D.M. Cornish
MONSTER
BLOOD
TATTOO
Der Findling Aus dem Englischen von
Reiner Pfleiderer
Mit Illustrationen de...
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D.M. Cornish
MONSTER
BLOOD
TATTOO
Der Findling Aus dem Englischen von
Reiner Pfleiderer
Mit Illustrationen des Autors
Carl Hanser Verlag
Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel Monster Blood Tattoo: Foundling bei Omnibus Books, a division of Scholastic Australia Pty Limited.
This edition published under licence from Scholastic Australia Pty Limited.
Die Schreibweise in diesem Buch entspricht
den Regeln der neuen Rechtschreibung.
Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere
Informationen finden Sie unter www.hanser.de
Mehr über Monster Blood Tattoo gibt es unter:
www.monsterbloodtattoo.de
1 2 3 4 5 11 10 09 08 07
ISBN 978-3-446-20849-0
© D. M. Cornish (Text und Illustration) 2006
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag München 2007
Scan by Brrazo 02/2008
Umschlagillustration: D. M. Cornish
Satz: Greiner & Reichel, Köln
Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm
Printed in Germany
Für Will und Mandii,
die die Ersten waren, die daran geglaubt haben
UMRECHNUNGSTABELLE
Entfernung 1 Inch = 2,54 Zentimeter oder 25,4 Millimeter 1 Fuß = 30,5 Zentimeter oder 305 Millimeter 1 Yard = 0,914 Meter oder 91,4 Zentimeter 1 Meile = 1,61 Kilometer oder 1610 Meter Geschwindigkeit 1 Knoten = 1,85 Kilometer pro Stunde Gewicht 1 Pfund = 0,454 Kilogramm oder 454 Gramm 1 Tonne = 1,02 Tonnen oder 1020 Kilogramm
INHALT
Liste der Bildtafeln
Danksagung
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16.
Es begann mit einem Kampf Madam Operas außerordentliche Marine anstalt für Findelkinder Der Abgesandte der Laternenanzünder Auf der Hogshead Entwischt! Begegnungen auf dem Weg nach High Vesting Trauer an der Brindelwaldbrücke Wachsamkeit und Stärkungstränke Gemansche in der Nacht Im Schnellen Hasen Was der Physikus verordnet Geteiltes Leid ist halbes Leid Vieracker Ein unverhofftes Wiedersehen Entscheidungen Bei den Laternenanzündern
Explicarium Anhang 1 (A)
Anhang 1 (B)
Anhang 2
Anhang 3
Anhang 4
Anhang 5
Anhang 6
Anhang 7
Anhang 8
Karten
LISTE DER BILDTAFELN
Karte des Halbkontinents Rosamunds Reiseroute Rosamund Gosling Verline Fransitart Craumpalin Sebastipol Poundinch Europa Der Missratene Kluge Licurius Doktor Verhooverhoven Nimbelschruds oder Grinslinge Sallow Vieracker Der Bogel an der Straße Freckel
DANKSAGUNG
Meine erstaunte Dankbarkeit gilt zunächst Gott, der alle Tü ren öffnet. Ferner danke ich meinem ambitionierten und en gagierten Verleger Dyan, der dieses Buch von Anfang an mit Begeisterung unterstützt hat; Celia, meiner stets geduldigen, taktvollen und brillanten Lektor in, die mich als Autor besser erscheinen lässt, als ich es tatsächlich bin; Eija, meiner Herstellerin, die geduldig meine neurotischen Anwandlungen ertragen hat; meinen lieben Eltern Geoff und Ricki, die mir ein gutes Beispiel vorgelebt haben und immer für mich da sind; Willi, dem treuen Freund, für all die Stunden, in denen wir gemeinsam über Ideen gebrütet haben. Ihm verdanke ich den Begriff »Monster Blood Tattoo« – den Titel dieser Reihe. Außerdem danke ich Mandii, der einfühlsamen Freundin, die Europa genauso liebt wie ich; Jacey, die mich aus der Ferne ermutigt und beraten hat, ob es nun um Stoffarten oder darum ging, was richtig oder falsch ist; und all denen, die meine Manuskripte gelesen und mich auf dem langen Weg unter stützend begleitet haben: meiner tapferen und fürsorglichen Schwester Sheri, Phil »Mr. Ip« und Em »Mrs. Ip«, Matty McHam, Craigus Grovus, Edwin »Man of Steele«, Gary, Toom, Kirsty-Lee, Sue-Ellen, Jordan, David B. Cheryll, An ge, Maggie, Raquel, Emily, Andrew und Steph, den Cousins Lock, David K. und den An-einem-Mittwoch-im-MonatIllustratoren und all den anderen, die durch mein Sieb von Gedächtnis gerutscht sind. Danke. D.M.C.
ROSAMUNDS REISEROUTE
Großstadt Kleinstadt (oder Ortschaft) Festung Flusssperre Straße Sumpfgebiet
ES BEGANN MIT EINEM KAMPF
Findling, auch Findelkind, Herumtreiber: obdachlose Kinder, die auf den Straßen der Städte gefunden werden oder erstaunlicherweise sogar schutzlos durch die Wildnis irren. Gewöhnlich steckt man solche Waisen kinder in Arbeitshäuser, Fabriken oder die Bergwerke, aber einige wenige haben auch das Glück, in einem Findlingsheim unterzukommen. Eine sol che Einrichtung kann sich einer kleinen Zahl von Findlingen und Herum treibern annehmen, ihnen das Rüstzeug für ein erfüllteres Leben geben und das Los schwerer körperlicher Arbeit ersparen.
R
osamund war ein Junge mit einem Mädchennamen. Alle anderen Zöglinge in Madam Operas außeror dentlicher Marineanstalt für Findelkinder hänselten und piesackten ihn beinahe jeden Tag wegen seines Namens. Und heute sollte Rosamund gegen Gosling, seinen schlimmsten Peiniger, kämpfen, einen Jungen, der ihn mehr quälte als jeder andere und dem er sonst tunlichst aus dem Weg ging. Doch in der Harundo-Übungsstunde gab es leider kein Entrinnen. Rosamund wartete am Rand eines großen Kreises, der mit Kreide auf die Fußbodendielen gezeichnet war, deren Maserung vom häufigen Schrubben glänzend hervortrat. Ihm gegenüber stand der Feind. Mit dem Schicksal ha 15
dernd, das ihm den alten Widersacher als Gegner zugeführt hatte, blickte er finster über den Kreis hinweg. Gosling machte ein grimmiges Gesicht und erwiderte seinen Blick verächtlich. Die Leere in seinen Augen erschreckte Rosa mund. Sein Gegner war eine herzlose Hülle. Es bereitete ihm Freude, andere zu quälen, und Rosamund wusste, dass er heute besser würde kämpfen müssen als je zuvor, wenn er nicht Prügel beziehen wollte. »Mach dich auf eine tüchtige Abreibung gefasst, Rosen sträußchen«, zischte Gosling. »Genug jetzt, Master Gosling«, bellte der beleibte Fecht lehrer Barthomäus. »Du kennst die Hundert Regeln, Junge. Ruhe vor dem Kampf!« Rosamund und Gosling trugen kurze wattierte Kittel aus schmutzigweißer Baumwolle, die mit schwarzen Stricken über der normalen Kleidung gegürtet waren. Jeder hielt in der Hand einen Stock, der einen drei viertel Meter lang und kerzengerade war. Harundo war eine Form des Stockfech tens, und dies waren ihre Waffen. Rosamund bekam den Stock nie bequem zu fassen, so dass er jedes Mal vor Beginn des Kampfes seinen unbehol fenen Griff noch einmal änderte. Jetzt versuchte er, sich all die Namen, Kombinationen und Stellungen, die er gelernt hatte, ins Gedächtnis zu rufen. Die Hundert Regeln des Ha rundo hatten alle Hand und Fuß, aber ganz gleich, wie oft er übte und wie viele Kämpfe er austrug, sein Körper woll te ihm einfach nicht gehorchen. Der Speisesaal war der einzige Raum in Madam Operas außerordentlicher Marineanstalt für Findelkinder, der groß genug für Harundo war. Tische und Bänke waren auf die 16
Seite gerückt und standen kreuz und quer an der Wand. Die gut zwanzig anderen Zöglinge, die den Kreis umringten, verstummten, als der Fechtlehrer die Pfeife zum Mund führte. Rosamund bemerkte, dass manche vielsagend grins ten. Andere sperrten Mund und Nase auf, und die Kleinsten zitterten vor Angst. Gosling wirbelte angeberisch seinen Stock in der Luft herum. Rosamund heftete den Blick auf die überreinlichen Die len und wartete. Die Pfeife schrillte. Gosling stolzierte in den Kreis. »Gleich setzt es Hiebe, Zimperliese«, höhnte er. »Die ganze Woche hast du es ge schafft, mir aus dem Weg zu gehen. Dafür wirst du heute doppelt büßen.« »Das reicht jetzt, Gosling!«, brüllte Barthomäus. Rosamund hörte kaum hin. Die Hundert Regeln schwirr ten ihm durch den Kopf, während er in den Kreidekreis trat. Wenn er sie doch nur auf die Reihe bekommen könnte, dann würden ihm seine Arme und Beine schon gehorchen! Mit einem giftigen Grunzen drang Gosling auf ihn ein. Das Durcheinander in Rosamunds Kopf übertrug sich auf seinen Körper. Waren seine Hände dort, wo sie hinge hörten? Und was war mit seinen Füßen? Stand er zu nahe am Rand des Kreises? Was hielt Ausbilder Barthomäus von dem, was er tat? Und was, wenn er tatsächlich einen Tref fer landete? Gosling holte unbeholfen mit seinem Stock aus. Er war im Harundo nicht viel besser als Rosamund. Jeder andere Zögling, selbst die Kleinen, hätte jetzt einfach einen Aus 17
weichschritt zur Seite gemacht, wie sie es gelernt hatten, und Gosling eins übergezogen, auf den Rücken oder auf die Schulter. Doch Rosamund wich vor dem ungestüm an greifenden Gegner zurück. Wie durch ein Wunder bekam er rechtzeitig seinen Stock hoch und konnte den ersten Hieb abwehren. Mit einem befriedigenden Knall krachten die Stöcke zusammen. Gosling stieß einen Fluch aus und fletschte die Zähne. Das war nicht übel!, dachte Rosamund mit einem leich ten Triumphgefühl. »Nein, Rosamund! Nein! Einen Schritt nach links, dann mit einer Culix kontern!«, schrie Ausbilder Barthomäus. »Ich hab’s dir doch vorgemacht, Junge. Du hast es geübt. Mach einfach einen Schritt zur Seite, dann nach hinten und stoße kurz mit dem Griff zu. Eine halbherzige Sustis ge nügt nicht, Junge!« Rosamund war ernüchtert. Immer wenn er glaubte, et was richtig zu machen, stellte er sich in Wahrheit noch un geschickter an als sonst. Gosling griff wieder an und schlug mit dem Stock nach Rosamunds Kopf. Den ersten Hieb konnte Rosamund pa rieren, den zweiten lenkte er zur Seite ab, doch der dritte kam durch. Der Stock klatschte gegen seine Wange und seinen Mund. In seinem Kopf explodierte ein furchtbarer Schmerz, sein Gesicht brannte wie Feuer. Er schlug wie wild um sich und traf Gosling mit dem Stock direkt unter halb der Rippen. Japsend taumelte Gosling rückwärts. Ein paar von den kleineren Zöglingen jubelten verhalten, verstummten aber sofort, als Gosling herumfuhr und sie anfunkelte. In ihm 18
kochte es. Er warf den Stock weg und sprang vor. Ausbil der Barthomäus wollte dazwischengehen, doch Gosling schlüpfte unter seinen grapschenden Händen durch und rammte Rosamunds Bauch. »Mich hält keiner auf!«, stieß er zwischen den Zähnen hervor und warf seinen Gegner auf den blitzblanken Fuß boden. Das ist nicht wahr, dachte Rosamund im Fallen. Die an deren besiegen dich dauernd! Goslings Fäuste prasselten auf ihn nieder. Ein-, zwei-, dreimal wurde Rosamund am Kopf getroffen und sah Sternchen. Ausbilder Barthomäus stieß scharfe Warnrufe aus, doch sie verhallten ungehört. Endlich packte er Gosling und zog ihn weg, aber erst nachdem dessen Fäuste noch ein paar empfindliche Stellen getroffen hatten. Gosling strampelte in der Luft, als der Fechtlehrer ihn hochhob und auf die andere Seite des Kreises schleuderte. »Zurück mit dir, elender Bengel!«, donnerte Barthomäus. Rosamund war schwarz vor Augen, und der Kopf dröhn te ihm vor Schmerz, deshalb dachte er, der Ausbilder brülle ihn an, und blieb einfach liegen. Das war auch besser so, denn alles um ihn begann sich zu drehen. Gosling schäumte vor Wut und ballte die Fäuste, rührte sich aber nicht. Rosamund stöhnte. So furchtbare Schmerzen hatte er noch nie gehabt. Fransitart, der Schlafsaalaufseher mit den Hängeschul tern, wurde gerufen. Und Verline, Madam Operas Stuben mädchen. 19
Das Rascheln von Röcken kündigte Verlines Kommen an. Ihr entfuhr ein entsetzter Schrei, als sie Rosamund benommen im Kreidekreis liegen sah. Rosamund schwanden langsam die Sinne. Wie von fern vernahm er empörte, schrille Stimmen, und undeutlich spürte er, wie ihm jemand mit einem Tuch das Gesicht ab tupfte. Aus irgendeinem Grund war auch Master Fransitart schon da. Rosamund hörte, wie der alte Schlafsaalaufseher Gosling eine Gardinenpredigt hielt, und lautes Stiefel schlurfen verriet ihm, dass die anderen Zöglinge aus dem Speisesaal geführt wurden. Ausbilder Barthomäus half ihm auf die Beine, wickelte ihn in eine Decke, und Verline brachte ihn in den Jungen schlafsaal. Auf dem langen verschlungenen Weg dorthin erlaubte sie ihm, sich an sie zu lehnen, und flüsterte ihm tröstende Worte ins Ohr, die er kaum verstand. Der Schlaf saal war sehr lang und sehr schmal, und es roch darin sehr, sehr schlecht. Zudem war er von vorn bis hinten mit Betten vollgestellt, denn Madam Operas Findelhaus litt unter chronischem Platzmangel. Im Moment hielt sich niemand im Schlafsaal auf. Die anderen Jungen hatten noch Unterricht oder Tagwachdienst. Von der niedrigen schmalen Tür aus gesehen, stand Rosamunds Pritsche ganz hinten am äußersten Ende. An das Stubenmädchen gelehnt, wankte er durch den viel zu schmalen Gang zwischen den Betten, und als müsste er nicht schon genug leiden, stieß er sich dabei auch noch einen Zeh an. Als er endlich auf seine Matratze sank, spür te er einen rasenden Schmerz im Kopf und an der Wange. Außerdem hatte er einen rostigen Geschmack im Mund. Verline wuselte um ihn herum. »Du brauchst eine Dosis 20
Birchet, damit du wieder gesund wirst. Ich laufe geschwind zu Master Craumpalin und hole welches! Du bleibst still liegen. Ich bin so schnell wie möglich zurück.« Damit ent fernte sie sich raschelnd. Master Craumpalin war der Apotheker des Findlings heims und in dieser Eigenschaft zuständig für die Herstel lung der meisten Arzneitränke und chemischen Mixturen, die in der Marineanstalt benötigt wurden. Soweit Rosa mund wusste, hatte er früher in der Kriegsmarine gedient, genau wie Master Fransitart, allerdings nicht immer auf denselben Schiffen oder für dieselben Staaten. Der alte Apotheker hatte die halbe bekannte Welt gesehen und die Hautausschläge und Fieberkrankheiten unzähliger Essig fahrer – wie man Seeleute nannte – geheilt, aber mehr wusste anscheinend niemand über ihn. Er sprach noch sel tener über seine Vergangenheit als Master Fransitart. Dafür aber durfte Rosamund oft stundenlang neben ihm sitzen, wenn er seine Tränke und wundersamen Mixturen braute. Meistens sprach er dabei kein Wort, sodass Rosamund nur lernte, was er sich durch Beobachten aneignen konnte. Von Zeit zu Zeit freilich wurde der Apotheker gesprächig. Dann unterwies er ihn in der Anwendung seiner Gebräue, zeigte ihm, wie man sie mischte, rührte und aufbewahrte. Zu den aufregendsten Erlebnissen in Rosamunds Leben gehörte es, wenn er zusehen durfte, wie Master Craumpalin Zutaten vermengte und aufeinander abstimmte und es dabei zu wunderbaren und häufig auch heftigen chemischen Reakti onen kam. Rot passt zu Grün und ergibt Lila, Blau bestäubt mit Gelb ergibt gebrochenes Weiß mit olivgrünen Flecken, 21
Schwarz gekocht in Weiß ergibt Zinnoberrot mit orange farbenen Dämpfen – herrlich! In solchen Augenblicken war Rosamund so aufgeregt, dass er dem Apotheker zwi schen den Füßen herumlief. »Blitz und Donner, Junge! Geh mir aus dem Weg, bevor ich dich mit dem Zeug bespritze und in eine Pfütze verwandele!« Rosamund schmunzelte bei dem Gedanken. Am liebsten hätte er jetzt geschlafen, aber sein Gesicht schmerzte zu sehr. Er starrte benommen an die dunkle Decke, über die Schatten zu kriechen und zu huschen schienen. Es war lan ge her, dass er allein im Schlafsaal gelegen hatte. Er hatte ganz vergessen, wie unheimlich es hier sein konnte, wenn man allein war. Der Blick in das bedrückende Dunkel lenkte seine Ge danken natürlich wieder auf Gosling. Gosling Corvinius Arbour, von den Corvinius Arbours, einer einflussreichen Familie, die durch Blutsbande mit einigen der ältesten Ge schlechter Boschenbergs und der weit im Süden gelegenen Stadt Brandenbrass verbunden war. In Madam Operas Fin delhaus war er aus vielen Gründen gefürchtet, aber der Hauptgrund war sein eifriges Bemühen, allen anderen das Leben sauer zu machen. Er schnitt Mädchen im Schlaf die Haare ab, klebte Jungen im Schlaf die Augenlider zusam men, versteckte Ohrenkriecher und totes Getier in unbeauf sichtigten Schuhen oder leeren Betten, posaunte jedes Ge heimnis aus, hinter das er kam. Strafen, einerlei wie streng, bewirkten bei ihm gar nichts. Sie waren ihm gleich. Seine Eltern hatten ihn vor dem Findelhaus ausgesetzt. Wie es hieß, hatten sie sich seiner entledigt, weil sie mit ihrem Geld lieber zwei Rennpferde halten wollten. Diese mitleid 22
erregende Geschichte seiner Verstoßung hielt Gosling frei lich nicht davon ab, überall damit zu prahlen, wie bedeu tend er in Wahrheit sei. Er sei nämlich kein gewöhnlicher Junge mit nur einem Namen, sondern habe gleich drei: zwei Vornamen und einen Familiennamen! Dieser unerquickliche Gedanke veranlasste Rosamund, über seinen eigenen unglückseligen Namen nachzudenken, der obendrein sein einziger war. Er hatte sein ganzes Leben unter den hohen abblätternden Decken von Madam Operas außerordentlicher Marineanstalt für Findelkinder zuge bracht. Bei seiner Ankunft war er wenig mehr als ein klei ner rosa Schreihals gewesen, ausgesetzt vor der Haustür und in Windeln gewickelt, an denen ein altes Stück Pappe von einer Hutschachtel steckte. Darauf stand, von ungeüb ter Hand mit Kohle geschrieben, ein einziges Wort:
Dieses Wort gab man ihm als Namen, was mit einem Eintrag in das große Buch, das alle Findelhäuser führten, offiziell besiegelt wurde. Und mit diesem Eintrag bekam er, wie alle Findlinge, den Familiennamen Buchkind. Um dem Spott und den Hänseleien der anderen Kinder zu entgehen, zog sich Rosamund häufig in ein Versteck irgendwo im Labyrinth von Madam Operas Findelhaus zu rück. Dort vergrub er sich in seine geliebten Bücher und Illustrierten Hefte, deren Geschichten er gierig verschlang, träumte von dem besseren Leben, das ihn jenseits der brö ckelnden Mauern der Marineanstalt erwartete, und füllte 23
seinen Kopf mit Schlachtenszenen und Bildern von räube rischen Monstern und den tapferen Helden, die sie besieg ten. Er mochte Mühe haben, sich die Hundert Regeln des Harundo einzuprägen, aber was er in seinen mit Eselsohren verunzierten Büchern und Heften las, blieb für immer in seinem Gedächtnis haften. Verline kam bald wieder. Sie glitt leise über das knar rende Holz, und das verräterische Rascheln, das ihre auf gebauschten Röcke von sich gaben, hallte leise von der ho hen Decke wider, bis der ganze Saal vom sanften Säuseln ihres Ganges erfüllt war. Rosamund glaubte fest, dass sie mit den Füßen ein paar Zentimeter über dem Boden schwebte, und das machte sie in seinen Augen nur noch wunderbarer. Verline war ihm der liebste Mensch in der kleinen Welt des Findlingsheims. Sie war klein und zier lich und verbarg ihr erdfarbenes Haar unter der weißen Haube, die alle weiblichen Bediensteten trugen. Sie liebte Bänder und Schleifen, und selbst die schlichte Arbeits tracht, die sie jetzt anhatte, schmückten hier und dort meh rere Schlaufen, deren größte, aus den Bändeln ihrer Schür ze geschlungen, wie ein großer weißer Schmetterling auf ihrem Rücken saß. In ihrer linken Armbeuge trug sie, ein geschlagen in ein Tuch, einen kleinen Porzellantopf. Dar aus stiegen senffarbene Dämpfe auf, die sich in der sticki gen Luft des Schlafsaals verflüchtigten und einen unange nehmen Geruch hinterließen. Birchet! Birchet war ein als Medizin getarntes Folterin strument. Verline fischte eine Schöpfkelle aus einer der vielen Ta schen ihrer weißen Schürze, rührte damit in dem Topf und 24
zog sie wieder heraus, randvoll mit dem Gebräu, das, wie er wusste, zum Ekelhaftesten gehörte, was zu schlucken man genötigt sein konnte, wenn man Pech hatte. »Jetzt halt dir die Nase zu und mach den Mund auf!«, befahl sie ihm streng. Er drückte die Nasenflügel zusammen, kniff die Augen zu und öffnete den Mund, und Verline löffelte so gut es ging den Stärkungstrank in die kleine Öffnung, die seine Lippen widerwillig formten. Augenblicklich stand Rosa munds Kopf in Flammen. Seine Nase füllte sich bis zum Bersten mit einem beißenden Gestank wie aus der räudigen Achselhöhle eines toten Hundes. Seine Nasenhaare schnurrten zusammen wie Stroh über dem Feuer, und er hätte wetten können, dass orangeroter Dampf aus seinen Ohren schoss. Gerade als er dachte, er könne es nicht län ger aushalten, ließ das Brennen nach, und das Gefühl, gleich zu platzen, wich der Erleichterung. Besser. Er musste aufstoßen, und eine kleine gelbe Blase quoll aus seinem Mund. »Vielen Dank, Miss Verline«, stieß er keuchend hervor. Verline sagte, er solle sich jetzt ausruhen, sie werde un terdessen einen Krug Wasser holen. Sie ließ ihn wieder allein, und noch bevor sie wiederkam, war Rosamund ein geschlafen.
25
MADAM OPERAS AUSSER ORDENTLICHE MARINE ANSTALT FÜR FINDELKINDER
Essigfahrer, auch Seemann, Seefahrer, Matrose, Fahrensmann, Mariner, Seehund, Seebär, Blaujacke, Teerjacke, Salzbuckel, Janmaat, Daddeldu oder Ohrlamm: Bezeichnung für alle, die auf den großen Frachtern und Kampfschiffen dienen, die monsterverseuchte Ozeane befahren und die vielfarbigen Gewässer der Essigmeere durchpflügen. Diese Gewässer sind so giftig und ätzend, dass schon allein die Gischt der Wellen auf der Haut eines Essigfahrers Narben hinterlässt und seine Tage unter der Sonne verkürzt.
D
er große Skold Harold wich nicht von der Stelle. Alle seine Kameraden und Waffenbrüder waren in pani scher Angst vor der herannahenden Bestie geflohen. Die Bestie war riesig und mit tückischen giftigen Stacheln be deckt. Der Slothog, der Tausende getötet hatte und Zehn tausende in Angst und Schrecken versetzte. Das Blut der Gefallenen troff von seinen Klauen. Er kam immer näher. Er zerrte an seiner Leine und zog seine Bändiger, die ihn vergeblich zu halten versuchten, einfach hinter sich her. 26
Es war eine lange, blutige Schlacht gewesen. Überall, so weit das Auge reichte, lagen die geschundenen Leiber der Gefallenen auf schaurigen Haufen. Harold hatte tapfer ge kämpft. Seine vormals glänzende Rüstung war hoffnungslos verbeult. Sorgenvoll spähte er in seine Büchsen und Ta schen. Alle seine Chemikalien waren verbraucht – alle, bis auf eine. Sie war seine letzte Hoffnung. Er legte sie in seine Schleuder, pflanzte die ruhmreiche kaiserliche Fahne auf und rief: »Her zu mir, Männer des Kaisers! Her zu mir! Haltet mit mir aus und verdient euch einen Platz in der Ge schichte!« Aber keiner hörte, keiner blieb stehen, keiner eilte an seine Seite, um die alte Heimat zu verteidigen. Und, ach!, jetzt war der Slothog so nah, dass es für jede Flucht zu spät war. Die Bestie zögerte einen kurzen und schrecklichen Augenblick lang. Geifernd und blutdürstig maß sie Harold aus kleinen, boshaften Augen. Dann schüt telte sie unter lautem Gebrüll ihre entsetzten Bändiger ab und griff an. Mit einem Schrei, der im Gebrüll der Bestie unterging, riss Harold die Schleuder hoch und sprang … »Master Rosamund! Was liest du denn da für einen Schund?« Fransitart, der Schlafsaalaufseher von Madam Operas außerordentlicher Marineanstalt für Findelkinder, stand neben Rosamund, der mit angezogenen Beinen auf seinem klapprigen Bett saß wie ein einsames Häuflein Elend. Auf seiner linken Wange leuchtete eine breite rote Strieme, die bis zum Hals hinunterreichte. Gosling hatte ganze Arbeit geleistet. 27
28
Der Junge hob schuldbewusst den Kopf und drückte sich das dünne Heft, in dem er gelesen hatte, an die Brust, wobei er Seiten zerknitterte und Ecken knickte. Er war von der Ge schichte so gefesselt gewesen, dass er überhaupt nicht ge hört hatte, wie der Schlafsaalaufseher gemächlichen Schritts durch den ganzen Saal in seine Ecke geschlurft war. »Ist das eins von den Schundheften, die euch Verline immer kauft, Junge?«, knurrte Fransitart. Der alte Schlafsaalaufseher war es, der ihn vor Jahren gefunden hatte: notdürftig in Lumpen gewickelt, mit ver rottendem Laub als Windel und den eingerissenen Pappen deckel an der kleinen, atmenden Brust. Rosamund wusste, dass der Schlafsaalaufseher mit einer Fürsorglichkeit über ihn wachte, die über seine dienstlichen Pflichten weit hi nausging und zu seiner sonst so brummigen und abweisen den Art eigentlich gar nicht passte. Aber er hielt sich nicht damit auf, nach dem Grund zu fragen: Er ließ es sich eben so gerne gefallen wie Verlines liebevolle Zuwendung. Der Findling nickte, noch verlegener. Auf dem Titelblatt des Illustrierten Heftes stand in grellen Farben:
Geschichten aus dem Zeitalter der Helden
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Er war kurz zuvor aufgewacht, nachdem er sich von seiner Dosis Birchet erholt hatte, und da hatte er das Illustrierte Heft auf der alten Teekiste liegen sehen, die ihm als Nacht tisch diente. Jeden zweiten Ruhtag, wenn Verline etwas Zeit für sich hatte, kaufte sie den Kindern bei einem zwielichti gen Händler in der Tochtigstrat solche Hefte. Heute war erst Mittelwach, der Tag vor Ruhtag. Deshalb hatte er sich ge sagt, dass dieses Geschenk außer der Reihe bestimmt als Trostpflaster gedacht war, und gierig danach gegriffen. Der Schlafsaalaufseher verschränkte die Hände auf dem Rücken. »Was wird Master Pinsum dazu sagen, dass ich dich schon wieder dabei erwischt habe, wie du so etwas liest?« Master Pinsum war einer von Rosamunds Lehrern. Er unterrichtete Sach-, Schreib- und Allgemeinkunde, also Geschichte, Literatur und Geographie. Rosamund fand es unendlich faszinierend, dass Master Pinsum jedes Mal, wenn er über sein Fach sprach, mit der rechten Hand fuch telte wie ein Schauspieler im Theater und ebenso drama tisch das R rrrrollte. »Wie du weißt, mein Junge«, fuhr Fransitart augenzwin kernd fort, »mache ich mir nicht viel aus Literatur, aber wenn man Master Pinsum glauben darf, schrumpft dein Verstand, wenn du solche Sachen liest. Sagen wir einfach, es hilft dir, dich von den Schlägen zu erholen, die dir dieser rückgratlose Prahler von Gosling verpasst hat – sonst müsste ich mir überlegen, ob ich das Heft da nicht be schlagnahme.« Er wippte auf den Zehen und beäugte das bunte Titelblatt. »Worum geht’s denn darin, mein Junge?« Rosamund grinste. »Um den großen Skold Harold, Be schützer des Reichs und Retter Clementines!« 30
»Aha.« Fransitart strich sich über das glatt rasierte Kinn. »Der alte Harold? Der hat doch in der Schlacht vor den To ren tausend Monster getötet und die kaiserliche Hauptstadt gerettet, nicht? Das ist eine Ewigkeit her – ein Stück alte Geschichte. Fragt sich nur, wie wahr die Version ist, die du da hast.« »Warum sollte sie denn nicht wahr sein?« Rosamund blickte entsetzt. Fransitart zuckte mit den Achseln. »Vielleicht weil sich Lügenmärchen besser verkaufen und spannender lesen.« Er beugte sich etwas herunter. »Vielleicht ist auch ein Schuss Propaganda dabei, damit wir die Skolds sympathischer fin den.« »Also ich finde sie so schon großartig! Wären Sie gern ein Skold, Master Fransitart? Ich wäre gern einer … oder auch ein Essigfahrer natürlich.« Seit über fünfzehnhundert Jahren, so hatte Rosamund gelernt, kämpften die Skolds gegen die Monster. Ja, sie hatten die zivilisierte Welt sogar vor dem Untergang be wahrt. Mit Hilfe aller möglicher starker, eigenartiger und tödlich wirkender Chemikalien, die sie selbst herstellten, töteten oder vertrieben sie Monster. Außerdem verkauften sie viele dieser Mixturen und Gebräue an Normalmen schen, damit auch sie sich der feindlichen Monster erweh ren konnten. Skolds genossen hohes Ansehen, galten aber auch als Sonderlinge. Überdies wurde ihnen nachgesagt, dass sie nach den Chemikalien stanken, die sie verkauften. Rosamund hatte schon viele gesehen, war aber noch nie einem so nahe gekommen, dass er sich von der Richtigkeit dieser Behauptung hätte überzeugen können. 31
»Ein Skold? Einer von diesen Giftpanschern, die all die se gefährlichen und scheußlichen Tränke zusammenbrauen, die nur darauf warten, dir ins Gesicht zu fliegen? Die durch die Lande ziehen und sich mit all den Bestien und Unge tümen da draußen anlegen?« Der Schlafsaalaufseher mach te eine unbestimmte Geste. »Ich glaube nicht.« Er seufzte. »Die Menschen brauchen sie, weil sie ihnen alle möglichen Biester vom Leib halten, da gebe ich dir Recht, aber so ein Skold streift tagaus, tagein durch die Wildnis, und da drau ßen stehen nur seine Pfiffigkeit, seine Chemikalien und die Qualität seiner Schutzkleidung zwischen seiner nächsten Mahlzeit und einem blutigen Ende! Ich habe in meinem Leben genug Gefahren ausgestanden und verbringe die wenigen Tage, die mir noch bleiben, lieber im sicheren Ha fen dieser Anstalt, hinter den dicken Mauern der Stadt. Und an Gefahren mangelt es wahrlich nicht, wenn du auf einem Kampfschiff dienst. Nein, das Leben eines Skolds ist nichts für mich, mein Junge, und für dich auch nicht, wenn du weißt, was gut für dich ist.« »Wären Sie dann lieber ein Lahzar?«, wagte Rosamund zu fragen, obwohl er die Antwort bereits wusste. Von allen sonderbaren Leuten galten die Lahzare als die sonderbarsten. Sie konnten große oder schreckliche Dinge vollbringen, weil ihre Körper durch geheimnisvolle Opera tionen verändert worden waren, und auch sie kämpften ge gen Monster. Manche behaupteten, sie verstünden sich darauf sogar noch besser als die Skolds. Es gab zwei Arten von Lahzaren: Fulgare und Wits. Die Fulgare konnten elektrische Funken und Blitze erzeugen, und die Wits konnten ihren Opfern die Sinne verwirren, Gehirne zerstö 32
ren und verborgene Monster und sogar Menschen aufspü ren. Niemand wusste genau, woher die Lahzare gekommen waren, aber in den letzten zweihundert Jahren hatten sie die Teratologie, wie der Fachausdruck für die Monsterjagd lau tete, von Grund auf verändert. Skolds waren komische Käuze, aber Lahzare konnten einem Angst machen, fast so viel Angst wie die Ungeheuer, die sie bekämpften. Fransitart blinzelte und sog hörbar den Atem ein. »Wahrhaftig, Junge, jetzt bin ich sicher, dass du mich är gern willst! Ich soll einen Schlachter-Doktor an meinen wohlsortierten Innereien herumschnippeln lassen? Wozu sollte das gut sein? Da lobe ich mir die Skolds – die haben was geleistet, haben getötet und gemetzelt und sich gegen über uns kleinen Leuten als Herren aufgespielt, Jahrhun derte bevor die Lahzare aufgekreuzt sind. Meiner Treu, so ein Skold ist mir allemal lieber als ein Lahzar!« Nicker und Bogel, so wurden die Monster von den meis ten Leuten genannt, Nicker die großen, Bogel die kleine ren, allerdings gab es dafür keine feste Regel. Rosamund schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, wie ein Lahzar mit einem riesenhaften Nicker kämpfte. Er wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als der Schlafsaalaufseher sich neben ihn auf das durchgelegene Bett setzte und ihn ernst ansah. »In meiner aktiven Zeit musste ich gelegentlich eine Kabine mit Lahzaren teilen, musst du wissen, und zwar mit beiden Sorten, Blitzfängern und Hirnverdrehern …« »Ist das wahr?« Rosamund setzte sich auf. Er hatte von Fransitart schon viele Geschichten gehört, unglaubliche und wahre, aber die kannte er noch nicht. »Wie waren sie, 33
Master Fransitart? Haben Sie die Zeichen in ihrem Gesicht gesehen? Haben sie gegen Monster gekämpft?« »Ja, es ist wahr, und ja, die Zeichen auf ihrer Stirn waren deutlich zu sehen, und ja, sie haben mit jedem Nicker ge kämpft, den sie aufgespürt haben, und vielen übel mitge spielt … Aber nach jeder Begegnung war ich heilfroh, wenn ich sie wieder los wurde.« Fransitart starrte zu Boden, und Rosamund fragte sich, woran er wohl dachte. »Komische Leute sind das«, fuhr er nach einer Weile fort. »Die unnatürlichen Organe in ihren Körpern, denen sie ihre Stärke verdanken, machen sie nämlich auch lau nisch und unleidlich! Ich habe wahrlich schon viel Merk würdiges gesehen, aber nichts war so zum Erbarmen wie ein Lahzar, dem von den eigenen Organen übel wird.« Er sah Rosamund eindringlich an. »So einer wollte ich nie werden, mein Junge, und meine Kapitäne auch nicht. Halte dich lieber an das Leben eines Essigfahrers, das ist eine anständige und ehrliche Art, sein Glück zu suchen.« »Erzählen Sie mir eine von Ihren Geschichten«, bettelte Rosamund, der sein Heft mittlerweile fast vergessen hatte. »Von damals, als Sie noch zur See gefahren sind. Erzählen Sie mir von der Schlacht bei der Maulwurfsinsel, als dieser Weißhaarige Sie gerettet hat. Oder wie Sie gegen die Pira tenkönige von Brigandien gekämpft haben. Oder wie Sie den lentischen Großfrachter als Prise erobert haben.« »Nicht doch, mein Junge, die meisten kennst du doch schon, besonders die letzten beiden …« Der Schlafsaalauf seher verfiel in Schweigen. Auch Rosamund sagte eine Weile nichts und betrachtete 34
eine Abbildung in seinem Heft, die Harold im Kampf mit dem Slothog zeigte. Auf dem Stich sah es so aus, als werde Harold im nächsten Augenblick zermalmt. Fransitart erhob sich. Der Junge sah schüchtern zu dem Schlafsaalaufseher auf. »Master Fransitart … Haben Sie schon einmal ein Monster getötet?« Im ersten Moment schien es, als wollte Fransitart in Zorn geraten, und Rosamund bereute sofort, dass er die Frage gestellt hatte. Alte Seebären wie der Schlafsaalauf seher konnten sehr empfindlich sein, was ihre Vergangen heit anging, daher tat man gut daran, sie nie danach zu fra gen, sondern zu warten, bis sie von sich aus zu erzählen begannen. Master Fransitarts Zorn verflog jedoch schnell wieder, und er stieß einen tiefen Seufzer aus, den traurigsten Laut, den Rosamund jemals von ihm gehört hatte. »Ja, mein Jun ge«, sagte er heiser, »hab ich.« Rosamund spürte ein Prickeln unter der Kopfhaut. Der alte Mann schloss kurz die Augen, dann tat er etwas, was er in Rosamunds Beisein noch nie getan hatte: Er zog den langen Tagesrock mit dem breiten Kragen aus und leg te ihn ordentlich auf das Fußende des Nachbarbetts. Dann krempelte er den bauschigen Ärmel seines weißen Baum wollhemdes hoch und entblößte den blassen linken Arm, beugte sich etwas vor und hielt Rosamund seinen ver schrumpelten, knotigen Bizeps hin. »Hier«, knurrte er. Rosamunds Augen wurden größer und größer, als er begriff, was er sah: eine kleine Zeichnung aus krausen und kringeligen rotbraunen Linien, die grob das Gesicht eines 35
geifernden Bogel darstellte. Eine spitze Zunge ragte wider lich aus seinem klaffenden Maul, und seine weit aufgeris senen Augen starrten furchterregend. Ein Monster Blood Tattoo! Monster Blood Tattoos trugen nur Menschen, die gegen ein Monster gekämpft und es besiegt hatten. Das Bild des getöteten Monsters wurde mit dessen eigenem Blut in die Haut des Siegers gestochen. Sowie das Blut unter der Haut war, rief es merkwürdige Reaktionen hervor, zersetzte sich und hinterließ ein unauslöschliches Zeichen. Rosamund sah den Schlafsaalaufseher gespannt an. Er hatte vor dem alten Mann stets großen Respekt gehabt, aber jetzt betrach tete er ihn mit ganz neuer Ehrfurcht. »Master Fransitart!«, hauchte Rosamund. »Sie sind ein Monstertöter!« Die meisten Menschen hätten ein solches Zeichen mit Stolz getragen. Aber Fransitart schien sich eher dafür zu schämen. »So wie die Dinge liegen, hatte das Geschöpf, das ich getötet habe, ein solches Ende nicht verdient, Ro samund. Und obwohl ich von meinen Schiffskameraden als Held gefeiert wurde, war das, was ich getan habe, feige. Heute tut es mir leid.« Rosamunds Verwunderung wuchs. Wie konnte es feige sein, ein Monster zu töten? Wieso schämte sich Master Fransitart dafür, dass er ein Held war? Ein Monster zu töten war etwas ganz Besonderes, viel leicht das Größte überhaupt, das wusste jeder. Menschen waren gut. Monster waren böse. Menschen mussten Mons ter töten, damit sie in Freiheit und Frieden leben konnten. Wer mit einem Bogel oder Nicker Mitleid hatte, galt als 36
Sedorner, als Monsterfreund. Für Monster Mitleid zu emp finden war ein schändliches Verbrechen, für das man ge mieden, wochenlang an den Pranger gestellt oder, im schlimmsten Fall, am Galgen hingerichtet wurde. Wie viele Geheimnisse hatte der Schlafsaalaufseher? War er insgeheim ein Sedorner? Rosamund erbleichte bei dem Gedanken. Je ernster Master Fransitarts Miene wurde, desto leiser wurde seine Stimme. Jetzt flüsterte er beinahe. »Lass dir eins gesagt sein, mein Junge: Nicht alle Monster sehen auch wie Monster aus. Verstehst du? Oft entpuppen sich Normalmenschen als die schlimmsten Monster von allen! Ich muss dir ein paar Dinge sagen, Rosamund, merkwürdi ge Dinge, die dir im ersten Moment vielleicht schockierend vorkommen, aber du wirst anfangen müssen, dich damit zu …« Etwas hatte Fransitarts Aufmerksamkeit erregt. Er klappte den Mund zu und krempelte hastig den Hemdsär mel wieder herunter. Im nächsten Augenblick trat Verline durch die Tür am anderen Ende des Schlafsaals. Master Fransitart warf Rosamund einen Blick zu, der so viel sagte wie: Kein Wort darüber, zu keinem Menschen! Bestimmt hatte er ihm soeben das ganze unerhörte A benteuer erzählen wollen! Jetzt war er unterbrochen wor den und würde ihm die Geschichte, die offenbar ein schreckliches oder gar schändliches Geheimnis barg, mög licherweise nie zu Ende erzählen. Welche dunklen Ge heimnisse mochte Fransitart haben, dass er so ungern dar über sprach? Rosamund bezweifelte, dass er jemals wieder den Mut aufbringen würde, ihn zu bitten, es ihm zu erzäh 37
len. Er hatte Verlines Gegenwart noch nie als unangenehm oder störend empfunden, aber jetzt, in diesem Augenblick, war er nahe daran. Das Stubenmädchen hielt einen Algion in der Hand – ei ne Laterne, die phosphoreszierende Algen enthielt, die kräftig zu leuchten begannen, wenn sie in eine Spezialflüs sigkeit getaucht wurden – und nahte mit einem strahlenden Lächeln. Mit sinkendem Mut bemerkte Rosamund, dass sie auch den irdenen Birchet-Topf wieder dabeihatte. »Wünsche einen guten Abend, Schlafsaalaufseher Mas ter Fransitart«, sagte sie leise und neigte ihren schönen Kopf. Fransitart erwiderte den Gruß wie üblich mit einem erns ten, stummen Nicken und glättete den breiten Kragen sei nes Rocks. Verline stellte den Algion auf die Teekiste und drohte Rosamund scherzhaft mit der Schöpfkelle. »Zeit für einen weiteren Löffel Birchet, mein Herzblatt. Master Craumpa lin hat es eigens für deine zweite Gabe warm gestellt.« Rosamund musste sich abermals dem reinigenden Feuer des Birchet aussetzen. Wieder durchlitt er schreckliche Qualen und ging gestärkt daraus hervor. Und als er Verline dankte, quoll wieder ein Schwall Blasen aus seinem Mund. Schmunzelnd legte sie die Kelle neben den Algion, be fühlte mit ihrer kleinen, kühlen Hand seine Stirn und unter suchte seine Striemen. »Ich glaube, du bist auf dem Weg der Besserung, mein Herzblatt. Ein Hoch auf Craumpalins Chemie! Die Schwellung geht merklich zurück. Aber du bist ja immer schnell wieder genesen.« Der Schlafsaalaufseher stieß ein merkwürdiges Grunzen 38
aus und sah Rosamund ernst an. »Ja, Craumpalin versteht sein Handwerk. Aber selbst er wird mir wohl beipflichten, wenn ich dir empfehle, dich nächstes Mal zu ducken, wenn dir Gosling wieder eins auf die Mütze geben will. Erst gar nichts abbekommen ist immer noch die beste Medizin.« Der Findling schlug, abermals verlegen, die Augen nie der und heftete seinen Blick auf den Umschlag seines Hef tes. »Ja, Master Fransitart«, erwiderte er leise. Der Schlafsaalaufseher legte ihm sanft die Hand auf den lädierten Kopf. »Braver Junge …«, brummte er mit einem beinahe liebevollen Lächeln. »So, und jetzt wird es Zeit fürs Abendessen!« Rosamund schlüpfte umständlich in seinen Abendkittel, einen unförmigen Sack mit Ärmeln, den alle Zöglinge zum Mittag- und Abendessen trugen. »Master Fransitart, was geschieht eigentlich mit Gos ling?«, fragte er. Fransitart runzelte die Stirn. »Dieser unverbesserliche Esel wird heute auf das Abendessen verzichten müssen, denn er ist dazu verdonnert worden, das zweite Salzfäss chen, die Speisekammer und das Schlachthaus zu reinigen. Ich will gleich mal nachsehen, wie er vorankommt. Aber wahrscheinlich wird es ihm keine Lehre sein. Wahrschein lich wird er sich wieder herausreden und allen anderen die Schuld geben! Nicht mal eine Bande von Ettins könnte die sen verflixten Tunichtgut auf den Weg der Besserung brin gen.« Er schüttelte den Kopf. »Nun aber genug davon. Es wird Zeit für dich, Rosamund. Sprich dein Gebet und wasch dich vor dem Essen. Wir sehen uns dann im Speise saal.« 39
Im Hinausgehen schnappte Rosamund etwas auf, was gewiss nicht für seine Ohren bestimmt war. Er hörte näm lich, wie Verline hinter ihm flüsterte: »Was für ein lieber, empfindsamer Junge!« Und wie Master Fransitart schnar rend erwiderte: »Ja, empfindsamer und ehrlicher, als gut für ihn ist. Er wird sein Leben lang nur Kummer und Leid erfahren, wenn er nicht gescheiter wird und sich ein dicke res Fell zulegt, glauben Sie mir. Ich kann nicht ewig auf ihn aufpassen.« Auf dem Weg durch die schmalen Gänge mit ihren zahl losen Türen, abblätternden Wänden und feuchten Gerü chen, ihrer verwirrenden Vielzahl von Kurven und Stiegen, die mal treppab, mal treppauf und wieder treppab führten, geriet Rosamund ins Grübeln. Wie konnte er gescheiter werden? Wie konnte er sich ein dickeres Fell zulegen? Wie konnte er der kummer- und leidvollen Zukunft entgehen, die ihm Fransitart prophezeite? … Und wie konnte er den Schlafsaalaufseher dazu bringen, ihm die Geschichte von diesen merkwürdigen und schockierenden Dingen zu er zählen, über die er vor Verline nicht zu sprechen wagte? Madam Operas außerordentliche Marineanstalt für Findel kinder lag an der Vlinderstrat zwischen einem rattenver seuchten Lagerhaus und einer stinkenden Gerberei. Das Gebäude war ein hohes schmales Fachwerkhaus aus dunk len Steinen und ebenso dunklen, morschen Balken, die sich unter dem Gewicht der vielen Anbauten, die später hinzu gekommen waren, bogen. Seit vielen Generationen befand es sich im Besitz von Madam Operas Familie. Rosamund war einmal dabei gewesen, als die Liste der Vorbesitzer 40
verlesen wurde. Es hatte so lange gedauert, dass er einge schlafen war. Nun war die Vlinderstrat oder Schmetterlingsstraße einst eine ziemlich vornehme Allee in dem ziemlich vornehmen Vorort Poeme der stolzen Flusshafenstadt Boschenberg gewesen. Und das Fachwerkhaus, das heute Madam Ope ras Findlingsheim beherbergte, hatte zu den nobelsten Ad ressen in der Straße gezählt. Zu der Zeit hatte noch Ma dams unverheiratete Urgroßtante darin gewohnt. Aber Bo schenberg wuchs, und die vornehmen Leute zogen in ande re Stadtteile. Die Urgroßtante starb, und das leerstehende Haus verfiel, bis Madam Opera, die sich Gerüchten zufolge damals von einer geplatzten Verlobung erholte, Erbansprü che auf das Haus erhob. Sie bekam es zugesprochen, rich tete zwischen den Ratten und dem Gestank der Gerberei ihre Marineanstalt für Findlinge ein und stellte ihr Leben fortan ganz in den Dienst der Wohltätigkeit. Einhundert Zöglinge, die als Kinder unerwünscht gewe sen waren oder sich auf der Straße herumgetrieben hatten oder beides, sollten hier etwas Anständiges und Nützliches lernen, damit sie als Erwachsene gefragter waren. Und be sonders gefragt waren sie bei einer Organisation, die of fenbar einen unstillbaren Hunger nach Arbeitskräften hatte: der Kriegsmarine. Die Boschenberger Marine war es, die diese und mehrere andere Marineanstalten unterhielt. Und sie war es auch, die das Findlingsheim mit Lehrkräften wie Fransitart und Craumpalin versorgte, alternden Seeleuten, die vorzeitig in den Ruhestand traten, um auf ihre alten Ta ge verstoßene Kinder zu unterrichten. Alle Jungen und Mädchen der Marineanstalt wurden so 41
erzogen, dass sie davon träumten, später der Kriegsmarine beizutreten. Es war allgemein bekannt, dass man von den Prisengeldern, die man für die Eroberung von Piraten- oder Feindschiffen erhielt, reich werden konnte und dass man von der Besatzung eines Kampfschiffs wie in einer Familie aufgenommen wurde (was gerade für Madam Operas Find linge ein sehr verlockender Gedanke war). Zudem galt man bei allen Landratten als ein ganzer Kerl, der auf ehrenvolle Weise seinem Staat diente. Und schließlich wurde man besser bezahlt und besser verpflegt als die meisten Leute, die einen ähnlichen Beruf an Land ausübten. Rosamund bildete keine Ausnahme: Auch er hatte gelernt, von einem Leben auf den Essigwogen zu träumen. Die Essigwogen. Der bloße Gedanke erfüllte ihn mit Sehnsucht. Rosamund hatte das Meer noch nie gesehen, aber er wusste, dass dessen Wasser voll ätzender Salze war, die ihm grelle Farben und einen kräftigen Essiggeruch verlie hen. Er konnte es kaum erwarten, sich eines Tages mit der würzigen Seeluft die Lungen voll zu pumpen. Die Kriegsmarine war jedoch nicht die einzige Dienst herrin für die Jungen und Mädchen der Anstalt. Auch ande re nahmen Madam Operas Zöglinge mit offenen Armen auf: die Armee mit ihren schmucken Uniformen und re gelmäßigen Essenszeiten, die Mathematiker mit ihren Zah len und ihrem Bedarf an Genies, deren Rivalen, die Kon kometer, die von allen Dingen die Länge und Breite ma ßen, aber auch eine Vielzahl unterschiedlicher Gewerbeund Gildenhäuser, die Lehrlinge oder Arbeiter brauchten. Nur wenige hatten das Pech, an Leute zu geraten, die 42
glaubten, dass sie sich für irgendeine fragwürdige Tätigkeit eigneten. Die Anwerber kamen zu einer festgesetzten Zeit im Jahr und trafen ihre Wahl. Die Einstellungszeit begann in den ersten Wochen des Kalor – das war der erste Sommermo nat und zugleich der allererste Monat im Jahr – und endete mit dem Kachrys, dem zweiten Herbstmonat, ehe das Wet ter schlechter wurde und das Reisen erschwerte. Es war eine Zeit der Vorfreude und der gespannten Erwartungen. Die älteren Kinder brannten darauf, ein für allemal von hier fortzukommen, die mittleren Jahrgänge sehnten sich da nach, sie als Anführer im Findlingsheim abzulösen, und die jüngeren ließen sich einfach nur von der erregenden Atmo sphäre der Veränderung anstecken. Rosamund hatte im Lauf der Jahre viele Male nur zuge sehen, aber diesmal gehörte er endlich selbst zu den Kan didaten. Doch aus unerfindlichen Gründen war er bisher jedes Mal, wenn die Anwerber kamen, übergangen worden. Er verstand nicht, warum, und niemand erklärte es ihm. Die Anwerber kamen, schritten die Reihe der Kinder ab, stellten den Lehrkräften und Madam Opera Fragen und verlasen dann laut die Namen der Auserwählten. Er wusste, dass er nicht besonders groß gewachsen war und rein äu ßerlich einen weniger guten Eindruck machte als andere in seinem Alter. Gar nicht davon zu reden, dass er sich oft ungeschickt anstellte und Mühe hatte, die Knoten zu bin den, die Seilmeister Heddiebulk ihnen beibrachte. Oder dass er zum Träumen neigte und darüber bisweilen seine Pflichten vernachlässigte. Aber er hatte auch das eine oder andere gelernt. So wusste er von Craumpalin nicht nur ei 43
niges über Arzneibereitung, sondern war auch in Geschich te bewandert. Der Kaiser herrschte über alles, was von Bedeutung war, und des Kaisers Regenten geboten über die zahlreichen alten Stadtstaaten, die zusammen das Reich bildeten, Stadt staaten wie Boschenberg, die entweder an der Küste oder in fruchtbaren Gebieten im Landesinnern lagen. Das Reich war vor eintausendsechshundert Jahren von der großen Heldenkaiserin Dido gegründet worden, allerdings stammte das gegenwärtige Herrscherhaus, die Haacobiner, nicht in direkter Linie von ihr ab und hatte sich den Thron wider rechtlich angeeignet. Rosamund hatte von den vielen Schlachten zu Wasser und zu Land gelesen. Die Stadtstaa ten führten untereinander und mit ihrem kaiserlichen Herrn unentwegt Krieg um mehr Einfluss und Macht. Er wusste einiges über die Soldaten, die Musketiere, Haubertiere, Troubardiere und all die anderen, und noch mehr über die riesigen gepanzerten Kampfschiffe, die in den Essigmeeren kreuzten und mit vielen mächtigen Kanonen bewaffnet wa ren. Er kannte die Namen berühmter Marschälle und le gendärer Admiräle. Er hatte viel über die Skolds gelesen, die mit giftigen Chemikalien gegen Monster kämpften, und er hatte ein paar, die seiner Stadt gedient hatten, sogar schon leibhaftig gesehen. Ganz besonders faszinierten ihn die Lahzare: die Wits, die unsichtbare Energieschauer aus senden konnten, die wieder zu ihnen zurückkehrten, Leute schwindlig machten, betäubten oder sogar um den Verstand brachten, und die Fulgare, die in ihrem Körper Elektrizität erzeugen und starke Stromstöße abgeben konn ten. 44
Doch am allermeisten wusste er über die Monster. Er wusste, dass zwischen den Menschen und den Bogeis, den Nickern und den Nadderern, wie man die Seemonster nannte, ein immerwährender, allgegenwärtiger Krieg herrschte. In vielen Büchern, die er gelesen hatte, wurde die kühne Behauptung aufgestellt, dass die Menschheit den Sieg davontragen werde, dass die Monster sich ständig auf dem Rückzug befänden und eines Tages im ganzen Reich ausgerottet sein würden. Doch von Zeit zu Zeit stieß er auch auf Artikel, in denen warnend darauf hingewiesen wurde, dass der erbitterte Kampf zwischen Mensch und Monster in Wahrheit bestenfalls mit einem Patt, schlimms tenfalls mit einer Niederlage der Menschheit enden werde. Welch erschreckender Gedanke – die Menschen von un barmherzigen, geifernden Ungetümen ins Meer getrieben! Ja, Rosamund wusste allerhand, und doch waren in die ser Einstellungszeit schon sechsmal Abgesandte vom Ma rineamt und anderen Einrichtungen hier gewesen, um den hoffnungsvollen Nachwuchs in Augenschein zu nehmen. Sechsmal waren Zöglinge ausgewählt worden und in die Welt hinausgezogen, um ein abenteuerliches Leben zu be ginnen, so viele mittlerweile, dass die ältesten und die meisten der Zweitältesten auf Nimmerwiedersehen ent schwunden waren. Und sechsmal war Rosamund übergan gen worden. Er gehörte jetzt zu den ältesten Zöglingen – wenn auch noch immer nicht zu den größten. Aber das war ein schwacher Trost angesichts der Schan de, dass ihn niemand haben wollte. Schon als Säugling war er verschmäht worden – der Himmel wusste, von wem –, und wie es schien, sollte er jetzt erneut verschmäht werden. 45
Er war überzeugt, dass er ein weiteres Jahr in diesen be engten Räumen zwischen modrigem Gebälk und altem, kaltem Stein nicht ertragen würde. Auch Gosling wartete darauf, dass er eine Aufgabe au ßerhalb des Findelhauses bekam. Es war seine einzige Chance, endlich die Stellung zu erlangen, die ihm durch seine hohe Geburt, mit der er immer prahlte, zustand. In den vergangenen fünf Monaten hatte Zögling um Zögling das lang ersehnte Angebot erhalten, nur Gosling nicht. Vol ler Groll hatte er daraufhin eine Reihe boshafter Streiche ausgeheckt, die dank Fransitarts Wachsamkeit und Scharf sinn meist vereitelt werden konnten. Doch es war Rosa mund, den er besonders quälte. Zwei Wochen nach dem Vorfall in der Harundo-Stunde überraschte ihn Gosling dabei, wie er in einem kleinen Buch über Kampfschiffe schmökerte. Er hatte sich dazu in die kleine, von den meisten vergessene Mansardenbiblio thek verkrochen, die an das Dach des Hauptgebäudes an gebaut war und deren Balken sich bedenklich bogen. Auf dem Fußboden lag der Staub so hoch, dass Gosling sich von hinten an ihn heranschleichen und ihm einen kräftigen Stoß versetzen konnte. Doch Rosamund erschrak nicht. Er konnte Gosling stets riechen, lange bevor er ihn sah oder hörte. »Vertreiben wir uns die Zeit, wie?«, knurrte Gosling, enttäuscht, weil es ihm nicht gelungen war, seinem Opfer einen Schrecken einzujagen. Er riss Rosamund das Büch lein aus der Hand und schickte sich an, es zu zerreißen. Rosamund kannte das Spiel. Er verschränkte einfach die Arme und runzelte die Stirn. 46
»Bereitest dich wohl darauf vor, auf einem deiner ge liebten Kampfschiffe in die Welt hinauszufahren, hä?« Gosling beugte sich vor und blickte Rosamund direkt ins Gesicht. »Bild dir bloß nicht ein, dass du etwas Besseres bist als ich, Fräulein. Du bist immer noch hier, genau wie ich. Keiner will dich.« Er richtete sich wieder auf, ver schränkte die Arme und streckte die Nase in die Luft. »Meine Familie wird mich bald holen, du wirst schon se hen. Dann werde ich dir zeigen, wer besser ist.« Das be hauptete Gosling, seit er im Findelhaus war. Er schürzte noch verächtlicher die Lippen. »Nicht einmal der alte Fran sifurz wird dich trösten können, wenn du hierbleiben und zusehen musst, wie ich in die vornehme Welt zurückkehre, in die ich hineingeboren worden bin!« »Nenn ihn nicht so …«, warnte Rosamund. »Willst du mir etwa drohen? Ihr beide würdet ein schö nes Gespann abgeben – Rosensträußchen und Fransifurz! Was für ein Gestank!« Rosamund blickte ihn finster an. »Er behandelt dich so gut wie jeden anderen, und besser, als du es verdienst. Mich kannst du nennen, wie du willst, aber lass gefälligst Menschen aus dem Spiel, die über dir stehen!« So berech tigt dieser Vorwurf auch sein mochte, er klang selbst in Rosamunds Ohren lahm und machte auf seinen Peiniger nicht den geringsten Eindruck. »Er ist ein pockennarbiger alter Nichtskönner, und wenn Mutter und Vater mich holen, sag ich ihnen, dass sie die stinkende Bruchbude kaufen und ihn und die anderen vor die Tür setzen sollen, damit sie verrotten!« Und mit einem boshaften Grinsen setzte er hinzu: »Oder dass sie den gan 47
zen Kasten gleich bis auf die Grundmauern niederbrennen sollen.« Rosamund verschlug es die Sprache. Er starrte den ande ren an und war außerstande, die Ehre des Schlafsaalaufse hers, Verlines oder all der anderen zu verteidigen. Gosling stolzierte davon, feixend und brabbelnd wie ein Baby. »Oh weh, jetzt bin ich besser still. Sonst wird Ma dam Rosi noch böse, und ich muss die gemeinen Sachen, die ich gesagt habe, zurücknehmen. O weh …« Bevor er durch die verzogene Holztür verschwand, schleuderte er das Buch nach Rosamund. Rosamund duckte sich, wurde aber an der linken Wange gestreift. Das war das letzte Mal!, schwor er sich. Aus Tagen wurden Wochen. Rosamund verlor jede Hoff nung, jemals eine Anstellung zu bekommen. Dann, drei Wochen nach Ablauf der Anwerbungszeit, mitten im kalten Monat Lirium, stattete ein offiziell aussehender Herr dem Findlingsheim einen Besuch ab und wurde von Madam Opera im Haus herumgeführt. Die Neuigkeit verbreitete sich unter den Zöglingen wie ein Lauffeuer. Rosamund saß aufmerksam in Master Pinsums Sach-, Schreib- und All gemeinkundeunterricht, als er bemerkte, dass der Fremde an der Tür stand und die Stunde mit der Miene eines Men schen verfolgte, der alles sah und dem nichts entging. Wann immer der Unterricht es zuließ, blickte Rosamund verstohlen zu dem Besucher hinüber, an den er die sehn süchtige Hoffnung auf ein neues Leben voller Abenteuer knüpfte. Er bemerkte, dass Gosling dasselbe tat, wenn auch aus anderen Beweggründen. Vielleicht hatte der Mann eine 48
Stelle für einen von ihnen. Oder sogar für beide. Vielleicht sollte sich ihr Leben an diesem ganz gewöhnlichen Herbst nachmittag für immer verändern … Doch nachdem die Glocke sieben Glasen der Nachmit tagswache geschlagen hatte, wurde lediglich Rosamund in Madam Operas recht geräumiges und unglaublich vollge stopftes Dienstzimmer bestellt, das halb Büro, halb Da mensalon war. Gosling würde darüber nicht erfreut sein.
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DER ABGESANDTE
DER LATERNENANZÜNDER
Sthenicon, das: einfacher Holzkasten, der mit Lederriemen und Schnallen am Kopf des Trägers befestigt wird und Mund, Nase und Augen bedeckt. In seinem Innern befinden sich verschiedene kleine Organe – gefältelte Na senmembranen und komplizierte Sehnervenbündel –, die den Träger befä higen, sehr schwache und weit entfernte Gerüche wahrzunehmen sowie im Dunkeln und in weite Ferne zu sehen. Wird hauptsächlich von Leers be nutzt. Wird ein Sthenicon zu lange getragen, können die darin befindlichen Organe in die Nase des Trägers hineinwachsen. In diesem Fall kann das Abnehmen schwierig oder sehr schmerzhaft werden.
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uf dem Weg durch die allzu vertrauten schmalen Gänge und Korridore des Findelhauses musste Ro samund zahlreiche wacklige Holzstiegen mit ausgetrete nen, knarrenden Stufen und kalte, rutschige Schiefertrep pen hinabsteigen, bis er endlich vor der smaragdgrün ge strichenen Tür im Erdgeschoss anlangte, die in Madam Operas Gemächer führte. Zöglinge wurden gewöhnlich nur dann in Madams Allerheiligstes bestellt, wenn es Ärger der schlimmsten Sorte gab.
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Rosamund schwirrte der Kopf. Bin ich in Schwierigkei ten? War es nur Zufall, dass der Fremde da war? Er stand in dem muffigen Empfangszimmer vor der grünen Tür, wo alle Besucher warten mussten, bis sie hereingerufen wur den. Poch, poch, klopften seine zarten Finger an das harte Holz. Er wurde sofort vom Diener Carp eingelassen. Ma dam saß würdevoll wie eine Königin hinter den Papier sta peln, Ordnern und Klassenbüchern, die sich auf beiden Sei ten ihres klobigen Schreibtischs aus Schwarzholz türmten und einen Schatten auf sie warfen. Ihr kastanienbraunes Haar war zu einem Bienenkorb aus ringelnden Locken hochgebunden. Offensichtlich hatte sie auf ihr Äußeres viel Zeit und Mühe verwendet. Der Fremde stand schweigend neben dem Schreibtisch. Er trug einen dunklen Kutscher mantel, der fast bis zum Boden reichte und sogar seine Stiefel bedeckte, und hielt einen überdimensionalen Drei spitz aus feinem schwarzen Filz in der Hand, der unter dem Namen Dreimalhoch bekannt war. Etwas stimmte mit sei nen Augen nicht. Da Rosamund nicht beim Starren ertappt werden wollte, ließ er seinen Blick zwischen Madam Ope ra und den verwirrenden Augen des Fremden hin und her wandern. »Sie haben mich rufen lassen, Madam Opera?«, krächzte er mit dünner Stimme und machte eine ungelenke Verbeu gung. Madam strahlte ihn an. Das gab ihm zu denken. Sie strahlte selten. »Ganz recht, mein lieber Junge. Tritt nä her.« Sie winkte ihm. Das Taschentuch in ihrer Hand flat terte wie eine kleine weiße Fahne und erfüllte das Büro mit 52
einem Duft nach Patschuliwasser. »Heute ist für dich ein großer Tag, Master Rosamund«, sagte sie und schielte bei nahe verschwörerisch zu dem Fremden, als teile sie mit ihm ein großes Geheimnis. Rosamund spürte, wie sein Herz schneller schlug. »Mister Sebastipol ist in seiner Eigenschaft als Bevoll mächtigter den weiten Weg aus High Vesting zu uns ge kommen und brennt darauf, dich kennenzulernen.« Madam Opera erhob sich, und der Fremde straffte unwillkürlich seine Gestalt. »Mister Sebastipol, ich möchte Ihnen Master Rosamund vorstellen. Master Rosamund, Mister Sebasti pol.« Sie machte einen Knicks und deutete mit einer ausla denden Handbewegung auf ihre beiden Gäste. Der Fremde nickte und verzog leicht den Mundwinkel. »Rosamund. Was für ein … äh … schöner Name für einen, wie ich mir habe sagen lassen, prächtigen Jungen.« Eine merkwürdige Bemerkung, dachte Rosamund. Er wachsene sagten oft solche Dinge über seinen Namen, und instinktiv beurteilte er danach ihre Vertrauenswürdigkeit. Hätten ihn die Augen des Fremden nicht so durcheinander gebracht, hätte er möglicherweise den Eindruck gewonnen, dass Mister Sebastipol sich insgeheim über ihn lustig ma che. Er wagte einen schnellen, entschlossenen Blick. Ein Schauer lief ihm den Rücken hinunter: Die Augen des Mannes hatten völlig falsche Farben! Was eigentlich weiß sein sollte, war blutrot, und die Iris war von einem sehr blassen, eisigen Blau. Der Mann, der da vor ihm stand, war ein Leer! »Mister … S-S-Sebastipol.« Rosamund verbeug te sich ungelenk. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Alles, was er über diese Menschen wusste, geriet in seinem 53
Kopf so heillos durcheinander wie die Hundert Regeln des Harundo. Leers waren Fährtensucher, die Menschen und häufiger noch Monster aufspürten. Sie träufelten sich ge fährliche Chemikalien in die Augen, die sie in die Lage versetzten, in die Dinge hinein- und durch sie hindurchzu sehen, Verborgenes aufzuspüren und sogar Lügner zu durchschauen. Rosamund schluckte. Er konnte nicht anders, er riskierte einen verstohlenen Blick auf den kleinen Kasten, den der Mann umhängen hatte und in dem sein Sthenicon sein musste. Er war von diesen Apparaten fasziniert und träum te davon, selbst einmal einen auszuprobieren. Es kam sel ten vor, dass man in der Stadt einen Leer sah, und Rosa mund war mit Sicherheit noch nie einem begegnet. Was mochte ein Leer von ihm wollen? Der Mann kam aus High Vesting, hatte Madam Opera gesagt. High Vesting war eine Boschenberger Kolonie und zugleich der Flottenstützpunkt der Stadt. Vielleicht stand der Fremde mit den unheimlichen Augen ja im Dienst der Kriegsmarine. Rosamund versuchte, die aufsteigende Erre gung, die ihn zu überwältigen drohte, zu unterdrücken. Ach, zur See fahren! Das war sein Herzenswunsch. »Nun, Rosamund«, fuhr Madam Opera in ernstem Ton fort, »Mister Sebastipol ist hier, um dir eine Stellung anzu bieten, und ich weiß doch, wie sehr du dich nach einer sol chen Gelegenheit sehnst. Ich möchte, dass du seinen Vor schlag ernst nimmst und dir darüber klar wirst, wie vorzüg lich sein Angebot ist. Wenn Sie nun bitte fortfahren wol len, Sir.« Sie winkte gewinnend. Sebastipol räusperte sich, und die durchdringend bli 54
ckenden Augen verengten sich. »Nun, werter Master Ro samund, ich vertrete hier meine Vorgesetzten in Winster mill und High Vesting, die ihrerseits ihre Vorgesetzten ver treten, die wiederum ihren Vorgesetzten vertreten, nämlich den Kaiser höchstpersönlich.« Rosamund war beeindruckt. Und irgendwie hatte er das Gefühl, dass Mister Sebastipol genau das beabsichtigt hat te. »Wie ich höre, hast du ein flinkes Auge, bist gut im Le sen und Schreiben und verstehst etwas von Chemie«, fuhr der Leer fort. »Würdest du dem zustimmen?« Rosamund zögerte. Das klang nicht unbedingt nach Ma rine. »Ich … ich glaube schon, Sir.« Mister Sebastipol fuhr fort. »Ausgezeichnet. Also, unser kaiserlicher Auftrag, der direkt aus der großen kaiserlichen Hauptstadt Clementine an uns ergeht, ist die Sicherung, Wartung und tadellose Instandhaltung einer der Fernstra ßen unseres höchstkaiserlichen Herrn, nämlich des Conduit Vermis oder Wurmwegs, der von Winstermill aus durch den Ichorbruch, den manche auch Leimtopf nennen, und weiter nach Osten ins weithin berühmte Worms führt.« Rosamund blinzelte. Nein, das klang ganz und gar nicht nach Marine. »Ich bin hier, um dir eine Lebensstellung anzubieten, die darin besteht, gemeinsam mit uns die Beleuchtung dieser hochwichtigen Fernstraße zu warten, damit sie für alle Rei senden sicher bleibt. Kurzum, wir möchten, dass du Later nenanzünder wirst. Ich freue mich, sagen zu können, dass unsere hochverehrte Madam Opera …«, er drehte sich halb zu ihr hin und verneigte sich leicht, »… mit mir darin über 55
einstimmt, dass du dich für diese Aufgabe hervorragend eignest.« Der Ton, in der der Abgesandte der Laternenanzünder dies alles sagte, hatte etwas sehr Endgültiges. Wieder überschlugen sich die Gedanken in Rosamunds Kopf. Laternenanzünder? Er sollte Laternenanzünder wer den? Was wurde dann aus der Marine? Jetzt würde er nie mals zur See fahren … »Äh …« Rosamund gab sich alle Mühe, eine dankbare Miene aufzusetzen. »Ich … äh …« Tag für Tag, Nacht für Nacht ein und dasselbe Stück Straße entlanggehen, Later nen anzünden und wieder löschen, anzünden und wieder löschen. Ohne jede Aussicht auf Prisengeld. Ohne jede Aussicht, Ruhm zu ernten. Eigentlich hatte ersieh sein Le ben ganz anders vorgestellt! Hätte es schlimmer kommen können? Aber er hatte keine Wahl. Entweder er wurde Laternen anzünder, oder er versauerte im Findelhaus. Er blickte zu Madam Opera. Ihre freundliche Miene erkaltete vor Unge duld. Er musste sich zwischen zwei sehr unangenehmen Möglichkeiten entscheiden – Pest oder Cholera, wie Master Fransitart wohl sagen würde. »Ich danke Ihnen, Mister Sebastipol«, brachte er endlich heraus und machte erneut einen ungelenken Diener. »Recht so!« Madam Opera strahlte und klatschte einmal laut in die Hände. Mister Sebastipol verzog keine Miene. Offensichtlich hatte er nicht den geringsten Widerstand gegen sein Angebot erwartet. Madam Opera brachte Ro samund zur Tür. »Geh und mach dich reisefertig. Master Fransitart wird wissen, was zu tun ist … Nun, Mister Se 56
bastipol«, hörte er sie flöten, als sie hinter ihm die Tür schloss, »bleiben Sie noch auf ein Tässchen Tee?« Und das war’s. Die notwendigen Vorbereitungen wurden in Angriff ge nommen. Rosamund sollte Mister Sebastipol in zwei Tagen am Padderbeck wieder treffen, einer kleineren Boschen berger Bootsanlegestelle an dem mächtigen Strom Hu mour. An Gepäck sollte er nicht mehr mitnehmen, als in einen großen Koffer und eine Umhängetasche passte. Au ßerdem sollte er in strapazierfähiger Kleidung für eine lan ge Reise erscheinen und mit einem robusten Hut. Leider besaß er nichts Strapazierfähiges. Und auch keinen robus ten Hut. Die wenigen Habseligkeiten, die sich in seinem Leben angesammelt hatten, passten leicht in zwei alte Hutschachteln. Den restlichen Abend und den ganzen fol genden Tag eilten in Madam Operas außerordentlicher Ma rineanstalt für Findelkinder in der Vlinderstrat zu Bo schenberg alle Beteiligten geschäftig hin und her und berei teten alles für Rosamunds großen Schritt ins Leben vor. Sogar Madam persönlich half mit. Sie erstellte eine Liste der Dinge, die er benötigte, und überschrieb sie mit Rosa munds Reisebedarf. Master Fransitart und Master Craumpalin machten sich mit Rosamund auf den Weg zu Gauldsman Five, dem Gauldermeister. Er führte in diesem Teil der Stadt das bes te Geschäft für Kleidung, die für Rosamunds Reise robust genug war, denn Gauldsman Five stellte die beste Rüst kleidung her. Rüstkleidung schützte vor Schwerthieben und konnte sogar Kugeln aufhalten, die aus einer Muskete oder Pistole abgefeuert wurden. Das einfachste Rüstklei 57
dungsstück war teuer, und je wirkungsvoller der Schutz, desto höher der Preis. Doch für Menschen, die sich vor die Stadtmauern wagen wollten, wo Monster, Banditen und andere Gefahren lauerten, war Rüstkleidung unverzichtbar. Sie bestand aus normalem Stoff – alles von Hanf bis Seide –, der mit einer chemischen Mixtur namens Gauld behan delt worden war, die ihn hochgradig reiß-, stich- und ku gelfest machte. Wurden aus dem unbehandelten Stoff Klei dungsstücke geschneidert, wurden zunächst mit Gauld ge härtete breite Lederstreifen und dünne Polster aus wei chem, schwammartigem Kermesgras in das Futter einge näht. Anschließend wurde das Ganze in Gauld getränkt, gekocht, wieder getränkt und so weiter und so fort. Jeder Gaulder hatte seine eigenen Verfahren und Geheimrezeptu ren. Rosamund fand es fast zu schön, um wahr zu sein, dass er einen so großartigen Anzug ganz für sich allein be kommen sollte. Er war sprachlos vor Freude, als er die Ma rineanstalt verließ. Die Geschäfts- und Anproberäume von Gauldsman Five befanden sich im Blechtrommelweg im benachbarten Stadtteil Mortar, und der Besuch dort versprach ein Aben teuer für sich zu werden. Tatsächlich war für einen Find ling jeder Ausflug in die Stadt ein besonderes Ereignis. Ro samund hatte Madam Operas Anstalt in seinem ganzen Le ben nur ein Dutzend Mal verlassen, meist, um zusammen mit anderen Zöglingen an den Humour zu gehen und sich dort im Rudern und Schwimmen zu üben. Ja, sein bislang aufregendster Ausflug war ein Besuch bei Verlines Schwester Präline gewesen, die im Schatten der äußersten Boschenberger Ringmauer wohnte. 58
Fransitart, Craumpalin und er gingen zunächst auf der Vlinderstrat nach Norden, ehe sie rechts in den Weegbrug und dann links in den kurvenreichen Pantomimenweg ab bogen. Sie kamen an Bierschenken, Tanzstuben und Mari onettentheatern vorbei, bogen abermals rechts in die Hur lingstrat ab und folgten ihr, Ochsenkarren und Kutschen ausweichend, bis zum Werkertor, an dem linker Hand der Blechtrommelweg abzweigte. Das Geschäft lag am Ende des ersten Drittels der Straße. Das Haus, in dem es sich be fand, war hoch und schmal wie fast alle in Boschenberg. Nur vornehme Kundschaft durfte in den vorderen Teil des Ladens, der mit Nobelkabinen ausgestattet war, in denen die Reichen und Mächtigen ihre neue Rüstkleidung anpro bieren und bewundern konnten. Gewöhnliche Sterbliche wie zwei Lehrer einer Marineanstalt und ein Findling mussten mit den Kabinen für arme Leute neben den großen Gauld-Bottichen im rückwärtigen Teil vorliebnehmen. Als sie diesen schmutzigen Raum betraten, sah Rosamund, wie ein Mann mit Schurz eine zähflüssige schwarze Pampe in einen der Bottiche schüttete, aus dem unter zornigem Zi schen grünliche, orangefarbene und gelbe Dämpfe aufstie gen. Ein übelriechender Gifthauch waberte in der dumpfi gen Luft. Fransitart sprach ruhig, aber eindringlich mit einem schmutzigen Kerl, der daraufhin mit einem anderen schmutzigen Kerl sprach, der wiederum mit einem anderen sprach, und kurze Zeit später erschien in der Tür, die in den vorderen Teil des Ladens führte, ein gut gekleideter Mann mit gepuderter Perücke. Sein Anzug war aus teurem Tuch gefertigt, aber sein Gesicht war narbig und abgezehrt – das 59
typische Merkmal eines Essigfahrers. Er war einer der Schneider von Gauldsman Five. Fransitart kannte ihn of fensichtlich, und wie der bestürzte Blick des Mannes ver riet, kannte er auch den Schlafsaalaufseher. »Guten Tag, Meesius«, grüßte Fransitart mit einem un heilvollen Funkeln in den Augen. »Bootsführer Frans?« Meesius, der Schneider, erbleich te. »Bist du’s wirklich? Und … ist das nicht Craumpalin?« Bootsführer? Rosamund hatte immer angenommen, Fransitart sei Stückmeister gewesen, verantwortlich für alle Kanonen und ihre sachgemäße Bedienung. »Ja.« Fransitart nickte ernst. »Ich bin gekommen, um meine Schuld einzufordern.« Craumpalin zwinkerte dem Schneider zu, zupfte an den Bartstoppeln unter seiner Unterlippe und grinste. »Sieh mal einer an, Frans«, brummte er, »er kennt uns noch!« Meesius wurde immer bleicher. »Na … nach all den Jah ren?« »Ja«, erwiderte Fransitart mit einem drohenden Unterton in der Stimme, den Rosamund noch nie bei ihm gehört hat te. »Aber ich möchte sie in Form von Rüstkleidung. Bring uns die besten Reisesachen für den Jungen da.« Es folgte betretenes Schweigen. Rosamund berührte es seltsam, dass sich seine Lehrer wie zwei abgefeimte Halunken gebärdeten. Der Schneider zögerte, Angstschweiß trat ihm auf die Stirn. Craumpalin verschränkte die Arme und zog ein finsteres Gesicht. Fransitart verharrte völlig reglos. Meesius räusperte sich. »N … na gut.« Er winkte Rosa 60
mund ungeduldig. »Komm her, damit ich Maß nehmen kann.« Rosamund blickte zu seinen Lehrern, und Fransitart nickte kaum merklich. Der Junge gesellte sich zu dem Schneider, die beiden Lehrer blieben bei den Bottichen. »Heb den Arm!«, knurrte Meesius leise. Mit einem Le derband maß er Rosamunds Hals und Arme und sogar sei nen Brustumfang, wobei er ihn mehrmals grob in die Rip pen stieß. »… Am liebsten würde ich ihn gar nicht gehen lassen«, hallte Master Fransitarts Stimme leise durch den Bottich raum. »Untersteh dich. Der Junge brennt doch darauf, im Le ben weiterzukommen.« »Ja, Pin, ja.« Der Schlafsaalaufseher klang resigniert und seltsam traurig. »Wenigstens wird er jetzt ordentlich geschützt sein.« Darauf verstummten die beiden Männer wieder. Meesius verschwand und kehrte nach kurzer Zeit mit finsterer Miene zurück, über dem Arm zwei hochwertige Rüstkleidungsstücke. Das erste war eine schöne Weste mit ausgefallenem Besatz und Futter aus Seide, die Weskit ge nannt wurde. Das zweite Stück war ein unverwüstlicher, gut gehärteter Gehrock, ein sogenannter Wehrrock, und aus feiner, blau schillernder Seide gefertigt. Er lag an der Taille eng an und reichte bis zu den Knien. Rosamund staunte über seine Schönheit. Fransitart forderte ihn auf, die Sachen anzuprobieren. »Damit du dich schon mal an ihr Gewicht gewöhnst«, sagte er. 61
Sie waren Rosamund etwas zu groß und schwerer als normale Kleidung. Aber sie sahen zu seinen erst kürzlich gewaschenen schwarzen Langschenkeln – so hießen seine knielangen kurzen Hosen – sehr gut aus, und er konnte si cher sein, dass sie ihn auf seiner langen Reise gut schützen würden. Jetzt fehlte ihm nur noch ein robuster Hut. »Deine Schuld ist getilgt, Meesius«, sagte Fransitart mit leiser und ernster Stimme. »Ich hoffe, wir werden uns nie wieder begegnen müssen!« Ohne ein weiteres Wort entschwand der Schneider im Dunkel hinter den Bottichen. Rosamund und seine Lehrer gingen denselben Weg zurück, den sie gekommen waren. Fransitart wirkte sehr zufrieden mit sich, als er sich durch das Menschengewimmel in den Straßen schlängelte. »Jetzt bist du anständig ausgestattet, mein Junge. Wirk lich eine schöne Rüstkleidung.« Das Grinsen des Schlafsaalaufsehers wurde noch breiter. »Die wird dich gut schützen.« Craumpalin kicherte. »Gut gemacht, Frans, wirklich gut gemacht. Der alte Käpt’n Slot wäre beeindruckt.« Rosamund hatte keine Ahnung, was hier gespielt wurde. Er hatte Fransitart noch nie so zufrieden und vergnügt ge sehen. Aber er war viel zu verwundert über seine prächti gen neuen Kleider, um sich darüber den Kopf zu zerbre chen. Verline flickte seine beiden Hemden und sogar seine kur zen Hosen und stopfte mehrere Beinlinge – überlange Strümpfe –, von denen er immer zwei Paar übereinander tragen sollte, damit seine Beine von den Knien abwärts 62
besser geschützt waren. Zwei Schals und zwei Paar Hand schuhe sollten verhindern, dass er im bevorstehenden Win ter fror. Außerdem schenkte sie ihm ihr Gedrechsel – eine Gabel und ein Löffel aus Holz –, einen Biggin – ein leder bezogener Holzbecher mit verschließbarem Deckel –, ei nen kleinen Holznapf und einen Feuerstein nebst einem Feuerschläger aus Stahl zum Feuer machen. Aus der Speisekammer durfte er sich ein Päckchen ge trocknete Pilze, sogenannte Rotmoderlinge, holen und in seine Umhängetasche packen, dazu einen ganzen Laib Roggenbrot, ein Glas Essiggurken, das leise gurgelte und gluckerte, wenn man es bewegte, drei viereckige schwarze Tafeln transportable Suppe, die, in heißem Wasser aufge löst, eine fade, aber nahrhafte Brühe ergaben, ein paar fri sche grüne Äpfel und, als Kraftnahrung oder für Notfälle, angereicherten Beutelkäse. Reisepapiere wurden für ihn ausgestellt: ein Empfeh lungsschreiben Madam Operas, in dem sie ihn als feinen, tüchtigen Jungen anpries, ein Passierschein, der ihn befug te, jedes Land und jeden Stadtstaat des Reiches zu berei sen, eine Geburtsurkunde, aus der hervorging, wer er war und woher er kam, und schließlich ein Arbeitsbuch, in dem eingetragen werden sollte, wo er arbeitete und wie er sich führte. Dieser eindrucksvolle Dokumentenstapel wurde in einer Brieftasche aus Büffelleder verstaut, zusammen mit (er traute seinen Augen kaum!) Papiergeld im Wert von einem Sou – ein Vorschuss auf sein künftiges Monatsge halt – und einer Kaiserbillion. Dies war eine glänzende Os cadril-Goldmünze, die jeder beim Eintritt in den Dienst seines friedliebenden, kaiserlichen Herrn als Ansporn be 63
kam. Dazu gab es noch einige kleinere Münzen, die in ei nem Beutel verstaut waren. Mit offenem Mund starrte Ro samund auf das viele Geld, das jetzt ihm gehören sollte. Auch Craumpalin steuerte etwas bei. Der alte Apotheker brachte mehrere Fläschchen und Säckchen, die, wie er er klärte, allesamt Medizin »zur Stärkung von Gewebe und Odem« enthielten, womit er Leib und Seele meinte, und Abwehrmittel gegen Monster aller Art. Die Arzneien kann te Rosamund bereits vom Sehen. Die kleinen milchigen Flaschen enthielten beispielsweise Evanderwasser. Das große dunkelblaue ə, mit dem sie beschriftet waren, be zeichnete den Inhalt, die kleineren Buchstaben C-R-p-N darunter verwiesen auf den Apotheker. Doch die Abwehrmittel waren ihm neu. »Nimm dich vor den Monstern in Acht, mein Junge! Hier drin warst du dein Leben lang sicher, aber da draußen …«, Craumpalin machte eine unbestimmte Geste, »… da drau ßen gibt es keine Sicherheit. Sie sind überall, diese verma ledeiten Biester, verstehst du? Ob groß oder klein, sie sind so gemein, wie man nur sein kann, deshalb musst du diese Gebräue sicher und jederzeit griffbereit aufbewahren, dann kann eigentlich nichts schiefgehen – allerdings muss ich mich bei dir dafür entschuldigen, dass sie nicht so hoch wertig sind, wie wenn sie ein Skold gebraut hätte.« Der Apotheker deutete auf eine kobaltblaue Phiole. »Also! Hier hätten wir zunächst Tölenöl. Riecht für unsereins nicht be sonders auffällig, ist aber gut, um Monster fernzuhalten. Ein kräftiger Spritzer auf deinen Hemdkragen, und sie blei ben dir vom Leib. Die Sache hat nur einen Haken: Das Öl verrät ihnen, dass du da bist, also benutze es nicht aufs Ge 64
ratewohl, sondern nur, wenn du glaubst, dass sie deine Wit terung aufgenommen haben.« Dann stieß er mit dem Finger sachte gegen ein Säck chen, das zusammen mit vielen anderen in einem größeren Beutel steckte. Der Geruch, der dem Säckchen entströmte, war schwach, aber trotzdem unangenehm stechend. Rosa mund konnte nur hoffen, dass er nie eine volle Ladung da von abbekam. »Das sind Schrecksalze … Ganz hässliches Zeug, und die Säckchen platzen sehr leicht, also Vorsicht! Jeder Bo gel – oder auch jeder Mensch – bekommt furchtbare Schmerzen, wenn du ihn damit bewirfst, natürlich mitsamt dem Säckchen. Hält ihn mehrere Stunden in Schach, macht ihn aber auch fuchsteufelswild, deshalb musst du danach noch eine ganze Zeit lang auf der Hut sein. Und dann das hier! Das ist was ganz Raffiniertes!« Craumpalin wickelte ein Päckchen aus Ölpapier aus und brachte einen großen Klumpen formbares hautfarbenes Wachs zum Vorschein. Der Geruch nach verschwitztem, ungewaschenem Mensch erfüllte die Luft. »Es heißt Johannestalg. Riecht für unsereins etwas streng, betört aber jede Nicker-Nase … und leitet ihren Be sitzer irre. Du versteckst einen Batzen davon hinter einem Baum oder unter einem Stein und verdünnisierst dich in die entgegengesetzte Richtung, das verschafft dir einen Vor sprung.« Er kicherte in seinen weißen Bart. »Fabelhaftes Zeug. Aber ich muss dich warnen: Immer nur mit dem Öl papier anfassen! Wenn dir etwas an den Händen haften bleibt – oder sonst wo –, stinkst du selber danach, und der Trick funktioniert nicht. Verstanden?« 65
Während der Apotheker das Wachs knetete, stellte Ro samund zu seiner Verwunderung fest, dass er den Geruch mochte. Er sagte aber nichts, prägte sich alle Anweisungen genau ein und malte sich die Welt jenseits der vielen Mau ern und Befestigungswerke der Stadt aus, in der es von furchterregenden Bestien aller Art nur so wimmelte. »Damit zum vierten und letzten«, sagte Craumpalin und hob eine Flasche aus braunem Ton hoch. »Das hier ist Nul larom – ich nenne es auch gerne Craumpalins Entdufter. Master Frans und ich möchten, dass du jederzeit einen Spritzer davon am Leib trägst, ganz gleich wo. Es schützt dich vor zudringlichen Schnüffelnasen, denn wo du hin gehst, weiß man nie, wo es sicher ist und wo nicht.« Der alte Apotheker nahm einen langen Stoffstreifen aus feinem Kammertuch zur Hand. »Am besten, du gibst eine reichlich bemessene Menge auf diese Binde und wickelst sie dir unter den Achseln um den Leib. Ungefähr so.« Zur Demonstrati on schlang er sich den Streifen mehrmals um den Brustkorb. »Ein kräftiger Spritzer reicht für einen Tag, sieben halten fast eine ganze Woche vor. Danach empfehle ich dir, die Binde auszuwaschen und frischen Entdufter aufzubringen. Ich möchte, dass du morgen früh, wenn du dich reisefertig machst, sieben Spritzer aufträgst und die Binde so anlegst, wie ich es dir eben gezeigt habe. Verstanden?« Rosamund nickte feierlich. Alles, um die Monster fern zuhalten. Craumpalin grinste. »Braver Junge.« Er reichte Rosa mund die braune Tonflasche zusammen mit einem Stück Papier. »Der Inhalt der Flasche reicht für einen Monat. Da nach gehst du zu einem Skold – aber vergewissere dich 66
vorher, ob er freundlich gesinnt ist – und gibst ihm den Zettel, damit er dir einen neuen Vorrat brauen kann.« Zusammen mit all diesen Dingen packte Rosamund sei ne kostbarsten Schätze ein: ein Wörterlexikon und einen einfachen Almanach für Reisende mit dem Titel Master Mathius’ Wanderführer: Ein Vademecum der Sachkunde, Allgemeinkunde & Habilistik, das heißt der Geschichte, Geographie und Naturwissenschaften. Klugerweise waren der Einband und auch die Seiten wasserfest, damit das Buch dem wackeren und gebildeten Leser bei jeder Witte rung gute Dienste leisten konnte. Er hatte es vor einem Jahr zum Buchtag geschenkt bekommen, an dem Madam Ope ras Zöglinge den Eintrag ihres Namens in das große Buch feierten – eine Art Gruppengeburtstag und der einzige per sönliche Festtag im Leben eines Zöglings. Am Nachmittag brachte Fransitart einen glänzenden schwarzen Lederkoffer mit Eisenbeschlägen an den Ecken. »Danke.« Als Rosamund ihn hochhob, hatte er das eigen artige Gefühl, dass die Person, die den Koffer angefertigt hatte, es mit seinem späteren Besitzer gut gemeint hatte. Er war mit einem Schloss versehen, und den dazugehö rigen Schlüssel befestigte Rosamund an einer leuchtend roten Samtschnur, die er sich um den Hals hängte. Darauf wurde Rosamunds erstaunlich umfangreiche neue Ausrüstung ein letztes Mal überprüft und schließlich von Master Fransitart eingepackt, wobei er alles so ge schickt verstaute, dass nichts klapperte oder schepperte, wenn der Koffer bewegt wurde. Erstaunlicherweise war der Koffer im vollgepackten Zustand nicht annähernd so schwer, wie man hätte erwarten können. 67
Rosamund hätte Fransitart furchtbar gern gebeten, ihm die Geschichte von seinem Kampf mit dem Monster und den dunklen Geheimnissen, die ihn umgaben, zu Ende zu erzählen. Und angesichts der wenigen Zeit, die ihm bis zur Abreise noch blieb, hätte er gewiss auch den Mut dazu aufgebracht, aber Verline ließ sie nie lange genug allein, sodass er gar nicht erst dazu kam. »Ich weiß«, sagte Fransitart irgendwann unvermittelt, »dass du nicht davon geträumt hast, Laternenanzünder zu werden, aber nicht jeder, der die Rechte studiert, wird auch Rechtsanwalt, mein Junge. Und noch kann sich alles für dich ändern. Kein Weg ist so unabänderlich oder so schnurgerade, wie es zunächst scheinen mag.« Er sah Ro samund fest in die Augen. »Du musst dich da draußen sehr vorsehen, mein Junge. Hast du mich verstanden?« Rosamund nickte langsam und traurig. »Die meisten hier drin verstehen dich nicht so gut wie Verline, der brummige Craumpalin oder meine Wenig keit«, fuhr der alte Seebär fort. »Pass auf dich auf, such dir deine Freunde gut aus und trag die Mittelchen, die Craum palin dir gegeben hat, jederzeit bei dir. Er versteht sein Ge schäft besser als die meisten anderen – sie werden dich gut schützen.« Er schniefte. »Nimm dir meine Worte zu Her zen, mein Sohn. Die Welt da draußen ist wild und böse, deshalb lasse ich dich nur ungern fort. Aber du musst fort, und du musst klug und auf Zack sein. Und geh jedem Är ger aus dem Weg. Klar?« »Ja, Master Fransitart«, sagte Rosamund mit der ganzen Ernsthaftigkeit, die er aufzubringen vermochte. Der Schlafsaalaufseher zog etwas aus der Tasche und 68
reichte es ihm. Es war ein langes Messer mit dünner Klinge in einer schwarzen Lederscheide, wie sie Rosamund schon bei Anglern gesehen hatte, die auf den Ufermauern am Fluss Fische putzten. Wieder blickte ihm Fransitart ernst in die Augen. »In der Welt da draußen ist ein Messer sehr praktisch. Aber merk dir eins: Wenn du es schon bei einer Rauferei benutzen musst …«, und bei diesen Worten hob er den Zeigefinger, »… dann richtig, sonst wird es dir weggenommen, und du bekommst es zu kosten!« Rosamund nickte, obwohl er nicht ganz verstanden hat te. Er hatte nicht die Absicht, das Messer zu etwas anderem zu verwenden als zum Zerkleinern von Lebensmitteln. Zu seinem Leidwesen musste er noch ein Bad nehmen, obwohl er erst vor zwei Tagen gebadet hatte. »Damit du an deinem großen Tag hübsch und sauber bist, junger Mann«, erklärte Verline, als sie ihn in die Wanne schickte. Nach Zitronengrassuppe duftend, kehrte er in den Schlafsaal zu rück. Als alle Jungen zu Bett gepfiffen wurden, zogen ihn Weems und Gull, zwei der Nächstältesten, die das Haus im kommenden Jahr verlassen sollten und immer alles ge meinsam machten, damit auf, das er nach Blumen rieche. Rosamund zuckte nur mit den Schultern. Heute war der letzte Abend, an dem er sie ertragen musste. Wirre Träume, Gedanken an die ungewisse Zukunft und die Sorge, dass Gosling ihm einen letzten hinterhältigen Streich spielen könnte, verhinderten, dass er in dieser Nacht viel Schlaf fand. Zu Beginn der Morgenwache wurde Rosamund von ei nem schweigsamen Fransitart geweckt. Er folgte dem mat 69
ten Schein des abgeblendeten Algions. An der Tür nahm er mit einem wehmütigen Blick Abschied vom Schlafsaal. Sägendes Schnarchen, Wimmern und Seufzen erwiderten gleichgültig seinen Gruß. So ist es also, wenn man für immer geht, wunderte er sich. Master Fransitart brachte ihn in den Waschraum, wo er sich das Gesicht wusch und seine großartigen neuen Sa chen anzog, die dort für ihn bereitlagen. Mit besonderer Sorgfalt trug er eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Spritzer von Craumpalins Entdufter auf die Binde auf. Ge nug für sieben Tage. Er wickelte sich die Binde fest um die Brust, so wie der Apotheker es ihm gezeigt hatte, dann schlüpfte er in die übrigen Sachen. Im Speisesaal erwartete ihn ein Frühstück, bestehend aus Roggengrütze mit Schichtkäse und mit Honig gesüßt. Eine Laterne stand daneben und spendete Licht für seine letzte Mahlzeit im Findlingsheim. Es war das beste Frühstück, das er je bekommen hatte, und es zeugte von Verlines Für sorglichkeit. Nur stimmte es ihn etwas traurig, dass er al lein essen musste, und der dunkle, leere Saal hallte vom Klappern des Löffels im Teller wider. Es würde ihm schwer fallen, ohne Verlines Liebe zu leben, aber endlich kam er hier heraus! Als das erste Licht des Morgens durch die hohen Fenster drang, kehrte Fransitart in den Speisesaal zurück. Er brach te ihm den Koffer und die Umhängetasche. »Es wird Zeit, mein Junge«, sagte er, und seine Stimme klang seltsam gepresst. Rosamund folgte ihm ins Vestibül an der Vordertür, wo 70
Madam Opera bereits wartete, um ihm sein Gehenk zu überreichen. Das Gehenk war ein Gurt aus Stoff und Leder, der schräg über der rechten Schuler getragen wurde und den jeder Junge bekam, wenn er den Schritt ins Mannesal ter tat. In der Regel war es mit den Farben seiner Geburts stadt, dem sogenannten Mottl, geschmückt. Das Boschen berger Mottl war ein schwarzbraunes Karomuster. Master Fransitart legte ihm das Gehenk feierlich und immer noch schweigsam um, und zu guter Letzt setzte er ihm noch ei nen flotten schwarzen Dreimalhoch auf den Kopf. Damit war die Ausrüstung komplett. Madam Opera machte ein verkniffenes Gesicht. »Du bist gut ausstaffiert – beinahe zu gut«, sagte sie mit einem Sei tenblick auf Fransitart und gab Rosamund einen kurzen Klaps auf den Kopf. »Sei stark, mein Junge, und geh dei nen Weg, wie es Hunderte vor dir getan haben. Die Welt belohnt Tränen nicht. Nun wird es Zeit für dich zu gehen.« Rosamund befestigte sein neues Messer an dem Gehenk, hängte sich die Tasche mit dem Proviant, dem Biggin, den Abwehrmitteln und all dem anderen über die andere Schul ter, steckte den kleinen Beutel mit den Münzen in die Ta sche und ergriff den Koffer. Master Fransitart fasste ihn bei den Schultern. »Auf Wiedersehen, mein Junge.« »Auf Wiedersehen, Master Fransitart«, sagte Rosamund leise und fügte hinzu: »Grüßen Sie Miss Verline und Mas ter Craumpalin von mir.« Madam Opera schnaubte missbilligend, aber Fransitart erwiderte lächelnd: »Wird gemacht, mein Junge. Nun aber fix. Neue Aufgaben warten auf dich!« 71
Rosamund ergriff seinen alten Stock und seinen Alma nach, lüftete den Hut, wie es ein Mann nach seinem Emp finden tat, und trat zaghaft hinaus in den nebligen Herbst morgen. Als er sich im Gehen umwandte, sah er einige Zöglinge, die früh aufgewacht waren, aus den Fenstern des Find lingsheims spähen. Auch Gosling war darunter. Rosamund war überzeugt, dass er innerlich vor Wut kochte und vor Neid fast platzte. Den bin ich los, dachte er. Er ging auf der Vlinderstrat in Richtung Hermeneguild und Hafenviertel, und bald entschwand Madam Operas au ßerordentliche Marineanstalt für Findelkinder hinter hohen Geschäftshäusern und Wohnblöcken seinem Blick. Eine unsägliche Traurigkeit überkam ihn, und das Herz wollte ihm zerspringen, als er in die Sooningstrat einbog, auf der bereits morgendliche Geschäftigkeit herrschte.
