Bill Knox
Der Fehler des Piloten
gescannt nach der Ausgabe München, Goldmann, 1985 Goldmann Krimi 4978
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Bill Knox
Der Fehler des Piloten
gescannt nach der Ausgabe München, Goldmann, 1985 Goldmann Krimi 4978
Bill Knox
Der Fehler des Piloten Pilot Error Kriminalroman
Die Hauptpersonen Chefinspektor Colin Thane Inspektor Phil Moss William Ilford John Peebles Peter Ellison Gibby MacDonald Lorna Patterson David Harkness Eve Buchan
Kriminalbeamte
Stellvertretender Polizeichef Direktor eines Reiseunternehmens sein Buchhalter Fluglehrer Fluglehrerin Töpfer Glasbläserin
Der Roman spielt in Schottland, Großbritannien
Aus dem Englischen übertragen von Christine Frauendorf-Mössel
1
E
s war an einem Montagmorgen um zwei Uhr, als das Sportflugzeug im fahlen Mondlicht über der schlafenden Stadt abstürzte. Nur ein Fluglotse im Kontrollturm des ungefähr drei Kilometer entfernten Flugplatzes von Glasgow sah, wie es passierte. Das Flugzeug war kurz zuvor als kleiner leuchtender Punkt auf seinem Radarschirm erschienen und plötzlich verschwunden. Er wußte, was das bedeutete, und hatte sofort Alarm gegeben. Bei der verunglückten Maschine handelte es sich um eine einmotorige Beagle Pup, die erst vierundzwanzig Stunden zuvor generalüberholt worden war. Das Flugzeug stürzte aus fünfhundert Meter Höhe ab. Kurz vor dem Aufprall streifte die linke Tragfläche die Dachumrandung eines zwanzigstöckigen Wohnblocks. Dabei wurde ein fast drei Meter langes Stück des Flügels abgerissen, es blieb auf dem Dach des Wohnhauses liegen. Sekunden später bohrte sich die Sportmaschine mit der Nase zuerst in den weichen Boden einer nahe gelegenen Wiese. Das Leitwerk brach ab, und das Bugrad wurde zwanzig Meter weit in ein parkendes Auto geschleudert. Der Rumpf barst krachend auseinander. 5
Nach dem ohrenbetäubenden Aufprall herrschte eine unheimliche Stille. In mehreren Wohnungen flammten die Lichter auf. Eine Frau mit Lockenwicklern im Haar sah aus dem Fenster und begann laut zu schreien. Sie schrie noch immer, als mehrere Hausbewohner, die nur Regenmäntel über ihren Pyjamas trugen, aus dem Haus liefen. Einer von ihnen hatte eine Taschenlampe, leuchtete damit in das Cockpit des verunglückten Flugzeugs, torkelte zum nächsten Gully am Straßenrand und übergab sich. Andere Hausbewohner, die in ihren Wohnungen geblieben waren, hatten inzwischen die Polizei verständigt. Es dauerte nur fünf Minuten, bis nacheinander zwei Streifenwagen, die Ambulanz und zwei Feuerwehrautos eintrafen. Der Pilot war bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, lebte jedoch noch, als ihn die Feuerwehrleute mit Blechscheren aus den Trümmern seiner Maschine schnitten. Seine Begleiterin war tot. Die Frau schien noch sehr jung gewesen zu sein. Wie sie ausgesehen hatte, ließ sich nicht mehr feststellen. Der Fahrer des ersten Streifenwagens zog die Leiche des Mädchens aus dem Cockpit und legte sie ein Stück weiter entfernt ins Gras. Dann ging er zögernd zum Flugzeug zurück, griff in das blutverschmierte Innere und holte die leere Whiskyflasche heraus, die ihm schon vorher aufgefallen war. Der Polizist betrachtete sie seufzend. Sein Blick schweifte zu der Toten, die man inzwischen mit einer schwarzen Plastikfolie bedeckt hatte. Er fluchte traurig, lief zu seinem Streifenwagen und schaltete das Funkgerät ein. Gerade als er nach dem 6
Mikrofon griff, raste die Ambulanz mit dem Piloten unter Blaulicht und heulenden Sirenen davon. Der Polizist wartete, bis der Wagen um die nächste Ecke verschwunden war. Es hatte nicht so ausgesehen, als würde der Schwerverletzte den Transport ins nächste Krankenhaus überleben. Aber diesmal, sagte sich der Beamte insgeheim, war ihm das vollkommen gleichgültig. Ein fröhlicher Wochenbeginn, dachte Chefinspektor Colin Thane unlustig. Er stand vor dem Eingang des neuen roten Backsteingebäudes, in dem das Strathclyde-Polizeipräsidium untergebracht war. Die Innenstadt von Glasgow wirkte im ersten Frühlingssonnenschein beinahe schön und sauber. Aber Colins Kehle war rauh, seine Augen fühlten sich wie Sandpapier an, und er wünschte sich, er wäre im Bett geblieben. In wenigen Tagen wurde Colin zweiundvierzig Jahre alt, und das stimmte ihn auch nicht fröhlicher. Der Streifenwagen der Millside Division, der ihn zu Hause abgeholt hatte, fuhr zum Parkplatz. In Glasgow ging die Grippe um, und Thane war auf dem besten Weg eines ihrer Opfer zu werden. Fröhlicher Wochenanfang, dachte Thane erneut, straffte die Schultern und ging in das Polizeipräsidium. Die jungen Polizeianwärter, die sich in der Eingangshalle laut über Football unterhielten, ignorierten die hochgewachsene Gestalt im grauen Straßenanzug. Sie interessierten sich nur für Leute, die zum Präsidium gehörten. Thane fuhr mit dem Lift in den zweiten Stock. Die übrigen Fahrgäste waren drei kichernde Sekretärinnen und ein Angestellter aus der Computerabteilung, der 7
ständig ›Bye-Bye Blackbird‹ vor sich hinpfiff. Thane war froh, als er aussteigen konnte. »Mann, oh Mann«, sagte eine Stimme hinter ihm, als sich die Lifttüren geschlossen hatten, und Thane drehte sich um. »Haben Sie sich die Typen angesehen, die mit Ihnen im Lift heraufgekommen sind? Langsam findet man im Präsidium alle möglichen Leute, nur keine richtigen Polizisten mehr.« Thane nickte dem älteren Sergeant mit den Auszeichnungen an der Uniformjacke grinsend zu. Er erinnerte sich, daß der Mann schon Sergeant gewesen war, als er gerade bei der Polizei angefangen hatte. »Was machen Sie denn zur Zeit, Charlie?« erkundigte sich Thane. Der Sergeant zuckte müde mit den Schultern. »Ich bin leider von meinem bequemen Posten bei der Lagerverwaltung zur Fremdenpolizei versetzt worden«, seufzte er. »Ich muß mich jetzt um Ausländer kümmern, deren Visa abgelaufen sind. Das ist keine sehr erfreuliche Aufgabe, Sir.« Thane sah dem Sergeant nach, als er um die nächste Ecke verschwand. Nicht nur die älteren Angehörigen der Glasgower Polizei fanden sich schwer mit den Neuerungen in der Verwaltung ab. Eine dieser Änderungen betraf die Modernisierung der Personalpolitik, die in Zukunft darauf abzielte, die Polizisten in den Büros nach und nach durch geschulte zivile Kräfte zu ersetzen, damit mehr Leute für den aktiven Polizeidienst herangezogen werden konnten. Das brachte für jeden mehr oder weniger große Probleme mit sich. Auch Thane mußte sich erst daran gewöhnen, daß es die Stadtpolizei von Glasgow nicht 8
mehr gab, und sie alle zu einer monströsen Neubildung, nämlich der Strathclyde-Polizei, gehörten. Colin Thane war der jüngste Chefinspektor Glasgows, ungefähr einen Meter achtzig groß, muskulös und schlank. Er hatte männliche Gesichtszüge, braune Augen und lachte gern. Thane trug sein dunkles Haar länger als das im Polizeidienst üblich war, aber seine Frau mochte es so. Thane hatte zwei Kinder, eine Hypothek auf dem Einfamilienhaus und einen alten, langsam vor sich hinrostenden Wagen, den er abwechselnd mit seiner Frau teilte. Seine Ansichten und seine Handlungsweise als Polizeibeamter waren eher undogmatisch, was manchmal den Unwillen seiner Vorgesetzten erregte. An jenem Montagmorgen fragte er sich, was wohl diesmal auf ihn zukam. Als Thane vor einer halben Stunde in seinem Büro im Polizeirevier seines Bezirks, der Millside Division, eintraf, hatte er die knappe Nachricht vorgefunden, sich sofort im Polizeipräsidium zu melden. Thane zuckte mit den Schultern und räusperte sich. Sein Hals schmerzte nach wie vor. Schließlich ging er den langen Korridor entlang. Rechts und links befanden sich die Büros der stellvertretenden Polizeichefs. Die Fülle von neuen Ämtern hatte die Schaffung des Strathclyde-Distrikts mit sich gebracht, zu dem jetzt auch das Stadtgebiet Glasgows und ein großer Teil Nordwestschottlands gehörte. Die ländlichen Bezirke waren über diese Neuordnung gar nicht glücklich und beklagten bereits ihre verlorene Selbständigkeit. Vor der letzten Tür mit der Aufschrift ›Assistant Chief Constable Ilford‹ blieb Thane stehen und drückte 9
auf den Klingelknopf. Im nächsten Augenblick leuchtete das grüne Schild ›Bitte eintreten‹ auf. »Guten Morgen, Sir«, sagte Thane und sah den dikkeren der beiden Männer an, die im Zimmer saßen. »Machen Sie gefälligst die Tür zu, Thane!« schimpfte Ilford, der ebenso heiser zu sein schien wie Thane. »Soll ich mir vielleicht noch eine Lungenentzündung holen, oder haben Sie zu Hause Säcke vor den Türen?« Thane schloß die Tür und betrachtete Ilford teilnahmsvoll. Schon als Chefsuperintendent der Glasgower Kriminalpolizei war William ›Buddha‹ Ilford für seine schroffen Umgangsformen berüchtigt gewesen, und die Beförderung zum stellvertretenden Polizeichef hatte daran nichts geändert. Ilford war ein korpulenter Mann, mit Doppelkinn und einer angehenden Glatze. Er trug einen alten grauen Tweedanzug. Ilfords Gegenüber war wesentlich schlanker und jünger und hatte ein freundliches, kantiges Gesicht. Sein eleganter dunkler Anzug mußte ziemlich teuer gewesen sein. Thane kannte den Mann nicht, aber er sah aus wie ein hoher Regierungsbeamter auf Geschäftsreise. »Okay«, brummte Ilford, zog sein Taschentuch aus der Jackentasche und begann zu husten. Schließlich rang er mit hochrotem Gesicht nach Luft. »Thane, das ist Captain Leslie vom Handels- und Industrieministerium …« »Von der Abteilung für Unfallforschung«, ergänzte Leslie. »Ich brauche Ihre Hilfe.« »Also setzen Sie sich und hören Sie zu!« forderte Ilford Thane auf und deutete ärgerlich auf einen freien Sessel. »Aber kommen Sie mir lieber nicht zu nah! Ich 10
scheine die Pest oder Ähnliches zu haben … Von Ihnen erwarte ich allerdings kein Mitgefühl, Thane.« Thane war sich sofort klar, daß seine eigene Heiserkeit keinen Eindruck auf Ilford machen würde, und setzte sich in den Sessel neben Captain Leslie. Ilford begann seine Pfeife zu stopfen. Thane ahnte inzwischen, worum es bei dieser Unterredung ging, und fand seine Vermutung bald bestätigt. »Captain Leslie befaßt sich hauptsächlich mit Flugzeugkatastrophen«, erklärte Ilford. »Ich nehme an, daß Sie schon von der Sportmaschine gehört haben, die vergangene Nacht am äußersten Ende Ihres Reviers abgestürzt ist.« Thane nickte. Der Sergeant von der Millside Kriminalpolizei, hatte ihn deshalb zweimal angerufen. Das Beagle Sportflugzeug war über Fortrose abgestürzt; und Fortrose, das Asozialenviertel, gehörte zum Millside Bezirk und war eines der Problemkinder der dortigen Polizei. Die meisten jungen Kriminalbeamten wurden in dieses Revier versetzt, um im Umgang mit den dort wohnenden Kriminellen die ersten Erfahrungen zu sammeln. »Sind Sie an der Unfallstelle gewesen, Chefinspektor?« fragte Captain Leslie. »Nein.« Thane schüttelte nachdenklich den Kopf. »Die uniformierten Beamten haben den Unfall aufgenommen und alles weitere veranlaßt. Das ist die übliche Routine. Nur bei Katastrophen größeren Ausmaßes mischen sich gern andere Stellen ein.« Ilford grunzte zustimmend vor sich hin. »Haben Sie den Bericht schon gelesen?« 11
»Dazu habe ich noch keine Zeit gehabt«, entgegnete Thane. Er fröstelte plötzlich und beschloß, sich ein Fieberthermometer zu besorgen. »Sagen Sie ihm, worum es geht, Leslie!« krächzte Ilford müde. »Auf diese Weise sparen wir Zeit.« »Gut, ich will es kurz machen!« Leslie klappte seinen Aktenkoffer auf und holte einen Stoß Fotos heraus. »Hier, das sind die Aufnahmen von der Unfallstelle.« Thane nahm die Bilder. Das erste war eine Archivaufnahme einer Beagle Pup, und die weiteren zeigten das Flugzeugwrack nach dem Absturz. Im Hintergrund erkannte Thane einen der hohen Wohnblöcke von Fortrose. »Wie Sie sicher wissen, konnten wir den Piloten noch lebend bergen, während seine Begleiterin sofort tot gewesen sein muß«, erklärte Leslie sachlich. »Die Tatsache, daß das Wrack nach dem Absturz kein Feuer gefangen hat und ausgebrannt ist, war für uns sehr vorteilhaft. Wir haben die Trümmer sofort untersucht. Danach«, Leslie machte eine Pause und zuckte mit den Schultern, »… nun sind wir auf Anraten der Polizei ausnahmsweise von unserer Arbeitsroutine abgewichen und haben das Wrack mit einem Spezialtransporter zum Flughafen von Glasgow bringen lassen. Das ist in solchen Fällen nicht üblich …« »Nichts, was in Fortrose passiert, ist ›üblich‹«, unterbrach ihn Ilford abwehrend. »Die Bewohner von Fortrose hätten innerhalb einer Stunde sämtliche Einzelteile des Flugzeugwracks gestohlen.« Als Ilford Leslies ungläubigen Gesichtsausdruck sah, deutete er mit seiner Pfeife auf ihn und fuhr fort: »Ich mache hier keine Witze, Leslie. Fragen Sie Thane! Um das Flugzeug 12
zu schützen, hätten wir einen doppelten Polizeicordon gebraucht.« »Das stimmt«, versicherte Thane. Erst vor einer Woche war von einer Baustelle in Fortrose am hellichten Tag ein riesiger Bulldozer spurlos verschwunden. Als die beiden Kriminalbeamten später, nachdem sie Nachforschungen angestellt hatten, zu ihrem Wagen zurückgekommen waren, hatten sie entdeckt, daß alle vier Reifen fehlten. Sie vermuteten, daß das eine Bande Zwölfjähriger gewesen war, die in der Nähe herumgelungert hatten. »Okay, vermutlich haben Sie recht«, seufzte Leslie. »Der Flugplatz war vielleicht doch sicherer … wenigstens vorläufig.« Ilford zuckte mit den Schultern und schwieg mit undurchsichtiger Miene. »Soll das heißen, daß auf dem Flugplatz irgendwas passiert ist?« fragte Thane verwirrt. »Ja, aber darauf komme ich später zu sprechen.« Leslie lächelte entschuldigend und deutete auf die Fotografien. »Die Beagle Pup ist nicht gerade das schnellste und modernste Sportflugzeug, aber immerhin eine sichere, robuste Maschine mit einer sehr niederen Unfallstatistik. Meine Aufgabe ist es, herauszufinden, warum das Flugzeug abgestürzt ist.« »Das bedeutet, daß Sie das Wrack in seine Einzelteile zerlegen und es dann wieder zusammensetzen«, seufzte Thane. »Eine mühsame Arbeit.« »Ja, das geschieht nach jedem Flugzeugabsturz, um die Ursache des Unglücks festzustellen.« Leslie knackte mit seinen Fingerknochen. »Dadurch können wir möglicherweise einen ähnlichen Unfall verhindern, Thane. Diesmal liegt der Fall jedoch etwas anders. Der 13
Absturz ist vermutlich nicht auf technische Mängel zurückzuführen. Es sieht so aus, als sei der Pilot betrunken gewesen.« »Er ist vor einigen Stunden gestorben, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben«, warf Ilford schroff ein. »Außerdem gibt es Komplikationen«, fügte Leslie hinzu. Thanes fragender Blick schweifte zu Ilford. Der stellvertretende Polizeichef nickte langsam. »Das ist der Grund, warum Sie hier sind, Thane«, erklärte er. »Captain Leslie und sein Team haben den Flugplatz gegen vier Uhr morgens, nachdem das Wrack in einem Hangar untergebracht worden war, verlassen, um noch ein paar Stunden zu schlafen. Um sechs Uhr hörte ein Beamter der Flughafenpolizei auf seiner Kontrollrunde merkwürdige Geräusche in dieser Halle. Dem Idiot ist nichts Besseres eingefallen, als hineinzugehen und selbst nach dem Rechten zu sehen.« »Als er wieder aufwachte, lag er mit einer Platzwunde am Hinterkopf auf dem Betonboden des Hangars und hörte gerade noch, wie draußen ein Wagen abfuhr«, ergänzte Leslie. »Er muß mehrere Minuten lang bewußtlos gewesen sein.« »Jemand ist durch ein Fenster in die Flugzeughalle eingebrochen«, fuhr Ilford scharf fort. Ein Hustenanfall unterbrach ihn. »Natürlich hat keiner etwas gesehen oder gehört«, keuchte er schließlich. »Um diese Zeit ist der Flugplatz völlig leer und verlassen.« Thane nickte schweigend und starrte nachdenklich zur Decke. Sie war mit Isolierplatten verschalt. Eine dieser Platten hatte sich gelöst und hing nur noch an 14
zwei Ecken fest. Kein Neubau ist perfekt, dachte Thane, und entdeckte, daß die lose Platte, wenn sie von der Decke fallen sollte, genau Ilfords Kopf treffen mußte. »Ist irgendwas gestohlen worden?« fragte Thane. »Keine Ahnung«, seufzte Leslie unglücklich. »Aber es sieht ganz so aus, als wäre das Cockpit der Beagle sorgfältig durchsucht worden. Falls das an Bord gewesen ist, was der Dieb gesucht hat, dann muß er es mitgenommen haben, denn ich habe mir das Cockpit nochmal gründlich angesehen, bevor ich hierhergekommen bin.« »Vielleicht war der Unbekannte gar nicht am Flugzeug selbst interessiert?« »Sie meinen, es könnte sich um einen ganz normalen Diebstahl gehandelt haben?« Leslie schüttelte den Kopf. »Das halte ich für unwahrscheinlich.« Der Mann vom Ministerium sah auf seine Uhr und machte seinen Aktenkoffer zu. »Ich muß jetzt leider zurück zum Flugplatz, Chefinspektor. Falls Sie noch Fragen haben, stehe ich Ihnen jederzeit gern zur Verfügung. Im Augenblick kann ich Ihnen allerdings nicht viel weiterhelfen.« Leslie nickte Thane kurz zu und verabschiedete sich von Ilford. Nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, saß Ilford eine Weile schweigend in seinem Stuhl und betrachtete grimmig seinen Kugelbauch. Das war eine für ihn typische Haltung, die ihm den Spitznamen ›Buddha‹ eingebracht hatte. Thane sagte ebenfalls nichts. Im grellen Licht der Frühlingssonne, die hinter Ilford durchs Fenster schien, fiel Thane plötzlich das dünngewordene Haar seines Chefs und das faltige Gesicht auf. Ilford schien in letzter Zeit um Jahre gealtert zu sein. Die Nerven15
anspannung, die ein so riesiger Verwaltungsapparat wie die Strathclyde-Division mit sich brachte, hatte auch bei den Beamten in den höchsten Rängen bereits seine Spuren hinterlassen. Als hätte er Thanes Gedanken erraten, sah Buddha Ilford plötzlich auf. Seine Züge wurden hart. »Ich muß in ein paar Minuten zu einer Besprechung, Colin«, begann er in scharfem Ton. »Aber zuvor möchte ich noch einiges klarstellen.« »Sir?« Thane wußte, daß es ernst wurde, wenn Ilford jemanden beim Vornamen nannte. »Die Tatsache, daß diese Sportmaschine über Ihrem Revier abgestürzt ist, war nicht der Hauptgrund dafür, daß ich Ihnen den Fall übertragen habe.« Ilford lächelte nachsichtig. Thane sah ihn abwartend an. »Um die Ursache des Absturzes und alles Drum und Dran zu klären, sind Ermittlungen notwendig, die sich vermutlich über den gesamten StrathclydeDistrikt erstrecken. Sie müssen also bei Ihrer Arbeit ’ne Menge alter Reviergrenzen überschreiten und werden auch auf Polizeibeamte treffen, die gegen den neuen Verwaltungsapparat auf die Barrikaden gestiegen sind.« Thane begann langsam zu verstehen. »Und was soll ich gegen die Barrikaden tun?« erkundigte er sich. »Sie niederreißen?« Die Aussicht, daß er bei einigen hitzigen Dickköpfen auf dem Land die Idee von ›Strathclyde‹ durchsetzen sollte, begeisterte ihn wenig. »Machen Sie einen Strathclyde-Fall daraus … zeigen Sie diesen Herren wie das System funktioniert … oder tun Sie wenigstens so. Ich verlasse mich auf 16
Ihre schon sprichwörtliche dickfellige und undiplomatische Art. Mehr sage ich nicht.« Ilford schob einen dicken braunen Briefumschlag über den Schreibtisch. »Hier, das ist das Material, das wir bisher über den Flugzeugabsturz gesammelt haben. Ich möchte, daß Sie den Fall schnell und sauber lösen.« Thane nahm den Umschlag und stand auf. Er starrte auf die losehängende Platte an der Decke und wünschte plötzlich, sie würde Ilford endlich auf den Kopf fallen. »Ich habe die Platte auch schon gesehen, aber keine Angst, es wird nichts passieren«, erklärte Ilford und grinste humorlos. »Dieser verdammte Grippevirus bringt mich eher um. Colin, da ist noch was.« »Sir?« »Ich gebe Ihnen ganz privat den Rat, bei dieser Sache eine weiße Weste zu behalten«, sagte Ilford mit ausdrucksloser Miene und blätterte flüchtig in seinem Terminkalender. »Am Monatsende findet wieder eine Konferenz der Beförderungskommission statt. Das Leben ist voller Überraschungen, Thane, stimmt’s?« Thane wich Ilfords Blick nicht aus. »Wir bleiben in Verbindung«, murmelte Ilford. Dann nickte er kurz zum Zeichen, daß die Unterredung beendet war und drückte eine Taste auf seinem Sprechgerät. Aus der Akte über den Absturz der Beagle ging hervor, daß ihr Pilot, der zweiunddreißigjährige Manuel Francis, ein erfahrener Privatpilot gewesen war. Francis war Junggeselle und Leiter eines Reisebüros in der Glasgower Innenstadt. Seine Wohnung lag über den Büroräumen der Agentur, für die er gearbeitet 17
hatte. Francis’ Begleiterin, eine gewisse Anna Harris, war bei derselben Firma der ›Eurobreak Vacations‹ als Sekretärin und Reiseführerin angestellt gewesen. Anna Harris war achtundzwanzig Jahre alt und geschieden und hatte ein Apartment am Rande der Millside Division bewohnt. Die Sportmaschine war am Sonntagmorgen am Glasgower Flugplatz gemietet worden. Von dort waren Francis und sein Fluggast zu dem nördlich gelegenen Sportflugplatz Glennfinn im Hügelland von North Argyll geflogen, der von einem örtlichen Fliegerclub unterhalten wurde. Glennfinn lag ungefähr vierzig Flugminuten von Glasgow entfernt. Die Beagle war dort gegen zwölf Uhr mittags gelandet und hatte den ganzen Nachmittag und Abend auf dem Rollfeld von Glennfinn gestanden. Erst kurz nach ein Uhr morgens hatten zwei Mitglieder des Fliegerclubs gesehen, wie Francis und das Mädchen wieder abgeflogen waren. Francis war einwandfrei gestartet. Er hatte sich später pflichtgemäß über Funk beim Kontrollturm von Glasgow gemeldet und war auf die für ihn vorgeschriebene Anflugroute eingeschwenkt, um auf der Landebahn vierundzwanzig aufsetzen zu können. Kurz nachdem Francis die letzten Anweisungen des Kontrollturms bestätigt hatte, war die Funkverbindung zu der Beagle plötzlich abgebrochen. Schließlich legte Colin Thane die Akte beiseite und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Nach Verlassen von Buddha Ilfords Büro, hatte er sein Büro in der Millside Division angerufen und weitere Ermittlungen veranlaßt. Danach war er sofort in das wissenschaftliche Labor des Polizeipräsidiums gefahren. 18
Der Grund für seinen Besuch im Labor war eine Anmerkung in der Akte über den Absturz der Beagle gewesen, die besagte, daß man Manuel Francis noch vor seinem Tod im Krankenhaus eine Blutprobe abgenommen hatte. Im Augenblick war das Reagenzglas mit Francis’ Blut die Nummer zwölf in der langen Reihe von Blutproben auf dem Fließband, das zu dem Gas-Chromatograph führte, mit dem der Alkoholgehalt im Blut festgestellt werden konnte. Thane wartete geduldig auf das Ergebnis der Untersuchung. Plötzlich öffnete sich hinter Thane eine Tür, und ein Mann im weißen Labormantel kam herein. Er trug eine auffällig gemusterte Krawatte und hatte ein dünnes Oberlippenbärtchen. »Kaffeepause«, erklärte er bestimmt und setzte eine der beiden Tassen, die er auf dem Tablett hereingetragen hatte, vor Thane auf den Tisch. Dann sah er flüchtig zu der langen Reihe der Reagenzgläser hinüber. »Na, jetzt sind Sie ja bald dran, Chefinspektor.« Thane trank einen Schluck heißen Kaffee und nickte. Matthew Amos war der stellvertretende Direktor des wissenschaftlichen Labors und gehörte wie die meisten technischen Mitarbeiter zum Stab der zivilen Angestellten bei der Polizei. Amos war kein bequemer Mann, aber ein ausgezeichneter, unparteiischer Wissenschaftler, auf dessen Urteil man sich verlassen konnte. In diesem Augenblick wurde das Reagenzglas Nummer elf über das Fließband in den Chromatograph transportiert. Das Gerät war an einen Computer und ein Datensichtgerät angeschlossen, an dem 19
man sofort die Ergebnisse der einzelnen Analysen ablesen konnte. »Dieser Kandidat war volltrunken«, erklärte Amos, als er die Daten von Nummer elf kontrollierte. »Aber vermutlich wird er behaupten, er hätte nur einige Gläser Bier getrunken.« »Mir hat einer mal vormachen wollen, der Alkoholspiegel in seinem Blut käme von seiner neuen Zahnpasta«, erwiderte Thane geistesabwesend. »Matt, was halten Sie von Piloten, die zuviel trinken?« »Gar nichts. Ich meide sie, wo ich nur kann«, antwortete Amos. »Schon bei den nüchternen stehe ich Todesängste aus.« Der Wissenschaftler wurde ernst. »Die meisten Fluggesellschaften verbieten ihren Piloten bis zu zwölf Stunden vor dem Start jeden Alkoholgenuß. Wenn jemand dagegen verstößt, ist er seine Fluglizenz sofort los.« Das Fließband machte erneut einen Ruck nach vorn, und das Reagenzglas Nummer zwölf mit dem Blut des verstorbenen Manuel Francis war an der Reihe. »Jetzt ist es soweit«, erklärte Amos, als das Datensichtgerät zu ticken begann. Er beugte sich interessiert vor und warf dann Thane einen amüsierten Blick zu. »Na, worauf tippen Sie?« »Positiv«, sagte Thane prompt. »Ausgezeichnet, Sie haben gewonnen, Chefinspektor«, stimmte ihm Amos grinsend zu. »Der Bursche hatte 1,4 Promille. Bei Autofahrern ist 0,8 Promille die obere Grenze.« »Hätte man Francis die eins Komma vier Promille angemerkt?« wollte Thane wissen. »Er ist nicht betrunken gewesen, wenn Sie das meinen«, entgegnete Amos vorsichtig. »Trotzdem hätte 20
ich mir vorsorglich einen Fallschirm umgeschnallt. Sein Reaktionsvermögen war sicher beeinträchtigt.« Plötzlich ging die Tür auf, und eine kleine, zierliche Chinesin im weißen Labormantel betrat den Raum. Sie war Inspektor bei der Polizei von Hongkong und hatte gerade ihren Doktor der Naturwissenschaften an der Universität von Glasgow gemacht. Bevor sie nach Hongkong zurückkehrte, wollte sie noch ein halbes Jahr im Polizeilabor arbeiten, um praktische Erfahrungen zu sammeln. »Bitte entschuldigen Sie die Störung, Matt«, begann die Chinesin und machte eine besorgte Miene. »Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich? Ich glaube, drüben ist eine Sicherung durchgebrannt.« »Schon wieder?« Amos grinste. »Colin, glauben Sie mir, dieser Dame aus dem fernen Osten geht die berühmte technische Begabung ihrer Rasse völlig ab. Jeder Schraubenzieher wird in ihrer Hand zu einer tödlichen Waffe.« Er blinzelte dem Mädchen zu. »Schon ein altes chinesisches Sprichwort sagt: Handle jetzt und hole dir deinen Lohn später.« »Um mit einem anderen chinesischen Sprichwort zu antworten: Scheren Sie sich zum Teufel«, konterte das Mädchen prompt. »Wiedersehen, Colin«, seufzte Amos betrübt. »Ich schicke Ihnen dann den Bericht in Ihr Büro.« An der Tür wandte er sich noch einmal an Thane: »Sie hätten mir auch von der Begleiterin des Piloten eine Blutprobe geben müssen. Dann wüßten wir wenigstens, ob die beiden einen vergnügten Flug gehabt haben.« 21
Die Filiale der Eurobreak Reiseagentur, deren Geschäftsführer Manuel Francis gewesen war, lag in der Findus Street in einem alten, häßlichen Stadtviertel Glasgows. Trotzdem war die Findus Street keine schlechte Geschäftslage. In der Nähe gab es zwei größere Fabriken, deren Arbeiter und Angestellte ihre Ferienreisen häufig dort buchten. Das Reisebüro befand sich in einer langen Reihe kleinerer Ladengeschäfte. Sein Schaufenster war mit grellbunten Werbeplakaten dekoriert, die aufreizende Bikini-Mädchen vor südlichen Landschaften zeigten. Als Thanes Dienstwagen in der Findus Street hielt, war es genau elf Uhr vormittags. Thanes Kopf schmerzte inzwischen zum Zerspringen, sein Hals war wund, und in seinen Ohren hallten noch die schrillen Funksprüche über einen bewaffneten Raubüberfall im Süden Glasgows wider, die auf der Fahrt ständig durchgegeben worden waren. Schließlich stieg er aus und entdeckte erleichtert einen anderen Streifenwagen, der bereits vor dem Reisebüro parkte. Nachdem Thane sein Dienstauto fortgeschickt hatte, ging er geradewegs in die Apotheke neben dem Büro der ›Eurobreak Vacations‹, kaufte eine Packung Aspirin, schluckte zwei Tabletten und trat wieder auf die Straße. Am Steuer des parkenden Streifenwagens saß ein Konstabler in Uniform. Thane nickte ihm kurz zu, und Konstabler Erickson, ein großer blonder Hüne, grinste zurück. Erickson hatte wie immer ein Buch auf den Knien. Der junge Beamte widmete seine Freizeit entweder schönen Mädchen oder besuchte Rechtskurse an der Universität. Wann er tatsächlich schlief, war seinen Kollegen ein Rätsel. 22
Thane stieß die Tür des Reisebüros auf und ging hinein. Bis auf eine ältere Kundin, die mit einem kleinen Hund auf dem Arm in Katalogen blätterte, und einem hübschen rothaarigen Mädchen hinter der Verkaufstheke, war der Ladenraum leer. Thane ging auf das rothaarige Mädchen zu. Sie mußte ungefähr Anfang Dreißig sein und hatte gerötete Augen, so als hätte sie geweint. Ihr freundliches Lächeln verschwand, als Thane ihr schweigend seine Dienstmarke zeigte. »Hier durch, bitte!« forderte sie Thane müde auf und öffnete eine Klappe im Ladentisch. Thane folgte ihr zu einer Milchglastür mit der Aufschrift ›Geschäftsführer‹. Das Mädchen öffnete sie, bat ihn einzutreten und schloß die Tür hinter ihm. Im Zimmer waren bereits drei Männer. Ein junger hagerer Vertretertyp im eleganten Anzug stand neben einem Stuhl, in dem ein älterer, frühzeitig ergrauter Herr saß und Thane mißmutig betrachtete. Im Hintergrund entdeckte Thane eine bekannte Gestalt im zerknitterten Anzug. »Na, wie geht’s dem Grippevirus?« erkundigte sich Inspektor Phil Moss mitleidslos. »Ich dachte schon, sie würden dich mit dem Krankenwagen herbringen.« »Danke, mein Pflichtbewußtsein hält mich aufrecht«, entgegnete Thane rauh. »Warte nur, bis du dran bist.« Phil Moss, der zweithöchste Beamte der Millside Kriminalpolizei, lächelte amüsiert. Er war ein kleiner, grauhaariger Mann Mitte Fünfzig, hatte ein mageres, asketisch wirkendes Gesicht und sah wie immer aus, als hätte er in seinem Anzug geschlafen. Beim Rasieren mußte er eine stumpfe Klinge verwendet und 23
sich mehrmals geschnitten haben, was sein unordentliches Äußeres noch unterstrich. Junge, unerfahrene Streifenpolizisten hatten einmal versucht, ihn wegen Landstreicherei aufs Revier zu schleppen, und sich dabei einige böse Bemerkungen eingehandelt, die sie nie mehr vergessen hatten. Phil Moss hatte außerdem ein bei sämtlichen Polizeieinheiten von Glasgow berühmt-berüchtigtes Magengeschwür, an das er keinen Arzt heranließ. »Darf ich die Herrn vorstellen?« begann Moss spöttisch. »Wir haben schon auf dich gewartet.« Der weißhaarige ältere Mann war John Peebles, der Direktor des Reiseunternehmens ›Eurobreak‹. Er hatte einen weichen Händedruck und machte sich nicht die Mühe aufzustehen, als Thane ihn höflich begrüßte. Peebles musterte Thane aus harten dunklen Augen. Beim Lächeln entblößte er einen Goldzahn, der genau zu dem schweren Armband paßte, das er an seinem linken Handgelenk trug. Der jüngere von beiden war Peter Ellison, der Buchhalter der Firma. Er mußte ungefähr dreißig sein, trug einen dunkelbraunen Kordanzug mit passendem Hemd und Krawatte und hatte ein gutgeschnittenes, jedoch pockennarbiges Gesicht mit einer Boxernase. »Nachdem wir von dem Unglück erfahren hatten, sind wir sofort von unserem Hauptbüro hierhergekommen«, erklärte Peebles mit dunkler Stimme. »Eine der Angestellten hat mich angerufen. Das Ganze ist ja eine Tragödie. Zwei unserer besten Mitarbeiter sind tot.« »Hat es Sie überrascht, daß die beiden zusammen unterwegs sind?« erkundigte sich Thane unschuldig. 24
Peebles zuckte mit den Schultern und sah Ellison an. »Manny Francis hat Mädchenbekanntschaften gesammelt wie andere Leute Briefmarken«, bemerkte Ellison kühl. »Daß er eine Frau wie Anna Harris als Mitarbeiterin bekommen hat, ist für ihn natürlich ein gefundenes Fressen gewesen. Mrs. Harris war ein sehr attraktives Mädchen.« »Das konnte man nach dem Unglück nicht mehr von ihr behaupten«, entgegnete Thane ruhig und räusperte sich. »Hm, ich verstehe«, murmelte John Peebles verlegen und warf Ellison einen strafenden Blick zu. »Äh … weiß man schon, was die Ursache des Absturzes gewesen ist, Chefinspektor?« Thane schüttelte den Kopf. »Nein. Das nachzuprüfen fällt auch nicht in mein Ressort.« »Inspektor Moss hat vorhin angedeutet, daß Manny offensichtlich betrunken gewesen ist«, fuhr Ellison unbeirrt fort. »Stimmt das?« »Ja, im Augenblick sieht es ganz danach aus«, antwortete Thane gedehnt. »Hat Manuel Francis eigentlich schon immer viel Alkohol getrunken?« »Nein, sonst hätte er nicht für mich gearbeitet«, widersprach Peebles scharf. »Ich kann allerdings verstehen, wenn jemand ab und zu mal etwas über seinen Durst trinkt. Das ist schließlich was ganz anderes.« »Und Francis hat das getan?« fragte Thane. Peebles runzelte die Stirn. »Natürlich nicht, wenn er geflogen ist«, erklärte er. »Ich bin mehrmals dabeigewesen. Aber mit einem hübschen Mädchen …« 25
»… wirft man alle guten Vorsätze über Bord«, ergänzte Moss spöttisch. »Ja, das kann vorkommen.« Peebles fuhr sich lächelnd mit der Hand durch das dichte graue Haar. »Die Wahrheit werden wir vermutlich nie erfahren. Im Augenblick bleibt mir nichts anderes übrig, als Ellison vorläufig mit der Geschäftsführung zu betrauen. Dabei kann ich ihn eigentlich im Hauptbüro gar nicht entbehren«, fügte er seufzend hinzu. »In unserer Branche herrscht das ganze Jahr über Hochbetrieb.« »Dann werden Sie Francis sicher vermissen«, bemerkte Thane. »Das kann man wohl sagen.« Peebles stand auf und nahm seinen Mantel vom Kleiderständer in der Ecke. »Falls ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein kann, rufen Sie mich bitte an, Thane.« Peebles zog den Mantel an. »Eines würde mich allerdings noch interessieren. Was ist an diesem Flugzeugabsturz so besonders?« »Wieso? Was soll das heißen?« Thane hob fragend eine Augenbraue. »Nun, ich wundere mich, warum sich ein Chefinspektor mit solchen Routinearbeiten beschäftigt.« Peebles sah Thane abwartend an. Sein goldenes Armband klirrte, als er die Autoschlüssel aus der Tasche zog. »Möglicherweise interessieren wir uns für Manuel Francis«, antwortete Thane vorsichtig. »Falls es was Neues gibt, werden Sie benachrichtigt, Mr. Peebles.« »Ja, das hoffe ich«, erklärte Peebles grimmig. Er machte Ellison ein Zeichen, und der junge Mann ging mit ihm hinaus. Als sich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte, rülpste Phil Moss laut. 26
»Ah, jetzt geht’s mir besser!« seufzte Moss. Thane grinste. Moss’ Magengeschwür war wie ein Stimmungsbarometer, das jeweils anzeigte, ob der Inspektor unter mehr oder weniger starken seelischen Spannungen litt. »Worüber machst du dir Sorgen?« erkundigte sich Thane. »Ist es unser Freund Peebles oder sein junger Kollege?« »Die?« schnaubte Moss verächtlich. »Die beiden sind zwar dick im Reisegeschäft, aber ich habe nicht die Absicht zu verreisen.« »Was ist es dann?« Moss kratzte sich bedächtig am Kopf. »Ich habe mir vorhin Francis’ Wohnung angesehen«, berichtete Moss. »Sie befindet sich genau über den Geschäftsräumen. Die Morgenpost lag noch vor der Tür.« Moss zog einen Umschlag aus der Jackentasche und gab ihn Thane. »Hier, das war dabei.« Thane riß das Kuvert auf. Es enthielt die Rechnung einer Gärtnerei. Thane starrte einen Augenblick verwirrt auf den angegebenen Warenposten und wandte sich dann an Moss. »Warum hatte Francis einen Kranz für eine Beerdigung bestellt?« »Ganz einfach, weil jemand gestorben war«, antwortete Moss knapp. »Die Rothaarige dort draußen behauptet, Francis sei vor drei Tagen auf einer Beerdigung gewesen.« »Aha, und wer war der selige Verstorbene?« fragte Thane resigniert. »Vielleicht rückst du jetzt endlich raus damit.« »Ein Freund von Francis, übrigens ebenfalls ein Privatpilot.« Moss betrachtete Thane aufmerksam. »Es 27
ist nicht zu glauben, aber der arme Mann fiel aus dem Fenster.« »So schlecht, wie es mir heute geht, glaube ich alles«, krächzte Thane heiser, zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche, nahm eine Zigarette heraus, warf sie Moss zu und zündete sich dann selbst eine an. »Trotzdem solltest du die Sache mal überprüfen, Phil.« »Worauf du dich verlassen kannst«, murmelte Moss; die Zigarette achtlos im Mundwinkel. »Das Mädchen hat mir erzählt, daß Francis’ Freund Ben Cassill hieß und Vertreter für Büroartikel war …« »… und einfach aus dem Fenster gestürzt ist«, ergänzte Thane seufzend. Die Zigarette schmeckte ihm nicht und daran war vermutlich der Grippevirus schuld. Die Frage ist natürlich, ob er tatsächlich gefallen ist oder gestoßen wurde, dachte Thane müde. »Schöner Montag ist das heute, Phil!« »Wie?« Moss blinzelte den Chefinspektor verwundert an. »Ach, nichts«, murmelte Thane. »Zeig mir jetzt lieber Francis’ Wohnung.« Beförderungskommission hin oder her, sagte sich Thane mißmutig, diesmal hatte ihm Assistant Chief Constable William ›Buddha‹ Ilford übel mitgespielt.
