Leslie L. Lawrence
Der Fluch des Huan-Ti
Inhaltsangabe Schon seit Generationen suchen Forscher und Archäologen nach ...
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Leslie L. Lawrence
Der Fluch des Huan-Ti
Inhaltsangabe Schon seit Generationen suchen Forscher und Archäologen nach dem Grab des legendären chinesischen Urkaisers Huan Ti und seiner tönernen Armee. Daß keineswegs nur ehrenhafte Leute auf der Suche sind, muß auch Leslie Lawren ce erfahren, als er nichtsahnend in Bangkok ein Flugzeug in Richtung Peking besteigt. Kaum in der Luft, wird ihm bereits klar, daß diese Maschine wohl nie ihr vorgegebenes Ziel erreichen wird. Für die Fluggäste gibt es kein Entkom men mehr, der Fluch des Huan-Ti scheint auf ihnen allen zu liegen…
Genehmigte Sonderausgabe für Serges Medien GmbH, Köln
Printed in Germany
Alle Rechte vorbehalten
Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder
chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
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I
ch legte das Buch zur Seite und starrte aus dem Fenster. Hellgraue Wolkenfetzen zogen neben uns vorbei, dicke Regen tropfen rollten über das Glas. Die Maschine brummte leise und zu frieden vor sich hin; eine ganze Zeit nun schon, seit wir in Bang kok abgehoben und via Peking Kurs in Richtung Nanking einge schlagen hatten. Angenehmer Teeduft bereicherte die Luft der Ka bine. Die in traditionelle thailändische Kleidung gehüllte Stewardeß füllte mit einem freundlichen Lächeln die Tassen nach und bot dazu kleines, rundes Gebäck an. Der Servierwagen verlor das Gleichgewicht, als das Flugzeug in eine besonders unfreundliche Wolke eintauchte, und machte sich auf seinen Rollen sofort selbständig. Beherzt stellte ich ihm ein Bein und beendete damit seine kurze Fahrt ins Heck. Die Stewardeß tippelte, mit dem Tablett gekonnt balancierend, hinterher und schenkte mir ein wenn überhaupt möglich noch strah lenderes Lächeln als zuvor. Sie drehte sich zu mir um, vielleicht flüs terte sie mir auch etwas zu, und berührte dabei wie aus Versehen mein Bein. Ich lächelte zurück und hielt den Wagen fest, bis sie ihr Tablett darauf in Sicherheit gebracht hatte. Als sie schon fast hinter dem Vorhang zwischen den Abteilen der verschiedenen Klassen ver schwunden war, schaute sie noch einmal zurück und zwinkerte mir zu. Nicht auffällig, aber sehr bestimmt. Ich lehnte mich zurück und schloß die Augen. Gerade gab ich mich der stillen Hoffnung hin, daß uns Peking mit gutem Wetter beglücken würde, als mein Nach bar meinen Arm ergriff. »Worauf warten Sie denn noch, Sie Hampelmann?« In seinem Englisch schwang ein starker französischer Akzent mit, und jedes Wort ließ den ehemaligen Soldaten erkennen. Er preßte die Vokale hart zwischen den Lippen hervor, als ob er neben einer Kanone stehen und seit vierundzwanzig Stunden ununterbrochen 1
Feuerbefehl geben würde. Was das betrifft, war auch seine Erscheinung militärisch. Das kurz geschnittene schneeweiße Haar, der riesige, abstehende Schnurrbart erinnerten mich an die preußischen Befehlshaber des Ersten Welt krieges. Lediglich seine beinahe schon an Eingeborene erinnernde braungebrannte Haut zerstörte die dadurch gewonnene Illusion. »Wie meinen Sie?« Er schüttelte den Kopf und stieß einen lauten Seufzer aus. »Irgendwas stimmt mit der heutigen Jugend nicht mehr, glauben Sie mir… Mein Guter, damals hätte ich sonstwas dafür gegeben, so ein Mädchen zu bekommen. Wenn ich jetzt dreißig Jahre jünger wäre… Wissen Sie, was wir Franzosen tun, wenn uns jemand so zu zwinkert?« »Ich habe keine Ahnung…«, spielte ich den Dummen. »Allerdings sind wir Engländer auch nicht so unwissend, wie man meint.« »Inwiefern?« »Nun, wir halten uns zum Beispiel zurück, wenn wir bemerken, daß ein hübsches Mädchen mit unserem Nachbarn flirtet…« Ein leichter Schatten flog über sein Gesicht, aber nur ganz kurz. Dann kratzte er sich am Haaransatz und zog eine Grimasse. »Das hatte ich wohl verdient… Nun ja… Übrigens, mein Name ist Villalobos, General Adam Villalobos.« Der Name kam mir bekannt vor, aber im Moment konnte ich ihn noch nicht einordnen. Ich war mir allerdings sicher, ihn schon ein mal gehört oder sogar in Zeitungen gelesen zu haben. Ich drückte seine Hand und dachte dabei angestrengt nach. Er war sicherlich Soldat, schließlich hatte er sich doch auch als General vorgestellt. »Lawrence«, erwiderte ich. »Leslie L. Lawrence.« Er zog seinen Arm zurück und zwirbelte seinen Schnurrbart. »Oh, dann kenne ich Sie doch! Ich bin nicht zuletzt wegen des Treffens mit Ihnen auf dem Weg nach Nanking. Was für ein Glück! Wollen Sie ihr wirklich nicht hinterhergehen?« »Bis Peking dauert es ja noch eine Weile«, antwortete ich. »Wo 2
her wissen Sie denn, wer ich bin?« »Aus den Entomologischen Blättern. Ich selbst bin auch sehr an Käfern interessiert. Besonders an den Bambusschädlingen.« »Äh … und warum gerade an denen?« »Wenn sie den Bambus auffressen, bleiben keine Knospen für die Pandas übrig. Klar?« »Nun … um ehrlich zu sein…« »Also gut, nochmal von vorne. Wissen Sie noch, wie ich heiße?« »General Villalobos.« »Lassen Sie das mit dem General. Das liegt Jahrhunderte zurück.« Plötzlich knipste jemand die Taschenlampe in meinem Kopf an, und mir fiel es wieder ein. Villalobos … natürlich! »Sie sind der Vorsitzende der Pandakommission!?« Er lächelte zufrieden und brüllte mir vergnügt in die Ohren: »Na endlich, Mann! Schließlich hatten wir sogar mal einen klei nen Briefwechsel…« »Vor drei Jahren…« »Genau! Ich bat Sie um Hilfe.« »Sie wollten wissen, ob es eine Möglichkeit gibt, die Schädlinge auf biologische Weise zu bekämpfen, da Chemikalien auch die Pan das töten würden.« »Na, das müssen wir aber feiern! Los, gehen Sie ihr nach, wenn schon nicht deswegen, dann wenigstens, um etwas Whisky zu be sorgen!« Ich wollte mich schon aus dem Sitz erheben, als sich hinter mir plötzlich jemand nach vorne beugte und mir ohne viele Worte eine volle Flasche des wertvollen Getränkes in den Schoß plumpsen ließ. Villalobos starrte mit großen Augen auf meinen neuen Schatz.
»Sind Sie so etwas wie ein Hobbyzauberer?«
Ich stand auf und schaute in die nächste Reihe. Ein Riese, min destens zwei Meter groß, grinste mich an. Seine Glatze glänzte wie eine Billardkugel, lediglich ein kleines lilafarbenes Haarbüschel in der Mitte unterbrach die Symmetrie. Ein geschickter Tätowierer hat te auf der mir entgegengestreckten Hand eine Trommel mit zwei 3
Schlagstöcken verewigt – es erinnerte ein wenig an einen Totenschädel mit gekreuzten Schienbeinknochen. Das Grinsen verwandelte sich in ein offenes Lächeln und offen barte einige Goldzähne. »Hey!« Für einen Moment wußte ich nicht, ob er mich begrüßte oder sich nur über etwas freute. Noch während ich angestrengt darüber nachdachte, zerquetschte er mir beinahe die Finger. »Hallo…«, erwiderte ich schwach. »Sind Sie unser Schutzengel oder so?« »Oder so. Warum, Probleme damit?« »Wer sind Sie?« »Der Begleiter des Generals«, grinste er. »Hatte zufällig gelauscht. Sind Sie etwa Villalobos? Ich hab' Sie mir aber anders vorgestellt…« Villalobos errötete ein wenig, und die Hand auf der Lehne schien etwas zu zittern. »Was heißt hier, mein Begleiter?! Ich habe keinen Begleiter! Wer zum Teufel…« »Sie sind doch der Pandatyp, oder?« »Der Vorsitzende der Pandakommission, wenn ich bitten darf!« »Alles klaro. Ich bin der Leichenfresser.« Da mir aus den Wortfetzen nicht ganz klar wurde, welche Mut tersprache ihn ins Waisenhaus eingeliefert hatte, nahm ich einfach an, daß er Probleme mit dem englischen Wortschatz hatte. Villa lobos eignete sich inzwischen die Whiskyflasche an und prüfte ge rade das Etikett. »Entschuldigen Sie, aber ich habe Ihren Namen nicht richtig ver standen…« »Leichenfresser.« »Leichenfresser? Sicher?« »Sagen Sie mal«, blickte er mich mißtrauisch von der Seite an, »le sen Sie denn überhaupt keine Popzeitschriften?« Beschämt blickte ich zu Boden und stammelte etwas von hun dertprozentiger Popzeitschriften-Abstinenz. 4
»Sie meinen, Sie haben noch nie etwas von den Leprakranken Lei chenfressern gehört?!« Villalobos blinzelte mich über die Flasche hinweg an und versuchte, seinen offenen Mund hinter ihr zu verbergen. »Ähm, sehen Sie…«, fing ich vorsichtig an, »heutzutage gibt es ja so viele Gruppen…« »Leprakranke Leichenfresser aber nur einmal. Kennen Sie denn das hier nicht?« Und damit fing er an, leise eine Melodie zu sum men, um kurz darauf auch noch den Text zu singen. Ich vernahm irgend etwas mit Blut, das bei jedem Biß des Satans hervorquillt. »Ich gratuliere«, sagte ich. »Ganz nettes Lied. Und danke für den Whisky. Den General scheinen Sie ja zu kennen.« »Ich bin sein Begleiter.« Villalobos seufzte und zwirbelte mit Märtyrergebärde seinen Schnurrbart. »Das scheint sein Tick zu sein. Sagen Sie mal, wohin begleiten Sie mich denn nun?« »Na zu den Pandas, Chef.« »Wohin?« »Sie halten doch diesen Vortrag, oder? So an neun oder zehn Or ten. Angeblich soll da auch gesammelt werden.« Der General sank leichenblaß in seinen Sessel zurück und schien sich auf den Tod vorzubereiten. Ich nahm ihm vorsichtig die Whis kyflasche aus der Hand, damit ihr nichts passierte. »Sie…? Sie sind das … Ensemble?« flüsterte er. »O mein Gott! Ich wollte doch ein Streichquartett! Ich hatte vor, extra ein Pandalied für diesen Anlaß schreiben zu lassen…! O mein Gott!« »Tja, Streichquartette gab's zur Zeit nicht. Ja, der Typ von der Agen tur schwafelte was von einem Lied… Keine Angst, Major, wir krie gen das schon hin! Spätestens in Peking ist der Gassenhauer fertig. Pampapam, papa-panda! Sowas in der Art. Der Killerpanda … zum Beispiel. Kein schlechter Titel, was?« Villalobos vergrub sein Gesicht in den Händen. »Ich werde verrückt«, krächzte er mit einer Stimme, die keinen Zwei 5
fel über den Wahrheitsgehalt dieser Aussage aufkommen ließ. Es klang, als hätte er gerade die Hälfte seiner Truppen verloren. »Man hat mir gesagt, ich soll eine Benefizveranstaltung machen, in zehn Ortschaften Geld sammeln … und mein Vortrag würde von einem Streichquartett untermalt werden, mit ein-zwei besonders schönen Pandaliedern… Das darf doch nicht wahr sein…! Welcher Idiot…« Leichenfresser pflanzte sich neben meinem Stuhl auf den Tep pichboden der Maschine und nahm mir die Flasche weg. »Während sich der Feldwebel wieder einkriegt, mache ich sie schon mal auf, okay?« Er biß in den Korken, zog ihn mit den Zähnen aus der Flasche und spuckte ihn zwei Reihen nach vorne. »So, das hätten wir. Haben Sie Ihre Zahnbecher da?« Der zusammengesackte Villalobos stocherte in seinen Sachen he rum und förderte vier kleine zusammengesteckte Pappbecher zutage. »Hier, geben Sie mir einen Schluck, oder ich weiß nicht, was pas siert… Hören Sie, Mr. … äh, Leichenfresser, das war doch nur ein Scherz, nicht wahr?« »Inwiefern?« »Na, diese Begleitung und so?« »Warum? Was haben Sie an den Leprakranken Leichenfressern aus zusetzen?« Seine Stimme überschlug sich vor Entrüstung, und die Trommelschläger erzitterten auf seiner Hand. Ich blickte starr zu Boden, um nicht laut aufzulachen. Villalobos hingegen schloß die Augen und schüttelte den Kopf. »Ach was. Gar nichts.« »Na, dann runter damit, sonst wird es noch schlecht!« Wir tranken gleichzeitig, obwohl es Villalobos wohl am meisten nötig gehabt hatte. Kaum war sein Becher leer, ließ er ihn nachfüllen. »Wo sind die anderen?« erkundigte er sich schlaff, nachdem auch die zweite Portion der Schwerkraft gehorcht hatte. »Die äh…« »Leprakranken?« »Ja.« »Seitdem wir eingestiegen sind, habe ich sie nicht mehr gesehen. 6
Sie sind wohl in den Frachtraum runtergegangen, schlafen. Sie müs sen auf die Instrumente aufpassen, nicht daß die so ein Dummkopf mitgehen läßt. Sie wissen ja gar nicht, wozu Teenager heute fähig sind! Der totale Wahnsinn!« »Wie groß ist denn Ihre Gruppe?« »Sechs, mich mitgerechnet.« »Um Himmels willen, warum denn so viele?« »Wir sind halt kein Streichquartett.« »Und … wie haben Sie es sich vorgestellt…?« »Oh, das überlassen Sie ruhig uns, General! Sie halten Ihren Vor trag über die Pandas, irgendeinen Quatsch, Hauptsache, es dauert nicht länger als zehn Minuten, sonst gehen die ja alle nach Hau se. Dann kommen wir. Der Gig dauert etwa anderthalb Stunden, und Sie gehen dann herum und sammeln die Moneten ein. Wir krie gen nur die freie Verpflegung, schließlich ist das ja so eine Bene fizsache. Können wir von den Steuern absetzen. Sind Sie denn auch in Pandasachen unterwegs?« Diese Frage galt allem Anschein nach mir. »Nur zur Hälfte«, gab ich der Wahrheit entsprechend zu verste hen. »Ich bin eher in Käfersachen unterwegs…« »Sind Sie Kammerjäger?« »Weniger. Ich erforsche Käfer, so wie der General seine Pandas.« Nachdenklich schüttelte er seine lilafarbene Minihaarpracht, und schluckte den Rest des Hochprozentigen runter. »Junge, Junge, Idioten gibt es! Tschuldigung, damit meine ich nicht unbedingt Sie. Wie kann man sich bloß mit so einem Quatsch be schäftigen? Pandas sind ja noch okay, obwohl, ich hab' gelesen, die hören nicht so gut… Na, aber Käfer!« Ich hielt die Zeit für gekommen, die Stewardeß zu suchen. Nicht, daß ich noch vor Peking unbedingt auf ein Abenteuer aus war. Aber mich ließ dieses Zwinkern nicht zur Ruhe kommen. Sie schien mich tatsächlich gerufen zu haben, allerdings überkam mich dabei das seltsame Gefühl, daß sie es dabei keineswegs auf ein amouröses Aben teuer angelegt hatte. 7
Ich kletterte über Leichenfresser hinweg, murmelte irgend etwas als Entschuldigung und machte mich auf den Weg in Richtung Vor hang, hinter dem sie kurz zuvor verschwunden war.
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ch durchquerte eine zweite, dann die dritte Kabine; lediglich vier, fünf Touristen schliefen in den Sesseln. Im Küchenabteil sortierten zwei thailändische Stewardessen das Geschirr. Als ich die offene Tür passierte, lächelten sie mich pflichtbewußt an. Keine der beiden war die gesuchte Schönheit. Ich ging bis zur Pilotenkanzel nach vorne, konnte das Mädchen aber nirgends finden. Also kehrte ich zur Kombüse zurück und verstand die Fliegerwelt nicht mehr. Die Damen schauten wieder auf und lächelten erneut. Die goldverzierten Kostüme glitzerten im einfallenden Sonnenstrahl. Beinahe wäre ich stehengeblieben und hätte dumm gefragt, zog ich es dann aber doch lieber vor, die Treppe zum Frachtraum zu nehmen. Unten herrschte trübes Halbdunkel, nur ein paar kleine Notlampen an der Decke brannten zur Orientierung. Hinter den Packstücken schlief der Rest der Musikertruppe auf zusammengeschobenen Feld betten; alle Leprakranken Leichenfresser friedlich beisammen. Leich ter Whisky- und Gingeruch deutete auf gewisse Ursachen hin. Ich wollte mich gerade auf den Rückweg machen, als mir vor den aufgestapelten Koffern etwas Seltsames auffiel. Etwas, das mich im ersten Moment an eine Pendeluhr oder ein asiatisches Geduldsspiel erinnerte. Ich trat näher, um es in Augenschein zu nehmen. Erst da bemerkte ich, daß der dunkle obere Teil, den ich zuerst für das Gehäuse der etwas übergroßen Pendeluhr gehalten hatte, in Wirklichkeit ein has 8
tig zusammengefaltetes Feldbett war. Es sah aus, als ob sich jemand mit vollem Gewicht drauf geworfen hätte, um die Aluminiumteile ineinanderzubiegen. Das Wrack war mit dem abstehenden Fuß am Kopfteil des Bettes zwischen die oberen Koffer gesteckt worden und wackelte somit bei jedem größeren Luftlochkontakt des Flugzeuges mit entsprechender Frequenz. Aber nicht das Bett weckte mein Interesse. Eher das kleine pup penförmige Objekt, das an einem Strick am unteren Ende baumelte. Ich nahm es in die Hand und hielt es ins spärliche Licht. Es war eine rotgebrannte Tonfigur, hart und kalt. Ich schauderte bei dem Anblick, und ein kalter Luftzug wehte just in diesem Augenblick durch den Frachtraum. Die kleine Skulptur lag in meiner offenen Hand, mit dem Kopf nach oben, und starrte mich an. Es war eine Frau mit typisch asiatischen Zügen. Ein altmodisches, kaftanartiges Gewand verhüllte ihren Körper, ihre Haare waren mit Dutzenden von schmucken Nadeln hochgesteckt. Sie lächelte, über legen, oder besser gesagt, rätselhaft. Ich hatte das Gefühl, irgend wo dieses Gesicht schon einmal gesehen zu haben… Je näher ich es betrachtete, desto bekannter kam es mir vor. Als ob sie die chi nesische Nofretete wäre… Die Tonfigur strömte eine spürbare Kälte aus, wie bei einer Bier dose aus dem Kühlschrank. Die Leichenfresser schliefen den Schlaf der Gerechten, und schie nen selbst im Traum nicht daran zu denken, aufzuwachen. Wahr scheinlich war es ihr Geniestreich gewesen. Die Steinpuppe hatten sie wohl in Bangkok erstanden, um den ihrem Niveau entsprechenden Scherz damit durchzuziehen. Ich ließ die Figur wieder los, und sie pendelte hin und her, mit dem Strick um den kleinen Hals. Als sich der Kopf wieder einmal in meine Richtung drehte, schien sie mich vorwurfsvoll anzuschauen. Einer der Musiker stöhnte und ließ sein Bett gefährlich knacken. Ich zuckte mit den Schultern und machte die ersten Schritte auf die Treppe zu. Dabei ließ mich dieser Blick der stilisierten Frau ein fach nicht in Ruhe. Immer noch beherrschte das Bild der Pendel 9
uhr mein Gehirn, mit der Puppe als Pendel. Und ihr Gesicht… Vielleicht hatte ich es einmal in einem Kunst geschichtsbuch gesehen. Ming-Zeit, Chin … wer weiß? Sie war mir von irgendwoher bekannt; und das, obwohl man asiatische Gesichter ohne viel Erfahrung kaum auseinanderhalten kann. Ich setzte den Fuß gerade auf die letzte Stufe, als ich plötzlich in nehielt. Wobei ich beinahe auf die Nase gefallen wäre… Ich fuhr auf und lehnte mich an die Wand. Zum Teufel, und wie ich sie kannte! Schließlich hatte sie mir erst vor knapp einer halben Stunde zugezwinkert. Wahrscheinlich irri tierten mich ihr etwas altmodisches Äußeres und die hochgesteckten Haare. Aber ansonsten gab es keinen Zweifel: Es handelte sich bei der Figur um ein Abbild meiner gesuchten Stewardeß! Ich ging zu der kleinen Küche und spähte hinein. Die beiden Mäd chen lächelten matt. Eine von ihnen rauchte, die andere feilte ihre Nägel. »Entschuldigen Sie, meine Damen«, sprach ich sie höflich an, »spre chen Sie Englisch?« »Selbstverständlich«, antwortete die mit der Zigarette und versteckte selbige sofort rücksichtsvoll hinter ihrem Rücken. »Was wünschen Sie?« »Ich, äh … einen Whisky.« Sie griff nach oben zu den Getränken, ließ dabei geschickt die Zi garette in den Abfluß fallen, füllte dann ein Glas und legte einige Eiswürfel mit hinein. »Bitte sehr. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?« Während ich ihr Lächeln bewunderte, nahm ich auch das Getränk entgegen. Ich lehnte mich an die Tür, als ob ich ein ganz norma ler, gelangweilter Fluggast wäre. »Sie sind wunderschön, wissen Sie das?« Die beiden lachten auf. Anscheinend freuten sie sich über mein Urteil. »Sie alle drei.« Wieder ein Lachen, dann meinte die andere Stewardeß: 10
»Nur zwei. Sie und ich.« »Nein«, behauptete ich, »drei. Sie beide und diese andere. Sie ist auch sehr hübsch.« Sie lächelten immer noch, aber nicht mehr so ungezwungen. »Welche dritte, mein Herr?« erkundigte sich die, die mir den Whis ky ausgeschenkt hatte. »Etwa die alte Dame?« Vorsichtig nahm ich einen Schluck. »Sind Sie hier nur zu dritt? Wo ist denn die dritte Stewardeß?« Sie wechselten einen kurzen Blick und lachten dann wieder ge meinsam auf. Offenbar waren sie jetzt doch überzeugt, daß ich scherz te. »Nein, nein, mein Herr«, sagten sie gleichzeitig. »Wir sind hier nur zu zweit. Nur wir beide.« Etwas Kaltes jagte mir über den Rücken, und es war keiner der Eiswürfel, denn die waren alle noch in meinem Glas. »Hören Sie, meine Damen«, antwortete ich, nun schon mit etwas Nachdruck. »Sie beide sind hier, soweit, so gut. Aber gerade eben ist noch jemand da reingekommen«, und damit deutete ich auf un sere Kabine, »mit einem Wagen und Getränken. Eine dritte Stewardeß. Verstehen Sie?« »Oh ja«, meinte die kleinere, nicht ganz so hübsche. »Das war ich.« »Nein, nicht Sie! Die Frau, von der ich spreche, war größer, und…« Ich wollte nicht sagen, hübscher. »Dann war ich es vielleicht«, half ihr die andere aus. »Ich hatte den Tee rausgefahren. Mit dem Wagen.« »Nein, auch nicht Sie! Und auf dem Wagen war nicht nur Tee, sondern auch Gebäck und Alkohol. Wo ist dieses dritte Mädchen?« Sie schauten einander ungläubig an, und als die größere merkte, daß mein Whisky alle war, wollte sie nachfüllen. Ich zog mein Glas zurück und forschte beharrlich weiter. »Wo ist die dritte Stewardeß?« Wahrscheinlich wurde ihnen in diesem Moment klar, daß es kein Scherz war. Und daß ich mich nicht nur aus purer Langeweile mit ihnen unterhielt. 11
Auch sie wurden plötzlich ernst. Die kleinere schloß demonstrativ den Getränkeschrank. »Es gibt kein drittes Mädchen. Wir sind hier zu zweit.« »Aber es muß sie geben! So verstehen Sie doch, eben erst…« »Es gibt kein drittes Mädchen!« Ich drehte mich auf dem Absatz um und ließ sie stehen. Auf dem Rückweg in unseren Teil des Flugzeuges mußte ich erneut feststel len, wie wenig Fluggäste an Bord waren. In einem Abteil schliefen zwei junge Mädchen in weißen Kleidern, mit Tennisschlägern in der Gepäckablage über ihren Köpfen. Im anderen war eine ältere Dame in ein schwarzumhülltes Buch vertieft, wahrscheinlich die Bibel. Ich kletterte über Leichenfresser hinweg, der immer noch auf dem Boden hockte, allerdings hatte ich nicht vor, mich wieder hinzu setzen. Der Musiker ächzte dabei, als ob ich ihn als Klettergerüst mißbraucht hätte. Ich beugte mich zu Villalobos hinüber und blickte ihm ernst in die Augen. »Könnten Sie mich kurz begleiten?« »Ich?« erkundigte er sich verwirrt mit großen Augen. »Wohin denn?« »Zu den Stewardessen.« »Ah, es hat also doch geklappt?! Aber … wissen Sie, in meinem Alter… Nehmen Sie doch lieber Mr. Leichenfresser mit!« »Nein, darum geht es nicht«, sagte ich. »Hatten Sie diese Stewardeß beobachtet, die mir … zuzwinkerte?« »Oh, und wie… Warum?« »Kommen Sie doch bitte kurz mit!« Er machte eine unwillige Miene, stand aber auf. »Könnten Sie mir denn nicht verraten, weshalb? Was soll diese Heimlichtuerei?« »Ich möchte Ihnen etwas zeigen.« »Mir auch?« erkundigte sich Leichenfresser und war im Begriff auf zustehen. »Ich habe sie auch gesehen. Gibt's eine Romanze?« »Weiß ich noch nicht«, gab ich zu. »Kommen Sie ruhig mit.« Er rappelte sich hoch, so daß der General an ihm vorbei konn 12
te. Ich ging vor, hinter mir Villalobos, und Leichenfresser machte das Triumvirat komplett. Beim Vorbeigehen bemerkte ich, wie ei nes der weißgekleideten Mädchen aufwachte und die lilafarbenen Haare unserer Nachhut mit anerkennendem Blick musterte. Die Tür zur Kombüse war verschlossen, die Klinke gab meinem Rütteln auch nicht nach. Ich glaubte, ein Flüstern aus dem Raum selbst zu vernehmen … aber wer kann das schon in einem Flugzeug hoch über den Wolken mit hundertprozentiger Sicherheit behaupten? »Nun?« erkundigte sich Villalobos und zwirbelte seinen Schnurr bart. »Was jetzt?« »Wir werden sie suchen… Einen Moment.« Ich betrat das angrenzende Abteil und konnte auch prompt die hübschere der beiden Flugbegleiterinnen entdecken. Sie trug ein paar Wolldecken herum, sah auf, als sie uns entdeckte, und senkte auch gleich darauf erschrocken den Blick. Ich drehte mich zu den beiden um. »War sie das?« Villalobos starrte sie eine unangenehm lange Zeit an, besonders in Höhe ihrer Brüste, als ob das zur Identifizierung unerläßlich wäre. »Ja«, stellte er schließlich unumstößlich fest. »Nein, nein«, schüttelte zu meiner Erleichterung Leichenfresser den Kopf. »Mit Sicherheit nicht!« Villalobos schien ihn mit seinen Augen aufspießen zu wollen. »Sie wollen mir sagen, daß dies nicht das Mädchen ist? Wissen Sie überhaupt, wen Sie vor sich haben?! Bei tausend indochinesischen Soldaten konnte ich mir auf Anhieb von 500 die Namen merken! Und die restlichen habe ich auch nie verwechselt! Außerdem…« »Das ist sie trotzdem nicht«, warf Leichenfresser resolut dazwischen. Ich wollte mich schon einmischen, als am anderen Ende die zwei te Stewardeß erschien. Der Musiker sah sie und erstrahlte im vollen Glanz der bevor stehenden Genugtuung. »Da, mein lieber General! Schauen Sie da hin! Das ist das Mäd chen! Also wie war das noch mal mit diesen tausend Soldaten…?« 13
Villalobos stampfte vor Wut auf den Teppichboden. »Halten Sie mich etwa für senil, Mann? Es ist doch ganz offen sichtlich, daß unsere Stewardeß die andere ist!« »Sie haben ja gar keine Augen im Kopf, mein lieber Feldwebel… Welche war es denn Ihrer Meinung nach, Herr Käfersammler?« »Vollkommen egal«, antwortete ich resigniert. »Welche auch im mer Sie wollen.«
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ir kehrten zu unseren Plätzen zurück, wo ich wartete, bis sich der General wieder hingesetzt und Leichenfresser sich auf den Boden zurückgepflanzt hatte, entschuldigte mich und ließ sie dann allein. Mir war klar, daß sie mir verwunderte Blicke nachwarfen, doch der bloßen Gewißheit halber wollte ich mich nicht extra noch ein mal umdrehen. Die beiden Mädchen saßen sich in der Küche gegenüber. Beim Klang meiner Schritte blickten sie auf, als sie mich aber erkannten, muß der Schreck groß gewesen sein, zumindest nach dem schnel len Blick auf die Tischplatte zu urteilen. Die hübsche, große sagte dabei etwas zu der anderen, allerdings auf thai, so daß ich nichts verstehen konnte. Ich eilte die Treppe hinab zu den Leichenfressern. Die Musiker schnarchten weiterhin, als wäre nichts passiert. Der Duft nach Hoch prozentigem schien sich sogar noch verstärkt zu haben. Die Ton figur baumelte vor mir hin und her, mit dem Strick um den Hals. Erneut nahm ich sie in die Hand, und erneut spürte ich den kal ten Schauer. Das Gesicht gehörte ohne jeden Zweifel der dritten, verschwundenen Stewardeß. Ich ließ die Puppe wieder los. Sie drehte und wand sich, als ob 14
es eine richtige, erhängte menschliche Gestalt wäre. Die Leprakranken waren mit sich und der Welt sichtlich zufrie den. Einige zogen sich die Decke sogar bis über den Kopf, als ob sie im angenehm warmen Gepäckraum der Maschine frieren wür den. Mir kam zwar der Gedanke, unter die Plaids zu schauen, ich hielt mich aber noch rechtzeitig zurück. Ich dachte mir, warum soll te ich meine Nase in Angelegenheiten stecken, die mich wahr scheinlich nichts angingen?! Wenn sich die Stewardeß dazu ent schieden hatte, die verbleibende Zeit mit einem der Bandmitglie der unter einer Decke zu verbringen … nun denn! Aber warum strit ten es die anderen zwei dann ab? Hatten sie etwa Angst, ich wür de es der Fluggesellschaft melden? Wie schon eben an selber Stelle zuckte ich mit den Schultern und entschied mich, die Suche aufzugeben. Ich wollte mich gerade ab wenden, als ich plötzlich eine Tür hinter den Gepäckstücken ent deckte. Es war eine typische Flugzeugtür, in der Mitte geteilt. Nir gends sah ich an ihr Buchstaben oder Zeichen, die auf eine Toilette oder Küche hingedeutet hätten. Die Tonfigur beendete ihre Krei selbewegungen und blieb mit dem Gesicht zur Tür still hängen. Und schien mich somit dazu bewegen zu wollen, diese zu öffnen. Was ich auch getan hätte, wenn nicht die Koffer im Weg gewe sen wären. Lust, sie umzuschichten, hatte ich hingegen keine. Ener viert stieß ich die kleine Figur an, die kurz ausschlug und dann wie der in den Stillstand pendelte. Mit dem Gesicht erneut zur Tür. Also beugte ich mich nach vorne und fing seufzend an, das Ge päck zur Seite zu räumen. Ich war etwa zur Hälfte fertig, als direkt neben mir auf der Trep pe ein Geräusch erklang. Schnell verlagerte ich mein Gewicht und tastete mit der Rechten nach einer stabilen Handtasche. Als ich al lerdings die Farbe Lila in Kopfhöhe erhaschte, ließ ich sie wieder fallen. Der Neuankömmling war Leichenfresser. Er blieb neben mir stehen und schaute sich interessiert an, was 15
ich so anstellte. Erst als ich beinahe schon fertig war, meldete er sich zu Wort. »Was soll das werden? Aerobic?« »Ich möchte sehen, was hinter der Tür ist.« Er begutachtete sie und strich sich über das spärliche Haar. »Sagen Sie mal … wie sicher sind Sie sich eigentlich, daß Sie noch ganz richtig ticken?« Ich gab ihm keine adäquate Antwort. Also bückte er sich eben falls und half, die restlichen Koffer auch noch beiseite zu räumen. »Gehört die Ihrer Truppe?« deutete ich auf die erhängte Figur. »Die hier? Glaub ich nicht… Nein, so was haben wir nicht gekauft. Warum?« »Weil sie vor Ihrer Band herumbaumelt. Dies ist nämlich die Frau, die ich suche.« Er trat vorsichtig einen Schritt zurück und runzelte die Stirn. »Welche Frau?« »Die Stewardeß.« Sein Blick verriet inzwischen echte Sorge. »Fühlen Sie sich auch wirklich wohl?« Anstelle einer Antwort trat ich zur Tür und drückte den Knopf, der die Klinke ersetzen sollte. Das Metall bewegte sich und rutschte nach innen, wo uns Dun kelheit erwartete. Soweit ich es einsehen konnte, war der Raum da hinter nicht größer als die Kombüse über uns. Leichenfresser hinter mir schlich sich vorsichtig heran. Er hatte wohl immer noch seine Zweifel bezüglich meiner geistigen Verfas sung. Entschlossen drückte ich nun die Tür ganz nach innen und trat zur Seite, damit wenigstens das Halbdunkel des Frachtraumes etwas Licht ins Dunkle brachte. Als dann diese schwachen Strahlen zumindest Umrisse erahnen ließen, wären wir fast in ein riesiges Etwas hineingerannt, das wie die kleine Tonfigur draußen an einem Strick von der Decke bau melte. Leichenfresser stieß einen leisen Pfiff aus und meinte: 16
»Junge, Junge, noch ein Klingeling?« In der Tat, es war noch ein Klingeling. Allerdings diesmal nicht aus Ton, es sei denn, man bezeichnete in Hinblick auf gewisse Ter mini der Schöpfung menschliches Fleisch ebenfalls als Ton. Denn das, was dort oben vor uns hing, war mit Sicherheit ein er hängter Mensch. Und als sich unsere Augen an die kaum gemäßigte Dunkelheit gewöhnten, wußte ich auch ganz genau, wer. Selbstverständlich die Stewardeß, die ich gesucht hatte.
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eichenfresser keuchte und starrte dabei mit aschfahlem Gesicht auf das Opfer. »Heilige Mutter Gottes… Mir wird gleich schlecht!« »Dann holen Sie sich von oben eine Tüte. Kennen Sie sie?« »Ich traue mich noch nicht, genau hinzusehen.« Er sank auf einen Koffer, mit dem Rücken zur Tür, und zitterte am ganzen Körper. Ich lehnte mich an die Wand und versuchte, nach zudenken. Mein Gott! Was soll ich jetzt bloß machen? Vorerst widmete ich mich Leichenfresser und klopfte ihm auf die Schulter. »Kopf hoch! Atmen Sie tief durch, dann vergeht es wieder! Sie ha ben noch nie einen Toten gesehen…?« »Nein…«, stammelte er. »Und erst recht keinen Erhängten. Ich hät te nicht gedacht, daß es … so schrecklich ist. Muß ich mir das wirk lich ansehen?« »Nein.« Der Tod verunstaltete ihre Züge. Die Augen traten aus den Höh len, die Zungenspitze hing dunkelblau aus dem Mund, ihre Hän 17
de waren eiskalt. Ich bückte mich, fand aber nichts in ihrer Um gebung, das mir irgendeinen Hinweis gegeben hätte. Also schloß ich die Tür wieder und schüttelte den Musiker. »Könnten Sie hierbleiben, während ich…« »Auf gar keinen Fall!« unterbrach er mich hastig und sprang be hende auf. »Niemals! Im Gegenteil, ich werde sogar die Jungs auf wecken, damit die ebenfalls von hier verschwinden.« »Es gibt keinen Grund zur Panik. Lassen Sie sie, kommen Sie lie ber mit.« »Wohin denn, Mann?« »Wir müssen es jemandem sagen … dem Piloten wahrscheinlich. Damit er es per Funk durchgibt.« »An wen?« »Unwichtig. Kommen Sie!« Wir gingen die Treppe wieder rauf, er voran, ich hinterher. Selbst so schaute er zweifelnd über die Schulter, ob ihn die Tote nicht doch verfolgen würde. Die Kombüse der Stewardessen war leer. Auch das erste Abteil war leer. Nur ein traurig vor sich hindösendes asiatisches Gesicht schaute auf, als wir seine Reihe passierten; dann sank es wieder in das Kopfkissen zurück. Ich trat vor die Tür der Pilotenkabine und klopfte an. Und erhielt keine Antwort. Nach dem zweiten Versuch gab ich der Türklinke eine Chance, aber auch sie war wenig kooperativ. Sprich: verschlossen. Der Asiate stand auf und blickte uns durch seine Brille neugie rig an. »Gibt es ein Problem?« »Nein, nein«, beeilte ich mich, zu versichern, obwohl ich inzwi schen glaubte, es besser zu wissen. »Haben Sie vielleicht die Ste wardessen gesehen? Sind sie etwa hier drin?« »Ehrlich gesagt weiß ich es nicht.« Ich klopfte erneut an, auch diesmal ohne Reaktion. Der Fremde taxierte uns immer mißtrauischer. 18
»Was wollen Sie denn von ihnen?« Ich gab Leichenfresser einen Wink, und wir machten uns davon. In der kleinen Küche war immer noch niemand. Also begaben wir uns zurück zu Villalobos, der wahrscheinlich am Text eines zu künftigen Pandavortrages saß, mit dem Kugelschreiber in der Rech ten. Als er uns entdeckte, legte er das Manuskript zur Seite und zupf te wie immer seinen Schnurrbart zurecht. »Wie geht es mit den Damen voran?« Ich nahm seinen Arm. »Kommen Sie, General!« Er schnaubte und beugte sich über seine Papiere, schien sie mit seinem Körper beschützen zu wollen. »Ich werde mich hüten! Wohin denn? Haben Sie schon wieder eine neue Stewardeß entdeckt?« »Man hat sie … erhängt!« sagte Leichenfresser und schluckte. »Erhängt? Wen?« »Die Stewardeß!« »Welche?« »Die … dritte.« »Unsinn! Es waren doch nur zwei!« Trotzdem folgte er uns auf dem Fuße, als wir uns wieder auf den Weg zur Treppe machten. In der kleinen Küche saß endlich eine unserer Flugbegleiterinnen, und zwar die weniger hübsche, kleine re. Ich packte sie unsanft am Handgelenk und schleifte sie, keinen Widerspruch duldend, mit. »Kommen Sie! Ich muß Ihnen was zeigen!« Sie rief etwas und biß dann plötzlich in meine Hand. Aus dem Handgelenk verabreichte ich ihr dafür eine Ohrfeige, woraufhin sie mir an die Schulter fiel und sich ausheulte. Villalobos streckte sein Prachtstück von Bart kämpferisch vor. »Was soll das?! Sind Sie verrückt geworden? Das ist jetzt aber wirk lich zuviel des Guten! Sie reden vollkommen wirres Zeug und schla gen unschuldige Damen. Als ehemaliger Offizier der Französischen Armee kann ich das nicht gutheißen, und ich sehe es als meine Pflicht 19
an…« Ich erfuhr nie, was er als seine Pflicht ansah, denn inzwischen war ich mit dem Mädchen im Schlepptau im Treppenabgang ver schwunden. »Ich möchte Ihnen einen blinden Passagier zeigen«, eröffnete ich der Stewardeß und tätschelte ihr Gesicht. »Keine Angst!« Sie hatte keine Angst, wollte mir aber wieder in die Hand beißen. Ich rettete meine Haut, bestrafte sie diesmal allerdings nicht mehr für den Versuch. Villalobos räusperte sich hinter mir, mit Leichenfresser im Rücken. Unten angekommen, deutete ich auf die kleine Tonfigur. »Sehen Sie?« Das Mädchen nickte. Sie versuchte, sich soweit wie möglich von mir fernzuhalten. »Wissen Sie auch, was das ist?« Sie schüttelte den Kopf. Ich schob sie direkt vor das eingeklemmte Feldbett. »Schauen Sie sich das Gesicht an. Erkennen Sie sie? Dies ist die dritte Stewardeß. Die ich gesucht hatte.« Sie beugte sich nach vorne, als ob sie die Züge des fremden Ge sichtes unter die Lupe nehmen wollte, nutzte die Gelegenheit aber nur, um erneut meine Hand mit ihren schönen Zähnen zu atta ckieren. Villalobos betrachtete entnervt die Figur. »Aha! Und dieses … Ding … ist aus Ton?« »Dies war die dritte Stewardeß!« »Die Tonfigur? Mann, Sie gehören wirklich ins Irrenhaus!« Ich glaube, letzteres brachte schließlich das Faß zum überlaufen. Ich konnte mich einfach nicht mehr zurückhalten. »Ins Irrenhaus? Ich?« schrie ich, und es kümmerte mich dabei nicht im geringsten, ob die Leprakranken Leichenfresser aus ihrem Dau erschlaf gerissen wurden. »Dann sehen Sie sich das hier an, vielleicht ändert das ja Ihre Meinung!« Ich schleppte das Mädchen zur Tür und ließ die Falttür auf 20
schnappen. Sanftes Licht trat durch die Öffnung ein. »Sehen Sie!« Leichenfresser nahm seine gewohnte Position auf einem Koffer ein, mit dem Rücken zum Spektakel. »Auf keinen Fall!« Villalobos war hingegen nicht so zimperlich. Sein Gesicht ver finsterte sich, er holte ein Messer hervor, stürzte in den kleinen Raum und schrie mich dabei an. »Sie Irrer! Abartiger! Perversling!« Ich wollte ihm ein Bein stellen, wurde aber abgelenkt. Die Stewardeß hatte die Gunst der Sekunde ausgenutzt, sich meinem Arm entrissen und war getürmt. Ich ließ sie laufen. Dann öffnete ich den Rest der Tür, um etwas mehr sehen zu können. Das erhängte Mädchen war nirgends zu sehen. Dafür aber Villa lobos. Er kniete auf dem Boden und befreite mit seinem Messer gerade eine Frau von ihren Fesseln.
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ch wollte mich mit hineinzwängen, sein gezücktes Messer hielt mich aber vorerst ab. »Sie bleiben, wo Sie sind! Einen Schritt, und ich steche Sie ab!« Seine Stimme ließ keinen Zweifel daran, daß er es ernst meinte. Also blieb ich draußen und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Ich war außer Atem, wie bei Konditionsübungen unter strahlender Sonne. Ich trottete zu dem Musiker hinüber, der sich immer noch an der gegenüberliegenden Wand ergötzte. »Sie können sich wieder umdrehen. Die Gefahr ist gebannt.« »Wieso?« 21
»Die Leiche ist verschwunden.« Er sprang auf, als hätte ihn eine Kobra in den Allerwertesten ge bissen. »Was?!« Erschrocken starrte er auf die Tür, in der jetzt Villalobos auftauchte, mit der weinenden Stewardeß in den Armen, die sich an seinem Hals festkrampfte. Sein Schnauzer stach uns genauso entgegen wie die Messerspit ze. »Jeder, der mir zu nahe kommt, wird von seinen Leiden erlöst! Auch Sie, mein junger Clown!« Damit meinte er wohl den Musiker. Er brachte die junge Frau ein paar Meter weg und legte sie behutsam auf den Boden, direkt neben die Tonfigur. »Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Sie Fieslinge! Ich habe schon so manchen Sexbesessenen erschießen lassen! Wenn wir gelandet sind, werde ich den Vorfall sofort den Behörden melden! Haben Sie sie so festgeschnürt?« »Fragen Sie sie doch selber!« riet ich ihm. »Das werde ich auch!« Er tätschelte sanft ihre Wange und lächelte ihr ermutigend zu. »Sprechen Sie Englisch, junge Dame?« Sie schniefte und nickte schließlich. »Wer hat Ihnen wehgetan? Der da?« Sagte es und deutete auf mich. Die Stewardeß schüttelte den Kopf. Villalobos schluckte unzufrieden und richtete dann den Finger auf Leichenfresser. »Vielleicht er?« Erneutes Verneinen. Der General kratzte sich verzweifelt am Hinterkopf. »Wer zum Teufel denn sonst?« Das Mädchen beugte sich rüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Sein Gesicht veränderte sich, zeugte plötzlich von maßloser Über raschung; als ob sie gerade gesagt hätte, der französische Präsident 22
persönlich wäre unter den Fluggästen und hätte sich als Buddhist verkleidet. Ich wollte etwas sagen, aber Leichenfresser kam mir zuvor. »Was denn nun?« Erneut flüsterte sie dem General etwas zu, der nun, falls überhaupt, noch ratloser in die Welt schaute. »Was denn nun?!« Diesmal hatte ich es mit dem Musiker zugleich gesagt. Mit der freien Hand zwirbelte Villalobos seinen Schnurrbart, rich tete seine blicklosen Augen auf uns und ließ die Stewardeß wieder zu Boden gleiten. »Hier sind alle verrückt«, stellte er mit zittriger Stimme fest und lehnte sich an die Wand, die ich nach dem Kartenhausprinzip aus Koffern geschaffen hatte. »Und offenbar greift das langsam auch auf mich über…« »Was hat das Mädchen gesagt? Wer hat sie gefesselt?« Villalobos breitete ratlos die Arme aus. »Ein Pandabär«, antwortete er. »Ein richtiger, lebender Pandabär.« Erschöpft lehnte er sich noch weiter zurück, als würde er ir gendeinen Kampf innerlich aufgeben. Die provisorisch aufgetürmten Gepäckstücke sackten zur Seite und fielen dann mit großem Ge töse zusammen. Villalobos schrie, die Stewardeß kreischte, und Lei chenfresser wurde unter den Koffern begraben. Nur die Leprakranken schnarchten unbeirrt weiter.
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ch warf die Gepäckstücke achtlos beiseite und befreite Leichen fresser. Fluchend schüttelte er seinen lilafarbenen Kamm und schnaubte dann erleichtert. 23
»Ein Glück, daß es nur diese Koffer sind. Ich dachte schon, wir stürzen ab!« »Keine Angst, Fräulein«, beruhigte ich die erneut vor Todesangst zitternde Stewardeß. »Es ist nichts passiert. Ist mit Ihnen alles in Ordnung?« Sie nickte, und Ihre Augen suchten Villalobos. Von uns dreien ge noß er bei ihr wohl das größte Vertrauen. »Könnten Sie mir sagen, was mit Ihnen genau passiert ist?« er mutigte ich sie. Sie blickte immer noch Villalobos an, erhob sich dann aber langsam. »Wo ist Sikara?« »Wer ist das?« »Meine Kollegin. Das andere Mädchen.« »Wahrscheinlich oben. War es wirklich … ein Panda … der Sie nie dergeschlagen und so verschnürt hat?« »Ein Pandabär«, bestätigte sie flüsternd. »Ein riesiger, furchtbarer Panda.« »Wie riesig?« erkundigte sich Leichenfresser mit zusammenge kniffenen Augen. »Der Panda? Wie, wie … ein richtiger Mensch.« »Also größer als normal.« »Ich weiß nicht … ich habe noch nie einen wirklich gesehen. Nur auf Bildern.« »Könnten Sie genau erzählen, wie es vorgefallen ist?« »Bestimmt war es nur ein schlechter Traum«, murmelte Villalo bos. Das Mädchen stand auf, so schnell, daß sie dabei fast den immer zutraulicher werdenden General umgerempelt hätte. »Es war kein Traum«, leierte sie herunter. »Ein richtiger Panda bär. Er stand da auf der Treppe«, deutete sie auf die Stufen. »Ich kam gerade herunter … wir müssen jede halbe Stunde den Fracht raum kontrollieren. Und da … erwischte er meinen Hals, und dann … schlug er mich … hier.« Sie zeigte auf ihre Kopfspitze, wo sich allerdings wegen der auf 24
getürmten Haare vorerst nichts ausmachen ließ. »Und?« »Ich wurde nicht ohnmächtig … also schlug er wieder zu. Da lie ßen dann irgendwie meine Kräfte nach.« Sie sprach ganz gut Englisch, obwohl ihr Akzent ziemlich schlimm war. »Wie heißen Sie denn, Miss?« »Ich? Darcy.« »Aber das ist doch ein englischer Name.« »Und amerikanisch. Ich … wurde während des Krieges geboren. Damals gab es hier viele Amerikaner… Meine Mutter gab mir den Namen Darcy.« Ich sah sie wortlos an und versuchte, meine Gedanken zu ord nen. Verstohlen warf ich einen Blick auf meine Uhr; wir würden noch einige Stunden in der Luft sein. »Sie arbeiten bei der thailändischen Fluggesellschaft?« Sie schüttelte den Kopf und richtete dann ihr Haar. Auch die Schminke hätte in die Werkstatt gemußt, aber ich sagte ihr nichts. »Ich arbeite … auf Privatflügen. Eine Vermittlungsagentur schickt uns zu den Maschinen. So ist das bei uns üblich.« Erneut spürte ich den unangenehm kalten Schauer. Villalobos und Leichenfresser waren noch nicht soweit. »Okay, Darcy. Zu diesem Flug wurden Sie ebenfalls vermittelt?« »Natürlich. Wie Sikara. Wir fliegen immer zusammen.« Villalobos war klüger, als ich dachte. Er drehte die Augen und schnaubte verzweifelt: »Verdammt! Und was für eine Maschine ist das?« Der Musiker, immer noch sichtlich ahnungslos, setzte sich auf den Boden. »Was wohl? Ein Flugzeug!« »Wem gehört es, Miss?« Jetzt versuchte sie sogar ein kleines Lächeln. »Ich weiß nicht. Es ist eine Privatmaschine.« »Aus Thailand?« 25
»Ich weiß es nicht, mein Herr.« »Auch nicht, wem sie gehört?« »Das teilt man uns doch nicht mit! Meistens sind es Charter flugzeuge, die Privatpersonen oder Firmen gehören. Aber die Na men wissen wir nicht.« »Und die Piloten?« »Werden meistens ebenso vermittelt.« »Und wer fliegt die Maschine?« »Das ist mir nicht bekannt, mein Herr. Ich habe sie nicht gese hen. Sie hatten abgeschlossen, wir dürfen da nicht hinein.« Gerne hätte ich mich erkundigt, wo sie denn dann gewesen wa ren, als wir sie verzweifelt im ganzen Flugzeug gesucht hatten, ließ es aber bleiben. Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß es noch weit aus schlimmere Fragen zu beantworten galt. »Kennen Sie denn den Kurs, Darcy?« »Ich? Sie sind doch die Fluggäste! Eine Chartermaschine landet dort, wo die Passagiere es wünschen. Das geht uns Stewardessen nichts an.« »Für wie lange wurden Sie … äh, verpflichtet?« »Wir werden pro Tag bezahlt. Fünfzig Dollar. Bis zum Ende der Reise.« »Und dieses Mal? Für wie lange?« »Das hängt von den Passagieren ab.« Das war's. Die Ermittlungen konnten somit eingestellt werden. Leichenfresser schien erst jetzt zu kapieren, daß irgend etwas nicht stimmte. Villalobos hingegen starrte bereits seit einiger Zeit mit dunk ler Miene vor sich hin und knabberte dabei an seinem Schnurrbart. »Was soll das alles? Hat man uns etwa entführt?« Der Scherz wurde allerdings nicht von dem entsprechenden Un terton begleitet. »Das möchte ich gerade herausfinden«, gab ich zu verstehen und bereitete mich auf den weiteren Teil des Verhörs vor. Villalobos ließ mir aber keine Zeit mehr. Erbost trat er gegen den nächstbesten Koffer und ging dann zielstrebig auf die Treppe zu. 26
»Ich gehe rauf und prügele es aus ihnen raus.« »Aus wem?« »Egal. Aus dem Kapitän. Oder wer auch immer in dieser Kanzel sitzt.« »Welche verschlossen wurde!« erinnerte ich ihn. »Dann trete ich so lange dagegen, bis jemand öffnet. Oder die Tür bricht.« »Vielleicht wäre es besser, vorher etwas nachzudenken. Vergessen Sie nicht, daß hier auch noch irgendwo ein Pandabär unterwegs ist!« »Pah! Wer glaubt schon an solche Ammenmärchen?« »Eben noch gehörten Sie auch zu dem Menschenschlag!« »Keine Sekunde. Die junge Dame stand sicherlich unter Schock. Oder wußte, daß wir zu einem Pandakongreß unterwegs sind, und … ihre Nerven, oder so…« »Das stimmt nicht«, behauptete die Stewardeß resolut. »Ich habe wirklich einen Pandabären gesehen! Und…« »Und?« »Dabei fällt mir ein … er hatte auch eine Pistole. Mit so einem, äh, dicken Lauf…« »Schalldämpfer«, nickte Leichenfresser. »Ein Grund mehr, nicht in der Gegend herumzurennen.« »Wollen Sie etwa sagen, wir sollen bis Peking oder Nanking, oder was zum Teufel auch immer, hier unten bleiben?« »Wir sollen zuerst nachdenken.« »Worüber, Menschenskind?« Erneut wandte ich mich an Darcy. »Fräulein… Irgendeine Information werden Sie doch wohl darü ber haben, wie wir in diese Maschine gekommen sind?« Das Mädchen schaute sich hilfesuchend um. Anscheinend verstand sie meine Frage nicht so recht. Diesmal war es Leichenfresser, der Zeugnis seiner Spitzfindigkeit ablegte. Er nahm ihre Hand und streichelte sie sanft. »Wir wollten nicht in dieses Flugzeug einsteigen, Darcy Baby. In ein ganz anderes, das nach Peking fliegt. Anders als das hier. Ver 27
stehst du, Darcy Baby?« Die Stewardeß zog schnell ihren Arm zurück, verstand es aber. »Das war so«, fing sie schnell an und versteckte ihre Hand hin ter dem Rücken. »Wir wurden früh morgens über den Charterflug informiert.« »Hat man Ihnen auch das Ziel mitgeteilt?« »Nein. Am Flughafen sagte man uns lediglich, welcher Ausgang.« »Hatten Sie die Maschine gesehen?« »Nur kurz, bevor wir das Flugzeug betreten haben.« »Die Piloten?« »Waren bereits an Bord. Alles war vorbereitet, Essen und Trinken. Der Agent sagte, die Passagiere müßten für nichts bezahlen.« »Ahhaha«, meldete sich Leichenfresser zu Wort. »Die erste gute Nachricht auf diesem Kahn.« »Welch ein Typ ist es wohl?« fragte ich Villalobos. »Meiner Meinung nach eine gründlich umgebaute Boeing 727.« Ich zermarterte mir den Kopf, versuchte, mir jede Einzelheit mei nes Check-in's wieder in Erinnerung zu rufen. Ich ging zu dem pas senden Tor, bekam meine Papiere ausgehändigt, dann kam eine Frau und führte mich zur… »General … Sie sind doch sicher alleine zur Maschine gekommen?!« »Meine thailändischen Freunde hatten mich zum Flugplatz begleitet. Warum?« »Und sie blieben nicht bis zum Einstig bei Ihnen?« »Natürlich nicht. Sie mußten in die Stadt zurück.« »Woher wußten Sie, durch welches Tor Sie Ihre Maschine errei chen würden?« »Soll das ein Scherz sein? Es war an der Tafel angeschlagen. Au ßerdem wurde es durchgesagt.« »Können Sie sich noch genau an die Nummer erinnern?« »Nein. Keine Ahnung. Wer merkt sich schon solchen Unsinn?« »Ich«, glänzten plötzlich Leichenfressers Augen auf. »Tor zwei undzwanzig wurde angezeigt, anfänglich.« »Anfänglich?« 28
»Also, das stand da zumindest.« »Und die Ansage?« »Da habe ich nicht drauf geachtet. Wir hatten ein wenig Spaß mit den Jungs.« »Und dort sind Sie auch eingestiegen?« »Tor zweiundzwanzig, meinen Sie?« »Meine ich.« »Ich nicht. Ich mußte nämlich pi … auf die Toilette gehen. Wir hatten so blöd rumgealbert, daß ich davon pi … auf die Toilette muß te.« »Und dann?« »Wann dann?« »Nach der pi-Toilette.« »Ich ging zurück, aber die Jungs waren bereits verschwunden. Eine Frau kam und sagte, ich solle ihr folgen. Was ich dann auch mach te.« »Welches Tor?« »Na, daß es nicht das zweiundzwanzigste war, darauf können Sie Gift nehmen! Ich bin viel weiter gelatscht. Abgesehen davon«, grins te er breit, »war ich mehr an dem Mädel interessiert…« »Aha. Und dann?« »Dann? Na, ich ging in die Röhre und setzte mich schließlich im Flugzeug auf den erstbesten Platz. War ja fast überall frei.« »Und Ihre Freunde?« »Die pennen meistens bei den Instrumenten. Sie waren ziemlich alle, da wir seit drei Tagen auf den Beinen sind. Ich hingegen kann nie in einem Flugzeug schlafen. Deswegen wollte ich einige nette Kerle suchen und ein kleines Schwätzchen machen. Über lauter tol le Dinge. Weiber, zum Beispiel. Deswegen bin ich nicht runter zu ihnen gegangen.« Villalobos begrub sein Gesicht in den Händen. Als er wieder auf blickte, war er ganz der befehlsgewohnte Soldat im feindlichen Sperr feuer. »Demnach wurden wir entführt«, konstatierte er trocken. »Wir sind 29
nicht in der Maschine der Thailändischen Fluggesellschaft nach Nan king über Peking, sondern ganz woanders. Und das nicht verse hentlich, da können Sie sicher sein. Wir sitzen in der Falle.« »Falle? Was für eine Falle?« dröhnte Leichenfresser. »Ich bin doch kein Politiker oder so … ich bin Musiker! Und ich verlange…« »Die Frage lautet also«, faßte ich die Ergebnisse unserer Überle gungen zusammen, »wer zum Teufel uns entführt hat, und aus wel chem Grund.« »Und außerdem, wohin die Reise nun geht«, fügte der General hin zu. »Sie haben keine Idee, Miss?« Darcy schüttelte traurig ihren hübschen Kopf. »Tut mir leid.«
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as Schicksal wollte wohl nicht, daß Leichenfresser seine Trup pe auf diesem Flug wiederfand. Ehrlich gesagt, achtete ich inzwischen gar nicht mehr auf ihn. Da es noch einige ungeklärte Details gab, ordnete ich erst einmal die kleinen Mosaiksteinchen. Die Dinge wurden sichtlich aus dem Hin tergrund gelenkt, und zwar mit ziemlicher Präzision. Alle Passagiere – zumindest diejenigen, auf die man es abgesehen hatte – wurden gesondert empfangen und zu einem abgelegenen Tor gebracht. Dort hin, wo die Sondermaschine stand. Aber warum bloß? Soweit war ich gekommen, als Leichenfresser aufschrie. Und zwar mit einem ganz besonderen Schrei. Wenn man dafür Noten vergeben würde, hätte man sicher eine neue für ihn erschaffen müssen. Sein Gebrüll war ohne Zweifel außergewöhnlich! »Verdammt! Hey, Leute! Schaut euch das an!«
Mit mulmigem Gefühl trottete ich mit den anderen zu den Feld 30
betten. Der Mundwinkel unserer Stewardeß zuckte dabei nervös. Auf dem ersten Bett schnarchte ein Mittzwanziger den Schlaf der Gerechten. Er hatte ein rosiges, zufriedenes Gesicht, und soweit wir es in dem Halbdunkel und teilweise unter der Decke ausmachen konnten, trug er Marinekluft. Auf dem Platz neben ihm lag ein ha gerer Bursche mit hervorstehenden Wangenknochen, selbst im Traum verkrampft seine Brille festhaltend. Ein schlimmer Verdacht kam in mir auf, während der Musiker wei ter grölte. »Verdammter Mist! Das sind nicht die Leprakranken! Man hat mir meine Band gestohlen! Wo seid Ihr, Jungs?« Die Schlafenden schnarchten unbeirrt weiter, als ob die Schreie gar nicht über ihren Köpfen ertönen würden. Ich beugte mich zu dem Navy-Jungen runter und zog sein Au genlid hoch. Und ließ es kurz darauf wieder fallen. »Was ist?« erkundigte sich Villalobos mißtrauisch. »Sie wurden betäubt. Wahrscheinlich irgendeine Spritze.« »Die hier? Unsinn … die haben sich hemmungslos vollaufen las sen!« »Das denke ich nicht. Der Geruch kommt von unten. Man hat sicherlich ein, zwei Flaschen Gin oder Whisky auf dem Boden zer brochen, um Neugierige davon abzuhalten, sich näher mit den Op fern zu beschäftigen.« »Ich verstehe … aber wer sind sie?« »Keine Ahnung. Auf keinen Fall die Musiker!« Was auch Leichenfresser bestätigte. Er kam zu mir und drückte doch tatsächlich eine Träne im Augenwinkel breit. »Meine Band! Man hat mir meine Band gestohlen! Wissen Sie, was wir alles zusammen gemacht hatten? Wir waren die beste Band der Welt!« Villalobos blickte mich fragend an. Vom Ansatz her gar nicht mal so schlecht: Jemandem ging es lediglich um die Leprakranken, und wir waren nur zufällig mit hineingezogen worden! Doch dann verwarf ich diesen Gedanken wieder. 31
»Wer zum Teufel sollte eine Musikergruppe entführen? Noch dazu hier, am Ende der Welt?!« Villalobos lehnte sich an die Wand, diesmal an eine richtige. »Ich habe da eine Idee. Nehmen wir an, es gibt eine Firma, die gerade Bankrott machen will. Sie hat eine alte Chartermaschine, die man mit Passagieren vollpackt, wenn es sein muß, auch mit Gewalt. Das Flugzeug startet, und dann in der Luft: Bumm…!« »Bumm was?« erkundigte sich Leichenfresser, Böses ahnend. »Einfach bumm! Sie wird in die Luft gejagt. Die Maschine stürzt ab, die Versicherung zahlt, und die Firma ist aus der Patsche.« »Und ich?« schrie der Musiker. »Was ist mit mir?« »Was schon«, zuckte der General mit den Schultern. »Wenn Ihre Musik da oben ankommt, werden Sie in den Englein ein dankba res Publikum finden. Die Ewigkeit dauert ziemlich lange.« Leichenfresser jaulte auf und schlug erbost gegen die Bordwand. »Ich bringe ihn um!« »Wen?« »Der dafür verantwortlich ist!« »In Ordnung«, mischte ich mich wieder in die Unterhaltung ein. »Das ist ein guter Ausgangspunkt. Wir müssen den oder die Leu te finden.« »Aber wie?« dachte Villalobos laut nach. »Darcy? Darcy…« Er bekam keine Antwort. Während wir uns mit den Schlafenden beschäftigt hatten, war das Mädchen verschwunden, und zwar wie vom Maschinenboden ver schluckt.
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illalobos wollte sie suchen, aber ich hielt ihn zurück. »Überflüssig. Haben Sie eine Waffe?« »Mein Messer.« »Und Sie?« »Ich?« schreckte Leichenfresser zurück. »Woher denn? Nur mei ne Fäuste.« Ich trat zu dem Matrosen und zog die Decke nun ganz runter. An seinem Gürtel hing erwartungsgemäß ein langes, schneidezäh niges Messer. Er schien nichts gegen eine Enteignung einzuwenden zu haben. »Besser als nichts.« Leichenfresser beobachtete unser Treiben immer nervöser. Sein Haarbüschel verfolgte meine Bewegungen mit heftigen Zuckungen. »He, einen Moment mal, Leute!« meldete er sich blaß zu Wort und legte die Stirn in Falten. »Und die Kanone?« »Welche Kanone?« »Die Kanone vom Pandabären, mit dem Schalldämpfer. Sie wol len doch nicht etwa mit diesen Zahnstochern dagegen antreten?« »Ein kluger Kopf rennt nicht durch die Wand«, zitierte auch Vil lalobos etwas kraftlos. »Genau!« brummte Leichenfresser, der immer mehr die Lust an der Sache zu verlieren schien. »Wenn wir wenigstens wüßten, was genau hier vor sich geht…« »Apropos … warum haben Sie mich eigentlich mit hier runter ge schleppt?« erkundigte sich der ehemalige General. »Ich glaube, Sie wollten mir etwas zeigen…?« »Wollten wir«, bestätigte der Musiker. »Nur hat man uns inzwi schen die Leiche gestohlen.« »Welche Leiche?« erschrak Villalobos. »Die Leiche von dem dritten Mädel.« »Jetzt hören Sie aber auf! Sie haben doch selbst gesehen, daß sie 33
nur zu zweit waren!« »Es waren drei«, schaltete ich mich in die Unterhaltung ein und erzählte mit einigen Worten, wie wir mit Leichenfresser die erhängte Stewardeß gefunden hatten. »Und … wo ist sie jetzt?« »Ich hoffe, nicht am Steuerknüppel«, erwiderte der Musiker mit bitterer Miene. »Lassen Sie uns die da am besten aufwecken«, deutete ich auf die Feldbetten. Da fielen Leichenfresser erneut seine Kameraden ein. Er fing an zu fluchen, und das nicht gerade sehr gewählt. »Immer mit der Ruhe«, sagte ich. »Sie werden schon auftauchen. Zuerst sollten wir uns aber denen hier widmen.« Ehrlich gesagt, hatte ich es mit Schlafenden auch schon einfacher gehabt. Ich kniete mich neben den jungen Seemann, gab ihm ein paar Klapse auf die Wangen, dann immer intensiver, aber er hus tete mir was. Schließlich löste Leichenfresser das Problem, indem er ein kleines Fläschchen aus seiner Tasche hervorzauberte und sie dem Jungen unter die Nase hielt. Die Stupsnase erbebte einige Male und nieste dann plötzlich zufrieden. Was wichtiger war, ihr Ei gentümer öffnete dabei endlich die Augen. »Salmiak?« erkundigte sich der General interessiert. »Das? Mein liebstes After Shave, Mann!« empörte sich der An gesprochene. »Hundert Dollar die Unze!« »Wo bin ich?« fragte der Marinesoldat drehbuchgerecht. »Jungs, wo zum Teufel bin ich?« »In einem Flugzeug«, klärte ihn der General auf, und versuchte dabei so militärisch wie nur irgend möglich zu wirken. »Was um Himmels willen suche ich in einem Flugzeug? Wo ist mein Hubschrauber?« »Wahrscheinlich noch in Bangkok«, meinte Leichenfresser un vorsichtigerweise. Was dann passierte, spielte sich innerhalb weniger Sekunden ab. Der Mann sprang hoch, flog über sein Bett und verpaßte mir ei 34
nen gewaltigen Kinnhaken. Gott weiß, warum er sich dafür gera de mich ausgesucht hatte. Mir blieb nichts anderes übrig, als eben falls meine Rechte zu schwingen. Wodurch der Junge zurückflog, diesmal über den schnarchenden Brillenträger hinweg, und auf dem Boden landete. Mit der einen Hand massierte er seinen Unterkie fer, mit der anderen suchte er nach seinem Sturmmesser, mußte aber verbittert feststellen, daß dieses bereits zwischen meinen Fingern blitz te. Er blieb sitzen, etwas betreten, aber sichtlich noch nicht am Ende seiner Kampflust. »Hört mal, Jungs! Ich bin ein Navysoldat der Vereinigten Staaten von Amerika. Euch wird's wirklich dreckig gehen, wenn mir irgend etwas passiert! Geben Sie mir mein Messer zurück, Sie Mistkerl! Das ist Staatseigentum!« Was mir so ziemlich egal war. Statt dessen näherte ich mich ihm vorsichtig, blieb prophylaktisch außer Zahnreichweite stehen und versuchte ihm gut zuzureden. »Sehen Sie, Soldat … wie ist eigentlich Ihr Name?« »Ich rede nicht mit Terroristen!« »Ich auch nicht. Sind Sie dazu fähig, mir etwa zwei Minuten zu zuhören?« »Teilen Sie mir Ihre Bedingungen mit.« Leichenfresser tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schlä fe; die vorherrschende Meinung in ihm war wohl, der Junge sei ver rückt. Ich hingegen fand, daß er sich für seine Situation ganz nor mal verhielt. Ich erzählte ihm alles, außer der Leiche und der klei nen Tonpuppe. Die Story war ohnedies schon verwegen genug. Und dort saß er dann, stumm vor sich hinbrütend, als ich fertig war. Als er schließlich das Wort ergriff, zitterte seine Stimme ganz leicht. »Junge, Junge, wenn das stimmt, ist das der größte Haufen Mist, in dem ich je gesessen habe. Und Sie nehmen mich wirklich nicht auf den Arm?« Wortlos reichte ich ihm meinen Paß. Er drehte und wendete ihn, 35
gab ihm mir dann ratlos wieder zurück. »In Ordnung, ich glaub's. Bleibt mir ja wohl kaum was anderes übrig. Schade, daß ich meine MP nicht dabei habe. Ich hab' sie Fred dy um den Hals gehängt…« »Wo?« »Auf dem Flughafen. Vor dem Klo.« »Mußten Sie auch pi … auf die Toilette?« staunte Leichenfresser. »Soll vorkommen. Da hat mich dann so eine Frau erwischt, sie wissen schon, in Uniform. Sagte, ich solle meine Waffe bei den an deren lassen und ihr folgen. Es sei ein Befehl, sagte sie.« »Und Sie glaubten ihr.« »Warum nicht? Was hätte ich tun sollen?« »Und dann?« bohrte ich weiter. »Sie packte mich in die Maschine. Obwohl mir schon da klar war, daß ich eigentlich auf einen Hubschrauber gehöre…« »Aha. Und warum?« »Das ist Geheimsache.« »Wir sind nicht in der Situation, wo…« »Wir mußten zu einem anderen Stützpunkt fliegen. Bei Son nenaufgang sollte ich längst zwischen den Korallen herum schwimmen.« »Sind Sie etwa ein Froschmann?« fragte Villalobos. »Richtig. So in der Art.« »Was sollten Sie da tun?« »Ich sagte doch, Geheimsache!« »Zum Teufel, Mann!« herrschte ich ihn an. »Es könnte sein, daß wir wegen Ihnen in der Tinte sitzen. Ich möchte wenigstens wissen, warum!« »In Ordnung, in Ordnung«, verzog er den Mund. »Was regen Sie sich so auf? Ich bin Kampftaucher, na und? Ein paar Jungs haben sich da unten verfahren und sitzen jetzt fest.« »Ein U-Boot?« »Genau.« »Welches?« 36
»Ist das nicht egal? Sagen wir, die Poseidon.« »Um Gottes willen«, fuhr Villalobos auf, »das ist ja ein Atom-UBoot!« »Genau.« »Ist es gekentert?« »Ich kann nur wiederholen, was man uns gesagt hat. Festgefah ren. In den Korallenriffen. Wir hätten es da rausholen sollen. Ich sollte auch mit von der Partie sein, selbstverständlich.« »Sie sind so etwas wie ein Unterwasser-Sprengstoffexperte«, kon statierte der ehemalige General leise. Das sich ständig bewegende Kaugummi im Mund des Navysol daten blieb plötzlich stehen. »Woher wissen Sie das?« »Ich bin – oder war – Soldat. General.« »Verdammt«, staunte der Seemann. »Amerikanischer?« »Französischer.« »Was soll das Ganze dann hier? Irgendeine blöde NATO-Sache?« »Keinesfalls«, versicherte ihm Villalobos. »Was Mr. Lawrence er zählt hatte, stimmt alles bis aufs Wort. Übrigens, wie heißen Sie?« »Wimmer. Rudolf Wimmer.« »Da wären wir also, Mr. Wimmer.« »Aber was soll das Ganze? Was können die von mir wollen? Ist das eine Geiselnahme, oder was?« »Ich weiß es nicht. Kennen Sie die anderen?« Sein Blick schweifte rasch über die restlichen Betten, dann schüt telte er den Kopf. Wahrscheinlich realisierte er erst jetzt, was mit ihm geschah. Er schloß die Augen, als könnte er damit die unan genehme Wirklichkeit verbannen, aber leider waren wir immer noch da, als er sie wieder öffnete. »Wollen Sie helfen?« »Natürlich. Was soll ich tun?« »Wecken wir die anderen.« Mit dem Dürren neben ihm hatte ich keine Schwierigkeiten. Der Mann mit der Brille blickte mich bereits mit lebhaften Augen an, 37
als ich mich über ihn beugte. »Hören Sie, ich…« »Unnötig«, unterbrach er mich. »Ich habe alles gehört. Mein Name ist Van Broeken.« Das klang irgendwie bekannt, aber näheres dazu fiel mir noch nicht ein. »Von wo wurden Sie denn verschleppt?« »Auch vom Flughafen.« »Und wo wollten Sie hin?« »Nach Holland. Amsterdam.« »Waren Sie ebenfalls auf … äh, der Toilette?« »Ach was! Ich wollte gerade Schokolade kaufen, als eine unifor mierte … Dame zu mir trat und mir sagte, ich solle mich beeilen. Ich wunderte mich sogar, woher sie mich kannte und warum sie so hetzte, schließlich sollte meine Maschine erst in fünfundvierzig Mi nuten starten. Aber sie haderte nur so vor sich hin, mit einem ganz seltsamen Akzent … ich hab' gar nicht alles verstanden. Wieso hät te ich mißtrauisch sein sollen? Ich dachte, der Start wurde einfach vorgezogen.« »Waren Sie allein?« »Allein. Beziehungsweise … ich half dem tauben Mann. Und dem kleinen Mädchen.« »Mädchen?« »Das den Tauben führte.« »Das verstehe ich nicht.« »Sehen Sie: Ich stand vor dem Süßigkeitenstand, als mich ein Mäd chen mit europäischem Akzent ansprach. Ein Teenager, etwa acht zehn. Ich sollte ihrem Großvater drei Toblerone kaufen.« »Aha.« »Was ich auch tat. Dann kam diese Thailänderin und sagte, daß meine Maschine gleich abheben würde. Ich drehte mich um, weil ich ja die Schokolade gekauft hatte, aber das Mädchen und der Alte waren verschwunden. Und die Frau in der Uniform wurde immer ungeduldiger. Selbst im Flugzeug hielt ich das Zeug noch in der 38
Hand. Und die Jacke der Kleinen … das war nämlich so … in die sem Durcheinander… Also, das Mädchen wollte mir unbedingt das Geld sofort geben, obwohl ich sagte, es hätte noch Zeit, bis ich die Toblerone gekauft habe. Aber sie gab mir ihre Jacke und suchte ihre Geldbörse…« Der Mann kramte unter seiner Decke und riß mit ei nem begeisterten Jubelschrei ein rotes, zerknittertes Seidenstück her vor. »Hier ist sie! Ich habe sie schließlich eingesteckt … und…« Ich nahm ihm das knallrote, ölige Tuch ab, das er als Jacke be zeichnet hatte. Es hatte weder Ärmel noch sonst etwas, war einfach nur ein billiges Stück Stoff mit Öl- und Brandflecken. Mit Daumen und Zeigefinger hielt ich es an der Ecke fest und schüttelte es leicht. Ein schwarzes, schweres Metallding fiel vor mei ne Füße. Schnell griff ich danach und hielt es hoch. Es war eine Mini-Maschinenpistole, Typ HM-3. Unter dem Sicherheitsbügel schimmerte die Aufschrift: Made in Mexico.
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an Broeken starrte auf die Waffe; sein Mund bewegte sich laut los, wie bei einem Gebet. »Reden Sie!« Er ergriff die Decke und zog sie vor sich, als ob sie ihn vor der sichtlich erwarteten MP-Salve retten könnte. »Was wollen Sie von mir? Ich sehe das Ding zum ersten Mal! Ich schwöre es! Mir hat dieses Mädchen eine rote oder orangefarbene Jacke gegeben! Und die war leer! Mit dem Ding da habe ich mit Sicherheit nichts zu tun!« »Und wie ist es dann zu Ihnen gekommen?« 39
»Was weiß ich!« Leichenfresser streckte seinen Finger aus und tippte damit gegen den Lauf der Waffe. »Wichtig ist, daß sie sich jetzt in Ihren Händen befindet. Damit können Sie auf den Panda ballern.« »In einem Flugzeug, was?! Sagen Sie, Mr. Van Broeken, was hat ten Sie eigentlich in Bangkok zu tun?« »Ich habe an einer Konferenz teilgenommen.« »Was für eine Konferenz?« »Sinologie. Chinesische Archäologie. Glauben Sie mir, ich sehe zum ersten Mal dieses … Ding! Wo fliegen wir überhaupt hin?« »Im Moment gerade nach Osten«, sagte Villalobos. »Nach Osten? Woher wissen Sie das?« »Aus der Bewegung der Sonne.« »Was sind Sie von Beruf, Mr. Van Broeken?« »Alles mögliche. Hauptsächlich Kunsthistoriker. Chinesische Kunst, versteht sich.« »Welches Spezialgebiet?« »Die früheren Epochen. Zur Zeit beschäftige ich mich viel mit der Armee aus Ton… Wissen Sie…« »Sie sagten, es gäbe da eine Konferenz in Bangkok?« »Gab. Sie war wegen der Tonarmee. Wissen Sie, was das ist?« »Darüber später. Haben Sie jemals in China gelebt?« »Nein. Aber noch dieses Jahr komme ich zurück … oder wollte zurückkommen… Ich habe nämlich eine Theorie…« »Judy!« Eine alte, krächzende Stimme ertönte unter einer der Decken. »Judy!« Es kam keine Antwort, also machte ich mich selbst auf den Weg, den Eigentümer der Rufe zu besichtigen. Ein älterer Herr mit Glat ze, Zwicker und Hörgerät hockte unter dem derben Stoff und starr te mich mit offenem Mund verständnislos an. Die Porzellanzähne glänzten selbst im Halbdunkel des Frachtraumes. Van Broeken sprang auf und deutete anklagend auf den Alten. 40
»Das ist er! Das ist der alte Mann! Der Taube!« Der Alte setzte sich auf, ließ die Beine auf den Boden fallen, grins te in die Runde und wartete ab, was nun geschah. Leichenfresser schüttelte den Kopf. »Nicht nur taub, blöd auch noch.« Das Objekt der Bemerkung schaute Leichenfresser an, nickte und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Ich riß nun die Decke auch von dem daneben stehenden Bett herunter. »Wachen Sie auf, Judy!« Es war tatsächlich ein Teenager, obwohl näher an zwanzig als an fünfzehn. Das Mädchen gähnte, streckte sich und kreischte dann laut los, so daß der Navysoldat zusammenschreckte. »Großvater! Wer sind die Leute?« Großvater grinste und fixierte weiterhin den Musiker. »Sind Sie okay, Judy?« Automatisch nickte sie und wollte sofort weiterschreien, als sie plötz lich Leichenfresser entdeckte. Dann schrie sie trotzdem, nur irgendwie anders. »Heilige Scheiße, das kann doch nicht wahr sein! Leichenfresser! Süßer, kleiner Leichenfresser!« Dann flog sie dem Zweimeter-Mann an den Hals und fing ohne ein weiteres Wort an, ihn abzuknutschen. Villalobos rieb sich die Augen und schlitterte müde neben dem Seemann zu Boden. »Haben Sie vielleicht eine Zigarre?« »Sony, ich stehe nur auf Kaugummis.« Ich versuchte, das Mädchen von dem Musiker zu lösen, was mir trotz der ähnlichen Bemühungen des Angegriffenen nur schwer ge lingen wollte. Als ich es dann geschafft hatte, drehte sie einige Run den um ihn und tanzte wild drauf los. »Kneif mich, Großvater! Wir sind in einer Maschine mit Leichen fresser! Wenn ich das den Mädels erzähle, flippen die aus! Leichi, du läßt mich doch Fotos machen, ja?! Und eins von uns beiden, zusammen! In Boston!« 41
Der Angesprochene nickte unsicher, das Mädchen tanzte weiter, bis es plötzlich Van Broeken entdeckte. »Hey, Sie! Wo ist meine Jacke? Und die Schokolade? Ich hab' sie Großvater versprochen! Und was ist mit Ihnen allen los? Wieso ste hen Sie da, wie begossene Pudel?« Dann schaute sie sich schnell um und bemerkte wohl zum ers ten Mal so richtig, daß wir uns keineswegs im First Class Abteil der Bangkok-Boston-Maschine befanden. »Sagen Sie mal, wo sind wir hier überhaupt? Leichi?« »In der Luft«, meinte der Musiker scharfsinnig. »Oh, ich dachte schon, im Central Park… Das sehe ich auch! Was ist das hier, eine Trauerfeier? Was ist hier los?« Erneut mußte ich die Initiative ergreifen. »Werte junge Dame«, begann ich, »unglücklicherweise muß ich Ihnen mitteilen, daß wir uns nicht auf dem Flug nach Boston be finden.« »Soll das ein Scherz sein? Wo denn sonst?« »Wie Mr. Leichenfresser eben bereits bemerkt hat, irgendwo in der Luft.« »Sie sind ja verrückt. Und was machen wir hier?« »Keine Ahnung. Wenn mich mein Gefühl nicht täuscht, und das tut es selten, wurden wir entführt.« Mit offenem Mund starrte sie mich an. »Wir wurden was?« Ich erzählte ihr dasselbe wie den anderen zuvor auch. Ebenso ließ ich die Geschichte mit der erhängten Stewardeß wieder aus. »Na toll!« urteilte das Mädchen und umarmte den alten Mann. »Wir wurden gekidnappt! Ge-kid-nappt!« schrie sie ihm in das Hör gerät, woraufhin er zufrieden in ein rhythmisches Nicken verfiel. Ich spürte einen stechenden Schmerz hinter meinem Ohr. Wahrscheinlich ein Nervenende. »Sagen Sie mal, Judy … was haben Sie eigentlich in Bangkok ge macht? Ich meine, Sie und Ihr Großvater?« »Wir? Nun, wir sind Amateurarchäologen. Großvater ist außerdem 42
Numismatiker. Wissen Sie, er liebt alte Münzen. Ich selbst stehe eher auf figürlichere Dinge.« »Zum Beispiel Tonfiguren?« Erneut staunte sie mit offenem Mund. »Wie haben Sie denn das rausgekriegt? Waren Sie etwa auch da bei?« »Wo?« »Auf der Konferenz. In der Amateurloge. Wir waren die ganze Zeit über dort. Obwohl die meiner Meinung nach niemals Huan-Tis Schatz finden werden. Das Geld zeigt nämlich den Weg an, und die ser führt eindeutig nach Süden.« »Was für ein Geld?« »Steingeld, natürlich.« »Ich verstehe kein Wort.« »Das wundert mich nicht. He, Großvater, was ist das? Woher hast du es?« Während unserer Unterhaltung hatte Großvater nämlich in aller Stille unter seine Decke gegriffen und eine 45er Magnum hervor geholt, die er nun in Begleitung eines freundlichen Lächelns auf mei ne Brust richtete.
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s gibt ein paar Dinge auf der Welt, die mich ausgesprochen ner vös machen. Eines davon ist, einer großkalibrigen Waffe in den Lauf zu schauen. Noch dazu aus nächster Nähe. Und obwohl ich die mexikanische MP geschultert hatte, fiel mir nicht im Traum ein, danach zu greifen. Der alte Mann hätte mich durchlöchert, bevor ich den Arm auch nur bewegt hätte. Allerdings schien Großvater nicht diesen Plan zu verfolgen. Er grins 43
te wie eine besoffene Maus den Kater an und wußte nicht, was er mit der Pistole anfangen sollte. Ich um so mehr. Mit einem Sprung war ich bei ihm und drehte die Magnum aus seiner Hand. Vielleicht etwas heftiger, als beab sichtigt, denn der Alte schüttelte noch eine ganze Weile hinterher seine Finger, als ob er sie sich verbrannt hätte. »Wo hast du sie her, Großvater?« fragte Judy erschrocken. Die Sa che begann eindeutig, an epischer Breite zu gewinnen… Es war eine hübsch polierte Pistole mit Schalldämpfer, die Seri ennummer war natürlich entfernt worden. »Was zum Teufel…«, murmelte Wimmer und griff nun seinerseits unter die Decke, zog die Hand aber mit enttäuschtem Gesichts ausdruck wieder hervor. »Ich hab' wohl kein Geschenk erhalten.« Ich gab die Pistole Villalobos. »Wenn es sein muß, benutzen Sie sie. Aber nur dann!« Ehrlich gesagt hätte ich gerne noch etwas mehr über das Stein geld erfahren, über Huan-Tis Schatz und den Weg nach Süden, aber die Situation gebot mir, dies auf einen späteren Zeitpunkt zu ver schieben. Vor allem, da Wimmer seine Seemannsmütze in den Na cken schob und auf die am anderen Ende des Raumes baumelnde Tonfigur deutete. »He, was ist denn das?« Noch bevor ich ihn daran hindern konnte, war er bei dem de molierten Feldbett und hielt das kleine Püppchen in der Hand. »Jetzt hätte ich fast geglaubt, ich wäre daheim. Genau, wie in Old John's Geschäft.« Ich spürte, daß wieder etwas passierte, das mich noch tiefer in die ses unwirkliche Durcheinander hineinziehen würde. »Wer ist Old John?« »Na, Onkel John. Mein Onkel. Zu Hause, in Idaho. Er hat sol che Figürchen.« »Tonfiguren?« »Solche wie die hier, aber auch größere. Man sagt, sie werden in China gebrannt, und einige sind echt viel Geld wert.« 44
Ich wußte überhaupt nicht mehr weiter. Sollte ich in einem Auf wasch die Maschine erobern, den Panda konfrontieren und irgendeine sinnvolle Erklärung für die Geschehnisse finden oder einfach nur einen kleinen Plausch über den Onkel des Navysoldaten aus Ida ho führen? So seltsam es auch erscheinen mag, ich entschied mich für das letztere. »Was ist ihr Onkel? Antiquitätenhändler?« »Mhm. Er hat ein kleines Geschäft, voll mit allerlei Dingen. Mir gefallen am besten die Holzpantoffeln. Die wurden noch gemacht, als New York nur ein kleines holländisches Kaff war.« »Und Sie sagen, Ihr Onkel hätte auch chinesische Tonfiguren?« »Ja. Er hat sie irgendwo in Chinatown gefunden. Genau solche wie die hier.« »Schauen Sie sich das Gesicht an!« »Tolles Weib.« »Sind die anderen auch so?« »Die meines Onkels? Na ja … kann schon sein. Ich kann sie nicht so gut auseinanderhalten. Da ist auch eine mit Bart. Die hat mein Onkel am liebsten. Würde sie sogar mit ins Bett nehmen, wenn's geht. Wer weiß, wenn Tante Dolly meine Frau wäre, würde ich wahr scheinlich auch darüber nachdenken.« Ein kleines Licht erschien am Ende des Tunnels. Nichts greifba res noch, aber immerhin. »Hat Ihnen Ihr Onkel je etwas über diese Figuren erzählt?« »Was hätte er schon erzählen sollen? Oder… Warten Sie mal! Er erwähnte, glaube ich, daß es Teile einer ganzen Sammlung wären. Sie wissen schon, wie eine Briefmarkenserie. Es gibt Leute, die sie zusammentragen und dann glücklich sind.« »Ihr Onkel sagte also, es gäbe eine ganze Kollektion dieser Ton figuren…« So langsam fing ich an, ihn zu verstehen. Falls er tatsächlich das meinte, was ich annahm… Für ihn war das Thema sichtlich ausge schöpft, denn er ließ die kleine Puppe wieder los, die daraufhin in 45
Ruhe weiterbaumelte. Ich nahm sie in die Hand und riß sie von dem Bett runter, um sie in die Tasche zu stecken. Wer weiß, wozu sie noch gut sein würde? Nun richtete ich all meine Aufmerksamkeit auf Großvater. Er saß zufrieden auf der Bettkante und schien in keiner Weise seine Waffe zu vermissen. »Wo haben Sie die Pistole her?« schrie ich ihm ins Ohr. »Ich fand sie zwischen meinen Beinen«, schrie er, wenn möglich, noch lauter zurück. Diese Dezibelattacke ließ die Decke des letzten Feldbettes in Wal lung kommen, und ein erschrockenes asiatisches Gesicht starrte uns kurz darauf erschrocken an. »Rauskommen!« herrschte ich ihn an, da ich langsam genug von dem Versteckspiel hatte. »Raus da!« Ich drückte ihm zwar nicht den Lauf der Maschinenpistole in die Seite, dennoch schienen meine Worte auch so zu wirken. »Jetzt schauen Sie unter Ihre Decke!« sagte ich. »Womöglich ist da etwas…« »Was?« Er suchte, fand aber entgegen dem Sprichwort nichts. »Es ist nämlich so«, fuhr ich fort, »daß anscheinend eine gute Fee einigen von uns Geschenke hinterlassen hat. Die Waffe hier über meiner Schulter fanden wir zum Beispiel in Mr. Van Broekens Bett. Klar?!« Die Antwort stand ihm ins Gesicht geschrieben. Irgendwie stellte es sich dann doch noch heraus, daß er Kao Ven hieß, Geschäftsmann war und das in Peking gebräuchliche Chine sisch genauso mies sprach wie Englisch. In das Flugzeug war er mehr oder minder genauso gekommen wie wir. Er schaute mich an, lä chelte sein undurchdringliches Lächeln und wartete, was als nächs tes geschah.
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ir waren genug Leute und auch ausreichend bewaffnet. Aller dings nervte mich ein wenig der Umstand, daß man in einem Flugzeug, wo Überdruck herrschte, nicht so einfach nach Lust und Laune herumschießen konnte. »Hören Sie«, sagte ich schließlich. »Einige von uns werden jetzt hochmarschieren und den Dingen auf den Grund gehen.« »Genau!« freute sich der Kampftaucher. »Oder wie wir Seebären es auszudrücken pflegen, laßt uns ihnen den Passatwind ins Gesicht speien!« »Hier ist Ihr Messer. Sie können damit umgehen?!« Sein Elan schien durch meine Frage wieder etwas gebremst, was mir nicht sonderlich gefiel. »Na ja…« »Was Na ja?« »Äh, das ist ein Tauchermesser…« »Na und?« »Bisher habe ich nur Seetang damit geschnitten… Ich weiß nicht, ob ich dazu fähig wäre… Sie verstehen?« Natürlich verstand ich. Der Chinese stand auf, lächelte mich an und nahm mir das Messer aus der Hand. »Ich … glaube, ich könnte es…«, stammelte er. »Mein Gott«, erbleichte das Mädchen. »Worum geht es hier ei gentlich? Wollen Sie etwa … einen Menschen umbringen?« »Ach was«, sagte ich. »Kommt gar nicht in Frage. Wir spielen nur ein wenig Verstecken mit einer Leiche. Und mit ihrem Henker. Uns könnte leicht dasselbe Schicksal zuteil werden, wenn wir nicht auf passen. Villalobos, Sie sind doch Soldat gewesen… Ich hoffe, Sie ha ben keine Bedenken dieser Art…« »Von mir aus können wir gehen!« »Schießen Sie nur, wenn es unvermeidlich ist.« »Mir brauchen Sie nicht zu erklären, was passiert, wenn eine Boe 47
ing ein Loch bekommt…« »Und ich?« erkundigte sich Leichenfresser eingeschnappt. »Wol len Sie mich etwa auslassen?« »Sie dürfen Ihre Fäuste einsetzen. Oder das Taschenmesser von General Villalobos. Los!« Ich nahm die MP in die Hand und stellte sie auf Einzelfeuer. Vil lalobos streckte die Hand mit der Pistole vor, und wir wollten ge rade losmarschieren, als Kao Ven meinen Arm berührte. »Das wird nicht gut so«, meinte er. »Wenn jemand oben am Ende der Treppe steht…« Ich wußte auch selbst, wie viel wir damit riskierten. Aber welche Alternative hatten wir? Die Zeit rannte uns davon, und wer weiß, wie weit man uns noch verschleppen würde, wenn wir nichts un ternahmen? Und da nur eine Treppe aus dem Frachtraum führte, blieb uns auch da nicht allzuviel übrig. »Ich bin gerne der erste…«, sagte Kao Ven mit einem sanften Lä cheln auf dem rundlichen Gesicht. »Ich kann lautlos gehen. Wenn es sein muß, kann ich jedem den Hals aufschlitzen.« Mit einer fachmännischen Geste vollführte er die dazugehörige Aktion vor unseren Augen in der Luft. Jeder bessere Elitekämpfer hätte ihn darum beneidet. »Ich habe es im Koreakrieg gelernt«, erklärte er, als er meinen stau nenden Blick bemerkte. »Ich bin nur etwas aus der Übung. Wissen Sie, wer uns entführt hat? Wen ich erledigen soll?« »Jeden, der eine Waffe trägt«, antwortete ich weise. »Achten Sie vor allem auf den Pandabären.« Sein Gesicht wurde daraufhin etwas länger. »Auf wen?« Ich wiederholte meinen Rat. Er lächelte und trat zum Treppen aufgang. Ich begleitete ihn mit dem Lauf meiner Waffe, bis er aus unserem Blickfeld verschwand.
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ie lange warten wir noch?« meldete sich Villalobos ungedul dig zu Wort. »Was ist, wenn sie ihn erwischt haben?« »Immer mit der Ruhe. Lassen wir ihm etwas Zeit.« Ich lehnte mich an die Außenwand und schloß die Augen. Mein Gedankenstrom wurde plötzlich vom verzweifelten Aufruf des Teen agers unterbrochen. »Mein Gott, Mr. Lawrence!« »Was ist, Judy?« »Leichenfresser sagte gerade, man hätte hier jemanden erhängt. Ist da wirklich eine Leiche in dem Raum?« Am liebsten hätte ich dem schwatzhaften Musiker einen ärgerli chen Blick zugeworfen, aber ich wollte das Treppenende nicht aus den Augen lassen. Also ließ ich die Frage unbeantwortet. Sie flüsterten noch eine Weile, und ich dachte schon daran, bis zehn zu zählen und dann Villalobos zu bitten, mich bei meinem Marsch nach oben zu de cken, als Großvater blubbernd loskreischte. Es war ein seltsames Ge räusch, wahrscheinlich tauben Menschen vorbehalten, allerdings mit einem fordernden Unterton, der mich unweigerlich einen kurzen Blick riskieren ließ. Zuerst sah ich den Alten, der vor der geöffne ten Kabinentür stand und wie nach einer kurzen Begegnung mit einem Geist verzweifelt nach Luft rang. In der kleinen Kammer brann te eine schwache Deckenbirne, deren Licht den von Stahlplatten ein gefangenen Raum erhellte. In der Mitte der Kabine baumelte die Leiche der Stewardeß, mit dem Gesicht und der heraushängenden, bläulich verfärbten Zun ge zu uns gewendet, an ihrem Strick. Jene Leiche, die erst vor kur zem verschwunden war und die ich schon beinahe wieder als Visi on abgetan hatte. Judy schrie auf, Großvater blubberte weiterhin wie unter Wasser, Wimmer stand bloß wie versteinert da, und Lei chenfresser preßte seinen Kopf in schierer Verzweiflung gegen die 49
Wand. Ich drehte die MP wieder zur Treppe, aber nichts bewegte sich. Weder Panda noch Kao Ven erschienen am oberen Ende. Falls es den Panda überhaupt gab und man der Geschichte der anderen Stewardeß Glauben schenken konnte. Da der Chinese das große Tauchermesser mitgenommen hatte, konnte ich Wimmer nur das Taschenmesser von Villalobos über eignen. Ich ließ ihn die Tür zur Kammer verschließen und postierte ihn mit dem strickten Befehl davor, jeden in zwei Hälften zu tei len, der dort herauskam. Der leicht schwitzende Navysoldat nahm das kleine Messer in Ge wahrsam, allerdings war ihm gar nicht so wohl dabei. Schweiß perl te über seine Schläfen. Dann gab ich Villalobos das Zeichen: Vorwärts! Er seufzte und ging vor. Die Maschine vollführte eine enge Kurve, so daß ich mich am Geländer festhalten mußte. Meine andere Hand verkrampfte sich um die Maschinenpistole, und so konnte ich es auch nicht ver hindern, daß etwas Seltsames der Länge nach gegen mein Gesicht schlug. Unfreiwillig fuhr ich auf und trat einen Schritt zurück. »Was ist?« »Ich weiß nicht«, sagte ich und schob erneut die MP schützend voraus. »Irgend etwas hat mein Gesicht berührt.« »Doch nicht der Panda?« Ich dachte da eher an etwas anderes, sagte aber noch nichts. Diesmal blieb das Flugzeug ruhig, als ich die ersten Schritte auf wärts tat. Als das harte Etwas erneut gegen meinen Kopf prallen wollte, duckte ich mich mit einer eleganten Bewegung, schnappte es gleichzeitig und hielt mich daran fest. Was keine kluge Idee war, denn es hätte ja auch ein Messer sein können. Zum Glück gab es nur ein leises Surren, als ob eine Saite reißen würde, dann lag das Objekt in meiner Hand. Bereits bei der ersten oberflächlichen Untersuchung merkte ich, 50
daß es tatsächlich das war, was ich erwartet hatte. Eine kleine Tonfigur mit einem Strick um den Hals. Da stand ich nun und wußte nicht weiter. Villalobos kam neben mir an und ließ seinen Blick zwischen mir und dem Treppenende hin- und herschweifen. »Was ist das?« Wortlos reichte ich ihm das tönerne Püppchen. Er begutachtete es und fluchte dann verhalten. »Verdammt. Wo haben Sie es her?« Ich legte den Finger auf die Lippen und deutete nach oben. Dann bedeutete ich ihm, die Figur hinzulegen und mir geräuschlos zu fol gen. Es wäre mir lieber gewesen, wenn er sie sich nicht so genau angeschaut hätte, aber er tat es und legte sie dann direkt dem uns folgenden Leichenfresser vor die Füße. Oben angekommen, schickte ich erst einmal den Lauf der Waffe voraus und spähte danach in die Kabine. Nur das leise Brummen der Triebwerke störte die Stille, nichts bewegte sich. »Heilige Scheiße…«, vernahm ich von unten Leichenfressers un verwechselbare Stimme. »Noch eine Puppe? Was soll das werden, ein Museumsbesuch…? Verdammt … das sind ja Sie, General!« Im ersten Salon war niemand. Die Tür der Pilotenkanzel schien nur angelehnt zu sein. Obwohl ich meine Augen stark in Anspruch nahm, vermochten auch sie nicht den Asiaten von vorhin auszu machen. Es wäre wohl nicht sehr klug gewesen, auch nur einen Schritt nach vorne zu machen, so lange nach den klassischen Regeln des Anpirschens nicht jemand mit hundertprozentiger Sicherheit un seren Rücken freihielt. Ich machte aber einen Schritt und dann sogar noch weitere. Bei der Tür angekommen, sah ich bereits die leuchtenden, blin kenden Instrumentenkonsolen vor mir und auch mich, wie ich mit heldenhaftem Mut meine Waffe auf den Phantompiloten richtete. All dies, ohne die Absicherung durch den General abzuwarten. Es wäre sicherlich ein Bild für die Götter gewesen, wenn es sich so abgespielt hätte. 51
Leider wurde nicht viel daraus. Gerade wollte ich den Lauf wie gehabt vorausschicken, als plötz lich zwischen den Reihen hinter mir ein bunter Schatten hervor sprang, und bevor ich mich richtig umsehen konnte, steckte auch schon ein ziemlich hartes Etwas zwischen meinen Rippen. Wie aus einem besseren Zeichentrickfilm ertönte die Stimme von Papa Panda. »Pfoten hoch!« Ich ließ die Maschinenpistole fallen und faltete meine Hände hin ter dem Nacken zusammen. »Drei Schritte zurück!« Folgsam kam ich auch diesem Befehl nach. »Sie können sich umdrehen!« Also drehte ich mich um. Der Anblick kam nicht gerade überraschend, dennoch schockierte er mich ein wenig. Es war ein hochgewachsener Pandabär, der mir gegenüberstand und eine MP auf mich gerichtet hatte, die der äh nelte, die ich eben fallen gelassen hatte. »Setzen!« schlug er vor und deutete zur Unterstützung mit dem Lauf auf den auserkorenen Platz. Da weder Villalobos noch Lei chenfresser am Horizont auszumachen waren, kam ich der freund lichen Bitte natürlich nach. Der Panda hockte sich mir gegenüber hin und beobachtete mich eine ganze Weile wortlos. Es war ein wirklich tolles Kostüm und hätte bei jedem Maskenball einen Platz auf dem Siegertreppchen errungen. Er ließ dabei den großen, bunten, runden Kopf wie ein echter Bär freundlich hängen. Es hätte mich interessiert, ob die Ver kleidung aus echtem Pandafell hergestellt worden war. Der Panda war natürlich nur zur Hälfte ein Panda; besser gesagt, bis zur Hälfte der Oberschenkel. Von da an übernahmen schwar ze Leggings die Funktion der Verkleidung und endeten in ebenso schwarzen, weichen Lederstiefeln. Ich begutachtete ihn ziemlich genau, und auch er blieb mir in nichts nach. Dabei wartete ich natürlich darauf, daß der General auftauchte 52
und die Zirkusnummer beendete. Irgendwo im Olymp hatte man mich wohl erhört, denn Villalobos tauchte tatsächlich auf. Aber ir gend etwas lief mit meinem guten Draht zu den griechischen Göt tern schief, denn er war nicht alleine. Die Hände über dem Kopf führte er einen weiteren schwerbewaffneten Panda in meine Rich tung. Ich schloß schnell die Augen und machte sie wieder auf. Die Fata Morgana hatte sich insofern verändert, daß zwar mein Bär mir im mer noch gegenüber saß, Villalobos mit seinem jedoch verschwunden war. »Überrascht?« erkundigte sich plötzlich mein Gastgeber und lach te mit einem rauhen, tiefen Ton auf. »Ein wenig«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Keine Angst. Es wird niemandem etwas passieren.« Er schaute auf das linke Handgelenk, als ob er seine Uhr zur Rate ziehen wollte, merkte aber noch rechtzeitig, daß sein Blick ledig lich auf den schwarzen Handschuh fallen würde. »Ich muß Ihnen etwas gestehen«, sagte er und wippte belustigt mit seinem Kopf. »Wir haben Sie an Bord geholt.« »Schau an. Und weshalb?« »Wir brauchen Sie.« »Wer wir?« »Haben Sie von Kaiser Huan-Ti gehört?« »Nehmen wir einmal an, ja.« »Also ja. Gut. Sicherlich kennen Sie auch die Legende der Ton armee.« »Nur oberflächlich. Wer sind Sie?« »Das werden Sie noch rechtzeitig erfahren. Ich möchte Ihnen noch einmal versichern, daß weder Ihnen noch den anderen Fluggästen irgend etwas passieren wird.« Ich versuchte, etwas Ruhe auf meine Züge zu zeichnen. »Wenn Sie mir verraten würden, worum es geht, kämen wir viel leicht weiter.« Traurig schüttelte er den Pandakopf. 53
»Dafür haben wir leider keine Zeit. Wir sind bald da.« »Wo?« »In Laos, wo man uns helfen wird.« »Sie sind ja verrückt! Abgesehen von einem kurzen Aufenthalt in Vientiane vor zehn Jahren gibt es nichts, was mich mit Laos ver binden würde! Da haben Sie aber einen gewaltigen Fehler gemacht!« Er schaute sich aufgeregt um, als ob er ernsthaft über meinen Ein wand nachdenken würde, und überraschte mich dann mit der Fra ge: »Wer hat die Stewardeß umgebracht?« »Sie! Oder?« »Wo ist die Leiche?« Nun verstand ich gar nichts mehr. »Unten in der kleinen Kammer«, sagte ich. »Im Frachtraum, na türlich.« »In welcher Kammer?« »Na, in der Kammer! Unten!« In diesem Moment schwankte das Flugzeug, und mir war so, als ob auch die Motoren kurz ausgesetzt hätten. Es gab ein gewaltiges Rütteln unter uns, und irgendwo schrie eine Frau kurz auf. Der Panda sprang auf und klemmte die Waffe unter den Arm. »Ist die denn verrückt geworden?!« rief er und war ohne ein wei teres Wort mit zwei Sätzen in der Pilotenkabine verschwunden. Er riß die Tür hinter sich zu, und ich hörte das Schloß einschnappen. Den nächsten Satz wiederum machte ich. Noch im Verfolgungsflug riß ich meine MP vom Boden. Als ich an der verschlossenen Tür ankam, mußte ich meinen Elan bremsen. Selbstverständlich ließ sie sich nicht öffnen. Einen Moment lang dachte ich daran, das Schloß mit einem Schuß zu demolieren, überlegte es mir dann aber anders. Vor allem, da im mer mehr klar wurde, daß etwas mit den Motoren nicht stimmte. Das ständige Knacken in meinen Ohren deutete darauf hin, daß wir ziemlich schnell an Höhe verloren. Also schulterte ich die Waffe wieder und trabte in Richtung Treppe. Im Aufgang stolperte ich über 54
Villalobos, der auf allen vieren über einem Pandabären kauerte. Lei chenfresser beobachtete die beiden mit vor der Brust verschränk ten Armen und ließ seine lila Mähne freudig herumtanzen, als er mich entdeckte. »Ah, hallöchen! Stürzen wir ab?« Er war kaum bei Sinnen, genauso übrigens wie ich selbst. Lediglich Villalobos zeigte keine Anzeichen von Furcht oder auch nur Un ruhe. Er zupfte die Enden seines Schnurrbartes zurecht und deu tete dann mit dem Schalldämpfer auf den Bären. »Der ist alle! Kaputt. Finito.« Der Maskierte lag vor der Treppe, die Füße baumelten über der obersten Stufe. Unter dem Pelz sickerte rotes Blut hervor, und zwei Löcher verrieten, wo die Kugeln in seinen Körper eingedrungen wa ren. Eines davon war in etwa an der Stelle, wo unter dem Kostüm sein Herz sein mußte. »Waren Sie das?« Sein Schnurrbart erzitterte. »Ach was! Ehe ich zu mir kam, war er schon tot. Alles ging so schnell, daß ich es gar nicht bemerkt hatte. Plötzlich fiel er auf mei nen Rücken und dann zu Boden. Beinahe hätte er Mr. Leichenfresser von der Treppe runtergestoßen.« »Richtig«, bestätigte der Musiker. »Der andere Panda hat auch nichts gemerkt«, murmelte ich. »Was?« »Haben Sie mich denn nicht gesehen?« »Sie? Nein! Aber ich hatte Sie gesucht! Übrigens, wo waren Sie denn überhaupt? Und wieso hat er Sie nicht erwischt?« wurde er mißtrauisch. »Keine Angst, auch mich hat man geschnappt, nur war das ein anderer Panda.« »Ein anderer?« zog er die Augenbrauen zusammen. »Wollen Sie etwa sagen, es gibt noch mehr von denen auf diesem Flugzeug?« »Mindestens zwei.« Wieder sackte die Maschine ab, wieder mußte ich schlucken. 55
»Also sind da noch weitere im Flugzeug…«, konstatierte er. »Als ob einer von ihnen nicht genug wäre. Aber diesen hier habe nicht ich umgebracht! Hier, riechen Sie die Pistole!« Er hielt sie hin, ich roch, und man hatte wirklich nicht mit ihr geschossen. Nun gab es also einiges zum Nachdenken. Lediglich die Zeit fehl te mir dazu… »Wo sind die anderen?« »Wo sie bisher auch waren. Unten.« »Kao Ven ist nicht aufgetaucht?« »Nicht daß ich wüßte. Sie haben ihn auch nicht getroffen?« wand te sich der General an Leichenfresser. Der Musiker schüttelte den Kopf. Als ob sie diese Aussage belohnen wollte, hörten die unruhigen Bewegungen der Maschine auf, das Rütteln erstarb, und die Mo toren summten wieder wie vorher. »Also überleben wir es doch?« fragte Leichenfresser ungläubig. Wenn ich gewußt hätte, wieviel Treibstoff eine Boeing 727 bun kern konnte und was davon als Verbrauch pro Stunde in Schubkraft umgewandelt wurde, hätte ich ausrechnen können, wieviel Zeit uns noch in der Luft blieb. Da aber nur lauter unbekannte Faktoren in einer imaginären Gleichung standen, gab ich diesen Kampf erst ein mal auf. »Was machen wir mit ihm?« deutete der General auf den Panda. »Sollten wir nicht nachsehen, wer es ist?« Das Flugzeug schien ruhig weiterfliegen zu wollen, also war es wohl im Moment egal, womit wir uns beschäftigten. Ich machte mir an der Maske zu schaffen, was sich aber beim ers ten Anlauf als gar nicht so einfach erwies. Kopf- und Oberteil wa ren mit einer mir unbekannten Technik ineinander verankert, und sie wollten sich einfach nicht lösen. Leichenfresser kniete sich da neben, schaute eine Weile interessiert zu, was ich so alles veranstaltete, und schob schließlich, als ich immer nervöser an den Enden des Kostüms zupfte, meine Hände beiseite. Mit einem einzigen Griff 56
löste er die erste Klammer. »Es ist genauso wie bei den Gitarrenkoffern. Mit solchen Klam mern werden sie verschlossen.« Der Anleitung nach öffnete ich alle anderen der Reihe nach und riß dem Panda schließlich mit einem einzigen, bestimmten Ruck die Maske ab. Ich wußte nicht, wen ich unter dem Pandakopf fin den würde. Wegen des Verzerrmikrofons vor dem Mund hätte mei ner zum Beispiel sowohl ein Mann als auch eine Frau sein können. Darauf jedoch, was mich als Anblick erwartete, war ich in keiner Weise vorbereitet. Genausowenig, wie Villalobos oder Leichenfresser. Vor uns lag nämlich die Leiche des getöteten Kao Ven im Pan dakostüm. Der Musiker brachte kein Wort heraus, winkte einfach nur ab und rutschte neben dem Toten auf den Boden. Inzwischen war er Licht jahre von seiner Angst vor Leichen oder abstürzenden Flugzeugen entfernt. Er resignierte wie ein buddhistischer Mönch, der nach fünf undzwanzig Jahren Meditation von seinem Lehrer erfährt, dies wäre erst die erste Hälfte des vorgesehenen Zeitraums gewesen. Villalobos hingegen fluchte, auf französisch und ziemlich ab wechslungsreich. Ich selbst nahm wieder einmal die Wand als küh lende Stütze und preßte meine Stirn gegen das Metall. Langsam wur de es wirklich Zeit, aus diesem absolut unwirklichen Alptraum zu erwachen! Ich riß mich am schnellsten zusammen, warf die MP über den Rücken und ergriff die Beine des Chinesen. Dann gab ich Leichen fresser einen Wink, ihn unter den Armen anzuheben. Der Musiker nickte und stellte sich ausnahmsweise als Leichenträger auf Zeit zur Verfügung. Als wir mit dem als Panda verkleideten toten Kao Ven unten am Ende der Treppe ankamen, schlug uns nicht gerade Freu de entgegen. Judy schrie wie am Spieß, Wimmer und Van Broeken blickten uns ungläubig und ziemlich wortlos an. Nur Großvater sprang wie ein junges Kalb übermütig zu uns rüber und schien sich außerordentlich zu freuen, daß er den Chinesen wiedererkannte. 57
»Kao Ven! Hehehe! Wie kommt der in diese Maskerade?« »Keine Ahnung«, sagte ich. »Aber er ist tot.«
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udy nahm sich zusammen und kam, vorsichtig einen großen Bo gen um die Toten machend, zu mir herüber. »Sagen Sie mal«, begann sie, »haben wir irgendeine Chance, hier heil wieder herauszukommen?« »Chancen gibt es immer«, sagte ich, und nicht nur in Gedanken fügte ich hinzu, daß es diesmal eine nicht mal so kleine sein dürf te. »Um Himmels willen! Aber warum…? Was wollen die denn von uns?« »Da oben hat mich vor etwa fünf Minuten auch ein Panda erwischt. Er sagte, uns würde nichts passieren. Ich glaube ihm.« »Blödsinn«, meinte Wimmer. »Die wollen uns als Geiseln. Und fliegen mit uns in den Nahen Osten. Mit Sicherheit.« »Ich habe da eine andere Vermutung«, antwortete ich. »Eine andere?« hakte Judy nach, und ich hörte aus der weinerli chen Stimme ihre Verzweiflung heraus. »Was sonst? Das sind doch hier lauter Verrückte. Wahrscheinlich Drogensüchtige… Die werden uns alle umbringen!« »Na, da werde ich wohl auch noch ein paar Wörtchen mitreden«, sagte ich und kniete mich neben Kao Ven nieder. Eine ganze Wei le betrachtete ich sein rundliches, nun blutverschmiertes Gesicht in der Hoffnung, es würde mir noch etwas mitteilen. Im übertra genen Sinne, natürlich. Dann stand ich wieder auf und rieb mir die Augen. »Die Variante von Miss Judy wäre sicherlich die einleuchtendste. 58
Verrückte oder Fanatiker. Nur fällt ihnen im Traum nicht ein, uns etwas anzutun. Merken Sie es denn nicht? Kein Mensch kümmert sich hier um uns! Als ob wir gar nicht an Bord wären. Warum wohl?« »Ja, warum?« fragte Van Broeken. »Weil sie mit sich selbst zu tun haben.« »Mit sich selbst? Die Pandas?« »Jemand hat Kao Ven ermordet. Und er war ein Panda, nicht?« »Na und?« »Ich werde das Gefühl nicht los, daß wir hier unverhofft in etwas reingeraten sind. In eine große Sache. Auf der einen Seite stehen die Pandas, auf der anderen jemand anders.« »Natürlich. Alles klar«, meinte Villalobos ironisch. »Doch, es stimmt! Die Pandas wollten wohl die Maschine ent führen.« »Wollten?« »Nur eine Vermutung. Andere wiederum wollen sie anscheinend daran hindern. Und wir sitzen hier genau zwischen zwei Fronten… Übrigens, wie hat man Sie denn überhaupt geschnappt?« Er zupfte wieder an seinem Bart und kratzte sich dann am Hin terkopf. »Weiß ich nicht. Ich war gerade oben angekommen, als er plötz lich neben mir stand. Der Panda … ich meine, Kao Ven erschien neben mir und hielt mir die Pistole in den Rücken. Natürlich wuß te ich da noch nicht, wer er war. Er sagte kein Wort, winkte nur mit der Pistole, daß ich ins Abteil eintreten soll. Und dann lehnte er sich plötzlich an mich und fiel kurz darauf hin. Jemand hatte ihn erschossen.« »Haben Sie nichts gehört?!« »Sie meinen, einen Schuß? Keine Spur. Nicht mal ein leises Plopp… Es war doch sicher ein Schalldämpfer, nicht wahr?« Die Motoren dröhnten wieder lauter, als ob der Pilot bremsen wür de. »Wollen wir es noch einmal versuchen?« fragte Villalobos. Beinahe hätte ich zugestimmt, als mir die kleine Kabinentür ein 59
fiel. Wimmer stand immer noch davor, mit dem Taschenmesser des Generals in der Rechten. Ich ging zu der Tür, drückte auf den Ein laßknopf und schielte in den Raum. Dabei bückte ich mich ein we nig, damit mich die Füße der Stewardeß nicht trafen. Aber das war überflüssig. Das Mädchen war nicht in der Kabi ne. Dafür aber ein zweiter Panda, in der gleichen Maske, wie Kao Ven eben. Er lag in der Ecke, mit Wimmers Tauchermesser in der Brust.
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udy begrub ihr Gesicht in den Händen und schrie, Großvater streckte den Hals, um soviel wie möglich mitzubekommen, und Wimmer fing mit einem lauten Schluckauf an. Ich spürte einen leich ten Druck hinter den Ohren und einen stechenden Schmerz im Hin terkopf. Beides verhieß nichts Gutes. Ich schnappte mir Villalobos und drehte ihn zur Treppe. »Nur hierhin schauen, mein General! Was immer passiert, drehen Sie sich nicht um! Und wenn da oben jemand mit einer Waffe er scheint, versuchen Sie, ihn zu erwischen!« Was kümmerten mich da noch Überdruck und stockende Trieb werke! Womöglich hatte Judy gar nicht so unrecht, und wir waren in den Händen gemeingefährlicher Psychopathen. Ich preßte mich in den engen Raum, griff dem Panda unter die Arme und zog ihn raus. Sie umringten uns wie Passanten die Op fer eines Verkehrsunfalls. »Schnell! Nehmen Sie seine Maske ab, Leichenfresser!« Der Musiker kniete sich neben uns nieder und löste mit fach männischen Griffen die Klammern des Anzuges. Ein dünnes, asiatisches Gesicht kam zum Vorschein, mit Brille 60
unter den buschigen Augenbrauen. Ich hätte schwören können, daß es derselbe Mann war, der vor der Pilotentür einige Minuten zuvor gefragt hatte, ob etwas nicht stimmte. Und was ich von der Besatzung denn wolle. Nachdem ich mich vergewissert hatte, daß er tot war, sprang ich in den engen Raum zurück. Ich suchte so lange, bis ich in Form eines kleinen Schaltkastens fündig wurde. Der General bewegte sich in der Zwischenzeit, wie ich es befohlen hatte, nicht von der Stel le. Er starrte regungslos auf den Treppenaufgang. »Sehen Sie sich die Kabine an!« sagte ich und richtete nun mei nerseits die MP auf den Ausgang. »Wonach soll ich suchen?« »Interessiert es Sie nicht, wie aus der Leiche der Stewardeß ein Pan da wurde?« »Wissen Sie was? Nein!« An seiner Stimme merkte ich, daß auch er bald die Nerven ver lieren würde. Mein Gott, hatte hier denn keiner mehr seine Sinne beisammen?! »Die Kabine ist eine Art Lastenaufzug«, erklärte ich. »Sie fährt zwi schen diesem Frachtraum und dem Abteil über uns auf und ab. Ich bin erst jetzt drauf gekommen.« »Gratuliere.« Ich ergriff seinen Ellbogen und zog ihn näher zur Treppe hinü ber. »Hören Sie, General! Wir müssen etwas unternehmen! Als ich da oben war, hatte mich einer der Pandas erwischt. Er sagte, wir wür den bald ankommen.« »Ankommen? Wo?« »In Laos. Und wenn wir erst einmal gelandet sind, ist alles vor bei. Was diesen Flug angeht, meine ich.« »Ich verstehe Sie nicht…« »In Laos gibt es, abgesehen vielleicht von der Hauptstadt, keinen Flughafen, der groß genug wäre, um mit solch einer Maschine si cher landen zu können.« 61
»Mein Gott!« »Wenn sie landen … und das wollen sie … dann wird dieses Flug zeug am Boden zerschellen!« »Landen? Aber wer?« »Woher soll ich das wissen? Die Pandas. Oder diejenigen, die hin ter ihnen her sind. Wir müssen das Unmögliche versuchen!« »Und zwar?« »Die Crew schnappen. Oder befreien. Wie auch immer. Und dann die Maschine nach Bangkok zurückbringen.« »Und wenn der Treibstoff nicht mehr reicht?« »Darüber sollten wir uns vorerst keine Gedanken machen. Ich rech ne es mir so aus, daß wir sie von zwei Seiten umzingeln.« »Wen?« »Sowohl die Pandas als auch die anderen. Jeder ist hier unser Feind. Schließlich geht es um unser Leben!« Er rieb seine Augen und seufzte resigniert auf. »Okay, raus damit. Was sollen wir tun?« »Holen wir die anderen.« Sie standen immer noch um den Toten herum. Judy schluchzte und seufzte gleichzeitig; vielleicht ein wenig zu intensiv. Großva ter schien unbeeindruckt. Nachdenklich trompetete er mit seiner Nase in ein Taschentuch, so daß es zeitweilig sogar das Dröhnen der Motoren übertönte. Was er selbst natürlich nicht im gerings ten zu merken schien. Wimmer starrte unentwegt auf den Griff sei nes Messers, als ob er darüber nachdenken würde, ob er es jemals wieder in die Hand nehmen könnte. Ich mußte innerhalb von Se kunden eine Entscheidung treffen. Und so nahm ich mir vor, al les auf eine Karte zu setzen.
