklichkeit war vorhanden; die Ausrüstung gab es. Es wäre eine ungeheuerliche Verschwendung, sie nicht einzusetzen. Aber vielleicht, dachte er plötzlich, ist der Fehler schon früher aufgetaucht, als das Wissen, die Ausrüstung und die Geschicklichkeit überhaupt entwickelt wurden. Damals hatte die Gesellschaft den Preis dafür entrichtet. Die Gesellschaft belegt alles mit einem Preis. In jeder Ära gibt es begrenzte Quantitäten von Intelligenz, Energie, und jenem Erbteil aus dem Denken und Arbeiten der Vergangenheit, dem Kapital. Das Wertsystem der Gesellschaft entscheidet, wie viele Faktoren
auf verschiedene Unternehmungen verteilt werden. Wie bei einem Budget: so viel für das Essen, so viel für die Unterbringung, so viel für Kleidung, Erziehung, Forschung, Unterhaltung; so viel für den Arzt. Was war wertvoller als gute Gesundheit? Nichts, erklärte die Gesellschaft. Ohne sie ist alles wertlos. Was meinte Mock, als er behauptete, man könne auch zu gesund sein? Gab es eine optimale Grenze, jenseits welcher die Medizin mehr verbrauchte, als sie produziert? Und gab es einen Punkt, von dem aus die Medizin zu einem Ungeheuer wurde und die Gesellschaft verschlang, die sie hervorbrachte? Vielleicht konnten die Lebenshaltungskosten zu hoch klettern. Vielleicht konnte eine Gesellschaft zu gesund sein, wie ein Hypochonder, der sich finanziell zugrunde richtet in dem vergeblichen Bemühen, eingebildete Krankheiten heilen zu lassen. »Charley«, fragte er Brand eines Tages, »welcher Prozentsatz des Nationaleinkommens ist im vergangenen Jahr für die Medizin ausgegeben worden?« »Therapie, Ausbildung, Forschung, Produktion oder Konstruktion?« »Alles.« »Moment mal – 15,6, 10,1, 12,9, 8,7 – das wäre – was gibt das?« »52,5«, sagte Flowers. In der Dunkelheit der Betonzelle wiederholte er die Zahl. »Unsinn«, murmelte er. Es war eine Ablenkung vom Grübeln, als er entdeckt, daß das Bandgerät lief. Er brauchte nur die Rückspultaste zu drücken, um die Identität seiner Widersacher zu entdecken. Er drückte auf die Taste und lauschte versunken
den Stimmen Leahs, Russ' und seiner selbst ... Bevor das Band jedoch Leahs erschreckten Ausruf wiedergeben konnte, wurde die Tür aufgerissen, und ein blendendes Licht stach ihm in die Augen. Er drückte auf die Stopptaste und fluchte leise. Er hatte seine Chance vertan. »Wer sind Sie?« fauchte er. »Polizei«, sagte eine rauhe Stimme. »Haben Sie nicht Alarm gegeben?« »Tun Sie die Lampe weg«, sagte Flowers argwöhnisch. »Ich möchte Sie sehen.« »Aber sicher.« Das Licht flutete über dunkle Hosen, hellere Uniformröcke, glitzerte auf Dienstabzeichen, Gesichtern, Mützen. Einer der beiden Beamten kam ihm bekannt vor. Das war doch der Sergeant, dem er den Händler übergeben hatte? »Na«, sagte der Sergeant, »so trifft man sich wieder. Los, wir verschwinden wohl besser.« »Gewiß, aber wo ist die Ambulanz? Haben Sie sie gefunden? Haben Sie die Straßenräuber erwischt? Sind Sie –« »Moment mal.« Der Sergeant lachte. »Wir haben jetzt nicht genug Zeit, die Straßenräuber kommen sonst zurück, was, Dan?« »Und ob«, sagte Dan. Sie schritten lange, hallende Marmorkorridore entlang, die sich vor ihnen zu öffnen schienen, während das Licht in die Dunkelheit hineinstach. Sie erreichten eine große Halle. Auf beiden Seiten befanden sich drei doppelte, schwere Messingtüren. Eine davon stand offen. Dahinter war ein Lift. Flowers folgte
den Beamten in den Aufzug. Der Sergeant drückte auf einen Knopf. Sie fuhren nach oben. Der Lift knarrte und klapperte und ächzte, bis Flowers sich fragte, ob sie es jemals schaffen würden. Das war das Geräusch, das er im Betonraum gehört hatte. Er lehnte sich müde an eine Wand und dachte: Ich habe Glück. In diesem Augenblick der Sicherheit fand er Zeit, an Leah zu denken. War die Blinde unverletzt? Und ihr Vater – was kam ihm an seinem Gesicht bekannt vor? Es erinnerte ihn an ein Bild, an die Zeit, als er im Sitz der örtlichen Medizinischen Gesellschaft durch die Halle früherer Präsidenten gegangen war. An den Wänden hingen Dutzende von Porträts in dunklen Ölfarben, alle mit ernsten Gesichtern und strengen Augen, die ihn zu verfolgen und ihm nachzurufen schienen: »Wir haben die große Tradition Äskulaps unverletzt, unbefleckt übernommen; wir geben sie so an euch weiter. Zeigt euch ihr gewachsen, wenn ihr könnt.« Eine reichlich grimmige Sache, dachte Flowers, diese Präsidentschaft der Medizinervereinigung. Keine Gelegenheit zum Lachen. Nein, das war falsch. Einer der Abgebildeten hatte ein schwaches Lächeln, die Andeutung eines Lächelns gezeigt, als wolle er beweisen, daß er die Sache nicht so ernst nehme wie der Maler. Flowers hatte sich neugierig vorgebeugt, um den Namen auf dem Messingschild zu lesen, aber er war ihm entfallen. Vor seinem geistigen Auge bückte er sich wieder und versuchte, die Erinnerung zu finden, die in seinem Gehirn eingezeichnet sein mußte. Er beugte sich näher, sah deutlicher. Er las den Namen:
›Dr. Russel Pearce Präsident, 1972–1983‹ Russel Pearce – natürlich wie konnte er das vergessen haben? Der Entdecker des Elixier vitae, der Entwickler der Synthese, die seinen Namen trug – und jetzt starb er in einem abbruchreifen Haus inmitten der Stadt an hohem Alter. Dr. Russel Pearce – Russ – Leahs Vater. 4. Die Tür öffnete sich vor ihnen. Flowers trat zögernd in die Halle hinaus. Sie glich in jeder Beziehung derjenigen, die sie verlassen hatten. Zur Linken öffneten sich hohe Fenster auf die grauschimmernde Nacht. Die Morgendämmerung war nahe. »Wo sind wir?« fragte Flowers gereizt. »Im Rathaus«, sagte der Sergeant. »Kommen Sie mit.« »Was habe ich im Rathaus zu schaffen? Ich gehe nicht weg, bis Sie meine Fragen beantwortet haben.« »Hörst du das, Dan? Er geht nicht weg. Ob er die Wahrheit gesprochen hat? Sag Coke Bescheid, daß wir hier sind.« Der andere Polizeibeamte, groß und mit mürrischem Gesicht, verschwand durch eine Glastür am anderen Ende der Halle. Der Sergeant grinste und rückte auffällig seine Pistole im Halfter zurecht.
Sie wird nicht mit Anästhesiesplittern geladen sein, dachte Flowers schauernd. »Sie haben kein Recht, mich hier gegen meinen Willen festzuhalten.« »Wer hält Sie gegen Ihren Willen fest?« fragte der Sergeant überrascht. »Wollen Sie weg? Bitte. Sie müssen natürlich unterwegs vorsichtig sein und darauf achten, daß Sie nicht über die Treppe hinunterfallen. Der Weg ist sehr weit.« Diese Entartung der polizeilichen Macht lähmte Flowers Willen. Der eingeschrumpfte kleine Mann, der mit Dan zurückkam, starrte Flowers nachdenklich an. »Der ist ja noch kein fertiger Doktor«, sagte er mürrisch. »Sollen wir vielleicht auch noch wählerisch sein?« beschwerte sich der Sergeant. »Na ja«, meinte Coke schüchtern. »Hoffentlich ist es so richtig. Kommen Sie mit.« Er winkte Flowers. »Nein!« fauchte Flowers. Die Hand des Sergeants zuckte hoch und traf Flowers klatschend ins Gesicht. Der Raum begann sich zu drehen. Flowers knickte in den Knien ein. Wut barst in ihm, färbte die Welt rötlich, und er richtete sich auf, riß die Arme hoch, um zu kämpfen. Dan hob grinsend den Fuß und stieß mit aller Kraft zu. Der Schmerz ließ alles verschwommen erscheinen, als Flowers auf dem Boden lag und sich krümmte. Langsam ebbte er ab; Flowers raffte sich mühsam hoch und entdeckte, daß der Sergeant den Arm um ihn gelegt hatte, um ihn zu stützen. »So«, sagte der Beamte gleichmütig, »jetzt sind wir aber vernünftig, wie?«
Flowers biß die Zähne zusammen und unterdrückte ein Stöhnen. Er ließ sich durch Glastüren in ein großes Zimmer führen, das von einer langen, dunkelpolierten Theke in zwei Hälfte geteilt wurde. An der rechten Wand stand eine Bank, auf der ein hagerer Mann mit rattenähnlichem Gesicht saß. Das Gesicht feixte Flowers an. Der Händler! dachte Flowers betäubt. Frei. Lachend. Während er von der Polizei festgehalten wurde. Bis sie die massive Holztür in der rechten Wand erreichten, konnte Flowers wieder gehen, ohne sich vor Schmerzen zu krümmen. »Wohin gehen wir?« stieß er hervor. »Der Chef braucht einen Arzt«, sagte Coke, an ihm vorbeitrottend, um die Tür zu öffnen. »Jetzt wird er bald aufwachen.« »Der Chef? Wer ist das?« Der grauhaarige kleine Mann starrte ihn ungläubig an. »John Bone!« »Coke!« schrie eine schmerzgepeinigte Stimme. »Coke! Wo bist du?« »Hier, Chef!« sagte Coke verängstigt. »Hier, mit einem Mediziner!« Er eilte durch das Zimmer, um die Vorhänge zurückzuziehen. Das Licht kroch graufarben über den Boden, auf das weite Bett mit den zerdrückten Kissen. Ein Mann saß aufrecht zwischen ihnen. Er war ausgezehrt und spindeldürr. »Ein Mediziner!« schrie er. »Ich brauche einen richtigen Arzt. Ich sterbe! Ich brauche einen Doktor!« »Etwas anderes haben wir nicht bekommen können«, ächzte Coke. »Na, schon gut«, sagte Bone. »Dann muß er eben
genügen.« Er schwang die Beine über den Bettrand und steckte sie in hellblaue Hausschuhe. »Los, behandeln Sie mich!« »Wo ist Ihr Kontrakt?« fragte Flowers. »Kontrakt?« schrie Bone. »Wer hat einen Kontrakt? Glauben Sie, ich würde einen Kerl wie Sie herschleppen lassen, wenn ich einen Vertrag hätte?« »Ohne Kontrakt keine Behandlung.« Die Hand traf ihn wie ein Knüppel im Genick. Flowers schwankte und wäre beinahe zu Boden gestürzt. Wie aus weiter Ferne hörte er sich sagen: »Das nützt auch nichts.« Als sich das Dunkel lichtete, saß er auf einem Stuhl in der Nähe des Bettes. Schmerzgequält drehte er den Kopf. Die Polizisten standen hinter ihm, auf jeder Seite einer. An der Tür lauerte der Händler. Coke stand vor ihm. Zwischen Stuhl und Fenster ging Bone auf und ab. Seine Hausschuhe klapperten auf dem Marmorboden. »Ich brauche Behandlung! Können Sie nicht sehen, daß ich sterbe?« »Wir sterben alle«, sagte Flowers. Bone blieb stehen und starrte Flowers grimmig an. »Gewiß. Aber manche können es länger hinausschieben, wenn sie schlau sind. Ich bin schlau. Ich brauche Behandlung. Ich kann bezahlen. Warum soll ich nicht behandelt werden? Warum benachteiligt man mich, glauben Sie vielleicht, daß noch keinem Menschen Behandlung zuteil geworden ist, die ihm nicht zugestanden ist?« »Das einzige, was ich weiß, ist, daß es ethische Grundsätze gibt, an die ich gebunden bin. Was spielt es für eine Rolle«, sagte Flowers trotzig, »Sie brau-
chen keinen Arzt, sondern einen Psychiater. Das einzige, woran Sie leiden, ist Hypochondrie.« Bone starrte Flowers mit dunklen, unerforschlichen Augen an. »So«, sagte er leise. »Ein Hypochonder bin ich? Ich sterbe also nicht? Wer kann das wissen? Und die Schmerzen in meinem Bauch sind Einbildung? Ich bin im Kopf krank? Nun, vielleicht. Kommen Sie her, ich will Ihnen etwas zeigen.« Flowers reagierte nicht schnell genug. Eine grobe Hand stieß ihn vom Stuhl, trieb ihn durch das Zimmer. Er blieb neben Bone vor einem der großen Fenster stehen. Die Dämmerung war gekommen, und die Stadt lag golden unter ihnen, ohne daß man die Anzeichen des Verfalls erkennen konnte. »Schauen Sie«, sagte Bone und umschloß die ganze Stadt mit einer weiten Handbewegung. »Meine Stadt! Ich bin der letzte einer sterbenden Rasse, der politische Machthaber. Nach mir die Sintflut. Es wird keine Stadt mehr geben. Sie wird auseinanderfallen. Ist das nicht traurig?« Flowers sah auf die Stadt hinaus, von ihren Ruinen wissend, und dachte, es wäre sehr gut, wenn alles von Feuer oder Flut vernichtet würde, von der Erde gewischt, wie die Medizin Pocken, Diphterhie, Malaria und hundert andere Infektionskrankheiten ausgemerzt hatte – nur auf andere Art natürlich. »Die Stadt«, meinte Bone nachdenklich, »ist ein seltsames Wesen. Sie hat ihr eigenes Leben, ihre Persönlichkeit, ihre Gefühle. Ich umwerbe sie, ich wüte, ich schlage sie. Aber hinter allem steckt Liebe. Sie stirbt, und es gibt keine Medizin, um sie zu retten.« In Bones Augen standen Tränen.
»Ich kann mir nicht helfen«, sagte Bone leise und schlug mit der Faust an die holzgetäfelte Wand. »Ich kann nur weinen. Was hat sie getötet? Das dort oben auf dem Hügel hat sie getötet. Die Ärzte haben sie getötet, die Medizin hat sie getötet!« Flowers schaute hinüber zu dem hellen Hügel, der sich wie eine Insel aus dem nächtlichen Meer erhob. Die rötlichen, schräg einfallenden Strahlen ließen die massiven Mauern und zum Himmel emporragenden Türme von Hospital Hill aufschimmern. »Ihr habt sie getötet«, sagte Bone. »Mit eurem Gerede von krebserregenden Stoffen und den Gefahren des Stadtlebens. ›Verlaßt die Stadt‹, habt ihr gesagt, und der Reichtum zog ab, fuhr aufs Land hinaus, baute seine automatischen Fabriken und ließ uns ohne Blut zurück, ließ die Leukämie unsere Venen aufzehren. Und die Krankenhäuser wuchsen, fraßen Straßenblock um Straßenblock auf, nahmen ein Viertel der Stadt von den Steuerregistern. Die Medizin hat sie auf dem Gewissen.« »Die Medizin hat nur die Tatsachen präsentiert. Die Öffentlichkeit zog die gewünschten Konsequenzen«, erklärte Flowers steif. Bone schlug sich mit der Faust gegen die Stirn. »Sie haben recht! Wir haben es selbst getan. Ich wollte, daß Sie das sehen. Wir haben uns den Ärzten ausgeliefert und gebrüllt: Rettet uns! Macht uns leben! Und ihr habt nicht gefragt: ›Wie leben? Warum?‹ Nehmt diese Tabletten, habt ihr gesagt, und wir haben sie geschluckt. Ihr braucht Röntgenaufnahmen, habt ihr gesagt, radioaktives Jod, Antibiotika und Mittel für dieses und für jenes, und wir haben sie zusammen mit unseren tonischen Säften und unseren
Vitaminen genommen.« Er begann zu psalmodieren. »Unsere täglichen Vitamine gebt uns heute ... Mit Hilfe der Mikrochirurgie können wir euer Leben um ein Jahr verlängern, habt ihr gesagt; mit Blutbänken um weitere sechs Monate, mit Organ- und Arterienbänken einen Monat, eine Woche. Wir haben sie euch aufgezwungen, weil wir Angst vor dem Sterben hatten. Und wie nennt ihr diese übersteigerte Angst vor Krankheit und Tod? Gebt ihr einen Namen. Hypochondrie! Wenn Sie mich einen Hypochonder nennen«, fuhr Bone fort, »sagen Sie nur, daß ich ein Produkt meiner Umwelt bin. Enger als Sie, als jeder andere, bin ich mit meiner Stadt verbunden. Wir sterben gemeinsam, die Gesellschaft und ich, und wir werden sterben, während wir euch zurufen: Rettet uns! Rettet uns, oder wir sterben!« »Ich kann nichts tun«, wiederholte Flowers. »Begreifen Sie das nicht?« Bone nahm das überraschend ruhig auf, als er seine dunklen Augen Flowers zuwandte. »Oh, Sie werden schon«, sagte er gleichmütig. »Sie glauben jetzt, daß Sie's nicht tun werden, aber es wird eine Zeit kommen, wo das Fleisch Sieger bleibt, wo es schreit, daß es nicht mehr ertragen kann, wo die Nerven der Schmerzen müde werden, der Wille das Warten nicht mehr erträgt, dann werden Sie mich behandeln.« Er betrachtete Flowers gelassen vom Scheitel bis zur Sohle. Seine Augen wurden hell. Flowers glaubte, sich beherrschen zu können, glaubte nicht hinsehen zu müssen, aber es ging nicht. Er sah hinunter. Seine Jacke hatte sich geöffnet. Unter dem weißen Stoff war
die Tastatur des Bandgeräts zu sehen. Bone griff neugierig nach dem Gürtel. Bevor Flowers reagieren konnte, wurden seine Arme ergriffen und nach hinten gerissen. »Eine Tonbandspule«, sagte Bone, »und besprochen ist sie auch noch!« Er drückte auf die Rückspultaste, dann ließ er das Band ablaufen. Während die körperlosen Stimmen durch den Raum tönten, lehnte er sich an die getäfelte Wand und lauschte mit schwachem Lächeln. Nachdem das Band abgespielt war, grinste er. »Holt das Mädchen und den alten Mann. Ich glaube, sie könnten ganz nützlich werden.« Flowers verstand ihn sofort. »Seien Sie nicht albern«, sagte er. »Sie bedeuten mir nichts. Es ist mir egal, was mit ihnen passiert.« »Warum protestieren Sie dann?« fragte Bone unschuldig. Er sah die beiden Polizisten an. »Er muß in der Nähe bleiben. Am besten steckt ihr ihn in den defekten Aufzug.« Eine Minute später schlossen sich die großen Messingtüren hinter Flowers, und er war wieder im Dunkeln. Aber diesmal war es anders. Diesmal herrschte Nacht über einem Abgrund des Nichts. Er vermochte sich seiner Angst kaum zu erwehren ... Er stand zitternd vor den Türen, hämmerte mit schmerzenden Fäusten dagegen und schrie. Nach einer Weile zwang er sich dazu, sich in eine Ecke zu setzen. Er zwang sich dazu, zu vergessen, daß diese kleine Zelle defekt über einem tiefen Schlund hing. Er erinnerte sich daran, die alten Knöpfe der Steu-
ertafel gedrückt zu haben. In seiner Verzweiflung hatte er sich einen Fingernagel abgerissen, als er die Türen aufzwingen wollte. Er fand seine Tasche und knipste das Licht an, suchte nach einer Bandage und preßte sie über den Finger, wo der Nagel gewesen war. Dann saß er im Dunkeln. Es war unbequem, es gefiel ihm nicht, aber es war besser, im Dunkeln zu sitzen und zu wissen, daß Licht zur Verfügung stand, als überhaupt kein Licht zu haben. Zwei Stunden später gingen die Türen auf, und Leah wurde hereingelassen. Seine Uhr sagte die Zeit, sonst hätte er nicht geglaubt, daß nicht ein ganzer Tag vergangen war. Das Mädchen taumelte, und Flowers war so blind wie Leah. Er sprang jedoch auf, fing sie, bevor sie stürzte, und hielt sie fest an sich gepreßt. Sie wehrte sich, schlug mit Händen und Füßen zu. »Ich bin es«, sagte Flowers mehrmals. »Der Arzt.« Als sie aufhörte, sich zu wehren, ließ Flowers sie los, aber sie erstarrte, packte seinen Arm und blieb zitternd stehen. Es war ein merkwürdiges Gefühl für Flowers, sie festzuhalten. Es war tröstend, nicht so unpersönlich wie sein Beruf. »Wo sind wir?« flüsterte sie. »In einem defekten Aufzug im Rathaus«, sagte er heiser. »John Bone.« »Was will Bone?« fragte sie. »Er will behandelt werden.« »Und Sie lehnen ab.« Das war eine Feststellung, keine Frage. »Immerhin sind Sie konsequent. Ich habe
dem Zentrum gemeldet, daß Sie entführt worden sind. Vielleicht kommt bald Hilfe.« Die Hoffnung flammte auf, wurde aber von der Realität zertreten. Das Medizinische Zentrum hatte keine Möglichkeit, festzustellen, wo er sich befand, und für einen halbfertigen Arzt würde man nicht die ganze Stadt durchsuchen. »Hat Bone auch Ihren Vater erwischt?« »Nein«, sagte Leah gleichmütig. »Das Amt hat ihn geholt. Die Leute sahen Russ, als sie wegen der Entführung kamen. Einer von ihnen hat ihn erkannt. Man hat ihn mitgenommen.« »Das ist unglaublich!« rief Flowers. »Aber wohin haben sie ihn gebracht?« »In die Experimentierstation.« »Aber doch nicht Dr. Pearce!« »Jetzt wissen Sie also, wer er war. Die anderen auch. Sie haben seinen alten Gegenseitigkeitsvertrag als Ausrede benützt, weil das Verfalldatum willkürlich auf einhundert Jahre festgesetzt wurde. Früher lebten die Ärzte nicht so lange. Ich glaube, daß es heute noch nicht anders ist.« »Aber er ist doch berühmt!« »Deswegen wollen sie ihn ja haben. Er weiß zuviel, und zu viele Menschen erinnern sich an ihn. Man befürchtet, daß die Antivivisektionspartei seiner habhaft wird und ihn auf irgendeine Weise gegen die Ärzte benützt. Man sucht ihn jetzt seit 60 Jahren, seit dem Zeitpunkt, als er das Krankenhaus verließ, in die Stadt ging und nie zurückkehrte.« »Jetzt erinnere ich mich«, sagte Flowers hastig. »Er dozierte vor einer Klasse – über Hämatologie, glaube ich. Mitten im Satz hörte er auf und sagte: ›Meine
Herren, wir sind zu weit gegangen. Es ist Zeit, unsere Spur zurückzuverfolgen und herauszufinden, wo wir gefehlt haben.‹ Dann verließ er den Hörsaal und das Krankenhaus, und niemand hat ihn je wiedergesehen. Niemand wußte, was er gemeint hat.« »Diese Zeit ist vergessen. Er spricht – er sprach nie davon. Ich dachte, daß es ein Ende hat mit dem Verstecken. Ich dachte, sie hätten ihn endlich aufgegeben – was will John Bone von mir?« »Er hofft, daß er mich dazu zwingen kann, ihn zu behandeln, indem –« »Indem er mich mißhandelt? Haben Sie ihn ausgelacht?« »Nein. Nein, das habe ich nicht getan.« »Warum nicht?« »Vielleicht habe ich nicht schnell genug gedacht.« Leah zog langsam ihre Hand aus der seinen, und sie saßen stumm in der Dunkelheit. Flowers Gedanken waren schmerzlich; er konnte es kaum ertragen, sich mit ihnen abzugeben. »Ich werde mir Ihre Augen ansehen«, sagte er plötzlich. Er holte sein Ophthalmoskop heraus, beugte sich zu dem Mädchen hinüber und richtete den Lichtpunkt auf die bewölkte Hornhaut. Sie saß regungslos und ließ es geschehen, daß er ihre Lider hochzog. Er nickte nachdenklich und verstaute das Instrument wieder in der Tasche. »Besteht Hoffnung, Doktor?« fragte sie. »Nein«, log er. Das war unethisch. Er hatte ein seltsames, schwindliges Gefühl, aber gleichzeitig machte sich auch eine gewisse Hochstimmung bemerkbar. Es war
Barmherzigkeit. Selbstverständlich konnte sie sehen – wenn sie sich einer Operation unterzog, die mehrere tausend Dollar mehr kostete, als sie je besitzen würde. Es war Barmherzigkeit, diese Hoffnung ein für allemal zu zerstören. Vielleicht entsprach es nicht den ethischen Grundsätzen, aber es war ihm eben erst klargeworden, daß es Gelegenheiten gab, wo der Arzt den Patienten und nicht die Krankheit zu behandeln hatte. Trotz der Behauptungen der Professoren. Jeder Patient war ein Individuum mit seinen eigenen Problemen und seiner speziellen Behandlung, und nur ein Teil von beiden war medizinischer Natur. »Ich verstehe nicht«, sagte er abrupt, »warum die Menschen John Bone hier mit seiner Korruption, seiner Bestechlichkeit, seiner Gewalttätigkeit wirtschaften lassen.« »Das ist nur die eine Seite, die sehr wenige Menschen sehen. Für die meisten ist er der Patron – oder, in längerer Übersetzung, derjenige, der für uns etwas erreicht. Was werden Sie mit ihm anfangen?« »Ihn behandeln«, sagte Flowers ruhig. »Es hat keinen Sinn, den Don Quichote zu spielen.« »Aber Sie –«, begann sie. »Ich heiße Ben«, sagte er. »Ben Flowers. Ich möchte nicht darüber sprechen. Vielleicht hört uns jemand zu.« Danach war es die meiste Zeit still, aber es war eine lebendige Stille, lebendiger vielleicht als jedes Gespräch, und ihre Hand fügte sich wieder in die seine. Als der Polizist die Tür öffnete; herrschte wieder Nacht. Flowers wurde eilig in das dunkelgetäfelte Zimmer getrieben. Bone hatte sich in einen dicken,
roten Morgenmantel gewickelt, aber er sah immer noch aus, als friere ihn. Bone bemerkte, daß Flowers sich neugierig umsah und sagte: »Das war einmal das Büro des Stadtdirektors. Das Amtszimmer des Bürgermeisters liegt auf der anderen Seite. Ich benütze das eine für die Geschäfte, dieses hier für das Vergnügen, obwohl geschäftlich nicht mehr viel zu tun ist – und mit dem Vergnügen hapert es auch. Das ist also das Mädchen. Blind. Das hätte ich mir denken können. Nun, wie haben Sie sich entschieden?« Flowers hob die Schultern. »Ich werde Sie natürlich behandeln.« Bone rieb sich die trockenen Hände. »Gut, gut.« Er lächelte hämisch. »Aber woher weiß ich, daß Sie mich auch richtig behandeln? Vielleicht sollten wir Ihnen zeigen, was ein Versagen in dieser Hinsicht für das Mädchen bedeutet?« »Das ist nicht nötig«, erklärte Flowers hastig. »Ich bin kein Narr. Sie filmen das Ganze. Nachdem ich Sie behandelt habe, werden Sie mich erpressen, damit ich bei der Sache bleibe. Wenn Sie nicht zufrieden sind, können Sie das Material an die Medizinische Gesellschaft weitergeben. Außerdem« – seine Stimme sank plötzlich in ein tieferes Register ab –, »wenn Sie dem Mädchen etwas tun, rühre ich keinen Finger, um Ihr Leben zu retten!« Das Aufflackern in Bones Augen mochte Bewunderung sein. »Sie gefallen mir«, sagte er. »Schließen Sie sich mir an. Wir wären ein gutes Team.« »Nein, danke«, sagte Flowers verächtlich. »Überlegen Sie sich's und sagen Sie mir Bescheid,
wenn Sie sich anders entscheiden sollten«, meinte Bone. »Aber kommen wir zur Sache.« Seine Stimme klang flehend. »Lassen Sie den Motor der Ambulanz anlaufen«, sagte Flowers. Bone nickte dem Sergeant zu. »Los!« Sie warteten, alle vier, steif und unsicher. Als es in den Tiefen der Tasche aufzuglimmen begann, befestigte Flowers die Instrumente an Bones Körper. »Wo ist Coke?« fragte er sich. Er las die Diagnose ab, entfernte die Instrumente und entfernte sie langsam. Nachdenklich kramte er in den Fächern der Tasche. »Was ist?« fragte Bone besorgt. »Sagen Sie mir, was los ist.« Flowers Gesicht war ernst. »Nichts, worüber man sich Sorgen machen müßte«, sagte er und versuchte, seine Besorgnis zu verbergen, was ihm nicht gelang. »Sie brauchen ein Aufpulverungsmittel. Vitamine nehmen Sie sicher schon zu sich. Verdoppeln Sie die Dosis.« Er nahm ein Fläschchen mit rosa Pillen zur Hand. »Hier sind BarbituratBenzedrintabletten, damit Sie nachts schlafen können und erst morgens aufwachen. Und hier ist zusätzlich noch etwas.« Er gab Bone ein zweites Fläschchen. Diese Pillen waren rund, flach und grün. »Dreimal täglich je eine.« Bone runzelte die Stirn. »Was enthalten sie?« »Nichts, was Ihnen schaden könnte.« Flowers schüttete zwei in seine Hand, steckte sie in den Mund und schluckte. »Sehen Sie?« Bone nickte. »Okay. Schafft die beiden wieder hinüber«, sagte er zu dem Polizisten.