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AUF DER HOGSHEAD
Cromster, der: kleineres, bewaffnetes Flussboot, mit drei Zoll dicken Gusseisenplatten gepanzert und auf jeder Längsseite mit vier bis zwölf Zwölfpfünderkanonen bestückt. Gewöhnlich Einmaster, in größeren Aus führungen gelegentlich allerdings auch mit zwei Masten. Er besitzt neben dem Oberdeck nur ein einziges Unterdeck, das sogenannte Orlopdeck. Mittschiffs vorn (also in der vorderen Bootshälfte) befindet sich normaler weise der Laderaum. Die hintere Hälfte des Orlopdecks ist den Gastrinen und ihrer Bedienungsmannschaft vorbehalten.
M
ister Sebastipol erwartete ihn wie versprochen. Er stand im Nebel oben auf der Padderbeck-Treppe. Er trug wieder den Kutschermantel und den schwarzen Drei malhoch, an dem er leicht zu erkennen war. Über der Schul ter hatte er eine Tasche und an einem breiten Gurt wieder den Kasten umhängen, den Rosamund schon kannte. Jetzt, wo er ihn sich länger und genauer anschaute, kam er ihm merkwürdig gewöhnlich vor. Rosamund war ein wenig ent täuscht, zum einen, weil er das Sthenicon selbst nicht sehen konnte, zum anderen, weil der Kasten so unscheinbar aus sah. Sebastipol hielt eine Art kleine Taschenuhr in der Hand. Als Rosamund auf ihn zutrat, steckte er sie weg. 73
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»Du kommst zu spät, junger Freund«, bemerkte er aus druckslos. »Pünktlichkeit ist das A und O im Leben eines Laternenanzünders, daran solltest du dich jetzt schon ge wöhnen, meinst du nicht auch?« In seiner Stimme schwang kein Zorn, nur aufrichtige, selbstlose Missbilligung. So et was war Rosamund noch nie vorgekommen. »Ah … ja, Sir«, stieß er hervor und setzte den Koffer ab. »Na ja, wenigstens kommst du mit leichtem Gepäck. Bravo.« Der Abgesandte der Laternenanzünder zog ein versiegel tes längliches Dokument und ein zweites, zusammengefal tetes Papier hervor. Das versiegelte Schriftstück reichte er Rosamund zuerst mit den Worten: »Das ist mein Bericht für unsere Dienstherren«. Dann gab er ihm das zusammen gefaltete Papier. »Und das sind meine Instruktionen für dich und die Leute, die dich am Ziel deiner Reise in Emp fang nehmen werden. Bewahre das erste gut auf und lies dir das zweite sorgfältig durch.« Der Abgesandte der La ternenanzünder verschränkte die Arme und sah ihn mit sei nen irritierenden Augen durchdringend an. »Dein erstes Ziel ist High Vesting, und danach geht es weiter zu der Festung Winstermill. Das ist das Hauptquartier der Later nenanzünder. Ein Begleitschutz wird dich von High Vesting aus hinbringen. Das steht in deinen Anweisun gen.« Er kniff die Augen zusammen. »Jetzt hör mir genau zu. Trödel nicht unterwegs, sondern begib dich auf direk tem Weg nach Winstermill, denn meine Vorgesetzten er warten dich und andere, die wie du eine Lehre beginnen. Hast du verstanden?« 75
»Ja, Sir.« Rosamund verstaute die wertvollen Dokumen te in seiner Brieftasche aus Büffelleder. Mister Sebastipol zückte erneut seine kleine Uhr, klapp te sie auf und schürzte die Lippen, dann ließ er den Deckel wieder zuschnappen und fuhr fort: »Nun, je eher du auf brichst, desto schneller bist du fort.« Er deutete auf die Stu fen, die von der hohen Mauer neben der Kanalstraße zum Padderbeck hinabführten. Der Nebel war fast undurchdringlich geworden. Rosa mund konnte kaum die baufälligen Häuser jenseits des schmalen Kanals erkennen, deren rote und grüne Fenster lichter nur ein schwaches, unheimliches Licht verströmten. »In dieser furchtbaren Suppe kannst du wahrscheinlich nichts sehen«, fuhr der Abgesandte der Laternenanzünder fort und blickte angestrengt in den Nebel, »aber da unten am Pier wirst du einen gewissen Flusskapitän Vigilius vor finden. Er wird dich an Bord des Cromsters Rapunzel neh men. Das Boot ist tadellos in Schuss, und deine Fahrt ist bereits bezahlt.« Rosamund blickte in die angegebene Richtung, sah aber nur dunkles Grau. »Ah … ja …« Mister Sebastipol schenkte ihm ein überraschend freund liches Lächeln und verneigte sich. »Nun, mein Junge, der Augenblick der Abreise ist gekommen, wie mir scheint, und so darf ich dir eine gute Fahrt wünschen und mich empfehlen.« Rosamund war verdutzt. Der Abgesandte der Laternen anzünder mochte kein besonders freundlicher Zeitgenosse sein, aber eine so weite Reise, wie er sie jetzt antrat, unter nahm man doch besser in Begleitung eines Leers als allein. 76
»Ich … ich dachte, Sie würden mitkommen«, wagte er zu sagen. Mister Sebastipol lächelte wieder. »Ich habe hier in Bo schenberg noch dringende Geschäfte. Aber eines nicht all zu fernen Tages wirst du mich ganz bestimmt wiedersehen. Geh jetzt einfach die Treppe hinunter und an fünf Liege plätzen vorbei. Das Leben eines Laternenanzünders heißt selbständig denken und handeln. Daran solltest du dich möglichst schnell gewöhnen. Willkommen bei den Later nenanzündern!« Damit verbeugte sich Mister Sebastipol ein zweites Mal und ging die Sooningstrat hinunter. Von einer Straßenkuppe winkte er ein letztes Mal, dann drehte er sich um und war verschwunden. Plötzlich war Rosamund auf sich allein gestellt. Mit ei nem mulmigen Gefühl ergriff er seinen Koffer und stieg die Stufen zum Fluss hinunter. Der Nebel war noch immer so dicht, dass er nicht sehen konnte, wo er hinging. Ein großer, dick mit weißer Farbe gestrichener Pfahl tauchte aus dem Dunkel auf. Eine Liegeplatzmarkierung. Dann zwei weitere. Er ging daran vorbei. Als ein vierter Pfahl aus dem Grau erschien, konnte er den Schatten eines Bootes erahnen, das dort festgemacht hatte. Je näher er kam, desto deutlicher traten seine Umrisse hervor. Es war ein Cromster. Nur war er in einem sehr schlechten Zustand und lag bedenklich tief im Wasser. Er erschien Rosamund alles andere als sicher und zuverlässig, ja, er machte eher den Eindruck, als könn te er selbst auf den ruhigen Wassern des Humour jederzeit untergehen. Der Findling runzelte die Stirn. Er war nicht so abgeschottet von der Außenwelt aufgewachsen, dass er 77
nicht schon Dutzende, wenn nicht sogar Hunderte Cromster den Fluss hinauf und hinunter hatte fahren sehen, und alle waren viel besser in Schuss gewesen als dieser Pott. Cromster lagen, wie die meisten eisenverkleideten Fluss boote, tief im Wasser. Ihr Rumpf und ihr Kiel hatten nur einen geringen Tiefgang. Und das war auch nötig, denn Flüsse, selbst ein so mächtiger Strom wie dieser, waren viel seichter als jedes Meer. Aber Rosamund war sich si cher, dass dieses Boot etwas zu tief im Wasser lag. Wenn die Wellen schon auf einem ruhigen Fluss fast bis zum Schanzkleid schwappten, würden sie bei einer Fahrt über eine Meeresbucht, selbst wenn diese geschützt war und sehr ruhiger Seegang herrschte, mit Sicherheit das Deck überspülen. Als Rosamund näher kam, bemerkte er, dass herunterge kommen und kränklich aussehende Männer gerade müh sam Fässer an Bord des Bootes rollten. »Ahoi!«, ertönte ein Ruf, und die kräftige Gestalt eines Mannes kam wankend das durchhängende Fallreep herun ter. »Was für ‘ne Landratte treibt sich bei dem Schmud delwetter so früh auf dem Kai herum?« Rosamund ärgerte es, dass er abschätzig als Landratte bezeichnet wurde. »Ich suche Flusskapitän Vigilus und den Cromster Rapunzel!«, erwiderte er energisch. Die kräftige Gestalt kam näher und entpuppte sich als abstoßend aussehender Kerl, groß und ungeschlacht, mit breiten runden Schultern und struppigen, borstigen Augen brauen, unter denen er verschwörerisch hervorblinzelte. Seine Kleidung war schäbig und hatte ihre besten Zeiten 78
schon lange hinter sich. Sein dunkelblauer Gehrock, wahr scheinlich mit Gauld gehärtet, hatte übermäßig breite Är mel und war mit noch dunklerer blauer Seide eingefasst und mit Leder gefüttert. Er reichte ihm bis zu den Knien und bedeckte alles bis auf ein Paar stark abgewetzte Stul penstiefel. Der Mann verströmte einen widerwärtigen Ge ruch, wie überhaupt alles an ihm bei Rosamund starke Ab neigung hervorrief. »Woher des Wegs, junger Mann?« , fragte der Kerl bei nahe freundlich, und sein Atem stank noch mehr als alles andere. »Wie kommt es, dass du auf der Suche nach einem solchen Mann und einem solchen Boot bist?« »Ich bin Rosamund Buchkind aus Madam Operas au ßerordentlicher Marineanstalt für Findelkinder.« Er deutete nervös eine Verbeugung an. »Flusskapitän Vigilus soll mich nach High Vesting bringen.« Dass der Fremde schlecht roch, war für Rosamund noch lange kein Grund, unhöflich zu sein. Der abstoßende Kerl stutzte bei diesen Worten, fasste sich aber schnell wieder. »Dann bist du also meine Lebend fracht, Junge?«, gurrte er und zwinkerte ihm frech zu. »Reichlich unglücklich, dein Name, aber was soll man ma chen. Sei’s drum! Freut mich trotzdem, deine Bekannt schaft zu machen.« Er verbeugte sich und lüftete seinen Dreispitz, unter dem fettiges graues Haar zum Vorschein kam, das im Nacken zu einem Stummelschwanz zusam mengebunden war. Sich an die Brust klopfend, fuhr er fort: »Ich bin Flusskapitän Vigilus, dein ergebener Diener.« Die Bemerkung über seinen Namen gehörte zweifellos zu den rüderen, die Rosamund bislang zu hören bekommen hat 79
te. In seinen Augen ohnehin keine Respektsperson, sank der Kerl – Flusskapitän Vigilus – in seiner Achtung noch tiefer. Der Kapitän plapperte unbekümmert weiter. »Ich bringe dich sicher zum nächsten Hafen. Ich befahre diesen Fluss schon seit vielen langen Jahren und kenne seine Tücken so gut wie die Warzen auf meinem Allerwertesten.« Er sprach so laut, dass ihn auch die Besatzung hören konnte. Viele kicherten oder grinsten. »Danke, Jungs.« Er machte eine schwungvolle Verbeugung in ihre Richtung. »Das ist mei ne Mannschaft – alle miteinander Söhne einer Verrück ten!« Mit einer vagen Bewegung seines weit beärmelten Arms deutete er auf seine Leute, die, mehrere Dutzend an der Zahl, gerade damit beschäftigt waren, große, mit »Schweineschmalz« beschriftete Fässer in den Laderaum zu wuchten. Die Männer sahen ebenso übel und wenig ver trauenerweckend aus wie ihr Kapitän. Rosamund musterte sie und ihren rostigen Kahn mit finsterem Blick. Was hatte sich Mister Sebastipol bloß dabei gedacht? Die se verlauste Bande würde es kaum bis zu den Achsen schaf fen, geschweige denn den weiten Weg bis High Vesting! Der Flusskapitän musste seine Bedenken spüren, denn er räusperte sich und sagte: »Nun ja, du hast bestimmt schon adrettere Boote gesehen, und auch eine schmuckere Mann schaft, klarer Fall, aber was soll man machen. Das ist mein Zweitboot, musst du wissen, mein Ersatzboot, wenn man so will. Die arme alte Funzel …« (womit er wohl die Ra punzel meinte, wie Rosamund nur vermuten konnte) »… ist mit einem großen Leck in der Backbordseite vorüberge hend außer Dienst gestellt worden. Sehr betrüblich, kann ich dir sagen, und obendrein kostspielig. Aber was soll 80
man machen.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus, und Ro samund empfand ein gewisses Mitgefühl mit ihm. Wenn ein Schiff zum Ausbessern ins Trockendock musste, brach te das in der Regel mancherlei Beschwerlichkeit mit sich. »Dafür haben wir jetzt die Hogshead, junger Mann«, fuhr der Flusskapitän fort. »Ein Sechs-Kanonen-Cromster. Sie wird uns nach High Vesting schaukeln und unser Logis sein, bis wir am Ziel sind. Sie ist zuverlässig und stabiler, als sie aussieht. Taugt für jedes Gewässer. Jedenfalls ist sie so fahrtüchtig, dass sie schon viele Male nach High Vesting und zurück geschippert ist, so wahr ich hier stehe.« Doch all diese Beteuerungen vermochten Rosamunds Bedenken nicht zu zerstreuen. Er wusste nur zu gut, wie ein Boot auszusehen hatte – ein Vorteil, wenn man in einer Marineanstalt aufgewachsen war. Er ließ den Blick über die Hogshead wandern, und dabei stach ihm zum ersten Mal die Galionsfigur ins Auge, die aus dem Bug herausrag te. Sie stellte ein zähnefletschendes Schwein dar und sah so wurmstichig und vernachlässigt aus, dass man meinen konnte, sie sei schon halb verfault. Alles in allem fand er den Namen Hogshead – mit dem man auch große, sperrige Fässer bezeichnete – sehr passend. Ein Schiffer rollte gera de ein solches Fass vorbei. Der Gestank, den es verströmte, löste bei Rosamund einen Würgereiz aus. Blitz und Donner! Ich kann nur hoffen, dass ich die Fahrt nicht in deren Nähe verbringen muss … »Wie man mir gesagt hat, ist mein Fahrpreis bereits be zahlt?« Der Flusskapitän schien kurz zu überlegen, dann antwor tete er bedächtig: »Jawohl, junger Mann, so ist es.« Er 81
grinste verschmitzt. »Willkommen an Bord.« Damit bug sierte er Rosamund das Fallreep hinauf auf das schmudde lige Deck des Bootes. »Die Pflicht ruft. Wir legen gleich ab. Such dir einen Platz, aber steh nicht im Weg herum. Möge deine Reise so angenehm sein wie die Frühlingska rawane der Gightland-Königin!« Ein Zittern lief durch den Cromster. Seine Gastrinen, die Maschinen aus lebenden Muskeln, die ihn im Wasser an trieben, wurden gelockert – gedehnt und aufgewärmt für die schwere Arbeit, die darin bestand, die Schiffsschraube der Hogshead zu drehen. Rosamund stellte sich neben das Ruder und wartete mit bangem Herzen. Wenn doch nur Mister Sebastipol bei ihm wäre. Dies alles war doch sehr sonderbar. »Klar zum Ablegen, Poundinch!«, rief ein mürrisch dreinblickender Kerl dem Flusskapitän zu. »Poundinch?«, entfuhr es Rosamund. »Sind Sie denn nicht Flusskapitän Vigilus?« »Äh … ja … doch … ein und derselbe.« Der abscheuli che Kerl verdrehte leicht die Augen und sog hörbar die Luft ein. »Poundinch ist bloß ein anderes Wort für Vigilus, wenn’s recht ist. Aus einer anderen Sprache, verstehst du? Tutin – die Sprache, die der Kaiser spricht. ›Vigil‹ bedeutet dasselbe wie ›Pound‹, und ›ilus‹ dasselbe wie ›inch‹. Alles klar? Meine Leute nennen mich lieber Poundinch, weil’s angenehmer klingt, das ist alles. Sie reden mich so häufig mit dem Namen an, dass ich mich selbst schon so nenne … Du kannst mich auch so ansprechen: Flusskapitän Poun dinch. Einverstanden?« Rosamund blinzelte. Er kannte die kaiserliche Sprache – 82
Tutin, wie sie genannt wurde – zwar kaum. Trotzdem hatte er das ungute Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte. Der Flusskapitän blickte leicht gekränkt, hob aber mit versöhnlicher Geste die Hand. »Schon in Ordnung, ich bin nicht beleidigt. Es kommt häufig vor, dass mich Leute da nach fragen. Hab mich schon fast daran gewöhnt, dass ich es ihnen erklären muss.« Rosamund wusste, was es hieß, einen schwierigen Na men zu haben – und deshalb verkannt zu werden. Er fragte nicht weiter. Die Verwirrung war so schon groß genug. »So, und jetzt, wo wir uns korrekt miteinander bekannt gemacht haben, wollen wir ablegen.« Flusskapitän Poun dinch – oder Vigilus – lächelte, dann rief er: »Leinen los, Mister Pike!« Der Bootsmann gab den Befehl brüllend weiter, und der Kapitän beugte sich über ein Sprachrohr und rief hinein: »Bringen wir sie auf zwei Knoten, Mister Shunt!« Männer auf der Kaimauer warfen Leinen, Schiffer stie ßen den Kahn ab, und mit einem abermaligen Zittern setzte sich die Hogshead in Bewegung und glitt langsam durch den schmalen Kanal. Rosamund wurde angst und bang. Am liebsten hätte er losgeheult, aber er wollte sich keine Blöße geben und bezwang die aufkommende Panik. Die Ufermauer aus Sandstein, der Kai aus Granit blieben zu rück, und mir nichts, dir nichts trat Rosamund seine Reise an – verwirrt, unglücklich und allein unter diesen grässli chen Schiffern. Die Hogshead schwamm langsam am Schatten eines an deren Cromsters zu ihrer Rechten vorbei, der sich, wie trotz des Nebels leicht zu erkennen war, in einem viel bes 83
seren Zustand befand. Rosamund trat einen Schritt vor, kniff die Augen zusammen und versuchte, den Namen an der Bordwand zu entziffern. Vergeblich, denn der Nebel und die geschäftig hin und her wieselnden Männer ver sperrten ihm die Sicht. Kurz bevor das fremde Boot in der Dunkelheit verschwand, glaubte er eine Gestalt zu erken nen, die auf dem Kai daneben auf und ab schritt, als warte sie auf jemanden oder etwas. Ganz sicher war er sich seiner Sache aber nicht. Die Hogshead nahm Fahrt auf. Der Kanal war einer von vielen künstlichen Wasserar men, die vor vielen Jahrhunderten angelegt worden waren und vom Hauptstrom des Humour durch Häuserschluchten mitten in die Stadt hineinführten. Viele Gebäude standen so hart am Rand des Kanals, dass die Ufer eine beinahe durchgehende Wand aus graubraunen Ziegeln und dunklen Steinen bildeten, in die schlammige Abzugskanäle und Straßen hohe Breschen schlugen. Rosamund sah stumm und mit pochendem Herzen zu, wie alles vorüberzog. Die Padderbeck-Treppe und ihr Kai entschwanden im Dunkel. »So, mein Junge«, donnerte die Stimme des Flusskapi täns durch die morgendliche Stille und riss Rosamund aus seinen trüben Gedanken. »Tu, was ich dir sage, und wir werden die besten Freunde, Kamerad. Such dir einen Platz vorn im Bug und komm mir nicht in die Quere.« Der Findling gehorchte und setzte sich in den vorderen Teil des Bootes. Die Mannschaft ließ ihn in Ruhe, und so konnte er sich ungestört seinen düsteren Zukunftsgedanken hingeben, während sie aus Boschenberg hinausfuhren. Der Cromster schlüpfte unter einem mächtigen Steinbogen hin 84
durch, dessen Fallgitter sich triefend vor Nässe hoben, und glitt aus dem Halbdunkel des Stadtkanals hinaus in den fahlen Nebel, der über dem Humour lag. Aus dem tinten schwarzen Wasser vor ihnen ragten klobige Quarzpfeiler empor, die matt im Morgendunst schimmerten. Sie mar kierten eine Fahrrinne. Wie Rosamund gehört hatte, waren sie nach einem uralten, halb in Vergessenheit geratenen und komplizierten Verfahren hergestellt worden, an das man sich Schritt für Schritt gehalten hatte, ohne es genau zu verstehen. Die Schatten anderer Boote zogen mit einem leisen Raunen und Zischen an ihnen vorüber. Schiffsglo cken schlugen an und warnten im dichten Nebel. In der Mitte des Flusses wendete die Hogshead und folg te ihm stromabwärts in südlicher Richtung. Bald lichtete sich der Nebel, und die Sonne kam heraus, ein praller blut roter Ball, der tief über dem östlichen Horizont stand. Der Cromster fuhr weiter nach Süden, vorbei an riesigen O nyxpalästen, prunkvollen Villen und dunklen Herrenhäu sern, an Holzhütten und niedrigen Schuppen, ja sogar an der Vlinderstrat und seinem alten Zuhause. Vor ihnen, in Fahrtrichtung der Hogshead, spannte sich eine gewaltige Flusssperre über die gesamte Breite des Humour. Die Ach se. Sie war groß, mit hellen Granittürmen und vielen hohen Bogen, die auf mächtigen Pfeilern ruhten und mit schweren Eisengittern versehen waren, die bis zum schlammigen Grund hinabreichten. Stark befestigte Bastionen thronten auf beiden Seiten jedes Bogens, und jeweils in der Mitte dazwischen befanden sich Geschützstellungen mit Soldaten und 48-Pfünder-Langkanonen. Die Achse war vor über fünfhundert Jahren außerhalb der zweiten Ringmauer der 85
Stadt errichtet worden, um die Bewohner vor unerwünsch ten Besuchern auf und in dem Fluss zu schützen. Der ge samte Schiffsverkehr auf dem Humour musste sie passie ren und eine Maut bezahlen. Rosamund hatte die Fluss sperre schon mehrmals gesehen, wenn auch noch nie durchfahren, und immer noch flößte sie ihm Furcht ein. Er wusste, dass es für jeden Boschenberger ein höchst bedeut sames Ereignis war, wenn er sie zum ersten Mal passierte. Denn es bedeutete, dass er die sichere Geborgenheit seiner vertrauten Heimatstadt verließ und in weite, wilde Land striche vorstieß, in denen Monster ihr Unwesen trieben und Ungemach drohte. Es bedeutete, dass sich sein Leben für immer veränderte. Rosamund bestaunte die Achse ehrfurchtsvoll. Hoch oben auf den Zinnen standen Musketiere in schwarzbraunen Uniformen, die streng über ihre Stadt wachten, um sie zu schützen, sei es vor Monstern oder vor bösen Menschen. Ihre Bajonette und Musketen funkelten im roten Dämmerschein dieses schrecklichen Morgens, und über ihnen flatterten und knatterten prachtvolle schwarz-braune Fahnen im Wind. Was für ein mächtiger und gut bewachter Wall! Was Rosamund noch bemer kenswerter fand, war, dass eine zweite Achse, das Gegen stück zu dieser, stromaufwärts die Nordseite der Stadt schützte. Er fühlte einen seltsamen Stolz auf seinen Stadt staat in sich aufsteigen. Mit einem dumpfen, kaum hörbaren Klappern drosselte die Hogshead ihre Fahrt, als die Schrauben die Schubrich tung änderten und gegen die Strömung des alten Flusses arbeiteten. Eines der vielen großen Tore in der Achse kam 86
immer näher. Entgegen Rosamunds Befürchtungen hatte es der Cromster bis hierher geschafft, ohne zu sinken. Jetzt hielt er auf einen der großen Pfeiler zu, die den gesamten Wall in dem Urgestein unter dem schlammigen Flussbett verankerten. Ein Teil des Pfeilersockels bildete einen nied rigen schmutzigen Kai, und dort legte die Hogshead an, um ihre Ladung inspizieren zu lassen und die Flussmaut zu entrichten. Eine blassgrüne, verrostete Tür schwang auf, und mehrere Zöllner in den vertrauten Boschenberger Far ben Braun und Schwarz kamen auf den Kai marschiert. Poundinch winkte und grinste zu Rosamund hinüber, dann sprang er von Bord, trat auf den Beamten zu, der wie der ranghöchste aussah, und knüpfte leise ein Gespräch mit ihm an. Rosamund, der im Bug saß, gab sich den Anschein, als höre er nicht hin, doch in Wahrheit spitzte er die Ohren. Es war ja nicht so, dass er aus dem rätselhaften Verhalten von Erwachsenen immer schlau wurde, aber irgendetwas an der gedämpften Unterhaltung der beiden erregte seinen Verdacht. »Was für eine Freude, Sie wiederzusehen, Oberinspektor Voorwind!« Poundinch tippte an die Krempe seines Drei malhochs, dann reichte er dem anderen das Ladungsver zeichnis und dazu ein kleines Päckchen. »Auch Ihnen einen guten Morgen, Flusskapitän Poun dinch«, erwiderte der Beamte mit spöttischem Grinsen. »Was haben wir denn diesmal geladen?« Er nahm das La dungsverzeichnis und das Päckchen, und während er vor gab, ersteres zu lesen, ließ er letzteres unauffällig in der Tasche verschwinden. Poundinch legte den Kopf auf die Seite. »So ziemlich 87
das gleiche wie immer, Oberinspektor: siebzig Fässer bes tes Schweineschmalz für die Seifen- und Wachsfabriken in Considine, außerdem zehn Scheffel Petersilie, Salbei, Rosmarin und Thymian für die Parfümfabriken in Ives und Chassart.« »So weit in den Süden wollen Sie? Mit dem alten Kahn?« Der Oberinspektor hob eine Augenbraue. »Da müsste ich eigentlich eine Zusatzgebühr erheben. Bestes Schweineschmalz, sagten Sie?« »Ja, es war Schwerstarbeit, die Ware zu beschaffen, und genauso mühsam, sie zu verladen.« Poundinch grinste selbstgefällig. »Und der junge Mann im Bug? Gehört der auch zu Ihrer Fracht?« Rosamund lief ein Schauer über den Rücken, als er beg riff, dass der Oberinspektor ihn meinte. »Nicht doch, nein. Ich habe mir einen Kajütenjungen zugelegt, mit Verlaub. Als Laufbursche und so weiter. Soll sich einarbeiten und das Schifferhandwerk erlernen, wenn’s recht ist. Er weiß Bescheid, keine Sorge.« Kajütenjunge? Laufbursche? Rosamund hielt den Atem an. Was sollte das zweideuti ge Gerede? Warum sagte Flusskapitän Poundinch nicht einfach die Wahrheit? Weiß er denn nicht, dass ich ihn hö ren kann? Oberinspektor Voorwind runzelte die Stirn. »Schön war’s, Poundinch. Wir beide wissen, was beim letzten Mal passiert ist, als Sie sich einen Kajütenjungen zugelegt ha ben. Der Neue dürfte Sie ziemlich sicher eine Zusatzge bühr kosten.« Er senkte die Stimme, sodass Rosamund ihn 88
nur noch mit Mühe verstand. »Ich warne Sie. Der Kaiser hat einen Erlass herausgegeben und das Verbot des Schleichhandels verschärft. Diesmal soll uns das nicht wei ter kümmern, aber wenn Sie das nächste Mal hier vorbei kommen, müssen Sie sich auf eine noch höhere Gebühr gefasst machen.« Jetzt war es an Poundinch, die Stirn zu runzeln. »Wie Sie meinen, Voorwind«, stieß er zwischen den Zähnen her vor. »Aber treiben Sie’s nicht zu weit, sonst könnten wir uns zu Gegenmaßnahmen gezwungen sehen.« »Vorsicht, Poundinch!«, knurrte der Oberinspektor. »Es wäre für mich ein Leichtes, alles rückgängig zu machen. Wenn Sie mich dazu zwingen, schlage ich ebenfalls zu rück, und zwar mit der ganzen Autorität unseres geliebten Stadtstaates.« Er trat einen Schritt zurück, und der Aus druck offener Feindseligkeit in seinem Gesicht verwandelte sich mühelos in scheinbares Wohlwollen. »In Ordnung, Kapitän. Wir schließen die Inspektion ab, dann können Sie weiterfahren.« Poundinch kehrte, in sein zerknittertes Halstuch flu chend, auf die Hogshead zurück und wartete dort neben dem Pfeilersockel, bis die Zöllner ihre Pflicht getan hatten. Rosamund hatte vom eigentlichen Inhalt des Gesprächs nicht viel verstanden, aber sein Argwohn blieb. Was hatte es mit dem »Schleichhandel« auf sich, von dem dieser Voorwind gesprochen hatte? Es war ihm unbegreiflich, wie ein so korrekter und diensteifriger Mensch wie Sebastipol ihn auf einem so zwielichtigen Boot hatte unterbringen können. Während der Unterredung zwischen dem Flusskapitän 89
und dem Oberinspektor hatten sich kräftige Männer flüch tig auf der Hogshead umgesehen. Sie waren mittschiffs die Leiter in den Laderaum hinuntergestiegen, gleich darauf aber mit angewiderten Mienen wieder erschienen und kon trollierten jetzt die Papiere der Besatzung. Ein lang aufge schossener Beamter mit Brille verlangte Rosamunds Rei sedokumente zu sehen. Der Mann machte den Eindruck, als wisse er sehr genau, was zu tun war, falls irgendein Dokument nicht exakt den Anforderungen entsprach. Ro samund schaute zu ihm auf, als er ihm die Papiere reichte, und es war, als blicke er an einer Backsteinmauer empor. Der Beamte blätterte die Dokumente kurz durch und gab sie ihm wortlos zurück. Nachdem die Gebühren bezahlt und Ladung sowie Mannschaft überprüft waren, durften sie weiterfahren. Quietschend glitt das Gitter zur Seite, und die Hogshead fuhr vorsichtig durch. Sowie die mächtige Achse hinter ihr lag, nahm sie wieder Fahrt auf und passierte die dritte und schließlich die äußere Boschenberger Ringmauer mit den eingefriedeten Vororten dazwischen. Vor der Stadt er streckte sich auf beiden Seiten des Flusses tadellos bestell tes und vollständig eingezäuntes Ackerland. Am Ufer staksten prächtige weiße Silberreiher, und rotfüßige Rallen watschelten zwischen mächtigen Platanen, majestätischen Ulmen und dunklen, immergrünen Terpentinen durch ab geworfenes rotgelbes Laub. Rosamund blieb auf seinem Platz in der Bugspitze, wo er die Männer der Besatzung, von denen keiner einen allzu freundlichen Eindruck machte, möglichst wenig störte, blätterte in seinem geliebten Almanach und las seine In 90
struktionen. Die Instruktionen waren knapp und einfach: Er sollte bis High Vesting auf dem Boot bleiben und nach sei ner Ankunft unverzüglich die Hafenkommandantur aufsu chen, um dort einen gewissen Mister Germanicus zu tref fen. Mister Germanicus würde ihn ins Hauptquartier der Laternenanzünder nach Winstermill bringen, wo ihn weite re Befehle erwarteten. Der Text schloss mit dem merkwür digen Kürzel »Seb«, das in eine verschnörkelte Linie aus lief. Vermutlich Sebastipols Unterschrift. Das war alles. Rosamund las das Blatt wieder und wieder, um sich zu vergewissern, dass er nichts übersehen hatte. Er konnte nur hoffen, dass Mister Germanicus wusste, wie er ihn fand, denn er selbst hatte nicht die geringste Ahnung, wie er Mister Germanicus finden sollte. Kaum schlauer als zuvor und leicht verstimmt, lehnte er sich an einen Haufen Sack leinwand. Von seinem Platz aus konnte er die verdächtige Besatzung, insbesondere diesen Poundinch, gut beobachten und sogar nach Monstern Ausschau halten. Er wusste zwar nicht, was er tun sollte, falls er eines entdeckte, doch wenn eines nahte, wollte er es auf jeden Fall wissen. Von Zeit zu Zeit zog er seinen Almanach zu Rate. Wie den Landkarten zu entnehmen war, floss der Humour viele Meilen weit durch Gebiete, die offenbar so wenige Beson derheiten aufwiesen, dass die Topographen sich nicht die Mühe gemacht hatten, ihnen richtige Namen zu geben. Stattdessen hatten sie die großen weißen Flecken links und rechts des Flusses lediglich mit allgemeinen Bezeichnun gen versehen wie »Weites Weideland« im Osten und »Große Halbwüste« im Westen. Dafür hatten sie hinter 91
dem Namen des Humour andere in Klammern gesetzt, Namen wie »Humeur«, »Swartgallig« oder »Sentinus«, die ihm in früheren Zeiten andere Völker gegeben hatten. An dem vor ihnen liegenden Flussabschnitt waren nur zwei Orte eingezeichnet. Der erste war Schmollenstolz, eine Stadt wie Boschenberg, von der er eine ungefähre Vorstel lung hatte. Der andere hieß »Die Spindel« und lag weiter südlich, kurz vor der Mündung des Humour in eine riesige Bucht namens Grum, an der viele Ortschaften und Hafen städte eingezeichnet waren. Auch von dieser Bucht hatte er schon gehört, aber was war die Spindel? Er stand auf, ging vorsichtig zu Flusskapitän Poundinch und fragte ihn. »Verstehe«, erwiderte Poundinch freundlich, »du hast die Karte studiert. So wie du die Achse angegafft hast, nehme ich an, dass du nie zuvor außerhalb der Stadt warst, habe ich recht?« »Nur zweimal, um die Schwester einer … einer Freun din zu besuchen. Sie wohnt in Biemish, das ist ein kleines Dorf gleich hinter den Ringmauern.« Die Besuche in dem Häuschen von Verlines jüngerer Schwester waren wunder bar gewesen und gehörten zu Rosamunds schönsten Erin nerungen. Er seufzte. Wie er Verline vermissen würde! Er nahm sich fest vor, ihr gleich nach der Ankunft in Winster mill einen Brief zu schreiben. »Klingt lauschig, mein Junge. Was die Spindel angeht, das ist eine weitere Flusssperre, und genauso bedrohlich wie die Achse da hinten.« Der Kapitän deutete mit dem Daumen über die Schulter auf den dunklen schmalen Schatten, der hinter ihnen zurückblieb. »Allerdings gehört 92
sie zu einer anderen Stadt, nämlich zu Brandenbrass – mei ner Heimatstadt, wie ich nebenbei bemerken darf. Die Spindel liegt drei Tagesreisen von hier, und dahinter geht es hinaus auf den Grum. Dort nehmen wir Kurs nach Os ten, auf High Vesting. Alles in allem wirst du uns knapp eine Woche Gesellschaft leisten.« Er warf einen Seitenblick auf Rosamund. »Warst du schon mal auf einem Cromster? Wenn du Lust hast, kann ich dich, sobald sich der Morgennebel vollends aufgelöst hat, auf meinem bescheidenen Boot herumführen.« Trotz seines unangenehmen Geruchs und seiner anfäng lichen Grobheit zeigte sich Flusskapitän Poundinch inzwi schen von einer sehr freundlichen Seite und so zuvorkom mend, wie Rosamund es sich nur wünschen konnte. »Ja, Sir, ich war schon auf einem Cromster«, antwortete er, »obwohl ich noch nicht oft auf einem Schiff war.« Von den vielen faszinierenden Dingen an Wasserfahr zeugen faszinierten Rosamund am meisten die Gastrinen. Das waren große Gehäuse im Bauch gepanzerter Schiffe, in denen sich die Muskeln befanden, die den Schiffspropel ler – oder die Schraube – antrieben, und die dazugehörigen Limber, bei denen es sich um viel kleinere Versionen einer Gastrine handelte, die zum Aufwärmen der größeren benö tigt wurden. Ohne Limber hätten die Muskeln einer Gastri ne bald Risse und Zerrungen bekommen und den Dienst versagt. »Könnte ich vielleicht die Gastrinen sehen, Sir? Ich habe mir sagen lassen, dass sie krank werden, wenn sie nicht stündlich ausgemistet werden.« »Und wer hat dir das gesagt?« Rosamund reckte das Kinn und antwortete stolz: 93
»Schlafsaalaufseher und Stückmeister a. D. Fransitart, ei ner meiner Erzieher in der Marineanstalt.« Rosamund ver wendete gern den vollen Titel seines Schlafsaalaufsehers, nur leider ergab sich dazu selten die Gelegenheit. »Fransitart …?« Poundinch runzelte die Stirn und zupfte an ein paar störrischen Barthaaren an seinem schlampig rasierten Kinn. »Ich glaube mich an ihn zu erinnern – mit dem war nicht gut Kirschen essen, wenn mich mein Ge dächtnis nicht trügt. Hat uns beigebracht, wie man anstän dig feuert, so viel ist sicher! Ja, du bist da richtig unterrich tet, mein Junge, und von Fransitart hätte ich auch nichts anderes erwartet.« »Sie haben Master Fransitart gekannt?« Rosamund war verblüfft. »Wie war er? Haben Sie in der Seeschlacht bei der Maulwurfsinsel an seiner Seite gekämpft?« »Ja, ja«, gluckste Poundinch. »Nur kurz, und bei Wei tem nicht lange genug, um ihn gut zu kennen, aber lange genug, um ihn in bleibender Erinnerung zu behalten – ihn und seinen Stock.« Die letzten Worte brummte er in sein Halstuch, aber der Findling hörte sie trotzdem. »Haben Sie ihn gemocht, Sir?« »Doch, doch! Der alte Poundy mag jeden. Die Frage ist eher, wer den alten Poundy mag. Fransitart war ein schnei diger Unteroffizier, ganz nach dem Geschmack der Marine und auch der holden Damenwelt.« Damenwelt? Rosamund hatte sich schon des Öfteren ge fragt, ob es jemals eine Frau Fransitart gegeben hatte. »War er denn verheiratet, Sir?« Poundinch lachte schallend. »Haha! Von einer Ehefrau ist mir nichts bekannt. Er war keiner von der Sorte, die hei 94
ratet. Nun aber genug von ihm, Junge. Ich muss mich jetzt aufs Steuern konzentrieren. Nachher darfst du dir die Gastrinen ansehen.« Rosamund blieb beim Flusskapitän stehen und versuchte sich vorzustellen, wie Fransitart mit edlem Eifer seinen al ten Beruf ausübte und mit feinen Damen aus vornehmen Familien das Tanzbein schwang. Wie eigenartig wäre es doch, ihn mitten in einer Seeschlacht im Pulverrauch be herzt über die Decks eines großen Kampfschiffs stapfen zu sehen und Befehle brüllen zu hören. Er selbst würde nie ein solches Seegefecht miterleben können. Er hatte nun einen Beruf, tief im Landesinnern. Er musste wieder an Sebasti pols allzu knappe Instruktionen denken. »Flusskapitän Poundinch?« »Ja, mein Junge?« Poundinch schaute zu ihm herab. »Wissen Sie zufällig, wo …«, Rosamund runzelte die Stirn, als er laut aus den Instruktionen vorlas, »… wo die ›Hafenkommandantur‹ ist?« »Ah … ich nehme an, du meinst in High Vesting?« »Ja, Sir.« »Aber klar doch. Soll ich sie dir zeigen, wenn wir dort sind? Das erledigt der alte Poundy im Handumdrehen für dich.« Rosamund fiel ein Stein vom Herzen. Dankbar lüftete er den Hut, verneigte sich vor dem Kapitän, wie er es bei Männern auf der Straße gesehen hatte, und sagte ernst: »Ich bin Ihnen sehr verbunden, Sir.« Poundinch wieherte vor Lachen, zog seinerseits den Hut und erwiderte feierlich: »Aber keine Ursache, werter Sir.« Die Hogshead war stabiler, als es auf den ersten Blick 95
schien, und bahnte sich zuverlässig einen Weg durch die vielen Baumstämme, die im Wasser trieben und die Fahrt behinderten. Rosamund wurde davon in Kenntnis gesetzt, dass die rund fünfzig Mann starke Besatzung auf dem O berdeck, mitschiffs zwischen den Kanonen, schlief und dass von ihm dasselbe erwartet wurde, da im Laderaum kein Platz mehr war. Das störte ihn nicht, denn unter Deck herrschten ähnlich beengte Verhältnisse wie in der Marine anstalt, und obendrein stank es dort nach Schwein, Schweiß und noch schlimmeren, unaussprechlichen Din gen. Auf dem flachen, glatten Oberdeck gab es keine Kajü ten, nur einen niedrigen, kastenartigen Aufbau etwa in der Mitte des Boots, hinter dessen Luke eine Leiter in den Frachtraum hinabführte. Außerdem standen auf beiden Längsseiten in gestaffelter Anordnung die zwölf schwarzen Zwölfpfünder-Kanonen, die enorm viel Platz beanspruch ten, sechs auf der Steuerbordseite oder rechts und sechs auf der Backbordseite des Bootes oder links. Rosamund war von ihnen beeindruckt. Trotz aller Bedenken stellte er fest, dass er sich für seine erste richtige Reise begeisterte – das Rollen und Stampfen des Cromsters, die Betriebsamkeit an Deck, die regelmäßi gen Wach Wechsel und das sanfte Pochen der Gastrinen. Die Hogshead war kein hochseetaugliches Schiff, und doch war hier alles viel aufregender als auf dem kleinen Boot, mit dem er früher gelegentlich Tagesausflüge unternom men hatte. Im Findlingsheim hatten sie auch Unterricht im Karten lesen erhalten. Dabei hatte er eine Menge über die Ozeane, die Essigmeere, gelernt. Zum Beispiel, dass sie die unter 96
schiedlichsten Farben hatten: Rot, Grün, Azurblau, Gelb, ja sogar Schwarz, wie etwa der Pontus Nubia. Diese Stunden hatten in ihm eine Sehnsucht nach dem Meer geweckt, und nun, da er bald ein solches Gewässer befahren sollte, be dauerte er es sehr, dass ihm ein Leben auf See versagt blei ben sollte. Gegen drei Glasen der Mittelwache hatte sich der Nebel so weit gelichtet, dass Poundinch das Steuer an Mister Pike übergeben und sein Versprechen, Rosamund die Gastrinen zu zeigen, einlösen konnte. Die Leiter knarrte beängsti gend, als sie in den Laderaum hinabstiegen. Unter Deck war es furchtbar eng. Poundinch musste den Kopf tief ein ziehen, damit er nicht an den Decksbalken stieß. Der Ge stank trieb Rosamund Tränen in die Augen. Er hätte nicht gedacht, dass es irgendwo so übel, so widerwärtig riechen könnte. Doch er beschloss, sich nichts anmerken zu lassen, und ging tapfer weiter. Dem Kapitän schien der Gestank nichts auszumachen, sofern er ihn überhaupt bemerkte. Poundinch deutete nach vorn, wo die mit geteertem Se geltuch abgedeckten Fässer festgezurrt waren. »Das kön nen wir uns schenken, nur ekliges altes Schweineschmalz. Wir müssen nach achtern. Folge mir, Junge, und staune über die Schönheit der Gastrinen!« Rosamund ging ihm nach, und richtig, da waren sie – die Gastrinen. Er empfand dieselbe Enttäuschung wie beim An blick von Sebastipols Sthenicon-Kasten. War das Sthenicon nur ein ganz gewöhnlicher kleiner Kasten gewesen, so wa ren die Gastrinen nur ganz gewöhnliche, mit Kupferbändern umwickelte große Kästen. Aber wenigstens waren sie groß. Sie reichten fast bis zu den Planken des Decks darüber. 97
Links und rechts von ihnen standen erheblich kleinere Käs ten aus Hartholz, jeweils zwei auf beiden Seiten einer Gastrine. Das waren die Limber. Aus dem Deckel jedes Limbers ragten große Pleuelstangen und mehrere Gelenk wellen, die sich senkrecht drehten und in den Seitenwänden der Gastrinen verschwanden. Im Moment standen sie still, denn die Limber arbeiteten nicht. Die vielen Maschinen be anspruchten so viel Platz, dass sie sich an der gewölbten schmutzigen Bordwand vorbeizwängen mussten. Rosamund wunderte sich über das kräftige Pulsieren der Muskeln im Innern der Gastrinen. Er spürte es deutlich in der Luft, in den Planken und Spanten unter seinen Füßen und in seinem Rücken. Am meisten überraschte ihn die Wärme, die aus den großen, kupferumwickelten Kästen drang, eine unange nehm feuchte Wärme, die die verbrauchte Luft unter Deck noch stickiger und klebrig machte. In einem engen Ver schlag im Heck trafen sie auf einen verhutzelten Mann mit Schurz, umgeben von allen möglichen Hebeln. Sein langes weißes Haar war tropfnass. Er schaute mürrisch zu Poun dinch auf, eine stumme Frage in den Augen. Der Flusskapi tän stellte ihn Rosamund als Mister Shunt, den Gastrinisten, vor. Der Gastrinist hatte die Aufgabe, die Gastrinen zu füt tern, sauber zu halten und darauf zu achten, dass sie immer geschmeidig und bei guter Gesundheit blieben. Er bekleide te innerhalb der Besatzung einen hohen Rang. »Guten Tag, Mister Shunt, Sir«, grüßte der Findling. Shunt, der Gastrinist, würdigte ihn keines Blickes. »Da wären wir also«, sagte Poundinch und klopfte auf den Kasten neben ihm. »Das sind die Gastrinen. Viel zu sehen gibt’s ja nicht, was? Aber sie sind viel verlässlicher 98
als Segelantrieb und arbeiten fehlerlos. Ich lasse dich jetzt mit dem guten alten Shunty allein, dann kann er dir die technischen Einzelheiten erklären. Komm aber gleich nach oben, wenn ihr fertig seid – ich möchte nicht, dass du dich hier unten herumtreibst.« Der Flusskapitän entfernte sich. Rosamund legte vorsichtig die Hand auf eine Gastrine. Sie fühlte sich heiß an, wie die Stirn eines Fieberkranken. Das kräftige Pochen der darin arbeitenden Muskeln über trug sich auf seine Arme, und er spürte, wie sein ganzer Körper im Gleichklang pulsierte. Staunend betrachtete er die mächtigen Hebel. Viele waren halb so groß wie er selbst, und jeder einzelne steuerte eine bestimmte Funktion der Gastrinen und Limber. Er blickte lächelnd zu dem Gastrinisten. »Rotzlöffel!«, schimpfte Shunt. »Ah … ja. Verzeihung, Mister Shunt, Sir, ich …« Ro samund nahm ruckartig die Hand von dem Kasten. Der Gastrinist rollte furchterregend die Augen. »Rotzlöf fel!«, knurrte er abermals und stieß mit der Hand nach dem Findling. Rosamund blinzelte überrascht, dann erkannte er zu sei nem Entsetzen, dass der Mann ein großes Messer in der Hand hielt, einen fürchterlich gezackten Krummdolch. Es war das erste Mal, dass er mit einer richtigen Waffe be droht wurde. Hals über Kopf stolperte er die Leiter hinauf und rannte zu seinem Segeltuchlager im Bug. »Wie ich sehe, hast du mit unserem reizenden Gastri nisten schon nähere Bekanntschaft geschlossen«, feixte Poundinch, als Rosamund an ihm vorbeiflitzte. 99
Rosamund wollte auf keinen Fall weinen oder etwas ähnlich Peinliches tun, obwohl ihm sehr danach war und obwohl er es früher wohl auch getan hätte. Jetzt, in diesem Augenblick, als er mit angezogenen Beinen dasaß und, sei ne Knie umklammernd, mit den Tränen kämpfte, sehnte er sich nach der miefigen Enge des Findlingsheims. Bei Anbruch der Dunkelheit beschloss er, seine erste Nacht an Bord auf seinem Platz im Bug zu verbringen und auf einem Haufen alter Leinensäcke zu schlafen, der sich von anderen Haufen alter Leinensäcke nur dadurch unter schied, dass er weniger stank. Niemand verwehrte es ihm, und so legte er sich hin. Falls es regnen sollte, wollte er lieber nass werden, als in den ekelhaften Laderaum zu flüchten. Zum Glück blieb es in der Nacht trocken, doch Träume, in denen er von Shunt mit einem Messer bedroht wurde, das ständige Läuten der Wachglocke und das Getrappel nackter Füße an Deck verhinderten einen geruhsamen Schlaf. Als die Glocke gegen vier Uhr den Beginn der Morgenwache ankündigte, gab Rosamund die Hoffnung auf eine erholsame Nachtruhe auf und wurde dafür mit ei nem schönen, leuchtend roten Sonnenaufgang belohnt. Roter Morgen bringt dem Reisenden Kummer und Sor gen, dachte er bedrückt. Die Hogshead hatte das Boschenberger Hoheitsgebiet mittlerweile verlassen und fuhr auf einem Flussabschnitt, der keiner Regierung unterstand. Am linken Ufer erstreckte sich flaches offenes Weideland. Nach Westen hin wurde es hügeliger und felsiger und sah deutlich wilder aus. Solche Gegenden nannte man »Grabenlande«. Sie bildeten das 100
Grenzgebiet zwischen den Reichen der Normalmenschen und dem Reich der Monster. Rosamund konnte sich lebhaft vorstellen, wie Bogeis und Nicker auf der Suche nach Beu te zwischen den verkrüppelten Bäumen umher streiften. Später, als der Tag weiter fortschritt, schenkte der Fluss kapitän niemandem mehr Beachtung und nahm auch an den Arbeiten, die an Bord anfielen, kaum noch Anteil. Dann und wann brüllte er ein Kommando, doch die meiste Zeit saß er nur müßig am Ruder, das Kinn auf der Brust, als ob er eingedöst sei. Rosamund überkam ein Gefühl der Einsamkeit. In die sem Augenblick, ganz allein unter all diesen Halsabschnei dern, wären ihm sogar die steifen Manieren und irritieren den Augen Mister Sebastipols willkommen gewesen. Nur zweimal kam Leben in Poundinch. Einmal am Ende der Vormittagswache, als der wortkarge Griesgram von Koch das Essen brachte, und ein zweites Mal zu Beginn der Nachmittagswache, als auf dem Fluss weit und breit kein anderes Boot zu sehen war. Unvermittelt sprang er auf und bellte: »Fertig machen, Jungs! Schießübung. An die Stücke!« Eine Bootsmannspfeife zwitscherte, und die Mannschaft stürzte zu den sechs Kanonen auf der Backbordseite der Hogshead. Poundinch stolzierte auf seinem Posten am Ru der auf und ab und brüllte Kommandos und Schimpfworte. »Stücke ausrennen, ihr ungewaschenen Halunken! Etwas Beeilung, Wheezand, da ist ja meine Großmutter – sie ruhe in Frieden – noch schneller, und die vermodert seit zehn Jahren in der Erde! Und ich muss es wissen. Ich hab sie selbst unter die Erde gebracht.« Bei diesen Worten glucks 101
te er vor Vergnügen, dass einem das Blut in den Adern ge fror, und viele seiner Leute stimmten mit ein. Rosamund kicherte nervös mit und hoffte auf ein Spek takel. Er hatte schon immer mal sehen wollen, wie eine Breitseite abgefeuert wurde. In Madam Operas Marinean stalt hatte man sie, obwohl sie doch das Seemannshand werk erlernen sollten, nie auch nur in die Nähe einer Ka none gelassen. Plötzlich begriff er, dass es doch auch seine guten Seiten hatte, dem Findlingsheim und seinen strengen Regeln entronnen zu sein. BUMM! Eine Kanone nach der anderen feuerte, entwe der auf einen faulen Baumstumpf oder anderes Treibgut, das zufällig im Wasser vorbeischwamm – je kleiner, desto besser, um die Treffsicherheit der Mannschaft zu erhöhen. Für Rosamund wurde es in der Tat ein aufregendes und ohrenbetäubendes Erlebnis, und er vergaß darüber voll kommen seinen Kummer und seine Sorgen. BUMM! Wieder feuerten die Kanonen. Er spürte die De tonationen wie kräftige Stöße gegen die Brust, und nach jedem Schuss wirbelte gelblicher, beißender Rauch in die Luft und wehte in trägen Schwaden davon. Jede Salve ließ das ganze Boot erzittern, während drüben am Ufer Gischt in die Höhe spritzte oder der Ast eines Baumes abbrach, sodass Kühe vor Schreck die Flucht ergriffen. Nach der vierten Breitseite beendete ein Pfiff die Übung, und an Bord kehrte wieder Routine ein. Flusskapitän Poundinch verfiel wieder in seine Schläfrigkeit, und Rosa mund blieb allein im Bug und jubilierte innerlich vor kind licher Freude über das Spektakel.
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Die folgende Nacht war klar und bitterkalt. Ein Dreivier telmond stieg prall und gelb in den dunkelgrünen Himmel. Eingemummt in seinen Schal, den Wehrrock bis zum Hals zugeschnallt, lag Rosamund bäuchlings im Bug und starrte auf das schwarze Wasser. Schon seit geraumer Zeit lausch te er dem Konzert von tausend Fröschen, die laut am Ufer quakten, und beobachtete ein kleines, blasses Etwas, das über die Wasseroberfläche huschte. Zunächst hatte er an genommen, es sei nur das Mondlicht, das sich in der Bug welle spiegelte. Dann aber, als die Glocke zwei Glasen der letzten Hundewache schlug, vollführte es merkwürdige Bewegungen, entfernte sich blitzschnell vom Boot und flitzte ebenso geschwind wieder zurück. Rosamund sträub ten sich die Nackenhaare, und er traute seinen Augen nicht, als das farblose Etwas die Wasseroberfläche durchbrach. Es war, obwohl im gelblichen Licht nur undeutlich zu se hen, ein Kopf ein blasser Kopf mit einer langen Schnauze voller Hakenzähne und tückisch funkelnden schwarzen Augen, die ihn scharf und durchdringend ansahen. Sein erstes Monster … Geistesgegenwärtig fasste er nach der Umhängetasche, die er stets in Reichweite aufbewahrte. Vielleicht war es an der Zeit, eines seiner kostbaren Abwehrmittel einzusetzen. Gerade als er den Tragegurt ergriff, gab der Kopf im Was ser ein langes, blubberndes Schnauben von sich, tauchte unter dem Bug hindurch und verschwand nach rechts, auf die wurzelverhangene Uferböschung zu, die im Schatten des Mondlichts lag. Lange blieb Rosamund reglos liegen und starrte zum Ufer hinüber, wobei er aus Furcht, die Kreatur könnte ihn beobachten und plötzlich aus dem Was 103
ser heraus über ihn herfallen, so wenig wie möglich blin zelte. Seine Angst wurde noch größer, als ein gurgelndes Heulen die Dunkelheit erfüllte. Für Rosamund war es das blanke Entsetzen, doch die Schiffer regten sich nur kurz im Schlaf, mehr nicht. Auch in der zweiten Nacht fand Rosamund, fest in stin kende Leinensäcke gewickelt, wenig Schlaf.
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ENTWISCHT!
Flusssperre, die: großes Festungswerk, das über Flüsse und breite Strö me gebaut wird, um einen wichtigen Ort zu schützen oder die Befesti gungsanlagen einer Stadt an Land durch ein Außenwerk zu ergänzen. Bestimmte Herzog- und Fürstentümer haben ihre Flusssperren lange dazu benutzt, den Handel zu kontrollieren, und zwar nicht nur innerhalb ihres Herrschaftsbereichs, sondern auch darüber hinaus.
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m nächsten Tag nahm Rosamund seinen ganzen Mut zusammen und erzählte Poundinch von dem blassen Monster, das er in der Nacht gesehen hatte. Doch der Fluss kapitän zeigte sich wenig beunruhigt, ja kaum interessiert. »Nur eins von diesen Biestern, Junge, kein Grund zur Besorgnis.« Er strich sich über das schorfige Kinn und ü berlegte einen Moment. »Der Fluss steckt voller Überra schungen und Merkwürdigkeiten, aber alles ganz harmlos, darauf hast du mein Wort. Der alte Poundy kennt dieses Gewässer.« Im Verlauf des Tages begegneten sie vielen Booten, die stromaufwärts fuhren, und einmal wurden sie sogar von einem schnelleren Cromster mit flott gekleideter Besatzung überholt. Die schmucken Burschen grüßten die Kollegen 105
auf der Hogshead, doch die höhnten nur und erwiderten die freundlichen Zurufe mit mürrischen Blicken. Ein Schiffer, der neben Rosamund gerade ein Tau auf schoss, raunzte ihn an, weil er zurückwinkte. »Lackaffen und Taugenichtse«, knurrte der Mann. »Halten sich für was Besseres …« Trotzdem wünschte sich Rosamund, Sebastipol hätte ihm auf dem anderen Boot einen Platz reserviert. Am Nachmittag zogen aus Südosten schwarzblaue Wol ken, Vorboten des nahenden Winters, am Himmel auf und verdunkelten den Tag und noch mehr den Abend. Strom abwärts am Ostufer des Humour kam eine Stadt in Sicht, deren zahllose Lichter in der frühen Dämmerung bereits brannten. Rosamund zog den Almanach zu Rate. Die Stadt hieß Schmollenstolz und besaß den größten Hafen in dem riesigen landwirtschaftlich genutzten Gebiet, das unter dem Namen Schmollen bekannt war. Sie war eine erbitterte Ri valin Boschenbergs und verdankte ihren Reichtum dem Umstand, dass viele Kaufleute die überhöhten Flussgebüh ren an den Achsen scheuten und lieber die niedrigen Ha fengebühren bezahlten, die Schmollenstolz verlangte. Sie ließen ihre Waren im Hafen auf Ochsenkarren umladen und auf dem Landweg zu ihren Kunden stromaufwärts transportieren, obwohl dies viel gefährlicher war. Aus die sem Grund waren Schmollenstolz und Boschenberg zu ei fersüchtigen Feinden geworden. Schmollenstolz war nicht annähernd so groß wie Boschen berg, doch seine Bollwerke, Wehrtürme und Mauern am Flussufer waren nicht weniger hoch und bedrohlich. Im
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Hafen herrschte rege Betriebsamkeit, und die vielen Kais und Piers, an denen Boot neben Boot lag, wimmelten von Schiffern und Schauermännern. Rosamund, der die feindli che Stadt unbedingt meiden wollte, fürchtete schon, die Hogshead könnte abdrehen und den Flusshafen anlaufen. Doch dann steuerte Poundinch so weit wie möglich ans andere Ufer und hielt, immer wieder nervös zu der verbo tenen Stadt schielend, diesen Kurs. Erleichtert und ernst sah Rosamund zu, wie Schmollenstolz vorbeizog. Bei Anbruch der Dunkelheit flaute der Wind ab, doch es blieb bewölkt. Die Hogshead befand sich mittlerweile viele Meilen südlich von Schmollenstolz, und das Land auf bei den Seiten des Flusses wurde sumpfig und bedrohlich. Ge drungene Steineichen, die hier und dort ein dichtes Gehölz bildeten, wechselten sich mit borstigen Sumpfeichen und kränklich aussehenden Terpentinen ab, die kahl in den Himmel ragten. Die Gegend musste von Monstern wim meln. So hatte er sich die Wildnis vorgestellt, von der Fransitart und Craumpalin immer so ehrfürchtig und war nend gesprochen hatten. Und fast schien es Rosamund, als könnte er die Bogeis und Nicker spüren, die dort herum schlichen und auf Beute lauerten. Als es vollends dunkel wurde, ließ Poundinch unver ständlicherweise die Lichter an Mast und Heck löschen, und die Hogshead glitt durch pechschwarze Nacht. Selbst die Lampe im Kompasshaus neben dem Steuerruder wurde abgedeckt, damit kein Lichtschein nach außen drang. Ro samund hatte im Unterricht gelernt, dass die Lichter eines Schiffes, sei es auf einem Fluss oder auf hoher See, nie mals gelöscht werden sollten, da ein unbeleuchtetes Schiff 108
bei Dunkelheit oder dichtem Nebel für alle anderen Fahr zeuge eine Gefahr darstellte. Warum tat Poundinch es trotzdem? Rosamund hütete sich, ihn oder gar einen seiner Leute zu fragen. In stockfinsterer Nacht kämpfte er gegen seine Müdigkeit an. Doch alle Willensanstrengung reichte nicht aus, und schließlich sank er in einen unruhigen Schlaf. Irgendwann später erwachte er vom Klatschen eines fal lenden Ankers. Jemand fluchte leise, und Kapitän Poun dinchs Stimme schimpfte heiser: »Sachte, ihr Dösköppe! Macht nicht solchen Lärm!« Der Cromster hatte nahe dem Westufer gestoppt, und zwar an einer Stelle, die keine Besonderheit aufwies und sich durch nichts von jedem anderen Teil des ungastlichen Ufers unterschied. Alle mussten mithelfen, als man kleine re Laternen entzündete und das einzige Beiboot der Hogs head, eine große Jolle, die normalerweise nachgeschleppt wurde, an die Steuerbordseite holte. Die Mannschaft war nervös. Sie hievte mehrere stinkende kleine Fässer aus dem Laderaum und ließ sie an Tauen in die Jolle hinab. Ver wirrt lauschte Rosamund dem Gepolter und den gedämpf ten Rufen. In der Hoffnung, dass niemand ihn bemerkte, setzte er sich vorsichtig auf und spähte über den Rand des Schanzkleids. Acht Männer ruderten die schwer mit Fässern beladene Jolle langsam in Richtung Ufer. Poundinch saß zusammen mit einem gewissen Sloughscab, dem Bordapotheker der Hogshead, im Bug und leuchtete mit einer Laterne. Zwei kräftige Männer kauerten im Heck und blickten, Musketen schussbereit in den Händen, misstrauisch nach vorn. Bald 109
waren von dem großen Ruderboot nur noch das schwache Glimmen der Laterne und schattenhafte Bewegungen in seinem Innern zu sehen, ehe es vollends zwischen herab hängenden Ästen und krummen Luftwurzeln, die das Ufer mit einem Gewirr überzogen, verschwand. Ein Stück wei ter unter den Bäumen glaubte Rosamund das Flackern ei ner zweiten Laterne zu sehen. Er vernahm immer noch das Knarren der Ruder und bildete sich ein, einander begrü ßende Stimmen übers Wasser dringen zu hören. Dann blieb es eine Zeit lang totenstill. Alles hielt den Atem an, und selbst die Frösche schwiegen. An Bord war noch immer kein Licht erlaubt, und selbst die Limber waren zum Ver stummen gebracht worden. Es war kaum etwas zu sehen, nur ein schwach orangefarbener Fleck hinter den blauen Schatten der Bäume. Rosamund hatte das Gefühl, mitten im Nichts zu treiben, in einem leeren Universum zu schweben, allein mit seinen Gedanken und seinem Atem. Ein kurzes Flackern am Ufer riss ihn aus seinen Gedanken. Dann noch eines. Ein greller Lichtblitz, halb verdeckt von den Bäumen, gleich darauf das gedämpfte, aber unverwechselbare Ge knatter von Musketenfeuer. Die Mannschaft geriet in helle Aufregung, und ihre Aufregung wurde noch größer, als ein lauter Knall übers Wasser peitschte. Eine Laterne kam in Sicht, und in ihrem matten Schein war undeutlich die Jolle zu erkennen, die hastig zur Hogshead zurückgerudert wur de. Ein Feuerstrahl erhellte die Nacht – das Mündungsfeuer einer Muskete, die von einem der beiden kräftigen Kerle, die vorhin im Heck der Jolle gekniet hatten, abgefeuert worden war. 110
Der andere kräftige Kerl fehlte. Und auch Sloughscab, der Apotheker. Kapitän Poundinch saß im Bug und bellte: »Pullt, ihr faulen Hunde! Pullt!« Hinter ihnen wiegten und bogen sich die Bäume. Schreie gellten über das Deck der Hogshead. Die Hecklaterne flammte auf, und in ihrem grünen Lichtschein rannten Männer in kopfloser Angst durcheinander. Rosamund stand da, wie gelähmt von dem Schauspiel. Etwas Riesiges bewegte sich zwischen den Bäumen. Er konnte nicht ausmachen, was es war. Soweit er erkennen konnte, hatte es lange Gliedmaßen, ging aber gebückt, und es drückte die Bäume wie Sträucher zur Seite. Es wandte den Kopf, und Rosamund erhaschte einen Blick von klei nen, zornigen Augen. »Blitz und Donner!«, stieß er vor Entsetzen leise hervor. Ein lauter Ruf ertönte. Im nächsten Moment feuerte eine der Kanonen des Cromsters, und wirbelnder Pulverrauch behinderte die Sicht. Das Donnern rollte dumpf und hohl übers Land, und als der Rauch sich verzog, war das Ungetüm verschwun den. Poundinch kletterte fluchend an Bord der Hogshead und befahl brüllend, den Anker zu lichten und die Limber klarzumachen. Poundinch verlor kein Wort über den Vorfall. Niemand sprach darüber, was aus Sloughscab und dem zweiten Musketenträger geworden war, oder was die riesige Krea tur am Ufer gewesen sein könnte. Die drei Kisten, die das Beiboot mitgebracht hatte und aus denen eigenartige Ge 111
räusche drangen, wurden eilends unter Deck geschafft, dann ging man an Bord zur Tagesordnung über. Die Wache sorgte dafür, dass der Cromster wieder Fahrt aufnahm, und die Freiwächter murrten noch eine Weile, ehe sie sich schlafen legten. Auch Rosamund versuchte zu schlafen. Er wälzte sich die restliche Nacht unruhig hin und her, grübelte, sah im Geist immer wieder die zornigen Augen des Nickers und das aufzuckende Mündungsfeuer der Kanone. Als die Glo cke vier Glasen der Morgenwache schlug, stand er auf. Er nahm sich fest vor, den Tag über die Ohren offenzuhalten und auf jedes Wort, das an Bord gesprochen wurde, zu ach ten. Bei Sonnenaufgang, als die Wache wechselte, tausch ten die Männer beredte Blicke. »Mir macht es nichts aus, in den Schweineschmalzfäs sern Leichenteile herumzuschippern«, gestand ein vor Dreck starrender Schiffer leise einem Kameraden beim Frühstück. »Wir werden schließlich gut dafür bezahlt. Aber was wir jetzt da unten gebunkert haben, das ist nicht mehr normal.« Der andere brummte zustimmend und hob beschwörend den Finger. »Wo du recht hast, hast du recht. Ablatum ma lum ex nobis. Halte das Böse von uns fern.« Später am Tag hörte Rosamund zufällig, wie ein Mann, der bei dem Landausflug letzte Nacht zu den Ruderern ge hört hatte, zu einem Kameraden sagte: »Das Geschäft ging glatt über die Bühne, aber das Biest muss uns die ganze Zeit beobachtet haben. Wir haben keinen Mucks von ihm gehört, bis es urplötzlich mit lautem Gebrüll auf uns los ging. Mit einem Hieb seiner fürchterlichen Pranke hat es 112
die Fledderer weggeputzt – einfach so.« Er schwang wild den Arm und hob dabei, ohne es zu merken, die Stimme. »Wer nicht zermalmt wurde, floh unter die Bäume, und der alte Poundy trieb uns zum Boot zurück. Cloud und Blun ting feuerten mit ihren Musketen auf das Biest, und der arme Sloughscab bewarf es mit seinen Chemikalien – du weißt ja, wie versessen er darauf war, sie mal im Ernstfall zu erproben. Tja, nun bekam er Gelegenheit dazu, denn als …« »Gibbon!« Es war der Kapitän. Er lümmelte faul am Ruder, ein Auge zu, und mit dem anderen funkelte er zor nig den redseligen Schiffer an. »Gib mir keinen Grund, mich noch mal an deinen Namen zu erinnern, du Plauderta sche.« Gibbon erbleichte und verfiel in Schweigen, und der Rest der Mannschaft folgte seinem Beispiel. Eine Sache, die Gibbon gesagt hatte, ging Rosamund nicht mehr aus dem Sinn: »… die Fledderer einfach weggeputzt.« Das Wort kannte er. Fledderer waren Leute, die ihren Lebens unterhalt damit verdienten, dass sie Gräber plünderten. Der Schleichhandel! Was hatte die Besatzung der Hogshead mit solchem Ge sindel zu schaffen? Warum ging Poundinch zu nachtschla fener Zeit mitten in der Wildnis an Land und traf sich mit solchen Leuten? War er selbst in den Schleichhandel ver wickelt? Seit seinem verdächtigen Gemauschel mit Oberin spektor Voorwind bei der Achse drängte sich immer mehr der Verdacht auf, dass dem so war. Und was war das für ein schlaksiges Ungetüm, von dem er einen Blick erhascht hatte? Bis auf gelegentliches unverständliches Gemurre 113
schnappte Rosamund an diesem Tag nichts mehr auf, und seine Angst wurde mit der Zeit immer größer. Er musste zusehen, dass er schleunigst von diesem unheilvollen Schiff herunterkam. Gegen Mittag des folgenden Tages sah Rosamund, der im Bug kauerte und sich vor lauter Angst nicht vom Fleck rührte, hinter einer Flussbiegung die Spindel auftauchen. Sie war nicht annähernd so hoch und imposant wie die Achse, sondern bestand aus einem niedrigen Damm aus schwarzem Schiefer, der sich über den gesamten, an dieser Stelle etwa eine Meile breiten Fluss erstreckte. Im dicken mittleren Abschnitt war der Damm von sieben großen Brü ckenbogen und an den beiden Seiten in Ufernähe von meh reren kleinen Tunneln durchbrochen. Jeder Bogen und Tunnel war durch ein massives Gitter aus geschwärztem Eisen versperrt. Große Taftflaggen, auf der einen Seite schwarz, auf der anderen leuchtend weiß, flatterten auf den vier Bastionen in der Mitte des Flusses im Morgenwind, und Rosamund sah, dass viele große Kanonenrohre aus den Geschützstellungen hervorlugten. An jedem Ufer endete die Spindel in einer Festung mit steilen Wällen, spitzen Dächern und hohen Schornsteinen, umgeben von einer mächtigen Außenmauer, die aus demselben Granit errichtet war wie die Flusssperre selbst. Rosamund konnte sogar erkennen, dass der Boden vor der Mauer mit tückischen Barrieren aus zusammengebundenen, angespitzten Pfählen gespickt war. An die östliche Festung grenzte ein kleiner Wald aus Sumpfeichen und Olivenbäumen, und an beiden Ufern neigten sich kahle Weiden über die schwarzen Flu ten des Humour. Die Spindel bot einen eindrucksvollen 114
und beklemmenden Anblick. Doch für Rosamund war sie auch eine Gelegenheit zur Flucht. Hoffnung keimte in sei ner Brust, und er blickte sehnsüchtig zu ihr hinüber. Beim Anblick der Flusssperre kam wieder Leben in Poundinch. Er sprang auf, lief aufgeregt auf seinem Posten hin und her, wie er es bereits bei der Schießübung getan hatte, fuchtelte mit den Armen und murmelte vor sich hin. »Ruhe bewahren, Leute. Bis jetzt hat den alten Poundy noch keiner gekriegt«, brummte er immer wieder. Er rief so leise wie möglich durch das Sprachrohr zu dem Gastri nisten hinunter: »Nehmen Sie Fahrt weg, Mister Shunt, und wenn wir am Tor sind, halten Sie die Limber geschmeidig, hören Sie? Wäre möglich, dass wir überstürzt aufbrechen müssen!« Dann raunte er dem Bootsmann, der wie immer zur Stelle war, zu: »Sehen Sie unten nach dem Rechten. Keine verräterischen Spuren, nichts, was Verdacht erregen könnte, nur Fässer mit altem Fett. Die übliche Prozedur. Und sorgen Sie dafür, dass unsere Neuerwerbungen Ruhe halten.« Die Durchfahrt der Flusssperre war so niedrig, dass die Besatzung der Hogshead den Mast umlegen musste. Kaum war dies getan, tauchte der Bootsmann wieder von unter Deck auf, und der Kapitän befahl ihm, alle Mann an Deck zu pfeifen. Einem solchen Pfiff Folge zu leisten war Rosa mund in Fleisch und Blut übergangen, und so stellte er sich ans Ende der unordentlichen Reihe und nahm so gut es ging Haltung an. Poundinch schritt vor ihnen auf und ab und murmelte gerade so laut, dass jeder ihn verstehen konnte: »Ich möch te, dass ihr euch wie eine ganz normale fröhliche Besat 115
zung benehmt, kein Getuschel, kein Genörgel. Als ob ihr eine Vergnügungsfahrt auf dem Humour macht, verstan den?« »Jawohl, Poundinch«, lautete die Antwort wie aus einem Mund. Der Kapitän wackelte verschwörerisch mit den Augen brauen. »Kein Gemecker.« Er funkelte Gibbon an. »Kein Gezeter.« Er schielte nach anderen Männern, die Rosa mund nicht sehen konnte. »Weggetreten!«, brüllte er und hob die Arme. Da alle wieder an ihre Arbeit gingen, kehrte Rosamund zum Bug zurück. Vor ihnen lief gerade ein tadellos gepfleg ter Cromster, dessen Besatzung sauber in Reih und Glied an Deck angetreten war, stolz in den Tunnel ein. Es war der selbe, der vor zwei Tagen die Hogshead überholt hatte. Wieder wünschte sich Rosamund, er wäre auf dem anderen Boot. Als es davonfuhr, spähte er sehnsüchtig nach der glänzenden Namenstafel am Heck. Ihm stockte das Herz. Auf der Tafel stand Rapunzel. »Rosi, mein Junge!«, rief Poundinch. »Her zu mir!« Der Findling ging vorsichtig zu ihm, die Augen weit aufgerissen, den Kopf eingezogen. Er sah, dass der Kapitän zum Heck des anderen Bootes blickte. »Na, hat’s bei dir endlich geschnackelt?«, feixte Poun dinch. Rosamund erbleichte. »Hat eine Weile gedauert, was?« Schneller, als Rosa mund reagieren konnte, schnellte Poundinchs Hand nach vorn und packte ihn im Genick. »Du bleibst jetzt schön hier bei mir, Jungchen.« Er beugte sich vor und grinste ihm 116
ins Gesicht. »Denk daran … du bist mein Kajütenjunge, verstanden?« »Ich … ich … äh … nein, Sir … äh … ich meine, ja, Sir«, war alles, was Rosamund herausbrachte. Er konnte nur dastehen und sich über die unvermittelte Grobheit des Flusskapitäns wundern, dessen Finger sich schmerzhaft in seinen Nacken krallten. Poundinch schaute zur Spindel empor. »Das Ding hat ein wildes, fleißiges Volk gebaut«, sagte er in einem Plauderton, der sich überhaupt nicht mit der Tatsache vertrug, dass er Rosamund am Genick festhielt. »Ist den Herren deiner Stadt seinerzeit bitter aufgestoßen.« Er richtete den Blick wieder auf den Jungen. »Ganz gleich was nachher geschieht, du bleibst hier am Ruder, an Onkel Poundys Seite, kapiert?« Die Hogshead glitt langsam in den breiten Tunnel und stoppte neben einer Anlegestelle, auf der mehrere Beamte mit ernsten Gesichtern standen, alle vom Scheitel bis zur Sohle in schwarze, mit Gauld gehärtete Uniformen geklei det. Besatzungsmitglieder hielten die Hogshead vorn und achtern mit dicken langen Stangen von den glitschigen Tunnelwänden fern. »Ah … Ahoi, die Herren!«, rief Poundinch mit gespiel ter Freundlichkeit. »Bin bereit, meine Gebühren zu zahlen, wie immer. Wo ist denn Obersteuereinnehmer Dogwater, das gute alte Haus?« Und während er so munter drauflosplapperte, lockerte er keine Sekunde den festen Griff in Rosamunds Genick. Ein ernst dreinblickender Mann – Rosamund fand ihn noch ernster als die Beamten an der Boschenberger Achse 117
– sah den Flusskapitän lange und merkwürdig an. »Oberin spektor Dogwater ist auf einen Posten versetzt worden, für den er besser geeignet ist«, erwiderte er mit ausdrucksloser Stimme. Die Antwort brachte Poundinch vorübergehend so aus der Fassung, dass er Rosamunds Genick losließ. Sein Ge sicht verzog sich zu einer erschreckten Grimasse, fand aber auf wundersame Weise wieder zu dem falschen Lächeln zurück. Er legte Rosamund die Hand auf die Schulter. Auf die Leute am Ufer musste diese Geste recht freundschaft lich wirken, aber die Finger des Flusskapitäns waren wie tückische Krallen. »Schön, schön, bestellen Sie ihm meine besten Empfeh lungen. Er war der beste Steuereinnehmer, der jemals an diesem Fluss Dienst getan hat.« Poundinch wippte auf den Fersen, und nach einer Pause, in der Rosamund zu sehen glaubte, wie es in seinem Kopf arbeitete, setzte er hinzu: »Anwesende selbstverständlich ausgenommen …« »Selbstverständlich.« Unbeeindruckt streckte ihm der Steuereinnehmer eine Hand entgegen. »Wenn ich jetzt um Ihre Papiere und Frachtbriefe bitten dürfte, damit meine Kontrolleure an Bord gehen können.« Poundinch gab ihm das Verlangte. Der Beamte ver schwand mit den Papieren durch eine Eisentür im mächti gen Sockel des Bogens. Poundinch schwitzte, schürzte un ablässig die Lippen und krampfte die freie Hand auf sei nem Rücken zusammen. An der Achse hatte der Kapitän der Hogshead ruhig Blut bewahrt. Hier jedoch, ohne das Gemauschel und den Austausch spöttischer Blicke mit ei nem Beamten, wurde er sichtlich nervös. 118
Der Beamte kehrte zurück, die Miene so ausdruckslos wie zuvor. Ihm folgten drei kräftig gebaute Herren, die schwere Stöcke mit langen Griffen in Händen hielten: die Kontrolleure. Hinter ihnen quoll ein Quarto Musketiere in schwarzen Uniformen mit weißen Tressen aus der Tür. Sie nahmen auf der Kaimauer in zwei Reihen zu jeweils fünf Mann Aufstellung. Der Steuereinnehmer hob die rechte Hand und holte tief Luft. »Gemäß der Erklärung seiner Hoheit, des Erzherzogs und Regenten von Brandenbrass, und gemäß den Bestim mungen hinsichtlich der Unverletzlichkeit unserer Gren zen, bestätigt und in Kraft gesetzt von seinem Kabinett, sowie dessen Verfügungen dieselben betreffend, ergeht an Sie die Aufforderung, zum Zwecke der Durchsuchung ih res Fahrzeugs unverzüglich Beamte des souveränen Staates Brandenbrass an Bord zu lassen, des Weiteren mit einem feierlichen ›Ja‹ zu bestätigen, dass Sie keinerlei Konter bande oder andere unzulässige Waren auf oder in Ihrem Fahrzeug befördern, weder im Laderaum noch an einem anderen Ort, und dass Sie die Gesetze und die rechtmäßi gen Ansprüche des Staates Brandenbrass sowie die Autori tät desselben anerkennen. Wie lautet Ihre Antwort?« Rosamund hatte den Sinn der Worte nicht begriffen, a ber alles klang ungemein wichtig und eindrucksvoll. Auch der Kapitän hatte anscheinend nicht verstanden. Jedenfalls waren die Falten auf seiner Stirn immer tiefer geworden. »Ich … äh … also, wenn das heißen soll, dass Sie an Bord zu kommen wünschen …«, er machte eine tie fe Verbeugung und schielte dabei zu seinem Bootsmann, »… ja, selbstverständlich.« 119
Die Kontrolleure und der Steuerbeamte sprangen von der Mauer auf das Boot und schritten über das Oberdeck. Poundinch drückte sich in ihrer Nähe herum und beantwor tete die knappen Fragen des Beamten mit übertriebener Höflichkeit. Rosamund blieb wie befohlen beim Ruder. Immer wieder krampfte sich ihm vor Angst das Herz zu sammen. Es war ein trostloser Nachmittag, und im Schat ten dieses Gewölbebogens wurde er noch trostloser. Schließlich traten die Kontrolleure an die Luke. »Was ist das für ein bestialischer Gestank, der von da unten herauf kommt, Sir?«, rief der Beamte. »Nun ja, Sir«, erwiderte Poundinch und setzte eine Un schuldsmiene auf. »Ich habe die Absicht, das Boot im Win ter ins Trockendock zu bringen und innen wie außen gründlich zu schrubben. Das kommt nur von diesem Schweinefett, mit Verlaub – gut für die Kasse, aber schlecht für die Nase.« Der Beamte setzte den Fuß auf die oberste Stufe, und die Kontrolleure machten Anstalten, ihm zu folgen. Doch dann stutzte er und drehte sich halb um. »Sind Ihre Limber etwa noch in Betrieb, Sir?« »Nun ja …« »Lassen Sie sie sofort abschalten, wenn ich bitten darf! Das ist ein schweres Vergehen, Sir!« Der Beamte schickte sich an, etwas in ein großes Buch zu schreiben. Nur einen Augenblick lang blickte Poundinch wie ei ne in die Enge getriebene Katze. Dann rief er: »Nicht mit uns!«, stieß den Beamten die Treppe hinunter, griff sich einen der dicken, keulenartigen Holzpflöcke, die normalerweise den Mast stützten, und schmetterte ihn 120
dem Kontrolleur, der ihm am nächsten stand, gegen das Kinn. »Volle Kraft voraus, Mister Shunt!«, brüllte er. »Volle Kraft voraus!« Darauf brach ein Chaos aus. Shunt reagierte schneller als alle anderen. Die Hogshead machte einen Ruck, und Leute purzelten zu Boden, auch Rosamund. Poundinch sprang in den Laderaum. Zwei Kontrolleure setzten über ihren am Boden liegenden Kollegen hinweg und wollten ihm nach stürzen. Ein Schuss krachte. Einer der beiden sackte, von einer Pistolenkugel des Bootsmanns in den Hals getroffen, zu Boden, der andere verschwand unter Deck. Die Musketiere auf der Kaimauer brachten ihre Muske ten in Anschlag, und ihr Offizier brüllte, den Lärm übertö nend: »Dageblieben – oder wir schießen euch auf der Stelle nieder!« Die Mannschaft der Hogshead antwortete nur mit höhni schem Gejohle, während ihr Boot sich vom Ufer entfernte. »Tu, was du nicht lassen kannst, du Großmaul!«, rief ei ner. »Halt die Klappe, du Laberkopf!«, schrie ein anderer. »Mach dir nicht in die Hosen, du Saftarsch!« und viele noch schlimmere Schmähungen folgten. Das Quarto Musketiere feuerte eine Salve ab, die mehre ren das Leben ausblies, und am Ufer ertönte der Ruf: »En terhaken! Enterhaken!« Die Besatzung erwiderte das Feuer mit Pistolen und Donnerbüchsen, doch ihre Kugeln bewirkten wenig, denn die Rüstmontur der Musketiere war von guter Qualität. Nur ein einziger Soldat wurde von einer Kugel in den Kopf ge 121
troffen und sackte dort, wo er gekniet hatte, zusammen. Rosamund war über den jähen Ausbruch nackter Gewalt verblüfft und zunächst wie gelähmt, doch aus seiner Fas sungslosigkeit wurde rasch Entsetzen. Kalter Ekel brachte seine Hände zum Zittern. Die Hogshead rammte mit der Steuerbordbugseite die gegenüberliegende Tunnelwand, da der Bootsmann wie alle anderen von dem kräftigen Ruck beim Anfahren über rascht worden war und vorübergehend die Herrschaft über das Boot verloren hatte. Mit lautem Knirschen schrappte der eisenverkleidete Rumpf an der Mauer entlang, und die Hogshead verlor Fahrt. Doch schon im nächsten Moment hatte der Bootsmann den Cromster wieder in der Gewalt und steuerte ihn mit sicherer Hand auf der anderen Seite des Bogens hinaus. Enterhaken wurden geworfen, um das Boot aufzuhalten, aber keiner blieb an der Bordwand hän gen. Die Hogshead fuhr davon. »Maximale Kraft auf die Schraube, Shunt!«, brüllte der Bootsmann durch das Sprachrohr ins Organdeck hinunter. »Nichts wie weg hier!« Gebrüll und Gepolter kündeten von einem erbitterten Handgemenge unter Deck. Poundinch und mehrere seiner Leute, die ihm zu Hilfe geeilt waren, rangen mit dem Zoll beamten und dem tapferen Kontrolleur. Der Lärm, den sie machten, gab keinen Aufschluss darüber, wer die Ober hand gewann, doch als der Cromster beschleunigte, war zumindest klar, das Shunt nicht in den Kampf verwickelt war. Rosamund versuchte verzweifelt, sich in Sicherheit zu bringen, als erneut Musketenschüsse krachten und rings um 122
ihn Kugeln pfiffen. Ein armer Teufel stürzte getroffen in den Humour. Eine Kugel fuhr in die Reling neben Rosa munds Kopf und erschreckte ihn zu Tode, und noch wäh rend er sich nach einer sicheren Deckung umsah, traf ihn eine Musketenkugel in die Brust. Der Aufprall der Kugel war härter als der kräftigste Hieb im Harundo, und Rosamund fiel mit einem kurzen, ver nehmlichen Schnaufer auf den Hintern. Im ersten Augen blick war sein Leben nur noch ein stechender Schmerz rechts neben dem Herzen. Die Augen traten ihm fast aus den Höhlen, Tränen liefen ihm über die Wangen. Der Schmerz schnürte ihm den Atem ab. Er zitterte vor Entset zen, denn er glaubte, er habe seinen letzten Atemzug getan. Wie konnten sie nur auf einen kleinen Jungen schießen? Was hatte er ihnen denn getan? Warum hassten sie ihn so? Dann bekam er wieder Luft und rang nach Atem. Er hatte mit Sicherheit einen blauen Fleck, aber er war nicht ernst haft verletzt. Die Schutzkleidung, die Fransitart ihm be sorgt hatte, hatte ihre erste Prüfung glänzend bestanden. Staunend wischte er sich die Tränen weg: Eine Musketen kugel hatte ihn getroffen, und er war trotzdem noch am Leben. Die Hogshead jagte mit zunehmender Geschwindigkeit in Richtung Flussmitte. Schon lagen gut hundert Meter zwischen ihr und der Spindel. Die Gastrinen wurden so stark beansprucht, dass das ganze Boot zitterte. Die Mann schaft hätte alles getan, um zu entkommen, denn es erwar tete sie nur der Galgen oder Schlimmeres. In diesem Augenblick donnerte die erste Großkanone. BUMM! – dies war die erste und letzte Warnung. Kein 123
Probeschuss, keine Einschlagsfontäne, die den Richtschüt zen half, die Entfernung genauer zu schätzen, keine Kugel, die über ihre Köpfe hinwegpfiff. Die Kanonen der Spindel waren zu gut ausgerichtet, und ihre Richtschützen zu geübt und erfahren. Der erste Schuss traf den Heckspiegel, den einzigen Teil des Rumpfes, der nicht gepanzert und folg lich eine der verwundbarsten Stellen des Bootes war. Es war ein blitzsauberer Treffer, der den Cromster bis in die Spanten durchrüttelte. Holz splitterte, und Gischt spritzte himmelwärts. Die nächsten beiden Geschosse schlugen mit lautem Scheppern gegen die Eisenplatten der Bordwand. Die Stückmannschaften der Hogshead erwiderten das Feu er, aber was konnten Zwölfpfünder der Spindel schon an haben? Die Kugeln prallten von den Wällen aus Schiefer und festgestampfter Erde einfach ab und plumpsten, ohne Schaden anzurichten, in den Fluss. Ob es die vierte, fünfte oder sechste Kugel der Großkanonen war, vermochte nie mand zu sagen, aber eine davon fegte den Bootsmann vom Deck, ohne dass die kleinste Spur von ihm blieb, und zer legte die Ruderpinne zu Kleinholz. Die Hogshead schlin gerte führerlos. Für Rosamund wurde es höchste Zeit, sich davonzuma chen. Er war auf dem falschen Boot mit dem falschen Ka pitän und fuhr mit großer Wahrscheinlichkeit einem ge waltsamen, schrecklichen Ende entgegen. Und noch schlimmer war, dass die Leute auf der Spindel ihn jetzt für ein Mitglied der ruchlosen Besatzung halten mussten. Er hatte in der Unheiligen Nacht Hinrichtungen durch den Strang gesehen. Er wusste, wie Verbrecher endeten. Die Gelegenheit zur Flucht war jetzt da. 124
Rosamund raffte Koffer, Tasche und Hut zusammen und stürzte sich vom blutüberströmten Deck in die kalten, tin tenschwarzen Fluten des mächtigen Humour.
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BEGEGNUNGEN AUF DEM WEG
NACH HIGH VESTING
Grusel, der: Grusel ist das Gefühl, von dem Land oder dem Wasser, das einen umgibt, wahrgenommen oder beobachtet zu werden. Niemand weiß es mit Bestimmtheit, aber nach der gängigsten Theorie ist das Land selbst auf eigentümliche Weise empfindungsfähig und mit einer gewissen Intelli genz und einem Bewusstsein ausgestattet und reagiert ärgerlich auf Stö rungen und den Missbrauch durch Menschen. Gutartiger Grusel, die mil deste Form, kann in einem Menschen ein Unbehagen hervorrufen, als ste he er unter feindlicher Beobachtung. Die schlimmste Form von Grusel – bösartiger Grusel – kann einen Menschen in den Wahnsinn treiben, grund lose Angstzustände hervorrufen und schlimmste Wahnvorstellungen auslö sen.