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eine erste Tat war wohl so etwas wie ein Scheidepunkt in der Sache. Ohne ein Wort trat ich zu der Leiche, stemmte mei nen Fuß gegen den Bauch, drehte sie so auf die Seite und zog mit einem schnellen Griff das Messer aus dem Körper. Ich blickte die anderen nicht an, vernahm nur ihren keuchenden Gruppenatem. Als ich den Knauf schon in der Hand hielt, fiel mir ein, daß ich eigentlich weder die eventuellen Fingerabdrücke abwischen noch mei ne eigenen anbringen sollte. Innerlich winkte ich aber schon im sel ben Moment ab und gab das Messer dem untätig herumstehenden Leichenfresser. »Sie kommen mit mir!« »Und wir?« keuchte mir Judy ins Ohr. »Ich bleibe nicht hier, da rauf können Sie Gift nehmen!« »Wir werden die Treppe benutzen. Sie fahren nacheinander mit dem Aufzug hoch. Villalobos und Wimmer gehen vor!« »Und ich?« fragte Van Broeken. »Sie kommen mit uns! Leichenfresser und ich schleichen uns vor, und wir treffen uns oben bei dem Aufzug!« Weder ein Panda noch eine Maschinenpistolensalve erwartete uns am Ende der Treppe. Das erste Abteil war vollkommen leer, bis hin zur Pilotenkabine. Ich sprintete hin, klopfte mit meiner Waffe an. Erneut gab ich mich der Idee hin, einige Kugeln ins Schloß zu schießen, aber auch diesmal hielt mich irgend etwas zurück. Wenn ich per Zufall den Piloten treffen würde… Um den Aufzug zu er reichen, mußten wir ein weiteres Abteil passieren. Damit es keine unnötige Panik gab, versteckte ich die Waffe unter meinem Jackett, und Leichenfresser schob das Messer in seine Gesäßtasche. Inzwischen waren es fünf Personen, die sich in diesem Teil des Flugzeuges aufhielten. Neben den beiden Tennismädchen und der älteren Dame waren noch ein rundlicher Mann und ein rothaari 63
ger junger Typ in Schlaf versunken. Die Augen blieben auch nach unserer Ankunft geschlossen, und ich vernahm ihr leises, gleich mäßiges Atmen selbst neben den Triebwerkgeräuschen. Weder Ste wardessen noch Pandabären lümmelten in ihrer Umgebung herum. Den Aufzug entdeckten wir in genau demselben Moment, als er oben ankam. Zuerst schob sich die Waffe von Villalobos aus der eingelassenen Tür, dann sein Kopf und schließlich das gequälte Ge sicht von Wimmer, der mit weißen Knöcheln das Messer umkrampfte. »Verdammt«, fluchte der General und ließ seinen Blick über den Passagierraum schweifen. »Ich dachte schon…« Was er dachte, sollte ich nie erfahren. Eines der beiden weißge kleideten Mädchen stand nämlich auf und sah uns. Mit einem schril len Schrei sank sie sofort wieder in ihre Polster zurück. Villalobos wollte fortfahren, aber aus den Lautsprechern ertönte in diesem Moment eine angenehm warme, auf Beruhigung ausge legte Frauenstimme. »Wir bitten unsere werten Fluggäste, die Sicherheitsgurte anzulegen. Unsere Maschine setzt zur Landung an. Bitte stellen Sie das Rau chen ein, und bleiben Sie auf Ihren Plätzen, bis das Flugzeug voll ständig zum Stillstand gekommen ist! Vielen Dank.« Ich sprang zum nächsten Fenster und zog die Gardine beiseite. Als ich unter uns die immer größer werdenden Berge und den hoff nungslos grünen Urwald entdeckte, wurde mir klar, daß wir über haupt, aber auch wirklich überhaupt keine Chance mehr hatten. Dieses Flugzeug würde nie wieder nach Bangkok zurückfliegen.
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ch weiß nicht, ob Sie schon einmal eine Notlandung einer Boe ing auf einer taschentuchgroßen Landebahn mitgemacht haben.
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Ich für meinen Teil hatte mir zwar vorgenommen, die Augen bis zuletzt offen zu halten, trotzdem gab es einige Sekunden, in denen ich sie schließen mußte. Wenn die Maschine auch einen Piloten hatte – und selbst das schien mir in den letzten Minuten nicht mehr so sicher zu sein –, so küm merte es ihn doch äußerst wenig, sie rüttelfrei zu halten. Oder auch nur die minimalsten Sicherheitsvorschriften einzuhalten. Wir kurvten zwischen den riesigen Bergspitzen herum wie ein Schweizer Bergwachthubschrauber. Das Problem bestand lediglich darin, daß es sich hierbei um eine Boeing 727 handelte; um einen Elefanten im Mauseloch. In einem Moment versperrten hohe Ber ge die Sicht, und der Bauch des Flugzeuges schien sie hauchdünn zu berühren, im anderen schwebten die Räder wieder über riesigen Tälern – falls wir überhaupt noch so etwas wie Räder hatten. Der Phantomkapitän schien aber zu wissen, was er tat. Schon daß wir die letzten fünf Minuten nicht gegen eine Bergkuppe geprallt waren, grenzte an ein Wunder. Danach aber gelangten wir in ein Becken, aus dem es kein Entrinnen mehr zu geben schien. Wohin ich auch blickte, überall ragten Berge in die Höhe. Und wir waren immer noch schnell, viel zu schnell. Was dann passierte, hat sich nur als lückenhaftes Daumenkino in meinem Gehirn verewigt. Das Monstrum verlor an Geschwindig keit und Höhe. Anscheinend gab es doch noch Räder, denn ich spür te die Hydraulik erbeben, als sie sie ausfuhr. Die Boeing schien die Hände des Piloten abschütteln zu wollen, so widerspenstig rüttel te sie uns durch. Sie zitterte, die Motoren brausten zu einem unir dischen Dröhnen an. Dies war wohl auch der letzte Moment gewesen, den wir noch in der Luft verbracht hatten. Die Triebwerke wurden plötzlich wie der leiser, die riesige Maschine prallte auf den Boden. Grüne Zwei ge peitschten gegen die Scheiben, ein gewaltiges Krachen vom Heck her drang in mein Bewußtsein; eine gewaltige Staubwolke verdun kelte die Sonne, brechende Palmen winkten mir traurig zu. Als es schließlich vorbei war, lehnte ich mich gegen den Sitz vor 65
mir. Meine Beine zitterten, der Schweiß rann mir in die Augen. Aus einem der Gepäckhalter fiel eine Handtasche etwas verspätet zu Bo den. Plötzlich erschien Villalobos neben mir. »Was ist passiert?« »Nichts«, antwortete ich und versuchte, aufzustehen. »Wir sind wohl gelandet.« Inzwischen hatten sich auch schon die anderen bei mir versam melt. Nur Van Broeken, das Mädchen und ihren Großvater konn te ich nirgends entdecken. Es war still, gespenstisch still. Weder draußen noch im Flugzeug hörte man ein Geräusch. Eines der beiden Tennismädchen erhob sich, lächelte mich ir gendwie schuldbewußt an. Sie wollte etwas sagen, schluckte es aber herunter. »Nun?« fragte der General. »Was jetzt?« »Schnell zum Cockpit!« Ich rannte voraus, hinter mir Villalobos, gefolgt von Leichenfresser und Wimmer, abwechselnd mit Messer oder Pistole bewaffnet. Wir rannten so lange, bis ein aus den Reihen plötzlich heraus gestrecktes Bein meinen Lauf in einen Flug umwandelte. Der Tep pichboden raste mit erschreckender Geschwindigkeit auf mein Ge sicht zu, und ich spürte, wie jemand auf meinem Rücken landete. Dann hörte ich einen kurzen Aufschrei, und es wurde dunkel vor meinen Augen. Als ich wieder zu mir kam, schmerzte mein Hinterkopf wie wild, und ich konnte kaum atmen. Auch die Augen wollten sich nicht öffnen. Oder besser, sie wollten, aber es nützte nichts, denn irgend etwas versperrte die Aussicht. Als ich es zur Seite schieben wollte, erreichte ich damit nur, daß es noch schwerer auf meinem Kopf las tete. Befreit davon wurde ich letztlich, als eine entschlossene und star ke Hand es von mir nahm. Endlich konnte ich aufblicken. Zuerst entdeckte ich, wie schön 66
die Decke des Flugzeuges eigentlich bespannt war, und dann, wie nett ein strahlendes, gerötetes Sommersprossengesicht aussehen könn te. Wenn es mir nicht über dem Lauf meiner eigenen MP zulächeln würde.
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tehen Sie auf!« sagte eine eigentlich freundliche Stimme. »Und schön die Hände hoch, sonst gibt es ein paar Löcher!« Keuchend kam ich in die Höhe, wo mich schon Villalobos, Lei chenfresser und Wimmer mit erhobenen Händen erwarteten. Unsere Peiniger hätten eigentlich genauso in einen alten Kla maukfilm gepaßt wie wir. Der lange, rotgesichtige Junge, der mich mit meiner Waffe bedrohte, hätte gar nicht so schlecht abgeschnitten, wenn er nicht ständig gegrinst hätte. Und dafür die MP beiseite ge legt hätte… Mit Waffe sieht leider jedes schiefe Lächeln ein wenig bedrohlich und gekünstelt aus. Hinter ihm stand als Verstärkung der Rest der Passagiere: Die zwei weißen Mädchen, die alte Dame mit dem verrutschten lilafarbenen Hut und der Dicke. Ich hätte auf lachen müssen, wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre. »Werden Sie mit mir verhandeln?« fragte der Rothaarige und setz te sich auf eine Armlehne. »Vorerst habe wohl ich die besseren Kar ten in der Hand.« »Das sehe ich«, erwiderte ich. »Was wollen Sie?« »Was wollen Sie? Teilen Sie mir Ihre Bedingungen mit!« »Geben Sie mir meine Waffe zurück!« »Ich bin doch nicht blöd! Wo sind wir?« Unfreiwillig schielte ich aus dem Fenster. Eine traurige Palme und ein Stückchen blauer Himmel mußten vorerst als Aussicht auf das 67
Paradies reichen. »In Laos«, sagte ich. Die Maschinenpistole in seiner Hand bebte, eines der zwei Mäd chen schrie auf, was bei ihnen wohl einfach zum Leben dazugehörte, und sank wieder einmal in einen Sitz zurück. Ihrer Freundin klapp te der Unterkiefer runter, und sie starrte mich mit unschuldigen, aber ziemlich verwirrten blauen Augen an. Ich dachte krampfhaft darüber nach, was ich tun sollte. Es könn te Stunden dauern, bis ich Rotschopf überreden würde, uns in Ruhe zu lassen. Und zwischenzeitlich… Nein, ich mußte einfach versuchen, ihm gut zuzureden! »Hören Sie, Mann! Wir sitzen hier in einer notgelandeten Maschine, die jeden Moment explodieren kann! Wir müssen hier verschwin den, so schnell wir nur können! Außerdem sind noch Leute unten im Frachtraum! So verstehen Sie doch endlich, das hier ist kein Spiel!« Ich glaube, er hätte Vernunft angenommen, wenn nicht plötzlich einer der Teenager in Panik verfallen wäre und lauthals losgeschrien hätte. »Das stimmt nicht! Glauben Sie ihm ja nicht!« rief sie aus der De ckung ihres Sitzes. »Die wollen uns umbringen! Erschießen Sie sie!« Der Finger des Rothaarigen am Abzug bebte nervös. Mein Herz wurde plötzlich sehr schwer. Zu oft schon hatte ich miterlebt, was ein Amateur in Panik alles vollbringen kann. Gerade war ich soweit, mich ungeachtet der Gefahr auf ihn zu wer fen, als auf einmal der Vorhang des Abteils zur Seite gezogen wur de und in einem in Mitleidenschaft gezogenen blauen Anzug eine wohlproportionierte Dame mit blutverschmiertem Gesicht und ver drecktem blonden Haar auftauchte. Als sie Rotschopf entdeckte, fuhr sie auf, griff in ihre Tasche, holte eine kleine Pistole hervor und ziel te damit auf ihn. »Lassen Sie sie fallen, sonst…« Dann torkelte sie, ließ ihr Schießeisen los und fiel mit einem dump fen Aufprall zwischen zwei Sesselreihen. Im plötzlichen Durcheinander riß ich meinem Gegenüber die Ma 68
schinenpistole aus der Hand. Er griff ihr zwar der Ordnung halber hinterher, mußte aber einsehen, daß nun ich am Drücker war. »Immer mit der Ruhe, junger Mann! Helfen Sie lieber der armen Frau da drüben!« Mit dem Lauf deutete ich auf unseren ohnmächtigen Retter. Vil lalobos war an mir vorbeigerannt und kniete bereits neben ihr. Die beiden Mädchen kreischten jetzt im Chor, die alte Frau hatte ihre Mütze verloren. Leichenfresser stand dicht neben mir, mit dem Tau chermesser in der Hand. Ich ergriff seinen Arm und zerrte ihn mit mir. »Kommen Sie!« »Wohin?« »In den Frachtraum!« Villalobos war inzwischen dabei, die Bekleidung der jungen Frau etwas zu lichten. Gerne hätte ich diesen Teil von ihm übernommen, aber irgend etwas trieb mich nach unten. Kao Ven lag immer noch dort, wo wir ihn hingelegt hatten, und auch der andere Pandabär hatte seine Position trotz der harten Lan dung seltsamerweise nicht verändert. Großvater saß neben Judy auf deren Bett und lächelte unentwegt. Judy sagte kein Wort, aber ich sah ihr an, daß sie längst nicht mehr wußte, wo wir uns befanden: in der Hölle, im Himmel oder immer noch irgendwo dazwischen. Ich trat zu ihr und nahm ihre Hand. Sie war kalt und trocken. »Wie geht es Ihnen, Judy?« Sie blickte mich an, und lehnte sich an meine Brust. Dann fing sie an zu weinen, mit einem schnellen, jugendlichen Schluchzen. Ich streichelte ihren Rücken und wartete, daß sich der Sturm wie der legte. Etwa fünf Minuten dauerte er, dann schaute sie mich mit tränennassem Gesicht an. »Was ist passiert?« »Wir haben es überlebt. Der Boden hat uns wieder.« »Wo?« »Wahrscheinlich in Laos. Aber es könnte auch China sein … oder Thailand.« 69
»Was?!« »Ich weiß nicht. Wir sind in einem Wald gelandet. Wir müssen jetzt schnell das Flugzeug verlassen. Kommen Sie!« Ich trieb sie zur Eile an, obwohl mir langsam klar wurde, daß dies überflüssig war. Wenn die Maschine bis jetzt nicht in die Luft ge flogen war, würde wohl auch später nichts mehr daraus werden. Leichenfresser zwängte sich neben mich, nahm meine Hand von ihrer Schulter und legte dafür seinen Arm um sie. Judy schien den Wechsel sehr zu begrüßen. Ich seufzte und begann, mich mit Großvater zu beschäftigen. »Sind Sie okay, Mr. äh…?« »Einen Dreck! Was für blöde Reifen haben denn diese Dinger heut zutage? Wo sind wir denn gelandet, hä? Auf einem Ackerfeld?« »Können Sie mitkommen, Großvater?« »Natürlich kann ich das! Sie müssen mich nur am Ellbogen stüt zen.« Als wir oben angekommen waren, überließ ich den Alten Villa lobos. Von zerfetzten Uniformen sah ich plötzlich zwei, aber da für hatte ich jetzt keine Zeit. Ich rannte zurück in den Frachtraum. Er war irgendwie seltsam trostlos, so ganz leer und ohne Leben. Die herumgefallenen Kofferberge wiesen darauf hin, daß auch hier unten die außergewöhnliche Landung ihre Zeichen hinterlassen hat te. Ich nahm all meinen Mut zusammen und drückte auf den Knopf des Aufzuges. Die Tür öffnete sich, und es passierte genau das, was ich erwartet hatte. Die blauen, starren Augen der toten Stewardeß blickten mich vor wurfsvoll an. Ich trat ganz nah an sie heran, so nah, wie es die Ver hältnisse nur erlaubten. Ein seltsamer, fernöstlicher Duft erreichte meine Nase, von dem mir ganz leicht übel wurde. Sie war eine dünne, feingliedrige Gestalt, kaum mehr als fünfzig Kilo schwer. Die Spitzen ihrer Seidenschuhe kratzten über den Bo den, die langen, schwarzen Haare fielen wirr über ihren Rücken. Vor kaum einer Stunde noch war sie eine äußerst attraktive junge Frau gewesen; das konnte ich ja selbst bezeugen. Welchen Veränderun 70
gen ein Mensch innerhalb so kurzer Zeit unterliegen kann, wurde mir wieder einmal auf traurigste Weise bewußt. Und jeder hätte sich davon überzeugen können, der in diesem Moment neben mir stand. Neben mir stand zwar niemand – dafür aber hinter mir. Als er sich zu Wort meldete, blieb mir beinahe das Herz vor lauter Schreck ste hen. Ich lugte über die Schulter und sah Van Broeken und den un bekannten Rotschopf vor der Treppe stehen. Sie beobachteten ih rerseits mit interessiertem Gesichtsausdruck mein Treiben. Der Rot haarige schien dabei ein klein wenig blasser auszusehen als der Si nologe. »Das … das ist ja … die Stewardeß!« flüsterte er. »Sie hatte mir den Tee serviert!« »Na endlich«, sagte ich und kletterte aus der engen Kabine. »We nigstens ist jetzt noch einer da, der sie gesehen hat. Ihnen schenk te sie also ebenfalls den Tee aus, Mr. …?« »Hardy«, stellte er sich vor. »Theodor Hardy.« »Und mein Name ist Lawrence. Leslie L. Lawrence.« »Sehr erfreut. Mr. Van Broeken kenne ich bereits. Dürfte ich er fahren, was hier vor sich geht?!« Ich schaute auf die Tote und zuckte dann mit den Schultern. »Von mir nicht. Ich weiß nämlich selbst kaum etwas. Plötzlich verschwanden die Stewardessen, und es erschienen dafür die Pan dabären. Dann wurden beide Parteien dezimiert. Das ist alles.« Van Broeken trat zu dem Mädchen, stellte sich auf die Zehenspitzen und betastete ihren Hals. Dann zog er seine Hand zurück und schüt telte den Kopf. »Sie wurde erwürgt.« »Wie bitte?« schluckte der Rotschopf, und ich glaubte, eine Trä ne in seinem linken Auge zu entdecken. Van Broeken deutete auf ihren Hals. »Sehen Sie die Spuren unter dem Strick?« Vorerst sah ich nur den Strick. »Sie sind durch das dicke Seil leicht verdeckt. Sie wurde damit auf gehängt, aber nicht getötet! Und auch nicht an diesem Ort. In so 71
einem engen Raum kann man einen ja nicht einmal richtig erwürgen!« »Das sagen Sie, als wären Sie Profi in Sachen erwürgen…« »Bin ich auch!« entgegnete er mit einem rätselhaften Lächeln. Ich wußte nicht, ob er das ernst meinte oder es als Scherz gedacht hatte. Auf jeden Fall klammerte ich mich etwas fester an meine MP. »Soll das ein Witz sein?« »Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche. Dieses Mädchen wurde oben erwürgt, und zwar mit den Händen. Das sieht man an den Spuren. Eine abscheuliche, rohe Art. Die klassische, schöne Art des Erwürgens kennt kaum noch jemand. Haben Sie von der Gar rotte gehört? Ein Metalldraht, mit zwei Holzgriffen an den Enden. Innerhalb von zehn Sekunden können Sie jemanden damit töten, ohne daß der Betroffene auch nur eine Chance hätte, zu entkom men. Wenn der Draht scharf und dünn genug ist, schneidet er so fort die Kehle durch.« Hardy zuckte zusammen und schluckte. »Brrr! Furchtbar!« »Einerseits«, sagte Van Broeken und wendete sich wieder von der Leiche ab. »Andererseits ist Morden eine Kunst. Oder Töten. Oder wie man es auch immer nennen mag. Einige Zimperliche bevorzugen den Begriff liquidieren. Aber das ist vollkommen egal.« Obwohl ich kein Freund der Kunst des Tötens war, durfte ich mich nicht in moralische und philosophische Dispute über das Ausschalten unserer Mitmenschen einlassen. Vor allem, da ich spürte, daß un sere Abenteuer mit der Landung noch nicht vorüber waren. Ganz im Gegenteil. Wahrscheinlich ging es jetzt erst richtig los.
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ir kletterten in den Passagierraum zurück. Die Tür zur Pilo tenkabine war endlich offen, und ich konnte einen Blick hi neinwerfen. Unzählbar viele runde und ovale Lämpchen blinkten über den Konsolen. Einige waren zerbrochen, andere wieder hin gen ganz aus ihren Fassungen, so als ob man sie mit Absicht he rausgerissen hätte. Auf dem Boden der Kabine lagen Stoffreste, blutverkrustete Ta schentücher, zerstreute Kosmetika und andere, nicht auf Anhieb iden tifizierbare Artikel herum. Im Abteil hatte sich inzwischen die Panik etwas gelegt. Die Ten nismädchen kreischten nicht mehr, sahen mich nur etwas befangen an, als ich mit schußbereiter Waffe auftauchte. Erfreut stellte ich fest, daß inzwischen tatsächlich zwei ganz hüb sche, uniformierte Damen unter uns weilten; demnach war es nicht bloß ein Wunschtraum gewesen… Die neu hinzugekommene Rot haarige war etwas größer als die Blonde, und ihr Gesicht war eben falls mit kleinen Kratzern und Schürfwunden übersät. Als ich mich zu ihnen durchgekämpft hatte, schlürfte sie gerade Orangensaft aus Opas Thermosflasche. Sie blickte mich an und ließ den Arm mit der Flasche sinken. »Wer sind Sie?« Ich bemerkte, daß ihr Blick etwas länger bei meiner Waffe verweilte, also schob ich die MP mit der Hand auf den Rücken und lächel te sie an. »Die hier braucht Sie nicht zu beunruhigen. Ich bin kein Flug zeugentführer, sondern genauso ein Passagier wie all die anderen hier. Und ich würde verdammt gerne erfahren, was mit uns passiert ist. Vor allem natürlich, ob wir hier nicht jeden Moment in die Luft fliegen können?« Die Rothaarige mit den grauen Augen reichte mir ihre verschmierte Rechte. 73
»Malgorzata Leroy.« »Leslie L. Lawrence. Gehören Sie zum Personal?« »So könnte man es auch ausdrücken. Ich bin der Flugkapitän von diesem verfluchten Kahn. Und sie hier ist Lisolette Brian, mein Na vigator.« Die Blondine nickte mir zu. »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll…« »Die Maschine wird nicht explodieren«, unterbrach mich die Pi lotin, »falls es das ist, was Sie wissen wollten. Es gibt nichts, was noch explodieren könnte, es sei denn, jemand hat auch noch eine Bombe an Bord versteckt.« »Und das Kerosin?« »Es dürfte noch ein halber Liter da sein, danke der Nachfrage… Noch fünf Minuten in der Luft, und wir wären abgestürzt. Es war pures Glück, daß ich den Flugplatz gefunden habe.« »Flugplatz?!« »Warum so überrascht? Dies ist definitiv ein Flugplatz! Von hier aus sieht es zwar nicht danach aus, aber es ist einer. Klein und schmal, aber immer noch besser als eine Plantage. Obwohl, was den Beton angeht … und die Sträucher und Bäume…« »Wie haben Sie denn hierher gefunden?« »Dieser Verrückte hatte mir einen Plan gezeigt. Können Sie sich vorstellen, was es heißt, eine solch kleine Piste mitten in Südost asien zu finden?! Noch dazu halb zugewachsen vom Dschungel. Un ser Leben hing an wenigen Minuten, selbst so mußte ich die Treib stoffzufuhr auf Minimum stellen. Na, wenn mir das jemand erzählen würde … ich wüßte sofort, wohin ich ihn treten würde!« »Also wird sie nicht explodieren? Was war denn unser eigentliches Flugziel?« »Hongkong.« »Aus welchem Grund?« »Was geht Sie das denn an? Wenn hier jemand das Recht hat, Fra gen zu stellen, dann bin ich das! Was zum Teufel machen Sie denn alle in meiner Maschine? Hä? Und wo sind die Frösche?« 74
Ich schloß für einen Moment die Augen. Sie wissen schon, die Stiche im Hinterkopf… »Frösche?« »Ja, Frösche. Hier, wo Sie gerade sitzen, sollten Frösche quaken. Zwanzigtausend Frösche.« »Was für Frösche?« fragte Leichenfresser träge und ließ selbst in dieser Situation nicht Judys Hand los. »Echte Frösche?« »Wir sollten Frösche nach Hongkong bringen. Vielleicht haben diese Idioten sie in den Frachtraum geschafft…« Leichenfresser schüttelte den Kopf und verkündete mit dem Stolz der Eingeweihten der ersten Stunde: »Im Frachtraum sind keine Frösche. Bis vor kurzem waren wir eine ganze Zeit lang dort unten. Da gibt es nur drei Leichen: die der er hängten Stewardeß, dann die beiden Pandabären…« Falls er so etwas wir Erfolg erwartete, nun, den hatte er zweifels ohne. Die zwei weißgekleideten Teenager kreischten, als ob sie erst jetzt den Musiker erkannt hätten, allerdings mehr aus Verzweiflung denn aus Freude, die ältere Dame fuchtelte mit einem Regenschirm herum und forderte, sofort freigelassen zu werden, und sogar Pi lot und Kopilot machten ein schwer zu deutendes Gesicht. Und ich war mir sicher, es war nicht der Verlust ihrer Frösche, der ihnen so zusetzte.
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ls es endlich etwas ruhiger wurde, hob ich die Hand und bat ums Wort. Als Argument plazierte ich außerdem noch schön sichtbar die Maschinenpistole vor dem Bauch. Da ich nicht sicher war, ob mich auch wirklich jeder sehen und hören konnte, stellte ich mich auf einen Sessel, trotz meiner Abneigung, Sitzmöbel als 75
Podeste zu mißbrauchen. »Meine Damen und Herren!« begann ich. »Lassen Sie uns die par lamentarische Form wahren. Zuerst einmal, mein Name ist Lawrence. Leslie L. Lawrence. Ich war als Pandaforscher unterwegs nach…« »Dann sind Sie der Grund!« deutete Lisolette anklagend auf mei ne Brust. »Sie haben uns diese perversen Schweine auf den Hals ge hetzt!« »Wen?« »Ihre Freunde! Er drückte mir eine Pistole gegen den Hals und betatschte mich dabei.« »Wer?« »Ihr Pandamann!« Erneut brach die Hölle aus, jeder versuchte, gleichzeitig zu reden. »Dürfte ich vielleicht zu Ende bringen, was ich sagen wollte!?« »Verdammt, reden Sie schon!« meinte der Dicke mit den Ho senträgern. »Und danach sollten wir hier schleunigst raus… Meine Blase ist etwas schwach, Mann!« »Dann gehen Sie doch auf die Toilette!« »Die darf man nur während des Fluges benutzen!« Um Himmels willen, ich war ja hier mit lauter wohlerzogenen Mör dern an Bord! Langsam trat doch wieder Ruhe ein, und wir konnten den ein geschlagenen Weg weitergehen. Villalobos hatte die alte Frau zu ih rem Platz zurückgeführt, nachdem sie eine ganze Weile mit dem inzwischen gebrochenen Regenschirmstiel gegen die Ausgangstür gehämmert hatte. Bei der Gelegenheit fiel mir auf, daß das Flug zeug eine leichte Schräglage hatte; bei der Landung waren wohl die Fahrgestelle etwas in Mitleidenschaft gezogen worden. Oder der Be ton hatte unter ihnen nachgegeben. »Ich möchte keineswegs irgendeine Führerschaft übernehmen«, er klärte ich. »Wir müssen nur ein paar Dinge klären. Zuerst einmal, wo wir genau sind.« »Nichts einfacher als das«, meldete sich Malgorzata. »In Laos.« »Woher wissen Sie das?« 76
»Die Pandas, die in unsere Kabine eingedrungen sind, hielten mir eine Karte vor die Nase. Es war keine einfache Sache, diesen klei nen Flughafen hier zu finden.« »Und wo ist dieser Flugplatz nun?« »Unter uns.« »Ich meine natürlich, wo in Laos!?« »Ungefähr in der Mitte. Zwischen Bergen und Tälern. Und was für Berge…!« »Wo sind die Pandas?« »Haben Sie nicht eben gesagt, sie wären tot?« »Wie viele haben Sie insgesamt gesehen?« »Was weiß ich! Hören Sie, ich mußte das Flugzeug steuern, ge nauso wie Lisolette. Es war schon schlimm genug, daß man uns da bei Kanonen unter das Kinn gedrückt hat. Ich hatte wirklich kei ne Zeit, sie zu zählen! Außerdem sahen sie ja alle gleich aus… Wo her hatten die wohl bloß ihre Verkleidung?« Darüber hatte ich mir auch schon meine Gedanken gemacht, be hielt die Ergebnisse aber erst einmal für mich. Im Moment hätte es nur unnötig Zeit gekostet. »Wissen Sie, ob irgendwo in der Nähe eine bewohnte Ortschaft liegt?« »Woher? Keine Stadt, das hätte ich mit Sicherheit gesehen. Eine einzelne Hütte wäre mir natürlich nicht aufgefallen…« »Wem gehört denn dann dieser Flughafen?« »Gute Frage.« »Und sie könnte von dem beantwortet werden, der die Pandas er mordet hat. Und sich nun mit Sicherheit unter uns aufhält.« Es wurde still, und sie zogen sich etwas voneinander zurück. Kei ner wollte die Schuld auf sich nehmen, Pandas und Stewardeß er mordet zu haben. »Ich will hier raus! Ich habe genug von Ihnen allen!« kreischte plötz lich eines der beiden jungen Mädchen los. »Ich glaube, mir wird schlecht…« Inzwischen ging es uns allen nicht mehr so gut. Die Lüftung funk 77
tionierte nicht, und obwohl ein grauer Schleier den Himmel ver deckte, war es in der Maschine unglaublich heiß geworden. Es schien, als würden wir in einem riesigen Benzinfaß in der prallen Hitze fest sitzen. »Wo sind die Stewardessen?« »Die wer?« »Die Mädchen! Die uns den Whisky gebracht hatten.« »Sind Sie verrückt? Was für Stewardessen? Fröschen Whisky brin gen?!« Die alte Frau, die bis vor kurzem noch an der Tür gehämmert hat te, setzte sich nun auf ihren Platz zurück und hörte uns interessiert zu. Ich glaube, selbst eine Bombendrohung hätte sie nicht mehr aus unserer Nähe fortbringen können. »Wie kann man diese Maschine verlassen?« »Zum Beispiel durch die Türen. Wenn Sie vom Stuhl wieder run terklettern und mir folgen, kann ich es Ihnen gerne zeigen…« Wir öffneten die Luke, suchten eine Notrutsche und ließen uns dann schön der Reihe nach auf den Beton schlittern. Als ob es sich um eine Sonntagsübung der örtlichen freiwilligen Feuerwehr han deln würde.
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er Flugplatz war wirklich so groß wie ein Taschentuch und sah auch aus wie ein verschneuztes Exemplar dieser Gattung. Die riesige Maschine ließ ihre Nase traurig hängen, wie ein Elefant in einem zu kleinen Gehege. Ich bückte mich und untersuchte den Beton. Er war grau und zer schlissen, aus den daumenbreiten Rissen wucherten Unkraut und Blumen und verwandelten die Landebahn in einen fröhlichen klei 78
nen botanischen Garten. Wohin ich auch schaute, überall grüßten Palmen mit ihren langen, wippenden Blättern. Über den Baumspitzen türmten sich riesige Berge zu einer furchterregenden Kulisse auf. Ich umrundete das Flugzeug, das oberflächlich gesehen in Ord nung zu sein schien, lediglich das Vorderrad war in ein großes Loch abgesackt. Die Sonne brannte, obwohl rundherum kleine Schäfchenwolken den Himmel bedeckten. Langsam spürte ich, wie sich Hunger und Durst bemerkbar machten. Ich hoffte, daß noch etwas davon üb rig war, was die Stewardessen… Die Stewardessen! Da ich am Heck der Maschine war, brauchte ich nur wenige Schrit te, um die andere Rutsche zu entdecken. Sie war mit dem Notausstieg verbunden, genau gegenüber der Stelle, an der wir das Flugzeug ver lassen hatten. Der ziemlich steile Gummiteppich verhieß nichts Gutes, also ließ ich es bleiben, wieder ins Innere zu klettern. Die Vöglein waren ver mutlich eh schon ausgeflogen! Meine Mitpassagiere hatten sich unter einer Palme versammelt und in kleine Gruppen aufgeteilt. Die Tennismädchen heulten sich ge genseitig den Kragen naß, während die ältere Dame mit dem lila Hut versuchte, sie zu trösten. Die beiden Piloten hatten das Flugzeug als letzte verlassen. Jetzt saßen sie unter einer anderen Palme und machten sich gerade an einem Erste-Hilfe-Kasten zu schaffen. Der Kapitän, Malgorzata, wisch te gerade das Gesicht ihrer Kollegin mit einem Erfrischungstuch sau ber. Lisolettes Auge wurde von einem großen Monokel verunstal tet, das wohl kaum von einem Gentleman stammen dürfte. »Was wollen Sie?« fragte Malgorzata unfreundlich, als ich neben ihnen auftauchte. »Mit Ihnen reden.« »Dann reden Sie.« »So hatte ich es mir aber nicht vorgestellt.« »Sondern?« mischte sich nun Lisolette ein und preßte die Hand 79
auf den schmerzenden Fleck in ihrem Gesicht. »Sollen wir Ihnen einen Tisch decken? Möchten Sie auch Kerzenlicht, oder reicht es, wenn wir nur das Tafelsilber auftragen?« Sicherlich hätte es Momente gegeben, wo ich ihren Humor in vol len Zügen genossen hätte. Dieser gehörte allerdings nicht dazu. »Hören Sie mal!« begann ich etwas schroffer, als ich es üblicherweise mit jungen Damen tue. »In Angesicht dessen, daß Sie die Eigentümer dieser Maschine hier sind, haben Sie auch eine gewisse Verantwortung für Ihre Passagiere zu tragen…« Malgorzata hörte auf, sich mit Lisolettes Gesicht zu befassen, und blickte mich finster an. »Was?!« »Soweit ich weiß, hat der Kapitän auf seinem Kahn, oder der Pi lot in seinem Flugzeug, die Verantwortung für seine Passagiere zu tragen. Wenn etwas passiert, wird diese Verantwortung sogar noch größer!« »Soll ich Ihnen einen Kuß geben?« »Wie bitte?« »Soll ich Ihnen etwa einen Kuß geben?! Ich werde nur dann ver antwortlich sein, wenn Sie sich alle in Frösche verwandeln. Sie wis sen schon, wie im Märchen, nur andersrum. Mit Ihnen habe ich nichts zu tun! Wenn sich ein Storch in mein Flugzeug verirren wür de, dann hätte ich zugegebenerweise einiges zu tun. Aber weder für Sie noch für diese Pandakerle…« Ihre Stimme überschlug sich, und sie schluckte vor Aufregung. »Verschwinden Sie hier, wenn Sie was Gutes tun wollen!« Mir blieb nichts anderes übrig, als die Kavallerie einzusetzen. »Können Sie lesen?« »Ich sagte doch, verschwinden Sie!« Ich holte aus meiner Tasche den Ausweis hervor, und schob ihn ihr unter die Nase. Den Ausweis vom Pariser Interpol-Büro. Sie lasen ihn wirklich, auch Lisolette. Sie schielte verwegen über Malgorzatas Schulter. Als sie sich immer mehr über das Dokument beugten, konnte ich 80
durch die tiefen Ausschnitte ebenfalls einen tollen Einblick in ihre Ausweise gewinnen. Ich schwöre, wenn sie sie mir vorgelegt hätten, wären mir niemals Zweifel über die Echtheit gekommen. Bei ihnen lag das allerdings etwas anders. Malgorzata Leroy blick te mich mißtrauisch an und studierte mein verschmiertes Gesicht. »Sind Sie ein Bulle?« »Keineswegs. Interpol hat mich beauftragt, mich an der Pandafront ein wenig umzusehen. Die chinesischen Behörden hatten uns mit geteilt, daß im internationalen Tierhandel einige Pandabären an geboten worden sind, die aus China stammen. Dem hätte ich nach gehen sollen.« Sie klappte den Ausweis wieder zu und gab ihn mir zurück. »Und was wollen Sie jetzt?« »Vor allem dieses Abenteuer lebend überstehen. Was auch mög lich wäre, wenn wir zum Beispiel auf einer kleinen, verlassenen Lich tung irgendwo in Laos nicht den Hungertod sterben müßten. Oder die aufhören würden, uns zu dezimieren…« Beide blinzelten daraufhin verstört. »Die?« »Diejenigen, die uns hierhergezwungen haben.« »Wie meinen Sie das?« »Sehen Sie… Jemand wußte von diesem Flugplatz. Und er wuß te auch, daß man auf ihm landen kann.« »Na ja, was letzteres angeht…« »Die Maschine wurde nicht zufällig hierher gebracht. Und wenn es so ist, müssen diejenigen ganz in der Nähe sein.« Der Kapitän wußte noch nicht so recht, was ich für ein Typ war. Lisolette sah ich an, daß sie sich inzwischen beruhigt hatte. Sie be schäftigte sich jetzt wieder mit ihrem Gesicht. Miss Leroy aber hat te vorerst ihren Stolz noch nicht abgelegt. Also entschied ich, ihr den Gnadenschuß zu geben. Ich bückte mich, ergriff ihr Handgelenk und riß sie auf die Beine. »Ich zeige Ihnen was! Kommen Sie!« Zuerst sträubte sie sich noch ein wenig, aber da mein Griff fest 81
blieb, gab sie schließlich auf. Vor allem, weil sie bemerkte, daß die anderen schon komisch herüberschauten. Ich ging mit ihr auf die andere Seite ihrer Maschine und deute te auf die zweite Notrutsche. »Nun? Was sagen Sie dazu?« Sie sagte gar nichts. Einige Sekunden lang stand sie wie verstei nert da; als sie schließlich wieder Worte fand, war nichts Überhebliches mehr in ihnen. »Mein Gott! Wer war das?« »Ich hätte da ein paar Ideen. Aber zuerst möchte ich mich mit Ihnen ein wenig unterhalten. Würden Sie mir auch einige Antworten geben?« Sie zog die Augenbrauen in die Höhe, als sie sich noch einmal die Rutsche ansah, und stieß dann einen tiefen Seufzer aus. »Natürlich. Glauben Sie … daß Sie als, äh, Agent von Interpol hier etwas tun können?« »Ich werde es versuchen. Aber dazu brauche ich Ihre Hilfe.« Sie drehte sich um, und nun war sie es, die mich voranzog. »Los! Sie werden sie bekommen!« Meine erste Aktion war, Lisolette zu entfernen. Nicht daß ich ihr nicht vertraut hätte, nur waren die anderen schon sichtlich unru hig. Ich befürchtete schon, sie würden zu uns kommen und Fra gen bezüglich der nächsten Schritte stellen. Ich bat also das Mäd chen, ein paar Lebensmittel zu organisieren. »Wie denn?« erkundigte sie sich mit einem betörenden Lächeln. »Mit einem Bumerang? Oder leihen Sie mir dafür ihre Maschi nenpistole?« »Stellen Sie eine Alpinistentruppe zusammen und klettern Sie zu rück an Bord. In der Kombüse habe ich belegte Brote gesehen. Was immer Sie finden, bringen Sie es mit!« Sie nickte und fing an, die Leute zusammenzutrommeln. Zufrieden konstatierte ich, daß Villalobos, Leichenfresser und die anderen lang sam, aber sicher die Rutsche emporkletterten, wie mittelalterliche Angreifer an einer Stadtmauer. 82
Ich setzte mich neben Malgorzata ins Gras und versuchte, das Knur ren unserer Mägen zu ignorieren. »Also«, lächelte ich, »lassen Sie uns anfangen. Zuerst einmal: Wo her haben Sie diesen Namen?« »Welchen?« fragte sie überrascht. »Malgorzata? Meine Mutter kam aus Polen, ich habe ihn von ihr bekommen. Manchmal ist es ganz nützlich, daß ihn keiner aussprechen kann… Meine Freunde nen nen mich nur Mal. Das dürfen Sie jetzt auch.« »Danke, Mal. Und ich bin Leslie.« »Und… Sie sind wirklich kein Bulle?« »Wirklich nicht.« »Schade. Ich mag Bullen ganz gerne. Was machen Sie dann? Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß Sie Pandaloge sind, mit so einem durchtrainierten Körper?!« »Ich bin Biologe«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Und beschäftige mich hauptsächlich mit Käfern.« »Eben waren es noch Pandas…« »Die auch. Die Königlich Englische Biologische Gesellschaft hat mich zu einen Pandakongreß geschickt.« »Und Interpol.« »Die beiden Dinge haben nichts miteinander zu tun. Meine Freun de bei Interpol bitten mich oft, ihnen zu helfen. Sie wissen ja, als einfacher Wissenschaftler erfahre ich viel mehr als ein Polizist. Je der ist viel offener gegenüber einem Professor…« »Aha…« »Sie glauben mir nicht? Es ist aber so! Also, ich sollte wirklich an einem Pandakongreß teilnehmen und mich dabei umhorchen, wer und auf welche Weise Pandas aus China rausschmuggelt.« »Äußerst interessant.« »Seit wann sind Sie denn Pilot, Mal?« »Seit rund fünf Jahren.« »In Thailand?« »Erst seit drei Jahren. Vorher war ich bei der Air France.« »Als Kapitän?« 83
»Nein. Wissen Sie, daheim in Frankreich vertraut man uns Frau en nicht so sehr. Ich wäre wohl immer noch Kopilot, wenn ich dort geblieben wäre. Deswegen hat mir dieser Job hier auch so zugesagt.« »Um welche Firma handelt es sich dabei?« »Wissen Sie … darüber dürfte ich eigentlich nicht reden … aber wir sind wohl in einer Art Notlage … also, sie heißt Paranat-Sula mond.« »Nie gehört.« »Keine Weltfirma, zweifelsohne. Aber hier in der Gegend hat sie einen guten Namen.« »Mhm. Und womit beschäftigt sie sich?« »Mit Frachtgut. Spezielles Frachtgut. Sachen, die besondere Hand habung verlangen.« »Auch Pandabären?« »Wieso nicht? Wir haben erstklassige Fachleute. Wenn die Papiere in Ordnung sind, nehmen wir alles mit.« »Womit hatten Sie es bisher zu tun?« »Oh, ich wurde wohl als Prinzessin für die Frösche auserkoren… Hauptsächlich Frösche, und Meeressachen. Krebse zum Beispiel. In speziellen Behältern.« »Und mit welchem Ziel?« »Alles mögliche. Aber in der Regel Hongkong. Dann Malaysien, Singapur, Indonesien.« »Werden Sie gut bezahlt?« »Ja.« »Gab es schon mal Unannehmlichkeiten mit der Fracht?« »Woran denken Sie?« fuhr sie auf. »Die Sachen sind immer gut festgeschnürt. Ich schwöre Ihnen, ich war noch nie zuvor in so ei ner Situation!« »Und in anderen?« »Auch in keinen anderen!« »Die Zollbeamten haben nie etwas gefunden?« Sie wurde rot und wütend. »Jetzt hören Sie mal! Sie wollen mich wohl in irgend etwas rein 84
reiten? Hä?! Raus mit der Sprache, was ist hier los?« Sie war etwas laut geworden, und einige von den anderen schau ten besorgt herüber. »Immer mit der Ruhe! Ich hatte nichts dergleichen im Kopf! Ich möchte nur herausfinden, ob Ihre Firma nicht in irgend etwas ver wickelt ist. Konkret jetzt in dieser Sache.« »Warum zum Teufel sollte sie?« »Und wo sind dann Ihre Frösche?« Daraufhin wurde sie wieder etwas stiller, und auch der empörte Ausdruck verschwand von ihren Zügen. »Was weiß ich!« antwortete sie verzweifelt. »So etwas ist mir noch nie passiert!« »Macht nichts«, beruhigte ich sie. »Gehen wir weiter. Sie fliegen also die Maschinen dieser Para-was-auch-immer-Gesellschaft. Ist der Heimathafen Bangkok?« »Ja. Dort ist die Verteilung.« »Was für eine Verteilung?« »Na, die von der Ware. Frösche, Krebse und so weiter. Dort wer den sie hingebracht, und von dort transportieren wir sie weiter.« »Waren Sie schon einmal in Laos?« »Nie.« »Wieso?« »Weil wir mit Laos nichts zu tun haben. Außerdem ist das, glau be ich, militärisches Sperrgebiet. Ich war auch nervös, daß uns beim Flug keiner eine Rakete in den Hintern jagt.« »Wo erhalten Sie die Aufträge?« »Einmal jede Woche gibt es eine kleine Konferenz in der Zentrale, wo der Eigentümer und der Flugleiter die Aufgaben austeilen. Meis tens habe ich zwei Flüge pro Woche.« »Mit welchen Maschinen?« »Na, diese umgebauten Rostlauben hier…« »Ist das Ihr eigenes Flugzeug?« »Nein. Ich fliege drei verschiedene Modelle. Hängt davon ab, wel che gerade repariert wird und was wir transportieren. Die Maschi 85
nen sind genau auf die Fracht zugeschnitten.« »Und wann erfahren Sie, welchen Typ Sie jedes Mal erhalten?« »Kurz vor dem Flug. Wenn ich die Papiere übernehme.« »Und bei dieser hier?« »Gestern. Auf dem Flughafen, vom Flugleiter. Gestern hatte man nämlich mit den Verladearbeiten angefangen. Die ganze Nacht über hat man die Frösche eingeladen … oder … wie auch immer.« »Sie haben die Fracht nicht kontrolliert?« Sie schwieg eine Weile betreten und schüttelte schließlich den Kopf. »Nein.« »Machen Sie das denn nie?« »Doch«, antwortete sie ganz leise, »eigentlich immer. Es ist sogar vorgeschrieben…« »Verstehe. Doch diesmal haben Sie eine Ausnahme gemacht. Wes halb?« »Weil … ich verschlafen habe. Ich wurde nicht geweckt.« »Von wem?« »Vom Weckdienst. Üblicherweise wecken die mich jeden Tag, nur heute haben sie es irgendwie vergessen. Ich bin von selbst aufge wacht, allerdings erst in letzter Sekunde. Ich konnte gerade so mei ne Sachen anziehen, da stand auch schon das Taxi vor der Tür. Ich bin dann schnell zum Flugplatz … oder wollte es, denn kurz bevor ich die Wohnung verließ, meldeten sich die vom Weckdienst. So weit ich es verstanden habe, sagten sie, ich selbst hätte sie gebeten, mich an diesem Tag ausnahmsweise später zu wecken. Was natür lich vollkommener Unsinn ist, aber ich hatte einfach nicht die Zeit, mich weiter zu beschweren. Unnötig zu sagen, daß dies der erste Vorfall dieser Art war.« »Ich verstehe«, sagte ich nachdenklich und dachte, daß ich end lich den ersten Knoten an einem riesig langen, glatten Seil gefun den hatte. »Also kamen Sie verspätet am Flughafen an…?« »Ach was! Gerade noch rechtzeitig, beziehungsweise … na ja, im letzten Moment. Ich hatte gerade noch Zeit, die vorgeschriebenen technischen Checks durchzuführen, dann erhielt ich auch schon 86
die Starterlaubnis, und husch, weg war ich!« »Was ist, wenn Sie zu spät kommen?« »Das wäre ziemlich schlimm. Man würde mir alle Kosten vom Ge halt abziehen, und wenn es sich wiederholt, kann mir gekündigt wer den. Die Firma muß viel Strafe zahlen, wenn sie den Flughafen län ger als nötig in Anspruch nimmt.« »Und so wußten Sie demnach auch nicht, ob die Frösche wirk lich an Bord waren?« »Wie hätte ich auch ahnen können, daß sie es nicht sind? Die Frachtpapiere waren alle gültig und vom Zoll abgestempelt worden.« »Ist außer Ihnen sonst noch jemand bei solchen Flügen an Bord?« »Manchmal, wenn es die Fracht verlangt. Für die Frösche aller dings haben wir zwei bisher immer gereicht.« »Ich verstehe. Also waren Sie gestartet… Und haben Sie irgend et was … Außergewöhnliches bemerkt?« »Nichts. Der Tower gab uns die Daten, und wir machten uns auf den Weg nach Hongkong.« »Wann merkten Sie, daß etwas nicht stimmt?« »Als die Kabinentür hinter uns verschlossen wurde.« »Und wann geschah das?« »Kurz nach dem Start. Plötzlich klickte das Schloß, und wir wa ren eingeschlossen.« »Was haben Sie unternommen?« »Nichts, wir flogen weiter. Wir waren noch im Steigflug.« »Haben Sie dem Tower all das mitgeteilt?« »Lisolette verlor den Kontakt. Und als wir endlich die Flughöhe erreicht hatten, kam der Panda ins Cockpit.« »Woraufhin Sie…?« »Woraufhin wir ganz schön erschrocken waren. Im ersten Moment dachte ich, wir transportieren die Bären, und einer ist freigekom men. Ich hätte schon fast losgeschrien, als er seine Pistole hervor holte, was dann die Situation klärte. Zwar nicht verbesserte, aber klärte… Er legte mir eine Karte in den Schoß und gab mir gute Rat schläge, was ich tun sollte, wenn ich am Leben bleiben wollte.« 87
»Wußten Sie, daß außer dem Panda auch noch andere Passagie re im Flugzeug waren?« »Was weiß ich, woran ich in der Situation dachte… Auf jeden Fall kam noch ein zweiter Panda rein, sie flüsterten etwas, dann ging er wieder raus.« »Und Sie?« »Ich hab' mich gesträubt. Am Ende kam es sogar zu einem Kampf.« »Was?! Wie denn das?« »Ich hatte auf Autopilot geschaltet und ihm ein Bein gestellt. Dann schlug ich um mich, wie ich nur konnte, er aber leider auch, wie Sie aus den Spuren erkennen können. Am Ende gewann er natür lich die Oberhand, aber wir hatten beim Kampf schon das halbe Cockpit demoliert. Zum Glück funktionierten alle wichtigen Tei le noch!« Es beschäftigte mich natürlich, wer sich wohl mit den Mädchen geschlagen hatte: Kao Ven oder der andere Panda? Oder vielleicht sogar ein dritter? »Und dann?« »Wir waren vollkommen alle. So etwas war uns noch nie zuvor passiert. Die Entführung, meine ich. Lisolette ging es nicht so gut, sie taumelte ständig, wohl durch ihren hohen Blutdruck. Und wäh rend der gesamten Zeit mußten wir diesen verfluchten Flugplatz su chen!« »Ihr Pandabär hatte natürlich verboten, Kontakt mit den Behör den aufzunehmen, denke ich…?« »Selbstverständlich, gleich am Anfang, wobei er uns mit der Pis tole drohte. Wir durften nicht antworten, wenn man uns gerufen hatte… Sie können sich bestimmt vorstellen, wie ich mich dabei ge fühlt hatte. Dieses Gebiet ist Sperrzone, wenn man uns hier ein paar hübsche Projektile hinterherschickt, fliegen unsere Aluminiumfet zen nur so in der Gegend herum…« »Und Sie?« »Ich hielt die Maschine so tief wie möglich, um unter ihrem Ra dar durchzutauchen. Obwohl, heutzutage… Wie auch immer, es hat 88
geklappt. Keiner wollte uns haben…« »Wann hat der Panda die Kanzel verlassen?« »Kurz vor der Landung. Er blickte immerzu auf seine Uhr, steck te auf einmal die Pistole aus der Tür und verschwand dann auch sofort.« »Und dann?« »Dann? Dann mußte ich landen, Sie Scherzkeks! Und zwar bin nen weniger Minuten, und wo auch immer. Inzwischen schaute ich nur noch nach einigermaßen ebenen Flächen, der Rest war mir egal. Aber überall standen nur Berge herum, immer nur die verfluchten Berge. Ich wollte schon aufgeben, als ich endlich doch noch hier herfand. Wenn ich auch nur ein klein wenig schneller oder höher gewesen wäre, dann … dann Gnade uns Gott! Noch ein paar Ki lometer in der Luft, und ebenso!« »Also sagen Sie, der Panda war die ganze Zeit über bei Ihnen in der Pilotenkabine…«, kehrte ich zum Ausgangsthema zurück. »Und er ist nicht für eine Sekunde rausgegangen?« Sie dachte nach und zuckte mit den Schultern. »Sehen Sie, das könnte ich nicht beschwören. Wie gesagt, auf ein mal kam ein zweiter Panda rein … sie besprachen irgend etwas, und dann ging auch wieder einer raus.« »Sie meinen, es wäre … nicht sicher, wer…« »Genau. Gott allein weiß, wer nun welcher gewesen ist. Kann sein, daß sie gewechselt haben. Wie hätte ich sie denn unterscheiden sol len? Aber warum interessiert Sie das so sehr?« »Ich versuche herauszubekommen, wie viele es von ihnen insge samt gab.« »Und?« »Ich weiß es einfach nicht. Vielleicht zwei, vielleicht mehr… Das ist mir noch schleierhaft. Wenn sie nur zu zweit waren, sind unse re Probleme gelöst, da beide tot sind… Wenn es mehrere waren … nun…« »Nun was?« »Nun, dann sind sie entweder hier unter den anderen, oder sie 89
haben sich zusammen mit den Stewardessen aus dem Staub gemacht.« »Aber ich sagte doch schon, wir hatten keine Stewardessen an Bord!« »Es waren aber einige da, die uns bedient haben. Übrigens, hat ten Sie mich gehört, als ich reinkommen wollte?« »Natürlich. Aber der Panda hatte von innen verschlossen… Mr. Lawrence, könnten Sie mir etwas erklären?« »Und zwar?« »Woher zum Teufel hatten diese Kerle die Idee mit den Panda bären? Und vor allem die Masken und Felle? Ich verstehe zwar nicht viel von Terroristen, aber ich glaube, es wäre weitaus einfacher, sich eine Strumpfhose über den Kopf zu ziehen, als sich in solch eine schwere Maskerade zu zwängen, unter der es außerdem auch ver dammt heiß sein mußte. Ganz zu schweigen, daß sie sie erst ein mal an Bord schmuggeln mußten… Ich weiß nicht, ob Sie verste hen, was ich meine…?« Nachdenklich betrachtete ich ihr Gesicht und mußte feststellen, daß ich selten einen hübscheren Flugkapitän gesehen hatte. »Ich weiß nicht«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Ich tappe noch im dunkeln. Ich glaube, unsere Leute wollten nicht unbedingt Panda bär spielen.« »Was meinen Sie damit?« »Sie haben die Masken erst nach dem Start gefunden.« »Wo denn?« »Wohl im Frachtraum. Darüber habe ich mir auch schon den Kopf zerbrochen, und ich denke, diese Felle wurden von irgend jeman dem zum Pandakongreß verschickt.« »Na aber…« »Einen Moment, gleich verstehen Sie es!« Ich griff in die Tasche und holte die Einladung zum Pandakongreß heraus. »Sprechen Sie Chinesisch?« »Ich?!« »Gut, dann passen Sie auf! Hier! Siebter Punkt… Panda Kostümball für einen wohltätigen Zweck. Verstehen Sie? Einige der Eingelade nen ließen sich in Bangkok ihre Felle und Masken herstellen, und 90
dann wurden sie per Fracht für Nanking aufgegeben.« »Statt der Maschine nach Nanking aber haben sie meine erwischt.« »So wie wir auch… Und Lisolette?« wechselte ich schnell das The ma. »Wurde sie ebenfalls zu spät geweckt?« »Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht.« »Haben Sie sie gar nicht gefragt?« »Selbst dafür hatte ich keine Zeit. Abgesehen davon ist… Na ja … es ist ein wenig kompliziert mit ihr…« »Was?« »Es geht Sie zwar nichts an … aber Lisolette verbringt nicht jede Nacht im eigenen Bett!« »Und Sie?« »Werden Sie nicht frech!« Ich grinste, aber dann wurde mein Gesicht auch ungewollt wie der ernst. »Also, liebste Mal, wie auch immer wir es drehen und wenden, wir sind hier Opfer einer wirklich clever ausgeklügelten Verschwö rung!« »Ach nein! Und was wollen die von mir?« »Ich denke, die wollten nicht Sie, sondern die Maschine und Ihr Können, natürlich.« »Und woher nehmen Sie diese … Verschwörungstheorie?« »Es hängt unter anderem auch mit dem zusammen, was Sie mir erzählt haben! Daß Sie zu spät geweckt wurden. Wissen Sie, wie das passieren konnte?!« »Ja. Das sind Idioten!« »Im Gegenteil. Jemand hat es so eingerichtet, daß Sie erst im letz ten Moment aufgeweckt wurden. Damit Sie keine Zeit hatten, sich in der Maschine umzuschauen. Denn wenn Sie es getan hätten, wäre Ihnen wohl sicher aufgefallen, daß kein einziger Frosch auf Ihren betörenden Kuß wartete, dafür aber einige Passagiere einen rüttel freien Flug nach Peking oder sonstwohin erhofften.« »Aber warum? Um was genau geht es hier?« »Das möchte ich herausfinden, Mal, und genau dazu brauche ich 91
Ihre Hilfe. In Ordnung?« »In Ordnung, natürlich«, sagte sie und legte ihre Hand auf mei ne. »Was immer Sie wollen.« Und sie ließ die Hand ein klein wenig länger als nötig dort, wo sie war.
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s dämmerte bereits, als die von Leichenfresser und Villalobos geführte Truppe ihren Beutezug beendete. Das Ergebnis war um einiges magerer, als ich es erwartet hatte: einige vertrocknete belegte Brote, ein paar Flaschen Whisky und etwas Knabberzeug. Leichenfresser wollte die Brote mit Wimmers Messer aufteilen, aber Villalobos hielt ihn zurück. Er riß es ihm aus der Hand und warf es zu Boden. Der Musiker zuckte mit den Schultern und verließ die Szenerie, Arm im Arm mit Judy. Großvater lehnte sich an einen Baum und starrte in den Himmel. Es war warm wie in einem Kochtopf von Eingeborenen. Ich entschied mich, Judy als nächste dranzunehmen. Die beiden blickten auf, als ich sie erreichte. Das Mädchen zog ihre Hand aus der ihres Idols heraus, während Opa weiterhin die Sterne begutachtete, als ob ihn das Ganze nichts angehen würde. Ich hockte mich neben sie und bat um Entschuldigung. Lei chenfresser stand wohlerzogen auf und wollte uns verlassen, doch Judy zog ihn wieder zurück. Ein paar Sekunden dachte ich darü ber nach, ob ich etwas dagegen haben soll, aber dann sagte ich mir, wieso sollte er nicht dabei sein? Diesmal zeigte ich keinen Ausweis, tat so, als würde mich rein wissenschaftliche Neugier zu einem Tratsch treiben. »Liebe Judy«, begann ich, »da wir noch eine Menge Zeit haben, 92
bis uns jemand entdeckt…« »Und wenn hier nie jemand vorbeikommen wird?« unterbrach sie mich. »Dann geben wir morgen Rauchzeichen. Oder wenn das auch nicht hilft, gehen wir einfach los. Irgendwo werden wir schon ankommen.« »Falls wir bis dahin nicht den Hungertod sterben«, meinte Lei chenfresser und streichelte sich über den Bauch. »Ich habe zuviel Säure im Magen. Der Onkel Doktor hat mir nahegelegt, regelmä ßig zu essen. Inzwischen fange ich ja an, regelmäßig nicht zu essen! Von dem Pulver für meinen Magen ganz zu schweigen.« »Wieso nimmst du es nicht ein?« fragte Judy besorgt. »Womit denn?« regte sich der Musiker auf. »Dieser blöde Gene ral hat mir sogar das Messer aus der Hand gerissen. Ich weiß gar nicht, was er hat. Nur weil jemand damit ermordet wurde … kann man doch ruhig ein paar Scheiben Brot damit schneiden, oder?« Ihr Gesicht verfinsterte sich ein wenig, aber sie sagte nichts. »Noch im Flugzeug«, nahm ich den Gedanken wieder auf, »er wähnten Sie irgendwelche Steinmünzen. Wissen Sie, ich beschäfti ge mich auch mit so manchen asiatischen Reliquien…« »Sind Sie Sinologe?« »Nicht direkt. Aber ich liebe das Land. Ich glaube, Sie erwähn ten den Schatz des Huan-Ti?« »Tatsächlich? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Aber es ist ja auch kein Geheimnis.« »Sie haben an der Konferenz teilgenommen?« »Ja. Da mein Großvater kein Wissenschaftler ist und ich selbst erst Studentin bin, noch dazu keine vom Fach, da ich mich für So ziologie eingeschrieben habe, durften wir nur in der Amateursek tion Platz nehmen. Zwischen all diesen idiotischen Dilettanten… Was da alles für Dummköpfe rumsitzen! Einer zum Beispiel…« »Mich würde eher Ihr Beitrag interessieren«, unterbrach ich sie. »Ja, stimmt. Ich rede da einfach drauf los… Also, Großvater ist Händler, er hat ein Geschäft für Kunstgegenstände in Boston. Fast meine gesamte Kindheit habe ich zwischen diesen Dingen verbracht. 93
Dort habe ich mich wohl auch in China verliebt.« »Und Ihr Großvater?« »Er wollte sein ganzes Leben lang nach China kommen. Jetzt end lich schien es so, als könnte es klappen, obwohl erst nächsten Herbst. Wir wurden eingeladen, nachdem wir unseren Vortrag über den Schatz des Huan-Ti gehalten haben. Über die Armee aus Ton.« »Könnten Sie das etwas ausführen? Wissen Sie, ich bin in dieser Sache nicht so bewandert…« »Entschuldigung. Wo soll ich anfangen…? Vor einigen Jahren kam ein Chinese in das Geschäft. Er sah recht heruntergekommen aus, was für die Bostoner Chinesen ziemlich unüblich ist. Außerdem sprach er auch relativ schlecht Englisch. Schließlich haben wir ihn doch verstanden; er wollte uns etwas verkaufen. Dann öffnete er ein Taschentuch und legte uns einige Kiesel auf den Tisch. Wirklich, ohne Scherz, geschliffene Kieselsteine. Was hätten Sie denn an un serer Stelle getan?« »Ich weiß nicht«, gestand ich. »Wie haben Sie reagiert?« »Wir haben uns gewundert, denn so etwas war uns bis dahin noch nie unter die Augen gekommen. Und dafür, daß es lediglich ein paar glatte und teilweise mit Zeichen versehene Steinchen waren, verlangte er ziemlich viel Geld. Dann erklärte er uns schließlich, daß die Zei chen auf den durchlöcherten Kieseln bewiesen, daß es sich bei ih nen um Geld des Huan-Ti handelte.« »Schon wieder dieser Huan-Ti…« »Wir wußten, daß er etwa zweihundert Jahre vor unserer Zeit rechnung regiert hat und unter anderem die Große Mauer gegen die Hunnen erweitern und erneuern ließ. Er war ein ziemlich re soluter, strenger Herrscher. Nun, wir sprachen also mit diesem Mann, von dem sich herausstellte, daß er Archäologe war und sich aus Tai wan abgesetzt hatte.« »Abgesetzt?« »Wortwörtlich. Er wollte nach China zurück!« »Aha. Hat er noch etwas verraten?« »Er war ziemlich verzweifelt. Er sagte, es wäre möglich, daß ihm 94
nur noch ein paar Tage blieben. Der taiwanesische Geheimdienst wäre hinter ihm her und könnte jederzeit zuschlagen. Wir haben daraufhin natürlich angeboten, daß er sich bei uns verstecken könn te, obwohl wir … ehrlich gesagt, etwas Angst hatten. Ich vor allem, ich war ja noch ein Kind.« »Ich hatte keine Angst!« warf Großvater dazwischen. »Während des Abendessens – wir hatten ihn eingeladen – erzählte er uns wundersame Dinge. Er sagte, er habe im Archiv eines Mu seums in Taiwan eine Schriftrolle entdeckt, die etwas über die Ton armee des Huan-Ti erwähnen würde.« »Worüber?« »Zuerst verstanden wir es auch nicht, aber er erklärte es. HuanTi hatte beschlossen, all sein Hab und Gut mit ins Grab zu neh men, und zwar nicht nur tote Sachen, wie Geld oder Schätze, son dern auch seine Armee, die Gefolgsleute, Diener und Freunde, die er hatte.« »Wie Attila«, sagte ich. »Bitte?« »Ein hunnischer Herrscher. Er fand in Ungarn seine Ruhestätte.« »Ich verstehe… Nur, Huan-Ti wollte wirklich niemanden umbringen! Also setzte er fest, daß von jedem seiner Bediensteten eine Tonfi gur gemacht werden sollte, und zwar in Lebensgröße. Wenn der Ton gebrannt war, konnte man sie hinterher schön braun anmalen, und schon hat er sein eigenes Regiment. Mit zehn-, zwanzigtausend ori ginalgetreuen Abbildungen seiner Armee. Dann ließ er das Ganze neben seinem Grab in der Erde verschwinden. Angeblich war das sein Wille gewesen, und so wurde er auch ausgeführt.« »Wenn das stimmt, wäre es eine riesige wissenschaftliche Entde ckung«, sagte ich, »ähnlich wie das Grab des Tut-Ench-Amun.« »Mindestens. Nur stehen die Chancen ziemlich schlecht, daß ir gend jemand sie findet. In Anbetracht dessen, daß die Armee be graben wurde und nirgendwo auf der Oberfläche besondere Zeichen gesetzt worden sind … kann man sie nur durch Zufall entdecken.« »Wenn ich Sie richtig verstehe, haben Sie und Ihr Großvater aber 95
doch etwas gefunden, das…?« »Warten Sie ab! Ich bin noch nicht fertig. Also, der Chinese er zählte uns all dies und fügte dann hinzu, daß er eine Theorie hät te, wonach es doch einen Weg gäbe, das Grab des Huan-Ti und da mit seine Tonarmee zu finden. Natürlich hörten wir ihm interes siert zu, obwohl uns nicht im Traum einfiel, daß wir einmal Nä heres damit zu haben würden. Stimmt's, Großvater?« »Nicht im Traum«, bestätigte Großvater. »Der Mann sagte, die mitgebrachten Steinmünzen würden den Weg zum Grab markieren. Dieses alte Dokument, das er in Taiwan ge funden hatte, beschrieb, daß die ansteigende Anzahl der Geldstü cke die Richtung weisen würde. Vom Meer aus betrachtet und mit einem dreispitzigen Berg als Ausgangspunkt. Ist doch ganz ein leuchtend, oder?« »Ich verstehe kein Wort«, sagte ich ruhig. »Kein einziges Wort.« »Oh, das ist gut!« erhob Leichenfresser den Zeigefinger. »Das ist voll okay! Hören Sie mal…«, meinte er, und fing an zu trällern. »So etwa:… Tamtatatam… Beim Dreispitzer, tamtatatam … liegt die Tonarmee, tratatatam … die Welt geht zu Ende, tratatatam … wenn die Steinsoldaa aaten erwachen … und das Urteil über uns fällen … tamtatatam. Ich muß noch etwas daran arbeiten, aber es klingt doch gut, nicht?« Ich schloß die Augen und versuchte mich zu konzentrieren. Judy mußte meine Pein wohl bemerkt haben, denn sie fuhr fort. »Der Chinese sagte, unweit von Peking, dicht am Meer, gäbe es einen Berg mit drei Bergspitzen. Und vor gar nicht so langer Zeit, kurz vor dem zweiten Weltkrieg, gab es dort eine Ausgrabungsstätte, wo man Huan-Tis Steingeld gefunden hatte. Einen ganzen Krug voll, genau fünfundzwanzig Stück.« »Halt! Woher wußte man, daß es das Geld von Huan-Ti war?« »Auf jedem war der Name des Herrschers eingemeißelt.« »Und dann?« »Hier wurden auch die Dokumente gefunden, von denen ich be reits gesprochen habe. Und diese Papiere besagten, daß man auf ei ner Linie vom Meer weg weitere Krüge mit Huan-Tis Geld finden 96
würde. Die Zahl der Geldstücke würde sich jedesmal um fünf er höhen… Verstehen Sie? Wenn jemand den Gefäßen in Richtung Sü den nachgeht, wird man einen Berg mit drei Kuppen finden, genauso wie der am Ausgangspunkt. Und unter diesem Berg wird man schließ lich die Tonarmee finden.« »Sie meinen, man hat weitere Krüge gefunden?!« »Na endlich haben Sie kapiert! Der Chinese meinte, in den Fünf zigern hätte man drei weitere Behälter ausgegraben. Sie sind jetzt alle in Taiwan, an einem geheimen Ort. Im ersten waren dreißig, im zweiten fünfunddreißig und im dritten vierzig Geldstücke. Ver stehen Sie? Und der Weg zeigte weiterhin in Richtung Süden. Nach Südostasien, um genau zu sein. Wir waren zu dem Kongreß ge kommen, um die Geschichte des Chinesen vorzutragen.« »Und?« »Es war ein durchschlagender Erfolg.« Obwohl ich das Gefühl hatte, es wäre alles nur ein Märchen, gab es mir doch zu denken. Vielleicht saßen wir ja wegen Huan-Ti in der Patsche? Konnte es sein, daß sich jemand so sehr nach dem Schatz des chinesischen Herrschers sehnte, daß er sich nach dem Vortrag von Judy und ihrem Großvater ein Flugzeug schnappte und der Le gende nachgehen wollte? Aber wozu brauchte man dann zum Bei spiel mich? Ich schüttelte den Kopf und versuchte, mich von der Aura ihrer Geschichte zu lösen. Wie bei jedem Mythos, gab es auch hier ei niges an faszinierender Naivität. Die Krüge mit immer mehr Geld stücken … hm… Ich nahm mir vor, zu Hause in London diesem Motiv etwas nach zugehen. Wo in den verschiedenen Kulturen der Berg mit drei Spit zen wohl noch auftauchen würde…? Und da Mal gerade in Begleitung von Lisolette an uns vorbei schlenderte, um an den irdischen Freuden teilzuhaben, die Villalobos gerade unter den Passagieren aufteilte, rief ich ihr ungewollt gewitzt nach: »Miss Malgorzata!« 97
Sie drehte sich um und hielt ihren hübschen Kopf fragend etwas schief. »Ja, bitte?« »Haben Sie nicht zufällig beim Vorbeifliegen einen Berg mit drei Spitzen bemerkt? Drei Bergkuppen, direkt nebeneinander?« Sie nahm die ihr entgegengestreckte Portion Sandwich und Whis ky entgegen, und prostete mir mit dem Plastikbecher zu. »Und ob ich den bemerkt habe! Beinahe wären wir sogar dage gengeknallt … nacheinander gegen jede der drei Spitzen!« Ich spürte, wie aus meinem Lächeln eine gekünstelte Fratze wur de. »Und … wo ungefähr?« »Ungefähr?« fragte sie und deutete hinter meinen Rücken. »Na hier, ungefähr! Vor Ihrer Nase! Sie können die Spitzen ja selbst zählen. Der Flugplatz liegt genau zu den Füßen dieses Berges.« Sie spazierte wieder an mir vorbei, ließ noch ein reizendes Lächeln aufblitzen und pflanzte sich mit ihrer Kopilotin unter eine Palme. Wir für unseren Teil starrten einander nur wortlos an. Selbst in Leichenfressers Hand hielten die beiden Stöckchen inne, die er noch kurz zuvor für Tamtatam-Zwecke mißbraucht hatte.
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eine Stimme klang etwas müde, als ich mich wieder zu Wort meldete. »Könnten Sie mir was über diesen Chinesen sagen?« »Viel mehr wissen wir auch nicht, oder, Großvater? Wir hatten ihm angeboten, daß er bei uns bleiben kann, aber er verschwand noch in derselben Nacht.« »Sie meinen, nach dem Zubettgehen? Er hat sich fortgeschlichen?« 98
»So könnte man es auch nennen.« »Haben Sie noch die Geldstücke? Die von Huan-Ti?« Traurig schüttelte sie den Kopf. »Er hat sie wieder mitgenommen. Und noch etwas Taschengeld…« »Soll das heißen, er hat Sie bestohlen?« »Na ja, nicht direkt. Er nahm fünfundzwanzig Dollar mit und hin terließ einen Schuldschein.« »Nichts weiter? Würden Sie ihn erkennen, wenn er wieder auf tauchen sollte?« »Wohl kaum. Und wissen Sie auch, warum?« »Nein. Beziehungsweise … Chinesen sehen für unsere Augen alle ziemlich gleich aus.« »Das hat damit überhaupt nichts zu tun. Unser unbekannter Be kannter trug einen Bart.« »Na und?« »Am nächsten Morgen habe ich ihn gefunden.« »Den Bart?« »Und Farbreste im Waschbecken. Er hatte uns nicht sein richti ges Gesicht gezeigt.« »Woraufhin Sie…?« »Nichts. Wir haben ihn mit der Zeit vergessen. Nicht aber seine Theorie. Und da er nie wieder auftauchte, beschlossen wir, seine Ge schichte weiterzugeben. Und ihr nachzugehen, nur für den Fall, daß etwas Wahres dran war.« »In der Maschine erwähnten Sie, daß Sie sich auch mit Tonfigu ren beschäftigen…« »Nur ich, mein Opa weniger. Er kümmert sich nur um Münzen. Ich selbst bin wohl so sehr der Legende des Huan-Ti verfallen, daß ich mich seitdem nur mit den Tonfiguren beschäftige.« Ich holte aus meiner Tasche die kleinen Figuren hervor und leg te sie in meine Hand, schön nebeneinander. Sie blickte sie fröstelnd an. »Das waren die aufgehängten, nicht?« »Ja, das waren sie. Jetzt, wo Sie sich ein wenig beruhigt haben, 99
würde ich Sie gerne um Ihre Meinung bitten…« Sie nahm die Frauenfigur, drehte sie in jede Richtung, schaute sich auch die Sohlen an, schüttelte dann aber den Kopf. »Über diese hier kann ich nichts sagen. Ich weiß nicht, wer sie gefertigt hat, aber sie sieht noch ziemlich neu aus. Das Gesicht ist mir auch nicht bekannt.« »Mir schon.« »Ach ja? Irgendeine Göttin?« »Nein. Eine Stewardeß.« »Wie bitte?« »Können Sie sich an die erhängte Stewardeß in dem kleinen Auf zug erinnern?« Sie schüttelte sich wieder und gab mir die Puppe zurück. »Ich will mich nicht erinnern!« »Ich bin aber überzeugt, daß dies ihr Gesicht ist.« »Wollen Sie damit sagen, die kleine Skulptur ist nach ihr gestal tet worden?« »Schauen Sie sich die andere an!« Auch diese nahm sie gehorsam an sich, begutachtete sie und zuck te dann mit den Schultern. »Kenne ich auch nicht. Die Figuren sind total neu!« »Sehen Sie sie sich genauer an!« schlug ich vor. »Erkennen Sie viel leicht jemanden von uns?« Sie starrte lange auf das Gesicht des Tonpüppchens, dann blick te sie mich an und fragte mit fröstelnder Stimme: »Villalobos?« »Das ist auch meine Meinung. Mich würde vor allem interessie ren, was Sie so alles über Tonfiguren wissen.« Sie gab mir auch die zweite Puppe wieder und zog dann die Bei ne an, um ihre Knie zu umarmen. »Was ich weiß? Nun, sehr viel, und gleichzeitig gar nichts. Die Her stellung von Tonfiguren blickt in China auf eine jahrtausendealte Tradition zurück. Ich übertreibe sicher nicht, wenn ich behaupte, die Porzellankunst wäre ohne die Kenntnisse aus dem Umgang mit 100
Ton nie zur Blüte gekommen. Jeder Chinese ist ein geborener Ton künstler. Schon vor vielen tausend Jahren kamen wunderbare klei ne Tonfiguren aus den Werkstätten in China. Zu Zeiten, als wir uns immer noch gegenseitig mit Steinäxten hinterherjagten…« »Kann man diese Stilrichtung konkret irgendeiner Epoche zu ordnen?« »Eindeutig Huan-Tis Zeit. Gewisse Stilmerkmale beweisen – hier, die Furchen in dem Stoff der Frau zum Beispiel, oder die Hand mit der Waffe bei der anderen Figur –, daß es dem Huan-Ti-Stil folgt.« »Folgt? Ist es nicht echt?« »Mit Sicherheit nicht. Ich glaube, er wurde in einem elektrischen Ofen gebrannt. Die dürfte es damals noch nicht gegeben haben…« »Hat es irgendeine Bedeutung, wen die Figur darstellt?« »Absolut! Kaiser genauso wie einfache Leute. Oder Götter. Die Kunst der Tonfiguren war schon damals gleichzeitig erhaben und profan. Die Geister der Wälder wurden ebenso verewigt wie die schlichten Fischer des Yang-tse.« »Kann es sein, daß es die Figuren aus der Tonarmee sind?« »Wie gesagt, sie sind vollkommen neu. Und wenn Sie fragen, ob man Huan-Tis Soldaten als Muster genommen hat … nun, ich weiß es nicht. Was suchen dann die Gesichter dieser Stewardeß und von unserem Mr. Villalobos auf ihnen?« Ich dachte im stillen, daß ich die Stewardeß zwar noch einiger maßen erklären könnte, Villalobos aber wirklich nicht ins Bild paß te. »Wie groß sind die Soldaten der Tonarmee? Ich meine, der Le gende nach?« »Wie normale Menschen. Also zwischen einsfünfzig und zwei Me ter.« »Oha… Und es soll mehrere tausend davon geben… Das hört sich ziemlich unwahrscheinlich an…« »Damals glaubte auch niemand an Troja.« »Was sagen Sie dazu, daß diese kleinen Püppchen aufgehängt wor den sind? Genau wie die Leiche der Stewardeß? Sie wurde nämlich 101
vorher bereits erwürgt, müssen Sie wissen.« »Ich bitte Sie … ich will nichts davon wissen!« »Wir können unseren Kopf nicht in den Sand stecken, Judy! Wenn wir vermeiden wollen, daß wir…« »Ich hatte auch mal einen Freund, der aufgehängt wurde«, sagte Leichenfresser und warf die Stöckchen fort, mit denen er bisher die Luft zertrommelt hatte. »Er wurde einfach aufgehängt…« »Wo?« erkundigte sich Großvater und schaltete sein Hörgerät eine Stufe stärker. »Wo denn?« »An einem Haken«, meinte Leichenfresser und lächelte trübe die Sterne über ihm an, als ob nur die etwas Genaueres über die Um stände erzählen könnten. »Armer Junge«, meinte Großvater. »War er unartig?« »Eher besoffen«, erwiderte der Musiker. »Ihm war schlecht, also hat er den Schreibtisch des Hauseigentümers vollgekotzt. Das lus tige daran war, der Kerl war irgend so ein Nobelpreisträger … wir waren bei seiner Tochter eingeladen … es war eine super Party, üb rigens, soweit ich mich erinnern kann… Jedenfalls, plötzlich war es soweit, und die kleine Pfütze war nicht mehr aus der Welt zu schaf fen… Der Mann war bei der Feier nicht dabei … und als er dann nach Hause kam und sein Manuskript … wie soll ich sagen … in unleserlicher Form wiederfand, wurde er unheimlich wütend. An geblich gab es nur dieses eine Exemplar, und er sollte es am nächs ten Tag irgendeinem Verlagstypen geben… Also nahm er meinen Freund und hängte ihn einfach in der Garderobe an irgendeinem Haken auf. Es war eine äußerst brutale Tat, von einem äußerst bru talen Mann…« »Ist er gestorben?« erkundigte sich Großvater. »Ach was. Er hat von vorne angefangen. Mußte alles wieder neu schreiben. Tolle Sache, was?« Großvater schüttelte verständnislos den Kopf, und ich versuch te, mit Meditation die inzwischen regelmäßig auftauchenden Stiche hinter meinem linken Ohr zu unterdrücken. »Entschuldigen Sie«, wandte ich mich an Leichenfresser, »aber dürf 102
te ich Ihre Geschichte unterbrechen? Ich würde gerne fortfahren…« »Sicher doch! Meinem Freund ist übrigens nichts passiert, er muß te lediglich eine unangenehme Magenspülung über sich ergehen las sen.« »Miss Judy«, seufzte ich, »haben Sie jemals etwas über aufgehängte Tonfiguren gehört? Ich meine, als Teil einer Legende oder als Kunst objekt?« Sie dachte angestrengt nach und schüttelte dann den Kopf. »Keine Spur!« Großvater klopfte gegen sein Hörgerät und stierte mich dann plötz lich an. »Ich schon! Wollen Sie was über erhängte Tonfiguren erfahren?« Mißtrauisch beäugte ich seine Hörhilfe. »Ja, warum?« »Haben Sie von den Stranglern gehört?« »Von den wen?« »Den Stranglern. Die Bande der Strangler… Nein, nicht?« »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.« Der alte Mann zog nun seinerseits die Beine an, um sie zu umar men, wie kurz zuvor seine Enkeltochter. »Das war, als die Chin-Dynastie die Macht verlor…« »Im 17. Jahrhundert?« »Genau. Als die Mandschuren die Herrschaft übernahmen. Ha ben Sie noch keine Holzschnitte gesehen, hä? Von den Hinrichtungen der Strangler?« »Nie im Leben!« »Wenn ich mich richtig erinnere, war es irgendeine Form von Volks zorn, der das Ganze ins Leben rief. Es richtete sich gegen die man dschurische Obrigkeit und die Mandarine. Die besitzlosen Bauern schlossen sich zu Banden zusammen, gingen in die Berge und brann ten kleine Tonfiguren. Wenn sie erfahren hatten, daß irgendein Man darin die Bevölkerung zu hart rannahm oder ein Landgutsbesitzer selbst über das damals Übliche hinaus Schrecken und Tod verbreitete, erschufen sie sein Miniaturabbild aus Ton und hängten es an sei 103
ner Tür an einen Nagel. Die Anführerin dieser Leute war eine wun derschöne Frau, sie hieß Jü Tao-Chun. Und im Namen des gerechten Kaisers Huan-Ti ließ sie Mörder oder harte Mandarine aufknüpfen. Sie verbreitete über sich, der Geist des Huan-Ti wäre in sie gezogen, und mit seiner Hilfe würde sie auch die Figürchen anfertigen.« »O ja!« rief Leichenfresser erfreut, »diese Sache kenne ich bereits! Einmal haben wir in Rio gespielt. Die Baßgitarre bekam plötzlich solche Rückenschmerzen, daß sie nicht spielen konnte. Wenn sich der Junge auch nur ein wenig nach vorne beugte, war es aus… Wir haben ihn mit allem eingerieben, was man kriegen konnte, ohne Erfolg! Dann sagte unser Impresario, die Konkurrenz wäre schuld daran. Man hätte einen Zauberer aufgesucht, der aus Wachs die Fi gur unseres Freundes geformt hatte, und wann immer sie jetzt eine Nadel in seinen Rücken steckten, ginge es ihm schlecht. Sie haben ihn verzaubert, oder sowas! Und er wurde erst wieder gesund, als wir Rio verlassen haben! Dann war er plötzlich wieder okay.« »Weiter«, herrschte ich Großvater schnell an. »Nun … sie haben also seine Figur aufgehängt, allerdings ohne eine Nadel! Sie wollten ihn einfach nur warnen, und wenn das nichts nutzte, wurde der Delinquent schließlich ermordet.« »Wie?« hakte ich aufgeregt nach. »Was weiß ich? Wahrscheinlich wurde er erhängt, und daher der Name dieser Leute!« So weit waren wir gekommen, als plötzlich ein greller Schrei die Stille zerriß. Von den nahegelegenen Bäumen flogen aufgeschreckte Vögel in die Höhe, und die uns umgebenden, inzwischen un sichtbaren Berge beglückten uns eine ganze Weile noch mit dem Echo dieses Schreies. Ich sprang auf, entsicherte die Maschinenpistole und rannte auf die Stimme zu. Leichenfresser war mir dicht auf den Fersen, und irgendwann vernahm ich auch noch das Keuchen von Villalobos an meiner Seite. »Was ist passiert?« »Woher kam die Stimme?« 104
Keiner gab mir eine Antwort, aber inzwischen war das auch über flüssig. Nicht weit vor uns teilten sich die Büsche, und die beiden Tennismädchen torkelten hervor. Besser gesagt, eines torkelte, das andere umarmte und stützte ihre zu Tode erschrockene Freundin. Ich hielt die Waffe auf das Gebüsch gerichtet, aber niemand folg te ihnen. Leichenfresser und Villalobos waren sofort bei ihnen. Der Mu siker pellte mit bis dato unvorstellbarer Zärtlichkeit das offensichtlich nicht ganz bei Bewußtsein weilende Geschöpf von der Schulter der anderen. Einige Schritte später stand ich ebenfalls bei ihnen. Der Musiker legte das Mädchen auf den Boden und blickte mich ratlos an. Vil lalobos brummte etwas, schob den Lilahaarigen beiseite und fing an, sie sanft, aber bestimmt zu ohrfeigen. Ihre Freundin zitterte wie Espenlaub, und schließlich landete sie in meinen Armen. Sie war dünn und drahtig, wie eine typische Sport lerin von etwa fünfzehn Jahren es auch sein sollte. Ich streichelte ihre Wangen in der Hoffnung, sie würde nicht wie ihre Freundin das Bewußtsein verlieren. Einige seltsame Drehungen mußten ihre Augen zwar mitmachen, aber es waren keine Anzei chen eines Anfalls. Bald war sie soweit beruhigt, daß sie sogar spre chen konnte. »Furchtbar… Schrecklich…«, keuchte sie. »Wir … wir mußten in die Büsche … und auf dem Baum … dem Baum…« »Was ist auf dem Baum?« »Auf dem Baum…« Da Villalobos immer noch mit der anderen beschäftigt war, pla zierte ich das Mädchen auf dem Boden und ergriff die Hand von Leichenfresser. »Können Sie mit Waffen umgehen?« »Wenn Sie mir zeigen, auf welcher Seite die Kugel rauskommt…« »Na gut, dann… Wo ist das Messer von Wimmer?« Leichenfresser verschwand und kehrte kurz darauf mit dem ge suchten Tauchermesser wieder auf. 105
Schnell schlugen wir uns in die Büsche. Ein paar Zweige presch ten uns ins Gesicht. Leichenfresser spazierte mit vollem Elan in eine kleine Erdspalte. »Sind Sie sicher, daß wir auf dem richtigen Weg sind?« fluchte er. Obwohl ich schon lange nicht mehr im Dschungel gewesen war, konnte ich dennoch ziemlich gut ihre Spuren verfolgen. Abgebro chene Zweige und heruntergefallene Blätter zeigten mir unmißver ständlich die Richtung. Der Mond und die Sterne schließlich ga ben genügend Licht für die Suche. Wir mußten gar nicht so weit gehen. Nachdem ich Leichenfres ser aus dem Loch befreit hatte, gelangten wir auf eine kleine Lich tung. Es waren nur etwa zwanzig Meter, die sie vom Flugplatz trenn te. Am anderen Ende dieser Wiese stand ein riesiger, dicht bewach sener Baum. Die im Mondlicht hervortretenden Konturen der Zwei ge und Äste hätten sicherlich jeden kreativ begabten Menschen zum Abmalen dieser Szenerie bewegt. Der etwas nach unten gerichtete Ast hingegen, der wie die Kral le eines riesigen Vogels seine Silhouette gegen den Himmel warf, wäre wohl kaum mit auf das Bild gekommen. Kein Maler hätte das Mo tiv mit in seine Schöpfung übernommen. Der bleiche Lichtstrahl des Mondes über Laos beleuchtete näm lich eine dunkle, menschliche Gestalt, wie sie in langsamem Tem po ihre Runden um die eigene Achse drehte. Aus der Ferne, vielleicht sogar direkt von den Spitzen des Berges kam das Geräusch eines kreischenden Raubvogels.
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ensch ärgere dich nicht!« »Wie bitte?« »Wie in dem Spiel. Wir werden immer weniger. Von Zeit zu Zeit wird einer von uns immer ins Aus befördert.« Die Beine des erhängten Mannes baumelten vor meinem Gesicht. Seine mit dünnen gelben Fäden zusammengenähten Seidenschuhe drehten sich direkt vor meinen Augen. Ich hatte gerade vor, ihre Bewegung zu stoppen, als mich Leichenfresser mit einem Aufschrei warnte. »Warten Sie! Da, am Bein!« Zwischenzeitlich hatte ich es auch gesehen. Über einem der Sei denopanken hatte man eine dünne Nylonschnur angebracht. Sie reich te beinahe bis zum Boden; kaum einige Zentimeter fehlten zu den Grasspitzen. Und am Ende des Seils hing eine kleine Tonfigur, die pflichtbewußt den Bewegungen ihres Eigentümers folgte. Ich nahm das Püppchen in die Hand, seufzte auf und riß es mit einem Ruck frei. Die Schnur platzte kurz unter dem Knöchel und brachte die Leiche erneut in unkontrolliertes Schwingen, als ob sie losfliegen oder sich zu den drei Zacken des Berges vor uns bege ben wollte. So drehte und wendete sie sich über unseren Köpfen dahin, bis ich sie schließlich an den Füßen festhielt und zum Ru hestand brachte. Leichenfresser hatte sich in den letzten Stunden enorm verändert. Kurz zuvor, in einigen tausend Metern Höhe, wur de ihm beim Anblick der toten Stewardeß noch schlecht, jetzt blin zelte er nicht einmal. »Was machen wir?« erkundigte er sich stumpf. »Holen wir sie run ter?« »Versuchen wir es«, antwortete ich. »Geben Sie mir das Messer!« Leichenfresser machte eine Räuberleiter, ich kletterte hoch und schnitt das Seil durch. Eigentlich würde ich so etwas pietätvoller machen; nur waren wir 107
gerade in Laos, neben uns ein unbrauchbares Flugzeug, wer weiß wie weit von der nächsten bewohnten Ortschaft entfernt. Außer dem war es Nacht, die Raubvögel kreischten, und mit meinen Ner ven ging es so ziemlich zu Ende. Die Leiche fiel mit einem dumpfen Aufprall zu Boden. Ich sprang aus Leichenfressers Hand und beugte mich über sie. Das Gesicht blickte in den Himmel, der Körper lag seltsam verdreht da, wie es nur Körper an sich haben, die kurz zuvor tot ins Gras gefallen sind. Die vormals hübschen Augen observierten mit glasigem Ausdruck die Sterne, begleitet von der unausgesprochenen, verzweifelten Fra ge: warum? In der Tat, warum? »Darcy?« fragte Leichenfresser absolut überflüssig, schließlich wuß ten wir beide sehr genau, daß es sich um die kleinere Stewardeß han delte. Leichenfresser lehnte seinen Rücken gegen einen Baumstamm und blickte starr auf das Mädchen. »Was ist hier nur los?« fragte er, und seine Stimme klang heiser und erschöpft. »Was geht hier vor sich?« Ich hatte in meinem Leben auch schon leichtere Fragen gehört. Ich hielt die kleine Figur ins blasse Licht des Mondes. Soweit ich es in dem Halbdunkel erkennen konnte, war ihr Gesicht das von Darcy. Die Haare und die Bekleidung erinnerten mich an die der anderen Stewardeß-Puppe. Es entsprach sicherlich den Traditionen des Huan-Ti-Zeitalters. »Ist sie es?« keuchte Leichenfresser und beobachtete dabei gespannt, wie ich die Tonfigur untersuche. »Ja.« Plötzlich teilten sich die Büsche, und Van Broeken schob sich auf die Lichtung. Ohne ein Wort zu sagen, trat er zu Darcy und be gutachtete ihren Hals. Dann zog er mit dem Finger die Linie des Strickes nach und nickte anerkennend. »Das war jetzt endlich ein Metalldraht!« Es war wohl der letzte Tropfen im Glas. Ich schob mein Gesicht 108
ganz nah an das seine, und funkelte ihm in die Augen. »Wollen Sie mir vielleicht etwas sagen, Mr. Van Broeken?« Er lächelte und blickte dabei auf die kleine Figur in meinen Hän den. »Woran denken Sie, Lawrence?« »Haben Sie mich sofort erkannt, als Sie im Flugzeug aufgewacht sind?« »Natürlich. Kann man Sie denn je vergessen?« »Wie sind Sie in die Maschine gekommen?« »Wie ich es erzählt habe. Stellen Sie sich vor, ich habe Ihnen die Wahrheit und nur die volle Wahrheit gesagt! Jemand hat mich übers Ohr gehauen. Anstatt jetzt in Peking zu landen, stecke ich hier mit Ihnen in der Hölle fest. Gut, nicht? Sie haben mich auch wieder erkannt?« »Erst später. Sie haben sich verändert, Van…« »Van Broeken. So lautet jetzt mein Name.« »Damals…« »Damals ist inzwischen Vergangenheit, Lawrence! Darüber gibt es nichts weiter zu sagen!« »He, was zum Teufel…«, staunte Leichenfresser. »Sie kennen sich?« »Sehr gut sogar«, lächelte Van Broeken. »Mr. Lawrence verdanke ich es, daß ich den Strafvollzug der Vereinigten Staaten kennenlernen durfte. Vier Jahre mußte ich dieser Erfahrung widmen. Aber … ich hatte es verdient! Wer ungeschickt ist, soll dafür auch bezahlen!« »Sammeln Sie immer noch Kunstgegenstände?« fragte ich und ver suchte, irgendeinen Zusammenhang zwischen dem Auftauchen von Van Broeken und den Geschehnissen zu finden. »Wenn ich mich richtig erinnere…« »Sie wollen fragen, ob ich immer noch ein Hehler bin? Nein, na türlich nicht mehr. In meinem Alter und in meiner gesellschaftli chen Position kann sich ein Mensch das nicht mehr leisten! Wis sen Sie, ich habe etwas Geld. Und ich liebe die Kunst der vergan genen Jahrhunderte. Ob Sie es glauben oder nicht, ich habe vor, ein Buch über die Tonfigurenkunst in China zu schreiben. Deswegen 109
war ich ja auch auf dem Kongreß! Abgesehen davon, alles hat sich wirklich so zugetragen, wie ich es Ihnen erzählt habe. Ich habe kei ne Ahnung, warum ich hier bin, oder Sie! Haben Sie sich etwa wie der in irgend etwas hineinmanövriert, Lawrence?« »Halt, halt! Langsam mit den jungen Pferden!« piekte mir Lei chenfresser seinen Finger in den Magen. »Wer sind Sie denn nun, hä? Und was soll das heißen, schon wieder? Und was soll das hei ßen, Sie hätten diesen … Herrn hier ins Gefängnis gebracht? Sind Sie etwa irgendein Bulle?« »Na ja, etwas in der Art«, gab ich zu, und es gefiel mir immer we niger, daß es langsam die ganze Nachbarschaft erfuhr. »Ich werde es Ihnen erklären, später! Vorerst behalten Sie das bitte noch für sich!« »Mir gefällt das nicht«, meinte der Musiker und kratzte sich am Haarschopf. »Hat man mich hier irgendwie übers Ohr gehauen?« »Ich habe Sie nicht übers Ohr gehauen, aber es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um das zu erklären! Wenn Sie nicht vorhaben, auch an einem Ast zu schaukeln, sollten Sie Ihren Mund halten, klar?!« »Es ist überhaupt nicht klar!« »Wäre aber besser, Sie würden den Rat von Mr. Lawrence befol gen«, half mir Van Broeken aus. »Er ist ein Experte in Sachen Mord.« »Sie wohl eher«, sagte ich. »Schauen Sie sich doch Ihren Hals an!« »Was soll ich mir da anschauen? Ich sagte doch bereits, es war ein Stahldraht oder eine Garrotte. Sie können es nennen, wie Sie wol len. Auf jeden Fall war es saubere Arbeit.« »Mann oder Frau?« Er blickte den Baumstamm hoch, versuchte, Darcys Gewicht zu schätzen, und zuckte dann mit den Schultern. »Hätte auch eine Frau sein können. Eine starke Frau kann durch aus eine Garrotte benutzen und die Leiche dann an einem Baum aufknüpfen.« Ich dachte an die Tennismädchen und winkte in Gedanken auch gleich wieder ab. Selbst gemeinsam wären sie dazu nicht fähig ge wesen. »Womit beschäftigen Sie sich neuerdings, Van Broeken?« 110
»Wie gesagt, mit kleinen Tonfiguren.« »Suchen Sie den Schatz des Huan-Ti?« Er lächelte anerkennend. »Bravo. Gute Arbeit. Und falls ja? Schatzjagd ist nicht strafbar!« »Woher wissen Sie überhaupt von der Legende?« »Na hören Sie mal! Schließlich arbeite ich seit Jahren in der Kunst szene! Wissen Sie, wie viele Geschichten es über verlorene Schätze und Ähnliches gibt? Aus dem Stehgreif wüßte ich ein Dutzend Pha raonen und Inkakönige, deren Grab noch nicht gefunden wurde, aber Märchen und Legenden mit Gewißheit den genauen Ort auf zeichnen…« »Und warum sind Sie dann nicht denen auf der Spur?« »Gute Frage«, lachte er auf. »Die werde ich aber auch noch krie gen. Vorerst konzentriere ich mich auf die Tonarmee.« Leichenfresser hörte uns mit offenem Mund zu, dann brummte er: »He! Worüber quatschen Sie da? Und was soll das«, deutete er auf Van Broeken, »daß Sie sich so gut in Sachen Erwürgen auskennen? Hä?! Raus damit, Mann!« Van Broeken lächelte und breitete die Arme aus. »Ein Fehltritt aus meiner Jugend!« meinte er. »Es gab Zeiten, da gehörte es zu meinem Beruf!« »Sie waren ein Henker?« Van Broeken lachte erneut auf, mit einer belustigt wirkenden, doch diesmal irgendwie traurigen Stimme. »Henker?! Nun ja, fast. Ich war ein Bulle, mein lieber Freund, falls es Sie interessiert… Ich war in Antwerpen sogar der Oberbulle. Aber das ist lange her. Sehr lange.« »Seitdem hat sich Herr Van Broeken auf die andere Seite der Bar rikaden geschlagen, nicht wahr?« Noch bevor er darauf antworteten konnte, erschienen plötzlich mehrere Personen auf der kleinen Lichtung. Da weder Judy noch die jungen Teenager dabei waren, mußte ich meine Ohren vorerst nicht gegen allzu laute Schreie, wappnen. Mal und Lisolette sahen 111
zwar etwas geschockt aus, doch sie schienen keinem Nervenzu sammenbruch nahe zu sein. Einige Sekunden später waren auch der dicke Mann und die alte Frau bei uns. Mit dem heiligen Grausen der Schaulustigen begut achteten sie das Gesicht der Toten. Schließlich war es Mal, die der Situation überdrüssig wurde. Sie nahm ihre Fliegerjacke von der Schul ter und legte sie der Stewardeß über den leblosen Körper. Wimmer zog verzweifelt seine Seemannsmütze über die Augen. »Du lieber Gott! Die hat man aber schlimm erwischt! Wurde sie vergewaltigt?« Niemand antwortete ihm. Die alte Dame in dem lilafarbenen Hut zwängte sich neben mich und piekste mich in die Seite. »Wer sind Sie, mein Sohn?« Ich zwang mir ein zaghaftes Lächeln auf die Züge. »Leslie L. Lawrence.« »Oh, der berühmte Käferforscher? Ich muß sagen, was Sie bei uns veranstaltet haben, war ein Eklat!« »Wie bitte?« »Ach, Sie wissen ja wahrscheinlich gar nicht, wen Sie vor sich ha ben, nicht?!« »Ehrlich gesagt…« »Ich bin Wilhelmina von Rottensteiner. Ich hoffe, der Name sagt Ihnen etwas!« Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. Ihr Name sagte mir nicht nur etwas, er erinnerte mich geradewegs an das schlimmste Fiasko meiner Laufbahn! Mein Gott, damals waren wir uns ja so gar persönlich begegnet! Automatisch suchten meine Augen nach einem Stuhl, auf den ich mich setzen konnte. Für einige Sekunden vergaß ich sogar, daß ich mich im Dschungel befand. In der Zwischenzeit stützte sie sich auf ihren Regenschirm und beschrieb mit der dürren, ausgestreckten Hand einen Halbkreis. »Was zum Teufel soll das alles hier?« 112
»Das würde ich auch gerne wissen«, sagte ich. »Wie kommen Sie denn hierher, Frau Professor?! Ich meine, nach Bangkok?« »Wie denn wohl? Mit einem Flugzeug. Allerdings mit einem rich tigen, nicht so einem wie dem hier… Ich fliege, wenn es geht, im mer nur mit der Lufthansa, mein Sohn. Da hatte ich noch nie ir gendwelche Probleme!« »Haben Sie auch an dem Kongreß teilgenommen?« »Selbstverständlich.« Ich starrte in die Dunkelheit und dachte darüber nach, mit wem alles mich mein Schicksal hier, am Fuße des Dreispitzigen Berges, zusammengeführt hatte. Am Ende stellte sich noch heraus, daß sich hier alle Archäologen der bekannten Welt ein Stelldichein gaben. Denn Wilhelmina von Rottensteiner war eine Archäologin, und zwar eine von der bekannteren Sorte. Sie leitete das Institut der Ham burger Universität, hatte an unzähligen Ausgrabungen in ganz Asien mitgewirkt und personifizierte – wie bereits erwähnt – das schlimmste Ereignis meiner Laufbahn. Als Entschuldigung könn te ich höchstens vorbringen, daß ich damals gerade erst angefan gen hatte, mich mit Käfern zu beschäftigen, und bis dato meine ge samte Zeit den asiatischen Schriftrollen und Patschken gewidmet hatte. Ich arbeitete in London an der Hochschule und hatte gera de einen Artikel über eine bestimmte Holzfresserart geschrieben, die mit Vorliebe Museen schädigt. Der Bericht war – mit heutigen Augen – ziemlich stümperhaft und herablassend verfaßt worden, aber kurz nach Erscheinen erhielt ich einen Brief von Frau von Rot tensteiner. Sie teilte mir mit, daß ich meine Ergebnisse gerne auch in der Praxis vorführen könnte, da ihre Fakultät gerade von der von mir behandelten Schädlingsart heimgesucht werde. Sie würden mich bei Erfolg für ewig in ihre Gebete mit einschließen. Unnötig zu sa gen, daß ich sofort in dem nächsten Flieger nach Hamburg war. Zwei Monate später, als ich Deutschland wieder – fluchtartig – verließ, hatte sich die Anzahl der Holzfresser entschieden erhöht. All die Wirkstoffe, von denen ich so überzeugt in meinem Artikel berichtet hatte, entpuppten sich als wahre populationsfördernde Wundermittel. 113
»Und was machen Sie in diesem Urwald?« fragte sie. »Ich war auf dem Weg zu einem Pandakongreß.« »Na«, spitzte sie die Lippen, »da wären Sie richtig. Die müssen sich in der Tat vermehren, statt auszusterben!« Ich schluckte, aber sie zog den Schirm aus der Erde und klopf te mir damit auf die Schulter. »Kopf hoch! Alte Schachteln wie ich brauchen hin und wieder et was Schadenfreude! Wenn Sie einen Moment Zeit haben, können Sie mir später ja mal erklären, in was für einen Schlamassel wir ge raten sind. Dieses arme Mädchen dort wurde ermordet. Und wenn ich es richtig verstanden habe, gab es da oben auch schon so ei nen Vorfall. Ich hoffe, Ihre Hände sind dabei sauber?!« »Natürlich. Aber Sie haben mir noch nicht gesagt…« »Ihnen werde ich es verraten! Mich interessiert die unterirdische Tonarmee! Deswegen war ich in Bangkok.« »Schickt man denn das Programm im voraus zu?« erkundigte ich mich vorsichtig. »Natürlich.« »Daher wußten Sie also, daß es einen Vortrag über Huan-Tis Schatz geben würde?« Sie blickte mich an, als ob ich einer ihrer Studenten wäre, der ge rade gestanden hätte, daß er sich nicht auf die Übung vorbereiten konnte. »Einen Dreck! Kein Wort stand darüber im Programm! Das hat te man mir erst nachträglich mitgeteilt. Übrigens beschäftigt mich die Sache mit Huan-Ti schon seit langem. Ich habe auch etliche Ar tikel darüber verfaßt. Das weiß jeder!« »Man hat es Ihnen später erst mitgeteilt?« »Per Telegramm.« »Wer?« »Na, die Organisatoren!« Etwas in meinem Kopf machte klick, und ich spürte, daß ich auf der richtigen Spur war. »Aus Bangkok?« 114
»Natürlich! Man hat mir Bescheid gegeben, daß ein zuvor nicht angekündigter Vortrag zum Thema Tonarmee gehalten würde, der mich bestimmt sehr interessieren dürfte. Sie waren so freundlich und hatten mir sogar schon die Zimmer im voraus bestellt. Die Orga nisatoren wollten sogar einen Teil meiner Kosten übernehmen! Nett, nicht?« »Unter welchem Namen meldete man sich bei Ihnen?« »Was soll das heißen? Die Or-ga-ni-sa-to-ren. Klar?!« »Und Sie sind losgeflogen?« »Selbstverständlich!« »Und wer hätte diesen Vortrag halten sollen?« »Wer? Ach, irgend so ein Chinese. Wie hieß er doch gleich? Ah, ja! Professor Kao Ven! Aber ob er aus China oder Taiwan kommt … keine Ahnung! Was ist? Wieso sind Sie so blaß? Kennen Sie den Mann etwa? Wissen Sie, wer es ist?« Sie wäre sicherlich sehr überrascht gewesen, wenn ich genickt und ihr mitgeteilt hätte, daß es sich um einen Pandabären handelte. Ei nen toten Pandabären.