»Einen Moment mal«, protestierte Flowers. »Lassen Sie uns nicht frei?« »Wie kommen Sie auf die Idee?« lachte Bone. »Ich habe gern einen Arzt um mich. Das gibt mir ein Gefühl der Sicherheit.« Flowers fügte sich seufzend in das Unvermeidliche. »Ich kann leider nichts dagegen tun.« Er bückte sich, um die Tasche aufzuheben, und bemerkte den Ausdruck der Enttäuschung in Leahs Gesicht. Seine Hand glitt an Bones Hals vorbei. »Hier«, sagte Flowers zu dem argwöhnisch zusehenden Polizeibeamten, »das werden Sie wohl behalten wollen.« Der Polizist trat vor, um die Tasche zu nehmen, und machte zwei Schritte zurück, als er die Tasche in der Hand hatte. Mit der Hand, die die Pistole hielt, kratzte er sich den Rücken der anderen Hand. Bone brach hinter Flowers zusammen. Der Polizeibeamte versuchte die Waffe zu heben, aber sie war zu schwer, sie zog ihn nach unten. Im Fallen drehte er sich halb zur Seite. »Was ist los?« fragte Leah erstaunt. »Was sind das für Geräusche?« Flowers ergriff ihre Hand und packte mit der anderen die Tasche. »Ich habe Bone mit Ultraschall betäubt, den Polizisten mit einer Injektion von NeoCurare. Los!« Als sie durch die Glastüren die Halle erreichten, fragte er sich wieder: Wo ist Coke? Es gab wahrscheinlich Treppen, aber er konnte nicht mit einem blinden Mädchen hinunterlaufen. Er drückte auf den Knopf an der Aufzugtür und wartete in verzweifelter Ungeduld. Leah hielt seine Hand zuversichtlich fest. »Keine Sorge. Sie holen uns schon heraus.«
Kühle Sicherheit überflutete ihn. Er richtete sich auf. »Was für Medizin haben Sie ihm gegeben?« fragte sie. Flowers lachte. »Zuckerpillen. Phantasiemedikamente für eine Phantasiekrankheit.« Als sich die Aufzugtüren öffneten, standen sie vor dem Sergeant. Er starrte sie an, und seine Hand glitt zur Pistole. Flowers trat unbesorgt auf ihn zu. »Bone hat gesagt, daß man uns freilassen soll.« »Das sieht Bone nicht ähnlich«, knurrte der Sergeant. Er zog seine Waffe aus dem Halfter. »Sehen wir erst einmal nach.« Flowers hob die Schultern, ließ Leahs Hand los, damit er die Tasche in die andere Hand nehmen konnte und drehte sich um, so daß die Tasche das Bein des Sergeants streifte. Der Sergeant bürstete sich ab, machte zwei Schritte und brach zusammen. Als Flowers und Leah den Aufzug im Keller verließen, erlosch das Licht. Coke, dachte Flowers und stöhnte. »Was ist los?« fragte Leah aufgeregt. »Die Lichter sind ausgegangen.« »Ich könnte Ihnen helfen, wenn ich wüßte, was Sie vorhaben.« »Finden Sie die Ambulanz. Sie muß hier irgendwo sein.« »Auf diesem Weg muß man mich hereingebracht haben«, meinte Leah nachdenklich. »Ich habe eine Tür zufallen hören, dann kamen ein paar Stufen, wieder eine Tür, nochmals Stufen und dann eine gerade Strecke bis zum Aufzug. Kommen Sie!«
Flowers blieb einen Augenblick stehen und ließ sich dann ins Dunkel ziehen. »Da sind Stufen«, sagte sie. Sie stiegen vorsichtig hinunter. Flowers fand die Türklinke und öffnete. Einen Augenblick später gingen sie wieder eine Treppe hinunter. »Hier herüber«, sagte Leah zuversichtlich. Sekunden später standen sie neben dem Ambulanzwagen, stiegen ein, schalteten das Licht an. Flowers setzte das Fahrzeug in Bewegung. Nicht einmal der Anblick der geschlossenen Garagentür störte ihn. Er fuhr heran so nahe wie möglich, stieg aus, berührte die Tür mit einiger Vorsicht und zerrte am Griff. Sie kippte augenblicklich nach oben. Danach gab es kein Problem mehr. Flowers fuhr in nördlicher Richtung zur Sixth Street-Autobahn, um einem Hinterhalt auszuweichen und Verfolger abzuschütteln. Auf der Straße konnte er alles abhängen. Nach ein paar Minuten erreichten sie die Südwest-Autostraße. Flowers überließ es dem Roboterchauffeur, die Ambulanz zu steuern, und wandte sich Leah zu. Sie saß auf dem Krankenbett. »Hören Sie«, begann er, »ich –« Er verstummte. »Wissen Sie nicht, was Sie mit mir anfangen sollen?« fragte sie leise. »Tja – ich – Sie haben recht, ich kann Sie hier nicht alleinlassen, und wenn ich Sie nach Hause bringe, läßt Bone Sie vielleicht wieder abholen. Nach den Vorschriften darf man niemand mit in das Zentrum bringen –« Er atmete tief ein. »Zum Teufel mit den Vorschriften. Hören Sie zu! Sie sind eine Patientin. Für – eine Augenoperation, Ersatz einer undurchsichtigen Hornhaut. Sie sind vom Landkrankenhaus in Neosho – das ist in der Nähe von Chanute, Kansas,
falls jemand Fragen stellt – überwiesen worden, und Sie wissen nicht, warum Ihre Unterlagen noch nicht eingetroffen sind. Verstanden?« »Kommen Sie da nicht in Schwierigkeiten?« fragte sie. »Das ist nicht so schlimm. Wenn uns jemand miteinander sieht – ich bin eben auch getäuscht worden, das ist alles. Keinen Widerspruch jetzt. Wir haben dann einen Tag mehr, um zu entscheiden, was wir mit Ihnen anfangen.« »Werde ich meinen Vater sehen können?« »Keinesfalls«, sagte Flowers. »Ganz bestimmt nicht, wenn er in der Experimentierstation ist. Dort sind nur Ärzte und diensttuendes Personal zugelassen.« »Ich verstehe. Also gut, ich überlasse es Ihnen.« Wieder fühlte sich Flowers seltsam glücklich. Das war der Lage keineswegs angemessen. Er unterdrückte die Aufwallung, als sich die Mauern des Medizinischen Zentrums öffneten und sie einließen. 5. Sie hatten Glück. Niemand war in der Nähe, als Flowers den Ambulanzwagen in der riesigen, unterirdischen Garage abstellte und Leah vorsichtig zur Untergrundbahn führte. Sie warteten im Halbdunkel, bis ein leerer Wagen auftauchte. »Schnell«, sagte er. »Vertrauen Sie mir.« Er führte sie auf den Rollgürtel, ihren Unterarm fest umklammernd. Trotzdem schwankte sie und wäre beinahe gestürzt. Er zog sie hoch und führte sie
schnell zum Wagen, der neben ihnen auf dem Band dahinschwebte. Gerade als sie das Ende des Streifens erreichten, half ihr Flowers in den Wagen und sprang hinterher. Er schwitzte. Die Untergrundbahn war nicht für Blinde gedacht. Auszusteigen erwies sich als wesentlich einfacher. Sie traten in einen Aufzug und ließen sich in das dritte Stockwerk emportragen. Flowers sah von einer Ecke aus zu, als Leah blindlings die Halle entlangwanderte und sich zum gläsernen Anmeldebüro vortastete. »Ist da jemand?« fragte sie aus ihrem Dunkel. Da war ein Assistenzarzt, aber er mußte weg. »Ich komme vom Landkrankenhaus Neosho ...« Als Flowers den Rückzug antrat, sah er die Schwester mit besorgter Miene aus dem Büro kommen. Er seufzte. Für den Augenblick war Leah in Sicherheit. Er marschierte durch die dunklen Korridore und fragte sich, wo alle waren. Es war erst 8 Uhr abends. Der Boden unter seinen Füßen fühlte sich elastisch an. Flowers atmete die Krankenhausgerüche von Äther und Alkohol ein, die ewigen Gerüche, allgegenwärtig. Sie bildeten die erste Erinnerung an seinen Vater. Es war ein guter Geruch, er fühlte seine Lungen damit und hielt ihn fest, als könne er alles in sich bewahren, was er hoch schätzte, wenn er ihn nur nicht entfliehen ließ. Hier gehörte er her, hier war er zu Hause. Hier war sein Leben, daran mußte er glauben, sonst war alles wertlos, sonst waren sieben lange Jahre Arbeit und Studium vergeudet, ein Leben voller Träume verwandelte sich in einen Alptraum.
Charly Brand sah überrascht von seinem Schreibtisch auf. »Wo bist du gewesen?« »Eine lange Geschichte«, sagte Flowers erschöpft. »Zuerst muß ich etwas essen und mich ausruhen.« »Das mußt du zurückstellen. Auf deinem Schreibtisch liegt ein königliches Handschreiben.« Auf der Platte an seinem Schreibtisch flimmerte eine Nachricht. Er las sie erschrocken. ›Heute Abend findet eine Versammlung der Medizinischen Gesellschaft des Kreises Wyandotte und des Politischen Aktionskomitees statt. Ihre Anwesenheit wird erbeten. J. B. Hardy, Doktor der Medizin, Sekretär.‹ Flowers sah sich suchend um. Er mußte mit jemandem darüber sprechen. »Wo ist Hal?« »Glaubst du, daß er eine Versammlung ausläßt?« fragte Brand ironisch und fügte hinzu, indem er Mocks Stimme imitierte: »›In den Personalakten sieht so etwas immer gut aus.‹ Mach dich lieber auf die Socken. Wenn du dich beeilst, erreichst du den Konvoi noch.« In erster Linie handelte es sich um Tradition – bei diesem Konvoi mit den vorankriechenden Minensuchern, den Tanks zu beiden Seiten und den Hubschraubern, die über ihm schwebten. Niemand war so albern, etwas Stärkeres als einen vereinzelten Ambulanzwagen anzugreifen. Sie fuhren auf die Autostraße Seventh Street über
den Industriedistrikt Armourdale, der unter ihnen in der Nacht flammte, vorbei an den Ruinen der alten Schlachthäuser, wo niemand nachts vorbeiging und nur wenige sich bei Tag hindurchwagten. Flowers starrte ins Leere hinaus, Erschöpfung und Hunger wie ausgelöscht durch Besorgnis. Warum sollte er vor dem Politischen Aktionskomitee erscheinen? Wenige Assistenten und fast kaum Ärzte erhielten Anweisung, vor dem Komitee zu erscheinen. Man brauchte niemanden darum zu beneiden. Häufig hatte der Betreffende anschließend seine persönliche Habe zusammenzusuchen und nicht nur das Krankenhaus zu verlassen, sondern auch den Arztberuf aufzugeben. Als der Konvoi vor dem Justizgebäude hielt und sich – geschützt durch die Betonbunker auf dem Rasen und die Flakbatterien auf dem Dach – aufstellte, quälte sich Flowers immer noch mit den Möglichkeiten herum. Wie üblich war die Versammlung langweilig. Da die Besorgnis verebbte, schlief Flowers in seinem Stuhl ein, schreckte ab und zu hoch, um Bruchstücke des Protokolls der letzten Versammlung, den Bericht des Schatzmeisters, die Verlesung von Forschungsunterlagen zu hören. Der Vertreter des Ärztebundes hielt eine bewegende Ansprache über die Gefahr der dem Kongreß vorgelegten neuen Gesetze. Das unvermeidliche Ergebnis sei sozialisierte Medizin. Merkwürdig, dachte Flowers, daß diese Hydra nicht zu vernichten war. Für den Kopf, den man abhieb, wuchsen zwei neue nach. Die Ärzte sollten endlich ein für allemal damit aufräumen.
Einstimmig wurde ein Betrag von 325 000 Dollar der Lobby in Washington überwiesen. Als der Vorsitzende des Politischen Aktionskomitees aufstand, betrachtete ihn Flowers neugierig. Er war ein großer, dicker Mann mit buschigem schwarzen Haar, dichten Brauen und geröteter Haut. Flowers kannte ihn nicht. Das war nicht ungewöhnlich, wenn man berücksichtigte, daß es in den vier Landkreisen der Umgebung zehntausend Ärzte gab. Nach Ansicht des Komitees war die politische Lage im Rahmen des Staates und der Landkreise unter Kontrolle. Die Antivivisektionspartei hatte im Laufe der letzten Monate Verbindung mit einer Anzahl quasi-religiöser Gruppen aufgenommen, aber man rechnete nicht mit aus dem Rahmen fallenden Ergebnissen. Jeder Anwesende hatte eine Fotokopie der Liste aller politischen Bewerber in Staat und Landkreis erhalten. Sie besaßen die Unterstützung des Politischen Aktionskomitees. Man akzeptierte die Liste ohne Gegenstimmen. Für Wahlkampfausgaben wurde ein Betrag von 553 000 Dollar zur Verfügung gestellt. Und so weiter. Als die Generalversammlung geschlossen worden war, wanderte Flowers langsam zur Tür des Zimmers, in dem die Versammlung des Komitees stattfinden sollte. »Flowers?« Der Vorsitzende des Komitees war zu ihm getreten. Flowers folgte ihm wie betäubt in das große Zimmer. Dort befanden sich fünf Personen; der Vorsitzende nahm seinen Platz in der Mitte ein. Sie setzten sich mit ernsten Gesichtern hinter einen langen, schweren
Tisch aus echtem Holz, das durch jahrhundertelangen Gebrauch nachgedunkelt war. »Sie sind in Schwierigkeiten«, begann der Vorsitzende. Der Arzt zur Rechten des Vorsitzenden beugte sich vor, ein kleines Notizlesegerät in der Hand. »Gestern nacht, als Sie sich wegen eines dringenden Besuchs in der Stadt befanden, haben Sie der Polizei einen angeblichen Händler namens Crumm übergeben. Crumm wurde um 9 Uhr freigelassen. Er hatte eine Lizenz, und das Penicillin in der Ampulle wurde mit vollen 300 000 Einheiten getestet.« »Ein typischer Bone-Trick! Er hat eine Lizenz ausgestellt und sie rückdatiert. Das mit dem Penicillin ist eine Lüge. Zu diesem Preis könnte man es nicht verkaufen. Es lag unter dem Großhandelspreis.« »Wenn Sie heute abend zugehört hätten, wäre Ihnen klargeworden, daß Penicillin wertlos ist. Als es eingeführt wurde, gab es höchstens 5 Prozent immune Bakterienkulturen. Heutzutage sind es fünfundneunzig Prozent, und sie nehmen immer noch zu.« Flowers dachte an die Gelder, die für Forschung und Produktion von Antibiotika zur Verfügung gestellt wurden, wodurch sich immer mehr virulente Bakterienkulturen entwickelten, für die neue und bessere Antibiotika gefunden werden mußten. »Wie sollen wir der Sache ein Ende machen«, fragte Flowers, »wenn wir sie nicht bestrafen, sobald wir Gelegenheit dazu haben?« Der Arzt lächelte. »Dafür ist das Politische Aktionskomitee da. Wir haben uns geweigert, John Bones Kontrakt zu erneuern. Das wird ihn zur Vernunft bringen.« Sein Gesicht
verhärtete sich. »Jedenfalls dachten wir das bis heute.« »Wie meinen Sie das?« Flowers bekam es mit der Angst zu tun. »Bis Bone Sie heute abend freigelassen hat.« Flowers starrte die fünf unbeweglichen Gesichter entsetzt an. »Er hat mich nicht freigelassen. Ich bin entflohen!« »Vergeuden Sie unsere Zeit nicht mit solchem Unsinn, Flowers«, sagte der Vorsitzende ungeduldig. »John Bone läßt niemanden entfliehen. Und wir haben Beweise. Einen Film der Untersuchung und Behandlung, zu der Sie sich haben hinreißen lassen.« »Aber ich bin wirklich geflüchtet«, unterbrach ihn Flowers. »Ich habe Ultraschall und Neo-Curare verwendet und bin –« »Unglaublich! Nachdem Sie Bone behandelt haben –« »Ich habe ihm Zuckerpillen gegeben.« »Genauso schlimm. Bei Bone wirken sie ebensogut wie etwas anderes!« »Sehen Sie denn nicht, warum Bone Ihnen die Filme geschickt hat? Wenn ich ihn wirklich behandelt hätte, wäre er doch in der Lage gewesen, mich damit zu erpressen.« Die Komiteemitglieder wechselten Blicke. »Das könnten wir akzeptieren«, meinte der Vorsitzende, »wenn wir nicht noch andere Beweise dafür hätten, daß Sie den Beruf und seine Ethik sehr geringschätzen.« Er schaltete ein Bandgerät ein. Ungläubig lauschte Flowers seiner Stimme, die Fragen über die Medizin, über Gebühren und soziale Probleme stellte. Sehr gut zusammengeschnitten.
Hal, dachte er. Hal, warum hast du das getan? Aber er kannte den Grund. Hal Mock hatte Angst, nicht zugelassen zu werden. Einer weniger in der Klasse, das war eine Chance mehr für Hal. Der Vorsitzende wandte sich wieder an ihn. »Sie werden morgen früh Ihre Kündigung einreichen. Dann nehmen Sie Ihre Habe und verlassen das Zentrum. Wenn man Sie jemals wieder dabei ertappt, daß Sie Medizin praktizieren oder Kranke behandeln ...« Als es zu Ende war, fragte Flowers leise: »Was werden Sie mit Dr. Russel Pearce tun?« Die Augen des Vorsitzenden verengten sich, und er sah den Arzt zu seiner Rechten an. »Dr. Pearce?« fragte er. »Aber der ist doch vor sechzig Jahren verschwunden, nicht wahr? Er muß längst gestorben sein. Wenn er noch lebte, wäre er über hundertfünfundzwanzig ...« Flowers hörte nicht mehr zu. In ihm war etwas geborsten, und er brauchte nicht mehr zuzuhören. Ein Mann verbringt sein Leben damit, nach der Wahrheit zu suchen. Wenn er Glück hat, lernt er vor dem Tod, daß niemand sie ganz besitzt. Wir verfügen über kleine Stückchen davon, jeder von uns, dachte Flowers. Die Gefahr lag nur darin, daß man sich zu der Meinung hinreißen ließ, das Bruchstück für das Ganze zu halten. Die Medizin konnte nicht zugleich politisch und unverantwortlich sein. Dr. Pearce konnte nicht zugleich ein Held und ein Schurke sein. Flowers war endlich an die Rückseite der Statue geraten und hatte – zur rechten Zeit – erfahren, daß ein halbes Ideal schlimmer ist als keines. Vater, dachte er, das hast du nie gewußt. Verzeih, Vater.
