Der Fluch des Blutes von Timothy Stahl
Einer gewaltigen Nekropole gleich erhob sich die verborgene Maya-Stadt im nächt...
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Der Fluch des Blutes von Timothy Stahl
Einer gewaltigen Nekropole gleich erhob sich die verborgene Maya-Stadt im nächtlichen Glanz der Sonne. Die Menschen, die ausgemergelt auf den Straßen, Feldern und Plätzen schufteten, schienen mehr tot als lebendig. Ihre bleichen Körper waren bemalt, als könnten die Farben das Leben ersetzen – oder es zumindest beschwören, wiederzukehren. Was für ein Alptraum, dachte die Frau, die aus einem Fenster des Tyrannenpalastes blickte. Ihre Augen brannten, hatten sich immer noch nicht an die allgegenwärtige und beklemmende Düsternis gewöhnt. Ihr Blick glitt weiter zu dem Wall, hinter dem die Welt endete. Diese Welt …
Was bisher geschah … Als durch eine Seuche die meisten Vampire sterben und sich das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse verschiebt, wird Gabriel geboren, eine Inkarnation Satans. Seine Aufgabe: ein Tor zur Hölle zu öffnen, das von der Bruderschaft der Illuminati in einem Kloster bei Rom bewacht wird. Letztlich scheitert das Vorhaben, nicht zuletzt durch Lilith Eden, Tochter eines Menschen und einer Vampirin. Gemeinsam mit ihrem ärgsten Feind Landru wird sie durch das Tor in die Hölle gerissen – eine Dimension, die durch den Fall des Engels Luzifer entstand. Bei der Flucht aus den Gefilden der Hölle werden ihre Persönlichkeiten gelöscht, während Salvat, Führer der Illuminati und in Wahrheit der Erzengel Michael, den Klosterberg sprengt und das Tor somit versiegelt. Lilith und Landru wissen nichts mehr über ihr früheres Leben; nicht einmal, daß sie Vampire sind! Über Landrus Tarnidentität Hector Landers finden sie erste Spuren. Die seinen weisen nach Paris, die ihren nach Sydney. In Australien findet Lilith den Ort ihrer Geburt, wird aber von der dortigen Macht nicht mehr akzeptiert. Derweil kommt es in Paris zur Begegnung zwischen der Werwölfin Nona und Landru. Landru erkennt seine langjährige Geliebte nicht – ein mörderischer Kampf entbrennt, den Nona nur durch Flucht beenden kann. Da sucht Gabriel Landru auf und bietet ihm einen Pakt an, den Landru nicht ablehnen kann. Der Knabe gibt ihm seine verlorenen Erinnerungen zurück. Daraufhin folgt Landru Nona und erfährt von ihr, daß sie im Dunklen Dom war, der Heimstatt der Hüter, wo einst die Dunkle Arche nach der Sintflut strandete. Aber der Dom ist zerstört! Landru muß in Erfahrung bringen, was dort geschah – schließlich war er selbst einer jener Hüter, die mit dem Lilienkelch das Geschlecht der Vampire über die ganze Erde verbreitet haben. Zuvor aber kümmert er sich um die immer noch identitätslose Lilith, denn
mit ihr hat er besondere Pläne … Derweil erwacht im Dunklen Dom der letzte der Kelchhüter – Anum, der damals auch der erste Hüter war. Zugleich taucht in Indien der Lilienkelch wieder auf, und in Nepal endet die dunkle Geschichtsschreibung der Blutbibel. Sie wurde überwacht von sieben Kindern, die damals in der Dunklen Arche mitreisten; nun kehren die Sieben zurück und geben Anum all ihre Kraft. Die Blutbibel selbst bleibt im Dom, als Anum aufbricht und den Lilienkelch an sich bringt – bereit, sein Amt als Hüter wieder aufzunehmen … Landru offenbart Lilith in Sydney, daß sein Gedächtnis zurückgekehrt ist. Er gibt vor, sich auch an ihre Identität zu erinnern: Im Urwald Mittelamerikas gäbe es eine Stadt, in der ihre gemeinsamen Kinder auf sie warteten. Kinder, die Lilith geboren habe! Die Stadt gibt es tatsächlich. Sie ist mit Kelchmagie von der Umwelt abgeschirmt. In ihr haben Maya überdauert, die heute noch leben wie ein halbes Jahrtausend zuvor. Die Vampire dort sind Landru treu ergeben und wissen, was von ihnen erwartet wird. Nona reiste voraus und weihte sie in Landrus Pläne ein. Bald nach der Ankunft soll Lilith – um ihre Zugehörigkeit zur »Familie« zu demonstrieren – ein Menschenopfer zelebrieren …
Grund und Boden der alten Maya-Stadt, so hatte Landru es der Frau erklärt, waren in den Spätnachmittagsstunden des 3. September 1523 aus der bestehenden Wirklichkeit herausgeschnitten worden. Die jenseitige Kraft, die dies bewerkstelligt hatte, kerkerte die Menschen seitdem hier ein. Als »Hermetische Stadt« hatte Landru die vom Lilienkelch erschaffene Sphäre bezeichnet – erschaffen als Antwort auf die unerlaubten Taufen, die der Kelchhüter mit Kindern der Maya durchgeführt hatte. Sie hatten sein Blut getrunken, um als Vampire vom Tode wiederaufzustehen – gegen den Willen jener Macht, der Landru verpflichtet war. Sie hatte ihn wissen lassen, daß dieser Kontinent noch nicht reif sei für die Regentschaft der Alten Rasse. Warum, wußte Landru bis heute nicht. Der zu diesem Zeitpunkt bereits acht Jahrhunderte in seinem Amt weilende Kelchhüter war der sonderbaren Kultur der Indios erlegen und hatte deshalb der Versuchung letztlich nicht widerstehen können. Acht Kinder hatte er wider das Verbot einer Kelchtaufe unterzogen und damit die erste Sippe außerhalb der Alten Welt begründet. Der Lilienkelch hatte diese Eigenmächtigkeit in beispielloser Weise geahndet und eine Barriere um die Stadt gespannt, die weder sterbliche noch unsterbliche Maya zu überwinden vermochten … »Ich konnte nicht eher kommen – verzeih.« Obwohl die am Fenster stehende Frau zuvor keine Tür hatte schlagen hören, zuckte sie nicht einmal zusammen, als die sonore Stimme hinter ihr erklang. Langsam drehte sie sich dem Mann zu, für den sie jede erdenkliche Strapaze auf sich genommen hätte. »Landru …« Er lächelte. Bei ihrem ersten Kennenlernen hatte er noch ein falsches Lächeln getragen – auf einer Maske aus magisch belebter Haut, die sich wie ein Egel um seine echten Zügen geschmiegt hatte. Doch schon bald hatte sie hinter dieses Truggebilde schauen dürfen …
Wir haben einander nie gesucht, dachte Nona warm. So war es auch nicht Zufall, sondern Bestimmung, was uns damals in Rom zusammengeführt hat.* Der Leidenschaft, die zwischen der Werwölfin und dem Vampir entflammt war, hatte die seither verronnene Zeit nichts anhaben können. Vermutlich auch deshalb nicht, dachte Nona, weil wir nach längerem Zusammensein doch stets auch wieder getrennte Wege einschlugen. So wurden wir einander nie überdrüssig. Im Gegenteil … Es hielt sie nicht länger an ihrem Fensterplatz, von dem aus sie hinausgespäht hatte in die bedrückende Welt, die nur wenige Jahre vor ihrer erster Begegnung mit Landru entstanden war, und fiel dem Mann, dem sie wertvolle Botendienste geleistet hatte, in die Arme. Er erwiderte Nonas Küsse, wie sie es gewohnt war – und brauchte: hart, fast gewalttätig selbst im Bezeugen innigster Zuneigung! Als sich ihre Lippen wieder voneinander lösten, war Nona wie benommen. Und fast willenlos. »Nimm mich!« Sie bettelte fast um die Wonnen, die sie bislang nur in Landrus Armen erfahren hatte. Mochten andere Männer noch so phantasievoll, noch so bemüht gewesen sein – es war nie dasselbe gewesen. Vielleicht hatte es damit zu tun, daß Landru sie einst entjungfert hatte. Hieß es nicht, Frauen würden ihren ersten Mann nie vergessen und jeden folgenden daran messen …? Nona lachte kehlig. Auf Landru mochte dieser plötzliche Heiterkeitsausbruch unmotiviert wirken. »Was hast du?« »Sehnsucht.« Seine Finger schoben sich von hinten wie Kämme in ihr kurzes, rotbraunes Haar und hielten ihren Kopf fest. »Dafür ist jetzt keine Zeit!« Ihre nächsten Worte waren von fauchendem, heißem Atem um*siehe VAMPIRA T04: »Der Pfad der Wölfin«
spült. »Nein …? Keine Zeit für Nähe? Beansprucht sie dich so sehr?« »Du und ich«, erwiderte er, »wir werden noch genug Zeit füreinander haben – sobald ich sie soweit habe.« Landru rückte keinen Zentimeter von ihr ab. Sein Blick schien sich in Nonas Augen brennen zu wollen, und in schon versöhnlicherem Ton fragte sie: »Wie weit willst du Lilith Eden denn haben? Ich habe dir schon in Paris gesagt, daß ich den Aufwand, den du mit ihr betreibst, nicht verstehe. Die Gelegenheit, sie zu töten, wird nie mehr günstiger sein als jetzt. Noch hat sie ihr Gedächtnis nicht wieder. Noch ist ihr Wissen um die eigene Stärke beschränkt, so daß es dir leicht fiele, sie –« »Natürlich könnte ich sie vernichten, wie sie es eigentlich verdient hätte«, fiel er ihr ins Wort. »Das hätte ich schon in Sydney tun können.« »Aber warum tust du es dann nicht? Nach allem, was sie dir und deinem Volk angetan hat … Du hast mir auch immer noch nicht gesagt, was dein Plan bezwecken soll! Wofür ist diese Farce gut? Warum ist es so wichtig, daß Lilith glaubt, mit dir zusammen Kinder gezeugt und geboren zu haben?« Landrus Hände lösten sich von ihrem Kopf. »Darüber reden wir noch – später. Jetzt muß ich gehen. Ich wollte dir nur danken, daß du das Feld hier bereitet und den Vampiren meine Anweisungen überbracht hast.« Nona schloß kurz die Augen und fragte sich, ob sie ihm sagen sollte, wie unwohl sie sich in dieser Stadt fühlte. Wie sehr ihr diese Sphäre seit dem Moment zu schaffen machte, da sie die magische Membran, die das Leben hier vom Leben draußen trennte, durchdrungen hatte. Aber er schien in solcher Eile, daß sie darauf verzichtete und ihr Anliegen verschob. »Wann sehen wir uns wieder?« wollte sie nur noch von ihm wissen.
»Sobald ich es einrichten kann«, versprach er. »Schon die nächsten Stunden werden mir genaueren Aufschluß geben, wie sehr sich Lilith inzwischen mit ihrer neuen Rolle identifiziert. Es wird gewissermaßen die Nagelprobe …« »Was hast du vor?« Der Ausdruck seines Gesichts wurde noch eine Spur abseitiger, als er antwortete: »Ich zwinge sie zu etwas, was die alte Lilith niemals getan hätte …«
* Stunden später, auf dem heiligen Tempel Lilith Eden fühlte sich gefangen und verdammt in einem. Gefangen in einem Alptraum – – und verdammt zu einem Leben, das ihr zu führen widerstrebte! Aber es gab nichts, was sie dagegen hätte tun können. Denn dieser Alptraum war ihr Leben! Landru hatte sie nach Hause gebracht, heim in den Schoß ihrer Familie, und Liliths ursprüngliche Zweifel waren mittlerweile mehr und mehr der Überzeugung gewichen, daß ihr Gefährte die Wahrheit sprach: daß diese Stadt und das Land ringsum in der Tat ihrer beider Reich und daß die Herrscher darin ihrer beider Kinder waren. Auch an der Tatsache, daß sie eine Vampirin war, zweifelte sie nicht mehr. Der Blutdurst und die Erkenntnis, daß schwarzes Blut in ihren Adern floß, waren ihr Beweis genug gewesen. Daß sie aber von der gleichen Grausamkeit beseelt sein sollte wie Landru und ihre acht Kinder …? Lilith sah sich außerstande, zu tun, was Landru von ihr verlangt hatte: Schneide ihr das Herz aus der Brust …!
Seine Worte, tatsächlich längst verklungen, hallten Lilith noch immer im Ohr. Die gespannten Blicke all jener, die sich zu der barbarischen Opferzeremonie auf der Spitze der Tempelpyramide versammelt hatten, stachen kalten Klingen gleich auf ihrer Haut. Widerstrebend sah Lilith zu dem Ritualdolch auf, den sie mit beiden Händen hoch über dem Kopf erhoben hielt, zu einem Stoß, den zu führen sie nicht imstande war. Aber fast schien es, als wolle die Waffe selbst ihr die Entscheidung abnehmen. Der schwere Dolch bebte in Liliths Griff wie von eigenem Leben erfüllt, die Klinge senkte sich langsam nieder, und schon zitterte die Spitze dicht über Liliths Augenhöhe, an einen erstarrten, lichtlosen Blitz erinnernd, der alle Anstrengungen unternahm, um aus seinem unsichtbaren Kerker auszubrechen – – um endlich zu verrichten, weswegen er Lilith in die Hand gegeben worden war: Um das Herz aus der Brust jenes Mädchens herauszutrennen, das nackt vor Lilith auf dem Opferstein lag! Die junge Indio-Frau selbst schien mit ihrem Schicksal nicht im Geringsten zu hadern. Ihre hübschen Züge zeigten keine Spur von Angst, allenfalls lag schon der Schatten des Todes darüber und malte sie grau, was jedoch eine Illusion sein mochte, denn inmitten der grellbunten Körperbemalung mußte jeder natürliche Hautton verblassen und bleich aussehen. Trotzdem kam es Lilith vor, als hätte das Mädchen sich dem Tod längst schon ergeben und sehne ihn nun herbei, ungeachtet der Schmerzen, die es bedeuten mußte. Der Blick des Opfers hing in einer geradezu befremdlichen Weise an der Klinge des Dolches – als wäre es der Geliebte, der dem Mädchen neckisch noch den Kuß verweigerte. »Warum zögerst du?« Landrus Stimme löste die fast schon schmerzhafte Verkrampfung, in die Lilith verfallen war. Keuchend entließ sie den angestauten Atem aus ihren Lungen. »Tu’s endlich«, forderte Landru. »Stoß zu!«
Lilith wollte es noch immer nicht, aber ihre Hände schienen ihr nicht länger zu gehorchen. Ihre Fäuste, die den Dolch umfaßten, senkten sich tiefer, ruckartig – – und kamen doch zwei Handbreiten über der Brust des Mädchens erneut zur Ruhe, bebend, als hätte Lilith die Klinge in unsichtbares Holz getrieben. Fast meinte sie, etwas wie Enttäuschung im Gesicht des Mädchens zu sehen, und hastig wandte sie den Blick, weil diese Regung sie abstieß. Die Spannung um Lilith her war beinahe zu spüren. Als erfülle sie die Luft knisternd mit Elektrizität. Die Gestalten in den aufwendig gearbeiteten Zeremoniengewändern standen starr, ihre Augen, unsichtbar hinter dämonischen Masken, fixierten Lilith. Eine Anzahl weiterer Beobachter, nicht maskiert und in weniger edler Kleidung, standen etwas abseits des engen Kreises, den die Vampire um Lilith herum bildeten: Angehörige der Priesterschaft, deren Aufgabe Lilith noch schleierhaft war. Jetzt traten die Vampire wie auf ein geheimes Zeichen einen Schritt vor, als wollten sie Lilith Eden mit ihrer Nähe drängen, endlich zu tun, was alle von ihr erwarteten. Ein Willkommensritual sollte diese Opferung sein, hatte Landru ihr zuvor gesagt, eine besondere Ehrerbietung der Kinder ihrer Mutter gegenüber. Darauf wollte Lilith gerne verzichten. Ihr Blick ging über das Plateau der Pyramidenspitze hinaus und über die beeindruckenden Bauten des Tempelbezirks hinweg, hinauf zur dunklen Scheibe der nächtlichen Sonne, deren Dämmerlicht alles in Schatten wob – – alles, was Lilith nach wie vor so fremd war, als hätte sie es niemals vorher gesehen. Und als hätte es nur dieses einen Gedankens bedurft, entließ etwas wie eine fremde Kraft Lilith aus ihrem Griff. Ihre Hände sanken her-
ab. Achtlos warf sie den Ritualdolch neben das Mädchen auf den Altarstein. »Ich kann es nicht tun«, sagte Lilith leise. »Ich will es nicht tun!« Landru ließ ein ärgerliches Schnauben hören. »Willst du deine Wurzeln leugnen?« zischte er. Lilith sah ihn funkelnden Auges an. »Und willst du mich nicht verstehen?« erwiderte sie. »Ich kann dich nicht verstehen!« Landru griff nach dem Dolch, riß ihn hoch – und stieß zu! So kraftvoll, daß die schwarze Klinge sich tief hineinbohrte in den Stein des Opferblocks! Dolch und Stein schienen für einen winzigen Moment purpurfarben aufzuleuchten, so kurz, daß es eine Täuschung sein konnte. »Ich …«, begann der Vampir dann, hielt aber kurz inne und wies in die Runde, »… wir wollen dir jede erdenkliche Möglichkeit bieten, auf daß du zurückfindest zu uns und in dein einstiges Leben – aber du weigerst dich, unsere Hilfe anzunehmen!« Landru setzte eine wohlbemessene Pause, ehe er mit geschmälten Augen, in denen ein vager Abglanz von Verachtung glomm, leise und kehlig fortfuhr: »Manchmal überlege ich, ob du all die Mühen überhaupt wert bist. Vielleicht sollte ich dich kurzerhand verstoßen und dich der Einsamkeit überlassen, nach der du dich ja zu sehnen scheinst.« Lähmende Stille umfing sie. Niemand wagte sich zu regen, als fürchte jeder – ob Vampir oder Priester –, er könne durch die allergeringste Bewegung zur Zielscheibe von Landrus Zorn werden. Lilith war es schließlich, die das bedrückende Schweigen brach. »Nein, so ist es nicht«, flüsterte sie. In Einsamkeit leben müssen – das war das Letzte, was sie wollte. Die Vorstellung allein war bedrückend und erfüllte sie mit einer Ahnung von beängstigender Leere. Sie wußte, was Einsamkeit bedeutete, und fürchtete sie so, wie sie einen leibhaftigen Feind gefürchtet hätte, der ihr nach dem Leben trachtete. Denn letztlich war Einsamkeit nichts anderes – etwas, das Leben fraß und nichts übrigließ.
Als sie vor einiger Zeit ohne Landru nach Sydney gereist war, um einer vermeintlichen Spur in ihre Vergangenheit zu folgen, hatte Lilith erfahren, was es hieß, einsam zu sein. Nie mehr wollte sie dieses Gefühl erdulden müssen. Lilith blickte sich um, sah jedes ihrer Kinder einen Moment lang an, und schließlich verharrte ihr Blick auf Landru. Ja. Jede Gesellschaft zog sie dem Alleinsein vor. Auch diese … »Verlaß mich nicht«, bat sie leise, »und verzeih mir, aber … ich kann nicht töten. Ich bin keine Mörderin.« »Pah, Mörderin!« Landru machte eine wegwerfende Geste. Er wies auf das Mädchen hinab. »Du wärst an ihr nicht zur Mörderin geworden. Im Gegenteil, du hättest ihr eine Gnade erwiesen.« Lilith blickte ihn verständnislos an. »Wie meinst du –?« »Sieh hin«, unterbrach er sie. »Du trägst die Schuld daran, daß ihr nun ein weit grausameres Schicksal zuteil wird!«
* Landru rührte das Mädchen nicht an. Und doch hätte keine noch so ungestüme Berührung Schlimmeres anzurichten vermocht! Der Vampir streckte die linke Hand vor, über die Brust des Mädchens, das Mérida hieß und der Priesterschaft angehörte. Landru hatte sie ertappt, als sie im Begriff gewesen war, Verrat zu begehen. Und so war sie ihm willkommenes Opfer für das geplante Ritual gewesen, mit dem er Lilith Eden noch tiefer hineinzerren wollte in das Netz aus Lügen und Intrigen, das er eigens für das verhaßte Hurenbalg ersonnen und gesponnen hatte.* Nun ballte Landru die Finger zur Faust, so langsam, als müßte er etwas Unsichtbares dazwischen zerquetschen. Öffnete sie wieder. *siehe VAMPIRA T31: »Tempel der Unsterblichen«
Schloß sie von neuem. Die Gelenke seiner totenbleichen, wächsernen Finger knackten und knirschten, und in der geradezu andächtigen Stille klang es überlaut wie das Brechen von morschem Holz. Der Brustkorb des Mädchens blähte sich förmlich; es sah aus, als füllten sich Méridas Lungen bis zum Bersten mit Atem, den sie nicht holte – – und dann schien es plötzlich, als schwelle ihr Herz selbst an! Eine deutliche Wölbung zeigte sich unter ihrer linken Brust. Die eben noch fast engelhaften Züge des Mädchens entgleisten und formten sich zu einer Maske der Qual. Lilith vermochte sich nicht vorzustellen, wie immens der Schmerz sein mußte. Doch kein Laut kam über die zuckenden Lippen. »Nein«, keuchte Lilith atemlos, und dann lauter, aber vor Entsetzen nicht mit der Eindringlichkeit, die sie in ihre Stimme legen wollte: »Hör auf! Bitte, Landru!« »Zu – spät«, kam es heiser aus seinem Mund. Seine Augen blickten stier und angestrengt auf die Nackte hinab, und seine sonst pechschwarzen Pupillen hatten sich mit purpurfarbenem Licht gefüllt. Kaum wahrnehmbar strahlte ihr Leuchten auf seine Hände ab. Lilith Eden war nicht länger willens, tatenlos zuzusehen! Sie griff an Landru vorüber, streifte ihn dabei mit der Schulter, ohne ihn auch nur ins Wanken zu bringen. Wie mit dem Boden verwachsen stand er da. Liliths Finger schlossen sich um den Griff des Ritualdolches, zogen und zerrten daran, und schließlich schaffte sie es, die Klinge aus dem Altarstein zu ziehen. Die Heftigkeit der Bewegung ließ sie nach hinten taumeln und stürzen. Rasch kam sie wieder hoch, und noch im Schritt riß sie den Dolch zum Stoß empor. Doch ihr eben noch so fester Entschluß, einfach zuzustoßen und damit das Leiden des Mädchens zu beenden, geriet abermals ins Wanken. Als sie in Méridas Gesicht sah und ihren Blick auffing. Lilith fühlte sich von den Augen eines – Fremden angestarrt …
Nein, nicht die eines Fremden. Diese Augen, dieser Blick waren ihr bekannt, vage vertraut. Dann verging der irritierende Eindruck, als zöge sich der oder das Fremde unvermittelt, fast fluchtartig aus dem Mädchen zurück. Noch immer stand Lilith zögernd da, weil die Verwirrung sie nicht gleich aus ihren Fängen ließ. Sekunden vergingen, in denen das Mädchen sich immer stärker wand auf dem Altar, erstickt keuchend und würgend. Lilith schloß die Augen. Hob die Fäuste noch höher. Und stieß den Dolch endlich mit aller Kraft nieder …
* Chiquels Schmerzen hatten den größten Teil ihrer anfänglichen Gewalt verloren. Trotzdem überstiegen sie noch immer weit jenes Maß, das ein Mensch ertragen hätte. Aber Chiquel klagte nicht einmal im Stillen darüber, und er hegte weder Groll noch Haß gegen den, der ihm die Qual aufgebürdet hatte. Schließlich hatte er, Chiquel, sich gegen seinen Vater versündigt, ihm fast den Tod gebracht, als er die magische Verbindung zu seinem Jaguar vernachlässigt hatte und das Raubtier erst die Begleiterin Landrus und dann ihn selbst angriff. So hatte sein Vater nichts anderes getan, als ihm die gerechte Strafe angedeihen zu lassen, indem er Chiquels Macht zur Metamorphose in einer Weise wirken ließ, für die nicht einmal der widernatürliche Körper eines Vampirs geschaffen war: Die eigene Kraft hatte Chiquel schrecklich entstellt, und vielleicht würde er seine einst so makellose Gestalt nie wieder zur Gänze erlangen. Der Vampir nahm es hin. Weil sein Vater, im wörtlichen Sinne sein Schöpfer, seit Anbeginn jedes Recht hatte, mit ihm zu tun, was ihm beliebte. Selbst das Leben hätte er ihm nehmen dürfen, ohne daß
Chiquel widersprochen oder sich gar zur Wehr gesetzt hätte. Und vielleicht wäre sein Vater sogar soweit gegangen, genau dies zu tun – – hätte seine Mutter sich nicht für ihn eingesetzt und der grausamen Bestrafung rechtzeitig ein Ende bereitet!* Seine Mutter … Chiquel lachte stumm auf, und über sein verheertes Gesicht lief eine flüchtige Bewegung, die früher ein Lächeln gewesen wäre. Bei dieser Frau, atemberaubende Schönheit und lebendes Mysterium in einem, die in Vaters Begleitung nach Mayab gekommen war, handelte es sich nicht wirklich um die Mutter Chiquels und seiner Blutgeschwister. Sie sollten die Fremde lediglich als ihre Mutter ansehen und sie in entsprechender Weise behandeln, damit sie selbst zu der Überzeugung gelangte, dies wäre ihre ureigene Rolle. So hatte die Wolfsfrau Nona es den Vampiren im Namen ihres Vaters aufgetragen, und sie gehorchten der Weisung, weil jedes seiner Worte ihnen heilig war. Tatsächlich jedoch hatten sie so etwas wie eine Mutter nicht. Allenfalls konnte man dem Lilienkelch diese Funktion nachsagen. Aus ihm hatten die Mayakinder, die Chiquel und seine Geschwister einst gewesen waren, Landrus Blut getrunken und so den Tod und neues Leben empfangen. Auch wenn Chiquel die Beweggründe nicht kannte, die ihren Vater zu diesem Spiel trieben, so sah er die Fremde inzwischen mit anderen Augen. Sie hatte ihn vor dem Tod bewahrt, und nach ihrer Ankunft im Palast hatte sie an seinem Bett gewacht und ihm Trost zugesprochen – ganz so, wie eine echte Mutter es tun mochte. Und vielleicht, sann Chiquel, schien ihm solche Fürsorge so vertraut, weil er sie vor über einem baktun** tatsächlich erfahren haben mochte – vor dem tödlichen Trunk aus dem Kelch, als er noch ein Kind unter *siehe VAMPIRA T31: »Tempel der Unsterblichen« **baktun war bei den Maya die Zeitperiode von 20 katun; ein katun wiederum umfaßt 20 tun (360 Tage). Ein baktun zählt also 20 mal 20 Jahre.