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ein Gesicht sah wohl ziemlich lächerlich aus, denn sie schau te mich sorgenvoll an. »Ist Ihnen schlecht? Verdammt, diese Toten … langsam gehen sie auch mir auf die Nerven!« »Eine Frage noch«, nahm ich mich zusammen. »Als Sie in Bang kok ankamen, lief da alles normal?« Sie prustete und stampfte wütend auf. »Im Gegenteil! Diese Spitzbuben haben irgendwas verwechselt. Ers tens, dieser Mann hielt gar keine Vorlesung. Der ganze weite Weg, 115
und kein Vortrag! Und auch kein Chinese, der ihn halten würde. Haben Sie so etwas schon einmal gehört?! Aber das war noch gar nichts! Meine Zimmerreservierung wurde nicht anerkannt, und das versprochene Geld wollte man mir auch nicht auszahlen! Zum Glück hatte ich ein paar Reiseschecks dabei. Mein lieber Sohn, seitdem es diese Computer gibt, wird alles durcheinandergebracht.« »Ich verstehe. Und wie sind Sie in diese Maschine gekommen?« »Ich habe keine Ahnung. Ach ja, ich wollte nach Peking; ich dach te mir, wenn ich schon mal da bin, kann ich auch einen kleinen Abstecher zu ein, zwei Kollegen machen. Man kommt in meinem Alter ja kaum noch zu solchen Reisen. Und was passiert? Es stellt sich heraus, ich sitze im falschen Flieger. Dann auch noch die vie len Waffen und alles…« Gerne hätte ich die Unterhaltung noch fortgesetzt, aber da die Nacht nun wirklich ganz dunkel über uns eingebrochen war, muß ten wir uns mit irdischeren Dingen beschäftigen. Vor allem, was mit Darcys Leiche passieren sollte. Auch die Tatsache, daß über unse ren Köpfen in der Maschine weitere Tote herumlagen, stimmte mich nicht ruhiger. In bezug auf die tote Stewardeß gab es mehrere Vorschläge. Die Tennismädchen spielten abwechselnd das Spiel Bewußtloswerden, bis ich ihnen schließlich in meiner Not eröffnete, ihr ständiges Grei nen würde die wilden Tiere anlocken. Daraufhin zogen sie sich zu sammen und zurück und zitterten gemeinsam wie Espenlaub un ter einer Decke. Auch Mal und Lisolette wärmten sich mit einer aus dem Flugzeug erbeuteten Wolldecke und fielen sofort in einen tiefen Schlaf. Ich glaube, der lange Tag hatte die beiden am meisten in Anspruch ge nommen. Wir Männer entschieden, abwechselnd Wache zu schieben. Trotz der Geschehnisse war ich kein bißchen müde. Also schulterte ich die Maschinenpistole und verabredete mich mit Villalobos für Mit ternacht. Darcys leblose Hülle lehnte ich gegen die Reifen der Boeing und 116
deckte sie zu. Ich war ganz in meine philosophischen Gedanken ver sunken, als plötzlich Wimmer neben mir auftauchte und mit einem Grashalm zwischen den Zähnen neben mir Platz nahm. »Verdammter Mist, diese Sache«, stellte er fest. »Ich bin müde und kann trotzdem nicht schlafen. Außerdem habe ich Angst, daß ich aufwache und merken muß, wie mich der Wind unter dem Ast hin und her baumeln läßt. Und Sie?!« »Deswegen habe ich meine kleine Kanone hier…« »Bisher hat die auch nicht viel ausrichten können…« »Das stimmt. Aber inzwischen sind wir vorgewarnt. Wir wissen, daß wir in Gefahr sind.« »Sollte mich das jetzt beruhigen?« »Bitte erzählen Sie mir noch etwas über Ihren Onkel!« Er klatschte sich mit der Hand gegen die Stirn. »Himmel, daran denke ich schon die ganze Zeit! Alles hat irgendwie mit diesen Tonsoldaten zu tun… Und Onkel John hatte in seinem Geschäft auch solche kleinen Figuren, wie… Meinen Sie, die haben auch mich im Visier?« »Ich glaube nicht…« Meine Stimme klang nicht sehr überzeugt, das wußte ich. »Das glauben Sie nicht? Und was soll dann dieser ganze Zirkus hier, hä? Die Leute fallen wie die Fliegen. Und überall diese Figu ren… Wenn ich das hier mit heiler Haut überstehe und zu den Jungs zurückkomme, werde ich ihnen sagen, daß sie einen Dreck auf schwar ze Kater oder alte Holzbein-Seebären geben und sich lieber vor klei nen Tonfiguren in acht nehmen sollen…« »Erzählen Sie von ihrem Onkel John!« »Was soll ich noch sagen? Er lebte in Idaho so vor sich hin, zu sammen mit seinem Krempel. Er liebte die Chinesen. War bei je dem ihrer Feste dabei, aß mit Stäbchen und so.« »Sie erwähnten eine Figurensammlung…« »Richtig. Wissen Sie, ich war noch ein Kind und interessierte mich für den Orient. Er sagte, daß viele wie er Figuren oder Skulpturen sammeln würden. Es gibt ganze Sammlungen, und wenn auch nur 117
ein Stück fehlt, würde man ganze Kontinente bereisen, um es zu finden. Ich sage Ihnen, Marotten haben manche Menschen! Einer meiner Kumpel, zum Beispiel…« »Hat er jemals über die Tonarmee gesprochen?« »Kein Wort. Was ist das? Mein Gott, eine Terroristengruppe? Und mich werden sie als ersten hinrichten, weil ich Amerikaner bin. Und außerdem Soldat…« »Das ist doch keine solche Armee, Mann!« »Ach, nein? Sondern?!« »Lauter Tonsoldaten. Figuren wie die hier, nur menschengroß. Ih nen fällt nichts dazu ein?« »Nichts. So etwas hatte er bestimmt nicht in seiner Sammlung.«
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ein nächster Gast war der hagere Rothaarige, Theodor Har dy. Er pflanzte sich neben mich hin, umarmte seine Knie und sagte mit Grabesstimme: »Wir kennen uns noch nicht. Oder besser gesagt, Sie kennen mich noch nicht…!« Überrascht blickte ich auf. »Wieso … was heißt das?« »Ich weiß so einiges über Sie…« »Ach ja?! Zum Beispiel?« »Zum Beispiel, daß Sie Asien wie Ihre Westentasche kennen. Wol len Sie auch ein paar Einzelheiten aus Ihrer Vergangenheit erfah ren?« Ganz ungewollt schob sich der Lauf meiner Waffe in seine Rich tung. Er merkte es und lächelte müde. 118
»Die alten Reflexe, was? Nun, glauben Sie mir, die Informationen sind aus bester Hand. Ich weiß zum Beispiel, daß Sie Offizier der RAF, der Königlichen Air Force, waren. Und Erfahrungen in In dochina sammelten. Sowie einige ziemlich dunkle Gestalten aus die ser Gegend kennengelernt haben. Soll ich fortfahren?« Es war in der Tat erschreckend, was er da sagte. Vor allem, da es hundertprozentig stimmte. »Über Sie werden Legenden erzählt, Lawrence«, fuhr er fort. »Ken ner östlicher Sprachen, ein bekannter Käfersammler. Na, wie war ich?« »Was wollen Sie von mir? Und vor allem, wer sind Sie?« »Oh, ich bin nur ein einfacher kleiner Reporter. Theodor Hardy; nicht mehr.« »Für welches Blatt arbeiten Sie?« »Welches auch immer gut bezahlt. Ich bin Freiberufler.« Ich verzog die Mundwinkel. Typen wie er, sogenannte freie Mit arbeiter, Hyänen, denen nichts und niemand heilig sein konnte, wa ren mir zuwider. Außer Geld und vielleicht das eigene Leben inte ressierte sie nichts wirklich. »Wenn ich Ihr Schweigen richtig deute, halten Sie nichts von Leu ten wie mir.« »Wie sind Sie hierher gekommen?« »Ich bin womöglich der einzige, der wirklich auf diesen Bug woll te.« »Sie wußten, was hier vor sich gehen würde?« »Wissen nicht, aber Vorahnungen hatte ich schon.« »Vorahnungen? Daß man uns entführen würde?« »Ja.« »Und … und…« Ich wollte ihn fragen, warum er dann nicht Bescheid gesagt hat te, uns warnen oder der Polizei einen Tip gegeben konnte. Aber dann schluckte ich die Frage wieder runter. Für Menschen wie ihn gab es dazu keinen Grund. Er rannte nicht zur Polizei, nicht einmal, wenn tausend Bomben in der Maschine gewesen wären. Keine Ex 119
plosion, keine Story. Eine Story, die er als erster meistbietend an irgendein Boulevardblatt verhökern konnte… »Warum sind Sie zu mir gekommen?« »Ich muß unbedingt mit Ihnen reden.« »Über was?« »Sehen Sie, ich weiß, daß Sie mich verachten oder auch hassen. Ich will Sie jetzt nicht davon überzeugen, daß auch wir einen be rechtigten Platz unter der Sonne haben…« »Sondern?« »Hören Sie mir einfach nur zu! Schließlich sitzen wir in einem Boot! Ob es uns nun gefällt oder nicht! Ich muß Ihnen etwas er zählen. Nennen Sie es von mir aus eine halbe Beichte…« »Eine halbe…?« »Ich kann Ihnen nicht alles sagen. Nur einen Teil.« »Und wenn es mich nicht interessiert? Wenn ich einfach aufste hen und Sie zusammenschlagen würde?« »Das wäre ein schlechter Schachzug. Es könnte unsere einzige Chan ce zum Entkommen sein, wenn Sie erfahren, was ich Ihnen zu sa gen habe. Nun?« Aus Erfahrung wußte ich, daß man nie voraussagen konnte, aus welcher Ecke einem der rettende Grashalm zugereicht wird. »Also?« Er schaute zum Mond hinauf, seufzte und fing an. »Ich will Sie nicht mit der Beschreibung meiner Persönlichkeit auf halten. Es würde Sie nicht interessieren. Auf jeden Fall liebe ich mei nen Beruf.« »Sie haben da einen seltsamen Geschmack.« »Mag sein. Aber ich bin ein echter Reporter. Ich lebe und ster be für das Thema. Für die Story. Egal, zu welchem Preis!« »Ja, das kenne ich. Auch zum Preis von einigen Leichen…« »Ach was. Leichen … wir können das Leben nicht beeinflussen oder den Tod aufhalten. Wir sind einfach nur da, wo etwas passiert.« »Auch das klingt mir bekannt. Haben Sie sich selbst diese Phi losophie zurechtgelegt, oder steht das in irgendeinem Buch?« 120
»Ich akzeptiere diese Tatsache und lebe auch danach.« »Was wollen Sie mir denn nun sagen?« »Ich will ein Geschäft mit Ihnen machen.« »Ein Geschäft? Hier? Mit mir?« »Ich weiß, es klingt überraschend, aber ich meine es trotzdem ernst.« »Und worin würde dieses Geschäft bestehen?« »Ich habe eine Tochter in London. Gwendolin.« »Ich gratuliere.« »Ich erziehe sie alleine … beziehungsweise, da ich kaum zu Hau se bin, lebt sie in einem Internat. Wir sehen uns nur sehr selten. Ich möchte, daß Sie sich um sie kümmern, für den Fall, daß…« Mein Gesicht muß wohl Bände gesprochen haben, denn er schüt telte schnell den Kopf. »Keine Angst, ich will nicht, daß Sie sie adoptieren oder so… Ich … ich weiß einfach nur, daß Sie exzellente Verbindungen haben, wäh rend mein Ruf ziemlich … schlecht ist. Ich habe eine nette kleine Summe für meine Tochter beiseite geschafft, Wertpapiere und so. Ich möchte, daß Sie dafür sorgen, daß man sie nicht darum prellt oder es ihr aus der Tasche zieht. Sofern ich dies hier nicht überle ben sollte. Was ziemlich bald eintreten kann.« »Wieso gerade ich?« »Ich vertraue Ihnen. Und Ihren Freunden und Bekannten noch mehr. Außerdem möchte ich, daß jemand den Fall zu Ende bringt, falls ich dazu nicht mehr in der Lage sein sollte. In Ordnung?« »Und als Gegenleistung…?« »Ein Batzen Informationen.« »Alles, was auch Sie wissen?« »Wie gesagt, in zwei Stufen.« »Wie bitte?« »Ich sagte doch, diesen Fall möchte ich zu Ende bringen. Ich, ganz alleine. Es ist die Reportage des Jahrhunderts, und ich lasse nicht zu, daß sie mir jemand wegschnappt. Genau deswegen setze ich mein Leben aufs Spiel. Und ich denke, das ist auch mein gutes Recht.« Nun schaute ich zum Mond hinauf, als ob er mir einige Antworten 121
geben könnte. »Wenn ich Sie richtig verstehe«, faßte ich nach einer kleinen Pau se zusammen, »offerieren Sie mir einen Teil ihrer Informationen.« »Genau.« »Und was wird mit der zweiten Hälfte? Ich denke mal, der erste Teil ist ohne den Rest nutzlos.« »Bravo!« lächelte er anerkennend. »Ich habe Sie schon immer be wundert, Lawrence. Nun, den zweiten Strauß der Hinweise werden Sie ebenfalls hier erhalten.« »Hier?« »In Laos.« »Aber wie?« »Das bleibt mein Geheimnis. Wie gesagt, erst nach meinem Tod. Falls ich getötet werde. Na, steht das Geschäft?« »Und falls nicht?« »Ich würde es sehr bedauern. Dann müßte ich mich jetzt zu mei ner Decke zum Schlafen zurückbegeben. Es würde nichts an mei nem Tod oder Überleben ändern. Es würde höchstens Gwens Le ben erschweren. Obwohl, wer weiß. Eins würde mich aber furcht bar stören… Erraten Sie es?« »Raus damit!« »Daß niemals irgend jemand erfahren würde, was geschehen ist. Daß der Artikel des Jahrhunderts ungeschrieben bleibt. Ich würde mich ziemlich unruhig in meinem Sarg hin- und herwälzen.« Ich reichte ihm meine Hand. »In Ordnung. Sie haben mein Wort.« »Fein, Lawrence«, sagte er ernst, vielleicht sogar ein wenig über trieben. »Dann fange ich mal an… Sie werden wohl wenig von den Arbeitsmethoden solcher Schreiberlinge wie mir wissen. Ich habe schon einige interessante Dinge vor meinen Kollegen oder den Bul len herausgegraben, meistens übrigens zu deren größtem Unmut. Ich war immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort, wie man so schön sagt. Und wissen Sie auch, warum?« »Ihre Informanten.« 122
»Genau, und ich habe immer darauf geachtet, daß nach Abschluß einer Geschichte, wenn ich abkassiert habe, auch diejenigen einen Teil des Geldes erhielten, die mir die Tips gegeben hatten. So läuft halt nun mal das Spiel. Alleine kommst du nicht zurecht. Nicht ein mal bei den Modeseiten, geschweige denn, wenn es um politische Dinge geht. Also, vor etwa einem Jahr meldete sich ein Informant und erzählte eine Geschichte, mit der ich im ersten Moment nichts richtiges anfangen konnte.« »Und zwar?« »Die Legende von der Tonarmee. Sie war in Kunsthistorikerkrei sen längstens bekannt, aber meine Nase wurde ehrlich gesagt von einer meiner Bekannten, einer Redakteurin für Kunst und Geschichte, darauf gestoßen. Zuerst maß ich der Sache keine Bedeutung bei, da mich Legenden über vergrabene Schätze oder so nicht weiter rei zen konnten. Die Welt ist voll mit solchen Storys. Versteckte Py ramiden, Inka-Mumien, nubische Königreiche, die sich vor der wei ßen Vorherrschaft unter die Erde zurückgezogen haben, und so wei ter. Lauter Blödsinn. Anfänglich hielt ich die Geschichte der Ton soldaten für etwas ähnlich Stupides. Für ganz genau zwei Tage.« »Keine lange Zeit«, nickte ich. »Denn nach zwei Tagen erhielt ich den nächsten Anruf. Ein wei terer Informant mit denselben Fakten.« »Tja, Legenden leben davon, unter Menschen ausgetauscht zu wer den.« »Nur kam diese Nachricht aus Europa. Aus Schweden. Wollen Sie wissen, was mein Mann erzählte? Wort für Wort genau dasselbe wie meine amerikanische Bekannte. Nur um einiges umfangreicher und mit einer kleinen Extrageschichte gewürzt. Möchten Sie sie hören?« »Ich bin ganz Ohr.« »Nun, mein Informant, nennen wir ihn Johansson, arbeitet in ei nem Antiquitätenladen. Er hatte mir schon oftmals nützliche Din ge zugeflüstert. Er teilte mir mit, daß der Inhaber von einem Chi nesen besucht worden war. Er war dreckig, schäbig gekleidet. Sag te, er käme aus Taiwan und wolle nach China zurück, aber der tai 123
wanesische Geheimdienst sei hinter ihm her, um ihn auszulöschen. Um untertauchen zu können, brauche er Geld.« »Aha. Sehr aufschlußreich.« »Danach gab es weitere Treffs mit Johanssons Boß. Der Chine se zeigte ihm Geldstücke, lauter kleine Steinchen mit Schriftzeichen. Das Geld von Kaiser Huan-Ti. Wissen Sie, wer Huan-Ti war?« »Nicht genau…« »Macht nichts. Vorerst. Und dann erzählte der Chinese die Le gende von der Tonarmee. Kennen Sie die?« »Sicher«, nickte ich. »Das dachte ich mir auch. Also, angeblich gibt es mehrere tau send menschengroße Tonsoldaten, aus der Zeit des Huan-Ti. Wenn die Nachricht stimmt, wäre es die größte Entdeckung dieses Jahr hunderts oder überhaupt in der Geschichte der Archäologie. Der Wert einer solchen Ausgrabung ist gar nicht abzuschätzen. Dieser Kunstschatz … hätte einfach keinen definierbaren Preis. Oder wis sen Sie etwa, wieviel Dollar der Altar von Babylon oder die Schät ze der Mayas einbringen würden?« »Es ist in Geld nicht aufzuwiegen«, nickte ich. »Sie sagen es. Allerdings sähe es schon anders aus, wenn jemand den Schatz rauben und ihn dann einzeln auf dem internationalen Kunstmarkt verschachern würde. Können Sie sich vorstellen, was auch nur ein einziger Tonsoldat einbringen dürfte? Und es gibt Tau sende davon, und jeder sieht anders aus! Schließlich haben damals lebende Menschen dafür Modell gestanden.« »Sie wollen sich also Ihren Lebensabend mit dem Schatz versü ßen, Mr. Hardy?« »Ach was! Mich interessieren nicht die Figuren selbst. Wenn ich sie finden würde, wüßten es einen Tag später auch die Behörden. Nein, ich will kein Geld, sondern die Story! Ich will als erster da rüber schreiben. Ich, Theodor Hardy, freier Journalist: ich, ich, ich! Gwendolins Vater!« Die hohe Tonlage, die er am Ende erreichte, ließ mich ernsthaft an seinem Verstand zweifeln. 124
»Nun, ich fahre mit Ihrer Erlaubnis fort. Der Chinese erzählte eine kleine Geschichte über die Zusammenhänge zwischen den zum Ver kauf angebotenen Geldstücken und der Tonarmee.« Ich entschied mich, eine erste Karte vorsichtig auszuspielen. »Ich glaube, die kenne ich.« »Wie bitte?« »Tonkrüge mit Steingeld. Das meinten Sie doch, oder?« »Junge, Junge, Sie vergeuden Ihre Zeit aber auch nicht gerade! Na ja, dann muß ich halt weniger quatschen. Der Chinese sagte auch, daß die Armee wahrscheinlich in Laos vergraben liegt, zusammen mit der Grabstätte des Huan-Ti.« »Beim Dreispitzberg…?« »Ja. Irgendwo hier in der Nähe. Kurz darauf verschwand der Kerl.« »Nahm er Geld mit?« »Was für Geld?« »Bargeld. Ich meine, hat er etwas geklaut?« »Davon weiß ich nichts. Die Steinmünzen hat er zumindest wie der mitgenommen. Meinten Sie das?« »Sagen wir mal, ja. Und dann?« »Dann ließ ich die Legende erst einmal nachprüfen.« »Wie bitte?« »Ich war neugierig, ob die Tonarmee überhaupt existiert, oder ob es nur ein Hirngespinst war, das jemand in die Öffentlichkeit ge rückt hatte, um abzusahnen.« »Sie sind gar nicht so dumm, Hardy!« »Danke sehr. Hauptsächlich bohrte an mir, ob das ganze irgend einen Wahrheitsgehalt hatte. Und um das herauszufinden, kontaktierte ich einige Sinologen, Wissenschaftler der chinesischen Kunst und Geschichte, und auch Archäologen. Was sie mir erzählten, nahm mir zwar gewissermaßen die Hoffnung, machte mich aber auch gleich zeitig offen für die ganze Angelegenheit. Es stellte sich heraus, daß die Tonarmee nur ein paar blasse und mißverständliche Spuren in der Geschichte hinterlassen hatte.« »Und zwar?« 125
»Das Ganze gründet in einer uralten Notiz. Über die verlorene Armee. Kennen Sie sie?« »Nicht die Spur.« »In einem der Shi's, also den Jahrbüchern, wird eine mißver ständliche Andeutung über einen Prinzen gemacht, der von Kaiser Huan-Ti gegen die Hunnen geschickt wurde. Seinen Namen weiß ich nicht mehr, ehrlich gesagt, habe ich immer wieder Probleme mit diesen chinesischen Namen… Auf jeden Fall erhielt dieser Prinz, der nebenbei auch noch so etwas wie ein Gutsherr direkt an der Chi nesischen Mauer war, von Huan-Ti den Befehl, eine marodierende Hunnentruppe zu stellen. Angeblich kam diese Order direkt vom Kaiser. Die Hunnen waren wohl an wichtige Informationen über die chinesische Verteidigungslinie gekommen, wer weiß. Also, sie zogen von dannen, und die chinesischen Truppen, mehrere tausend Mann, angeführt von diesem Prinzen, hinterher. Plötzlich ver schwanden die bösen Buben in der Wüste Gobi. Der ratlose Prinz konnte nichts anderes tun, als ihnen zu folgen, obwohl sowohl sein Herz als auch sein Verstand zur Umkehr rieten. Die Soldaten hat ten Hunger und vor allem Durst, und die Wüste wollte und woll te nicht aufhören. Und dann, plötzlich, als sie bereits halbtot he rumtorkelten, fanden sie die weggeworfenen Wasserschläuche der Hunnen, in denen noch ein kleiner Rest plätscherte. Trotz der aus drücklichen Warnung des Prinzen tranken seine Männer von dem Wasser, bis sie schließlich alle tot umfielen. So wurden die chine sischen Truppen also vernichtet. Eine tolle, vor allem lehrreiche Ge schichte, nicht?« »In der Tat. Aber wo bleiben die Tonsoldaten?« »Das ist es ja gerade! Angeblich entstanden diese aus den gefal lenen Leuten des Prinzen.« »Wie bitte?!« »Dem Jahrbuch zufolge fand einige Jahre später eine andere chi nesische Truppe die Gebeine ihrer Kameraden. Und nicht nur Ge beine, denn auch die Körper selbst waren immer noch vorhanden, keineswegs verwest oder so. Angeblich wurden sie durch das Gift 126
der Hunnen konserviert. Selbst die Haare und Bärte waren noch dieselben. Dort lagen sie, im Staub der Wüste Gobi, als ob sie bloß schlafen würden. Gift, Sonne und trockene Luft hatte sie für im mer und ewig mumifiziert, alle zehntausend Mann.« »Ah … das klingt interessant.« »Und es kommt noch besser. Ihre Entdecker packten eine Leiche auf ein Pferd und wollten sie als Beweis ihrer Entdeckung mit nach Hause nehmen. Aber Natur und Götter spielten ihnen einen Streich, denn kaum hatten sie die Gobi verlassen, zerfiel der Tote zu Staub. Dies haben sie dann wohl auch dem Kaiser erzählt, denn er gab den Befehl, seine treuen Diener der Nachwelt zu erhalten. Den Chro niken zufolge wurden zehntausend Wagen voll Ton mit Hunderten von Bildhauern in die Wüste geschickt, um diesen Befehl des Him melssohns auszuführen.« »Demnach umhüllten sie die Leichen mit Ton.« »Richtig. Dann wurde die Armee auf Karren Stück für Stück nach China zurückgebracht. Irgendwo wurden sie begraben, tief unter die Erde, damit niemand mehr ihre Ruhe stören konnte. Soweit geht also das Märchen…« »Danach klingt es auch…« »Seitdem wird ständig über die Tonarmee getuschelt. Hur in an derer Form. Es heißt, Huan-Ti ließ von seinen Soldaten menschen große Kopien erstellen. Neuerdings halten Forscher diese Variante für wahrscheinlicher. Auch dem bin ich nachgegangen, genauso wie Ihnen. Sie sind ein Kenner der östlichen Kulturen, speziell Zen tralasiens. Deswegen hat man Sie ja auch ausgesucht…« »Ausgesucht? Wer, um Himmels willen?!« Er hob den Zeigefinger und bat um Geduld. »Immer der Reihe nach! In China ist die Legende der Tonarmee seit langem bekannt. In Europa hingegen weniger. Oder wenn, dann wurde sie nicht ernst genommen. Ähnlich wie bei den anderen ver sunkenen Schätzen… Und dann erscheint urplötzlich ein Chinese, der angeblich aus Taiwan geflüchtet ist und die wichtigsten Anti quitätenhändler der Welt einen nach dem anderen aufsucht. Zwei 127
Jahre seines Lebens opfert er dafür oder sogar noch mehr! Es hat mich ja schon Mühe gekostet, überhaupt seine Spur zu verfolgen und seine Route zu rekonstruieren… Überall erzählt er die Geschichte der Tonsoldaten, weist mit Hilfe einiger Steinchen darauf hin, daß sie vermutlich irgendwo in Laos zu finden wären, und verschwin det dann wieder.« »Nun, das ist in der Tat seltsam.« »Als mir klar wurde, daß er an mindestens fünfzehn Türen geklingelt hatte, versuchte ich, etwas über den Kerl zu erfahren. Und wissen Sie was?! Es ist ein Phantom, keiner weiß so genau, wie er aussieht oder wie er heißt. Es ist nicht einmal sicher, daß er tatsächlich ein Chinese war.« »Sie haben nachgeforscht?« »Genau. Ich stellte eine Liste oder, wenn es Ihnen so besser ge fällt, einen Fahrplan des Mannes zusammen.« »Wie ist Ihnen denn das gelungen?« »Wie schon gesagt, ich habe so meine Quellen…« »Aber ich verstehe immer noch nicht, warum? Was hat Sie denn so mißtrauisch gemacht?« »Nun, sehen Sie, ich bin schon ein alter Hase im Geschäft. Bes ser, Sie erfahren es von mir, daß es nichts Neues mehr unter der Sonne gibt. Wenn jemand alle wichtigen Läden der Welt mit ir gendeiner Legende und ein paar Steinmünzen in der Tasche aufsucht, halbherzig eine Geschichte vorträgt und dann wieder im Nebel ver schwindet, kann das nur zwei, allerhöchstens drei Gründe haben.« »Und zwar?« »Entweder will er Informationen sammeln oder aber Interesse an etwas wecken. Oder…« »Oder?« »Oder er sucht jemanden.« »Auf welche Variante tippen Sie denn?« »Ehrlich gesagt, hatte ich keine Idee. Mir war nur klar, daß der Typ irgendwas Bestimmtes damit erreichen wollte.« Ich lachte nicht, noch weniger war mir danach, ihn dafür zu ver 128
spotten. Mir war klar, daß es sich lohnen würde, auf das Gespür eines ›alten Hasen‹ zu achten. »Ich vermute, Sie haben sich dem Phantom an die Fersen gehef tet…« »Bravo, Lawrence, und noch einmal bravo! Sie hätten doch sicher das gleiche gemacht, nicht?« »Wahrscheinlich.« »Ich habe es auf jeden Fall versucht. Ohne Geld oder Mühe zu scheuen, bin ich ihm nachgehetzt. Und es war nicht einfach, das dürfen Sie mir glauben. Außerdem mußte ich vorsichtig sein, denn er sollte ja von all dem keinen Wind bekommen.« »Ich denke mal, die Legende hat Ihnen dabei einen guten Dienst erwiesen…« Er sah mich entgeistert an, und ich muß zugeben, daß ich mich geschmeichelt fühlte. »Verdammt, Lawrence, in Ihnen hätte ich wirklich einen ernst zunehmenden Konkurrenten! Genau das habe ich getan; ich er kundigte mich nach den Tonsoldaten. Bereits nach dem zweiten Satz sprudelte es aus den Leuten nur so heraus. Ohne daß ich beson ders nachhaken mußte.« »Wo waren Sie denn überall?« »Von Hawaii bis Schweden.« »Und?« »In den Antiquitätenläden habe ich nicht viel herausbekommen. Wie gesagt, mir stand ja nicht einmal eine Beschreibung zur Ver fügung. Und Chinese war er auch nur in dem Maße, wie er es mit seiner Verkleidung jeweils vorgehabt hatte.« »Trotzdem, irgendwelche Ergebnisse müssen Sie doch erzielt ha ben!« »Nun, er war keinesfalls auf der Suche nach etwas Bestimmtem, die Kollektionen der Geschäfte interessierten ihn meist gar nicht. Ei nigen Eigentümern oder Verkäufern sagte er sogar direkt, er wolle nichts kaufen. Und offenbar auch nicht verkaufen. Denn die Gel der von Huan-Ti waren nur Vorwand, um ein Gespräch anzufan 129
gen.« »Na, wenn er weder kaufen noch verkaufen wollte, dann…« »Ja, Mr. Lawrence?« »Dann muß er nach jemandem Ausschau gehalten haben.« »Richtig. Genau das habe auch ich mir zusammengereimt. Und noch etwas. Wenn der Kerl jemanden sucht, und ihn schließlich auch findet, wird er mit der Suche natürlich aufhören. Falls ich Glück habe, fängt er nicht noch irgendwelche Verwirrspielchen an. Besucht keine weiteren drei Orte, nur um eventuelle Verfolger in die Irre zu führen.« »Sie konnten also feststellen, wen er als letzten besucht hat?« »Genau, Lawrence! Mir ist es gelungen, genau das herauszufinden!« »Und? Wer war es?« »Das gehört mit zu den Dingen, die Sie erst im Falle meines Ab lebens erfahren sollen.« »Aaah ja… Gibt es sonst noch etwas?« »Was hätten Sie denn an meiner Stelle getan?« »Mich dem zuletzt Besuchten an die Fersen geheftet. Um fest zustellen, wer er wirklich ist.« »Genau so bin auch ich vorgegangen«, sagte er mit betontem Stolz. »Genau so. Erneut ließ ich all meine Verbindungen spielen, fragte alle möglichen Leute … und hatte Erfolg! Ich bekam Kontakt zum taiwanesischen Geheimdienst!« »Sie sind ja verrückt, Hardy!« »Ich kann mit fast hundertprozentiger Sicherheit behaupten, daß man dort keinen blassen Schimmer hat, wer dieser Kerl ist. Aller dings hat mich einer meiner dortigen Informanten auf etwas gebracht. Besser gesagt, auf einen Chinesen, der sich in der Vergangenheit viel mit der Tonarmee befaßt hatte. Und … der ein Meister der Ver kleidung war! Aber ich will Sie nicht weiter auf die Folter spannen. Er hieß Lei Tshung-tao und war ein Vertrauter von Chang Kai-shek. Ein Oberst. Die graue Eminenz der Abwehr. Der Mann ohne Ge sicht.« »Was soll das heißen?« 130
»Niemand hat je sein Gesicht gesehen. Nicht einmal seine engs ten Mitarbeiter. Ich arbeitete wie ein Tier, aber es war wirklich ver dammt hart, etwas über ihn zusammenzukratzen. Die wichtigsten Dokumente liegen in China oder in Taiwan. Was soll ich sagen … keines der beiden ist unbedingt ein ideales Land für solche Nach forschungen… Man hat mich nicht einmal einreisen lassen. Also muß te ich mich im British Museum umschauen. Laut den nicht gera de verläßlichen Quellen bot sich folgendes Bild: Lei Tshung-tao tauch te als Mitglied der Chinesischen Kommunistischen Partei aus dem Nichts auf. Er nahm an den Kämpfen des Kuomintang teil, dann finden wir ihn plötzlich in der unmittelbaren Umgebung von Chang Kai-shek. Von diesem Moment an wird nicht mehr über ihn ge schrieben. Wir wissen nicht mehr, was er tut, können es höchstens ahnen.« »Sie sagten, er war bei der Abwehr?« »Wahrscheinlich. Und wissen Sie, was ich noch gefunden habe? Kurz bevor Chang Kai-shek aus China vertrieben wurde, verschwand eine Expedition.« »Expedition? Zu der Zeit? Wie viele waren es denn?« »Fünfzehn Leute.« »Welche Nationalität?« »Meist Amerikaner und Deutsche.« »Woher wissen Sie das alles denn so genau?« »Nach der Gründung der Volksrepublik ließ man sie suchen. Das Internationale Rote Kreuz bat die chinesische Regierung um Hil fe. Mao Se-tung selbst gab den Befehl, mit den ausländischen Such trupps zusammenzuarbeiten. Schließlich wurden ihre Gräber auch irgendwo an der Küste gefunden. Es stellte sich eindeutig heraus, daß sie Opfer der japanischen Besatzungstruppen geworden waren.« »Was waren das denn überhaupt für Forscher?« »Archäologen, aber auch ein paar Kunsthistoriker.« »Seltsame Geschichte.« »Sie wird noch seltsamer, wenn ich Ihnen verrate, daß nur zwölf Leichen gefunden wurden. Drei Körper wurden weiterhin vermißt.« 131
»So was… Und woher haben Sie die genaue Zahl der Mitglieder?« »Aus den einstigen Dokumenten. Fünfzehn Mitglieder waren bei den Ausgrabungen dabei, aber das Rote Kreuz hat nur zwölf Lei chen exhumiert. Also müssen drei von ihnen dem Tod entgangen sein.« Ich spürte, wie die Strahlen des Mondes über meinen Rücken schli chen; und ihre Berührungen waren keineswegs freundlich. Im Ge genteil, sie fühlten sich an, wie blutrünstige Messerspitzen. Hardy stand urplötzlich auf und staubte seine Hose ab. »Na, dann will ich mal. Gute Nacht!« Ich verstand seine Eile nicht. »Warten Sie! Wenn … wenn nun doch etwas mit Ihnen passieren sollte«, rief ich ihm nach, »wo finde ich dann Ihre Aufzeichnun gen?« »Sie werden sie finden! Schauen Sie sich ein wenig in der Nähe der Leichen um!« Ohne sich noch einmal umzudrehen, verschwand er zwischen den Palmen. Und ich? Ich saß weiter unter dem silbernen Mond und versuchte, das Gehörte zu verdauen.
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ch begrub mein Gesicht in den Händen und fing an nachzudenken. Wie war das nochmal? Angeblich wird seit Generationen eine Le gende über die Tonarmee des Huan-Ti gesponnen, die von dem Kai ser unter die Erde gebracht worden war. Außerdem gibt es diese mys teriösen Strangler, die seit Jahrhunderten in seinem Namen böswillige Mandarine umbringen und ihnen vorher als Warnung kleine Ton figuren an die Tür hängen. Dann erscheint aus dem Nichts ein rät selhafter Chinese, der in den bekanntesten Antiquitätenläden der 132
Welt den Eigentümern erzählt, daß die Armee aus Ton Wirklich keit ist und man sie auch finden kann. In Bangkok wird daraufhin eine Konferenz der Sinologen abgehalten, zu der unter anderem Frau von Rottensteiner eingeladen ist, die sich mit der Legende der Ton soldaten befaßt. Sie wird entführt, und zwar an den Ort, wo angeblich besagte Armee zu finden ist, siehe den Mythos des Dreispitzberges. Schließlich taucht ein seltsamer Kerl, dieser Mann ohne Gesicht, Lei Tshung-tao auf, und eine verschwundene Expedition tritt plötz lich wieder in Erscheinung… Mein Gott, in was bin ich da schon wieder hineingeraten? Plötzlich schob sich ein Schatten vor den Mond. Automatisch hob ich den Lauf der Maschinenpistole, bis sich der fettleibige Mann neben mir auf den Rasen plumpsen ließ. Genau dorthin, wo eben noch Hardy gesessen hatte. Er schaute mit ausdruckslosem Blick auf meine Waffe, dann zog er ebenfalls die Beine an und umklammerte sie. Er schwitzte ziemlich stark in der schwülen Hitze. Die Nickel schnallen an seiner Hose glänzten im silbernen Halbdunkel. »Sie sind Leslie L. Lawrence?« erkundigte er sich rauh. »Ja. Und Ihr Name war…?« »Der würde Ihnen nichts sagen.« Er saß eine Weile wortlos neben mir und begutachtete den Wald. Dann griff er in seine Tasche, als ob er ein Taschentuch hervorholen wollte. Vorher spielte er noch an seinen Schnallen, und dieses Knir schen schläferte meine Vorsicht etwas ein, denn als ich das nächs te Mal zu ihm hinüberblickte, hielt er mir bereits einen Revolver vor die Nase. Um genau zu sein, einen 38er Colt. »Klettern Sie ein wenig zur Seite, Mann, und lassen Sie die Waffe hier liegen«, befahl er nervös. Schweiß perlte auf seinem Gesicht, und ich konnte den schweren Geruch seiner Körperausdünstungen riechen. Was blieb mir übrig? Ich schickte mich selbst in Gedanken zum Teufel und folgte seinem Wunsch. Er nahm die MP und warf sie hinter sich ins Gras. 133
»Schön leise aufstehen und losgehen!« Ich stand schön leise auf und ging los. Nach drei Schritten hatten mich die Büsche verschluckt. Der Di cke war dicht hinter mir, und ich hatte das Gefühl, ganz Laos wür de in seinem Schweißgeruch versinken. »Stellen Sie sich dort an den Baum.« Also stellte ich mich an den Baum. »Und jetzt reden Sie mal schön. Raus mit der Sprache!« Ich mag es überhaupt nicht, wenn man auf diese Art mit mir kom muniziert. Üblicherweise bin ich dann beleidigt und kriege kaum ein Wort heraus. So auch diesmal. Er kam zu mir und schob sein Gesicht ganz dicht an meines, so daß ich seine Schweißperlen genauestens beobachten konnte. »Los, raus damit! Wo hat der Kerl seine Papiere?« »Bei sich vielleicht«, sagte ich und dachte dabei verzweifelt über einen Fluchtweg nach. »Nein. Bevor ich Sie besucht habe, habe ich ihm eine übergebraten und seine Taschen durchsucht.« »Dann hat er sowohl Sie als auch mich reingelegt«, sagte ich und dachte dabei über die Möglichkeit nach, ihm den Revolver aus der Hand zu treten. Leider aber war der gut genährte Kerl ein echter Profi. Sogar ein wahrer Profikiller. Die langsamen, sparsamen Bewegungen deuteten auf einen Mann hin, der genau wußte, was er tat. Davon konnte ich mich im nächsten Moment selbst überzeugen. Er trat einen Schritt zurück und schlug mit einer schnellen Bewe gung zu. Ich fuhr auf und fiel zu Boden. Salziger Geschmack brann te mir auf der Zunge, und Blut tropfte aus meiner Nase ins Gras. Andere werden in solchen Momenten jähzornig. Bei mir ist das genau umgekehrt. Ich bin eher ruhig, wenn man mich niederschlägt. Ein kalter Schauer jagte meinen Rücken hinunter, wie schon so oft in meinem Leben. Still saß ich auf dem Boden und bewegte mich nicht. Kein Weh laut verließ meine Lippen. Auch ich war ein Profi. 134
Aber er kam nicht in meine Nähe. »Aufstehen!« Ich tat ihm den Gefallen. »Reden Sie!« Auch mir war klar, daß ich reden mußte. Reden, reden, reden! Ich mußte auf jeden Fall verhindern, daß er auf den Abzug drückte. »So verstehen Sie doch, Mann«, wimmerte ich und spuckte eine ansehnliche Blutmenge aus. »Ich weiß nichts! Wenn Sie uns zuge hört haben, dann wissen Sie doch auch, daß mir der Rothaarige nicht verraten hat, wo seine Papiere liegen! Mir ist ja nicht einmal klar, worum es hier überhaupt geht!« Er beugte sich nach vorne und trat mir in die Nieren. Der bren nende Schmerz raubte mir fast Verstand und Besinnung. Ich krümm te mich, versuchte lediglich, den Kopf oben zu behalten. Ich spür te instinktiv, daß mir nur noch eine Chance blieb: so zu tun, als ob er mich dort hätte, wo er wollte. Und ihn dann in meine Nähe zu locken. Wenn das nicht klappte, war ich am Ende. »In Ordnung«, keuchte ich, sichtlich am Ende meiner Wider standskraft. »Ich werde reden.« »Raus mit der Sprache!« Er kam weder näher, noch drehte er den Lauf der 38er von mir weg. »Die Dokumente … äh … hat er nicht bei sich.« »Das weiß ich selbst«, brummte er gereizt. »Wo hat er sie versteckt?« »Im … Flugzeug!« »Wo?« »Unter einem Sitz.« »Welcher Sitz?« »Lassen Sie uns hochgehen, ich zeige es Ihnen…« Da bekam ich den zweiten Tritt. An der selben Stelle, wie vor hin. Der plötzliche Schmerz ließ mich taumeln, die Bäume dreh ten sich um mich herum, und ich spürte schon gar nicht mehr, wie es sich der Dicke mit dem Knie in meinem Magen über mir bequem machte. 135
»Du sollst reden!« Ich hätte versuchen können, sein Bein umzudrehen, und mich auf ihn zu stürzen. Sofern ich nicht in den Lauf der Waffe geblickt hät te. Was aber leider der Fall war. »Unter … dem… Sitz…« Er stand auf und trat ein paar Schritte zurück. »Aufstehen!« Was ich auch versuchte, aber diesmal ging es wirklich schwer. In dem Moment befiel mich der Gedanke, daß ich womöglich verloren hatte. Es würde nichts nützen, ihn in die Maschine zu lo cken, denn ich hatte einfach keine Kraft mehr, ihn zu besiegen. Die Bäume drehten sich immer noch wie wild, die Büsche krümmten sich, der Mond zeigte eine kleine Gene-Kelly-Tanzeinlage. Der Kopf meines Widersachers wuchs gespenstisch an; er öffnete den Mund, und ich wußte, daß er etwas sagte, irgendeinen Befehl ausstieß, aber seine Stimme kam nicht bei mir an. Er setzte den Revolver an meine Schläfe, und mir wurde klar, daß er abdrücken würde. Ich dachte daran, daß Hardy wahrscheinlich schon längst tot war, sonst hätte er ihm diese Fragen gestellt und nicht mir. So weit war ich gekommen, als sich hinter ihm plötzlich etwas regte. Zwei verschwommene Schatten huschten zwischen den Bäu men herum, als ob sich Schäfchenwolken vor den Mond schieben würden. Diese Schatten aber bewegten sich etwas seltsam, genau so wie ein Mensch, der nicht vorzeitig entdeckt werden will. Der Dicke trat noch einen Schritt näher an mich heran, und ich ahnte, daß er wieder zuschlagen würde. Ich hätte meinen Arm zum Schutz gehoben, wenn mir dazu noch genug Kraft übrig geblieben wäre. So aber konnte ich nur noch ohnmächtig den Schlag erwar ten. Der aber kam nicht. Statt dessen torkelte der Mann, öffnete wie der den Mund und ließ die Waffe fallen. Erschrocken blickte er mich an, als ob ich plötzlich davonschweben würde. In diesem Moment kehrte mein Hörvermögen wieder zurück. Ein 136
langes, verzweifeltes Stöhnen verließ seine Kehle, dann fing er an, in breitem Strahl Blut zu spucken. Die ersten warmen Tropfen trafen mein Gesicht und blendeten mich. Nur mit unmenschlicher Anstrengung konnte ich die Hand heben, um mir das Blut aus den Augen zu wischen. Der Dicke fiel zu Boden und strampelte wie ein abgestochenes Schwein. Er unternahm verzweifelte Versuche, die Grasbüschel zu packen. Die Halme rutschten aber immer wieder aus seinen ver krampften Fingern, und bei jeder Anstrengung aufzustehen, quoll ein neuer Strahl Blut aus seinem Mund. Ich krümmte mich, preßte die Hände auf den Bauch und tat al les, um nicht hinsehen zu müssen. Ich wußte zwar nicht, was pas siert war, aber mir wurde klar, daß ich von meinem Angreifer nichts mehr zu befürchten hatte. In diesem Moment traten die zwei Schatten aus den Büschen her vor. Sie bewegten sich flink, als ob sie das Terrain genau kennen würden. Als ich bei einem das breite Buschmesser in der Hand auf blitzen sah, startete ich einen verzweifelten Versuch, mir die Waffe des Dicken zu angeln. Diese erste Bewegung seit langem aber ver ursachte einen solch furchtbaren Schmerz, daß ich laut aufschrie. Ein Schleier legte sich über meine Augen, und es dauerte einige Se kunden, bis ich wieder zu mir kam. Dann aber sah ich alles klarer, als in der ganzen letzten halben Stunde. Der Schmerz hatte wohl auch meine Übelkeit mitgenommen, als er sich verabschiedete hat te. Die beiden kleinwüchsigen Figuren beugten sich über meinen An greifer. Ich versuchte, mich nicht zu regen, damit sie nicht auf mich auf merksam wurden. Natürlich war mir klar, daß meine Chancen da für in etwa denen eines Elefanten glichen, der sich schamhaft hin ter ein Lorbeerblatt zurückzog. Trotzdem blieb mir nicht viel an deres übrig. Ich hielt den Atem an und beobachtete, was sie mit dem Toten vorhatten. Zuerst einmal staunten sie ein wenig. Sie blickten mich an, und 137
einer von ihnen deutete auch noch auf mich. Dann herrschten sie einander an, was man mit etwas gutem Willen auch Sprache nen nen konnte. Und als mein Ohr die seltsamen Laute voll aufgenommen hatte, war mir auch schon klar, wen ich da vor mir hatte. Und ich kann nicht behaupten, daß mir diese Erkenntnis viel Freude bereitet hätte. Trotz der immer wahrscheinlicheren Tatsache, daß sie mir das Leben gerettet hatten. Denn selbst in Lebensgefahr trifft man nur sehr ungern auf Meos… Irgendwann, vor Ur-Zeiten, war ich einige Male mit ihnen zu sammengetroffen. Die kleinwüchsigen, dürren Söhne dieses Berg volkes, mit ihren turbanartigen Kopfbedeckungen, waren gleicher maßen Meister des Messers, der Lanze oder des Blasrohres. Sie kön nen sich nur schwer der Zivilisation anpassen, und trotzdem un ternahmen die Regierungen – in Laos gleichermaßen wie in Thai land oder China – alles, um sich ihre Loyalität zu erwerben. Denn die Meos waren perfekte Soldaten, bar jeglicher Hemmungen. Wenn man es schaffte, sie auf die eigene Seite zu bringen, konnte man sich ihrer Treue und Beständigkeit auf ewig sicher sein. Sie waren unermüdlich und äußerst grausam. Sie liebten ihre Göt ter, die Geister der Vorfahren und die Dämonen des Dschungels. Sie kümmerten sich nicht um Buddhismus, den Islam oder die Hei ligen der Christen. Seit Menschengedenken bauten sie Mohn und Hanf an, stellten Opium und Haschisch her. Als ich mehr und mehr zu mir kam, stellte ich verwundert fest, daß die beiden mit überraschtem Gesichtsausdruck über dem To ten standen und ihre Messerspitzen auf die umliegenden Büsche rich teten. Als ob sie sich vor jemandem in acht nehmen wollten, der sich dort verborgen hielt. Ich verstand rein gar nichts, nahm aber eindeutig ihre Verblüffung wahr. Ich versuchte, mich auf die Waffe des Dicken zu konzentrieren, und streckte das Bein aus, um sie zu erreichen. Das Gespräch der beiden wurde immer hektischer, und als ich den Revolver endlich mit der Fußspitze antippen konnte, bellte mich einer der zwei an. 138
Wie versteinert hielt ich inne, zog das Bein aber nicht zurück. In zwischen war mir alles egal. Ich war davon überzeugt, daß mich nichts mehr sonderlich verwirren konnte. Dabei hatte diese chaotische Nacht für mich gerade erst angefangen.
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ch schloß die Augen und streckte den Fuß Millimeter um Mil limeter weiter aus. Ich wartete, daß mein Knöchel den Revolver erreichte, und machte dann eine schnelle Sensenbewegung. Die Waffe wirbelte im Gras herum und schlitterte auf mich zu. Dann wagte ich wieder einen Blick in die Welt hinaus. Der 38er lag wenige Zentimeter von meiner verkrampften Faust entfernt. Blitz schnell ergriff ich ihn und stemmte mich in die Höhe. Ehrlich gesagt, ließ meine Geschwindigkeit dabei einiges zu wün schen übrig. Wenn die Meos die Sache ernst genommen hätten, wäre ich wohl kaum mit heiler Haut aus der Sache herausgekommen. Die breiten Messer hätten meine Kehle durchschnitten, noch bevor ich die Waffe auch nur ansatzweise in Anschlag gebracht hätte. Die Meos kümmerten sich allerdings überhaupt nicht darum, daß ich wie ein Wilder hin- und hertanzte und mit einem Colt herumfuch telte. Sie stießen erneut ihre seltsamen Laute aus, dann schien ei ner von ihnen sogar mit den Schultern zu zucken. Ich weiß nicht, ob es klug war, was ich tat. Wenn ich vollkom men bei mir gewesen wäre, hätte ich vielleicht auch gar nichts un ternommen. Aber Schmerz und Schrecken der vergangenen Minuten hatten mich dermaßen verwirrt, daß ich die Waffe auf sie richtete. Der vorne Stehende stieß einen Warnschrei aus, dann zischte etwas an meinem Gesicht vorbei und blieb mit einem lauten Surren im Baum hinter mir stecken. 139
Ich kauerte mich auf den Boden. Wegen des Schmerzes in mei nen Nieren sah ich immer noch Sternchen. Ich wollte zwar ab drücken, aber mein Finger gehorchte nicht. Ich spürte, wie ich vor Schweiß klitschnaß wurde, und plötzlich wurde mir klar, was für einen Irrsinn ich da anzetteln wollte. Was danach folgte, war wie ein dumpfer, trüber Traum. Einer der Meos beugte sich mit blitzendem Metall über meinen Kopf. Ich schloß die Augen und nahm logischerweise an, daß es nun vorbei war. Die Waffe lag mit meinem verkrampften Finger um den Ab zug am Boden. Sogar der kleine Lufthauch, der die Blätter des tro pischen Waldes zum Rauschen brachte, hatte mehr Kraft als ich. Der Meo dachte eine Weile nach, dann steckte er das Messer in seinen breiten Gürtel. Der andere war bereits auf dem Heimweg; es raschelte und knackste zwischen den Büschen. Der kleinwüchsige Eingeborene beugte sich über mich und strei chelte meine Stirn. Seine Hand war klein und kalt wie die eines Kin des. Als er in der Mitte über meiner Nase ankam, hielten seine Be wegungen plötzlich inne, und er ließ für lange Sekunden seine Fin ger auf meiner Haut ruhen. Als er sie dann wegnahm … waren mei ne Kopfschmerzen fort. Viel besser ging es mir zwar noch nicht, aber ich spürte, daß ich aufstehen könnte. Der Meo schien mir diesen Wunsch von den Augen abzulesen, denn er griff mir sofort unter die Arme. Noch bevor ich richtig merkte, was vor sich ging, lehnte ich am Baum, und zwar direkt neben dem feststeckenden Messer. Der Kleine sagte etwas, lächelte mich an, und zog es aus dem Stamm. Mondlicht erhellte die kleine Lichtung. Alles war so unwirklich wie in einem Traum. Der andere Meo ließ einen leisen Laut aus den Büschen erklingen. Soweit es mein knirschender Hals zuließ, dreh te ich mein Gesicht zu ihm hinüber. Er stand unweit von dem To ten und der Blutlache, unter einer Palme mit langen, breiten Blät tern, die im aschfahlen Schatten des Mondes raschelten. Beide Män ner teilten sich den verwirrten Blick hinauf zur Krone des Baumes. Sofern ich noch zu irgendeiner Regung fähig gewesen wäre, hät 140
te ich wohl auch mit offenem Mund über das Spektakel gestaunt. Aus dem Blätterwerk ließ sich nämlich einem verträumten Käfer gleich, etwas Kleines an einem langen Seil herab und blieb wenige Zentimeter über der Leiche baumelnd hängen. Das braune, längliche Objekt schwang hin und her, als ob ein er hängter Mann an der dünnen Schnur aufgeknüpft wäre. Ich nahm all meine Kraft zusammen und schaute nach oben zwi schen die Blätter. Dort bewegte sich aber nur der Wind, und das Mondlicht versilberte die Spitzen der langen Palmenhalme. Die Meos schrien auf und bewegten sich rücklings in das Dickicht. Meine schußbereite Waffe ließen sie auch diesmal außer acht. Wohl genau in diesem Moment verstärkte sich der bisher nur ein paar Blätter bewegende Windhauch und ließ die Zweige der Sträu cher ebenfalls rascheln. Der Stamm der Palme knackste, die Kro ne beugte sich nickend herab. Das kleine Etwas an der Schnur folg te erst zaghaft, dann immer wilder, den Bewegungen des Mutter leibes und beschrieb schon bald eine ganz ansehnliche elliptische Bahn. Die Eingeborenen starrten das Flugobjekt wie gebannt an, dann rief einer der beiden erneut etwas Unverständliches, und schon waren sie im Nichts verschwunden. Genau wie sie kurz zuvor aufgetaucht waren. Und die kleine Tonfigur legte sich mächtig ins Zeug, um Koperni kus und die Leiche zu beeindrucken. Verzweifelt blickte ich den Meos nach. Ich versuchte, den Revolver zu heben, aber zwischenzeitlich schien er sogar noch schwerer ge worden zu sein, als ich es in Erinnerung hatte. Wie ein zentnerschwe rer Kohlensack zog er meine Hand nach unten. Also wollte ich ihn zu Boden fallen lassen. Doch auch das schien nicht zu klappen. Der Abzug umklammerte meinen Finger und ließ mich nicht los. Die entsetzliche Last zog mich langsam, aber sicher zu Boden. Ein paar Sekunden lang versuchte ich noch verzweifelt, mich dagegen zu wehren, dann gab ich auf. Mit einem leisen Stöhnen sank ich bewußtlos zwischen die Wur zeln. 141
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ls ich die Augen wieder aufbekam, hatte sich in meiner Umge bung nichts verändert. Mir war nicht klar, wie lange ich so da gelegen hatte. Der Mond stand um einiges höher, als bei meinem letzten Blick nach oben. Ich hob probeweise den Revolver an und wunderte mich, wie leicht er plötzlich geworden war. Keine Spur von der Wucht, die mich nach unten gezogen hatte. Auch mein Zeigefinger ließ sich wieder bewegen. Kein Abzug woll te nach ihm schnappen. Nachdem ich wieder auf die Beine gekom men war, machte ich ein paar Schritte, überraschenderweise ohne Probleme. Langsam und vorsichtig fuhr ich über mein Gesicht. Schwa chen Schmerz spürte ich erst, als ich mein Kinn betastete. Vorsichtig blickte ich mich um. Die Bäume bogen sich unter der Last des Windes, die Büsche rauschten, was es hergab, und die Ton figur kreiste weiterhin vor meinen Augen herum. Von irgendwelchen Lebewesen keine Spur. Ich inspizierte erst einmal die kleine Puppe. Sie war etwas größer als die bisherigen und auch nicht so akribisch angefertigt wie die anderen. Sie zeigte einen dicken, bösartig dreinblickenden Mann mit Bierbauch in europäischer Kleidung und einem stilisierten Ho senträger über dem Hemd. Zweifelsohne war es der Tote vor mei nen Füßen. Ich griff nach der Schnur und wollte die Tonfigur abreißen. Die Schnur schnitt mir ins Fleisch, und erst beim zweiten Mal wollte es mir gelingen. Ich legte sie ins Gras und wendete mich nun der Leiche zu. Der Gedanke, daß die Meos jederzeit zurückkehren könnten, beküm merte mich zwar ein wenig, aber ich hatte keine große Wahl. Der Kerl war tot noch häßlicher als lebendig. Dicke Fettpolster wölb ten sich an seinem Kopf, unter dem Kinn, einfach überall. Die Au gen verschwanden beinahe unter den Wülsten der oberen Ge sichtshälfte, und Hunderte von Mitessern zierten seine Nase, eini 142
ge zum Platzen reif. Weswegen er durchaus noch ein angenehmer Zeitgenosse hätte sein können. Was er aber nicht war. Das stellte sich bei meiner Inspektion mehr und mehr heraus. Was ich für ein Hemd gehalten hatte, war in Wirk lichkeit eine robuste Leinenjacke, hart, als ob er sie mit Absicht ge füttert hätte. Und auch die Hosenträger waren nicht das, wonach sie aussahen. Als Teil eines ausgeklügelten Gürteltaschensystems be herbergten sie zwei braune Lederhalfter unter den Achseln. Einer davon war leer, sein Bewohner lag nun wohl in meiner Hand. Aus dem anderen aber blitzte ein zweiter Colt hervor. Die starren, wäßrigen Augen des Toten blickten auf die Schnur, die ich eben von ihrer Last befreit hatte. Aus der kurzen, stump fen Nase rann Blut ins Gras. Obwohl ich überhaupt keine Lust dazu verspürte, packte ich seine Hand und drehte ihn auf den Bauch. Und der Anblick ließ mich nicht gerade in Freudentaumel aus brechen. Aus seinem Rücken ragte nämlich ein Eisenstück heraus. Es steck te fast bis zu den Rippen in seinem Körper und erinnerte mich an nichts, was ich je zuvor gesehen hatte. Ich kniete mich hin, vergaß Meos und andere Gefahren des Dschun gels und starrte verblüfft auf das Geschoß. Denn daß es geschos sen worden war, stand außer Zweifel. Es ähnelte dem spitzen Ende eines Pfeils, nur viel größer. Der kur ze Stab darunter war allerdings hohl, dort war wohl ursprünglich der Stoff zum Antrieb gewesen. Nach kurzem Zögern ergriff ich den Stiel und versuchte, ihn he rauszuziehen. Ohne Erfolg allerdings, was mich vermuten ließ, daß er in einem Widerhaken endete. Auf die Weise konnte ich ihn nur entfernen, wenn ich in Kauf nahm, gleichzeitig ganze Fleischstü cke mit aus dem Körper zu reißen. Ich schluckte und überredete mich, vorerst auf die daraus mög licherweise ermittelbaren Informationen zu verzichten. Was würde es schon nützen, wenn ich wußte, wie das Ende des Eisenpfeils aus 143
sah? In seinen Taschen fand ich nichts Besonderes. Also richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Tonfigur. Mir war klar, daß die Vorkommnisse gleichermaßen erschreckend wie unglaublich waren. Besonders der Teil mit den Figuren. Ich hockte mich hin und dachte angestrengt nach. Angenommen, jemand hatte sich das alles im voraus ausgedacht. Angenommen, die Figuren hatten eine kultische oder sonst irgendwie geartete Be deutung. Aber woher zum Teufel konnte jemand im voraus wissen, wie das nächste Opfer zum Zeitpunkt seines Todes gekleidet sein würde? Wie viele Tonpuppen hatte ich bis jetzt gefunden? Drei. Die ers te gehörte zur Phantomstewardeß und zeigte sie in ihrer Arbeits kluft. Wer auch immer die Morde verübt hatte, mußte sich ziem lich genau mit den Uniformen des hiesigen Flugpersonals ausken nen. Mhm… Doch, das war möglich. Der Mörder kannte den Plan, und er kann te auch die Kleiderordnung der Stewardeß. Er konnte die kleine Fi gur im voraus fertigstellen und brennen. Dann brachte er das Mäd chen um und hängte das Püppchen an die Leiche. Wäre das möglich? Mit der zweiten Figur sah es schon etwas anders aus. Die von Ge neral Villalobos. Und dann die dritte! Das konnte ja nun wirklich niemand ahnen, daß der Dicke in Hemdsärmeln und mit Schulterhalftern im Dschun gel von Laos herumspazieren würde… Oder etwa doch? Mein Gott! Ich nahm die Figur und legte sie vor mich hin. Warum hatte ich überhaupt angenommen, sie wäre aus Ton? Weil sie dem Gewicht nach dieser Behauptung entsprach? Oder wegen der allzu offen sichtlichen Parallele zur Tonarmee? Ziemlich ungestüm fing ich an, mit dem Knauf des Revolvers auf 144
sie einzuschlagen. Als ob ich den Kopf dessen vor mir hätte, der mich in diese Lage gebracht hatte. Die kleine Figur sprang unter den Schlägen verzweifelt hin und her, gab aber kein Stückchen seines Materials frei. Nach einigen wei teren ergebnislosen Versuchen nahm ich sie wieder in die Hand und hielt sie dicht vor meine Augen. Winzig kleine Abschürfungen gab es da zu sehen, sonst nichts. Am liebsten hätte ich die Figur ins Ge büsch geworfen, aber dann hielt ich mich zurück. Wer weiß, wozu sie noch gut sein mochte. Also wurden die Püppchen nicht aus Ton gebrannt, sondern aus einer Plastikmasse geformt, die nach kurzer Zeit an der Luft stein hart wurde. Demnach hatte man die Figuren nicht im voraus hergestellt, zu mindest nicht so weit im voraus. Der unbekannte Bildhauer hatte sie immer vor Ort angefertigt. Deswegen konnte er das Mädchen in ein Stewardessenkleid kleiden und den Dicken in Hemd und Half ter. Ich seufzte, und obwohl mir bewußt war, daß ich erneut etwas herausgefunden hatte, war mir noch immer nicht klar, wozu das al les gut sein sollte. Warum überhaupt wurden diese kleinen Püpp chen hergestellt? Wollte man mich damit vielleicht warnen? Gut, aber wovor? Ich hatte vor, das auf jeden Fall so bald wie möglich festzustel len. Also stemmte ich mich hoch und zog die Leiche in die Büsche.
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uerst wollte ich nach Hardy sehen. Ich verfluchte mich dafür, daß ich ihn überhaupt hatte gehen lassen. Viel Zeit zum Grübeln blieb mir allerdings nicht. Sowohl der Mör der des dicken Profikillers als auch die Meos konnten jederzeit zu rückkommen. Im Moment wußte ich nicht einmal, vor wem ich mich mehr in acht zu nehmen hatte. Ich trat auf die Lichtung, stieg über die Decke von einem ande ren Fluggast und erreichte bald darauf Hardys Sachen. Das Mondlicht erhellte die Züge des Reporters. Seine Augen schlie fen unter den geschlossenen Lidern, sofern man den Spaziergang in die Ewigkeit Schlaf nennen konnte. Ich beugte mich zu ihm hi nab und zog die Ecke seiner Wolldecke etwas beiseite. Und taumelte nur deswegen nicht zurück, weil mir bereits in etwa klar gewesen war, welches Bild mich erwarten würde. Der arme Kerl hatte ein Drahtseil um den Hals, das seinen Atem wohl für immer erstickt hatte. Blut konnte ich nirgends entdecken. Am liebsten hätte ich aufgeschrien. Jetzt, wo ich endlich etwas herausgefunden hatte… So weit war ich gekommen, als der Tote sich plötzlich erhob und mir seine Rechte so hart gegen das Kinn schmetterte, daß ich rück lings zu Boden fiel. Ich kam gar nicht zu mir, so schnell kniete er auf meiner Brust. Und legte die Garrotte nun um meinen Hals. Ich kämpfte nach besten, ausgelaugten Kräften und wollte um Hil fe rufen. Die riesige Hand auf meinem Mund verhinderte dies al lerdings energisch. Ich warf mich in die Luft und strampelte wie wild, bis sich sein Griff plötzlich lockerte. Immer noch mit der Hand auf meinem Mund flüsterte er: »Psst! Sind Sie das, verdammt?« Er ließ los, und ich schnappte nach Luft. Die Zeit gönnte er mir noch, dann griff er mir unter die Arme 146
und zog mich hoch. »Los! In die Büsche!« Ehrlich gesagt, fiel mir dieses Hetzen ziemlich schwer. Wenn ich richtig mitgerechnet hatte, war es das dritte Mal, daß ich an die sem Tag niedergeschlagen wurde. Aber vielleicht hatte ich mich ja auch verzählt. Wir machten am Rand der Lichtung halt, und ich fiel sofort zwi schen die Sträucher. Er beugte sich besorgt über mich. »Geht es Ihnen nicht gut?« Ich winkte, daß er mich nur Luft holen lassen soll. Zwei, drei Mi nuten hockte er geduldig neben mir und war erst wieder beruhigt, als ich seine Frage beantworten konnte. »Wo zum Teufel waren Sie?« »Der Dicke hat mich erwischt.« »Was?!« »Da, in den Büschen. Schauen Sie es sich selbst an.« Er tat wie geheißen, und als er zurückkam, war sein Blick noch finsterer als bisher. »Waren Sie das?« Soweit es mir möglich war, erzählte ich ihm von meinem Ren dezvous mit dem Profikiller. Daß er mich beinahe kaltgemacht hät te. »Mir ging es ebenso!« »Wann?« »Gleich nachdem ich Sie verlassen hatte. Ich bemerkte nämlich, daß er in den Büschen herumschnüffelte, also ging ich zu meiner Decke, legte mich hin und dachte, ich könnte ihn auf die Art un bemerkt beobachten. Ich nahm an, er würde versuchen, Sie mit ir gendeiner zweitklassigen Geschichte einzuwickeln. Statt dessen kam er aber zu mir. Ich schwöre Ihnen, zuerst dachte ich noch, Sie wä ren es! Sogar der Mondschein hatte diesem Mistkerl geholfen. Plötz lich warf er sich auf mich, so daß es mir beinahe alle Knochen ge brochen hätte, und ehe ich mich versah, zog er schon an dieser 147
Schnur, die er mir freundlicherweise um den Hals gelegt hatte. Nor malerweise wäre ich schon längst tot…« »Aber…?« »Bereits nach dem ersten Mord wurde mir klar, daß mich kein Versicherungsunternehmen der Welt mehr als neuen Kunden ak zeptieren würde. Kennen Sie das hier?« Er zeigte mir seine Hand oder besser das, was darin lag. Ein klei nes Plastikplättchen. Ich grinste. »Natürlich.« »Nun, nach der ersten Leiche klebte ich mir drei davon an den Hals. Eins auf jede Seite. Ist zwar ein wenig primitiv als Schutz, aber es hat gewirkt, wie man sieht.« »Der Dicke dachte also, er hätte Sie umgebracht.« »Offensichtlich.« »Das hat er mit mir auch vorgehabt. Wenn ihm nicht jemand eine Rakete in den Rücken geschossen hätte…« »Was?!« »Sagen Sie mir vorher noch, warum zur Hölle Sie nicht gekom men sind und mich gewarnt haben?« »Weil ich ohnmächtig wurde… Dieser Schweinehund hätte mich beinahe umgebracht. Ich meine, nicht mit der Schlinge, dagegen wa ren ja diese Plastikdinger…« »Sondern?« »Na ja…« Er kratzte sich am Hinterkopf und grinste verlegen. »Er hat mich an einer wichtigen Stelle getroffen… Er … äh, kniete auf meinen Eiern… Können Sie sich vorstellen, was das bei einem sol chen Fettkloß für ein Gefühl ist?« Konnte ich nicht und wollte es auch gar nicht. »Was für eine Rakete erwähnten Sie da eben?« »Schauen Sie sich seinen Rücken mal an!« Gemeinsam gingen wir zu der Leiche. Als er sah, was ich mein te, stieß er einen anerkennenden Pfiff aus. »Junge, Junge! Was ist denn das?« 148
»Vielleicht ein Geschoß aus einer Armbrust. Ich denke mal, sie arbeitet mit Preßluft. Äußerst leise und teuflisch genau.« Er griff nach dem Ende des Metallpfeiles und wollte ihn heraus ziehen, zog aber bald darauf den selben Schluß wie ich und ließ es sein. »Wann haben Sie bemerkt, daß der Typ in unserer Nähe he rumlungert?« »Leider erst, nachdem ich Ihnen gegenüber bereits die Dokumente erwähnt hatte.« »Und warum zum Teufel haben Sie mich dann nicht gewarnt?!« »Wie denn? Der Kerl konnte alles sehen und hören, besonders mich. Er lag direkt hinter Ihnen.« »Ich verstehe… Jetzt verraten Sie mir nur noch, wie Sie in das Flug zeug gekommen sind?« »Einfach… Ich bin Ihnen gefolgt, Lawrence.« »Was?!« »Also gut. Schlagen Sie mich, treten Sie mich, nur bitte nicht da hin, wo bereits der Dicke seine Spuren hinterlassen hat… Ehrlich gesagt, haben Sie es zum Teil mir zu verdanken, daß Sie jetzt hier sind…« »Ihnen?!« »Ich muß Ihnen etwas beichten… Als ich mich entschloß, der gan zen Sache auf den Grund zu gehen, wurde mir bald klar, daß ich es alleine zu nichts bringen würde. Ich brauchte jemanden, der so wohl Profi war, als auch ein wenig von der Materie verstand… Ich kenne Sie seit langem, Lawrence! Ich kenne und achte Sie!« »Danke sehr.« »Als die ersten Tonsoldaten aufgetaucht sind…« »Wie bitte?!« »Warten Sie einen Moment. Also, als die ersten Soldaten auf tauchten, war ich mir sicher, daß hier jemand seinen Köder aus geworfen hat. Nur was oder wen er damit fangen wollte, war mir noch nicht klar. Anscheinend ging es ihm um die Archäologen, die auf die eine oder andere Weise etwas mit Huan-Ti und seiner unterir 149
dischen Armee zu tun hatten.« »Aber … ich kenne doch gerade mal die Geschichte, und die auch nur aus Büchern…« »Aber das konnten die nicht wissen. Besser gesagt, gingen sie ge nau vom Gegenteil aus…« Langsam ging mir ein Licht auf, und es reichte aus, um die Faust zu ballen und ihn beinahe kurzerhand nach Bangkok zurückzu befördern. »Sie Mistkerl! Sie haben mich da mit hineingezogen?!!« »Ach was… Es geht bloß darum«, meinte er verschämt, »daß ich aus Ihnen einen Tonarmee-Spezialisten gemacht habe… Ich schrieb ein paar Artikel hierhin und dorthin, in denen ich mich auf Sie als den Experten der Huan-Ti-Legende bezog. Ich erweckte den Anschein, daß Sie alles im kleinen Finger hätten, was es über diese Soldaten zu wissen gibt… Zum Glück haben mehrere Zeitschriften meine Aus führungen übernommen. Aus Ihnen ist ein ernstzunehmender Si nologe geworden, Lawrence!« »Ich bringe Sie um!« »Stellen Sie sich hinten an… Das schönste war, daß mir die Ker le auf den Leim gegangen sind! Man hat Sie zusammen mit den an deren hierhergebracht. Ich hatte nichts weiter zu tun, als Ihnen auf Schritt und Tritt zu folgen. Seit Monaten hetzen wir hinter Ihnen her…« »Wir?« Er schluckte und blickte betrübt drein. Seine Stimme klang auf einmal sehr traurig. »Ich … hatte mich mit einer Kollegin aus Thailand zusammengetan. Sie war von den Bangkok News.« »Ist Sie hier bei uns?« Er nickte. Sein sonst so spöttisches Gesicht war wie versteinert. »Ja. Aber sie ist tot.« »Wer…?« »Es war die Stewardeß. Kalima. Ich habe sie in den Tod getrie ben… Ich hätte sie nicht hier mit hineinziehen dürfen…« 150
Eigentlich hätte ich jetzt Erleichterung verspüren müssen, da es wieder ein Rätsel weniger zu lösen gab. Statt dessen zogen noch dunk lere Trauerwolken am Horizont auf. Vermischt mit einigen furcht erregenden Blitzen. »Die Ärmste… Aber wo sind nun die Dokumente?« »In der Maschine. Ich wollte es Ihnen gerade sagen, als ich den Dicken entdeckte. Wissen Sie, was ihn verraten hat?« »Was?« »Seine Gürtelschnallen. Sie blitzten im Mondlicht auf.« »Die Papiere…?!« »Auf meinem Sitz. In eine Zeitung gewickelt. Als wir die Rutsche runterließen, war mir nicht klar, was mich unten erwarten würde… Es schien sicherer zu sein, sie einfach dort zu lassen.« Ich seufzte und blickte zur Rutsche hinüber. Das Flugzeug lag ge rade im Schatten einer Wolkenbank, also hielt ich es für möglich, unbemerkt in die Maschine zu gelangen. Nur mit meiner Lust ha perte es. Sowohl Nieren als auch mein Kinn schmerzten verteufelt, und sie schienen schon vorsorglich Warnsignale von bestechender Intensität auszusenden, um mich an meinem Vorhaben zu hindern. Ich schluckte meinen Unwillen hinunter und stand zaghaft auf. »Also los!« Ich rutschte zweimal ab, Hardy nur einmal. Meine Hand hatte ich mir wundgescheuert und irgendwo wohl auch meinen Kopf an geschlagen. Schließlich, nach viertelstündigem Kampf, gab sich der Feind geschlagen, und wir kauerten im Takt keuchend in der Ka bine. »Ihr Platz…?« »Der da. Sehen Sie?« Die Zeitung lag immer noch da, eine Ausgabe der Bangkok Mor ning Post. Ich hob sie hoch, und ein wahrer Fotokopienwasserfall ergoß sich auf den Boden. »Vorsicht, Mann!« flüsterte Hardy. Er bückte sich und klammerte die losen Blätter wieder zusammen. »Gerade Sie sollten doch Ord nung ins Chaos bringen! Wollen Sie sie jetzt lesen?« 151
»Je eher, desto besser«, meinte ich. »Ich habe das dumpfe Gefühl, daß uns morgen früh eine kleine Überraschung erwartet.« »Wie meinen Sie das?« »Mein Knie schmerzt so komisch. Das ist ein schlechtes Omen…« »Was?« »Auf jeden Fall ist die Tatsache, daß die Meos aufgetaucht sind, kein gutes Zeichen. Jemand hat sie geschickt, um sich zu vergewissern, ob wir die Landung mit heiler Haut überstanden haben.« »Das leuchtet mir ein… Na, dann fangen Sie mal schön an!« Durch das Fenster schien zwar ein kleiner Anteil des schimmernden Mondlichts herein, aber es reichte keinesfalls aus, um Buchstaben zu entziffern. Probeweise griff ich nach dem Schalter der Leselam pe. Und war selbst am meisten überrascht, als sie funktionierte. »Ich hatte es gehofft…«, brummte Hardy. »Die Akkus halten noch eine Weile. Die Seiten sind übrigens numeriert, und ich rate Ihnen, sie der Reihe nach durchzugehen. Ich schau mich derweil ein we nig um.« Ohne eine Antwort abzuwarten, machte er sich auf den Weg zum Gepäckraum.
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ie erste Seite enthielt eine chronologische Tabelle. Ich überflog die Zeilen, fand aber nichts Interessantes. Hardy hatte sie wohl angefertigt, um sich besser orientieren zu können: • 1911 Fall des Chinesischen Kaisertums. Gründung einer Republik mit General Jüan Shi-kaj als Präsidenten. • 1912 Gründung des Kuomintang (Nationale Partei). Jüan Shi kaj löst das Parlament auf und regiert das Land durch eine 152
• 1921 • 1927 • 1931
• 1937 • 1949
Militärdiktatur. Zusammenbruch der Verwaltung, China zerfällt in einzelne Landesteile, die von rivalisierenden Put schisten regiert werden. Gründung der Kommunistischen Partei. Der Kuomintang, angeführt von Chang Kai-shek, löst sich von der KP. Japan greift China an. In der Mandschurei wird Mands hukuos Marionettenregierung ins Leben gerufen. Japan er obert Schanghai. Japan greift Peking an. Gründung der Volksrepublik China.
So aufmerksam ich das Blatt auch betrachtete, es sagte mir nichts Neues, was nicht jeder Mensch sowieso schon wußte, der sich ei nigermaßen mit der neueren Geschichte Chinas auskannte. Papier Nummer zwei war die Kopie eines Zeitungsartikels, den Har dy seiner kurzen Randnotiz zufolge einem Hamburger Blatt von 1930 entnommen hatte. Der knappe Text berichtete über die Ta gung irgendeines Kuratoriums, auf der ein gewisser W. Warnecke sich nach dem Fortschritt der Arbeiten einer deutsch-amerikanischen Expedition in China erkundigte. Der namentlich nicht genannte Ant wortgeber versicherte, daß die Archäologen bereits im Gelände ar beiten würden, Informationen über sie aber nur sehr sporadisch Deutschland erreichten. Zuletzt hatte man sie in der Mandschurei gesichtet. Der Artikel war datiert vom 3. Dezember 1930. Das dritte Dokument war ebenfalls ein Zeitungsartikel, aus einer anderen Hamburger Zeitung. Eine gewisse Elsa Winter wandte sich mit einem offenen Brief an den Bürgermeister der Stadt. Sie legte ihm nahe, der Stadtrat möge bei der Regierung erwirken, daß in tensiv nach den vermißten Personen gesucht werden solle. Sie for derte, die deutsche Regierung solle sich mit der japanischen in Ver bindung setzen, um zu erfahren, ob die Expedition in der Tat die besetzte Mandschurei verlassen harte. 153
Datiert vom 14. Dezember 1933. Die restlichen Zeitungsausschnitte liefen in etwa auf dieselben Schlüsse hinaus. Anhand der gesammelten Informationen ergab sich nun folgen des Bild: Im Herbst 1937, nach etlichen Jahren der Verzweiflung, tauchte die Expedition wieder auf. Frühere Quellen gaben keine ge naue Auskunft über die Anzahl der Mitglieder oder wer nament lich unter den Forschern zu finden war. Offenbar konnte Hardy dies bezüglich nichts ausgraben. Die Artikel von 1938 sprachen von fünf zehn, spätere Berichte sogar von sechzehn Teilnehmern – sofern man Teile eines privaten Briefes überhaupt als einen Bericht bezeichnen konnte. Geschrieben im Juni 1939 von einer Frau Luise Martin an Unbekannt. Wo auch immer der fleißige Hardy dieses Stück Papier herhatte, es eröffnete weitere Einblicke in die rätselhafte Geschichte der Archäologentruppe. Luise Martin war als Frau eines Händlers lange in China gewe sen und schrieb kurz nach ihrer Ankunft in Europa einen Brief an ihre Freundin. Die Fotokopie zeigte nur den Teil des privaten Schrift stückes, den Hardy für interessant und relevant gehalten hatte. Als ich es so durchlas, wurde mir bewußt, daß der Reporter ein angeborenes Talent dazu hatte, Mosaiksteinchen zusammenzufügen. Es gehörte zu seinem Beruf, scheinbar vollkommen unwichtige Teil chen nebeneinanderzulegen und einigermaßen korrekte Rückschlüsse aus ihnen zu ziehen. Zweifelsfrei hatte seine Spürnase auch diesmal gut funktioniert. In dem ziemlich unleserlichen Text hatte man – wahrscheinlich war es Hardy selbst gewesen – mit dickem, schwar zem Bleistift mehrere Passagen unterstrichen. Ich las die Zeilen mit wachsendem Interesse, und als ich fertig war, wollte mir die Sache noch immer nicht ganz klar werden. Als ob jeder, der irgend etwas über diese Expedition gewußt hatte, es als seine Pflicht angesehen hatte, in Rätseln zu sprechen. Nun, der Brief von Luise Martin erwähnte ein unangenehmes Er eignis, von dem man ihr vorher versichert hatte, es würde nie ein treffen. Es blieben ihnen nur wenige Tage, um zu packen. Sie woll 154
ten gerade aufbrechen, als ein gewisser Lenoux von der französischen Botschaft ihnen einen Besuch abstattete. Luise hatte eine lange Un terredung mit ihm. Aus welchem Grund – und warum sie das un ternahm, und nicht ihr Mann – blieb unklar. Um so klarer war, daß Lenoux in Sorge war. Es ging ihm um einen Leutnant La Coster, der von seiner Reise in eine von Seuchen geplagte Region längst wie der hätte zurück sein sollen. Die Evakuierung der Botschaft in Pe king stand kurz bevor, und man würde La Coster in China lassen müssen, wenn es nicht gelang, mit ihm in Kontakt zu treten. Am Ende bat Lenoux Luise, La Coster über einen gewissen Herrn Mül ler die Information zukommen zu lassen, daß er sich der Expedi tion anschließen möge. Ich ließ den Papierstoß in meinen Schoß fallen und versuchte, auf einen grünen Zweig zu kommen. Scheinbar hatte sich dieser rät selhafte Leutnant den Archäologen angeschlossen, und so wurden aus fünfzehn plötzlich sechzehn Mitglieder… Na und? Ich blätterte weiter. Die nächsten Seiten bestanden aus Dokumenten und Notizen zu Oberst Lei Tshung-tao. Das erste davon, ein mit chinesischen Schriftzeichen und etlichen Tintenflecken übersätes, zerschlissenes Papier, glich eher einem Flugblatt als einem Zei tungsartikel. Ich war schon dabei, all meine Chinesischkenntnisse zusammenzuraffen, als ich merkte, daß der umsichtige Hardy auf der Rückseite bereits eine Übersetzung beigefügt hatte. Selbst der literarisch gehobene Sprachstil des Übersetzers aber konnte nicht über den abfälligen Ton des Originals hinwegtäuschen. Es handelte sich um eine einzige Haßtirade gegen Lei Tshung-tao. Der Schreiber, irgendein Sekretär einer örtlichen KP-Zentrale, skiz zierte kurz Leis Laufbahn und ›demaskierte‹ dann den ›japanischen Agenten‹. Er beschuldigte ihn, auf Geheiß seines Vorgesetzten mit dem Feind zu kooperieren, nannte ihn einen Dieb, japanischen La kaien und mehrfachen Mörder. Erneut blickte ich nachdenklich vor mich hin. Der Mann ohne Gesicht… Also hatte er die Fronten gewechselt. Oder war das auch 155
nur ein Täuschungsmanöver…? Die nächsten Blätter waren wohl interne Dokumente, in trocke ner Beamtensprache. Was ihren Inhalt vielleicht um so mehr ver stärkte. 1950 wandte sich das Internationale Rote Kreuz mit der Bitte an die Chinesische Volksregierung, ihm bei der Suche nach der seit 1930 verschollenen deutsch-amerikanischen archäologischen Expedition zu helfen. Im März 1951 teilte die Regierung dem Roten Kreuz mit, daß man anhand diverser Hinweise aus der Bevölkerung in der Nähe von Hangtshou auf ein Massengrab gestoßen sei, das man aufgrund der bei der Exhumierung zu Tage geförderten Erkenntnisse als letzte Ru hestätte der verschwundenen Expedition betrachten konnte. Diverse Zeichen deuteten auf das Werk der japanischen Besatzungstruppen hin. Alle Forscher waren mit einem Genickschuß getötet worden. Im September bedankte sich das Internationale Rote Kreuz bei der Regierung und dem Volk von China für die Hilfe, die man den Mitarbeitern der Organisation bei der Suche nach Hinweisen ge leistet hatte. Im weiteren Verlauf bröckelte dann die Informationsflut zwischen den beiden Organen ab, so daß sich kein eindeutiger Hinweis er gab, ob man später die sterblichen Überreste der Toten in ihre Hei mat hatte ausführen dürfen. Noch weniger, ob man etwas über die verbliebenen drei Mitglieder herausgefunden hatte. Und über Leutnant La Coster, falls er sich wirklich der Expedition angeschlossen haben sollte. Ich wischte mir die Stirn ab und las weiter. Die nächste Kopie ver ewigte einen französischen Artikel aus einem zweitklassigen Bou levardblatt, das ich selbst manchmal zu vertilgen pflegte, wenn mich der Zufall nach Paris führte. Diese Art von Magazinen paßte ide al zu den Zeithäppchen, die man sich im Zug oder Flugzeug nimmt, um dann bald darauf wieder alles schnell zu vergessen. Was allerdings auf diese Zeilen nicht zutraf. Im Gegenteil. Ich spür te, wie sich alle meine Sinne in Bereitschaft versetzten, als ich die 156
Überschrift las. ›DIE TONARMEE: KEINE LEGENDE, SONDERN WIRKLICH KEIT!‹ Der Untertitel verhieß noch mehr: ›Hat man Huan-Tis Ton soldaten gefunden?!‹ Ich plazierte die restlichen Seiten neben mir auf dem Sitz und ver tiefte mich in den Artikel des geübten Journalisten. Nach dem besagten Duo in Großbuchstaben folgte der teilwei se kursiv gehaltene Haupttext. ›Von unserem Hamburger Korrespondenten. Nach der gestrigen Pressekonferenz in einem unterirdischen Bunker könnte eine rät selhafte Legende endlich ihre Bestätigung finden. Mehrere unbekannte Personen suchten unsere Mitarbeiterin am Samstag spätabends mit der Nachricht auf, daß sie ihr gerne einen der Tonsoldaten aus HuanTis Schatz zeigen würden. Unsere Korrespondentin, eine Absolventin der Münchener Kunstakademie, nahm die Gelegenheit natürlich so fort wahr und stimmte einer Teilnahme an dem geheimnisvollen Tref fen zu.‹ Danach führte der Verfasser detailliert die Legende der Tonarmee aus und umriß auch ein vages Bild von Huan-Tis Zeitalter. Er be merkte, daß man im Laufe der Geschichte mehrere Versuche un ternommen hatte, die Soldaten zu finden, bisher aber keinen Er folg aufweisen konnte. Die Gräber waren für die Archäologen im mer wieder eine Enttäuschung gewesen. Dann folgte die Beschreibung des dubiosen Treffens. Die Aus führungen der Reporterin, einer gewissen Lilly Kohn, zeichneten ein wirres und bizarres Szenario auf. An einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit erschienen, verbanden ihr maskierte Män ner die Augen und führten sie nach gut eineinhalbstündiger Autofahrt in einen unterirdischen Bunker. Die Korrespondentin beteuerte, daß die lange Fahrt wohl eher der Irreführung galt, denn sie vernahm in der Zwischenzeit dreimal die Ansagerstimme des Hauptbahnhofes. Als man ihr die Binde von den Augen nahm, dachte sie, verse hentlich oder mit Absicht zum geheimen Treffpunkt irgendeiner Sek te geschleppt worden zu sein. Der Raum, in den auch andere Mit 157
glieder der Pressekonferenz gebracht wurden, war wohl ehemals ein Luftschutzkeller gewesen. Die vielen obszönen Zeichnungen an den alten Wänden ließen dies zumindest erahnen. In den Metallhaltern unter der Decke brannten Fackeln und über zogen die unterirdische Welt mit einem eigentümlich gruseligen Licht. Mehrere Male rannte eine Ratte an den Beinen der Reporterin vor bei. In der linken Ecke des Raumes stand eine Bank für die vier Jour nalisten. Die drei Kollegen waren Lilly Kohn gänzlich unbekannt. Erst später kam ihr die Möglichkeit in den Sinn, daß man das Gan ze nur ihretwegen so inszeniert hatte. Gegenüber der Holzbank stand ein langer, mit schwarzer Seide bedeckter Tisch, der von Kerzen beleuchtet war. Dahinter saßen die Männer mit den Strumpfhosen über dem Kopf. Man erlaubte den Anwesenden, sich Notizen zu machen, dann stand einer der Gastgeber auf. Er erzählte kurz die Geschichte der Tonsoldaten, sprach ein we nig über Huan-Ti und verkündete schließlich, eine private Orga nisation hätte die unterirdische Armee gefunden. Er erwähnte zwar keine genaue Zahl, ließ aber durchblicken, daß es sich um eine un geheuer große Menge an lebensgroßen Figuren handeln mußte, even tuell sogar mehrere tausend. Die Maße würden mit denen eines rea len Menschen übereinstimmen, und die Legenden würden nicht über treiben, wenn sie davon sprächen, daß wirklich jeder Tonsoldat ein eigenständiges, unverwechselbares Gesicht trüge, also einem tat sächlichen Menschen nachgebildet worden sei. Der Mann, der mit einem starken amerikanischen Akzent sprach, behauptete, daß die Soldaten bereits vor dem Krieg von ei ner internationalen Expedition entdeckt worden seien, was Lilly Kohn später als eindeutigen Hinweis auf die verschwundene deutsch-ame rikanische Forschertruppe deutete. An dieser Stelle ging sie außer dem auf die Tatsache ein, daß bei der Exhumierung drei Mitglie der verschwunden geblieben waren. Ihre Angehörigen hatten kurz darauf alle Hoffnung aufgegeben, und die Namen kamen ins Re 158
gister der für immer Vermißten. Ich hörte für eine Weile auf zu lesen und blickte aus dem Fens ter in die trübe Dschungelnacht hinaus. Über Leutnant La Coster gab es bisher nichts zu lesen. Warum wohl? Was danach passierte, verwies Lilly später ins Land der phantas tischen Abenteuer. Der Redeführer sagte, die Armee wäre nicht auf dem Gebiet der jetzigen Volksrepublik vergraben. Die Finder erkann ten keine Verwaltung oder irgendein irdisches Hoheitsgebiet an. Sie hätten nicht vor, die Tonsoldaten einem Museum zu vermachen, sondern wollten sie versteigern. Der Erlös würde man später Wohl tätigkeitsorganisationen, der Krebsforschung und anderen huma nitären Institutionen stiften. Als Glanzpunkt der Vorstellung wurde ein kleiner Wagen he reingerollt, auf dem eine menschengroße, verdeckte Gestalt lag. Der Mann setzte sich hin, und eine andere Person, diesmal eine Frau, übernahm das Wort. Sie sagte, daß es ihnen gelungen wäre, einen der Soldaten nach Europa zu bringen, und in wenigen Sekunden die sehr verehrten Mitglieder der Presse die Gelegenheit haben wür den, sich selbst vom Wahrheitsgehalt des Gesagten zu überzeugen. Als zweite nach den Entdeckern könnten nun sie einen Blick auf die zwei Jahrtausende alte Figur werfen. Unsere Reporterin war so erregt, daß ihr beinahe schlecht wur de. Die Dame hinter dem Tisch setzte sich, und ihre Helfer zogen betont langsam das schwarze Seidentuch von der Statue. Kurz da rauf blickte den Journalisten einer von Huan-Tis Bogenschützen ent gegen. Die vier Auserwählten sprangen natürlich auf und baten, sich den Tonsoldaten näher anschauen zu dürfen. Die Maskierten genehmigten dies, und jeder bekam drei Minuten zur Verfügung. Zusammenfassend bemerkte Lilly Kohn, daß es wohl das größte kunsthistorische Ereignis ihres Lebens gewesen sei. Den Bogenschützen hatte man aus einem besonderen Ton her gestellt. Die Oberfläche war bemalt worden, aber die Farbe war an den meisten Stellen bereits verblaßt oder abgeblättert. Zum Teil konn 159
te man kaum noch ihre Spuren entdecken. Köcher und Bogen ließen unschwer die Waffengattung des Sol daten erkennen. Er war ein dunkel dreinblickender, stupsnäsiger Mann mit Schnauzer und langem Haar; vom Typ her eher indoeuropä isch als chinesisch. Lilly faltete ihre Hände zusammen und bat inniglichst, eine Zeich nung von ihm machen zu dürfen. Zuerst wollte man es ihr nicht gestatten, aber als die völlig verzweifelte Reporterin nicht locker ließ, willigte man schließlich doch noch ein. Da die Zeit nur sehr knapp war, konnte sie natürlich nur die wich tigsten Merkmale festhalten. Dennoch war die grobe Zeichnung eine kleine Sensation. Ich begutachtete das umrahmte Bildchen und sah eine Figur, die vom Stil her in etwa denen glich, die – im kleine ren Format natürlich – in meiner Tasche auf bessere Zeiten hoff ten. Danach folgte die Beschreibung der Rückfahrt, begleitet von ei nigen Schlußfolgerungen. Letztlich schrieb die Journalistin, es wäre hundertprozentig eine echte Tonfigur aus Huan-Tis Nachlaß gewesen, was sie unter anderem auch noch damit belegte, daß man ihr kurz vor dem Ende der Pressekonferenz ein Foto gezeigt hatte, welches am Ort der Ausgrabungen fünfzehn weitere Soldaten, zum Teil noch in der Erde, abbildete. Das Grab des Huan-Ti lag demzufolge in ei nem Tal oder einer Senkung, und in einer oberen Ecke konnte man schwach drei zusammengehörende Bergspitzen erkennen. Der Artikel schloß mit dem Satz, daß man hoffentlich bald ei nige der Tonsoldaten in den großen Museen der Welt bewundern können werde. Ich schaute mir noch einmal die kleine Zeichnung an, wollte mir das Gesicht des Bogenschützen ganz genau einprägen. Dann legte ich den Artikel beiseite und machte mich an das nächste Dokument. Es war ein Nachruf. Die trauernde Familie gab schweren Herzens bekannt, daß die bekannte Reporterin und Kunsthistorikerin Lil ly Kohn Opfer eines tragischen Verkehrsunfalls geworden sei. Ein Wagen hätte sie auf dem Bürgersteig erfaßt, der Fahrer konnte nicht 160
gefaßt werden. Verdammt! Langsam wurde mir klar, warum Hardy so wild auf die Geschichte war. Anscheinend gab es hier ein neues Tutencha mun-Syndrom. Nicht nur der Pharao, auch Tonsoldaten konnten also töten? Los! Her mit dem nächsten Zettel! Hastig las ich die ersten Zeilen und ließ das Blatt beinahe wie der fallen. Mein Kinn meldete sich mit einem dumpfen Schmerz, und meine Augen pochten. Auch dieser Artikel stammte aus einer Zeitung. Bud Gregory aus Los Angeles schrieb 1952 eine Reportage, die ziemlich genau der vorherigen ähnelte. Gregory wurde als Journalist der LA Time eben falls von rätselhaften Entführern zu einer sogenannten Pressekon ferenz gelockt, wo er sogar Fotos machen durfte. Dieses Bild zeigte zweifelsfrei einen anderen Tonsoldaten. Ein spit zer Speer ruhte auf der Schulter, und der Mann selbst hatte mon golische Züge. Mit den schmalen Augen in seinem breiten Gesicht schien er mich direkt anzustarren. Ich legte die Kopie hin und kam zur nächsten. Selbstverständlich war auch diese ein Nachruf.
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ch hielt die Zeilen näher an das flackernde, trübe Licht, und las mit einem flauen Gefühl im Magen die mitleidsvollen Worte. Die trauernden Verwandten teilten hiermit allen Freunden, Kollegen und Bekannten mit, daß Bud Gregory, Kunstexperte der Los Angeles Time bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen sei. Er hatte nachts im Ozean gebadet und konnte später nur noch tot geborgen wer den. Asche zu Asche, Staub zu Staub! Ich lehnte mich zurück und verdaute das bisher gelesene. Leider 161
wollte sich immer noch kein Bild zusammenfügen. Als ob ein di cker, dunkler Schleier die Sicht versperren würde. Ich weiß nicht, wie lange ich in Gedanken versunken dasaß. Es hätte eine halbe Stunde sein können oder auch nur Minuten. Ich schreckte erst auf, als Hardy keuchend neben mir erschien. »Vorsicht«, rang er nach Luft. »Wir kriegen Besuch!« Er klatschte mit der Hand auf den kleinen Lichtschalter. In der plötzlichen Dunkelheit erschien die im silbernen Mondlicht schimmernde Kabine wie ein unterirdisches Grab. Mein Gott, das war es ja! Schließlich waren wir beim Dreispitz berg… Hardy schaute aus dem ovalen Fenster. »Ich hätte schwören können, daß jemand die Rutsche hochklet tert. Ich hab' sogar das Kratzen gehört!« »Was gab es unten zu sehen?« »Was schon? Die Pandas. Kein schöner Anblick!« »Und … Ihre Kollegin?« Sein Blick verfinsterte sich. Er antwortete nicht, starrte nur aus der Luke. »Haben Sie etwas gefunden?« drehte er sich schließlich wieder um. Was hätte ich ihm antworten sollen? Viele äußerst interessante Sa chen, die mindestens genauso rätselhaft waren…? »Wir müßten das noch mal im Detail durchsprechen…«, meinte ich und kratzte mich am Haaransatz. »Ich habe Ihnen alles erzählt. Sagen Sie mir, warum?« »Was warum?« »Warum hat man Kalima umgebracht?« fragte Hardy. »Weil Sie Ihre Nase in Dinge gesteckt haben, die nicht für Sie be stimmt waren. Woher konnten die bloß wissen, wer Sie sind und was Sie vorhaben?« »Na, und bei den Pandabären?« Ich breitete die Arme aus. »Wofür halten Sie mich? Auf jeden Fall sind wir beim Berg mit den drei Spitzen. Sie haben ja das Foto von den Ausgrabungen ge 162
sehen. Wir dürften nicht weit davon entfernt sein.« Plötzlich horchte er auf und hob dann den Zeigefinger. »Hören Sie?! Das Kratzen!« Diesmal nahm auch ich es wahr. Jemand war auf der Notrutsche auf dem Weg nach oben. »Was sollen wir tun?« Da dieser Salon direkt am Ausgang mündete, hielt ich es für bes ser, ein Abteil weiter nach vorne zu gehen. Wir passierten gerade die Trenngardine, als mit einem leisen Knirschen die Tür des Not ausstiegs zur Seite geschoben wurde. Jemand betrat den Salon, den wir eben verlassen hatten. Oder waren es mehrere Personen?
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ir zogen uns zwischen zwei Sitzreihen zurück. Fast eine Vier telstunde hielten wir es in unserer Deckung aus, und wäh renddessen hörte ich immer noch das Knirschen der Tür. Neben mir grunzte Hardy unruhig. Mehrmals warf ich einen ver stohlenen Blick in seine Richtung. Ehrlich gesagt, wußte ich nicht, was ich tun soll. Oder was zum Teufel der Ankömmling mit der Tür vorhatte. Wollte er sie aus den Angeln heben? Nachdem sie immer weiter diese seltsamen Geräusche von sich gab, wurde ich des Wartens überdrüssig. Ich streckte den Lauf des Schalldämpfers vor, den ich zusammen mit dem Colt meinem schwit zenden Möchtegernmörder abgenommen hatte, und lugte um die Ecke. Auch in Hardys Hand erschien eine ehrfurchterweckende 45er. Bereits nach dem ersten zaghaften Blick stieß ich eine böse Ver wünschung aus. Die Lukentür bewegte sich wirklich, nur eben nicht von Geisterhand getrieben, sondern durch den Wind. Es war alles 163
nur ein Spiel der auffrischenden morgendlichen Windböen. Hardy zog fragend die Augenbrauen hoch. Ich wollte ihm mei ne Entdeckung gerade mitteilen, als ich plötzlich vom Gepäckraum her leise Wortfetzen vernahm. Als ob die örtlichen Geister ihre Stra tegie für die drohende Morgendämmerung besprechen würden. Mit dem Reporter im Schlepptau schlich ich die Treppe hinun ter. Die Stufen knarrten unter unserem Gewicht, und jedes Geräusch ähnelte dem einer Maschinenpistolensalve. Es war dunkel, wie in der tiefsten Hölle. Auch die Leichen der Pandas wollten diese Ana logie irgendwie nicht aus meinem Kopf verbannen… Die bunt zusammengewürfelten Gepäckstücke türmten sich, klei nen Bergspitzen gleich, vor unseren Augen auf. Die dumpfen Män nerstimmen und die um einiges angenehmere weibliche erschienen in dem düsteren Raum vollkommen unwirklich. Es war wirklich wie in einer Kulisse der Traum- oder Geisterwelt. Um uns herum die Toten, vermengt mit den rätselhaften Stimmen aus dem Grab. Hardy blieb hinter mir stehen und schnaufte unruhig. »Was ist das? Ein Kassettenrecorder?« In der Tat hörte es sich an wie eine Bandaufnahme, die irgend wo zwischen den Koffern nun von Geisterhand abgespielt wurde. Die Töne umwebten mich, nahmen mich in den Arm und flüs terten mir ihre betörenden Rufe zu. Ich spürte, wie ich eine Gän sehaut bekam. Dann brach eine harte Stimme den Zauber, gefolgt von der Ant wort einer Frau. Wenn ich es richtig heraushörte, auf englisch, aber die genaue Bedeutung war nicht auszumachen. Ich hob den Kopf und atmete tief durch. Versuchte, die Herkunft der Stimmen zu entdecken. Es klang so nah, und doch … schien irgendwas zwischen uns zu sein. Sie konnten logischerweise nur im Salon über uns sein. Mit zwei ausgestreckten Fingern deutete ich dem Reporter an, daß wir gemeinsam wieder hochgehen würden. Er nickte und übernahm die Führung. Wir erreichten die Treppe. Als ich über die Leichen der Pandas 164
stieg, stieg der schwere Duft der Verwesung in meine Nase. Es war warm, als würde jemand die Boeing von unten heizen. Vor der Gardine blieben wir stehen. Hardy zuckte mit den Schul tern und zeigte damit, daß er keine Alternative sah. Wir mußten auf den Nutzen des Überraschungseffektes hoffen. Ich nickte, steck te den Revolver in meine Hintertasche und griff mit beiden Hän den zu den Flügeln des Vorhangs. Dann blickte ich dem Reporter tief in die Augen. Er seufzte theatralisch und nickte mir schließlich zu. Der Rest ging wie geschmiert. Nach den klassischen Regeln des Überraschungsangriffes. Die Gardinen sprangen zur Seite und wir dafür in die Kabine. Hardy fiel auf die Knie, mit der Waffe im An schlag, während ich bereits mit gezücktem Lauf zwischen den Sitz reihen unterwegs war. Die schwachen Strahlen des Mondes beleuchteten schadenfroh unsere Bemühungen und die traurig baumelnden Vorhänge, die wie Flügel eines Nachtfalters zum Start ansetzten. Kein Mensch war im Abteil, nur die Stimmen. Die rätselhaften Stimmen, die uns ständig einkreisten, in ihren Bann zogen. Hardy fuhr leise auf, wischte sich die Stirn ab und schüttelte un gläubig seinen Rotschopf. Die Geister flüsterten, zogen belustigt ihre Kreise um unsere Köp fe. Und schienen uns wieder in den Frachtraum zurücklocken zu wollen. Inzwischen legte ich jegliche Vorsicht ab. Wie eine wildgeworde ne Herde trampelten wir in den Bauch der Maschine zurück, hin weg über übelriechende Pandabären, vorbei an Kofferbergen. Und standen in etwa da, wo wir vorhin gewesen waren. Auch im über tragenen Sinne: Es war einfach niemand im Abteil. Nur die Stim men, die miteinander verbundenen, wirren Stimmen. Ich lehnte mich an die Außenwand und starrte blicklos in die Dun kelheit. Die Stimmen schienen aus der Tiefe zukommen, aus ein paar Metern Tiefe und vielleicht ein paar tausend Jahren Vergangenheit. Es klang wie ein uralter, chinesischer Dialekt. 165
Hardy stemmte seine Hände in die Hüften und schüttelte ungläubig den Kopf. »Die Tonsoldaten…?« Der Wortschwall hielt an, wurde sogar noch intensiver, als ob ei ner der Geister extra für uns die Lautstärke hochgedreht hätte. Das Band blieb weiterhin ein einziges Rätsel: Manchmal hörte es sich wie ein Monolog an, manchmal wie das Durcheinander von meh reren hundert Leuten. »Verdammt…«, murmelte der Reporter. »Das klingt wie aus der Lift kabine…« Im selben Moment war der Zauber, die Gaukelei der Tonsolda ten vorbei. Wir schauten einander in die Augen und entdeckten im selben Moment die Wahrheit. Er grunzte und rannte ans andere Ende des Kofferberges. Wir umringten die Eisentür zum Aufzug von zwei Seiten. Vorsichtig, die Waffe auf die erhoffte Öffnung gerichtet, drückte ich den Knopf, der uns Einlaß gewähren sollte. Die Tür knirschte, wollte aber nicht in die Wand rutschen. Sie versperrte uns starr und fest den Zugang. Auch mit vereintem Schulterdrücken hatten wir keinen Erfolg. »Es geht nicht«, flüsterte Hardy kurze Zeit später. »Sie werden wohl den Aufzug zwischen den beiden Ausgängen angehalten haben.« Ich stellte mir vor, wie sie da oben in dem engen Raum zusam mengepfercht über Dinge sprachen, die höchstwahrscheinlich auch mich etwas angingen. Ich bedeutete Hardy, sich nicht zu bewegen, und preßte mein Ohr an die Eisentür. Und das Wunder geschah. Ich hörte ihr Gespräch wie in einer Radioübertragung. Die Tonhöhe wurde zwar etwas verfälscht, aber ich konnte jedes Wort verstehen. Es handelte sich eindeutig um zwei Frauen und zwei Männer. Hardy tat es mir nach und lauschte ebenfalls gespannt. Noch bevor ich mich vollkommen dem Genuß des Lauschens hin gab, kam mir der Gedanke, was wohl aus der armen Stewardeß ge worden war. Aber vorerst erschien mir diese Frage nicht so wich 166
tig. Wortführer war zweifelsfrei eine befehlsgewohnte Frauenstimme. In Gedanken ging ich meine weiblichen Bekannten auf diesem Flug durch, fand aber kein passendes Gesicht zu dem Organ. »Sie müssen Menschen umbringen … mit den eigenen Händen«, sagte sie gerade. »Blut vergießen. Das Spiel fängt an, ernst zu wer den. Sind Sie sich auch sicher, daß Sie es schaffen können?« »Ja«, antworteten die anderen. »In Ordnung«, seufzte sie und schien ein wenig zu zögern. »Es gibt da etwas, das mich beunruhigt… Ein Mann, der mir nicht ge fällt. Er könnte alles komplizieren.« »Wer?« erkundigte sich eine männliche Stimme. »Lawrence. Der Kerl, der sich als Pandaforscher ausgibt. Ich weiß aber genau, was er wirklich ist.« »Was denn?« erschrak die andere Dame. »Ein ehemaliges Mitglied der Royal Air Force. Geheimagent und so. Hart wie Stahl. Dagegen wäre eine Kobra ein niedlicher Oster hase. Wenn der von der Sache Wind bekommt, könnte er alles ver masseln.« »Dann muß er sterben!« konstatierte die resolute Männerstimme. »Genau dieser Meinung bin ich auch«, antwortete sie. »Wer über nimmt seine Liquidierung?« Es war schon interessant, mit zuzuhören, wie sie über mein Le ben entschieden. Als ob es dabei gar nicht um meine Haut gehen würde. Nebenbei allerdings machte ich mir schon Gedanken, wel che Gesichter zu den Organen paßten. Es war still, keiner beeilte sich, zu meinem Henker ernannt zu wer den. »Na ja«, meinte die Frau, »ich kann Ihre Gefühle verstehen. Es ist schwer, jemanden umzubringen, der uns nichts getan hat. Aber denken Sie daran, daß er es tun könnte.« »In Ordnung«, meinte der Mann von eben zögernd. »Ich werde ihn töten.« »Ich auch«, bot sich der andere an. 167
Ich verzog den Mund und konnte keinesfalls Hardys anerkennendes Zwinkern erwidern, das er mir in Anbetracht der plötzlichen Be rühmtheit meiner Person schenkte. Auch erfüllte es mich irgend wie nicht gerade mit Freude zu hören, daß sich gleich mehrere Män ner meiner Ermordung widmen wollten. Wieder folgte ein kurzes, betretenes Schweigen, als ob sie alle ge rade verlegen zu Boden starren würden. »Danke«, meinte schließlich die herrische Frauenstimme. »Genau das habe ich von Ihnen auch erwartet. Aber ich denke, es wird wohl doch meine Angelegenheit bleiben. Ich muß es tun. Noch bevor die Sonne aufgeht, wird Lawrence sterben!« Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und preßte die Lip pen zusammen. Noch bevor die Sonne aufgeht? Da hatte ich aber wohl auch noch ein Wörtchen mitzureden!
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ieder folgte eine längere Pause. Und wieder war es die Rädels führerin, die das Schweigen brach. »Nachdem wir Lawrence losgeworden sind, kann die Hauptvor stellung beginnen.« »Aber wann?« »Das hängt nicht von uns ab. Die Uhr tickt. Und wir wissen nicht, wann die Bombe explodiert.« »Nicht, daß wir mit in die Luft fliegen«, meinte die eine Män nerstimme besorgt. »Haben Sie etwa Angst?« »Ach was. Nur … ich sehe unseren Fluchtweg noch nicht so klar.« »Es gibt keinen!« 168
»Wie bitte?!« herrschte die andere Frau sie an. »Ich meinte natürlich, für mich wird es keinen geben.« Ich hätte einen ganzen Aufsatz über die Charakteristik von Stim men schreiben können. Bereits nach wenigen Sätzen wurde klar, daß die Eigentümer der beiden energischen Organe, die resolute Dame und einer der Männer, die beiden anderen übers Ohr hauten. Und mir war auch klar, daß es ein Spiel auf Leben und Tod war. »Also«, fing der andere zaghaft wieder an, »als ich damals einge willigt habe…« »Haben Sie es sich anderes überlegt?« wollte die Frau wissen. »Ih nen ist bekannt, was die Strafe für…« »Ja, natürlich, natürlich«, unterbrach sie der andere. »Aber niemand sprach davon, daß auch wir daran glauben könnten!« »Ich habe nicht vor, weiterzuleben«, antwortete sie. »Nicht nach dem, was wir vorhaben.« In diesem Moment rutschte Hardy aus und knallte gegen die Tür. Was danach folgte, war wie ein schlechter Traum. Der Reporter fiel auf den Boden und fluchte entsetzlich. Ich sprang hoch, um die Treppe hinaufzuhetzen, aber ein ausgestrecktes Bein, das mir plötz lich aus einer Koffernische in den Weg gestellt wurde, brachte auch mich zum Fall. Ich flog durch die Luft und landete direkt auf Har dy, der sich gerade aufgerappelt hatte und nun erneut zu Boden ging. Wir schlugen Purzelbäume wie herumtollende Bärenjungen im Zoo. Zuerst stieß ich mit meinem Kopf gegen den von Hardy, dann traf ich den Boden und schließlich – wie auch immer mir das vor die Nase kam – mein eigenes Knie. Als ich den Reporter abgeschüttelt hatte und wieder auf die Bei ne gekommen war, nahm ich mir vor, jeden umzubringen, der sich mir noch einmal in den Weg zu stellen wagte. Vor allem den Kerl, der zwischen den Kofferbergen lauerte. Da es ziemlich dunkel war, konnte ich ihn nicht gleich finden. Er hatte sich eine tolle kleine Ecke eingerichtet, in die er sich wie ein Fuchs in seine Höhle zurückgezogen hatte und wo er mich beim Hineinschielen mit einem Kopftritt empfing. 169
Ich wurde immer wütender. Um nicht unwiderruflich die gute Lau ne zu verlieren, plazierte ich eine rechte Gerade in die Mitte der Dun kelheit. Daß ich nur die eisenbeschlagene Sohle seines Schuhwerks traf, stimmte mich auch nicht gerade fröhlicher. Der zweite Schlag be täubte ebenfalls nur den Absatz des Stiefels. Und natürlich meine Faust. Hardy war inzwischen wieder auf die Beine gekommen und ver folgte das Spektakel mit gewissem Interesse. Ich bückte mich und riskierte erneut einen Blick ins Innere des Fuchsbaus. Als Dank er hielt ich eine Ohrfeige. Hardy verzog den Mund, schüttelte den Kopf und fragte mich etwas, was ich wegen meinen klingenden Ohren nicht richtig verstand. Ich glaube, in genau solchen Situationen verlieren selbst die rou tiniertesten Cops ihre Geduld. Sie schießen einfach drauf los. Zum Glück hatte ich eine bessere Idee. Schön langsam schob ich immer mehr Gepäckstücke von oben auf den Kopf des Feindes. Und frag te laut nach einem Streichholz, mit dem ich das Flugzeug danach in Brand setzen konnte. Mein Opfer sprang daraufhin mit selbst für umzingelte Kaninchen beachtenswerten Haken aus der Höhle. Zu Hardys Pech allerdings – und meinem Glück womöglich – auf seiner Seite. Kurz darauf sah ich, wie sich vor dem Reporter ein Schatten aufbaute, und vernahm das Geräusch einer dem Klang nach ziemlich saftigen Ohrfeige. Hardy gab einen Klagelaut zum besten und verschwand aus mei nem Blickfeld. Ich hörte, wie seine Pistole den Gang entlangschlitterte. In diesem Augenblick gab ich die Taktik auf, den Angreifer im Nahkampf überwältigen zu wollen. Ich richtete die Waffe auf den Feind … oder besser gesagt, hatte es vor, denn der Übeltäter war im ständig lichter werdenden Halbdunkel wie vom Erdboden verschluckt. Daß er nicht bloß ein Phantom meiner Einbildung gewesen war, bezeugten lediglich meine immer noch tauben Ohren und Hardys beständiges Fluchen. Mit der Waffe im Anschlag taumelte ich zu dem Reporter hinü 170
ber. Diesmal war er es, der sein linkes Ohr massierte. »Wo ist er?« »Ich weiß nicht. Aber wenn ich ihn erwische, bringe ich ihn um!« »Wenn Sie ihn erwischen«, meldete sich eine klingende Stimme hin ter uns zu Wort und fügte schnell noch hinzu: »Hände hoch!« Hardy hielt sich daran, ich hingegen drehte mich blitzschnell um und ließ mich zu Boden fallen. Mir war klar, daß ich mit meinem Leben spielte, aber viel blieb mir nicht übrig. Ich griff nach seinen Stiefeln und zog sie zu mir. Den darauffolgenden Kampf kann man in abgewandelter Form manchmal bei Wrestling-Übertragungen sehen. Mein Gegner setz te Füße, Hände, Zähne und seltsame Zuckungen ein, außerdem trat er Hardy auch noch in einen gewissen, sowieso schon in Mitlei denschaft gezogenen, wichtigen Körperteil. Langsam ahnte ich, um wen es sich handelte, aber sicher konn te ich mir noch nicht sein. Um dem Abhilfe zu schaffen, war dies mal ich mit dem Austeilen von Ohrfeigen dran, und mein Wider sacher landete in den Gepäckstücken. Hardy keuchte, hielt die Gegend unter der Gürtellinie fest im Griff und kroch dem Feind hinterher, um sich seine Pistole wieder an zueignen. »Verdammt, wer ist dieser Idiot?« »Arschloch!« erklang es aus den Trümmern. »Du blödes Arsch loch!« Ich nahm ihre Hand und befreite sie aus der mißlichen Lage. Als sie uns endlich erkannte, weiteten sich ihre Augen. »Ach, Sie?« Es war Malgorzata, unser Flugkapitän.
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ch hockte mich neben Hardy, um meinen Atem wieder in ruhi ge Gefilde zurückzuführen. Mal schloß sich schuldbewußt an und musterte uns besorgt. »Was machen Sie denn hier überhaupt?« »Dasselbe wollte ich Sie auch gerade fragen«, meinte Hardy. »Na hören Sie mal! Schließlich ist das hier mein Flugzeug!« Der Reporter winkte ab. Er wollte sich anscheinend nicht auf ei nen Streit über die Eigentumsfrage der Boeing einlassen. »Eigentlich wollte ich nur ein paar Decken holen«, gestand das Mädchen. »Die sind aber oben«, erinnerte ich sie und schüttelte den Kopf, um das Sausen in den Ohren loszuwerden. »Wie ist es möglich, daß Sie sich auf ihrer eigenen Maschine nicht auskennen?« »Ich hatte sie gerade eingesammelt, als ich ein Geräusch hörte. Jemand kam die Rutsche hoch, wahrscheinlich Sie beide!« »Und?« »Was hätte ich Ihrer Meinung nach tun sollen? Ich rannte hier runter und versteckte mich hinter den Koffern. Mein Gott, ich wäre beinahe umgekippt, als ich die Leichen sah…« »Ist außer uns noch jemand an Ihnen vorbeigekommen?« »Ach was! Ich hab' ja noch nicht einmal Sie richtig wahrgenom men. Nur diese komischen Stimmen…« »Sie haben sie gehört?« »Ja… Es war furchtbar! Wissen Sie … ich bin ja nicht gerade schreck haft … dann könnte ich auch kein Flugzeug steuern … aber das war etwas vollkommen anderes! Es klang wie aus einer Gruft… Wie das Gespräch von Toten. Lachen Sie mich jetzt nicht aus!« »Sie waren im Aufzug«, sagte Hardy. »Der Schacht verstärkte ihre Stimmen, aber die Eisentür veränderte die Tonlage. Deswegen klang es so seltsam.« Sie stand auf und blickte uns vorwurfsvoll an. 172
»Aus dem Liftschacht? Wer war es?« »Das wollte ich gerade feststellen, als Sie so freundlich waren und mir ein Bein stellten. Ich wage gar nicht zu fragen, weshalb…« »Weil ich Angst hatte.« »Reagieren Sie immer so, wenn Sie Angst haben?« erkundigte sich Hardy süffisant. Diesmal war es Malgorzata, die nicht auf das Thema einging. »Ich wußte gar nicht, was ich überhaupt tat. Ich sah einen Schat ten vorbeihuschen und hatte Angst, daß dieser Schatten – demnach also Sie – mich entdecken würde. Mein Gott! Und Sie haben die Kerle wegen mir verpaßt!« »Ganz genau.« »Und Sie wissen nicht, wer es war?« »Nein.« »Worüber haben die sich denn unterhalten?« »Keine Ahnung«, log ich. »Man konnte kein Wort verstehen. Üb rigens ist alles nicht so schlimm. Bestimmt suchten ein paar der an deren auch nur nach Decken.« »Als ich in die Maschine kletterte, schliefen aber alle noch.« Es gab da eine kleine Dissonanz in ihrer Stimme, die mir bei Ta geslicht wohl gar nicht erst aufgefallen wäre. In dieser dunklen Enge aber schienen Stimmen sehr viel eindeutiger zu werden. Ich war mir sicher, daß ihr da unten etwas aufgefallen war und sie deshalb ins Flugzeug geklettert war. Ich werde mir nie verzeihen, daß ich in diesem Moment die Sa che nicht weiter verfolgt und versucht hatte, aus ihr herauszuho len, was genau sie beobachtet hatte. Die Sache hätte weitaus ein facher und vor allem mit weniger Blutvergießen, beendet werden können. Leider fiel mir das zu dem Zeitpunkt nicht auf. Ich legte es einfach in einer Ecke meines Gehirnes ab, nahm zur Kenntnis, daß sie mir nicht die Wahrheit erzählt hatte, und nahm mir vor, zu einem geeigneteren Zeitpunkt etwas nachzuhaken. Mal rutschte jetzt ganz dicht an mich heran. Ihre Haare fielen wild durcheinander, und obwohl ich im Halbdunkel kaum etwas aus 173
machen konnte, hätte sie sich bei der Wahl zur schönsten Pilotin der Welt meiner Stimme sicher sein können. »Und wo sind die jetzt?« »Mit dem Aufzug nach oben gefahren und sicherlich schon längst aus der Maschine gerutscht.« »Was nun?« »Wir verlassen ebenfalls das Flugzeug. Langsam dämmert es; wenn alle aufgewacht sind, können wir gemeinsam die nächsten Schrit te planen.« »Meinen Sie, es gibt hier irgendein Dorf in der Nähe?« »Sicherlich.« »Woher wollen Sie das denn so genau wissen?« Ich war schon drauf und dran, ihr die Geschichte mit den Meos zu erzählen, aber dann zuckte ich nur mit den Schultern. In ein paar Stunden würde es hell sein, und dann… Ich ging vor, nach mir kam Mal und schließlich der immer noch keuchende Hardy. »Ist Ihnen was passiert?« erkundigte sich unser Flugkapitän mit fühlend. »Haben Sie sich etwa gestoßen?« Hardy brummte etwas, und ich blickte besorgt nach hinten, aber es gab keinen Grund dazu. Der Reporter erinnerte mich zwar an ein Sprichwort bezüglich gewisser Blicke, die töten können, ansonsten hielt er sich aber zurück. Wir erreichten den oberen Salon. Die Tür ins Freie stand immer noch offen, und die Mondstrahlen fielen nun ungehindert ins Flug zeuginnere. Das vom beständigen Wind verursachte Quietschen hieß uns willkommen. Ich holte mir Hardys Papiere und klemmte sie unter die Arme. Dann blickte ich auf und mußte in dieselbe Richtung starren wie die anderen zwei. In den dunklen Schlund des Lastenaufzuges.
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n der Hand des Reporters schimmerte dumpf seine Pistole, ob wohl uns beiden klar war, daß wir sie nicht brauchen würden.
Gegen Tote ist sie nämlich wirkungslos.
Das trübe Halbdunkel beleuchtete nur das untere Drittel der Ka bine, die Strahlen des silbernen Nachtgefährten reichten nicht mehr
in die oberen Regionen. Deswegen sahen wir vorerst auch keine Lei che, nur die zwei goldenen Pantoffel, die in dem leichten Luftzug
hin und her schwangen.
Hardy stand wie die biblische Salzsäule vor dem Phänomen.
»Mein Gott«, raunte er, »das … das darf nicht wahr sein! Neeiin!«
Ich befürchtete schon, er würde um sich schießen. Also nahm ich
den Arm unserer Pilotin und zog sie vorsichtig beiseite.
Die Leiche drehte sich mit unnatürlich verrenkten Beinen weiter
um die eigene Achse, als ob nichts passiert wäre.
Hardy lehnte sich an die Wand, rutschte zu Boden und schlug
sich mit der Faust gegen die Stirn.
»Das ist … unmöglich! Unmöglich!« stöhnte er. »Sagen Sie mir,
daß ich träume!«
Er wollte in den Aufzug klettern, aber ich hielt ihn noch recht zeitig am Anzugzipfel fest. Hätte ich nicht Minuten zuvor die Stim men gehört, wäre ich wohl als erster hineingesprungen.
Wie hatte doch gleich noch einmal die nette Lady gesagt? Noch
bevor die Sonne aufsteigt, wird Lawrence tot sein.
Ich schaute aus dem Fenster und sah bereits die Morgenröte.
Dort standen wir also und wagten nicht, uns zu bewegen. Obwohl
ich gerne hineingeklettert wäre, tat ich es aus mehreren Gründen
nicht. Ich wollte die anderen, außerhalb des Flugzeuges, nicht mit
einer neuen Leiche beim Frühstück empfangen, außerdem hätte die
Kabine ja auch mit ein paar Kilo Dynamit präpariert sein können.
Und was, wenn das sowieso schon längst unter uns tickte?
Draußen wurde es immer heller. So ging das nicht weiter!
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»Hardy!« Der Reporter stöhnte und schüttelte weiterhin ungläubig den Kopf. »Aber ich habe sie doch begraben!« »Was?« »Begraben.« »Wen?« »Kalima.« »Wie bitte?!« »Ich habe sie aus der Maschine geholt und begraben. Zwischen den Palmen.« »Das verstehe ich nicht…« Er blickte mich an, und in seinen Augen sah ich sichere Anzei chen eines aufkeimenden Nervenzusammenbruchs. »Was verstehen Sie nicht? Ich wollte nicht, daß sie hier in der Ma schine verfault! Das war ich ihr einfach schuldig.« »Wann war das?« »Kurz bevor ich mit Ihnen sprach. Keiner hat auf mich geachtet. Ich schob sie die Rutsche hinunter … auf der anderen Seite… Dann habe ich sie in den Wald geschleppt.« »Und womit … womit haben Sie gegraben?« »Mit dem Messer. Aber die Erde ist so locker, das hätte ich auch mit bloßen Händen geschafft.« Ich dachte angestrengt nach. Entweder hatte jemand die Leiche der Reporterin wieder ausgegraben, oder aber… Ohne ein weiteres Wort gab ich ihm meine Waffe und sprang in den Aufzug. Angenehmer Sandelholzgeruch kitzelte meine Nase. Er stammte wohl aus der Uniform des armen Mädchens. Die mit goldenen Fä den genähten Opanken schwebten in der Luft, als ob sie auf einer Lichtschimmerbrücke einen Tanz zeigen wollten. Es blieb mir nichts übrig, ich mußte ihr ins Gesicht sehen. Vieles ging mir in diesem Moment durch den Kopf, ähnlich wie bei einem Ertrinkenden. Ich sah Gesichter von all den Toten, die ich am liebsten aus meiner Erinnerung verbannt hätte. 176
Als ich ihre Züge untersuchte, stockte mir der Atem. Bei der Lei che mit dem verzierten Schuhwerk handelte es sich nämlich nicht um Kalima, die Kollegin von Hardy. Es war Stewardeß Nummer zwei, Sikara. Irgendwie verlor ich das Gleichgewicht, dann erholte ich mich wie der. Unweit von uns, vielleicht kaum noch wenige hundert Kilo meter entfernt, zog der Sonnenwagen mit seinen Rädern Lichtbö gen in die Luft, und die Welt erwachte an dieser Stelle. Hardy schluckte, als ich meinen Revolver wieder zu mir nahm. »Runter jetzt.« »Kalima…« Viel Zeit blieb uns womöglich nicht mehr, also schüttelte ich ein fach nur den Kopf. »Nein. Es war die andere Stewardeß.« Wir traten zum Notausstieg und blickten hinaus. In der Däm merung konnten jederzeit feindliche Lichtstrahlen unser Lager er obern. »Los!« Hardy rutschte als erster hinunter. Ich drehte mich um. Malgor zata stand hinter mir, knabberte an den Fingernägeln und blickte zum Liftschacht zurück. Dabei standen ihr die Tränen in den Au gen. »Schnell, Mal!« Sie nickte und rutschte ebenfalls von dannen. Im selben Moment passierte das Wunder. Am östlichen Himmel schien eine riesige Apfelsine zu explodieren. Gelbe Streifen ergos sen sich über den Himmel und veredelten die Bergspitzen mit ei nem goldenem Schimmer. Die ganze Welt schien zu singen; die im Licht badenden Palmenblätter intonierten lautlos die Sonnensym phonie. Unten angekommen, blickten wir alle drei zur Sonne hinauf. Auf Hardys dreckverschmiertem, unrasiertem Gesicht machte sich ein bitteres Lächeln breit. Er ließ beide Arme hängen, und zusammen mit dem zum Buckel gekrümmten Rücken erinnerte er mich an ei 177
nen legendären Glöckner. Mals rote Haare hatten sich aus dem Kno ten gelöst und fielen ihr wirr ins Gesicht, die Augen waren noch gezeichnet von den Tränen der Nacht. Wie drei warnend ausgestreckte Finger versperrten uns die Spit zen des vor uns liegenden Berges die vollkommene Sicht auf die im mer höher kriechende gelbgoldene Scheibe. Hardy kam als erster wieder zu sich. Vielleicht war er am wenigsten mit solcher Magie zu beeindrucken. »Wollen Sie mit der Waffe in der Hand auch noch den Sonnen untergang abwarten?« Seine Stimme klang nicht einmal spöttisch, nur müde, unheim lich müde. Ich blickte mich um und steckte den Revolver dann in die Jackentasche. Wie geahnt, übernahmen die Sonnenstrahlen die Macht über die Dämmerung. Und ich lebte immer noch. Beim ersten Vogelgezwitscher gerieten auch die Decken in Wal lung. Am schnellsten tauchte Wimmer auf, gefolgt von Leichenfresser und den anderen. Plötzlich wurde mir bewußt, wie mörderisch er schöpft ich mich fühlte. Während sich der Rest der Truppe langsam zu uns gesellte, um klammerte ich verzweifelt den Revolver in meiner Tasche. Ich wuß te nicht, wer mich umbringen wollte und ob er es überhaupt vor so vielen Leuten riskieren würde. Vielleicht bildete ich mir das al les ja auch nur ein. Keiner der Anwesenden verriet Überraschung oder Wut über meine immer noch ziemlich vitalen Lebensfunktionen. Die Tennismädchen heulten wie gehabt, die ehemals weißen, in zwischen ziemlich in Mitleidenschaft gezogenen Röcke und Ober teile und die goldblonden Haare beschworen in mir das Bild von gefallenen Engeln, verstoßen von einer erzürnten Gottheit. Hardy zwängte sich ein Lächeln auf das Gesicht und nahm sich der bei den an. Sie setzten sich gemeinsam unter eine Palme, und der Re porter stellte ihnen diverse Fragen über Tennistechniken. Mal taumelte an ihren Platz zurück und weckte Lisolette. Sie hock te sich neben ihre Kopilotin und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Die se schüttelte daraufhin energisch den Kopf und deutete in Richtung 178
der Bäume. Ich machte mir gerade selber den Vorschlag, doch noch ein we nig Schlaf zu tanken, als mich Leichenfresser mit einem Schulter klopfen beehrte. »Mr. Lawrence … sitzen wir tief in der Scheiße?« Ich war überrascht, wie ernst seine Stimme trotz der vulgären Aus drucksweise klang. Die letzten Stunden hatten wohl den Rest sei nes infantilen Popmusiker-Gehabes weggeblasen. »Es scheint zumindest so.« »Ist was passiert heute nacht?« Ich wußte einfach nicht, was ich ihm sagen durfte. Panik mußte ich auf jeden Fall vermeiden… Ich war schon dabei, ihm irgendein Märchen aufzutischen, als sich seine kalten, blauen Augen direkt in meine bohrten. »Der Dicke… Sie wissen schon … der mit den Hosenträgern, wur de umgebracht.« Damit war es hinfällig, ihn vernebeln zu wollen. »Ich weiß.« »Waren Sie es?« Wortlos schüttelte ich den Kopf. »Wer war er?« »Woher soll ich das wissen? Wohl kaum ein Methodistenpfarrer.« »Gab es … irgendwelche Probleme zwischen Ihnen?« In einer anderen Situation hätte ich laut gelacht. »Probleme? Na wenn Sie einen Mordversuch ein Problem nennen…« Er weitete vor Überraschung die Augen. »Heilige Scheiße! Der Kerl war hinter Ihnen her?« Erst jetzt fiel mir auf, daß Leichenfresser den Toten als erster er wähnt hatte. »Und Sie? Woher wissen Sie, daß er nicht mehr am Leben ist?« griff ich ihn an. »Ganz einfach«, meinte er und schüttelte immer noch ungläubig den Kopf. »Ich mußte nachts aufstehen, um zu pi … auf die Toi lette zu gehen. Na ja, und zwischen dem Gestrüpp lag dann die 179
ser Kerl da. Ich bin glatt über ihn gestolpert.« »Und dann?« »Dann habe ich mir fast in die Hose gepi…« »Das meinte ich nicht. Danach! Sind Sie hierher zurückgekommen?« »Natürlich. Aber vorher habe ich ihn mir noch einmal genau an geschaut.« »Weshalb?« »Die Hosenträger kamen mir so komisch vor. Dann merkte ich, daß er Waffen bei sich getragen hatte.« »Und?« »Ich bin Amerikaner und sehe oft in die Flimmerkiste. Dicke Tou risten spazieren selten mit einem Schulterhalfter im Dschungel he rum. Noch dazu mit einem für zwei Revolver. Also schaute ich ihn mir noch genauer an. Und wissen Sie, was mir dabei auffiel?!« »Na?« »Ich kenne den Typen!« Bisher beobachtete ich die anderen, aber nun widmete ich all mei ne Aufmerksamkeit dem lilahaarigen Musiker. »Sie kennen ihn?« »Scheint so. Sein Gesicht war oft im Fernsehen. Er war ein ziem lich hohes Tier in irgendeiner Familie. Vielleicht die Genovese-Ban de, wer weiß.« Mein Gott, bekam ich es jetzt etwa auch noch mit der Mafia zu tun? »Sind Sie sich da sicher?« »Sofern man das in solchen Fällen sein kann. Es steht ihm zwar nicht auf die Stirn geschrieben, aber dennoch…« Er verstummte, was ich als Zeichen wähnte, daß plötzlich jemand hinter mir aufgetaucht war. Ich hatte recht. Es handelte sich um Van Broeken, der eine Pistole auf uns richtete. Ich wollte mich wieder fallen lassen, genau wie in der Maschine, als ich nähere Bekanntschaft mit Mals eisenbeschlagenen Stiefeln machen durfte, aber diesmal fehlte mir wirklich die Kraft dazu. Das Gehirn sendete zwar die entsprechenden Befehle an meine Muskeln 180
aus, doch die wollten irgendwie nicht mehr mitmachen. Statt des blitzschnell und perfekt ausgeführten Hechtsprunges in den Rasen blieb ich einfach vor der Mündung stehen. Van Broeken drehte die Waffe um, inspizierte sorgsam das Inne re des Laufes, blies hinein und steckte sie schließlich weg. Und als ob das nicht genug wäre, machte er die schönste Verbeugung, die ich je in einem Mantel-und-Degen-Film gesehen hatte. »Guten Morgen, meine Herren. Entschuldigen Sie bitte die Stö rung, aber womöglich interessiert es Sie ja, daß unser dicker und inzwischen toter Gefährte Tarantelli hieß und in der Tat der Capo der Genovese-Familie war. Verzeihen Sie, daß ich mich einmische, aber in dieser Stille kann man Ihre Stimmen ziemlich weit hören.« Der Wald um uns herum war inzwischen genauso bevölkert wie die Straße zwischen Hollywood und Los Angeles. Vögel begrüßten mit ihrem Gesang die neue Sonne, irgendwo weiter entfernt im Dschungel heulten Füchse auf. Soviel zur Stille. »Aha… Und woher wissen Sie das so genau?« »Das weiß jeder. Mein junger Freund hier hat recht. Eine Zeitlang wurde er oft im Fernsehen vorgestellt. Letztes Jahr hieß es, er wäre für immer verschwunden. Ich glaube, man hat sogar schon einen neuen Capo ernannt. Es war in der Tat eine Freude, ihn wieder zusehen.« »Sie haben ihn auch gesehen?« »Wieso, wer denn noch?« »Ich zum Beispiel.« »War er da noch am Leben oder bereits tot?« »Ich habe ihn nicht umgebracht, falls es das ist, was Sie meinen.« Er zuckte mit den Schultern und winkte ab. »Das ist mir, ehrlich gesagt, egal. Ich habe nur darüber nachge dacht, was er wohl hier, in unserer Mitte, zu suchen hatte. Er war nämlich nebenbei auch der Kunstexperte in der Familie.« »Soll das heißen, die Mafia beschäftigt sich auch noch mit geklauten Kunstschätzen?« »Warum denn nicht? Nur nicht auf die Art, wie Sie sich das jetzt 181
vorstellen… Keine Picassos oder so. Sie sind allerdings immer wie der hinter nicht eingetragenen Schätzen her. Die Mafia, mein Freund, finanziert sogar manche Ausgrabungen. In Ägypten, Mesopotamien, überall auf der Welt. Anschließend werden die Reliquien versteigert.« Van Broeken zog wieder seine Waffe hervor, dann das dazugehörige Magazin, schob es in den Griff und lud durch. Er lächelte, verbeugte sich und verschwand zwischen den Bäumen. Leichenfresser kratzte sich am Haarschopf und blickte ihm nach denklich hinterher. »Glauben Sie, daß uns tatsächlich die Mafia erwischen wollte? Viel leicht … wegen mir … meiner Gruppe?« Ich ließ ihn mit seinen schlimmsten Ängsten allein und ging zu meiner Decke. Ich hatte vor, auf Teufel komm raus wenigstens eine halbe Stunde Schlaf zu finden. Wenn man mich kurz vor Mor gengrauen töten wollte, dann mußte man damit schon den nächs ten Tag abwarten. Sofern es für ihn und für mich so etwas überhaupt noch geben würde. Ich trat neben meinen Deckenhaufen, an dessen Kopfende mein zusammengefalteter Blazer lag. Es war eine alte und in Situationen wie dieser gar nicht so abwegige Angewohnheit von mir, den An schein zu erwecken, ich würde tief und fest an meinem Platz schla fen. Bei nicht allzu starkem Mondlicht konnte der Schatten durch aus für meinen Kopf gehalten werden, besonders, wenn es der An greifer eilig hatte. Ich kniete mich neben das Bündel und wußte nicht, ob ich nun weinen oder lachen soll. Die Wolldecke wurde nämlich von einem genau solchen Pfeil in den Boden gespießt, der auch den dicken Tarantelli ins Jenseits befördert hatte. Mit leicht zittriger Hand nahm ich die Stahlrute und zog sie aus der Erde. Auch diesmal konnte ich keine Rückstände von Schieß pulver erschnuppern. »Verdammt!« fluchte jemand in meinem Rücken und hockte sich kurz darauf neben mir auf den Boden. »Da hatten Sie aber Glück, 182
Mann! Wann hat man Ihrer Decke denn den verpaßt?« Ich mußte mich gar nicht erst umdrehen. Die Stimme identifi zierte eindeutig den Navysoldaten Wimmer. Die Frage ließ ich un beantwortet, statt dessen drückte ich ihm den Pfeil in die Hand. »Schauen Sie ihn sich genau an!« Er zog die Augenbrauen in die Höhe, nahm sich aber die Zeit, wog das Geschoß, warf es in die Luft und fing es wieder auf. »Tja … zweifelsfrei geeignet, jemanden damit umzulegen.« »Was meinen Sie, was es ist?« »Ein Projektil.« Ich nahm es ihm wieder aus der Hand und schob es unter die De cke. »Sie arbeiten doch unter Wasser, nicht?« »Ja, aber…« »Was würde passieren, wenn man mit einem Unterwassergewehr hier oben, auf dem Trockenen schießen würde?« »Nun … wenn es umgebaut wurde, dann … kann es schon für ei nen Mord mißbraucht werden.« »Was meinen Sie mit umbauen?« »Na ja … einige Veränderungen. Einstellungen ändern und so.« »Und Sie könnten das machen?« »Ich habe es noch nie versucht.« »Aber Sie könnten es…« »Was wollen Sie damit sagen?! Sie glauben doch wohl nicht, daß ich etwas damit zu tun habe?! Warum sollte ich so etwas machen?« »Ich weiß nicht«, erwiderte ich. »Und ich weiß auch nicht, wer so ein Gewehr abgefeuert haben könnte, wenn nicht Sie. Heute nacht hat jemand gesagt, ich würde den Sonnenaufgang nicht mehr er leben. Und es lag nicht an ihm, daß er unrecht behielt… Auf jeden Fall möchte ich Ihnen hier und jetzt mitteilen, daß ich…« Soweit war ich gekommen, als unweit von uns, aus Richtung des Dreispitzberges eine grüne Rakete in den Himmel geschossen wur de. 183
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ir versammelten uns um das Flugzeug herum, wie eine auf gescheuchte Schafherde. Mal drängte sich irgendwie neben mich und vergaß – scheinbar versehentlich – ihre Hand auf meinem Arm. Als ich sah, daß sich alle von der gegen die Reifen gelehnten De cke fernhielten, bat ich Villalobos, zusammen mit Leichenfresser die tote Darcy in die Büsche zu ziehen. Als die Tote aus unserer Nähe verschwunden war, zwängten wir uns gemeinsam unter den Bauch der Boeing. Die Strahlen der Son ne wurden mit höllischer Intensität von der Aluminiumoberfläche reflektiert, und mir war klar, daß es binnen kürzester Zeit verdammt heiß werden dürfte. Ich schob die MP auf den Rücken und über gab dem vom Leichentransport zurückkehrenden Leichenfresser mei nen erbeuteten Colt. Alle scharten sich nun um mich, verdreckt, müde, ungewaschen und hungrig, wie sie nun eben mal waren. »Haben Sie die Rakete gesehen?« fragte ich überflüssigerweise. So überflüssig, daß auch niemand darauf antwortete. »Innerhalb der nächsten Stunde werden sie hier sein.« »War dieses Zeichen denn für uns bestimmt?« fragte Frau von Rot tensteiner. »Für wen sonst?« »Und es bedeutet nicht gerade Gutes, oder?« Damit hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich hasse Pa nikmache, aber diesmal durfte ich nichts beschönigen. Allerdings versuchte ich dennoch, die Schärfe meiner Worte ein wenig zu dämp fen. »Meine Damen und Herren, bitte hören Sie mir zu! Wie Sie in zwischen wohl selbst bemerkt haben werden, sind wir nicht gera de aus freien Stücken hier.« »Ha!« meinte Leichenfresser und griente bitter. »Aus freien Stü cken?! Kükenscheiß!« 184
Die beiden jungen Mädchen setzten ihren seit gestern anhalten den Tränenmarathon fort. »Man könnte sogar sagen, wir wurden hierher entführt. Warum, wissen wir noch nicht.« »Oh doch!« warf Wimmer dazwischen. »Diese Schweinehunde wol len Amerika erpressen! Wenn wir ihnen nicht in die Fresse hauen, werden die in der ganzen Welt ihre Opfer suchen!« »Jetzt lassen Sie doch den Mann endlich mal ausreden!« herrsch te Villalobos die anderen an und streckte seinen Schnurrbart streit lustig vor. »Na, dann reden Sie endlich!« attackierte mich Frau von Rot tensteiner mit ihrem Schirm, als ob ich selbst dafür verantwortlich wäre, daß ich bisher keinen gescheiten Satz zu Ende führen konn te. »Los, Freundchen! Was sollen wir tun?« »In das Flugzeug zurückklettern!« Die beiden jungen Tennisspielerinnen fingen fahrplanmäßig mit dem Kreischen an, eine warf sich sogar zu Boden und trommelte mit den Fäusten auf das unschuldige Gras ein. Judy und Villalobos wollten ihr zur Hilfe eilen, ernteten aber nur Tritte und Schläge. Schließlich beugte sich ihre Partnerin über das hysterische Ner venbündel und schrie mit unartikulierter Stimme ihre Sorge in die Welt hinaus: »Neiiin! Nicht in die Maschiiiine! Da sind Leiiiiichen!« »Schütten Sie ihnen einen Eimer Wasser über den Kopf«, schlug Van Broeken mit in die Hüften gestemmten Armen vor. »Geben Sie mir Wasser!« brummte Villalobos. Als ob sie sich abgesprochen hätten, sprangen die zwei Mädchen gemeinsam auf und rannten in den Wald. Ich spürte, wie sich Mü digkeit in rasendem Tempo in mir breitmachte. Schon bekam ich das Gefühl, die Boeing würde auf meinen Kopf fallen. Wie von ei ner dicken Glaswand getrennt, erreichte mich die Stimme von Vil lalobos nur verschwommen und dumpf. Als ich die Augen wieder öffnete, war von den Tennismädchen nichts mehr zu sehen. 185
Binnen weniger Minuten hatten wir die Rutsche hinter uns. Sie war inzwischen so heiß, daß man sie durchaus zum Braten von Spie geleiern hätte verwenden können. Auch das Innere des Flugzeuges empfing uns mit einer beispiellosen Hitze, die noch dazu von ei nem durchdringenden, üblen Geruch garniert wurde. »Kann man den Gang zum Gepäckraum irgendwie abschotten?« erkundigte ich mich bei Mal, die außer einer einzigen Flasche war mer Coca Cola nichts von einer Inspektion der Pilotenkanzel mit gebracht hatte. Sie blickte mir in die Augen und schüttelte dann be stürzt den Kopf. Der Gestank wurde immer unerträglicher. Er war süßlich und ließ den Magen zusammenkrampfen. Keiner sagte etwas, und doch wuß te jeder, wo er herkam. Ich ging zum Aufzug, der Angewohnheit zuliebe auch diesmal mit vorgehaltener Waffe. Als ich mich ihm näherte, wurde auch der Ge stank stärker. Mal war inzwischen alles egal, sie trottete mit aufge riebenem Gesichtsausdruck hinter mir her. Ich holte tief Luft und versuchte mich nur auf den Schalter zu konzentrieren. Ich griff hinein, die goldenen Schuhe gerieten in Be wegung, etwas Kaltes, Starres schlug gegen mein Gesicht. Krallen artige Fingernägel gruben sich in meinen Hals, schienen sogar für einer Sekunde bei der Kehle haltzumachen. Erschrocken fuhr ich zurück, während meine Hand bereits den Knopf gedrückt hatten. Die Tür schlug so schnell zu, daß mein Arm noch im Aufzug hän genblieb. So sehr ich ihn auch herauszuziehen versuchte, es ging nicht. Und der Lift fuhr runter. Ich dachte bereits, ich würde demnächst eine Prothese benötigen. Zum Glück stoppte die Automatik aber den Abwärtsgang, als sie das Hindernis registrierte. Der kleine Raum wurde wieder zurück geschickt, die Türflügel glitten auf. Aber statt den Aufzug nun – et was vorsichtiger – endgültig hinunterzuschicken, packte mich ein seltsamer Zwang. Blitzschnell sprang ich neben die Leiche, und noch während ich Mals verblüfften Schrei vernahm, hatte ich auch schon den Schalter betätigt. 186
Die Tür schloß sich wieder, und ich war mit der toten Stewardeß allein im Dunkeln.