Er drehte sich um und verließ das Zimmer. In der Vorhalle ging er zum Telefon, wählte eine Nummer, wartete und sprach dann hastig in die Muschel. Während der Roboterchauffeur die Ambulanz zum Medizinischen Zentrum zurücksteuerte, kramte er in der schwarzen Tasche nach ein paar Benzedrintabletten und aß sie wie Süßigkeiten. Aber bevor das stimulierende Mittel zu wirken begann, geriet er bereits in Hochstimmung. Es war schön und gut, ein integraler Bestandteil eines großen, sozialen und ethischen Komplexes zu sein, aber gelegentlich mußte man auch denken. Und dann sollte sich der große soziale und ethische Komplex vorsehen. Es störte ihn nicht einmal, als er dahinterkam, daß er beschattet wurde. In der Untergrundbahn schüttelte er den Weißbekittelten ab. »Hören Sie«, sagte er zu dem diensttuenden Apotheker. »Nachts muß es hier doch recht langweilig sein. Haben Sie nicht manchmal unbändige Lust auf eine Tasse Kaffee?« »Na und ob!« »Also los, ich passe hier für Sie auf.« Der Apotheker zögerte, zwischen Pflicht und Wunsch hin- und hergerissen. Der Entschluß, wegzugehen, ergab sich aus dem Widerwillen, vor Flowers feige zu erscheinen. Sobald er verschwunden war, marschierte Flowers durch die Apotheke zum Tresorgewölbe. Die schwere Tür stand offen. In der hintersten Ecke lag ein bescheidener Karton. Den Wert des Inhalts hatte man vorsichtig auf zehn Millionen Dollar geschätzt. Flowers steckte eine Ampulle ein, zögerte und nahm dann auch die elf anderen aus ih-
ren Behältern – er zweifelte plötzlich daran, daß man sie dem Krankenhaus anvertrauen durfte. »Herzlichen Dank für die Kaffeepause«, sagte der Apotheker ein paar Minuten später dankbar. Flowers winkte ihm lässig zu. »Jederzeit zu Diensten.« Der Wachtposten an der vergitterten Tür zur Experimentierstation hielt ihn auf. »Ich sehe hier nirgends Ihren Namen«, brummte er, während sein Finger wieder über die Liste glitt. »Kein Wunder«, sagte Flowers und deutete auf einen Namen. »Er ist falsch geschrieben. Powers statt Flowers.« Es klappte. Er hastete an der Blutbank mit ihren Reihen lebender Fabriken, der Organbank mit ihren Chirurgie- und automatischen Herzmaschinen vorbei. Der für die Geriatrie bestimmte Teil der Station lag am Ende des Baues. Dr. Pearce lag bewegungslos auf dem Krankenbett. Flowers schüttelte ihn, aber die dunklen Lider bewegten sich nicht. Er füllte eine Injektionsspritze aus der Ampulle in seiner Jackettasche und spritzte das Mittel ein. Er wartete besorgt im Halbdunkel. Endlich zuckten Dr. Pearces Lider. »Dr. Pearce«, flüsterte er. »Ich bin es, der Besuchsarzt. Erinnern Sie sich?« Pearce nickte. »Ich versuche, Sie hier herauszuholen, Sie und Leah. Sie ist auch hier. Wollen Sie mir helfen?« Pearce nickte wieder. Flowers schob den langen Wagen neben das Bett
und hob Pearces leichten Körper hinauf. Er zog ein Tuch über das Gesicht. »Es geht los.« Er legte den Gang ein und steuerte den Wagen auf den Korridor hinaus, vorbei an den Zimmern mit ihrer Last menschlicher Tragödien, durch die Tür, vorbei an dem überraschten Wachposten. Der Mann schien etwas sagen zu wollen, aber er wartete zu lange. Als sie in den Aufzug fuhren, flüsterte Pearce: »Was haben Sie mir gespritzt?« »Elixier vitae. Ist es nicht gerecht?« »Wir bekommen das selten.« »Wann haben Sie die letzte Spritze bekommen?« »Vor sechzig Jahren.« Also habe ich mich auch hier geirrt, dachte Flowers. Es war nicht das Elixier, das den alten Mann am Leben hielt. »Sie haben gesagt, daß Sie Leah Ihre Augen geben wollten. War das Ihr Ernst?« »Ja. Können Sie das?« Die Jahre hatten den Körper zerstört, aber der Geist war frisch wie eh und je, dachte Flowers. Pearce hatte sofort begriffen, was Flowers meinte. »Ich weiß es nicht«, gab er zu. »Es ist eine Chance. Ich muß es allein tun und eilig. Ich könnte ihr auch ein Transplantat aus der Organbank geben, aber das wäre ihr nicht recht. Bei Ihren Augen ist das etwas anderes.« »Ein Geschenk der Liebe«, flüsterte Pearce. »Man kann es nicht ablehnen. Es bereichert denjenigen, der gibt, und den, der empfängt. So sollte es immer gegeben werden, mit Liebe. Sagen Sie es ihr nicht. Später wird sie es verstehen, daß es mich glücklich gemacht
hat, ihr zu geben, was ich ihr als Vater nicht geben konnte – eine lichte Welt ...« Das Verwaltungsbüro war leer. Flowers suchte in den Listen, bis er Leahs Namen fand. Er holte einen zweiten Wagen, rollte ihn in das Zimmer und blieb neben dem Bett stehen. »Leah?« »Ben?« sagte sie sofort. Für einen Augenblick beirrte das seine kalte Entschlossenheit. Es war lange her, seit ihn jemand so ›Ben‹ gerufen hatte. »Schnell auf den Wagen. Ich habe Ihren Vater. Wir riskieren die Flucht.« »Sie sind ruiniert!« »Das ist schon geschehen. Komisch – man hat ein Ideal, vielleicht sieht es aus wie dein Vater – und man glaubt, daß es in einem existiert, wie eine Marmorstatue in einer verborgenen Nische. Eines Tages schaut man hin, und es ist nicht mehr vorhanden. Man ist frei.« Der Wagen rollte auf den Lift zu. Im Stockwerk darunter steuerte er den Wagen in den Operationsraum. Als er sanft gegen den Wagen stieß, auf dem Pearce lag, streckte Leah die Hand aus, berührte den Arm ihres Vaters und sagte: »Russ!« »Leah!« Für eine Sekunde spürte Flowers, wie die Eifersucht in ihm aufwallte. Er kam sich ausgestoßen und allein vor. »Du hast recht gehabt«, sagte Leah und streckte die andere Hand aus und zog Flowers heran. »Er ist der Richtige. Besser noch als wir glaubten.«
»Hoffentlich seid ihr glücklich, Kinder«, sagte Pearce. Flowers lachte. »Ich glaube, ihr zwei habt das Ganze geplant.« Leah wurde rot. Sie ist wirklich wunderschön, dachte Flowers in plötzlicher Überraschung. »Nein, wir haben es nur gehofft«, sagte sie. Flowers injizierte das Narkosemittel, fühlte, wie ihre Finger erschlafften, ihre Hand nach unten sank. Regungslos starrte er ihr Gesicht an, dann hob er die Hände vor die Augen. Sie zitterten. Er starrte das schimmernde Weiß der Wände, die mikrochirurgischen Instrumente, die Wundnahtmaschine, die Verbände an und wußte, wie leicht es sein würde, den entscheidenden Fehler zu begehen. »Nur Mut«, sagte Pearce. Seine Stimme wurde kräftiger. »Sie haben sieben Jahre lang studiert. Sie schaffen diese einfache Operation.« Er atmete tief ein. Ja, er konnte es schaffen. Und er machte sich daran, wie es sein sollte – mit Liebe. »Flowers«, sagte der verborgene Lautsprecher in der Decke. »Melden Sie sich im Wohnsaal. Flowers ...« Man hatte entdeckt, daß Pearce verschwunden war. Der alte Mann sprach mit ihm, während seine Hände beschäftigt waren, und half ihm dabei, die Gedanken an die schrecklichen Konsequenzen zu verbannen. Er erzählte Flowers, warum er vor sechzig Jahren den Hörsaal verlassen hatte. »Mit einem Male begriff ich die Ähnlichkeit zwischen Medizin und Religion. Wir haben sie gefördert, mit unserer Traditionsbewahrung, unseren unentzifferbaren Rezepten, unserem Ritual. Stufenweise war
die Öffentlichkeit dazu gelangt, uns als Zauberer anzusehen. Die Massen nannten die neuen Medikamente Wunderdrogen, weil sie nicht wußten, wie sie wirkten. Religion und Medizin – beide danken ihre große Zeit einer pathologischen Todesfurcht. Ein so großer Feind ist er nicht.« Flowers stellte Tiefenmessungen der bewölkten Hornhäute an und stellte sie auf der Mikrochiurgiemaschine ein. »Die Ärzte traf keine Schuld. Wir waren ein Produkt unserer Gesellschaft wie John Bone ein Produkt der seinigen ist. Aber wir haben eine alte Weisheit vergessen, die uns die Stärke zum Widerstand verliehen hätte: ›Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper‹, sagten die Griechen. Und was noch wichtiger ist: ›Nichts im Übermaß‹.« Flowers richtete das blitzende Skalpell auf Leahs rechtes Auge. »Alles, was Übermaß erreicht, wird diese Gesellschaft wie jede andere zerstören. Auch wenn es aus positiven Dingen entsteht – zuviel Reichtum, zuviel Frömmigkeit, zuviel Gesundheit. Wir haben aus der Gesundheit einen Fetisch gemacht, unsere Medizinschränke zu Schreinen werden lassen, große Tempel für die Anbetung gebaut.« Flowers arbeitete sehr sicher und löste mit dem Skalpell die Hornhaut heraus. »Die Lebensdauer kann ohne Überbelastung der Gesellschaft auf ein vernünftiges Maß ausgedehnt werden. Dann tritt das Gesetz des abnehmenden Ertrags in Kraft, und es kostet doppelt soviel, die Lebenserwartung um ein weiteres Jahr hinauszuschieben, dann immer mehr, um sie nur 6 Monate, 3 Monate, 1 Woche, 1 Tag zu verlängern. Es gibt kein En-
de, und unsere Angst ist so groß, daß niemand zu sagen wagt: ›Halt! Wir sind gesund genug!‹« Das Skalpell wich zurück und schwenkte zum linken Auge. »Das Leben, das wir zu bewahren vermochten, lag an der Peripherie: die ganz Jungen, die ganz Alten und die von der Konstitution her unzureichend ausgestatteten. Wir haben die natürliche Zuchtauswahl mißachtet und die Schwachen gerettet, damit sie sich vermehren konnten. Dann haben wir uns vorgesagt, daß wir gesünder seien. In gewisser Weise war das eine Art Selbstmord. Es war Gesundheit, auf Flaschen gezogen. Wenn die Flaschen zersplittern, stürzt die Gesellschaft.« Beide Hornhäute waren abgelöst. Flowers schaute auf die Uhr. Es dauerte zu lange. Er wandte sich Pearce zu. »Kein Narkosemittel«, sagte Pearce. Als die Mikrochirurgiemaschine sich auf sein Gesicht richtete, fuhr er fort: »Wir haben von Humanität gesprochen, aber das war nur ein anderer Name für Narrheit. Die Medizin wurde abhängig von dem, was sie zerstörte. Zu ihrer Erhaltung erwiesen sich gewaltige Technologien als notwendig, aber dieses Niveau der Zivilisation erzeugte seine eigenen Krankheiten.« Die leeren Höhlen waren verbunden. »Wir haben mit unserem Unheilgeschrei die Städte vernichtet und mit unseren Abschreibungen, unseren Subventionen, unseren Forschungsbeiträgen eine unverhältnismäßig große Menge Kapital angesammelt. Wieder die Analogie zur Religion im mittelalterlichen Europa, als die Frömmigkeit infolge der Steuerbefreiung Reichtum aufhäufte.«
Die Hornhäute waren übertragen. »Das konnte in Europa nicht andauern, und es wird hier nicht andauern. Heinrich der Achte suchte eine Ausrede, um mit dem Papst zu brechen und sich die Ländereien der Kirche einzuverleiben. In Frankreich trugen diese Dinge mit zur Entstehung der Revolution bei. Und so wird dieses noble Experiment zu Ende gehen. In Eis oder Feuer, durch die Degeneration der Technologie unter das erforderliche Niveau oder durch Rebellion. Deswegen bin ich in die Stadt zurückgekehrt.« Die Wundnahtmaschine trieb ihre winzigen Nadeln in die Hornhautränder und befestigte sie am Auge. »Dort wird die Zukunft erstehen, wo die Menschen am Leben bleiben, weil sie stark sind. Dort lernen wir Neues – jene Methoden zur Erhaltung der Gesundheit, die eigentlich gar nicht so neu sind, sondern die uralten Methoden der Heilenden. Für sie spricht, daß sie keiner komplizierten Anlagen, keiner Technologie bedürfen, sondern nur eines disziplinierten Verstands, der den Körper unter seinen Willen zu zwingen vermag. Wenn das Ende kommt, wird das schöne, weiträumige Leben auf dem Land enden wie eine Eintagsfliege. Die Stadt wird überleben und wieder wachsen. Draußen werden sie an Krankheiten sterben, die ihre Körper vergessen haben, an Krebs, gegen den keine Widerstandskraft vorhanden ist, an hundert verschiedenen Leiden, deren Gegenmittel verlorengegangen sind.« Als die Verbände über Leahs Augen befestigt waren, begann es im Lautsprecher an der Decke wieder zu krächzen.
»Abwehrgruppen sofort auf Wachstation. Starke Streitkräfte greifen St. Luke an.« Die Zeit für Behutsamkeit war vorbei. Flowers verband die Wagenbeine miteinander und steuerte sie zurück in den Aufzug. Sie sanken hinunter zur Untergrundbahn. Schwerfällig stemmte Flowers die beiden Wagen in eines der Fahrzeuge und sprang hinterher. In wenigen Sekunden würden die unterirdischen Gewölbe von Menschen wimmeln. Ein Lautsprecher dröhnte: »Dachschützen beschießen von den Gebäuden an der Main Street aus St. Luke mit Granatwerfern. Bisher keine Verluste. Abwehrgruppen, bitte beeilen.« »Hat es schon angefangen?« fragte Pearce leise. Flowers lächelte grimmig. Als sie die Garage erreichten, liefen Männer an ihnen vorbei. Niemand kümmerte sich um Flowers mit seinen beiden Wagen. Er blieb neben dem erstbesten leeren Ambulanzwagen stehen, öffnete die Hecktüren und hob die bewußtlose Leah auf eine der Bahren. Auf die andere verfrachtete er Pearce. Er knallte die Tür zu und lief zum Fahrerhaus. Als der Motor ansprang, rannte ein verblüffter Arzt herüber und hämmerte an die Tür. Flowers brauste davon. Der Ambulanzwagen war nur ein Fahrzeug unter vielen; sie strömten aus dem Zentrum, Ambulanzen, Halbkettenfahrzeuge, Tanks. An der Süd-WestAutostraße scherte Flowers aus und steuerte nach Norden, nach Norden in die Stadt. John Bone wartete neben der Garagentür unter dem Rathaus.
»Okay«, sagte er zu Coke. »Kannst den Angriff abblasen. – Kommen Sie 'rein«, sagte er zu Flowers. »Hat die Spinne zur Fliege gesagt«, meinte Flowers lächelnd. »Nein, danke. Sie werden geheilt werden, und zwar schneller, als ich es vermöchte. Aber nicht jetzt.« Bones Gesicht verzerrte sich. »Von wem?« »Von denen«, erklärte Flowers und deutete auf die Ambulanz. »Von einem alten Mann und einem blinden Mädchen?« »Von einem blinden, alten Mann und einem Mädchen, das vielleicht sehen wird. Ja. Sie können mehr für Sie tun als ich. Wir kommen miteinander aus, Bone.« Bone schnitt eine Grimasse. »Ja, ja, ich glaube auch.« Leah bewegte sich. Flowers streckte die Hand aus und berührte ihre Stirn. Sie beruhigte sich. Er wandte sich wieder Bone zu, zog seine weiße Jacke aus und warf sie ihm zu. »Hier, vielleicht nützt Ihnen das etwas. Sie können auch den Ambulanzwagen haben, sobald er uns nach Hause gebracht hat.« Nach Hause. Er lächelte. Er hatte sich auf die Seite der Stadt gestellt. Sogar seine Filter waren vergessen. In der Stadt gab es Brutalität, aber man konnte sie zähmen und ihre irregeleitete Lebenskraft sinnvoll einsetzen. Einem Ideal, das seinen Nutzen überlebt hat, kann man nur den Rücken zudrehen. Zwischen den Menschen bestehen keine Unter-
schiede. Es gibt nicht Menschen – und Menschen in weißen Jacken. Ein Arzt ist nur ein Mensch mit besonderen Fähigkeiten. Aber ein Heilender ist ein wenig mehr als ein Mensch. Sie würden den Anfang machen, der alte Mann und das blinde Mädchen, das vielleicht einmal sehen würde und der Arzt, der ein neues Ideal gefunden hatte. »Ich habe sieben Jahre damit zugebracht, Arzt zu werden«, meinte Flowers. »Ich kann doch wohl sieben weitere Jahre dafür aufbringen, um das Heilen zu lernen.«
VIERTER TEIL
Die Unsterblichen 1. Die Klinik war menschenleer. Harry Elliott unterdrückte ein Gähnen, als er langsam auf den zugedeckten Operationstisch unter dem kalten, blendungsfreien Licht zuging; der große Operationssaal war weißgekachelt und wurde von unsichtbaren, bakterientötenden ultravioletten Strahlen durchflutet. Er zündete den Kandelaber von Bunsenbrennern an und schaltete die Ventilatoren unter dem Wandgemälde ein, auf dem die Unsterblichkeit den Tod mit einer Injektionsspritze besiegte. Die Luft, direkt vom Medizinischen Zentrum hierhergepumpt, war rein, seuchenfrei und aromatisch mit dem Krankenhausgeruch nach Alkohol und Äther. Wissenschaft, Chirurgie und Erlösung – die Klinik hatte jedem etwas zu bieten. Ein ganz normaler Tag, dachte Harry. Bald würde die schrille Kakophonie des Sechs-UhrBetriebsschlusses ertönen, und die Fabriken würden ihre menschliche Flut in die ausgehöhlten Kanäle zwischen den hohen Mauern ergießen. Dann würde er ein bis zwei Stunden zu tun haben. Aber die Schicht war angenehm. Er war nur zwischen sechs Uhr und Schichtende beschäftigt. Dazwischen konnte er einen Blick in das Geriatriejournal werfen oder ein paar Spulen Text über die Innenflä-
che seiner Brille laufen lassen. Er brauchte sie nicht zum Sehen – in diesem Fall hätte er Haftschalen verwendet –, aber sie waren für Lektürezwecke gut geeignet und ließen den Träger älter und bedeutsamer erscheinen. Für Harry mit seinen achtzehn Jahren war das wichtig. Der Sonntag war unangenehm, aber nicht nur für ihn – für alle Leute. Er freute sich schon darauf, das bald hinter sich zu haben. Eine Woche noch, dann durfte er wieder im Inneren Dienst tun. Sechs weitere Monate, und er hatte die erforderlichen Voraussetzungen erfüllt. Sobald er sein Examen bestanden hatte – es war undenkbar, daß ihm das nicht gelingen würde – gab es keine Kliniken mehr für ihn. Es war schön und gut, sich mit den Massen abzugeben – davon handelte ja auch zum Teil der Eid des Hippokrates – aber als Arzt mußte man praktisch denken. Die Behandlungsmöglichkeiten reichten eben nicht für alles aus. Hier eine Ohrinfektion, dort eine Hautkrankheit zu heilen war dasselbe, als schütte man Antibiotika in den Fluß. Die Ergebnisse blieben unbemerkt. Bei denjenigen, die Gelegenheit hatten, sich Unsterblichkeit zu erwerben, war es etwas anderes. Ein Leben zu retten, bedeutete doch etwas. Es mochte sogar dazu führen, daß ihm eine Gnadenfrist gewährt wurde, sobald er sie brauchte. Und Gnadenfristen waren schon bis zur Unsterblichkeit verlängert worden. Die Prognose lautete jedoch nicht ungünstig. Man konnte bestenfalls hoffen, daß man etwas aus sich machen würde, was zu bewahren sich lohnte.