D
er Sprung in den Fluss war wie ein schmerzhafter Schlag ins Gesicht, und die schwere Rüstkleidung zog Rosamund sofort unter Wasser. Doch aus irgendeinem Grund ging der Koffer nicht unter. Trotz seines schweren Inhalts schwamm er an der Oberfläche und verhinderte, dass Rosamund in die Tiefe gezogen wurde. Japsend tauch te er wieder auf. Im Unterschied zu vielen anderen Men schen konnte er schwimmen – ein Vorteil, wenn man in 127
einer Marineanstalt aufwuchs und in einer Stadt lebte, die an einem Fluss lag –, und jetzt schwamm er wie noch nie in seinem Leben. Die Strömung war schwach, aber doch so stark, dass er von der Spindel und der flüchtenden Hogs head abgetrieben wurde. Aus Angst, als Mahlzeit im Bauch eines auf dem Grund lebenden Fluss-Bogels zu enden, ar beitete er sich, mit Armen und Beinen wild im Wasser he rumschlagend, in Richtung Ufer. Der Cromster fuhr mittlerweile wieder geradeaus und flüchtete, die Rauchfahne eines unsichtbaren Feuers hinter sich herziehend, in einiger Entfernung stromabwärts. Die Kanonen des Bootes bellten, die der Spindel brüllten. Tref fer brachten der Besatzung der Hogshead weitere Verluste bei, und bei Fehlschüssen spuckte der Fluss weiße Gischt fontänen. Mit lautem Klatschen schlug eine Kugel rechts neben Rosamund auf dem Wasser auf. Er konnte sie deut lich sehen. Wie ein flüchtiger, runder Schatten hüpfte sie einmal über die Wellen, ehe sie mit einem satten Platsch in den Fluten versank. Von panischem Schrecken erfasst, verdoppelte er seine Anstrengungen. Der Humour trug ihn auf seine Ostseite. Das schlammi ge Ufer war kahl bis auf ein dichtes Gehölz aus hohen, knorrigen Kasuarinenbäumen ein Stück weiter stromab wärts. Wurzeln griffen wie Finger ins Wasser, und anmutig gebogene Äste tauchten ihre langen nadelartigen Blätter ins trübe Nass. Das Gehölz war ein guter Orientierungspunkt, und Rosamund schwamm mit aller Kraft darauf zu. Am Ufer war kein Mensch zu sehen. Er betete, dass man auf der Spindel nicht bemerkt hatte, wie er von Bord der Hogshead gesprungen war, und dass niemand sehen würde, 128
wie er aus dem Fluss unter die Bäume kroch. Er war über zeugt, dass man ihn für ein Besatzungsmitglied der Hogs head halten würde, und den Arger, den das mit sich bräch te, hätte sich jeder ersparen wollen. Endlich spürte er schlammigen Grund unter den Füßen. Er zog den Koffer aus dem Sog der Strömung und watete durch den Vorhang aus leise säuselnden Blättern an Land. Kaum war er aus dem Wasser, verließen ihn die Kräfte, und er sank schluchzend und zitternd ins Gras unter den Bäumen. So blieb er lange liegen, benommen, zu keiner Bewegung fähig und wie gelähmt bei dem Gedanken an das Blutbad von vorhin und die Gefahr, in der er jetzt schwebte. Wie sollte er hier draußen in dieser Wildnis, in der all die Monster zu Hause waren, alleine überleben? Der erste gefräßige Nicker, dem er über den Weg lief, würde ihn verspeisen! Und wenn nicht heute, dann morgen oder übermorgen. Es war nur eine Frage der Zeit. Das Grollen der Großkanonen verstummte. Die Hogs head war hinter einer Flussbiegung verschwunden. Aus seinem Versteck konnte Rosamund beobachten, wie zwei schwarze Boote von ihren Liegeplätzen an der Spindel ab legten und die Verfolgung aufnahmen. Es handelte sich um sogenannte Monitore. Sie waren erheblich größer als jeder Cromster und der Hogshead weit überlegen. Er sah ihnen nach, bis auch sie flussabwärts hinter der Biegung ver schwanden. Mit einem Seufzer legte er sich zurück. Sein Kopf war leer. Er hatte keine Ahnung, was er als Nächstes tun sollte. Komm schon! Denk nach! Denk nach!, schalt er sich. So wie es Master Fransitart tun würde. 129
Er musste daran denken, dass er in der Festungsstadt High Vesting von dem geheimnisvollen Mister Germanicus erwartet wurde. Aber wie sollte er dorthin gelangen? Zur Spindel zurückkehren und nach einem anderen Boot fragen konnte er nicht. Man würde ihn wahrscheinlich wiederer kennen und vor Gericht stellen. Ihm blieb nur eine Mög lichkeit – er musste zu Fuß gehen. Aber in welche Rich tung? Rosamund versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Das Land um ihn herum war überall gleich flach, mei lenweit nur Wiesen und Felder. Die einzigen hervorste chenden Geländepunkte waren die dunkle Spindel im Nor den und der kleine Wald neben ihrer östlichen Festung. Rosamund war froh über das Kasuarinengehölz, das ihm im Augenblick Schutz bot, denn im weiten Umkreis war keine andere Deckung auszumachen. Er erinnerte sich noch gut, dass diese Gegend auf den Karten in seinem Almanach so gut wie keine besonderen Merkmale aufgewiesen hatte. Natürlich – mein Almanach! Er griff zu seiner mit Was ser vollgelaufenen Umhängetasche. Eine braune Brühe si ckerte aus der Naht am Boden. Angewidert spähte er hin ein. Alles war klatschnass. Bekümmert zog er den Alma nach heraus und legte ihn sich in den Schoß. Jetzt werden wir ja sehen, wie wasserdicht er ist. Vor sichtig klappte er den Deckel auf. Die wächsernen Blätter hatten das Vollbad unbeschadet überstanden. Sie waren nicht einmal feucht. Die Buchstaben waren weder ver wischt noch unleserlich, die Seiten hatten keinen einzigen Fleck. Was für ein wunderbares Geschenk! Schon etwas zuversichtlicher schlug er hinten im Kartenteil die Karte von dieser Gegend auf. Von der Spindel führte eine dünne 130
Verbindungslinie nach High Vesting. Bestimmt eine Stra ße. Winstermill lag näher, aber laut Anweisung sollte er sich zuerst nach High Vesting begeben. Bis zu der Hafen stadt im Süden waren es ungefähr achtzig Meilen Luftlinie; folgte man der Straße, freilich viel mehr. Es ist ein langer Fußmarsch, aber ich könnte mir denken, dass Master Fransitart sich dafür entscheiden würde … Damit war die Frage für ihn geklärt. Er begann zu planen. Zuerst musste er die restliche Aus rüstung überprüfen, dann, wenn es dunkel wurde, zunächst nach Osten und dann nach Süden marschieren, bis er auf die Straße stieß – die krakelige Linie auf der Karte. Hinter den schwarzen Stämmen und dem dichten Blätterwerk vor Blicken geschützt, schälte er sich aus seinem Wehr rock und hängte ihn zum Trocknen über mehrere Äste. Der Rock hatte ihm zwar das Leben gerettet, aber so vollgeso gen und schwer, wie er jetzt war, konnte er ihn unmöglich tragen. Befreit von dem hinderlichen Kleidungsstück, aber zit ternd vor Kälte, machte er sich an die Arbeit. Der erste Teil seines Plans war recht leicht auszuführen. Mehrere Dinge waren im Wasser verdorben, so zum Beispiel ein Großteil seines verbliebenen Proviants. Die Kruste des Roggenbrots war aufgeweicht und schmutzig. Die getrockneten Pilze waren zwar noch genießbar, aber so nass, dass sie nicht mehr lange haltbar waren. Die Platten der tragbaren Suppe waren klebrig und in Auflösung begriffen. Zum Glück hat ten die Essiggurken und der angereicherte Beutelkäse nicht gelitten. Die Äpfel hatte er schon vor Tagen aufgegessen. Seine Instruktionen und Empfehlungsschreiben, alle mit 131
Tinte geschrieben, waren verschmiert und unleserlich. Das Papiergeld, das er als Vorschuss auf sein Gehalt bekom men hatte, war ein durchweichter Klumpen und nicht mehr zu gebrauchen. Dagegen war das Siegel des Siegelbriefs zu seinem Erstaunen noch unversehrt. Das zweite Buch, das er mitgenommen hatte, das Wörterlexikon, war aufgequollen und doppelt so dick wie zuvor, und der Buchrücken wölbte sich nach außen. An manchen Stellen war die Drucker schwärze verwischt, sodass die Wörter verschwommen aussahen, aber zum Glück war alles noch leserlich. Von den Abwehrmitteln waren nur die Schrecksalze in Mitlei denschaft gezogen worden und in ihren Säckchen ver klumpt. Da er mit Schrecksalzen keine Erfahrung hatte, wusste er nicht, ob sie noch zu etwas taugten, beschloss aber, sie trotzdem aufzubewahren. Die Stärkungsmittel hat ten in ihren Flakons ebenso wenig Schaden genommen wie Craumpalins Entdufter in der braunen Tonflasche. Seine Kleider – Hemden, Unterwäsche und so weiter – und der Rest der Ausrüstung troffen zwar vor Nässe, waren aber noch zu gebrauchen. Leider waren ihm der Hut und der Stock abhandengekommen. Und dabei hatte Verline, wie er sich wehmütig erinnerte, einmal zu ihm gesagt, dass man niemals ohne Hut ins Ausland reisen solle. Rosamund kippte das Flusswasser aus dem Koffer und der Umhängetasche und breitete seine Habseligkeiten um sich herum aus, damit sie trocknen konnten. Er wollte sie wieder einpacken, ehe er sich auf den Weg machte, gleich ob sie feucht, beschädigt oder sonst etwas waren. Immer noch besser, als wenn er sie verloren hätte. Er hängte seine Weskit zum Trocknen neben den Wehrrock, schob sein 132
Hemd hoch und spritzte reichlich Entdufter auf die nasse Binde. Dann stopfte er das Hemd wieder in die Hose und verkroch sich in den hintersten Winkel seines Verstecks, um auf den Sonnenuntergang zu warten. Nach fünf Tagen auf dem Fluss hatte er sich an das Stampfen und Rollen des Bootes im Wasser gewöhnt, und wie er jetzt so dalag, gau kelten ihm seine Sinne ein leichtes Schwanken des Bodens vor und wiegten ihn beinahe in den Schlaf. Ein kleiner Vogel piepste dreimal und schwirrte dann davon. Rosamund blinzelte träge. In der Hand hielt er eine Fla sche Tölenöl. Da die Schrecksalze verdorben waren, besaß er nichts anderes mehr, womit er sich gegen Monster weh ren konnte. Sowie sich eines zeigte, wollte er ihm das Öl ins Gesicht schleudern und dann die Beine in die Hand nehmen. Dieser Vorsatz brachte ihm ungewollt die Schau ergeschichten in Erinnerung, die einige ältere Jungs im Fin delhaus erzählt hatten. In der Nacht, so hatten sie immer ge sagt, wurden Monster aktiv, in der Nacht streiften Nicker und Bogeis umher. Ihm war völlig klar, dass er im Dunkeln mit allerlei unliebsamen Begegnungen rechnen musste, aber im Schutz der Nacht konnte er reisen, ohne von Menschen, insbesondere von den Soldaten der Spindel, bemerkt zu werden. Im Augenblick fürchtete er Suchtrupps von der Flusssperre am meisten. Die Arme um den Leib geschlun gen, verdöste er den restlichen Nachmittag. Die Stelle an der Brust, wo die Musketenkugel ihn getroffen hatte, schmerzte. Irgendwann wachte er auf und meinte, leisen Geschützdon ner zu hören, den der sanfte Wind aus der Ferne herbeitrug. Die Monitore müssen die Hogshead eingeholt haben … 133
Als der Abend kam, waren seine Kleider so weit ge trocknet, dass er sie wieder anziehen konnte. Auch seine Ausrüstung war beinahe trocken. Er raffte alles zusammen und packte es sauber und ordentlich wieder ein, so wie Master Fransitart es ihm gezeigt hatte. Er nahm sich dazu viel Zeit, denn er verließ nur ungern diesen Ort. Immer wieder schüttelte er den Koffer und die Umhängetasche, um festzustellen, ob etwas klapperte. Er packte sie mehr mals aufs Neue, bis wirklich nichts mehr zu hören war. Und die ganze Zeit über wühlte die Angst in seinen Einge weiden. Er wusste nicht, was schlimmer war, die Angst vor der Dunkelheit und ihren unbekannten Gefahren oder das beklemmende Gefühl, der Spindel immer noch so nahe zu sein. Sein Puls hämmerte ihm in den Ohren, als er endlich aus schierer Verzweiflung hinter dem schützenden Blätter vorhang der Kasuarinenbäume hervortrat. Er lief so schnell er konnte über die weiche Erde des ge pflügten Felds, das vom Flussufer wegführte. Zu seiner Linken funkelten gelbe, orangefarbene und grüne Laternen an den Mauern und in den Fensterschlitzen der Spindel und täuschten eine trügerische Friedlichkeit vor. Am östlichen Ende der Flusssperre waren dunkle Schatten zu erkennen – die Silhouetten der Bäume, die den kleinen Wald dort bil deten. Eine Lichterkette durchzog, von der Spindel kom mend, in östlicher Richtung den Wald und knickte dahinter nach Süden ab, wo sich bis zum Horizont nur Wiesen und Felder erstreckten. Dieses Gelände war leicht zu durch wandern, bot aber wenig Deckung. Die schwach funkelnde Kette war offensichtlich die Straße, der er nach Süden bis High Vesting folgen wollte, und die Lichter waren Later 134
nen wie die, die er am Wurmweg jeden Tag entzünden und löschen sollte. Er konnte im Dunkeln wenig sehen, ging aber weiter. Er hielt sich immer rechts von der Laternen kette, und als sie endete, blieb er nicht stehen, sondern setzte seinen Weg fort, bis der letzte schwache Schimmer in der Dunkelheit erloschen war. Erst dann blieb er stehen. Umkehren war zwecklos, sagte er sich, aber hier Wurzeln zu schlagen hatte erst recht keinen Sinn. Er hielt einen Moment den Atem an, dann stieß er einen Seufzer aus. Er musste weitermarschieren, und zwar so lange, bis er wieder mit Be stimmtheit wusste, welche Richtung er einschlagen sollte. Die dunklen Wolken verzogen sich nach Nordwesten, und der Mond kam heraus, ein kalter silberner Mond, der hoch am Himmel stand. Phöbius, wie er bisweilen genannt wurde – der Name gefiel Rosamund –, erschien im richti gen Moment. Jetzt konnte er sich wieder orientieren. Die ganze Zeit über hatte er gespürt, dass der Mond da war, unsichtbar hinter den Wolken. Er hatte ihn in den Einge weiden gespürt wie das Kommen und Gehen der Gezeiten des großen Ozeans. Jetzt war er sich wieder sicher, dass die Richtung stimmte. Er rückte noch einmal den Koffer auf seinem Rücken zurecht, dann marschierte er weiter durch die gefahrvolle Nacht. Von Zeit zu Zeit hörte er merkwürdige Schreie in der Ferne, bisweilen auch ein dumpfes Raunen und einmal, von Osten her, ein rätselhaftes Rumpeln. Doch er ließ sich davon nicht aufhalten. Er zog den Kopf ein, wenn er solche Geräusche vernahm, und schritt kräftiger aus, bis nach ei ner Weile seine Kräfte erlahmten und er das Gefühl hatte, keinen Schritt mehr tun zu können. 135
Irgendwann blieb er kurz stehen, trank einen Schluck aus seinem Biggin und blickte zum Himmel, um sich zu orientieren. Der herrliche gelbgrüne Stern Maudlin war aufgegangen. Er stand hoch und hell am Himmel, und das bedeutete, dass es schon sehr spät war. Obwohl er sich schrecklich müde fühlte, steckte er das Wasser wieder weg und marschierte weiter. Vor ihm tauchte eine schwarze Masse auf, deren Silhou ette in dem offenen Gelände deutlich gegen den Himmel abstach. Ihm stockte das Herz vor Schreck. Das Bild des Ungetüms, das er neulich nachts gesehen hatte, stieg vor ihm auf. Seine Ohren sausten vor Anspannung, als er sich tief duckte und in einem weiten Bogen um die dunkle Mas se herumschlich. Mehrere Male glaubte er zu sehen, wie sie sich bewegte, und wurde von kaltem Grauen gepackt – und dennoch verharrte sie seltsamerweise auf der Stelle. Er war fast an ihr vorbei, da erkannte er, dass es nur ein gro ßer Heuhaufen war, der mitten auf einem Feld stand. Vor Erleichterung sank er fast zu Boden. Es bestand keine Ge fahr, und obendrein hatte er einen Schlafplatz gefunden. Er taumelte über die umgepflügte Erde, die so weich war, dass er fast gestrauchelt wäre, ließ sich auf der windabgewand ten Seite des Haufens hinplumpsen und krabbelte, den Kof fer hinter sich herziehend, ins Heu, wo er erschöpft liegen blieb. Im Nu war er eingeschlafen, und als wieder ein Schrei gellte, näher diesmal, schlief er ungerührt weiter. Ein dumpfer Schmerz an der linken Brust, dort, wo ihn die Musketenkugel getroffen hatte, weckte Rosamund. Er rieb sich die Stelle, aber der Schmerz wurde davon nur noch schlimmer. Er war immer noch sehr müde. Aber er 136
hatte die erste Nacht allein überstanden. Er kroch vorsich tig aus seiner Höhle im Heu und spähte in die Runde. Es war noch früher Morgen, die Sonne stand knapp über dem Horizont. Vor dem fahlen Himmel ragten riesige Wind mühlen empor, die in langen, gestaffelten Reihen nach Os ten strebten und sich am Horizont verloren. Das Land war so eben, dass er bestimmt weithin zu sehen war, gleichzei tig konnte er aber selbst gut sehen, ob er verfolgt wurde. Soweit er im Morgenlicht erkennen konnte, rührte sich bis auf die großen Flügel der Windmühlen nichts auf der Stra ße und auf den Feldern. Aus Angst vor Patrouillen der Spindel stapfte er eine Stunde lang querfeldein über die Äcker. Dann wurde das Fortkommen auf der weichen Erde so beschwerlich, dass er gezwungen war, auf die Straße zurückzukehren. Er mar schierte und marschierte, ohne einer Menschenseele zu be gegnen. Nach einer Weile kreuzte ein Pfad die Straße, und ein einsamer Wegweiser zeigte die Hauptstraße hinunter. Auf dem Wegweiser stand Vestiweg – er war also richtig. Dies war die Straße nach High Vesting, und auf ihr würde er bleiben. Der Tag wurde ungewöhnlich warm und blieb es. Ein leichter Wind aus Südosten brachte willkommene Abküh lung, als ihm das Gepäck und die Rüstkleidung zu schwer wurden. Irgendwann konnte er den Koffer nicht mehr auf dem Rücken tragen und behalf sich damit, ihn an den Gur ten im sandigen Schotter hinter sich herzuschleifen. Mit einer Ausdauer, die für einen Jungen seines Alters unge wöhnlich war, marschierte er weiter, nur von dem einen Gedanken getrieben, High Vesting zu erreichen. Er musste 137
häufig Pausen einlegen, und während er verschnaufte, sah er sich argwöhnisch um. Dabei stellte er fest, dass er gar nicht so allein war, wie er bisher angenommen hatte. Auf eingezäunten Weiden grasten und muhten Kühe, und aller lei Vögel – zeternde Elstern, kreischende Drosselstelzen, reizbare Bachstelzen und stumme Schwalben – schwirrten umher und jagten Insekten. Von allen Insekten schienen sie die großen Wurtembotteln am liebsten zu fressen. Diese fetten schwarzen Fliegen aus wärmeren Gefilden im Nor den surrten unablässig um Rosamunds Kopf und Hals und ganz besonders um seine Ohren. Gleichgültig, wie oft oder wie zornig er nach ihnen schlug und sie verscheuchte, diese Wurtembotteln kamen immer wieder und setzten ihre lästi gen Attacken fort. Irgendwann, während Rosamund so vor sich hin trottete, glaubte er einen Menschen zu sehen – möglicherweise ein Bauer –, der weit entfernt zu seiner Linken die Felder durchquerte, aber er konnte nicht erken nen, wer oder was er war, und laut zu rufen, das traute er sich nicht. Auf der Straße selbst herrschte überhaupt kein Verkehr. Sie lag so verlassen da, dass es richtig unheimlich war. Auf engstem Raum zusammen mit anderen Menschen aufgewachsen, hatte er stets von Weite und Einsamkeit ge träumt. Jetzt, ganz auf sich allein gestellt und ohne jede Bequemlichkeit, sehnte er sich nach der drangvollen Enge einer Stadt. Weiter, weiter. Er musste nach High Vesting. Zum Glück hatte er noch genug Proviant, um nicht ver zweifeln zu müssen. Zum Mittagessen gab es einen mat schigen Brei aus ehemaligen Trockenpilzen und dazu Rog genbrot, das eine verdächtige Ähnlichkeit mit Tischlerleim 138
hatte. Hunger sei der beste Koch, hatte Craumpalin einmal gesagt, und Rosamund konnte dem nur aus vollem Herzen zustimmen, während er die fade Pampe mit großem Appe tit verschlang. Brot und Pilze waren noch so durchweicht, dass sie sogar seinen Durst stillten. Und das war wichtig, denn er hatte zwar genug zu essen, aber kaum noch Was ser. Er hatte seinen Biggin am Humour mit trübem Fluss wasser gefüllt und unterwegs versucht, sparsam damit um zugehen. Es schmeckte nach moderndem Laub, doch als der für die Jahreszeit ungewöhnlich heiße Tag zu Ende ging, war es fast aufgebraucht. Er wusste nicht genau, wie es war, wenn man kein Wasser mehr hatte, aber dass es schlimm sein musste, das wusste er. Bei Sonnenuntergang sah er in der Ferne zerzauste Bäume am Straßenrand und hoffte, dort eine Quelle zu finden. Als er die Bäume end lich erreichte, wurde seine Hoffnung enttäuscht, und er ging weiter. Und als er eine Meile weiter zum Schlafen in einen großen Bocksdornbusch kroch, hatte er seinen letzten Schluck Wasser getrunken. In dem einsamen Busch kauernd, starrte er mit wachsen der Besorgnis in die zunehmende Dunkelheit. Eine unsäg liche Angst, er könnte verfolgt werden, erweckte jeden Schatten zu huschendem Leben. Als die Nacht sich vol lends herabsenkte und aus der Ferne eigentümliche Laute zu ihm drangen, lenkte er sich ab, indem er fröhliche Lie der vor sich hin summte, die er Verline Kindern hatte vor singen hören, wenn sie traurig waren. Doch die Dunkelheit behielt ihren Schrecken. Heiser vor Durst summte er wei ter, bis er irgendwann einschlief. Ein Geräusch ließ ihn hochfahren. Es war früher Morgen. 139
Der Himmel war fahl, die Luft noch kühl. Seine trockene Kehle brannte, aber er hatte die zweite Nacht überlebt. Da war es wieder. Ein ungewöhnliches Geräusch, das nicht hierhergehörte. Rosamund blinzelte rasch den Schlaf aus den Augen und lauschte. Vögel begrüßten die aufgehende Sonne mit ihrem Gezwitscher – aber davon war er nicht aufgewacht. Auch nicht vom Summen der Wurtembotteln, die nur darauf lau erten, dass er aus seinem dornigen Unterschlupf kroch. Dann hörte er es wieder, dieses Geräusch. Aber diesmal verstummte es nicht mehr, sondern wurde lauter: gleich mäßiges Getrappel, dann das unverkennbare Schnauben eines Pferdes. Die Musketiere der Spindel kommen mich holen! Er drehte sich so leise wie möglich um und streckte den Hals vor. Vielleicht konnte er durch das Gewirr der vielen Zweige einen Blick auf seine Verfolger erhaschen. Auf ei nen Ellbogen gestützt, sah er tatsächlich etwas, aber es war kein Trupp Musketiere, sondern ein Landaulet, eine vier rädrige Kutsche mit aufklappbarem Verdeck, die von ei nem schlammbraunen, stämmigen Pferd gezogen wurde. Auf dem Kutschbock hockte eine bucklige Gestalt, deren Gesicht vom hochgestellten Kragen eines dunkelbraunen Kutschermantels verdeckt und von einem Dreimalhoch fast derselben Farbe beschattet wurde. Dahinter im Wagen saß zurückgelehnt ein Fahrgast unklaren Geschlechts, dessen Kleidung von so vorzüglicher Qualität war, dass Rosamund selbst aus seinem Versteck ihren tadellosen Schnitt erken nen konnte. Die Kutsche kam näher, und der elegante Fahrgast rief mit der glockenhellen Stimme einer Frau: 140
»Na schön, dann halten Sie eben hier an, wenn es unbe dingt sein muss! Sie wissen, dass ich Verpflichtungen habe und mich nicht um jede verdächtige Kleinigkeit kümmern kann. Aber halten Sie meinetwegen an, wenn Sie nur end lich Ruhe geben!« Und so kam die Kutsche kurz vor dem Bocksdornbusch zum Stehen. Rosamund erstarrte. Eine Weile war es still, dann rief die Frauenstimme wie der laut und deutlich: »Nun machen Sie schon, ich warte!« Der Kutscher stieg gehorsam ab und begann, den Kopf von einer Seite auf die andere zu drehen, als suche er et was. Dabei wandte er Rosamund das Gesicht zu – vielmehr das, was ein Gesicht hätte sein sollen. Denn stattdessen er blickte Rosamund einen rechteckigen Holzkasten, der mit dicken Lederriemen am Kopf festgeschnallt war und auf der Vorderseite mehrere runde kleine Löcher und am unte ren Ende der beiden Seiten wände zwei größere Öffnungen hatte. Ein Sthenicon! Rosamund erschrak. Der Kutscher war ein Leer! Rosamund wusste, dass man einem Leer nicht entgehen konnte: Mit Hilfe des Sthenicons rochen sie jedes Lebewesen, ob groß oder klein, im Umkreis von ei ner Meile und mehr. Außerdem wurde ihnen nachgesagt, dass sie Dinge sehen konnten, die Normalmenschen nicht sahen, dass sie Geheimnissen auf die Spur kommen und verborgene Orte auskundschaften konnten. Der Kutscher mit dem Kastengesicht trat an den Bocksdornbusch, beugte sich vor und spähte hinein. In dieser Haltung verharrte er. Rosamund hielt die Luft an und blieb, alle Nerven und Fa sern seines Körpers zum Zerreißen gespannt, reglos liegen. 141
Wenn er doch nur seinen Stock noch hätte! Zu dumm, dass die Schrecksalze verdorben waren! Nach einer Weile kehrte der Kutscher mit dem Kasten gesicht zu dem Landaulet zurück. Allem Anschein nach sprach er mit der eleganten Frau, denn sie lehnte sich vor, und von Zeit zu Zeit nickten beide Köpfe energisch. Dann schienen sie einen Entschluss gefasst zu haben. Die Frau stieg aus der Kutsche, strich ihre feine Garderobe glatt und schritt zielstrebig zu der Stelle vor dem Bocksbusch, wo eben noch der Kutscher gestanden hatte. Sie trug den prächtigsten und ungewöhnlichsten Gehrock – dunkelrot, mit Knöpfen und Schnallen an der Seite – und die glän zendsten schwarzen Kavalleriestiefel, die Rosamund je ge sehen hatte. Ihre weit ausgestellten Rockschöße fielen tief herab und raschelten beim Gehen. Vor dem Busch blieb sie stehen und spähte hinein. »Da drin, sagen Sie?«, fragte sie über die Schulter. Ihr kasta nienbraunes Haar war zu einem Knoten hochgesteckt und wurde von einem spitz zulaufenden Kamm zusammen gehalten, in dem eine lange Haarnadel steckte, die in einer gekrümmten Krähenklaue endete. Ein paar lange, lose Haarsträhnen zitterten beim kleinsten Windhauch. Ein finsterer Blick. Ein Seufzer. Sie beugte sich vor. »Bist du da drin, Kleiner?«, rief sie sanft. Rosamund wusste nicht, was er tun sollte. »Wir haben ganz bestimmt nicht die Absicht, dir etwas zuleide zu tun, du kannst also mit dem Versteckspiel auf hören und herauskommen.« 142
Vielleicht sagte sie die Wahrheit. Vielleicht hatte sie Wasser. Rosamund wollte gerade antworten, da wurde er von hinten am Bein gepackt. Unwillkürlich schrie er auf und schlug mit dem freien Bein aus. Dann wurde er auch an die sem gepackt, aus seinem Versteck hinaus in den blendend hellen Morgen gezerrt, und ehe er sich versah, baumelte er im festen Griff des Kutschers mit dem Kopf nach unten in der Luft, mitsamt seinem Koffer und allem. Er quiekte wie ein Ferkel und wehrte sich nach Kräften, aber alles Sichdre hen und Sichwinden änderte nichts an seiner Lage. »Lassen Sie mich runter, Sie Dummkopf!«, stieß er ent rüstet hervor, wobei er sich des schlimmsten Schimpfworts bediente, das er kannte. Der Kutscher mit dem Kastengesicht überhörte die Be leidigung, trug ihn um das Gebüsch herum zur Straße und hielt ihn dort auf so ziemlich dieselbe Weise fest, wie man einen frisch gefangenen, zappelnden Fisch festhält. Rosa mund hörte nicht auf, sich zu winden und zu drehen. Die elegante Frau näherte sich ihm, wie man sich einer in die Enge getriebenen Schlange nähern würde. »Na, na«, beschwichtigte sie, »lassen Sie ihn runter, Li curius. Wir haben ihm doch versprochen, dass wir ihm nichts zuleide tun, also wollen wir uns auch daran halten, nicht wahr?« Sowie Rosamund spürte, dass seine Füße wieder frei wa ren, strampelte er kurz und heftig, um sicherzustellen, dass sie es auch blieben, rollte sich zur Seite und war mit einem Satz auf den Beinen. In der Hoffnung, davonflitzen und entkommen zu können, blickte er nach rechts und links. Die Frau sah ihn eine Weile forschend an, und unter ihrem 143
durchdringenden Blick wurde er ruhiger. Er war alt genug, um zu erkennen, dass sie sehr schön war, aber auch etwas Strenges und Finsteres an sich hatte. Dann bemerkte er ein kleines blaues Zeichen über ihrem linken Auge, einen rau tenförmigen Spur. Sie war ein Lahzar, einer von diesen sa genumwobenen Monsterjägern, die einen entlegenen Ort aufsuchten, um dort an ihrem Körper Operationen vorneh men zu lassen, die sie befähigten, seltsame und schreckli che Dinge zu tun und gegen Monster zu kämpfen. An dem Spur, den die elegante Frau trug, erkannte er sofort, dass sie die besondere Fähigkeit hatte, Elektrizität zu erzeugen und Blitze zu lenken. Sie war demnach eine Fulgar. Die Fulgar lächelte. Der Duft, der von ihr zu Rosamund herüberwehte, roch merkwürdig süßlich, aber auch salzig und herb. »Guten Tag, kleiner Mann«, begrüßte sie ihn in einem Ton, der wahrscheinlich ihr freundlichster war. »Ich heiße Europa. Und das ist mein Faktotum«, sagte sie und deutete auf den Kutscher mit dem Kastengesicht. »Sein Name ist Licurius. Und wie heißt du?« Rosamund antwortete nicht. Europa schürzte die Lippen und warf Licurius seufzend einen Blick zu. »Wie ich schon sagte, wir haben nicht die Absicht, dir etwas zuleide zu tun, kleiner Mann. Ehrlich gesagt, ist unser Interesse an dir so gering, dass ich mich vielleicht dazu bequemen könnte, dir zu helfen, aber bei Weitem nicht groß genug, um dir etwas anzutun.« Sie ließ ein freudloses Kichern vernehmen und wurde sogleich wieder ernst. »Weißt du, ich glaube nämlich, dass man ein besonderes Interesse an jemandem haben muss, um sich 144
die Mühe zu machen, ihm Schaden zuzufügen. Also sag mir jetzt, wie du heißt, und dann würde ich gern noch er fahren, was so ein Knirps wie du hier im Hinterland ohne Hut macht?« Sie lächelte auf eine vielsagende Weise, die entweder Feindseligkeit oder Freundlichkeit verhieß, je nachdem, was als Nächstes geschah. Hastig erwog Rosamund seine Möglichkeiten. Schließ lich gab er nach und sagte: »Ich heiße Rosamund Buch kind, und meinen Hut habe ich im Fluss verloren.« »Ich habe dir eine Chance gegeben, Junge!«, rief Europa in jäher Wut, die sie jedoch gleich wieder zügelte. »Aber wenn du sie mit solchem Unfug vertun willst, bitte, dann trennen sich unsere Wege wieder!« Sie machte auf dem Absatz kehrt und wandte sich mit wirbelnden Rockschößen zum Gehen. »Ich bin auf der Fahrt nach High Vesting von einem Boot gesprungen und ans Ufer geschwommen!«, schrie er vor Angst, ohne einmal Luft zu holen. Und beinahe ebenso hastig setzte er hinzu: »Und ich heiße wirklich Rosamund, und ich weiß, dass das ein unpassender Name für einen Jun gen ist, aber als ich ihn bekam, war ich noch zu jung, um mich dagegen zu wehren, und jetzt steht er in dem großen Buch, und es lässt sich nicht mehr rückgängig machen …« Europa stand schweigend da, legte den Kopf auf die Sei te und schnitt eine Grimasse. »Ich bin ein Buchkind … ein Findling … und eigentlich sollte ich jetzt in High Vesting sein und meine neue Stelle antreten, aber wie es scheint, habe ich mich verirrt, und ich habe kein Wasser zum Trinken und … und …« Rosamund zitterte und war nahe daran, die Fassung zu verlieren und 145
in Tränen auszubrechen. Obendrein hatte er mehr von sich preisgegeben, als er beabsichtigt hatte. Fransitart, sein alter Schlafsaalaufseher, würde mit Sicherheit bestürzt den Kopf schütteln, wenn er ihn jetzt sehen könnte. »Ich verstehe.« Die Fulgar überlegte einen Augenblick. »Für einen Findling bist du sehr gut angezogen, kleiner Mann. Du hast die Sachen doch nicht zufällig gestohlen?« »Nein, Madam!«, entgegnete Rosamund gleichermaßen verdutzt wie entrüstet. Die Fulgar zuckte mit den Achseln. »So oder so, viel leicht kann ich dir trotzdem helfen. Wenn du Wasser brauchst, in der Kutsche gibt es mehr als genug.« Sie machte eine wohlüberlegte Pause, dann grinste sie ver schmitzt. »Ich könnte sogar noch mehr tun und dich nach High Vesting kutschieren, wenn du magst, allerdings musst du mir dafür bei der Arbeit behilflich sein. Was meinen Sie, Licurius? Sollen wir diesem armen, verirrten, gut ge kleideten Buchkind helfen? Man weiß ja nie. So schlecht, wie Sie sehen, könnte uns ein zusätzliches Augenpaar un terwegs durchaus von Nutzen sein.« Licurius nickte nur einmal kurz. »Also abgemacht!« Europa grinste noch immer verhal ten triumphierend. Und so stiegen alle drei in das Landaulet, wobei Licurius seiner Chefin die Hand reichte, und setzten die Fahrt auf dem Vestiweg fort. Rosamunds Herz jauchzte vor Freude, während er seinen Durst löschte und die ebenen Felder vorbeizogen. Mochten die anderen doch sagen, was sie wollten, für ihn waren Lahzare die großartigsten Leute, denen er jemals begegnet war. 146
TRAUER AN DER
BRINDELWALDBRÜCKE
Blitzstab, der: zwei bis drei Meter langer Rohrstock oder Holzstab, der in seiner ganzen Länge mit Kupferdraht umwickelt und mit einer Kappe aus Kupfer, Messing oder Eisenfulgurit versehen ist; der längere der beiden heißt Fulgaris, der kürzere heißt Funkenstab. Der Blitzstab verhilft dem Fulgar zu einer größeren Reichweite und gibt ihm dadurch die Möglichkeit, tödliche Stromstöße auszuteilen und dabei selbst außer Reichweite zu bleiben.
D
ie Fahrt im Landaulet war äußerst komfortabel: Die Sitze waren weich und bequem und die Polster und Lehnen alle mit einem dicken, glänzenden Leder bezogen, das beinahe so prächtig scharlachrot war wie Europas ausge fallener Gehrock. Und es gab in der Tat so viel sauberes Wasser, wie sich Rosamund nur wünschen konnte, abgefüllt in schwarz lackierte Korbflaschen, die an der Hinterseite der Kutsche hingen. Außerdem führte Europa mehrere Flaschen Rotwein mit sich, Wein der billigeren Sorte, wie sie ihn wis sen ließ, vermischt mit Apfelbrei – »und nichts für kleine Jungen!« Alles in allem, so fand er, war es eine annehmliche Art, den Rest des Wegs nach High Vesting zurückzulegen. 147
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Doch sie waren noch nicht allzu lange gefahren, als sie über eine kleine Holzbrücke rumpelten, unter der ein mun terer Bach plätscherte. Er führte genug Wasser, um jeden Durst zu löschen, und lag nur eine kurze Wegstrecke hinter dem Bocksdornbusch, sodass Rosamund ihn bestimmt ge funden hätte, bevor er verschmachtet wäre. Das stimmte ihn nachdenklich. Wäre er weitermarschiert, hätte er sich wahrscheinlich aus eigener Kraft helfen können. Wie selt sam waren doch die Launen des Schicksals. Europa plauderte fröhlich drauflos. Zunächst sprach sie übers Wetter, dann über den eigentümlichen Modege schmack der Frauen in Considine, der zweiten kaiserlichen Hauptstadt im tiefen Süden. Sie schwatzte und schwatzte über vieles andere mehr, meist aber erzählte sie von sich selbst: von ihren großen Siegen über furchterregende Ni cker und ihren noch größeren Siegen über gewisse »wohl habende Trottel«, wie sie sich ausdrückte – wen immer sie damit meinen mochte. Rosamund hatte Mühe, ihren Wor ten zu folgen, nickte aber so höflich und aufmerksam, wie er nur konnte. Während sie erzählte, bot sie ihm, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, kostbare Speisen an, die er nur aus den Schaufenstern der besten Boschen berger Feinkostläden kannte. Es gab Häppchen mit ver schiedenen Arten von Nüssen und in Streifen geschnitte nes, mit kostbaren Gewürzen verfeinertes Räucherfleisch so seltener Sorten wie Gazelle, Steinbock und Sattelrobbe, außerdem Tüten mit getrockneten Pfirsichen und anderem Dörrobst, darunter auch merkwürdige gelbe Fruchtecken, die sie »Ananas« nannte und die so herrlich süß schmeck ten, dass er gar nicht genug davon bekommen konnte. Und 149
schließlich einen größeren Vorrat an verschrumpelten klei nen Dingern. »Was ist das?«, fragte er. »Das! Ach, das sind Heidelbeeren«, antwortete sie leichthin, aber Rosamund machte große Augen. Wie konn te ein einzelner Mensch nur so reich sein! Die Heidelbeere war die Königin unter den Wegspeisen: Eine kleine ge trocknete Beere lieferte einem erwachsenen Mann, auch wenn sie seinen Hunger nicht stillen konnte, Energie für nahezu einen ganzen Tag. Die Beeren wuchsen in sehr ent legenen, monsterverseuchten Gegenden, und ihr Anbau und der Handel mit ihnen wurden streng überwacht. Dies alles machte sie so unvorstellbar teuer, dass der Vorrat, den das luxuriöse Landaulet barg, ein kleines Vermögen wert war. »Darf ich eine probieren?«, fragte er schüchtern. Europa sah ihn verdutzt an. »Aber gewiss doch. Zum Essen sind sie ja da. Aber nicht zu viele, sonst schnappst du über und rennst kichernd die Straße entlang.« Er nahm nur eine und betrachtete sie neugierig. Es war eine vertrocknete Beere, nicht größer als der Nagel seines kleinen Fingers und von der Farbe einer verdorbenen Pflaume. Alles andere als beeindruckend. Er steckte sie in den Mund. Sie schmeckte fad und enttäuschend langweilig, doch kaum hatte er sie geschluckt, verspürte er ein Prickeln im Bauch, und eine wohltuende, belebende Wärme stieg ihm in den Kopf. Er zwinkerte fröhlich und grinste. Er än derte seine Meinung. Jetzt fand er, dass er noch nie etwas so Gutes gegessen hatte. Der Energieschub und das auf steigende Wohlbehagen machten ihn zappelig. Unruhig rutschte er auf seinem Sitz herum. 150
Europa beobachtete ihn belustigt. »Hat eine wunderbare Wirkung, nicht wahr?« »Ja, Madam! Ich glaube, ich könnte den ganzen Weg bis High Vesting rennen und wieder zurück!«, schwärmte er. »Na, na …« Ihr Gesicht nahm einen leicht spöttischen Ausdruck an. »Wir wollen nicht gleich übertreiben.« Ihre Bemerkung versetzte ihm einen Dämpfer, aber die Heidelbeere hatte seine Stimmung derart gehoben, dass er sich deswegen nicht lange grämte. Seine guten Manieren vergessend, begann er, das Innere der Kutsche zu erkunden und an den Polstern herumzufummeln. Auf dem Sitz neben ihm stand ein unscheinbarer Kasten, genauer gesagt, eine Kiste, ziemlich breit, länglich, niedrig und glänzend schwarz lackiert. Er klopfte auf ihre glatte Oberfläche, zog die Hand aber rasch zurück, weil er plötzlich ein mulmiges Gefühl bekam. »Da ist nichts drin, du Naseweis«, raunzte Europa ihn an. Sie nahm die Kiste weg und stellte sie zwischen sich und die Seitenwand des Landaulets. »Hat man dir in deinem Buchhaus nicht beigebracht, dass neugierige Augen in ih ren Höhlen verfaulen und neugierige Finger bis auf die Knochen verdorren?« Darauf verfiel sie in Schweigen und schenkte Rosamund keinerlei Beachtung mehr. Sie wurde immer missmutiger und betrachtete, den Kopf auf die Hände und die Ellbogen auf die Knie gestützt, die eintönige Landschaft und die Windmühlen in der Ferne. »Ich hasse dieses Land …«, murmelte sie, und dann sagte sie ziemlich lange gar nichts mehr. 151
Rosamund wusste nicht, was er tun sollte, und saß ver wirrt da. Schließlich bot er Europa in der Hoffnung, dies könnte sie aufheitern, eine ihrer eigenen Heidelbeeren an, doch sie sah ihn nur verdutzt an, runzelte missbilligend die Stirn und verfiel wieder in ihr teilnahmsloses Brüten. Mit einem Mal kam Rosamund schmerzlich zu Bewusstsein, wie fremd ihm diese Umgebung und die beiden Menschen waren, in deren Kutsche er saß. Er rührte sich nicht mehr und wurde sehr, sehr still. Später begann es zu regnen, und Europas Laune wurde schlagartig wieder besser. »Das lasse ich mir schon eher gefallen«, grinste sie, setzte sich aufrechter hin und rief Licurius zu: »He, Kastengesicht, Kampfwetter! Davon können wir gar nicht genug kriegen!« Wieder hatte Rosamund keine Ahnung, wovon sie sprach. Licurius schenkte ihr ebenso wenig Beachtung wie dem Regen – und, wie es schien, auch den meisten anderen Dingen. Europa klappte das breite, haubenartige Verdeck zu, so dass sie und das noble Innere der Kutsche trocken blieben, während Licurius, der vorn auf dem Bock saß und unbeirrt das Landaulet lenkte, pitschnass wurde. Das stimmte Ro samund traurig und nachdenklich, denn es erinnerte ihn daran, wie die gute Verline bisweilen von Madam Opera schikaniert und gepiesackt worden war. Er konnte einfach nicht verstehen, wieso manche Menschen alles hatten, was sie brauchten, und obendrein bestimmen konnten, was an dere bekamen und was nicht. Obwohl Europas Laune wieder besser war, fuhren sie den Rest des Tages schweigend durch den Regen, und Ro 152
samund nutzte die Gelegenheit, in seinem bereits ziemlich abgegriffenen Almanach zu lesen. Über die Gegend, durch die sie reisten, stand sehr wenig darin, nur dass sie »der Rauschen« hieß, als sehr fruchtbar galt und für ihren Kopf salat und ihre Erdbeeren berühmt war, wenngleich er bis lang weder vom einen noch vom anderen viel gesehen hat te. Als sie am frühen Abend anhielten, um das Nachtlager aufzuschlagen, regnete es noch immer in Strömen. Doch an vereinzelten Stellen riss die Wolkendecke auf, und hohe Kumulussäulen erglühten im herrlich orange-goldenen Licht der untergehenden Sonne. In dem merkwürdig gelb lichen Dämmerschein versorgte Licurius das Pferd, legte ihm Fußfesseln an und befestigte einen Futtersack an sei nem Zaumzeug. Dann stellte er kleine Kegel mit Abwehr mitteln im Kreis um ihr behelfsmäßiges Lager auf und kratzte mit einem Stock in regelmäßigen Abständen zwi schen den Kegeln rätselhafte Zeichen in den Boden. Schließlich entzündete er mit Brennholz, das sie in der Kutschte mitführten, ein bescheidenes Lagerfeuer, und als es fröhlich flackerte, stellte er einen kleinen Kessel auf die Flammen. Endlich, nach getaner Arbeit, bereitete er sich unter dem Landaulet ein Lager. Europa streckte den Kopf unter dem Verdeck hervor, auf das unermüdlich der Regen trommelte, und rief mit ge dämpfter Stimme: »Licurius, ich denke, in etwa zwanzig Minuten möchte ich den Trank. Achten Sie darauf, dass er gut verrührt ist und die richtige Temperatur hat.« Mit einem missbilligenden Blick auf Rosamund ergriff sie die unscheinbare Kiste, die am Nachmittag für Ver stimmung gesorgt hatte, und reichte sie Licurius mit beina 153
he verschwörerischer Geste. Dann zündete sie eine Öllam pe an, indem sie mit einem Feuerstein geschickt auf einen Feuerstahl schlug, öffnete eine Schublade unter ihrem Sitz und entnahm ihr ein großes Buch mit Leineneinband. Sie zückte einen Stift und begann, in das Buch zu kritzeln, wo bei sie abwechselnd summte oder mit der Zunge schnalzte. Nach einer Weile schaute sie unvermittelt auf und fragte Rosamund mit ausdrucksloser Stimme: »Weißt du eigent lich, was ich bin, mein Junge?« Sie wackelte mit dem Stift vor ihrem linken Auge und deutete auf die kleine blaue Raute, den Fulgar-Spur, über der Braue. »Und was das da bedeutet?« Rosamund wusste nicht, was er antworten sollte. »Ich … äh …« Plötzlich war es ihm peinlich, über ihren Beruf zu sprechen, als handele sich um eine Privatangelegenheit oder gar etwas Unanständiges. Schließlich nickte er. Ihr erwartungsvoller Blick war noch schwerer zu ertragen als der Madam Operas. »Nun, was bedeutet es?«, bohrte sie weiter. Rosamund errötete und wünschte sich tausend Meilen weit weg. »Dass Sie eine Lahzar sind«, nuschelte er. »Eine was?« Rosamund wollte schon die Augen verdrehen, besann sich aber eines Besseren. »Eine Fulgar – eine Monsterjäge rin. Sie erzeugen Funken und Blitze.« Europa gluckste, dann lehnte sie sich zurück und schob herablassend das Kinn vor. »Ich persönlich bevorzuge die Bezeichnung Teratologe oder, wenn man sich unbedingt volkstümlich ausdrücken möchte, Pugnator. Aber ja, mein Junge, du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Du hast 154
bestimmt schon von meinesgleichen gehört – was für un heimliche, gruslige Leute wir sind und dass ihr Normal menschen ohne uns nicht leben könnt, habe ich recht? Nun ja, das alles ist wahr, und schlimmer noch: Mein Leben ist die Gewalt. Würde dir ein gewalttätiges Leben gefallen, kleiner Mann?« Rosamund schüttelte zaghaft den Kopf. »Dann vielleicht ein abenteuerliches Leben? Hast du das im Sinn? Möchtest du in High Vesting ein abenteuerliches Leben beginnen?« Rosamund überlegte einen Augenblick, senkte den Kopf unter dem klaren Blick ihrer haselnussbraunen Augen und zuckte schließlich mit den Schultern. »Hm!« Europa schürzte die Lippen. »Mich würde Fol gendes interessieren: Wo hört das Abenteuer auf, und wo fängt die Gewalt an? Gib mir darauf eine Antwort, dann sind wir beide klüger.« Fransitart hatte doch recht gehabt: Lahzars waren son derbare und unangenehme Leute. Rosamund bereute es, dass er Europas Hilfe angenommen hatte. Zum wiederhol ten Male wusste er nicht genau, wovon sie eigentlich sprach, und noch weniger wusste er, was er antworten soll te. In diesem Augenblick trat Licurius zu ihnen, in der Hand einen Zinnteller, gefüllt mit einer blubbernden Flüs sigkeit, die wie dampfendes schwarzes Öl aussah und übel roch. Rosamund verspürte einen Brechreiz, aber Europa legte ihr Buch weg, nahm den Teller dankbar entgegen und trank seinen abscheulichen Inhalt auf eine Art und Weise, die Madam Opera als »sehr unfein« missbilligt hätte. Ro 155
samund schüttelte sich vor Ekel, als die Fulgar den Teller bis auf den letzten Tropfen leerte und dann einen wohligen Seufzer von sich gab. »Das tut gut«, sagte sie lächelnd, wobei sie schwarz ver klebte Zähne entblößte. Sie gab den Teller dem wie stets geduldig wartenden Licurius zurück. Dann zog sie den Kamm und die Nadel mit der Krähenklaue aus ihrem Haar, sodass ihre kastanienbraunen Locken seidig herabwallten, löschte die Lampe, wickelte sich in eine Decke und schlief ohne ein weiteres Wort ein. In diesem Augenblick stieg Rosamund ein anderer Ge stank in die Nase: Der Leer hatte die Kegel mit dem Ab wehrmittel entzündet, deren Rauch nun über das Lager wehte. Rosamund hatte so etwas noch nie gerochen und fühlte sich elend. In seinem Kopf begann es zu hämmern, und am liebsten wäre er davongelaufen. Sein Unbehagen war ihm wohl anzusehen, denn er hatte das deutliche Ge fühl, dass Licurius ihn hinter diesem ausdruckslosen Kas tengesicht beobachtete. Um ihn glauben zu machen, dass alles in Ordnung sei, wickelte er sich den Schal um die Na se und den Hals, als wolle er sich vor der Kälte schützen und nicht vor dem Gestank. Dennoch hielt der Leer inne und lehnte sich herüber. Rosamund meinte, ein Schnuppern zu hören, ein leises, aber deutliches Schnüffeln. Dann, zum ersten Mal seit ihrem Zusammentreffen, hör te er den Leer sprechen. »Fühlst du dich nicht wohl, Jun ge?« Seine Stimme klang wie ein pfeifendes, zischendes Flüstern und seltsam ungedämpft, obwohl ihn das Stheni con doch behindern musste. »Du siehst aus, als sei dir 156
schlecht geworden. Fühlst du dich wirklich wohl? Oder magst du den Geruch unserer Mixturen nicht?« Rosamund duckte sich hinter seinen Schal, denn das blicklose Starren dieses Mannes war ihm noch unheimli cher als das wunderliche Verhalten der Frau. Er wusste nicht, ob er nicken oder den Kopf schütteln sollte, und so drehte er ihn energisch im Kreis. »Ich finde«, fuhr der Leer fort, »dass du komisch riechst. Weißt du das?« Er gab ein pfeifendes Geräusch von sich. »Ja, ich finde, du riechst komisch …« Er rückte noch nä her. »Antworte, Junge, oder fehlt es dir an Mannesmut, bei dem hübschen Namen?« Im ersten Moment sprachlos und völlig verwirrt, blinzel te Rosamund mehrmals. Was war denn so schlimm daran, wenn er komisch roch? »Sie … Sie haben wahrscheinlich recht, Sir«, begann er. »Ich habe seit einer Woche nicht mehr gebadet. Und durch das Flusswasser ist es wohl noch schlimmer geworden.« »Sssss! Ich kenne den Geruch des Flusses, du Schwind ler«, erwiderte Licurius, vor unerklärlicher Wut zitternd. »Und den Geruch ungewaschener Körper. Du riechst an ders! Du riechst falsch «Wieder war ein Schnüffeln zu ver nehmen. »Ich …« Warum ließ ihn der Kerl nicht endlich in Ru he? Wen interessierte es, wie er roch? Zum ersten Mal, seit er das Findelhaus verlassen hatte, dachte er an das Messer, das Fransitart ihm geschenkt hatte. Es steckte noch in der Scheide an seinem Gelenk, und er fragte sich, ob er ge zwungen sein könnte, es herauszuziehen und sich damit zu verteidigen. Was für eine seltsame und schreckliche Vor 157
stellung – Stöcke waren eine Sache, aber Messer und sons tige Werkzeuge zum Schneiden und Schlitzen eine ganz andere. »Master Fransitart sagt, dass Menschen aus ver schiedenen Städten unterschiedliche Sachen essen und des halb für andere komisch riechen.« »Natürlich.« Der Leer strich sich mit einer Hand, die in einem schwarzen Samthandschuh steckte, über den Hals. Er klang alles andere als überzeugt. Europa regte sich im Schlaf, dann drehte sie sich auf die Seite und sagte mit sanfter Stimme: »Lassen Sie ihn in Frieden, Licurius. Jeder hat seine Geheimnisse. Vielleicht sollte er Sie, oh großer Leer, mal fragen, wie das damals mit dem frestonischen Mädchen war …« Mit einem merkwürdigen Glucksen ließ Licurius von ihm ab und trat zurück. Rosamund atmete auf. Wenig spä ter löschte der Leer das Feuer, kroch zu seiner Schlafstelle unter dem Landaulet und belästigte ihn nicht mehr. Den noch lag Rosamund noch lange wach und starrte bis weit in die frühen Morgenstunden in die Dunkelheit. In den beiden vorausgegangenen Nächten, im Heuhaufen und im Bocks dornbusch, hatte er sich sicherer gefühlt. Seine Stimmung wurde auch nicht besser, als die Wolken sich nach Osten verzogen und Phöbius herauskam. Am nächsten Tag schenkte ihm der Leer nicht mehr Beach tung als in der ganzen Zeit zuvor, wenn man einmal von dem befremdenden Zwischenfall vor dem Schlafengehen absah. Nachdem für Europa eine weitere Gabe des schwar zen Lebenssafts gebraut worden war und der Findling ei nen kurzen, erholsamen Spaziergang unternommen hatte, 158
setzten sie bei Nebel und kühler Witterung die Fahrt fort. Im Lauf des Vormittags lichtete sich der Nebel, und die Landschaft bekam ein anderes Gesicht. Die Felder wurden kleiner und seltener, das Gelände felsiger, und die Straße führte immer steiler bergan, bis sie auf eine steinige Hoch ebene gelangten, auf die ein bewaldetes Tal mit immergrü nen Rotbuchen und stattlichen Kiefern folgte. Dort hinab schlängelte sich der Vestiweg. Der Regen hatte breite Fur chen in die Straße gewaschen und sie so tückisch gemacht, dass Licurius vorsichtshalber vom Kutschbock kletterte und das Pferd am Zügel führte. Europa runzelte über den schlechten Zustand des Vesti wegs die Stirn. »Wird die Straße zum Morast, du bald nur einen Schuh noch hast.« Sie seufzte, trank einen Schluck Rotwein und lutschte – ausgerechnet – an einem Stück Steinsalz. Während sie das Glas leerte, warf sie einen Sei tenblick auf ihren jungen Mitreisenden, dann lehnte sie sich plötzlich zu ihm hinüber und ergriff seine kleinen Hände. Rosamund zuckte zusammen und rutschte von ihr weg. Er wusste nicht, was er zu erwarten hatte. Gedankenverlo ren strich sie über seine Finger, und obwohl ihre Berührung so sanft war wie die Verlines, war er sich sehr wohl be wusst, dass sie ihm leicht einen elektrischen Schlag verset zen oder noch Schlimmeres antun konnte. Sie lächelte. »Ich entschuldige mich für das Benehmen meines Faktotums gestern Abend«, sagte sie ruhig. »Er ist ein neugieriger Geselle, und meistens kommt mir das zugu te. Leider macht ihn das auch … nervös, könnte man sa gen. Beachte ihn einfach nicht – im Grunde ist er harmlos.« 159
Rosamund konnte verstehen, dass sich eine selbstbe wusste und mächtige Fulgar wie Europa von Licurius nicht bedroht fühlte. Aber für einen Jungen wie ihn war der Leer alles andere als harmlos. »Sehr bald wird es Arbeit für mich geben.« Mit einem Klaps ließ Europa seine Hände los und lehnte sich zurück. »Und du wirst es vielleicht mit der Angst zu tun bekom men, aber keine Bange, ich bin schon recht lange in dem Gewerbe.« Sie hielt inne, blickte zum Himmel und tippte sich mit einem ihrer langen, eleganten Finger an die Lip pen. »Hm, vielleicht schon zu lange. Na, wie auch immer, du kannst jedenfalls ganz beruhigt sein. Dir wird nichts geschehen.« Rosamund schaute sich um. »Gibt es hier etwa Mons ter?«, flüsterte er. Sie lachte – ein helles, kristallklares Kichern –, und im selben Moment tauchte das Landaulet in das Halbdunkel unter den alten Bäumen ein. »Du liebe Zeit, Monster gibt es überall!« »Wirklich? Überall?« Rosamund setzte sich auf. Europa nickte ernst. »Ich fürchte, ja. Überall, auch wenn die Stadtmenschen das nicht wissen. Hier draußen schlei chen überall Nicker und Bogeis herum. Aber wohlgemerkt: keine Angst, Europa ist ja da!« Sie schloss mit einer schwungvollen Gebärde und grinste. Rosamund blinzelte. Obwohl es noch nicht einmal Mittag war, wurde das Licht immer schummriger, je tiefer die Straße in den Wald hineinführte – eine dunkelgrüne Dämmerung, erfüllt von erwartungsvoller Stille und leisem Rauschen. Bemooste 160
Wurzeln mächtiger alter Bäume krümmten sich knorrig über den Boden und zwangen die laubbedeckte Straße zu vielen Windungen. Es gab wenig Unterholz, nur vereinzel te Kolonien von Pilzen – Pilze mit hohen dünnen Stielen und Hut, ausladende Schirmlinge, kleine Rotmoderlinge, die, wie selbst Rosamund wusste, nicht nur gute Speisepil ze waren, sondern auch für bestimmte Heiltränke verwen det wurden, und rundliche Boviste, die kurz vor dem Auf platzen waren. Sonst wuchs überall nur Farn, selbst auf den Bäumen, und hier und dort kämpften kümmerliche Myrten sträucher ums Überleben. Rosamund war noch nie in einem solchen Wald gewesen und fand ihn herrlich, wilder und schöner als die eleganten, gepflegten Parks in Boschenberg. Und doch fühlte er sich beobachtet und hatte das ungute Gefühl, hier nicht will kommen zu sein. Dieser Wald war voller Grusel: ein Ort, wie Monster ihn liebten. Dies verdarb seine Schönheit und drückte aufs Gemüt des Besuchers. Rosamund erschauerte und zog seinen Almanach zu Rate. In dem trüben Licht musste er beim Lesen die Augen zusammenkneifen. Laut Karte hieß der Wald Brindelwald oder so ähnlich. »Was liest du denn da?«, fragte Europa ein wenig zu laut, während sie ihr Haar wieder zu einem Knoten hoch steckte wie am Vortag. »Ich wollte nur nachsehen, wo wir sind«, antwortete Ro samund. Die Fulgar kicherte. »Das hätte du auch von mir erfah ren können. Das …« Sie machte eine weit ausholende Handbewegung. »… ist der Grintwald … oder Brindelforst, wie die Einheimischen sagen. Wir befinden uns hier am 161
äußersten Nordrand der Kleinen Hügel, an der Westspitze von Schmollenend und seit kurzem auch auf dem Hoheits gebiet von High Vesting.« Sie deutete beiläufig mit ihrer Krähenfuß-Haarnadel auf das Buch, ehe sie den Kamm und den Knoten damit aufspießte. »Ich glaube, du wirst feststel len, dass ich recht habe.« Der Almanach bestätigte ihre Auskunft. Rosamund war beeindruckt. Mit gelangweiltem Blick seufzte sie. »Ich war schon mal hier. Lausige Gegend.« Kurze Zeit später brachte Licurius das Landaulet in einer Biegung zum Stehen. Die Straße wurde hier noch abschüs siger und führte über mehrere Bodenfalten, ehe sie weiter unten hinter der Hügelflanke verschwand. Er stieg ab und ging zur Hinterseite der Kutsche. Rosamund vernahm ein Rumpeln und Scharren. Gleich darauf erschien das Fakto tum auf Europas Seite, in der Hand einen etwa dreieinhalb Meter langen Stab, dick wie ein Männerdaumen und fest mit Kupferdraht umwickelt. Es war ein Blitzstab. Rosa mund hatte schon davon gehört und gelesen, aber noch nie einen gesehen. Er betrachtete ihn mit unverhohlener Be wunderung. Sie bereitet sich auf einen Kampf vor. Rosamunds Herz begann vor Vorfreude zu pochen. Mit freundlichem Lächeln nahm Europa dem Leer den Blitzstab ab und legte ihn quer über beide Sitze, sodass ein Ende weit aus dem Landaulet hinausragte. Dann nahm sie etwas aus ihrer kostbaren schwarzen Kiste, schob es in den Mund und kaute langsam mit angewiderter Miene. Nach dem diese offenbar notwendigen Vorkehrungen getroffen 162
waren, stieg Licurius wieder auf und fuhr weiter. Die Stra ße schwang sich in einem weiten Rechtsbogen den steilen, mit Kiefernadeln bedeckten Abhang hinab. Von der Kut sche aus konnte Rosamund sehen, dass sie ein Stück weiter unten in eine Steinbrücke mündete, die sich über eine schmale Schlucht spannte. Europa hatte jetzt fertig gegessen und sah ihren jungen Mitreisenden ernst an. »Nun ist es bald so weit. Du musst mir versprechen, dass du hier im Landaulet bleibst, ganz gleich was geschieht. Versprichst du mir das?« Rosamund erbleichte und nickte. »Ja, Madam«, antwor tete er mit großen Augen. »Ich verlasse mich darauf.« Die Straße fiel vorübergehend steil ab, überquerte einen Bach und kroch dann zwischen Böschungen, auf denen krumme Kiefern wuchsen, eine kleine Erhebung hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter. Bald mündete sie in eine mit Baumstümpfen übersäte Lichtung und wur de breiter, ehe sie sich vor der Brücke, die sich sanft über die schmale Schlucht wölbte, wieder verengte. Als sie den Rand der Lichtung erreichten, meinte Rosamund ein Pol tern zu hören, gleichmäßige dumpfe Schläge, aber er war sich seiner Sache nicht sicher. Licurius hielt erneut an und stieg ab. Mit einer respekt vollen Verbeugung reichte er Europa seine behandschuhte Hand und half ihr beim Aussteigen. Die dumpfen Schläge waren nun ganz deutlich zu hören. Sie klangen wie schwe re Tritte und hallten zwischen den Bäumen wider, dass man meinen konnte, sie kämen aus allen Richtungen. Wäh rend Licurius für Europa den Blitzstab hielt, rückte sie ih 163
ren Gehrock zurecht, machte Schnallen und Knöpfe zu. Im nächsten Moment schien der ganze Wald unter einem ge waltigen Krachen zu erzittern. Rosamund fuhr in seinem Sitz hoch und sah sich er schrocken um. Licurius stürzte zum Pferd und hielt das er schrockene Tier am Zügel fest. Da! Direkt vor der Brücke kippte eine junge Kiefer um, zur Seite gedrückt von dem größten Geschöpf, das Rosamund jemals gesehen hatte. Es sah aus wie ein riesenhafter Mensch, größer als zehn erwachsene Männer, nur waren seine Beine zu kurz, seine Arme zu lang und sein Körper insgesamt zu dick, zu buck lig und zu kantig. Es war ein Ettin, eines der größten Landmonster. Der Ettin blickte kurz in die Runde, ehe er misstrauisch das Landaulet beäugte. »Ei, ei, wer kommt denn da so keck? Reisende sind’s, mit Gold im Gepäck!«, rief er mit dröhnender Stimme und überraschend manierlicher Aussprache, da er die Worte trotz seiner vorstehenden und spatenartigen schwarzen Zähne klar und deutlich formte. Er trat auf die Lichtung, und die geknickte Kiefer stürzte in die Schlucht. Europa zwinkerte Rosamund zu. »Wohlan, wohlan, so geh ich nun, um meine Arbeit flugs zu tun«, murmelte sie, dann drehte sie sich um und schritt direkt auf den Ettin zu, wobei sie den Blitzstab schulterte und mit der anderen Hand winkte, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. Rosamunds Augen folgten ihr gespannt: Sie hatte doch nicht etwa die Absicht, sich mit einem so furchterregenden Gegner anzulegen? Der Ettin trug aus Gründen der Sitt samkeit einen großen Kittel, der grob aus zahlreichen Lei nensäcken zusammengenäht war. Im linken Arm hielt er 164
ein großes Fass, das früher wahrscheinlich zum Weinlagern oder Bierbrauen gedient hatte. Der Ettin schwenkte es her ausfordernd und deutete in seine riesige Öffnung. »Ihr dürft passieren alsobald«, brummte er, »sowie das Brückengeld ihr habt bezahlt.« »Oho«, gluckste Europa dramatisch und ging weiter. »Ist das nicht der alte Trick? Normalmenschen Angst einjagen, um sie um ihre Habe zu erleichtern?« Der Ettin nickte einmal kurz. Rosamund hatte den Ein druck, dass er sehr stolz auf sich war. »Und obendrein unterhält er uns noch mit hübschen kleinen Reimen. Ist doch ein reizender Einfall, finden Sie nicht, Licurius?«, setzte Europa hinzu, blickte über die Schulter zu dem Leer und verdrehte dabei spöttisch die Augen. Licurius sagte wie immer nichts. Der Ettin strahlte förmlich vor Selbstzufriedenheit und entblößte noch mehr krumme Spatenzähne. Rosamund konnte sich nicht recht vorstellen, dass dieses Geschöpf gefährlich war. Ja, es kam ihm eher wie ein kindischer Witzbold denn wie ein furchterregendes Ungeheuer vor. »Und wie ist Ihr werter Name, Sir?« Europa stand jetzt keine drei Meter mehr von dem Riesen entfernt und stemmte energisch ihren Blitzstab auf die Erde. Nach kurzem Zögern formte der Ettin mit sichtlicher Anstrengung die Worte: »Ich bin der Missratene Kluge.« Er klopfte sich an die Brust. »Fein, Mister Kluge, und wissen Sie, wer ich bin?« Der Ettin schüttelte den Kopf. Europas Stimme wurde eisig. »Nein?« Sie zeigte ein kal 165
tes, freudloses Lächeln. »Nun ja, man kann nicht erwarten, dass jeder schon von mir gehört hat. Sei’s drum.« Rosamund war froh, dass sie ihm bei ihrer ersten Be gegnung nicht dieselbe Frage gestellt hatte. »Trotzdem gibt es da ein Problem«, fuhr sie fort. »Nor malmenschen wollen Ihren Brückenzoll nicht bezahlen, und ich persönlich finde auch nicht, dass sie es tun sollten. Was sagen Sie dazu?« Der Ettin machte ein langes Gesicht und blickte ehrlich verdutzt. Europa ließ nicht locker. »Nichts? Nun, dann mache ich Ihnen einen Vorschlag, und es wird mein einziger bleiben, obwohl ich weiß, dass er weder Ihr Verständnis noch Ihre Zustimmung finden wird …« Europa scharrte mit der Stiefelspitze im Boden und gab sich gleichgültig. »Was hat sie vor?«, fragte Rosamund flüsternd Licurius. »Will sie ihm sagen, dass er verschwinden soll?« Beunru higt stand er auf und brachte die Kutsche zum Schaukeln. Das Pferd wieherte. »Nicht bewegen, Lümmel!«, zischte Licurius. »Der Bur sche muss dran glauben. Das ist unsere Pflicht!« Die kurze Störung erregte die Aufmerksamkeit des Ettin. Er blickte verwirrt zu ihnen herüber. Darauf hatte Europa nur gewartet. Blitzschnell holte sie aus und rammte ihm mit aller Kraft den Blitzstab in den Bauch, dann wirbelte sie mit wehenden Rockschößen herum und stieß ihm den Stab noch einmal ins Hinterteil. Rosa mund sah keine hellen Blitze. Er vernahm nur ein lautes Zack! beim ersten und ein scharfes Zick! beim zweiten Stoß. 166
Der Ettin jaulte auf, wankte und ließ das Fass fallen. Es schlug auf dem Boden auf, und heraus purzelten Äpfel in verschiedenen Stadien der Fäulnis und eine Käserinde. Der Riese hatte in Wahrheit also gar nicht so viel von ihnen erwartet! Er fuchtelte wild mit den Armen und bekam, ob gewollt oder zufällig, Europa zu fassen. Dies war ein gro ßer Fehler – offensichtlich war er noch nie einer Fulgar begegnet. Er wollte Europa gerade mit seiner gewaltigen Faust zwischen die Bäume schleudern, da hielt er mit ei nem Ausdruck höchster Verwunderung und tiefen Entset zens inne. Als werde er von einer unsichtbaren Kraft dazu gezwungen, und ganz bestimmt gegen seinen Willen, beug te er den Arm. Diese unfreiwillige Bewegung brachte Eu ropa, die mit ausgestreckten Armen umhertastete, näher an seinen Kopf heran. Die ganze Zeit über konnte Rosamund die Frage Aber warum? in den Augen des Ettin lesen. »Nicht!«, schrie Rosamund, sprang aus dem Landaulet und lief um Licurius herum, der das scheuende Pferd halten musste. Jetzt hielt der Ettin Europa direkt vor seinem Gesicht. Blitzartig stieß sie mit dem Stab nach seiner Stirn, so wie eine Schlange nach einem entblößten Knöchel stößt, und versetzte ihm einen starken Stromstoß. Der Ettin konnte nicht einmal seinen Schmerz hinausbrüllen, als Rauch aus seinem Kopf zu quellen begann. Er wankte und machte einen Schritt rückwärts auf die Schlucht zu, dann noch ei nen und noch einen und noch einen. »Nicht … nicht …«, war alles, was Rosamund heraus brachte. Tränen liefen ihm über die Wangen. Er taumelte, 167
so hilflos wie der Ettin, unfähig, etwas zu tun und ein zugreifen. Dann sank er entsetzt auf die Knie. Es kam, wie es kommen musste. Der wankende Ettin hatte die Schlucht erreicht. Einen entsetzlichen Augenblick lang verharrte er am Rand des Abgrunds. Die Augen traten ihm vor Entsetzen fast aus den Höhlen, dann stürzte er kopfüber in die Tiefe. Im Fallen ließ er Europa los. Sie stieß sich von seiner Hand ab und schnellte zum Rand der Schlucht zurück, wo sie behände landete, bereit, den Kampf fortzusetzen. Seiner Stimme wieder mächtig, stieß der Missratene Kluge ein herzzerreißendes Heulen aus. Es war ein Schrei tiefsten Leids und größter Qual, von dem die ganze Schlucht widerhallte, bis er mit einem Mal erstarb. Rosamund kniete auf dem Boden und weinte. Durch den Schleier seiner Tränen sah er, dass Europa über ihm stand. Sie beugte sich zu ihm herab und streichel te kurz sein Haar, so wie es Verline immer getan hatte, wenn er krank oder traurig war. Dann sagte sie leise: »Du hast dein Wort gebrochen, kleiner Mann.« Im nächsten Augenblick sah er Funken sprühen und spürte einen stechenden Schmerz im Kopf. Sein Körper zuckte heftig. Dann spürte er lange Zeit nichts mehr.
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WACHSAMKEIT UND
STÄRKUNGSTRÄNKE
Sedorner: offizielle Bezeichnung für Monsterfreunde, häufig als Schimpf wort benutzt. Schon der Versuch, Monstern Wohlwollen und Verständnis entgegenzubringen, kann strafbar sein. Verschiedene Städte und Reiche verfahren mit Sedornern unterschiedlich streng, aber es ist nicht unge wöhnlich, dass diejenigen, die für schuldig befunden wurden, aufs Rad geflochten oder sogar gehenkt werden.
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as Bewusstsein wiederzuerlangen, wenn man ohn mächtig war, insbesondere wenn man lange ohn mächtig war, ist eine äußerst merkwürdige Erfahrung. Das Erste, was Rosamund bewusst wahrnahm, waren Geräu sche und ein heftiger Schmerz in seinem Kopf. Zwischen dem scharfen Pochen vernahm er ein Brausen, das durch sein Hirn wirbelte und anschwoll, bis er sich beinahe über die Ursache dieses Geräusches im Klaren war, und dann wieder abschwoll, bis nichts mehr zu hören war. Und wieder anschwoll. Und wieder abschwoll. 169
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Nach wer weiß wie langer Zeit begriff er, dass es das Seufzen des Windes in den Baumwipfeln war, zarte Vogel stimmen, die ein einsames Lied sangen, ein leises Kratzen dicht neben ihm. Gerüche kehrten zurück: Kiefernadeln, der Rauch eines Feuers und ein anderer Geruch, der unangenehm war. Dann kehrte der Tastsinn zurück, und er spürte, wie das Gewicht seines Körpers auf etwas Hartes und doch seltsam Elasti sches drückte. Er entdeckte, dass er eine Hand hatte und dass diese Hand etwas hielt, das sich rau und doch auch weich anfühlte – sein Schal. Er versuchte, die Hand zu be wegen, und stellte fest, dass er es nicht konnte. Seine Ge lenke waren taub, jeder Muskel wie gelähmt. Er konnte nicht einmal die Augen öffnen. In diesem Augenblick kam die Erinnerung. Rosamund vergaß all die Empfindungen, die er soeben wiederentdeckt hatte, und an ihre Stelle trat die Erinnerung an das Gesche hene, den gewaltsamen Tod des armen Missratenen Klugen. Er hätte kein Mitleid mit ihm haben dürfen. Er hätte sich freuen sollen: ein weiterer Triumph der Normalmenschen über die alte Tyrannei der Monster. Doch aus irgendeinem Grund sah er keinen Grund zum Jubeln. Ein armer Tropf war getötet worden, nur weil er im Weg gestanden hatte. Stattdessen nagte eine große Sorge an seinem Herzen. Was würde Master Fransitart dazu sagen? Er war seinem ersten Nicker begegnet und hatte sich als Monsterfreund entpuppt. Außerstande, sich zu bewegen oder etwas zu se hen, lag er da und empfand Trauer über den Tod eines un geschlachten Riesen, den er überhaupt nicht gekannt hatte und eigentlich gar nicht mögen sollte. 171
Ein neues Geräusch erregte seine Aufmerksamkeit, rechts neben seinem Kopf. »Ich … sssss … finde, es muss etwas geschehen.« Es war der pfeifende Atem dieses gräss lichen Licurius. Dicht neben ihm, viel dichter, als ihm lieb war. Der Schreck fuhr ihm in die Glieder. »Ich … ich habe schon genug getan, meinen Sie nicht? Es war nur ein kleiner Funke, um ihn zu beruhigen … und dann das!« Die Stimme gehörte Europa – Europa, der mächtigen Fulgar. Europa, die Unschuldige ermordete. Europa, die Kindern Stromschläge versetzte. Das also hatte sie mit ihrem ruhmreichen »Leben der Gewalt« gemeint! Er wusste überhaupt nicht mehr, was er von ihr halten sollte. »… Sssss … Was ist er denn schon? Nur ein Rotzbengel, den keiner will. Sie haben doch gesehen, wie er um diesen Kerl geweint hat. Er hat für so einen schäbigen Nicker ech te Tränen vergossen wie ein kleines Mädchen. Sie haben das einzig Richtige getan, wenn Sie mich fragen … So ein niederträchtiger kleiner … sssss … Sedorner wie der hat keine Schonung verdient … sssss!« Rosamund stockte das Herz. Ein Sedorner? Ein Mons terfreund! Das war einer der schlimmsten Schimpfnamen! Und was noch schlimmer war: Sie sprachen ganz offen sichtlich über ihn. Was hatten sie mit ihm vor? Europa stieß einen langen, beinahe traurigen Seufzer aus. »Warum ist er nicht in der Kutsche geblieben? Dann wäre jetzt alles gut … Warum können Männer nie hören? Ich frage mich, wie es sich wohl in den Lobschriften auf 172
mein Leben ausnehmen wird, dass ich Kindern Stromstöße versetze.« »Ein Grund mehr, die Sache auszubügeln. Wir sollten ihm den Bauch aufschlitzen, seine Eingeweide verstreuen und es dabei bewenden lassen … sssss …«, die Stimme des Leers schnarrte direkt neben Rosamunds Ohr, »oder wir nehmen seine Leiche mit und schieben dem Ettin die Schuld zu! Ein untadeliger Ruf ist so gut wie ein reines Gewissen, wie Sie zu sagen pflegen.« »Seien Sie still, Kastengesicht! Das geht zu weit! Die Umstände rechtfertigten so ein grausames Vorgehen nicht. Meine Güte, Kastengesicht! Mit Ihrem Gerede von Bauch aufschlitzen und Eingeweide verstreuen werden Sie mir langsam unheimlich. Seit ein paar Monaten wird das im mer schlimmer. Kann es sein, dass Ihr schwarzes altes Herz noch schwärzer wird?« Der Leer gab ein langes und boshaftes Zischen von sich. Das Landaulet wackelte, als sei ein Handgemenge ent brannt. Hatte Licurius es gewagt, sich mit der Fulgar anzu legen? Europa schrie. »Genug jetzt!« Rosamund lag wach da, in panischer Angst, aber blind und gelähmt. Als die Kutsche zu schaukeln begann, stieg diese Angst aus seinem Bauch in seine Kehle und brach, ohne dass er es verhindern konnte, als gurgelndes, wim merndes Röcheln aus ihm hervor. Alles schien noch stiller zu werden. Dann ein »Ah!«. Europa klang erleichtert. »Wie es scheint, ist er zu uns zu rückgekehrt. Schön, schön.« »… Sssss …Aber jammern Sie mir später bloß nichts 173
vor«, beendete Licurius ihren Streit mit gereizter Stimme, »wenn er Ihren guten Ruf in den Schmutz zieht.« »Genug! Genug jetzt!«, Europas Stimme bebte, »lassen Sie die Unverschämtheiten, und setzen Sie endlich Wasser auf! Sie wissen, wie dringend ich meinen Trank brauche …« Bei seinem kleinen Gefühlsausbruch hatte Rosamund bemerkt, dass er sein Bewegungsvermögen teilweise wie dererlangt hatte. Er riss augenblicklich die Augen auf und drehte sie, da sein Hals noch hartnäckig den Dienst ver weigerte, wild in alle Richtungen, um sich über seine Lage klar zu werden. Er lag unter einer Decke im Landaulet und blickte in ei nen klaren Himmel, an dem die ersten Abendsterne funkel ten, gerahmt von zerzausten hohen Bäumen – sie waren also noch im Wald. Es war so kalt, dass er seinen Atem sah. Er begann zu frösteln. Europa saß auf ihrem gewohn ten Platz auf der Bank gegenüber. Ihr Haar hing lose herab, und das große Buch, in das sie zu schreiben pflegte, lag in ihrem Schoß. Neben ihr stand die Lampe, die bereits brannte. Sie betrachtete ihn mit einem unergründlichen, weder feindseligen noch freundlichen Gesichtsausdruck. Er blinzelte unablässig zu ihr hinüber, und seine Glieder zuck ten, während er versuchte, Gebrauch von ihnen zu machen. »Guten Abend, kleiner Mann«, sagte sie bedächtig, die Arme verschränkt und die rechte Hand so erhoben, das sie ihren Mund und ihr Kinn verdeckte. »Zappele nicht so, du wirst dich noch früh genug wieder bewegen können«, schalt sie ihn, während er sich wand und krümmte. Doch er hörte nicht auf sie und versuchte alles, um wieder die Ge walt über seinen Körper zu erlangen. Nun, da sie wussten, 174
dass er noch lebte, wollte er keine Sekunde länger so wehr los bleiben! Europa beugte sich vor und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er schrie aus vollem Hals. Sie prallte erschrocken zurück. Licurius eilte herbei, um den Grund für den Lärm zu er fahren. »Was für ein kleiner Schreihals!«, knurrte er und packte den Findling an der Gurgel. »Sei still, dummer Kerl … sssss … sonst stirbst du auf der Stelle!« Der Leer drück te immer fester zu und quetschte die Luft aus Rosamund heraus. Aus seinem Schrei wurde ein panisches Röcheln. »Lassen Sie ihn los, Licurius! Sofort!« Europa funkelte ihr Faktotum an. Der Leer hörte überhaupt nicht hin. »Komm schon, klei nes Mädchen, quieke, so wie du gequiekt hast, als ich dich an den Füßen hatte …!« Rosamund zuckte hilflos mit den Armen und versuchte verzweifelt, die Hand des Mannes zwischen Kinn und Hals einzuquetschen. »Was fällt Ihnen ein, Licurius! Noch arbeiten Sie für mich und nicht auf eigene Rechnung!« Europa war halb aufgestanden. Ihr Haar, statisch aufgeladen, begann sich zu sträuben, das Buch glitt von ihrem Schoß und plumpste auf den Boden des Landaulets. »Lassen Sie ihn los und treten Sie zurück! Wir haben für so etwas keine Zeit. Meine Ge duld ist erschöpft!« Zunächst hatte es den Anschein, als wollte Licurius sei ne Chefin weiter ignorieren, dann löste er plötzlich seinen Griff, drehte den Oberkörper und spähte über seine linke Schulter. Dann entfernte er sich ein paar Schritte von der 175
Kutsche, blieb unschlüssig stehen und zischte: »Hier stimmt was nicht …« Er sog schnüffelnd die Luft ein, wie durch die vielen Löcher des Sthenicons deutlich zu hören war. Rosamund zappelte sich auf die andere Seite der Kut sche. Tränen liefen ihm über die Wangen, seine Nase trief te. »Sie werden alt, Sie Schlafmütze«, fauchte Europa zu rück. »Was ist denn nun schon wieder?« Der Leer antwortete nicht, sondern stand minutenlang nur da, schnüffelte und lauschte, schnüffelte und lauschte. Europa, ungehalten über sein Schweigen, begann zu mur ren. »Hier liegt etwas in der Luft, Milady. Etwas Beunruhi gendes … da hinten.« Er deutete in den Wald. Europa lehnte sich zurück und massierte sich die Schlä fen, als habe sie Kopfschmerzen. »Na schön«, seufzte sie, »dann sehen Sie eben nach, was es ist, und ich mache mir meinen Sirup inzwischen selbst, einverstanden? Los, ver schwinden Sie.« Der Leer zögerte einen Moment, dann schlang er sich den Mantel fest um den Leib und stapfte los. Gleich darauf war er im Dunkel zwischen den Bäumen verschwunden. Rosamund hörte nichts, nur das Pochen seines Pulses in seinen Ohren, und er roch auch nichts, was man als »beun ruhigend« hätte bezeichnen können. Er konnte gar nicht sagen, wie erleichtert er war, von diesem bösartigen und mordlustigen Kerl endlich erlöst zu sein. Er beruhigte sich, atmete aber noch schwer. Europa beobachtete den Wald. »Er wird bestimmt eine 176
ganze Weile wegbleiben, wir haben also Zeit, dich wieder aufzupäppeln.« Ihre Stimme klang müde. »Hast du ir gendwelche Stärkungsmittel oder Heiltränke bei dir? Ich würde dir ja von meinen abgeben, Junge, aber die sind ei gens für mich gemacht, für meine … besondere Natur. Und dass der griesgrämige alte Leer dir etwas von seinen über lässt, wage ich zu bezweifeln.« Sie sah ihn verschmitzt an und wackelte dazu mit den geschwungenen Augenbrauen, als hätten sie sich miteinander verschworen. Um sie bei Laune zu halten, zog Rosamund eine leichte Grimasse und brachte, da die Starre nachließ und das Be wegungsvermögen wiederkam, sogar ein kurzes Nicken zustande. »Und wo sind sie?« »T… T… Ta… Tasche!«, brachte er mit schmerzver zerrtem Gesicht heraus und versuchte unter großer An strengung, sich aufzusetzen. Europa fasste herüber, um ihm zu helfen. Er schreckte vor ihrer Berührung zurück und sank wieder auf den Sitz. Sie sah seine Angst, nahm mit einem unaufrichtig klingenden »Bitte!« die Hände von ihm, ergriff die Tasche und lehnte sich wieder zurück. Mit letzter Kraft stemmte sich Rosamund in eine sitzende Posi tion und sah dann zu, wie die Fulgar in seinen Sachen wühlte. Sekunden später zog sie etwas hervor und hielt es vor sich hin. Es waren die Säckchen mit den Schrecksal zen. Erstaunlicherweise waren sie trocken und, nachdem das Flusswasser sie in nutzlosen Kleister verwandelt hatte, wieder wie neu. Was für großartige Dinge Craumpalins Chemie voll bringen kann! 177
»Nützliches Zeug.« Europa legte den Kopf auf die Seite. »Aber nicht das, was wir brauchen.« Sie stöberte weiter, und irgendwann brachte sie den durchweichten Klumpen zum Vorschein, der einmal sein Papiergeld und seine Reisepapiere gewesen war. Er war noch feucht und begann schon zu muffeln. »Eigenartig«, sagte sie und legte ihn neben sich auf den Sitz. Augenbli cke später hatte sie gefunden, was sie suchte: vertraute mil chige Fläschchen mit einem dunkelblauen 3 und Craumpa lins Zeichen C-R-p-N. »Ah! Die würde ich überall erkennen.« Sie hielt eines hoch. »Evanderwasser – ein Allzweckmittel. Da meint es jemand gut mit dir, wenn er dir das verordnet, kleiner Mann. Stärkend und heilend zugleich. Welch glücklicher Tag! Runter damit, und achte nicht auf den Geschmack.« Rosamund wusste, was in den Fläschchen war, und seg nete den alten Apotheker wie schon so viele Male zuvor für seine Großzügigkeit. Europa erbrach das rote Wachssiegel und beugte sich herüber, um ihm den Trank einzuflößen. Hätte die Flasche nicht aus seiner Tasche gestammt und hätte er sie nicht als seine eigene erkannt, hätte er die Fulgar damit nicht einmal in seine Richtung wedeln lassen. Selbst jetzt war ihm nicht wohl dabei. Als sie ihm die Flasche an die Lippen hielt, stieg ihm der Geruch des Evanderwassers in die Nase. Scharf und kräftig, verscheuchte er seine Schläfrigkeit. Doch so stark der Trank auch roch, so fad schmeckte er. Sollte Rosamund jemals Kreide essen, würde er sagen, dass Evanderwasser genauso schmecke. Er bekam die ganze Flasche verabreicht, etwa drei Schlucke, und sofort ging es 178
ihm besser. Seine Muskeln lockerten sich, sein Blick wurde klarer, der Schmerz in seinem Kopf ließ spürbar nach. Stöhnend beugte er den Rücken, streckte die Arme nach vorn und in die Höhe, ließ den Kopfkreisen. Als er bemerk te, dass Europa ihn beobachtete, schlug er verlegen die Augen nieder und bedankte sich leise bei ihr. Sie machte eine wegwerfende Geste. »Papperlapapp!« Er bemerkte die kleine Schale mit den Heidelbeeren, und mit einem scheuen Blick auf Europa nahm er sich eine. Sie sah gleichmütig zu, ohne ihn daran zu hindern. Er aß gie rig. Jetzt fühlte er sich schon viel besser. Er war zwar noch etwas steif, aber er konnte sich wieder bewegen. Er hatte keine Schmerzen mehr. Er konnte sehen, konnte fliehen – nur wohin? Dieser Wald war mit Sicherheit genauso ge fährlich, und der Leer würde ihn auf jeden Fall aufspüren. »So.« Europa wirkte nervös. »Jetzt muss ich mir aber unbedingt meinen Trank bereiten. Warte hier! Ich bin gleich zurück. Morgen kommen wir an ein Weghaus, du hast also etwas, worauf du dich freuen kannst. Dort wird es dir bestimmt viel besser gefallen.« Rosamund glaubte ihr gerne. Sie wollte gerade mit ihrer geheimnisvollen schwarzen Kiste aus dem Landaulet steigen, als in der Ferne ein Kna cken ertönte. Es kam aus dem Wald, den Licurius erkunde te. Mit einem Stirnrunzeln blickte sie in die Richtung und setzte den Fuß auf die Erde. »Das kann nichts Gutes bedeu ten«, sagte sie. Wieder war ein Knacken zu vernehmen, und ähnliche Geräusche folgten. Für Rosamund hörte es sich so an, als presche jemand durchs Unterholz. Er wollte Europa fragen, 179
aber sie legte ihm die Hand auf den Mund. Obwohl sie ihn nur einen Augenblick so festhielt, bemerkte er an der In nenfläche ihrer Hand fünf farblose kleine Höcker, die aus sahen wie Muttermale. Er hatte keine Ahnung, was das war. Europa nahm etwas aus ihrer schwarzen Kiste und steck te es in den Mund, wie sie es schon vor ihrem letzten Kampf getan hatte. Wieder verzog sie beim Kauen das Ge sicht. Dann stellte sie die Kiste in das Landaulet zurück und drehte die Lampe heller. Und dabei spähte sie unent wegt in die Richtung, aus der das Knacken kam. Stand der nächste Kampf bevor? Rosamund machte einen langen Hals und riss die Augen auf. Wieder nahte eine unsichtbare Gefahr. Sie befanden sich auf einer Lichtung dicht neben der Straße am Fuß ei nes Hügels, umgeben von Kiefern, die in sehr engem Ab stand voneinander wuchsen. Durch diese schmalen Lücken kam das Knacken immer näher. Europa schürte das Feuer und legte Holz nach, um mehr Licht zu machen. Im Gegensatz zu Rosamund dachte sie gar nicht daran, sich zu verstecken. Im Vertrauen darauf, jede Gefahr zu meistern, wollte sie sehen, was da kam. Sie schritt zwischen Feuer und Landaulet auf und ab und knöpfte dabei ihren Gehrock zu, ohne auch nur einmal den Blick von der Wand aus Bäumen zu wenden. Dann ein Aufblitzen und ein lautes Zischen, etwas rechts von der Stelle, wo der Leer vorhin verschwunden war. Ein greller und blauer Lichtschein, vor dem sich die Bäume wie schwarze starre Pfähle ausnahmen. Rosamund fiel vor Schreck beinahe um, duckte sich auf den Sitz und spähte 180
über den Kutschenrand. Wieder das Knacken, dann ein Krachen, als breche etwas Schweres durchs Unterholz. Leise peitschende Geräusche, die rasch näher kamen. Et was tauchte am Rand des Feuerscheins auf. Es war Licurius! Sein Dreispitz war fort, sein Mantel hing ihm in Fetzen am Leib, und das Sthenicon war ihm halb vom Gesicht ge rissen, doch er hielt eine Pistole in der Hand. Entsetzt machte Europa einen Schritt in seine Richtung. Blutend taumelte er auf die Lichtung, und mit einem schauderhaf ten Zischen krächzte er so laut, wie es seine heisere Stim me zuließ: »Mylady, wir werden angegriffen!« Schreie gellten durch die Nacht, und einer davon gehörte Rosamund, der seiner Angst Luft machte. Plötzlich gab es einen Ruck, und er purzelte vom Sitz auf den Kutschboden. Das Pferd hatte gescheut und ging durch. Doch mit seinen Fußfesseln kam es nicht weit. Nach wenigen Metern blieb es mit einem erstickten Wiehern abrupt stehen, und Rosa mund schlug einen zweiten Purzelbaum. Er kroch über den Kutschboden und spähte über die Seite. Schatten huschten um den Lagerplatz. Kleine Gestalten mit großen Köpfen stürmten unter den Bäumen hervor – trotz des Feuers und der Laterne waren sie nur undeutlich zu erkennen – und fielen mit triumphierendem Geheul über Licurius her. Er ging zu Boden und feuerte noch im Fallen seine Pistole ab, ehe er unter einem Haufen beißender und kratzender Bogeis begraben wurde. Europa öffnete den Mund zu einem stummen Schrei, doch bevor sie eingreifen konnte, war auch sie von einer Schar kleiner Teufel um ringt, die an ihr zerrten und mit schrillen Stimmen immer 181
wieder »Mörderin! Mörderin!« schrien. Sie schlug nach jedem, der ihr nahe kam, und schüttelte mit jenem lauten Zack!, das davon kündete, dass die Fulgar wieder ihrem grausigen Geschäft nachging, mehrere gleichzeitig ab. Mit tödlicher Schnelligkeit teilte sie tänzelnd und wirbelnd Stromschläge aus. Ein wilder Blick flackerte in ihren weit aufgerissenen Augen, die Haare standen ihr zu Berge, und die Schöße ihres Gehrocks flatterten dramatisch – was sie selbstverständlich auch sollten – und enthüllten die vielen Lagen weißer Unterröcke, die sie darunter trug. Es war ein eindrucksvolles Schauspiel, die Fulgar im Dunkeln kämp fen und Funken versprühen zu sehen. Jeder kleine Teufel, der nach ihr schnappte und sie zu fassen bekam, wurde im Nu weggeschleudert, und fast jeder Stromstoß, den sie aus teilte, war von einem trockenen Knall und einem grellen Blitz begleitet. Mehrere Angreifer streckte sie mit einem fabelhaften elektrischen Bogen nieder, der blendend grün von ihrer Hand zu ihren Opfern sprang. Jede elektrische Entladung tauchte die nächtliche Szenerie für einen Au genblick in taghelles Licht. Keiner dieser feixenden kleinen Teufel konnte sie bezwingen, und selbst wenn es einem gelang, sich an ihr festzukrallen, erwiesen sich seine nadel spitzen Zähne und seine scharfen Klauen als nahezu nutz los gegen ihre robuste Rüstkleidung. Auch der Leer war noch nicht am Ende. Unter dem wimmelnden Haufen der Angreifer flammte zischend ein grelles Licht auf. Die Bogeis prallten zurück, und ein fauliger Gestank erfüllte die Luft – mit Sicherheit ein starkes Abwehrmittel. Licurius sprang auf und erschlug einen mit dem Knauf seiner Pistole. Er war blutüberströmt, 182
und das Sthenicon war fort, abgerissen bei dem brutalen Kampf. Seine grässlichen Augen schleuderten zornige Bli cke, und er teilte einen zweiten Hieb aus, dem ein klägli ches Heulen antwortete. Trotz des Kampfgetümmels sah Rosamund einen Augenblick lang wie gebannt sein Gesicht an. Sein schreckliches, unbeschreiblich entstelltes Gesicht! Kein Wunder, dass er den Kasten getragen hatte! Dann wieder ein Zischen und ein Lichtblitz. Licurius hatte ein weiteres Abwehrmittel gezündet. Heulend vor Schmerzen floh eine Handvoll Angreifer in den Wald. Doch die ande ren fielen von neuem über ihn her, sprangen an ihm hoch, klammerten sich an ihm fest, verbissen sich in ungeschütz te Stellen, zerrten und zogen und rissen ihn schließlich zu Boden. Wieder wurde Licurius unter ihren Leibern begra ben. Er stand nicht wieder auf. Unterdessen hatte Europa unermüdlich weitergekämpft, ganz in Anspruch genommen von dem verzweifelten tödli chen Tanz, den sie mit ihren zahlreichen Feinden hatte. Et liche grinsende Teufel lagen bereits reglos und schwelend am Boden, viele waren entsetzt davongerannt. Doch nach dem Sturz des Leers standen ihr plötzlich dreizehn weitere Gegner gegenüber. Da sah sie ihn, ihr Faktotum, oder vielmehr das, was noch von ihm übrig war. Rosamund hat te beobachtet, wie die Bogel an dem Leer gezerrt und ge rissen hatten, bis sie davon überzeugt waren, dass er tot war – und wie sie ihren Sieg mit einem grauenerregenden Geschnatter und Freudenschreien gefeiert hatten. Nur eine dunkle, unförmige Masse war von ihm geblieben. Der Anblick ließ Europa kurz innehalten. Sie stand da 183
und rang vor Wut schäumend nach Atem. Mit aufgerisse nen, halb wahnsinnigen Augen starrte sie über das Feuer hinweg zu den dreizehn grinsenden Bogeis, die ihr Starren erwiderten, sich gegenseitig in die Rippen stießen und ki cherten. Diese Grinslinge hatten große Köpfe mit großen, quadratischen Ohren, keine Nasen und lippenlose Münder, die mit spitzen Zähnen gespickt waren. Und erstaunlicher weise trugen sie Kleider wie Menschen, nur kleiner: Hem den, Jacken, Kniehosen, sogar Schnallenschuhe. Eine Zeit lang geschah nichts, und die Gegner beobach teten sich nur gegenseitig. Rosamund hätte eigentlich er wartet, dass sie einander Schmähungen oder Drohungen an den Kopf warfen, doch es blieb bei diesem unheilvollen, gegenseitigen Belauern. In der Ferne heulten geflohene Grinslinge, das Lagerfeuer prasselte, und in dem kleinen Kessel zischte leise kochendes Wasser. Die Welt wartete … Europa veränderte ihre Haltung. Mit lautem Kreischen gingen die dreizehn Grinslinge auf sie los. Den ersten traf in dem Moment, als er mit einem Sprung über die Flammen setzte, ein Fußtritt Europas. Ein blendender Blitz zuckte aus ihrer Stiefelsohle und schleu derte ihn zurück. Sofort machte sie einen Satz nach hinten, um mehr Platz zu haben, und nahm die beiden nächsten, die auf sie einstürmten, in Empfang. Mit der rechten Hand hieb sie nach links, mit der linken nach rechts. Einen traf sie ins Gesicht – Zack! –, den anderen mitten in die Brust – Zick! Drei weniger, bleiben noch zehn. Sie machte einen schnellen Schritt nach links, um den 184
Klauen des nächsten Angreifers zu entgehen, und stieß ihm genau in die Augen. Funken stoben aus seinen Ohren, und der Schrei aus seiner Kehle erstarb zu einem Röcheln. Neun! Jetzt fielen die restlichen Grinslinge alle gleichzeitig über sie her, sprangen auf ihren Rücken, umklammerten ihre Beine, zerrten an ihren Armen. Rosamund wartete dar auf, dass Blitze zuckten und ihnen den Garaus machten, doch plötzlich verzog Europa das Gesicht, als habe sie gro ße Schmerzen, und geriet ins Taumeln, wie unter dem Ein fluss einer unsichtbaren Kraft, die größer war als die der neun Grinslinge. Sie krümmte den Rücken, dann warf sie den Kopf zurück und schrie. Die Grinslinge stutzten, doch es geschah ihnen nichts. Unter boshaftem Geschnatter und Triumphgeheul nutzten sie die Gunst des Augenblicks, bis sen, kratzten und zerrten. Rosamunds Gedanken rasten. Er musste etwas tun. Ver zweifelt sah er sich nach einer Waffe um – egal was. Die Schrecksalze! Er ergriff die Umhängetasche, sprang aus der Kutsche und stürmte, im Laufen fieberhaft nach den Lei nensäckchen wühlend, zum Kampfplatz. Im schwächer werdenden Feuerschein sah er, wie Europa zu Boden geris sen wurde, genau wie Licurius zuvor. Gleich würde es vorbei sein. Das sind sie! Die Säckchen ergreifen, herausziehen und schleudern war eins – alles ohne nachzudenken, nur der Angst und seinem Instinkt gehorchend. Der Wurf war er staunlich gut gezielt. Die Säckchen zerplatzten und ver streuten ihr Pulver über der Mörderbande. Es tat sofort sei ne Wirkung, und ein vielstimmiges Schmerzensgeheul 185
brach los. Mehrere Grinslinge ließen von ihrem Opfer ab und fuhren sich mit den Händen ins Gesicht. Andere wur den von dem Angriff aus unerwarteter Richtung einfach nur abgelenkt. Auch Europa bekam die Wirkung der bei ßenden Salze zu spüren, doch trotz ihrer Schmerzen und Benommenheit nahm sie noch einmal alle Kraft zusammen und teilte einen letzten Stromstoß aus, der ihr selbst den Tod bringen konnte. Mehrere Grinslinge gingen zu Boden und hauchten auf der Stelle ihr Leben aus. Die übrigen hat ten genug. Tödliche Blitze von der einen, ätzende Chemi kalien von der anderen Seite, das war zu viel. Sie liefen schreiend davon, so schnell ihre kleinen Beine sie tragen konnten. Sie liefen und liefen, bis ihr Geheul immer schwächer wurde. Geschafft! Sie hatten gesiegt … Europa lag zwischen den vielen toten Grinslingen auf dem mit Kiefernadeln bedeckten Boden. Dünner Rauch kringelte aus ihrem Rücken, und sie war beängstigend stumm und rührte sich nicht.