vielen gewesen war, Sohn einer Familie, seiner leiblichen Familie … Nachdem Chiquel in der Zwischenzeit gelernt hatte, sich mit den Schmerzen zu arrangieren – die Erfahrungen aus den Selbstkasteiungen, die er sich mehr oder minder regelmäßig auferlegte, waren ihm dabei von Nutzen –, machte er nun ein bis dato unbekanntes (oder wenigstens lange vergessenes) Gefühl in sich aus. Er kannte keinen Namen dafür – aber als Mensch hätte er es wohl Dankbarkeit genannt. Dankbarkeit für jene Frau, die wie eine Mutter für ihn eingetreten war und sich um ihn bemüht hatte. Daß sie vom Rande seiner Lagerstatt verschwunden war, wurde Chiquel nicht gleich bewußt. Immer wieder versetzte er sich in einen tranceartigen Zustand, wo der Schmerz ihm weniger anhaben konnte als bei vollem Bewußtsein, und als er wieder einmal daraus erwachte, fand er den Platz an seinem Bett leer. Unter Mühen richtete sich der geschundene Vampir auf und sah sich im Raum um. Niemand war zu sehen, nichts zu hören. »Mutter?« kam es fast unbewußt und kaum verständlich über Chiquels geschwollene Lippen. Die Zunge lag ihm wie fremd oder beinah schon tot im Munde. Wo mochte »Mutter« hin sein? Warum hatte sie ihn verlassen? Der Vampir verspürte etwas wie vagen Schmerz in seiner Brust, der allerdings nicht von dem herrührte, was sein Vater ihm angetan hatte. Der Wunsch, »Mutter« wiederzufinden und zurückzuholen, wurde übermächtig in Chiquel, und so machte er sich auf die Suche nach ihr. Ohne indes sein Lager zu verlassen. Er tat es auf jene Weise, die er und seine Geschwister die fremde Sicht nannten. Jeder Mensch, der in Mayab lebte – gleich ob der Priesterschaft oder dem gewöhnlichen Volke angehörig –, war von den Herrschern initiiert; sie alle trugen den Keim der Vampire in sich, und so
bestand etwas wie ein magisches Band zwischen ihnen. Und mittels dieser Verbindung war es Chiquel und seinen Blutgeschwistern möglich, zu sehen, was die Menschen sahen – so hatten sie letztlich die völlige Kontrolle über ihr Volk inne. Auf diesem Wege hielt nun also auch Chiquel Ausschau nach »Mutter«. Freilich hatte er nicht gleich Erfolg damit, aber rasch stellte er fest, daß irgend etwas auf der Spitze der Tempelpyramide vonstatten ging, denn viele Augen, durch die er schaute, waren dort hinauf gerichtet. Schließlich tauchte Chiquel mental in eine der Personen ein, die sich auf der stumpfen Pyramidenspitze befanden. Am Opferaltar geschah – etwas augenscheinlich Bedeutsames … Erneut wechselte der Vampir die fremde Sicht und – Es mochte Zufall sein, vielleicht aber hatte auch eine andere Macht ihre Hand im Spiel – jedenfalls sah Chiquel als nächstes durch die Augen einer noch jungen Priesterin namens … Mérida! Und ihre Sicht der Dinge genügte dem Vampir, um zu wissen, was sich da abspielte – – in welche Situation seine »Mutter« getrieben worden war! Gerade eben schien sie sich zu dem zu zwingen, was ihr unübersehbar zuwider war – Chiquel dachte nicht lange nach, sondern reagierte wie automatisch. Dies war seine Chance, sich zu revanchieren für das, was seine »Mutter« für ihn getan hatte. Ganz gleich, welche Konsequenzen ihm daraus erwüchsen, Chiquel handelte! Er zwang seinen gepeinigten Leib in die Metamorphose. Was sich sonst stets rasch und kaum spürbar vollzogen hatte, als wären Fleisch und Knochen für den Moment weich und formbar wie Wachs, schien nun endlos zu dauern und fachte den Schmerz, der ohnedies noch in Chiquel wütete, zu alter Stärke an. Es war, als bestünde sein Körper aus getrocknetem Lehm, den er nun mit seines
Geistes Kraft in neue Form zu bringen hatte. Der Vampir schrie auf, weil der Schmerz selbst für ihn, dessen Wesen die Natur verhöhnte, kaum mehr erträglich war. Doch dann, endlich, verstummte sein Schrei. Weil er überging in den lautlosen einer Fledermaus, die sich unter Mühen aufschwang und mit ungelenken Flügelschlägen der Tempelpyramide zustrebte.
* Liliths Fäuste rasten herab. Blind führte sie den Dolchstoß nach der Brust des Mädchens. Gleich mußte die Spitze des schwarzen Dolches das Fleisch zerteilen und … Doch die Dinge nahmen eine andere, gänzlich unerwartete Wendung! Mehreres geschah gleichzeitig. Lilith hörte Landru zornig aufschreien. Die Vampire und Priester, die das Ritual beobachteten, schienen nicht minder überrascht und aufgebracht, hielten aber ihre Zungen im Zaume. All dies jedoch registrierte Lilith nur wie nebenher. In der Hauptsache galt ihre Wahrnehmung dem, was mit ihr selbst geschah. Sie wurde – angegriffen! Ein harter Stoß traf sie und brachte den Opferdolch aus seiner Bahn. Die Klinge fuhr ins Leere. Die Wucht des fehlgegangenen Dolchstoßes ließ Lilith vornüber stürzen – und hinein in die nächste Attacke. Klatschende Schläge trafen ihr Gesicht. Blindlings versuchte Lilith sich zur Wehr zu setzen. Unter ihren zuschlagenden Händen spürte sie etwas wie trockenes Leder und borstiges Fell. Dann endlich überwand sie willentlich den Schutzreflex, der ihr die Lider versiegelt hatte, und riß die Augen auf – – gerade noch rechtzeitig, um einen Blick auf ihren monströsen Angreifer zu erhaschen!
Denn er wirkte nur auf den allerersten Blick wie eine übernatürlich große Fledermaus. Besah man ihn sich eingehender, wurden seine abnormen Konturen offenbar, mißgestaltete Details … Als das geflügelte Ding sich verwandelte, mußte Lilith nicht bis zum Ende der Metamorphose abwarten, um zu wissen, mit wem sie es zu tun hatte. Das zu einem lautlosen Schrei geöffnete Maul des Unwesens blieb bis zuletzt erhalten. Als es schließlich auch (annähernd wenigstens) das Aussehen eines menschlichen Mundes erlangte, brandete Lilith daraus ein Brüllen entgegen, das ihr in den Ohren wehtat. Chiquel mußte Höllenqualen leiden. Schon der Anblick seines entstellten Leibes schmerzte; wie furchtbar mußte es erst sein, darin gefangen zu sein? Der Vampir drehte er sich zum Altar um, so rasch, wie es ihm in seiner Situation niemand zugetraut hätte, beugte er sich zu dem Mädchen hinab, umfaßte mit beiden Händen dessen Kopf – und drehte Méridas Gesicht nach hinten! Unwillkürlich wandte Lilith ihren Blick Landru zu – und sah ihre schlimmste Ahnung bestätigt. Sein Gesicht war eine Grimasse – die eines Dämons, eines zürnenden Götzen. Und es konnte nicht der geringste Zweifel bestehen, über wem dieser archaische Zorn sich entladen würde. Chiquel drohte entkräftet in die Knie zu brechen. Mit zitternden Armen stützte er sich am Altar ab, doch seine Beine knickten förmlich unter ihm weg. Bevor er jedoch vollends zu Boden gehen konnte, traf ihn Landrus Faust. Der Schlag hob Chiquel regelrecht aus; er taumelte erst, stürzte dann. Landru setzte ihm nach, vor Wut kaum mehr wiederzuerkennen. Er beugte sich zu Chiquel hinab, seine Rechte spannte sich um dessen Kehle, und so riß er seinen Sohn vom Boden hoch und stemmte ihn empor, hielt ihn in der Luft. »Du mißratenste aller Kreaturen!« grollte Landru. »Tausend Tode
sollst du sterben, weil du es gewagt hast, dich gegen deinen Vater zu stellen. Aber zuvor –«, Landrus Tonfall veränderte sich, wurde fast schmeichelnd, »– wollen wir noch ein wenig Spaß miteinander haben!« Scheinbar mühelos schleuderte Landru ihn von sich, meterweit fort, bis die Mauer des Heiligtums den Flug abrupt stoppte. Dumpf klang Chiquels Aufprall, und hinein mischte sich das Geräusch brechender Knochen. Doch Landru war mit seiner Strafaktion noch lange nicht am Ende. Er setzte an, sich in eine Fledermaus zu verwandeln, doch er führte die Transformation nicht ganz zu Ende – nur soweit, daß zwei, drei Flügelschläge ihn über die Köpfe der stumm beobachtenden Vampire und Priester hinwegtrugen. Dies war der Moment, als Lilith sich ihm in Weg stellte. Wie sie so rasch durch die Menge gelangt war, wußte sie im nachhinein selbst nicht zu sagen. Nun stand sie zwischen Landru und Chiquel, der zusammengekauert am Fuße der Mauer lag, und sie würde nicht von der Stelle weichen. Ihr Verhalten überraschte Lilith selbst, vielleicht mehr noch als Landru. Der stand ihr wie erstarrt gegenüber, noch in der Haltung, in der er sich von neuem auf Chiquel hatte stürzen wollen. Ganz langsam wandelte sich der verzerrte Ausdruck seines Gesichtes, ohne sich indes ganz zu entspannen. Seine Stimme war heiser, beinahe das Grollen und Knurren eines Tieres. »Geh mir aus dem Weg«, verlangte er. Liliths Antwort war Schweigen. »Für seinen Frevel verdient er den Tod«, fuhr Landru rauh fort. »Und er wird ihn bekommen. Das wirst du nicht verhindern.« Ein winziges, hartes Lächeln bewegte Liliths Mundwinkel. Aber es erreichte weder ihre Augen, noch wirkte es im geringsten amüsiert, nur kalt. Und es unterstrich den Ernst ihrer Worte. »Wenn du meinen Sohn töten willst«, sagte sie. »dann nur über
meine Leiche.« Landru Miene war eine starre Maske, als er antwortete. »Daran soll es nicht scheitern.«
* Zapata, einer der vampirischen Tyrannen, die über die isolierte Stadt herrschten, erzitterte. Mit dem Rücken lehnte er gegen eine der Säulen, die den Altar umsäumten. Als er mitansehen mußte, wie verächtlich der Kelchmeister mit ihrem Bruder Chiquel verfuhr, preßte Zapata die gespreizten Finger so fest gegen den kühlen, glyphenübersäten Stein, als könnte er sie hineinbohren. Sämtliche Kelchkinder wurden Zeugen des Exempels, das ihr Vater an Chiquel statuierte. Der Bruder kauerte vor ihnen am Boden und krümmte sich unter der Qual. Als Zapata die entsetzten Augen Pomonás auf sich ruhen fühlte, schaute er zu ihr. Aber noch ehe sich ihre Blicke kreuzen konnten, drehte seine Schwester, deren Haar glatt wie eine schwarzglänzende Kappe am Kopf anlag, ihr Gesicht wieder weg. Zapatas Blick kehrte zu Chiquel zurück. Er empfand kein Mitleid mit dem Bruder, sondern erschrak einzig vor der Erbarmungslosigkeit, mit der Landru den Ungehorsam eines seiner »Söhne« strafte. Unser gestrenger Vater, dachte Zapata – und wünschte sich, dieser Mann wäre nicht heimgekehrt. Voller Staunen sah und hörte Zapata, wie sich die Frau, die Landru mitgebracht hatte, für Chiquel einsetzte. Wie sie das Kind, das sie nie geboren hatte, verteidigte. Beim nächsten Mal, als er zu Pomoná schaute, hielt sie seinem Blick stand. Tu etwas! flehten ihre Augen. Wir können das nicht zulassen! Die Antwort, die er ihr ebenso stumm gab, erstickte ihren Wunsch von Rebellion. Er hat uns nicht nur gezeugt – wir gehören ihm!
Aber noch während er dies Pomoná zu verstehen gab, überkam ihn ein Gefühl, das ihm fast den Boden unter den Füßen entzog. Die Erkenntnis, daß er selbst schon der nächste sein könnte, über den sich seines Vaters Jähzorn und Strafe entluden …
* Der Kampf, den Lilith herausgefordert hatte, begann geradezu unspektakulär. Nichts wies auf das Ausmaß hin, das er erreichen sollte, und niemand ahnte sein dramatisches Ende. Landru stieß Lilith beiseite, und er wandte nicht einmal besondere Kraft dazu auf. Sie fand mit einem unsicheren Schritt ihr Gleichgewicht wieder, während Landru an ihr vorübertrat, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. Er beugte sich vornüber, um Chiquel zu packen und hochzuzerren. Doch seine Hand erreichte den anderen nie. Ansatzlos kam Liliths Tritt, ihr hochgerissener Fuß traf Landru im Nacken und warf ihn gegen die Mauer des Heiligtums. Aufstöhnend, eher vor Überraschung denn vor Schmerz, prallte der Vampir dagegen, doch er stemmte sich noch in der Bewegung von der Wand ab und kreiselte geduckt herum. Seine Züge formten sich zur Fratze eines Monstrums, und unter seiner Haut schien eine unheilige Kraft Wogen zu schlagen. Sie speiste seine Muskeln, aber sie verlieh Landru mehr als bloße Stärke. Sein Körper mutierte. Zweien seiner Angriffe entging Lilith, mehr reflexhaft als bewußt. Im dritten Vorstoß bekam Landru sie zu packen; seine rechte Klaue grub sich tief in ihren Arm und hielt sie fest. Der Schmerz war mörderisch! Aber er vermochte Lilith nicht zu töten; natürlich nicht. Jedoch – weckte er etwas in ihr … Lilith vernahm eine lautlose Stimme direkt in ihrem Kopf.
Laß dich gehen! Reiß alle Barrieren in dir nieder – und laß fließen, was in dir steckt! Lilith war irritiert. Für einen Moment. Dann folgte der Stimme. Weit reckte Landru die krallenbewehrten Finger seiner Linken in die Höhe, ließ sie wie Dolche niederfahren – und fünf Klingen zugleich spießten Lilith förmlich auf! Der Schmerz war – – weniger schlimm, als Lilith es erwartet hatte. Fast spürte sie ihn nicht. Etwas schien ihn aufzuhalten und zu absorbieren, lange bevor er ihr wirklich zu Bewußtsein kommen konnte, und so nahm sie nichts als ein vages Echo davon wahr. Nicht anders war es, als Landru sie hochriß und von sich schleuderte. Lilith flog, bis Mauerwerk sie bremste. Sie hörte ihre Knochen brechen – und empfand nichts dabei. Scheinbar zusammenhangslos kam ihr Moskowitz in den Sinn, der Fotoreporter, den sie in Sydney getroffen hatte – und den Landru auf grausame Weise getötet hatte, indem er Moskowitz’ Krankheit beschleunigt hatte: In widernatürlichem Tempo wuchernde Krebsmetastasen hatten seinen Leib verwüstet – – und etwas ganz Ähnliches schien nun plötzlich in Liliths Körper vonstatten zu gehen! Fast meinte sie, es sehen zu können; als richte ihr Blick sich in dieser Sekunde nach innen. Aber was da geschah, dauerte weniger als diese eine Sekunde. Ein einziges Etwas, eine Art »schwarze Zelle«, teilte sich in unvorstellbarer Geschwindigkeit, und jede neu entstandene gebar wieder neue, die Liliths Organe, Muskeln, Fleisch und Nerven überwucherten, bis sie schließlich selbst das Terrain ihres Denkens erobert hatten. Und von diesem Moment an gab es Lilith Eden nicht mehr …
*
Landru sah – und wußte. Sie ist eine Ausgeburt der Hölle! Und ich habe sie dazu gemacht … Schwärze hatte das Weiß in Liliths Augen und das Meergrün ihrer Iris verschlungen, die Linien ihres Gesichtes hatten sich verhärtet, wirkten wie mit Messern bis auf Fleisch und Knochen nachgezogen. Brüllend wie ein Gigant aus der Urzeit stürzte sie sich auf den Kelchhüter! Landru ahnte den Grund für Liliths Verwandlung. Er roch förmlich die Ausdünstung des Bösen, die von ihr ausging. Gabriels finstere Macht! Denn er selbst hatte sie ihr im Schlaf eingepflanzt. * Irgendwie hatte das Hurenbalg sie sich nun doch nutzbar gemacht – oder hatte die Macht ihrerseits von Lilith Besitz ergriffen? Ihre ersten ungestümen Attacken ließ Landru über sich ergehen. Er nutzte sie, um Distanz zwischen sich und Lilith zu bringen, dabei warf er noch einen flüchtigen Blick in die Runde. Seine Kinder und deren Priester hatten sich bis zum Rand der Pyramidenplattform zurückgezogen und bildeten so eine Art Arena, in der ihre »Eltern« einen gnadenlosen Kampf ausfochten. Einen Kampf, den Landru gewinnen mußte. Wenn er hier und jetzt unterlag, war alles vergebens gewesen und seine Autorität verloren. In Liliths Hieben steckte die Kraft von hundert Männern. Die Treffer genügten, Landrus Haut zu zerreißen und die Knochen darunter zu brechen. Wie ein zweitklassiger Boxer im Ring ging der Vampir wieder und wieder zu Boden. Dann endlich gelang es ihm, seine Hütermagie einzusetzen. Für den Bruchteil einer Sekunde flammte purpurfarbenes Licht auf, raste wie ein Blitz hinüber zum Heiligtum – und ließ das Mauerwerk dort explodieren! Ein Trümmerregen ging auf Lilith nieder. Doch als läge unsichtbar eine schützende Hand über ihr, wurde sie von keinem größerem *siehe VAMPIRA T31: »Tempel der Unsterblichen«
Fragment getroffen, und als sie aus dem Staubgewölk hervortrat, erschien sie Landru mehr denn zuvor wie eine leibhaftige Dämonin. Mit seinem gescheiterten Versuch schien er sie indes auf eine neue Idee gebracht zu haben. Ein einziger Schritt trug Lilith hin zum Richtblock aus schwarzem Fels. In einem unvorstellbaren Kraftakt riß Lilith den Opferstein in die Höhe! Um ihn noch in der Bewegung auf Landru niederrasen zu lassen! Landru erstarrte angesichts dieser Bedrohung. Der Fels würde ihn zerschmettern, und solchen Verletzungen mochte nicht einmal seine Heilkraft gewachsen sein …! Als der Opferblock aufschlug, zersplitterte er in unzählige Trümmer. Unmittelbar – – neben Landru. Lilith hatte die Bewegung nicht zu Ende führen können. Reglos lag sie Landru zu Füßen, mit ausgestreckten Gliedern. Und über ihr ragte statuenhaft eine Gestalt auf. »Pomoná …«, flüsterte Landru, und vielleicht zum ersten Mal überhaupt lag etwas wie Dankbarkeit in seiner Stimme. Die Vampirin hielt einen Mauerbrocken in der Hand. Feuchte Schwärze glänzte darauf. Liliths Blut. Landru wollte sich aufrichten, doch seine zerschlagenen Glieder konnten sein Gewicht noch nicht wieder tragen. Sein Körper würde einige Zeit benötigen, um sich zu regenerieren. Pomoná machte Anstalten, ihm auf die Beine zu helfen, doch sein Blick ließ sie innehalten und schließlich zurückweichen. Mit Tonlosigkeit kaschierte Landru Erschöpfung und Mißmut in seiner Stimme. »Schafft mir –«, er sah zu Lilith hin, »– dieses Weib aus den Augen!«
* Ein Leben frei von Fehlern gibt es nicht. Und eines, das nach Jahrhunderten zählte, mußte reich daran sein. Trotzdem war Landru nie willens gewesen, sich auch nur einen einzigen seiner Fehler einzugestehen. Diesmal jedoch kam er nicht umhin. Denn was er getan hatte, war einer der größten Fehler seines Lebens gewesen. Immerhin hätte er Landru ums Haar dasselbe gekostet. Und so drängte es ihn nun um so mehr, diesen Fehler zu korrigieren. Die nächtliche Sonne war jenseits der Horizonte beider Welten – der echten wie der falschen – versunken, als Landru das Gemach aufsuchte, in das Lilith gebracht worden war. Draußen vor den Fensteröffnungen hing die Nacht wie ein Vorhang aus schwarzem Samt, so dicht und schwer, daß selbst Landrus Blick ihn kaum zu teilen vermochte. In dem weitläufigen Raum glosten kleine Inseln rötlichen Lichtes. Sie kamen von niedrig brennenden Flämmchen, die in ölgefüllten Schalen schwammen. Ihr flackernder Widerschein warf geheimnisvolle Schatten an die Wände, und er hauchte den Zügen Lilith Edens eine Lebendigkeit ein, die ihrem Leib zu dieser Stunde spottete. Der Mißbrauch, den die dunkle Macht mit ihrem Körper getrieben hatte, und der Kampf selbst hatten ihre eigene Kraft verzehrt. Hätte Pomoná mit ihrem Eingreifen in allerletzter Sekunde dem Ganzen nicht ein Ende bereitet, würden die dunklen Energien Lilith womöglich überhaupt nicht mehr aus ihren Fängen gelassen haben. Wie tot lag sie nun auf der großen Bettstatt, deren Bezug und Polster farbenfroh mit allerlei Figuren und Formen bestickt waren. Die Härte war aus den Linien ihres Gesichtes gewichen, doch noch immer gruben sie sich tief in ihre Haut und ließen Lilith gealtert erscheinen. Ihrer Schönheit tat dies aber keinen Abbruch, und Landru konnte
sich ihrer Anmut in diesen zeitlosen Augenblicken, da er starr und stumm auf Lilith niedersah, kaum entziehen. Eine geradezu rätselhafte Anziehung war es, die von ihr ausging, und in dieser Sekunde war Landru sich gewiß, daß nichts und niemand je diesen besonderen Zauber von Lilith würde nehmen können. Er selbst sah sich nicht imstande, sich davon freizumachen – Ein Schauer unirdischer Kälte durchlief Landru. War darin am Ende der Grund zu sehen, weshalb er das Hurenbalg nicht kurzerhand mit dem Tod bestraft hatte für alles, was sie ihm und der Alten Rasse je angetan hatte? Wollte er Lilith nicht töten, weil – Nein! Landru war sich des Grundes gewiß (oder wollte es zumindest doch sein), der ihn zu seiner Vorgehensweise bewegt hatte! Den Tod allein erachtete er als Strafe zu gering für Liliths Vergehen. Er wollte sie mit einem Leben geißeln, das allem zuwiderlief, was ihr einmal wichtig und womöglich heilig gewesen war. Und er wollte nicht allein Lilith damit treffen … Nicht einmal Landru wußte, ob es etwas wie eine Art von Fortleben nach dem endgültigen Tode gab. Aber wenn es sich so verhielt, dann wollte Landru mit dem, was er Lilith antat, auch eine Tote noch im Tode foltern – – Creanna. Die Hure, die ihm einst Geliebte gewesen war. Liliths Mutter. Sollte sie sehen, was sie mit ihrem Verrat an ihrem eigenen Volk angerichtet hatte, und das Leid ihres elenden Balges teilen! Bis in alle Ewigkeit. Ein Lächeln, das seine Augen wie Eis berührte und ihren Blick gefrieren ließ, rann zäh über Landrus Gesicht. Dann beugte er sich vor, über Lilith, doch er verharrte, noch ehe seine Hände sie berührten. Er hatte auf seinem Weg in ihr Gemach, nachdem er sich von dem Kampf erholt und seine Heilkraft hatte wirksam werden lassen,
überlegt, in welcher Weise er die dunkle Macht wieder von Lilith nehmen konnte. Es war keine leichte Aufgabe, denn letztlich stand er vor keiner geringeren Herausforderung, als Lilith den Teufel auszutreiben. Oh, er stand nicht ungewappnet da. Immerhin trug er die Magie eines Hüters in sich, und er hielt sie der des Leibhaftigen keineswegs für unterlegen. Sie wirkte nur auf andere Weise. Beide Kräfte mochten ihre besonderen Stärken ebenso wie ihre ganz eigenen Unzulänglichkeiten haben. Und das war der Punkt, an dem Landru ansetzen wollte: Er mußte die Schwachstelle in der Macht des Widersachers finden, um mit seiner eigenen Magie dort anzusetzen. Einmal mehr verwünschte er Gabriels Plan, Lilith mit dessen Kraft zu infizieren. Sicher, sie hatte letztlich ihr eigenes Blut geschwärzt und die Notwendigkeit aufgehoben, schwarzes Blut zu trinken – wie hätte er ihr sonst vorgaukeln können, sie sei eine vollwertige Vampirin? Im nachhinein aber schien es Landru, als habe Gabriel mit dieser »Umprogrammierung« noch andere Ziele verfolgt. Tatsächlich mochte der Knabe, der längst kein Kind mehr war, durchaus gewußt haben, was er damit heraufbeschwor, als er Lilith an dieser Macht teilhaben ließ. Wie auch immer – Landru hatte leidvoll erfahren müssen, daß er seine Feindin nicht etwa in die Knie gezwungen, sondern ihr vielmehr zu einem gefährlichem Machtpotential verholfen hatte. Aber noch war es nicht zu spät. Landru wollte versuchen, die fremde Macht aus Lilith herausfiltern. Ein Erfolg war ihm keineswegs gewiß; zu fremd war das, womit er es hier zu tun hatte. Er streckte die Hände über Liliths Körper und spreizte die Finger, krümmte sie leicht. In dieser Haltung verhielt er wie krampfhaft erstarrt. Nur unter seiner Haut regte sich etwas, ganz anders jedoch als das Spiel von Muskeln. Eher, als krieche etwas von zäher Konsis-
tenz dort einher. Die unheimlichen Bewegungen wanderten Landrus Arme entlang, seinen Händen zu, in deren Netz aus Sehnen und Adern sie sich dann verliefen. Schließlich schien es, als ringelte sich Gewürm unter der wächsernen Flaut von Handrücken und Fingern. Vager Purpurschein umfloß Landrus Hände, als trage er Handschuhe aus leuchtender Gaze. Langsam, als müsse er gegen unsichtbaren Widerstand angehen, senkte Landru endlich die Hände. Der schwache Purpurschimmer berührte Liliths nackte Haut. Ihr symbiontisches Gewand lag nach wie vor als dünner Reif um ihre Hüften, durch die Ereignisse vielleicht ähnlich angeschlagen wie seine Trägerin und zu keiner Regung fähig. Der Schein netzte Liliths Haut wie matt phosphoreszierende Flüssigkeit – und sickerte durch die Poren tiefer und tiefer in ihren Körper. Schließlich schien es, als leuchte Lilith aus sich heraus. Ihre Haut wirkte mit einemmal transparent und erlaubte Einblicke auf Organe und Knochen und dunkle Flüsse, deren Quell das träge pumpende Herz in Liliths Brust war. Aber Landru sah mehr als das, erkannte Dinge, die nicht der natürlichen Struktur eines Körpers zugehörten; Dinge wie Metastasen einer gräßlichen Krankheit, die dem Purpurlicht widerstanden und mithin von undurchdringlichem Schwarz waren. Zeckenhaft nisteten sie in Organen und Fleisch, Nerven und Sehnen, Adern und Muskeln überall in Liliths Körper. Diese Dinge waren es, die Landru auszumerzen hatte. Kraft seiner Gedanken konzentrierte er das Leuchten reinster Hütermagie, das Lilith ausfüllte, ließ es sich ballen, bis es einen grellstrahlenden Punkt ausmachte. Den wiederum brachte Landru in die Nähe von Liliths Herz, setzte ihn dort inmitten der gewucherten Schwärze an – – und ließ ihn detonieren! Die Wirkung war faszinierend. Und gewaltig!