Dann würde ihm eine dankbare Wählerschaft die Unsterblichkeit zuerkennen. Deshalb hatte Harry sich entschlossen, als Fachgebiet die Geriatrie zu wählen. Später, sobald ihm mehr Zeit und Laborgeräte zur Verfügung standen, würde er sich auf die Synthese des Elixiers vitae konzentrieren. Ein Erfolg würde nicht nur für ihn, sondern für alle Menschen Unsterblichkeit bedeuten. Selbst wenn es ihm im Lauf einer Lebensspanne nicht gelang, durfte er mit Gnadenfristen rechnen, sollte sich seine Forschungsarbeit als vielversprechend herausstellen. Aber von überragender Bedeutung war die Synthese selbst. Die Welt konnte sich nicht auf die Dauer auf die Cartwrights verlassen. Sie waren zu egoistisch. Sie zogen es vor, ihre eigene zufällige Unsterblichkeit zu verbergen, statt harmlose Mengen Blut in regelmäßigen Abständen zur Verfügung zu stellen. Wenn Fordyces statistische Analyse von Lockes Nachforschungen zutrafen, waren genügend Cartwrights am Leben, um fünfzigtausend Sterblichen Unsterblichkeit zu garantieren – und diese Zahl würde mit der Geburt neuer Cartwrights in geometrischer Proportion zunehmen. Eines Tages würde ein Säugling als sein Geburtsrecht Leben erben, nicht den Tod. Wenn die Cartwrights nur nicht so egoistisch wären ... Nach dem derzeitigen Stand hatte man aber nur so viele von ihnen entdeckt, daß man für einhundert bis zweihundert Personen Unsterblichkeit zu erreichen vermochte. Niemand kannte die genaue Zahl. Und die zahmen Cartwrights waren so unfruchtbar, daß sie sich nur langsam vermehrten. Sie vermochten nur eine begrenzte Menge des kostbaren Blutes zu spenden. Daraus ließ sich nur wenig Gammaglobulin ge-
winnen, das den Immunitätsfaktor weitervermittelte. Selbst bei streng bemessenen Minimaldosen konnten die Injektionen nur einer kleinen Gruppe bedeutsamer Personen zugute kommen, weil die Immunität dem Tod gegenüber passiv war. Ihre Wirkung hielt nicht länger als dreißig Tage an. Sobald aber das Blutprotein synthetisch gewonnen werden konnte ... Harry hatte eine Ahnung, wie sich das erreichen ließ – indem man das normale Gammaglobulinmolekül auseinandernahm und es dann wieder zusammensetzte, Atom für Atom. Mit Strahlung und der neuen Schnellkühlung, mußte sich das machen lassen. Sobald er ein Forschungsstipendium und die entsprechenden Laboranlagen in die Hände bekam ... Er ging langsam zum Ausgang, vorbei an den Sprechzimmern mit ihren Diagnosesofas, an beiden Seiten des langen Korridors. Er blieb zwischen den riesigen Äskulapstäben stehen, die den Querbalken des Eingangs trugen, bevor er den rauschenden Luftvorhang erreichte, von dem die Hitze des Sommers, die Kälte des Winters, der Staub und die Krankheit der Stadt ferngehalten wurden. In diesem Stadium seiner Laufbahn war es Narrheit, an Forschungsstipendien zu denken. Sie waren für ältere, anerkannte Forscher, nicht für Jungärzte, nicht einmal für eifrige, junge Spezialisten. Die Klinik war an der Mauer des Medizinischen Zentrums angebaut. Gegenüber lag die hohe Mauer einer Fabrik, die gepanzerte Wagen für den Export in die Vororte fertigte. Von dort bezog das Zentrum seine Ambulanzwagen. In einiger Entfernung stand ein zweites, kleines Bauwerk. Auf dem Dach war ein Ne-
onzeichen befestigt: ›Hier wird Blut angekauft‹. Neben der Tür würde ein anderes, kleines Schild verkünden: ›Wir bezahlen jetzt fünf Dollar pro halben Liter.‹ In wenigen Minuten würden die Blutbanktechniker Kanülen in narbige Venen stecken, sobald die Arbeiter aus den Fabriken strömen würden. Sie würden sich im Labor drängen, ihre Lebensquelle spenden, und viele würden zurückkommen, um einen weiteren halben Liter abzapfen zu lassen, bevor noch zwei Wochen vergangen waren, geschweige denn zwei Monate. Es hatte keinen Sinn, sie in Karteien festzuhalten. Sie würden alles versuchen: Ausweise austauschen, sich die Haut am Unterarm aufreißen, damit der Einstich nicht mehr zu sehen war, schwören, daß die Narben von Antibiotikaspritzen stammten. Und dann würden sie ihren Orangensaft hinunterstürzen – manche Kinder taten es vor allem deshalb, weil sie noch nie Orangensaft getrunken hatten –, ihre fünf Dollar nehmen und zum nächsten Händler hasten, der unerlaubte Antibiotika und Geheimmittel anbot. Oder sie würden das Geld einem Blutsauger aus der Nachbarschaft zustecken, damit er einen alten Invaliden mit Salbe einrieb oder Beschwörungsformeln über einem sterbenden Kind murmelte. Nun, die Arbeiter waren lebenswichtig. Das durfte er nicht vergessen. Sie dienten als riesiges Reservoir der Immunität. Sie waren allen Krankheiten ausgesetzt gewesen, die aus Armut, Unwissenheit und dem Schmutz entstanden, vor dem die Edelleute geschützt waren. Die Edelleute benötigten die Gammaglobuline der Bürger, ihre Antikörper. Die Edelleute benötigten die Seren, die in den Körpern der Bürger entstanden,
die Impfstoffe, die aus ihrem Blut gewonnen werden konnten. Ein bemerkenswerter Lehrer hatte ihn einmal mit der Bemerkung schockiert: ›Ohne Schmutz gibt es keine Sauberkeit. Ohne Krankheit gibt es keine Gesundheit.‹ Harry erinnerte sich daran, wenn er mit den Bürgern zu tun hatte. Das half. Hinter der Blutbank schwang sich die Mauer des Zentrums in weitem Bogen nach rechts. Dahinter befand sich die Stadt. Sie lag nicht im Sterben, sie war tot. Holzhäuser waren zu Haufen verfaulter Balken zusammengestürzt; Ziegelgebäude waren eingefallen; hier und dort reckte sich eine Wand empor. Aluminium- und Magnesiumwände waren durchlöchert und eingedrückt. Überall zeigte sich Verfall. Aber wie sich grüne Ableger durch die verfaulende Laubdecke eines Waldes zwängen, wurde die Stadt neugeboren. Mit gestohlenen Brettern wurde eine Hütte gebaut. Hinter Häuserruinen stand ein Bungalow aus Ziegeln. Metallwände wurden zu Reihen von Baracken. Der ewige Kreislauf, dachte Harry. Aus dem Tod Leben, aus dem Leben Zerstörung. Nur der Mensch vermochte ihm zu entkommen. Von der ursprünglichen Stadt waren nur die mit Mauern umgebenen Fabriken und die riesigen Krankenhauskomplexe verblieben. Auf den Mauern blitzten gepanzerte Wachtürme, im orangeroten Flammenlicht der sinkenden Sonne. Während Harry das alles betrachtete, begannen die Pfeifen zu schrillen – in allen Tönen und Lautstärken, als seltsamer, krasser Kontrapunkt zum Sonnenuntergang. Primitiv und
aufregend wie eine barbarische Zeremonie zur Besänftigung der Götter und zur Sicherung der Wiederkehr der Sonne. Die Tore rollten hoch und gaben Öffnungen in den Mauern der Fabriken frei. Arbeiter strömten auf die Straße hinaus: Männer und Frauen, Kinder und alte Leute, Kranke und Starke. Und doch sahen sie in gewisser Hinsicht alle gleich aus. Sie waren zerlumpt, schmutzig und krank; sie waren Stadtbewohner. Eigentlich hätten sie bedrückt erscheinen müssen, aber sie waren recht glücklich. Sie schauten zum blauen Himmel hinauf, wenn der Nebel vom Fluß noch nicht herangekommen war, und lachten ganz ohne Grund. Die Kinder jagten sich zwischen den Beinen ihrer Eltern, schreiend und kichernd. Sogar die alten Leute pflegten nachsichtig zu lächeln. Es waren die gesunden Edelleute, die ernsthaft und besorgt waren. Nun, natürlich. Die Unwissenheit kann glücklich sein; die Bürger brauchten sich über gute Gesundheit oder Unsterblichkeit keine Gedanken zu machen. Das lag jenseits ihrer Möglichkeiten. Sie konnten an einem Sommertag wie die Eintagsfliegen erscheinen, die fröhlich umherflattern und sterben. Aber die Erkenntnis mußte sich sorgen; die Unsterblichkeit hatte ihren Preis. Harry fühlte sich stets besser, wenn er daran dachte. Die großen Horden von Bürgern ohne jede Chance von Unsterblichkeit zu sehen, ließ ihn seine Vorteile mit Verlegenheit betrachten. Er war, weit von den Krankheiten und krebserregenden Stoffen der Stadt entfernt, in einer Vorortvilla der Stadt aufgewachsen. Von Kindheit an hatte er sich der ärztlichen Pflege erfreut. Er war vier Jahre in der Oberschule gewesen,
acht Jahre auf der medizinischen Hochschule und hatte jetzt fast drei Jahre praktische Ausbildung hinter sich. Das verlieh ihm auf dem Weg zur Unsterblichkeit einen Vorsprung. Es war nur in der Ordnung, daß er dafür mit Sorgen bezahlte. Woher kamen sie nur alle? Sie müssen sich in ihren Höhlen wie die Kaninchen vermehren, dachte er. Wohin gingen sie alle? Zurück in die Ruinen der Stadt – wie Ratten und Ungeziefer. Er schauerte. Sie schienen fast einer anderen Spezies anzugehören. Heute abend lachten und sangen sie jedoch nicht. Sogar die Kinder blieben stumm. Sie marschierten ernst die Straße entlang, und man hörte fast nur das Trappeln ihrer nackten Füße auf dem geborstenen Pflaster. Sogar an der Blutbank blieb es verhältnismäßig ruhig. Harry zuckte die Achseln. Manchmal benahmen sie sich so. Der Grund war meistens albern – eine Bandenauseinandersetzung, Schwierigkeiten mit der Firma, irgendein geheimnisvoller religiöser Ritus, der sich nicht ausmerzen ließ. Vielleicht hing es mit den Mondphasen zusammen. Er kehrte in die Klinik zurück, um sich vorzubereiten. Die erste Patientin war eine junge Frau, ein anziehendes Wesen, mit langem, blondem Haar und üppigem Körper, wenn man den Schmutz und ihren Geruch zu ignorieren vermochte. Er widerstand der Versuchung, sie sich ausziehen zu lassen. Nicht wegen der Konsequenzen – was bedeutete die Keuschheit eines Bürgers? Sie war etwas Mythisches wie das Einhorn. Außerdem erwarteten sie das. Den Geschichten nach, die andere Ärzte er-
zählten, schienen sie oft nur aus diesem Grund die Klinik aufzusuchen. Aber es hatte keinen Zweck, sich selbst in Versuchung zu führen. Er würde sich tagelang schmutzig vorkommen. Sie schnatterte, wie sie es alle taten. Sie haben gegen die Natur gesündigt. Sie habe nicht genug Schlaf gehabt. Sie habe ihre Vitamine nicht regelmäßig genommen. Sie habe für eine Nierenentzündung auf ungesetzlichem Wege Terramycin gekauft. Es war alles so bekannt und so langweilig. »Aha«, murmelte er immer wieder. Und dann: »Ich werde jetzt die Diagnose stellen. Haben Sie keine Angst.« Er schaltete die Diagnosemaschine ein. Ein Blutdruckmeßband kroch wie eine Schlange unter dem Sofa hervor und legte sich um ihren Arm. Ein Mundstück glitt zwischen ihre Lippen. Ein Stethoskop zählte ihren Puls. Eine Schädelkappe preßte sich auf ihren Kopf. Metallhütchen schoben sich über ihre Finger. Metallketten umspannten ihre Knöchel, ein Band wand sich um ihre Hüften. Die Maschine stach, entnahm Proben, zählte, maß, lauschte, verglich, prüfte. Nach wenigen Augenblicken war alles vorbei. Harry hatte seine Diagnose. »Verheiratet?« fragte er. »Was?« fragte sie zögernd. »Ich würde lieber keine Zeit mehr verlieren. Sie bekommen ein Kind.« Ihr Gesicht hellte sich auf. »Was! Ist das alles! Ich dachte, es ist vielleicht ein Tumor. Wird es ein Junge oder ein Mädchen, Doktor?« »Ein Junge«, sagte Harry müde. Diese Weiber!
Warum ärgerte er sich immer wieder darüber! Sie erhob sich graziös. »Danke, Doktor. Ich sage Georgie Bescheid. Er wird wütend werden, aber ich weiß schon, wie ich ihn wieder froh mache.« In den Zimmern warteten andere, die ihre Symptome miteinander besprachen. Harry sah sie sich der Reihe nach an: eine Frau mit Pleuritis, ein Mann mit Krebs, ein Kind mit rheumatischem Fieber ... aber Harry trat auf den Gang hinaus, um nachzusehen, ob das Mädchen im Vorbeigehen etwas in den Gabenkasten warf. Sie tat es nicht, statt dessen blieb sie neben dem Händler stehen, der seine Waren vor der Kliniktür anpries. »Kaufen Sie hier Ihr Aureomycin, Ihr Penicillin, Ihr Terramycin. Kostenlos eine Spritze dazu. Gute Gesundheit! Gute Gesundheit! Unternehmen Sie etwas gegen die Erkältung, bevor Sie auf der Nase liegen. Kaufen Sie Filter, antiseptische Mittel, Vitamine. Kaufen Sie Amulette und Talismane. Hier habe ich eine Radiumnadel, die schon dreizehn Menschen das Leben gerettet hat.« Das Mädchen kaufte ein Amulett und eilte davon, zu ihrem Georgie. Harry spürte, wie sich seine Kehle vor Wut zusammenzog. Immer noch marschierten die Menschenmassen stumm auf der Straße dahin. Im Untersuchungsraum kniete eine Frau am Operationstisch, nahm eine Vitaminpille und einen Pappbecher mit einem Kräftigungsmittel aus dem automatischen Spender. Hinter den Mauern heulten die Sirenen auf. Harry schaute zur Tür. Das Tor des Medizinischen Zen-
trums rollte in die Höhe. Zuerst kamen die Begleitmannschaften auf ihren Motorrädern. Die Leute auf der Straße liefen auseinander und preßten sich an die Wände. Die Motorradfahrer fuhren sorglos an ihnen entlang – gesunde junge Edelleute mit Nasenfiltern, Schutzbrillen und bis tief auf die Schenkel herabhängenden Pistolen. Das wäre auch etwas gewesen, dachte Harry neidisch, Polizist werden. Sie wirkten kühn und gewalttätig. Sie waren die Hölle auf Rädern, und wenn sie nur ein Zehntel des Erfolgs bei Frauen hatten, den man ihnen nachrühmte, gab es keine Frau – vom Bürger über die Krankenschwestern bis zu den Vornehmen aus den Vororten –, die ihnen zu widerstehen vermochte. Nun, er gönnte ihnen den Ruhm und die Frauen. Er hatte den ungefährlicheren Weg zur Unsterblichkeit gewählt. Das schafften nur wenige Polizisten. Nach den Motorrädern kam ein Ambulanzwagen, die gepanzerten Luken geschlossen; ein Schnellfeuergeschütz drehte sich ruhelos auf der Suche nach einem Ziel. Dahinter wieder Motorradfahrer. Über dem Konvoi schwebte ein Hubschrauber. Im Sonnenlicht blitzte etwas auf, wurde zu einer Reihe kleiner, runder Objekte unter dem Hubschrauber, die in weitem Bogen auf die Straße hinabfielen. Eines nach dem anderen zerbrachen sie. Wie Marionetten, die an Drähten losgelassen werden, fielen die Motorradfahrer auf die Straße, rutschten dahin, während die Motorräder langsamer wurden und auf ihren Einrädern zum Stehen kamen. Der Ambulanzwagen konnte nicht halten. Er überrollte einen der gestürzten Motorradfahrer, prallte
gegen das Motorrad, schob es beiseite. Das Schnellfeuergeschütz war vorgezuckt, um die Radarzielvorrichtung auf den Hubschrauber einzustellen, aber die Flugmaschine surrte schon über den Dächern dahin. Bevor das Geschütz zu feuern vermochte, war sie verschwunden. Harry bemerkte einen durchdringenden Geruch. Sein Kopf fühlte sich angeschwollen und leicht an. Die Straße kippte, richtete sich gerade. In der Mitte der Menge hinter dem Ambulanzwagen zuckte ein Arm hoch. Etwas Dunkles flog durch die Luft und zerbrach an der Oberseite des Fahrzeugs. Flammen fauchten darüber hinweg, tropften nach unten, rannen in Schießschlitze und Ausguckluken, wurden durch die Luftkanäle eingesogen. Einen Augenblick lang geschah gar nichts. Die Szene wirkte wie ein erstarrtes Bild. Die Ambulanz, die Motorräder, aufrecht auf der Straße. Die Fahrer und ein paar Bürger zusammengebrochen auf dem Pflaster, die Zuschauer, die emporzuckenden Flammen, aus denen oben rußiger, schwarzer Rauch wuchs. Die Seitentür der Ambulanz öffnete sich, ein Arzt taumelte heraus, umklammerte einen Gegenstand, schlug mit der anderen Hand auf die Flammen an seiner weißen Jacke. Die Bürger sahen schweigend zu, ohne zu helfen oder sonst irgendwie einzugreifen. Aus ihrer Mitte trat ein dunkelhaariger Mann. Seine Hand hob sich. Sie hielt etwas Dunkles. Die Hand zuckte gegen den Kopf des Arztes. Harry konnte über dem Dröhnen der Motorräder und der Ambulanz nichts hören. Die Pantomime wurde fortgesetzt, und er war Teil der erstaunten Zuschauerschaft, als der Arzt zu Boden fiel und der Mann sich bückte, die Flammen mit bloßer Hand löschte, den Gegenstand
aus der Hand des Arztes löste und zur Tür der Ambulanz starrte. Dort stand ein Mädchen, das Harry erst jetzt auffiel. Von dieser Entfernung aus konnte er wenig mehr sagen, als daß es dunkelhaarig und schlank war. Die Flammen auf dem Fahrzeug waren ausgebrannt. Das Mädchen stand an der Tür, ohne sich zu bewegen. Der Mann neben dem zusammengebrochenen Arzt sah es an, wollte ihm die Hand entgegenstrecken, ließ sie fallen, drehte sich um und verschwand in der Menge. Seit dem Aufheulen der Sirenen waren kaum zwei Minuten vergangen. Stumm drängten die Bürger nach vorn. Das Mädchen drehte sich um und stieg wieder in die Ambulanz. Die Bürger zogen den Motorradfahrern die Kleidung aus, nahmen ihnen die Waffen ab, holten die schwarze Arzttasche und die Medikamente aus dem Wagen, nahmen ihre zusammengebrochenen Kameraden auf und verschwanden. Es war wie ein Zauber. Einen Augenblick zuvor war die Straße noch voll von ihnen gewesen – im nächsten waren sie verschwunden. Die Straße war menschenleer. Hinter den Mauern des Medizinischen Zentrums begannen die Sirenen wieder zu heulen. Es war, als löse sich ein Bann. Harry begann die Straße hinunterzulaufen und zu schreien. Aus der Ambulanz stieg ein Junge. Er war schlank und klein – nicht älter als sieben Jahre. Er hatte blondes, ganz kurz geschnittenes Haar und dunkle Augen in einem gebräunten Gesicht. Er trug ein altes Unterhemd, das einmal weiß gewesen sein mochte, und
Blue jeans, die über den Knien abgeschnitten waren. Er griff mit einem Arm in den Wagen. Eine vergilbte Klaue kam heraus, dann ein Arm. Der Arm war hager und ausgezehrt, mit wulstigen blauen Venen. Dann erschien ein Mann mit langen, stelzenartigen Beinen. Er war sehr alt, hatte dünnes, weißseidenes Haar, und seine Kopfhaut gleich runzligem Leder. Er trug eine abgeschabte Tunika, die sich in Falten um seine Lenden legte. Der Junge führte den alten Mann langsam, weil der Mann blind war. Seine Lider lagen flach und dunkel über leeren Augenhöhlen. Der alte Mann bückte sich mühsam über den am Boden liegenden Arzt, und seine Finger untersuchten den Schädel. Dann schlurfte er zu dem Motorradfahrer, der von der Ambulanz überfahren worden war. Der Brustkasten des jungen Mannes war eingedrückt; rosaroter Schaum zeigte sich auf seinen Lippen. Er war so gut wie tot. Die Medizin konnte bei derart schweren Verletzungen nichts mehr unternehmen. Harry erreichte den alten Mann und packte ihn an der knochigen Schulter. »Was tun Sie denn da?« fragte er mißtrauisch und aufgebracht. Der alte Mann rührte sich nicht. Er hielt die Hand des Motorradfahrers eine Weile fest, dann richtete er sich langsam auf. »Ich heile«, flüsterte er. »Der Mann stirbt«, schrie Harry. »Das tun wir alle«, sagte der alte Mann. Harry starrte auf den Motorradfahrer hinunter. Atmete er leichter, oder war das Einbildung? In diesem Augenblick kamen die Männer mit den Tragbahren heran.
2. Es war nicht leicht für Harry, das Büro des Vorstands zu finden. Das Medizinische Zentrum umfaßte Hunderte von Straßenblocks und war durch eigenen Antrieb gewachsen. Niemand hatte eine solche Größe je geplant, aber hier war ein Ableger entsprossen, sobald das Verlangen nach ärztlicher Pflege und Forschung nicht mehr genügend Platz fand, dort ein Flügel und Arterien mittendurch, darunter und außenherum ... Er folgte dem schimmernden Leitstab durch die nicht gekennzeichneten Korridore und versuchte, sich die Route zu merken. Aber es war zwecklos. Er steckte den Stab in das Schloß einer gepanzerten Tür. Die Tür verschluckte den Stab und öffnete sich. Als Harry eingetreten war, klappte die Tür zu und verriegelte sich automatisch. Er befand sich in einem unmöblierten Vorraum. Auf einer im Boden verschraubten Metallbank an der Wand saßen der Junge und der alte Mann aus dem Ambulanzwagen. Der Junge hob neugierig den Kopf, dann kehrte sein Blick auf die gefalteten Hände zurück. Der alte Mann hatte sich an die Wand gelehnt. Ein Stück entfernt saß ein Mädchen. Es sah aus wie das Mädchen, das er in der Tür der Ambulanz gesehen hatte, aber es war kleiner und jünger, als er angenommen hatte. Die blauen Augen in dem blassen Gesicht leuchteten auf, verblaßten aber sogleich wieder. Er richtete den Blick auf die Figur; sie war jungenhaft und ungeformt in einem einfachen, braunen Kleid mit einem Gürtel um die Hüften. Sie kann nicht
älter als zwölf oder dreizehn Jahre sein, dachte er. Der Empfangskasten mußte die Frage zweimal stellen: »Name?« »Dr. Harry Elliott«, sagte er. »Herantreten zur Kontrolle.« Er trat an die Wand und drückte die rechte Hand an eine Platte. Ein Licht blitzte vor seinem rechten Auge auf und verglich das Netzhautmuster. »Alle Metallgegenstände in den Behälter legen«, erklärte der Kasten. Harry zögerte, dann zog er sein Stethoskop aus der Tasche, nahm seine Uhr ab, entfernte Münzen, Taschenmesser und Hypo-Spray aus den Hosentaschen. Es knackte. »Nasenfilter«, sagte der Kasten. Harry legte auch sie in den Behälter. Das Mädchen beobachtete ihn, aber als er hinübersah, schlug es die Augen nieder. Eine Tür öffnete sich. Er trat hindurch. Die Tür schloß sich hinter ihm. Das Arbeitszimmer von Vorstand Mock war ein prächtiger Raum, zehn Meter lang und sechs Meter breit, in viktorianischem Stil möbliert. Die Möbelstücke sahen alle aus, als seien sie echte Antiquitäten, vor allem das Rollpult aus Eiche und der Instrumentenschrank aus Mahagoni. Das Zimmer wirkte üppig und eindrucksvoll. Harry selbst hatte jedoch eine Vorliebe für den modernen Stil des zwanzigsten Jahrhunderts. Die klaren Linien von Chrom und Glas waren ästhetisch und angenehm anzusehen, überdies stammten sie aus der respektablen Frühzeit der medizinischen Wissenschaft – aus der Periode, als die Menschheit zum erstenmal begriff, daß Gesundheit nichts Zufälliges war, son-
dern daß sie gegen Bezahlung erworben werden konnte, wenn man bereit war, den Preis zu bezahlen. Harry hatte Mock früher schon gesehen, aber nie mit ihm gesprochen. Seine Eltern konnten das nicht begreifen. Sie glaubten, er sei die wichtigste Persönlichkeit im Medizinischen Zentrum, weil er Arzt war. Er versuchte ihnen immer wieder klarzumachen, wie groß diese Einrichtung sei, wie viele Menschen sich dort aufhielten; fünfundsiebzigtausend, hunderttausend – nur die Statistiker wußten, wie viele es genau waren. Es nützte aber nichts, sie begriffen es nicht. Harry hatte es längst aufgebeben, sie belehren zu wollen. Der Vorstand kannte Harry nicht. Er saß hinter dem Rollpult in seiner weißen Jacke und studierte Harrys Personalakte, die auf der Milchglasscheibe erschien. Das schwarze Haar des Vorstands begann sich zu lichten. Er war jetzt fast achtzig Jahre alt, aber man sah es ihm nicht an. Er stammte von gesunden Ahnen ab und hatte erstklassige ärztliche Pflege genossen. Er war für weitere zwanzig Jahre gut, schätzte Harry, ohne Langlebigkeitsspritzen. Bis dahin würde man ihm bei seiner Stellung und seinen Leistungen sicherlich eine Gnadenfrist zubilligen. Als einmal der Strom ausgefallen war, hatte einer der Ärzte in der sicheren Dunkelheit geflüstert, Mocks jugendliches Aussehen habe eine einfachere Ursache als Vererbung, aber das stimmte nicht. Harry hatte die Listen überflogen und Mocks Namen nicht gefunden. Mock hob hastig den Kopf und ertappte Harry dabei, wie er ihn anstarrte. Harry sah zur Seite, aber nicht, bevor er in Mocks Augen einen Ausdruck von – was nun gleich – Angst? Verzweiflung? – gesehen hatte.
Harry konnte das nicht begreifen. Der Angriff war tollkühn gewesen, so nahe an den Mauern des Zentrums, aber nichts eigentlich Neues. Es hatte früher schon Angriffe gegeben, und sie würden nicht aufhören. Immer, wenn es etwas Wertvolles zu holen gibt, werden gesetzlose Menschen versuchen, es zu stehlen. Jetzt war es eben die Medizin. Abrupt sagte Mock: »Dann haben Sie den Mann also gesehen? Sie würden ihn wiedererkennen, wenn Sie ihm noch einmal begegnen, oder wenn Sie ein gutes Solidogramm vorgelegt bekämen?« »Jawohl, Sir«, sagte Harry. Warum dramatisierte Mock die Angelegenheit so? Er hatte sie doch bereits mit dem Oberarzt und dem Chef der Polizei besprochen. »Kennen Sie Gouverneur Weaver?« fragte Mock. »Ein Unsterblicher!« »Nein, nein«, sagte Mock ungeduldig. »Wissen Sie, wo er wohnt?« »In der Gouverneurs-Villa. Sechzig Kilometer von hier, fast genau in westlicher Richtung.« »Ja, ja«, sagte Mock. »Sie werden ihm eine Botschaft überbringen. Die Lieferung ist gestohlen worden. Es wird eine Woche dauern, bis die nächste Lieferung bereit ist. Wie wir sie ihm zustellen sollen, weiß ich nicht. Ich weiß es nicht.« Die letzten Worte murmelte er vor sich hin. Harry versuchte hinter den Sinn zu kommen. Dem Gouverneur eine Nachricht überbringen? »Warum rufen Sie ihn nicht an?« fragte er, ohne lange nachzudenken. Aber die Frage riß Mock nur aus seiner Versunkenheit.
