Elisa Raven
Der Fluch des Meeres Irrlicht Band 082
Marion blickte auf eine große Lichtung. Gespenstisch erhoben sich...
11 downloads
889 Views
363KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Elisa Raven
Der Fluch des Meeres Irrlicht Band 082
Marion blickte auf eine große Lichtung. Gespenstisch erhoben sich an deren Seiten die hohen Tannen, und in der Mitte loderten die gewaltigen Flammen des Lagerfeuers so hoch, daß es aussah, als wollten sie bis in den Himmel brennen. Marion stockte der Atem. Sie verbarg sich hinter dem dicken Stamm einer mächtigen Tanne und konnte das, was sich ihr offenbarte, nicht glauben…
Die Männer und Frauen in ihren langen dunklen Gewändern standen dicht aneinandergedrängt vor dem großen Kamin in der mächtigen Halle des Castles. Sie umringten ein etwa zehnjähriges Kind, das sich zitternd vor Angst an seine weinende Mutter preßte. Doch es gab keine Gnade, denn draußen peitschten die Wogen des Meeres höher und höher an den Fels. Und der Feind stand bereits vor den Toren. »Du bist auserwählt, uns zu erretten. Dein Opfer wird die Götter besänftigen und unsere Familien vor dem Untergang bewahren.« Sie packten den schreienden Knaben, banden ihn an Händen und Füßen, und einer unter ihnen, auf den das Los gefallen war, ging mit ihm hinaus in die Dunkelheit. Er trug ihn die Stufen hinauf und warf ihn von den mächtigen Zinnen hinab in die unendliche Schwärze des Meeres. Die anderen beteten und geboten den Göttern ewige Treue. Alle zehn Jahre wollten sie zum Dank dieses Opfer wiederholen. Und sie wurden erhört.
*
»Marion…? Aufwachen, mein Liebling. Wir sind gleich da.« Marion schlug die Augen auf und blickte in das Gesicht ihres Mannes Harold, der neben ihr saß und sie liebevoll ansah. Sie strich sich die dunklen Locken aus dem Gesicht und lächelte ihn an. Sie war ihm sehr dankbar, daß er sie hatte schlafen lassen und sich in der Zeit um Jonathan, ihren fünfjährigen Sohn, gekümmert hatte.
»Du meine Güte, da habe ich aber lange geschlafen. Hoffentlich nimmst du mir das nicht übel.« Sie sah sich suchend in der luxuriös ausgestatteten Kabine der Privatmaschine um. »Aber… wo ist Jonathan?« Harold Cedrick legte seiner Frau beruhigend die Hand auf den Arm. »Er ist vorn in der Pilotenkanzel. Mach dir bitte keine Sorgen, es ist alles in Ordnung. Der Junge wollte halt zu gern einmal eine Landung aus nächster Nähe miterleben. Es ist ja auch ein richtiges Abenteuer.« Schottland! Ein leichter Schauer überlief Marions Rücken. Gleich würde sie die ersten Schritte auf dem Boden dieses Landes machen, das ihrem Mann nicht viel Glück gebracht hatte, aber sein Heimatland war. Obwohl sie jetzt schon seit sechs Jahren mit Harold verheiratet war, hatten sie Schottland nie besucht. Erst jetzt, nach dem überraschenden Tod seines Vaters im Spätsommer und den drängenden Briefen des vorläufigen Nachlaßverwalters hatten sie sich auf den Weg gemacht. Harold hatte in einem Jahre dauernden, nicht endenwollenden Zerwürfnis mit seinem Vater gelebt und sich deshalb auch nach dessen Tod noch einige Zeit gegen die Reise gewehrt. Zu guter Letzt aber hatte er die Führung seiner Londoner Firma in die Hände seines Prokuristen gelegt und das Personal in Cedricksburgh, dem Stammsitz der Familie, über seine Ankunft informiert. Das leichte Aufsetzen der Maschine riß Marion aus ihren Gedanken. »Mami, Mami, ich hab’ dem Piloten bei der Landung geholfen. Ehrlich! Ich glaube, ohne mich wäre das nicht so gut gegangen.«
Jonathan stand mit geröteten Wangen und zerwuselten Haaren vor seinen Eltern und konnte sich nur schwer wieder beruhigen. Er war gerade fünf geworden und kannte Schottland auch nur aus Märchenbüchern und ReiseführerAbbildungen.
*
Marion war erst 24 gewesen, als sie Harold kennenlernte. Sie hieß damals noch Bush und arbeitete als Assistentin in der Werbeagentur, die die Kampagnen für die diversen Firmen, die der Cedricks Incorporated angehörten, ausarbeitete. So hatte sie eines Tages die Bekanntschaft des Chefs der Cedricks Incorporated gemacht. Er war groß, dunkelhaarig wie sie und hatte dabei blitzend-blaue Augen, deren Blick sie von Anfang an nicht widerstehen konnte. Bald machte er ihr einen Heiratsantrag. Und da Marion sich nichts im Leben mehr wünschte, als mit diesem Mann zusammen ihr Leben zu verbringen, sagte sie natürlich ja. Und es verging kein halbes Jahr, da war sie schwanger. Und Harold zersprang vor Glück, als er endlich seinen geliebten Sohn in den Armen hielt.
*
Die große, schwere Limousine glitt langsam über die grünbewachsenen Hochebenen. Marion hatte schon oftmals von der herben, rauhen Natur Schottlands reden hören, und auch Harold hatte ihr immer wieder zu beschreiben versucht, wo er seine Kindheit verbracht hatte. Doch das, was sie jetzt an
sich vorüberziehen sah, war für sie von so unvergleichlicher Schroffheit und so wenig einladend, daß ein Frösteln sie überlief. Sie drückte den warmen Körper Jonathans an sich, der nun doch endlich eingeschlafen war. Sie strich ihm zärtlich über seine dunkelblonden Haare und fragte sich, welcher Art wohl der Empfang sein könnte, den man ihnen auf Cedricksburgh bereiten würde. Neben ihr begann sich jetzt Jonathan zu rühren. Er öffnete die Augen, gähnte laut und reckte dann aber schon gleich seinen Kopf in die Höhe, um aus dem Fenster zu sehen. »Mensch! Guckt doch mal! Was ist denn das für eine riesengroße Burg? Ist das so eine, wo noch Ritter drauf wohnen? Uiiih! Und die Türme! Echt toll!« Er konnte seinen Blick nicht abwenden, und auch Marion sah mit Erstaunen den großen dunkelgrauen Klotz vor sich aus dem Nichts auftauchen. So ein Ding wäre wirklich das richtige für die Ritter der Tafelrunde gewesen, und es hätte sie nicht gewundert, wenn ihnen gleich auf dem Weg schon zwei von ihnen hoch zu Roß in ihrem Harnisch begegnet wären. Harolds Gesicht überzog sich mit einem spöttischen Lächeln. »Tja, meine Lieben, dieses nette kleine Anwesen dort hinten an der Steilküste, dem wir uns nun so langsam nähern, ist der Stammsitz meiner Familie seit nunmehr 738 Jahren. Es hat sich zwar in all den Jahren einige Male etwas dort verändert, die alten Grundmauern sind aber zum größten Teil noch dieselben, in denen tatsächlich schon die Ritter hausten.« Jonathan schaffte es nur mit Mühe, seinen Mund wieder zuzubringen. In diesem Moment wuchs die Achtung, die er seinem Vater entgegenbrachte, ins Unermeßliche. »Warst du auch mal ein Ritter? So ein richtiger Ritter mit einer Rüstung?«
Harold mußte lachen, und auch Marion fand allein die Idee, sich ihren Mann als mittelalterlichen Recken vorzustellen, so komisch, daß sie kaum noch an sich halten konnte. Cedricksburgh lag an einer Einbuchtung des Meeres, direkt an der Steilküste, das wußte Marion aus Harolds Erzählungen. Sie hatte auch schon Abbildungen von dem Castle gesehen, doch so gewaltig hatte sie es sich dennoch nicht vorgestellt. Es war groß, aus grobem dunkelgrauem Granit gebaut und wurde beherrscht von vier hohen Ecktürmen. Umgeben war das Ganze von einem Graben, über den eine alte Zugbrücke führte. Marions Herz begann wild zu klopfen, als der Wagen endlich über die Brücke und durch das Tor in den Hof hineinfuhr. Niemand hatte die gebeugte Gestalt gesehen, die schon das Herannahen des Fahrzeugs von einem der Turmfenster aus beobachtet hatte. Jacob Ingram hatte mit großem Mißtrauen und bösen Vorahnungen auf das Eintreffen des neuen Herrn auf Cedricksburgh gewartet. Zuviel schon hatte er hier in seinen 79 Lebensjahren erlebt und gesehen, und wenig Gutes war es, das er sich für diesen jungen Mann und seine Familie ausmalte. Doch niemals hatte jemand ihn gefragt. Und auch dieses Mal hatte er keine Hoffnung, auch nur ein Deut von dem Bösen, was sich immer wieder über dieses Haus herabgesenkt hatte, abwenden zu können. »Na, siehst du. Es war alles halb so schlimm. Der Empfang, den sie uns bereitet haben, war doch sogar recht freundlich. Wenn du wüßtest, auf was ich mich alles innerlich vorbereitet hatte? Ach, ich will lieber gar nicht mehr daran denken.« Harolds Stimme überschlug sich fast, so sprudelte es aus ihm heraus. Er war sichtlich erleichtert und gelöst. Und Marion ging es ja gar nicht anders. Sie war mit weichen Knien aus dem Auto gestiegen und hatte den völlig aufgekratzten Jonathan nur mit Mühe an der Hand halten können. Erst als die Haushälterin Miß Rellwood, eine hagere, äußerlich recht
streng wirkende Frau, ihr freundlich lächelnd die Hand reichte und sie auf Cedricksburgh willkommen hieß, ließ die Unsicherheit etwas nach. Und von da an wurde es von Minute zu Minute besser. Sie ging an Harolds Seite durch die große, aus schweren Eichenholzbalken gezimmerte Eingangstür, begrüßte das Personal, das sich in einer Reihe vor dem großen Kamin in der Halle aufgestellt hatte, und wunderte sich über die verhältnismäßige Helligkeit in diesem uralten, übermächtig wirkenden Gebäude. Wie mußte es für Harold sein, dies alles nach so langer Zeit wiederzusehen? Überall waren Dinge, die ihn an seine Kindheit erinnerten, und über allem schien noch der Hauch der Vergangenheit zu liegen. Wie mochte der alte Herr auf Cedricksburgh hier zum Schluß gelebt haben? Marion hatte ihn ja niemals kennengelernt. Das einzige, was sie bis jetzt hier von ihm gesehen hatte, war sein Porträt in der Ahnengalerie, die in der großen Halle ihren Platz hatte. »Papa, bitte, ich möchte so gern alles sehen. Das Castle ist doch so groß, und ich will jetzt endlich wissen, wie die Ritter hier gelebt haben.« »Bitte, Jonathan, laß Papa doch einen Moment verschnaufen. Ich gehe mit dir – wenn es dir recht ist, Harold?« Es war ihm recht. Dankbar sah Harold seine junge Frau an. Sie kannte ihn lange genug, um wenigstens zu ahnen, was ihn bewegte.
*
Die Gänge und langen Flure schienen kein Ende zu nehmen. Schon seit etwa einer Stunde zogen Marion und Jonathan jetzt durch das Haus. Marion stand schon in der Tür des großen, ganz mit Holz getäfelten Raumes, der nicht so wirkte, als sei er noch vor kurzem bewohnt worden. Alles hier war zwar ordentlich und gepflegt, es roch jedoch so wie in alten Schlössern, in denen heute lediglich Besichtigungen stattfanden, aber nicht mehr gelebt wurde. Sie wollte jetzt wirklich wieder zurück. »Mami, sieh doch mal. Hier in der Ecke, an der Wand. Der arme Mensch! Was haben sie mit dem gemacht? Warum hat ihn jemand ins Wasser geschmissen? Huuh, das sieht nicht sehr schön aus.« Jonathan konnte sich gar nicht von dem Bild lösen, das da in einer Ecke des Raumes neben dem Kamin hing. »Ach bitte, nun komm endlich. Was weiß denn ich, wer da wen geschmissen hat.« »Bitte, sieh es dir doch mal an, und dann fragen wir Papa, ja?« Marion sah sich gezwungen, das Bild auch anzusehen. Es war ein alter Stich auf etwas vergilbtem Papier, etwa fünfzig mal dreißig Zentimeter groß. Das Motiv zeigte einen Mann – oder einen Jungen – der aus offensichtlich beträchtlicher Höhe in das Meer fiel. Das etwas Befremdende daran war, daß die Wogen sich für ihn zu öffnen schienen, ganz so wie der Rachen eines hungrigen Tieres. Der Künstler hatte es verstanden, die Schrecken der See und die Ängste der Menschen vor dem Ertrinken darzustellen. »Es ist kein besonders hübsches Motiv, aber weißt du, die Menschen hier müssen mit dem Meer leben. So wie mit allen Naturgewalten. Und vielleicht ist früher einmal jemand von den Klippen gestürzt, und aus diesem Grunde ist dann dieses Bild gemacht worden.«
*
Als sie zurück in die im ersten Stock liegenden Gemächer kamen, dorthin, ‘ wo sie Harold vor etwa eineinhalb Stunden verlassen hatten, fanden sie die Räume leer vor. Marion war im ersten Moment etwas ratlos, dann aber fand sie auf dem Sekretär unter dem Fenster eine Nachricht von ihrem Mann. Ich wurde zu einem Gespräch mit dem Verwalter gebeten. Ihr könnt hier auf mich warten oder euch schon zum Abendessen im Speisesaal einfinden. Gruß und Kuß – der alte Ritter Harold. Ein Lächeln überzog Marions Gesicht. Das war typisch für ihren Mann. Immer versuchte er, alles mit Humor anzugehen. Sie hatte gerade noch ein wenig ihr Make-up aufgefrischt und sich die Haare gebürstet, als Jonathan sie rief. »Mami, was ist denn das für einer? Der guckt hier immer so rauf – kennen wir den?« Marion ging zu ihm ans Fenster, konnte aber nur noch sehen, wie der alte Mann, der anscheinend noch kurz vorher heraufgeschaut hatte, jetzt in gebückter Haltung davonschlich. Er sah schon sehr alt aus, und Marion fiel auf, daß sie ihn bei der Vorstellung des Personals nicht gesehen hatte. »Ich weiß nicht, wer er ist. Vielleicht bekommt er hier auf der Burg nur noch so eine Art Gnadenbrot.« »Was ist das – Gnadenbrot? Kann man das essen?« Jonathan blinzelte sie fragend an. »Es ist so etwas ähnliches wie eine Rente. Das, was man den alten Leuten gibt, wenn sie nicht mehr arbeiten können. Es kann ja sein, daß der alte Mann hier schon lange gelebt und
gearbeitet hat, und nun können sie ihn nicht einfach fortschicken. Das wäre ja ungerecht.« Sie legte ihrem Sohn beide Arme um die Taille und hob ihn vom Stuhl herunter. »Nun wird es aber Zeit. Ich bin schon fertig, und jetzt bist du dran. Ich hab’ dir schon etwas anzuziehen hingelegt.«
*
Unten im Speisesaal war der Tisch schon für drei Personen gedeckt, aber niemand war zu sehen. Marion sah sich voller Bewunderung das herrliche alte Porzellan und die Silberbestecke an. In dem Moment, als sie gerade Platz genommen haften, öffnete sich die große Tür, und Miß Rellwood trat ein. »Guten Abend, Mylady. Wünschen Sie schon zu speisen? Es wäre überhaupt kein Problem, denn das Essen ist bereits fertig. Seine Lordschaft befinden sich noch in einer wichtigen Unterredung mit dem Verwalter und dem Rechtsanwalt des verstorbenen Lord Cedrick. Das kann noch eine Weile dauern.« Marion brauchte nicht lange zu überlegen, denn für Jonathan war es höchste Zeit zu essen. »Ich denke, wir fangen schon einmal an, Miß Rellwood. Wenn Sie bitte auftragen lassen würden.« »Sehr wohl, Mylady.« Die Hausdame verschwand mit einem Rauschen ihres wadenlangen Rockes. Alles an ihr wirkte gestärkt und gebügelt, sogar ihr hageres Gesicht. Sie entsprach eigentlich voll und ganz dem Klischee einer ältlichen, den Traditionen verbundenen Hausdame. Nachdem sie sich bei der Begrüßung
der neuen Herrschaft wohl an Freundlichkeit verausgabt hatte, war nun an ihr nicht mehr viel Herzlichkeit zu spüren. Sie war allerdings Marion gegenüber von ausgesuchter Höflichkeit. Bald ging die Tür auf, und ein Mädchen mit einer adretten weißen Schürze begann, die Speisen aufzutragen. »Guten Abend, Mylady. Ich hoffe, Sie haben sich schon ein wenig eingelebt.« »Danke, Linda. Wir haben noch nicht viel Zeit gehabt, uns hier umzusehen. Nur ein paar von den vielen Zimmern konnten wir besichtigen, und das war schon anstrengend genug für den ersten Nachmittag. Das Haus ist so groß, daß einem der Atem stockt. Da ist es ja auch kein Wunder, daß es so viel Personal gibt.« »Das ist wohl wahr, Mylady. Wir haben auch alle immer reichlich zu tun. Wissen Sie, jetzt, wo hier wieder eine Familie wohnt, da macht es auch gleich wieder viel mehr Spaß. Wir…« »Linda! Was fällt dir ein, die Lady vom Abendessen abzuhalten! Sieh zu, daß du an deine Arbeit kommst, aber ein bißchen plötzlich!« Miß Rellwood war in der Türöffnung erschienen und zischte die Worte vorwurfsvoll und unfreundlich zwischen den Zähnen hervor. »Verzeihung, Mylady, aber ich habe mich so gefreut, daß Sie da sind. Vielleicht…« Jetzt aber war Miß Rellwoods Geduld vollends zu Ende. Sie zog das Mädchen am Arm hinter sich her, und beide huschten aus dem Speisesaal.
*
Marion lag wach in dem großen, mit leider viel zu weichen Matratzen ausgestatteten Bett und starrte an die Decke. Auf das Fenster, das ihrem Bett direkt gegenüberlag, mochte sie nicht sehen, denn ein merkwürdig weiß-bläuliches Licht schimmerte durch die Vorhänge. Es ging und kam mit den schnell ziehenden Wolken, und es hatte Marion sofort an alle Gruselfilme erinnert, die sie jemals in ihrem Leben gesehen hatte. Hinzu kam das ständig gegenwärtige Rauschen des Meeres und das Klatschen der Wogen an den Fels, auf dem das Castle gebaut war. Es war gleich elf. Was um alles in der Welt war in Harold gefahren, sie hier so lange warten zu lassen?
*
Das Meer hat schon zu allen Zeiten großen Einfluß auf das Denken und Handeln der Menschen, die mit und von ihm lebten, gehabt. Am Tage erscheint es noch in einem anderen, hellen, oftmals sogar einladenden Licht. Wenn die Strahlen der Sonne sich auf der Oberfläche spiegeln, wenn alles so friedlich erscheint, dann vergessen wir so manches Mal, welche Macht und Stärke in ihm wohnt. In der Nacht aber, wenn sich die Dunkelheit wie ein geheimnisvoller Schleier über alles legt und oft nur das Rauschen oder gar Tosen der Brandung zu hören ist, dann erst wird uns bewußt, daß wir vorsichtig sein müssen im Umgang mit diesem Element, daß die unberechenbare Gewalt des Ozeans eine stete Bedrohung für die Bewohner der Küsten ist.
Und der Respekt und die Angst, die in ihnen ist, läßt sie erzittern, und die Dankbarkeit, die sie empfinden, wenn sie verschont bleiben, ist unendlich. Sie haben gelernt, mit dem Meer zu leben. Und ohne das Meer wäre ein Leben für sie nicht möglich. Doch oft ist der Preis, den sie zahlen müssen, viel zu hoch… Die beiden Männer waren kaum auszumachen in der Dunkelheit, Sie standen am Ende der alten Zugbrücke, die Hände tief in die Jackentaschen gegraben und die Kragen hochgeschlagen. Es war Herbst in den Highlands, und hier oben wehte ein scharfer Wind. Ihre Köpfe waren nahe beieinander, und nur wer direkt neben ihnen gestanden hätte, hätte hören können, was sie einander zu sagen hatten. Es war nichts Gutes, was da nach dem langen Gespräch mit dem neuen Burgherrn gesagt wurde. Und hätte Marion es hören können, sie wäre keine Sekunde länger auf Cedricksburgh geblieben. Doch sie hörte es nicht, denn mittlerweile war sie eingeschlafen, dicht an ihren Mann gekuschelt, der nun endlich neben ihr lag. Sie war zum Schluß nur noch erleichtert gewesen, ihn nach all den langen Stunden wieder bei sich zu haben. Erleichtert und glücklich, denn sie liebte ihn ja, und nichts hatte ihr so gefehlt wie seine Wärme und seine Nähe.
*
Marion erwachte, blinzelte einen Moment und mußte sich erst einmal an das Licht gewöhnen, das durch das Fenster auf ihr Bett fiel. Vor dem Fenster stand Harold und sah hinaus. »Ach, Marion, es tut mir so leid. Ich weiß ja, ich habe euch viel zu lange warten lassen. Aber es war ein so wichtiges
Gespräch, und die beiden wollten mich auch gar nicht wieder gehen lassen. Mir brummt richtig der Schädel von alldem, was ich erfahren habe. Es ist so viel an Arbeit und Organisation vonnöten, daß ich mich frage, wie ich das alles in der kurzen Zeit schaffen soll.« Er hob den Arm und zeigte hinaus, dorthin, wo sich hinter den Mauern das Meer befinden mußte. »Aber laß uns jetzt gar nicht daran denken. Wir müssen doch erst einmal alles kennenlernen. Und besonders Jonathan, der brennt sicher darauf endlich das Wasser zu sehen. Nach dem anstrengenden Tag gestern sollten wir uns heute wohl besser erst einmal an die neue Umgebung gewöhnen.« Jonathan war mit einemmal neben ihnen aufgetaucht und drängelte sich zwischen seine Eltern. Er war noch etwas verschlafen und hatte eine Ausstrahlung wie eine kleine Wärmflasche. So bildeten sie ein geradezu vollkommenes Familienidyll, die drei Cedricks. Denn sie wußten noch nicht, wie bald schon sich der Schrecken unabwendbar in ihr Dasein schleichen würde.
