Michael Butterworth
DER DOPPELGÄNGER Mondstation 1999
Science – Fiction – Roman
Bastei Lübbe
BASTEI-TASCHENBUCH-MO...
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Michael Butterworth
DER DOPPELGÄNGER Mondstation 1999
Science – Fiction – Roman
Bastei Lübbe
BASTEI-TASCHENBUCH-MONDSTATION 1999 Band 25003 Originaltitel: THE SPACE-JACKERS Ins Deutsche übertragen von Dr. Ingrid Rothmann Copyright 1977 by ITC Incorporated Television Company Ltd and Warner Books, Inc. All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1977 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, Bergisch Gladbach Printed in Western Germany Umschlaggestaltung: Roland Winkler Titelbild. ATV Satz: Neo-Satz. 5030 Hürth-Efferen Druck- und Verarbeitung: Mohndruck Reinhard Mohn OHG, Gütersloh ISBN 3-404-00780-8
Commander John Koenig tastete sich zögernd vorwärts. Alle seine Sinne waren gespannt. Die glasartigen Wände des Höhlenganges strahlten ein unwirkliches Licht aus. Als Koenig die Schritte hörte und herumzuckte, war es bereits zu spät. Der Mann, der ihm gegenüberstand, war sein genaues Ebenbild. Koenig hatte das Gefühl, in einen Spiegel zu blicken. Doch sein vermeintliches Spiegelbild führte ein unheimliches Eigenleben. Das Gesicht war haßverzerrt. Ehe der echte Koenig seine Laserwaffe ziehen konnte, stürzte sein Ebenbild auf ihn zu. Die Hände des Unheimlichen legten sich wie stählerne Klammern um den Hals des Commanders…
I
Das All war schön – und sehr oft tödlich. Wie die reichen, eisenhaltigen Sandflächen und hellrosa Himmel des Mars, war auch das All eine schöne Illusion. Mit einem nicht geringen Grad an Ironie stellte Commander John Koenig Überlegungen über dieses Thema an, während er die zahlreichen Kontrollen und Handgriffe ausführte, die sein Eagle-Schiff auf Kurs hielten. Gleich reglosen kristallinen Früchten hingen strahlende, versengende Sonnen im All. Die Systeme waren trillionenfach geschichtet, und jede Schicht führte tiefer in die Höhle unbekannter Dunkelheit. Und jedes einzelne Sonnensystem war in sich ein Miniaturkosmos und brachte Welten der mannigfaltigsten Art und Farbtönung hervor. Manche dieser Welten waren tot und oft bestechend schön in ihrer unfruchtbaren chemischen Künstlichkeit. Andere wiederum bildeten gleichsam kostbare Lungen für die bizarren und vielfältigen Lebensformen, die sie hervorbrachten. Und dies alles, ohne Ausnahme, von einer unglaublichen, unübertrefflichen Vollkommenheit. Doch es mangelte dem All an Wärme. Und es mangelte ihm an Luft. Das unendliche, grenzenlose Gewölbe des Alls, durch das sich John Koenig nun bewegte, war bar jeglicher lebenerzeugender oder lebenerhaltender Systeme – es enthielt nur schwerelose Wellen von Energien des Universums, die in einem ständig wechselnden Auf und Ab das All durchfluteten. Viele der entstandenen Lebensformen waren feindseliger Natur. Für die Menschen, die gezwungenermaßen die relative
Sicherheit ihrer in paradoxe Rotation geratenen Welten aufgeben mußten, bedeutete das Leben im All einen stetigen grausamen Kampf ums Überleben. Koenig hatte sich schon lange mit der Gleichgültigkeit gegenüber der künstlichen Schönheit und Großartigkeit des Alls gewappnet, ebenso gegen die unentwegten Hoffnungen und Sehnsüchte, die es in ihm und den anderen Alphanern erweckte, die sie alle nun auf dem aus seiner Bahn geworfenem Mond, wie in einer Falle gefangensaßen. Das All bot eigentlich nur nackte Tatsachen. Tatsachen, die enträtselt werden sollten. Nüchterne Tatsachen, die sich als gut, schlecht oder belanglos für das seiner Obhut anvertraute Leben der Alphaner zu erweisen hatten. Er drückte einen Knopf auf der Konsole vor sich, um die vordere Suchkamera des Raumschiffes einzusetzen. Langsam ließ er mittels der Steuerung die Kameralinse vorgleiten. Bei diesem Vorgang schienen die Sterne auf dem Übertragungsbildschirm zu verschwimmen, und das Sichtvermögen des Schiffes schnellte Zehntausende Meilen voraus durch das Vakuum. Er ließ die Steuerung los, und die Kamera konzentrierte sich auf einen merkwürdigen edelsteinartigen Asteroiden, dessen Umrisse nunmehr den winzigen Bildschirm ausfüllten. Dieser Sub-Planet trieb – gleich ihrem Mond – hilflos im Weltall umher. Sozusagen ein beispielhafter Fall, dachte Koenig grimmig. Das also war die nächste interplanetarische Begegnung zweifelhafter Art, die ihnen das Schicksal bescherte. Sie wies jedoch unter den zahlreichen ungünstigen und indifferenten Tatsachen zumindest eine günstige auf: Abgesehen von glänzenden Anblicken, die er bot, hatte der Asteroid bereits im voraus auch erkennen lassen, daß seine Farben sonst unheimlich waren. Sein wesentlicher, weit
weniger zweideutige Aspekt bestand darin, daß er in seiner Art einfach grauenvoll wirkte. Koenig wandte sich an Alan Carter, den australischen EaglePiloten, der neben ihm saß. Carter studierte bereits den Bildschirm. Das angenehme, aber herbe Gesicht begutachtete ruhig und ohne Wimpernzucken das übergroße Juwel nach Anzeichen von Aktivität. Nach außen hin wenigstens sah der Asteroid immerhin harmlos aus. Die beiden Männer tauschten voll Ingrimm mißtrauische Blicke. Koenig drückte einen Knopf. Auf der Stelle leuchtete der große Bildschirm der Pilotenkanzel auf, und die vertrauten Geräusche und der Anblick der Kommandozentrale auf der Mondbasis Alpha platzten voll in das beengte Raumschiff herein. Maya, Yasko und andere Besatzungsmitglieder der Kommandozentrale saßen an ihren Konsolen und waren in eine Bodenanalyse des Asteroiden vertieft. Tony Verdeschi, Sicherheitschef der Mondbasis und Stellvertreter des Kommandanten, lehnte an der Konsole der Psychonierin Maya und blätterte in den vom Computer ausgedruckten kartographischen Unterlagen. Hektisch sah er auf, als er Koenigs Einschaltpiepsen hörte. Sein italienisches Temperament war bei dieser Unterbrechung mit ihm durchgegangen. Koenig jedoch ließ sich nicht beirren. Er wußte nur zu gut, mit welch innerer Hingabe sich Verdeschi in die Arbeit stürzte. Und er wußte überdies, daß er hundertprozentig zuverlässig war. »Wie steht es mit dem Energieverlust?« fragte Koenig die attraktive brünette Schönheit an der Seite des Sicherheitschefs. Im Gegensatz zu diesem, bot sie ein Bild absoluter Ruhe und Tüchtigkeit. Mayas ernstes Gesicht sah von der Arbeit auf und erkannte den Commander. »Fortgesetzter, sogar steigender
Energieverlust«, teilte sie ihm ernst mit. »Außerdem gibt es weitere Neuigkeiten, die sich als gut, aber auch als schlecht erweisen könnten. Meine Scanner zeigen da unten eine lokalisierte Atmosphäre an. Im Bereich Null D.« Koenig stellte weitere Kameras an seiner Konsole ein und ließ das in Frage kommende Gebiet stufenweise vergrößern. Während dieser Tätigkeit redete er weiter. »Wie setzt sich die Atmosphäre zusammen?« »Ähnlich wie auf der Erde«, erwiderte Maya und blätterte in dem losen Tabellenstapel, wobei Verdeschi ihr behilflich war. »Sauerstoff, Stickstoff… in einem annähernd gleichen Verhältnis.« »Nicht möglich… das sind zu viele Zufälle«, wandte sich Carter stirnrunzelnd an Koenig. »Sieht mir aus wie eine hinterhältige Einladung.« Koenig starrte unentschlossen auf das vergrößerte Gebiet der kosmischen Gemme, das er nun auf seinem kleinen Konsolenschirm festgenagelt hatte. Gebiet Null D. Die Bezeichnung des Gebietes klang unheilvoll – es handelte sich aber um eine Computerbezeichnung und um keinen topographischen Namen. Doch abgesehen von den vor Edelsteinen strotzenden Felsen und Bergen, wirkte die Oberfläche des Asteroiden keineswegs bedrohlich. »Wenn es eine Einladung ist«, sagte Koenig schließlich zu Carter, »dann sollten wir ihr folgen. Schließlich sind wir aus diesem Grund unterwegs.« Er lächelte sarkastisch. Carters Nicken fiel gezwungen aus, während er sich auf das zu erwartende Unbekannte gefaßt machte. Die beiden Piloten lehnten sich zurück und betätigten mit geübten Händen die Flugsteuerung. Der Eagle setzte zur Landung an.
Felsgebilde, bestehend aus hohen Rhomboidkristallen, ragten gleich einer chemischen Vegetation vom Boden des Miniplaneten auf. Stellenweise lagerte dünner Nebeldunst, durch den sich diamantartige Bergspitzen erhoben, die im Licht eines nahen Sterns schimmerten und blitzten. Vom innersten Kern beginnend, schien der gesamte Asteroid aus Diamant, einer unter hohem Druck gepreßten Kohlenstoffstruktur, zu bestehen. Es war eine WeltraumKuriosität, der die gebührend beeindruckten Beobachter in der Kommandozentrale der Mondbasis noch nie zuvor begegnet waren. Die Alphaner fragten sich, wie ein so schönes, jedoch totes Ding wohl entstanden sein mochte. Für Dr. Helena Russell, die im Eingang zur Kommandozentrale stand, bedeutete die Tatsache seiner Existenz keinerlei Faszination. Gleichgültig starrte sie das Bild auf dem Schirm an, schien sogar ein wenig bestürzt. Ihre hübschen Züge wurden in den geheimnisvoll schimmernden Schein getaucht, welcher das Licht auf dem Schirm über alle Anwesenden warf. Mit wachsendem Unbehagen widersetzte sie sich seinem Zauber. Die Ausstrahlung dieses Riesenedelsteins war bösartig. Seine Strahlen hatten den Hauptcomputer von Alpha bereits aus dem Rhythmus gebracht, und sie war überzeugt, daß der Asteroid auch für den Energieverlust verantwortlich war. Dieser Energieabfall bewirkte ein langsames Absterben der Mondbasis, und damit stand das Leben der annähernd dreihundert Menschen der Mondkolonie allen Ernstes auf dem Spiel. Mit einer charakteristischen, ihre Nervosität verratenden Bewegung strich sie sich durch das zerzauste platinblonde Haar. Sie zwang sich, Haltung zu bewahren, während sie auf Verdeschi und Maya zuschritt.
»Er ist gestorben!« sagte sie mit leiser, matter Stimme. »Ben und ich haben alles untersucht, aber die Herzmaschine wollte nicht funktionieren, und der Strom fiel dauernd aus. Das war bereits der zweite Todesfall unter den Schwerkranken. Momentan besteht zwar keine weitere Todesgefahr mehr, da wir derzeit keinen kritischen Krankheitsfall auf der Krankenstation haben – aber wehe uns, wenn gerade jetzt einer von uns ernstlich krank werden sollte.« Eine Antwort erwartete sie gar nicht. Ihr verstorbener Patient hatte zu den entbehrlichsten von den auf der Mondbasis arbeitenden Menschen gehört – ein achtzigjähriger Lagerhalter, der seine besten Jahre schon hinter sich hatte. In der gegenwärtigen Krise mußte ihre Fürsorge in erster Linie den Lebenden gelten. Aber Mayas Züge erstarrten bei dieser schlimmen Nachricht, und Verdeschi machte ein finsteres Gesicht. »Die Zeit neigt sich für uns alle dem Ende zu«, klagte der Sicherheitschef verbittert. Dabei bemühte er sich, leise zu sprechen, um nicht unter den anderen, die noch immer emsig vor ihren Konsolen saßen, Panik zu verbreiten. Er studierte von neuem die Karte, die er gemeinsam mit Maya auszuwerten hatte. Seine Aufmerksamkeit wurde von hunderterlei Problemen in Anspruch genommen – Probleme, die in der Hauptsache von den unbrauchbar gewordenen Computern verursacht wurden. Alle ihre Bemühungen, den Energieverlust zu stoppen, wurden dadurch empfindlich behindert. Ein wahres Glück für sie alle, daß Mayas einzigartiger Verstand und ihre mathematischen Fähigkeiten so manche dieser gräßlichen – für den Bestand der Mondbasis aber notwendigen – Berechnungen durchzuführen in der Lage war. Womit sie gleichzeitig ihn, Verdeschi, vor dem totalen nervlichen Zusammenbruch bewahrte. Doch nun schimmerte auch auf der glatten Stirn der Psychonierin der
Angstschweiß. Ihre ruhige, praktische Art, die Dinge anzufassen, war erschüttert worden. Erschrocken drehte sie sich zu Verdeschi um. »Die Energieerzeugung ist schon wieder um fünfundzwanzig Prozent gesunken«, stieß sie atemlos hervor. Verdeschi spürte, wie sich in ihm etwas zusammenbraute. »Das ist ein Abfall von fünfzig Prozent in knapp zwei Stunden!« Er ließ den Computerstreifen fallen und stürzte zu seiner eigenen Konsole. Hastig schlug er seine Unterlagen auf und suchte darin. Als er wiederkam, konnte er seine Ängste nicht länger unterdrücken. »Wir sind jetzt auf zehn Megawatt abgefallen«, sagte er bebend. »Bei diesem Stand sind wir hier bereits direkt betroffen. Wir müssen darauf gefaßt sein, daß die Heizung in der Kommandozentrale ausfällt!« Noch während er sprach, spürten sie einen eisigen Lufthauch von den Wänden her. Die große Kälte des Mondsteins, die bis jetzt trotz der nur mit halber Kraft arbeitenden Heizung noch zurückgedrängt worden war, begann die Isolierung der unterirdischen Mondbasis zu durchdringen. Beunruhigt sahen die in der Kommandozentrale Arbeitenden auf. Alle fröstelten. Helena starrte entgeistert die strahlende, verkrustete Oberfläche des Asteroiden auf dem Bildschirm an. Er war in seiner Bedrohlichkeit näher gerückt, als das Eagle-Schiff, von dem aus sein Bild überspielt wurde, seine Entfernung zu ihm verringert hatte. Der Himmelskörper schimmerte in intensiver hypnotischer Helle. Die satanischen, unheilvollen Strahlen langten hinaus in das All, als wollten sie sie alle in ihrem kalten, lähmenden Feuer verschlingen.
Das Donnern der mächtigen Antriebsaggregate des Eagle verklang. In der Pilotenkanzel herrschte Stille. Es war eine
eindringliche, nervtötende Stille. Fast konnten sie spüren, wie die schimmernden weißen Strahlen des Edelsteins da draußen auf die Wände des Raumschiffes einwirkten. Koenig und Carter verharrten reglos in ihren Sitzen und dachten an das Unvermeidliche. Dann schnallten sie sich aus ihren Sicherheitshalterungen los und standen auf. »Nichts wie los«, sagte Koenig. Er hob seinen Türöffner und ließ dessen Strahlen auf die schweren luftdichten Türen fallen, die zum Passagierabteil führten. Wie von Zauberhand bewegt glitten die Türen beiseite, und die Männer liefen hindurch. Sie eilten an den leeren Sitzen und Tischen vorbei, an denen in besseren Zeiten lachende, plaudernde Menschen gesessen hatten, und standen schließlich vor den schimmernden, aufblitzenden Konsolen des Bordcomputers. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich der Ausstieg, daneben die grauen Schränke mit den Raumanzügen und der zum Überleben notwendigen Ausrüstung. Ein Meßgerät über der Luftschleuse meldete in hellroten Lettern alles Wissenswerte über Umweltbedingungen und Atmosphäre außerhalb des Schiffes. Koenig stoppte vor der Schleuse und las die Meßwerte ab. Das Gerät und seine automatischen Analysen hatten sich noch stets als verläßlich erwiesen. »Für uns zum Leben geeignet«, sagte er nach kurzer Überlegung zu Carter. Er streckte den Arm aus und betätigte den Schleusenmechanismus. Nun trat eine kurze Pause ein, während welcher der Computer des Eagle zusätzlich überprüfte, ob das ganze Vorhaben ratsam war. Dann schwangen die inneren Türflügel nach innen auf. Sie durchschritten die Tür und mußten nun warten, bis sich die Türflügel hinter ihnen wieder schlossen und sich vor ihnen die Außentür auftat. Koenig nickte belustigt, während er insgeheim den einprogrammierten Überlebensinstinkt des
Schiffes bewunderte. Wenn es schon die voreiligen Dummheiten der Menschen, die es steuerten, nicht verhindern konnte, so ging es im Hinblick auf die eigene Sicherheit nicht das geringste Risiko ein. Ein Keil schmerzhaft grellen Lichtes tauchte vor ihnen auf. Sie mußten sich mit erhobenen Armen vor der Helligkeit schützen. Die Tür schwang nach unten, so daß sie mit dem Schiff einen Winkel bildete, als sie auf der semi-transparenten Asteroidenoberfläche auftraf. Sie diente gleichzeitig als Treppe. Koenig und Carter hielten am oberen Treppenabsatz inne und musterten mit zusammengekniffenen Augen die blendendweiße Landschaft. Die Luft war geruchlos und frisch – fast zu rein, um echt zu sein. Es war lange her, seit ihre Lungen so würzige Luft geatmet hatten, und sie fühlten sich leicht betäubt. »Sieht aus wie Eis«, bemerkte Carter erstaunt. Sein Blick hing an dem glatten, klaren blauen Boden. Sie sahen darin das Spiegelbild des riesigen Raumschiffes und in den kristallenen Tiefen wirbelnde Schatten. »Die Oberflächentemperatur ist zu hoch«, sagte Koenig erstaunt und streckte die Hände aus. Er sah zu dem hellen Stern empor, der den Asteroiden mit Licht versorgte. Er hing am Himmel, viel zu klein, um Energie für das Licht und die Wärme zu liefern, die sie hier zu spüren bekamen. »Es muß sich hier um eine innere Energiequelle handeln.« Die Diamantgebirge, die sie bereits auf den Bildschirmen ausgemacht hatten, waren einige Meilen weit entfernt. Schimmernde Wände erhoben sich steil bis zu der feinen Wolkenschicht, welche die Gipfel ständig umgab. Es gab andere, kleinere Formationen desselben Kristalls, die näher beim Schiff lagen. Direkt vor dem offenen Ausstieg erhob sich eine blanke Kristallwand, deren facettierte Oberfläche wie ein Teil eines riesengroßen kostbaren Steines glänzte und funkelte.
Darin, in Bodenhöhe eingelassen, war ein gezackter schwarzer Stein, der wie Pechkohle oder eine Ausformung reinen Kohlenstoffes aussah. Erst allmählich wurde Koenig klar, daß es sich in Wirklichkeit um eine dunkle Höhle handelte, die ins Innere des Kristalls führte. Er runzelte die Stirn. Dieses zufällige Zusammentreffen vieler Einzelheiten erregte sein Mißtrauen: Zusammensetzung und Reinheit der Luft, die einfache Landung auf einem Planeten, der unausgesetzt gefährliche Mengen freigemachter Energie aus der Mondbasis bezog, und jetzt der einladend offene Einstieg eines Höhleneinganges direkt vor ihrem Eagle. »Energie aus dem Freien!« er sprang hinunter. »Deswegen ist der Asteroid so warm! Deswegen schimmert er vor Licht! Es sind unser Licht und unsere Wärme!« Er wandte sich wutentbrannt an Carter, aber noch ehe er fortfahren konnte, ertönte ein lautes, schrilles Signal aus der am Dach des Eagle montierten Alarmanlage. »Störungsalarm!« rief er ehrlich erstaunt. »Komisch…« Koenig war ratlos. Er schwankte zwischen zwei Möglichkeiten. »Das übernimmst du«, sagte er schließlich zu dem Eagle-Piloten. »Ich werde mich hier ein wenig umsehen.« Er bedachte ihn mit einem aufmunternden Schlag auf die Schulter und stieg die Stufen hinunter. Carter schüttelte den Kopf und setzte den Luftschleusenmechanismus abermals in Gang. Die Außentür hob sich langsam und entzog ihn Koenigs Sicht. Gleich darauf war das Schiff luftdicht verschlossen. Allein auf der schimmernden Oberfläche des Asteroiden zurückgeblieben, ging Koenig langsam auf die Höhlenöffnung zu. Inzwischen hatten sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt. Er konnte jetzt klar sehen. Bei jedem Schritt spürte er, wie der Boden unter seinen Stiefeln sich erstaunlich griffig anfühlte.