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in paar Sekunden später kamen wir im Frachtraum an. Die Lei che schwang zum Abschied noch einmal in meine Richtung, und der Stoff ihrer Uniform streichelte mein Gesicht. Ich fiel kopfüber zwischen die Koffer. Der Gestank hier unten war nicht mehr auszuhalten, ich drückte mir mein Taschentuch vor die Nase und rannte zum Aufgang. Dabei stolperte ich erst einmal über die Pandabären, und natürlich hatte ich das Gefühl, sie würden nach meinen Beinen greifen. Wie ein Eilzug düste ich die Stufen hoch. Im Salon hatten die Männer bereits unter der Anweisung von Villalobos Gefechtsposi tion an den Fenstern bezogen. Leichenfresser begutachtete mit eks tatischem Lächeln seinen Colt und grinste mir zu, als ich an ihm vorbeiging. Mit dem Kolben der MP zerschlug ich eines der Fenster und schau te ins Freie. Draußen rührte sich nichts, nur die Sonne schien, und die Palmenblätter tanzten im Rhythmus des lauen Windes. Leichenfresser betrachtete eine Weile den Dschungel, dann ver flog plötzlich sein Lächeln. »Mann, Leute!« sagte er und legte vorerst seine Waffe beiseite. »Ich hab' ja noch gar nicht gefrühstückt! Sollen wir etwa wirklich mit leerem Magen kämpfen?« Wilhelmina von Rottensteiner klopfte mir mit ihrem unzerstör baren Markenzeichen, dem Regenschirm, auf die Schulter. »Meinen Sie das etwa im Ernst?« Ich kämpfte schon wieder mit dem stechenden Schmerz im Hin 187
terkopf, diesmal fielen mir aber beinahe auch noch die Augenlider zu. »Was genau meinen Sie, Frau Professor?« fragte ich mühsam. Sie streckte den Schirm aus dem Fenster. »Na das hier. Dieses Kriegsspiel. Meinen Sie wirklich, das bringt was?« Das war mir inzwischen auch schon eingefallen. Wir ähnelten eher den Patienten eines Kleinstadtkrankenhauses, als einer kampfbereiten Elitetruppe. Lisolette lag zwischen den Sesseln, sichtlich von Fie ber geschüttelt. Mal wechselte die Umschläge auf ihrer Stirn, Groß vater spielte an seinem Hörgerät herum und hätte für keine Sekunde den Stock aus der Hand gelegt, als ob er damit den Feind attackieren wollte. Judy drückte sich ein Taschentuch unter die Nase und blick te mich mit einem vorwurfsvollen Blick an, als würde sie mich per sönlich für die immer stärker anrollenden Geruchswellen verant wortlich machen. Bei all dem wäre es natürlich ein Fehler gewesen, die Fliegen zu vergessen. Der Gestank und das getrocknete Blut sorgten seit den frühen Morgenstunden für eine Invasion von Fliegen aus vermut lich aller Welt. Manchmal machten sie Pause, und dazu fanden sie wohl unsere Haut am geeignetsten. Ein ziemlich schlimmes Gefühl, wenn man daran dachte, daß dieselbe Fliege, die uns gerade über die Lippen kletterte, kurz vorher im Blut eines unserer ehemaligen Mitpassagiere gebadet hatte. Wir Männer allerdings sahen wirklich schick aus. Über Leichen fresser und meine Wenigkeit habe ich mich bereits ausgelassen, und der Schnurrbart von Villalobos stellte für jede Fliege in der Boing eine ernste Gefahr dar, aufgespießt zu werden. Der ehemalige fran zösische General stand mit bemerkenswertem Gleichmut hinter ei nem Fenster, Wimmer kratzte sich mit einem kleinen Zahnstocher den Dreck unter den Fingernägeln weg und glaubte wohl nicht so recht an einen näherrückenden Feind. Hardy starrte müde vor sich hin und hielt manchmal wohlerzogen die Hand vor den Mund, wenn er gähnte. 188
Wilhelmina von Rottensteiner klopfte mir erneut auf die Schul ter. »Hören Sie mal, Käferfreund! Wo ist der Dicke?« Ich legte den Kopf zur Seite; alle sahen mich an, selbst die fie bernde Lisolette. Die Möglichkeit, es ihr diskret ins Ohr zu flüs tern, war wohl nicht gegeben. »Äh … draußen. Im Wald…«, sagte ich leise. Sie zog die Augenbrauen zusammen, schnupperte mit der dün nen Hakennase in die Luft und stieß mir dann den Regenschirm gegen die Brust. »Na hören Sie mal! Das ist so aber gar nicht in Ordnung! Diese armen Mädchen, und dann auch noch der Dicke! Gehen Sie ihnen nach und holen Sie sie zurück!« Das leise Trommeln im Nacken verstärkte sich wieder. Als es for tissimo erreicht hatte, war mir klar, daß es psychosomatisch sein mußte. Also nahm ich meine Sinne zusammen und schrie nicht wie geplant einfach los. »Ihr Dicker ist tot«, sagte ich statt dessen und versuchte, so teil nahmslos wie möglich zu klingen. »Was sagen Sie da?« taumelte sie zurück. »Tot?« »Mausetot«, nickte ich. »Mein Gott! Wann ist er gestorben?« »In der Nacht.« »Aber … aber … wie?« »Erschossen. In den Rücken.« Lisolette schloß die Augen, der Schweiß tropfte ihr von der Stirn. Wimmer legte den Zahnstocher beiseite und starrte mich mit offenem Mund an. Opa stand auf und trottete, auf seinen Stock gestützt, zu mir he rüber. »Tot, hä? Tot?! Der Dicke?« Ich schluckte. »Absolut.« »Ich wußte es, hähähä. Ich wußte, daß es mit ihm bald vorbei sein 189
würde.« »Sie wußten es?« blickte ich ihn entgeistert an. »Woher denn?« »Ich hab' seine Hand gesehen, hähähä… Seine Lebenslinie … sie war zu kurz. Er hat sowieso schon viel zu lang gelebt … für so eine kurze Linie.« Frau von Rottensteiner schob den lila Hut in den Nacken und herrschte mich an. »Jetzt reden Sie doch endlich, Mann!« Mit blieb nichts anderes übrig, als mein Mitternachtserlebnis mit den anderen zu teilen. Ich erzählte auch von den Meos und dem seltsamen Tod des Profikillers. Nur über seine Identität als Capo schwieg ich mich aus. »Die Meos!« flüsterte die Professorin und seufzte dann laut. »Ich wollte sie schon immer einmal aus der Nähe beobachten! Ich hab' ja so viel über sie gelesen!« »Möglicherweise kommen Sie ziemlich bald in den Genuß einer umfassenden Beobachtung. Wahrscheinlich waren sie es, die die grü ne Rakete hochgeschossen haben.« »Kannibalen?« erkundigte sich Leichenfresser interessiert. »Miese Terroristen«, meinte Wimmer resolut. »Feinde der Verei nigten Staaten!« Wilhelmina von Rottensteiner warf ihm einen vernichtenden Blick zu, woraufhin sich der Kampftaucher wieder seinen Fingernägeln widmete. Sie hielt mir die Hand entgegen. »Zeigen Sie mir den Pfeil!« Ich holte das unterarmlange Projektil aus der Tasche. Sie warf ei nen Blick darauf, hielt es hoch und gab es mir schließlich zurück. »Ich kenne es.« »Sie kennen das hier?!« »Ja. Es wird in Safariparks benutzt. Man steckt hier vorne eine Sprit ze dran, und dann werden Tiere damit in den Schlaf geschickt. Schwupp, rein in die Haut… Bei Operationen oder Untersuchun gen zum Beispiel.« »Und woraus wird so ein Pfeil abgeschossen?« 190
»Falls ich mich richtig erinnere, aus einem Gewehr. Einem ziem lich großen.« Villalobos kaute nachdenklich auf seinen Bartspitzen herum. »Was glauben Sie, wer es gewesen sein könnte?« »Ich habe absolut keine Vorstellung.« »Die Meos?« »Das halte ich für unwahrscheinlich. Die hatten Messer.« »Also dann?« »Keine Ahnung. Jeder hätte es sein können. Sie auch…« »Ich?! Wo hätte ich so eine besondere Waffe hernehmen sollen? Oder steckt sie im Moment gerade hinter meinem Ohr?« Wilhelmina von Rottensteiner stand auf und bewegte sich in Rich tung Rutsche. »Na, mir reicht das jetzt, ich hab' genug von Ihrem idiotischen Kriegsspiel.« Noch bevor ich es verhindern konnte, saß sie mit kampfbereit vor gestrecktem Schirm in der Luke. Ein paar Sekunden später stand sie bereits auf dem Beton und winkte höhnisch. »Was ist, Cowboys, bleiben Sie da oben?« Wimmer, Hardy und Leichenfresser blickten mich unschlüssig an. Ich wollte gerade etwas Kluges sagen, aber die Ereignisse der nächs ten Minuten sollten mir diese Freude für eine Weile verwehren. Ein langgezogener weiblicher Schrei zerstörte die Stille, und aus den Büschen rannten die beiden Tennisdamen auf die Piste. »Ahhh!« kreischte die erste. »Eine Leiiiche! Zwischen den Bäu meeeen!« »Wildeee!« schloß sich die andere an, und beide rannten wie ver rückt zur Professorin. Dann kam erneut Bewegung ins Laubwerk, und kleine, halbnackte, verwirrt durcheinander winkende Männer strömten auf den Platz. Die Meos waren da.
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ch nahm die MP vom Hals und reichte sie Villalobos.
»Zur Not dürfen Sie sie auch benutzen.«
Er nickte und zwirbelte wie gewohnt seine Schnurrbartspitzen.
Ich setzte mich auf die Gummirutsche und segelte hinunter. Die
Meos standen etwa zehn Meter von der Maschine entfernt wild durch einander. Ich konnte keinen Anführer erkennen, sie waren alle gleich
gekleidet, also wandte ich mich schließlich auf gut Glück an einen,
der etwas näher stand als die anderen.
»Sprichst du chinesisch?«
Er blickte mich an und lächelte.
»Englisch?«
Er klatschte in die Hände, drehte sich zu seinen Kollegen um und
sagte etwas in ihrer melodischen Sprache, von der ich leider kein
einziges Wort verstand.
Die Rutsche hinter mir knackte, und als ich mich umsah, stand
Villalobos bereits hinter mir.
»Wo ist die Maschinenpistole?« fuhr ich ihn an. »Ich hab' doch
gesagt, Sie sollen mich decken!«
»Immer mit der Ruhe«, flüsterte er mir zu und fing dann zu mei ner größten Überraschung an, mit dem Meo zu sprechen. Und zwar
in deren Sprache.
Der Meo antwortete, und die darauffolgende Unterhaltung dau erte gute zwei, drei Minuten.
»Sie können…«, fing ich an, aber der General winkte nur ab.
»Später. Er sagt, sie hätten gesehen, wie das Flugzeug landete, woll ten aber nicht sofort nachsehen. Die gestrige Nacht wäre keine gute
Nacht gewesen, meint er.«
»Wem sagt er das«, gluckste hinter mir Leichenfresser. »Kennen
sich die anderen auch so gut mit Vorhersagen aus?«
»Er behauptet«, fuhr Villalobos unbeirrt fort, »sie wären allesamt
im Dienst zweier Herren, Vang Pin und Dr. Camus.«
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»Fragen Sie sie, wer die sind!« »Das ist unnötig«, fuhr eine strenge Stimme aus dem Hintergrund dazwischen. »Ich werde Ihnen alles persönlich erklären, meine Freun de.« Blitzschnell drehten wir uns alle um. Ein kleiner, dicker Chine se mit Tropenhut lächelte uns unverbindlich an. Dann verbeugte er sich und hielt uns die Hand hin. »Meine Damen, werte Fräuleins…« Die Teenager hörten zu weinen auf und blickten den Ankömm ling wie gebannt an. Sein Lächeln bestärkte sie wohl wenigstens zeit weilig in dem Glauben, daß sie an diesem Tag doch nicht in den Kochtöpfen von Wilden landen würden. »Verehrte Herren…« Wir verbeugten uns alle; Villalobos mit Würde, Leichenfresser mit etwa soviel Grazie wie ein Nilpferd in der Ballettschule. Der Chinese blickte auf die Boeing und schüttelte den Kopf. »Wie konnten Sie die nur auf diesem Taschentuch landen?« »Wir hatten einen tollen Piloten«, antwortete ich und formte ei nen Trichter vor meinem Mund. »Hallooo! Sie können herunter kommen!« »Wir verhandeln nicht mit Terroristen!« kam Wimmers Reaktion. »Wer ist der Herr?« erkundigte sich der Chinese höflich. »Oh, ein Verrückter«, sagte ich beiläufig. »Kümmern Sie sich nicht um ihn. Sie sind Vang Pin?« »Genau. Der Eigentümer dieser Ländereien.« Während wir uns so nett unterhielten, kam auch Mal die Rutsche herabgeschlittert. Dann schwebte sie zu uns herüber und lächelte unseren Gastgeber an. Vang Pin verbeugte sich vor ihr, wenn möglich, noch tiefer. »Die Dame gehört zum Personal? Ein wahres Wunder, was die Crew hier vollbracht hat.« »Ich hab' die Mühle gelandet«, meinte sie nicht ohne Stolz. Der Chinese staunte mit offenem Mund. »Sie…? Die Dame ist der Pilot? Also…« Dann drehte er sich um 193
und sagte etwas zu den Meos. Die halbnackten Eingeborenen blick ten sie darauf mit fast schon religiösem Respekt an. »Was ist denn nun eigentlich mit Ihnen geschehen?« Mal wollte bereits die Litanei anfangen, aber ich hielt sie zurück. »Eine lange Geschichte. Mit Ihrer Erlaubnis werde ich dazu spä ter kommen…« Dann schrie ich erneut zur Maschine hoch. Diesmal mit einem Unterton, der kurz darauf alle außer Lisolette auf den Boden der Tatsachen kommen ließ. Der Chinese machte ein immer verdutzteres Gesicht. Was Wim mer allerdings wenig kümmerte. Er gab mir einfach meine Ma schinenpistole zurück. »Entschuldigen Sie bitte, aber … Sie sind…?« »Leslie L. Lawrence.« »Ich bitte um Verzeihung, wir werden bald Zeit haben, uns alle miteinander bekannt zu machen«, meinte der Chinese. »Vorerst nur soviel: Ich habe hier einige Ländereien angekauft, in deren ungefährer Mitte Sie gestern gelandet sind. Bitte betrachten Sie sich also als mei ne Gäste. Ich fürchte, daß Sie für eine längere Zeit auf meine Gast freundschaft angewiesen sein werden… Bitte verzeihen Sie, aber mein Partner, Dr. Camus, wird auch bald hier sein, und…« Er wurde von lauten Trompetentönen unterbrochen, und kurz da rauf traten einige neue, bisher nicht gesehene Meos aus den Büschen hervor. In ihrem Schlepptau kam ein weißer, wunderschöner Ele fant, mit langen, fast schon unwirklich gleichmäßigen Stoßzähnen. Ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, daß wir die Erscheinung mit offenem Mund begrüßten. Die Morgensonne stand bereits hoch über dem Dschungel, und der Elefant war so unwahrscheinlich weiß wie der reinste Neuschnee im Winter. Die Augen waren dabei rot wie die eines Angorakaninchens. Wo dann die Ähnlichkeit natür lich auch sofort wieder aufhörte. »Mein Gott, wie schön!« seufzte Mal selbstvergessen. »Ich werd' verrückt, das ist ja wie in Tausendundeiner Nacht«, war auch Leichenfresser begeistert. Sofort fing er an zu dudeln. »Pa 194
rampapamm, parampapamm … pam-para rappapapam…« »Könnten Sie wohl damit aufhören!« fuhr ihn Villalobos an. »Was plärren Sie immer so rum?« Mehr brauchte Leichenfresser auch nicht. »Plärren?! Sie haben ja gar kein Gehör! Das ist unser bester Song! ›Die Liebe kommt auf dreibeinigen Elefanten‹ … Eigenkompositi on! Welterfolg! Sagen Sie bloß nicht, Sie haben es noch nie gehört?!« Villalobos preßte die Augen zu. Der Elefant kam dicht an die Ma schine heran, hätte sie sogar mit dem Rüssel berühren können. Ein paar Eingeborene rannten hin und halfen einem in Tropenkleidung gehüllten alten Europäer aus dem Zelt, das man auf dem Rücken des riesigen Tieres aufgebaut hatte. Die Zeremonie von eben wurde wiederholt. Der Mann stellte sich als Christopher Camus vor, küßte jeder Dame einzeln galant die Hand, inklusive der Teenager. Die hatten schon längst aufgehört zu weinen und strahlten wie reife Äpfel in der Sonne. Und siehe da, auf einmal sahen sie sogar ganz hübsch aus! Selbst Vang Pin lächelte und nahm dann meinen Arm, um mich beiseite zu ziehen. »Mr. Lawrence«, begann er und strengte sich sichtlich an, den jo vialen Gesichtsausdruck aufrecht zu erhalten. »Ich weiß nicht, ob Sie bereits davon Kenntnis haben … und letzten Endes ist es ja auch Privatsache… Ich würde es gar nicht erwähnen, wenn nicht … äh, wenn Sie nicht auf meinem, ich meine, unserem Grundstück gelandet wären … ähm, ein Toter liegt nämlich zwischen den Bäumen, ein paar Meter von hier entfernt…« »Ich weiß«, nickte ich. »Sie wissen es? Sie … äh, kannten ihn?« »Ja, ich hatte das Vergnügen… Ein gewisser Tarantelli. Angeblich. Von der Mafia. Ebenfalls angeblich.« Ich weiß nicht, warum ich so ehrlich war; vielleicht, weil ich bis her vom heutigen Morgen angenehm überrascht war. Statt des un erbittlichen Kampfes wurden wir gerade von zwei netten alten Her ren auf ihren Landsitz eingeladen. »Sie meinen … seinetwegen mußten Sie notlanden?« 195
Also fing ich an und erzählte ihm schön der Reihe nach alles, was in den letzten vierundzwanzig Stunden passiert war. Wortlos hör te er mir zu, so daß ich mir am Ende nicht sicher war, ob er auch tatsächlich alles verstanden hatte. Pandabären, verschwundene, dann wieder auftauchende Leichen, erhängte Stewardessen, Preßluftgewehre … ich gebe zu, für fünf Minuten war das eine ganze Menge. Vang Pin holte ein beachtenswert großes blaues Taschentuch hervor und wischte sich damit die Stirn ab. Dann schluckte er laut. »Sie wollen also sagen, daß da oben Leichen im Flugzeug liegen … äh, wie viele?« »Warten Sie mal, da muß ich noch mal nachzählen. Langsam kom me ich schon selbst durcheinander. Die zwei Pandas…« »Pandas?« hakte er mit trübem Blick nach. »Pandabären. Beziehungsweise Menschen. Ich meine, Panda menschen. Wegen des Kostümballs.« »Kostümball«, nickte er traurig und schien sich ein klein wenig von mir zurückzuziehen. »Kostümball, sagten Sie?« »Den hätte es gegeben, ich meine, auf dem Pandakongreß. Aber das ist jetzt unwichtig.« »Wie Sie meinen«, willigte er ein. »Außerdem war da die Stewardeß. Kalima. Aber sie ist nicht mehr da oben, wir haben sie begraben. Ich dachte, daß sie es war, die mei nen Hals im Aufzug berührte, aber da hatte ich mich geirrt.« »Berührte Ihren Hals«, wiederholte er. »Kalima.« Ich spürte, daß ich das Thema immer verwirrter und dumpfer be handelte. »Es war nicht Kalima«, sagte ich. »Das glaubte ich nur im ersten Augenblick! Sie wurde begraben. Also bleibt die richtige falsche Ste wardeß, und … ach ja, die beiden Pandas. Macht drei. Die andere Stewardeß ist hier beim Vorderrad, macht also vier.« Vang Pin trat ein paar Schritte nach vorne, schaute hinter das Rad und kam dann mit unbewegtem Gesicht zurück. »Sind Sie sicher, daß da oben…?« »Zweifeln Sie etwa an meinem Wort?« 196
Er breitete verlegen die Arme aus. »Oh nein, um nichts in der Welt. Nur habe ich das Gefühl, daß Sie erst einmal etwas Ruhe brauchen! Nach so vielen schlimmen Erlebnissen…« Das klang ziemlich so, wie das Gespräch zwischen einem Verrückten und seinem Pfleger. »Mr. Vang Pin…«, sagte ich mit der Beharrlichkeit der Gerechten, »die Leiche am Rad ist der beste Beweis für die Richtigkeit meiner Worte. Überzeugen Sie sich doch selbst!« »Das habe ich bereits getan«, sagte er traurig. »Wie bitte?« »Lieber Mr. Lawrence, bitte regen Sie sich nicht auf! Es ist alles eindeutig mit dem Streß zu erklären, dem Sie und Ihre Freunde aus gesetzt waren. Etwas Ruhe, gute Speisen und Jasmintee…« »Oh, verdammt!« fluchte ich und zerrte ihn, noch bevor die Meos eingreifen konnten, nach vorne zu dem fast menschengroßen Rad. »Ist das für Sie nichts? Ist das keine…« Plötzlich bekam ich sehr wenig Luft. Die Leiche war verschwunden. Vang Pin pfiff die kampfbereiten Meos zurück und gab auch sei nem Partner einen beruhigenden Wink. »Kein Problem, Christopher! Mr. Lawrence hat nur…« Ich lehnte bereits an der Radaufhängung und wischte mir die Stirn ab. »Entschuldigen Sie«, unterbrach ich ihn. »Sie kann ja gar nicht hier sein. Sie liegt zwischen den Büschen, wir haben Sie hineinge zogen…« In diesem Moment erbebte das Flugzeug. Die Turbinen sprangen mit ohrenbetäubendem Getöse an. Ein unbekannter, starker Arm griff nach mir, riß mich nach oben. Als ich zu mir kam, saß ich bereits in der Kabine und betrachtete mit einem Glas Whisky in der Hand den grauen Streifen der Themse, den Big Ben und West minster. Dann fiel mir eine ganze Weile nichts mehr auf. 197
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E
s war bereits später Nachmittag, als ich aufwachte. Die Sonne schien mir durch riesige, weiß umrahmte Fenster in die Augen. Die Holzleisten erinnerten an die französischen Schlösser des Mit telalters und erweckten in mir für kurze Zeit die Illusion, ich wäre tatsächlich in Europa. Die wogenden Palmenblätter vor dem Fenster und ihre etwas ent fernter wachsenden Geschwister zerstreuten diese Hoffnung aber bald darauf. Ganz zu schweigen von den furchtbaren Schmerzen, die mei nen Hinterkopf heimsuchten. Ich schloß wieder die Augen, und als ich sie das nächste Mal aufmachte, stand die Sonne bereits ein gu tes Stück tiefer. Ich betastete meinen Schädel und mußte überrascht feststellen, daß er mit einem riesigen Verband umwickelt war. Ich wollte wei tertasten, aber eine Hand schlug mir auf den Arm. »Lassen Sie das, ja?!« Schwerfällig drehte ich mich zur Quelle der Stimme um. Zuerst sah ich einen Kimono, dann die beiden goldenen Opanken. Und sie schienen direkt vor meinen Augen zu baumeln. Erschrocken fuhr ich auf und wollte mich aufsetzen. »He, was ist denn mit Ihnen los?« Die Stimme klang nicht nach einer erhängten Leiche. Es war über haupt keine Grabesstimme, sogar für diese Welt schien sie ziemlich energisch zu sein. Malgorzata saß in Kimono und Seidenpantoffeln neben meinem Bett auf einem Stuhl und las irgendein Buch. Ich wollte mich nun erst recht aufsetzen, aber es sollte erst beim dritten Versuch, mit Mals Hilfe, klappen. Bereits im Sitzen machte ich meine ersten Gehversuche, und zwar in Sachen Sprache. »Guten … Abend. Wie geht es Ihnen?« Sie ließ das Buch in ihren Schoß plumpsen und sah mich ent 198
geistert an. »Mir? Wie es mir geht, fragen Sie? Wie geht es Ihnen? Ich dachte schon, Sie wären Geschichte…« »Was ist mit mir passiert?« »Dr. Camus meinte, Sie hätten eine Gehirnerschütterung.« »Ist das Flugzeug weggeflogen?« »Welches Flugzeug?« »Na … Ihres. Ich kann mich nur noch daran erinnern, daß die Triebwerke zündeten…« Ich hörte auf, denn ihr Blick gefiel mir gar nicht. »Meine Triebwerke? Die werden wohl nie mehr anspringen… Ge schweige denn ohne Treibstoff.« »Aha… Und wovon habe ich dann die Gehirnerschütterung?« Sie war ganz süß, wie sich mich ansah. Und noch süßer, als sie anfing, mit dem Saum ihres Kimonos zu spielen. Abgesehen von den roten Haaren und ihren blauen Augen war sie so schüchtern wie ein Geishalehrling am ersten Unterrichtstag. »Na ja … ich glaube, von mir.« »Von Ihnen? Ich? Was haben Sie denn mit mir gemacht, während ich schlief?!« Weitere rote Wellen schwappten über ihr Gesicht. »Seien Sie nicht so geschmacklos! Es ist gestern passiert.« »Was denn, um Himmel willen?« »Na, daß ich Ihnen ins Gesicht getreten habe. Dr. Camus meint, ich hätte mit meinem Stiefel Ihren Kopf getroffen. Sie wissen doch, als Sie mich aus der Kofferecke herausholen wollten.« Die immer sanfter werdenden Lichtstrahlen der Sonne brachen sich an ihrem Gewand. Vorne, zwischen ihren Brüsten, blitzte ein riesiger Drachen auf und schien mir geradewegs seine riesige Zun ge entgegenzustrecken. Er rollte den Schwanz nach hinten, wo er sich etwas höher im Ausschnitt verlor. Ihr Gesicht war immer noch rot, als sie mich anfuhr: »Was starren Sie mich so an?!« »Ich denke gerade darüber nach, wo der Schwanz des Drachen 199
wohl endet.« Sie beugte sich über mich und legte die Hand auf meine Stirn. »Seltsam, dabei scheinen Sie gar kein Fieber zu haben. Dr. Ca mus hat gesagt…« Ich nahm ihre Hand und hauchte einen kraftlosen Kuß auf ihre Finger. Sie zog sie zurück, als ob ich zugebissen hätte. »Was tun Sie denn da?« »Ich möchte aufstehen«, gab ich ihr zu verstehen. »Dr. Camus hat gesagt…« Da sie das schon ein paarmal gesagt hatte, interessierte es mich nicht mehr so sehr, also schwang ich einfach die Füße vom Bett. Sie hatte bestimmt schon zuvor einige Männer in Unterhose gese hen, dennoch ordnete sie einen strategischen Rückzug für sich selbst an. Mit zwei Schritten war sie an der Tür, und erst als sie sich da hinter in Sicherheit wähnte, riskierte sie noch einen Blick zurück. »Mr. Camus erwartet Sie zum Dinner. Bis dann!« Erfreut stellte ich fest, daß neben meiner Tasche auch die MP auf dem Boden lag. Ich überlegte eine Weile, dann ließ ich sie, gegen die Wand gelehnt, dort. Es gehört sich nicht – zumindest in besseren Kreisen –, zum Din ner mit einer mexikanischen Maschinenpistole zu erscheinen. Was die Kleiderwahl anging, hatte ich zwei Möglichkeiten. Ent weder der gestern noch ziemlich sportlich und elegant wirkende, inzwischen allerdings etwas in Mitleidenschaft gezogene helle An zug, oder der Seidenkimono, der im Schrank meines Zimmers hing. Diesmal dauerte die Entscheidung nicht so lange, ich entschied mich kurzerhand für den Kimono. Als sich der leichte Seidenstoff um meinen Körper hüllte, schwebte ich in Gedanken in die alten Zeiten, zu der Wüste Gobi zurück, wo ich mich fast ausschließlich so gekleidet hatte. Zwar hieß es dort Del und nicht Kimono… Und plötzlich, wie über tausend Wolken hinweg, hörte ich aus der Fer ne wieder die guten Ratschläge meines gesprächigen mongolischen Freundes, Galsandordshi: ›Wenn du dich in einen Del kleidest, Lubsang – dies war mein mon 200
golischer Name –, wirst du von deinem früheren Ich befreit. Jeder, der ei nen Del anzieht, trägt damit gleichzeitig die Steppe, die Berge, die Stille der großen Seen und das Gebrüll der Kamele in der Wüste. Jeder, der einen Del anzieht, bekommt ein neues Lebensgefühl. In einem europäischen Anzug wirst du nie ein richtiger Mongole werden! Wie kannst du frei leben, wie soll dei ne Seele fliegen können, wenn deine Bekleidung Taschen hat! Das ist lächerlich… Du willst deine Streichhölzer: und findest sie nicht! Du suchst die Zigaret ten: statt dessen fällt dir dein Taschentuch in die Hände. Wie viel besser ist da doch ein Gürtel, mit dem Messer, dem Tabaksbeutel und deinem Feuer zeug! Und für den Rest hast du die große Ausbuchtung in deinem Umhang. Du faßt rein, und alles ist an seinem Platz. Und diese verfluchten Taschen…‹ Er hätte es wohl auch noch weiter ausgeführt, wenn leises Klop fen nicht seinen Monolog unterbrochen hätte. »Bitte!« Die Tür ging auf, und Hardy trat ein. Unnötig zu erwähnen, daß auch er einen Kimono zur Schau trug. Der rote, typisch irische Kopf stand in krassem Gegensatz zu dem grünen Seidenumhang mit den Drachenverzierungen. »Geht es Ihnen besser?« Er trat näher und machte es sich auf meinem Bett bequem. »Und Sie?« »Ich hab' ein wenig geschlafen. Seit gestern hatte ich keinen Schlaf…« »Die anderen?« »Sie haben sich wohl alle gut erholt. Der Kerl mit den lila Haa ren hat das Gelände ein wenig unter die Lupe genommen.« »Leichenfresser? Er hat was getan?« »Besser gesagt, die Frau des Hauses unter die Lupe genommen…« »Die Frau des Hauses? Ich weiß ja noch nicht einmal so richtig, wer der Hausherr ist…« »Das wird sich bald herausstellen. Ach ja, stimmt, ich bin eigentlich hier, um Bescheid zu sagen, daß in zehn Minuten das Abendmahl beginnt. Ich hoffe, Sie sind entsprechend ausgehungert.« Zehn Minuten reichten gerade, um fertig zu werden. Während ich 201
duschte, blätterte der Reporter Mals liegengelassenes Buch durch. »Na so was, wollen Sie fliegen lernen?« »Was?« »Navigationsprobleme bei Nachtflügen. Soso…« Ich wollte ihn über das Mißverständnis aufklären, aber es klopf te erneut jemand an der Tür. Das war es dann aber auch schon mit der Höflichkeit, denn noch bevor ich ihn hätte hereinbitten kön nen, stand Leichenfresser bereits neben uns. Die Knöpfe an seiner Lederweste glänzten wie neu poliert, die schwarze Hose war eben falls auf Hochglanz gewienert, seine mit Stahlnägeln besetzten Le derarmbänder erinnerten an längst vergangene Gladiatoren. Obwohl zu Cäsars Zeiten die Arenakämpfer wohl kaum mit lilafarbigen Haar büscheln vor das Volk treten durften… Er breitete die Arme aus, umarmte mich aber nicht, sondern fing irgendwelche Entspan nungsübungen an. »He! Wir sind hier an einem echt tollen Set, das können Sie mir glauben. Die Frau ist einfach super musikalisch. Und ihr Hintern ist auch nicht ohne. Ich hab' nur kurz erwähnt, ich wäre hungrig, und schon brachte sie mir so einen Spucknapf voll panierter Schne cken oder was. Da ist mir voll der Appetit vergangen. Wie sieht's mit Ihnen aus?« »Bisher gut«, murmelte Hardy. »Die anderen?« »Ich sag' Ihnen, so viele Elefanten habe ich noch nie auf einem Haufen gesehen. Da gehe ich raus, und schon kommt so einer an gerannt und folgt mir, wie ein Dackel. Ich hab' ihm gesagt, husch! Aber das hat ihn gar nicht gekümmert. Er wäre ja ganz nett und so, wenn er nicht so große Beißerchen hätte… Dagegen zu rennen wäre nicht ganz okay, was?!« »Wovon reden Sie?« »Von den Elefanten, Mann! Die rennen hier herum wie daheim die Hühner. Da fällt mir ein, ich bin schon wieder hungrig. Das Mädel hat ein Klavier, aber in einem so schlechten Zustand…« Er verstummte erst, als wir draußen auf dem Flur in das Dienst mädchen rannten, das man geschickt hatte, um uns zu holen. 202
Hätte ich nicht gewußt, daß wir an einem von Menschen ge miedenen Fleckchen südostasiatischer Erde waren, Hunderte Kilo meter von der nächsten größeren Siedlung entfernt, wäre mir das Ganze wie eine Szene aus einem vornehmen Londoner Club vor gekommen. Aus dem Flügel, in dem sich auch mein Krankenzimmer befun den hatte, kamen wir durch einen verglasten Durchgangsflur in das Hauptgebäude. Der Vorraum wurde von sanftem Licht erhellt, es schien, als würde es direkt aus den Scheiben glimmen. Nach einem kurzen Spaziergang verwehrte uns eine große, zweiflügelige Tür den Eintritt. Unsere Begleiterin blieb neben dem Pfosten stehen und lä chelte uns an. Ich lächelte zurück und drückte die Flügel auf. Und hielt den Atem an. Von der Decke schickten gigantische Kronleuchter aus geschliffe nen Kristallen ihr Licht in den riesigen Raum, wo es von meterhohen Spiegeln zurückgeworfen wurde. Da fast jeder Quadratzentimeter der Wand auf diese Weise verglast war, sah es aus, als ob sich meh rere hundert Leute in der Halle befinden würden. Leichenfresser klopfte dem Mädchen freundlich auf den Hintern und klatschte dann in die Hände. »Mein Gott, wieviel Futter!« Ein Teil des großen Raumes wurde von einem mindestens zehn Meter langen ovalen Tisch eingenommen, der wohl alles bot, was man sich aus Tausendundeiner Nacht hätte erträumen können. Ber ge von Fleisch, Käse, Fisch und verschiedenen Früchten. Um die kleineren Tische standen die anderen Passagiere des Flugzeuges he rum. Als wir eintraten, blickten sie allesamt auf. Der bereits vorher ken nengelernte Chinese löste sich von der Gruppe und streckte mir schon von weitem die Hand entgegen. »Endlich, Mr. Lawrence! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr wir um Sie in Sorge waren! Besonders, als Dr. Camus sagte, Sie hät ten eine Gehirnerschütterung. Ich hab' mir gedacht, wir sollten die se glückvolle Landung ein wenig feiern.« 203
Ergriffen schüttelte ich seine hingereichte Rechte. »Danke, Mr. Vang Pin. Und Dr. Camus?« »Oh, der Doktor wird bald hier sein. Ich schlage vor, daß Sie bis dahin schon einmal Platz nehmen. Gleich wird die Schildkröten suppe gebracht. Bitte verzeihen Sie, ich werde beim Dinner neben den Damen sitzen, aber später müssen wir uns unbedingt unter halten!« Er verbeugte sich und glitt lächelnd weiter. Gegenüber dem Tischlein-deck-dich standen kleinere Tische, um rahmt von jeweils drei Stühlen. Ich sah, wie Vang Pin Judy und Li solette mit netten Gesten beiseite zog. Leichenfresser hatte es sich bei dem großen Tisch gemütlich gemacht. Also setzten wir uns mit Hardy zu zweit etwas abseits. Es sah schon danach aus, daß wir al leine bleiben würden, aber dann tauchte Wilhelmina von Rotten steiner neben dem Tisch auf. Als sie stehenblieb und ich aufschaute, stockte mir wortwörtlich der Atem. Ein beinahe schon unbekanntes Gesicht lächelte uns an. In der fernöstlichen Bekleidung sah sie wirk lich mindestens zehn Jahre jünger aus. Ohne ihren altmütterlichen Hut konnte man die kurzen, gelockten Haare und die aristokratisch geschwungene Stirn erkennen, und auch die wachen, klugen Augen schienen irgendwie heller zu funkeln. Sie schnüffelte mit der dün nen, etwas gebogenen Nase herum und schüttelte dann anerken nend den Kopf. »Kein schlechter Tausch. Auf Ihrem Pandakongreß hätte es be stimmt keine Schildkrötensuppe gegeben. Pro Tasse mindestens zehn Dollar.« Als sie mit ihrer Portion fertig war, strich sie mit dem Finger über den Saum des Seidenkimonos. »Sehen Sie? Ein blauer Drachen.« »Er bringt die Kraft«, nickte Hardy. »Woher wissen Sie das?« »Ich bin öfters in Thailand.« »Interessant … vor kurzem habe ich auch etwas Zeit dort verbracht.« Hardy legte den Löffel beiseite und starrte die Professorin unver 204
hohlen an. Dann schlug er sich gegen die Stirn. »Aber natürlich! Deswegen waren Sie mir so bekannt! Erinnern Sie sich? Wir haben uns doch sogar bei einem Empfang getroffen…« »Und Sie haben mir ein paar Fragen gestellt!« »Man hatte Ihnen gedroht, eine Bombe in Ihrer Ausstellung zu zünden. Hat man inzwischen herausgefunden, wer es war?« »Wahrscheinlich radikale Künstler oder Anarchisten.« »Was zum Teufel wollten die überhaupt von Ihnen?« »Rein persönlich wohl gar nichts. Aber wissen Sie, mein Lieber, ich bin die Personifizierung des Kapitalismus, der akademischen Kunst und Gott allein weiß, wessen noch. Wenn man die Ausstel lung in die Luft jagte, würden die sich bei jeder Zeitung die Titel seite sichern. Und Öffentlichkeit ist wohl das, was solche Leute am meisten brauchen.« Mein Kopf flog zwischen den beiden hin und her, dennoch ka pierte ich nicht so recht, um was es eigentlich ging. Hardy bemerkte meine Verwirrung als erster, und schließlich tat ich ihm genug leid, um mich einzuweihen. »Sie wissen natürlich wieder einmal nicht, wovon wir sprechen. Nun, die Professorin und ich haben uns vorher schon einmal ge troffen, und zwar in Bangkok.« »Vor genau drei Jahren«, ergänzte Frau von Rottensteiner. »Ich sollte einen Artikel über ihre Ausstellung schreiben.« »Was für eine Ausstellung denn?« »Oh, nicht einmal das wissen Sie? Frau von Rottensteiner ist eine begabte Künstlerin!« »Übertreiben Sie nicht, Mr. …?« »Hardy. Und ich übertreibe nicht. Die Professorin malt wunderbare Genrebilder mit asiatischen Motiven. Und diese herrlichen Mün zen! Ich erinnere mich an einen Sun-Jat-sen-Kopf, er war einfach himmlisch! Hatten Sie auch in China schon eine Ausstellung?« Wilhelmina von Rottensteiner löffelte die Suppe aus und ließ den Löffel hart auf der Tischplatte aufschlagen. »Ich bin nichts weiter als eine alte Frau! Weder Wissenschaftler 205
noch Künstler, noch sonstwas! Bitte verzeihen Sie!« Damit sprang sie auf und verließ uns ohne ein weiteres Wort. Zum Glück kam gerade ein Junge mit einem Tablett voller Getränke vor bei. Ich ließ uns zwei Gläser auf den Tisch stellen, und während wir tranken, versank jeder in seine eigenen Gedanken. »Was ist denn mit der los?« fragte Hardy schließlich. »Hab' ich irgendwas Falsches gesagt…? Nein, nichts, oder?« »Es waren wohl verborgene Saiten, die Sie da zum Klingen gebracht haben.« »Was für Saiten?« »Sie haben sie an die Vergangenheit erinnert.« »Wieso Vergangenheit? Das ist doch erst drei Jahre her?!« »Vergessen Sie nicht, im Alter sind drei Jahre eine lange Zeit. Was ist denn damals überhaupt passiert, wenn man fragen darf?« »Eigentlich gar nichts. Deswegen verstehe ich es ja auch nicht. Glau ben Sie, daß sie sauer auf mich ist?« »Ich denke nicht«, antwortete ich geduldig. »Anscheinend mag sie es einfach nicht, an die Vergangenheit erinnert zu werden.« »Und was soll ich Ihrer Meinung nach nun tun?« »Mir erzählen, was passiert ist.« »Frau von Rottensteiner hatte eine Ausstellung in Bangkok. Sie wurde von der westdeutschen Kulturkommission organisiert, glau be ich. Sie macht wirklich schöne Bilder und Kleinplastiken. Dann bekamen die Deutschen in der Botschaft einen Brief, daß man al les in die Luft jagen würde.« »Und mit welcher Begründung?« »Das Übliche. Weltimperialismus, Weltrevolution, und so weiter. Lauter Blödsinn. Damals habe ich die Professorin flüchtig ken nengelernt. Seltsam, daß sie Forscher und Künstler gleichzeitig ist.« So weit waren wir gekommen, als Vang Pin aufstand und sich mit dem Whisky in der Hand vorsichtig verbeugte. Die Spiegel ließen seine Figur an tausend Stellen gleichzeitig erscheinen, auch in un serer nächsten Nähe krümmten sich gerade mindestens zwei Chi nesen. 206
»Meine Damen und Herren!« fing er an. »Willkommen in mei nem bescheidenen Heim. Bitte erlauben Sie mir, mein Glas auf Ihre geglückte Landung und insbesondere auf Miss Malgorzata zu er heben, die Sie alle von den Sternen auf mein Grundstück gebracht hat.« Mal wurde richtig rot, aber auch Lisolette bekam Beifall. Die Ko pilotin war noch ein klein wenig hübscher als Malgorzata: Die wei che, perfekte Figur, die reizenden Rundungen wurden von dem Dra chenkimono mehr betont als verhüllt. »Bereits an der Piste habe ich Ihnen gesagt, daß Sie, ähm … eine gewisse Weile hier mit uns verbringen werden müssen. Solange Sie in Laos weilen, fühlen Sie sich bitte bei mir wie zu Hause. Und wenn jeder von Ihnen in seine Heimat zurückgekehrt ist, erinnern Sie sich bitte mit Freude an die hier verbrachte Zeit. Ich verspreche Ihnen, daß ich alles unternehmen werde, um mir Ihre Zuneigung zu ver dienen. Sollten Sie irgendeinen Wunsch oder ein Problem haben, wenden Sie sich bitte vertrauensvoll an mich oder meine Familie.« »Was sagen Sie dazu?« erkundigte sich Hardy nach dem zweiten Whisky. »Zu was?« »Das Ganze ist so wie im Schloß von Dracula. Er verspricht stän dig, irgendwelche Gäste zu bringen, und es kommt doch niemand. Die Besucher bleiben auf sich gestellt.« Im selben Moment öffnete sich die Flügeltür, und eine etwa zwan zig Jahre alte chinesische Frau trat ein, gefolgt von einer etwas äl teren, doch mindestens genauso schönen. Automatisch erhoben wir uns von unseren Plätzen. Die beiden lächelten und verbeugten sich. Vang Pin eilte zu ihnen und küßte der jüngeren die Hand. »Diese Dame ist die verehrte Paj Miang, meine Ehefrau. Und dies ist Ho Ling, meine Schwägerin. Sie sprechen beide perfekt Englisch. Bitte, nehmt Platz!« Hardy setzte sich ebenfalls und zuckte mit den Schultern. »Das mit Dracula muß ich wohl zurücknehmen.« 207
Kurz darauf erschien auch Dr. Camus. Er war der einzige der hier Wohnenden, der in einem europäischen Anzug steckte. In seiner zerschlissenen, kurzen Hose und dem viel zu weiten Hemd sah er wie ein etwas zu groß geratener Liliputaner aus. Nach der Schildkrötensuppe kam ein weiterer Gang, der ebenfalls im Sitzen eingenommen wurde. Danach wurden wir mit freundli chem Lächeln von den Bediensteten zu dem ovalen Tisch geführt. Ich hatte gerade meinen Teller mit allerlei irdischen Köstlichen voll gepackt, als Vang Pin in meinem direkten Umfeld erschien. Mit dem warmherzigen Blick des geborenen Gastgebers schaute er zufrieden meinem Treiben zu und kam erst näher, als ich nach der zweiten Portion Ei mit Kaviar sichtlich keinen Bissen mehr runterbekam. »Zu Ihrem Wohl, Mr. Lawrence«, lächelte er mir zu, nachdem ich mich für das wunderbare Essen bedankt hatte. »Könnten wir ein paar Gedanken austauschen?« Er führte mich in den angrenzenden Raum, wo riesige, bauchi ge Sessel die vom Essen in Mitleidenschaft gezogenen Körper er warteten. Und falls jemand nach geistiger Nahrung hungerte, fand er auf den Bücherregalen an den Wänden sicherlich den richtigen Lesestoff. Vang Pin bot mir einen Platz an, und als er sich selbst hingesetzt hatte, reichte er mir von einem Beistelltisch eine Schachtel und öffnete den Deckel. »Zigarre?« »Ich würde lieber eine Pfeife rauchen, wenn Sie erlauben.« »Aber bitte sehr«, sagte er höflich, holte für sich eine Havanna raus und biß das Ende ab. Dann wartete er, bis ich mit meinen Vor bereitungen fertig war, und ungefähr zur selben Zeit ließen wir ge meinsam die ersten Rauchwolken zur Decke steigen. »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«, tat er den ersten Schritt und blickte dabei den Rauchkringeln nach. »Ich möchte nicht, daß Sie mich mißverstehen, aber im Grunde freue ich mich sogar, daß Ihnen dieses Unglück widerfahren ist. Ich meine damit natürlich nicht die Morde! Schrecklich! Was Sie da oben alles aushalten muß ten…! Nein, ich freue mich, daß Sie hier sind! Die Welt hat uns in 208
den letzten Jahren ein wenig verlassen. Seit dem Vietnam-Krieg…« »Wann haben Sie das Grundstück gekauft?« erkundigte ich mich höflich. »Vor vier, fünf Jahren.« »Und warum gerade hier? Ich meine, dieses Gebiet war doch wohl auch vorher nicht gerade der Mittelpunkt Asiens…« »Vielleicht gerade deswegen. Sehen Sie, ich bin nicht mehr der Jüngs te. Mein ganzes Leben lang war ich unterwegs, habe überall Geschäfte gemacht und bin müde geworden. Es tut mir gut, mich von der Hek tik der Welt zurückzuziehen. Nur, sehen Sie … meine Frau… Sie ist um einiges jünger als ich. Ich glaube, ihr fehlen ein wenig die Stadt, die Autos, die Menschen, Kino und Theater. Sie kann sich mit Ih nen allen über vieles unterhalten, für das ich in meinem Alter kein geeigneter Gesprächspartner wäre. Deswegen sagte ich, ich würde mich über Ihr Hiersein freuen.« »Das ist sehr nett von Ihnen.« »Andererseits bin ich von dem, was mit Ihnen passiert ist, zutiefst erschüttert. Und so sehr ich mir auch den Kopf zerbreche, kann ich nicht verstehen, warum das alles passiert. Sie etwa, Mr. Lawrence?« »Nein. Ich eigentlich auch nicht. Obwohl…« »Ja?« Der Wirkung halber paffte ich noch ein paarmal an der Pfeife. »Es gibt natürlich gewisse Zeichen, aus denen man wiederum ge wisse Rückschlüsse ziehen kann.« »Ein altes chinesisches Sprichwort, Mr. Lawrence, sagt, daß man durch eine trübe Tasse nicht hindurchsehen kann.« »Ich werde es sofort erklären. Also, ich weiß nichts Bestimmtes. Eigentlich noch nicht einmal, wie ich in das Flugzeug gekommen bin.« »Sie wissen es nicht?« Ich hielt mich an die Tatsachen und versuchte, so kurz, aber um fassend wie möglich, die ganze Geschichte zu erzählen. Angefan gen mit der Stewardeß, die mir zugezwinkert hatte und von der sich später herausstellte, daß sie Hardys Kollegin war. Ehrlich gesagt, be 209
hielt ich einige Sachen für mich, so zum Beispiel die ganze Geschichte mit den Tonsoldaten und Hardys Suche nach ihnen, oder daß ich es dem Reporter verdankte, überhaupt hier zu sein. Warum? Nun, im Laufe der Jahre hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, nie mals mehr zu erzählen, als zum Verstehen der Dinge unbedingt not wendig war. Vang Pin schüttelte dabei ständig den Kopf. Auf seinem trauri gen Vogelgesicht sprangen die Falten besorgt auf und ab. Von dem Ärmel seines Kimonos spuckte mir ein roter Drachen seine Feu erwalzen entgegen. »Seltsam«, faßte er dann seine Gefühle zusammen. »Äußerst selt sam. Als ob es eine im voraus gut organisierte Aktion gewesen wäre.« »So wird es wohl auch tatsächlich sein«, nickte ich. »Jemand woll te, daß wir genau hier, auf Ihrem Gut landen.« »Darüber mache ich mir auch meine Gedanken«, sagte er und brei tete die Arme aus. »Aber warum? Was will man denn gerade von mir?« »Das weiß ich nicht«, verkündete ich weise. »Aber wenn man nur von Ihnen etwas wollte, würde man uns dazu nicht brauchen. Ein erster Anhaltspunkt wäre natürlich, wenn wir eine Gemeinsamkeit zwischen Ihnen und uns entdecken könnten.« Ungläubiges Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit. »Ach was? Woran denken Sie dabei?« »Zum Beispiel der Flugplatz«, gab ich zu bedenken. »Gibt es hier irgendwo in der Nähe eine andere Landebahn? Sagen wir, innerhalb einiger tausend Quadratkilometer?« »Nicht, daß ich wüßte«, schüttelte er nachdenklich den Kopf und drehte die Zigarre zwischen den Fingern. »Sehen Sie, das ist nicht einmal so abwegig. In der Tat, es ist die einzige Verbindung zwischen Ihnen und mir. Der Flugplatz. So was … seit gestern zerbreche ich mir den Kopf, und Sie finden es nach wenigen Minuten heraus!« Jemand klopfte leise an, und ein Diener brachte uns Kaffee. »Ich dachte, Sie trinken Tee«, bemerkte ich verwundert. »Ich habe kaum einen Chinesen gesehen, der je Kaffee getrunken hätte.« 210
»Eine schlechte Angewohnheit«, gestand er und begrüßte mit dem Lächeln des Genießers den Duft des heißen Getränks. »Wissen Sie, das stammt noch aus meinen Zeiten als Handlungsreisender. Die Europäer tranken alle Kaffee, und ich machte es ihnen nach. An fänglich, zugegeben, aus Zwang, dann wurde es zu Gewohnheit. Mei ne verehrten Ahnen würden sich bestimmt im Grabe umdrehen, wenn sie das erfahren würden. Nun, jedes Neujahr verbrenne ich in Ge denken an sie Papiergeld und bete um Vergebung… Aber diese Flug platztheorie ist wirklich sehr interessant.« »Haben Sie ihn gebaut?« »Ich? Ach was, wozu? Ich besitze doch gar kein Flugzeug. Das Flie gen kann ich sowieso nicht leiden, und nach dem, was ich von Ih nen gehört hatte, dürfte mir wohl für den Rest meines Lebens so wieso die Lust dazu vergangen sein. Ich glaube, er wurde von den Franzosen gebaut und stammt noch aus der Kolonialzeit. Er ist wohl deshalb so klein.« Damit erklärte sich nicht nur Größe, sondern auch Zustand der Piste. »Aber er gehört Ihnen?« »Natürlich. Vielleicht komme ich sogar noch ins Guinness-Buch der Rekorde? Der einzige Flugplatzeigentümer ohne ein Flugzeug…« »Wissen noch andere von der Landebahn?« »Eigentlich jeder, der sich die Mühe macht, dort herumzuspazieren. Obwohl es Privatgelände ist, sind nicht überall eindeutige Grenz markierungen angebracht. Selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht verhindern, daß der eine oder andere Fremde sich dorthin verirrt. Aber ich hab' auch nichts dagegen. Wir beschäftigen uns hier haupt sächlich mit Ackerbau und Holzfällerei. Ich habe zum Beispiel herr liche Reisfelder. Mit einem Wort, jeder konnte den Flugplatz sehen, der einmal dort war.« »Auch die Meos?« »Warum nicht? Die erst recht!« »In was für einem Verhältnis stehen sie denn zu Ihnen?« »In gar keinem. Man kann mit Meos in keinem Verhältnis stehen. 211
Sie haben ihr eigenes Leben, ich das meine.« »Aber ich habe mindestens dreißig von ihnen beim Flugzeug ge sehen…« »Das sind meine eigenen Meos. Einige habe ich in meine Diens te aufgenommen.« »Oh, ich dachte, die Meos wären nicht so für geregelte Arbeit…« »Sind sie auch nicht… Eigentlich arbeiten sie nicht, sie halten le diglich Wache. Für etwas Kleingeld. Nicht viel, aber sie verlangen auch nicht nach mehr. Bei ihnen ist Kriegführung eine Tradition.« »Und der Anbau von Rauschgift.« Er klopfte die Asche ab und schwieg eine Weile. Dann blickte er mir geradewegs in die Augen. »Auf meinem Anwesen wird nichts dergleichen angebaut! Und auch woanders lasse ich sowas nicht zu. Ich hasse Drogen! Seit langem schon. Es gab da jemand in meinem Leben … den ich sehr geliebt habe … und der dem Opium zum Opfer fiel. Mit Drogen habe ich nichts zu tun!« »Verzeihen Sie! Ich wollte nicht…«, entschuldigte ich mich eilig. »Ach was. Sie haben ja recht, die anderen Meos leben zum größ ten Teil davon. Anbau und Verkauf. Jeder Meo ist ein geborener Sol dat, Jäger und Opiumschmuggler. Das kann ich bezeugen.« »Und die Behörden?« »Welche? Die aus Laos? Deren Arm reicht nicht so weit. Dies hier gehört zum Hoheitsgebiet des Prinzen Boun Oum. Und der wird vom Volksmund einfach Drogenprinz genannt. Muß ich es weiter ausführen?« »Nein… Äh, sagen Sie, haben Sie bereits eine Vorstellung davon, wie lange wir hierbleiben müssen?« »Zehn Tage, zwei Wochen auf jeden Fall.« »Haben Sie keine Funkverbindung zur Hauptstadt?« »Leider nein.« »Und wie halten Sie dann den Kontakt mit Vientiane?« »Überhaupt nicht. Wenn die was wollen, kommen sie mit dem Hubschrauber hierher und landen im Hof. Dann fliegen sie wieder 212
davon, und keiner weiß, wann sie sich das nächste Mal blicken las sen.« »Und wenn Sie etwas brauchen?« »Sie meinen, Lebensmittel? Zum Teil sind wir Selbstversorger. Au ßerdem verbringt meine Frau jährlich mehrere Monate im Ausland. In China, Thailand, Malaysien. Bei solchen Gelegenheiten bringt sie immer alles mit, was wir im nächsten Halbjahr gebrauchen könn ten.« »Dann bleibt uns nur die Hoffnung, daß man das Flugzeug ent deckt.« »Nun ja. Wenn man tatsächlich nach Ihnen suchen sollte, könn te man auch auf das Flugzeug stoßen. Die Maschine ist ziemlich groß. Sind Sie sicher, daß man Sie hier vermuten wird?« »Absolut.« »Dann gibt es kein Problem. Aber ich kann auch noch etwas an deres für Sie tun: Gleich morgen früh werde ich jemanden zur nächs ten Siedlung schicken, um die Behörden zu informieren.« »Wie lange wird das etwa dauern?« »Ich fürchte, mindestens zehn Tage, bis mein Mann dort ankommt. Wenn er überhaupt ankommt…« »Wie meinen Sie das?« »Sehen Sie, Mr. Lawrence, das hier ist nicht der Piccadilly Circus, sondern die Hochebene in Laos. Mit Urwald, Bergen und Meos. Keiner kann sich sicher sein, tatsächlich an seinem Ziel anzukom men.« »Auf jeden Fall möchte ich mich auch im Namen der anderen für Ihre Bemühungen bedanken. Gehört der Berg mit den drei Spit zen auch zu Ihrem Grundstück?« »Nur eine Bergkuppe.« »Wie bitte?« »Nur eine der drei Bergkuppen liegt auf meinem Gebiet. Die äu ßerste. Die Grenze verläuft genau in der Mitte zur anderen. Auch so bin ich schon stolz, daß mir wenigstens eine gehört.« »Und die anderen zwei?« 213
Sein Gesicht verfinsterte sich, als ob er die Frage nicht gerne be antworten würde. Es dauerte lange, bis er in der Schachtel eine pas sende neue Zigarre fand. Ich hatte das Gefühl, er machte es, um mich von meiner Frage abzubringen, aber den Gefallen tat ich ihm nicht. Eisern schwieg ich mich, auf Reaktion wartend, aus. Er blies einige Kringel in die Luft und blickte ihnen mißmutig hin terher. »Was meinten Sie?« »Wem die beiden anderen Bergspitzen gehören?« »Oh, ach ja. Es gibt ein Kloster, ein buddhistisches. Ich war nur einmal oben, eine der Bergkuppen gehört ihnen.« Die Worte kamen nur sehr unwillig aus ihm heraus, was mich na türlich um so neugieriger machte. »Das trifft sich ja wunderbar«, meinte ich vorlaut. »Ich hab' mich schon immer für Klöster interessiert. Könnten Sie mir mehr darü ber erzählen?« Er seufzte, was wohl ein Zeichen seiner Kapitulation war. »Viel mehr weiß ich nicht. Sie sind erst vor einigen Jahren hier hergezogen, angeblich mit Unterstützung der Regierung. Ebenfalls angeblich sind sie über die Grenze aus China geflüchtet. Ehrlich gesagt, mögen wir einander nicht besonders. Oder besser gesagt, sie mich nicht.« »Ist etwas Bestimmtes vorgefallen?« »Eben nicht, das ist es ja! Sie waren etwas früher da als ich. Kurz nach meiner Ankunft stattete ich ihnen einen Höflichkeitsbesuch ab. Obwohl ich gar kein Buddhist bin. Aber sie ließen mich nicht einmal ins Kloster hinein!« »Das ist aber seltsam.« »Ich hatte sogar ein Geschenk dabei. Ich überlegte mir, am Ende der Welt gäbe es bestimmt einiges, das sie gebrauchen könnten. Also dachte ich mir, ich werde sie ein wenig unterstützen. Aber sie mach ten nicht einmal die Tür auf. Sie haben nur herausgerufen, daß ich mich zum Teufel scheren soll.« »Wortwörtlich?!« 214
»Sinngemäß.« »Unglaublich.« »Danach habe ich einen Brief an ihren Abt geschrieben, und ei ner meiner Männer hat ihn persönlich überbracht. Das ist gut ein Jahr her, und ich warte seitdem immer noch auf die Antwort.« »Was für ein Kloster ist denn das?« »Sehen Sie, ich bin kein Buddhist… Einige sagen, es wurde Mai treja, dem Kommenden Buddha, gewidmet. Aber ich hab' Ihnen noch nicht alles erzählt!« Erneut kreierte er ein paar gelungene Rauchwolken, und ich war froh, daß ihm anscheinend doch wieder die Lust gekommen war, offen zu reden. »Man erzählt sich, daß die … ähm, Mönche, wie wildgewordene Maulwürfe graben.« »Sie machen was?« »Sie graben.« »Was? Eine Verteidigungslinie?« »Wer weiß… Nein, ich glaube eher, sie suchen etwas bestimmtes.« »Einen Schatz?« »So was ähnliches. Sie rennen mit Schaufeln herum und graben überall. Meine Meos sehen sie manchmal. Angeblich schauen sie auch immer wieder mal mit so seltsamen Ferngläsern hier rüber.« »Ein Marschkompaß«, rutschte es mir raus. »Davon verstehe ich nichts. Aber da ist irgendwas faul, wie Sie es in Europa ausdrücken würden. Einfache buddhistische Mönche mit Feldmeßinstrumenten…?« »Vielleicht haben sie vor, ihr Kloster weiter auszubauen. Ach ja, da fällt mir ein, wer hat denn überhaupt das jetzige erbaut?« »Es stand seit Jahrzehnten leer, Sie haben es sich angeblich wie der hergerichtet.« »Das heißt, sie wußten bereits vor ihrer Ankunft, daß sie hier ein leerstehendes Kloster erwarten würde?« »Offensichtlich.« »Vielleicht heben sie ja auch nur Wassergräben für ihre Felder aus.« 215
»Meine Meos sagen, die suchen nach etwas. An bestimmten Stel len graben sie tief in die Erde, und kurz darauf machen sie dassel be an einer vollkommen anderen Stelle. In den meisten Fällen ir gendwo in der Nähe der Bergkuppen. Vor kurzem haben sie sich sogar einmal auf mein Gebiet getraut!« »Und Sie?« »Es war mir egal, ich ließ sie gewähren. Schaden können sie mir ja damit nicht. Aber wenn sie sich auch noch zum Schwarzen Prin zen rübertrauen, wird es ihnen schlecht ergehen.« »Schwarzer Prinz? Wer ist denn das?« »Der Eigentümer der dritten Bergspitze.« »Und woher der Name?« »Die Bevölkerung hier nennt ihn so. Angeblich ist er immer in Schwarz gekleidet. Wenn er sich überhaupt blicken läßt…« »Wieso?« »Keiner hat ihn je richtig gesehen. Angeblich verläßt er bloß nachts sein Anwesen und dann nur in Schwarz. Einmal habe ich in Hong kong einen Film gesehen, Zorro. Darin ging es um einen Mann, der ebenfalls nur im Dunkeln unterwegs war, um der Gerechtigkeit zu dienen.« »Aha. Und dient Ihr Prinz auch dem Guten?« »Kaum. Die Meos sagen, er kümmere sich um gar nichts. Die gan ze Nacht spaziert er bloß in der Gegend herum. Und jetzt halten Sie sich fest, Mr. Lawrence!« »Schon passiert«, meldete ich und umklammerte wirklich die Arm lehnen meines Sessels. Vang Pin neigte sich nach vorne, als ob er Angst hätte, daß uns jemand belauschen könnte. Selbst seine Stimme dämpfte er ein we nig. »Die Meos behaupten, auch der Schwarze Prinz würde ständig gra ben!« Er hatte recht gehabt. Es war sinnvoll gewesen, sich festzuhalten. »Wie graben?« »Meine Diener sagten, er würde auf einem Pferd ausreiten und di 216
verses Werkzeug mitnehmen. Spitzhacke, Schaufel und so weiter. Dann bleibt er hier und da stehen und fängt an zu graben. Aber im Gegensatz zu den Mönchen macht er die Löcher hinterher we nigstens wieder zu.« »Also sucht er ebenfalls nach etwas Bestimmtem.« »Anscheinend.« »Und was meinen Sie, wonach?« »Die Meos erzählen von einer Legende. Demnach birgt eine der Bergspitzen einen uralten Schatz. Aber ich halte nicht viel von sol chen Geschichten. Wissen Sie, in Südchina, wo ich geboren wur de, hat jeder kleine Hügel eine eigene Geschichte. Und bei fast je dem heißt es, große Kaiser oder ihre Gattinnen wären dort begra ben, natürlich mit all ihren sagenumwobenen Wertsachen.« »Haben die Legenden denn immer gelogen?« Er dachte eine Weile nach und zuckte dann mit den Schultern. »Meistens. Aber es kann immer wieder Ausnahmen geben. Nicht wahr?« Sehr viel spukte im Moment in meinem Kopf herum, also setz te ich meine Fragerei mit unvermindertem Interesse fort. »Trotzdem … worüber genau sprachen die Meos?« »Irgendeine Tonarmee. Sie soll hier begraben sein.« »Tonarmee?« stellte ich mich dumm. »Seltsame Legende.« »Fragen Sie erst gar nicht, denn mehr kann ich Ihnen auch nicht erzählen. Angeblich ließ Kaiser Huan-Ti eine Armee aus Tonsoldaten anfertigen. Mehrere tausend, menschengroße Figuren aus ge branntem Ton. Später wurde er zusammen mit ihnen begraben. Schatzgräber hat es schon immer gegeben, und ich denke mal, wird es auch immer geben. Vielleicht haben die Bewohner des Klosters und der Schwarze Prinz die Sache zu ernst genommen. Die Pries ter hätten zwar trotzdem etwas höflicher sein können… Vielleicht hielten sie mich für eine Art Konkurrenz. Das würde ihre Grobheit einigermaßen erklären … schließlich sind wir ja Landsmänner!« Jetzt erst verstand ich das wahre Ausmaß seiner Kränkung! Am meisten schmerzte ihn wohl, daß ihn Chinesen, die eigenen Leu 217
te, abgewiesen hatten. Mit zittriger Hand hob er die Zigarre zum Zug und paffte leise vor sich hin. Er hatte wohl alles erzählt, was es über seine Nach barn zu sagen gab. Ich dachte gerade darüber nach, was ich noch in Erfahrung bringen könnte, als Dr. Camus ins Zimmer trat. Er nahm den Zwicker ab und wischte verlegen das Glas sauber. »Nun, Dr. Camus?« fragte Vang Pin mit einer Stimme, die keinen Zweifel aufkommen ließ, wer hier der Herr im Hause war. »Welche guten Nachrichten können Sie uns überbringen?« Der Doktor bediente sich ebenfalls aus der Zigarrenkiste und zün dete die braune Havanna an. »Ich habe mir die Maschine gründlich angesehen«, begann er und schaute dabei auf das glühende Ende seiner Zigarre, »und es ist ein fach beängstigend! Mein Gott, der ganze Gestank!« Mein Herz verkrampfte sich, als mir die vormals so hübschen Ste wardessen einfielen. »Ein regelrechter Schlachthof«, fuhr Camus fort. »Als ob Dämonen unter ihnen getobt hätten. Nicht wahr, Mr. Lawrence?« »Genau«, nickte ich. »Es müssen Dämonen gewesen sein. Haben Sie alle Leichen gefunden?« »Drei Tote lagen in der Maschine. Zwei Männer in diesen lusti gen Maskeraden und ein Mädchen in dem Lastenaufzug. Schreck lich… Und dann noch ein Mädchen und ein Mann im Wald. Hö ren Sie, Vang Pin, so was haben Sie noch nicht erlebt: Der Kerl wur de mit einer Minirakete hingerichtet.« Der Angesprochene nickte. »Die Götter und unsere Vorfahren bestimmen unsere Todesart be reits im voraus.« Dr. Camus hatte da wohl seine eigene, nicht ganz damit konform gehende Meinung. Er setzte sich hin. »Ich habe noch nie so ein Projektil gesehen. Sie etwa?« »Jemand hat mir erzählt, man brauchte ein ziemlich großes, um gebautes Gewehr dazu.« 218
»Möglich. Ach, und dann haben wir natürlich auch das Grab des dritten Mädchens gefunden. Ihre nachträgliche Erlaubnis voraus gesetzt, haben wir sie ein wenig tiefer begraben, genau wie die an deren. Wir sind hier in den Tropen, Mr. Lawrence.« »Darüber bin ich mir im klaren«, nickte ich. »Mr. Lawrence hat sich nach unseren Nachbarn erkundigt«, wand te sich Vang Pin an Dr. Camus. »Nach dem Kloster und dem Schwar zen Prinzen.« »Oh.« »Mr. Lawrence meint, sie würden nur einen Wasserkanal graben.« Camus zeigte keine Überraschung. »Eine interessante Theorie. Und zu welchem Zweck?« Er blies rie sige Rauchwolken auf mich zu und schien sich gar nicht für mei ne Antwort zu interessieren. Etwas anderes schien ihm wichtiger zu sein. »Mr. Lawrence«, fing er an, »ich muß zugeben, daß ich mir ein fach nicht erklären kann, was bei Ihnen vorgefallen ist.« »Damit stehen Sie nicht alleine«, versicherte ich ihm. »Mir ist ja noch nicht einmal klar, was ich in dieser Maschine zu suchen hat te. Von meinen Reisegefährten kenne ich lediglich Frau Professor von Rottensteiner. Und auch sie habe ich nur ganz kurz vor zehn Jahren einmal kennengelernt.« »Trotzdem, was denken Sie darüber?« »Schwer zu sagen. Ich glaube, ich wurde hier in etwas hineinge zogen, das mir vollkommen schleierhaft ist. Ebenso wie die Frage, wer mich warum in das Flugzeug gebracht hat.« »Was sind Sie von Beruf, Mr. Lawrence?« »Entomologe. Käferforscher. Außerdem kenne ich mich ein we nig mit asiatischen Kulturen aus. Früher habe ich an der School of Oriental Studies studiert.« »Haben Sie lange hier in Fernost gelebt?« »Besonders in Südostasien.« »Dann könnte dies die Erklärung sein.« »Ich weiß nicht, wie ich meine vor Jahren hier verbrachten Stu 219
dien mit diesen Vorkommnissen in Verbindung bringen soll.« »Manchmal fehlt nur der Schlüssel«, meinte Vang Pin, »um das Schloß öffnen und die Tür aufstoßen zu können.« »Stimmt. Nur der Schlüssel«, nickte Dr. Camus, und dann kipp te sein Kopf nach vorne, und er schlief übergangslos ein.
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ie Dinnergesellschaft hatte sich aufgelöst, alle zogen sich in ihre Gemächer zurück. Zum Glück wies die Residenz des Chine sen genügend Gästezimmer auf. Ich stellte den Wecker meiner Armbanduhr auf Mitternacht und nahm mir fest vor, ein paar Stunden zu schlafen. Vorsichtig wickelte ich den Verband von meinem Kopf und betastete die Wunde. Zum Glück tat es kaum noch weh. Ich legte mich auf das Bett, zog das Laken hoch und war gerade beim in solchen Fällen obligatorischen hundertsten Schäfchen an gekommen, als leise an meine Tür geklopft wurde. Die Herde rannte auseinander, dabei wäre gerade das erste schwar ze Tier an der Reihe gewesen. Ich zerrte die MP unter meinem Kopfkissen hervor und trabte da mit zum Eingang. Mit der anderen Hand drehte ich den Schlüssel um und richtete die Waffe auf den Eindringling. Aber selbst ein li byscher Terrorist mit einer Stinger auf der Schulter hätte mich wohl weniger überrascht als die Erscheinung an der Türschwelle. Es war Malgorzata, mit einem zaghaften Lächeln auf den Lippen. Ich senkte die Maschinenpistole und hielt die Tür auf. »Hallo, Mal… Treten Sie ein.« Sie kam in das Zimmer und schaute sich um. »Setzen Sie sich doch!« schlug ich vor und fegte schnell eine Un 220
terhose von der Lehne des einzigen Stuhls in meinem Reich. Mal blickte mich traurig an. »Ich glaube, ich habe etwas sehr Unmoralisches getan.« »Jemanden vergewaltigt?« wollte ich wissen. »Bisher noch nicht«, gurrte sie geheimnisvoll. »Etwas Schlimme res.« »Und zwar?« »Ich habe geklaut.« »Schmuck?« »Whisky.« »Von wem?« »Vang Pin.« »Wieviel?« »Eine ganze Flasche. Gerade genug für uns zwei.« Ich beobachtete sie genau, sah aber nur den Kimono an ihr. Und etwas verheißungsvolles im Ausschnitt, allerdings keine Flasche. Au ßerdem gab es zwei davon. »Wo ist sie denn?« Sie machte eine so schnelle Bewegung, daß ich ihr mit den Au gen gar nicht folgen konnte. Plötzlich hatte sie die Flasche in der Hand, aus dem breiten Ärmel wie einen Hasen hervorgezaubert. »Hoppla…« Die nächsten Minuten verliefen im Zeichen brüderlichen Teilens. Gläser hatte sie keine mitgebracht, aber ich verstand mich darauf, aus Papier kleine Trinkhütchen zu falten. Ihr Blick war bereits nach dem ersten Schluck milder. »Wissen Sie, warum ich hier bin?« »Ich kann es nur hoffen«, grinste ich. »Und genauso hoffe ich, daß ich nicht enttäuscht werde.« »Jetzt werden Sie frech!« stellte sie fest, aber ihre Stimme klang weder besonders belustigt noch beleidigt. Unter der Oberfläche, das spürte ich, beschäftigte sie irgend etwas anderes ungemein. Ich schluckte eine weitere Portion des edlen Getränks herunter und wurde ernst. 221
»Wollen Sie sich nicht mit auf mein Bett setzen?« »Nein!« »Sie mißverstehen mich! Es ist hier nur einfach bequemer. Und erzählen Sie mir, warum Sie wirklich gekommen sind.« Sie stellte ihren Ersatzbecher zur Seite und schaute mir tief in die Augen. Ich glaubte, Furcht in ihrem Blick entdecken zu können. »Mr. Lawrence…« »Leslie«, korrigierte ich sie. »Oh, Leslie … ich habe solche Angst! Ich werde verrückt vor Angst!« Ich strich nur in dem Maße über ihren Kopf, wie es die Etiket te in der momentanen Lage erlaubte. »Wovor denn, Mal? Wir sind doch hier in Sicherheit. Die Mör der sind schon längst über alle Berge.« Sie blickte auf und zog ihren Kopf weg. »Ich bin kein Kind mehr… Wer soll hier über alle Berge sein? Wir sind doch alle noch hier … außer den Toten! Und ich weiß etwas, Leslie, das … das…« »Das?« half ich ihr. »Mein Gott … mein Gott!« begrub sie ihr Gesicht in den Hän den. »Warum mußte ich nur diesen verfluchten Flug annehmen?!« Ich rutschte etwas näher an sie heran und umarmte sie. Sie beug te sich zu mir herüber und lehnte ihren Kopf an meine Brust. Ich wartete geduldig, daß sie sich von selbst wieder beruhigte, wenn ich schon nicht dazu in der Lage war. Dann, nach einer Weile, fing sie erneut an. »Ich weiß etwas. Ich habe jemanden gesehen, der … dem … und dieser Jemand weiß es! Schrecklich, Leslie, es ist schrecklich!« »Wäre es nicht besser, wenn Sie mir alles der Reihe nach erzäh len würden, Mal?« Anstatt zu antworten, stand sie auf. »Machen Sie das Licht aus!« Ich gehorchte. Mit flinken Bewegungen schälte sie sich aus dem Kimono und ließ ihn zu Boden gleiten. Natürlich hatte sie darunter nichts an. 222
Ein paar Sekunden stand sie mit gesenktem Kopf vor mir und trat dann dicht an mich heran. »Lassen Sie mich durch«, hauchte sie. Dann schob sie sich an mir vorbei, legte sich hin und zog das Laken über sich. Wie versteinert saß ich verstört da und blickte in meiner Verwirrung ständig auf die Armbanduhr. Es war elf Uhr, eine Stunde vor Mit ternacht. Ich seufzte schließlich, kniff ihr freundlich in das Hinterteil und lachte nervös. »Warum grinsen Sie so blöd?« »Liebste Mal … äh … es ist mir wirklich eine Ehre, daß Sie bei mir eingezogen sind. Nichtsdestotrotz steht es so, daß … äh…« Sie warf die Decke von sich, sprang auf, warf nun mich in die Tie fen der Matratze, kam sofort hinterher und bedeckte uns beide mit dem Laken. Dunkle Nacht brach über uns herein. »Du bist ein richtiger Dummkopf!« keuchte sie und biß mir in die Schulter. »Du merkst aber auch gar nichts… Muß ich denn al les machen?« Sie machte es. Sehr gründlich, und zwar mehrmals.
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ch wachte durch das Klingeln an meinem Handgelenk auf. Mal schnappte sich meinen Arm, rückte ihn ans Ohr und sagte zu mei ner Handfläche: »Hallo?! Weckdienst? Vielen Dank!« Ich kletterte aus dem Bett, wodurch sie vollends aufwachte. »Mein Gott, was ist los?« Ich beugte mich über ihren Kopf und küßte sie. 223
»Nichts, Mal. Schlaf ruhig weiter.« »Wohin gehst du?« »Ich habe etwas zu tun.« »Ich komme mit!« »Auf keinen Fall! Ich muß mir noch einmal die Maschine an schauen. Und dort liegen, wie du weißt…« Ich wollte ihr nicht ver raten, daß Dr. Camus die Leichen bereits entfernt hatte. »Da will ich nicht hin«, zuckte sie zurück. »Bitte, laß mich nicht allein!« Es dauerte gute fünf Minuten, bis ich ihr erklärt hatte, warum es so wichtig war, daß ich mich da draußen unbedingt umsehe. Daß ich nur auf diese Weise die genauen Umstände der Morde aufklä ren könnte. Ich wies sie an, hinter mir die Tür zu verschließen und sie niemandem aufzumachen. Nach einem langen und intensiven Abschiedskuß fand ich mich endlich auf dem Flur wieder. Ich wartete ab, bis sie innen den Schlüs sel umdrehte, und machte mich dann auf den Weg. Während ich durch den Glasflur huschte, der die Zimmer mit einander verband, dachte ich daran, daß ich in dem mysteriös he reinschimmernden Mondlicht ein perfektes Ziel für einen Scharf schützen abgeben würde. Der Gang machte eine Linkskurve. Ich zählte die Türen, blieb vor der dritten stehen und klopfte an. Sie wurde lautlos geöffnet, da hinter schielte mir Hardy mit einer Pistole entgegen. »Sie sind spät dran, Lawrence«, brummte er vorwurfsvoll. »Ich hatte zu tun«, murmelte ich. »Leichenfresser?« »Anwesend«, flüsterte jemand aus dem Raum. »Von mir aus kann es losgehen.« »Waren Sie schon draußen?« »Vor einer halben Stunde. Das Tor wird nicht abgeschlossen, nur die Elefanten könnten ein Problem werden.« »Los!« Ein paar Minuten später sahen wir das Gebäude bereits aus dem Palmengarten, der das Grundstück umgab. 224
Es war das erste Mal, daß ich Vang Pins Besitztum in Augenschein nehmen konnte. Es bestand aus mindestens zehn Einzelflügeln. In mehreren Fenstern brannte noch Licht; bei einem wurde es im sel ben Moment ausgemacht, als ich hinschaute. Leichenfresser lehnte sich an einen Baumstamm und summte vor sich hin. »Können Sie nicht für einen Moment still bleiben?« zischte ihm Hardy zu. »Kennen Sie unseren Titel ›Hinter hellen Fenstern lauert der Sa tan‹…?« »Nein, zum Glück nicht«, murmelte der Reporter. »Obwohl, was unsere momentane Situation angeht, könnten Sie damit ins Schwarze getroffen haben.« »Achtung! Elefant auf neun Uhr!« flüsterte Leichenfresser. »Himmel!« erschrak Hardy. »Ich hoffe, Sie haben ihn nicht mit ihrem Gesumme hierhergelockt…« Der Dickhäuter stampfte mit überirdischem Getöse an uns vor bei, warf aus seinen roten Augen einen kurzen Blick auf Leichen fresser, zeigte dabei aber nicht das besondere Aufflackern des Er kennens, wie es unter Musikerkollegen sonst üblich ist, und trot tete unbeirrt davon. »Wohin?« fragte der erleichterte Leichenfresser. »Das ist ja echt nicht mehr normal. Man kann voll verrückt werden. Da geht der Mensch hinter das Haus, um zu pi … also er geht raus, und schon steht da so ein weißer Riese. Ich gehe zu einem Baum, und will schon anfangen zu pi … äh, und plötzlich kommt wieder einer an!« »Wenn Sie nicht aufpassen, beißen die noch den kleinen Lei chenfresser ab«, nickte Hardy freundlich. »Wenn ich Angst habe, muß ich ständig pi… Verdammt, was ist das?« Es war ein Uhu, der sich auf einem Ast laut über unsere Störung beschwerte. Abgesehen davon war die Nacht wunderbar. Der rie sige Mond über uns zog seine majestätische Bahn am Himmel, der Dschungel genoß das Nachtleben, und die leichte Brise ließ die Pal 225
menblätter in einen rauschähnlichen Tanz verfallen. Von diesem Hauch spürten wir am Boden allerdings wenig. Nur ein etwas süßlicher Früchteduft umwebte uns. »Können Sie sich überhaupt orientieren?« fragte Hardy leise. »Ich bin ein menschlicher Kompaß«, meinte der Musiker zufrie den. »Ich war noch ein Baby, als ich schon alleine nach Hause fand. Einmal hat mein Onkel…« »Später«, stellte ihn Hardy ab. »Wohin?« Leichenfresser drehte sich ein paarmal um sich selbst, summte da bei leise vor sich hin und deutete dann genau in die entgegenge setzte Richtung, in der ich das Flugzeug vermutet hätte. Trotzdem war es nicht sein Fehler, daß wir es dann doch nicht gefunden haben.
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twa eine halbe Stunde später erreichten wir den Palmenwald, der die Boeing barg. Der Mond blendete uns förmlich, und wohin wir auch blickten, kreuzten überall Elefantenspuren unseren Weg. Ich bückte mich, untersuchte das abgerissene Gras. Es hatte noch nicht die Zeit gehabt, trocken zu werden. Irgend etwas sagte mir, daß ich vorsichtig sein sollte. Ich lausch te, aber außer Leichenfressers Best Of-Trällerei konnte ich nichts hö ren. In diesem Moment hätte ich viel dafür gegeben, alleine zu sein, aber mir war klar, daß ich sie auf jeden Fall mitnehmen mußte. Schon deswegen, um ohne Zeitverlust das Flugzeug wiederzufinden. »Was ist?« unterbrach der Musiker flüsternd seinen Gesang. »Was haben Sie gefunden?« »Das hier«, deutete ich auf die Spuren. Er bückte sich, schaute sich die braungrünen Häufchen eine Wei 226
le an und blickte dann ratlos zu mir hoch. »Elefantenkacke«, sagte er enttäuscht. »Na und?« »Das Zeug dampft nicht«, meinte ich. »Scheint aber trotzdem frisch zu sein…« »Also?« zuckte er mit den Schultern. »Das bedeutet nur, daß hier ein Elefant vorbeigekommen ist.« Weitere Erklärungen hielt ich für zwecklos und behielt meine Rück schlüsse für mich. Hardy sagte nichts, beeilte sich aber zusehends immer mehr. Leichenfresser stolperte hinter uns her wie ein schlecht abgerichteter Wachhund. Ein paar Minuten später erreichten wir das Ende der Landebahn. Der Mond beglückte uns immer noch mit seinem fast grellen Licht. Nichts bewegte sich, nur das Rascheln der Blätter wurde irgendwie leiser. Als wir aus den Büschen stürmten, war ich nicht einmal richtig überrascht. Unterwegs hatte ich bereits alle Möglichkeiten durch gespielt und war zu dem Ergebnis gekommen, daß, wer immer uns auch entführt hatte, dies unbedingt als ersten Schritt auf seiner Lis te haben mußte. Hardy erstarrte zur Salzsäule, und Leichenfresser keuchte ein paar mal, bis er vollkommen aufgearbeitet hatte, was er vor sich sah. Eine leere Landepiste. Der riesige Vogel, der uns hierhergebracht hatte, war verschwun den. Hardy lehnte sich an einen Baum und wischte sich die Stirn ab. »Kneifen Sie mich, Mann!« wandte er sich an den Musiker. »Se hen Sie genauso nicht, was ich nicht sehe?« »Jemand hat die Maschine geschluckt«, krächzte Leichenfresser verzweifelt. »Mit der werden wir wohl kaum nach Bangkok zu rückfliegen können! Wie konnten sie die bloß wegziehen?« »Sie werden die Maschine wohl in Einzelteile zerlegt haben.« »Dieses Riesending? Und wo haben sie die Teile hingebracht?« »Haben Sie denn die Elefantenspuren nicht gesehen? Sie haben ihre Freunde mit den Rüsseln geholt und dann die Sachen einfach aufgeladen.« 227
»Aber wer braucht denn so ein Ding?« »Sie haben sie wahrscheinlich vergraben oder in eine Schlucht ge worfen.« »Aber warum?« staunte Leichenfresser. »Damit man uns nicht findet. Wenn man nach uns sucht, wür de man ein so großes Flugzeug aus der Luft sofort entdecken.« »Verdammt«, empörte sich der Musiker und zerzauste seine we nigen lilafarbenen Haare. »Deswegen hat der Kerl so viele Elefan ten!« »Sind Sie denn so sicher, daß unser Gastgeber hinter der Sache steckt?« »Wenn nicht er, dann dieser Dr. Camus. Der hatte genug Zeit. Während wir beim Abendbrot saßen, ließ er garantiert die Boeing auseinandernehmen! Er selbst hat doch damit geprahlt, daß er hier war! Sie haben es selbst gehört!« Ich dachte daran, daß jetzt jegliche Möglichkeit, von hier zu ver schwinden, in der Hand von Vang Pin lag. Wenn die Maschine von keinem Bergungstrupp gesichtet wurde – und davon durfte man hun dertprozentig ausgehen –, konnten uns nur seine zur nächsten Sied lung geschickten Leute das Tor zur Außenwelt öffnen. Sofern der Chinese dieses Angebot überhaupt ernst gemeint hat te.
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ch ließ sie sich austoben. Wo immer ich hinschaute, sah ich Ele fantenspuren. Zertrampelte Stoffstücke, Aluminiumteile, an einer Stelle einen kleinen Berg Plastikbecher. Die Spuren ließen eindeutig darauf schließen, daß Malgorzatas Flugzeug nie wieder auf einer taschentuchgroßen Piste notzulanden 228
brauchte. Ich lehnte mich an einen Baumstamm und versuchte, den Rhyth mus des Waldes aufzunehmen. Denn der Dschungel lebte und at mete direkt dort, neben uns, auch wenn wir das bisher vergessen hatten. Die Nachtvögel kreischten in den Baumkronen, Affen, die ungezogen lange aufgeblieben waren, rüttelten an den Zweigen und Blättern, verschiedene Säugetiere waren auf der bis zum Morgen grauen andauernden Pirsch. Wie lange war es doch her, daß ich das letzte Mal in einer ein samen Nacht auf einer monderleuchteten Lichtung im Dschungel gegen einen Baum gelehnt gestanden hatte? Ich spürte, wie nach und nach, Zelle für Zelle mein Körper jedes Geräusch, jede Regung des Urwaldes aufsog, sich damit identifizierte. Ich holte schneller und einfacher Luft und konnte wieder all die Düfte riechen, die mir bis vor kurzem verborgen geblieben waren. Ich bückte mich und riß ein Stück Farnkraut ab. Der bittere Saft, der an der Bruchstelle austrat, ließ mich befreit durchatmen und öffnete meine Nase. Ich nahm Blumenduft wahr, die Ausdüns tungen der Affen auf den Palmen und aus der Ferne den seltsamen Gestank von Schwefel, der wohl aus einem kleinen Sumpf austrat. Ich versuchte, den Wald zu überzeugen, daß ich wieder nach Hau se gekommen war. Vielleicht hätte ich mich noch eine ganze Wei le mit meinen alten Bekannten über das Wiedersehen gefreut, aber Leichenfresser und Hardy waren mir nachgekommen und zerstör ten die Idylle. »He, Lawrence! Was nun?« Ich entschied mich schnell, denn der Weg vor mir war noch lang. »Sie gehen zurück. Morgen früh treffen wir uns.« »Und Sie?« »Ich habe noch etwas zu tun.« »Wäre es nicht doch besser, wenn wir bei Ihnen blieben?« »Hören Sie«, seufzte ich. »Ich habe Jahrzehnte im Urwald verbracht. Ich kenne ihn wie meine Westentasche. Vertrauen Sie mir!« Leichenfresser strich sich über die Haare, Hardy steckte die Pis 229
tole in die Tasche und zuckte mit den Schultern. »Sie haben sicher recht. Außerdem tun mir sowieso die Füße in diesen Schuhen weh. Wann werden Sie zurück sein?« »Spätestens morgen, in der Frühe.« »Können Sie uns verraten, wo Sie ungefähr hinwollen?« »Ich versuche, die Boeing zu finden.« »In Ordnung«, nickte er. »Ich würde an Ihrer Stelle dasselbe tun!« Ich selbst hatte es natürlich nicht im Traum vor. Leichenfresser winkte zum Abschied und verschwand dann mit samt seiner Haarpracht im Nichts. Ich wartete ein paar Minuten und setzte mich dann unter einen Busch. Irgend etwas sagte mir, daß ich nicht der einzige sein wür de, der sich heute nacht für das Flugzeug interessierte.
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er erste Besucher war Wimmer. Er glitt so leise aus dem Un terholz, daß ich nur so staunte. Kein Ast knackste, kein Blatt flog zur Seite, wohin er auch trat. Er bückte sich, sah sich ein paar Kleinigkeiten auf dem Beton an und verzog sein Gesicht zu einem Grinsen. Mit einem breiten, belustigten Lächeln, das ich bei ihm zuvor noch nicht gesehen hatte. Er drehte sein Gesicht zum Mond und lachte lautlos, aber so intensiv, daß ihm beinahe die Tränen kamen. Und dann blieb mir fast das Herz stehen. Er kam direkt auf mich zu und blieb ganz dicht vor meinem Ge strüpp stehen. Dann zog er aus einem etwa zwei Meter entfernt ste henden Busch eine schwarze, längliche Sporttasche hervor. Er preßte sie an sich, als ob sie sein lang vermißtes Kind wäre, das er nun im Waisenheim wiedergefunden hatte. 230
Ich machte mich so klein wie irgend möglich. Zwei Schritte nach rechts, und er hätte mich entdeckt. Ich hob die MP ein wenig an, um ihn mit dem Lauf zu erwischen, wenn er seinen Kopf zu nahe stecken sollte, aber er blieb zum Glück, wo er war. Er grinste noch eine ganze Weile vor sich hin, dann schulterte er die Tasche und verschwand wieder im Wald. Ich saß regungslos an meinem Platz, bis sich die Blätter hinter ihm wieder geschlossen und beruhigt hatten. Langsam fing ich an zu zweifeln, ob meine mühsam aufgestellte Theorie nicht doch nur eine wilde Ausgeburt meiner Phantasie war. Oder wurde ich etwa auch das Opfer einer gewaltigen Täuschung? Als Villalobos auftauchte, konnte mich sowieso nichts mehr über raschen. Er zupfte sich den Bart zurecht, blickte sich um, kam aber nicht näher. Er hatte auch keine Tasche, die er unter einem der Bü sche hervorzaubern wollte. Ernst blickte er auf die leere Piste, dann zum Palmenwald hinü ber. Schließlich verschwand er wieder zwischen den Büschen. Erneut blieb ich mit meinen quälenden Gedanken alleine. Ich wartete noch eine Weile, da aber niemand weiter auftauchte, machte ich mich auf den Weg. Ich kontrollierte noch einmal die Maschinenpistole, lud sie durch. Das laute, metallische Klicken gab mir Kraft, obwohl ich immer weniger von dem zu verstehen schien, was um mich herum passierte. Trotzdem hatte ich nicht vor, das Spiel so schnell aufzugeben. Der Mond leuchtete immer noch hell, wie auf Bestellung. Die gro ßen Palmenblätter raschelten im schwachen Windhauch, aber un ten, am Boden herrschte weiterhin Windstille, ebenfalls wie auf Be stellung. So wurde mein Geruch nicht weit voraus getragen. Der Gestank des Sumpfes hingegen schwebte mir auch so entgegen. Ich hatte seine Existenz bereits bei den Matschspuren auf dem Ele fantenpfad erahnt, und mir war klar geworden, daß irgendwo in die sem Morast die Überreste unseres Flugzeuges liegen würden. Und obwohl ich mir nicht viel davon erhoffte, glaubte ich dennoch, ei nige Informationen retten zu können, wenn ich es mit meinen ei 231
genen Augen sah. Eine Weile stand ich nur im Mondschein da und dachte nach. Ich zog mich erst hinter eine Baumgruppe zurück, als plötzlich ein Elefant vor mir auftauchte. Hätte ich auch nur eine Zehntelsekunde länger gebraucht, wäre ich wohl von den beiden Meos entdeckt wor den, die ihm folgten. Sie sprachen leise, mit einem melodischen Un terton. Schade, daß ich kein einziges Wort verstand. Kaum war der Dickhäuter mit seinen zwei Anhängseln vorbei, er schien auch schon ein zweiter und dann ein dritter. Ich strengte mei ne Augen an und konnte tatsächlich die Körbe auf ihren Rücken entdecken. In denen hatte man wohl die Einzelteile der Boeing ab transportiert. Als alles wieder still wurde, ging ich der Biegung nach, die der Pfad machte. Weit hatte ich es nicht mehr. Bereits nach wenigen hun dert Metern erreichte ich den Rand des Sumpfes. Zerbrochene Sit ze, verschieden große Metallteile und Seitenplatten, geöffnete Koffer lagen wild durcheinander. Das Bild ähnelte dem einer Flugzeug katastrophe. Und dann entdeckte ich etwas, das mich meine Vorsicht in den Wind schreiben ließ. Es war mein eigener, in New York gekaufter Koffer, unweit von mir im Morast. Noch dazu unversehrt. Wenn dies früher passiert wäre, hätte ich der Sache kaum Beachtung geschenkt. Aber die Jahre, die ich fernab von Asien verbracht hat te, schläferten all meine Instinkte ein; unter anderem auch das Ge bot der Vorsicht in einem Urwald. Ich warf die MP über die Schul ter und bückte mich, um mein Eigentum genauer unter die Lupe zu nehmen. Wenn der Mond nicht so hell geschienen oder sich auch nur eine kleine Wolke vor ihn geschoben hätte, wäre es für mich ein paar Sekunden später ein leichtes gewesen, die Szenerie von oben zu ge nießen. Vom Himmel aus hätte es eine tolle Aussicht auf das brei te, lange Buschmesser gegeben, das meinen Kopf abgeschnitten hät te; und auf meine Leiche, neben der ein grinsender Meo mit stol zem Lächeln herumgestanden hätte, nachdem er mich von der Pflicht 232
erlöst hatte, meinen Kopf mit mir herumtragen zu müssen. Aber der Mond schien hell, und als das Messer gehoben wurde, um die tödliche Bewegung mit voller Wucht auszuführen, konnte ich sowohl dies als auch die dazugehörende Person als Schatten auf meinem eigenen Koffer entdecken. Im nächsten Moment flog ich bereits davon: über das Gepäckstück direkt in den Sumpf. Als ich in die stinkende Suppe fiel, hörte ich, wie sich hinter mir der Stahl ins Leder bohrte. Irgend etwas knackste, und ich war von klebriger, dicker Brühe umgeben. Erschrocken suchte meine Hand nach Wasserpflanzen, an denen ich mich festhalten und an der Ober fläche halten konnte, aber es war überflüssig; erfreut merkte ich, daß mir die Soße nur bis zur Brust reichte. Ich wischte mir das lehmige Wasser aus den Augen, und sofort gefror mir das Blut in den Adern. Meine Maschinenpistole lag noch an Land, einige Meter von dem Meo entfernt, der mit vorgestrecktem Messer und einem grausamen Lächeln auf mich zukam. Ich hatte keine Chance, die Waffe zu erwischen. In der Hand des kleinwüchsigen Eingeborenen funkelte das Messer und kam etwas näher. Noch nie hatte ich mich in einer ähnlich verzweifelten Lage be funden. Ich war einfach unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen; als ob sich mein Gehirn in einen undurchdringlichen, kalten Klum pen verwandelt hätte. War das das Ende? Ich machte einen Schritt nach hinten, damit er mich nicht so schnell erreichte, und fuhr er schrocken auf. Nach diesem einen Schritt konnte ich gerade so noch auf Zehenspitzen stehen. Der Meo kam ganz dicht an mich heran und genoß die Situati on augenscheinlich. Und plötzlich wurde mir in vollem Ausmaß bewußt, in welche mißliche Lage ich da geraten war. Wenn ich blieb, wo ich war, brauchte der Kleine nur eine Handbewegung zu tun, und mein Kopf würde davonsegeln. Und wenn ich auch nur einen einzigen Schritt weiter in den Sumpfsee riskiert hätte, würde die ser mich für immer und ewig nach unten ziehen und begraben. Der Meo blieb stehen, lächelte und sagte etwas. Vielleicht woll 233
te er mir Mut machen, diesen bestimmten Schritt zu tun. Das kind hafte, schelmische Grinsen ließ erahnen, daß er überhaupt keine Lust hatte, mich umsonst zu töten. Soll ich mich doch selbst umbrin gen, das wäre für uns beide der beste Weg. Mir war klar, daß ich es nicht mehr lange auf Fußspitzen aushalten würde. Ganz zu schweigen davon, daß der Meo jederzeit die Ge duld verlieren konnte. Ich hatte keine Wahl und mußte den entscheidenden Schritt nach hinten wagen. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, worauf ich hoffte. Viel leicht, daß ich der erste sein würde, der es schafft, einen Sumpf zu durchschwimmen, oder daß ein Engel erschien und mich aus die ser Zwickmühle befreite. Ich glaube, ich war sowieso nicht ganz bei mir. Sonst hätte ich diesen letzten Schritt nie getan. Aber ich tat ihn und wartete, daß die stinkenden Matschwellen über mir zusammenschwappten. Die verrottete Brühe floß bis zu meinem Mund und blieb kurz unter der Nase stehen. In einer an deren Situation wäre mir jetzt sicherlich übel geworden. Der Meo schaute interessiert zu, wann ich denn endlich ersoff. Und um es ein wenig voranzutreiben, stieß er mit dem Messer nach mir. Es war nur eine Frage von Millimetern, daß er mir nicht das Augenlicht genommen hatte. Ich blubberte und trat weiter nach hinten. Obwohl mir klar war, wie lächerlich dieser Versuch erscheinen mußte, machte ich ver zweifelte Schwimmbewegungen, die in etwa an gefangene Bienen in einem Honigglas erinnerten. Ich schlug in der immer stinkige ren Brühe wild um mich, als plötzlich das langersehnte Wunder ge schah. Ich spürte, wie mir irgend etwas Hartes, Festes unter die Füße kam. Mit den Armen verdrosch ich immer noch den Morast und ver suchte dabei in wilder Panik herauszufinden, ob die Stütze echt war. Sie war echt. Ich stemmte mich dagegen, gab dann einen letzten, gewaltigen Schrei zum besten, holte tief Luft und tauchte unter. 234
Es war wohl ein Stück vom Flugzeug oder das Rückteil von ei nem Sitz, das aus dem Korb eines Elefanten herausgerutscht war oder von einem Meo unachtsam zu nahe am Ufer fallen gelassen worden war. Wie auch immer, der kleine Kerl draußen konnte nicht wissen, daß ich etwas derartig Stabiles unter den Füßen hatte. Ich hockte mich hin und betete, daß ich mehr Luft hatte, als der Meo Geduld. Wenn ich auftauchte, während er noch auf mich war tete, war ich ein toter Mann. Ich zählte die Sekunden und ließ von Zeit zu Zeit ein paar Luft bläschen aufsteigen, die an der Oberfläche mit einem stinkenden Rülpser zerplatzten. Ich hoffte, daß der Eingeborene bald die Lust an dem Schauspiel verlieren und sich auf den Weg zu seinen Kum pels machen würde. Ich war bei hundertfünfzig angelangt, als ich spürte, wie mir lang sam übel wurde. Das Blut pochte in meinem Gehirn, und das Po chen der Adern stieg mit jeder Blase mehr nach oben, in den Kopf. Als ich zweihundert erreichte, ließ ich den Rest der Luft aus mei ner Lunge. Der Meo sollte sehen, daß nun alles vorbei war. Daß ich endgültig tot war. Sicherheitshalber gab ich noch ein paar Sekunden dazu, dann schoß ich nach oben. Was kümmerten mich jetzt noch Meos und Busch messer. Ich wollte nur noch Sauerstoff, und zwar so schnell wie mög lich. Nachdem ich einige gehetzte Züge von der schweren Sumpfwol ke genommen hatte, die über mir lag und im Moment trotzdem das Gefühl von bester Bergluft vermittelte, wischte ich mir den Schlamm aus den Augen. Erschrocken sah ich, daß der Meo wei terhin am Rande des Morastes saß, mit dem Rücken zu einem brei ten Busch, das Messer neben sich auf den Boden, und mich un verhohlen angrinste. Erneut tauchte ich unter, wie ein verrückter Wasservogel. Wieder blieb ich zweihundert Einheiten unter dem Schlamm, obwohl es mir eindeutig schwerer fiel als vorhin. Mit Grausen dachte ich an die Möglichkeit, daß der Eingeborene meinen Plan durchschaut hat 235
te. Wenn er bereits bei meinem ersten Manöver gemerkt hatte, daß ich nicht gestorben war, würde er wohl kaum gehen, bevor er sich nicht hundertprozentig überzeugt hatte, daß ich wirklich tot war. Ich wischte erneut meine Augen frei und schielte hinüber zum Ufer. Es hätte mir viel bedeutet, wenn mein Widersacher inzwischen verschwunden wäre. Aber der Meo saß immer noch da und grinste. Ein drittes Mal stürzte ich mich in die stinkende Masse, immer verzweifelter blubbernd. Obwohl ich die schönsten Bläschen stei gen ließ, wurde mir langsam bewußt, daß ich ihn nicht würde über das Ohr hauen können. Nicht mit diesem simplen Trick. Als ich ihn dann beim dritten Auftauchen immer noch in der sel ben Position auffand, mit demselben hämischen Lächeln, und dem Messer im Gras, begann etwas, mir seltsam vorzukommen. Vielleicht, daß er mir nicht hinterherspazierte, um mich abzustechen. Schließ lich konnte ich so bis zum Morgengrauen im Sumpf herumhocken. Irgend etwas sagte mir, daß während meiner Tauchgänge etwas am Ufer passiert war, das die Situation vollends verändert hatte. Viel leicht wollte er mich gar nicht töten, sondern nur erschrecken? Ge hörte er etwa zu Vang Pins Männern, und ich hatte seine Attacke mißverstanden? Nun ja, aber ein Buschmesser konnte man schwer lich falsch auslegen. Ich legte mich auf den Rücken, um ein paarmal tiefdurchatmen zu können. Die Soße ließ aber nichts dergleichen zu. Sie zog mich hinab und wollte mich nicht wieder loslassen. Immer nervöser griff ich um mich und strampelte mit den Beinen. Aber das Teil, das mir bis dahin Halt gegeben hatte, war verschwunden. In die Tiefe ge rutscht. Mit Kraft der Verzweiflung warf ich mich noch einmal nach oben und krallte mich an einer Wurzel fest. Und obwohl sie kurze Zeit später riß, gab sie mir doch noch so viel Schwung, daß ich mich etwa anderthalb Meter nach vorne arbeiten konnte. Als ich wieder festen Boden unter den Füßen spürte, hätte ich vor Freude und Er schöpfung weinen können. 236
Der Meo betrachtete meine Übungen mit Interesse, kam aber we der, um mich umzubringen noch um zu helfen näher. Mit re gungsloser Fratze genoß er es, wie ich keuchte, würgte und nach Luft rang, während ich auf ihn zukam. Das Licht des Mondes wurde ständig stärker, als ob eine Super nova über unseren Köpfen explodiert wäre. Das spöttische Grin sen vereinfachte sich zu einem milden Lächeln, und das riesige Busch messer sah nur noch wie eine Requisite aus einem zweitklassigen Schauerfilm aus. Der Matsch war mir nicht nur in die Augen geflossen, sondern auch in Mund und Ohren. Vom Geschmack her war mir die Abend mahlzeit irgendwie angenehmer in Erinnerung. Würde ich unter Rheu ma leiden, hätte mir das Bad allerdings sicherlich gutgetan. Ich wurschtelte so lange im Schlamm herum, bis mir endlich et was Langes, Hartes in die Hände fiel. Ich ergriff es und riß es mit letzter Kraft aus dem Sumpf. Es war ein armbreiter, knorriger Ast. Wenn mich jemand beim Herausklettern gesehen hätte, wäre die Welt jetzt um einen Bericht über das Auftauchen eines prähistori schen Urmenschen reicher. Hätte dieser bestimmte Jemand hinge gen Probleme mit der wissenschaftlichen Betrachtungsweise, so wäre ich auch als Geist des Moores durchgegangen. Vorerst war ich auf allen vieren, nahm aber keine Sekunde den Blick von dem Meo, der wohl die Gefahr verkannte, in der er sich nun selbst befand. Vielleicht war er sich zu sicher, was die Sache mit dem Buschmesser anging. Er ließ mich einfach aus der Pfütze klettern und grinste nur über meine kläglichen Versuche, an Land wieder zu mir zu kommen. Als ich sicher war, den Sumpf heil verlassen zu haben, richtete ich mich auf. Streckte den Stock nach vorne und ging schön lang sam, wie es sich in solchen Fällen gehört, auf ihn zu. Ich näherte mich seitlich: einen Schritt … noch einen … und dann … schrie ich laut auf und warf den Stock auf den Eingeborenen zu. Ich mach te eine Drehung, hechtete zu meiner MP, stellte sie auf Dauerfeu er und rief wütend auf englisch: 237
»Hände hoch! Aufstehen, und Pfoten in die Höhe!« Der Stock war direkt neben dem Meo auf das Gras gefallen. Ein paar Schlammtropfen klatschten auf seine Sachen, einer sogar auf die Stirn. Aber der Meo lächelte nur, ohne sich zu bewegen. Inzwischen ahnte ich bereits, daß irgend etwas mit meinem Mann schiefgelaufen war. Ich trat noch ein paar Schritte auf ihn zu, ohne den Lauf auch nur für eine Sekunde von ihm zu nehmen. Anstatt loszuhetzen und seine Freunde zu rufen oder nach seinem Messer zu greifen, grins te er einfach nur weiter. Als ob dieses neutrale Feixen seine beste Waffe wäre. Noch zwei Meter, und ich war bei ihm. Nah genug für ihn, um das Messer zu nehmen und nach mir zu stechen. Im Sumpf blubberte es laut, als ob noch jemand da unten auf Er lösung warten würde. Ich drehte mich nur ganz kurz um, sah aber nichts Besonderes. Der Meo vor mir konnte aber auch durch die se Störung nicht aus der Ruhe gebracht werden. Unentwegt blick te er mich mit diesem merkwürdigen spöttischen Lächeln an. Und dann sah ich, daß sein Blick gar nicht auf mich gerichtet war, sondern auf etwas in meinem Rücken, weit hinten, im Moor. Und sein Lächeln war auch keine friedliche, gleichmütige Maske, son dern ein Zähnefletschen, das sich gegen den Tod richtete. Ich beugte mich über ihn und stieß ihn mit dem Lauf meiner Ma schinenpistole an. Er fiel rücklings gegen den Strauch, sein Kopf kippte nach vorne. Wenn ich nicht befürchtet hätte, daß die stinkende, klebrige Mas se mir vom Gesicht in den Mund tropfte, hätte ich vor Schreck laut aufgeschrien. So aber konnte ich nur nach Luft schnappen, wie ein Hund, den Bauchschmerzen quälen. Der Eingeborene war tot; und die Fratze seines Todeskampfes hat te ich für ein Lächeln gehalten… Obwohl ich mich jetzt erst recht hätte erleichtert fühlen sollen, kam keine Freude in mir auf. Der Gestank des Sumpfes plagte mei ne Nase, mein Körper brannte, als ob ich in Feuer gebadet hätte. 238
Und am Schatten meiner Waffe sah ich, daß meine Hände zitter ten. Ich schulterte die MP und kniete mich neben den Toten. Der Kopf war zur Seite gefallen, er schien mich geradewegs anzustarren. Ich legte Zeige- und Mittelfinger an seinen Hals, die Ader war noch warm. Der Mond schien wild weiter, im Morast blubberte es, meine Hän de zitterten, und irgendwo meldete sich ein Frosch zu Wort. Was wohl irgendwie als Kommando mißverstanden wurde, denn bald gab es einen ganzen Chor, der ihm nacheiferte. Ich kratzte mich an der Nase und dachte, daß sich der Mörder schon längst davongeschlichen haben würde. Die Frösche hatten ihr Konzert nur angefangen, weil sie die Luft für rein hielten. Na türlich im übertragenen Sinne. Und obwohl ich mich nicht besonders mit der Psyche der Frösche in Laos auskannte, hätte ich ihren Ge fühlen wirklich gern vertraut. Erneut betastete ich den Hals des To ten. Er wies eine dünne, blutige Linie auf, die vorne ziemlich tief in die Kehle eingedrungen war. Und was ich vorher nicht gesehen hatte: Das Blut aus der zerrissenen Halsschlagader hatte sich bereits in einer kleinen Pfütze zu meinen Füßen gesammelt. Er war allem Anschein nach mit einer Garrotte umgebracht wor den. Genauso wie die Mädchen in der Maschine. Mein Gott, aber von wem? Wer konnte wissen, daß ich mich nachts aus dem Haus von Vang Pin stehlen würde? Wer konnte wissen, daß ich die Landepiste un tersuchte? Oder daß ich mich hier an den Sumpf heranwagte? Und ich hatte es noch nicht einmal vorgehabt! Erst als ich auf die Spu ren der Elefanten, und dann einige aktive Exemplare mit großen Körben auf dem Rücken gestoßen war, hatte ich meinen nächtli chen Spaziergang in diese Richtung fortgesetzt. Hätte ich keine Angst gehabt, daß man mich hier entdeckte, wäre ich wohl nicht gegangen, ohne irgendwelche Antworten auf diese Fragen zu finden. Das helle Mondlicht und das freie Ufergelände aber servierten mich jedem Attentäter wie auf einem silbernen Tab 239
lett. Noch einmal untersuchte ich den Toten eingehend. Wieder sah sein Gesicht aus, als würde er lächeln. Und dann kurz huschte ein kleiner Schatten an ihm vorbei. Als ob eine besonders schnelle Fle dermaus über uns hinweggeflogen wäre. Ich wollte mich gerade ab wenden, als der Schatten noch einmal über sein Gesicht fegte. Wo anders hätte ich das Ganze vielleicht gar nicht beachtet. Aber der mörderisch helle Mond schien alle Eindrücke in dieser Nacht ein wenig zu verstärken. Als der Schatten das dritte Mal vorbeikam, wußte ich bereits, daß irgendwas vor der Nase des Meos baumelte. Es war wohl schon dort gewesen, bevor ich mich hingekniet hatte, nur geriet es bei dieser Bewegung genau über meinen Kopf. Ich blickte zu dem etwas hö her liegenden Zweig nach oben und fand im selben Augenblick die kleine Tonfigur, wie sie bei absoluter Windstille vergnügt vor sich hin- und herschwang. Ich holte meine Maschinenpistole nach vorne und richtete sie auf den Busch. Obwohl ich in meinem Kopf lautes Gebrüll plante, kam nur ein leises Röcheln aus meinem Mund: »Hände hoch! Rauskommen!« Der Meo kippte vor Schreck um. Automatisch richtete ich die Waffe auf ihn, aber die Leiche hatte nichts Unerlaubtes vor. Sie lag fried lich im Gras, direkt neben dem breiten Buschmesser. Kurz ent schlossen warf ich es in den Sumpf. Was dann folgte, sollte in keinem Horrorroman fehlen. Kaum war das Messer in den dreckigen Fluten versunken, erschütterte ein schrecklicher Schrei die Gegend. Natürlich hörten die Frösche so fort mit ihrem Liedchen über die erlösende Prinzessin auf, und ohne daß sich auch nur ein Wattebausch vor den Mond geschoben hät te, ließ mich das Gefühl nicht los, daß es merklich dunkler geworden war. Auch eine kalte Brise schien über das Moor zu fegen. Sie strich mir über das Gesicht und schenkte mir zum Abschied eine Gän sehaut. Dann erstarb der Schrei, und eine sanfte, etwas altmodisch wir 240
kende Stimme meldete sich zu Wort. Sie schien von überall her zu kommen: aus dem Sumpf, dem Wald, den Büschen, vielleicht so gar aus dem Blätterwald der Baumkronen. Sie war sanft und ein schmeichelnd, und ich hätte nicht sagen können, ob sie einer Frau oder einem Mann gehörte. Sie sprach Chinesisch, möglicherweise sogar in genau dem Akzent, der zu Huan-Tis Zeiten unter den Man darinen in Mode war. »Sei gegrüßt, Lawrence!« sagte die Grabesstimme. Ich zuckte zu sammen und blickte mich verwirrt um. Die Stimme lachte leise auf. Wo ich mich auch hindrehte, sie schien immer aus genau der Richtung zu kommen. Das Moor, die Bäume, ja sogar das Schilf reflektierten die Stim me, was ihr eine wahrlich unheimliche Akustik sicherte. »Lawrence… Lawrence…« »Wer bist du?« rief ich und ließ die Waffe sinken. »Woher kennst du meinen Namen?« »Ich kenne jeden«, antwortete die Stimme. »Es gibt nichts auf die ser Welt, das mir nicht bekannt wäre.« »Wer bist du?« wiederholte ich die Frage. »Einst war ich ein großer Kaiser«, kam die Antwort. »Ich wollte, daß China groß und mächtig wird. Ich ließ eine Mauer gegen die Barbaren errichten… Ich war Kaiser … Huan-Ti!«
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ätte ich nicht lange Zeit in Asien gelebt, wäre die Idee, daß ich verrückt geworden bin, gar nicht so abwegig gewesen. Oder die Möglichkeit, daß ich durch die Geschehnisse – oder eventuell dank der Sumpfgase – Halluzinationen hatte. Ganz zu schweigen von der Variante, daß sich tatsächlich Kaiser 241
Huan-Ti meinetwegen aus dem Jenseits hierher bequemt hatte. »Ich habe die Tonarmee anfertigen lassen, damit sie mich bis zum Ende aller Ewigkeit begleitet«, flüsterte die Stimme. »Ich wollte, daß meine Soldaten mein Grab hüten und mir von den schnell da vonfliegenden Jahren erzählen, von den Wolken am Himmel, den Bienen auf den Blumen. Von der Welt, die ich für immer verlassen hatte. Ich wollte, daß man uns nie findet, daß man nie die Träu me meiner Männer stört, die Ruhe meiner Diener. Jeden, der mei ne Einsamkeit zu stören wagt, wollte ich mit einem Fluch belegen. Und dann gab es einen großen Krieg in China, und man hat mein Grab gefunden.« »Wer?« Aber man hatte nicht vor, mir diese Frage zu beantworten. »Ich kann nun nicht mehr unter der Erde bleiben. Mein Jahr tausende dauernder Schlaf ist vorbei. Ich will, daß du einen neuen Ruheplatz für uns findest.« »Warum gerade ich?« »Ich will, daß du den Zeichen folgst. Wenn sie dir etwas anha ben wollen, werde ich sie vernichten. Ich wünsche, daß du, wenn du mein Grab gefunden hast…« Die Luft brauste an mir vorbei, als ob ich in einem Orkan schwe ben würde, einem Orkan von Stimmen. Dann wurde plötzlich wie der alles klar. »…geh zu der zweiten Kuppe des dreispitzigen Berges. Dort wirst du den weißen Stein finden.« Erneut wurde die Stimme undeutlich, und ich vernahm nur Wort fetzen. »…führe meinen Wunsch aus. Du achtest die Traditionen der Chi nesen, du hast unsere Sprache gelernt, so wie ich… Ich war auch kein Chinese. Mein Vater war ein Barbar … und ich werde Rache an denen nehmen, die meine Ruhe gestört haben. Du wirst mein…« Etwas klirrte, und die Stimme war verschwunden. Die kleine Puppe hing weiter an ihrer Schnur. Sie stellte einen fried lich aussehenden Mandarin mit ausgestreckter Hand dar. 242
Der Sumpf rülpste hinter mir gewaltig. Der Mond erhellte alle drei Kuppen des Dreispitzberges, die mir freundlich zuzuwinken schie nen. Der Tonmandarin an der Plastikschnur deutete mit seiner Hand unmißverständlich auf den mittleren Hügel.