*
Sie schafften es tatsächlich, den ganzen Vormittag gemeinsam zu verbringen. Es war ein sonniger Tag, geradezu ideal für eine Besichtigungstour rund um das Castle und in die angrenzenden Ländereien. Doch zuallererst ging es ans Meer. Man erreichte es zum einen über einen Zugang zwischen den Felsen in etwa einhundert Meter Entfernung vom Castle. Stieg man hier hinab, gelangte man an einen grausandigen Strand, der an schönen Sommertagen durchaus zum Verweilen und Baden einladen mochte. Er lag inmitten grober
Felsvorsprünge, die ihn aber auch vor den allzu starken Winden schützten. In dieser Jahreszeit allerdings war es recht kalt dort unten, und Jonathan fror, obwohl er seinen allerdicksten Wollpullover trug. »Es ist wunderschön, und man fühlt sich der Natur sehr nahe hier. Sind die Leute von hier aus auch aufs Meer hinausgefahren?« Marion mußte laut sprechen, denn gegen die Brandung kam man stimmlich kaum an. »Nein, dazu gibt es noch eine andere Stelle, östlich von Cedricksburgh gelegen. Da ist so eine Art Landzunge, die ideale Voraussetzungen für die Schiffahrt bietet. Dies hier allerdings war seit jeher ein Platz für Schmuggler, und in Kriegszeiten sind auch zahlreiche Flüchtlinge bei Nacht und Nebel hier gelandet. Viele von ihnen sind allerdings auch draußen geblieben. Die Strömung hier ist sehr gefährlich, und wer einmal in den Sog ‘ gerät, der wird nicht wieder losgelassen. Noch niemals – das wird jedenfalls behauptet – wurde eine Leiche hier angespült. Es heißt, das Meer läßt die nicht wieder los, die es einmal genommen hat.« Ein Frösteln überlief Marion bei diesen Worten ihres Mannes. Und sie konnte nicht eindeutig sagen, daß es nur von der Kälte kam. Auf jeden Fall hatte sie keine Lust mehr, noch länger an diesem idyllischen, geschichtsträchtigen Plätzchen zu bleiben. »Komm, laß uns gehen. Sieh nur, Jonathan bibbert auch schon reichlich. Wir können ja von der Burg aus auch auf das Meer hinabsehen, oder?« Sie traten den Rückzug an und erklommen den Felsen in Gemeinschaftsarbeit. Doch als sie wieder im Auto saßen und sich auf den Weg in das zum Castle gehörende Dorf machten,
fiel Jonathan seine Beobachtung vom vergangenen Tag wieder ein. »Papa, da war so ein Bild in dem Zimmer. Neben dem Kamin. Mami hat es auch gesehen. Da ist einer runtergeschmissen worden oder so. Auf jeden Fall ist er ertrunken. Weißt du, wo das war?« Harold zuckte mit den Achseln. »Also, ich weiß eigentlich gar nicht, was für ein Zimmer du meinst, geschweige denn, was für ein Bild. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß hier irgendwo jemand hinuntergeschmissen worden ist. Vielleicht hast du dich getäuscht.« »Nein, nein, habe ich nicht. Ich 1 kann es dir ja zeigen, wenn wir wieder dort sind.« Jonathan konnte es nicht ertragen, wenn ihm jemand etwas nicht glaubte, und nur dadurch, daß sein Vater jetzt den Wagen auf den Hof eines ländlichen Anwesens lenkte, wurde er besänftigt. Schon als sie ausstiegen, kam ein mit einem dicken braunen Fell bewachsenes Kälbchen auf sie zu und leckte mit seiner rosa Zunge einmal durch Jonathans Gesicht. »Oh, ist das süß! Das hat ja richtige Locken. So was habe ich ja noch nie gesehen. Ist das von einer richtigen Kuh?« Harold war in der Zwischenzeit zu dem Wohnhaus, das an die großen Stallungen grenzte, hinübergegangen und sprach an dessen Eingangstür mit einem sehr robust aussehenden Mann, den Marion gleich für den Chef des Unternehmens hielt. Er winkte sie jetzt zu sich herüber. »Das ist Mr. McLaughlin. Er ist der Pächter dieser Ländereien und verwaltet sie in eigener Regie. Er ist übrigens der Vater von Linda, an die du dich vielleicht noch erinnerst. Sie arbeitet auf Cedricksburgh in der Küche und macht dort eine Ausbildung.« Marion schüttelte die dargebotene Hand und lächelte den Vitalität und Lebensfreude ausstrahlenden Mann freundlich an.
Dies also war Lindas Zuhause – und sie fand auch, daß das Mädchen hier viel besser herpaßte als in das alte Burggemäuer. »Wir würden uns gern einmal umschauen. Mein Sohn hat bis jetzt noch nicht viel mitbekommen vom Landleben, wissen Sie, und da ist das hier natürlich eine wunderbare Gelegenheit.« Eine halbe Stunde später war Harold dann mit allem fertig und verabschiedete sich von seinem Pächter. Sie fuhren nach Hause, begleitet von einem leichten Hauch von Stallgeruch, denn Jonathan hatte es nicht vermeiden können, in einen Kuhfladen zu treten. Ihn selbst schien das aber nicht zu stören. Er hatte soviel zu erzählen, daß es die ganze Fahrt über ohne Pause nur so aus ihm heraussprudelte. Sogar auf dem Weg in ihre Zimmer sprach er noch von Seefahrern, Schmugglern, Kühen und Kälbchen. Er konnte sich jetzt nicht mehr entscheiden, ob er Ritter, Seeräuber oder Landwirt werden wollte.
*
Harold war gleich nach ihrer Ankunft gegangen, ohne noch irgend etwas zu sich zu nehmen. Marion fand es schrecklich, allein mit ihrem Sohn in dem großen Raum mit den hohen Decken zu sitzen, um sich herum all die alten Bilder und die Fragmente längst vergangener Zeiten. Anfangs hatte sie sich doch darauf gefreut, zusammen mit ihrem Mann all das, was sie hier erwartete, zu entdecken und mit ihm gemeinsam die Vergangenheit aufzuarbeiten. Sie hatte versucht, Harold davon zu überzeugen, daß er sie mehr in alles einbeziehen sollte. Aber er hatte nur abgelehnt.
»Ach, Liebes, dieses hier sind doch sehr konservative Männer, und die fühlen sich durch die Anwesenheit einer Frau nur gestört. Das ist schon etwas anderes als zu Hause in London. Was solche Dinge angeht, sind sie hier geradezu reaktionär. Geschäfte sind etwas für Männer – das haben sie schon damals immer gesagt, und daran hat sich bis heute nichts geändert.«
*
Marion zog sich um und machte sich ein wenig frisch. Sie war ein bißchen schwermütig. Als sie ihr schweres Armband auf das Kaminsims legte, fiel ihr Blick auf die in silbernen Rahmen steckenden Familienfotos, die sie immer und überall mit hinnahm. Es war ein dreiteiliger Rahmen, rechts Harold, links sie selbst – ja, und in der Mitte ein Foto von Jonathan. Doch dieses Foto war nicht mehr an seinem Platz. Unwillkürlich erschrak sie. Später fragte sie sich oft, was ihr schon zu diesem Zeitpunkt so einen Schrecken eingejagt hatte. Es war geradezu, als hätte sie in diesem Moment alles in sich gespürt, was sich noch ereignen würde. Doch es war nur ein sehr leichter, sehr schnell vorübergehender Anflug. »Jonathan… hast du das Foto hier aus dem Rahmen genommen?« »Was für ein Foto, Mami?« Das allein klang schon überzeugend, weil es so unbeteiligt wirkte. Er war es also nicht gewesen. »Ach, laß nur. Wahrscheinlich hat Papa es mitgenommen.«
Der Mann in der schwarzen Kutte saß, auf Hände und Knie gestützt, auf dem steinigen Grund der Höhle. Sein Kopf war gebeugt, so tief, daß seine Stirn dabei den Boden berührte. Vor ihm in den rauhen, kalten Fels gehauen war eine Art Altar, schlicht und schmucklos, mit nichts als zwei weißen Kerzen bestückt. »Ich bin hier, um dir zu sagen, daß die Zeit naht. Die letzte Gabe, die wir dir darbringen konnten, liegt schon lange zurück, und die Angst meiner Brüder und Schwestern wuchs von Stunde zu Stunde. Doch bald ist es soweit, bald werden wir unseren Schwur erfüllen können.« Langsam und etwas schwerfällig erhob sich der Mann und ging mit schleppenden Schritten immer tiefer in die Höhle hinein. Übrig blieb nur das Geräusch der sich am Felsen brechenden Wellen. Und die Kerzen, die noch eine ganze Weile brannten und ihr Licht auf das Foto, das zwischen ihnen auf der Altarplatte lag, warfen.
*
»Kann ich Ihnen helfen, Mylady?« Marion sah sich überrascht um. Es war ein alter Mann, der sie jetzt freundlich anlächelte. »Äh… ja… ich weiß nicht recht. Entschuldigen Sie bitte, aber wer sind Sie überhaupt?« Sie mußte es einfach fragen, denn sie hatte den Eindruck, daß dies der Alte war, den sie schon gestern von Jonathans Zimmer aus im Hof gesehen hatten. Und da schien er sie ja gerade beobachtet zu haben. Aus welchem Grund auch immer.
»Oh, es tut mir leid, Mylady, Sie können mich ja gar nicht kennen. Ich bin aber schon so lange in Diensten der Cedricks, daß ich manchmal denke, ich gehöre schon zum Inventar. So wie eine alte Ritterrüstung vielleicht.« Er lächelte wieder, dieses Mal sah er aber dabei direkt in Jonathans Gesicht, der ihn mit offenem Mund anstarrte. »Na mein Junge, ich bin schon mächtig alt, nicht? Also, um es kurz zu machen – mein Name ist Jacob Ingram. Ich war zeitlebens der Bursche des alten Lord Cedrick. Wir sind quasi zusammen großgeworden, und ich habe mein ganzes Leben an seiner Seite verbracht. Tja, und nun ist er tot, und ich lebe immer noch. Sie haben mich nicht fortschicken können von hier, aber eine rechte Arbeit gibt es auch nicht mehr für mich. So gehen die Tage dahin, bis auch mich eines Tages der Gevatter Tod zu sich holen wird.« »Eigentlich könnten Sie uns tatsächlich helfen. Wir – beziehungsweise mein Sohn – würden uns so gern einmal etwas mehr mit allem hier vertraut machen.« Sie kam nicht dazu auszusprechen. »Ich will die Verliese sehen und die Kerker. So was muß es doch hier geben. Und dann will ich endlich einmal ein paar Ritter sehen. Weißt du, wo ich das kann?« Jonathan setzte seine ganzen Hoffnungen in den alten Mann, den er bestimmt auch für einen pensionierten Ritter hielt. Und er sah ihn mit weit aufgerissenen, geradezu bettelnden Augen an. »Also, die Verliese und Kerker, die kann ich dir nicht zeigen. Denn dazu gibt es gar keine Schlüssel mehr. Sie sind wohl schon vor vielen Jahren zugemauert worden, denn die Erinnerung an diese bösen Zeiten bringen ja nichts Gutes. Aber ein paar Ritter, die haben wir hier noch. Wenn ihr mir bitte folgen würdet.«
Und sie folgten ihm durch die Gänge, bis sie an eine große, mit vielen Schnitzereien versehene Tür kamen, die sie nur mit vereinten Kräften öffnen konnten. Dahinter lag ein wahrhaft riesiger Saal, dessen Wände, Decken und Boden mit Malereien bedeckt waren. Alle stellten in fast Lebensgröße Szenen aus dem Burgleben dar, von Turnieren über Bankette bis hin zu einem gewaltigen Kriegsgetümmel, in dem zu Marions Schrecken auch reichlich Blut floß. Jonathan aber schreckte dies nicht im mindesten. Er kam aus dem Staunen kaum noch heraus. Von vielen »Ahs« und »Ohs« begleitet, schritt er an Jacob Ingrams Seite Bild für Bild ab und hörte sich höchst interessiert die Beschreibungen des alten Mannes an. Er war fasziniert und begeistert – endlich hatte er seine Ritter gefunden. Marion war allerdings kaum weniger beeindruckt über die Größe und die Pracht dieses Saales. Sie konnte sich jetzt vorstellen, was für eine Macht in früheren Zeiten von diesem Ort ausgegangen sein mußte. Und ihr wurde bewußt, wie wenig sie von der Familie ihres Mannes wußte – und somit eigentlich auch von ihm. Denn das, was sie kannte, machte ja noch lange keinen Cedrick aus.
*
Harold hatte es tatsächlich geschafft, rechtzeitig zum Abendessen wieder bei seiner Familie zu sein. Fast genau in dem Moment, als auch Marion und Jonathan in ihre Gemächer zurückkehrten, war auch er eingetroffen. Er wirkte müde und erschöpft, und sein Gesicht war mit einer Blässe überzogen, wie Marion sie noch selten bei ihm gesehen hatte.
So reagierte er auch entsprechend, als Jonathan ihn mit all seinen Neuigkeiten überfiel, neben ihm auf dem Sofa auf und ab hopste und seiner Stimme mehr und mehr Lautstärke verlieh. »Oh, mein Gott, würdest du mich bitte in Ruhe lassen! Das hält ja kein Mensch aus. Marion, bitte, sag du es ihm auch.« Er faßte sich an die Stirn und sah seine Frau flehend an. »Erstens habe ich fürchterliche Kopfschmerzen, und zweitens könnt ihr mir glauben, daß das, was ich hier mache, anstrengend ist. Schließlich bin ich nicht nur zu meinem Vergnügen hier wie ihr.« Marion hätte diese Spitze gern überhört, doch leider war sie dazu schon nicht mehr in der Lage. »Wir? Zu unserem Vergnügen? Was denkst du dir eigentlich? Wie kannst du nur behaupten, wir wären zu unserem Vergnügen hier, wo du doch genau weißt, wie sehr ich darunter leide, hier ohne dich die Zeit verbringen zu müssen? Der einzige, der vielleicht noch Spaß hatte, war dein Sohn. Aber von mir kannst du das wirklich nicht sagen.« »Du bist schrecklich egoistisch, meine Liebe. Ich habe hier viel um die Ohren, sehr viel sogar. Und ich habe Verantwortung. Aber das verstehst du ja nicht, das kann man ja wohl auch nicht erwarten von einer Frau.« Marion stockte der Atem. Solche Worte hatte sie noch nie aus dem Mund ihres Mannes gehört. Zuerst wollte sie etwas erwidern, doch dann besann sie sich und schwieg. Es hatte im Moment wohl keinen Sinn, sich auf eine Diskussion einzulassen. So verbrachten die beiden einige Zeit schweigend, Harold lesend auf dem Sofa, Marion mit Jonathan in dessen Zimmer, bis sie endlich eine halbe Stunde später gemeinsam zum Abendessen gingen. Später brachte Marion Jonathan zu Bett.
Er schlief schon fast, hatte die Augen geschlossen und drückte sein Gesicht an sein Kuscheltier. Marion war immer wieder zutiefst gerührt von dem Anblick ihres schlafenden Sohnes. Wieviel Ruhe und Frieden strahlte so ein Kindergesicht im Schlaf aus – und wie sehr liebte sie ihn. Sie schlich hinaus und zog leise die Tür hinter sich zu. Harold stand schon im Mantel vor ihr. »Ich glaube, es ist besser, ich gehe noch einmal für einen Augenblick an die frische Luft. Sei mir nicht böse, aber vielleicht bekomme ich so meine Kopfschmerzen wieder in den Griff.« Und dann war er verschwunden, und zurück blieb nur eine unglaubliche schwarze Leere in Marions Kopf. Sie schaffte es nicht einmal zu weinen.
*
Die Nacht senkte sich über Cedricksburgh, und es war die Stunde, in der sich die Nachfahren derer, die einst den Schwur geleistet hatten, zusammenfanden. »Die Zeit arbeitet gegen uns. Wir dürfen es nicht mehr lange aufschieben. Die Götter werden kein Nachsehen haben mit uns, und die Natur darf sich nicht noch einmal gegen Cedricksburgh verschwören.« Das Gesicht des Mannes war nicht zu erkennen. Der Schein der Kerzen warf nur ein schwaches Licht, und er hatte die Kapuze tief in die Stirn gezogen. »Der Fluch wird all die treffen, die sich gegen uns stellen.« Er hob seinen Arm und deutete mit einer drohenden Geste auf all die, die um ihn herum auf dem Boden saßen.
»Ihr seid nur die Werkzeuge! Tut, was euch gesagt wird, und alles wird ein gutes Ende nehmen. Wer sich verweigert, wird untergehen, und mit ihm seine Familien und all sein Hab und Gut.« Ein zustimmendes Gemurmel erhob sich, die Angst hatte sich ihrer bemächtigt, sie wären zu allem bereit gewesen, wie auch schon Generationen vor ihnen…
*
»Es ist ein schöner Tag heute, vielleicht solltet ihr noch einmal einen Ausflug an die Landzunge machen, von der ich euch erzählt habe. Es ist ja nicht weit von hier, und ihr könnt den Wagen nehmen.« Marion blieb das Brötchen vor Überraschung im Hals stecken. »Wieso? Kommst du nicht mit?« Harold sah sie etwas verkniffen an. Er war sich offensichtlich seiner Schuld bewußt. »Ich werde versuchen nachzukommen, wenn ich hier fertig bin. Es wird heute sicher nicht lange dauern.« Jonathan sah, daß seine Mutter mit den Tränen kämpfte, und stand von seinem Stuhl auf, um zu ihr zu laufen. »Mami, du mußt gar nicht traurig sein. Wir werden den alten Mann von gestern bitten, mit uns zu kommen. Ich weiß, wo er wohnt. Ich habe ihn gefragt.« Marion war ganz gerührt und streichelte dem Kleinen liebevoll die Wange. »Das ist eine gute Idee, mein Schatz. Ich werde einmal darüber nachdenken.« »Von was für einem alten Mann ist hier die Rede?«
Harold war mit einemmal sehr interessiert. »Ach, weißt du, wir haben gestern nachmittag, als wir allein durch das Haus wandelten, einen alten Mann getroffen. Sein Name ist Jacob Ingram. Er war sehr nett und aufmerksam zu uns und hat uns den großen Saal mit den Wandmalereien gezeigt.« »Haltet euch fern von diesem Ingram! Er war der Vertraute meines Vaters und kann nichts Gutes im Schilde führen. Er ist genauso ein alter Querkopf, wie auch mein Vater einer war, und steckt seine Nase immer nur in Sachen, die ihn nichts angehen.« Marion sah, daß ihr Mann dabei war, sich aufzuregen. Sie verstand es nicht, denn der Eindruck, den sie von dem alten Ingram gehabt hatte, war ein völlig anderer gewesen. »Er war aber sehr höflich zu uns und hat nichts gesagt oder getan, was nicht rechtens gewesen wäre.« »Ich will nichts weiter darüber hören! Ich wünsche nicht, daß ihr mit diesem Mann zusammen seid. Es gibt hier genug andere Leute, die ihr um Rat und Beistand bitten könnt. Wenn ihr irgendwelche Probleme habt, wendet euch an Miß Rellwood. Sie genießt mein Vertrauen.« Er war sichtlich erregt, knüllte seine Serviette zusammen, stand vom Tisch auf und ging nur noch anstandshalber zu seiner Frau, um ihr einen Kuß auf die Wange zu hauchen. Es war eine Farce, dieser Abschiedskuß, und Marion stiegen die Tränen in die Augen. Als ihr Mann den Raum verlassen hatte, schluckte sie und schneuzte sich in das Taschentuch, das Jonathan ihr gereicht hatte. Sie hätte zu gern gewußt, was es war, das ihren Mann so hatte außer sich geraten lassen. Seine Erregung stand doch in keinem Verhältnis zu dem, was sie gesagt oder getan hatte. Die Tür ging auf, und Linda fragte, ob sie noch etwas servieren
dürfe. Taktvoll übersah sie die verweinten Augen der neuen Herrin von Cedricksburgh und wandte sich statt dessen an deren Sohn. »Wenn du Lust hast – und deine Mami es erlaubt – kannst du ja vielleicht noch einmal mit mir zusammen zu meinen Eltern nach Hause fahren. Wir bekommen nämlich demnächst wieder Kälbchen, und das ist doch bestimmt interessant für einen Großstadtjungen wie dich.« »Au ja! Das wäre toll!« Er war schon aufgesprungen und hüpfte aufgeregt hin und her. »Jetzt gleich? Mami, bitte sag doch ja!« Linda blickte Marion an, und beide fingen gleichzeitig an zu lachen. »Halt, mein Freund. Nicht so schnell. Jetzt hat Linda erst einmal einen langen Arbeitstag vor sich. Und dann müssen wir uns absprechen, wann es denn am besten paßt. Da müssen wir uns nämlich ganz nach Linda und ihrer Familie richten, denn die haben ja alle sehr viel Arbeit – ganz im Gegensatz zu uns beiden.« Sie waren fertig mit dem Frühstück, und Marion dachte, es wäre wohl am besten, so schnell wie möglich das Haus zu verlassen. Immer mehr fühlte sie sich hier von den Mauern erdrückt. Und wenn dazu noch so ein Streit mit Harold kam, dann konnte sie es kaum noch aushalten.
*
Sie hatten schon unten im Auto gesessen, da war Marion eingefallen, daß sie besser ihre Gummistiefel mitnehmen sollte. Sie bat Jonathan zu warten und ging mit eiligen
Schritten durch den großen Kaminsaal und dann die Treppe hinauf zu ihren Gemächern. Als sie auf dem Absatz des ersten Stocks angekommen war und dann um die Ecke in den Gang bog, von dem die Türen zu ihren Räumen abgingen, sah sie gerade noch, wie sich eine Gestalt aus ihrem Zimmer schlich und dann wie ertappt davoneilte. Als sie das Licht anmachte, war es schon zu spät, und in der Dunkelheit des fensterlosen Ganges hatte sie nicht viel erkennen können. Langsam und vorsichtig pirschte sich Marion an ihre Zimmertür heran. Man konnte ja nicht wissen, ob sich noch jemand unerlaubt dort aufhielt. Sie gab der Tür, die nur angelehnt war, einen Schubs und spähte vorsichtig in den dahinterliegenden Raum. Aber es war nichts zu sehen oder zu hören. Auf Zehenspitzen trat sie ein, sah in jede Ecke und war dann beruhigt. Sie war allein. Aber sie war sehr verunsichert, hatte Angst und fragte sich ein weiteres Mal, warum jemand hier gewesen sein mochte. War es ein einfacher Einbrecher gewesen, oder hatte diese Person etwas ganz Bestimmtes gesucht? Sie fuhr sich mit einer hilflosen Geste durch die Haare und merkte, wie ihr schwindlig wurde. Alles begann sich zu drehen, und sie sank kraftlos auf das Sofa. Es mußte eine ganze Weile vergangen sein, als sie die Augen endlich wieder öffnete. Und sie sah dabei in ein anderes Paar Augen, das sie mit viel Wärme und Freundlichkeit betrachtete. Jacob Ingram stand neben ihr, vornübergebeugt, und hielt ihre Hand. »Na, Mylady, wie fühlen Sie sich? Blaß sind Sie, und Sie sehen sehr müde aus. Was ist denn nur passiert? Ist Ihnen übel geworden?« »Es ist schon wieder gut, Mr. Ingram. Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
Sie überlegte, ob sie ihm etwas von ihrem ungebetenen Gast erzählen sollte, tat es dann aber doch nicht. Noch kannte sie die Zusammenhänge hier auf Cedricksburgh nicht. Sie hatte keine Ahnung, wie die Verhältnisse und Beziehungen der einzelnen Personen waren. Also war es besser, sie behielt erst einmal alles für sich. Jetzt fiel ihr Jonathan ein. Der Arme! Er mußte ja schon eine lange Zeit unten im kalten Auto gesessen und auf sie gewartet haben. »Oh, mein Gott! Mein Sohn. Er wird sich schon Sorgen machen. Ich muß sofort nach unten.« Und sie sprang auf, schüttelte dem alten Ingram noch einmal dankbar die Hand und rannte über den Gang in Richtung Treppe. Sie sah nicht mehr den sorgenvollen Blick des Alten, der in ihrer Zimmertür stand und hinter ihr hersah. Leise zog er die Tür hinter sich ins Schloß und ging dann mit gesenktem Kopf davon.
*
Marion war durch die Halle auf die große Eingangstür zugestürmt, hatte sich mit aller Kraft dagegengestemmt und war dann durch die geöffnete Tür zum Brückenhäuschen gelaufen, neben dem sich die Carports befanden. Schon bevor sie die Autotür geöffnet hatte, sah sie, daß Jonathan nicht da war. Das Auto war leer. Zuerst dachte sie, er hätte sich versteckt, um sich für die lange Wartezeit zu revanchieren. »Jonathan, wo bist du?« Sie ging um den Wagen herum und blickte suchend um sich. »Hallo! Ich bin wieder da, mein Schatz.«
Ein seltsam ängstliches Gefühl bemächtigte sich ihrer. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und ihr Herz begann wild zu klopfen. Trotzdem bemühte sie sich, ihrer Stimme einen ganz normalen, fröhlichen Klang zu geben. Vielleicht saß er ja jetzt in irgendeiner Ecke und lachte sich eins. »Los, komm raus, du Schlingel! Es ist kalt hier draußen, und wir wollten doch noch etwas unternehmen.« Aber nichts rührte sich, kein noch so kleines Zeichen deutete darauf hin, daß ihr Sohn hier irgendwo in der Nähe war und nur auf sie wartete. Mit einemmal kam sich Marion schrecklich einsam vor. Sie hätte jetzt Hilfe gebraucht und wünschte sich, Harold wäre bei ihr. Sie mußte sich ganz schnell auf die Suche nach Jonathan machen. Hier lauerten tausend Gefahren, und er kannte sich ja gar nicht aus in dieser Gegend. Sie stand dennoch unschlüssig und nahezu bewegungsunfähig herum. Wo sollte sie ihn suchen?