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hefinspektor Thane und Phil Moss gingen die schmale Hintertreppe hinauf, die vom Reisebüro in die darübergelegene Wohnung führte. Sie bestand aus einem großen Wohnzimmer, einem Schlafzimmer, Küche und Bad. Moss öffnete die Tür und schaltete das Licht an, und Thane sah sich aufmerksam um. Das Bett im Schlafzimmer war nicht gemacht, und in der Küche stand benutztes Geschirr. Sonst war die Wohnung sauber aufgeräumt, und die Möbel waren exklusiv und teuer. Der Geschäftsführer des Reisebüros hatte einen ausgefallenen Geschmack gehabt. »Francis hatte eine Zugehfrau, die dreimal in der Woche kam«, erklärte Moss und starrte neidisch auf die exklusive Inneneinrichtung des Wohnzimmers. »Sonst lebte Francis allein, glücklich und zufrieden …« Thane grinste. Phil Moss wohnte in einer Pension, deren verwitwete Wirtin zwar wenig Miete verlangte, sich jedoch dafür Hoffnungen auf eine Heirat mit Phil Moss machte. »Hast du was Interessantes gefunden?« fragte Thane. »Nicht, daß ich wüßte«, entgegnete Moss prompt. »Schließlich habe ich keine Ahnung, wonach ich suchen sollte.« »Dann geht’s dir wie mir«, brummte Thane heiser. Eine der Röhren der indirekten Beleuchtung in Fran29
cis’ Wohnzimmer war offensichtlich defekt, und das laute Summen machte Thane verrückt. Er ging in die Küche und trank gierig ein Glas Wasser. »Was ist mit Francis’ persönlichen Sachen?« »Er hat einen Schrank voller Anzüge, einige tausend Pfund auf dem Bankkonto und soviele Visastempel im Reisepaß wie ich Haare auf dem Kopf …« Moss verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Dem Burschen schien’s nicht schlecht zu gehen.« »Bis gestern plötzlich seine Glückssträhne zu Ende war.« Thane stellte das Glas in die Spüle. »Ja, richtig.« Moss rülpste leise, griff in seine Jackentasche, holte eine Wismuthtablette heraus und steckte sie in den Mund. Wir könnten beide einen Arzt brauchen, dachte Thane übelgelaunt. Schließlich schlenderten die beiden Beamten in das Wohnzimmer zurück. Eine riesige Stereoanlage nahm fast eine Längsseite des Raumes ein. Daneben stand auf einer eleganten Kommode im silbernen Rahmen die Fotografie eines dunkelhaarigen jungen Mannes, der gerade lachend einem Sportwagen entstieg. »Francis?« erkundigte sich Thane. Moss nickte und betrachtete das Bild genauer. Manuel Francis war ein mittelgroßer, schlanker, aber muskulöser und gutaussehender Mann gewesen. Sein Lächeln wirkte selbstbewußt und draufgängerisch. »Wieviel Alkohol hatte Francis im Haus, Phil?« wollte Thane wissen. »Zwei oder drei Flaschen in dem Schrank dort drüben«, antwortete Moss und ließ sich in einen Sessel fallen. »Wenn der Bursche tatsächlich Alkoholiker gewesen ist, dann muß er seinen Vorrat gerade aufgebraucht haben.« 30
Thane ging zu einem schmalen Mahagoniregal, auf dem das stilisierte gläserne Modell eines Flugzeuges stand. Es war ein schönes Stück. Thane hob es auf und nickte bewundernd, als er auf der Unterseite das Markenzeichen der ›Eaglefarm‹ Töpferei und Glasbläserei entdeckte. Er erinnerte sich, daß sich seine Frau Mary schon immer ein Stück aus der Eaglefarm-Werkstatt gewünscht hatte. Leider waren diese Arbeiten für sie zu teuer gewesen. »Wonach sollen wir eigentlich suchen?« erkundigte sich Moss erneut. »Nach allem, was wir finden können«, entgegnete Thane prompt. »Wir brauchen dringend ein paar Ideen.« Thane setzte das gläserne Flugzeug wieder an seinen Platz zurück. Moss schnaubte verächtlich. »Und das alles nur, weil ein betrunkener Privatpilot mit seiner Maschine abgestürzt ist? Der Einbruch in den Hangar auf dem Flugplatz hat mit dieser Geschichte vielleicht gar nichts zu tun. Möglicherweise ist zufällig ein kleiner Dieb …« Moss verstummte plötzlich. Thane hatte die oberste Schublade der Kommode geöffnet und betrachtete sie mit merkwürdigem Gesichtsausdruck. Moss sprang auf und trat neben ihn. »Was ist los?« fragte er. Thane deutete schweigend auf das Messingschloß an der Vorderseite der Schublade. Sowohl die Metallbeschläge als auch das Holz drum herum waren stark zerkratzt, und das Schloß saß nur noch lokker in seiner Halterung. »Verdammt«, murmelte Moss gepreßt. »Tut mir leid, aber das habe ich übersehen.« 31
»Dieses Schloß ist mit einem Taschenmesser geöffnet worden«, sagte Thane nachdenklich. »Die Frage ist nur, wann das passiert ist. Es kann heute, gestern oder vor zehn Jahren gewesen sein.« Thane zog die Schublade weiter auf. Sie enthielt einen Stapel alter Scheckbücher, abgeheftete Rechnungen und andere persönliche Papiere. Thane zuckte mit den Schultern und machte die Schublade wieder zu. »Wie bist du vorhin hier hereingekommen?« »Drunten am Schlüsselbrett im Büro hing ein Ersatzschlüssel für die Wohnung.« Moss machte eine betretene Miene und holte einen Schlüssel aus seiner Tasche. »Gehen wir jetzt wieder runter und …« »Nein.« Thane schüttelte den Kopf. »Wir behalten die Sache mit dem Schloß vorerst für uns.« Der Chefinspektor lächelte Moss aufmunternd zu. »Mach dir keine Sorgen. Wenn tatsächlich jemand inzwischen hier oben gewesen ist, dann kann uns das nur recht sein.« Die beiden Kriminalbeamten vergewisserten sich noch, daß kein anderes Schloß in der Wohnung aufgebrochen worden war, schlossen dann die Apartmenttür hinter sich zu und gingen in das Reisebüro hinunter. Peter Ellison saß an Manuel Francis’ Schreibtisch und hatte einen Stapel Akten und einen Taschenrechner vor sich. »Sind Sie fertig?« erkundigte sich Ellison und musterte Moss und Thane mit einem hoffnungsvollen Lächeln im pockennarbigen Gesicht. »Für heute schon«, antwortete Thane und betrachtete ein großes Werbeplakat von der italienischen Riviera, das an der Wand hing. »Wie geht das Geschäft?« 32
»Wir haben zu tun. Das hat Ihnen John Peebles ja bereits gesagt. Er ist der Boss und muß es schließlich wissen.« Ellison lehnte sich in seinem Stuhl zurück und steckte die Hände tief in die Taschen seines braunen Kordsamtjacketts. »Der Umsatz ist im letzten Jahr bei allen unseren Filialen gestiegen. Auch hier waren die Geschäfte gut.« »Trotzdem kontrollieren Sie die Bücher?« Thane sah auf die Akten auf dem Schreibtisch. »Wessen Idee ist das gewesen?« »Ich tue immer das, was man mir aufträgt!« Ellison grinste humorlos. »Sie nicht?« »Wie gut haben Sie Manny Francis gekannt?« Ellison zuckte die Achseln. »Wenn ich ab und zu vom Hauptbüro in diese Filiale gekommen bin, haben wir einen Whisky miteinander getrunken.« Ellisons Augen wurden schmal. »Was nicht heißen soll, daß wir uns öfters gemeinsam betrunken haben. Das ist nicht meine Art.« »Wie lange war Francis schon bei Eurobreak beschäftigt?« wollte Moss wissen und lehnte sich gegen die Schreibtischkante. »Seit die Firma besteht, also länger als ich«, antwortete Ellison. Da ihn Moss und Thane abwartend ansahen, fuhr er schließlich seufzend fort: »John Peebles hat die Agentur vor drei Jahren gegründet und Manny ist einer seiner ersten Angestellten gewesen. Damals war Eurobreak noch ein kleiner Betrieb. Inzwischen haben wir eine Zentrale und zwölf Filialen.« Ellison deutete mit dem Daumen über die Schulter auf ein Werbeplakat. »Unsere Spezialität sind billige Ferien für Jedermann. Leute mit kleinem Geldbeutel und großen Wünschen gibt’s genug.« 33
»Ja, das ist mir auch schon auf gefallen«, murmelte Thane tonlos. »Zahlt sich das Geschäft aus?« »Sicher. Die Firma bietet einen guten Service. Wir sorgen für die Transportmittel, die Unterkunft, Ausflüge, billige Souvenirs und verkaufen unseren Kunden sogar die ausländische Währung, die sie brauchen.« Ellison betrachtete Thane spöttisch. »Ich bin überzeugt, daß Manny Francis mehr verdient hat als Sie, Chefinspektor. Unsere Filialleiter haben abgesehen von ihrem Gehalt noch Anspruch auf Provision.« Moss grunzte unwillig. »Hat Francis Ihnen gegenüber irgendwelche Verwandten oder Freunde erwähnt?« Ellison schüttelte den Kopf. »Kennen Sie zufällig einen Mann namens Cassill? Er ist wie Francis Amateurflieger gewesen.« »Nein, tut mir leid«, antwortete Ellison, ohne die Miene zu verziehen. »Was ist mit seinen Damenbekanntschaften?« bohrte Thane geduldig weiter. »Wir haben in seiner Wohnung eine ganze Kollektion von Mädchenfotos gefunden.« »Das sind vermutlich seine Jagdtrophäen.« Ellison machte eine wegwerfende Handbewegung. »Manny hat die Freundinnen gewechselt wie die Hemden. Er wollte sich nicht binden.« »Und Anna Harris ist die letzte in seiner Sammlung gewesen?« Thane fühlte, wie seine Kehle immer trokkener wurde, sprach jedoch weiter: »Seit wann hat Anna Harris in dieser Filiale gearbeitet?« »Seit vergangenem Sommer«, erwiderte Ellison. »Sie hat zuerst als Reiseführerin für unsere Spanientouren angefangen und sich so gut bewährt, daß John 34
Peebles ihr hier einen Job für den Winter gegeben hat, um sie nicht zu verlieren. Anna Harris sprach fließend Spanisch.« Thane hob fragend eine Augenbraue. »Ist das der einzige Grund gewesen?« »Eigentlich schon.« Ellison öffnete eine Schublade und zog einen Reisekatalog heraus. »Peebles hat eine gute Nase fürs Geschäft. Frauen interessieren ihn nicht besonders, was nicht heißen soll, daß er homosexuell ist. Anna Harris war es jedenfalls wert, daß man sie auch außerhalb der Saison beschäftigt hat. Wir haben sie sogar für unseren neuen Werbeprospekt fotografieren lassen.« Ellison schlug die Broschüre auf und deutete auf ein ganzseitiges Farbfoto. »Das ist sie.« Das Mädchen auf dem Bild war blond, hatte große, dunkle Augen und eine ausgezeichnete Figur. Sie trug eine elegante Hostessenuniform und winkte von der Gangway eines Jumbo Jets aus in die Kamera. Thanes Züge wurden hart, als er daran dachte, wie sie auf den Fotos von der Unglücksstelle ausgesehen hatte. Ellison betrachtete die Aufnahme beinahe wehmütig. »Ich bin verheiratet, deshalb war Mrs. Harris für mich tabu. Aber so ein attraktives Mädchen vergißt man nicht so leicht.« Thane nickte. Er glaubte ihm. »Hier, den Katalog können Sie behalten«, bot Ellison ihm an. »Wir haben davon dreißigtausend Exemplare drucken lassen. Möchten Sie sonst noch was wissen?« 35
»Nein.« Thane steckte die Broschüre in die Tasche. »Aber wir kommen wieder. Francis’ Apartment bleibt so lange verschlossen.« »Wie Sie meinen.« Ellison schien sich für die Angelegenheit nicht besonders zu interessieren. Er stand auf und ging zur Tür, die in den Ladenraum führte. »Allerdings schließen wir um sechs, und der Weg in Francis Apartment führt nur durch dieses Büro. Francis hatte seine eigenen Schlüssel.« Phil Moss warf Thane einen Blick zu und nickte unmerklich. Der Tascheninhalt des Toten lag in einer Plastiktüte verpackt im städtischen Leichenschauhaus. »Übrigens, meine Herrn«, begann Ellison. »Falls Sie sich für eine Reise unserer Firma interessieren sollten, lassen Sie es mich ruhig wissen. Eurobreak macht Ihnen gern einen Sonderpreis.« Ellison musterte die beiden Kriminalbeamten lächelnd. »Wir sind stets bemüht, unseren guten Ruf zu erhalten.« »Das kann ich mir denken«, antwortete Thane hölzern. Ellison nickte lächelnd und machte die Tür hinter ihnen zu. Moss starrte wütend auf die Tür. »Der Gewinn der Woche«, murmelte er hämisch. »Eine Reise mit Eurobreak.« »Das hat er sich nett ausgedacht.« Thane grinste. »Wenn wir Eurobreak in Ruhe lassen, dürfen wir uns eine Luxusreise wünschen. Mach’ dir nichts draus, Phil! Sobald er diese Nummer nochmal abzieht, bekommt er von mir einen Tritt in den Hintern.« »Zuvor könnten wir das Angebot allerdings annehmen«, schlug Moss vor. Der Inspektor sah zur Ladentheke hinüber. »Das ist das Mädchen, das mir von 36
Francis und der Beerdigung erzählt hat«, sagte er leise. Thane erkannte die junge rothaarige Angestellte, die ihn in das Büro des Geschäftsführers geführt hatte. Er ging auf sie zu. »Wie heißen Sie?« fragte er das junge Mädchen freundlich. »Jenny Baird.« »Ich möchte mich gern ein wenig über Anna Harris mit Ihnen unterhalten.« Thane machte eine kurze Pause. »Haben Sie sie gut gekannt?« »Nicht besonders.« Jenny Baird wurde rot. »Wir sind nicht gerade Freundinnen gewesen.« »Wußten Sie, daß Anna Harris mit Francis in den Norden fliegen wollte?« Das Mädchen nickte. »Ja, sie hat es mir am vergangenen Freitag erzählt. Die beiden sind schon ein paarmal zusammen fort gewesen.« »Mit dem Flugzeug?« »Ja, manchmal.« Jenny sah flüchtig zu dem neuen Kunden hinüber, der geduldig am anderen Ende der Ladentheke wartete. »Ich glaube, sie sind meistens nach Glenfinn geflogen.« »Warum? Hatten sie einen bestimmten Grund dafür?« »Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.« Jenny Baird runzelte die Stirn. »Ich glaube, Mr. Francis mochte einfach die Gegend.« »Tja, und jetzt sind die beiden tot«, seufzte Thane. »Sind Anna Harris und Mr. Francis eng befreundet gewesen?« »Meinen Sie, ob die beiden verliebt waren?« Das Mädchen wurde über und über rot. »Manny … Mr. 37
Francis ist oft verliebt gewesen und wollte sich nicht binden. Und Anna hatte noch genug von ihrer letzten Scheidung.« Thane lächelte. Es war nicht schwer zu erraten, daß Jenny Baird Manuel Francis’ Charme ebenfalls einmal erlegen war. »Ist Mr. Francis’ Freund Ben Cassill jemals hier in seinem Büro gewesen?« wollte Thane schließlich wissen. »Ja, ab und zu.« Jenny Baird warf dem wartenden Kunden einen nervösen Blick zu. Er schien langsam ungeduldig zu werden. »Wir haben manchmal einige Büroartikel bei ihm bestellt. Aber ich glaube, er ist nur gekommen, um mit Mr. Francis zu sprechen.« »Aha.« Thane dachte einen Augenblick nach. »Wer hat übrigens heute morgen das Büro aufgeschlossen?« erkundigte er sich unvermittelt. »Ich.« Jenny Baird sah den Chefinspektor verwundert an. »Ich habe ebenfalls die Schlüssel zur Ladentür. Mr. Francis ist manchmal erst spät aufgestanden …« »Ich verstehe. Davon hat das Hauptbüro natürlich nichts gewußt.« Miss Baird nickte und Thane fuhr fort: »Ist Ihnen heute morgen, als Sie in das Geschäft kamen, irgend etwas Ungewöhnliches aufgefallen?« »Nein.« Die Augen des Mädchens wurden groß. »Warum?« »Wir werden dafür bezahlt, dumme Fragen zu stellen«, erklärte Moss amüsiert. Kurz darauf verabschiedeten sich die beiden Kriminalbeamten. Draußen hatte sich der Himmel bewölkt und ein leichter Wind war aufgekommen. Thane fröstelte, als sie zu ihrem Streifenwagen gingen. »Was machen wir jetzt?« erkundigte sich Moss. 38
»Wir fahren zu Anna Harris’ Wohnung.« Thane lief erneut ein kalter Schauer über den Rücken. Dann sah er Moss’ Miene. »Was gibt’s denn da zu lachen?« »Ich lache überhaupt nicht!« Moss’ Grinsen vertiefte sich. »Hast du vielleicht Fieber? Soll ich dir meine kühle Hand auf die Stirn legen?« »Danke, ich verzichte. Dazu müßtest du sie erst mal waschen.« Phil Moss nahm Thanes beleidigende Bemerkung grinsend hin. Zehn Minuten später hielt der Streifenwagen mit Inspektor Moss und Chefinspektor Thane vor der alten viktorianischen Villa in der Balfour Street, in der Anna Harris ein Apartment bewohnt hatte. Das Haus war erst vor kurzem zu einem Wohnhaus umgebaut worden. Seine verblichene Fassade zeugte, genau wie die anderen Gebäude dieses Viertels, von vergangenem Reichtum und Eleganz. Moss und Thane ließen Konstabler Erickson am Steuer des Jaguars zurück und gingen durch den Vorgarten zur Haustür der ehemaligen Villa. Auf ihr Klingeln öffnete ihnen ein älterer redseliger Hausmeister im blauen Overall und mit grauem Schnurrbart im faltigen Gesicht. »Ich dachte mir schon, daß die Polizei bald aufkreuzen würde«, begrüßte er die Beamten und entblößte beim Lächeln zwei Reihen gelblicher Zähne. »Sie haben allerdings reichlich lange gebraucht, um hierher zu kommen. Ich habe von dem Unglück schon heute morgen im Radio gehört. Sie haben ihren Namen sogar genannt.« 39
»Wir wollten Ihnen Zeit lassen, um den ersten Kummer zu überwinden«, entgegnete Thane frostig. »Haben Sie den Schlüssel zu Mrs. Harris’ Wohnung?« Der alte Mann nickte und ging über eine knarrende Treppe in den dritten Stock voraus. Oben blieb er vor einer Tür stehen, zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete Anna Harris’ Wohnungstür. »Sie ist eine angenehme Mieterin gewesen«, erklärte der Hausmeister und lehnte sich an den Türrahmen. »Ich bleibe am besten hier. Schließlich bin ich für die Wohnung verantwortlich.« Die beiden Kriminalbeamten drängten sich an ihm vorbei in das Apartment und begannen die Zimmer gründlich zu durchsuchen. Die Wohnung war kleiner als die von Manuel Francis und besaß eine deutlich feminine Atmosphäre. Die Räume waren gemütlich eingerichtet, sauber und aufgeräumt. Sie fanden nirgends ein Anzeichen dafür, daß jemand vor ihnen in der Wohnung gewesen war. Der Hausmeister zündete sich eine übelriechende Zigarre an, humpelte zu Thane ins Wohnzimmer und deutete auf eine Reihe spanischer Postkarten an der Wand über dem Fernsehapparat. »Sie hat mir erzählt, daß sie eine Zeitlang in Spanien gearbeitet hat.« Thane ignorierte den Hausmeister. Ein gläserner Hirschkopf, der in einem Regal am Fenster stand, hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Er hob ihn auf und fand auf seiner Unterseite das Markenzeichen der Eaglefarm-Werkstatt. Thane stellte den Hirschkopf langsam an seinen Platz zurück und wandte sich dann an den Hausmeister. »Wann haben Sie Anna Harris zum letzten Mal gesehen?« 40
Der alte Mann kaute nachdenklich an seinem Schnurrbart. »Samstagnachmittag«, antwortete er schließlich. »Da habe ich bei einem der Wasserhähne in der Wohnung die Dichtung ausgewechselt.« Er zwinkerte Thane verschmitzt zu. »Sie ist die ganze Zeit über nur mit einem dünnen Morgenmantel bekleidet herumspaziert.« »Sie dürften doch über das Alter hinaus sein, um sich noch um solche Dinge zu kümmern«, entgegnete Moss brutal. »Vorhin haben Sie behauptet, daß Anna Harris eine angenehme Mieterin gewesen ist. Stimmt das?« »Mein Gott, sie hat ihre Miete pünktlich bezahlt und sonst keine Schwierigkeiten gemacht. Was will man heutzutage schon mehr? In Glasgow läuft jetzt soviel Gesindel herum …« »Hatte sie Männerbekanntschaften?« unterbrach ihn Moss und blätterte in einem Adressbuch, das neben dem Telefon lag. »Anna Harris hatte ab und zu Herrenbesuch … aber keinen festen Freund.« Der alte Hausmeister wurde plötzlich mißtrauisch. »Außerdem geht mich das Privatleben meiner Mieter nichts an. In diesem Haus wohnen mehrere unverheiratete Frauen. Es ist doch ganz natürlich, wenn sie manchmal einen Mann mitbringen, oder?« »War Anna Harris mit anderen Bewohnern des Hauses enger befreundet?« fragte Moss. »Nein.« Dem Hausmeister schien plötzlich etwas eingefallen zu sein. »Hören Sie, wenn Sie jemand brauchen, der ihre Leiche identifiziert … Das übernehme ich gern. Soviel ich weiß, wird man dafür bezahlt, stimmt’s?« 41
»Nein, das ist ein Irrtum«, widersprach ihm Thane und deutete mit dem Daumen auf die Tür. »Wir gehen jetzt, und zwar alle drei. Vorläufig darf niemand diese Wohnung betreten; es sei denn er könnte einen Haussuchungsbefehl vorweisen.« Auf dem Weg zur Tür schluckte Thane zwei weitere Aspirintabletten. Moss und Thane warteten im Gang, bis der Hausmeister das Apartment verschlossen hatte und verabschiedeten sich dann. Im Streifenwagen bat Thane Erickson, sie zum Polizeirevier der Millside Division zu bringen, und wandte sich dann an Moss. »Ich setze dich dort ab, Phil, und fahre gleich zum Flugplatz.« »In Ordnung.« Moss gähnte. »Ich mache erst mal Mittagspause. Was soll ich dann tun?« Colin Thane beauftragte Phil Moss damit, mehr über die Reiseagentur ›Eurobreak‹, John Peebles, Ellison und Francis und Anne Harris, sowie über Francis’ Freund Ben Cassill herauszubekommen. »Sollen sich die Leute von der Spurensicherung Manny Francis’ Wohnung näher ansehen?« fragte Moss. Er zog ein Stück Schokolade aus der Tasche und begann genüßlich daran zu lutschen. »Die Jungs brauchen ja kein großes Aufsehen darum zu machen.« »Ja, das wäre nicht schlecht«, stimmte Thane zu. Er räusperte sich. Sein Hals fühlte sich trocken und rauh an. »Vielleicht könnte eine unserer Damen Mrs. Harris’ Wohnung einen Besuch abstatten.« Moss grinste verständnisvoll. Der Durchschnittspolizist konnte ein teures Parfüm kaum von einem Desinfektionsmittel unterscheiden. Dann erinnerte er sich 42
daran, daß er die Obduktionsberichte abholen wollte und hob erstaunt die Augenbrauen, als Thane fortfuhr: »Außerdem möchte ich, daß du die Polizei von Glenfinn anrufst und die Leute bittest, ebenfalls Nachforschungen über Harris und das Mädchen anzustellen. Mich interessiert, was sie am Sonntag in Glenfinn gemacht haben. Aber faß die Burschen bitte mit Samthandschuhen an. Mit den Bewohnern der Highlands ist nicht gut Kirschen essen.« »Ich kann mich schon glücklich schätzen, wenn ein Polizist aus der Gegend zugibt, daß er Englisch spricht«, ergänzte Moss. »Kommst du, wenn du auf dem Flugplatz gewesen bist aufs Revier zurück?« Thane nickte. »Ja, sobald ich kann. Falls Buddha Ilford anrufen sollte, dann halte ihn mit den üblichen Ausreden hin. Verstanden?« »Ja, Sir, nein, Sir«, murmelte Moss faul. Er steckte das letzte Stück Schokolade in den Mund, zerknüllte das Silberpapier und merkte plötzlich, daß ihn Erickson durch den Rückspiegel beobachtete. Moss winkte dem Fahrer fröhlich zu und schob das Schokoladenpapier grinsend zwischen die Polster des Rücksitzes. Dann lehnte er sich entspannt zurück und schloß die Augen. Als sie Moss vor dem alten grauen, im neugotischen Stil erbauten Polizeihauptquartier der Millside Division absetzten, war es bereits zwölf Uhr mittags. Kurz darauf fuhr der Jaguar wieder weiter die Straße mit den halbzerfallenen und teilweise bereits abgerissenen Häusern entlang, die noch zu dem ehemaligen Slumviertel gehörten, indem das Polizeirevier des Millside Distrikts früher gelegen hatte. Plötzlich 43
hatte Thane eine Idee. Als der Jaguar an der nächsten Ampel hielt, beugte er sich zu Erickson vor. »Fahren Sie mich zuerst nach Fortrose, Erickson«, befahl er. »Ich möchte mir die Absturzstelle ansehen.« Erickson schien über diese Abänderung der Fahrtroute nicht sehr erfreut zu sein. Er dachte vermutlich an die Reifen seines Wagens. Die Straßen von Fortrose waren meistens mit Glasscherben bedeckt. Als die Ampel auf Grün schaltete, bog er jedoch ohne Widerrede nach links ab. Zehn Minuten später hatten sie den Stadtrand von Glasgow erreicht, und die Hochhäuser von Fortrose tauchten vor ihnen auf, mit denen die Stadt versucht hatte, der Wohnungsknappheit in der unteren Mietsklasse Abhilfe zu schaffen. Leider war dadurch nur ein neues soziales Problem entstanden. An der Ecke des ersten Wohnblocks kam ihnen ein Streifenwagen entgegen. Erickson betätigte die Lichthupe und der Sergeant am Steuer des Streifenwagens legte zum Gruß die Hand an die Mütze. Der Streifendienst in Fortrose war kein Vergnügen. Das wußte Thane nur zu gut. Sie fuhren an einer Reihe schäbiger Ladengeschäfte vorbei. Die Schaufenster waren vergittert. Glas hielt in Fortrose normalerweise nicht lange. Nur wenige Meter vor ihnen prügelten sich drei Jugendliche. Als sie den Funkwagen sahen, ergriffen sie sofort die Flucht. Erickson nahm den Fuß vom Gas, aber die Jungen waren im nächsten Augenblick laut grölend hinter einer Hausecke verschwunden. »Verfluchte Bengel!« sagte Erickson ärgerlich. 44
»Sie wollen doch Anwalt werden, Erickson«, erinnerte ihn Thane. »Das sind vielleicht ihre zukünftigen Klienten.« Erickson bog um die nächste Ecke und hielt am Straßenrand an. Thane betrachtete schweigend die tiefen Löcher und Schleif spuren die die Beagle beim Absturz im Gras der gegenüberliegenden Wiese hinterlassen hatte. Der Wohnblock selbst war nicht beschädigt. »Sir!« Erickson deutete auf die andere Straßenseite. »Wir haben Zuschauer.« Thane wandte kurz den Kopf und nickte. In der Nähe einer Straßenlaterne hatte sich bereits eine kleine Gruppe der Bewohner dieses Stadtviertels versammelt. Die meisten Gesichter waren Thane nur allzu bekannt. Er wußte, daß sie nicht eher von der Stelle weichen würden, bis der Funkwagen wieder abgefahren war. Die kleinen Diebe, Betrüger und anderen Halunken hatten viel Zeit, wenn es darum ging, einen Polizeibeamten zu beobachten. Falls die Gauner jedoch etwas auf dem Kerbholz hatten, konnten sie ebenso blitzartig von der Bildfläche verschwinden, wie sje aufgetaucht waren. »Happy Malloy, Billy Garrison, Doggy Spiers«, zählte Erickson leise auf. »Wer ist denn der Kerl mit der Schottenmütze, Sir?« »Soldier Kelly«, antwortete Thane geistesabwesend. Kelly war vor langer Zeit von der Armee desertiert und zwei Jahre lang untergetaucht. Seither trug er den Spitznamen ›Soldat‹. »Okay, Erickson! Fahren wir. Die Vorstellung ist beendet«, seufzte Thane mit einem Seitenblick auf die kleine Versammlung. 45
Erickson wendete den Jaguar. Kurz darauf passierten sie den Clyde Tunnel und bogen auf die Schnellstraße zum Flugplatz ein. Hinter dem Glaspalast des eigentlichen Flughafengebäudes von Glasgow erstreckte sich am Rande des Rollfelds ein weitverzweigtes Netz von Verbindungswegen, die zu den einzelnen technischen Anlagen und den Hangars führten. Erickson mußte öfters anhalten und nach dem richtigen Weg fragen, bis sie endlich vor der Flugzeughalle hielten, zu der Thane wollte. Der Chefinspektor stieg aus und holte tief Luft. Die Sonne war inzwischen wieder hinter den Wolken hervorgekommen und schien warm auf die große Betonfläche des Rollfelds. Thanes Kopfschmerzen hatten etwas nachgelassen, und seine Kehle war nicht mehr so rauh. Seine Grippe schien sich auf dem Rückzug zu befinden. »Melden Sie der Zentrale, daß unser Wagen einige Zeit nicht besetzt ist, Erickson«, bat er den Konstabler. »Die Unterredung wird länger dauern. Sie können inzwischen ruhig ein Sandwich essen gehen, aber bleiben Sie bitte in der Nähe.« Als Erickson nach dem Mikrofon griff, öffnete Thane bereits die große Flügeltür des Hangars. Leises Stimmengemurmel erfüllte die große Halle. In der Mitte stand das Wrack der Beagle Pup. Einige Männer in blauen Monteuranzügen arbeiteten daran. Thane ging langsam auf sie zu. Seine Schritte hallten laut auf dem Betonboden. Die Männer in den blauen Overalls hielten in ihrer Arbeit inne und sahen auf. 46
»Ah, Thane, gut daß Sie kommen«, begrüßte ihn Captain Leslie lächelnd. Er wischte sich die ölverschmierten Hände an einem weichen Tuch ab. »Unsere Arbeit macht Fortschritte.« »Diese Burschen finden doch immer was«, bemerkte der untersetzte Inspektor der Flughafenpolizei, der neben Leslie stand. Er trug eine saubere Uniform, hatte ein rundes, grobes Gesicht und musterte Thane aufmerksam. »Man hat mir bereits gesagt, daß Sie kommen, Chefinspektor. Ich bin Dan Melrose von der Flughafenpolizei.« Thane schüttelte ihm die Hand. Die Flughafenpolizei hatte einen eigenen, selbständigen Status, und Thane mahnte sich insgeheim zur Vorsicht. Inspektor Melrose schien ihm jedoch freundlich gesinnt und zur Zusammenarbeit bereit. »Sind Sie noch immer hinter dem Einbrecher her?« erkundigte sich Thane. »Nach allem, was ich gehört habe, sind eure Chancen, den Burschen zu erwischen, gering.« »Ja, leider«, stimmte ihm Melrose zu. »Gibt es keine Zeugen?« »Nein«, antwortete Melrose grimmig. »Ich habe dem stellvertretenden Polizeichef am Telefon schon gesagt …« »Hat Buddha Ilford bei Ihnen angerufen?« fragte Thane überrascht. »Ja.« Melrose grinste verständnisvoll. »Ich habe ihn schon erfolglos davon zu überzeugen versucht, daß der Flugplatz hier kein Glasgower Hinterhof ist.« »Das kann ich mir vorstellen«, murmelte Thane und wandte sich dann an Leslie: »Meine Vermutung 47
hat sich bestätigt, Captain. Der Pilot hatte einige Promille Alkohol zuviel im Blut.« Leslie nickte nachdenklich und führte die beiden Beamten zu der linken eingedrückten Tragfläche des Wracks. Der Captain bat den Techniker, der daran arbeitete, eine Pause zu machen, und wartete, bis er verschwunden war. »Wie gut kennen Sie sich mit Flugzeugen aus, Thane?« erkundigte sich Leslie. »Schlecht«, gab Thane unumwunden zu. »Okay.« Leslie deutete auf das Wrack. »Wir haben das Flugzeug inzwischen wieder zusammengesetzt, um uns erst einmal ein Bild davon zu machen. Die eigentliche Arbeit kommt noch.« »Und fehlt etwas?« wollte Thane wissen. »Nein. Wenigstens nichts von Bedeutung«, erklärte Leslie bestimmt. »Ich habe mir die Maschine genau angesehen, Thane. Meiner Ansicht nach kommt im Augenblick als Unfallursache nur menschliches Versagen in Frage.« »Meinen Sie, weil der Pilot unter Alkoholeinfluß stand?« fragte Melrose schnell. »Ja.« Leslie nickte. »Sein Reaktionsvermögen muß stark beeinträchtigt gewesen sein.« »Und wie ist das Unglück dann passiert?« Thane sah den Captain erwartungsvoll an. »Augenblick, das kann ich Ihnen sofort demonstrieren«, versprach Leslie. Der Captain führte Thane und Melrose von einem Flugzeugteil zum anderen, erklärte ihnen die Stellungen der Seiten- und Höhenruder, die Instrumente, den Motor und die elektrische Anlage. 48