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ls der Schlamm trocknete, fing meine Haut wie wild an zu ju cken. Vorsichtig schlich ich mich an meinen Koffer heran, der in der Nähe des Toten lag. Zuerst einmal mußte ich feststellen, daß es doch nicht meiner war. Ich betete vor mich hin, daß er dann wenigstens einem Mann ge hörte. Wild zerwühlte ich den Inhalt und fand einen eleganten, blau en Zweireiher. Schade nur, daß einer der Ärmel von dem Messer hieb des Meos vollkommen abgetrennt wurde. Ich suchte weiter, fand aber nur noch Schlimmeres. Und Schuhe sah ich überhaupt keine. Ich beugte mich zum Wasserspiegel hinunter, scheuchte Frösche und Mücken beiseite und wusch mich, so gut es ging. Die MP hielt ich ständig auf das Gebüsch gerichtet, was viel Talent erforderte, da ich mit der anderen Hand versuchte, mir dabei den Dreck abzuschrub ben. Nach einigen Minuten war ich fertig. Ein wenig übertrieben hät te man auch sagen können, ich war wie neu geboren. Gut, ich stank zwar ein wenig, aber immerhin hatte ich große Teile des braunen Belags von meiner Haut abkratzen können. Wenn dem dunkelblauen Anzug nicht ein Ärmel gefehlt hätte, wäre ich sicher unter die zehn bestgekleideten Beinahe-Leichen der Welt gekommen. Mit den Schuhen aber konnte ich nichts anfangen. Ich hatte sie soweit wie möglich gesäubert und war unter schmatzen 243
den Geräuschen wieder in sie reingerutscht. Ich steckte die kleine Tonfigur in die Tasche, blickte noch einmal zu dem Sumpf hinüber, der beinahe meine Grabstätte geworden wäre, drehte mich dann um und watschelte los. Geradewegs auf die mittlere der drei Bergkuppen zu.
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ch trottete so lange ziellos vor mich hin, bis ich plötzlich einen Pfad kreuzte. Er war vielleicht zwei Meter breit und schien direkt zu der anvisierten Spitze zu führen. Gerade hatte ich mich gegen einen Baum gelehnt, um mich etwas auszuruhen, als plötzlich wie aus heiterem Himmel zwei Meos vor mir erschienen – natürlich in voller Messermontur. Sogar den Atem hielt ich zurück, damit er mich nicht verraten konnte. Die Blätter der Farnkrautwedel raschelten, als ob sie sich in der Sprache der Meos unterhalten würden. Der Vordermann blieb stehen, hob die Hand mit dem Messer und drehte sich genau zu dem Busch rüber, hinter dem ich mich verborgen hielt. Die Blät ter meines Farns flüsterten weiter ihr trauriges Lied, und wenn ich Mitglied irgendeiner naturgrünen Sekte gewesen wäre, hätte ich si cher geglaubt, sie tun es nur, um mich zu verraten. Die überirdi sche Kommunikation lief allerdings doch nicht so perfekt ab, denn der Meo wandte sich wieder ab, und ein paar Sekunden später war die Gegend so verlassen, als ob nie zuvor ein Mensch hier vorbei gekommen wäre. Mich allerdings konnte diese seltsame Stille nicht mehr täuschen. Ich wußte, daß ein asiatischer Mensch so lange keine Ruhe gibt, wie er die Quelle seiner Ungewißheit nicht genauestens erforscht hat. Also machte ich es mir ein wenig bequemer und wartete ab. 244
Es dauerte fünf Minuten. Der Meo trat direkt mir gegenüber aus den Büschen hervor, natürlich mit gezücktem Messer. Auf dem Pfad konnte er aber nur das kleine weiße Äffchen entdecken, das gera de faul von einem Baum geklettert war. Der Meo scheuchte es grinsend auf. Der Affe blickte zähneble ckend zu ihm rüber und kletterte dann ohne Eile wieder in die Baum krone zurück. Der Eingeborene steckte sein Buschmesser hinter den Gürtel und verschwand wieder im Dickicht. Irgendwas sagte mir, daß der Weg jetzt frei war; ich konnte gehen, wohin ich auch wollte. Was in meinem Fall bedeutete, zum Schwarzen Prinzen.
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er Mond schien in dieser Nacht irgendeinen Rekord brechen zu wollen, was die Lichtstärke anging. Es war eher wie eine rie sige Jupiterlampe bei Dreharbeiten, in deren Zuge mich jetzt Tau sende von Augenpaaren bei der Arbeit beobachteten. Ich versuchte, mich so zu bewegen, daß möglichst wenig An griffsfläche übrig blieb. Einige Male hatte ich mich ins Gras geworfen, obwohl sich jedesmal wieder herausstellte, daß mich doch niemand verfolgte. Das Haus des Schwarzen Prinzen erinnerte ungemein an das von Vang Pin. Der breite, aus mehreren Steinflügeln bestehende Ge bäudekomplex wurde von einem dichten, mit Bäumen und Palmen flankierten Park umgeben. Die inneren Gärten und Durchgänge zwi schen den Häusern wurden von hohen Mauern vor neugierigen Bli cken geschützt. Ich versteckte mich hinter einem Baum und versuchte nachzu denken. Die Ereignisse der letzten Tage hatten mich nicht nur kör 245
perlich, sondern auch psychisch ziemlich ausgelaugt. Ich war mir nicht sicher, ob es wirklich eine so tolle Idee gewesen war, hier herzukommen. Es war, als ob ich zeitweilig nicht nur über meinen Körper, sondern auch über den Geist die Kontrolle verloren hät te. Was wollte ich hier überhaupt? Einbrechen? Durch ein Fenster lin sen? Und den geheimnisvollen Zorro bei der Kostümprobe aus spionieren? Das Zentralgebäude war ein typisches Bauwerk Südostasiens, zwei stöckig, mit einem Pagodendach. Kleine Glöckchen waren an den hochgebogenen Ecken der Holzkonstruktion angebracht, die im trä gen Wind eine leise Melodie intonierten. An dem großen, roten Holztor hatte der unbekannte Meister meh rere metallene Drachenköpfe aufgenagelt. Aus ihren Mäulern hin gen bronzene Ringe, und es kostete mich viel Willenskraft, nicht sofort hinzurennen und mit lautem Klopfen auf mich aufmerksam zu machen. Obwohl es mich interessiert hätte, was wohl der Schwar ze Prinz zu meinem nächtlichen Besuch gesagt hätte. Als ich den Duft der Blumen in den Bäumen vernahm, eröffne ten sich meinem Geist plötzlich vollkommen neue Ideen. Buddha mußte wohl dasselbe gefühlt haben, als er unter dem Feigenbaum saß und die Erleuchtung fand. Er erkannte auf einmal den Sinn des Lebens und den Weg, wie man aus dem Kreislauf des Leidens ent kommen konnte. Meine Erleuchtung war natürlich bei weitem nicht so spirituell. Ich hatte einfach nur alle Ereignisse seit Sonntag zu sammengenommen betrachtet und realisierte auf einmal, um was es in diesem Spiel überhaupt ging. Was um mich herum passierte, und was genau die Legende der Tonarmee bedeutete. Nur die Antwort auf die Frage, wer der Schwarze Prinz war, ent zog sich im Moment meiner Kenntnis.
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s ist mir oft passiert, daß sich meine Eingebungen als falsch er wiesen. Oder daß binnen weniger Sekunden eine mühsam und langwierig aufgebaute Theorie zu Schutt und Asche zerfiel. Noch häufiger allerdings geschah es, daß mir, wenn ich bereits überzeugt war, alle Details zu kennen, der Zufall – oder mein Schicksal – ir gendein neues Hindernis in den Weg legte. Die Zähne der Drachen glitzerten im Mondschein, die graue Wand und das rote Zauntor schimmerten träge im Halbschatten, und ich entdeckte einen goldenen Schriftzug unter dem Pagodendach. Es waren altchinesische Schriftzeichen, ich konnte sie gerade noch ent ziffern. Sie zitierten Kien-lun, einen der Mandschu-Kaiser: An die sem Ort verfliegt die Hoffnung. Der Blütenstaub reizte meine Nase, also senkte ich den Kopf und versuchte mit aller Kraft, ein Niesen zurückzuhalten. Ich schluck te und hielt mir die Nase zu, daß mir Tränen in die Augen traten. Als ich nach dem Sieg wieder aufblickte, waren mindestens ein, zwei Minuten vergangen. Und dies hatte ausgereicht, um etwas in meiner Umwelt geschehen zu lassen: etwas Wichtiges und Endgültiges. Ich streckte den Kopf nach vorne, um ein klares Bild zu gewin nen. Menschen konnte ich immer noch nicht entdecken, aber die Glöckchen hatten aufgehört zu klingeln. Es herrschte Windstille, nur die Drachen schrien lautlos ihren Zorn heraus. Ich umklam merte die Maschinenpistole und blickte mich noch einmal sorgfältig um. Meine Augen streiften über das Dach, die kleinen Ringe der Anklopfer, die rötlichen Dachziegel, die Aufschrift mit dem einla denden Spruch… Die Aufschrift! Meine Augen wanderten zu den goldenen Zeichen zurück. Im ers ten Augenblick sah ich nichts Ungewöhnliches an ihnen. Der re lativ kurze Satz, und dann… Es war wie ein Rätsel. Ein Rätsel mit zwei identischen Bildern, wo 247
bei dem rechten zum Beispiel acht kleine Fehler eingezeichnet oder etwas weggelassen wurde. Meine Aufgabe war es nun, diese acht Un terschiede zu finden, und zwar so schnell wie möglich. Noch einmal fuhr mein Blick über die Schriftzeichen, und dann stockte mir der Atem. Man hatte Kien-luns Namen aus dem Spruch entfernt. Ich wischte mir die Stirn ab und schluckte meine Panik hinun ter. Ich glaube nicht an Magie und Zauberei, obwohl man mit einer solch kategorischen Aussage in Fernost etwas vorsichtig sein soll te. Trotzdem hätte ich beschwören können, daß vor kurzem noch die zwei Zeichen vorhanden waren. Zehn Sekunden lang preßte ich die Augen zusammen, und als ich wieder aufblickte, war Kien-lun an Ort und Stelle. Inzwischen wußte ich längst nicht mehr, was hier vor sich ging. Routinemäßig schloß und öffnete ich wenig später meine Augen und wunderte mich überhaupt nicht mehr, daß die Schriftzeichen er neut verschwunden waren. Scheinbar gab es eine große Hand, die sich regelmäßig vor den Namen schob und dann wieder zurückzogen wurde. Obwohl mir klar war, daß es riskant werden könnte, sich direkt ans Tor zu begeben, blieb mir nichts anderes übrig. Jede Kleinig keit konnte in diesem verfluchten Fall von Bedeutung sein. Von gro ßer Bedeutung… Auf allen vieren trabte ich wie ein etwas zu groß geratener Affe über die paar Quadratmeter monderleuchtete Fläche, die mich von dem roten Tor trennten. Die nächste Etappe sollte bei weitem nicht mehr so einfach wer den. Im Schatten des spitzen Tordrachens kam ich wieder in die Höhe, und als ersten Erfolg stieß ich mir dabei auch sofort mei nen Kopf an einem abstehenden Holzbalken, der vom Dach he runterhing wie die Schaufel eines Windrades. Keuchend vor Schmerz bog ich ihn etwas zur Seite. Leise, ganz leise knirschte das wettergegerbte, morsche Stück. Ich betastete mei 248
ne Stirn und konstatierte erfreut, daß die Beule sich neben den äl teren durchaus sehen lassen konnte. Ich streckte mich nun etwas vorsichtiger aus und lugte zur Schrift hinüber. Die goldenen Zeichen funkelten wie Sterne am Himmel, aber die Buchstaben des Kaisers konnte ich wieder nicht entdecken. Ich stemmte die Arme in die Hüften und dachte angestrengt nach. Und während ich so dastand, machte ich plötzlich ein paar Stri che des ersten Phonems aus. Ich hätte schwören können, daß es der Anfang von Kien-luns Namen war. Plötzlich drückte mir eine eisige Hand die Kehle zu und ließ ge rade genug Platz, hastig nach Luft zu schnappen. Die Erkenntnis traf mich wie eine kalte Dusche. Ich konnte Kien luns Schriftzug deshalb nur sporadisch erkennen, weil eine dunk le Masse mir von Zeit zu Zeit die Sicht versperrte. Irgend etwas hing unter dem Vordach des Eingangs, und obwohl ich meine Augen gar nicht anstrengte, wußte ich, daß es eine Leiche war. Unfreiwillig trat ich einen Schritt zurück und hob die Hand. Eine leichte Brise wehte mir entgegen. Genug, um einen menschlichen Körper in Bewegung zu halten. Ich dachte daran, vielleicht lieber gar nicht hinzusehen. Vielleicht sollte ich mich einfach nur umdrehen und zu Mal zurückkehren. Oder alles hier hinter mir lassen. Ich wußte, daß ich es schaffen konn te. Der Mekong war in der Nähe, mit etwas Glück konnte ich ihn in wenigen Wochen erreichen. Ich hatte schon früher oft Tage oder Wochen alleine im Dschungel verbracht. Ob ich immer noch Kä fer und Wurzeln essen könnte wie früher? Würde ich immer noch ohne Probleme Vogeljunge fangen und roh verschlingen können? Und schließlich: Würde ich immer noch den tödlichen Fallen der anderen Dschungelbewohner entgehen können? Irgendwo hoch über mir wurde ein Fenster geöffnet. Eine helle Frauenstimme fragte etwas, eine andere, etwas jüngere antwortete. Dann vernahm ich von einem der inneren Höfe Wortfetzen eines leisen Gesprächs. Ich stellte mich auf Zehenspitzen und griff nach oben. Gerade so 249
erreichte ich die Füße des Toten und drehte die Leiche so, daß ich sie mir von vorne anschauen konnte. Die Hände baumelten direkt über mir, und als ich die alten, runzligen Finger mit den schweren Ringen sah, brauchte ich mir sein Gesicht nicht mehr anzuschau en. Ich wußte, wer es war. Trotzdem vergewisserte ich mich. Die Augen starrten blicklos ins Leere, der Kopf war etwas zur Seite geneigt, als ob er sich ganz in tensiv den Worten eines imaginären Gesprächspartners widmen wür de. Die beiden ergrauten Bartspitzen hingen traurig nach unten und schienen sich ihrem Schicksal zu ergeben. Der Tote war General Villalobos.
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as dann passierte, hätte mich noch mehr verstören müssen. Und sicherlich wäre es auch so gekommen, wenn es keine Vor geschichte dazu gegeben hätte. Gerade der letzte Tag aber, und vor allem die Leichen dieses Tages hatten mich dermaßen aus der Fas sung gebracht, daß mich jetzt nicht einmal mehr verblüfft hätte, wenn Englein mit goldenen Trompeten am Nachthimmel erschienen wä ren und eine Fanfare zum Beginn des Jüngsten Gericht geblasen hät ten. Schritte kamen von innen auf das Tor zu, und zwar ziemlich vie le. Geflüster, leise Worte und Befehle erreichten mein Ohr. Im sel ben Moment vernahm ich auch hinter mir Geräusche, als ob es im Gebüsch zu einem Boxkampf gekommen wäre. Die von innen ka men schneller am Tor an als die anderen von der kleinen Lichtung. Ein Schlüssel wurde umgedreht und ein dem Klang nach gewalti ger Riegel weggezogen. Ich kauerte mich auf den Boden, zog mich zurück und hoffte, daß mich meine Verfolger nicht entdecken wür 250
den. Das Tor wurde mit lautem Ächzen geöffnet. Die Flügel wurden nach innen gezogen, also konnten die Bewohner nicht sofort die Leiche entdecken, die an dem breiten, reich verzierten Querbalken etwas seitlich vom Eingang hing. Der Vordermann drehte seinen Kopf zurück und sagte etwas zu seinen Begleitern. Er redete Chinesisch und sprach mit einer ho hen Tonlage, die entweder Frauen oder ganz jungen Männern vor behalten ist. Dem Dialekt nach stammte er aus Shanghai und nicht Peking, weswegen ich auch relativ wenig verstand. Seine schatten haften Begleiter, in denen ich Meos zu entdecken wähnte, scharten sich um den armen Villalobos und flüsterten erregt miteinander. In diesem Moment verstärkte sich auch der Lärm hinter mir, und ich mußte automatisch hinschauen. Was ich sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren, und es fehl te nicht viel dazu, daß ich in ihre Richtung losfeuerte. Aus den nahen Büschen traten nämlich einige Meos mit gezückten Messern hervor. Diese Waffen richteten sie auf zwei Männer in ih rer Mitte. Die schwer ächzenden und möglicherweise verletzten Ge fangenen konnten sich gerade noch auf den Beinen halten. Einer, ein dürrer Rothaariger, hatte ein blutverschmiertes Gesicht, das er wohl nicht nur deshalb nicht abwischte, weil seine Hände hinter dem Rücken zusammengebunden waren. Der andere war etwas breiter und kräftiger, und in seinem Blick konnte ich keine Angst erkennen, als der Mond sein Gesicht kurz erhellte. Er verfolgte das Gehabe der Eingeborenen eher mit gewissem Interesse und schüttelte von Zeit zu Zeit den Kopf. Das bemerkenswerteste an ihm waren allerdings seine Haare. Sei ne lila gefärbten Haare glänzten richtiggehend im Mondschein, was so ziemlich das gesamte Spektrum zum Vorschein brachte, das aus dieser Grundfarbe gewonnen werden konnte. Ein besonders farb empfindsamer Künstler hätte vor Verzückung lustvoll aufgeschrien. Die beiden drangsalierten Männer waren natürlich Hardy und Lei chenfresser. 251
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ie Meos, die die Gefangenen begleiteten, blieben kurz stehen, als sie das Durcheinander bei dem Tor bemerkten. Mir aber kam dieser Aufschub ganz recht, denn sie waren bereits so nahe ge kommen, daß ihr Anführer fast über meinen Kopf gestolpert wäre. Hätte die Leiche von Villalobos sie nicht abgelenkt, wären sie schon längst um einen Gefangenen reicher gewesen. Ein paar Sekunden später lag der Tote auf dem Boden. Wer das Seil durchgeschnitten hatte, konnte ich nicht erkennen, um so mehr aber, wie sich der schwarze Schatten über ihn beugte. Und sein Körper zitterte hef tig, wie bei einem Schwächeanfall. Ich hob den Kopf, um besser sehen zu können. Der verhüllte An führer, vermutlich der Schwarze Prinz, krümmte sich mit seinem breiten, dunklen Hut über den Kopf des Toten, so daß ich keines der beiden Gesichter sah. Ich konnte nicht feststellen, ob er wie Zor ro eine Maske trug oder sich voll auf den dunklen Schatten seiner Hutkrempe verließ. Aber irgendwie war ich mir sicher, daß er wein te. Die Meos und ein paar Chinesen standen um ihn herum, aber keiner traute sich, etwas zu sagen. Auch die Neuankömmlinge nicht. Hardy und Leichenfresser starrten entgeistert auf die Szenerie. Der Musiker erkannte als erster den General. »Mein Gott, der Schnurrbartkönig!« stöhnte er und schluckte. »Ja, sehen Sie doch, die haben sogar den Major umgebracht … einfach aufgeknüpft…! Glauben Sie, daß man auch uns…« »Halten Sie die Klappe!« knurrte Hardy. Der Schwarze Prinz erhob sich. Ich weiß nicht, weshalb, aber ich wurde das Gefühl nicht los, daß es eine Frau war. Vielleicht wegen der anmutigen Art ihres ganzen Wesens… Sie glitt mit weichen Be wegungen vor die beiden Gefangenen. »Wo habt ihr sie erwischt?« fragte sie die Meos. Die Antwort kam ebenfalls auf chinesisch, allerdings gebrochen, von einem der Eingeborenen. 252
»In der Nähe des Sumpfes, Prinz.« Der Schwarze Prinz schaute kaum in die Richtung der Gefange nen, im Gegenteil, er schien sein Gesicht vor ihnen verbergen zu wollen. »Was machen wir mit ihnen?« Vorsichtig nahm ich die Maschinenpistole vom Rücken und brach te sie in Anschlag. Sollte ich irgendeinen falschen Befehl hören, wür de ich ein kleines Feuerwerk veranstalten müssen, obwohl mir nichts ferner lag, als die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Die rätsel hafte dunkle Gestalt zog ihren Hut noch tiefer ins Gesicht. »Schließt sie ein! Kung Tung-fej wird für sie verantwortlich sein.« Ein Chinese, der wie die Meos gekleidet war, trat vor und verbeugte sich. »Jawohl, Prinz. Was wünscht du außerdem, Herr?« »Wenn…«, seine Stimme stockte, was gar nicht zu einem Phan tomprinz seines Formats paßte. »Wenn ich morgen bis zum Son nenuntergang nicht zurück sein sollte, dann…« Der Chinese verbeugte sich erneut und wartete mit spitzfindigem Gesichtsausdruck auf die Antwort. »Dann, mein Prinz?« »Dann bringt sie um!« erwiderte der Schwarze Prinz und zog den Umhang über seiner Brust enger zusammen. »Die Leichen laßt ihr im Sumpf verschwinden!« Er hob den Arm wie zum Abschied und war mit einem einzigen Sprung in der Dunkelheit verschwunden. Die Meos gingen in das Gebäude und zerrten Leichenfresser und Hardy mit sich. Gleichgültig blickte ihnen der Mond nach. Ich auch, aber eher verzweifelt.
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ls sie hinter dem Tor verschwunden waren und die Gegend wie der in Stille badete, nahm ich mir ein paar Minuten Zeit, über verschiedenes nachzudenken. Stoff dazu hatte ich zweifellos genug. Ich hätte versuchen können, die Gefangenen zu befreien, aber mir war klar, daß dies die dümmste aller möglichen Varianten wäre. Der Schwarze Prinz hatte befohlen, die beiden bis Sonnenuntergang zu verschonen, was bedeutete, daß Hardy und Leichenfresser bis da hin – allerdings auch nur bis dahin – in Sicherheit waren. Ich hät te auch versuchen können, die Tonarmee zu finden, denn falls ich dem Geist von Huan-Ti glauben konnte, wußte nur ich Bescheid, wo ich zu graben hatte. Oder ich hätte dem Schwarzen Prinzen nach rennen können, in der Hoffnung, ihn zu erwischen und dadurch ein paar Antworten zu erhalten. Nach kurzem Zögern entschloß ich mich schließlich doch lieber, in Vang Pins gastfreundliches Heim zurückzukehren. Letzten En des fühlte ich mich für die gesamte Truppe verantwortlich, auch wenn ich mir diese Aufgabe nicht selbst ausgesucht hatte. Auch das Bild der schlafenden Mal tauchte in meinem Kopf auf, was meine Schritte unterwegs zusätzlich beschleunigte. Dem Anwesen näherte ich mich mit größter Vorsicht. Vang Pin brauchte schließlich nicht zu erfahren, daß ich nachts Spaziergän ge im Dschungel unternahm. Ich schaute mich noch ein wenig im Park um und traf ein paar Dickhäuter; ansonsten war alles still. Einer der Elefanten kam zu mir und streckte mir aus angemes sener Entfernung seinen Rüssel entgegen. Ich suchte nach etwas Brauchbarem in der Hosentasche, fand aber nichts Akzeptables. Schuldbewußt tätschelte ich die lange Nase und kratzte dafür sei ne Stirn. Der Gute schnupperte an mir herum und trompetete dann leise auf. Als ich ihn hinter mir ließ, blickte er mir mit traurigen Augen nach. Ohne Probleme gelangte ich in das Haupthaus zurück, schlich 254
durch den Glaskorridor und hielt auf mein Zimmer zu. Dabei mur melte ich alle Gebete, die mir einfielen, damit mir keiner über den Weg lief, denn bei einem Treffen im Halbdunkel hätte jeder, der mich in zerschlissenen Kleidungsstücken, verdreckt und zerzaust, stinkend, in klitschnassen Schuhen und mit einer MP bewaffnet aus dem Nichts auftauchen gesehen hätte, mit vollem Recht lauthals losgeschrien. Zum Glück blieb mir das erspart. Ich erreichte ohne Zwischen fälle meine Tür und klopfte leise an. »Mal!« Keine Antwort. Erneuter Versuch, gleiches Ergebnis. Ich kniete mich hin und schielte durch das Schlüsselloch. Der Schlüssel steckte von innen. »Mal?« Nichts rührte sich. »Mal!« Diesmal war ich schon ziemlich laut, aber selbst nach einem er neuten Anklopfen gab es keine Antwort von innen. Ich schulterte die MP, rannte wieder zurück zum Eingang, war bald darauf im Hof und erreichte mein Fenster. Dann stellte ich mich auf Zehenspitzen und schaute ins Zimmer. Der Mond stand so, daß ich Mals Gesicht nicht sehen konnte. Dafür aber ihren Körper, der seltsam verdreht unter der Decke zur Geltung kam. Dies war wohl der Zeitpunkt, an dem ich endgültig in Panik ge riet. Ohne weit nachzudenken, schlug ich das Fenster mit dem Ge wehrschaft ein. Die Scherben fielen klirrend zu Boden, und ich hör te erst mit der Zerstörung auf, als in einem benachbarten Haus ir gendwo das Licht anging. Mit einem flotten Satz war ich im Raum angelangt und kniete im nächsten Moment auch schon neben dem Bett. Ich beugte mich über Mals Arm und fühlte ihren Puls, dann zerriß ich das Ober teil des Hemdes, das sie sich von mir geborgt hatte, und legte mei 255
ne Hand auf ihr Herz. Es schlug noch, wenn auch nur sehr schwach. Ich kniete mich neben sie auf den Boden. Jetzt erst spürte ich, wie mir kalt und naß wurde und der Schweiß an meiner Stirn he rabfloß. Schwarze Wolken zogen an meinen Augen vorbei, und am liebsten hätte ich mich neben Mal gelegt. Aber das Fenster war offen, zerschlagen, und zwar von mir. Ich legte nun mein Ohr auf ihre Brust. Der Atem war flach, aber regelmäßig. Als ob sie etwas Schlimmes träumen würde oder jemand sie kurz vor dem Einschlafen erschreckt hätte. Ich nahm ihre Hand und schüttelte sie zärtlich. »Mal!« Als ich es aussprach, stach mir plötzlich ein übler Geruch in die Nase. Ich hob die Decke, sah aber nur den perfekten Körper der Pilotin. Auch unter ihrem Rücken lag nichts Besonderes. Ich dreh te sie zur Seite, sie stöhnte unzufrieden auf. Dann hob ich das Kopf kissen hoch, und der Gestank wurde intensiver. Ich legte die Ma schinenpistole zur Seite, und zwar so, daß sie weiterhin auf das Fens ter zeigte. Nach kurzem Wühlen fand ich, wonach ich gesucht hatte. Zur Hälfte unter das Laken gerutscht, steckte ein blaugestreiftes Ta schentuch fest, und war allem Anschein nach für den Übelkeit er regenden Gestank verantwortlich. Ich nahm es zwischen Zeige- und Mittelfinger, hielt es weit von mir weg und trug es zur Toilette. Un terwegs roch ich nur ganz kurz daran, aber selbst das genügte, um mir den Magen umzudrehen. Ich zog das Kissen unter Mals Kopf hervor und nahm den Be zug ab. Der Wasserhahn gab kaum etwas von sich, aber nach ein paar Sekunden konnte ich Mal den ersten nassen Umschlag auf die Stirn legen. Wäre das Wasser kalt gewesen, hätte es vielleicht auch eher gewirkt. So aber verging eine lange Zeit, bis ich etwas Leben in sie hauchen konnte. »Mein Gott«, stöhnte sie und hielt sich die Stirn. »Der Weck 256
dienst…« Dann entdeckte sie mich und schrie leise auf: »Ach du Schei ße… Wer sind Sie denn?« Sie fiel auf das Laken zurück und zog den dünnen Bezug über sich. Weitere Minuten vergingen, bis ich ihre Erinnerungen wieder auf gefrischt hatte. Daraufhin allerdings warf sie sofort das Tuch von sich und stürzte sich in meine Arme. Es kümmerte sie dabei reich lich wenig, daß Lehmbrocken an meiner Stirn klebten und mein Geruch deutlich an eine Kloake erinnerte. »Mein Gott, Leslie«, ächzte sie, und dicke Tränen kullerten über ihr Gesicht. »Endlich bist du da… Ich hatte solche Angst! Wirklich, solche … wie noch nie zuvor, nicht einmal in der Luft… Dieser schreckliche Mann…!« Ich zog sie dicht an mich und streichelte ihr beruhigend den Rü cken. »Jetzt ist ja wieder alles in Ordnung, Mal!« Anscheinend war ich erfolgreich, denn plötzlich fand sie Zeit, ihre Nase zu benutzen. Irritiert schnüffelte sie an mir herum. »Was stinkt denn hier so?« »Ich fürchte, meine Wenigkeit.« »Oh…«, meinte sie, zog sich aber tapfer nicht zurück. »Wo bist du denn gewesen?« »Später, Schatz. Jetzt bist erstmal du dran. Was ist passiert? Hast du jemanden reingelassen?« Sie seufzte tief und schüttelte den Kopf. »Niemanden. Er … kam erst, als ich schon eingeschlafen war.« »Du meinst, durch das Fenster?« Sie schluckte ein paarmal und deutete dann mit dem Kopf auf den Wasserhahn. »Könnte ich etwas Wasser kriegen?« Ich nahm unsere selbstgebastelten Papierhütchen und holte ihr etwas zu trinken. Dabei brachte ich zwecks späterer Identifizierung auch das stinkende Taschentuch wieder mit. Mal nahm einige Schlu cke und verzog dann die Miene. 257
»Pfui…! Warm und ungenießbar! Was … was ist dieser komische Geruch?« »Ich bin in einen Sumpf gefallen.« Sie roch weiter an mir herum und schüttelte den Kopf. »Etwas anderes… Mein Gott!« Sie griff sich an die Kehle, und ich befürchtete schon, sie würde sich übergeben. Ihre Augen weiteten sich, aber zum Glück war sie kurz darauf wieder in Ordnung. Mit einigen Rülpsern brachte sie die Sache in Ordnung. Ich schüttelte das blaue Tuch vor ihr hin und her. »Erinnert dich das an etwas?« »Sowas ähnliches hat mir der Kerl unter die Nase gedrückt.« »Wie war er überhaupt reingekommen?« »Ich schätze, durch die Tür«, antwortete sie. »Nicht durchs Fenster?« »Ich weiß es nicht, Leslie… Ich glaube, die Tür stand hinter ihm offen.« »Natürlich hattest du zu dem Zeitpunkt schon geschlafen.« »Das tat ich bereits kurz nachdem du gegangen warst. Ich wach te erst auf, wie er…«, stöhnte sie, und begrub das Gesicht in den Händen. Dann nahm sie die Arme wieder herunter und trat heftig mit dem nackten Fuß gegen das Bett. »Verdammt! Warum gibst du mir keine Ohrfeige?! Bitte, schlag mich!« Sie schien sich in der Tat nichts sehnlicher zu wünschen. »Bist du unter die Masochisten gegangen?« grinste ich bitter. »Ach was! Im Grunde bin ich eher sadistisch veranlagt. Erinnerst du dich denn nicht…? Na ja, später. Ich … ich schäme mich nur, daß ich so schwach und dumm bin! Wie ein junges Huhn! Ich jam mere hier herum, anstatt…« »Dann jammere nicht«, riet ich ihr etwas ungeduldig. »Also, wie war das noch mal?« Sie schloß die Augen, und als ich sie wiedersah, strömte aus ih nen eine unheimliche Selbstbeherrschung. »Als ich aufwachte, war jemand im Zimmer.« 258
»Wie hast du es bemerkt?« »Jetzt, wo du fragst… Ich glaube, er zog einen Reißverschluß auf … oder zu. Danach klang es zumindest. Was suchst du?« Letzteres fragte sie, als ich schon längst neben meiner kleinen Ta sche kniete. Meine Ahnung bewahrheitete sich leider. Die kleinen Tonfiguren, die ich in der Maschine und im Wald gefunden hatte, waren, ab gesehen von einer einzigen, allesamt verschwunden.
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ehlt etwas?« fragte Mal nervös. »Die kleinen Figuren…« »Die, die du bei den Toten…?« »Also, wie war das mit dem Einbrecher?« »Als du gegangen warst, bin ich gleich eingeschlafen. Eigentlich wollte ich warten, aber ich war vollkommen erschöpft. Ich konn te die Augen einfach nicht offen halten.« Obwohl unsere Situation mehr als beunruhigend war, blieb sie sich selbst treu und warf mir einen schelmischen Blick zu. »Ich war einfach kaputt von … du weißt schon. Dann weckte mich ein Geräusch, das wie ein Reißverschluß klang. Ich weiß gar nicht, woher ich die Kraft nahm, meine Lider zu öffnen. Auf jeden Fall schrie ich los, da stand nämlich so ein Typ im Zimmer … du weißt schon, wie im Flugzeug…« »Äh…?« »Ein Panda! Ein Pandamensch!« Ich spürte den Schlag eines Vorschlaghammers gegen die Brust; dementsprechend fiel es mir schwer, zu atmen. »Ein Panda? Aber wie zum Teufel…?« 259
»Ich glaube, er kam durch die Tür. Sie stand offen, ich sah auf dem Boden einen schwachen Lichtschimmer von der Flurbeleuchtung draußen…« »Und was hast du gemacht?« »Geschrien, natürlich! Und ich wollte ihm ins Gesicht treten. Ja, ich trat natürlich zu, denn er war ganz dicht am Bett.« »Und dann?« »Na ja … ich habe ihn, glaube ich, nicht getroffen… Warte mal, wie war das noch mal…? Wenn du jetzt nicht gekommen wärst, hät te ich es bis morgen früh garantiert vergessen. Oder das Ganze für einen Traum gehalten. Ihn … und … und auch den anderen, der … der…« »Warte mal!« Ich hob die Hand, denn vorerst klang das alles et was verwirrend. »Also suchte der Kerl in meiner Tasche herum, und als er merkte, daß du aufgewacht warst, ließ er die Tasche liegen und…« »Jetzt erinnere ich mich! Er sprang zur Tür!« »Er rannte davon?« »Nein, noch nicht. Ich glaube, er machte sie nur zu.« »Aha. Und du?« »Ich schrie wohl die ganze Zeit über … ich weiß nicht, was.« »Deine Waffe?« »Hier unter meiner… Mein Gott, natürlich! Ich hatte sie in der Hand, als er mich ansprang. Dann … an den Rest kann ich mich nicht mehr erinnern.« »Wie groß war er?« fragte ich. »Ich meine, ein Europäer, oder eher ein Chinese?« Sie schüttelte den Kopf und seufzte verzweifelt auf. »Woher soll ich das wissen? Erstens habe ich mir wegen dieser blö den Maske beinahe in die Hose gemacht. Ich erinnerte mich ja so fort an die Maschine … an die vielen Toten. Ich dachte, der Panda wäre gekommen, um auch mich … umzubringen. Aber das war im mer noch nicht so schlimm, wie … wie…« »Weiter, Mal!« 260
»Na ja, auf jeden Fall betäubte der Panda mich. Jetzt erinnere ich mich, er preßte mir dieses furchtbare Tuch vor die Nase. Ich hät te wohl abdrücken sollen, oder?« »Es war absolut richtig, es nicht zu tun! Ich hatte den Fehler ge macht und dich alleine gelassen!« »Als ich zu mir kam, dachte ich, ich würde sterben.« »Der Panda?« »Der war schon wieder weg. Ich hatte furchtbaren Durst, und die ses verdammte Tuch lag auch noch auf meinem Gesicht. Ein Glück, daß ich überhaupt Luft bekam!« Ich nickte zustimmend. »Mir war, als würde ich verdursten. Und mein Kopf dröhnte. Mei ne Zunge klebte am Gaumen, ich war wohl noch nicht richtig bei sammen. Ich schleppte mich zum Wasserhahn, aber da kam kaum etwas raus. Außerdem war es schrecklich warm. Dann… Irgendwie konnte ich mich zur Toilette raus…« »Stop!« unterbrach ich sie. »War die Tür verschlossen?« Sie schüttelte unglücklich den Kopf. »Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Es ist alles so … mo saikmäßig … ich sehe nur noch kurze Ausschnitte vor mir … De tails … ich weiß, daß ich draußen im Gang stand und jemanden ge sehen habe.« »Wen?« »Eine chinesische Frau.« »Auf dem Flur?!« Sie schloß einen Moment lang die Augen, als ob ihr das bei der Konzentration helfen würde. »Tut mir leid. Alles drehte sich um mich, ich… Wie auf einem Ka russell. Ein Gesicht tauchte vor mir auf … das Gesicht dieser Frau. Da war sie noch auf dem Flur, ja.« »Hat sie etwas gesagt?« »Ich weiß nicht. Ich kann mich einfach nicht erinnern! Alles war so verschwommen… Ich lehnte mich an die Wand, und … ja! Sie sagte etwas … rief nach mir oder so… Ich glaube, sie war auf der 261
Flucht… Ich … weiß es einfach nicht!« »Den Panda hast du nicht mehr getroffen?« »Nein.« »War sonst noch jemand auf dem Gang?« »Keine Ahnung«, sagte sie verstört und preßte den Kopf zwischen ihre Hände. »Ich … ich kann mich … nicht … erinnern… Es ist, als ob ich zu viel getrunken hätte. Vielleicht war da noch jemand, aber…« »In Ordnung, Kleines«, sagte ich und nahm ihre Hand. Sie war kalt und feucht. »Dann … bin ich zur Toilette gegangen … und kam erst bei dem Wasserhahn wieder zu mir. Ich trank etwas und wusch mir das Ge sicht. Dann plötzlich … sah ich diese Frau und schrie … einfach los. Ich … ich weiß nicht mehr, wie ich in das Zimmer zurückgekom men bin. Ich … weiß es nicht.« Ich spürte, wie sie anfing zu zittern, als ob es plötzlich kühler ge worden wäre. »Was hat die Chinesin denn auf der Toilette gesucht?« »Sie … sie drehte sich.« »Was?!« Ich sprang auf, und fühlte nun meinerseits etwas Kaltes meinen Rücken runterkriechen. Mal stand ebenfalls auf und klammerte sich an mir fest. Ich sah, wie ihr der Schweiß von der Stirn tropfte. »Diese Frau wurde ermordet, Leslie«, sagte sie und drückte mei nen Arm immer fester. »Sie wurde getötet, und aufgehängt. Und ich fürchte, daß ich ebenfalls dort war, und … und ich habe den Mör der gesehen! Aber ich kann mich nicht erinnern, wer es war! Ich … es ist, als ob mir jemand meine Erinnerungen genommen hätte. Dabei wurde sie gerade ermordet, als ich … als ich dort…« Ich riß mich aus ihrem Griff und hetzte auf den Flur. Es war mir im Moment vollkommen egal, ob sie mir folgte oder nicht. Ich muß te so schnell wie möglich in die Damentoilette. Auch vor der Tür dachte ich nicht lange über die Möglichkeiten nach und plazierte einen scharfen Tritt unter die Klinke. 262
Als ich hineinstolperte, wußte ich sofort, daß Mal die Wahrheit gesagt hatte; es war keine Vision gewesen, die ihr in Form von Alp träumen die Erinnerungen zerstückelte, sondern die blutige Wirk lichkeit. Eine Frau in Kimono und Seidenpantoffeln hing an einem roten Stoffseil. Den Kopf zur Seite gelegt, blickte sie mit traurigen Au gen auf die Waschbecken an der gegenüberliegenden Wand. Ich sah sie eine Weile lang stumm an und lehnte mich dann mit einem tiefen Seufzer an die Fliesenwand. Es war Paj Miang; die junge Ehefrau unseres Gastgebers.
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ch weiß nicht, wieviel Zeit vergangen war, bis sich Mal hinter mir rührte. Vielleicht Sekunden, vielleicht auch ganze Minuten. Eine Weile lang versuchte ich noch nicht einmal nachzudenken. Ich hat te ein Gefühl, als ob man mir die Schlinge um den Hals gelegt hät te. Und als ob jeder, der gerade Lust dazu verspürte, sie zuziehen konnte. Ich kam wieder zu mir, als Mal mich umarmte. »Mein Gott, Leslie … das ist ja sie!« »Du wußtest es nicht?« Sie schüttelte schnell und bestimmt den Kopf. »Ach was! Ich habe mich nur erinnert, daß es eine junge, chine sische Frau war. Ich habe keine Ahnung, warum ich an eine Chi nesin gedacht habe … es hätte ja genausogut eine Laotin sein kön nen…« »Wahrscheinlich hattest du sie im Unterbewußtsein erkannt.« »Das ist so … furchtbar, Leslie! Warum … warum?« »Aus dem selben Grund wie auch die anderen«, sagte ich. »Wahr 263
scheinlich aus dem selben Grund…« »Und ich war hier und habe nichts unternommen… Vielleicht, wenn … wenn ich nicht so benommen gewesen wäre…« Dann hätte man dich womöglich gleich mit aufgeknüpft, dach te ich im stillen, sagte aber nichts. Statt dessen ging ich wieder auf den Flur hinaus, dann durch den Gang zum Hof. Der Mond schien immer noch hell vom nächtlichen Himmel, obwohl er schon ziem lich weit unten stand, fast am Horizont. Ich blieb in der Mitte des Hofes stehen, nahm die Maschinen pistole und feuerte eine kurze Salve in die Luft. Dann setzte ich mich auf die Treppe und wartete auf die Reaktion. Infolge der Schüsse verstummten sogar die Äffchen in den Baum kronen. Schon ein paar Sekunden später aber ging ein fürchterli ches Gekreische los, und bösartig funkelnde rote Augen starrten zu hauf in meine Richtung. Wütend schüttelten sie die Äste, gleich zeitig wurden Lampen und Kerzen in den Nebengebäuden ange zündet, und nervöser Verkehr setzte auf den Verbindungskorrido ren ein. Ein paar Minuten später raschelte es in einem Busch neben mir, und ein Elefant trottete auf den Hof. Er schnüffelte, anscheinend irritierte ihn der Pulverrauch. Er stampfte hin und her und zog sich schließlich mit lustigen Ohrenbewegungen rückwärts eiernd in das Gebüsch zurück. Kurz darauf erschien ein kleiner, in einen Seidenkimono gehüll ter Chinese in der Tür zum Hof. Erschrocken fuhr er auf, als ich vor ihm auftauchte, und traute sich erst gar nicht näher, bevor ich ihm nicht freundlich zugewunken hatte. Ich sah ihm an, daß er am liebsten Reißaus genommen hätte. »Keine Angst«, sagte ich auf englisch und ließ die MP sinken. »Sprichst du diese Sprache?« »Ja, Herr.« »Ich war es, der in die Luft geschossen hat.« »Ja, Herr.« »Es ist etwas sehr Schlimmes in unserem Haus passiert. Ich habe 264
geschossen, um euch zu wecken. Verstehst du mich?« »Ja, Herr.« »Kannst du mir das Zimmer von Dr. Camus zeigen?« Er zögerte, also nahm ich die MP von der Schulter und steckte sie ihm entgegen. »Hier, ich habe nichts Böses vor. Ich will Dr. Camus wirklich nichts tun. Aber ich muß mit ihm reden. Es ist etwas Schlimmes passiert … ein Unfall…« Er schaute sich meine Waffe an und gab sie schließlich zufrie dengestellt zurück. »Ich verstehe, Herr! Kommen Sie!« Wir gingen durch den Glasflur in ein zweites, dann in ein drit tes Gebäude. Die Gänge wurden von schwachen Neonlampen er leuchtet; nach einigen Kurven und Ecken kamen wir in eine riesi ge, mit Vitrinen und Diwanen vollbepackte Eingangshalle. Mein Be gleiter deutete auf eine der vielen Türen. »Diese dort gehört zu den Räumlichkeiten von Dr. Camus, Herr! Aber er mag es nicht, nachts gestört zu werden…« Ich trat vor die Tür und klopfte energisch an. Überhaupt nicht zurückhaltend. Vielleicht beim dritten Mal gab es endlich eine Re gung drinnen, und krächzend-brummend schlurfte jemand zum Ein gang. »Wer zum Teufel ist dort?« fragte er auf französisch, und zwar ziem lich unfreundlich. »Lawrence«, antwortete ich. »Dr. Camus, könnten Sie bitte einen Moment herauskommen?!« »Lawrence?!« Ich sah ihn förmlich vor mir, wie er mit überraschtem Gesicht meinen Namen wiederholt. »Natürlich … äh … gibt es ir gendein Problem?« »Ich fürchte, ja.« »Einen Moment, ich bin sofort da.« Er krächzte noch ein wenig und öffnete dann einen Spalt breit. Der Diener hinter mir wartete sprungbereit auf irgendein Zeichen. Dr. Camus blinzelte und setzte seinen Zwicker auf. Es dauerte eine 265
gute halbe Minute, bis er sich an die Lichtbedingungen gewöhnt hatte. Als er mich dann in meinen zerfetzten Sachen, dreckig und mit einer Maschinenpistole bewaffnet, erkannte, machte er wieder einen Schritt zurück und wollte die Tür schließen. Schnell war ich bei ihm und klammerte mich am Flügel fest. Er versuchte noch eine Weile, mich abzuschütteln, gab dann aber auf. Ich spürte, wie sich hinter meinem Rücken etwas tat, also schaute ich schnell nach hin ten. Es war eine Frage von Zehntelsekunden, daß mich der kleine Chinese mit seinem Messer aufgespießt hätte. Ich trat ihm gegen die Hand, und er krümmte sich mit einem Auf schrei zusammen. Das Messer fiel irgendwo zwischen den Vitrinen zu Boden. Dr. Camus zappelte ebenfalls noch ein wenig herum und blick te mich dann entnervt an. »Was wollen Sie denn, Mann?« Ich ließ ihn los, paßte aber auf, daß er nicht fortlaufen konnte. »Jetzt hören Sie mal!« sagte ich. »Wir brauchen Ihre Hilfe! Sie sind doch Arzt, oder?« »Natürlich, aber…« »Es gab einen … Unfall…« Der Chinese kam auf allen vieren näher und versuchte, mir die Beine wegzuziehen. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm gegen die Stirn zu treten. »Könnten Sie ihm nicht sagen, daß er mich in Ruhe lassen soll?! Verdammt, ich will hier doch niemandem etwas antun!« Dr. Camus merkte dies wohl auch gerade. Er bellte dem immer noch auf dem Boden liegenden Diener etwas zu und ließ sich gleich darauf auf das nächstbeste Kanapee fallen. »Können Sie mir nicht hier alles erzählen?« »Dafür haben wir keine Zeit! Jemand ist… Egal, kommen Sie!« Er brummte irgend etwas, blickte zaghaft in Richtung seines Zim mers, stemmte sich hoch und zuckte mit den Schultern. »In Ordnung. Wo wollen wir hin?« »In unser Nebenhaus. In die Damentoilette.« 266
Er hielt inne und zog mißtrauisch die Augenbrauen zusammen. »Was haben Sie gesagt?!« »Sagen Sie diesem kleinen Kerl da, er soll uns dorthin zurück bringen.« »Unnötig«, brummte er mürrisch. »Ich weiß selber, wo das ist.« Als wir ankamen, konnte ich Mal nirgends entdecken. Dr. Camus blieb nervös stehen, als er auf dem Boden die Tür klinke und Holzsplitter entdeckte. »Eine Explosion?« »Nein, mein Schuh. Ich dachte … aber sehen Sie es sich doch selbst an!« Ich hatte ihn mit Absicht nicht vorbereitet. Und beobachtete da her angestrengt seinen Gesichtsausdruck. Er schaute hinein, entdeckte die Leiche, schrie auf und torkelte zurück. Seine Knie zitterten, und ich befürchtete bereits, er würde zusammenklappen. Beim Anblick seines kleinen Affengesichtes hätte man mehrere Fall studien schreiben können, deren Endergebnis aber sicherlich im mer wieder Furcht, Entsetzen, Unglaube und Verblüffung gewesen wären. Es war schon irgendwie seltsam, wie er vor der Toten stand. Er blickte zu ihr hinauf, wie man sonst nur Göttinnen anbetet. Mit Angst und Liebe. Er drehte sich nicht zu mir um, als er anfing zu fragen. »Wie ist es passiert?« »Ich weiß genauso viel wie Sie. Miss Malgorzata hat sie gefunden.« »Mein Gott…! Weiß es Vang Pin schon?« »Keiner hat bis jetzt davon erfahren, außer uns dreien.« »Man muß es ihm sagen!« »Würden Sie das übernehmen?« »Mein Gott … ja, natürlich. Das ist furchtbar! Er wird es nicht überleben!« »Könnten Sie sie sich näher anschauen? Deswegen bin ich zu Ih nen gekommen … ich weiß nicht, vielleicht kann man noch etwas 267
für sie tun… Vielleicht…« Es klang hoffentlich glaubwürdig. In Wahrheit wollte ich mich schlicht und einfach vor Vang Pins Eintreffen noch ein wenig un gestört mit dem Doktor unterhalten. Er fühlte ihren Puls und schüttelte dann den Kopf.
»Nein, mit ihr ist es vorbei… Arme Paj Miang. Ich weiß nicht, wie
er das verkraften wird…« »Sie meinen Mr. Vang Pin?« »Wen denn sonst?« herrschte er mich nach einer kurzen Pause ner vös an. »Schließlich ist er ein alter Mann. In diesem Alter verkraf tet man solche Schicksalsschläge nicht mehr so einfach… Ich habe ihm immer gesagt, er soll alles verkaufen und von hier verschwin den. Aber nein! Und nun … bitte!« »Dr. Camus … könnte ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«
Entsetzt blickte er mich an.
»Sie? Und gerade jetzt? Wie zum Teufel fällt Ihnen denn so was
ein?« »Dr. Camus«, fuhr ich leise fort, »in dieser Nacht ist viel passiert, das eine Erklärung erfordert. Außerdem ist sie nicht die einzige Tote…« Er sprang auf, als hätte ihn eine Kobra gebissen. »Was reden Sie da?!« Obwohl mir nichts ferner lag, als die Geschehnisse der letzten Stun den auszuwälzen, gab es doch ein paar Kleinigkeiten, die ich ihm mitteilen wollte. Nur damit er sah, daß ich nicht scherzte. »Haben Sie bemerkt, wie ich aussehe?!« »Natürlich! Ich wollte bereits Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, obwohl mir schleierhaft ist, was das mit der…« »Jemand wollte auch mich umbringen«, fuhr ich unbeirrt fort. »Sie umbringen?« erschrak er. »Wer?« »Ein unbekannter Meo. Mit einem Buschmesser.« »Was, hier im Haus?« »Ich habe einen kleinen Spaziergang gemacht.« »Das war keine gute Idee. Der Urwald von Laos ist nicht für sol che Ausflüge gedacht…« 268
»Außerdem wurde General Villalobos ermordet.« »Was sagen Sie da?!« »Man hat ihn erhängt. Genau wie Paj Miang.« »Mein Gott«, schnappte er nach Luft. »Wo?« »Draußen. Ein Mörder sitzt uns im Nacken. Er wird uns wohl alle töten, wenn ich nicht herausfinde, weshalb wir in Gefahr sind. Ver stehen Sie? Sie müssen einfach meine Fragen beantworten!« »Oui«, sagte er und versuchte, sich zu fassen. »Fragen Sie!« Ich wollte keine Zeit damit verschwenden, irgendwo nach Sitz gelegenheiten zu suchen, also lehnte ich mich einfach nur an die Wand und versuchte, die Tote zu ignorieren. »Wie lange kannten Sie sie?« »Paj Miang? Seit mindestens fünf Jahren.« »Und wo haben Sie sie kennengelernt?« »In Hongkong.« »Und wie?« »Ihr Vater war mein Geschäftspartner. Besser gesagt, wir hatten ei nige gemeinsame Unternehmungen. Einmal lud er mich zu sich nach Hause ein. Paj Miang servierte den Tee…« »War Vang Pin da bei Ihnen?« »Nein, ich war alleine dort.« »Und wie haben sich die beiden dann kennengelernt?« »Ist das so wichtig?« fragte er genervt. »Also?« »Ich habe ihm von dem Mädchen erzählt.« »Soll das heißen, Sie haben die zwei zusammengebracht?« »Oui, so könnte man das sehen.« »Hatten Sie das Gefühl, Vang Pin könnte … wie soll ich sagen, eine Frau brauchen?« »Genau so. Ich hatte dieses Gefühl, ja.« »Und warum gerade Paj Miang?« »Warum, warum…? Wieso fällt jemand Entscheidungen? Weil sie nun einmal so fallen … ich kannte ihre Familie, ihre Situation…« Er zögerte ein wenig, was mir reichte, um zuzuschlagen. 269
»Wie war ihre Situation? Ihre … finanzielle?« »Verdammt! Wozu soll das alles gut sein?« »Sie haben nicht geantwortet«, blieb ich hartnäckig. »Na ja … schlecht.« »Wie schlecht?« »Katastrophal. Ihr Vater, mein sehr verehrter Freund … machte bank rott. Er blieb ohne einen Cent. Wenn Sie es wissen wollen, auch Paj Miangs Mitgift war weg.« Ich verstand ihn, obwohl mir im Moment noch nicht klar war, wozu mir diese Informationen nutzen würde. Aus seinen Worten wurde mir bald klar, daß Paj Miangs Vater Pleite gemacht hatte und deswegen seinen Freund Dr. Camus bat, für seine hübsche und wohl erzogene Tochter einen reichen Mann zu finden, der gleichzeitig auch der Familie aus der Patsche helfen würde. Ob sie sofort an Vang Pin gedacht hatten, wer weiß… Aber der Doktor brachte die beiden schließlich zusammen. Es hätte mich interessiert, ob er dafür ir gendwelche Zuwendungen erhalten hatte, aber das war wohl etwas, was er mir sowieso nicht auf die Nase binden würde. »Was geschah dann?« »Paj Miang und Vang Pin heirateten und lebten hier glücklich zu sammen.« »Ach wirklich?« »Darauf können Sie Gift nehmen. Moral hat hier eine andere Be deutung als in Europa.« »Hatten die beiden Feinde?« »Nicht, daß ich wüßte.« »Haben Sie eine Vorstellung davon, wer sie umgebracht haben könn te?« Er blickte mich mit einem kalten, undurchdringlichen Blick an. »Sie haben das Verderben ins Land gebracht! Zum Teufel mit Ih nen, warum mußten Sie bloß hierherkommen? Warum?!« »Die Frage beschäftigt mich auch schon eine ganze Weile. Kann es sein, daß das alles wegen der vergrabenen Tonarmee mit uns pas siert?« 270
»Sie sind ja vollkommen verrückt!« sagte er. »Sie glauben doch wohl nicht an diesen Unsinn?« Ich nahm die kleine Figur aus der Tasche, die ich neben dem to ten Meo gefunden hatte, und hielt sie ihm vor die Nase. »Was sagen Sie dazu?« Er schaute sie sich an, strich mit dem Finger über die Kanten und schüttelte dann den Kopf. »Was soll ich denn dazu sagen? Was ist damit?« Ich erzählte ihm etwas verkürzt die Geschichte mit dem Moor und dem Eingeborenen. Interessiert hörte er mir zu und wischte nur ein paarmal seinen Kneifer an dem Ärmel seines Kimonos ab. Als ich fertig war, dachte er ein paar Sekunden stumm nach und schüttelte schließlich den Kopf. »Das ist unverständlich. Dieser verfluchte Huan-Ti… Bereits in Chi na habe ich von den Legenden gehört … irgendwo war da auch ein Buch… Es hieß, daß jeder, der die Tonarmee zu Gesicht bekommt, sterben würde. Huan-Ti hat die Entdecker mit einem Fluch belegt… Ach was, Unsinn! Am Ende falls ich selbst noch auf diesen Mist rein…« »Was könnte diese Figur denn mit Huan-Ti gemeinsam haben?« versuchte ich es noch einmal, aber Camus senkte seinen Kopf und preßte die Hände auf die Ohren. In dieser Stellung verharrte er auch, bis sich langsam eine regelrechte Versammlung von verstörten Be diensteten vor der Damentoilette gebildet hatte.
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I
ch war immer noch da, als Vang Pin und seine Schwägerin ein trafen. Die Leiche lag bereits auf dem Boden – Camus hatte die se Aufgabe mit einigen Bediensteten übernommen. 271
Ho Ling brach weinend über der Toten zusammen, Vang Pin wur de von Dienern gestützt. Jetzt erst sah ich, wie hübsch die junge Frau des Hauses gewesen war. Selbst der gewaltsame Tod hatte ihre Züge nicht entstellen kön nen. Sie sah aus wie eine vor Jahrtausenden gestorbene Kaiserin. Einige Minuten später trat ich leise zu Vang Pin und fragte ihn höflich, ob ich ein paar Worte mit ihm wechseln könnte. Zu mei ner größten Überraschung schien er darüber sogar froh zu sein. »Ich glaube, die Sonne steigt bald auf, und es ist wohl besser, wenn ich jetzt nicht alleine bleibe… Kommen Sie … ich lasse uns etwas Tee machen.« Seine Stimme war voller Schmerz, aber ich glaubte, auch noch etwas anderes heraushören zu können. Etwas, das ich im Moment noch nicht so recht einordnen konnte. Vang Pin und seine Frau hatten einen ganzen Flügel für sich. Das Nebenhaus erinnerte an einen chinesischen Pagodentempel, die Zim mer gingen ineinander über, keines war in sich abgeschottet. Am Ende der Zimmerflut versperrte uns eine rote Flügeltür, mit den sel ben Drachenköpfen und Anklopfern wie draußen am Tor, den Weg. Das Schlafzimmer des Hausherren ähnelte den Ruhegemächern aller reichen Chinesen auf dieser Welt. In einer Ecke stand der Pri vataltar, überall hingen bunte Lampions und standen Erinne rungsstücke aus Papier oder wertvolle Jadeschnitzereien. An den Wän den hatte man teure Wandteppiche angebracht, in den Vitrinen zo gen wertvolle Porzellanreliquien und Figuren den Blick auf sich. Der alte Mann mit den vielen kleinen Kindern auf dem Buckel, ein Sym bol der Fruchtbarkeit, grinste mir frech zu. Vang Pin bot mir einen Sessel an und saß dann selbst so lange in sich versunken und wortlos in seinem Fauteuil, bis wir den Tee vor uns hatten. Bevor er den ersten Schluck nahm, blickte er mir über den Tas senrand hinweg in die Augen. »Sie sind überrascht, nicht?« Ich trank etwas von dem aromatischen Jasmintee und stellte die 272
Tasche auf den kleinen Beistelltisch zurück. »Warum sollte ich?« Er lächelte, ganz leise, auf typisch asiatische Art. »Daß ich nicht so überrascht bin.« Ich starrte vor mich hin und zuckte dann mit den Schultern. Na türlich hatte ich gesehen, was ich gesehen hatte. Er zeigte keines falls die typischen Symptome eines Ehemannes, dessen Frau gera de ermordet worden war. »Wir sind alle verschieden«, sagte ich. »Manche können sich mehr beherrschen, andere weniger…« »Danke, aber das meinte ich nicht. Ich denke, es wird Sie inte ressieren, daß ich … mit so etwas Ähnlichem gerechnet hatte…« Jetzt fiel ich vor Überraschung wirklich fast aus dem Sessel. »Sie wußten, daß man Ihre Frau ermorden würde?!« Er lächelte wieder auf seine typisch alte, typisch undurchdring liche Art. »Genau. Ich wußte, daß man sie früher oder später umbringen würde.« »Mein Gott, und Sie…« »Sie wollen sagen, ich habe nichts unternommen?! Im Gegenteil! Genau deswegen sind wir hierhergezogen.« Irgend etwas schien mir langsam klar zu werden. Warum er sich hier, beim Dreispitzberg, verschanzt hatte. »Mr. Vang Pin«, begann ich und blinzelte zu der Tasse hinüber, in der sich nur noch ein kleiner Schluck Tee befand. »Bevor Sie et was erzählen … ähm … bedenken Sie es lieber noch einmal. Ich habe kein Recht…« Er machte eine abweisende, ungeduldige Handbewegung. »Ich muß es einfach jemandem erzählen! Und jetzt kann ich es tun! Ich dachte, ich könnte es abwehren, aber ich muß nun erkennen, daß dies ein Irrtum war. Und … irgendwo tief in meinem Inneren wußte ich es bereits im voraus.« Er stand auf, spazierte zu einer Glasvitrine und blickte lange auf den Porzellankrieger. Dann drehte er sich mit einem um Verzeihung 273
bittenden Blick wieder zu mir. »Mr. Lawrence … möchten Sie vielleicht ein Bad nehmen?« Entgeistert schaute ich ihn an. »Wie bitte? Ich meine … jetzt…?« »Sie sehen fürchterlich aus…« Er breitete die Arme aus. »Und stin ken auch so…« Eine Viertelstunde später saß ich ihm erneut gegenüber, diesmal wirklich sauber und in einen eleganten Seidenkimono gehüllt. Die MP lag zu meinen Füßen, als ob sie gar nicht zu mir gehören wür de. Vang Pin hatte inzwischen neuen Tee zubereiten lassen und ein paar Räucherstäbchen angezündet. Ein angenehmer, betörender Duft erfüllte den Raum. Als ich aus dem Badezimmer trat, überraschten mich die ersten Sonnenstrahlen dieses Tages. Mein Gastgeber lehnte sich zurück und schnupperte vorsichtig in die Luft. Das Ergebnis dürfte ihn zufriedengestellt haben, denn er füllte mir zur Belohnung die Tasse mit Jasmintee. »Wer sind Sie, Mr. Lawrence?« »Ein Biologe. Eigentlich Entomologe.« »Und außerdem?« »Ich war auf dem Weg zum Pandakongreß in Nanking. Aber das habe ich doch bereits erzählt…« »Ja. Das haben Sie erwähnt… Eigentlich würde es mich interes sieren, ob es etwas in Ihrer Vergangenheit gibt, das … ähm … das jemandem einen Grund dafür liefern könnte, Sie zu entführen?« Ich dachte eine Weile nach, dabei wußte ich genau, was ich ant worten sollte. Oder was ich besser nicht preisgab, daß mich nämlich ein Jour nalist namens Hardy in die Sache hineingezogen hatte. »Möglich«, gab ich also zu, »obwohl ich es mir nicht vorstellen kann. Denken Sie, die Entführung des Flugzeugs hatte etwas mit meiner Person zu tun?« Er zuckte mit den Schultern und starrte in den sich kringelnden Rauch der Duftstäbchen. 274
»Wer weiß? Aber … wollen Sie nicht fragen, warum mich das al les interessiert?« »Sie wollen wohl erfahren, ob ich etwas mit der Ermordung Ih rer Frau zu tun haben könnte.« »Genau das war mein Ziel. Und? Haben Sie?« Ich schüttelte energisch den Kopf. »Nein, meines Wissens nicht. Ich hatte noch nicht einmal von ihr gehört, bevor Sie sie uns vorgestellt haben. Darauf gebe ich Ih nen mein Wort!« »In Ordnung. Dann hören Sie sich jetzt meine Geschichte an, viel leicht können Sie sich einen Reim darauf machen. Nun, es fing da mit an, daß ich vor acht Jahren plötzlich Witwer wurde. Ich brau che wohl nicht zu erwähnen, daß ich recht wohlhabend bin … so gar ziemlich wohlhabend. Aber wir hatten niemals Kinder.« »Wo haben Sie damals gelebt, Mr. Vang Pin?« »Wo auch immer mein Geld war. Überall in der Welt. Man muß an so vielen Orten wie möglich seine Finger im Spiel haben. Das ist das Geheimnis des Erfolges, denn so ist die Wahrscheinlichkeit geringer, alles auf einmal zu verlieren.« »Eine alte Weisheit«, nickte ich anerkennend. »Aber, um auf Ihre Frage genauer zu antworten, hauptsächlich in Asien. In Hongkong oder Singapur.« »Und womit haben Sie Ihr Vermögen gemacht, Mr. Vang Pin?« Rote Wellen wanderten über sein Gesicht, und er zog die Augen zu engen Schlitzen zusammen. Es dauerte ein paar Sekunden, dann kehrte der gleichmütige Gesichtsausdruck zurück. »Eine sehr direkte Frage, wie man bei Ihnen sagen würde. Nun, zum Teil geerbt, zum Teil selbst erwirtschaftet.« »Haben Sie sich jemals mit Kunstgegenständen beschäftigt?« Dies war meine zweite, wenn möglich noch direktere Frage. Er fuhr sich über das Gesicht und zuckte schließlich mit den Ach seln. »Natürlich. Sie werden kaum einen reichen Chinesen finden, der nicht auf die eine oder andere Weise Geld mit Kunst gemacht hät 275
te. Vergessen Sie nicht, vor dem Ende des Kaisertums gab es keine Gesetze zum Schutze der Nationalschätze. Wenn irgendwo etwas ausgegraben wurde, versuchte es jeder zu verkaufen, so gut es irgend ging. Clevere Geschäftsleute erwarben Kunstgegenstände von Bau ern und verkauften sie dann mit märchenhaftem Profit weiter.« »Legal?« »Lieber Mr. Lawrence, der Begriff war damals in dieser Region noch unbekannt. Zwischen 1911 und 1947 hatte kein Politiker die Zeit, sich mit Antiquitäten zu beschäftigen. Obwohl … ich glaube nicht, daß das irgend etwas mit dem Tod meiner Frau zu tun haben könn te… Wo war ich stehengeblieben?« »Daß Sie vor acht Jahren Witwer geworden sind.« »Richtig. Genau so war es. Ich verlor meine Frau, Cheng Niang. Möge sie im Boden der Ahnen in Frieden ruhen!« Er nahm ein Räucherstäbchen und winkte damit in Richtung des Hausaltars. Die Luft um mich herum füllte sich mit Sandelholz geruch, der in meinem Hals kratzte. »Drei Jahre lang war ich alleine, und es hat mir nicht gefallen, Mr. Lawrence. Ich war gewohnt, daß jemand bei mir war … mir Ratschläge gab…« »In finanziellen Angelegenheiten auch?« »Ja, Cheng Niang kannte sich auch darin ziemlich gut aus. Und es gab noch etwas… Lachen Sie mich jetzt dafür nicht aus, aber … wir hatten keine Kinder. Ich habe auch keine Verwandten mehr…« Entgeistert blickte ich ihn an. Er war eher achtzig als siebzig und hoffte trotzdem, in seiner zweiten Ehe etwas mehr Glück bezüglich des Kindersegens zu haben… »Ich beschloß«, fuhr er fort, »noch einmal zu heiraten. Dr. Ca mus brachte mich mit Paj Miang zusammen.« »Seit wann kennen Sie Dr. Camus?« »Wir waren Partner bei einem Geschäft, dann wurden wir Freun de. Er ist mein Hausarzt, in gewisser Weise immer noch mein Part ner und, wie soll ich sagen … mein Gesellschafter in einer Person. Und, ja, ich glaube, uns verbindet auch eine Form von Freundschaft.« 276
»Wie vermögend ist Mr. Camus?« »Das sollten Sie wohl besser ihn selbst fragen. Auf jeden Fall ist er nicht von mir abhängig, wenn Sie das meinen. Er hätte genug Geld, um sich woanders zur Ruhe zu setzen, wenn er sich hier lang weilen würde.« »Ich möchte nicht übermäßig neugierig wirken. Dennoch… Wie groß dürfte sein Vermögen wohl sein?« Vang Pin starrte nachdenklich in die Luft und kratzte sich unter dem Kinn. »Ich weiß es nicht, Mr. Lawrence. Ich schätze, es ist eine sieben stellige Summe.« »In Dollar?« »Wohl auch in Pfund.« »Ich verstehe. Also hat Ihnen Dr. Camus jemanden vorgeschla gen. Ihre nächste Frau, Paj Miang…« »Richtig. Er fing an, mir ihre Schönheit, jugendliche Frische und ihre Anmut anzupreisen. Bereits nach den ersten Worten ahnte ich, daß … ähm … jemand das Netz nach mir ausgeworfen hatte.« »Sie meinen, Dr. Camus … hatte sich bereit erklärt, Sie…« »Ich weiß, was Sie meinen, und mir ist es auch eingefallen. Ich nahm zwar nicht an, daß mein Freund so etwas tun könnte, aber dennoch stellte ich in Hongkong zwei Privatdetektive ein, die sich ein wenig umsehen sollten. Dr. Camus weiß bis heute nichts davon. Nun, es stellte sich heraus, daß die verehrten Eltern Paj Miangs mich schon seit langem im Visier hatten. Sie hatten nämlich ihr ganzes Vermögen verspielt. Nichts war übrig geblieben. Sie kamen irgendwie mit dem Doktor in Kontakt, und mein armer, naiver Freund ging ihnen auf den Leim. Sie stellten ihm Paj Miang vor, erzählten wohl, wie schwer es wäre, für ein wohlerzogenes, hübsches junges Mäd chen heutzutage einen verläßlichen, wohlhabenden Ehemann zu fin den; und Dr. Camus dachte natürlich sofort an mich, ohne auch nur zu ahnen, daß er von Anfang an manipuliert wurde.« »Entschuldigen Sie, ist Dr. Camus verheiratet?« »Ledig.« 277
»Warum hat er dann nicht an sich selbst gedacht? Wieso wollte er Ihnen eine Frau besorgen? Ich will Ihre Gefühle nicht verletzen, aber… Ihre verstorbene Frau war wunderschön … und er…« Er schluckte und wurde etwas rot. »Dr. Camus interessiert sich nicht für Frauen.« »Sie meinen, er steht eher auf … Männer?« Ein leichtes Lächeln tauchte nun ganz kurz auf. »Er ist nicht homosexuell veranlagt, wenn Sie das meinten. Er lebt einfach nur … für sich allein. Er könnte es sich bestimmt nicht vor stellen, daß jemand einen Einfluß auf sein Leben nimmt … eine Ehe frau zum Beispiel.« »Ich verstehe. Sie hatten also herausgefunden, daß die geldarme Familie ihre Tochter mit Ihnen verheiraten wollte. Oder?« »Genau. Da wußte ich bereits alles über sie.« »Daß sie keinen Cent besaßen?« Er lächelte verschmitzt. »Oh, das war noch das wenigste…« »Wie, das wenigste?« »Meine Detektive hatten auch noch etwas anderes herausbe kommen. Etwas, was der gute Dr. Camus nicht einmal ahnen dürf te…« Ich spürte, wie sich wieder einmal eine kalte Hand unter den Ki mono schob und meinen Rücken rauf- und runterfuhr. Ich schau derte, obwohl die Sonne immer höher kletterte. Vang Pin schütte te etwas Tee nach, und als ein Diener hervorsprang, um die leere Kanne zu entfernen, schickte er ihn davon. »Meine Leute hatten gute Arbeit geleistet. Eine bessere als Dr. Ca mus… Obwohl, wer weiß, in den Augen meiner Schwiegereltern war er ja auch erfolgreich. Nun, es stellte sich heraus, daß Paj Miang, das hübsche, wohlerzogene Mädchen einer gutsituierten Familie, seit Jahren die Geliebte eines Gangsterbosses namens Roter Drachen war.« »Und Sie?« versuchte ich sachlich zu bleiben, obwohl ich sicher war, daß man mir meine Aufregung ansehen konnte. »Ich dachte etwas nach. Dann schaute ich mir Paj Miang persönlich 278
an.« »Sie hatten sie noch nicht gesehen?« »Nur auf Fotos. Ich weiß, daß sich dies von einem alten Mann töricht anhören mag, Mr. Lawrence, aber … ich hatte mich in sie verliebt.« Ich nahm mir vor, nicht zu lächeln, und untersuchte daher intensiv meine Fingernägel, unter denen trotz des Bades immer noch Dreck aus dem Sumpf steckte. »Sie meinen, Sie haben so getan, als wüßten Sie von nichts?« »Genau.« »Und Dr. Camus?« »Er war glücklich, gleich zwei gute Taten vollbracht zu haben. Sei nem Geschäftspartner und dem guten Freund gleichermaßen geholfen zu haben.« »Wissen Sie, wodurch Paj Miangs Vater pleite gemacht hatte?« Er nickte anerkennend. »Bravo, Mr. Lawrence! Sie verstehen Ihre Sache wirklich gut! Nun, es war zweifelsfrei das Werk des Roten Drachen.« »Warum sollte er das getan haben?« »Aus Rache natürlich. Paj Miang hatte mit ihm Schluß gemacht.« »Wollte sie die Heirat mit Ihnen genauso wie ihre Eltern?« »Unsere Heirat? Sie hatte wohl keine Wahl. Entweder die Armut oder ich.« »Und Sie haben sie geliebt…?« »Natürlich. Das sagte ich doch bereits.« »Entschuldigen Sie … aber … wie stand es mit ihr?« Er lachte trocken, heiser auf. »Ob sie mich geliebt hat? Nein, mit Sicherheit nicht. Vielleicht geachtet wie einen Vater. Ich konnte auch gar nicht erwarten, daß eine junge Schönheit wie sie sich in einen alten Mann wie mich ver lieben würde. Nein, mein junger Freund, wie schon seit Jahrhun derten in China, so habe ich dieses Mädchen schlicht und einfach mit meinem Vermögen gekauft. Vielleicht mindert es Ihr Urteil über mich, zu erfahren, daß sie dabei alle nur erdenklichen Freiheiten 279
genoß. Sechs Monate eines jeden Jahres konnte sie verbringen, wo auch immer sie nur wollte.« »Zusammen mit ihrer Schwester?« »Ja. Mit Ho Ling. Sie war die Mitgift von Paj Miang. Meine Schwä gerin…« »Das hört sich an, als wäre die Beziehung zwischen Ihnen und Ihrer Schwägerin nicht so gut…« »Wie soll ich sagen, Mr. Lawrence… Es stimmt schon, Ho Ling und ich, wir können nicht viel miteinander anfangen. Paj Miang war früher ein anständiges Mädchen. Es war ihre ältere Schwester, die sie in schlechte Kreisen eingeführt hatte. Und diese Beziehung ist seither nicht abgerissen…« »Sie meinen, in diesen sechs Monaten, die Ihre Frau immer fort war…« »Sprechen wir lieber nicht darüber, Mr. Lawrence! Es ist nun so wieso vorbei.« »Ich glaube, zu Anfang des Gesprächs sagten Sie, daß Sie den Tod Ihrer Frau vorausahnten. Daß Sie wußten, er würde sie früher oder später einholen…« »Ja. Mir war klar, daß man sie ermorden würde.« »Aber wer?« »Der Rote Drachen natürlich.« »Und weshalb?« »Was heißt hier, weshalb? Aus Rache natürlich, daß sie ihn ver lassen hat. Lange Zeit habe ich mich auf diesen Moment vorbereitet… Dennoch…« Seine Stimme versagte, und ich spürte, daß ich mich besser zu rückziehen sollte. Trotzdem wollte ich die Gelegenheit ausnutzen, ungestört – vielleicht zum letzten Mal – mit ihm reden zu können. »Nur noch ein, zwei kurze Fragen, bitte. Warum haben Sie sich so von der Welt zurückgezogen? War es wegen Paj Miang?« »Ausschließlich wegen ihr.« »Woher wußten Sie denn überhaupt von diesem Landsitz hier, in Laos, in der Nähe der chinesischen Grenze?« 280
»Warten Sie mal…«, meinte er nachdenklich. »Ich glaube, die Idee hatte Ho Ling, meine Schwägerin. Sie und meine Frau haben den Kauf abgewickelt. Ganz im geheimen, damit der Rote Drachen kei nen Wind von der Sache bekam. Natürlich wußte ich in den Tie fen meiner Seele, daß es nichts nützen würde. Es war nur eine Fra ge der Zeit, bis er uns finden würde.« »Wissen Sie, wem Ihr Landsitz vor Ihnen gehört hat?« »Ich habe keine Ahnung. Aber er gehört nicht mir…« »Nein?!« fragte ich überrascht. »Es war mein Geschenk an die Braut … an meine geliebte Paj Mi ang.« Er schob sich in seinem Sessel hin und her. Er blies das Räu cherstäbchen aus und blickte mich mit unverhohlener Ungeduld an. »Gibt es noch etwas, Mr. Lawrence?« »Ich würde gerne noch Ihre Meinung über die Tonarmee hören.« Er legte das Duftstäbchen auf den Tisch und blickte den letzten Rauchfetzen hinterher. »Was wollen Sie wissen?« »Alles! Alles, was Sie darüber wissen!« Er lächelte, diesmal sah es wieder alt und etwas spöttisch aus. »Ich fürchte, da haben Sie sich den Falschen ausgesucht, Mr. Law rence! Fast mein ganzes Leben habe ich außerhalb Chinas verbracht, getrennt von der chinesischen Kultur. Bei anderen würden Sie da wohl mehr Glück haben.« »Mir reicht es, zu erfahren, was Sie wissen…« »Nun, wenn Sie darauf bestehen… Obwohl ich nicht verstehe, wie so gerade ich Sie aufklären soll… Wie Sie sicherlich schon vernommen haben werden, ließ Kaiser Huan-Ti eine Armee aus Tonsoldaten her stellen und versteckte sie unter der Erde. Angeblich liegt er eben falls dort begraben.« »Wissen Sie vielleicht, wo dieses Grab ist?« »Lieber Mr. Lawrence, selbst wenn ich es wüßte, würde es mich nicht interessieren. Ich bin Händler, kein Archäologe.« 281
»Haben Sie auch von der Legende des Dreispitzberges gehört?« »Habe ich.« »Und?« »Ich kann mich nur wiederholen. Und wenn Sie darauf anspie len wollen, daß meine Nachbarn nach den Tonsoldaten graben, so ist das ihr Problem! Ich habe Ihnen ja erzählt, daß dieser Schwar ze Prinz sogar auf mein Gebiet herüberkommt. Mich interessiert es einfach nicht.« »Kennen Sie den Fluch des Huan-Ti?« »Was meinen Sie damit?« »Daß der Kaiser angeblich alle mit einem Fluch belegt hat, die sein Grab zu Gesicht bekommen.« Es stand auf und ging von einer Ecke zur anderen. »Konkret, in der Form, nicht. Ich bin kein Wissenschaftler, aber ich könnte mir vorstellen, daß es solche Flüche überall gibt.« »Nun, Mr. Vang Pin, mehr Fragen habe ich auch gar nicht. Bit te erlauben Sie mir, Ihnen mein Beileid auszusprechen, und … wir werden alles tun, um Ihnen so schnell wie möglich aus den Augen zu verschwinden. Ich glaube, der Zeitpunkt unseres unfreiwilligen Besuches kam gänzlich unpassend… Dann auch noch diese Vorfälle… Ich nehme an, Sie werden die Behörden bald informieren?« Er blieb stehen, dachte einen Moment nach und schüttelte dann den Kopf. »Ich werde niemanden informieren. Was passiert ist, war ein Un fall. Es ist meine Sache, und niemand sonst hat damit zu tun. Ganz zu schweigen davon, daß die Polizei… Ach was! Täglich verschwinden ganze Dörfer an der Grenze. Was zählt da schon ein einzelner Mensch? Als ich Paj Miang zur Frau nahm, war mir alles recht. Ich nahm sie so, wie sie war, mitsamt ihrer Vergangenheit, Gegenwart und möglichen Zukunft. Ich wußte, daß ich sie irgendwann nicht mehr würde schützen können. Mir war klar, daß der Rote Drachen sie töten würde, wenn er sie entdeckte. Nun ist es passiert, der Fall ist abgeschlossen. Sie können gehen und vergessen sicher bald schon sowohl Paj Miang als auch mich…« 282
»Sofern wir gehen«, sagte ich zweideutig. Mißtrauisch blickte er mich an. »Wie bitte?« »Man hat das Flugzeug verschwinden lassen. Es wurde ausei nandergenommen und auf Elefanten abtransportiert. Die Reste lie gen in einem Sumpf, hier in der Nähe.« Langsam sank er in seinen Sessel zurück und blickte mich an, als würde er einen Geist sehen. »Was sagen Sie da?« Entsprechend detailliert berichtete ich ihm von meinen Erlebnissen der vergangenen Nacht. Von dem verschwundenen Flugzeug, den Spuren, die zum Moor führten. Noch nie zuvor in meinem Leben habe ich einen dermaßen verblüfften Chinesen gesehen. »Das ist … einfach unglaublich«, flüsterte er. »Ich kann mir nicht vorstellen, wer…« »Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Das Kloster und der Schwarze Prinz.« »Aber warum hat man die Boeing verschwinden lassen?« »Damit man uns nicht findet. Wenn es keine Maschine gibt, kann uns auch keine Suchmannschaft finden.« »Gleich morgen früh schicke ich einen Mann zum Mekong.« »Es dauert mindestens zwei Wochen, bis er dort ankommt. Wer auch immer das Flugzeug auseinandergenommen hat, er wollte, daß wir uns mindestens zwei Wochen nicht vom Fleck rühren.« »Ich verstehe immer noch nicht, weshalb?!« »Nein?« sagte ich lässig und stand auf. »Dann werde ich es Ihnen erklären. Ich bin nämlich davon überzeugt, daß die Tonarmee kei ne Legende, sondern Wirklichkeit ist. Zusammen mit Huan-Tis Grab befindet sie sich hier, in einem der Täler des Dreispitzberges. Au ßerdem bin ich überzeugt, daß mehrere Leute den genauen Ort ken nen, aber schweigen wie ein Stockfisch. Fragen Sie mich nicht, wa rum, ich habe keine Ahnung. Andere wiederum wollen den archäolo gischen Schatz erbeuten, dessen Wert in Geld gar nicht zu ermes sen ist. Also: Es gibt ein paar, die wissen, wo die Armee ist, aber 283
nicht wollen, daß sie gefunden wird, und dann gibt es ein paar an dere, die etwas damit anfangen könnten, aber den genauen Fund ort nicht kennen. Das mag jetzt vielleicht alles etwas rätselhaft klin gen, aber Sie werden gleich verstehen, worauf ich hinaus will. Nun, diejenigen, die den Schatz heben wollen, haben die anderen mit ir gendeinem Trick hierhergelotst und warten auf die beste Gelegen heit, mit deren ungewollter Hilfe die Tonsoldaten aufzufinden. Wo rauf sie in diesen zwei Wochen warten, entzieht sich im Moment noch meiner Kenntnis. Also, so weit wären wir im Moment.« Vang Pin kratzte sich am Hinterkopf und zog die Augenbrauen zusammen. »Wenn ich Sie richtig verstehe, wollen Sie mir beibringen, daß in meinem Haus einige von Ihnen einen Kampf um die Tonsoldaten austragen? Daß einige wissen, wo das Grab zu finden ist, und an dere wiederum nicht?« »Etwas in der Art, ja.« »Und Sie glauben, daß auch meine Frau…« »Keine Ahnung«, erwiderte ich der Wahrheit entsprechend. »Vielleicht hat auch der Rote Drachen Wind von der Sache be kommen und ist mit in den Ring gestiegen. Oder aber der Tod Ih rer Frau hat mit alldem nichts zu tun…« »Aber das ist doch wirklich zum Verzweifeln!« stöhnte er entrüstet. »Mörder in meinem Haus? Was, wenn sie anfangen, sich gegensei tig umzubringen?« »Das ist schon längst passiert.« »Wie? Was?!« Er sprang auf und breitete die Arme aus. »Was re den Sie da?« »General Villalobos wurde heute nacht ermordet. Er wurde am Torpfosten des Schwarzen Prinzen aufgeknüpft. Das Spiel hat also begonnen… Außerdem wurde er auf dieselbe Art getötet wie Ihre Frau.« »Das … das kann auch ein Zufall sein«, murmelte Vang Pin. »Natürlich«, gab ich zu. »Allerdings sollte es einen schon zum Nach denken bringen, wenn kurz hintereinander zwei Menschen ermordet 284
werden, beinahe am selben Ort und mit derselben Methode…« »Trotzdem könnte es Zufall sein«, brummte er. »Von mir aus«, meinte ich. »Allerdings…« »Allerdings was?« »Beide Seile waren mit demselben Knoten geknüpft. Ein schwer zu bindender Seemannsknoten, der hauptsächlich bei den Piraten der malaiischen Gewässer gebräuchlich ist. Es ist ziemlich un wahrscheinlich, daß zwei, einander möglicherweise sogar unbekannte Mörder gleichzeitig, am selben Ort und auf die selbe Art zuschla gen…« »Mein Gott!« stöhnte Vang Pin und lehnte sich an eine Vitrine mit Elfenbeinschnitzereien. »Mein Gott! Was soll das alles nur be deuten?!« »Wohl die Tatsache, Mr. Vang Pin, daß entweder auch General Villalobos von dem Roten Drachen ermordet wurde, oder aber Ihre Frau ebenfalls nicht.« »Das ist unmöglich! Unvorstellbar! Wer sonst…?« »Das werde ich versuchen herauszufinden. Noch einmal, danke für das Gespräch!« Ich verbeugte mich und verließ das Zimmer. Als ich noch einmal zurückblickte, sah ich einen über die Räu cherstäbchen zusammengesunkenen Vang Pin, der mindestens zehn Jahre gealtert war.
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M
al flog mir um den Hals, als ich die Tür öffnete. »Um Himmels willen, Leslie! Endlich bist du da! Ich hab' mich die ganze Zeit über nicht einmal vor die Tür getraut! Und dieses zerbrochene Fenster! Ich hatte solche Angst, es könnte jemand rein 285
klettern!« Ich warf die MP auf das Bett und setzte mich daneben. »Was ist mit den anderen?« »Manchmal habe ich draußen Schritte gehört, aber angeklopft hat niemand.« Ich blickte vor mich hin und wußte überhaupt nicht, was ich tun sollte. Villalobos war tot, Leichenfresser und Hardy gefangen. Und wenn sich an der Situation vorerst nichts änderte, waren sie bis heu te abend erstmal in Sicherheit. Und wenn sich nun doch etwas an ihr änderte? Ich begrub mein Gesicht in den Händen. Mein Gott, was sollte ich bloß unternehmen? Ich hatte vieles enträtselt, seitdem wir auf der taschentuchgroßen Piste gelandet waren. Ich wußte oder ahn te bereits sehr viel, aber es reichte noch nicht aus. Eines war sicher: Wir waren alle zum Tode verurteilt worden. Wenn meine Theorie stimmte, durften sie keinen Zeugen hinterlassen. Falls eintrat, was ich befürchtete, würden die drei Bergkuppen bald mit Leichen über sät sein. In Gedanken ging ich noch einmal die Liste der übriggebliebe nen Flugpassagiere durch. Mal saß neben mir, auf sie konnte ich mich hundertprozentig verlassen. Genauso, wie auf Leichenfresser und Hardy, aber die beiden… Vielleicht sollte ich sie aus der Ge fangenschaft befreien… Der Gedanke hatte durchaus etwas für sich, aber genauso hoch waren auch die damit verbundenen Risiken. Wenn man mich auch noch erwischte, würde hier keiner mehr lebend herauskommen. Zu viele Meos waren im Dschungel unterwegs, zu viele von ihnen be wachten die Pagode. Nur im äußersten Fall durfte ich mich einer solchen Gefahr aussetzen. Wer blieb noch übrig? Wilhelmina von Rottensteiner mit ihrem Schirm oder Großvater auf seiner Krücke? Ein ziemlich abwegiger Gedanke… Genauso, wie die zwei Teenager… Und Judy? Sie konn te ihren Großvater nicht alleine lassen. Was wäre, wenn ich Vang Pin bitten würde, mir seine Meos für 286
einen Sturm auf die Burg des Schwarzen Prinzen auszuleihen? Aber unser Gastgeber würde sich wohl kaum auf einen Krieg einlassen – er hatte sicherlich kein Interesse daran, sich später wegen so et was vor der Regierung rechtfertigen zu müssen –, der noch dazu ein vollkommen offenes Ende hatte. Der Musiker und der Repor ter konnten bereits tot sein, bevor wir sie erreichten, oder so gut versteckt, daß wir sie nie im Leben finden würden. Ich zermarterte mir das Gehirn, denn dies war nicht die einzige Frage, die mich beschäftigte. Es gab da ein paar Dinge, auf die ich mir einfach keinen Reim machen konnte. Als ob mir in der letz ten Nacht jemand absichtlich vollkommen irreführende Spuren hin terlassen hätte. Schon allein die Nacht in dem Flugzeug! Vier Stimmen unterhielten sich im Aufzug. Eine Frau sagte, ich wäre ihr potentiell gefährlichster Gegner, weil nur ich sie an ihrem Vorhaben hindern könnte. Und als ich wieder auf der Betonpiste stand, hatte bereits jemand mei ne Decke mit diesem seltsamen Geschoß aufgespießt, und wenn ich wirklich den Schlaf der Gerechten geschlafen hätte, würde ich mir nun hier wohl kaum noch den Kopf zerbrechen müssen. Dem entsprechend bereitete ich mich auf weitere Anschläge vor, doch statt dessen rettete mir jemand im Morast das Leben – und zwar derselbe Typ, der mit einer Garrotte herumrannte und pausenlos die Leute dezimierte. Es kam mir vor, als ob wir Blindekuh spielen würden, wobei ich in der Hauptrolle glänzte. Die anderen standen um mich herum, johlten, pfiffen und lachten und kniffen mir von Zeit zu Zeit in den Hintern. »Was sollen wir bloß tun, Leslie?« fragte Mal zitternd und schmieg te sich an mich. »Wäre es nicht besser, von hier zu verschwinden?« Ich schaute auf die Uhr. Bald konnten wir frühstücken. Sofern der Tod der Frau des Hauses die Gemüter nicht so sehr aufgebracht hatte, daß man uns schlicht und einfach vergaß. Ich umarmte sie und zog sie dicht an mich.
»Mal … ich brauche deine Hilfe!«
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Sie schenkte mir einen flüchtigen Kuß. »Du weißt, daß ich alles tue, was du verlangst.« »Ich möchte Wimmer erwischen!« Sie zog den Arm weg und sah mich erschrocken an. »Was?! Wimmer? Meinst du etwa, er…« »Ich hab' nichts dergleichen gesagt, Mal. Ich will einfach nur mit ihm reden.« »Leslie, bitte… Bitte sag mir alles! Ich halte das nicht mehr aus! Diese Unsicherheit! Siehst du denn nicht, daß wir alle der Reihe nach umgebracht werden?! Ich hab' einmal ein Buch gelesen, über ein Schiff, auf dem ein Verrückter sein Unwesen trieb. Als sie im Ha fen ankamen, war nur noch er am Leben. Ich weiß nicht, wie er es angestellt hat, aber er spazierte einfach in der Kapitänsuniform vom Schiff. Erst nach zwei Tagen fiel jemandem die Stille auf, und als die Behörden an Bord gingen, bot sich ihnen ein Bild des Schre ckens. Ich … ich hab' das nur erzählt, weil … ich weiß, jeder Ver gleich mit unserer Situation hinkt ein wenig, aber… Ich könnte schwö ren, daß wir in derselben Lage stecken. Jemand will uns alle um bringen!« Ich zögerte einen Moment, ob ich ihr alles sagen durfte, was in dieser Nacht passiert war. Dann mußte ich mir eingestehen, daß sie ein Recht darauf hatte. Ich streichelte ihr über die Haare und er zählte alles von dem Moment an, als ich um Mitternacht das Zim mer verlassen hatte. Auch die seltsame Stimme, die mir den Ort der Tonarmee verriet, ließ ich nicht aus. Sie hörte mir mit offenem Mund zu. Als ich fertig war, fiel sie wort los in die Kissen zurück. Ich trat zum Wasserhahn und preßte aus ihm einen Schluck voll Wasser heraus. Als ich mich umdrehte, stockte mir der Atem. Mal hielt ihren Revolver in der Hand, sie kontrollierte gerade das Ma gazin. Ihr Gesicht war hart und unbeweglich, wie Granit. So hat te ich sie bisher nur einmal gesehen. »Mal…« Mit kühlem Lächeln blickte sie zu mir herüber. 288
»Ja, Liebster?« »Was ist mit dir geschehen…?« Sie hielt den Colt ins Licht und blickte durch den Lauf. Dann nickte sie, ließ das Magazin einschnappen und steckte die Waffe in ihren Kimono. »Was soll geschehen sein?« Sowohl Blick als auch Stimme waren hart und eiskalt, so kalt, wie ich es mir zuvor nicht hätte träumen lassen. »Ich hab' einfach nur gemerkt, wie dumm ich war… Eine dum me Pute! Mir ist klar geworden, daß ich um mein Leben kämpfen muß… Nun, ich werde kämpfen! Und wehe dem, der sich mir in den Weg stellt!« Ein wenig war ich schon erleichtert, daß ich mir nun nicht mehr so viel Sorgen um sie zu machen brauchte, aber ehrlich gesagt stimm te mich ihre Metamorphose auch ein wenig unzufrieden. Ich moch te eher Frauen, die ein klein wenig weiblicher waren als der Typ, den sie im Moment präsentierte. »In Ordnung, Mal«, sagte ich und klopfte ihr auf die Schulter. »Dan ke. Wir müssen uns jetzt beeilen. Wenn du natürlich vorher erst wis sen willst, was ich mit Wimmer vorhabe…« Sie sprang auf und stellte sich ganz dicht vor mich. »Nein, das will ich nicht. Ich vertraue dir vollkommen, Leslie! Ich werde alles tun, was du verlangst, und zwar ohne nach dem Grund zu fragen. Du wirst es mir schon erklären, wenn wir aus dieser Höl le wieder raus sind.« »Und wir werden herauskommen, darauf kannst du Gift nehmen!« »Gut, Liebster. Alles in Ordnung. Was soll ich tun?« »Bring Wimmer irgendwie in den Wald.« »Wohin?« »Weißt du, wo die Maschine stand?« »Ich glaube, ja.« »Gut. Ich werde irgendwo unterwegs warten. Und sei nicht über rascht, wenn ich mir den Kerl schnappe! Glaubst du, du kannst es schaffen?« Sie blickte mich an, und für einen Moment wurden ihre Züge wie 289
der etwas weicher. »Das überlaß nur mir, Leslie. Haben wir noch etwas Zeit?« »Wieviel denn?« »Das hängt auch von dir ab.« »Wie meinst du das?« Sie ließ ihren Kimono herunterrutschen und warf sich aufs Bett. »So!« Ich stieß einen Seufzer aus, wagte es aber nicht, auf meine Uhr zu schauen. Sie klopfte erst eine gute halbe Stunde später an Wimmers Tür.
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I
ch versuchte, so zu verschwinden, daß mich möglichst niemand dabei entdeckte. Die Bediensteten rannten herum oder beflüsterten in Gruppen unter den Bäumen heftig die Geschehnisse der Nacht. Ich war furchtbar hungrig, aber im Moment konnte ich nichts da gegen tun. Es war äußerst wichtig, Wimmer noch rechtzeitig zu er wischen. Ich wartete bereits eine halbe Stunde in meinem behelfsmäßigen Versteck, als sie endlich auftauchten. Mal erklärte dem Mann mit heftigen Gesten etwas bestimmt furchtbar Wichtiges. Wimmer blieb manchmal stehen und schaute sich mißtrauisch um. Ich sah ihm an, daß er der Pilotin nur sehr ungern folgte. Ich wartete, bis sie auf meiner Höhe waren, trat aus den Büschen und richtete die Maschinenpistole auf den Navysoldaten. »Guten Morgen, Wimmer!« Er blickte mich erschrocken an, griff dann nach seiner Mütze und schleuderte sie theatralisch zu Boden. Sein glattes Kindsgesicht ver zog sich zu der Maske eines Betrogenen. 290
»Verdammt! Du hast mich reingelegt, du Miststück!« Damit trat er in ihre Richtung, traf aber zum Glück niemanden. Ich stellte mich neben ihn und steckte ihm den Lauf zwischen die Rippen. »Regen Sie sich ab, Wimmer! Sie sitzen nun in meiner Falle, und es wäre besser, wenn Sie sich etwas anständiger benehmen würden!« Mal grinste ihm ins Gesicht und umarmte mich. Der Kampftaucher stand kurz davor, zu heulen. »Eine verdammte Hure und ihr Zuhälter!« »Noch so ein Wort, und ich mache ein Sieb aus dir! Ist das klar?! Du hast es hier mit einer Dame zu tun, verstanden?!« Trotz seiner mißlichen Lage verzog er den Mund zu einem schie fen Grinsen. »Ach was? Eine Dame als Terroristin?« Ich hielt es für besser, ihn hart ranzunehmen. Ich brauchte ihn einfach, war auf seine Hilfe angewiesen. Allerdings wußte ich auch, daß Navysoldaten ihre Treue nicht so einfach an jeden verschen ken. »Ich brauche Ihre Hilfe, Wimmer!« »Inwiefern?« »Ich will ein paar Leute erwischen.« »Ach, wirklich?« »Ach, wirklich!« Ich gab Mal einen Wink, etwas zurückzutreten, entfernte mich auch selbst von ihm, hielt die MP aber immer noch auf ihn gerichtet. »Also?« »Was also?« »Werden Sie mir helfen?« Ich sah ihm an, daß er sich den Kopf zerbrach. Und mir war auch klar, worüber. Ich mußte vorsichtig sein, denn wenn er sich in die Büsche schlug, konnte niemand sagen, wann ich ihn wiedersehen würde. Er nickte. Allzu schnell und allzu großzügig. »Ich bin bereit. Natürlich nur, wenn Sie mir genau sagen können, worin diese Hilfe besteht. Ich als Soldat der US Navy könnte mit 291
meinem Schwur in Gewissenskonflikt geraten, wenn…« Es war wirklich bemitleidenswert, wie er mit dem heruntergelei erten Text versuchte, meine Wachsamkeit einzulullen. Dabei kam er beständig näher, breitete langsam die Arme aus und war bald auf zwei Schritte herangekommen. Ich beobachtete jede seiner Regungen genauestens, da ich mir nicht sicher sein konnte, ob er außer sei nem Messer nicht doch noch irgendeine andere Waffe bei sich führ te. Und er redete immer noch. Ich hätte wetten können, daß er gar nicht wußte, was genau er da von sich gab. Er sprach einfach nur monoton weiter, wie ein leckgeschlagener Sack voller überflüssiger Weisheiten. Er warf sich genau in dem Moment auf mich, in dem ich es er wartet hatte. In der Mitte eines längeren Satzes; wahrscheinlich hat te man es ihnen so beigebracht. Ich muß sagen, er machte es wirklich gut. Wie der Blitz tauchte er unter, stützte sich mit einer Hand am Boden ab und versuchte mit der anderen, den Lauf meiner Waffe nach oben zu schlagen, damit die Salve in die Luft ging. Ich konnte nicht wissen, welche weiteren Griffe man ihm einge bleut hatte, aber ich nahm mir vor, ihn ein wenig zu überraschen. Erst einmal ließ ich ihn mit meiner Waffe gewähren. Sollte er sie von mir aus auf den Himmel richten. Ich hatte sowieso nicht vor gehabt, herumzuschießen. Dafür fegte ich aber mit meinem Bein seine andere Hand weg, wodurch er, noch bevor er die MP erreicht hätte, auf die Nase fiel. Es wäre ein Kinderspiel gewesen, ihm mit dem Schaft der Ma schinenpistole eins überzubraten, aber … wozu hätte ich sowas tun sollen? Kampftaucher brauchen auch mal ein Erfolgserlebnis. Er wollte seinen Augen nicht trauen, als er mich stolpern sah. Er stemmte sich hoch – ziemlich langsam übrigens – und warf sich in meine Richtung. Dabei schnappte er sich den Lauf der Waffe und wollte sie mir entreißen. Er erwürgte den Lauf der armen MP bei nahe, und ich hätte nur abzudrücken brauchen, um ihn loszuwer 292
den. Als er immer heftiger wurde, befreite ich mich aus dem Riemen, zog kurz an der MP, und als er daraufhin noch kraftvoller zerrte, ließ ich plötzlich los. Der Navysoldat fiel hin, bereits zum zweiten Mal innerhalb ei ner Minute, sprang dann wie ein Gummiball auf und richtete die Maschinenpistole grinsend auf mich. »Wer zuletzt lacht, lacht am besten, Schwachkopf«, meinte er über glücklich und wischte sich die blutige Nase ab. »Du wolltest mich übers Ohr hauen? Als mir diese dumme Pute ihre Geschichte er zählte, wußte ich sofort, worum es geht… Ich wollte nur zeigen, daß…« Ich hatte mich wohl ein wenig bewegt, denn seine Stimme wur de plötzlich einen Ton höher. »He, he, Kleiner! Nicht bewegen, sonst brenne ich dir ein Loch in den Pelz! Und jetzt, rede!« Er drehte sich ein wenig zu Mal um und gab ihr mit dem Kopf einen Wink. »Stell dich neben ihn, du Hure!« Mal zuckte zusammen und ich wohl auch ein wenig, denn er lach te heiser, aber vergnügt auf. »Was denn, du Miststück? Gefällt dir meine Ausdrucksweise nicht? Dabei bist du wirklich nichts weiter, als eine dreckige Hure!« Es machte ihm sichtlich Spaß, die schmutzigen Wörter auszu sprechen. Ehrlich gesagt, konnte ich seine Gefühle nachvollziehen. Letzten Endes war er davon überzeugt, gerade noch einmal mit dem Leben davongekommen zu sein. Trotzdem hörte ich etwas Unsicherheit aus seiner Stimme heraus. Er zeigte es zwar nicht, aber sicherlich dachte er die ganze Zeit über angestrengt darüber nach, was zum Teufel er nun mit uns anstel len sollte. In Vang Pins Haus zurückbringen? Oder sich gemeinsam mit uns ins nächste Abenteuer stürzen? Ich konnte mich gut in seine Lage versetzen. Seine ganze Aus bildung zielte darauf, in ihm das Bewußtsein der Überlegenheit der Amerikaner, insbesondere die physische und psychische Vorherrschaft des amerikanischen Navysoldaten zu festigen. Doch jetzt, ganz al 293
lein zwischen all den minderwertigen Individuen, hatte sich die Sa che auch rein optisch verändert. Folglich war er ratlos. Ich tat einen Schritt nach vorne und kümmerte mich dabei nicht um die erboste Grimasse und den zuckenden Finger am Abzug. »Hören Sie mal, Wimmer«, fing ich an. »Ich habe bereits erwähnt, daß ich Hilfe brauche. Ich bin auch nicht aus freien Stücken hier, genauso wie die Dame, die Sie auf unerfreuliche Art ständig be schimpfen. Ich bin mir übrigens sicher, daß sie sich dafür noch rä chen wird…« Er bückte sich, wobei er uns für keine Sekunde aus den Augen und dem Schußwinkel ließ, und nahm seine zu Boden gefallene Müt ze auf. Dann pustete er ein paar Staubkörnchen fort und setzte sie auf. »Da kann ich ja nur lachen«, sagte er mit fester Stimme, als ob ihm seine Kopfbedeckung neuen Mut eingeflößt hätte. »Am liebs ten würde ich euch umbringen!« »Und was hält Sie ab?« wurde ich neugierig. »Ich will mir die Finger nicht mit eurem Blut schmutzig machen«, meinte er phlegmatisch, als wäre es ein Text aus einem billigen Film. »Ich werde euch nackt hierlassen, nehme die Sachen mit und gehe zum…« Leider beendete er den Satz vorzeitig und schrie uns dann an: »Ausziehen!« Dann zwinkerte er Mal zu. Anscheinend wurde er nun etwas vor laut. Sie drehte sich nervös zu mir um, aber ich nickte kaum wahr nehmbar und lächelte ihr ermutigend zu. Malgorzata stieg aus ihrem Kimono und ließ ihn zu Boden glei ten. Die handflächengroßen Teile, die wohl die Unterwäsche sym bolisierten, waren eher dazu gedacht, noch mehr Aufmerksamkeit auf die zu verhüllenden Körperpartien zu lenken. Wimmer schluckte, seine Augen weiteten sich. »Weiter!« Mal blickte erneut zu mir rüber. Diesmal schüttelte ich den Kopf. »Weiter!« »Wimmer…« 294
»Du auch, du Dreckskerl!« »Ich möchte Sie auf etwas aufmerksam machen…« Meine Rolle wollte ich so gut wie möglich spielen. Ich konnte ihn nur dann fertigmachen, wenn er sich hundertprozentig auf seinen Sieg verließ. »Ausziehen, Mann! Vergeude nicht meine Zeit!« Ungeachtet der Maschinenpistole redete ich weiter. »Die Show ist vorbei, Wimmer. Wie hat Ihnen die kleine Strip tease-Einlage gefallen?« »Schnauze! Zieh endlich deine Sachen aus, oder ich…« »Wissen Sie, warum ich Ihnen diese kleine Vorstellung organisiert habe?« »Klappe halten!« »Ich möchte, daß das letzte Bild, das Sie von dieser Welt mit in den Tod nehmen, eine wunderhübsche, nackte Frau ist. Ich fürch te, Ihre Augen werden demnächst für eine ziemlich lange Zeit ge schlossen bleiben, Wimmer. Unter der Erde werden Sie wohl kaum die Gelegenheit bekommen, solch einen hübschen Anblick zu ge nießen.« »Willst du mir etwa drohen, du Wurm?!« »Ganz im Gegenteil. Ich möchte nur Ihre Aufmerksamkeit auf ein paar Lücken in Ihrer Ausbildung lenken.« Ich hatte ihn anscheinend so sehr überrascht, daß er sich auf ei nen Plausch einließ. »Was quasselst du dir zusammen?« »Oh, ich war nur so frei und habe erwähnt – möglicherweise et was enigmatisch –, daß Sie etwas vergessen haben, Wimmer…« Der Kampftaucher grinste breit. »Du willst mich wohl auf den Arm nehmen, was? Mit so einer dünnen Geschichte kommst du bei mir trotz der geschwollenen Spra che nicht durch, Freundchen. Los, ausziehen! Sonst schieße ich Ih nen ins Knie!« »Das dürfte nicht so einfach werden.« »Ach, und warum?« 295
»Wenn Sie mir nicht ständig ins Wort fallen würden, hätte ich es Ihnen eben bereits erklärt. Ich wollte Ihnen mitteilen, daß Ihr Trai ning einige Lücken aufweist. Hat man Ihnen denn nie beigebracht, was man als erstes tun soll, wenn man einen Gegner scheinbar kampf unfähig gemacht und seine Waffe entwendet hat…?« »Na was denn, Klugscheißer?« »Nachschauen, ob seine Waffe auch geladen ist. Ohne Patronen kann man zwar herumfuchteln, aber Sie werden danach wenig gute Karten auf den Tisch legen können.« Mal grinste in ihre vorgehaltenen Hände, und Wimmer wurde krei debleich, als ob man ihn frisch getüncht hätte. Mit nervösem Zu cken stellte er die Waffe zuerst auf Dauer-, dann auf Einzelfeuer. Au ßer ein paar metallischen Klicklauten konnte er ihr aber nichts ent locken. Mit ernstem Gesicht sah ich ihm in die Augen. »Darf sich die Dame jetzt wieder anziehen?« Er warf die MP fort und sich selbst auf mich. Natürlich war es nicht weiter schwer, ihn zu stoppen. Es kümmerte mich auch nicht, daß das Messer in seiner Rechten aufblitzte. Ich ließ ihn näher kommen, und als er direkt vor meiner Nase auftauchte, trat ich ele gant zur Seite und schlug ihm ins Gesicht. Mit einem heftigen Auf schrei flog er zwischen die Palmen. Mal stieg wieder in ihren Kimono und band gerade den Gürtel zu, als er wieder aus dem Unterholz auftauchte. Das Messer hatte er noch bei sich, aber die Mütze war ihm wieder irgendwie abhanden gekommen. Und mir schien auch, daß er etwas Ernsteres abbe kommen haben dürfte, denn seine Bewegungen waren bei weitem nicht mehr so flink wie vorher. Doch auch der Schmerz konnte ihn nicht davon abhalten, wie ein drittklassiger Gangster mit dem Mes ser vor meinem Gesicht kreisend näherzukommen. Wenn ich ein Amateur gewesen wäre und nur auf die Messerspitze geachtet hät te, wäre ich wohl sicher sehr beeindruckt gewesen. So aber wußte ich genau, auf was ich zu achten hatte, und sah jede Bewegung ge nauestens voraus. 296
Nur die von Mal nicht. Sie nahm blitzschnell wieder den Gürtel ab, formte eine Schlinge und warf sie ihm um den Hals. Der Nav ysoldat knickte um, ließ das Messer fallen und landete auf den Knien. Die Pilotin trat zu ihm, wickelte den Strang noch einmal um die Faust, damit er fester saß, und gab Wimmer dann ohne Umschweife eine gewaltige Ohrfeige. Der Kopf des Kampftauchers schoß nach hinten, Blut tropfte aus seiner Nase. Mal nahm mit bemerkenswerter Ruhe den Gürtel wieder ab und band ihn sich um die Taille. Ich blickte zu Boden und spürte meine eigenen Schweißtropfen auf der Schläfe. Und wagte es nicht, irgend etwas zu fragen.
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D
er Navysoldat hockte auf dem Boden und wischte sich die blu tige Nase am Ärmel ab. Er stöhnte, sagte aber nichts.
»Stehen Sie auf!«
Langsam und schwerfällig kam er dem Befehl nach.
»Ich hoffe, Sie sehen ein, daß wir die Stärkeren sind.«
Er senkte den Kopf und schwieg.
»Ich möchte, daß Sie erfahren, daß ich ein Profi bin. Und nicht
von gestern. Ich bin mindestens so gut wie Ihre Ausbilder! Diesen
ganzen Zirkus habe ich nur veranstaltet, um Ihnen zu zeigen, daß
Sie mir nicht das Wasser reichen können. Außerdem wäre auch noch
die Dame da… Nun, sehen Sie es ein?«
»Was wollen Sie von mir?« krächzte er.
»Zuerst einmal Ihre Tasche.«
Er blickte auf; seine Augen glühten wutentbrannt.