*
Marion hatte das Auto stehen lassen und war zu Fuß auf die weitere Suche gegangen. Sie lief wie aufgezogen, immer wieder den Namen ihres Sohnes ausrufend. Sie hatte Angst. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen war sie in Richtung auf die Bucht gelaufen, die sie gestern vormittag gemeinsam mit Harold und Jonathan besucht hatte. Aus irgendeinem Grund sah sie ihre letzte Hoffnung, ihn zu finden, hier. Er war ja so begeistert von dem Gedanken gewesen, daß sich Piraten und Schmuggler an diesem Strand ein Stelldichein gäben, daß er vielleicht alles noch einmal ansehen wollte.
Rasch war sie den Fels hinuntergeklettert und stand jetzt unten am Strand. Sie blickte in alle Richtungen, aber von Jonathan war nichts zu sehen. »Jonathan… Jonathan!« Sie schaffte es kaum noch, richtig laut zu rufen. Ein dicker Kloß steckte in ihrer Kehle, und die Tränen rannen ihr schon aus den Augen. Jetzt hatte sie fast schon die ganze Bucht abgelaufen, es lag nur noch ein kleiner Felsvorsprung vor ihr, hinter dem sie nachsehen konnte. Der Wind wurde eisig, als sie über die Steine geklettert war und auf einem winzigen Stückchen Strand stand, das von der anderen Seite aus kaum einzusehen gewesen war. Sie rief Jonathans Namen, verzweifelt, mit bebender Stimme. »Mami?… Bist du das?« Ihr Herz krampfte sich zusammen. Es war Jonathans Stimme, aber sie klang wie von weit her, dünn und leise. »Wo bist du, mein Junge? Wo bist du?« »Hilf mir, Mami! Ich bin hier drin und komme nicht mehr raus. Bitte komm!« Sie ging der Stimme entgegen, könnte noch immer nichts erkennen. »Sag mir, wie ich dich finden kann!« »Hier, Mami, hier in der Höhle bin ich!« Sie mußte vorsichtig laufen, der Sand war gespickt mit Felsbrocken und kleineren Steinen. Am liebsten wäre sie gerannt, obwohl sie noch keine Höhle entdecken konnte. »Ich komme, mein Schatz, gleich bin ich bei dir!« Jetzt war sie am hintersten Zipfel der Bucht angelangt, dort, wo das Wasser schon bedrohlich nahe kam, und sie fragte sich, wie um alles in der Welt Jonathan allein bis hierhin vorgedrungen war. Sie mußte sich an der Felswand festhalten, um nicht abzurutschen – und dann, endlich, sah sie es.
Es war ein ganz schmaler, länglicher Spalt im Gestein, kaum breiter als ein Mensch, und auch etwa genauso groß. Was genau dahinter war, konnte man nicht erkennen, denn alles lag in völliger Dunkelheit. »Mami, Mami, ich habe Angst. Bist du da und holst mich?« Jonathans Stimme klang so matt, daß Marion heftig schlucken mußte. Sie zwängte sich durch den Spalt und war im Nu von Dunkelheit umgeben. »Ich kann dich nicht sehen, mein Schatz, du mußt mit mir sprechen, damit ich dich finden kann.« Sie tastete sich langsam an der Wand entlang. »Hier bin ich doch, Mami. Hier unten. Die Taschenlampe ist mir hingefallen, und dann ging sie nicht mehr. Und dann bin ich ausgerutscht, und mein Fuß tut so weh.« Marion war auf allen vieren vorangegangen und tastete suchend über das kalte Gestein. Endlich fühlte sie Jonathans Hand, dann seinen Arm. Und schon war sie ganz bei ihm und drückte ihn an sich. »Mami… gut, daß du da bist.« Sie konnte nicht mehr an sich halten, vergrub ihr Gesicht in seinen Haaren und hatte große Mühe, die Tränen zurückzuhalten, um überhaupt sprechen zu können. »Gott sei Dank! Ich hatte so furchtbare Angst um dich. Wie bist du nur hierher geraten? Wir müssen sehen, daß wir wieder rauskommen. Es ist so wahnsinnig dunkel.« »Aber mein Fuß tut so weh. Ist der jetzt gebrochen?« Vorsichtig tastete sie im Dunkeln den Knöchel ab und stellte eine starke Schwellung fest. »Bist du damit umgeknickt?« »Ja, ganz doll weh getan hat das. Kann ich denn laufen?« »Das weiß ich nicht, mein Schatz. Wir müssen es probieren.« Sie half ihm aufzustehen und stützte ihn dann unter den Armen.
»Au! Das tut weh, aber ich glaube, es geht.« »Toll, ganz toll bist du, mein großer Junge. Dann werden wir auch hinauskommen. Stütz dich nur auf mich.« Langsam hatten sich Marions Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und sie blickte um sich und versuchte, irgend etwas zu entdecken. Aber alles, was sie sehen konnte, war nur, daß die Höhle an dieser Stelle sehr schmal war. Es sah allerdings so aus, als würde sie sich nach hinten verbreitern. Auf jeden Fall war sie sehr viel größer, als man von außen vermuten würde. Wahrscheinlich war sie einmal ein ideales Versteck für Schmuggler gewesen. Behutsam, ein Bein vor das andere setzend, machten sich die beiden auf den Rückweg. Es war recht mühsam, über den unebenen Boden zu gehen, aber wenn es gar nicht mehr klappte und Jonathans Schmerzen zu groß wurden, dann trug sie ihn zwischendurch ein Stück. So schafften sie es tatsächlich, den langen Weg zurück zur Burg hinter sich zu bringen. Es stellte sich heraus, daß Jonathan sich eigentlich nur die lange Wartezeit abwechslungsreicher hatte gestalten wollen. Im Auto lag immer die Taschenlampe, die er dankbar an sich genommen und damit zuerst einmal die Gegend direkt um die Burg abgeleuchtet hatte. Dann war ihm die Idee mit dem Strand gekommen. Natürlich war er da schon soweit gewesen, daß er seine Mutter und alles andere um sich herum völlig vergessen hatte. In dem Moment waren nur noch die Seeräuber wichtig gewesen… Nach fast zwei Stunden hatten sie es endlich geschafft. Marion stand völlig entkräftet und durchgefroren mit ihrem Sohn auf dem Arm in der großen Halle und war einerseits glücklich, wieder hier zu sein, hätte andererseits aber alles dafür gegeben, Jonathan zu seinem Kinderarzt bringen zu können.
»Weißt du was, mein Schatz, ich trage dich jetzt erst einmal nach oben, und dann werde ich Linda bitten, uns etwas zu essen und eine schöne warme Milch hinaufzubringen. Oben können wir uns dann in aller Ruhe deinen Knöchel ansehen.« Sie war schon auf dem Weg zur Treppe, als sie hinter sich die Stimme von Miß Rellwood hörte. »Mylady! Ich habe eine Nachricht von Ihrem Mann für Sie.« Marion drehte sich um und sah in das strenge Gesicht der Hausdame. »War er hier?« »Ja, gewiß, und er hat nach Ihnen gefragt. Es war ja schon Mittag, und Sie waren immer noch nicht wieder hier. Er fand es sehr bedauerlich, daß er Sie nicht angetroffen hat und daß Sie nicht einmal eine Nachricht hinterlassen hatten. Außerdem war ihm wohl aufgefallen, daß Sie das Auto gar nicht benutzt haben. Er hat es jetzt mitgenommen.« Alles war in einem so vorwurfsvollen Ton vorgebracht worden, daß Marion die Frau eigentlich hätte zurechtweisen müssen. Da sie aber dazu nicht mehr in der Lage war und Miß Rellwood auch nicht im mindesten von ihrer Notsituation Kenntnis nahm, wandte sie sich nur ab und ging schwerfällig die Treppe hinauf. »Mami, ist diese Frau böse? Warum hilft sie uns nicht?« Jonathan hatte die Arme fest um Marions Hals geschlungen, so, daß es ihr schon weh tat. Aber sie waren schon auf dem Gang angekommen, und gleich würde sie ihn auf das Sofa legen können. »Ich weiß nicht, was sie hat. Aber es könnte sein, daß sie keine Kinder und deswegen auch so wenig Verständnis hat.« Aber eine richtige Erklärung fand sie auch für sich selbst nicht für das unhöfliche Verhalten dieser Frau. Sie war nur sehr betroffen davon, weil sie es doch hier schon schlecht
genug getroffen hatte. Und Harold schien auch noch in die gleiche Kerbe hineinzuhauen wie sie. »Mami, ich habe so einen Hunger.« Der Knöchel sah zwar nicht besonders gut aus, Marion tippte aber immer noch auf eine Verstauchung. Sonst hätte Jonathan ja sicher keinen Schritt gehen können. Sie wollte sich aber auf jeden Fall einmal nach einem Kinderarzt erkundigen, um auch wirklich nichts falsch zu machen. Über das Haustelefon durfte Jonathan selbst in der Küche anrufen und sich etwas zu essen bestellen. Und es vergingen dann nur ein paar Minuten, bis jemand an die Tür klopfte. »Das ist sicher Linda, ich mache rasch auf.« Irgendwie freute sich Marion schon, gleich das freundliche Gesicht zu sehen und mit jemandem ein paar Worte wechseln zu können. Sie öffnete die Tür. »Guten Tag, Mylady, ich bringe die Aufbaukost für Ihren Sohn. Drei dicke Stullen, ganz so, wie er es sich gewünscht hat. Dazu einen Apfel und einen großen Becher Milch.« »Vielen Dank, Linda. Können Sie mir sagen, ob es hier in der Nähe einen Kinderarzt gibt? Ich denke, es wäre das beste, wir beide würden gleich einmal dorthin fahren.« Linda machte ein nachdenkliches Gesicht. »Einen Kinderarzt? Nein, ich kenne keinen. Vielleicht…« Aber weiter kam sie nicht. Plötzlich und von allen unbemerkt war Harold aufgetaucht. »Was ist hier los? Wozu braucht ihr einen Kinderarzt?« Er sah schlecht aus, seine Haare waren zerzaust, und sein Gesicht war trotz der Wut, die er offensichtlich im Bauch hatte, ganz blaß. »Jonathan hat sich beim Klettern den Knöchel verstaucht. Aber ganz sicher bin ich nicht, deswegen möchte ich lieber zu einem Arzt.«
»Wie kann so etwas passieren? Konntest du nicht besser auf ihn aufpassen? Oder habt ihr euch doch wieder mit dem alten Ingram eingelassen?« Harold schien derart aufgebracht und ungeduldig, daß Marion Mühe hatte, in ihm den Mann wiederzuerkennen, mit dem sie jetzt schon seit sechs Jahren verheiratet war. Und das war auch der Grund, aus dem sie ihm nichts von Jonathans Abenteuer erzählte. Das würde nur noch mehr Ärger heraufbeschwören. »Nein, das haben wir ganz sicher nicht. Jonathan ist ausgerutscht, das kann schon mal vorkommen bei einem Jungen. Aber dennoch tut ihm der Fuß weh, und ich würde es gern einmal ansehen lassen.« Harold ging hinüber zum Sofa und beugte sich über seinen Sohn. »Na, mein Junge, laß mich mal sehen.« Er tastete den Knöchel ab, und Jonathan verzog das Gesicht. »Au, das tut weh!« Harold ließ abrupt los und sah ihn vorwurfsvoll an. »Nun stell dich nicht so an wegen einer kleinen Verstauchung. Und überhaupt, mit so etwas hier auf dem Sofa zu liegen und sich bedienen zu lassen, das ist ja wohl etwas übertrieben.« Dann wandte er sich wieder an seine Frau. »Ich kann dir nur den guten Rat geben – geh nicht mit ihm zu irgendeinem Quacksalber. Der Junge muß ein bißchen härter werden, das war schon immer meine Meinung.« Und ohne auf eine Antwort zu warten, verließ er den Raum.
*
»Wir haben ihn fast so weit. Er ist schon auf unserer Seite. Und das muß auch so sein, denn er selbst muß es tun. Nur dann hat der Schwur seine Gültigkeit. Ihr werdet sehen, alles wird sich für uns zum Guten wenden.« Sie sahen die Gestalt in der dunklen Kutte gebannt an. Sie war es, die die Gruppe zusammenhielt. Allein die Autorität dieses einen Menschen und seine Bestimmtheit gaben ihm seine Macht. Sie waren wie Wachs in seiner Hand. Doch nichts waren sie ohne ihn.
*
Marion war auf einen Sessel gesunken und hatte angefangen, stumm vor sich hin zu weinen. Sie hatte gar nicht bemerkt, daß Linda noch immer etwas verloren und mit vor Scham gerötetem Gesicht in der anderen Ecke des Zimmers stand. Und als das Mädchen ihr jetzt ein Taschentuch reichte, konnte sie sie nur dankbar mit geröteten Augen ansehen. Nach einer Weile hatte sie sich wieder beruhigt, dafür weinte aber Jonathan um so heftiger. »Bitte, mein Schatz, beruhige dich. Es wird alles gut werden. Papa ist etwas überarbeitet.« Der Junge schluchzte laut auf und lehnte seinen Kopf an ihre Schulter. »Aber warum spricht er so laut? Das hat er doch noch nie getan?« Marion wußte ihm keine Antwort darauf zu geben. Sie streichelte ihm nur immer wieder über die Haare und drückte ihn ganz fest an sich. »Es wird alles gut werden, das verspreche ich dir.«
Linda war inzwischen, von den beiden unbemerkt, aus dem Zimmer hinausgegangen. Sie hörten nur noch, wie sie leise die Tür hinter sich ins Schloß zog. Mutter und Sohn saßen noch einen Moment so eng umschlungen auf dem Sofa, dann stand Marion auf. »Jonathan, ich denke, wir sollten doch einen Arzt aufsuchen. Laß uns einfach losfahren, irgendwo werden wir schon einen finden. Es kann ja nicht sein, daß es’ hier keinen Kinderarzt gibt. Schließlich soll es ja auch Kinder geben in den Highlands.« Auch der Junge hatte sich in der Zwischenzeit wieder beruhigt und war mit allem einverstanden, was seine Mutter vorschlug. Er hatte immer eine sehr starke Bindung an seinen Vater gehabt, im Moment jedoch konnte er mit ihm nicht zurechtkommen. Man spürte deutlich, daß Harolds verändertes Verhalten starke Zweifel bei ihm auslöste und daß es ihn sehr beschäftigte. Er fühlte sich offensichtlich dadurch mehr und mehr zu seiner Mutter hingezogen. Die beiden machten sich für die Fahrt zum Arzt fertig. Jonathan bekam eine bequeme Jogging-Hose und dicke Socken an. In Schuhe wollte Marion ihn nicht reinquälen. Sie selbst nahm sich kaum Zeit für sich. Zu Hause liebte sie es, sich ausgiebig um ihre Schönheit und Körperpflege zu kümmern. Hier aber war so etwas zweitrangig – es gab viel wichtigere Dinge. Als Marion mit dem humpelnden Jonathan an ihrer Seite das Zimmer verließ und hinter sich abschloß, hörte sie neben sich ein Räuspern. »Bitte, verzeihen Sie, Mylady. Aber leider wurde ich Zeuge Ihrer Auseinandersetzung, weil die Tür offenstand. Ich bitte Sie, es nicht als Einmischung in Ihre Angelegenheiten zu verstehen, aber ich wüßte einen guten Kinderarzt. Einen sehr guten sogar. Sein Name ist Gregory Walsh. Er hat seine Praxis
in Wisby, das ist etwa zehn Kilometer von hier. Sie können mir vertrauen, Mylady, ganz bestimmt.« Er hatte die ganze Zeit sehr leise gesprochen und dabei immer wieder wie gehetzt um sich geblickt. Jetzt drückte er der verblüfften Marion einen kleingefalteten Zettel in die Hand. »Hier, ich habe Ihnen alles aufgeschrieben. Sie werden es nicht bereuen.« Und dann war er auch schon in der Dunkelheit des Ganges verschwunden. »Mami, das war doch der nette alte Mann von gestern. Was hat er dir gegeben?« »Ich glaube, es ist die Adresse von einem Arzt. Komm schnell, wir werden hinfahren.« Sie half ihrem Sohn beim Laufen, und als sie die Halle durchquerten, bemerkte Marion gerade noch, wie ihr die zornigen Augen Miß Rellwoods aus der Tür des Speisesaals nachblickten. Sie fragte sich gar nicht mehr, was diese Frau eigentlich gegen sie haben könnte. Es war ihr schon fast gleichgültig. Wahrscheinlich würde sie alles gleich wieder Harold brühwarm erzählen, wenn er nach Hause kam. Sollte sie nur. »So, jetzt haben wir es gleich geschafft. Dann sitzen wir im warmen Auto, und du kannst deinen Fuß schonen. Tut’s doll weh?« Jonathan lächelte tapfer. »Nein, eigentlich nicht. Nur wenn ich drauf stehe. Dann aber auch gleich ganz doll!« Marion hatte es gar nicht mehr in Erwägung gezogen, daß das Auto ja auch hätte weg sein können. Immerhin wäre es ja möglich gewesen, daß Harold es mitgenommen hätte. Aber er war zu Fuß unterwegs oder mit jemand anderem mitgefahren. Oder aber er war gar nicht weit weg von hier. Aber wo?
Sie hatte im Moment das Gefühl, daß er sie nie wieder in seine Pläne und Unternehmungen einbeziehen würde. Es schienen sich riesige Trennwände ganz langsam zwischen ihnen aufzubauen. Marion hatte die ganze Fahrt über nicht viel mit ihrem Sohn gesprochen, zu viele Dinge gab es, die ihr immer wieder durch den Kopf gingen. Doch Jonathan störte es anscheinend nicht. Er hatte sich alles ganz genau angesehen. Dann passierten sie das Ortsschild. Sie waren etwa eine Viertelstunde landeinwärts gefahren, auf der schmalen, steinigen Landstraße, sich immer an die Beschreibung Jacob Ingrams haltend. Auch Wisby war eigentlich nur ein größeres Dorf, alle Häuser standen entlang einer Durchgangsstraße. Unterbrochen wurden die Häuserreihen nur ab und zu durch einen kleinen Laden oder eine Kneipe. Die Menschen, die auf den Straßen zu sehen waren, unterschieden sich kaum von denen, die auf Cedricksburgh und in seiner Umgebung arbeiteten. Es war halt ein robuster Menschenschlag, der hier in den Highlands beheimatet war. Auch das Haus des Arztes mußte an dieser Straße liegen. Marion fuhr langsam, und als sie schon fast wieder am Ortsausgang war, fand sie es endlich. Es war ein kleines rotangestrichenes Haus mit blauen Fensterrahmen. In den Fenstern hingen Scherenschnitte von Märchenmotiven, und im Vorgarten standen zwei große Teddybären aus buntlackiertem Holz. Kein Zweifel, hier mußte es sein. Es war mittlerweile schon fünf Uhr, und Marion befürchtete, der Arzt sei vielleicht schon unterwegs zu Hausbesuchen. Sie half Jonathan bis vor die Tür mit dem Schild Dr. Gregory Walsh Kinderarzt
und klingelte. Es dauerte ein paar Minuten, bis geöffnet wurde. Ein mittelgroßer Mann mit Jeans und Rollkragenpullover stand in der Tür. Durch seine halblangen blonden Locken und seine sanften blauen Augen wirkte er noch sehr jung, und Marion war etwas unsicher, als sie ihn ansprach. »Dr. Walsh?« »Ja, genau der bin ich. Kommen Sie doch bitte herein.« Er hatte sofort erkannt, daß Jonathan Hilfe brauchte. Und erst, als sie schon im Behandlungszimmer waren, stellte er Marion ein paar Fragen. »Sie haben Glück, daß Sie mich noch angetroffen haben. Ich war gerade unterwegs zum Krankenhaus in Black Mountain. Dort liegt nämlich eine kleine Patientin von mir, die sehr schwer krank ist. Aber sie weiß, daß ich jeden Tag komme, und wird sicher noch ein wenig Geduld haben.« Vorsichtig begann er, Jonathans Knöchel freizulegen. Der Junge ließ geduldig alles über sich ergehen, auch als der Arzt anfing, den Fuß im Gelenk zu bewegen und abzutasten, sah er ihn nur mit großen Augen und voller Vertrauen an. Dieser Mann hatte anscheinend einen Draht zu Kindern. »Das hast du ganz toll gemacht, Jonathan. Ich danke dir. Weißt du, so schlimm ist das mit deinem Knöchel nicht, aber du solltest ihm doch lieber etwas Ruhe gönnen. Ich gebe dir eine Salbe mit und lege einen Stützverband an, und dann sehen wir uns am besten in zwei bis drei Tagen noch einmal wieder.« Er stand auf, um das Verbandszeug zu holen, und wandte sich dann an Marion. »Sie sind doch nicht von hier, wenn mich nicht alles täuscht. Wie sind Sie an mich geraten?« Marion erzählte ihm die Geschichte, während sie ihm half, den Verband anzulegen. Sie berichtete von ihrem Aufenthalt auf Cedricksburgh, Jonathans kleinem Ausflug und von Jacob
Ingram, der ihr die Adresse gegeben hatte. Natürlich erwähnte sie nicht die Auseinandersetzung mit ihrem Mann, die diesem Arztbesuch vorausgegangen war. Und auch sonst bemühte sie sich, nichts Persönliches in das Gespräch zu bringen. Das Gesicht des jungen Arztes erhellte sich bei dem Namen des Alten. »Der gute alte Onkel Jacob. Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen, denn nach einem Streit in der Familie hat er sich merklich zurückgezogen. Doch anscheinend hat er mich nicht vergessen.« Er lächelte, als er das erstaunte Gesicht Marions sah. »Er ist ein Cousin meiner Mutter, also so eine Art Onkel für mich. Aber er hat schon fast sein ganzes Leben auf der Burg verbracht, immer an der Seite des alten Cedrick. Sie müssen wohl so etwas wie Blutsbrüder oder Verbündete gewesen sein, anders kann man sich ihr Verhältnis nicht erklären. Beide galten hier in der Gegend immer als rechte Querköpfe, die sich nicht in die bestehende Gemeinschaft mit ihren festen Regeln einfügen wollten. Aber sicher haben Sie schon von Ihrem Mann einiges über die Gegend und die Menschen hier erfahren. Es ist ja manchmal nicht so leicht, sie zu verstehen.« Marion hatte interessiert zugehört. Es klang so, als hätte Gregory Walsh kein schlechtes Verhältnis zu seinem Onkel gehabt, ganz im Gegenteil. »Ich weiß leider nicht viel über die Highlands und ihre Bewohner. Nur das, was in den Reiseführern steht. Jonathan und ich waren ja gerade dabei, uns hier ein wenig umzusehen, als das passierte.« Sie deutete auf ihren Sohn, der voller Stolz den neuen Verband betrachtete. »Wie lange werden Sie hierbleiben?«
»Ich weiß es nicht genau. Geplant waren eigentlich nur ein paar Wochen, aber es ist anscheinend noch nicht abzusehen. Also, ich denke, wir haben noch genug Zeit, alles hier kennenzulernen.« Marion wollte wieder gehen. Es war nicht etwa so, daß sie sich unwohl fühlte in der Praxis des jungen Arztes, nein, es war eher das Gegenteil. Gregory Walsh strahlte sehr viel Wärme und Freundlichkeit aus, und sie hatte ihn beinahe auf Anhieb sympathisch gefunden. Sie war in einer Verfassung, in der sie froh war, endlich einen Menschen getroffen zu haben, mit dem sie sich unterhalten konnte, der nett zu ihr war. Und sie hätte am liebsten über alles, was sie bedrückte, mit ihm gesprochen, obwohl sie ihn kaum kannte. Aber das konnte sie nicht zulassen. Marion hatte schon festgestellt, daß sie in einer Gegend gelandet war, in der die Menschen anders waren und auch anders miteinander umgingen, als sie es von zu Hause her kannte. Und je länger sie blieb, um so fremder fühlte sie sich hier. Deswegen war es besser, jetzt keinen Fehler zu machen und sich nicht vorschnell jemandem anzuvertrauen. Die Worte ihres Mannes über den alten Ingram fielen ihr wieder ein, und da sie nicht an allem zweifeln mochte, was Harold ihr sagte, beschloß sie, erst einmal vorsichtig zu sein. »Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Dr. Walsh. Wir werden übermorgen wiederkommen und Jonathans Fuß bis dahin pflegen.« Der Arzt gab ihr die Tube mit der Salbe und noch einen Reserve-Verband und sah ihr dabei direkt in die Augen. Marion konnte sich diesem Blick kaum entziehen, und sie merkte, wie ihre Knie ganz gegen ihren Willen anfingen zu zittern.
»Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, Mrs. Cedrick, mit dem, was ich jetzt sage. Aber ich kann mir sehr gut vorstellen, wie Sie sich dort auf dem Castle fühlen. Es ist Ihnen anzusehen, und den Rest kann ich mir denken, denn ich selbst habe es auch nicht leicht hier. Die Bevölkerung hier spaltet sich in zwei Gruppen. Der eine viel größere Teil macht völlig dicht gegenüber fremden, andersartigen Menschen. Sie sind noch alten Sitte und Gebräuchen sehr verhaftet, und ihr Leben wird bestimmt vom absurdesten Aberglauben. Der verschwindend kleine Rest versucht dagegen anzugehen und sich dem Leben der Außenwelt anzupassen. Dazu gehörte übrigens auch der alte Cedrick, der Vater Ihres Mannes. Und ich glaube, Jacob Ingram verwaltet dieses Erbe.« Er reichte ihr die Hand. »Ich will Sie jetzt nicht noch zusätzlich beunruhigen, aber – bevor Sie jetzt wieder zurück nach Cedricksburgh fahren – noch eins. Ich bin dem alten Jacob sehr dankbar, daß er Sie zu mir geschickt hat. Es zeigt mir, daß er noch an mich denkt, und außerdem kann ich hier wirklich jeden Patienten gebrauchen.« Dann half er Jonathan von der Liege und brachte die beiden noch bis zum Auto. »Und den Rest erzähle ich Ihnen, wenn Sie das nächste Mal kommen. Dann aber besser während der Sprechzeiten, damit ich auch auf jeden Fall da bin. Falls es Probleme gibt, können Sie mich auch anrufen. So – und nun muß ich mich beeilen, ins Krankenhaus zu kommen. Betsy wartet sicher schon.« Marion und Jonathan bedankten sich und stiegen wieder in ihr Auto. Dieser Arztbesuch hatte beiden gutgetan.
*
Die Rückfahrt war mühselig. Dicke Nebelschwaden hingen über der Straße, und da es auch schon ziemlich dunkel war, konnte man so gut wie nichts erkennen, Marion war die Strecke ja nicht sehr vertraut, und so saß sie in angespannter Haltung im Auto und umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen. »Oh, ich seh’ gar nichts. Kannst du was sehen, Mami?« Marion biß sich auf die Unterlippe. Sie wußte nicht, ob es richtig war, Jonathan zu sagen, daß sie eigentlich mehr einen Blindflug unternahm. Das einzige, was sie ausmachen konnte, waren der Nebel und der schwache Schein ihrer Scheinwerfer. »Och… es geht schon. Wir müßten ja auch bald wieder auf Cedricksburgh sein. So weit sind wir ja gar nicht gefahren.« Sie wartete sehnsüchtig auf Verkehrszeichen oder Hinweisschilder, aber es war wie verhext – es gab keine. Dabei hätte sie wetten können, daß sie sie auf der Hinfahrt noch gesehen hatte. Marion sah auf die Uhr. Es war jetzt schon fast halb neun. Eigentlich hätten sie schon längst wieder zu Hause sein müssen. Aber nichts war zu sehen. Wieso gab es hier draußen nicht wenigstens eine einigermaßen vernünftige Straßenbeleuchtung? Sie dachte mit Schrecken an die Reaktion ihres Mannes, wenn sie so spät nach Hause kommen würden. Wahrscheinlich saß er schon ziemlich verärgert am Eßtisch, und es würde sicherlich kein besonders herzlicher Empfang werden. Sie wunderte sich selbst, was für negative Vorstellungen sie jetzt von Harold hatte. Dabei war es doch immer ganz das Gegenteil gewesen. Wenn sie einmal später als geplant nach Hause gekommen war, dann hatte er sie immer ganz besonders innig umarmt und sich gefreut, sie endlich wieder bei sich zu haben. Wie sehr hatte sich ihr Verhältnis verändert. Es kam ihr
vor, als läge die glückliche Zeit endlos lange zurück, als gäbe es nur noch die Erinnerungen daran. Es war, als hätte sich ein Mantel eisiger Kälte um sie beide gelegt. Plötzlich hatte sie Mühe, das Lenkrad gerade zu halten. Die Räder schienen sich durch Matsch zu wühlen und drehten durch. Dann gab es einen leichten Aufprall, und der Wagen stand. »Mami! Aua! Meine Beine!« Marion war selbst mit dem Kopf leicht gegen das Lenkrad geprallt und fühlte eine dicke Beule auf ihrer Stirn. Doch sie drehte sich sofort zu Jonathan um. »Was ist los bei dir? Ist alles in Ordnung?« Sie hatte sich auf den Sitz gekniet und konnte den Jungen auf der Rückbank so besser erreichen. »Ja, ich glaube, es ist alles okay. Es war wohl nur mein Fuß. Mit dem bin ich gegen deinen Sitz geknallt. Aber es ist schon wieder besser.« Er wischte sich die Tränen aus den Augen. »Wo sind wir hier?« Das fragte sie sich allerdings auch. Es war stockfinster, sie hatte nicht die geringste Lust auszusteigen, aber sitzenbleiben konnte sie auch nicht. »Ich werde gleich einmal nachsehen, Bleib du nur schön sitzen. Es ist sicher nicht besonders gemütlich draußen.« Sie zog ihre Jacke an, öffnete die Wagentür und wollte nach der Taschenlampe greifen. Da fiel ihr ein, daß die ja noch immer in der Höhle lag, aus der sie Jonathan heute vormittag geholt hatte. »Mami!« Bevor sie ausstieg, drehte sie sich noch einmal zu Jonathan um. »Ich werde dich vorsichtshalber hier einschließen. Man kann ja nie wissen. Bitte mach niemandem auf, hörst du? Ich will
nur sehen, wo wir hier sind und ob ich den Wagen wieder rausbekomme. Bis gleich, mein Schatz.« »Bis gleich, Mami. Bitte beeil dich.«
*
Sie waren ganz offensichtlich von der Hauptstraße abgekommen und mitten in einem Wald gelandet. »Oh, mein Gott. Das darf doch nicht wahr sein!« Marion stapfte um das Auto herum, das mit den Vorderreifen ziemlich tief im Matsch steckte und vorn gegen einen Haufen aufgeschichteter Äste und Baumstämme gefahren war. Es würde schwierig sein, den Wagen wieder gangbar zu machen, zumal er vorn an der Stoßstange eingedrückt war. Sie mußten hier irgendwie wieder herauskommen, das war klar. Aber dazu mußte sie zuerst einmal feststellen, wo genau sie waren und ob es vielleicht in der Nähe jemanden gab, der helfen konnte. Es war nichts zu erkennen außer einer Art Lichtschein in der Ferne. Gott sei Dank war es nicht allzu weit entfernt, denn so ganz wohl war Marion nicht bei dem Gedanken, Jonathan allein im Auto zu lassen. Der Lichtschein wurde intensiver, je näher sie kam. Es flackerte, und Marion bemerkte auch, daß der Geruch von Rauch die feuchte Luft erfüllte. Also konnte es nur ein Lagerfeuer sein. Aber ein sehr großes, denn man konnte schon jetzt aus der Entfernung das Knistern und Knacken der Holzscheite hören. Unwillkürlich wurde ihr mulmig bei dem Geruch des Feuers. Die sie umgebende Dunkelheit und die Stille des Waldes taten
ihr übriges. Sie hörte nicht einmal ihre eigenen Schritte auf dem mit Tannennadeln übersäten Boden, nur ab und zu knackte es, wenn sie auf einen Zweig trat. Was war es, worauf sie sich da einließ? Wäre es nicht vielleicht besser, gleich umzukehren? Ein Waldbrand konnte es aber nicht sein, denn dann hätte sich das Feuer schon ausgebreitet, es war aber offensichtlich immer an derselben Stelle geblieben. Marion wurde vorsichtiger. Wie ein Tier, das Gefahr wittert, pirschte sie sich vorsichtig an das Unbekannte heran. Plötzlich drangen Stimmen an ihr Ohr, ein dumpfer Singsang, der erst ganz leise war, sich dann aber erhob und die ganze Gegend erfüllte. Sie bekam Angst. Dort würde keine Hilfe zu erwarten sein, das wurde ihr ganz instinktiv bewußt, doch magisch angezogen ging sie weiter in gebückter Haltung und immer wieder hinter den Bäumen Deckung suchend. Es mußten wohl nicht wenige Menschen sein, die sich dort versammelt hatten und ihre monotonen Gesänge hinunterleierten. Und je geringer der Abstand zwischen dem Feuer und Marion wurde, um so bedrohlicher klang es für sie. Und dann schien sich der Wald vor ihr zu teilen. Sie blickte auf eine große Lichtung. Gespenstisch erhoben sich an deren Seiten die hohen Tannen, und in der Mitte loderten die gewaltigen Flammen des Lagerfeuers, so hoch, daß es aussah, als wollten sie bis in den Himmel brennen. Marion stockte der Atem. Sie verbarg sich hinter dem dicken Stamm einer mächtigen Tanne und konnte im ersten Moment das, was sich ihr dort offenbarte, kaum glauben. Es mußten mindestens fünfzig Menschen sein, wenn nicht hundert. Sie alle waren gekleidet in dunkle Gewänder mit Kapuzen, so daß man nicht sehen konnte, ob es Männer oder Frauen, Kinder oder Greise waren. Und sie sangen. Wenn man
das, was da aus ihren Kehlen erscholl, einen Gesang nennen konnte, denn es waren wohl viel eher seltsam fremd anmutende Litaneien, deren Text nicht zu verstehen war. Marion fröstelte. Sie fühlte sich, als hätte ihr jemand Einblick gegeben in längst vergangene Zeiten. Dinge wie der Klu-KluxKlan und die Inquisition schossen ihr durch den Kopf, unheimliche Geschehnisse, die sie aus dem Kino oder aus Büchern kannte. Aber dies hier war kein Film. Und die Gestalt, die sich jetzt aus den Reihen der auf dem Boden Sitzenden erhob und beide Arme hoch über sich in die Luft streckte, war keine Romanfigur. Sie stand hier allein in einem ihr völlig unbekannten Wald und wurde Zeugin einer unheimlichen, vielleicht heidnischen Versammlung. Und sie wollte fort, sie wollte in diesem Moment, als der Mann seine Stimme erhob und laut auf die anderen einzureden begann, gar nicht mehr wissen, warum dies alles geschah. Es war nur ein weiterer Stein in einem Mosaik, das sich langsam in ihrem Bewußtsein formte. »Ihr seid nichts in der Unendlichkeit des Universums, aber die Stunde der Rettung naht. Seht die…« »Nein, nein, nein!« Fast hätte sie es laut hinausgeschrien, doch im letzten Moment besann sie sich. Sie drehte sich um und lief davon, vorsichtig, um niemanden auf sich aufmerksam zu machen, suchte sie ihren Weg durch den Wald, rannte immer schneller, die Angst im Nacken. Mit einemmal fürchtete sie um das Leben ihres Sohnes. Trieben sich vielleicht noch andere Gestalten hier herum? War ihr Sohn in ihrer Abwesenheit in die Hände dieser Menschen gefallen? Es wäre ja schon schlimm genug, wenn sie ihm einen Schreck eingejagt hätten.
Das letzte Stück, als sie den Wagen schon aus der Ferne sehen konnte, kam ihr unendlich vor. Von außen sah alles ganz normal aus. Die Türen waren zu, die Scheiben sogar beschlagen. Als sie ihn erreicht hatte, steckte sie hastig den Schlüssel ins Schloß, riß die Tür auf… »Jonathan, mein Liebes. Mein Schatz.« Sie hatte es sehr leise gesagt, denn der Junge hatte sich auf dem Rücksitz zusammengerollt und schlief unter der alten Autodecke ganz tief und fest. Er hatte es nicht einmal bemerkt, daß seine Mutter zurückgekehrt war. Und Marion – überglücklich und erleichtert – ließ ihn schlafen. Sie hatte ja noch ein anderes Problem. Der Wagen stand noch immer im tiefen Matsch, und sie müßte jetzt ohne Hilfe versuchen, ihn herauszubekommen. Sie wollte so schnell wie möglich von hier fort. Jetzt würde sie sich sogar auf Cedricksburgh besser aufgehoben fühlen als hier draußen. Weil es so stockdunkel war, schaltete sie die Autoscheinwerfer ein, um genau feststellen zu können, wie tief die Räder im Boden steckten. Es war zuviel, um einfach nur durch ständiges Gasgeben im Rückwärtsgang hinausfahren zu können. Sie mußte irgend etwas finden, was sie unter oder hinter die Räder legen konnte. Zuerst suchte sie eine Weile, dachte an Holzstücke oder dickere Zweige, bis ihr die Fußmatten einfielen, die vorn im Auto lagen. Das müßte gehen. Sie kniete sich auf den matschigen Boden und schob die beiden Matten, so weit es ging, unter die Vorderräder. Als sie aufstand, war sie völlig durchnäßt und fror entsetzlich. Dann setzte sie sich ans Steuer, legte den Rückwärtsgang ein und gab Gas. Erst langsam und vorsichtig, dann, als nichts passierte, etwas stärker.
Der Wagen bewegte sich, es gab einen kleinen Ruck, und – sie war frei! Sie konnte davonfahren, sich und Jonathan aus diesem Wald fortbringen. Aber wo war der richtige Weg, der, auf dem sie nach Hause kamen? Sie hatte sich mehr und mehr an die Dunkelheit gewöhnt und versuchte, sich nun ein wenig zu orientieren. Wenn es ihr wenigstens gelingen würde, wieder auf die Hauptstraße zu gelangen! Sie fuhr ganz langsam wieder in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Da – jetzt konnte sie den Waldrand erkennen. Sie ahnte, wie alles passiert war. Der Feldweg, auf den sie geraten war, ging fast gerade in die Straße über, auf der sie wohl die ganze Zeit von Wisby aus gefahren war. Diese knickte dann aber nach links ab, und sie war automatisch geradeaus gefahren. Wahrscheinlich war sie wieder in Gedanken versunken gewesen und hatte gar nichts bemerkt. Langsam, ganz langsam und den Blick konzentriert auf die Fahrbahn vor sich gerichtet, lenkte sie den Wagen durch die Dunkelheit. Immer wieder versuchte sie, den Gedanken an das, was sie dort auf Cedricksburgh erwarten würde, aus ihrem Kopf zu verbannen. Es war im Moment noch nicht wichtig, wie Harold auf ihre späte Heimkehr reagieren würde. Das einzige, was jetzt Bedeutung hatte, war, daß sie endlich dort eintrafen. Sie warf einen kurzen Blick nach hinten, um sich zu vergewissern, daß Jonathan noch schlief. Gott sei Dank war ihm nichts passiert.
*
Endlich, nach fast einer halben Stunde, sah sie die Burg vor sich liegen. Das Gespenstische daran war, daß nur zwei unscheinbare Lämpchen an den beiden Enden der Brücke diese beleuchtete, sonst lag alles von außen in tiefer Dunkelheit, und der Nebel ließ auch aus nächster Nähe keinen Blick auf die Türme und Zinnen zu. Der Hof und der Eingang allerdings waren hellerleuchtet. Ein fremdes Auto und ein alter Lieferwagen standen neben dem Brückenhäuschen. Aus der Halle drangen durch die leicht geöffnete Tür erregte Stimmen an ihr Öhr, als sie die Fahrertür geöffnet hatte. Wahrscheinlich hatten sie sich schon Sorgen um sie gemacht – und um Jonathan. Ein Schauer überlief sie bei dem Gedanken, daß sie ohne Harolds Einverständnis diese Fahrt angetreten hatte. Aber es hatte keinen Sinn, hier zu warten, sie mußte sich stellen. Also beugte sie sich über den auf dem Rücksitz schlafenden Jungen und berührte ihn sanft an der Wange. »Jonathan, Liebes, wir sind da. Wir sind jetzt wieder zu Hause auf Cedricksburgh, und du mußt aufwachen.« Er schlug die Augen auf und blinzelte sie an. Dann nahm er ihre Hand und drückte sie an sein Gesicht. »Mami, ich hab’ dich lieb.« »Ich dich auch. Sehr lieb. So, und nun müssen wir reingehen. Papa wartet schon auf uns, und ich glaube, er hat sich große Sorgen um uns gemacht. Setz dich hin, ich werde dich tragen.« Sie schluckte noch einmal und atmete ganz tief durch, bevor sie durch die große Eingangstür ging. »Marion, mein Gott, endlich! Jonathan, was ist mit dir? Ist alles in Ordnung?« Mit vorwurfsvollem Gesicht und Besorgnis in der Stimme kam Harold auf sie zugelaufen. Er schenkte seiner Frau jedoch keine weitere Beachtung, sondern riß ihr seinen Sohn förmlich
aus den Armen und trug ihn hinüber zu einem der großen Ledersessel, die vor dem Kamin standen. Marion machte einen Schritt darauf zu und wollte ihm alles erklären. »Wir haben uns verfahren…« Doch ihr Mann maß sie mit einem strafenden Blick und schnitt ihr das Wort ab. »Ich will jetzt nichts davon hören. Geh hinauf und bleib da, bis ich komme. Es ist schlimm genug, was passiert ist.« Ihr stieg in einer heißen Welle die Röte ins Gesicht. Sie wurde zornig und schämte sich zugleich, denn sie waren nicht allein in der Halle. Miß Rellwood und zwei Marion unbekannte Männer – der eine im Anzug und der andere in Cordhosen und Lederjacke – waren Zeugen der peinlichen Szene geworden. Und sie mußte es ertragen, daß die Hausdame sie mit triumphierenden Blicken bedachte. Mit Tränen in den Augen wandte sie sich ab und lief die Stufen zu ihren Gemächern hinauf. Warum mußte er ihr das antun? Was würden sie jetzt dort mit Jonathan machen? Sie war machtlos, denn sie konnte Harold nur dieselben Rechte an seinem Sohn zugestehen, die sie auch hatte. Er hatte sich schließlich um ihn gesorgt, war er also vielleicht sogar im Recht? Als sie oben angekommen war und gerade die Tür öffnen wollte, stand plötzlich – schon wieder wie aus dem Nichts aufgetaucht – Jacob Ingram neben ihr. »Mylady… gut, daß Sie heil zurückgekehrt sind. War alles in Ordnung bei Dr. Walsh?« Er hatte sehr leise gesprochen, wohl aus Angst, entdeckt zu werden. »Oh… Mr. Ingram… ja, vielen Dank, es war alles gut. Er ist ein sehr netter Arzt, und ich glaube, es war auch richtig, daß wir dort waren. Entschuldigen Sie bitte…«
Sie nahm ein Taschentuch aus ihrer Jackentasche und putzte sich die Nase. Gut, daß es nicht so hell war hier oben auf dem Gang, es war ihr nicht sehr angenehm, daß man Spuren von Tränen in ihrem Gesicht sehen konnte. Aber Jacob Ingram war anscheinend ein Menschenkenner. »Verzeihung, Mylady, kann ich Ihnen in irgendeiner Form behilflich sein? Haben Sie Kummer?« Am liebsten hätte sich Marion weinend in die Arme des alten Mannes gestürzt, aber das verbot ihr nicht nur ihre gute Erziehung. Sie war jetzt auch mißtrauisch gegen alles und jeden, der ihr hier in dieser Gegend über den Weg lief. Schließlich konnte sie nicht ausschließen, daß auch Jacob Ingram bei dem Treffen im Wald dabeigewesen war. »Ich danke Ihnen. Aber es geht schon wieder. Ich bin nur ein wenig müde und überanstrengt. Dies war ein recht harter und erlebnisreicher Tag für mich und meinen Sohn. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen.« Sie drehte sich um und öffnete ihre Zimmertür, doch der Alte war noch nicht fertig. »Falls Sie einmal Hilfe brauchen, Mylady – mein Zimmer befindet sich oben unter dem Dach. Sie erreichen es über die schmale Treppe, die hinten am Ende dieses Ganges nach oben führt. Klopfen Sie dreimal.« Und ehe sie noch antworten konnte, war er schon wieder verschwunden. Marion stieß einen tiefen Seufzer aus und schloß die Tür hinter sich. Jetzt war sie hier oben allein. Und unten in der Halle saß ihr Sohn, mit dem gemeinsam sie heute schon soviel durchgestanden hatte, und wurde sicherlich von seinem Vater in die Zange genommen. Sie hoffte nur, daß er nicht wieder so ruppig zu ihm war wie bei ihrem letzten Zusammentreffen am Mittag.