»Geschehen ist dann folgendes«, sagte Leslie schließlich und räusperte sich. Thane und Melrose tauschten einen verwunderten Blick. Sie hatten offensichtlich beide nicht viel von Leslies komplizierten Ausführungen verstanden. »Von der Flugsicherungsbehörde wissen wir, daß Francis beim Anflug auf den Flugplatz aufgefordert worden ist, etwa hundert Meter höher zu steigen, da er zu niedrig flog.« Leslie zuckte mit den Schultern. »Wir haben uns den Höhenmesser angesehen. Er war anscheinend nicht in Ordnung, denn er zeigte genau hundert Meter zu wenig an. Das wurde Francis zum Verhängnis. Beim Anflug auf Glasgow hatte er vom Kontrollturm die richtige Höhenangabe über Funk erhalten.« Thane runzelte die Stirn. »Dann haben seine Instrumente …« »… eine Flughöhe angezeigt, die hundert Meter über der tatsächlichen Höhe lag«, ergänzte Leslie geduldig. »Francis ist also mit der Beagle gestiegen. Dabei vermindert sich natürlich die Fluggeschwindigkeit, es sei denn, man gibt gleichzeitig Gas. Wenn der Pilot das jedoch nicht tut …« Leslie demonstrierte ihnen den Vorgang mit seiner Hand »… wird irgendwann ein Punkt erreicht, ändern das Gewicht des Flugzeugs größer ist als der Auftrieb. Die Nase der Maschine wird nach unten gedrückt und das Flugzeug stürzt ab.« »Weil der Motor aussetzt?« erkundigte sich Inspektor Melrose verwundert. »Nein, bei einem Flugzeug ist das anders als bei einem Auto«, belehrte ihn Leslie. »Beim Durchsacken läuft der Motor bis zum bitteren Ende.« Der Captain 49
betrachtete nachdenklich das Wrack der Beagle Pup. »Auf dem Armaturenbrett dieser Maschine hat ein Warnlicht aufgeleuchtet, als die Geschwindigkeit des Flugzeugs ihren kritischen Punkt erreicht hatte. Der kleine Hebel, der das Warnsignal auslöst, stand auch nach dem Absturz noch in der richtigen Position. Und wenn es einmal soweit gekommen ist, muß der Pilot schnell und richtig reagieren.« »Kann er den Sturzflug des Flugzeugs denn nicht abfangen?« wollte Thane wissen. Die Vorstellung, daß die Beagle mit zwei Menschen an Bord unaufhaltsam in die Tiefe gerast war, jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. »Doch, natürlich, das lernt jeder Pilot.« Leslie tippte mit der Fußspitze an eine Tragfläche des Wracks. »Man drückt den Steuerknüppel nach vorn, gibt Gas und fliegt eine leichte Kurve. Dadurch bringt man die Maschine langsam wieder hoch. Für dieses Manöver hat der Pilot allerdings nur wenige Sekunden Zeit. Wenn er zu lange zögert, beginnt das Flugzeug zu schlingern und zu trudeln und dann ist es zu spät.« Leslie verzog sein hageres Gesicht zu einer Grimasse. »Von den Instrumenten können wir ablesen, daß Francis offensichtlich versucht hat, das drohende Unglück abzuwenden, aber er hat nicht schnell genug gehandelt.« »Eine schreckliche Art zu sterben«, murmelte Melrose mitleidig. Leslie sah zu Thane. »Ich möchte mich zwar noch nicht endgültig festlegen, aber ich glaube, der Absturz der Beagle ist auf den Fehler des Piloten zurückzuführen.« 50
Thane nickte. »Sie wissen ja, woran ich hauptsächlich interessiert bin, Captain. Haben Sie sich den Cockpit noch mal angesehen?« »Mir ist was Besseres eingefallen, Thane«, entgegnete Leslie. »Nachdem ich heute morgen zum Flugplatz zurückgekommen war, habe ich einen Inspektor vom Flughafenzoll gebeten, das für mich zu übernehmen. Diese Leute kennen doch jedes Versteck. Der Inspektor hat die ganze Maschine gründlich wie ein Schmuggelflugzeug durchsucht und nichts gefunden.« In diesem Augenblick läutete in einer Ecke der Flugzeughalle das Telefon. Einer der Mechaniker nahm den Hörer ab und rief dann laut Leslies Namen. »Das ist vermutlich London«, seufzte der Captain. »Wir haben eben alle einen Vorgesetzten.« Leslie wandte sich zum Gehen, blieb jedoch plötzlich stehen und sagte zu Thane: »Dort drüben, der rothaarige junge Mann in der Lederjacke, dürfte Sie übrigens interessieren, Chefinspektor. Er ist mit seinem Flugzeug heute morgen von Glenfinn gekommen.« Leslie lief zum Telefon, und Melrose ging mit finsterer Miene um das Flugzeugwrack herum. Thane drehte sich um und entdeckte in einer Ecke des Hangars eine schmale, hochgewachsene Gestalt mit roten Haaren. Während sich Leslies Mechaniker wieder an ihre Arbeit machten, schlenderte er langsam auf den Mann zu. »Captain Leslie hat mir gerade erzählt, daß Sie aus Glenfinn kommen«, begann Thane. »Ja, das stimmt.« Der Rothaarige nickte und lächelte freundlich. Er war groß, ungefähr Anfang Zwanzig und hatte ein sommersprossiges gutgeschnittenes Ge51
sicht. »Ich heiße Gibby MacDonald. Sie sind vermutlich von der Polizei?« »Sieht man mir das an?« konterte Thane. »Nicht direkt. Die Mechaniker haben mir gesagt, daß Sie der Chefinspektor sind.« MacDonald trug verwaschene Blue jeans und ein gelbes T-Shirt unter seiner Lederjacke. »Ich mußte heute morgen eines unserer Clubflugzeuge zur Generalüberholung nach Glasgow bringen. Deshalb bin ich hier.« »Hatten Sie einen Termin?« MacDonald nickte und warf einen Blick auf das Wrack der Beagle. »Ja, das war schon lange vorgesehen. Ich bin sonst nicht neugierig, aber die Beagle hat mich interessiert.« »Haben Sie Francis gekannt?« »Wir haben ein- oder zweimal miteinander gesprochen, mehr nicht«, antwortete MacDonald vorsichtig und verzog sein sommersprossiges Gesicht zu einem liebenswürdigen Grinsen. »Ich bin Fluglehrer beim Glenfinn Fliegerclub und deshalb sonntags meistens auf dem Flugplatz.« Der erste Glücksfall an diesem Montag, dachte Thane dankbar. »Haben Sie zufällig gestern mit Francis gesprochen?« »Ja.« MacDonald zuckte die Achseln. »Wir haben uns lediglich Guten Tag gesagt. Francis hatte das Mädchen bei sich und wirkte nicht sehr gesprächig.« MacDonald seufzte. »Nach der Landung, die er sich geleistet hat, hätte ich mich auch so schnell wie möglich verdrückt.« »Warum? Was hat mit seiner Landung nicht gestimmt?« fragte Thane. 52
»Francis hat die Beagle wie ein Anfänger aufgesetzt«, erklärte der junge Fluglehrer. »Bei seiner Flugerfahrung hätte man was Besseres erwarten können.« Er betrachtete erneut das Wrack der Beagle. »Vielleicht …« MacDonald hielt kopfschüttelnd inne. »Haben Sie Francis später nochmal gesehen?« »Nein.« MacDonald überlegte einen Augenblick. »Als ich nach Hause gegangen bin, stand die Beagle Pup noch auf dem Rollfeld.« Thane hatte erneut den Eindruck, daß der junge Mann mehr sagen wollte, sich es jedoch im letzten Augenblick anders überlegte. »Bedrückt Sie was?« fragte Thane ruhig. MacDonald seufzte. »Ich denke nur …«, begann er zögernd. »Wenn ich gestern abend im Club gewesen wäre, hätte ich vermutlich versucht, Francis daran zu hindern, überhaupt noch zu fliegen. Die anderen wußten, daß er in der Hotelbar ’ne Menge getrunken hatte und man merkte es ihm auch an. Francis ist zwar nicht betrunken gewesen, aber …« »Ja, ich weiß«, unterbrach ihn Thane. Leslie hatte sein Telefongespräch beendet und kam auf sie zu. »Wir haben eine leere Whiskyflasche im Cockpit gefunden.« »Dieser Idiot!« MacDonald starrte Thane ungläubig an. »Warum hat er das getan?« »Das möchte ich auch gern wissen«, entgegnete Thane mürrisch. »Vielleicht kann uns jemand aus Glenfinn die Antwort auf diese Frage geben.« Thane hatte plötzlich eine Idee. »Ich glaube, ich werde nach Glenfinn fahren.« »Wann?« erkundigte sich MacDonald interessiert. »Vielleicht morgen.« 53
»Wenn Sie um acht Uhr morgen früh auf dem Flugplatz sind, nehme ich Sie in meiner Maschine mit«, schlug MacDonald prompt vor. Er grinste. »An unserem Flugzeug ist mehr zu reparieren, als ich angenommen habe. Die Mechaniker werden erst heute abend fertig. Ich muß also die Nacht über hierbleiben.« ’ Thane zögerte. »Und wie komme ich wieder nach Glasgow zurück? Ich möchte nicht länger als einen Tag in Glenfinn verbringen.« »Keine Sorge, das arrangiere ich schon. Irgend jemand fliegt Sie zurück«, versicherte ihm MacDonald. »Das kostet Sie keinen Pfennig und Sie sparen dem Steuerzahler damit ’ne Menge Geld. Also was ist? Schaffen Sie es bis acht Uhr früh?« Thane nickte. Die Bekanntschaft mit MacDonald konnte ihm in der abgelegenen Gegend des schottischen Hochlandes, in der Glenfinn lag, vielleicht noch nützlich sein. »Okay, bis morgen!« MacDonald nickte Thane kurz zu und schlenderte zum Ausgang. »Na, hat der Junge Ihnen weiterhelfen können?« fragte Captain Leslie, der noch kurz mit einem Mechaniker gesprochen hatte. »Ich glaube schon«, antwortete Thane. Leslie sah auf die Uhr. »Meine Leute haben eine Mittagspause verdient. Ich habe auch Hunger. Was ist mit Ihnen?« Thane nickte. Er hatte ebenfalls Lust auf ein Sandwich. Das war ein gutes Zeichen. Sein Schüttelfrost hatte aufgehört. Die Grippe schien fürs erste abgewehrt. 54
»Okay.« Leslie drehte sich um und rief seinen Leuten zu: »Mittagspause, meine Herrn! In einer halben Stunde treffen wir uns wieder hier.« Als die Mechaniker den Hangar verließen, kam Inspektor Melrose auf Thane und Leslie zu. »Wir gehen zum Essen, Inspektor Melrose«, erklärte Leslie. »Wollen Sie uns begleiten?« Melrose zögerte und schüttelte dann den Kopf. »Ich muß mal wieder in meinem Büro nach dem Rechten sehen«, sagte er. »Aber ich gehe ein Stück mit Ihnen. Es sei denn …« Melrose runzelte die Stirn. »Vielleicht sollte einer meiner Leute solange die Bewachung des Wracks übernehmen?« »Und warum, wenn ich fragen darf?« entgegnete Leslie. Melrose zuckte mit den Schultern und sah zu Thane. Der Chefinspektor schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß das jetzt noch nötig ist.« Kurz darauf verließen sie als letzte den Hangar und gingen zu der Flughafenkantine, die nur wenige hundert Meter von der Flugzeughalle entfernt lag. Melrose trennte sich dort von Leslie und Thane, die sich in die Schlange vor dem Selbstbedienungsbuffet einreihten. Thane starrte gerade angestrengt auf die Tafel mit den angebotenen Speisen, als plötzlich eine ohrenbetäubende Detonation das Gebäude erschütterte. »Verdammt!« zischte Leslie und hielt sein Tablett fest umklammert. Er starrte Thane mit offenem Mund an und schluckte hart. »Das klang, als sei in unserem Hangar etwas …« 55
Thane nickte. Sie stellten ihre Tabletts beiseite und rannten aus der Kabine. Thane beobachtete aus den Augenwinkeln, wie auch andere von ihren Tischen aufsprangen und dem Ausgang zuliefen. Kurz darauf rannten sie bereits um die Ecke. Aus dem Dach des Hangars, in dem die Beagle stand, quoll schwarzer Rauch, dann schoß eine riesige Stichflamme in die Höhe und die erste Feuerwehrsirene begann zu heulen. In diesem Augenblick entdeckte Thane Erickson, der laut schreiend und gestikulierend in die andere Richtung lief. Thane rannte fluchend hinter ihm her, als er den Grund für Ericksons Aufregung erkannte. Ungefähr zweihundert Meter vor Erickson sprintete eine Gestalt quer über das Rollfeld. Thane lief so schnell er konnte, um den Abstand zwischen sich und Erickson zu vermindern, aber dann waren der Unbekannte und sein Verfolger schon hinter dem nächsten Bürogebäude verschwunden. Als Thane einen Augenblick später um die Ecke kam, sah er, daß der Konstabler nur wenige Meter vor ihm stehen geblieben war. Dann hörte der Chefinspektor, daß ihm Erickson eine Warnung zurief und starrte entsetzt auf die kleine grüne Ford-Limousine, die geradewegs auf sie zuraste. Erickson riß seinen Gummiknüppel hoch, schlug damit gegen die Windschutzscheibe des Wagens und sprang im selben Augenblick zur Seite. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Thane durch die zersplitterte Scheibe eine maskierte Gestalt hinter dem Steuer kauern, dann raste das Auto dicht an ihm vorbei und verschwand mit quietschenden Reifen hinter der nächsten Ecke. 56
Während sich Erickson mühsam aufrappelte, rannte Thane ein Stück zurück und sah gerade noch, wie der grüne Ford auf die Schnellstraße vor dem Flugplatz einbog. »Ich gebe sofort einen Funkspruch durch«, keuchte Erickson und humpelte zu Thane. »Ich habe die Nummer des Wagens …« »So, tatsächlich«, murmelte Thane gleichgültig. »Das wird uns kaum was nützen. Der Bursche läßt das Auto vermutlich an der nächsten Ecke stehen. Der Ford war sicher gestohlen.« Thane musterte Erickson scharf. »Wo sind Sie eigentlich gewesen, als das passierte?« »Ich habe den Flugzeugen beim Starten und Landen zugesehen«, antwortete Erickson zerknirscht. »Ich dachte …« »Denken ist Glücksache! Ist der Kerl aus dem Hangar gekommen?« Erickson nickte. »Ja, er ist kurz vor der Detonation aus der Halle gerannt. Ich bin sofort hinter ihm hergelaufen, Sir.« »Das nächste Mal laufen Sie gefälligst schneller!« befahl Thane dem Konstabler scharf. Dann schüttelte er den Kopf. »Schon gut, nehmen Sie’s nicht tragisch. Ich habe auch geglaubt, daß die Beagle nicht mehr bewacht werden müßte.« »Soviel ich weiß, sind Sie … auch nicht in der Nähe des Hangars gewesen«, erinnerte ihn Erickson eigensinnig. »Stimmt genau!« entgegnete Thane frostig. »Was stehen Sie hier noch rum, Mann? Geben Sie endlich den Funkspruch durch. Oder wollen Sie bis Weihnachten warten?« 57
Fünfzehn Minuten später verließ der letzte Löschwagen der Flughafenfeuerwehr den Hangar. Colin Thane watete mit finsterer Miene neben Captain Leslie durch das knöcheltiefe Gemisch aus Wasser und Löschschaum, das den Boden der Flugzeughalle bedeckte. Vor dem ausgebrannten Wrack der Beagle Pup blieben sie stehen. »Petroleum«, murmelte Leslie geistesabwesend. »Wissen Sie schon, daß man den Kanister gefunden hat?« Thane nickte. Inspektor Melrose und seine Leute hatten den Blechbehälter sichergestellt. Inzwischen war er vermutlich schon auf dem Weg ins Labor. Der Chefinspektor betrachtete nachdenklich die verkohlten Überreste der Sportmaschine. Noch immer hing ein scharfer Rauchgeruch in der Luft. Falls in dem kleinen Flugzeug tatsächlich irgend etwas versteckt gewesen war, dann war es durch das Feuer sicher vernichtet worden. »Tja, er ist also doch noch mal zurückgekommen«, seufzte Leslie schließlich tonlos. »Ein hartnäckiger Bursche.« »Ja«, stimmte ihm Thane einsilbig zu. Ein Streifenwagen hatte den grünen Ford drei Kilometer vom Flughafen entfernt am Straßenrand entdeckt. Erickson schien der einzige Zeuge des Vorfalls zu sein. Der Gedanke, daß er das alles Buddha Ilford erklären mußte, stimmte Thane nicht gerade froh. »Verdammter Montag«, schimpfte Thane vor sich hin und stapfte aus dem Hangar.
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u hast also einen Rüffel bekommen! Hast du vielleicht erwartet, daß dir Ilford dafür eine Medaille verleiht?« erkundigte sich Phil Moss. Es war Spätnachmittag. Phil Moss saß in einem Stuhl vor Colin Thanes Schreibtisch und hatte beide Beine auf die zerkratzte Tischplatte gelegt. Alles, was Thane von seinem Kollegen sah, war ein Haarschopf über einem Paar abgelaufener Schuhsohlen und schmutzige Hosenaufschläge. »Wenn das ’n Orden gewesen sein soll, dann hat er ihn mir auf eine verdammt schmerzhafte Stelle geheftet«, krächzte Thane müde. Moss lachte schallend. Thane fand die Situation weitaus weniger amüsant. Als er den stellvertretenden Polizeichef vom Flugplatz aus angerufen und berichtet hatte, was vorgefallen war, hatte ihm sein Chef mit eisiger Höflichkeit klipp und klar die Meinung gesagt. Thane beugte sich über den Schreibtisch, schaltete das Sprechgerät ein und bat seine Sekretärin, ihnen eine Kanne Kaffee zu bringen. Dann lehnte er sich wieder in seinem Stuhl zurück und deutete mit dem Zeigefinger auf Moss. »Für mich ist das Thema jetzt erledigt, verstanden?« Moss sah das gefährliche Glitzern in Thanes Augen und wußte, daß die Warnung ernst gemeint war. »Ma59
ry hat übrigens angerufen«, erzählte er. »Sie wollte wissen, wie’s deiner Grippe geht.« »Es scheint sich doch tatsächlich jemand Sorgen um mich zu machen«, murmelte Thane und fühlte sich insgeheim geschmeichelt. Seine Frau Mary rief nur an, wenn es sich wirklich um etwas Wichtiges handelte. »Wir sind beide übereingekommen, daß du’s überleben wirst«, fuhr Phil Moss fort. »Willst du wissen, was bei meinen Erkundigungen herausgekommen ist?« Thane nickte. »Bitte, erwarte keine Wunder von mir«, warnte ihn Moss. »Unser Mann in Glenfinn ist ein Sergeant namens Gordon. Am Telefon klang er wie ein echter schottischer Dickschädel, aber ich glaube, er tut, was ich ihm aufgetragen habe.« In diesem Augenblick klopfte es an die Tür. Thanes Sekretärin brachte den Kaffee und ging gleich darauf wieder hinaus. Die ganze Abteilung wußte bereits, daß ihr Chefinspektor einen schlechten Tag hinter sich hatte, und jeder machte einen großen Bogen um ihn. »Was ist mit Francis und dem Mädchen?« erkundigte sich Thane und trank einen Schluck Kaffee. »Die Obduktionsbefunde sind eindeutig«, berichtete Moss. »Beide sind an verschiedenen inneren und äußeren Verletzungen gestorben.« Moss nippte mißtrauisch an seinem Kaffee und rülpste. »Anna Harris’ einziger Angehöriger ist ihr geschiedener Mann in Kanada. Sie hatte keine Vorstrafen.« »Und Manny Francis?« 60
»Seine Familie lebt in Edinburgh und hat seit Jahren nichts mehr von ihm gehört«, fuhr Moss fort. »Er wollte ursprünglich Pilot werden, hat jedoch die Prüfung nicht geschafft. Bevor er von Eurobreak angestellt worden ist, hat er als Vertreter gearbeitet. Ob er Vorstrafen hatte, weiß ich noch nicht. Die Leute vom Archiv haben sich noch nicht wieder gemeldet.« Thane stand auf, ging zum Fenster und starrte auf eine Gruppe Kinder, die auf der Straße spielten. Es begann bereits langsam dunkel zu werden. Schließlich drehte er sich wieder um. »Was hast du über die Firma Eurobreak in Erfahrung bringen können?« fragte er Moss. »Soweit ich feststellen konnte, hat Peebles die Wahrheit gesagt. Er ist der Boss … stille Teilhaber gibt es nicht. Die Leute von der Gewerbeaufsichtsbehörde halten die Preispolitik der Firma zwar für unsolide, müssen jedoch zugeben, daß das Geschäft floriert.« Moss nahm seine Beine von Thanes Schreibtisch. »Es heißt, Peebles habe vor der Gründung von Eurobreak eine Werbeagentur geführt, die dann Pleite gemacht hat. Zu viele seiner Kunden sollen angeblich ihre Rechnungen nicht bezahlt haben.« »So was kommt vor.« Thane nickte. »Was ist mit Peebles eleganter Marionette, diesem Ellison?« »Ellison ist Peebles Angestellter.« Moss trank seinen Kaffee aus. »Er ist verheiratet, hat ein Haus und eine Hypothek. Was er uns nicht erzählt hat, ist, daß er mit Peebles verwandt ist. Trotzdem glaube ich, daß er sein Geld wert ist. Peebles hat die Ideen und Ellison macht die Kleinarbeit.« 61
Moss setzte seine Kaffeetasse auf den Schreibtisch, stand auf und ging zur Tür. »Auf Francis’ Freund Cassill habe ich übrigens Mac angesetzt.« Der Inspektor öffnete die Tür zum Bereitschaftsraum. Um diese Zeit waren die meisten Schreibtische bereits leer. Moss und Thane gingen auf einen Mann Mitte Vierzig zu, der an einem Tisch am Fenster saß und eifrig auf seiner Schreibmaschine schrieb. Sergeant MacLeod sah erst von seiner Schreibmaschine auf, als er eine Zeile zu Ende geschrieben hatte. »Was haben Sie über diesen Ben Cassill herausbekommen, Sergeant?« erkundigte sich Thane. »Ich schreibe gerade den Bericht«, antwortete der Sergeant gequält und deutete auf eine Akte. »Sagen Sie mir trotzdem kurz das Wichtigste«, forderte der Chefinspektor ihn auf. MacLeod biß sich nachdenklich auf die Unterlippe. »Ein Streifenpolizist hat Cassill um zwei Uhr morgens tot auf dem Bürgersteig einer Seitenstraße der Tannick Street entdeckt. Das ist vor acht Tagen gewesen. Cassill hat im 3. Stock eines angrenzenden Mietshauses gewohnt. Sein Schlafzimmerfenster, das auf die Straße führte, stand offen. Das Bett schien benutzt gewesen zu sein. Der Tote trug eine Pyjamahose.« »Wie lautet der Obduktionsbefund?« wollte Thane wissen. »Schädelbasis- und Genickbruch«, antwortete MacLeod und blätterte betont langsam in seinem Bericht. »Unsere Kollegen vom Bezirk-Süd hielten Selbstmord für ausgeschlossen. Cassill hatte keinen Brief hinterlassen. Allerdings hat Cassill regelmäßig Schlaftabletten genommen und ist wegen nervöser Spannungen 62
bei einem Arzt in Behandlung gewesen.« Der Sergeant zuckte mit den Schultern. »Man hat vermutet, daß er von irgendeinem Geräusch auf der Straße geweckt worden ist und aufstand, das Fenster öffnete …« »Und sich zu weit hinausgelehnt hat?« Thane hob fragend die Augenbrauen. »Gibt es keine Hinweise auf ein Verbrechen?« »Nein. Wir wissen allerdings nicht, wodurch Cassill aufgeweckt wurde.« »Katzen können ’ne Menge Lärm machen«, überlegte Moss. »Hat jemand von den Nachbarn was gehört?« MacLeod schüttelte den Kopf. »Soll ich mich vielleicht noch mal mit ihnen unterhalten?« »Ja, tun Sie das«, sagte Thane langsam. »Ich möchte gern wissen, warum unser Freund Cassill unter nervösen Spannungen gelitten hat.« Einer der Kriminalbeamten im Bereitschaftsraum hatte eben einen Telefonanruf entgegengenommen und nutzte die Gesprächspause, um Thane einen Zettel zu reichen. Der Chefinspektor warf einen Blick darauf und fluchte unterdrückt. »Phil!« Thane gab die Notiz seinem Kollegen. Das Archiv hatte bestätigt, daß Manny Francis in ihrer Kartei mit zwei Vorstrafen geführt wurde. Eine Verurteilung lag schon viele Jahre zurück. Damals hatte Francis wegen leichter Körperverletzung und Diebstahl ein Jahr auf Bewährung bekommen. Die zweite Strafe hatte Francis jedoch erst vor sechs Jahren verbüßt. Er war von einem Edinburgher Schwurgericht wegen Betrug und Diebstahl zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden. 63
»Das haben die Herrn wohl vergessen zu erwähnen«, erklärte Moss spöttisch. »Wenn Francis seine Strafe voll abgesessen hatte, dann muß er direkt nach seinem Zwangsurlaub bei Peebles angefangen haben. Ob Peebles das weiß?« »Genau das werde ich ihn fragen.« Thane sah auf seine Uhr. »Ruf den Sergeant in Glenfinn an und sag ihm, daß ich morgen früh zu ihm komme. Ich fliege um acht Uhr von Glasgow ab.« Thane hatte plötzlich eine Idee. »Cassill ist doch auch Privatpilot gewesen, Phil. Erkundige dich mal, ob er in letzter Zeit geflogen ist und wenn ja, wohin.« »Okay, mal sehen, was sich machen läßt.« Moss stöhnte unterdrückt, als Thane dem Ausgang zustrebte. Sein Magengeschwür tat wieder weh, und er beschloß, auf dem Heimweg in ein neueröffnetes Reformhaus zu gehen und sich einen Magentee zu besorgen. Die Zentrale der Eurobreak Reiseagentur lag mitten im Hauptgeschäftsviertel Glasgows, ganz in der Nähe der Sauchiehall-Street. Colin Thane betrat das Geschäftsgebäude um Punkt fünf Uhr. Eine Empfangsdame führte ihn durch die Halle zu einem Lift. Der Chefinspektor fuhr in den zweiten Stock hinauf. Dort begrüßte ihn in einer exklusiv eingerichteten Vorhalle ein attraktives, dunkelhaariges Mädchen. Sie stellte sich als die Direktionssekretärin vor und führte ihn mit strahlendem Lächeln in John Peebles Büro. »So schnell habe ich mit Ihrem Besuch offengestanden nicht gerechnet, Chefinspektor, aber ich freue mich, Sie zu sehen«, begrüßte ihn Peebles, der in 64
Hemdsärmeln in seinem großen, geschmackvoll ausgestatteten Büro stand. Er entließ seine Sekretärin mit einem Kopfnicken und deutete dann auf eine kleine fahrbare Bar. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?« »Danke, vielleicht ein andermal«, lehnte Thane ab. »Ich bleibe nicht lange.« »Gut.« Peebles grinste breit und warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich mache hier meistens schon vor halb sechs Schluß. Bitte, setzen Sie sich.« Thane nahm in einem Sessel Platz, während sich Peebles hinter seinem großen, eleganten Schreibtisch niederließ. Trotz der grauen Haare schätzte Thane den Direktor des Reisebüros erst auf Ende Vierzig. »Nun?« fragte Peebles, lehnte sich in seinem bequemen Drehstuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Was kann ich für Sie tun, Chefinspektor? Eigentlich haben Ellison und ich Ihnen schon alles gesagt, was wir wissen.« »Ich glaube, Sie haben doch etwas vergessen«, bemerkte Thane betont langsam. Peebles blinzelte verwundert. »Haben Sie gewußt, daß Manny Francis vorbestraft gewesen ist?« »Ja.« Peebles harte dunkle Augen hielten Thanes durchdringendem Blick stand. »Aber ich habe ihn trotzdem eingestellt.« »Warum haben Sie uns das verschwiegen?« Peebles zuckte mit den Schultern. »Ich hätte es Ihnen fast gesagt, aber dann hatte ich mir gedacht, daß Sie es früher oder später selbst herausbekommen würden … Das heißt, wenn diese Angelegenheit überhaupt für Sie wichtig war …« 65
»Trotzdem haben Sie Ellison mit der Revision von Francis’ Büchern beauftragt«, erinnerte Thane den Direktor. »Ja, sicher. Sie sind übrigens in Ordnung.« Peebles rieb sich das Kinn. »Hören Sie, ich habe Francis gekannt, bevor er in Schwierigkeiten geriet. Er hatte Spielschulden und hat deshalb bei seiner ehemaligen Firma Geld unterschlagen. Als er nach seiner Gefängnisstrafe zu mir kam, habe ich ihm eine Chance gegeben. Es hat sich für uns beide gelohnt. Haben Sie daran was auszusetzen?« Thane schüttelte den Kopf. »Dann muß ich Sie leider nochmal fragen, warum sich die Polizei so brennend für dieses Flugzeugunglück interessiert?« begann Peebles vorsichtig. »Oder ist es kein Unfall gewesen?« »Soweit wir es beurteilen können, handelte es sich um einen Unfall«, erklärte Thane ruhig. »Merkwürdigerweise scheint sich jedoch irgend jemand so sehr für die Überreste des kleinen Sportflugzeugs zu interessieren, daß er es riskiert hat, am hellichten Tag in den Hangar auf dem Flugplatz einzudringen und es in Brand zu stecken.« »Tja, das ist Ihr Problem, Thane, und nicht meines.« John Peebles stand auf. »Tut mir leid, Chefinspektor, aber mich gehen nur Manny Francis und Anna Harris etwas an, weil sie schließlich bei mir angestellt gewesen sind. Und da sich die beiden nichts zu schulden …« »Möchten Sie nicht in die Sache hineingezogen werden«, unterbrach ihn Thane gelassen und blieb ruhig in seinem Sessel sitzen. »Ellison hat uns das freundlicherweise bereits ausgerichtet.« 66
»Wenn wir können, helfen wir Ihnen selbstverständlich gern«, bemerkte Peebles frostig. »Ich hoffe, wir haben uns richtig verstanden?« »Vollkommen«, versicherte ihm Thane. Dann stand er auf und verabschiedete sich. Die schöne Dunkelhaarige mit dem strahlenden Lächeln empfing ihn im Vorzimmer und brachte ihn wieder zum Lift. An jenem Abend gab es im Fernsehen einen alten Western, und sobald das Abendessen bei den Thanes vorüber war, versammelten sich die Kinder vor dem Fernsehapparat. Thane war ausnahmsweise froh darüber. Er ging in die Küche, tat so, als wollte er seiner Frau Mary das Geschirr abtrocknen, blieb jedoch mit dem Handtuch in der Hand bald an den Türpfosten gelehnt stehen und beobachtete Mary bei der Arbeit. Er liebte seine Frau. Als Mutter zweier schulpflichtiger Kinder und Frau eines Polizeibeamten hatte sie es nicht leicht. Aber Mary mit den langen, schwarzen Haaren, den blauen Augen und der noch immer mädchenhaft schlanken Figur schaffte das alles spielend. Im Fernsehfilm im Hintergrund begann gerade eine wilde Schießerei. Thane hörte einen Augenblick zu und zündete, sich dann lächelnd eine Zigarette an. Sein Blick schweifte erneut zu Mary, und er beschloß, ihr erst von der Konferenz der Beförderungskommission zu erzählen, wenn etwas Definitives feststand. Vielleicht war das Ganze ein Windei. 67
Als er nach seinem Besuch bei John Peebles in sein Büro zurückgekommen war, hatte er auf seinem Schreibtisch zwei Laborberichte vorgefunden. Keiner von beiden hatte etwas Neues gebracht. Die Untersuchung des Petroleumkanisters, den der Brandstifter beim Wrack der Beagle Pup zurückgelassen hatte, hatte nichts ergeben. Das einzige, was die Leute von der Spurensicherung in den Wohnungen von Manuel Francis und Anna Harris festgestellt hatten, war, daß die Kratzer am Schloß von Francis’ Kommode neueren Datums sein konnten. Ganz sicher waren sich die Beamten jedoch nicht, und damit war Thane nicht viel geholfen. Der Chefinspektor zog gedankenverloren an seiner Zigarette. In solchen Fällen war er sehr froh, Phil Moss zur Seite zu haben. Moss besaß bei langwierigen Ermittlungen die Geduld und Zähigkeit, die Thane fehlten. Er verstand es, auch die geringste Spur, ohne Rücksicht auf Zeit und Arbeitsaufwand, bis zum Ende zu verfolgen. Das Material, auf das sie ihre Ermittlungen in diesem Fall stützen konnten, war äußerst dürftig. Das einzige, was Thane wußte, war, daß an Bord der Maschine etwas sehr Wichtiges versteckt gewesen sein mußte … etwas so Wichtiges, daß es sich lohnte, das Flugzeugwrack zu zerstören. »Colin!« Mary legte einen Teller beiseite und drehte sich zu Thane um. »Was ist los? Stimmt was nicht?« »Ich habe nur ein wenig nachgedacht, sonst gar nichts.« Thane drückte die Zigarette aus, legte einen Arm um Marys Schultern und führte sie zum Küchenfenster. Draußen leuchtete der Mond am sternklaren 68
Himmel. Thane seufzte. »Ich hatte schon bessere Tage als heute.« »Und dazu noch die Grippe.« Mary sah stirnrunzelnd zu ihm auf. »Mußt du morgen unbedingt in den Norden fliegen?« »So wie die Dinge jetzt stehen, bleibt mir keine andere Wahl.« Thane fiel plötzlich etwas ein. »Erinnerst du dich noch an die Glasfiguren der Eaglefarm-Werkstatt, die dir so gut gefallen haben? Vielleicht besteht zwischen Glenfinn und dem Handwerksbetrieb irgendeine Verbindung.« »Natürlich«, sagte Mary ruhig. »Die Glaswaren werden ja dort hergestellt. Hast du das nicht gewußt?« Thane sah seine Frau erstaunt an. »Bist du sicher?« »Ganz sicher«, erklärte Mary bestimmt. »Die Firma annonciert in vielen Zeitschriften. Die Werkstatt muß in der Nähe des Dorfes liegen.« Mary betrachtete ihren Mann prüfend. »Ich finde die Stücke sehr schön.« »Ich werd’s mir merken«, seufzte Thane. »Die Dinger sind nicht gerade billig.« Nachdem Mary mit dem Abspülen fertig war, gingen sie ins Wohnzimmer, wo Tommy, Kate und der Hund noch immer fasziniert in den Fernsehapparat starrten. Eine Stunde später schickte Thane die Kinder ins Bett und lehnte sich gähnend in seinem Stuhl zurück. »Ich glaube, wir gehen heute früh schlafen«, schlug Mary vor. Colin Thane nickte. »Wie war’s mit einem Schlaftrunk?« »Eine ausgezeichnete Idee. Ich mache dir einen!« Marys Miene verhieß nichts Gutes, und Thane wußte sofort, was kommen würde. »Ein heißer Whisky mit 69