»Ich habe keine Tasche… Woher nehmen Sie diesen Unsinn?«
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»Ich habe Sie heute nacht bei der Landebahn gesehen.« Sein Blick wurde noch finsterer. »Sie … Sie haben mich gesehen?« »Ja, Sie und die Tasche. Und ich weiß sogar, was in ihr steckt.« »Ich habe keine Tasche.« »Seien Sie kein Dummkopf, Wimmer! Wenn ich wieder im Haus bin, werde ich sowieso Ihr Zimmer durchsuchen!« Irgend etwas blitzte in seinen Augen auf, und es ließ mich sofort meinen ursprünglichen Plan ändern. Es bedeutete wohl, daß ich doch ruhig gehen sollte, finden würde ich sowieso nichts. Seine Beute hatte er anscheinend woanders versteckt. An seiner Stelle hätte ich wohl auch nicht Vang Pins Anwesen gewählt, son dern eine der tausend anderen Möglichkeiten, die es allein in der näheren Umgebung gab. Und daß ich das Objekt der Begierde hier draußen ohne seine Hilfe finden würde, war reichlich unwahr scheinlich. Genauso, daß ich ihn mit netten Worten überzeugen könnte. Ich mußte seinen Willen vollkommen brechen, damit er mit dem Fundort herausrückte. »Ich frage Sie zum letzten Mal, Wimmer: Geben Sie uns Ihre Ta sche freiwillig?« »Ich besitze überhaupt gar keine Tasche. Sie müssen sich verguckt haben. Ich war gestern nacht gar nicht da, als das Flugzeug ausei nandergenommen w…« Er biß sich schnell auf die Unterlippe und schaute erschrocken auf. »Woher wissen Sie dann, daß die Maschine verschwunden ist?« Ich ging vor ihm in die Hocke und legte ihm väterlich die Hand auf die Schulter. »Jetzt hören Sie mal, Freundchen! Glauben Sie mir doch, daß ich Ihnen nichts Böses tun will! Auch wenn es nicht in ihr Navy-Ge hirn reingehen will, Ihr Leben hängt ebenfalls davon ab, ob ich die Ta sche bekomme oder nicht! Ich weiß ganz genau, was sie beinhal tet. Schließlich haben Sie mir ja selbst gesagt, wohin Sie ursprünglich unterwegs waren. Also, zum letzten Mal: Sagen Sie mir, wo ich sie 298
finden kann!« Keine Antwort. Ich gab Mal einen Wink. »Gib mir deinen Gürtel!« Sie nahm ihn ab und reichte ihn mir. Ich schnappte mir seine Hän de und band sie ihm hinter dem Rücken zusammen. Schön fest, damit es ihm weh tat. Er konnte einem leid tun, aber ich mußte so vorgehen. Es war kein Scherz, als ich gesagt hatte, daß unser aller Leben größtenteils davon abhing, ob ich die Tasche bekam. Ich nahm die MP und füllte aus meiner Tasche bedächtig das Ma gazin. Dann reichte ich die Waffe meiner Partnerin mit dem Rat, ihn bei dem kleinsten Fluchtversuch abzuknallen. Ich war mir al lerdings sicher, daß es nicht soweit kommen würde. Er war sicht lich am Boden zerstört und hatte nichts dergleichen im Sinn. Nach einem Abschiedswink verschwand ich in den Büschen. Be reits nach wenigen Schritten überflutete mich der Dschungel mit voller Wucht. Vögel zwitscherten, Schmetterlinge kreisten um mei nen Kopf. Einige Affen spielten mit mir Verstecken, und wenn sie auf einem größeren Ast haltmachten und das Gesicht in den Hän den begruben, schienen sie Wimmer nachahmen zu wollen. Ich zog meine Kreise, fand aber nicht, wonach ich suchte. Also erweiterte ich den Radius um zehn Schritte und fing von vorne an. Ich schaute nach links und nach rechts, blieb aber auch diesmal er folglos. Es stimmte mich etwas mißmutig, daß mein Plan womöglich schei tern könnte. Ich unternahm einen weiteren Versuch, und endlich, nach kurzem Schlendern wurde ich belohnt: Ein etwa anderthalb Meter hoher Ameisenhaufen mit Millionen von sorgsam erbauten Eingängen versperrte mir den Weg. Und wenn es auch keine ent sprechend hohe Zahl an Ameisen gab, die sie benutzten, so schätz te ich die Population der kleinen Tierchen doch auf einige Hun derttausende. Ich beugte mich hinab und inspizierte sie etwas ge nauer. Es war nicht gerade die Rasse, die ich mir gewünscht hätte, aber für mein Vorhaben würden sie schon ausreichen. 299
Ich blickte vor meinen Schuh; ein dicker, schwarzer Käfer schlepp te sich dahin. Ich war wohl versehentlich auf ihn getreten, als ich mich der Ameisenkuppe näherte. In Gedanken entschuldigte ich mich bei ihm, bückte mich und plazierte ihn auf einem Blatt auf der Kup pe des kleinen, braunen Berges. Kurze Zeit später war der arme, so wieso schon sterbende Käfer unter Dutzenden von Ameisen begraben. Ich trottete zur Lichtung zurück. Wimmer saß immer noch auf dem Boden, stumm, störrisch und unnachgiebig. Mal blitzte mich mit ihren Augen an, als ob sie mir etwas sagen wollte. Ich kniete mich neben dem Navysoldaten nieder. »Nun, Wimmer?« Während ich fort war, hatte er wohl die Show des unbezwingbaren US-Marinesoldaten einstudiert, denn er zog die Augen zusammen und spuckte mir vor die Füße. »Auch gut«, meinte ich und stand wieder auf. Ich nahm ihn bei seiner Fessel und zog ihn unbarmherzig vom Boden hoch, was er auch sofort mit einem schmerzvollem Aufschrei quittierte. Er taumelte vor mir herum und sammelte erneut Spucke, was ich wiederum meinerseits mit einer Ohrfeige quittierte. Ich gebe zu, es ist nicht sehr fair, einen Mann zu schlagen, dessen Hände man kurz zuvor zusammengebunden hat, aber der Zweck heiligte wohl in die sem Fall die Mittel. Wenn ich mich an die Genfer Konvention hielt, würden wir sicherlich alle draufgehen. Wimmer torkelte zurück, fiel aber nicht hin. Allerdings tränten seine Augen. Ich hielt ihm meinen Daumen unter die Nase. »Sehen Sie den? Noch ein Versuch, Kamel zu spielen, und ich ste che ihnen zur Belohnung ein Auge raus!« Ich schubste ihn an der Schulter vor mich hin, in Richtung Dschun gel. Die breiten Blätter, die ihm dabei unentwegt entgegenschlugen, brachen wohl sein Schweigegelübde. »Wohin gehen wir?« keuchte er. »In den Wald«, sagte ich. »Wieso, was dachten Sie denn?« »Wozu?« 300
»Ich werde Sie umbringen«, behauptete ich lässig. »Sie hatten Ihre Chance, oder? Jetzt bleibt mir nichts weiter übrig, als Sie zu töten.« »Dann werden Sie die Tasche nie finden!« meinte er weise. »Ich werde sie finden.« »Was? Wie denn?« »Sie werden es mir sagen.« »Wenn Sie mich umbringen?« Der Versuch, mich zu erpressen, war ziemlich naiv aufgebaut. Er zielte darauf hinaus, daß ich nichts erfahren würde, nachdem ich ihn getötet habe. »Sie werden reden«, sagte ich beiläufig. »Noch bevor Sie den letz ten Atemzug machen, werden Sie singen, daß es eine Freude sein wird, Ihnen zuzuhören. Sogar Ihre größten Geheimnisse werden aus Ihnen nur so heraussprudeln, bloß um das Leiden zu verkürzen.« Er blieb stehen und starrte mich entsetzt an. »Sie wollen mich foltern, Sie Schwein?!« »Das werden Sie schon noch früh genug erfahren. In Fernost gibt es einige überlieferte Methoden, die ziemlich gut dazu geeignet sind, verschlossene Lippen zu öffnen. Ich hab' mich entschieden, eine davon bei Ihnen auszuprobieren. Ich bin wirklich gespannt, was so ein Marinesoldat aushält, Wimmer! Ich schlage Ihnen sogar eine Wet te vor: Bereits nach zehn Minuten werden Sie darum betteln, daß ich Sie erschieße. Oder zu dem Versteck gehe und mir die Tasche hole. Nun? Wieviel setzen Sie dagegen?« Da er sich zu keiner Reaktion hinreißen ließ, schubste ich ihn wei ter nach vorne, bis zu dem Ameisenhaufen. Mal folgte uns ohne Kommentar, und als ich sie kurz ansah, entdeckte ich wieder die sen marmorartigen Ausdruck auf ihrem Gesicht, den ich nicht moch te. Am Ziel angelangt, band ich seine Hände los und befahl ihm, sich an einen Baum zu stellen. Als er sich weigerte, landete meine Faust in seinem Magen. Mal setzte sich auf den Boden und starrte blick los in die Luft. Als ob es sie überhaupt nicht interessieren würde, was ich da trieb. 301
Zuerst band ich seine Hüfte an den Baum, dann die Füße. Er konn te sich praktisch nicht mehr bewegen, nur sein Kopf zuckte wild hin und her. Seitdem ich gedroht hatte, ihm sein Augenlicht zu neh men, wagte er es nicht mehr, herumzuspucken. Ich plazierte mich ein paar Schritte von ihm entfernt voll in sei nem Blickfeld, beobachtete ihn eine Weile und seufzte dann thea tralisch. Mein Blick war erfüllt von unterdrücktem Schmerz und Trau er, als ich anfing, mit in die Hüften gestemmten Armen vor ihm auf- und abzuspazieren. Ich schüttelte bedauernd den Kopf und kniete mich dann neben den Ameisenhaufen. Die Bewohner der Kuppel arbeiteten fleißig, trugen verschiedene Rohstoffe in den Bau. Jetzt erst schien der Amerikaner zu ahnen, daß es einen Zusam menhang zwischen ihm und den kleinen Tierchen geben könnte. Unruhig beobachtete er jede meiner Bewegungen, aus seinen Au gen strahlte immer größeres Entsetzen. Er tat mir leid, aber ich mußte auch den letzten Schritt vollzie hen. Ich blickte zu Mal hinüber, die lustlos dem Treiben der Amei sen zuschaute. Wahrscheinlich ahnte sie noch nicht einmal, was ich mit dem armen Wimmer vorhatte. »Mal!« »Ja?« »Magst du Ameisen?« Ein gelber Funke blitzte in ihren Augen auf. Sie erriet wohl, daß ich nun ihre Kooperation brauchte. »Ich hab' nichts gegen sie.« »Und kennst du sie auch ein wenig?« Lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß nur, daß es braune, schwarze und rote gibt. Und die Termiten; die fressen alles auf, was ihnen in den Weg kommt.« Ich deutete auf die kleine Kuppel. »Und die hier?« Sie kam näher, hockte sich neben mich auf den Boden und schau te ganz bedächtig hin. 302
»Sie sind schön groß. Ich glaube sogar, ich habe in meinem Le ben noch nie so große Ameisen gesehen…« »Weißt du, wie sie heißen?« »Nicht die Bohne.« »Sie haben auch einen lateinischen Namen, aber der würde dir nichts sagen. In Südostasien nennt man sie schlicht Mörderamei sen.« Sie stand auf und fröstelte. »Buh! Ein schrecklicher Name. Und wen ermorden sie?« »Jeden. Hast du noch nie von der Lieblingsfolter der Meos gehört?« »Gott sei Dank nicht!« »Nun, wenn die Meos einen schnappen und ihn vor seinem Tode noch einmal so richtig foltern wollen, verfüttern sie diesen armen Teufel einfach an die Mörderameisen.« »Aber das ist ja schrecklich, Leslie!« »In der Tat, Liebste. Aber manchmal gibt es keine andere Lösung. Nun, wenn sich die Ameisen erst einmal für jemanden interessie ren, klettern sie schnell an ihm hoch und fangen an, ihm das Fleisch abzuknabbern. Nach kurzer Zeit verflucht er den Moment, in dem ihn seine Mutter zur Welt gebracht hat. Einmal, vor etlichen Jah ren, war ich Zeuge, wie man einen Mann aus Barmherzigkeit auf so einen Ameisenhaufen gebunden hatte.« »Aus Barmherzigkeit?« »Ja, denn wenn man ihn direkt auf den Hügel setzt, beenden die Ameisen die Prozedur ziemlich schnell. Nach einer halben Stunde sind nur noch die weißen Knochen übrig. Jede Schule würde das Skelett ohne weitere Präparation in ihre Lehrmittelsammlung auf nehmen. Kein Plastik ist so perfekt wie echte Knochen…« »Und wenn nicht … aus Barmherzigkeit…?« »Nun, dann binden sie ihr Opfer an einem nahegelegenen Baum fest.« »Und wie finden ihn die Ameisen?« »Da wird etwas nachgeholfen…« »Wie denn?« 303
Aus den Augenwinkeln sah ich, daß Wimmers Gesicht vor an gestrengter Aufmerksamkeit fast zerplatzte. Er lauschte jedem Wort mit erschrockener Miene. »Zum Beispiel mit Honig. Sie lieben einfach Honig! Sie sind ganz verrückt danach. Plündern regelmäßig die Vorräte der Wildbienen.« »Mit Honig? Aber wie?!« »Also paß auf. Die Meos binden ihr Opfer an den Baum. Die Amei sen nehmen das natürlich vorerst gar nicht wahr. So mir nichts, dir nichts greifen sie keinen Menschenriesen an. Vielleicht würden sie es wochenlang nicht versuchen, also hilft man dabei ein wenig nach. Man nimmt etwas Honig und schmiert es dem Typen ins Gesicht. Angeblich haben die Mörderameisen einen erstaunlichen Geruchs sinn. Sie riechen den süßen Braten meilenweit gegen den Wind. Und können nicht widerstehen. Genausowenig wie später dem Fleisch…« Ihre Stimme überschlug sich plötzlich, wurde weinerlich. Sie bau te sich vor mir auf und faltete die Hände zum Gebet zusammen. »Bitte, Leslie, nein!« Ich zuckte mit den Schultern und schob die MP nach hinten. »Ich muß die Tasche kriegen. Nur das kann unser Leben retten.« »Dann töte ihn anders!« »Ich will ihn ja gar nicht töten, nur das Versteck erfahren! Ich habe ihm oft genug das Angebot gemacht, zu kooperieren. Er wollte aber nicht. Nun, dann werden wir ja jetzt sehen, wie lange er stillhalten kann.« »Das kannst du doch nicht mit ihm machen!« »Wieso nicht? Ich habe Monate unter den Kopfjägern verbracht. Diesen Trick habe ich von ihnen gelernt. Zuerst wurde mir übel, als sie einen Japaner so herrichteten. Dabei sind die bekannt für ihre Verschlossenheit. Der arme Kerl schrie noch, als die Ameisen be reits seine Zunge zerfraßen. Entschuldige… Aber ich konnte in sei nen Mund sehen. Der war auch nicht mehr ganz da… Ich weiß, daß das schrecklich für dich sein muß, aber versteh doch, ich habe ein fach keine andere Wahl. Wenn ich die Tasche nicht finde, werden wir alle draufgehen. Dieser dumme Kerl versteht nicht, daß ich nicht 304
sein Feind sein will. Ich muß es tun, Mal!« Ich muß schon gestehen, unsere Aufführung war bühnenreif. In jedem Provinznest hätten wir die Herzen in Scharen gebrochen. Mal wendete sich ab, wischte sich eine imaginäre Träne aus dem Auge, hielt plötzlich inne und sah mich dann siegessicher an. »Hast du Honig gesagt, Darling?« »Honig«, nickte ich. »Ha! Und wo willst du den herkriegen?« Es war wirklich toll, wie sich die Sache entwickelte. Mal spielte perfekt mit, und Wimmer seufzte hörbar auf, obgleich er wohl ahn te, daß noch nicht alle Gewitterwolken über ihn hinweggezogen wa ren. Aber das Fehlen des süßen Stoffes schien ihm doch ein wenig Hoffnung zu machen. Die ich sofort wieder zerstörte, als ich in meine Hemdtasche griff und ein kleines Fläschchen hervorholte, das ich in weiser Voraus sicht noch vor dem Frühstück aus Vang Pins Küche hatte mitge hen lassen. Ich zeigte es demonstrativ Mal und verkündete stolz: »Hierher, Liebste…« Ich befürchtete manchmal schon, Mal würde ihre Rolle etwas über treiben, und Wimmer könnte merken, daß wir nur eine Show ab ziehen. Der Navysoldat war allerdings in einem Zustand, in dem ich ihn wohl auch mit Marsmännchen hätte zu Tode erschrecken können. »Mein Gott, Leslie, was ist das?« »Honig, natürlich. Könntest du mir bitte helfen, Mal?« Sie gab mir keine Antwort, ging zum Rand der kleinen Lichtung und setzte sich wie eine störrische Katze mit dem Rücken zu mir auf den Boden. Dann erst sagte sie, ohne den Kopf zu wenden: »Ich kann es nicht, Leslie! Ich kann das nicht mit ansehen. Je manden zu töten … gut, das ist was anderes … aber zu foltern…!« »Ich kann doch aber nichts dafür! Ich brauche diese verfluchte Tasche!« Mit dem Mund entkorkte ich das kleine Gefäß, spuckte das dün 305
ne Siegelplättchen aus und stellte mich vor dem Marinesoldaten auf. »Tut mir leid, Freundchen«, sagte ich der Wahrheit entsprechend. »Wollen Sie beten?« »Mistkerl!« stöhnte er und versuchte, sein Gesicht abzuwenden. »Verdammtes, sadistisches Schwein!« Ich bückte mich und krempelte sein Hosenbeine bis zu den Knien hoch. Er sträubte sich, aber die Fesseln hielten. »Ich muß jetzt Ihre Beine eincremen«, berichtete ich nüchtern. »Wenn ich dazu Ihr Gesicht nehmen würde, müßten Sie sterben, bevor ich ein Wort aus Ihnen herauskriege. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, das ist kein Haß oder Vergeltung meinerseits. Von mir aus könnten Sie hundert Jahre alt werden. Mich interessiert nur Ihre Tasche!« Er wollte etwas sagen, schluckte es dann aber hinunter und be wegte nur seinen Mund, als ob er beten würde. Er tat mir plötzlich furchtbar leid, und beinahe hätte ich ihn da vonziehen lassen. Mal blickte mich an, in ihren Augen ein stum mes Flehen. Und dann dachte ich daran, daß ich mit meinem weichen Herz möglicherweise das Todesurteil für uns alle unterschreiben würde. Nicht nur unseres, auch das von Wimmer. Also biß ich die Zähne zusammen und wiederholte ständig für mich selbst, daß ich den Koffer haben muß. Unbedingt den Koffer! Was immer es auch kosten möge. Mit einem tiefen Seufzer griff ich in den Honig. Angenehmer Blu menduft stieg in meine Nase. In Wimmers wohl auch, denn er öff nete schnell seine Augen wieder und blickte auf mich herunter. »Verdammtes Schwein!« Ich schmierte ihm mit zwei Fingern eine Portion auf das linke Bein, dann auf das rechte. Als ich fertig war, betrachtete ich zufrieden mein Werk. Jetzt fehlten nur noch die Ameisen, um das Bild zu kom plettieren. Die Ameisen aber dachten nicht im Traum daran, Notiz von dem armen Amerikaner zu nehmen. Erschrocken fiel mir ein, was ich 306
wohl tun würde, wenn diese friedlichen Tierchen auf den Honig ganz einfach verzichten würden?! Denn, das muß ich wohl nicht erwähnen, es waren natürlich keine Mörderameisen, sondern schlicht und ein fach eine große, aber friedliche Gattung, die höchstens ein-zwei Kä fer überwältigen konnte, und das auch nur in Hundertscharen … aber für einen Menschen bedeuteten sie in etwa dieselbe Gefahr wie ein Osterhase. Sie kamen und gingen und machten stets einen großen Bogen um den Baum, an den ich mein Opferlamm angebunden hatte. Der Na vysoldat begutachtete besorgt seine vollgeschmierten Beine und spuck te hin und wieder in Richtung einer ihm seiner Meinung nach zu nahe kommenden Ameise. Nach etwa zehn Minuten wurde mir klar, daß ich bis zum Jüngs ten Tag warten konnte, bis die Insekten den Kampftaucher angriffen. Zum Glück aber war ich Entomologe, Insektenforscher, und wuß te, womit man die Kleinen auf Trab brachte. Ich nahm einen Ast und stocherte wild in einer der kleinen Öff nungen herum. Sofort griffen die Soldaten an. Sie hielten sich am Zweig fest und versuchten zu analysieren, aus welchem Holz der Feind geschnitzt war. Und bissen sichtlich große Stücke aus ihm heraus. Der Gott der Ameisen hatte sich wohl für diesmal mit mir ver bündet. Kaum war ich bei Wimmer angekommen, gab es eine Re volte im Bau, er geriet in Wallung, und ganze Wellen von An griffstruppen folgten den von mir vorsorglich fallengelassenen Amei senkollegen und Honigtropfen. Falls auch das nicht helfen sollte, war ich gezwungen, den Marinesoldaten loszubinden und die Wahr heit aus ihm herauszuprügeln. Als ich Wimmer erreichte, waren nur noch zwei oder drei Amei sen auf dem Zweig. Vorsichtig schnipste ich sie auf seinen Fuß, wo raufhin sie nach allen Regeln der Kunst ein Vollbad im süßen Naß nahmen. Ich wartete nicht ab, ob sie sich zu Tode freuten, und ging zu Mal rüber. »Wärst du wirklich dazu fähig?« stöhnte sie. Ich zog sie an mich und kitzelte ihre Seite. 307
»Nur wenn ich wüßte, daß ich dich damit retten kann. Übrigens bin ich kein Henker. Wenn er in fünf Minuten nicht redet, binde ich ihn wieder los.« Es sollte keine fünf Minuten dauern. Die aufgebrachten Ameisen brauchten weitaus weniger für die Strecke zwischen der Kuppe und dem Amerikaner. Auf dem Weg umringten sie nervös die entführ ten und schließlich fallengelassenen Freunde und setzten dann ih ren Weg zum Baum fort. Eine Welle von etwa hundert Soldaten erreichte als erstes den Nav ysoldaten. Ich ließ Mals Hand los und setzte mich für den Fall in Alarmbereitschaft, daß die Sache überhandnahm. Ich hätte es wirk lich nicht gerne gehabt, wenn meine Idee allzu gut funktioniert und Wimmers Knochen tatsächlich nur noch als Ausstellungsstücke et was getaugt hätten. Die Ameisen griffen an. Der Amerikaner schrie bereits wie am Spieß, als lediglich die ersten Grashalme vor seinen Schuhen ab knickten. »Verdammt, jetzt sind die Viecher doch tatsächlich da!« rief er und riß mit solcher Kraft an seinen Gurten, daß die paar Affen in der Krone erschrocken zu einem anderen Baum hinübersprangen. »Ver dammte Dinger! Mörder! Verfluchte Killer!« Ich kümmerte mich genausowenig um sein Geschrei, wie die In sekten. Das erste Bataillon erreichte seinen Fuß, und daß es für sie kein Ausflug oder ein simples Mittagessen war, zeigte mir bald ein markerschütternder Schrei. »Aah! Mein Gott! Hilfe! Sie beißen! Hilfeee!!!« Mal sprang auf, und wenn ich sie nicht zurückgehalten hätte, wäre sie zu Wimmer gerannt. »Nein, nicht das!« rief sie und wollte sich losmachen. »Mach, was du willst, aber nicht das! Eher…« »Hilfe, ich werde umgebracht! Sie zerfleischen mich…!« Seine Stimme überschlug sich, er fing an zu schluchzen, die Au gen traten hervor, und Blut rannte an seinem Kinn hinab, nachdem er sich vor Verzweiflung in die Lippe gebissen hatte. 308
Ich nahm mir vor, bis hundert zu zählen. Wenn er dann immer noch nicht verraten hatte, wo sich seine Tasche befand, mußte ich ihn losmachen und mir etwas anderes einfallen lassen. Was blieb mir sonst übrig? Die ganze Zeit über hielt ich Mals Hand fest umklammert, da sie sich ständig losreißen wollte, um ihn zu befreien. Wimmer schrie, und ehrlich gesagt standen mir bei diesem Schrei die Haare zu Berge. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es sein muß te, wenn man diese Folter ernsthaft anwendete. Wenn jemand tat sächlich von Termiten aufgefressen wurde… »Lassen Sie mich los!« schrie er. »Lassen Sie mich los, Sie Hen ker! Machen Sie doch mit der verfluchten Tasche, was Sie wollen! Stecken Sie sie sich von mir aus in den Hintern!« Ich schob das Mädchen beiseite und trat vor. Neue Ameisenba taillone schwollen an, also mußte ich mich beeilen. Wimmers Bein sah aus wie ein riesiger Mohnkuchen, bedeckt mit lauter schwar zen Punkten. »Sagen Sie das noch einmal!« »Was soll ich nochmal sagen, Sie Satan!« schrie er wild. »Binden Sie mich los, verdammt noch mal! Die fressen mich auf, sehen Sie das denn nicht?! Mein Gott, es brennt! Es brennt, es tut so weh … aah!« »Wo ist die Tasche?« »Aah! Aaah!« »Die Tasche?!« »Unter dem großen Stein… Aaaah…« Ich erinnerte mich an den riesigen, runden Felsen in der Nähe von Vang Pins Residenz. Er war mir aufgefallen, weil es aussah, als wäre er geradewegs von einem der drei Bergspitzen heruntergekul lert. Mir blieb nicht viel Zeit, denn mehrere Hunderte Insektensöld ner waren direkt neben meinen Beinen unterwegs. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie sie stehenblieben und die neue Situation ana lysierten. Man kann nicht sagen, daß sie ihre Entscheidung hi 309
nauszögerten. Der größere Teil setzte seinen Weg zum ursprüngli chen Ziel, also Wimmer, fort, und ein kleiner Spähtrupp griff mei nen Fuß an. Ich machte einen großen Satz, ließ sie dadurch links liegen und machte mich an die Arbeit. Ich halbierte ein herumliegendes Pal menblatt, legte die beiden Kanten übereinander und rasierte mit der so gewonnenen scharfen Fläche Wimmers Beine ab. Als sowohl Ho nig als auch Ameisen verschwunden waren, merkte ich erst, daß ich wohl etwas über das Ziel hinausgeschossen war. Seine Haut war mit hart gewordenen Bißstellen übersät, und nach der Häufigkeit die ser Schwellungen zu urteilen mußte er höllische Schmerzen haben. Und Angst, natürlich. Ich löste die Knoten der Fesseln, warf ihn mir über die Schulter und wollte weit wegrennen. Während meiner Flucht merkte ich, wie mir in den Knöchel gebissen wurde. Brennender Schmerz machte sich sofort breit, als ob jemand Glut in meine Schuhe geschmug gelt hätte. Und wenn ich nicht Angst davor gehabt hätte, mich gänz lich lächerlich zu machen, hätte ich sicherlich vor Pein aufgeschrien. Wimmer hatte mehr oder weniger das Bewußtsein verloren, und ich tanzte zwischen all den Ameisen einen hübschen Regentanz in der Mitte der Lichtung. Auch wenn ich im Augenblick noch so lächerlich wirken moch te; gerade mit dem Anschlag auf Wimmers Leben hatte ich das un ausgewogene Spiel etwas ausgeglichener gestaltet. Die Ameisen hatten nämlich die Wende in der ganzen Geschichte um Huan-Ti und seine Tonarmee gebracht.
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ein Bein schmerzte genauso wie das meines Opfers. Zum Glück merkte er das nicht. Mal hingegen schon, aber von ihr brauch te ich vorerst kein Mitleid zu erwarten. »Tut es weh?« Ich antwortete auch gar nicht darauf, sondern trottete nur zu dem Amerikaner hinüber. Der kratzte sich mit einem Bein das andere. Ich hatte ihn so an einem Baum angebunden, daß er seine Füße bewegen konnte. Was hätte ich in diesem Moment für etwas kaltes Wasser oder eine kühlende Hautcreme gegeben! Ich konnte unsere Wunden aber nur mit breiten Palmenblättern abdecken und so vor der Sonne schüt zen. Die Ameisen hatten sich inzwischen beruhigt. Einige Minuten lang hatten sie noch nach ihren verschwundenen Eindringlingen gesucht, sich dann jedoch langsam, aber sicher dem Honig zugewandt. Vor sichtig, um nicht zu ertrinken, umringten sie die für ihre Verhält nisse teichgroßen Tropfen und schlürften die süße Flüssigkeit auf wie durstige Wanderer in der Wüste am Rande einer Oase. Ich händigte Mal meine Maschinenpistole aus und verschwand im Unterholz. Meine Füßen juckten wie wild, und Wimmer tat mir immer mehr leid. Außerdem quälte mich auch noch furchtbarer Durst, und ich war ausgesprochen wütend auf mich selbst, daß ich nicht daran gedacht hatte, wenigstens eine Feldflasche voll Wasser mitzubringen. Allerdings konnte ich auch nicht behaupten, daß mir in Vang Pins ansonsten gastfreundlichem Haus die Feldflaschen ins Gesicht gesprungen wären… Die Sonne strahlt über mir gewaltige Hitzewellen aus, und kurz nachdem ich die beiden allein gelassen hatte, tanzten die ersten violetten Ringe vor meinen Augen. Ich riß mir ein Palmenblatt ab und hielt es mir als Sonnenblen de vor die Stirn. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich den Stein fand. Unweit von 311
ihm wand sich der Pfad der Elefanten durch den Wald, der zum Haus von Vang Pin führte. Auf dem kleinen Felsen spielten einige Affen und machte mit lautem Gekreische unmißverständlich klar, was sie von der Störung hielten. Sie blieben selbst dann noch da, als ich mich gegen den Stein lehn te, um mich auszukeuchen. Sie besprachen mit nervösem Gegackere die Sache. Schließlich kletterte der wohl älteste von ihnen ganz in meine Nähe und bleckte mir die gelblichen Zähne entgegen. Ich ließ sie in Ruhe, obwohl sie langsam wirklich frech wurden. Sie kamen immer näher, und ein junges Weibchen streckte den Arm nach mir aus. Die lilafarbenen Rädchen drehten sich immer noch vor meinen Augen. Ich wischte mir die Stirn ab und zuckte plötz lich zusammen, als die Krallen des Oberaffen über meinen Arm fuh ren. Ich schrie auf und schlug mit dem Palmenblatt nach ihnen. Die Paviantruppe kreischte empört auf, machte sich in Richtung der nächsten Baumkrone davon und hörte selbst dort nicht mit dem Schimpfen auf. Ich umrundete den kleinen Felsen, konnte aber nirgends eine Ta sche entdecken. Ein zweiter Rundgang brachte mich auch nicht wei ter. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß mich Wimmer hereingelegt hatte. Um Himmels willen, was sollte ich denn noch mit ihm an stellen? Mein schön aufgebauter Plan schien wie ein Kartenhaus in sich zusammenzufallen. Wenn ich Wimmers Utensilien nicht fand, war alles vorbei. Allerdings wußte ich auch, daß ich es wohl kaum noch einmal über mich bringen würde, ihn an den Marterpfahl zu bin den. Die Affen kreischten weiterhin über meinem Kopf, und plötz lich überkam mich der entsetzliche Gedanke, daß sie die Tasche fort geschleppt haben könnten. Ich hockte mich hin und untersuchte jeden Zentimeter des Bodens. Was ich fand, bestätigte meine Vorahnung. Das abgeknickte Gras und die in die Erde gepreßten Kiesel zeugten alle von einem schwe ren Gegenstand, der kurz zuvor noch dort gelegen haben mußte. 312
Wimmer kümmerte sich nicht viel ums Verbergen, er wollte sein Gepäck lediglich nicht mit ins Haus bringen. Er hatte die Tasche einfach an den Felsen gelehnt und vielleicht noch einige Palmen blätter darübergelegt – dies würde die zerkauten Überbleibsel um den Stein herum erklären. Leider konnte ich noch etwas anderes aus den Spuren herausle sen. Zum Beispiel, daß einige Affen die Tasche mit vereinter Kraft irgendwohin geschleppt hatten. Die tiefen Furchen der Fußstapfen und der verstreut herumliegende Affenkot deuteten darauf hin, daß die Paviane schwer zu schleppen gehabt hatten. Die Tiere über mir wurden immer aggressiver. Mehr und mehr Neuankömmlinge schlossen sich dem aufgeregten Geschnatter an und zerrten mit Elan an den Ästen der Bäume. Ich bereute bereits, keine Waffe mitgenommen zu haben. Obwohl Paviane nur selten Menschen angreifen, war es nie ganz ausge schlossen, und dabei konnte es einem eventuellen Opfer ziemlich schlecht ergehen. In Indien war ich mehrmals dabei gewesen, als man in der Nähe unseres Lagers Leichen von Eingeborenen gefunden hatte, die von einer wilden Horde Paviane zerfleischt worden wa ren. Mir ging auch durch den Kopf, zu Mal und Wimmer zurückzu kehren. Wenn ich die MP in der Hand hielt, gab es keinen Affen auf der Welt, der mir Angst eingejagt hätte, ob allein oder in der Gruppe. Aber… Und genau dieses Aber war es, weswegen ich das Gelän de nicht verlassen durfte. Die Affen hatten bereits gemerkt, daß ich auf ihren neuen Schatz aus war, und würden in der Zwischenzeit einen Weg finden, ihn vollends von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Es wurden immer mehr. Inzwischen bleckten mir mindes tens fünfzig Gebisse entgegen. Es war wie im Dschungelbuch. Aber so sehr ich mich auch innerlich sträubte, ich mußte ihnen endlich entgegentreten. Noch bevor sie mich hätten einschüchtern können, trat ich zu einem Baum und brach mir einen ansehnlich dicken Ast ab. Ein 313
Messer hatte ich nicht, also dauerte es einige Sekunden, bis ich ihn in eine gefährliche Waffe verwandelt hatte. Die Paviane schauten mir mit Argusaugen zu, und wenn ihnen eine heftige Bewegung zu sehr mißfiel, quittierten sie sie mit ent sprechendem Gekeife und Zähneblecken. Ich hob den Knüppel über den Kopf und gab – wie in den gu ten alten Karatefilmen – einen markerschütternden Schrei zum bes ten. Dann machte ich einen Satz nach vorne und erschlug einen ahnungslosen Strauch. Laub und Äste wirbelten durcheinander; ich machte noch ein paar selbstbewußte Verrenkungen und schielte dann nach oben. Das Affenpublikum staunte mit offenem Mund und ohne ein Mucks von sich zu geben über meine wirklich nicht alltägliche Vor stellung. Ich hielt den Stock nach vorne, öffnete vorsichtig das Laub werk und bahnte mir so meinen Weg auf den Spuren der Tasche. Immer mehr Kot ließ erahnen, daß die Fracht für dieses kleinen Kerl chen ungeheuer schwer gewesen sein mußte. Und obwohl ich mich nicht für Tarzan hielt, glaubte ich doch, anhand der hier und da vorkommenden Bluttropfen und Fellstücke erahnen zu können, daß es einen ständigen Streit um die Beute gegeben hatte. Etwa dreihundert Meter von dem Felsen entfernt fand ich Wim mers Tasche. Wenn der Marinesoldat sie als erster entdeckt hätte, wäre sein Aufschrei wohl noch schmerzhafter gewesen als bei der Attacke der Killerameisen. Das so sehr begehrte Stück als Tasche zu bezeichnen wäre eine Beleidigung für jedes Gepäckstück gewesen. Ihr Zustand erinnerte mich an die Maus, die ein Uhu einmal vor meine Augen wieder gekäut und dann ausgespuckt hatte. Der Gedanke, was aus dem In halt des Seesackes geworden sein konnte, trieb mir den Schweiß auf die Stirn. Das größere Problem waren allerdings die Affen, die sich auf den Überresten breitmachten: mindestens fünf ausgewachsene Paviane. In angemessener Entfernung blieb ich stehen und dachte angestrengt nach. Einer der Affen sprang ins Gebüsch, doch die anderen vier 314
versuchten, den Stock zu ergattern, als ich ihn in ihre Richtung schwang. Also versuchte ich, sie mit meinem Blick zu verscheuchen, wie ich es von Radsch Kumar Singh gelernt hatte. Er hatte mir da mals beigebracht, daß Tiere manchmal vor dem starren Blick eines Menschen zurückschreckten. Leider ist es nicht einfach, mit einem Blick gleichzeitig vier Au genpaare festzunageln. Ich schaute und schaute, und plötzlich wur de mir beinahe schwindelig. Ihre bösartigen, gelben Augen bohr ten sich direkt in meine, und wenn jetzt die Tasche bei mir gewe sen wäre, hätte ich sie ihnen sicherlich bedingungslos ausgehändigt. Aber sie war bei ihnen, und ich war derjenige, der den Inhalt brauch te. Ich, und die anderen. Die Palmen über mir rauschten, flüsterten miteinander. Die Pa viane hatten mich nach allen Regeln der Kunst eingekreist. Angriff soll die beste Verteidigung sein. Also stieß ich wieder mei nen Kampfschrei aus und stürmte auf die Vierergruppe zu. Der größte und dickste von ihnen versuchte, meine Keule zu er wischen, erreichte aber nur, daß er eins auf die Finger bekam. Er kreischte mit erschreckend menschlicher Stimme auf. Es wurde prompt als Zeichen zum Angriff mißverstanden, und plötzlich ka men sie von allen Seiten und Höhenlagen auf mich zu. Die nächsten Sekunden gehörten nicht zu den besten meines Le bens. Meine Abscheu war vielleicht noch größer als die Angst. Ich spürte, wie sich scharfe Zähne in meine Schulter gruben, und nur in letzter Sekunde konnte ich noch ein Maul zur Seite schlagen, das sich an meiner Halsschlagader zu schaffen machen wollte. Inzwi schen lag ich schon auf dem Boden, die Affen sprangen wie ver rückt auf mir herum, zerfetzten den wunderschönen Seidenkimo no von Vang Pin und hatten dasselbe auch mit mir vor… Natürlich gab ich mich nicht so leicht geschlagen. Ich trat und schlug nach ihnen, biß vielleicht auch das eine oder andere Mal zu. Dabei schrie ich wie am Spieß; verzerrte Gesichter, glühend gelbe Augen und haarige Schnauzen sprangen vor meinem Kopf hin und her. Neben den Krallen schmerzte das Gekreische am meisten. 315
Ich kämpfte mit aller Kraft, und dann wurde mir auf einmal klar, daß es aus war. Ich konnte nicht entkommen! Gegen die Legion von gut zwanzig Kilo schweren Affen hatte ich keine Chance … besonders ohne Waffe. Es war, als ob ich ein Erdbeben mit bloßen Händen aufhalten wollte. Ich hatte mein Zeitgefühl total verloren, auf meine Uhr zu schau en wäre genauso überflüssig wie undurchführbar gewesen, aber es waren sowieso nur ein paar Minuten vergangen. Als das letzte biß chen Kraft verschwendet war, konnte ich nur noch meinen Kopf schützen. Insgeheim hoffte ich vielleicht, daß sie es irgendwann lang weilig finden würden, mich zu verdreschen, und sich wieder den schö neren Dingen des Lebens widmen würden. Ob sie das letztlich tatsächlich vorgehabt hätten, kann ich nicht sagen. Geld hätte ich auf diese Möglichkeit jedenfalls nicht gesetzt. Ich lag auf dem Bauch und schützte meinen Nacken. Mit dem Trampeln hörte ich auf, als ich bemerkte, daß ich meistens sowie so nur die Erde traf. Als es um mich herum irgendwie stiller wur de, ließ ich noch ein paar Faustschläge in der Umgebung verpuffen und hielt dann erschöpft inne. Langsam, sehr vorsichtig öffnete ich die Augen und drehte mich auf den Rücken. Der Wald schloß sich über mir, ich sah grüne Zwei ge, riesige Blätter und einen neugierigen Vogel mit seinem roten Schopf zu mir herabschauen. Ich zwinkerte ihm zu, woraufhin er sich mit aristokratischem Stolz von mir abwandte und so tat, als würde ich gar nicht existieren. Ich setzte mich auf und sah mich scheu um. Die Zweige regten sich nicht; entweder waren die Affen vollends verschwunden, oder aber sie warteten regungslos irgendwo über mir in den Baumkro nen. Ich konnte nicht fassen, daß ich ihnen entkommen war. Dann ent deckte ich einen regungslos daliegenden Pavian, einen der dickeren, nicht weit von mir entfernt. Ich konnte mir nicht im entferntesten denken, was ich mit ihm gemacht haben konnte, daß nun er an mei ner Stelle tot auf dem Boden lag. Soweit ich mich erinnerte, hatte 316
ich ihm im geeigneten Moment lediglich die Nase abreißen wollen, aber nicht einmal das hatte geklappt. Taumelnd kam ich in die Höhe, trottete zu ihm und drehte den Körper um. Ja, er hatte seine Nase noch. Als ich mich etwas genauer umsah, konnte ich noch mindestens weitere drei Leichen zählen. Allesamt waren es große, gefährliche Biester, wohl die Anführer der Kolonie. Ich verstand die Welt nicht mehr. Es war ausgeschlossen, daß ich sie umgebracht haben konnte. Oder etwa doch? Waren meine Schläge vielleicht härter ausgefallen, als vermutet? Ich war zwar kein Primatenforscher, glaubte aber den noch zu wissen, daß ein ausgewachsener Affe nach zwei linken Ha ken nicht einfach so den Löffel abgeben würde. Ich drehte den Pavian wieder auf den Bauch zurück und verstand plötzlich. Ich fuhr auf und hechtete ins Unterholz. Erst als ich mich mit dem Laubwerk getarnt hatte, fühlte ich mich in Sicherheit. Den Pavian hatte nicht ich getötet. Mein Fausthieb hatte mit Si cherheit nicht für sein plötzliches Ableben gesorgt. Es war das seltsame, raketenförmige Geschoß, das auch den Ma fioso umgebracht und sich in meine Decke gebohrt hatte. Aus ei ner rätselhaften Waffe abgefeuert, die ich mir nicht einmal vorstellen konnte. Wer weiß, wie lange ich mich im Gebüsch versteckt hielt, in den Ohren pochte mein sich nur langsam beruhigender Herzschlag. Die Tasche lag in meiner Nähe, und alle Affen waren verschwunden. Die lebenden, meine ich. Ich schaute auf meine Uhr, wartete noch fünf Minuten, und ent schied mich dann für eine genaue Untersuchung des Tatorts. Schon meine erste Bewegung brachte die Nachteile dieses Vorhabens zum Vorschein; der Kimono klaffte auf, als ob man ihn nach neuester Mode aus zwei Hälften zusammengenäht hätte. Mein Füße juck ten schrecklich. Von den Armen rutschte die Seide herab, und als ich so an mir heruntersah, konnte ich eigentlich keine Stelle sehen, an der sich nicht mindestens ein blauer Fleck oder tiefer Kratzer 317
befand. Ich sah aus, als hätte ich mich mit Wildkatzen um eine Maus gebalgt. Ganz zu schweigen von den Bissen, die hauptsächlich meine Schul tern zierten. Außerdem fühlte ich mich gerädert oder besser: wie von einer Dampfwalze überrollt. Die fünf Minuten hatten dennoch ihre Wirkung getan. Vielleicht war es das Wissen, nun endlich erbeutet zu haben, wonach ich ge sucht und worum ich gekämpft hatte; oder die Tatsache, daß ich diesen Kampf gewonnen hatte – wenn auch möglicherweise mit Hil fe eines rätselhaften Wilhelm Tells … ich weiß es nicht, jedenfalls kam ich wieder zu Kräften und kletterte auf allen vieren hervor. Zweimal ging ich um den Kampfplatz herum, fand aber nichts. Sämtliche Spuren hatten die Affen und ich gründlich verwischt, ich konnte einfach nichts erkennen. Inzwischen ging ich wieder aufrecht … nicht, daß mich der mys teriöse Schütze auch noch für einen gefährlichen Pavian hielt und am Ende abdrückte. Denn daß er mich – als Mensch – nicht treffen konnte, dafür aber kleinere und sicherlich flinkere Affen, schien un wahrscheinlich. Zeit zum Zielen hätte er während meines Kamp fes jedenfalls genug gehabt. Und wenn er meinen Tod gewollt hät te, wäre es wohl noch einfacher gewesen, sich zurückzulehnen und den Affen ihren Spaß mit mir zu gönnen. Statt dessen tötete er alle Anführer… Verflucht…! Der unbekannte Schütze hatte mir ja das Leben ge rettet! Über mir regte sich etwas. Ich schaute hoch und blickte in das Gesicht eines Pavians. Doch welche Veränderung… Anstelle des wil den Hasses sah ich Furcht und Entsetzen. Und dann merkte ich, daß er gar nicht mich anstarrte, sondern seine toten Gefährten. Ich stemmte die Arme in die Hüften, drehte mich langsam in alle Rich tungen und rief dabei unsicher: »Hallo… Ist da jemand…?« Der Affe riß erschrocken die Hand vor die Augen und verschwand wieder in der Baumkrone. 318
»Ist da jemand?« Der Vogel blickte nun endlich wieder auf mich herab, allerdings mit soviel Herablassung, daß ich ihm am liebsten etwas an den Kopf geworfen hätte. Meine Stimme klang dumpf, wie eine leere Tonne. »Bitte, antworten Sie doch! Wer ist da?« Doch der Wald schwieg. Ich nahm die anderen Körper unter die Lupe. In jedem steckte ein ähnlicher Pfeil, also versuchte ich die Stelle zu finden, von der man sie alle gleichzeitig abgeschossen hatte. Die Bäume waren als Deckung zwar nicht weit, jedoch hatten die auf mir herumtanzenden Affen bestimmt kein einfaches Ziel abgegeben. Außerdem mußte der Schütze ja auch noch aufpassen, daß er nicht mich traf. Am Ende wurde mir lediglich klar, daß mein Retter wahnsinnig gut mit dieser rätselhaften Waffe umgehen konnte. Ich versuchte noch einmal, die letzten Minuten des Kampfes zu rekonstruieren, sah mir von weitem die Position der Paviane zuei nander an und verstand nur eine winzige Kleinigkeit nicht: Wenn nämlich jemand binnen so kurzer Zeit vier Pfeile abschießen konn te, mußte er ein automatisches Gewehr oder etwas Ähnliches be nutzen. Allerdings wußte ich, daß solche Dinger nur sehr ungenau schie ßen können, selbst auf so kurze Entfernung. Und überhaupt: Wer schießt schon mit einer automatischen Waffe, einer Raketen-Ma schinenpistole, auf ein sich schnell bewegendes Ziel, das sich auch noch in direkter Nähe der zu schützenden Person befindet…? Irgend etwas stimmte also an diesem Bild nicht. Eigentlich stand mir keine überflüssige Zeit zur Verfügung, den noch wollte ich der Sache auf den Grund gehen. Schließlich hat te mir der Unbekannte das Leben gerettet: Er hatte auf die Pavia ne gezielt und sie auch mit tödlicher Schnelligkeit und Sicherheit getroffen. Und dann kam ich plötzlich dahinter. Die Idee war im ersten Mo ment so abwegig, daß ich sie zunächst gar nicht wahrnehmen woll te. Es schien so unwahrscheinlich zu sein, was sich da als endgül 319
tige Schlußfolgerung anbahnte… Irgend etwas sagte mir, daß nicht ein Mensch auf die Affen ge schossen hatte. Die Geschosse waren aus mindestens zwei Gewehren abgefeuert worden.
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er Durst wurde immer schlimmer, also beschloß ich, mich erst einmal um die Tasche, beziehungsweise ihren Inhalt zu küm mern. Am liebsten wäre ich irgendeinem Wildpfad gefolgt, um eine Wasserstelle zu finden, aber ehrlich gesagt, hatte ich doch etwas Angst vor den Affen. Den Weg zurück kann ich nicht mehr beschreiben. Die lilafarbenen Flecke tauchten wieder in meinem Blickfeld auf und drehten sich mit monotoner Beharrlichkeit geradewegs in mein Gehirn hinein. Irgendwie erreichte ich jedenfalls die Stelle, wo ich Mal und den Navysoldaten zurückgelassen hatte. Die darauffolgenden Minuten fehlen in meiner Erinnerung. Wim mer stand plötzlich über mir und sprenkelte kaltes Wasser auf mein Gesicht. Ich wollte mich hochstemmen, aber er drückte mich auf den Boden zurück. Dann sah ich Mal, die sich über mich beugte, und ich glaubte Tränen in ihren Augen zu entdecken. Die ganze Zeit über fühlte ich mich, als bestünde mein Körper aus einem ein zigen, großen Schmerzzentrum. Und dann dachte ich, das alles hier käme der Erfahrung am nächs ten, die Wüstenreisende kurz vor dem Verdursten empfanden. Sie wähnen sich in einem kristallklaren See und schlürfen das gute Naß so lange in ihrer ganz persönlichen Fata Morgana, bis ihr lebloses Gesicht in den Sand fällt. 320
Zum Glück kam ich schnell wieder zu mir. Als ich nicht nur mei nen Geist, sondern auch den Körper wieder kontrollierte, setzte ich mich auf. Mein erster Blick fiel auf Wimmer, der neben seiner Tasche saß und das zerfetzte Etwas zu öffnen versuchte. Meine Hand suchte nach der MP, aber sie war nicht in meiner Nähe. Ich wurde das dumme Gefühl nicht los, daß der Amerikaner Mal irgendwie ausgetrickst und mich jetzt in eine Falle gelockt hatte. Unsicher kam ich in die Höhe, aber wenn die Pilotin in diesem Moment nicht neben mir gestanden hätte, wäre ich sicher wieder auf die Knie zurückgefallen. Wimmer bemerkte es und grinste mich an. »Na, was ist los, Großer?« »Wo ist meine Maschinenpistole?« Er zuckte mit den Schultern und öffnete seine Tasche. »Suchen Sie sie doch…« Ich sah Mal an. Sie erwiderte zwar den Blick, aber mit so viel Ent setzen über meinen Zustand, daß ich mich fragte, ob ich nicht doch nur eine herumspukende Leiche war. »Mein Gott… Was ist mit dir passiert?« »Ein paar … Affen … ein kleiner Disput … unter Freunden. Wo ist meine Waffe?« Sie bückte sich und holte sie aus dem Gebüsch. »Hier.« »Wimmer!« Er hörte mich gar nicht, so sehr war er in die Inspektion seines Eigentums vertieft. »Wimmer!« »Was?!« »Hände hoch!« Er nahm sich nicht einmal die Mühe, mich anzuschauen. »Ach, hören Sie doch mit dem Quatsch auf! Sehen Sie denn nicht, daß ich beschäftigt bin?!« Er griff in seinen Seesack, holte etwas heraus und zeigte es mir. 321
Ich legte die MP zur Seite und hockte mich neben ihn. Er drehte sich zu mir um und machte die Tasche wieder zu. »Na?« »Genau damit hatte ich gerechnet«, sagte ich. »Woher wußten Sie es?« »Von dem, was Sie im Flugzeug erzählt haben. Ein paar fallen gelassene Worte können viel verraten…« »Und wer zum Teufel sind Sie denn nun?« Ich zog den Interpol-Ausweis hervor, der mich zwar nur in Pan da-Angelegenheiten zu etwas berechtigte, aber er las sowieso nur die großen Buchstaben und nickte schließlich. »In Ordnung. Ich glaube Ihnen. Die Dame… Mal war so nett und hat mich aufgeklärt. Sie sagte, Sie wären ein harter Kerl, aber ich hätte nichts zu befürchten.« »Danke.« »Danken Sie der jungen Frau. Sagen Sie mal, warum zum Teufel wollten Sie mich an die Ameisen verfüttern? Meine Füße brennen, als ob ich bei einem indischen Fakir Lehrstunden im Feuergehen genommen hätte. Ich dachte, Sie wollen mich umbringen!« »Sie waren ja nicht zur Kooperation bereit!« »Ihr Gesicht sieht so durchtrieben aus… Wie ein Terrorist. Au ßerdem kann ich von weitem sehen, daß Sie nichts von amerika nischen Soldaten halten. Oder irre ich mich da etwa?« »Nein, es ist in der Tat so.« »Sehen Sie. Mal hat sich meiner erbarmt und auch noch ein paar Dinge erzählt. Ich hab' ihr geglaubt.« »Ich wollte schon vorher einiges erklären, aber Sie waren ziemlich abweisend…« »Wieso, was hätten Sie denn an meiner Stelle getan? Sie binden mich vor einem Haufen Killerinsekten an, wollen meine Tasche klau en und werfen mir dann vor, ich wäre nicht sehr kooperativ?!« Ich setzte mich und winkte auch Mal zu uns auf den Boden. Gute zwanzig Minuten redete ich ununterbrochen und wurde dabei das dumme Gefühl nicht los, kleinen Kindern ein Märchen zu erzäh 322
len. Nur die können mit solcher Inbrunst Geschichten lauschen. Ehrlich gesagt, überraschte mich dieses intensive Interesse auch ein wenig. Es war fast so, als würden sie es nicht ganz ernst neh men, was ich da zusammentrug. Als ob es tatsächlich nur Märchen wären, über hübsche Prinzessinnen, kühne Ritter und viele böse He xen. Als ich fertig war, wurde es eine Weile still. Nur die Baumkronen rauschten über unseren Köpfen, vom Wind oder von den Bewe gungen der Affen in Bewegung versetzt. Ich ließ ihnen ein wenig Zeit. Nahm die MP in die Hand, kon trollierte das Magazin, ließ es wieder einschnappen und betrachtete zufrieden die Waffe. Wimmer kam als erster zu sich. Er stemmte die Ellbogen auf die Tasche und blickte mir direkt in die Augen. »Stimmt das alles?« »Nun, es sind Hypothesen. Allerdings würden sie erklären, warum wir hier sind.« »Abgesehen von mir.« »Sie, mein junger Freund, sind wahrscheinlich nur die Watte.« »Wie bitte?« »Watte. Sie persönlich müßten in der Tat nicht dabeisein. Aber man brauchte ein paar typische Fluggäste, damit die Sache nicht zu auffällig wurde.« »Sie meinen, ich bin nur zufällig hier?« »Höchstwahrscheinlich.« »Na, und die Kunsthandlung von Onkel John? Die Tonfiguren?« »Zufall. Sie haben nichts mit dem zu tun, was hier abläuft.« Er schüttelte den Kopf und strich sich über die Igelfrisur. »Das gefällt mir überhaupt nicht, Lawrence! So viele Zufälle gibt es nicht! Man hat mir beigebracht, daß man daran nicht glauben soll.« »Trotzdem bin ich der Meinung.« »Na ja. Und welche Rolle ist mir nun zugedacht?« »Die einer Leiche, genauso wie den anderen. Kein Mensch darf 323
diesen Ort lebend verlassen. Egal, ob Watte oder echt.« »Folglich würde mir nichts anderes übrig bleiben, als mich Ihnen anzuschließen?« »Ich fürchte, Sie haben es erfaßt, Wimmer.« Der Kampftaucher starrte in den Wald, als würde er dort die Lö sung suchen. »Ich frage schon gar nicht mehr, was Sie machen würden, wenn ich ablehne… Die Antwort haben Sie mir ja heute schon in Form einiger Ameisen gezeigt. Gut, ich mache mit… Obwohl, was wäre, wenn ich, einfach so, zu Fuß hinausstiefeln würde in die weite Welt? Ich weiß, daß westlich von hier der Mekong seine Bahnen zieht. Sagen wir mal, ich würde losziehen und immer geradeaus gehen, bis ich ihn erreiche… Glauben Sie, ich hätte eine Chance?« »Schwer zu sagen. Aber gut, nehmen wir an, die haben Sie.« »Wie groß, in Prozent?« »Ich würde es in Ihrem Fall eher in Promille ausdrücken…« Er griff sich in die Haare; dabei bemerkte ich, wie seine Hand zit terte. »Und wenn ich bei Ihnen bleibe und alles tue, was Sie verlangen?« »Oh, na dann … kommen wir in den Prozentbereich.« »Wieviel?« »Ich weiß es nicht. Aber auch wenn es nur eins zu hundert steht, würde es sich lohnen.« Er stand auf und reichte mir die Hand. Ich schüttelte sie. Fest und entschlossen. »Hören Sie«, sagte er plötzlich und zog seine Hand weg. »Sie soll ten wissen, daß ich Sie nicht mag! Selbst wenn Sie für Interpol oder wen auch immer arbeiten. Ich mag eigentlich überhaupt keine Eu ropäer. Aber wir Amerikaner sind immer kompromißbereit… Ich wer de mit Ihnen hier zusammenarbeiten, weil es unser beider Vorteil ist. In Ordnung?« Beinahe hätte ich losgelacht, und auch Mal sah ich an, daß sie es nur schwer zurückhalten konnte. »Und was die Tasche angeht, steht sie Ihnen natürlich zur Verfügung 324
… obwohl ich für dieses Eigentum der Streitkräfte der Vereinigten Staaten die Verantwortung trage … auch bei Mißbrauch. Diesmal allerdings, fürchte ich, habe ich keine andere Wahl. Oder irre ich mich da?« »Nein.« »Eines müssen Sie mir aber versprechen! Sie dürfen es nur … da für … benutzen!« Er konnte oder wollte die Sache nicht beim Namen nennen. »Es soll amerikanischen Interessen dienen?« »Nun…« »Eines kann ich Ihnen versichern. Ich werde es nur gegen dieje nigen verwenden, die uns umbringen wollen. Gut so?« Er salutierte. »Jawohl, Sir!« Er bückte sich, nahm die Tasche und stellte sie mir vor die Füße. Dann salutierte er noch einmal. Weiß Gott, aber irgendwie fühlte ich mich nicht besonders geehrt, von ihm das Eigentum der Navy ausgehändigt zu kriegen. Besonders, nachdem ich dafür bereits schon gegen eine ganze Af fenhorde gekämpft hatte.
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ir entschieden uns, die Tasche vorerst wieder zu dem Felsen zurückzubringen. Als Wimmer sie – diesmal etwas umsichti ger – deponiert hatte, setzten wir uns auf den Boden und lehnten uns an den harten Stein. Auf Wunsch der beiden wiederholte ich noch einmal alles, was ich über diesen verfluchten Fall bisher he rausbekommen hatte. Und wieder hörten sie mir mit derselben Fas zination zu wie beim ersten Mal. Erleichtert nahm ich wahr, daß 325
sie langsam anfingen, mir zu glauben. Und verstanden, was genau ich von Ihnen erwartete, speziell von Wimmer. Der Navysoldat lehnte sich zurück und seufzte. »Also wissen Sie…! Wenn ich all das in einem Bericht zusammen fassen müßte, würde ich bis an mein Lebensende daran arbeiten… Das ist ja wie in einem Roman…« »Das Leben schreibt bekanntlich die besten Romane«, antwortete ich weise. Ich fand mich gerade mit der Tatsache ab, daß Mal wohl nicht zum Lösen komplizierter kriminalistischer Rätsel geschaffen war, als sie nach langem Nachdenken ebenfalls zur Unterhaltung beitrug. »Leslie … ich habe furchtbare Angst!« Ich wollte vor Wimmer nicht den besorgten Liebhaber spielen, streichelte ihr aber trotzdem über die Haare. »In dieser Situation ist das ganz normal, Mal.« »Versteh mich nicht falsch, es geht mir nicht um mein Leben, ob wohl das natürlich auch blöd klingt. Nein, es ist etwas anderes… Ich weiß gar nicht, wie ich es ausdrücken soll… Es ist, als ob dies gar keine normalen Morde wären. Es … es sieht nicht wie ein üb liches Verbrechen aus. Äh … verstehst du, was ich meine?« »Ja, ich glaube, ich weiß, was du sagen willst.« »Als ob nicht einfach schlechte Menschen hinter der Sache ste hen würden, sondern das Böse selbst… Der Satan. Und … und wenn das so ist, sind wir dann nicht zu klein und zu machtlos, um da gegen anzukämpfen? Das ist es, was mir Sorgen macht, Leslie.« Seltsam, daß eigentlich auch Wimmer kurz zuvor etwas Ähnliches gesagt hatte, nur mit anderen Worten. Der Marinesoldat hielt den Terrorismus für die Ursache unserer Lage, eine ebenso mythische und körperlose Gestalt wie der Teufel. Ich hingegen war mir ziemlich sicher, daß unsere Gegner nur all zu reale Menschen waren, die uns aus ganz typisch menschlichen Beweggründen wie Schachfiguren in einem Spiel nach Belieben hinund herschoben. Obwohl es natürlich Ansichtssache ist, ob man hinter manch einer menschlichen Eigenschaft nicht doch irgend 326
einen diabolischen Einfluß wähnt. »Also wurde Mr. Schnurrbart auch umgebracht«, grübelte Wim mer vor sich hin, als wir bereits auf dem Rückweg waren und die ersten Dachspitzen von Vang Pins Residenz auftauchten. »Haben Sie irgendeine Vorstellung, wer das gewesen sein konnte?« »Selbstverständlich.« »Wer?!« »Später.« »Gut. Was kommt als nächstes?« »Ich suche mir eine Dusche, einen neuen Kimono und etwas Wundsalbe. Ich denke, unser Gastgeber wird diese Gegenstände auf Lager haben. Dann sehen wir weiter.« Wimmer wandte sich nun an Mal. »Und Sie, Miss?« Noch bevor sie antworten konnte, nahm ich demonstrativ ihre Hand. »Mal kommt mit mir.« Wimmer nickte. »Genau das hätte ich auch vorgeschlagen«, nickte er, drehte sich um und verschwand im Gebüsch.
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enn ich nicht gewußt hätte, daß Vang Pin ein Geschäftsmann und Hobbylandwirt war, hätte ich glatt annehmen können, er besäße eine Kimonofabrik. Für den total zerfetzten, den ich am Leibe trug, schenkte er mir ein atemberaubendes Seidenwunder, das sogar mich in Erstaunen versetzte. Und ich war sicher kein Anfänger in Sachen Asien… Ich schloß die Tür hinter dem Dienstboten und schälte mich aus 327
dem alten. Mal schüttelte anerkennend den Kopf. »Du siehst selten häßlich aus! Ich kann mir nicht vorstellen, was den Affen so an dir gefallen hat…« »Vielleicht mein herzliches Lächeln«, erwiderte ich. Sie trat zu mir und kratzte sanft über meinen Rücken. »Waren die Affen darin besser?« Ich tat, als wüßte ich nicht, worauf sie aus war, und zog den neu en Seidenmantel über. Ich tippelte auf den Flur, rein in den Dusch raum und stellte gerade das Wasser an, als erneut ein scharfer Fin gernagel über meinen Rücken strich. Ich drückte mir die warmen Tropfen aus den Augen. Es war Malgorzata. Ihr Kimono lag neben meinem auf dem Boden, und ihr kräfti ger, braungebrannter Körper versuchte, mich aus dem Wasserstrahl zu drängen. »He!« rief ich. »Was machst du hier?« »Was machst du hier?« fragte sie zurück. »Wieso… Ich war als erster hier, und nun…« Sie kniete sich unter dem Strahl hin, als würde sie nach einer run tergefallenen Seife suchen. »Das hier ist die Damendusche, Liebster«, meinte sie und hob den Kopf. »Wenn ein Mann hier eindringt, muß er dafür … bezahlen!« Als sie wieder zu Wort kam, zog sie mich zu sich herunter. Das Wasser klatsche auf unsere Köpfe, wie im tropischen Regenwald. Doch selbst dieses in unseren Ohren donnerartige Geräusch konn te nicht Mals zufriedene Gluckser übertönen.
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as Mittagessen hatte gerade begonnen, als wir ankamen. Wäh rend ich die anderen der Reihe nach anblickte, mußte ich mir ein Grinsen verkneifen. Ich sah ihnen deutlich ihre Verwirrung an, als sie meine Wunden bemerkten. Dr. Camus ließ seinen Löffel fal len und schaute mich entgeistert an. »Mein Gott, Mr. Lawrence…!« Ich drückte Mal auf einen freien Stuhl und pflanzte mich neben sie. »Guten Appetit«, meinte ich. »Ich hoffe, Sie sind alle wohlauf, trotz der Umstände…« Wilhelmina von Rottensteiner sah ebenfalls ziemlich erschrocken aus, als ich meine Hand nach dem Salat ausstreckte und dabei der hochrutschende Ärmel den Blick auf meinen mit Wunden übersäten Arm freigab. »Was ist denn mit Ihnen passiert, Käfermann? Ein paar wilde Kat zen getroffen?« Vorerst beachtete ich die Frage nicht. »Mr. Vang Pin?« schaute ich mich um. Aber keiner sollte dazu kommen, mir zu antworten. »Wissen Sie überhaupt, was hier heute nacht passiert ist?« fuhr mich Lisolette mit blitzenden Augen an. »Wissen Sie, daß…« »Ja« nickte ich. »Mal!« fuhr sie mit eisiger Stimme fort. »Mal, wo warst du heu te nacht?« Die Angesprochene zuckte zusammen und sah mich hilfesuchend an. »Wußtest du, daß man heute nacht die Frau unseres Gastgebers ermordet hat?!« »Ja, Lisolette.« »Dann frage ich noch einmal: Wo warst du in der Nacht?« Die Frage hing in der Luft, und die Stimme der Kopilotin hatte 329
seltsam eifersüchtig geklungen. Als wären die beiden nicht nur Kol legen, sondern… Dr. Camus hob beruhigend die Hand. »Bitte, bitte…! Meine Damen! Miss Mal … äh, daß ist doch Ihr Name, nicht wahr, meine Liebe? Miss Mal wird sicherlich eine Er klärung für ihr Fortbleiben haben. Übrigens glaube ich kaum, daß wirklich jeder ein Alibi für diese Nacht hat… Ich denke…« Er stammelte verzweifelt vor sich hin und wollte sichtlich mit al ler Kraft den Anschein einer gutbürgerlichen Tischgesellschaft auf recht erhalten. Frau von Rottensteiner quittierte dies auch sofort mit einem Auf schnauben. »Junge Dame, würden Sie bitte aufhören, hysterisch zu werden?!« herrschte sie die Kopilotin an. Die Mundwinkel der Blondine zuckten gefährlich, aber sie hielt sich zurück. Mit zitternder Hand nahm sie von dem Salat und fiel dann plötzlich in sich zusammen. Mit dem Kopf auf der Tischplatte weinte sie zwar nicht, aber ihre Schultern zuckten vor aufgestauter Nervosität. »Entschuldigung«, sagte sie nach einer Weile, und ihre grünen Au gen bohrten sich dabei in meine. »Ich … ich bitte um Entschuldi gung … ich … ich habe noch nie zuvor eine solche Situation durch gemacht. Bitte verstehen Sie … ich bin bisher nur Flugzeug geflo gen … und einen Mord habe ich höchstens im Fernsehen gesehen. Und dann … plötzlich … sitze ich mittendrin… Bitte verzeih mir, Mal!« Die Angesprochene stand auf, eilte zu ihr hinüber und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Lisolette… Wenn ich geahnt hätte…« »Es war einfach schrecklich, was ich durchstehen mußte«, mein te sie, und erbebte erneut. »Als heute nacht diese Frau umgebracht wurde, dachte ich schon, ich würde wahnsinnig. Ich wollte zu dir rübergehen, aber du warst nicht im Zimmer. Jede halbe Stunde habe ich angeklopft… Verzeih mir, Mal!« 330
Ich hielt die Zeit für gekommen, mich da einzumischen. »Miss Malgorzata hat die Nacht bei mir verbracht.« Van Broeken grinste und klatschte sogar demonstrativ in die Hän de. »Bravo!« »Und sie wird vorerst auch bei mir bleiben.« Diesmal gab es keinen Applaus. Van Broeken beugte sich nach vorne. »Ist das irgendwie von Bedeutung?« Die beiden Tennismädchen weinten der Abwechslung halber ge rade mal nicht, sondern grinsten nur dümmlich. Ich hätte ihnen am liebsten die gute Laune verdorben, hielt mich aber ein wenig zurück. »Ich bin der Überzeugung, daß der oder die Täter ihre bisheri gen Morde im Zusammenhang von weiteren, noch geplanten ver übt haben.« Dr. Camus hob die Hand mit einer weißen Serviette zwischen den Fingern. Er sah aus, als ob er sich einem imaginären Feind ergeben wollte. »Äh … soll das heißen Mr. Lawrence, daß der Mörder Ihrer Mei nung nach hier unter uns weilt?« »Genau das soll es heißen«, bestätigte ich leise. Was von den anderen mit Totenstille belohnt wurde.
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r. Camus legte die Serviette beiseite, was auch bedeuten konn te, daß er sich doch nicht ergeben wollte. Statt dessen spieß te er mit der Gabel ein paar Salatblätter auf, sah sie sich genau an, als würde es sich dabei um eine seltene Pflanze handeln, und hol 331
te tief Luft. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll… Was heute nacht passiert ist, ist einfach … unglaublich. Mindestens so unglaublich wie das, was Sie jetzt behaupten, Mr. Lawrence! Könnten Sie Ihre … Theo rie vielleicht etwas genauer erläutern? Und … äh … ich wollte eigentlich schon früher fragen, aber … könnten Sie nicht einmal ohne diese Maschinenpistole zum Essen kommen?« »Ich würde Sie gerne bitten, Mr. Vang Pin Bescheid zu sagen!« Hitzig fuhr er auf. »Mr. Vang Pin spricht gerade das Totengebet!« »Nun, dann eben, wenn er damit fertig ist. Außerdem können Sie ihm ausrichten lassen, daß er sein Gebet gleich auch noch auf an dere ausdehnen kann.« Die beiden Teenager klammerten sich aneinander wie zwei klei ne Äffchen. »Was soll das heißen, Lawrence?« fragte Frau von Rottensteiner. »Was, zum Teufel, wollen Sie damit schon wieder sagen? Und wie so müssen Sie eigentlich immer in Rätseln sprechen?« »Ich spreche durchaus nicht in Rätseln«, erwiderte ich und pack te mir meinen Teller voll. »Ich habe mich heute nacht etwas in der Gegend umgeschaut.« »Na und?« »Es wird Sie nicht alle gleichermaßen überraschen… Aber unser Flugzeug ist inzwischen buchstäblich vom Erdboden verschluckt worden.« »Was?!« »Wie gesagt. Verschluckt. Von einem Sumpf.« Großvater legte die Hand hinter das Ohr und schien so alles ver stehen zu können. Judy hielt ihren Mund so weit offen, daß die ge bratene Taube vor ihr auch blind den Weg in ihren Magen gefun den hätte. »Das ist nicht wahr!« »O doch … heute nacht hat irgend jemand oder, besser gesagt, haben mehrere Personen das Flugzeug auseinandergenommen, ab 332
transportiert und in einem Sumpf vom Erdboden verschwinden las sen. Sie können sich ja gerne bei der Piste umschauen … obwohl es nicht sehr ratsam ist, draußen herumzulaufen.« Nun, wenn es für den einen oder anderen keine Neuigkeit gewesen sein dürfte, blaß sahen sie trotzdem alle aus. Ich mußte zugeben, daß sie keine schlechten Schauspieler waren. Abgesehen vielleicht von den Tennismädchen, deren Fahrplan für diesen Zeitpunkt mal wieder Schluchzen und sich-in-die-Arme-fallen vorsah. Die Tür wurde geöffnet, und in Begleitung seiner Schwägerin trat unser Gastgeber ein. Er war bleich und vornehm, vielleicht etwas zu bleich. Der Diener, den Camus losgeschickt hatte, um Vang Pin zu holen, verschränkte die Arme vor der Brust und blieb neben der Eingangstür stehen. Allzu clever brauchte man nicht zu sein, um die großkalibrige Waffe unter seinem Umhang auszumachen. »Guten Appetit, meine Damen und Herren. Dr. Camus?« Der Franzose sprang auf, verbeugte sich und deutete auf die frei en Stühle neben uns. »Bitte sehr! Mr. Lawrence … äh…« Ho Lings Gesicht regte sich nicht einmal, als sie meine MP ent deckte, Vang Pin hingegen zuckte ein klein wenig zusammen. Er zö gerte einen kurzen Augenblick und nahm dann doch auf dem an gebotenen Stuhl Platz. Er breitete die Arme aus und zwang sich zu einem Lächeln. »Bitte verzeihen Sie, daß ich am Mittagessen nicht teilgenommen habe, aber Sie haben bestimmt schon erfahren, was heute nacht ge schehen ist. Ich … ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Bitte, ent schuldigen Sie…!« Er faßte sich ans Auge, doch nur ich sah aus der Nähe, daß es dort gar keine Träne zum Wegwischen gab. Die beiden Tennismädchen kapierten wohl erst jetzt, daß es um etwas ging, von dem sie noch keine Ahnung hatten. Das ältere wand te sich an Judy, und als die ihr kurz die Situation zugeflüstert hat te, schrie sie plötzlich auf, so daß der Diener an der Tür erschro cken nach seiner Waffe griff. 333
Das Mädchen hielt sich die Hand vor den Mund, und ich dach te bereits, wir würden jetzt einen Teil des Essens wiedersehen. Zum Glück fiel sie jedoch nur mit dem Kopf auf die Tischplatte und fing an zu heulen. Ihre Freundin leistete Schützenhilfe, und kurze Zeit später lagen sie sich wieder einmal heulend in den Armen. Wilhelmina von Rottensteiner wandte sich nervös an unseren Gast geber. »Sagen Sie, Mr. Vang Pin … haben Sie irgendeine Vorstellung da von, was hier in Ihrem Haus abläuft?!« Der Chinese schüttelte traurig den Kopf. »Ehrlich gesagt, nein… Meine Frau…« »Aber Sie werden doch wohl irgendeinen Verdacht haben, wer da für verantwortlich sein könnte? Oder sind Sie der Meinung, daß wir es mit einem Verrückten zu tun haben?« Noch bevor er antworten konnte, schaltete ich mich dazwischen. »Mr. Vang Pin befürchtet, daß man seine Frau wegen einer Sache umgebracht hat, die weit in der Vergangenheit zurückliegt…« »Vergangenheit? Was meinen Sie damit?« Ich schaute den Chinesen an, der kaum wahrnehmbar nickte. Ich deutete es als Erlaubnis, fortzufahren. »Nun, gewisse Kriminelle waren wohl hinter Mr. Vang Pins Frau her. Es tut mir leid, daß ich erneut nur so vage formulieren kann, aber viel mehr wissen wir bisher auch nicht.« »Wer ist dieser wir?« wollte Judy wissen. »Mr. Vang Pin und ich.« Großvater nahm die Hand hinter dem Ohr hervor und deutete mit dem knorrigen Zeigefinger auf meine Wenigkeit. »Wer sind Sie?« Ich hielt es für überflüssig, mich noch weiter verdeckt zu halten. Also zog ich meinen Ausweis hervor und hielt ihn hoch, so daß ihn jeder sehen konnte. »Interpol.« Daß sich meine Befugnisse auf die Pandamission beschränkten, verschwieg ich natürlich. 334
Wilhelmina von Rottensteiner schüttelte den Kopf. »Also ein Bulle…! Dabei hätte ich schwören können, daß Sie der Kerl sind, der damals unsere Käferpopulation ins Astronomische wach sen ließ…« »Ja, der bin ich außerdem«, versicherte ich ihr. »Interpol hat mich lediglich gebeten, einigen Dingen auf den Grund zu gehen.« »Aha…«, brummte Van Broeken. »Also haben Sie das Recht, uns Fragen zu stellen… Nun denn, nur zu! Und was Mr. Vang Pins Frau angeht, vielleicht würde es nichts schaden, etwas mehr über die Sa che zu erfahren, meinen Sie nicht auch?« »Natürlich«, spielte ich den Zuvorkommenden. »Falls Mr. Vang Pin es erlaubt.« Der Angesprochene preßte die Lippen aufeinander, und zuckte schließlich mit den Schultern. »Von mir aus. Ich würde es sowieso nicht verheimlichen können. Es hätte auch gar keinen Sinn.« Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück. »Sagt irgend jemandem von Ihnen der Name Roter Drachen etwas?« »Nein. Klingt aber gut«, meinte die Professorin. »Nun, der Rote Drachen ist der Herrscher über Glücksspiel, Pros titution und Rauschgifthandel von Hongkong bis Singapur. Die Ehe frau von Mr. Vang Pin war eine Zeitlang in engem Kontakt mit ihm … wie soll ich sagen, in sehr engem… Unser werter Gastgeber und meines Wissens auch Dr. Camus sind der Ansicht, daß der Rote Dra chen Mrs. Vang Pin aus Rache umgebracht hat.« Judy sprang auf und griff so fest nach der vor ihr stehenden Stuhl lehne, daß ihre Knöchel weiß hervortraten. »Soll das heißen … soll das … heißen…« Vor lauter Angst – oder Erregung – stockte ihr der Atem, und sie kam nicht weiter. Nichtsdestotrotz wußte ich, was sie fragen woll te. »Ja, das soll es, Miss Judy. Bitte behalten Sie alle die Nerven! Dr. Camus hat mir zwar seine Mißbilligung gestanden, aber immerhin kann ich behaupten, eine Waffe zu haben. Außerdem bin ich nur 335
ein freier Mitarbeiter von Interpol, was heißt, ich brauche mich nicht an … gewisse Vorgehensweisen zu halten! Ich benutze die Maschi nenpistole, wenn ich es für nötig halte und auch ohne Warnung, falls es notwendig sein sollte. Sofort, wenn ich irgendeine Gefahr wittere! Ich denke, jeder versteht, was ich meine?! Und hält sich da ran?!« Keiner antwortete. Demnach hatten sie verstanden.
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roßvater nahm Judy's Hand und drückte sie. Plötzlich schien sich das Blatt gewendet zu haben; nun war es das Mädchen, das Beistand brauchte. Ich bewegte meine MP ein wenig, gerade ge nug, damit sie es mitbekamen, und drehte mich auf meinem Stuhl so, daß ich auch den Diener an der Eingangstür im Auge behalten konnte. »Es ist nun so, daß wir relativ viel über den Roten Drachen wis sen. Unter anderem, daß er sehr an Kunstschätzen interessiert ist oder an allem, was irgendwie in bare Münze umzuwandeln ist. Mit anderen Worten, wir gehen davon aus, daß er hier unter uns sitzt und aus diversen Gründen Mrs. Vang Pin ermordet hat.« Plötzlich geschah etwas Unerwartetes. Das ältere der beiden Mäd chen, das erst vor kurzem aufgehört hatte zu weinen, sprang auf und hielt ein scharfes Tranchiermesser in den Händen. Ihre Finger waren weiß vor Anstrengung. »Mr. Lawrence…«, fing sie an, und ich wunderte mich nicht schlecht über die Veränderung, die sie durchgemacht hatte. So entschlossen war sie bisher in ihrem ganzen Leben sicherlich nur bei einem hoch dotierten Wettkampf gewesen, wenn die Gegnerin im Tie-Break den 336
Spieß umzudrehen versuchte. »Mr. Lawrence… Sind Sie sicher, daß der Rote Drache ein Chinese ist?« Ich muß sagen, selbst die letzte Nacht mitgerechnet, war dies wohl die anscheinend dümmste und doch logischste Frage des Tages. Und schon gab ich den Ball weiter an: »Mr. Vang Pin?« Unser Gastgeber breitete die Arme aus und ließ den Blick über den auf seinem Ärmel tanzenden blauen Drachen schweifen. »Persönlich bin ich ihm – zum Glück – nie begegnet. Es heißt aber, daß er…« Er zögerte, schüttelte unwillig den Kopf und fuhr dann doch fort: »Nun, die Meinungen gehen da auseinander. Trotzdem … bin ich überzeugt, daß der Rote Drachen kein Asiate, sondern ein Weißer ist… Europäer oder Amerikaner.« Die Stille war jetzt noch größer als nach meiner unheilvollen Be hauptung, er befände sich unter uns.
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s war Wilhelmina von Rottensteiner, die als erste zu sich kam. Sie klopfte mit dem Ende ihres Regenschirmes entnervt auf den Marmorfußboden. »Jetzt hören Sie mal… Sie behaupten, daß hier jemand herumsitzt, der in Wahrheit irgendein Drachen ist, und daß dieser Bandit Ihre Frau umgebracht hat? Und daß er mit derselben Maschine hier herkam, wie wir? Und daß es ein Weißer ist… Aber wer? Und üb rigens … wer hat denn die Leiche Ihrer Frau gefunden, Mr. Vang Pin?« »Mr. Lawrence.« Die Professorin deutete mit ihrem Schirm auf meine Brust. »Aha! Sie stecken ja in allem drin, was? Und wo haben Sie sie nun 337
gefunden? In Ihrem Schlafzimmer?« Es war sehr gefühllos, was sie von sich gab, aber Vang Pin war so in seinen Gedanken versunken, daß er es gar nicht mitbekam. »Nein, nicht dort«, antwortete ich ruhig. »Es war in der Da mendusche.« »Was zur Hölle hatten Sie denn dort zu suchen?« »Ich habe mich in der Tür geirrt.« »Aber natürlich. Ganz per Zufall gehen Sie in die Damendusche, und ganz zufällig finden Sie dort eine Leiche. Wie würden Sie denn Ihre Geschichte finden?« »Wenn ich sie umgebracht hätte, warum sollte ich dann dem Haus herren Bescheid sagen? Wollen Sie vielleicht andeuten, ich wäre der Rote Drache?« Alle zogen sich ein wenig von mir zurück. Die Professorin blickte mir lange in die Augen und zuckte dann mit den Schultern. »Warum nicht? Dieser Ausweis da kann ja auch gefälscht sein! Wenn Sie dieser Drache sind, könnten Sie sich für jeden Tag einen anderen drucken lassen. Kein Mensch hier glaubt Ihnen noch, Lawrence!« Vang Pin sprang auf und stellte sich ungeachtet des ihm zuge wandten Laufes der Maschinenpistole direkt vor meinen Stuhl. »Ich verlange eine Erklärung, Mr. Lawrence! Ich war so töricht und habe mein Haus für Sie alle geöffnet. Und nun muß ich mit Grausen erkennen, daß ich auch den Tod mit eingeladen habe. Je mand von Ihnen hat meine Frau umgebracht; und vielleicht haben die anderen ja recht, und Sie selbst waren es, Mr. Lawrence! Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, ich will Sie nicht beschuldigen! Aber was Sie hier tun, dagegen verwahre ich mich aufs schärfste! Sie han tieren mit einer Waffe herum und nehmen wortwörtlich mein Haus ein. Als ob Sie hier der Herr wären! Ganz zu schweigen davon, daß Sie auch etwas Rücksicht auf mich nehmen könnten. Schließlich hat man in der letzten Nacht meine geliebte Frau ermordet. Sie … Sie treten hier alle Rechte und Werte mit Füßen! Das ist … unge heuerlich! Können Sie mir eine Erklärung dafür geben?« 338
Ich gab Mal einen Wink, sich näher zu mir zu setzen, und legte die MP auf den Tisch. »Wollen Sie wirklich erfahren, was sich in Ihrem Hause abspielt?« »Wie können Sie denn das nur in Frage stellen…?« »Nun, in Ordnung. Da das Spiel sowieso bald in die letzte Pha se eintritt, werde ich wohl einige meiner Karten vor Ihnen aufde cken müssen. Sind Sie bereit, mir zuzuhören?« »Na, dann reden Sie mal«, ermunterte mich Frau von Rottensteiner. »Vielleicht werde ich auf meine alten Tage doch noch klug.« Ich wollte gerade anfangen, als Judy aufsprang. »Warten Sie! Wenn es so ist, und Sie wissen tatsächlich etwas, soll ten das dann nicht auch die anderen erfahren?! Mr. Vang Pin, wür den Sie bitte jemanden ausschicken, damit er die fehlenden Flug gäste hierherbringt?« »Das wird nicht nötig sein«, sagte ich mit Bedacht bissig. »Wer jetzt nicht hier ist, wird überhaupt nicht mehr kommen.« Die Teenager kreischten, und Judy stützte sich leichenblaß auf dem Tisch ab. »Was soll das heißen? Bitte…« Jetzt, wo der letzte Akt begonnen hatte, durfte ich nicht mehr ge duldig oder schonungsvoll sein. Das Spiel sollte ab jetzt nach mei nen Regeln gespielt werden. »General Villalobos wurde ermordet. Ich habe die Leiche selbst gesehen.« Wortlos starrten sie alle auf den Boden, nur die beiden Teenager schnieften vor sich hin. Judys Gesicht machte eine seltsame Ver änderung durch, ihr Blick wurde irgendwie abgeklärter. »Und Leichenfresser?« »Von ihm weiß ich nichts. Genausowenig wie von Mr. Hardy und Mr. Wimmer. Ich wäre nicht überrascht, wenn sie sich zusammen auf den Weg zum Mekong gemacht hätten. Bei allen dreien sind die Zimmertüren verschlossen gewesen…« Judy preßte die Lippen zusammen und schloß die Augen, um eine Träne zurückzuhalten. Ohne Erfolg. 339
Irgendwie tat sie mir leid. »Es könnte sein, daß Mr. Leichenfresser noch lebt…«, sagte ich ermutigend. Doch sie schüttelte den Kopf. »Nein… Das ist unwahrscheinlich. Wenn er leben würde, hätte er mich nicht hiergelassen. Wir hatten nämlich besprochen, daß er…« Sie biß sich auf die Lippe, doch ich wußte bereits, was sie sagen wollte. Ich hängte die MP über die Schulter und spazierte vor ihnen auf und ab. Dabei versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen, und als ich halbwegs damit fertig war, stellte ich mich vor das große Fens ter und schaute sie der Reihe nach an. »Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?« Keiner antwortete, nur Vang Pin winkte resigniert ab. »Wie bereits erwähnt, habe ich mich gestern nacht dazu ent schlossen, mich ein wenig umzusehen. Speziell das Flugzeug woll te ich unter die Lupe nehmen. Da hätte mich einiges interessiert… Aber mein Plan schlug fehl. Jemand war mir zuvorgekommen. Er hat die Maschine tranchiert und sie schön Stück für Stück in ei nem Sumpf verschwinden lassen. Was können Sie dazu sagen, Mr. Vang Pin?« »Wieso…?« hob er überrascht den Kopf. »Glauben Sie etwa, daß ich…?« »Nehmen wir es mal an. Das Problem ist nämlich dies: Diese Boe ing mußte auseinandergenommen werden! Mit einem Schneidbrenner, einer Schweißmaschine, Gott weiß womit! Und dann waren ziem lich viele Elefanten nötig, um das ganze Zeug abzutransportieren. Meines Wissens gibt es, abgesehen von Ihnen, niemanden, der die Möglichkeiten dazu hat: Meos, Elefanten, Werkzeuge. Oder wie se hen Sie das, Mr. Vang Pin? Wären Sie zu so etwas in der Lage?« »Nun, ja … aber warum hätte ich das tun sollen?« »Damit man uns nicht findet, sofern man überhaupt nach uns sucht. Damit man aus der Luft das Flugzeug nicht entdecken kann. Deshalb, zum Beispiel.« 340
»Ich dachte bisher, dazu würde es reichen, das Flugzeug, sagen wir mal, mit einem halben Wald voll Blätter zu tarnen… Oder wa ren Sie nicht bei der Armee? Da wird einem das doch beigebracht!« Ich zwang mir ein Lächeln ab. »Mr. Vang Pin, entweder spielen Sie perfekt den Unwissenden, oder aber Sie hinken meilenweit der Technik hinterher… Nun, nehmen wir mal an, irgendwo verschwindet ein Flugzeug. Sagen wir, an ei nem Ort, wo man es von oben nicht sofort entdecken würde. Also schaltet man in dem Suchflugzeug oder dem Helikopter – schwupp – die Infrarotkamera ein, und schon kann man die Umrisse der Ma schine sehen! Egal, wieviele Bäume sie drübergelegt haben. Mit die sen alten Tricks kann man heutzutage nichts mehr erreichen. Oder nehmen wir zum Beispiel die Ultraschallpeilung… Der ausgesand te und reflektierende Ton würde dem Sucher sofort verraten, wo die Maschine liegt.« Er schüttelte anerkennend den Kopf. »Nun, ich muß wohl eingestehen, daß ich wirklich nicht gut in formiert bin. Sehen Sie, ich wußte davon gar nichts! Wenn ich Ihre Maschine hätte verstecken wollen, wäre meine Wahl sicherlich auf Zweige und Blätter gefallen. Allerdings bleibt somit die Frage, wer es getan haben könnte.« »Beginnen wir doch bei den Elefanten. Wer hat hier in der Ge gend so viele zur Verfügung, um in einer einzigen Nacht eine Boe ing abzutransportieren?« »Vielleicht der Schwarze Prinz. Allerdings habe ich noch nie mit ihm gesprochen. Ja, und das Kloster. Sie haben auch eine Herde.« »Und die Meos? Könnten Sie nicht von ihnen etwas erfahren?« Vang Pin schüttelte den Kopf. »Ein Meo würde sich eher umbringen, als daß er seinen Auf traggeber verrät. Selbst wenn er am nächsten Tag bereits bei mir die nen würde… Nein, ein Meo vergißt seine Vergangenheit einfach.« »Äh … wer ist der Schwarze Prinz?« erkundigte sich Judy, die lang sam wieder zu sich gekommen war. »Der Eigentümer der anderen Bergkuppe. Villalobos wurde an sei 341
nem Pagodendach aufgeknüpft.« »Und woher … woher…?« »Ich war in der Nähe. Im Gebüsch.« Van Broeken sah mir spöttisch in die Augen. Er steckte einen Zahn stocher in den Mund und zerbiß ihn in zwei Hälften. »Na, und was haben Sie sonst noch in dieser ach so interessan ten Nacht gesehen, Lawrence?« Ich hätte erzählen können, wen ich alles neben der Piste beob achten konnte, aber das schien mir jetzt nicht wichtig zu sein. Nicht annähernd so wichtig wie das Spinnen meines Netzes, in das die Bösewichte hoffentlich arglos hineinspazieren würden.
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ls ob ich es zufällig tun würde, schob ich die Maschinenpistole zurecht und beantwortete erst dann die pathetische Frage. Und schmierte mein Netz schön mit Honig ein. »Natürlich. Ich hatte das Vergnügen, Huan-Ti zu treffen.« Noch nie zuvor in meinem Leben hatte ich solch verblüffte Ge sichter gesehen. »Wen?!« ächzte Judy. »Den Kaiser. Huan-Ti.« »Sie sind verrückt!« stellte Frau von Rottensteiner trocken fest. »Ja, das dachte ich am Anfang auch«, versicherte ich ihr. »Aller dings wurde ich eines Besseren belehrt. Huan-Ti hat zu mir ge sprochen.« »Sie haben bestimmt halluziniert«, sagte Großvater. »Aber nein!« Wilhelmina von Rottensteiner winkte nur ab und steckte ein Stück Würfelzucker in den Mund. 342
Vang Pin schien die Sache allerdings zu interessieren. Er strich sich über den dünnen Bart und hob den Zeigefinger. »Ich würde Mr. Lawrence nicht auslachen. An diesem Ort sind schon Dinge passiert … die, wie soll ich sagen … nicht alltäglich wa ren.« »Zum Beispiel?« »Ich erzähle es Ihnen, sobald Mr. Lawrence fertig ist.« »Nun, viel habe ich nicht mehr zu sagen. Das Flugzeug wurde zer stört, und ich habe versucht, den Spuren der Elefanten zu folgen.« »Und? Haben Sie die Boeing gefunden?« »Nein. Zumindest nicht auf diese Weise. Leider bin ich kein ge übter Fährtenleser. Außerdem ist die Gegend übersät mit Elefan tenpfaden. Als ob man diese Dickhäuter mit Absicht so getrieben hätte, daß sie möglichst viele Spuren hinterließen. Schließlich kam ich irgendwie bei einem Sumpf an.« »Ich kenne ihn«, nickte der Hausherr. »Und dort sah ich dann, daß man an genau jener Stelle die Ma schine versenkt hatte!« »Und wie sind Sie darauf gekommen?« »Es gab gewisse Anzeichen. Ein Koffer am Ufer, der wahrscheinlich von einem der Elefanten heruntergefallen war. Und dann … erwischte mich ein Meo.« Vang Pin schüttelte den Kopf, als ob man damit rechnen müß te, daß jeder Europäer im asiatischen Dschungel von Kopfjägern geschnappt wird. »Und…?« keuchte Judy. »Ich wäre beinahe umgekommen. Wenn … wenn mir nicht jemand im letzten Moment geholfen hätte.« »Wer?« »Das würde ich auch gerne wissen. Auf jeden Fall erledigte er, wäh rend ich eine Schlammkur machte, den Meo für mich.« »Und … wie?« »Sie meinen, wie er ihn getötet hat? Mit einer Halsschlinge, ei ner Garrotte. Sie wissen doch, was das ist, nicht?« 343
Judy zuckte zusammen und griff nach der Hand ihres Großvaters. »Und… Sie haben keine Ahnung, wer es war?« »Woher denn? Sicherlich derselbe, der auch für die anderen Mor de verantwortlich ist. Darauf deutet übrigens auch die kleine Ton figur, die ich dann neben der Leiche gefunden habe.« »Sie meinen, so eine, wie…« »Wie die Figur im Dschungel, bei der toten Stewardeß; und üb rigens auch bei den anderen Leichen. Mein Schutzengel erledigte den Meo und hängte diese kleine Puppe über seinen Kopf. Wenn ich an übernatürliche Dinge glauben würde, müßte ich jetzt sagen, es war Huan-Ti.« »Warum sollte er so etwas tun?« »Vielleicht aus Voraussicht. Er hat Angst, man könnte seine Ton armee finden. Und möchte verhindern, daß seine Beschützer in un würdige Hände fallen…« Plötzlich meldete sich Dr. Camus mit krächzender Stimme zu Wort. »Ich an Ihrer Stelle würde mit solchen Dingen keine Scherze trei ben. An Ihrer Stelle…« »Ich habe nicht vor, damit zu scherzen…« »Dürfte ich zu Ende sprechen? Ja, es kann sein, daß wir von oben beobachtet werden. Ich habe etliche Dinge gesehen, die nicht hät ten passieren dürfen, wenn es nach der Wissenschaft ginge. Ich bin Arzt, ich weiß, wovon ich rede. Und ich finde es überhaupt nicht komisch, daß jemand, der schon dort ist, seine Rechte verteidigt. Es ist noch keiner von dort zurückgekommen. Wieso sollte ich nicht daran glauben, daß sie mit uns Kontakt aufnehmen könnten, wenn sie wollen?« »Trotzdem hielt ich es für seltsam, daß Huan-Ti gerade mit mir reden wollte. Wieso nicht mit einem Landsmann? Wieso mit einem Fremden?« »Huan-Ti war auch ein Fremder«, mischte sich jetzt Ho Ling ein. »Ein Barbar. Er hatte blaue Augen und rotes Haar. Ein richtiger Bar bar.« »Woher nehmen Sie denn diesen Quatsch!« herrschte Großvater 344
sie mit unerklärbarer Heftigkeit an. »Huan-Ti war der größte Kai ser! Wie können Sie sagen, er war ein Barbar?!« Judy wurde rot und beugte sich zu ihm hinüber. »Du hast sie mißverstanden, Großvater! Sie sagt nur, daß er von barbarischer Abstammung war.« Großvater wollte den Streit fortsetzen, aber Vang Pin schnitt ihm das Wort ab. »Er war ein Barbar. Aber die Herkunft zählt nicht. Der Mensch wächst mit seiner Aufgabe. Dr. Camus hat wohl recht. Huan-Ti hat Sie mit Absicht auserwählt.« Ich beobachtete die Gesichter angestrengt, aber jeder schien ernst zu nehmen, was er gesagt hatte. Oder aber sie spielten es verdammt gut. »Trotzdem verstehe ich immer noch nicht, warum er gerade mich auserkoren hat.« »Weil der Kaiser anscheinend sicher ist, daß man sein Grab fin den wird, zusammen mit den Tonsoldaten. Vielleicht kann man da oben in die Zukunft blicken, wer weiß. Huan-Ti wollte, daß die Re liquien an einen würdigen Ort kommen. Und er hat Vertrauen in Sie, daß Sie dafür auch Sorge tragen werden!« »Verzeihen Sie, aber … es ist immer noch nicht ganz klar … ob wohl…« Dr. Camus zog die Augenbrauen hoch und lächelte mich trübe an. »Wie hat er zu Ihnen gesprochen?« »Was genau meinen Sie…?« »Haben Sie ihn auch gesehen?« »Nein, das nicht…« »Aber die Stimme haben Sie gehört?« »Ja, natürlich.« »Vom Sumpf aus?« »Schwer zu sagen … sie schien von überall her zu kommen. Aus der Luft, dem Sumpf, den Büschen…« »Wie hat er gesprochen?« 345
»Äh … chinesisch, natürlich.« Das Wichtigste hatte mich noch niemand gefragt, und ich war gespannt, wann es soweit sein würde. Schließlich war es Vang Pin, der die alles entscheidende Frage stellte. »Und was wollte er von Ihnen? Ein Versprechen, daß niemand sei ne Ruhe stören wird? Im Gegenzug dafür, daß er Sie gegen den Meo beschützt hatte…?« Ich machte eine effektvolle Pause und spielte scheinbar gedan kenverloren an der Waffe. »Im Gegenteil, Mr. Vang Pin… Huan-Ti hat ausdrücklich verlangt, daß ich sein Grab und die Tonarmee suche. Dr. Camus wird wohl recht haben, der Kaiser hat irgendwie Vertrauen zu mir gefaßt. Er weiß anscheinend, daß ich den Schatz, sofern ich ihn wirklich fin den sollte, dem chinesischen Volk übergeben werde und die Ton soldaten nicht an amerikanische Millionäre verscherbele. Und viel leicht … vielleicht empfindet er auch etwas Zuneigung für mich…« »Ach was.« Frau von Rottensteiner spitzte anzüglich die Lippen. »Ich wußte gar nicht, daß die chinesischen Kaiser so wild auf Eng länder sind!« »Aber ich bin doch gar keiner«, lächelte ich ihr zufrieden ins Ge sicht. »Nein?!« »Ich stamme aus Ungarn.« »Tja, das habe ich nicht gewußt… Aber ein Chinese sind Sie trotz dem nicht.« »Nun, das zwar nicht, aber … vielleicht haben vor langer, langer Zeit, in den Tiefen der Geschichte, Huan-Ti und meine Vorfahren einmal ein Treffen abgehalten. Ich meine, sinnbildlich. Schließlich hatte er blaue Augen und rote Haare. Er war ein Barbar. Und er weiß, daß ich ebenfalls aus einem Barbarenvolk stamme. Deshalb vertraut er mir.« »Wollen Sie mir tatsächlich weismachen, daß Sie diesen Unsinn auch noch glauben…?« schüttelte die alte Frau den Kopf. »In nicht wenigen Regionen der Welt werden viel gröbere Dumm 346
heiten zur staatlichen Ideologie gemacht… Aber Sie haben recht, wir schweifen von der Realität ab. Wichtig ist eigentlich nur, daß mir Huan-Ti mitgeteilt hatte, wo ich seine Tonarmee finden kann.« Das schlug natürlich ein wie eine Bombe. Großvaters Hand rutschte hinter seinem Ohr weg, Judy fuhr auf, und Wilhelmina von Rottensteiner fixierte mich mit ihrem Blick wie der Wolf die Henne. »Könnten Sie das wiederholen?!« »Wie Sie wünschen. Ich-weiß-wo-die-Tonarmee-versteckt-ist!« »Wo?« »Hier ganz in der Nähe. Bei dem Dreispitzberg.« »Das sagt die Legende auch. Haben Sie eine Ahnung, wie viele solcher Märchen überall in China kursieren?« »Ja. Allerdings habe ich ziemlich viel Hoffnung bei diesem hier.« »Wieviel mehr ist diese Legende denn wert als all die anderen?« Ich verzog entnervt das Gesicht, was mir nicht einmal schwerfiel. »So viel, daß ich mich im Gegensatz zu den anderen Märchen erzählern selbst von einigen Dingen überzeugen konnte, die die Sa che etwas glaubwürdiger gestalten. Legenden und Sagen kann es Tau sende geben, aber Huan-Ti tötete nur meinen Gegner und sagte nur mir, wo ich sein Grab finden kann! Wie können da die anderen Ge schichten mit meiner konkurrieren?« Meine Augen glänzten wohl – mit Absicht – wie im Wahnfieber, was Frau von Rottensteiner auch sofort mit einer Bemerkung be stätigte. »Sie haben den Verstand verloren«, meinte sie ernst. Ich blickte auf meine Uhr und lächelte gezwungen. »Geben Sie mir noch fünf Minuten?« Vang Pin war gerade im Begriff gewesen, aufzustehen. Er schau te mich fragend an und setzte sich dann unwillig wieder. »Worum geht es?« »Ich möchte Ihnen eine alte Geschichte erzählen.« »Ist das absolut notwendig? Der Tod meiner Frau…« »Ich verspreche, sie wird Ihnen gefallen. Auch den anderen… Al 347
len wird sie sehr gefallen.« »Was wird es?« krakelte Großvater, der wieder einmal den Faden verloren hatte. »Was sagt dieser Kerl?« »Ich werde mich kurz fassen und versuchen, das Drumherum weg zulassen. Es geht nur um die Fakten.« »Sie machen mich neugierig«, sagte Frau von Rottensteiner. »Ich hoffe, Sie haben nicht vor, auf das Treffen oder, Gott bewahre, die Verwandtschaft zwischen Huan-Ti und Ihren Vorfahren einzugehen?« »Nicht im entferntesten. Die Geschichte ist viel jünger. Kaum ein paar Jahrzehnte alt. Aber zwischenzeitlich hat sich viel verändert.« »Wem sagen Sie das…?!« »Damit Sie wirklich alles verstehen, muß ich aber doch etwas wei ter ausholen. Es fängt mit Huan-Ti und seinen Tonsoldaten an. Nein, nein, keine Angst, es geht nicht um meine Vorfahren… Ich wollte nur sagen, daß seit Jahrhunderten Gerüchte und Legenden über die verborgene Tonarmee des Kaisers kursieren. Wobei diese Geschichten interessanterweise immer mit irgendwelchen konkreten Fundstellen verbunden sind.« »Was soll Ihrer Meinung nach denn daran interessant sein?« er kundigte sich die Professorin. »Es ist ganz natürlich, gewisse mar kante geologische Orte mit Legenden und Sagen in Verbindung zu bringen! Es gibt mindestens hundert Orte, die speziell mit der Ton armee in einem Atemzug genannt werden.« »Richtig. Genau darum geht es. Überall in China gibt es Berge oder auch nur Hügel, die angeblich den Schatz des Huan-Ti mar kieren. Die Armee des Kaisers.« »Na und?« »Diese Legenden erreichten irgendwann Anfang dieses Jahrhun derts auch Europa, vielleicht sogar noch früher. Es wurden meh rere einschlägige Artikel verfaßt, obwohl die Wissenschaftler selbst die Sache nicht allzu ernst nahmen. Höchstens Ethnographen, die an der Folklore der jeweiligen Region interessiert waren. Für sie war der Begriff des verborgenen Schatzes so wichtig. Denn es ging nicht nur um die Tonarmee, sondern auch um das Grab des Huan-Ti selbst. 348
Und um die rätselhaften Schriftrollen, die all das Wissen und all die Geheimnisse der damaligen Zeit beinhalten sollten.« Die Tennismädchen sperrten Mund, Augen und Ohren auf, ver gaßen vor lauter Interesse sogar das Heulen. Dieser Erfolg erinnerte mich an die schönsten Jahre meiner akademischen Laufbahn. »Die Folkloristen waren daran interessiert, welchen Zusammen hang es zwischen Huan-Ti und den großen Wissensströmen des Al tertums gegeben haben mochte. War die Idee mit der Tonarmee eine typisch chinesische, oder wurde sie von ägyptischem, griechischem oder persischem Gedankengut beeinflußt? Oder verhielt es sich ge nau umgekehrt? Erreichten die Werke des chinesischen Geistes den Westen und befruchteten dort die archaische Mittelmeer-Kultur? In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wurde lediglich in ethno graphischen Zirkeln über dieses Thema diskutiert und selbst dort nur sehr verhalten, schließlich hatte man die gnostischen Schriften der Kopten noch nicht gefunden. Auf jeden Fall, während sich die Folkloristen noch herumstritten, machten sich andere Forscher be reits auf den Weg. Es gab ein paar junge Leute in Amerika und Deutschland, die die Sache von einem ganz anderen Blickwinkel aus betrachteten. Sie sahen die Sache genauso wie Schliemann. Sie wissen schon, der Entdecker von Troja. Er hatte immer behauptet, daß die Geschichten von Homer einen großen Wahrheitsgehalt be säßen – daß es Troja wirklich gegeben hat. Und er hat die Stadt schließlich auch gefunden.« »Was hat das mit Huan-Ti zu tun?« schüttelte Vang Pin den Kopf. »Vorerst gar nichts. Diese jungen Archäologen dachten einfach nur etwas nach. Die Mauern von Troja lagen noch nicht so lange frei. Schliemanns Entdeckung hatte in diesen Kreisen einen ziemlich gro ßen Wirbel ausgelöst. Man könnte sagen, unter den jungen Wis senschaftlern war die Hölle los! Alle fingen an zu glauben, daß jede Sage, jede Geschichte und jedes Märchen ein Körnchen Wahrheit beinhaltete, wenn es auch noch so gering war. Man brauchte nur die kleinen Schnipsel zusammenzusuchen, und schon hatte man den Ort, wo man graben mußte. In diesen euphorischen Jahren dach 349
ten diese besagten amerikanischen und deutschen Archäologen zum ersten Mal daran, daß man mit der deduktiven Logik eines Schlie mann auch ein anderes Rätsel lösen könnte.« »Das von Huan-Ti«, nickte Judy. »Genau. Sie dachten, wenn Schliemann mit Hilfe der Epen von Homer Troja gefunden hatte, könnte dasselbe auch mit dem Grab des Kaisers passieren. Schließlich hieß es ja zu der Zeit, jede Legende würde den wahren Fundort verraten. Aber das sagte ich bereits… Nun, sie steckten die Köpfe zusammen und entschieden sich bald darauf, die Sache vor Ort zu untersuchen. In diesen Jahren – in den Zwanzigern – war China überhaupt nicht mehr so unerreichbar, wie man vielleicht glauben würde. Die Kolonialisierung war in vollem Gange. Als würden sich die westlichen Großmächte – allen voran die Vereinigten Staaten – dafür rächen wollen, daß das Land bis da hin allen äußeren Einflüssen getrotzt hatte. Wie hungrige Löwen auf ein verletztes Kalb, stürzten sie sich auf das Land. Und der auch aus militärischer Sicht unterlegene Staat konnte den Angreifern nicht lange standhalten. Ich will Ihnen hier keine Vorlesung in Markt wirtschaft halten, aber Sie können mir glauben, daß China trotz sei ner Armut ein riesiger Markt für die Industrieländer war. Da das Mandschurische Kaiserhaus nicht in der Lage war, diesen Riesen ins zwanzigste Jahrhundert zu führen, war es automatisch zum Scheitern verurteilt. 1911 brach die Revolution aus, in deren Verlauf man den letzten chinesischen Kaiser verjagte, die Republik ausrief und Sun Yat-sen zum Präsidenten machte. Die nächsten Jahre verliefen im Zeichen des Chaos. Bereits im da rauffolgenden Jahr scheiterte die Regierung, und Jüan Shi-kaj rief die Militärdiktatur aus. China zerfiel praktisch in die Hoheitsgebiete diverser marodierender Militärs; die zentrale Verwaltung brach zu sammen, jegliche Papiere und Pässe hatten höchstens in der Stadt Gültigkeit, wo sie ausgestellt worden waren, und das auch nur für kurze Zeit. Und warum ich das alles erzähle? Nun, um zu zeigen, daß Schlie mann einen schlechten Zeitpunkt gewählt hatte, um Troja zu fin 350
den. Er hätte es früher, oder aber viel später tun sollen – natürlich aus der Sicht der Expedition. Denn was nützte schon jugendlicher Eifer oder die Unterstützung diverser Stiftungen, wenn es keine reel le Chance gab, nach China zu kommen? Gut, Geschäfte machen konnte man … aber eine Forschertruppe in die Wildnis schicken…? Es gab zu jener Zeit keinerlei Sicherheiten, denn die verschiede nen Befehlshaber arbeiteten immer auf eigene Rechnung. Mit an deren Worten, sie lebten von Raub, Mord und anderen netten Ge schäften. Wenn ihnen eine westliche Expedition in die Hände ge fallen wäre, hätten die Mitglieder noch froh sein können, wenn sie mit den Kleidern am Leib nach Hause zurückkehren durften. Ganz zu schweigen davon, daß man ihnen sofort alles wegnehmen wür de, was sie eventuell bei einer Ausgrabung finden würden. Also ent schieden sich die Archäologen, die Fahrt erst einmal zu verschie ben. Bis sich in China die Verhältnisse ein wenig verbessert hatten. 1912 geschah aber auch noch etwas anderes, nicht nur der Fall der bürgerlichen Regierung. Der Kuomintang wurde gegründet, also die Nationale Partei, angeführt von Chang Kai-shek, die anfänglich alle demokratischen Kräfte vereinte, die um Chinas Zukunft besorgt waren. Sogar die Kommunisten gehörten zu diesem Zeitpunkt noch zu der Vereinigung. Nun, Chang Kai-shek wollte Ordnung schaffen, und das gelang ihm auch ungefähr zu dem Zeitpunkt, als er immer mehr nach rechts driftete und es mit den Kommunisten zum Bruch kam, also etwa 1927. Obwohl China zu jenem Zeitpunkt immer noch Tausende von Gefahren barg, waren der Kuomintang und speziell Chang Kai-shek stark genug, um zum Beispiel einer ausländischen Expedition Si cherheit zu garantieren. Die Archäologen, die damals die Idee einer Forschungsreise auf geworfen hatten, waren 1927 nicht mehr dieselben. Viele von ihnen waren inzwischen in mittleren Jahren und hatten vielleicht sogar schon ihren Jugendtraum vergessen. Unter Umständen waren es ihre ei genen Kinder, die die Geschichte der Tonarmee wieder ausgruben und das bis dahin zusammengetragene Material durchforsteten. Und 351
so, wie ich die Stiftungen in Amerika kenne, ist es gut möglich, daß sogar noch das Geld bereitstand, wahrscheinlich mit Zins und Zin seszins… Wer konkret den Vorschlag gemacht hat, die Expedition zu star ten, weiß ich nicht. Auf jeden Fall dürfte es Jahre gedauert haben, bis die Mannschaft zusammengestellt war. Ich weiß auch nicht, wer genau zu dieser Truppe gehörte. Hauptsächlich Amerikaner und Deutsche natürlich, aber es ist gut möglich, daß auch noch ande re Nationen ihre Wissenschaftler beisteuerten. Wenn ich jemals aus dieser Situation hier wieder herauskommen sollte, werde ich bestimmt eine Spur finden – sofern sie nicht alle verwischt worden sind.« »Was wollen Sie damit sagen?« flüsterte Judy. »Das erkläre ich noch. Also, Ende der zwanziger Jahre stand die Expedition bereit. Fünfzehn Forscher fuhren mit, genau fünfzehn. Das ist wichtig, Sie sollten es sich merken! Fünfzehn.« »Ist das irgendeine Glückszahl?« meinte Lisolette spöttisch. »Ich glaube kaum. Es war wohl Zufall, obwohl es bei solchen Un ternehmungen sicherlich eine Mindestteilnehmerzahl gibt. Sowohl zu viele wie auch zuwenig Köche könnten den Brei verderben … ver zeihen Sie den Vergleich. Fünfzehn muß wohl genau gestimmt ha ben. Ich glaube, Frau von Rottensteiner könnte hierzu etwas mehr sagen…« Die Professorin nickte trocken. »Um die Fahrt auch nur im entferntesten ausführen zu können, mußten sie sich natürlich erst einmal den guten Willen, mehr so gar noch, die Unterstützung der chinesischen Behörden sichern. Und die Chinesen haben sie ihnen schließlich auch zugesichert.« »Seltsam«, meinte Van Broeken. »So wie Sie das China der Zwan ziger beschreiben, würde das wohl sicher keiner erwarten.« »Trotzdem war dem so. Und die Erklärung ist auch ganz einfach: Wie bereits erwähnt, zersplitterte der Kuomintang 1927 in zwei Grup pen, nachdem sich die Kommunisten gegen Chang Kai-shek gestellt hatten. Er mußte nun nicht mehr nur gegen die verschiedenen Mi litärs Krieg führen, sondern auch noch gegen die Rote Armee. Auf 352
wen konnte er sich in diesem verzweifelten Kampf denn eher stüt zen als auf das westliche Ausland? Und die Sympathie, sofern ich dieses Wort benutzen darf, beruhte natürlich auf Gegenseitigkeit. Die Imperialisten konnten gegen die Kommunisten auch nur auf Chang Kai-shek setzen. Und was hätte seine Loyalität gegenüber dem Westen mehr zum Ausdruck gebracht als die persönliche Fürsorge und sein Wohlwollen in bezug auf eine deutsch-amerikanische Ex pedition? Ich glaube, unsere Archäologen wußten von alldem gar nichts. Oder wenn, so war es ihnen egal. Sie waren mit der Tonarmee beschäf tigt und mit der großen Chance, Huan-Tis Grab zu finden. Aufgrund der erwähnten politischen Umstände ging es relativ schnell, die nö tigen Unterlagen aus China zu besorgen, vielleicht sogar verbun den mit dem persönlichen Segen Chang Kai-sheks. Also konnte es endlich losgehen! Ob von Deutschland oder Ame rika aus – wer kann das schon sagen. Auf jeden Fall waren sie 1927 bereits in China angekommen.« »Woher wissen Sie das alles?« wunderte sich Van Broeken. »Es ist ja fast so, als wären Sie dabeigewesen…« »Leider nicht«, antwortete ich lächelnd. »Dann könnte ich Ihnen noch mehr Einzelheiten erzählen … und wäre wohl auch um eini ges älter… Die Expedition kam also an, wahrscheinlich in Peking. Leider kann ich nicht sagen, wie lange die Vorbereitungszeit gedauert hat oder wo genau sie mit der Suche anfangen wollten. Sicherlich ging es erst einmal in die dortigen Bibliotheken, vielleicht hat ja Chang Kai-shek sogar selbst geholfen und ihnen den Zutritt zu den geheimen Archiven des Kaiserlichen Palastes erlaubt. Mit Sicherheit waren unter den Forschern einige Sinologen, was nicht nur zum Durchlesen von Dokumenten notwendig war, sondern auch bei der Feldarbeit. Aber kehren wir für einen Moment zu General Chang Kai-shek zurück. Wir wissen, aus welchen Erwägungen heraus er die Expe dition willkommen hieß. Und wie wichtig es für ihn war, daß die Forscher erfolgreich waren. Stellen Sie sich vor, was für einen po 353
litischen Vorteil es ihm gebracht hätte, wenn seine Schützlinge die Tonsoldaten finden würden! Man würde die archäologische Sensation des Jahrhunderts in einem Atemzug mit seinem Namen erwähnen…! Er durfte nicht zulassen, daß den Forschern etwas zustieß! Das min deste, was er tun konnte, war die Entsendung Dutzender, wenn nicht sogar Hunderter von Männern, die der Expedition freies Geleit si chern sollten.« Ich wischte mir die Stirn ab, rückte die Maschinenpistole an mei ner Schulter zurecht und fuhr fort. »Es tut mir leid, aber wir müssen wieder auf ein Nebengleis. Chang Kai-shek hatte einen verläßlichen Vertrauensmann, einen hartge sottenen jungen Mann namens Lei Tshung-tao. Sein Leben liegt für uns zum größten Teil im dunkeln, es gibt keine Fotos von ihm, ei nige Details seiner Aktivitäten wurden bewußt geheimgehalten … nicht zuletzt, weil er 1927 bereits der Chef von Chang Kai-sheks Geheimpolizei war. Wir glauben, daß er bei all den geheimen Ver handlungen dabei war, die sein Chef oder dessen Abgesandte mit den abtrünnigen Generälen, Mitgliedern des gestürzten Kaiserhauses, den Kommunisten oder später den Japanern geführt hat. Und ob wohl er bei solchen Gelegenheiten natürlich immer dem Kuomin tang diente, ließ er es sich nicht nehmen, persönliche Freundschaften oder Zweckgemeinschaften aufzubauen. Lei Tshung-tao war klug und dementsprechend skrupellos. Es dürf te ihn kaum etwas anderes interessiert haben als seine eigene Kar riere. Kaltblütig verriet er alles und jeden, wenn es der Plan so ver langte. Sicherlich war er Chang Kai-shek für die Position des Ge heimdienstoberhauptes und den Rang eines Obersten dankbar, den noch hielt sich dieser Dank, wie wir später sehen werden, in Gren zen. Lei Tshung-tao war intelligent und raffiniert wie eine Schlan ge; er konnte mit den Seelen der Menschen spielen und hatte auch Geduld, wenn es nötig war. Chang Kai-shek übertrug ihm die Ver antwortung für die Expedition. Ob er sich darüber besonders freu te, weiß ich nicht. Ich denke wohl, eher nicht. Er machte seine Ar beit und versuchte darauf zu achten, daß den Forschern nichts zu 354
stieß. Weder über die Arbeit der Expedition noch über die Beziehung zwischen ihnen und dem Geheimpolizisten weiß ich etwas. Ich hal te es allerdings für wahrscheinlich, daß er immer wieder bei ihnen auftauchte und nach dem Rechten sah, um zu erfahren, ob es ih nen an nichts fehlt. Bei solchen Gelegenheiten erzählten ihm die Archäologen wohl auch etwas über die Legende der Tonarmee. Lei Tshung-tao war, wie erwähnt, ein intelligenter Mensch. Er hat te die Akademie in Nanking absolviert, dort, wo Chang Kai-shek und Tschu En-laj noch gemeinsam unterrichtet hatten. Der junge Soldat gehörte sicherlich zu ihren Lieblingsschülern… Da ihm die Forscher absolut vertrauten, zeigten sie ihm wohl ihre Quellen und stellten gemeinsam Theorien auf, wo sich der Schatz befinden könn te und wo wohl der große Kaiser seinen ewigen Schlaf gefunden hat te. Lei Tshung-tao wurde langsam, aber sicher besessener von der Le gende. Warum? Das dürfte mehrere Gründe haben. Zum einen sei ne bereits erwähnte Intelligenz. Er war geblendet von dem Mythos, von der Möglichkeit, ihn zu enträtseln. Er wollte dort sein, wenn das Grab gefunden, die unterirdische Kammer geöffnet wurde, Teil dieser großen Entdeckung werden. Nur am Rande füge ich hinzu, daß Sie daran auch sehen können, mit welcher Begeisterung und Berufung die Archäologen an die Arbeit gingen, wenn sie sogar die sen verwegenen, zu allem entschlossenen und sehr realistischen Men schen mit einer Sage derart beeindrucken konnten. Der Oberst fing an, der Geschichte Glauben zu schenken, und dachte Tag für Tag darüber nach. Dann fing er wohl an, die Mög lichkeiten durchzuspielen: Was wäre, wenn man das Grab wirklich finden sollte? Die Sensation würde jede Titelseite der Welt füllen, und eben dort würde auch sein Name stehen. Dann dachte er diesen Gedanken zu Ende und fragte sich, wie es wohl wäre, wenn nur sein Name auf den Titelblättern stehen wür de. Wenn man den Fund des Jahrhunderts einzig und allein ihm zuschreiben würde. Er würde in die Geschichtsbücher eingehen, man 355
würde Artikel über ihn schreiben, ihn in den Schulen verehren. Die Sache beschäftigte ihn wohl derart, daß er weitergrübelte. Und wenn ein Soldat grübelt, kommt selten etwas Gutes heraus. Lei Tshung-tao sagte sich bereits kurze Zeit später, daß ihm die Schul bücher egal, seine Karriere dafür um so wichtiger war. Blieb also nur noch die Frage, wie er die Expedition zu seinem persönlichen Vorteil nutzen konnte… Ja, genau das war die wichtige Frage. Und obwohl von einer Tonarmee noch weit und breit nichts zu sehen war, legte er sich schon eine Taktik zurecht: Mit den Kunstschät zen wollte er sich das Wohlwollen ausländischer Gönner erkaufen, die ihn dann auf den Regierungsstuhl katapultieren würden. Kann man sich überhaupt wundern, daß der geschickte und kluge Ge heimdienstchef zu dem Schluß kam, er müßte seinen Arbeitgeber verdrängen und dessen Platz einnehmen…? Aber Lei Tshung-tao war, wie gesagt, nicht dumm. Er wußte, daß das gerade erst begonnene Spiel mehrere mögliche Ausgänge haben konnte. China war für einen solchen Plan zu groß, die Bedingun gen und Gegebenheiten zu kompliziert und die Zukunft viel zu un klar. Er mußte damit rechnen, daß aus seinen hochtrabenden Träu men außer Luftblasen nicht viel übrig bleiben würde. Nicht nur, daß sich sein Präsidentenposten zerschlagen mochte, es konnte so gar sein, daß er seinen momentanen Posten verlor. Aber reich konn te er immer noch werden… Zum Beispiel, wenn er sich die Ton soldaten besorgte. Als er mit seinen Gedanken soweit gekommen war, wurde ihm klar, daß es vielleicht gar nicht gut wäre, wenn die Expedition Erfolg hät te. Wahrscheinlich 1929 oder 1930 fiel ihm zum ersten Mal ein, daß es seinen Zielen am meisten diente, wenn Huan-Tis Tonsoldaten erst dann auftauchten, wenn er die Erlaubnis dazu erteilte… Dazu mußten sie aber erst einmal gefunden werden. Der Oberst hatte inzwischen überhaupt keine Zweifel mehr, daß die Legende der Wahrheit entsprach. Daß Huan-Tis Grab tatsächlich existierte, genauso wie die Tonarmee; man mußte sie nur finden. Ich glaube, von diesem Moment an war er immer häufiger Gast bei der Expe 356
dition und wartete ungeduldig darauf, daß eine Spitzhacke auf dem Kopf eines Tonsoldaten landete. Die internationale Politik und manch ein geschichtliches Ereig nis machten ihm aber einen Strich durch die Rechnung. Sowohl in nerhalb Chinas als auch auf dem Weltparkett wurde es unruhiger. Die Nationale Revolution der Kommunisten im Süden mußte ge stoppt werden, im Dezember 1927 wurde die Kantoner Kommu ne ausgerufen, die ebenfalls vernichtet werden mußte. Chang Kai-shek hatte also genug zu tun. Da er immer mehr vor den schnell an Popularität gewinnenden Kommunisten um seine Macht fürchtete, unternahm er alles, um sie loszuwerden. Er kämpf te gegen die Kommunisten an, ließ viele Parteimitglieder hinrich ten, und führte Feldzüge in den nördlichen Regionen. Bis 1928 soll ten diese jedoch alle ohne Erfolg bleiben, bevor er dann schließ lich Peking einnehmen konnte. Sicher bin ich mir nicht, aber ich glaube, daß es zwischen dem Präsidenten und seinem Geheimdienstchef in diesem Jahr erstmals zu Reibereien kam. Lei Tshung-tao verbrachte immer mehr Zeit bei den Archäologen, anstatt sich um den Feind, in diesem Fall die Kom munisten, zu kümmern. Doch Chang Kai-shek ließ so nicht mit sich umspringen: Er rief den Oberst zu sich, beschimpfte ihn vor allen Leuten und ordnete ihm eine neue Aufgabe zu. Lei Tshung-tao muß te nachgeben, also hatte er sicherlich jemanden zur Expedition ge schickt, der ihm über jeglichen Fortschritt berichten sollte. Dann zog er sich zurück und verschwand im dunklen Nebel der Ge heimdienste.« »Was für eine schöne Ausdrucksweise«, grinste Frau von Rotten steiner. »China ist ja schließlich auch schön. Aber ich möchte mit den Dingen, die größtenteils auch mir nur aus zweiter Hand bekannt sind, fortfahren. Also, zurück zur Expedition…« Vang Pin stand auf und stützte sich auf den Tisch. »Eine hübsche und lehrreiche Geschichte, Mr. Lawrence … und zumindest für mich, wie alles, was mit meiner geliebten Heimat zu 357
tun hat, äußerst interessant. Eine Frage hätte ich allerdings: Was Sie da erzählt haben, ist das erfunden oder wahr?« »Ich habe bereits angedeutet, daß ich gewisse Dinge genau weiß, andere vermute und wieder andere wohl nie beweisen könnte. So sieht es aus.« »Ich verstehe. Und die Dinge, die sich Ihrer Meinung nach so und nicht anders abgespielt haben … nun, ähm … sind Sie sich da ab solut sicher, daß die so vorgefallen sind?« »Absolut.« »Aber warum?« »Ich habe Dokumente, die diese Ausführungen stützen.« »Haben Sie die etwa zusammengetragen?« »Warum ist das wichtig?« »Nur der Verläßlichkeit wegen.« »Ich verstehe. Nun … nein, sie sind nicht direkt von mir. Aber sie gehören einem fähigen Menschen, der jetzt nicht hier unter uns ist und der sich seit Jahren mit Lei Tshung-tao und dem Schicksal der Expeditionsmitglieder befaßt. Er hat mir seine Unterlagen, ähm … überlassen.« Unser Gastgeber verbeugte sich und setzte sich ohne ein weite res Wort wieder hin. »Gut, ich möchte dann gerne fortfahren. Also, zurück zur Ex pedition. Wir wissen, daß sie China erreicht hat, und wir wissen, daß sie unter den wachsamen Augen Lei Tshung-taos mit ihrer Ar beit begann. Wir haben auch einen kleinen Hinweis, wo die Ar chäologen gearbeitet haben. Ein Artikel aus einer deutschen Zei tung von 1930 berichtet davon, daß die Expedition kurz vor der japanischen Okkupation der Mandschurei irgendwo im Norden un terwegs gewesen ist. Denen, die in der chinesischen Geschichte nicht so bewandert sind, muß ich noch ein paar Dinge erklären. Im Herbst 1931 annektierte Japan einen größeren Teil Chinas, die Mandschurei, unter dem Vor wand, das Mandschurische Kaisertum wiederherzustellen. Allerdings war jedem klar, daß es in Wahrheit nur um die Erweiterung des ei 358
genen Machtraums und letztlich die vollständige Eroberung Chi nas ging. Unsere ahnungslosen Forscher wurden schließlich auch genau dort von der Invasion überrascht. Natürlich stellt sich hier die Frage, warum die Archäologen nicht schon vorher das Gebiet verlassen haben. Schließlich war der chi nesische Geheimdienst schon lange vor Ausbruch des Krieges über die Pläne der Japaner informiert gewesen. Nun, hier kann ich nur Vermutungen anstellen. Vielleicht war Lei Tshung-tao so sehr von seinen anderen Aufgaben eingenommen oder so weit von der Man dschurei entfernt, daß er sie einfach nicht warnen konnte. Vielleicht waren sie gerade irgendwo mit Ausgrabungen beschäftigt und un erreichbar … wer weiß? Und dann gibt es da auch noch eine drit te Möglichkeit. Chang Kai-shek hatte nämlich vorgehabt, sich mit den Japanern zu arrangieren. Er dachte, daß die Eroberer mit der Mandschurei und dem neuen Kaiserreich Mandschukuo zufrieden sein würden. Es gab erste Verhandlungen, geheime natürlich, und ich wäre nicht überrascht, wenn sich herausstellen würde, daß Lei Tshung-tao mit von der Partie war. Die Japaner versprachen Chang Kai-shek sicherlich, nur die Mandschurei zu besetzen, sofern er nicht allzu viel gegen die Marionettenregierung des letzten Kaisers Pu-ji unternahm. Lei Tshung-tao hat wohl auch ein Zusatzabkommen getroffen, wo durch die Expedition weiter ungestört arbeiten konnte und den Aus ländern nichts geschah. Während er selbst natürlich insgeheim im mer ein Auge auf sie werfen durfte.« Ich holte tief Luft und sah sie einen nach dem anderen an. Von Gesicht zu Gesicht schaute ich jedem direkt in die Augen. Und als ich dann wieder sprach, war meine Stimme fest und bedeutungs schwer. »In diesen Jahren haben dann die Archäologen die Tonarmee und das Grab des Huan-Ti gefunden.« Das Chaos hätte nicht größer sein können, wenn eine mittlere Bombe explodiert wäre. Alle sprangen auf und riefen durcheinan der. 359
»Unsinn!« schrie Vang Pin, aber sein erregtes Gesicht schien vom Gegenteil zu zeugen. »Die Legende kann nicht wahr sein!« Die Tennismädchen zeigten mir das internationale Siegeszeichen und grinsten, als ob wir drei gerade erst gemeinsam den Schatz ge hoben hätten. Als es langsam wieder ruhiger wurde, fuhr ich fort. »Doch, Mr. Vang Pin, es ist wahr. Die Tatsachen deuten darauf hin, daß die Expedition ihr Ziel erreicht hat.« »Woher wollen Sie das wissen?« »Ich werde es Ihnen gleich erzählen. Vorher aber müssen Sie noch ein wenig Geduld haben. Sie sollen genau verstehen, wie ich zu die sem Schluß gekommen bin. Also… Ein weiterer Zeitungsartikel aus Deutschland, diesmal von 1933, berichtet bereits von einer ver schwundenen Expedition. Die Zeit zwischen 1931 und 1933 ist und bleibt ein Rätsel. Formal war es nicht mehr China, wo die Forscher arbeiteten, also gab es überhaupt keine Nachrichten über sie. Wir wissen auch nicht, wie die japanischen Besatzungstruppen mit ih nen umgegangen sind. Es ist unklar, wieviel die Unterstützung Lei Tshung-taos wert war. Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, daß er zu dieser Zeit bereits für die Japaner gearbeitet hat.« »Woher nehmen Sie das alles bloß?« murrte mich Wilhelmina von Rottensteiner an. »Wie gesagt, viele Fakten sprechen für sich. Wenn sich jemand die Mühe macht und genau aufpaßt, kann er eine Menge herausfiltern.« »Und Sie passen natürlich ganz genau auf?!« Ich fuhr mit meiner Geschichte fort, als ob sie mich gar nicht un terbrochen hätte. »Die Archäologen fanden das Grab. Allerdings hatten sie irgendwie schon früher angefangen, Lei Tshung-tao nicht mehr zu trauen. Was ihre Vorsicht weckte, kann ich nicht sagen. Vielleicht sein über triebenes Interesse an der Tonarmee, vielleicht etwas ganz anderes… Oder daß er im von Japanern kontrollierten Teil Chinas herum spazieren konnte, wie es ihm beliebte. Oder die Japaner hatten et was verraten… Es gibt viele Möglichkeiten. Klar ist jedenfalls, daß 360
sie gewarnt waren. Und dabei spielte ein Franzose namens La Cos ter eine nicht unwesentliche Rolle. Leutnant La Coster.« »Aha … eben hieß es noch, es wäre eine deutsch-amerikanische Expedition gewesen…«, murmelte Frau von Rottensteiner. »Leutnant La Coster stieß erst später zu den Forschern. Von sei ner Person und der Tatsache, daß er die Archäologen erreicht hat te, erfuhr ich durch einen Privatbrief, den mein bereits erwähnter verläßliche Bekannter aufgestöbert hatte. Aber bevor ich zu dem Franzosen komme, würde ich Sie gerne noch etwas fragen: Ist Ih nen nicht aufgefallen, daß ich bei den Mitgliedern dieser Expedi tion nie irgendwelche Namen benutzt habe?!« »Ich wollte gerade nachfragen«, brummte Van Broeken. »Nun … ich kenne sie einfach nicht! Nirgends, in keiner Unter lage konnte ich Spuren der Namen finden. Als ob jemand mit vol ler Absicht diese Daten ausgelöscht hätte… Aber es kann natürlich auch Zufall sein. Eigentlich bin ich mir sogar sicher, daß man ir gendwo in Amerika, vielleicht in den Archiven der betreffenden Stif tung, auf die Namen stoßen würde. Warum es keine öffentlichen Aufzeichnungen gibt? Nun, möglicherweise waren es zu viele Na men für einen kleinen Zeitungsartikel, oder die Forscher baten selbst darum, anonym zu bleiben. Im Falle eines Mißerfolges wäre es ein fach gewesen, sich in die Namenlosigkeit zurückzuziehen. Das al les wäre gut möglich. Einen Namen allerdings kennen wir. Den von Leutnant La Coster.« »Ein Soldat, noch dazu Franzose, in dieser Expedition?« schüt telte Vang Pin ungläubig den Kopf. »Er war kein reguläres Mitglied der Truppe. Den etwas verwor renen Zeilen des Briefes nach zu urteilen wütete zu der Zeit irgendeine Seuche im Norden Chinas – dem könnte man übrigens anhand der damaligen Zeitungen aus dem Gebiet nachgehen. Jedenfalls schick te die französische Botschaft, aus welchem Grund auch immer, La Coster in die Region. Möglicherweise sollte er die Lage ausloten, vielleicht auch Hilfe leisten… Er könnte Militärarzt gewesen sein… Auf jeden Fall war er weit von Peking entfernt im Hinterland tä 361
tig. Wir schreiben inzwischen 1937, in der Weltpolitik wurde es im mer verworrener. Japan bereitete sich unverhohlen auf den Krieg gegen China vor, und im Sommer bot Mao Tse-tung dem Kuo mintang eine Allianz gegen die Japaner an. Chang Kai-shek nahm jedoch nicht an, im Gegenteil, er setzte alles daran, die Kommu nisten zu vernichten. Im Juli 1937 griff Japan an, womit dann der große Verteidigungskrieg Chinas begann.« Es war still im Raum, keiner fügte eine Bemerkung hinzu. Als ob alle – abgesehen von den Jüngeren natürlich – in Gedanken in die ses unheilvolle Jahrzehnt zurückreisen würden. »Uns obliegt es nun, der Spur der Expedition zu folgen. Zwischen 1927 und 1937 liegen genau zehn Jahre. Können Sie sich vorstel len, welch lange Zeit das ist? Und in der Zwischenzeit gab es kaum irgendeinen Kontakt zu den Forschern. Daß auch die Familien mitglieder und Freunde in Sorge waren, beweisen etliche Briefe und Zeitungsausschnitte. Aber wieso waren sie nicht zurückgekehrt? Wie so hatten sie sich nicht gemeldet? Wieso schrieben sie keine Brie fe nach Hause, wieso verbrachten sie ihre wichtigsten Forschungs jahre in China, ohne Kontakt mit der Heimat aufzunehmen?« Es war unheimlich still geworden. Hätte es im Raum Fliegen ge geben, hätte ihr Summen wie ein gewaltiges Donnern geklungen. »Es gibt zwei mögliche Antworten auf diese Frage. Erstens, sie wa ren in Gefangenschaft geraten. Zum Beispiel in die von Lei Tshung tao, der sie auf die Art zwingen wollte, für ihn die Tonarmee zu fin den. In den turbulenten Jahren hatte man sie auf internationaler Ebe ne bald vergessen, und auch Chang Kai-shek hatte Besseres zu tun, als sich um seine ehemaligen Schützlinge zu kümmern. Jeder konn te die Forscher gefangennehmen, keiner kümmerte sich mehr um sie. Die andere Möglichkeit wäre, daß sie selbst diese Abgeschiedenheit gewählt hatten. Sie wollten vor den Augen der Öffentlichkeit ver schwinden, weil … nun, weil sie die Tonarmee tatsächlich gefunden hatten! Und wissen Sie, wo?! In der Mandschurei!« Ich beobachtete sie genau, aber diesmal folgte keine Reaktion. 362
»Was die Mitglieder der Truppe natürlich nachdenklich machte. Wenn sie ihre Entdeckung in die Welt hinausposaunen würden, wäre es gut möglich gewesen, daß die Melodie nur bis Tokio kam. Die Japaner hätten die Tonsoldaten selbst ausgegraben und nach Hau se verschleppt, schließlich gehörte Mandschukuo selbst formal nicht mehr zu China. Ich glaube, ihrer Entscheidung ging ein langes und angestrengtes Überlegen voraus. Sie kamen zu dem Schluß, daß sie ihre Entde ckung vor den Japanern, ganz besonders aber vor dem ständig in ihrer Nähe herumschwirrenden Lei Tshung-tao geheimhalten muß ten. Wie es letztlich zu der großen Entdeckung gekommen war, könn ten heute nur noch die Beteiligten selbst beantworten. Vielleicht wa ren sie ja tatsächlich mit der Spitzhacke auf den Kopf eines Soldaten gestoßen. Auf jeden Fall konnten sie das große Ereignis verheim lichen. Und zwar ziemlich gut, wenn man bedenkt, daß es bis heu te nicht herausgekommen ist. Doch schon wartete das nächste Problem, das mit der allgemei nen Situation zu tun hatte. Was sollten sie mit der Armee tun? In der Erde konnten sie sie nicht lassen, dazu war das Risiko zu groß, daß der Schatz unwiderruflich zerstört wurde. Zum Beispiel, indem Häuser über dem Grab errichtet wurden oder die Japaner sie fan den. Oder daß sie einfach wieder in Vergessenheit geraten würde. Die Gegend konnte sich binnen kurzer Zeit so stark verändern, daß man die Stelle nie wiederfinden würde. Die Zukunft der Mandschurei war vollkommen ungewiß; wer konnte da schon voraussehen, was in ein, zwei Jahren passieren würde? Also setzten sie sich zusammen und kamen bald darauf zu dem Schluß, daß sie … daß sie die Armee ausgraben und an einen sicheren Ort schaffen mußten! Ich weiß, diese Idee klingt im ersten Moment sehr abwegig, aber dort, in der Situation, war es sicher anders. Wir können nicht wissen, um wieviele Soldaten es sich handelte. Um ein paar? Ein paar hundert? Eventuell Tausende? Und vergessen wir auch nicht, daß den Expeditionsmitgliedern alle Zeit der Welt zur Verfügung stand. Wir können nur rätseln, was 363
mit ihnen während dieser zehn langen Jahre passierte. Es ist gut mög lich, daß sie kurz nach dem schicksalhaften Ereignis einen Schwur leisteten, ihr Leben der Sache der Tonarmee zu widmen. Von Zehn tausenden von Archäologen … wie vielen eröffnet sich solch ein Le bensziel? Eine Entdeckung, die es wert wäre, sein Leben dafür zu opfern. Nun, sie entschieden sich, dieses Opfer zu bringen. Möglicher weise zählten sie die Soldaten, schätzten die Größe des Fundes ab und kamen zu dem Schluß, daß sie etwa zehn Jahre brauchen wür den, um den Schatz in Sicherheit zu bringen… Damit verbunden war natürlich auch sofort die Frage, wohin mit dem Schatz? Nach China? Vom Regen in die Traufe? Ihnen muß klar gewesen sei, daß die Besetzung der Mandschurei nur der ers te Schritt im Kampf gegen China war. Was würde es bringen, wenn sie zehn Jahre damit verbrachten, die Armee in Sicherheit zu brin gen, nur um dann plötzlich zu merken, daß auch dort schon die Japaner herrschten? Ich weiß nicht, wessen Idee es gewesen ist, ob die des inzwischen zu ihnen gestoßenen französischen Leutnants … auf jeden Fall mach te man sich auf den Weg über die Grenze – obwohl jede Grenze von dort ziemlich weit entfernt war. Man kann nur ahnen, daß die Suche nach einem geeigneten Gastland ziemlich lange gedauert ha ben mußte. Und warum man gerade diesen Ort hier gewählt hat, kann ich auch nicht erklären. Möglicherweise ist die Nähe zu Chi na dabei ein Faktor gewesen. Sie rechneten wohl damit, daß sich die Lage in ein, zwei Jahrzehnten stabilisieren würde, und dann wür de man den Fund ohne viel Aufheben zurückbringen können. Denn daß man vorhatte, ihn den Chinesen wiederzugeben, brauche ich wohl nicht extra zu betonen. Sie alle waren Besessene der chinesi schen Kultur und wollten ihre Entdeckung dem Volk zugute kom men lassen. Wie gesagt, war zu der Zeit wohl auch schon Leutnant La Cos ter bei ihnen. Die Japaner griffen 1937 Peking an, die französische Botschaft wurde evakuiert. Der in der Mandschurei hängengeblie 364
bene La Coster konnte nicht zurückkehren, also erhielt er den Be fehl, sich den Archäologen anzuschließen. Woraus man wiederum den Schluß ziehen kann, daß man in der französischen Botschaft – und somit sicherlich auch in den anderen – ziemlich genau wuß te, wo sich die Expedition zu jener Zeit befand. Ich habe große Lust, noch weiter zu gehen. Stellen Sie sich vor, was für eine heroische Tat es gewesen sein muß, den neuen Auf bewahrungsort zu suchen, die Grabkammer – mehr noch, ganze Ka takomben – auszuheben, und vor allem, die Tonarmee hierher zu transportieren! Ein wahrer archäologischer Langer Marsch, und ganz zufällig auch noch zeitgleich mit Maos Langem Marsch, den er sei nen Kommunisten abverlangt hatte… Unsere Forscher vollbrachten ein riesiges, unglaublich mühsames Werk! Vergessen Sie nicht, in den Dimensionen Chinas zu denken! Gott weiß, wie viele tausend Kilometer diese Menschen in den fol genden Jahren absolvierten, stets mit den gut getarnten Tonsolda ten im Gepäck… Und all das im geheimen, ständig in der Gefahr, entlarvt zu werden… Und plötzlich war alles vorbei. Die Tonsoldaten waren an ihrem neuen Platz, hier, am Fuße des Dreispitzberges.« Ich machte eine kurze Kunstpause und fuhr dann fort. »Man könnte also sagen, alles fand ein gutes Ende. Huan-Tis Schatz war vor den japanischen Räubern in Sicherheit gebracht worden, wo die Archäologen besseren Zeiten entgegenfieberten… Aber manch mal leistet sich das Leben die grausamsten Scherze… Und wieder ist es sehr schwierig, den genauen Ablauf zu rekon struieren. Wahrscheinlich fand Lei Tshung-tao, der sich inzwischen vollends von seinem ehemaligen Arbeitgeber Chang Kai-shek gelöst hatte und in den Dienst der Japaner getreten war, endlich wieder mal Zeit, den Forschern auf die Finger zu schauen. Und fand ir gendwie heraus, daß sie ihn übers Ohr gehauen hatten. Daß sie zwar die Tonarmee gefunden, diese aber auch schnurstracks vor ihm und seinesgleichen versteckt hatten. Vielleicht hat er sogar versucht, den geheimen Ort aus ihnen herauszuprügeln, oder es gab einen anderen Grund, daß er sie … ermorden ließ. Ich weiß es nicht.« 365
Die Stille wurde noch bedrückender, ich sah das Entsetzen in ih ren Augen. »Der Rest ist aus den Unterlagen des Internationalen Roten Kreu zes und anderer Organisationen bekannt. Bereits kurz nach der Grün dung der Volksrepublik in den Fünfzigern gab es einen Versuch, das Schicksal der verschollenen Expedition aufzuklären, dem von chi nesischer Seite aus überraschenderweise auch sofort nachgegangen wurde. 1951 wurde das Rote Kreuz informiert, daß man in der Nähe der Stadt Hangtshou auf ein Massengrab gestoßen sei, das höchst wahrscheinlich die ehemaligen Mitglieder der deutsch-amerikanischen Expedition barg. Sie waren von den Japanern getötet worden. Alle mit einem Genickschuß… Nein, nicht alle. Dem Schreiben nach wur den zwölf Leichen exhumiert. Die Forschergruppe hingegen bestand aus fünfzehn Personen, den später hinzugestoßenen Leutnant La Coster nicht mitgerechnet. Obwohl ich auch hier keinesfalls voll ständige Informationen besitze, gehe ich davon aus, daß diese feh lenden vier Personen verschont worden sind.« »Woher … wollen Sie das wissen?« stammelte Lisolette, und ich sah Tränen in ihren Augen. »Sofort, ich komme noch darauf zu sprechen. Leider ist das al les, was ich über die Expedition weiß. Und jetzt würde ich Ihnen gerne noch sagen, was meiner Meinung nach mit den übrigen Mit gliedern geschehen ist… Ich wiederhole, ich habe keinerlei Bewei se für das, was ich jetzt erzählen werde. Es kann durchaus nur eine Ausgeburt meiner Phantasie sein… Und doch möchte ich es erzählen, vielleicht ist es ja für einige von Ihnen lehrreich…« »Ach, wofür denn?« fragte Van Broeken. »Das sollte jeder für sich entscheiden«, antwortete ich und begann mit dem letzten Teil der Geschichte. »Lei Tshung-tao ließ die Expedition also bei den Japanern auffliegen – wann, wo und wie ist mir nicht bekannt –, auf jeden Fall irgendwann Ende der Dreißiger. Oder eventuell auch Anfang der Vierziger, als sich Japan bereits im Krieg mit den USA befand. Lei Tshung-tao dürfte wohl einiges in Bewegung gesetzt haben, um die Mitglieder 366
der Gruppe als Spione erscheinen zu lassen, was natürlich ihrem Todesurteil gleichkam. Und ich glaube, damit erfüllte sich dann auch ihr Schicksal. Die Japaner stellten sie einfach vor eine Grube und… Nun ja. Es gab aber ein paar Forscher, bei denen sie nicht genau wußten, was sie tun sollten. Oder anders gesagt, sie befürchteten, die gute Beziehung zum Deutschen Reich oder speziell Hitler zu gefährden, wenn sie sie töteten. Es geht natürlich um die deutschen Mitglieder der Ex pedition – wonach also drei der Forscher Deutsche waren. Die Ja paner entschieden, sie nicht umzubringen, sondern schön leise zu rück nach Deutschland zu verfrachten. Was dort mit ihnen geschah, gehört wohl zu den unlösbaren Rätseln dieser Welt. Noch einen Satz zu Leutnant La Coster. Auch er entkam wohl der Exekution. Ob man sich seiner medizinischen Fähigkeiten be dienen wollte oder sich über den Status eines Franzosen nicht si cher war, da ja Hitler gerade in Paris einmarschierte, bleibt unklar. Nun, das war es, was ich Ihnen erzählen wollte. Es erklärt vieles von dem, was mit uns passiert ist. Ich habe es berichtet, weil ich will, daß Sie nachdenken … und dann tun, was Sie tun müssen.« Ich zog die Maschinenpistole über der Schulter zurecht und gab Mal einen Wink, daß wir gehen konnten. Vang Pin stand auf und blickte mich leichenblaß an. »Wohin gehen Sie, Lawrence?« Ich drehte mich zu ihm zurück und schaute noch einmal jedem einzelnen intensiv in die Augen. »Heute nacht hat mir Huan-Ti gesagt, wo ich seine Tonarmee su chen soll. Ich gehe jetzt und werde sie finden. Ich will, daß sie nach China zurückkehrt! Und das wird sie auch!« Ich nahm Mals Hand und zog sie aus dem Raum. Hinter uns wur de es still, selbst das Stühlerücken hörte für einen Moment auf. Die Tür fiel mit einem lauten Knall ins Schloß.