Die beiden Männer, die sie außer Miß Rellwood noch in der Halle gesehen hatte, konnten eigentlich nur der Anwalt und der Verwalter gewesen sein. Es war tatsächlich so, wie Harold es gesagt hatte – Frauen schienen hier eine untergeordnete Rolle zu spielen. Die beiden jedenfalls hatten ihr keine weitere Beachtung geschenkt und ihre Aufmerksamkeit nur auf den Jungen gerichtet. Die einzige Ausnahme war ganz offensichtlich Miß Rellwood, denn sie genoß wohl ein gewisses Ansehen. Wahrscheinlich lag es aber nur daran, daß sie so wenig weiblich wirkte und sich mit allem, was Haus und Hof anging, gut auskannte. Marion zog sich die immer noch nasse und schmutzige Kleidung aus und ging ins Badezimmer, um zu duschen. Der warme Wasserstrahl lief ihr wohltuend über den Rücken, und sie spürte, wie sich ihr Körper langsam entspannte. Sie blieb eine ganze Weile so stehen und wünschte sich, daß alles Negative, was ihr widerfahren war, mit dem Wasser durch den Abfluß davongetragen werden würde. Doch dies war nur ein frommer Wunsch, die Realität holte sie schnell wieder ein. Als sie sich abtrocknete, hörte sie, wie die Zimmertür geöffnet und wieder geschlossen wurde. »So, mein Junge, bleib hier erst mal liegen. Ich werde deine Mutter suchen. Sie soll dir einen Schlafanzug anziehen und dich ins Bett bringen. Schließlich hattest du einen anstrengenden Tag, und du hast ja gehört, daß wir hier noch viel mit dir vorhaben. Du wirst Kraft brauchen, Jonathan. Viel Kraft. Du bist ein Cedrick, vergiß das niemals, egal, was auch geschehen wird. Wir Cedricks sind ein altes, stolzes Geschlecht, und wir müssen uns dem stellen, was das Leben uns abverlangt.« »Was erzählst du dem Jungen für einen Unsinn!«
Marion hatte das Badetuch um sich geschlungen und war in der Tür zum Wohnzimmer erschienen. Sie funkelte ihren Mann mit zornigen Augen an. »All das, was du selbst immer so verdammt hast, dieses Gerede vom edlen Geschlecht und Lebenskampf, das redest du jetzt deinem Sohn vor, der noch nicht einmal sechs Jahre alt ist. Ich möchte langsam wirklich wissen, was in dich gefahren ist.« Harolds Gesichtsfarbe wechselte im Nu von Blaß zu Rot. »Du wagst es, so mit mir zu sprechen? Und das, nach alldem, was du dir hier ohnehin schon geleistet hast?« Bei dem Ton seiner Stimme und bei dem seltsam veränderten Ausdruck seiner Augen überzog sich Marions Körper mit einer Gänsehaut. Kaum merklich schüttelte es sie, so als hätte jemand direkt neben ihr ein Fenster geöffnet. Doch es war nur die eiskalte Ausstrahlung ihres Mannes, das Fremde, das sich immer mehr seiner zu bemächtigen schien. Sie wich einen Schritt zurück. »Harold, bitte, laß uns nicht streiten. Ich mache mir nur meine Gedanken über das, was du in der letzten Zeit so sagst und tust.« Sie hatte ihrer Stimme einen sanften Ton gegeben in der Hoffnung, ihn besänftigen zu können. Doch sein Blick veränderte sich nicht, die Mauer, die er immer höher um sich herum zu errichten schien, blieb bestehen. »Ich will nicht mit dir streiten, Marion. Es hat gar keinen Sinn zu streiten. Dies ist mein Haus, und Jonathan ist mein Sohn. Er ist ein Cedrick, genau wie ich. Vergiß das nicht. Du mußt auch lernen, wo dein Platz ist und daß es gewisse Dinge gibt, in die du dich nicht einmischen solltest. Ich denke, es wird das Beste sein, wenn ich mich in der nächsten Zeit mehr um Jonathan kümmern werde. Er ist schließlich lange genug
deinem Einfluß ausgesetzt gewesen, und wohin das führt, das haben wir ja heute wieder gesehen.« Er wandte sich nur noch ganz kurz an seinen Sohn, bevor er das Zimmer verließ. »Gute Nacht, mein Junge. Schlaf gut. Wir haben einen erlebnisreichen Tag vor uns.« »Bitte, Mami, weine nicht.« Jonathan strich immer wieder mit seiner kleinen Hand über den Kopf seiner Mutter. Marion kniete am Boden, den Kopf auf den Rand des Sofas gestützt, auf dem Jonathan seit seiner Ankunft hier oben immer noch lag, und weinte leise, nur ab und zu von einem bitteren Schluchzen unterbrochen. Sie spürte die sanfte Berührung ihres Sohnes, doch es gelang ihr kaum, sich zusammenzunehmen. Erst nach einer ganzen Weile blickte sie ihn an und versuchte zu lächeln. »Ach, mein Schatz. Es tut mir so leid, daß du mich so erleben mußt. Aber es kommt halt auch einmal vor, daß Mütter weinen.« Sie suchte in ihrer Hosentasche nach einem Taschentuch und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Dann schlang sie die Arme um den Jungen und drückte ihn ganz fest an sich. »Du bist mein Freund, für immer und für alle Zeiten. Das mußt du wissen, vielleicht ist es noch einmal sehr wichtig für dich. Ich hab’ dich ganz, ganz lieb und werde immer zu dir halten. Was auch geschieht. Niemals werde ich dich verlassen.« »Aber… ich weiß doch, daß du mich liebhast, Mami. Ich hab’ dich auch lieb. Aber Papa auch. Oder?« »Oh, mein Gott, natürlich, mein Junge. Wir beide haben Papa lieb, und er hat uns auch lieb. Er ist nur im Moment sehr müde, denn er hat ganz viel Arbeit hier zu erledigen. Sicher wird es ihm bald bessergehen, und dann ist alles wieder wie früher.«
Wie früher. Das klang ja, als wären sie alle schon viele Jahre hier, als würde die schöne Zeit, die sie miteinander in ihrem Zuhause in London verbracht hatten, schon endlos lange zurückliegen. Aber es waren doch erst drei Tage. Drei Tage, die ihr vorkamen wie ein halbes Leben. Marion stand auf und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Ihr fiel auf, daß sie den ganzen Tag noch nicht einmal in den Spiegel gesehen hatte. Lag es vielleicht daran, daß Harold sie so schlecht behandelte? Ließ sie sich gehen? Aber gleich darauf verwarf sie diesen dummen Kleinmädchengedanken. Harold kannte sie seit sechs Jahren, er hatte gute und schlechte Zeiten mit ihr durchgemacht, Krankheit und Geburt waren einschneidende Erlebnisse in ihrem Leben gewesen, da würden so ein bißchen sturmzerwühltes Haar und eine glänzende Nase wohl kaum etwas ausmachen. »Mami, ich möchte ins Bett. Ich bin müde. Es war alles so anstrengend heute.« »Das kann man wohl sagen. Und es ist auch reichlich spät.«
*
Später, als sie schon lange im Bett lag und auf den trüben Schein des Mondlichts im Fenster gegenüber starrte, da fühlte Marion die Einsamkeit über sich kommen. Sie spürte, wie sie über die Bettdecke ganz langsam zu ihr gekrochen kam und die Kälte mit sich brachte. Sie fröstelte, und es nützte gar nichts, daß sie sich die Decke bis zu den Ohren hochzog und die Beine anwinkelte. Zitternd und voller Angst lag sie da und wußte nicht einmal, wovor sie sich fürchtete. Es war ganz einfach nur da und wich
nicht mehr von ihr. Als sie endlich einschlief, war es schon fast wieder Morgen. Doch das Bett neben ihr blieb leer.
*
Er war jetzt einer der ihren. Ganz so, als wäre er niemals fortgewesen. All die Jahre zählten nicht, waren einfach ausgelöscht. Es war wie ein Fluch. Ein übermächtiger, drückender, starker Unglaube, die entsetzliche Macht des Unfaßbaren, die Angst vor dem, was wir nicht mehr begreifen können. Und einer war unter ihnen, der sie alle in der Hand hatte. Er beschwor sie, und er lieferte sie aus. Und sie taten, was er von ihnen verlangte, denn sie argwöhnten nicht umsonst, daß er mit den bösen Mächten des Universums in Einklang war.
*
Marion wachte auf. Sie hörte irgend etwas, das von draußen zu kommen schien. Zuerst glaubte sie, es sei der Wind, der sich in den hohen Mauern des Castles gefangen hatte. Doch dann meinte sie, Stimmen zu hören. Und dann einen Schrei. Sie sprang aus dem Bett, ging zum Fenster und öffnete es. Doch draußen war es still. Außer dem immerwährenden Rauschen der Brandung war nichts zu vernehmen. Aber nach all den Geräuschen, die an ihr Ohr gedrungen waren, kam ihr die Stille gespenstisch vor. Sie war ganz sicher, daß sie nicht geträumt hatte. Sie erschauerte. Leise schloß sie das Fenster wieder und kroch zurück unter ihre Bettdecke.
*
Beim Frühstück ging alles seinen gewohnten Gang. Es sprach schon keiner mehr darüber, daß Marion und Jonathan alle Mahlzeiten ohne Harold einnahmen. Wie stets an diesem Ort hatte er auch an diesem Morgen schon lange vor seiner Familie gefrühstückt. Marion war es mittlerweile sogar lieber, mit ihrem Sohn allein zu sein. Die ständigen Auseinandersetzungen mit ihrem Mann wurden ihr zur Belastung. Und sie hatte hier schon genug mit der seltsamen Umgebung und dem befremdenden Verhalten der Leute zu kämpfen. Am liebsten hätte sie ihre Sachen gepackt und wäre abgereist. Doch davon konnte natürlich keine Rede sein. »Mami, ich hab’ da so eine Idee. Wir könnten doch heute vielleicht einmal den alten Mann besuchen. Den, der mir die Ritter gezeigt hat, weißt du? Es könnte doch sein, daß es hier doch noch ein Verlies gibt.« »Aber Mr. Ingram hat dir doch erzählt, daß sie es schon lange verriegelt und verschlossen haben. Sagte er nicht, daß man dort überhaupt nicht mehr hinkommen könnte?« Marion hatte keine Lust, mit dem Alten und ihrem Sohn in die unendlichen Tiefen des Castles hinabzusteigen, und sich hinterher vielleicht auch noch von ihrem Mann beschimpfen lassen zu müssen, daß sie etwas »Verbotenes« getan habe. Im übrigen wartete sie nur auf das Auftauchen Harolds, denn er hatte ja so eindringlich darauf hingewiesen, daß sein Sohn dringend seiner Führung bedürfe. Jonathan schien das vergessen zu haben, und sie schob es in ihren Gedanken auch immer wieder beiseite. Also war die Antwort auf Jonathans Vorschlag nur ein zweifelnder Gesichtsausdruck.
»Och, Mensch, nie kann man hier was machen. Langweilig seid ihr alle.« Doch wie verabredet wurde gerade in diesem Moment die große Tür, die dem Eßtisch gegenüberlag, geöffnet, und Harold trat mit sauertöpfischer Miene ein. »Steh auf, Junge, und laß dieses dumme Gerede. Die Langeweile wird dir schon vergehen, darauf kannst du dich verlassen. Es gibt eine Menge Interessantes, was du unbedingt erfahren mußt. Und den Namen Ingram will ich nicht mehr hören. Nie wieder, hörst du. Und das gilt auch für dich, Marion. Das ist ein für allemal vorbei.« Er ergriff die Hand des völlig verstört und eingeschüchtert dreinblickenden Jungen und nahm ihn mit sich. »Mami, ich will mit dir gehen!« »Harold, so warte doch, du kannst doch nicht einfach… Wann kommt ihr zurück?« Doch Marions Einwände waren schier überflüssig. Sie sah hilflos hinter den beiden her, bis diese die Tür hinter sich geschlossen hatten. Mach dich nicht verrückt, er ist doch sein Vater, schoß es ihr immer wieder durch den Kopf. Sie wollte sich selbst beruhigen, sich einreden, daß absolut nichts dabei war, wenn ein Mann wie Harold seinen väterlichen Pflichten nachkam. Er würde mit Sicherheit darauf bedacht sein, daß dem Jungen nichts zustieß. Oder? Woher kamen diese Zweifel? War dies nicht der Mann, den sie liebte, für den sie alles getan hätte, dem sie blind vertraute? Es war wie ein bohrender Stachel. Auf der einen Seite waren die positiven Gedanken, auf der anderen Seite schlich sich immer wieder die Sorge ein. Aber war nicht auch alles anders, seit sie hier in Cedricksburgh eingetroffen waren? Marion wollte die Gelegenheit nutzen, den alten Ingram aufzusuchen. Er würde sich sicher freuen, wenn sie ihm von
ihrem Treffen mit seinem Neffen in Wisby erzählen würde. Es sah ja auch ganz so aus, als hätte der alte Mann nicht mehr so viele Dinge in seinem Leben, die ihm Freude bereiteten.
*
Dreimal klopfen – das hatte er ihr gesagt, als sie ihn vor ihrer Zimmertür getroffen hatte. Und daß er fast immer zu Hause sei. Sie hatte jetzt schon dreimal auf diese Art an die schäbige Holztür ganz oben am Ende des Ganges unter dem Dach geklopft, aber nichts hatte sich drinnen gerührt. Zuerst zögerte Marion noch ein wenig, aber dann ergriff sie die abgegriffene Türklinke und drückte sie hinunter. Sie hatte mit einemmal das Gefühl, sie müßte es tun, sie müßte sich um ihn kümmern, da es sonst niemand tat. Sie spürte durch die geschlossene Tür einen Impuls, der sie hineintreten und nach ihm sehen ließ. Sie stand in dem Zimmer, die Türklinke noch immer in der linken Hand und blickte etwas unsicher um sich. Es war ein kleines, von seinem baulichen Zustand her schäbiges Zimmer. Von ihr aus rechts befand sich wohl noch ein weiterer Raum, der aber nur durch einen Vorhang abgetrennt war. Jacob Ingram hatte sich bemüht, sich sein kleines Reich so gemütlich wie möglich einzurichten. Und er schien ein sehr belesener Mann zu sein, wenn man von den Mengen an Büchern darauf schließen konnte. Doch was Marion irritierte, war der unbeschreibliche Zustand des Raumes. Alles hier machte den Eindruck, als sei der Raum vor nicht allzu langer Zeit anfallartig verwüstet worden. Alle Bücher waren aus den Regalen gerissen, teilweise achtlos in die Ecke geschmissen worden. Fotoalben, Bilderrahmen, der
gesamte Inhalt des kleinen Kleiderschrankes und sogar die wenigen Gläser und Porzellansachen lagen am Boden. Es sah alles so aus, als hätte jemand etwas gesucht – und vielleicht nicht gefunden. »Mr. Ingram?… Hallo, Mr. Ingram… sind Sie da? Ich bin’s, Marion Cedrick. Ich wollte Sie besuchen, aber…« Eigentlich war es ihr klar, daß er nicht hier sein konnte. Irgend jemand anders mußte sich Zugang zu diesem Raum verschafft und das Chaos angerichtet haben. Was dabei mit Jacob Ingram geschehen war oder ob er vielleicht gar nicht hiergewesen war, das ließ sich nicht erahnen. Zögernd ging Marion auf den Vorhang zu. Sie hatte mit einemmal ein sehr ungutes Gefühl, denn es konnte ja sein, daß sich noch jemand außer ihr hier befand. Und wenn dieser Jemand… Sie verdrängte den Gedanken und schob den verblichenen Stoff zur Seite. Dahinter befand sich allerdings nur ein winziger Raum mit einer Toilette, einem Waschbecken und einer vorhanglosen Dusche. Von Jacob Ingram oder einem anderen menschlichen Wesen keine Spur. Es gab nur etwas, was Marion stutzig machte. Auf der Konsole des Waschbeckens stand ein mit Wasser gefülltes Glas, in dem eine komplette Zahnprothese schwamm. Niemals hatte sie den Alten ohne Zähne gesehen. Warum also sollte er ausgerechnet dieses Mal so unterwegs sein? Sie atmete tief durch und konnte es nicht verhindern, daß ihr ausgesprochen mulmig in der Magengegend wurde. Jacob Ingram war nicht freiwillig gegangen. Wenn er überhaupt noch selbst gegangen ist, war ihr nächster Gedanke, und dann zog sie es auch schon vor, das Zimmer so schnell wie möglich zu verlassen.
Wer wußte, ob sie nicht beobachtet worden war bei ihrem unerlaubten Eindringen in diese beiden Räume? Es konnte ja durchaus sein, daß derjenige, der dies hier angerichtet hatte und vielleicht sogar den alten Mann gewaltsam von hier fortgebracht hatte, es ganz und gar nicht schätzen würde, daß jemand hinter ihm herspionierte. Marion bekam Angst. Aber sie fühlte sich dem alten Ingram irgendwie verbunden und machte sich große Sorgen um ihn. Was konnte ihm passiert sein? Sie überlegte, ob es Zweck hätte, sich beim übrigen Personal nach ihm zu erkundigen. Die einzige, die ihr dazu einfiel, war Linda McLaughlin, die junge Küchenhilfe. Alle anderen, insbesondere Miß Rellwood, schienen ihr sowieso eher feindlich gesonnen zu sein. Und den Alten mochten sie wahrscheinlich noch weniger. Marion war vorsichtig hinaus auf den Flur getreten und hätte die Tür leise hinter sich ins Schloß gezogen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie die Stufen von der obersten Etage bis hinunter ins Erdgeschoß hinabstieg. Denn jetzt war zu all ihren anderen Problemen hier noch ein weiteres gekommen. Ihr war, als hätte auf Cedricksburgh ein böser Geist ihr Schicksal in die Hand genommen.
*
»Es tut mir leid, Mylady, daß ich Ihnen nicht weiterhelfen kann. Aber Ihr Mann ist zusammen mit Jonathan direkt nach dem Frühstück aus dem Haus gegangen. Und seitdem habe ich die beiden noch nicht wiedergesehen.« Linda guckte etwas zerknirscht, so als wäre es ihr peinlich, gefragt worden zu sein. Sie hatte außerdem sehr leise
gesprochen, immer auf der Hut vor Miß Rellwood, die ihr wahrscheinlich den Kontakt zu Marion verboten hatte. »Na, sie werden sich schon wieder einfinden.« Marion versuchte, eine gewisse Leichtigkeit in ihrer Stimme mitschwingen zu lassen. Es wäre ihr unangenehm gewesen, wenn das Mädchen zuviel von ihren privaten Problemen mitbekommen hätte. Aber sie hatte so wenigstens den Anfang für ein Gespräch gefunden, so daß sie jetzt, wie beiläufig, weiterfragen konnte. »Ach, Linda, sagen Sie, haben Sie den alten Mr. Ingram heute schon gesehen?« In Lindas Gesicht erschienen mit einem mal rote Flecken auf den Wangen und am Hals. Ihr Blick wurde unruhig, und sie umklammerte den Besen, den sie die ganze Zeit locker in der rechten Hand gehalten hatte, fest mit beiden Händen. »Wieso fragen Sie mich? Was weiß ich, wo der Alte steckt.« Doch Marion ließ nicht locker. »Aber irgendwann am Tage muß er doch auch einmal etwas zu sich nehmen, und das holt er sich doch sicher in der Küche.« Sie wußte, daß das Mädchen am liebsten einfach fortgelaufen wäre. Ihr Unbehagen war ihr so deutlich anzumerken, daß es Marion fast leid tat. Aber sie mußte jetzt weitermachen, Linda war die einzige hier, die sie fragen konnte. »Bitte, Linda, nun seien Sie doch nicht so verschlossen. Sie kennen den Alten doch sicher schon lange. Sie können mir doch wenigstens sagen, ob er normalerweise zu den Mahlzeiten hinunterkommt oder nicht.« Linda suchte einen Ausweg. Sie wollte so schnell wie möglich aus dieser Situation befreit werden. Sie beugte sich ganz nahe zu Marion hinüber und sprach noch leiser als vorher.
»Also… Mr. Ingram kommt kurz bevor wir unsere gemeinsamen Mahlzeiten einnehmen und holt sich sein Essen. Er ißt dann aber immer allein oben in seinem Zimmer. Aber… heute morgen war er noch nicht da. Das letzte Mal habe ich ihn gestern abend gesehen. Vor dem Abendessen. So, und nun lassen Sie mich bitte gehen. Ich habe noch zu arbeiten und… na ja, Sie wissen schon.« Sie lächelte gezwungen und um Verzeihung bittend. Dann war sie auch schon in der Küche verschwunden. Marion blickte ihr nach. Das Mädchen war völlig verängstigt. Wie sehr waren überhaupt alle irgendeinem rätselhaften Zwang unterworfen? Paßte all das auch zu dem seltsamen Verhalten ihres eigenen Mannes?
*
Es war ihr klar gewesen, daß sie sich nicht allein auf die Suche nach Jacob Ingram machen konnte. Also war Marion in ihr Auto geklettert und Richtung Wisby gefahren. Nach etwa dreißigminütiger Fahrt hatte sie das kleine, freundlich aussehende Arzthaus erreicht. Während der ganzen Zeit hinter dem Steuer waren ihre Gedanken immer wieder zu Jonathan und Harold gewandert. Sie hatte nirgends auf dem Burghof Harolds Auto entdecken können. Das war auch eigentlich nicht verwunderlich. Wahrscheinlich zeigte er dem Jungen seine Besitzungen, und sie sollte sich nicht so viel Sorgen machen. Aber sie tat es doch. Sie parkte den Wagen vor dem Haus und ging dann ohne anzuklopfen hinein. Es war elf Uhr vormittags, und im Wartezimmer saßen zwei junge Frauen mit kleinen Kindern.
Marion blieb eine Weile sitzen, dann ging sie hinaus und klopfte im Sprechzimmer an. Gregory Walsh hatte also tatsächlich keine Sprechstundenhilfe. Er machte alles allein. Die Tür zum Sprechzimmer ging auf, und ein breites Lächeln überzog das Gesicht des Arztes. »Mrs. Cedrick, hallo! Sind Sie ganz allein hier? Ist etwas nicht in Ordnung mit Jonathan?« Jetzt hatte seine Stimme besorgt geklungen, und sofort wurde Marion wieder bewußt, wie ungeheuer sympathisch dieser Mann war. »Nein, Jonathan ist okay. Aber ich muß Sie trotzdem dringend sprechen. Es ist…«, sie dämpfte ihre Stimme, »wegen Ihres Onkels, Mr. Ingram.« Sofort verdunkelte sich der Gesichtsausdruck des Arztes. »Was ist los mit Onkel Jacob? Hat er Probleme? Aber warten Sie lieber einen kleinen Moment. Ich möchte erst einmal meinen kleinen Patienten hier zu Ende untersuchen. Dann komme ich zu Ihnen.« Er deutete auf eine Tür rechts neben dem Sprechzimmer, an der ein Schild mit der Aufschrift »Privat« hing. Marion betrat den kleinen Raum, der eingerichtet war wie ein Büro. Sie setzte sich auf das alte Zweisitzer-Sofa, das links von der Tür an der Wand stand. Es war eines von diesen typischen Großmutter-Sofas, rund und gemütlich, mit einem abgewetzten, gestreiften Stoff bezogen. Davor stand ein kleiner Eichentisch, über und über mit Zeitschriften beladen. Sie sah sich um. Alles war nicht besonders ordentlich, in den Regalen standen medizinische Fachbücher neben Aktenordnern, und mittendrin guckte immer mal wieder eine lose Zettelsammlung hervor. Überall an den Wänden hingen Bilder, gerahmte und ungerahmte und eine Vielzahl von Kinderbildern, alle »für den lieben Dr. Walsh«.