Zitrone und Honig wird dich von deiner Grippe kurieren.« Thane verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. Ein Glas Whisky pur wäre ihm lieber gewesen, aber er kannte seine Frau, und zog es vor, zu schweigen. Kurz darauf gingen sie ins Bett. Thane stellte den Wecker auf sieben Uhr. Der heiße Whisky verfehlte seine Wirkung nicht, denn als Mary neben ihren Mann unter die Decke schlüpfte, war er bereits eingeschlafen. Während auf dem Rollfeld für die großen Verkehrsmaschinen um acht Uhr morgens auf dem Glasgower Flugplatz bereits Hochbetrieb herrschte, war es beiden kleineren Sport- und Geschäftsflugzeugen noch ruhig. Colin Thane stieg Punkt acht Uhr aus seinem Funkwagen, schickte den Fahrer wieder aufs Revier zurück und blinzelte besorgt zum bewölkten, grauen Himmel hinauf. Gibby MacDonald erwartete ihn bereits am Rand der Startbahn. »Sind Sie bereit?« MacDonald grinste breit und hob die Reisetasche auf, die er neben sich auf den Betonboden gestellt hatte. »Der Wetterbericht ist gut. In fünf Minuten sind wir aus dieser Milchsuppe raus.« Colin Thane folgte dem jungen Fluglehrer zu einer Piper Cherokee, die mit laufendem Motor auf dem Rollfeld bereit stand. MacDonald öffnete die Kabinentür, warf seine Reisetasche auf den Rücksitz und half dann Thane beim Einsteigen. Schließlich schwang er sich selbst auf den Pilotensitz. Nachdem er ein letztes Mal die Instrumente überprüft hatte, rollte die Piper auf die Startbahn zu, und 70
MacDonald nahm die Funkverbindung mit dem Kontrollturm des Flughafens auf. Die Piper reihte sich hinter einer viermotorigen Militärtransportmaschine in die Schlange von Flugzeugen auf der Startbahn ein. Nach wenigen Minuten konnten sie starten. »Bleiben Sie angeschnallt«, riet MacDonald seinem Passagier, als sie weich von der Startbahn abgehoben hatten und schnell an Höhe gewannen. »Der Wetterbericht hat ein paar Turbulenzen vorausgesagt.« Im nächsten Augenblick wurde die kleine Maschine bereits von einer heftigen Luftströmung hin und her gerüttelt. MacDonald sprach erneut über Funk mit dem Kontrollturm des Flughafens. »Hier oben ist der Verkehr genauso streng geregelt wie unten auf der Straße«, erklärte MacDonald und legte das Mikrofon beiseite. »Wenn man seine Lizenz nicht verlieren will, dann hält man sich im kontrollierten Flugraum lieber an die Vorschriften.« Thane nickte und sah auf die Stadt hinunter, die immer kleiner zu werden begann. »Wie mag es wohl gewesen sein, als Francis Kurs auf die Landebahn genommen hat?« murmelte Thane unvermittelt. »Sie meinen nachts?« MacDonald zuckte mit den Schultern. »Dort drüben ist die Anflugroute.« Er deutete aus dem Fenster. »Die Positionslampen der Rollbahn mußten für ihn schon fast in. Sichtweite gewesen sein. Allerdings mußte er noch Höhe gewinnen. Auf der Strecke liegen drei Hochhausblocks und die riesigen Ladekräne der Docks am Fluß. Wenn Francis schon über Fortrose zu niedrig geflogen ist, dann wäre es dort erst recht schiefgegangen.« »Man vermutet, daß die Maschine durchgesackt ist«, bemerkte Thane. 71
»Wenn das die Leute von der technischen Untersuchungskommission sagen, dann stimmt es auch«, entgegnete MacDonald und fuhr sich mit der Hand durch sein dichtes, rotblondes Haar. »Manny Francis ist kein schlechter Pilot gewesen, aber ich kenne offengestanden bessere.« MacDonald hatte recht gehabt. Je weiter sie nach Norden kamen, desto mehr lockerte sich die Wolkendecke unter ihnen, und bald flogen sie im warmen Sonnenschein und bei bester Sicht auf das schottische Hügelland zu. »Haben Sie eine Ahnung, warum Francis so oft nach Glenfinn geflogen ist?« erkundigte sich Thane und blinzelte in die grelle Sonne. »Glenfinn ist ein beliebter Ausflugsort, Chefinspektor«, antwortete MacDonald grinsend. »Wir sind schließlich keine Hinterwäldler. Die Umgebung ist ein Vogelparadies, und ich bin auch mit Manny Francis beim Beobachten der Vögel gewesen. Ich habe oft gesehen, wie er vom Dorf aus mit einem Feldstecher und der Kamera bewaffnet Spaziergänge unternommen hat.« »Auch bei seinem letzten Besuch?« »Sie vergessen, daß er ein Mädchen dabei hatte«, konterte MacDonald trocken. Plötzlich tauchte unter ihnen Oban an der Westküste des schottischen Hochlands auf. Die Piper verlor an Höhe und kurz darauf entdeckte Thane in der Ferne Glenfinn, ein typisches schottisches Dorf. Es lag an einem kleinen Flüßchen, das sich in vielen Windungen durch ein breites, bewaldetes Tal schlängelte. Dahinter begannen bereits die Berge. 72
Das Flugfeld von Glenfinn lag ungefähr einen Kilometer außerhalb des Dorfes, und als die Piper zum Landeanflug einschwenkte, sah Thane, daß überall zwischen den Bäumen Farmen mit Viehweiden lagen, auf denen Kühe grasten. Eine größere Straße führte mitten durch das Dorf. Gibby MacDonald landete die kleine Maschine weich auf dem Rasen und hielt schließlich vor einem weißgetünchten langgestreckten Gebäude. Ganz in der Nähe lagen zwei kleinere Hangars und davor stand ein Landrover, der zu einem Lösch wagen umgebaut worden war. »Da wären wir«, erklärte MacDonald und schaltete den Motor aus. »Das ist der Fliegerclub von Glenfinn.« Der junge Mann deutete auf die weiße Barakke. MacDonald und Thane stiegen aus und gingen zusammen auf das Clubhaus zu. Thane sah, daß ein Hangar leer war. Im anderen standen ein Sportflugzeug und ein Segelflugzeug. Dann hatten sie das weißgestrichene Gebäude erreicht. Sie betraten einen gemütlich eingerichteten, holzgetäfelten Aufenthaltsraum. Ein schlankes, hübsches Mädchen mit rotbraunem Haar, in ausgewaschenen Blue jeans und rotem Rollkragenpullover trat aus dem angrenzenden Büro und ging auf sie zu. »Du kommst früh, Gibby«, begrüßte sie MacDonald lächelnd und wandte sich dann an Thane. »Hatten Sie einen guten Flug Chefinspektor?« erkundigte sie sich freundlich. »Der Chefinspektor ist pünktlich um acht Uhr auf dem Flugplatz gewesen, und wir hatten Rückenwind«, antwortete der junge Pilot für Thane und warf seine 73
Reisetasche in eine Ecke. »Darf ich vorstellen? Das ist Lorna Patterson, unsere Chefin. Ihr gehört der Club. Lorna fliegt Sie übrigens später nach Glasgow zurück.« »Danke, das ist wirklich sehr nett von Ihnen.« Thane schüttelte Lorna Patterson die Hand. Das Mädchen war Anfang Zwanzig und hatte ein hübsches Gesicht mit einer kleinen Stubsnase, hohen Backenknochen und klugen, grauen Augen. »Wann starten wir?« erkundigte sich Thane. »Um drei Uhr«, sagte Lorna. »Ich habe für diese Zeit eine Flugstunde mit einem Farmer aus der Gegend angesetzt. Wir haben zu dritt gut in der Maschine Platz, und mein Schüler ist stolz, daß er zum ersten Mal bis Glasgow fliegen darf.« MacDonald lachte schallend, als er Thanes besorgte Miene sah. »Keine Angst, Chefinspektor«, beruhigte er ihn. »Lorna ist ja dabei.« »Gott sei Dank«, seufzte Thane und sah sich im Aufenthaltsraum um. »Wo bleibt eigentlich Sergeant Gordon? Er sollte mich doch hier abholen.« MacDonald und Lorna Patterson tauschten einen flüchtigen Blick aus. »Er kommt sicher gleich«, vertröstete Lorna den Chefinspektor. »Vermutlich ist er erst im Dorf losgefahren, nachdem er die Maschine landen gesehen hatte. Darf ich Ihnen inzwischen eine Tasse Kaffee bringen?« Thane trank seine zweite Tasse Kaffee, als endlich ein weißer Streifenwagen vor dem Clubhaus hielt. Zu diesem Zeitpunkt wußte Thane bereits, daß Lorna Patterson den Fliegerclub von ihrem Vater geerbt hatte, der vor zwei Jahren gestorben war, und daß 74
Gibby MacDonald ihr einziger Angestellter war. Gibby MacDonald bewirtschaftete außerdem noch eine kleine Farm am anderen Ende des Tals, und Lorna Patterson wohnte zusammen mit ihrer Mutter im Dorf. »Verdienen Sie eigentlich gut dabei?« erkundigte sich Thane gerade, als ein Polizist in Uniform aus dem Streifenwagen stieg und langsam zum Eingang des Clubhauses schlenderte. »Zum Leben reicht es«, antwortete Lorna Patterson und drehte sich zu Gibby MacDonald um, der jedoch plötzlich im Büro verschwunden war. »Einige Farmer aus der Gegend besitzen ihr eigenes Flugzeug und stellen es bei mir unter. Ab und zu vermieten wir auch eine unserer Sportmaschinen, und an den Wochenenden sind wir ein beliebtes Anflugsziel für Privatpiloten aus anderen Distrikten.« »Ist Manny Francis so ein Privatpilot gewesen?« »Ja.« Lorna Pattersons Lächeln verschwand. »Eine schlimme Sache, Chefinspektor. Das hätte nicht passieren dürfen.« »Leider ist es nun mal geschehen«, entgegnete Thane. In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet, und ein schlanker Sergeant mit einem roten, groben Gesicht und dunklen, buschigen Augenbrauen kam herein. Er war ungefähr Mitte Vierzig. Der Sergeant nickte Lorna Patterson kurz zu und begrüßte dann Thane. »Chefinspektor Thane?« Er sprach in dem singenden Tonfall der Bewohner des schottischen Hochlands. Seine Haltung Thane gegenüber war jedoch kühl und zurückhaltend. »Ich bin Sergeant Gordon …« 75
»Sie kommen reichlich spät«, sagte Thane ruhig. »Das tut mir leid.« Sergeant Gordons Miene zeigte kein Bedauern. »Ich bin aufgehalten worden. Außerdem sind Sie früher gekommen, als vorgesehen.« »Dann sind wir diesmal quitt.« Thane trank seinen Kaffee aus und stand auf. »Also bis um drei Uhr, Miss Patterson!« Das Mädchen nickte. Thane verabschiedete sich von ihr und winkte Gibby MacDonald, der gerade aus dem Büro trat, kurz zu. Dann verließ er mit Sergeant Gordon im Schlepptau den Club. »Wir unterhalten uns im Wagen weiter«, erklärte Thane draußen gefährlich leise. Sergeant Gordons Augen wurden schmal, aber er sagte nichts. Sie stiegen schweigend in den Streifenwagen. Thane wartete, bis alle Türen geschlossen waren. »Wodurch sind Sie vorhin aufgehalten worden, Sergeant?« erkundigte sich Thane frostig. Sergeant Gordon zuckte mit den Schultern. »Einer der Farmer aus der Gegend hat bei mir angerufen und sich beschwert.« »Ist das eine dringende Angelegenheit gewesen?« »Nein, eigentlich nicht, Sir.« »Okay, Sergeant. Wenn ich das nächste Mal nach Glenfinn komme, dann sind Sie gefälligst pünktlich am Flugplatz, verstanden?« Thane wartete, bis Sergeant Gordon nickte, und lehnte sich dann in die Polster zurück. »Soviel ich weiß, sollten Sie sich erkundigen, was Francis und seine Freundin Anna Harris hier am Sonntag gemacht haben. Erzählen Sie!« 76
Sergeant Gordon legte seine Hände auf das Steuerrad. »Die beiden sind gegen Mittag hier gelandet und in das Glenfinn Lodge Hotel gegangen, wo sie zu Mittag gegessen und an der Bar etwas getrunken haben.« »Und dann?« »Ungefähr um drei Uhr haben sie an der Tankstelle einen Wagen gemietet«, fuhr Sergeant Gordon fort. »Einige Dorfbewohner haben beobachtet, wie sie den Tinker Path, das ist ein schmaler Weg, der in die Berge führt, hinaufgefahren sind. Der kleine See am Ende des Weges ist ein beliebtes Ausflugsziel der Touristen. Viele Leute fahren sonntags dorthin.« »Und wie war es vergangenen Sonntag? Sind andere Besucher in der Nähe des Sees gewesen?« wollte Thane wissen. Gordon schüttelte den Kopf. »Nein. Zum Baden ist es in dieser Jahreszeit noch zu kühl. Alles, was ich Ihnen sagen kann ist, daß Francis und Anna Harris bei Einbruch der Dunkelheit wieder im Fliegerclub aufgetaucht sind, wo sich Francis den Wetterbericht hat geben lassen. Danach haben die beiden im Hotel zu Abend gegessen und sind um halb zwölf gegangen. Ich habe allerdings keine Ahnung, was Francis und das Mädchen in der Zeit bis ein Uhr gemacht haben, als sie schließlich wieder gestartet sind. Das Mietauto haben sie am Flugplatz zurückgelassen.« »Haben Francis und Anna Harris mit irgend jemand gesprochen?« »Ja, mit einigen Dorfbewohnern. Sie haben allerdings nur ein paar belanglose Worte gewechselt.« »Dann gibt es also zwei verschiedene Zeiträume, in denen die beiden weder gesehen noch gehört wur77
den«, überlegte Thane laut. »Einmal auf ihrem Ausflug zum See und zum zweiten Mal, nachdem sie das Hotel abends verlassen hatten. Stimmt das?« Sergeant Gordons rötliche Gesichtsfarbe wurde einen Ton dunkler. »So ist es, Sir.« »Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Sergeant«, begann Thane scharf. »Es handelt sich hier weiß Gott nicht um irgendeine unwichtige Routinesache, sondern um einen sehr merkwürdigen Flugzeugabsturz, bei dem zwei Menschen ums Leben gekommen sind. Besondere Mühe haben Sie sich bei den Ermittlungen offensichtlich nicht gegeben.« »Ich habe getan, was ich konnte, Sir«, verteidigte sich Gordon mit finsterer Miene. »Okay, Schwamm drüber«, lenkte Thane schließlich ein. »Ich schlage vor, wir ziehen jetzt noch mal gemeinsam Erkundigungen ein. Fangen wir mit dem Hotelpersonal an, einverstanden?« Sergeant Gordon zögerte einen Augenblick und nickte dann. »Ausgezeichnet.« Thane fiel plötzlich etwas ein. »Wo ist eigentlich dieser Kunstgewerbebetrieb Eaglefarm?« Gordon sah den Chefinspektor überrascht an. »Ungefähr zwei Kilometer von hier. Dort habe ich mich allerdings nicht nach Francis und dem Mädchen erkundigt. Hätte ich das tun sollen?« »Nein, nein«, wehrte Thane gelassen ab. »Meine Frau interessiert sich lediglich für die Eaglefarm-Produkte. Das ist alles.« Gordon zuckte mit den Schultern und ließ den Motor an. Kurz darauf fuhren sie durch die Hauptstraße 78
des Dorfes und hielten vor dem Glenfinn Lodge Hotel. Das Hotel war ein weißgetünchtes zweistöckiges Gebäude und lag direkt gegenüber dem Kriegerdenkmal des Dorfes. Die Hotelangestellten begrüßten Sergeant Gordon freundlich mit ›Hallo Andy‹, aber als Thane sie über Francis und seine Begleiterin ausfragte, konnten sie ihm nicht mehr erzählen, als das, was er bereits von Gordon gehört hatte. Als nächstes sprachen sie mit dem Besitzer der Tankstelle, der Francis einen Wagen vermietet hatte. Der Mann führte sie zu einem alten roten Morris Mini, der im Hof stand. »Wieviele Kilometer ist Francis damit gefahren?« erkundigte sich Thane. »Das hat mich noch keiner gefragt«, brummte der Tankstellenbesitzer und sah verwundert zu Sergeant Gordon. »Da muß ich erst nachsehen. Andy?« »Dann siehst du eben jetzt endlich mal nach!« forderte ihn Gordon barsch auf. Aus dem Kundenbuch der Tankstelle ging hervor, daß Francis genau zweiundvierzig Kilometer mit dem Mini zurückgelegt hatte. Thane dankte dem Tankstellenbesitzer für die Auskunft und ging zum Streifenwagen zurück. Keiner der beiden Polizeibeamten sprach ein Wort. »Wie weit ist es zu dem See, von dem Sie mir erzählt haben, Sergeant?« fragte Thane eisig, als sie wieder im Wagen saßen. »Hin und zurück ungefähr zweiundzwanzig Kilometer«, antwortete Gordon und musterte den Chefinspektor von der Seite. »Okay, fahren wir hin«, schlug Thane vor. 79
Der See, der am Ende des Tinkers Path lag, war so klein, daß er nicht einmal einen Namen hatte. Er war in eine Mulde zwischen den bewaldeten Hügeln der Umgebung von Glenfinn eingebettet, und als der Streifenwagen nach kurzer Fahrt über die holprige Straße an seinem Ufer ankam, zeigte der Tachometer genau elf Kilometer mehr an, als zu Beginn der Strekke. »Wohnt irgend jemand in dieser Gegend?« erkundigte sich Thane. »Nein, schon lange nicht mehr.« Sergeant Gordon schüttelte den Kopf. »Und wer ist dieser Herr dort?« fragte Thane und deutete aus dem Fenster. Hinter der Uferböschung war ein schlanker hochgewachsener Mann im Tweedjackett und mit hohen Anglerstiefeln aufgetaucht und kam geradewegs auf den Streifenwagen zu. Die Miene des Fischers verhieß nichts Gutes. »Das ist Captain MacCullum, ein pensionierter Kapitän zur See, der in einem alten Landhaus auf der anderen Seite des Tales lebt, wie ein Verrückter Motorrad fährt und die meiste Zeit des Tages mit Angeln verbringt, nur um nicht zu Hause bei seiner Frau bleiben zu müssen«, erklärte Sergeant Gordon mit tonloser Stimme und kurbelte das Fenster auf seiner Seite herunter. »Ich scheine heut nicht meinen besten Tag zu haben«, fügte Gordon seufzend hinzu. Der hochgewachsene Angler blieb neben Gordon stehen und erwiderte den Gruß des Sergeants mit einem kurzen Nicken. »Na, macht das Angeln heute Spaß?« erkundigte sich Gordon vorsichtig. 80
»Nein, verflucht noch mal!« polterte MacCullum wütend los und lehnte sich in den Wagen. Thane würdigte er keines Blickes. »Sergeant, daß wir uns hier treffen, erspart mir den Weg zu Ihnen aufs Revier. Es ist schon wieder passiert …« »Beruhigen Sie sich, Captain. Was ist los?« »Hier!« MacCullum richtete sich auf, zog eine Plastiktüte aus seiner Anglertasche und warf sie Gordon auf den Schoß. Die durchsichtige Tüte enthielt eine tote Forelle. »Der Fisch ist vergiftet, das ist los!« schimpfte MacCullum. »Genau wie das letzte Mal.« »Haben Sie die Forelle hier gefangen?« fragte Gordon und betrachtete den toten Fisch angeekelt. »Nein, genau wie vor einer Woche in dem Teich weiter flußabwärts«, entgegnete MacCullum wütend. »Dort wimmelt es von toten Fischen. Ich bin nur hier heraufgekommen, um endlich wieder mal einen anständigen Fisch zu fangen.« Gordon seufzte. »Okay, ich werde mich darum kümmern, Captain.« »Na, das ist ja sehr erfreulich!« schnarrte der Kapitän ärgerlich. »Das ist jetzt das vierte Mal in einem halben Jahr, daß das passiert ist.« MacCullums Gesicht war dunkelrot angelaufen. »Sergeant, hier ist ein ganz gemeiner Wilderer am Werk, der zum Spaß Fische vergiftet. Wenn Sie sich schon früher um die Sache gekümmert hätten, anstatt mit dem Wagen in der Landschaft herumzukutschieren …« »Wann sind die Fische diesmal vergiftet worden?« erkundigte sich Gordon. Er war ebenfalls rot geworden. »Woher soll ich denn das wissen?« entgegnete MacCullum aufgebracht. »Ich bin eine Woche lang nicht 81
mehr beim Fischen gewesen. Dieser verdammte Doktor hat’s mir verboten. Ich warne Sie, Sergeant! Wenn Sie jetzt nicht bald was unternehmen, werden Sie’s bereuen.« MacCullum sah flüchtig zu Thane, nickte kurz, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte davon. »Mit solchen Leuten müssen Sie sich in der Stadt vermutlich kaum herumschlagen«, seufzte Gordon und warf die Plastiktüte mit der toten Forelle auf den Rücksitz. »Nein, nicht oft«, gab Thane augenzwinkernd zu. »Treibt hier in der Gegend tatsächlich ein Wilddieb sein Unwesen?« Gordon zog eine Grimasse. »Nicht, daß ich wüßte. MacCullum angelt normalerweise an einem kleinen Bach am Ende des Tales. Vermutlich hat irgendein Farmer dort unvorsichtigerweise einen Sack Düngemittel oder andere Chemikalien fortgeworfen. Aber wie soll ich das MacCullum klarmachen?« Gordon ließ den Motor wieder an und wendete den Wagen. »Wohin fahren wir jetzt, Sir?« »Zur Werkstatt der Eaglefarm«, antwortete Thane prompt. »Wer betreibt die Firma?« »Ein Mann namens David Harkness und seine Frau, oder besser gesagt, seine Freundin«, erklärte Gordon. »Sie heißt Eve Buchan. Die beiden sind ein merkwürdiges Paar, aber in der Gegend sehr beliebt.« Der Sergeant sah Thane neugierig an. »Warum interessieren Sie sich für den Betrieb?« »Oh, aus purer Neugier«, erwiderte Thane. »Sie wissen doch, meine Frau mag die Glaswaren der Eaglefarm.« 82
Gordon und Thane fuhren mit dem Streifenwagen den gewundenen Weg zur Landstraße zurück, die den Fluß entlang durch das Tal führte, und erreichten nach sechs Kilometern, am Fuße eines Hügels, ein altes Bauernhaus mit rot-weißem Dach. In der Auffahrt stand auf einem Holzsockel ein großer Adler aus Kupfer. »Ich gehe allein hinein, Sergeant«, verkündete Thane, als Gordon im Hof anhielt. Der Sergeant musterte ihn erstaunt. »Sie bleiben hier und denken noch mal darüber nach, ob wir bei unseren Ermittlungen irgendwas vergessen haben könnten. Einverstanden?« Gordon nickte langsam. »Danke, daß Sie eben ›wir‹ gesagt haben, Sir«, murmelte er schwerfällig. »Ich weiß, was Sie meinen.« Thane stieg aus und ging über den Hof auf einen Seitenflügel des Farmhauses zu, der als Verkaufs- und Ausstellungsraum diente. Der restliche Gebäudeteil schien das eigentliche Wohnhaus zu sein. Die Werkstatt und die Lagerräume waren offensichtlich in Schuppen und einigen Anbauten untergebracht. Der Chefinspektor stieß die große Glastür auf und betrat einen Raum, der wie ein schottisches Heimatmuseum eingerichtet war. An den Wänden hingen Taschen aus Hirschleder, handgestrickte Schafwollpullover und handgewebte Schottenstoffe. Auf einem großen Tisch an der Seite waren Imitationen von Kelten-Schmuck, Töpferwaren und gerahmte Stiche aufgebaut. In der Mitte des Raumes standen in Vitrinen die berühmten Glasbläserwaren der Eaglefarm. Thane blieb davor stehen und betrachtete gerade traurig ein schönes Pferdegespann mit einer dreistelligen Zahl 83
auf dem Preisschild, als er plötzlich das Gefühl hatte, nicht mehr allein zu sein. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« fragte eine Frauenstimme hinter ihm. Thane drehte sich um. Sie war groß und grobknochig und ungefähr Ende Vierzig. Ihr aschblondes Haar wurde mit einem dicken Lederband zurückgehalten, und sie trug ein rotes wollenes Männerhemd und zu enge Blue jeans. »Nun?« Die Frau blickte ihn fragend an. »Sie sind vermutlich kein Kunde. Wenigstens nicht, wenn Sie mit dem Streifenwagen gekommen sind, der draußen im Hof steht.« »Sie haben recht.« Thane zeigte ihr seinen Dienstausweis. »Sieh mal an, ein Chefinspektor! Welche Ehre für ein so kleines Dorf wie Glenfinn«, sagte sie amüsiert. »Ich bin übrigens Eve Buchan. Warten Sie einen Augenblick! Ich hole meinen Partner.« Eve Buchan verschwand durch eine Tür im Hintergrund und kam kurz darauf mit einem untersetzten Mann von vielleicht fünfundvierzig Jahren wieder zurück. David Harkness trug einen alten Wollpullover und eine Lederschürze über schmutzigen Jeans. Er hatte spärliches graues Haar, kräftige große Hände und war schlecht rasiert. »Stimmt irgendwas nicht, Chefinspektor?« erkundigte er sich mit ruhiger, tiefer Stimme und sah die blonde Frau an. »Eve meinte …« »Nein, ich brauche Ihre Hilfe«, unterbrach Thane David Harkness. »In der Nacht von Sonntag auf Montag ist in Glasgow ein Sportflugzeug abgestürzt …« 84
»Manuel Francis und das Mädchen«, unterbrach ihn Eve Buchan sofort und nickte. »Ich habe es gelesen.« »Ja.« Harkness schüttelte den Kopf. »Die beiden waren Kunden von uns. Sind Sie deshalb hier?« Thane nickte. »Ja. Wir versuchen gerade herauszubekommen, was Francis und Anna Harris am Tag vor dem Unglück gemacht haben.« »Sie sind am Sonntag leider nicht bei uns gewesen«, erklärte Eve Buchan ruhig. »Bestimmt nicht?« »Nein«, bekräftigte Harkness und rieb sich sein Ohrläppchen. »Wir haben zwar an Wochenenden geöffnet, aber um diese Jahreszeit haben wir keine Angestellten mehr. Im Augenblick sind Eve und ich allein. Die beiden müßten also schon bei mir oder Eve gewesen sein.« »Tja, dann ist die Angelegenheit bereits erledigt.« Thane deutete auf die Glasfiguren. »Ich wußte, daß Francis und das Mädchen Stücke aus ihrer Werkstatt besaßen und habe vorsichtshalber mal nachgefragt.« »Francis ist öfters bei uns gewesen«, erklärte Eve Buchan trocken. »Das Mädchen hat er höchstens zweioder dreimal mitgebracht.« Harkness runzelte die Stirn. »Wir haben ihm ein Flugzeug aus Glas gemacht … eine ziemlich schwierige Arbeit. Das Mädchen hat, glaube ich, einen Hirschkopf von uns gekauft.« »Die beiden waren sehr nett, aber wir haben sie nicht näher gekannt«, ergänzte Eve Buchan. »Wir haben ’ne Menge Kunden. Ich weiß meistens, was sie gekauft haben. Mehr interessiert mich nicht.« 85
Thane betrachtete erneut die gläsernen Figuren, Vasen und Schalen. »Sie machen wirklich sehr schöne Sachen«, sagte er in ehrlicher Bewunderung. »Deshalb kosten sie auch ’ne Menge Geld«, konterte Eve Buchan trocken. »Ich arbeite mit Glas und mache Schmuck und Dave hat sich auf Keramikwaren und Radierungen spezialisiert. Der Rest …« Eve Buchan sah sich geringschätzig um. »Der Rest ist billige Touristenware.« »Die wir selbstverständlich ohne unser Eaglefarm Markenzeichen verkaufen«, fügte David Harkness bestimmt hinzu. Thanes Blick blieb an einer hohen Vase hängen, und er spielte einen Augenblick lang mit dem Gedanken, sie für Mary zu kaufen. Dann überlegte er es sich anders. »Wie lange sind Sie schon hier?« fragte er statt dessen. »Vier Jahre. Als wir angefangen haben, hatte das Haus nicht mal ein Dach«, erinnerte sich Harkness mit einem traurigen Lächeln. »Eve und ich haben uns zusammengetan, um schöne alte schottische Handwerksarbeit …« »Und wenn wir mal unsere Memoiren schreiben sollten, bekommen Sie ein Exemplar von uns«, unterbrach Eve Buchan ihren Partner schroff. »Wolltest du nicht in der Werkstatt noch was fertig machen?« »Ja, natürlich.« Harkness machte eine besorgte Miene. »Ich möchte mich verabschieden«, warf Thane schnell ein. »Vielen Dank für Ihre Hilfe.« Thane verließ den Verkaufsraum. Auf halbem Weg zum Streifenwagen sah er sich noch einmal um. Eve 86
Buchan und David Harkness standen noch immer hinter dem Schaufenster und starrten ihm nach. Als er zu Sergeant Gordon in das Auto stieg, sah er, daß auf der anderen Seite des Hofes eine Garagentür offenstand. Drinnen parkte ein nagelneues, silbergraues BMW-Coupé. Das Geschäft mit den Eaglefarm Produkten schien zu florieren. Bei ihren Preisen ist das kein Wunder, dachte Thane und seufzte. Eine Stunde später saßen Colin Thane und Sergeant Gordon in der Bar des Glenfinn Hotels und tranken ein Glas Bier. Thane hatte sich außerdem Sandwiches bestellt. »Darf ich Sie was fragen, Sir?« Gordon drehte das Bierglas in seiner Hand. »Hat sich Ihr Flug nach Glenfinn gelohnt?« »Ich bin kein Hellseher, Sergeant. Das wird sich erst noch herausstellen.« Thane biß in sein zweites Sandwich und musterte sein Gegenüber irritiert. Nachdem Gordon und Thane von ihrem Besuch auf der Eaglefarm zurückgekommen waren, hatten sie mit den beiden Mitgliedern des Fliegerclubs gesprochen, die Manny Francis vor seinem Start nach Glasgow in der Nacht zum Montag begegnet waren. Thane hatte von ihnen lediglich erfahren, daß Francis zwar nach Alkohol gerochen, die Maschine jedoch einigermaßen gut gestartet hatte. Sergeant Gordon war immer einsilbiger und brummiger geworden. Er starrte finster in sein Bierglas. »Okay, Sergeant! Raus mit der Sprache!« forderte Thane auf. »Was bedrückt Sie?« »Ich verstehe nicht, was Sie meinen, Sir!« entgegnete Gordon hölzern. 87
»Sie haben mich sehr gut verstanden!« Thane wartete geduldig. »Mit Ihnen hat es gar nichts zu tun.« Gordons Miene verfinsterte sich. »Das beruhigt mich ungeheuer«, bemerkte Thane trocken. »Also los, erzählen Sie endlich. Das ist ein Befehl!« »Ich komme mit dieser neuen Verwaltungsordnung nicht zurecht«, erklärte Gordon schließlich vorsichtig. »Meinen Sie Strathclyde?« Gordon nickte. »Ja. Ich soll befördert werden …« »So, tatsächlich?« Thane grinste. »Sie tun ja so, als wäre das Ihr Todesurteil.« »Sie wollen mich zum Inspektor machen und in irgendeine verdammte Bergwerksstadt bei Glasgow versetzen«, schimpfte Gordon wütend. »Das ist eine Schweinerei! In unserem alten System wäre das nie passiert. Ich bin Landpolizist und hier ist meine Heimat! Diese Bergwerksgegend kann mir gestohlen bleiben.« »Es steht Ihnen doch frei, die Beförderung abzulehnen und hier zu bleiben«, erinnerte ihn Thane ruhig. »Ja, das weiß ich auch.« Gordon zuckte gleichgültig mit den Schultern. »In diesem Fall wird meine Personalakte auf Eis gelegt und ich bleibe bis an mein Lebensende Sergeant.« Thane wußte nur zu gut, daß Gordon damit recht hatte. Wenn man einmal eine Beförderung ablehnte, kam diese Chance so schnell nicht wieder. »Ich tue seit acht Jahren in Glenfinn Dienst«, schnaubte Gordon. »Allein mit zwei Konstablern über88
wache ich ein Revier, das fast zweimal so groß ist, wie Glasgow. Dabei werden wir nur von freiwilligen Hilfspolizisten wie Gibby MacDonald unterstützt …« »Gibby?« unterbrach ihn Thane überrascht. Der junge rothaarige Pilot hatte ihm das verschwiegen. Thane wußte jedoch, daß es im schottischen Hochland mehr freiwillige Hilfspolizisten als Berufspolizisten gab. »Ja, Gibby ist wie die meisten Farmer hier bei der Bergwacht.« Gordon trank einen Schluck Bier. »Ich habe eine Frau und Kinder, Chefinspektor, und kann meine Familie nicht einfach in irgendeine Stadt verpflanzen. Wenn wir hier noch ein selbständiger Bezirk wären, stünde mein Name bereits auf der Beförderungsliste für dieses Revier in Glenfinn und nicht für irgendeine andere Stadt.« Er schüttelte den Kopf. »So wie die Dinge jetzt liegen, überlege ich mir offengestanden, ob ich nicht den Dienst quittieren soll.« Thane rieb sich das Kinn und dachte an seine eigenen Chancen auf Beförderung. Er hatte sich nie überlegt, daß das bedeuten könnte, daß er die Millside Division aufgeben oder vielleicht sogar Glasgow verlassen mußte. »Tja, das ist wirklich Ihr Problem Gordon«, begann er langsam. »Wir sind alle nur kleine Räder in einem großen Apparat.« »Ich mache da nicht mit.« Gordon sah aus dem Fenster. »Was wissen die hohen Herrn in eurem Hauptquartier schon von Männern wie Captain MacCullum, die einem Polizisten ab und zu tote Fische in den Streifenwagen werfen?« 89
Thane versuchte erst gar nicht, diese Frage zu beantworten.