Die schwarzen Metastasen im unmittelbaren Umkreis zerstoben. Und die Wirkung setzte sich fort wie eine Kettenreaktion. In alle Richtungen raste die zerstörerische Magie und vernichtete, was nicht mit ihr im Einklang stand. Liliths Körper zuckte, als würden ihr Stromstöße verabreicht. Doch drang kein Laut über ihre Lippen, und nicht einmal die Lider öffneten sich. Binnen weniger Sekunden war es vorbei, war das letzte lichtschluckende Etwas in Lilith getilgt, und sie lag reglos wie zuvor auf dem Lager. Landru befahl das magische Leuchten zurück. Wie glimmender Schweiß trat es aus Liliths Poren, floß über ihre Haut Landrus Händen zu und wob sie wieder in jenes vage Licht, ehe es darin verschwand. Der einstige Hüter richtete sich auf, zufrieden und erleichtert. Aber zugleich auch am Rande der Erschöpfung wankend. Er wußte, daß das Glück ihm hold gewesen war; daß er den Erfolg nicht allein für sich verbuchen durfte. Er hatte ein Spiel unter riskantem Einsatz getrieben, und ebensogut hätte er letztlich als Verlierer dastehen können. Daß seine Magie über die dunkle Kraft in Lilith obsiegt hatte, lag wohl vor allem daran, daß es sich nur um einen Abglanz von Gabriels wahrer Macht gehandelt hatte. Müde wandte Landru sich ab und ging davon. Er hoffte, daß ihm niemand begegnen würde auf dem Weg in seine Gemächer. Denn er fühlte und bewegte sich wie ein Tausendjähriger.
* Als Lilith erwachte, kroch schon der graue Dämmerschein, der in Mayab als Tageslicht galt, durch die Fenster und verzehrte die Kraft der Farben, die hier wie überall in geradezu verschwenderischem
Maße Verwendung gefunden hatten. Lilith hatte lediglich die Lider bewegt. Ansonsten lag sie so da reglos wie zuvor. Sie fühlte sich leer, ausgebrannt. Als hätte tatsächlich ein Feuer in ihr gewütet, dessen explosive Hitze noch anhielt. Ihre Gedanken schienen ein Fraß jener Flammen geworden zu sein. Zwischen ihren Schläfen herrschte eine Art Vakuum, und Lilith meinte, ihr Schädelknochen müßte jeden Moment darunter implodieren. Mühsam zwang sie sich zum Denken, um die Leere in ihrem Kopf zu füllen. Es gelang ihr leidlich, mit schlichtesten Fragen, auf die sie sich zu antworten zwang. Wer bist du? »Lilith Eden.« (Ach ja? flüsterte etwas Fremdes aus dem Nichts dazwischen. Bist du dir da so sicher?) Wo bist du? »In der Stadt Mayab.« Wie bist du hierher gekommen? »Durch Landru.« Wer ist Landru? »Mein Gefährte und –« Und? »– der Vater meiner Kinder …« Kinder? Du bist Mutter? »Ja … n-nein … ICH WEISS ES NICHT!« Ihr eigener Schrei hallte hinter Liliths Stirn wider; machtvoll wie Donner füllte er die Leere dort mit Wissen. Mit einemmal wußte Lilith alles, was geschehen war. Wußte, was sich oben auf der Tempelpyramide ereignet hatte, entsann sich ihres Versuchs, Chiquel beizustehen – und sie erinnerte sich des Kampfes mit Landru. Nur an den Kampf jedoch – nicht an dessen Ende. Weil vorher –
Irgend etwas war geschehen. Hatte ihre Wahrnehmung ausgelöscht. Als – – sie Landru getötet hatte? »Nein …« Der Laut klang kläglich, und er kroch Lilith kraftlos über die Lippen. Sie hatte Landru nicht töten wollen, gleich, was er getan hatte. Sie konnte niemanden töten! Und doch – Die Bilder des Kampfes standen ihr in geradezu grausamer Deutlichkeit vor Augen. Und obwohl Lilith sich selbst darin sah, konnte sie nicht glauben, daß dies alles tatsächlich geschehen war. Sie war weder Mörderin noch Bestie! (Wieder dieses tonlose, hämische Flüstern von nirgendwoher: Ach? Wie willst du das wissen? Nichts weißt du, gar nichts – über dich!) Lilith ignorierte es – oder versuchte es wenigstens – und führte den eigenen Gedanken fort: Was war nur in sie gefahren, das sie zu solcher Raserei getrieben und in einen Blutrausch gestürzt hatte? Was immer es gewesen war – es war fort, verschwunden. Ausgelöscht. Weggebrannt? Langsam, als hätte sie an ihrem eigenen Gewicht zu schwer zu tragen, richtete Lilith sich auf dem Bett in eine sitzende Position auf. So verharrte sie dann, zum einen, um Kraft zu sammeln für weitere Anstrengungen, zum anderen, weil sie nachdenken wollte. Darüber, was nun zu tun sei. Einem ersten Gedanken folgend wollte sie nach Landru suchen. Diese Idee aber verwarf sie gleich wieder. Es schien ihr wenig ratsam, Landru gerade jetzt gegenüberzutreten. Sicher war er nicht sonderlich gut auf sie zu sprechen, und außerdem – Lilith fuhr sich mit der Hand massierend über die Kehle, ohne das inwendige Kratzen und Brennen dadurch vertreiben zu können. Im Gegenteil schien es mit jeder Sekunde noch zuzunehmen. Was immer da in ihr gewütet hatte, es hatte nicht nur dieses erschreckende Etwas aus ihr getilgt, sondern zugleich ein anderes Et-
was in ihr geweckt. Eines, das Lilith kaum minder beunruhigte, wenn auch auf andere Weise. Ein Brand fraß noch immer in ihr. Ein ganz besonderer. Durst! Lilith wußte, wie sie ihn stillen konnte. Und wo. Wie zufällig fiel ihr Blick aus einem der Fenster. Mauerwerk schimmerte draußen durch kraftloses Grün, und wenn sie angestrengt lauschte, konnte Lilith die Laute des Lebens dort vernehmen. Die Stimmen der Menschen, die zu einem Leben in Mayab verdammt waren. Lilith ging, wenn auch wehen Herzens, um Mayab aufzusuchen. Und die Menschen dort.
* Mit zwei Fingern seiner rechten Hand strich Bonampak den Rest der zinnoberroten Paste aus dem Tonschälchen. Dann wandte er sich wieder seiner Frau Selva zu, die neben ihm auf der schlichten Lagerstatt ruhte. Ihr nackter Bauch wölbte sich auf wie ein kleiner Hügel, in dem just in dem Moment etwas zu rumoren begann, als Bonampak die Farbe auf die Haut auftrug und das kunstvolle Bild aus Linien, Glyphen und stilisierten Figuren vollendete. Nur an ganz wenigen Stellen schimmerte noch der Gilbton durch, den die Haut aller Einwohner Mayabs von Natur aus zeigte. Vorsichtig, um die Zeichnungen nicht zu verwischen, strich Bonampak dann mit der flachen Hand über die Rundung, und was sich darunter bewegte, reagierte auf die Berührung, als nähme es auf diesem Wege schon Kontakt zur Welt draußen auf, noch es ihr trübes Licht zum ersten Mal erblickte. »Es ist bald soweit«, sagte Selva leise. Ihr Lächeln hauchte ihrer Gesichtszeichnung flüchtiges Leben ein. »Bald?« entgegnete Bonampak. »Wie bald?«
Selva lächelte wieder, schmerzlicher diesmal und traurig. Wie jede Frau Mayabs lächelte, wenn neues Leben bereit war, ihrem Schoß zu entschlüpfen. »Heute noch.« Und als hätte es nur dieses Stichwortes bedurft, verzog Selva das Gesicht in plötzlichem Schmerz, weil ihr Leib wie von Krämpfen gepackt wurde. Sekunden verstrichen, dann verging die Wehe, und Selva entspannte sich. Feine Schweißperlen waren ihr auf die Stirn getreten und wuschen nun als Rinnsale blasse Spuren in ihre Gesichtsbemalung. Bonampak erhob sich und trat ans Fenster der Hütte. Einmal mehr verfluchte er sich dafür, daß er die Sichtluke dereinst so angelegt hatte, daß der Blick geradewegs auf den Tempelbezirk und den Palast der Tyrannen fiel. Zu jeder Tages- und Nachtzeit fühlte er sich von dort her angestarrt und beobachtet. Als würden sie zu jeder Zeit hinter den ewig dunklen Palastfenstern lauern, um ihr armseliges Volk, das ihnen doch nicht mehr als Vieh galt, im Auge zu behalten. Dabei kannten sie doch ganz andere Mittel zur steten Kontrolle … »Ich wünschte, es gäbe einen Weg, unserem Kind ein lebenswertes Dasein zu ermöglichen. Ich würde ihn gehen und jeden Preis dafür auf mich nehmen«, sagte Bonampak leise und mehr zu sich selbst als zu Selva. Sie aber hörte ihn trotzdem und seufzte vernehmlich. »Flüchte dich nicht in Träume«, erwiderte sie, ganz im Ton der ihr eigenen Sanftmut, die kaum zu erschüttern war. »Was nützt es schon, über Dinge nachzusinnen, die uns auf ewig unerreichbar bleiben – wie sie es für unsere Vorväter waren und unsere Nachkommen immer sein werden?« Bonampak schwieg eine Weile, dann wandte er sich nach Selva um. Sein Blick aber ging über sie hinweg, weil er es nicht fertigbrachte, sie anzusehen bei dem, was er als nächstes sagte, und seine Stimme klang bitter: »Manchmal glaube ich, daß nur der Tod für
einen Bürger Mayabs erstrebenswert ist. Und –«, Selvas Blick meidend, richtete er seine Augen tiefer, auf ihren Bauch hinab, »– daß es eine Gnade für jedes Neugeborene wäre, würde man ihm den Umweg übers Leben zum Tod ersparen.« Atemlose Stille hielt für Sekunden Einzug in die Hütte. Selva brauchte eine Weile, um die Bedeutung von Bonampaks Worten zu erfassen, doch selbst dann war sie noch nicht sofort in der Lage, ihm zu antworten. Scharf sog sie schließlich die Luft ein und stieß entgeistert hervor: »Bonampak! Wie kannst du nur so reden? Was du da sagst, ist grausamer als alles, was die Tyrannen unserem Volk je angetan haben!« Er lächelte schwach, schwieg aber. »Und überdies«, fuhr Selva fort, schon weniger aufgebracht und eher traurig nun, »würden sie dich mit Schlimmerem als dem Tod bestrafen, wenn sie davon erführen – und das würden sie. Sie wissen um jede bevorstehende Geburt.« Bonampak winkte müde ab. »Schon gut. Es war nur so dahingeredet.« Er bereute es, seine geheimsten Gedanken ausgesprochen zu haben, und so wechselte er nun eilends das Thema. Wieder richtete er den Blick aus der Fensterluke. »Ich frage mich«, begann er nach einer weiteren Zeit des Schweigens, »was es mit diesem Paar auf sich haben mag, das gestern mit den Tyrannen in Mayab eintraf.« Freilich hatte er mit Selva schon über die beiden Fremden gesprochen, schließlich waren sie wie alle Einwohner draußen gewesen, um den Gottkönigen und ihren geheimnisvollen Besuchern die Ehre zu erweisen. Aber niemand wußte, wer die beiden waren. Nur Gerüchte kursierten – über die Maßen unerfreuliche Geschichten, die aus den Reihen der Priesterschaft gedrungen waren. Denn diesen Gerüchten zufolge handelte es sich bei den Fremden um geradezu legendäre Persönlichkeiten. Und es stand zu befürchten, daß sie die
Herrscher Mayabs in jeder Hinsicht übertrafen – sowohl an Macht als auch an Grausamkeit. Einen Vorgeschmack darauf hatte die vergangene Nacht geboten. Zwar hatte Bonampak nicht im Detail mitbekommen, was droben auf der Tempelpyramide geschehen war, aber selbst seine lückenhafte Beobachtung ließ nur den Schluß zu, daß es etwas Urgewaltiges und Grauenhaftes gewesen sein mußte. »Die Frau ist sehr schön«, bemerkte Selva von ihrem Lager her. Ihre Stimme klang gepreßt, und ein rascher Blick zu ihr hin bewies Bonampak, daß eine neue Wehe gekommen war. Schnell trat er zu ihr und kniete nieder. Seine Hände faßten die ihren. Selva entspannte sich, atmete tief und ruhig. »Geht es wieder?« fragte er. Sie nickte und kam dann wieder auf das fremde Paar zu sprechen: »Ich kann mir nicht vorstellen, daß von ihr eine Gefahr ausgeht. Sie wirkte so – unschuldig.« Bonampak zuckte die Schultern, sein Tonfall klang verächtlich: »Die Maske mag täuschen. Sieh dir doch die Tyrannen an – sehen sie nicht samt und sonders aus, als wären sie zum Leben erwachte Skulpturen, von der Hand des größten Meisters gefertigt, geradezu unglaublich schön? Und tatsächlich sind sie doch nur Ungeheuer, wie es sie grausamer nirgendwo geben kann.« »Woher willst du das wissen?« fragte Selva. »Vielleicht sind die Welt und das Leben jenseits der Grenze um Mayab noch schlimmer als hier? Wer vermag das schon zu sagen?« Bonampak schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Weshalb sonst sollte uns der Weg dorthin verwehrt sein?« »Zu unserer Sicherheit vielleicht«, meinte Selva. »Wer weiß – womöglich gibt es jenseits der Wälle gar nichts Erstrebenswertes? Vielleicht ist –« »Hör auf!« ereiferte sich Bonampak. »Wie kannst du so etwas auch nur denken? Du untergräbst damit die einzige Hoffnung, die unser
Volk seit Jahrhunderten bewegt und das Leben in Mayab erträglich macht – daß es draußen besser ist, und daß sich uns irgendwann der Weg dorthin öffnet, in ein würdigeres Dasein!« Selva blickte einen Moment lang betroffen drein, dann brachte sie ein kleines Lächeln zustande. »Verzeih mir«, sagte sie, »aber –« Eine weitere Wehe ließ ihre Worte in Stöhnen ersticken. Ihre Finger krampften sich um Bonampaks Hände, ihre Nägel drückten ihm in Haut und Fleisch, so daß er selbst fast aufstöhnte. Aber er zwang sich zur Beherrschung – was war dieser lächerlich geringe Schmerz schon im Vergleich zu dem Selvas? »Bleib bei mir«, flüsterte sie nach einer Weile, »und steh mir bei.« »Natürlich«, erwiderte er. »Ich werde dich und unser Kind behüten. Niemand wird es uns fortnehmen –« Er biß sich auf die Zunge, um nicht auszusprechen, was er noch hatte sagen wollen. Nicht jetzt, nicht in dieser Situation, da ihnen ein neues Kind geschenkt wurde. Aber Selva erriet oder teilte gar seine Gedanken. »– wie schon einmal?« beendete sie Bonampaks Satz. Er nickte stumm, gallebitteren Geschmack im Mund und ein Brennen in der Brust, während er an das kleine Mädchen dachte, das sein Leben nur eine Handvoll Jahre mit ihnen hatte teilen dürfen, ehe es von den Priestern auserwählt und zu den Tyrannen gebracht worden war, um – Bonampak kappte den Gedankengang in aller Hast, bevor er dessen leidvolles Ende erreicht hatte. Er löste die rechte Hand aus Selvas Griff und streichelte sanft, unendlich zärtlich die Rundung ihres Bauches, als streiche er einem Kind übers Köpfchen. »Diesmal nicht«, sagte er entschlossen. Seine Worte kamen einem Schwur gleich. Aber menschliche Schwüre galten wenig an einem Ort wie Mayab, wo Wesen das Sagen hatten, denen alle Menschlichkeit fremd war.
* Landru hatte ihr Mayab als Heimat angepriesen. Aber Lilith hatte sich nie zuvor weniger heimisch gefühlt. Nachdem sie den Palast verlassen hatte und der Tempelbezirk mit seinen beeindruckenden Bauten hinter ihr zurückgeblieben war, bewegte sie sich zwischen den schlichten Häusern und Hütten einher, und sie kam sich vor, als würde ein übler Gestank sie umgeben, oder etwas sehr viel Schlimmeres. Wohin sie sich auch wandte, wichen die Menschen vor ihr zurück, suchten Schutz in ihren Behausungen, deren Türen sie schlossen und verriegelten. Nur wenige blieben draußen, aber auch sie schufen Distanz zwischen sich und Lilith. Gemein waren ihnen allen aber eines, und sie verströmten es gleichfalls wie einen weittragenden Geruch: Angst. Lilith konnte die Furcht der Menschen förmlich riechen. Eine unangenehme Empfindung. Viel schlimmer jedoch war, was dieses Gefühl in seinem Ursprung bedeutete: Die Menschen Mayabs fürchteten Lilith, und unter dieser Furcht verborgen lag Abscheu. Wie sollte sie sich je an diesem Ort heimisch fühlen, wenn ihr nur Angst und kaum verhohlener Haß entgegengebracht wurden? War es schon immer so? fragte sie sich, nach Erinnerung suchend. Verstand ich es früher nur besser, damit zu leben? Wieder einmal erreichten ihre Gedanken einen Punkt, an dem Zweifel sich zu einem Hindernis auftürmten und ihren Fluß stocken ließen. Wie konnte es angehen, daß sie restlos alles vergessen hatte? Es schien ihr unvorstellbar, daß sie je einem Wesen entsprochen hatte, das sich an einem Ort wie Mayab wohlfühlen konnte. Er war so anders als alles, was Lilith draußen in der anderen Welt gesehen und erlebt hatte in den Wochen, die zwischen ihrem Erwachen in jenem
italienischen Kloster und ihrer Ankunft hier vergangen waren. Zwar hatte sie sich auch in dieser Zeit nirgends willkommen gefühlt, aber es war doch überall eine Art von Wärme zu spüren gewesen, die jedem Ort etwas eingehaucht hatte, das ihn in gewisser Weise lebenswert machte. Hier aber, in Mayab, vermißte sie diesen Hauch. Alles schien ihr kalt und trostlos, und es lag nicht allein an der nächtlichen Sonne, deren Licht gleichsam ausgesperrt schien. Es waren die Menschen selbst, die nicht die mindeste Lebensfreude versprühten. Wie im Leben gefangene Tote erschienen sie Lilith, die ihr Dasein nicht lebten, sondern wie eine Strafe verbüßten. Mayab war für Lilith nach wie vor ein Ort der Rätsel und Mysterien, an dem jeder Blick eine ungelöste Frage bedeutete. Und es war endlich an der Zeit, daß sie ein paar Antworten suchte und fand. »Warum nicht gleich hier?« fragte sie sich halblaut. Ihre Stimme klang rauh, und das Kratzen und Brennen im Hals erinnerte sie unvermittelt daran, weshalb sie eigentlich den Palast verlassen hatte. Nun, vielleicht ließ sich das Nützliche mit dem Unvermeidlichen verbinden … »He, du da!« Lilith hob die Hand und nahm einen Mann ins Visier, der sich gerade abwenden wollte, als er bemerkte, daß Lilith ihn ansah. Sein Alter war kaum zu schätzen; die Farbe in seinem Gesicht kaschierte seine Züge. Er hielt in der Bewegung inne wie erstarrt. Lilith trat zu ihm, nicht zu schnell, um ihn nicht noch mehr zu verschrecken, und ein freundliches Lächeln auf den Lippen. Das jedoch schien ihn eher noch zu verunsichern als zu beruhigen, denn sein Blick begann zu flackern. »Wovor fürchtest du dich?« fragte Lilith unverblümt. Aus der Nähe vermochte sie das Gesicht des Mannes deutlicher zu sehen. Die Linien darin waren tief, die Augen müde und trüb.