»So, jetzt habe ich einen Moment Zeit. Was ist denn bloß los mit dem alten Onkel Jacob?« Der junge Arzt hatte sich den Schreibtischstuhl an den Tisch gezogen und ihr gegenüber Platz genommen. Auf seinem Gesicht spiegelte sich außer der Freude über ihren Besuch auch die Besorgnis wider. »Er ist verschwunden. Das heißt, es hat den Anschein, als sei das der Fall. Leider weiß ich auch nichts Genaues. Ich wollte ihn heute morgen besuchen, und da stellte ich fest, daß er ‘ nicht in seinem Zimmer war. Was ich vorfand, beunruhigte mich.« Sie erzählte ihm alles, was sie wußte, und auch das, was sie vermutete. Das Gesicht des jungen Mannes wurde starr, als sie ihm von Linda erzählte und davon, wie einsam der alte Mann ganz offensichtlich sein mußte. »Sie hatten recht, hierher zu mir zu kommen, Mrs. Cedrick. Ich habe Ihnen ja schon beim letzten Mal gesagt, wie schwer es mein Onkel wohl jetzt auf Ihrem Castle haben muß. Seit Ihr Schwiegervater nicht mehr am Leben ist, haben sie den Alten regelrecht abgeschoben. Das ist mir jetzt klar, nachdem Sie mir dies erzählt haben. Aber daß sie ihm vielleicht sogar etwas angetan haben könnten, daran hätte ich niemals gedacht.« Er war aufgestanden und sah jetzt aus dem Fenster. »Diese Landschaft hatte schon immer für mich einen großen Reiz. Das Herbe, Ausdrucksstarke, die geballte rauhe Natur der Highlands, sie haben mich immer fasziniert. Aber daß all das auch diesen Menschenschlag hier geprägt hat, das habe ich gern verdrängt. Während meines Studiums war ich nicht hier, und aus der Ferne ist alles noch schöner. Jetzt allerdings könnte ich manchmal verrückt werden. Ich weiß, daß ich ein guter Kinderarzt bin, doch die alten Frauen hier geben ihren Hokuspokus an die jungen weiter, und schon so manches Kind
hier in der Gegend ist gestorben, weil seine Eltern sich davor scheuten, es in meine Behandlung zu geben.« Er wandte sich um und sah sie mit einem fast traurigen Ausdruck in den Augen an. »Aber bitte, verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht mit meinen Problemen belasten. Es ist nur, weil mein Onkel mich immer davor gewarnt hat. Er und auch Ihr Schwiegervater waren anders. Und sie hatten immer die eine große Hoffnung, daß sich eines Tages doch alles hier ändern würde und die bösen Geister aus den Köpfen der Menschen verschwinden würden. Aber… was haben sie mit ihm gemacht?« »Denken Sie denn auch, es könnte ihm etwas zugestoßen sein?« Marion sah sich in etwas hineinschliddern, dem sie kaum noch gewachsen war. Warum konnte sie nicht einfach davonlaufen? »Ich finde keine andere Erklärung. Ich vermute, daß man ihn gewaltsam aus seinem Zimmer hinausgebracht hat. Wenn Sie einen Moment Zeit haben und auf mich warten könnten?« »Ja, natürlich, aber…?« Sie sah ihn fragend an. »Ich werde den beiden Müttern im Wartezimmer das ganze als Notfall schildern. Es geht nur um Kontrolluntersuchungen, und den Termin können wir verlegen.« Er bemerkte ihren zögernden Blick und lächelte. »Machen Sie sich keine Gedanken. Die beiden werden wiederkommen. Sie gehören zu meinen wenigen treuen Patientinnen. Also, wenn Sie warten, werde ich Sie nach Cedricksburgh begleiten.« Marion wußte, auf was sie sich einließ. Wenn Harold sie mit Dr. Walsh sah, würde es ein Donnerwetter geben. Aber sie dachte auch an Jacob Ingram und daran, daß er auch ihr
geholfen hatte. Falls sie noch irgend etwas für ihn tun konnte, dann war der Zeitpunkt dafür jetzt gekommen. »Ich werde hierauf Sie warten.« Er ging zu ihr hin und ergriff mit seinen beiden Händen die ihre. »Danke.« Das war alles, was er sagte. Und als er hinausging und sie allein in seinem Zimmer zurückließ, da wußte Marion, daß sie das Richtige getan hatte.
*
Die Gestalt in der Kutte betrachtete das Kind von allen Seiten. Der Junge sah aus, als würde er schlafen. Ruhe und Schönheit strahlte sein Gesicht aus, nichts ahnte er von den Dingen, die hier besprochen worden waren. »Er darf nicht erfahren, wo er gewesen ist. Er wird erst in einer Stunde aufwachen, wenn ihr wieder zu Hause seid. Er muß rein und unbefleckt sein und ohne Angst. Sonst ist alles umsonst. Es bleibt uns nicht mehr viel Zeit, heute nacht wird es geschehen.« Er erhob mahnend seine Hand. »Denke daran, daß der Fluch auch auf dir lastet. Wenn du dich verweigerst, wirst du der erste sein, den die Strafe trifft.« Schweigend nahm der andere den Jungen in seine Arme und trug ihn aus der Höhle hinaus. Er dachte nicht an das Kind, er dachte nicht an sich, nur das Versprechen war es, das übermächtig von ihm Besitz ergriffen hatte.
*
Marion spürte, daß er sie ansah. Sie wandte den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. Gregory Walsh sah sehr nachdenklich aus. »Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht beobachten. Ich frage mich nur die ganze Zeit, wie es eine junge Frau wie Sie hier überhaupt aushält. Ich meine, Sie sind doch sicher anderes gewohnt.« Marion wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte bei dieser Frage. Es klang rührend naiv, doch sie wußte ja, daß dieser Mann dort neben ihr eigentlich alles andere als naiv war. Vielleicht war ihm auf die Schnelle keine andere Frage eingefallen? »Wollen Sie das wirklich wissen? Können Sie es sich nicht denken, wie es ist, wenn man als Ehefrau mit Mann und Kind hier anreist? Ich bin nach Cedricksburgh gekommen, weil mein Mann diese Besitzung von seinem Vater geerbt hat. Und ich bin hierhergekommen, weil ich nicht im mindesten ahnen konnte, was mich erwarten würde.« Sie lächelte etwas gezwungen. Ihr war eingefallen, daß er gar nichts von alldem wissen konnte, was sie bedrückte. Sie kannten sich ja tatsächlich erst ganz kurze Zeit und hatten auch noch kaum Gelegenheit gehabt, miteinander zu sprechen. Aber sie fühlte sich wohl in seiner Gegenwart, so, wie sie es hier sonst gar nicht kannte. Er war – anders als alle anderen, denen sie hier begegnet war – ein Mensch, der Wärme und Vertrauen ausstrahlte. Jetzt bildete sich eine Falte auf seiner Stirn. »Ist es denn so schlimm?« Marion umklammerte das Lenkrad. Sie hatte niemanden hier, dem sie auch nur ein persönliches Wort sagen konnte, denn alle hielten ja auf eine seltsame Weise zusammen. Sie war die meiste Zeit nur mit Jonathan zusammen gewesen. Und heute war nicht einmal er bei ihr.
»Ich bin seit sechs Jahren verheiratet. Wir leben in London, und ich bin dort sehr glücklich gewesen. Eigentlich wollten wir beide nicht fort, wir sind nur gefahren, weil der Nachlaßverwalter so einen Druck gemacht hat. Es sollte also nur eine Pflichtübung sein, da sich mein Mann zu Lebzeiten seines Vaters mit diesem überhaupt nicht verstanden hat.« Sie hielt inne, wie um sich zu vergewissern, ob sie ihn mit ihrer Geschichte langweilte. Aber er sah sie aufmunternd an. »Es ist etwas mit ihm geschehen, seit wir hier sind. Es fing ziemlich bald nach unserer Ankunft an, und es wurde täglich mehr. Ich habe Mühe, in ihm den Mann zu finden, mit dem ich seit Jahren zusammenlebe.« Marion schluckte. Sie sah all das noch einmal vor sich, was zwischen ihr und Harold auf Cedricksburgh vor sich gegangen war. Aber sie bemerkte auch, daß sie einmal darüber sprechen mußte. »War Ihr Mann viel allein unterwegs?« »Ja, fast ausschließlich. Und das war schon ungewöhnlich für ihn – und auch für unser Verhältnis zueinander. Aber es war… ja, es war, als stünde er unter einem Zwang. Ich habe versucht, eine Erklärung dafür zu finden, besonders, als er anfing, mich in Jonathans Gegenwart zu beschimpfen.« Sie stockte, denn es war ihr unangenehm. Aber es waren die Tatsachen, und vielleicht würde es helfen, die seltsamen Dinge zu entwirren. Und vielleicht würde es sie sogar im Zusammenhang mit Jacob Ingrams Verschwinden ein Stück weiterbringen. »Mittlerweile ist es schon so, daß ich Bedenken habe, wenn Jonathan, so wie er es heute getan hat, allein mit seinem Vater unterwegs ist. Und das ist doch völlig absurd. Jedenfalls war es das noch vor ein paar Tagen für mich. Ich versuche verzweifelt, alles in meinem Kopf auf die Reihe zu kriegen. Ich versuche auch herauszufinden, warum sich die Menschen
im Castle so merkwürdig und teilweise geradezu abweisend mir gegenüber verhalten. Und das einzige, was bis jetzt für mich dabei herausgekommen ist, ist, daß ich mir einrede, sie hätten etwas mit Harold gemacht. Also, für mich ist es einfacher, wenn ich mir sage, daß es nicht seine Schuld ist. Nicht sein kann. Ein Mensch kann nicht plötzlich ein anderer werden. Aber… das ändert nichts an den Tatsachen und an dem, was vielleicht noch geschehen wird.« Gregory Walsh schaute nachdenklich aus dem Fenster. Er sprach leise und wie zu sich selbst. »Was Sie da sagen, klingt in der Tat befremdend. Und ich habe auch noch niemals mit so etwas zu tun gehabt. Ich kenne halt nur die abweisende Haltung der Menschen hier. Ja, die habe ich am eigenen Leib zu spüren bekommen. Darüber dürfen Sie sich also nicht wundern. Was mich wirklich beunruhigt, ist die Sache mit meinem Onkel. Und daß das ausgerechnet nach dem Tod seines alten Freundes Cedrick passiert. Wissen Sie, die beiden haben ja ständig versucht, gegen diesen schrecklichen Aberglauben und die Anbetung irgendwelcher alten und absurden Gottheiten anzukämpfen. Aber wie es scheint, hatten sie nicht sehr viel Erfolg. Ich kann mir nur denken, daß sie sich Feinde gemacht haben. Und deshalb mache ich mir große Sorgen – und ich sehe auch einen Zusammenhang zwischen dem, was Sie mir gerade erzählt haben, und seinem Verschwinden.« Jetzt wandte er sich zu ihr um. »Gibt es noch irgend etwas, was Ihnen aufgefallen ist? Etwas Konkretes vielleicht sogar, dem wir nachgehen könnten?« Marion überlief eine Gänsehaut bei der Erinnerung an das, was sie gestern auf der Waldlichtung beobachtet hatte. Sie hätte am liebsten gar nicht darüber gesprochen, es für immer vergessen. Aber das war nicht möglich, denn es hatte so etwas Bedrohliches gehabt, etwas, das eine tiefe Angst in ihr
bloßgelegt hatte. Und davor konnte sie sich nicht verstecken. Sie berichtete ihm alles, was sie gesehen und gehört hatte. Und sie sah den Zorn in seinem Gesicht. »Diese furchtbaren Idioten. Es ist, als hätte sich in den letzten tausend Jahren nichts geändert. Alles ist beim alten geblieben. Wenn man bloß wüßte, wer ihr Anführer war.« Er legte seine Hand auf ihren Arm und sprach mit eindringlicher Stimme. »Was Sie da gesehen haben, klingt nicht gut. Es hörte sich ja wohl so an, als hätten sie irgend etwas vor. Man kann es nie genau wissen. Aber ich denke, wir werden noch einiges vor uns haben. Und wir werden es schwer haben und Kraft brauchen. Denn helfen wird uns hier sicher niemand.« Vor ihnen erhoben sich jetzt die Mauern von Cedricksburgh, alles sah von außen ruhig und friedlich aus. »Marion, vielleicht ist das der letzte Moment, in dem wir noch Ruhe haben. Was auch immer geschehen wird, denken Sie an sich und an Ihren Sohn.« Marion verkrampfte sich innerlich, wollte aufbegehren. »Aber… was ist mit Harold?« Sie lenkte den Wagen über die Zugbrücke, auf dem Hof herrschte mittägliche Stille. »Es ist wichtig, daß Sie nicht vergessen, was ich Ihnen gesagt habe. Denken Sie an sich und an das Kind.« Doch er sah, daß sich ihre Augen vor Angst und Ungewißheit mit Tränen füllten. Er versuchte ein Lächeln. »Es wird schon alles gut werden. Auch wenn es jetzt nicht danach aussieht.« Aber glauben konnte ihm Marion nicht.
*
»Ich denke, es ist besser, wenn ich allein hineingehe. Am Anfang wenigstens. Ich werde erst einmal nachschauen, ob mein Mann und Jonathan schon wieder zurück sind.« Marion zögerte, sprach dann aber weiter. »Es wäre im Moment sicher nicht sehr klug, wenn ich mit Ihnen zusammen auftauchen würde. Ich hoffe, Sie verstehen mich.« »Natürlich. Aber ich finde, Sie sollten mir wenigstens sagen, wo Sie hingehen wollen. Es gibt doch sicher endlose Gänge mit unzähligen Zimmern. Falls nun doch irgend etwas ist – oder wenn Sie nicht zurückkommen – dann würde ich mich allein auf den Weg machen und unauffällig nachsehen, ob mit Ihnen alles in Ordnung ist.« Marion spürte, wie eine Gänsehaut sie überlief. Es nahm alles so konkrete Formen an. Es war ein richtiges Komplott, wie in einem der Filme, die sie an langweiligen Fernsehabenden genossen hatte. Aber dies war die Realität. Es konnte sein, daß sie alle einer Bedrohung ausgesetzt waren, deren Umfang sie noch nicht einmal kannten. Als sie ihm den Weg beschrieben und er ihr Glück gewünscht hatte, holte sie noch einmal tief Luft und ging dann auf die Eingangstür zu. Drinnen in der großen Halle umgab sie die gleiche Stille wie schon auf dem Hof. Nur war es wie immer merklich dunkler, ja fast düster. Denn außer einem riesigen Leuchter mit elf Kerzen auf dem Kamin brannte kein weiteres Licht. Marion wunderte sich zwar, hatte aber keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, und beeilte sich, die Treppe hinaufzukommen. Ihr klopfte das Herz bis zum Hals. Würde Jonathan in ihrem gemeinsamen Zimmer sein? War es vielleicht sogar Harold, auf den sie dort als erstes treffen würde? Sie hätte es am
liebsten vermieden, ihm zu begegnen, aber ihr Sohn war ihr jetzt wichtiger als all ihre Bedenken. Als sie die Klinke hinunterdrückte, meinte sie zu zerspringen. Sie hatte einen dicken Kloß im Hals vor Aufregung und trat mit fast schlotternden Knien ein. Doch niemand war zu sehen. »Jonathan?« Sie hatte leise nach ihm gerufen, so als müßte sie befürchten, gehört zu werden. Aber es kam keine Antwort. Trotzdem ging sie in das angrenzende Schlafzimmer, und schon beim ersten Blick sah sie den schlafenden Jonathan. Er lag in Jeans und Sweat-Shirt auf seinem Bett, die Decke nur lose über die Beine gelegt. Ein dicker Stein fiel Marion vom Herzen, als sie das friedlich in sich ruhende Gesicht ihres Sohnes betrachtete. Wahrscheinlich war er von den Anstrengungen der letzten Tage so müde geworden, daß Harold ihn hierhergebracht hatte. Er selbst hatte sicher genügend andere Dinge zu erledigen und saß deshalb nicht hier im Zimmer. Sie war schon fast wieder beruhigt, und wäre am liebsten hier oben auf dem Sofa sitzengeblieben, um auf Jonathans Erwachen zu warten, da fiel ihr der alte Ingram ein und sein mysteriöses Verschwinden. Das war ja der eigentliche Grund für ihre Fahrt nach Wisby gewesen – und genau deswegen saß jetzt auch Dr. Walsh unten in ihrem Auto. Sie mußte ihm wenigstens Bescheid sagen. Marion warf noch einmal einen zufriedenen Blick auf ihren Sohn, lehnte die Schlafzimmertür an und wollte hinausgehen, da klopfte es ganz zart an ihre Zimmertür. Sie schreckte zusammen, dachte aber im nächsten Moment, daß so auch immer Jacob Ingram sich bemerkbar gemacht hatte. Leise und unauffällig. Also öffnete sie ganz erwartungsvoll und ebenso leise die Tür und war völlig
überrascht, dort auf dem halbdunklen Flur Linda McLaughlin stehen zu sehen. »Bitte, Mylady, lassen Sie mich hinein. Bitte, es ist sehr wichtig.« Die Stimme des Mädchens klang ängstlich und flehend. Sie drängte sich ihr entgegen, so als würde sie von wilden Bestien gejagt. Marion wich einen Schritt zurück und ließ sie eintreten. »Mein Gott, was ist denn bloß los?« Linda war völlig aufgelöst. Sie hatte stark gerötete Wangen und eine wie vom Wind zerzauste Frisur. »Bitte, machen Sie die Tür zu. Vielleicht hat mich jemand gesehen.« »Nun beruhigen Sie sich doch. Was führt Sie zu mir? Ist etwas passiert? Etwas Schlimmes?« »Es ist wegen Mr. Ingram. Ach, es ist so schrecklich!« Und sie brach in Tränen aus. Marion berührte das Mädchen an der Schulter, und in Lindas Augen trat wieder die Panik. »Sie müssen mitkommen, sofort. Wir haben nicht viel Zeit.« Marion sah zur Schlafzimmertür. »Aber…« »Bitte, Mylady, es ist sehr wichtig. Ich bitte Sie, kommen Sie mit mir. Sie werden mich suchen, und wenn Sie mich hier finden… Nein, das darf nicht sein. Aber das Unrecht darf auch nicht sein.« Sie stieß es verzweifelt hervor und griff nach Marions Hand. »Einen Moment, ja, ich komme mit.« Sie hatte sich noch einmal davon überzeugt, daß Jonathan schlief, ihre Jacke wieder angezogen und zusammen mit Linda leise das Zimmer verlassen. »Gibt es hier noch einen anderen Ausgang? Ich meine… damit wir nicht durch die Halle müssen?« »Ich darf Ihnen das eigentlich nicht zeigen. Wenn uns jemand sieht, bin ich verloren.«
Während sie noch mit sich rang, hörte Marion leise Schritte auf der Treppe, die sich näherten. Sie sah in die Richtung und erblickte – Gregory Walsh. Linda zuckte zusammen, wurde jedoch von Marion beruhigt. »Alles okay, Linda. Keine Gefahr. Das ist Mr. Walsh, der Neffe von Jacob Ingram. Ich denke, er sollte uns begleiten.« Linda zögerte nun nicht mehr und lotste die beiden hinter sich her, bis sie zu einer kleinen Tür kamen. Dahinter verbarg sich eine schmale dunkle Treppe, die nach unten führte. Linda ging voran, vorsichtig Stufe für Stufe nehmend, bis sie durch eine andere Tür wiederum auf einen anderen Gang gelangten. Wieder sah sie sich sorgfältig um und ging dann gefolgt von Marion und Dr. Walsh auf eine Tür zu, die abgeschlossen war. »Einen Moment, ich habe einen Schlüssel.« Sie öffnete die Tür, und sie standen in dem Zimmer, das Marion gemeinsam mit Jonathan schon ganz zu Anfang ihres Aufenthaltes auf Cedricksburgh gesehen hatte. Hinter ihnen schloß Linda sorgfältig wieder ab. »Ich kenne diesen Raum. Es ist das Zimmer mit dem Bild. Moment, es hing doch…« Doch Linda ließ ihr keine Zeit, sie war zu unruhig. »Schnell, Mylady, wir müssen uns beeilen.« Sie trat an den großen dunklen Eichenschrank, öffnete mit Hilfe eines leichten Verschiebens des Kranzes die Türen und dann noch eine weitere Tür, die sich an der Rückseite des Schrankes in der Wand befand. Dann ergriff sie eine der Grubenlampen, die an der dahinterliegenden Wand hingen, und zündete sie an. An ihre beiden völlig verblüfft dreinschauenden Begleiter gewandt, sagte sie: »Bitte, fragen Sie mich jetzt nicht. Ziehen Sie die Türen hinter sich zu, und klettern Sie dann vorsichtig hinter mir her. Und vermeiden Sie es zu sprechen.«
Die beiden folgten ihr, Marion mit zitternden Knien. Sie glaubte nicht mehr daran, sich noch in der Realität zu befinden. Sie bewegte sich in einer anderen Welt. Doch diese Welt erwies sich als feucht und zeitweilig glitschig. Zuerst ging es nur bergab, dann ein nicht endenwollendes Stück geradeaus. Es war stockfinster und roch modrig, man konnte sich fragen, wie überhaupt ein Minimum an Sauerstoff den Weg dorthin fand. Aber Marion besaß noch die Kraft, hinter Linda herzugehen, selbst gefolgt von Gregory, dessen Atem sie dicht hinter sich spürte. Einmal nur war Linda stehengeblieben, hatte sich zu ihnen umgewandt und nach rechts deutend geflüstert: »Dort ist der Ausgang. Er liegt auf halber Strecke zwischen dem Castle und der Bucht. Fast direkt an der Straße. Aber wir müssen noch ein Stück weitergehen.« Dann hatte sie schweigend und schwer atmend ihren Weg fortgesetzt. Man merkte ihr die ungeheure Anspannung und die Anstrengung an. Endlich wurde es heller, das Ende des unterirdischen Ganges schien nahe zu sein. »Bitte, warten Sie hier. Ich will erst nachsehen, ob jemand da ist.« Marion und Gregory blieben, eng an die Wand gepreßt, zurück, während Linda langsam und gebückt, sich immer wieder hinter Felsvorsprüngen versteckend, auf den Ausgang zulief. Wenige Minuten später gab sie den beiden ein Zeichen zu kommen. »Es ist alles in Ordnung. Jetzt… wir sind unten in der Bucht. Dieser geheime Gang führt direkt vom Castle an die Bucht. Ich habe Sie hierhergebracht; weil ich Ihnen etwas zeigen wollte. Bitte…« Marion warf Gregory einen fragenden Blick zu. Er aber nickte ihr nur aufmunternd zu.
»Keine Angst, ich bin ja auch noch da.« Dann gingen sie wieder hinter Linda her, bis der Gang in eine Höhle mündete. Sie war einigermaßen groß und geräumig, zum Ausgang allerdings verjüngte sie sich wieder, und schließlich mußten sich Marion und Gregory durch einen engen Spalt ans Tageslicht quetschen. Draußen blieb Marion wie vom Schlag gerührt stehen. Sie sah sich um und konnte es nicht fassen. Es war genau der Felsspalt, hinter dem sie Jonathan gefunden hatte. Nie hätte sie vermutet, daß sich dahinter ein Verbindungsgang zum Castle befand. Und daß sie so schnell noch einmal hierherkommen würde. Linda packte sie am Arm, ihr Gesicht drückte Aufregung und Erschöpfung aus. »Bitte, Sie müssen jetzt kommen. Aber es ist kein schöner Anblick. Ich habe mich auch furchtbar erschreckt. Es ist nur… Sie müssen es doch wissen!« Sie wandte sich um und kletterte beherzt um den Felsvorsprung herum, der Marion schon beim letzten Mal einige Mühe bereitet hatte. Gregory stellte sich so hin, daß er Marions Hand ergreifen und ihr helfen konnte. Dann standen sie auf dem sandig-steinigen Boden des Strandes. Was nur konnte Linda ihnen zeigen wollen? Es machte nicht den Eindruck, als hätten sie etwas Angenehmes zu erwarten. »Oh, mein Gott! Marion, sehen Sie nicht hin.« Aber es war schon geschehen. Marion erstarrte bei dem Anblick, der sich ihr bot. Vor ihr im Sand, dicht an den Fels gedrückt, lag ein Sarg. Es war ein selbstgezimmerter Sarg aus einfachem Holz, aber sorgfältig gearbeitet und abgedichtet. Durch den Aufprall auf den Fels oder durch irgendeinen anderen Umstand hatte sich der Deckel geöffnet. Auf dem roh gezimmerten Boden lag die bleich-wächserne Leiche Jacob Ingrams, in deren Brust eine große Schnittwunde klaffte.