Das Alarmsignal des Eagle verklang. Koenig schaltete die Funkverbindung mittels seines Übertragungsgerätes ein. Er funkte Carter an und sofort erschien das verkleinerte Gesicht des Piloten auf dem Bildschirm. Er sah noch immer verwundert, ja sogar verärgert aus. »Die Stabilisatoren sind schuld«, berichtete er Koenig. »Frag mich bloß nicht, was mit ihnen los ist. Bei denen hätte ich am wenigsten Ärger erwartet.« Koenig redete ihm beruhigend zu und sagte schließlich: »Ich halte das alles für eine sorgfältig eingefädelte Sache. Aber wir wollen bei dem Spiel mitmachen. Versuch den Fehler zu finden, während ich mich in der Höhle umsehe.« Er ließ das Gerät eingeschaltet, um über neue Entwicklungen auf dem laufenden zu bleiben und setzte seinen Weg fort. Vor ihm gähnte die Höhlenöffnung. Als Vorsichtsmaßnahme zog er seine Laserwaffe und trat ein. Im Inneren war die Luft um nichts kühler, wie es eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Das war nur eine Bekräftigung seiner Theorie, daß die vom Asteroiden zur Aufrechterhaltung der angenehmen Umweltbedingungen benötigte Energie jene Energie war, die er sich irgendwie von der Mondbasis aneignete. Er hob das Gerät an den Mund. »Ich gehe jetzt rein und melde mich jeweils im Abstand von drei Minuten.« Die dunklen, durchsichtigen Wände schimmerten. Die Edelsteinmasse als Ganzes schien als Lichtleiter zu wirken. Er konnte sich vorstellen, daß das Innere des Planeten an keiner Stelle völlig dunkel sein würde. Seine Augen gewohnten sich an die Finsternis, und er konnte seinen Weg vorsichtig den Gang entlang fortsetzen. Der Tunnel sah ganz so aus, als sei er künstlich aus dem Kristall geschlagen worden. Die Wände waren nicht ganz glatt, die Decke war auf der gesamten Länge von annähernd gleicher
Höhe. Der Gang führte steil abwärts. Bald war der beruhigende Lichtkreis des Höhleneingangs hinter Koenig verschwunden. Jetzt überfiel ihn die unirdische Stille der Kristallwelt mit aller Wucht. Das schlurfende, gleitende Geräusch seiner Schuhe und sein angestrengtes Atmen klangen beunruhigend laut. Im Gegensatz zu den Daten, die ihnen der Computer über den Asteroiden geliefert hatte, schien diese Welt tot. Doch dann durchdrang die Luft ein zunächst kaum wahrnehmbarer hoher Ton. Koenig hielt in seinem Abstieg inne. Es war ein unheimlicher grausiger elektronischer Ton, wie von einer Verstärkerrückkopplung herrührend, und nahm an Stärke zu. Der Ton schien direkt in seinem Kopf aufzuklingen. Schützend legte er die Hände an die Ohren, doch das Geräusch ließ nicht nach. Er biß die Zähne zusammen und brachte den Laser in Anschlag. Vor ihm machte der Gang eine scharfe Biegung, offenbar auf die Geräuschquelle hinführend. Er näherte sich der Biegung mit aller gebotenen Vorsicht. Das Geräusch wurde lauter, die Kristallwände schimmerten heller. Er bog um die Ecke und stand plötzlich in einem Bereich voller schmerzhaft blendender Helligkeit, in dem das durchdringende, schädelspaltende Geräusch seinen Ursprung hatte. Atemlos drückte er sich an die Wand und versuchte seine Sinne wieder in die Gewalt zu bekommen. Das Licht schien aus vielen verschiedenen Richtungen auf ihn einzudringen. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Helligkeit, und er mußte entdecken, daß er eine große, aus dem Kristall gehauene Kaverne betreten hatte. Die Myriaden von Facetten der Kristallwand wirkten wie Spiegel. Jede einzelne reflektierte die starke Lichtquelle. Die Kaverne war mit Reflektionen und Gegenreflektionen so erfüllt- und zwar nicht nur mit Lichtreflektionen, sondern allen anderen Spiegelbildern – daß man unmöglich mit Sicherheit feststellen konnte, wie groß nun die Höhle eigentlich war. Er
vermutete, daß sie dem Wirken des Asteroiden zuzuschreiben war – jenem Teil, der auch für das Abnehmen ihrer Energie verantwortlich war. Doch konnte Koenig keinerlei Anzeichen von Maschinen oder einen Hinweis auf technische Möglichkeiten entdecken. Wieder fand er sich der unheimlichen Möglichkeit gegenüber, daß der Asteroid selbst womöglich der Aktive war. Er bewegte sich langsam vorwärts und fand sich nun mit hunderttausend kaleidoskopartigen Spiegelbildern seiner selbst konfrontiert. Hunderttausend Arme hielten hunderttausend Laserwaffen. In regelmäßigen Abständen waren entlang der Wand größere, annähernd rechteckige Flächen zu sehen. Sie sahen aus wie lange Spiegel, die glatt aus dem Kristall herausgearbeitet worden waren. Sie flammten prächtig in allen Regenbogenfarben und schienen irgendwie mit dem hohen Rückkopplungsgeräusch in Verbindung zu stehen. Als er sich dem ersten Spiegel näherte, verstärkte sich das Geräusch. Es durchschnitt seine Sinne wie ein unsichtbares Messer und zwang ihn, Abstand zu wahren. Entschlossen wappnete er sich gegen den Schmerz und ließ knapp vor dem Spiegel seinen Arm vorschnellen. Sofort schwoll das Geräusch bedrohlich an. Er sah im Glas das Spiegelbild seines Armes. Es schien ihm keine Gefahr zu drohen, und er trat mit dem ganzen Körper vor den Spiegel. Nun steigerte sich das Geräusch zu einem Schrillen. Er wurde in einem Sperrfeuer reinen Geräusches ertränkt. Es war ein lebendiger animalischer Ton, und er fühlte mit plötzlich auslebender Panik, daß ihm ein lebenswichtiger Teil seiner selbst geraubt wurde. Ein Entkommen war unmöglich. Diese Macht hatte ihn fest im Griff. Seine Augen wurden hypnotisch von seinem Spiegelbild angezogen, das da stand, die Hände an die Ohren gepreßt, das Gesicht verzerrt in einer grausigen Grimasse der Todesangst.
Der Geräuschpegel erreichte eine unerträgliche Höhe. Er spürte, daß jede einzelne Körperzelle entzweigerissen, begutachtet und wieder zusammengefügt wurde. Langsam verebbte das Geräusch und fiel sodann rasch auf den Nullpunkt ab. Er senkte die Arme und starrte mit aschfahlem Gesicht sein Spiegelbild an. In seinem Kopf schrillte noch immer das Echo des Geräusches. Zutiefst beunruhigt sah er an sich hinunter, unterzog Arme und Beine einer Untersuchung. Sie sahen real aus und fühlten sich so an. Wieder sah er sein Spiegelbild an. Er schüttelte den Kopf. Klar, daß auch das Spiegelbild den Kopf schüttelte. Von seiner Blässe abgesehen, schien er völlig normal. Vorsichtig trat er aus dem optischen Feld des Spiegels und ging weiter.
Kaum war er weg, begann die Spiegelfläche zu schimmern und ein zufriedenes Lächeln auszustrahlen. Ihr geduldiger, fremdartiger Verstand stieß einen Seufzer der Befriedigung aus. Versunken in seinen verfließenden Tiefen lag noch immer Koenigs Spiegelbild gefangen. Es hatte sich nicht weiterbewegt. Aber nun war aus ihm mehr als nur ein bloßes Spiegelbild geworden. Es war eine vollkommen ausgebildete Neuausgabe entstanden, die bis ins kleinste Detail mit Koenig übereinstimmte. Sie wies nur eine einzige Unvollkommenheit auf. Sie lächelte tückisch, als sie aus dem Glas trat und Koenigs Spur verfolgte.
Die nervtötende Stille des gargantuesken Edelsteins war wiederhergestellt. Die stechende Intensität des Lichtes war
herabgemindert, als hätten sich seine schlimmsten Kräfte ausgetobt. Koenig untersuchte jeden einzelnen Spiegel der Reihe nach, doch konnte er nichts entdecken, worauf sich das Licht oder das Geräusch hätte zurückführen lassen. Nichts, bis auf das kahle, allgegenwärtige Kristall. Sein Gerät zirpte. Carters Gesicht erschien auf dem Bildschirm und rief ihm ins Gedächtnis, daß er sich hätte melden sollen. »Na, wie ist es da unten, John?« fragte ihn der Australier. Koenigs Stimme war noch die Erregung anzumerken, als er in das Funkgerät sprach: »Unglaublich! Hier unten ist eine riesige Spiegelhalle. Das Material sieht mir nach dichtem Kristall aus. Könnte die Energiequelle sein, von der Maya sprach.« Er zögerte, da er nicht sicher war, ob er es ihm von dem Spiegel erzählen sollte. Nein, das hatte Zeit. Stattdessen fragte er: »Konntest du die Fehlerquelle feststellen?« Carter schüttelte den Kopf. »Bin eben an der Arbeit.« »Na, dann halte dich ran. Ich werde nicht mehr lange brauchen…« Seine Aufmerksamkeit wurde von einem großen, aus der Wand ragenden Kristallstück gefesselt. Es sah aus, als ließe es sich leichter herausbrechen als andere Stücke. Er begann mit den Handflächen darauf einzuschlagen. Koenig überhörte daher zunächst die sich rasch nähernden Schritte hinter sich. Und als er sie hörte, war es zu spät. Er fuhr herum, verblüfft von dem kurzen Blick, den er auf seinen Angreifer werfen konnte. Sein Verstand reagierte verwirrt auf das doppelgängerartige Abbild seiner selbst, das nun einen Satz auf ihn zutat. Es trug einen spöttischen und haßerfüllten Ausdruck zur Schau – einen Ausdruck, den er an sich selbst noch nie zuvor gesehen hatte. Halberstarrt vor Angst zwang er sich dennoch zum Handeln und hob die Laserwaffe. Bevor er abdrücken konnte, wurde sie
ihm von der schreckerregenden Gestalt aus der Hand geschlagen. Sein Doppelgänger faßte nach seiner Kehle. Koenig erschlaffte unter dem festen Griff des Wesens, doch dieses hörte nicht auf, seinen Hals zusammenzudrücken. Das schrille, hohe Geräusch wurde erneut hörbar. Es klang wie ein schriller Wahnsinnsschrei, der Warnung bedeutete. Der Unbekannte sah sich schuldbewußt nach dem vibrierenden Kristall um. Wütend ließ er den Körper fallen. Als wäre es beruhigt, verklang das Geräusch. Dem Wesen fiel nun wieder seine Mission ein, es faßte sich. Das grausame Lächeln war wieder da. Es lächelte wissend, als hätte man ihm auf telepathischem Wege etwas in Erinnerung gerufen. Geschickt langte es nach dem vorragenden Stück Kristall, das sein Vorgänger sich vergeblich zu entfernen bemüht hatte, und riß es mit einer einzigen zupackenden Bewegung los. Der strahlende Stein wurde in einem Beutel verstaut, den es um die Mitte band. Dann hob das Wesen Koenigs Sprechanlage auf und schaltete sie ein. Carters nichtsahnendes Gesicht erschien auf dem Bildschirm. »Was ist, John?« fragte er. Das Gesicht des Fremden nahm einen harten, befehlsgewohnten Ausdruck an. Ohne Umschweife äußerte es in scharfem Ton: »Ich habe eine Gesteinsprobe des Kristalls. Mach den Eagle sofort startklar.« Carter konnte es nicht fassen. »Aber ich bin mit den Stabilisatoren noch nicht fertig!« gab er zu bedenken. »Ich gebe dir fünf Minuten…« schnarrte der angebliche Koenig. Ganz unvermittelt unterbrach er den Kontakt. Mit einem letzten verächtlichen Blick auf die ausgestreckt daliegende Gestalt Koenigs drehte er sich um und verließ die Kaverne.
II
Als der Notfall eintrat und sich die Stromkreise automatisch abschalteten, wurden die vielen unabhängigen, in sich abgeschlossenen und sich selbst versorgenden Zentren der Mondbasis der Reihe nach arbeitsunfähig. Maya schauderte und zog die dicke Decke noch enger um ihren bereits dick vermummten Körper. In der Kommandozentrale sah es aus wie in einem Flüchtlingslager. Alle Alphaner hatten sich in die dicken Decken gewickelt, die Helena hatte verteilen lassen. Die Temperatur sank noch immer. Die programmierten Abschaltungen würden so lange erfolgen, wie der Energieverlust andauerte. Sie würden als erstes die am wenigsten wichtigen Einrichtungen und Zentralen ausschalten und die Alphaner damit in immer kleiner werdende Bereiche zurückdrängen. Schließlich würde nur der Energieraum im Lebenserhaltungszentrum übrigbleiben. Darin befand sich der lebenspendende Kern, das große energiespendende Herz der Mondbasis. Der Kern, von dem überaus stark radioaktiven Element Tiranium gespeist, dessen Vorräte immer sehr knapp bemessen waren, war bereits sehr geschwächt. Bei der gegenwärtigen Energieverlustrate war ein Funktionieren nur mehr für wenige Monate gewährleistet. Danach würde der Mond wieder zur toten Welt werden. Verständnislos starrte Maya die Unmengen von Zahlen und Linien an, die der Computer ausdruckte. Ihr Verstand arbeitete unter der Anspannung noch langsamer, und sie schüttelte sich. Zu Carter gewandt, der auf ihrem Konsolenmonitor zu sehen war, sagte sie: »Du mußt den Abflug verschieben.« Das
brachte sie in beschwörendem Ton vor. »Deine Sensoren liefern mir höchst sonderbare Werte.« Carter machte ein gequältes Gesicht. »John sagt, daß er von hier sofort wegmöchte.« »Ein paar Minuten können doch nicht so viel ausmachen…«, klagte sie. Das Bild wurde undeutlich, und als es wieder scharf wurde, sah sie Koenigs unheilschwangere Züge: »Jede Minute kann einen Weltenunterschied ausmachen«, grollte er. Sie wich erschrocken zurück. Koenig wirkte ja immer ein wenig unpersönlich und kühl… und wies auch sonst alle Eigenschaften auf, die einem Kommandanten von seiten seiner Besatzung Respekt und vollen Einsatz sicherten. Doch jetzt waren seiner Stimme Kälte und eine gewisse beabsichtigte Härte anzumerken, die Maya Schauer über den Rücken jagten und das durch die Temperatur verursachte Frösteln verstärkten. Koenigs Gesicht verzog sich zu einem steifen Lächeln, als hätte er gemerkt, daß er zu weit gegangen war. »Fertig…?« hörte sie ihn Carter fragen. Maya hielt es für klüger, auf Koenigs Gemütslage nicht weiter einzugehen. Mit gezwungener Munterkeit sagte sie: »John… hier unten geht es uns immer schlechter. Ich habe eben ganz sonderbare Meßwerte hereinbekommen…« Koenig unterbrach sie – jetzt mit seiner gewohnten Stimme. »Wir auch. Dieser Asteroid ist als Ganzes ein einziger sonderbarer Meßwert.« Er drehte sich zu Carter um. »Abheben.« Der Monitor erlosch. Maya wandte sich verzweifelt an die neben ihr stehende Helena. Diese starrte noch immer den Bildschirm an, so stark stand sie unter der Einwirkung des Schocks.
»Ich werde aus diesen Meßwerten nicht klug«, sagte Maya schließlich. »Sie sind alle unvollständig. Warum hatte es John plötzlich so eilig?« Helena riß sich zusammen. Sie wollte nicht, daß ihre plötzlich zwiespältigen Gefühle John gegenüber spürbar wurden. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Aber wir werden es bald erfahren – sobald er zurück ist.«
Carter folgte der Gestalt seines Commanders aus dem Passagierabteil des Eagle-Schiffes in die Transportröhre, die nach seiner Landung an das Schiff angeschlossen worden war. Diese röhrenförmigen Transportfahrzeuge waren dazu bestimmt, zu jedem beliebigen Anlege- oder Standplatz der Eagle-Schiffe auszufahren, womit eine schnelle Verbindung zwischen der Mondbasis hergestellt war. Das trügerische Abbild Koenigs feuerte aus seinem elektronischen Allzweckgerät auf die kapselartigen Türen der Transportröhre, die lautlos aufglitten. Bald waren sie schnell unterwegs und am Ziel. Die Türen öffneten sich automatisch, der Fremde stieg eilig aus und eilte entschlossen auf die Kommandozentrale zu. Sein Schöpfer hatte ihn nach Koenigs Molekularaufbau geformt und das Original fast genau getroffen. Der Fremde kannte die geheimsten Gedanken Koenigs – fast alle – und kannte daher auch alle Geheimnisse der Mondbasis. Carter segelte hinter ihm her. Er zitterte vor Kälte und war von dem seltsamen Verhalten seines Commanders zutiefst beunruhigt. Etwas Schreckliches hatte sich unten auf dem Asteroiden abgespielt – dessen war er sicher –, aber der Commander wollte darüber nicht sprechen. Und er fragte sich, ob John einen Grund hatte, seine Entdeckungen auf dem Asteroiden zu verschweigen. Nein, entschied er, die langen
Jahre der Freundschaft und gemeinsamen Arbeit hätten jedenfalls mehr gelten müssen. Das konnte über Nacht nicht zunichte geworden sein. Die Gestalt, die wie Koenig aussah, stürmte in die Kommandozentrale. Mitarbeitern, die sich ihm mit dringenden Fragen nähern wollten, winkte er ab und setzte sich hinter seinen Kommandotisch. Er nickte Maya und Verdeschi auf überzeugende Art zu, übersah aber Helena. Diese näherte sich ihm voller Sorge und Verwirrung. »Jetzt nicht, Helena«, sagte er. Sein Ton bewirkte, daß sie abrupt stehenblieb. Ungläubig mußte sie mit ansehen, wie er einen Knopf drückte und einen Befehl an die Mondbasis durchgab: »Achtung, an alle Alphaner! Hier spricht der Kommandant.« Seine Stimme tönte durch alle leeren Zentralen und Gänge, in denen der Aufenthalt zu kalt geworden war, und in allen Räumen, in denen die Alphaner, in Decken gehüllt beisammen hockten und heißen Tee tranken. Er ließ eine Pause eintreten, damit alle sich auf ihn konzentrieren konnten. Sein Antlitz war steinhart. Mit unbeherrschter Rücksichtslosigkeit sagte er: »Ich kam eben von einer Erkundigungsexpedition auf dem Asteroiden zurück, und ich muß euch sagen, daß es für Alpha eine ernste Bedrohung darstellt. Wir sind im Moment von einem starken Energieschirm umgeben, der unsere Instrumente mit der Zeit völlig außer Gefecht setzen wird, wenn wir die Energie nicht schleunigst neutralisieren.« Wieder machte er eine Pause, um die Bedeutung seiner Worte zu unterstreichen. »Ich brauche euch nicht zu sagen«, fuhr er sodann fort, »was es bedeutet, von dieser magnetischen Kraft festgehalten zu werden. Um loszukommen, müssen wir einen Energiestrahl erzeugen. Dann müssen wir den Strahl auf den Mittelpunkt des Asteroiden richten, der übrigens aus einem Riesenkristall gebildet wurde. Er wird unseren Strahl
reflektieren, den Energieschild durchbrechen und so dessen Macht über uns unwirksam machen. Die Zeit arbeitet gegen uns. Uns steht eine gewaltige Aufgabe bevor. Ich bin sicher, daß alle auf der Mondbasis befindlichen Alphaner mir ihre volle Unterstützung und Mitarbeit zuteil werden lassen, damit wir diese Aufgabe zu einem Ende führen können – zu einem erfolgreichen Ende.« Wieder trat eine Pause ein, ehe er seine Anweisungen gab. »Alle Konstruktionsteams sollen sich unverzüglich in der technischen Hauptabteilung melden und weitere Anweisungen für die Außenarbeiten abwarten.« Er beugte sich vor und stellte die Sprechanlage ab. Als er sich zurücklehnte, spürte er große Befriedigung. Er sah seine engsten Mitarbeiter der Reihe nach an und erkannte an ihren Mienen, daß er mit seiner Verkleidung angekommen war. Und jetzt hatte er ihnen auch einen Grund für sein seltsames Verhalten geliefert. Sie sahen ihn betroffen an und überdachten den Ernst der Situation, die er sich für sie ausgedacht hatte. Die Helena genannte Frau, der gegenüber er Unbehagen fühlte, nickte ihm langsam zu. »Hat jemand noch Fragen?« sagte er. Helena wirkte erleichtert, aber auch besorgt. Sie sprach nun im Namen aller. »John… was die Erzeugung dieses Energiestrahles betrifft… damit werden wir zuviel lebenswichtige Energie verbrauchen. Die gegenwärtigen Verluste hinzugerechnet, könnten wir in ernste Schwierigkeiten kommen…« Er schnitt ihr das Wort ab, ein wenig zu scharf, wie er sogleich merkte. »Wenn wir den Strahl nicht erzeugen, werden wir in noch viel ernstere Schwierigkeiten geraten!« »Ich hatte leider noch nicht die Möglichkeit, die Sensorenwerte auszuwerten«, setzte Maya an. »Sie…«
»Jetzt nicht nötig«, versicherte ihr der falsche Commander brüsk. Maya war verwirrt, gab sich aber nicht geschlagen. »Dann möchte ich gern die Gesteinsprobe untersuchen, die Sie mitbrachten. Vielleicht finden wir einen Weg, den Energieschild zu durchbrechen, ohne daß es unsere eigene Energie kostet…« »Ich habe die Analyse bereits angefertigt«, erwiderte er. Koenigs Doppelgänger verspürte Ungeduld, als er merkte, daß es mit dem erschlichenen Vertrauen wieder bergab ging. Er unterdrückte seine aufkeimende Unsicherheit. »Ohne Instrumente?« fragte Maya voller Mißtrauen. »Für eine Voruntersuchung reichte meine Ausrüstung.« »Aber sicher…« »Noch irgendwelche Fragen?« sagte er, ohne auf sie einzugehen. Sein kalter Blick überflog den Raum. Maya explodierte. In ihren wilden luchsartigen Augen blitzte es auf. »Seltsame Methoden sind das, Commander!« rief sie wütend aus. »Ihre Werte sind…« »Entschuldigen Sie«, erwiderte er mit erzwungener Zurückhaltung. »Ich habe keine Zeit für Streitigkeiten.« »Ich will nicht streiten, John – ich gehe wissenschaftlich vor!« versuchte sie, ihm mit Vernunftgründen zu kommen. »Uns fehlen lebenswichtige Informationen…« Jetzt wandte sich der Doppelgänger ihr voll zu. In ihm schwelte der Zorn. Er konnte den Geist der Selbständigkeit und des unabhängigen Denkens nicht ertragen, dem er bei dieser Gattung so häufig begegnete. Kalt starrte er sie an. Sein Blick verriet eiserne Autorität. »Stellen Sie etwa meine wissenschaftliche Vorgangsweise in Frage?« »Ich kann nichts in Frage stellen, was ich nicht gesehen habe!« erwiderte Maya hitzig. »Als wissenschaftliche Mitarbeiterin bestehe ich auf…«
»Sie begeben sich bis auf weiteres in Ihr Quartier!« tobte er los. »Sofort!« Helena und Verdeschi traten vor und wollten Protest einlegen. Helena streckte die Hand aus und wollte Koenig anfassen. Er wich, von Panik erfaßt, zurück. Dabei behielt er seine eiserne Miene unverändert bei. Mit hochrotem Gesicht stürmte Maya hinaus. Die Belegschaft der Kommandozentrale sah ihr nach. Alle waren wie vor den Kopf geschlagen. Ähnliches hatte sich auf der Mondbasis noch nie zuvor zugetragen. »Sie wollte nur ihre Arbeit tun«, warf Verdeschi dem Wesen vor, das er für seinen Kommandanten hielt. »Und meine Aufgabe ist es, für die Sicherheit dieser Basis zu sorgen… die Verantwortung dafür trage ich, ich allein. Niemand von uns wird ohne Disziplin überleben können. Denkt daran – ihr alle.« Vor unterdrückter Wut erstarrt, erhob er sich mühsam aus seinem Sitz und schritt aus dem Zentrum – ehe ihm jemand eine Antwort geben konnte. Tödliches Schweigen herrschte nun in der Kommandozentrale. Die Alphaner litten unter der Kälte. Die Vernichtung der Mondbasis und der Tod aller Bewohner war unvermeidlich. Und jetzt war John Koenig, der einzige Mensch, dem sie blindlings vertrauten, dem Wahnsinn zum Opfer gefallen. Verdeschi, der mit seiner Geduld am Ende war, verließ seinen Posten und lief dem Commander nach. Die anderen warfen einander Blicke zu, die höchste Besorgnis verrieten. Helena faßte nach Carters Arm und zog ihn beiseite – außer Hörweite der anderen. »Alan, was ist denn auf diesem Asteroiden passiert?« fragte sie. Carter schüttelte den Kopf. Weder er noch Helena waren wütend – ihr einziges Gefühl war Besorgnis, Sorge um Koenig
und die Basis. Der Pilot berichtete so knapp als möglich, was er hatte erfahren können. »Ist es möglich… daß sich etwas seiner bemächtigt hat… ein Virus, eine Lebensform, der er zum Opfer gefallen ist…?« fragte sie ängstlich, nachdem er seinen Bericht beendet hatte. Er schüttelte den Kopf. »Sie sind schließlich die Ärztin, nicht ich…« Er machte ein nachdenkliches Gesicht. »Aber eines verstehe ich einfach nicht. Ich meine das Versagen der Stabilisatoren. Das Versagen war so schnell vorbei, wie es kam. Ich habe daran nichts repariert… niemand hat es.« »Ja, dann aber…« Sie brauchte nicht auszusprechen, was beide dachten. Koenig war in der Höhle etwas zugestoßen, dessen waren sie hundertprozentig sicher. Ebenso überzeugt waren sie, daß er dessen – was immer es gewesen sein mochte – nicht Herr geworden war. Helenas Kummer wurde nun von der quälenden Ungewißheit verstärkt, ob nicht das Wesen, das sie für ihren Geliebten hielt, ihnen in seiner Überspanntheit vielleicht sogar die Wahrheit gesagt hatte. Wenn es sich um Dinge von höchster Geheimhaltung handelte, hatte er sich immer schon merkwürdig benommen. Um das Leben der Alphaner nicht zu gefährden, war er schon manchmal gezwungen gewesen, ihnen die Wahrheit zu sagen.