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ls Gordon und Thane das Hotel verließen, war es zwei Uhr. Bis zu seinem Abflug hatte der Chefinspektor noch eine Stunde Zeit. Am Straßenrand blieb Sergeant Gordon stehen und sah mit besorgter Miene auf seine Uhr. »Ich könnte Sie jetzt zum Flugplatz fahren«, schlug der Sergeant vor. »Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich möchte Sie nicht loswerden, Sir …« »Aber Sie haben vermutlich noch ’ne Menge zu tun«, unterbrach ihn Thane und nickte verständnisvoll. »Vielen Dank für Ihr Angebot, Sergeant.« Thane blinzelte in die warme Nachmittagssonne. »Aber ich gehe gern zu Fuß. Tun Sie mir trotzdem einen Gefallen, Sergeant?« »Sir?« Gordon hob fragend eine Augenbraue. »Lassen Sie mich mit jemand vom Präsidium über Ihre Versetzung sprechen, bevor Sie Ihre Kündigung schreiben.« Gordon zögerte einen Augenblick. »Wenn Sie glauben, daß das was nützt …« »Das kann ich nicht versprechen, Sergeant«, entgegnete Thane. »Es käme auf einen Versuch an.« »Danke.« Gordon grinste verlegen. »Vielleicht besuchen Sie uns bald mal wieder, Sir.« 90
»Ja, das tue ich bestimmt.« Thane machte auf dem Absatz kehrt und ging die Dorfstraße entlang. Thane ließ sich Zeit, und als er eine halbe Stunde später zum Fliegerclub von Glenfinn kam, war das Flugfeld und das Clubhaus leer und verlassen. Thane lehnte sich in der Sonne an die Hauswand und rauchte eine Zigarette. Kurz darauf fuhr ein blauer Volkswagen vor dem Club vor und Lorna Patterson stieg aus. Sie winkte ihm freundlich zu. »Sie haben vermutlich schon gedacht, wir hätten Sie vergessen, was?« fragte sie lächelnd. »Nein, solange warte ich noch gar nicht«, antwortete Thane. »Gott sei Dank.« Lorna Patterson hatte eine Lederjacke über ihren roten Pullover gezogen und trug ein braunes Paket unter dem Arm. »Ich habe im Dorf Sergeant Gordon getroffen«, erzählte sie. »Wie sind Sie mit ihm zurechtgekommen?« »Es geht. Wir haben eben alle unsere Probleme«, antwortete Thane ausweichend. »Ja, ich weiß.« Lorna Patterson ging ins Clubhaus voraus. »Gibby MacDonald hat mir von Gordons Kummer wegen der zu befürchtenden Versetzung erzählt.« »So, tatsächlich?« Thane zeigte offen seine Verwunderung. Der junge Pilot schien viel mit Gordon gemeinsam zu haben. »Gibby und Gordon sind bei der Bergwacht«, erklärte Lorna Patterson, zog ihre Lederjacke aus und warf das Paket auf ihren Schreibtisch. »Gibby MacDonald ist ein sehr beschäftigter junger Mann«, bemerkte Thane. »Bleibt ihm eigentlich noch etwas freie Zeit?« 91
»Ja, manchmal schon.« Lorna Patterson wurde rot, und Thane ahnte, mit wem Gibby seine Freizeit verbrachte. »Hat sich Ihre Reise nach Glenfinn gelohnt, Chefinspektor?« fragte Lorna Patterson hastig, um das Thema zu wechseln. »Das ist schwer zu sagen.« Thane drückte seine Zigarette in einem Aschenbecher aus. »Ich habe Informationen gesammelt. Was sich später daraus ergibt …« Thane zuckte mit den Schultern. Lorna Patterson seufzte verständnisvoll. »Manny Francis ist mir nicht besonders sympathisch gewesen, aber Anna Harris war sehr nett. Ich habe sie zufällig am Sonntagnachmittag im Dorf getroffen. Sie hatte mit Francis gerade im Hotel zu Mittag gegessen.« »Das höre ich zum ersten Mal.« Thane runzelte die Stirn. »Wir haben uns ja auch nur kurz begrüßt. Mehr nicht.« Lorna zuckte mit den Schultern. »Francis holte sich gerade irgendwo Zigaretten, und Anna Harris hat vor einem Geschäft auf ihn gewartet und sich die Schaufenster angesehen.« Thane nickte. »Welchen Eindruck hat sie auf Sie gemacht?« »Oh, Sie schien guter Laune zu sein«, antwortete Lorna. »Anna hat mir erzählt, daß sie und Francis zur Eaglefarm fahren wollten.« »Sind Sie sicher?« fragte Thane scharf. »Ja.« Lorna Patterson sah ihn erstaunt an. »Warum?« »Oh, ich bin nur neugierig.« Thane versuchte seine Erregung zu verbergen. »Hat Ihnen Anna Harris auch gesagt, warum sie und Francis den Kunstgewerbebetrieb besuchen wollten?« 92
»Nein, das heißt …« Lorna dachte einen Augenblick nach. »Ich glaube, Anna Harris hat erwähnt, daß Francis für irgend jemand ein Geschenk kaufen wollte. Ich bin mir allerdings nicht ganz sicher.« Thane drang nicht weiter in sie. Aber falls Francis und das Mädchen tatsächlich vorgehabt hatten, die Eaglefarm zu besuchen, dann hatten sie später entweder ihre Pläne geändert oder David Harkness und Eve Buchan hatten ihn belogen. Und wenn das ungleiche Paar nicht die Wahrheit gesagt hatte … Thane war plötzlich ein Gedanke gekommen. »Führen Sie ein Buch, in dem die Starts und Landungen der Flugzeuge auf Ihrem Flugfeld verzeichnet sind?« fragte Thane das Mädchen unvermittelt. »Ja. Ich schreibe mir immer den Namen des Piloten und das Kennzeichen der Maschine auf«, erwiderte Lorna Patterson und zog einen schmalen Schnellhefter aus der Schreibtischschublade. »Hier! Sehen Sie ihn sich ruhig an.« Lorna deutete auf das Telefon. »Ich muß noch telefonieren.« Thane nahm den Ordner und setzte sich damit in den Aufenthaltsraum. Wie Lorna Patterson bereits gesagt hatte, waren darin alle Piloten angeführt, die in einem Zeitraum von fast einem Jahr in Glenfinn gelandet waren. Manny Francis’ Name tauchte in regelmäßigen Abständen auf. Auch sein Freund Ben Cassill war zweimal in Glenfinn gewesen. Thane blätterte weiter und pfiff plötzlich leise durch die Zähne. John Peebles war im vergangenen Frühjahr mit einer Privatmaschine auf dem Flugplatz des Clubs gelandet. Natürlich wußte Thane, daß dieser John Peebles nicht unbedingt mit dem identisch sein mußte, den er als Direktor der Eurobreak Reiseagentur kann93
te. Trotzdem schien es ihm ein merkwürdiger Zufall zu sein. Zumal Peebles ihm gegenüber nicht erwähnt hatte, daß er einen Pilotenschein besaß. Der Chefinspektor blätterte den Ordner aufmerksam durch, fand jedoch nichts mehr, das ihn interessiert hätte. Als er den Schnellhefter in Lorna Pattersons Büro zurückbrachte, war der Raum leer. Fast im gleichen Augenblick hörte er, wie draußen eine Sportmaschine angelassen wurde. Thane legte den Ordner auf den Schreibtisch und ging hinaus. Lorna Patterson stand neben der Piper, mit der Thane nach Glenfinn gekommen war, und sprach mit einem untersetzten, jungen Mann im blauen Overall. Kurz darauf lernte Thane Lorna Pattersons Flugschüler Harry kennen, der sie nach Glasgow bringen sollte. Thane nahm diesmal auf dem Rücksitz Platz, und da sich bereits beim Start herausstellte, daß Harrys Flugkünste nicht gerade überwältigend waren, blieb er den ganzen Flug über angeschnallt und hoffte inständig, daß die Marter bald ein Ende nahm. Vierzig Minuten später landete die Piper ganz passabel auf dem Glasgower Flugplatz. Als die Maschine endlich hinter dem Rollfeld zum Stehen kam, bedankte sich Thane hastig für den Flug und stieg aus. »Chefinspektor!« Lorna Patterson hielt ihn am Arm zurück. »Hier, das gehört Ihnen.« »Mir?« Thane runzelte die Stirn und starrte verwirrt auf das braune Paket, das ihm Lorna Patterson reichte. 94
»Es ist von Sergeant Gordon«, erklärte ihm das Mädchen. »Er meinte, Sie würden das schon verstehen.« Thane klemmte das Paket unter den Arm, winkte Lorna Patterson zum Abschied kurz zu und ging ein paar Schritte zur Seite. Der Motor des kleinen Sportflugzeugs heulte auf, die Maschine wendete und rollte wieder auf die Startbahn zu. Chefinspektor Thane betrachtete einen Augenblick lang mißtrauisch das braune Paket und ging dann auf den Streifenwagen zu, der bereits am Rande des Rollfelds auf ihn wartete. Am Steuer saß Konstabler Erickson. »Hatten Sie einen guten Flug, Sir?« erkundigte sich Erickson höflich, als der Chefinspektor auf dem Beifahrersitz Platz nahm. »Inspektor Moss konnte leider nicht mitkommen«, fuhr der Konstabler fort, ohne die Antwort auf seine Frage abzuwarten. »In Fortrose ist eine wilde Schlägerei im Gange. Die Gauner scheinen sich alle gegenseitig umbringen zu wollen.« Thane fluchte unterdrückt. Ein Bandenkrieg bedeutete Großeinsatz der Polizei. »Wie sieht es aus?« erkundigte er sich. »Schlecht«, antwortete Erickson knapp. »Seit einer halben Stunde läßt der Inspektor ein Überfallkommando nach dem anderen nach Fortrose bringen.« »Willkommen zu Hause«, murmelte Thane sarkastisch. Er warf Sergeant Gordons Paket auf den Rücksitz. »Okay, Erickson. Stürzen wir uns ins Schlachtgetümmel.« Erickson lenkte den Jaguar geschickt durch das verwirrende Straßennetz des Flughafengeländes auf die Schnellstraße hinaus. Kurz darauf rasten sie mit heu95
lender Polizeisirene durch den Clyde-Tunnel und erreichten zehn Minuten später die ersten Hochhäuser von Fortrose. Am Rand einer kleinen ungenutzten Rasenfläche standen mehrere Streifen- und Mannschaftswagen der Polizei und die Ambulanz. Als der schwarze Jaguar mit Erickson und Thane hinter dem Krankenwagen hielt, wurde dort gerade ein unrasierter junger Mann in Handschellen, der aus einer Wunde am Kopf blutete, verarztet. Zwei andere Männer mit zerschundenen Gesichtern und blutbefleckten Hemden standen wartend im Hintergrund. Sie wurden von einem jungen Polizeibeamten bewacht, der in der Hitze des Gefechts offensichtlich seinen Helm verloren hatte, und einen erschöpften Eindruck machte. Thane sah zu den Holzschuppen hinüber, die auf der anderen Seite der Rasenfläche lagen und um die ungefähr dreißig Polizisten in Uniform und in Zivil einen Kordon gebildet hatten. Auf der Rückseite der Schuppen versuchte eine andere Gruppe von Polizeibeamten die Männer, die sich offensichtlich in den Holzhütten verbarrikadiert hatten, herauszutreiben. In diesem Augenblick tauchte ein junger Bursche hinter einer Hauswand auf, hob grinsend die Hände und ging auf den nächsten Polizisten zu. Er wurde sofort durchsucht und zu den parkenden Autos geführt. Plötzlich hörte Thane jemand seinen Namen rufen. Er drehte sich um und sah Phil Moss wild gestikulierend neben einer der schäbigen Hütten stehen. Thane ließ Erickson allein beim Jaguar zurück und lief zu sei96
nem Inspektor hinüber. Phil Moss wischte sich gerade mit einem Taschentuch das Blut von den zerschundenen Fingerknöcheln und begrüßte seinen Chef mit einem fröhlichen Grinsen. »Du scheinst dich ja gut zu amüsieren«, sagte Thane. »Es ist immerhin mal ’ne Abwechslung«, entgegnete Moss. »Du hättest das Schauspiel beinahe verpaßt. Der eigentliche Kampf ist übrigens schon zu Ende.« »Worum ging’s eigentlich?« erkundigte sich Thane. »Keine Ahnung.« Moss zuckte mit den Schultern. »Zwei von unseren Freunden aus dem Viertel haben offensichtlich angefangen, und als der erste Streifenwagen eintraf, war schon fast ganz Fortrose an der Prügelei beteiligt. Hoppla … Jetzt geht’s wieder los!« Ein Mann kam, gefolgt von zwei Polizisten mit hoch erhobenen Gummiknüppeln, hakenschlagend um die Ecke einer Hütte gerannt und genau auf sie zu. »Wem gehört er? Dir oder mir?« fragte Phil Moss gelassen. »Mir! Ich bin gerade in Stimmung.« Thane machte einen Schritt vorwärts und beobachtete amüsiert, wie der kräftige Mann mit einem Schürhaken in der rechten Hand keuchend näher kam. Der Kerl übersah in seinem Eifer Thane völlig, und als er den Chefinspektor schließlich entdeckte, war es bereits zu spät. Er wollte im letzten Augenblick nach links ausweichen, aber dort stand Moss. Schließlich versuchte er, den Schürhaken wild über dem Kopf schwingend einfach an Thane vorbeizulaufen. Aber Thane stellte ihm blitzschnell ein Bein. Der Gauner flog in hohem Bogen durch die Luft und prallte unsanft auf die Wiese. 97
Der Schürhaken fiel ihm aus der Hand, und bevor er wieder aufstehen konnte, hatte Thane ihn bereits gepackt, riß ihn hoch und drehte ihm den Arm auf den Rücken. »Na, hast du jetzt genug?« erkundigte sich Thane. Der Mann nickte keuchend. In diesem Augenblick hatten auch die beiden uniformierten Polizisten Thane und sein Opfer erreicht. »Hier, er gehört euch!« sagte Thane grinsend. »Kommen noch mehr von der Sorte?« »Das glaube ich kaum, Sir«, antwortete der ältere der beiden Konstabler, zog ein Paar Handschellen aus der Tasche und legte sie dem überwältigten Mann an. »Den haben wir in einer Mülltonne versteckt gefunden.« »Na, da ist er eigentlich gut untergebracht gewesen«, bemerkte Moss grinsend und trat neben Thane. »Ja, wen haben wir denn da? Soldier Kelly, so eine Freude!« Thane nickte. Der Gauner mit dem Schürhaken war tatsächlich der ehemalige Deserteur, den er gestern schon bei seinem Besuch mit Erickson in Fortrose gesehen hatte. »Worum geht der Kampf eigentlich diesmal, Soldier?« erkundigte sich Thane. Kelly starrte den Chefinspektor finster an und leckte sich mit der Zunge das Blut von einer Wunde an der Oberlippe. »Ich will einen Anwalt«, brachte er schließlich mühsam hervor. »Das war der reinste Polizeiterror, und Sie wissen das ganz genau.« »Nun mal sachte, mein lieber Kelly«, warnte Moss ihn und gab den Schürhaken einem der beiden Kon98
stabler. »Also los, Soldier! Wer hat mit der Prügelei angefangen?« Als Kelly ordinär zu fluchen begann, gab Thane den Konstablern ein Zeichen, und die beiden schoben Kelly unsanft zur nächsten grünen Minna. »Mit Kelly haben wir insgesamt sechs gefaßt«, erklärte Moss, steckte seine Hände in die Hosentaschen und sah sich aufmerksam um. Der Polizeikordon um die Hütten begann sich langsam aufzulösen, und die Beamten gingen zu ihren Autos zurück. »Der Spuk scheint vorbei zu sein«, seufzte Moss. »Wie war’s übrigens in Glenfinn?« »Schön«, antwortete Thane trocken. »Eine ländliche Idylle. Die Gegend hätte dir sicher gefallen.« »Kaum«, wehrte Moss ab. »Ich kenne meine Grenzen. Die Stadt ist mir lieber.« Moss und Thane schlenderten gemeinsam zu dem schwarzen Jaguar und stiegen ein. Auf der Fahrt zum Millside Polizeirevier berichtete Thane, was er in Glenfinn erlebt hatte. Als der Chefinspektor mit Moss auf dem Weg in sein Büro durch den Bereitschaftsraum ging, wurde bereits der erste der Männer, die in Fortrose verhaftet worden waren, verhört. Kurz darauf warf Thane Sergeant Gordons Paket auf seinen Schreibtisch, ließ sich in seinen Drehstuhl fallen und zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche. »Möchtest du auch eine?« fragte er Moss und hielt ihm die Pakkung hin. »Nein, ich bleibe lieber bei meiner eigenen Sorte.« 99
Thane beobachtete überrascht, wie Phil Moss eine Schachtel Zigaretten aus seiner Tasche kramte. Als er jedoch das Etikett sah, zog er scharf die Luft ein. »Wenn du auch nur eine davon anzündest, fliegst du hier raus!« warnte er seinen Kollegen und starrte angewidert auf das Päckchen Kräuterzigaretten in Moss’ Hand. »Das letzte Mal hat mein Zimmer noch wochenlang danach gerochen.« Moss steckte die Packung beleidigt wieder ein und deutete schließlich auf das Paket auf Thanes Schreibtisch. »Hast du ein Geschenk bekommen?« Thane zuckte mit den Schultern und starrte finster auf die Notiz seiner Sekretärin, daß Ilford zweimal für ihn angerufen hatte. »Du kannst es ja aufmachen, wenn du willst«, seufzte der Chefinspektor und wählte in böser Vorahnung Ilfords Nummer. »Vielleicht ist ’ne Bombe drin. Der Sergeant von Glenfinn ist auf uns nicht gut zu sprechen.« Kurz darauf meldete sich Buddha Ilford am anderen Ende der Leitung. »Aha, Sie sind also endlich zurück«, bemerkte Ilford barsch. »Ja, Sir. In Fortrose ist heute nachmittag der Teufel los gewesen …« Thane hörte, wie Moss leise kicherte, und sah aus den Augenwinkeln, daß der Inspektor eine Plastiktüte mit einem toten Fisch und einer kleinen Flasche in die Höhe hielt. »Darüber sprechen wir ein anderes Mal«, unterbrach ihn Ilford schroff. »Ich muß in wenigen Minuten zu einer Sitzung. Vorher möchte ich allerdings 100
noch wissen, wer Ihnen erlaubt hat, ein Flugzeug zu chartern?« »Die Flüge nach Glenfinn und zurück haben nichts gekostet, Sir. Der Pilot des dortigen Fliegerclubs hat mich dazu eingeladen.« Thane sah achselzuckend zu Moss, der noch immer den toten Fisch in der Hand hielt. »Hm.« Ilford räusperte sich. »Dann sagen Sie mir gefälligst, was Sie als nächstes tun wollen. Hat sich der Besuch in Glenfinn überhaupt gelohnt?« »Vielleicht. Ich bin mir allerdings noch nicht sicher«, antwortete Thane vorsichtig. »Mit anderen Worten, Sie wissen wieder mal gar nichts«, brummte Ilford mürrisch. »Ich habe übrigens erfahren, daß Sie über einen gewissen Cassill Erkundigungen eingezogen haben, der angeblich aus dem Fenster gefallen sein soll!« »Ja, wir interessieren uns für den Fall«, gab Thane zögernd zu. Er legte die Hand über die Sprechmuschel und machte Moss ein Zeichen. »Gibt’s in der Sache Cassill was Neues?« flüsterte er. Moss nickte. »Wir machen Fortschritte.« Thane nahm die Hand von der Muschel und erzählte Ilford, daß die Ermittlungen in dieser Angelegenheit erfolgreich verliefen. »Gut«, bemerkte Ilford knapp. »Hören Sie, Thane. Die Finanzbehörden interessieren sich für die Firma Eurobreak«, fuhr Ilford bedeutungsvoll fort. »Heute morgen sind zwei Beamte bei mir gewesen und wollten Näheres über unsere Ermittlungen erfahren.« »Woher haben die Leute gewußt, daß wir uns mit Manny Francis und der Firma befassen?« fragte Thane überrascht. 101
»Durch den Computer.« Ilford hatte plötzlich einen Hustenanfall. »Das ist leider meine Schuld«, keuchte er schließlich atemlos. »Ich habe über Computer bei der Finanzbehörde nachfragen lassen, ob Manny Francis dort bekannt gewesen ist.« »Und warum interessieren sich die Herrn so brennend für Manny Francis?« wollte Thane wissen. »Manny Francis ist ihnen gleichgültig«, entgegnete Ilford. »Aber die Firma Eurobreak ist ihnen schon lange ein Dorn im Auge. Den Steuererklärungen nach zu urteilen kommt das Unternehmen gerade so über die Runden; dabei scheint das Geschäft doch offensichtlich zu florieren. Die Bücher sind allerdings in Ordnung.« Ilford seufzte. »Ich glaube, es ist das beste, wenn Sie morgen früh zu mir ins Büro kommen, Thane.« Ehe Thane noch etwas sagen konnte, hatte Ilford bereits aufgelegt. Der Chefinspektor fluchte unterdrückt und warf den Hörer auf die Gabel. »Jetzt stecken die Finanzbehörden auch noch ihre Nase in unseren Fall.« Thane berichtete Moss, was er eben von Ilford erfahren hatte, und betrachtete dann stirnrunzelnd Sergeant Gordons Paket. »Was glaubt dieser Sergeant eigentlich, was ich damit anfangen soll?« »Vermutlich möchte er, daß du einen Labortest machen läßt«, bemerkte Moss. »Es liegt allerdings keine Notiz dabei.« »Na, wunderbar«, schnaubte Thane verächtlich. »Ich bin offensichtlich sein Laufbursche.« Der Chefinspektor schob die Plastiktüte wütend beiseite. »Was habt ihr inzwischen über diesen Cassill herausbekommen?« 102
»Augenblick«, bat Moss, ging zur Tür, öffnete sie und rief Sergeant MacLeod. Kurz darauf stand der Sergeant abwartend vor Thanes Schreibtisch. »Okay, Mac! Was ist mit diesem Cassill los?« fragte Thane. »Ich habe mit den Nachbarn gesprochen, Sir«, antwortete MacLeod und zog sein Notizbuch aus der Tasche, öffnete es jedoch nicht. »Ein Ehepaar behauptet, daß, kurz bevor der Tote gefunden worden ist, ein Auto vor dem Haus abgefahren ist. Sie erinnern sich daran noch so genau, weil der Auspuff des Wagens defekt gewesen sein muß und viel Lärm verursachte.« »Aha. Und warum stand diese Aussage nicht in den Ermittlungsprotokollen?« wollte Thane erstaunt wissen. »Das Ehepaar hat diese Tatsache bei der ersten polizeilichen Vernehmung nicht erwähnt, weil jeder annahm, daß Cassills Tod ein Unfall gewesen ist. Deshalb haben die beiden nicht daran gedacht, daß das Auto wichtig sein könnte«, erklärte MacLeod. »Außerdem habe ich erfahren, daß Cassill eine Woche vor seinem Tod mit einem Unbekannten einen heftigen Streit gehabt haben soll.« »Aha! Weiter!« forderte ihn Thane gespannt auf. »Eine andere Nachbarin, die in der Wohnung über Cassill lebt, hat mir das erzählt«, fuhr MacLeod schwerfällig fort. »Sie ist in der Woche, in der Cassill gestorben ist, verreist gewesen. Deshalb konnten die Kollegen vom Süd-Bezirk sie nicht vernehmen.« Thane lehnte sich schweigend in seinem Stuhl zurück. Er hatte das bestimmte Gefühl, daß der Mann, 103
der die Ermittlungen im Fall Cassill geleitet hatte, bald Schwierigkeiten bekommen würde. »Die Nachbarin ist eines Abends spät nach Hause gekommen«, berichtete MacLeod weiter. »Und als sie an Cassills Wohnung vorbeigegangen ist, stand die Tür offen, und sie hat gehört, wie Cassill mit einem anderen Mann eine ernste Auseinandersetzung hatte. Als Cassill die Frau im Treppenhaus entdeckte, hat er sofort die Tür zugemacht.« MacLeod holte tief Luft. »Cassills Nachbarin ist daraufhin in ihr Apartment zurückgegangen und hat kurz darauf einen Wagen mit defektem Auspuff wegfahren gehört.« »Sie haben gute Arbeit geleistet, Mac«, lobte Thane den Sergeant. »Ist das alles?« MacLeod nickte. »Okay. Schreiben Sie ein Protokoll darüber!« Der Chefinspektor starrte einen Augenblick nachdenklich zur Zimmerdecke. »Noch was, MacLeod!« Thane deutete auf den Plastiksack mit der toten Forelle und der Wasserprobe. »Bringen Sie das bitte ins Labor. Ich brauche eine genaue Analyse.« MacLeod nahm die Plastiktüte, ohne eine Miene zu verziehen und ging hinaus. »Cassill muß sich wegen irgendeiner Sache Sorgen gemacht haben, nahm Schlaftabletten und fiel aus dem Fenster«, überlegte Thane laut. »Und Manny Francis hat zu seiner Beerdigung einen Kranz geschickt«, ergänzte Phil Moss und kratzte sich am Kopf. »Erinnerst du dich übrigens, daß dieser Ellison behauptet hat, er würde Cassill nicht kennen?« Thane nickte. 104
»Er hat gelogen. Ich bin in Cassills Büro gewesen und habe mir seinen privaten Terminkalender angesehen. Ein Kollege hatte ihn aufbewahrt. Ellisons Telefonnummer stand darin.« Moss grinste verschlagen. »Mit Peebles bist du noch keinen Schritt weitergekommen, Colin. Vielleicht sollten wir’s mal bei Ellison versuchen?« »Ja, du hast recht«. Thane sah auf die Uhr. »Ich glaube, es ist das beste, wenn wir Ellison zu Hause besuchen. Dazu ist es allerdings noch zu früh.« In diesem Augenblick klopfte es an der Tür und der junge Konstabler Beech kam herein. »Wir sind mit unseren Kunden aus Fortrose jetzt durch, Sir«, meldete der Konstabler. »Vier sitzen bereits in ihren Zellen. Die restlichen zwei liegen noch im Krankenhaus.« »Wißt ihr schon, worum der Streit ging?« erkundigte sich Moss aus dem Hintergrund. Beech schüttelte bedauernd den Kopf. »Die Burschen schweigen wie ein Grab. Was ist eigentlich mit Soldier Kelly los, Sir? Wir haben bei ihm das Antragsformular für einen neuen Reisepaß gefunden. Kann das was bedeuten?« »Allerdings! Ich kenne seine Frau«, erklärte Moss. »Die beiden haben einander verdient, kann ich Ihnen sagen. Ich wundere mich gar nicht, daß er einen neuen Paß haben möchte. An seiner Stelle wäre ich der Alten schon längst ausgerissen.« Thane runzelte nachdenklich die Stirn. »Haben Sie ihn gefragt, warum er sich einen neuen Paß besorgen will?« »Ja. Kelly behauptet steif und fest, daß er im Ausland Urlaub machen möchte.« 105
»Na, der fällt ja jetzt wohl leider ins Wasser«, murmelte Thane amüsiert. »Wir müssen ihn hierbehalten. Sonst noch was?« Beech schüttelte den Kopf und verließ Thanes Büro. Kurz darauf ging auch Moss. Thane hatte ihn beauftragt, eine Überprüfung von David Harkness und Eve Buchan zu veranlassen und herauszufinden, ob John Peebles seinen Pilotenschein bei der Luftwaffe erworben hatte. Als der Chefinspektor allein war, arbeitete er den Papierkram auf, der sich inzwischen auf seinem Schreibtisch angesammelt hatte und rief dann zu Hause an. Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine kaum vernehmbare heisere Stimme. »Du hast mich angesteckt«, brachte Mary Thane mühsam heraus. »Jetzt habe ich die verdammte Grippe. Wann kommst du nach Hause?« »Spät«, seufzte Thane. »Deshalb rufe ich an.« »Okay«, krächzte Mary. »Dann bringe ich die Kinder ins Bett und lege mich anschließend gleich schlafen. Zu mehr bin ich heute nicht mehr fähig.« »Nimm Aspirin«, riet ihr Thane. »Kommt nicht in Frage«, stöhnte seine Frau. »Ich köpfe die letzte Flasche Sherry, die wir noch im Haus haben.« Thane wünschte ihr gute Besserung und legte grinsend den Hörer auf die Gabel. Um sieben Uhr war es dunkel. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt, als Thane und Phil Moss mit ihrem Funkwagen vor Peter Ellisons neuem Bungalow in einem modernen Wohnviertel im Nordwesten Glasgows hielten. 106
Die beiden Kriminalbeamten ließen ihren Fahrer im Auto zurück und gingen über den Gartenweg zur Haustür. Auf ihr Klingeln öffnete ihnen eine hübsche dunkelhaarige Frau. Sie trug eine blaue Küchenschürze über dem Rock und lächelte den Besuchern freundlich entgegen. »Ja, bitte?« fragte sie. »Wir sind von der Kriminalpolizei, Mrs. Ellison«, begann Thane ruhig. »Ist Ihr Mann zu Hause?« »Ja.« Mrs. Ellison sah die Beamten erstaunt an. »Aber …« »Es geht um diesen Flugzeugabsturz«, warf Moss ein. »Ihr Mann ist uns bei unseren Ermittlungen behilflich gewesen.« »Ach ja, natürlich. Sie meinen die Sache mit Manny Francis und dem Mädchen.« Mrs. Ellison atmete erleichtert auf. »Peter hat mir davon erzählt. Er ist hinten in der Garage und repariert seinen Wagen. Gehen Sie ruhig ums Haus!« Thane nickte ihr dankend zu und verschwand um die Hausecke. Moss folgte ihm zur Rückseite des Bungalows. Dort lag eine breite Garage, in der ein älterer weißer Mini und ein neuer blauer Lancia stand. Die Garage war hell erleuchtet. Der hintere Teil des Lancias war aufgebockt und darunter sah man nur die Beine eines Mannes. »Sind Sie sehr beschäftigt, Mr. Ellison?« erkundigte sich Thane. »Oder dürfen wir Sie einen Augenblick stören?« Unter dem Wagen fielen klirrend ein paar Werkzeuge zu Boden, und im nächsten Augenblick kroch Peter Ellison ins Freie. Er starrte die beiden Kriminalbeam107
ten erstaunt an. Dann verzog er sein pockennarbiges Gesicht zu einem Lächeln und stand auf. »Entschuldigen Sie, aber Ihr Besuch kommt etwas überraschend«, murmelte er und strich sich über das zerzauste Haar. Er trug eine alte Hose und einen geflickten Pullover. »Schade, daß Sie nicht früher gekommen sind. Ich hätte Ihre Hilfe gebrauchen können. Von Autos verstehe ich nämlich nicht sehr viel.« »Was ist denn mit dem Wagen los?« fragte Moss. Ellison zuckte mit den Schultern. »Der Auspuff hat ein Loch und macht einen ohrenbetäubenden Lärm. Ich bin vor ein paar Wochen in ein tiefes Schlagloch gefahren, und seitdem ist es immer schlimmer geworden.« »Man müßte vermutlich den ganzen Auspuff und das Rohr auswechseln«, bemerkte Thane und versuchte, seine Erregung zu verbergen. »Das ist allerdings eine kostspielige Reparatur.« »Ja«, stimmte ihm Ellison zu. »Aber leider hat meine Vertragswerkstatt das Ersatzteil nicht auf Lager. Deshalb muß ich mir vorerst selbst helfen.« Ellison wischte sich seine Hände an einem weichen Tuch ab. »Aber Sie sind sicher nicht gekommen, um sich mit mir über meinen Wagen zu unterhalten, Chefinspektor?« »Sie haben uns angelogen, Mr. Ellison«, erklärte Thane ohne Umschweife. »Vielleicht ist die Angelegenheit völlig harmlos, aber wir wüßten gern warum Sie uns nicht die Wahrheit gesagt haben?« »Das ist ja die Höhe!« Ellison war rot angelaufen. »Jetzt hören Sie mir mal …« 108
»Möglicherweise ist es nur ein Versehen Ihrerseits gewesen«, warf Moss lakonisch ein. »Man kann schließlich manchmal was vergessen.« Ellisons Mund war nur noch ein schmaler Strich. »Und was soll ich bitte vergessen haben?« Thane zuckte die Achseln. »Tja, Sie haben behauptet, daß Sie von einem Mann namens Ben Cassill nie gehört haben.« »Aha«, murmelte Ellison und starrte auf seine Schuhspitzen. »Und trotzdem stand Ihr Name und Ihre Telefonnummer in Cassills privatem Adreßbuch«, bemerkte Moss. »Wie erklären Sie sich das?« »Also gut«, seufzte Ellison. »Es stimmt. Ich habe ihn gekannt. John Peebles hat mich lediglich gebeten, alles zu tun, um die Firma Eurobreak aus dieser Sache herauszuhalten … und er ist schließlich der Boss.« »Soll das heißen, daß Peebles Ihnen befohlen hat, Ihre Bekanntschaft mit Cassill zu leugnen?« erkundigte sich Thane. »Nein, so kraß hat er es nicht ausgedrückt.« Ellison wandte sich nervös ab und ordnete ein paar Werkzeuge auf seiner Werkbank. »Außerdem habe ich Cassill nur flüchtig gekannt. Er versuchte, uns ab und zu seine Büroartikel zu verkaufen.« »Ben Cassill ist durch einen Sturz aus dem Fenster gestorben«, erinnerte Thane Ellison leise. »So?« »Deshalb müssen wir uns natürlich fragen, ob Sie uns vielleicht auch bei anderen Dingen nicht die Wahrheit gesagt haben«, erklärte Moss offen. Ellison wirbelte auf dem Absatz herum und deutete mit einem großen Schraubenzieher auf Thane. Sein 109
Gesicht zuckte. »Was, zum Teufel, wollen Sie damit andeuten?« »Immer mit der Ruhe.« Thane drehte Ellison mit einem geschickten Griff das Handgelenk herum und entwand ihm den Schraubenzieher. »Damit könnten Sie leicht jemanden verletzen, Mr. Ellison.« Thane warf das spitze Werkzeug auf den Tisch. »Fällt Ihnen noch irgend etwas ein, daß Sie bei Ihrer Aussage vergessen haben könnten? Denken Sie mal nach!« »Nein, nichts«, schnaubte Ellison wütend. »Hm, vielleicht sollten wir dann lieber mit Ihrer Frau sprechen«, überlegte Moss laut. Ellisons Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig. »Heute nicht mehr. Das nächste Mal!« entschied Thane kurz. Damit drehte sich der Chefinspektor um und verließ mit langen Schritten die Garage. Phil Moss folgte ihm hastig. »Du hast die Unterhaltung ziemlich abrupt abgebrochen«, bemerkte Moss, als sie wieder im Funkwagen saßen. »Dabei hatten wir ihn gerade so schön in der Zange.« Thane nickte. Mehr hatte er im Augenblick nicht gewollt. »Und ausgerechnet Ellison hat einen Wagen mit defektem Auspuff«, murmelte Moss. »Ich bin gespannt, wie er auf unseren Besuch reagiert«, sagte Thane grimmig. »Jemand soll das Haus bewachen. Wer ist heute abend frei, Phil?« Moss dachte nach. »Der junge Beech«, antwortete er schließlich. »Wir müßten ihm das allerdings als Überstunden anrechnen.« »Er kann das Geld sicher brauchen«, entgegnete Thane. »Sag ihm gleich Bescheid.« 110
Thane machte dem Fahrer ein Zeichen. Der Chauffeur fuhr bis zur nächsten Ecke und hielt dann an. Moss sprach kurz über Funk mit dem Revier. Als er das Mikrofon wieder auflegte, begann sein Magen laut zu knurren. »Selbst ein Polizist braucht hin und wieder was zu Essen«, beklagte er sich. »Okay. Ich mach mir schnell zu Hause ein paar Spiegeleier. Kommst du mit?« »Na gut, ich riskier’s«, erwiderte Moss. »Aber bitte erwarte nicht, daß ich deine Kochkünste auch noch lobe.« Zwanzig Minuten später setzte der Funkwagen die beiden Kriminalbeamten vor Thanes Haus ab. Als Thane die Haustür öffnete, war bereits alles dunkel und ruhig. Er schaltete das Flurlicht ein, ließ Moss in der Küche zurück und stieg auf Zehenspitzen in den ersten Stock hinauf. Die Kinder schliefen friedlich in ihren Betten. Thane ging ins Zimmer nebenan. Marys Nachttischlampe brannte noch und warf einen warmen Schein auf ihre entspannten Züge. Sie atmete ruhig und tief. Auf seinem Kopfkissen entdeckte Thane eine leere Sherryflasche und einen Zettel, auf dem stand: ›Mach bloß keinen Krach! In Liebe, Mary.‹ Thane schaltete lächelnd das Licht aus und lief in die Küche hinunter, wo der Boxer Clyde gerade aufgewacht war und schwanzwedelnd Moss begrüßte. Der Chefinspektor briet ein großes Käseomelette, machte Toast und stellte Teller, Gläser und eine Flasche Whisky auf den Küchentisch. 111
»Ich habe nachgedacht«, begann Moss und setzte sich Thane gegenüber. »Na, das ist ja großartig«, murmelte Thane zwischen zwei Bissen. »Wir haben eigentlich nicht die geringste Idee, was hinter der ganzen Sache steckt.« Moss starrte gedankenverloren in sein Whisky glas. »Nein, noch nicht«, stimmte ihm Thane zu. Bevor Thane und Moss zu Ellison gefahren waren, hatten sie die Ergebnisse der Nachforschungen über David Harkness und Eve Buchan erhalten. Beide waren nicht vorbestraft und der silbergraue BMW, den Thane in der Garage der Eaglefarm gesehen hatte, war ordnungsgemäß auf Eve Buchans Namen zugelassen. Das einzige, was sie über die Frau in Erfahrung bringen konnten, war, daß sie an der Glasgower Kunstakademie studiert und ihren Abschluß mit ›sehr gut‹ gemacht hatte, obwohl sie mehr kommunistische Versammlungen als Vorlesungen besucht hatte. Ihr politisches Engagement endete jedoch mit dem Examen, und sie hatte sich bereits als Künstlerin einen Namen gemacht, als sie mit Harkness die Eaglefarm gründete. Über Harkness war noch weniger bekannt. Er hatte als Druckerlehrling angefangen und später in mehreren Industrieunternehmen gearbeitet. Sein künstlerisches Wissen hatte er sich in Abendkursen angeeignet. Bei den Kritikern galt er allgemein als Naturtalent. »Peebles ist für uns noch immer ein unbeschriebenes Blatt«, erklärte plötzlich Moss, als hätte er Thanes Gedanken erraten. 112
Aus den Akten des Verteidigungsministeriums hatten sie erfahren, daß Peebles als Pilot bei der Luftwaffe gedient hatte, und vor zwölf Jahren ehrenvoll entlassen worden war. Er hatte sich während seiner Militärzeit nichts zuschulden kommen lassen. »Ellison ist für uns nicht nur wegen Cassill wichtig«, überlegte Thane. »Ich hoffe, daß wir durch ihn an Peebles rankommen.« Moss nickte und schenkte sich Whisky nach. »Hast du eigentlich schon gehört, daß die Beförderungskommission bald tagt?« Thane verzog keine Miene. »So, tatsächlich?« »Es soll auch um dich gehen. Hat man dir schon was gesagt?« »Nur andeutungsweise«, gestand Thane. »Warum fragst du?« Moss deutete auf seinen Magen. »Wenn du Superintendent wirst, werden Sie dich vermutlich versetzen. Vielleicht lasse ich mir dann endlich mein Magengeschwür herausoperieren.« Phil Moss machte ein betrübtes Gesicht. »Ich nehm’s mir wenigstens mal vor.« »Warum willst du solange damit warten?« erkundigte sich Thane. »Man soll nichts überstürzen«, seufzte der Inspektor. In diesem Augenblick läutete im Flur das Telefon. Thane ging hinaus und hob ab. Als er wieder in die Küche kam, nickte er Moss auffordernd zu. »Trink aus! Beech hat angerufen. Ellison hat vor einer halben Stunde sein Haus verlassen und ist zu Peebles gefahren.« Thane stellte die Whiskyflasche in den Schrank. »Beech hat dem diensthabenden Ser113
geant gesagt, wir sollten sofort dorthinkommen. Warum, weiß ich nicht.« Zwei Minuten später machten sich Thane und Moss im alten Hillman-Kombi des Chefinspektors auf den Weg.