»Die unterirdischen Kabel sind gekappt. Es hat keinen Sinn, sie zu reparieren. Die Techniker werden niedergeschossen. Und selbst wenn man sie erneuert, werden sie beim nächstenmal wieder durchgeschnitten. Funk und Fernsehen sind gestört. Machen Sie sich fertig. Sie werden sich beeilen müssen, um vor dem Zapfenstreich das Südwest-Tor zu erreichen.« »Ein Paß genügt doch«, meinte Harry verständnislos. Verlor Mock den Verstand? »Habe ich es Ihnen nicht gesagt?« Mock fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Sie müssen sich allein auf den Weg machen, zu Fuß, als Bürger verkleidet. Einen Konvoi würde man vernichten. Wir haben es versucht. Wir stehen seit drei Wochen mit dem Gouverneur nicht mehr in Verbindung. Er wird ungeduldig sein. Man darf nicht zulassen, daß er ungeduldig wird. Das ist nicht gesund.« Zum erstenmal begriff Harry, was der Vorstand von ihm verlangte. Der Gouverneur! Er hatte es in der Hand, Harrys Suche nach der Unsterblichkeit um eine halbe Lebensspanne zu verkürzen. »Aber mein Examen –« »Der Gouverneur kann Ihnen mehr nützen als ein Dutzend Prüfungskommissionen.« Harry biß sich auf die Unterlippe und zählte an den Fingern ab: »Ich brauche Nasenfilter, eine kleine Arzttasche, eine Waffe –« Mock schüttelte den Kopf. »Nichts davon. Es würde nicht zur Verkleidung passen. Wenn Sie die Villa des Gouverneurs erreichen, dann nur, weil Sie als Bürger angesehen werden, nicht, weil Sie sich gut verteidigen oder nachher Ihre Wunden heilen können. Ein oder zwei Tage ohne Filter können Ihre Le-
benserwartung nicht ernstlich beeinträchtigen. Nun, Doktor? Werden Sie es schaffen?« »So wahr ich mir die Unsterblichkeit erhoffe!« sagte Harry ernst. »Gut, gut. Noch etwas. Sie werden die Leute mitnehmen, die Sie im Vorraum gesehen haben. Der Junge heißt Christopher; der alte Mann nennt sich Pearce. Er ist eine Art Quacksalber. Der Gouverneur hat nach ihm verlangt.« »Ein Quacksalber?« fragte Harry ungläubig. Mock hob die Schultern. Sein Gesichtsausdruck verriet, daß er den Ausruf für unverschämt hielt, aber Harry vermochte sich nicht zu beherrschen; er sagte: »Wenn wir einmal an solchen Leuten ein Exempel statuieren würden –« »Wären die Ambulatorien noch stärker überfüllt als jetzt. Sie dienen einem guten Zweck. Außerdem, was sollen wir machen? Er behauptet ja nicht, Arzt zu sein. Er nennt sich einen Heilenden. Er verteilt keine Medikamente, er operiert und berät nicht. Kranke Menschen kommen zu ihm, und er berührt sie. Berührt sie. Kann man das Praktizieren nennen?« Harry schüttelte den Kopf. »Pearce verlangt nichts. Er läßt sich nichts bezahlen. Nichts. Wenn die Kranken dankbar sind, wenn sie ihm etwas geben wollen, wer kann sie daran hindern?« Harry seufzte. »Ich muß ja einmal schlafen. Sie werden entfliehen.« »Ein schwacher alter Mann und ein Junge?« meinte Mock verächtlich. »Das Mädchen ist sehr lebendig.« »Marna?« Mock griff in eine Schublade und warf
ihm einen großen, silbernen Ring zu, der sich an einem Scharnier auseinanderklappen ließ. Harry sah ihn an. »Das ist ein Armreif. Stecken Sie ihn an.« Der Gegenstand sah wirklich nur wie ein harmloser Armreif aus. Harry schob ihn achselzuckend über das Handgelenk und ließ ihn zuschnappen. Einen Augenblick lang schien er zu groß zu sein, dann verengte er sich. An den Stellen, wo der Reif die Haut berührte, spürte er ein Prickeln. »Er ist auf den Armreif am Handgelenk des Mädchens eingestellt. Eingestellt. Wenn das Mädchen sich von Ihnen entfernt, wird ihre Haut prickeln. Je weiter sie fortgeht, desto weher tut es. Nach einer Weile wird sie zurückkommen. Ich hätte auch gerne den alten Mann und den Jungen mit einem Reif versehen, aber sie sind nur paarweise verwendbar. Paarweise. Wenn jemand versucht, den Reif mit Gewalt abzunehmen, wird das Mädchen sterben. Sterben. Es wird an das Nervensystem angeschlossen. Der Gouverneur hat den einzigen Schlüssel.« Harry starrte Mock an. »Und was ist mit meinem Reifen?« »Da gilt das gleiche. Für Sie ist es als Warnung gedacht.« Harry atmete tief ein und starrte auf sein Handgelenk hinunter. Das Silber schimmerte wie die flachen Augen einer Schlange. »Warum haben Sie nicht den Arzt damit ausgerüstet?« »Das haben wir getan. Wir mußten seinen Arm amputieren, um ihn abnehmen zu können.« Mock wandte sich seinem Schreibtisch zu und ließ
die Mikrofilmberichte wieder an der Milchglasscheibe aufleuchten. Nach wenigen Augenblicken sah er auf und schien erstaunt zu sein, daß Harry noch da war. »Was stehen Sie hier herum? Machen Sie sich auf den Weg. Sie müssen noch vor dem Zapfenstreich das Zentrum verlassen haben.« Harry drehte sich um und ging zur Tür, durch die er hereingekommen war. »Hüten Sie sich vor Leichenschändern«, rief ihm Mock nach. »Und lassen Sie sich von den Kopfjägern nicht erwischen.« Bis sie das Südwest-Tor erreichten, hatte Harry für seine kleine Begleitergruppe eine Methode des Vorankommens entwickelt, die für beide Seiten unbefriedigend war. »Beeilt euch«, wiederholte er immer wieder. »Es sind nur noch ein paar Minuten bis zum Zapfenstreich.« Das Mädchen sah ihn an und wandte den Blick ab. Pearce, der schneller voranschritt, als Harry es erwartet hatte, sagte: »Nur Geduld. Wir kommen schon rechtzeitig an.« Keiner beschleunigte seine Schritte. Harry ging voraus und ließ die anderen hinter sich. Sein Handgelenk begann zu prickeln, dann zu brennen, dann zu schmerzen. Je weiter er Marna hinter sich ließ, desto schlimmer wurden die Schmerzen. Nur der Gedanke daran, daß sie dasselbe zu leiden hatte, ließ ihn durchhalten. Nach kurzer Zeit nahm der Schmerz ein wenig ab. Ohne sich umsehen zu müssen, wußte er, daß sie aufgegeben hatte. Als er sich umdrehte, war sie sechs Meter hinter ihm; sie schien bereit zu sein, ein gewisses Maß an Schmerzen hinzunehmen.
Dann mußte er stehenbleiben und auf den alten Mann warten. Einmal ging sie an ihm vorbei, aber nach einer Weile konnte sie die Schmerzen nicht mehr aushalten und kam zurück. Von da an blieb sie stehen, sobald er es tat. Es war ein kleiner Triumph für Harry, wenn er an den tödlichen Reif an dem Handgelenk dachte, an die merkwürdige Situation, daß das Medizinische Zentrum seit drei Wochen keine Verbindung zu der Gouverneurs-Villa hatte, daß ein Konvoi sein Ziel nicht zu erreichen vermochte, daß eine Botschaft durch einen wandernden Boten überbracht werden mußte. Unter anderen Umständen hätte Harry Marna mit Genuß betrachtet. Sie war schlank und graziös, hatte eine wunderbar helle Haut, regelmäßig geformte Züge, und der Kontrast zwischen ihrem dunklen Haar und ihren blauen Augen war auffallend. Aber sie war jung und trotzig und durch einen hassenswerten Umstand an ihn gebunden. Sie waren zu früh aneinander gekettet worden, und überdies war sie ja noch ein Kind. Sie erreichten das Tor eine Minute vor dem Zapfenstreich. Zu beiden Seiten erstreckte sich der Doppelzaun in die Ferne. Es gab ja auch kein Ende, denn er umgab die ganze Stadt. Nachts wurde Strom hindurchgeleitet, und auf den Mann dressierte Hunde liefen zwischen den Zäunen hin und her. Irgendwie gelang es immer wieder Bürgern, zu entkommen. Sie bildeten Banden, die hilflose Reisende überfielen. Das war eine der Gefahren, mit denen sie zu rechnen hatten.
Der Wachhabende am Tor war ein dunkelhäutiger Edelmann in mittlerem Alter. Mit sechzig Jahren hatte er jede Hoffnung aufgegeben, noch der Unsterblichkeit für würdig befunden zu werden; er gedachte sich das Leben so schön wie möglich zu machen. Dazu gehörte auch, daß er diejenigen schikanierte, die unter ihm standen. Er besah sich den blauen, nur für Tageslicht gültigen Paß, dann blickte er Harry an. »Topeka? Zu Fuß.« Er lachte. Sein großer Bauch erzitterte, bis er husten mußte. »Wenn die Leichenschänder euch nicht erwischen, dann die Kopfjäger. Pro Kopf werden jetzt zwanzig Dollar bezahlt. Nur für Köpfe von Verbrechern, versteht sich, aber Köpfe reden nicht. Nicht, wenn sie mit dem Körper nicht mehr verbunden sind. Das habt ihr natürlich vor – euch an eine Bande anzuschließen.« Er spuckte auf den Gehsteig. Harry wich angeekelt zurück. »Lassen Sie uns durch?« fragte Harry. »Euch durchlassen?« Der Wachhabende schaute auf die Uhr. »Das geht nicht. Zapfenstreich ist schon vorbei. Seht ihr?« Harry beugte sich automatisch vor, um selbst hinzusehen. »Aber wir sind doch noch vor dem Zapfenstreich –«, begann er. Die Faust des anderen traf ihn über dem linken Ohr und warf ihn zurück. »'rein mit euch und hiergeblieben, ihr dreckigen Bürger«, schrie der Wachhabende. Harrys Hand zuckte zur Tasche, wo er den HypoSpray verwahrte, aber der war verschwunden. Worte, die diesen Mann aus seiner Stellung in die Verges-
senheit blasen würden, drängten sich auf Harrys Lippen, aber er wagte nicht, sie auszusprechen. Er war nicht mehr Doktor Elliott, nicht, bis er die Gouverneursvilla erreichte, er war Harry Elliott, Bürger, leichte Beute für die Faust jedes Mannes, und er durfte sich glücklich schätzen, wenn es nur eine Faust war. »Wenn du als Sicherheit das Mädchen hierlassen würdest«, begann der Wachhabende und hustete. Marna wich zurück. Ungewollt berührte sie Harry, und Harry spürte etwas Eigenartiges. Sein Körper zuckte vor der Berührung zurück wie vor einem kochend heißen Sterilisator. Marna erstarrte. Harry sah Pearce auf den Wachhabenden zuschlurfen, geleitet von seiner Stimme. Pearce streckte tastend die Hand aus, berührte seinen Arm und tastete sich von dort bis zur Hand. Harry ballte die Fäuste und wartete darauf, daß der Wachhabende den alten Mann niederschlug. Aber er zollte ihm instinktiv den Respekt, den das hohe Alter fordern kann und sah ihn neugierig an. »Schwache Lunge«, flüsterte Pearce. »Vorsichtig sein. Eine Lungenentzündung kann tödlich sein, bevor die Antibiotika wirken. Und im linken unteren Lappen eine Andeutung von Krebs –« »Ach was!« Der Wachhabende machte sich los, aber seine Stimme klang verängstigt. »Röntgen lassen«, flüsterte Pearce. »Nicht warten.« »Mit – mit mir ist alles in Ordnung«, stammelte der Wachhabende. »Sie – sie wollen mir nur Angst machen.« Er hustete. »Keine Überanstrengung. Hinsetzen. Ausruhen.« »Aber – ich – –« Er begann krampfhaft zu husten
und wies mit dem Daumen zum Tor. »Los«, sagte er erstickt. »Zieht hinaus und geht zugrunde.« Der Junge namens Christopher nahm die Hand des alten Mannes und führte ihn durch das offene Tor. Harry ergriff Marnas Oberarm – wieder der Kontakt – und schob sie hinaus, ohne den Blick von dem Wachhabenden zu lassen. Aber er schien sie bereits vergessen zu haben und besorgt in sich hineinzuhorchen. Hinter ihnen rasselte das Tor herunter, und Harry ließ Marnas Arm los, als koste es ihn Überwindung, ihn festzuhalten. Nach fünfzig Metern, auf der rechten Spur der nicht benützten sechsspurigen Autostraße, sagte Harry: »Ich sollte mich wohl bedanken.« »Das wäre höflich«, flüsterte Pearce. Harry rieb sich den Kopf, wo ihn die Faust des Wachhabenden getroffen hatte. »Wie kann ich zu einem Scharlatan höflich sein?« »Höflichkeit kostet nichts.« »Trotzdem – den Mann über seinen Zustand zu belügen, zu behaupten – Krebs –« Harry brachte das Wort kaum über die Lippen. Es war die einzige Krankheit, für die die medizinische Wissenschaft kein endgültiges Gegenmittel gefunden hatte. »Habe ich gelogen?« Harry starrte den alten Mann scharf an, dann hob er die Schultern. Er wandte sich Marna zu. »Wir sitzen alle in einem Boot und sollten es uns so schmerzlos wie möglich machen. Wenn wir uns bemühen, miteinander auszukommen, kommen wir vielleicht alle lebend durch.«
»Miteinander auskommen?« sagte Marna. Harry hörte sie zum erstenmal sprechen; ihre Stimme klang melodiös und tief, sogar im Zorn. »Damit?« Sie hob den Arm. Der silberne Reif schimmerte unter den letzten rötlichen Strahlen der Sonne. Harry hob die Hand und sagte rauh: »Glauben Sie, daß es für mich besser ist?« »Wir werden uns Mühe geben, Christopher und ich«, flüsterte Pearce. »Ich, Dr. Elliott, weil ich zu alt bin, um etwas anderes tun zu können, und Christopher, weil er jung ist und Disziplin jungen Menschen nur nützen kann.« Christopher grinste. »Opa war Arzt, bevor er gelernt hat, wie man heilt.« »Stolz stumpft die Sinne ab und verdirbt das Urteilsvermögen«, sagte Pearce leise. Harry enthielt sich mit Mühe eines Kommentars. Jetzt war nicht die Zeit, sich über Medizin und Quacksalberei auf Diskussionen einzulassen. Die Straße lag verlassen da. Die einstmals großartige Betondecke war rissig und aufgebrochen. Überall wuchs Gras in dicken Büscheln. Das Gras ragte jungen Bäumen gleich an beiden Straßenrändern empor, hier und dort von Sonnenblumen durchsetzt, die friedlich vor sich hinnickten. Dahinter lagen die Ruinen dessen, was man einst die Vororte genannt hatte. Der Unterschied zwischen ihnen und der Stadt war nur eine Linie auf der Karte gewesen; damals hatte es noch keine Zäune gegeben. Als sie errichtet worden waren, gingen die Häuser bald zugrunde. Die eigentlichen Vororte lagen weit draußen. Zu-
erst war die Autofahrzeit für die Stadt wichtig gewesen, dann die Hubschrauberflugzeit. Die Entfernung verlor an Bedeutung. Schließlich war die Zeit für die Stadt abgelaufen. Sie war so offensichtlich ein Meer aus Karzinogenen und Krankheiten geworden, daß man die Verbindung zu den Vororten abgeschnitten hatte. Lieferungen von Nahrung und Rohstoffen kamen an, und Lieferungen von Fertigprodukten kamen heraus, aber niemand ging mehr hinein – wenn er nicht zu den Medizinischen Zentren wollte. Sie lagen in den Städten, weil dort die Rohstoffe dafür zu finden waren: das Blut, die Organe, die Krankheiten, die Leiber für die Experimente. 3. Harry ging neben Marna, vor Christopher und Pearce, aber das Mädchen sah ihn nicht an. Sie schritt dahin, als sei sie allein. Nach einer Weile sagte Harry: »Hören Sie, ich kann nichts dafür. Ich habe das nicht gewollt. Können wir nicht Freunde sein?« »Nein!« Er preßte die Lippen zusammen und ließ sie vorausgehen, obwohl sein Handgelenk zu schmerzen begann. Was machte es ihm aus, ob ihn eine Dreizehnjährige mochte oder nicht? Der westliche Himmel verblaßte von Scharlachrot zu Lavendel und Purpurrot. Weder in den Ruinen noch auf der Straße regte sich etwas. Sie waren allein in einem Ozean des Verfalls. Sie hätten die letzten Menschen auf einer zerstörten Erde sein können.
Harry fröstelte. Bald würde es schwerfallen, auf der Straße zu bleiben. »Beeilen Sie sich«, sagte er zu Pearce, »wenn Sie die Nacht nicht hier mit den Leichenschändern und Kopfjägern verbringen wollen.« »Es gibt schlimmere Gesellschafter«, flüsterte Pearce. Als sie das Motel erreichten, war eine mondlose Nacht über sie hereingebrochen, und die alten Vororte lagen hinter ihnen. Alles war im Dunkeln, nur ein großes Neonleuchtzeichen verkündete ›Motel‹, ein kleines ›Zimmer frei‹, und an dem Tor eine Matte mit der Aufschrift ›Willkommen‹. Auf einer Milchglasscheibe standen die Worte: ›Knopf drücken.‹ Harry wollte das gerade tun, als Christopher drängend sagte: »Dr. Elliott, schauen Sie!« Er deutete mit einem Holzstock, den er vor einer Weile gefunden hatte, auf den Zaun. »Was ist denn?« fauchte Harry. Er war müde, nervös und verdreckt. Er starrte in die Dunkelheit. »Ein totes Kaninchen.« »Christopher meint, daß der Zaun unter Strom steht«, sagte Marna, »und die Matte unter Ihren Füßen ist aus Metall. Ich glaube nicht, daß wir hineingehen sollten.« »Unsinn!« sagte Harry scharf. »Wollt ihr lieber hier bleiben und euch dem ausliefern, was sich nächtens herumtreibt? Ich bin schon öfter in Motels gewesen. Wir haben nichts zu fürchten.« Christopher hielt ihm den Stock hin. »Vielleicht drücken Sie den Knopf besser mit dem da.« Harry runzelte die Stirn, nahm den Stock und trat von der Matte. »Meinetwegen«, sagte er mürrisch.
Beim zweiten Versuch traf er den Knopf. Die Milchglasscheibe verwandelte sich in ein Kameraauge. »Wer läutet?« »Vier Reisende auf dem Weg nach Topeka«, sagte Harry. Er hielt den Paß vor die Scheibe. »Wir können bezahlen.« »Willkommen«, sagte der Lautsprecher. »Kabinen dreizehn und vierzehn öffnen sich, sobald Sie die entsprechende Summe einwerfen. Wann wollen Sie geweckt werden?« Harry sah seine Begleiter an. »Bei Sonnenaufgang«, sagte er. »Gute Nacht«, sagte der Lautsprecher. »Schlafen Sie gut.« Das Tor rollte hoch. Christopher führte Pearce um die Metallmatte herum und den Weg hinauf, Marna folgte ihnen. Gereizt sprang Harry über die Matte und holte sie ein. Eine Reihe schmaler Glasziegel am Rand des Weges leuchtete auf, um ihnen zu zeigen, wohin sie sich wenden mußten. Sie kamen an einer Panzerfalle und mehreren Maschinengewehrstellungen vorbei, aber alles war verlassen. Als sie die Kabine mit der Nummer 13 erreichten, sagte Harry: »Die andere brauchen wir nicht; wir bleiben zusammen.« Er steckte drei ZwanzigdollarUranstücke in den Münzenschlitz. »Danke«, sagte die Tür. »Treten Sie ein.« Als sich die Tür öffnete, rannte Christopher hinein. Der kleine Raum enthielt ein Doppelbett, einen Stuhl, einen Tisch und eine Stehlampe. In der Ecke befand sich ein abgeteiltes Badezimmer mit einer Dusche, einem Waschbecken und einer Toilette. Der Junge ging sofort zum Tisch, hob eine Plastikspeisekarte auf und
kehrte zur Tür zurück. Er half Pearce in das Zimmer und wartete an der Tür, bis Harry und Marna eingetreten waren. Er brach die Speisekarte auseinander. Als die Tür zuklappte, steckte er ein Bruchstück zwischen die Tür und den Rahmen. Als er zu Pearce zurückkehrte, stolperte er gegen die Lampe und warf sie um. Sie zerbrach, und das Licht erlosch. Nur die trübe Beleuchtung vom Badezimmer blieb. »Ungeschickter Trottel!« sagte Harry. Marna stand am Tisch und schrieb. Sie drehte sich um und gab Harry den Papierfetzen. ›Christopher hat das Kameraauge zerstört, aber wir werden immer noch belauscht. Wir können das Abhörgerät nicht auch noch zerschlagen, ohne Argwohn zu erregen. Kann ich draußen mit Ihnen sprechen?‹ »Das ist doch das Albernste –«, begann Harry. »Das scheint zu genügen«, flüsterte Pearce. »Ihr beiden könnt in der Kabine vierzehn schlafen.« Sein blindes Gesicht war Harry zugewandt. Harry seufzte. Was schadete es, wenn er ihren Launen nachgab? Er öffnete die Tür und trat mit Marna in die Nacht hinaus. Sie kam heran, legte die Arme um seinen Hals und ihre Wange an sein Gesicht. Ohne Absicht legte er die Arme um ihre Hüften. Ihre Lippen bewegten sich an seinem Ohr; einen Augenblick später begriff er, daß sie auf ihn einsprach. »Ich mag Sie nicht, Dr. Elliott, aber ich will nicht, daß wir alle umkommen. Können Sie sich noch eine Kabine leisten?«
»Selbstverständlich, aber – ich lasse die beiden nicht allein.« »Es wäre idiotisch von uns, wenn wir nicht beisammen bleiben würden. Bitte. Keine Fragen stellen. Wenn wir die Kabine betreten, ziehen Sie bitte die Jacke aus und werfen sie über die Lampe. Das übrige mache ich.« Harry ließ sich zur nächsten Kabine führen und warf Geld in den Schlitz. Die Tür begrüßte sie und ließ sie eintreten. Das Zimmer glich in jeder Beziehung jenem, das sie eben verlassen hatten. Marna schob ein Stück Kunststoff zwischen Tür und Rahmen, als die Tür sich schloß. Sie sah Harry erwartungsvoll an. Er hob die Schultern, zog seine Jacke aus und warf sie über die Lampe. Das Zimmer bekam einen schattenhaften, unheimlichen Anstrich. Marna kniete nieder, rollte den Teppich zusammen und zog die Dekken vom Bett. Sie ging zum Wandtelefon, zerrte daran, und die ganze flache Bildscheibe klappte an einem Scharnier heraus. Sie griff hinein, packte etwas und zog es heraus. Auf einer Spule schienen Hunderte von Kupferdrahtwindungen aufgerollt zu sein. Marna hastete zum Duschraum und spulte den Draht ab, dann befestigte sie ein Ende am Heißwasserhahn. Sie zog den Draht durch das Zimmer wie ein Spinnennetz, riß ihn ab und befestigte das andere Ende am Ablaufrohr der Duschzelle. Das zweite Stück Draht spannte sie neben der ersten Leitung. Jeder Berührung mit den Drähten ausweichend, griff sie in die Duschzelle und drehte den Heißwasserhahn auf. Es gurgelte, aber kein Wasser kam. Sie ging auf Zehenspitzen zum Teppich und warf ihn
aufs Bett. »Gute Nacht«, sagte sie, wies Harry zur Tür und bedeutete ihm durch eine Geste, auf die Drähte achtzuhaben. Als Harry die Tür ohne Mißgeschick erreicht hatte, schaltete Marna die Lampe aus und nahm die Jacke herunter. Sie ließ die Tür hinter sich zuklappen und seufzte erleichtert. »Fein gemacht!« zischte Harry. »Ich kann mich nicht duschen und muß auf dem Boden schlafen.« »Auf eine Dusche müssen Sie sowieso verzichten. Es wäre die letzte. Sie stehen alle unter Strom. Sie können das Bett haben, wenn Sie wollen, obwohl ich Ihnen raten möchte, wie wir alle auf dem Boden zu schlafen.« Harry konnte nicht schlafen. Zuerst war es das Zimmer gewesen, schattenhaft und stumm, dann das rauhe Atmen des alten Mannes, die sanften Atemzüge Christophers und Marnas. Als Arzt war er es nicht gewöhnt, mit anderen Personen in einem Raum zu schlafen. Dann prickelte sein Arm – nicht stark, aber doch so, daß er nicht zu schlafen vermochte. Er war aus dem Bett gestiegen und zu Marna hinübergekrochen. Auch sie war wach gewesen. Lautlos hatte er sie gedrängt, das Bett mit ihm zu teilen und ihr durch Gesten bedeutet, daß er sie nicht anrühren würde. Er hatte kein Verlangen danach, und falls es doch auftauchen sollte, schwor er bei Hippokrates, sich zu beherrschen. Er wollte nur das Prickeln unter dem Reif lindern, damit er schlafen konnte. Sie deutete neben sich auf den Boden, aber er schüttelte den Kopf. Schließlich gab sie so weit nach, daß sie sich neben dem Bett am Boden ausstreckte.
Harry legte sich auf den Bauch, ließ den Arm an der Seite herunterhängen, bis das Prickeln aufhörte, dann schlief er ein. Er wurde von Träumen geplagt, in denen er Operationen vornahm, zum Beispiel eine lange und schwierige Lungenresektion. Die Steuerorgane der Mikrochirurgiemaschine entglitten seinen schwitzenden Fingern. Die Patientin richtete sich auf dem Operationstisch auf. Es war Marna. Sie begann ihn durch lange Krankenhauskorridore zu verfolgen. Die Lampen über seinem Kopf waren in immer größer werdenden Abständen angebracht, bis Harry in völliger Dunkelheit durch warmes, klebriges Blut hastete, das höher und höher stieg und endlich über seinem Kopf zusammenschlug. Harry erwachte nach Luft ringend, gegen das ankämpfend, das ihn völlig einhüllte. In der Nähe hörte er ein Scharren. Irgend etwas zischte und knisterte. Jemand fluchte. Harry wehrte sich vergebens. Etwas riß auseinander. Noch einmal. Harry erhaschte eine Spur von Dämmerung, quälte sich ihr entgegen und kam endlich durch einen langen Schlitz in der straffgespannten Decke heraus, die auf allen vier Seiten über das Bett gezogen worden war. »Schnell«, sagte Christopher und klappte sein Taschenmesser zusammen. Er eilte zur Tür, wo Pearce bereits geduldig wartete. Marna hob ein metallenes Tischbein auf, das sie abgeschraubt hatten. Christopher zog den Stuhl unter der Türklinke hervor und öffnete lautlos. Er führte Pearce hinaus, Marna folgte. Harry ging ihr wie von einem Traum befangen nach.