Fast ein Jahr war vergangen, seitdem Koenig und die Alphaner Maya in ihre Weltraum-Gemeinschaft aufgenommen hatten. Alle waren gut zu ihr, und ganz besonders Koenig. Schließlich war er es gewesen, der den Entschluß gefaßt hatte, ihr nach dem Tod ihres Vaters Mentor auf dem Planeten Psychon und nach der Explosion von Psychon selbst, eine Heimat zu geben. Sie und ihr Vater waren die Letzten eines untergegangenen Geschlechtes. Ihr war es zunächst nicht leichtgefallen, sich den Alphanern anzupassen. Sie war eine starke Individualistin und
hatte zur Eingewöhnung sehr lange gebraucht. Aber schließlich hatte sie es doch geschafft. Sie spürte, daß sie eine sehr gute Alphanerin geworden war. Ihre Loyalität galt nun völlig der Mondbasis. Und jetzt sah es aus, als wäre alles vorbei. Sie hatte sich von ihrem Temperament hinreißen lassen – im Streit mit jenem Menschen, dem sie alles verdankte. Sie war in ihrer Rolle zu selbstsicher gewesen und fühlte sich nun wieder gekränkt und einsam. Verdeschi, der ahnte, daß sie verletzt war, klopfte leise. Als er eintrat, warf sie sich ihm schluchzend in die Arme. Sie tat ihm leid, und er versuchte sie mit einem aufmunternden Lächeln zu trösten. »Ich bin gekommen, um mit der Rebellin zu verhandeln«, sagte er. Er hielt sie auf Armeslänge entfernt und suchte nach einem Anflug von Widerstand in den niedergeschlagenen Augen. Sofort fühlte sie sich besser und lächelte zaghaft. Tief innerlich war sie noch immer unglücklich. »Warum hat mich John so behandelt?« fragte sie. »Ach, eine Frage der Disziplin, glaube ich«, erwiderte der Italiener, und versuchte seine Sorgen hinter einem Schleier der Unbeschwertheit zu verbergen. »Ein Rückfall in die Zeiten des Captain Bligh.« »Captain Bligh?« Das verstand sie nicht. Er tat die Bemerkung mit einer Handbewegung ab. »Vergiß es… du kannst es nicht wissen – du bist Psychonierin.« Wie von der Tarantel gestochen fuhr sie auf. Ihre Reaktion entlockte ihm den Ausruf: »He, ich wollte doch nicht…« »Richtig – ich bin Psychonierin…« sagte sie. »Eben in diesem Moment spüre ich das ganz genau.« Er nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände. »Entschuldige bitte. Ich war gedankenlos und wollte um jeden Preis lustig sein«, entschuldigte er sich. »Mach dir um John keine Sorgen.
Er meint es nicht so. Bei ihm ist irgendwas nicht ganz in Ordnung…« Sie sah ihn mit neuerwachter Hoffnung an. »Hoffentlich bei ihm und nicht bei mir«, sagte sie. Sie nahm die Gelegenheit wahr, sich aus ihrer Niedergeschlagenheit zu befreien. Die Befürchtung, die Verdeschi im Zusammenhang mit Koenigs Zustand äußerte, gemahnte sie an etwas Seltsames, das sie bei Koenigs Eintreten ins Kommandozentrum bemerkt hatte. Wieder versuchte sie, in sich positive Gefühle für den Commander wachzurufen. »Ich weiß vielleicht nichts von diesem Captain Bligh«, sagte sie, »aber ich reagiere überempfindlich auf alle Formen lebendiger Materie… und eines weiß ich: als Helena den Commander anfassen wollte, spürte ich in ihm Kälte. Er wollte nicht, daß sie ihn berührte…« Verdeschi runzelte nachdenklich die Stirn. »Sonderbar…er weigert sich auch, offen zu sprechen, als wolle er gewisse Tatsachen geheimhalten.« Jetzt flammte in Maya wieder das alte Feuer auf. »Und warum war ich so beharrlich – was glaubst du? Er läßt uns im Ungewissen. Zum Beispiel die Kristallprobe, die er mitbrachte – er behauptet, er hätte sie analysiert. Aber ich kenne die Ergebnisse nicht!« Verdeschi beruhigte sie. »Immer mit der Ruhe, sonst läufst du womöglich Amok.« »Tony, ich meine es ernst. Die Lage ist ernst«, mahnte sie. »Und wir bekommen keine brauchbaren Antworten.« Verdeschi atmete hörbar ein, als ihm blitzartig eine Idee kam. Er verdrängte sie stirnrunzelnd. Dann holte er wieder tief Luft. »Wie wär’s, wenn wir uns einen Eagle schnappen… hinfliegen und uns selbst umsehen?« fragte er.
Jetzt merkte sie, daß er ernsthaft mitmachte. Sie nickte. »Wer redet jetzt wie ein alter Meuterer – aber im vollen Ernst?« fragte sie. »Ach was, Meuterei!« Verdeschi schüttelte den Kopf. »Es geht um die Sicherheit. Wenn etwas schiefläuft, ist es meine Aufgabe, die Fehlerquelle zu finden.« Jetzt war es an Maya, Besorgnis zu äußern. »Er ist immerhin unser Kommandant, und solange er bei Verstand ist…« »Na schön, dann ist es eben Meuterei. Aber was ist, wenn er nicht mehr Herr seines Verstandes ist? Wenn er aus irgendeinem Grund ausgeflippt ist, wenn er aus medizinischer Sicht für unfähig erklärt würde…« Er hielt inne, weil ihm klarwurde, daß er sich da auf gefährliches Gelände vorwagte und seine innersten Gedanken preisgegeben hatte. »Nanu, Verdeschi – du redest ja, als hättest du zuviel von deinem selbstgebrauten Bier konsumiert. John Koenig – nach medizinischen Gesichtspunkten unzurechnungsfähig?« »Es gibt einen Weg, das festzustellen«, sagte Maya nach einer Weile bedrückt. »Sprich mal mit Helena darüber…« Wieder mußte Verdeschi tief Luft holen. Der Alptraum nahm langsam Gestalt an. Es war die Situation, die er immer gefürchtet hatte – eine Situation, die er verächtlich fand. Doch hatte er ebenso immer gewußt, wie er sich in diesem Falle verhalten würde. Es mußte sein. »Los, Tony – sag es ihr.«
Helena stand von ihrem Sitz neben Dr. Ben Vincent auf, ihrem zweiten Kollegen, mit dem sie die Computeranalysen der atmosphärischen Komponenten durchgegangen war. Auf ihrem Weg zu Koenig war sie nämlich mit Vincent zusammengestoßen, der wie üblich für sie einen Notfall parat hatte. Die beiden waren auf der Stelle ins
Lebenserhaltungszentrum gelaufen. Die Computer arbeiteten zwar nicht mehr exakt, doch die Anlagen der Lebenszentrale verfügten über eine eigene Energieversorgung, die von der übrigen Mondbasis völlig unabhängig war. Vincent hatte einen höchst beunruhigenden Rückgang in der Tätigkeit des Sauerstoffaufbereitungssystems festgestellt und bemerkt, daß der Vorrat an reiner Luft sich dem Ende zuneigte. Helena wirkte abgespannt und dabei höchst beunruhigt. Frischluftmangel bedeutete eine Zunahme der Zahl der Kranken. Mehr Kranke aber brachten wiederum mehr Arbeit mit sich. Und sie hatte weiß Gott schon genug um die Ohren. Am schlimmsten war die Sache mit John Koenig, und sie war keineswegs überrascht, als Verdeschi sich an sie wandte. Sie hegte ähnliche Vermutungen wie er. Obgleich es beide wußten, fiel es ihnen doch schwer, darüber zu sprechen. »Ich rede erst nicht lange um den heißen Brei herum«, sagte Verdeschi. »Helena, wenn John die Veränderung, die mit ihm vorging, nicht erklären kann oder will, wenn er sich von uns nicht helfen lassen will – und ich weiß, daß er etwas verschweigt, oder damit nicht fertig wird – wie können wir ihn bremsen?« »Deine letzten Worte sind ziemlich hart«, sagte Helena. Sie mußte überrascht feststellen, daß sie sofort Koenigs Verteidigung übernahm. »Und Alpha wird immer schwächer… und mein Posten als Sicherheitschef ist ein schlechter Scherz. Er hat alle und alles in seinem Griff…« Helena nickte traurig. Sie konnte Koenigs Vorgehen nicht verteidigen. »Ich bin Ärztin. Ich sehe ja, was mit unserem Lebenserhaltungssystem passiert…«
»Und es gefällt dir gar nicht, stimmt’s?« fuhr Verdeschi mit Nachdruck fort. »Was wirst du also tun, wenn die Lage verzweifelt wird?« »Und was würdest du tun, wenn du könntest, wie du wolltest?« fragte sie und spielte das makabre Spiel weiter. »Ich würde mir einen Eagle kapern und herauszufinden versuchen, was sich auf diesem Asteroiden wirklich zugetragen hat. Maya meint, der Kristall könnte die Antwort darauf sein… vielleicht sogar über Koenig Gewalt ausüben.« Er sah sie ruhig an. »Wenn wir das beweisen können… könnte man ihn… für unzurechnungsfähig erklären.« Helena starrte ihn ausdruckslos an. Sie blieb Herr ihrer Gefühle und wollte klaren Verstand behalten, aber tief im Innern verspürte sie plötzlich den Wunsch, laut loszuschreien. Doch sie war Ärztin. Von Ärzten nahm man an, daß sie Gefühle wie Mitleid, Reue oder Liebe nicht kannten. Man erwartete von ihnen, daß sie praktisch, findig und unbeteiligt waren. »Und wenn du es nicht beweisen kannst…?« fragte sie mit leisem Beben in der Stimme. »Falls John bei Verstand ist… und alles ganz bewußt und aus vernünftigen Gründen tut – dann machst du dich einer Verschwörung schuldig.« Ihre Stimme klang wieder empört. Sie fügte noch einen Gedanken hinzu, den sie sogleich wieder bereute: »Jetzt habe ich schon zuviel gesagt.«
Tiefes, rhythmisches Pulsieren verbreitete sich in dem unbekannten Fremden und zeigte an, daß die anarchische Macht, die seinen Doppelgängerleib steuerte, sich im Moment in einem Zustand der Ruhe befand. Er verfügte über keine verfeinerten Sinne – bis auf die des Commanders. Er war eine harte, kalte, formlose Energiemasse, die ihrem Schöpfer
unterworfen war. Es war der Schöpfer, der ihn bewegte, durch ihn handelte und sprach, der ihm die Ähnlichkeit mit allen menschlichen Vorzügen und Schwächen verlieh. Ihm blieb nichts übrig, als zu gehorchen. Ruhig sah er durch das Fenster des Beobachtungsraumes hinaus. Der sich ihm bietende Blick war Ursache seines beginnenden Wohlgefühls. Er befand sich im obersten Teil der Mondbasis. Die Dächer von Werkstätten, Lagerhallen und Montageanlagen schimmerten blank in der Sonne. Dahinter lag, gezackt und zerklüftet die kahle Mondoberfläche. Sie erstreckte sich grenzenlos auf den Felsrand zum schwarzen, sternenbestandenen Golf des Weltalls hin. Auf dem Flachdach einer Werkshalle arbeiteten zwei Besatzungsmitglieder in Raumanzügen. Sie legten an einem großen, tellerförmigen Energiereflektor letzte Hand an. Sie traten nun mit geradezu anmutigen Bewegungen zurück, und ihre Körper schwebten schwerelos. »Energiereflektor einsatzbereit, Commander…« drang die Stimme des einen krächzend durch die Sprechanlage. Der Doppelgänger lächelte – sowohl wegen der Wirkung, die er auf die Alphaner ausübte, als auch wegen der raschen Fortschritte, die sie seinetwegen erzielten. Er sprach in das geraubte Sprechgerät: »Zustand von Einheit zwo?« »Einheit zwo planmäßig«, antwortete eine Stimme. »Zustand von Einheit drei?« fragte er eine andere Arbeitsmannschaft. Sofort kam die Antwort: »Einheit drei vor der Fertigstellung.« Er verspürte eine Woge des Triumphes, beherrschte sich jedoch. Er gab an alle durch: »Achtung, Baumannschaften! Ich wünsche, daß alle Energiereflektoren um 19 Uhr fertig und betriebsbereit sind.« Er schaltete die Sprechanlage an und drehte dem Fenster den Rücken.
Auf der Bank, die dem Verlauf der Wände des Raumes folgte, lag das wunderschöne Edelsteinfragment, das er vom Asteroiden mitgebracht hatte. Es war mit einer dünnen, gewölbten Plastikhülle bedeckt. Es glühte und blitzte energiegeladen – Energie, die eines Tages auf den kostbaren, in seiner Molekularstruktur gespeicherten genetischen Code einwirken und ihnen das Leben geben würde, das ihr Schöpfer brauchte. Obwohl es funkelte und schimmerte, hatte es noch nicht genügend Energie. Es brauchte viel mehr Energie, damit es vor Licht und Leben sänge. Sobald die Energie der Basis erschöpft war, würden das Kristallstück und sein Schöpfer sogar die Lebensenergie der Mondmenschen selbst benötigen, und auch dann war zu befürchten, daß diese Energie nicht ausreichte. Das war ein Risiko, das der Schöpfer eingehen mußte. Voller Verehrung streckte er die Hand aus, um die gewölbte Hülle zu entfernen und den physischen Kontakt mit dem unschätzbaren Gegenstand herzustellen. Sein Monitor ließ ein Piepsen ertönen. Verärgert mußte er seine Meditation abbrechen. Das Gesicht eines Sicherheitspostens erschien auf dem Bildschirm. »Dr. Russell ist draußen und möchte Sie sprechen«, sagte der Posten. Sekundenlang erstarrten seine Hände über der gewölbten Hülle. Seine Befriedigung war wie weggeblasen. Er spürte das Unbehagen, das er in Gegenwart dieser Frau immer verspürte. Sie stellte für ihn eine Bedrohung dar. Sie war der einzige Mensch auf der Mondbasis, der die Person, die er darstellte, wirklich kannte. Sie war der einzige Mensch, der zweifelsfrei beweisen konnte, daß er nicht der war, für den er sich ausgab. Doch es gab keine Möglichkeit, sie auszuschalten und sein Geheimnis für sich zu behalten. Sie gehörte so sehr zum Verwandlungsspiel, daß sie einen Teil desselben darstellte. »Sie soll reinkommen«, befahl er brüsk.
Er drehte sich zu den sich bereits öffnenden Türen um. Dahinter stand die Gestalt der Ärztin. Sie starrten einander schweigend an, Furcht in den Augen. Die Zweitausgabe Koenigs brach das Schweigen. »Was ist denn, Helena? Ich bin sehr gespannt. Mir zerrinnt die Zeit zwischen den Fingern. Ich kann mich nicht lange aufhalten.« Die Worte entrangen sich ungehalten seinem Mund. Für ihn bedeuteten sie gar nichts. Es waren ärgerliche Hindernisse auf dem Weg zu seinem Ziel. Helena kam auf ihn zu. Ihre Miene drückte höchste Besorgnis aus. »Ich könnte jetzt von den Vorgängen auf Alpha sprechen – daß unsere lebenswichtigen Systeme auf dem Spiel stehen – aber ebenso wichtig ist das, was mit dir geschehen ist…« Er erstarrte, als die gesammelte abbrechende Kraft in ihm aufwallte, und seiner Furcht entgegenarbeitete. Statt dessen drehte er sich weg und verbarg, was ihn bewegte. »Mir ist nichts passiert. Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen. Ich versuche es jedenfalls.« »John, was hast du wirklich auf dem Asteroiden gefunden?« fragte sie hinter ihm. Sie kam einen Schritt näher. Ohne daß er es gesehen hatte, spürte er elektrisch ihr Näherkommen. Er wich ihrem ausgestreckten Arm aus. »Was ist denn los, John?« rief sie bestürzt aus. Seine abweisende Haltung kränkte sie. Normalerweise hätte er sie bei einer solchen Gelegenheit in die Arme genommen. »Warum schließt du mich aus? Warum schließt du uns alle aus?« Die Zweitausgabe drehte sich mit drohend erhobenen Armen um, und sie wich entsetzt vor seinem Schlag zurück. »Das tue ich doch nicht!« grollte er. »Ich habe alle eingeweiht. Wir müssen diese Kraft durchbrechen, damit wir überleben.« Starr blieb er vor ihr stehen. So angestrengt kämpfte er um Haltung, daß er fast zu zittern begann.
»Dann wird es für uns vielleicht schon zu spät sein«, sagte Helena leise. Er wich ihrem Blick aus, doch sie fuhr fort: »Mich beunruhigt, daß du einer fremden Atmosphäre ausgesetzt warst. Ich möchte, daß du dich ärztlich untersuchen läßt…« »Ich kann jetzt nicht aufhören, Helena – nicht um alles in der Welt«, äußerte er nun wieder selbstsicherer. »Du weißt, ich könnte anordnen, daß du dich untersuchen läßt.« Wieder drehte er sich zu ihr um. Diesmal ließ seine Miene Erstaunen und Wut erkennen. Doch Helenas Blick war ebenso resolut wie entschlossen. Herausfordernd starrten sie einander an. Helena nahm ihren momentanen Vorteil wahr. »Du hast den Oberbefehl über Alpha. Das wissen alle…« »Ja…?« Die Zweitausgabe funkelte sie bedrohlich an. »Als Chefärztin bin ich für die Gesundheit und das Wohlbefinden aller verantwortlich. Wenn ich den leisesten Verdacht schöpfe…« Wieder unterbrach er sie, diesmal mit Argumenten aus einer anderen Richtung. »Helena – glaubst du, ich würde Gesundheit oder Leben unserer Leute gefährden…?« Er fand, daß er diesmal für seine Stimme das richtige Gefühlsgemisch gefunden hatte. »Helena, vertrau mir… vertrau mir.« Ihr Gesichtsausdruck verriet Verwirrung. Die Zweitausgabe hatte eine Verwandlung erfahren. Plötzlich hatte sie das Gefühl, der alte Koenig, den sie kannte und dem sie vertraute, stünde vor ihr. Er hatte mit einer solchen Aufrichtigkeit gesprochen… Impulsiv streckte sie die Hand aus und berührte ihn. Diesmal reagierte er nicht rasch genug und konnte nicht mehr ausweichen. Sie spürte die Kälte seiner Haut- sogar in Anbetracht der verminderten Heizleistung fühlte er sich unnatürlich kalt an. Sie wollte den Mund auftun und ihrer
Verwunderung Ausdruck verleihen, doch da war etwas, das ihr Schweigen gebot. Der Doppelgänger Koenigs wand sich vor Unbehagen. Das Ringen einander bekämpfender Kräfte in ihm, die sein Bewußtsein bildeten, entschloß sich dazu, den Vorfall zu übergehen – in der Hoffnung, daß dieses sentimentale weibliche Wesen nicht die Wahrheit über ihn ahnte. Er hatte ihr jetzt genug Zeit gewidmet. »Helena, ich muß mich mit den Bautrupps in Verbindung setzen…« »Ja, John…« sagte sie langsam. Sie war nachdenklich geworden, und das machte ihn noch nervöser. »Aber glaubst du nicht, daß es Zeit wäre, Maya aus ihrem Quartier freizulassen? Sie wird in der Kommando zentrale dringend gebraucht.« »Darüber habe ich zu entscheiden!« erwiderte er mit Nachdruck. Sie wandte sich verdutzt zum Gehen. An der Tür hielt seine Stimme sie zurück. »Dr. Russell…« Bei Nennung ihres Namens drehte sie sich um. Koenig hatte sie niemals so gerufen – wenigstens nicht in letzter Zeit. Der vor ihr stehende Mann lächelte dünn. »Und wenn das alles vorbei ist«, sagte er in einem Versuch, unbeschwert zu sein, »werde ich mich untersuchen lassen… das verspreche ich.« Doch sein Gesicht war alles andere als unbeschwert. Es war verbittert und verzerrt. Sein Kinn zitterte. Auch Helena wurde von ihren Gefühlen erschüttert. Sie konnte es nicht länger verbergen. Zwei Schocks waren mehr als genug. Froh, daß sie einen Vorwand zum Gehen hatte, machte sie auf dem Absatz kehrt und ging hastig hinaus. Die Zweitausgabe Koenigs starrte den leeren Eingang an. Grausame Begierden wüteten in ihm. Er ließ jede Rücksicht fallen, da er wußte, daß seine Täuschungskünste nicht ewig
dauern konnten. Er sehnte den Augenblick herbei, da er seine Aufgabe beendet und sich der Fessel befreit haben würde, die man ihm auferlegt hatte.