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ohn Peebles wohnte am anderen Ufer des Clyde außerhalb der Stadt in einem vornehmen Villenviertel, in dem die Häuser in großen, dicht bewachsenen Waldgrundstücken lagen, so daß kein Nachbar den anderen sehen konnte. Thane fuhr nach den Anweisungen, die er vom Revier erhalten hatte, die einsame gewundene Landstraße entlang, bis vor ihm die Scheinwerfer eines anderen Wagens zweimal aufblinkten. Kurz darauf holperte Thanes Hillman auf eine unebene Straße und hielt neben dem kleinen alten Ford von Konstabler Beech. Thane stellte den Motor ab und stieg aus, als Beech bereits durch den Nieselregen auf ihn zurannte. »Ich habe mir gedacht, daß Sie das sind, Chefinspektor«, begrüßte Beech Thane. »Ich glaube, ich kann Ihnen was Interessantes zeigen.« »Hoffentlich«, seufzte Moss und schlug den Mantelkragen hoch, als er neben Thane trat. »Was ist denn so Geheimnisvolles passiert?« 114
»Passiert ist eigentlich noch gar nichts Aufregendes«, entgegnete Beech. »Ich dachte nur … Na, Sie werden schon sehen.« Beech deutete auf einen kleinen Waldstreifen hinter der Straße. »Das Haus liegt dort hinten«, erklärte er. »Es ist das beste, wir lassen die Autos hier stehen.« Thane und Phil Moss folgten Beech über eine nasse Wiese durch Gestrüpp und dichten Baumbestand. Am gegenüberliegenden Waldrand blieb der Konstabler hinter einem großen Ahornbaum stehen. »Dort drüben ist es, Sir«, wandte sich Beech an Thane. Der Chefinspektor folgte Beechs Blick. Nur wenige hundert Meter vor ihnen lag ein schönes altes Landhaus, dessen Fenster hell erleuchtet waren. »Nachdem ich sicher war, daß es sich um John Peebles Haus handelte, habe ich mich umgesehen und auf der Vorderseite etwas entdeckt«, flüsterte Beech. »Kommen Sie!« Beech führte seine beiden Vorgesetzten in einem großen Bogen durch dichtes Gestrüpp und Unterholz zu einer Stelle, von der aus man die gesamte Vorderfront des Landhauses überblicken konnte. In der Auffahrt standen unter dem Schein der Laterne drei Autos. Thane pfiff überrascht durch die Zähne. Neben einem weißen Jaguar-Sportwagen, den Thane noch nie gesehen hatte, parkten Ellisons Lancia und der silbergraue BMW von der Eaglefarm. »Ich habe die Kennzeichen bereits an das Präsidium durchgegeben«, erklärte Beech. »Der Jaguar gehört Peebles. Bei dieser Gelegenheit hat mir der zuständige Beamte erzählt, daß Sie sich bereits heute nachmittag 115
nach dem BMW erkundigt haben. Deshalb dachte ich, würde Sie die Sache vielleicht interessieren.« »Das kann man wohl sagen«, murmelte Thane. »Wann ist der BMW angekommen?« »Auf jeden Fall vor Ellison. Mehr weiß ich leider nicht«, erwiderte Beech entschuldigend. »Seit ich hier bin, ist alles ruhig. Es hat sich niemand im Garten sehen lassen.« »Okay, dann werden wir eben warten«, seufzte Moss. Die drei Beamten standen über eine Stunde unter einem Baum im Nieselregen, und Moss beklagte sich gerade zum wiederholten Mal über seine kalten Füße, als plötzlich die Haustür der Villa geöffnet wurde, und drei Personen ins Freie traten. Thane erkannte im hellen Schein der Türbeleuchtung John Peebles hochgewachsene Gestalt und daneben Eve Buchan und ihren Partner David Harkness. Die beiden letzteren trugen Regenmäntel und schienen sich von Peebles zu verabschieden. Peebles begleitete seine Gäste zum Wagen, wechselte noch ein paar Worte mit ihnen, dann stiegen die Besitzer der Eaglefarm in den BMW und fuhren davon. John Peebles starrte dem Auto nach, bis die Schlußlichter in der Dunkelheit verschwunden waren, dann ging er wieder ins Haus zurück. »Hast du jetzt genug gesehen?« erkundigte sich Phil Moss hoffnungsvoll. »Hör zu, Colin, meine Füße sind schon …« »Eiskalt! Ja, ich weiß«, unterbrach ihn Thane barsch, um seine Unentschlossenheit vor den anderen zu verbergen. Er war sich selbst noch nicht im klaren darüber, was sie jetzt tun sollten. Sie hatten nun den Beweis dafür, daß zwischen Peebles, Ellison und den 116
Besitzern der Eaglefarm eine Verbindung bestand. Eve Buchan und David Harkness mußten einen triftigen Grund dafür gehabt haben, die lange, anstrengende Autofahrt von Glenfinn nach Glasgow zu machen. Thane sah auf die Uhr. Nach seiner Schätzung würden sie die Eaglefarm nicht vor Mitternacht erreicht haben. Der Chefinspektor kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe. »Tut mir leid, Phil«, erklärte er schließlich. »Aber ich möchte noch auf Ellison warten. Er ist noch bei Peebles.« Es dauerte eine weitere halbe Stunde, in der der Nieselregen aufgehört hatte und der Mond hinter einer Wolke hervorgekommen war, bis sich die Haustür der Villa erneut öffnete und Peebles mit Ellison auf dem Treppenabsatz erschien. Die beiden Männer gingen gemeinsam zu Ellisons Wagen. Peebles klopfte Ellison zum Abschied aufmunternd auf die Schulter, dann stieg der pockennarbige Mann in seinen Lancia. »Beech!« Thane drehte sich zu seinem jungen Konstabler um. »Laufen Sie zu Ihrem Auto. Ich möchte, daß Sie Ellison folgen. Wenn er nach Hause fährt, können Sie für heute Schluß machen; wenn nicht, bleiben Sie ihm auf den Fersen!« Beech machte sich sofort auf den Weg, während Ellison in der Auffahrt des Landhauses bereits den Motor seines Wagens anließ. Ellison unterhielt sich noch ein paar Minuten mit Peebles durch das offene Autofenster. Dann winkte ihm Peebles kurz zu, der Lancia fuhr zur Straße hinunter und der Chef der Firma Eurobreak verschwand im Haus. Wenige Sekunden später erlosch das Licht über dem Eingang. 117
Thane machte Moss ein Zeichen, und die beiden Männer gingen schweigend durch den Wald zum Auto. »Das war’s für heute«, murmelte Thane, setzte sich hinter das Steuer seines Hillman und wartete, bis Moss auf dem Beifahrersitz Platz genommen und die Tür geschlossen hatte. Dann fuhren sie in die Stadt zurück. Thane brachte Phil Moss zu seiner Pension und machte auf dem Nachhauseweg aus purer Gewohnheit noch einmal beim Polizeirevier der Millside Division Halt. Der Abend war verhältnismäßig ruhig verlaufen, und nachdem sich Thane davon überzeugt hatte, daß nichts Besonderes passiert war, fuhr er endgültig nach Hause und ging um Mitternacht ins Bett. Als der Wecker am nächsten Morgen um sieben Uhr klingelte, schlief seine Frau Mary noch immer fest. Thane stand leise auf, rasierte sich, zog sich an und wollte gerade die Kinder wecken, als das Telefon läutete. Es war der diensthabende Sergeant in der Funkzentrale der Millside Division. »Soviel ich weiß, interessieren Sie sich für einen Mann namens Ellison, Sir«, begann der Sergeant. »Ja, das ist richtig«, antwortete Thane. »Warum?« »Tja …« Der Sergeant zögerte einen Augenblick. »Ein Konstabler aus der Funkzentrale hat gerade bei mir angerufen. Ellison ist tot. Seine Frau hat die Leiche heute morgen gefunden.« Thane fluchte ungläubig vor sich hin. »Wie ist das passiert?« fragte er schließlich. 118
»Es muß entweder ein Unfall oder Selbstmord gewesen sein, Sir«, antwortete der Sergeant. »Er wurde in seiner Garage entdeckt. Mehr weiß ich nicht. Die zuständige Distriktspolizei ist bereits dort.« »Schicken Sie mir einen Wagen, Sergeant«, befahl Thane knapp. »Informieren Sie den Inspektor am Einsatzort. Ich bin in einer Viertelstunde dort. Und noch was, Sergeant! Geben Sie Konstabler Beech Bescheid. Er soll ebenfalls zu Ellisons Haus kommen.« Thane warf den Hörer auf die Gabel. Er konnte sein Pech noch immer nicht fassen. »Hast du Sorgen?« fragte Mary hinter ihm. Sie war im Morgenmantel und gähnte. »Ja«, brummte Thane. »Wie fühlst du dich heute?« »Danke, es geht. Wann mußt du fort?« »Gleich«, sagte Thane hastig und hatte gerade noch Zeit, eine Tasse Kaffee zu trinken, bis draußen der Funkwagen mit Konstabler Erickson am Steuer vorfuhr. Zwanzig Minuten später erreichten sie Ellisons Bungalow. Vor dem Haus parkten bereits drei Streifenwagen und ein weißer Landrover der Abteilung für Spurensicherung. In der Einfahrt war ein Konstabler in Uniform postiert. Als Thane auf das Haus zuging, sah er hinter einem der großen Fenster eine Polizistin stehen. Thane erwiderte den Gruß des Konstablers mit einem kurzen Nicken und lief dann den Gartenweg entlang, um das Haus herum und zu der breiten Garage, deren Flügeltür weit offenstand. Ellisons Lancia parkte genau wie am Vorabend neben dem weißen Mini seiner Frau. Als Thane die Garage betrat, drehte sich 119
einer der vier Kriminalbeamtendes Nord-Bezirks, die sich um den Lancia versammelt hatten, um und kam auf den Chefinspektor zu. »Morgen, Sir«, begrüßte ihn Inspektor Walker und deutete auf den italienischen Sportwagen. »Ich habe gehört, daß Sie sich für den Mann interessieren.« »Ja, das stimmt.« Thane musterte den hageren, mittelgroßen Inspektor nachdenklich. Er hatte schon öfter mit ihm zu tun gehabt und war immer gut mit ihm zurechtgekommen. »Was haben Sie bisher herausbekommen können?« Walker zuckte mit den Schultern. »Nicht viel. Ich habe mit seiner Frau gesprochen. Sie ist völlig durcheinander. Die Leiche liegt noch unter dem Wagen, wo Mrs. Ellison sie gefunden hat. Doc Williams und Matt Amos sind gerade bei der Arbeit. Alles übrige sehen Sie sich am besten selbst mal an.« »Was hat Ihnen Ellisons Frau erzählt?« fragte Thane. Insgeheim war er erleichtert, daß der beste Polizeiarzt der Stadt und der Direktor des Polizeilabors sofort zur Stelle gewesen waren. Das konnte nur bedeuten, daß irgend jemand im Präsidium schnell und umsichtig gehandelt hatte. »Nicht viel«, antwortete Walker. »Ich wollte die Nerven der armen Frau allerdings auch nicht zu sehr strapazieren. Sie ist wirklich sehr sympathisch und noch völlig verstört.« »Dann geht es ihr wie mir«, murmelte Thane. »Bitte, fahren Sie fort, Walker.« »Okay.« Walker steckte die Hände in die Taschen seines Jacketts und machte eine nachdenkliche Miene. »Als erstes hat mir Mrs. Ellison erzählt, daß die Poli120
zei gestern abend bei ihrem Mann gewesen ist. Waren Sie das?« Thane nicke. »Eine Stunde, nachdem Sie fortgegangen waren, hat Ellison seiner Frau gesagt, er müßte zu seinem Chefin dessen Landhaus fahren, um etwas Geschäftliches mit ihm zu besprechen. Er hat ihr geraten, nicht mehr auf ihn zu warten, da er damit rechnete, daß es spät werden würde.« Walker seufzte. »Mrs. Ellison hat sich deshalb schon früh schlafen gelegt. Irgendwann nach halb elf Uhr ist sie aufgewacht und glaubte, den Wagen ihres Mannes in die Garage fahren zu hören. Da Ellison jedoch nicht sofort ins Schlafzimmer gekommen ist, ist sie wieder eingeschlafen.« »Hm«, murmelte Thane. »Als ich hier gewesen bin, hat Ellison versucht, seinen Wagen zu reparieren.« »Ja, richtig«, stimmte ihm Walker zu. »Seine Frau hatte deshalb angenommen, daß er daran weiter arbeiten würde. Als er allerdings am nächsten Morgen nicht in seinem Bett lag, hat sie ihn gesucht … und gefunden.« »Ich spreche später noch mal mit ihr.« Thane sah sich in der Garage um. »Ellison war in einen Fall verwickelt, den ich gerade bearbeite.« »Keine Sorge, Chefinspektor«, wehrte Walker sofort ab. »Wir nehmen den Fall auf, aber den Rest können Sie besorgen.« »Danke, Inspektor.« Thane schlenderte zu Ellisons Lancia, wo Doc Williams und Matt Amos nebeneinander auf dem Betonboden lagen und angestrengt unter den Wagen starrten. »Macht bitte mal Platz«, bat Thane ruhig und kauerte sich neben sie. 121
Doc Williams murmelte Unverständliches vor sich hin, rückte aber zur Seite. Amos leuchtete mit einer Taschenlampe die Fläche unter dem Wagen ab. Peter Ellison war direkt unter der Auspuffanlage seines Autos gestorben. Kopf und Schultern lagen so dicht unter dem Auspufftopf, daß gerade noch eine Hand dazwischen paßte. Das Gesicht des Toten war dunkelrot angelaufen und in seinen Mundwinkeln klebte getrockneter Speichel. Seine Beine waren leicht angezogen; seine linke Hand hing schlaff auf der Brust während in der halbgeöffneten Rechten noch immer sein Schraubenzieher lag. Der Schein von Matt Amos’ Taschenlampe schweifte weiter zu dem Auspuff topf des Lancias, den Ellison mit Glasfibermaterial umwickelt hatte. »Vermutlich hatte er versucht, das Loch im Auspuff bei laufendem Motor noch besser abzudichten, und dabei ist es dann passiert …« erklärte Matt Amos und sah Thane an. »Sieht eindeutig wie ein Unfall aus. Oder ist es ein bißchen zu eindeutig?« Thane betrachtete schweigend die Leiche. Obwohl Ellison seinen braunen Kordanzug trug, wirkte alles so, als hätte er tatsächlich erneut versucht, den Auspuff zu reparieren. Er hatte sogar eine alte Zeltplane ausgebreitet, um sich nicht schmutzig zu machen. Amos schaltete die Taschenlampe aus und stand auf. Thane folgte seinem Beispiel. Doc Williams wischte sich gerade die Hände mit einem Tuch ab. Amos musterte Thane aufmerksam. »Wie wichtig ist Ellison für Sie gewesen, Colin?« erkundigte er sich. 122
»Sehr wichtig«, gab Thane zu. »Wir haben ihn gestern den ganzen Abend lang überwacht. Einer meiner Leute ist ihm sogar auf seinem Nachhauseweg bis hierher gefolgt.« Thane wandte sich an den Polizeiarzt. »Was halten Sie von der Sache Doktor?« »Das kann ich Ihnen im Augenblick noch nicht genau sagen«, entgegnete Doc Williams offen. Der Arzt war groß, schlank und wie immer elegant gekleidet. »Endgültiges kann ich erst nach der Obduktion feststellen.« Williams warf Amos einen ärgerlichen Blick zu. »Außerdem kann ich nichts machen, solange Amos nicht fertig ist.« »Geben Sie mir noch fünf Minuten«, bat Amos ungerührt. »Dann gehört die Leiche Ihnen, Doktor. Die Fotos haben wir bereits gemacht; wir müssen nur noch die genaue Lage des Toten ausmessen.« Doc Williams nickte ungeduldig. »Es sieht so aus, als sei Ellison an einer Kohlenmonoxydvergiftung gestorben«, erklärte er Thane. »Bei laufendem Motor und geschlossenen Garagentüren wird der Kohlenmonoxydgehalt in der Luft so hoch, daß ein Mensch innerhalb von fünf, höchstens sechs Minuten daran stirbt.« »Wann ist Ellison gestorben?« erkundigte sich Thane. Doc Williams runzelte die Stirn. »Gegen Mitternacht. Vielleicht auch früher. Die Leiche hat lange auf dem kalten Garagenboden gelegen, deshalb läßt sich das jetzt schwer feststellen.« Matt Amos kaute nachdenklich an seinem Schnurrbart. »Wissen Sie, wann Ellison die Glasfiberbandage an seinem Auspuff befestigt hat, Colin?« fragte er. 123
»Als wir gestern abend hier gewesen sind, hat Ellison noch daran gearbeitet«, antwortete Thane. »Wenigstens hat er das behauptet.« Amos nickte, »Ja, das könnte stimmen. Im Gegensatz zum übrigen Auspuffrohr liegt auf diesem Teil nur eine dünne Schicht Straßenstaub.« Der Laborexperte starrte einen Augenblick verwirrt auf den Lancia. »Sagen Sie, Doktor«, begann er schließlich. »Ist es nicht merkwürdig, daß Ellison nicht versucht hat, aus der Garage zu laufen, sobald ihm schwindelig oder übel geworden ist?« Doc Williams schüttelte den Kopf. »Kohlenmonoxyd ist ein völlig färb- und geruchloses Gas, dessen Wirkung man meistens erst spürt, wenn es bereits zu spät ist. Bevor Ellison noch etwas dagegen tun konnte, ist er wahrscheinlich bewußtlos geworden.« Thane kannte die Gefährlichkeit und die heimtückische Wirkung von Kohlenmonoxyd und konnte trotzdem nicht glauben, daß Ellisons Tod ein Unfall gewesen war. Schon gar nicht, nachdem er wußte, mit wem sich Ellison am vergangenen Abend nach seinem und Moss’ Besuch getroffen hatte. »Tut mir leid, meine Herrn«, erklärte Amos leise. »Das sieht für mich alles zu einfach aus. Ich werde eine genaue Laboruntersuchung einleiten.« Williams nickte und räusperte sich. »Einverstanden! Aber zuerst werde ich eine Obduktion vornehmen«, entgegnete er bestimmt. »Ihre fünf Minuten sind bald um, Amos!« Thane ließ Amos und Williams allein in der Garage zurück und trat in den warmen Sonnenschein hinaus. An der Hausecke erwartete ihn bereits Kon124
stabler Beech. Der junge Beamte machte eine betretene Miene. »Haben Sie schon gehört, was passiert ist?« fragte Thane ohne Umschweife. Beech nickte mit zusammengepreßten Lippen. »Sie sind doch Ellison bis zu seinem Haus gefolgt, oder?« Thane sah Beech abwartend an. »Mein Bericht liegt bereits auf Ihrem Schreibtisch, Sir«, antwortete Beech zerknirscht. »Ich habe die Verfolgung aufgenommen, nachdem Ellison Peebles Haus verlassen hatte und habe ihn nicht mehr aus den Augen gelassen. Er ist allerdings zuerst planlos und ohne anzuhalten durch die Stadt gekurvt, bevor er endgültig nach Hause gefahren ist. Hier hat er dann um Viertel nach elf seinen Wagen in die Garage gestellt. Ich habe noch ein paar Minuten gewartet und als sich nichts mehr rührte, habe ich mich ebenfalls auf den Heimweg gemacht.« Beech machte eine hilflose Handbewegung. »Ich dachte …« »Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen«, unterbrach ihn Thane kurz. »Haben Sie tatsächlich gesehen, wie er den Wagen in die Garage gefahren hat?« Beech zögerte einen Augenblick. »Er ist mit dem Lancia hinter dem Haus verschwunden, Sir. Als ich langsam am Haus vorbeifuhr, habe ich kurz die Rücklichter des Wagens aufblinken gesehen, so als würde Ellison rückwärts in die Garage stoßen.« »Ja, das hat er offensichtlich auch getan«, stimmte ihm Thane zu. Doc Williams hatte festgestellt, daß Ellison gegen Mitternacht gestorben sein mußte. Die Möglichkeit, daß er tatsächlich noch versucht hatte, den Wagen zu reparieren und dabei ums Leben gekommen war, war doch nicht ganz auszuschließen. 125
»Sagen Sie, Beech«, begann Thane langsam. »Ist Ihnen an Ellisons Lancia vielleicht etwas aufgefallen, als Sie ihm gefolgt sind? Könnte zum Beispiel mit dem Auspuff was nicht gestimmt haben?« »Das möchte ich nicht behaupten, Sir.« Beech schüttelte den Kopf. »Er klang nicht lauter als bei anderen Autos. Aber Sie haben doch gehört, wie Ellison mit dem Lancia bei Peebles abgefahren ist. Ist der Auspuff da …« »Nein«, unterbrach ihn Thane bestimmt. »Er klang völlig normal.« Beech fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und starrte stirnrunzelnd an Thane vorbei zur Auffahrt hinüber. »Da ist noch jemand, den Sie fragen könnten, Sir«, murmelte er. Thane drehte sich um. Ein weißer Jaguar hatte eben vor dem Bungalow gehalten, und John Peebles stieg aus. Der Direktor der Firma Eurobreak sprach kurz mit dem wachhabenden Sergeant, sah dann Thane, deutete auf ihn und durfte schließlich passieren. »Thane! Warten Sie einen Augenblick!« Peebles Gesicht war eine starre Maske. Sein stahlgraues Haar wirkte unfrisiert, und er war nicht rasiert. Peebles machte einen erregten Eindruck. »Wie geht es seiner Frau?« fragte er. »Sie hat mich angerufen und wirkte völlig verstört.« »Ich habe noch nicht mit ihr gesprochen, Peebles«, entgegnete Thane und sah zu Beech, der sich sofort zurückzog. »Aber Mrs. Ellison hat einem meiner Kollegen erzählt, daß ihr Mann gestern abend noch bei Ihnen gewesen ist.« 126
»Ja, das stimmt. Wir hatten Geschäftliches zu besprechen. Er ist ungefähr eine Stunde bei mir geblieben und hat mein Haus gegen elf Uhr wieder verlassen.« Peebles fuhr sich mit der Hand durch sein Haar. Das Platinarmband an seinem Handgelenk glitzerte in der Sonne. »Mein Gott, was ist denn eigentlich passiert?« »Hat Ihnen das Mrs. Ellison nicht schon gesagt?« Thane zündete sich eine Zigarette an. »Kathy?« Peebles zog scharf die Luft ein. »Sie hat mir eine ziemlich wirre Geschichte erzählt. Soviel ich verstanden habe, soll Ellison einen Unfall gehabt haben. Kathy hat ihn angeblich heute morgen tot in seiner Garage aufgefunden. Stimmt das?« »So ungefähr«, erwiderte Thane gelassen und beobachtete Peebles aufmerksam. »Es sieht so aus, als hätte Ellison versucht, bei laufendem Motor und geschlossenen Garagentüren den Auspuff zu überprüfen, den er zuvor repariert hatte.« »Dieser verdammte Idiot«, murmelte Peebles und schüttelte langsam den Kopf. »Seine Erfolgssträhne begann jetzt erst. In spätestens einem Jahr hätte ich ihn als Teilhaber in meine Firma aufgenommen.« »Tja, jeder macht mal eine Dummheit«, bemerkte Thane. »Vielleicht hat ihn die Unterredung mit Ihnen noch zu sehr beschäftigt?« Peebles zuckte mit den Schultern. »Kaum. Die Angelegenheit hat Peter zwar etwas Kopfzerbrechen gemacht, aber so wichtig ist sie auch nicht gewesen. Wir hatten ein neues zweiwöchiges Ferienprogramm für Griechenland zusammengestellt. Ellison hielt unsere Preiskalkulation für reinen Selbstmord …« Pee127
bles verstummte plötzlich. »Thane, ist es wirklich ein Unfall gewesen, oder …« »Warum fragen Sie?« entgegnete Thane erstaunt. »Oh, es ist nur so eine Idee von mir gewesen«, wich Peebles vorsichtig aus. »Ellison war nicht nur ein Angestellter sondern auch ein entfernter Verwandter. Deshalb betrifft mich sein Tod natürlich auch persönlich. Ich muß mich um seine Frau kümmern.« »Ich habe Mrs. Ellison schon gestern abend kennengelernt, als ich ihren Mann noch einmal wegen des Flugzeugabsturzes vernommen habe«, erklärte Thane beiläufig. »Ja, richtig. Peter hat Ihren Besuch flüchtig erwähnt.« Peebles seufzte. »Zuerst Francis und das Mädchen und jetzt … Meine Angestellten scheinen vom Pech verfolgt zu werden. Hoffentlich passiert nicht noch etwas. Für Sie bedeutet das natürlich auch mehr Arbeit. Haben Sie den Absturz der Beagle eigentlich schon geklärt?« »Nein.« Thane warf seine Zigarette fort. »Eine merkwürdige Geschichte. Finden Sie nicht auch?« »Glauben Sie nicht, daß Sie Ihre Zeit verschwenden, indem Sie sich soviel Gedanken über den unverzeihlichen Leichtsinn eines jungen Mannes machen?« Thane zuckte mit den Schultern. Peebles nickte ihm zu und wollte zum Haus gehen, als ihn der Chefinspektor zurückrief. »Augenblick noch! Sagen Sie, sind Sie gestern abend mit Ellison allein gewesen, oder war bei Ihrer Unterhaltung noch jemand anwesend?« Peebles drehte sich plötzlich um. »Nein«, log er sofort eiskalt. »Warum?« 128
»Es hätte mich nur interessiert, ob Ellison vielleicht jemand mit dem Wagen mitgenommen hat.« Thane machte eine enttäuschte Geste. »Für uns ist es immer einfacher, wenn wir einen Zeugen haben. Schließlich ist es wichtig zu wissen, ob sich Ellison mit irgend jemand über seinen defekten Auspuff unterhalten hat.« Peebles runzelte die Stirn. »Mir gegenüber hat er kurz erwähnt, daß mit seinem Auspuff was nicht stimmte«, erklärte er. »Aber ich habe der Sache weiter keine Beachtung geschenkt. Leider!« Thane sah Peebles nach, bis er im Haus verschwunden war. Als er sich umdrehte, entdeckte er Beech, der noch immer an der Hausecke stand, und rief ihn zu sich. »Fahren Sie aufs Revier zurück, Konstabler«, bat er ihn. »Sagen Sie Inspektor Moss, daß er Sergeant Gordon in Glenfinn anrufen möchte. Der Sergeant soll sich möglichst unauffällig erkundigen, wann das seltsame Paar von der Eaglefarm gestern abend mit seinem BMW nach Hause gekommen ist.« »Geht in Ordnung, Sir«, versicherte ihm Beech. »Wo sind Sie zu erreichen?« »Im Präsidium.« Bei dem Gedanken an das bevorstehende Gespräch mit Buddha Ilford lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Beech nickte und ging zu seinem Wagen. Buddha Ilford wirkte an jenem Morgen frisch und ausgeruht. Als er jedoch Thane sah, sank sein Stimmungsbarometer um einige Grad. Er machte dem Chefinspektor ohne Umschweife klar, was er von der Panne hielt, die ihm unterlaufen war. 129
»Ein Mann, den Sie haben beschatten lassen, stirbt unter mysteriösen Umständen«, begann Ilford heftig. »Was glauben Sie, was passiert, wenn die Geschichte vor Gericht rauskommt? Wie stehen wir dann da, Thane?« Ilford beugte sich über seinen Schreibtisch. »Wissen Sie überhaupt, daß das ein gefundenes Fressen für die Presse wäre?« »Ja, sicher«, entgegnete Thane ruhig. Er war vor Ilfords Schreibtisch stehen geblieben, da ihm sein Chef keinen Stuhl angeboten hatte. »Nur …« »Was nur?« unterbrach ihn Ilford ärgerlich. »Ellison hat gelogen, Peebles hat gelogen, und die Besitzer dieser Eaglefarm haben auch nicht die Wahrheit gesagt. Welche Ausrede wollen Sie mir denn für die Panne andrehen?« schnaubte er. »Dieser Cassill und auch Ellison sind mit größter Wahrscheinlichkeit ermordet worden!« Thane schwieg. Er hielt es für das beste, abzuwarten, bis Ilford sich wieder beruhigt hatte. »Wann wollen Sie endlich mit Ellisons Frau sprechen?« erkundigte sich Ilford schließlich. »Heute nachmittag.« »Gut. Dann werde ich veranlassen, daß Peebles von jetzt an rund um die Uhr überwacht wird. Ansonsten haben Sie weiter freie Hand.« Ilford trommelte nervös mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. »Was gedenken Sie in Glenfinn zu unternehmen?« »Ich verlasse mich da ganz auf den dortigen Sergeant«, antwortete Thane. »Sergeant Gordon ist ein guter und intelligenter Polizeibeamter. Allerdings nicht mehr lange … Soviel ich weiß, hat er vor, den Dienst zu quittieren.« 130
»Und warum?« Ilford starrte Thane überrascht an. »Wo drückt ihn denn der Schuh?« »Er soll befördert und gleichzeitig versetzt werden«, erklärte Thane. »Letzteres scheint für ihn einer Verbannung nach Sibirien gleichzukommen. Wenn man einmal in Glenfinn gewesen ist, kann man Gordons Gefühle allerdings verstehen.« Thane überhörte Ilfords unwilliges Murren und fuhr fort: »Ich habe ihm versprochen, mal mit … mit jemandem vom Präsidium darüber zu sprechen.« »Haben Sie denn jetzt nichts anderes im Kopf, als die Versetzung irgendeines Sergeants von der Landpolizei?« schnaubte Ilford, kritzelte jedoch Gordons Name auf seinen Notizblock. Dann wechselte er abrupt das Thema. »Sie haben doch den Mann gesehen, der die Beagle Pup auf dem Flugplatz in Brand gesteckt hat, Thane. Könnte es Ellison oder Peebles gewesen sein?« »Nein, von der Figur her bestimmt nicht, Sir.« »Und was ist mit den beiden von der Eaglefarm?« Thane zögerte einen Augenblick und schüttelte dann den Kopf. Er vermutete insgeheim, daß für den Job am Flugplatz irgendein kleiner Gauner engagiert worden war, und davon gab es in Glasgow viele. »Tja, das war’s wohl«, seufzte Ilford, stand auf und schob seinen Stuhl heftig zurück. »Ich muß jetzt zu einer Besprechung beim Polizeipräsidenten. Es wird nicht einfach sein, ihm die ganze Sache zu erklären, Thane.« Als Thane kurze Zeit darauf mit langen Schritten durch die Eingangshalle des Polizeipräsidiums ging, rief jemand seinen Namen, er drehte sich um. Die klei131
ne, hübsche Chinesin aus Amos’ Labor kam auf ihn zugerannt. »Sie haben mir das Leben in den letzten Tagen nicht gerade leicht gemacht, Chefinspektor«, schimpfte sie mit einem bezaubernden Lächeln. »Ich bin mir keiner Schuld bewußt«, entgegnete Thane und zwang sich zu einem Lächeln. »Was habe ich denn getan?« »Sie haben mir doch einen toten Fisch geschickt, oder?« Das Mädchen steckte ihre Hände in die Taschen ihres weißen Labormantels und musterte Thane gespielt strafend. »Wenigstens hat Matt Amos das behauptet.« »Stimmt«, gab Thane zu. »Ich wollte damit jemandem einen Gefallen tun.« »Mir bestimmt nicht«, seufzte die Laborassistentin. »Ich schicke Ihnen natürlich noch einen schriftlichen Bericht, aber ich dachte, es würde Sie vielleicht interessieren, daß der Fisch durch Salpetersäure getötet wurde. Der Säuregehalt im Wasser ist zwar nicht hoch, aber trotzdem noch stark genug gewesen, um die Fische zu töten.« Das Mädchen runzelte die Stirn. »Ich verstehe allerdings nicht ganz, wie Salpetersäure in einen Gebirgsbach geraten konnte.« »Vielleicht durch einen unvorsichtigen Farmer«, sagte Thane. »Das müßte aber ein sehr merkwürdiger Farmer sein«, entgegnete das Mädchen geduldig. »Salpetersäure wird nicht in der Landwirtschaft, sondern bei der Herstellung von Sprengstoffen, Färbemitteln, Celluloid oder von Graveuren verwendet.« 132
Thane sah sie stirnrunzelnd an. »Sind Sie sicher? Wird Salpetersäure wirklich nur in der Industrie gebraucht?« Sie nickte. »Wenn dieses Glenfinn in der Nähe einer größeren Stadt liegt, dann würde ich mich dort mal nach einer Fabrik umsehen, die mit ihren chemischen Abfallprodukten sehr fahrlässig umgeht. Einen derartigen Betrieb werden Sie im schottischen Hochland allerdings kaum finden.« »Vielleicht doch«, murmelte Thane und dachte an die Werkstätten der Eaglefarm. »Ich werde die Angelegenheit jedenfalls überprüfen.« »Gut.« Die Chinesin lächelte und wandte sich zum Gehen. Als Thane zum Revier des Millside Distrikts kam, erwartete ihn Inspektor Moss bereits in seinem Büro. »Die Sache mit Ellison stinkt zum Himmel«, erklärte Moss ohne Umschweife und machte ein unglückliches Gesicht. Thane nickte. »Das kann man wohl sagen! Hast du schon was von Sergeant Gordon aus Glenfinn gehört?« »Nein, noch nicht. Es dürfte allerdings nicht allzu schwer sein, festzustellen, ob jemand den silbergrauen BMW gesehen hat«, fuhr Moss fort. »Sergeant Gordon hat mir erzählt, daß es der einzige Wagen dieses Typs in seinem Distrikt ist.« »Okay. Was gibt’s sonst noch Neues?« »Nichts«, antwortete Phil Moss finster. Thane ging zum Fenster und starrte hinaus. Der Himmel hatte sich inzwischen bewölkt. Der Chefinspektor dachte an Ellisons junge Witwe. »Phil, wir 133
haben Ellison gestern abend zwar ziemlich zugesetzt, aber deshalb begeht doch niemand Selbstmord, oder?« »Das kann ich mir auch nicht vorstellen«, stimmte ihm der Inspektor zu. »Warum nehmen wir nicht endlich Peebles in die Zange … ?« Thane schüttelte den Kopf. »Dazu wissen wir noch zuwenig von ihm«, wehrte der Chefinspektor ab. Moss zuckte mit den Schultern. Normalerweise war er derjenige, der zur Geduld und Vorsicht mahnte, aber die Tatenlosigkeit, zu der sie im Augenblick verdammt schienen, machte ihn nervös. Außerdem schmerzte sein Magengeschwür stärker als sonst. Plötzlich klopfte es an die Tür, und Sergeant MacLeod kam herein. »Hier sind die Berichte von gestern nacht«, erklärte er gedankenverloren und legte einen Stapel Papiere auf Thanes Schreibtisch. Thane setzte sich seufzend an seinen Schreibtisch und begann die Polizeiberichte durchzublättern, während MacLeod mit unbeweglicher Miene geduldig wartete. Plötzlich sah Thane von seinen Papieren auf. »Was ist das für eine Geschichte von einem Einbruch in einem Lederwarengeschäft, Mac?« erkundigte sich der Chefinspektor. »Oh, nichts Besonderes, Sir!« MacLeod musterte Thane überrascht. »Ein Streifenwagen hat den alten Lastwagen ungefähr eine Stunde nach dem Einbruch aufgehalten, die Ladung kontrolliert und dabei die gestohlene Ware entdeckt. Außer dem Fahrer war niemand im Wagen. Der Ladenbesitzer hat ihn als den Dieb identifiziert. Der Bursche hat ein Vorstrafenregister, das so lang ist wie …« 134
»Sein Vorstrafenregister interessiert mich nicht«, unterbrach Thane den Sergeant schroff. »Wie heißt der Kerl doch gleich? Ah, ja hier. Willie Kelly aus Fortrose.« Thane sah zu Moss. »Fällt dir dabei nichts auf, Phil?« »Moment mal«, sagte Moss langsam. »Das ist doch Soldier Kellys Cousin. Was hat er denn diesmal geklaut?« »Reisetaschen und Koffer«, antwortete Thane. »Und zwar soviel, daß er selbst ein Geschäft damit aufmachen könnte.« Thane hatte plötzlich eine Idee, die ihm selbst fast zu abwegig erschien. »Als wir Soldier Kelly bei der Schlägerei in Fortrose verhaftet haben, hatte er doch das Antragsformular für einen Reisepaß bei sich. Phil …« »Ja?« Moss hob überrascht eine Augenbraue. »Frag bitte mal beim Paßamt nach, wie viele Bewohner von Fortrose in letzter Zeit einen neuen Paß beantragt haben.« Moss nickte verwirrt und ging hinaus. »Sir …«, begann MacLeod und trat ungeduldig von einem Bein auf das andere. »Augenblick noch, Mac«, vertröstete ihn Thane, öffnete die oberste Schreibtischschublade und holte den Reiseprospekt der Firma Eurobreak heraus, den ihm Ellison gegeben hatte. Er blätterte die Broschüre hastig durch, bis er endlich gefunden hatte, was er suchte. »Wie war’s, wenn Sie eine Ferienreise ins Ausland buchen würden, Mac? Der Abreisetermin sollte allerdings schon morgen sein.« »Ich?« MacLeod starrte Thane entsetzt an. »Aber ich habe doch gar keinen Urlaub mehr …« 135
»Sie sollen ja auch nicht in Urlaub fahren, sondern lediglich eine Reise buchen, Mac!« Thane schob ihm ungehalten die Berichte zu. »Hier, die können Sie gleich mitnehmen. Aber bleiben Sie in der Nähe.« Nachdem MacLeod sein Büro verlassen hatte, las Thane noch einmal den Artikel in der Reisebroschüre durch, der besagte, daß Eurobreak seinen Kunden unter anderem auch die Währung des Reiselandes besorgte. Der Chefinspektor kaute einen Augenblick nachdenklich auf seiner Unterlippe. Der tote Fisch, Soldier Kellys Antrag für einen neuen Paß und die Tatsache, daß ausgerechnet Kellys Cousin eine Ladung Koffer und Taschen gestohlen hatte, konnten eigentlich nur das eine bedeuten. Thane hob den Hörer seines Telefons ab und ließ sich mit Sergeant Gordon in Glenfinn verbinden. »Polizeistation Glenfinn«, meldete sich Sergeant Gordon fünf Minuten später atemlos. »Hier spricht Thane aus Glasgow, Sergeant.« Der Chefinspektor holte tief Luft. »Ich habe nur eine Frage, Gordon.« »Wenn es um die Besitzer der Eaglefarm geht, Sir«, begann Gordon, »kann ich Ihnen endlich mehr sagen. Ich …« »Nein, es handelt sich um den toten Fisch, den Sie mir mitgegeben haben«, unterbrach ihn Thane hastig. »Sir, ich … Die Sache tut mir leid«, stöhnte Gordon. »Meine Frau hätte mich beinahe gelyncht, als ich ihr …« »Schon gut, Gordon«, schnitt ihm Thane das Wort ab. »Beantworten Sie mir nur eine Frage: Wie weit ist 136
der Teich, in dem der Fisch gefunden wurde, von der Eaglefarm entfernt?« Am anderen Ende der Leitung blieb es einen Augenblick still. Thane hörte lediglich Gordons schwere Atemzüge. »Es gibt einen kleinen Bach, der von der Eaglefarm in den Fluß fließt, Sir«, antwortete Gordon schließlich. »Er mündet knapp über dem Teich in den Fluß.« »Aha«, murmelte Thane erleichtert. »Also was wollten Sie mir über die Besitzer der Eaglefarm berichten?« »Ich habe Glück gehabt, Sir«, begann Gordon. »Unser Landarzt ist gestern nacht wegen einer Geburt unterwegs gewesen und hat den BMW auf dem Nachhauseweg gesehen. Das ist um drei Uhr morgens gewesen. Falls die beiden also direkt von Glasgow hierhergefahren sind, können sie die Stadt erst kurz nach Mitternacht verlassen haben.« »Danke, Sergeant«, sagte Thane freundlich. »Ich melde mich wieder.« Thane legte den Hörer auf die Gabel, zündete sich eine Zigarette an und ging in den Bereitschaftsraum hinaus, wo Moss noch immer telefonierte. Als Thane auf ihn zukam, machte er dem Chefinspektor das Siegeszeichen. In diesem Augenblick wußte Thane, daß er auf der richtigen Spur war.