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GEMANSCHE IN DER NACHT
Faktotum, das: persönlicher Diener oder Sekretär eines Adligen oder einer anderen Person von Rang oder Gewicht. Wann immer die Herrschaft auf Reisen geht, muss das Faktotum sie begleiten. Auch immer mehr Lahzare gehen dazu über, ein Faktotum einzustellen, das ihnen lästige alltägliche Arbeiten abnimmt: Es schließt Verträge ab, treibt Honorare ein, die sie für ihre Dienste erhalten, kümmert sich um Verpflegung und Unterbringung, führt den Schriftverkehr, schleppt schwere Gegenstände und bereitet sogar ihre Tränke.
Z
itternd und ohne auf die toten Grinslinge zu achten, ging Rosamund langsam zu der am Boden liegenden Europa. Der Gedanke, an diesem unheilvollen Ort ganz auf sich allein gestellt zu sein, erfüllte ihn mit Grauen. Je näher er der Fulgar kam, desto tiefer duckte er sich und versuch te, ihr Gesicht zu sehen und einen Hinweis auf ihren Zu stand zu erhalten. Sie lag verdreht da, Arme und Beine zeigten in alle Richtungen. Ihr langes Haar war zerzaust und bedeckte ihr Gesicht. Er wappnete sich einen Moment, dann kniete er neben ihr nieder und strich ihr behutsam die kastanienbraunen Locken von Hals, Wangen und Stirn. Sie war totenblass. Grinslinge heulten in der Ferne. 187
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Er huschte zum Landaulet zurück und holte die Lampe. Wieder bei Europa, kniete er sich hin und sah nach, ob sie noch am Leben war. Am liebsten hätte er geweint, aber er hielt die Tränen zurück – er hatte auf dieser Reise schon genug geweint. Aus ihrer Nase lief Blut. Am Hals, wo ih re Kleidung keinen Schutz bot, hatte sie grässliche Biss wunden. Aber sie atmete, in kurzen, flachen Zügen. Sie lebte! Rosamund beugte sich über sie und flüsterte: »Miss …! Miss … Miss Europa!« Ihre Wimpern zitterten und teilten sich langsam, aber ihr Blick war glasig. Ihre Lider fielen wieder zu, und es schien, als würde die Fulgar das Bewusstsein verlieren. Er rüttelte sie zweimal kräftig an der Schulter, denn er wollte nicht, dass sie ohnmächtig wurde. Sie stöhnte und bewegte sich, dann schlug sie erneut die Augen auf und sah ihn an. Sie stemmte sich auf die Ellbogen und setzte sich auf, ließ aber den Kopf hängen. »Was ist geschehen?«, fragte sie keuchend. Rosamund hockte sich hin. »Sie haben gesiegt … Sie haben sie alle bezwungen.« Müde blinzelnd schaute sie um sich. Aus ihren Augen liefen aschgraue Tränen. Rosamund erschrak. Er hatte mit den Schrecksalzen auch sie getroffen. Nach einer langen Pause und einem tiefen Seufzer flüs terte sie: »Gut … Das war … schwer.« Sie setzte sich auf rechter hin, rollte die Schultern und ließ den Kopfkreisen. Sie stöhnte und verzog dabei das Gesicht. »Ich bekam Krämpfe in meinen Organen«, murmelte sie. »Nicht gerade 189
der günstigste Zeitpunkt … Ich dachte schon, es sei um mich geschehen.« Ihr Atem rasselte, als sie Luft holte, dann fuhr sie fort: »Es ist nie ratsam … einen Kampf zu beginnen … wenn einem eine Dosis … Sirup fehlt.« Rosamund konnte ihr nicht ganz folgen, aber er hatte zumindest so viel verstanden, dass etwas mit ihrem Körper nicht stimmte und dass ihre elektrischen Organe versagt hatten. Er erschauerte. Das musste der gute alte Master Fransitart gemeint ha ben, als er sagte, dass nichts mehr zum Erbarmen sei als ein Lahzar, dem von den eigenen Organen übel werde. Weit entfernt war noch immer das Geheul der Grinslinge in der kalten, kalten Nacht zu hören. Europa wollte aufstehen, schwankte aber bedenklich und plumpste wieder zu Boden. »Ich … ich brauche … meinen Sirup, kleiner Mann«, sagte sie mit schwerer Zunge. »Nimm die Lampe. Hol die Kiste. Ich … ich werde dir zei gen, wie er zubereitet wird.« Rosamund lief zum Landaulet, und dabei bemerkte er, dass die Grinslinge auch über das Pferd hergefallen waren. Es lag tot am Boden, klaffende Wunden an Hals, Beinen und Brust. Wie sollten sie jetzt von hier fortkommen? Lass dich nicht beirren, Menschenleben stehen auf dem Spiel, rief er sich in Erinnerung. Tu, was Master Fransitart tun würde – immer eins nach dem anderen. Zuerst die Kis te – wie wir hier wegkommen, sehen wir später. Er fand die geheimnisvolle schwarze Kiste im Landau let, in dem jetzt alles drunter und drüber geworfen war. Als er sie herauszog, verspürte er dasselbe Unbehagen wie in dem Augenblick, als er das glatte Holz berührt hatte. Er 190
beachtete es nicht, klemmte sich die Kiste fest unter den linken Arm und eilte zu Europa zurück. Sie war ohnmächtig geworden, und Rosamund musste sie wieder wachrütteln. Sie kam nur mühsam zu sich, wischte sich sogar Tränen weg. »Guter Junge … Jetzt … jetzt hör mir ganz genau zu … Wir haben keine Zeit für Fehler.« Rosamund nickte einmal energisch. Dies war nicht ir gendeine Geschichte aus einem Abenteuerheft. Jetzt kam es auf Sorgfalt und Verlässlichkeit an. Auf eben jene Tu genden, die man in Madam Operas Findelhaus den Buch kindern beizubringen versuchte – die Haupttugenden, die von jedem erwartet wurden, der sein Gehenk bekommen hatte. Europa ließ wieder den Kopf hängen, nahm sich aber zusammen und fuhr fort: »Stell die Kiste da hin und öffne sie … aber vorsichtig. Ja … so ist es richtig.« Das Innere der Kiste war in viele Fächer unterteilt, und jedes Fach hatte einen Klappdeckel mit Griff und war mit rotem Samt ausgeschlagen. Er hob einen Deckel an. Darun ter lag eine Flasche, in Stroh gebettet und mit einer Flüs sigkeit gefüllt. »Das ist das Bezoariac. Aber wir haben jetzt keine Zeit für lange Erklärungen.« Sie klappte ein zweites Fach auf und zog eine andere Flasche hervor, die halb mit einem Pulver gefüllt war. Sie drückte Rosamund beide Flaschen in die Hand, dazu einen Löffel aus Zinn. Dann deutete sie auf den Wasserkessel, der auf dem Feuer stand. »Nimm das und gib zwei Löffel Bezoariac … das ist die Flüssigkeit … und einen Löffel Ratanhia … das ist das Pulver in der 191
anderen Flasche … in das Wasser und rühre ein paar Minu ten lang um … Dann kommst du wieder her … Vergewis sere dich, dass genügend Wasser im Kessel ist. Er muss mindestens halb voll sein.« Er tat wie geheißen. Im Kessel war noch genug Wasser, und so fügte er zwei Löffel Bezoariac – eine Art Univer salgegengift, das er aus der Apotheke der Marineanstalt kannte – und anschließend das Ratanhia-Pulver, von dem er noch nie gehört hatte, hinzu. Er rührte lange, und von Master Craumpalin wusste er auch genau, wie er zu rühren hatte. Man musste mit dem Löffel stets Achter beschreiben, damit nichts am Topfboden ansetzte und anbrannte. Beim Rühren liefen ihm unablässig kalte Schauer den Rücken hinunter, weil er fürchtete, die Grinslinge könnten aus der Dunkelheit über ihn herfallen. »Wie sieht es aus?«, erkundigte sich Europa leise. Ihre Stimme klang gedämpft, denn sie war wieder in sich zu sammengesunken und hatte das Gesicht in den Armen ver graben. »Eben noch war es wie Haferbrei«, antwortete er, »aber jetzt wird es dünner und rötlich.« »Kocht es?« Sie hob den Kopf. »Ja, Madam, es hat gerade angefangen.« Sie fasste in die Kiste, ohne hinzusehen, und zog ein Einmachglas hervor. »Dann gib schnell das dazu. Nimm aber die Finger und steck auf keinen Fall den Löffel in das Glas! Verstanden? Die erforderliche Menge entspricht … zwei gehäuften Löf feln.« Rosamund gehorchte, obwohl das Unbehagen, das diese 192
Reagenzien bei ihm auslösten, mit jedem Moment wuchs, während er das kalte, sich eklig anfühlende Zeug mit der Hand aus dem Glas schaufelte. Zweimal häufte er die vor geschriebene Menge auf den Löffel und kippte sie in das brodelnde Gebräu. Angewidert wischte er sich die Finger an Kiefernadeln ab, dann rührte er weiter. Gleich darauf hielt ihm Europa eine weitere Flasche hin, die zu zwei Dritteln mit einem schwarzen Pulver gefüllt war. Dieses kleine Gefäß strömte nun deutlich spürbar etwas Unheil verkündendes aus. Er zögerte. »Wenn der Brei ordentlich glattgerührt und dickflüssig ist und sich in eine Art Honig verwandelt, musst du ihn vom Feuer nehmen und davon einen halben Löffel hinein streuen. Das ist Nnun-Zucker – gib acht, dass er nicht mit deiner Haut in Berührung kommt! Rühr ihn gut unter … und wenn du fertig bist … bring den Kessel zu mir.« Nnun-Zucker! Von dieser Zutat hatte er schon gehört, nur wusste er nicht mehr, was sie bewirkte. Craumpalin hatte sie mit deutlichen Worten verworfen und einmal er klärt, dass nur Leute, die nichts Gutes im Schilde führten, damit arbeiteten. Wäre ihre Lage nicht so verzweifelt ge wesen, hätte sich Rosamund wahrscheinlich geweigert, ei ne Flasche, die eine solche Substanz enthielt, auch nur an zufassen, so eindringlich hatte ihn der alte Apotheker davor gewarnt. Das Gebräu wurde tatsächlich so sämig und gelb wie Honig und brachte sogar seinen Magen zum Knurren – immerhin hatte er das Abendessen und möglicherweise noch mehr Mahlzeiten versäumt. Rasch nahm er den Kes 193
sel vom Feuer, indem er ihn mit Hilfe eines Steckens am Henkel fasste, und setzte ihn auf den Boden. Mit einem ekelhaften Geschmack im Mund zog er den Pfropfen aus der Flasche, die den Nnun-Zucker enthielt. Er glaubte zu sehen, wie eine kleine schwarze Staubwolke aus dem Inneren entwich. Unter nervösem Blinzeln schüttete er die vorgeschriebene Menge auf den Löffel und gab sie in den Brei. Beim Rühren nahm das Ganze rasch eine schwarze Farbe an, wurde zähflüssiger und begann, fürch terlich zu stinken. Der Trank war fertig. Rosamund nahm seinen Schal ab und benutzte ihn, um den Kessel zu Europa zu tragen. »Ich glaube, er ist fertig, Madam Europa. Ich weiß nicht, ob ich alles richtig ge macht habe, aber mir kommt er genauso vor wie immer.« Europa erhob sich wackelig auf die Knie und nahm das Resultat von Rosamunds Gemansche in Augenschein. Als sie feststellte, dass der Trank genauso aussah, wie er sollte, schien sie trotz ihres beklagenswerten Zustands verblüfft. »Gut gemacht, kleiner Mann«, sagte sie keuchend. »Gut gemacht … genauso muss er sein.« Sie ergriff den Kessel mit dem Trank – dem Sirup, wie sie ihn nannte –, wartete nur einen Augenblick, bis er sich am Rand etwas abgekühlt hatte, und trank dann gierig mit großen Schlucken, wobei sie einen Teil verschüttete, wahrscheinlich deshalb, weil sie sich an dem heißen Metall verbrannte. Das Gebräu wirkte schnell. Sie setzte den Kessel nicht eher ab, bis er leer war, und als sie es tat, sah sie schon besser aus. Nachdem sie noch ein paar Minuten ver schnauft und verdaut hatte, war sie wieder so weit bei 194
Kräften, dass sie aufstehen konnte. Sie zitterte zwar, aber mit der Hilfe des Findlings, der sie stützte, war sie bald auf den Beinen. Sie verharrte einen Augenblick auf der Stelle, schwankte leicht – zu Rosamunds Entsetzen –, aber sie hielt sich aufrecht und starrte in das Dunkel des Waldes. Im Wald war es mittlerweile still geworden, und nur das übliche Knarren und Rauschen der Bäume war noch zu hören – jedenfalls hoffte Rosamund, dass es nichts anderes war. »Wir müssen von hier fort«, sagte Europa. »Sie kommen bestimmt wieder und probieren es noch einmal, bevor die Nacht um ist.« Sie verstummte, und Rosamund packte die grässlichen Chemikalien wieder in die schwarze Kiste. Mit einem tiefen Seufzer drehte sie sich um und blickte zu der Stelle, wo der tote Licurius lag. Trauer erfüllte sie und zeig te sich in ihren Zügen. »Oh, Kastengesicht … Oh, Kasten gesicht«, klagte sie leise. »Was haben sie mit dir gemacht?« Auf Rosamund gestützt wankte sie zu dem Leichnam. Im Schein der Laterne waren die grausigen Spuren des Kampfes deutlich zu sehen. Dort lagen die beiden Grins linge, die Licurius erschlagen hatte. Nicht mehr von ge meiner Mordlust beseelt, wirkten sie beinahe wie kleine, bemitleidenswerte Puppen. Und zwischen ihnen die dunkle Masse des toten Leers. Obwohl er fast vollständig von sei nem zerfetzten Mantel bedeckt wurde, war es offensicht lich, dass er auf grausame und schändliche Weise zer fleischt worden war. Mit einem erstickten Schluchzer sank Europa neben ihm auf die Knie. Sie war der Ohnmacht nahe und keuchte schwer, doch schon im nächsten Moment stieß sie Rosa mund mit kraftloser Hand weg. »Das ist kein Anblick für 195
dich!« Dann war sie wieder auf den Beinen. »Geh! Hol deine Sachen und genug Wasser für eine Nacht. Wir müs sen schleunigst fort – diese Kreaturen sind still geworden, und das gefällt mir noch viel weniger als ihr Geheul in der Ferne. Ich bin gleich wieder auf dem Posten. Mach dir meinetwegen keine Sorgen. Wir werden uns schon retten.« Doch auch wenn sie es nicht zeigen wollte, so entging Rosamund doch nicht, dass sie leise weinte, während er Koffer und Tasche zusammensuchte, seinen Biggin mit Wasser füllte und Proviant in seine Taschen stopfte. Offen sichtlich hatte sie an dem Leer mehr gehangen, als er ange nommen hatte. Er empfand Mitleid mit ihr – und mit dem Missratenen Klugen. Aber um Licurius trauerte er nicht – der gemeine Schuft hatte ihn erwürgen wollen! Verline hät te seine Haltung gewiss als »herzlos« missbilligt, aber er konnte nicht einsehen, warum er über den Tod des Leers traurig sein sollte. Jetzt kam auch Europa zum Landaulet. Sie wankte nur leicht. Tränen hatten Spuren in ihr schmutziges Gesicht gegraben. Hastig packte sie ein paar Sachen zusammen. Da das Pferd tot war, blieb ihnen keine andere Wahl, als sich zu Fuß in Sicherheit zu bringen. »Wir müssen ihn … so liegen lassen. Wir haben keine Zeit, ihn zu begraben, und ihn mitzunehmen hätte keinen Sinn. Wir müssen zum Weghaus. Ich bin schon öfter daran vorbeigekommen, aber noch nie dort eingekehrt. Es heißt Zum Schnellen Hasen. Wenn wir es wohlbehalten errei chen, können wir später wiederkommen und ihn holen. Nun aber Beeilung! Wir müssen so schnell wie möglich dorthin.« 196
Sie rafften alles, was sie gebrauchen und tragen konnten, zusammen, dann marschierten sie im Schein der Lampe los. Europa wies die Richtung, und Rosamund ging voran. Er hatte keine Ahnung, wie sie es schaffen sollten. Eine sandige, mit Pfützen übersäte Straße führte gleich neben ihrem Lagerplatz vorüber. Wahrscheinlich immer noch der Vestiweg. Ihm folgten sie. Europa war zunächst wackelig auf den Beinen, schritt aber bald schneller aus, wenn auch nicht schnell genug für Rosamund, der zügig vorausmar schierte. Mehr als einmal musste sie ihn daran erinnern, dass noch ein weiter Weg vor ihnen lag, und ihn ermahnen, mit seinen Kräften hauszuhalten. Bald forderte sie Rosamund auf, die Lampe zu löschen. »Das Licht schadet uns mehr, als es uns nützt«, flüsterte sie. »Es führt diese grinsenden Blödiane direkt zu uns.« Er kam der Aufforderung nur zu gern nach. Welche Hoffnungen konnte sich ein Normaljunge wie er schon ma chen, wenn sogar eine Lahzar zur Vorsicht mahnte und je de weitere Auseinandersetzung vermeiden wollte? Vergeb lich versuchte er, in den Wald zu spähen und im Dunkel hinter den fahlen, geraden Stämmen der jungen Kiefern am Straßenrand verdächtige Anzeichen auf einen möglichen Hinterhalt auszumachen. Er spürte, dass Phöbius aufge gangen war, aber in dieser engen Schlucht zwischen hohen Bäumen nutzte auch der Mondschein wenig. Was gäbe er jetzt für die Nase des toten Licurius! Sie waren viele Stunden marschiert und hatten ein gutes Stück Wegs zurückgelegt, als Rosamunds Kräfte erlahm ten. Die Beine wurden ihm schwer, und der Koffer, sonst 197
so leicht, zerrte an seinem Rücken und seinen schmerzen den Schultern. Die Lider fielen ihm zu, während er wohlig von Ruhe und Erholung träumte. Auch Europa schien zu ermüden. Schließlich blieb sie zu seiner großen Erleichterung knapp unterhalb der Kuppe eines steilen Hügels stehen und setzte sich schwerfällig hin. »Ah!«, stöhnte sie ganz leise. »Ich bin furchtbar schlapp … Und du, kleiner Mann? Bis jetzt hast du er staunlich gut mitgehalten.« Er sank neben ihr zu Boden, stellte den Koffer neben sich und tat einen kräftigen Zug aus seinem Biggin. Nur wenige Schlucke Wasser blieben übrig, als sein Durst ge löscht war. Sie nahm dies als stummes, aber unmissver ständliches Ja und bot ihm eine Heidelbeere an, die sie aus einer ihrer vielen schwarzen Satteltaschen hervorzauberte. Er nahm sie dankbar. Europa aß selbst auch eine, und so saßen sie minutenlang schweigend und warteten, bis die Beeren ihre Kräfte wieder so weit hergestellt haben wür den, dass sie weitermarschieren konnten. Rosamund spürte, wie langsam wieder seine Lebensgeister erwachten, und mit ihnen die Angst vor einem neuerlichen Angriff der Grinslinge oder gar Schlimmerem. Tief in seinem Innern wuchs die Überzeugung, dass es das Beste wäre, dieses ganze wilde, gruslige Land hinter sich zu lassen und in eine sichere Stadt zurückzukehren, in der man unbeschwert und sorglos leben konnte. Wie hatte man nur auf den Gedanken verfallen können, durch diese unheimliche Gegend eine Straße zu bauen? Nördlich der Straße fiel das Gelände steil ab, und da auf dem Hang keine Bäume wuchsen, bot sich ihnen ein unbe 198
grenzter Ausblick. Endlich konnte Rosamund den Mond sehen, der gerade ockergelb im Westen unterging. Er dreh te sich um, blickte in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und folgte mit den Augen der weißen Linie der Straße bis zu der Stelle, wo sie unter den Bäumen auf tauchte. Dann spähte er ängstlich in das undurchdringliche Schwarz der dicht bewaldeten Täler unter ihnen und hin über zu den dunklen Hügeln weiter im Norden. Ein leichter Schauder überfiel ihn – da draußen konnte alles Mögliche herumschleichen. Die Welt war viel größer, als er sie sich vorgestellt hatte: wilder und voll von Gefahren, Einsamkeit und Furcht. Er zog die Knie an die Brust und betrachtete in banger Erwartung den Schatten der Fulgar. Während sie so dasaßen, nestelte sie an dem Schal, den sie um den Hals trug, und betastete die Wunde darunter. »Fühlst du dich wieder besser?«, flüsterte sie. »Ja«, flüsterte er zurück. »Und wie geht es Ihrem Hals, Miss?« »Die Wunde blutet noch … und beginnt unerträglich zu jucken. Ich werde wohl nicht darum herumkommen, einen Physikus aufzusuchen. Aber das muss warten. Lass uns aufbrechen. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, und dieser Ort schlägt mir allmählich aufs Gemüt.« Die Heidelbeeren hatten sie beide erfrischt und gestärkt. Sie marschierten und marschierten, und Europa ging voran. Die Straße führte über Hügel, durch kleine Täler, und bald ging es wieder durch dichten Kiefernwald. Ein kräftiger harziger Duft erfüllte die Luft, und ein Windhauch wisper te in den Baumwipfeln. Sterne funkelten an dem schmalen 199
Himmelsstreifen über ihnen und warfen ein mattes Licht auf den Weg. Von den Signalsternen war Maudlin mittler weile dem Blick entschwunden. Nur der orangerote Faus tus, das »Auge« im Sternbild Vespasia, und der gelbe Pla net Ormond waren noch zu sehen, und dass bedeutete, dass es sehr spät war. Der Schrei einer verschreckten jungen Eule zerriss die Stille und verlieh Rosamunds eigenem Ge fühl von Einsamkeit und Verlorenheit eine Stimme. Wäh rend er noch in den Sternen las, hörte er, wie Europa strau chelte, und als er nach vorn blickte, sah er, wie sie auf den sandigen Weg sank. Er lief zu ihr. »Miss Europa …?« Sie kniete auf allen vieren und keuchte wie am Abend, als Krämpfe ihre Organe befallen hatten. »Der Biss …«, stieß sie krächzend hervor, »der Biss …« Rosamund nahm ihr vorsichtig den Schal ab, und selbst im fahlen Sternenlicht sah er sofort, dass die Wunde be ängstigend angeschwollen war. Außerdem verströmte sie einen Fäulnisgeruch. Ihm stockte der Atem. »Sie hat sich schon entzündet, Madam. Sie müssen unbedingt zu einem Physikus, und zwar bald!« »Es brennt …!« Sie setzte sich auf, führte einen Wasser schlauch zum Mund und trank gierig, dann legte sie sich zurück und rang nach Atem. »Wir müssen weiter … du bist hier nicht sicher … wir … müssen … bald …«, röchelte sie, aber sie schien weder imstande noch willens, auch nur einen Schritt zu tun. Rosamunds Gedanken wirbelten durcheinander. Dieses Gefühl der Panik wurde ihm allzu vertraut. Er zwang sich, kühlen Kopf zu bewahren. 200
Das Evanderwasser! Er kauerte sich neben Europa und wühlte in seiner Umhängetasche nach den kleinen Fla schen. Er suchte sehr lange, aber ohne Ergebnis. Oh, nein! Er musste sie in der Hast zusammen mit den Schrecksalzen gegen die Grinslinge geschleudert haben. Doch dann fand er, was er suchte: nur eine einzige Flasche, ganz unten in der Tasche zwischen den anderen Sachen. Jubelnd zog er sie hervor. Als er sich dicht über Europas Ohr beugte, spür te er, dass sie eine unnatürliche Hitze ausstrahlte. »Ich habe noch etwas Evanderwasser«, flüsterte er. Seine Worte brachten wieder Leben in sie, und sie setzte sich mühsam auf. Er gab ihr die kleine Flasche, aber ihre Hände zitterten zu sehr. Ja, sie begann, am ganzen Leib zu zittern. Er hielt die Flasche für sie, entfernte den Verschluss und neigte sie ganz langsam und vorsichtig, damit ja kein Tropfen ver schüttet wurde. Sie trank den Inhalt so gierig wie zuvor das Wasser und legte sich wieder zurück. Er hielt gespannt die Luft an und beobachtete sie. Mit einem Atemstoß, der so laut war, dass ein Nachtvo gel erschrak, dreimal furchtbar kreischte und aufgeregt da vonflog, setzte sie sich wieder auf. »Ich kann gehen … Es ist … jetzt nicht mehr … weit. Helfen Sie mir auf, Ka … Kastengesicht!« Sie stieß die Worte mühsam keuchend hervor. »Mit Ihrer … Hilfe … kann … kann ich es schaffen.« Sie legte Rosamund die Hand auf die Schulter und drückte sich nach oben. Er verzog das Gesicht, gab aber keinen Laut von sich. Als sie stand, murmelte sie: »Gehen … Sie voran.« 201
Er gab sich alle Mühe. Zunächst führte er sie an der Hand, die er ungeachtet der Gefahr, einen Stromschlag zu bekommen, jetzt fest drückte. Dann, als sie begann, sich auf ihn zu stützen oder an ihm zu zerren, kam er selbst nur noch schleppend voran, geriet häufig ins Straucheln und fluchte im Stillen über jeden Stein und jede Wurzel, die sie zu Fall zu bringen drohten. Diese letzten Meilen kamen ihm endlos vor, obwohl das Gelände glücklicherweise flacher wurde. Irgendwann glaubte er in der Ferne das Kichern der Grinslinge zu hören und trieb Europa zur Eile an. Im gleichen Maß, wie seine Kräfte schwanden, wurde Europa immer teilnahmsloser. Sie murmelte seltsame Dinge, häufig in einer fremden, me lodischen Sprache, und einmal sagte sie klar und deutlich: »Wir haben schon häufiger in der Patsche gesteckt, nicht wahr, mein Lieber …?« Sie gluckste, und dann hob sie be denklich die Stimme: »Aber wir sind jedes Mal mit heiler Haut davongekommen, was … he, Kastengesicht? Sie und ich … wir … haben große Dinge vollbracht … landauf … landab …« Sie schien sich zu beruhigen, doch auf einmal platzte sie heraus: »Meine Güte! Was haben sie dir nur an getan!« Und dann brach sie in heftiges Schluchzen aus, das ihren ganzen Körper schüttelte. »Was haben sie dir nur an getan?«, stieß sie hervor und weinte weiter. In dieser Nacht sprach sie kein Wort mehr. Bald darauf brach sie vollends zusammen und riss Ro samund in einer Wolke aus Schweiß und Parfüm mit zu Boden. Einen Augenblick lang lag er halb unter ihr begra ben und sah Sternchen. Er hätte nie gedacht, dass sie so schwer sein könnte. 202
Der sanfte Ruf eines Kuckuckskauzes ertönte. Uuh-Uuh. Uuh-Uuh. Es war ein eigentümlich besänftigender Laut, und er konzentrierte sich darauf, um wach zu bleiben. Es half nichts – er musste sie ziehen. Er kroch unter ihr hervor und befestigte eine Satteltasche unter ihrem Kopf, dann fasste er sie an den Knöcheln, klemmte sich ihre Füße un ter die Achseln und stapfte los. Er zog und zog und schleif te sie, ungeahnte Energien entwickelnd, hinter sich her. Ihre Schultern rieben geräuschvoll am Boden, und ihre Un terröcke wurden zerknittert, schoben sich zusammen und zerrissen, aber er konnte weder das eine noch das andere verhindern. Er musste auf ihre Rüstkleidung vertrauen, über die Verletzung ihrer Würde hinwegsehen und einfach weiter marschieren. Trotz des Lärms und obwohl er Qualen litt und zum Verzweifeln langsam vorankam, schleifte er Europa mit samt den Taschen und allem die Straße entlang, bis er seine Finger nicht mehr spürte und sich im Osten der Himmel färbte. Der Wald lichtete sich, und als die Straße eine Bie gung machte, sah er an ihrem Ende ein Licht zwischen den Bäumen. Er quälte sich weiter, und nach einigen Schritten erkannte er, dass es der Schein von Laternen war. Er blieb stehen, um sich zu sammeln und Luft zu schöpfen, und spähte angestrengt in die Richtung. Dort, im Grau des neuen Tags, hinter dem Waldsaum zu seiner Linken entdeckte er, was er suchte: eine breite, hohe Steinmauer. Er ließ den Blick an ihr entlangwandern. In einer Nische nach etwa zwei Dritteln war ein massives, eisenbeschlagenes Tor eingelassen, das ein bescheidener Bogen bekrönte. Darüber war eine Stange angebracht, die 203
waagerecht aus der Spitze des Bogens herausragte und an deren äußerstem Ende eine orangerote Laterne leuchtete. An der Stange hing ein bunt bemaltes Schild. Es zeigte ei ne rennende oder springende Frau, und darunter stand in kaum leserlichen Lettern:
Es war das Weghaus. Endlich waren sie am Ziel.
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IM »SCHNELLEN HASEN«
Weghaus: eine kleine Festung, in der müde Reisende Erholung und Schutz vor den Monstern finden, die ringsum in der Wildnis lauern. In sei ner einfachsten Form besteht das Weghaus nur aus einer großen Gaststu be nebst Küche und Unterkünften für den Wirt und das Personal, alles um geben von einer hohen Mauer. Tatsächlich bildet die Gaststube bis heute in jedem Weghaus den Mittelpunkt, wo sich der Gestank nach Dreck, Schweiß und Abwehrmitteln mit dem Rauch eines Kaminfeuers und Kü chendünsten vermischt.
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as Tor zum Schnellen Hasen ging nicht auf, als sich Rosamund mit der Schulter dagegenstemmte. Doch davon ließ er sich nicht entmutigen. Vorsichtig setzte er Eu ropas Füße ab, und ohne darüber nachzudenken, ob es zu so früher Stunde unhöflich war, hämmerte er mit dem schmie deeisernen Türklopfer so laut gegen das eisenbeschlagene Tor, wie es seine müden Arme erlaubten. Tatsächlich konn te er sie gerade noch heben, um den Klopfer zu ergreifen. Nach einiger Zeit ertönte eine Stimme aus dem runden, oben am Tor angebrachten Gitter. In barschem Ton fragte sie: »Was ist da draußen los? Was willst du denn um diese gruslige Zeit?« 205
»Ich habe eine … Freundin bei mir, sie ist verletzt!«, rief Rosamund mit möglichst tiefer und selbstbewusster Stim me zu dem Gitter hinauf. »Wir sind im Brindelwald über fallen worden. Wir brauchen Hilfe!« Ein Schlurfen war zu vernehmen, dann ein Scharren. Zwei gedämpfte Stimmen. »Verstehe …«, tönte es wieder aus dem Gitter. »Und wieso treibt sich ein Schlingel wie du in einer so gefährli chen Gegend so spät – oder so früh, wie man’s nimmt – da draußen herum, noch dazu ohne Hut auf der Birne?« Rosamund seufzte. »Den habe ich im Fluss verloren. Bitte, Sir, meiner Freundin geht es sehr, sehr schlecht. Sie braucht dringend einen Physikus.« »Ein Mädchen, sagst du? Ein krankes Mädchen können wir natürlich nicht draußen liegen lassen. Bleib, wo du bist.« Einer der beiden Torflügel schwang auf, und ein Mann trat heraus. Er war fast so breit wie hoch und trug, ausgerechnet, ein Kettenhemd, dazu Langschenkel und Stulpenstiefel. »Sehen wir sie uns mal an«, sagte der untersetzte Tor wächter und stellte einen Fuß auf die Straße, blickte mit flinkem, aber scharfem Auge in die Runde, dann hinab auf die ohnmächtige Fulgar. »Verflixt! Schöne Bescherung. Und so ein hübsches Mädchen.« Er fasste Europa unter den Achseln und hob sie hoch, als hätte sie überhaupt kein Gewicht. Sie regte sich, aber nur ein bisschen. Er rief ein »He …« über die Schulter, und eine zweite Gestalt löste sich aus dem Schatten des Ein gangs. Es war eine Frau, eine grimmig aussehende Frau, die kampfbereit in alle dunklen Winkel der Umgebung spähte. Sie sah den Torwächter an, dann Europa, und ohne 206
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weitere Aufforderung kam sie mit stolzen, geschmeidigen Schritten zu ihnen herüber, packte die Ohnmächtige an den Füßen und hob sie in die Höhe. Dabei bemerkte Rosamund ein eigenartiges Muster aus braunen Schnörkeln auf ihren Handrücken. Er erhaschte nur einen flüchtigen Blick dar auf, doch es erregte sofort seine Aufmerksamkeit. Monster Blood Tattoos! Auch sie war eine Monstertöterin. Die Haut unter ihrem linken Auge schmückte eine Art Zackenlinie, ein ihm unbekanntes Berufszeichen. Nicht allzu behutsam trugen sie Europa durch das Tor, und der kleine stämmige Kerl rief über die Schulter: »Los, schnapp dir ihre Sachen und folge mir! Ich bin Torwächter Teegarten … Ich wache hier am Tor … Zu deinen Diensten … Und wie heißt du, Junge?« »Rosamund«, antwortete er einfach nur, während er Eu ropas Satteltaschen zusammenraffte. Er konnte kaum die Gurte halten. Seine Hände waren so steif, dass er sie weder öffnen noch schließen konnte. Halb bewusst nahm er wahr, dass der andere kurz stutz te. »Oh, bitte um Verzeihung, Mädchen. Hab dich im Dämmerlicht für einen Jungen gehalten.« Dieser Teegarten klang so, als sei es ihm wirklich peinlich. Rosamund wusste nicht recht, was er erwidern sollte. Sein müder Verstand versagte ihm den Dienst. »Ich … äh … es ist schon richtig … ich bin ein Junge.« Wieder eine Pause, noch peinlicher als die erste. Die Frau, die Europa an den Füßen trug, warf Rosamund einen sonderbaren Blick zu. Teegarten hüstelte sich verwirrt in noch größere Verle genheit. »Aber natürlich, du hast recht, und ich weiß es, 208
mein Junge. Bei dem schwachen Licht haben mir wohl meine Augen einen Streich gespielt. Die Frau da, das ist übrigens Indolene – sie hütet mit mir zusammen das Tor.« Rosamund, erschöpft von dem Fußmarsch, rang sich ein Lächeln ab. Hinter dem Tor gelangten sie auf einen düsteren Kutschhof. Schritte knirschten im Kies. Ein Hofwächter eilte mit einer Laterne herbei. Er leuchtete Europa ins Ge sicht, während die beiden Torwächter mit ihr einer Tür in dem breiten, niedrigen Gebäude vor ihnen zustrebten. Sie atmete noch! Rosamund, der dicht hinter ihr ging, konnte sehen, wie sich ihre Backen blähten. Doch ihre Haut hatte eine gespenstische blassgrüne Farbe angenommen, aus welcher der dunkelblaue Spur lebhaft hervortrat. Sie hatte schwarze Ringe um die Augen, und Schweiß tropfte ihr von der Stirn und aus den Haaren. Sie war nicht wiederzu erkennen. Ihr Zustand verschlimmerte sich. Dem Hofwächter blieb vor Schreck die Luft weg. »Ei der Daus! Das ist ja eine Lahzar!« Die Miene der Torwächter in schien sich zu verfinstern, aber sie ging weiter. Teegarten pfiff leise. »Meiner Treu! Du befindest dich ja in feiner Gesellschaft, Junge! Aber sei’s drum – bringen wir sie fix rein. Sieht so aus, als ob sie gleich ihr Leben aushaucht!« Die Tür, auf die sie zuhielten, schwang auf, und ein Licht schein fiel auf den Hof. Ein schlaksiger Mann mit kastanien brauner Jacke und Wollmütze erschien. Er hatte einen ver kniffenen Mund und glänzende Knopfaugen. »Was ist denn das für ein Gezischel und Geschlurfe?«, fragte er gereizt. 209
»Wir haben zwei neue Gäste, Sir«, antwortete Teegarten respektvoll, »und dieser Dame hier geht es schlecht. Sie braucht dringend einen Physikus, Sir. Außerdem ist sie ei ne Lahzar, Sir, deshalb hielt ich es für geraten, den Hinter eingang zu benutzen, um unnötiges Aufsehen zu vermei den.« »Schon gut, Teegarten, schon gut, Sie brauchen nicht auf meine Erlaubnis zu warten, wenn Sie sehen, dass ein Phy sikus gebraucht wird.« Der schlaksige Mann, der in diesem Haus offensichtlich eine Person von Gewicht darstellte, schien zu jenen Menschen zu gehören, die sich immer är gerten, gleich was man antwortete. »Nur herein mit ihr, Mann, nur herein! Wartet nicht auf meine Einladung. Na nu, mein Junge, du siehst müde aus. Willkommen im Schnellen Hasen. Ich bin Mister Billetus, der Inhaber. Wir werden für deine Mutter unser Möglichstes tun, und für dich selbstverständlich auch.« Mutter? Dieser Mister Billetus, der Inhaber, ergriff Rosamunds Hand und drückte sie steif. Europa wurde in einen weiß verputzten Flur mit vielen Türen getragen. Alles sah ver dächtig nach Dienstboteneingang aus. »Und nun, liebe Freunde«, fuhr Mister Billetus fort, »bringt die arme Mutter des Jungen in den linken Flügel, Zimmer zwölf.« Er wandte sich an Rosamund. »Das ist unser einziges freies Zimmer für so vornehme Gäste, wie ihr es seid. Und vornehm, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, seid ihr in höchstem Grad, wie ich sehen kann. Wäre das genehm?« Rosamund hatte keine Ahnung, ob ihm das Zimmer ge 210
nehm sein würde oder nicht. Für ihn war ein Zimmer so gut wie das andere. »Mir ist jedes Zimmer recht, Sir. Wenn nur bald ein Physikus nach ihr sieht …« »Ausgezeichnet, ausgezeichnet. Gewiss, selbstverständ lich. Los, meine Freunde«, sagte Mister Billetus, an die Torwächter und den Hofwächter gewandt, »die Mutter braucht Hilfe – bringt sie in ihr Zimmer. Hurtig, hurtig!« Teegarten schien zu zögern, sagte dann aber: »Sie haben recht, Sir. Nur …« »Ja, Teegarten?« »Wie ich schon sagte, sie ist eine Lahzar.« Die Augenbrauen des Inhabers fuhren in die Höhe. Nach kurzem Nachdenken fasste er sich wieder. »Nun, ich habe sie nicht so zugerichtet, Mann. Geld ist Geld. Versteckt Sie vorläufig vor meiner Gemahlin. Was Madam Felicitine nicht weiß, macht uns nicht heiß. Ich kümmere mich um alles andere. Und jetzt ab mit euch in ihr Zimmer!« Einen fahl leuchtenden Algion in der Hand, führte sie Mister Billetus durch ein Labyrinth aus dunklen Gängen und noch dunkleren Türen. Ein Junge stieß zu ihnen, und Mister Billetus rief: »Ah! Little Dog! Da bist du ja, du Lausebengel! Lauf rasch zu Doktor Verhooverhovens Haus und bring den guten Doktor her. Und dass du mir nicht trödelst! Es geht um Leben und Tod.« Trotz seiner Müdigkeit fand es Rosamund höchst be denklich, dass er einen so kleinen Kerl losschickte, solange es draußen noch dunkel war. Auch Litte Dog selbst schien nicht erfreut. Dennoch flitzte er mutig davon. 211
»Der Physikus dürfte spätestens in einer Stunde hier sein«, sagte Mister Billetus sichtlich zufrieden. »Schön, schön, und jetzt zu ihrem Zimmer.« Mister Billetus blieb vor einer Tür stehen und musterte Rosamund mit dem kühlen Blick einer Katze, die eine flin ke Maus beobachtet. »Ihr … äh … könnt euch dieses Zimmer doch leisten?« Rosamunds Herz setzte einen Schlag aus. Er dachte an die teuren Lebensmittel und die weichen Polster im Lan daulet, die alle von Europas Wohlstand zeugten, und ant wortete, indem er geistesgegenwärtig mit seinem Geldbeu tel klimperte: »Selbstverständlich.« Billetus blickte tief erleichtert. »Wunderbar! Dann wirst du wohl auch nichts dagegen haben, einen Teil der Rech nung im Voraus zu bezahlen?« »Ich … äh … nein.« Rosamund konnte nur hoffen, dass er das Richtige tat. »Schön, schön. Ein Zimmer dieser Eleganz – und wenn ich den Schnitt eurer Kleidung sehe, halte ich diese Ele ganz durchaus für angemessen – kostet sechs Zechinen pro Nacht, zahlbar im Voraus für zwei Nächte. Wenn ihr nach der ersten Nacht abreist, erstatten wir den Restbetrag an standslos zurück. Also … die heutige Nacht müssen wir natürlich als erste Nacht berechnen, denn sie ist ja noch nicht vorbei … das heißt, ihr gebt mir einen Carlin und ei nen Tuck, dann ist das Zimmer bis zum Ende der morgigen Nacht bezahlt. Einverstanden?« Rosamunds überanstrengter Verstand überschlug die Summe: Zwanzig Schilling sind eine Zechine, und sechzehn Zechinen sind ein Heller. So – zwei Nächte zu jeweils sechs 212
Zechinen, das macht zwölf Zechinen. Ein Carlin ist eine Münze im Wert von zehn Zechinen und ein Tuck eine Mün ze im Wert von zwei Zechinen. Zehn plus zwei macht zu sammen zwölf – wieder zwölf Zechinen. Ich denke, das ist korrekt – natürlich ist es ein stolzer Preis, aber … Er glaubte, sein Kopf müsste zerspringen. »Ja … ich glaube schon. Ah … danke.« Mister Billetus streckte ihm die Hand hin, mit der Innen fläche nach oben. Rosamund glotzte sie eine Weile blöde an, dann däm merte ihm, dass der Inhaber auf der Stelle kassieren wollte. Er fasste in seinen Beutel und tastete umher, fand aber nur drei Zechinen, einen Schilling und die goldene Kaiserbilli on, die er dafür erhalten hatte, dass er in den Dienst der Laternenanzünder trat. Er runzelte die Stirn und überlegte einen Moment, dann gab er Billetus die Goldbillion. Der Wirt betrachtete das Geldstück verdutzt. »Ist das …«, Rosamund versagte die Stimme, »ist das genug?« »Ah … das ist zwar etwas … äh … ungewöhnlich, aber ja … doch. Das ist jedenfalls ein gesetzliches Zahlungsmit tel und mehr als genug Dafür bekommt ihr jeden Morgen sogar noch ein Frühstück.« Billetus steckte die Goldmünze ein und öffnete die Tür. Das Zimmer war groß und von einem Luxus, den der Findling nie für möglich gehalten hätte. An einer Wand standen zwei Betten mit reich verzierten Kopfenden, bau schigen Kissen und Daunendecken aus flauschiger Baum wolle. Der Fußboden war mit glatt polierten Holzdielen ausgelegt, und die weißen Wände und die hohe Decke, 213
reich mit Rillen und Schnörkeln verziert, erstrahlten im Schein der Laterne buttergelb. Im Findlingsheim hätte man in einem Raum dieser Größe zwanzig Zöglinge unterge bracht, hier war er nur für zwei Personen gedacht. Europa wurde gerade auf das hintere Bett gelegt, als Rosamund mit dem Inhaber eintrat. Eine abgenutzt aussehende Decke, die in dieser eleganten feinen Umgebung deplatziert wirkte, war über das Bettzeug gebreitet worden, damit es durch die schmutzige Kleidung der Fulgar nicht ruiniert wurde. Ein Zimmermädchen brachte zwei Badezuber und meh rere Krüge mit dampfendem Wasser. Mister Billetus empfahl sich, und während Rosamund hinter einem Wandschirm badete, wusch das Zimmermäd chen hinter einem anderen Europa. Fast wäre er in dem Zuber eingeschlafen, wenn ihn das Mädchen nicht mit ei nem ungeduldigen Hüsteln geweckt hätte, als es mit Euro pa fertig war. Bald lag er sauber – sauberer, als er sich je in seinem ganzen Leben gefühlt hatte – und mit einem Nacht hemd bekleidet in einem Bett, das so weich war, dass er komplett darin versank. Europa lag, ebenfalls frisch geba det und in einem geliehenen Nachthemd, in dem anderen. »Geht es ihr besser?«, fragte Rosamund müde das Mäd chen, das durch das Zimmer schwebte und weiß der Him mel was tat. »Es geht ihr den Umständen entsprechend …«, antwor tete sie flüsternd. »Du kannst getrost schlafen, mein Junge. Es wird an ihrem Zustand nichts ändern, wenn du wach bleibst.« Darauf löschte das Mädchen die Lampen und ging. Im Dämmerlicht des heraufziehenden Morgens betrachtete 214
Rosamund die fiebernde Europa. Er merkte nicht, wann oder wie, aber schließlich wurde er in diesem weichen, warmen Bett vom Schlaf überwältigt. Er erwachte mit einem jähen Schrecken, endlich erlöst von quälenden Alpträumen über Licurius’ blutiges Ende. Das Zimmer war zu weiß, zu hell, die Decke zu überladen und das Bett zu fremd. Dann dämmerte ihm, wo er war. Allmählich wurde er es leid, in einer fremden Umgebung aufzuwachen. Doch er tröstete sich damit, dass das Bett so weich und so warm war. Er streckte sich genüsslich, um schmeichelt von diesem ganz ungewohnten Gefühl, dann setzte er sich auf und schaute sich im Zimmer um. Gegen über war ein großes Fenster. Dessen beide Flügel standen offen und ließen die kühle Luft und den Vogelgesang des Spätnachmittags herein, die ihn in die Wirklichkeit zurück geholt hatten. Die Welt aus geraden und kahlen Stämmen und wirrem Geäst dahinter war winterlich, leuchtete aber golden in der Nachmittagssonne. Das Konzert der Vögel – das sanfte, beharrliche Gurren einer Art Taube, das viel stimmige Zwitschern kleiner Schnäbel und ein ungewöhn lich glucksendes Trällern – war merkwürdig laut und ihm völlig fremd. Das Zimmer selbst war insofern leer, als niemand darin herumlief. Doch das Bett zu seiner Linken, vor dem offe nen Fenster, war belegt. Darin lag, natürlich, Europa. Er kletterte aus seinem eigenen und trat zu ihr. Sie lag auf dem Rücken, den Kopf in viele flauschige weiße Kis sen gebettet, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Ihr langes Haar steckte unter einer Haube, wie sie Verline zu 215
tragen pflegte. In der kalten Luft, die durchs Fenster wehte und nach frisch gemähtem Gras duftete, fasste er fröstelnd zu ihr hinüber und berührte mit dem Zeigefinger ihre glatte Stirn. Sie rührte sich nicht. Sie fühlte sich kühl an, während sie in der Nacht noch vor Fieber geglüht hatte. Seiner Neugier erliegend, strich er vorsichtig über ihren Spur, die kleine Raute, die so akkurat über ihrem linken Auge gezeichnet war. Alle Seiten der Raute waren gerade und gleich lang, die Ecken klare Spit zen, und die unterste berührte fast den Bogen der Braue. Er hatte mal gehört – ob von Fransitart oder jemand anders, wusste er nicht mehr –, dass ein solcher Spur mit einer säu rehaltigen Substanz in die Haut geätzt wurde, ohne dass eine Narbe zurückblieb. Wieso sich jemand freiwillig die ser Prozedur unterzog, die doch bestimmt schmerzhaft war, konnte er nicht begreifen. Aus Eitelkeit? Oder sollte es als Warnung dienen? Was ihn selbst betraf, so würde er sich das nächste Mal, wenn er jemandem mit diesem Zeichen begegnete, jedenfalls sehr in Acht nehmen. So stand er lange da – die Arme um den Leib geschlungen, um sich in dem zu dünnen Nachthemd zu wärmen, und wegen der kalten Dielen abwechselnd mal den rechten, mal den linken Fuß am anderen Schienbein reibend – und betrachtete ihr ausdrucksloses, blasses Ge sicht. Dann beschloss er, sich anzuziehen. Er fand seine Klei der im Schrank, gereinigt und gebügelt. Alles war da bis auf die Schuhe. Beim Ankleiden suchte er leise das ganze Zimmer ab. 216
Wo sind nur diese Schuhe? Unter seinem Bett? Nein. Unter Europas Bett? Nein. Er öffnete den anderen Schrank, in dem Europas Sachen waren. Auch ihre Kleider waren gereinigt worden, und der ganze Schrank roch nach den aromatischen Substanzen, die man beim Reinigen verwendete. Dazwischen nahm er ei nen scharfen, honigähnlichen Geruch wahr, den er mittler weile als Europas eigenen erkannte. Er wusste, dass allein schon der Gedanke, ihre Sachen zu durchsuchen, sehr un gehörig war. Er schloss den Schrank rasch wieder. Die Tür am anderen Ende, deren Holz so dunkel war, dass es wie schwarz aussah, ging auf, und herein schwebte ein Zimmermädchen mit geschäftig raschelnden Röcken. Als sie Rosamund am Bett der Fulgar stehen sah, stutzte sie. Obwohl sie ein Tablett in der Hand hielt, machte sie einen gekonnten Knicks. »Ich bringe den Doktor, damit er nach Ihnen sieht, junger Herr.« Rosamund zog schüchtern den Kopf ein. Ein sehr ernster und überraschend junger, gut gekleide ter Mann trat ins Zimmer. Er trug einen wundervoll gemus terten Gehrock, Schnallenschuhe mit flachen Absätzen und eine große weiße Perücke, die hoch in die Luft ragte und eine schwache Puderwolke hinter sich ließ. »Das ist Doktor Verhooverhoven, unser Physikus«, sag te das Mädchen und deutete mit dem Tablett auf ihn. Auf dem Tablett standen zwei Schalen mit Kürbissuppe, die so köstlich roch, dass sie sofort Rosamunds Aufmerksamkeit erregte. »Und das, Doktor, ist … äh … ist …« »Rosamund«, sagte der Findling geradeheraus. 217
»Ah ja … richtig … mein … Junge«, erwiderte Doktor Verhooverhoven und blinzelte ihn an. »Freut mich. Wie fühlst du dich?« »Gut, danke.« »Na bestens. Ich möchte, dass du die Suppe isst, die Gretel dir freundlicherweise gebracht hat«, fuhr der Doktor fort, während das Mädchen die beiden Schalen auf einen kleinen Tisch vor dem Kamin stellte und mit einem alber nen Lächeln errötete. »Ich habe sie mit einem von mir per sönlich zubereiteten Stärkungstrank angereichert. Wenn du sie gegessen hast, wirst du dich besser fühlen als je zuvor.« Er wandte sich halb an das Mädchen. »Du kannst jetzt ge hen, Gretel. Wenn ich etwas brauche, wirst du die Erste sein, die es erfährt.« Das Mädchen neigte den Kopf, grinste Rosamund an und verschwand. Doktor Verhooverhoven schritt, die Hände auf dem Rü cken, zum Krankenbett, blieb vor der schlafenden Europa stehen und wippte auf den Fersen. Er maß am Hals ihren Puls, befühlte ihre Stirn, ließ immer wieder ein Hmm ver nehmen und betrachtete sie prüfend durch ein merkwürdig aussehendes Monokel. Rosamund nippte an seiner Suppe, die für ihn in diesem Augenblick das Köstlichste war, das er je gegessen hatte, und betrachtete Doktor Verhooverhoven, wie er Europa betrachtete. Schließlich drehte sich der Doktor um und wandte ihm seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu. »Sie ist nicht deine Mutter, nicht wahr, Junge?« Gerade im Begriff, sich einen großen Schluck von der 218
wunderbaren Suppe einzuverleiben, hielt Rosamund abrupt inne, gab ein prustendes Geräusch von sich und rutschte nervös auf seinem Stuhl herum. »Ich … äh … nein, Sir … Ich habe das auch gar nicht behauptet, Sir. Das waren an dere … Wie kommen Sie …« Doktor Verhooverhoven rückte das Monokel zurecht. »Woher ich es weiß, willst du wissen? Weil sie die be rühmte Rose von Brandenbrass ist – heldenhafte Teratolo gin, eingefleischte Junggesellin und Schrecken aller männ lichen Vertreter unserer Spezies! Sie ist, wenn man ihrem Ruf glauben darf, kein mütterlicher Typ. Wie, um alles in der Welt, bist du an sie geraten?« Rose von Brandenbrass? Den Namen kannte Rosamund, aber er wusste nicht mehr, woher. Ob er ihn vielleicht in einem seiner Illustrierten Hefte gelesen hatte? Was für ein erstaunlicher Zufall, dass er einer solchen Berühmtheit be gegnet war! Er schlug die Augen nieder, fühlte sich merk würdig unbehaglich. »Sie … sie hat mich vor dem Ver dursten gerettet … Wird sie denn wieder gesund?« »Unbedingt, mein Junge, dank meiner fachkundigen Pflege. Ich bin seit dem frühen Morgen hier. Während du geschlafen hast, habe ich das abgestorbene Gewebe ent fernt und die Wunde an ihrem Hals genäht. Darüber hinaus habe ich ihre Körpersäfte ins Gleichgewicht gebracht und sie ein wenig zur Ader gelassen, als Vorbeugung gegen Wundkrankheiten. Alles, was sie jetzt noch braucht, ist dieses grässliche Zeug, das ihresgleichen zu sich nehmen – Plaudamentum heißt es, soweit ich weiß. Ich habe nach unserer Skold hier am Ort geschickt, damit sie es zuberei tet. Von meinem Studium der Fachliteratur, das freilich 219
nicht sehr gründlich war, weiß ich, dass ein Lahzar nicht sehr lange ohne das Zeug auskommt, allenfalls zwei oder drei Tage … danach nehmen seine inneren Organe Scha den.« Der Physikus rollte dramatisch mit den Augen. »A ber, du liebe Zeit, ich will dich nicht mit den Einzelheiten erschrecken.« Leider hatte er Rosamund bereits erschreckt, wenn auch nicht so, wie er vielleicht erwartet hatte. Der Junge sprang auf und fragte voller Dringlichkeit: »Meinen Sie ihren Si rup, Sir?« »Ah … ja. Genau. Cathar-Sirup! So heißt das Zeug. Wann hat sie ihre letzte Ration zu sich genommen?« »Irgendwann letzte Nacht. Genau weiß ich es nicht, Sir, aber ich könnte jetzt gleich welchen für sie brauen. Ich möchte nicht, dass ihre inneren Organe Schaden nehmen. Sie hat alle nötigen Zutaten dabei.« Der Arzt blickte zweifelnd. »Ich habe heute Nacht schon welchen für sie gebraut«, beteuerte Rosamund. »Wenn ich es einmal getan habe, kann ich es auch ein zweites Mal …« Die Zuversicht in seiner Stimme überraschte ihn selbst. »Bist du ihr Faktotum? Du scheinst mir ein wenig jung dafür zu sein.« Doktor Verhooverhoven tippte sich mit dem Zeigefinger an den Mund, und seine Augenbrauen kräuselten sich neugierig. »Äh … nein, Sir, das bin ich nicht.« Manchmal bedauer te es Rosamund beinahe, dass er so schlecht lügen konnte. »Nein? Aha. Sollen wir dann nicht lieber warten, bis die Skold kommt? Nach meiner Kenntnis wissen diese Leute immer noch am besten, wie man einen solchen Trank 220
braut.« Der Arzt holte einen Stuhl mit hoher Lehne aus der Ecke und stellte ihn vor den Kamin. »Aber warum braucht sie ihn denn so dringend?« »Gute Frage, mein Junge. Gute Frage. Bist du sicher, dass du die Antwort hören willst?« Doktor Verhooverho ven sah so aus, als wollte er sie ihm nur allzu gerne geben. Rosamund gab zu verstehen, dass er sie hören wollte. »Natürlich willst du. Dann hör zu … Wenn jemand Lah zar werden will, so habe ich gelesen, begibt er sich ge wöhnlich in eine trostlose kleine Stadt tief im Süden na mens Sinster. Dort gibt es Schlachter – ›Chirurgen‹, wie sie sich selbst zu nennen belieben –, die dir gegen ein stattli ches Honorar den Bauch aufschneiden. Kannst du mir fol gen?« Rosamund nickte hastig. »Recht so, recht so. Wenn sie dich also aufgeschnitten haben – so heißt es jedenfalls in den Berichten –, nehmen diese Chirurgen ganze Organsysteme aus fremdartigen Drüsen, Blasen, Blutgefäßen und Därmen und nähen sie mit den bereits vorhandenen Eingeweiden und Nerven zu sammen. Die einen sagen, dass diese neuen Drüsen und so weiter eigens zu diesem Zweck gezüchtet werden, andere wiederum behaupten, dass sie anderen Geschöpfen ent nommen werden – die Meinungen gehen auseinander, und die Chirurgen in Sinster hüllen sich in Schweigen. Wie auch immer, wenn alles fertig ist, wird die Person wieder zugenäht. Nun ist der Körper aber – und damit kommen wir zur Beantwortung deiner Frage – für diese fremden und eigenartigen Drüsen nicht geschaffen. Er setzt sich zur Wehr, am Ende sogar äußerst heftig, es sei denn, es wird 221
etwas dagegen unternommen. Und dafür ist das Plauda mentum da – der Cathar-Sirup. Verstehst du? Sie müssen bis an ihr Lebensende jeden Tag diesen Trank einnehmen, damit ihre natürlichen Organe die eingepflanzten nicht ab stoßen. Hat der Organverfall aber erst einmal eingesetzt, führt er unweigerlich zum Tod. Kurzum, wenn diese Dame nicht bald ihren Sirup bekommt, wird sie sterben. So, damit wäre deine Frage wohl beantwortet. Ja?« Rosamund holte gerade Luft, um etwas zu erwidern, als draußen auf dem Flur zornige Stimmen nahten, deren leb hafter Wortwechsel im nächsten Moment von einem schar fen Klopfen unterbrochen wurde. Doktor Verhooverhoven erhob sich und rief freundlich: »Herein!« Die Tür flog auf, und eine fremde Frau stürmte herein, angetan mit der eleganten Tageskleidung einer feinen Da me und dem Ausdruck höflich gezügelten Zorns im Ge sicht. Ihr auf den Fuß folgte Mister Billetus. Er machte eine besorgte Miene und sagte beim Eintreten aufgeregt: »… Aber Liebste, das Geld eines Gastes ist so gut wie das jedes anderen. Seit diese Monster die Straße nach High Vesting unpassierbar machen, kommen kaum noch Gäste, wie du weißt. Wir können jede Kundschaft gebrauchen, meine Liebe, ich …« »Ja, ja, Mister Bill, aber doch nicht vor diesen Herr schaften, die mit den Feinheiten der Führung eines so gro ßen Etablissements nicht behelligt zu werden brauchen. Guten Tag, Doktor Verhooverhoven.« Bei dem Versuch, dem Doktor ein höfliches Lächeln zu schenken, verzog 222
sich ihr Gesicht zu einer Grimasse. Er hingegen verbeugte sich schwungvoll und setzte dabei ein Puderwölkchen aus seiner Perücke frei. Sie richtete ihren Blick auf Rosamund und sagte steif: »Und du musst der jüngere unserer beiden neuen Gäste sein. Ich bin Madam Felicitine, die Enrica d’ama dieses bescheidenen, aber anständigen Weghauses.« Bei dem Wort »anständig« sah sie Mister Billetus scharf an. Rosamund stand einfach nur da und blinzelte verwirrt. »Enrica d’ama« war ein ausgefallener Titel für einen weib lichen Haushaltsvorstand, insbesondere an Fürstenhöfen. Er wurde nur von Leuten benutzt, die sehr vornehm tun wollten. »Wie mir zu Ohren gekommen ist«, fuhr die Enrica d’ama, an den Doktor gewandt, fort und deutete erbost auf die reglose Fulgar, »haben wir in einem unserer besten Zimmer eine Pugnator, eine von diesem gewalttätigen Ge sindel. Ist das wahr, Sir?« »Ja, gnädige Frau, allerdings ist ihr Beruf für mich von geringem Interesse. Ich heile jedermann.« »Versuchen Sie nicht, mich um den Finger zu wickeln, Doktor. Sie stecken mit meinem Gatten bei dieser Gaunerei unter einer Decke, und dass er dachte, ich würde nicht rechtzeitig durchschauen, was hier gespielt wird, halte ich, gelinde ausgedrückt, für eine Beleidigung.« Sie warf dem sichtlich leidenden Billetus erneut einen wütenden Blick zu. Er wiederum sah Rosamund und Doktor Verhooverho ven entschuldigend an, tat sonst aber nichts. Rosamund war von dem Auftritt unangenehm berührt. Doktor Verhooverhoven blickte befremdet. »Ich versi 223
chere Ihnen, Madam, dass ich von keiner Gaunerei weiß, an der ich beteiligt sein könnte. Ich bin hier, weil man mich gerufen hat, um eine kranke Patientin zu behandeln. Und das nicht zum ersten Mal, wie Sie sehr wohl wissen.« Er beendete seine Stellungnahme mit einer eleganten halben Verbeugung. »Natürlich nicht, aber es ist das erste Mal, dass sie noch eine Person herbestellt haben, die beinahe genauso schlimm ist.« Sie wandte sich zur Tür und rief. »Du kannst jetzt hereinkommen, Gretel.« Gretel, das Zimmermädchen, trat, schuldbewusst zu ih rer Herrin blickend, ins Zimmer. Dicht hinter ihr folgte ei ne Fremde: eine kleine, sanftmütig aussehende junge Frau – genauer gesagt, ein Mädchen, jünger noch als Verline –, die eine besondere Tracht trug, wie sie Rosamund schon viele Male gesehen hatte. Eine Skold! Auf ihrem Kopf saß ein kegelförmiger Hut aus schwarzem Filz, der im oberen Drittel leicht nach hinten abknickte. Alle Skolds trugen ei ne zylindrische oder kegelförmige Kopfbedeckung als Zei chen ihres Berufs. Um ihren Hals und ihre Schultern lag ein Tuch aus weißem Hanfstoff mit einem dicken, geraff ten Kragen, den sich Skolds über das Gesicht zogen, um sich vor den Dämpfen ihrer Chemikalien zu schützen. Ihr Oberkörper steckte in einem Wams, das Quabard genannt wurde – ein leichtes Rüstkleidungsstück, das Rosamund von den Uniformen der leichten Infanterie in Boschenberg kannte. Eine Seite war schwarz und die andere braun, das Mottl von Hergoatenbosch, genau wie bei Rosamunds Ge henk. Über dem Quabard war eine breite Schärpe aus schwarzem Satin um ihren Leib geschlungen und auf dem 224
Rücken zu einer großen Schleife gebunden. An ihrer Hüfte hingen Zylinder, Etuis, Beutel und Taschen, die höchst wahrscheinlich Reagenzien, Mixturen und alles andere enthielten, was eine Skold im Kampf gegen die Monster benötigte. Ihre braunen Ärmel waren lang und weit ausge stellt. Auch ihr weiter Rock aus gestärktem, braunem Mus selin war sehr lang und schleifte, ihre Füße bedeckend, am Boden. An den Händen, die nervös miteinander rangen, trug sie Handschuhe aus weißem Wollstoff. Er hatte in seinem Leben schon mehrere Skolds gesehen, denn viele dienten als Wächter an den Boschenberger Ringmauern oder im Hafen, wo ihnen die Aufgabe zufiel, Nicker, die dem Humour entstiegen, ins Wasser zurückzu treiben. Trotzdem wusste er über Fulgare mittlerweile bes ser Bescheid. Von den Skolds wusste er nur, was jeder wusste, nämlich dass sie alle möglichen Gebräue und Tränke herstellten, die noch stärker und fabelhafter waren als alles, was Apotheker wie Craumpalin zusammenbrau ten, deren eigentliches Fach das Heilen von Krankheiten war. Die Chemikalien der Skolds hatten demgegenüber die Aufgabe, Schaden zuzufügen und zu vernichten. Rosa mund wusste, dass sie schon Jahrhunderte, bevor die Lah zare auftauchten, dem Kaiser als Monsterjäger oder »Pugnatoren«, wie Europa sie nannte, gedient hatten. Diese junge Frau musste die Skold sein, von der Doktor Verhoo verhoven gesprochen hatte und die Europas Sirup zuberei ten sollte. Für eine Monsterjägerin wirkte sie sehr nervös. Mit triumphierendem Blick wandte sich Madam Felici tine wieder dem Doktor zu. »Doktor Verhooverhoven«, 225
fragte sie, »wie kommen Sie dazu, nichtswürdige Personen in mein friedliches Etablissement zu bitten? Sie wissen, dass ein empfindsames Gemüt wie ich eine solche Dreis tigkeit nicht dulden und die Gegenwart solcher Leute nicht ertragen kann!« Sie deutete selbstgerecht mit dem Finger auf die Skold, die daraufhin errötete. Der Physikus schaute betreten drein. »Liebe Frau«, ergriff Billetus tapfer das Wort, ungeach tet ihrer Ermahnung, vor den »Herrschaften« nicht über Dinge zu reden, die sie nichts angingen, »sie haben ihre Rechnung bezahlt. Sie haben uns keine großen Umstände bereitet, ja, sind eigentlich sogar recht leise gewesen, wie es sich gehört. Was ist denn so schlimm daran, wenn sich eine hart arbeitende und gut verdienende Lahzar mit ihrem Faktotum ein Zimmer nimmt, das sie sich leisten können?« Der spärliche Vorrat an Höflichkeit der Enrica d’ama war nun endgültig aufgebraucht. »Himmeldonnerwetter! Hier geht es ums Prinzip. Sie kann nicht …!« »Bitte«, warf der Arzt mit leiser, eindringlicher Stimme ein. »Sie werden sie noch wecken.« Madam Felicitine sah ihn kalt an, fuhr aber bedächtig und ruhig fort. »Sie kann nicht hierbleiben, denn wenn wirklich kultivierte Gäste erfahren sollten, dass eine so verworfene und gewalttätige Person die Nachbarsuite be legt, würden sie nie wiederkommen und auch anderen da von abraten. Das werde ich nicht zulassen, oh nein!« Mit einem finsteren Blick auf Doktor Verhooverhoven zwang sie sich wieder zur Ruhe. »Nein, nein, die Bettnischen sind der richtige Platz für sie, obwohl es mir persönlich am 226
liebsten wäre, man würde solche Leute in die Gesindestu ben einquartieren, wenn sie schon unbedingt hierbleiben müssen.« Dann blickte sie ernst zu Rosamund, der ihren Blick noch ernster erwiderte. »Es schmerzt mich, mein Junge, wirklich, aber alles muss seine Ordnung und Richtigkeit haben. Menschen haben nun mal ihren Rang und ihren Platz. Niemand soll sich eine Stellung anmaßen, die ihm nicht zukommt. Ich weiß, eines Tages wirst du das verste hen.« »Aber liebe …«, versuchte es Billetus wieder. Aber die Enrica d’ama war jetzt richtig in Fahrt. »Ich will jetzt nichts mehr von dir hören! Du warst es doch, der zugelassen hat, dass die da …«, ihr Finger wies anklagend auf die ohnmächtig im Bett liegende Europa, »… hier wohnt!« Sie fuchtelte wild mit den Armen im Zimmer her um, alle Farbe wich aus ihrem Gesicht, und ihre Backen wabbelten vor Zorn. »Hast du wirklich geglaubt, ich würde nicht dahinterkommen? Sie muss fort, und damit basta!« Mister Billetus trat verlegen von einem Bein auf das an dere, aber mehr als ein Stammeln brachte er nicht heraus. »Oh, meine armen Nerven! Steck sie meinetwegen in ei ne Bettnische, wenn du es nicht übers Herz bringst, sie vor die Tür zu setzen!«, zischte die Enrica d’ama. »Wenn du sie nur aus diesem Zimmer schaffst!« In die beklemmende, laut nachhallende Stille, die nun eintrat, sagte eine eisige Stimme leise: »Mein Geld ist so gut wie das jedes anderen, Madam, und hier, in diesem Bett, werde ich bleiben!« Alle blickten verwundert zu dem Bett, in dem Europa 227
lag, bis eben noch scheinbar ohne Bewusstsein. Sie war noch zugedeckt, und ihr Kopf versank halb in den vielen zu weichen Kissen, aber ihre Augen waren jetzt offen und be trachteten, blutunterlaufen und hasserfüllt, Madam Feliciti ne mit kalter Verachtung. Rosamund fiel ein Stein vom Herzen. Endlich war Europa aufgewacht.
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WAS DER PHYSIKUS
VERORDNET
Skold: Bezeichnung für einen Teratologen, dessen Beruf darin besteht, mit Hilfe von Chemikalien und Gebräuen, sogenannten Mixturen, Monster zu bekämpfen. Diese Mixturen werden von Hand geworfen, aus Flaschen verspritzt, mit einem Lederband oder einer Fustibal (Stockschleuder) ge schleudert oder mit einer Pistole verschossen, die unter dem Namen Sali numbus (»Salzkeller«) bekannt ist. Zudem stellen Skolds Fallen auf, ma chen Rauch und was sonst noch nötig ist, um Monster zu besiegen oder zu vernichten. Gewöhnlich tragen sie wallende Gewänder und kegelförmige Hüte als Zeichen ihres Berufs.
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adam Felicitine hatte der kühlen und sturen Ent schlossenheit, die Europa an den Tag legte, offenbar nichts entgegenzusetzen. In ihrem eigenen Weghaus plötz lich zur Ohnmacht verurteilt, stürzte sie unter einem Schwall von Tränen und lautem Jammergeschrei aus dem Zimmer. Unverständliche Entschuldigungen murmelnd, eilte Bil letus ihr nach und schloss hinter sich die Tür. Gretel und die Skold sahen einander verlegen an, dann beschäftigte sich das Zimmermädchen damit, im Zimmer 229
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herumzugehen und die Kerzen anzuzünden, denn es wurde bereits dunkel. Doktor Verhooverhoven stand da und stierte teilnahmslos zu Boden. Die Skold blickte von ihm zum Bett, dann zurück zu ihm und schließlich hinter sich zur Tür. »E… es … tut mir leid, wenn ich etwas U… Ungehöriges getan habe, D… Dok tor Ho…hooverhoven«, sagte sie, offenbar ehrlich betroffen. Dies brachte den guten Doktor wieder zu sich. »Aber ganz und gar nicht, Mädchen. Du bist ja nur meiner Auf forderung nachgekommen – und daran ist nichts auszuset zen. Wir wollen nicht mehr daran denken, was soeben ge schehen ist – diese Dame braucht deine Hilfe.« Ein Ausdruck tiefer Erleichterung trat auf ihr Gesicht. »Na… natürlich. Sie wissen, ich he … helfe immer so gut ich k… kann.« »Und dafür gebührt dir großes Lob, mein Kind.« Der Arzt lächelte grimmig. Rosamund stürzte in banger Hoffnung an Europas Bett. Sie sah ihn gelassen an. Ihre roten Augen wirkten ge spenstisch im Oval ihres bleichen Gesichts. »Hallo, kleiner Mann. Bin ich lange weg gewesen?« »Seit letzter Nacht … äh, seit den frühen Morgenstun den.« Seine Stimme zitterte leicht vor Eifer. Sie schloss die Augen. »Dann haben wir es also tatsäch lich bis zum Weghaus geschafft? … Oder befinde ich mich schon im Delirium und bilde mir bloß ein, in einem wei chen, warmen Bett statt auf spitzen Steinen und pikenden Kiefer nadeln zu liegen?« »Nein, wir haben es geschafft, Madam, und freundliche Menschen helfen uns.« 231
Europa gluckste leise. »Davon bin ich überzeugt – sieht man mal von der keifenden Frau ab. Sag mir, wie viel hat diese Hilfe gekostet?« Rosamund machte ein langes Gesicht. Daran hatte er noch gar nicht gedacht: dass man ihnen vielleicht nur des halb so bereitwillig half, weil er so bereitwillig zahlte. »Ah, zwölf Zechinen für zwei Nächte.« Ihr Glucksen wurde lauter, erstarb aber mit einem leisen Röcheln. »Und du hast aus meinem Beutel bezahlt?« »Nein, Madam.« Er warf sich nur wenig in die Brust. »Ich habe mit der Kaiserbillion bezahlt, die ich dafür be kommen habe, dass ich bei den Laternenanzündern anfan ge.« »Dann sind wir also ein Kaiserlicher? Wie schön für dich. Wirklich interessant …« Sie schien einzuschlafen, dann durchlief sie ein Zittern. »Mir geht es elend, Rosa mund. Ich brauche meinen Sirup, und zwar bald. Du wirst ihn wieder für mich zubereiten …« Doktor Verhooverhoven hatte etwas abseits gestanden und wieder auf den Fersen gewippt, solange sie miteinan der sprachen. Jetzt trat er schnell hinzu. »Und Sie sollen ihn auch bekommen, Madam. Ich bin Doktor Verhoo verhoven, der Physikus am Ort – Wie geht es Ihnen? –, und das ist die reizende Miss Sallow, unsere Skold. Sie kann das Plaudamentum für Sie zubereiten. Habe ich recht, mein Kind?« Der Doktor blickte zu der Skold, die mit sichtlicher Ehrfurcht vor der Fulgar, die krank vor ihm im Bett lag, näher trat. »A… aber ja. Ich k… kenne alle T… Tränke, die L… Lahzare brauchen. Wie j… jede g … gute Skold.« 232
Europa richtete ihre schwindende Aufmerksamkeit auf die beiden und kniff die Augen zusammen. »Ach, Herr Physikus, Sie haben mir eine Skold besorgt? Wie freund lich von Ihnen. Eine solche … Fürsorglichkeit, ich danke Ihnen. Trotzdem, Sir, der Junge hätte den Sirup für mich brauen können. Er ist viel patenter, als er aussieht.« Rosamund zog den Kopf ein. Er wusste nicht, ob er sich freuen oder gekränkt sein sollte. »Davon bin ich überzeugt, Madam, aber ich vertraue lieber auf meine eigenen Methoden. So weiß ich immer, dass das Bestmögliche getan wird.« Doktor Verhooverho ven quittierte seine eigenen Worte mit einem beifälligen Nicken. »Wie Sie wollen. Ich streite nicht mit einem Physikus.« »Recht so, Madam«, lächelte er gewinnend. »Ich werde Ihnen auch ein Schlafmittel bringen lassen, damit Sie schlafen können. Nehmen Sie es zusammen mit dem Plau damentum, dann wird Sie das älteste aller Heilmittel kurie ren – Ruhe.« Europa schloss die Augen, und ein wissendes Lächeln spielte um ihre Lippen. »Noch eines, lieber Doktor. Wel chen Preis hat Ihre warme Fürsorge?« Rosamund war sich nicht sicher, aber er hatte den Ein druck, dass Doktor Verhooverhoven leicht errötete. »Sie tun mir Unrecht, Madam. Ich helfe Ihnen einzig um der Befriedigung willen, einen Mitmenschen wieder beschwer defrei auf dem Pfad der Gesundheit zu wissen.« »Aber gewiss, Sir«, seufzte Europa leise, »und wie hoch ist die Rechnung, die mich bei meiner Abreise erwartet? Wir alle brauchen Speise, um unseren Magen zu füllen, 233
und Kleider am Leib. Ich missgönne Ihnen Ihr Honorar keineswegs.« »Zwei Zechinen für alles«, bequemte er sich endlich zu sagen. Europa hob eine Augenbraue. Rosamund fand, dass sie für jemanden, dem es so schlecht ging, noch sehr munter und scharfsinnig war. Doktor Verhooverhoven fuhr schnell fort: »Nun aber genug mit dem unersprießlichen Gerede über finanzielle Dinge – Sie müssen sich jetzt ausruhen und den Trank zu sich nehmen, sowie er fertig ist.« Rosamund fand die schwarz lackierte Kiste – den Sirup kasten – im Schrank. Sie schaute aus einer Satteltasche hervor, die am Boden stand. Wieder überlief es ihn kalt, als er sie herausnahm. Er trug sie zu Europa, die den Kopf hob und schwach lächelte. Sie blickte zu Sallow, die darauf knallrot anlief. »Dieser kleine Mann soll Ihnen helfen. Ich vertraue ihm.« Sie warf Rosamund einen seltsam gequälten Blick zu. »Er ist mein neues … Faktotum …«, fügte sie beinahe flüs ternd hinzu. Rosamund stutzte. Ihr neues Faktotum? Was wurde dann aus den Laternenanzündern? Doktor Verhooverhoven machte eine leichte Verbeu gung. »Recht so, Madam. Ruhen Sie sich aus. Ihr Trank wird bald fertig sein.« Er winkte der Skold und dem Find ling mit weit ausladender Gebärde. »Auf geht’s! Sallow, junger Herr, ab in die Küche und tut eure Pflicht! Gretel wird euch den Weg zeigen. Sagt Chefkoch Closet, dass ich euch geschickt habe.« 234
Mit einem kleinen Algion in der Hand öffnete das Zim mermädchen die Tür, machte vor ihnen einen Knicks und lächelte verschmitzt. »Ich bringe euch in die Küche, wie es der Doktor befohlen hat.« Sie trat leichtfüßig auf den Flur, und die Skold folgte ihr. Mit einem letzten Blick auf Europa eilte Rosamund ih nen nach. Eine wohltuende Ruhe erfüllte ihn – endlich wendete sich alles zum Guten. Dennoch beschäftigten ihn zwei Fragen, als er dem Zimmermädchen und der Skold durch den halbdunklen Flur folgte: Wie kann ich Europas Faktotum sein und gleichzeitig Laternenanzünder werden? Und: Wo sind meine Schuhe? Gretel führte sie durch eine Tür, dann durch einen zwei ten Gang und eine weitere Tür. Rosamund holte Sallow ein. Dabei bemerkte er, dass sie von einer Wolke sehr un angenehmer Gerüche umgeben war, die ihm in Verbindung mit dem Sirupkästen Übelkeit verursachten. »Hallo«, sagte die Skold mit einem schüchternen Lä cheln. »I… ich heiße Sssallow Mee… Meermoon. Und du?« »Rosamund«, antwortete er. Sie muss etwas Besonderes sein, wenn sie zwei Namen hat. Wie immer machte er sich auf eine komische Reaktion auf seinen eigenen gefasst. »Ach, R … Rosamund, das mmmuss toll sein, das F … Faktotum der Rose von Br … Brandenbrass zu sein!« Sie hatte überhaupt nicht reagiert. Er mochte sie. Nur schade, dass sie so schlecht roch. »Es muss toll sein, eine Skold zu sein«, erwiderte er. »Ach, seh … schön war’s.« Sie klang tief bedrückt. Rosamund blickte in ihr trauriges Gesicht. 235
»Ich b… bin erst letzten M… Monat aus dem R… R… Rhombus in Worms zurückgekommen«, fuhr sie hastig fort. »Drei Jahre war ich d … da und hab alles gelernt – die E… Elemente und die U… Unterelemente, alle Sss… Skripturen, alle G… Grundstoffe und Kombinationen, den K… K… Körnchenflechter, die V… Vier Sphären und die V… Vier Körpersäfte, Anwendungen des V… Vadechemi ca, Allgemeinkunde und Ha… Habilistik. D… du meine Güte, was man alles wi… wissen muss.« Rosamund wusste aus seinem Almanach, dass manche Skolds einen Rhombus besuchten, um dort ihren Beruf zu erlernen. Was die anderen von ihr erwähnten Dinge anging, hatte er keine Ahnung, welche Bewandtnis es damit hatte – nur dass die »Allgemeinkunde« sich mit Dingen beschäftig te, die vergangen waren, dass die »Habilistik« erforschte, wie die Dinge funktionierten, und dass das Vadechemica ein uraltes Buch war, in dem – wie Craumpalin ihm erzählt hat te – die haarsträubendsten Dinge standen. Dieses Mädchen erschien ihm zu höflich und freundlich, als dass sie sich drei Jahre lang in so ein grausiges Buch vertieft haben sollte. »I… ich habe alles g… gelernt«, fuhr sie fort, »alles. I… ich habe g… gute Noten bekommen u… und Auszeich nungen. A… aber jetzt …« Sie verstummte, als sie durch eine letzte Tür gingen und in einen sehr großen, heißen und dampfigen Raum gelang ten, der von lauten Rufen widerhallte. Schatten bewegten sich unter einer Dunstglocke aus flackerndem Orange. Herrliche Düfte, süß und würzig, erfüllten die feuchte Luft. Mmm, die Küche … Rosamunds Magen feierte die Ent deckung mit einem Knurren. 236
»Bücket, du Schlingel!«, dröhnte eine kultivierte, aber raue Stimme. »Dreh weiter den Spieß, und dreh ihn lang sam, sonst werde ich dich auf den Spieß stecken und bra ten!« Ein Klappern ertönte, dann ein Poltern und ein Klirren. »Das reicht! Raus! Raus!«, donnerte die Stimme. Ein kleiner Junge schoss aus dem dichten Dampf hervor, drängte sich grob an ihnen vorbei und durch die Tür, durch die sie soeben eingetreten waren. Eine Schöpfkelle flog hinter ihm her, verfehlte Gretel nur knapp und landete mit einem lauten, ohrenbetäubenden Scheppern auf dem ge pflasterten Fußboden. Ein sehr durchschnittlich aussehen der Mann tauchte aus dem Dampf auf. Als er die drei Neu ankömmlinge und die Kelle sah, die noch zu ihren Füßen zitterte, nahm sein rotes, zornentbranntes Gesicht einen beschämten, entschuldigenden Ausdruck an, der schließ lich steifer Reserviertheit Platz machte . »Gretel! Wen hast du denn mitgebracht? Hat ihnen das Essen nicht ge schmeckt? Wollen sie lieber, dass Uda für sie kocht?« Er war weder groß noch klein, weder dick noch dünn, weder schön noch hässlich, sehr durchschnittlich eben. Der Schurz, den er trug, war makellos weiß, obwohl es überall um sie herum blubberte und brodelte. Ihm gehörte die Stimme, die vorhin gebrüllt hatte. »Ganz und gar nicht, Mister Closet«, antwortete Gretel fröhlich. »Kennen Sie denn Sallow nicht mehr, unsere jun ge Skold? Die kleine Sallow? Sie war in Worms und ist als richtige junge Dame und Monsterjägerin zurückgekom men. Sie soll auf Doktor Verhooverhovens Anweisung hier einen Trank oder so etwas brauen.« 237
Mister Closet ließ sich nicht anmerken, ob er sie wieder erkannte. Stattdessen blickte er ungeduldig zur Decke. »Nun ja … wenn der gute Doktor es angeordnet hat, muss es wohl gestattet werden.« Er warf Sallow einen finsteren Blick zu und deutete mit seiner Hand, die ein gezacktes Messer hielt, nach links. »Nimm die Kochplatte in der Ecke da drüben und steh mir nicht im Weg herum!« Gretel wandte sich schon zum Gehen, da bemerkte sie, dass Rosamund in Strümpfen herumtappte. »Oh«, sagte sie, »du hast ja deine Schuhe noch gar nicht zurückbekommen. Das tut mir leid. Dieser Lauser von Sitt lässt sich mal wie der Zeit. Ich werde sie dir bringen.« Lächelnd entfernte sie sich. Eine beleibte Frau, deren Schürze ebenso schmutzig wie die von Closet sauber war, drückte der Skold wortlos einen kleinen irdenen Topf in die Hand. Rosamund trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Das unbehagliche Gefühl, das ihm der Sirupkasten verur sachte, wurde allmählich unerträglich. Zu seiner großen Erleichterung nahm ihm Sallow den Kasten endlich ab. »Ah … Miss Skold«, fragte er, »äh … Sallow, macht es dich nicht … nervös, all die Reagenzien in der Hand zu halten?« »N… nein, eigentlich nicht«, antwortete sie zerstreut. »Der K… Kasten ist in Fächer unterteilt. Sehr p… prak tisch. Weißt du, wo… woher sie ihn hat?« »Ah, nein …« Hochkonzentriert begann Sallow mit der Zubereitung des Sirups. Sie machte alles in der gleichen Reihenfolge wie Rosamund letzte Nacht und murmelte dabei unablässig 238
vor sich hin. »Z… zuerst das … Bezoariac, dann das … R… Ratanhia-Pulver … dann …« Als der Sirup fertig war (Rosamund fand ihn ein wenig zu klumpig), goss sie ihn in einen Bierkrug und trug ihn zu Europa ins Zimmer. Europa trank ihn gierig wie immer. Praktisch vor ihren Augen bekam ihr Gesicht wieder Farbe. Als sie alles bis auf den letzten Tropfen getrunken hatte, sagte Doktor Verhooverhoven lächelnd zu Sallow: »Ich habe gute Neuigkeiten für dich, mein Kind. Während du in der Küche warst, hat mir die freundliche Fulgar erzählt, dass sie diese lästigen Bogeis im Brindelwald bezwungen hat!« Sallow strahlte, als habe man sie von einer langen Ge fängnisstrafe begnadigt. »Wirklich! Oh, wi … wirklich!« Sie blickte vom Doktor zu Europa. Die Fulgar nickte mit einem kühlen, huldvollen Lächeln. »Wie mir der Doktor erzählt hat, hättest du selbst gegen sie kämpfen müssen, Mädchen. Es freut mich, dass ich dir die se Last abnehmen konnte. Der Riese war ein Kinderspiel, aber diese Mickerlinge, die, wie ich glaube, seine Herren waren, haben mir … schwer zu schaffen gemacht. Eine Kaufmannsgilde in High Vesting hatte mich damit beauf tragt. Du kannst den Signalsternen danken, dass diese un erquickliche Arbeit erledigt ist, und dich getrost wieder dem Brauen und deinen Büchern zuwenden.« »Ach! I… ich bin ja s… so erleichtert«, war alles, was die überglückliche Sallow herausbrachte. Bei der Erwähnung des Missratenen Klugen ging Rosa mund ein Stich durchs Herz. Wieder erfüllte ihn Trauer über dessen Tod. 239
Europa lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Ich werde Ihr Schlafmittel nicht brauchen, Doktor Verhoo verhoven. Ich fühle, dass ich auch so einschlafen werde.« »Das freut mich zu hören – recht so.« Der Physikus ergriff eine Kerze und geleitete Sallow mit erhobenen Armen zur Tür. »Zeit für die weniger Schlafbe dürftigen, das Feld zu räumen. Meine bescheidene Hütte ruft – da wartet Arbeit auf mich. Nach dir, Sallow.« Er lä chelte Rosamund zu. »Wenn du hier fertig bist, mein Jun ge, empfehle ich dir, in die Gaststube zu gehen und eine kräftige Mahlzeit zu dir zunehmen.« Der Findling nickte. »Ja, Doktor, das werde ich tun.« »Gute Nacht, Madam!« Der Physikus machte eine ele gante Verbeugung. »Ich bin zuversichtlich, dass es Ihnen morgen schon viel besser geht.« »Auch Ihnen eine gute Nacht, lieber Doktor«, erwiderte Europa ebenso freundlich. »Schlafen Sie gut.« Der Physikus und die Skold gingen. Nun, da er mit der Fulgar wieder allein war, fühlte sich Rosamund etwas unbehaglich, zappelte herum und warf ihr scheue Blicke zu. Sie hielt noch den Krug in der Hand, in dem der Sirup gebracht worden war. »Den könnte ich für Sie in die Küche zurückbringen, Miss Europa«, erbot er sich. Sie sah ihn schläfrig an. »Das ist Sache der Dienstboten, kleiner Mann.«Trotzdem hielt sie ihm den Krug hin. »Aber wenn du unbedingt willst.« Er nahm ihn ihr ab, und dabei bemerkte er an den Innen seiten ihrer beiden Handgelenke eine ganze Ansammlung kleiner Zeichen mit einem leuchtenden kleinen X vorn und 240
hinten. Sie hatten dieselbe dunkle Farbe getrockneten Bluts wie der grinsende Monsterkopf, der auf Master Fransitarts Arm tätowiert war. Er stutzte. »Miss Europa …?« »Ja?« »Was ist das?«, fragte er mit einem bedeutungsvollen Blick auf ihre Handgelenke. Europa drehte sie so, dass er die kleinen Zeichen besser sehen konnte – jeweils vier mal vier waren deutlich er kennbar zu einer Gruppe zusammengefasst. Rechts zogen sich drei komplette Sechzehnergruppen den halben Unter arm hinauf, links war nur eine komplette Gruppe und eine angefangene zu sehen. Rosamund rechnete rasch im Kopf. Das müssen über siebzig Zeichen sein! »Das da?«, fragte sie sanft. »Das sind nur meine Cruor punxis.« »Ihre was, Miss?« »Cruorpunxis«, wiederholte sie, schon etwas ungeduldi ger. »Cru-or-pun-xis. Monster Blood Tattoos. Jedes kleine Zeichen steht für ein Monster, das ich getötet habe.« Sie hat über siebzig Monster getötet! »Aber nicht alle sind hier verewigt«, seufzte sie und be trachtete ihren Unterarm. »Manchmal ist es unmöglich, an das Biest heranzukommen, wenn es erledigt ist. Wie bei dem Riesen an der Brücke …« Er war froh, dass sie den Missratenen Klugen dort nicht würde verewigen können. »Ich dachte, das wären immer Bilder des getöteten Monsters.« »Naja, bei gewöhnlichen, ungebildeten Leuten ist das so üblich. Ich ziehe etwas Attraktiveres und Schicklicheres vor.« 241
Rosamund runzelte die Stirn. Es ärgerte ihn, dass Master Fransitart als ungebildet und gewöhnlich bezeichnet wurde. Europa wurde etwas lebhafter. »Hör zu«, sagte sie, ohne zu merken, dass er innerlich kochte. »Während du in der Küche warst, habe ich alles Notwendige für die Bergung des … guten Licurius … und auch des Landaulets in die Wege geleitet. Ich erwarte, dass alles bis morgen Abend erledigt ist. Bitte sag mir sofort Bescheid, wenn man ihn gebracht hat.« Du und dein Licurius, dieser verfluchte, hinterhältige Kerl, schoss es Rosamund durch den Kopf. »Ja, Miss Europa«, kam aus seinem Mund. Ohne sie anzusehen, ging er zur Tür. All das Schlechte, das er sie hatte tun sehen, drückte wie ein schweres Lei chentuch auf sein Gemüt. Direkt neben der Tür sah er seine Schuhe am Boden stehen, tadellos sauber und auf Hoch glanz poliert. Daneben ragten die hohen, kriegerisch ausse henden Kavalleriestiefel Europas empor. Er zog seine Schuhe aus ihrem Schatten und schlüpfte hinein. Ohne ein Wort oder einen Blick zurück verließ er das Zimmer.