In Kabine vierzehn schrie jemand auf. Ein bläulicher Blitz zuckte hoch. Ein Körper stürzte zu Boden. Marna lief voraus zum Tor. Sie stellte das Tischbein mit der Spitze auf den Boden und ließ es gegen den Zaun fallen. Der Zaun spuckte blaue Flammen, die knisternd am Tischbein entlangliefen. Das Bein glühte rötlich auf und knickte ein. Dann erloschen alle Lichter, auch das Leuchtzeichen über ihnen und die Lampe am Tor. »Helft mir!« keuchte Marna. Sie versuchte, das Tor hochzustemmen. Harry griff zu und hob das Tor an. Es bewegte sich einen halben Meter, dann klemmte es. Oben zwischen den Kabinen schrie jemand heiser. Harry nahm seine ganze Kraft zusammen. Das Tor rollte hoch. Er hielt es fest, während Marna hinausschlüpfte, dann Pearce und der Junge. Harry zwängte sich langsam hindurch und ließ das Tor herunterrasseln. Einen Augenblick später wurde der Strom wieder eingeschaltet. Das Tischbein schmolz und fiel durch den Zaun. Harry schaute sich um. Ein motorisierter Rollstuhl kam auf sie zu. Er enthielt etwas Klumpiges, Monströses, ein alptraumhaftes Ungeheuer, bis Harry erkannte, was es war: ein vierfach Amputierter, der noch dazu an einer schweren Herzkrankheit litt. Eine Herz-Lungen-Maschine war an der Lehne des Rollstuhls befestigt, gleich einem zweiten Schädel. Dahinter hüpfte eine knochige, vogelscheuchenartige Gestalt mit langem Haar. Sie trug ein Kleid, als handle es sich um eine Frau ... Harry sah fasziniert zu, als der Rollstuhl neben einem der Maschinengewehre hielt. Drähte glitten aus den Armlehnen gleich Schlangen, bohrten sich in Be-
dienungsorgane. Das Maschinengewehr begann zu rattern. An Harrys Ärmel fetzte etwas vorbei. Der Bann war gebrochen. Er drehte sich um und stürmte in die Dunkelheit. Eine halbe Stunde später hatte er sich verirrt. Marna, Pearce und der Junge waren verschwunden. Alles, was ihm blieb, waren ein erschöpfter Körper, ein Brennen im Arm und ein Handgelenk, das ihm höllische Schmerzen verursachte. Er betastete den Oberarm. Der Ärmel war feucht. Er führte die Finger an die Nase. Blut. Die Kugel hatte ihn gestreift. Er saß erschöpft am Rand der Straße in der Dunkelheit. Er sah auf das Leuchtzifferblatt seiner Uhr. Drei Uhr zwanzig. Noch zwei Stunden bis zum Sonnenaufgang. Er seufzte und versuchte, den Schmerz in seinem Handgelenk zu lindern, indem er die Haut rings um den Reif massierte. Das schien zu helfen. Ein paar Minuten später spürte er nur noch ein Prikkeln. »Dr. Elliott«, sagte jemand leise. Er drehte sich um. Erleichterung und fast so etwas wie Freude durchflutete ihn. Als schwache Silhouetten gegen das trübe Sternenlicht konturiert, standen Christopher, Marna und Pearce. »Na«, sagte Harry brummig. »Ich bin froh, daß ihr nicht versucht habt, zu entfliehen.« »Das würden wir nicht tun«, meinte Christopher. »Wie habt ihr mich gefunden?« fragte Harry. Marna hob stumm den Arm. Der Reif. Natürlich. Er hatte ihnen zuviel zugetraut, dachte Harry mürrisch. Marna war nur gekommen, weil sie nicht anders konnte, und Christo-
pher, weil er hier draußen allein mit einem uralten Mann war, um den er sich kümmern mußte; er brauchte Hilfe. Allerdings zwang ihn die Ehrlichkeit zu dem Eingeständnis, daß er es gewesen war, nicht Christopher oder Pearce, der vorhin Hilfe brauchen konnte. Wenn sie sich auf ihn verlassen hätten, wären sie bereits alle tot oder ihre Körper wären auf dem Weg zu einer Organbank. »Christopher muß bei einem flüchtigen Schuldner in die Lehre gegangen sein«, sagte Harry zu Pearce. Pearce nahm die Bemerkung für das, was sie war, ein Kompliment und eine Entschuldigung. »Man lernt in der Stadt sehr früh, sich vorzusehen«, flüsterte er. »Sie sind verletzt.« Harry zuckte zusammen. Woher wußte der alte Mann das? In der Dunkelheit konnte man nur Silhouetten erkennen. Harry faßte sich. Vielleicht war es ein Instinkt. Er hatte gehört, daß manche Diagnostiker einen sechsten Sinn erwarben, nach jahrelanger Tätigkeit. Sie konnten die Krankheit erspüren, bevor sich der Patient auf das Sofa legte. Die Geräte lieferten ihnen nur die Bestätigung. Oder vielleicht war es noch einfacher. Vielleicht roch der alte Mann das Blut, weil sich sein Geruchssinn als Ausgleich für die Blindheit verfeinert hatte. Die Finger des Alten berührten seinen Arm mit erstaunlicher Sanftheit. Harry machte sich los. »Es ist nur ein Kratzer.« Pearces Finger griffen wieder nach seinem Arm. »Er blutet. Sucht trockenes Gras.« Marna war ganz nah. Sie hatte eine überraschte Bewegung gemacht, als Pearce die Wunde entdeckte.
Harry vermochte darin kein Mitgefühl zu sehen; ihr Haß war allzu offensichtlich. Vielleicht fragte sie sich, was sie tun sollte, wenn er ums Leben kam. Pearce riß den Ärmel ab. »Hier ist das Gras, Opa«, sagte Christopher. Wie konnte der Junge im Dunkeln trockenes Gras finden? »Das tut ihr mir nicht auf die Wunde!« sagte Harry schnell. »Es stillt die Blutung«, flüsterte Pearce. »Aber die Bakterien –« »Bakterien tun Ihnen nichts – wenn Sie nicht wollen.« Er legte das Gras auf die Wunde und band es mit dem Ärmel fest. »Es wird bald besser werden.« Harry nahm sich vor, den Verband abzunehmen, sobald sie sich wieder auf den Weg gemacht hatten. Irgendwie schien es aber einfacher zu sein, die Finger davon zu lassen. Später vergaß er die Wunde. Als sie weitergingen, fand sich Harry neben Marna. »Sie haben wohl auch Ihre Ausbildung damit begonnen, daß Sie in der Stadt vor den Gesundheitsinspektoren davonliefen?« meinte er trocken. Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Seit ich mich erinnern kann, habe ich versucht zu entfliehen. Einmal gelang es mir.« Ihre Stimme klang glücklich. »Ich war vierundzwanzig Stunden lang frei, dann haben sie mich gefunden.« »Aber ich dachte –«, begann Harry. »Wer sind Sie eigentlich?« »Ich? Die Tochter des Gouverneurs.« Harry zuckte zusammen. Nicht so sehr die Tatsache beeindruckte ihn, als vielmehr die Bitterkeit, die aus ihrer Stimme herauszuhören war.
4. Bei Sonnenaufgang hatten sie das letzte zerfallene Motel hinter sich. Zu beiden Seiten der Autostraße zeigten sich sanft ansteigende grasbewachsene Hügel, bewaldete Täler, und neben ihnen schlängelte sich der schmutziggraue Fluß dahin, manchmal so nah, daß sie einen Stein hätten hineinwerfen können. Es war warm. Am blauen Himmel standen nur wenige weiße Wölkchen. Ab und zu hoppelte ein Hase vor ihnen über die Straße und verschwand auf der anderen Seite im Unterholz. Einmal sahen sie ein Reh den Kopf heben und sie vom Fluß her neugierig beäugen. Harry sah hungrig hinüber. »Dr. Elliott«, sagte Christopher. Harry sah ihn an. Der Junge hatte einen Klumpen aus festem, braunen Zucker in der Hand. Er zeigte Spuren von Schmutz, aber im Augenblick konnte sich Harry nichts Begehrenswerteres vorstellen. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, und er schluckte. »Gib es Pearce und dem Mädchen. Sie brauchen ihre Kraft. Du auch.« »Nehmen Sie nur«, sagte Christopher. »Ich hab' noch mehr.« Er zeigte ihm drei andere Stücke. Je eines gab er Marna und Pearce. Der alte Mann biß mit seinen Stummeln hinein, die von seinen Zähnen verblieben waren. Harry zupfte die gröbsten Schmutzteilchen weg, dann konnte er seinen Hunger nicht mehr bezähmen. Selten hatte er ein Frühstück so genossen. Sie wanderten weiter, nicht schnell, aber stetig.
Pearce klagte nie. Er zwang seine gekrümmten alten Beine dazu, weiterzustolpern, und Harry gab es auf, ihn anzutreiben. Sie kamen an einer Hydroponikfarm vorbei, an die eine automatische Konservenfabrik angebaut war. Niemand zeigte sich in der Nähe der beiden Gebäude. Nur die Förderbänder liefen, und die Tanks wurden zur Fabrik getragen. »Wir sollten uns etwas zu essen holen«, sagte Harry. Das war zwar Diebstahl, aber für einen guten Zweck. Er konnte sich vom Gouverneur freisprechen lassen. »Zu gefährlich«, sagte Christopher. »Alle Eingänge sind mit Prüfstrahlern und automatischen Waffen ausgerüstet«, erklärte Marna. »Christopher wird uns ein gutes Abendessen besorgen«, flüsterte Pearce. In der Ferne sahen sie auf einem Hügel eine Villa, aber auch dort bewegte sich nichts. Sie stapften weiter auf der grasüberwachsenen Straße nach Lawrence. Plötzlich sagte Christopher: »Hinlegen! In den Graben neben der Straße!« Diesmal reagierte Harry sofort, ohne Fragen zu stellen. Er half Pearce die Böschung hinunter – der alte Mann war federleicht – und warf sich neben Marna in den Graben. Eine Minute später hörten sie Motoren vorbeirasen. Nachdem sie vorbei waren, riskierte Harry einen Blick über die Böschung. Eine Gruppe von Motorrädern schrumpfte in der Ferne immer mehr zusammen. »Was war das?« fragte Harry erschrocken. »Ein Wolfsrudel!« sagte Marna haßerfüllt. »Aber sie sahen aus wie Polizisten«, meinte Harry.
»Wenn sie erwachsen sind, werden sie Polizisten sein«, gab Marna zurück. »Ich dachte, die Wolfsrudel bestünden aus entflohenen Bürgern«, sagte Harry. Marna starrte ihn verächtlich an. »Hat man Ihnen das erzählt?« »Ein Bürger kann sich glücklich schätzen, wenn er am Leben bleibt«, flüsterte Pearce. »Eine ganze Gruppe würde keine Woche überdauern.« Sie stiegen wieder auf die Straße und setzten ihren Weg fort. Christopher schien nervös zu sein. Er blickte sich immer wieder um. Bald wurde Harry von seiner Nervosität angesteckt. »Hinlegen!« schrie Christopher. Irgend etwas pfiff durch die Luft, und Harry spürte einen harten Schlag im Rücken, als er sich auf das Pflaster warf. Marna schrie. Harry rollte sich zur Seite und fragte sich, ob sein Rückgrat gebrochen sei. Christopher und Pearce lagen dicht neben ihm auf der Straße, aber Marna war verschwunden. Über ihnen fauchte ein Düsenmotor. Dann ein zweiter. Pearce sah nach oben. Ein motorgetriebener Segler stieg in den Himmel hinauf. Marna hing darunter, wehrte sich mit aller Macht. Von einem zweiten Segler hingen leere Klauen – gepolsterte Haken, die sich um Marna geschlossen hatten und beinahe auch Harry gefaßt hätten. Harry kniete auf dem Boden und packte sein Handgelenk. Es begann so zu schmerzen, daß er sich kaum bei Bewußtsein zu halten vermochte. Das einzige, was ihn davor bewahrte, sich in grenzenloser Qual auf der Straße zu winden, war der unbändige
Zorn, der jede Schwäche aus ihm vertrieb. Er drohte den Seglern, die mit rauchenden Motoren davonbrausten, mit der Faust. »Dr. Elliott!« rief Christopher. Harry schaute sich um. Der Junge lag im Graben, neben ihm der alte Mann. »Sie kommen zurück! Legen Sie sich hin!« sagte Christopher. »Aber sie haben Marna entführt!« schrie Harry. »Es ist nichts gewonnen, wenn Sie ums Leben kommen.« Ein Segler stürzte sich nach unten, wie ein Habicht auf eine Maus. Der andere, unter dem Marna hing, kreiste über ihnen. Harry rollte sich in den Graben. Eine Maschinengewehrsalve riß den Boden auf, wo er zuvor gelegen hatte. »Ich dachte, sie wollen uns entführen«, keuchte er. »Sie jagen auf Köpfe«, sagte Christopher. »Wenn es nur aufregend ist für sie«, flüsterte Pearce. »Ich habe so etwas nie getan«, stöhnte Harry. »Ich habe auch nie jemand gekannt, der so etwas tut.« »Sie waren beschäftigt«, meinte Pearce. Das stimmte. Seit seinem vierten Lebensjahr war er unaufhörlich in der Schule gewesen und nur ab und zu auf einen Tag nach Hause gekommen. Er kannte seine Eltern kaum mehr. Was wußte er schon vom Zeitvertreib junger Edelleute? Aber diese – diese Sache mit den Wolfsrudeln! Diese Degeneration erfüllte ihn mit Entsetzen. Der erste Segler war zu einem kleinen Kreuz am Himmel geworden; Marna ein Pünktchen darunter. Die Maschine hörte auf zu steigen und segelte in Richtung Lawrence. Der zweite Segler folgte.
Harry behämmerte mit Fäusten den Boden. »Warum habe ich mich gewehrt? Ich hätte mich auch fangen lassen sollen. Marna wird sterben.« »Sie ist stark«, flüsterte Pearce, »stärker als Sie oder Christopher, stärker als fast jeder. Aber manchmal ist Stärke etwas sehr Grausames. Folgen Sie ihr, holen Sie sie heraus.« Harry starrte den Reif an, von dem die Schmerzen über seinen Arm durch den ganzen Körper zuckten. Ja, er konnte ihr folgen. Solange er sich bewegen konnte, vermochte er sie zu finden. Aber die Füße waren so langsam im Vergleich zu Seglerschwingen. »Die Motorräder werden zurückkommen«, sagte Christopher. »Die Segler werden sie über Funk verständigt haben.« »Aber wie kommen wir an ein Motorrad?« fragte Harry. Infolge der Schmerzen konnte er nicht klar denken. Christopher hatte sein Hemd aus dem Hosenbund gezogen. Um seine schmalen Hüften war eine lange Nylonschnur gewickelt. »Manchmal angeln wir«, sagte er. Er spannte die Schnur quer über die Straße, verborgen in einem grasbewachsenen Spalt; dann bedeutete er Harry, sich auf der anderen Seite flach auf den Boden zu legen. »Wir müssen alle vorbeilassen, alle bis auf den letzten«, sagte er. »Hoffentlich hängt er weit genug zurück, damit die anderen es nicht merken, wenn wir aufstehen. Wickeln Sie sich die Schnur um die Hüften. Sie muß nachher so hoch über dem Boden sein, daß sie ihn an der Brust erwischt.« Harry legte sich neben der Straße auf den Boden. Sein linker Arm fühlte sich an wie ein aufgeblähter Ballon, und der Ballon war angefüllt mit Schmerzen.
Er warf einen Blick darauf, aber er hatte immer noch dieselbe Größe. Nach einer Ewigkeit hörten sie das Geräusch von Motoren. Als die ersten vorbeikamen, hob Harry vorsichtig den Kopf. Ja, es gab einen Nachzügler. Er fuhr etwa dreißig Meter hinter den anderen und gab eben Gas, um aufzuholen. Die anderen waren vorbei. Als der Nachzügler auf zehn Meter herangekommen war, sprang Harry auf und stemmte sich gegen den erwarteten Aufprall. Christopher sprang im selben Augenblick hoch. Der junge Edelmann hatte nur noch Zeit, überrascht die Augen aufzureißen, bevor er gegen die Schnur prallte. Die Wucht des Zusammenstoßes riß Harry auf die Straße hinaus. Christopher hatte sein Schnurende um einen Baumstamm geschlungen. Der Edelmann stürzte auf die Straße. Das Motorrad wurde langsamer und hielt. Die anderen waren inzwischen kaum mehr zu sehen; sie hatten sich nicht umgeblickt. Harry befreite sich aus den Schnurschlingen und lief zu dem Edelmann. Er war ungefähr so alt wie Harry und ebenso groß. Er hatte eine Hasenscharte und ein verdorrtes Bein. Er war tot. Schädelbruch. Harry schloß die Augen; er hatte schon oft Menschen sterben sehen, war aber nie für ihren Tod verantwortlich gewesen. Es war ihm, als habe er seinen Eid gebrochen. »Manche müssen sterben«, flüsterte Pearce. »Für die Bösen ist es besser, wenn sie jung sterben.« Harry zog sich hastig aus und legte Kleidung und Schutzbrille des Edelmannes an. Er befestigte das Pistolenhalfter an seinen Hüften und wandte sich Christopher und Pearce zu.
»Und was wird aus euch?« »Wir fliehen nicht«, sagte Pearce. »Das habe ich nicht gemeint. Wird euch nichts passieren?« Pearce legte dem Jungen die Hand auf die Schulter. »Christopher kümmert sich um mich. Er wird Sie finden, nachdem Sie Marna gerettet haben.« Die Zuversicht in Pearces Stimme gab Harry Kraft. Er nahm sich nicht die Zeit, dieses Selbstvertrauen in Zweifel zu ziehen. Er stieg auf das Motorrad, setzte sich auf dem Sattelsitz zurecht und gab Gas. Das Motorrad raste davon. Es war schwierig, auf einem Rad zu fahren, aber er hatte früher mit ähnlichen Fahrzeugen die unterirdischen Straßen im Medizinischen Zentrum befahren. Sein Arm schmerzte, aber es war nicht mehr so schlimm wie vorher, als er hilflos gewesen war. Jetzt diente der Schmerz als Leitstrahl. Nach einer Weile spürte er, daß die Qual nachließ. Das bedeutete, daß er Marna näher kam. Es war Nacht, bevor er sie gefunden hatte. Die anderen Motorräder hatten einen zu großen Vorsprung gehabt, und er war mehrere Kilometer über die Seitenstraße hinausgeschossen, bevor ihn die zunehmenden Schmerzen warnten. Er fuhr hin und her, bis er endlich die Rampe fand, die fünfzehn Kilometer östlich von Lawrence die Autobahnkreuzung überquerte. Von dort führte eine richtige Asphaltstraße nach Osten, und der Schmerz in Harrys Arm linderte sich zu einem Brennen. Die Straße endete in einem undurchdringlichen Dickicht. Harry konnte gerade noch rechtzeitig anhalten, dann blieb er auf dem Sattel sitzen und dachte nach. Er hatte sich nicht überlegt, was
zu tun war, sobald er Marna gefunden hatte; er war einfach losgerast, zum Teil von dem sengenden Reif an seinem Handgelenk getrieben, zum Teil von seinen Gefühlen für das Mädchen. Auf irgendeine Weise – er vermochte die lange Reihe von Zufälligkeiten nicht bis zu ihrem Ursprung zurück zu verfolgen – war er dazu gebracht worden, diese bemitleidenswerte Expedition vom Medizinischen Zentrum zur Gouverneursvilla zu führen. Von Anfang an war sein Leben bedroht gewesen, und zwar nicht – wenn nicht alle Hoffnungen trogen – nur ein paar Jahre, sondern die Ewigkeit. Sollte er das alles aufgeben, in einem tölpelhaften Versuch, ein Mädchen aus der Mitte eines Rudels grausamer junger Wölfe zu retten? Aber was sollte er tun, solange er diesen Reif trug? Und was sollte aus dem Gouverneur werden? Was aus Marna? »Ralph?« fragte jemand aus dem Dunkel, und die Entscheidung war ihm abgenommen. »Ja, wo sind denn alle?« lispelte er. »Wie üblich – unter dem Wall.« Harry hinkte auf die Stimme zu. »Ich kann überhaupt nichts sehen.« »Hier ist Licht.« Die Bäume wurden hell, und eine schwarze Gestalt tauchte vor Harry auf. Harry blinzelte, kniff die Augen zusammen und schlug mit der Handkante zu. Als der Mann zu Boden stürzte, fing Harry die Lampe auf und betastete das Genick des Bewußtlosen. Er schien sich den Hals gebrochen zu haben, aber er atmete noch. Harry hob den Kopf. Irgendwo vor ihm flackerte
Licht. Nichts bewegte sich, niemand rief; man hatte ihn also nicht gehört. Er knipste das Licht an, sah den Fußpfad und machte sich auf den Weg. Das Lagerfeuer war unter einem Überhang angezündet worden, damit man es von oben nicht zu sehen vermochte. An einem Spieß brieten sie ein Reh. Harry begriff, was der Schmerz in seinem Magen bedeutete; er hatte Hunger. Die übrigen Edelleute saßen im Halbkreis um das Feuer, Marna auf der anderen Seite, mit gefesselten Händen. Sie hob den Kopf und suchte die Dunkelheit ab. Wonach suchte sie? Natürlich – nach ihm. Sie wußte, daß er in der Nähe war. Er hätte ihr gerne ein Zeichen gegeben, aber es war nicht möglich. Er betrachtete die Edelleute: einer war ein Albino, ein zweiter ein Wasserkopf, ein dritter ein Spastiker. Die anderen mochten körperliche Defekte haben, die Harry nicht sehen konnte – alle, bis auf einen, der älter zu sein schien als die anderen und am Rand des Lehmwalls lehnte. Er war blind, aber man hatte ihm in die Augenhöhlen elektrisch funktionierende Ferngläser eingepflanzt. Auf dem Rücken trug er ein Stromaggregat mit Anschlüssen für die Gläser und eine Antenne in seinem Jackett. Harry schlich sich vorsichtig am Waldrand entlang, hinüber zur Marna. »Zuerst das Festmahl«, jauchzte der Albino, »dann das Vergnügen.« Der Mann, der den Spieß drehte, sagte: »Ich finde, wir sollten uns zuerst das Vergnügen gönnen – dann haben wir erst richtig Hunger.« Sie diskutierten miteinander, zuerst gutmütig, dann, als sich die anderen einmischten, mit größerer
Hitze. Schließlich wandte sich der Albino dem Mann mit den Ferngläsern zu. »Was meinst du, Eyes?« Mit tiefer Stimme meinte Eyes: »Verkauft das Mädchen. Für junge Organe erzielt man höchste Preise.« »Ah«, sagte der Albino, »aber du siehst ja nicht, wie hübsch sie ist. Für dich ist sie nur ein Muster von weißen Pünktchen auf einem grauen Kinetoskop, für uns ist sie weiß und rosig und schwarz und –« »Eines Tages gehst du zu weit«, sagte der andere gelassen. »Bei ihr nicht, da –« Unter Harrys Fuß brach ein dürrer Zweig. Alle verstummten und lauschten. Harry zog die Pistole aus dem Halfter. »Bist du's, Ralph?« sagte der Albino. »Ja«, zischte Harry und hinkte näher ans Feuer, blieb aber mit dem Kopf im Dunkeln und verdeckte die Pistole mit der Hand. »Kannst du dir das vorstellen«, sagte der Albino. »Das Mädchen behauptet, die Tochter des Gouverneurs zu sein.« »Das bin ich«, sagte Marna klar und deutlich. »Er wird euch für das, was ihr tun wollt, langsam in Stücke hacken lassen.« »Aber ich bin der Gouverneur, Liebste«, erklärte der Albino mit Falsettstimme, »und es ist mir –« Eyes fuhr dazwischen. »Das ist nicht Ralph. Sein Bein ist gesund.« Harry verfluchte sein Pech. Die Ferngläser dienten auch als Röntgenaugen. – »Lauf!« schrie er in die folgende Stille hinein. Sein erster Schuß galt Eyes. Dieser drehte sich ge-
rade um, so daß die Kugel sein Stromaggregat traf. Er begann zu schreien und die Hände in die Ferngläser zu krallen, die ihm als Augen dienten. Aber Harry achtete nicht auf ihn. Er leerte das ganze Magazin in den Lehmüberhang über dem Feuer. Dieser, durch die Hitze schon gelockert, stürzte ein, begrub das Feuer und mehrere von den Edelleuten unter sich. Harry sprang zur Seite. Mehrere Kugeln zischten an ihm vorbei. Er raste in den Wald zurück und begann zu laufen. Er prallte immer wieder gegen Bäume, raffte sich auf und lief weiter. Irgendwo verlor er die Lampe. Die Verfolger blieben nach einer Weile zurück, und es wurde still. 5. Er prallte mit etwas Weichem zusammen, das zu Boden fiel. Er stolperte darüber, holte mit der Faust aus. »Harry!« sagte Marna. Seine Faust verwandelte sich in eine Hand, die nach ihr griff. »Marna!« schluchzte er. »Ich hab' es nicht gewußt. Ich hab' nicht geglaubt, daß ich es schaffe. Ich dachte, du bist –« Die beiden Armreifen klirrten. Marna, die weich neben ihm gelegen hatte, erstarrte plötzlich. »Wir wollen nicht sentimental werden«, sagte sie zornig. »Ich weiß, warum Sie es getan haben. Außerdem hört man uns.« Harry atmete tief ein und seufzte dann. Was hatte es für einen Sinn? Sie würde ihm niemals glauben –
warum auch? Er war seiner Sache selbst nicht sicher. Jetzt, da es vorbei war und er Zeit hatte, sich zu überlegen, welche Risiken er eingegangen war, begann er zu frösteln. Er saß da mit geschlossenen Augen und versuchte, das Zittern zu bewältigen. Marna streckte zögernd die Hand aus und berührte seinen Arm. Sie wollte etwas sagen, preßte die Lippen aufeinander, und der Augenblick war vorbei. »F-F-Fratz!« schnatterte er. »Ge-meiner, undankbarer F-Fratz!« Dann hörte das Zittern auf. Sie bewegte sich. »Ruhig!« flüsterte er. »Wir müssen warten, bis sie die Suche aufgegeben haben.« Wenigstens war es ihm gelungen, die größte Gefahr zu bannen: Eyes mit seinem Radar- und Röntgenauge, das keine Nacht kannte. Sie saßen in der Dunkelheit und warteten, den Geräuschen des Waldes lauschend. Eine Stunde verging. Harry wollte gerade sagen, daß es vielleicht an der Zeit sei, sich auf den Weg zu machen, als in der Nähe etwas raschelte. Ein Tier oder ein Feind? Marna packte seinen Oberarm. Harry ballte die Faust und holte aus. »Dr. Elliott?« flüsterte Christopher. »Marna?« Grenzenlose Erleichterung schlug wie eine Flut über Harry zusammen. »Du bist ja ein Genie! Wie hast du uns gefunden?« »Opa hat mir geholfen. Er hat ein Gefühl dafür. Ich auch ein bißchen, aber er kann es besser. Kommt!« Harry fühlte eine kleine Hand in der seinen. Christopher begann sie durch die Dunkelheit zu führen. Zuerst war Harry mißtrauisch, als der Junge sie aber vor Zusammenstößen mit Büschen und Bäumen bewahrte, nahm seine Sicherheit zu. Er vertraute der
Hand, die in der seinen lag. Er wußte, wie Pearce jetzt zumute sein mußte. Christopher führte sie lange Zeit, bevor sie eine Lichtung erreichten. Unter einem schützenden Nest aus grünen Blättern glühte Holzkohle. Pearce saß am Feuer und drehte einen zum Bratspieß degradierten Ast. Der ruhte auf zwei gegabelten Stöcken. Auf dem Spieß brutzelten zwei abgehäutete Hasen, goldbraun und knusprig. Pearces blindes Gesicht wandte sich ihnen zu, als sie die Lichtung betraten. »Willkommen«, sagte er. Harry empfand eine innere Wärme, als sei er zu Hause angekommen. »Danke«, sagte er heiser. Marna fiel vor dem Feuer auf die Knie und wärmte sich die Hände. Die Fesseln hingen daran herunter, in der Mitte zerfasert, wo sie sie methodisch auseinandergezupft hatte, während sie am Feuer der Edelleute saß. Sie muß gefroren haben, dachte Harry, und ich habe sie nicht gewärmt. Aber es gab nichts zu sagen. Als Christopher die Hasen vom Spieß zog, waren sie so gar gebraten, daß sie beinahe auseinanderfielen. Er wickelte die Schenkel in feuchte grüne Blätter und verbarg sie in einer kühlen Höhlung zwischen zwei Baumwurzeln. »Das ist das Frühstück«, sagte er. Sie stürzten sich auf das übrige. Auch ohne Salz war es die herrlichste Mahlzeit, die Harry je zu sich genommen hatte. Als alles aufgegessen war, leckte er sich die Finger, seufzte und lehnte sich an einen Laubhaufen. Er fühlte sich zufriedener als je zuvor in seinem Leben.