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urz darauf hängte Phil Moss ein, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und musterte Thane grinsend. »Beim Paßamt habe ich erfahren, daß in den letzten beiden Tagen insgesamt vier Personen aus dem Stadtteil Fortrose neue Pässe beantragt haben, Colin«, berichtete er. »Einer davon war Willy Kelly. Kennst du die anderen?« Thane betrachtete die Namensliste, die Moss ihm gereicht hatte und nickte. Es waren alles kleine Gauner mit ellenlangen Vorstrafenregistern. »Vier«, murmelte Moss. »Und Soldier Kelly hatte seinen Antrag noch in der Tasche. Damit wären es also fünf.« Moss musterte Thane bewundernd. »Könntest du mir vielleicht jetzt erklären, worum es eigentlich geht?« Thane setzte sich auf die Kante von Moss’ Schreibtisch. »Ich hatte das unglaubliche Glück, daß mir jemand einen toten Fisch geschenkt hat.« »Wie?« Moss starrte seinen Chef überrascht an. »Du meinst doch nicht etwa diese stinkende Forelle aus Glenfinn?« »Doch, damit hat alles angefangen.« »Aha, interessant«, seufzte Moss verständnislos. »Hör zu, Phil«, begann Thane langsam. »Das Labor hat festgestellt, daß der Fisch durch Salpetersäure 138
gestorben ist. Die Forelle stammt aus einem Teich, in den ein Bach mündet, der ganz in der Nähe der Eaglefarm vorbeifließt. Hast du eine Ahnung, wozu man Salpetersäure braucht?« Moss zuckte mit den Schultern. »Salpetersäure wird unter anderem auch bei der Gravur von Druckplatten verwendet«, erklärte Thane bedeutungsvoll. Moss’ Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig. »Es ist also möglich, daß ein gelernter Buchdrucker wie Harkness in seiner Werkstatt auf der Eaglefarm Druckplatten angefertigt haben könnte. Aber …« »Und Manny Francis ist mit dem Flugzeug über Fortrose abgestürzt, als er von Glenfinn nach Glasgow zurückgekehrt ist«, murmelte Moss atemlos. »Irgend jemand hat doch verzweifelt versucht, daß Flugzeugwrack zu zerstören, nachdem er offensichtlich nicht gefunden hatte, wonach er suchte. Und wenn man dann noch in Betracht zieht, daß fünf Gauner aus Fortrose verreisen wollen …« In diesem Augenblick läutete das Telefon an einem Nebentisch. Thane ignorierte es völlig, und ein junger Konstabler hob schließlich den Hörer ab. »Du bist auf dem richtigen Weg, Phil«, versicherte Thane seinem Kollegen. »Cassill kommt durch einen Sturz aus dem Fenster ums Leben. Und ausgerechnet dieser Cassill ist Vertreter für Büroartikel, also auch für Papier. Ellison, der wie Francis mit Cassill in Verbindung gestanden hat, stirbt an einer Kohlenmonoxydvergiftung. Irgend jemand mußte nach unserem Besuch bei Ellison Angst gehabt haben, daß er reden würde.« 139
»Du meinst Peebles?« Moss fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ja, aber …« »Die Firma Eurobreak vermittelt nicht nur Reisen, Phil«, unterbrach ihn Thane. »Sie verkauft ihren Kunden auch die ausländischen Devisen, die sie brauchen und mit denen sie im Ausland einkaufen können.« »Und du glaubst, daß diese Devisen gefälscht sind?« erkundigte sich Moss. »Wenn das stimmt, dann ist es ein geniales Unternehmen. Tausende von Touristen …« »Ja, unschuldige Touristen, die zu offiziellen Umtauschkursen ihre echten Pfundnoten in gefälschte ausländische Devisen einwechseln«, ergänzte Thane. »Merkwürdigerweise läuft allerdings zur Zeit keine Fahndung von Interpol wegen gefälschter Banknoten«, gab Moss zu bedenken. »Wir haben es nicht mit Amateuren zu tun, Phil«, erinnerte ihn Thane. »So wie ich die Leute einschätze, haben sie natürlich nur kleine Banknoten gefälscht. Die fallen am wenigsten auf.« Moss nickte. »Das sind wirklich Profis, die auch nicht vor einem Mord zurückschrecken.« Der Inspektor dachte einen Augenblick nach. »Jetzt verstehe ich, warum den Finanzbehörden die Geschäftspolitik der Firma Eurobreak spanisch vorkommen mußte. Peebles hat offensichtlich einen sehr geschickten Buchhalter.« »Vermutlich ist ein Teil der ausländischen Währungen, die die Firma verkauft, echt«, überlegte Thane weiter. »Nur deshalb ist ihnen bisher noch niemand auf die Schliche gekommen.« 140
»Wir können dem guten Sergeant Gordon aus Glenfinn dankbar sein«, seufzte Moss und stand auf. »Was machen wir jetzt?« »Peebles lassen wir vorerst in Ruhe«, antwortete Thane. »Ilford hat einen Mann auf ihn angesetzt. Das genügt.« Thane deutete auf Sergeant MacLeod, der im Hintergrund Akten ordnete. »Wir schicken Mac zu einer Filiale der Reiseagentur Eurobreak. Er soll eine Reise buchen und Devisen kaufen.« »Ausgezeichnet.« Moss hatte verstanden. »Was machen wir inzwischen mit Willie Kelly? Soll ich ihn mir mal vorknöpfen?« »Nein. Ich glaube nicht, daß dabei etwas rauskommt«, wehrte Thane ab. »Wir halten uns lieber an seinen Cousin, Soldier Kelly. Ihn können wir besser unter Druck setzen. Du hast doch auch gesehen, wie er nach der Prügelei in Fortrose mit dem Schürhaken auf mich losgegangen ist, oder?« Moss grinste. »Gute Idee! Kelly ist heute morgen dem Untersuchungsrichter vorgeführt und anschließend nach Barlinnie eingewiesen worden.« »Okay, ich werde ihn dort besuchen«, beschloß Thane. »Du kannst inzwischen nachprüfen, ob Cassill irgendwann mit Banknotenpapier gehandelt hat, Phil.« »Ja, gut. Mir bleibt wohl nichts anderes übrig«, seufzte Moss ergeben. In diesem Augenblick läutete auf seinem Schreibtisch das Telefon. Er hob ab. Kurz darauf legte er die Hand über die Sprechmuschel. »Für dich«, flüsterte er. »Peebles will dich sprechen.« Thane nahm den Hörer und meldete sich. »Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten, Thane«, begann Peebles ohne Umschweife. »Ich komme gera141
de von Ellisons Frau. Sie steht noch unter der Einwirkung des Schocks. Ihre Leute sollten etwas vorsichtig mit ihr umgehen.« »Keine Angst, wir wissen, was wir in solchen Fällen zu tun haben«, versicherte Thane dem Direktor des Reiseunternehmens frostig. »Haben Sie irgendeinen Grund zur Klage?« »Nein«, wehrte Peebles ab. »Aber man hat ihr offensichtlich gesagt, daß sie erneut verhört werden soll. Hat das nicht noch Zeit?« »Nicht mehr lange«, entgegnete Thane. »Warum? Es ist doch ein Unfall gewesen«, beharrte Peebles. »Das ändert nichts an der Tatsache, daß ich einen Bericht über den Vorfall schreiben muß«, erklärte Thane bestimmt. »Auch bei tödlichen Unfällen gibt es den üblichen Papierkram.« »Tja, ich möchte nur versuchen, dem Mädchen zu helfen«, lenkte Peebles ruhiger ein. »Bitte sorgen Sie dafür, daß man sie nicht quält.« »Selbstverständlich.« Thane warf den Hörer auf die Gabel und zog eine Grimasse. »Peebles spielt den guten Samariter und versucht ganz nebenbei herauszubekommen, was wir wirklich von Ellisons Tod halten«, sagte er zu Moss. »Wie nett von ihm«, murmelte Moss abwesend und ging zu dem Stadtplan hinüber, der an der Wand hing. »Was ist los?« erkundigte sich Thane. »Vielleicht kann ich das fehlende Glied in der Kette finden«, erwiderte Moss achselzuckend und starrte angestrengt auf die Karte. »Der Kerl, der die Beagle auf dem Flugplatz in Brand gesteckt hat, ist mir wie142
der eingefallen. Möglicherweise …« Moss verstummte achselzuckend. »Nun?« »Ach, nichts. Es ist nur so eine Idee von mir«, wehrte Moss ab. »Wo kann ich dich später erreichen?« »Ich bin in den nächsten Stunden unterwegs«, gab Thane zu bedenken. »Zuerst fahre ich zu Mrs. Ellison, dann ins Gefängnis Barlinnie und zum Schluß vermutlich ins Leichenschauhaus.« »Okay, wir sehen uns ja noch«, sagte Moss und wandte seine Aufmerksamkeit erneut dem Stadtplan zu. Thane ging in sein Büro und rief Doc Williams im städtischen Leichenschauhaus an. Es dauerte eine Weile, bis der Arzt endlich ans Telefon kam. »Wann soll ich eigentlich arbeiten, wenn die Leute von der Kripo ständig bei mir anrufen«, jammerte Williams ärgerlich. »Ich habe gerade erst mit der Obduktion an Ellison begonnen.« »Ich möchte Sie selbstverständlich nicht von der Arbeit abhalten, Doc«, versicherte ihm Thane schnell. »Wenn Sie noch immer wie ich der Meinung sind, daß Ellison zwar an einer Kohlenmonoxydvergiftung gestorben, aber trotzdem ermordet worden ist, dann muß ich unbedingt wissen …« »… wie er unter den Wagen gekommen ist«, ergänzte Williams gelassen. »Ich habe mir schon gedacht, daß Sie das interessiert. Sind Sie tatsächlich so unter Zeitdruck, Colin?« »Ja«, gab Thane offen zu. »Okay, dann mache ich Ihnen zuliebe heute keine Mittagspause und arbeite durch«, seufzte Williams re143
signiert. »Kommen Sie um zwei Uhr zu mir. Dann weiß ich wahrscheinlich mehr.« Thane dankte ihm und legte auf. Als er kurz darauf durch den Bereitschaftsraum ging, war Moss nicht mehr da. Die übrigen Beamten musterten ihn neugierig. Sie ahnten, daß die Dinge ins Rollen kamen. Es war genau elf Uhr vormittags, als der Streifenwagen mit Konstabler Erickson am Steuer vor Ellisons Bungalow hielt. Die Funkwagen der Kriminalpolizei waren inzwischen wieder abgefahren und die Garagentüren hinter dem Haus waren geschlossen. Thane stieg aus, ging die Treppen zum Eingang hinauf und klingelte. Eine rothaarige Polizistin öffnete ihm. »Wie geht es Mrs. Ellison?« erkundigte sich Thane, nachdem die Beamtin die Tür hinter ihm geschlossen hatte. »Etwas besser, Sir.« Das Mädchen deutete auf einen Raum am Ende des langen Korridors. »Sie ist allein.« »Gut. Ich glaube, Sie sollten bei der Unterredung anwesend sein«, entschied Thane. »Sie können unauffällig mitstenografieren.« Die rothaarige Beamtin nickte. Thane folgte ihr in ein geräumiges, mit geschmackvollen skandinavischen Möbeln ausgestattetes Wohnzimmer. Kathy Ellison saß bleich in einem Sessel am Fenster und starrte hinaus. »Mrs. Ellison!« Thane mußte die Anrede zweimal wiederholen, bevor sie endlich aufsah. Ihre Augen waren rot vom Weinen und geschwollen. Sie trug Rock, Pullover und Hausschuhe. 144
»Mrs. Ellison, ich weiß, daß Sie bereits mit meinen Kollegen gesprochen haben, aber leider muß ich Ihnen noch einige Fragen stellen«, begann Thane vorsichtig und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie seine Kollegin Papier und Bleistift zur Hand nahm. »Hat es Sie eigentlich überrascht, daß Ihr Mann gestern abend noch so spät fortgefahren ist?« »Ja«, murmelte sie leise und gequält. In ihren Augen blitzte plötzlich Erkennen auf. »Sie sind doch gestern schon hier gewesen.« Thane nickte. »Ja, wegen des Flugzeugabsturzes. Mir gegenüber hat Ihr Mann allerdings nicht erwähnt, daß er noch eine Verabredung hatte.« »Er mußte zu John Peebles«, sagte Mrs. Ellison müde. »Ist die Angelegenheit so dringend gewesen, daß er damit nicht bis zum nächsten Morgen hätte warten können?« »Vielleicht. Er hat mir jedenfalls erzählt, daß er im Büro nie in Ruhe mit Mr. Peebles reden konnte und ihn deshalb lieber in seiner Privatwohnung besuchen würde. Im Büro ist immer so viel los gewesen.« »Ja, das verstehe ich«, bemerkte Thane nachdenklich. »Was hat Ihr Mann in Mr. Peebles Firma gemacht?« »Er hatte das ganze Rechnungswesen unter sich, hat bei der Planung der Projekte geholfen … Er war eigentlich Mädchen für alles.« Mrs. Ellison drehte nervös ihren Ehering zwischen den Fingern. »Hatte er auch mit den Devisenverkäufen an die Kunden der Firma zu tun?« fragte Thane. 145
Mrs. Ellison nickte. »Die Filialen haben ihm ihre Bestellungen geschickt, und er hat dann die Devisen besorgt.« Sie sah ihn erstaunt an. »Aber was …« »Dann stand Ihr Mann also unter ständigem Arbeitsdruck«, sagte Thane schnell. »Er hatte sicher auch Sorgen. Ist das schon immer so gewesen?« »Eigentlich nicht«, murmelte die junge Witwe. »In letzter Zeit ist es allerdings immer schlimmer geworden.« Sie starrte ihn plötzlich entsetzt an. »Wollen Sie damit andeuten …« »Nein, keinesfalls«, schnitt ihr Thane energisch das Wort ab. »Das wäre auch völlig absurd«, erklärte Mrs. Ellison mit zitternder Stimme. »Das letzte, was er gestern abend zu mir gesagt hat, war, daß ihm die Fahrt zu Mr. Peebles Gelegenheit geben würde, den Auspuff auszuprobieren. Er wollte sichergehen, daß der Schaden auch wirklich behoben war.« Thane nickte verständnisvoll. »Seit wann ist der Auspuff am Wagen Ihres Mannes defekt gewesen?« »Es hat vor ungefähr drei Wochen angefangen«, antwortete die junge Frau einsilbig. »Genau kann ich mich daran nicht mehr erinnern. Er hat fast nur noch meinen Wagen benutzt.« »Ihr Mann hat also sein Auto in der Garage gelassen?« bohrte Thane weiter. Mrs. Ellison schüttelte den Kopf. »Nein. John Peebles hatte es sich ausgeliehen, solange sein Wagen in der Werkstatt war. Er hatte Peter darum gebeten, und da der Lancia sowieso ein Firmenwagen ist, konnte er nicht gut nein sagen.« Thane war überrascht. Dieser Punkt in Mrs. Ellisons Aussage war sehr interessant. 146
»Sie haben, soviel ich weiß, gestern abend gehört, wie Ihr Mann nach Hause gekommen ist und den Wagen in die Garage gefahren hat, Mrs. Ellison«, begann Thane. Als die junge Frau nickte, fuhr er fort: »Ist Ihnen sonst noch irgendwas aufgefallen?« »Das ist schwer zu sagen«, murmelte Mrs. Ellison leise. »Ich bin schließlich gar nicht richtig wach gewesen. Ich bilde mir ein, daß ich gehört habe, wie er den Motor abgestellt und wieder angelassen hat.« »Ist das sofort geschehen, oder war eine längere Pause dazwischen?« hakte Thane ein. »Das weiß ich nicht.« Kathy Ellison schlug die Hände vors Gesicht und begann leise zu schluchzen. »Wenn ich nur nicht wieder eingeschlafen wäre …« »Sie können nichts dafür«, beruhigte Thane sie sanft. Thane machte der rothaarigen Beamtin ein Zeichen und ging hinaus. Eine halbe Stunde später saß Colin Thane im Besuchszimmer des Barlinnie Gefängnisses seinem alten Bekannten Soldier Kelly gegenüber. »Auf den Besuch von Polypen kann ich verzichten«, schimpfte Kelly wütend. »Was wollen Sie von mir?« Der kleine Gauner musterte den Chefinspektor feindselig. »Ich wollte nur mal sehen, wie es Ihnen geht«, entgegnete Thane lächelnd. »Sie bekommen übrigens bald Gesellschaft, Kelly. Wir haben Ihren Cousin Willie geschnappt.« »Willie ist ein Idiot.« Soldier Kelly starrte plötzlich angestrengt zur Decke. »Was hat er sich denn diesmal geleistet?« 147
»Er hat ’ne Ladung Reisegepäck gestohlen«, antwortete Thane. »Überrascht?« »Mich überrascht gar nichts«, murmelte Kelly hastig. »Das kann ich von mir leider nicht behaupten, Soldier«, entgegnete Thane grimmig. »Ich erlebe täglich die merkwürdigsten Überraschungen. Wie erklären Sie sich eigentlich die Tatsache, daß eine Gruppe kleiner Gauner aus Fortrose plötzlich neue Pässe beantragt, um ins Ausland reisen zu können?« Kelly zuckte mit den Schultern. »Na, und? Was dagegen? Jeder braucht mal ’ne Luftveränderung. Die Polypen hier werden langweilig.« Thane lächelte eisig. »Und Willie hat für das Reisegepäck gesorgt«, bemerkte Thane gefährlich leise. »Wer bezahlt denn euren Urlaub? Erzählen Sie mir jetzt bloß nicht, das Müttergenesungswerk!« »Wir haben beim Pferderennen gewettet und gewonnen«, erwiderte Kelly undeutlich. »Beim Pferderennen ?« schnaubte Thane verächtlich. »Das kaufe ich Ihnen nicht ab, Soldier.« Kelly zuckte erneut gleichgültig mit den Schultern. »Ich habe meine eigene Theorie, wie ihr zu Geld gekommen seid, Soldier«, fuhr Thane sanft fort. »Es hat etwas mit dem Absturz der Beagle Pup zu tun. Stimmt’s?« »Was?« krächzte Kelly in gespielter Entrüstung. »Jetzt hören Sie mal …« »Lassen Sie das Theater, Soldier!« wies ihn Thane scharf zurecht. »Ihr habt das Wrack ausgeplündert! Und ich möchte jetzt auf der Stelle wissen, was ihr euch geholt habt!« 148
Kelly wurde leichenblaß und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Sie sind ja total übergeschnappt, Mister«, keuchte er. »Okay, Soldier. Ich hänge Ihnen einen Prozeß wegen versuchter Körperverletzung an«, entgegnete Thane schneidend. »Sie erinnern sich doch sicher an den Schürhaken, mit dem Sie gestern auf mich losgegangen sind? Bei Ihrem Vorstrafenregister kann Sie das drei Monate im Knast kosten. Falls Sie allerdings nicht endlich mit der Wahrheit rausrücken, könnte ich leicht auf die Idee kommen, zu behaupten, Sie hätten versucht, mich umzubringen, Soldier.« »Sie wissen genau, daß das eine ganz gemeine Lüge ist.« Kelly schluckte hart. »Das soll doch wohl ein Witz sein, oder?« »Wenn Sie es unbedingt auf einen Versuch ankommen lassen möchten, Soldier …« Thane musterte sein Gegenüber aufmerksam. »Also los, Kelly! Was habt ihr in dem Flugzeug gefunden?« Kelly holte tief Luft. Er gab sich geschlagen. »Wir haben im Cockpit ein Paket mit … mit zwei Millionen spanischen Peseten entdeckt«, brachte er mühsam heraus. »Insgesamt müssen die Dinger ungefähr fünfzehntausend Pfund wert sein.« »Sind es neue Banknoten gewesen?« erkundigte sich Thane scharf. Kelly schüttelte den Kopf. »Nein. Gebrauchte Scheine.« »Sind Sie sicher?« Thane konnte seine Überraschung nur schwer verbergen. »Ja, natürlich! Für wen halten Sie mich eigentlich?« knurrte Kelly wütend. »Es waren alles Fünfhundert149
pesetenscheine. Nur fünf von uns haben davon gewußt. Trotzdem hat sich die Sache leider rumgesprochen, und deshalb ist gestern in Fortrose der Teufel los gewesen. Jeder wollte plötzlich einen Anteil.« »Und wo ist das Geld jetzt?« fragte Thane. Kelly stöhnte. »Das sage ich nur, wenn Sie mir versprechen, die Sache mit dem Mordversuch zu vergessen.« »Okay, ich bleibe vorläufig bei versuchter Körperverletzung«, erklärte Thane. »Über die Anklage wegen Diebstahls reden wir, wenn wir das Geld gefunden haben.« Soldier nickte zerknirscht. »Wir haben die Beute in drei Teile geteilt«, berichtete Kelly zögernd. »Mein Anteil steckt hinter der Wandverkleidung im Badezimmer. Wo Billy Garrison seine Scheine aufbewahrt, weiß ich nicht, aber Doggy Spiers hat sie im Blumenkasten.« »Danke«, sagte Thane. »Spanien hätte euch übrigens sicher nicht gefallen.« »Warum nicht?« wollte Kelly wissen. Thane stand auf und ging zur Tür. »Die Polizisten sind dort nicht so freundlich und zuvorkommend wie wir hier.« Kelly starrte sprachlos auf die Tür, die hinter Thane ins Schloß gefallen war. Pünktlich um zwei Uhr nachmittags stieg Chefinspektor Thane die Stufen zum Eingang des städtischen Leichenschauhauses hinauf, das direkt neben dem Gerichtsgebäude am Ufer des Clyde lag. Der alte Pförtner in der Empfangsloge grüßte Thane freundlich. 150
»Wo kann ich Doc Williams finden?« fragte Thane. »Den Korridor entlang, zweite Tür rechts«, antwortete der alte Mann. »Er trinkt gerade Tee.« Thane nickte dem Pförtner dankbar zu und ging den langen Gang entlang. Die Tür zu Williams Tür stand halb offen, und er hörte schon von weitem leises Stimmengemurmel. Als Thane ins Zimmer trat, bot sich ihm ein unerwartetes Bild. Außer Doc Williams, der in Hemdsärmeln an einen Aktenschrank gelehnt eine Tasse Tee trank und ein Sandwich aß, waren noch Buddha Ilford und Phil Moss anwesend. Ilford hatte es sich im einzigen Sessel bequem gemacht, während Moss auf einem Heizkörper saß. »Na, jetzt sind wir ja endlich komplett, Doktor«, erklärte Ilford, nahm die Pfeife aus dem Mund und nickte Thane kurz zu. »Wie war’s in Barlinnie, Colin?« »Der Besuch hat sich jedenfalls gelohnt, Sir«, antwortete Thane und berichtete in knappen Worten, was er von Soldier Kelly und Mrs. Ellison erfahren hatte. Als Thane geendet hatte, grinste Moss beifällig, und Buddha Ilford nickte mit unbewegter Miene. »Okay, jetzt wissen wir’s also«, bemerkte er und klopfte seine Pfeife über einem Papierkorb aus. »Ich möchte allerdings lieber nichts darüber hören, wie Sie Kelly zum Sprechen gebracht haben, Thane.« Der Stellvertretende Polizeichef zuckte mit den Schultern. »Sie sind an der Reihe, Doktor«, wandte er sich schließlich an Williams. Der Pathologe trank genüßlich einen Schluck Tee und sah langsam von einem zum anderen. »Die Obduktion der Leiche von Peter Ellison hat ergeben, daß 151
er an einer Kohlenmonoxydvergiftung gestorben ist«, begann Williams. »Daran ist leider nicht zu rütteln, Colin. Wir haben sämtliche Tests gemacht, und sind immer wieder zu diesem Ergebnis gekommen. Irgendwelche Einwände?« Thane schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Aber …« Williams legte bedächtig die Fingerspitzen aneinander. »Darüber hinaus mußten wir natürlich feststellen, wie es dazu gekommen ist, daß Ellison durch die Auspuffgase seines Wagens starb.« »Da bin ich aber sehr gespannt«, warf Moss brummig ein. »Ich glaube, in Zusammenarbeit mit Matt Amos, eine Antwort auf diese Frage gefunden zu haben«, fuhr Williams ungerührt fort. »Amos hat Schmutzproben von Ellisons Händen, dem Garagenboden und der Auspuffanlage des Lancias genommen, unter dem Mikroskop analysiert und verglichen. Der Schmutz von den Händen des Toten stimmte mit dem auf dem Garagenboden und nicht mit der Staubschicht an der Auspuff anläge des Wagens überein.« »Dann hat Ellison also gar nicht mehr an der Auspuffanlage seines Autos gearbeitet, oder?« fragte Thane mit einem Seitenblick auf Ilford, der unbeweglich in seinem Sessel saß. »Nein«, stimmte ihm Williams zu. »Trotzdem ist Ellison merkwürdigerweise unter seinem Wagen an einer Kohlenmonoxydvergiftung gestorben. Dieses Problem zu lösen ist weitaus schwieriger gewesen.« »Selbst für Sie?« erkundigte sich Ilford spöttisch. »Selbst für mich«, bestätigte ihm Williams gelassen. »Ich habe bei der Obduktion zufällig entdeckt, daß Ellisons Haut um Mund und Nase feine Abschürfungen 152
aufwies. Während eines anschließend durchgeführten komplizierten Testverfahrens stellte ich einen geringen, aber bezeichnenden Chloroformgehalt im Blut des Toten fest.« Im Raum war es totenstill geworden. »Ich bin deshalb überzeugt, daß Peter Ellison vor seinem Tod mit einem mit Chloroform getränkten Wattebausch betäubt worden ist«, erklärte Doc Williams abschließend. Ilford fand als erster seine Sprache wieder. »Doktor, glauben Sie, daß eine Exhumierung von Ben Cassills Leiche …« »Daran habe ich auch sofort gedacht«, unterbrach ihn Williams. »Wir kommen leider zu spät, Mr. Ilford. Cassills Verwandte haben ihn leider verbrennen lassen.« Ilford fluchte unterdrückt. »Aber Cassill könnte ebenfalls mit Chloroform betäubt worden sein, bevor man ihn aus dem Fenster gestoßen hat, oder?« Der Polizeiarzt zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, aber das wäre reine Spekulation.« »Verdammt!« Ilford wurde rot. »Thane …« »Sir?« antwortete Thane geistesabwesend. »Womit können wir Williams These untermauern?« erkundigte sich Ilford. »Oder haben Sie wieder mal nur Vermutungen und keine Beweise?« Moss räusperte sich. »Vielleicht ist es nichts Aufregendes, aber einige Kleinigkeiten könnten uns bei der Beweisführung nützlich sein. Einer unserer Leute hat heute eine Reise bei Eurobreak gebucht. Er kann die Flugkarte und seine Devisen morgen abholen.« 153
»Das bedeutet, daß wir einen weiteren Tag warten müssen«, seufzte Ilford enttäuscht. »Sonst noch was?« »Um Banknoten zu drucken braucht man Papier«, fuhr Moss fort. »Cassill hat unter anderem auch mit Papier gehandelt und deshalb die Möglichkeit gehabt, an sämtliche Sorten heranzukommen. Außerdem hat ihm seine Firma erlaubt, einen Teil des Papiergeschäfts auf eigene Rechnung zu betreiben. Mit der Menge und der Art von Papier, die Cassill für seine Zwecke laufend bestellt hat, hätte er eine eigene Bank eröffnen können«, schloß Moss. Ilford stand auf und ging nachdenklich im Zimmer auf und ab. »Okay, wir fangen mit Fortrose an«, erklärte Buddha Ilford plötzlich. »Besorgen Sie sich alle Haussuchungsbefehle, die wir brauchen, Thane«, wandte er sich an den Chefinspektor. »Die Firma Eurobreak, Peebles Privatwohnung und diese Eaglefarm nehmen wir uns später vor. Und noch was, Thane! Es dürfen jetzt keine Pannen mehr passieren, verstanden! Ich will laufend über alles unterrichtet werden.« Thane nickte. Kurz darauf verließ Ilford Doc Williams Büro, und als seine schweren Schritte auf dem Gang verhallt waren, atmete der Pathologe erleichtert auf und musterte Thane amüsiert. »Das war deutlich, was Colin?« erkundigte er sich grinsend. Thane zuckte mit den Schultern und verabschiedete sich ebenfalls. Moss folgte ihm mit gequälter Miene. 154
Am Spätnachmittag fand die Polizeirazzia in Fortrose statt. Thane hatte diesen Zeitpunkt bewußt gewählt, denn dann waren die Schulen aus, die Wettbüros hatten geschlossen, für eine Partie Bingo in den einschlägigen Clubs war es noch zu früh und Thane konnte sicher sein, daß er die meisten Leute zu Hause antreffen würde. Die Haussuchung in den Wohnungen von Soldier Kelly, Doggy Spiers und Billy Garrison, an der insgesamt zwölf Beamte der Millside Division teilnahmen, verlief zwar nicht ohne Zwischenfälle jedoch sehr erfolgreich. Trotz heftigen Widerstandes der einzelnen Betroffenen konnte das gesuchte Geld sichergestellt werden. Eine halbe Stunde nach Beginn der Razzia saß Thane bereits wieder hinter seinem Schreibtisch und betrachtete die drei mit gefälschten spanischen Peseten gefüllten Plastiksäcke. Die einzelnen Scheine sahen tatsächlich, wie Kelly behauptet hatte, gebraucht aus. Trotzdem waren es Blüten. »Prachtexemplare«, murmelte der Experte vom Betrugsdezernat und rieb einen Schein nachdenklich zwischen den Fingern. »Das sind die besten Blüten, die ich je in der Hand gehabt habe. Sehen Sie sich die Scheine mal an, Chefinspektor. Der Fälscher, der die Platten dazu hergestellt hat, ist ein Meister seines Berufes.« »Wie kommt es eigentlich, daß die Scheine benutzt aussehen?« erkundigte sich Moss neugierig. »Oh, das geht ganz einfach.« Der Inspektor vom Betrugsdezernat grinste. »Dazu verwendet man eine normale Wäscheschleuder, wie sie in Haushalten benutzt wird, schüttet kleine Kieselsteine und feine Erde 155
hinein, gibt die neuen Banknoten dazu und stellt die Maschine an. Nach zehn Minuten sehen die Scheine genauso aus, als wären sie schon seit Jahren im Umlauf gewesen. Und wer betrachtet sich eine alte Banknote schon näher?« »Wirklich nicht schlecht«, murmelte Thane bewundernd. Nachdem der Kollege vom Betrugsdezernat mit den Blüten gegangen war, starrte Thane noch eine Weile nachdenklich auf seine Schreibtischplatte. Schließlich drückte er seine Zigarette im Aschenbecher aus. Sie schmeckte ihm plötzlich nicht mehr. »Bin gleich wieder da!« verkündete Moss und ehe Thane noch etwas sagen konnte, war er bereits verschwunden. Thane schüttelte verwundert den Kopf. Seit ihrem Besuch im Leichenschauhaus hatte sich Moss in regelmäßigen Abständen für kurze Zeit entschuldigt und war hinausgegangen. Offensichtlich quälte ihn sein Magengeschwür mehr als sonst. Chefinspektor Thane überlegte angestrengt, was er als nächstes unternehmen sollte. John Peebles Bewacher hatte vor kurzem gemeldet, daß der Direktor der Firma Eurobreak in seinem Büro arbeitete, und von Sergeant Gordon aus Glenfinn wußte Thane, daß Eve Buchan und David Harkness auf der Eaglefarm waren. Um die Zeit totzuschlagen, griff Thane schließlich nach dem Telefonhörer. In diesem Augenblick kam Moss zurück. Als Thane den betrübten Gesichtsausdruck seines Inspektors sah, ließ er langsam den Hörer sinken. 156
»Ich muß dir endlich reinen Wein einschenken, Colin«, begann Moss langsam. »Ich glaube, ich habe alles verdorben.« »Du?« fragte Thane überrascht. »Und warum?« »Weil ich diesmal besonders schlau sein wollte«, seufzte Moss zerknirscht. »Du erinnerst dich sicher, daß ich mir heute morgen den Stadtplan von Glasgow noch mal genauer angesehen habe, oder?« Thane nickte. »Der Ford, den der Bursche gefahren hat, der die Beagle Pup in Brand gesteckt hat, wurde im Stadtzentrum gestohlen, als er vor einer Parkuhr parkte. Dort gibt es weit und breit kaum eine Parkgelegenheit und die Verkehrspolizei geht ständig Streife.« Thane nickte ungeduldig. »Ich habe mich deshalb gefragt, wie der Mann seinen Coup vorbereitet hat, und bin zu dem Schluß gekommen, daß er wahrscheinlich seinen Wagen an einer Parkuhr neben dem Ford abgestellt, den Fünfliterkanister Petroleum von seinem Kofferraum in das gestohlene Auto umgeladen hat und anschließend zum Flugplatz hinausgefahren ist.« »Klingt plausibel«, stimmte ihm Thane zu. »Auf diese Weise hätte er am wenigsten Aufmerksamkeit erregt.« »Genau.« Moss holte tief Luft. »Die Sache hatte allerdings einen Haken. Er mußte seinen Wagen an der Parkuhr zurücklassen, und die Wahrscheinlichkeit, daß er vor Ablauf der begrenzten Parkzeit wieder zurück sein würde, war sehr gering. Der Brandstifter mußte also damit rechnen …« »… daß er einen Strafzettel bekommen würde«, ergänzte Thane und nickte. 157
»Genau, denn die Verkehrspolizei kontrolliert die Parkuhren in dieser Gegend fast stündlich«, fuhr Moss fort. »Ich habe mir alle Strafzettel angesehen, die an jenem Vormittag in einem Umkreis von einem Kilometer um die Parkuhr, an der der gestohlene Ford gestanden hatte, verteilt worden sind.« »Wieviele sind es gewesen?« erkundigte sich Thane. »Vierundsechzig«, seufzte Moss. »Und hast du unter den Betroffenen einen interessanten Kandidaten gefunden?« »Ja«, murmelte Moss. »Es ist ein gewisser John Edward Semper. Ihm gehört ein verhältnismäßig neues Datsun-Coupé. Er ist einmal wegen Raubüberfall und zweimal wegen schwerer Körperverletzung vorbestraft.« Thane setzte sich abrupt in seinem Stuhl auf und pfiff leise durch die Zähne. »Seit wann weißt du das?« »Kurz nachdem wir vom Leichenschauhaus zurückgekommen waren, habe ich es erfahren«, gestand Moss. »Hör zu, Colin, ich wollte dir damit nicht den Rang ablaufen, sondern nur erst sichergehen, daß …« »Hör mit dem Blödsinn auf«, unterbrach ihn Thane scharf. »Das weiß ich doch selbst. Und was ist dabei schiefgegangen?« »Eigentlich alles«, antwortete Moss trübsinnig. »Zwei unserer Leute haben sofort in seiner Wohnung und in mehreren Kneipen, in denen Semper Stammgast ist, nach ihm gesucht. Zuerst ohne Erfolg. Später hat einer der Beamten gehört, daß Semper kurz nach ihm in einer Bar aufgetaucht ist und erfahren hat, daß 158
wir uns für ihn interessieren. Semper ist natürlich sofort getürmt.« Moss starrte finster auf seine Schuhspitzen. »Läuft schon eine Fahndung nach seinem Wagen?« erkundigte sich Thane. »Ja, ich habe bereits alles veranlaßt«, antwortete Moss niedergeschlagen. »Komm, komm, Phil! Das Ganze ist schließlich keine Katastrophe.« Thane lächelte seinem Kollegen aufmunternd zu. »Im Grunde hast du gute Arbeit geleistet. Wird Sempers Wohnung überwacht?« Moss nickte. »Ich brauche für alle Fälle einen Haussuchungsbefehl.« »Ich schlage vor, wir sehen uns die Wohnung erst mal so an.« Thane stand auf. »Vielleicht geht es auch ohne Haussuchungsbefehl.« Sempers Unterkunft lag in einem alten Mietshaus auf der anderen Seite der Stadt. Thane und Moss parkten ihren Funkwagen in einer Seitenstraße und gingen die restliche Strecke zu Fuß. Als sie den Eingang des schäbigen Gebäudes aus rotem Sandstein erreicht hatten, trat ein Mann im Trenchcoat aus dem Türrahmen des angrenzenden Ladengeschäfts und kam auf die beiden Kriminalbeamten zu. Es war Konstabler Lincoln, der einzige Engländer in Thanes Team. Er hatte die Überwachung von Sempers Wohnung übernommen. »Bis jetzt ist er noch nicht aufgetaucht, Sir«, meldete er. »Okay.« Thane wandte sich an Moss. »Phil, ich habe meine Zigaretten im Wagen vergessen. Würdest du sie mir holen? Lincoln kann dich begleiten.« 159
Moss nickte und verschwand mit Lincoln um die nächste Ecke. Thane stieß die Haustür auf, ging durch die muffige Vorhalle und die ausgetretene Treppe hinauf in den zweiten Stock. Vor Sempers Wohnung blieb er stehen, sah sich vorsichtig um und brach das einfache Schnappschloß mit der steifen Plastikhülle seiner Scheckkarte auf. In diesem Augenblick kamen Moss und Lincoln bereits die Treppe herauf. Thane deutete auf die geöffnete Tür. »Was halten Sie davon Lincoln?« fragte er den Konstabler. »Sieht so aus, als sei hier eingebrochen worden«, antwortete Lincoln, ohne eine Miene zu verziehen. »Wir sollten uns die Sache mal näher betrachten.« »Sehr richtig. Phil, du kommst mit. Lincoln, Sie bleiben im Treppenhaus.« Lincoln machte eine enttäuschte Miene, sagte jedoch nichts. Thane betrat gefolgt von Phil Moss die finstere Altbauwohnung, die aus einem Zimmer, Küche und Bad bestand. Schon im Gang roch es muffig. Das Bett im Wohn- und Schlafraum war nicht gemacht, und in der Küche standen Berge von schmutzigem Geschirr. Es herrschte überall eine unbeschreibliche Unordnung. Die Ausgabe der Morgenzeitung, die auf dem Küchentisch lag, war vom selben Tag. »Okay, fangen wir an!« erklärte Thane. Thane fand kurz darauf unter der Spüle eine in alte Tücher gewickelte Schachtel Patronen Kaliber zweiunddreißig. Die dazugehörige Pistole fehlte. Als nächstes erregte ein Bild der Queen, das im Wohnzimmer an der Wand hing, seine Aufmerksamkeit. Es kam ihm in dieser Umgebung merkwürdig fehl am Platz vor, und als er es abnahm, entdeckte er an seiner 160
Rückseite einen Umschlag, der dreihundert englische Pfund in Fünfpfundnoten enthielt. »Er ist gut bezahlt worden«, bemerkte Moss, der neben Thane getreten war. »Die Scheinchen sehen sogar echt aus.« Thane grinste und steckte das Geld ein. »Lincoln soll eine Meldung machen, Phil. Der Einbrecher hat hier ein fürchterliches Durcheinander hinterlassen.« »Die Leute haben wirklich keinen Anstand mehr.« Moss ging kopfschüttelnd hinaus. Gegen abend fuhren Thane und Moss aufs Revier zurück. Unterwegs veranlaßte Thane, daß erneut eine Fahndungsmeldung über Semper, mit dem Kennzeichen seines Wagens, der Personenbeschreibung und der Warnung, daß der Mann eine Waffe trug, an alle Streifenwagen durchgegeben wurde. Als die beiden Kriminalbeamten auf dem Weg in Thanes Büro durch den Bereitschaftsraum gingen, war außer Konstabler Beech und einem jungen Polizeianwärter niemand mehr da. »Es ist alles ruhig, Sir«, meldete Beech. »Die meisten Kollegen machen gerade eine kleine Pause.« Thane ließ sich von Beech Tee und Sandwiches besorgen und rief dann von seinem Büro aus seine Frau an, um ihr zu sagen, daß er nachts vermutlich nicht nach Hause kommen würde. Er hatte den Hörer gerade aufgelegt, als Beech auf einem Tablett den Tee und die belegten Brote brachte. Kurz darauf stürmte Moss, gefolgt von Buddha Ilford ins Zimmer. »Keine Angst, ich bleibe nur kurz«, verkündete Ilford. »Ich bin auf dem Nachhauseweg. Sobald ich was gegessen habe, fahre ich ins Präsidium zurück.« Ilford 161
ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Ihr habt Semper also nicht gefunden, oder?« »Nein, noch nicht«, gab Thane zu. »Irgendwann werden wir ihn schon schnappen«, erklärte Ilford zuversichtlich. »Wenigstens sind wir jetzt Peebles wieder auf den Fersen.« »Soll das heißen, daß unser Mann ihn aus den Augen verloren hatte?« fragte Thane erstaunt. »Ja, ungefähr eine Stunde lang«, berichtete Ilford. »Gegen halb fünf hat Peebles sein Büro verlassen und ist in einem Kaufhaus verschwunden. Sein Beschatter hat ihn dort verloren. Später ist der Bursche dann mit einer Einkaufstüte wieder in die Firma zurückgekommen. Ich glaube nicht, daß er gemerkt hat, daß wir ihn beobachten.« »Hoffen wir’s«, murmelte Thane. »Ich möchte übrigens, daß Sie die Fahndung nach Semper jetzt anderen überlassen«, erklärte Ilford ohne Umschweife. »Für Sie habe ich eine wichtigere Aufgabe.« Ilford sah grimmig von Thane zu Moss. »Ich möchte, daß Sie dieses Nest auf der Eaglefarm bei Glenfinn ausheben. Und zwar noch heute nacht.« »Bis dorthin ist es eine lange Autofahrt«, gab Thane zu bedenken. »Wenn wir jetzt …« »Ich habe schon alles arrangiert«, unterbrach ihn Buddha Ilford barsch. »Wir haben einen Rettungshubschrauber der Marine angefordert, der Sie nach Glenfinn bringen wird. Sie starten um Viertel nach zehn vom Flughafen aus. Sie sagen am besten gleich diesem Sergeant in Glenfinn Bescheid, Thane.« Ilford stand auf. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Haben Sie eine Idee, wer bei Semper eingebrochen haben könnte, Chefinspektor?« 162
»Nein«, log Thane ungerührt. »Und wir werden es vermutlich auch nie erfahren.« »Genau das dachte ich mir.« Ilford grinste und schlug die Tür hinter sich zu. Zehn Minuten später meldete ein Kriminalbeamter, der in der näheren Umgebung von Sempers Wohnblock Nachforschungen angestellt hatte, daß der Verbrecher an einer Tankstelle einen Blechkanister gekauft und ihn mit Petroleum hatte füllen lassen. Eine halbe Stunde später entdeckte ein Streifenwagen Sempers Datsun an den Docks im Hafenviertel. Von seinem Besitzer fand man jedoch keine Spur. John Peebles war inzwischen nach Hause gefahren. Kurz nach seiner Ankunft bekam er Besuch von einigen Nachbarn, die um neun Uhr noch immer bei ihm waren. Um halb zehn brachte ein Funkwagen Chefinspektor Thane und Inspektor Phil Moss zum Flugplatz. Beide trugen im Schulterhalfter eine achtunddreißiger Webley Pistole.