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GETEILTES LEID
IST HALBES LEID
Kaiserlicher Postbote: Postboten leben gefährlich und verstehen es nor malerweise meisterhaft, Monstern aus dem Weg zu gehen und sich vor ihnen zu schützen. Sie nehmen häufig die Dienste von Skolds in Anspruch und stellen mit raffinierten und gewitzten Methoden sicher, dass die Post immer durchkommt. Dennoch ist die Sterblichkeitsrate unter ihnen hoch. Aus diesem Grund werden als Postboten bevorzugt Waisen, Herumtreiber und Findlinge eingestellt, die keine Angehörigen haben, die sie vermissen könnten.
A
m frühen Morgen fand Rosamund Europa ruhig auf einem Stuhl am Kamin sitzend vor. Sie starrte in die züngelnden Flammen eines frisch entzündeten Feuers und hielt eine Schale Cathar-Sirup in der Hand, trank aber nur in kleinen Schlucken, statt wie sonst alles in einem Zug hinun terzuschütten. Er wartete, bis sie ausgetrunken hatte – das erschien ihm ratsamer –, dann erst sprach er sie an. »Miss?« Europa richtete ihre haselnussbraunen Augen auf ihn. »Ja, kleiner Mann?« Er war nervös. »Wie … wie finden Sie eigentlich meinen Namen?« Sie blickte ungehalten. »Was meinst du denn mit finden?« 243
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»Na ja, es ist eigentlich kein Name für einen Jungen. Wussten Sie das nicht?« Ihre Züge entspannten sich. Sie ließ ihr perlendes Ki chern vernehmen. »Ach so, ich verstehe. Manche würden ihn eher einem Mädchen geben. Was geht mich das an, wie deine Erzeuger dich genannt haben? Namen sind nicht alles. Selbst wenn man dich ›Mistkopf‹ genannt hätte, würde ich dich so ansprechen, ohne es peinlich zu finden oder dich damit aufziehen zu wollen. Es ist doch nur ein Wort, kleiner Mann.« Sie sah ihn sanft an, noch geschwächt, aber ungewöhnlich freundlich. Rosamund hüpfte das Herz im Leib. Auf ihre Art schien die Fulgar wiedergutmachen zu wollen, was sie ihm an der Brindelwaldbrücke angetan hatte. Sie sagte eine Weile nichts, und Rosamund wollte sich schon zum Gehen wenden, da fasste sie ihn am Arm und sagte ganz ruhig: »Ich verstehe ja, warum du mich das fragst, und ich kann mir gut vorstellen, dass du dein Leben lang darunter gelitten hast.« Er wunderte sich über ihre launische Freundlichkeit. Nach kurzer Pause antwortete er: »Ja, Madam, das habe ich. Sie haben mich ›Rosensträußchen‹, ›Mädchen‹ und ›Fräulein‹ gerufen … und solche Sachen.« Ihre Miene wurde ernst. »Das überrascht mich nicht. Sobald Kinder sprechen können, beginnt ihre lose Zunge mit diesem grausamen Spiel.« Sie hielt inne und sah ihn weiter forschend an. Ihr Blick machte ihn so verlegen, dass er ihr die Schale abnahm, nur um etwas zu tun. »Ich hoffe, du hast gelernt, mit diesen Kränkungen um zugehen, kleiner Mann.« 245
Rosamund heftete seine Augen auf den schwarzen Bo densatz in der Schale. »Na ja, ich habe sie einfach nicht beachtet und bin ihnen möglichst aus dem Weg gegangen. Master Fransitart und Verline haben sich sehr lieb um mich gekümmert, darum hat es mir nichts ausgemacht.« Europa veränderte ihre Sitzposition. »Und wer waren diese Leute … Master Fransitart und Verline?«, fragte sie und zog ein schwarz lackiertes Kästchen hervor. Rosamund wurde ruhiger. »Oh, Master Fransitart ist … äh … war mein Schlafsaalaufseher, aber nicht der einzige: Da waren noch Craumpalin und Heddiebulk, Ausbilder Barthomäus und Unterlehrer Cuspin …« Europas Blick wurde glasig und wanderte zurück zum Feuer. Offenbar war ihr Interesse schon wieder erloschen. »… und Verline ist Madam Operas Stubenmädchen, a ber sie hat sich ganz besonders um mich gekümmert«, brachte Rosamund den Satz zu Ende, damit wenigstens ih re Frage beantwortet war. »Ach, Madam Opera?« Europa schenkte ihm wieder ih re Aufmerksamkeit und hob in ihrer typischen Art eine Augenbraue. »Genug der Namen. Klingt fast so, als seien deine ersten Jahre ebenso schwierig gewesen wie meine. Geh jetzt, kleiner Mann! Eine Frau braucht auch ein Privat leben. Gib mir Bescheid, sobald man … äh … den armen Licurius und das Landaulet gebracht hat.« Sie ließ die Schultern hängen und sah sehr müde aus, obwohl sie eben erst aufgestanden war. Rosamund verneigte sich leicht und ging, in der einen Hand die Suppenschale und mit der anderen seinen Alma nach ergreifend, zur Tür. Er hatte sie gerade geöffnet, da 246
rief Europa: »Und sag ihnen, dass ich nicht gestört werden will!« »Ja, Miss Europa.« So verwirrt wie nach jedem Gespräch mit der Fulgar ging er in die Gaststube. Merkwürdigerweise war ihm heu te so leicht ums Herz wie seit vielen Tagen nicht mehr. Er las in seinem Almanach und nippte an einem Krug Dünn bier, und er saß noch immer in der Stube, als am Nachmit tag Gretel zu ihm kam. Ein Hofwächter namens Dank, der heute Tageswache hatte, war bei ihr und teilte ihm mit, dass soeben das Landaulet gebracht worden sei. Rosamund ging hinaus auf den Hof und besah sich die Kutsche. Wie zu erwarten, war sie noch in dem Zustand, in dem sie sie zurückgelassen hatten. Er fragte nach dem Leichnam des Leers. »Nun ja«, antwortete Dank und kratzte sich am Kopf, »da war keine Leiche, weder von dem Pferd noch von die sem Licurius.« Rosamunds Mut sank. Seine Unbeschwertheit war wie weggeblasen, als sei sie überhaupt nicht da gewesen. Die Enttäuschung war ihm wohl am Gesicht abzulesen, denn Gretel legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. »So ist das nun mal«, erklärte der Hofwächter. »Monster mögen ihr Fleisch, und am liebsten Menschenhaut und Menschenknochen. Tut mir leid, Junge. Deine Herrin wird das bestimmt verstehen. Nach allem, was man so von ihr hört, ist sie ja viel in der Welt herumgekommen.« Mit einem tiefen Seufzer machte sich Rosamund auf den Weg zu ihrem Zimmer. Gretel und Dank, den Hut beschei den in der Hand, begleiteten ihn. Europa bat sie gutgelaunt 247
herein. Stammelnd und mit vielen »Ähs« rückte Rosamund mit der unerfreulichen Neuigkeit heraus. Der Hofwächter bestätigte seinen Bericht beinahe eben so verlegen. »Wir haben so lange und so weit im Umkreis gesucht, wie wir es wagen konnten, Madam, aber wir ha ben nichts gefunden …« Europas Miene verfinsterte sich augenblicklich. Mit lei ser, frostiger Stimme schickte sie alle aus dem Zimmer. Rosamund war schon an der Tür, da rief sie ihn zurück. Ihr Blick war hart, ihr Ton scharf. »Wir werden uns einen neu en Kutscher besorgen müssen«, sagte sie. Rosamund zögerte. Die Frage Und wie? bildete sich in seinem Verstand und fand beinahe den Weg zu seinem Mund. Die Augen der Fulgar verengten sich. »J … ja, Miss Europa«, sagte er und schlüpfte schnell hinaus. Er wandte sich Rat suchend an Mister Billetus, und der antwortete ihm, dass in Silvernook, einer Stadt etwas wei ter im Norden, am leichtesten Kutscher oder Fuhrleute zu finden seien. »Geh einfach in die Kutscherhütte des Kaiserlichen Postamts«, schlug Mister Billetus vor. »Dort warten alle Kutscher, die Post von Stadt zu Stadt befördern, auf ihre nächste Fuhre.« Da man es für zu spät erachtete, heute noch nach Silver nook aufzubrechen, musste Rosamund die Suche nach ei nem Kutscher auf den nächsten Tag verschieben. Stattdes sen ging er in die Gaststube, um zu Abend zu essen. Wie schon am Abend zuvor wurde er von einem Mädchen be 248
dient und konnte sich aus einer großen, länglichen Speise karte, die sie ihm hinhielt, etwas auswählen. Die Gerichte, die auf der Karte standen, waren in zwei Gruppen unterteilt: »Gaumenfreuden« und »Hausmanns kost«. Worin der Unterschied bestand, blieb Rosamund verborgen. Gestern hatte er sich aus dem Teil der Liste, der mit »Hausmannskost« überschrieben war, Neunaugenpas tete ausgesucht, weil er das Gericht noch nie gegessen hatte und die Namen der anderen nicht kannte. Es hatte nicht besonders gut geschmeckt. Heute entschied er sich für Wildragout und bestellte dazu ein Getränk mit dem exo tisch klingenden Namen »Orangensaft«, das, als es kam, den einfachen Geschmack des Findlings verblüffte. Der Saft war süß mit einer herben Note, aromatisch und erfri schend und schmeckte wie die beste Orange, die er jemals gegessen hatte. Das Wildragout hingegen sagte ihm weni ger zu. Es brannte unangenehm auf der Zunge, aber er würgte es trotzdem hinunter. Selbst das heikelste Buchkind aß seinen Teller immer leer. Eine Frau in einem verblüffenden Kleid aus Pfauenfe dern und blau gefärbtem Pelz stand am anderen Ende der Gaststube und sang so schön, dass Rosamund immer wie der minutenlang das Essen vergaß. Sie hieß anscheinend Hero von Clunes, wie er den Gesprächen an den Nachbarti schen entnahm, und war eine berühmte Schauspielerin aus dem tiefen Süden. Er fragte sich, was sie wohl in diese ent legene Gegend verschlagen hatte. Als er dieses »Clunes« auf den Karten in seinem Almanach suchte, stellte er zu seiner Verwunderung fest, dass es dort gar nicht verzeich net war, weil es zu weit im Süden lag. 249
Er aß zu Ende und kehrte ins Zimmer zurück, um zu schlafen. Europa lag noch im Bett, mit dem Rücken zur Tür. Rosamund wusste nicht, ob sie schlief oder ihn ein fach nur nicht beachtete, und er legte auch keinen Wert darauf, es herauszufinden. Kurz nach Tagesanbruch machte er sich auf den Weg. Mis ter Billetus gab ihm Little Dog als Führer zur Begleitung mit. Little Dog ging voran, barfüßig und von einer Rüst kleidung geschützt, die von weitaus schlechterer Qualität war als Rosamunds feiner Gehrock. Zu Anfang war er schüchtern und schien großen Respekt vor dem Findling zu haben, was für Rosamund so ungewohnt war, dass es ihn unangenehm berührte. Nachdem sie das Tor passiert hatten, das hinter ihnen wieder fest verschlossen wurde, gelangten sie schon bald an die Straßenkreuzung, in deren Nähe man den Schnellen Hasen errichtet hatte. Ein Wegweiser klärte sie darüber auf, dass sie sich nun auf dem Langweg befanden. Im Sü den lag High Vesting, im Norden Silvernook, und dahinter dieses Winstermill. Rosamund verspürte ein Kribbeln, als ihm bewusst wurde, wie nahe er seinem ursprünglichen Reiseziel war. Er brauchte nur nach Norden zu marschie ren, ein Stück über Silvernook hinaus, und schon war er da. Und hätte in High Vesting nicht dieser Mister Germanicus auf ihn gewartet, hätte er es wohl auch getan. Sie bogen nach links ab und gingen auf dem Langweg nach Norden in Richtung Silvernook. Little Dog schlug ein so scharfes Tempo an, dass Rosa mund nur mühsam mit ihm Schritt halten konnte. Sie ka 250
men so außer Atem, dass sie sich kaum unterhalten konn ten. Der Page schaute unentwegt nervös um sich, und Ro samund tat es ihm nach. Wenn es irgendwo laut raschelte, zuckten sie zusammen und gingen noch schneller. Einmal erschraken sie so heftig über ein Knacken unter den Bäu men, dass sie von der Straße flüchteten und sich hinter ei nem flechtenbewachsenen Felsen versteckten. Sie atmeten jedes Mal erleichtert auf, wenn ein Karren oder ein Ein spänner vorbeikam, dessen Kutscher ihnen zuwinkte oder gar einen freundlichen Gruß zurief, auch wenn sie ihn nicht verstanden. Je weiter der Tag fortschritt, desto reger wurde der Verkehr auf der Straße. Gegen ein Glasen der Vormittagswache, so schätzte Ro samund, rumpelte ein Wagen heran und hielt an. Der rotge sichtige Kutscher grüßte fröhlich und rief: »Little Dog! Soll ich euch nach Silvernook mitnehmen?« Die beiden müden Wanderer antworteten mit einem herzhaften Ja. Der Mann stellte sich Rosamund als Bauer Rabbit vor, plauderte vergnügt über »Erdäpfel« und »Runkelrüben« und erzählte, dass Frau Rabbit ein Kind erwarte. »Mein erstes, müsst ihr wissen«, grinste er augenzwinkernd. Für Rosamund war der Bauer der glücklichste Mensch, dem er je begegnet war, und er musste einfach mit ihm um die Wette strahlen. Der dunkle Wald wich hohen Hecken aus dicken Ze dern, die in dichten Abständen am Straßenrand wuchsen. In der Mitte beinahe jeder Hecke war eine Art großes und sta bil aussehendes Tor. Little Dog klärte ihn darüber auf, dass hinter diesen Heckenzäunen der hiesige Landadel lebte. Während der Wagen dahinrumpelte, dachte Rosamund 251
über die schwierige Entscheidung nach, die er bald zu tref fen hatte: Sollte er den eingeschlagenen Weg fortsetzen, Laternenanzünder werden und ein langweiliges Leben füh ren, oder sollte er das Faktotum – der Diener – einer Frau werden, die Dinge tat, die er nie würde gutheißen können? Er wusste nicht, was er tun sollte, und hoffte, dass die Um stände ihm die Entscheidung abnehmen würden. Recht bald erreichten sie Silvernook, das versteckt hinter einer hohen Blausteinmauer lag. Die Stadttore standen of fen, waren aber bewacht. Die Torwächter, die schwarze Brandenbrasser Unifor men trugen, musterten sie mit finsteren Blicken, als Bauer Rabbit durchfuhr. Er setzte Little Dog und Rosamund vor dem Kaiserlichen Postamt ab. Hier trennten sich die Wege der Jungen, denn Little Dog hatte in einem anderen Teil der Stadt einen Botengang zu erledigen. »Tut mir leid, Mr. Rosamund, Sir«, sagte er, »aber ich werde Sie wahrscheinlich nicht ins Weghaus zurückbeglei ten können. Aber Sie finden doch alleine zurück, oder?« »Ich denke schon, Little Dog«, erwiderte Rosamund, dem die Ehrerbietung des Jungen die Schamröte ins Ge sicht trieb. »Bis dahin habe ich bestimmt einen Kutscher gefunden, der mich begleitet.« Mit einem zufriedenen Nicken ging Little Dog davon. Das Kaiserliche Postamt von Silvernook war hoch und schmal, wie jedes andere Gebäude in der Stadt. Auf diese Weise wurde der begrenzte Platz innerhalb der Schutzmau er bestmöglich genutzt. Und wie überall waren auch die Schornsteine außergewöhnlich hoch. Soweit Rosamund wusste, baute man sie deshalb so hoch, weil man es neugie 252
rigen Bogeis schwerer machen wollte, an ihnen hinaufzu klettern und Unheil anzurichten. Im Kaiserlichen Postamt gingen ständig Menschen ein und aus. Rosamund stellte fest, dass er sich, nur um eine Auskunft zu erhalten, in eine lange Warteschlange einrei hen musste, bestehend aus vornehmen Damen, die bau schige Röcke und mit Bändern, Blumen und Früchten ge schmückte Hüte trugen, Handwerkern mit verblichenen Lederschurzen und gut situierten Herren mit hohen Kragen und ausgestellten Gehröcken. Als er endlich an die Reihe kam, teilte ihm die ernste Frau auf der anderen Seite der durchbrochenen Mauer mit, dass die Kutscherhütte durch ein Nebentor zu erreichen sei. Er steuerte es sogleich an. Durch das Tor gelangte er auf eine lange Zufahrt, die zwischen dem Kaiserlichen Postamt und einem anderen, ebenso großen Gebäude nach hinten führte und auf einen Platz mündete, der von hohen Häusern umschlossen und so groß war, dass ein Zweispänner wenden konnte. In einer Ecke gegenüber entdeckte er ein kleines Haus mit hellroter Tür: die Kutscherhütte. An die Tür war ein Messingschild geschraubt, und darauf stand:
Anklopfen Aber ja nicht eintreten Auf höchstkaiserlichen Befehl
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Genau das tat Rosamund. Lange geschah nichts. Er klopfte ein zweites Mal, und endlich öffnete sich die Tür, aber nur widerwillig und nur einen schmalen Spalt. »Guten Tag«, sagte Rosamund und faltete bescheiden die Hände. »Haben Sie da drin Kutscher?« Der Spalt weitete sich etwas. »Wieso?« , fragte eine knurrige Stimme. Rosamund räusperte sich nervös. »Ich … äh … wir möchten jemanden mieten, der unser Landaulet nach High Vesting überführt. Ah … wir wohnen nämlich im Schnel len Hasen und …« »Du willst, dass dich jemand zum Hasen begleitet«, fragte die knurrige Stimme, »und einen Wagen nach High Vesting runterkutschiert, richtig?« »Ah … ja.« »Und wie viel Kleingeld hast du in der Tasche?« »Ich … äh …« Nervös zählte Rosamund seine Bar schaft. »Eine Zechine, einen Gulden und acht Schilling.« »Verstehe.« Die knurrige Stimme klang nicht begeistert. »Warte hier!« Die Tür knallte zu. Rosamund musste lange warten, viel zu lange, wie er fand. Dann öffnete sich die rote Tür wieder einen Spalt. »Tut mir leid, kein Kutscher frei«, erklärte die knurrige Stimme in beinahe triumphierendem Ton. »Zu beschäftigt! Ver such’s in der Schenke Zur Müden Maus am Minengraben. Dort findest du jede Menge verzweifelte arme Teufel. Wiedersehen.« 254
»Warten Sie, ich weiß doch gar nicht …« Die Tür schloss sich mit einem noch lauteren Knall, der alle Fragen beendete. Der empörte Rosamund kam gar nicht dazu, kehrtzuma chen und wegzugehen, denn die Tür ging abermals auf, und diesmal weit. »Du suchst einen Kutscher?«, fragte eine Stimme. Vor ihm stand ein freundlich aussehender Mann mit ei nem breiten Lächeln und großen abstehenden Ohren, die dadurch zusätzlich betont wurden, dass er wie Rosamund einen altmodischen Kurzhaarschnitt hatte. Er trug grau braune, strapazierfähige Rüstkleidung: einen Gehrock, vorn von oben bis unten zugeschnallt, Langschenkel aus dickem, geripptem Stoff und weiße Gamaschen, die bis zu den Knien reichten und über feste, dunkelbraune Straßen schuhe geknöpft waren. Um seine Taille war straff eine breite Schärpe geschlungen, und seine Arme steckten in langen, mit schwarzen Bändern befestigten Ärmelschonern aus glänzendem, rot-orange kariertem Taft. Rosamund erkannte darin sofort das Mottl der Postbo ten, jener zuverlässigen Männer, die, Banditen, Monstern und schlechter Witterung trotzend, draußen auf dem Land, wo die Menschen weit verstreut wohnten, Post zustellten und abholten. Der bunte Stoff stach schön von der sonst langweiligen Kleidung ab und verlieh dem Mann ein ge wichtiges, ernstes Äußeres, das im Widerspruch zu seinem freundlichen Gesicht stand. In der Hand hielt er einen schwarzen Dreispitz. Rosamund sah ihn stirnrunzelnd an und wusste nicht, was er antworten sollte. 255
»Guten Tag, mein Junge, tut mir leid, wenn ich dich ü berrumpelt habe. Ich wollte nur sichergehen, dass ich dich noch erwische. Mein Name ist Vieracker.« Der Mann streckte ihm die Hand entgegen. Rosamund schüttelte sie, wie Fransitart es ihm beige bracht hatte, und blickte dem Mann ernst ins Gesicht. »Gu ten Tag, Mister Vieracker. Ich heiße Rosamund. Sie sind Postbote, nicht wahr?« Der Mann nickte verschmitzt. »Ja, mein Junge, das bin ich … Sieht man sofort, was? Rosamund, sagst du? Tja, Rosamund, die faulen Trunkenbolde da drin scheinen dir nicht helfen zu wollen, aber ich stehe ganz zu deiner Ver fügung.« »Wie das, Sir?« »Nun ja, ich habe in High Vesting zu tun, und als ich zu fällig hörte, dass du einen Kutscher brauchst, der dich nach High Vesting bringt, da habe ich mir gedacht: zwei Leute, dasselbe Problem, eine Lösung. Ich würde dir gern meine Dienste als Kutscher anbieten. Ich bin zwar nicht so in der Übung wie diese Herren, die jeden Tag fahren – ich gehe zu Fuß, wenn du verstehst –, aber ich weiß trotzdem, wie man mit Zügeln umgeht.« Die sonstigen Befähigungen des Mannes kümmerten Rosamund wenig: Er konnte eine Kutsche lenken, mehr wollte er nicht wissen. Er nahm das Angebot mit Freuden an. Der Postbote verneigte sich bescheiden. »Warte vor dem Postamt«, sagte er mit einem Lächeln, »ich bin so schnell ich kann bei dir.« Mit überschwänglichen Dankesworten ging Rosamund 256
durch die Zufahrt zurück und wartete auf der Straße vor dem Kaiserlichen Postamt. Viel Zeit verstrich, ohne dass der Postbote auftauchte. Auf der Straße herrschte geschäf tiges Treiben, und schon beschlich Rosamund der Ver dacht, dass ihm die abweisenden Leute in der Kutscherhüt te einen Streich gespielt hatten. Doch seine Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet, denn bald darauf erschien Vieracker, den Hut jetzt auf dem Kopf, einen gefüllten Postsack auf dem Rücken und eine Umhängetasche über der Schulter – bereit zum Aufbruch. Kurze Zeit später schritten sie durch das Tor von Silvernook und folgten der Straße zum Weghaus. Rosamund hatte einen Kutscher gefunden!
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VIERACKER
Iiker, die: Menschen, die, sei es aus Armut, aus Protest oder weil sie ver folgt werden, in der Wildnis oder in den Grenzgebieten leben, wo sie dem Boden ihren Lebensunterhalt abringen. Viele Iiker sind politische Exilanten, die wegen eines Streits mit einer einflussreichen Person aus ihrer Heimat stadt verbannt worden oder aus eigenen Stücken gegangen sind. Nach weitverbreiteter Meinung sind die meisten verabscheuungswürdige Sedorner geworden, damit die Monster sie in Frieden lassen. Ohnehin schon als Außenseiter beargwöhnt und verachtet, werden sie durch dieses Misstrau en noch verschrobener.
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ieracker pfiff eine fröhliche Melodie, als sie an den hohen Schutzhecken des Landadels entlangspazier ten. Er ging gemächlichen Schritts und lächelte jeden an, der ihnen begegnete. Rosamund trottete auf dem unkraut bewachsenen Streifen zwischen den Radspuren in der Mit te der Straße vergnügt neben ihm. »Nun, Rosamund«, fragte der Postbote schließlich, »wie kommt es, dass ihr im Schnellen Hasen eine so extravagan te Kutsche, aber keinen Kutscher habt?« Rosamund überlegte einen Augenblick. »Wir hatten ei nen Kutscher, aber die Grinslinge haben ihn getötet.« 258
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Vieracker sah ihn an. »Grinslinge?« »Ja, Sir. Diese hässlichen kleinen Biester, die uns ange griffen haben – die mit scharfen Zähnen, Kleidern und rie sigen Ohren …« Rosamund hielt erschrocken inne und blickte verstohlen zu den Hörorganen des Postboten. Hof fentlich hatte er ihn nicht beleidigt. Aber Vieracker fühlte sich offenbar nicht beleidigt. »Ach, die! Hässliche kleine Biester, wie wahr! Hier in der Gegend nennt man sie Nimbelschruds. In den letzten drei Monaten haben sie im Brindelwald immer wieder Reisende ermordet. Es tut mir leid zu hören, dass sie auch euren Kut scher erwischt haben.« »Er hat sich tapfer gewehrt, Mister Vieracker, und viele getötet, aber am Ende haben sie ihn dann doch überwältigt. Ich habe gesehen, wie es passiert ist – sie haben ihn einfach erstickt.« Der Postbote nickte beifällig. »Ja, da sieht man es wieder! Einen oder zwei zu töten, dazu gehört Mut, aber gleich meh rere niederzustrecken, meine Güte, das ist eine wahre Hel dentat! Aber sag mir: Was hat euch und euren Kutscher denn dazu bewogen, durch diesen Teil des Waldes zu fahren, wo doch allgemein bekannt ist, dass er monsterverseucht ist?« Rosamund wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er verzog das Gesicht, kratzte sich am Kopf, blies die Ba cken auf und seufzte. Am Ende sagte er einfach die Wahr heit. Bei Madam Operas Marineanstalt beginnend, erzählte er sein kleines Abenteuer, und der Postbote hörte zu, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen. »Dann ist der Ettin also tot?«, war alles, was er sagte, als Rosamund fertig war. 260
»Ja, er wurde getötet, Sir, oder so gut wie, nachdem, was ich gesehen habe«, antwortete Rosamund bedrückt. »Ich war Zeuge, aber ich habe nichts damit zu tun, wirklich. Es war schrecklich, und ich wusste nicht, was ich tun sollte …« Vieracker schien über das Gehörte selber traurig zu sein. Er seufzte schwer. »Ach ja, armer närrischer Ettin«, sagte er nachdenklich, wie zu sich selbst. »Er wollte nicht auf mich hören … Ich habe ihn gewarnt … Aber so ist das, mein Junge: Solche furchtbaren Dinge geschehen das gan ze Jahr.« »Sie haben mit dem Ettin gesprochen, Mister Vier acker?«, fragte Rosamund verwundert. »Wie? Oh ja, und oft«, antwortete der Postbote. »Ich komme … vielmehr kam auf meiner Runde bei ihm vorbei, auf dem Weg von Herrodstal zum Landhaus von Eustusis. Ich habe ihm gesagt, dass bei seinem Tun nichts Gutes he rauskommen würde, aber diese hässlichen kleinen Bogel haben ihn dazu angestiftet, weiterzumachen. Wer genau hat die gemeine Tat begangen?« »Es war … äh … Miss Europa, sie und ihr Faktotum Licu rius – aber er ist umgekommen, Sir. Er war der Kutscher.« »Ah ja, die Rose von Brandenbrass … Ich hatte läuten hören, dass man sie dafür angeheuert hatte, zusammen mit diesem bösartigen Leer als Kutscher … Was meinst du? Ob er so ein Ende vielleicht verdient hat?« Der Postbote sah Rosamund durchdringend an. »Ich bin keinem der beiden je begegnet, aber ich habe von der Arbeit der Lahzar gehört und kenne den schlechten Ruf des Leers. Ist die Rose von Brandenbrass wirklich so schön, wie man behauptet?« Rosamund zuckte mit den Schultern, sagte aber nichts. 261
»Was haben die Grinslinge mit dem Missratenen Klugen gemacht?«, fragte er. »Wie?« Der Postbote wirkte vorübergehend verwirrt. »Ach so. Nun ja … wenn es stimmt, was der Ettin sagte, war es die Idee der Nimbelschruds – wie nennst du sie, Grinslinge? –, an der Brindelwaldbrücke Reisende auszu rauben. Wahrscheinlich dachten sie, er würde den Men schen allein durch seine Größe mehr Angst machen. Es kam, wie es kommen musste. Ein solcher Plan, und so tief in unserem Herrschaftsgebiet, das konnte auf Dauer nicht gut gehen. «Vieracker sog hörbar Luft ein. »Es ist lange her, dass ich den Missratenen Klugen zuletzt gesehen habe. Er hätte es besser wissen müssen, aber diese Grinslinge – der Name gefällt mir, er passt –, diese Grinslinge müssen aus dem Ichorbruch oder irgendeiner anderen wilden Ge gend im Norden gekommen sein. Ich sage das deshalb, weil sie, wenn die Idee tatsächlich von ihnen war, entweder keine Ahnung von den Menschen haben oder einfach nur dumm sind.« Rosamund lauschte wie gebannt. Hier war ein Mann, der nicht nur Monster gesehen, sondern sogar schon mit wel chen gesprochen hatte! Hätten sie doch nur einen Postbo ten aus mir gemacht, dann könnte ich auch herumwandern und mit Monstern reden. Zu Vieracker sagte er: »Ich kann es nicht fassen, dass Sie tatsächlich mit dem Missratenen Klugen gesprochen haben!« »Aber gewiss doch, viele Male. Das waren großartige Gespräche, sehr erhellend.« Vieracker wurde wieder trau rig. »Es ist ein Jammer, dass er so enden musste – dieser Ettin war wirklich ein netter Kerl.« 262
Der Zorn trieb Rosamund Tränen in die Augen. Er stieß mit dem Fuß gegen einen Stein, sodass er krachend zwi schen die Bäume flog. »Ich wusste es! Ich wusste es! Aber sie ist trotzdem losgegangen und hat ihn getötet!« »Na, na, Rosamund, zügele dich«, beruhigte ihn der Postbote verwirrt. »Es ist eine bittere Wahrheit unserer Welt, dass Monster und die große Mehrheit der Menschen nicht zusammenleben können – jedenfalls nicht glücklich. In Menschenland sind die Monster auf dem Rückzug, in Monsterland die Menschen. Das ist ein Naturgesetz.« »Aber Sie leben doch glücklich mit ihnen zusammen!« »Mit manchen, das stimmt, aber längst nicht alle, denen ich begegne, sind es wert, dass man auf einen Plausch ste hen bleibt. Und nebenbei bemerkt …«, Vieracker beugte sich zu ihm herüber, »… gilt das auch für die große Mehr zahl der Menschen.« Rosamund putzte sich die Nase. Er war noch immer zor nig. Nichts würde jemals mehr so einfach sein wie im Findlingsheim. »Ich wäre auch gern mit ihm befreundet gewesen!«, knurrte er. Der Postbote erwiderte leise, fast verschwörerisch: »Das ist sehr anständig von dir, Rosamund. Es ehrt dich, und ich glaube aufrichtig, dass ihr gute Freunde geworden wärt. Aber ich muss dich warnen. Sag so etwas nicht vor anderen Leu ten. Das kann dir ein Leben lang Ärger einbringen. Behalte solche Dinge lieber für dich.« Er überlegte einen Augenblick. »Aber ich werde dir keinen Ärger machen oder das, was du eben zu mir gesagt hast, weitererzählen. Das bleibt unter uns …« Doch ganz plötzlich hielt er inne – hörte auf zu reden, hörte auch auf zu gehen, stand reglos da und stierte ins Leere. 263
Rosamund war schon ein Stück weitergegangen, ehe er es bemerkte. Beunruhigt eilte er zu dem Postboten zurück. »Mister Vieracker …« »Hm!«, machte Vieracker und bedeutete ihm mit einer Handbewegung zu schweigen. Nach einer abermaligen kurzen Pause trat er einen Schritt vor und flüsterte dem er schrockenen Findling zu: »Da naht eine Gefahr. Folge mir, und ganz leise auftreten! Dein Leben hängt davon ab …« Damit huschte er unter die Bäume zu ihrer Linken. Sich ängstlich umblickend, folgte ihm Rosamund so lei se wie möglich in den Wald, wobei er bei jedem Knacken und Rascheln unter den Füßen zusammenzuckte. Er konnte auf der Straße nichts sehen. Wie war es möglich, dass die ser Mann etwas sah? Das Gelände war hier sehr flach, und die Bäume standen weit auseinander. Nach einem kurzen Stück Wegs entdeck te Vieracker einen Felsblock mit einem kleinen Steinhau fen darum herum und gab durch einen Wink zu verstehen, dass sie sich dort verstecken sollten. Mit einem unangenehmen Kribbeln im Bauch schlüpfte Rosamund hinter die Steine und entdeckte eine Lücke, durch die er die Straße im Auge behalten konnte. Vieracker setzte den großen Postsack ab, hob einen Fin ger und flüsterte eindringlich: »Keinen Laut, keine Bewe gung – du bist die Stille in Person. Verstanden? Die Stille in Person.« »Ja«, stieß Rosamund nervös hervor. »Ich bin bald wieder da.« Der Postbote huschte nahezu geräuschlos zur Straße zu rück. Durch die Lücke im Steinhaufen sah Rosamund, dass 264
er im Gehen einen langen Stock aufhob, dann etwas aus seiner Umhängetasche nahm und auspackte. Der leichte Frühnachmittagswind wehte den seltsam unangenehmen Geruch von Johannestalg zu ihm herüber. Vieracker spieß te den Talg auf den Stock, dann rieb er ihn am Boden, an Baumstämmen und Blättern und schlich in den Wald auf der anderen Seite der Straße. Rosamund begriff. Er legt eine falsche Spur. Mit flüssigen, aber vorsichtigen Bewegungen drang der Postbote tiefer in den Wald vor. Rosamund verlor ihn aus den Augen, und wieder spürte er die allzu vertraute Panik in sich aufsteigen. Ich bin die Stille in Person! Ich bin die Stille in Person …. sagte er sich immer wieder. Ganz in der Nähe ertönte ein Knacken. Dort, über einem der größeren Steine, tauchte der Kopf eines Monsters auf. Nicht mehr als fünf oder sechs Schritte entfernt. Es hatte ein längliches Gesicht, das mit schmutzi gem grauen Fell bedeckt war, eine spitze Nase und ebenso spitze Zähne, wobei die oberen über die Unterlippe heraus ragten. Ein verfilzter Bart hing in Strähnen schlaff von sei nem Kinn. Große Kaninchenohren mit schwarzen Spitzen standen seitlich vom Kopf ab. Große gelbe Augen rollten zwischen schmalen Liderschlitzen hin und her. Die Kreatur reckte schnuppernd die Nase in die Luft und drehte dabei die zuckenden Ohren. Rosamund hätte so etwas nie für möglich gehalten – wie froh wäre er gewesen, Europa jetzt bei sich zu haben! Er spannte jeden Muskel an und stellte das Atmen ein aus Angst, er könnte sich sogar beim Luftholen zu sehr bewe 265
gen. Ich bin nicht hier, du siehst wich nicht … Ich bin nicht hier, du siehst mich nicht … Doch die Aufmerksamkeit des Monsters wurde offen sichtlich ganz durch den Geruch des Johannestalgs in An spruch genommen. Es schlich vorbei, ohne Rosamund in seinem Felsversteck zu bemerken. Durch die Lücke konnte er sehen, wie es hinaus auf die Straße trat, bucklig, hager und größer als ein Mensch. Dort, wo eben noch Vieracker gestanden hatte, bückte es sich und schnüffelte. Seine lan gen pelzigen Arme endeten in langen pelzigen Händen, aus denen lange, gekrümmte Krallen wuchsen, die bei jeder Bewegung der Finger klappernd aneinander schlugen. Sei ne Beine bogen sich nach hinten wie die Hinterläufe eines Hundes, und es bewegte sich mit einem unbeholfenen, ruckartigen Gang vorwärts. Es blickte die Straße hinauf, blickte die Straße hinunter, schnupperte wieder am Boden. Schließlich steuerte es auf die Bäume auf der anderen Seite zu. Aber wo war Vieracker? Rosamund richtete sich ein wenig auf und spähte durch die Lücke zwischen den Stei nen. Vielleicht steckte der Postbote irgendwo unter den Bäumen. Nichts. Am liebsten wäre er heulend in den Wald geflohen, doch er beschloss, noch zu warten. Er war den Grinslingen – den Nimbelschruds – entwischt, er würde auch diesmal heil davonkommen. Mit einem leisen Schnauben stakste die Kreatur tiefer in den Schatten jenseits der Straße und verharrte dort im Zwielicht unter dem Blätterdach. Während Rosamund sie 266
beobachtete, verspürte er das seltsame Verlangen, nach links zu schauen. Er wollte die Kreatur nicht aus den Au gen lassen, doch am Ende gab er dem Verlangen nach und blickte über die Schulter. Vorsichtig einen Fuß vor den an deren setzend, die Augen fest auf den Wald gegenüber ge richtet, kam Vieracker von hinten angeschlichen. Welch eine Erleichterung! Rosamund konnte sich nicht entsinnen, über den Anblick eines Menschen jemals so froh, so erleichtert, so glücklich gewesen zu sein wie in diesem Augenblick. Mit frischem Mut nahm er seine Beo bachtung wieder auf, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie das Monster seinen Weg fortsetzte und schließlich hin ter den Bäumen verschwand. Er schaute sich wieder um. Vieracker hatte jetzt, ohne den Wald gegenüber aus den Augen zu lassen, beinahe die Felsen erreicht. Den Johannestalg trug er nicht mehr bei sich – der klebte wohl irgendwo an einem Baum, möglichst weit drüben auf der anderen Seite. Rosamund wollte auf stehen, doch der Postbote gab ihm ein Zeichen, sich nicht zu bewegen. »Noch sind wir es nicht los«, flüsterte er kaum hörbar und kauerte sich neben dem Findling nieder. Rosamund gehorchte, gab keinen Mucks von sich, späh te wieder durch die Lücke und lauschte angestrengt darauf, ob das Monster zurückkam. Die Muskeln begannen ihn zu schmerzen, und in seinen Ohren begann es unangenehm zu brausen. Dieses Warten zerrte an den Nerven. Sekunden wurden zu Minuten, Minuten zu Stunden. Rosamund sah Vieracker flehentlich an. »Warte noch!«, befahl Vieracker, und obwohl Rosa 267
mund glaubte, das Kribbeln in seinen Gelenken und das Brausen in seinen Ohren nicht länger ertragen zu können, blieb er still sitzen. Er hatte keine Ahnung, wie lange sie so ausharrten, er wusste nur, dass es sehr lange war. Selbst als eine Kutsche vorbeifuhr, warteten sie noch. Erst als Minuten später eine zweite vorbeirumpelte, schien der Postbote endlich zufrieden und erlöste sie mit den Wor ten: »Jetzt ist es sicher genug. Machen wir, dass wir von hier fortkommen!« Vieracker ging voran, blieb aber unter den Bäumen und sprach kein Wort. Erst als sie eine Stunde Wegs zwischen sich und ihr vorübergehendes Versteck gebracht hatten, kehrte er wieder auf die Straße zurück. Einmal aus dem Wald heraus, legten sie den Rest des Weges im Eiltempo zurück und erreichten schließlich unversehrt den Schnellen Hasen. Es war später Nachmittag. Obwohl Rosamund erschöpft war, versprach er dem Postboten, sich später in der Gaststube mit ihm zu treffen, und eilte zu Europa, um ihr die gute Nachricht zu über bringen. Die Fulgar lag im Bett lag und ruhte sich aus. Sie nahm die Neuigkeit wie gewohnt recht einsilbig und zurückhal tend auf. »Kann man dem Mann trauen?« »Er ist Kaiserlicher Postbote, Miss. Vertrauenswürdig keit ist sein Leben«, schwärmte Rosamund. »Nun ja, wenn eine Frau ihrem eigenen Faktotum nicht trauen kann, wem dann?« Sie schloss die Augen zum Zei chen, dass der Fall damit für sie erledigt war. Rosamund verdrehte die Augen. 268
Und was ist, wenn ein Faktotum seiner Herrin nicht trauen kann? Er ging in die Gaststube, fest entschlossen, sich seine letzte Mahlzeit hier schmecken zu lassen, denn morgen sollten sie abreisen. Vieracker erwartete ihn, einen kleinen Krug mit dünnem Wein und zwei Becher bereits vor sich auf dem Tisch. Während sie an dem Wein nippten, zeigte Rosamund dem Postboten die traurigen Überreste seiner Reisepapiere, Empfehlungsschreiben und so weiter. Er trug sie immer noch bei sich, obwohl sie so gut wie nutzlos wa ren. Im Nachhinein war er froh darüber, dass Mister Se bastipols Instruktionen so kurz und knapp waren, dass er sie sich leicht hatte merken können. Er dachte sich, dass ein Kaiserlicher Postbote, zumal ein so freundlicher und hilfsbereiter wie Vieracker, in dieser Sache vielleicht etwas für ihn tun konnte. Vieracker faltete den Papierklumpen behutsam ausein ander und prüfte die fast vollständig verwischte Schrift mit ernster Miene. Bald schaute er wieder auf. »Wirklich eine schöne Schweinerei«, sagte er, »aber das Siegel an deiner Reisebescheinigung ist unversehrt, und dein Name ist, der Vorsehung sei Dank, auch noch zu lesen. Was den Rest angeht, werde ich für dich bürgen – was ich für gut befin de, befindet auch das Reich für gut. Auch dein Mottl wird dir helfen.« Er deutete auf Rosamunds Gehenk. »Vielen Dank, Mister Vieracker. Ich dachte schon, ich sei verloren.« »Ist mir ein Vergnügen, Rosamund, allerdings würde ich dir empfehlen, dir bei nächster Gelegenheit vom Schreib sergeanten oder dem Hafenkommandanten neue Papiere 269
ausstellen zu lassen – auch dabei werde ich dir behilflich sein.« Zwei Teller mit schwarzer Kaninchenpastete kamen – nebst einem Krug Orangensaft –, und sie aßen schweigend. Nach einer Weile fasste sich Rosamund ein Herz und frag te: »Mister Vieracker, was war das eigentlich für ein Mons ter vorhin auf der Straße?« Der Postbote hörte auf zu kauen und blickte nachdenk lich an die Decke. »Ich weiß es nicht genau«, antwortete er schließlich. »So eines hab ich noch nie gesehen. Ist mir ein Rätsel – ich werde mich umhören müssen.« Rosamund hielt seinen Almanach hoch. »Auch darin kann ich es nicht finden.« »Nun, das überrascht mich nicht«, kicherte Vieracker. »Es gibt mehr Monsterarten, als man in so einem Buch aufzählen kann.« Er wurde sogleich wieder ernst und nachdenklich. »Aber die meisten Leute finden sowieso nicht, dass Monster es wert sind, aufgezählt zu werden. Die meisten Leute würden es lieber sehen, man brächte sie um und damit basta. Wenn sie Monster sehen wollen, dann al lenfalls als grimmige Tattoo-Gesichter auf den Armen und Beinen eines Teratologen. Das ist ihnen allerdings immer einen Blick wert.« Rosamund legte das Buch in seinen Schoß zurück. »Ah … Mister Vieracker … haben Sie … jemals ein Monster getötet?« »Ja, Rosamund, leider war ich dazu gezwungen.« Er blickte traurig. »Weißt du, wenn ich vor der Wahl stehe, sie oder ich, entscheide ich mich jedes Mal für mich.« »Heißt das, dass Sie ebenfalls Monster Blood Tattoos 270
haben?«, konnte sich Rosamund nicht verkneifen zu fra gen. Vieracker stutzte, dann runzelte er die Stirn. »Nein, das nicht. Ich prahle nicht damit, dass ich getötet habe. Mein Beruf zwingt mich manchmal dazu, mehr nicht. Die Post muss zugestellt werden.« »Oh.« Nachdem die Pastete gegessen und der Orangesaft ge trunken war, schieden sich voneinander, und Vieracker versprach, am nächsten Morgen rechtzeitig zur Stelle zu sein, um die Kutsche zu lenken. Sie brachen früh auf, kurz nachdem die Sonne über den Rand der Welt geklettert war. Sallow war irgendwo auf gehalten worden, und so fiel Rosamund die Aufgabe zu, Europas Sirup zu bereiten. Stolz reichte er der Fulgar den glatt gerührten Trank, dann ging er hinaus zu Vieracker und half ihm, das Landaulet fahrbereit zu machen. Europa folgte wenig später, eingehüllt in einen dicken, magenta farbenen Mantel, knielang, mit hohem Kragen und Auf schlägen, die mit dichtem, gebleichtem Fuchspelz besetzt waren. Ihr Haar war hinten zu einem lockeren Knoten zu sammengedreht, und auf ihrer Nase saß eine rosa Brille mit Quarzlinsen. Sie sah ganz anders aus als an dem Tag, an dem ihr Rosamund zum ersten Mal begegnet war. Außer dem war sie noch immer nicht ganz gesund und folglich schlechtgelaunt. Am Abend zuvor hatte sie bei den Wirtsleuten die Rech nung beglichen und es rundweg abgelehnt, zusätzlich zu dem, was sie Doktor Verhooverhoven schuldete, einen 271
Aufpreis zu bezahlen. Mit der kühlen Herablassung einer Königin erklärte sie: »Die Billion des Jungen deckt alle Kosten, wie Sie sehr wohl wissen. Sie werden keinen Schilling mehr aus uns herausholen.« Madam Felicitine erbleichte, sagte aber kein Wort. Mister Billetus hatte den Kopf eingezogen und erwider te: »Sie haben ja recht, Sie haben ja recht. Ich hoffe, Ihr Aufenthalt war so angenehm, wie es unter den gegebenen Umständen möglich war.« Jetzt trat Europa zusammen mit einem Pagen, der ihre Satteltaschen und das übrige Gepäck schleppte, auf den Kutschhof. Rosamund und Vieracker hatten bereits ihre Plätze eingenommen und warteten, der Findling im Fahr gastabteil des Landaulet, der Postbote auf dem Kutsch bock. Europa blieb vor dem Trittbrett der Kutsche stehen und verharrte dort. Mit einer leisen Entschuldigung stürzte ein Hofwächter herbei, um ihr beim Einsteigen zu helfen. Sie scheuchte ihn fort mit den Worten: »Weg da, Mann, das ist nicht Ihre Aufgabe!« Rosamund hing seinen Gedanken nach und genoss den schönen Morgen mit allen Sinnen. Nur langsam sickerte in sein Bewusstsein, dass etwas nicht stimmte. Verwirrt blick te er zu Europa. Sie rührte sich nicht von der Stelle, sah durch die merkwürdige rosa Brille stur geradeaus und hatte hochmütig das Kinn vorgeschoben. Rosamund blinzelte. Was ist denn los? Worauf wartet sie denn? »Miss Europa?«, fragte er einfach nur.
Ihr Blick schnellte zu ihm herüber. »Nun …?«
Eine betretene Stille folgte. Dann dämmerte dem Find 272
ling, was sie wollte. Ich soll ihr beim Einsteigen helfen, wie Licurius es immer getan hat! Flugs sprang er aus der Kutsche und brachte sie dabei so zum Wackeln, dass das Pferd scheute. »Brr! Ganz brav, mein Junge«, beruhigte Vieracker das Tier. Europa verdrehte leicht die Augen. Mit einem verhaltenen Lächeln half ihr Rosamund in die Kutsche und stieg wieder ein. Er kam sich sehr albern vor. »Fahren Sie los, Mann!«, knurrte Europa. Ohne sich umzudrehen, ließ Vieracker die Peitsche knal len, und das Pferd trabte los. Sie fuhren durch das breite Tor und bogen nach links ab. Rosamund blickte zurück. Weiter hinten konnte er die Fußgängerpforte in der Mauer sehen, durch die man sie drei Nächte zuvor eingelassen hatte. Im Stillen sagte er seinem ersten Weghaus Lebwohl. An der Kreuzung lenkte Vieracker das Landaulet nach rechts, und diesmal trug es Rosamund in Richtung Süden. Das Weghaus Zum Schnellen Hasen verschwand hinter den Bäumen. Der Langweg führte durch einen Wald, der aus jungen schlanken Kiefern bestand und immer wieder von Wiesen unterbrochen wurde. Bald tauchten hier und dort große, flechtenbedeckte Felsblöcke auf, und das Gras wurde spär lich und stopplig. Nach einer Stunde wurde die Straße leicht abschüssig, und wenig später wich der Wald einem welligen Hügelland mit noch größeren, flechtenbewachse nen Felsen. Von Zeit zu Zeit zweigten schmale, zerfurchte Wege von der Straße ab und strebten unbekannten, aben teuerlichen Zielen zu. Einen sah Rosamund in einiger Ent 273
fernung an einem Haus enden. Es gab hier etliche solcher Häuser, wie er jetzt bemerkte, Steinhäuser, die auf hohen, ebenfalls aus Stein errichteten Fundamenten thronten, mit Fenster schlitzen und hohen Kaminen. Aus einigen stieg Rauch auf und verriet, dass jemand darin wohnte. »Das sind die Häuser der Iiker«, erklärte Vieracker, »Leute, die dem kargen Boden in dieser Gegend mühsam ihren Lebensunterhalt abringen. Was ihnen an materiellem Wohlstand fehlt, gewinnen sie an Freiheit. Von den Behör den werden sie in der Regel kaum belästigt.« »Aber warum wohnen sie so hoch über dem Boden?« Vieracker lächelte gequält. »Na, um es den Bogels schwerer zu machen, sie zu kriegen.« Mit leicht erhobenen Augenbrauen bohrte Europa einen wissenden Blick in den Rücken des Postboten. »Sie haben wohl schon mit einigen zu tun gehabt?«, fragte sie. Das waren die ersten Worte, die sie an diesem Morgen sprach. Der Postbote drehte sich nicht um. »Allerdings, Madam, aber ganz bestimmt nicht mit so vielen wie Sie.« »Hm.« Europa verfiel wieder in Schweigen. Nach zwei Stunden, in denen sich die Landschaft kaum verändert hatte, kamen sie an einem weißen Meilenstein vorbei, in den High Vesting und darunter 6 Meilen gemei ßelt war. Hinter dem Meilenstein stand ein kümmerlicher Oliven baum. Als Rosamund hinsah, glaubte er eine Bewegung in der schattigen Baumkrone zu bemerken, ein leichtes Zittern der Blätter. Er schaute genauer hin. Doch, da saß etwas, halb verdeckt von Ästen, eine kleine Gestalt mit dem Kopf eines übergroßen Sperlings und runden, funkelnden, dunk 274
len Augen. Ein Bogel! Das Spatzengesicht zog sich tiefer in den Schatten zurück, aber seine Augen blieben auf Ro samund gerichtet und blinzelten mit fahlem Flackern. Ro samund erwiderte den Blick mit atemlosem Staunen und machte einen langen Hals, während das Landaulet vorbei rumpelte und weiterfuhr. »Das ist nur ein Meilenstein, kleiner Mann«, schreckte ihn Europas schroffe Stimme auf. »Du hast doch bestimmt schon mal einen gesehen.« Das Pferd wieherte. Die Augen verschwanden. Rosamund lehnte sich schnell zurück. So begeistert er von seiner Entdeckung auch war, er verspürte nicht die ge ringste Lust, Europa davon zu erzählen. Er wollte nicht, dass sie diesen da genauso tötete wie den Missratenen Klu gen. Beim näheren Nachdenken über die Begegnung kam er zu dem Schluss, dass er einen Nuglung gesehen haben musste, einen von den kleineren Bogels, die, wie er seinem Almanach entnahm, häufig einen Tierkopf auf einem klei nen, menschenähnlichen Körper hatten, was der Almanach als »anthropoid« bezeichnete. Rosamund konnte es kaum fassen: Er hatte einen echten Nuglung gesehen. Es gab Ge schichten aus alter Zeit, wonach manche Nuglung den Menschen Gutes taten, aber daran glaubte heutzutage nie mand mehr. Es war typisch, dass der Almanach nicht viele Worte über sie verlor. Wie bei jeder Bogelart empfahl er lediglich, ihnen möglichst aus dem Weg zu gehen. Rosa mund vermutete, dass ein solcher Rat den Monstern wahr scheinlich ebenso half wie den Menschen. Europa öffnete einen schwarz lackierten Kasten und 275
nahm einen weichen Beutel mit Zugband und festem run den Bodeneinsatz heraus, ein sogenanntes Fiasko. Rosa mund hatte solche Beutel schon gesehen. Er wusste, dass Frauen darin ihre Kosmetiksachen aufbewahrten, Cremes, Lippenstift, Puder und dergleichen. Allerdings hätte er nie gedacht, dass eine Fulgar solche Dinge brauchte. Doch als sie mit Hilfe eines kleinen Handspiegels eine Weile in ih rem Gesicht herumgemalt hatte, konnte selbst ein Junge wie er nicht umhin, über die einfache und doch tiefe Ver wandlung zu staunen. Wer hätte gedacht, dass etwas rote Farbe auf Wangen und Lippen und weißer Puder auf der Nase eine so vorteilhafte Wirkung haben konnten. »Eine Frau muss sich schön machen, wenn sie in die Stadt kommt«, sagte sie einfach nur, als er sie anglotzte. Vieracker drehte sich auf dem Kutschbock um, um et was zu sagen, und war so verblüfft, dass er ganz unmänn lich rot anlief. Er nahm rasch wieder seine ursprüngliche Position ein und sagte verlegen über die Schulter: »Wir … äh … wir sind in ungefähr einer Stunde in High Vesting, Miss.« Europa lächelte schwach. »Ja, darauf sind wir auch schon gekommen. Etwa eine Meile zurück hat uns ein simpler Meilenstein verraten, wie weit es noch ist – trotz dem danke, dass Sie an uns gedacht haben.« Sie summte vergnügt und betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. Nachdem Vieracker seine Fassung wiedergewonnen hat te, fragte er erneut über die Schulter: »So, Rosamund, dann wirst du also Laternenanzünder?« Der Findling wusste nicht, was er darauf antworten soll te. War er Laternenanzünder, oder war er jetzt Europas 276
Faktotum? Er schielte zu ihr hinüber. Eingemummt in ih ren dicken Mantel, gab sie sich vornehm reserviert wie immer und schenkte ihm nicht die geringste Beachtung. »Ich soll es jedenfalls werden, Sir«, wagte er mit einem neuerlichen Seitenblick auf Europa zu sagen. »Obwohl ich eigentlich gar nicht will. Wissen Sie etwas Genaueres über die Laternenanzünder?« »Ein wenig«, antwortete der Postbote. Beim Sprechen schielte er immer wieder mit einem Auge zu Rosamund, während er das andere auf der Straße behielt, oder aber er kehrte ihm ganz den Rücken zu und konzentrierte sich auf das Fahren. »Damals, als ich vor der Wahl stand, habe ich nämlich selbst mit dem Gedanken gespielt, einer zu wer den. Aber wie du siehst, hatte ich dann doch keine Lust dazu.« Das war der Beweis, dass ihm eine langweilige Zukunft bevorstand. »Weil es zu langweilig ist, Mister Vieracker?« Der Postbote stutzte, sichtlich verwirrt. »Nicht ganz … eher das Gegenteil.« Auf diese Antwort war Rosamund nicht gefasst. Er rich tete sich auf. »Wie meinen Sie das?« »Ich habe das beschauliche Leben eines herumbum melnden Postboten vorgezogen, denn der Beruf eines La ternenanzünders war mir etwas zu gefährlich.« Rosamund merkte, dass er den Atem anhielt. »Zu ge fährlich? Ich dachte, die gehen nur raus, zünden die Later nen an und gehen dann wieder nach Hause.« Vieracker lachte kurz auf und sah Rosamund scharf an. »Das tun sie auch – auf Straßenabschnitten am Rand der Zivilisation und zu Tageszeiten, zu denen die Bogels am 277
liebsten umherstreifen. Sie müssen sich mit Banditen, Wil derern und Schmugglern herumschlagen, um Pannen und Unfälle auf der Straße kümmern und mit einer Handvoll Kollegen an abgelegenen Orten leben. Außerdem müssen sie regelmäßig und pünktlich das Wasser in den Laternen wechseln, und das, da gebe ich dir recht, ist nun wahrlich nicht interessant. Nein, das ist kein Beruf für Vati.« Der Postbote deutete mit dem Daumen auf sich und blickte wieder auf die Straße. »Meine Arbeitszeiten sind so schon lang und ungewöhnlich genug, und mein Verdienst so ge ring, dass ich nicht einsehe, warum ich alles noch schlim mer machen soll, indem ich zu den Laternenanzündern ge he.« Er lächelte Rosamund von der Seite verschmitzt an. »Aber du, Rosamund, du bist anscheinend aus härterem Holz geschnitzt. Das ist gut für dich. Und gut ist auch, dass deine Rüstkleidung hervorragend ist, sonst hättest du näm lich einen Grund, dir Sorgen zu machen. Trotzdem werde ich dir noch einen guten Hut für dein Abenteuer oben in Winstermill besorgen.« Rosamund antwortete nicht. Seine Gedanken kreisten um all das, was der Postbote soeben gesagt hatte. Bogel! Banditen! Ob das Leben eines Laternenanzünders vielleicht doch viel erstrebenswerter war? Dies erleichterte ihm die Entscheidung. Jetzt war er wirklich neugierig geworden, ja, er brannte sogar darauf, in seinem offiziellen Beruf zu ar beiten. Wie bringe ich das Miss Europa bei? Seit dem ers ten Tag im Schnellen Hasen hatte sie kaum noch etwas da zu gesagt, dass sie ihn als Faktotum wollte. Wieder sah er sie an. Trotz ihrer strengen Reserviertheit wirkte sie traurig – nicht nur vorübergehend niedergeschlagen, sondern so, 278
als zehre ein geheimer, schwerer Kummer an ihr. Es tat ihm leid, dass sie Licurius verloren hatte, so gemein er auch gewesen sein mochte, und irgendwie hatte er das Ge fühl, dass er ihr über den Kummer hinweghelfen könnte, wenn er ihr treu diente. Wieder war er ganz durcheinander. Er dachte so angestrengt über diese Dinge nach, dass er die drei alten Leute, die neben ihren Karren und klapper dürren Eseln am Straßenrand saßen, erst bemerkte, als ihr Geschnatter seine Aufmerksamkeit erregte. Sie verkauften Gemüse aller Art. Vieracker rief sie an, als das Landaulet vorbeifuhr. »He! Verehrte Iiker, habt ihr Briefe aufzugeben?« Alle drei strahlten vor aufrichtiger, fast überschäumen der Freude, und eine Frau rief: »Oh, danke der Nachfrage, Master Vieracker! Danke der Nachfrage. Nein, heute haben wir keine Post.« Sie wunderte sich über das Landaulet. »Hübsch, die Beine, mit denen sie da heute unterwegs sind! Und viel schonender für das Stiefelleder als Ihre sonstigen.« Sie warf dem Postboten einen großen Kürbis zu. »Meine besten Wünsche, Mutter Fly! Mutter Mold! Bauer Math! Bedaure, dass ich nicht anhalten kann, aber diese ›hübschen Beine‹ müssen mich heute noch wohin tragen!« Er grinste zurück, drosselte das Tempo des Lan daulets und fing geschickt den Kürbis auf. »Ich komme morgen wieder vorbei. Dann können wir einen gemütlichen Plausch halten. Danke für den Kürbis, Madam – daraus mache ich mir heute Abend eine gute Suppe.« »Dann hebe ich meine Fragen für morgen auf«, erwider te die alte Frau mit einem lauten, heiseren Flüstern und ließ 279
einen überaus neugierigen Blick über Rosamund und ganz besonders Europa gleiten. Die Fulgar verzog keine Miene und betrachtete weiter mit kühlem Blick die Landschaft auf der anderen Seite. Rosamund hingegen lächelte die Bäuerin und ihre Beglei ter fröhlich an, und sie lächelten ebenso freundlich zurück. »Tun Sie das, Mutter Fly, und sehen Sie zu, dass Sie rechtzeitig nach Hause zuckeln«, sagte Vieracker ver schmitzt. »Um diese Jahreszeit wird es früh dunkel, und mit der Dunkelheit kommen die Bogels.« Mutter Fly lachte ein trockenes und brüchiges Lachen. »Und Sie sehen besser zu, dass Sie weiterkommen mit ih ren komischen Beinen. Sie haben noch einen weiten Weg, ehe Sie Ihre Suppe kochen können. Bis morgen!« »Bis morgen!« Damit fuhren sie weiter, und Mutter Fly winkte ver gnügt. Ein Stück weiter sagte Vieracker leise zu Rosamund: »Das waren ein paar von den Iikern, von denen ich dir er zählt habe. Gute Menschen, und gastfreundlich.« Rosa mund fragte sich, wie so fröhliche Menschen es ertragen konnten, in diesen wackeligen Häusern da draußen in die ser kargen, monsterverseuchten Gegend zu leben. Das Laundalet erklomm eine kleine Steigung, und vor ihnen senkte sich das Land in eine weite Bucht, die aufs offene Meer hinausführte. Nach Rosamunds Einschätzung konnte das nur der mächtige Grum sein, obwohl er ihn noch nie gesehen hatte. So viel Wasser und genauso unge sund grün, wie Master Fransitart, Master Heddiebulk oder Master Pinsum es beschrieben hatten. Rosamund konnte 280
vor Staunen den Blick nicht abwenden. Das Meer! Das Meer! Seine schillernde Oberfläche schien unablässig in Bewegung, viel stärker noch, als er es auf dem Humour beobachtet hatte. Schmutzigweiße Flecken tanzten darauf, bäumten sich auf und verschwanden – die Wellenkämme –, und der Wind trug seinen Geruch aus der Bucht zu ihnen herauf. Er war anders als jeder Geruch, den Rosamund kannte. Beißend und salzig, und doch auch irgendwie süß lich, wie ein Hauch von Orangenblüten im Frühling. Europa rümpfte leicht angewidert die Nase. Vieracker drehte sich um. Er strahlte vor Zufriedenheit und sog tief die Luft ein. »Ahhh! Der Gestank des Grum. Unvergleichlich. Man behauptet, dass die Riementangwäl der dicht vor der Küste den Geruch etwas angenehmer ma chen und dass es weiter draußen in tieferen Gewässern nicht so süß riecht. So gesehen bin ich froh, dass ich kein Seemann bin. Jetzt schau da hinüber, mein Junge! Das ist High Vesting.« Weit unter ihnen umschloss ein verschachteltes Gewirr aus Marmor, Granit und Mauerwerk die Ufer des Grum – die hohen Schutzmauern und Häuser der Festungsstadt High Vesting. Die Stadt war nicht annähernd so groß wie Boschenberg, aber irgendwie wirkte sie viel bedrohlicher. Mächtige weiße Türme, höher als alle Bauwerke, die Ro samund kannte, ragten zwischen den üblichen Kuppeln und Spitzdächern empor. Draußen in der Bucht schützte eine große, aus riesigen Steinblöcken aufgeschüttete Mole den Hafen. Und in diesem Hafen, der nach Auskunft seines Almanachs Mullhaven hieß, lagen Schiffe, richtige Schiffe! Sogar von hier oben konnte er erkennen, um welche Typen 281
es sich handelte. Er kannte sie alle aus Master Heddiebulks Unterricht: flache, furchteinflößende Kampfschiffe, wuch tige kastenartige Frachter und Großfrachter, aber auch schnittige Segler, die im Gastrinenzeitalter noch mit Segel antrieb fuhren – viele wurden von kleinen Gastrinenbooten, sogenannten Kulis, durch den Hafen gelotst und ge schleppt. Er hatte sich sagen lassen, dass diese Schiffe groß waren, aber dass sie so groß waren, hätte er nicht gedacht. Jetzt konnte er es nicht mehr erwarten, nach High Vesting zu kommen, in den Hafen zu gehen und sich diese Schiffs ungetüme aus nächster Nähe anzusehen. Er drehte sich nach Europa um, die während der Fahrt kaum ein Wort gesprochen hatte. Auch sie blickte zu der Festungsstadt, aber sie wirkte gelangweilt. Sie wandte sich ihm zu und sah ihn forschend an, einen nachdenklichen, schwermütigen Ausdruck im Gesicht. Ihre Augen ruhten nur einen Augenblick auf ihm, dann wandten sie sich wie der dem Ziel ihrer Reise zu. Als sie den Südhang der Anhöhe zur Bucht hinunterfuh ren, wurde der Langweg viel breiter und der Straßenbelag glatter. Auf beiden Seiten wuchsen große kahle Bäume mit glatter, silbergrauer Rinde und hohen gebogenen Ästen. So spät im Herbst sammelte sich das abgeworfene Laub in großen Haufen auf den Seitenstreifen. Andere Straßen und Wege mündeten, von Bauernhöfen und Dörfern im Umland kommend, in den Langweg, und der Verkehr nahm zu. So mancher Reisende beäugte das Landaulet mit neugierigem oder argwöhnischem Blick. Bald erreichten sie die Schlan ge von Fahrzeugen und Fußgängern, die vor dem massiven Eisentor warteten, bis sie von den Torwächtern, die ähnli 282
che Uniformen trugen wie die Boschenberger Soldaten, kontrolliert und eingelassen wurden. Bald würden sie die Mauern passiert haben. Mit bangem Herzen fragte sich Rosamund, ob dieser Mister Germanicus nach all der Zeit überhaupt noch auf ihn wartete.
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EIN UNVERHOFFTES
WIEDERSEHEN
Fregatte, die: kleinstes ausgesprochenes Kampfschiff, gewöhnlich mit zwanzig oder vierundzwanzig Kanonen pro Breitseite bewaffnet. Wendig und schnell, gelten Fregatten als die »Augen der Flotte«, befördern Nach richten, führen Aufklärungsfahrten durch und schützen die Flanken eines Flottenverbands. Sogenannte schwere Fregatten mit bis zu zweiunddreißig Kanonen pro Breitseite erfreuen sich bei Piraten und Freibeutern großer Beliebtheit.
B
ei der Kontrolle am Tor hatte es keine Schwierigkei ten gegeben. Vieracker hatte die Wächter nur angelä chelt und ein paar freundliche Worte mit ihnen gewechselt, worauf sie ihn mit einem Nicken durchgelassen hatten. Einmal durch das Tor, drehte Rosamund den Kopf unab lässig von links nach rechts und wieder zurück, denn er wollte möglichst viel von dieser seltsamen neuen Stadt se hen. Die Häuser in High Vesting waren im Allgemeinen größer als die in Boschenberg und aus schönen weißen Steinen erbaut, oft mit einem Fundament aus Granit. Die Fenster waren höher und schmäler, ihre Scheiben meist
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rechteckig statt rautenförmig, die Straßen breiter und in einem besseren Zustand als die in Rosamunds Heimatstadt. Vieracker lenkte das Landaulet geschickt durch das Ge wimmel von Schubkarren, Sänften, Karren und Kutschen, die häufig so elegant waren wie Europas Landaulet und manchmal noch eleganter. Ein kalter Wind trug den Ge ruch des Grum in jede Straße, die in Nord-Süd-Richtung verlief. Europa hielt sich mit einer behandschuhten Hand Mund und Nase zu. Im Fahren erkundigte sich Vieracker: »Und wo genau soll ich jetzt hinfahren?« Europa richtete sich in ihrem Sitz auf und antwortete zu erst. »Ich muss in die Kanzlei der Herren Ibdy & Abdy an der Pontonpromenade.« »Schön«, erwiderte der Postbote höflich. »… Und du, Rosamund? Du hast von einem Mister Germanicus in der Hafenkommandantur gesprochen …« »Was der Junge tut und wohin er fährt, können Sie ge trost mir überlassen, Postbote«, unterbrach ihn Europa mit mürrischem Blick. »Sie sind mein Kutscher und lenken den Wagen. Und er ist mein Faktotum und bedient mich, wenn auch nur vorläufig! Seinen Bedürfnissen wird dann nach gekommen, wenn ich es für richtig halte. Bis dahin tun Sie, was ich Ihnen sage!« Rosamund blinzelte. Vieracker erwiderte ihren Blick ebenso mürrisch: »So weit ich weiß, stehen er und ich immer noch in den Diens ten des Kaisers, Madam! Und solange ich keine gegenteili ge Erklärung abgebe, können Sie sich Ihr ›Tun Sie, was ich Ihnen sage‹ an den Hut stecken. Ich erweise Ihnen eine Ge 286
fälligkeit, und ich werde die Sache auch zu Ende bringen, aber ich stehe Ihnen nur zu Diensten, soweit es der normale Anstand gebietet!« Europas Augen verengten sich zu wütend funkelnden Schlitzen, und sie machte den Eindruck, als könnte sie mehr sagen, viel mehr, aber dann sackte sie in sich zusam men und starrte wieder mit leerem Blick auf die vorbeizie hende Szenerie. »Ganz wie Sie wollen … Aber fahren Sie, ja?«, war alles, was sie sagte. Der Postbote fuhr weiter, während Rosamund genau estens seine rechte Schuhspitze inspizierte und nicht aufzu schauen wagte. Sie gelangten an einen großen gepflasterten Platz, der für den Verkehr gesperrt und mit zahlreichen Brunnen und Gedenksäulen geschmückt war. An jeder Ecke erhob sich ein großes Standbild, das Arius Vigilans, den Wachsamen Widder – einen Schafbock mit imposantem Gehörn –, in verschiedenen Posen trotziger Unbeugsamkeit und vor nehmer Gelassenheit zeigte. Er war das Wappentier von Rosamunds Volk, den Hergotten, und es erfüllte ihn mit Stolz, ihn in solcher Unerschrockenheit dargestellt zu se hen. Auf dem Platz tummelte sich eine Menschenmenge, deren buntes Treiben und fremdartige Kleidung ein Schau spiel für sich waren. Die Kanzlei Ibdy & Abdy war in einem hohen Haus aus glänzendem rosa Stein auf der anderen Seite des Platzes untergebracht. Die nahezu fensterlose Vorderfront des Ge bäudes wurde von riesigen Stützpfeilern beherrscht, in de ren Mitte ein eindrucksvolles Portal aus mattbrauner Bron ze prangte. Nur über der Tür strebten zwei Reihen von 287
Fenstern nach oben, die so schmal und hoch waren wie alle anderen in dieser Stadt. Rosamund zählte die Fenster. Dreizehn! Er hatte noch nie ein so großes Gebäude gese hen, aber er vermutete, dass es in High Vesting noch mehr davon gab. Als Vieracker das Landaulet auf dem Hof vor dem Bü rohochhaus von Ibdy & Abdy zum Stehen brachte, konnte sich Rosamund nicht länger beherrschen. Ungeduldig frag te er: »Darf ich mir die Schiffe ansehen, Miss Europa? Vielleicht bekomme ich nie wieder Gelegenheit dazu.« Möwen schwebten über ihren Köpfen. Im Süden, drau ßen über dem Grum, türmten sich dicke, blassgelbe Wol ken in den Himmel. Ihre abgeplatteten Unterseiten hatte jene dunkle graugrüne Farbe, die nichts Gutes ahnen ließ. Europa sah Rosamund an, dann den Postboten, der mit den Schultern zuckte und mit einem müden Lächeln sagte: »Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte, Miss: Ich warte hier mit Ihrer Nobelkutsche, und während Sie Ihre Ge schäfte erledigen, darf sich Rosamund ein wenig umsehen. Einverstanden?« Mit einem Seufzer deutete Europa auf eine Uhr an der Fassade eines ebenso großen Gebäudes auf der anderen Seite des Platzes. Sie war gut zu sehen, und Rosamund hat te in der Marineanstalt gelernt, die Uhr zu lesen. Es war kurz nach halb zwei. »Spätestens in einer halben Stunde bist du wieder zu rück«, sagte sie streng. »Ganz bestimmt!« Rosamunds Herz schlug heftig, als er hinaussprang. Er wollte schon losflitzen, da fiel ihm der Vorfall von heute Morgen ein, und er huschte zurück und 288
streckte Europa die Hand hin, um ihr beim Aussteigen zu helfen. »Gut gemacht«, bemerkte sie trocken. »Du lernst.« Freudestrahlend eilte er davon. Er lächelte jeden an, der ihm entgegenkam: elegante Paare, die einen Spaziergang unternahmen, Schauermänner, die Lasten trugen, Essigfah rer in gestreiften Hemden und Kampfschiffkapitäne mit pompösen Perücken und prächtigen Gehröcken auf Land urlaub, wichtig aussehende Männer, die, eingezwängt in steife, lächerlich hohe Kragen, unter ihren mit Federn und Pelz geschmückten Dreimalhochs über wichtige Dinge sprachen. Wie wunderbar war es doch, in dieser großarti gen fremden Stadt etwas Zeit für sich zu haben! Ehrfürchtig trat er durch das große Eisentor, das den mächtigen Hafendamm teilte und zu den Kais und Anker plätzen führte. Der Damm war vom ätzenden Wasser des Grum, das seit Jahrhunderten seine Grundmauern umspül te, unten ganz schwarz. Oben auf der Dammkrone thronten Geschützbatterien, dazu katapultähnliche Kriegsmaschinen wie das Tormentum, das große Rauchbomben mit hochgif tigen Abwehrmitteln verschießen, und die Lambarde, die Speere schleudern konnte, deren Spitzen mit heimtücki schen Giften bestrichen waren. Wie in jeder Küstenstadt war man auch in High Vesting fest entschlossen, die listi gen Monster des Meeres mit allen Mitteln fernzuhalten. Rosamund schlenderte am Hafendamm vorbei und dann einen Kai entlang, von dem viele lange und hohe Holzpiers abgingen, an denen unzählige kleinere Schiffe lagen, ei senbeschlagene und solche mit Holzrümpfen. Es waren so viele, dass er in dem Wirrwarr hoher Masten das Gefühl 289
hatte, durch einen Wald zu spazieren. Dahinter, im tieferen Wasser des Mullhavens, ankerten die mächtigen Kampf schiffe. Sie waren es, die er sich ansehen wollte. Auf einem solchen Schiff wäre er gern gefahren. Am Ende des Kais entdeckte er, vertäut an einem niedri gen Pier, der nach rechts abzweigte, eine Fregatte! Fregat ten gehörten zu den kleineren hochseetüchtigen Kampf schiffen, die aufgrund ihres geringen Tiefgangs ganz dicht an die Küste herauffahren konnten. Diese hier war unge fähr so lang wie ein Monitor, lag aber viel höher im Was ser, sodass ihr die Dünung nichts anhaben konnte. Fasziniert und glücklich rief sich Rosamund alles ins Gedächtnis, was er über sie gelernt und gelesen hatte. Er besah sich die Reihe der Geschützpforten, durch welche die Kanonen ausgerannt wurden, und zählte sie – es waren insgesamt achtundzwan zig. Er bewunderte den elegant geschwungenen Bug, der in einem Rammsporn endete, und er las das Namensschild aus Messing, das am Foksel angebracht war. Surprise, stand dort. Rosamund fiel fast in Ohnmacht. Dieses Schiff war berühmt! Es war das schnellste seiner Klasse in der gesam ten Marine, vielleicht sogar auf der ganzen Welt. Er hatte in seinen Illustrierten Heften darüber gelesen und im Unter richt an Madam Operas Marineanstalt davon gehört. Es ver richtete seit über hundert Jahren zuverlässig seinen Dienst! Dann fiel sein Blick auf ein riesiges dunkles Schiff, das weiter draußen lag. Ein Hauptsouverän! Das waren die größten Kampfschiffe überhaupt, und dieses hier war so gigantisch, dass sich alle anderen Schiffe daneben klein ausnahmen. Der Rammsporn ragte bei ihm 290
längst nicht so weit heraus wie bei der Fregatte, denn Hauptsouveräne galten als zu groß und zu langsam, um andere Schiffe rammen zu können. Sie verließen sich lieber auf die dicken Eisenplatten, mit denen ihr Rumpf gepanzert war, und auf ihre beiden Geschützdecks mit einhundert zwanzig Kanonen pro Breitseite. Diese Zahl hatte Rosa mund schon immer erstaunt, denn sie bedeutete, dass ein Hauptsouverän mindestens vierzehnhundert Mann Besat zung brauchte, um volle Gefechtsstärke zu erreichen … »He, Rosensträußchen!«, riss ihn ein Ruf aus seinen schwärmerischen technischen Betrachtungen. Er kannte die Stimme. Er schaute sich um und entdeckte an Bord der Surprise ein Gesicht, das er kannte. Es gehörte einem ehemaligen Mitzögling aus der Marineanstalt, der, zwei Jahre älter als er, vor achtzehn Monaten von der Kriegsmarine angeheuert worden war. Er hieß Snarl. Er war größer, stämmiger und kräftiger geworden – aber sonst war er noch ganz der Alte. In Madam Operas Marineanstalt hatte er nach Gosling zu Rosamunds schlimmsten Peinigern gehört. Ins grelle Licht der sonnenbeschienenen Wolken blin zelnd, schaute Rosamund zu dem ehemaligen Mitzögling hinauf. »Oh … Tag, Snarl«, erwiderte er kühl. Eigentlich hätte es ihn mit Stolz erfüllen müssen, dass ein ehemaliger Schlafsaalgenosse jetzt auf einem so berühmten Schiff diente, aber Snarls Charakter ließ solche kameradschaftli chen Gefühle nicht aufkommen. »Na, so was, ist das zu fassen, unser altes Fräulein kommt mich auf meinem mächtigen Schiff besuchen!« Snarl stapfte großspurig über das Fallreep und blieb direkt 291
über Rosamund stehen. »He, Jungs«, rief er seinen Bord kameraden zu, »seht mal her, hier ist ein Bursche, mit dem ich zusammen aufgewachsen bin!« Ein paar jüngere Besatzungsmitglieder spähten zu dem Findling hinunter, der auf dem Pier stand. Einige lächelten ihm sogar freundlich zu. Rosamund lächelte vorsichtig zurück. »War immer ein Tugendpinsel, der Knabe, immer nett und brav«, fuhr Snarl in überheblichem Ton fort. »Hat ja auch passend dazu einen Mädchennamen, stimmt’s, Rosa mund?« Nein, Snarl hatte sich nicht geändert. Rosamund machte kehrt und ging auf dem Pier zurück. »Wiedersehen, Snarl«, knurrte er. Er bog, das hämische Gelächter des ehemaligen Mitzög lings im Rücken, in einen anderen Pier ein. Sein altes Le ben lag noch keine zwei Wochen zurück, und doch kam es ihm wie eine halbe Ewigkeit vor. Einen Jungen von damals zu treffen, weckte in ihm keine wehmütigen Erinnerungen, sondern verstärkte nur das Gefühl, alles hinter sich gelas sen zu haben. Er fragte sich, ob Snarl schon einmal vom Deck eines fahrenden Cromsters gesprungen war, ob er schon einmal eine Lahzar im Kampf gesehen, eine Bande Grinslinge mit Schrecksalzen beworfen oder eine kranke Fulgar in ein Weghaus geschleift hatte. Rosamund staunte. In den vergangenen zwei Wochen hatte er mehr erlebt als in zwei Jahren im Findelhaus. Eine Weile schlenderte er an den vielen kleineren Boo ten vorbei, die auf beiden Seiten des Piers festgemacht wa ren, bog mehrmals ab und versuchte, nicht mehr an die Be gegnung von eben zu denken. Eigentlich hätte er erwartet, 292
dass seine Mitzöglinge erwachsen wurden, wenn sie aus der kleinen Welt der Marineanstalt herauskamen, etwas vernünftiger und freundlicher. Er näherte sich dem Ende eines weiteren Piers. Die Uhr über dem Platz war zwischen all den Masten noch gut zu sehen. Er reckte den Hals. Es wurde Zeit umzukehren. Er wollte es gerade tun, als ihm ein durchdringender Geruch in die Nase stieg. Er kannte diesen Gestank … Schweineschmalz! Eine Hand packte ihn im Genick. »Nanu, wen haben wir denn da? Ein alter Bordgenosse, der in den Schoß der Fa milie zurückkehrt?« Es war Flusskapitän Poundinch. Der schmierige Kerl beugte sich über ihn. »Hast uns wohl ver misst, Rosi, mein Junge?« Rosamund wurde ganz blass und bekam weiche Knie. Er dachte, er müsste sich vor Schreck übergeben. »Sieh an – er ist von der Wiedersehensfreude ganz ü berwältigt«, gurrte Poundinch. Irgendwie fand Rosamund die Sprache wieder. »Ah … guten Tag, Flusskapitän P … Poundinch.« »Guten Tag, Rosi, alter Junge. Ich heiße allerdings Käpt’n Poundinch, wenn wir uns in diesen Gewässern hier aufhalten. Du wirst dich umgewöhnen müssen.« Die Hand in Rosamunds Genick verstärkte den Druck nur leicht, aber so geschickt, dass er gezwungen war, vor wärts auf ein Fallreep zuzugehen. Da lag sie, die Hogs head, mit einer leichten Schlagseite Backbord, aber sonst weitgehend unversehrt. Sie war die Quelle des ach so ver trauten Geruchs. Für Rosamund würde er immer der Ge ruch der Angst bleiben. 293
»Wie … äh … sind Sie den Monitoren entkommen?«, brachte er irgendwie heraus. »Ach, Rosi, meine Junge«, schnurrte Poundinch und tippte sich mit dem schmutzigen und narbigen Zeigefinger der freien Hand an die fettige Nase, »so ist er eben, der alte Poundy – schwerer zu fassen als Schweineschmalz … Freust du dich für mich?« »Ich … äh …«, stammelte Rosamund. Poundinch stieß ihn vor sich her das Fallreep hinauf. Rosamund erwog kurz, ins Wasser zu springen, aber man hatte ihm eingeschärft, dass das ätzende Wasser des Grum für Menschen kein geeigneter Ort zum Planschen sei. Da ihm dieser Fluchtweg also verwehrt war, fand er sich an einem Ort wieder, den er nie wieder hatte betreten wollen – auf dem Deck der Hogshead. Von der Besatzung war nur Gibbon an Bord, sonst niemand. Er stand neben dem zer splitterten Stumpf der Ruderpinne und kaute an seinen schwarzen Fingernägeln. »Sieh mal, Gibbon, den hat die Sehnsucht hergetrieben, so hat er uns vermisst!« Poundinch stieß den Findling wei ter in Richtung Luke. Rosamund stemmte sich störrisch gegen jeden Schubs. Gibbon musterte den Jungen einen Augenblick lang stumm, dann verfinsterte sich sein Blick. »Ah ja, ich erin nere mich. Hallo, Kleiner!« Rosamund ergab sich in sein Schicksal. Er wusste, dass er viel zu weit weg war, als dass ihn Vieracker oder Europa hätten se hen können. Außerdem bezweifelte er, dass in diesem fragwür digen Teil des Hafens andere Seeleute dem kleinen Handge menge an Bord der Hogshead allzu große Beachtung schenkten. 294
Die Luke stand wie gewöhnlich offen, und mit geübter Hand zwang ihn Poundinch, die Leiter hinabzusteigen. »Ich hab mit dem Burschen noch ein Wörtchen zu reden«, rief er Gibbon zu und setzte den Fuß auf die oberste Sprosse. Rosamund stieg langsam in den Laderaum hinunter, da mit sich seine Sinne an die Dunkelheit und den überwälti genden Gestank gewöhnen konnten. Er sah, dass die Fässer fort waren, doch der durchdringende Geruch nach Schwei neschmalz, der sich in den Spanten und Planken des Cromsters festgesetzt hatte, war geblieben – und mit ihm ein noch viel üblerer Gestank. Doch diese Gerüche waren nicht alles, was geblieben war. Ein Algion hing an einem Decksbalken auf halber Strecke zwischen Leiter und Bug. Er spendete wenig Licht, aber doch genug für Rosamund, um zu sehen, dass die drei eisenbeschlagenen Kisten, die man vor ungefähr einer Woche an Bord geschmuggelt hat te, noch da waren. Zwei standen dicht beieinander gleich neben der Leiter, die dritte einige Schritte abseits. Diese dritte begann plötzlich, heftig zu wackeln. Rosamund entfuhr ein Schrei. Er wollte wieder nach o ben, doch Poundinch versperrte ihm den Weg. Der Kapitän brüllte zu der abseits stehenden Kiste hinüber, und nach dem sie noch ein paarmal geruckt hatte, kehrte wieder Ru he ein. Sonst war der Laderaum leer bis auf das ätzende Meerwasser, das achtern hereinsickerte. Wie Rosamund feststellte, stand es am Fuß der Leiter schon mehrere Zen timeter hoch. »Weißt du, was in den Kisten ist, Junge?« Poundinch war auf halber Höhe stehen geblieben und warf seinen gro ßen Schatten auf den Findling. 295
»Ich … äh … nein«, stotterte Rosamund und wich vor Poundinch und den Kisten einen Schritt zurück. Das Bil gewasser schwappte um seine Knöchel. »Ach, komm schon, du hast doch herumgeschnüffelt und die Lauscher aufgesperrt, nachdem wir sie an Bord geholt hat ten. Du hast versucht, etwas über den alten Poundy herauszu finden, stimmt’s? Irgendwas, was du seinen Feinden verkau fen kannst, hab ich recht? Um etwas gegen mich in der Hand zu haben und einen Vorteil für dich herauszuschlagen!« Rosamund starrte den Kerl ungläubig an, als er begriff, wessen er ihn verdächtigte. Poundinch stieg vollends herunter. »Den treuherzigen Hundeblick kannst du dir schenken, das zieht bei mir nicht, du Rotzlöffel. Ich glaube, ich werde dich hier unten lassen, dann kannst du noch einmal über deine Schwindeleien nachdenken, du verlogener Strick. In ein paar Stunden kommen wir wieder und holen die Kisten, du hast also ge nug Zeit, in dich zu gehen.« Er packte Rosamund am Handgelenk und verdrehte ihm brutal den Arm. Dem Findling traten Tränen in die Augen. Um den Schmerz zu lindern, musste er sich krümmen und vorbeu gen, und ehe er sich versah, befand er sich dicht neben den beiden Kisten bei der Leiter. »Aber ich weiß doch nichts! Ich weiß überhaupt nichts! Ich will nur als Laternenanzün der arbeiten!«, schrie er immer wieder. Doch Kapitän Poundinch hörte nicht hin. Er drückte ihm blitzschnell die Hände zusammen, wickelte einen Strick darum und knotete dessen Ende an ein Tau, das eine der beiden Kisten zusammenhielt, und zwar so, dass Rosa mund gezwungen war, sich hinzusetzen. 296
Dem Jungen stockte das Herz. Er war an eine der Kisten gefesselt! Das blanke Entsetzen überkam ihn. »Aber! Aber …!« Mehr brachte er nicht heraus. »Ja, ›aber, aber‹. Jetzt hat es dir die Sprache verschla gen, was? Aber du musst schon etwas deutlicher werden, wenn du freikommen willst.« Poundinch beugte sein schmutziges Gesicht zu Rosamund herunter. »Du wolltest doch unbedingt wissen, was ich geladen habe. Na schön, jetzt kannst du es dir aus nächster Nähe ansehen«, knurrte er. »Du hast drei Stunden, bis ich wiederkomme – also reichlich Zeit zum Nachdenken, und wenn meine Herzchen hier dich bis dahin so heil gelassen haben, dass du noch reden kannst, wird sich zeigen, was wir mit dir anstellen. Wer weiß, Junge, vielleicht hast du Glück, vielleicht winkt dir ein herrliches Leben auf den Essigwogen unter dem al ten Poundy als deinem zuverlässigen, stets wachsamen Ka pitän.« Ohne ein weiteres Wort stapfte Poundinch mit schweren Stiefeltritten die Leiter hinauf. Krachend fiel der Lukende ckel zu. »Ich will doch nur Laternenanzünder werden …«, schluchzte Rosamund, der mit dem Hosenboden schon ei nen Zentimeter tief im Wasser saß. Er schlang die Arme um die Knie, vergrub das Gesicht in den Ärmeln und wein te, von bitterer Hoffnungslosigkeit überwältigt, wie er noch nie in seinem ganzen Leben geweint hatte. Nach einiger Zeit beruhigte er sich, hörte auf zu weinen und lauschte. Die Hogshead knarrte in der Dünung, und das Meerwasser im Laderaum plätscherte, sonst war nichts zu hören bis auf das Klopfen seines Herzens. Er hob den 297
Kopf und sah sich, ein Brennen im verschwollenen Ge sicht, im Laderaum um. Es war ziemlich dunkel, aber der Algion spendete wenigstens so viel Licht, dass er die Kis ten deutlich erkennen konnte. Im Moment war in keiner der drei eine Bewegung auszumachen, auch nicht in der, die vorhin so heftig gewackelt hatte. Und das trotz des Lärms, den er gemacht hatte. Sie mussten leer sein. Verwirrt späh te er durch die Latten der Kiste, an die er gebunden war. Die anderen würden ihn bestimmt vermissen. Na ja, Eu ropa vielleicht nicht, aber Vieracker ganz gewiss. Er würde kommen und ihn befreien, da war er sich sicher. Oder doch nicht? Zweifel kamen ihm, und er war sich seiner Sache überhaupt nicht mehr sicher. Nein, er war verloren. Wie sollten sie ihn denn finden? Wenn Master Fransitart wüss te, was ihm zugestoßen war, würde er in Zorn geraten und alle Hebel in Bewegung setzen, um ihn zu retten. Aber der alte Schlafsaalaufseher war ahnungslos – und zu weit weg, um ihm zu helfen. In seinem Kummer verdrehte Rosamund die Augen, und dabei bemerkte er etwas hinter den Latten der Kiste, an die er gefesselt war. Zwei Augen starrten ihn an, gelblich und runder als Menschenaugen. Er schrie wie von Sinnen, zerrte mit aller Gewalt an sei nen Fesseln. Die Kiste wackelte heftig, und die Augen ver schwanden. In kopfloser Panik versuchte er, sich zu befrei en und sein Leben zu retten! Alle Anstrengungen waren vergeblich. Der Knoten, der ihn an die Kiste fesselte, war ein raffinierter WachtmeisterStek. Man brauchte zwei Hände, um ihn zu schlingen, aber drei, um ihn wieder zu lösen. Und er konnte nicht einmal 298
alle Finger einer einzigen Hand bewegen! Er fügte sich in sein grausames Schicksal, worin es auch immer bestehen mochte, ließ den Kopf hängen und begann wieder zu wei nen, darauf gefasst, jeden Augenblick einen jähen Schmerz zu spüren und in Stücke gerissen zu werden. Stattdessen vernahm er eine Stimme. Es war eine dünne, sanfte Stimme, die munter dahinplätscherte wie ein kleiner Bach. »Sieh dich an«, sagte sie. »Sieh dich an, du komi scher Kleiner, der weinen kann. Du brauchst jetzt nicht zu weinen, nein, nein, nein. Freckel ist hier, und hier ist er. Er mag ein Geringer sein, aber nicht der Geringste. Ein Freund ist er, und freundlich obendrein. Darum jetzt nicht weinen, nein, nein, nein, und auch nicht schreien und den armen Freckel und seinen Kopf in diesem kleinen Gefäng nis schütteln und herumschleudern.« Unwillkürlich wurde Rosamund ruhiger und drehte den Kopf. Die runden gelben Augen waren wieder da und sa hen ihn mit aufrichtiger Freundlichkeit an. Er hielt den Atem an. Auch die Augen wirkten unschlüssig. Dann sagte die Stimme, die zu den Augen gehörte, diese dünne, sanfte, munter plätschernde Stimme: »Er sieht dich auch, und er kennt dich, oh ja, hm, hm. Keine Bange. Es gibt immer ei nen Plan. Die Vorsehung hat alles vorbestimmt. Du wirst schon sehen, du wirst schon sehen.« »Wer … wer bist du?«, brachte Rosamund endlich her aus. Bis auf die großen Augen konnte er nichts sehen … vielleicht noch eine kleine Nase, aber da war er sich nicht sicher. »Oh, ich dachte, das hätte ich gesagt, oder sagte ich, ich 299
hätte es gedacht?« Die Augen blinzelten einmal, und es war ein langes, beinahe träges Blinzeln. »Na, ich bin Fre ckel! Freckel, der eben alles gesagt hat, was er gedacht hat. Vorhin habe ich mich gefürchtet, und vorhin habe ich mir gedacht, ich behalte meine Gedanken für mich und sage nichts und finde erst heraus, was für ein komischer Kleiner du bist. Aber dann hast du geweint, und da habe ich ge wusst, was du bist, und jetzt fürchte ich mich nicht mehr.« Rosamund konnte es zwar nicht sehen, aber er konnte sich gut vorstellen, dass das Geschöpf jetzt recht selbstzufrieden lächelte. »Sag, kleiner Weiner, wie heißt du?« »Ah … Rosamund.« Ein eigentümliches Schnattern ertönte, und Rosamund hatte den Eindruck, dass es Freckels Lachen war. »Ich ver stehe, ja. Ein naheliegender Name. Hier ist ein Baum. Ich werde ihn ›Baum‹ nennen. Dort ist ein Hund. Ich werde ihn ›Hund‹ nennen. Sehr schlau! Was für ein Witzbold, der ihn dir gegeben hat. Das müssen wirklich Spaßvögel gewesen sein!« Wieder dieses Schnattern. Rosamund runzelte die Stirn. Witzbold und Spaßvogel waren nun wirklich keine Worte, die er mit Madam Opera verband. »Wieso … wieso ist mein Name so nahelie gend?«, wollte er wissen. »Dein Name ist so naheliegend wegen deiner bitteren, bitteren Tränen, kleiner Rosamund, das ist alles.« Der klei ne Kerl sprach in Rätseln. »Und nun, da wir uns einander vorgestellt haben«, fuhr er fort, »hoffe ich, du hast gelernt, dass man einander die Hände schüttelt und so die Bekannt schaft besiegelt.« 300
Eine Hand kam unten zwischen den Latten hervor. Sie war ungefähr so groß wie Rosamunds Hand, aber die Fin ger waren länger, das Handgelenk schmaler und die Haut viel rauer. Rosamund starrte sie entgeistert an: Eine Men schenhand war das mit Sicherheit nicht. Er fasste sich wie der, ergriff die Hand und schüttelte sie höflich. Sie fühlte sich warm an und wie die Rinde eines Baumes. Ihr Druck war fest und doch sanft. Während Rosamund in diese sonderbaren gelben Augen blickte, versuchte er, Vertrauenswürdigkeit und Freund lichkeit in seine eigenen zu legen. Wenn er schon Gefan genschaft und Unfreiheit erdulden musste, dann war es doch ein gewisser – wenn auch merkwürdiger – Trost, dass er die Gelegenheit bekam, sich mit einem netten Bogel an zufreunden. »Sehr erfreut, deine Bekanntschaft zu machen, Freckel«, sagte er feierlich, und bevor er vor Neugier platz te, fügte er die Frage an: »Entschuldige, Freckel … aber bist du ein Nuglung?« Wieder dieses Schnattern. »Man hat dir beigebracht, al les zu teilen und unter Kontrolle zu bekommen, verstehe – herrsche und teile, teile und herrsche, der Leitsatz der Normalmenschen. Aber das ist nur gerecht. Ich habe dir zuerst einen Namen gegeben.« Die Augen blinzelten wie der. »Aber du machst mich größer, als ich bin. Nein, nein, nein, ich bin kein Nuglung-Prinzchen. Ich bin nur, was ich bin: das, was die Normalmenschen einen Glammergorn nennen würden – obwohl ich genau genommen nur ein ein samer Freckel bin. Es gibt keinen anderen Freckel, nur die sen einen Freckel, bis er irgendwann nicht mehr ist.« Die Augen blickten himmelwärts. 301
Rosamund hatte heute schon einen Nuglung gesehen, den Spatzenkopf im Olivenbaum, und nun unterhielt er sich mit einem leibhaftigen Glamgorn – was Freckel, wie er vermutete, mit »Glammergorn« gemeint hatte. Diese Geschöpfe waren noch kleiner und schwächer als ein Nuglung. Wieder musste er an die Warnung in seinem Al manach denken, keinem zu nahe zu kommen. Was, so fragte er sich, würden die Autoren von Master Mathius’ Wanderführer wohl sagen, wenn sie ihn jetzt se hen könnten? »Gib ihn miiir«, zischte eine neue, eine gebrochene Stimme. Rosamund zuckte zusammen. Die gelben Augen blinzel ten mehrmals rasch hintereinander. Die neue Stimme kam aus der Kiste, die abseits auf der Steuerbordseite des Laderaums stand. »Sei still!«, warnte Freckel. »Gib ihn miiir«, wiederholte die gebrochene Stimme mit gierigem, traurigem Verlangen. »Und miiir – wir wollen ihm das Knochenmark aussaugen – oh ja, und seine Aug äpfel zwischen unseren faulen Zähnen zermatschen.« An der Kiste, aus der die Stimme drang, wurde heftig gerüttelt. Rosamund spähte angestrengt hinüber. Ein buckliges dunkles Etwas zappelte darin unter krampfartigen Bewe gungen. Zum Glück war die Kiste an einen dicken Eichen balken gekettet. Dennoch erschauerte Rosamund und zerrte an dem Strick, mit dem seine Hände gefesselt waren. Freckels bisher so sanfte und eintönige Stimme nahm einen gebieterischen, scharfen Ton an. »Sein Mark wird noch dringend in seinen Knochen gebraucht, und seine 302
Augen sind so mit Schauen und Weinen beschäftigt, dass sie dein Magen nicht gebrauchen können!« Die goldenen Augen des Glamgorns verschwanden. »Sei endlich still!«, schimpfte seine Stimme jetzt auf der Rückseite der Kiste. Ein lautes Spuckgeräusch war zu hören, dann ein Fluch und ein zorniges Fauchen aus der abseits stehenden Kiste. »Das hat uns ins Auge getroffen! Jetzt müssen wir auch ein Auge bekommen, Auge um Auge … ein Auge … ein le ckeres Auge …« Und dann folgte ein widerwärtiges Schmatzen. »Ich weiß, und ich weiß es, weil es meine Absicht war«, erwiderte Freckel stolz. »Und du wirst bald noch weniger Augen haben, wenn du uns jetzt nicht in Frieden lässt!« Wieder antwortete ein lautes Fauchen. »Du bist nur so mutig, weil wir so fest angebunden sind, Leckerbissen. Wir möchten auch an deinen dünnen Knochen nagen … Ach, und ich auch …« Es wurde still. Freckels Augen erschienen wieder. »Was ist das?«, flüsterte Rosamund, der immer noch vergeblich an seinen Fesseln zerrte. »Das ist ein schlecht gemachter Wiedergänger, der in al le seine Einzelteile zerfällt. Die bösen Leute, die ihn er schaffen haben, verstehen ihr böses Geschäft nicht. Er ist nicht richtig zusammengesetzt und auch nicht besonders helle in seinem zusammengesetzten Oberstübchen. Oh, wie er hasst, weil er nur halbe Erinnerungen hat und weil ihn ein unbändiger Hunger quält! Am meisten hassen sie uns Natürliche, weil wir richtig gemacht sind und weil sie nach Art der Normalmenschen gemacht sind – ganz verkehrt …« 303
Ein Wiedergänger! Ein Untoter! Rosamund hatte schon von solchen Wesen gehört. Sie wurden von bösen Men schen zusammengesetzt, die Leichenteile nahmen und dar aus neue Kreaturen erschufen, halb verweste, gefräßige Kreaturen. Das also war Poundinchs heimliches Gewerbe und der Grund für seine verdächtigen Mauscheleien und die überstürzte Flucht vor den Zöllnern an der Spindel. Endlich war Rosamund hinter die Wahrheit gekommen. Flusskapitän – oder Käpt’n, wie er sich jetzt nannte – Poundinch war ein Schmuggler und Schleichhändler, der mit Leichen und halbfertigen Untoten Handel trieb. Des halb beförderte er so stark riechende Waren wie Schweine schmalz und Kräuter. Sie waren nur Tarnung und sollten den Gestank des Schmuggelguts überdecken. Wieder erschauerte der Findling. Er musste von hier fort! Der Laderaum der Hogshead erschien jetzt in einem noch schlimmeren Licht. Und obendrein war darin ein Wiedergänger! Rosamund war es gleich, wie schlecht er sein mochte. Ihm war unbehaglich bei dem Gedanken, so eng mit ihm zusammengesperrt zu sein. Der Fäulnisge stank, den er verströmte, legte sich allmählich über die an deren widerlichen Gerüche im Laderaum, selbst über den des Schweineschmalzes. »Schneid mich los!«, flüsterte er Freckel zu. »Ich habe noch ein Messer, es hängt an meinem Gehenk. Siehst du es?« »Und ob ich es sehe, klar und deutlich.« Rosamund spürte einen Ruck an der Scheide. »Aber meine Hände ge nügen, um die Arbeit eines Messers zu verrichten. Hanf 304
und Holz sind eine Sache, Rosamund, Eisen aber eine ganz andere. Deine Fesseln kann ich lösen, aber meine nicht, oder hast du auch deine Kräfte geschult?« Der Findling runzelte die Stirn. Er war nicht stark genug. Wovon redete der Glamgorn überhaupt? Seine Hoffnungen schwanden, und eine Zeit lang saß er mutlos da. Nach einer Weile spürte er ein Brennen am Hintern, als werde er von tausend kleinen Ameisen gebissen. »Autsch!« Er begriff, dass er zum ersten Mal Bekannt schaft mit der ätzenden Wirkung des Meerwassers machte. Er saß schon so lange in dem Bilgewasser, dass es seine Haut angriff. Er richtete sich so gut es ging auf, aber wegen der Fessel konnte er nur gebückt stehen. Sein Hinterteil schmerzte. Ein gemeines, ersticktes Kichern drang aus der abseits stehenden Kiste. »Nicht gut für Kleider, und auch nicht für zarte rosige Haut«, bemerkte Freckel, ohne auf die Schadenfreude des Wiedergängers zu achten. »Da lobe ich mir meine Borke. Sie schützt mich besser vor verstohlenen Blicken und dem brennenden Wasser.« »Ja, ich wünschte, ich hätte deine Haut«, stimmte Rosa mund mit einem Nicken zu, »aber nur am Hintern.« Und um einen früheren Gedanken aufzugreifen, fuhr er fort: »Freckel? Was für einem Nuglung dienst du?« Freckel sog hörbar die Luft ein. »Oweiowei – wenn es eine typische Normalmenschenfrage gibt, dann ist es die. Stecke deine Nase nicht in Privatangelegenheiten! Ich habe dich nicht nach deinen Privatangelegenheiten gefragt, und du solltest mich nicht nach meinen Privatangelegenheiten 305
fragen. Man hat dich viel zu gut erzogen, wie ich feststel len muss, viel zu gut.« Rosamund ließ beschämt den Kopf hängen. Irgendwie war es verständlich, dass dieser Glamgorn einem Normal menschenkind – selbst wenn es so freundlich und aufge schlossen war, wie er zu sein hoffte – nicht viel über die Geheimnisse der Bogels erzählen wollte. Wenn er ein Bogel wäre, da war er sich sicher, würde er einem Menschen auch nicht viel verraten wollen, jedenfalls solange er nicht mit Bestimmtheit wusste, ob er ihm trauen konnte. Er stammelte eine Entschuldigung, sprach aber gleich ein anderes Ge heimnis an. »Dann sag mir bitte wenigstens, wieso du mei nen Namen so passend findest, nur weil ich geweint habe.« Der Glamgorn lachte sein eigentümliches Lachen. »Wis sen, wissen – manchmal muss man auch vertrauen …« Der Blick der goldenen Augen verfinsterte sich vorübergehend und wurde dann wieder freundlich. »Ich kann sehen, dass du noch nicht bereit bist, und ich weiß, es gibt eine Zeit und einen Ort, einen Ort und eine Zeit. Ich mag ein Gerin ger sein, aber selbst ich weiß, was man sagen muss und wann man es nicht sagen darf. Doch es kommt die Zeit, Dinge zu erfahren, und wenn der Tag naht, an dem du et was wissen musst, wirst du es auch wissen, so wie ich es jetzt weiß.« Das half ihm nun gar nicht weiter. Rosamund wollte ge rade genauer nachfragen, da ertönte vom Oberdeck das vertraute Poltern von Stiefeln. Was nun? Rosamund erstarrte, und die Augen des Glamgorns zogen sich in das Dunkel seines Gefängnisses zurück. 306
Rosamund lauschte den dumpfen Schritten. Sie näherten sich der Luke. Im nächsten Moment flog der Deckel auf, und Kapitän Poundinch spähte herein. Sein Blick flog von Kiste zu Kiste, ehe er auf Rosamund ruhen blieb. »Na, Ro si, mein Junge, wie ich sehe, bis du noch heil und ganz«, feixte er. »Ich bin früher wieder da als erwartet, ich weiß, aber ich habe mir gedacht, du könntest genauso gut auf meinem anderen Pott nachdenken, der Fregatte Cockeril. Sie wird dir gefallen. Dort ist es ein bisschen geräumiger als auf der armen alten Hogshead.« Er zog eine kurzläufige Pistole unter seinem Rockschoß hervor. Rosamund starrte entsetzt auf die Waffe, und dabei fiel ihm auf, dass ihr Lauf breiter war als gewöhnlich. Es war eine Spezialwaffe, mit der man einen Gegner nieder strecken und töten konnte, gleich welche Schutzkleidung er trug. »Und ich schätze, das hier ist der beste Knebel für unseren kurzen Spaziergang zur Cockeril. Ich will kein Ge schrei von dir hören, sonst schieße ich.« Poundinch löste den Knoten, mit dem Rosamunds Hän de an Freckels Kiste gebunden waren, und zog ihn hinter sich die Leiter hinauf. »Komm, es ist nur ein Katzen sprung.« Rosamund reckte den Hals, um Freckel noch einmal zu sehen. Für einen Moment erschienen die Augen des Glam gorns. Sie blickten jetzt traurig. »Lebwohl …«, formte Rosamund mit den Lippen, wäh rend ihn der kräftige Kapitän mühelos von der Leiter hob. Er fing einen letzten Blick von Freckel auf, der ihn noch einmal sorgenvoll anblinzelte.