Maya saß kühl und beherrscht vor ihrem Toilettentisch, als Helena hereinstürzte. »Ich habe ihn berührt. Seine Hände fühlten sich an wie Eis. Ich kann es nicht fassen…« Die verwirrte Ärztin ließ sich auf das Bett fallen. Ihr Blick verriet ein Gemisch aus Kummer und Angst vor dem Ungewissen. Da erst bemerkte sie Verdeschi, der an der Wand neben der Tür lehnend, mit der Psychonierin gesprochen hatte. Er und Maya traten zu Helena. »Hat er reagiert?« fragte Maya ernst. »Hat er etwas gesagt?« Helena schüttelte den Kopf und hüllte sich in eine von Mayas Decken, um sich warmzuhalten. »Wir beide verloren darüber kein Wort. Aber er muß wissen, daß ich etwas weiß… er kann doch nicht annehmen, daß ich nichts spürte…« Sie versuchte sich zusammenzureißen. »Bis zu diesem Punkt vertraute ich ihm ehrlich… ich glaubte alles, was er sagte. Ich wollte nicht glauben, daß er… verändert ist.« Verdeschi legte tröstend den Arm um sie. »Was glaubst du jetzt, Helena?« fragte er sie behutsam. Sie machte eine Pause. Mit tiefliegenden, gehetzten Augen sah sie zu ihm auf. »Ich glaube, daß mit John etwas Schreckliches vor sich geht… und ich habe Angst.« Trotzdem hatte sie verstanden, was Verdeschi eigentlich meinte, und der Gedanke daran bewirkte, daß alle ihre Sinne sofort wieder normal reagierten. Irgend etwas – vielleicht ihre Verzweiflung – lenkte ihre Gedanken auf den großen Kristall, den Koenig vom Asteroiden mitgebracht hatte. Die Annahme schien logisch, daß – falls John nicht mehr ganz bei sich war – dies
vielleicht der Grund dafür war. Schließlich verbrachte er so viel Zeit in der Nähe des Steines und ließ ihn nicht aus den Augen. »Na schön, ich gebe mich geschlagen«, sagte sie kläglich. »Ich muß zugeben, daß John sehr labil wirkt. Aber ehe ich eurem Wunsch nachgebe, möchte ich noch einer Sache nachgehen. Ich möchte, daß die Kristallprobe untersucht wird.« Beide nickten. Helena war erstaunt und erleichtert, als Maya sagte: »Genau das wollten wir auch. Bevor wir zur Meuterei schreiten, brauchen wir Tatsachen, um absolut sicherzugehen, daß wir keinen Fehler begehen.« Sie wandte sich an Verdeschi. »Noch eins. Soll Alan mitmachen?« »Nein, noch nicht. Nicht, ehe wir Gewißheit haben«, antwortete Verdeschi. Er sah auf die Uhr. »Mach dich an die Arbeit. Wir wollen uns den Stein ansehen.« Es trat ein Augenblick der Spannung ein, als sie einander ansahen. Ein Moment der Ungewißheit und hastigen Überlegung, ehe man den großen Schritt tat. Entschlossen erhob sich Maya. Sie blieb ernst vor ihnen stehen. Tiefe Linien der Konzentration durchzogen ihr Gesicht. Ihr Körper wurde steif und begann zu zittern. Er bog sich und schwankte und löste sich langsam in eine weiße Spindel großer Energie auf – ein Zerfall ihrer Aufbaumoleküle. Die Spindel pulsierte hell, ehe sich die Moleküle wieder zusammenfügten und vor ihnen ein neues Wesen entstand. Helena und Verdeschi warteten gespannt, welche Gestalt die erstaunliche Körperchemie der Psychonierin hervorbringen würde. Alle Angehörigen des ausgestorbenen Geschlechtes auf Psychon hatten über die seltsame Gabe der molekularen Umwandlung verfügt, und die Mondbasis hatte mit Maya als neuer Errungenschaft großes Glück gehabt. Sie und ihre Kunst war ihnen allen unentbehrlich geworden und hatte sie bereits bei mehr als einer Gelegenheit vor dem Untergang bewahrt.
Die undeutlichen Umrisse verfestigten sich und nahmen eine Gestalt an, die sie erkannten, als die Aura hellen Lichtes verschwand. »Joanna!« rief Helena anerkennend. »Die Mitarbeiterin, die John zur Durchführung der Energieübertragungsaktion herangezogen hat. Sehr geschickt!« Verdeschi nickte beifällig. »Hoffen wir, daß John nicht auf die Idee kommt, daß Maya etwas im Schilde führt.« Maya/Joanna ging vorsichtig hinaus und schritt zum Fahrstuhl, der sie in die oberen Etagen der Station befördern sollte. Zum Glück waren die Gänge leer, da die Alphaner sich in ihren Quartieren verkrochen hatten. Die noch immer sinkende Temperatur war nicht lebensgefährlich, vorausgesetzt, die Leute vermummten sich dick und bewegten sich. Außerdem erwiesen sich die Luftverhältnisse noch als günstig. In der Nähe des Beobachtungsraumes angekommen, hielt Maya/Joanna inne und sah sich vorsichtig um. Vor der Tür stand ein Posten. Sie hob das Sprechgerät an die Lippen und sagte leise: »Ich gehe jetzt rein… wenn ich nur wüßte, wo John und die liebe kleine Joanna im Augenblick sind.« Flüsternd drang Helenas Stimme aus dem Gerät: »John ist in der Kommandozentrale. Er muß nach meinem Weggehen hingegangen sein. Tony wird versuchen, ihn dort festzunageln, aber du mußt dich beeilen.« »Das erleichtert meine Aufgabe«, hauchte Maya. Sie schaltete das Gerät aus. Da öffnete sich die Tür des Beobachtungsraumes, und Joanna, die besagte Mitarbeiterin Johns kam heraus. Maya schlüpfte in einen in der Nähe befindlichen Wandschrank. Das alles klappte ja besser als gedacht.
Sie wartete ab, bis die echte Joanna an ihr vorübergegangen war und verließ sodann ihr Versteck. Eilig lief sie auf den Raum zu, ganz im Blickfeld des Postens, der ihr fragend entgegensah. Sie machte ein Gesicht, das ›Vergeßlichkeit‹ ausdrücken sollte und lächelte ihm zu. »Muß etwas holen«, sagte sie. Der Posten grinste sie vertraulich an. »Ich verrate nichts«, sagte er. Seine Augen folgten ihr begehrlich, als sie die Tür öffnete und hinter sich schloß. Der schimmernde Edelstein lag reglos unter seiner Hülle und schien vor innerem Feuer zu sprühen. Sie trat näher und entfernte die durchsichtige Hülle. Dann zog sie rasch ihren Hand-Laser und schoß ein kleines Stück des Kristalls weg. Sie brachte die Hülle wieder an und verstaute das winzige, aber ausreichende Fragment. Mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung lief sie zur Tür und hielt nur kurz inne, um einen der großen Energiereflektoren durchs Fenster anzusehen. Der Bautrupp hatte sich entfernt. Die ominöse Scheibe stand wie die anderen da, bereit, die letzten und größten Energiereserven der Mondbasis abzustrahlen. Im Hinausgehen zwinkerte sie dem Posten vertraulich zu. In der Hoffnung, die arme Joanna nicht in eine kompromittierende Lage gebracht zu haben, ging sie rasch den Gang entlang. Der unangenehmste Teil ihrer Aufgabe lag hinter ihr. Jetzt brauchte sie nur noch sicher zurück in ihre Unterkunft zu kommen und den Kristall zu untersuchen, ehe Koenig dazwischentrat. Als sie jedoch um die Ecke bog und zum Fahrstuhl wollte, sank ihr Herz klaftertief, als sie Koenig auf sich zukommen sah. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, doch sie gab sich ganz natürlich. Er verlangsamte den Schritt, als er sie bemerkte. Sie betete darum, daß er nicht eben der echten Joanna begegnet war.
»Mrs. Craven«, sagte er scharf und blieb stehen. Sie fuhr zusammen und blieb ebenfalls stehen, wobei ihr Gesicht einen fragenden Ausdruck annahm. »Ja, Commander?« fragte sie so ruhig als möglich. »Haben Sie das Hauptkraftwerk auf Energieübertragung zu allen Energiereflektoreinheiten programmiert?« Sie stieß innerlich einen Seufzer der Erleichterung aus. »Ihre Anordnungen wurden ausgeführt, Sir.« Sie drehte sich um und ging weiter, wobei sie inbrünstig hoffte, er würde ihr nicht folgen. Dabei spürte sie seinen kalten, fremdartigen Blick in ihrem Rücken. Jede einzelne Zelle in ihrem umgewandelten Körper prickelte nervös. Sie lief dankbar zurück zu ihrem Zimmer, wo sie Helena vorfand, die durch eines der Mikroskope der Krankenstation spähte. Das optische Instrument war auf einem beweglichen Gestell montiert, auf das man auch das zu untersuchende Objekt legen konnte. Maya zog die Kristallprobe heraus und schabte mit einem speziellen geologischen Schneidegerät eine dünne Scheibe ab. Das Material war nicht diamantenhart und schien vergleichsweise geschmeidig. Helena war jetzt viel ruhiger und half Maya das Objekt unters Mikroskop zu legen. Jetzt war keine Zeit für Sentimentalitäten, wie tiefverwurzelt sie auch sein mochten. Sie trat zurück und ließ Maya die Scheibe durch die starken Linsen begutachten. Die Psychonierin studierte die Probe. »Unglaublich! Etwas Ähnliches habe ich noch nie zuvor gesehen!« stieß sie hervor. In diesem Augenblick trat Verdeschi ein und blieb erwartungsvoll neben Helena stehen, gerade als Maya mit feierlicher, ehrfürchtiger Miene aufsah und sagte: »Kein Kristall! Es ist ein unglaublich dichtes, komplexes Stück lebender Materie, der jegliche Energie entzogen wurde. Trotzdem ist das Ding nicht tot. Es befindet sich in einem Schlafzustand. Wie ein Samenkorn.«
Die zwei anderen starrten sie ungläubig und ängstlich an, als ihnen nun die Zusammenhänge andeutungsweise dämmerten. »Die Wirkungen einer derartigen Substanz auf ein menschliches Wesen sind unberechenbar«, fuhr Maya als Antwort auf die unausgesprochenen Fragen fort. Helena war am meisten besorgt. »Wie können wir ihm nur helfen zu überleben und gegen das hier anzukämpfen?« Maya sah die anderen entsetzt an. Als hätte sie Helenas Frage gar nicht gehört, fuhr sie in ihrer Erklärung fort: »Wir müssen der Möglichkeit ins Auge sehen, daß John Koenig nicht mehr aus Fleisch und Blut besteht.«
III
Er war umgeben vom wogenden dunklen Abgrund des Alls. Langsam bewegte er sich hindurch, obwohl keine Sterne schienen und er kein Raumschiff hatte. Sein Körper war der Kälte und dem Vakuum ausgesetzt. Er nahm an, daß er tot war. Doch er bewegte sich weiter… er dachte weiter. Auf unerklärliche Weise lebte er auch weiter. Er erwachte aus seinem Alptraum und stellte fest, daß er sich wieder in der hellen Spiegelkaverne befand. Die Spiegel pulsierten irgendwo am Rande seiner Erinnerung. Die groben, vorstehenden Kristallfacetten gerieten klar in sein Blickfeld. Unwillig raffte er sich auf. Als immer mehr Einzelheiten seiner Vergangenheit wieder in sein Gedächtnis traten, fingerte er nach seinem Funkgerät. Es war weg. Doch spürte er Beruhigung, als er seinen Laser entdeckte und ihn unsicher vor sich in die Höhe hielt. Wieder ertönte das hohe Rückkopplungsgeräusch. Sein Magen geriet vor Übelkeit in Bewegung. »Lieber Gott!« Er faßte nach seinem Kopf, doch das Geräusch schnitt hindurch. Er drehte sich um, um das Geräusch zu dämpfen, und sah sich einer Vielzahl von Spiegelbildern gegenüber. Die Bilder lachten ihn aus. Er hielt inne und starrte sie benommen und ungläubig an. Es waren spöttische, bösartige und stumme Bilder. Nur die Gesichter und Lippen bewegten sich geräuschlos. Er machte kehrt und begann zu laufen. Er tappte umher, doch noch ehe er den Höhleneingang erreichen konnte, hatte sich das Geräusch gesteigert. Bevor seine Wirkung für ihn jedoch bedrohlich werden konnte, verstummte es. An seine Stelle trat
eine Singstimme, die trotz ihrer Klangfarbe so quälend und unangenehm klang wie das Geräusch. »Commander Koenig…« säuselte die Stimme. Koenig drehte sich hastig um, konnte aber niemanden sehen. »Das ist die Stimme von Kalthon«, fuhr die Stimme fort. »Es gibt für Sie kein Entkommen… Sie sind von Ihren Leuten abgeschnitten.« Koenig kämpfte mit seinen überbeanspruchten Sinnen und versuchte seine Gedanken zu sammeln. »Warum werde ich hier festgehalten?« wollte er wissen. »Was wollt ihr von mir?« »Commander, es war ein glücklicher Zufall… daß Sie ausgerechnet in unseren Abschnitt des Alls kamen.« Koenig schrie dem Kristall wütend entgegen: »Ich frage noch einmal: Was wollt ihr von uns?« »Wir benötigen eure Energievorräte. Genau in diesem Augenblick verhelfen uns Ihre Leute dazu.« »Du sagst ›wir‹…« »Meine Leute«, sang Kalthon selbstbewußt. Seine Stimme ging nun in einem überwältigend gefühlvollen Klanggesang über, der, von den Wänden widerhallend, Koenig überflutete. Er kämpfte darum, ruhig zu bleiben, während er sich die Geschichte anhörte. »Einst tauchte eine schwarze Sonne in unserer Galaxis auf. Sie absorbierte unsere gesamte Energie. Unsere Technik war dagegen machtlos, doch entgingen wir der totalen Auslöschung. Unsere Wissenschaftler entwickelten nämlich einen Samen… statteten ihn mit den Resten unserer Energie aus und schossen ihn hinaus ins All…« »Samen?« fragte Koenig verwundert. Er wollte soviel Information als nur möglich sammeln. Aus dem Kristallgestein pulsierte stärkeres Licht. Hinter Koenig leuchtete es besonders stark, und er wandte sich dem leeren Ende der Halle zu. Dort war nun eine strahlende, bewegliche Lichtquelle zu sehen. Sie hing mitten in der Luft,
pulsierte und strömte einen Zauber aus, der ihn, ohne daß er es wollte, mit heiliger Scheu erfüllte. »Das Herz von Kalthon, Commander…« sang die Stimme voll Stolz. »Eine ganze Zivilisation. Hier drinnen ist alles enthalten: Städte, Menschen, tierisches und pflanzliches Leben. Alles im Mikrokosmos, alles in einem Zustand zeitweilig unterbrochenen Lebens… alle vor der Wiedergeburt stehend.« Koenig spürte, wie in ihm Wut hochkroch, während er sich die tollkühnen Vorstellungen der Stimme anhörte. »Du willst also unserer Welt die Energie entziehen, uns vernichten – damit deine Welt wiedergeboren wird. Was für unzivilisierte Wesen seid ihr, ein solches Verbrechen zu begehen?« schrie er erbittert heraus. Das Herz von Kalthon schwoll in einer glänzenden Zurschaustellung von Licht und prismatischen Farben an und die Stimme fuhr in ihrer Darlegung fort: »Der Prozeß wird erst einsetzen. Der Samen steht kurz vor der Regeneration. Er ist auf Überleben und Wiederauferstehung programmiert. Er hat im moralischen Sinne keine Wahl oder Entscheidungsfreiheit.« Das Herz verblaßte und sank nach einem plötzlichen Lichtschwall zu einem zentralen Punkt zusammen, der in der Luft verschwand. Die Stimme verstummte, der unerträglich hohe Ton setzte erneut ein. Koenig starrte wütend um sich. Er suchte den Tunneleingang, der ihn hinauf zur Oberfläche führen würde. Die unterirdische Halle war für ihn zu einem Spiegelkerker geworden. Überall blitze und reflektierte es, so daß er unmöglich ausmachen konnte, wo der Ausgang lag. Er hob den Laser und feuerte auf die nächste Glasfläche. Er sah, wie sie in tausend Splitter zersprang. Dahinter lag ein dunkler Gang. Er lächelte voll Ingrimm und betrat nach einem letzten Blick in die Halle den Gang.
Aber als Gegensatz zu der erhofften Freiheit verwandelte sich das Dunkel wieder in Glas. Es umhüllte seinen Körper und ließ ihn zu einem beständigen plastischen Spiegelbild erstarren, das in Angst und Entsetzen vor sich hinblickte.
»Es funktioniert. Der Ultrafrequenzschall scheint die Moleküle in Atomteile zu spalten, die den Kristall bombardieren.« Maya stand von der Sonaranlage auf, die man in ihre Unterkunft gebracht hatte, damit sie ihre Forschungsarbeit am Kristall fortsetzen könne. Verdeschi stand neben ihr. Er machte ein grimmiges Gesicht. Neben ihm stand mit bleichem Gesicht Carter. Verdeschi war zu der Überzeugung gelangt, daß nun der Zeitpunkt gekommen wäre, den Piloten einzuweihen. Der ansonsten zugängliche und loyale Australier ließ sich aber nur sehr schwer überzeugen. »Alan, wir müssen auf dem Asteroiden landen und dieses verdammte Kristallmaterial vernichten«, sagte Verdeschi eindringlich. »Tony, langsam verstehe ich ja, aber ich kann es doch noch nicht glauben. Du und Helena – ihr jongliert mit Theorien. Ihr könnt nichts davon beweisen.« Carter wußte nicht, woran er war. In seiner Stimme lag keinerlei Überzeugung mehr, und doch klammerte er sich krampfhaft an seine Loyalität Koenig gegenüber. Verdeschi geriet in Fahrt. Mit einer umfassenden Handbewegung, die ganz Alpha einbezog, sagte er: »Wie kannst du dich bloß so dämlich und blind anstellen, du Känguruh! Siehst du denn nicht, was hier vorgeht?« »Er will uns alle loseisen«, entgegnete Carter stur. »Das macht ihn nervös und uneinsichtig. Außerdem sind sämtliche Eagle-Schiffe am Boden, und die Startrampen sind blockiert.«
Jetzt wandte sich Maya mit flehendem, verzweifeltem Blick an ihn. »Alan, du mußt uns zu einem Eagle verhelfen!« »Mit verhelfen meinst du stehlen.« Carters Miene verriet Ablehnung. »Das kann ich nicht machen.« »Alan, gib dir einen Ruck, wir sind…« »Es wäre gegen meine Ausbildung, gegen meinen Instinkt…« Carter schrie beinahe. »Instinkt! Ausbildung!« ereiferte sich Maya. »Du versteckst dich hinter bloßen Worten.« »Vielleicht sind es bloß Worte – für eine Psychonierin«, antwortete Carter hitzig und viel härter als beabsichtigt. »Aber für mich beinhalten sie etwas anderes. Sie beinhalten Pflicht… und Treue. Und meine Loyalität gehört John Koenig.« Maya beruhigte sich und versuchte ganz ruhig mit ihm zu reden. »Wenn deine Loyalität John Koenig gilt, dann mußt du versuchen, ihm zu helfen.« Carter jedoch hörte nicht mehr hin. Er sagte mit aller Entschiedenheit: »In meinen Augen ist diese sogenannte Hilfe… schlicht und einfach Meuterei.« Er drehte sich um und ging hinaus. Noch ehe sie reagieren konnten, ertönte ein Piepsen vom Monitor. Auf dem Bildschirm erschien Koenigs Gesicht. Es sah aus, als wäre es aus Stahl gefertigt. »Hier ist der Commander«, ertönte die Stimme der Zweitausgabe. Inzwischen hatte sie jede Ähnlichkeit mit Koenigs echter Stimme eingebüßt. »Während der Energieübertragung auf den Energiestrahl bleibt die gesamte Besatzung von Alpha auf ihrem Posten oder in den Unterkünften.«
Helena und Dr. Ben Vincent starrten entsetzt das Abbild ihres Commanders an. Jetzt wußten sie, daß es nur ein Abbild war
und daß sich dahinter ein Usurpator entweder versteckte oder es irgendwie steuerte. Doch sie waren nicht imstande, die übrige Besatzung der Mondbasis zu überzeugen und damit die Tragödie abzuwenden, die ihrem Ende zusteuerte. »Hauptstromkreise ausschalten«, hörten sie die kalte, spröde Stimme rufen. Die Lichter in der Krankenstation flackerten und wurden schwächer, während die Kernanlage des Lebenszentrums hektisch arbeitete, um den Energieverlust, von dem sie betroffen wurde, auszugleichen. Helena und Vincent mußten machtlos zusehen, wie die Zeiger der Meß-Skala des Lebenszentrums auf Alarm zeigten. »Helena – Hilfssystem drei fällt aus!« rief Vincent entgeistert aus. »Wir müssen ihn endlich zum Aufhören zwingen!« »Übertragung voll in Gang setzen«, fuhr die machtlüsterne, unerträgliche Stimme fort. In der Kommandozentrale, in der sich Koenigs Double aufhielt, war Yasko eifrig dabei, auf Knöpfe ihrer Konsole zu drücken und Hebel zu betätigen. Nur widerstrebend führte sie die Anweisungen aus, konnte ihnen aber nichts entgegensetzen. Anders als die älteren Besatzungsmitglieder, war sie kaum imstande, zu widersprechen und mußte das tun, wozu sie geschult war und was man von ihr verlangte. Je ein Lichtstrahl entsprang den drei Energie-Reflektoren auf den Dächern der Anlagen auf der Mondoberfläche. Es waren Lebensstrahlen… und gleichzeitig Todesstrahlen – sie durchschnitten das All und schossen auf den gierigen Empfänger zu. In Sekundenbruchteilen hatten sie die Entfernung überwunden. In einer Entfernung von Tausenden von Meilen, durch eine Höhle von Dunkelheit hindurch, begann der glänzende, rotierende Edelstein – der komprimierte Planet Kalthon – ein schwaches Grün auszustrahlen, als der
unerklärliche Wiederbelebungsprozeß tatsächlich einzusetzen begann.
in
seinem
Innern
»Jetzt läßt auch das Hilfssystem nach!« stieß Vincent hervor, der in die Krankenstation gelaufen war. Helena drückte verzweifelt einen Knopf. »Krankenstation an Commander!« Wieder erschien das Gesicht des Doubles auf dem Bildschirm. Während die Sekunden vergingen, verlor er immer mehr seine Haltung. Er wurde dem Commander, der zu sein er vorgab, im Aussehen und Gehabe immer unähnlicher. Er wirkte feurig erregt, wie in Hochstimmung, zeigte sich jedoch durch Helenas Unterbrechung auch verärgert. »Dr. Russell – für Plaudereien habe ich keine Zeit.« »Ich aber!« Helenas grüne Augen blitzten vor Zorn. »Systeme drei und sechs sind ausgefallen. Wenn Sie mir weiter Energie entziehen, müssen wir mit Todesfällen rechnen!« »Ein paar Tote…«, die Stimme schwankte, »sind nicht die Gesamtheit, Dr. Russell.« Der Monitor wurde dunkel. Helena stürzte hinaus. Über ihr, über der ganzen Mondbasis irisierten die Energiestrahlen noch intensiver, während immer mehr ihrer kostbaren Energie verfüttert wurde. Die Farbe des Asteroiden war nun ein sattes Grün, er schwoll immer mehr an. In Übereinstimmung damit begann auch das Kristallfragment, das Maya abgesplittert hatte, grün zu glühen. Ob dies nun im Einklang mit dem Hauptstück geschah oder weil von den Energiestrahlen ein Teil abgelenkt wurde, würde man nie erfahren. »Es zieht Energie an. Wie ein Samenkorn Wasser aufnimmt!« rief Maya mit einer Mischung aus Entsetzen und Verwunderung. »Tony, wir müssen etwas unternehmen.«
Sie sahen einander entgeistert an. Alle Rücksichten auf Respekt und Rangordnung waren nun wie weggeblasen. Sie liefen hinaus. Sie rannten den leeren Gang entlang, der die Verbindung zu den Startrampen bildete. Vor sich hörten sie Lärm und drückten sich hastig in eine Nische. Zwei bewaffnete und höchst wachsame Posten kamen und gingen an ihnen vorüber, ohne sie zu bemerken. Sie liefen weiter auf die Transportröhre zu. Ihre Cammlooks ließen die Türen aufgleiten, und sie nahmen eilig Platz. In schneller Fahrt ging es zur Startrampe des Eagle Eins. Doch als die Türen am anderen Ende aufglitten, standen sie wieder einem bewaffneten Posten gegenüber. Dieser Mann verhielt sich, nachdem er sie gestellt hatte, zunächst respektvoll, wenn auch mißtrauisch, als er ihre erregten, geröteten Gesichter bemerkte. »Mr. Verdeschi – in diesem Bereich dürfen Sie sich nicht aufhalten. Wir haben Befehl, niemanden ohne einen vom Commander ausgestellten Passagierschein durchzulassen. Ich weiß, Sie sind der Sicherheitschef«, fügte er mit einem Anflug von Schuldbewußtsein hinzu, »aber die Befehle des Commanders haben Vorrang.« Verdeschis Hand fuhr unwillkürlich zum Laser. Der Posten erstarrte und brachte seine eigene Waffe in Anschlag. »Außerdem habe ich Befehl, allen Personen die Waffen abzunehmen«, fügte er ergänzend hinzu. Verdeschi täuschte mit einem Achselzucken Gleichmut vor und lieferte seinen Laser dem Posten aus. Dieser wandte sich jetzt an Maya, die ihm aber ihre leeren Hände entgegenstreckte. »Ich bin unbewaffnet«, sagte sie. Der Posten nickte und zog jetzt sein Sprechgerät aus dem Gürtel. »Tut mir leid, aber ich muß es dem Commander melden, wenn sich jemand hier unerlaubt aufhält!«
Sein Finger betätigte die Sprechtaste – doch für Maya war er nicht flink genug. Schneller als sonst, hatte sie sich in einen knurrenden, kläffenden deutschen Schäferhund verwandelt. Der Mann machte vor Schreck einen Satz und wich zurück. Er hob seine Waffe, kam aber nicht dazu, abzudrücken. Das knurrende Tier sprang ihn an. Er fiel um. Verdeschi trat vor und machte den Mann mit einem Schlag bewußtlos. Der Posten lag nun reglos da, und der Hund kam schweifwedelnd auf Verdeschi zugesprungen. »Na – nicht jetzt… später, Liebling«, sagte er. Für Unsinn war jetzt nicht die Zeit, und auch Maya hatte keine Zeit, sich in ihre Normalgestalt zurückzuverwandeln. Hund und Sicherheitschef liefen auf die sich öffnenden Türen des Eagle zu.