»Wovor ich mich fürchte?« echote er. Lilith nickte. »Vor –«, er zögerte, schluckte so heftig, daß der Kehlkopf in seinem mageren Hals schier tanzte. Dabei wanderte sein Blick an ihrer Gestalt hinab und wieder zurück. Der Ausdruck seiner Augen verriet noch immer Angst, dazu jedoch hatte sich noch etwas gesellt: etwas wie mühsam beherrschtes Begehren oder zumindest doch Bewunderung. Beiläufig befahl Lilith ihrem Symbionten, sie weniger figurbetont zu kleiden. Für den alten Mann mußte es aussehen, als fahre ein Wind unter ihr Gewand und bausche den Stoff auf. »Du brauchst keine Angst zu haben«, unternahm Lilith dabei einen Versuch, den Alten zu beruhigen. Eher unbewußt sah sie ihm fest in die Augen, und – – tatsächlich erlosch das Flackern darin allmählich, und die Haltung des Mannes erinnerte mit einemmal sehr viel weniger an die eines in die Enge getriebenen Tieres. »Nein«, sagte er lahm, »ich brauche mich nicht zu fürchten.« »Wie heißt du?« fragte Lilith. »Copán.« »Copán«, wiederholte sie, »beantworte mir ein paar Fragen.« »Natürlich«, nickte er, »wenn ich kann.« Lilith überlegte kurz. Womit sollte sie beginnen? »Ich –«, setzte sie dann an, doch sie verstummte abrupt, als ein Schrei, erst leise, dann anschwellend, zu ihnen her drang. Erschrocken sah Lilith in die Richtung, aus welcher der Schrei gekommen war. Copán dagegen wirkte regelrecht alarmiert. »Was geht da vor?« stieß Lilith hervor. Eine Hand legte sich auf ihren Arm, und als sie den Blick Copán zuwandte, sah sie, daß die Berührung ihn unendliche Überwindung kosten mußte. Ebenso wie die Worte, die er folgen ließ. »Ich flehe Euch an, Herrin«, bat er in bebendem Ton, und seine
Augen flackerten stärker als zuvor, »laßt sie. Fügt ihnen keinen neues Leid zu – nicht jetzt.« »Wovon sprichst du?« erwiderte Lilith verwundert. Unwillkürlich rückte sie einen Schritt von Copán ab. Seine Hand glitt kraftlos von ihrem Arm. »Selva«, sagte er mit flüchtigem Blick auf die Hütte, in der schon wieder ein Schrei laut wurde, zweifelsohne der einer Frau. »Sie gebiert ein Kind. Ich bitt’ Euch sehr – laßt es sie in Frieden tun.« Lilith sah von Copán zu jener Hütte hin, dann wieder auf den Alten. Der hob die Hand und zog den Kragen seines schlichten Gewandes von seinem Hals weg. Deutlich sah Lilith die beiden punktförmigen Male in der faltigen Haut. Sie erschauerte. »Mein Leben biet’ ich Euch, wenn Ihr nur der Hütte Bonampaks und Selvas fernbleibt«, sagte Copán. Unweigerlich fühlte Lilith Verlangen heiß in sich aufsteigen. Sie wollte es zurückdrängen oder wenigstens ignorieren. Wie gebannt stierte sie den Hals Copáns an. Fast gewaltsam riß sie sich schließlich los und wandte den Blick ab. »Vielleicht«, sagte sie, »braucht man Hilfe dort.« Ihr Blick traf wieder die Hütte, in der das Wehgeschrei nun kaum mehr abriß. Ohne ein weiteres Wort ging sie los, auf die Hütte zu. Die Worte Copáns, obwohl leise gesprochen, vernahm sie trotzdem noch. »Hilfe«, der Ton des Alten klang angewidert und angstbebend in einem, und er spie die Worte gleichsam aus, »kann man es wohl kaum nennen, was Ihr uns bietet – verdammte Tyrannen!« Und Lilith kam sich unter den Worten wie geprügelt vor.
* Nona stand vor einer absurden Glasfläche. Sie zierte eine der Wände ihrer Unterkunft und spiegelte das Gemach wider. Nur das Gemach.
Sacht berührte die Fingerspitze der Werwölfin die vermeintlich feste Oberfläche. Was wie geschliffenes Glas aussah, war keines. Aber was war es dann? Das Phänomen – zweifellos magischer Natur – beschäftigte sie, seit sie hier eingezogen war. Mit kaum geringerer Verwirrung als am ersten Tag ihres Aufenthalts beobachtete sie, wie dort, wo ihr Finger eingetaucht war, wellenartige Bewegung entstand und die Reflexion des Raumes verschwimmen ließ. Die Ringe pflanzten sich zu den Außenbereichen des Spiegels fort. Gleichzeitig war ein Prickeln wie von schwacher Elektrizität zu spüren, das Nona an den Moment erinnerte, als Landru in Paris ihre tödlichen Verletzungen mit seiner Hütermagie geheilt hatte. Der Strom, der sie dort durchflossen hatte, hatte sich artverwandt angefühlt … Sekundenlang behielt sie ihre Hand, wo sie war, und begann sogar, Linien in das »flüssige« Element zu malen – gleichermaßen fasziniert wie beunruhigt. »Störe ich?« Die Stimme war ihr nicht mehr gänzlich fremd. Dennoch gab sich Nona, in ihre Beschäftigung vertieft, die Blöße, zusammenzuzucken und herumzufahren. »Ich kann wieder gehen, wenn ich ungelegen komme«, bot der Besucher an, bei dem es sich nicht um Landru, sondern um eines von dessen … Kindern handelte. Nona hatte ihren Geliebten auf vielen Reisen begleitet und dabei zu vielen Kelchtaufen beigewohnt, um nicht zu wissen, was die Bezeichnung »Kind« in Bezug auf Vampire bedeutete. Auch Landru konnte Nachwuchs nicht mit seinem Sperma zeugen. Wie alle Angehörigen der Alten Rasse war der ehemalige Hüter unfruchtbar. Nur der Lilienkelch vermochte das dunkle Leben, das aus dem Tod geboren wurde, zu mehren. Zumindest hatte er dies früher ver-
mocht. Was aus diesem einzigartigen Instrument geworden war, wußte Nona nicht schlüssig, und seinen Andeutungen zufolge wußte nicht einmal Landru, ob je wieder eine Zeit anbrechen würde, da ein Hüter mit dem Unheiligtum auf Reisen gehen und die Alte Rasse einer neuen Blüte zuführen würde. »Du?« Sie erinnerte sich mühelos an den Namen des Eindringlings, obwohl sie ihm seit ihrer Ankunft nicht wieder begegnet war. Er war einer der Acht, die Landru vor Jahrhunderten mit den Insignien der Macht ausgestattet hatte, damit sie diese Stadt nach seinem Verlassen regieren konnten. Die Eltern dieser »Könige« waren längst zu Staub zerfallen. Ihre entfremdeten Kinder aber mochten noch in tausend Jahren leben, falls sie des Daseins, das sie fristen mußten, nicht eines Tages selbst überdrüssig wurden … Zapata erwiderte nichts auf ihren Ausruf, sondern trat selbstsicher näher. Im ganzen Palast gab es keine einzige verschlossene Tür – und offenbar auch keine Intimsphäre, die respektiert wurde. Zumindest nicht die meine, dachte Nona aufgebracht. »Ich könnte mir vorstellen«, sagte der fast gleichaltrige Vampir, dessen Schopf eine frappierende Ähnlichkeit mit Nonas Haarfarbe aufwies, »daß du dich langweilst. Deshalb wollte ich dir anbieten, den Rest des Tages mit mir zu verbringen – es sei denn, du hättest schon eine Verabredung …« »Was willst du?« reagierte Nona harsch. »Wie ich gerade sagte –« »Nein, was willst du wirklich?« unterbrach sie ihn. »Du bist für offene Worte – das gefällt mir.« »Ich hasse Schmeichler.« »Haß ist ein starkes Gefühl – und du bist eine starke Frau.« Zapata lächelte. »Auch wenn dies wieder nach Schmeichelei klingen mag, so
ist es doch die Wahrheit. Nur kann nicht jeder die Wahrheit vertragen.« Sie legte den Kopf schief, taxierte ihn noch schärfer und erklärte schließlich, ohne eine Miene zu verziehen: »Starke Frauen schon. Also: Was erhoffst du dir von gemeinsamen Stunden? Du solltest dich nicht überschätzen. Dein Vater und ich sind mehr als platonische Freunde, und wenn wir auch eine sehr offene Beziehung pflegen –« Diesmal unterbrach er sie. »Du gefällst mir – ich müßte lügen, wenn ich behauptete, es wäre nicht so. Ich finde dich anziehender als jede andere Frau, jedes andere Mädchen, das je das Licht der nächtlichen Sonne erblickte. Aber ist das ein Grund, keinen Umgang mit mir zu pflegen? Oder hat Vater es dir verboten? Seit du hier bist, hast du keinen Schritt mehr vor die Türen des Palastes gesetzt. Dabei gibt es so vieles, was auch dich zum Staunen bringen könnte. Diese Kultur hat Beachtliches vorzuweisen. Ich würde dich gern davon überzeugen.« Nona blickte sekundenlang an ihm vorbei – geradewegs ins Nichts. Danach hätte sie selbst nicht mehr sagen können, woran sie gerade gedacht hatte. »Warum liegt dir soviel daran?« fragte sie. »Nur weil du mich sympathisch findest?« »Aber nein …« Ein Lächeln löste die kalte Götzenmaske auf, die andere Facetten seines Wesens verbarg. »Natürlich erwarte ich eine Gegenleistung.« »Welche?« »Als ich ein Kind war, ein Junge von vier Jahren, gab es die beiden Wälle, die unsere kleine Welt umschließen, noch nicht. Damals mag es geschehen sein, daß ich ein Stück von dem sah, was dahinter liegt. Aber du wirst verstehen, daß ich mich daran nicht mehr zu erinnern vermag. Nicht einmal verschwommen …« Nona verstand.
»Du willst, daß ich dir erzähle, wie es draußen aussieht und zugeht«, sagte sie. »Du willst erfahren, was ihr hier drinnen versäumt.« Der Ausdruck seiner Augen ließ sie frieren. »Vielleicht«, bot er nach kurzem Schweigen an, »gibt es auch Dinge, denen du hier begegnet bist und die du nicht verstehst, aber gern verstehen würdest. Ich weiß nicht, wieviel der Kelchmeister, unser gestrenger Vater, dir über Mayab erzählt hat …« »Mayab«, echote Nona. »So nennt ihr die Stadt?« »Er nannte sie so.« »Hat der Name eine tiefere Bedeutung?« Zapata bejahte. »In unserer Sprache bedeutet es Land der Weisheit.« Nona kannte Landrus mitunter skurrilen Humor – und seinen Zynismus. Deshalb wußte sie nicht einzuschätzen, wie ernst es ihm mit dieser Namensgebung gewesen war. Wessen Weisheit wurde da angesprochen? Seine? »Ich gebe zu, ich weiß sehr wenig über diese Welt«, sagte sie vorsichtig. »Aber ich warne dich: Ich kann sehr unbequem sein, und vielleicht bin ich eine zu starke Frau für dich …« »Heißt das Ja?« »Das heißt, daß du gleich anfangen kannst, mir etwas zu erklären.« »Hier?« »Ja.« Sie deutete auf den Spiegel in der Wand, der den Raum und das Mobiliar wiedergab, aber den Menschen, der darin Quartier bezogen hatte, verleugnete. »Sag mir, warum ich mich darin nicht sehen kann. Ich würde es verstehen, wenn ich ein Vampir wäre. Aber …« Im Reden ging sie auf die spiegelnde Fläche zu – und erzitterte, als sie den neben ihr herlaufenden Zapata darin auftauchen sah. Einen, der zweifellos ein Vampir war! Zunächst schien es, als wollte ihr Begleiter ihre Verwirrung auskosten. Doch dann besann er sich des Angebots, das er ihr gemacht
hatte, und sagte: »Wie du dir sicher schon gedacht hast, sind es magische Spiegel. Nichts anderes vermag unsere Gestalt für uns selbst sichtbar zu machen.« »Das erklärt nicht«, warf Nona ein, »warum er mich nicht zeigt.« »Er würde auch keinen der Menschen zeigen, mit denen wir diese Welt teilen, um unseren Durst zu stillen«, erwiderte er. »Diese Spiegel zeigen nur Formen, die tot sind – oder Totes in sich tragen. Für sie bist du zweifellos zu lebendig …«
* Der Rest des Tages verging für Nona wie im Fluge. Zapata führte sie aus dem monumentalen Palastes hinaus auf die Ebene, die sich zwischen den Wällen erstreckte, hinaus zu den Menschen. Denn nicht nur bewirtschaftete Felder und Äcker – überwiegend Maisanpflanzungen – lagen dort, sondern auch die Adobehütten der sterblich gebliebenen Maya, die hier bereits in neunundzwanzigster Generation siechten, sich selbst und ihre Unterdrücker nährend … Nona hatte die Ebene auch bei ihrer Ankunft durchschritten, aber die Orte, die Zapata ihr nun zeigte, waren ihr noch unbekannt. Das Stadtleben, das sie in den zurückliegenden Tagen nur von ihrem Fenster aus beobachtet hatte, wirkte aus der Nähe noch sehr viel bedrückender. Der Vampir gab sich davon unberührt. Die Ehrerbietung, die ihm von allen Seiten entgegengebracht wurde, schien er jedoch zu genießen. Irgendwann begann es zu regnen. Zapatas kunstvoll gewebter Huipil durchnäßte ebenso wie Nonas khakifarbene Kleidung. Im Gegensatz zu den Bewohnern flohen sie jedoch nicht in eines der Häuser oder suchten Schutz unter einem anderen Dach. Der Regen war warm und ließ Nona erstmals seit ihrem Aufenthalt hier ihren Körper wieder richtig spüren.
Sie blieb stehen, bog den Kopf weit in den Nacken und schloß die Augen. Während dicke Tropfen auf ihre Stirn, Wangen, Lippen und Lider trommelten, sagte sie laut genug, daß Zapata, der neben ihr innegehalten hatte, es hören mußte: »Auch das verstehe ich nicht.« »Du meinst den Regen?« hörte sie seine wohltönende Stimme durch das Rauschen hindurch, das die Luft bewegte. »Ja. Wie kann er die Barriere durchdringen? Auch ein Luftaustausch muß stattfinden, sonst wären hier alle längst erstickt …« Eine Weile schwieg Zapata. Nona öffnete die Augen und blickte zu ihm hinüber. Der Vampir stand vor einem Baum, der die umliegenden Häuser und sogar manchen kleineren Tempelbau hoch überragte, dessen Krone aber zugleich so licht war, daß sie kaum Schutz vor dem niedergehenden Regen bot. Zapatas Hände strichen über die borkige Haut des Stammes, und wie geistesabwesend sagte er: »Das Mysterium ist noch sehr viel komplizierter. Anfangs – damit meine ich unsere ersten Königsjahre – glaubten wir noch, die Barriere vielleicht doch überwinden und nach draußen gelangen zu können. Wir kannten das Verbot – aber wir sahen auch den Regen, der herabfiel, oder den Rauch, der von unseren Feuern emporstieg und sich irgendwo dort oben verlor, anstatt die Luft immer mehr zu verschmutzen und die Bewohner Mayabs krank zu machen …« Die Nässe überzog Zapatas Haut wie ein ölig glänzender Film. Er unterbrach seine Rede, aber es war offensichtlich, daß er noch nicht alles gesagt hatte und gleich fortfahren würde. Nonas Augen ließen kurz von ihm ab. Ihr Blick schweifte in die Ferne, dorthin, wo sich der Erdwall erhob – die sichtbare Grenze, über der sich aber noch eine zweite, unsichtbare und sehr viel heimtückischere Barriere spannte. Zapata folgte ihrem Blick. »Wie du weißt, sind wir in der Metamorphose des Fliegens mächtig. Und so konnte es – bei allem Gehorsam, der uns auferlegt wurde – nicht ausbleiben, daß wir we-
nigstens erkunden wollten, ob es möglich wäre, diesen Kerker zu verlassen. Ob die senkrechte Wand irgendwo dort oben endet und das Dach, das sich darüber wölbt, auch uns durchließe. Wir wußten, daß es uns verboten ist, nach draußen zu gelangen – auch nur nach draußen zu sehen – aber die Neugierde ließ uns nicht ruhen. Je länger unser Hiersein dauert, desto unerträglicher wird es, nichts über das Draußen zu wissen, so gut wie nichts. Nicht nur, daß wir kleine Kinder waren, als wir starben – die Welt muß heute völlig anders aussehen als damals. Die Zeit ist hier stehengeblieben – draußen gewiß nicht …!« Er hielt wieder inne, und diesmal hatte Nona das untrügliche Gefühl, daß etwas Lauerndes in Zapatas Blick trat. Sie glaubte zu ahnen, was der Grund dafür war: Offenbar erwartete er ihre Reaktion auf das Geständnis, daß er und seine Geschwister nicht bereit waren, Landrus Weisungen blind zu folgen. Er rätselt noch über meine Beziehung zu Landru, dachte Nona – und fragte sich, was wohl geschehen würde, wenn sie ihm jetzt auf den Kopf zugesagt hätte, daß sie seine Äußerungen an seinen Vater weitergeben und er dafür die Strafe erhalten würde. Hätte er versucht, es zu verhindern? Sie zu … beseitigen? Sie traute dem Maya-Vampir einiges zu – gleichzeitig faszinierte sie der Gedanke, er könnte dem Sohn, den Landru auf natürliche Weise nicht zu zeugen vermochte, gespenstisch nahe kommen. Ob Landru ähnliche Gefühle für seine »Kinder« hegte? Das war unwahrscheinlich. »Und«, griff Nona den Faden auf, den Zapata begonnen, aber nicht zu Ende geführt hatte, »ist es euch gelungen? War einer von euch jemals draußen?« Sein gerade noch sezierender Blick verklärte sich, als zögen Wolken in seinem Kopf vorüber. »Nein«, sagte er. »Wir waren, sind und bleiben Gefangene – wie die Brut, die uns nährt. Und uns träumen läßt, Könige zu sein. Aber
ich frage dich: Könige wovon? Siehst du ein Reich, über das sich zu herrschen lohnte?« Er spie aus. »Du klingst mehr als verbittert.« »Wie würdest du an meiner Stelle klingen?« Achselzuckend hob sie ihr Gesicht erneut dem Regen entgegen, der aber seine Labsal eingebüßt hatte. Kurz darauf hörte er fast schlagartig auf, ohne daß es auch nur eine Nuance heller wurde. Die nächtliche Sonne war am Himmel weiter gewandert. Sie würde bald untergehen. Aber auf Sterne – oder den Mond, mit dem Nonas Dasein untrennbar verbunden war – würden die Tyrannen genauso wie die Geknechteten und die Besucher vergeblich warten. Auch wenn sich Nona dies nicht gern offen eingestand, so sorgte doch gerade dieses Fehlen der Gestirne für eine tiefgreifende Verunsicherung bei ihr. Seit sie sich in die Obhut der Hermetischen Stadt begeben hatte, fragte sie sich, ob der volle Mond wieder Macht über sie gewinnen würde. Würde sein Fluch sie hier finden – hier? Zapata ahnte nichts von ihren Gedanken. Er winkte sie zu dem Baum, neben dem er immer noch stand. Als sie bei ihm ankam, deutete er in die Runde und wollte von der Werwölfin wissen: »Ist es nicht purer Aberwitz, wie hier alles gedeiht, obwohl kaum Licht vorhanden ist? Licht und Wärme galten schon bei unseren Vorvätern neben dem Wasser als unverzichtbare Quellen des Gedeihens. Selbst dieses Naturgesetz büßte seine Gültigkeit ein, als der Weltenpfeiler entstand …« »Der – Weltenpfeiler …?« »Unserer Legendenschreibung nach, die an dem Tag beginnt, da wir unsere Taufe erhielten, trägt dieser Pfeiler das Gewölbe, das uns zu allen Seiten und in der Höhe umgibt.« Nona lächelte. »Ich kenne ähnliche Märchen.« In Zapatas Augen schien es aufzublitzen. »Es ist kein Märchen! Ich kann ihn dir jederzeit zeigen. Du genießt unseres Vaters Vertrauen –
ich wüßte nicht, was er dagegen einzuwenden hätte.« Nona nickte. »Müßte ich diesen ›Pfeiler‹ nicht auch ohne deine gnädige Hilfe erblicken? Wenn er das Gewölbe stützt …« Zapatas Mimik wurde unergründlich. »Es lohnt nicht, darauf zu antworten. In dem Moment, da du ihn siehst, wirst du begreifen. – Komm. Es ist nicht weit. Keine Stelle hier ist weit von einer anderen entfernt …« Mit diesen Worten setzte er sich in Bewegung. Nona zögerte noch kurz, dann setzte auch sie sich in Marsch und folgte ihm.