Marions Knie gaben nach, und nur noch Gregorys beherzter Griff konnte sie davor bewahren, einfach zu Boden zu fallen. Sie schlug schluchzend die Hände vors Gesicht, und er drückte sie an sich und strich beruhigend über ihren Kopf. »Wer hat das getan? Wer ist zu so etwas Schrecklichem fähig?« Sie verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter und weinte. Es war ein herzzerreißendes, bitteres Weinen und sie meinte, niemals wieder aufhören zu können. Wie eine immer enger werdende Schlinge zog sich die Angst um ihre Brust. Der eisige Wind, der hier unten in der Bucht wohl immer herrschte, tat noch ein Übriges dazu, daß sie am ganzen Körper zitterte. »Ich habe ihn heute mittag gefunden. Ich gehe oft hier hinunter, weil ich dann allein und ungestört bin. Ich habe noch nie einen toten Menschen gesehen. Und dann noch so.« Das Mädchen stieß die Worte hervor und starrte dabei unentwegt auf den Sarg, so als könnte sie es immer noch nicht fassen. Dann fing auch sie an zu weinen. »Er war ja ein bißchen verrückt, der Alte, aber warum haben sie ihn umgebracht? Und sie haben ihn ins Meer geworfen. Sie haben ihn in einen Sarg gelegt, damit ihn das Meer nicht verschlingt.« Sie sah mit einem seltsam befremdenden Blick hinaus auf das Meer und schwieg. »Linda, wissen Sie irgend etwas über die Umstände von Mr. Ingrams Tod? Linda?« Gregory legte ihr seine Hand auf die Schulter, wie um sie zurückzuholen. »Linda, ich bitte Sie, denken Sie nach!« Sie sah ihn an, als käme er aus einer anderen Welt. »Das Meer verschlingt jeden. Nichts und niemand ist vor ihm sicher. Aber daß er wieder angespült worden ist, das ist ein böses Zeichen.«
Sie kniete neben dem Sarg nieder, legte ihre Hände auf das durchnäßte Holz und sprach wie zu sich selbst. »Wir alle hier leben in ständiger Angst vor der Gewalt des Meeres. Und solange ich denken kann, wurden die schauerlichsten Geschichten über das, was damals geschehen ist, erzählt. Sie wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Und es hat immer einen gegeben, der sie alle dazu gebracht hat, dem Meer zu Willen zu sein. Aber dies hier ist ein böses Omen.« Sie stand auf und ging zu Marion. Ihr langes dunkles Haar hatte sich aus dem Zopf gelöst und flatterte im Wind. Sie nahm Marions rechte Hand und sah sie eindringlich an. »Ich habe schon zuviel Verbotenes getan. Wenn sie es erfahren, ist mein Schicksal besiegelt. Aber ich kann es nicht zulassen, und vielleicht ist es noch nicht zu spät.« Sie unterbrach sich und schloß für einen kurzen Moment die Augen, so als müßte sie tief aus ihrem Innern Kraft schöpfen. »Sie müssen jetzt sofort zurück ins Castle gehen und Ihren Sohn holen. Und dann sollten Sie alle zusammen so schnell wie möglich von dort verschwinden und niemals zurückkehren. Tun Sie, was ich sage, laufen Sie, denn Jonathan ist in Gefahr. Sie haben nicht mehr viel Zeit – heute nacht soll es geschehen!« Sie hörte auf zu sprechen, und man sah, daß sie innerlich zusammensackte. Sie ließ Marions Hand fallen und ging davon. »Was? Was soll geschehen?« Verzweiflung und Ratlosigkeit hatten aus Marions Stimme geklungen. Sie wollte hinter Linda herlaufen, doch Gregory hielt sie zurück. »Linda… halt… noch eins! Was ist los mit den Leuten auf dem Castle? Was haben sie vor mit dem Jungen?«
Linda blieb noch einmal stehen und drehte sich zu ihnen um. Sie sah sie aus tränengefüllten Augen an und sprach dann mit leiser, gebrochener Stimme. »Sie wollen ihn opfern. Sie wollen ein Kind opfern.« »Nein!!!!« Marion hatte es hinausgeschrien in wilder Panik. »Und Harold? Was ist mit meinem Mann?« »Sie haben ihn so weit, daß er mitmacht. Er ist einer der ihren geworden.« Und sie ging davon, über den Strand und blickte sich nicht mehr nach ihnen um.
*
»Mein Kind, o Gott, mein Kind!« Marion schlug das Herz bis zum Hals, sie zitterte und wußte im ersten Moment gar nicht, was sie tun sollte, in welche Richtung sie laufen sollte. Sie fühlte sich, als hätte ihr jemand die Pistole auf die Brust gesetzt. »Bitte, Marion, beruhigen Sie sich. Wir werden so schnell wie möglich dort sein. Und dann holen wir Jonathan da raus.« Marion war schon losgelaufen. Sie rannte in Richtung auf die Stelle im Felsen, an der man am besten hinaufgelangen konnte. Gregory lief hinter ihr her und wollte sie zurückhalten. »Ist es nicht besser, wenn wir den Geheimgang nehmen?« Aber Marion wehrte ab. »Nein, stellen Sie sich bitte einmal vor, dort in dem Zimmer hält sich irgend jemand auf, oder der Schrank ist wieder verschlossen, oder wir treffen auf jemanden innerhalb des Gangsystems. Was dann?«
Sie zog ihn förmlich mit sich, und mit einemmal verspürte sie eine ungeheure Kraft in sich wachsen. »Kommen Sie, wir nehmen diesen Weg. Bitte, Gregory, wir dürfen keine Zeit verlieren.« Sie rannten den steinigen Weg entlang, und bei jedem Schritt dachte Marion an ihren Sohn. Mit ihm auf den Armen war sie hier entlanggelaufen, und schon da war alles so anders gewesen und so fremd. Sie fühlte sich allein und verlassen, entwurzelt und verraten. Verraten von ihrem eigenen Mann, Harold, den sie mehr als alles andere auf der Welt geliebt hatte. Jetzt wollte er ihr zusammen mit diesen anderen Verbrechern ihr Kind nehmen. Sein eigenes Kind. Von welchen Mächten war er besessen, was war in ihn gefahren, daß er zu so etwas fähig war? Und hatte sie überhaupt noch eine Chance, Jonathan zu retten? Dann sah sie den Mann an, der neben ihr herlief, das Gesicht vor Anstrengung genauso gerötet wie das ihre, den Blick starr geradeaus gerichtet. Er würde ihr helfen, denn auch er hatte soeben die Macht der verschworenen Gemeinschaft auf Cedricksburgh zu spüren bekommen. Der grausige Fund am Strand hatte ihn in kurzer Zeit zu einem entschlossenen, tapferen Mitstreiter werden lassen, auf den sie sicher würde vertrauen können. Sie beide wußten nicht, was sie auf Cedricksburgh erwarten würde. Das einzige, was sie hatten, war ihr eiserner Wille – und ihre Angst. Linda wußte, daß sie sie bestrafen würden. Sie war ein Teil von ihnen gewesen, hatte den Schwur getan. Sie hatte sie verraten. Und dafür würde sie bezahlen müssen. Aber, sie lief zurück. Sie hatte keine Wahl. Nach Hause zu gehen, wäre genauso schlimm gewesen. Einst hatten ihre Eltern sie dazu gezwungen, auf Cedricksburgh zu arbeiten. Sie führten selbst ein Leben voller Angst und Entbehrungen. Und
ihre Angst vor dem Fluch ließ sie zu bedingungslosen Dienern werden. Niemals würden sie den Verrat ihrer Tochter dulden oder verstehen. Linda hatte kein Zuhause mehr. Und so lief sie ihrem Schicksal entgegen.
*
Die beiden hatten die Zugbrücke erreicht und sich hinter einem der höheren Büsche am Rand der Befestigungsmauer versteckt, so daß sie einen Teil des Hofes überblicken konnten. Von dort aus wollten sie versuchen, möglichst ungesehen hinüberzugelangen. Noch war niemand zu sehen außer zwei Katzen, die sich anscheinend bei der Mäusejagd vergnügten. »Wir sollten vielleicht nacheinander hineingehen. Ich habe Harolds Auto gesehen, wenn er Sie hier erwischt, ist gleich alles aus. Ich muß nach oben ins Zimmer, zu Jonathan. Hoffentlich ist ihm noch nichts passiert!« Marion schluckte den dicken Kloß, der ihr in der Kehle saß, hinunter und wollte loslaufen. Da schreckte sie zurück. »Sehen Sie nur, das ist doch Linda. Sie ist also doch vor uns hiergewesen. Aber…« Linda bewegte sich wie apathisch von der Eingangstür kommend mit langen Schritten über den Hof. Sie ging zu der anderen Seite hinüber und dann an der dicken Mauer, die den Hof und das Castle zur Meerseite hin abschirmte, entlang. Es war wie ein Spuk, ein grausamer Spuk, und die beiden hatten Mühe, ihren Aufschrei zu unterdrücken. In dem Moment nämlich, als das Mädchen den Turm erreicht hatte, in dem sich eine Treppe befand, die nach oben auf den Rundgang führte, fiel ein zentnerschwerer Felsbrocken von oben auf sie
hinunter. Der Fels begrub sie unter sich, das Blut rann über den Boden und hinterließ seine häßliche Spur auf den Steinen. Marion klammerte sich verzweifelt an Gregory, der Schrecken breitete sich in ihr aus wie eine lodernde Flamme. Sie schluchzte krampfhaft, nicht begreifend, was sie gerade gesehen hatte. »O Gott, oh, mein Gott, was tun sie! Sie haben sie umgebracht! Weil sie uns etwas verraten hat. Bestimmt, das muß der Grund gewesen sein. Dann wissen sie auch, daß wir uns mit ihr getroffen haben – und, daß wir hier sind. Was jetzt? Ich muß zu Jonathan, sofort!« »Sie können jetzt nicht einfach losrennen. Sie müssen warten, so schlimm es auch ist. Wir müssen jetzt alles genau überlegen, damit wir nicht ins offene Messer rennen. Wir wissen ja noch immer nicht genau, welche Rolle Ihr Mann spielt. Und von wem aus die Initiative zu all diesen Greueltaten geht. Also müssen wir auf der Hut sein vor jedem, der uns begegnet.« Aber Marion wollte sich nicht bremsen lassen. Sie sprang auf. »Ich werde gehen. Er ist schließlich mein Mann. Mir wird er nichts tun. Nein, ich bin ganz sicher, daß mir nichts geschehen wird.« Und auch Gregorys letzter Versuch, sie davon abzuhalten, scheiterte. Sie lief, als wäre nichts geschehen, über die Brücke und ging mit entschlossenen Schritten, nicht nach rechts und links schauend, auf das mächtige Portal von Cedricksburgh zu. Sie wagte auch nicht, den Blick in irgendeine Richtung zu wenden, denn sie hatte Angst, die zerschmetterte Leiche Lindas aus der Nähe ansehen zu müssen. Sie fühlte sich bei jedem Schritt beobachtet, hatte das Gefühl, als wären von überall her Augen auf sie gerichtet. Aber sie ließ sich nicht beirren und betrat die Halle des Castles.
Noch immer herrschte unwirkliche Stille überall, und noch immer sandte auch der Leuchter sein flackerndes, gespenstische Schatten werfendes Licht in den großen Raum. Marion fröstelte. Sie würde jetzt die Stufen hinauf zu ihrem Zimmer gehen und nach Jonathan sehen. Sie rannte die Stufen hinauf, riß oben angekommen die Tür auf und trat ein. Eigentlich hatte sie kaum noch erwartet, jemanden anzutreffen, um so überraschter war sie, als sie Harold, völlig zusammengesunken auf dem Sofa sitzend, dort vorfand. Die Vorhänge aus schwerem geblümtem Stoff waren zugezogen und tauchten den Raum in ein morbides rosa-dunkles Licht. Auch das Gesicht ihres Mannes war von diesem Licht überzogen, und es ließ ihn krank und erschöpft aussehen. Marion ging an ihm vorbei in das Schlafzimmer, doch ein Blick genügte ihr, um festzustellen, daß Jonathan nicht dort war. Sie öffnete die Badezimmertür, doch auch da war er nicht. »Wo ist er? Wo ist unser Sohn?« Als Harold ihr nicht antwortete, sondern nur in sich versunken sitzenblieb, ging sie zu ihm und rüttelte an seinen Schultern. »Harold, wo ist er? Was ist los mit dir, antworte!« Sie konnte sich nicht mehr beherrschen, umklammerte seinen Arm mit ihren Händen und versuchte, ihn vom Sofa hochzuziehen. Doch er war wie eine willenlose, schwere Puppe, nicht von der Stelle zu bewegen und ohne menschliche Regung. Marion weinte und schrie zugleich. Sie sank auf das Sofa und schlug die Hände vors Gesicht. »Harold, du mußt mir helfen! Es ist dein Sohn, unser Kind! Wir können doch nicht zulassen, daß sie ihm etwas antun.« Sie versuchte, ihn aus seiner Lethargie herauszuholen, rüttelte abermals an seinen Schultern, schlug ihm sogar auf die Wangen – erst rechts, dann links. Aber alles, was er sagte, war:
»Es wird geschehen, was geschehen muß. Wir dürfen den Schwur nicht brechen, sonst sind wir verloren.« »Das darf doch nicht wahr sein! Wer bist du? Was haben sie aus dir gemacht?« Sie wandte sich von ihm ab und ging zur Tür. »Dann werde ich ihn eben allein suchen!«
*
Marion gab sich jetzt keine allzu große Mühe mehr, leise und vorsichtig zu sein. Sie hatte es nur noch eilig. Es ging um Jonathan, und noch wußte sie nicht, wo er sein konnte. Sie hatte nicht die geringste Vorstellung. Und sie brauchte Hilfe, denn was alles ihr hier passieren konnte, das hatte sie ja hinlänglich erfahren. Also rannte sie die Treppen hinunter, durch die Halle, über den Hof, und dann kam Gregory ihr auch schon entgegen. Sie wäre ihm am liebsten in die Arme gefallen, so erleichtert war sie in diesem Moment, ihn zu sehen. Während sie zusammen zurück zum Portal gingen, berichtete sie in knappen Sätzen von ihrem Zusammentreffen mit Harold. »Er ist wie ein Fremder. Völlig apathisch, nicht ansprechbar. Wer weiß, was man mit ihm gemacht hat.« Gregory sah sich ebenso wie sie kürz in der Halle um und zog Marion dann in eine Ecke neben der Tür zum Speisesaal. »Wer konnte Ihrer Meinung nach etwas über Jonathan wissen? Denken Sie nach. Gibt es irgend jemanden, der Ihnen hier besonders aufgefallen ist? Durch seltsames Verhalten, durch Unfreundlichkeit oder durch irgendwelche Äußerungen?« Marion brauchte nicht lange nachzudenken.
»Miß Rellwood! Ich habe noch nie jemand getroffen, der so unfreundlich zu mir war.« »Na, sehen Sie, das ist vielleicht ein Anhaltspunkt.« Sie merkte, daß er versuchte, optimistisch zu klingen. Ihr war gar nicht danach zumute, denn ihre Angst um Jonathan wuchs von Minute zu Minute. Ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Wo hier in dieser Vielzahl von Gängen, Sälen und Zimmern konnte sich die Hausdame aufhalten? Marion hatte eigentlich nur eine Vermutung, eine winzige Hoffnung. »Lassen Sie uns in das Kaminzimmer gehen, das, wo der Geheimgang beginnt.« Gregory blickte sie fragend an. »Aber… meinen Sie, daß sie ausgerechnet da sein könnte? Hat sie keine privaten Räume?« Marion wurde ungeduldig. »Ich hab’ doch keine Ahnung. Los jetzt, kommen Sie.« Und sie ging ihm voran, hinauf in den ersten Stock, die vielen Gänge entlang, in denen ihnen auch nicht eine Menschenseele begegnete. Es war wie ausgestorben, so als hätten die Geschehnisse der vergangenen Tage das ganze Castle nur zur Bühne für ihr eigenes Schicksal werden lassen. Und zur Todesfalle für ihren Sohn. Sie hatten den Teil des Stockwerks erreicht, in dem sich das Zimmer befand. Die Vorhänge vor dem Fenster am Ende des Ganges waren zugezogen, und alles war so dunkel, daß sie kaum die Hand vor Augen erkennen konnten. Nur unter einer Tür war ein schwacher Lichtschein zu sehen. »Da… da vorn ist es. Und es sieht so aus, als wäre jemand da drin.« Marion hatte sehr leise gesprochen. Ihr Herz klopfte vor Aufregung. Die Ungewißheit nagte an ihren Nerven, und die Anstrengungen der letzten Tage taten ein Übriges. Sie spürte,
wie Gregory ihre Hand ergriff und fest drückte, und die Zuversicht, die er ausstrahlte, gab ihr neue Kraft. »Wir werden jetzt dort hineingehen müssen, ohne zu wissen, was uns erwartet. Aber was immer es ist – wir werden es schaffen.« Es war Gregory, der die Tür öffnete und als erster den erhellten Raum betrat. Die Lichtquelle war ein großer, fünfarmiger Kerzenleuchter, der auf dem Schreibtisch stand. Daneben lagen ein aufgeschlagenes Buch und ein Bild. Vorsichtig ging Marion hinter Gregory her in das Zimmer. Es war niemand zu sehen. Sie trat an den Schreibtisch, um sich das Buch anzusehen. »Hier, dies ist das Bild, von dem ich sprach. Es hängt sonst wohl dort an der Wand neben dem Kamin. Sehen Sie, es ist einfach grauslich. Jonathan hat damals gefragt, warum jemand ins Meer geschmissen würde. Er hat es gleich erkannt. Oh, mein Gott, und jetzt haben sie es auch mit ihm vor! Wir müssen uns beeilen. Es ist schon dunkel draußen.« Gregory hatte sich im ganzen Raum umgesehen und dabei festgestellt, daß die Tür des großen Eichenschranks nur angelehnt war. »Es muß jemand dort unten sein. Es ist auch ein schwacher Lichtschein zu erkennen. Es könnte sein, daß gerade jemand hinuntergegangen ist – oder aber gerade auf dem Rückweg ist.« Marion hatte angefangen, in dem dicken, schweren Buch herumzublättern. »Es ist wohl so etwas wie eine Chronik. Sehen Sie, hier sind Eintragungen, die schon viele Jahrhunderte alt sein müssen. Man kann sie kaum noch entziffern. Es sind aber wohl alles Namen, mit irgendwelchen Daten versehen.« Plötzlich schrie sie auf.
Gregory, der jetzt neben ihr stand, hielt ihr die Hand vor den Mund. »Vorsicht, es könnte uns jemand hören!« »Aber… das ist Jonathan! Das ist das Foto von ihm, das ich in dem silbernen Rahmen auf dem Kaminsims in unserem Zimmer hatte. Ich habe es schon seit Tagen vermißt. Es lag hier zwischen den Seiten. Auf dem nichtbeschriebenen Papier.« Gregory zog sie beiseite, neben den Eichenschrank. »Wir sollten lieber nicht dort stehenbleiben. Falls jemand durch den Geheimgang hierherkommt, sieht er uns gleich. Es ist besser, wenn wir uns hier verstecken.« Marion warf noch einen kurzen Blick durch die Schranktür. »Ich glaube, der Lichtschein ist heller geworden. Egal, wer es ist, er weiß vielleicht etwas über Jonathan. Aber was machen wir, wenn es gleich mehrere sind?« Marion spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. Daß es auch zu bedrohlichen Situationen kommen könnte, daran wagte sie gar nicht zu denken. Sie wollte nur ihren Sohn, und sie hoffte nur, ihn endlich wohlbehalten wieder in den Armen halten zu können. »Am besten, wir bewaffnen uns mit irgend etwas. Moment mal, vielleicht findet sich hier etwas Geeignetes.« Gregory blickte sich suchend in dem Zimmer um und hielt inne, als sein Augenmerk auf den Schreibtisch fiel. Dort lag auf der Schreibunterlage ein Brieföffner. Rasch ging er hin und nahm ihn an sich. Dann steckte er noch die marmorne Stiftablage in die Tasche und ging zurück zu Marion. »Ich nehme diesen Dolch – und Sie schlagen bitte im Ernstfall beherzt mit diesem Marmorblock zu.« Er reichte ihr die Ablage, und sie wunderte sich, daß sie so schwer in ihrer Hand wog. Der kühle Stein erwärmte sich
schnell in ihrer Hand, und sie fragte sich, ob sie wirklich in der Lage wäre, mit so etwas auf jemanden einzuschlagen. Doch viel Zeit war ihr nicht mehr zum Überlegen geblieben, denn von der Treppe her war plötzlich ein gehetztes Atmen zu hören gewesen. Der Lichtschein erhellte jetzt fast den Raum mit, und die Herzen der beiden Wartenden standen für einen Moment still. Sie drängten sich ganz dicht an die Wand neben dem Schrank und wagten kaum zu atmen. Dann öffnete sich langsam und knarrend die Tür des Geheimganges, und kurz darauf wurde auch die Schranktür aufgestoßen. Eine Gestalt in einer dunkelbraunen Kutte, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, erschien, trat an den Schreibtisch und stellte ihre noch nicht erloschene Grubenlampe dort ab. Sie nahm das Foto, strich langsam darüber und hielt es dann in der ausgestreckten Hand hoch über ihren Kopf. »Du bist auserwählt!« »Miß Rellwood!« Die Gestalt drehte sich abrupt um. Und Gregory blieb noch gerade so viel Zeit, nach vorn zu springen und sie von hinten so zu packen, daß sie sich seinem Zugriff nicht mehr entwinden konnte. Marion stand wie versteinert und starrte gebannt auf das Gesicht unter der Kapuze, die ein wenig verrutscht war, so daß man jetzt deutlich erkennen konnte, daß es sich tatsächlich um die Hausdame handelte. »Also hat mich mein Instinkt doch nicht im Stich gelassen.« Die gefangene Hausdame versuchte, sich aus der Umklammerung zu befreien, drehte und wand sich und sprach die übelsten Verwünschungen aus. Ihr Gesicht verzog sich zu einer hämischen Grimasse. »Denkt nur nicht, daß ihr irgend etwas ausrichten könnt, ihr Ungläubigen. Alles, was ihr erreicht, ist, daß Tod und
Verderben über euch kommen. Ihr könnt euch dem Schwur nicht entgegenstellen. Der Fluch ist stärker als ihr!« Gregory packte noch fester zu. »Sagen Sie uns, wo das Kind ist! Wir wollen das Kind, dann lassen wir Sie laufen.« Die Frau lachte ein schrilles, widerwärtiges Lachen und spuckte vor Marion auf dem Boden aus. »Das Kind ist da, wo es hingehört. Es wird auch da bleiben, bis es seine Pflicht erfüllt hat. Ihr werdet es nicht finden. Niemals!« Marion fühlte sich sehr hilflos in diesem Moment, und sie wünschte sich nichts mehr, als daß Gregory einen Ausweg finden mochte. Sie sah ihn flehend an, spürte seine Entschlossenheit. Er war auf ihrer Seite und kämpfte mit ihr um das Leben ihres Sohnes. Und er wußte einen Rat, weil er die Menschen hier besser kannte als sie. »Wer ist es, der euch all diesen Wahnsinn eingebleut hat? Wie könnt ihr nur so vernagelt sein? Dieser verdammte Aberglaube, der uns allen hier so zu schaffen macht. Habt ihr denn gar keine Ehrfurcht mehr vor dem Leben? Ist euch denn nichts mehr heilig?« Da lachte sie bitterböse, ihr Gesicht verzog sich zu einer Fratze. Nichts war mehr an ihr, was noch an die Frau erinnerte, die vor ein paar Tagen Marion freundlich willkommen geheißen hatte. »Heilig? Daß ich nicht lache. Vielleicht willst du mir noch etwas vom lieben Gott erzählen?« Und wieder spuckte sie aus. Marion überlief ein Schaudern. »Sie ist es, sie war es auch auf der Waldlichtung. Jetzt, wo sie so spricht, erkenne ich ihre Stimme wieder. Sie muß wissen,
wo Jonathan ist, sie ist die einzige, die uns zu ihm bringen kann.« Gregory hielt Miß Rellwood die Spitze des Brieföffners unter das Kinn. Doch sie lachte nur schrill. »Los, stich doch zu! Du wirst es nicht aufhalten können. Denn sie werden all das tun, was ich ihnen gesagt habe. Auch wenn ich nicht bei ihnen bin, werden sie den Schwur nicht brechen.« »Ich denke, wir werden jetzt einmal alle gemeinsam einen Ausflug unternehmen. Und zwar mit dem Auto.« Bei Gregorys Worten zuckte Marion zusammen. War er verrückt geworden? Wohin um alles in der Welt konnte er fahren wollen? »Aber…?« »Miß Rellwood wird sicher auch ganz begeistert sein von dem Gedanken, mit uns gemeinsam Pfarrer Livingstone zu besuchen. Er kennt sich gut aus mit dem alten Aberglauben – und Leute wie diese hier waren ihm schon immer ein Dorn im Auge. Ich weiß, daß er hier schon früher einmal, als der alte Lord noch lebte, einige Versammlungen gestört hat und somit Unheil verhindern konnte. Und sogar als Exorzist soll er sehr erfolgreich sein. Was meinen Sie, Miß Rellwood? Vielleicht haben Sie ja bei ihm mehr Lust zu erzählen, wo Jonathan sich aufhält. Ich denke, zuerst einmal sollten wir Ihren Kopf ganz tief in geweihtes Wasser stecken. Das hat schon so manchem das Böse ausgetrieben.« Die Frau fing an zu zittern, so als wäre ein Schock ihr in die Glieder gefahren. Doch er zögerte nicht, nahm seinen Gürtel und band ihre Hände auf dem Rücken zusammen. Dann schubste er die Widerstrebende vor sich her auf die Tür zu. Marion beobachtete die beiden und sandte Stoßgebete zum Himmel. Auf ein Zeichen hin öffnete sie die Tür und trat
hinaus, um nachzusehen, ob auf dem Gang alles in Ordnung war. »Marsch, marsch, auf zum Pfarrer! Er wird Ihnen den Unglauben aus dem Leib beten.« »Nein! Nein! Alles, nur das nicht!« Sie drehte und wand sich, versuchte zurück in das Zimmer zu gelangen. »Dann sprechen Sie! Bringen Sie uns zu dem Jungen. Wir wollen nur wissen, wie es ihm geht. Bei all Ihrer Macht werden Sie doch uns nicht fürchten.« Die Frau war blaß geworden. Mit einemmal wirkte alles an ihr grau und fahl, die Kraft, die sie eben noch ausgestrahlt hatte, schien verschwunden zu sein. Nur ihre Augen waren noch immer stechend, schienen in der Lage zu sein, Blitze auszusenden. Sie sprach nicht, sie nickte nur, mit dem Kopf in die andere Richtung des Ganges weisend. Doch Marion konnte nicht länger an sich halten. Sie hatte das Gefühl, als hätten sie schon Stunden hier verbracht. »Wo ist er? Sagen Sie es endlich! Er ist ein Kind. Er ist gerade 6 Jahre alt. Bitte, bringen Sie uns zu ihm.« Sie ging zwar widerstehend, aber sie führte sie dennoch durch das Labyrinth der Gänge und Treppen. Und sie gingen hinab, immer weiter, so daß Marion dachte, sie müßten sich eigentlich schon tief unter der Erde bewegen. Die Wände hier unten waren aus dicken Steinquadern gebaut und gaben so viel Feuchtigkeit ab, daß das Wasser in dünnen Rinnsalen an den Mauern hinunter bis auf den Boden lief. Sie waren gerade durch eine große, mit mehreren Riegeln verschlossene Eisentür gegangen. Vor der Tür hatten Fackeln in schmiedeeisernen Halterungen an der Wand gesteckt, mittelalterliche Geräte, die den unheimlichen, wenig einladenden Charakter dieses Teils des Castles noch unterstrichen.