Die Energiestrahlen wurden stärker. Die Station wurde kälter und dunkler, als ein Bereich nach dem anderen abgeschaltet wurde. Bald arbeiteten die Computer so unregelmäßig und unpräzise, daß sie die programmierten Abschaltungen nicht mehr steuern konnten. Ganze Bereiche und Vorrichtungen wurden auf gefährliche Weise ziel- und wahllos ein- und ausgeschaltet. Währenddessen wurde die Zweitausgabe Koenigs von Gefühlen der Erfüllung, des Glücks und Friedens überflutet. Die kalte, nicht auszuschaltende Energie in seinem Herzen pulste in völliger Symmetrie und Harmonie. Selbstzufrieden inspizierte der Doppelgänger die Reihen von Zeigern und Schalteinrichtungen auf den komplizierten Apparaten des Lebenszentrums der Mondbasis. Die Nadeln der Meßgeräte schlugen wie verrückt aus und pendelten immer weiter in die roten Gefahrenzonen der Skalen. Diese Anzeichen dafür, daß der Mondbasis allmählich die letzte Energie entzogen wurde, erfüllte ihn mit Freude.
Während er das alles beobachtete und mit sich rang, ob er den Prozeß beschleunigen sollte, indem er einige Apparate auf Maximalstärke schaltete, trat Helena hinter ihm in den Raum. Sie war aufgebracht und atemlos. Die von ihr ausgehende Ausstrahlung von Ablehnung, mit der sie ihm gegenübertrat, ließ das unangenehme, irritierende Gefühl in ihm wieder aufleben. Er drehte sich um. »Ach, hier bist du…«, sagte sie. Sie ging weiter in den Raum hinein. Ihre Miene zeigte Entschlossenheit, es auf eine Konfrontation ankommen zu lassen. »Du hast nicht gesagt, daß du hierherkommen wolltest.« Die Angst, die sie ehedem in Koenigs Double ausgelöst hatte, war nun nicht mehr so bohrend in ihm – die Energieübertragung war ja im Gange, und so konnte er ihr sehr viel überzeugender gegenübertreten. Aufgeregt deutete er auf die Meßapparate. »Ich kam hierher, um selbst zu sehen, welch schreckliche Dinge ich verursacht habe. Es tut mir leid – ich war vorhin zu schroff.« Wieder wurde Helena in Verwirrung gestürzt. Sosehr sie es versuchte, sie konnte ihre Loyalität und Liebe nicht überwinden. Ihm in seiner jetzigen Verfassung zu begegnen, genügte, um in ihr wieder das früher gefühlte Vertrauen aufleben zu lassen. Und die Theorie, es handle sich bei ihm um ein wissenschaftlich zu ergründendes Phänomen, die sie mit Maya sich ausgedacht hatte, brach zusammen. »John, du brauchst dich nicht…« »Ich wollte, du könntest verstehen…« sagte er und merkte nun zu seiner Verwirrung, daß er es ernst meinte. Mit Entsetzen und Mißbilligung spürte er, daß das Objekt, das er früher so sehr verabscheut hatte, für ihn anziehend geworden war. Einen Augenblick lang hatte er sich tatsächlich gewünscht, sie könnte ihn verstehen – und die Gefühle seines
Schöpfers und seines Geschlechtes, das auf die Wiedergeburt wartete. Helena war von seinem unbeholfenen Versuch, sich zu entschuldigen, gerührt. Sie hatte den Eindruck, sie könnte ihn nun von seiner Wahnsinnstat abbringen. »Ich versuche ja, dich zu verstehen. Glaube mir, wir alle versuchen es. Wir alle wollten wirklich helfen. Als ich dich hier sah, hoffte ich tatsächlich, du hättest dich zu der Untersuchung entschlossen. John… ich muß dir eine wichtige Frage stellen. Es ist lebenswichtig, daß du mir darauf eine ehrliche Antwort gibst.« Sie trat näher zu ihm. Ihre Miene ließ Besorgnis erkennen. Unwillkürlich wurden seine Züge wieder abweisend. Er wich vor ihr zurück. Jetzt wußte er, daß ihr Verrat ihn noch immer an der Erfüllung seiner Aufgabe hindern konnte, und wieder mußte er feststellen, daß er sie insgeheim töten wollte. Eine Alarmglocke schrillte, er drehte sich um und sah zum Monitor hin. Er drückte einen Knopf, und Yaskos rundes, ernstes Gesicht erschien auf dem Bildschirm. Dahinter stand mit schmerzverzerrtem Gesicht Carter. »Was gibt es?« fragte das Double eiskalt. »Eagle Eins ist gestartet«, meldete sie. Das Gesicht des Doppelgängers verzerrte sich. Die nur knapp unter der Oberfläche lauernde Wut flammte in ihm auf. Helena zitterte vor Angst. »Mit welchem Ziel?« fragte er. Yasko und Carter wechselten ratlos die Blicke. Sie litten an Schuldgefühlen, wenn auch aus andersgearteten Gründen. Noch immer brachten sie es nicht über sich, daß schreckliche Wesen im Stich zu lassen, das sie irrtümlich für ihren Commander hielten. »Eagle Eins steuert den Asteroiden als Ziel an«, meldete Yasko mechanisch.
Helenas Angst verwandelte sich in Entsetzen, denn sie wußte instinktiv, was Koenigs Ebenbild nun tun würde. Sie stürzte sich auf ihn, klammerte sich an seinen Rücken, als er den Befehl gab, den Eagle herunterzuschießen. »John!« rief sie aus, doch er schüttelte sie mühelos ab und ließ dabei jene latente Gewalt spüren, die ihn an den Rand der Unkontrollierbarkeit brachte. »Sir!« stieß Carter hervor, dabei das Freundschaftsband, das ihn an dieses Wesen knüpfte, ignorierend. In diesem Augenblick handelte er nur, wie es der eingedrillte Gehorsam vorschrieb. »Laserwaffen aktivieren!« schrie heiser die Zweitausgabe. »Das ist ein Befehl!« Carter, auf dessen Gesicht der Schweiß trat, und dem man die einander widerstreitenden Spannungen ansah, wandte sich zu seiner Konsole um und drückte einen Knopf. »Waffenabteilung«, meldete sich eine tonlose, angenehme Stimme. Wie in Trance gab Carter den Befehl weiter, obwohl er wußte, daß vielleicht Maya und Verdeschi in dem Schiff saßen. »Laser aktivieren…« Unsichtbar und geräuschlos wurde die schwere Laserbatterie auf der Mondoberfläche in Stellung gebracht. Die tödlichgleichgültige Kohlendioxyd-Lichtkanone war schußbereit. Dabei konnte er das Zittern in seiner Stimme nicht unterdrücken. »Dann schieß den Eagle ab!« gellte die fremdartige Stimme. Die Zweitausgabe Koenigs spürte, wie in ihr eine neue Welle des Wohlbehagens aufstieg, und lächelte befriedigt.
IV
Der Lauf des riesigen Lasers schwenkte in stumpfer Unerbittlichkeit auf der Suche nach seinem Ziel langsam über den sternenbestückten Mondhimmel. Aber er feuerte nicht. Yasko las ihre Meßwerte ab und stellte fest, daß der Eagle planmäßig in eine Umlaufbahn um den Asteroiden eingeschwenkt war. Sie stieß einen dankbaren Seufzer aus, als ihr damit klarwurde, daß Carter schließlich doch seinem menschlichen Gewissen gefolgt war und seine im Militärischen verwurzelte Art des Denkens überwunden hatte. Die Tür der Kommandozentrale flog auf, und die Gestalt des wütenden Commanders stürzte herein. Er warf einen Blick auf den großen Bildschirm, auf dem man nun sah, wie der Eagle den Mini-Planeten umkreiste. Der Edelstein schien aufgedunsen und prangte in üppigem, ekligem Grünspan. »Carter! Ich gab Befehl, das Schiff abzuschießen!« Koenigs Double starrte den Piloten an. »Das nenne ich Subordination!« In Carter schien sich eine totale Explosion anzubahnen, es gelang ihm jedoch noch, sich zu beherrschen. Dennoch brauste er auf: »Commander… das kann ich nicht tun… es ist mir unmöglich…ich glaube, ich kenne die Insassen…« »Maya und Tony sind im Eagle«, schaltete sich Helena ein, die dem Doppelgänger Koenigs gefolgt war. »Ich habe Schußbefehl gegeben«, schrie der falsche Commander und schien dem Wahnsinn nahe. Auf seiner Stirn schwollen die Adern bedrohlich an, seine Augen glühten vor Zorn.
Aus den Mundwinkeln drang Speichel, die Nasenflügel blähten sich. Er schob Carter beiseite und machte sich eigenhändig an der Laser-Steuerung zu schaffen. Helenas Gedanken rasten. »Commander!« sagte sie laut und eindringlich. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte, wußte nur, daß sie reden mußte, um sein Eingreifen zu verzögern. »Diese Laser werden Ihren Energiestrahlen Kraft wegnehmen…« Die Worte kamen ganz spontan und taten ihre Wirkung. Die Hand des Doppelgängers blieb über dem ›Feuer‹-Knopf in der Schwebe. Ihre bedeutungsschweren Worte durchschnitten sein fieberndes Gehirn. Er zögerte und kniff die Augen zusammen. Helena fuhr fort: »Und damit gerät Ihr Zeitplan durcheinander… alles verzögert sich.« Sie machte eine Pause und beobachtete seine Reaktion. »Sie sagten – die Zeit zerrinne Ihnen zwischen den Fingern.« Die Hand wurde vom Knopf zurückgezogen und fiel schlaff herunter. Eine ganze Weile blieb er mit dem Rücken zu ihnen reglos stehen. Yasko und Carter wechselten Blicke. Ein fast unvorstellbarer Gedanke begann ihnen zu dämmern. Da ertönte ein hohes Rückkopplungsgeräusch und durchschnitt ihr Bewußtsein. Es stach durch die offenen Türen vom Gang herein und zerschnitt ihre Denkprozesse. Auf dem Bildschirm setzte der Eagle zur Landung an. Das Double Koenigs drehte sich zu ihnen um und setzte sie abermals in Erstaunen. Noch immer hing ihm Schaum an den Mundwinkeln, noch immer glänzten die Augen vor unterdrückter Energie, doch er lächelte. Das Lächeln vertiefte sich und wurde zu dem warmen Lachen des echten Koenig. Die Wut in den Augen verblaßte. »Ich schulde euch allen eine Rechtfertigung«, sagte er mit leiser, versöhnlicher Stimme. »Ich habe euch Informationen
vorenthalten. Jetzt sehe ich ein, daß es ein Fehler war. Dieser Asteroid entzieht uns nicht nur Energie, sondern…« Helena zuckte unter seinen Worten zusammen. Sie konnte seine Verstellungskünste nicht mehr ertragen. »Hört nicht auf ihn!« rief sie leidenschaftlich. »Das ist nicht John Koenig!« Der Doppelgänger geriet in einen Zwiespalt. Nur um den Preis gewaltsamen Losreißens von seiner inneren, organischen Struktur konnte er seine Ruhe bewahren. »Helena«, sagte er ruhig, »wer soll ich denn sein, wenn ich nicht John Koenig bin?« »Berührt ihn doch! Einer von euch soll ihn anfassen!« schrie sie heraus. »Er ist wie Eis!« Das Double sah die anderen lächelnd an. »Helena hat recht. Ich bin wie Eis«, sagte er. »Ich muß eingestehen, daß auf diesem Asteroiden etwas auf mich einwirkte…ich weiß nicht was, aber ich weiß, der einzige Weg, uns alle zu befreien, liegt darin, daß wir Alpha aus seinem Zugriff lösen – und mich.« Er drehte sich zu dem großen Bildschirm um, in dem Bewußtsein, einen Sympathiegewinn verzeichnen zu können. »Deswegen gab ich strikten Befehl, daß niemand die Mondbasis verlassen dürfte. Eher hätte ich sie abgeschossen, als sie dort landen lassen… um sie vor Gefahren zu bewahren, die größer sind, als die, denen ich begegnete. Hoffentlich ist es für ihre Rettung nicht zu spät.« Aber Helena ließ sich nicht beirren. Sie ließ ihren Blick über die Mitarbeiter wandern, die sich wieder von den Tricks des Fremden einfangen ließen. »Ihr müßt mir glauben!« erklärte sie mit aller Inbrunst. »Es ist nicht so, wie er behauptet!« Carter wich ihrem Blick aus. Er war nun der Meinung, man hätte ihn irrgeführt. Er war verlegen und aufgeregt. »Helena, bitte beruhige dich!« sagte der ›Commander‹ leise. Sein Lächeln kündete von mehr als nur vom Frieden. Es war ein Lächeln des Triumphes. »Zwinge mich nicht, meine
Autorität als Commander anzuwenden. Ich müßte dich in deiner Unterkunft festhalten… oder dich zwangsweise untersuchen lassen.« Helena holte tief Luft. Sie spürte, daß sie Gefahr lief, in den Augen ihrer Umgebung Sympathie und Glaubwürdigkeit einzubüßen… und zwar vor allem bei denen, an denen ihr am meisten lag. »Vielleicht«, sagte sie also möglichst ruhig. »Ich war in letzter Zeit übernervös. Wir alle stehen ja unter Druck.« Sein Lächeln verzerrte sich und erstarb. Sie drehte sich um und ging an ihre Konsole. Dabei war sie sich Carters beunruhigender Blicke bewußt. Der Doppelgänger des Commanders wandte sich an Yasko. »Verstärken Sie den Energiefluß zum Strahl. Wir müssen loskommen… uns befreien«, befahl er forsch. Wieder sank die Temperatur. Die Lichter erloschen, und die gelblichen Notlichter flackerten auf. Von irgendwoher aus der Mondbasis drang ein Sirenenton, der sich mit dem unausgesetzten hohen Schrillen des Herzens von Kalthon vermischte.
Längliche, dunkle Schatten gingen von der strahlenden, grünen Masse des sich aufblähenden Kristalls aus. Die Oberfläche flammte in Licht und Dunkel wie die Tiefen des Meeres. »Die ganze Oberfläche ist in Umwandlung begriffen«, sagte Maya beeindruckt, während sie und Verdeschi die Szenerie auf dem Schirm der Pilotenkanzel beobachteten. Hinter ihnen verdickten sich jene drei Strahlenstränge grün-gelblicher Energie, welche von Alpha aus die verschmelzende Masse des Asteroiden näherten. Weitere lebenswichtige Reserven der Mondbasis wurden von dem heimtückischen, nach Energie lechzenden Parasiten verschlungen.
»Das sag ruhig noch mal«, bemerkte Verdeschi grimmig von seinen Instrumenten her. »Die Landung wird höllisch. Halte dich fest.« Die Hauptantriebsraketen des Schiffes traten donnernd in Aktion. Ihre Feuerstöße strahlten, bis das Schiff seine Umlaufbahn verlassen konnte. Als sodann der Abwärtsflug begann, setzten die mächtigen Bremsraketen explodierend ein. Langsam sank der Eagle hinunter zur zerklüfteten Oberfläche und geriet dabei unter den Einfluß starker Magnetfelder, die an seinem Rumpf zerrten und ihn wie ein Stück Papier hin und her schleuderten. Verdeschi glich dies mit zusätzlichen Stabilisatoren aus, die das Niedergehen gleichmäßiger gestalteten und schließlich setzte das Schiff auf vier riesigen Abstützkissen auf. Die Raketen setzten aus, und die zwei ›Meuterer‹ schnallten sich los. Sie liefen in das Passagierabteil und betätigten, nachdem sie die atmosphärische Zusammensetzung der Außenluft überprüft hatten, den Mechanismus der Ausstiegstür. Sie traten hinaus in eine Landschaft, die eine gewaltige Veränderung durchgemacht hatte. Die grünen Strahlen waren von blendender Intensität. Die biologischen Kristallflächen der Felsen und Berge brachen vor ihren Augen auf und schwollen an wie die bewegte Oberfläche eines enormen, glänzenden, wurmbefallenen Käselaibes. In der Luft hing beißender Geruch – das Abfallprodukt der Umwandlung, die sich vor ihnen abspielte. Maya schüttelte sich. Verdeschi war nicht aus der Ruhe zu bringen. »Die Energiereflektoren bringen den Asteroiden zum Kochen…« Ihren innersten Instinkten zuwiderhandelnd setzten sie sich in Bewegung und stiegen die Stufen hinunter zur schwammartigen, sich krümmenden Oberfläche.
Sie waren in dem Koordinationsschnittpunkt gelandet, den Koenig und Carter bei ihrem Flug eingestellt hatten. Zu ihrer Linken sahen sie etwas, das der Höhleneingang sein mußte, den sie bereits auf dem Bildschirm der Kommandozentrale gesehen hatten. Er war schwarz und klebrig. Die verformbare Masse verwandelten Materials, das den Eingang umgab, schien die Öffnung auf ewig begraben zu wollen. Nach Atem ringend, stolperten sie darauf zu. Im Inneren war es feuchtwarm. In der Luft lag Verwesungsgeruch, der sie zu überwältigen drohte, doch sie kämpften sich unbeirrt weiter durch die grüne, dämmrige Düsternis. Schließlich hatten sie die Spiegelhalle erreicht, die noch immer hell erleuchtet und mit ihren trügerischen Effekten höchst verwirrend war. Sie mußten ihre Augen gegen das intensive grüne Licht abschirmen, als sie Umschau hielten. »Tony!« stieß Maya atemlos hervor, als sie das Spiegelbild ihres Commanders erblickten, das im Glas eines der Spiegel reglos erstarrt war. Verdeschi starrte fassungslos dieses Bild an. Sie hatten nicht gewußt, was sie hier vorfinden würden und waren eigentlich auf alles gefaßt, aber dieser Hinweis auf… »Dieser Koenig auf Alpha ist Johns Abbild!« rief Maya überrascht aus. »Ich muß ihn hier rausbekommen!« knurrte Verdeschi. Er zog seinen Laser und stellte eine geringe Energiestufe ein. Er feuerte auf das Glas. Es zersprang und fiel klirrend in einem schimmernden Splitterhaufen zu Boden. Die erstarrte Gestalt dahinter erwachte urplötzlich zum Leben, und Koenig trat unbeschwert heraus. »Tony… Maya«, er streckte ihnen erleichtert die Hände entgegen, und sie umarmtem sich hastig. »Wir sind wenigstens echt, John«, sagte Verdeschi mit einem Grinsen.
»Aber dein anderes Ich auf Alpha ist nicht echt«, sagte Maya. »Ich weiß. Ich habe ihn gesehen… mir braucht ihr die Situation auf Alpha nicht zu erklären«, meinte Koenig. »Ich führte hier ein Gespräch mit einer Art unkörperlichen Stimme – mit Kalthon. Jeden Augenblick explodiert hier um uns herum eine ganze neue Zivilisation zum Leben.« Verdeschi sagte zu Maya: »Du hattest recht…« »Und wie entzieht euch der Fremde die Energie?« fragte Koenig. »Reflektoren… die unsere Energie abstrahlen…«, setzte Maya an, die zutiefst erleichtert war, zu sehen und zu hören, daß der vertrauenerweckende Koenig wieder das Kommando übernahm. »… und sie dem Samen zuführen – dem Herzen von Kalthon«, beendete Koenig an ihrer Stelle den Satz. »Ich habe dieses Herz gesehen. Es ähnelt einem Embryo und befindet sich hier irgendwo.« Seine Augen tasteten suchend die Wände ab. »Wenn wir es finden, könnten wir es vernichten, John…« sagte Maya. Verdeschi schnippte mit den Fingern. »Das Geräusch! Der Hochfrequenzton! Maya konnte eine Probe des Kristalls mittels Sonar zerspalten.« »Ich habe meine Funkanlage auf die exakte Frequenz eingestellt«, teilte Maya mit, »als ich in meiner Unterkunft nichts weiter zu tun hatte…« Sie hielt ihnen lächelnd das Gerät entgegen. Koenigs Miene erhellte sich. Sein Entschluß war rasch gefaßt. »Ich fliege mit eurem Eagle zurück«, sagte er. »Ich schicke euch ein anderes Schiff. Inzwischen sucht ihr das Herz von Kalthon und zerpustet es in tausend Stücke!« Sie nickten unbehaglich. Verdeschi rang sich ein verlegenes Lächeln ab. Keiner der beiden hatte erwartet, zurückgelassen
zu werden, doch sie wußten, daß ihnen keine andere Wahl blieb. »Viel Glück«, wünschte ihnen Koenig. Dann drehte er sich um und lief den Gang entlang zum Höhleneingang. Sie sahen ihm nach. »Nun, das nenne ich ausgleichende Gerechtigkeit…« setzte Verdeschi an. Maya brachte ihn mit einem Rippenstoß zum Schweigen. Sie hielt ihr Funkgerät lächelnd hoch. »Stell deines ein«, sagte sie. »Dann können wir mit dem Schwanengesang beginnen. Warte ab, wir werden von hier sehr bald wegkommen.« Hastig stellte er sein Gerät auf ihre Frequenz ein. Die normalerweise schwache Tonstärke der Geräte, die auf wechselnden und festgelegten Frequenzen zum Türöffnen auf der Mondbasis eingestellt waren, wurde verstärkt, bis sie kristallsprengende Wirkung hatte. Als sie damit fertig waren, feuerten sie probeweise auf die sich erweichenden Wände. Befriedigt sahen sie, wie die grünen Kristalle Risse bekamen und zersprangen. Sie gingen sodann die Wände entlang und richteten ihre Geräte wahllos auf gewisse Oberflächen. Und plötzlich fing das Herz von Kalthon zu schreien an. Der stechende, hohe Schrei setzte unvermittelt ein. Der hohe Ton lähmte sie mit seiner Intensität, und sie wurden von einer blendendweißen Hülle umfangen. Sie spürten, wie ihre Leiber erstarrten und bewegungslos wurden. Als das helle, sie umgebende Licht erstarb, merkten sie, daß sie gleich Koenig eingesargt worden waren. Ihre starren Augen sahen entsetzt und hilflos aus dem Innern eines großen, durchsichtigen Glasblockes.