* Die Hermetische Stadt Mayab und ihr Umland belegten eine Fläche mit einem Radius von etwa fünf Kilometern. Von den hochgelegenen Räumen des Tyrannenpalastes aus war diese so eng begrenzte Welt mühelos zu überblicken, und selbst wenn man auf der Ebene einherschritt, wo die Sicht von Pflanzen und Bauten eingeschränkt wurde, war das Gefühl dieser Enge allgegenwärtig. Nona fragte sich, ob nur sie als Besucherin dies so empfand – oder ob auch Geschöpfe wie Zapata, die den Ort zeit ihres vampirischen Lebens zu keiner Stunde verlassen hatten, es so empfanden. Und was war mit den sterblichen Bewohnern dieses grauenvollen Kerkers? Was für ein Dasein fristeten sie? Es mußte dem Lebendig-begraben-sein sehr nahe kommen … Landru hatte Nona viele verschiedene Sprachen gelehrt, damit sie sich auf ihren Reisen zurechtfinden konnte. Mittels der Magie, die er auch ohne Lilienkelch beherrschte, war dies keine besondere Herausforderung für ihn gewesen. Im Rückblick erinnerte sich Nona, wie es sie damals verwundert hatte, daß er ihr neben den gebräuchlichen Sprachen auch verschiedene Maya-Dialekte beigebracht hatte, die ihr in der Folge nie auch
nur den geringsten Nutzen gebracht hatten – bis heute. Konnte es also sein, daß er schon immer beabsichtigt hatte, sie eines Tages in sein wohlbehütetes Geheimnis – das zugleich von einer seiner größten Niederlagen als Kelchhüter zeugte – mitzunehmen? Natürlich war er kein Prophet und vermochte nicht in die Zukunft zu schauen, so daß ihm die näheren Umstände ihrer jetzigen Reise in die tropischen Urwälder Mesoamerikas nicht bekannt gewesen sein konnten. Dennoch ließ Nona der Gedanke nicht los, Landru könnte dieses Vorhaben stets mit sich herumgetragen haben. »Da vorn – dort ist es …« Zapatas Stimme holte sie in die Gegenwart zurück. Mayab bestand nicht nur aus der Stadt und ihren Tempeln, es gab auch die landwirtschaftlich genutzten Flächen und kleinere Weiler, in denen Bauern abseits der eigentlichen Stadt lebten. Weder der Palast der Vampire noch deren höchster Tempel lagen im exakten Zentrum des ringförmigen Erdwalls, der Mayabs Grenzen markierte. Den Mittelpunkt bildete ein vergleichsweise unauffälliger, niedriger Stufenbau, nicht halb so hoch wie die Pyramide, auf der sämtliche Zeremonien von weitreichender Bedeutung stattfanden. Die Werwölfin blieb stehen. »Wolltest du mir nicht den ›Weltenpfeiler‹ zeigen? Wenn er das ist, muß er unsichtbar sein …« Zapata machte nicht den Eindruck, als ließe er sich von ihrem Einwand beirren. Sein ausgestreckter Arm wies zum Palast. »Wenn du so wenig Geduld hast, können wir auch umkehren. Es wird bald finster. Wirklich finster für solche wie dich – bis dahin sollten wir ohnehin heimgekehrt sein.« »Die Dunkelheit ist nicht mein Feind«, erwiderte Nona vieldeutig. Zapata sagte nichts darauf; er nickte nur und ging dann weiter auf den kleinen Tempel zu. Nona schloß sich ihm an, und kurz darauf erstiegen sie gemeinsam die Treppe, die zum Eingang führte. Das Tor wurde von zwei männlichen Maya in Priestertracht bewacht. Ihre Gesichter verschmolzen fast mit dem Stein, aus dem sich das
Bauwerk zusammensetzte – sie hatten dieselbe Farbe. Nona hatte noch keine Gelegenheit gehabt, einen einzigen Menschen hier ungeschminkt zu sehen. Vielleicht, so dachte sie, waren die Bewohner der Hütten vorhin deshalb so schnell vor dem Regen geflohen: Weil sie fürchteten, er könnte ihre künstliche Schutzhaut aus Farbe abwaschen, könnte den Blicken ihrer Nächsten offenbaren, wie erbärmlich es darunter aussah … Die Torwächter ließen sich ihr Erstaunen – so sie überhaupt staunen konnten – über den Anblick der fremden Frau nicht anmerken. Bereitwillig wichen sie vor Zapata zurück, der das zweiflügelige Tor mit effektheischender Wucht aufstieß. Dahinter lag der einzige Raum des Gebäudes. Figuren und Glyphen auf Boden, Decke und Wänden verrieten, daß er für die Maya der Post-Landru-Ära einmal von religiöser Bedeutung gewesen sein mußte. Seit den Ereignissen aber, die zur Isolierung Mayabs geführt hatten, mußte sich dies grundlegend geändert haben. Nona, die unmittelbar hinter Zapata lief, fühlte sich von dem, was sich darin befand, regelrecht eingesogen. Zapatas Hand schloß sich um ihren Arm – sonst wäre sie vielleicht noch weitergestolpert und tatsächlich von dem verschlungen worden, was sich hinter einem schlichten Tor aus Holz verbarg. »Das ist sie«, erklang Zapatas Stimme, »die Säule, welche das Gewölbe unseres Kerkers trägt …« Nona hörte es kaum. Sie konnte den Blick nicht lassen von dem rotierenden Gebilde. Außerstande, irgend etwas zu sagen, starrte sie in den wahnsinnigen Strudel. Mochte Zapatas entschiedener Griff ihren Körper auch davor bewahren, sich ins Verderben zu stürzen – ihr Verstand war dem, was an ihm zerrte und zog, ihn durcheinanderwirbelte wie die Steinchen eines Kaleidoskops, hilflos ausgeliefert …
* Sie kam erst wieder zu sich, als sich die Flügel des Tores hinter ihr geschlossen hatten und sie wieder draußen auf dem regennassem Pflaster kauerte. Zapata mußte sie hinausgetragen haben. Damit, dachte sie – als sie des Denkens wieder mächtig war, verdanke ich ihm mein Leben. Aber schon eine Sekunde später korrigierte sie: Das Leben, das er zuvor in Gefahr gebracht hat … »Glaubst du immer noch an Märchen?« hörte sie ihn fragen. Auch wenn der Spott im Tonfall des Vampirs nicht vordergründig zu erkennen war, daß es spöttisch gemeint war, daran gab es keinen Zweifel. Sie hob den Kopf. Zapata stand vor ihr. In Steinwurfweite lag der Tempel, dessen Wächter aus dieser Entfernung wie aus Stein gemeißelt wirkten. »Ich verstehe immer noch nicht, was du mir gezeigt hast.« »Es ist auch nicht zu verstehen. Wüßten wir, wie es funktioniert, hätten wir längst –« Er verstummte. »Fürchtest du wirklich, ich würde zu Landru rennen und ihm erzählen, daß seine Kinder versuchen, ihrem düsteren Gefängnis zu entfliehen?« Nona lachte auf – nicht spöttisch, aber verächtlich. »Vergiß es! Jeder würde das versuchen. Besonders, wenn er so lange gefangen gehalten würde wie ihr …« »Aber unser Hoher Vater –« »Er hatte sicher Gründe für die Gesetze, die es euch verbieten, Mayab jemals zu verlassen.« Zapata reichte ihr die Hand und half ihr, aufzustehen. Alles in Nona sträubte sich, als sie bemerkte, wie diese vor Kraft strotzende Hand ihr gefiel. Sie schalt sich eine Närrin.
»Du und er«, sagte Zapata, als sein Gesicht dem ihren nahe kam, »was verbindet euch? Und wie«, er räusperte sich, »ist es dir gelungen, die Barriere zu durchbrechen? Wir glaubten immer, nur unser Hoher Vater besäße diese Fähigkeit. Aber nun mußten wir sehen, daß noch zwei andere darüber verfügen. Du und diese … diese Frau, die er mitbrachte.« Plötzlich hatte Nona das Gefühl, in seinem Gesicht zu lesen wie in einem aufgeschlagenen Buch. Es überlief sie eiskalt. Aber nicht die klamme Nässe ihrer Kleidung verursachte dies. Es war die Erkenntnis, warum sich Zapata so sehr um sie bemühte … »Ich fürchte, ich muß dich enttäuschen.« »Enttäuschen?« echote er. »Es gibt keinen Trick dabei – zumindest keinen, den ich weitergeben könnte. Die Magie deines Vaters floß in mich – und danach war ich fähig, Mayab zu finden und zu betreten. Auf demselben Wege werde ich auch wieder gehen, aber ich weiß sicher, daß ich niemanden mitnehmen könnte. Es – tut mir leid.« Zapatas Blick flackerte. Sekundenlang sah es aus, als wollen seine Züge entgleisen. Aber er behielt seine Gefühle im Griff und bewies auch darin beeindruckende Stärke. »Dir braucht nichts leid zu tun. Und deinem Verdacht über die Gründe meines Bemühens will ich weder widersprechen noch ihn bestätigen. Glaube es oder glaube es nicht, aber auch du interessierst mich. Das, was du verkörperst. Du bist völlig anders als unsere Frauen. Und daß du weißt, wie es draußen aussieht, schürt nicht nur meine Phantasie, sondern auch –« »Wir sollten umkehren. Gleich«, fiel sie ihm ins Wort. Er kniff die Lippen zusammen. Dann sagte er, so leise, daß Nona es kaum verstand: »Ich habe es verdorben. Das bedauere ich. Das bedauere ich um meinet- und um deinetwillen sehr …« »Du hast nichts verdorben«, widersprach sie, und es war, als hörte sie sich selbst dabei zu. »Mir ist kalt, und mich treibt es fort von die-
sem … Weltenpfeiler. Kehren wir zurück in den Palast, in deine Gemächer. Mich interessiert, wie ein unsterblicher König lebt. Und wenn du willst, werde ich ein wenig ausplaudern.« »Ausplaudern?« »Von dem, was draußen ist. Von Dingen, die nicht einmal deine kühnste Vorstellungskraft erfinden könnte …« Am Horizont versank die Sonne hinter den Wällen. Die »nächtliche« Sonne wich purer Nacht …
* Die Stille im Innern des Palastes beeindruckte Nona einmal mehr, während sie an Zapatas Seite die Korridore durchwanderte und eine Unzahl von Stufen erstieg. »Diese Ruhe«, sagte sie. »Man könnte meinen, dieses Gebäude wäre verwaist. Wenn ich es nicht besser wüßte …« »Die Wände sind dick – und mit unseren bescheidenen Möglichkeiten haben wir darüber hinaus Zonen der Stille errichtet.« »Du meinst Magie?« Er lächelte – was bei ihm nie wie ein Ausdruck von Heiterkeit aussah. »Es ist nicht mit dem vergleichbar, was der Pfeiler trägt …« »Das habe ich auch nicht erwartet. Ich finde die Ruhe durchaus angenehm – auch wenn es mich fast wahnsinnig macht, zu wissen, daß er hier irgendwo mit ihr zusammensitzt und –« »Unser Hoher Vater mit unserer –?« »Nenn sie nicht Mutter! Du und ich, wir wissen, daß sie euch nie geboren hat! – Und jetzt reden wir nicht mehr davon. Ich denke oft genug an sie. Und was ich mit ihr machen möchte.« »Vielleicht erzählst du mir auch etwas über sie …?« Nona ballte die Fäuste. »Du solltest mich nicht reizen. Nicht mit diesem Thema …« Er schwieg. Der Gang, den sie gerade entlangliefen, endete vor ei-
ner Tür. Abzweigungen gab es nicht. »Sind wir da?« fragte Nona. Er bejahte und ließ sie vorausgehen, um die Räumlichkeiten zu betreten, in denen er seit beinahe fünf Jahrhunderten beheimatet war – – und doch nie heimisch werden würde. Es mochte eine vor Prunk und skurrilen Einfällen schier berstende Zelle sein. Aber, so empfand es selbst Nona beim Betreten der Gemächer, es änderte nichts daran, daß es eine Zelle war – und blieb …
* Sie hatte ihre Verwunderung geäußert, nirgends Diener zu sehen – hilfreiche Geister, die ihrem König jeden Wunsch von den Augen ablasen. Und Zapata hatte mit seinem gewohnt kalten Lächeln darauf verwiesen, daß er keine Wünsche hatte – zumindest keine solchen, die ein Diener ihm hätte erfüllen können. »Du mußt hungrig und durstig sein«, verstand er ihre Bemerkung letztlich als versteckten Hinweis auf ihre Bedürfnisse. »Du bist nicht wie ich oder meine Geschwister. Aber ich zweifele nicht daran, daß es Gründe gibt, warum unser Hoher Vater ausgerechnet dir diesen heiklen Auftrag übertrug. Kennt ihr euch schon lange?« »Wir begegneten uns vier Jahre nachdem er euch begegnete«, antwortete Nona, fuhr aber nicht fort. In der Tat hatte sie Hunger bekommen. Normalen Hunger. Die Nacht, auf die sie mit zwiespältigen Gefühlen wartete, seit sie die Hermetische Stadt betreten hatte, rückte unaufhaltsam näher. Und wenn sie sich dann noch hinter der magischen Sperre aufhielt … ja, was dann? Sie unterdrückte die Gedanken an die Zukunft und widmete sich dem Jetzt. »Etwas zu trinken und ein kleiner Imbiß wären nicht schlecht«, bat sie ihren Gastgeber. Sie blickte zu einem Tisch, auf dem Karaffen und Obstkörbe standen. »Aber bitte keine Umstände.«
Zapata führte sie zu einem diwanähnlichen Möbel, das Platz genug für sie beide bot. Nona setzte sich, und der Vampir ging, um ihr eine Auswahl der Früchte auf einem Teller zu holen. Danach brachte er noch zwei Pokale aus farbigem Kristall, in denen unterschiedliche Genüsse schäumten. Nona besaß genug Erfahrung, um den Inhalt von Zapatas Trinkgefäß mühelos als Blut zu erkennen. Ihr eigenes aber … Sie hielt die Nase über den schweren Kelch und sog das aufsteigende Aroma ein – es war undefinierbar. »Was ist das?« »Probiere es – danach kannst du dich, sollte es dir nicht zusagen, immer noch für das klare Wasser unserer Brunnen entscheiden.« Nona überwand das ihr angeborene Mißtrauen. Sie befand sich nicht irgendwo, sondern in Gesellschaft eines von Landru Kelchkindern. Und diese schuldeten nicht nur ihrem »Hohen Vater« Respekt und Gehorsam, sondern auch jedem, der von ihm so offensichtlich protegiert wurde wie sie. Nachdem sie gekostet hatte, spürte sie, wie sich – obwohl das Getränk an sich kühl temperiert war – alkoholische Wärme in ihrem Mund ausbreitete, die auch die Kehle hinabrann. Der Geschmack selbst war – ohne die Sinne zu verwirren – absolut köstlich. »Was ist das?« wiederholte Nona mit leuchtenden Augen. »Ich habe noch nie etwas Besseres gekostet!« »Und das, obwohl du doch sehr weit herumgekommen sein mußt …« Auch Zapatas Augen glommen – jedoch in einem etwas dunkleren Licht. Nona nahm noch einen, diesmal tieferen Schluck und spürte, wie die ganze Anspannung und die Gedankenschwere der letzten Tage von ihr abfielen. »Hast du je«, fuhr Zapata fort, »die Wunder Griechenlands oder die des Römischen Reichs mit eigenen Augen gesehen?« Nona erstarrte – und sah über den Rand des Pokals hinweg auf
den Vampir. Ganz klein wurden ihre Augen. Und plötzlich war er doch da: der Argwohn, dem sie nicht hatte gestatten wollen, sich zwischen sie und Zapata zu drängen! »Woher kennst du diese Begriffe? Ich kann mir nicht vorstellen, daß Landru sie dir verraten hat!« Obwohl Zapata ihre plötzliche Distanz zu ihm bemerken mußte, gab er sich ungerührt. »Nein, das hat er nicht«, entgegnete er, »und auch die Taufe, die wir von ihm erhielten, schenkte uns kein Wissen von der Welt jenseits der Wälle.« »Aber wie kannst du dann –?« Zapatas Gesicht wurde götzenhaft starr. »Er überließ ihn uns – ich weiß bis heute nicht, warum. Vielleicht geschah es aus einer bloßen Laune heraus … Ich hatte viel Zeit, darüber nachzudenken, und gelangte zu dem Schluß, daß er ihn strafen wollte für die schändliche Tat, die er beging. Immerhin zerschmetterte er den Lilienkelch, das Wertvollste, was unser Hoher Vater bei sich trug, als er zu uns kam …« … zerschmetterte er den Lilienkelch … Nona wußte definitiv, daß das nie geschehen und niemandem je gelungen war. Dennoch fragte sie lediglich: »Wer überließ euch was?« »Du willst ihn sehen? Meinetwegen. Aber danach … danach erinnere dich deines Versprechens, mir die Welt von heute nahezubringen. Die Welt, in der soviel Zeit verstrichen ist und die ein ganz anderes Gesicht haben muß als die, die ich in Erzählungen kennenlernen durfte – an vielen langen Abenden und um keinen höheren Preis als den eines Schluckes aus solchem Becher …« Er hob Nona seinen Pokal entgegen, als wollte er ihr zuprosten. Dann stand er auf und winkte ihr, ihm zu folgen. Sie stellte das eigene, immer noch unbekannte Getränk auf den steingefliesten Bo-
den ab und erhob sich. Mit wenigen Schritten gelangten sie zu einer viereckigen, abgeschnittenen Säule, in die eine Unzahl von Bildern – unter anderem eines, das zweifellos den Lilienkelch darstellte, aus dem ein Blitz zur Sonne hinauffuhr – eingearbeitet waren. Daß es keine einfache Ziersäule war, enthüllte Zapata, kaum daß Nona neben ihm angelangt war. Mit geübtem Griff löste er zuvor verborgene Verschlüsse an einer Seite des Gebildes – und zog dann die vordere Fassade wie eine Tür zurück. »Ihn«, sagte er in unverändertem Tonfall, »überließ unser Hoher Vater uns. Die anderen wollten ihn nicht – sie hätten ihn auch nicht gefüttert und gepflegt, wie ich es tue. Aber ich erkannte schon damals die Möglichkeiten, die in ihm stecken. Deshalb bewahrte ich ihn auf. – Wie findest du ihn …?« Nona hatte kaum auf die Worte des Vampirs geachtet. Und auch jetzt, nachdem er schwieg, fiel es ihr schwer, überhaupt zu reagieren. »Wer … ist das? Was habt ihr ihm angetan?« Die Lippen stumm, die Augen überfließend vor Qual, stand der bleiche Tote aufrecht festgegurtet, so daß seine Beine nicht nachgeben konnten innerhalb des steinernen … Käfigs. Erst als Zapata launig den Pokal hob und an die wie verdorrt aussehenden Lippen des Gefesselten drückte, wurde offenbar, daß er nicht völlig tot war. Gierig riß er den Mund auf und schlürfte soviel, wie Zapata ihm gestattete. »Sag ihr deinen Namen – ich erlaube es«, hörte Nona den Vampir befehlen. Und krächzend gehorchte der lebende Tote im Käfig, die verstümmelte Gestalt in zerfledderter Soldatentracht: »Oberleutnant … Pedro Grijalva … mein Name … Ich kam … in Hernán Cortés’ Auftrag … und dies ist meine … gerechte Strafe …«
* »Unser Hoher Vater kam einst in Begleitung dieses Mannes und seiner Armee – aber er ließ nicht zu, daß unser Volk massakriert wurde, er stellte sich auf unsere Seite. Den Anführer der Fremden« – Zapata deutete auf die Gestalt in der hohlen Säule – »ließ er bei seinem Abschied zurück. Dieser Spanier war der erste, dessen Blut ich mir nach meiner Kelchtaufe munden ließ. Fortan war er mir hörig …« »Und die anderen – deine Geschwister – hatten nichts dagegen?« Zapata verneinte. »Sie erkannten nicht, welch unerschöpflicher Quell von Geschichten und Informationen er war – sobald man gelernt hatte, ihn anzuzapfen.« »Was meinst du damit?« »Anfangs verstand ich seine Sprache so wenig wie er die meine – aber ich hatte Geduld. Ich sah nicht ein, warum ich sein Kauderwelsch lernen sollte, also lehrte ich ihn mit Hilfe meiner heranreifende Magie meine Sprache. Ich kann nicht sagen, daß er von rascher Auffassungsgabe war, aber wir hatten alle Zeit der Welt, und irgendwann …« Er mußte nicht ausführlicher werden. Nona wandte sich von dem Bild des Grauens ab. Sie war nicht leicht zu beeindrucken, hatte schon viele Greuel geschaut und selbst verursacht, aber in den Phasen ihres ungetrübten Menschseins, wenn der eigene dunkle Trieb sich in den hintersten Winkeln ihres Hirns verkroch, war sie nicht annähernd so hartgesotten, wie Zapata es bei einer engen Vertrauten seines Vaters vermuten mochte. Sie hörte, wie Zapata die Tür der Säule hinter ihr wieder schloß und die Riegel einschnappen ließ. »Was sagst du dazu?« fragte er. Sie sagte zunächst gar nichts, setzte sich wieder auf den Diwan und trank ein paar durstige Züge aus dem Pokal, den sie dort zurückgelassen hatte und der – sie mußte sich irren – dabei nicht leerer
zu werden schien. Zapata trat zu ihr und setzte sich ganz nah neben sie. »Du hast noch gar nichts gegessen …« »Danke«, wehrte sie ab. »Später vielleicht.« »Ich hoffe, der Anblick ist dir nicht aufs Gemüt geschlagen. Ich hätte ihn ein wenig bemalen können, bevor ich ihn dir zeigte. Ein wenig Farbe wirkt oft Wunder. Aber ich wußte nicht …« »Schon gut.« Sie nahm einen erneuten gierigen Schluck. »Willst du mir jetzt ein wenig von draußen berichten?« Zapata stellte seinen Pokal ab, von dem er nicht mehr getrunken hatte, seit die Dienerkreatur ihn mit ihren schorfigen Lippen berührt hatte. Seine linke Hand legte sich auf Nonas Knie. Die Berührung war elektrisierend. Etwas, noch intensiver als die Wirkung des Getränks, durchströmte sie, und plötzlich fühlte sie sich leicht. Federleicht. Die Augen nicht mehr von seinen Augen lassend, hörte sie sich zu, wie sie Zapatas Wißbegier befriedigte – wie sie von einer Welt schwärmte, in der die gigantischen Entfernungen von früher – aus Pedro Grijalvas, Zapatas und ihren eigenen Ursprüngen – fast zu einem Nichts zusammengeschrumpft waren. Sie beschrieb die an Magie grenzenden Fortbewegungsmöglichkeiten und andere Errungenschaften der Neuzeit, betonte aber auch, daß dies alles nichts mit Magie zu tun hatte, sondern sich Technik nannte. Zapata hatte anfänglich sichtliche Schwierigkeiten, dies zu verstehen – oder zu glauben. Dennoch hing er weiter an Nonas Lippen und ließ sich nicht das kleinste Detail ihrer Schilderungen entgehen. Nona redete sich schier in einen Rausch. Ihr fiel nicht auf, wie sie der Realität mehr und mehr entrückte; wie sie sich immer leidenschaftlicher in ihren Schilderungen verlor. Auch merkte sie kaum, daß Zapata mit fortschreitender Rede immer zutraulicher wurde, sie wie selbstverständlich streichelte und ihr Gesicht liebkoste.