Christopher schaufelte mit einem großen Rinderstück Erde über das Feuer. Harry seufzte wieder und reckte sich. In dieser Nacht würden sie ruhig schlafen können. Marna hatte sich am Bach gewaschen. »Wollen Sie hier schlafen?« fragte Harry und deutete auf das trockene Laub. Wie zur Entschuldigung hob er den Arm. »Der Reif hält mich wach, wenn Sie zu weit weg sind.« Sie nickte kühl und setzte sich neben ihn – aber weit genug entfernt, um ihn nicht zu berühren. »Ich kann nicht verstehen, warum wir so vielen Mißgeburten begegnet sind. In meiner ganzen Zeit im Medizinischen Zentrum ist mir kein solcher Fall vorgekommen.« »Sie waren im Ambulatorium?« fragte Pearce. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Die Medizin wird immer mehr zu einer Behandlung von Monstren. In der Stadt würden sie sterben; in den Vororten bleiben sie am Leben, um sich fortzupflanzen. – Ich möchte mir Ihren Arm ansehen.« Harry zuckte zusammen. Der alte Mann hatte das so natürlich gesagt, daß er für einen Augenblick wirklich vergaß, einem Blinden gegenüberzusitzen. Die sanften Finger Pearces nahmen den Verband ab und entfernten das Gras. »Das brauchen Sie nicht mehr.« Erstaunt betastete Harry die Wunde mit der Hand. Er hatte schon seit Stunden nichts mehr gespürt. Sie war nur noch eine Narbe. »Vielleicht sind Sie wirklich Arzt gewesen. Warum haben Sie das Praktizieren aufgegeben?« Pearce flüsterte: »Ich bin es müde geworden, Tech-
niker zu sein. Die Medizin war so verzweifelt kompliziert geworden, daß das Verhältnis zwischen Arzt und Patient mehr einem Verhältnis Mechaniker und Patient glich.« »Ein Arzt muß Distanz wahren«, wandte Harry ein. »Wenn er sich gefühlsmäßig beteiligt, ist er erledigt. Er muß dem Leid gegenüber abgehärtet sein, sonst könnte er nicht weiterarbeiten.« »Niemand hat je behauptet, daß es einfach ist, Arzt zu sein«, flüsterte Pearce. »Wenn er aber aufhört, zu fühlen, verliert er nicht nur seinen Patienten, sondern auch seine Menschlichkeit. Die Komplizierung der Medizin hatte aber auch eine andere Wirkung. Sie beschränkte die Behandlung auf diejenigen, die sie sich leisten konnten. Immer weniger Menschen wurden immer gesünder. Waren nicht auch die anderen Menschen?« Harry runzelte die Stirn. »Gewiß. Aber nur durch die gesunden Spender und die Stiftungen ist alles ermöglicht worden. Sie mußte zuerst behandelt werden, damit die medizinische Forschung fortgesetzt werden konnte.« Pearce flüsterte: »Und so wurde die Gesellschaft völlig verzerrt; alles opferte man dem Gott der Medizin – alles, damit ein paar Leute ein paar Jahre länger leben konnten. Wer bezahlte die Rechnung? Und das seltsame Ergebnis war, daß diejenigen, die gepflegt wurden, als Klasse weniger gesund waren als jene, die ohne sie überleben mußte. Man rettete alle Frühgeburten, damit sie ihre Schwächen weitergeben konnten. Defekte, die sich in der Kindheit als tödlich erwiesen hätten, wurden behoben, damit der Patient erwachsener werden konnte. Schwächen wurden
weitergereicht. Die körperlich Untüchtigen vermehrten sich und bedurften größerer Aufmerksamkeit ...« Harry setzte sich auf. »Was ist das für eine Ethik? Die Medizin darf weder die Kosten berücksichtigen noch Wertmaßstäbe anlegen. Ihre Aufgabe ist es, die Kranken zu behandeln.« »Jene, die es sich leisten können. Wenn die Medizin nicht wertet, dann wird es etwas anderes tun: die Macht, das Geld oder Gruppen. Eines Tages hatte ich genug von allen. Ich ging zu den Bürgern, wo die Zukunft lag, wo ich helfen konnte, ohne Unterschiede machen zu müssen. Sie nahmen mich auf, sie gaben mir zu essen, wenn ich Hunger hatte, sie lachten mit mir, wenn ich glücklich war, und sie weinten mit mir, wenn ich traurig war. Sie fühlten, und ich half ihnen, so gut ich konnte.« »Wie denn?« fragte Harry. »Ohne Diagnostiziermaschine, ohne Medikamente und Antibiotika?« »Der menschliche Verstand«, flüsterte Pearce, »ist immer noch die beste Diagnostiziermaschine. Und das beste Antibiotikum. Ich habe sie berührt. Ich habe ihnen geholfen, sich selbst zu heilen. So bin ich statt einem Techniker ein Heilender geworden. Unsere Körper wollen sich selbst heilen, verstehen Sie, aber unser Verstand erteilt Gegenbefehle und Todesanweisungen.« »Medizinmann!« sagte Harry verächtlich. »Ja. Es hat sie immer gegeben. Heilende. Erst in meiner Zeit wurden die Heilende und der Arzt zwei Personen. Zu allen anderen Zeiten waren die Menschen mit der heilenden Berührung die Ärzte. Es gab sie damals, es gibt sie jetzt. Zahllose Heilungen zeugen dafür. Heute bezeichnen wir das als Aberglau-
ben. Trotzdem wissen wir, daß manche Ärzte, die weder klüger noch geschickter sind als andere, wesentlich größere Erfolge erzielen. Manche Krankenschwestern – nicht immer die hübschesten – erwekken in ihren Patienten den Wunsch, gesund zu werden. Sie brauchen zwei Stunden für eine genaue Untersuchung – in zwei Sekunden. Eine Behandlung zu Ende zu führen, mag bei ihnen Monate oder Jahre erfordern; ich habe nie länger als fünf Minuten gebraucht.« »Aber wo ist Ihre Kontrolle?« brauste Harry auf. »Wie können Sie beweisen, daß Sie ihnen geholfen haben? Wenn Sie Ursache und Wirkung nicht zu verknüpfen vermögen, wenn niemand sonst Ihre Behandlung zu wiederholen vermag, handelt es sich nicht um Wissenschaft. Und es läßt sich nicht lehren.« »Wenn ein Heilender Erfolg hat, weiß er es«, flüsterte Pearce. »Sein Patient auch. Was das Lehren angeht – wie bringt man einem Kind das Sprechen bei?« Harry hob ungeduldig die Schultern. Pearce hatte auf alles eine Antwort. Es gab solche Menschen, die sich in ihrer Manie so sicher fühlten, daß man sie nie davon überzeugen konnte, der Rest der Menschheit sei normal. Der Mensch mußte sich auf die Wissenschaft stützten – nicht auf den Aberglauben, nicht auf Gesundbeter und Medizinmänner. Sonst stürzte man ins Mittelalter zurück. Er streckte sich auf dem Laubbett aus, fühlte Marnas Leib neben sich. Er wollte die Hand ausstrecken und sie berühren, aber er tat es nicht. Sonst gab es kein Gesetz, keine Sicherheit, keine Unsterblichkeit ...
Der Reif weckte ihn. Seine Haut prickelte. Dann begann sie zu schmerzen. Harry streckte die Hand aus. Das Laubbett neben ihm war warm, aber Marna war verschwunden. »Marna!« flüsterte er. Er stützte sich auf einen Ellenbogen. Im fernen Licht, das durch die Baumwipfel herabschimmerte, konnte er erkennen, daß die Lichtung leer war. Pearce und der Junge hatten sich ebenfalls empfohlen. »Wo seid ihr denn alle?« fragte er lauter. Er fluchte vor sich hin. Sie hatten den günstigsten Augenblick abgewartet, um zu fliehen. Aber warum hatte Christopher sie dann im Wald gefunden und hierher gebracht? Und was erhoffte sich Marna? Daß sie allein es schaffte, die Villa zu erreichen? Er fuhr hoch. In den Blättern raschelte es. Harry erstarrte. Einen Augenblick später wurde er von grellem Licht geblendet. »Keine Bewegung!« sagte eine hohe Stimme. »Sonst muß ich schießen. Und wenn du zu fliehen versuchst, wird dir die Spürnase folgen.« Die Stimme klang kühl und gelassen. Die Hand, die die Waffe hielt, zitterte nicht. »Ich halte mich ganz still«, sagte Harry. »Wer sind Sie?« »Ihr seid zu viert gewesen. Wo sind die anderen drei?« »Sie haben Sie kommen hören. Sie warten nur darauf, sich auf Sie zu stürzen.« »Du lügst«, sagte die Stimme verächtlich. »Hören Sie mich an!« rief Harry. »Sie scheinen kein Bürger zu sein. Ich bin Arzt – stellen Sie mir eine medizinische Frage. Fragen Sie, was Sie wollen. Ich habe
einen wichtigen Auftrag. Ich muß dem Gouverneur eine Nachricht überbringen.« »Wie lautet die Nachricht?« Harry schluckte. »Die Lieferung ist gestohlen worden. Es dauert eine Woche, bis die nächste vorbereitet werden kann.« »Welche Lieferung?« »Ich weiß es nicht. Wenn Sie ein Edelmann sind, müssen Sie mir helfen.« »Setzen Sie sich hin!« Harry gehorchte. »Ich habe eine Nachricht für Sie. Ihre Botschaft wird nicht überbracht.« »Aber –« Harry richtete sich auf. Von irgendwo hinter dem Licht ertönte eine kleine Explosion, und Harry spürte einen Stich in der Brust. Er sah an sich hinunter. Ein winziger Pfeil stak zwischen den Revers seiner Jacke. Er versuchte danach zu greifen, aber es ging nicht. Sein Arm gehorchte nicht. Auch sein Kopf ließ sich nicht bewegen. Er fiel auf die Seite, ohne etwas zu spüren. Nur Augen, Ohren und Lunge schienen von der Lähmung nicht befallen zu sein. »Ja«, sagte die Stimme ruhig. »Ich bin ein Leichenfledderer. Einige meiner Freunde sind Kopfjäger, aber ich sammle Leiber und liefere sie lebend ab. Das macht mehr Spaß. Außerdem ist mehr zu verdienen. Für den Kopf gibt es nur zwanzig Dollar, für einen ganzen Körper über hundert. Manche mit jungen Organen wie bei dir sind noch viel mehr wert.« »Los, Spürnase, such die anderen.« Das Licht entfernte sich. Im Unterholz knackte etwas. Harry konnte langsam eine dunkle Gestalt ausmachen, die
in etwa drei Meter Entfernung auf dem Boden saß. »Du wirst dich fragen, was mit dir geschieht«, sagte der andere. »Sobald ich deine Begleiter gefunden habe, werde ich auch sie lähmen und meine Tragbahren herbeizitieren. Sie schaffen euch in meinen Hubschrauber. Dann bringe ich euch nach Topeka, weil ihr aus Kansas City kommt.« Die letzte Hoffnung erstarb in Harry. »Das funktioniert am besten, habe ich herausgefunden«, fuhr die hohe Stimme fort. »Man vermeidet Komplikationen. Das Krankenhaus in Topeka, mit dem ich zusammenarbeite, kauft euch, ohne Fragen zu stellen. Ihr seid auf die Dauer gelähmt, so daß ihr nie Schmerzen spürt, obwohl ihr das Bewußtsein nicht verliert. Auf diese Weise zerfallen die Organe nicht. Wenn du aber Arzt bist, wie du behauptet hast, brauche ich das nicht zu erklären, dann wirst du mich verstehen. Vielleicht kennst du die genaue Bezeichnung des Giftes an meinem Pfeil. Ich weiß nur, daß es aus dem Gift der Grabwespe gewonnen wird. Mit Hilfe künstlicher Ernährung hat man diese zweibeinigen Organbänke oft jahrelang am Leben erhalten, bis es soweit ist ...« Die Stimme sprach weiter, aber Harry hörte nicht zu. Er glaubte, wahnsinnig zu werden. Die Opfer wurden es oft. Er hatte sie auf Tischen in der Organbank liegen sehen, und in ihren Augen hatte der Wahnsinn geflackert. Damals war er noch der Meinung gewesen, daß sie wegen des Irrsinns dort gelandet waren, aber jetzt kannte er sich aus. Bald würde er einer von ihnen sein. Vielleicht erstickte er, bevor er das Krankenhaus erreichte, bevor sie das Röhrchen in seine Kehle
schieben, das Beatmungsgerät auf seinem Brustkasten befestigen und die Kanülen in seine Arme gleiten lassen konnten. Manchmal erstickten die Opfer, trotz aller Bemühungen. Aber er würde nicht wahnsinnig werden. Er war zu normal. Er konnte es Monate ertragen. Im Unterholz hörte er ein Knacken, Licht zuckte über seine Augen. Etwas bewegte sich. Körper prallten zusammen. Jemand schrie auf. Ein klatschendes Geräusch ertönte, dann hörte man nur noch ein Keuchen. »Harry!« sagte Marna besorgt. »Harry! Alles in Ordnung?« Das Licht kehrte zurück, als der Spürhund in die Lichtung zurückkam. Pearce bewegte sich schmerzgebeugt durch die Helligkeit. Hinter ihm tauchten Christopher und Marna auf. Am Boden in der Nähe lag ein gekrümmtes Wesen. Harry kannte sich zuerst nicht aus, dann begriff er, daß es ein Zwerg war, ein Gnom, ein Mann mit dünnen, kleinen Beinchen, einem gekrümmten Rücken und einem großen, klumpigen Kopf. Schwarzes Haar wuchs vereinzelt auf dem Schädel, und die Augen starrten rötlich und haßerfüllt ins Leere. »Harry!« jammerte Marna. Er erwiderte nichts. Er konnte nicht sprechen. Für den Bruchteil einer Sekunde war es angenehm, nichts erwidern zu können, dann ging er in einer Flut von Selbstmitleid unter. Marna nahm die Pfeilpistole und warf sie in das Unterholz. »Was für eine schmutzige Waffe!« Harry kam zur Vernunft. Sie waren also doch nicht entflohen. Wie er dem Leichenfledderer erzählt hatte,
hatten sie sich nur zurückgezogen, um ihn zu retten, sobald sich eine Gelegenheit ergab. Aber sie waren zu spät zurückgekommen. Die Lähmung ließ sich nicht aufheben. Es gab kein Gegenmittel. Vielleicht würden sie ihn töten. Wie konnte er ihnen begreiflich machen, daß er den Tod wünschte? Er blinzelte hastig. Marna hatte sich zu ihm gesetzt und nahm seinen Kopf auf ihren Schoß. Ihre Hand glitt streichelnd über sein Haar. Vorsichtig zog Pearce den Pfeil aus seiner Brust und drückte ihn tief in die Erde. »Nur ruhig«, sagte er. »Nicht aufgeben. Es gibt keine dauernde Lähmung. Wenn Sie sich Mühe geben, können Sie den kleinen Finger bewegen.« Er nahm Harrys Hand und tätschelte sie. Harry versuchte, den Finger zu bewegen, aber es nützte nichts. Was war mit dem alten Quacksalber los? Warum gab er ihm nicht den Rest. Pearce sprach weiter, aber Harry hörte ihm nicht zu. Was hatte es für einen Sinn, die Hoffnung wachzuhalten? Das machte alles nur noch schlimmer. »Eine Transfusion müßte wirken«, sagte Marna. »Ja«, sagte Pearce. »Sind Sie bereit?« »Sie wissen, was ich bin?« »Selbstverständlich. Christopher, durchsuch den Leichenfledderer. Er wird Schläuche und Kanülen bei sich haben, zur Behandlung seiner Opfer.« Pearce wandte sich wieder an Marna. »Es wird aber bis zu einem gewissen Grad eine Vermischung eintreten. Das Gift wird in Ihren Körper gelangen.« »Sie könnten mir nicht einmal mit Strychnin etwas antun«, meinte Marna bitter.
Die drei eilten geschäftig umher und bereiteten alles vor. Harry konnte sich nicht darauf konzentrieren. Die Umwelt verschwamm. Als die ersten Vorboten der Dämmerung schmutziggrau durch die Bäume filterten, spürte Harry schmerzhaft Leben in seinem kleinen Finger. Es war schlimmer als alles, was er jemals erlebt hatte, hundertmal schlimmer als die Qual, die der Reif verursacht hatte. Die Schmerzen breiteten sich in die anderen Finger aus, die Beine und Arme entlang, bis zu seinem Rumpf. Er wollte Pearce anflehen, ihn lieber der Lähmung zu überlassen, aber bis sich seine Kehle entspannte, war der Schmerz beinahe überwunden. Marna lehnte an einem Baumstamm. Sie war blaß und hielt die Augen geschlossen. »Marna!« sagte er. Ihre Augen öffneten sich müde; Freude zuckte in ihnen auf, als sie ihn sah, dann umwölkten sie sich. »Es geht schon«, sagte sie. Harry kratzte sich an der linken Ellenbeuge, wo die Kanüle eingeführt worden war. »Ich verstehe nicht – Sie und Pearce, ihr habt mich davon befreit, aber –« »Geben Sie sich keine Mühe, das zu verstehen«, sagte sie. »Akzeptieren Sie es einfach.« »Es ist unmöglich«, murmelte er. »Was sind Sie?« »Die Tochter des Gouverneurs.« »Und was noch?« »Eine Cartwright«, sagte sie bitter. Er konnte es kaum fassen. Eine der Unsterblichen! Kein Wunder, daß ihr Blut das Gift unschädlich gemacht hatte. Das Blut der Cartwrights vermochte alle fremden Substanzen hinwegzuspülen. Plötzlich fiel ihm etwas ein.