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ENTSCHEIDUNGEN
Glamgorn, der: eine der kleineren Monsterarten, ein echter Bogel. Er kommt in unterschiedlichster Gestalt, Färbung und Behaarung vor: mit großen Augen, kleinen Augen, großen Ohren, kleinen Ohren, großem Kör per und kurzen Gliedmaßen, kleinem Körper und langen Gliedmaßen und in allen Varianten dazwischen. Häufig reizbar und schreckhaft, können manche Arten richtig bösartig werden, wobei die schlimmsten unter dem Namen Widerlinge bekannt sind. Zu den merkwürdigsten Eigenarten der Glamgorns gehört, dass sie gern Kleider tragen, Normalmenschenkleider, die sie von Wäscheleinen oder aus unbewachten Truhen stibitzen. Gerüch ten zufolge soll es bekleideten Glamgorns – und sogar Widerlingen – schon gelungen sein, sich unbemerkt in die Städte der Normalmenschen zu schleichen, dort herumzuspionieren und Schaden anzurichten.
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un, da der Strick an seinen Händen durchschnitten war, musste Rosamund vor Kapitän Poundinch her gehen, und seine Angst vor der großen Pistole war das ein zige, was ihn von der Flucht abhielt. Mächtige Gewitterwolken ballten sich im Westen, und eine frühe Dämmerung legte sich über High Vesting. Of fensichtlich hielt es Poundinch für dunkel genug, um seinen Gefangenen zu verlegen. Warum sonst wäre er so schnell
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zurückgekehrt, um mich zu holen?, sagte sich Rosamund. Ein Trost war die frische Luft. Nach den widerlichen Fäulnisdämpfen im Laderaum war sie eine Wohltat. Beim Gang über das Fallreep atmete Rosamund mehrmals tief durch die Nase ein, um sie von dem Gestank zu reinigen und seine Kopfschmerzen zu vertreiben. Sie sahen kaum einen Menschen, als sie die Piers ent langgingen. Die meisten, denen sie begegneten, schenkten ihnen keine Beachtung, und die wenigen, die es taten, schauten schnell wieder weg, wenn sie Poundinch sahen. Die Schiffe, die in diesem Teil des Hafens lagen, waren fast alle in einem ähnlich schlechten Zustand wie die Hogshead seinerzeit in Boschenberg, als Rosamund zum ersten Mal an Bord gegangen war. Es hatte ganz den An schein, als ob sich Ordnungshüter nur selten hierher verirr ten. Daher vermutete Rosamund, dass ihre Kapitäne und Mannschaften vom gleichen Schlag waren wie die der Hogshead und er folglich von ihnen keine Hilfe zu erwar ten hatte. Wieder die Wahl zwischen Pest und Cholera! Und was soll aus dem armen, einsamen Freckel werden …? Er ging weiter, die Hände tief in den Taschen seines fei nen Gehrocks vergraben. Wieder einmal kam ihm der Ge danke, zu seinem Messer zu greifen. Poundinch hatte es ihm noch immer nicht weggenommen. Das konnte er sich nicht erklären. Aber vielleicht dachte sich Poundinch, dass die Pistole, seine körperliche Überlegenheit und seine grö ßere Erfahrung Abschreckung genug seien. Und das waren sie auch. Rosamund verwarf den Gedanken wieder. »Und? Hast du meine Fracht kennen gelernt?«, unter 310
brach ihn die raue Stimme des Kapitäns in seinen Überle gungen. Rosamund grunzte einmal und nickte. »Jetzt spielt es keine Rolle mehr, ob du es vorher ge wusst hast oder nicht«, fuhr Poundinch fort und gab sich den Anschein, als ob sie ein Gespräch unter Freunden führ ten. »Jetzt weißt du es. Jetzt weißt du alles, nehme ich an, oder jedenfalls fast alles, und deswegen kann ich es mir nicht erlauben, dich aus den Augen zu lassen. Aber keine Sorge, das Leben auf der Cockeril ist um einiges interes santer als der Dienst eines Laternenanzünders.« »Das finde ich nicht«, stieß Rosamund zwischen den Zähnen hervor. Er fühlte sich in die Enge getrieben und betrogen. »Komm, Junge, stell dich nicht so an!« Poundinch klang ehrlich gekränkt. »Ich erspare dir das ständige Hin- und Herlaufen. Jeden Morgen und jeden Abend an den Later nen herumdrehen, tagaus, tagein, wer will das schon?« »Ich!« Rosamund war dazu erzogen worden, auf einem Kampfschiff zu dienen, aber nicht so und schon gar nicht unter einem Kapitän wie Poundinch. »Was? Und die wunderbaren Dinge, die du in deiner Anstalt gelernt hast? Soll das alles für die Katz gewesen sein?« Der Kapitän schnalzte missbilligend mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Bieg hier links ab, Rosi!« Sie gelangten auf einen breiteren Pier. Rosamund wurde immer wütender. Das Unrecht, das ihm und auch Freckel angetan wurde, nagte an ihm. Ich will das nicht!, dachte er aufgebracht. Ich habe mir von anderen Leuten sagen lassen, wohin ich gehen und was ich 311
werden soll, aber von diesem Kerl lasse ich mich zu nichts mehr zwingen. Er setzte sich mitten auf den Pier. Poundinch wäre um ein Haar über ihn gestolpert. »Was soll das?«, schimpfte er. Er knurrte leise wie ein gereizter Hund, dann befahl er mit dumpfer, heiserer Stimme: »Steh auf!« Rosamund rührte sich nicht. Er wollte sich keinen frem den Willen mehr aufzwingen lassen. Master Fransitart, das wusste er mit Bestimmtheit, hätte sich nicht auf diese Wei se einschüchtern lassen. Außerdem hatte er am anderen Ende des Piers Leute bemerkt, die so aussahen, als könnten sie ihm zu Hilfe kommen. »Steeeeh auf …!«, stieß Poundinch zwischen den Zäh nen hervor und trat drohend an ihn heran. »Dieser kleine Trotzanfall wird dir nichts nützen, verflixter Rotzbengel!« Der Kapitän beugte sich herunter, und Rosamund hörte, wie er zur Warnung neben seinem Ohr die Pistole knacken ließ. »Aufstehen, du Lümmel, sonst stecke ich dich in den Frachtraum und nicht in die Mannschaft …« Rosamund war jetzt in einem Zustand höchster Anspan nung und sammelte Kraft für ein kühnes Unterfangen. Er beugte sich vor, dann schnellte er in die Höhe. Sein Hinter kopf traf mit voller Wucht zuerst das Kinn und dann die ohnehin schon verbogene Nase Poundinchs, sodass er selbst vorübergehend Sternchen sah. Der Kapitän, völlig überrumpelt, stieß einen Fluch der schlimmsten Sorte aus und stürzte krachend auf die Planken des Piers. Rosamund wartete nicht ab, was als Nächstes geschah. Er nahm die Beine in die Hand. 312
Im Rennen warf er einen kurzen Blick nach hinten, und da sah er das Ergebnis seines Tuns: Poundinch lag auf dem Pier und tastete zwischen seiner todbringenden Stein schlosspistole und dem Blut umher, das ihm aus der Nase schoss. Rosamund rannte weiter, setzte über jedes Hindernis – immer in die Richtung, wo er die Leute gesehen hatte, von denen er sich Hilfe erhoffte. Sie waren nicht mehr da! Egal, er rannte weiter. Ein Schlurfen, dann ein gleichmäßiges Stampfen in seinem Rücken verrieten ihm, dass Poundinch wieder auf den Beinen war und die Verfolgung aufgenom men hatte. Nun war die Jagd in vollem Gang. Schlitternd und stolpernd bog Rosamund rechts in einen Verbindungssteg ein, der, wie er sich zu entsinnen glaubte, zu einem der Hauptpiers führte. In der nächsten Sekunde erkannte er, dass er falsch abgebogen war. Ohne Zögern rannte er zurück. Poundinch, Mund und Kinn blutver schmiert, kam bedrohlich nahe. Viel zu nahe! »Hab ich dich!«, brüllte er, versäumte es aber, dem flin ken Jungen rechtzeitig den Weg abzuschneiden. Mit einem spitzen Schrei schoss Rosamund an ihm vorbei. Poundinch griff ins Leere und geriet ins Straucheln. Nun, da ihm der Kapitän so dicht auf den Fersen war, erwartete Rosamund jede Sekunde, den Knall der Pistole zu hören und von einer übergroßen Kugel, die durch seine Rüstkleidung drang und seine Wirbelsäule durchbohrte, niedergestreckt zu werden. Instinktiv zog er den Kopf ein und versuchte, noch schneller zu rennen. Zu seiner Linken, noch weit entfernt, sah er die Uhr über dem Platz, halb 313
verdeckt von dem Wald der Schiffsmasten. Zwar lief er zu schnell, um die Zeit ablesen zu können, doch die Uhr gab ihm Orientierung, als er zum nächsten Verbindungssteg spurtete. Vor ihm tauchten die Schatten zweier Gestalten auf. Er wusste nicht, ob er sie um Hilfe bitten oder besser einen Bogen um sie schlagen sollte. »Haltet den Dieb! Er hat wein Geld gestohlen!«, rief Poundinch geistesgegenwärtig. Das nahm Rosamund die Entscheidung ab. Er wusste, dass die meisten Leute den Behauptungen eines Erwachse nen eher Glauben schenkten als den Unschuldsbeteuerun gen eines Kindes, und so rannte er verzweifelt an der ersten Gestalt vorbei – die ihn nicht zu beachten schien und wie ein dunkelroter Schatten vorüberhuschte –, aber direkt in die zupackenden Arme der zweiten. Er schlug um sich, wand sich im festen Griff der starken Arme, in seiner Panik taub für die Stimme des Mannes, der ihn festhielt. Verzweifelt schaute er sich um und sah, dass der Kapitän wutschnaubend näher kam. »Loslassen!«, schrie Rosamund. »Loslassen! Erlügt! Er lügt! Loslassen!« »Rosamund!« Endlich drang die Stimme des Fremden in sein Bewusstsein. »Rosamund! Ich weiß, dass er lügt. Ich bin es, Vieracker.« Augenblicklich standen die durcheinanderwirbelnden Gedanken des Findlings still. Es war tatsächlich der Postbote. Sein sonst verschmitzt lächelnder Mund war verkniffen, und sein Dreispitz lag auf dem Pier, wohin ihn der um sich schlagende Findling be fördert hatte. 314
Verwirrt blickte Rosamund wieder nach hinten. »Gut gemacht, werter Sir«, rief Poundinch. »Sie haben mir einen großen Dienst erwiesen!« In diesem Augenblick trat der dunkelrote Schatten zwi schen den Kapitän und sein Opfer. Es war Europa. Sie sind gekommen – beide! Kapitän Poundinch glaubte offensichtlich, die Jagd sei zu seinen Gunsten entschieden. »Hast wohl gedacht, du könntest einen Mann um sein wohlverdientes Prisengeld bringen, was?«, höhnte er mit einem selbstgefälligen Grin sen und eilte mit polternden Schritten herbei, um Rosa mund als seinen Sklaven zurückzufordern. Ohne ein Wort trat Europa dem Kapitän in den Weg. Er überragte sie weit, doch sie streckte seelenruhig die Hand aus. Zack! Ein grüner Feuerblitz zuckte, und der völlig über raschte Poundinch wurde jäh in seinem Vorwärtsdrang ge bremst und rückwärts gegen die eichene Bordwand eines Se gelschiffs geschleudert. Der Aufprall war so hart, dass mit einem bellenden Husten die Luft aus seinen Lungen entwich. Die Augen starr vor Entsetzen, fiel er in die Lücke zwischen dem Rumpf des Bootes und den Planken des Landungs stegs. Ein gedämpftes Platschen war zu hören, mehr nicht. Mit gelassener Miene kehrte Europa zu Vieracker und Rosamund zurück. Sie nahm den Findling an der Hand und führte ihn auf den Pier zurück. »Komm, suchen wir diesen Mister Germanicus«, sagte sie ruhig. Rosamund lachte das Herz im Leib, als sie ihn aus dem Hafen führten. Sie haben mich gerettet! Sie haben mich gerettet! Sie hat mich gerettet! 315
Im Gehen beantwortete er alle ihre Fragen und berichtete aufgeregt, wer Poundinch war, warum ihn der Flusskapitän verfolgt und was er mit ihm vorgehabt hatte. Und dann fiel ihm Freckel ein, der arme Freckel, der freundlicher und ehrlicher war als die meisten Menschen, denen er in seinem Leben begegnet war. Die Freude über seine Befreiung ver flog. Ob Miss Europa wohl in der Stimmung für eine weite re Rettungsaktion war? Er blieb stehen und sagte: »Miss Europa? Mister Vier acker? Ein Freund von mir ist noch auf der Hogshead ge fangen. Wir müssen ihn befreien.« Europa ließ seine Hand los und verschränkte die Arme. Das Kinn gegen die Brust drückend, sah sie ihn listig an. »Tatsächlich?« Mehr sagte sie nicht. »Ja, Miss Europa, ja! Es geht nicht, dass ich frei bin und er nicht! Ich kann Ihnen den Weg zeigen – ich weiß ihn noch, es ist nicht weit. Das Boot ist bestimmt noch verlas sen. Als ich dort war, war niemand an Bord, und das ist erst ein paar Minuten her.« Vieracker schürzte die Lippen. »Du verlangst viel, Ro samund.« Der Findling schluckte. »Und was ist mit diesem Germanicus?«, fragte Europa, deren Blick sich verfinsterte. »Ich dachte, du musst drin gend zu ihm?« »Aber mein Freund hat mir geholfen!«, rief Rosamund. »Wir müssen ihn befreien.« »Du schließt zu schnell Freundschaften, kleiner Mann«, murmelte Europa. Vieracker seufzte. »Aber in der Not zeigt sich wahre 316
Freundschaft«, sagte er versonnen. »Was mich angeht, ich werde dir helfen. Was Miss Europa tut, muss sie selbst wissen. Geh voraus, bringen wir es hinter uns, bevor der Halunke an Land geschwommen ist!« Rosamund konnte Vierackers Worten nicht ganz folgen, aber er verstand, was er meinte. Dankbar ging er den Weg zurück, den er gekommen war, und schaute sich nach Eu ropa um. Sie hatte sich nicht von der Stelle gerührt. »Miss Europa …?« Mit gequälter Miene verdrehte sie die Augen. »Na schön, kleiner Mann! Ich komme … ich komme«, sagte sie und formte mit den Lippen eine stumme Klage. Aber sie machte keine Anstalten, sich zu beeilen, obwohl zu be fürchten stand, das Poundinch wieder den Essigwassern entstieg. Sie zuckelte hinter ihnen her und wurde ärgerlich, als Rosamund auf dem Weg zur Hogshead ein einziges Mal falsch abbog. Doch er fand den rostigen, sinkenden Cromster ohne große Mühe. An Deck war niemand zu sehen. Geschmeidig huschte Vieracker an Bord und ver schwand in der Ladeluke. Rosamund, der ihn vom Pier aus beobachtete, konnte jetzt verstehen, wieso der Postbote trotz seines gefährlichen Berufes noch am Leben war. Europa hockte sich auf einen Poller, schlug die Beine übereinander und tat so, als sei sie genau dort, wo sie hin gehörte. Bald tauchte der Postbote wieder auf und rief ihnen mit gedämpfter Stimme zu, dass niemand an Bord sei. »Aber 317
der Kahn stinkt gewaltig«, setzte er hinzu. »Und sinken tut er auch, wie mir scheint.« Rosamund zögerte nur einen Moment, dann überwand er seinen Widerwillen gegen die Hogshead und all das Uner freuliche, das ihm an Bord widerfahren war. Sich ein Taschentuch vor die Nase haltend, bequemte sich auch Europa an Bord, hütete sich aber, der Ladeluke zu nahe zu kommen. »Wie lange warst du hier?«, fragte sie verwundert. Vieracker verschwand erneut unter Deck und rief: »Welche Kiste, Rosamund?« Der Findling trat an die Luke und deutete auf die Kiste, in der Freckel eingesperrt war, dann auf die dritte Kiste. »Aber nehmen Sie sich vor der anderen da drüben in Acht«, warnte er. »Da ist ein Wiedergänger drin.« Der Postbote machte sofort einen Schritt weg von der ge fährlichen Kiste. »Ein was?«, rief er. »Da wundert es mich nicht, dass es dir auf dem Kahn nicht gefallen hat!« Mehr mals blickte er nervös zu der Kiste hinüber, dann ging er in die Hocke und machte sich am Schloss von Freckels Käfig zu schaffen. Rosamund verspürte nicht die geringste Lust, in den La deraum hinabzusteigen, solange der Wiedergänger da un ten war, und blieb auf den obersten Sprossen der Leiter stehen. Erst in diesem Augenblick dämmerte ihm, dass Eu ropa – oder sogar Vieracker – möglicherweise gar kein Verständnis dafür hatten, dass er einen Glamgorn, ein Monster, retten wollte. Er geriet fast in Panik. Was wird Miss Europa tun? Doch was auch geschehen mochte, er wollte das Risiko lieber eingehen, als Freckel seinem trau rigen Schicksal überlassen. 318
Er sah nicht, wie Vieracker es angestellt hatte, doch plötzlich war das Schloss offen, und der Postbote rief: »Bitte schön, mein Freund, du kannst herauskommen!« Als er den Deckel der Kiste heben wollte, wurde sie von innen aufgestoßen, und Freckel sprang heraus, jauchzend vor Freude. »Frei! Frei! Frei! Der arme Freckel hat genug!« Gleichzeitig rüttelte der Wiedergänger an seiner Kiste und stimmte ein entsetzliches Geheul an: »Lass uns raus! Lass uns raus! Eieieiei! Wir wollen ihn fressen! Lass uns raus!« So schnell wie Vieracker in diesem Augenblick hatte sich nicht einmal Miss Europa bewegt, als sie mit den Grinslingen kämpfte. Mit einem einzigen Satz sprang er zur Seite und wirbelte, einen Tomahawk kampfbereit in der Hand, herum. Schneller, als das Auge folgen konnte, setzte der Glam gorn über Vieracker hinweg und schoss die Leiter hinauf. Alles, was Rosamund sah, war ein kleines braunes Knäuel aus Armen und Beinen und die fremdartigen gelben Au gen. Diese Augen sahen ihn im Vorbeiflitzen an – und sie tauschten einen sehr kurzen, doch merkwürdig bedeutsa men Blick. Dann hüpfte der Glamgorn von Bord und ver schwand im trüben Wasser des Grum. »Oh …«, war alles, was Rosamund herausbrachte, die Augen vor Schreck weit aufgerissen. Vieracker blinzelte ebenso überrascht und flüchtete vor dem wütenden Geheul des Wiedergängers die Leiter hinauf. »Das hätten wir, dein Freund ist frei. Überlassen wir den wilden, verzweifelten Gesellen da unten seinem Wutanfall.« 319
Bei dem Aufruhr war Europa näher gekommen. »Rosa mund«, schnurrte sie hinterhältig, »war das dein Freund?« Der Findling drehte sich zu ihr um, und als er ihre eisige Miene sah, schlug er die Augen nieder. »Ah … ja.« Sie bedachte ihn mit einem leicht verächtlichen Blick. »Du hast mich hierhergelotst, um einen Bogel zu retten? … Licurius hatte recht!«, knurrte sie. »Du bist wirklich ein erbärmlicher kleiner Sedorner.« »Jetzt machen Sie mal halblang!«, rief Vieracker, der soeben das Ende der Leiter erreicht hatte. »Es besteht kein Grund, den Jungen so unflätig zu beschimpfen!« Rosamund kniff die Augen zusammen und funkelte die Fulgar an. »Fransitart hatte recht! Sie sind das schlimmste Monster von allen! Sie laufen einfach herum und töten, ganz egal was. Dieser arme Missratene Kluge hatte Ihnen nichts getan!« »Das schlimmste Monster …?« Empört machte Europa einen Schritt auf ihn zu. Doch diesmal ließ er sich nicht einschüchtern. Diesmal würde er nicht klein beigeben. Diesmal würde er sich ver teidigen wie ein Mann. Vieracker machte Anstalten dazwischenzugehen. Europa blieb stehen. Sie blickte von dem Jungen zu dem Mann und verzog dabei merkwürdig das Gesicht. Dann ließ sie den Kopf sinken und gab einen tiefen, sehr unan genehmen und kehligen Laut von sich. Rosamund blickte zu Vieracker, doch der zuckte nur mit den Schultern. Der Findling trat einen Schritt auf sie zu, blieb aber ste hen, als sie plötzlich den Kopf zurückwarf und in schallen 320
des Gelächter ausbrach, in ein krampfhaftes Lachen, das ihren ganzen Körper schüttelte. Rosamund erstarrte. »Miss Europa …?« Die Fulgar sank auf die Knie und lachte und lachte und lachte. Rosamund kauerte sich neben ihr nieder und versuchte, ihr ins Gesicht zu sehen. Er blickte wieder zu dem Postbo ten. Vieracker, ebenso verwirrt, schüttelte den Kopf. Schließlich verebbte Europas Heiterkeitsausbruch. Keu chend und immer noch kichernd, sah sie Rosamund aus dem Augenwinkel an. »Ach, kleiner Mann!«, stieß sie her vor. »Du bist so ziemlich der merkwürdigste, tapferste kleine Kerl, der mir je begegnet ist!« Sie richtete sich auf, nahm ihre Quarzbrille ab und trocknete sich die Tränen, dann setzte sie sich die Brille wieder auf, zog warme Handschuhe aus Hirschleder an, da es empfindlich kühl wurde, streckte Rosamund die Hand hin und sagte: »Und jetzt suchen wir diesen Mister Germanicus.« Rosamund betrachtete ihre Hand. Er wusste nicht, was er von ihr halten sollte. Und überhaupt: Was sollte er von diesem Freckel halten, der sich ohne ein Wort des Ab schieds davongemacht hatte? Diese Welt ist doch sehr son derbar, sagte er sich. Er ergriff vorsichtig Europas dargebotene Hand, und während er mit ihr das Fallreep der Hogshead hinunter ging, wünschte er sich, dieses Boot nie wieder sehen – oder riechen – zu müssen. Hinter sich hörten sie das gedämpfte Kreischen des Wiedergängers, der noch in seiner kleinen Kiste gefangen war. 321
Als sie zwischen den vertäuten Schiffen zurückgingen, erzählte ihm Vieracker, wie es zu seiner Befreiung ge kommen war. Europa hatte länger als die veranschlagte halbe Stunde gebraucht, um bei ihren Kunden die ausstehenden Honora re zu kassieren. Als sie endlich wieder aus dem rosa Ge bäude herauskam, war er bereits voller Sorge: Hatte sich Rosamund nur verspätet, oder war ihm etwas zugestoßen? »Europa wollte nicht mal warten, bis ich das Landaulet sicher abgestellt hatte«, berichtete er mit ausdrucksloser Stimme, »sondern machte sich sofort auf die Suche nach dir. Ich musste ihr nachlaufen. Wir gingen einfach alle Kais ab, fragten herum, ob dich jemand gesehen hatte, aber lange kam dabei nichts heraus. Dann empfahl uns ein Mann mit einem westlichen Akzent und den schwärzesten Fingernägeln, die ich je gesehen habe, es noch einmal in der Richtung zu probieren, wo wir dich am Ende auch ge funden haben – es hat uns einige Heller gekostet, ihm die sen Tipp zu entlocken. Wir waren schon über eine Stunde unterwegs und hatten mehrere Teile des Hafens zweimal und öfter abgesucht. Wir schlugen gerade die von dem Mann angegebene Rich tung ein, als wir dich auch schon sahen. Du hast dir die Lunge aus dem Leib gerannt, als seien die schlimmsten Monster aus Loquor hinter dir her. Wir waren an der Stelle schon ein paarmal vorbeigekommen, und so gingen wir einfach zu einer Stelle, wo wir dir den Weg abschneiden konnten … und dem Verfolger, der dir solche Angst ein jagte«, fügte er grimmig hinzu. »Den Rest kennst du ja.« Rosamund konnte kaum glauben, dass die beiden sich so 322
viel Mühe gegeben hatten, ihn zu finden, und dass Europa bei seiner Befreiung vorangegangen war. Was sollte er nun von ihr halten? Wenn sie so für ihn eintrat, würde er ihr gern als Faktotum dienen, doch andererseits … Sie hasst Monster so. Oh, ich weiß nicht …! So langsam empfand es Rosamund mehr als lästig, dass er sich nicht entscheiden konnte. Es war Europa, die auf der Fahrt im Landaulet die Frage entschied. »Mit meinen Organen stimmt etwas nicht, klei ner Mann«, sagte sie. »Ich habe es gespürt, als ich diesem widerwärtigen Kerl zu einem Bad im Hafenbecken verhol fen habe, und das ist auch der Grund, warum ich deinen Freund, den Bogel, habe entkommen lassen. Die Krämpfe neulich nachts haben mir mehr geschadet, als mir lieb sein kann. Ich muss dringend meinen Chirurgen aufsuchen.« »Sind Sie wirklich krank?«, fragte Rosamund. Europa lächelte ernst. »Ich werde nicht sterben, aber ich muss das nächste Schiff nach Sinster nehmen.« Sie hielt einen Augenblick inne. Rosamund sah sie gespannt an. Europa erwiderte seinen Blick. »Ich mache dir folgenden Vorschlag«, fuhr sie nach ei ner Weile fort. »Du gehst nach Winstermill und dienst dort, so wie du mir treu gedient hast, als Laternenanzünder, wie es ja ursprünglich deine Absicht war. Ich fahre nach Sinster und lasse mich kurieren. Ich habe keine Ahnung, wie lange das dauern wird, kleiner Mann, aber wenn ich wieder ge sund bin, komme ich dich besuchen, um zu sehen, wie es dir geht.« Rosamund erschrak bei dem Gedanken, was mit dem 323
Wort »kurieren« in Wahrheit gemeint war. Doch er hütete sich, danach zu fragen. Sie beugte sich zu ihm herunter und hüllte ihn in eine Wolke ihres süßlichen Parfüms. »Vielleicht ziehst du dann die Möglichkeit in Betracht, wieder mein Gehilfe zu wer den?« Er lächelte nur und nickte. Das gefiel ihm, und er war froh, dass Europa selbst diese Möglichkeit angesprochen hatte. So konnte er jetzt seine Stelle antreten und in aller Ruhe darüber nachdenken, ob er das Leben eines Fakto tums der Laufbahn eines Laternenanzünders vorziehen wollte. Die Hafenkommandantur lag überraschenderweise nicht in der Nähe des Hafens, sondern im Verwaltungszentrum von High Vesting. Der niedrige Marmorbau sah allen ande ren Gebäuden in diesem Viertel so ähnlich, dass Rosamund froh war, Vieracker bei sich zu haben, denn er war sich si cher, dass er ihn alleine niemals gefunden hätte. Wie sie erfuhren, war Mister Germanicus vor drei Tagen erbost abgereist. Doch er hatte Anweisungen hinterlassen für den Fall, dass der »Faulenzer von der Marineanstalt« doch noch erscheinen sollte. Diese Anweisungen waren gewohnt knapp gehalten: Er solle unverzüglich nach Winstermill kommen, wo er erwartet werde. Dank Vierackers Unterstützung, der alle Hindernisse aus dem Weg räumte und sich für Rosamund verbürgte, wann immer es nötig war, bemühten sich die Beamten und Ser geanten der Hafenkommandantur nach Kräften, ihm zu hel fen. Sie beglaubigten seine noch vorhandenen Dokumente und Ausweise und stellten ihm neue Reisepapiere aus. Sie 324
schrieben sogar einen Begleitbrief, in dem, wie sie sagten, der ungewöhnliche Zustand seiner Papiere erklärt werde. Wie erleichtert er war – er hatte bohrende Fragen und Ver dächtigungen erwartet. Jetzt konnte er unbeschwert die Reise nach Winstermill antreten. Um etwaigen Vergeltungsmaßnahmen von Seiten Poun dinchs oder seiner Mannschaft vorzubeugen und um Mister Germanicus’ Anweisungen Folge zu leisten, wurde be schlossen, dass Rosamund gleich am nächsten Morgen ab reisen sollte. Sie fuhren zu einem noblen Wirtshaus na mens Fox Hole, in dem Europa immer abstieg, wenn sie in High Vesting weilte. Vor seiner Fassade aus großartigen Marmorsäulen nahm Vieracker von Rosamund Abschied, während Europa ihr Gepäck an die Pagen verteilte. »Ich denke«, sagte er, »ich sollte mich an die Gerichte wenden, damit sie der Cockeril und ihrem ruchlosen Kapitän – so heißt das Schiff doch, nicht wahr? – etwas von ihrer unliebsamen Aufmerksam keit zuteil werden lassen.« »Ja, Mister Vieracker«, sagte Rosamund und nickte. »Es heißt Cockeril, und das andere Hogshead.« Er hoffte auf richtig, dass diese »unliebsame Aufmerksamkeit« dem heimtückischen Treiben Kapitän Poundinchs ein Ende be reitete. Der Findling trat näher an Vieracker heran und flüsterte: »Und was ist mit dem Glamgorn, den wir befreit haben? Es war schade, dass er so schnell davongerannt ist. Ob es ihm wohl gut geht?« »So sind sie nun mal, diese kleinen Kerle«, erwiderte Vieracker und tätschelte Rosamund väterlich den Kopf. 325
»Man kann es dem Bogel kaum verdenken, dass er sich mitten in Feindesland so schnell davongemacht hat. Aber wie es ihm ergehen wird, vermag ich nicht zu sagen, ich kann dir nur versichern, dass diese kleinen Kerle zäh und gerissen sind. Vertrau auf die Vorsehung, Rosamund – mehr kannst du nicht tun.« Rosamund fühlte sich nur wenig erleichtert. Er seufzte. Vieracker stand da und lächelte traurig auf ihn herunter. »Wir werden uns nicht aus den Augen verlieren, Rosa mund. Von Zeit zu Zeit muss ich dienstlich nach Winster mill. Darum sage ich dir jetzt: Bis zum nächsten Mal! Trau nicht jedem, der dir über den Weg läuft – obwohl ich mir denken könnte, dass sie anständiger ist, als es scheint.« Da bei warf er einen vielsagenden Blick in Richtung Europa. Sie bemerkte es und kam zu ihnen. »Auf Wiedersehen, Postbote Vieracker. Danke für Ihre Hilfe.« Sie machte eine leichte, fast knicksartige Verbeugung und hielt ihm etwas hin. Einen Geldschein. Vieracker verbeugte sich tief, nahm das dargebotene Geld aber nicht. »Wie ich schon sagte, als wir uns auf die Suche nach Rosamund machten: Ich brauche keine Beloh nung. Einem so ehrlichen Gesicht zu dienen, noch dazu in so angenehmer Gesellschaft, ist Belohnung genug. Danke, aber nein.« Europa machte ein langes Gesicht, steckte das Geld wie der ein und betrat das Gasthaus. »Ich muss jetzt gehen, Rosamund. Pass gut auf dich auf.« Der Postbote und der Findling schüttelten einander wie Männer die Hand. 326
Endlich hatte Rosamund einen Freund gefunden, und schon sollte er sich wieder von ihm trennen. Ihm war, als sollte er niemals ein Zuhause finden, niemals eigene Freunde um sich haben. »Ich hoffe, Sie können mich bald besuchen kommen, Mister Vieracker. Ich schätze, ein freundliches Gesicht wird dort, wo ich hingehe, immer willkommen sein. Ich hoffe, ich finde noch ein paar mehr.« »Ganz bestimmt«, erwiderte der Postbote ruhig. »Ganz bestimmt. So etwas geschieht meist genau zur richtigen Zeit. Mach’s gut!« Rosamund sah ihm mit traurigen Blicken nach, und gleich darauf war Vieracker, ein letztes Mal winkend, in der zunehmenden Dunkelheit verschwunden.
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BEI DEN LATERNEN ANZÜNDERN
Laternenanzünder, der: im Grunde eine Art Spezialsoldat, meist im Dienst des Reichs, aber auch anderer Staaten. Die Hauptaufgabe des Laternen anzünders besteht darin, am späten Nachmittag und Abend die AlgionLaternen an den Fernstraßen des Reichs zu entzünden und am frühen Morgen wieder zu löschen. Für einen Soldaten wird er recht gut bezahlt und verdient ungefähr zweiundzwanzig Heller im Jahr.
N
ach einer Nacht, in der Rosamund so bequem und friedlich geschlafen hatte, wie man es sich für sein Geld nur wünschen kann, fuhr er in aller Frühe mit der Kutsche los. Es war ein klarer, bitterkalter Morgen, typisch für den letzten Herbstmonat. Der Abschied von Europa war eigenartig gewesen. Sie hatte darauf bestanden, ihn persön lich zur Kutsche zu begleiten, um sich davon zu überzeu gen, dass er sicher den letzten Teil seiner Reise antrat. Er sollte ohne Begleitung reisen und war damit betraut wor den, Post für den Marschall der Laternenanzünder und sei nen Stab in Winstermill mitzunehmen. Er hatte das Bündel Papiere und Briefe in Wachspapier eingeschlagen und ganz unten in seinem Koffer versteckt. 329
Jetzt saß er in der großen geschlossen Kutsche – seiner ersten bei dieser Reise der ersten Male – und lehnte sich aus dem Fenster, um Europa auf Wiedersehen zu sagen. Sie war noch ungeduldiger gewesen als sonst, ja sogar aus gesprochen grob, das heißt, sofern sie überhaupt etwas sag te, sodass Rosamund sich fragte, warum sie überhaupt mit zur Kutsche gekommen war. Doch als der Augenblick des Abschieds nahte, ergriff sie plötzlich seine Hände und legte einen kleinen Geldbeutel hinein. Ohne ein Wort schaute sie ihm tief in die Augen und hielt ihn lange fest, sehr lange, wie ihm vorkam. Er wusste nicht, was er ihr sagen sollte. Er war immer für sie da, falls sie jemals seine Hilfe brau chen sollte, aber er wusste nicht, was er von ihr halten soll te. Er hatte die aufregendsten Tage seines Lebens mit die ser launischen Fulgar verbracht, und das war gewiss eine Bemerkung, ein Wort der Verbundenheit wert. Doch bevor er etwas sagen konnte, ließ der Kutscher die Peitsche knallen. Die Kutsche fuhr los, und seine Hände lösten sich aus Europas festem Griff. Eine unsägliche Traurigkeit überkam ihn, und er steckte rasch den Kopf aus dem Fenster. »Auf Wiedersehen, Miss Europa!«, rief er, und seine Stim me klang dünn und albern. »Werden Sie wieder gesund!« Sie sahen einander über die immer größer werdende Ent fernung hinweg an. Europa faltete die Hände vor dem Mund, rührte sich aber nicht von der Stelle. Rosamund winkte noch einmal, heftiger. »Wiedersehen!«, rief er. Sie sah ihm noch immer nach. Bald verlor er sie im Ver kehrsgedränge auf der Straße aus den Augen. Er erhaschte noch einen letzten flüchtigen Blick von ihr, dann war sie endgültig verschwunden. 330
Die Trennung stimmte ihn sehr traurig, obwohl Europa ihn ganz durcheinanderbrachte und ein gewalttätiges Leben führte. Tief betrübt nahm er wieder Platz und blickte in den Beutel, den sie ihm geschenkt hatte. Einer inneren Stimme folgend, schwor er sich, sich niemals von diesem Geschenk zu trennen. Der Beutel enthielt Münzen – Goldmünzen! – und ein zusammengefaltetes Stück Papier. Er blickte ver stohlen zu den anderen Fahrgästen. Mit ihm in der Kutsche saß eine hagere, in kostbaren Satin gekleidete Dame, die sich wegen der Kälte in einen dunkelvioletten Umhang ge hüllt hatte, und ihr gegenüber, zu seiner Rechten, ein eben so hagerer Mann in einfacher schwarzer Rüstkleidung, der offenbar fest entschlossen war, von seinen Mitreisenden keine Notiz zu nehmen. Keiner der beiden schaute her, und so zählte er die Münzen. Zehn Heller! Als er das Papier auseinanderfaltete, sah er, dass Geld scheine im Wert von weiteren fünf Hellern darin eingewi ckelt waren. Er hielt mehr Geld in den Händen, als er in seinem ganzen Leben gesehen hatte! Ein merkwürdiges Gefühl überkam ihn. Da entdeckte er zwischen den Geld scheinen ein weiteres Stück Papier. Es war ein Brief, ge schrieben in der feinen, eleganten Handschrift einer sehr vornehmen Dame, und darin stand: Für Rosamund, damit er sich einen neuen Hut kaufen kann.
Eine wohlverdiente Belohnung für unser Abenteuer.
Du hast mir die Augen geöffnet.
Mit mehr Zuneigung, als ich gewohnt bin,
Europa, Herzogin von Naimes im Wartestand
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Rosamund bekam große Augen. Europa war eine angehen de Herzogin! Er hatte seine Zeit mit einer Adligen ver bracht, einer Vertreterin des Hochadels, die irgendwann einen ganzen Stadtstaat regieren würde! Er hatte eine Frau gerettet, war von einer Frau gerettet worden, die gesell schaftlich so weit über ihm stand, dass er ihr eigentlich völ lig gleichgültig sein sollte. Kein Wunder, dass sie so selbstsicher, so von sich ein genommen war. Europa war ihm jetzt ein noch größeres Rätsel. Mit einem etwas unbehaglichen Gefühl, weil er Geld für den gewaltsamen Tod eines Unschuldigen bekommen hat te, steckte er den Beutel unten in seine Umhängetasche. Die Kutsche verließ High Vesting in Richtung Norden, und nur einen Tag nach seiner Ankunft war Rosamund wieder auf dem Langweg und flitzte an den Gemüsehändlern vor bei. Er saß auf der falschen Seite der Kutsche, sodass er ihnen nicht zuwinken konnte. Sie fuhren schneller als mit dem Landaulet tags zuvor in die entgegengesetzte Richtung und trafen gegen Mittag im Schnellen Hasen ein. Hier wurden die Pferde gewechselt, und seine beiden Mitreisen den gingen zum Essen ins Weghaus. Er selbst blieb in der Kutsche und aß von dem Reiseproviant, den ihm Europa mitgegeben hatte. Dazu gehörte dunkles, mit getrockneter Rinderniere belegtes Brot und ein Beutel kleiner, halbmond förmiger Nüsse, die Europa Cashew-Stangen genannt hatte und die schön salzig und ungewöhnlich süß schmeckten. Bald ging die Fahrt weiter. Nach kurzer Zeit gelangten sie nach Silvernook, wo sie nur anhielten, um Post mitzu 332
nehmen. Dann kamen sie durch einen Landstrich, den Ro samund noch nicht gesehen hatte. Der Brindelwald zog sich noch ein ganzes Stück nach Norden und endete dann recht abrupt, als die Hügel steil abfielen und in ein Tiefland mit Wiesen und Ackern übergingen. Die Gegend kam ihm bekannt vor, und ein Blick in die Karten seines Almanachs klärte ihn darüber auf, dass es sich wahrscheinlich um ei nen anderen Teil des Schmollen handelte. Noch zwei Mal hielt die Kutsche an: das erste Mal ne ben einer hohen Hecke, hinter der Rosamund ein großes Herrenhaus ausmachte – hier stieg die schweigsame Frau aus –, und das zweite Mal mitten in einer weiten Ebene, die nur aus sumpfigen Wiesen zu bestehen schien. Hier stieg der mürrische Mann aus. »Guten Tag«, sagte er beim Aus steigen so unvermittelt, dass der verdutzte Findling gar nicht dazu kam, den Gruß zu erwidern. Nun, da die beiden fort waren, kam Rosamund in den seltenen Genuss, eine Mietkutsche ganz für sich allein zu haben. Er schleuderte die Schuhe von den Füßen, lümmelte sich auf den Sitzen und betrachtete ausgiebig die Landschaft, die auf beiden Seiten vorbeizog. Sie kamen durch mehrere kleine Sied lungen, die alle eingezäunt, bewacht und am Eingang mit Schranken versehen waren. Im weiteren Verlauf der Fahrt zogen eisengraue Schlei erwolken am klaren Himmel auf und verliehen der Nach mittagssonne eine stumpfe, schmutziggelbe Farbe. Die Landschaft wurde wilder, einsamer und karger. Ihre Weite und ihre Trockenheit hatten etwas Unheimliches. Die Ge gend war Rosamund nicht geheuer, und als die Sonne un terging, stellte er mit tiefer Erleichterung fest, dass das 333
Reiseziel in Sicht kam. Dort, ein paar Meilen entfernt hin ter einer langgezogenen Biegung, wo Fensterlichter blink ten, lag das Wehrhaus Winstermill. Das Wehrhaus Winstermill, so las er in seinem Alma nach, war auf den Grundmauern einer zerstörten alten Fes tung namens Winstreslewe errichtet worden. Es lag am Fuß einer niedrigen, aber steilen Hügelkette und direkt am Ein gang zu einer tiefen Schlucht, die diesen Höhenzug durch schnitt. Auf den ersten Blick erinnerte es an ein Landhaus, war aber viel größer, mächtiger und stabiler gebaut. Es hat te erheblich mehr Dächer, die alle mit schweren Bleischin deln gedeckt waren und hinter der Umwallung stufenför mig nach hinten anstiegen. Aus ihrer Mitte ragte eine ver wirrende Vielzahl von Schornsteinen empor, die, noch hö her als die des Schnellen Hasen, wie stumpfe Stacheln himmelwärts zeigten. Auf den vielen Dachschrägen hock ten mehrere runde Türme, bewehrt mit Zinnen, zwischen denen große Kanonenrohre hervorlugten. Die äußere Umwallung des Wehrhauses war schräg nach innen abgewinkelt, um Kanonenkugeln abzulenken, und ihre unteren Fenster waren schmale Schlitze, die kaum breit genug waren, um Licht hereinzulassen. Das mächtige Tor war aus dicker Bronze und ganz mit Grünspan überzo gen. Laternen beleuchteten es, und über allem wehte eine große Fahne, das Reichsbanner mit einer goldenen Eule auf rot-weißem Grund, was jetzt, im Dämmerlicht, allerdings kaum zu erkennen war. Dieser Ort war dazu erschaffen, jeder Bedrohung zu trotzen, und Rosamund bewunderte seine abschreckenden Verteidigungsanlagen. Wichtiger noch für einen angehenden Laternenanzünder 334
waren freilich die hell leuchtenden Laternen, die in einer langen glitzernden Reihe von Winstermill aus nach Osten strebten und sich im Dunkel der Schlucht verloren. Be stimmt waren es solche, an hohen schwarzen Eisenpfählen aufgehängte Laternen, um die er sich würde kümmern müssen. Die Hauptstraße verschwand in einem Tunnel, der in das Fundament des Wehrhauses getrieben war, doch die Kut sche bog vorher ab und rumpelte eine steile Zufahrt zum Bronzetor hinauf. Das Tor war bereits geöffnet, und die Kutsche durfte ohne anzuhalten passieren. Rosamund hatte erwartet, hinter den äußeren Befestigungsanlagen reges Treiben und ein Gewusel fleißiger Menschen vorzufinden, die ernsten Beschäftigungen nachgingen. Doch da war kein reges Treiben, und auch kein Mensch, der einer ernsten Beschäftigung nachging. Ein einsamer Hofwächter kam zu ihnen heraus und legte zum Gruß die Hand an den Hut. »Winstermill!«, brüllte ein Kutscher. »Sie müssen in eine andere Kutsche umsteigen, wenn Sie Weiterreisen möchten.« Rosamund stieg aus und sah sich um. Der hell erleuchte te Hof war groß und kahl bis auf einen verkümmerten, blät terlosen Baum, der an einer entfernten Mauer wuchs. Man händigte ihm seinen Koffer aus, und die Kutsche rumpelte mit dem Hofwächter davon und verschwand hinter einer Ecke. Rosamund vermutete, dass die Kutscher die Pferde in den Stall brachten und sich dann für die Rückfahrt am nächsten Tag ausruhten. So stand er nun allein vor dem imposanten Hauptquar tier der Laternenanzünder und wusste nicht, was er tun 335
sollte. Während er wartete, fischte er das Bündel Post aus seiner Tasche, damit er es gleich zur Hand hatte, falls ihn jemand danach fragen sollte. Doch noch immer erschien niemand zu seiner Begrüßung. Schließlich ging er, und sei es nur, um der schneidenden Kälte zu entfliehen, zu der Tür, die von allen am wichtigsten aussah, fand sie unver schlossen und stieß sie auf. Sie führte in einen großen quadratischen Raum, der kahl und menschenleer war. Gegenüber war eine zweite Tür. Rosamund steuerte darauf zu und öffnete sie. Diesmal fand er sich am äußersten Ende eines langen breiten Korridors wieder, dessen Wände lindgrün gestrichen waren und des sen Steinfußboden auf ganzer Länge mit einem schwarz-rot gemusterten Läufer ausgelegt war. Etwa auf halber Strecke stand ein Uniformierter. Rosamund ging auf ihn zu und hielt ihm, einem unangenehm aussehenden Kerl mit eigen artigem Haarschnitt, die Post hin. Gleichzeitig sprach er den Uniformierten so an, wie er es gelernt hatte und wie es auf einem Kampfschiff üblich war. »Rosamund Buchkind, Sir. Bin soeben eingetroffen und melde mich zum Dienst an Bord … äh … hier.« Der Mann bedachte zuerst ihn, dann das Papierbündel mit einem neugierigen Blick. »Bei mir bist du an der fal schen Adresse, Kleiner. Gib sie den Federfuchsern da drin!«, sagte er in barschem Befehlston und deutete auf eine nicht besonders stabil aussehende, mit Schnitzereien verzierte Tür am Ende des lindgrünen Flurs. »Oh …«, sagte Rosamund. Nun, da ihn der erste Mut schon wieder verlassen hatte, trat er nervös durch die geschnitzte Tür. Dahinter war ein 336
riesiger, wieder quadratischer Raum mit hoher Decke, der vom Quietschen der sich öffnenden Tür widerhallte. An der Wand gegenüber stand ein bücherschrankähnliches Holzungetüm mit Schubladen, Vitrinen und Trittleitern auf Rollen, das, wie er später erfahren sollte, das riesige und komplizierte Archiv enthielt, in dem der gesamte Schrift verkehr und Papierkram der Laternenanzünder seine letzte Ruhestätte fand. Zur Linken und zur Rechten des Findlings standen vor der jeweiligen Wand zwei dunkle Holzschreib tische. Hinter jedem saß ein sehr beschäftigt aussehender Mann. Der zu seiner Linken schaute kurz auf, als er eintrat, während der andere den Kopf unten ließ und weiterschrieb. Zwischen den beiden Schreibtischen war eine große freie Fläche, und Rosamunds Schritte klapperten allzu laut auf den kalten Schieferplatten, als er vortrat. Genau in der Mitte der kahlen Fläche blieb er stehen, schaute nach rechts, dann nach links. Die beiden Schreiber arbeiteten konzentriert und machten keine Anstalten, den Neuan kömmling anzusprechen. Unschlüssig, auf welche Seite er gehen sollte, und um eine Entscheidung herbeizuführen, sagte Rosamund im Stillen einen kleinen Abzählreim auf, wobei er den Wörtern abwechselnd links oder rechts zu ordnete. Der Reim selbst war eine kurze Aufzählung sa genumwobener, monsterverseuchter Orte, an der sich seine Phantasie immer aufs Neue entzündete. Ichor, Liquor, Loquor, Fiel,
Du verrätst mir jetzt mein Ziel.
Der Reim endete rechts. Rechts also! Er ging klipp klapp, klipp-klapp zu dem betreffenden Schreibtisch. Die Post von sich streckend, wiederholte er: »Rosamund Buch 337
kind, Sir. Bin soeben eingetroffen und melde mich zum Dienst als Laternenanzünder.« Der Schreiber schaute auf und zog sein scharf geschnit tenes, bebrilltes Gesicht in mürrische Falten. »Nicht zu mir, Junge«, knurrte er. »Zu ihm!« Er steckte die Nase wieder in seine Arbeit. Er konnte nur den anderen Schreiber auf der anderen Seite gemeint haben. Rechts ist es also nicht. Rosamund unterdrückte einen Seufzer. Er machte auf dem Absatz kehrt, schritt klipp-klapp, klipp-klapp zu dem Schreibtisch und seinem ebenfalls flei ßigen Beamten auf der linken Seite und machte zum dritten Mal seine Meldung. Der Beamte hielt im Schreiben inne, legte die Feder aus der Hand und stand auf. »Willkommen, Rosamund Buchkind. Mein Name ist Inkwill. Ich bin der Registrator. Wir haben dich erwartet.« Er nahm ihm das Postbündel ab und drückte ihm die Hand. »Gut, dass du endlich da bist. Wir hatten dich schon beina he abgeschrieben. Wärst du erst morgen eingetroffen, hät ten wir dich leider zurückschicken müssen. Du kommst gewissermaßen in letzter Minute.« Registratur Inkwill sah die Post durch und zog einen Brief aus feinem Leinenpapier aus dem Stapel. »Der ist für dich, schätze ich«, sagte er und wedelte da mit vor Rosamund herum. Verdutzt nahm ihn Rosamund. Die Schrift des Absen ders gehörte einem Menschen, den er gut kannte und sehr mochte: Verline. Er hatte den Brief auf der ganzen Fahrt von High Vesting hierher dabeigehabt und hätte ihn in der 338
Kutsche wieder und wieder in aller Ruhe lesen können. Am liebsten hätte er ihn sofort geöffnet, aber das musste warten. Inkwill legte die Post weg und nahm wieder Platz. Er brachte einen Stapel Papiere zum Vorschein, griff zu seiner Feder und begann, Rosamund alle möglichen Fragen zu stellen: Alter, Augenfarbe, Größe, Gewicht, Geburtsort, Abstammung und so weiter und so fort. Einige waren un verständlich: »politische Neigungen«, »Speziesismus«. Je de Antwort Rosamunds wurde in das entsprechende For mular eingetragen, so unklar sie auch sein mochte. War ein Formular ausgefüllt, schrieb es Inkwill noch zweimal ab. Als er damit fertig war, sah er die Papiere durch, die man dem Findling in High Vesting neu ausgestellt hatte, und las sehr aufmerksam das Begleitschreiben. Rosamund hielt den Atem an. Ob man die vorläufigen Dokumente als gültig anerkennen würde? »Ich verstehe«, sagte Inkwill schließlich. »Witherscrawl wird das nicht gefallen, und dem Marschall auch nicht … Aber das tut wenig zur Sache. Sie sind völlig in Ordnung.« Mit dem Anflug eines Lächelns musterte er den vor ihm stehenden Jungen. »Wir haben auf dem Weg hierher ein paar … interessante Tage erlebt, wie?« Rosamund nickte energisch. »Ja, Sir, abenteuerliche.« Inkwill grinste breit. »Davon musst du mir bei Gelegen heit erzählen.« Damit zog er weitere Dokumente hervor und begann, wichtige Einzelheiten aus Rosamunds Papie ren abzuschreiben. Als er damit fertig war und alle Formu lare sorgfältig mit Löschpapier abgetupft und mit Akten zeichen versehen hatte, forderte er Rosamund höflich auf, nun zu dem anderen Schreiber zu gehen. 339
»Er ist unser Indexer und heißt Witherscrawl. Er wird dich in das Personalbuch eintragen, damit du ab sofort auf der Anwesenheitsliste geführt wirst und als Laternenan zünder giltst.« Inkwill erhob sich und drückte Rosamund noch einmal die Hand. »Willkommen im kaiserlichen Dienst.« »Vielen Dank, Mister Inkwill«, erwiderte Rosamund leicht verwirrt. »Ich werde mich bemühen und mein Bestes tun, so wie ich es gelernt habe, Sir.« »Schön für dich. Jetzt geh mit dieser Empfangsbestäti gung und dieser Entschuldigungskarte zu Witherscrawl. Wir sehen uns dann morgen.« Damit vertiefte sich Inkwill wieder in die Arbeit, die er vorhin unterbrochen hatte, und nahm von dem Findling keine Notiz mehr. Krampfhaft den Stapel neuer Papiere und Bescheinigun gen umklammernd, durchmaß Rosamund mit zaghaftem Schritt den Raum, der ihn von dem barschen Schreiber mit dem scharf geschnittenen Gesicht trennte. »Äh … Mister Witherscrawl, ich …«, begann er. Mit saurer Miene riss ihm der Mann Empfangsbestäti gung und Entschuldigungskarte aus der Hand. »Ich … äh …« »Mund halten! Ich kenne mein Geschäft!« Der Indexer las die Entschuldigungskarte mit unheilvoller Bedächtig keit und einem boshaften Zug um den Mund. Ein heiseres Knurren entstieg seiner Kehle. »Der kleine Bummelant war also nicht einmal imstande, seine wichtigsten Papiere si cher aufzubewahren …«! Seine Knopfaugen warfen Rosa mund einen bösen Blick zu. »Da frage ich mich doch, wie 340
so wir ihn überhaupt genommen haben. Setzen!« Erschrocken gehorchte Rosamund und setzte sich, da nirgendwo ein Stuhl zu sehen war, auf den kalten Steinfuß boden. In jeder Hand eine Feder, schrieb Witherscrawl zornig in mehrere Bücher und Listen. Wenn ein Eintrag vorgenom men war, ließ er ein Stück Holz, an dem ein großer, flacher Schwamm befestigt war, auf das Papier niedersausen. Bei jedem Knall zuckte Rosamund zusammen. Schließlich beugte sich Witherscrawl über den Schreib tisch und schaute, die Augen hinter der Brille tückisch zu sammenkneifend, auf den Findling herunter. »Du hast dir unterwegs offensichtlich viel Zeit gelassen«, fauchte er. »Du hast Germanicus in unerhörter Weise versetzt. Du hältst dich wohl für etwas Besseres, dass du dich unseret wegen nicht beeilst?« Er stach mit dem Finger nach Rosa munds Gesicht. »Das Leben eines Laternenanzünders ist Pünktlichkeit, Junge! Daran solltest du dich besser gewöh nen, sonst wird dein Aufenthalt bei uns von kurzer Dauer sein – von kurzer Dauer und sehr unangenehm.« Die Worte kamen Rosamund bekannt vor. »Ah … jawohl, Mister Witherscrawl.« Der Schreiber lehnte sich noch weiter über den Tisch und schnitt eine höhnische Grimasse. »Wenn du mich schon ansprechen musst, Junge, dann nur mit ›Sir‹. Hast du verstanden? Du brauchst meinen Namen nicht zu kennen, und mit Sicherheit hast du dir nicht das Vorrecht verdient, ihn zu benutzen!« Rosamund zog den Hals ein wie eine Schildkröte. »Ah … jawohl, Sir.« 341
Schließlich, und wegen der Ungelegenheiten halblaut vor sich hin schimpfend, führte Witherscrawl den Findling durch eine kleine Seitentür und durch einen sehr schmalen Gang in eine kleine, düstere Kammer, in der die Farbe von den Wänden abblätterte. Das einzige Möbelstück darin war eine Pritsche, ähnlich der, auf der er die meiste Zeit im Findelhaus geschlafen hatte. Hier sollte er heute Nacht schlafen. »Morgen früh um fünf Uhr«, teilte Witherscrawl ihm mit, »wirst du geweckt, falls du bis dahin nicht schon auf bist, dann begibst du dich unverzüglich zum Morgenappell auf den Paradeplatz. Anschließend meldest du dich beim Marschall der Laternenanzünder, unserem Kommandeur. Danach erhältst du deine Befehle und beginnst mit deiner Ausbildung. Verstanden?« »Jawohl, Sir.« Wieder kamen Rosamund die allzu ver trauten Zweifel, ob dieser Beruf wirklich erstrebenswert sei. Ohne baden oder sich wenigstens den gröbsten Schmutz von der Reise abwaschen zu können, erhielt er den Befehl, seinen Algion in spätestens fünfzehn Minuten zu löschen. Nachdem Witherscrawl dem Neuankömmling ein letztes »Jawohl, Sir« abgenötigt hatte, ließ er ihn allein, damit er sich zum Schlafen richten konnte. Doch alles, was Rosa mund jetzt im Sinn hatte, war der Brief, den er in der Hand hielt: der kostbare Brief mit der unverwechselbaren Hand schrift der teuren Verline, der Brief, der an ihn persönlich adressiert war. Er war wie ein erquickendes Lied für seine müde Seele, eine Aufmunterung aus der Ferne – man dach te noch an ihn, man erinnerte sich seiner. 342
Er setzte sich auf die Pritsche, die selbst unter seinem geringen Gewicht laut quietschte, und seine Hände zitterten leicht vor Erregung, als er das Siegel erbrach und die Blät ter mit der Botschaft entfaltete. Oben in der Ecke stand das Datum – der 23. Lirium. Er war also vor fünf Tagen ge schrieben worden, an jenem Tag, als Europa ihn in diesem Bocksdornbusch entdeckt hatte. Begierig las er weiter: Mein lieber und schmerzlich vermisster Rosamund, wie gern würde ich Dich jetzt, in diesem Augenblick, hier vor mir sehen. Ich würde Dich drücken, bis Du Dich meinen Armen entwinden und dann dastehen und mich verschämt ansehen würdest, wie Du es im mer getan hast. Da dies nicht möglich ist, muss ich mich damit begnügen, Dir einen Brief zu schreiben (und ich danke Madam Opera, dass sie mir das Schreiben beigebracht hat!). Aber ich drücke Dich in meinem Herzen und bete unablässig, dass Du wohlauf bist und dass es Dir gut geht. Es ist dumm von mir, ich weiß, aber ich vermisse Dich – siehst du? Meine Tränen haben die Tinte ver wischt! Eines Tages wirst Du zu mir zurückkommen, und sei es auch nur auf Besuch, damit ich sehen kann, wie Du gewachsen bist, und damit ich stolz darauf sein kann, was für ein stattlicher Mann aus Dir geworden ist. Wir könnten einen Ausflug zu meiner Schwester machen, damit ich mit Dir vor ihr angeben kann. Ich muss Dir mitteilen, dass der liebe Master Fran sitart beschlossen hat, dich in Winstermill, oder wo auch immer du am Wurmweg stationiert sein wirst, zu 343
besuchen. Ich spüre, dass er sehr in Sorge ist, auch wenn er es nicht zeigen will und nicht darüber spricht. Er sagt nur, dass es um eine Angelegenheit geht, über die er schon vor langer Zeit mit Dir hätte sprechen sollen – aber um was genau, will er nicht verraten. Er sagt, dass er nur unter vier Augen mit Dir darüber sprechen kann und dass es ihm zu gefährlich ist, sol che Dinge in einem Brief zu schreiben. Ach, Rosa mund, was kann er nur damit meinen? Weißt Du es? Aber noch größere Sorge macht mir, dass er alt wird, jedenfalls für einen Essigfahrer, und dass seine Kräfte langsam schwinden. Ich möchte Dich nicht beunruhigen, Rosamund, mein Herzblatt, aber ich finde, Du solltest es wissen, damit Du Dich darauf einstellen kannst, ihn, der all die Jahre so viel für dich getan hat, zu trösten, wenn er zu Dir kommt, und Dich seiner anzunehmen. Ich fürchte, diese Reise wird seine letzte sein, mein Herz, darum halte nach ihm Ausschau – er sagt, dass er nach Winstermill aufbrechen will, sobald der strengste Winter vorüber ist und für einen Mann mit seiner angegriffenen Ge sundheit wieder eine günstigere Reisezeit beginnt (wenigstens in diesem letzten Punkt hat er meine Bit ten erhört). Erwarte ihn in der letzten Woche des Mo nats Herse oder spätestens in der ersten Woche des Orio. Halte dann bitte nach ihm Ausschau, ja? Ich muss jetzt Schluss machen, denn Madam ver langt ihr Bad, aber antworte mir sofort, wenn Du den Brief erhältst, denn ich – wir alle brennen darauf zu erfahren, wie es Dir geht. 344
Master Fransitart lässt Dich herzlich grüßen, oder würde es jedenfalls tun, wenn er wüsste, dass ich Dir schreibe. Wenn er es wüsste, da bin ich mir sicher, würde er Dir sagen, dass Du auf Deinem Posten blei ben sollst, bis er bei Dir ist, gleich wie große Sorgen ich mir mache. Auch ich sende Dir von ganzem Herzen die liebs ten Grüße und besten Wünsche. Deine
PS: Übrigens wird es Dich – obwohl es eigentlich gar nicht so wichtig ist – bestimmt nicht überraschen zu hören, dass Gosling vorgestern ausgerissen und spur los verschwunden ist. Ich schäme mich, etwas so Liebloses zu sagen, aber die Stimmung ist seitdem viel besser geworden. Schreib mir bitte, sobald Du kannst! Und Master Craumpalin würde gern wissen, ob Dir seine Tränke und Mixturen von Nutzen sind. Während Rosamund den Brief las, war er zunächst vor Freude gerührt, dann in zunehmendem Maße beunruhigt. Bereute es der kranke Master Fransitart am Ende, dass er ihn hatte gehen lassen, und hatte er nun die Absicht, ihn in das beklemmende Findlingsheim zurückzuholen? War das sein großes Geheimnis? Jetzt haben wir die erste PulchrysWoche … Er zählte die Monate an den Fingerknöcheln ab: 345
Pulchrys, Brumis, Pulvis, Heimio, Herse, Orio. Das bedeu tet, dass er in vier oder fünf Monaten hier sein wird! Was die Sache mit Gosling anging, ja, Verline hatte recht – er war nicht überrascht. Tatsächlich freute es ihn für Verline und die Lehrer, und auch für die kleineren Kin der, dass sein alter Widersacher fortgelaufen war. Jemand hämmerte laut gegen die Tür seiner Kammer, und eine beängstigend ernste Stimme bellte: »Laternen lö schen!« Eilends faltete Rosamund die bereitliegenden Decken auseinander und breitete sie zusammen mit dem Kissen umständlich auf der fleckigen Matratze aus. Da sein Algion noch brannte, hämmerte es bald wieder. »Du wirst deine Laufbahn bei uns doch nicht so beginnen wollen, Kleiner. Mach deine Laterne aus und geh ins Bett!« Die Stimme gab Anlass zu den schlimmsten Be fürchtungen. Rasch legte er den Algion auf die Seite, sodass er immer schwächer leuchtete und allmählich erlosch. Im matter werdenden Schein der Laterne richtete er vollends sein Bett, und in stockfinsterer Nacht entkleidete er sich. Als er schließlich im Bett lag und sich unter ständigem Quiet schen und Ächzen des Metallgestells von einer Seite auf die andere wälzte, weil ihn wulstige Knoten der Matratze drückten, begannen seine Gedanken zu schweifen. Sie verweilten einen Augenblick bei Verline und ihren Sorgen, aber noch mehr beunruhigten ihn Master Fransitarts ange griffene Gesundheit und sein geplanter Besuch. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Ihm wäre lieber, der alte Seebär würde in Boschenberg bleiben und ihn weiter sei 346
nen neuen Weg gehen lassen. Mit einem plötzlichen Schuldgefühl dachte er daran, dass Fransitart die Reise möglicherweise nicht überleben würde. So wenig ihm der geplante Besuch behagte, viel mehr würde es ihn schmer zen, wenn seinem alten Schlafsaalaufseher etwas zustieße. Während er so schläfrig seinen Gedanken nachhing, fragte er sich auch, ob Europa, die herzogliche Lahzar, ihr Versprechen wahr machen und ihn besuchen und fragen würde, ob er wieder ihr Faktotum werden wolle. Auch die Sorge um Freckel beschäftigte ihn für einen Augenblick und mündete in die bange Frage, wo Vieracker wohl die heutige Nacht verbringen mochte. So spannen sich seine Gedanken weiter. Kurz bevor ihn endgültig der Schlaf überkam, staunte er noch darüber, dass es ihm gelungen war, diese vermeintlich unkomplizierte Reise trotz der vielen Zwischenfälle gesund und unbeschadet zu überstehen. Endlich war er am Ziel und konnte Laternenanzünder werden, was auch immer dabei herauskommen mochte. Morgen, wenn er aufwachte, würde ein ganz neues Le ben für ihn beginnen.
FINIS UNILIBRIS
(ENDE DES ERSTEN BANDES)
347
348
EXPLICARIUM
WÖRTERVERZEICHNIS
MIT ERKLÄRUNGEN
EINSCHLIESSLICH ANHANG
349
A
Achsen, die: mächtige, quer über den Humour errichtete Flusssperren, die den nördlichen und südlichen Zugang zur Stadt Boschenberg sichern. Die nördliche Achse heißt Ne rid-Achse, die südliche Scutid-Achse. An diesen mit schweren Geschützbatterien bestückten und von Soldaten bewachten Sperren müssen alle Flussfahrzeuge eine Maut entrichten, plus Gebühren für Fracht und/oder Passagiere. Versäumt es der Kapitän eines Bootes beim Passieren einer der beiden Achsen, die richtigen Formulare auszufüllen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass er zweimal bezahlen muss, einmal an jeder Sperre. Achterhütte: der hinterste Teil des Oberdecks eines Kampfschiffs zwischen Besanmast und Heck. Da die Decks eines Kampfschiffs glatt, also eben sind, wäre die korrekte Bezeichnung für diesen Teil des Schiffes eigentlich Ach terdeck. Doch in der Seemannssprache hat sich dieser alte Ausdruck gehalten. Algion, der: laternenartige Lampe, die in Häusern, auf Schiffen und zur Beleuchtung von Straßen verwendet wird. Als Lichtquelle dient eine bestimmte Art phosphoreszie render Algen, die unter dem Namen Glimmblüten bekannt sind und sehr hell zu leuchten beginnen, wenn sie in ein Chemikalienbad namens Seltzer getaucht werden. Diese Chemikalien bringen sie zum Leuchten, außerhalb des Seltzers hören sie auf, Licht auszustrahlen. Die Glasschei ben eines Algions sind immer sechseckig angeordnet, und 350
das Algenbündel hängt außermittig. Das bedeutet: Will man eine Algion-Laterne »löschen«, legt man sie einfach auf die Seite gegenüber dem Algenbündel, sodass die Al gen nicht mehr vom Seltzer bedeckt sind. Die Algen trock nen, stellen jede Aktivität ein, und die Lampe verlöscht. Will man sie wieder »anzünden«, stellt man sie einfach aufrecht hin oder dreht sie auf die andere Seite, und bald beginnt sie wieder zu leuchten. Der große Vorteil eines Al gions ist das Fehlen einer Flamme. Fällt er herunter und zerbricht, hinterlässt er eine Pfütze und einen etwas komi schen Geruch, aber die Gefahr eines Brandes, der in den Städten des Halbkontinents, in denen viel mit Holz gebaut wird, ganze Straßenzüge in Schutt und Asche legen könnte, ist ausgeschlossen. Außerdem ist ein Algion leicht zu war ten, denn man muss keinen Docht trimmen und kein Öl nachfüllen. Tatsächlich kann man ihn bedenkenlos Tag und Nacht brennen lassen. Freilich verdirbt der Seltzer mit der Zeit und verfärbt sich von Hellgelb nach Dunkelorange. Ist er vollends schlecht geworden, nimmt er eine schmutzige, giftgrüne Farbe an und schädigt die Algen. Verwandelt sich das Dunkelorange in ein schmutziges Braun, wird es Zeit, den Seltzer zu wechseln. Allgemeinkunde: Geografie, Allgemeinwissen und gesun der Menschenverstand. AOWM: das Symbol der Skolds, angelehnt an die Symbo le der Elemente im Körnchenflechter. Es steht für die vier gliedrigen Systeme ihrer Disziplin und ihrer Lehre. Siehe auch Vier Körpersäfte und Vier Sphären. 351
Apotheker: Im Unterschied zum Skold stellt er ausschließ lich Tränke und Mixturen her, die helfen und heilen. Eine sechsmonatige Ausbildung in einem Rhombus und eine zweijährige Lehre bei einem geprüften Apotheker sind Voraussetzung, um eine Zulassung zu bekommen und die sen Beruf ausüben zu können. Apotheker sind beliebt und genießen sogar größeres Vertrauen als Skolds. Sie gelten auch als Habilisten. Arbeitsbuch: kleines kartoniertes Buch mit dem Siegel des Reiches oder eines Stadtstaats, in das die wichtigsten Daten eines Arbeitslebens eingetragen werden: der Tag, an dem eine Stelle angetreten wird, der Tag, an dem sie auf gegeben wird, und alle positiven und negativen Punkte, die ein Arbeitgeber für erwähnenswert hält. Mit einem »guten« Arbeitsbuch bekommt man fast jeder eine gewünschte An stellung, ein »schlechtes« zwingt einen, die niedrigsten Ar beiten anzunehmen. Das Siegel, mit dem sie versehen sind, macht sie weitgehend fälschungssicher. Arius Vigilans: »der wachsame Widder«, der auf den Vor satzblättern dieses Buches zu sehen ist. Er ist das Sinnbild des Staates Hergoatenbosch und seiner Hauptstadt Ro schenberg und wird wegen seiner Sturheit und Dickköp figkeit verehrt. Armee: Die Staaten des Reiches dürfen in der Regel keine Armeen oder stehenden Heere unterhalten, die mehr als 10000 Soldaten umfassen. Diese Zahl gilt als ausreichend, um die Mauern von Städten und größeren Ortschaften auf 352
dem Land zu bewachen und zu sichern. Eine Folge davon ist, dass viele Staaten Söldnerregimenter (die nicht verbo ten sind) anheuern und gegen Bezahlung für sich kämpfen lassen. Manchmal erhalten bestimmte größere Flächenstaa ten vom Kaiser die Ausnahmeerlaubnis, mehr als 10000 Mann unter Waffen zu halten – und dieses gesetzliche Schlupfloch nutzen sie, um eine ziemlich große Armee aufzustellen. Sehr zum Missfallen ihrer Nachbarn, die durch ihre Minister im kaiserlichen Parlament Beschwerde einlegen, worauf der Kaiser einen Truppenabbau anordnen kann oder auch nicht, und so dreht sich der Teufelskreis von Rivalität und Missgunst immer weiter. Gleichzeitig werden die Söldner immer reicher. Bei der Armee, von der in unserer Geschichte die Rede ist, handelt es sich um das stehende Heer Boschenbergs, aber auch Söldner werben in Einrichtungen wie Madam Operas außerordentlicher Ma rineanstalt für Findelkinder Rekruten an. Arzneitrank: jedes Gebräu, das im Unterschied zu Mixtu ren, die äußerlich angewendet werden, geschluckt werden muss, um zu wirken. Siehe Skripturen. Aschehändler: Menschen, die mit Leichen und Produkten handeln, die aus toten Körpern gewonnen oder hergestellt werden. Als Zwischenhändler im Schleichhandel leiten sie die von den Fledderern gestohlenen und von den Schmugg lern geschmuggelten Leichen an die dankbare Kundschaft weiter – gegen ein bescheidenes Honorar, versteht sich. Au ßerdem handeln sie mit Monstern, toten wie lebenden, und deren Körperteilen. Da beispielsweise auch Skolds ihre 353
Dienste häufig in Anspruch nehmen, ist ihr Beruf gesetzlich anerkannt, aber jedermann weiß, dass sie die Mittelsmänner krimineller Geschäftemacher sind.
B
Backbord: linke Seite eines Schiffes in Fahrtrichtung. Sie he auch Steuerbord. Bändiger: korrekter: Schlepper oder Feralados; Menschen, die für die Fütterung, Pflege, Abrichtung und Beaufsichti gung der vielen im Krieg eingesetzten Bestien zuständig sind. Bei diesen Bestien handelt es sich meist um soge nannte Bolbogis oder Kriegshunde – große, künstlich er schaffene Monster wie den Slothog, die sie mit dicken Ket ten und dem wohldosierten Einsatz chemischer Mixturen im Zaum halten. Bändiger führen ihre Bestien in die Schlacht und reizen sie mit Stachelstöcken, bis sie sich den feindlichen Linien nähern. Dann werden sie losgelassen und fallen über den Feind her. Gelegentlich kommt es al lerdings vor, dass die Monster »versagen«, das eigene Heer angreifen und ihm große Verluste beibringen, ehe sie wie der unter Kontrolle gebracht werden können. Barthomäus, Ausbilder: Lehrkraft an Madam Operas au ßerordentlicher Marineanstalt für Findelkinder. Seine Hauptaufgabe ist die körperliche Ertüchtigung der Zöglin ge. Er bringt ihnen Schwimmen und Rudern bei und un terweist sie im Harundo. Er war früher Hofwächter, ist erst seit ein paar Jahren im Findlingsheim und nicht so alt wie Fransitart oder Craumpalin. 354
Bauer Rabbit: Fideler Ackersmann und Viehhüter, der am Rande der Brindelwalder Allmende (Land, das von einer Gemeinde gemeinsam genutzt wird) einen kleinen Bauern hof betreibt. Häufig fährt er ins nahe Silvernook, um seine Erzeugnisse zu verkaufen und die Vorräte seines recht ab gelegenen Hofes aufzufüllen. Seine Frau Judy ist noch fröhlicher als er, und die beiden geben ein wirklich lustiges Paar ab. Beiname: Name, den eine Person später im Leben an nimmt oder verliehen bekommt. Adlige und Leute, die et was auf sich halten, geben ihren Kindern nach der Geburt nicht nur einen Vornamen, sondern auch einen Beinamen, um zu zeigen, dass sie etwas Besonderes sind. Belladonna: im Süden auch »Sauertod« und in Boschen berg und Umgebung »Mädchenschön« genannt; aus der Wurzel des hochgiftigen Tollkirschenstrauchs gewonnenes Pulver. In kleinen Dosen wird es gegen Magenbeschwer den eingenommen. Eine leicht erhöhte Dosis kann stim mungsaufhellend wirken. Zu viel Belladonna kann Men schen ins Koma fallen lassen oder, schlimmer noch, den Tod herbeiführen. Manchmal wird es auch Cathar-Sirup beigegeben, um die Verdauung zu fördern und das Allge meinbefinden zu verbessern. Es ist jedoch nicht unbedingt erforderlich, denn Cathar-Sirup wirkt auch ohne Belladon na gut. Bettnischen: billigste Unterkunft in einem Weghaus oder Wirtshaus; kaum mehr als ein Einbauschrank mit einem 355
Bett darin und etwas Stauraum. Mitunter findet man vier Bettnischen übereinander an einer Wand, wobei die oberen nur über eine Leiter zu erreichen sind. Sehr eng und für jeden über 1,80 Meter Körpergröße unbequem. Bezoariac, Bezoriac, Besorus: einer der Grundstoffe. Eine dicke Flüssigkeit, meist klar, manchmal auch strohfarben. Wird bei der Herstellung von Cathar-Sirup und vielen an deren Skripturen verwendet, die verändernd auf die Kör perfunktionen einwirken, ist aber auch Bestandteil vieler Gegengifte. Biggin: Becher oder Flasche aus Holz in einer geölten Le derhülle, mit einem Deckel aus demselben Material, der fest schließt und ein Auslaufen des Inhalts weitgehend ver hindert. Auf längeren Reisen sind Wasser- und Wein schläuche empfehlenswerter, aber bei kurzen Ausflügen tut es auch ein Biggin. Billetus, Mister: Inhaber und Wirt des Schnellen Hasen, zusammen mit Madam Felicitine. Er hat das Weghaus von einem entfernten Verwandten geerbt, als er noch jung und ledig war und bei einem Küfer in die Lehre ging. Er brach die Lehre ab und leitet seitdem das Weghaus. Birchet: stärkender Arzneitrank, gut gegen Schwellungen und Schmerzen. Die heftige Reaktion, die Birchet beim Schlucken im Körper auslöst, soll überdies aufkommendes Fieber senken. Siehe auch Skripturen. Blechtrommelweg: Durchgangsstraße im Boschenberger Vorort Mortar, in der die besten Gaulder der Stadt, ja der 356
Region zu finden sind. Der Gestank des kochenden Gaulds in all seinen Varianten liegt wie eine Wolke über der Straße. Blitzstab: zwei bis drei Meter langer Rohrstock oder Holz stab, der in seiner ganzen Länge mit Kupferdraht umwi ckelt und mit Kappen aus Kupfer, Messing oder Eisenful gurit versehen ist; der Blitzstab ist der längere der beiden Vulgaris, der kürzere heißt Funkenstab. Der Blitzstab ver hilft dem Vulgär zu einer größeren Reichweite und gibt ihm dadurch die Möglichkeit, tödliche Stromstöße auszu teilen und dabei selbst außer Reichweite zu bleiben. Eine weitere und merkwürdigere Verwendung findet er beim Thermistorieren – dem Anlocken und Einfangen richtiger Blitzschläge. Dies ist normalerweise nur bei bewölktem Himmel möglich, da bei klarem Wetter die notwendigen Voraussetzungen für das Erzeugen von Blitzen fehlen. Der Vulgär schickt eine elektrische Ladung in den Stab, um »einen Blitz aus dem Grau herabzurufen«, das heißt, einen Blitzschlag auszulösen. Wenn der Blitz trifft, fließt der Strom durch den Stab in den Körper des Vulgars und wird dort entweder gespeichert (aber nur vorübergehend, da der Körper sonst zu bersten droht) oder durch die Hand oder den Stab weitergeleitet, wobei letzterer eine bessere Kon trolle über die endgültige Richtung des Blitzstrahls ermög licht. Vulgare, die häufig thermistorieren, setzen sich ei nem hohen Risiko aus und werden oft Thermistoren oder »Blitzer« genannt. Bocksdorn: mittelgroßer bis großer Strauch mit kleinen, dunklen und harten Blättern, der überall in den Suttlanden wächst, vorwiegend an entlegenen Orten. Seinen Namen 357
verdankt er den zwei bis sechs Zentimeter langen Dornen, mit denen der Stamm und die Äste bewehrt sind. Wie alle Dornenbüsche bringt er nach Meinung der Landbewohner Unglück, weil er Monster anlockt und ihnen als Unter schlupf dient. Gilt als Lieblings versteck der Bogel und wird häufig gestutzt, wenn er in der Nähe einer Siedlung entdeckt wird. Bogel: der gebräuchlichste Name für Monster im Allge meinen, aber auch Bezeichnung für Monsterarten, die klei ner als Menschen sind wie Nuglung, Nimbelschrud, Glam gorn und das weiße Geschöpf, das Rosamund im Wasser des Humour beobachtet. Selbst kleine Monster sind le bensgefährlich und schwer zu töten. Wer lange am Leben bleiben möchte, sollte auch ihnen mit größter Vorsicht be gegnen. Bolbogis: große, künstlich erschaffene Monster, auch Kriegshunde genannt. Siehe auch Slothog. Bootsführer: Maat oder Unteroffizier der Marine, der Beiboote eines Kampfschiffes oder Frachters wie Jollen oder Kapitänsbarkassen befehligt. Sein Jahressold beträgt 26 Heller. Bootsmann: ständiger Offizier auf einem Schiff, und das bedeutet, dass er stets an Bord bleibt, einerlei ob es auf ho her See oder im Trockendock ist. Zusammen mit seinen Gehilfen, den Bootsmannsmaaten, ist er verantwortlich für Flaggen, Takelwerk, Blöcke, Anker, Ankertrossen und alle anderen Taue und Leinen sowie für den ordnungsgemäßen 358
Wachwechsel und die seemännische Ausbildung der Essig fahrer, auch jener Besatzungsmitglieder, die dem Gastri nisten unterstehen. Ferner hat er darüber zu wachen, dass Schanzkleid und Seiten des Schiffes zu jeder Zeit sauber und frei von Wäscheleinen, Tauen, Dichtungsmaterial oder anderen Gegenständen sind, die dort nichts verloren haben. Als einer der fähigsten und erfahrensten Seeleute auf einem Schiff verdient er zwischen 46 und 60 Heller im Jahr. Bootsmannsmaat: siehe Bootsmann Bootsmannspfeife: Pfeife mit zwei unverwechselbaren Tonlagen, die der Bootsmann benutzt, um Befehle der Schiffsführung an die Mannschaft weiterzugeben. In Ma dam Operas Marineanstalt wird sie in ähnlicher Weise von Master Heddiebulk eingesetzt, der die Zöglinge damit zu verschiedenen Aufgaben pfeift. Das Schlagen der Schiffs glocke verrät den Kindern die Uhrzeit. Boschenberg: die Hauptstadt jenes Volkes, das sich heute selbst die Hergotten nennt und das von den Boschen ab stammt, jenen wilden Stämmen, die früher in diesem Ge biet ansässig waren und schließlich vom Reich unterworfen wurden. Nach der Legende verschanzten sich die letzten Boschen auf dem Boschenberg und leisteten dem über mächtigen Heer des Kaisers zähen, aber erfolglosen Wider stand. Brandenbrass: riesige Stadt weit südlich von Boschenberg und einer seiner größten Rivalen als Handels- und Füh rungsmacht. An der Nordwestküste des Grum gelegen, ist 359
Brandenbrass berühmt für seine mächtige Kriegsmarine und die abenteuerlichen Fahrten und Reisen seiner Seeka pitäne und Kaufleute. Obwohl die Stadt nur ein sehr klei nes Gebiet beherrscht, ist sie im Lauf der Jahrhunderte durch regen und risikofreudigen Handel zu einer bedeuten den Macht aufgestiegen. Ihr stehendes Heer ist zwar klein und umfasst nicht mehr als 3000 Mann. Doch ihr Wohlstand und ihr guter Ruf haben einige der besten Söld nerregimenter veranlasst, Brandenbrass zu ihrem Haupt quartier zu machen. Als Gegenleistung stellte ihnen die Stadt eingefriedetes Land zur Verfügung, auf dem sie wohnen und exerzieren können. Ein solches Arrangement ist völlig legal und obendrein sehr praktisch, denn im Kriegsfall hat die Stadt viele tausend Soldaten zur Hand, die zu den besten des Landes zählen. Zu Rosamunds Leb zeiten wird Brandenbrass im Namen des Kaisers von Erz herzog Narseses und seinem Kabinett regiert, das treu zu ihm steht. Breitseite: Längsseite eines Kampfschiffes; außerdem die Bezeichnung für das gleichzeitige Abfeuern der dort aufge stellten Geschütze auf ein Ziel. Briganten: auch »Sumpfgänger« genannt wie Schmuggler, Straßenräuber, Wegelagerer und Taugenichtse, verzweifel te Männer, die in halbwilden und ländlichen Gebieten le ben, Reisende überfallen und ausrauben, sie niederschlagen oder gar ermorden. Das Leben eines Briganten ist hart und in der Regel auch kurz, da er sich nicht nur gegen die kai serlichen Gesetzeshüter (wie die Laternenanzünder), son dern auch gegen die Monster behaupten muss, die überall 360
lauern. Die besten Überlebenschancen hat ein Brigant, wenn er sich mit seinesgleichen zu einer Bande zusammen schließt, die mit vereinten Kräften Menschen und Monster das Fürchten lehren kann. Je größer die Bande, desto bes ser. Anführer wird der Skrupelloseste. Hat eine Briganten bande keinen Skold in ihren Reihen, entführt sie gewöhn lich einen und zwingt ihn unter Androhung des Todes, für sie zu arbeiten – ein weiteres Berufsrisiko, mit dem ein be scheidener Skold leben muss. Briganten geben sich große Mühe, ihre Schlupfwinkel geheimzuhalten, und nähern sich ihnen unten auf verschlungenen Pfaden. Wird das Versteck einer Bande nämlich entdeckt oder bekommen die Behör den Wind davon, wird es mit gnadenloser Härte ausgeräu chert. Nicht von ungefähr lassen sich nur die Ärmsten und Verzweifeltsten auf ein so gefährliches Leben ein. Zu den bevorzugten Waffen, die Briganten im Nahkampf oder zur Gewaltandrohung benutzen, gehört das Carnarium, ein Fleischerhaken, wie er von Metzgern benutzt wird. Es ist gewissermaßen ihr Erkennungszeichen. Brigantien: eine Gruppe kleiner Königreiche im äußersten Nordosten des Halbkontinents, hinter Mandalay und Tum balay gelegen, jenseits der Glockenbucht (Sinus Tintinabu line). Jedes einzelne wird von einem gerissenen Piratenkö nig regiert, höchst erfolgreichen Korsaren, die so große Reichtümer angehäuft und eine so große Gefolgschaft um sich geschart haben, dass sie ein kleines Reich gründen konnten. Manche Piratenkönige werden heimlich von ge wissen Staaten oder Reichen unterstützt, damit sie deren Schiffe unbehelligt lassen und nur die der anderen kapern und ausplündern. Als Gegenleistung gewähren ihnen diese 361
Mächte heimlich Zugang zu ihren Häfen und Märkten, was den Piratenkönigen und Piratenköniginnen die Möglichkeit gibt, ihren geraubten Reichtum zu mehren. Brindelwald: auch Brindelforst. Großer Wald aus Kiefern und Turpentinen, Rotbuchen und Myrten an der hügeligen Südwestspitze von Schmollenend. Der Vestiweg führt, von Nordwesten kommend, mitten durch ihn hindurch und ver einigt sich in seinen östlichen Randgebieten, wo der Wald weniger dicht ist, mit dem Langweg. Obwohl der Brindel wald als Grabenland gilt und weitgehend den Monstern überlassen bleibt, haben sich einige wenige Unerschrocke ne dort angesiedelt. Diese Waldgänger leben auf einsamen Höfen oder in Ortschaften wie Silvernook oder Herrod’s Hollow, in dessen Nähe es ein Sägewerk gibt, und sind Stammgäste im Schnellen Hasen. Brindelwaldbrücke: alte Brücke am Vestiweg. Sie spannt sich über eine Schlucht, in deren Grund ein kleiner Fluss namens Pill fließt, der sich in das Sumpfland im Mün dungsgebiet des Humour ergießt. Ursprünglich von den alten Tutin erbaut, ist die Brindelwaldbrücke mehrmals re noviert worden. Da sie von jedem Reisenden überquert werden muss, legen sich hier gerne Monster und sogar Bri ganten in den Hinterhalt. Mindestens einmal im Vierteljahr muss irgendeine Art von Pugnator entsandt werden, um Brücke und Straße von den Bogel zu säubern. Buchkind: jedes Kind, das in einem Waisenhaus, Find lingsheim oder jeder anderen Einrichtung aufwächst, die streunende oder unerwünschte Kinder aufnimmt. Sie hei 362
ßen deshalb Buchkinder, weil ihre Namen bei der Aufnah me in die Anstalt immer in ein großes Buch eingetragen werden. Mit der Zeit ist es zur Gewohnheit geworden, dass die Kinder den Familiennamen »Buchkind« annehmen, wenn sie erwachsen werden und ins Leben hinausgehen, insbesondere dann, wenn sie ihren ursprünglichen Famili ennamen nicht kennen. Buchhaus: anderes Wort für Findlingsheim oder Marine anstalt. Die Bezeichnung geht auf das Buch zurück, in das die Namen aller Zöglinge eingetragen werden. Buchtag: der Tag, den Madam Opera einmal im Jahr zu Ehren aller Findlinge, die unter dem Dach ihrer Marinean stalt leben, feiert. Er gilt als eine Art Geburtstag, selbst für die, deren wahres Geburtsdatum bekannt ist. Madam Opera möchte auf diese Weise verhindern, dass sich ein Zögling für etwas Besseres hält als die anderen, verlangt von ihren Mitarbeitern allerdings nicht, dass sie sich strikt an diese Regelung halten. Bücket: Küchenjunge im Schnellen Hasen; spielt in seiner Freizeit am liebsten Karten mit den anderen Jungen, die im Weghaus arbeiten. Büffelleder: weiches, ungegerbtes Leder, das dennoch strapazierfähig und haltbar ist. Wird von Gauldern bevor zugt, weil sich äußerst widerstandsfähige Rüstkleidung daraus herstellen lässt.