Der Pokal, aus dem Nona immer wieder trank, leerte sich tatsächlich nicht. Aber dem maß sie im weiteren keinerlei Bedeutung mehr zu. Irgendwann forderte Zapata sie auf, sich ihrer immer noch regenfeuchten Kleider zu entledigen. Er selbst machte es ihr vor. Sie war beeindruckt von seinem klassisch schönen Körper und sah keinen Grund, ihm zu verschweigen, wie anziehend sie ihn fand. Zapata gab jedes Kompliment an sie zurück und bedeckte ihren Körper mit Küssen. Keine Rede brachte er mehr auf seinen Hohen Vater. Keine Rede mehr auf die Welt draußen. Für ihn schien es nur noch Nona zu geben – ihren Liebreiz und Hunger nach … … etwas, das sie offenbar lange vermißt hatte. Zu lange. Wie weiches Wachs ließ sie sich in seinen Händen formen. An den untoten Spanier in der hohlen Säule, der ihr immer lauter werdendes Stöhnen hören mußte, verschwendete sie keinen Gedanken mehr. Sie lebte nur noch für den Moment, glaubte sich wie befreit von einem Druck, den sie nicht hatte in Worte kleiden können. Es schien ihr sonnenklar, daß sie Zapata begehrt hatte, seit sie seiner zum ersten Mal ansichtig geworden war … Der Vampir wußte ihre Leidenschaft und Wollust in schwindelerregende Höhen zu peitschen. Als er – endlich nach langem Vorspiel – in sie eindrang, schrie Nona so laut auf, daß der Untote in seiner steinernen Behausung in der Erinnerung erbebte, selbst einmal solcher Gefühle fähig gewesen zu sein. Das Alleinsein der letzten Tage – seit sie sich von Landru in Paris getrennt hatte und auf eigene Faust hierher gereist war – versank im Vergessen. Sie bäumte sich Zapata entgegen, und die Stöße des Vampirs schienen ihren Schoß schier spalten zu wollen. Süßer Schmerz raub-
te ihr endgültig die Sinne und den Verstand. So daß sie den anderen Schmerz gar nicht wahrnahm. Immer weiter trieb sie von sich selbst weg – hörte nicht das gierige Schmatzen, mit dem der Tyrann sich stahl, wovon er sich Befreiung versprach. Die Befreiung von jahrhundertealtem Joch …
* Nona erwachte, als die nächtliche Sonne am Horizont aufging und ein neuer Tag anbrach. Ihr Schädel brummte, aber sie wußte nicht, wovon. Auch nicht, woher der schale Geschmack in ihrem Mund kam. Sie richtete sich auf und taumelte auf den Spiegel zu. Erst als sie sich darin vermißte, fiel ihr wieder ein, daß er – wie hatte Zapata es ausgedrückt? – nur Totes zeigte und sie dafür zu lebendig sei. Zapata … Sie erinnerte sich des gemeinsamen Ausflugs durch die Stadt und zu dem sonderbaren kleinen Tempel mit dem Weltenpfeiler – auch noch daran, daß sie wieder zum Palast zurückgekehrt waren und in Zapatas Gemach noch etwas getrunken hatten. Aber danach … … danach mußte sie völlig übermüdet in die eigene Unterkunft zurückgekehrt sein und sich zum Schlafen niedergelegt haben. Als sie an sich herabsah, bemerkte sie, daß sie immer noch die Kleidung vom gestrigen Ausflug trug. Aber sie war kein bißchen mehr naß, nicht einmal klamm, sondern fühlte sich gut auf ihrer Haut an … Nona kehrte dem falschen Spiegel den Rücken und trat ans Fenster. Düsterer als jemals zuvor sprang das Bild der Hermetischen Stadt sie an. Sie wankte und mußte sich am Sims festhalten, um nicht das
Gleichgewicht zu verlieren. Was ist los mit mir? dachte sie. Unbewußt kratzte sie sich in ihrer Kniekehle. Das Jucken hörte auf. Als sie die Hand hob, sah sie jedoch, daß Blut an ihren Fingernägel klebte. Sie hob ihr Bein und betrachtete die Stelle, wo sie sich gekratzt hatte. Eine Verletzung, blutverkrustet. Als hätte sie sich mit einem breiten Messer geschnitten … Nona erinnerte sich nicht, wie es zu dieser Verletzung gekommen war. Es mußte während des Ausflugs geschehen sein. Die Wunde wirkte nicht weiter bedrohlich – bedrohlicher war, wie Nona sich ansonsten fühlte. Ganz schlapp und kraftlos. Zittrig kehrte sie zu ihrem Lager zurück. Und schlief weiter, bis zum Mittag – bis Landru sie weckte, als die nächtliche Sonne bereits im Zenit stand und etwas geschehen war, wovon sie nicht einmal ahnte, daß sie die Schuld daran trug …
* Zügellos hatte Zapata aus der Kniekehle der Fremden getrunken – nicht die verführerisch pochende Halsader hatte er gewählt, sondern einen der Nebenwege des Nektars, der ihn unsterblich machte. Und in diesem speziellen Fall das Ende seiner Unfreiheit besiegeln sollte! Er hatte lange darüber nachgedacht, und seit dem gemeinsamen Ausflug mit der Fremden, die sich Nona nannte und seines Vaters Schlüssel besaß, war er wild entschlossen, die vielleicht einmalige und niemals mehr wiederkehrende Chance zu nutzen, die das Schicksal ihm hier an die Hand gegeben hatte. Nach ihren Unterhaltungen glaubte auch Zapata nicht mehr, daß
der Kelchhüter Nona ein Ding als Schlüssel mitgegeben hatte, um den magischen Wall zu überwinden – vielmehr war die Gewißheit in ihm gereift, daß Nona selbst den Zauber in sich barg, der nötig war, um die Barriere zu durchdringen. Und wo besser als in ihrem Blut hätte der Hohe Vater die Erlaubnis ansetzen können, Mayab zu betreten und auch wieder zu verlassen …? Winzige Zweifel nagten natürlich auch dann noch an Zapata, als er sich nach seinem Blutmahl aus dem Palast stahl und auf ledigen Schwingen hin zu den Wällen eilte. Er trug nichts Besonderes bei sich. Spätestens nach Nonas Schilderungen war er überzeugt, dank seiner Macht »draußen« noch um ein Vielfaches königlicher leben zu können als in dieser Stadt, die vor so langer Zeit vom Antlitz der wahren Welt getilgt worden war. Keines seiner Geschwister hatte er in seine Pläne einzuweihen gewagt. Nicht einmal Pomoná, die ihm so oft über die Leiden der Gefangenschaft hinweggeholfen hatte. Für den Fall des Scheiterns seines Vorhabens hatte sich Zapata Ausflüchte zurechtgelegt, die ihn vor einem Schicksal bewahren sollten, wie es Chiquel widerfahren war. Auch hatte er die Male seiner Zähne an Nonas Körper als Verletzung getarnt. Infolge des magischen Trankes würde sich nicht mehr an deren Ursache erinnern können. Und mit Bedacht hatte er für seinen Ausbruchversuch jene Stelle gewählt, an der vor Tagen einer der sterblichen Stadtbewohner einen Fluchtversuch unternommen hatte. Das vom Weltenpfeiler gestützte Gewölbe hatte die Eigenart, jeden Fremdkörper, der über keinen Schlüssel verfügte, zurückzuschmettern. Es gab immer wieder Verzweifelte, die es nicht einmal die paar Jahre, die ihnen geschenkt waren, in solcher Düsternis ertrugen. Sie wurden an irgendeinen Ort innerhalb Mayabs katapultiert, und der Kontakt mit der magischen Barriere hinterließ ein Stig-
ma an ihren Körpern, dessen Witterung die Jagdjaguare der Vampire aufnehmen konnten. Tikal aber, der zuletzt einen Fluchtversuch gewagt hatte, war trotz intensiver Suche unauffindbar geblieben. Die Tyrannen hatten die Jagd schließlich abgebrochen. Nonas Ankunft und die Vorbereitungen, die sie zu treffen hatten, um die Weisungen ihres Vaters in die Tat umzusetzen, hatten selbst Zapata von dem Flüchtling abgelenkt, den er persönlich kurz nach dessen Geburt initiiert hatte – und so fortan auch durch dessen Augen hatte blicken können. Auch dieser Kontakt war abgebrochen. Von dem Moment an, da das Gewölbe Tikal irgendwohin geschleudert hatte. Zapata wagte gar nicht auszudenken, daß der Maya, der das heiligste Gesetz der Stadt gebrochen hatte, vielleicht sogar auf die andere Seite katapultiert worden war und sein Herr deshalb nicht mehr über die fremde Sicht mit ihm verbunden war. Es gab noch eine andere Möglichkeit, warum Tikal verschollen war: Die Barriere mochte ihn nicht nur abgestoßen – sie konnte ihn schlicht vernichtet haben. Diese Erklärung beunruhigte Zapata von allen möglichen am stärksten. Denn sie würde auch seine Ausrede zunichte machen. Wie ihn selbst.
* Mühelos fand Zapata die Stelle, an der ihm Tikal Tage zuvor im letzten Moment entwischt war. Nun setzte er seine eigenen Füße quasi in die Fußstapfen des Flüchtlings, um – wenn sein eigentlicher Plan fehlschlug – doch wenigstens an denselben Ort geschleudert zu werden wie Tikal. Ähnliches hatte noch kein König dieser Stadt gewagt. Aber die ganze Situation war einzigartig … Ohne die Lippen zu öffnen, leckte sich Zapata über die Zähne, die
Nonas Blut berührt hatten. Noch immer schwangen Reste des Geschmacks in seiner Mundhöhle nach. Es war die uralte Wahrheit, daß im Blut auch die ganze Kraft und die Seele desjenigen gebunden war, dessen Adern es durchströmte. Dies verlieh Zapata die Hoffnung – nein, den Glauben –, nach diesem Mahl ebenfalls befähigt zu sein, die Barriere zu passieren. Dorthin zu gehen, wovon Nona erzählt hatte. In eine Welt der Technik – die seiner Magie dennoch unrettbar ausgeliefert war! Noch einmal wandte er den Kopf und blickte zurück zu den Tempeln, zurück zum Palast und den armseligen Behausungen seiner Untertanen. Er stellte sich vor, was der Kelchmeister wohl gerade tat. Ob er wieder bei ihrer »Mutter« war und das Gespinst der Lügen, dessen Sinn Zapata nicht begriff, weiterspann? Und Pomoná … seine anderen Geschwister … die Fremde, die in tiefen Schlaf gesunken war, nachdem er sich geholt hatte, wonach ihn dürstete … was taten sie gerade? Hatte der Hohe Vater Nona zwischenzeitlich besucht und entdeckt, wie sich eines seiner Kinder an ihr vergangen hatte? Zapata kniff die Augen zusammen. Aber er konnte nicht das leiseste Anzeichen entdecken, daß die Verfolgung nach ihm aufgenommen worden war. Daß man auch nur ahnte, welche Schuld er auf sich laden wollte. Schuld? Ist es rechtens, seine Kinder auf diese Weise einzuschließen? Der Vampir versuchte sich bewußt zu machen, daß er die Welt, in der er seit unglaublicher Zeit wie in einem Goldenen Käfig vegetierte, vielleicht zum letzten Mal vor Augen hatte. Still nahm er Abschied. Dann wandte er sein Gesicht wieder jenem Gewölbe zu, dessen untere Zone seinen Verstand zu zersplittern drohte – und warf sich
gegen die Stelle, die Tikal verschlungen hatte. Das Blut, das der Vampir gestohlen hatte, würde es seinen Zweck erfüllen? Für Augenblicke, die sich zur schieren Ewigkeit dehnten, hatte Zapata das Gefühl, in der schrecklichen Barriere wie in einem Spinnennetz zu kleben und zu zappeln. Dann jedoch –
* »Wir sollten ihn töten – sofort! Wann hatten wir je eine solche Gelegenheit? Wenn wir noch lange zögern, wird er uns vernichten!« Die Stimme wurde von einer anderen übertönt. Sie rief in fast panischer Erregung: »Er kommt zu sich! Jetzt! Tut etwas!« Zapatas Bewußtsein stieg aus den Gefilden der Dunkelheit – in eine andere Finsternis, die seine Augen nicht zu durchdringen vermochten. Ein enges Band war um seinen Kopf gewickelt. Eiserne Fesseln umspannten seinen Körper, und ein ätzender Geruch stieg in seine Nase. Ob dies Grund für die Schmerzen war, die ihn peinigten, wußte er nicht. Sein Körper jedenfalls schien in Flammen zu stehen. Benommen zerrte er an seinen Ketten. Ein Mann, besonnener als die Stimmen zuvor, sagte: »Seid still! Laßt mich ihm sagen, in welcher Lage er sich befindet – danach wäre er ein Narr, würde er Widerstand riskieren …« Zapatas Kopf sank entkräftet zurück auf die harte Oberfläche, auf der er zu sich gekommen war. Das kurze Aufbäumen hatte ihn bereits völlig erschöpft. Was ist mit mir? Wo bin ich? Warum fühle ich mich so sterbensmatt …? Nur schleppend erinnerte er sich überhaupt, was er getan hatte. Die Flucht. Der Versuch einer Flucht …
»Wo – bin ich?« Die Stimmen gehörten keinem seiner Geschwister, und obwohl die besonnene unter ihnen Zapata kurz an seinen Vater erinnert hatte, gehörte sie eindeutig einem Fremden. »Du bist in unserer Gewalt. In der Gewalt derer, denen ihr unaufhörlich Gewalt antut … Aber zumindest was dich angeht, hat es damit ein für alle Mal ein Ende!« Die Stimme schwankte nicht einmal, war voller Selbstbewußtsein. »Heißt das …«, Zapatas Stimme war nicht mehr als ein heiseres Krächzen, »… ich bin immer noch hier … immer noch in der Stadt?« »Wo sonst? Was soll das? Wen willst du narren, indem du Unwissenheit vorspiegelst?« Zum ersten Mal war Emotion in der Stimme zu hören. »Wer – seid ihr? Wer bist du?« stieß Zapata hervor. »Man nennt mich Calot.« »Ich bin –« »Wir kennen dich, Hoher König.« Die Anrede war kein Zeichen von Ehrerbietung, sondern Verachtung pur. »Ich werde euch –« Ganz in seiner Nähe wurden Lungen vollgesogen – voller Entsetzen. Nur jener Calot blieb kühl bis ins Herz. »Du kannst es versuchen. Aber beim leisesten Anzeichen, daß du es tust, wird die Fackel, die über dir schwebt, das leicht entzündliche Gemisch, mit dem wir deinen Leib getränkt haben, in deine ganz persönliche Hölle verwandeln! Aber das ist nicht alles: Um deinen Hals liegt eine Spange, die mit einem Hebel verbunden ist, der dir das Genick brechen kann – schneller als du sie beseitigen könntest!« Eine Weile lauschte Zapata dem Inhalt der Drohung nach. »Was wollt ihr?« stieß er hervor. »Wenn ihr mich vernichten wollt – tut es! Und wenn ich es verhindern kann, werde ich –«
»Sei klug und tue nichts«, sagte der Mann, der sich Calot nannte. »Dann verlängerst du deine unmenschliche Existenz noch eine kleine Weile.« »Eine kleine Weile?« »Bis du verraten hast, was wir wissen wollen.« Eine Weile herrschte Schweigen. Stille, die Zapata der fürchterlichen Marter, die ihn von Kopf bis Fuß quälte, noch mehr auslieferte. Er versuchte seine Magie zu entfalten, scheiterte aber kläglich. Er fühlte sich völlig ausgelaugt – als wäre das Reservoir, das ihn all die Zeit zuverlässig versorgt hatte, urplötzlich versiegt. »Was – ist das?« brach er selbst das Schweigen. »Was habt ihr mir angetan?« »Du meinst deine Schmerzen?« »Ja!« »Viele von uns mußten sie ertragen – die meisten. Aber sie werden ein Ende haben – sobald du das preisgegeben hast, was wir von dir wissen wollen.« Zapata hatte das Gefühl, daß sich jemand zu ihm herabbeugte – sehen konnte er es nicht. Im nächsten Moment traf ihn ein Fausthieb gegen den Hals, und eine Stimme – nicht die Calots – zischte: »Ich mußte es auch aushalten! Damit du und die deinen mich nicht fanden! Es ging vorbei – aber ich hoffe und bete, daß du bis zum Ende leiden wirst!« »Wer bist du?« »Ich bin Tikal.« In Zapatas Schädel schien eine Explosion stattzufinden – nicht ausreichend, um ihn zu töten, aber doch, um ihm endgültig klar zu machen, in welche unwirkliche Lage ihn sein Ausbruchversuch gebracht hatte. Anfangs war er noch geneigt gewesen, all dies zu phantasieren – in einem Fieber, das vom Gewölbe auf ihn übergegangen war.
Doch nun … »Tikal?« »Ja. Du hast meine Schwester auf dem Gewissen! – Aber was rede ich: Gewissen …« »Genug«, ergriff wieder Calot das Wort. »Er kennt keine Reue. Laß es gut sein, Junge. Laß mich um ihn kümmern …« Ein leiser Luftzug, der aber Zapatas flammende Qual durchdrang, verriet, daß die andere Gestalt gehorchte und sich zurückzog. Der Maya, den Zapata vor Tagen gejagt und dessen Spur er beim Wall verloren hatte. »Du brauchst nicht darauf zu hoffen, daß die Tyrannen dich mit ihren dressierten Bestien hier aufspüren«, sagte Calot. »Du bist ganz allein – unter denen, die dich hassen. Das, was dir Schmerzen bereitet, ist die Säure, mit der wir deine Haut abgeschliffen haben – damit der ›Geruch‹ des Walls von ihr verschwindet. – Und von unseren anderen Vorkehrungen habe ich bereits gesprochen.« Zapata versuchte sich vorzustellen, was man ihm angetan hatte. Und zugleich versuchte er, die Selbstheilungskräfte seines Körpers zu aktivieren. Normalerweise hätte es keine sonderliche Anstrengung bedeutet, die Folgen eines Säurebades zu beseitigen. Doch die Berührung des Walls schien ihm jede Fähigkeit geraubt zu haben, die auf Magie beruhte … Er stöhnte – und schalt sich im selben Atemzug der Schwäche, die er damit offenbarte. »Du kannst nicht Tikal sein«, preßte er durch die Zähne, von denen er wünschte, sie würden wachsen – wachsen! –, die ihre Dienste aber verweigerten wie alle Attribute, die der Kelch ihm einst geschenkt hatte. Zapata hatte das Gefühl, unter dem Druck, der sich in seinem Schädel staute, zerplatzen zu müssen. »Warum nicht?« fragte jener, der sich als Tikal vorgestellt hatte.
»Weil ich ihn nicht verloren hätte, wäre er weiter am Leben gewesen. Ich hätte sehen können, was er sah – und ihn gefunden, ganz egal, wo er sich in der Stadt verborgen hält!« Jemand lachte. Zapata wußte nicht sicher, ob es »Tikal« war. Und Calot sagte: »Wir wissen seit langem von euren Fähigkeiten. Ihr haltet euch für vollkommen, aber das seid ihr nicht. An Klugheit sind wir Sterblichen euch mindestens ebenbürtig … Allmählich solltest du auch ahnen, warum du Tikals Augen nicht mehr nutzen kannst wie deine eigenen …« »Verrate es mir!« »Gern.« Wieder ein Luftzug. Dann – – drang etwas durch den Stoff, der Zapatas Augen bedeckte. Bohrte sich sengend in beide Augen, löschte deren Licht für immer und Zapatas Bewußtsein auf Zeit …
* Als er das nächste Mal erwachte, sah er seinen Hohen Vater auf sich zukommen und klammerte sich mit jeder Faser seines Seins an die Hoffnung, tatsächlich nur unter einem Fiebertraum gelitten zu haben – nie geblendet oder einem Verhör unterzogen worden zu sein … Doch dann begriff er, daß der Kelchmeister nicht auf ihn zukam. Daß die fremde Sicht ihn durch Nonas Augen sehen ließ! Es war ihr Gemach, ihre Unterkunft, in die er sie schlafend gebracht hatte, bevor er selbst zum Wall aufgebrochen war! Eine knöcherne Hand schien sich um Zapatas Kehle zu schließen – aber es war doch nur die eiserne Klammer, über deren Zweck ihn Calot unterrichtet hatte. Calot, der nun sagte: »Fangen wir an. Du weißt nun, warum ihr uns nicht mehr zu sehen vermögt … Wir sind blind, wie du es jetzt
bist. Aber das hindert uns nicht, an die Zukunft zu glauben – die Zukunft der Kinder derer, die noch sehen können und eure Augen in sich tragen …« Nach diesen Worten stellte Calot seine Fragen. Fragen, die nur eines bedeuten konnten: Gefahr! Eine Gefahr, die im Geheimen gewachsen war und von der Zapata und seine Geschwister nie auch nur das Geringste geahnt hatten. Die Menschen ertrugen lieber das Los der Blindheit, als sich weiter der Willkür der Tyrannen auszuliefern. Sie wußten viel über das Wesen derer, unter deren Joch sie litten – viel, aber nicht alles. Und Zapata, der nun wußte, daß auch Nonas Blut ihm nicht das Tor in die Freiheit aufgeschlossen hatte, zögerte nicht lange, seinen Vorsprung an Wissen auszunutzen. Daß er Mayab hinter sich hatte lassen wollen, bedeutete nicht, daß er auch bereit war, seine Brüder und Schwestern zu verraten. Noch immer war das, was er an Magie in sich getragen hatte, wie erloschen. Aber für das, was er vorhatte, bedurfte es keiner Magie. Nur der Verzweiflung. »Da! Was – tut er …?« Es waren die letzten Worte, die sein Gehör erreichten. Das letzte Geräusch, das er mitnahm in die Asche, zu der sein Körper verbrannte, war ein ohrenbetäubendes Knacken, dem ein eisiger, jenseitiger Wind folgte …
* Nona erblickte Landru, als er ihr wie ein Gespenst entgegenkam. In seine Züge hatte sich etwas wie Erschöpfung gegraben. Er wirkte wie … ausgebrannt. »Was ist passiert?« fragte sie mit lahmer Zunge.
Wir sind alle Gespenster, dachte sie düster. Diese Sphäre saugt uns aus, stiehlt unsere Kraft … Sie wollte aufstehen, war aber zu schwach. Auf die Ellbogen gestützt blieb sie liegen und wartete, bis er bei ihr war. Selbst in dieser Haltung überkam sie sanfter Schwindel. Sie schloß kurz die Augen. Dann stand Landru vor ihr. Er schwankte wie ein Halm im Wind. Ohne Begrüßung erzählte er ihr von dem Kampf, den er mit Lilith ausgefochten hatte. Und endete mit der Feststellung: »Ich habe sie unterschätzt. Das wird mir nicht noch einmal passieren.« Warum nicht? wollte sie einwerfen, brachte aber nicht die Kraft auf. Und ihm … ihm schien ihre elende Verfassung in seinem eigenen Zustand nicht einmal aufzufallen. »Ich habe versucht, mich in der Abgeschiedenheit des Palastes zu regenerieren«, sagte er nach einigen schweren Atemzügen. »Aber es geht zu langsam. Ich brauche schnell meine Kraft wieder. Sie darf mich nicht so sehen, sonst …« Er preßte die Lippen zu einem harten Strich zusammen. Nona wußte nicht, warum sie trotz der offensichtlichen Not, in der ihr Geliebter steckte, unentwegt an Zapata denken mußte – und warum es sie drängte, über ihn zu sprechen. Doch ihre Lippen blieben versiegelt. »Es gibt einen Ort in der Stadt, der mir helfen könnte, schneller zu genesen«, sagte Landru, sich des Monologs, den er führte, offenbar gar nicht bewußt. »Ich werde ihn aufsuchen und so bald wie möglich zurückkehren. Über die genaue Dauer kann ich nichts sagen. Ich wollte, daß du Bescheid weißt – und dich bitten, sollte ich länger fortbleiben, dich um Lilith zu kümmern. Willst du das tun?« Nona nickte. Zu mehr war sie nicht imstande. Auf Landrus mager gewordenem Gesicht entstand ein Ausdruck, der sie wie ein warmer Wind durchwehte. Als er ging, hatte sie immer noch kein einziges Wort über die Lip-
pen gebracht. Sie fror jetzt stärker und verkroch sich tiefer unter die Decken ihres Lagers. So merkte sie nichts von dem Donnerschlag, der Landru traf, kaum daß er ihre Unterkunft verlassen hatte. Ihn und sieben seiner Kinder.
* Chiquel fuhr wimmernd von seinem Lager auf, und Pomoná, die gerade unterwegs zu ihm war, strauchelte auf den untersten Stufen des Palastes. Wie eine Schrift aus Blut stand es plötzlich in die Hirnen aller Vampire Mayabs geschrieben, als wollte es ihnen zubrüllen: ICH BIN GESTORBEN! EUER BRUDER ZAPATA IST NICHT MEHR! Pomoná fing sich – und vergaß den darbenden Bruder, der ganz in der Nähe unter dem Todesimpuls nachbebte, den Zapata im Moment seines Dahinscheidens ausgelöst hatte. Chiquel war außerstande, dem Impuls an seinen Ausgangspunkt zu folgen. Seine Geschwister nicht. Binnen Sekunden unterbrachen sie das, womit sie gerade beschäftigt waren. Sie wußten, was geschehen war – und wie sie zu handeln hatten, obwohl das Ereignis einmalig war in der Geschichte ihres Reiches. Der Kelch hatte ihnen das Wissen in die Wiege gelegt, was die Schockwelle, die sie erreicht hatte, bedeutete. Und wie der Ort des Todes zu finden war. Es bedurfte nicht der feinen Spürnasen ihrer Jagdjaguare – sie brauchten sich nur von ihrem innersten Gefühl leiten zu lassen. Und das taten sie. Wie ein Schwarm schrecklicher Vögel verließen sie den Horst ihrer Herrschaft.
Und ein jeder dachte dasselbe: Wir rächen dich, Bruder! Wer immer es dir angetan hat – er wird teuer dafür bezahlen! Nur einer ließ sich nicht von seinem Weg abbringen …
* Landru umhüllte sich mit einer Aura, die ihn davor schützte, bei einem der Menschen, deren Weg er kreuzte, Beachtung zu finden. Dafür reichte seine Kraft noch – zu mehr nicht. Der Todesimpuls hatte auch ihn ins Wanken gebracht; ihm zu folgen verbot er sich indes mit eiserner Willenskraft. Genug Kelchkinder waren unterwegs, um den Grund von Zapatas Tod zu ergründen – und ihn, falls kein Unfall dahintersteckte, zu sühnen. Nein, Landru unterbrach seinen schwankenden Gang zu der kleinen Pyramide nur hin und wieder, um Atem zu schöpfen. Und dann stieg er die letzten Stufen empor, die ihn von seinem Ziel trennten. Er nahm seine Aura zurück, ließ die Wächter seine Autorität spüren und wartete, bis sie ihm das Tor geöffnet hatten. Ohne noch ein einziges Mal innezuhalten, schritt er auf die Schwärze zu, die das Gewölbe der Stadt stützte – seit einem halben Jahrtausend. Bereitwillig ergab er sich der Anziehungskraft der rotierenden, unvorstellbaren Kraft, die der Lilienkelch hier einst manifestiert hatte und die sich selbst in Gang hielt wie eine gewaltiges Perpetuum mobile. Er berührte sie. Drang in sie ein. Und verschwand, als hätte es ihn nie gegeben.