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egen elf Uhr nachts landete der Hubschrauber mit Thane und Moss an Bord auf dem Flugplatz von Glenfinn, dessen Flugfeld durch die Scheinwerfer dreier wartender Autos hell erleuchtet war. 163
»Danke fürs Mitnehmen«, rief Thane dem jungen Piloten zu, als er gefolgt von Phil Moss aus dem Hubschrauber kletterte. »Gern geschehen!« Thane und Moss rannten geduckt aus der Reichweite der Rotoren. Dann, als Thane bereits einige dunkle Gestalten auf sich zukommen sah, hob der Hubschrauber wieder ab und fast im selben Augenblick wurden auch die Scheinwerfer der Autos ausgeschaltet. »Willkommen in Glenfinn«, begrüßte sie Sergeant Gordon verlegen, der die Ankömmlinge als erster erreicht hatte. »Ich weiß zwar noch immer nicht, was eigentlich los ist …« »Das erfahren Sie noch früh genug, Sergeant«, unterbrach ihn Thane und musterte die Männer hinter Gordon. »’n Abend, Chefinspektor«, meldete sich Gibby MacDonald aus dem Hintergrund. Der hochgewachsene, rothaarige Pilot und Fluglehrer trug die Uniform eines freiwilligen Konstablers und seine Kollegen waren ähnlich gekleidet. Mit Sergeant Gordon waren es insgesamt sechs Männer. »Ich dachte, Sie könnten vielleicht Hilfe brauchen«, murmelte Sergeant Gordon schüchtern. »Ist das der ganze Bergrettungsdienst?« erkundigte sich Thane. Gordon nickte. »Ihr Boss aus Glasgow hat angerufen, Sir«, berichtete er. »Sie sollen sich so schnell wie möglich bei ihm melden.« »Ilford?« Thane seufzte, als Gordon seine Frage bejahte. 164
Die kleine Gruppe stieg in die Autos und fuhr zum Clubhaus hinüber, wo Lorna Patterson die Männer bereits erwartete. Sie hatte für alle Kaffee gekocht. Als Lorna Thanes erstaunten und fragenden Blick sah, zuckte sie mit den Schultern. »Mich interessiert immer, was auf meinem Sportflugplatz passiert, Chefinspektor«, erklärte sie und sah an ihm vorbei zu Gibby MacDonalds. »Besonders, wenn es sich um Polizeiaktionen handelt, an denen Freunde beteiligt sind.« Thane nickte lächelnd und ging in Lorna Pattersons Büro, um Ilford im Glasgower Polizeipräsidium anzurufen. Er meldete sich sofort. »Sie müssen den Fall ohne unsere Hilfe lösen, Thane«, erklärte Ilford ohne Umschweife. »John Peebles ist auf dem Weg nach Norden.« »Seit wann?« fragte Thane überrascht. »Ich dachte …« »Peebles hat sein Haus vor einer halben Stunde verlassen«, fiel ihm Ilford ins Wort, »und ist mit seinem Jaguar in die Stadt gefahren. Das Auto hat er auf einem Parkplatz abgestellt und sich anschließend den Leihwagen abgeholt, den er, wie wir inzwischen festgestellt haben, heute nachmittag bestellt hatte. Es ist ein rotes Fiat-Coupé.« Thane fluchte unterdrückt. »Folgt ihm jemand von uns?« »Nein«, entgegnete Ilford bestimmt. »Das wäre nachts und auf einsamer Strecke zu auffällig. Aber ich habe sämtliche Polizeistationen von Glasgow bis Glenfinn alarmiert. An jeder wichtigen Kreuzung ist ein Streifenwagen postiert. Im Augenblick sieht es 165
so aus, als würde er direkt nach Glenfinn fahren. Er scheint es sehr eilig zu haben.« »Ist er allein?« erkundigte sich Thane. »Ja«, antwortete Ilford. »Von Semper fehlt übrigens noch immer jede Spur.« Thane sah auf die Uhr. Wenn Ilford recht hatte, dann mußte Peebles in genau zwei Stunden in Glenfinn eintreffen. Die Sache mit dem Leihwagen bedeutete, daß Peebles mißtrauisch geworden war. Auf Grund der Tatsache, daß der Direktor von Eurobreak das Auto schon am Nachmittag vorbestellt hatte, nahm Thane jedoch an, daß seine Reise in den Norden keine Kurzschlußhandlung war. »Es liegt jetzt bei Ihnen, Thane, ob Sie die Eaglefarm sofort durchsuchen, oder noch warten«, fuhr Ilford am anderen Ende der Leitung fort. »Ich überlasse alles weitere Ihnen.« »Danke.« Thane zog eine Grimasse. Ilford wußte natürlich genau, daß das eine schwierige und riskante Entscheidung war. Der Chefinspektor holte tief Luft. »Okay, Sir. Wir fahren sofort zur Eaglefarm, warten jedoch mit der Razzia, bis Peebles hier ist.« »Viel Glück!« Das war Ilfords einziger Kommentar, bevor er den Hörer auflegte. Thane ging nachdenklich zu den anderen in den Clubraum hinüber. »Wir werden tatsächlich ’ne Menge Glück brauchen«, bemerkte Phil Moss, nachdem Thane ihm von seinem Telefongespräch mit Ilford erzählt hatte: »Zwei Stunden … das heißt, daß Peebles um ein Uhr morgens hier ankommen wird.« »Sie können solange ruhig im Club bleiben«, bot ihnen Lorna Patterson an, die alles mitgehört hatte. Sie 166
machte eine besorgte Miene. »Ich darf ja eigentlich nicht fragen, aber was ist passiert, Chefinspektor?« »Fragen Sie lieber nicht«, entgegnete Thane und machte Gordon ein Zeichen. »Können Ihre Leute sich leise an ein Haus heranschleichen?« »Nachts?« Gordon grinste humorlos. »Zwei von meinen Kollegen sind die besten Wilderer in der Gegend.« »Ausgezeichnet«, murmelte Thane. »Die beiden kommen mir heute gerade recht. Haben Sie hier irgendwo ein Fernglas?« Gordon nickte. »Die Ausrüstung unserer Bergwacht liegt in einer der beiden Flugzeughallen.« Er zögerte einen Augenblick. »Wie nah sollen wir uns an die Eaglefarm heranschleichen?« erkundigte sich Gordon schließlich. »So nah wie möglich«, antwortete Thane. »Harkness hat einen Hund, den er nachts auf dem Farmgelände frei herumlaufen läßt.« Gordon runzelte die Stirn und sprach dann kurz mit einem seiner freiwilligen Helfer. »Alles in Ordnung«, erklärte er, als er wieder zu Thane zurückkam. »Lachie kümmert sich um den Hund.« »Und wie will er das machen?« fragte Moss mißtrauisch. Gordon wechselte mit Lorna Patterson einen Blick. Das Mädchen mit dem kastanienbraunen Haar kicherte. »Lachie ist ein Hundefreund. Er wird mit jedem Köter fertig.« Lorna Patterson lächelte unschuldig. »Erkundigen Sie sich mal bei den Wildhütern der Gegend. Die würden viel darum geben, wenn sie Lachies Geheimnis wüßten.« 167
Thane, Moss, Gordon und seine Männer warteten noch weitere zwanzig Minuten im Clubhaus, dann gab der Chefinspektor den Befehl zum Aufbruch. Kurz bevor sie jedoch den Flugplatz verließen, läutete erneut das Telefon. Ein Konstabler aus dem Präsidium in Glasgow meldete, daß Peebles weiter in Richtung Norden fuhr. Schließlich gingen Thane und Lorna Patterson als letzte aus dem Clubhaus. Das Mädchen schloß die Tür sorgfältig hinter sich ab. »Fahren Sie nach Hause?« erkundigte sich Thane. Lorna Patterson nickte. Gibby MacDonald trat in einem Meter Entfernung ungeduldig von einem Bein auf das andere. Thane ließ die beiden allein. Als er kurz zurücksah, sprach Lorna gerade ernst auf MacDonald ein. Der junge Fluglehrer küßte sie auf den Mund, lachte und rannte zu Thane, der vor einem Wagen auf ihn wartete. »Na, kann’s jetzt endlich losgehen?« fragte Thane spöttisch. MacDonald grinste. »Sie irren sich, Chefinspektor! Lorna ist schrecklich wütend, weil ich ihr verboten habe, mitzukommen.« »Solche Frauen sollte man heiraten«, riet ihm Thane und stieg zu Gordon in den Wagen. Kurz darauf fuhren die drei Autos hintereinander durch das dunkle Glenfinn und die Landstraße entlang in Richtung Eaglefarm. Nach ungefähr drei Kilometern bog Sergeant Gordon in einen schmalen Feldweg ein und hielt an. Die beiden anderen Autos folgten seinem Beispiel.. 168
»Wie weit ist es noch von hier?« fragte Moss, stieg aus und ging zu Thane, Sergeant Gordon und Gibby MacDonald. »Zu Fuß fünf Minuten«, antwortete Gordon, und Moss atmete erleichtert auf. »Wo ist Willie?« Gordon sah sich um. Einer seiner freiwilligen Helfer trat vor und nickte betrübt, als Gordon ihn anwies, bei den Wagen zu bleiben. Der Mond war inzwischen hinter einer Wolke hervorgekommen und tauchte die Landschaft in ein weißliches Licht. Thane entdeckte plötzlich, daß zwei von Gordons Leuten Schrotgewehre bei sich hatten. »Etwas möchte ich noch klarstellen«, verkündete Thane leise. »Es wird nicht geschossen, wenn ich es nicht ausdrücklich anordne, verstanden?« Die beiden Männer nickten. Moss stieß Thane an, »Glaubst du, daß wir ihnen trauen können?« fragte er im Flüsterton. »Keine Ahnung. Aber ich würde an deiner Stelle aufpassen. Wenn sie dich versehentlich für einen Hasen halten, kannst du die nächsten vier Wochen nicht mehr sitzen.« Moss knirschte mit den Zähnen und machte eine besorgte Miene. Sergeant Gordon führte die kleine Gruppe geschickt durch die Dunkelheit und an einem kleinen Bach entlang, der an der Eaglefarm vorbeifloß. Nachdem sie ungefähr fünf Minuten flußaufwärts gegangen waren, sahen sie die dunkle Silhouette der Farm bereits vor sich. Kurz darauf blieb Gordon stehen. Die einzelnen Gebäude waren jetzt deutlich zu erkennen. Im Wohnhaus brannte Licht. 169
»Sollen wir zwei Männer auf der Rückseite der Farm postieren?« erkundigte sich Gordon leise. Thane nickte, und zwei der freiwilligen Helfer waren bald in der Dunkelheit verschwunden. »Vergeßt den Hund nicht«, erinnerte Moss. »Den übernimmt Lachie«, murmelte Gibby MacDonald. Lachie war bereits auf der Suche nach dem Hund. Die übrigen setzten sich ins Gras und warteten. Es dauerte nicht lange und Thane hörte ein Rascheln. Im nächsten Augenblick tauchte Lachie hinter einem Busch auf. Der Mann pfiff leise, und der große Wachhund, den Thane bereits bei seinem ersten Besuch auf der Eaglefarm gesehen hatte, kam schwanzwedelnd zu Lachie und ließ sich gehorsam zu seinen Füßen nieder. Lachie zog eine Schnur aus seiner Hosentasche und band das Tier damit an den nächsten Baum. »Na, habe ich zuviel versprochen?« flüsterte Gordon. »Lachie kann mit jedem Hund umgehen.« »Also los, raus mit der Sprache!« knurrte Moss. »Was hat er mit dem Tier gemacht? Gibt er ihm Schlaftabletten?« Gibby MacDonald kicherte. Nachdem er sich versichert hatte, daß Sergeant Gordon außer Hörweite war, beugte er sich zu Moss hinüber. »Lachie hat eine läufige Colliehündin zu Hause«, erklärte er. »Ihrem Geruch kann kein Rüde weit und breit widerstehen. Sex Appeal verfehlt seine Wirkung auch bei Hunden nicht.« Nachdem der Hund versorgt war, führte Lachie Gordon, MacDonald, Moss und Thane einen schmalen Pfad zum Farmhaus hinunter. 170
Drei Minuten später kauerte Colin Thane hinter einer niederen Mauer direkt über der Farm. Von seinem Platz aus konnte man den ganzen Hof überblicken. Phil Moss war neben ihm, Gibby MacDonald hatte sich hinter dem Verkaufsraum der Eaglefarm versteckt, und Sergeant Gordon stand hinter einem Schuppen zu ihrer Linken. Es war bereits nach Mitternacht, und die Lichter im Farmhaus brannten noch immer. Thane hob das Fernglas an die Augen, das ihm Gordon gegeben hatte, richtete es auf eines der hellerleuchteten Fenster im ersten Stock und stellte es scharf ein. Im nächsten Augenblick sah er David Harkness, der im Vorbeigehen am Fenster stehenblieb, einen Augenblick angestrengt in die Dunkelheit hinausstarrte und dann wieder im Hintergrund des Zimmers verschwand. Kurz darauf ertönte leise Musik. Jemand hatte offensichtlich das Radio angeschaltet. Dann war plötzlich wieder alles totenstill. Thane hatte das Gefühl, daß das ungleiche Paar von der Eaglefarm ungeduldig auf jemand wartete. Die Zeit verstrich schleppend, und es passierte lange nichts, bis plötzlich die Haustür geöffnet wurde, und Eve Buchan in Hosen und einem dicken Pullover herauskam, und zu dem Schuppen lief, hinter dem sich Gordon versteckt hatte. Thane und Moss hielten die Luft an und wagten nicht, sich zu bewegen. Doch Eve Buchan kam bald mit einem Armvoll Holz wieder heraus und verschwand im Haus. »Das war knapp«, murmelte Moss. Eine halbe Stunde später, als Thane schon langsam zu frieren begann, erschien David Harkness vor dem 171
Haus, pfiff nach seinem Hund und ging achselzukkend wieder hinein, als sich dieser nicht zeigte. Zehn Minuten vor ein Uhr tauchte plötzlich Lachie atemlos neben Thane auf. »Ein Auto kommt«, flüsterte er hastig und rannte weiter zu Gordon. Im nächsten Augenblick blinkten auf der Straße die Scheinwerfer eines Wagens auf, und kurz darauf fuhr ein dunkles Fiat-Coupé in den Hof der Eaglefarm. Der Fahrer schaltete das Licht aus, stellte den Motor ab und stieg aus. Thane beobachtete ihn durch sein Fernglas. Es war John Peebles. Eve Buchan und David Harkness kamen aus dem Haus und gingen ihm entgegen. Thane sah, wie Peebles die Begrüßung seiner Gastgeber mit einer energischen Handbewegung abwehrte und an ihnen vorbei ins Haus stürmte. Eve Buchan und David Harkness folgten ihm schnell; die Tür fiel krachend hinter ihnen ins Schloß. »Was machen wir jetzt?« fragte Moss gespannt. Thane kaute auf seiner Unterlippe und überlegte krampfhaft, welchen Grund Peebles dafür haben konnte, mitten in der Nacht die weite Autofahrt nach Glenfinn zu machen, wenn er doch schon am nächsten Morgen wieder in seinem Büro sein mußte, um kein unnötiges Aufsehen zu erregen. Ilford hatte gesagt, daß die Entscheidung bei Thane lag, und jetzt fiel es ihm plötzlich schwer, sich zu entschließen. »Sir!« Gordons heisere Stimme riß Thane aus seinen Gedanken. »Wann sollen wir … ?« »Das weiß ich genausowenig wie Sie«, zischte Thane böse zurück. 172
Gordon warf Moss einen erstaunten Blick zu. Der Inspektor zuckte mit den Schultern, und Gordon verschwand lautlos in der Dunkelheit. Der Sergeant hatte gerade sein Versteck hinter dem Schuppen erreicht, als die Haustür der Farm aufflog. Harkness kam gefolgt von Peebles heraus. Jeder der beiden Männer trug einen schweren Kasten über den Hof und lud ihn in den Kofferraum des Fiats. Danach gingen sie ins Haus zurück. Als nächstes erschien Eve Buchan. Auch sie schleppte eine kleinere Kiste zum Wagen. Die Haustür war offen geblieben und ein heller Lichtschein fiel nach draußen. Als Eve Buchan wieder im Haus war, wurde Thane plötzlich bewußt, was nur wenige hundert Meter von ihm entfernt vor sich ging. Moss schien denselben Gedanken gehabt zu haben, denn er flüsterte plötzlich: »Die Vögel fliegen aus, Colin! Was meinst du?« Thane nickte und starrte auf die offene Haustür. Die Versuchung war groß. »Wir könnten sie uns jetzt mit allem Drum und Dran schnappen«, drängte Moss. »Sag doch endlich was.« Peebles und Harkness verfrachteten gerade die nächste Ladung im Kofferraum des Fiats. Thane holte tief Luft, und als die beiden wieder in der Farm verschwunden waren, machte er Moss ein Zeichen. »Wenn Peebles das nächste Mal herauskommt, greifen wir an«, murmelte er leise. »Sag Gordon und MacDonald Bescheid.« Moss kroch zufrieden aus seinem Versteck und lief zu Gordon. Kurz darauf kam er wieder zurück und nickte Thane zu. Die anderen wußten Bescheid. 173
Der Inspektor kauerte sich neben Thane nieder, und letzterer begann leise vor sich zu zählen, während er angespannt die Haustür beobachtete. Eine unerträgliche Spannung hatte ihn erfaßt. Dann zerriß ein Schuß die Stille, und Thane sprang auf die Füße. Dem Schuß folgte ein unterdrückter Schrei, und Thane hörte deutlich, wie im Farmhaus ein schwerer Gegenstand zu Boden fiel. Ohne zu überlegen schwang sich Thane über die Mauer und rannte zusammen mit Moss auf das Farmhaus zu. Beide Beamten hielten eine Pistole schußbereit in der Hand. In diesem Augenblick zerbrach im Ausstellungsraum der Eaglefarm, der noch im Dunkeln lag, klirrend Glas. Thane wandte den Kopf und sah, wie eine untersetzte Gestalt durch das große Schaufenster flog, auf allen Vieren im Kies landete und sich langsam wieder hochrappelte, während hinter ihm die Glassplitter aus dem Fenster rieselten. Der Mann machte zwei Schritte vorwärts, entdeckte Thane und die anderen, die ebenfalls aus ihren Verstecken gelaufen kamen, riß die Arme hoch und sank stöhnend in sich zusammen. Noch im Laufen feuerte Thane blind auf das schwarze Loch in der Schaufensterscheibe. Als er die zusammengesunkene Gestalt erreicht hatte, kniete er neben ihr nieder. Moss war dicht hinter ihm, und als Schüsse über den Hof peitschten, warfen sie sich zu Boden und erwiderten das Feuer. Plötzlich war alles wieder ruhig. Der Mann zu ihren Füßen war David Harkness. Er war noch bei Bewußtsein, als Thane sich über ihn beugte. Seine Hände waren blutverschmiert. Eine Kugel hatte ihn in die 174
Brust getroffen. Thane sah, daß die anderen das Haus bereits umstellt hatten und wollte aufstehen. »Nein … bitte …« stöhnte Harkness und hielt Thane an der Jacke fest. »Eve … sie ist noch oben.« »Peebles?« fragte Thane. Harkness nickte mühsam. »Wir … wir wollten aufhören. Aber … aber damit hatten wir nicht gerechnet. Als ich wieder ins Haus …« weiter kam er nicht mehr. Thane ließ Harkness allein zurück und sprintete zum Verkaufsraum der Farm. Moss und Gibby MacDonald hatten das Haus bereits durch das Loch in der Schaufensterscheibe betreten, und der junge Fluglehrer leuchtete den Ausstellungsraum mit seiner starken Taschenlampe aus. Tische waren umgestürzt, überall lag zerbrochenes Glas und Regale waren von der Wand gerissen worden. »Wo ist Gordon?« fragte Thane keuchend. »Er ist mit diesem verrückten Lachie durch die Vordertür ins Haus gelaufen«, zischte Moss grimmig. Dann hörten sie erneut einen Schrei und einen Pistolenschuß, der mit dem dumpfen Knall eines Schrotgewehrs beantwortet wurde. Thane und Moss rannten gefolgt von MacDonald aus dem Verkaufsraum und in den hellerleuchteten Gang des Farmhauses, wo der Chefinspektor beinahe mit Gordon zusammengeprallt wäre, der in die entgegengesetzte Richtung gerannt war. »Er ist durch die Haustür raus«, meldete Gordon atemlos. »Einer meiner Leute hat versucht, ihn aufzuhalten, aber er ist entkommen …« Sie folgten Gordon zum Hinterausgang, wo einer von Gordons freiwilligen Helfern mit dem Schrotge175
wehr in der Hand finster in die Dunkelheit hinausstarrte. Thanes Blick schweifte über die Silhouetten der Bäume und Büsche. Er wußte, daß ihre Chancen, Peebles in diesem Gelände aufzuspüren, gering waren. »Du mußt versuchen, ihn zu finden, Phil«, erklärte er tonlos und gab Gordon seine Pistole. »Sie gehen mit, Sergeant.« »Wo ist die Frau?« erkundigte sich Moss. »Ich glaube, im ersten Stock«, antwortete Thane. »Harkness hat das wenigstens behauptet. Ich sehe nach.« Als Moss und Gordon um die Hausecke verschwunden waren, wollte Gibby MacDonald Thane ins Haus folgen, doch dieser wies ihn zurück. »MacDonald, kümmern Sie sich lieber um Harkness ! Rufen Sie einen Krankenwagen!« MacDonald nickte und lief ums Haus, während Thane durch die Eingangshalle und die Treppe in das obere Stockwerk hinaufrannte. Auf dem ersten Treppenabsatz machte er Halt und riß die Türen der angrenzenden Zimmer auf. Sie waren leer. Schließlich erinnerte er sich, daß er auf dem Dachboden Licht gesehen hatte, fand am Ende des Ganges eine schmale Treppe und stieg sie hastig hinauf. Oben angekommen, blieb er abrupt stehen und zog scharf die Luft ein. Überall roch es stark nach Chloroform. Thane starrte auf eine zerbrochene Flasche auf dem Fußboden. Unweit daneben lag bewegungslos Eve Buchan. Sie blutete aus einer Wunde am Kopf. Thanes Blick schweifte durch den Raum, der wie eine perfekte Druckerwerkstatt eingerichtet war. Plötzlich merkte Thane erschrocken, daß ihm von dem Chloroform bereits schwindelig zu werden be176
gann. Er machte zwei unsichere Schritte auf Eve Buchan zu, beugte sich über sie, packte sie an den Beinen und zog die schwere Frau zum Treppenabsatz. Dort hob er sie mühsam auf und trug sie die steilen Stufen in den ersten Stock hinunter. Im Gang blieb Thane einen Augenblick stehen, um zu verschnaufen. Er atmete tief die frische Luft ein und kämpfte gegen die Übelkeit an, die er verspürte. Eve Buchan lebte noch. Ihre Wunde blutete nur leicht, und sie atmete ruhig und gleichmäßig. Schließlich hob er wieder die Frau hoch, trug sie in das nächste Zimmer und legte sie auf ein Bett. Thane holte noch einmal tief Luft, bevor er wieder die Treppe hinaufging und das Dachfenster von Harkness’ Fälscherwerkstatt mit einem Winkeleisen zerschlug. Kalte, klare Nachtluft strömte herein. Thane stieg schwankend in den nächsten Stock hinunter und lehnte sich erschöpft an das Treppengeländer. Dort stand er noch immer, als Gibby MacDonald schließlich ins Haus zurückkam. Das Gesicht des Chefinspektors war leichenblaß, und er wirkte müde und abgespannt. »Was ist denn mit Ihnen los?« erkundigte sich MacDonald erstaunt, zog kurz die Luft ein und hatte plötzlich verstanden. »Das Zeug ist unangenehm«, seufzte Thane. »Aber ich habe schon gelüftet. Wie geht es Harkness?« »Er ist tot«, antwortete MacDonald tonlos. Er sah an Thane vorbei ins Zimmer und entdeckte Eve Buchan auf dem Bett. Sie bewegte sich bereits wieder und wimmerte leise. »Soll ich doch noch einen Krankenwagen rufen?« 177
»Für sie?« Thane preßte die Lippen aufeinander. »Ein Arzt genügt, Gibby«, erwiderte er schließlich. »Wenn sie wieder zu sich kommt, möchte ich mit ihr sprechen.« Thane ging in das Wohnzimmer des Farmhauses hinunter, fand eine Flasche Whisky und trank einen Schluck. Er konnte die Stärkung brauchen. Zuerst war er hinter Ellison hergewesen, und Ellison war gestorben. Jetzt hatte sich dasselbe mit Harkness wiederholt. Was auch immer in den offiziellen Berichten stehen würde, der Makel würde an ihm hängen bleiben … es sei denn, es gelang ihm doch noch, Peebles zu schnappen. Doch bezweifelte Thane, daß das alles wiedergutmachen würde. Kurz darauf kamen Moss und Sergeant Gordon von ihrer erfolglosen Suche nach Peebles zurück. Drei von Gordons Helfern hatten die Autos zur Farm gefahren, und eine Viertelstunde später traf der Arzt ein und ging wortlos zu Eve Buchan hinauf. Thane hatte inzwischen telefonisch veranlaßt, daß überall auf den Straßen um Glenfinn Polizeisperren errichtet wurden. Obwohl Peebles zu Fuß in einer einsamen, wilden und ihm unbekannten Gegend unterwegs war, mußten sie mit allem rechnen. Peebles war zu schlau und gerissen, um unbedacht in eine Falle zu gehen. Thane trat gefolgt von Moss vor das Farmhaus. »Ich habe den Fiat durchsucht«, begann Moss fröstelnd. Ein kühler Wind war aufgekommen und raschelte leise in den Bäumen. »Harkness und Peebles hatten sämtliche Druckplatten und das übrige Beweismaterial 178
aus dem Haus geschafft. In Harkness’ Werkstatt befindet sich jetzt vermutlich nur noch das harmlose Werkzeug eines Künstlers.« Thane nickte. »Wir hätten nicht solange warten dürfen«, murmelte er niedergeschlagen. »Du konntest das nicht voraussehen, Colin«, widersprach ihm Moss barsch. »Nimm’ mal an, du hättest den Befehl zum Angriff früher gegeben. In diesem Fall hätte Peebles vielleicht einem von uns eine Kugel in den Kopf gejagt. Wärst du dann glücklicher?« Kurz vor halb drei Uhr morgens kam der Arzt von Glenfinn endlich die Treppe herunter. Er hatte nichts dagegen, daß Eve Buchan verhört wurde. Sie war soweit wiederhergestellt. »Eve Buchan hat nur eine Platzwunde am Hinterkopf«, erklärte er. »Irgend jemand muß sie mit einem harten Gegenstand von hinten niedergeschlagen haben. Ihre Benommenheit führe ich hauptsächlich auf das Chloroform zurück.« Der Arzt gähnte. Thane nickte. Er vermutete, daß die Flasche im Kampf zerbrochen war. Der Chefinspektor brachte den Arzt zum Wagen und ging dann zu Eve Buchans Zimmer hinauf, vor dem Sergeant Gordon Wache hielt. »Bin ich jetzt an der Reihe?« fragte Eve Buchan rauh, als Thane eintrat und setzte sich im Bett auf. Ihr herbes Gesicht war bleich, und das blonde Haar hing strähnig auf ihre Schultern herab. »Dieser Idiot von Sergeant behauptet, ich müßte Ihnen auch noch dankbar sein«, erzählte sie mit einem verächtlichen Unterton in der Stimme. 179
»Ob Sie mir dankbar sind oder nicht interessiert mich nicht, Mrs. Buchan«, entgegnete Thane frostig, zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich. »Wissen Sie schon, was mit Harkness passiert ist?« Eve Buchans Mundwinkel zuckten plötzlich und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Dann wurden ihre Züge wieder hart. Sie griff nach einem Päckchen Zigaretten auf dem Nachttisch und zündete sich eine Zigarette an. »Also gut, schießen Sie los!« forderte sie Thane schroff auf. »Ersparen wir uns lange Vorreden«, begann Thane. »Wir wissen, daß Harkness ein Fälscher gewesen ist, aber was ist heute nacht passiert?« Eve Buchan zückte mit den Schultern. »Peebles hat uns am Nachmittag angerufen und seinen Besuch angekündigt. Er glaubte, daß wir eine Weile mit allem aufhören müßten …« Sie lachte bitter. »So hat er es wenigstens dargestellt. Er wollte die Platten und das übrige belastende Material abholen und in Sicherheit bringen.« »Hat Sie das überrascht?« erkundigte sich Moss, der kurz zuvor ins Zimmer gekommen war. »Nur Dave hat es überrascht«, antwortete die Frau. »Ich hatte schon längere Zeit damit gerechnet. In den … letzten Tagen ist viel schiefgegangen.« »Na gut. Und was ist hier nach Peebles Ankunft geschehen?« erkundigte sich Moss. »Peebles hat uns einen langen Vortrag darüber gehalten, wie riskant das Unternehmen im Augenblick geworden war. Er behauptete, daß das Finanzamt Verdacht geschöpft hätte und die Firma Eurobreak streng kontrollierte. Er wollte abwarten, bis über die ganze 180
Sache Gras gewachsen war, und dann wieder anfangen.« Eve Buchan zog gierig an ihrer Zigarette. »Wir haben diesem Schwein geglaubt und ihm auch noch geholfen, die Platten und das Werkzeug in seinen Wagen zu laden.« »Das haben wir gesehen«, warf Thane trocken ein. »Dann hat Peebles Harkness erschossen. Wo sind Sie zu diesem Zeitpunkt gewesen?« »Dave hat die letzte Kiste zum Auto getragen und mich mit Peebles allein gelassen«, berichtete Mrs. Buchan. »Ehe ich wußte, wie mir geschah, hat Peebles mir seine Pistole in den Rücken gedrückt und mir reinen Wein eingeschenkt. Er wollte David und mich umbringen und das Haus in Brand stecken. Die Feuerwehr würde nur noch zwei verkohlte Leichen finden und an einen Unfall glauben, sagte er.« Sie lachte bitter. »Dann hat er mich niedergeschlagen. Mehr weiß ich nicht.« »Irrtum«, widersprach ihr Thane. »Sie wissen eine ganze Menge.« Er sah, wie sich ihre Augen verengten, und fuhr fort: »Wie hat alles angefangen?« »Unsere Idee mit der Eaglefarm ist am Anfang ein Reinfall gewesen«, seufzte Eve Buchan. »Am Ende des ersten Jahres waren wir Pleite. Da ich Peebles von … von früher her kannte, habe ich ihn um Hilfe gebeten. Er ist auf die Idee gekommen, daß Dave Druckplatten für ausländische Währungen herstellen könnte, und wir sind schließlich einverstanden gewesen. Dave behauptete, das sei nicht so schlimm, wie englisches Geld zu fälschen.« »Hoch lebe Großbritannien«, bemerkte Moss spöttisch und ging langsam auf Eve Buchan zu. Kurz vor 181
ihr blieb er stehen. »Was ist das eigentlich für eine Flasche Chloroform, die oben im Dachzimmer liegt?« »Welches Chloroform?« konterte Eve Buchan mit gespielter Verwunderung. »Ich meine die Flasche, die Peebles Ihnen und Harkness gegeben hat, um Ellison umzubringen«, erinnerte Moss sie ruhig. »Peebles wollte die Flasche wiederhaben, stimmt’s? Allerdings wußten Sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht warum.« Moss grinste. »Soll ich Ihnen sagen, was Sie gestern abend bei Ihrem Besuch bei Peebles anhatten?« Eve Buchan starrte Moss stumm und entsetzt an. »Tja, Mrs. Buchan, es wird nicht schwer sein, Ihnen den Mord an Ellison nachzuweisen«, überlegte Moss. »Wir werden Ihre sämtlichen Kleider und Schuhe im Labor untersuchen lassen. Ein kleines Staubkorn vom Fußboden in Ellisons Garage oder ein Ölfleck von seinem Türschloß kann Sie überführen.« Eve Buchans Zigarette war ihr aus der Hand gefallen und qualmte auf dem Teppich weiter. Thane bückte sich schweigend, hob sie auf und drückte sie im Aschenbecher aus. »Und was ist, wenn ich behaupte, daß Dave ihn umgebracht hat?« Eve Buchan fuhr sich mit der Zunge über ihre trockenen Lippen. »Würden Sie das tatsächlich tun?« erkundigte sich Thane gelassen. Eve Buchan senkte den Blick und schüttelte den Kopf. »Dave und ich … wir … wir haben uns auf unsere Art geliebt«, sagte sie stockend. »Ich bin allerdings die dominierende Persönlichkeit gewesen. Dave war anders.« Eve Buchan straffte die Schultern und sah Thane 182
herausfordernd an. »Jetzt ist sowieso alles gleichgültig geworden. Ich bekomme vermutlich lebenslänglich und werde nach zehn Jahren begnadigt.« »Warum mußte Ellison sterben?« fragte Thane, ohne auf Eve Buchans Bemerkung einzugehen. »Ellison hat Peebles Bücher und die Quittungen über den Devisenumtausch gefälscht.« Eve Buchan zuckte mit den Schultern. »In dieser Beziehung ist er uns sehr nützlich gewesen, aber Ellison hatte keinen Mumm. Als er die Nerven verlor, hatten wir praktisch keine andere Wahl. Peebles hat uns die Flasche Chloroform gegeben, und wir haben Ellison vor seiner Garage aufgelauert.« »So einfach ist das also gewesen«, zischte Mops verächtlich. »Glauben Sie ja nicht, daß uns die Sache Spaß gemacht hat«, entgegnete Eve Buchan böse. »Dave wollte, daß Peebles die Angelegenheit erledigte, aber er hat sich geweigert.« »Nachdem er Ben Cassill umgebracht hatte, waren Sie an der Reihe, etwas fürs Geschäft zu tun, was?« wandte Thane bitter ein. »Alle Achtung, Chefinspektor! Sie sind inzwischen nicht untätig gewesen.« Eve Buchan musterte Thane erstaunt. »Cassill war nur ein Freund von Manny, der uns das Papier besorgt hat. Aber Manny hat den Mund nicht halten können, und daraufhin hat Cassill versucht, uns zu erpressen.« »Wie unfein von ihm«, murmelte Thane spöttisch. »Was hat denn Manny dazu gesagt, daß sein Freund ermordet worden ist?« Eve Buchan zuckte mit den Schultern. »Peebles hat es ihm erst hinterher erzählt, aber nicht damit gerech183
net, daß er sich deshalb gleich betrinken und mit dem Flugzeug abstürzen würde.« Thane tauschte mit Moss einen bedeutungsvollen Blick aus. Der Ring hatte sich geschlossen. »Und was hatte Semper mit der Sache zu tun?« wollte Thane wissen. »Wer?« Eve Buchan sah ihn verständnislos an. »Haben Sie nicht gewußt, daß Peebles für alle Fälle auch einen Berufsverbrecher engagiert hatte?« Eve Buchan schüttelte den Kopf. »Nein, aber es überrascht mich nicht. Können wir nicht Schluß machen, Chefinspektor? Mir ist zumute, als ob …« Sie verstummte. Thane war nicht entgangen, daß die Frau dem Zusammenbruch nahe war, und machte Moss ein Zeichen. Phil Moss führte Eve Buchan zur Tür. Dort drehte sich die Frau noch einmal um. »Das beste ist, daß sich die Eaglefarm seit einem Jahr plötzlich rentiert hat«, flüsterte sie. »Wir haben mehr verdient, als wir verbrauchen konnten und hätten die Sache mit dem Falschgeld längst nicht mehr nötig gehabt.« Moss schob sie sanft hinaus, und kurz darauf hörte Thane, wie im Hof eine Autotür zuschlug. Gordon brachte Eve Buchan jetzt in eine Zelle in seiner Dienststelle. Thane stand langsam auf und ging hinunter, wo Gibby MacDonald in der Küche für alle heißen Kaffee kochte. Inzwischen waren zwei weitere Polizeibeamte und der Leichenwagen für Harkness angekommen. Moss stand im Hof und unterhielt sich mit zwei von Gordons Leuten. 184
»Hier, trinken Sie!« forderte Gibby MacDonald Thane auf und reichte ihm eine Tasse heißen Kaffee. Thane bedankte sich, lehnte sich neben MacDonald in den Türrahmen und starrte in die Nacht hinaus. »In drei Stunden ist es hell«, bemerkte der junge Fluglehrer nachdenklich. »Aber in der Wildnis dort draußen dürfte es schwer sein, Peebles zu finden.« »Er kann sich schließlich nicht in Luft aufgelöst …« Thane hielt plötzlich inne und starrte MacDonald groß an. »Peebles ist Pilot, Gibby«, flüsterte er heiser. MacDonald hatte sofort begriffen. »Vielleicht ist Peebles nach Glenfinn und zum Flughafen zurückgelaufen«, fuhr er hastig fort. »Könnte ein Fremder eine von euren Maschinen flottmachen?« Gibby MacDonald rieb sich das Kinn. »Zu jedem Flugzeug gehört wie bei einem Auto ein Zündschlüssel. Aber jeder Pilot kann den Motor kurzschließen; vor allem bei einer so einfachen Maschine wie einer Piper Cherokee. Er müßte lediglich auftanken.« »Wie weit würde er mit gefüllten Tanks kommen?« fragte Thane gespannt. »Ungefähr sechs bis siebenhundert Kilometer«, antwortete der junge Mann prompt. »Also bis Frankreich, Irland … Allerdings …« »Was allerdings?« »Peebles kennt sich in dieser Gegend nicht aus«, überlegte Gibby. »Er weiß also nicht, welche Luftkorridore kleine Sportmaschinen hier benutzen dürfen. Ich würde das Risiko an seiner Stelle nicht eingehen.« »Peebles hat nichts mehr zu verlieren«, entgegnete Thane und rannte über den Hof zu Moss. Gibby MacDonald und die anderen folgten ihm. 185
Zehn Minuten später rasten zwei vollbesetzte Streifenwagen die Straße zum Flugplatz hinauf und hielten mit quietschenden Bremsen vor dem Clubhaus. Gibby MacDonald und Thane sprangen aus dem Auto und sprinteten zum Eingang des Clubhauses. Schon von weitem sah Thane, daß die Tür aufgebrochen war, wirbelte herum und rannte zur Rückseite des Gebäudes, wo sich die Hangars befanden. Auf halbem Weg dorthin hörte er plötzlich, wie auf dem Rollfeld bereits ein Flugzeug gestartet wurde. Fluchend änderte er, gefolgt von Gibby MacDonald und Phil Moss, die Richtung und blieb dann abrupt stehen. Knapp fünfhundert Meter vor ihnen hob die Piper Cherokee gerade von der Startbahn ab, zog das Fahrgestell ein und gewann schnell an Höhe. »Mist!« schimpfte Moss atemlos. Thane nickte und wandte sich an Gibby MacDonald. »Gibby …« Doch der sommersprossige Fluglehrer aus Glenfinn schien ihn nicht zu hören. Er starrte fasziniert der Piper nach, die immer kleiner zu werden begann. Thane packte ihn am Arm. »Gibby …« »Warten Sie!« flüsterte MacDonald schließlich heiser. Inzwischen hatten sich auch die freiwilligen Helfer und Polizeibeamten aus den Streifenwagen zu ihnen gesellt. Im nächsten Augenblick hörte Thane einen dumpfen Schlag, dem eine ohrenbetäubende Explosion folgte. Thane wandte den Kopf. Aus der Piper Cherokee schoß eine Stichflamme, die kleine Maschine brach 186
auseinander und ihre brennenden Einzelteile stürzten zu Boden. Thane merkte plötzlich, daß er noch immer MacDonalds Arm umklammert hielt, und ließ ihn los. Der Fluglehrer drehte sich mit einem merkwürdigen Lächeln zu ihm um. »Das Elektrizitätswerk hat vor einem halben Jahr eine neue Hochspannungsleitung quer über das Tal gezogen«, sagte er leise. »Das konnte Peebles natürlich nicht wissen.« Die Männer gingen zu den Autos zurück und fuhren kurz darauf querfeldein zu dem brennenden Wrack der kleinen Sportmaschine. Als sie schließlich an der Absturzstelle ankamen, war das Schlimmste bereits vorbei. Die verkohlten Teile der Maschine glommen nur noch leicht. Thane stand gedankenverloren neben einer Tragfläche und beobachtete die anderen, die ziellos zwischen den weit verstreuten Flugzeugteilen herumgingen, als er plötzlich einen Schrei hörte. Er wirbelte herum und rannte auf einen von Gordons Helfern zu, der etwas weiter vom Wrack der Piper entfernt stand und auf eine schwarz-verkohlte Gestalt zu seinen Füßen starrte. »Er lebt noch, Sir«, flüsterte der Mann mit belegter Stimme und wandte sich schnell ab. »Thane«, murmelte Peebles und seine Lippen bewegten sich kaum. »Beinahe hätte ich es geschafft, was?« »Ja, beinahe«, erwiderte Thane ruhig. »Diese verdammten Hochspannungsleitungen …« Peebles Worte waren kaum noch verständlich. 187
»Was ist mit Semper?« fragte Thane leise. »Wir haben ihn nicht gefunden. Haben Sie ihn …« »Semper? Nein!« Peebles stöhnte unterdrückt. »Von dem Geschäft mit den gefälschten Devisen hatte er keine Ahnung. Für den Job auf dem Flugplatz habe ich ihn gut bezahlt. Soviel ich weiß, arbeitete sein Cousin auf einem Schiff, das heute nacht ausgelaufen ist.« Peebles seufzte tief. Im nächsten Augenblick war er tot. Thane und Moss konnten erst am späten Vormittag nach Glasgow zurückfliegen. Am Flugplatz erwartete Thane bereits ein Funkwagen, der ihn zu einer Unterredung mit Buddha Ilford ins Präsidium brachte. Am Nachmittag kam Thane endlich zum Revier der Millside Division zurück. Draußen regnete es in Strömen, und die Fenster im Bereitschaftsraum waren beschlagen. Phil Moss erwartete Thane in dessen Büro. Der Inspektor sah genau wie Thane müde und übernächtigt aus. »Wie war’s bei Ilford?« erkundigte sich Moss. »Er ist nicht besonders zufrieden mit uns«, seufzte Thane und ließ sich in seinen Drehstuhl fallen. Das war etwas übertrieben, denn Thane hatte den Fall gelöst. Nur Semper war ihnen entwischt, aber eines Tages würde er irgendwo wieder auftauchen. Außerdem hatte Thane bei Ilford erreicht, daß Sergeant Gordon zwar befördert, aber nicht versetzt werden würde. »Hat Ilford sonst noch was gesagt?« fragte Moss vorsichtig. »Was, zum Beispiel?« 188
»Colin, ich meine natürlich ob er irgendwas von der Konferenz der Beförderungskommission erwähnt hat«, knurrte Moss wütend. »Er hat mir empfohlen, mir die Haare schneiden zu lassen«, murmelte Thane grinsend. Ilfords Andeutungen waren ziemlich vage ausgefallen. Moss seufzte und ging zur Tür. »Mary hat übrigens angerufen«, sagte er über die Schulter. »Die Kinder haben Masern.« An seinem Schreibtisch holte Moss tief Luft, hob den Hörer ab und rief Doktor Williams an. »Doktor, Sie haben eben zur Abwechslung mal einen lebenden Patienten bekommen. Wann haben Sie Sprechstunde?« Da sich sowieso alles ändern würde, dachte Moss, konnte er sich sein Magengeschwür genausogut jetzt herausoperieren lassen.
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