363
C
Carlin: Münze. Ein Zehn-Zechinenstück aus Silber, dessen
Wert einem ¼ Heller entspricht.
Cathar-Sirup: auch Plaudamentum. Arzneitrank, der von
Lahzaren eingenommen wird, um die Abstoßungsreaktion
des Körpers gegen die ihnen eingepflanzten Organe (mime tische Organe) und Bindegewebe zu stoppen. Wegen seiner
besonderen Zutaten und deren Eigenschaften ist Cathar-
Sirup nicht sehr lange haltbar, höchstens ein paar Stunden,
und muss daher jedes Mal frisch zubereitet werden. Lahzare
müssen zweimal am Tag eine Dosis einnehmen, sonst dro hen ihnen Krämpfe. Bekommen sie mehrere Tage hinterein ander keinen Sirup, zersetzen sich die Organe in ihrem Kör per, und nach einer Woche ohne Sirup ist ihnen der Tod
gewiss. Für Cathar-Sirup benötigt man folgende Zutaten:
Wasser (10)
Bezoariac (1)
Ratanhia (½)
Nnun-Zucker (¼)
Xthylister-Schlicker (1)
Belladonna (½, nicht unbedingt erforderlich)
Es gibt zwar noch andere Arzneitränke, die Lahzare regel mäßig zu sich nehmen müssen, aber Cathar-Sirup ist der
wichtigste. Für Vulgare ist der zweit wichtigste eine tägli che Dosis Fulgura Sagrada, das viel Salz enthält. Wits müs sen jeden Tag jambischen Ichor trinken, jeden zweiten Tag
Friesentinktur und dreimal pro Woche zwei Schlückchen
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Sammany-Likör, dazu ein Leben lang kleinere Mengen anderer Substanzen. Diese Abhängigkeit ist der Preis für die enorme Macht, die sie besitzen. Ein Physikus würde zur Stärkung von Leib und Seele zusätzlich eine tägliche Dosis Evander empfehlen. Chassart: auch Chastony oder Chassault; einer der süd lichsten Stadtstaaten der Frestonischen Bundes, berühmt für seine Seifen und Parfüme. Chemikalien: das wichtigste Mittel der Menschen im Kampf gegen Monster in diesem Jahrtausend. Chemikalien kommen in allen erdenklichen merkwürdigen Gebräuen vor. Siehe Skripturen, Mixturen und Arzneitrank. Chirurgen: gelegentlich auch »Schlachter« genannt, weil sie Leute aufschneiden und in ihrem Bauch herumwühlen, oder Sektifakter (nach dem Wort Sektifikation für »Operie ren am lebenden Objekt«). Chirurgen gelten als die finste ren Vetter der Physikusse. Die meisten besuchen dieselben Ausbildungseinrichtungen wie die Physikusse, konzentrie ren sich aber stärker auf Leichenöffnungen und die prakti sche Arbeit an Mensch und Monster als auch die Theorie und Heilverfahren. Zu ihren Hauptaufgaben gehören die Amputation brandiger oder zertrümmerter Gliedmaßen, Eingriffe wie Blinddarmoperationen oder die Entfernung von Kugeln, Splittern und Monsterzähnen und -stacheln. Würde sich auf dem Halbkontinent jemand die Mühe ma chen, die Statistik zu studieren, würde er feststellen, dass die Behandlung durch einen Chirurgen mehr Menschen überleben als die Behandlung durch einen Physikus. Doch 365
trotz aller vermeintlichen Wunder, die Chirurgen vollbrin gen können, begegnet man ihnen noch immer mit Miss trauen. Und das hat seinen Grund vor allem darin, dass man sie mit Lahzaren, den Praktiken der Faberkadaverei und Therospeusia (künstliche Erzeugung von Monstern) und dem verwerflichen Treiben der schwarzen Habilisten in Verbindung bringt. Deswegen sind Chirurgen längst nicht so verbreitet wie Physikusse und Apotheker. Wenn die Menschen schon zu einem Chirurgen müssen, benutzen sie gern einen Physikus oder sogar einen Apotheker als Vermittler. Tatsächlich darf ein Chirurg in vielen Berei chen ohne die Anwesenheit eines Physikus gar nicht be handeln. Gerüchten zufolge lässt sich der gegenwärtige Kaiser von einem Chirurgen nicht einmal anfassen. Wie bei vielen anderen Berufsgruppen unterscheidet man auch bei Chirurgen verschiedene Rangstufen: ♦ Hilfschirurgen – absolvieren nur eine Lehre und arbeiten in der Regel als Hilfskraft bei einem besser ausgebildeten Chirurgen. Nach einem ausführlichen Prüfungsgespräch in einer Ausbildungsanstalt für Physikusse können sie einen höheren Status erhalten, wenn sie zehn oder mehr prakti sche Berufsjahre hinter sich haben. ♦ Hauschirurgen – einjährige Ausbildung mit abschließen dem Erwerb eines Diploms, das sie berechtigt, einfachere Operationen durchzuführen wie das Entfernen von Fremd körpern aus dem Körper oder das Amputieren von Glied maßen. ♦ Kaiserliche oder Oberchirurgen – drei- bis vierjährige Ausbildung mit Abschlussexamen, das sie berechtigt, jede Art von Operation durchzuführen, die sie für nötig halten. 366
♦ Schnitzer – Personen, die sich ihr Wissen selbst aus Bü chern angeeignet haben und häufig nur operieren, weil kein ausgebildeter Chirurg zur Verfügung steht. Normalerweise entfernen sie nur Kugeln oder amputieren. Am häufigsten findet man sie in der Armee und der Kriegsmarine. Ein kleiner Umstand, der dazu beiträgt, den allgemein schlechten Ruf der Chirurgen etwas aufzupolieren, ist, dass sie bereitwillig Duellen beiwohnen und die Wunden der Duellanten versorgen. Kein Physikus, der etwas auf sich hält, würde bei einer solchen Schurkerei mittun. Clementine: Hauptstadt des ganzen Reiches, in der die drei Kaiserpaläste stehen, von denen jeder einen der Drei Sitze (Kaiserthrone) beherbergt. Liegt in der historischen Landschaft Beneventium, am Rand des Würtemgrabens, womit keine Straße gemeint ist, sondern ein tiefer, schluchtähnlicher Graben, der vor einem Jahrtausend aus gehoben worden ist und von der Hauptstadt 2300 Meilen weit nach Osten bis ans Meer reicht. Die gewaltige Stadt mit 2 Millionen Einwohnern beherbergt das Kaiserliche Parlament, in dem Vertreter aller Mitgliedsstaaten um mehr Einfluss streiten. Das Gebäude wurde vor Urzeiten auf ei nem noch älteren Granitplateau erbaut, eine mächtige Zita delle aus Marmor und Granit mit Befestigungsanlagen und vierzehn riesigen Toren und ebenso riesigen Zugbrücken, die berühmt sind und entsprechend hochtrabende Namen tragen: die Unveränderliche Pforte, das Aeternus-Tor, die Pforte der Unsterblichkeit, das Portal der Unvergänglich keit, das Tor zur Ewigkeit, die Immerwährende Pforte, die Pforte der Erwählten, die Tür der Unverwüstlichkeit, die Tür der Unantastbarkeit, das Tor der Festigkeit, die Pforte 367
der Unbeugsamkeit, das Undurchdringliche Tor, die Pforte des Möglichen, das Kraftvolle Tor. Einmal ist das Parla ment beschrieben worden als »ein riesiger Steinhaufen, ein verschachtelter städtischer Protzpalast aus Marmor und Granit, dessen Türme den Wolken den Platz streitig ma chen. Er ist zu einer Stätte des verderblichen Überflusses geworden und zum Inbegriff all dessen, was in seinem aus gedehnten Reich im Argen liegt …« Closet: Chefkoch im Schnellen Hasen, dessen Kochkünste eher bescheiden sind. Wäre er nicht ein alter Freund des Inhabers Billetus, wäre er wahrscheinlich längst durch Uda ersetzt worden. Da er wie andere Angestellte im Haus wohnt, erhält er einen Teil seines Gehalts in Form eines Zimmers im Personaltrakt. Clunes: einer der südlichsten Staaten des Reiches, berühmt für das herausragende Können seiner Sänger und Sänge rinnen. Wie es heißt, verdanken sie dieses Talent ihren Kontakten zu den zurückgezogen lebenden und musikali schen Bewohnern von Hamlin und Cloudeslee. Cockeril: schwere Fregatte mit 32 Kanonen pro Breitseite, die im Hafen von High Vesting liegt und einem Privateig ner gehört. Corvinius Arbour: eine der einflussreichsten Familien Boschenbergs, verwandt mit der mächtigen Saakrahenne mus-Sippe in Brandenbrass, deren altes Geschlecht viele historisch bedeutende Persönlichkeiten hervorgebracht hat. 368
Craumpalin, Master: Apotheker in Madam Operas au ßerordentlicher Marineanstalt für Findelkinder, der die Zöglinge, Kollegen und Madam Opera selbst mit Arznei tränken versorgt, aber auch vielen anderen Menschen hilft, die in der Nachbarschaft der Marineanstalt leben und ar beiten. Als ausgebildeter Schiffsapotheker hat er zusam men mit seinem alten Freund und Messkameraden Master Fransitart lange in der Marine gedient. Als Fransitart in jungen Jahren gewaltsam zum Dienst auf einem Kampf schiff gepresst wurde, war es der junge Craumpalin, der sich als erster mit ihm anfreundete. Bis heute hat er ihm die Treue gehalten. Fragt man Craumpalin, wo er geboren worden sei, antwortet er, im Stadtstaat Lousaine. Craumpalins Entdufter: eine Mixtur, die Craumpalin für Rosamund braut und die verhindern soll, dass zudringliche Nasen die Witterung des Findlings aufnehmen. Siehe Null arom. Cromster: kleineres bewaffnetes Flussboot, das mit drei Zoll dicken Gusseisenplatten gepanzert und auf jeder Längsseite mit vier bis zwölf Zwölfpfünder-Kanonen be stückt ist. In der Regel Einmaster, in größeren Ausführun gen aber auch mit zwei Masten. Er besitzt außer dem O berdeck nur ein einziges Unterdeck, das sogenannte Orlop deck. Mittschiffs vorn (also in der vorderen Bootshälfte) befindet sich normalerweise der Laderaum. Die hintere Hälfte des Orlopdecks ist den Gastrinen und ihrer Bedie nungsmannschaft vorbehalten. Cromster haben einen ge ringen Tiefgang und eignen sich im Allgemeinen nur für 369
Fahrten auf Flüssen und in Küstengewässern innerhalb ge schützter Buchten. Man findet sie weiter flussaufwärts als jedes andere Gastrinenboot, doch nur tollkühne oder uner schrockene Schiffer (was meist auf dasselbe hinausläuft) wagen sich mit ihnen auf die Essigmeere. Wegen ihres kurzen Kiels sind sie ideal für seichte Gewässer, doch bei stärkerem Seegang können die Wellen leicht das Deck überspülen und das Boot zum Kentern bringen. Cromster sind zwar nicht so schnell wie andere Gastrinenfahrzeuge (maximal 6 Knoten), zählen wegen ihrer Robustheit und Wendigkeit aber zu den beliebtesten Flussbooten. Die Be satzungsmitglieder eines Cromsters werden, wie die aller Flussfahrzeuge, Schiffer genannt. Siehe Anhang 7. Cruorpunxis: Punktierung der Haut mit vergossenem Blut; die eigentliche Bezeichnung für ein Monster Blood Tattoo. Culix: Stoß mit dem stumpfen Ende eines Stocks beim Stockfechten. Einer der vielen Hiebe, die in den Hundert Regeln des Harundo beschrieben werden.
D
Dank: Tagwächter im Schnellen Hasen, der die Aufgabe hat, das Weghaus, seine Gäste, das Inhaberpaar und das Personal vor Angriffen durch Briganten, Straßenräuber und, am allerwichtigsten, durch Monster zu schützen. Dido: frühere Kaiserin und Gründerin des Reichs auf dem Halbkontinent, von der alle Kaiser abstammten, bis sich die Haacobiner der Drei Throne bemächtigten. Urenkelin 370
der legendären Idaho von Attika. Von ihren Ministern hin tergangen, musste sie fliehen, um ihr Leben zu retten, scharte nach dem Fall von Phlegma die Überlebenden ihres Volkes um sich und gründete das Reich, in dem die Hand lung dieses Buchs spielt. Die Didodumeser sind ihre ver sprengten Nachfahren, und die meisten Vertreter des Hochadels – insbesondere die Antique Sanguines (das »Al te Blut«), deren Abstammungslinie sich bis in die Zeit vor der Reichsgründung zurückverfolgen lässt – behaupten von sich, sie seien mit ihr verwandt und damit auch mit ihrer ruhmreichen Urgroßmutter. Dolatramentist(um): jedes Zeichen, das auf der Haut an gebracht wird und auf die Fähigkeiten und Heldentaten ei ner Person hinweisen soll, entweder ein Spur oder ein Monster Blood Tattoo. Dreimalhoch: größere Ausführung des Dreispitzes. Hut mit hochgebogener Krempe, dessen drei Spitzen im Unter schied zum Dreispitz jedoch nicht am Hutkopf befestigt sind, sondern senkrecht nach oben stehen.
E
Elemente: die Grundbestandteile des viergliedrigen Erklä rungssystems, das von Skolds, Physikussen und anderen Habilisten verwendet wird. Einfach ausgedrückt: Die vier Elemente sind Erde, Luft, Feuer und Wasser, und sie haben viele Entsprechungen. Siehe die Vier Körpersäfte, die Vier Sphären, Körnchenflechter.
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Enrica d’ama: Dame des Hauses. Frau, die ein Haus, ein Weghaus, ein Gasthaus oder sogar einen Palast leitet und über alle Bedienstete und das Wachpersonal gebietet; nicht notwendigerweise auch die Inhaberin des Hauses, Weghau ses, Gasthauses oder Palastes. Essigfahrer: gebräuchliche Bezeichnung für Seeleute je den Rangs, die im Unterschied zu Schiffern, die nur Flüsse befahren, auf Hochseeschiffen wie Kampfschiffen und Frachtern beschäftigt sind. Zwei Eigenschaften heben ei nen Essigfahrer aus einer Menge heraus: der unbeholfene, wiegende Gang, den er sich beim Gehen über schwankende Schiffsdecks angewöhnt hat, und die rote, pockennarbige und fleckige Haut, insbesondere im Gesicht – eine Folge des ständigen Kontakts mit der ätzenden Gischt, die der Wind von Wellenkämmen und Brechern weht. Das Leben eines Essigfahrers ist hart, und viele sterben jung. Wird einer älter als sechzig, ist das eine bemerkenswerte Leis tung. Essigmeere, Essigwogen: auch Bittermeer, Grellmeer und Sodameer genannt, manchmal einfach nur »der Essig« oder, natürlich, »die See« oder »der Ozean«. Der Name verdankt sich dem beißenden, sauren Geruch des Wassers, den fremdartige, vom Meeresboden gelöste Salze hervorru fen. Obwohl diese Salze überall ähnlich riechen, verleihen sie den Meeren und Ozeanen unterschiedliche Farben: Hellgelb, Orange, Rot, Grellblau, Dunkelgrün, Weiß und sogar Schwarz. Wegen der ätzenden Eigenschaften ist Meerwasser für Menschen nicht zum Baden geeignet. Nach einem halbstündigen Aufenthalt im »Essig« färbt sich die 372
Haut wundrot und beginnt, heftig zu brennen. Nach einer Dreiviertelstunde bilden sich Blasen, die bald aufplatzen. Nach anderthalb Stunden dringen die Salze in den Körper ein, hemmen oder unterbinden sogar die chemischen Reak tionen in den Zellen, die einen Menschen am Leben erhal ten. Es kommt zu einer Schockreaktion, die wenig später zum Tod führt. Die Geschöpfe, die in den Essigmeeren le ben, darunter auch die Nadderer (Seemonster), haben sich diesen Bedingungen hervorragend angepasst. Alles Essbare, das aus dem Meer gefischt wird, muss zunächst in Lösungen gelegt werden, die man »Süßmacher« nennt und die die gif tigen Salze neutralisieren und angeblich auch den Ge schmack des Fleisches verbessern. Der Vorgang wird »Ein weichen« genannt und kann beträchtliche Zeit in Anspruch nehmen. Zum Glück gibt es mehrere Fischarten, die dassel be auf natürliche Weise bereits in ihrem Körper tun. Sie können sofort nach dem Fang zubereitet und verzehrt wer den. Allerdings schmecken die meisten von ihnen nicht gut. Ettins: zählen zu den größten Landmonstern und sehen wie riesenhafte, missgebildete Menschen aus (bis 15 Meter groß).Trotz ihrer enormen Körperkraft neigen sie nicht zu Gewalt oder gar Mord. Nicht sehr intelligent und in der Regel recht leicht zu überlisten. Werden sie gereizt, können sie allerdings großes Unheil anrichten, und Ettin-Banden, die in den Wintermonaten auf Nahrungssuche plündernd durch die Lande streifen, verbreiten Angst und Schrecken. Europa, Miss: erfahrene und berühmte Fulgar, die als Kind Lahzaren begegnete und sofort von ihnen fasziniert war. Diese Faszination steigerte sich zur Besessenheit. Sie 373
lief von zu Hause fort, reiste heimlich nach Sinster und ließ sich dort vom besten verfügbaren Chirurgen umwandeln. Seit damals hat sie die ganze Welt bereist und überall, wo sie hinkam, Monster getötet und Männerherzen erobert. Wie Rosamund bemerkt, trägt sie an der Innenseite ihrer Unterarme kleine Zeichen in Form eines X, sogenannte Cruorpunxis, von denen jedes Einzelne für ein von ihr ge tötetes Monster steht. Europa zieht diese hübschen kleinen Zeichen den vulgären, grinsenden Monstergesichtern vor, die sich die meisten anderen Monsterjäger in die Haut tä towieren lassen. Allerdings kann ihre Unauffälligkeit nicht darüber hinwegtäuschen, dass rohe und brutale Gewalt ausgeübt werden muss, um sie zu verdienen. Siehe Vulgär, Lahzar, Kose von Brandenbrass. Evander, Evanderwasser: Arzneitrank, der die körperli chen Ab Wehrkräfte gegen Krankheiten, Infektionen oder Vergiftungen stärkt und gleichzeitig stimmungsaufhellend wirkt. Explicarium: Liste erfundener oder unverständlicher Wör ter, die zusammengestellt wird, um eine phantastische, er dichtete Geschichte glaubhafter zu machen.
F
Faktotum: persönlicher Diener oder Sekretär eines Adli gen oder einer anderen Person von Rang oder Gewicht. Auch immer mehr Lahzare gehen dazu über, ein Faktotum einzustellen, das ihnen lästige alltägliche Arbeiten ab nimmt: Es schließt Verträge ab, treibt Honorare ein, die sie 374
für ihre Dienste erhalten, kümmert sich um Verpflegung und Unterbringung, führt den Schriftverkehr, schleppt schwere Gegenstände und bereitet sogar ihre Tränke. Wenn Herr und Faktotum auf Reisen sind und eine Übernach tungsmöglichkeit suchen, kommt es vor, dass sie mit einem Zimmer (und folglich nur einem Bett) vorliebnehmen müs sen, weil die Herberge stark belegt oder so teuer ist, dass sie sich kein zweites leisten können. In solchen Fällen muss das Faktotum mit anderen Dienern auf dem Fußbo den oder einer Bank am Küchenherd oder am Ofen in der Gaststube schlafen. Ein Schicksal, das den wenigsten Die nern erspart bleibt. Falschmenschen: auch Liederlinge genannt. Leers, die den wahren Gemütszustand einer Person erkennen und daher, was höchst praktisch ist, sagen können, ob diese Person aufrichtig ist oder nicht. Die Chemikalien, mit denen sie ihre Augen verändern, färben das Weiße blutrot und lassen die Iris in einem hellen Blassblau erscheinen. Siehe Leer. Familienname: auch Nachname; der Name der Familie, in die man hineingeboren wird, der Name der Vorfahren. Für Adlige ist es der wichtigste Name, denn er gibt Auskunft über Herkunft einer Person. Der Name Buchkind wird Waisen und Findelkindern häufig als eine Art Ersatzfamili enname gegeben, dabei ist er eigentlich nur ein Beiname. Faustus: der Rotstern, eigentlich aber ein ferner Planet, der auf seiner nächtlichen Bahn das Sternbild Vespasio durch läuft und der grünen Maudlin über den Himmel folgt, die nach der Legende seine Geliebte ist. Er läuft ihr ewig nach 375
und bekommt sie doch nie. Faustus gilt als der Signalstern enttäuschter oder verschmähter Liebender und hoffnungs loser Fälle. Felicitine, Madam: Tochter aus einer Landadelsfamilie und Gattin von Mister Billetus, dem Inhaber des Schnellen Hasen. Sie hat jung und unter ihrem Stand geheiratet und ist sich dessen schmerzlich bewusst. Da sie unter ihrer ge wöhnlichen Umgebung leidet, versucht sie gegen den Wi derstand ihres Mannes, der die Dinge etwas gelassener sieht, dem Schnellen Hasen ein Niveau zu geben, das einer feinen Dame ziemt. Die Gaststube betritt sie nur selten und überlässt sie, als Zugeständnis, ganz »Mister Bill und sei nem weltlichen Treiben«. Trotz ihrer Vornehmtuerei und der ständigen Reibereien sind sie und Mister Billetus auch nach über zwanzig Ehejahren noch sehr ineinander ver liebt. Fernstraßen: Hauptverkehrswege zwischen Städten. Kai serliche Fernstraßen werden vom Reich gebaut und in stand gehalten, während gewöhnliche Fernstraßen von den Staaten, durch die sie führen, gewartet werden. Allerdings ist keine dieser Fernstraßen durchgehend befestigt oder ge pflastert. Alle weisen auch Abschnitte auf, die nur aus nackter Erde bestehen und sich bei Regen in Morast ver wandeln. Je weiter sich eine Fernstraße von der Zivilisation entfernt, desto schlechter wird ihr Zustand. Manche, wie der Felicitine-Weg, der Clementine mit den Suttlanden verbindet, sind streckenweise kaum mehr als zerfurchter Pfad.
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Fiasko: kleines Behältnis mit oder ohne Fächer, in dem eine Frau Schminksachen, Schönheitscremes und derglei chen aufbewahrt. Gelegentlich auch Unterarmtasche ge nannt. Fiel, Fiele: sagenumwobenes Land jenseits der Ozeane und fernab vom Halbkontinent. Nach den spärlichen Berichten, die es darüber gibt, leben dort noch mehr phantastische und furchterregende Geschöpfe als auf dem Halbkontinent. Findling: auch Findelkind, Herumtreiber: obdachlose Kin der, die auf den Straßen der Städte gefunden werden oder erstaunlicherweise sogar schutzlos durch die Wildnis irren. Gewöhnlich steckt man solche Waisenkinder in Arbeits häuser, Fabriken oder Bergwerke, aber einige wenige ha ben auch das Glück, in einem Findlingsheim unterzukom men. Eine solche Einrichtung kann sich einer kleinen Zahl von Findlingen und Herumtreibern annehmen, ihnen das Rüstzeug für ein erfüllteres Leben geben und das Los schwerer körperlicher Arbeit ersparen. Fledderer: Grabräuber, die den Schleichhandel versorgen. Sie befriedigen die wachsende Nachfrage nach Leichen und Leichenteilen und beliefern fragwürdige Laboratorien im ganzen Land. Ein riskantes und moralisch verwerfliches Gewerbe: Fledderer leben in der ständigen Gefahr, mit Be hörden und Monstern in Konflikt zu geraten (Bogel, die auf Friedhöfen herumschleichen, gehören zu den bösartigsten und gewalttätigsten). Allerdings ist mit dieser Art von Tä tigkeit so viel Geld zu verdienen, dass sich das Risiko lohnt.
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Flusskapitän: höchster Offizier und Kommandant eines Flussboots, aber nicht notwendigerweise auch dessen Eig ner. Im Rang unter einem Kapitän. Um Flusskapitän wer den zu können, muss man auf den Essigwogen gedient ha ben. Focksel: auch Vorderkastell oder Back; der vorderste Teil des Oberdecks eines Kampfschiffes, zwischen Fockmast und Bug. In Anbetracht der Tatsache, dass die Decks eines Kampfschiffes glatt, also eben sind, wäre die korrekte Be zeichnung für diesen Teil des Schiffes Vorderdeck. In der Sprache der Seeleute hat sich jedoch dieser alte Ausdruck gehalten. Fox Hole: hergottisch auch Voxholte. Elegantes und vor nehmes Gasthaus in High Vesting, das berühmt ist für sei ne Höhe (sieben Etagen!) und die Größe und die luxuriöse Ausstattung seiner Zimmer. Steinreiche und berühmte Leu te steigen dort gerne ab. Frachter: kastenartige Gastrinenschiffe, die auf allen Es sigmeeren Waren und sogar Passagiere befördern. Frachter liegen viel höher im Wasser als die flachen und bedrohli chen Kampfschiffe und haben zwei Decks mehr über der Wasserlinie als diese. Alle Decks werden als Laderaum genutzt, allerdings führen Frachter auf dem obersten Deck auch Kanonen. Verständlicherweise sind sie langsamer als Kampf schiffe, die mit dem gleichen Gastrinenantrieb aus gerüstet sind, und das macht sie für Piraten und Freibeuter zu einer leichten Beute. Aus diesem Grund fahren sie meis tens in Konvois unter dem Geleitschutz von zwei oder drei 378
Kampf schiffen, meist Zerstörern oder schweren Fregatten. Der größte Frachter, der Großfrachter, ist so groß wie das größte Kampfschiff der Hauptsouverän, und lässt die meis ten anderen Schiffe klein erscheinen. Allerdings ist er lang sam und verlässt den Hafen nie ohne starken Geleitschutz. Der Bau dieser Schiffe ist so kostspielig und zeitaufwen dig, dass ihre Eigner sie nur äußerst ungern verlieren. Frachter brauchen ungefähr ein Zehntel der Besatzung, die ein Kampf schiff benötigt. Siehe Gastrinen. Fransitart, Schlafsaalaufseher: Als Sohn unbekannter Eltern lebte Fransitart mit seinem kleinen Bruder auf den Straßen von Ives. Einen Tag, nachdem der Bruder in seinen Armen gestorben war, wurde Fransitart von einem Press kommando verschleppt und als Schiffsjunge an Bord des Großkampfschiffes Adroit gebracht. Dort lernte er Craum palin kennen, der ihn beschützte, sich mit ihm anfreundete und bis heute sein Freund und Waffenbruder geblieben ist. Wie es kommt, dass Fransitart und Craumpalin nicht in dem Staat arbeiten, in dem sie geboren sind, sondern einem ganz anderen, ist eine Geschichte für sich. Fransitarts Zu neigung zu Rosamund hat viel mit der Trauer um seinen jüngeren Bruder zu tun. Freckel: ein kleiner, zäher Glamgorn-Bogel, der einen freundlichen Eindruck macht. Fregatte: kleinstes reguläres Kampfschiff, gewöhnlich mit 20 oder 24 Kanonen pro Breitseite, und die mittlere der drei Kreuzerklassen, wobei nur der Kanonenkuli kleiner ist. Wendig und schnell, gelten Fregatten als die »Augen der 379
Flotte«, befördern Nachrichten und führen Erkundungs fahrten durch. Obwohl das kleinste Kampfschiff, kann eine Fregatte manchmal fast die Länge eines Zerstörers errei chen. Diese überdimensionalen Ausführungen heißen »schwere Fregatten« und führen bis zu 32 Kanonen pro Breitseite. Sie erfreuen sich bei Piraten und Freibeutern großer Beliebtheit. Siehe Anhang 6. Frestonia: eine kleine Gruppe von Suttland Staaten unter der Führung des Stadtstaats Frestony. Lockerer Staaten bund, der als Reaktion auf die wachsende Macht der Bin nenstaaten Castoria, Pollux, Maine, Axis, Isidore und Ha quetaine gegründet worden ist. Frühlingskarawane der Gightland-Königin: Reise der Gightland-Königin, die jedes Frühjahr gezwungen ist, von einem ihrer sechs Paläste in einen anderen zu ziehen, weil der Gestank von verrottenden Essensabfällen und Exkre menten in den überlaufenden Abwasserkanälen unerträg lich wird und sich nicht mehr überdecken lässt. Mit ihrem gesamten Besitz, ihrer Familie, ihrem Gefolge, ihren Do mestiken, Ministern, Beamten, Haus- und Leibwächtern zieht sie in einer langen, prächtigen Prozession zum nächs ten Palast, während eine Armee von Dienern im alten Großputz macht. Der Komfort und Luxus dieser Karawa nen sind zum Inbegriff aller komfortablen und luxuriösen Dinge geworden, wie überhaupt alles, was die GightlandKönigin angeblich tut. Siehe Gightland-Königin. Fulgar: auch Astrapecrith (»Blitzhalter«); ein Lahzar mit chirurgisch eingepflanzten Organen (Systemis Astraphe 380
cum), die ihn befähigen, starke elektrische Ladungen zu erzeugen, zu speichern und freizusetzen. Fulgare beherr schen mehrere Tricks, die unter dem Begriff Eklatik zu sammengefasst werden. Dazugehören: ♦ Zünden – die einfachste Technik: das Erzeugen einer e lektrischen Ladung und ihr Freisetzen durch Berühren des Ziels. Tatsächlich muss ein Fulgar körperlichen Kontakt herstellen, denn die Elektrizität muss geerdet werden, um ihre Wirkung zu entfalten. ♦ Abwehren – kann in Verbindung mit Zünden zur An wendung kommen. Dabei erzeugt der Fulgar zwischen Daumen und Zeigefinger, Hand und Oberschenkel oder zwischen den beiden Händen kleinere Ladungen und spei chert sie für eine größere Entladung. Auf diese Weise wird sein ganzer Körper mit Elektrizität aufgeladen, und jeder, der ihn zu packen versucht, erhält einen heftigen elektri schen Schlag. ♦ Nötigen – eine ungewöhnliche Technik, deren Beherr schung Erfahrung und Talent erfordert und die es dem Ful gar erlaubt, Menschen festzuhalten und zu zwingen, sich zu bewegen oder reglos zu verharren, ganz wie es ihm beliebt. Bewerkstelligt wird dies durch die geschickte Steuerung einer Ladung, die unablässig durch den Körper des Opfers geleitet wird und sehr viel Energie erfordert. Die besten Resultate erzielt der Fulgar, wenn er seinen Gegner fest im Griff hat. ♦ Thermistorieren – ebenfalls eine Technik, die Können und Erfahrung erfordert und deren Ziel es ist, Blitze vom Himmel zu holen. Dies ist die einzige Technik, bei der kein direkter Kontakt erforderlich ist, denn der Fulgar dient dem 381
Blitz nur als leitender Kanal und lenkt dessen Energie auf Ziele, die bis zu 100 Meter entfernt sind. Je besser der Ful gar das Thermistorieren beherrscht, desto größer ist seine Kontrolle über die endgültige Richtung des Blitzes. Zu die ser Technik gehört auch ein kleiner Trick, der »Erden« ge nannt wird. Dabei lenkt der Fulgar einen Teil der Blitzla dung mit dem Arm in die Erde, während er den Rest der Ladung auf ein Ziel richtet oder in seinen Organen spei chert. Erden vermindert das Risiko des Fulgars, vom Blitz schlag zerfetzt zu werden, beträchtlich. ♦ Lavieren – ein eleganter kleiner Trick, bei dem der Ful gar eine schwache Ladung durch seinen Körper schickt, um sich vor dem Zugriff eines Wits zu schützen. Es handelt sich um eine Abwehr-Variante, nur dass in diesem Fall die Ladung nicht gespeichert wird. Je stärker die Attacke des Wits wird, desto mehr muss der Fulgar die Ladung verstär ken. Lavieren hilft auch bei der Abwehr gewisser Gruselat tacken, allerdings ist die Wirkung begrenzt und lässt nach, wenn der Grusel stärker wird. Fulgare haben ihren Namen von dem künstlichen Organ, das unter dem Namen Fulgis-Säule bekannt ist, einem gal lertartigen Muskel, der die elektrischen Ladungen erzeugt, mit denen sie operieren. Die meisten Fulgare kennzeichnen sich mit einer Raute, die allgemein als ihr Spur, ihr Berufs zeichen, anerkannt ist. Siehe Blitzstab und verwandte Stichworte, Lahzar und Thermistorieren. Fulgaris: zwei Stäbe unterschiedlicher Länge, die Fulgare verwenden, um ihre Reichweite zu erhöhen und beim Thermistorieren einen Blitzschlag besser kontrollieren zu können. Der längere Stab heißt Blitzstab, der kürzere Fun 382
kenstab. Beide sind fest mit Kupferdraht umwickelt und an beiden Enden mit einer Kappe aus demselben Metall, Mes sing oder Eisenfulgerit versehen. Fundarum non Oblivum: Wahlspruch von Madam Ope ras außerordentlicher Marineanstalt für Findelkinder, der in großen Lettern über dem Haupteingang prangt. Eine Re densart in Tutin, die »gefunden, [aber] nicht vergessen« bedeutet. Sehr anrührend. Funkenstab: der kürzere der beiden Fulgaris, 90 bis 120 Zentimeter lang; hilft dem Fulgar, einen Blitzschlag in die richtige Richtung zu lenken, wenn er ihn vom Himmel thermistoriert hat. Des Weiteren kann der Stab dazu ver wendet werden, die Reichweite eines Fulgars zu verlän gern und Hiebe einer gegnerischen Waffe abzuwehren. Es ist nicht empfehlenswert, sich auf einen Nahkampf mit ei nem Fulgar einzulassen, denn jede Waffe aus Metall, die ihn berührt, leitet eine tödliche Ladung in den, der sie führt, und hölzerne Waffen leiten Elektrizität zwar nicht so gut, können aber zersplittern. Ratsamer wäre es, mit Dis tanzwaffen wie Steinschlossmusketen oder Pistolen gegen einen Fulgar zu kämpfen. Doch die allerbeste Art, einen Fulgar – oder auch einen Wit – zu bekämpfen, so sagt man, wäre, sich selbst ans andere Ende des Reichs abzusetzen und einen anderen damit zu beauftragen.
G
Galgennacht: Nacht, in der traditionell viele Häftlinge ge henkt werden, deren Hinrichtung man für diesen Anlass 383
aufgeschoben hat. Ein großes öffentliches Spektakel, das nicht nach jedermanns Geschmack ist. Gastrinen: Maschinen zum Antreiben der Schrauben (Propeller) eines Kampfschiffs und anderer Wasserfahrzeu ge. Eine Gastrine ist ein mit Draht umwickelter großer Holzkasten, in dem sich große, muskelartige Organe (Gas toriden) befinden, die eine Antriebswelle aus Metall (was wir »Nockenwelle« nennen würden) umschließen. Im Or gandeck eines Schiffes sind solche Kästen hintereinander in einer Reihe aufgestellt. Ihre Wellen sind mit Hilfe von Zapfen zu einer einzigen großen Antriebswelle verbunden, die durch die gesamte Länge des Schiffes läuft. Jede Gastrinenreihe (auch »Gastrinenzug« oder einfach nur »Zug« genannt, einschließlich der dazugehörigen Limber) ist mit Getrieberädern und verschiedenen großen Hebeln, der so genannten »Hundekiste«, verbunden, die es dem Gastrinisten erlauben, die Leistung jedes Zugs zu regulie ren und zu bestimmen, ob nur eine oder beide Schrauben angetrieben werden sollen (die größten Kampfschiffe und Frachter besitzen sogar drei). Die Muskeln einer Gastrine werden von Wissenschaftlern, sogenannten Viszeristen (»Eingeweidezüchtern«), eigens für diesen Zweck gezüch tet und im Gastrinenkasten aus einfacher lebender Substanz großgezogen, wie eine Art empfindungsloses Tier. Im In nern des Kastens sind zahlreiche vorstehende Teile aus Holz namens Knochen angebracht, die den Muskeln Halt geben und als Hebel- und Angelpunkt dienen. Ist eine Gastrine »ausgewachsen«, bilden die Muskeln zusammen mit dem sie umschließenden Kasten ein vollständiges Or 384
gan. Den Kasten zu öffnen kommt einem chirurgischen Eingriff gleich. Die ausgewachsene Gastrine bringt man aus der Laborfabrik in die Werft und lässt sie in den Bauch des Empfängerschiffs hinab, wo man sie in den Zug ein baut, indem man ihre Welle an beiden Enden mit denen der Nachbargastrinen verbindet. Werden ihre Muskeln durch ihre Limber stimuliert, beginnen sie sich zu bewegen und nehmen Schwung auf, bis sie die Antriebswelle selbständig drehen können. Die Antriebswelle treibt die Rädergetriebe an, und die treiben Schrauben an und somit auch das Schiff. Über bestimmte Schächte und Luken wird eine Gastrine jeden Tag mit mehreren »Mahlzeiten« gefüttert, bestehend aus einer nahrhaften, klumpigen Suppe namens Pabulum. Unter dem Gastrinenzug befindet sich eine Ab flussrinne, die es erlaubt, die Ausscheidungen der Gastri nen über Rohre zur Mitte des Schiffs und in die Bilge zu leiten, von wo sie ins Meer gepumpt werden. Wegen der vielen Pabulum-Suppe und der herumschwappenden Aus scheidungen riecht es im Organdeck beinahe wie in einem Metzgerladen. Nadderer (Seemonster) lieben den Ge schmack von Gastrinen und werden von den im Kielwasser eines gastrinengetriebenen Schiffs treibenden Ausschei dungen angelockt. Ein großer Teil der Schiffsbesatzung ist mit der Versorgung und Wartung der Gastrinen, ihrer Lim ber und dem Zug, dem sie angehören, betraut. Tatsächlich haben die Gastrinen Vorrang vor den Seeleuten und werden zuerst gefüttert, denn ohne sie ist die Mannschaft verloren. Im Lauf ihres Arbeitslebens kann eine Gastrine an Krank heit, Altersschwäche oder auch an Verletzungen sterben, die sie in einem Gefecht oder Unwetter davongetragen hat. 385
Manchmal, wenn dies geschieht, frisst sich die Gastrine fest, sodass die Schraube nicht mehr richtig drehen kann oder sogar ganz stehen bleibt. Dann greifen die Gastri nistenmaate zu den großen Äxten, die an der Bordwand hängen, zertrümmern den Deckel oder eine Seitenwand des Gastrinenkastens und hacken, die Arme bis zu den Achsel höhlen in Ichor, die steifen Muskeln von der Antriebswelle los, damit die Schraube wieder drehen kann. Natürlich ist dies das Ende der Gastrine, die dann möglichst schnell durch eine andere ersetzt werden muss. Am besten ist es, man ersetzt alle Gastrinen eines Zuges gleichzeitig, aber das ist kostspielig und zeitaufwendig. Daher ist es allge mein üblich, einzelne Gastrinen bei Bedarf zu ersetzen. In einem solchen Fall arbeiten die verbliebenen Gastrinen ei ne Zeit lang mit verminderter Kraft. Manche behaupten, das liege daran, dass sie um ihren Gefährten trauerten. An dere halten das für Unsinn. Eine Gastrine kann bis zu zwanzig Jahre alt werden, vorausgesetzt, sie hat ein leich tes Leben und kann ruhig und gleichmäßig arbeiten wie etwa auf einem Cromster, der den Humour befährt. Eine Gastrine, die im Zug eines Kampfschiffes arbeitet, das häu fig seine Fahrt beschleunigt oder verlangsamt oder abrupt stoppt, wenn etwas gerammt wird, das haushohen Wellen trotzen muss und starken Erschütterungen ausgesetzt ist, wenn es von Kanonenkugeln getroffen oder von Seemons tern angegriffen wird – eine solche Gastrine muss oft schon nach fünf Jahren ausgetauscht werden. Gastrinen arbeiten nahezu lautlos und erzeugen nur ein leises Pochen, das durch den Körper eines Menschen pulsiert. Wenn ein Gastrinenfahrzeug, zum Beispiel ein Kampfschiff, an einem 386
vorbeifährt, hört man nur das Zischen des Wassers, das vom Bug geteilt wird und an den Längsseiten abläuft, und spürt ein leichtes Vibrieren der Luft. Liegt das Fahrzeug vor Anker, arbeiten die Gastrinen in der Regel ganz lang sam weiter, ohne allerdings die Schraube zu drehen, damit sie sofort startklar sind, wenn eine Gefahr oder eine uner freuliche Nachricht eine sofortiges Losfahren notwendig machen. Gastriner: jedes Schiff mit Gastrinenantrieb. Gastrinist: Unteroffizier auf einem Schiff im Rang eines Bootsmanns, der für den störungsfreien Betrieb der Gastri nen und Limber verantwortlich ist. Auf großen Schiffen befehligt der Gastrinist eine vielköpfige Mannschaft aus Gastrinistenmaaten und anderen Gehilfen, die dafür zu sor gen haben, dass die Gastrinen regelmäßig gefüttert werden, gesund bleiben und zufriedenstellend arbeiten. Jeder halb wegs anständige Gastrinist kennt die Mucken seiner Gastrinen, gibt ihnen sogar Namen und weiß zum Beispiel, dass Nr. 3 an extrem kalten Tagen träge ist oder dass »Lil lith« (Nr. 6) dazu neigt, zu hart zu arbeiten, sodass Nr. 5 und Nr. 7 ermüden, und so weiter. Er gibt sein Wissen an die Maaten weiter, damit sie die Eigenheiten eines Gastrinen zugs kennenlernen und später selbst Gastrinist auf einem Schiff werden können. Ein Gastrinist verdient zwischen 50 und 70 Heller im Jahr, Prisengeld nicht mitgerechnet. Gauld; mit Gauld härten: Chemikalien und Verfahren, mit deren Hilfe alle erdenklichen Tuche und andere organi sche Materialien äußerst reiß-, stich- oder kugelfest ge 387
macht werden, ohne dass sie dabei nennenswert schwerer werden oder an Geschmeidigkeit einbüßen. Alle Klei dungsstücke dieser Art werden unter dem Begriff Rüstklei dung zusammengefasst. Jeder Gaulder hat sein eigenes Geheimrezept, das weitervererbt und eifersüchtig gehütet wird, und mögen manche Rezepte auch besser sein als an dere, so ist das Ergebnis doch weitgehend dasselbe: Stoffe, Leder und andere Materialien, die mit einer Lösung ge tränkt, dann gekocht, erhitzt, getrocknet und mit weiteren Lösungen getränkt werden und so weiter, sind am Ende außergewöhnlich gehärtet. Mit Streifen aus mehreren La gen gehärtetem Leder oder Stahlplatten kombiniert und mit Polstern aus Kermesgras verstärkt, kann Rüstkleidung dem Träger ein hohes Maß an Schutz bieten. Ein weiterer Vor teil gehärteter Kleidung, selbst der billigeren Sorte, ist ihre unglaubliche Strapazierfähigkeit. Sie ist der Grund, warum die Uniformen von Soldaten im Feld oder die Anzüge von Wandersleuten normalerweise nicht nur Monate, sondern Jahre halten. Wer es sich leisten kann, trägt deshalb häufi ger Rüstkleidung als Tageskleidung. Rüstkleidung hält je den Schwerthieb oder jede Musketenkugel ab, aber sie schützt nicht vor Prellungen und Knochenbrüchen, die durch die Wucht eines Hiebes hervorgerufen werden, oder vor inneren Verletzungen, wenn ein Geschoss gegen Brust oder Bauch prallt. Deswegen sind stumpfe und schwere Waffen wie Knüppel oder Stöcke nach wie vor sehr be liebt. Und auch mit Gauld gehärtete Kleidung ist irgend wann verschlissen. Fasern, die ständig stark beansprucht werden, werden mürbe und reißen, bis die Rüstkleidung unbrauchbar wird. Schadhafte Stellen dieser Art sehen et 388
was dunkler und abgenutzt aus, und je billiger das Klei dungsstück ist, desto schneller verschleißt es in der Schlacht. Kleinere abgenutzte Stellen können von einem Gaulder, der sein Handwerk versteht, nachbehandelt und ausgebessert werden, aber wenn der Schaden darüber hi nausgeht, wird es Zeit, sich neue Rüstkleidung zuzulegen. Gehärtete Kleidung, die noch neu und in einem guten Zu stand ist, wird als »glänzend« bezeichnet, ein Wort, das aus der Zeit stammt, als Rüstungen noch aus Metall waren. Gaulder: Handwerker, der Gauld herstellt und damit Rüst kleidung fertigt. Gauldsman Five: einer der besten Gaulder in Boschen berg. Seit über vierzig Jahren beliefert er die reichsten Ad ligen und Bürger der Stadt mit Küstkleidung bester Quali tät. Ein guter Ruf lässt die Preise steigen, aber selbst die billigste Kleidung von Gauldsman Five bietet dem Kunden ausgezeichneten Schutz für sein Geld. Gaumenfreuden: die teuren Gerichte auf einer Speisekar te; Gerichte, die als modisch gelten. Das Merkwürdige dar an ist, dass sie sich mitunter schon nach wenigen Saisons unter der Rubrik Hausmannskost wiederfinden, während Gerichte, die gestern noch als gewöhnlich und preiswert galten, heute den Sprung in die Liste der Gaumenfreuden schaffen. Ach ja, die Launen der Mode! Geißler: auch Exitumaten oder Orgulare (»die Hochmüti gen« – ein Name, den man früher Helden gab und heute 389
noch Lahzaren gibt); ein Skold, der sich ausschließlich auf die Monsterjagd spezialisiert hat und sehr gefährliche und tödliche Mixturen herstellt und anwendet: Mixturen, die Dinge zum Schmelzen bringen, im Nu verfaulen lassen, in Kohle oder Lebewesen in Stein verwandeln. Geißler sind von Kopf bis Fuß in spezielle Bandagen gewickelt und tra gen Quarz-Brillen, um sich vor ihren eigenen Chemikalien zu schützen. Sie sind zwar beliebter als Lahzare, gelten aber trotzdem als leicht verrückt und unkontrollierbar und führen ein gewalttätiges Leben wie ihre lahzarischen Rivalen. Gedrechsel: Essbesteck, das statt aus einer Zinnlegierung aus Holz gefertigt ist. Gehenk: auch »Gehänge« genannt, meist mit einem Mottl, manchmal sogar mit einem Wappen oder Emblem ge schmückt. Gehenke sind bei Normalmenschen ein beliebtes Mittel, ihre Treue zu einem Staat oder einer Organisation zu bekunden. Oft wird die Lieblingswaffe daran befestigt. Vergleichbare Bekleidungsteile sind die aus Seide gefertig te Schärpe und das Cingulum, ein besonders reich ge schmücktes Gehenk, das ausschließlich bei Festzügen, Pro zessionen und Bällen getragen wird. Gehrock: Männerrock mit knielangen Schößen, die unten häufig weit ausgestellt sind. Seit auch immer mehr Frauen das Abenteuer suchen, ist er auch in der Damenwelt in Mode gekommen. Allerdings sind die Gehröcke der Frauen reicher verziert und besetzt, und die Schöße sind noch stär ker ausgestellt als bei den Männern. Gehröcke für beide Geschlechter sind fast immer mit Gauld gehärtet. 390
Geld: Die meisten Währungen im Reich haben drei Münz einheiten: Die Billion ist die größte Münze mit dem höchs ten Geldwert, die Dollion (oder Dollar) die zweitgrößte, und die Common oder Komma die kleinste. Die gebräuch lichste Währung ist die der Suttlande. Sie wird fast bei al len Geschäften innerhalb des Reiches und mit dem Ausland verwendet. Bei ihr unterscheidet man zwischen: Heller (Billion) › Zechinen (Dollar) › Schilling (Comma) = 16 Zechinen = 20 Schilling Beim kaiserlichen Oscadril stellt sich das wie folgt dar: Oscadril (Billion) › Spezial (Dollar) › Commial (Comma) = 14 Spezial = 20 Commial Auf dem Halbkontinent gibt es sehr, sehr viele Währungen. Einige stammen noch aus der Zeit vor dem Kaiserreich und werden bis heute von Einheimischen verwendet, insbeson dere in sehr entlegenen oder ländlichen Gebieten. Das kann sehr kompliziert werden, und Geldwechsler haben ein sehr einträgliches Geschäft daraus gemacht, die Geheimnisse des Geldumtauschs zu enträtseln. Germanicus, Mister: Agent des Wehrhauses Winstermill, der in High Vesting auf Rosamund wartet, um ihn zu seiner neuen Dienststelle zu bringen. Mister Gemanicus ist ein geduldiger Mann, aber auch seine Geduld hat ihre Grenzen. Gibbon: Bootsmannsmaat und Schiffer auf dem Cromster Hogshead, der davon träumt, eines Tages ein eigenes Boot 391
zu besitzen und mit einer eigenen Mannschaft seine heim tückischen Pläne in die Tat umzusetzen. Gightland-Königin: Name, den man der Königin von Ka talenien gegeben hat, weil ein Großteil ihres Reiches aus einem Sumpfgebiet namens Gight besteht. Außer ihr darf im politischen Gebilde des Halbkontinents kein Herrscher den Titel König führen. Niemand weiß, wie es zu diesem Privileg kam, und die Akten darüber werden streng unter Verschluss gehalten. Doch bislang hat ihr noch jeder Kai ser und jede Kaiserin erlaubt, den Titel zu behalten, wäh rend andere Regenten bestenfalls hoffen können, Herzog, Großherzog oder Erzherzog zu werden. Es wird behauptet, dass die Gebräuche, die am Hof der Gightland-Königin gepflegt werden, ein getreues Abbild der alten Riten der Attikaner seien, der längst nicht mehr existierenden Stammväter des Reiches. Glamgorn: oder Glammergorn. Eine der kleineren Mons terarten, ein echter Bogel. Er kommt in unterschiedlichster Gestalt, Färbung und Behaarung vor: mit großen Augen, kleinen Augen, großen Ohren, kleinen Ohren, großem Körper und kurzen Gliedmaßen, kleinem Körper und lan gen Gliedmaßen und in allen Varianten dazwischen. Häu fig reizbar und schreckhaft, können manche Arten richtig bösartig werden, wobei die schlimmsten unter dem Namen Widerlinge bekannt sind. Zu den merkwürdigsten Eigenar ten der Glamgorns gehört, dass sie gern Kleider tragen, und zwar Normalmenschenkleider, die sie von Wäscheleinen oder aus unbewachten Truhen stibitzen. Gerüchten zufolge soll es bekleideten Glamgorns – und sogar Widerlingen – 392
schon gelungen sein, sich unbemerkt in die Städte der Normalmenschen zu schleichen, dort herumzuspionieren und Schaden anzurichten. Glasen: das halbstündige Schlagen der Schiffsglocke auf Kampfschiffen und anderen Wasserfahrzeugen, aber auch in jeder Marineschule. Bei Beginn jeder Wache werden 8 Glasen geschlagen, danach 1 Glasen nach der ersten halben Stunde, 2 Glasen nach einer Stunde, 3 Glasen nach andert halb Stunden und so weiter, bis wieder 8 Glasen erreicht sind und eine neue Wache beginnt. Ausnahmen bilden die beiden Hundewachen, bei denen nur 3 Glasen geschlagen werden, bevor 8 Glasen wieder den Beginn einer neuen Wache einläuten. Gosling (Gosling Corvinius Arbour): Zögling in Madam Operas außerordentlicher Marineanstalt für Findelkinder. Von adliger Herkunft, hält er sich für etwas Besseres als das »Gesocks«, mit dem er im Findlingsheim zusammenle ben muss. Er wartet nur auf den Tag seiner Entlassung – und der ist nicht mehr weit –, dann wird er uns allen zei gen, wie überlegen er uns ist. Dann wird es uns allen leid tun, dass wir jemals geglaubt haben, wir seien es wert, die selbe Luft wie er zu atmen. Grabenlande: Seit Menschengedenken ist die Welt in fünf unterschiedliche Regionen oder Marken unterteilt. Die Grabenlande sind »Grenzgebiete«, die vierthäufigste Regi on oder Mark und der letzte Herrschaftsbereich des Men schen vor der Wildnis (die Normalmenschen selten betre ten und niemals besiedeln). Die wenigen Menschen, die in 393
den Grabenlanden ansässig sind, leben sehr eng zusammen, um einander helfen zu können, schützen sich durch Mauern und halten Türen und Fenster stets geschlossen, selbst mit ten am Tag. Schornsteine werden hier höher gebaut als überall sonst. Niemand geht ohne Rüstkleidung vor die Tür. Sie wird selbst tagsüber und im Haus getragen. Jeder hat einen Vorrat an Abwehrmitteln, die er von Skolds erwirbt, und wenn er sich im Freien aufhält oder reist, trägt er stets einen Teil bei sich. Viele Ortschaften in den Grabenlanden werden zusätzlich von einer Garnison aus Peditieren (Fuß soldaten) und/oder Laternenanzündern geschützt. Kleine Festungen entlang der Hauptstraße der Region bilden in der Regel den Mittelpunkt einer Siedlung und die letzte Zu fluchtsstätte im Falle eines größeren Angriffs durch Mons ter. Gretel: Zimmermädchen im Schnellen Hasen, aus Bo schenberg gebürtig, jetzt aber im Weghaus wohnhaft. Sie ist freundlich und redselig und hat eine Schwäche für Dok tor Verhooverhoven. Grinslinge: Name, den Rosamund den Nimbelschruds we gen ihrer breiten, scheinbar boshaft grinsenden Münder gibt. Grusel: auch Horror genannt. Grusel ist das Gefühl, von dem Land oder Wasser, das einen umgibt, wahrgenommen oder beobachtet zu werden. Niemand weiß es mit Be stimmtheit, aber nach der gängigsten Theorie ist das Land selbst auf eigentümliche Weise empfindungsfähig und mit einer gewissen Intelligenz und einem Bewusstsein ausges 394
tattet und reagiert ärgerlich auf Störungen und den Miss brauch durch Menschen. Gutartiger Grusel, die mildeste Form, kann in einem Menschen ein Unbehagen hervorru fen, als stehe er unter feindlicher Beobachtung. Die schlimmste Form von Grusel – bösartiger Grusel – kann einen Menschen in den Wahnsinn treiben, grundlose Angstzustände hervorrufen und schlimmste Wahnvorstel lungen auslösen. Viele Expeditionen mit mehreren tausend Mann, die entsandt wurden, um bestimmte gruselverseuch te Regionen zu erschließen, sind spurlos verschwunden. Ein oder zwei Überlebende sind zurückgekehrt, irre redend und seelisch gebrochen. Nicht einmal die Kräfte eines Lah zars können vor bösartigem Grusel schützen. Es ist be kannt, dass überall dort, wo Grusel auftritt, auch Monster leben. Einige Teratologen gehen sogar so weit zu behaup ten, dass zwischen Monstern und Grusel eine Beziehung besteht, die für beide Seiten von Nutzen ist. Noch ver schrobenere Naturphilosophen glauben sogar, dass Grusel nicht nur stark oder schwach ist, sondern auch gut oder bö se sein kann. Aber solche Ideen grenzen an Sedornismus (Monsterliebe) und werden nicht ernst genommen. In meh reren älteren Büchern ist zu lesen, dass es Monster gibt, die in der Lage sind, eigenen Grusel zu erzeugen, also die Macht haben, Angst einzujagen, in den Wahnsinn zu trei ben oder Gedanken zu kontrollieren, und dass die schlimmsten von ihnen durch diesen Grusel ein ganzes Ge biet kontrollieren können, beispielsweise einen Wald. Tat sächlich glaubt man, dass es sich bei der Gedankenkontrol le, die von den Scheingöttern ausgeübt wird, um eine Form von Grusel handelt. 395
Großkanonen: andere Bezeichnung für Kanonen, insbe sondere für 24-Pfünder und größere Kaliber. Grum: Meeresbucht mit milchig olivgrünem Wasser, an der die Hafenstädte High Vesting und Brandenbrass lie gen. Grundstoffe und Kombinationen: die Grundchemikalien, die allen Skripturen (Mixturen und Arzneitränken) zugrun de liegen. Jede Gruppe von Skripturen oder Abteilung hat eine bestimmte Anzahl von Grundstoffen. Bezoariac zum Beispiel, das bei der Herstellung von Cathar-Sirup ver wendet wird, ist ein Grundstoff der Abteilung, die unter dem Namen Wandler bekannt ist – das sind Skripturen, die dazu verwendet werden, die körperliche Beschaffenheit eines Menschen zu verändern. Der in allen Abteilungen am häufigsten verwendete Grundstoff ist Wasser. Unter Kom binationen versteht man die Art und Weise, wie sowohl Grundstoffe als auch die aus ihnen bestehenden Skripturen kombiniert werden können, um noch wirkungsvollere oder andere Resultate zu erzielen.
H
Haacobiner, Haacobiner-Dynastie: das derzeitige Herr scherhaus des Reiches. Haacobiner-Reich: anderer Name für das Reich, dessen Bürger Rosamund ist. So benannt nach dem gegenwärtig regierenden Herrschergeschlecht, den Haacobinern, die vor zweihundert Jahren in Clementine die Macht ergriffen 396
haben. Vor ihnen herrschte die Skeptiker-Dynastie, die ein halbes Jahrtausend lang die Macht innegehabt hatte. Habilisten: »kluge Menschen«; nach dem Verständnis der Bewohner des Halbkontinents alle Wissenschaftler, die auf einem, mehreren oder allen Feldern der Habilistik tätig sind und forschen. Dazu gehören Apotheker, Skolds, Geiß ler, Physikusse, Chirurgen, Viszeristen (»Eingeweidezüch ter«, die Organe züchten, wie sie in einem Sthenicon oder einer Gastrine verwendet werden) und selbst Tierpräpara toren. Vertreter der schwarzen Habilistik nennt man schwarze Habilisten oder Morbidisten: die Nekrologen (die Leichen zum Leben erwecken), die Kadaveristen (die aus Leichenteilen Monster erschaffen – eine verbotene Diszip lin, die Faberkadaverei genannt wird), die Therospeusisten (die Monster aus lebender Materie erschaffen, eine eben falls verbotene Kunst namens Therospeusia) oder die Ver wandter (Chirurgen, die Menschen durch operative Ein griffe in Lahzare verwandeln – eine Technik, die man Clysmorugia nennt). Im Reich sind diese schwarzen Wis senschaften überall verboten, doch in Städten wie Worms oder Sinster sind sie gern gesehen und werden unvermin dert gefördert. Manchmal werden Habilisten verächtlich als Giftpanscher bezeichnet, weil sie ständig mit Chemikalien hantieren, aber in der Regel wird dieses Schimpfwort nur verwendet, wenn ein schwarzer Habilist gemeint ist. Habilistik: oder Naturphilosophie; nach dem Verständnis der Bewohner des Halbkontinents jene Wissenschaft, die der Frage nachgeht, wie Dinge funktionieren, und viel leicht sogar, warum sie funktionieren. Sie umfasst in der 397
Regel das ausgiebige Studium alter oder geheimer Texte, das Sezieren von Menschen- und Monsterleichen, die Her stellung von Tränken und Gebräuen, die Beobachtung des Sternenhimmels und die Suche nach den stärksten Chemi kalien im Kosmos. Jedes Wissensgebiet wird als eine Wis senschaft bezeichnet. Hafenkommandant: ranghöchster Lotse eines Hafens, der alle anderen Lotsen befehligt und für alle Schiffsbewegun gen in seinem Zuständigkeitsbereich verantwortlich ist. Inhaber dieses Postens gelten allgemein als jähzornig und grob, was vermutlich daher rührt, dass sie den lieben lan gen Tag mit eigensinnigen Kapitänen zu tun haben. Halbkontinent: auch Haufarium, Sundergird oder Weste lund; breite und sehr große Halbinsel, auf der – in einem kleinen Teil – diese Geschichte spielt. Harold (Haroldus, der Große Skold): Er wird als Held der Schlacht vor den Toren gerühmt, obwohl er dabei sein Leben ließ und auf der Seite der Verlierer stand. In den un sicheren Zeiten, die auf die Schlacht folgten, brauchte der neue Kaiser einen Vorzeigehelden und ein Vorbild, dem man nachstreben konnte, und Harold hatte den großen Vor teil, dass er nicht mehr am Leben war und sich folglich weder dagegen wehren noch jemanden enttäuschen konnte. Ja, ja, so ist Propaganda. Harundo: Stockfechtkunst. Rosamund lernt sie in der Ma rineanstalt.
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Haubertier: Fußsoldat, der eine dreifach gehärtete Hau bertine mit Schenkelschienen und einen Infanterierock trägt. Seine typische Kopfbedeckung ist die Mitra, ein spitz zulaufender Hut mit abgeflachter Krone. Seine wichtigsten Waffen sind die Muskete mit aufgepflanztem Bajonett und der Infanteriesäbel. Soldat der schweren Infanterie. Siehe Anhang 2. Hauptsouverän: das größte Kampfschiff mit mindestens 100 Großkanonen pro Breitseite (Lambarden und Tormen ta nicht mitgerechnet). Wegen seiner Größe und Schwerfäl ligkeit beim Manövrieren auf die Hilfe von Schleppern an gewiesen. Siehe Anhang 6. Hausmannskost: Gerichte auf einer Speisekarte, die als gewöhnlich und altmodisch gelten; Speisen für einfache Leute vom Land; die preiswerten Gerichte auf der Speise karte. Siehe Gaumenfreuden. Heidelbeeren: eine der besten und teuersten Wegspeisen. Sie sind deshalb so teuer, weil eine einzige kleine Beere einem Erwachsenen genug Energie für einen ganzen Tag geben und seine Lebensgeister wecken kann wie ein guter Stärkungstrank. Heidelbeeren wachsen (wie man sich den ken kann) an kleinen Heidelbeersträuchern, die nur im Westen des Halbkontinents vorkommen. Die halb unab hängige Landwirtschaftsregion Patter Moil ist durch den Heidelbeeranbau zu Macht und Wohlstand gelangt, was auch für die Königreiche Wencelaus und Stanislaus (die Lausischen Staaten) gilt. Allerdings sind die Früchte, die 399
diese »gezüchteten« Pflanzen hervorbringen, nicht annä hernd so stark wie die Beeren, die man in wilden und monsterverseuchten Gegenden findet. Ganz Unerschrocke ne wagen sich noch heute in die Wildnis, um diese besse ren Früchte zu sammeln, und wer von ihnen überlebt, kann für dieselbe Menge einen doppelt so hohen Preis erzielen wie für Plantagenfrüchte. Am besten pflückt man Heidel beeren, wenn sie noch rosa und frisch sind. Normalerweise werden sie getrocknet, damit sie länger halten. Eine weitere Methode der Konservierung ist die Herstellung von Hei delbeermarmelade, die in irdenen Gefäßen aufbewahrt und zu einer der vielen Hartbrotsorten gegessen wird, die als Wegspeise zur Verfügung stehen. Ihre erstaunliche Wir kung entfaltet die Heidelbeere freilich auch in jeder ande ren Verarbeitungsform, und in jeder ist sie sehr lange halt bar. Allem Anschein nach wirkt sie auch bei Monstern, und die Plantagen in Patter Moil und den Lausischen Staaten werden scharf bewacht. Heller: größte Münzeinheit der Suttlande, aus einer Gold legierung geprägt. 1 Heller entspricht 16 Zechinen, 320 Schilling oder 2 Dritteln einer Kaiserbillion (Oscadril). Er wird durch den Buchstaben »S« dargestellt. Siehe Geld. Hellschwarz: hochglänzendes schwarzes Leder, das wir Lackleder nennen würden. Hergoatenbosch: riesiges Schutzgebiet mit Kornfeldern und Weiden westlich des Flusses Humour und der Stadt Boschenberg, unter deren Kontrolle es steht.
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Hero von Clunes: bekannte Schauspielerin und Sängerin aus Clunes, die zu Recht für ihr schönes Gesicht und ihre Stimme berühmt ist. HIR: steht für »Horno Imperia Regnum« (im Jahr der kai serlichen Souveränität) und bezeichnet die Jahre des ge genwärtigen Zeitalters seit der Gründung des Reichs. Hofwächter: eine von mehreren Personen, die auf der Zu fahrt und dem Hof eines Weghauses, Landhauses, Palastes oder anderer Gebäude für Sicherheit und Ordnung verant wortlich ist. Ein durchschnittlicher Hofwächter verdient zwi schen 25 und 35 Heller pro Jahr, je nach seinen Fähigkeiten. Hogshead, die: langsamer, heruntergekommener Cromster mit sechs Kanonen. Siehe Anhang 7. Hogshead: großes Fass mit einem Fassungsvermögen von rund 200 Litern. Ein normales Fass fasst etwa 140 Liter. Höherer Dienst: So nennt sich die Kriegsmarine selbst. Der Dienst in der Kriegsmarine wird höher eingestuft als der Dienst in der Armee, bei den Laternenanzündern, der Kaiserlichen Post oder sonst wo. Humour: mächtiger Fluss, verläuft von Nord nach Süd durch den Halbkontinent. Hundert Regeln des Harundo: Regelwerk, das alle Stel lungen, Stöße, Hiebe und Paraden (Abwehr eines Angriffs) der Stockfechtkunst Harundo umfasst, die Rosamund in der Marineanstalt erlernt. 401
I
Ichor: jede Flüssigkeit, die in Beschaffenheit und Farbe an Blut erinnert oder wie Eiterausfluss aussieht, zum Beispiel Monsterblut (»Monster Blood«). Auch poetische Kurzform für Ichorbruch. Ichorbruch: Name eines riesigen Sumpfgebiets, das auch »Leimtopf« oder Sanguis Defluxia genannt wird, nach der scheußlichen, an Blut erinnernden dunklen Farbe seines Wassers und Schlamms. Angeblich sind Teile des Ichorbruchs so gruslig, das sie einen Menschen in den Wahnsinn treiben können. Unter hohen Verlusten an Men schenleben wurde der Wurm weg durch den Süden des Bruchs gebaut und in der Absicht, die Sümpfe trockenzu legen, mit dem Ichorweg verbunden. Allerdings haben die se Straßen wenig dazu beigetragen, den Grusel zu bändi gen oder die Monster einzuschüchtern, die sich im Ichorbruch angesiedelt haben. Wegen seiner vielen gären den Sümpfe und stinkenden Tümpel wird er von Menschen gemieden, und die wenigen Reisenden, die den Wurmweg benutzen, durchqueren das Gebiet sehr zügig und nur unter schwerem Geleitschutz. Iiker: Menschen, die, sei es aus Armut, aus Protest oder weil sie verfolgt werden, in der Wildnis oder in den Grenz gebieten leben, wo sie dem Boden ihren Lebensunterhalt abringen. Viele Iiker sind politische Exilanten, die wegen eines Streits mit einer einflussreichen Person aus ihrer Heimatstadt verbannt worden oder aus eigenen Stücken gegangen sind. Nach weitverbreiteter Meinung sind die 402
meisten verabscheuungswürdige Sedorner geworden, da mit die Monster sie in Frieden lassen. Ohnehin schon als Außenseiter beargwöhnt und verachtet, werden sie durch dieses Misstrauen noch verschrobener. Infanteriesäbel: eigentlich ein gerades, einschneidiges Schwert mit kurzer Klinge und schwerem Griff; ebenso gut als Keule wie als Hieb- und Stichwaffe einsetzbar und von Soldaten bevorzugt.
J
Johannestalg: Abwehr mittel, das zu einer fettigen, wei chen Masse geknetet wird und für Monsternasen so gut riecht, dass es sie vom Geruch eines Menschen ablenkt. Da der Geruchssinn bei Monstern besonders gut ausgebildet ist und sie Normalmenschen und ihresgleichen am Geruch un terscheiden können, ist es sehr wirkungsvoll, aber auch schwierig, sie auf diese Weise zu täuschen. In Kombination mit anderen Geruchsveränderern kann Johannestalg beste Dienste leisten. Siehe Skripturen.
K
Kaiser: der höchste Herrscher eines Reiches, in unserem Fall des Reiches des Halbkontinents. Das ursprüngliche Kaiserge schlecht stammte von Dido ab, der Reichsgründerin und Ur enkelin Idahos, der sagenumwobenen Heldin und Königin von Attica. Der derzeit herrschende Kaiser ist Scepticus XLV. Haacobin Menanges, der sich bemüht, die Didodume ser und deren Anhänger mit seiner Dynastie zu versöhnen. 403
Kaiserbillion: Name der glänzenden Oscadril-Goldmünze, die jeder als Ansporn erhält, der in den kaiserlichen Dienst tritt und ein Kaiserlicher wird. Diese Art von Bezahlung wird »Rock- und Geleitgeld« genannt und jedem verspro chen, der Soldat oder Essigfahrer auf einem Kampfschiff werden will, sei es im Dienst des Kaisers, eines Stadtstaats oder sogar in einem Söldnerregiment. Die neuen Rekruten sollen davon die Fahrt zu ihrem Einsatzort bezahlen und sich nach ihrem Eintreffen Teile ihrer Ausrüstung kaufen. Eine Billion ist die größte Münzeinheit in der Währung eines Reiches (der Heller ist beispielsweise die Billion in der Währung der Suttlande). Siehe Geld. Kaiserliche Fernstraßen: größere Straßen zwischen Städ ten, die auf Kosten und Initiative des Kaisers unterhalten werden, ursprünglich von Soldaten des Reiches bei der Er schließung neuer Gebiete gebaut. Kaiserliche Post: eine vom Kaiser und seiner Verwaltung unterhaltene Einrichtung zur Beförderung der Post, die hervorragende Arbeit leistet. Im Postverkehr zwischen den Großstädten und ländlichen Zentren, die durch Fernstraßen miteinander verbunden sind, werden fast ausschließlich Postkutschen eingesetzt. Für die Postzustellung abseits der Fernstraßen stellt der Kaiser freundlicherweise Postboten zur Verfügung, die zu Fuß bis in die hintersten Winkel des Reiches vordringen, in denen sich Menschen niedergelas sen haben. Diese Postboten leben gefährlich und verstehen es norma lerweise meisterhaft, Monstern aus dem Weg zu gehen und 404
sich vor ihnen zu schützen. Sie nehmen häufig die Dienste von Skolds in Anspruch und stellen mit raffinierten und gewitzten Methoden sicher, dass die Post immer durch kommt. Gleichwohl ist die Sterblichkeitsrate unter ihnen hoch. Deshalb werden als Postboten bevorzugt Waisen, Herumtreiber und Findlinge eingestellt, die keine Angehö rigen haben, die sie vermissen könnten. Kaiserlicher: jede Person, die dem Reich und somit dem Kaiser dient. Laternenanzünder sind Kaiserliche, da sie im Auftrag des Reiches über die Kaiserlichen Fernstraßen wachen. Kaiserstadt: Hauptstadt des gesamten Reiches. Siehe Clementine. Kampfschiffe: bisweilen auch hochtrabend Nausfustica genannt; die eisenverkleideten, gastrinengetriebenen Kriegsschiffe, die in den meisten Kriegsmarinen des Halb kontinents eingesetzt werden. Mit ihren am Bug angebrach ten, vorspringenden Rammspornen und ihren schwarzen oder braunen, mit speziellen Rostschutzmitteln behandelten Eisenpanzern bieten diese tief im Wasser liegenden Schiffe einen höchst bedrohlichen Anblick. Doch nur die Außen haut ist aus Eisen, dahinter ist alles aus Holz: Balken, Spanten, Planken, Schotten, und alles riecht stark nach Teer, Schwarzpulver und Schweiß. Kampfschiffe werden grundsätzlich in zwei Gruppen unterteilt: in die kleineren, schnelleren und leichter bewaffneten Kreuzer und die gro ßen, schwer bewaffneten, stark gepanzerten und langsame ren Großkampfschiffe. Kreuzer haben nur ein Kanonen 405
deck und niemals mehr als drei Masten. Sie sind die Ar beitspferde der Kriegsmarine und werden meist als Geleit schutzfahrzeuge, Aufklärer oder Nachrichtenschiffe einge setzt. Sie sind die Augen und Ohren der Flotte, schwärmen vom Flottenverband aus und suchen den Feind. Der leich teste Kreuzer ist der Kanonenkuli, gefolgt von der Fregatte und dem Zerstörer, dem größten dieser Klasse. Letzterer hat den größten Rammsporn von allen und kann Monster und Schiffe rammen, ohne selbst Schaden zu nehmen. Zer störer sind mit 14 bis 16 Knoten die schnellsten Kampf schiffe. Der schnellste, der je gebaut wurde, war die Sense. Sie erreichte bei günstigem Wind und mit allen Limbern an der Schraube sagenhafte 18½? Knoten. Fregatten sind mit 13 bis 14 Knoten nur wenig langsamer. Kanonenkulis brin gen es dagegen nur auf etwa 11 Knoten. Großkampfschiffe haben zwei Kanonendecks, wobei die schwersten Kanonen im zweiten oder unteren Kanonendeck stehen. Im Grunde nichts anderes als schwimmende Geschützbatterien, fahren diese Schiffe in Kiellinie, also hintereinander, in die Schlacht. In dieser Formation können sich feindliche Schiffsverbände stundenlang gegenseitig beharken, bis die Entscheidung fällt. Kreuzer gelten als zu klein, um in der Kiellinie einer Schlachtflotte mitzufahren, und patrouillie ren daher hinter ihrem Verband, um seine Flanken zu schützen. Das leichteste Großkampfschiff ist das Schlacht schiff, dessen oberes Kanonendeck nur zwei Drittel der Gesamtlänge des Fahrzeugs einnimmt und das es auf 11½ bis 12 Knoten bringt. Das nächstgrößere ist der Souverän. Er erreicht nicht mehr als 11 Knoten, ist aber der mit Ab stand häufigste Vertreter seiner Klasse und bildet das 406
Rückgrat jeder ernst zu nehmenden Flotte. Das größte Großkampfschiff ist der Hauptsouverän. Er ist so groß, dass er kaum mehr als 8 Knoten schafft und bei Manövern oft auf die Hilfe von Kanonenkulis angewiesen ist. Unter schiedliche Kapitäne setzen ihre Kampfschiffe unterschied lich ein und konzentrieren sich auf eine von drei Grundtak tiken oder eine Kombination davon: ♦ Beharken – ein anderes Schiff aus der Entfernung mit den Kanonen so lange unter Feuer nehmen, bis es die Flagge streicht. Kampfschiffe sinken nur selten, wenn sie beschos sen werden, aber ihre Masten und Aufbauten werden zer stört und ihre Eisenplatten so stark beschädigt, dass größe re Reparaturen nötig sind. ♦ Rammen – erfolgt dann, wenn ein Kampfschiff eine güns tige Position hat, um Schwung zu holen und mit seinem Rammsporn die Außenhaut eines anderen Schiffs zu durchbohren. Das erfolgversprechendste Mittel, ein Schiff zu versenken. ♦ Entern – dabei fährt man nahe an ein Feindschiff heran, schleudert Enterhaken (siehe Lambarden) hinüber und geht längsseits, damit die eigene Mannschaft, mit Piken, Äxten, Säbeln, Donnerbüchsen, Schrecksalzen und Pistolen be waffnet, Fallreeps hinablassen und auf das andere Schiff übersteigen kann. Entern ist die beste Art, ein Schiff, dass man in den Dienst der eigenen Kriegsmarine stellen will, vor Beschädigungen zu bewahren. Jeder Kapitän kann seine Mannschaft so ausbilden, wie er es für richtig hält, doch in jeder Flotte gibt es eine bevor zugte Methode, die vom Flottenkommando empfohlen wird. Staaten, die ihre Kampfschiffe selbst bauen, neigen 407
im Allgemeinen mehr zum Entern, weil sie wissen, wie aufwendig der Bau eines Schiffes ist. Staaten, die ihre Schiffe von anderen Staaten oder privaten Werften kaufen, ziehen es vor, ein Schiff zu versenken, indem sie es ram men oder unter Beschuss nehmen. Interessant ist, dass der Sold eines Kapitäns von der Größe des Schiffs abhängt, das er befehligt. Wird ein Kampfschiff in Dienst gestellt, also offiziell getauft und vom Stapel gelassen, wird es innerhalb kürzester Zeit bemannt und auf See geschickt. Dort bleibt es den Rest seiner Tage. Es kehrt nur von Zeit zu Zeit in seinen Heimathafen zurück und bleibt selten lange. Siehe Fregatten, Kriegsmarine und Anhang 6. Kanonen: Vorderladergeschütze, die gewöhnlich mit einer Treibladung – einer mit Schwarzpulver gefüllten Kartusche aus Stoff oder Papier – und mit Vollkugeln aus Eisen gela den werden. Gezündet wird die Treibladung mittels einer Steinschloss-Vorrichtung oder einer Lunte, die an ein Zündloch gehalten wird. Kanonen werden nach Gewicht unterteilt in Kleinkanonen (3-, 4-, 6- und 9-Pfünder), Langkanonen (12- und 18-Pfünder), Großkanonen (24-, 32- und 42-Pfünder) und Belagerungsgeschütze (50- und 68-Pfünder). Die Zahlen geben das ungefähre Gewicht der Vollkugeln wieder, die mit diesen Kanonen verschossen werden. Die Kanonen selbst sind viel schwerer. Ein 32 Pfünder wiegt beispielsweise zwischen 2 und 2¼ Tonnen und ist bis zu drei Meter lang. Eine typische Kanone ist die sogenannte Feldschlange, die mit einem langen Rohr aus gestattet ist und über eine beachtliche Reichweite verfügt. Daneben gibt es aber auch die Lombarde (nicht zu ver 408
wechseln mit der Lambarde), so benannt nach den Lom bardinern von der Insel Lombardi, die sie erfunden haben. Sie besitzt ein kurzes Rohr, worunter die Treffgenauigkeit leidet, kann dafür aber viel größere Eisenkugeln verschie ßen als eine Feldschlange desselben Gewichts. So könnte eine Lombarde, die ungefähr 2,8 Tonnen, also etwa genau so viel wie eine 32-Pfünder-Feldschlange wiegt, 50 Pfund schwere Kugeln verschießen und wäre folglich ein 50 Pfünder. In der Kreuzerklasse der Kampfschiffe – Fregat ten und Zerstörer – werden Lombarden den Feldschlangen vorgezogen, weil sie diesen kleineren Schiffen zu einer er heblich höheren Feuerkraft verhelfen. Den Verlust an Reichweite machen diese Schiffe durch größere Wendig keit wett. Kanonenkuli: ein mit einer kleinen Geschützbatterie be stückter Kuli. Kasuarinenbaum: mittelgroßer bis großer Baum mit ge radem Stamm und langen nadelartigen Blättern, die bis zum Boden herabhängen und selbst bei leichtem Wind me lodisch säuseln; widerstandsfähiger Baum, der beinahe in jeder Umgebung wächst. Kavalleriestiefel: Stiefel aus Hellschwarz, die normaler weise von Kavalleristen getragen werden und bis zu den Knien reichen. Am oberen Rand des Stiefels ist außen ein mit Gauld gehärteter Lederlappen angebracht, ein soge nannter Knieschoner. Er schützt die Knie, insbesondere wenn sie vom Kavalleristen im Sattel bebeugt werden. Die 409
Absätze von Kavalleriestiefeln haben 2½ bis 5 Zentimeter hohe Absätze, die sich im Steigbügel festhaken und dem Reiter dadurch einen besseren Halt geben. Kavallerist: außerhalb der Städte finden Pferde nur wenig Verwendung, da sie bei Monstern im Allgemeinen als die schmackhaftesten Lasttiere gelten. Der Nutzen der Kaval lerie ist daher begrenzt. Verlegt man eine Kavallerie schwadron über Land, muss man damit rechnen, dass man sie gegen heißhungrige Monster, die nur mit dem Bauch denken, verteidigen muss. Kermesgras: schilfartige Pflanze, die in Sümpfen wächst, bevorzugt in Grusel-Sümpfen. Die Halme werden zu einer strapazierfähigen Faser desselben Namens verarbeitet, die sich hervorragend zum Härten mit Gauld eignet und als Polsterung in Rüstkleidung sehr geschätzt wird. Kettenhemd: Trotz des Aufkommens von Rüstkleidung werden Kettenhemden noch hergestellt und getragen. Sie sind zwar nicht kugelfest wie mit Gauld gehärtete Klei dung, schützen aber sehr wirkungsvoll vor den Klauen und Zähnen eines Bogel. Trägt man darunter zusätzlich Rüst kleidung, ist man bestens geschützt. Kobolder: zählen zu den mächtigsten Monstern, mit men schenähnlichen Leibern und Köpfen verschiedener Tierar ten. In neuerer Zeit wurden sie von Menschen, wenn über haupt, dann nur sehr selten gesehen. Gelten als nahezu un zerstörbar. In alten Texten wird behauptet, dass sie zu den 410
Herren der Monster gehören und dass früher, vor vielen tausend Jahren, Normalmenschen und Kobolder freien Umgang miteinander pflegten. Der wohl bekannteste ist der Herzog von Krähen, ein Kobolder-Fürst, oder Nimuin, der über ein riesiges Waldgebiet namens »Herbst des Schlafes« herrscht. Konkometer: auch Maßnehmer. Eine hochqualifizierte Gruppe pedantischer Forscher und gelehrter Soldaten, die sich der Aufgabe verschrieben haben, von allen Dingen die Länge und Breite zu messen und aufzuschreiben. Nach ei ner fünfjährigen Ausbildung an einem Athenäum, wie ihre Schulen heißen, ziehen sie in die Welt hinaus, ausgestattet mit zwei wertvollen Geschenken, die sie nach der Ab schlussprüfung erhalten. Das erste ist ein Kalibrator, ein Metermaß aus Hartholz mit Maßeinteilung, das an beiden Enden mit einer Messingkappe versehen ist. Konkometer erkennt man daran, dass sie einen Kalibrator bei sich tra gen. Das zweite Geschenk ist das geheimnisvolle Numme rolog, ein großes, fünf bis sieben Zentimeter dickes Buch, in das der Konkometer rätselhafte Formeln und Zifferfol gen schreibt, die nur seinesgleichen verstehen, Aufzeich nungen über all das, was er gesehen, untersucht und ver messen hat. Ist sein Nummerolog voll, gibt er es seinem Athenäum zurück und erhält ein neues zum Vollschreiben. Navigatoren, Landvermesser und Maßnehmer zählen alle zu den Konkometern. Sie geben auch gute Schreiber ab, weil sie beim Schreiben und Lesen auch auf Kleinigkeiten achten. Siehe Anhang 4.
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Körnchenflechter: Schaubild der Reaktionen zwischen den vier Elementen. Siehe auch Anhang 3. Krauler: Seemonster. Siehe unter Monster. Kriegsmarine: Die Staaten des Reiches dürfen – anders als beim stehenden Heer – so große Kriegsmarinen unter halten, wie sie sich leisten können. Und das tun sie auch. Solche Kriegsmarinen nennt man »stehende Flotten«. Sie bestehen in der Hauptsache aus großen, eisenverkleideten Kampfschiffen, die verschiedene Aufgaben wahrnehmen: ♦ Landschutz = Küstenpatrouillen und Sicherung der See grenzen ♦ Handelssicherung = Schutz von Frachtern und derglei chen, oft im Konvoi ♦ Kaperei = Freibeuterei auf der Grundlage von Kaperbrie fen (von der Regierung genehmigte Form der Piraterie) ♦ Seekampf = Einsatz in Kampfverbänden und Geschwa dern ♦ Jagd auf Krauler und andere Seemonster, um sie von den Häfen und Routen der Handelsschifffahrt fernzuhalten ♦ Erkunden, kartografieren und aufklären; im Grunde ge nommen Spionage ♦ Jagd auf Piratenschiffe, deren Eroberung oder Versen kung ♦ Transport von Geld, Edelmetallen und anderen Gütern, die dem Staat oder Reich nützlich sind. Die Kriegsmarinen, die sich selbst als höherer Dienst be zeichnen, sind immer auf der Suche nach neuen Rekruten. 412
Sie werben mit Plakaten, auf denen sie große Verspre chungen machen, feiern berühmte oder heldenhafte Kapi täne, um deren Popularität hochzuhalten, pressen Vaga bunden, Findlinge und Handelsmatrosen zum Dienst, ge ben verurteilten Verbrechern die Möglichkeit, ihre Pritsche in einem der berüchtigten Gefängnisse gegen eine Schiffs koje zu tauschen, werben die Besatzungen von Kampfschif fen anderer Staaten ab, kurzum, sie tun alles, um ihre Schiffe ausreichend zu bemannen. Das Leben in der Kriegsmarine ist hart, und Essigfahrer, die der ätzenden Gischt ausgesetzt sind, die über die Decks ihrer Kampf schiffe schwappt und ihnen die Haut zerfrisst, sterben frü her als Landratten. Doch die Bezahlung ist besser als für eine vergleichbare Arbeit an Land und die Aussicht auf Prisengeld gut. Essigfahrer tragen keine Unformen, aber ihre Schiffe führen verschiedene Flaggen, die ihre Zugehö rigkeit zu einem bestimmten Staat oder Reich erkennen lassen. Die größte Flagge ist der riesige, rechteckige Span darion, der das Mottl und Wappen des Staates zeigt, für den das Schiff fährt. Eine Flotte, die unter voller Beflag gung fährt und deren Flaggen stolz im Wind wehen, bietet einen sehr schönen Anblick. Es gibt auch Flaggen, mit de nen Schiffe geheime Nachrichten austauschen können. Sie werden an Leinen zwischen den Masten gesetzt und erlau ben es beispielsweise einem Kommodore oder Admiral, seinem Geschwader oder seiner Flotte Befehle zu geben. Eine typische Kriegsmarine verfügt über 20 bis 30 Groß kampfschiffe, darunter 3 bis 5 Hauptsouveräne, rund 60 Kreuzer (siehe Anhang 6) und viele Schoner und andere kleine Segler für Überwachungsaufgaben und Nachrich 413
tenübermittlung (Nachrichtenboote). In der Regel unterhal ten die Stadtstaaten mehr Kampfschiffe, als ihre Häfen auf nehmen können. Aus diesem Grund sind immer zwei Drit tel der Schiffe jeder Flotte gleichzeitig auf See. Der Unter halt einer halbwegs anständigen Kriegsmarine verschlingt Unsummen – und mehr Geld, als so mancher Staat in sei nen Kassen hat. Aus diesem Grund betreiben Kriegsmari nen eigene Unternehmen, investieren in andere Firmen und suchen den Leuten, die am meisten von ihrer Arbeit profi tieren, Investoren. All diese Geschäfte werden von Marine agenten abgewickelt, die auf der Suche nach Geld für ihre Organisation in Scharen den gesamten Halbkontinent be reisen. Kuckuckskauz: kleine weiße und braune Eule mit großen schwarzen Augen und einem wohlklingenden Ruf, der an den Klang eines Holzblasinstruments erinnert. Man sagt ihm nach, dass er sich vor Monstern zu Tode ängstigt, des halb ist es immer ein gutes Zeichen, wenn man einen hört. Kuli: kleinster hochseetauglicher Gastriner, der dazu ver wendet wird, größere Schiffe durch den dichten Verkehr eines Hafens zu schleppen. Manche sind mit Kanonen be waffnet und haben die Aufgabe, den Hafen zu bewachen. Sie werden Kanonenkulis genannt. Siehe Kampfschiffe.