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ls wir bereits im Wald waren, drückte mir Mal den Arm. »Du warst toll, Leslie! Sie haben es alle geschluckt!« »Danke.« »Und wie wahr ist das alles mit der Tonarmee?« »Sie ist hier irgendwo in der Nähe. Sagt jedenfalls Huan-Ti.« »Hör auf zu scherzen!« Ich tätschelte ihr die Wange. »Es ist kein Scherz, Mal! Ich schwöre dir, heute nacht habe ich mit Huan-Ti gesprochen.« Genervt riß sie ihren Arm aus meinem Griff und drehte den Kopf zur Seite. »Mal, es ist wirklich kein Scherz! Ich schwöre dir, ich sage die Wahr heit! Heute nacht, nachdem ich aus dem Morast geklettert war und mich gerade klitschnaß über den glücklicherweise getöteten Meo beugte, sprach er mich plötzlich an…« Ihre Augen blitzen gefährlich, als sie den Kopf schüttelte. »Willst du mir etwa weismachen, daß Tote so ganz einfach zu rückkehren und mit Leuten sprechen können?! Dir Befehle geben, wo du hingehen sollst, damit du ihr Grab findest?« »Ich will dir gar nichts weismachen! Am wenigsten, daß der tote Kaiser mit mir kommuniziert hat. Natürlich war es jemand, der sich für ihn ausgegeben hat.« »Aber weshalb?« »Eine gute Frage. Er will wohl erreichen, daß ich die Tonarmee finde.« »Aber … ich verstehe immer noch nicht so richtig, warum…« Ich dafür um so mehr. Ich verstand nur allzu gut. Und nahm mir vor, mich seinem Willen zu fügen; nur eben nicht ganz so, wie er sich das vorstellte. Verstohlen schielte ich zu ihr hinüber. Ich sah ihr an, daß sie im mer noch böse war und sich nicht so richtig entscheiden konnte, 368
wie wir nun zueinander zu stehen hatten. Ich machte halt und dreh te sie zu mir herum. »Mal, dafür ist jetzt keine Zeit! Ich schwöre dir, sobald wir die Sache überstanden haben, wirst du alles erfahren, von Anfang an. Alles hängt jetzt davon ab, wie raffiniert wir sein werden. Hast du die Waffe noch?« Sie nickte mürrisch. »Halte sie bereit. Und vertraue niemandem außer mir! Es ist äu ßerst wichtig, egal was irgend jemand sagt, daß du nur auf mich hörst. In Ordnung?« »Von mir aus«, meinte sie immer noch mißmutig. »Und wohin jetzt?« »Wir werden die Tonarmee suchen.« »Ich glaube, das hast du bereits gesagt. Was hat dir denn dein Kai ser zugeflüstert, wo sollen wir suchen?« »Unter der mittleren Kuppe des Dreispitzberges.« »Was ist da?« »Huan-Ti erwähnte irgendeinen weißen Stein.« Sie nahm meine Hand und hielt mich für einen Moment zurück. »Leslie…?!« »Ja?« »Ich möchte nur wissen, ob du dir ganz sicher in dem bist, was wir hier machen?« Ich lächelte und drückte ihr einen Kuß auf die Stirn. Und was ich antwortete, meinte ich auch so: »Ich weiß es nicht, Mal. Ehrlich ge sagt, habe ich keinen blassen Schimmer! Aber ich kann einfach nichts anderes tun, verstehst du?!« Sie nickte und klammerte sich an meinem Hals fest. Ein paar Se kunden lang standen wir einfach nur so da, dann ließ sie mich wie der los, trat einen Schritt zurück, holte ihren Revolver hervor und überprüfte ihn. Als sie mich anblickte, hatte sie wieder dieses maskenhafte Gesicht aufgesetzt, und ihre Augen glänzten fast schon glasig. »Okay, Leslie! Dann mal los!« 369
Ich nickte, und wir machten uns auf den Weg ins Unbekannte.
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ach einem kurzen Fußmarsch erschien plötzlich der Dreispitz berg vor unserer Nase, als ob er schon die ganze Zeit nur da rauf gelauert hätte, uns zu erschrecken. Es war kein Berg des Hi malajas oder der Mont Blanc, höchstens ein paar hundert Meter hoch, dennoch war er zumindest inmitten dieses Flachlands ein an sehnlicher Berg. Wir gingen in der Mitte eines ausgetrampelten Pfa des; ich machte mir keine Mühe, einen Weg abseits der ausgetre tenen Route zu suchen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß wir nichts zu befürchten hatten, solange wir auf der Suche nach den Tonsol daten waren. Wenn mich nicht alles täuschte – und wieso sollte es das? –, hat te man den Meos befohlen, uns in Ruhe zu lassen. Zumindest für eine Weile. Ich lehnte mich an einen krummen Palmenstamm. Soweit, so gut… Aber was dann? Ich versuchte, mich in die Haut der anderen zu versetzen. Was erwartete man wohl, daß ich tun würde? Doch sicher, daß ich al les stehen und liegen ließ und mich zur Tonarmee begab. Der ein zige, der sich da jetzt nicht so sicher sein konnte, war der Schwar ze Prinz. Aber er war im Moment verhindert. Was, wenn… Diese Variante gefiel mir weitaus besser. Nach einigen Schritten fühlten wir uns in ein Volksmärchen ver setzt, denn der Weg teilte sich in drei Richtungen, die augenscheinlich zu den drei Bergkuppen führten. Es stand sogar der große Baum an der Verzweigung, der entweder die Hexe in der Krone oder den Schatz unter den Wurzeln barg. Womöglich beides. Vorsichtshal 370
ber schaute ich nach oben, konnte aber, abgesehen von einem zor nigen Affen, nichts entdecken. Und obwohl alle Paviane für mich hoffnungslos gleich aussahen, war ich mir irgendwie doch sicher, daß er zu der verscheuchten Truppe gehörte, mit der ich so viele Probleme gehabt hatte. Ich zögerte nur eine Sekunde, dann nahm ich den mittleren Pfad und gab Mal ein Zeichen, mir zu folgen. »Führt der zu den Tonsoldaten?« flüsterte sie andachtsvoll, und ihre Anspannung schien etwas nachzulassen. »Weißt du, woran ich denken muß?« »Woran?« »Daß das alles irgendwie auf so lächerliche Weise unglaublich ist…! Der Nachmittag ist so herrlich. Auf den Bäumen sitzen Vögel und Äffchen, und doch … könnte es sein, daß wir sterben.« Darauf antwortete ich nichts. Das tat ich bei solchen Bemerkungen nie. Ich hätte ihr sonst zustimmen müssen. Ich strengte mich nicht weiter an, uns vor neugierigen Augen zu schützen. Trotzdem pochte mein Herz etwas schneller, als wir die Eingangspagode des Schwarzen Prinzen erreichten. Die gefletschten Mäuler der Drachen an dem Tor erwarteten uns bereits. Mal hatte sowas wohl schon öfters in Thailand gesehen, denn sie zeigte keine übermäßige Überraschung oder Furcht. Ich glau be, mich beeindruckten sie um ein Vielfaches mehr; nicht etwa, weil ich Angst hatte, sondern wegen der immer neuen Erfahrung, die ich mit ihnen machte. Der Drache war für mich der personifizier te Ferne Osten, mit all den Geheimnissen und Wundern, die mei ne Seele stets aufs neue mit Bewunderung und Ehrfurcht erfüllten. Ich griff nach einem der großen Ringe und klopfte an. Nach knapp einer Minute wiederholte ich die Prozedur. Kurze Zeit später wollte ich gerade den dritten Versuch starten, als sich das Tor langsam, mit wehleidigem Ächzen auftat. Auf alles gefaßt, preßten wir uns an die Wand. Als ein altes, runzliges Gesicht unter dem Torbogen erschien, sprang ich blitzschnell hervor und hielt ihm den Lauf der MP unter die 371
Nase. »Rein!« Da er sich nicht bewegte, war ich gezwungen, dem Mann einen Schubs zu geben. Er taumelte, ruderte mit den Armen und verlor beinahe das Gleichgewicht. Unterdessen waren wir bereits auf der Innenseite des Tores, inmitten eines mit Blumen reich bepflanzten Vorgartens. Aus dem Torhaus führte eine Treppe auf einen Eta gengang, und der Abnutzung ihrer Stufen nach zu urteilen mußte das Säulengeländer wohl ständig in Benutzung sein. Als ich mich umsah, konnte ich trotzdem niemanden entdecken. »Wo ist dein Herr?« herrschte ich ihn auf chinesisch an. Seine Augenwimpern zuckten leicht, woran ich beruhigt erkannte, daß er die Sprache verstand. Es war ein greiser, mindestens achtzig Jahre alter Mann, seiner Klei dung nach zu urteilen kein Meo. Er besaß eine Glatze, wie buddhis tische Bonzen, trug aber keine Mönchskluft, sondern einen viel farbigen Kaftan, der von einem breiten, unbestimmbar bunten Gür tel zusammengehalten wurde. Ich wiederholte die Frage und drückte ihm die Waffe gegen die Brust. Er murmelte etwas, schluckte und öffnete den Mund. Ich ließ die MP sinken und konnte Mal ansehen, daß auch sie kapiert hatte; der Mann war stumm. »Aber du verstehst, was ich sage?!« Mit kugelrunden Augen nickte er. »Ist hier noch jemand außer dir?« Kopfschütteln. »Wo ist dein Herr?« Er tat, als hätte er mich nicht verstanden. »Kannst du schreiben?« Heftiges Nicken. Mal holte aus einer Tasche einen kleinen Notizblock samt Stift hervor, den ich ihm unter die Nase hielt. »Gestern nacht hat man zwei Männer hierhergebracht. Wo sind 372
sie?« Er schaute mich an, schüttelte den Kopf und weigerte sich, den Stift zu nehmen. Ich zog ein verärgertes Gesicht, knurrte laut und schob den Lauf der Maschinenpistole zwar vorsichtig, aber dennoch fester in seinen Bauch. Woraufhin er wie ein Ertrinkender nach Pa pier und Schreiber schnappte und mit furchtbarer Klaue Schrift zeichen auf das Blatt kritzelte. Als er fertig war, übergab er das Werk mit einem stolzen Blick. Kurze Zeit später war auch ich sehr stolz, speziell darauf, daß ich wenigstens von den Umrissen her die Be deutung seiner Nachricht entziffern konnte. Er war am Morgen aus dem Dorf gekommen, um hier die Stellung zu halten, und hatte von nichts eine Ahnung. Ich zerknüllte das Papier und steckte es in die Brusttasche. In die sem Moment hätte ich ein gutes Modell für ein Denkmal der Rat losigkeit abgegeben. Die Blumen waren wunderschön, und in einem kleinen Teich schwammen Goldfische. Das ganze Anwesen machte einen ange nehmen, gepflegten Eindruck. Einem anderen hätte ich wahr scheinlich gar nicht geglaubt, daß erst vor kurzem an dem Pago dendach des Torhauses die Leiche von Villalobos gebaumelt hat te. Mir gegenüber sah ich eine halb geöffnete Eingangstür mit Dra chenverzierungen, die wahrscheinlich in einen weiteren Hof führ te. Ich grübelte gerade darüber nach, wieviele Innenhöfe uns noch von dem Haupthaus trennten, als ich die seltsame, absolut nicht hierherpassende Musik vernahm. Mal schnappte nach meiner Hand und drückte sie. Die Musik ver stummte, und minutenlang konnte ich nichts dergleichen mehr hö ren. Der Alte stand mit geschlossenen Augen neben mir und reckte sein Gesicht der Sonne entgegen. Er machte den Eindruck, als wür de er gar nicht lebendig sein, gar nicht hierher gehören, und wäre nur für diese spezielle Angelegenheit aus irgendeiner Dimension in diese Welt versetzt worden. 373
Ich war bereit, die Sache meiner aufgestauten Nervosität zuzu schreiben, als die leise Musik erneut loslegte. Es klang, als würde jemand auf einer Art Flöte spielen. Ich schüttelte den Mann an den Schultern und versuchte ihm klar zumachen, daß ich erfahren wollte, woher die Melodie kam. Er sah mich erstaunt an und verstand mein Anliegen anscheinend nicht. Nach einigen weiteren erfolglosen Versuchen, mit ihm zu kom munizieren, wurde mir klar, daß ich von ihm keine Hilfe zu erwarten hatte. Also schob ich ihn beiseite und folgte den klangvollen Tönen. Die Flötenmusik tänzelte zwischen uns herum, war mal von der einen, mal von der anderen Stelle zu hören, als würden Geister mit uns spielen. Doch seit wann kennen Geister Rockmusik? Ich trat fest gegen die nur angelehnte Tür und rannte in den zwei ten Hof. Auch hier umrahmten kleine Zierbeete, Steingärten und ein Goldfischtümpel den Weg. Ein dünner Bach kringelte sich durch die Anlage, und eine niedliche Holzbrücke verband den Kiesweg mit der anderen Seite. Dort erwartete mich ein drittes Tor mit Drachenköpfen. Bei ihm blieb ich allerdings kurz stehen, weil die Musik wieder verstumm te. Ich ging erst weiter, als auch das Lied fortgesetzt wurde. Ein al tes Elvis-Presley-Lied übrigens. Ich erreichte die Mitte des dritten Innenhofes und hatte plötz lich das Gefühl, in die falsche Richtung zu laufen. Die Musik wur de leiser, schien jetzt von hinten zu kommen. Also drehte ich mich um und bemerkte mit Genugtuung, daß es wieder lauter wurde. Dreimal absolvierte ich die Strecke zwischen dem Eingang und dem dritten Hof. Dreimal überquerte ich auf der kleinen Brücke den Minibach. Das einzige, was sich in der Zwischenzeit änderte, war die Melodie. Es war immer noch Rock'n Roll, aber das Lied selbst war mir nicht bekannt. Als ich auch nach dem vierten Mal wieder umkehren mußte, war 374
ich schon etwas verzweifelt. Was zum Teufel machte ich hier ei gentlich, wo ich nach Tonsoldaten suchen müßte und nicht ir gendwelchen melodischen Geistern nachjagen…! Mal griff nach meinem Kimonoärmel und zog mich zurück in die Mitte des zweiten Hofes. Sie legte einen Finger auf die Lippen, beugte den Kopf zur Seite und behauptete dann mit fester Stim me: »Hier!« Ich drehte mich fassungslos um die eigene Achse. »Hier…? Wo?!« Darauf konnte sie allerdings nicht gleich antworten. Es gab zwei gegenüberliegende Treppenaufgänge, die zu den Brüstungen und den Seitenzimmern führten. In jedem davon konnte der unbekannte Mu siker auf der Lauer liegen. Das Liedchen schwebte um uns herum, drehte wie ein Schwarm Tauben große Runden über unseren Köpfen, nur umständlich die Richtung wechselnd, doch gerade noch in Reichweite bleibend. Ich hatte das Gefühl, ich bräuchte nur meine Hand auszustrecken, und schon würden uns die Noten auf die Köpfe rieseln. Ich erschauderte. Die Sonne brannte mit unverminderter Ener gie, trotzdem schien die Melodie irgendwie auf den Schwingen ei ner kalten Brise zu schweben. »Unter der Erde!« Mal deutete plötzlich bestimmt auf den Boden vor uns. »Es kommt von hier!« »Wo?« Mein verständnisloses Gesicht sprach wohl Bände, denn sie wie derholte sich energisch: »Hier, unter der Erde!« Das Tor wurde mit einem heftigem Knall ins Schloß geworfen. Ich drehte mich blitzschnell um, aber es war nur der Alte, der lang sam über den Hof trottete, nachdem er die Eingangstür verschlossen hatte. Es sah nicht danach aus, als würde ihn meine heftig hoch gerissene MP besonders beeindrucken. Wahrscheinlich wußte er nicht einmal, daß es eine Waffe war. Mal kauerte sich hin und preßte ihr Ohr auf den Steinboden. Dann schüttelte sie traurig den Kopf. 375
»Ich hab' mich wohl geirrt, Leslie! Es ist doch nichts.« Aber die Musik ging weiter, und inzwischen hatte auch ich das Gefühl, daß sie von unten kam. Der Alte beobachtete uns eine Weile und lachte dann schallend auf. Er legte sogar den Kopf in den Nacken, so belustigt war er über unsere Aktion. Sein gesamter dürrer Körper bebte dabei. Ich ließ ihn in Ruhe. Mir war weder klar, was ihm so gefiel, noch was er annahm, wonach wir suchen würden. Als er fertig war, war ich fest entschlossen, das Heim des Schwar zen Prinzen zu verlassen. Wenn ich noch mehr Zeit nutzlos ver geudete, würde ich unsere Chancen, die sowieso schon nicht sehr gut waren, über das Tragbare hinaus verschlechtern. Ich gab Mal das Zeichen zum Aufbruch, als der alte Mann mich plötzlich am Ärmel packte. Das Grinsen hatte er eingestellt, lediglich ein paar Speicheltropfen an Kinn und Hals zeugten noch von sei ner Häme. Mal verzog den Mund, und auch mich versetzte es nicht gerade in helle Begeisterung, dennoch hatten mir meine in Fernost ver brachten Jahre beigebracht, daß es sich meistens lohnte, seine wah ren Gefühle zu verbergen. Manchmal konnten sich der beste Wil le und das größte Herz hinter einem sabbernden Mund verbergen. Was sich außerdem noch dahinter verbarg, weiß ich bis heute nicht. Es erwies sich allerdings als äußerst weise, noch einen Moment zu warten und zu versuchen, über den Sinn seiner Freude zu rätseln. Er nahm mich nämlich bei der Hand und führte mich davon. Als er mich im dritten Hof zu der hinter einem Palmenbusch ver borgenen, in die Wand eingelassenen Tür führte, hätte ich mich selbst in den Hintern treten können. Den Durchgang hätte ich auch al leine finden müssen! Ich klopfte meinem Führer auf die Schulter, öffnete die kleine Tür und trat mit der Waffe im Anschlag über die Schwelle. Es war eine Art langer, schmaler Korridorhof, in dessen Mitte ein aus Beton ringen gebauter Brunnen stand. Die Musik, bisher dezent im Hin tergrund, verstärkte sich bei jedem meiner Schritte, als ob sie mich 376
auf die Weise begrüßen – oder beglückwünschen – wollte. Der Alte triefte vor Freude und Speichel. Ich selbst nur vor Freu de. Ich beschleunigte meinen Gang und trat an den Rand des Brun nens. Er war tief und, soweit ich es sehen konnte, nicht mit Was ser gefüllt. Aber daß es ein singender Brunnen war, stand fest. Aus seinen unsichtbaren Tiefen ertönte das Flötenspiel. Also steckte ich meinen Kopf in das Loch und versuchte herauszufinden, was da un ten noch außer Rock'n Roll stecken könnte. Die Musik selbst ge fiel mir übrigens immer weniger, sie klang irgendwie falsch. Oder sie stammte von einem nie dagewesenen Instrument, einem Zwit ter aus Flöte und Pfeife. Ich ließ einen lauten Ruf los: »Hallooo! Ist da unten jemand?« Die Melodie verstummte, nur um einer mir wohl bekannten Stim me Platz zu machen. »Na endlich, da ist der Typ! Echt okay, daß wir gerettet sind! Na, was sagen Sie dazu?!« Der Angesprochene sagte gar nichts, dafür hatte ich Leichenfressers Worte um so deutlicher vernommen. »Leichenfresser! Sind Sie das?« »Wieso, was dachten Sie denn?« »Können Sie hochkommen?« »Wir sind zusammengebunden!« »Gut, warten Sie!« Der Alte und Malgorzata geisterten um mich herum. Verzweifelt schaute ich mich um, fand aber weder Eimer noch Strick oder gar eine Kette, an der ich mich hätte hinunterlassen können. »He«, meldete sich die Tiefe wieder. »Was gibt's?« »Wann holen Sie uns endlich rauf?« »Haben Sie eine Idee, wie ich zu Ihnen runterkommen soll?« »Fragen Sie doch die Meos!« Es war ganz nett, daß er selbst in dieser Situation seinen Sinn für Humor nicht verloren hatte… 377
Mit meinem ging es jedenfalls zur Neige. Ich gab meinen beiden Begleitern einen Wink, näherzukommen. Mal kam meinem Wunsch prompt nach, nicht so der Alte. Mit watschelndem Gang setzte er sich in Richtung Ausgang in Bewegung, sprang über die Schwelle und warf schön höflich die Tür hinter sich ins Schloß. Ich hielt mich am Rand des obersten Betonringes fest, schwang mich über die Brüstung und ließ mich langsam hinab. Mal beob achtete jede meiner Bewegungen mit immer bestürzterer Miene. Zu meiner größten Freude erfaßten meine baumelnden Füße bald darauf stabilen Untergrund. Vorsichtig stützte ich mich ab und war erst zufrieden, als klar wurde, daß es genau das war, wonach ich ge sucht hatte. Irgendwann früher einmal hatte man eine Eisenleiter an den Rand des Brunnens angebracht. Als man dann wohl einen anderen Weg ins Innere gefunden hatte, wurde sie überflüssig, so sehr, daß man sogar die zwei obersten Sprossen abgesägt hatte. Ich dachte schon, die Kletterei würde nie enden und daß ich ir gendwann auf Erlig Khan, den Herrscher der mongolischen Unterwelt, treffen würde. Es dauerte achtzig Sprossen, bevor meine Schuhe end lich auf trockenem, kieseligem Boden Halt fanden. Die Musik ertönte erneut, diesmal so dicht neben mir, daß ich erschrak. Leichenfresser spielte Für Elise und zwar so bewunderns wert falsch und ohne ein Gespür für den Rhythmus, daß es kaum noch weh tat. Sie saßen, an die Wand gekettet, in einer Art unter irdischem Verlies. Das bißchen Licht, das sich breitmachte, fand vor her seinen Weg durch einen schmalen Schacht. Wo er oben ende te, konnte ich nur raten; vermutlich in einem Beet oder unter ei nem Busch. Zuletzt sah ich in der Verfilmung von Monte Christo Typen wie die beiden. Sie waren schmutzig und unrasiert und Hardy bis zur Ohn macht verzweifelt. Leichenfresser hingegen schien absolut Herr der Lage zu sein. Es sah nicht danach aus, als würde ihn seine Situation sonderlich be trüben. Er saß bequem auf dem Boden und hielt eine kleine Bam busflöte in der Hand, die er gerade in dem Moment auf die Erde 378
legte, als ich mich vor ihnen aufbaute. Hardy stieß einen tiefen Seufzer aus, und ich befürchtete wirk lich schon, er würde das Bewußtsein verlieren. »Lawrence«, flüsterte er und lehnte sich an die Wand. »Gerade recht zeitig! Ich dachte schon, wir würden hier verschimmeln.« »Sie sind seitdem hier unten?« »Seit wann?« »Seit letzter Nacht?« »Na ja, das war so … nachdem Sie uns nach Hause geschickt hat ten…« Ich schaute mir zwischenzeitlich ihre Fesseln an, kam aber nicht allzu weit. Die Ketten waren in die Wand betoniert; nicht einmal Superman hätte sie aus der Verankerung reißen können. Hardy seufzte erneut. »Stellen Sie sich vor, nicht genug, daß sie uns erwischt haben, wir hier herunter geschleppt und angekettet wurden, daß man uns mit dem Messer bedroht hat … dann muß ich mir auch noch das Ge trällere dieser Person mit anhören! Er hat mir ständig lauter Blöd sinn vorgepustet…« Leichenfressers Ketten rasselten aufgeregt. »Sie nennen Beethoven Blödsinn?!« »So wie Sie spielen … aber das meinte ich nicht.« »Sondern? Ist Elvis für Sie der Blödsinn?« »Mein Gott, Sie wissen doch genau, was ich meine! Die ganze Nacht flöteten Sie mir diese furchtbaren…« »Wo haben Sie sie überhaupt her?« Leichenfresser streckte zufrieden die Brust raus. »Selbst gemacht.« »Sie?!« »Einer der Kerle hat ein Bambusrohr dagelassen. Ich bin hinge krochen und konnte es glücklicherweise gerade so erreichen. Die Zeit vergeht viel schneller mit guter Musik… Stellen Sie sich vor, beim Morgengrauen habe ich sogar ein ganz neues Problem in der Harmonielehre entdeckt!« 379
»Damit…?!« »Nicht das Instrument zählt, Lawrence, sondern das Gespür! Der Kerl hier zum Beispiel ist absolut unmusikalisch … und, ähm … hat auch überhaupt keine Intelligenz, was die Klassiker angeht!« »Wie zum Teufel haben Sie die Flöte hingekriegt?« »Das ist keine Flöte! Aber ich werde ihr einen coolen Namen ge ben. Sie muß natürlich noch perfektioniert werden … schade, daß ich mich bisher nicht mit Bambusinstrumenten beschäftigt habe. Ach so, wie ich sie gemacht habe? Ich hab' die Löcher einfach raus gebissen. Es ist nicht leicht, Bambus mit den Zähnen zu bearbei ten, aber… Na ja, dann habe ich so eine kleine Pfeife reingesteckt … ist übrigens auch selbst zurechtgebissen… Nur diese Kette hat mich furchtbar gestört! Da fällt mir ein … wollen Sie sie mir denn nicht abnehmen?« Ich dachte bereits seit Minuten darüber nach, wie ich sie befrei en konnte. »Wie hat man Sie hier herunter gebracht?« »Über eine Treppe«, brummte der langsam wieder zu Kräften kom mende Hardy. »Also nicht da, wo ich runtergekommen bin?« Der Reporter deutete zum anderen Ende des Gewölbes. »Ich glaube, eher dort.« Die Gruft war genau zehn Schritte lang und wurde von einer rie sigen, eisenbeschlagenen Tür begrenzt, die ein Schloß wie eine Bä ckerschaufel aufwies. Ich lehnte mich dagegen und wollte die Klin ke bewegen, aber das war natürlich zwecklos. Ich bückte mich und linste ins Schlüsselloch. Innen versperrte ein mindestens ein Kilo schwerer Riegel die Tür. Ich glaube, ich hätte sie nicht einmal mit einer Granate aufbekommen. »Es gibt keine andere Lösung, ich muß Ihnen die Handschellen aufschießen«, teilte ich ihnen mit. »Um Himmels willen«, Leichenfresser wurde blaß. »Anders geht es nicht?« »O doch«, meinte der inzwischen vollkommen erholte Hardy bis 380
sig. »Sie können sie ja abknabbern, wie die Bambusflöte…« Leichenfresser stöhnte und schloß seine Augen. »Dabei hasse ich dieses Geräusch so sehr…« In den nächsten Sekunden konnte er sich etwas mehr damit an freunden. Zuerst zerschoß ich Hardys Fesseln, dann kam seine di cke Kette dran. Selbst so blieben die Schellen und einige Glieder an ihren Handgelenken, das wäre mir im Halbdunkel nämlich doch zu heikel geworden. Leichenfresser rasselte mit den Überresten und imitierte laut ei nen beliebten Nachtvogel. »Huhu, huhu … hier ist das singende Gespenst!« Hardy starrte ihn entgeistert an. »Mein Gott, der Kerl ist wirklich nicht ganz dicht!« Der Musiker klemmte sich sein neues Instrument unter den Arm und war reisefertig. Wir gingen zum Schacht des Brunnens, und ich zeigte ihnen, wo sie die einzelnen Sprossen zu suchen hatten, da mit sie nicht herunterfielen. Hardy schaute sich leicht schadenfroh den erbleichenden Leichenfresser an, der auf den Boden sank. »Ich kann das nicht! Ich habe Höhenangst!« »Natürlich, aber vor den hohen Tönen, da haben Sie keine Hö henangst…« »Leslie! Alles in Ordnung da unten?« Es war Mal, mit ziemlich besorgt klingender Stimme. Ich rief ihr irgend etwas Beruhigendes zurück und gab dann Har dy einen Wink, vorzugehen. Ein paar Sekunden später sah ich ihn nur noch als vagen Fleck, der sich an der Seite des Brunnens nach oben kämpfte. Ich wartete etwa zwei Minuten und klopfte dann Leichenfresser auf die Schulter. »Los, mein Junge!« Er schüttelte wehleidig den Kopf. »Tut mir leid, Mr. Lawrence, es geht nicht! Alles, nur nicht das! Ich leide nämlich unter…« Ich griff ihm unter die Arme, zerrte ihn hoch und drückte ihn 381
gegen die Wand. Zum Glück stieß er mit seinem Kopf nicht allzu fest dagegen. »Los jetzt! Hoch!« Ich stemmte meine Schulter gegen seinen Hintern und gab ihm einen Ruck. Er war kein Leichtgewicht, und die Angst legte noch ein paar Kilo drauf, trotzdem machte er sich kurz darauf auf den Weg nach oben. Wir waren schon etwa bei der Hälfte angelangt, und ich dachte bereits, die Sache mit ihm durchgestanden zu ha ben, als er sich plötzlich sträubte und stehenblieb. »Was ist? Weiter!« »Mir ist schwindelig!« »Mir auch.« »Ich falle runter.« »Keine Angst, ich stütze Ihren Allerwertesten! Schauen Sie nicht nach unten!« »Mr. Lawrence … wie hoch werden wir wohl sein?« »Zehn, fünfzehn Meter vom Grund entfernt.« »Und … und wenn ich runterfalle, was würde dann mit mir…« »Sie wären platt wie ein Pfannkuchen.« Dann mußte ich erschrocken keuchen, denn irgend etwas flog haar scharf an meiner Nase vorbei. »Mein Gott!« rief er weinerlich, und sein ganzer Körper erbebte auf meiner Schulter. »Meine Flöte! Sie ist runtergefallen, ich muß sie wiederholen!« Irgendwo hoch über uns verdunkelte sich die Röhre, und ich wuß te, daß Hardy angekommen war und gerade hinauskletterte. Im nächs ten Moment hörte ich auch schon Mals Stimme. »Mr. Hardy ist oben, Leslie! Alles in Ordnung bei euch?« »Verdammt«, schimpfte der Musiker und kletterte wieder los wie eine Eidechse. »Dabei habe ich die Löcher mit den eigenen Zäh nen…« Ich weiß bis heute nicht, was seine Kraft vervielfacht hatte. Viel leicht der Schmerz, seine geliebte Flöte verloren zu haben. Als ich jedenfalls aufblickte, war er schon einige Sprossen über mir, und so 382
sehr ich mich auch in der Angst beeilte, er könnte es sich wieder anders überlegen und abrutschen, erreichte ich ihn doch erst oben, am Rand des Brunnens, gerade als die beiden anderen ihn mit ge meinsamer Kraft hinaushievten. Ich weiß nicht, ob ich selbst aus eigenen Stücken aus dem Loch klettern konnte. Als ich wieder vollends bei Sinnen war, keuchten sie beide neben mir. Während ich zu Kräften kam, versuchte ich mir auszurechnen, den wievielten Kimono ich gerade zur Strecke gebracht hatte, gab es aber auf. Statt dessen ging ich zu der Betonröhre zurück und schaute hinein. »Wollen Sie nicht sehen, wo wir hergekommen sind?« winkte ich Leichenfresser zu. »Den Teufel werde ich! Noch einmal könnte ich das bestimmt nicht schaffen.« Mal umarmte mich und überhäufte mich mit ihren Küssen. »Als ich die Maschinenpistole hörte … es war furchtbar!« Wir hielten einen kurzen Kriegsrat im ersten Innenhof, bei dem ich sie unter anderem darüber aufklärte, was seit ihrem Verschwinden vorgefallen war. Leichenfresser stieg nicht ganz dahinter, Hardy um so mehr und versank in seinen Gedanken. »Und was nun?« fragte er schließlich. »Wir gehen los und suchen die Tonarmee.« »Sie glauben also zu wissen, wo sie ist?« »Ich denke, ja.« »Und … dann?« »Ich weiß nicht… Irgendwas wird passieren, das alle Fragen löst.« »Sie wissen, was hier gespielt wird?« »Ja.« »Und kommt es oft vor, daß Sie falsch liegen?« Ich grinste über den leichten Seitenhieb. »Eher selten.« »Haben Sie die Hanffelder gesehen? Hier ist alles voll mit Can nabis.« »Ehrlich gesagt, sind mir nur der Dschungel und der Sumpf auf 383
gefallen. Letzteren hätte ich mir übrigens gerne erspart. Obwohl, wer weiß…? Die Sache hat mich schließlich der Lösung etwas nä her gebracht.« Er schielte auf meine Waffe und schüttelte ungläubig den Kopf. »Glauben Sie, daß wir sie mit dieser Waffe kleinkriegen werden? Meine hat man mir nämlich abgenommen.« »Mal hat auch noch einen Revolver, nicht wahr? Übrigens, noch einmal, wie war das mit dem Cannabis?« »Es wird auf den abgeholzten Gebieten angebaut. Anstelle des Dschungels. Und daraus wird dann Haschisch gewonnen. Jetzt sehe ich wenigstens mal, wie es hergestellt wird. Bisher hatte ich nur mit dem Endprodukt das Vergnügen…« »Meinen Sie, daß Vang Pin auch etwas mit dem Hanfanbau zu tun hat?« »Jeder hier in dieser Gegend hat etwas damit zu tun. Die Meos auf alle Fälle… Apropos! Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß die Ker le verschwunden sind?!« »Und ob! Schon bevor ich Sie beide entdeckt hatte, habe ich da rüber gegrübelt, was sie wohl vertrieben haben könnte. Es gefällt mir keinesfalls. Sie sind getürmt wie Ratten von einem sinkenden Schiff…« Hardy starrte auf den Boden und kratzte sich dann am Haarschopf. Er war sich nicht sicher, ob er seinen Gedanken aussprechen soll te. Ich sah ihm an, daß irgend etwas unendlich in ihm bohrte, aber anscheinend war er sich seiner Sache nicht so sicher wie ich der mei nen. »Mr. Lawrence…« »Ja?« »Ich will keinen Unsinn reden … ich weiß gar nicht, ob ich es über haupt erzählen soll… Aber wenn ich die Äußerungen der Einge borenen richtig verstanden habe…« »Was meinen Sie?« »Sehen Sie, ich spreche die Sprache der Meos ein wenig. Nicht viel, gerade nur das Wichtigste… Ich hab' ein paar Jahre mit einem 384
Fotografen zusammengearbeitet, der aus der Gegend hier stamm te und ständig versuchte, es mir beizubringen. Nur so, aus Spaß. Es ist eine schwere Sprache, schwieriger als das Lao. Nun, jeden falls habe ich heute morgen gehört, wie sich die Eingeborenen oben auf dem Hof gegenseitig Dinge zuriefen.« »Und?« »Nun ja, ich weiß nicht… Etwas aus diesem verdammten Schacht herauszuhören und zu verstehen ist schon bei einer Sprache, die man selbst spricht, ziemlich schwierig…« »Also?« »Na ja, zwei oder drei Kerle riefen sich da etwas zu. Irgendwas in der Richtung, daß das Radio gesagt hätte, man würde bald die Gegend bombardieren.« »Bombardieren? Hier? Sind Sie sich da sicher?!« »Eben nicht! Das sag ich ja gerade; daß ich unter diesen Ver hältnissen … eventuell alles mißverstanden haben könnte.« »Wer zum Teufel sollte hier Bomben abwerfen?« »Was weiß ich! Vielleicht die Chinesen.« »In Laos?« »Dann sind es die Amis«, schaltete sich Leichenfresser in das Ge spräch ein. »Die werfen immer überall Bomben ab.« Ich schüttelte den Kopf, denn das war nun wirklich absolut ab wegig. »Ich hab' die Stimme des Kerls immer noch in meinen Ohren. Ja … daß man verschwinden muß, weil bald die Gegend bombar diert wird. So hätte es das Radio gesagt«, hielt Hardy an seiner Ver sion fest. »Haben Sie nicht nur einfach irgendein Radiohörspiel mitgekriegt?« erkundigte sich der Musiker. Hardy zuckte mit den Schultern und sagte nichts mehr. Mal stellte sich neben mich und drückte meine Hand. »Was nun, Leslie?« »Sind alle bereit?« »Natürlich«, meinte Leichenfresser. 385
Und dann: »Äh … wozu?« »Ich weiß nicht«, gestand ich. »Auf jeden Fall möchte ich Sie war nen. Mal, auch du hör gut zu! Die Sache steht so, daß ich im Mo ment nicht genau sagen kann, was uns erwarten wird. Ich habe ein fach keine Ahnung! Ich könnte Ihnen allen noch eine Menge De tails erzählen, aber ich fürchte, es würde nichts nützen. Der wich tigste Punkt im Moment ist, daß ich weiß, wo die Tonsoldaten ver steckt sind. Wer die findet, wird die Lorbeeren für die größte Welt sensation seit der Öffnung von Tutanchamuns Grabkammer ern ten. Sie sollten sich also darüber im klaren sein, daß sehr viele Leu te auf den Schatz ganz wild sind. Für einen einzigen Soldaten gäbe es Millionen von Dollars auf dem Schwarzmarkt! Und wenn die Le gende wahr ist, liegen hier gleich mehrere tausend unter der Erde! Eventuell zusammen mit Huan-Tis Grab und den dazu gehörenden märchenhaften Schätzen.« »Und … und Sie meinen das ernst, Sie wissen, wo diese … äh, Grab kammer ist?! Absolut sicher?« »Ja«, sagte ich. »Absolut sicher.« »Wissen es auch die anderen?« »Einige werden das wohl.« »Man wird Ihnen nachspionieren und Sie dann erwischen!« »Möglich. Deswegen halte ich es nur für fair, Ihnen anzubieten, jetzt zu gehen. Sie brauchen nicht mitzukommen; Mal, du auch nicht! Ich gebe Mr. Hardy meine Maschinenpistole und nehme nur dei nen Revolver mit. Mit ein wenig Glück werdet Ihr hier mit heiler Haut rauskommen. Und ich werde die Tonarmee finden. Das scheint irgendwie mein Schicksal zu sein. Es ist mein … Fall.« »Und meiner«, entgegnete Hardy. »Aus ganz bestimmten Grün den auch meiner!« Mal schaute mir in die Augen, und ihr Blick hätte in dem Mo ment töten können. »Wenn du noch einmal … noch einmal so einen Unsinn redest, kriegst du eine noch größere Ohrfeige als im Flugzeug!« »Mr. Leichenfresser?« 386
Der Musiker zog den verdreckten Kimono enger über der Brust zusammen und kratzte sich am ebenfalls mitgenommenen herab hängenden lila Haaransatz. »Wissen Sie, was soll ich sagen… Der Teufel wollte, daß wir hier herkommen… Wir hätten auf irgendsoeinem dummen Pandaeinsatz gespielt, für diesen Schnurrbartmann, der hier aufgehängt wurde. Dann hat man mich in ein Verlies gesteckt, aus dem ich unter Ein satz meines einzigartigen Lebens selbst herausklettern mußte. Na, und dann habe ich mir noch eine geile Flöte geknabbert und sie prompt verloren… Sie sehen, lauter Pech!« »Also?« »Dann ist da noch dieses Mädchen… Absolut in mich verknallt. Welcher Idiot läßt so ein Weib hier zurück? Also, auf zu diesen Ton soldaten!« »Überlegen Sie es sich noch einmal gut!« riet ich und ging auf den Ausgang zu. »Ich will ja den Teufel nicht an die Wand malen, aber…« »Das wäre auch besser so«, unterbrach mich Leichenfresser und lächelte Malgorzata zu. »Kennen Sie mein schönstes Lied, Madame?« »Nein«, erschrak Mal. »Äh … welches wäre das denn?« Leichenfresser wurde fünf Zentimeter größer, schob die Brust raus, räusperte sich und fing dann, begleitet von sichtlich unheilbaren Zuckungen in einem fürchterlichen Falsett zu singen an: »Komm mit mir, Baby … pamparamm … zur schwarzen Messe in die Welt des Teuuufels…!« Ich trat aus der Pagode und lenkte meine Schritte in Richtung auf die Bergspitze. Leichenfresser sang uns weiter sein Meisterwerk vor, die anderen beiden folgten ihm stumm. Nach hundert Schritten drehte ich mich noch einmal um und schaute zur Residenz des Schwarzen Prinzen zurück. Zwischen den grünen Ziegeln der Pagodendächer und den hinter dem Anwesen liegenden Hanfplantagen gab es einen fließenden Übergang, und nur die bereits hinreichend bekannten, goldglitzernden Schriftzü ge stachen irgendwie davon ab. 387
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ir waren etwa auf halbem Weg zwischen Bergspitze und Pa gode, als der Pfad steil nach oben anstieg. Ich observierte die Gegend ziemlich genau, konnte aber nichts Außergewöhnliches fest stellen. Vorerst wanderten wir weiter zwischen Palmen und Unter holz hindurch. Die Bäume wuchsen immer dichter und versperr ten langsam, aber sicher die Aussicht auf die Kuppe vor und das Anwesen hinter uns. Nach wenigen Schritten häuften sich auch die Felsbrocken. Sie ähnelten jenem, der eine Weile den Aufenthaltsort von Wimmers Tasche markiert hatte, waren allerdings um einiges größer. Mehr mals mußten wir anhalten, da der Pfad so seltsame Windungen mach te, daß ich überzeugt war, wir würden rückwärts oder zumindest im Kreis gehen. Wie sich allerdings später herausstellte, hatte jeder Umweg einen guten Grund; entweder versperrte dichtes, undurch dringliches Dickicht den Weg oder aber spitze, unüberwindbare Fel sen. Wer auch immer den Weg vorgetrampelt hatte, er kannte die Gegend zweifellos wie seine Westentasche. Etwa nach einer halben Stunde erreichten wir einen kleinen, zer fallenen Tempel. Nur ein paar noch stehende Wände verrieten, daß man hier mal einem Gott geopfert hatte. Ich bückte mich und kratz te mit dem Lauf der MP das Unkraut etwas zur Seite, und schon lächelte mir von den Fliesen Maitreja, der Kommende Buddha, ent gegen. Leichenfresser fuhr plötzlich auf und deutete auf einen flachen Stein. »Heilige Trommel«, meinte er dann, »jetzt sehen Sie sich mal das da an!« Mal stieß einen kurzen Schrei aus, und auch Hardy ließ sich zu einem gurgelndem Krächzen verleiten. Ich folgte der angewiesenen Richtung mit den Augen und spür te, wie sich mein Hals zuschnürte. 388
Auf der ebenen Fläche stand eine etwa dreißig Zentimeter große Tonfigur und deutete mit dem ausgestreckten Arm auf den schma len Pfad, der uns weiter hinauf zu der Spitze führen sollte.
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al schluckte und hakte sich bei mir ein. »Was soll das bedeuten, Leslie?« »Er will uns den Weg zeigen.« »Und wer hat ihn hier hingestellt?« »Huan-Ti hat mir doch versprochen, mich zu seinen Tonsolda ten zu führen…!« »Ich meine es ernst!« »Später, Mal! Im Moment zählt nur, daß die Figur da ist.« Ehrfürchtig begutachteten sie die Tonfigur. Es war ein alter Chi nese mit langem Haar und herabhängendem Schnauzer. Von sei nem dürren Arm war der Ärmel zurückgerutscht, und er deutete mit gekrümmtem Zeigefinger auf den Weg nach oben. Ich beugte mich über ihn und tat, als wollte ich die Figur un tersuchen. Dabei war es der Stein, der mich interessierte. Das Ge sicht der Puppe war ein typisch chinesisches und hatte, anders als die kleinen Figuren, nichts mit unserer Truppe zu tun. Der große schwarze Käfer auf dem kleinen Felsen allerdings zog meine Auf merksamkeit mit seinen watschelnden, unsicheren Schritten um so mehr auf sich. Als mein Schatten über ihn fiel, hielt er inne und traute sich erst nach langen Sekunden wieder, sich zu bewegen. Er fuhr seine Füh ler aus, um den Weg zwischen den Unebenheiten des Steins zu fin den. Als er ihn dann endlich vor sich hatte, blieb er erneut stehen und betastete den Boden, als würde er unbekanntes Terrain betre 389
ten. Es war wohl das große W, das ihn störte. Es war mit einem har ten Gegenstand in den harten Felsen geschnitzt worden, wahr scheinlich mit einem Geldstück. Und, den scharfen Rändern nach zu urteilen, vor nicht allzu langer Zeit.
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ie zweite Tonfigur fanden wir, etwa zweihundert Meter entfernt, am Fuße eines großen Felsbrocken. Sie stand in einer natürli chen Ausbuchtung und deutete mit der Hand auf einen weiteren Felsen, der kaum eine Gehminute entfernt war. Leichenfresser starr te verblüfft auf den stilisierten Chinesen. »Ist das hier so eine Art Brauch? Ich weiß noch, einmal, da hat ten wir ein Konzert in Holland, und da hat man uns lauter kleine Windmühlen hinterher geschenkt. Die größte war mindestens fünf Kilo schwer… Und die blöden Zollleute daheim haben sie zerbro chen, weil sie glaubten, wir wären Schmuggler oder so was.« Ich spazierte zu der Puppe und war erst beruhigt, als ich auch hier das W entdeckte. Ich stieß einen Seufzer aus und wischte mir die Stirn ab. Als alle drei sich wieder einmal um mich scharten, startete ich ei nen letzten Versuch, es ihnen auszureden. Ich sagte, jetzt wäre die letzte Möglichkeit, noch auszusteigen. Hardy zuckte bloß mit den Schultern, Mal ließ die obligatorischen Blitze aus ihren Augen schie ßen, und Leichenfresser kassierte die Figur ein. »Als Andenken«, grinste er und zwinkerte mir zu. Ich schaute zu dem weißen Felsen hinüber, der unser Ziel sein soll te. Irgendwie stach er aus der Umgebung heraus, schien sogar aus einem anderen Gestein zu sein als all seine Nachbarn. 390
Die Baumkronen raschelten unangenehm heftig über uns. Affen tanzten herum, und das Knacken der Äste hinterließ in uns das Ge fühl, als ob da oben Meos auf der Lauer liegen würden und nur darauf warteten, sich auf uns stürzen zu können. Die Meos…! In Gedanken kehrte ich immer wieder zu diesem beun ruhigenden Thema zurück. Wo zum Teufel konnten sie sich versteckt haben? Als ich auf dem Weg nach oben einen relativ guten Blick auf die Plantagen hatte, hielt ich extra nach ihnen Ausschau, jedoch ohne Erfolg. Ich wollte die anderen nicht unnötig beunruhigen, aber Hardys Worte hatte ich keinesfalls auf die leichte Schulter genom men. Wohin waren sie bloß verschwunden, und weshalb? Leichenfresser holte die kleine Figur wieder aus der breiten Ki monotasche und begutachtete sie zufrieden. »Sagen Sie, Mr. Lawrence, ist das so eine Antiquität?« Wir waren bereits nahe bei dem anderen Felsen, und ich entschloß mich, erst zu antworten, nachdem ich mich gründlich umgesehen hatte. Mal trottete hinter mir her wie ein kleiner Hund, die ande ren beiden folgten uns mit einigem Abstand. Die weiße Oberflä che blendete mich förmlich, was ich zu dem Zeitpunkt allerdings wenig beachtete. Ich suchte nach einem W oder wenigstens einer Tonfigur. Leichenfresser, der den riesigen Stein in der anderen Richtung er kundete, fuhr plötzlich laut auf. »Verdammt! Was ist denn das?!« Seine Stimme verriet, daß er wohl kaum nur eine Topfpflanze ge funden hatte. Mit einem Satz war ich bei ihm. Der Musiker kniete auf dem Boden und deutete zwischen die an grenzenden Büsche. »Sehen Sie, Treppenstufen!« Ich stellte mich vor die Öffnung und seufzte innerlich auf. Also waren wir endlich angekommen! Wir standen vor dem Eingang ins Reich der Geheimnisse. Meine Anspannung verflog wie bei einem Löwendompteur kurz vor dem Auftritt. Ich konzentrierte mich nur noch auf die vor mir stehende Aufgabe und machte mir keine Ge 391
danken um die Zukunft, die darauf folgen konnte. Der Lilahaarige hatte vor Überraschung sogar vergessen, seinen Mund zu schließen. »Heilige Elefanteneier! Das Ding geht ja auf Schienen!« Ja, das tat er wirklich. Der weiße Felsen, meine ich. Auf zwei klei nen Eisenschienen, die von der jetzigen Position bis über die frei gewordene Öffnung führten. Die Eisenträger waren vollkommen ver rostet, aber man konnte auch sehen, daß vor kurzem das schwere Gestein darübergerollt worden war. »Mein Gott«, meinte Hardy und keuchte vor Aufregung. »Was hat es geöffnet?« Ich ging zu dem Felsen und stemmte meine Schulter dagegen. Viel brauchte es nicht, das Ding in Bewegung zu setzen. Ich hielt es wie der an, nahm dann meine Waffe von der Schulter und schlug mit dem Schaft zu. Prompt blätterte ein suppentellergroßes Stück ab. Ich brauchte mich nicht zu bücken, mich interessierte mehr die neue Bruchstelle. Es war kein Gestein, sondern Gips! Deswegen war die Farbe so unwirklich weiß! Wenn ich nicht tausend andere Dinge im Kopf ge habt hätte, wäre ich bestimmt schon früher darauf gekommen… Wir blickten den dunklen Treppenabgang hinunter, jeder von uns belastet mit seinen ganz geheimen Zweifeln und Hunderten von Fra gen, die eine Antwort forderten. »Wieso hat man die Öffnung nicht wieder verschlossen?« erkun digte sich Mal flüsternd, als ob sie Angst hätte, belauscht zu wer den. »Damit wir sie auch ja nicht verfehlen«, antwortete Hardy. Ich setzte vorsichtig meinen Fuß auf die erste Stufe. Sie schien stabil zu sein, und auch sonst konnte ich nichts Besonderes entdecken oder spüren. Hardy schielte nach unten, und auch Leichenfresser riskierte einen staunenden Blick. »Ich brauche nicht zu klettern?! Obwohl, Mensch, inzwischen ist wahrscheinlich sogar meine Höhenangst weg…« Ich schaute nach, wo das Licht herkam. Und dann wurde mir klar, 392
daß der Gang, wie bei dem unterirdischen Verlies des Schwarzen Prinzen, durch Schächte beleuchtet wurde, die nach oben zur Ober fläche führten und dort von Unterholz und Büschen sicherlich gut versteckt wurden. Die Treppe machte einen Knick und führte immer steiler hinab. Als würde sie geradewegs in die Höhle führen… Wegen des Lichts brauchten wir uns also keine Sorgen zu machen, obwohl es einige Passagen gab, bei denen oben wohl die Löcher zu gewachsen waren und es dadurch nur sehr spärlich den Gang er reichte. Richtig erleichtert war ich erst, nachdem ich bei einem hel leren Teil wieder ein in die Wand geritztes W entdeckte. Allem Anschein nach hatte man das Labyrinth nicht erst gestern angelegt. Armbreite, querwachsende Wurzeln zeugten davon, daß die Natur auch unter der Erde alles daransetzte, ihr Reich zurück zuerobern. »Wir hätten Taschenlampen mitbringen sollen«, ärgerte sich Har dy, als er wieder einmal stolperte und nur mit Mals Hilfe nicht das Gleichgewicht verlor. In der Tat schien es zusehends dunkler zu werden. In der nächs ten Kurve ließ ich sie vorgehen und preßte mein Ohr an die Wand. Ich glaubte, Schritte hinter uns hören zu können, aber es konnte natürlich auch das Geräusch der ständig tropfenden Wurzeln und Erdbrocken sein. Ich eilte den anderen nach. Gerade als ich anfing, nervös nach einem neuen W zu suchen, hörte ich Malgorzatas überraschten Aufschrei. Der Gang wurde brei ter und gab die Sicht auf eine riesige unterirdische Kathedrale frei. Es war keine Übertreibung, von einer Kathedrale zu sprechen, der Raum war gigantisch. Wie das Hauptschiff eines mittelalterlichen Doms, mit all den Attributen, die dessen monumentale Erscheinung beschreiben konnten. Ich blickte nach oben und konnte einfach kei ne Kuppel ausmachen, so hoch war sie angelegt. Der Grundriß mußte sich auf gut dreihundert mal hundertfünf zig Meter erstrecken. Ich erschauderte, als mir klar wurde, wieviel Arbeit es gekostet haben mußte, soviel Erde auszuheben. 393
»Da!« krächzte Leichenfresser und deutete auf den uns am nächs ten stehenden Stützpfeiler. Wir schauten alle gleichzeitig hin. Dicht daneben stand auf dem Boden die nächste Chinesenfigur und deutete mit dem ausgestreckten Arm zur Mitte der Kathedra le. Ich glaube, in dieser Sekunde vergaß ich für eine ganze Weile al les um mich herum. Und obwohl ich wußte, daß all meine Rück schlüsse und Folgerungen richtig waren, konnte ich mich nicht dem Zauber des Anblicks entziehen. In der Mitte der riesigen Höhle, um geben von den schwitzenden Erdwänden und einem Holzgeländer, lag eine riesige, offene Ausgrabungsstätte. Von der Tiefe her war sie nicht so beeindruckend, die große Grube reichte höchstens zwei Meter in den Boden. Sie war quadratisch, mit einer Seitenlänge von etwa vierzig Metern. Und in dieser offenen Grabstätte, mit den Ge sichtern zu uns, standen die lächelnden Tonsoldaten! Hunderte, wenn nicht sogar Tausende der menschengroßen Ton soldaten!
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ie nächsten Minuten vergingen im Zeichen der allgemeinen Be geisterung. Mal und Hardy rannten zu dem Grab. Die Pilotin wäre am liebs ten hinuntergesprungen, um die Tonfiguren zu umarmen. Die Sol daten lächelten, als ob sie ihre späten Nachkommen mit Freude be grüßen würden. Leichenfresser schlenderte zu mir herüber und verschränkte die Arme vor der Brust. »Also haben wir sie gefunden?« 394
Ich nickte. Daraufhin kratzte er sich am Haarkamm und blinzelte mich an. »Sollte ich mich jetzt irgendwie … äh, besonders fühlen?« Ich konnte darauf nichts erwidern. Als ich zum Grab ging, stan den sie direkt vor mir, zum Greifen nahe. Mal kam zu mir und lehnte sich an meine Schulter. »Oh, Leslie, das ist so … phantastisch! Als ob alles nur ein Traum wäre! Ich wollte schon immer Teil einer außergewöhnlichen Sache sein… Als ich das erste Mal mit einem richtigen Flugzeug abhob, dachte ich, ich könnte nie wieder dieses Gefühl haben… Und jetzt… Das ist einfach wunderbar! Guck doch, wie herrlich sie sind!« Die Tonsoldaten lächelten, und ich versuchte, die Quelle des Lichts auszumachen. Denn obwohl die Schächte des Treppenaufganges weit zurücklagen, war es doch auffallend hell im Saal. Ich konnte es mir nur so vorstellen, daß man an den Seiten, oben bei der Brüstung, in die vor uns verborgenen Ecken Fenster zur Au ßenwelt eingebaut hatte. Die Decke mußte wohl direkt unter der Erdoberfläche enden. Ich ließ die anderen ihren Freudentaumel genießen. Sie zählten gerade die Soldaten, rannten am Rand des Grabstätte wie aufge scheuchte Teenager herum und addierten mit ausgestreckten Armen die Reihen. Mal blieb manchmal stehen, als ob sie sich nur schwer entscheiden könnte, ob sie zu ihnen hinunterspringen oder zu dem besseren Beobachtungsposten auf das Geländer über uns hoch schweben sollte. Im Gegensatz zu den beiden war Leichenfresser keinesfalls so sehr beeindruckt. Er stand immer noch in der selben Position da, fast schon traurig, was schon deswegen irgendwie seltsam war, weil sich bisher eigentlich er für die oberflächliche gute Laune verantwortlich gezeigt hatte. »Alles klaro?« »Was meinen Sie?« »Na ja, wir haben sie gefunden, und fertig?« »Wie Sie sehen…« 395
»Und warum haben Sie uns dann da oben so viel Angst einge jagt?« »Ich hatte das wirklich nicht vor…« »Also, ich werde Ihnen jetzt etwas sagen … und lachen Sie mich nicht aus … aber ich glaube, ich habe recht schlimme Vorahnun gen, Mann!« Was soll ich sagen, mir ging es genauso. Von dem Moment an, als die Boeing mit uns notgelandet war. Und das hatte sich auch nicht verbessert, als ich meine Schritte in diesen unterirdischen Gang gerichtet hatte. Aber mir war klar gewesen, daß ich auch die un angenehmen Schachzüge durchführen mußte, wenn ich das Rätsel um die Tonarmee lösen wollte. Mal erschien wieder einmal vor meiner Nase und warf sich in mei ne Arme. »Leslie … das ist einfach unglaublich! Bisher sind es etwa vier hundert, aber Mr. Hardy meint, man hätte hier eine eigenartige La gerung gewählt, die er schon mal in irgendeiner verlassenen Stadt gesehen hat. Er sagt, die Soldaten wurden in mehreren Schichten begraben, daß also praktisch diese hier auf den Köpfen der ande ren stehen … und daß das Ganze wer weiß wie tief reicht! Verstehst du?! Ist das nicht wunderbar, Leslie?!« Doch, das war es in der Tat. Trotzdem konnte ich mich über die Entdeckung nicht so richtig freuen. Mal rannte zu den Soldaten zurück, und ich hörte wieder diese seltsam schlurfenden Schritte, die uns meiner Meinung nach bereits im Treppengang gefolgt waren. Diesmal kamen sie aber von oben, wo sich die Brüstung an der Wand entlangzog. Ich drehte mich schnell um und richtete die Maschinenpistole auf das Geländer, aber es war zu spät. Und im selben Moment wurde mir auch klar, was für einen riesigen Fehler ich begangen hatte. Ich war nämlich davon ausgegangen, daß sie sich uns auf dem selben Weg nähern würden, den auch wir genommen hatten, und ich hat te dabei vollkommen außer acht gelassen, daß sie zufällig auch ei nen anderen Gang zum Geländer finden könnten. 396
Noch während ich den Gedanken zu Ende dachte, blitzte und krachte etwas zwischen der Wand und der Grube mit den Tonsol daten auf, und gleichzeitig mit der Explosion sah ich Mal mit aus gebreiteten Armen zwischen die Tonarmee fliegen. Ich wollte ihr hin terherspringen, aber ein an meiner Nase vorbeipfeifendes Geschoß stoppte meinen Elan. Ich warf mich also einfach auf den Boden, und kurz darauf lan dete auch Leichenfresser neben mir. Er preßte die Hände auf die Ohren und beschwerte sich mit bleichem Gesicht bei mir: »He, die schießen ja! Könnten Sie denen nicht sagen, daß…« Ich sollte nie erfahren, was er als Verhandlungsbasis vorgeschla gen hätte, denn schon war ich wieder auf den Beinen und arbeite te mich wie eine Sprungfeder zu der Grube vor. Es gab zwar ein paar Salutschüsse, aber am Aufklatschen der Kugeln hörte ich ge nau, daß sie nur als Warnung gedacht waren. Dann war ich bereits mit einem Sprung in der offenen Grabkammer verschwunden. Obwohl genug Licht in die Kathedrale vordrang, erschien es mir jetzt doch als etwas zu wenig. Es wurde zwar ein wenig besser, nach dem ich mir den nassen Schlamm aus den Augen gewischt hatte, dennoch konnte ich die Gestalten auf dem Geländer nur als sche menhafte Schatten ausmachen. Ihre Größe machte die Identifizie rung zum Glück etwas leichter. Meos. Mal lag auf dem Boden, dicht bei einem Soldaten, und wagte es nicht, den Kopf zu heben. Ich kroch zu ihr und umarmte sie. »Bist du verletzt?« Sie schüttelte nur stumm den Kopf. Ich schaute hoch, und mein Blick traf auf den eines Tonsoldaten; er schien zu lächeln, gar nicht wie ein Krieger, sondern eher mit einem gütigen, weisen und auch etwas müden Gesichtsausdruck. Ich nahm Mals Hand und zerrte sie mit ins Innere der Tonfigu rensammlung. Zu meiner größten Überraschung wartete dort be reits Hardy auf uns und zielte gerade mit seinem Revolver auf die Brüstung. 397
Ich legte die Hand auf den Lauf. »Noch nicht!« flüsterte ich. Er nickte und ließ die Waffe sinken. Im selben Moment schallte uns aus der Höhe eine Stimme ent gegen. »Lawrence!« Es war Vang Pin. Ich steckte meinen Kopf hinter einem der lächelnden Tonsolda ten heraus. »Was wollen Sie?« »Ergeben Sie sich! Sie haben keine Chance zu entkommen!« »Was heißt hier ergeben?! Wir haben die Tonsoldaten gefunden, und fertig! Wenn ich mich richtig erinnere, wollten Sie heute mit tag nicht einmal an die Legende glauben…!« Er lachte auf, mit einem Hyänengekreische, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. »Blöder Idiot!« fällte er sein Urteil und vertrieb damit endgültig das Bild des zuvorkommenden, höflichen Gastgebers. »Von wegen nicht glauben… Seit gut vierzig Jahren interessiert mich nichts an deres mehr als die Tonarmee! Was wissen Sie verfluchter Idiot schon, was ich denke? Los, kommen Sie sofort da raus!« »Ich wäre wirklich dumm, wenn ich das machen würde!« erwiderte ich und rätselte, wo wohl Leichenfresser abgeblieben war. »Ich füh le mich sehr wohl in diesem Graben!« »Ich gebe gleich Feuerbefehl!« »Dann werden Sie aber auch die Soldaten zerschießen müssen!« Er antwortete nicht. Ich konnte förmlich spüren, wie er vor rat loser Wut fast in die Luft ging. Die erste Runde hatte ich also für mich entschieden. Mal drehte ihr Gesicht zu mir und schaute mich in panischer Angst an. »Ist … er das?« »Vang Pin.« »Woher wußte er, daß wir hierherkommen?« 398
»Er war uns die ganze Zeit über auf den Fersen…« »Und du warst dir darüber die ganze Zeit im klaren?« Ich nickte. Und dann merkte ich, daß ich die Sache nicht so ein fach auf sich beruhen lassen konnte. Ich nahm ihr Gesicht in die Hand und küßte sie auf die Stirn. »Hör zu, Mal! Ich habe euch mehrmals gewarnt, mit unter die Erde zu kommen … aber glaub mir, wenn ich auch nur die geringste Chance dafür gesehen hätte, daß ihr den Mekong in Sicherheit er reichen würdet, hätte ich euch sogar mit der Waffe gezwungen, ohne mich loszumarschieren. Aber Vang Pins Meos waren in der Gegend, und sie hätten euch bereits nach den ersten hundert Metern ermordet. Nur deswegen ließ ich mich darauf ein, euch mit hier runter zu neh men. Aber bitte Mal, glaub bitte nicht, daß ich dich auf dem Al tar der Tonarmee opfern wollte, nur um leichter an die Beute zu kommen! Ich schwöre, hätte ich eine andere Möglichkeit gesehen, müßtest du jetzt nicht hier mit mir im Kugelhagel hocken…!« Sie drückte mir die Hand und streichelte meine Wange. »Lawrence! Hören Sie mich!« »Natürlich.« »Ich mache Ihnen einen Vorschlag!« »Ich bin ganz Ohr!« »Sie kommen da raus und ergeben sich!« »Das klingt aber nicht besonders gut…« »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß Sie freien Abzug bekom men werden! Wenn Sie hervorkommen, lasse ich Sie von meinen Meos bis zum Mekong begleiten. Nun? Abgemacht?« Er nahm mich ungefähr für so voll wie einen zweijährigen Buben. Ich hatte keine Sekunde lang Zweifel daran, daß er uns sofort er schießen würde, wenn wir erst einmal aus dem wertvollen Graben heraus waren. Oder wenn nicht hier, dann oben im Wald. Den Me kong jedenfalls würde keiner von uns je erreichen. »Glauben Sie ihm ja nicht!« warnte mich auch Hardy. Natürlich hatte ich nichts dergleichen vor. Trotzdem tat ich vor erst so, als würde ich über das Angebot nachdenken. 399
»Ihr Vorschlag hat einen Haken, Mr. Vang Pin«, rief ich schließ lich. »Es gibt keine Sicherheiten. Was, wenn Sie sich doch noch ent scheiden, daß Sie keine Zeugen brauchen können?! Ich meine, wir haben die Tonarmee gesehen, wissen, wo sie versteckt ist… Was soll te uns daran hindern, es bei der nächsten Behörde zu melden?!« »Sie müssen mir vertrauen!« versuchte er, mich weichzukochen. »Wieso sollte ich nach Ihrem Leben trachten? Ich bin doch kein Mörder! Mir geht es nur um die Tonsoldaten. Ich habe noch nie jemanden umgebracht…!« Ein erneuter Lacher zerriß die Stille, diesmal noch fürchterlicher als der von Vang Pin. Das schreiende Gackern schien gar nicht von einem Menschen zu stammen und wurde von jeder Wand unwil lig zurückgeworfen. Es schallte noch über uns, als Leichenfresser, die Gunst der Minute ausnutzend, neben mir auf einen freien Fleck plumpste. »Verdammt«, begrüßte er mich, »was zur Hölle ist das?« In diesem Moment wurde das Innere der Kathedrale in glühend helles Licht getaucht, was sofort von einer erschrocken verwirrten Maschinenpistole mit einer kurzen Salve quittiert wurde. Ich riß die Arme vor die Augen, und es dauerte mindestens drei ßig Sekunden, bis ich wieder einigermaßen die Umrisse unterscheiden konnte. Auf dem Gerüst gegenüber Vang Pins Stellung, in genau der selben Höhe, nur eben von hundertfünfzig luftigen Metern getrennt stand eine neue Gruppe von Bekannten. Das beunruhigendste an der Sache war, daß wir genau zwischen den beiden Parteien saßen und das beste Ziel der Welt abgaben. Allerdings nur, wenn die da oben in Kauf nahmen, daß bei einem Schußwechsel auch die meisten Tonsoldaten zu Bruch gehen könn ten.
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ls ich endlich wieder klar sehen konnte, stellte ich zufrieden fest, daß meine Rechnung aufgegangen war. Die Leute auf dem Ge rüst waren allesamt Bekannte, und zwar gute Bekannte! Allerdings hatten sie leider eine Veränderung durchgemacht, die mir bei gu ten Bekannte gar nicht gefällt! Ganz vorne stand Großvater, nur eben etwas anders, als bisher. Der Strahler neben seinem Kopf umhüllte ihn – vielleicht gar nicht mal so ungewollt – mit einem Glorienschein. Keine Spur mehr von dem unscheinbaren, hilflosen Alten, als den wir ihn kannten. Die Krücke, auf die er sich bis jetzt immer gestützt hatte, hielt er nun ausgestreckt nach vorne, als handelte es sich da bei um irgendeine Waffe. Und bei näherem Hinsehen konnte ich auch das Hörgerät nicht mehr entdecken. Neben ihm, fast schon an ihn angelehnt, stand Wilhelmina von Rottensteiner. Auch sie hielt ihren Regenschirm drohend nach vor ne gerichtet. Die kleine Baskenmütze war locker zur Seite gerutscht, und wer es nicht mit eigenen Ohren gehört hätte, wäre gar nicht auf die Idee gekommen, daß sie so einen fürchterlichen Schrei von sich geben konnte. Denn daß dieser unheimliche Lacher von ihr stammte, stand au ßer Frage, wenn man erst einmal in ihr Gesicht schaute. Direkt hinter den beiden stand Van Broeken und hielt eine Pis tole mit Schalldämpfer in der Rechten, genauso wie Lisolette. Letz tere hatte das freundliche Lächeln und die nervöse Unruhe abge legt, die sie uns in den letzten Tagen abwechselnd vorgeführt hat te. Listig und vorsichtig schielte sie hinter den beiden Älteren her vor wie eine argwöhnische Großkatze. Plötzlich wurde irgendwo eine Kugel abgefeuert, die versehentlich einen der Tonsoldaten traf, dort abprallte und gar nicht einmal so weit an uns vorbeipfiff. »Nicht schießen … meine Soldaten! Neiiiin…!« Die Kathedrale verstärkte und verlängerte Huan-Tis schmerzvol 401
len Aufschrei. Frau von Rottensteiner lachte erneut mit dieser furchterregenden, fast schon hysterischen Stimme auf. Leichenfresser setzte sich auf und rieb sich die Augen. »Mein Gott! Ein unterirdisches Irrenhaus! Verstehen Sie das, Law rence?« Als der kreischende Lacher verstummt war, brach Mals vor wurfsvolle Stimme das neu einsetzende Schweigen. »Lisolette!« Das Mädchen schaute von ihrem Podest zu uns herunter. Ich glau be, sie konnte uns nicht sehr gut sehen, denn die Tonfiguren war fen zum Glück ihren wohlwollenden Schatten auf uns. Dennoch schien sie zusammenzuzucken, als die Stimme ihrer Freundin sie erreichte. Der kleine Hinweis auf einen inneren Zwiespalt blieb mir nicht verborgen. Wer weiß, wozu dieses Wissen noch gut sein konn te. Sicherlich war sie kein Profikiller, obwohl ich schon lange ge ahnt hatte, daß sie mit in der Sache drin steckte. Erneut meldete sich Vang Pin zu Wort, mit unendlichem Haß in der Stimme. »Ich weiß nicht, wer Sie sind, und ich will es auch nicht wissen. Ich will nur die Tonarmee! Sie gehört mir! Sie hat schon immer mir gehört. Und Sie… Sie sind nur einfache Räuber! Jawohl! Sie haben bestimmt irgendwo erfahren, daß ein paar verfluchte Wissenschaftler sie hier versteckt haben! Aber das ist mir egal! Nun kann sie mir niemand mehr wegnehmen!« Zweifellos vibrierte auch in seiner Stimme der Wahnsinn. Am Ende behielt Leichenfresser doch noch recht: ein unterirdisches Irrenhaus… Dann folgte Großvaters Auftritt. Er sprach mit einer alten, kräch zenden und dennoch sehr lebendigen und harten Stimme, als er den Stock hob und damit in Vang Pins Richtung deutete. Nichts an ihm erinnerte mehr an den Mann, den wir in Erinnerung hatten. »Du weißt nicht, wer wir sind?! Ahnst du es nicht einmal in den Tiefen deiner dunklen Seele? Die Geister der Vergangenheit sind er wacht … wir sind hier unter der Erde zusammengekommen, um mit 402
dir endgültig abzurechnen; hier, neben den Tonsoldaten, die du dein ganzes Leben lang vergeblich gesucht hast und für die du getötet, gemordet hattest… Ahnst du wirklich nicht, wer wir sind, Lei Tshung tao?!«
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al schluckte laut und sah mich erschrocken an. »Dieser Mann? Unser … Gastgeber?« Ich nickte. »Der Geheimdienstchef von Chang Kai-shek. Oberst Lei Tshung tao.« »Mein Gott…« Lei Tshung-tao wurde bleicher und krächzte etwas, das ich nicht verstand. Vielleicht war es auch nur ein Laut der Überraschung ge wesen. »Ich dachte mir bereits, daß wir uns irgendwann noch einmal be gegnen würden«, sagte er dann eine Weile später, nachdem er sich beruhigt hatte. »Vielleicht haben Sie recht, Mr. …?« »Egal, oder?« meinte Großvater. »Ja, egal…«, wiederholte Lei Tshung-tao. »Nun, ich habe vielleicht sogar geahnt, daß es bald zu unserer privaten kleinen Abrechnung kommen würde. Ich hätte Sie alle schon längst beseitigen lassen sol len. Leider habe ich viel zu spät erfahren, daß der verfluchte Fran zose und die drei deutschen Archäologen entkommen sind. Ich dach te schon, ich würde die Tonarmee nie mehr finden! Ach! Was heißt denken … ich zitterte bei dem Gedanken, daß sie für immer ver schwunden sein könnte … und habe den Moment verflucht, in dem jeder einzelne von Ihnen auf die Welt gekommen ist… Sie hatten dieses Wunder ausgegraben und es lieber wieder unter die Erde ge 403
bracht, als es mit mir zu teilen… Aber nun wird dieser Schatz mir gehören, jeder einzelne Soldat! Und ihr … ihr werdet verrecken. Alle zusammen! Es ist sogar ganz praktisch, daß Ihr hier seid … jetzt wer det ihr dem Tod nicht mehr entkommen!« Im nächsten Moment passierte etwas Unerwartetes. Etwas, das we der wir noch die vier auf dem Gerüst erwartet hatten. Aus Lei Tshung taos Richtung ertönte ein weiblicher Schrei, dann erschien über dem Geländer das Gesicht einer ziemlich verzweifelten Judy. »Ich habe das Mädchen!« rief Lei Tshung-tao, und im grellen Schein werferlicht konnten wir gut beobachten, wie er aus der Tasche sei nes Kimonos eine Pistole hervorzog und sie dem Mädchen an die Schläfe setzte. »Wenn Sie die Waffen nicht sofort niederlegen, ist sie tot! Das schwöre ich!« Großvater verlor die Nerven. Er hob den Stock, als ob er damit Lei Tshung-tao erschlagen wollte. Statt dessen trat hinten eine klei ne Flamme aus, irgend etwas zischte durch die Luft, jemand schrie auf, und ein Körper fiel mit einem dumpfen Aufprall zwischen die Tonsoldaten. Es gab zwar als Reaktion ein paar MP-Salven, aber alle wurden von Vang Pins Schrei übertönt. Er schrie auf die Meos in ihrer ei genen Sprache ein. Als sich Staub und Aufregung legten, hatten sich die Kopfjäger zurückgezogen, und nur der kleine Chinese stand hin ter der Brüstung, diesmal ohne das Mädchen. Vang Pin alias Lei Tshung-tao grinste schadenfroh den erschro ckenen und verkrampften Großvater an. »Was denn, du willst deine eigene Enkelin umbringen? Ich habe sie gerettet, und mein bester Mann mußte dran glauben. Aber egal! Ich will die Soldaten, und ich werde sie auch bekommen! Ich will auch, daß ihr jetzt alle die Waffen niederlegt und schön langsam, einer nach dem anderen, zu den Tonsoldaten runterkommt. So wer de ich vielleicht euer Leben verschonen. Andernfalls… Ihr wißt schon. Übrigens! Jemand hat einmal versucht, sich bei mir einzuschleichen. Ich dachte, sie will mich, dabei ging es ihr einzig und allein um die Tonarmee. Und wißt Ihr, wer das war? Meine verehrte Frau, Paj Mi 404
ang! Die dreckige Hure des Roten Drachen! Pfui! Dieses hirnver brannte Ding hatte sich vorgenommen, aus mir den Fundort der Tonarmee herauszukriegen. Dabei wußte ich den selbst nicht ein mal! Aber mir war klar, daß ich es irgendwann herausfinden wür de; und auch sie merkte mit der Zeit, daß ich alles in Bewegung setzen würde, um hinter das Geheimnis von Huan-Tis Grabstätte zu kommen. Tja, und dann habe ich all jene zusammengebracht, die mir dabei behilflich sein konnten, hehehe! Die sehr verehrte Paj Miang diente die ganze Zeit über treu ihrem blöden Drachen und glaubte, ich würde da nicht durchblicken… Am Ende mußte ich sie töten, damit sie nicht die wunderbarste Entdeckung der Mensch heitsgeschichte verhinderte. Und aus dem selben Grund mußte ich auch den Roten Drachen umbringen.« »Er … er hat seine Frau umgebracht?« stammelte Mal ungläubig. »Er … er hat diese Frau … selbst ermordet?« »Und nun ist für noch jemanden die Zeit der Bestrafung ge kommen. Der Rote Drachen hatte noch eine andere Bettgefährtin, die zusammen mit meiner Frau in mein Haus kam. Und die sich dann – mein Gott, welch lächerliche Farce – als der Schwarze Prinz verkleidete und die Gegend unsicher machte. Es hat Monate gedauert, bis mir klar wurde, wer sich hinter der Identität meines Nachbarn verbarg. Dann ließ ich sie weiter gewähren, sollte sie von mir aus doch einen Teil der Arbeit leisten und auch ein wenig nach den Ton soldaten graben. Wer weiß, vielleicht hätte sie sie ja gefunden… Aber du wirst eben doch nur deinen Tod finden, Ho Ling!« Er lachte wieder mit der krächzenden Stimme auf, die mir schon vorher einen gehörigen Schauer über den Rücken gejagt hatte. Ich erhob mich ein wenig, um besser sehen zu können, was dort vor sich ging, obwohl ich in Wirklichkeit eigentlich überhaupt nicht da rauf aus war, mit anzusehen, was nun anscheinend kommen soll te. Ho Ling, inzwischen als der Schwarze Prinz bekannt, erschien mit zusammengebundenen Händen am Rand des Geländers und blickte auf uns hinunter. Als ob sie Hilfe von uns erwarten würde. 405
Leichenfresser starrte entgeistert zu ihr hoch. »Dieser Kerl ist verrückt! Am Ende knüpft er sie ja noch auf…!« Einer der Meos warf Ho Ling in der Tat blitzschnell einen Strick um den Hals und knotete das andere Ende an dem Holzgerüst fest. Die Frau fiel auf die Knie, faltete die Hände zusammen und win selte irgend etwas zu Vang Pin. Der Chinese spuckte sie an und be förderte sie dann mit einem einzigen Tritt in die Tiefe. Eher wir so richtig zu uns kamen, hing sie bereits über uns und strampelte mit immer schwächeren Zuckungen. Ich wollte instinktiv hochspringen, um ihr zu helfen, aber dann wurde mir klar, daß ich mich nur un nötiger Gefahr aussetzen würde. Kein Mensch konnte Ho Ling noch helfen… Mal schrie wie am Spieß, Hardy preßte das Gesicht auf den Bo den, nur Leichenfresser verlor seine Geistesgegenwart nicht. Er rich tete sich auf den Knien auf und schüttelte Lei Tshung-tao seine Faust entgegen. »Ich werde dich noch kriegen, du Schweinepriester, und dann ma che ich Senf aus deinen Eiern!« Ich glaube nicht, daß der Angesprochene die Drohung des Mu sikers vernahm. Er beugte sich über das Geländer und schaute zu uns hinunter. »Lawrence! Haben Sie alles gut mitgekriegt? Ich hoffe, es war Ih nen eine Lehre!« Ich antwortete nicht, dachte dafür um so angestrengter nach. Lei Tshung-tao schien nun aber endgültig die Initiative ergriffen zu ha ben. »Lawrence! Was ist?« »Was wollen Sie hören?« »Sie sind ein kluger Mann! Sagen Sie ihnen, daß es keinen Sinn hat, Widerstand zu leisten. Wenn Sie die Waffen niederlegen, kön nen Sie gehen, wohin Sie wollen!« Ich stand auf und lehnte mich an einen der Tonsoldaten. »In Ordnung! Schicken Sie das Mädchen runter!« »Hier gebe ich die Befehle, ja?! Zuerst ergeben Sie sich alle mal 406
schön, und dann sehen wir weiter.« Ich blickte über die lange Reihe der Soldaten und ließ meine Au gen so lange hin und herschweifen, bis ich auf der Hand eines bär tigen Bogenschützen ein eingeritztes W entdeckte. Ich dachte eine Weile angestrengt nach, dann hockte ich mich wieder neben die an deren. Aus den Augenwinkeln sah ich, daß auch Großvater und Wil helmina von Rottensteiner zur Besprechung der Lage die Köpfe zu sammensteckten. Ich ergriff Hardys Arm und blickte ihm in die Augen. »Nehmen Sie die zwei mit hinter die vierte Reihe! Klar?!« Er sah mich an, als würde auch ich inzwischen zu den Bewoh nern dieses Irrenhauses zählen. »Ich soll was?!« »Was ich gesagt habe! Los jetzt!« Und um meine Worte zu untermauern, gab ich ihm gleich einen richtungsweisenden Stoß. Etwas schien seinen Füßen leider im Weg gewesen zu sein, denn er torkelte, fiel gegen einen der Tonsoldaten, der daraufhin heftig ins Schwanken geriet und dann kurzerhand auf den Reporter knallte. Hardy stöhnte auf, kam keuchend wieder zum Vorschein und blick te mich noch entgeisterter an. »Mein Gott, Lawrence, hier ist ja alles verk…« »Mund halten! Und jetzt gehen Sie schon!« Er sprang auf, nahm Leichenfresser und Mal bei den Händen und zog sie mit sich in die besagte Reihe. »Lawrence!« Lei Tshung-taos Stimme klang ziemlich ungeduldig, man könn te sogar sagen, hysterisch. Ich zog die MP hinter den Tonsoldaten hervor. »Ich höre!« »Ich gebe Ihnen zwanzig Sekunden. Wenn Sie sich bis dahin nicht entschieden haben, wird die Kleine neben der anderen baumeln! Sie haben ja gesehen, daß ich nicht scherze. Also, ich wiederhole, Sie haben zwanzig Sekunden!« 407
»Warten Sie! Wenn dem Mädchen irgendwas passiert, werden Sie Ihre Tonarmee niemals kriegen! Darauf können Sie Gift nehmen!« »Das überlassen Sie lieber mir.« »Das ist kein Scherz, Lei Tshung-tao! Ich werde jetzt ebenfalls bis zwanzig zählen, und wenn das Mädchen bis dahin nicht hier un ten ist, können Sie sich von ihren Soldaten verabschieden! Für im mer! Haben Sie mich verstanden?!« »Sie bluffen, Lawrence!« Ein Meo schob das Mädchen an den Rand des Geländers. Das Mädchen hatte Tränen in den Augen und streckte die Hand ver zweifelt nach ihrem Verwandten auf der Gegenseite heraus. Der alte Mann war in sich zusammengesunken, hatte den Stock auf den Holz boden fallengelassen und saß nun gekrümmt, mit dem Gesicht in den Händen da. »Großvater! Ich will nicht sterben!« Lei Tshung-taos Stimme kam wie aus einer anderen Welt. »Vierzehn!« Ich sprang wieder in meine Reihe zurück und hechtete zu dem Bogenschützen mit der Markierung. Dort fiel ich auf die Knie und grub so lange am Fundament herum, bis ich fand, wonach ich ge sucht hatte. Eine Art Pedal, auf das man wahrscheinlich nur kurz drauf zutreten brauchte. »Achtzehn!« Ich hatte keine Zweifel, daß es Lei Tshung-tao ernst meinte. Jetzt sollte er aber endlich lernen, daß auch ich keine Lust zum Scher zen hatte. »Neunzehn!« Judy schrie auf, Leichenfresser warf sich mit einem Satz über die Kante der Grube und rannte ungeachtet der Lebensgefahr, in die er sich begab, auf das Gerüst zu. Irgendwo wurde eine Maschi nenpistolensalve abgefeuert, und im selben Moment, als ich das Pfei fen der Kugeln vernahm, trat ich auf das kleine Pedal. Ich hörte einen ohrenbetäubenden Knall, dann riß mich eine ge waltige Kraft in die Luft. Ein paar Sekunden später fiel ich auf den 408
Boden der Tatsachen zurück, geradewegs neben Leichenfresser. Der Musiker lag wie ich keuchend im Sand und versuchte, die Erde in seinem Mund mit heftigen Würgern wieder loszuwerden. Ich blickte zu den Tonsoldaten zurück. Die mit W markierte Rei he war buchstäblich wie vom Erdboden verschwunden. Judy stand immer noch reglos da oben, mit dem Strick um den Hals und den Tränen auf den Wangen. Den Chinesen konnte ich vorerst nicht entdecken. Ich griff mir Leichenfresser und zerrte ihn, so sehr er sich auch sträubte, mit mir in die Mitte unserer beschützenden Tonarmee zu rück. Er verlor vollends die Kontrolle, fiel in sich zusammen, sei ne Stimme bebte. »Mein Gott! Judy…« »Ruhig Blut!« meinte ich. »Es wird ihr nichts passieren. In weni gen Minuten ist sie hier unten…« »Was … was haben Sie … angestellt?« »Ein kleiner Scherz. Als Zeichen, daß der Glaube manchmal Ber ge versetzen kann, oder in diesem Fall Tonsoldaten.« Ich verstummte, denn im selben Augenblick erschien Lei Tshung taos Gesicht oben auf der Brüstung. Dann folgte der ganze Mensch, und er beugte sich so weit nach vorne, daß ich schon glaubte, er würde herunterfallen. Mit zitternder Hand schob er die immer noch vor sich hinbau melnde Ho Ling zur Seite, und versuchte durch die Staubwolke ei nen Blick auf das Szenario hier unten zu erhaschen. Als er sich über zeugt hatte, daß eine ganze Reihe Soldaten verschwunden war, fiel er gegen das Geländer und fing an zu schluchzen. Ich war furchtbar stolz auf mich. Am liebsten hätte ich auch ge weint, allerdings vor Zufriedenheit. Das einzige, was mich im Mo ment daran hinderte, war die Frage, wie wir nun letztendlich aus die ser Falle herauskommen sollten. Sofern wir es überhaupt schafften.
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ei Tshung-tao schrie auf. Eine ganze Weile hielt er sogar den Ton, als würde man ihm die Haut abziehen. Pausenlos prasselten die gemeinsten Schimpfwörter auf mich herab. »Was haben Sie getan, Sie verdammter Bastard?! Sie Dreckschwein! Meine Soldaten… Verflucht seien Sie, bis in alle Ewigkeit! Lassen Sie ja die Finger von meiner Armee! Kommen Sie sofort hier hoch! Sofort! Ich werde Sie töten… Sie alle! Verfluchter Bastard!« Ich hielt es für besser, ihn sich austoben zu lassen. Schnell dreh te ich mich zum Gerüst mit Großvater und dessen Truppe um. Sie betrachteten mich, als würden sie einem Hauptdarsteller von einem ziemlich unbeliebten Film zuschauen müssen. Ihre Blicke waren nicht sehr freundlich, und das gefiel mir nicht. »Lawrence!« meldete sich Lei Tshung-tao. »Ich höre.« »Wenn Sie noch einem … einem einzigen etwas antun … werde ich Sie töten! Mehr noch, ich werde Sie foltern, daß Sie schreien und heulen werden wie ein kleines Kind, und betteln, daß ich Sie endlich umbringe…! Ich kenne Tausende von Foltermethoden, die…« »Strengen Sie sich nicht so an!« sagte ich und schielte immer noch mit einem Auge zu Großvater hoch. »Schicken Sie das Mädchen runter, oder die nächste Reihe wird dran glauben!« »Was haben Sie gemacht, Sie dreimal verfluchter Teufel?!« Ich grinste freundlich und machte eine wegwerfende Handbe wegung. »Ach … sehen Sie, Mr. Vang Pin, oder besser gesagt, Lei Tshung tao, ich habe etwas Erfahrung mit Typen wie Ihnen. Ich dachte mir, am besten suche ich die Tonarmee, noch bevor Sie sie finden. Heu te nacht habe ich einen ausgedehnten Spaziergang unternommen … und, was soll ich sagen, ich hab' sie, wie Sie gemerkt haben, ge funden!« »Sie verfluchter Hundesohn! Also wußten Sie es schon gestern?!« 410
»Sie sagen es. Meine Freunde behaupten immer, ich wäre ein trick reicher Zeitgenosse. Diesmal bestand der Trick darin, die Soldaten zu finden und sie zu verminen. Ich hab' mir vorgestellt, was für ein tolles Feuerwerk das abgeben würde, wenn ich auf die Knöpfchen drücke. Wissen Sie, ich dachte mir – und meine Freunde sagen im mer, ich wäre nicht bloß trickreich, sondern auch sehr vorausschau end –, also ich dachte mir, was, wenn unser lieber netter Hausherr doch nicht so lieb und nett ist? Was, wenn Sie sich entscheiden soll ten, daß Ihnen die Tonsoldaten doch ein klein wenig wichtiger sind als unser Wohlergehen? Na ja, Sie wissen schon, die Menschen sind halt immer so mißtrauisch… Ich gebe zu, es war nicht die feine eng lische Art, hier herunterzukommen und jede Reihe einzeln zu ver minen … aber wie schon gesagt, bin ich erstens kein richtiger Eng länder und zweitens sowieso ein Barbar. Das sagen viele von mir, die mich kennen, und sie wissen, daß mir auch Weltruhm nichts bedeutet … oder diese Tonfigürchen hier. Ist das alles klar? Also, hier noch einmal mein Angebot: Sie lassen das Mädchen zu uns run terkommen, und dann können wir weiterreden. Sie bekommen noch einmal zwanzig Sekunden. Wenn nichts passiert, fliegt die nächs te Reihe in die Luft. Und so weiter … es gibt ja ein paar von ihnen. Ach, und wenn dem Mädchen irgendwas zustoßen sollte, lasse ich hier alles in Staub aufgehen!« »Dann werden Sie selbst auch verrecken, Lawrence!« »Woher sind Sie sich da so sicher? Vielleicht habe ich mir ja auch dafür etwas einfallen lassen. Sie haben gesehen, eben ist mir auch nichts passiert!« »Das ist eine verdammte Finte, Sie Schweinehund!« »Das können Sie nicht wissen, Lei Tshung-tao. Also? Soll ich drü cken, oder kommt die junge Dame zu uns runter?« Sein Kopf verschwand, was ganz gut war, denn vielleicht hätte er selbst aus der Höhe meinen Schweiß gesehen. Ich muß zugeben, daß ich es nach allen Regeln der Kunst gemacht hatte. Dennoch war es natürlich genau das, wonach es auch aussah: ein gefährlicher Bluff. 411
Endlich tauchte der Chinese oben wieder auf. »Das Mädchen ist unterwegs, Lawrence … aber Sie werden das noch tausendfach bereuen!« Leichenfresser ließ sich nicht mehr zurückhalten. Er sprang aus der Grube und rannte auf Judy zu, die in dem Höhleneingang auf tauchte. Ich versuchte, so gut es ging, ihn mit der Maschinenpis tole zu decken, konnte aber eigentlich nur darauf hoffen, daß Lei Tshung-taos Habgier größer sein würde als seine Wut und er kei nen unüberlegten Feuerbefehl gab. So war es dann auch, und bald darauf rangen die beiden Liebenden gemeinsam neben mir nach Atem. Sie zogen sich hinter die Soldaten zurück, und ich schaute diskret in eine andere Richtung. Dabei nahm ich wieder die bisher merkwürdig ruhige gegnerische Seite aufs Korn. Wie groß war jedoch meine Überraschung, als ich neben den vier Akteuren meinen alten Freund Dr. Camus entdeckte! Und zwar in Begleitung eines ziemlich professionell wirkenden Ziel fernrohrgewehrs. Erneut kletterte ich hinter den Soldaten hervor und versuchte nun, eine meiner wichtigsten Karten auszuspielen. Ich fühlte mich wie eine Maus, die sich vor zwei rivalisierenden Katzen zu verstecken versucht. »Frau von Rottensteiner…!« Sie sah zu mir herunter, mit dem Regenschirm in der Hand. »Was willst du, Käfersammler?« »Ich glaube, wir haben gewonnen!« »Ach … das glauben Sie?« Ihre Stimme war so voller Herablassung, daß ich es unmöglich nicht merken konnte. »Sie können machen, was Sie vorhaben … obwohl so etwas ge gen meine Prinzipien verstößt. Ich glaube, kein Individuum hat das Recht, über ein anderes zu urteilen. Das muß die Gesellschaft ma chen…« Sie hob den Regenschirm und zeigte damit in meine Richtung. Ich glaube, ich ahnte die Stichflamme mehr, als daß ich sie sah. Ge 412
rade wollte ich in Deckung springen, als das Projektil knapp vor meinen Füßen in die Erde einschlug. »Wenn Sie weiter solchen Unsinn reden, werde ich beim nächs ten Mal besser zielen! Ich habe Sie nicht um Ihren Rat gebeten! Hier entscheide einzig und allein ich, was passiert! Verstanden?! Ich hab' Sie nicht hierhergerufen, genausowenig wie die anderen. Ich kann nichts dafür, daß Sie hier sind! Das Opfer muß gebracht werden, und keiner darf und wird jemals erfahren, was sich hier abgespielt hat… Keiner, niemals! Die Erde wird uns alle begraben, zusammen mit den Tonsoldaten. So wollten wir es, und so wird es auch sein!« Ich richtete mich auf und sprach nun den alten Mann an: »Haben auch Sie den Verstand verloren, Großvater? Wollen Sie tatsächlich Ihre eigene Enkelin für das Hirngespinst einer Wahn sinnigen opfern? Was wollen Sie noch, nach so vielen Jahren? Ra che?! Dann schnappen Sie sich Lei Tshung-tao, aber nur ihn! Ich warne Sie! Sie sind um keinen Deut besser als er, wenn Sie Un schuldige in Ihren Vergeltungszug mit hineinziehen…! Und Sie, Li solette…« Als ich das Mündungsfeuer sah, warf ich mich automatisch in De ckung. Noch während des Falls sah ich, wie Van Broeken und Dr. Camus nach Lisolette griffen. Das Mädchen wehrte sich, wand sich in ihrem Griff und verschwand plötzlich aus meinen Augen. »Lei Tshung-tao!« Es war Frau von Rottensteiners Stimme. »Was wollen Sie?« »Erkennen Sie mich?« »Eine der sechs Frauen … die blonde Deutsche? Also sind auch Sie diesem idiotischen Kao Fan-tschung entwischt… Was wollen Sie? Einen Handel?« »Ich will Ihren Tod, Lei Tshung-tao!« »Sie sind verrückt! Genau wie dieser Lawrence… Stoppen Sie ihn am besten, bevor er noch meine Tonarmee in die Luft jagt!« »Bevor wir alle sterben, Lei Tshung-tao, muß ich Ihnen noch et was erzählen. Sie verfluchter Mörder, Sie Scheusal! Jahrelang habe 413
ich diesen Tag herbeigesehnt… Wenn ich an Gott glauben würde, müßte ich ihm jetzt für diesen Augenblick danken. Sehen Sie die se Leute hier? Van Broeken … und Ihr Freund, Dr. Camus.« Der Doktor trat hervor und starrte den Chinesen haßerfüllt an. Lei Tshung-tao zuckte zusammen und schüttelte ungläubig den Kopf. »Ja, ja, Lei Tshung-tao…!« fuhr die Professorin fort. »Dr. Camus ist niemand anderer als Leutnant La Coster. Genauso wie ich hat auch er sein Leben der Aufgabe gewidmet, Sie zu finden und zu töten. Mein Gott, wie oft, wie oft hatte er die Möglichkeit dazu! Aber Sie sollten Ihr Leben dort beenden, wo Sie so gerne sein woll ten! Unter der Erde. Bei Ihren geliebten Tonsoldaten! Mit einer rie sigen Enttäuschung im Herzen…« »Enttäuschung? Sie sind ja verrückt, Rottensteiner…« »Das will ich nicht noch einmal hören!« drohte sie kalt. »Lassen Sie mich lieber etwas erzählen, das Ihr dreckiges kleines Herz hof fentlich in Rage bringt, Lei Tshung-tao. Die Tonsoldaten … HuanTis Tonsoldaten … existieren gar nicht! Das Ganze ist nur ein dum mes Märchen, Lei Tshung-tao! Wir haben sie niemals gefunden!« »Unsinn!« »O doch, so ist es! Wir haben sie nicht gefunden. Und was nicht da ist, kann man vor Ihnen auch nicht verstecken, nicht wahr?!« »Was reden Sie da für ein wirres Zeug?! Schauen Sie doch mal nach unten!« »Das da unten, Oberst, ist nichts weiter als eine Falle, in die Sie hineingetappt sind. Nicht Sie haben uns entführt, sondern wir ha ben Sie reingelegt! Jede Minute meines Lebens habe ich mir vorgestellt, wie es sein würde, Ihr zuckendes Gesicht neben den … Tonsolda ten zu sehen. Wofür Sie gelebt haben, Lei Tshung-tao, die Tonar mee … sie existiert nicht, hat auch niemals existiert! Das alles hier unten habe ich angefertigt, um Sie in die Falle locken zu können. Sie dämliches, dreckiges Schwein!« »Stimmt das?« flüsterte Mal überrascht. Ich nickte. 414
»Sie sind alle aus Plastik, schau sie dir genauer an…« »Und du hast das die ganze Zeit gewußt?!« »Sagen wir, geahnt. Später erzähle ich dir alles. Die kleinen Figuren waren ebenfalls aus Plastik. Wilhelmina von Rottensteiner ist auch als Künstlerin nicht zu verachten. Zum Glück hat Mr. Hardy mal erwähnt, daß er in Bangkok eine ihrer Ausstellungen besucht hat.« »Verdammt«, murmelte der Reporter. »Das hätte mir auch auffal len sollen… Und was jetzt?« Ich hatte noch ein paar verborgene Asse im Ärmel, wußte nur nicht, welches ich wann ausspielen sollte. Dann sah ich Judys verstörtes Ge sicht und fand, daß sie für die nächste Runde genau das Richtige wäre. Ich schälte sie aus Leichenfressers Geborgenheit verheißenden Armen und gab ihr ein paar Instruktionen. Zuerst verstand sie nicht, doch am Ende nickte sie nur noch, also ließ ich sie aus der Deckung hervortreten. Sie streckte ihre Arme flehend nach oben aus. »Großvater! Ich will noch nicht sterben! Hilf mir, Großvater!« Der Alte nahm die Hände von seinem gequälten Gesicht. »Es … es geht nicht, Judy! Ich habe einen Schwur geleistet!« »Aber meiner Mutter hast du doch auch geschworen, daß mir nichts passieren würde!« »Es … es wird nicht weh tun, Judy … und dort drüben, in der an deren Welt, sehen wir uns bald wieder!« »Großvater … lieber Großvater… Bitte, laß nicht zu, daß diese Ver rückte uns alle mit ins Grab nimmt! Bitte, Großvater…« Ich riß sie gerade noch rechtzeitig hinter einen Soldaten zurück. In der Hand der Professorin hatte der Regenschirm wieder einmal Feuer gefangen, und wenn ich auch nur eine Zehntelsekunde spä ter dort gewesen wäre, hätte sich Großvater keine Sorgen mehr um sie zu machen brauchen. Der nächste Moment gehörte wieder Lei Tshung-tao, der einen heftigen Jauler ausstieß. »Neiiin…! Ich werde Sie alle umbringen! Glauben Sie etwa, ich wür de auf so einen Blödsinn reinfallen?! Die Armee ist echt! Los, Jungs, Feuer!« 415
Ein paar Salven durchquerten den unterirdischen Tempel, dann merkten die Meos, daß sie nichts mit einem Gegner anfangen konn ten, der sich bei Gefahr seltsamerweise ständig hinter einer dicken Holzbrüstung versteckt. »Lei Tshung-tao!« »Was wollen Sie?« »Keiner wird diese unterirdische Kammer lebend verlassen…!« »Verfluchte Hexe…« »Wir haben eine Sicherheitsschaltung installiert. Hier, sehen Sie? Dieser Schlüssel wurde umgedreht, als wir diesen Raum betreten ha ben. Alle Eingänge werden in etwa zehn Minuten einstürzen, wenn die Bomben explodieren. Wir werden für immer hier unten bleiben, Oberst! Wir und die falsche Tonarmee!« Ich fühlte, daß ich mich noch einmal in den Lauf der Dinge ein mischen sollte. »Und was ist mit uns?« Sie drehte sich zu mir um und zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt, es tut mir leid… Mit Ihren Leuten hatte ich eigent lich keine offene Rechnung. Mal abgesehen von Ihnen und den Kä fern in Hamburg…« »Dann lassen Sie uns gehen!« »Ich kann nicht, Lawrence! Ich will nicht, daß irgend jemand un sere gemeinsame Ruhe hier unten stört. War das richtig so, Lei Tshung-tao? Vielleicht werden wir in einigen Jahrhunderten mal von erstaunten Archäologen gefunden… Die Minen sind scharf, die Uhr tickt. Unter anderem auch in der Höhle, die nach oben führt. Sie wären genau dort, wenn sie hochgeht.« Ich gab den anderen einen Wink und sprang aus der Grube. Eine Salve feuerte ich in Lei Tshung-taos, eine der Symmetrie halber in von Rottensteiners Richtung ab. Es tat gut mit anzusehen, wie sie alle hinter den Deckungen verschwanden. Leider waren wir alle etwas langsamer als erhofft. Wir hatten den Tunneleingang noch nicht erreicht, da prasselten auch schon die ersten Kugeln hinter uns nieder. Eine zischte ziemlich dicht an mei 416
nem Ohr vorbei, kurz darauf schrie Hardy neben mir auf, und preß te die Hand an seine Schulter. Ich gab noch ein paar Gegenschüsse zum besten, dann hatte uns endlich die Ausgangshöhle verschluckt. Nur Hardy war leicht verletzt, die anderen waren davongekommen. Mal umarmte mich, und ihre warmen Tränen flossen mir bis un ters Hemd. »Werden wir es schaffen?« Hardy schüttelte den Kopf. Zwischen seinen Fingern tropfte Blut auf den Boden. »Wenn diese wahnsinnige Frau tatsächlich alle Ausgänge präpa riert hat, haben wir keine Chance. Wir brauchen mindestens zwan zig Minuten bis zur Oberfläche … und in zehn Minuten kracht hier angeblich alles zusammen. Nein, ich glaube nicht, daß wir es dies mal schaffen…« »Vielleicht doch«, erwiderte ich. »Was?! Wie denn? Worauf hoffen Sie denn jetzt noch?!« »Auf einen Buchstaben. Das W.« Er sah mich argwöhnisch an, als hätte ich seiner Meinung nach wie unsere Gegner ebenfalls meinen Verstand verloren. »Was zum Teufel soll das bedeuten?« Noch bevor ich den dazugehörigen magischen Namen ausspre chen konnte, in dem sich all meine Hoffnungen bündelten, tauch te ein dunkler Schatten im Gang auf. »Sind Sie alle okay?« erkundigte sich ein typisch amerikanischer Akzent. »Leider konnte ich nicht früher da sein. Verdammte Kacke, die haben hier alles vernetzt! Selbst mit meinem Metalldetektor dau ert es Stunden, bis ich eine Mine finde … als ob die das mit Ab sicht machen würden. Was ist? Warum schauen Sie so bedeppert? Hallo, Jungs, Mädels! Ich bin es! Seit vierundzwanzig Stunden bin ich auf den Beinen und entschärfe in diesen engen Schächten eine Bombe nach der anderen…« Es war natürlich Wimmer, der so wortreich vorstellig wurde.
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udy und Mal umringten ihn von zwei Seiten. Sie nahmen ihn in die Arme, tanzten mit ihm, es gab sogar den einen oder ande ren Kuß. Wimmer griff nach seiner bis zur Unkenntlichkeit verdreckten See mannsmütze und rief in gespielter Verzweiflung: »Hilfe, Terroristen!« Wer weiß, wie lange sie noch so herumgetollt hätten, wenn ich nicht dazwischengetreten wäre. Ich befreite den Terroristenjäger und baute mich vor ihm auf. »Alles in Ordnung?« Er schaute mich an, und auf einmal verflog die gute Laune aus seinem Gesicht. Er sah aus, als hätte er plötzlich in eine Zitrone gebissen. Irgendwie bekam ich davon ein ungutes Gefühl. »Wimmer…?« »Ja?« »Alles in Ordnung?!« »Ähm, ich … äh … ich fürchte…« »Was denn, Mann?!« schrie ich ihn an und schob die Mädchen unnötig hart zur Seite. »Was ist los?!« Sein Gesicht war jetzt ein Abbild unendlicher Müdigkeit und Nie dergeschlagenheit. »Es ist so… Die Bombe, die bei dem Eingang dafür sorgen soll, daß er für immer verschlossen bleibt… Die konnte ich nicht ent schärfen! Tut mir leid, es ging einfach nicht… Das System war mir vollkommen unbekannt. Sie wird hochgehen.« »Wann?« Der Navysoldat lehnte sich an die Höhlenwand, und erst in dem Moment merkte ich, daß sein Eröffnungsgerede nur die Oberflä che war. Der junge Mann war in Wirklichkeit zu Tode erschöpft und hatte höllische Angst. 418
»Wann, um Gottes willen?!« Er schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich weiß nicht, Mr. Lawrence. Den Auslöser habe ich gar nicht gefunden, nur die Uhr. Zuerst wollte ich das Kabel durchschneiden, aber das war in einem Stahlrohr verlegt worden. Ich konnte nichts weiter tun, als die Uhr zurückzudrehen.« »Wieso haben Sie sie nicht zerstört?« »Es ist eine Automatik drin. Es hätte nichts genützt, denn wenn die Uhr nicht mehr funktioniert, übernimmt diese Automatik das Ganze, und da war es schon besser, die Uhr zurückzustellen. Das habe ich dann auch getan.« Langsam, aber sicher fühlte ich mich wie in einem Karussell. »Auf wann … ich meine, wie lange…?« Meine Sätze waren auch nicht viel zusammenhängender als sei ne, soviel stand fest. »Man kann die Uhr dreißig Minuten zurückschrauben. Ich hab' sie natürlich auf Minus Dreißig gestellt, also heißt das, von dem Moment an blieben uns dreißig Minuten…« »Und … wann…?« keuchte Leichenfresser und zog Judy an sich. Wimmer schaute auf seine Uhr. »Nun ja … vor genau fünfzehn Minuten«, meint er trocken. Er war sicher kein schlechter Marinesoldat, seine Nerven zumindest schienen aus Stahl zu sein. »Können wir den Ausgang erreichen?« keuchte Hardy. Anstelle einer Antwort schnappte ich mir Mal und rannte los. »Kommen Sie! Wir müssen es versuchen!« Leichenfresser stützte Judy, ich Malgorzata und Wimmer hin und wieder die Wand. »Kommen Sie, Soldat!« trieb ihn Hardy immer aufs neue an, ob wohl er selbst mit seiner Wunde auch nicht in allzu guter Verfas sung war. »Sind Sie denn so erschöpft?« »Todmüde«, krächzte der Marinemann und gab dabei Töne von sich wie eine leckgeschlagene Dampfmaschine. »Den ganzen Tag über in diesem blöden Loch…« 419
Ich schaute auf meine Uhr. Uns blieben noch zwölf Minuten.