*
Calots Finger wühlten in der kühlen Asche, und für eine Weile hatte er das Gefühl, selbst ein Eisen um die Kehle zu tragen. Ein Eisen, das ihm die Luft abschnürte und nie mehr weichen würde … Neben ihm stöhnten andere: »Was hat er getan?« – »Dieses Geräusch! Ist er …?« Ein hastiges Tasten und Wischen. »Er ist zu Staub zerfallen!« Der Blinde nahm alle Kraft zusammen, um es auszusprechen: »Er hat sich selbst umgebracht! Er war noch feiger, als ich dachte …« Nach seinen Worten legte sich der Aufruhr im Stollen etwas. Noch niemand hatte dem Ende eines Tyrannen beigewohnt. Und auch wenn sie seinen Zerfall nicht gesehen hatten, so konnte sich doch ein jeder mit eigenem Tastsinn davon überzeugen, daß es geschehen war. Und plötzlich – von einem Moment zum anderen – wandelte sich die Stimmung der Blinden in ihrem Unterschlupf. Nicht mehr Panik drohte sie zu übermannen, sondern Hoffnung! »Sie sterben wie wir!« Wer immer es gerufen hatte – er nährte damit das zarte Pflänzchen der Rebellion, die sie alle in ihren Herzen trugen. Manche seit Jahre, andere – wie Tikal – erst seit Tagen. Außer Asche war nichts von dem Tyrannen geblieben, der an exakt derselben Stelle aufgetaucht war wie vor ihm schon Tikal. Ohnmächtig. Ein körperliches Wrack. Stigmatisiert wie jeder sterbliche Maya von der Barriere, die er berührt hatte. Plötzlich stürmte jemand in den Stollen und rief: »Die Leute schreien! Sie haben Angst! Der Palast speit seine Brut aus! Vielleicht war es eine Falle. Vielleicht wurde er geschickt …!« »Um den Preis seines eigenen Lebens? Niemals!« wehrte Calot ab. Er brauchte nur Sekunden, um die veränderte Lage zu begreifen und zu reagieren. »Wir müssen den Stollen verlassen – sofort! Alle sollen mir folgen! Schnell, wir haben keine Zeit zu verlieren! Irgendwie haben sie von seinem Ende erfahren. Sie werden bald hier sein!«
Eilig organisierte er die Evakuierung des Stollens, ohne daß einer seiner blinden Getreuen zu Schaden kam. Und er war es auch, der die Lunte an der schon lange gelegten Sprengladung entzündete – – die den verlassenen Stollen zum Einsturz brachte.
* Cuyo war der Älteste – rechnete man die wenigen Monate ein, die er vor seiner Kelchtaufe früher geboren worden war als die übrigen Kinder. Und nun war er der erste, der die Hütte erreichte, in der es einen geheimen Zugang in die Unterwelt gab. Einen Schacht, der weit, weiter als jeder Vorratskeller, in den Boden führte, auf dem die Stadt einst erbaut worden war. Nicht Wissen, sondern purer Instinkt leitete Cuyo, wie auch seine Geschwister, die hinter ihm die Ziegelsteinhütte stürmten und sich ihrer Fluggestalt entledigt hatten. »Da!« Cuyo zerfetzte die Bretterbarriere, die den Weg versperrte, mit roher Gewalt. Doch noch ehe er einen Fuß in die Öffnung setzte konnte, erbebte der Boden unter ihren Füßen. Eine mächtige Erschütterung in der Tiefe, begleitet von einem dumpfen Krachen, bahnte sich den Weg zu ihnen empor. Cuyo fluchte. Dann fühlte er sich von Pomoná zur Seite geschoben, die sich auch von der Detonation nicht abhalten lassen wollte, dem letzten Gruß ihrer Bruders Zapata zu folgen. Geschmeidig tauchte sie ins Dunkel, aus dem sich eine Staubwolke zu ihnen heraufschraubte. Suchend tastete ihr Blick durch die Schlieren – – bis er von Stein und Sand aufgehalten wurde. In der Metamorphose grub sie sich ein Stück weit ins Innere der
nachrutschenden Masse. Dann begriff sie, daß sie Gefahr lief, steckenzubleiben, die Orientierung zu verlieren und dem Bruder auf aberwitzige Weise nachzufolgen … Sie kehrte zur Oberfläche zurück. »Sinnlos!« rief sie den Wartenden entgegen. »Wer immer dafür verantwortlich ist – er hat ganze Arbeit geleistet und seine Spuren verwischt …« »So wird er nicht davonkommen!« geiferte Atitlá. »Los – holen wir die Jaguare! Vielleicht können sie die Fährte aufnehmen!« Kaum jemand hörte Pomoná fragen: »Wie kam er hierher? Was suchte er hier? Und wie konnten sie ihn überwinden …?« Der Verlust des Bruders traf sie am härtesten. An Ort und Stelle wartete sie, bis die anderen die Jaguare geholt hatten. Vergebens. Die Witterung, auf die sie abgerichtet waren, fanden sie nirgends! »Wem gehört diese Hütte?« Auch diese Spur verlief im Sand. »Der Besitzer starb schon vor Jahren. Niemand bewohnte sie seither …« Diese Auskunft von Menschen, die einem strikten Verhör unterzogen wurden und die nicht lügen konnten, mußten sie, wenn auch widerwillig, glauben. Selbst nach Einbruch der Nacht durchsuchten die Vampire noch die Hütten. In einer anderen leerstehenden fanden sie einen intakten Stollen – aber verlassen. »Von wem wurde das erbaut? – Sind wir von Schächten unterhöhlt …?« Niemand wußte darauf zu antworten. Noch nicht. »Irgend etwas geht hier vor! Wir müssen Vater informieren!« Es war Cuyo, der dies rief – aber auf wenig Gegenliebe stieß. »Was ist? Warum seht ihr mich so an?«
Niemand antwortete ihm. Aber in den Gesichtern der anderen las Cuyo das, was er sich bis zu diesem Moment noch nicht gestattet hatte zu denken – das ihm aber aus dem schwarzen Herzen sprach. Unser Hoher Vater muß nicht wissen, daß wir unfähig sind, das unterworfene Geschlecht zu kontrollieren! Unser Hoher Vater würde uns spüren lassen, was er von Versagern hält … Fast wortlos kehrten sie der Stadt den Rücken. Stumm und voller Ungewißheit, was als nächstes über sie hereinbrechen würde …
* Tags darauf »Vielleicht hätte ich es nicht tun sollen.« Pomoná sah auf Chiquel hinab. Wie ein fast zu Tode geschundenes Tier kauerte er auf dem Lager, mißgestaltet und von schwärenden Wunden überzogen, gegen die seine vampirische Heilkraft kaum noch ankam. »Vielleicht«, fuhr seine Schwester fort, »hätte ich zulassen sollen, daß sie, die wir Mutter nennen sollen, Vater erschlägt.« Chiquel vernahm ihre Worte sehr wohl, und seine Lider hoben sich. Plötzliches Entsetzen schärfte den Blick seiner Augen. »Daran solltest du nicht einmal denken«, brachte er mühsam und kaum verständlich hervor. Pomoná lachte freudlos auf. »Wie kannst ausgerechnet du es mir verbieten wollen?« fragte sie. »Sieh dich an – wenn unser Hoher Vater nur zurückgekehrt ist, um uns so etwas anzutun, dann wäre es wohl besser, wir hätten ihn nie wiedergesehen.« Ein kühler Luftzug fuhr durch das Gemach, zugleich verdunkelte ein großer Schatten das Fenster. Dann setzten nackte Füße kaum
hörbar auf dem steinernen Boden auf. »Ich bin sicher, Vater wäre entzückt, dich so reden zu hören, Schwester. Vermutlich könntest du dich dann neben Chiquel zur Ruhe legen.« Atitlá schüttelte ihr langes dunkles Haar, bis es ihr in sanften Wellen über die Schultern floß und ihre kleinen Brüste bedeckte. Ihr hintergründiges Lächeln entblößte auffallend kleine, perlenhafte Zähne, an denen etwas Dunkles wie Patina klebte. Ihre kleine Zunge fuhr darüber und wischte es fort. Dann trat sie zu Chiquel, beugte sich zu ihm hinab und reichte ihm ein zusammengeknülltes Stück Stoff, das vor dunkler Nässe troff. »Hier, ein kleines Mitbringsel«, sagte sie, ohne indes wirklich fürsorglich zu klingen. »Vielleicht kräftigt es dich ein wenig.« Schweigend nahm Chiquel das Tuch, roch daran und preßte es sich dann zwischen die Lippen. Leises Schmatzen und Saugen waren zu hören, dazwischen ersticktes Würgen. »Kaltes Blut«, meinte Pomoná angewidert. »Es muß fürchterlich schmecken.« »Besser als nichts«, erwiderte Atitlá achselzuckend. »Unser Bruder kann nicht selbst für sich sorgen.« »Wir sollten ihm ein Blutopfer herbringen«, schlug Pomoná vor. »Später«, sagte Atitlá lächelnd. »Laß uns erst noch ein wenig darüber sprechen, wovon eben noch die Rede war, bevor ich zurück kam.« Pomoná senkte betroffen das Haupt. »Es war nur dummes Gerede.« »Das glaube ich nicht«, erklärte ihre Schwester, und etwas Verschlagenes trat in ihre ebenmäßigen Züge. »Viel mehr scheint es mir, als würde unserem Hohen Vater nicht länger der Respekt zuteil, den wir ihm schulden.« »Wir schulden ihm gar nichts!« fuhr Pomoná auf. Es war, als hät-
ten Atitlás Worte und Ton einen Damm in ihr brechen lassen. »Er hat uns einst ein Leben in Gefangenschaft geschenkt, und nun ist er zurückgekehrt, um uns überdies zu strafen –«, sie wies auf Chiquel hinab, »– und zu zwingen, nach seinem Willen zu lügen, ohne uns den Sinn dahinter zu erklären. Wir sind für ihn nicht mehr als Werkzeuge, Mittel zu welchem Zweck auch immer.« Zornschnaubend hielt sie inne, ehe sie ergänzte: »Letztlich gelten wir in seinen Augen offenbar weniger noch –«, ihr wütender Blick schweifte kurz zum Fenster hin, »– als das Menschengewürm da draußen.« »Wenn es denn so wäre«, wandte Atitlá ein, »dann sollten wir mit dieser Lage nicht hadern, sondern alle Anstrengungen unternehmen, um sie zu ändern. Um unserem Hohen Vater zum Wohlgefallen zu sein und in seiner Achtung zu steigen.« Pomoná winkte ab. »Wozu?« fragte sie bitter. »Siehst du denn nicht, wie seine Rückkehr und die Ankunft seiner Weiber unser Leben hier verändert hat? Chiquel wird wohl nie wieder zu alter Kraft finden, und Zapata –«, die Vampirin verstummte abrupt, weil die Erinnerung an den Bruder, dem sie mehr zugetan gewesen war als jedem anderen, ein Gefühl in ihr wachrief, das sie nie zuvor erfahren hatte und das ihr allein schon ob dieser Fremdartigkeit unangenehm war. »Meinst du, ein anderer könnte es dir nicht besorgen, wie Zapata es getan hat?« Atitlá grinste gehässig. »Glaube mir – er war nicht besser als etwa Cuyo, dessen …« »Schweig!« brauste Pomoná wutentbrannt auf, tief getroffen von den Andeutungen ihrer Schwester. Wie ein Jaguar duckte Pomoná sich zum Angriff, bereit und willens, sich auf Atitlá zu stürzen – – doch im letzten Moment hielt sie inne. Ihre Anspannung schwand auf einen Schlag, und in ihre Züge trat ein Ausdruck der Erschütterung. »Siehst du, was geschieht?« flüsterte sie. »Ich war drauf und dran, dich anzugreifen. Etwas, das mir vor Tagen niemals in den Sinn ge-
kommen wäre.« Sie schwieg einen Moment lang, dann fuhr sie fort: »Die Dinge ändern sich in Mayab seit Vaters Rückkehr, und auch wir verändern uns – nicht zum Besseren hin.« Atitlá antwortete nicht; nicht gleich jedenfalls. Es schien, als müßte sie die Worte ihrer Schwester erst überdenken. Und schließlich sagte sie: »Dann ist es an uns, den Veränderungen Einhalt zu gebieten. Vielleicht ist dies eine Aufgabe, die Vater uns gestellt hat – um uns auf die Probe zu stellen, ob wir seiner Gnade noch würdig sind.« Pomoná zuckte vage die Schultern. »Wer weiß? Womöglich ist es so. Aber selbst wenn nicht – schon um unseretwillen sollten wir versuchen, Mayab so zu erhalten, wie es seit Anbeginn war. Denn so soll es bleiben –« Unvermittelt hob Atitlá den Kopf, lauschte und witterte. Pomoná brach ihre Rede ab, fragte aber: »Was ist? Was hast du?« Ihre Schwester antwortete lächelnd, wenn auch ohne jede Spur von Freude. »Manche Dinge haben sich noch nicht geändert. Und ich selbst werde dafür Sorge tragen, daß wenigstens sie weiterhin ihren gewohnten Lauf nehmen.« Die Frage nach Einzelheiten erstarb Pomoná auf der Zunge. Denn nun vernahm auch sie – – das Wehschreien einer Frau. Und die Ahnung von neuem, in der Geburt befindlichen Leben. Sie nickte Atitlá verstehend zu. »Säe den Keim«, sagte sie. »Je eher er ins Blut gepflanzt wird, desto früher trägt er uns Früchte.« »So ist es.« Atitlá wandte sich ab und strebte dem Fenster zu. »Und so bleibt –« Ihr letztes Wort war schon nicht mehr zu vernehmen, weil es im schmalen Schlund der Fledermaus erstickte, in deren Gestalt Atitlá sich aufmachte, um den jüngsten Bewohner Mayabs zu initiieren.
*
Zur gleichen Zeit Der Ort war finster, und doch nicht dunkel. Zeitlos, und doch im Takt von Zeit und Ewigkeit schwingend. Fremd wie vor Jahrhunderten, und noch ebenso vertraut … Ich wußte, daß du zurückkehren würdest – eines Tages! Unaufhörlich zirkulierte durch Landrus Gehirn, was unmittelbar nach Betreten des Weltenpfeilers auf ihn eingestürmt war – Wissen, das ihm einst verweigert worden war und das nun wie selbstverständlich auf ihn überfloß. Damals, nach der Taufe der acht Maya-Kinder, hatte er keine Antwort auf die Frage erhalten, warum der Kelch die Völker dieses Kontinents nicht für geeignet hielt, Aufnahme in der Alten Rasse zu finden. Jetzt, nach so langer Zeit und da er am wenigsten damit rechnete, erhielt er die Erklärung! Er war gekommen, um sich mit der Vitalität der Kelchmagie aufzuladen, seine Schwäche abzustreifen und danach das Spiel, das er mit Lilith Eden spielte, fortzusetzen. Doch nun rückte dieses Anliegen unerwartet in den Hintergrund. Die Ureinwohner dieser neuentdeckten Welt, so hatte der Kelch damals erkannt, waren anders als die Menschen der Alten Welt. Ihr in völligem Einklang mit der Natur geführtes Leben bedeutete Gefahr. Es ermöglichte ihnen, dem Bösen wieder zu entsagen, welches die Taufe in ihnen weckte – und damit zugleich zur Bedrohung für die geheimen Herrscher der übrigen Welt zu werden. Genauso, erinnerte sich Landru, wie es rund hundert Jahre später bei Makootemane und seinem Stamm geschehen war! Dieses Volk – primitiver als die hochentwickelten Mayas und daher vielleicht vom Kelch unterschätzt – hatte die Fähigkeit genutzt, sich mit ihren Totemtieren zu verbinden. Das Böse in ihnen war von den reinen Tier-
seelen neutralisiert worden – und die Arapaho hatten der Dunklen Macht entsagt. Makootemanes Stamm war aber eine Ausnahme gewesen, kaum von Bedeutung im Lauf der Zeiten. Ganze Völker jedoch wie die Maya, Inka und Azteken hätten diesen Kontinent zu einem Bollwerk gegen die Alte Rasse werden lassen. Dies war der Grund, warum die Hermetische Stadt errichtet worden war – und Landru konnte nicht umhin, seinen Fehler zuzugeben. Hätte der Kelch damals nicht eingegriffen, was wäre bis heute aus der Rasse der Vampire geworden? Und während Landru weiter im Strom der Magie badete, begriff er, daß das, was der Lilienkelch hier zurückgelassen hatte, mehr war als eine die Barriere speisende Kraft, die auf dem damaligen Stand stehengeblieben war. Dieser Weltenpfeiler stand in Verbindung mit der Welt draußen! Er kommunizierte mit anderen Orten, in denen vergleichbare Energien deponiert waren! Auch mit – – dem Dunklen Dom! Dem Ausgangsort seiner Bestimmung als Kelchhüter! Als Landru von der rotierenden Energieballung wieder ausgespien wurde, wußte er nicht, wie lange sein Aufenthalt darin gedauert hatte. Nicht mehr Schwäche, wie noch beim Betreten des kleinen Tempels im Zentrum der Stadt, ließ ihn wanken – sondern die Erkenntnisse, die ihm zuteil geworden waren … Machtvoll pochten seine Fäuste gegen das Tor, das bereitwillig geöffnet wurde. Dann aber prallten die Wächter zurück, denn nicht der Kelchmeister, den sie eingelassen hatten, sondern ein silbergrauer Wolf stob heraus und hetzte die Stufen hinab in Richtung Palast. In Richtung Nona!
Sie mußte erfahren, was für ein Narr er gewesen war, daß er den Dingen, die sie ihm aus dem Dunklen Dom des Ararat berichtet hatte, nicht gleich nachgegangen war. So viel wertvolle Zeit hatte er verloren. Statt seiner am tiefsten verwurzelten Sehnsucht zu folgen, hatte er sich von blinder Rachsucht leiten lassen … Hatte er das? Oder steckte etwas ganz anderes dahinter? Wessen Interessen vertrat er hier in Mayab – seine oder die eines Kindes, das der leibhaftige Satan war …? Völlig aufgewühlt hetzte er weiter. Nona mußte erfahren, was er erfahren hatte – und daß er keine Stunde länger bleiben konnte. Anderswo wurde über die Zukunft entschieden. Anderswo war ein Bruder erwacht …
* Als Lilith die Tür der Hütte öffnete und über die Schwelle trat, klang neben dem Schrei der Frau ein weiterer auf: der eines Mannes. Die Angst in seinen Zügen mühsam beherrschend, stellte der Maya sich zwischen Lilith und die Frau, die seine Gemahlin sein mochte und halbnackt, die Beine angewinkelt, auf einem schlichten Bett lag. Lilith blieb an der Tür stehen und hielt dem Blick des Mannes stand. »Du bist Bonampak?« fragte sie. Er nickte langsam. Daß sie seinen Namen kannte, schien ihn in seinen Vorbehalten ihr gegenüber noch zu bestärken. »Solltest du Selva nicht beistehen, anstatt dich mir in den Weg zu stellen?« Liliths Blick wies an ihm vorbei auf seine Frau, die vor Schmerzen wimmerte. »Ich stehe ihr bei, indem ich dich von ihr fernhalte«, erklärte Bon-
ampak. Seine Stimme zitterte, aber er wirkte zu allem entschlossen. »Ich will ihr nichts tun«, sagte Lilith. »Ich dachte nur, ich könnte vielleicht helfen.« Bonampak lachte freudlos auf. »Helfen«, stieß er dann voller Verachtung hervor, und sein Ton erinnerte Lilith an den Copáns. »Auf Hilfe von eurer Art können wir gut verzichten.« »Aber –«, setzte Lilith an, doch der andere unterbrach sie; zusehends gewann sein Mut an Macht. »Willst du mir weismachen, du wärest nicht wie sie?« Mit einer flüchtigen Bewegung deutete er zur Tür hin, meinte aber wohl den Palast in einiger Entfernung. »Du kannst nicht anders sein als die Tyrannen, wenn sie dich als ihren Gast beherbergen.« »Ich bin mehr als nur ihr Gast«, erwiderte Lilith, aber es klang nicht im mindestens stolz oder gar überheblich, eher schon bedauernd. »Ein Grund mehr, dir zu mißtrauen.« Bonampak wollte noch mehr sagen, aber ein lauter Aufschrei Selvas unterbrach ihn. »Hilf – mir!« Hastig wandte er sich um, unschlüssig, ob er sich weiter Lilith entgegenstellen oder zu Selva eilen sollte. Lilith nahm ihm die Entscheidung ab. Noch ehe er auch nur den Versuch machen konnte, sie aufzuhalten, war sie an Bonampak vorbei und kniete neben Selvas Lager. Sie faßte nach den Händen der jungen Frau, versuchte an ihrem Schmerz teilzuhaben, in der Hoffnung, daß diese Erfahrung die verschüttete Erinnerung an ihre eigenen acht Geburten wecken würde. Aber nichts dergleichen geschah. Liliths Blick fraß sich förmlich an Selvas von Leiden und Anstrengung verzerrtem Gesicht fest, von dem der Schweiß längst alle Farbe gewaschen hatte. Und sie fragte sich, wie es nur angehen konnte, daß sie selbst solchen Schmerz einfach hatte vergessen können.
Mußte er sich nicht jeder Frau – gleich ob Mensch oder Vampir – solcherart einprägen, daß sie ihn im Leben nie vergaß? Eine grobe Berührung an der Schulter störte Lilith in ihren Gedanken. Bonampak hatte sie gepackt und wollte sie von der werdenden Mutter fortzerren, aber sie wandte ihm nur den Blick zu und starrte ihn eindringlich an. »Was vergeudest du Zeit?« fuhr sie ihn an. »Siehst du nicht, daß ich euch nichts Böses will?« Er sah sie verdattert an, ein eigenartiges Irrlichtern im Blick. »Los, schaff heißes Wasser heran«, trug sie ihm auf und wies zu der Feuerstelle hinüber, die im Boden eingelassen war und über der Dampf aus einem Kessel stieg. »Und hol saubere Tücher.« Einen winzigen Moment lang wunderte sich Lilith, woher sie über die Vorbereitungen einer Geburt Bescheid wußte, doch sie vergaß, weiter darüber nachzudenken, weil sich in diesem Augenblick Selvas Finger förmlich in die ihren krampften. Hechelnd ging ihr Atem. Und dann – »Es kommt!« rief Lilith aufgeregt. »Ich kann das Köpfchen sehen.« Rasch rückte sie zum Fußende des Lagers hin. Ihre Hände schlossen sich vorsichtig um den glitschigen Kopf des Kindes. Der Geruch von Blut gewann an Macht – Lilith verschloß ihre Sinne dafür, ließ sich nicht davon überwältigen. Behutsam zog und drehte sie das Neugeborene im Schoß seiner Mutter, half ihm, hinauszuschlüpfen in diese Welt. Und endlich lag es vor ihr, noch mit seiner Mutter verbunden. Mit einer gesäuberten Klinge kappte Lilith die Nabelschnur, und dann wiegte sie das winzige Menschlein in ihren Armen, barg das nasse Bündel an ihrer Brust. Bis es den ersten Schrei tat, so kraftvoll, daß es die Hütte schier erfüllte. Der Gruß neuen Lebens an eine Welt, die der Tod regierte. Bonampak, der der Geburt stumm und fast tatenlos beigewohnt
hatte, wollte sein Töchterlein aus Liliths Armen nehmen. Doch eine Stimme von der Tür her ließ ihn in der Bewegung erstarren. »Nun? Soll ich es tun, oder möchtest du, daß ich die Ehre dir überlasse – Mutter?« Synchron wandten Bonampak und Lilith den Blick zur Tür. Das aufmunternde Lächeln der Frau dort galt Lilith. Aber es entsetzte sie im gleichen Maße wie Bonampak. Denn seine Bedeutung war unmißverständlich.