Gregory hatte die immer noch in ihrer dunklen Kutte steckende Hausdame zwar widerwillig, aber der Not gehorchend aus seiner Umklammerung entlassen. Sie trug nämlich unter dieser Verkleidung ein großes Schlüsselbund an ihrer Taille, an dem sicher niemand außer ihr unter den zahllosen Schlüsseln die richtigen hätte herausfinden können. Dennoch hatte er immer noch den Brieföffner in der Hand, jederzeit bereit, ihn einzusetzen. Denn sowohl er als auch Marion waren sich darüber im klaren, daß Miß Rellwood jede sich bietende Gelegenheit zur Flucht nutzen würde. Der dunkle Gang verengte sich, sie sahen rechts und links dicke, vom Rost der Jahrhunderte überzogene Türen. Die Luft hier unten war modrig, so daß Marion Mühe hatte zu atmen. Ihr schnürte sich ohnehin der Magen zu bei dem Gedanken, daß sich hier, hinter irgendeiner dieser Türen vielleicht Jonathan befinden mochte. Konnte ein Kind das überhaupt überstehen, ohne Schaden an Leib und Seele zu nehmen? Gerade wollte sie etwas zu Gregory sagen, als plötzlich Miß Rellwoods Hand, in der sie noch immer den Schlüsselring hielt, herumschnellte und beinahe Gregory am Kopf getroffen hätte. Im letzten Moment, bevor die Frau einen weiteren Angriff wagen konnte, packte Gregory sie wieder wie vorher an beiden Armen und schob sie drängend weiter. Sie jaulte auf und deutete auf die Tür ganz am Ende des Ganges. »Da vorn ist es, ihr Elenden. Da, hinter der letzten Tür auf der rechten Seite ist das Kind.« Marion nahm den Schlüsselring und ließ sich die passenden Schlüssel zeigen. Schloß für Schloß öffnete sie, jeden einzelnen der schwergängigen Riegel mußte sie beiseite schieben. Endlich ließ sich die eiserne Tür langsam und unter lautem Quietschen und Knarren öffnen.
Mit rasendem Herzschlag und zitternden Knien trat sie ein, und sofort fiel ihr suchender Blick auf das Bündel Stroh an der nackten Wand, auf dem zusammengekrümmt und schlafend ihr Sohn lag. Sie stürzte – seinen Namen rufend – zu ihm hin und beugte sich über den bewegungslosen Körper. Er atmete – Gott sei Dank! Aber er hörte sie nicht, und so strich sie nur sanft über sein Haar und küßte seine Stirn. Dann konnte sie die Tränen nicht länger zurückhalten. »Jonathan, oh, mein Liebling. Was haben sie mit dir gemacht?« Sie nahm ihn in ihre Arme und drückte ihn an sich. »Mein Gott, und es ist so furchtbar kalt hier unten.« Sie wollte ihm die hochgerutschten Ärmel seines Pullovers hinunterziehen, da sah sie mit einemmal eine frische Einstichstelle in seiner Armbeuge. »Was haben Sie ihm gegeben? Was ist das da an seinem Arm? Haben Sie ihm etwas gespritzt? Liegt er deswegen wie tot da? Wie können Sie nur so etwas mit einem Kind machen? Ein armes, wehrloses Kind!« Sie sprang auf, und sie hätte sich am liebsten auf die mit verzerrtem Gesicht dastehende Hausdame gestürzt. Doch Gregory bremste sie. »Marion, wir sollten keine Zeit verlieren. Wir müssen hier heraus, und zwar so schnell wie möglich. Wir wissen nicht, wer noch alles mit dieser Geschichte zu tun hat. Und wer vielleicht noch unterwegs ist nach Cedricksburgh.« Er sah sich in der Zelle um, die wohl einmal als Kerker gedient hatte. Wer alles mochte hier seine letzten Tage verbracht haben, wieviel Grausiges war in den Verliesen von Cedricksburgh geschehen? Sein Blick fiel auf eine in der Wand befestigte Vorrichtung, eine Art Handschelle.
»Miß Rellwood, Sie werden verstehen, daß wir Sie nicht mit zurücknehmen können. Sie haben genug Böses angerichtet^ und ich will sichergehen, daß Sie uns nicht folgen.« Er schob die sich Sträubende vor sich her und legte ihren Arm in die rostige Eisenklammer, die sich unter Quietschen ineinanderschieben ließ. »Ihr seid verflucht! Auf alle Zeiten verflucht! Heute nacht hätte es geschehen müssen. Nur dieses Kind könnte uns retten. Ihr Wahnsinnigen, wißt ihr denn nicht, was ihr tut? Das Meer wird sich holen, was ihm gebührt.« Marion und Gregory versuchten zu ignorieren, was sie an Gift und Galle versprühte und kümmerten sich um den noch immer schlafenden Jonathan. »Meinen Sie, Sie haben ihm irgend etwas Gefährliches gespritzt?« Marion bemühte sich, ruhig zu bleiben, doch sie dachte, gleich müßte ihre Angst eskalieren. Gregory untersuchte den Jungen kurz, fühlte seinen Puls und schüttelte dann beruhigend den Kopf. »Nein, ich nehme an, es war ein Schlafmittel. Sie wollten ihn wahrscheinlich nur bis heute nacht ruhigstellen. Kommen Sie, ich werde ihn tragen, und Sie müssen die Tür wieder so verschließen, wie sie es vorher auch war. Meinen Sie, Sie schaffen es?« Marion nickte und sah ihn dankbar an. Wie sehr war sie mit ihm zusammengewachsen in den gemeinsam durchlebten Stunden der Angst. Nichts Fremdes schien mehr zwischen ihnen zu sein, und doch kannten sie sich kaum. Sie verließen die Zelle, und die bitter lachende Miß Rellwood, die ihnen üble Verwünschungen nachrief. Das letzte, was sie von ihr hörten, bevor die schwere Tür ins Schloß fiel, war: »Ihr seid verloren – alle seid ihr verloren!«
Und Marion überlief ein Schaudern, doch als sie dann Jonathan in Gregorys Armen liegen sah, bekam sie wieder neuen Mut und schob auch den letzten Riegel mit aller Kraft über das rostige Eisen. So schnell sie konnten, liefen sie über die Treppen, Gänge und Flure zurück dorthin, von wo sie gekommen waren. Die Tür zu dem Kaminzimmer stand noch offen, auch die Schranktür war nicht verschlossen. Nur das Buch war vom Schreibtisch verschwunden. »Sehen Sie nur, Gregory, es muß jemand hier gewesen sein. Die alte Chronik ist nicht mehr da. Aber wer…« Gregory stand schwer atmend neben ihr, er hatte Jonathan jetzt über seine rechte Schulter gelegt, und die Anstrengung war ihm anzusehen. »Wir müssen hier raus. Sehen Sie einmal, wie spät es ist. Schon fast halb zwölf. Wenn es stimmt, daß sie hier ein Seeopfer stattfinden lassen wollen, dann ist es sowieso schon fast verwunderlich, daß noch niemand hier ist und nach Miß Rellwood sucht. Ich nehme an, daß sie die Anführerin der Menschen ist, die alle diesem schrecklichen Aberglauben verfallen sind. Sie scheint eine ungeheure Macht über sie zu haben. Und wenn die erst einmal hier sind und feststellen, daß ihre Hohepriesterin nicht da ist, dann gnade uns Gott.« Er hatte eindringlich und drängend gesprochen, und Marion schlug den Weg in Richtung Ausgang ein. Ihr war nicht klar, was weiter geschehen sollte, aber auch sie wollte dieses verfluchte Castle schnell verlassen, und ihren Sohn endlich in Sicherheit wissen.
*
Sie hatten gerade die Halle über die Treppe hinab erreicht, da hörten sie von draußen Stimmen. Zuerst klang es nur vereinzelt, dann aber war ein Gesang zu hören. Marion zuckte zusammen. »Da! Das müssen sie sein. Das hört sich genauso an wie bei dem Treffen am Lagerfeuer. Jetzt sieht man auch einen Lichtschein durch das Fenster. Sie sind schon ganz nah.« Sie klammerte sich an Gregorys Arm. »Ich…Gregory, ich habe Angst.« Er versuchte zu lächeln. »Marion, liebe Marion, Sie werden doch jetzt nicht schlappmachen. Na los, dann gehen wir erst einmal wieder ein Stück zurück, bevor wir uns erneut vorwagen.« »Ich hab’s! Wir gehen einfach durch den Geheimgang. Und dort nehmen wir die erste Abzweigung, die uns Linda gezeigt hat. Dann sind wir schon mal ein ganzes Stück weiter, und Jonathan wäre in Sicherheit. Später könnte ich dann noch einmal zurückkommen und nach Harold sehen.« Sie zuckte verlegen mit den Achseln. »Schließlich ist er mein Mann.« Sie sah nicht den Schatten, der über Gregorys Gesicht lief, es war zu dunkel. Sie lief ihm voran die Treppe wieder hinauf. »Sie werden sicher gleich hier sein. Hören Sie nur, es wird immer lauter, dieser schreckliche Gesang. Es ist so bedrohlich, lassen Sie uns sehen, daß wir wegkommen.« Von unten war jetzt das Geräusch der sich öffnenden Eingangstür zu hören, und die Gesänge drangen laut an ihr Ohr. Es mußte eine Vielzahl von Stimmen sein, wahrscheinlich all die, die schon bei der Versammlung im Wald dabeigewesen waren. Es war zuerst kaum zu spüren, denn stürmisch war es öfter einmal in Cedricksburgh. So hatten sie auch die Anfänge
dieses großen Sturms gar nicht bemerkt. Doch jetzt war von irgendwoher das Geräusch zersplitternden Glases zu hören, dann ein Knall, und als sie stutzig wurden und an das nächstliegende Fenster liefen, um hinauszusehen, da glaubten sie kaum, ihren Augen zu trauen. Der Sturm hatte die Wogen des Meeres mannshoch anwachsen lassen. Sie prallten lange schon nicht mehr nur an den Fels, nein, die ersten unter ihnen, die größten und stärksten hatten sich schon einige Male an den alten, riesigen Mauern des Castles gebrochen. Das Gemäuer schien unter der Gewalt des Wassers zu ächzen und zu stöhnen. Die Naturgewalten waren einer Verschwörung eingegangen. Ungläubig, mit dem anderen Ohr den monotonen Gesängen der verschworenen Gemeinde unten in der Halle lauschend, sahen die beiden auf den schrecklichen Anblick, der sich ihnen bot. Die Nacht war hell, der Mond stand wie eine übergroße gelbe Kugel am Himmel, doch immer wieder und immer schneller zogen die im Sturm treibenden Wolken über ihn hinweg. Und mit der gleichen Kraft trieb der Wind auch das Wasser an. Die Wellen wuchsen und wuchsen, als wäre etwas in ihnen befreit worden, was sich jetzt austoben dürfte. »Bitte, Gregory, sagen Sie, daß das nicht wahr ist. Was sollen wir jetzt machen?« Marion stand dicht an ihn gedrängt, mit beiden Händen den Oberkörper ihres Sohnes haltend. »Wir können doch nicht hierbleiben. Aber der Geheimgang ist wahrscheinlich schon überschwemmt, so hoch wie das Wasser jetzt steht. Es gibt keinen Ausweg!« »Doch! Es gibt immer einen Ausweg. Wir dürfen nur nicht aufgeben. Einen Moment, mir fällt schon was ein.« Doch es blieb ihnen gar keine Zeit mehr zum Nachdenken. Draußen an der Befestigungsmauer hatte sich ein Stein gelöst.
Das Heulen des Windes übertönte fast das Geräusch seines Aufprallens auf dem Burghof. Das Wasser hatte zwar noch nicht den Stand erreicht, um ungehindert hindurchfließen zu können, aber der Weg war schon bereitet. Und der Kampf ging weiter. Gregory nahm das Kind wieder ganz in seine Arme und ging zurück zur Treppe. »Halt! Wir können nicht ohne Harold gehen. Wir müssen ihn mitnehmen. Ich kann ihn doch nicht einfach hierlassen. Bitte, warten Sie hier, ich werde ihn holen.« Und bevor er noch etwas entgegnen konnte, war sie schön verschwunden.
*
Sie fand ihn wie schon zuvor, den Kopf nach vorn gebeugt, tief in sich selbst versunken und wie eine ruhende Marionette auf dem Sofa sitzend. Er schien nichts wahrzunehmen. Es war, als wäre er gar nicht hier. Marion wußte, daß es keinen Sinn haben würde, ihn lange anzusprechen. Sie ging hinüber ins Schlafzimmer, nahm ein paar warme Kleidungsstücke für Jonathan und die paar wenigen persönlichen Dinge, die ihr wichtig erschienen, an sich und streifte sich selbst dann noch rasch einen dicken Pullover über. Dann ging sie hinüber zu Harold, zog auch ihm eine dicke Jacke an und legte sich kurzerhand seinen Arm um die Schulter. Es war mühsam, ihn in seinem momentanen Zustand vom Sofa fortzubewegen, doch es drangen mittlerweile schon die Geräusche berstenden Holzes und das wilder und wilder werdende Tosen des Meeres hier hinauf. Die Zeit drängte.
Langsam und schwerfällig, einen Fuß vor den anderen setzend wie aufgezogen, ging Harold neben ihr her. Sie erreichten nach einer ihr endlos vorkommenden Zeitspanne endlich Gregory und Jonathan auf dem Treppenabsatz. Marions Herz machte vor Freude einen Sprung, als sie sah, daß ihr Sohn aus seiner Betäubung erwacht war. Er stand zitternd und bleich im Gesicht dicht an Gregory gepreßt und sah sie zuerst gar nicht. »Jonathan!« Er drehte sich um, sah sie und lief auf unsicheren, etwas wackligen Beinen in ihre aufgehaltenen Arme. »Mami! Mami!« »Jonathan, mein Liebes.« Sie umschlang ihn und drückte ihn an sich, und Tränen des Glücks liefen ihr übers Gesicht. Immer wieder küßte sie seine erhitzten Wangen und strich ihm über die zerwühlten Haare. »Mami, wo warst du? Ich habe… ich wußte gar nicht, was los ist, als ich aufwachte und bei Dr. Walsh auf dem Arm war. War ich denn krank?« »Nein, mein Liebes, du warst nicht krank. Ich glaube, du hast nur ein wenig geschlafen.« Sie merkte, wie Gregory sie sanft am Arm berührte. »Wir müssen uns beeilen.« Sie nickte nur und hielt Jonathan dann ein wenig von sich ab, um ihm direkt ins Gesicht sehen zu können. »So, mein Schatz, nun sind wir aber wieder alle beisammen und wollen versuchen, schnell hier herauszukommen.« Es sah fast so aus, als würde der Junge sich an nichts erinnern. Vielleicht hatte er auch die ganze Zeit geschlafen und nichts von dem bemerkt, was mit ihm geschehen war. »Es ist so dunkel hier. Warum ist es so laut?« »Das ist der Sturm. Komm nur, ich werde dich tragen, dann sind wir vielleicht schneller.«
Gregory hob den Jungen wieder in seine Arme, und Marion nahm Harolds Hand fest in die ihre, so daß sie ihn hinter sich herziehen konnte. Dann liefen sie, vorsichtig um die Ecken schauend, nach unten.
*
Die Verschworenen hatten bemerkt, daß etwas nicht stimmte. Ihre Anführerin, die unselige Miß Rellwood, war nicht bei ihnen, und so machten sie sich auf die Suche nach ihr. Die entsetzliche Gewalt des Sturmes und das Tosen des Meeres verängstigten auch sie, doch sie sahen in ihrer Verblendung nicht in der Flucht den Ausweg, sondern nur in der Erfüllung ihres Schwures. Wie hypnotisiert und ohne jede Vernunft drangen sie immer tiefer in das Castle vor, ihre Gesänge wie eine Fahne vor sich hertragend. Sie wollten ihr Opfer, nur ihr Opfer…
*
Schon als sie noch auf dem letzten Treppenabsatz standen, hörten die vier von unten ein gewaltiges Krachen und danach nur noch ein fast ohrenbetäubendes Gurgeln und Brausen. Gregory gebot den anderen zu warten. »Ich werde nachsehen, was los ist…« Aber in diesem Moment sahen sie das Wasser. Es strömte durch eine riesige Öffnung im Gemäuer, dort wo sich noch eben das Portal mit der großen Eichentür befunden hatte. Und
es stieg in geradezu irrsinniger Geschwindigkeit höher und höher. »Wir sind verloren!« Marion hatte Mühe, mit ihrer Stimme gegen den Lärm anzukommen. »Nein, das sind wir nicht! Noch nicht!« Gregory sah, daß sich ein Teil der zweiflügeligen Tür ganz in ihrer Nähe – oben auf dem Wasser schwimmend, befand. Beherzt ging er noch zwei Stufen hinunter, so daß es ihm jetzt bis zum Oberschenkel reichte und versuchte, mit beiden Händen nach einer der großen, eisernen Türangeln zu greifen. »Es hat geklappt. Bitte helfen Sie mir.« Marion stieg ebenfalls nach unten. »Wir müssen es wie ein Floß benutzen. Zuerst Ihr Mann. Holen Sie ihn, ich halte es so lange hier.« Sie packte nach Harolds Hand, und zu zweit gelang es ihnen, den apathischen Mann auf das Türblatt zu schieben. Das Wasser stieg und reichte ihnen jetzt schon bis zur Taille. »So, jetzt Sie, und dann gebe ich Ihnen den Jungen. Es müßte klappen, ich kann es schon kaum noch halten, so stark ist der Rücksog. Wenn wir Glück haben, werden wir wieder hinausgetragen.« Marion schaffte es irgendwie hinaufzuklettern. Dann zog sie Jonathan zu sich und versuchte, sich, den Jungen und Harold auf dem schwankenden Floß zu halten. Sie konnte nicht mehr denken, handelte nur noch ganz instinktiv und an das Überleben denkend. Als letztes kam Gregory mit dem Aufgebot seiner restlichen Kräfte hinauf, wäre jedoch beinahe wieder hinabgerutscht, denn plötzlich drehte sich das Holz auf dem Wasser. Es war, als hätte eine gewaltige Welle sie erfaßt, und im Nu wurden sie durch die Halle geschleudert und konnten sich nur mühsam aneinander festhalten. Marion schloß die Augen, es war wie
ein Alptraum. Aber sie spürte, daß sie auf dieser Welle hinausgetragen wurden und in der noch immer mondhellen Nacht landeten. Immer wieder schien es, als würde ihr Floß einfach vom Wasser überspült werden und sie mit sich hinabreißen. Aber das Wunder geschah. Sie waren weit genug hinter die schon niedergerissenen Befestigungsmauern abgetrieben worden und blickten sich jetzt nach Cedricksburgh um – oder besser nach dem, was davon noch zu sehen war. Denn dort innerhalb der Mauern, hatte sich das Wasser ausgebreitet und viele Teile des Gemäuers eingerissen. Wie ein riesiger Termitenhügel wurde ausgehöhlt, was jahrhundertelang allem standgehalten hatte. Dann holte sich das Meer, was ihm bislang getrotzt hatte, die hohen Zinnen brachen ein und wurden mit dem Sog hinausgetragen. Sie versanken auf Nimmerwiedersehen in den Tiefen des Ozeans. In all dem Chaos der Zerstörung trieben die vier Menschen auf ihrem Floß immer weiter und entfernten sich so von der Küste. Cedricksburgh aber wurde dem Erdboden gleichgemacht. Das Meer hatte sich selbst zu seinem Recht verholfen, der uralte Fluch hatte sich erfüllt.
*
Sie waren auf wunderbare Weise gerettet worden. »Sie werden mir fehlen.« Marion mußte schlucken bei den Worten Gregorys. Es war ein unsichtbares Band zwischen ihnen entstanden in den Tagen des Schreckens und der Angst, ein Band, das wohl auch immer bestehen bleiben würde.
Sie blickte hinauf zum Flugzeug, über dessen Gangway schon vor einigen Minuten Harold in Begleitung einer Krankenschwester und Jonathan gegangen war. Dort oben war ihre Familie, ihr Zuhause. Dort gehörte auch sie hin. »Gregory, ich danke Ihnen. Für alles. Ich…« Weiter konnte sie nicht sprechen, denn die Tränen traten ihr in’ die Augen. Sie sah ihn ein letztes Mal an und ging dann auch die Gangway hinauf, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie mußte jetzt voraus in die Zukunft blicken. Die Vergangenheit durfte keine Rolle mehr spielen in ihrer aller Leben. Und als sie neben Harold saß und seine Hand ergriff, verspürte sie das erste Mal seit Tagen, daß er ihren Druck erwiderte. Zum ersten Mal, seit sie den Untergang seines Elternhauses miterlebt hatten, zeigte er wieder eine Regung, die sie hoffen ließ. Hoffen, daß die schrecklichen Spuren, die das Erbe von Cedricksburgh in ihm hinterlassen hatte, nun für immer beseitigt wären.
ENDE