»Wie alt sind Sie?« »Siebzehn«, sagte sie. Sie sah an sich herunter. »Wir reifen langsam, wir Cartwrights. Deswegen hat mich Weaver zum Zentrum geschickt – um festzustellen, ob ich fruchtbar bin. Ein fruchtbarer Cartwright darf keine Zeit verlieren, Nachkommen zu zeugen.« Es gab keinen Zweifel, sie haßte ihren Vater. Sie nannte ihn Weaver. »Er will Nachkommen haben«, wiederholte Harry. »Er wird versuchen, sie selbst zu haben«, sagte sie leidenschaftslos. »Wir sind ja nur zu dritt – meine Großmutter, meine Mutter und ich. Außerdem haben wir eine gewisse Kontrolle über die Konzeption – vor allem nach der abgeschlossenen Reife. Wir wollen seine Kinder nicht, obwohl er dann vielleicht nicht mehr so abhängig von uns wäre. Ich fürchte« – ihre Stimme brach –, »ich fürchte, daß ich nicht reif genug bin.« »Warum haben Sie mir das nicht vorher gesagt?« fragte Harry. »Damit Sie mich wie eine Cartwright behandeln?« Ihre Augen glühten vor Zorn. »Ein Cartwright ist kein Mensch, wissen Sie. Ein Cartwright ist eine wandelnde Blutbank, eine lebende Quelle der Jugend, etwas, das man besitzt und verwendet, bewacht, aber nicht leben läßt. Außerdem« – sie ließ den Kopf sinken –, »Sie glauben mir nicht.« »Aber er ist doch der Gouverneur!« rief Harry. Er sah ihr Gesicht und wandte sich ab. Wie sollte er ihr das erklären? Man hatte eine Aufgabe und man hatte seine Pflicht. Man konnte sie nicht vernachlässigen. Und dann waren da immer noch die Armreifen. Nur der Gouverneur besaß den Schlüssel dazu. Sie konn-
ten nicht auf die Dauer so existieren. Sie würden getrennt werden, durch Gewalt oder Zufall, und er würde sterben. Er stand auf. Der Wald begann sich um ihn zu drehen, aber das Schwindelgefühl war schnell verflogen. »Ich bin Ihnen wieder Dank schuldig«, sagte er zu Pearce. »Sie haben hart gekämpft, sich Ihren Glauben zu erhalten«, flüsterte Pearce, »aber ein vernünftiger Kern sagte, daß es besser ist, ein ganzer Mensch mit verkrüppeltem Glauben als ein verkrüppelter Mensch mit ganzem Glauben zu sein.« Entweder war er ein echter Heilender, dachte Harry und starrte den alten Mann ernst an, der nicht zu erklären vermochte, wie er seine Wunder bewirkte, oder die Welt war ein weitaus verrückterer Ort, als Harry sich je vorgestellt hatte. »Wenn wir uns jetzt auf den Weg machen«, sagte er, »müßten wir bis Mittag die Villa erreichen.« Als er an dem Zwerg vorbeikam, starrte er hinunter, blieb stehen und blickte sich nach Marna und Pearce um. Dann bückte er sich, hob den verformten kleinen Körper auf und ging zur Straße. Dort stand der Hubschrauber. »Wenn wir flögen, würde es nur ein paar Minuten dauern«, murmelte er. »Wir werden nicht erwartet«, sagte Marna. »Man würde uns abschießen, bevor wir auch nur in die Nähe der Stadt kämen.« Harry schnallte den Zwerg in den Hubschraubersitz. Der Leichenfledderer starrte ihn mit haßerfüllten Augen an. Harry schaltete den Motor ein, drückte den Knopf mit der Aufschrift ›Rückkehr‹ am Auto-
piloten und trat zurück. Der Hubschrauber stieg empor und schwirrte in südöstlicher Richtung davon. Christopher und Pearce warteten auf der Straße, als Harry sich umdrehte. Christopher grinste plötzlich und reichte ihm eine Hasenkeule. »Hier ist das Frühstück.« Sie marschierten auf der Autostraße nach Lawrence. 6. Die Villa des Gouverneurs stand auf einem Lförmigen Hügel, der sich zwischen zwei Flußtälern erhob. Früher einmal hatte sich dort eine große Universität ausgebreitet, aber die Steuergelder für die Erhaltung solcher Institutionen waren in lebenswichtigere Kanäle geleitet worden. Die privaten Zuschüsse waren immer mehr versiegt, als die Forderungen der medizinischen Forschung und Therapie zunahmen. Bald gab es kein Interesse für andere Wissenschaften mehr, und die Universität ging zugrunde. Der Gouverneur hatte vor etwa fünfundsiebzig Jahren dort seine Villa gebaut, als Topeka nicht mehr zu ertragen war. Lange vorher war es schon ein Amt auf Lebenszeit geworden – und der Gouverneur würde ewig leben. Die Stadt Kansas war eine Baronie, eine Bezeichnung, die Harry nichts bedeutete, weil er, abgesehen von der Geschichte der Medizin, keine historischen Kenntnisse hatte. Der Gouverneur war ein Baron und die Villa seine Burg. Die Edelleute der Vororte waren
seine Vasallen; sie wurden mit Unsterblichkeit oder der Hoffnung darauf belohnt. Sobald einer von ihnen eine Injektion erhalten hatte, konnte er zwischen zwei Möglichkeiten wählen: dem Gouverneur treu zu dienen und ewig zu leben – vorausgesetzt, daß er nicht durch einen Unfall zugrunde ging –, oder binnen dreißig Tagen zu sterben. Der Gouverneur hatte seit vier Wochen keine Lieferung mehr erhalten. Die Edelleute gerieten in Verzweiflung. Die Villa war eine Festung. Die Außenmauern bestanden aus eineinhalb Meter dickem Beton, armiert mit Stahlplatten. Um die Wälle zog sich ein Burggraben, in dem es von Piranhas wimmelte. Der innere Wall überragte den äußeren. Die gepflasterte Fläche dazwischen konnte mit Napalm überflutet werden. Innerhalb der Mauer gab es verborgene Raketenbatterien. Die Burg war terassenförmig wie ein babylonischer Stufenturm. Auf jedem Dach befand sich eine Hydroponikfarm. Auf der obersten Spitze der Gebäude war ein gläsernes Dachhaus angebracht. Die Mittagssonne ließ es silbern aufschimmern. Auf einem hochragenden Mast rotierte eine Radarantenne. Wie bei einem Eisberg lag der Großteil der Burg unter der Oberfläche. Sie erstreckte sich durch Sandstein und Granit eineinhalb Kilometer tief. Das Gebäude war beinahe ein lebendes Wesen zu nennen. Automatische Geräte kontrollierten es, schafften Luft heran, erwärmten und kühlten, nährten, wässerten, hielten nach Feinden Ausschau und töteten sie, wenn sie zu nahe herankamen ... Alles konnte von einer einzigen Hand gesteuert werden. Im Augenblick war das der Fall.
Es gab keinen Eingang. Harry blieb vor den Wällen stehen und wedelte mit seiner Jacke. »Ahoi! Eine Botschaft für den Gouverneur vom Medizinischen Zentrum. Ahoi!« »Hinlegen!« schrie Christopher. Eine wütende Biene summte an Harrys Ohr vorbei, dann ein ganzer Schwarm. Harry ließ sich fallen und beugte sich zur Seite. »Sind Sie verletzt?« fragte Marna. Harry hob den Kopf. »Schlechte Schützen«, sagte er grimmig. »Woher kam das?« »Aus einem der Häuser«, sagte Christopher und wies auf die Gebäude am Fuße des Hügels. »Mit dem Kopfgeld könnten sie nicht einmal ihre Munition bezahlen«, meinte Harry. Mit gewaltiger Stimme rief die Burg: »Wer kommt mit einer Botschaft für mich?« Harry schrie: »Dr. Harry Elliott. Ich habe die Tochter Marna des Gouverneurs und einen Quacksalber bei mir. Wir werden von einem der Häuser aus beschossen.« Die Burg schwieg. Dann öffnete sich ein Teil der inneren Mauer. Im Sonnenlicht blitzte etwas auf, spie Flammen, zuckte nach unten. Einen Augenblick später wurde eines der Häuser in die Luft geschleudert und zerblasen. Über den äußeren Wall reckte sich ein Kranarm. An ihm hing ein großer Metallwagen. Als er den Boden erreichte, öffnete sich eine Tür. »Kommt zu mir«, sagte die Burg. Der Wagen war staubig, ebenso das Dachhaus, wo sie abgesetzt wurden. Das riesige Schwimmbad war
trocken; die Badekabinen verfaulten, die Blumen, Sträucher und Palmen waren abgestorben. In der mit Spiegeln verkleideten Mittelsäule gähnte eine Tür. »Tretet ein«, sagte die Tür. Der Aufzug glitt tief in die Erde hinab. Harrys Magen krampfte sich zusammen; es schien, als nehme die Fahrt nie ein Ende, aber schließlich öffneten sich die Türen. Vor ihnen lag ein geräumiges Wohnzimmer mit einem Mobiliar in vielen Braunschattierungen. Eine ganze Wand bestand aus einem Bildschirm. Marna verließ den Lift. »Mutter!« schrie sie. »Großmutter!« Sie lief durch die Wohnung. Harry folgte ihr langsam. Von einem langen Korridor aus waren sechs Schlafzimmer zu erreichen. An der Schmalseite befand sich ein Kinderzimmer, auf der anderen Seite des Wohnzimmers Eßzimmer und eine Küche. Jeder Raum war mit einem wandgroßen Bildschirm ausgestattet. Alle Räume waren leer. »Mutter?« sagte Marna wieder. Der Bildschirm im Speisezimmer flackerte. Auf der riesigen Fläche zeigte sich das gigantische Bild eines Wesens, das auf pneumatischen Polstern hockte. Es war ein unglaublich fettes Geschöpf, ein Meer sich wellenden und schwabbelnden Fleisches. Das runde Gesicht wirkte auf dem phantastischen Körper ungewöhnlich klein; die Augen schienen wie Beeren aufgepfropft. »Guten Tag, Marna«, sagte es. »Suchst du jemand? Deine Mutter und deine Großmutter haben mir
Schwierigkeiten gemacht, weißt du. Sterile Wesen! Ich habe sie direkt an die Blutbank angeschlossen; jetzt gibt es keine Verzögerung mit der Blutzufuhr mehr –« »Du wirst sie umbringen!« keuchte Marna. »Cartwrights? Albernes Ding! Außerdem ist das unsere Brautnacht, da können wir sie nicht brauchen, nicht wahr, Marna?« »Du bist der Arzt mit der Botschaft. Sprich.« Harry runzelte die Stirn. »Sie – sind Gouverneur Weaver?« »Allerdings.« Das Wesen lachte. Harry atmete tief ein. »Die Lieferung ist gestohlen worden. Es wird eine Woche dauern, bis die nächste bereit ist.« Weaver zog die Brauen zusammen und griff mit der Hand aus der Bildfläche hinaus. »So!« Er sah Harry wieder an und lächelte idiotisch. »Ich habe eben Mocks Büro in die Luft gesprengt. Zufällig hielt er sich gerade dort auf. Aber es ist nur gerecht. Er hat seit zwanzig Jahren für sich Elixier beiseite geschafft.« Weavers Mund rundete sich mitfühlend. »Ich habe dich schockiert. Man hat dir erzählt, daß das Elixier nicht synthetisch hergestellt werden kann. Das ist längst erreicht. Vor über hundert Jahren durch einen Arzt namens Russel Pearce. Du hast wohl geplant, es synthetisch herzustellen und dir dafür als Belohnung die Unsterblichkeit zu erringen? Nein – ich bin kein Telepath. Jeder zweite Arzt träumt davon. Ich will es dir sagen, Arzt – ich bin die Wählerschaft. Ich entscheide, wer unsterblich sein wird, und es gefällt mir, willkürlich zu sein. Götter sind immer willkürlich.
Dadurch sind sie göttlich. Ich könnte dir Unsterblichkeit zugestehen. Das will ich; das werde ich. Dien mir gut, Arzt, und wenn du alt wirst, mache ich dich wieder jung. Ich könnte dich zum Vorstand des Medizinischen Zentrums machen. Würde dir das gefallen?« Weaver runzelte wieder die Stirn. »Aber nein – du würdest wie Mock das Elixier stehlen und mir die Lieferung nicht schicken, wenn ich sie für meine Edelleute brauche.« Weaver kratzte sich am Handgelenk. »Du bist immer noch schockiert wegen des Elixiers. Du findest, daß wir es hektoliterweise herstellen und alle Leute für immer jung erhalten sollten. Denk einmal darüber nach. Wir wissen, daß das absurd ist, nicht? Es wäre nicht genug da für alle. Und was wäre die Unsterblichkeit nütze, wenn jeder ewig leben könnte?« Seine Stimme veränderte sich plötzlich und wurde sachlich. »Wer hat die Lieferung gestohlen? Dieser Mann?« Ein Bild erschien auf dem unteren Teil des Bildschirms. »Ja«, sagte Harry. Alles schien sich um ihn zu drehen. Erleuchtung und Unsterblichkeit, alles in einem Atem. Es ging zu schnell. Er hatte keine Zeit, zu reagieren. Weaver rieb sich den teigigen Mund. »Cartwright! Wie macht er das?« Seine Stimme klang plötzlich ängstlich. »Die Ewigkeit zu riskieren? Er ist verrückt – genau, der Mann ist verrückt. Er will sterben!« Die großen Fleischmassen zitterten. »Er soll es nur versuchen. Ich schenke ihm den Tod.« Er sah wieder Harry an und kratzte sich am Hals. »Wie seid ihr hierhergekommen, ihr vier?«
»Zu Fuß«, sagte Harry mit gepreßter Stimme. »Zu Fuß? Phantastisch!« »Fragen Sie einen Motelbesitzer außerhalb von Kansas City oder ein Wolfsrudel, das Marna beinahe geraubt hätte, oder einen Leichenfledderer, der mich lähmte. Sie werden es Ihnen bestätigen, daß wir zu Fuß gekommen sind.« Weaver kratzte sich seinen gigantischen Bauch. »Diese Wolfsrudel können recht unangenehm sein, aber sie sind auch nützlich. Sie halten das Land sauber. Aber wenn du gelähmt worden bist, wieso stehst du dann hier, statt in einer Organbank gelandet zu sein?« »Der Quacksalber hat mir Blut von Marna gegeben.« Zu spät sah Harry, daß Marna abwinkte. Weavers Gesicht umwölkte sich. »Du hast mein Blut gestohlen! Jetzt kann ich ihr einen Monat lang nichts abzapfen. Ich muß dich bestrafen. Jetzt nicht, aber später, wenn ich mir etwas ausgedacht habe, was deinem Verbrechen entspricht.« »Ein Monat ist zu wenig«, erwiderte Harry. »Kein Wunder, daß das Mädchen so blaß ist, wenn Sie ihr jeden Monat Blut abnehmen. Sie werden sie töten.« »Aber sie ist eine Cartwright«, sagte Weaver erstaunt, »und ich brauche das Blut.« Harry preßte die Lippen aufeinander. Er hob den Arm mit dem Reif. »Der Schlüssel, Sir?« »Auch, du meine Güte!« sagte Weaver. »Ich scheine ihn verlegt zu haben. Ihr müßt die Reifen noch eine Weile tragen. Nun, Marna, such dir etwas Passendes für deine Brautnacht aus, nicht wahr? Und wir wollen die Gelegenheit nicht mit Geheul und Gejammer und
Schmerzensschreien verderben. Komm ehrfürchtig und voll Freude.« »Ich will kein Kind«, sagte Marna leichenblaß. Das Fleischgebirge schüttelte sich vor Wut. »Vielleicht werden wir heute nacht doch Schreie hören. Ja. Quacksalber! He, du – der Alte da mit dem Jungen. Du bist ein Heilender.« »So hat man mich genannt«, flüsterte Pearce. »Es heißt, daß du Wunder wirken kannst. Nun, ich habe eine Aufgabe für dich.« Weaver kratzte sich am Handrücken. »Es juckt mich. Die Ärzte haben nichts gefunden, und sie starben. Ich werde noch verrückt.« »Ich heile durch Berührung«, erwiderte Pearce. »Jeder Mensch heilt sich selbst; ich helfe ihm nur.« »Niemand berührt mich«, sagte Weaver. »Du wirst mich bis heute abend kurieren. Etwas anderes kommt nicht in Frage, sonst bin ich sehr zornig auf dich und den Jungen. Ja, ich werde sehr wütend auf den Jungen sein, wenn du keinen Erfolg hast.« »Heute nacht«, sagte Pearce, »werde ich für Sie ein Wunder wirken.« Weaver lächelte und griff nach einem Nährrohr. Seine dunklen Augen glitzerten wie Glasmurmeln. »Also heute nacht!« Das Bild verschwand vom Schirm. »Eine Made«, flüstere Harry, »eine riesige Made in einer Rose. Sie frißt sie auf, blind, egoistisch und zerstörerisch.« »Ich sehe ihn als Fötus, der nicht geboren werden will«, meinte Pearce. »Sicher im Schoß geborgen, zerstört er die Mutter, ohne zu begreifen, daß er sich selbst damit vernichtet.« Er sah Christopher an. »Ist hier ein Kameraauge?«
Christopher schaute zum Bildschirm. »Ja.« »Abhörgeräte?« »Überall.« »Wir müssen darauf hoffen, daß er die Aufzeichnungen nicht abhört oder daß er lange genug abgelenkt werden kann, bis getan ist, was getan werden muß.« Harry sah zuerst Marna, dann Pearce und Christopher an. »Was können wir tun?« »Sie sind bereit?« fragte Marna. »Die Unsterblichkeit aufzugeben? Alles zu riskieren?« Harry verzog das Gesicht. »Was würde ich schon verlieren? Eine solche Welt –« »Wie steht es?« flüsterte Pearce. »Wo ist Weaver eigentlich?« Marna hob hilflos die Schultern. »Ich weiß es nicht. Meine Mutter und Großmutter wußten es auch nicht. Er schickt den Lift. Es gibt keine Treppen, keine anderen Ausgänge. Und die Aufzüge werden von einer Steuerkonsole neben seinem Bett aus gelenkt. Sie hat Tausende von Schaltern. Damit wird auch alles andere gesteuert, die Beleuchtung, Wasser, Luft, Wärme und Nahrungsvorräte. Er kann Gift- und Narkosegas oder brennendes Benzin freisetzen. Er kann Explosionen nicht nur hier, sondern auch in Topeka und Kansas City auslösen oder Raketen abschießen, um andere Gebiete zu verwüsten. Es gibt keine Möglichkeit, zu ihm zu gelangen.« »Sie kommen an ihn heran«, flüsterte Pearce. Marnas Augen blitzten auf. »Wenn ich eine Waffe mitnehmen könnte! Aber im Lift wird man kontrolliert – mit Magnet- und Fluoroskopdetektoren.«
»Es gibt eine Möglichkeit«, meinte Pearce. »Wenn wir ein Stück Papier finden, wird Christopher Ihnen alles aufschreiben.« 7. Die Braut wartete vor den Lifttüren. Sie trug weiße Seide und alte Spitzen. Das Spitzentuch war als Schleier über den Kopf gebreitet. Vor dem Wohnzimmerbildschirm, in einem braunen Polstersessel, saß Pearce. Zu seinen Füßen, an sein knochiges Knie gelehnt, Christopher. Der Bildschirm flackerte, und Weaver erschien grinsend. »Du bist ungeduldig, Marna. Das gefällt mir. Warte nur, die Hochzeitskutsche kommt gleich.« Die Lifttüren öffneten sich seufzend. Die Braut trat in den Aufzug. Als die Türen sich zu schließen begannen, stand Pearce auf und sagte: »Sie suchen Unsterblichkeit, Weaver, und glauben, sie gefunden zu haben. Was Sie besitzen, ist aber nur ein lebendiger Tod. Ich werde Ihnen die einzig wirkliche Unsterblichkeit zeigen ...« Der Lift sank nach unten. Detektoren überprüften die Braut, fanden nur Stoff. Der Aufzug wurde langsamer. Nachdem er hielt, blieben die Türen noch für einen Augenblick geschlossen, dann öffneten sie sich quietschend. Ein Geruch nach Fäulnis drang in den Lift. Die Braut zuckte einen Augenblick zurück, dann trat sie hinaus. Der Raum war einst ein grandioser Mecha-
nismus gewesen: eine Höhle aus rostfreiem Stahl. Nicht viel größer als die gigantische Luftmatratze in der Mitte, war der Raum völlig automatisch. Temperaturregler sorgten für gleichmäßige Wärme. Die Nahrung kam direkt von den Verarbeitungsräumen durch die Rohre herauf, ohne menschliches Zutun. Sprühanlagen waren installiert, um Schmutz und Abfall hinauszuschwemmen. Ein Sprühknopf an der Decke mußte das Wesen auf der Matratze waschen. Rund um die Matratze, wie ein großes Kreislauforgan mit zehntausend Tasten, befand sich eine komplizierte Kontrollkonsole. Unmittelbar über der Matratze an der Decke war ein Bildschirm angebracht. Auf dem Boden lag verfaulende Nahrung, lagen Dosen und Abfälle. Als die Braut das Zimmer betrat, schwärmten ganze Scharen von Kakerlaken aus. Mäuse verschwanden in ihren Löchern. Die Braut zog den langen Seidenrock über ihre Hüften. Sie wickelte eine dünne Nylonschnur von ihrer Taille. Das Ende war zu einer Schlinge geformt. Sie schüttelte die Schnur, bis sie frei herabhing. Sie hatte gesehen, daß Weaver den Bildschirm an der Decke mit ungeheurer Konzentration betrachtete. Pearce sprach immer noch auf ihn ein. »Das Altern ist keine körperliche Krankheit, sondern eine geistige. Der Verstand wird müde und läßt den Körper sterben. Die Immunität der Cartwrights dem Tod gegenüber findet sich nur zur Hälfte in ihrem Blut; die andere Hälfte ist ihr unbeugsamer Wille, zu leben. Sie sind einhundertdreiundfünfzig Jahre alt. Ich habe Ihren Vater gepflegt, der starb, bevor Sie zur Welt kamen. Ich gab ihm, ohne es zu wissen, eine
Transfusion von Marshall Cartwrights Blut.« Weaver flüsterte: »Aber dann wären Sie ja –« Seine Stimme klang dünn und hoch. »Beinahe zweihundert Jahre alt«, sagte Pearce. Seine Stimme klang stärker, sonorer, tiefer – sie flüsterte nicht mehr. »Ich habe nie eine Transfusion von Cartwright-Blut erhalten, nie eine Injektion von Elixier vitae. Der wirksame Verstand kann bewußt die Kontrolle des autonomen Nervensystems, der Zellen erlangen, aus denen das Blut und der Körper bestehen.« Die Braut reckte den Hals, um auf den Bildschirm sehen zu können. Pearce sah merkwürdig aus. Er war größer geworden. Seine Beine waren gerade und muskulös, seine Schultern breiter. Während die Braut zusah, entwickelten sich Muskeln, Fleisch und Fett unter seiner Haut, festigten sie, glätteten die Runzeln. Die Gesichtsknochen verschwanden unter jungem Fleisch, junger Haut. Seidiges weißes Haar wurde dicht und dunkel. Seine eingesunkenen Lider wurden voll und hell. Dann öffneten sie sich. Und Pearce starrte Weaver an, groß, stark und hochaufgerichtet – gewiß nicht älter als dreißig Jahre. In diesem Gesicht war Macht zu spüren – kontrollierte Macht. Weaver wich davor zurück. Dann erschien Marna auf dem Bildschirm. Weavers Augen traten aus ihren Höhlen, sein Kopf zuckte zur Seite, sein Blick richtete sich auf die Braut. Harry warf den Schleier ab und faßte die Nylonschlinge mit zwei Fingern. Die Bedeutsamkeit seiner nächsten Bewegung übertraf alles bisher Dagewesene. Der erste Wurf mußte treffen, weil ihm kaum eine Chance für einen zweiten bleiben mochte.
Und wenn er in diese gewaltigen Arme geriet! Eine Umarmung würde ihn erdrücken. In diesem Augenblick fuhr Weavers Kopf überrascht hoch, und seine Hand zuckte zur Konsole. Harry warf die Schnur. Die Schlinge fiel über Weavers Kopf und spannte sich um seinen Hals. Ich habe einen Unsterblichen an der Angel, dachte Harry halb von Sinnen, einen großen, weißen Wal, der sich frei machen will, um ewig zu leben. Weaver hatte sich mit einer titanischen Anstrengung umgedreht. Er hatte seine Hände um die Schnur gelegt. Er zerrte an der Schnur, zog Harry zur Matratze. Harry stemmte sich mit den Fersen in den Boden. Weaver richtete sich auf, wie ein Wal seinen massigen Leib aus den Wellen erhebt und stand formlos und monströs im Raum. Dann versagte das Herz tief im Innern, und der Körper erschlaffte. Er floß wie ein schmelzendes Wachsbild auf die Matratze zurück, wo er fast ein Dreivierteljahrhundert verbracht hatte. Nach einem Zeitraum, dessen Länge er nie zu bestimmen vermochte, hörte er, daß ihn jemand rief. »Harry!« Es war Marnas Stimme. »Ist alles in Ordnung? Harry, bitte!« Er atmete tief ein. »Ja, alles ist in Ordnung.« »Geh zur Konsole«, sagte der junge Mann, der einmal Pearce gewesen war. »Du mußt die richtigen Tasten finden, aber sie dürften beschriftet sein. Wir müssen Marnas Mutter und Großmutter befreien. Und dann müssen wir verschwinden. Marshall Cartwright wartet draußen, und er wird ungeduldig sein.« Harry nickte, aber er blieb immer noch stehen. Man
mußte ein starker Mensch sein, um in eine Welt hinauszutreten, in der die Unsterblichkeit eine Tatsache war, nicht länger ein Traum. Er mußte damit und mit ihren Problemen leben. Sie würden schwieriger sein, als er je gedacht hatte. Er machte sich auf den Weg, um mit der Suche zu beginnen. ENDE
Als TERRA-Taschenbuch Band 341 erscheint:
Die Sonnenmacher SF-Roman von Lloyd Biggle, Jr. Welten der Galaxis in Gefahr Bn Ffallo, Kapitän eines Raumfrachters, macht eine erschreckende Entdeckung. Er findet in einem abgelegenen Sektor der Milchstraße anstelle eines Planeten eine neue Sonne vor und alarmiert sofort die galaktische Regierung. Der galaktische Computer ist ratlos – er hat keine Erklärung dafür, daß sich ein Planet plötzlich in eine Sonne verwandelt. Und so nimmt sich Jan Darzek, ehemaliger Privatdetektiv von Terra und gegenwärtiger Vorsitzender der galaktischen Regierung, des mysteriösen Falles an. Jan Darzek hat nur noch wenig Zeit, die unbekannten »Sonnenmacher« zu stellen, wenn er Milliarden von Lebewesen retten will, deren Welt als nächste von der Vernichtung bedroht ist.
Die TERRA-Taschenbücher erscheinen monatlich und sind überall im Zeitschriften- und Bahnhofsbuchhandel erhältlich.