V
»Energiezufluß auf Maximalhöhe plus fünf erhöhen«, forderte der Doppelgänger Koenigs ungeduldig. Sein Triumphgefühl wogte auf und ab, denn noch war ihm der Erfolg nicht sicher. »Commander!« stieß Carter hervor. »Unsere Temperatur hier sinkt rapide… die Hälfte unserer Instrumente würde ausfallen!« Der falsche Commander wandte sich an Yasko und sah sie mit einem harten, haßerfüllten Blick an. »Tun Sie es!« Die Asiatin schauderte. Mit gefühllosen Fingern drückte sie Knöpfe und hantierte an Hebeln. Die Notbeleuchtung flackerte, wurde immer schwächer. Frostkristalle hingen in der Luft, ließen sich auf Wänden und Instrumenten nieder, als die geringe Luftfeuchtigkeit sich in Eis verwandelte. Die Alphaner saßen zitternd an ihren Konsolen, wie man es ihnen befohlen hatte. Man hatte sie angewiesen, kein Wort zu äußern und abzuwarten, bis sie angesprochen wurden, doch Helena konnte nicht länger an sich halten. »Die Lebenssystemeinheiten elf und zwölf haben sich komplett ausgeschaltet!« sagte sie schneidend. Koenigs Double hatte die Worte gehört, hielt aber seinen Blick unausgesetzt, wie in Trance, auf den großen Bildschirm gerichtet. Das Bild war jetzt in zwei Hälften geteilt. Die eine zeigte die drei schrecklichen Lichtsäulen, die sich ins All bohrten, die andere zeigte den unheimlichen, grünen Asteroiden, der sich im Bereich der Lichtsäulen langsam in seiner Umlaufbahn bewegte. »Bald sind wir frei«, murmelte er verzückt.
»… das Wasser der Wiederaufbereitungsanlage ist gefroren… die hydroponischen Anlagen sind eingefroren… die Anlage für die Eiweißproduktion arbeitet nicht mehr.« Yasko äußerte diese Hiobsbotschaft schluchzend von ihrer Konsole her. Noch immer war sie nicht imstande, sich aus dem schrecklichen Bann des Fremden zu befreien. »Energiestufe auf dem jetzigen Stand halten«, unterbrach das Double ihre ausführlichen, alarmierenden Meldungen. Carter raffte sich auf. »John, die Sauerstoffaggregate haben ausgesetzt – es sind bereits die Notvorräte eingesetzt. Wir brauchen mehr Energie.« »Wir brauchen alle vorhandene Energie für den Strahl«, zischte der falsche Commander ihn an. »Alpha stirbt!« brach es aus Helena heraus. Sie stürmte zum Commander. Der Doppelgänger drehte sich aufgebracht zu ihr um. »Ich wünsche nicht, daß meine Anordnungen in Frage gestellt werden! Gehen Sie zurück auf Ihren Posten…« Er starrte Helena und Carter eisig an. »Alle beide – zurück auf die Posten!« Wieder stieg in ihm Angstgefühl hoch und die Erkenntnis, einen Fehler begangen zu haben. Es war ein irrationaler, behinderter und hirnloser Schrecken, den er nicht erklären konnte. Es drohte eine Katastrophe und doch begriff er nicht warum. Irgend etwas war im Anmarsch… Er wandte sich mit verzweifeltem Ausdruck von ihnen ab. »Energiefluß auf Maximalstärke plus fünfzehn erhöhen!« Carter unternahm erneut einen Vorstoß. »John, das können wir nicht! Wir zerstören Alpha…« »Carter, ich gab einen Befehl…« ging der ›Commander‹ drohend auf ihn los. »Dieser Befehl wird widerrufen!«
Die Türen flogen auf, und aus dem Hintergrund war eine laute, vertraute Stimme zu hören. Die amorphe, ungezielte Energie der Negativität im Innern des Energie-Räubers war bis zum Zerreißen angespannt. Wie von einem Messer gestochen, fuhr er herum. Double und Original wurden in einer starren, visuellen Umarmung aneinandergefesselt, während die Alphaner nach Luft schnappten und vor Staunen und Schrecken schrien. Beide verspürten sofort die Gefährlichkeit der Lage, da es nicht leicht sein würde zu beweisen, wer nun wer war. »Du stehst an meinem Platz, Fremder«, rief der echte Koenig in herausforderndem Ton. Das Gesicht des Falschen verzog sich zur höhnischen Maske der Überlegenheit. Er richtete ruhig und überzeugend das Wort an die Alphaner: »Das hier ist das Abbild eines Geschöpfes, das vom Asteroiden erzeugt wurde. Hört nicht auf ihn. Vernichtet ihn.« Carter und Yasko sahen einander bestürzt an. Aber Helena starrte nachdenklich die zwei Männer an. Sie wußte, daß nun der Endkampf zwischen den beiden ausgefochten wurde. »Vernichtet ihn!« wiederholte die Zweitausgabe Koenigs haßerfüllt. Der echte Koenig trat einen Schritt näher. »Einer von uns muß echt sein – der andere ein Trugbild«, erklärte er den verblüfften und erstarrten Alphanern. Die Zweitausgabe wandte sich dramatisch an ihr Publikum. »Ich war selbst auf den Asteroiden – ich weiß, was dessen Kraft mit uns vorhat. Die Zeit wird ihm langsam aber sicher knapp… es ist seine letzte Chance.« »Das ist die Wahrheit«, gab ihm der echte Koenig erstaunlicherweise recht. »Wenn er nicht den letzten Rest unserer Energie bekommen kann – ist er dem Tod geweiht.«
Die Zeitbombe im Innern des Fremden tickte ihrer Explosion entgegen. »Aus diesem Grunde taucht jetzt mein Abbild auf – es soll uns so lange in Verwirrung stürzen, bis die Energieübertragung vollzogen ist.« Die Augen der Alphaner wanderten von einer Gestalt zur anderen. Das schreckliche Drama hatte sie voll und ganz gepackt. »Er ist das Abbild… und er soll’s auch an sich selbst genau erfahren«, hakte der echte Koenig vieldeutig ein, stürzte überraschend zu seiner Konsole und drückte einen Knopf. Das Heulen eines Hochfrequenztons überflutete den Raum. Es steigerte sich immer mehr, und die Alphaner schrien gepeinigt auf und hielten sich die Ohren zu. Koenigs Zweitausgabe war das einzige Wesen in der Zentrale, das sich ungerührt zeigte. Als der Doppelgänger merkte, daß er vom echten Koenig hereingelegt worden war, warf er sich mit einem Wutschrei auf ihn. Die ungeheure Kraft, die sich in seinem Innern so lange gespeichert hatte, explodierte jetzt, und er ließ jede Rücksicht fallen. »Kalthon lebt!« tönte die singende Stimme seines Schöpfers von seinen Lippen. »Kalthon stirbt!« widersprach Koenig, dessen Züge sich vor Schmerz verzerrten, da sich der Ton in unerträgliche Höhen gesteigert hatte. Als der Ton aber schließlich die zum Zersprengen von Kristall erforderliche Frequenz erreicht hatte, sackte der zum Sprung ansetzende Körper des Fremden zusammen und kam ganz plötzlich zum Stillstand. Er verwandelte sich jetzt in die starre, groteske Kristallstatue zurück, die er gewesen war. Der Ton wurde noch mehr gesteigert, und vor den Augen der noch schmerzgepeinigten Anwesenden – zerbarst die Statue. Die kalten, harten Bruchstücke Kristallgesteins fielen in einem schimmernden, nutzlosen Haufen auf den Boden.
Koenig drückte unter Aufbietung aller ihm noch verbliebenen Kräfte wieder einen Knopf, und der todbringende Ton verstummte. Erschüttert wankte er zu Yaskos Konsole. Nach einigen tastenden Versuchen fand er jenen Schalter, mit dem er die wichtigste Relais-Station ausschaltete, die Alphas lebenswichtige Kräfte an die Energiereflektoren leitete. »Lebenszentrum – Achtung!« rief er eindringlich in die Sprechanlage. »Hier spricht der Commander. Energieübertragung einstellen…« In der Kommandozentrale erholte man sich langsam von der Wirkung der sonischen Strahlung. Alle kämpften sich zurück an ihre Plätze, und mit ihrer Hilfe konnte er darangehen, die eingehende Wiederherstellungsoperation auf Alpha in Gang zu setzen.
Die drei Energiestränge gerieten ins Flackern und wurden schwächer. Das von ihrer mächtigen Mikrowellenübertragung herrührende Plasma wurde dünner, die Strahlen büßten ihre grüne Farbe ein. Bald waren sie völlig verschwunden, und Zehntausende von Meilen weiter draußen im All verblaßten der Asteroid Kalthon und seine kondensierten Menschen und Kulturen gleichermaßen. In einem Zustand der Halbvollendung geriet er ins Wanken, und die von seinem programmierten Herzen zur Wiederauferstehung gestohlene Energie wandte sich nun gegen ihn und vernichtete ihn. Stück für Stück zerfiel die bio-kristalline Struktur, die den komplexen genetischen Code eines ganzen Menschengeschlechtes enthielt. Eine Kettenreaktion von Explosionen setzte ein, aber gleichzeitig wurde von seiner Oberfläche eine verzweifelte SOS-Nachricht ausgestrahlt. Koenigs Funkgerät piepste. »Verdeschi an Mondbasis Alpha. Verdeschi an…«
Auf dem winzigen Bildschirm wurde das erschrockene Gesicht des Sicherheitschefs sichtbar. Koenig drückte den Übertragungsknopf. »Alles in Ordnung, Tony, wir haben euch nicht vergessen. Alan ist schon unterwegs.« Der Bildschirm erlosch. Wenig später erschien wieder das Bild, begleitet vom Geräusch entfernter Explosionen und berstender Felsen. Verdeschi sagte: »Nach deinem Weggehen, John, hat uns das ›Herz‹ auf Eis gelegen. Wir hatten schon jede Hoffnung auf ein Wiedersehen aufgegeben. Doch die Unterbrechung der Energiezufuhr hat uns gerettet. Der Eisblock zerfiel.« Das Bild wechselte. Auf dem Schirm sah man ein Durcheinander von weißen Linien und Rissen. Koenig glaubte in dem Wirrwarr weitere Explosionen zu hören. Dann erklang Verdeschis unkörperliche Stimme, jetzt schon viel drängender. »Es ist vorbei, alles vorbei. Der ganze Asteroid geht in die Luft… heilige Muttergottes, Maya, ich, wir beide – holt uns…« Seine flehentliche Bitte wurde von Mayas freudigem Ausruf übertönt: »Tony, nicht nötig… sieh nur! Alles bestens, Alpha, wir haben Sichtkontakt mit Eagle Drei!« »Dank dem Weltraum!« grinste Koenig. »Bis später!« Er schaltete ab. Helena an seiner Seite lächelte glücklich. Sie nahm seinen Arm – den echten Arm des echten Koenig –, und inmitten des Chaos, das die Restaurierungsarbeiten mit sich brachten, tauschten sie einen echten, verstohlenen Kuß. »Hoffentlich haben wir Kalthon zum letztenmal gesehen«, flüsterte sie selig. »Ich konnte deine schreckliche Kälte nicht ertragen!«
VI
Jetzt begannen die schwierigen Reparaturarbeiten an den Computern und den anderen Instrumenten, von denen das Überleben der Mondbasis abhing. Jeder einzelne Sektor war betroffen. Am bedrohlichsten war die Tatsache, daß die Vorräte an energieerzeugendem Tiranium beinahe aufgebraucht waren. Es war dringend nötig, neue Vorräte zu erschließen. Dieses kostbare radioaktive Element, das die Grundlage des lebenserhaltenden Kernes bildete, kam gewöhnlich in geringen Mengen in bestimmten Felsformationen vor. Es mußte entweder auf dem Mond abgebaut werden oder auf anderen Planetenkörpern, auf welche die Alphaner während ihrer überstürzten und hilflosen Flucht durch das All durch glückliche Zufälle stießen. Das Element hatte an Bedeutung gewonnen, seitdem der Mond aus seiner Umlaufbahn um die Erde gerissen worden war und seitdem die alten thermonuklearen Reaktoren, von denen sie zuvor abhängig gewesen waren, kein Plutonium mehr zur Verfügung hatten. Tiranium war vieltausendmal stärker als Plutonium. Wenige Unzen genügten, um ausreichend Energie für Betrieb und Verteidigung von Alpha zu erzeugen – 100 bis 500 Megawatt pro Tag in ihrer Zeitspanne von einem bis zu drei Monaten. Die auf dem Mond zugänglichen Tiraniumlager waren fast erschöpft, doch hatte man wieder mit Probeschürfungen begonnen – tief in den unbenutzten unteren Schichten der Mondbasis – während im Kommandozentrum metallaufspürende Scanner das All nach aussichtsreichen Planetensystemen abtasteten.
Am härtesten betroffen nach dem Lebenserhaltungs-Zentrum und den vielen Instrumenten waren die Nahrungs- und Luftvorräte der Mondbasis. Pflanzen und Gärstoffe, die man in nahrhafte, schmackhafte Speisen umwandelte, die es durchaus mit den auf der Erde genossenen Speisen aufnehmen konnten, bildeten die Hauptnahrung der Alphaner. Die ersten Weltraumerforscher hatten nämlich entdeckt, daß Selbstversorgerkolonien, wie die Mondbasis und Teilnehmer an längerfristigen Weltraummissionen, mit vegetarischer Diät am besten dran waren, da hierbei die Nährstoffe am besten verwertet wurden und sie die vernünftigste, sauberste und praktischste Ernährungsweise darstellte. Auf althergebrachte Weise versorgte der natürliche Wachstumszyklus der Pflanzen die Basis mit Sauerstoff, und die leicht zu kultivierenden eßbaren Blätter und Früchte lieferten reichliche Nahrung. Sie rochen nicht nur gut und schmeckten gut, sie sahen zudem noch gut aus – und verliehen einer ansonsten klinischen und mechanischen Welt einen Hauch von Grün. Shermeen Goodwood, die hübsche achtzehnjährige Botanikerin, die in der hydroponischen Anlage arbeitete, sorgte für Schönheit anderer Art. Sie summte eine monotone kleine Weise vor sich hin, während sie die speziellen Nährlösungen mixte, die von den Pflanzen benötigt wurden, und genau abgemessene Mengen in das Wassermedium goß. Die Anlage glich einem Gewächshaus und wies Pflanzen jeglicher Gattung und Größe auf, die hier aus Beeten und Pflanzenschalen gezogen wurden. Zahlreiche Pflanzen benötigten besondere Bedingungen zu ihrem Gedeihen. Daher hatte man die Anlage in einsehbare Abteile unterteilt, in denen Temperatur oder Feuchtigkeit entsprechend gesteuert wurde. In einem Abteil befanden sich riesige Tanks mit Gärstoffkolonien. In einem anderen lagerte Tony Verdeschis Hopfen. Shermeen wurde es ganz warm bei dem Gedanken an
den stattlichen Sicherheitschef, für den sie eine echte, hilflose Schwäche hegte. Verdeschi folgte beim Brauen seines eigenen Bieres eigenen Theorien. Dieses Bier stellte auf der Mondbasis eine willkommene, doch zuweilen etwas zweifelhafte Annehmlichkeit dar. Shermeen war die erste Person, an die er sich gewandt hatte, als er Hilfe bei der Kultivierung eines der Grundstoffe brauchte. Unter normalen Bedingungen waren ihre Pflanzen gesund. Sie gediehen und lieferten ausreichend Nahrung. Doch während der Energiekrise hatte es ihnen an lebenswichtiger Wärme gefehlt. Nun befanden sie sich in einem beklagenswerten Zustand, viele waren sogar eingegangen. Der Hopfen schien zu den robusteren Arten zu gehören, es sah aus, als ob er es überstehen würde. Macht nichts, dachte sie unbekümmert, denn sie war ein Mädchen, das nicht zu Niedergeschlagenheit neigte – es sei denn, es handelte sich um die Liebe. Die Mondbasis konnte immerhin sehr gut ein paar Monaten von Bier leben, während sie aus den Samenvorräten neue Pflanzen zog. Die Aussicht, noch monatelang von Tony Verdeschis Bier zehren zu können, begeisterte sie so sehr, daß sie gar nicht hörte, wie Eddie, ihr Freund, eintrat. Er wollte nachsehen, was sie trieb. Seine Miene verfinsterte sich, als er sah, daß sie die Hopfenanlage betreute. »Dir ist der Hopfen wohl zu Kopf gestiegen!« sagte er eifersüchtig. »Seitdem du dieses Kraut für Verdeschi angepflanzt hast und er sein Gift brauen kann, hast du meine Existenz vergessen!« »Sein Bier ist kein Gift, und du bist gelb vor Eifersucht!« gab sie schnippisch zurück. »Du hast verdammt recht!« Er war eingeschnappt, wütend und enttäuscht zugleich. Nun kam Verdeschi höchstpersönlich herein. Er trug einen Zinnkrug und ein großes Becherglas, gefüllt mit einer dicklichen braunen Flüssigkeit. Als er Shermeen entdeckte,
erhellte sich seine Miene. »Ach, Shermeen!« rief er. »Der Augenblick der Wahrheit ist gekommen!« Eddie hielt sich im Hintergrund und beobachtete Shermeen, die in Gegenwart des Sicherheitschefs hold errötete. »Großartig!« begeisterte sich die Botanikerin. Sie setzte das Meßglas ab, das sie in der Hand gehalten hatte, und begrüßte ihn. »Sind wir fertig?« Er nickte. »Jetzt wird es Zeit, daß wir die anderen unser Edelprodukt kosten lassen!« Sie gingen eilig hinaus. Das Mädchen lächelte Eddie freundlich zu, während Verdeschi die Liebesgefühle, die er erweckt hatte, gar nicht wahrgenommen hatte. In die Kommandozentrale war der Alltag eingekehrt. Die ruhige, aber geschäftige Szene, die sich ihnen bot, war normal für einen Routine-Tag in der Zentrale. Verdeschi, gefolgt von einer angeregten Shermeen, hielt das Becherglas in die Höhe. »Also, meine Lieben – höchste Zeit für einen exquisiten Gaumenkitzel!« Er setzte den Krug auf Mayas Konsole ab und begann sodann das Bier auszuschenken. Helena, Koenig und Bill Fraser sahen mit geheucheltem Erschrecken von ihrer Arbeit auf. Sie konnten ihre Belustigung nicht verbergen. Obgleich nur wenige auf Alpha Alkohol ablehnten, hatten sich Verdeschis Brauversuche schon des öfteren als wenig gaumenfreundlich erwiesen. Der Italiener schien das alles nicht zu bemerken, anders als Shermeen, die innerlich empört war. Verdeschi hielt den schäumenden Behälter in die Höhe. »Verdeschis-Bräu Nr. 22 – zum ersten Mal mit echtem, auf Alpha gezüchtetem Hopfen!« Ermachte vor Shermeen eine komische Verbeugung. »Gezogen von unserer hydroponischen Botanikerin, die es bald zu Berühmtheit bringen wird – von Miß Goodwood! Shermeen – würden Sie mir die Ehre erweisen?«
Mit unverhohlenem Stolz nahm Shermeen das angebotene Gefäß entgegen. Sie sah sich strahlend in der Zentrale um. Ihr Blick blieb an Maya hängen, der Frau, die sie als Rivalin um Verdeschis Gunst ansah. Mit übertriebener Freundlichkeit ging sie auf Maya zu und bot ihr von dem Gebräu an. Maya lehnte mit einem Lächeln ab. »Danke, aber ich möchte eine schöne Freundschaft nicht aufs Spiel setzen…«, entschuldigte sie sich so laut, daß Verdeschi es hören konnte. Verdeschis Miene verfinsterte sich. Seine gute Laune hatte sich schnell verflüchtigt. Die geplante Überraschung war danebengegangen. Unbeirrt wandte Shermeen sich an Helena – stieß aber auch hier auf freundliche Ablehnung. »Als Ärztin… nein, lieber nicht…« sagte Helena, die niemanden kränken wollte, freundlich. Nun war auch Shermeen sichtlich verstimmt. Sie versuchte es bei Koenig, der lächelnd äußerte: »Als Commander… noch dazu im Dienst…« Shermeen wandte sich an Fraser. »Und Mr. Fraser befolgt leider eine flüssigkeitsarme Diät…«, fuhr Koenig fort. Ohne das dankbare Lächeln Frasers, das er Koenig zuwarf, zu beachten, wandte Shermeen sich an Verdeschi. »Tony, Sie sind das einzige Versuchskaninchen!« Verdeschi funkelte seine Kollegen wütend an. Wortlos nahm er das Gefäß und schluckte, ohne erst zu kosten, eine Riesenportion hinunter. Das Gebräu schmeckte widerlich. Er spuckte und hustete, als sich seine Geschmacksnerven zur Wehr setzten. Um ihn herum lautes Gelächter. »Stimmt was nicht?« fragte Maya belustigt. Verdeschi stellte den Behälter hin. »Das würde euch so passen, stimmt’s?« »Vielleicht ist uns bei der Fermentierung ein Irrtum unterlaufen…«, sagte Shermeen hastig. Sie schien außer sich.
»Ja, irgendein Blödsinn ist uns da passiert«, gab Verdeschi zu und wischte sich den schlechten Geschmack mit den Handrücken vom Mund. »Wir haben noch eine Hopfenkultur«, äußerte Shermeen aufmunternd. Sie wollte die Situation retten. »Wir könnten noch einen Versuch wagen.« »Zwecklos«, sagte Verdeschi schroff. Er drehte sich um und ging zu seiner Konsole, ohne die Verzweiflung der hübschen Shermeen weiter zu beachten. »Ich habe jetzt ohnehin keine Zeit mehr für diese Dinge.« »Keine Zeit…?« fragte sie unter Tränen. »Sie glauben also, es sei meine Schuld?« Nun konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Schluchzend lief sie aus der Zentrale. Maya und Helena tauschten mißbilligende Blicke, die jedoch nicht der jungen Botanikerin galten. »Also, was habt ihr an mir auszusetzen?« fragte Verdeschi ungehalten. »Ihr habt ohnehin nicht davon gekostet! Außerdem gab ich nicht ihr die Schuld!« »Dir ist wohl nicht klar, wie sich das anhörte«, sagte Helena. »Shermeen fühlt sich ungerecht behandelt. Dabei ist sie ein sehr empfindsames Mädchen… sehr leicht zu beeindrucken.« »Und außerdem hat sie für dich eine echte Teenagerschwärmerei entwickelt, mein Herr«, erinnerte Maya ihn. »Für mich? Und was kann ich dafür? Nur weil sie für mein Bier den Hopfen anpflanzt? Ihr seid wohl alle übergeschnappt…« Er wandte sich an Helena. »Du sagst selbst, daß sie sehr leicht zu beeindrucken ist. Aber sie wird es verschmerzen…« »Na denn – wir alle werden es verschmerzen. Jetzt wieder zurück an die Arbeit«, unterbrach Koenig ihr Geplänkel. »Während du draußen warst, Tony, konnte Maya etwas aufspüren, das wie ein Planet aussieht. Im Moment ist es noch
zu weit entfernt, als daß unsere Sensoren sichere Werte angeben könnten – aber falls es ein Planet ist, könnte er Tiraniumvorkommen haben. Maya, sieh zu, daß du ihn auf den großen Bildschirm bringst, ja?«
In der Zurückgezogenheit ihrer Unterkunft warf Shermeen sich aufs Bett und weinte sich über ihre Demütigung aus. Zunächst hatte alles so günstig für sie ausgesehen – und im nächsten Moment hatte sie, wie gewöhnlich, durch ihr eigenes Ungeschick alles zerstört. Sie beherrschte die gesellschaftlichen Spielregeln noch immer nicht und machte sich bitterste Vorwürfe, weil sie vor Verdeschi ihren Gefühlen freien Lauf gelassen hatte. Sie verwünschte Maya ihrer weiblichen Reife wegen und Helena und Koenig um ihrer Vernunft willen. Bill Fraser verzieh sie, weil man ihm ja keine Chance gelassen hatte, sich selbst zu äußern… Ein kaltes, klammes Gefühl bemächtigte sich ihrer. Sie blieb eine Weile reglos liegen und fragte sich, ob nur die eben erlebte Szene daran schuld wäre. Ganz plötzlich erstarrte sie. »Nein… nein… bitte nicht…« bat sie, als es ihr einfiel. »Bitte, komm nicht wieder…« Die Temperatur in dem kleinen zellenartigen Raum war empfindlich gesunken. Ein dunkler, unheimlicher Schatten schien eingedrungen zu sein. Sie schüttelte sich und zitterte und wünschte verzweifelt, sie wäre vorsorglich ins Bett gekrochen, wo sie unter der Decke Zuflucht finden konnte. Doch die Leere des Zimmers hielt sie magnetisch fest. Sie wußte, daß sie sich schließlich umdrehen und hinsehen würde. Shermeen hob das tränenüberströmte Antlitz vom Kissen und warf einen ängstlichen Blick in die Ecke.