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ch sah schon eine ganze Milchstraße von Sternen vor den Au gen, Mal stützte sich mit einem unglaublichen Gewicht bei mir ab, fiel dann trotzdem immer wieder hin, so daß ich sie ständig auf zerren mußte. Judy schlug in einem hysterischen Schreianfall vor, sie dazulassen, weil sie es sowieso nicht schaffen würde. Wimmer fluchte daraufhin bloß, während Hardy und Leichenfresser sie wei ter vor sich herschoben. Aber die Treppen schienen immer mehr zu werden. Manchmal hatte ich sogar das dumme Gefühl, wir wür den nach unten rennen und uns in der letzten Minute wieder bei den Tonsoldaten einfinden. »Wieviel?« keuchte Wimmer. »Fünf Minuten. Ich hoffe, Sie haben die Zeiger richtig abgelesen…?« »Soll das ein Scherz sein? O verdammt, wie ich alle Terroristen dieser Welt hasse! Zum Teufel mit ihnen, sie alle müßten jetzt da unten in der Grube auf ihr Schicksal warten… Dann wären sie für immer begraben.« Es wurde zunehmend heller. Noch zwei Ecken, noch eine Kur ve, noch… Zwei Minuten. Judy stolperte und blieb dann störrisch sitzen. Leichenfresser woll te sie hochheben, aber sie schrie nur herum und schlug auf den Bo den ein. »Nein, laß mich…! Ich will sterben! Großvater…!« Wir waren wohl alle an unseren Grenzen angelangt. Physisch wie psychisch. Mal gab der Kleinen eine Ohrfeige. Das schien wohl so eine Art 420
Spezialität von ihr zu sein. Leichenfresser griff seiner Flamme un ter die Arme und hob sie hoch. »Komm schon, Baby, wir werden das durchstehen, echt cool durch stehen! Glaub mir, Baby … immer mit der Ruhe…!« Nach der letzten Biegung sahen wir endlich das Tageslicht. Einen Spalt des Himmels hatten die Bäume über dem Ausgang frei gelassen. Noch ein paar Sekunden. Ich weiß nicht mehr, wie wir aus der Höhle hinauskletterten. Ich kann mich nur noch erinnern, daß ich mit Mal Hand in Hand auf die Bäume zutorkelte. Und dann noch daran, wie Wimmer einen spitzen Schrei ausstieß und gleich darauf die Zweige hinter uns knacksten. Ich drehte mich um und wünschte mir im selben Moment, ich hätte es nicht getan. Es waren die Meos mit ihren hübschen, breiten Buschmessern.
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ie Bäume drehten sich um mich herum, als wäre ich in einen tranceähnlichen Tanz verfallen. Wimmer fluchte ohne Pause, der völlig erschöpfte Hardy plumpste auf den Boden, und Mal hielt sich an meinem Arm fest. »Ist das … das Ende, Leslie?!« Ich konnte nicht mehr antworten. Selbst in diesem verstörten, ab gehetzten Zustand hätte ich an die Meos denken müssen. In die sem Urwald mußte man mit ihnen immer rechnen. Aber was, wenn ich es gewußt hätte? Was hätte ich dagegen un ternehmen können? Trotzdem würde man uns abschlachten, wir könnten uns höchstens länger verteid… Ich schlug mir auf die Stirn. Ich Idiot! Ich hatte doch noch mei 421
ne Maschinenpistole! »Tötet sie!« vernahm ich eine bekannte Stimme. Es war die von Dr. Camus. Der ehemalige Leutnant La Coster war wohl durch ei nen Hintereingang entwischt. Und zeigte dieselben Symptome des Wahnsinns wie seine Gefährten unten in der Höhle. Ich stellte die MP auf Dauerfeuer und machte mich bereit. O nein, Freunde, einen Leslie L. Lawrence werdet Ihr nicht so einfach er wischen, besonders, da eine Maschinenpistole immer noch ziem lich gute Chancen gegen ein Dutzend scharfer Messer hatte. Aber zum Abdrücken kam ich nicht mehr. Mit weit geöffneten Augen sah ich zu, wie die Angriffslinie der Meos zusammen mit dem ihnen hinterherstolzierenden Dr. Camus in die Luft flog. Leider konn te ich das seltene Schauspiel nicht weiter verfolgen, da mich eine heiße Luftwelle erfaßte und ebenfalls davonschleuderte. Alles ver dunkelte sich vor meinem Gesicht, und der Boden tat sich unter mir auf. »Verdammt, Mann«, vernahm ich nach einer Ewigkeit eine Stim me, »können Sie nicht aufpassen?!« Ich spürte, daß mein Mund mit Erde, Gras und Holzstückchen voll war und daß ich außerdem jemandem auf dem Magen lag. Lei chenfresser versuchte verzweifelt, mich wegzustemmen. »Wo sind die … Kerle hin?« »Wer?« stöhnte ich. »Die Meos?« »Wo sind sie hin?« Genau, wo waren sie abgeblieben? Ich drehte mich um, konnte aber niemanden entdecken. »Warum fragen Sie?« Ein schelmisches Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. »Weil ich … ihnen in die … Eier treten will!« meinte er, wurde dann schön langsam käseweiß und fiel in Ohnmacht. Soweit das Auge reichte, lagen entwurzelte Baumstämme in der Gegend herum. An der Stelle, wo sich bis vor kurzem noch der Ein gang zur unterirdischen Höhle befunden hatte, gähnte eine gewal tige Schlucht. Als ob wir in einen Steinbruch gekommen wären, sah 422
ich überall spitze Felsreste aus dem Boden lugen und einen gleich mäßigen Steinteppich, der an manchen Stellen sicher ein paar Dut zend Zentimeter dick war. Erst in diesem Moment wurde mir klar, daß wir wahrscheinlich davongekommen waren. Und daß ich keinen blassen Schimmer hat te, wo sich Mal im Moment befand. Ich versuchte, ihren Namen zu rufen, schaffte aber nur ein hei seres Krächzen. Leichenfresser kam langsam wieder zu sich. »Wo … sind denn die … Mädels?« Dann fielen die ersten Napalmbomben.
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ie darauffolgenden Minuten sind aus meinen Erinnerungen ver schwunden. Ich sehe nur ein paar verschwommene Bilder vor mir, wenn ich versuche, an die Situation zurückzudenken. Ich sah, wie Leichenfressers Kimono in Flammen aufging, er sich herausschälte, während ich immer noch versuchte, seine Kleidung mit Schmutz und Dreck zu löschen. Dann sah ich uns selbst, wie wir einen Berghang hinunterrannten und dabei pausenlos die Na men der anderen riefen. Die Bomben fielen immer noch, als wir bereits den Wald verlassen hatten. Wo immer wir auch hinsahen, alles stand in Flammen. Als würde die ganze Welt in der verdien ten Hölle brennen. Dann rannte aus dem Rauch irgend jemand auf uns zu und lan dete kurz darauf heulend in Leichenfressers Armen. Ich weiß nicht mehr, wie wir die anderen gefunden haben und ob es nur ein Traum war oder ich tatsächlich persönlich der fast nackten Mal meinen zerfetzt-verbrannten Kimono über die Schul 423
tern legte. Keuchend und hustend vor dem Rauch der brennenden Welt zo gen wir uns hinter einen breiten Felsen zurück, wo wir dann fest aneinandergekuschelt auch die Nacht verbrachten. Am nächsten Tag, als die Sonne bereits hoch über uns stand, mach ten wir uns auf den Weg zum Mekong.
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ie Sonne brannte immer noch mit unverminderter Energie, aber diesmal in Bangkok, als ich vor der Polizeiwache aus dem Taxi stieg. Ich wollte gerade bezahlen, als ein Rothaariger neben das Fahr zeug trat und dem Chauffeur das Geld in die Kabine reichte. »Diese Fahrt geht auf Kosten der Presse!« Es war Hardy. Wir umarmten uns herzlich und grinsten dabei breit. »Mal?« Er zwinkerte mir zu. »Sie wartet bereits!« Das tat sie wirklich. Ich fand allerdings nicht dieselbe Mal vor, die ich erwartet hatte. Sie war mir immer noch als das schutzbe dürftige Wesen in Erinnerung geblieben, das in einem dünnen Ki mono, später im Hemd eines Eingeborenen, bis zum Mekong spa zierte, dort krank wurde, und die ich dann auf meinen Armen ins nächste Dorf trug. Noch bevor wir diese Reise unternommen hat ten, war natürlich ein Besuch in Vang Pins Residenz fällig gewesen, um die beiden doch recht hysterischen Tennismädchen und eini ge Kleidungstücke samt Verpflegung einzusammeln. Gegen letzte res hatten die Bediensteten zwar einiges einzuwenden, verstumm 424
ten aber immer wieder, sobald ich meine Hand lässig auf der Ma schinenpistole abstützte. Als die Tür aufschwang und ich eintrat, blieb ich stehen, als hät te mir ein Meo mit seinem breiten Messer gegenübergestanden. Da bei kam nur Mal zu mir und hauchte mir einen Kuß auf die Stirn. Dann fiel mein Blick auf die anderen Bekannten. Judy war da, ganz in Schwarz; Leichenfresser, mit neu gefärbter, lilafarbener Haarpracht; und Wimmer, der überschwenglich salutierte. Alles wirkte so über trieben feierlich und gestellt. Als ob es gar nicht wir gewesen wä ren, die vor wenigen Wochen die Geschichte mit den Tonsoldaten gemeinsam durchlebt und überlebt hatten… Während die Minuten dann verstrichen, wurde die Atmosphäre gelöster, was nicht einmal die anwesenden Offiziellen ändern konn ten, die mit zufriedenem Grinsen hinter einem langen Tisch saßen und dem bunten Treiben beiwohnten. Der Chef des Sicherheits dienstes war ein kleiner, krummbeiniger Mann mit ehrlichem Lä cheln, der hart zupackte, als wir die Hände schüttelten. »Wie geht es Ihren Pandas?« »Danke, wir konnten einige Schmuggler dingfest machen.« »Ich gratuliere! Sie schlagen sich wohl anscheinend überall durch, was…?« »Oder aber meine Freunde helfen mir aus der Patsche.« Ich zeig te galant auf die Anwesenden. Wir genossen noch eine Weile das unverbindliche Beisammensein, dann wurden die Reporter hereingelassen, und jeder nahm Platz. Als die Aufnahmegeräte eingeschaltet waren, fing ich an: »Erst einmal muß ich Sie um Verzeihung bitten, daß ich nicht je des Detail des Falles aufklären konnte, der unter dem Namen ›Der Fluch des Huan-Ti‹ oder ›Die Tonarmee-Legende‹ in der Öffentlichkeit bekannt wurde. Wie Sie sicher wissen, war ich in den letzten Wo chen in China unterwegs.« »Wegen der Pandas?« »Ja, ganz richtig, wegen der Pandas. Die UNO und einige ande re Organisationen haben mich gebeten, der chinesischen Regierung 425
bei der Bekämpfung internationaler Tierschmuggler behilflich zu sein. Zum Glück hatten wir Erfolg und konnten einige der Schur ken festnageln. Die Pandas sind also vorerst in Sicherheit…« »Und die Tonarmee?« »Ich wäre selbst am meisten überrascht, wenn sich die Legende als wahr erweisen sollte. Wissen Sie, es gibt so viele Mythen und Legenden auf der Welt… Die Tungusen zum Beispiel…« Ich wollte gerade in meine eigene Welt versinken, als mich der stren ge Polizeichef in die Wirklichkeit zurückholte. »Sie sollten vielleicht von vorne anfangen, Mr. Lawrence…« Ich lächelte verschämt, da ich wußte, daß mich mein wissen schaftlicher Eifer wieder einmal gepackt hatte und ich drauf und dran gewesen war, Leute mit Dingen zu langweilen, die sie gar nicht interessierten. Mal zwinkerte mir ermunternd zu, also räusperte ich mich und kam zur Sache: »Sie alle wissen inzwischen, daß die Vorgeschichte zu unseren Aben teuern mehrere Jahrzehnte zurückliegt. Oder noch länger, wenn man auf Huan-Ti selbst zurückkommen möchte.« Ich sah, wie der Sicherheitschef leicht zusammenzuckte, also ließ ich diese Variante schnell außer acht. »Aber lassen wir das jetzt. Genau wie die Legende der Tonsolda ten. Über die deutsch-amerikanische Expedition, die zu deren Er forschung zusammengestellt worden war, sollten wir allerdings schon ein paar Worte verlieren. Obwohl auch diese Dinge aufgrund der Nachforschungen der letzten Tage hinlänglich bekannt sein dürf ten, könnte es nützlich sein, ein paar Details noch einmal aufzu rollen. Vor allem könnte von Interesse sein, was ich damals auf der Hochebene in Laos dachte und was ich hier und heute denke. In vielen Dingen handelt es sich nämlich durchaus nicht mehr um die selben Ansichten. Nicht wahr, Mal?« »Ja, genau«, meinte sie, aber an ihrem zaghaften Lächeln und dem verschwommenen Blick sah ich, daß nur ihr Körper anwesend war. Ihre Seele wanderte immer noch irgendwo im Dschungel herum, auf der Jagd nach Tonsoldaten. 426
»Also… In den Zwanzigern und Dreißigern, einer ziemlich stür mischen Zeit, arbeitete eine Expedition in China. Verschiedene In stitutionen und Stiftungen hatten das Geld für diese Forschungs reise zusammengetragen, und die meisten Zeitungen berichteten so gar darüber. Da sich in den letzten Wochen einige die Mühe ge macht haben, diverse Archive zu durchstöbern, kennen wir auch die Namensliste der ehemaligen Mitglieder. Da aber mir persönlich damals in Laos überhaupt keine Einzelheiten bekannt waren, erlauben Sie mir bitte, daß ich alle bei dem Namen nenne, unter dem ich sie in Laos kannte. Also Van Broeken, Wilhelmina von Rottensteiner und Großvater. Sie werden sowieso wissen, um wen es sich in Wirk lichkeit handelt. Es war klar, daß Lei Tshung-tao, Chang Kai-sheks Geheimdienstchef, für die Sicherheit der Expeditionsmitglieder verantwortlich war. Nach einer gewissen Zeit hatte ihn die Begeisterung der Archäologen für das Thema angesteckt, so daß er bald selbst an die Legende glaub te. Wieso sollte sie nicht wahr sein, und wenn dem so war, warum sollte nicht er sich den Schatz unter den Nagel reißen? Aber das al les ist Ihnen bekannt. Ich selbst wußte davon in Laos natürlich nur wenig – oder anders ausgedrückt: Anfangs tappte ich eigentlich völ lig im dunkeln. Als ich die Papiere von Mr. Hardy gesichtet hatte, eröffnete sich mir folgendes Bild: Lei Tshung-tao hatte erfahren, daß die Archäologen die Tonarmee entdeckt haben, und versuchte sie für sich selbst zu vereinnahmen. Später, bereits im Dienste der Ja paner, mußte er die Forscher umbringen lassen. Drei der Mitglie der konnten aber zusammen mit Leutnant La Coster entkommen und verschwanden in den riesigen Weiten Asiens. Natürlich ist inzwischen klar, daß vieles davon so nicht stimmt. Die Dokumente, die Mr. Hardy in mühsamer Kleinarbeit zusam mengetragen hat, können nur einen Bruchteil der ganzen Geschichte beleuchten. Denn worum ging es eigentlich in Wirklichkeit? Nun, über die Arbeit der Expedition selbst brauche ich keine Wor te zu verlieren, genausowenig wie über das politische Umfeld. Wich tig ist dabei nur, daß die Tonarmee am Ende doch nicht gefunden 427
wurde. Die Expedition hatte keinen Erfolg. Wie hätte sie auch, wenn die Tonarmee unseres Wissens gar nicht existiert? Sicherlich haben die Forscher viele verschiedene Dinge ausgegraben, aber eben nichts, was mit Huan-Ti zu tun gehabt hätte. In den dreißiger Jahren schließ lich verschwanden die Forscher für eine ganze Weile von der Bild fläche, wobei ich natürlich annahm, daß sie in dieser Zeit die Ton soldaten in ein neues Versteck brächten. Auch damit lag ich falsch; viel wahrscheinlicher ist, daß sie in irgendeinem Internierungslager saßen, wo sie all die Kunstschätze katalogisieren und bewerten soll ten, die Lei Tshung-tao bei seinen Beutezügen zusammengetragen hatte. Auch mit der Außenwelt konnten sie nur über den Chine sen Kontakt aufnehmen, was aber natürlich von vornherein aus sichtslos war. Die Welt war inzwischen an einem Punkt angelangt, wo sie sich nicht mehr für das Schicksal einer einzelnen Expedition im entfernten China interessierte. In Europa bereitete man sich auf Krieg vor, in Japan und in China auf die Invasion in der Mandschurei. Lei Tshung tao hatte sich inzwischen mit Herz und Seele den Japanern ver schrieben. Den Eroberern gefiel allerdings die offensichtliche Hingabe des Chinesen für Kunstgegenstände wohl kaum. Noch weniger, daß er eine ganze Forschertruppe in seiner Gewalt hielt. In dem Punkt wa ren meine Vermutungen richtig; Japan hatte keine Lust, wegen der deutschen Mitglieder bei Hitler in Schwierigkeiten zu geraten. Die Aufforderung, die Sache zu beenden, kam wohl sicherlich von höchs ter Stelle, der sich Lei Tshung-tao auf jeden Fall fügen mußte. Nur tat er es eben nicht so, wie man es beabsichtigt hatte. Er beauftragte seinen Komparsen und Haupthenker, Kao Fan-tschung, alle um zubringen. Doch irgend etwas ging schief: Entweder war der Haupt mann diesmal ungeschickt, oder aber die Japaner hatten noch recht zeitig von der Sache Wind bekommen. Die Deutschen entkamen diesem Massaker zusammen mit Leutnant La Coster. Über den Krieg brauche ich nicht weiter zu reden. Inzwischen wur den auch alle informiert, wie sich der Briefwechsel zwischen der jun 428
gen Volksrepublik und dem Roten Kreuz gestaltete. Die Chinesen fanden schließlich auch das Massengrab und stellten fest, daß die Japaner die Morde begangen hatten. Damit hatte sich der Kreis ge schlossen, die Angehörigen konnten endlich letzten Abschied neh men, und die Sache wurde buchstäblich ein für allemal begraben. Nur gab es da einige, die weder fähig noch willens waren, zu ver gessen. Diejenigen, deren Leben Lei Tshung-tao zerstört hatte. Jene, die sich die Gedanken an ihre ermordeten Kollegen nicht so ein fach aus dem Kopf treiben konnten. Selbst nach Jahrzehnten, auf einem ganz anderen Kontinent. Ich spreche von den Leuten, die dem Blutbad entkommen waren. Meines Wissens gibt es, wie gesagt, keine Aufzeichnungen über ihre Flucht. Ich weiß nur, daß Großvater nach Amerika ging, von Rot tensteiner in Deutschland zu einer anerkannten Professorin avan cierte und Van Broeken sich in Holland niederließ. Über ihren wei teren Lebensweg und die Verbindungen zwischen ihnen könnte man einen eigenständigen Roman schreiben. Großvater, damals in sei nen Dreißigern, eröffnete einen Antiquitätenladen und nahm sich nur selten wissenschaftlicher Fragen an. Vielleicht hatten ihn die Ge schehnisse in China so sehr geschockt, daß er nie wieder etwas mit der Tonarmee zu tun haben wollte? Wer weiß. Er gründete eine Fa milie und lebte sein alltägliches Leben … an der Oberfläche. Denn daß er in Wirklichkeit keinesfalls der dumme, taube Opa war, für den er sich ausgab, wird auch Ihnen bald klar sein. Frau von Rottensteiner allerdings hatte sich zu den anerkannt Größ ten ihrer Zunft hochgekämpft. Auch sie verlor nie allzuviel Worte über ihre Vergangenheit, aber wer wollte das einer alternden Pro fessorin schon übelnehmen? Kein Mensch ahnte, daß sie in ihrer Jugend nur mit knapper Not dem schrecklichen Tod entgangen war. Den seltsamsten Weg schlug der jüngste von ihnen ein: Van Broe ken. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde er Mitglied der Amster damer Polizei. Ich will nicht pietätlos erscheinen, aber Van Broe ken merkte schon bald, daß man auf der anderen Seite des Geset zes etwas mehr Geld verdienen kann, und so wurde er schließlich 429
in gewisser Hinsicht auch selbst zu einem Verbrecher. Da das alles nicht unbedingt hierher gehört, möchte ich mit Ihrer Erlaubnis nicht weiter darauf eingehen.« »Sehr gut«, nickte der Sicherheitschef. »Es bleibt also nur noch eine Person übrig, die…« »La Coster«, warf Mal dazwischen. »Richtig. Der französische Leutnant, der zusammen mit den drei anderen der Hinrichtung entkommen war. Von ihm wissen wir le diglich, daß er als Arzt in China gewesen war, bis er sich der Ex pedition anschloß und dann diesem fürchterlichen Blutbad entrinnen konnte. Er verließ natürlich Asien wie auch die anderen. Danach wuchs Gras über die Sache, genau wie über das Massengrab. Als dann Jahre später die Exhumierung vorgenommen wurde, schien es, als wäre die Tragödie endgültig vorüber.« Ich hielt kurz inne, stopfte meine Pfeife und genoß ein paar Züge. »Irgend etwas war mit den vier Leuten, die gemeinsam China ver lassen konnten, passiert. Ich für meinen Teil glaube, daß sie eine Art Schwur geleistet hatten, niemals zu vergessen, was ihren Ka meraden angetan wurde, und sie hatten sich vorgenommen, sie ir gendwann einmal zu rächen. Wenn es sein mußte, wollten sie ihr ganzes Leben dieser Aufgabe widmen: Lei Tshung-tao finden und töten. Es ist keine dankbare Sache, Vermutungen aufzustellen, aber dies mal habe ich keine andere Wahl. Ein paar Dinge müssen wir näm lich ganz klarstellen: zum Beispiel, wer diese Menschen überhaupt waren, die Rache geschworen hatten. Ich sehe schon, Sie halten die se Frage für seltsam oder überflüssig. Wer waren sie schon … ein Ame rikaner, eine Deutsche, ein Holländer, ein Franzose… Aber mich in teressiert etwas anderes. Was waren das für Menschen, als sie die sen Schwur besiegelten? Sie verstehen immer noch nicht? Gut… Ähm, die Frage ist, mei ner Meinung nach, inwiefern diese Menschen nach den un menschlichen Qualen noch dieselben waren? Sie kennen doch die Problematik der sogenannten Lagerpsychose. Stellen Sie sich vor, 430
daß diese Leute wohl Jahre unter schier unsagbaren Entbehrungen gelitten haben, abgeschottet von der Welt, und manchmal sicher lich schlimmer als die Tiere hausen mußten; und da ist dann die Annahme, daß sie sich unter diesen Bedingungen vielleicht auf eine ganz bestimmte Art und Weise veränderten, gar nicht so abwegig oder gar beleidigend. Ihre Persönlichkeit veränderte sich in einem Maße, daß man es schon als krankhaft bezeichnen könnte, obwohl es sicherlich eine grobe Vereinfachung wäre, sie als verrückt abzu stempeln. Auf jeden Fall waren sie von Rachegefühlen derart besessen, daß dies ihren ganzen Lebensinhalt ausmachte. Wie oft sie sich dies bezüglich trafen, können wir nicht wissen. Aber als sie China ver ließen, nahmen sie sich vor, irgendwann Lei Tshung-tao zu schnappen, wo immer er sich auch verstecken mochte. Vielleicht wählten sie ihre späteren Tätigkeitsbereiche sogar bewußt aus… Groß vater mischte im Kunsthandel mit und hätte sicherlich gemerkt, wenn Lei Tshung-tao aufgetaucht wäre. Denn es war durchaus anzuneh men, daß der in Kunstschätze vernarrte Chinese nach dem Krieg wieder seiner alten Leidenschaft nachgehen würde.« »Einen Moment mal!« unterbrach mich ein Reporter. »Woher wuß ten sie überhaupt, daß Lei Tshung-tao den Krieg überlebt hatte? Ich meine, wir wissen es heute im nachhinein, aber diese vier Leute da mals…? Er hätte schließlich auch zwischenzeitlich sterben können…« »Sie haben vollkommen recht. Nun ja, sicher konnten sie sich na türlich nicht sein, dafür aber ahnten sie, daß solch windige Schuf te wie Lei Tshung-tao wahrscheinlich nicht auf einem Schlachtfeld sterben würden. Wie es in solchen Fällen halt ist, ging man davon aus, daß er sich ein ruhiges Plätzchen zum Überwintern ausgesucht hatte. Außerdem haben sie nach dem Krieg sicherlich die Archive der Japaner und Amerikaner durchforstet und nirgends seinen Na men gefunden. Daß er namenlos in irgendeinem Massengrab lag, nahm man, wie gesagt, nicht an. Eher glaubten sie schon an die Va riante, daß der ehemalige Geheimdienstchef noch rechtzeitig vom japanischen Dampfer gesprungen war und nun unter einem neu 431
en Namen, mit einem neuen Gesicht ein dementsprechend neues Leben angefangen hatte. Aber lassen Sie mich noch für einen kur zen Moment zu den Flüchtlingen zurückkommen. Großvater war also im Kunsthandel tätig, Frau von Rottensteiner kontrollierte das Forschungswesen und Van Broeken die dunklen Kanäle des Schwarzmarktes.« »Wollen Sie etwa sagen, Van Broeken trat nur deswegen bei der Amsterdamer Polizei ein, um Lei Tshung-tao auf die Spur zu kom men?« fragte der Sicherheitschef überrascht. »Das ist sehr wohl möglich. Obwohl ich keine Ahnung habe, wel che Arbeit Leutnant La Coster zugeteilt wurde, täusche ich mich wohl kaum, wenn ich behaupte, daß die Truppe ein äußerst eng maschiges Netz um den Kunstmarkt gespannt hatte, in dem – ih rer Hoffnung nach – bald der dicke Fisch zappeln würde.« »Doch er zappelte nicht…« »Genau. Lei Tshung-tao biß nicht an… Die Jahre vergingen, und so sehr sie auch sowohl den offiziellen als den auch den Schwarz markt kontrollierten, Lei Tshung-tao wollte nicht aus der Versen kung auftauchen. Ich denke, sie hatten viele schlaflose Nächte sei netwegen. Der Gedanke, daß er durch einen einfachen Tod ihrer Rache entgangen sein könnte, war genauso frustrierend wie die Vor stellung, daß er irgendwo reich und nichtsahnend das Leben genoß, das er auf dem Tod ihrer Kameraden aufgebaut hatte. Nach eini ger Zeit nahmen sie sich bei einem Treffen ein altes arabisches Sprich wort zu Herzen: Wenn der Berg nicht zu Mohammed kommt, geht eben Mohammed zum Berg. Wenn Lei Tshung-tao kein Lebens zeichen von sich gab, mußten sie den ersten Schritt tun. Der ein zige Weg war, ihm eine Falle zu stellen, der er nicht widerstehen konn te. Ich weiß nicht, wie lange es von der Idee zum endgültigen Pro jekt dauerte. Wahrscheinlich Jahre; Jahre, in denen Großvater, si cherlich auf Anraten von Wilhelmina von Rottensteiner, langsam, aber sicher zu einem bemitleidenswerten, alten Kauz wurde. Er steck te sich ein Hörgerät in die Ohren, und auch seine Auffassungsga 432
be wurde zusehends schlechter. Natürlich besuchte er hin und wie der einen Kongreß, meistens mit Hilfe seiner Enkelin Judy, man konn te ja nie wissen, wo der Feind auftaucht… Es war, wie gesagt, durch aus anzunehmen, daß Lei Tshung-tao unter einem anderen Namen in irgendeiner versteckten Ecke Asiens lebte oder sogar aus seinem Wissen Profit schlug und ein renommierter Kunstforscher gewor den war. Der Plan, den die vier nun zusammenbastelten, war wohl sicherlich ihr letzter verzweifelter Versuch, Lei Tshung-tao dingfest zu machen. Möglicherweise sprachen sie sich ab, daß dies der letzte Vorstoß sein würde, den sie gemeinsam unternahmen. Ganz ausschließen konn ten sie es schließlich nicht, daß ihn während des Krieges nicht doch eine verirrte Kugel getroffen hatte. Wer den vier die Sache finanziert hat, ist im Moment noch unklar. Vielleicht haben sie alle das Geld zusammengelegt. Nun, der Plan stand fest, er brauchte nur noch ausgeführt zu werden. Bevor ich zu den Einzelheiten komme, ein paar Worte zu Van Broe ken: Ich glaube, der Holländer wollte aussteigen. Er hatte die ewi ge Hetzerei satt, die Jahre in China bedeuteten ihm inzwischen nichts mehr. Und er hatte immer mehr Dreck am Stecken und daher stän dig Probleme mit der Polizei. Womit ihn von Rottensteiner doch noch auf den Weg der Gemeinsamkeit zurückführen konnte, weiß ich nicht … vielleicht hatte sie ja eine geheime Trumpfkarte gegen ihn in der Hand. Van Broeken kam allem Anschein nach dagegen jedenfalls nicht an. Der geniale Plan baute auf die Tonarmee und Lei Tshung-taos dies bezügliche krankhafte Obsession. Die vier erinnerten sich nur zu gut, mit welcher Vehemenz der Chinese sie zur Suche angetrieben hatte, nachdem sie ihn damals mit den Geheimnissen Huan-Tis ver traut gemacht hatten. Für ihn war es logischerweise also ein ähn lich frustrierendes Erlebnis, daß die Archäologen die Soldaten nicht gefunden hatten, wie für die Beteiligten selbst. Nun war von Rot tensteiner aber auch klar, daß sich der Chinese gar nicht so sicher sein konnte, daß die Forscher nicht doch Erfolg gehabt hatten. 433
Schließlich hatte es Jahre gegeben, in denen sie ihn höchstens alle Monate einmal gesehen hatten. Was also, wenn die vier ihn glau ben machen würden, daß sie die Tonarmee damals doch gefunden und sie lediglich vor ihm in Sicherheit gebracht hatten? Wenn man ihm diese Geschichte verkaufen könnte, würde er mit Sicherheit auf tauchen, wo auch immer er sich aufhielt. Lei Tshung-tao würde dem Lockruf nicht widerstehen können. Tja, aber wo war die benötigte Tonarmee? Nun, Frau von Rot tensteiner, die nebenbei eine exzellente Bildhauerin war, stellte sie selbst her! Sie benutzte irgendeine Plastikmasse, die ziemlich schnell härtet und den Experten unter Ihnen sicherlich bekannt sein dürf te. Das größte Hindernis allerdings bedeutete China selbst. Es schien absolut unmöglich zu sein, diese Falle vor Ort aufzubauen. Man vermag ja kaum, in das Land einzureisen… Plötzlich hatte irgend jemand die geniale Idee, Laos mit ins Spiel zu bringen. Zu Zeiten des Vietnamkrieges nämlich wurde dieses Land unkontrollierbar. Au ßerdem konnte man so Lei Tshung-taos spätere Vorstellung unter mauern, die Archäologen hätten ihn damals übers Ohr gehauen und die Tonarmee vor seinem Zugriff außer Landes gebracht. So wurde ein Detail nach dem anderen zusammengetragen. Von Rottensteiner kaufte im Namen einer buddhistischen Organisation eine der drei Spitzen des Berges und achtete peinlich genau darauf, für einen späteren Käufer auch noch attraktive Ländereien übrig zulassen. Sie ließ auf ihrem Grundstück ein Kloster restaurieren, und dann fing die Arbeit erst richtig an. Sie fertigte die Tonsoldatenfiguren, hob die riesige unterirdische Grube aus und plazierte und präpa rierte alles so, wie wir es dann vorgefunden haben. Ich denke, daß es sie mindestens fünf Jahre gekostet haben dürfte. Das scheint zwar im ersten Moment viel zu sein, aber bedenken Sie, sie hatte ihr gan zes Leben der Rache gewidmet … was zählt da schon ein halbes Jahr zehnt! Als die Vorarbeiten fertig waren, ging man zum zweiten Teil des Plans über… Zu der Zeit dürfte die Schizophrenie der Professorin 434
bereits gewaltig vorangeschritten gewesen sein, und die Vorstellung wurde in ihr immer stärker, daß sie in der Grabstätte mit Lei Tshung tao und den Tonsoldaten zusammen den Tod finden mußte. Und nicht nur sie, sondern auch die anderen Überlebenden. Sie stellte sich wohl eine Art abschließendes, endgültiges Ritual vor, bei dem Jäger und Gejagter gemeinsam in den Tod gehen… Ob die anderen dieselbe Vorstellung von Rache hatten? Wer weiß; vielleicht ja, viel leicht nein… Wie wir wissen, war Großvater durchaus bereit, seine eigene Enkelin zu opfern.« Judy schluckte und fing leise an zu weinen. Leichenfresser umarm te sie. »Großvater wurde nämlich die Aufgabe erteilt, den rätselhaften Chinesen zu spielen. Ja, so sehr Sie sich auch wundern…!« Ich wandte mich an das Mädchen. »Miss Judy, vielleicht erinnern Sie sich noch, daß Ihr Großvater vor etwa fünf Jahren, als er sich noch bester Gesundheit erfreute, eine Zeitlang ständig unterwegs war?« Sie nickte. »Seine Ärzte hatten ihm geraten, sich mehrmals jähr lich zu einer Kur in ein Sanatorium oben in den Bergen zurück zuziehen. Er bestand immer darauf, daß ich ihn nicht besuchen kom me. Damals lebten Vater und Mutter nicht mehr…« »Demnach benutzte er diesen Vorwand, um in der Welt herum zureisen. Als von Geheimdiensten gejagter chinesischer Kunsthändler besuchte er die wichtigsten Antiquitätenläden aller Kontinente und benahm sich absichtlich ziemlich merkwürdig. Nirgends verkaufte oder kaufte er etwas, zu guter Letzt erschien er sogar in seinem ei genen Laden… Es macht scheinbar keinen Sinn, nicht wahr?« »Nicht nur scheinbar«, brummte ein Journalist und knallte sei nen Kugelschreiber frustriert auf den Tisch. »Dabei ist es eigentlich ganz logisch. Er wollte auf diese Art Lei Tshung-taos Interesse wecken, falls dieser überhaupt noch am Le ben war.« »Aber wieso mußte er denn diesen Zirkus in seinem eigenen Heim veranstalten?« fragte der Reporter verständnislos. 435
»Sie dürfen nicht vergessen, daß auch Miss Judy an den Konfe renzen teilnahm… Sie war viel mit ihrem Großvater unterwegs und sollte natürlich kräftig dazu beitragen, die Geschichte des merk würdigen Chinesen unter das Volk zu bringen. Und nun versetzen Sie sich in die Lage von Lei Tshung-tao! Un ser Mann lebt seit Jahrzehnten in seinem Versteck, wohlbehütet, in gewissem Wohlstand – schließlich konnte er die Kunstschätze, die er während der Besatzungszeit zusammengetragen hatte, noch recht zeitig außer Landes schaffen. Er lebt in Hongkong oder Singapur, von mir aus auch in Thailand. Und denkt womöglich gar nicht mehr an die Tonarmee. Warum sollte er auch? Die Expedition hat er si cherlich auch schon vergessen. Er glaubt die Mitglieder unter der Erde, und was war, ist schließlich alles nur noch Vergangenheit, wozu also sich Sorgen machen? Er ist stark und reich, schlechtes Gewis sen ist nur eine Strafe der Schwachen. Keine Zeit für Sentimenta litäten. Vielleicht ist er nur dann ein wenig betrübt, wenn er an die legendäre Tonarmee denkt. Was wäre das für ein Coup gewesen…! Und dann, plötzlich, schlägt der Blitz ein. Einer seiner Agenten meldet ihm, daß rätselhafte Dinge in Europa und Amerika vor sich gehen. Ein unbekannter Chinese klappert alle einschlägigen Geschäfte ab und redet wirres Zeug über alte Geldstücke, den Dreispitzberg und die Tonsoldaten des Huan-Ti. Lei Tshung-tao weiß nicht, wie ihm geschieht. Was ist das? Eine Falle? Aber wer sollte ihm nach so vielen Jahren eine Falle stellen? Die Forscher waren doch alle tot! Sie können sich bestimmt vorstellen, was er gefühlt haben muß, als dieser ihm unbekannte Chinese auftauchte. Ein paar Nächte grü belt er über den Sinn des Ganzen und entscheidet sich dann, der Sache auf den Grund zu gehen, koste es, was es wolle. Ihm wird übel, wenn er nur daran denkt, daß die Tonarmee doch noch exis tieren könnte. Und in denselben Nächten grübelt er zum ersten Mal über die Frage nach, ob die Archäologen damals nicht doch die Sol daten gefunden haben könnten. Zuerst verneint er die Frage mit ru higem Gewissen, doch dann muß er sich mit immer größerem Ent setzen eingestehen, daß es durchaus im Bereich des Möglichen liegt. 436
Sie hätten Huan-Tis Grab finden und ihn dann so übers Ohr hau en können, wie man es in einem Jahrtausend nur einmal sieht. Die se Verfluchten – mögen sie in ihrem Grab verrotten – haben es tat sächlich gewagt, ihn, den großen Lei Tshung-tao, zu umgehen! Sie haben die Tonsoldaten ausgegraben und dann vor ihm versteckt, dabei gehören sie ihm, nur ihm allein! Er muß sie zurückbekom men, um jeden Preis! Die Rechnung der vier Verschwörer ging auf. Lei Tshung-tao war wie sie besessen, und diese Besessenheit verstärkte sich exponentiell, wann immer das Thema Huan-Ti auf den Tisch kam. Lei Tshung tao legte seine Vorsicht ab wie ein schmutziges Hemd. Die Zeit dräng te, er mußte sich beeilen, damit nicht jemand anders noch vor ihm ›seine‹ Tonarmee findet! Immer und immer wieder muß er sich die Frage gestellt haben, was sich in jenen unheilvollen Tagen in China abgespielt haben konn te. Er konnte es sich nur so vorstellen, daß damals jemand eine Skiz ze gemacht haben mußte, die später einem rätselhaften Chinesen in die Hände fiel, welcher seinerseits nun versuchte, Kapital aus sei nem Wissen zu schlagen. Lei Tshung-tao wird halb wahnsinnig vor Sorge: Wer ist dieser Kerl, und was hat er vor?! Dann machte er dasselbe wie unser Freund Hardy: Er zeichnete den imaginären Weg des Chinesen nach. Und erfuhr, daß Großvater die letzte Station auf dessen Reise war. Von dem Moment an ver lor sich die Spur, und der seltsame Chinese tauchte nie wieder auf. Verstehen Sie? Lei Tshung-tao glaubte nun zu wissen, daß der Chi nese Großvater und niemand anderen gesucht hatte. Und daß nun seine Reise, nachdem er ihn gefunden hatte, logischerweise been det war. Aber warum, warum? Was konnte er von dem Alten in den Ver einigten Staaten wollen? Sicherlich etwas, das mit der Tonarmee zu sammenhängt, eine Skizze oder eine genaue Karte… Wer war Groß vater? Sicherlich ein ganz normaler Händler, der einfach nur ein paar wichtige Informationen besaß. Die nächste Nachricht mußte Lei Tshung-tao getroffen haben wie 437
eine linke Gerade. Jemand publizierte in einer halbwissenschaftli chen Zeitschrift einen Artikel darüber, daß man Huan-Tis Geld in China gefunden hatte. Später fing Lei Tshung-tao an, die Arbeiten von der Verfasserin, einer gewissen Wilhelmina von Rottensteiner, genauer zu verfolgen, und bald wurde ihm klar, daß die Professo rin die Beste auf dem Gebiet der Tonsoldaten war. Lei Tshung-tao zählte eins und eins zusammen und kam zu dem Schluß, daß die Tonarmee Wirklichkeit ist. Sie schläft nur irgendwo, verborgen un ter der Erde. Er war sich seiner Sache inzwischen vollkommen sicher. Die Ex pedition hatte seiner Meinung nach damals die Tonarmee gefun den, geborgen und an einem unbekannten Ort wieder vergraben. Sicherlich gab es auch eine Art Karte von der neuen Fundstelle, die nach dem Tode der Archäologen jemandem in die Hände gefallen sein mußte. Dieser Jemand würde nun versuchen, die Soldaten auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Auf dem Schwarzmarkt, weil bei einem offiziellen Verkauf der chinesische Staat sicherlich seine Rech te geltend machen würde. Keine Frage, Lei Tshung-tao mußte die se Tonsoldaten haben! Und zwar auf die Art, wie er schon immer an seine Schätze gekommen war! Dann schlug die nächste Bombe ein. Die Tonsoldaten tauchten tatsächlich auf. Sie wurden zuerst in Deutschland, dann in Ame rika den örtlichen kunstverständigen Journalisten vorgeführt. Hät te Lei Tshung-tao noch einen letzten Rest seiner Würde und Zu rückhaltung gehabt, wären ihm diese Umstände sicherlich merkwürdig vorgekommen. Aber durch seine Besessenheit verlor er jedes Gefühl für Gefahr und wurde magisch von den Tonsoldaten angezogen wie die Motte vom Licht. Es war nur eine Frage der Zeit, daß er sich verbrannte. Und genau darauf hatte von Rottensteiner gewartet. Sie ließ ano nym immer mehr Informationen über Huan-Tis Schatz durchsickern, und Lei Tshung-tao ›kombinierte‹ aus ihnen die Wahrscheinlichkeit heraus, daß die Tonarmee unter dem Dreispitzberg verborgen war. Er wußte zwar immer noch nicht, wer die Soldaten dorthin geschafft 438
hatte, aber das war ihm im Grunde auch egal. Er wollte sie einfach haben, basta! Stellen Sie sich die riesengroße, fast schon krankhafte Freude vor, als Frau von Rottensteiner erfuhr, daß sich ein Chine se neben ihrem Grundstück in Laos eingekauft hatte…! Sie war si cher, daß Vang Pin, der neue Nachbar, in Wirklichkeit der gesuchte Henker Lei Tshung-tao war. Aber dann passierte etwas, das ihre Glückseligkeit etwas zügelte. Ein dritter Käufer tauchte auf und erstand die mittlere Bergkuppe. Wer es war? Nun, Sie wissen es bereits: der Schwarze Prinz, alias Ho Ling. Und an dieser Stelle tritt ein neues Element in die Geschichte ein, meine Damen und Herren.« Da sich mein Hals ziemlich trocken anfühlte, trank ich eine hal be Flasche Cola und ordnete meine Gedanken. Die Sonne schien, und das Geräusch der Straßenverkäufer wurde immer lebhafter. »Die Falle war also gestellt. Nur gab es von Anfang an ein Pro blem, mit dem von Rottensteiner rechnen mußte. Nämlich die Mög lichkeit, daß auch noch andere den Köder schlucken könnten. Die Legende der Tonsoldaten war – zumindest in gewissen Kreisen – wohl bekannt, und nicht wenige Kunsthändler würden ein Vermögen da für zahlen, solch eine Reliquie in ihrem Besitz zu haben. Ganz zu schweigen davon, daß alleine schon die anderen Schätze in HuanTis Grab den Entdecker zum Millionär gemacht hätten. Als die von der Professorin angefertigten Tonfiguren der Presse präsentiert wur den, gab es eine rege Diskussion in den verschiedenen Foren, ob diese Soldaten echt waren oder nicht. Viele zweifelten daran, daß es Originale waren, andere wiederum schworen darauf. Wilhelmi na von Rottensteiner, eine profunde Kennerin der Materie und zu gleich begabte Bildhauerin, hatte überhaupt keine Probleme, eini ge authentische Figuren aus Huan-Tis Zeit nachzubilden. Und ver gessen Sie nicht, daß nur sehr schwach belichtete Fotos oder un zuverlässige Skizzen existierten, die die Echtheit der Figuren unter Umständen untermauern, keinesfalls aber widerlegen konnten. Die Sache wurde noch mysteriöser durch den Tod einiger der involvierten Reporter, was natürlich sofort der Legende oder speziell einem Fluch 439
– ähnlich dem der Pharaonen – zugeschrieben wurde. Die Nach richt über das Auftauchen der Tonarmee breitete sich also wie ein Lauffeuer aus. Sie wissen bestimmt, daß es eine Organisation gibt – das heißt, inzwischen muß man sagen: gab –, die ganz Südostasien in der Ta sche hatte. Ähnlich wie die Mafia, nur würden hier weitaus modernere Methoden eingesetzt. Sicherlich könnte man stundenlang über die Bande, oder besser gesagt die Privatarmee des Roten Drachen spre chen, die nach jüngsten Erkenntnissen mehrere zehntausend Men schen wie Puppen nach eigenem Gutdünken tanzen ließ. Die Pa lette ihrer Aktivitäten war riesig: Rauschgift, Prostitution, Glücks spiel, Menschenhandel, Sklaverei und ganz nebenbei auch der Kunst handel auf dem Schwarzmarkt. Ich glaube, an gewissen Punkten über stieg die Macht des Roten Drachen sogar die eines Staatsober hauptes… Nun, eine ganze Zeitlang war man der Überzeugung, der Rote Drache wäre ein Chinese oder zumindest ein Asiate. Aber nur die eingeweihten Gefolgsmänner wußten, daß es sich um einen Europäer handelte. Ein netter, jovialer Herr, ehemals Offizier der Kolonialstreitkräfte, der sich vor Ort all das Wissen angeeignet hatte, das er später zum Aufbau seines Imperiums benötigte. Nach dem Zusammenfall der französischen Kolonien nahm er sich vor, eine gewaltige Organisation aufzubauen, an deren Spitze er dann die Fäden zog. Nicht viele dürften gewußt haben, daß dieser Rote Drache in Wirk lichkeit General Villalobos war, der Leiter der Pandakommission, honorables Mitglied mehrerer internationaler Organisationen und Kuratorien. Diese Eingeweihten wußten, daß Schweigen in dem Fall sprichwörtlich Gold wert war, denn in dieser Münze bezahlte sie der Rote Drache. Und falls jemand doch zu aufmüpfig wurde, fand er sich schnell auf dem Grund des Indischen Ozeans wieder. Da sich Villalobos auch für Kunstschätze interessierte und er si cherlich schon von der Legende der Tonarmee gehört hatte, war er nicht wenig überrascht, als er mitbekam, daß jemand das Grab des Huan-Ti offenbar gefunden hatte und die Schätze nun auf dem 440
Schwarzmarkt verscherbeln wollte. Eine simple Kalkulation führte zu dem Schluß, daß die Tonarmee sein ohnehin nicht geringes Ver mögen vertausendfachen könnte…! Selbstverständlich folgte der Schluß, daß der Schatz ihm gehören mußte. Also beauftragte er ein paar Leute, sich umzuhorchen und weitere Einzelheiten in Erfah rung zu bringen. Der Rote Drache hatte bisher noch nie etwas von Lei Tshung-tao gehört. Woher auch? Vor dem Weltkrieg war er ganz woanders sta tioniert und hatte sich auch nicht für Archäologie und Expeditio nen in China interessiert. Deswegen war ihm alles neu, was seine Agenten berichteten. Und sie berichteten umfassend, denn es wa ren fähige Agenten. Unser Freund wußte bald darauf alles, was wir heute und hier wissen. Er hatte die Zeitungsausschnitte mit den Fo tos der Tonsoldaten, er besaß die Aufzeichnungen über den Mas senmord an den Expeditionsmitgliedern und die Bluttaten des Lei Tshung-tao. Mit geübter Hand fügte er die Steinchen zu einem kom pletten Mosaik zusammen und kam zu dem Schluß, daß es für ihn ein Kinderspiel sein würde, sich die Tonarmee unter die Nägel zu reißen. Sofern es sie überhaupt gab, natürlich. Inzwischen wußten also schon zwei Leute, wer Vang Pin in Wirk lichkeit war: von Rottensteiner und der Rote Drache. Lei Tshung tao selbst hingegen fühlte sich vollkommen sicher … und sah sich natürlich als strahlenden Sieger. Aber der Rote Drache war es nicht gewohnt, seine Beute mit jemandem zu teilen, selbst dann nicht, wenn der Gegner ein so gerissener und blutrünstiger Mensch war wie der ehemalige Geheimdienstchef. Die Dinge wurden noch komplizierter. Inmitten der Vorbereitungen traf Dr. Camus in Südostasien ein. Wir glauben inzwischen, daß Leutnant La Coster genauso wie Frau von Rottensteiner sein Leben der Rache gewidmet hatte. Da die Professorin inzwischen zu wis sen glaubte, daß Vang Pin ihr Mann sei, wollte sie den Feind nicht mehr aus den Augen lassen. Sie wollte über jeden seiner Schritte informiert sein, damit er ihnen nicht mehr durch die Lappen ging. Genau deswegen schickte sie den Doktor nach Asien. Wie sich 441
Camus letztendlich bei dem sehr vorsichtigen und mißtrauischen Vang Pin eingeschlichen hat, weiß ich nicht. Vielleicht trafen sie in Kunstsammlerkreisen zusammen, vielleicht wurden sie einander von einem verläßlichen gemeinsamen Freund vorgestellt … wer kann das schon sagen? Auf jeden Fall waren sie schon im ersten gemeinsa men Jahr Partner. Außer dem Geschäft gab es aber noch andere Ver bindungspunkte zwischen den beiden. Nämlich die Tatsache, daß Dr. Camus ein Arzt war und Lei Tshung-tao durchaus Grund hat te, sich nicht von jedem dahergelaufenen Doktor untersuchen zu lassen. Ich weiß nicht, ob Sie verstehen, was ich meine. Ähm … hier in Asien ist es gewissermaßen Tradition, sich tätowieren zu lassen. Ich könnte mir vorstellen, daß auch Lei Tshung-tao sich in jungen Jahren ein paar interessante Motive in die Haut brennen ließ. Sa gen wir: einen hübschen Drachenkopf oder den Namen eines Kai sers oder vielleicht Zeichen eines Glückbringenden Dämons … al les Dinge, die ihn hätten verraten können. Als Kollaborateur und Mörder stand er natürlich auf der Kriegsverbrecherliste. Er hatte also allen Grund, seinen Körper nicht irgendwelchen Leuten herzuzei gen. Aber im Alter wird man schwach, und häufig folgt dann ir gendeine Krankheit. Und mit der Zeit, als die Häufigkeit und die Anzahl der Krankheiten anstieg, mußte Lei Tshung-tao sich nach einem vertrauenswürdigen Arzt umschauen. Was lag wohl näher, als seinen Freund Dr. Camus als Leibarzt einzustellen? Sicherlich, die Akupunktur und all die anderen fernöstlichen Heilmethoden ha ben auch etwas für sich, dennoch kann ich mir gut vorstellen, daß die westliche Medizin mit all ihren modernen Gerätschaften einem alten Mann etwas mehr Erfolg versprach. Dr. Camus konnte also alleine durch die einfache Tatsache, daß er Lei Tshung-taos Leib arzt wurde, dessen Vertrauen erlangen.« »Und das hast du alles rausgefunden?« flüsterte Mal ehrfürchtig. Ich wuchs schnell ein paar Zentimeter vor Stolz und fuhr dann fort. »Dem Roten Drachen wurde klar, daß sein größter Gegner bei die sem Unterfangen Vang Pin sein würde. Das Lustige an der Sache 442
war, daß eigentlich keiner der beiden genau wußte, wo er die Ton soldaten suchen sollte. Nur der Dreispitzberg schien als Hinweis zu existieren. Weiterhin ist es nicht verwunderlich, daß auch der Dra che über jeden Schritt seines Feindes informiert sein wollte, genau wie Wilhelmina von Rottensteiner. Ich glaube, es durfte anfangs für den Roten Drachen nicht einfach gewesen sein, jemanden in Vang Pins Residenz einzuschleusen, doch dann bot sich durch Zufall die ideale Gelegenheit: Der Rote Drache und Dr. Camus hatten einen gemeinsamen Freund, dessen Tochter der Doktor unter die Fittiche nehmen sollte… Dieser stellte das Mädchen dann bei der erstbes ten Gelegenheit Vang Pin vor. Die Sache lief von Anfang an gut, obwohl sich der Rote Drache in einem Punkt wohl doch verschätzt hatte. Er war nämlich der fes ten Überzeugung gewesen, daß Vang Pin seine besten Jahre hinter sich hatte. Gut, Lei Tshung-tao war in der Tat nur noch ein alternder Löwe, besaß aber noch genügend Zähne, um am Ende die he rumschleichenden Schakale selbst zu zerfetzen. Obwohl er Paj Mi ang zur Frau genommen hatte, war ihm bereits nach kurzer Zeit klar, daß er eine Geliebte des Roten Drachen geheiratet und auch seine sogenannte Schwägerin etwas mit dem Boß der Unterwelt zu tun hatte. Er erfuhr es natürlich erst nach der Hochzeit, als es be reits zu spät war. Fraglich ist, ob er überhaupt etwas unternommen hätte. Er war ein erfahrener Mann, und er wußte, was eine junge Frau sich wünscht. Daß sie früher einmal mit dem Roten Drachen zu sammen gewesen war, kümmerte ihn vielleicht gar nicht. Er konn te zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen, daß sich sein Rivale eben falls für die Tonarmee interessierte und Paj Miang nur deswegen hat te gehen lassen. Außerdem hatte Vang Pin noch einen Trumpf im Ärmel: Er be saß ziemlich gute Kontakte zu den Drogenbaronen der Umgebung und konnte so das ganze Tal und den Berg ohne viel Aufheben kon trollieren. Vielleicht unterstützte er die Barone regelmäßig, wer weiß… So konnte er sich dann auch in das Anwesen beim Dreispitzberg einkaufen. Und warum er nicht auch noch die dritte Kuppe gekauft 443
hat? Nun, wozu? Was er brauchte, war eine Basis, und die hatte er gefunden. Wer konnte schon genau wissen, unter welcher der drei Kuppen des Berges die Tonarmee verborgen war…! Dann aber ge schah etwas, das für ihn sicherlich wie ein kleiner Weltuntergang wirkte: Jemand hatte sich die dritte und letzte Bergspitze unter den Nagel gerissen! Und zwar ein rätselhafter Kerl, den die Meos in der Umgebung nur den Schwarzen Prinzen nannten. Stellen Sie sich sei ne Wut vor, als er erkennen mußte, daß noch ein anderer auf sei ne Tonsoldaten scharf war! Vang Pin setzte alles in Bewegung, um zu erfahren, wer sich hin ter der schwarzen Maske verbarg. Am Ende ließ wohl einer der Ko kainprinzen, Boun Oum, der dem Roten Drachen eins auswischen wollte, die Information durchsickern, daß es sich bei dem ge heimnisumwitterten Nachbarn um eine Frau handelte. In Lei Tshung tao traten an dieser Stelle wieder die uralten Agenten-Instinkte auf, und bald schon kombinierte er, daß die beiden Frauen ausschließlich und allein zu seiner Täuschung in sein Haus geschickt worden wa ren. Er hatte keine Zweifel mehr, daß er in eine Falle gelockt wer den sollte. Der Rote Drache hatte ihm eine seiner Konkubinen als Frau untergejubelt, damit er auf die Weise jeden seiner Schritte kon trollieren konnte. So konnte der Drache, nachdem Vang Pin in Laos sein Grundstück gekauft hatte, schnell nachziehen. Der König der Unterwelt hoffte also, daß der Chinese ihn zu den Tonsoldaten füh ren würde. Natürlich war auch von Rottensteiner ein wenig überrascht, als sich ein zweiter Käufer einfand, auf dessen Grundstück kurz darauf heftig gebaut wurde. Vorerst aber gab es für sie noch keinen Grund zur Sorge, denn sie wußte, daß keiner jemals den Gang nach un ten finden würde. Aber um die Sache noch mehr zu komplizieren, tauchten außerdem einige europäische Gangster auf… Vor kurzem erst erhielt ich einen Bericht der Polizei in Palermo, wo man einiges über Tarantelli und seine Bande zusammengetragen hat. Aber das ist ein derart unbe deutender Nebenstrang der Geschehnisse, daß wir ihn gerne außer 444
acht lassen können.« »Genau«, nickte der Sicherheitschef. »Wenn wir mal zusammenfassen, sah die Situation wie folgt aus: Von Rottensteiner, Großvater, Van Broeken und Dr. Camus stan den bereit, das Todesurteil an Lei Tshung-tao zu vollstrecken. In zwischen waren sie sich wohl einig geworden, daß auch sie würden sterben müssen. Obwohl ich mir nicht ganz sicher bin, wie ernst es Van Broeken damit in Wirklichkeit war. Die Tonarmee stand be reit, die Minen waren gelegt und warteten nur noch darauf, gezündet zu werden, und die unterirdische Kathedrale war so gebaut worden, daß sie alle unter sich begraben würde. Dann reisten die Verschwörer nach Hause, mit Ausnahme natürlich von Dr. Camus. Vang Pin und der Schwarze Prinz versuchten zwischenzeitlich, das Grab des HuanTi zu finden, natürlich erfolglos. Der Chinese hatte es sich mit dem Vorwand, sich von der lauten, wirren Welt zurückziehen zu wollen, endgültig am Dreispitzberg gemütlich gemacht. Es war ihm klar, daß innerhalb weniger Jahre die Sache auf die eine oder andere Art zu einem Ende kommen würde. Entweder fand er die Tonsoldaten, oder jemand anderes schnappte sie sich vor ihm. Letzteres wollte er na türlich mit allen Mitteln verhindern. Ho Ling lebte inzwischen ihr Doppelleben. Tagsüber war sie die Schwägerin, nachts der Schwar ze Prinz. Nun, so ungefähr sah es in Laos aus, als von Rottenstei ner die Zeit für gekommen hielt, den letzten Akt anzuläuten. Ich habe Ihnen eben dieses arabische Sprichwort zitiert: Wenn der Berg nicht zu Mohammed kommt, geht Mohammed zum Berg. Von Rottensteiner wollte, daß sich alle, die etwas mit der Tonarmee zu tun hatten, auf der Hochebene in Laos einfinden. Es war ein be rechnender, unbarmherziger Plan, und es war überaus schwierig, ihn auszuführen. Mit welcher List konnte man wohl einen Lei Tshung tao unter die Erde locken, um dort das Urteil an ihm zu vollstre cken? Ich sehe, einige von Ihnen schütteln den Kopf. Sie meinen also, nichts leichter als das? Nun, an sich schon, aber Sie verges sen dabei einen wichtigen Faktor: Die Meos! Vang Pin gab ganzen Dörfern Arbeit, er hätte nichts weiter tun müssen, als den Befehl 445
zu geben, und jeder Bauer hätte das Leben seines Patrons mit dem eigenen bis zum letzten geschützt. Der einzige, der es möglicher weise geschafft hätte, Lei Tshung-tao zu der Tonarmee zu locken, wäre Dr. Camus gewesen, aber selbst das ist nicht sicher. Von Rot tensteiner dachte alle Möglichkeiten durch und warf dann den Kö der aus. Sie verstehen nicht? Einen Moment, ich stopfe nur die Pfeife, dann geht es weiter… So. Nun, von Rottensteiner hatte mit Großvaters Hilfe ja mäch tig Staub um Huan-Ti aufgewirbelt. Also bereitete sie in Laos alles vor, fuhr zurück und … unternahm schlicht und einfach nichts mehr. Wie ein Angler, der den Fisch zappeln läßt, nachdem dieser den Kö der geschluckt hat. Erinnern Sie sich: Vang Pin glaubt zu wissen, daß die Expedition damals die Tonarmee doch noch gefunden und sie vor seiner Nase irgendwo versteckt hat… Er glaubt zu wissen, wo er ungefähr zu suchen hat, kauft sich in Laos einen halben Berg, nur um bald darauf zu erkennen, daß ihm der Rote Drache eine Frau an den Hals gehängt hat, die es kaum abwarten kann, ihrem Liebhaber über den Fund zu berichten. Also wartet er, daß die an dere Partei den nächsten Schritt tut … und dieser Schritt wird eben nicht getan! Nachdem die Pressekonferenzen in Deutschland und Amerika abgehalten worden waren, verschwanden die mysteriösen Verkäufer im Nichts. Selbst Großvater sitzt ruhig daheim in seinem Stübchen, dabei schien er doch eine Schlüsselfigur des Falles gewesen zu sein. So glaubt es jedenfalls Vang Pin. Immer verzweifelter versucht er zu verstehen, was vor sich geht. Hat man die Armee etwa schon ausgegraben, und wird sie gerade auf dem Kunstmarkt verkauft? Nein, beruhigt er sich selber, das kann nicht sein. Erstens kann niemand ohne sein Wissen in der Nähe seiner Residenz Ausgrabungen durchführen, zweitens würde man ihn sofort informieren, wenn die Tonarmee auf dem Schwarzmarkt angeboten würde. Also müssen die Schätze noch an Ort und Stel le sein. Will man vielleicht die Spannung erhöhen, damit man mehr Geld für die einzelnen Soldaten bekommt? Oder gibt es geheime 446
Verhandlungen über einen größeren Handel? Möglicherweise direkt mit dem Roten Drachen? Vang Pin ist schon drauf und dran, in sei ner Verzweiflung seine Frau auszuquetschen, aber er kann sich noch rechtzeitig zurückhalten. Erst einmal vergewissert er sich, daß we nigstens Dr. Camus nicht für den Roten Drachen arbeitet. Dann zieht er sich für Tage zurück, und ein wahnwitziger Plan nimmt in seinem Kopf Gestalt an. Ein Plan, der in Wirklichkeit von Wilhelmina von Rottensteiner ausgeht. Sie wissen doch: Wenn der Berg nicht zu Mohammed kommt…« »Ja, ja, das hörten wir bereits«, meinte der Polizeichef recht un geduldig und unfreundlich. In den meisten Fällen stört es mich, wenn man meine Belesen heit mit Füßen tritt. Diesmal sah ich davon ab, es mir anmerken zu lassen. »Vang Pin stellte eine Liste mit allen Experten zur Materie zu sammen. Ja, aber auf dem Papier standen am Ende nur zwei Na men: Großvater und Professor von Rottensteiner! Gut, ich weiß, die Sache mit Großvater ist klar: Er war das letzte Glied in der Kette der Besuche des rätselhaften Chinesen, und somit war der alte Mann gewissermaßen eine Schlüsselfigur. Aber wie kam Frau von Rot tensteiner auf diese Liste? Nun, ganz einfach. Die Professorin tat nämlich alles, um sich selbst und Van Broeken verdächtig zu ma chen… Als jene ominösen Pressekonferenzen über die Tonsoldaten stattgefunden hatten, publizierte Frau von Rottensteiner in rascher Folge mehrere Artikel zu dem Thema, die ich natürlich leider erst jetzt, nach Abschluß der Ermittlungen, lesen konnte. Sie war zwei felsfrei eine geübte Schreiberin und berichtete ziemlich wortgewandt und bunt aus der Welt der Tonsoldaten. Dabei benutzte sie jedoch Beschreibungen der Figuren, bei denen selbst ein vollkommen Blin der gemerkt hätte, daß sie nur von jemandem stammen konnten, der den genauen Fundort kannte. Schließlich verwickelt sie auch noch einen ›in den Ruhestand versetzten‹ Amsterdamer Polizisten in die Sache, einen gewissen Van Broeken, der ihr einige, die Ori ginale betreffende Informationen zugespielt haben soll. Vang Pins 447
Leute beobachteten natürlich nicht nur den Schwarzmarkt, sondern auch die einschlägigen Zeitungen und Magazine. Als Lei Tshung tao zufrieden seufzte, merkte er nicht, daß er in eine ausgeklügel te Falle spazierte. Er glaubte, er wäre der listenreiche Fuchs, doch in Wirklichkeit manipulierten die anderen ihn nach Strich und Fa den. Er glaubte nun, alles zu wissen. Allem Anschein nach hatte von Rottensteiner Großvater durch den alten Chinesen ausfindig gemacht, und irgendwie hing auch dieser Van Broeken mit in der Sache.« »Sie reden ja, als wären Sie dabeigewesen, Mann…!« bemerkte ein Reporter spitz. Ich ließ ein paar elegante Kringel zur Decke schweben. »Ich muß nicht überall dabei sein, um die Dinge richtig zu se hen«, antwortete ich. »Ich bin kein Reporter. Manchmal benutze ich auch meinen Verstand…« Der Mann grinste und zwinkerte mir zu. »Okay, okay, Mr. Law rence! Erzählen Sie schon weiter!« »Gerne. Also, nachdem sich von Rottensteiner überzeugt hatte, daß Vang Pin sie beschatten und jeden ihrer Schritte beobachten ließ, beorderte sie die beiden anderen zu sich. Manchmal schlos sen sie sich für mehrere Tage in das Hamburger Haus der Profes sorin ein, und Vang Pin wurde davon natürlich augenblicklich un terrichtet. Auch darüber, daß sich eben nichts tat. Dabei war er halb krank vor Erregung und Ungeduld. Ihm war klar, daß er praktisch auf den Soldaten draufsaß, und er wußte auch, daß den dreien der genaue Ort bekannt sein mußte. Nur zeigten sie überhaupt keine Anstalten, zum Dreispitzberg zu kommen, um ihn auf die richti ge Spur zu bringen, ihn, der sein ganzes Leben nach diesen ver fluchten und doch so geliebten Tonfiguren gesucht hatte… Er hat te keine Ahnung, wer die drei in Wirklichkeit waren, und es ist frag lich, ob es ihn noch gekümmert hätte. Er wollte nur noch die Ar mee besitzen, alles andere war unwichtig! Langsam kam ihm der Gedanke, daß möglicherweise er jetzt ei nen Schritt tun mußte. Er nahm sich also vor, die drei zu entfüh 448
ren. Wenn sie ihm den Fundort nicht aus freien Stücken verrieten, dann würden sie es halt unter Zwang tun. Und wenn er das Grab gefunden hatte, würde er sie schon irgendwie beiseite schaffen. Von dem Moment an klügelte er einen raffinierten Plan nach dem anderen aus. Es war nicht einfach, eine Entführung in die Wege zu leiten, noch dazu aus der Ferne… Obwohl ihm genug Leute zur Ver fügung standen, wollte er die Gefahr nicht auf sich nehmen. Schließ lich kam er zu jenem Schluß, den man ihm so geschickt suggeriert hatte, daß er die Manipulation gar nicht bemerkte: Er gelangte zu der Überzeugung, daß der einzige Weg darin bestand, diese Leute nach Asien zu locken und sie dann zu entführen! Ehrlich gesagt, hatte er es überhaupt nicht schwer. Es ist bekannt, daß den wissenschaftlichen Organisationen wenig Geld zur Verfü gung steht und sie sich alle Finger nach so reichen Finanziers le cken, wie Vang Pin es war. Er brauchte nichts weiter zu tun, als da für zu sorgen, daß die Gelder den richtigen Organisationen zuflossen, und als Bedingung zu fordern, daß man die nächste Konferenz in Bangkok abhält. Als Hauptthema arrangierte man die Legende um Huan-Ti und seine Tonarmee, was sich natürlich genau mit Groß vaters Gebiet deckte. Somit stand die Falle offen. Dachte zumin dest Vang Pin, denn er konnte ja nicht ahnen, daß er nur von Rot tensteiners Plan befolgte. Er hielt sich bestimmt für sehr schlau, als er die beiden mit fal schen Telegrammen nach Bangkok ›lockte‹. Und seine Freude war wohl noch größer, als er unter den Besuchern auch noch den mys teriösen Mr. Van Broeken entdeckte. Der erste Teil seines Plans wur de also hundertprozentig umgesetzt; die Hüter des Geheimnisses waren alle in Bangkok, nur ein paar Flugstunden von der Tonarmee entfernt. Die Flugzeugentführung war gut organisiert. Es war gar nicht schwie rig, wenn man bedenkt, wie viele Leute für ihn unter anderem auch auf dem Flugplatz in Bangkok arbeiteten. Doch auch in diesem Punkt waren die Verschwörer ihm ständig um einen Schritt voraus… Mit Hilfe von Lisolette nämlich.« 449
»Mein Gott«, stöhnte Malgorzata und griff nach meiner Hand. »Das arme Mädchen…!« »Ich weiß nicht viel über sie. Vielleicht wird Interpol da noch ein wenig Licht ins Dunkel bringen können. Sie war vielleicht die Toch ter eines ermordeten Expeditionsmitglieds…« »Aber…« »Ja, ich weiß, was du sagen willst. Nein, Mal, auch ich glaube nicht, daß Lisolette von alleine auf diesen gefährlichen Weg geraten ist. Vielleicht hat von Rottensteiner sie entdeckt und zum Kopiloten ausbilden lassen, genau für diese Aufgabe… Nun, Lisolette erhielt also den Auftrag, Vang Pins Aktionen am Flughafen zu verfolgen. So konnte sie schon Stunden, wenn nicht sogar Tage vorher sagen, wie und für wann die Entführung geplant war. Es war alles blendend inszeniert, nicht? Sowohl Vang Pin als auch von Rottensteiner arbeiteten daran, eine Maschine vom Bang koker Airport zu entführen… Es bestand aber noch die Gefahr, daß die Pilotin der Maschine, Miss Malgorzata, im letzten Moment etwas merkt. Also sorgte Li solette mit einem Anruf beim Weckdienst in Malgorzatas Namen dafür, daß ihre Kollegin zu spät kam und keine Zeit mehr fand, die Fracht zu kontrollieren, wie sie es sonst immer tat. Denn es wäre ihr sicherlich aufgefallen, daß statt der zehntausend Frösche eini ge Touristen an Bord waren. Nicht wahr?« »Natürlich«, nickte Mal. »Eine weitere Frage ist natürlich, wie es Lisolette arrangieren konn te, daß Vang Pins Leute gerade ihre Boeing entführten… Kannst du dich noch erinnern, Mal, ob an diesem Tag Flüge getauscht wur den?« »Ich glaube … ja… Obwohl Lisolette immer für diese Dinge ver antwortlich war…« »Deine Kopilotin ließ dreimal euren Flugplan ändern, mit der Be gründung, du wärst krank…« »Ich?« »Genau. Sie spielte so lange mit dem Plan herum, bis Vang Pins 450
Männern nur noch eure Boeing als einzige Alternative blieb. Als dann der bewußte Morgen anbrach, war jeder, der etwas mit dem Fall zu tun hatte oder zu tun haben sollte, auf dem Flughafen und wartete auf seine Maschine. Und da hier ein neues Kapitel anfängt, würde ich gerne eine klei ne Pause machen…« Ich stopfte meine Pfeife neu, zündete sie an und dachte dabei da rüber nach, wie ich die Geschichte abkürzen konnte. Da alle An wesenden jede meiner Bewegungen mit sichtlicher Ungeduld in den Augen verfolgten, konnte ich es nicht lange hinausschieben. Ich netz te mir die Kehle erneut mit Cola und räusperte mich. »Glauben Sie mir, es wird jetzt nicht einfach! Die Geschehnisse verliefen von dem Moment an in so viele Richtungen, daß es eine Meisterleistung wäre, sie alle aufzuzeichnen.« »Aber Sie werden diese schon vollbringen, nicht wahr…?« erkun digte sich der Sicherheitschef mit genüßlichem Lächeln. »Ich werde mich zumindest bemühen. Also, an diesem Morgen bereiteten sich mehrere Leute auf das große Ereignis vor. Ich gehörte leider nicht zu ihnen, aber dazu komme ich noch. Vang Pins Leu te rissen sich die Maschine von Mal und Lisolette unter den Na gel und stellten sie an eine Gangway, die an dem Tag nicht für den Betrieb vorgesehen war. Keine Anzeige leuchtete, keine Flugnum mer wurde angezeigt. Nicht wahr, Mr. Hardy?« »Leider konnte ich das nicht so genau sehen…« »Nun, auf jeden Fall verhielt es sich meinen Kenntnissen nach so. So konnte keiner erkennen, wohin das Flugzeug flog. Verstehen Sie? Fast jeder einzelne wurde von einer netten Stewardeß an Bord be gleitet, und jeder nahm an, auf seiner eigenen Maschine zu sein. Judy war fest davon überzeugt, auf dem Flug nach Boston zu sein, Wimmer glaubte sich an Bord einer Militärmaschine, und ich selbst nahm an, auf dem besten Weg nach Nanking über Peking sein. Ei nige allerdings wußten sehr wohl, wo das wahre Ziel dieses Fluges lag.« »Der Rote Drache zum Beispiel…« 451
»Genau. Der Rote Drache oder, besser gesagt, General Villalobos war über alles informiert. Seine Männer hatten spitzgekriegt, was Vang Pins Leute vorhatten. Nach anfänglichem Zögern kam ihm der Gedanke, das Spiel einfach mitzuspielen. Er konnte nicht zu lassen, daß jemand anderes die Tonarmee findet, und dies war ihm jedes Risiko wert. Als die Maschine zur Gangway gerollt wurde, stand er bereit, um mit den ersten an Bord zu gehen. Sogar den Panda kongreß hatte er damit abgeschrieben, obwohl er ja der Präsident dieser Organisation war.« »Ein waghalsiges Abenteuer!« meinte einer der Journalisten. »Zweifellos. Aber er war ja auch nicht dafür bekannt, ein Wasch lappen zu sein. Außerdem hatte er dafür gesorgt, daß ständig ein paar Leibwächter um ihn herumschwirrten. Erinnern Sie sich? Die beiden Stewardessen…! Es waren seine Leute, die noch vor den Pas sagieren an Bord gegangen waren. Kurz darauf ging Vang Pins Feuerwerk der Ereignisse los. Eine von Vang Pins hübschen Damen holte jeden von uns einzeln in der Ab flughalle ab und brachte uns an Bord.« »Und Sie? Warum gerade Sie?« erkundigte sich eine junge, ganz ansehnliche Japanerin mit großen Augen. »Dazu komme ich ebenfalls später… Vorher möchte ich noch ein paar Worte über die anderen Opfer verlieren… Vang Pin nahm an, daß es jemandem vom Bangkoker Bodenpersonal durchaus auffal len könnte, daß eine Boeing nur mit wenigen Passagieren besetzt wurde. Also brauchte er zusätzliche Fluggäste oder, wenn man so will, etwas Watte, um den Inhalt sicher zu verpacken. Die ›Aufga be‹ dieser Fluggäste war also nur, von dem wahren Vorhaben, näm lich die Wissenschaftler zu entführen, abzulenken. Jeder Mensch hät te sein Mißtrauen abgelegt, wenn er mit angesehen hätte, wie un ter anderem ein lilahaariger Musiker, ein Marinesoldat oder zwei Tennisspielerinnen an Bord gehen. Es sollte alles aussehen wie ein ganz normaler Charterflug, wobei eher die Qualität als die Quan tität bei der Auswahl der ›Watte‹ zählte.« »Danke … das hat mich jetzt wieder beruhigt. Ich wollte gerade 452
fragen, was Sie an meinen Haaren auszusetzen haben…«, meinte Lei chenfresser und schüttelte ebendiese nachdrücklich. »Die Frage, wie der Mafioso auf das Flugzeug aufmerksam geworden ist, bleibt weiterhin offen. Ich glaube langsam, daß jeder auf die sem verfluchten Flughafen alles wußte und jeden beobachtete, nur ich spielte wieder einmal Blindekuh… Tarantelli war wohl Villalo bos auf den Fersen, da er wußte, daß dieser der Rote Drache und gerade in Tonarmee-Sachen unterwegs war. Von Rottensteiner und Vang Pin waren ihm sicher unbekannt. Ist es nicht seltsam, daß je der anscheinend nur ein eigenes kleines Segment der ganzen Sache kannte und kontrollierte? Über die Gesamtsituation war sich eigentlich keiner so richtig im klaren… Also gut, kommen wir zu meiner Wenigkeit zurück. Ich wurde na türlich mit Absicht entführt, wenn mir der Grund dafür vorerst auch schleierhaft war. Ich konnte mir anfänglich absolut keinen Reim da rauf machen. Nach meinem ersten richtigen Gespräch mit Mr. Har dy sah ich dann schon etwas klarer. Er hatte mich öffentlich so hin gestellt, als ob ich mit den Leuten in Verbindung stehen würde, die die ominösen Pressekonferenzen abhielten. Vang Pin vernahm die se Meldung natürlich und setzte mich prompt auf die Liste der eben falls zu Entführenden. Er organisierte einen kleinen Pandakongreß und sorgte dafür, daß ich genau zur richtigen Zeit am Flughafen wartete. Der Rest war dann einfach, und so kam ich an Bord der Maschine. Alles, was Hardy und seine Mitarbeiterin zu tun hatten, war, mir ständig auf den Fersen zu bleiben. Es war wie in einem Spiel, wo eigentlich jeder jedem nachrennt und keiner wirklich weiß, was das genaue Ziel ist… Welcher Plan war nun erfolgreich? Der von Vang Pin? Oder der von Frau von Rottensteiner? Eventuell der von Mr. Hardy? Bevor ich zu den weiteren Geschehnissen komme, möchte ich kurz zusammenfassen: Außer mir und den unschuldigen Opfern gab es demnach fünf Gruppen an Bord: Villalobos alias der Rote Drache mit seinen zwei Stewardessen; die zwei Leute von Vang Pin; der Ma fioso; Mr. Hardy und die arme Kalima, seine Partnerin; und natürlich 453
Frau von Rottensteiners Truppe. Ein schöner Mischmasch, was?« »Zweifellos«, meinte der gesprächige Journalist von eben. »Ein Wun der, daß Sie sich da zurechtgefunden haben!« »Tja, leider gab es zu dem Zeitpunkt noch nicht so viel zum Zu rechtfinden… Ich war mir sicher, daß die Maschine demnächst in Peking landen und von dort aus nach Nanking weiterfliegen wür de. Das glaubte ich um so mehr, da auch Villalobos, der Präsident und Leiter der Veranstaltungsserie, sowie Leichenfresser als Reprä sentant seiner musikalischen Begleittruppe anwesend waren. Unser freundschaftliches Gespräch wurde ziemlich abrupt beendet, da Vang Pins Leute in ihren Pandakostümen in Aktion traten. Woher sie die Verkleidung hatten, wissen Sie inzwischen alle: aus den Gepäckstücken für den Pandakongreß. Vang Pins Leute dachten, daß sie auf diese Weise sicher sein konnten, später in der Residenz ihres Herren nicht wiedererkannt zu werden. Sie konnten natürlich nicht ahnen, daß sie diesen Flug nicht überleben würden. Woher auch? Die Boeing wurde also entführt. Und wir saßen seelenruhig in un serer Kabine und gaben uns den Freuden eines guten Tropfens hin. Villalobos tat ganz geschickt so, als hätte er keine Ahnung, was an Bord vor sich ging. Innerlich aber war er ziemlich unruhig. Er woll te natürlich nicht, daß die Sache für ihn ungünstig oder gar töd lich endete. Die beiden Stewardessen hatten für alle Fälle die Auf gabe, ihn zu beschützen. Also saß ich in der Maschine in Gedanken versunken da, als mir Kalima zuzwinkerte. Ich wußte im ersten Moment nicht, was ich davon halten sollte, ich dachte, es wäre ein Auftakt zu einem klei nen Flirt. Dabei wollte mich das arme Mädchen lediglich warnen, mir Bescheid geben, daß im Frachtraum betäubte Menschen he rumlagen. Und ich dummer Kerl hab' sie nicht verstanden… Ich dach te wirklich, sie will etwas von mir… Das passiert doch dauernd auf solchen Flügen, nicht wahr?« »Du mußt es ja wissen«, raunte mir Mal zu. »Trotzdem ließ mir dieses Zwinkern keine Ruhe. Es war, als wür de mich die Unbekannte ausdrücklich und eindringlich zu einem 454
Treffen auffordern. Also machte ich mich auf den Weg in den Frachtraum. Fragen Sie nicht, wieso, ich weiß darauf keine Antwort. Dann fand ich die Schlafenden und die aufgehängte Tonfigur. Weder mit dem einen noch mit dem anderen konnte ich etwas anfangen. Ich hatte bis dato kaum etwas über Huan-Ti und seine Tonsoldaten gehört. Wie zum Teufel also hätte ich da einen Zusammenhang finden sollen? Trotz dem störte mich an der Sache einiges. Da war zum Beispiel diese kleine Tonfigur, die bis aufs Haar meiner inzwischen verschwundenen Stewardeß ähnelte. Von Rottensteiner hatte einige Figürchen in vo raus gegossen und brauchte nur das Gesicht fertig zu modellieren. Sie hatte großes Talent… Schade, daß sie es so vergeudete. Vielleicht waren die kleinen Figuren ja Teil das Plans, Vang Pin an der Nase herumzuführen. Dann machte ich eine weitere Entdeckung, die sich in ein Rätsel verwandelte: Die beiden anderen Stewardessen kannten ›meine‹ nicht, also diejenige, die mir zugezwinkert hatte. Die beiden Mädchen strit ten sogar ab, sie gesehen zu haben. Erst im nachhinein wird die ses Verhalten verständlich, waren sie es doch, die Kalima umgebracht hatten! Vielleicht entdeckten sie eine Waffe bei ihr und dachten, sie gehöre zum Sicherheitspersonal des Flughafens. Auf jeden Fall schnappten sie sich Kalima, ermordeten sie und packten den leb losen Körper dann in den Lastenaufzug. Sie nahmen wohl an, daß bis zur Ankunft niemand mehr den Aufzug verwenden würde. Währenddessen ging es oben ziemlich lebhaft zu. Von Rottensteiner hatte sich mit ihrer Truppe so plaziert, daß sie mit niemandem das Abteil teilen mußten. Die Tennismädchen zählten nicht. Einige Mi nuten nach dem Start, als die Pandabären bereits das Cockpit über nommen hatten, bemerkte Frau von Rottensteiner etwas, das nicht ins Bild paßte. Die besagten zwei Stewardessen nämlich, die nicht an Bord hätten sein dürfen. Der Flug war als Frachtlinie deklariert worden, so wußte sie es auch von Lisolette. Also machte sich die Professorin auf den Weg, und beim Herumschnüffeln fand sie an scheinend die Leiche von Kalima. Die drei Verschwörer gerieten in 455
Panik. Was zum Teufel war plötzlich los? Auch ihnen fiel nichts Bes seres ein, als daß es sich bei den Stewardessen um Sicherheitsleu te des Bangkoker Flughafens handelte. Ja, gut, aber wer hatte Ka lima umgebracht? Für alle Fälle versteckten sie die Leiche vorsorg lich unter einem der Sitze in ihrem Abteil. Von Rottensteiner wußte für kurze Zeit nicht weiter. Ihr großer Plan, ihr ganzes Lebensziel geriet in Gefahr. Wenn die vermeintli chen Sicherheitsleute die Maschine zurückerobern und Vang Pins Leute erwischen würden, wäre alles verloren! Es könnte Jahre dau ern, bis sich erneut solch eine Chance bieten würde. Und wer weiß, ob sie das noch erleben würde? Bei dem Gedanken, daß sie früher sterben könnte als Vang Pin, wurde ihr buchstäblich schlecht! Die se Bestie durfte einfach nicht ungeschoren davonkommen! Er muß te endlich seine gerechte Strafe erhalten! Das Servicepersonal war bereits wie vom Erdboden verschluckt. Wie wir inzwischen wissen, hatten die Pandaleute Darcy niedergeschlagen, weil sie von ihr über rascht wurden, und Sikara spürte wohl, daß etwas faul war, und hielt sich versteckt. Als Darcy wieder zu sich kam, wurde ihr klar, daß sie große Pro bleme hatte. Sie sollte Villalobos beschützen, statt dessen ließ sie sich einfach niederschlagen. Sie können sich vorstellen, wie sie sich gefühlt haben muß, als sich ausgerechnet ihr eigener Chef als ers ter über sie beugte! Aber eins muß man ihr lassen, sie hatte wirk lich Geistesgegenwart und uns so übers Ohr gehauen, daß ich nur sagen kann, Hut ab! Mir fiel nicht im Traum ein, daß sie eventu ell nicht die Wahrheit sagte. Sie spielte ihre Rolle perfekt. Danach folgte eine weitere rätselhafte Szene. Leichenfresser wur de klar, daß nicht seine Musiker unter den Decken ruhten, sondern einige ihm völlig unbekannte Leute. Ich fragte mich natürlich so fort, wie sie dahin gekommen sein könnten, eine Antwort darauf gab es aber damals noch nicht. Woher sollte ich auch ahnen, daß von Rottensteiner es vorzog, so wenig Leute wie möglich oben in den Abteilen zu lassen. Sie wollte keine Komplikationen, wenn sich herausstellte, daß die Maschine entführt wurde. 456
Also kümmerte sich Van Broeken um Wimmer – in Form eines kräftigen Schlages auf den Hinterkopf. Judy wurde betäubt, und Van Broeken und Großvater legten sich neben die beiden. Ich weiß nicht, wessen Idee es gewesen war, Gin in der Gegend zu verschütten, aber es war ein cleverer Schachzug. Jeder Gast, der sich versehentlich in den Frachtraum verirren würde, mußte annehmen, daß ein paar Be soffene in den bequemen Feldbetten ihren Rausch ausschliefen. Ach ja, und da war dann noch Kao Ven, Vang Pins Mann, der ebenfalls von Van Broeken eine übergebraten bekam. Er hätte schon vorher an der Entführung teilnehmen sollen, aber da man ihn eben falls für einen normalen Fluggast hielt, fiel er eben dem Holländer zum Opfer.« »Na, und die Waffen?« erkundigte sich Leichenfresser. »Wenn ich mich nicht täusche, purzelten die Ballermänner nur so aus den De cken heraus…« »Ja, anfänglich konnte auch ich mir keinen Reim darauf machen. Es war Großvaters Arsenal, das er unter seiner Decke versteckt hat te. Haben Sie nicht bemerkt, Miss Judy, daß er bestückt war wie ein überreifer Apfelbaum?« »Nein, überhaupt nicht.« Judy schüttelte schniefend den Kopf. »Tja, so ist es, wenn man keinen Grund hat, argwöhnisch zu sein. Nun, versetzen Sie sich in die Lage der beiden, die wohlbestückt mit Waffen aller Art unter ihren Decken lagen, als wir plötzlich in Scharen im Treppenabgang auftauchten. Sie wollten den Flug ab geschieden und in Ruhe verbringen und auf die ohnmächtigen Flug gäste aufpassen, als auf einmal alles ganz anders kam. Das Herz muß ihnen fast stehengeblieben sein, als sie zuerst eine Leiche im Las tenaufzug baumeln sahen und dann eine zusammengeschnürte Ste wardeß herauskullerte. Sie konnten sich nicht vorstellen, was da oben passiert sein könnte, und wären am liebsten sofort hochgerannt, um von Rottensteiner zu helfen, falls es notwendig sein sollte. Wegen uns konnten sie sich aber nicht bewegen, also blieb nichts anderes übrig, als ›aufzuwachen‹, und zwar sozusagen zusammen mit den Waffen. Sie spielten es jedenfalls nicht schlecht, als sie behaupteten, 457
daß ihnen im Schlaf jemand die Sachen zugesteckt haben mußte. Warum ich darauf reingefallen bin? Nun, ich verstand schlicht und einfach gar nichts mehr! Ich torkelte herum wie ein Besoffener nach der Schließstunde. Während wir uns darüber Gedanken machten, was mit uns pas siert sein könnte, saßen nicht nur Großvater und Van Broeken, son dern auch der inzwischen erwachte Kao Ven auf heißen Kohlen. Sein Kumpan hatte die Maschine entführt, und er war außerstan de, ihm zu Hilfe zu eilen. Es war nur natürlich, daß er daraufhin die erstbeste Gelegenheit wahrnahm, sich abzusetzen, und großzügig anbot, nach oben zu gehen, um nachzusehen, was denn nun Sa che sei. Die immer nervöser werdende von Rottensteiner hingegen war auf dem Weg nach unten, weil sie nach ihren Gefährten sehen wollte. Währenddessen fanden wir die Leiche der armen Kalima, die wie der einmal mit dem Aufzug zu uns gekommen war. Wie dieser Wech sel zustande kam? Als Frau von Rottensteiner herunterkommen woll te, um nach Großvater und Van Broeken zu sehen, hatte sie vor, den Lastenaufzug zu benutzen. Als sie dann aus dem Schlitz schiel te und sah, daß wir alle in ein relativ friedliches Gespräch verfal len waren, fuhr sie zurück und legte die Leiche in den Aufzug. Sie schickte sie runter und erhoffte, dadurch ihren Freunden unten die nötige Ablenkung zu verschaffen, damit sie sich davonstehlen konn ten. Als Kao Ven uns verließ, zog er schnell die Pandauniform über und ging geradewegs in die Pilotenkanzel. Als er wieder rauskam, um sich umzusehen, erschoß ihn von Rottensteiner. Ich kann es mir nur so vorstellen, daß sie einfach … durchdrehte. Vergessen Sie nicht, so entschlossen sie sich auch gab, sie war nur eine Wissen schaftlerin, keine Profikillerin! Vielleicht erschrak auch der Panda, als sie unvermittelt vor ihm auftauchte, und zückte eine Pistole … und das reichte, damit sie ihn mit ihrem ›Regenschirm‹ erschoß. Genauso erging es auch dem anderen Pandabären, als er seinem Freund zu Hilfe eilen wollte. Von Rottensteiner erledigte auch ihn. 458
Zu ihrer Entscheidung trug sicherlich mit bei, daß nach ihren Be rechnungen die Maschine nur noch über wenig Treibstoff verfüg te. Von Rottensteiner nahm also an, daß der Entführer seine In struktionen bereits gegeben hatte, wo der Pilot die Boeing runter bringen sollte. Kaltblütig erschoß sie also den zweiten Panda und holte, um uns die Lust am Detektivspiel endgültig zu nehmen, Ka limas Leiche aus dem Aufzug, versteckte sie unter einer der Sitzreihen und plazierte dafür den maskierten Toten in der Kabine. Ich könn te schwören, daß dies der Zeitpunkt war, wo ihr Verstand endgül tig aussetzte. Nichts interessierte sie noch, nur der Gedanke, sicher auf Vang Pins Grundstück zu landen. Ich glaube, zu dem Zeitpunkt hätte sie jeden umgebracht, der ihr diese Absicht streitig machen wollte. Ganz interessant ist auch die Verhaltensweise des dritten Haupt darstellers, Villalobos. Der Rote Drache konnte nichts weiter tun, als sich treiben lassen. Ihm wurde klar, daß die Situation eskalier te und die Sache weitaus gefährlicher wurde, als er es erwartet hat te! Außerdem waren auch noch seine Leibwächter verschwunden! Er mußte gute Miene zum bösen Spiel machen und auf sein In kognito vertrauen. Er benahm sich genau so, wie man es in einer solchen Lage von einem Leiter der Pandakommission erwartet hät te. Inzwischen arbeitete von Rottensteiner weiter. An ihrem Platz an gekommen, fertigte sie weitere Tonfigürchen an. Eine hatte sie be reits vorher im Treppenaufgang plaziert. Vielleicht konnte sie auf die Art ihre Nervosität abbauen, wer weiß? Als es langsam zum Lande anflug kam, fuhr sie schnell noch einmal mit dem Aufzug runter, um Großvater und Van Broeken zu warnen, daß Sicherheitsleute mit an Bord seien. Sie fand zu ihrer größten Überraschung die Kabi ne des Aufzuges leer vor – schließlich hatten wir unten kurz zuvor Kao Vens Leiche herausgezogen. Also schickte sie mir Kalima run ter, sollte ich doch damit machen, was ich wollte…« Ich verstummte, öffnete eine neue Flasche und fuhr fort. »Der Plan war also erfolgreich, wenn auch etwas komplizierter in 459
der Ausführung, als vorgesehen. Wessen Plan? In erster Linie der von Wilhelmina von Rottensteiner, aber man kann ihn auch ruhig Vang Pin zuschreiben, da er ja die Leute tatsächlich entführen konn te, die ihn zur Tonarmee lotsen sollten. Ich hingegen saß bis zum Hals in einem Schlamassel, den ich mir überhaupt nicht erklären konnte. Das einzige, was mir sicher erschien, war die Tatsache, daß man mich hier nicht brauchte und deshalb ziemlich bald ebenfalls umbringen würde. Allzu glücklich war ich darüber nicht, glauben Sie mir! Was dann passierte, sollte inzwischen jedem klar sein. Von Rot tensteiner tötete die Stewardessen, die sich abzusetzen versuchten, weil sie, wie gesagt, annahm, es würde sich bei ihnen um Sicher heitsleute des Flughafens handeln. Inzwischen interessierte es sie nicht mehr, wie oft oder wen sie tötete. Sie befürchtete, die beiden könn ten Hilfe holen, was sie an ihrem Plan und vor allem an ihrer Ra che gehindert hätte. Sie erledigte die Stewardessen, und der Rote Drache durfte darüber nachgrübeln, wer da seine Leute dezimier te.« »Wann hat Frau von Rottensteiner Sie denn erkannt?« »Wahrscheinlich sofort nach der Landung. Sie können sich vor stellen, wie sehr sie das beunruhigte. Sicherlich hatte sie schon hier und da vernommen, daß ich mich oft nicht nur um Käfer kümmere, wie die anwesende Presse immer so gerne betont. Sie nahm also an, daß ich irgendwie ebenfalls mit von der Partie sei. Kaum hatte sie die vermeintlichen Sicherheitskräfte unschädlich gemacht, tauchte ein neues Problem auf. Was folgt daraus?« »Sie mußten ebenfalls umgebracht werden«, lächelte mich die Ja panerin an. »Genau. Sie wissen ja, wie es ist … ein Mord zieht den nächsten nach sich. Von Rottensteiner konnte sich allerdings erlauben, vor meinem Tod noch ein wenig mit mir zu spielen. Sie erzählte mir lebhaft, wie sie entführt worden sei, was ja teilweise auch stimmte, und gab mir somit die Gelegenheit, noch ein wenig mein Köpfchen zu benutzen. Ich setzte die Steinchen zusammen und kam zu dem 460
Schluß, daß alles, was mit uns geschah, irgendwie mit den Ton soldaten zusammenhing.« Danach erzählte ich ihnen noch ausführlich von Hardys Annä herungsversuchen, Tarantellis Aktionen gegen uns und wie mir je mand das Leben gerettet hatte. »Die Meos?« erkundigte sich der Sicherheitschef. »Die müssen ziem lich viel Angst vor Ihnen gehabt haben. Sie dachten wohl, so eine Art Sturmkommando wäre gelandet, um ihre Cannabisfelder zu ver nichten.« »Unwahrscheinlich.« Ich schüttelte den Kopf. »Die Meos gehör ten zu Vang Pins Leuten. Sie sollten nachschauen, ob wir ohne Pro bleme gelandet sind. Wenn sie überrascht waren, dann eher davon, daß die Passagiere scheinbar selbst Jagd aufeinander machten. Sie linsten aus den Büschen und sahen plötzlich, wie ein dicker Kerl einen hochgewachsenen Typ mit Igelschnitt in die Mangel nahm. Der Atem muß ihnen gestockt haben, schließlich hatte man ihnen keinerlei Anweisungen für den Fall erteilt, daß die Fremden sich ge genseitig an die Gurgel gingen.« »Sie wollen doch wohl nicht behaupten, von Rottensteiner hät te Ihr Leben gerettet, mit diesem Dingsda … dem Raketenschirm?« fragte die japanische Reporterin. »Doch, genau das!« »Aber ich sehe keinen Grund, warum sie so etwas hätte tun sol len?« »Um ehrlich zu sein, sie wollte mein Leben auch gar nicht ver schonen. Es ging ihr wohl eher darum, den dicken Profikiller zu erledigen. Tarantelli schien ihr viel gefährlicher, denn was wäre ge wesen, wenn er auch noch ins Spiel um die Tonfiguren eingegriffen hätte? Ich wäre natürlich der nächste auf dem Salatteller gewesen.« »Aber sie hat Sie nicht erschossen!« »Es blieb ihr keine Zeit mehr dazu. Die Meos waren da, sie muß te verschwinden. Sie hatte gerade noch Zeit, dem Italiener eine Ton figur um den Hals zu hängen. Sie hielt sich für die Rachegöttin per sönlich, die überall ihr Markenzeichen hinterlassen mußte. Als ob 461
sie die Tat in Huan-Tis Namen verüben würde. Ich bin kein Psy chologe, aber ich denke, von Rottensteiner identifizierte sich im mer mehr mit dem Kaiser oder der Frau, die, einer uralten Legen de zufolge, bösartigen Gutsherren Tonpüppchen als letzte Warnung an die Haustür hängte. Vielleicht war sie sogar davon überzeugt, eine Reinkarnation beider Seelen gleichzeitig zu sein. Und in Lei Tshung tao sah sie alle ehemaligen Feinde der beiden gleichzeitig verkör pert. Dies wäre auch eine Erklärung dafür, weshalb sie unbedingt mit dem Feind und der Tonarmee zusammen unter der Erde begraben werden wollte. Sie war Huan-Ti, und wir alle waren die potentiel len Opfer!« »In Anbetracht dessen, was Sie sagen, hatte sie sich aber ziemlich normal verhalten…!« »Natürlich. Das gehört wohl mit zu dem Erscheinungsbild. In ge wissen Dingen war sie sogar noch normaler als normal. Aber das zu beurteilen ist nicht meine Sache. Kurz danach, als der Mafioso umgebracht wurde, hielt Frau von Rottensteiner und ihr Trupp einen kleinen Kriegsrat im Aufzug des Flugzeuges ab. Wir waren mit Mr. Hardy gerade in der Maschine und konnten das meiste davon verstehen. Sie sprachen von einigen Dingen, vor allem der Rache, aber mich interessierte vor allem ein anderes Detail… Man hatte mich nämlich zum Tode verurteilt!« »Was wundern Sie sich so?« fragte die Japanerin. »Einen Super mann will schließlich jeder einmal umbringen…« Ich wußte nicht, ob sie mich provozieren wollte oder ob das hä mische Grinsen zu einem speziell asiatischen anzüglichen Lächeln gehörte. Also schenkte ich der Bemerkung keinerlei Beachtung. »Das war wohl weniger der Grund. Von Rottensteiner hatte Angst, daß ich der Sache auf den Grund kommen könnte, noch bevor sie ihren Plan zu Ende gebracht hatte. Langsam fing es an, ihr leid zu tun, daß sie nicht schon an Bord der Boeing die Reihen der Pas sagiere ein wenig gelichtet hatte. Aber aufgeschoben ist ja nicht auf gehoben, also wurde ich zum Tode verurteilt, sie verließ das Flug 462
zeug und schickte ein Raketengeschoß in meine Wolldecke.« »Mit dem … Regenschirm?« »Genau. So lächerlich es auch klingen mag, der Schirm war in Wirk lichkeit eine unbarmherzig genaue Waffe. Und das wichtigste: Er ar beitete geräuschlos! Ein leises Klicken, und schon ist das Opfer hi nüber. So wäre es auch mir ergangen, wenn ich nicht mit der aus gestopften Decke vorgesorgt hätte. Was bis zu dem Zeitpunkt geschehen war, hatte ausgereicht, da mit ich mir so ungefähr einen Reim auf die Dinge machen konn te. Schon in der Nacht hatte ich mir vorgenommen, den Dingen auf den Grund zu gehen. Ich machte mich nicht einfach auf den Weg zum Mekong, wie es auf den ersten Blick wohl das beste ge wesen wäre, sondern ließ mich weiter von den Geschehnissen trei ben. Dabei achtete ich allerdings peinlich genau darauf, daß ich mei ne heile Haut behielt. Mein Grab sollte nicht in Laos stehen… Aber egal. Inzwischen war mir vieles klar, unter anderem, daß ein gewisser Lei Tshung-tao das eigentliche Ziel war. Ich wußte nur nicht, wer das war… Bald sollte ich aber auch das erfahren. Nun ja. Die Vierergruppe im Lastenaufzug bekam mit, daß man sie be lauschte, und machte sich davon. Sie können sich meine Überra schung vorstellen, als ich den Aufzug herunterholte und in der Ka bine nur noch die Leiche der Stewardeß fand. Von Rottensteiner mußte die Leichen, die ihren Weg pflasterten, gut verbergen. Sie wuß te, daß die Leichenfabrik in Gang gehalten werden mußte, wollte die Endprodukte aber dennoch nicht in den Schaufenstern prä sentieren.« »Sie sprechen davon, als ob es um … Kaugummis gehen würde!« bemerkte einer der Journalisten süffisant. »Meinen Sie?« herrschte ich ihn an und versuchte, meinen Ärger hinunterzuschlucken. »Ich versuche lediglich, sachlich zu bleiben. Diese Leute hätte niemand retten können! Nicht einmal Sie!« »Ruhig Blut!« mahnte der Sicherheitsbeauftragte und machte da bei eine kleine Notiz. »Erzählen Sie weiter!« »Wo soll ich fortfahren? Vielleicht bei den Waffen. Inzwischen war 463
mir klar geworden, daß wir einer Verschwörung zum Opfer gefal len waren und unser Leben an einem seidenen Faden hing. Ich hat te keine Ahnung, daß die Tonsoldaten nicht existieren, im Gegen teil, ich war mittlerweile selbst davon überzeugt, daß die Expedi tion sie damals gefunden und irgendwo unter dem Dreispitzberg vergraben hatte. Und ich glaubte, daß die Überlebenden sich jetzt an dem Schlächter von damals rächen wollten. Nur gab es zwei Stör faktoren: Erstens war Lei Tshung-tao nirgends zu sehen, und zwei tens verstand ich den Zusammenhang zwischen den einzelnen Mor den nicht so recht. Ich glaubte, weiterzukommen, wenn ich die Mord waffe entdeckte. Da ich eine Garrotte nur schwer suchen konnte – ein Drahtseil kann jeder leicht in seiner Hosentasche verstecken – , konzentrierte ich mich auf die Feuerwaffe für das Raketengeschoß. Nachdem ich mich gründlich umgesehen hatte, kam ich zu fol gendem Schluß: Entweder war Wimmer der Mörder, denn der Kampf taucher hatte so viel Erfahrung mit Druckluftwaffen, daß er die Ku geln sogar aus dem ausgestreckten Zeigefinger hätte abschießen kön nen, oder aber es war jemand anderes, der über eine entsprechend zielgenaue Waffe verfügte. Und da kamen nur zwei Leute in Betracht, die einen länglichen Gegenstand mit sich herumführten, der unter Umständen zu einem Druckluftgewehr umgebaut sein könnte: Groß vater mit seinem Stock und Frau von Rottensteiner mit dem Re genschirm. Folglich waren sie zwei mögliche Kandidaten für die Über lebenden der damaligen Expedition. Wofür übrigens auch ihr Al ter sprach. Aber wo zum Teufel sollte ich Lei Tshung-tao suchen? Bald wurde auch diese Frage beantwortet. Vang Pin traf nämlich mit seinen Meos ein. Und dann schlug bei mir die Erkenntnis wie der Blitz ein – nein, ich meine nicht, als ich ohnmächtig wurde. Mir wurde vielmehr schlagartig klar, worum es eigentlich ging! Ich er kannte, daß dieser unglückselige Vang Pin – oder Lei Tshung-tao, denn inzwischen war ich mir ziemlich sicher, daß die beiden ein und dieselbe Person waren … daß er also glaubte, die besten Wis senschaftler der Welt entführt zu haben, die ihn zu der Tonarmee führen würden. Und in Wirklichkeit war er selbst das Opfer! Er tat 464
genau das, was man ihm unbemerkt eingeflößt hatte! Und ich saß nun inmitten dieses Zweikampfes zwischen Vang Pin und Wilhel mina von Rottensteiner. Ich glaubte inzwischen auch, daß Lisolette mit in der Sache hing. Zum einen wegen der Stimmen im Aufzug; eine davon schien ihre gewesen zu sein. Miss Malgorzata hat dann meine letzten Zweifel beseitigt. Mal?« Plötzlich richtete sich aller Aufmerksamkeit auf die Pilotin. In ih rer schmucken Uniform sah sie genauso betörend aus wie in einem Badeanzug … oder ohne. »In der Nacht … als wir neben der Boeing schlafen mußten … da merkte ich, daß sie sich davonstahl. Aber vorher beugte sie sich noch über mich und schaute, ob ich schlief. Ich weiß nicht, weshalb, aber ich tat so als ob. Ihr Blick … ihr Blick war irgendwie anders … ganz anders, als ich sie gekannt hatte. Es war, als ob … sie töten könn te…!« Eine Weile war es still, Judy und Mal wischten sich die Tränen von den Wangen. »Dann gab es da noch eine weitere Frage, der ich nachgehen muß te. Wer war der Schwarze Prinz? Der Eigentümer der dritten Berg spitze…? Ich ahnte bereits, daß das rätselhafte Kloster von Rotten steiners Leuten als Stützpunkt diente und diese den Part der güti gen Klosterbrüder gespielt hatten. Aber wer konnte sich hinter der schwarzen Maske verbergen? Eine weitere Partei schien an dem Spiel teilnehmen zu wollen. Vielleicht die Mafia? Die Frage blieb vorerst unbeantwortet. Auf jeden Fall mußte ich aufpassen, daß ich dabei nicht unter die Räder kam, man machte ja immer noch Jagd auf mich. Inzwischen war aber etwas passiert, von dem ich nichts wissen konnte: Frau von Rottensteiner hatte ih ren Plan dahingehend geändert, daß sie mich jetzt nicht mehr tö ten wollte, sondern für ihre eigenen Zwecke auszunutzen gedach te. Sollte ich doch ruhig meine Nachforschungen anstellen … ich hatte nämlich keine Sekunde lang verheimlicht, daß ich einen Zu sammenhang zwischen den rätselhaften Vorfällen und der Armee 465
des Huan-Ti sah. Auch Vang Pin entdeckte sein Interesse an mir, ich wurde auf dieselbe Stufe gestellt wie von Rottensteiner und Groß vater. Könnte es sein, daß ich ihn auf die Spur brachte? Daß ich die Tonsoldaten fand? Wilhelmina von Rottensteiner nahm an, daß Van Pin von nun an seine ganze Energie auf mich konzentrieren wür de, und das wollte sie für ihre eigenen Zwecke ausnutzen. Mit an deren Worten, sie verschob meinen Tod für kurze Zeit und führte mich Schritt für Schritt – mit Hilfe der Tonfigürchen – zur unter irdischen Kathedrale. Und warum sie meine Hilfe für so wichtig hielt? Sie nahm an, daß Vang Pin sie erkennen könnte. Obwohl meh rere Jahrzehnte vergangen waren, konnte sie sich nicht sicher sein, ob nicht doch ein paar Züge in ihrem Gesicht Lei Tshung-tao ver dächtig vorkommen würden. Wenn das passiert wäre, hätte die gan ze Geschichte einen ganz anderen, wahrscheinlich viel dramatischeren Ablauf nehmen können. Deswegen hielt sie es für weiser, wenn ich Vang Pin zu den Tonsoldaten führte. Das bedeutete aber auch, daß diejenigen, die nach unserer ver schwundenen Maschine forschten, diese nicht finden durften! Und daß gesucht wurde, das war mir – und allen anderen – klar. Die chi nesischen Behörden hatten sich sofort mit Bangkok in Verbindung gesetzt und sie informiert, daß ein Charterflug irgendwo, wahr scheinlich in Laos, vom Radar verschwunden sei. Was mußte Vang Pin also unternehmen? Dafür sorgen, daß die Boeing buchstäblich vom Erdboden verschluckt wird. Ich dachte mir, bevor das passiert, täte ich gut daran, mich noch einmal beim Flugzeug etwas umzu sehen. Vielleicht fand ich ja noch irgendwelche Hinweise. Ich möchte hier nicht in der Rolle des Besserwissers glänzen, aber es kam genau so, wie ich vermutet hatte. Die Maschine war von der Piste verschwunden. Vang Pin hatte sie im Laufe des Tages von sei nen Meos abtransportieren lassen, nachdem sie die Boeing in Ein zelteile zerlegt hatten. Trotzdem war es nicht unnütz, daß ich mich in der Nacht hinausgeschlichen hatte. An der Landebahn entdeckte ich nämlich den entscheidenden Faktor, mit dem ich das Spiel schließ lich für uns entscheiden konnte…« 466
Ich ließ sie darüber ein wenig nachgrübeln und zeigte ihnen wäh renddessen mit meiner Pfeife, was für tolle Kringel ich hauchen konn te. »Ich sah unseren Freund Wimmer, wie er seine im Vorfeld in Si cherheit gebrachte Tasche versteckte. Am liebsten hätte ich geweint vor Freude! Denn wenn ich in dieser verrückten Geschichte jemanden wirklich benötigte, dann war das ein Sprengstoffexperte, ausgerüs tet mit dem nötigen Sprengstoff und Zündern. Ich ahnte schon da mals, daß die Höhle der Tonsoldaten entsprechend ihrer Aufgabe präpariert worden war, und Wimmer war das größte Geschenk, das mir der Himmel zum Entschärfen der Sprengladungen geschickt ha ben könnte. Blieb nur noch übrig, ihn für mich zu gewinnen, was nach einigem … ähm, guten Zureden … auch geklappt hat.« Wimmer senkte den Kopf und wurde ein wenig rot. Dann grins te er mich zaghaft an. »Vorher aber passierte mir noch so einiges. Zum Teufel, mich er wischte doch tatsächlich ein Meo! Und obwohl er für Vang Pin ar beitete, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, mich im Sumpf zu ertränken. Und jetzt halten Sie sich fest: Frau von Rottensteiner hat mir das Leben gerettet! Ihr war inzwischen klar geworden, daß sie mich brauchte, und sie wollte nicht, daß ich – in Vang Pins Au gen spurlos – verschwinde. Zum Glück war sie in der Gegend auf einem kleinen Spaziergang und hatte mit angesehen, wie mich der Meo abmurksen wollte. Also zog sie wieder einmal die Garrotte aus der Tasche und spielte Huan-Tis Geist. Sie erzählte mir mit Gra besstimme, wo ich den Eingang zu Huan-Tis Höhle finden würde. Sie hatte aus Plastik eine Art Trichter geformt, mit dem sie die ›übersinnlichen‹ Töne von sich geben konnte. Es war eine er schreckende Szene, trotzdem auch irgendwie lächerlich.« »Wie man es nimmt…«, meinte Mal. »Damals hast du jedenfalls anders darüber gesprochen.« »Gut möglich… Die Nacht war schließlich auch die Nacht der Ab rechnungen… Vang Pin merkte, wer Villalobos in Wirklichkeit war, und brachte ihn um. Vielleicht hatte er Paj Miang vor ihrem Tod 467
noch ausgequetscht, und sie mußte es ja gewußt haben. Lei Tshung-tao hatte sich nämlich gesagt, daß es langsam zu vie le Faktoren und Gegner gab. Eine Weile fragte er sich noch, ob der Rote Drache nicht doch der Schwarze Prinz ist, doch dann erin nerte er sich an die Aussage seines Vertrauensmannes und erkann te plötzlich, daß es nur seine Schwägerin sein konnte, die sich hin ter der Maske verbarg. In aller Ruhe brachte er daraufhin Villalo bos um, der ihn schlicht und einfach unterschätzt hatte. Seine Frau mußte ebenfalls dran glauben. Lei Tshung-tao bewies sogar noch Sinn für schwarzen Humor, als er die Leiche des Roten Drachen an der Pagode des Schwarzen Prinzen aufhängte. Offensichtlich war ich von lauter humorvollen Menschen umgeben…« Gott weiß warum, aber keiner lächelte bei meiner Bemerkung. »Wo Vang Pin Villalobos nun erwischt hat, weiß ich nicht. Auf jeden Fall hatte der General vorher meinem Zimmer noch einen Be such abgestattet, und zwar in Pandauniform. Ich habe es, glaube ich, noch nicht erwähnt, daß Villalobos vor her ebenfalls bei der Piste aufgetaucht war, um nach der Maschi ne zu schauen. Bei der Gelegenheit hatte er wohl die Pandakostü me mitgenommen und eines auch gleich nach seiner Ankunft in Vang Pins Residenz angezogen. Er wußte nämlich, daß ich all die kleinen Tonfiguren vorsorglich in meiner Tasche verstaut hatte, und glaubte, daß sie eine besondere Bedeutung hätten. Womöglich wa ren ja seltsame, geheimnisvolle Symbole darauf eingekratzt, die er, mit seinem Wissen über Asien, besser deuten zu können glaubte als ich. Wer die Figuren hinterlassen hatte, kümmerte ihn nicht. Viel leicht Vang Pin, vielleicht jemand anders … ihn interessierte nur noch die Tonarmee, er war inzwischen genauso besessen wie sein Riva le. Also machte er sich daran, mir die Figürchen zu klauen. Dazu brach er in mein Zimmer ein und betäubte Mal, dann nahm er alle Tonfiguren mit – mit einer Ausnahme…« »Was machte denn Miss Malgorzata in Ihrem Zimmer, Mr. Law rence?« fuhr die Japanerin anzüglich grinsend dazwischen. »Was wohl«, meinte Leichenfresser auf seine typisch flapsige Art. 468
»Sie hat die Brösel unter der Bettdecke gezählt…« Ich zog es vor, schnell fortzufahren: »Viel konnte er mit den Dingern nicht anfangen, denn kurz da rauf wurde er von Vang Pin ermordet – von ihm oder einem sei ner Meos. Wie vieles andere auch, kann dieses Detail nicht mehr rekonstruiert werden. Wie gesagt, mir blieben trotzdem noch Fi gürchen übrig; einmal jenes, das Villalobos übersehen hatte, und ein neues, das ich beim Sumpf neben der Leiche des Meos gefun den hatte. Vang Pin tat natürlich so, als wüßte er nicht, wer seine Frau er mordet hatte. Er versuchte, den Verdacht auf Dr. Camus zu lenken, später auf den Roten Drachen. Doch mich konnte er inzwischen nicht mehr täuschen. Ich ahnte die Wahrheit und wußte, daß sich das Spiel seinem Ende näherte. Damals entschied ich, alles auf eine Karte zu setzen. Und zwar auf Wimmer. Ich erwähnte ja bereits, weshalb. Nachdem der Schwarze Prinz auch noch Leichenfresser und Mr. Hardy im Dschungel beim Spazierengehen erwischt hat te, blieb mir sowieso nicht mehr viel übrig.« Dann erzählte ich, wie mir von Rottensteiner noch einmal das Le ben gerettet hatte, als sie mich vor den Pavianen beschützte. Sicherlich hatte ihr in diesem Fall auch Großvater geholfen, denn wie wir nach träglich von Judy erfahren hatten, unternahmen die beiden manch mal einen Spaziergang, um sich angeblich über die Tonarmee zu unterhalten. Über das Ende brauchte ich nicht viele Worte zu verlieren. Jeder wußte, wie die Geschichte der Tonarmee ausging. All jene, die sich so sehr nach der Entdeckung des Schatzes gesehnt hatten, waren nun so leblos wie die Tonsoldaten. Nur Lisolette tat mir ein wenig leid, die letztendlich nichts für das Ganze konnte. Ich verstummte, packte meine Pfeife wieder weg und die Auf zeichnungen ein. Nur die Japanerin mit dem seltsamen Lächeln sah etwas verstört aus. Schließlich stellte sie die letzte Frage: »Mr. Lawrence…«, meinte sie zaghaft, »Sie haben noch nicht ge sagt, wer die Napalmbomben auf Sie geworfen hat…« 469
»Ich habe wohl noch nicht erwähnt«, nickte ich ernst, »daß Mr. Hardy und Mr. Leichenfresser in dem Brunnen, in dem sie vom Schwarzen Prinzen gefangengehalten wurden, ein Gespräch zwischen den Meos mitbekommen hatten, wonach man sich auf einen Bom benabwurf vorbereiten solle. Leider – oder zum Glück – wußten wir damit nichts so richtig anzufangen. Wenn wir es verstanden hätten, wären wir womöglich davongerannt, und dann hätte dieser Fall nie zu einem glücklichen Ende gebracht werden können. Die Behörden in Laos haben sich nämlich vorgenommen, die Rauschgiftplantagen der Meos zu vernichten. Dazu werfen sie re gelmäßig Brandbomben über den betreffenden Gebieten ab, war nen vorher allerdings die Bevölkerung, daß sie sich davonmachen soll. Wir konnten das selbstverständlich nicht wissen. Und so kam es, daß die Bomben zwar unerwartet, aber genau zur rechten Zeit fielen und uns damit womöglich das Leben retteten. Gibt es noch Fragen?« Die gab es nicht.
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ir flogen tief und ganz dicht über den Wellen. Direkt unter uns spielte selbstvergessen eine Gruppe von Delphinen, als jage sie dem Schatten des Flugzeugs hinterher. Mal änderte die Schräglage etwas, und wir zogen in weitem Bo gen über die Bucht. Die Sonne brannte mit glitzernden Strahlen, die Palmen winkten uns vom Strand aus glücklich zu. Mal verringerte die Geschwindigkeit, das Motorengeräusch wur de schwächer, und wir flogen wie eine riesige Möwe lautlos über dem Ozean. Noch ein Schwenker, und wir waren über einem Wald, und etwa fünf Minuten später näherten wir uns einer kleinen Berg 470
kuppe mit einem großen, weißen Hotel. Unten war ein riesiger blau er Pool, und einige der Badenden winkten uns zu, als sie uns ent deckten. Mal blickte mich von der Seite her an. »Na? Wie findest du es?« »Wunderbar«, seufzte ich und lächelte dann. »Weißt du, was ich am liebsten machen würde?« »Was?« »Einen Monat hier mit dir alleine verbringen…«, antwortete ich und deutete hinunter auf das Hotelschwimmbecken und die blit zenden Fenster, hinter denen kühle Zimmer mit großen, französi schen Betten auf die müden – oder gestärkten – Gäste warteten. »Wirklich?« »Natürlich!« Sie lächelte und hob die Nase der Maschine. »Was hält dich zurück?« »Die Pflicht«, stöhnte ich verbittert. »In zwei Tagen ist eine Kon ferenz in Barcelona…« Mal lächelte immer noch, als sie unter ihren Sitz griff und mir ein kleines Bündel überreichte. »Dann hier … ein Abschiedsgeschenk!« »Was ist das?« Ihr Lächeln wurde jetzt sehr rätselhaft – wie das einer thailändi schen Liebesgöttin. »Öffne es!« Ich tat wie geheißen, und fuhr dann vor Überraschung laut auf. Es war eine etwa dreißig bis vierzig Zentimeter große Plastikfigur, jenen ähnlich, mit denen mich noch kurz zuvor Wilhelmina von Rottensteiner beglückt hatte. »Was … ist das?« stöhnte ich und sah abwechselnd zur Figur und zu Mal hinüber. »Schau es dir genau an!« Ich tat es. Und es gab einiges zu sehen. Es war Mal, ohne jeden Zweifel. Nur die Haare fielen etwas altmodisch aus, wie auf den Skulp 471
turen, die vor Jahrhunderten angefertigt worden waren. Damit war es dann mit dem Altmodischen aber auch schon vor bei. Von der Bekleidung konnte man nämlich nur schwerlich das selbe behaupten. Eigentlich hatte die kleine Figur überhaupt nichts an… Trotzdem war es Mal. Mit jeder verlockenden, verheißungsvollen Rundung, die ich an ihr kannte – und schätzte. Sie tat, als würde sie mir gar nicht zusehen, spielte nur mit dem Steuer. Schließlich zwinkerte sie mir verstohlen zu. »Na?« Ich dachte an Barcelona, an die vielen Vorlesungen, Unterhaltungen, die schweißtreibenden Sitzungen… Ich streckte den Zeigefinger aus und schob ihn ihr in die Seite. »Hände hoch! Diese Maschine wird entführt! Sofort landen!« Als wir auf dem kleinen Flughafen des Hotels landeten, sprang sie mir vor aller Augen in die Arme und wollte mich gar nicht mehr loslassen. Und ich konnte nur hoffen, daß wir genügend Ausdauer für den nächsten Monat hatten. Ich und die Pandas. Während wir Hand in Hand zum Haupthaus schlenderten, dach te ich mir, daß wir es nach so vielen Morden und etlichen Aben teuern verdient hätten – sowohl wir als auch die Welt –, daß die Le gende des Huan-Ti sich als wahr erweisen würde. Ich hoffte aus vol lem Herzen, daß irgendwann einmal Archäologen das Grab mit den Tonsoldaten finden würden, vielleicht irgendwo in der Nähe der Gro ßen Mauer. Dort, wo die Kämpfer dieser Zeit gelebt hatten. Und daß auch Huan-Ti dann seine Ruhe in dem freigelegten Grab fand, bewachten seine Soldaten ihn doch schließlich auf chinesischem Bo den. Ein gutes Jahrzehnt später ging mein Traum in Erfüllung.
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