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Lahzar(e): in alten Texten bisweilen auch »Lazhar« oder »Luhzar« geschrieben; auch Catharcrithen, Thanatokraten 414
(»Todbringer«) oder Orgulare (»die Hochmütigen«) ge nannt. Niemand weiß es mit Gewissheit, aber man nimmt an, dass sie um HIR 1263 erstmals im Reich auftauchten, rund hundert Jahre vor der Schlacht vor den Toren. Angeb lich gehörten sie zu den Überlebenden eines bis dahin un bekannten Volks aus dem fernen Nordwesten jenseits des Halbkontinents, das sich selbst Katharer nannte. Gerüchten zufolge sollen diese Katharer geflohen sein, als ein oder viele Scheingötter aus dem Meer heraufstiegen und ihr Reich zerstörten. Ein Teil von ihnen siedelte sich im fernen Westen hinter Hamlin und Pechenneg an, ein anderer im Osten, in der kleinen Festungsstadt Sinster. Sie brachten ihr altes chirurgisches Wissen mit, Operationstechniken, die bis dahin auf dem Halbkontinent nur wenigen Eingeweih ten bekannt waren und Clysmosurgia genannt wurden. Die se Techniken bestanden darin, dass man dem menschlichen Körper besondere Organe – sogenannte mimetische Organe – einpflanzte, die man anderen Geschöpfen entnommen, verändert und in Fässern gezüchtet hatte. Einmal in den Körper eingesetzt, verliehen diese Organe ihrem Empfän ger eine beispiellose Macht. So etwa die Fähigkeit, im ei genen Körper tödliche elektrische Ladungen zu erzeugen (siehe Vulgare) oder starke, unsichtbare Energiewellen auszusenden, die Gehirne zerstören konnten. Die Operati onstechniken wurden von den Konservativen bald als »schwarze« Habilisitik abgelehnt und im gesamten Reich verboten. Da die Zufluchtsorte der katharischen Chirurgen aber nicht der kaiserlichen Gerichtsbarkeit unterstanden, setzten sie ihre Arbeit fort. Ein Mensch, der sich einer sol chen Operation unterzieht, wird »umgewandelt«, und nach 415
der Umwandlung ist er ein Lahzar – ein katharisches Wort, das »der (aus dem Grab) zurückgekommen ist« bedeutet und darauf anspielt, dass er sehr lange unter dem Messer gelegen hat. Eine Nebenwirkung dieser falschen Organe ist ein ständiger dumpfer Schmerz, der bisweilen sehr unan genehm werden kann. Wits spüren ihn hinter den Augen und im Kopf, Vulgare in den Armen, Schultern und Ein geweiden. Sogar Narben können einem Lahzar an kalten Tagen Beschwerden verursachen. Ein weiteres Problem ist Auszehrung infolge einer übermäßigen Beanspruchung ih res Immunsystems und Stoffwechsels, wenn sich der Kör per auf die fremden und störenden Organe einstellt; dies kann zu Stimmungsschwankungen oder gar seelischen Stö rungen führen. Lahzare mögen mächtig sein, aber sie sind alles andere als glückliche Menschen. Es dauerte fast ein Dreivierteljahrhundert, ehe man begriff, was für eine wir kungsvolle Waffe diese neuen Lahzare im Kampf gegen die Monster waren. Während dieser Zeit waren sie in kai serlichen Landen geächtet. Nach ihrem Erfolg in der Schlacht vor den Toren, in der sie unter Missachtung der kaiserlichen Gesetze zum Einsatz kamen, wurden sie zäh neknirschend geduldet. Clysmosurgia blieb zwar eine ver botene Disziplin der Habilisitik, doch die Lahzare selbst wurden gesetzlich anerkannt, machten den traditionellen Skolds Konkurrenz und übertrafen sie sogar. Da sie aber so viele fremde Organe in ihrem Körper haben, wird bis heute heftig darüber diskutiert, ob sie nicht eine Art Momunkulus seien. Die Lahzare selbst weisen diesen Gedanken empört als Beleidigung zurück. Doch wegen ihrer häufigen Übel launigkeit und merkwürdigen Arzneitränke werden sie bis 416
heute wie Außenseiter behandelt und gewissermaßen als notwendiges Übel betrachtet. Selbst mit teurer Rüstklei dung können Nicht-Lahzare im Kampf gegen sie kaum be stehen, und das hat ihnen eine gesellschaftliche Stellung verliehen, die nicht am Ende, sondern einfach außerhalb der bestehenden Rangordnung angesiedelt ist. Wegen die ser Sonderstellung gilt es bei modebewussten und gelang weilten jungen Leuten aus dem Adel als schick, Lahzar zu werden, und so mancher reist auf Kosten von Papa und Mama nach Sinster und sucht sich den besten Chirurgen und Umwandler, den er sich leisten kann. Ein durchschnitt lich begabter Chirurg verlangt für eine Clysmosurgia etwa 1200 Heller, der beste rund 3000 Heller. Das Honorar kann im Voraus bezahlt oder später abgestottert werden, wenn der Lahzar als Monsterjäger, Soldat oder Leibwächter Geld verdient. Nach einer Reihe von Gesprächen und Eignungs tests wird ein Interessent entweder abgelehnt oder zur Ope ration zugelassen. Allerdings steht es einer abgelehnten Person frei, sich einen anderen Chirurgen zu suchen. Die Operationen, die aus einem Normalmenschen einen Lahzar machen (ihn umwandeln), dauern mehrere Tage. Der Pati ent liegt die ganze Zeit betäubt und angeschnallt auf dem Operationstisch. Nach der Umwandlung braucht der frisch gebackene Lahzar eine Genesungszeit von einem Monat bis zu einem halben Jahr. In dieser Zeit wird er von den Gehilfen des Chirurgen auf sein neues Leben als Wit oder Vulgär vorbereitet. Es ist normal, dass ein Lahzar von Zeit zu Zeit zur Beobachtung zu seinem Chirurgen zurückkehrt und »Reparaturen« vornehmen lässt – das sind Operatio nen, bei denen man Schäden beseitigt, die durch Krankheit, 417
Organverfall, Krämpfe oder Verwundungen hervorgerufen worden sind. Diese Reparaturen nehmen nur etwa einen Tag in Anspruch, mit einer anschließenden Genesungszeit von höchstens zwei Wochen. Die »Fähigkeiten«, »Fertig keiten« oder »Kräfte«, die die Organe einem Lahzar ver leihen, werden Potenzen genannt. Sie sind es, die einen Lahzar zu einer so wirkungsvollen Waffe im Kampf gegen Monster (und Menschen, versteht sich) machen. Die Stromstöße und Blitze eines Fulgars und die Angriffe eines Wits auf Geist und Verstand sind in ihrer Wirkung durch schlagender und zuverlässiger als die chemischen Mixturen eines Skolds oder Geißlers. Trotzdem werden Lahzare meist nicht als Helden der zivilisierten Welt verehrt, son dern als lästige »Modeerscheinung« betrachtet. Natürlich verlangen Lahzare Geld für ihre Dienste und lassen sich ihre Tüchtigkeit gut bezahlen: …wenn ein Lahzar die Hand erhebt, der Nicker nicht mehr lange lebt. In einem ruhigen Jahr kann ein Lahzar 200 Heller verdie nen, in Spitzenjahren, wenn die Monster sehr aktiv sind, bis zu 500 Heller. Lambarde: große, mit Tauen und Stahlfedern versehene Kriegs- oder Wurfmaschine, mit der harpunenähnliche Ge schosse namens Bastis geschleudert werden können. Die klingenartigen Spitzen dieser Bastis werden normalerweise mit giftigen Skripuren bestrichen, die speziell Monstern schaden. Eine dicke Kette, die an den dicken Stahlarmen befestigt ist, wird mittels einer großen Winde, die mehrere 418
Männer bedienen müssen, aufgerollt. Ist sie ganz aufge rollt, wird sie mit einer Sperr Vorrichtung gesichert, und die Bastis werden in die dafür vorgesehenen Kerben gelegt. Ist alles fertig, wird der Abzug betätigt, und die Bastis flie gen bis zu 300 Meter weit. Lambarden werden von Kampf schiffen meist gegen Krauler und andere Nadderer (See monster) eingesetzt, können aber auch dazu benutzt wer den, Enterhaken auf andere Schiffe zu schleudern, oder dienen als letztes Mittel, wenn die Kugel- und Pulver Vor räte verbraucht sind. Landaulet, das: vierrädrige Kutsche, die gewöhnlich nur von einem Pferd gezogen wird und über zwei Sitzbänke verfügt, die einander gegenüberliegen. Ein Verdeck, das sich von der Mitte aus nach vorn und hinten aufklappen lässt, schützt vor den Unbilden der Witterung. Meist in Städten in Gebrauch, da Pferde dort sicherer sind. Nur Nar ren oder Leute, die fähig und willens sind, ihr treues Zug tier zu verteidigen, wagen sich mit einem Landaulet vor die Stadt. Langschenkel: bis zu den Knien reichende kurze Hosen, häufig mit Gauld gehärtet und extrem strapazierfähig. Werden gern zu Long-Johns getragen und Kniebundhosen vorgezogen, weil sie eindeutig schicker sind. Langweg: sehr alte Straße und Hauptverkehrsverbindung zwischen Winstermill und High Vesting. Im Norden führt er über Winstermill hinaus und durch den Schmollen bis nach Schmollenstolz. Heutzutage wird der südliche Ab schnitt des Langwegs oft dem Wurmweg zugerechnet. Kurz 419
vor High Vesting verbreitert er sich zu einer Allee, die große alte Eichen säumen, deren rotgoldene Laubpracht im Herbst viele Besucher anlockt. Laternenanzünder: im Grunde eine Art Spezialsoldat, meist im Dienst des Reichs, aber auch anderer Staaten. Die Hauptaufgabe des Laternenanzünders besteht darin, am späten Nachmittag und Abend die Algion-Laternen an den Fernstraßen des Reichs zu entzünden und am frühen Mor gen wieder zu löschen. Für einen Soldaten wird er recht gut bezahlt und verdient ungefähr zweiundzwanzig Heller im Jahr. Laternenanzünder-Marschall: ranghöchster Offizier der Laternenanzünder. Der Marschall, unter dem Rosamund dienen wird, ist für den gesamten, von Winstermill nach Worms führenden Wurmweg und die an der Strecke einge setzten Laternenanzünder verantwortlich. Leer(s): auch Perspikrith (»Durchblicker«) oder Kognister genannt; unliebsame Zeitgenossen, die darauf gedrillt sind, Kleinigkeiten zu sehen, die andere übersehen, sich an Ge sichter zu erinnern, Gerüchen und Fährten zu folgen, Leute auszuspionieren, zu beschatten und andere Schnüffeldiens te zu leisten, wobei sie sich eines Sthenicons und Olfakto logen (Riechmaschine) bedienen. Sie träufeln sich über einen Zeitraum von Monaten hinweg besondere Chemika lien in die Augen, die, allgemein unter dem Namen Au genwasser oder Opthasome bekannt, unwiderruflich die Farben ihrer Augen verändern und ihr Sehvermögen dau 420
erhaft verbessern. Das erste Opthasom bereitet das Auge auf die Verwandlung vor und heißt Adparatsom oder adpa ratischer Sirup. Nachdem der angehende Leer im ersten Monat seine Augen jeden Tag eine Stunde lang »gebadet« hat, bringt er einen zweiten damit zu, seine Augen mit ei nem von zwei weiteren Augenwassern zu behandeln: Nimmt er Küpengalle, wird er ein gewöhnlicher Leer mit braunen und gelben Augen, ein sogenannter Sauberer, nimmt er Kognister-Spülung, wird er ein weniger gewöhn licher Falschmensch mit roten und blassblauen Augen. Der ganze Prozess, der die Augen eines Menschen verändert, heißt Adparation, und an den merkwürdig gefärbten Augen kann man einen Leer leicht erkennen. Alle Leers nehmen zudem spezielle Tränke ein, um ihre Leistung bei der tägli chen Arbeit zu verbessern. Ihre Dienste sind sehr gefragt: Säuberer warnen in der Wildnis vor Monstern und anderen drohenden Gefahren und spüren Briganten, Schmuggler und entlaufene Sträflinge auf. Falschmenschen arbeiten in den Städten für die Wohlhabenden und die Regierung, ent larven Lügner und Speichellecker und verhören Verdächti ge. Obwohl sie ihren Körper mit chemischen Mitteln ver ändern, werden sie nicht annähernd so beargwöhnt und verachtet wie Lahzare und nicht als mögliche Momunku lusse infrage gestellt. Lehrlinge: Personen, die unter Anleitung eines Meisters einen Beruf erlernen. Nach vierjähriger Lehrzeit werden sie Gesellen, arbeiten selbständig und sammeln Erfahrung. Nach mindestens weiteren vier Jahren dürfen sie selbst Meister werden und Lehrlinge einstellen. 421
Lentischer Großfrachter: gewaltiges Frachtschiff, das in den Häfen einer entlegenen südlichen Küstenregion na mens Lent beheimatet ist. Liberum Infantis: Tutin-Wort für Buchkind. Limber: kleine Versionen der Gastrine, mit Draht umwi ckelte Holzkästen, die in Gruppen zu zweien oder dreien auf beiden Seiten jeder Gastrine stehen. Sie haben die Aufgabe, die Muskeln ihrer viel größeren Gegenstücke vor der Inbetriebnahme aufzuwärmen und zu lockern. Wird eine Gastrine vorher nicht von einem Limber massiert, kann sie Muskelrisse, Schwellungen und Infektionen be kommen, was einen Leistungsverlust oder sogar den Tod nach sich ziehen kann. Die Limber selbst werden von den Gastrinistenmaaten aufgewärmt. Zu diesem Zweck stecken diese lange Kurbeln in den Limberkasten und setzen damit die darin befindlichen, viel kleineren Antriebswellen, die sogenannten Jungfern, in Bewegung. Haben die Jungfern eine bestimmte Drehzahl erreicht, übernehmen die Lim bermuskeln, durch die Rotationsbewegung schön aufge wärmt, die Arbeit und massieren über verschiedene Ge lenkwellen die Gastrinen. Muss ein Schiff seine Fahrt be schleunigen, können einige oder alle Limber den Gastrinen auch beim Drehen der Antriebswelle helfen. Die Gefahr, dass ein Limber dabei beschädigt wird, ist allerdings groß. Da sie aber viel leichter zu ersetzen und billiger sind, wird dieses Risiko häufig in Kauf genommen. Ein guter Kapitän kann durch den Befehl »Alle Limber auf die Schraube!« einen oder sogar zwei Knoten mehr aus seinem Schiff her ausholen. Das mag uns wenig erscheinen, da aber alle 422
Wasserfahrzeuge des Halbkontinents verhältnismäßig lang sam sind, können ein bis zwei Knoten mehr über Erfolg oder Untergang entscheiden. Siehe auch Kampfschiffe und Gastrinist. Long-Johns: lange Unterhose aus Wolle, die wärmt und schützt, oft mit verstärkten Knien. Sind an den unteren En den Socken angenäht, spricht man von Sock-Johns.
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Madam Operas außerordentliche Marineanstalt für Findelkinder: Von Madam Opera geleitete Marineanstalt. Siehe auch Marineanstalt. Marineanstalt: von der Kriegsmarine unterhaltene Ein richtungen, um den Bedarf an Arbeitskräften zu decken. Die Zöglinge werden so erzogen, dass sie davon träumen, der Marine beizutreten. Maudlin, die: ein Planet und eines der hellsten Lichter am Nachthimmel mit einem deutlichen Stich ins Grüne. Als größter Planet ist sie deutlich als kleine Scheibe zu erken nen. Außerhalb der beleuchteten Städte kann man sogar den größten Maudlin-Mond, Jekyll, sehen, der den Plane ten auf einer rückläufigen Bahn umkreist (also gegen die Bahnrichtung fast aller anderen Planeten und Monde). Maudlin geht spät auf und verkündet durch ihr Erscheinen, dass Mitternacht vorüber ist und der Morgen naht. Wie es heißt, flieht sie vor Faustus, der ihr Nacht für Nacht über 423
das Himmelsgewölbe nachläuft, und gilt daher als Signal stern der Leidenden, Begehrten und Begehrenswerten. Mixtur: jedes Gebräu, dass äußerlich angewendet wird, also nicht geschluckt oder auf andere Weise einverleibt wird, im Gegensatz zu Arzneitränken, die geschluckt wer den müssen, um zu wirken. Allerdings müssen manche Mixturen mit der Haut in Kontakt kommen, damit sich ihre Wirkung entfaltet. Siehe Skripturen. Momunkulus: auch »künstliches Monster«. Jedes Mons ter, das von Menschen, Nekrologen, schwarzen Habilisten und Tierpräparatoren aus Körperteilen echter Monster, Menschen oder Tiere sowie unbelebten Gegenständen er zeugt wird. Gewöhnlich besonders bösartige Kreaturen. Wiedergänger sind Momunkulusse, aber auch Bolbogis wie der Slothog. Manche behaupten, dass auch Lahzare Momunkulusse seien. Monate: Auf dem Halbkontinent besteht ein Jahr aus 16 Monaten, von denen die meisten 23Tage und drei nur 22 Tage haben. Daraus folgt, dass jede Jahreszeit vier Monate dauert. Die Sommermonate sind: Calor (22Tage), Estor (23), Prior (23) und Lux (23). Herbst: Pilium (23), Cachrys (23), Lirium (23) und Pulchrys (23). Winter: Brumis (22), Pulvis (23), Heimio (23) und Herse (23). Frühling: Orio (23), Unxis (23), Icteris (23) und Narcis (22). Das Jahr en dete stets mit einem Extratag, dem Letztwach, dem letzten Tag des Jahres. Das bedeutet, dass ein bestimmtes Datum immer auf denselben Tag fällt, jahraus, jahrein. Bauern, Fischern und anderen Berufsgruppen, deren Tätigkeit stark 424
von den Jahreszeiten und Mondphasen abhängt, sagt dieser Kalender sehr zu: Seine Vorhersehbarkeit macht ihnen das Leben ein klein wenig leichter. Siehe Wochentage und An hang 1. Monitore: auf Flüssen fahrende Kriegsschiffe mit jeweils 24 bis 32 Kanonen auf jeder Breitseite, die wie die hoch seetüchtigen Kampfschiffe über ein geschlossenes Ge schützdeck verfügen, aber nicht so tief im Wasser liegen. Sie sind eisenverkleidet und werden von Gastrinen ange trieben. Der schwere Kiel ist stark verkleinert, und der deutlich geringere Tiefgang ermöglicht es ihnen, seichtere Flüsse und Küstengewässer zu befahren. In stürmischer See sind sie schwer zu handhaben, was sie freilich nicht daran hindert, in Küstennähe zu patrouillieren. Aufgrund ihres geringen Tiefgangs können sie mit ihren Kanonen bedrohlich nahe an die Küste heranfahren. Monster: auch als Nicker, Bogel, Biester, Ungeheuer, Krauler, Nadderer und unter vielen anderen Namen be kannt; jedes Geschöpf, das weder als Mensch noch als sprachloses Tier gilt. Man unterscheidet grundsätzlich zwei Gruppen: ♦ Inkolide: die natürlichen, eigentlichen Monster, die als Naturkräfte verstanden werden, als physischer Ausdruck einer Natur, die sich zur Wehr setzt. ♦ Homonkulide: vom Menschen erschaffene Monster (Mo munkulusse), die als widernatürlich angesehen werden, mit Sicherheit von den Monstern selbst, aber auch von den meisten Menschen. 425
Monster unterscheiden sich von Menschen in der Regel durch ihr sonderbares Aussehen, ihre gekrümmte Haltung und ihren unproportionierten Körper (aus menschlicher Sicht, versteht sich). Außerdem besitzen sie Krallen, Fang zähne und Stacheln und verspüren den Drang, Menschen zu töten. Was Monster von den Tieren unterscheidet, die auf dieser Erde wandeln, ist schwerer zu sagen, obwohl sich die meisten Gelehrten des Halbkontinents darin einig sind, dass ihr klares vernünftiges Denken und ihre Fähig keit zu sprechen (selbst das primitive Grunzen des dümms ten Ettin) den wichtigsten Unterschied ausmachen. Was die Nicker (Landmonster) angeht, so sieht man ein weiteres gemeinsames Unterscheidungsmerkmal darin, dass die meisten auf zwei Beinen gehen und zwei (oder mehr) Ar me haben. Aber beileibe nicht alle. Was die Nadderer (o der Seemonster) angeht, so unterscheiden sie sich im All gemeinen durch ihre Geschicklichkeit, Schlauheit und ihre enorme Größe von den Fischen, Haien und Walen. Niemand weiß, woher die Monster kamen. Man weiß nur, dass die Menschheit seit den Anfängen der Überlieferung Krieg mit ihnen führt – den sogenannten Immerkrieg, Hy adthningarvig oder Luctamens Immensum –, und nicht nur auf dem Halbkontinent, sondern überall auf der Welt. Da die Menschen versuchen, ihren Herrschaftsbereich immer weiter auszudehnen, leisten ihnen die Monster Widerstand, indem sie sie belästigen und berauben. Doch wo der Mensch die Oberhand gewonnen hat, lässt es sich für Monster schlecht leben, und je mehr Menschen an einem Ort leben, desto weniger Monster wird man dort finden, obwohl es immer ein paar gibt. Aus diesem Grund sind 426
Städte die sichersten Wohnstätten für Normalmenschen, und von dort aus führen sie ihren Krieg. Gerüchten zufolge soll es Reiche geben, die mit den Monstern in gutem Ein vernehmen stehen, aber für die Bewohner des Halbkonti nents ist das unvorstellbar: So etwas wäre nur schändlichen Sedornern (Monsterfreunden) zuzutrauen und ein Verbre chen gegen die Menschheit. Niemand weiß mit Gewissheit, woher die Monster kommen. Alten Geschichtsbüchern zu folge soll es etliche – Kobolder, die Scheingötter, viele Nuglungs und Krauler – schon vor den Menschen gegeben haben, weshalb man sie Primmlinge (»die Ersten«) nennt. Doch auf der anderen Seite ist auch bekannt, dass immer neue Monster auftauchen, die nach dieser prähistorischen Zeit entstanden sind. Theorien, die sich mit ihrer Herkunft beschäftigen, gibt es zuhauf. Die wahrscheinlich unge wöhnlichste findet sich im Vadechemica, in dem behauptet wird, dass sie aus Schlamm geformt und durch Grusel und Sonnen wärme fruchtbar gemacht wurden. Habilisten nen nen diesen warmen Grusel-Schlamm »Gravidia Lutumi« (»trächtiger Schlamm«) und nehmen an, dass, je grusliger ein Ort ist und je mehr Schlamm es dort gibt, desto größer die Wahrscheinlichkeit ist, dass er Monster hervorbringen kann. Der ganze Vorgang ist unter dem Begriff Urzeugung bekannt, und Monster, die auf diese Weise entstehen, wer den Sprösslinge genannt. Siehe Nuglung, Glamgorn, Ni cker, Krauler, Bogel und Momunkulus. Monster Blood Tattoo: auch Cruorpunxis. Tattoos, die sich jemand machen lässt, der gerade ein Monster getötet hat, und bei denen das Blut dieses Monsters als Farbstoff 427
verwendet wird. Einmal in die Haut gestochen, reagiert das Monsterblut heftig mit Normalmenschenblut und verur sacht eine rasch eiternde, schmerzhafte Entzündung. Löst sich der Schorf nach einiger Zeit ab, kommt darunter ein dauerhaftes, portwein- bis blutrotes Zeichen zum Vor schein. Gewöhnlich stellen diese Tattoos das stark verein fachte Gesicht des Monsters dar, das die Person getötet hat. Leute, die das Anfertigen von Monster Blood Tattoos und Berufszeichen zu ihrem Beruf erkoren haben, nennt man Punktografen. Die besten Punktografen, also diejenigen, denen die eindrucksvollsten Bilder gelingen und die dem Kunden die wenigsten Schmerzen bereiten, verdienen so viel, dass sie ein angenehmes Leben führen können. Ein passables Cruorpunxis von 5x5 Zentimetern kostet um die zwei Heller. Am ehesten findet man Punktografen in den belebten ländlichen Ortschaften, in deren Umland es viele Monster gibt, oder in Großstädten, in denen Wohlstand und Mode die Nachfrage hochhalten. Monsterblut (Cruor oder bisweilen auch Ichor genannt) gerinnt erst nach etwas mehr als einem Tag und kann also so lange verwendet werden. Lichtgeschützt und kühl aufbewahrt, hält es mindestens drei Tage. Das verschafft dem siegreichen Pugnator etwas Zeit, das Blut des von ihm getöteten Monsters in eine Fla sche zu füllen und in die nächste größere Stadt zu eilen, um sich ein Tattoo machen zu lassen. Monsterfreund: Für Monster freundschaftliche Gefühle zu hegen, gilt als schändliches Verbrechen. Siehe Sedor ner.
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Monsterjäger: Menschen, deren Aufgabe es ist, das Reich der Menschen gegen das Reich der Monster zu verteidigen. Siehe Teratologen. Mortar: Stadtteil von Boschenberg, der für seine Rüstklei dung berühmt ist.
N
Nadderer: allgemeine Bezeichnung für Monster, die im Wasser leben (Landmonster nennt man gewöhnlich Ni cker). Nicker: allgemeine Bezeichnung für alle Monster, die an Land leben (Seemonster nennt man gewöhnlich Nadderer), und im engeren Sinn für jene Monster, die so groß wie ein Mensch oder größer sind. Nimbelschrud: besonders unangenehme Glamgorn-Art, die gern in Banden auftritt. Wie viele andere Glamgorns ziehen Nimbelschruds gerne Menschenkleider an und trei ben Unfug, wo und wann immer sie können. Was ein Nim belschrud unter Unfug versteht, geht allerdings weit über einfache Streiche hinaus. Am liebsten macht er Normal menschen das Leben schwer und tötet sie sogar. Normalmenschen: gewöhnliche Menschen, keine Mons ter. Dazu gehören auch zum Beispiel Skolds oder Leers, nicht aber jene, die an ihrer körperlichen Beschaffenheit irgendwelche Veränderungen haben vornehmen lassen, also Lahzare. 429
Nullarom: eine Gruppe von Mixturen, deren Zweck darin besteht, bestimmte Gerüche zu verbergen oder vorzutäu schen und fremde Nasen zu verwirren. Am häufigsten wer den sie dazu benutzt, den typischen Geruch einer Person zu überdecken, damit sie von Monstern unbemerkt bleibt. Verwendet man sie zusammen mit Johannestalg, hat man beste Chancen, Verfolger abzuschütteln und mit dem Le ben davonzukommen. Nuglung: kleine, aber sehr kräftige Bogelart, oft mit einem merkwürdigen, tierähnlichen Kopf. Es heißt, dass Nuglungs den Koboldern, den Monsterfürsten, als Boten und Spione dienen und häufig dabei ertappt werden, wie sie um Menschen her umschleichen und auskundschaften, was sie tun. Sie sind bekannt dafür, dass sie schwer zu tö ten sind, obwohl die meisten Mixturen bei ihnen ebenso gut wirken wie bei anderen Monstern. Die schlimmsten, ge walttätigsten und grausamsten Nuglungs sind die soge nannten Pernixis. Siehe Monster.
O
Orangensaft: Wir mögen Orangensaft für ein alltägliches Getränk halten, doch für die arme Landbevölkerung des Halbkontinents ist er ein seltener und daher ganz besonde rer Genuss. Der Anbau exotischer Früchte kann sich, ge linde ausgedrückt, schwierig gestalten, da Obstplantagen Monster anlocken. Deshalb sind diese Früchte so teuer, dass sie für weniger gut Betuchte unerschwinglich sind.
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Oscadril: auch Oscar oder Eule. Die größte, teilweise aus Gold geprägte Münze im Reich, deren Wert 1½ Hellern entspricht. Die Vorderseite zeigt ein Relief der Klugen Eu le (das Symbol der Münzanstalt von Clementine), die Rückseite eine oder zwei von einer Schärpe umwundene Säulen (ein Symbol des Reiches selbst). Wirft man zum Losen eine Münze hoch, sagt man gewöhnlich: »Was nimmst du – Säule oder Eule?« Verschiedene Kaiser haben im Lauf der Jahrhunderte immer wieder versucht, den Os car überall in ihrem Herrschaftsgebiet als Standardwährung durchzusetzen. Doch allen Bemühungen zum Trotz ist der Heller die Handelswährung und somit die gebräuchlichste Münze geblieben.
P
Papiergeld: auch Faltgeld genannt. Geldscheine, die man auf einer Bank oder von einem regionalen Herrscher gegen Münzen des entsprechenden Wertes käuflich erwerben kann und auf denen dieser Wert vermerkt ist. Leichter und handlicher als Münzen, allerdings auch um einiges emp findlicher. Peregrinat: strapazierfähiges und sogar wasserfestes Handbuch für Wanderer und andere Reisende. Phöbius: der gebräuchlichste Name für den Mond, das be herrschende Gestirn am Nachthimmel. Physikus: andere Bezeichnung für Arzt.
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Pike, Mister: Bootsmann auf der Hogshead. Ein sehr stil ler und gehorsamer Zeitgenosse, der die ihm unterstellte Mannschaft jedoch gut im Griff hat. Pinsum, Master: buchgelehrter Mitarbeiter in Madam O peras Findlingsheim und Lehrer für Allgemeinkunde, Habi listik und Sachkunde. Er ist nie zur See gefahren und hat die Essigmeere nie gesehen, sondern war ein unbedeuten der Schauspieler, bis ihn eine schwere Lumbago (chroni sche Muskelschmerzen in den Beinen) zwang, seinen Be ruf, bei dem er viel stehen musste, an den Nagel zu hängen. Er bewarb sich auf eine Stellenanzeige, die Madam Opera aufgegeben hatte, und übernahm den Posten im Findlings heim, als Rosamund noch ein Baby war. Er unterrichtet auch Schreibkunde. Plaudamentum: Siehe Cathar-Sirup. Poeme: einstmals eleganter Vorort von Boschenberg, der heute von Fabriken und Warenhäusern geprägt ist. Er be herbergt auch Madam Operas außerordentliche Marinean stalt für Findelkinder, ist heute aber für gar nichts mehr berühmt. Pontonpromenade: Hauptstraße in High Vesting, die pa rallel zur Küste verläuft. Da sie sauber ist und an einen prächtigen Platz grenzt, ist sie bei führenden Unternehmen und Handelsfirmen eine begehrte Adresse. Pontus Nubia: das »Schwarze Meer«, dessen ätzendes Wasser buchstäblich schwarz wie Tinte ist. 432
Poundinch, Flusskapitän: Kommandant der Hogshead, der auch auf den Namen Flusskapitän Vigilus hört. Er hat mit vielen Schiffen die Essigmeere befahren und dabei eine Menge Erfahrung gesammelt, was das Verhalten und Tem perament von Menschen wie auch von Schiffen angeht. Präline: eigentlich Lady Präline, jüngere Schwester Verli nes. Dank ihrer Schönheit, die in der näheren Umgebung berühmt war, konnte sie weit über ihrem Stand heiraten, zum Leidwesen beider Familien. Seine Eltern halten sie für einen habgierigen Emporkömmling. Ihre Eltern (die mitt lerweile verstorben sind) fanden, sie sei hochnäsig und grö ßenwahnsinnig geworden. Ihre Schwester ist einfach nur froh, dass ihr Ehemann sie gut behandelt. Prisengeld; auch Prise: Was wir heute »Leistungsprämie« nennen würden. Prisengeld erhält man normalerweise für die Eroberung eines Kampfschiffs, eines Frachters, eines Küstenorts oder einer Stadt. Aber auch für die Gefangen nahme einer Person, für die Lösegeld gefordert werden kann, oder die nachweisliche Tötung eines Seemonsters (je größer, desto höher die Belohnung). Prisengeld soll zu hel denhaften Taten anspornen und wird von der Regierung an die gesamte Mannschaft eines Kampfschiffs ausgezahlt, wobei sich die Höhe nach der vollbrachten Tat richtet. Al lerdings ist die Verteilung sehr ungleich. Während der Ka pitän den Löwenanteil erhält, springt für einen Kajütenjun gen oder einen Schiffsjungen kaum mehr als ein zusätzli cher Tagesverdienst heraus. Tatsächlich hängt die Summe von der Qualität der Eroberung oder des Fangs ab. Gele gentlich geht einer Mannschaft ein so dicker Fisch ins Netz 433
– etwa eine Schatzschiffflotte auf dem Weg nach Turke manien –, dass sich jeder Einzelne von seinem Prisengeld zur Ruhe setzen kann. Die kleineren Kampfschiffe – Fre gatten und Zerstörer (siehe Anhang 6) – sind in dieser Hin sicht aktiver, und ihre Mannschaften können im Schnitt mit einer Verdopplung ihres Jahresverdiensts durch Prisengel der rechnen. Die Essigfahrer der größeren Kampfschiffe – Schlachtschiff, Souverän und Hauptsouverän (siehe An hang 6) – erhalten noch einmal etwa die Hälfte ihres Jah ressolds an Prisengeld. Gegen eine Gebühr erledigen Pri senagenten die lästigen Formalitäten und sorgen dafür, dass die Mannschaft ihr Prisengeld auch wirklich bekommt. Marineoffiziere haben das ganze Jahr hindurch mit ihnen zu tun. Prisengeld erhalten auch Nichtseeleute, die ein Monster getötet oder einen Kriminellen gefasst haben. Pugnator: ein gebräuchlicher und – wie manche finden – vulgärer Ausdruck für Monsterjäger. Siehe Teratologe.
Q
Quarto: jede Abteilung von Soldaten, die deutlich kleiner ist als ein Zug, der in der Regel aus ungefähr dreißig Mann besteht. Normalerweise umfasst ein Quarto zehn Mann.
R
Rapunzel: Cromster mit 16 Kanonen, der Flusskapitän Poundinch gehört.
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Reagenzien: alle Zutaten, die für Mixturen und Arznei tränke verwendet werden; auch Teile genannt. Reich, das: auch Haacobiner-Reich, Altes Reich, Beneve netisches Reich oder Reich der Stadtstaaten genannt. Unter der Herrschaft der Skeptiker-Dynastie hatte es das Skepti sche Reich geheißen. Das Herrschaftsgebiet der gegenwär tigen Dynastie der Haacobiner gliedert sich in drei Teile (pars regia magna). Das im Norden gelegene Seat umfasst neben der kaiserlichen Hauptstadt Clementine die Westlan de Stipula, die Landwirtschaftsregion Leven und das Tafel land, das sich am Südwall des Würtemgrabens hinzieht. Im Osten liegt Verid Litus, bestehend aus dem alten Erbland Orprimine an der Küste und der Bergbauregion Sink. Im Süden liegen die Suttlande, die sich von Catalain und dem Westrand des Ichorbruchs über Hergoatenbosch und Thisterland bis nach Patricine und Lent und tief ins Lan desinnere bis Maine erstrecken und am Nordrand der Wild lande enden, die unter dem Namen Dusthumlinde (die Dusthumes) bekannt sind. Diese Gebiete sind in Stadtstaa ten aufgeteilt, deren Grenzen im Henoticon festgelegt sind, einer Urkunde über die Landaufteilung, die HIR 1011 von Kaiserin Quintinia Excrutia Scepticus vorgenommen wur de. Trotz zahlreicher nachträglicher Änderungen gilt dieses Dokument bis heute als die Rechtsgrundlage für alle Gren zen und Grenzrechte, auf die sich Staaten immer wieder berufen, wenn sie um begehrte Gebiete und deren Reich tümer streiten. Das Original des Henoticons wird in den Kellergewölben des Quintessentums (des kaiserlichen Ar chivs in Clementine) aufbewahrt. Die Herrschaft in den zahlreichen eroberten Gebieten wird mit Hilfe der Unter 435
hauptstädte ausgeübt. Das sind große Städte, die von den Haacobinern gebaut wurden, um aufsässige Untertanen, die von Clementine sehr weit entfernt leben, besser im Au ge behalten zu können. In den Suttlanden sind dies Consi dine und Serenine. In Verid Litus ist es Campaline. Diese Prunkstädte sind touristische Anziehungspunkte, die Gäste aus aller Herren Länder anlocken. Rhombus, der: Ausbildungsstätte für Apotheker, Skolds und andere Habilisten. Rose von Brandenbrass: Name, unter dem Europa in weiten Teilen der Suttlande, den weiten Gebieten im Süden des Reiches bekannt ist. Er verdankt sich dem Umstand, dass sie häufig in Brandenbrass Station macht, was zu der irrtümlichen Annahme geführt hat, sie sei dort geboren. Rotmoderlinge: Speisepilz aus der Familie der Moderlin ge. Nicht alle Moderlinge sind genießbar, und manche sind sogar ausgesprochen giftig. Zu den großen Vorzügen der Rotmoderlinge zählt ihre lange Haltbarkeit. Außerdem be kommen sie keine Druckstellen, sind leicht verdaulich und sehr bekömmlich. Rüstkleidung: jede Form von Kleidung, die mit Gauld hieb-, stich- und kugelfest gemacht worden ist. Ruhtag: fünfter Tag der Woche, an dem in der Regel nicht gearbeitet wird. Siehe Wochentage.
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S
Säbel: auch Flottensäbel. Schwach gekrümmte Hiebwaffe mit schmaler, aber schwerer Klinge, die bevorzugt bei den Kriegsmarinen des Halbkontinents Verwendung findet; nicht zu verwechseln mit dem Infanteriesäbel, der eigent lich ein Schwert ist und eine gerade Klinge hat. Sachkunde: das Schulfach, das wir »Geografie« nennen würden. Säuberer: besondere Art von Leer. Scheingötter: gewaltige, mehrere hundert Fuß große Monster, die sich nur alle paar tausend Jahre oder noch sel tener zeigen und angeblich auf dem Grund der Essigmeere leben. Man sagt ihnen nach, dass sie die Gedanken der Menschen kontrollieren können. Außerdem sollen sie unter den Normalmenschen geheime verschwörerische Sekten haben, die sie anbeten und verehren und mit Hilfe alter Wissenschaften versuchen, sie aus den Tiefen des Meeres heraufzulocken. Der Kaiser und seine Regenten haben Spezialagenten, deren einzige Aufgabe darin besteht, diese Sekten ausfindig zu machen und zu zerschlagen, denn je des Mal, wenn ein Scheingott aus den Tiefen des Meeres emporstiegen ist, hat dies den Untergang der Zivilisation bedeutet, und die Geschichte hat gelehrt, dass nur die Ko bolder und ihresgleichen sie ins Meer zurücktreiben … und es ist lange her, dass jemand mit einem Kobolder zu tun hatte.
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Schiffer: Männer, die im Gegensatz zu den Essigfahrern, die auf Kampfschiffen und Frachtern beschäftigt sind und die Meere befahren, auf Fluss- oder Kanalbooten arbeiten. Essigfahrer blicken auf Schiffer herab, da sind in ihren Augen keine ausgebildeten Seeleute sind. Sehr zum Ärger der Schiffer, für die ein Boot wie das andere ist und so ge handhabt werden muss, dass es gut im Wasser liegt, gleich in welchem Gewässer. Schilling: kleinste Münze in den Suttlanden, aus Bronze geprägt. 320 Schilling entsprechen im Wert 1 Heller und 80 Schilling einem Oscadril. Wird durch ein »s« darge stellt. Siehe Geld. Schlacht vor den Toren: Sie gilt als die größte Schlacht des gegenwärtigen Zeitalters und wurde HIR 1395 (dem letzten Jahr der Skeptischen Dynastie) zwischen den Ar meen des Reiches, der Suttland-Staaten und der Turkeman nen ausgetragen. Die Schlacht bildet Teil einer Epoche, die man als Dissolutia bezeichnet, einer Epoche, in der eine Dynastie stürzt und durch eine andere ersetzt wird. Zur damaligen Zeit hatten die südlichen Stadtstaaten, die Sutt lande, so große Macht und Unabhängigkeit erlangt, dass sie sich zum »Stolzen Bund« zusammenschlossen und den Kaiser, Moribund Scepticus III. um mehr Mitsprache bei der Führung des Reiches ersuchten. Als diese Bitte abge lehnt wurde, beschlossen sie, eine große Armee aufzustel len, durch gefährliches Land nach Norden zu marschieren und den alten Widerling zum Nachgeben zu zwingen. Mo ribund Scepticus III. bekam Wind von der Sache, wusste aber, dass er mit seiner Armee, obwohl 80000 Mann stark 438
und kampferprobt, gegen das Heer des Bundes, das mehre re hunderttausend Bürger Soldaten und Söldner umfasste, nicht bestehen konnte. Also rief er, als die Bündischen zu ihrer großen Unternehmung auszogen, den Einzigen zu Hilfe, der stark genug war, ihm zu helfen, nämlich seinen großen Widersacher, den Püschtan, Oberhaupt der Omdür und Kaiser der Turkemannen. Der turkemannische Kaiser ließ sich von seinem ängstlichen Cousin nicht zweimal bit ten und setzte eilends eine große Streitmacht in Marsch, die praktischerweise an der Nordgrenze der Wildlande statio niert war, die beide Mächte trennte. Sie traf rechtzeitig vor der Armee des Bundes ein. Dankbar und erleichtert öffne ten die verängstigten Bewohner von Clementine die Tore der großen Brücken, die über den Würtemgraben führten, und ließen die Turkemannen herüber. Für den Püschtan war es ein großer Tag, denn nie zuvor hatte eine turkeman nische Armee den Würtemgraben überwunden, und nun wurde er sogar eingeladen wie viele andere Gäste. Kaum hatten seine Soldaten die Brücken passiert (was wegen der Größe seiner Streitmacht einen ganzen Tag dauerte), stürmten sie die äußeren Mauern und Bezirke von Clemen tine und nahmen die mittlere und die innere Stadt unter Be lagerung. In den Vororten und entlang den Mauern tobten die ganze Nacht Kämpfe, und die turkemannische Infante rie drängte die Eliteregimenter des Kaisers mit Hilfe ihrer furchterregenden Bolbogis – eigens für den Krieg gezüch teter Monster – Straße um Straße zurück. Moribund Scep ticus III. war hintergangen worden. Dutzende Herolde wurden dem heranrückenden Heer der Bündischen entge gengeschickt, doch nur drei kamen durch und berichteten 439
von der Bedrängnis des Kaisers und seiner drohenden Nie derlage durch die verhassten Turkemannen. Was als Erobe rungsfeldzug begonnen hatte, wurde für die Bündischen nun zu einer heiligen Mission. Es galt, die Kaiserstadt zu retten und alles, was ihnen teuer war. Sie marschierten die ganze Nacht durch und legten, ohne auszuruhen, die letzten Meilen zurück. Der Himmel war grau und düster, als sich am Nachmittag des folgenden Tages die ersten Bataillone in Schlachtordnung aufstellten, um das Heer der Turke mannen im Rücken anzugreifen. Da Clementine vollstän dig eingeschlossen war, konnten die siegessicheren Mar schälle des Püschtans ihr Augenmerk nun darauf richten, sich gegen die anrückenden Bündischen zu verteidigen. Zusammen mit seiner Familie und seinem Gefolge beo bachtete Moribund Scepticus III. vom höchsten Minarett aus, wie sich die beiden großen Armeen auf den Feldern vor Clementines berühmten Toren gegenüberstanden. Über die Größe des Bundheeres war er ebenso überrascht wie die turkemannischen Marschälle. Fast eine halbe Million Soldaten aus den stolzen Suttlanden waren aufmarschiert, und noch bevor ihre langen Marschkolonnen auf dem Schlachtfeld eingetroffen hatten, bliesen ihre Marschälle zum Angriff. Die mächtigen Geschützbatterien der Turke mannen donnerten und brachten Hunderten Bündischen den Tod. Dann rückten unter lautem Gebrüll die furchter regenden Bolbogis vor. Ihre Bändiger konnten sie nur mit Mühe im Zaum halten, und das Musketen- und Geschütz feuer der Bündischen vermochte nur sehr wenige zu stop pen. Hinter diesen Momunkulus-Monstern marschierte stolz die turkemannische Infanterie – die schwer gepanzer 440
ten Ghirki und die mit Musketen bewaffneten Infanti. Ih nen gegenüber standen 200000 Haubertiere und Troubar diere, hunderte Skolds und Geißler, und dazu eine Gruppe Lahzare, die erst kürzlich in der Gesellschaft aufgetaucht waren und zum ersten Mal an einem Krieg teilnahmen. Überall dort, wo sich den turkemannischen Bolbogis kein Geißler oder Lahzar in den Weg stellte, gewannen sie die Oberhand und vernichteten ganze Bataillone. Wo immer aber sie auf eine Gruppe von Geißlern oder einen einzelnen Lahzar trafen, fanden sie den Tod. Entsetzt und verblüfft beobachtete der Kaiser, wie die ersten tödlichen Blitze, von den Vulgaren beschworen, vom Himmel zuckten und je dermann erschreckten bis auf die Vulgare selbst. Und ob wohl der Skold Haroldus als der große Held dieser Schlacht gilt, waren es diese Neulinge, die Vulgare, die den Bolbogis den Garaus machten, während die Wits mit ihren Energiestößen ganze Kompanien der Turkemannen außer Gefecht setzten. Die Schlacht zwischen den beiden Heeren war noch voll im Gang, als die überlebenden Kämpfer des Kaisers, die sich bis jetzt herausgehalten hatten, mit Ha roldus an der Spitze aus den Ausfalltoren stürmten, über die Belagerer herfielen und die rechte Flanke des turke mannischen Heeres angriffen. Obwohl von zwei Seiten be drängt, kämpften die Turkemannen tapfer weiter. Ihr mäch tigster Bolbogi, der Slothog, lebte noch. Mit jedem Hieb zerschmetterte er hundert Mann, und die Reihen der Bün dischen gerieten ins Wanken. Die Geißler und die Skolds waren alle gefallen, und die wenigen Lahzare, die noch lebten, waren nicht annähernd genug. Die rechte Flanke und das Zentrum des Bundesheeres drängten den Feind 441
zwar immer weiter zurück, aber seine linke Flanke stand kurz vor dem Zusammenbruch. In diesem Augenblick, ge rade zum richtigen Zeitpunkt, griffen Haroldus und die Eli tetruppen Clementines ein, rollten die rechte Flanke der Turkemannen auf und vernichteten sie. Nach der Legende trat der »große Skold« dem Slothog allein entgegen, doch in Wahrheit wurde er von den tapferen Bataillonen Cle mentines und des Bundes unterstützt. In einem schauerli chen Kampf tötete Haroldus den Slothog. Zwar verlor er dabei selbst das Leben, doch die Tat war vollbracht. Mit frischem Mut stürmten die Bündischen vorwärts, und die Turkemannen, ihres letzten Trumpfs beraubt, flohen Hals über Kopf in die Schlucht des Würtemgrabens oder in die Wildlande rings um die Hauptstadt. Nur die wenigsten sa hen ihre Heimat oder ihre Liebsten wieder. Der Kaiser hat te gesiegt – oder doch nicht? Noch war die ursprüngliche Ordnung nicht wiederhergestellt, noch waren die Forde rungen des Bundes nicht erfüllt. Nach Rücksprache mit ihren Ministern boten die Marschälle der Bündischen dem Kaiser Verhandlungen an. Einzige Vorbedingung: Er sollte sie bis zu Ende anhören. Moribund Scepticus III. hätte sich und seine Dynastie retten können. Er hätte nur einen Teil der Macht abzutreten brauchen und wäre auf den Drei Thronen geblieben. Denn gleich welche Reformen der stol ze Bund durchsetzte, das Reich würde auf jeden Fall fort bestehen. Doch im Hochgefühl des ersten Sieges glaubte Moribund zu sehen, dass seine Soldaten noch frisch, die der Bündischen aber erschöpft und am Ende waren, und so blieb er stur. Er wollte nicht das Schoßhündchen der Staa ten werden und sich von ihren Launen abhängig machen. 442
Er war der Kaiser und höchste Herrscher, wie es seine Vor fahren vor ihm gewesen waren. Er befahl seinen Truppen anzugreifen, ließ die Tore schließen und nahm, sich in scheinbarer Sicherheit wiegend, ein Bad. Dank dem Über raschungseffekt gewann die kaiserliche Armee vorüberge hend die Oberhand und drängte den Gegner zurück, doch dann griffen die Reserven der Bündischen, darunter 20 Ba taillone Troubardiere, ins Kampfgeschehen ein. Unter Trommelwirbeln und Schlachtrufen rollte Angriffswelle um Angriffswelle gegen die feindlichen Linien. Schließ lich, mit ihren Kräften am Ende, kapitulierten die kaiserli chen Marschälle, und ihr gesamtes Heer, immerhin noch 40000 Mann, wurde gefangen genommen. Aber sie blieben nicht lange gefangen. Tags darauf erschien ohne Wissen des Kaisers eine Abordnung vor den Zelten der bündischen Befehlshaber. Ihr gehörten viele unzufriedene und eifer süchtige Minister und Adlige an, die eine unheilige Allianz gegen ihren kaiserlichen Herrn gebildet hatten, entweder weil sie Moribunds Unredlichkeit und Schwäche leid wa ren oder weil sie um der Macht willen alleine regieren wollten. Sie hörten sich die Beschwerden ihrer Kollegen aus dem Süden an und unterbreiteten ihnen einen Vor schlag: Wenn sie, die Bündischen, ihre Sache und ihren Kandidaten für eine neue Dynastie unterstützten, werde der neue Kaiser, sowie er im Amt sei, dafür sorgen, dass ihren Wünschen entsprochen werde. Und bis es so weit sei, soll ten die Truppen aus dem Süden zum Schutz der Stadt und des neuen Kaisers in Clementine bleiben. Im Glauben, er werde von allen seinen Untertanen geliebt, und von der unerschütterlichen Treue seiner Minister überzeugt, saß 443
Moribund Scepticus III. unterdessen in seinem Palast im Innern der Stadt und vertraute auf die Uneinnehmbarkeit der alten Mauern von Clementine. Doch noch in derselben Nacht wurden die Emporkömmlinge aus dem Süden kampflos in die Stadt gelassen. Moribund wurde von Handlangern der Verschwörer ermordet, und der von ihnen erkorene Nachfolger, der alles stillschweigend duldende Menanges aus dem Geschlecht der Haacobiner, nahm sei nen Platz ein. Alle Söhne und Töchter, Enkel und Enkelin nen, Brüder, Schwestern, Nichten und Neffen und sogar entfernte Kusinen von Moribund Scepticus III. wurden verhaftet und entweder wie er ermordet, in den tiefsten Kerker geworfen oder in die Verbannung geschickt. Über 200 Mitglieder dieser Familie starben oder verschwanden in dieser Nacht. So begann die Herrschaft der HaacobinerDynastie. So erlosch die Linie der Skeptiker. Schleichhandel: heimlicher Handel mit verbotenen Waren, meist aber mit menschlichen Leichen, Körperteilen von Menschen und Monstern und ganzen Monstern, toten wie lebendigen. Es ist ein höchst gefährliches Gewerbe für alle Beteiligten, von den Fledderern und Fallenstellern über die Mittelsmänner, die Aschehändler, bis zu den verschiedenen heimlichen Kunden. Doch die Nachfrage nach den Waren des Schleichhandels ist größer als je zuvor, und da sich viel Geld dabei verdienen lässt, werden die Risiken in Kauf ge nommen. Schmollen: Landwirtschaftsregion am Ostufer des Hu mour. Siehe auch Schmollenstolz. 444
Schmollenstolz: größte Stadt in der Landwirtschaftsregion Schmollen am Ostufer des Flusses Humour. Als heimliche Rivalin Boschenbergs erhebt sie nur geringe Hafengebüh ren und bietet billige Überlandtransporte an, damit Fluss boote hier ihre Fracht entladen, um sich die hohe Maut an den Achsen zu sparen. Außerdem wird Schmollenstolz immer mehr zum bevorzugten Ausfuhrhafen für alle regio nalen Erzeugnisse wie Getreide, Gemüse, Baumwolle, Flachs und Kalkstein, die von hier in alle Welt gehen. Dies war früher ein Boschenberger Monopol. Schneller Hase: eigentlich Zum schnellen Hasen, berühm tes Weghaus, in das Rosamund die verletzte Europa beglei tet. Schrecksalze: verbreitete Mixturen zum Vertreiben von Monstern. Sie riechen unangenehm, insbesondere für Bo gel, reizen Mund- und Nasenschleimhäute, verursachen heftiges Brennen in den Augen und können sogar zu vorü bergehender Erblindung führen. Schrecksalze erzeugen weder Lichtblitze noch laute Knalle. Alles, was man zu sehen oder zu hören bekommt, ist eine Pulverwolke und ein taumelndes, schreiendes Opfer. Das Besondere an Schrecksalzen ist, dass sie im Unterschied zu vielen ande ren Abwehrmitteln keinen Schaden nehmen, wenn sie ein mal nass werden. Sie trocknen zu feinen Kristallen und sind dann wieder voll einsatzfähig. Diese Eigenschaft ist auch der Grund, warum sie bei Essigfahrern und Schiffern beliebt sind und warum Craumpalin weiß, wie man sie her stellt.
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Schreibsergeant: Unteroffizier, der den Befehl über Mili tärschreiber führt; ein unter Zollbeamten häufig vorkom mender Rang, dessen Inhaber oft jedoch weitaus aktiver sind, als der Titel »Schreiber« vermuten lässt. Schwarze Kaninchenpastete: Blätterteiggebäck, mit Ka ninchenfleisch gefüllt und mit einer Kräutermischung ge würzt, die dem Fleisch eine dunkle, beinahe schwarze Far be verleiht. Sedorner: offizielle Bezeichnung für Monsterfreunde, häufig als Schimpfwort benutzt. Jeder, der für Monster freundliche Gefühle hegt, ist angeblich von schimpflicher Liebe – der sogenannten »dunklen Liebe« – befallen. Die jenigen, die es besonders heftig erwischt hat, so heißt es, müssen in die Wildnis flüchten und den Rest ihres kurzen Erdendaseins mit den von ihnen so bewunderten Bogel zu sammenleben. Schon der Versuch, Monstern Wohlwollen und Verständnis entgegenzubringen, kann strafbar sein. Verschiedene Städte und Reiche verfahren mit Sedornern unterschiedlich streng, aber es ist nicht ungewöhnlich, dass diejenigen, die für schuldig befunden wurden, aufs Rad geflochten oder sogar gehenkt werden. Segler: 1. Wasserfahrzeug, das nicht mit Gastrinen, son dern mit Segeln angetrieben wird. 2. Person, die Segelsport betreibt. Shunt, Mister: Gastrinist auf der Hogshead und einer der bösartigsten Zeitgenossen, denen man begegnen kann. Er spricht wenig und greift häufig zum Messer. 446
Signalsterne: auch Superlative genannt. Am Nachthimmel leuchtende Gestirne, denen nachgesagt wird, dass sie uns den Weg durchs Leben und durch ein Land weisen können. Zu ihnen gehören die sogenannten Wegsterne oder Atra pes, die beim Navigieren hilfreich sind (wahrscheinlich die wichtigsten und einzig wirklich nützlichen), die Liebes sterne, die Verliebten helfen sollen, die Schicksalssterne, die angeblich über all jene wachen, die vor einer wichtigen Entscheidung stehen oder das Schicksal herausfordern, und viele andere mehr. Sterne, die uns nichts mitzuteilen haben, werden einfach Himmelskörper genannt. Silvernook: große Stadt zwischen High Vesting und Winstermill, die ihren Reichtum und ihr reges Leben der Silbermine verdankt, die vor über einem Jahrhundert eröff net worden und bis heute eine ergiebige Quelle dieses E delmetalls geblieben ist. Sinster: Stadt, in der Lahzare gemacht werden, am Zu sammenfluss zweier Grusel-Flüsse in der entlegenen Regi on Burgundis gelegen. Sie besteht aus zwei Teilen: AltSinster und Neu-Sinster. Alt-Sinster wurde vor der Entste hung des Reichs von Burgundern gegründet. Als Jahrhun derte später nach dem Fall von Caathis die Überlebenden (die Katharer) hier Zuflucht suchten, wurden sie mit offe nen Armen aufgenommen und erweiterten die Stadt durch den Bau des späteren Neu-Sinster. Hier führen sie die ver werflichen chirurgischen Operationen durch, mit denen sie Menschen in Lahzare verwandeln. Ironischerweise sind die berüchtigten Chirurgen von Sinster auch die besten ihres Fachs und haben, obwohl als schwarze Habilisten verrufen, 447
heimlich vielen stolzen Hochadligen aus dem Reich das Leben gerettet. Sitt: Page und Schuhputzer im Schnellen Hasen. Wie sagte er einmal so treffend: »Eine Schramme am Schuh, Madam, ist etwas Furchtbares!« Skold: auch Habilist, Zaumabalist (»Suppenwerfer«) oder Fumomath; Bezeichnung für einen Teratologen, der Mons ter mit Chemikalien und Gebräuen bekämpft, die unter dem Namen Mixturen bekannt sind. Diese Mixturen werden von Hand geworfen, aus Flaschen verspritzt, mit einem Leder band oder einer Fustibal (Stockschleuder) geschleudert oder mit einer Pistole namens Salinumbus (»Salzkeller«) ver schossen. Außerdem stellen Skolds Fallen auf, machen Rauch und was sonst noch nötig ist, um Monster zu besie gen oder zu vernichten. Man könnte sie auch als »Kampf chemiker« bezeichnen. In der Regel tragen sie wallende Gewänder und kegelförmige Hüte als Zeichen ihres Berufs. Der gebräuchlichste Hut ist der sogenannte Klaps, der über dem Kopf des Trägers leicht nach hinten abknickt. Ernsthaf tere und aggressivere Skolds tragen ein deutlich erkennbares Berufszeichen. Dies kann ein senkrechter Balken sein, der, am Haaransatz beginnend, über ein Auge (oder beide Au gen) läuft und am Kinn endet, oder ein waagrechter Balken, der von einem Ohrläppchen über den Mund zum anderen Ohrläppchen führt. Skolds erwerben ihr Arcarnum (»Ge heimwissen«) und die besonderen Fertigkeiten ihres Berufs in speziellen »Schulen«, die unter dem Namen Rhombus an vielen Orten im Reich eingerichtet wurden. Die Ausbildung zum Skold dauert zwei Jahre, aber viele weitere Jahre sind 448
nötig, um das erworbene Wissen zu vertiefen und den er lernten Fertigkeiten den Feinschliff zu geben. Das Studium ist teuer, und nicht jeder Bewerber wird in den Rhomben aufgenommen, denn die Zahl der Plätze ist begrenzt. Die besten haben Wartelisten von über zwanzig Jahren. Die Vorläufer der Skolds waren die Rübezahle. Das waren die Monsterjäger eines alten Volkes namens Skylden. Tatsäch lich ist das Word »Skold« von »Skyld« abgeleitet, wie man jene Rübezahle nannte, die in die Fremde zogen und unter anderen Königen dienten. Diese Auslandsrübezahle erwar ben an ihren neuen Wirkungsstätten neue Kenntnisse und begannen, ihr Wissen zu ordnen und in Büchern niederzu schreiben. Schließlich schlossen sie sich mit anderen zu Gilden – den Rhomben – zusammen und fingen an, vielver sprechende junge Leute auszubilden. Dies war die Geburts stunde der Skolds, wie wir sie heute kennen. Einen Großteil ihres Lebensunterhalts bestreiten Skolds heute damit, dass sie an Normalmenschen Mixturen verkaufen und ihnen da durch die Möglichkeit geben, sich ohne fremde Hilfe vor Monstern zu schützen oder sogar gegen sie zu kämpfen. Skripturen, die für diesen allgemeinen Gebrauch hergestellt werden, sind unter dem Namen Vulgum bekannt. Skriptu ren, die Skolds geheim halten, werden unter dem Begriff Nostrum zusammengefasst. Einfache Vulgum-Mixturen wie Schrecksalze werden für 1 Zechine pro Dosis angeboten. Ein durchschnittlicher Skold verdient, wenn man den Erlös aus dem Vulgum-Verkauf, Honorare für Monsterbekämpfungs aufträge und Erfolgsprämien zusammenrechnet, etwa 180 Heller im Jahr. Die allgemeine Bezeichnung Skold steht für fünf verschiedene Berufsgruppen: 449
♦ Skolds – Standard-Kampfchemiker, die eine reguläre Ausbildung in einem Rhombus genossen haben; ♦ Geißler – ebenfalls regulär ausgebildet und in der Regel die talentiertesten Skripturen-Brauer. Sie arbeiten mit den tödlichsten und stärksten Mixturen und sind häufiger ex trem gewalttätig; ♦ Apotheker – regulär ausgebildet, Hersteller von Heilmit teln; ♦ Rübezahle – leben noch in den östlichen Gebieten von Worms, Skald und Gothia. Sie sind Heiler und Monsterjä ger in einer Person und bilden Lehrlinge aus, um ihr Wis sen weiterzugeben. Rübezahle verfügen über ein Geheim wissen, das den Skolds, die sie für rückständig halten, ver loren gegangen ist. ♦ Bücherpanscher – Skolds, die sich ihr Wissen durch Selbstunterricht aneignen und unter Zuhilfenahme von Bü chern Mixturen herstellen, oft mit extrem unterschiedlichen Resultaten. Sie werden von den anderen verachtet, gelten als gefährlich, ungebildet und unverantwortlich. Kleine Gruppen von Skolds können sich zu sogenannten Schulen zusammentun, Rezepturen austauschen und ein eigenes spezielles Nostrum entwickeln. Skripturen. Auch Thaumacrum genannt; die Bezeichnung für alle chemischen Gebräue, die von Apothekern, Skolds und Geißlern hergestellt werden. Sie werden nach folgen den Gruppen unterschieden: ♦ Stärkungsmittel – wirken heilend und wohltuend wie zum Beispiel Birchet oder Evanderwasser. ♦ Fulminate – lösen Explosionen, Blitze und Feuer aus; Licurius benutzt solche Mittel. 450
♦ Diskutate – lösen Erschütterungen, aber kein Feuer aus wie die Fulminate, mit denen sie eng verwandt sind. ♦ Gifte ♦ Ätzstoffe wie die Spezialsäuren, die Geißler verwenden ♦ Abruptive für vorbeugende Maßnahmen wie Nullarom. ♦ Ab wehr mittel – Skripturen, die abschrecken wie Schrecksalze oder anlocken wie Johannestalg ♦ Wandler – Skripturen, welche die körperliche Beschaf fenheit verändern wie die Augenwasser, die das Sehver mögen eines Leers verbessern. Auch Cathar-Sirup fällt unter diese Gruppe. ♦ Vertilger oder Auslöscher – Skripturen, die total zerstö ren oder augenblicklich töten; viele könnte man als »Su perwaffen« bezeichnen. Es gibt vier anerkannte Erscheinungsformen, in denen die Skripturen dieser Gruppen auftreten können: ♦ Dämpfe – Gase oder Rauch ♦ Pomander oder Aschen – Pulver ♦ Lösungen oder Wässer – Flüssigkeiten ♦ Zucker oder Salze – kristallisierte Formen der drei oben genannten Slothog: berühmter Bolbogi oder Kriegshund, der von den Turkemannen eingesetzt wurde. Er gehörte zu den größten, die jemals erschaffen wurden, und fand in der Schlacht vor den Toren den Tod. Sein Rücken und seine Schultern wa ren mit ein bis zwei Meter langen Stacheln bedeckt. Wie die meisten künstlich erzeugten Monster besserer Qualität verwandelte er sich, als er starb, in Matsch. Damit sollte verhindert werden, dass der Feind hinter das Geheimnis seiner Erschaffung kam. Zum Zeitpunkt seines Todes hatte 451
der Slothog das beispiellose Alter von 43 Jahren erreicht und 41 Jahre seines Lebens Tod und Verderben verbreitet. Bolbogis kommen nördlich des Würtemgrabens, also jen seits der Reichsgrenzen, häufig vor, besonders so große wie der Slothog. Im Reich selbst sind kleinere wie die Wiedergänger zu finden, die hauptsächlich als »Wachhun de« und bei der Jagd nach Kriminellen eingesetzt werden. Im Reich ist nur die Erzeugung solcher Kreaturen verboten, nicht aber ihr Besitz. Andere gebräuchliche Namen für Bolbogis sind Bollumbogger, Teratobellum und Carnivol pes. Siehe auch Momunkulus. Spindel: Flusssperre, die der Stadtstaat Brandenbrass in Konkurrenz zu den Achsen und mit Erlaubnis des Kaisers errichtet hat. Durch den Bau der Spindel haben sich die Transportkosten auf dem Humour noch einmal um die Hälfte erhöht, was allen flussaufwärts liegenden Staaten, insbesondere Boschenberg, das Leben schwermacht. Zwi schen den Regenten der beiden Städte und ihren Gesandten am Kaiserhof ist deswegen eine hitzige Debatte entbrannt, und Kenner der Geschichte sehen darin erste Anzeichen eines neuen Krieges. Spur, der: Zeichen, das von Teratologen und anderen ge walttätigen Leuten als Zeichen ihres Berufes getragen und unter Verwendung einer milchigen Flüssigkeit namens Ru tenrau sorgfältig auf die Haut gemalt wird. Angeblich brennt das Rutenrau wie Zitronensaft in einer kleinen Schnittwunde. Nach etwa einer Stunde, in der es ununter brochen brennt, wird es mit einer Lösung aus Essig und Gewürznelken abgewaschen, und zurück bleibt ein dunkel 452
blaues Zeichen. Entfernt man das Rutenrau mit verdünnter Königswasserlösung, wird das Zeichen weiß. Suttlande: auch Suttland-Stadtstaaten. Alle zum Reich gehörende Gebiete, die südlich der großen GrasmeerEbene liegen. Stadtstaaten: Das Reich ist in verschiedene Herrschafts gebiete gegliedert, die jeweils von einer Stadt beherrscht und einem Regenten in Vertretung des Kaisers regiert wer den. Bei diesen Regenten handelt es sich ausschließlich um Herzöge oder Grafen, denn das Tragen des Titels »König« ist im Reich nicht gestattet, damit niemand auf dumme Ge danken kommt (die einzige Ausnahme bildet die Gight land-Königin). Steinsalz: Salz, das wie Erz aus der Erde gewonnen wird. Vulgare lutschen oder kauen auf Steinsalzklumpen, um die Salzkonzentration in ihrem Blut hochzuhalten und ihre elektrische Leitfähigkeit zu verbessern. Steinschlossmuskete: oder einfach Muskete. Ein langläu figes Vorderladergewehr, das runde Bleikugeln von etwa 2 Zentimeter Durchmesser verschießt. Mit einer Muskete lässt sich treffgenau schießen, solange das Ziel nicht weiter als 150 Meter entfernt ist (die Kugel fliegt 600 Meter weit, verliert aber natürlich an Durchschlagskraft). Nach jedem Schuss muss die Muskete neu geladen werden. Das Stein schloss, das bei dieser und anderen Waffen den Schuss aus löst, besteht aus einem Hahn, in den ein Feuerstein ge klemmt ist. Vor dem Schuss wird ein Federmechanismus 453
gespannt. Wird der Mechanismus durch Betätigen des Ab zugs entriegelt, schnappt der Hahn mit dem Feuerstein nie der und erzeugt durch Reibung an dem aufspringenden De ckel der Zündpfanne einen Funken, der das feinkörnige Pulver (Zündkraut) in der Pfanne entzündet. Das Zündkraut brennt durch eine kleine, seitlich am Lauf angebrachte Bohrung bis zur Treibladung durch, die dadurch entzündet wird und die Kugel aus dem Lauf treibt. Wird eine Stein schlossmuskete abgefeuert, blitzt es deutlich unterscheid bar zweimal auf, zuerst wenn das Zündkraut abbrennt, und dann, wenn der Schluss losgeht. Wer sehr flink ist, kann der Kugel ausweichen, wenn er den Blitz in der Pfanne sieht. Wenn man Berichten glauben darf, haben das auch manche Monster begriffen. Steinschlosspistole: kleine Handfeuerwaffe mit demselben Auslösemechanismus wie die Steinschlossmuskete, oft sehr kunstvoll gearbeitet, wobei der Griff wie eine Keule ge formt ist, damit man die Waffe nach dem Abfeuern am Lauf (der für diesen Zweck verstärkt ist) fassen und wie einen Knüppel schwingen kann. Eine Neuerung für Pistole wie Muskete war das sogenannte »Skold-Geschoss«: eine Kugel, die mit einer bestimmten tödlichen Chemikalie be handelt und für Monster weitaus gefährlicher ist als eine normale Kugel, die ihnen selten einen nennenswerten oder bleibenden Schaden zufügt. Der Haken dabei: Die Chemi kalien des Skold-Geschosses reagieren mit dem Metall des Laufs und nutzen ihn viel schneller ab als normale Muniti on. Damit steigt die Gefahr, dass die Waffe explodiert oder der Lauf platzt, wenn man es am wenigstens erwartet. Pistoliere sind Abenteurer, die am liebsten Steinschlosspis 454
tolen benutzen, und verwegene Kerle mit einem Hang zum Extravaganten, die den besonderen Nervenkitzel lieben. Mit Skold-Geschossen ausgerüstet, können sie auch als Monsterjäger glänzen. Allerdings müssen sie dabei gut verdienen, da sie sich häufig neue Pistolen kaufen müssen, und die kosten pro Stück stolze 21 Zechinen. Steuerbord: rechte Seite eines Schiffes in Fahrtrichtung. Die andere Seite heißt Backbord. Steuereinnehmer: Beamte mit der Aufgabe, für ihren Herrn Steuern und Zollgebühren einzutreiben. Sthenicon: ein Bion oder biologisches Gerät, das einen befähigt, sehr schwache oder verborgene Gerüche wahrzu nehmen und Dinge, die versteckt oder weit weg sind, deut licher zu sehen. Gewöhnlich ein einfacher dunkler Holz kasten mit Lederriemen und Schnallen. Die Rückseite, die auf das Gesicht gesetzt wird, ist hohl und mit einem rehle derähnlichen Material ausgekleidet. Auf jeder Seite stehen dicke, kurze Messinghörner hervor. Durch diese Hörner strömen Luft und die dazugehörigen Gerüche herein, die durch die Organe im Innern verstärkt werden. Würde man die gefältelte Membran, die den Geruchssinn so enorm verbessert, ausbreiten, würde sie zehn Quadratmeter bede cken. Oben in der Mitte des Kastens sitzt eine kleine Linse, durch die man die Umgebung sieht. Auf der gleichen Höhe sind an den Seiten wänden drei Schlitze mit Hebeln ange bracht, mit denen man das Bild, das man empfängt, verän dern kann. In die rechte untere Ecke der Vorderwand ist ein kleines Loch gebohrt, offensichtlich, damit der Träger 455
besser verstanden werden kann, wenn er etwas sagt, und das Gerät beim Sprechen nicht abzunehmen braucht. Durch einen weiteren Schlitz ganz unten können ohne allzu große Mühe Suppen, dünne Eintöpfe und spezielle Tränke ge schlürft werden, die den Nutzen des Geräts erhöhen. Das Ganze wird mit den oben erwähnten Riemen und Schnallen so am Kopf befestigt, dass es Mund, Nase und Augen be deckt. Wird ein Sthenicon zu lange getragen, können die darin befindlichen Organe in die Nase oder sogar in das Gesicht des Trägers hineinwachsen. Wird hauptsächlich von Leers benutzt. Stulpenstiefel: hohe Stiefel, die bis über das Knie reichen und oben einen umgeschlagenen Rand haben, hinter dem Knie aber offen sind. Sie werden gewöhnlich aus Hell schwarz gefertigt.
T
Tageskleidung: auch Schmutter. Jede Art von Kleidung, die nicht hieb-, stich- und kugelfest ist. Teratologe: auch Vugnator, Monsterjäger oder Catagist (»Vernichter«). Streng genommen ist ein Teratologe je mand, der sich wissenschaftlich mit Monstern beschäftigt. Allerdings werden mit dem Ausdruck auch alle anderen bezeichnet, die beruflich mit Monstern befasst sind, insbe sondere diejenigen, die sie einfach nur umbringen wollen. Zu den Teratologen gehören: Lahzare – Vulgare wie Wits –, Skolds und Geißler sowie Filibuster oder Waidmänner. Letztere sind Normalmenschen ohne besonders außerge 456
wöhnliche Fähigkeiten, nur ausgestattet mit einer Anzahl von Mixturen, die sie von einem Skold gekauft haben, Hieb und Schusswaffen, einem scharfen Auge und einem listi gen Verstand. Die verschiedenen Teratologen genießen einen unter schiedlichen Ruf. ♦ Betritt ein Skold oder ein Filibuster die Gaststube eines Weghauses, wird er in der Regel herzlich begrüßt, an den Tisch der Stammgäste gebeten und zu einem Getränk ein geladen. ♦ Betritt ein Vulgär oder ein Geißler die Gaststube eines Weghauses, wird er mit einem müden Kopfnicken, einem knappen Willkommensgruß oder allgemeiner Zurückhal tung empfangen. ♦ Das Erscheinen eines Wits löst misstrauisches Schweigen aus. Die Gäste starren vor sich hin oder wenden sich verle gen ab, wenn der Wit in ihre Richtung blickt. Kein herzli ches Willkommen, keine Einladung zu einem Getränk, nur unverhohlene Angst und Verachtung. Teratologie: eigentlich die Lehre von den Monstern und allem, was mit ihnen zu tun hat (wie etwa Grusel), im er weiterten Sinn auch Theorie und Praxis der Monsterjagd. Thermistorieren: das Anlocken und Einfangen echter Blitze mit Hilfe eines Blitzstabs. Wie das geschieht, wird unter Blitzstab genauer beschrieben. Siehe auch Vulgär. Tölenöl: Mixtur mit der gegenteiligen Wirkung von Null arom, das heißt, es verstärkt den Geruch eines Menschen und macht ihn für ein Monster so unangenehm wie mög 457
lich. Das Monster soll glauben, er sei nicht essbar. Gilt als letztes Mittel, wenn man weiß, dass man einem Monster nicht entkommen kann. Tomahawk: kleine Streitaxt mit geschweifter Klinge auf der einen und breiter Spitze auf der anderen Seite. Der Griff ist häufig mit Leder oder Haifischhaut umwickelt. Leichte Nahkampfwaffe, die sich auch gut zum Werfen eignet. Torwächter: Person, die ein Tor bewacht und Menschen den Durchgang erlaubt oder verwehrt. Tragbare Suppe: unappetitlich aussehende dünne, längli che Platten aus einem schwarzen Material von der Größe einer Männerhand. Sie werden aus einer Bouillon-artigen Bohnensuppe hergestellt, die man passiert, mit Knochen mehl vermischt und anschließend stehen lässt, bis sie hart wird. Danach werden die Platten mit dem Markenstempel des Herstellers versehen, in Fettpapier verpackt und in den Handel gebracht. Weicht man eine Platte etwa eine halbe Stunde in heißem Wasser (oder drei Stunden in kaltem Wasser) ein, löst sie sich in die schwarze Pampe auf, die sie zu Anfang war. Nicht sehr wohlschmeckend, aber leicht verdaulich, nahrhaft und platzsparend und somit eine ideale Wegspeise. Kann sogar in getrocknetem Zustand verzehrt werden, allerdings muss man beim Abbeißen und Kauen größte Vorsicht walten lassen, damit man keine Schnitt wunden an Mund und Zunge davonträgt. Trank: Siehe Arzneitrank. 458
Tutin: ein Volk, das die Suttlande und weitere Gebiete er oberte und einen Kaiser als Herrscher hat, der von Clemen tine aus regiert. Die Sprache, die dieses Volk spricht, ist eng mit dem Latein in unserer Welt verwandt (die Sprach reiniger mögen es mir verzeihen).
U
Uda: zweite Köchin im Schnellen Hasen, Untergebene von Closet. Die meisten Leute finden, dass Uda besser kocht und dass man schmeckt, ob sie ein Gericht zubereitet hat oder nicht. Manche Stammgäste bitten sogar darum, dass sie für sie kocht, was sie gar nicht mag, weil Closet dann fürchterlich eingeschnappt ist. Ein paarmal ist sie solchen Bitten nicht nachgekommen, und man hat es jedes Mal gemerkt. Uda wird auch von Adligen aus der Gegend ge mietet, um Festessen für sie zu kochen. Unterelemente: alle Metalle, Erden, Flüssigkeiten und Ga se, aus denen die Vier Elemente bestehen. Die Unterele mente sind es, die den Kosmos bilden, die Erde und alles, was auf ihr ist. Zu den vielen Unterelementen gehören Feuerblitz (Wasserstoff), Schlagwetter (Methangas), Dünn luft (Helium), Aeris Regia (Sauerstoff) und so weiter.
V
Vadechemica: altes Buch über die Habilistik, insbesonde re über die Herstellung von Skripturen (auch Scryptia ge nannt.) Es soll zerstörerisches, verbotenes Wissen enthalten und aus der Feder mehrerer unbekannter Verfasser stam 459
men, die einem versunkenen Volk angehörten, das seiner Zeit »technisch« so weit voraus war, dass es noch heute Maßstäbe setzt. Tatsächlich haben die meisten Leute Mü he, große Teile des Buches zu verstehen. Im Reich ist das Buch verboten, allerdings besitzen viele Leute heimlich nachgedruckte Auszüge. Außerhalb des Reiches genießt es weit größere Wertschätzung. Der Rhombus in Worms be sitzt beispielsweise über ein Dutzend Exemplare, und seine Lehrlinge studieren es während ihrer gesamten Ausbildung sehr gründlich. Die Skolds aus Worms gelten als die besten auf dem Halbkontinent. Vademecum: kleines Taschenbuch und Ratgeber, meist zu einem oder mehreren bestimmten Themen. Verline: Stubenmädchen Madam Operas und älteste Toch ter einer stolzen Domestikenfamilie, die ihren Dienst als Ehre betrachtet und mit Würde versieht. Sie kümmert sich liebevoll um fast alle Kinder in Madams Marineanstalt, hat aber eine besondere Vorliebe für Rosamund, dessen Unge schicklichkeit sie daran erinnert, wie sie selbst als Kind war. Fast so schön wie ihre jüngere Schwester Präline, ist sie der Liebling aller männlichen Mitarbeiter im Findlingsheim, die ihr oft kleine Geschenke machen und jeden Wunsch erfül len. Verline selbst würde nie daran denken, die Zuneigung der »lieben alten Salzbuckel«, wie sie diese Männer nennt, auszunutzen, und erwidert sie von ganzem Herzen. Präline (genauer Lady Präline, denn sie hat weit über ihrem Stand geheiratet) schickt ihrer älteren Schwester Geld, damit sie kleine Luxusartikel wie Illustrierte Hefte kaufen kann.
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Vieracker: wackerer Postbote, der beim Zustellen der Post viele Abenteuer erlebt und zahlreiche Begegnungen mit Monstern unbeschadet überstanden hat. Er steht seit 16 Jahren im kaiserlichen Dienst. Siehe Kaiserliche Post. Vier Körpersäfte, die: sie gelten als die vier Grundbe standteile eines gut funktionierenden Stoffwechsels. Jeder Körpersaft ist einer Jahreszeit zugeordnet und hat seine Entsprechung in den anderen viergliedrigen Lehren von der Welt. An erster Stelle steht, natürlich, das Blut, auch San guis genannt. Es wird mit dem Buchstaben A dargestellt und dem Sommer zugeordnet. Schleim (oder Phlegma) wird mit dem Buchstaben W dargestellt und dem Winter zugeordnet. Dann folgen die Gelbe Galle, auch Cholos ge nannt, dargestellt mit dem Buchstaben M und dem Früh ling zugeordnet, und schließlich die Schwarze Galle, auch Melas Cholos genannt, dargestellt mit dem Buchstaben O und dem Herbst zugeordnet. Vier Sphären, die: Die erste und innerste Sphäre ist die Seele eines Menschen, sein Innenleben. Die zweite Sphäre ist sein Körper. Die dritte Sphäre ist die Welt. Die vierte Sphäre ist der Kosmos. Die Lehre der Vier Sphären ent spricht auch der Lehre von den Vier Körpersäften und den Elementen, wie sie im Körnchenflechter dargestellt sind: ♦ Seele = Schleim (phlegma) = Wasser (W) ♦ Körper = Schwarze Galle (melas cholos) = Erde (O) ♦ Die Welt = Gelbe Galle (cholos) = Luft (M) ♦ Der Kosmos = Blut (sanguis) = Feuer (A)
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Skolds beschäftigen sich darüber hinaus auch mit allen an deren viergliedrigen Lehren, um Einblick in das Wirken aller Systeme zu gewinnen und zu lernen, wie sie sich ge genseitig beeinflussen und durch chemische Stoffe verän dern lassen. Verhooverhoven, Doktor: Physikus im Brindelwald, ein Mann Anfang dreißig, der beim örtlichen Adel hoch in der Gunst steht. Als Sohn armer in High Vesting geboren, kratzte er genug Geld zusammen, um seine Ausbildung zum Physikus zu finanzieren. Er diente vier Jahre lang als Assistent eines Chirurgen auf verschiedenen Kampfschif fen der Boschenberger Kriegsmarine. Vestiweg: Straße, die von Schmollenstolz aus parallel am Humour-Fluss entlangführt und auf die östliche Bastion der Spindel trifft, dann den Brindelwald durchquert und in den Langweg mündet. Vorname: der allererste Name, den eine Person nach ihrer Geburt erhält, und der Name, bei dem sie gewöhnlich geru fen wird und unter dem sie bekannt ist.
W
Wachen: Es gibt sieben Wachen pro Tag, und der Tag be ginnt mittags um 12 Uhr. Jede Wache dauert vier Stunden bis auf die zwei Hundewachen, die jeweils nur zwei Stun den dauern und deshalb eingeführt wurden, damit Men schen, deren Arbeitsrhythmus durch die Wachzeiten be stimmt wird, nicht immer dasselbe tun müssen. Nach jeder 462
halben Stunde einer Wache wird eine Glocke angeschlagen (oder eine Trommel gerührt oder in ein Horn gestoßen). Nach der ersten halben Stunde wird ein Glasen geschlagen, nach der zweiten zwei Glasen, nach der dritten drei Glasen und so weiter. Wachablösung erfolgt immer bei acht Gla sen, und das gilt sogar für die Hundewachen. ♦ Nachmittagswache von 12 bis 16 Uhr ♦ Erste Hundewache von 16 bis 18 Uhr ♦ Letzte Hundewache von 18 bis 20 Uhr ♦ Abendwache von 20 Uhr bis Mitternacht ♦ Nachtwache von Mitternacht bis 4 Uhr ♦ Morgenwache von 4 bis 8 Uhr ♦ Vormittagswache von 8 bis Mittag Weghaus: was wir »Gasthaus« nennen würden. Eine klei ne Festung, in der müde Reisende Erholung und Schutz vor den Monstern finden, die ringsum in der Wildnis lauern. In seiner einfachsten Form besteht das Weghaus nur aus einer großen Gaststube nebst Küche und Unterkünften für den Wirt und das Personal, alles umgeben von einer hohen Mauer. Tatsächlich bildet die Gaststube bis heute den Mit telpunkt jedes Weghauses. Hier vermischt sich der Gestank nach Dreck, Schweiß und Abwehrmitteln mit dem Rauch eines Kaminfeuers und Küchendünsten. Der Schnelle Hase ist ein großes Weghaus mit Ställen und Kutschenschuppen, einer Gaststube, einem Lesezimmer, einer Vielzahl von Gästezimmern unterschiedlicher Preisklasse, großem Per sonal und Wachleuten, die rund um die Uhr aufpassen. Wegspeisen: Speisen, die wegen ihres geringen Gewichts, ihres hohen Nährwerts und ihrer langen Haltbarkeit bei 463
Reisenden, Essigfahrern (Seeleuten) und Soldaten sehr ge schätzt sind. Angereicherter Beutelkäse, tragbare Suppe und Rotmoderlinge sind allgemein verbreitete Wegspeisen. Die Heidelbeere ist die teuerste und bemerkenswerteste. Wiedergänger: was wir »Zombies« oder »Untote« nennen würden. Manche sind wiederbelebte Leichen, andere sind aus verschiedenen Leichenteilen und sogar Tierteilen zu sammengesetzt. Es gehört viel Wissen und Geschick dazu, sie fachgerecht zusammenzufügen. Wurden sie nicht gut konserviert, sind sie an ihrem Gestank zu erkennen. Wenn ihre Gehirne nicht korrekt wiederhergestellt werden, sind sie ungebärdig und nicht zu kontrollieren. Die besten Wie dergänger werden als Mörder eingesetzt und lösen sich, wenn sie die heimtückische Tat begangen haben, in eine Schlammlache auf, die keine verräterischen Hinweise lie fert. Hin und wieder läuft einer seinem menschlichen Be sitzer davon. Dann versetzt er eine Zeit lang eine Gemein de in Angst und Schrecken oder entkommt in die Wildnis, wo die dort lebenden Monster, die solche Wesen verab scheuen – was übrigens auf Gegenseitigkeit beruht –, kur zen Prozess mit ihm machen. Siehe Momunkulus. Wit: auch Neurotikrith (»Hirnverdreher«) oder Manipulant genannt; ein Lahzar, dessen besondere Potenzen ( Kräfte und Fähigkeiten) nicht wie die Blitze und Funken eines Fulgars zu sehen, sondern nur zu spüren sind. Diese Po tenzen oder Tricks sind raffiniert und deshalb besonders unheimlich, weil sie auf den Verstand, das Gehirn und das Nervensystem des Opfers einwirken. Einfach ausgedrückt, handelt es sich dabei um Variationen eines unsichtbaren 464
bioelektrischen Feldes, um sogenannte Energieschauer, die Wits mit Hilfe ihrer chirurgisch eingepflanzten Organe er zeugen. Diese Energieschauer können auf unterschiedliche Weise eingesetzt werden: ♦ Senden und empfangen – der einfachste und bekannteste Trick, bei dem der Wit einen Energieschauer in seine Um gebung aussendet und anschließend wieder empfängt. Die zurückfließende Energie verrät ihm, wo sich in seiner Um gebung elektrische Quellen befinden, seien es Tiere, Men schen, Monster oder sogar Bionten (»lebende Maschinen«) wie etwa Gastrinen. Es gehört Übung dazu, den Energie rückfluss richtig zu verstehen und auszuwerten. Ein erfah rener Wit ist sogar in der Lage, die charakteristischen e lektrischen Schwingungen einer bestimmten Person zu er kennen, sodass diese Technik häufig zum Aufspüren von Menschen benutzt wird. Außerhalb der Städte kann der Wit mit ihrer Hilfe frühzeitig vor nahenden Monstern warnen, lange bevor ein Leer sie wahrnimmt. Ein Nebeneffekt be steht darin, dass alle Lebewesen, die dem Energieschauer ausgesetzt sind, Unwohlsein oder Schwindelgefühle ver spüren oder sogar das Bewusstsein verlieren, in ihrer Kon zentration gestört werden oder ins Straucheln geraten. Per sonen, die für die Reisekrankheit anfällig sind, müssen sich nicht selten übergeben. Nur die allerbesten Wits beherr schen diese Technik so gut, dass die Menschen in ihrer Umgebung nicht nennenswert belästigt werden. ♦ Ausschalten – der wohl berüchtigtste Trick. Dabei wird ein kräftiger Energieschauer ausgestoßen, der den Geist verwirrt und seelische Qualen hervorruft. Ein erfahrener Wit kann damit einen ganzen Raum voller Feinde außer 465
Gefecht setzen, ein wahrer Meister mit erschreckender Prä zision Einzelpersonen um den Verstand zu bringen oder gar töten. Manchmal auch als »Auge des Todes« oder »töd licher Blick« bezeichnet. ♦ Martern – mit dieser Technik kann ein Neurotikrith in den Gliedmaßen seines Opfers so starke Schmerzen her vorrufen, dass es sich unter Qualen windet. Umgekehrt kann er Menschen damit auch vorübergehend lähmen und ihrer Empfindungsfähigkeit berauben oder sie, was noch schlimmer ist, vorübergehend blind, taub oder sprechunfä hig zu machen. Der erfolgreiche Einsatz dieser Technik erfordert eine gehörige Portion Erfahrung und ein gewisses Maß an Talent. ♦ Täuschen – ein sehr schwieriger Trick, der Sichtkontakt mit dem Opfer voraussetzt. Mit sanften, gut dosierten und »gezielten« Energieschauern kann der Wit eine Person glauben machen, etwas Bestimmtes zu hören oder zu spü ren, wo in Wirklichkeit gar nichts ist. Die besten Wits kön nen Leuten sogar vorspiegeln, sie würden Dinge sehen, die gar nicht existieren. Mit solchen Täuschungen können sie Leute in den Wahnsinn treiben oder in einem ganz be stimmten Moment ablenken. Ein unerfahrener Wit kann den Energieschauer noch nicht richtig lenken und sendet ihn daher oft in alle Richtungen aus. Erst mit der Zeit bekommt er ihn besser unter Kontrol le und lernt, ihn gezielt auf einen bestimmten Punkt zu richten. Die meisten Wits müssen ihr Ziel sehen, aber die Begabtesten brauchen es nur mit der Technik »Senden und empfangen« aufzuspüren, dann können sie es aus der Ferne 466
plagen. Wits müssen mit ihren Kräften gut haushalten. Wenn sie sich übernehmen und überanstrengen, können sie von heftigen Krämpfen befallen werden. Der übermäßige Einsatz einer Technik kostet sie viel Kraft und macht sie anfällig für Krankheiten. Hinzu kommt, dass ihnen schon nach wenigen Monaten intensiver Energieattacken die Haa re ausfallen, bis sie völlig kahl sind. Einige tragen ihre Glatze mit Stolz, andere verbergen sie unter knallbunten und flott frisierten Perücken. An beidem kann man einen Wit erkennen. Außerdem tragen sie über einer Augen braue, auf der Nasenwurzel, in einem oder beiden Augen winkeln oder auf einem oder beiden Unterlidern einen Pfeil. Dieser Spur ist ihr allgemein anerkanntes Berufszei chen. Wits genießen noch weniger Vertrauen als Fulgare, und ihre Griesgrämigkeit (die teilweise auf ihre ständigen Schmerzen zurückzuführen ist) ist nicht dazu angetan, ih ren schlechten Ruf aufzupolieren. Witherscrawl, Mister: griesgrämiger Indexer in Winster mill; überkorrekt, heikel, intelligent und grob zu Men schen, die in seinen Augen weniger wert sind als er. Kann mit beiden Händen gleichzeitig schreiben ohne hinzusehen. Wochentage: Der erste ist der Neuwach (»die neue Wa che«), dann folgen der Luntag (»Tag des Mondes«), der Maretag (»Tag des Meeres«), der Mittwach (»Mittelwa che«), der Ruhtag (»Tag der Familie«), an dem nicht gear beitet wird, der Calumtag (»Tag des Himmels«) und schließlich der Feiertag, der letzte Tag der Woche, an dem die Menschen zwei Stunden früher als sonst von der Arbeit nach Hause gehen und feiern, weil sie wieder sieben Tage 467
erfolgreich hinter sich gebracht haben. Siehe Monate des Jahres und Anhang 1. Würtemgraben: Schlucht nahe der Stadt Clementine. In diese Schlucht drängte die Armee der Suttland-Staaten die Turkemannen während der Schlacht vor den Toren zurück. Wurmweg: kaiserliche Fernstraße, die Winstermill mit Worms verbindet und durch den Ichorbruch führt. In die sem Sumpfgebiet wird der Wurmweg für Reisende zu einer der gefährlichsten Straßen überhaupt, weil ein schwerer Grusel auf ihm lastet und eine Vielzahl unterschiedlicher Monster dort ihr Unwesen treibt. Alle bisherigen Versuche, diesen Abschnitt des Wurmwegs zu zivilisieren, sind ge scheitert, oft unter großen Verlusten an Menschenleben.
X
Xthylister-Schlicker: eine der Zutaten für Cathar-Sirup; wird unter Verwendung von getrocknetem Mark und Mehl gut abgelagerter Knochen aus dem Drüsensekret bestimm ter Seemonster hergestellt.
Z
Zechine: Münze mit dem zweithöchsten Nennwert in den Suttlanden. 1 Zechine = 1/16 Heller oder 20 Schilling oder 1/24 Oscadril. Wird durch den Buchstaben »Z« dargestellt. Siehe Geld. 468
Zerstörer: größtes der kleineren Kampf schiffe. Siehe auch Anhang 6.
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ANHANG 1 (A)
Der 16-Monate-Kalender des Halbkontinents
470
ANHANG 1 (B)
Wochentage (7)
N L M M R C F
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Neuwach Erster Tag der Woche Luntag Meertag Mittwach Ruhtag Tag der Familie Calumtag Feiertag
Festtage (Die Zahlen sind im Kalender zu finden) Trauertag Tag des Pfluges Halbfreudenfest Achtmonatsabend (Tag der Beamten) Glasenfest Erntefest Brauchtumstag Galgennacht Fest der Freundlichkeit Vertumnus Nachtwache Halbjahresfest (s) = Sonnenwende (e) = Tagundnachtgleiche Das Datum, auf das Sonnenwende und Tagundnachtgleiche fallen, variiert, daher werden für jedes Ereignis die beiden mögliche Tage angegeben.
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* Gelten als die kältesten Monate, unangenehm für Reisende. % In den alten Kalendern war dies der erste Monat des Jahres. + Die Reihenfolge dieser beiden Monate war früher umge kehrt. Sie wurde geändert, als die außerordentlich groß ge wachsene und verzogene Tochter von Moribund Sceptic III. sich bitter beklagte, weil sie im Monat Pulchrys, dessen Namen sie scheußlich fand, geboren war und nicht im Liri um, dessen Namen sie schön fand. Sie machte das Leben am Hofe unerträglich, bis ihr geplagter Vater mit einem kaiserlichen Dekret die Umstellung verfügte. Dabei ist es geblieben, obwohl deswegen sogar ein Krieg geführt wurde.
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ANHANG 2
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ANHANG 3
Der Körnchenflechter auch Teilerad oder Principia Circum Ein Schaubild der Reaktionen zwischen den vier Elementen A = Feuer, I = Erde; W = Wasser; M = Luft
Feuer reagiert mit Erde, Erde reagiert mit Feuer.
Erde reagiert mit Wasser, Wasser reagiert mit Erde.
Wasser reagiert mit Luft, Luft reagiert mit Wasser.
Wasser hemmt Feuer.
Erde hemmt Luft.
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ANHANG 4
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ANHANG 5
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ANHANG 6
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ANHANG 7
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ANHANG 8
Harolds Zweikampf mit dem Slothog vor den Toren von Clementine Dieser Stich stammt aus dem Illustrierten Heft, das Rosa mund liest, nachdem ihn Gosling verprügelt hat. Es handelt sich um das Bild, das er bei seinem Gespräch mit Fransitart betrachtet. Man kann die – bedauerlicherweise leeren – Behälter und Taschen erkennen, die an Harolds Hüfte hän gen, und die Bändiger, die verzweifelt versuchen, den Slothog im Zaum zu halten. Der Stich gibt eine romanti sche Sicht des Ereignisses wieder. In Wirklichkeit war Ha rold nur einer von Hundert, die den Slothog angriffen, al lerdings dürfte er der einzige Teratologe unter ihnen gewe sen sein. Bis heute behaupten Propagandisten, er sei ganz auf sich allein gestellt gewesen, und genau so will die po puläre Geschichtsschreibung an ihn erinnern. 479
DER HALBKONTINENT
IN EINZELDARSTELLUNGEN
Auf den folgenden Seiten finden sich acht Vergrößerungen der Karte des Halbkontinents, die grob der oben vorge nommenen Unterteilung folgen. Die Ziffern in den Gittern entsprechen den Ziffern am unteren Rand jeder Einzelkarte.
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David M. Cornish, 1972 in Adelaide (Südaustralien) gebo ren, studierte Illustration an der Universität in Südaustra lien. Seit der Star-Wars-Serie in den 70er Jahren war er fasziniert von der Idee anderer Welten und Sonnensysteme. Die Welt des Halbkontinents in all ihren Details und Ei genheiten hat der Autor über Jahre entwickelt. Monster Blood Tattoo. Der Findling ist der Auftakt einer dreibändi gen Reihe über Rosamund und den Halbkontinent.
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