Ja, das Gesicht war wieder da. Es war wiedergekommen, um sie zu quälen. Es hing in den Schatten, länglich, dünn und fahlso schwebte es im Raum. Das todbringende Antlitz eines alterslosen Mannes.
VII
In der samtenen Dunkelheit des Alls hing das leuchtende Rund eines Planeten. Nach irdischen Maßstäben war es ein kleiner Planet, und der Mond war noch weit davon entfernt. »Das also hockte in unserer Flugbahn«, sagte Koenig. Er sah abschätzend zum großen Bildschirm hin. »Vergrößern!« Der Planet wurde so weit vergrößert, daß man eine ringförmige Wolken- oder Gasschicht ausmachen konnte. »Das sieht mir nach einer Atmosphäre aus. Maya, versorg uns mit näheren Einzelheiten.« Maya drückte ein paar Knöpfe und hatte darauf die Lagebeschreibung des Planeten zur Hand. »Konstellation – Pintarus; Stern-neunzehn Pintarus; Größe – minus siebenundzwanzig… Planet – ein noch nicht erfaßter Satellit; Entfernung vom Stern – 89 Millionen Meilen; Atmosphäre verträglich…keine Anzeichen schädlicher Bedingungen; Temperatur konstant bei 78 Grad Fahrenheit… Anzeichen üppiger Vegetation…« Sie zog die Brauen hoch. »Hypothese?« fragte Koenig routinemäßig. »Geeignet für menschliche Besiedlung… keine Lebensform vorhanden.« Koenig nickt. Der Bericht war befriedigend. »Klingt gut und sieht gut aus. Dieser Planet scheint mir eine neue Erde und zur Besiedlung geeignet.« Zu Bill Fraser gewandt sagte er: »Bill, stell einen geeigneten Landeplatz fest, am besten in der Nähe des Vegetationsgebietes.« Fraser nickte und führte Berechnungen an seiner Konsole durch. Die Vorstellung, eines Tages wieder zur Erde zurückkehren zu können, hatte sich als Phantasie erwiesen.
Seit jenem Schicksalstag, als der auf der Mondoberfläche gelagerte radioaktive Abfall explodierte, entfernten sie sich mit jeder Sekunde weiter von ihrem Heimatplaneten. Die Reichweite ihres schnellsten Eagle-Schiffes war um viele Hunderte Lichtjahre zu gering. Tatsächlich wußte niemand genau, wie weit sie von der Erde entfernt waren, denn mehrere aufeinanderfolgende Raumverschiebungen, in die sie geraten waren, hatten sie in verschiedene Zeitdimensionen katapultiert. Nur ein Wunder – nämlich eine zweite, ziellose Fahrt durch Raum und Zeit – konnte sie zurückführen. Man hatte daher die Suche schon längst auf einen erdähnlichen Planeten verlegt und nicht auf die Erde beschränkt. Sollte jemals ein solcher Planet ihre Bahn kreuzen, würden sie nur zu gern ihre Mondheimat verlassen und sich auf diesem niederlassen. Bevor sie die Sache weiterverfolgen konnten, erschien Helenas leicht beunruhigendes Gesicht auf Koenigs Monitor. Ihre Miene bildete einen deutlichen Gegensatz zur hoffnungsvollen, optimistischen Stimmung in der Kommandozentrale. »John, ich war eben bei Shermeen.« »Was ist mit ihr?« fragte Koenig besorgt. »Ach wahrscheinlich fehlt ihr gar nichts. Aber sie war aufgeregt… behauptete, sie hätte schlecht geträumt… sie hätte ein Gesicht gesehen, das sie aus der Dunkelheit anstarrte.« Maya hatte alles mitangehört und sagte zu Tony: »Siehst du, was du verschuldet hast. Du hättest nach ihr sehen sollen, als sie weinend hinauslief.« Verdeschi hob die Arme. »Und warum immer ich? Alle sagten doch, daß das Kind leicht zu beeindrucken sei.« »Konntest du sie beruhigen?« fragte Koenig Helena. »Nein. Sie wollte unbedingt zurück in ihre Abteilung und ich ließ sie gehen. Ich dachte, es würde ihr helfen, den Traum zu verdrängen. Sag den anderen, sie sollten vor ihr das Thema Traum vermeiden. Sie ist sehr empfindlich.«
Koenig nickte. Er sah sich Bestätigung suchend um. »Alle haben kapiert.« Nachdenklich schaltete er die Verbindung mit Helena ab. Seine Aufmerksamkeit galt wieder den Landungsund Erkundungsvorhaben. »Tony, stell eine Liste der Leute zusammen, die wir bei der Landung brauchen.« »John, ich schlage vor, daß wir einen Botaniker mitnehmen. Bei dieser üppigen Vegetation wäre es sicher angebracht«, riet Maya. Hastig fügte sie hinzu: »Aber Shermeen würde ich davon ausnehmen – das wäre für sie im Augenblick vielleicht zuviel. Du weißt ja, was Helena sagte.« Verdeschi aber wandte ein: »Aber sie ist eine so begeisterte Botanikerin… das Herz wird ihr brechen, wenn sie bei dieser Erkundung nicht mitmachen darf.« »Ein andermal«, entschied Koenig mit Bestimmtheit. »Wir nehmen an ihrer Stelle Eddie Collins. Und ich bin der Meinung, daß du der Geeigneteste bist, der es ihr beibringen soll… aber sachte…«
Ein Gewirr abgestorbenen Pflanzen, die eingegangen waren, als die hydroponische Abteilung einfror, mußte ausgeräumt werden. Shermeen zwang sich widerwillig zu der Arbeit. Verdeschis Hopfenkultur im Nachbarabteil hätte, wenn es nach ihr gegangen wäre, ruhig verrotten können. Sie entfernte die schlaffen, angekränkelten Blätter und häufte sie auf dem Boden. Shermeen war mit ihrer Arbeit noch nicht weit gekommen, als eine sonderbare, leicht widerhallende Stimme ihren Namen rief. »Shermeen…« Es war eine leise, sanfte Stimme, sonderbar deswegen, weil sie noch nie eine solche Stimme vernommen hatte. Sie hielt in ihrer Tätigkeit inne und sah den Gang
zwischen den durchsichtigen Abteilen zum Haupteingang entlang. »Hierher, Shermeen…«, erklang die Stimme wieder, diesmal näher hinter ihr. Die warme, geregelte Temperatur des Abteils sank plötzlich auf Eiseskälte. Das künstliche Sonnenlicht wurde matter, als versteckte es sich hinter einer Wolke. Sie wurde von Entsetzen gepackt. Das Herz schlug ihr gegen die Rippen. Das Gesicht erschien ihr nun zum dritten Mal. Beim ersten Mal – es war nach der Rückkehr Verdeschis von Kalthon – hatte sie die Erscheinung auf einen bösen Tagtraum zurückgeführt. Beim zweiten Mal, nach der Szene in der Kommandozentrale, hatte sie allen Ernstes geglaubt, sie hätte den Verstand verloren, obwohl Helena eine gegenteilige Diagnose, stellte. Und nun… sie wußte nicht, was sie glauben sollte. Zitternd drehte sie sich um. »Shermeen, leiste keinen Widerstand… laß mich kommen. Ich werde dir nichts tun…« meldete sich wieder die merkwürdig tröstliche Stimme. Das längliche, asketische, durchscheinende Gesicht hing inmitten einer hohen, blütenschweren Lupinengruppe. Es lächelte ihr väterlich zu. Bei den vorangegangenen Gelegenheiten hatte es nicht zu ihr gesprochen. Jetzt aber beruhigte es sie mit seiner Stimme und nahm ihr die Angst. »Was willst du?« fragte sie kühn. Stimme und Blicke waren von beharrlichem subtilen Charme, dem sie sich nicht entziehen konnte. Das Lächeln des Gesichtes verstärkte sich, und der Leib, der bis jetzt gefehlt hatte, trat nun schimmernd in ein durchsichtiges Dasein. Ihr stockte der Atem vor ehrfürchtigem Staunen. Die physische Schönheit dieses Mannes traf sie wie ein Schlag. Er war Ende dreißig, gekleidet in Hose und Tunika. Sein Gehabe verriet Rechtschaffenheit und väterliche
Autorität. Sie fühlte sich ihm zutiefst hingezogen und war dagegen machtlos. »Ich möchte dir helfen«, sagte die Stimme. »Mir helfen?« wiederholte Shermeen matt. Noch ehe die Stimme antworten konnte, war sie in der Luft zerflimmert. Aber die Kälte blieb. Vom Gang her hörte sie näher kommende Schritte. Der Haupteingang wurde geöffnet, und Verdeschi trat ein. »Shermeen… sind Sie da?« rief er gedämpft. »Shermeen?« wiederholte er, als er keine Antwort bekam. Er ging zwischen den Abteilungen hindurch, und schließlich sah er sie. Er öffnete die Verbindungstür und stand vor ihr. »Ach, da sind Sie…«, äußerte er verlegen. Er kämpfte um die richtigen Worte. »Was wollen Sie, Tony?« brach sie das Schweigen. Verdeschi lächelte entwaffnend. »Bitte, seien Sie nicht böse. Ich habe es nicht so gemeint – sicher war der Hopfen nicht schuld. Ich glaube, ich bin kein geborener Bierbrauer…« Er schüttelte sich. »Hier ist es aber kalt. Funktionieren die Leitungen etwa noch nicht?« Shermeen drehte sich voller Nervosität um und nahm ihre Jätarbeit wieder auf. Sie spürte, daß ihr geisterhafter Besucher sich noch im Raum befinden mußte. Sie wollte nicht, daß Tony etwas merkte. »Ist doch egal, Tony. Ich mache mir wirklich nichts draus…« Verdeschi kam näher. »Noch immer böse?« »Ich habe anderes zu tun.« Der Italiener seufzte. Enttäuscht merkte er, daß seine Aufgabe sich nicht ganz einfach gestalten würde. Er rang um Worte. »Hören Sie… ich muß Ihnen etwas sagen. Eigentlich gute Nachrichten… wir sind auf einen neuen Planeten gestoßen… der Commander will einen kleinen Landetrupp
ausschicken. Die sollen sich da umsehen und feststellen, was los ist.« Diese Worte zeigten eine sofortige Wirkung. Er verwünschte sich, daß er so langsam war. Sie drehte sich sichtlich angeregt um. »Wann?« fragte sie erwartungsvoll. »Hm ja… ich glaube nicht, daß Sie mitgehen können…« Ihr hübsches Gesicht zeigte nun Gekränktsein und Verwunderung. Verdeschis Magen krampfte sich zusammen. »Nicht mitgehen?« rief sie aus. »Wissen Sie, wir haben die Sensorenberichte noch nicht vollständig vorliegen. Der Commander weiß noch nicht mit Sicherheit, was wir da unten vorfinden – falls es aber gut aussieht, werden wir sicher landen…« Sie schnitt ihm aufgebracht das Wort ab. »Aber Sie wissen genau, daß ich Proben bei allen Landungen gesammelt habe.« Verdeschis Achselzucken fiel matt aus. »Ich versuchte es, den anderen klarzumachen…« Enttäuscht kämpfte sie mit den Tränen. »Sie? Wahrscheinlich war es überhaupt Ihre Idee, daß ich nicht mitmachen sollte!« »Shermeen, ich…« Sie hörte nicht mehr. Die gefürchteten Tränen flossen in Strömen. »Ich hasse Sie! Ich möchte Sie niemals wiedersehen!« Betroffen versuchte Verdeschi sie zu trösten. »Bitte, Shermeen…« sagte er in beschwörendem Ton. Sie wich zurück. »Rühren Sie mich nicht an!« rief sie aus, als er sie anfassen wollte. »Entschuldigen Sie.« Er schüttelte hilflos den Kopf. Dann wandte er sich zum Gehen. Am besten, man wartet ab, bis sie sich selbst beruhigt hat, dachte er. Er konnte da nichts machen. Im Raum wurde es wieder still, und aus der Stille kam wieder die Stimme. Sie war drängend und wollte sie nicht in Ruhe lassen. Doch jetzt wußte sie, daß sie sich nicht mehr so sehr vor ihr ängstigte. Eigentlich fand sie den Gedanken daran auf
bizarre Weise tröstlich. Es war ein Freund, ein Vertrauter, an den sie sich in dieser Zeit großer Beanspruchung wenden konnte, obwohl er nur ein Produkt ihrer Phantasie war. Sie drehte sich langsam um. »Nein, Shermeen. Ich bin kein Phantasieprodukt«, sagte die Stimme voll Wärme, als ihre Blicke einander trafen. Sie sah sich die Gestalt nun genauer an. Diesmal bemerkte sie ein Silbermedaillon, das an einer Kette um seinen Hals hing. Das Medaillon blitzte und glänzte hypnotisch und versetzte sie in leichte Trance. »Wer bist du?« fragte sie staunend. »Woher kommst du?« »Ich heiße Vindrus«, antwortete die Gestalt ganz selbstverständlich. »Ich glaube, man könnte sagen, daß ich vom Sunim stamme.« »Sunim?« Vindrus lachte, es war ein volles, angenehmes Lachen. Jetzt erschien er ihr viel menschlicher… und viel schöner. »Es ist der Planet, dem wir uns nähern… auf dem du die Antwort auf deinen gegenwärtigen Kummer finden wirst«, sagte er. Als ihr die Probleme ins Gedächtnis gerufen wurden, die sie für unlösbar hielt, wurde sie sehr verlegen. »Das ist… unmöglich.« »Ich versichere dir, daß es nicht so ist«, erwiderte der unkörperliche Vindrus. »Du hast mein Wort darauf…« »Aber ich – ich darf ja nicht auf Sunim landen…« sagte sie total verwirrt. »Das hörte ich. Aber vertrau mir, Shermeen«, lächelte er beruhigend. »Tu, was ich dir sage, und du kannst an der Landungspartie teilnehmen.« Das Phantomwesen streckte den Arm aus. Die edelsteingeschmückten Finger zeigten auf eine große exotische Pflanze mit auffallenden lila Blüten. Sie wuchs neben den Lupinen. »Ist das die Pflanze Magnus lilarium?« fragte er.
Sie nickte. »Brich die Hülse auf und suche ein gesundes Samenkorn heraus.« Eifrig kam sie der Anweisung nach. Sie spürte in sich wilde Erregung und arbeitete mit plötzlich erwachtem Vertrauen, das ihr der neue Verbündete eingeflößt hatte. »Jetzt lege das Samenkorn auf das Propogatskop«, wies er sie an. Mit dem großen Korn in der Hand lief sie in den kleinen Raum, der als Instrumentenraum und Labor diente. Sie zog die Hülle vom Instrument und legte das Samenkorn auf die Platte. »Und jetzt bombardiere es mit Protonen«, rief er ihr durch die Verbindungstür zu. Er schien unfähig, ihr zu folgen, doch sie stellte ihm keine Fragen. Sie war glücklich, daß er da war und ihr half. Sie setzte den Apparat in Gang und erwartete interessiert den Ausgang des Experimentes. Dieser Apparat war entwickelt worden, um durch Veränderung der Atomstruktur bei Samenkörnern und Pflanzen Hochertragshybriden zu erhalten. »Beschuß steigern«, befahl Vindrus. Sie befolgte seine Anweisung. Die Machine summte laut, und die Nadel auf der Meßskala schlug in die Gefahrenzone. »Weitermachen«, rief Vindrus, der ihr Widerstreben spürte. Die Nadel schlug weiter in die rote Gefahrenzone aus und verharrte dort einige Augenblicke. »Jetzt ausschalten.« Dankbar schaltete sie die Maschine ab. »Das Samenkorn vorsichtig entfernen!« Seinen Instruktionen folgend nahm sie eine Zange und entfernte das Korn von der Platte. »Und jetzt einpflanzen – direkt in den Nährboden.« Sie drehte sich nach ihm um. Er stand noch immer zwischen den Lupinen. Shermeen ließ sich auf Hände und Knie nieder und drückte das bestrahlte Samenkorn tief in die Lehmkörnchen des Nährmediums. Sie wußte nicht, was sie davon zu halten hatte, denn dies war nicht die normale Vorgangsweise beim Pflanzen
von Samen. »Und jetzt geh’ in deine Unterkunft«, schloß Vindrus. Er schien ungeduldig, und sie sah von ihrer Arbeit auf. »Aber ich verstehe nicht«, stieß sie hervor. »Warum habe ich…« Vindrus scheuchte sie gutmütig hinaus. »Keine Zeit für Erklärungen, Shermeen. Beeil dich.« Schritte wurden draußen auf dem Gang hörbar, und er drängte sie hinaus. »Beeil dich!« Seine schimmernde Gestalt verblaßte, und die Kälte blieb im Raum. Sie zögerte und gehorchte schließlich. An der Tür stieß sie beinahe mit Eddie zusammen. Er sah ausgesprochen selbstzufrieden aus, und sie ahnte den Grund. »He – warum so hastig?« fragte er. Statt einer Antwort wandte sie sich ab und ging steifbeinig davon. Er zuckte die Achseln. »Na – wie du willst.«
Ein übler, schwerer Geruch hing in der Luft. Eddie rümpfte die Nase, als er an den Pflanzenanlagen vorbeiging und das für die Expedition benötigte Instrumentarium zusammensuchte. Noch vor dem Raum, wo sich die Instrumente befanden, wurde seine Aufmerksamkeit von einer außergewöhnlich hohen Pflanze mit großen, blauen Blättern angezogen. Sie prangte mit leuchtend gelben Blütendolden, die in üppigen Kaskaden angeordnet waren. Der Duft war überwältigend. Er hustete und spuckte, als der aufdringliche Geruch seinen Rachen kitzelte. »Was… zum…« keuchte er und fragte sich benommen, welcher Herkunft diese Pflanze wohl sein mochte. Die Luft wurde eisig, und das geisterhafte Gesicht von Vindrus verfestigte sich. Die zu seiner Manifestation benötigte Energie absorbierte jegliche Wärme. Es absorbierte Lebensfreude, sogar das Leben selbst, als es triumphierend
lächelte und ein hohles Kichern ausstieß – und dabei beobachtete, wie Eddie verkrümmt zu Boden fiel und reglos liegenblieb.
»Ist die Ausrüstung komplett an Bord des Eagle Eins, Tony?« fragte Koenig. Er, Maya und Fraser – alle bereits in Flugausrüstung – gingen den Gang entlang, der zur Transportröhre führte. »Alles an Bord«, erwiderte Verdeschi schlechtgelaunt. Er war für die Expedition nicht eingeteilt worden. »Ich kann mir nicht vorstellen, was Eddie Collins so plötzlich umgeworfen hat.« Koenig schüttelte verwundert den Kopf. »Helena diagnostizierte es als einen Fall von ganz altmodischem Lampenfieber«, erklärte Maya leichthin, aber Koenig gab sich damit nicht zufrieden. »Und ich sagte Eddie doch, daß wir keine Anzeichen für Lebensformen auf dem Planeten finden konnten, aber du kennst ja Eddie – der träumt immer von Drachen auf unbekannten Planeten.« Koenig wandte sich nun mit gerunzelter Stirn an Verdeschi. »Apropos Träume – hoffentlich behältst du Shermeen ein wenig im Auge…?« »Wenn sie mir die Augen nicht gleich auskratzt…« erwiderte Verdeschi lächelnd. Sie waren bei der Transportröhre angelangt, die Türen öffneten sich. Ungläubig starrten sie in die geöffnete Transport-Kabine hinein – drinnen saß seelenruhig Shermeen, reisefertig und in voller Ausrüstung. »Ich wußte ja, daß ich gebraucht werden würde«, sagte sie, ehe die anderen noch etwas äußern konnten. Sie blinzelte fröhlich und lächelte. Ihre gesunde Vitalität schien wiedergekehrt zu sein. Koenigs Überraschung wuchs. »Woher wollen Sie das gewußt haben?« fragte er.
Sie reagierte mit unbekümmertem Achselzucken. »Ach… ich hatte so ein Gefühl…« Verlegen blieben sie vor ihr stehen. Keiner wußte, was man tun sollte. Maya hatte eine Idee, und noch ehe sich die Situation wieder in eine peinliche Szene verwandeln konnte, hatte sie Koenig unmerklich zugenickt und ihm zugeflüstert: »John – laß sie mitkommen. Jetzt möchte ich sie einmal im Auge behalten.« Koenig nickte. Er sah ein, daß es das klügste war. »Du hast recht«, sagte er und wandte sich an Shermeen. »Ja, es sieht so aus, als würdest du tatsächlich gebraucht werden. Mach Platz!« Mit Ausnahme Verdeschis drängten sich alle mit ihren Ausrüstungen hinein. Shermeen sprang hocherfreut auf und schob ihre Ausrüstungsgegenstände beiseite. »Vielen Dank! Sie wissen ja nicht, was es für mich bedeutet!« Durch die sich schließenden Türen bedachte sie Verdeschi noch mit einem, um Verzeihung bettelndem Lächeln. Die anderen starrten zur Decke und heuchelten Gleichgültigkeit. Tony erwiderte ihren Blick und grinste fröhlich.