* Wie im Reflex oder einem Instinkt folgend drückte Lilith das Kind fester an ihre Brust. »Was tun?« fragte sie die Vampirin, obgleich sie ahnte, was die andere gemeint hatte. Mit der Geschmeidigkeit einer Katze kam Atitlá näher. Lilith wich unwillkürlich zurück und drehte das Menschlein aus dem Blickfeld der anderen. »Na, was wohl?« erwiderte Atitlá. »Das Balg muß initiiert werden – von mir oder dir? Ich bin gerne bereit, dir den Vortritt zu lassen – Mutter.« Ihr Lächeln war von ganz eigener, geheimnisvoller Art. »Du willst –?« begann Lilith, brach jedoch ab. Selbst es auszusprechen, war sie kaum imstande. Und es zu tun? Nein. Niemals! Obwohl der Duft, der von dem Neugeborenen aufstieg, ihr betörend in die Nase drang. Blut klebte noch feucht auf der weichen Haut, und das Pochen des winzigen Herzens strahlte auf Liliths eigene Brust über … »Verschwinde«, zischte sie der Vampirin zu. Irritation stahl sich in Atitlás feine Züge, für einen Moment jedoch nur, dann wich der Ausdruck dem von Entschlossenheit. »Nun gut«, sagte sie, »wenn du es nicht tun willst –« Sie trat näher, nicht schleichend und lauernd diesmal, sondern
rasch und festen Schrittes. Ihre Hände streckten sich nach dem nackten Bündel in Liliths Arm. Doch bevor Lilith selbst das Kind dem Zugriff der Vampirin entziehen konnte, mischte sich ein anderer ein. Bonampak. Er drängte sich zwischen Lilith und Atitlá und stieß die Tyrannin nach hinten. Sein Eingreifen erfolgte so überraschend, daß die Vampirin unter seinem Stoß taumelte und stürzte. Doch sie kam sofort wieder in die Höhe, und ihr Blick und Fauchen verhießen, daß es für Bonampaks Frevel nur eine Strafe geben konnte – Ihre Hand mutierte in der Bewegung des Hiebes, den sie nach dem Maya führte. Dolchartige Klauen rissen ihm die Wange auf, blutiges Rot mengte sich in die Bemalung seines Gesichts. Die Wucht des Schlages trieb Bonampak zur Seite. Der Schmerz ließ ihn aufstöhnen. Zur Aufgabe indes war er nicht bereit. Er würde das Leben seines Kindes mit dem eigenen beschützen, in der wahnwitzigen Hoffnung, die Vampirin möge das Neugeborene verschonen, wenn sie sich an ihm selbst gütlich tun konnte. Lilith durchschaute Bonampaks Plan mühelos. Und schalt ihn in Gedanken einen naiven Narren. Bonampaks Widerstand würde nur eines zur Folge haben: daß seine Familie auf grausame Weise dafür würde bezahlen müssen! Wenn sie es nicht verhinderte. Bonampak rappelte sich auf. Atitlá spannte sich zu einem Satz in seine Richtung. Lilith sprang ihr in den Weg. Ohne daß Kind loszulassen, trat sie nach der Vampirin. Der Tritt genügte, Atitlá aus dem Konzept zu bringen. Mit einem Blick befahl Lilith den Maya in den hinteren Teil der Hütte; zugleich drückte sie ihm sein schreiendes Kind in den Arm. Und dann stellte sie sich Atitlá zum Kampf.
»Was hat das zu bedeuten?« fragte die Vampirin, verunsichert und wütend in einem. »Warum –?« Lilith lächelte hart. »Mir gefällt das Wort ›Balg‹ nicht«, sagte sie leise. »Von ein paar anderen Dingen hier ganz zu schweigen.« »So laufen die Dinge hier aber seit Anbeginn«, erwiderte Atitlá. »Und du solltest nicht versuchen, sie zu ändern.« »Ich wüßte nicht, was mich daran hindern sollte«, entgegnete Lilith. »Nun«, meinte Atitlá gedehnt. »Ich zum Beispiel!« »Wage es.« »Jederzeit.« Und damit stürzte die Vampirin Lilith entgegen!
* Vielleicht hatte Atitlá nie wirklich kämpfen müssen. Ihre Autorität und die Macht der Tyrannen Mayabs mochten diese Form der Auseinandersetzung nie erforderlich gemacht haben. Lilith jedenfalls war angesichts des lausigen Kampfstils ihrer »Tochter« fast enttäuscht. Woher sie selbst sich ihrer Haut beinahe mühelos zu erwehren wußte, entzog sich freilich ihrer Kenntnis. Andererseits konnte sie es zu den wenigen Puzzleteilen legen, die irgendwann einmal ein vollständiges Bild ihres früheren Lebens ergeben mochten. Atitlás Attacken erfolgten kraftvoll, aber ungestüm. Den meisten ihrer Schläge vermochte Lilith auszuweichen, um im gleichen Zuge selbst Treffer anzubringen; wischte ein Hieb Atitlás über sie hinweg, stieß Lilith vor und ging regelrecht in ihre Gegnerin hinein. Die bloße Gewalt des Kampfes trieb auch Liliths Körper in die Verwandlung, ohne ihr bewußtes Zutun. Ihre Fingernägel wurden zu Krallen, mit denen sie Atitlá zusetzte, und die steigende Kraft ih-
rer Muskeln verlieh ihren Schlägen genug Wucht, um die Vampirin zurückzutreiben. Liliths eigene Verletzungen blieben dabei stets so gering, daß die Wunden sich umgehend wieder schlossen. Dennoch schien ein Ende des Kampfes nicht absehbar. Die Kraft der Kontrahentinnen erschöpfte sich kaum, doch Lilith wollte einen Schlußstrich ziehen. Hastig sah sich nach einer solchen Möglichkeit um – und wurde fündig. Zweimal ließ sie Atitlá ins Leere laufen, dann warf sie sich ihr entgegen, brachte sie zu Fall, als sie die Vampirin dort hingetrieben hatte, wo sie ihren Plan umsetzen konnte. Hart schlug Atitlá zu Boden. Stinkender Atem wich pfeifend aus ihren Lungen. Ihr Kopf lag kaum eine Fußbreite von der Feuerstelle im Lehmboden entfernt. Lilith kam über sie. Krallte ihre Hände in Atitlás lange Mähne. Und zerrte ihren Schädel – – über die niedrig brennenden Flammen! Der Gestank verbrannten Haares stieg ihr ätzend in die Nase. Atitlá schrie auf, geiferte, doch Lilith hielt eisern fest. Das Haar der Vampirin schmorte, kräuselte sich zu pechartigen Locken, die Haut darunter rötete sich, warf Blasen. Atitlás Wimmern klang kläglicher als das des Neugeborenen. »Aufhören«, stieß sie dann hervor, »bitte, laß mich …« Lilith ließ nicht locker. Noch nicht. »Wirst du verschwinden und das Kind unberührt lassen?« fragte sie leidenschaftslos. »Ja«, preßte die Vampirin hervor, »ich schwör’s bei meinem schwarzen Blut.« »Ich bin nicht sicher, ob mir das genügen soll.« »Ich flehe dich an – Mutter!« Vielleicht gab das letzte Wort, fast schon ein Hilferuf, den Ausschlag. Lilith versuchte das kurze, aber schmerzhafte Stechen in ih-
rer Brust zu ignorieren … Sie erhob sich und riß Atitlá in der Bewegung mit hoch. Dann stieß sie die Vampirin in Richtung der Tür. »Geh«, zischte sie, »leck deine Wunden.« Atitlá schleppte sich der Tür zu. Liliths eisige Stimme holte sie noch einmal ein und schien sie gefrieren zu lassen. »Und erzähle deinen Geschwistern, was dir widerfahren ist.« Sie lächelte unergründlich. »Ihr mögt berechtigte Angst vor eurem Vater haben – aber eure Mutter erwartet nicht weniger Respekt!« Die Tür schwang hinter der Vampirin zu. Selva lag erschöpft auf ihrem Lager, starrte Lilith aber mit der gleichen Fassungslosigkeit an, wie Bonampak es tat, als er aus der Ecke hervorkam und zu Lilith trat. »Warum –?« begann er. »Ich verstehe nicht –« Er brachte keinen Satz zu Ende. Lilith lächelte ihm zu. Er schluckte. »Ich –«, er sah auf sein Kind hinab, dann hin zu seiner Frau, »– wir danken Euch.« Wieder zögerte er kurz, ehe er weitersprach: »Niemals hätte ich geglaubt, daß ich je einem –« Er brach ab, weil der Begriff, der ihm auf der Zunge lag, plötzlich unpassend schien, in diesem Fall zumindest. Lilith erriet ihn trotzdem. »– daß du je einem Tyrannen danken würdest?« Bonampak nickte. »Die Dinge ändern sich in Mayab«, meinte Lilith. »Ja, das tun sie. Zweifelsohne.« Er trat zu Selva hin und legte ihr das Kind auf die Brust. »Wie ist Euer Name?« fragte er dann über die Schulter. »Lilith.« »Lilith«, echote Bonampak, und sein Blick liebkoste das neugeborene Mädchen im Arm der Mutter.
»Lilith …«
* Als Lilith später die Hütte der jungen Familie verließ, fühlte sie sich von Bonampaks Blick noch lange verfolgt. Aber auch aus anderen Hütten heraus beobachtete man sie. Und es lag etwas in diesen Blicken aus dem Verborgenen, das einer ganz leisen Ahnung von Wärme entsprach, wie es sie zuvor vielleicht nie gegeben hatte in Mayab. Lilith ging zurück zum Palast. Die Ereignisse eben hatten ihr eine innere Stärke verliehen, die sie sich selbst nicht recht erklären konnte. Aber irgendwie fiel es ihr plötzlich leichter, sich mit den Gegebenheiten abzufinden; vielleicht, weil sie erstmals unmittelbaren Einfluß darauf genommen hatte. Keines ihrer Kinder begegnete ihr auf dem Weg in den Palast; die Korridore und Treppen waren leer. Stille herrschte. Lilith wollte Landru aufsuchen. Hatte sie früher am Tage noch gezögert, ihm gegenüberzutreten, drängte es sie nun geradezu danach. Es gab vieles zu besprechen, Dinge zu richten – und endlich würde sie Antwort von ihm verlangen auf jede Frage, die sich ihr stellte. Es würde ein langes, ein sehr langes Gespräch werden. Doch Landru befand sich nicht in seinen Gemächern. Trotzdem waren sie nicht verlassen. »Wo ist Landru?« fragte Lilith. Die junge Frau mit dem kurzen, kastanienfarbenen Haar hatte bei Liliths Eintreten mit dem Rücken zu ihr gestanden, jetzt wandte sie sich um. Sie war hübsch – und fremd. Zu den Vampiren zählte sie nicht, das wußte Lilith mit Sicherheit; und ihre Physiognomie machte deutlich, daß sie nicht dem mayabschen Volk angehörte. »Wer bist du?« wollte Lilith wissen, noch ehe die Fremde Gelegenheit hatte, auf die erste Frage zu antworten.
»Landru hat Mayab verlassen«, erklärte sie ungerührt. »Und mein Name ist Nona.« Sie hielt inne, als warte sie auf eine Reaktion Liliths. »Müßte ich dich kennen?« fragte sie. Nonas Lächeln wirkte hintergründig, vieldeutig, rätselhaft – aber auch ein wenig matt, als läge eine große Erschöpfung hinter ihr, als hätte sie sich gerade erst von einer Krankheit und damit verbundener Schwäche erholt. »Und Landru ist – gegangen?« hakte Lilith nach. Verwirrung spiegelte sich auf ihren Zügen wider. Tief in ihr mengte sich ein weiteres Gefühl dazu – vage Furcht vor neuer Einsamkeit. Sie trat an Nona vorbei ans Fenster, sah hinaus, ließ den Blick über die Stadt schweifen – – und das Gefühl der Verlassenheit wich, ein klein wenig zumindest. Nona gesellte sich zu ihr. Ihre Blicke begegneten sich. »Du herrschst jetzt allein über Mayab.« Lilith nickte. Und vielleicht, dachte sie, gereicht dies Mayab zum Wohle … Denn als sie wieder hinab auf die Stadt, die Häuser und Hütten sah und das Leben darin gleichsam zu spüren glaubte, fühlte sie eine ganz besondere Verantwortung in sich. Die Tyrannen Mayabs mochten zwar ihre leiblichen Kinder sein – – aus tiefem Herzen zugetan aber fühlte sie sich anderen. Den Menschen … ENDE
Frühe Hochkulturen Mittelamerikas Zeittafel 900 – 400 v. Chr. OLMEKEN (auch La-Venta-Kultur) Verbreitung: südl. Golfküste Mexikos Merkmale: Anfänge einer Bilderschrift, erste Tempelpyramiden mit Plattform, realistische Menschendarstellung in der Bildhauerei, Hinterlassenschaft riesiger Steinköpfe, Gründung von Handelszentren. Früheste Hochkultur Mittelamerikas, deren Architektur und Schrift allen späteren altamerikanischen Kulturen der Region als Vorbild dient.
1500 v. Chr.-1540 n. Chr. MAYA Verbreitung: südöstl. Mexiko Merkmale: Stadtstaaten mit eigenen Königen, prachtvoll geschmückte Tempelpyramiden und Kultbauten, vielschichtige Religion, in der Schmerz und Kasteiung eine große Rolle spielen. Das Herz- und Pfeilopfer ist am weitesten verbreitet. Die Gefiederte Schlange löst als Heiliges Symbol den Jaguar-Kult ab. Die Wissenschaft ist sehr fortschrittlich. Kenntnisse der Astronomie ermöglichen einen sehr genauen Kalender – dabei unterscheidet man jedoch in der Tagesanzahl zwischen dem sogenannten Sonnenjahr mit 365 Tagen und dem Wahrsagekalender, der nur 220 Tage umfaßte. Toltekische Einflüsse ab etwa dem 10. Jh. n. Chr.
Im 16. Jh. durch die spanischen Invasoren, deren mitgebrachten Seuchen und in diese Zeit fallenden Hungersnöte katastrophal dezimiert.
200 – 900 n. Chr. ZAPOTEKEN Verbreitung: Südmexiko Merkmale: Der Oberste Priester ist zugleich der mächtigste Mann in der zapotekischen Hierarchie. Tote werden in mit Wandmalereien verzierten Steingräbern beigesetzt – oder in Graburnen. Zentren: Monte Albán, Mitla, Yagul
900-1150 n. Chr. TOLTEKEN Verbreitung: Zentralmexiko Merkmale: Das große Reich wird von der Hauptstadt Tollan (Tula) aus verwaltet, Teotihuacan, mit 15.000 Einwohnern die größte Stadt des alten Amerika, übt starken kulturellen Einfluß auf das toltekische Reich aus. Dieser Indianerstamm prägt das Bild der astronomischen Kultbauten Chichén Itzás.
900-1500 n. Chr. MIXTEKEN Verbreitung: Südmexiko Merkmale: Feinde der Azteken, denen sie aber noch vor der Ankunft der Spanier unterliegen. Hochentwickeltes Kunsthandwerk
(Goldschmiedearbeiten, Kalligraphien). Um 1300 n. Chr. besetzen sie die Kultstätten Monte Albán und Mitla.
1250-1521 n. Chr. AZTEKEN Verbreitung: Mexikan. Hochland Merkmale: Ursprünglich Ackerbau betreibend, 1370 Gründung der Hauptstadt Tenochtitlán. Bis vor der spanischen Eroberung (1519-21) beherrschen die Azteken so gut wie alle mexikanischen Indianerstämme. Es gibt die herrschende Adels- und die abgabenpflichtige Unterschicht. Von unterworfenen Völkern, wie z. B. den Tolteken, werden Gottheiten wie etwa Quetzalcoatl in die eigene Kultur übernommen. Die von den Konquistadoren dokumentierten grausamen Menschenopferungen zu Ehren des Sonnengottes werden neuerdings von Experten angezweifelt. Möglicherweise handelte es sich schlicht um gezielte Stimmungsmache, um die Zerstörung dieser und ähnlich gearteter Fremdkulturen in der Neuen Welt zu rechtfertigen.
COPY Leserstory von Regine Schwartz Es war ein ganz normaler Tag. Ich hatte mich für den Spätdienst verpflichtet, weil ich nun mal gerne lange schlafe. Bevor ich den Laden betrat, dachte ich noch, daß endlich mal ein neues Firmenschild not täte. Man konnte die alte Aufschrift »TURBO-COPY, Inh. T. & O. Bacugalupo« zwar noch lesen, aber sie hinterließ doch einen faden Eindruck beim Betrachter, weil sie schon so lange dort hing. Ich betrat das Geschäft und begann mit meiner Arbeit. An diesem Tag erwartete ich noch einen Stammkunden. Er kam grundsätzlich nachts, weil er tagsüber mit seiner Arbeit einfach nie fertig wurde. Aber für gute und nette Kunden machte man schon mal Überstunden, zumal wir ohnehin täglich bis 22 Uhr geöffnet hatten. Der Tag ging vorbei, und mein Stammkunde, Gerry, trudelte wie gewöhnlich kurz vor Schluß ein. In der für ihn typischen Hektik wirbelte er durch den Laden, bediente drei Maschinen gleichzeitig und beschäftigte mich noch nebenbei mit der Gestaltung seines neuen Katalogs für amerikanische DINER-Möbel. In etwa einer Stunde würde ich wohl Feierabend machen können. Noch zwei weitere Kunden betraten das Geschäft. Und noch ein dritter. Und mit seinem Erscheinen begann der Abend sehr, sehr ungewöhnlich zu werden. Ich scannte gerade die fünfte Katalogseite und ärgerte mich über die miserablen Fotos, als er hereinkam. Mit ihm betrat eine völlig fremde Welt den Raum. Das Licht schien dunkler zu werden, die Geräusche der Maschinen zu verstummen. Ich hatte ihn nicht eintreten sehen, weil ich mit dem Gesicht zur Maschine stand. Dennoch spürte ich seine Anwesenheit so deutlich wie ein Messer im Rücken.
Langsam drehte ich mich herum. Keine Ahnung, was ich eigentlich erwartete. In der Tür stand ein noch recht jung erscheinender Mann. Er trug seinen weiten schwarzen Mantel offen. Darunter waren moderne schwarze Jeans zu erkennen, dunkel glänzende Schuhe und ein ebenfalls schwarzes Hemd. Seine Hand umschloß den Griff eines schwarzen Koffers. An seiner Erscheinung gab es nichts wirklich Ungewöhnliches, und die übrigen Kunden im Laden ignorierten ihn, wie sie es grundsätzlich mit jedem taten. Meine Ohren aber schmerzten von der nervenzerfetzenden Stille um mich herum. Dann hörte ich, was er sagte. Es war das einzige für mich wahrnehmbare Geräusch. »Guten Abend«, sagte er. Es klang freundlich, aber da war irgend etwas Erwartungsvolles im Tonfall. Dann, nach einer winzigen Pause, fuhr er fort: »Herr Bacugalupo, ob sie mir wohl gestatten würden, eines ihrer Vervielfältigungsgeräte in Anspruch zu nehmen?« Seine Stimme war so weich, fast zärtlich. Ich wußte nicht, was ich von diesem Kerl halten sollte. Er war mehr als unheimlich. Ich wollte, daß er ging und mich in Ruhe ließ, hörte mich aber im lässigen Tonfall sagen: »Klar. Die Nummer vier hinten links. Einfach durchgehen. Wenn es Probleme gibt, ich bin hier.« Ich erschrak vor meinen eigenen Worten. Der Fremde, der meinen Namen kannte, ging auch tatsächlich zu dem besagten Kopierer. Für alle anderen hatte die ganze Angelegenheit nichts Absonderliches gehabt, sah man einmal von der archaischen Wortwahl des Kunden ab. Dann brach die andere Welt mit verheerender Wucht über mich herein. Ich sah noch immer den Laden und die Leute um mich herum. Darüber jedoch legte sich eine andere Szenen! Ich befand mich an einem Hafen. Der Fremde stand ebenfalls dort, nicht weit entfernt. Um mich herum herrschte Dunkelheit. In meiner Nähe bemerkte ich ein altes, aber stabil gebautes Holzhaus, groß wie eine Lagerhalle. Über der Tür war ein vom Wetter recht mitgenom-
menes Holzschild mit der Aufschrift »Bacugalupo« angebracht. An der Tür selbst hing eine kleine Tafel, auf der wohl das Gründungsdatum der Firma vermerkt war: 1864. Ich erinnerte mich daran, daß meine Familie schon seit langer Zeit selbständig war. Dies hier mußte der Laden meines Ur-Urgroßvaters sein. Ein Mann verließ das Gebäude. Ich hätte es selbst sein können. Er hatte mein Alter und mein Aussehen, von der Kleidung abgesehen natürlich. Mein Doppelgänger marschierte ohne Zögern auf diesen anderen Kerl zu, und sie gingen zusammen fort. Ich hätte mich gern so richtig herzhaft erschrocken und laut aufgeschrien oder etwas ähnliches. Aber es ging nicht. Ich stand ruhig an meinem Platz. Für die Leute im Laden mußte es aussehen, als würde ich angestrengt über etwas nachdenken. Gerry eilte vorbei und rief mir zwei oder drei Anweisungen zu und das Versprechen, er wäre gleich soweit – was bisher nie gestimmt hat. Ich sagte »Alles klar!« und wünschte mir, endlich wieder die Gewalt über meinen Körper zurückzugewinnen. Die Bilder vom Hafen verblaßten und wurden von anderen ersetzt. Eine wilde Hetzjagd entstand – nur für meine Augen bestimmt – mitten zwischen den Kopierern. Ein Speer flog durch meine Kaffeemaschine … und traf mich! Eigentlich mein Doubel. Es war derselbe Mann von vorhin, nur trug er jetzt blutverschmierte, zerschlissene Kleidung, die zudem schon seit mindestens einem Jahrhundert aus der Mode war. Er keuchte gehetzt und taumelte geisterhaft durch einen Stützpfeiler, um in der Kasse zusammenzubrechen. Dort blieb er liegen. Resignierend blickte er auf seine Verfolger. Ein riesiger Kerl stand plötzlich über ihm und sah triumphierend auf ihn herab. Niemand sagte ein Wort. Alle schienen sich über die weitere Vorgehensweise einig zu sein. Mein Doppelgänger blickte zu ihm auf und schloß die Augen. Der Riese hob einen Holzpflock über den Kopf, um ihn dann mit mörderischer Gewalt auf den anderen hinunterzustoßen. Der Pflock durchstieß seine Brust. Mit einem letzten Schrei bäumte sich der Ge-
jagte noch einmal auf. Er schrie und ließ dabei zwei seltsam spitze Eckzähne erkennen. Dann sackte er in sich zusammen. Die Leute um ihn herum blieben noch eine kleine Weile stehen und trollten sich dann schweigend. Ein anderer Mann erschien. Mit schweren Schritten ging er langsam zu dem Toten hinüber. Seine Haltung hatte etwas Kummervolles. Es war wieder jener geheimnisvolle Kunde! Er kniete sich neben den Toten, nahm ihn in den Arm und bettete dessen Kopf auf seinen Schoß. Dann strich er ihm über das wirre Haar und redete seltsam beruhigend auf ihn ein. Tränen fielen auf das Gesicht des Toten. Nach einiger Zeit stand der Fremde auf, trug Holz aus der Umgebung zusammen, schichtete es übereinander und legte seinen ermordeten Gefährten darauf. Schweigend setzte er das Holz in Brand und sah zu, wie der Körper ein Opfer der Flammen wurde. Das Letzte, was ich hörte, war ein langer und leidender Schrei voller Traurigkeit und Verzweiflung. Dann endete die Szene, und der Farbkopierer, der eben noch zu brennen schien, stand geduldig vor mir und wartete darauf, daß ich ihm meine Aufmerksamkeit schenkte. Doch er interessierte mich nicht mehr sonderlich. Ein alter Freund wartete auf die ihm zustehende Begrüßung. Ich ging zu meinem Schöpfer in das hintere Zimmer. Er wendete sich vom Kopierer ab und sah mich an, wieder mit Tränen in den Augen, aber diesmal vor Freude. Wie damals würde er mir Unsterblichkeit verleihen, und wir würden wieder gemeinsam jagen. Und diesmal würde ich mich ganz sicher nicht so einfach von den Menschen überrumpeln lassen! © 1997 Regine Schwartz, Mauschbacher Steig 7, 13.437 Berlin ENDE
Phantom der Tiefe von Adrian Doyle Es ist der Ort, an dem Ninmahs Kinder starben. Der Ort, wo die letzten Kelchhüter unter den Trümmern des einstürzenden Höhlendoms begraben wurden. Alle – bis auf einen. Um diesen einen zu finden, reist Landru nach Anatolien, wo sich seit biblischer Zeit das Geschick von Menschen und Vampiren entscheidet. Auch gibt es Anzeichen dafür, daß die »Ewige Chronik«, die dunkle Geschichtsschreibung, aus dem Himalaja hierher verlegt wurde. Wird Landru nun endlich in ihr lesen können – und die Wahrheit über den Niedergang der Vampire erfahren? Landru ist voller neuer Hoffnung, als er den Dunklen Dom betritt. Er ahnt nicht, daß hier mehr auf ihn wartet als Wissen und Erkenntnis …