VIII
Knorrige, ausgewachsene Bäume, in grünes Laub gehüllt, schwer von Früchten und Blüten, standen da wie sie seit Urzeiten in den Wäldern gestanden hatten. Die unteren Äste wurden von üppigem Strauchwerk verhüllt und von fremdartigen, schönen Pflanzen. Hier waren mehr Grünschattierungen und viel mehr atemberaubende Farben vertreten, als die Teilnehmer der Expedition je auf Erden gesehen hatten. Doch mußten sie hin und wieder in ihrer halbvergessenen Vergangenheit ähnliche Schönheit und Ehrfurcht erlebt haben. Sie wanderten inmitten dieser Vegetation, ihre danach lechzenden Körper streiften die kühlen Blätter und atmeten die schweren Düfte ein. Über dem Wald lag jedoch auch eine kalte, unheimliche Stimmung, die sich erst allmählich bemerkbar machte. Es fehlte Vogelgezwitscher, es fehlte das von Tieren verursachte Geraschel, man hörte kein Insektensummen… und trotz der Helligkeit und des üppigen Wachstums war es merkwürdig kalt. Als sie sich tiefer zwischen die Bäume vorwagten und die Lichtung samt EagleSchiff weit hinter sich gelassen hatten, wuchs das Gefühl des Bösen. Als einziges Expeditionsmitglied schien Shermeen sich ungemein wohl zu fühlen. Ihre schöne, unschuldige Gestalt lief allen voraus, sammelte Beeren und Blumen und notierte sich botanische Einzelheiten. Nachdenklich zog Maya einen tragbaren Sensor heraus und las die Meßwerte ab. »Sind Veränderungen im Vergleich mit den Werten vor der Landung eingetreten?« fragte Koenig.
»Keine feindlichen Umweltbedingungen. Die Temperatur sinkt, zirka 50 Grad…« Sie runzelte kritisch die Stirn. »Keinerlei Lebensformen.« »Sonderbar… das mit der Temperatur«, sagte Koenig. »Kontrolliere das Absinken in stündlichen Abständen!« Die Luft kühlte merkbar ab, als würde sie mit einer negativen Energie aufgeladen. Er wollte bereits die Rückkehr zum Eagle anordnen, als Gestrüpp und Bäume sich lichteten. Vor ihnen erhob sich ein Bauwerk. Er hob die Hand. Sie hielten an, fast am Rande einer Lichtung, von einer hohen Pflanzengruppe vor Sicht geschützt. »Alle beisammenbleiben«, mahnte er. Vorsichtig teilte er das Laub und spähte hinaus. Der Bau war weniger eine architektonische Struktur, als vielmehr eine bloße Form. Es war ein Würfel, höchstens zwanzig Fuß hoch. Die Wände waren glatt und fensterlos und glänzten, als wären sie frisch gestrichen. Eine einzelne Mauer erhob sich wie eine dreieckige Flosse, beginnend auf dem vor dem Würfel liegenden Rasen und durchschnitt diesen in der Hälfte. Die Spitze des Dreiecks überragte den Mittelpunkt des Würfels um einige zehn Fuß und schimmerte in der Sonne. Koenig bahnte sich einen Weg durch das Blattwerk und trat ins Freie. Der Bau war von einem glattgemähten grünen Rasen umgeben. Ein schnurgerader Weg durchschnitt die Rasenfläche und endete an den Grundmauern des Baues. Koenig blinzelte und bemerkte, daß der Weg am Ende des Rasens in einen Abhang hinabführte. Er ging näher und sah, daß der Weg sodann zu einem Bogeneingang hinführte. Er winkte die anderen herbei, und sie begannen sich vorsichtig und mit gezogenem Laser zu nähern. Sie waren noch nicht weit gekommen, als plötzlich ein Grollen ertönte. Rasen und Bauwerk erbebten wie bei einem kleinen Erdbeben. Aus dem
Eingang drang ein tiefes Brüllen, und eine gewaltige Gestalt arbeitete sich die Stufen am Ende des Rasens empor. Mutig hielten sie die Waffen in Anschlag, bis sich das sonderbare Wesen vollständig zeigte. Es war etwa sieben Fuß groß – und grundhäßlich. Das Wesen glich etwa einem Riesenbrontosaurier aus den prähistorischen Zeitaltern der Erde – aber damit endete auch die Ähnlichkeit. Sein Nacken war viel kürzer und glich eher dem eines Feuersalamander, ölige Schuppen bedeckten den Riesenleib. Scheußliche krabbenähnliche Klauen sprossen unter dem Kopf aus den Schultern und schlugen in die leere Luft. Das Biest erspähte sie mit seinem einzigen, geäderten Auge und stieß erneut ein gewaltiges Brüllen aus. Es richtete sich auf und kam erstaunlich flink auf seinen vier schwimmhautbewehrten Beinen auf sie zu. Wieder schien die Erde zu erbeben. Maya bemerkte überrascht, daß sie die Erschütterungen eigentlich nicht in den Beinen spürte – sie nahm sie vielmehr visuell wahr. Doch Maya hatte keine Zeit, diese Wahrnehmung mit den anderen zu diskutieren. Die fuchtelnden Klauen und das gehörnte, gesenkte Haupt des Ungeheuers befanden sich bereits in gefährlicher Nähe. Sie wichen mit einem Gemisch aus Angst und echtem Staunen zurück. Ihre Sensoren hatten sämtliche Formen tierischen Lebens auf dem Planeten verneint. Koenig wich seitlich aus und stolperte. Er fiel schwer gegen einen Steinblock und lag nun hilflos im Weg des Tieres. Verzweifelt hob er seinen Laser dem sich nähernden Tiergesicht entgegen und drückte ab. Statt das Ungeheuer umzulegen, gab die Waffe ein schwaches, nutzloses Klicken von sich. Verzweifelt drückte er erneut ab, immer wieder, während er sich hochkämpfte. Die Waffe verweigerte ihm den Dienst. Fraser, der die Notlage seines Commanders erkannte,
trat vor und gab einen Schuß aus seiner eigenen Waffe auf das Ungeheuer ab – aber auch seine Waffe war tot. Was immer es war, das die Wärme aufsaugte – es saugte offenbar auch die Energie auf, die ihre Waffen zum Funktionieren benötigten. Schnaubend und brüllend donnerte das gewichtige Monstrum auf sie zu. Seine Klauen hieben erwartungsvoll die Luft, das lange, dünne Horn glänzte bedrohlich. Fraser, der schnell reagierte, packte Koenigs Hand, riß ihn beiseite und beide flüchteten mit Maya ins Baumdickicht. Atemlos rannten sie minutenlang dahin, ehe sie erleichtert feststellten, daß das Tier ihnen nicht mehr folgte. Aber noch immer hörten sie sein Wutgebrüll. Durch die verfilzten Äste beobachteten sie die riesige, sich dahinwälzende Masse am Rande des Rasens. Es versuchte vergeblich, die Verfolgung aufzunehmen. »Aus irgendeinem Grund kann es dieses Gelände nicht verlassen«, sagte Maya mit angehaltenem Atem. Sie setzten sich verwirrt. Koenig zog sein Sprechgerät hervor. Er war auf das Schlimmste gefaßt. »Mondbasis Alpha kommen – Mondbasis Alpha kommen!« Geduldig wartete er auf Antwort, doch es gab keine – es gab nichts, außer dem eindringlichen Schweigen des Waldes. »Hier Koenig«, wiederholte er drängend. »Mondbasis Alpha. Dringend! Kommen!« Als er auch diesmal keine Antwort bekam, wandte er sich erbost an Fraser und Maya. »Da haben wir den Salat: ein Blackout der Verbindung mit Alpha, unsere Waffen wirkungslos, ein Lebewesen, von dem unsere Sensoren behaupteten, es existiere nicht… noch dazu ein feindliches Lebewesen.« Er sah Maya an. »Was hältst du davon?« Maya schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Es gefällt mir gar nicht… dieser Bau könnte eine abschirmende Kraft ausstrahlen. Dadurch sind unsere Scanner vielleicht
blockiert worden. Vielleicht ist es dieselbe Kraft, die unsere Verbindung mit Alpha unterbrach und unsere Waffen neutralisierte…« Sie brach ab, weil sie selbst von dieser Theorie nicht überzeugt war. Von ihrem nunmehrigen Standpunkt aus hatten sie durch das Laub einen guten Blick auf den schwarzen Bau. Sie starrten angestrengt hinüber. »Irgendeine Lebensform – ein intelligentes Wesen muß das errichtet haben«, bemerkte Koenig und hoffte damit, weitere Ideen auszulösen. »Dieses Wesen muß wohl den Block aus einem bestimmten Grund bewachen«, bemerkte Fraser. Koenig nickte. »Das Innere würde mich sehr interessieren.« Er rang sich zu einem Entschluß durch. »Bill, du könntest vielleicht vom Eagle aus Alpha erreichen… und wenn du zurückkommst, bringst du einen Raketenwerfer mit.« »Aye, aye, Captain…« Fraser stand widerwillig auf und entfernte sich. Bald war seine Gestalt in dem reglosen Dickicht verschwunden. Sein plötzlicher Aufbruch brachte ihnen zum Bewußtsein, daß Shermeen fehlte. »Wohin ist denn die verschwunden?« fragte Koenig voll Sorge. Er und Maya standen auf und riefen ihren Namen und nahmen die Suche in dem Dickicht auf. Shermeen summte leise vor sich hin. Sie langte nach einem Büschel heller blauer Früchte, die an einem Strauch hingen. Der Sammelsack, den sie um die Schulter gehängt trug, war vollgestopft mit Beeren, Nüssen, Blättern und Blüten. Sie sprach ihre Beobachtungen eifrig auf Band und hatte bereits fast alle Bänder aufgebraucht. Shermeen kämpfte mit sich, ob sie kehrtmachen und sich wieder den anderen anschließen sollte, als Vindrus vor ihr Gestalt annahm. Sie war erschrocken, weil sie nicht erwartet hatte, er würde wieder auftauchen, nachdem sich ihre Probleme so angenehm gelöst
hatten. Sie spähte zögernd zu Koenig und den anderen hin, um dem Geist zu zeigen, daß sie eigentlich weiter mußte. Doch wieder war sie von seinem hübschen Aussehen und dem onkelhaft beruhigenden Lächeln gefesselt. Seinen Arm hielt er in Richtung des Würfelbaus erhoben, den sie vorhin gesehen hatte. Es sah aus, als wolle er sie dorthin dirigieren. Sie mußte feststellen, daß sie gehorsam seiner Aufforderung nachkam. Seine unirdische Gestalt glitt ruhig vor ihr zwischen den Bäumen hindurch. Sein Rücken war dem Bauwerk zugewandt, die strahlenden Augen blitzten sie an, und das Silbermedaillon baumelte schimmernd an seinem Hals. Als sie zur Lichtung kamen, stand sie völlig in seinem Bann. Wie im Traum überquerte sie den Rasen und verspürte keine Furcht vor dem dräuenden Ungeheuer, das bedachtsam Platz machte und sie vorbeiließ. Wie hypnotisiert stieg Shermeen die Stufen hinunter und trat durch den offenen Eingang in das dahinterliegende dunkle Innere. Die Luft war hier so kalt und frisch, daß sogar sie es spürte, und das brachte sie wieder zu Bewußtsein. Vindrus’ Gestalt schwebte gespenstisch in der Dunkelheit. Ihre Augen gewöhnten sich an die Finsternis. Allmählich konnte sie glatte graue Wände ausmachen. In der Raummitte befanden sich zwei identische, durchscheinende vitrinenartige Schränke. Jeder groß genug für einen Menschen, und dahinter stand eine ganze Bank voller Instrumente und Meßapparate, die man kaum im Dunkeln sehen konnte. Um die Schränke herum formten sechs viereckige, das Dach stützende Säulen, ein Sechseck. Shermeen war höchst überrascht als sie sah, daß die Säulen mit äußerst lebendigen Bildern geschmückt waren, die den Entwicklungsprozeß der Menschheit darstellten. Während sie wie verzaubert die Szene betrachtete, brachen ganz plötzlich weiße Lichtstrahlen durch die Dunkelheit. Sie
beleuchteten sonderbare, kabbalistische Zeichen und düstere, versengte Umrisse menschlicher Gestalten auf Wänden und Böden. Ein Schaudern überlief Shermeen, als sie diese schreckliche Entdeckung machte. Dunkle Schrecken stürmten auf sie zu, nicht zuletzt die plötzliche Erinnerung an das riesige Drachenwesen, das sie draußen auf dem Rasen gesehen hatte. Dieses Bild schlich sich mit schreckenerregender Deutlichkeit in ihr Gedächtnis ein. »Warum hat dieser…?« setzte sie an, ohne die richtigen Worte zur Beschreibung des Wesens zu finden. »Thaed«, klärte Vindrus sie auf. »Es griff dich nicht an, weil ich versprach, daß dir nichts geschehen würde.« »Ich hatte nicht mal Angst«, sagte sie verwirrt. »Auf Sunim brauchst du keine Angst zu haben. Meine erste Sorge gilt deinem Wohlbefinden. Aber zunächst muß ich aus meiner Welt in deine übertreten.« »Ich – ich verstehe wohl nicht«, stammelte sie, total überfordert von den sich überstürzenden Ereignissen. »Du bist doch schon da.« Vindrus lachte hohl. »Nur im Geiste, mein liebes Kind. Nicht substantiell.« Als Demonstration versuchte er eine der Schränke zu berühren, doch seine nebelhafte Hand glitt hindurch. »Diese Maschine hier ermöglicht es meinem körperlichen Leib, in deine Welt überzutreten. Falls du mir Beistand leistest.« »Ich? Wie denn?« fragte sie, befremdet von den Geheimnissen. Doch fühlte sie sich zur Hilfe verpflichtet. »Sieh dich um«, sagte er. »Diese verbrannten Stellen… hier an dem Schrank…« Seine Hände zeigten auf die betreffenden Stellen. »Ein unglücklicher Zufall. Irgendwann in der Vergangenheit explodierte der Generator. Aus diesem Grunde mußt du mir helfen, ehe ich dir helfen kann…« schloß er
rätselhaft. »Du mußt mir helfen, in deine Welt einzutreten, damit ich mein Leben fortsetzen kann – ehe es zu spät ist!«
Der Thaed grollte und brüllte seine Warnungen noch immer in den Wald, als Koenig und Maya ihre Suche nach der verschwundenen Botanikerin schon abgebrochen hatten. Sie hatten den Wald in unmittelbarer Nähe des unheimlichen Bauwerks abgesucht – ohne sich dem wachehaltenden Monstrum zu zeigen. »Verschwunden!« rief Koenig aus, der wütend über sich selbst war. »Und ich ließ sie mitkommen!« »Auf meinen Rat hin«, sagte Maya. Sie sah sich verzweifelt um. »Das arme Ding. Was ist ihr bloß zugestoßen?« Da raschelte es im Unterholz, und sie drehten sich erwartungsvoll um. Es war jedoch nur Fraser, der mit dem Raketenwerfer zurückkam. Koenig berichtete sofort die schlechten Neuigkeiten, und Fraser schüttelte bekümmert den Kopf. »Nichts außer schlechten Nachrichten«, sagte er. »John, ich kann Alpha auch vom Eagle aus nicht erreichen.« Sie sahen einander verzagt an. »Vielleicht ist Shermeen zurück zum Schiff?« meinte Maya schließlich. »Dann hätte ich sie sehen müssen«, sagte der Pilot. »Ich – « »Bleibt also nur eine Möglichkeit…« schnitt Maya ihm das Wort ab. Sie wandte sich an Koenig, und dieser nickte deprimiert. Sie sahen zu dem schwarzen Bauwerk hin. »Ich weiß, Maya«, sagte Koenig. »Wie immer man es auch betrachtet, wir müssen hinein.« Maya dachte nach. Langsam gewann ihr Blick an Entschlossenheit. Sie nahm aufrecht vor ihnen Aufstellung und konzentrierte sich aufs äußerste. Ihre Umrisse verblaßten in einem Aufflammen glühender, pulsierender Energie, als sie
sich in eine rotierende Spindel verwandelte. Ihre Moleküle summten und sangen als Ausdruck des Protestes gegen ihre erzwungene Auflösung. Koenig und Fraser traten zurück, um ihr Platz zu machen für den Umwandlungsprozeß. Die helle Spindel brach zusammen, und aus dem verblassenden Leuchten sprang ein schlauer Fuchs mit buschigem Schweif. Er spitzte die Ohren, der kleine Kopf wandte sich nach dem Thaed um. Mit einem Satz sprang er los. Blätter und Zweige glitten an ihr vorüber, als sie ihren neuen schlanken Leib durch das Unterholz manövrierte. Sie hatte das Gefühl, daß sie schon immer ein flinker, leiser und listenreicher Fuchs gewesen war. Sie erreichte den Rasen und querte ihn mit wenigen Sätzen, ehe der schwerfällige Thaed reagieren konnte. Wütend kläffte er sie an und nahm die Verfolgung auf, doch er konnte nicht verhindern, daß sie die Stufen und gleich darauf die Sicherheit des offenen Eingangs erreichte. Gekonnt wechselte sie hinüber in ihre gewohnte PsychonGestalt und drang vorsichtig in das schwarze Gebäude ein. Sie hielt den Atem an, als die bösartige Kälte sie umhüllte. Nach einer Weile war sie imstande, die verschiedenen Umrisse und Formen in der Dunkelheit zu erkennen. Der graue, zellenartige Raum sah verlassen aus. Sie wanderte zwischen den Gegenständen und Säulen umher und besah sich alles genau. Schließlich schaltete sie probeweise ihr Funkgerät ein. »John?« »Ja, Maya«, meldete sich Koenig. Sein vertrautes Gesicht erschien auf dem Bildschirm. Ihr wurde ganz warm bei dem Anblick. »Ach, dann funktionieren die Geräte also wieder«, sagte sie. »Das wollte ich bloß feststellen.«
»Ich fürchte, das hält nur an, solange es einer bestimmten Kraft gefällt«, ertönte Koenigs bedrückte Stimme. »Aber sprich ruhig weiter. Beschreibe mir bitte genau, was du siehst.« Während des Sprechens fuhr sie in ihrer Untersuchung des Raumes fort. »Das Innere stellt eine bizarre Mischung aus archaischen und modernen Elementen dar… es handelt sich um eine Art Tempel – nur…« »Was nur?« »Es gibt keinen Altar. Eine Maschine…« »In Betrieb?« »Ich gehe näher ran und sehe nach.« Sie bewegte sich durch die abweisenden Schatten auf die schweigenden Schränke und die Instrumentenbänke zu. Nur ihre Schritte lockerten die Grabesstille auf. »John, etwas- dieses Gefühl – hier drinnen ist es stärker…« Angespanntes Schweigen in der Funkanlage zeigte an, daß Koenig und Fraser beunruhigt waren. Maya stand nun vor dem ersten Schrank. Als sie die Hand danach ausstreckte, bewegte sich aus der Dunkelheit leise eine Gestalt auf sie zu. Sie schrak zurück und stieß einen erleichterten Seufzer aus, als sie sah, daß es Shermeen war. »Du bist es? Alles in Ordnung?« fragte sie. Die Botanikerin war blaß und sah aus, als hätte sie Schmerzen. Abwehrend sagte sie: »Natürlich. Warum auch nicht?« Die Psychonierin sah sich nervös um. »Wie konntest du hier hereinkommen?« fragte sie. »Ich bin einfach reingegangen«, entgegnete die andere selbstzufrieden. Maya faßte sich und machte Koenig Mitteilung von ihrer Entdeckung. »Im Tempel?« Koenig war nicht wenig erstaunt.
»Ja… sie sagt, sie sei einfach hineingegangen. Sie muß in dem Augenblick hineingeschlüpft sein, als das Ungeheuer sich auf dich konzentrierte.« »Und jetzt wird es ein Problem sein, sie wieder herauszubekommen.« »John, ich möchte das Innere auf Video aufnehmen, es könnte von Bedeutung sein«, sagte Maya statt einer Antwort. »Dann los.« Sie nahm mit ihrem Vielzweckgerät die Säulen auf und übermittelte die darauf sichtbaren prähistorischen Bilder an Koenig und Fraser. Dann wandte sie sich den anderen vorhandenen Gegenständen zu. Dabei hoffte sie, sie würden trotz der schlechten Beleuchtung auf dem Bildschirm zu sehen sein. Shermeen, die wie ein fahles Gespenst neben ihr stand, beobachtete sie dabei. Maya beendete die Video-Aufnahme und hob das Gerät vors Gesicht. Koenig sah auf dem Bildschirm aus, als hätte er einen totalen Gesinnungswandel durchgemacht. »Wir müssen sie mit derselben Taktik herausschaffen, die sie hineingebracht hat«, sagte er mit Bestimmtheit. »Als Köder?« »Wir müssen das Risiko eingehen!« Der Bildschirm erlosch, während er mit Fraser Kriegsrat hielt. Dann sagt er: »Wir müssen eine Ablenkung schaffen. Sobald wir das Ungeheuer abgelenkt haben, mußt du mit Shermeen zum Eagle laufen.« »Verstehe.« Maya schaltete aus und verstaute das Gerät an ihrem Gürtel. Dann sah sie sich nach Shermeen um, aber die Botanikerin war spurlos verschwunden. Maya wurde von Panik erfaßt. Doch als ihr Blick auf den offenen Eingang und die auf den Rasen führende Treppe fiel, sah sie noch rechtzeitig die sich langsam bewegende Gestalt des Mädchens auf den obersten Stufen. Voller Angst rief sie aus: »Shermeen! Komm zurück!«
Sie lief ihr nach und nahm die Stufen mit einem Satz. Die Botanikerin bewegte sich bereits ohne Anzeichen von Furcht über den Rasen. Jetzt war Maya felsenfest davon überzeugt, daß mit ihr etwas nicht stimmte. Der Thaed brüllte und schnaubte. Er schüttelte den großen gehörnten Schädel und kam schwerfällig auf das Mädchen zu. Am anderen Ende des Rasens waren Koenig und Fraser hektisch tätig. Sie hatten den Raketenwerfer zusammengesetzt und machten ihn einsatzbereit. Maya sah wie gelähmt zu, als Koenig mit dem Raketenwerfer auf den Thaed anlegte und feuerte. Es geschah nichts. Es war wie bei den Laserwaffen – der Raketenwerfer war irgendwie außer Gefecht gesetzt worden. Als hilflose Zuschauer mußten sie die Begegnung zwischen dem Thaed und der Botanikerin mit ansehen. Staunend sahen sie, daß das Monster beim Anblick des Mädchens weich zu werden schien. Die todbringende Masse – mindestens dreißig Tonnen – schnüffelte zweimal, wich dann zurück und ließ sie an sich vorbei. Shermeen drehte sich zu Maya um. »Keine Angst, er tut uns nichts.« Wie auf glühenden Kohlen bewegte sich Maya auf das gräßliche Tier zu. Es grollte wütend und stampfte mit den platten Füßen auf. Das Herz schlug ihr wild bis zum Hals, als sie an ihm vorbei auf die Botanikerin zulief. Dann packte sie Shermeens Hand und zog sie mit sich, weg vom Rasen. Sie erreichte Koenig und Fraser und brach vor Erleichterung beinahe zusammen. »Hast du gesehen?« fragte sie Koenig, nachdem sie sich ein wenig erholt hatte. »Alles«, erwiderte Koenig und begutachtete die reglose Shermeen von Kopf bis Fuß. »Shermeen scheint immun zu sein…«
Doch die Botanikerin sah ihn nicht an. Statt dessen sah sie zum Tempel hin – und Koenig bemerkte einen sehnsüchtigen, in die Ferne gerichteten liebestrunkenen Blick in ihren Augen.
IX
Während Koenig und Maya in der Kommandozentrale auf der Mondbasis Alpha über Shermeen sprachen, mußte er an den verträumten liebeskranken Blick Shermeens denken. Ihre Waffen und Instrumente waren auf dem Planeten zeitweise nicht einsatzfähig gewesen – dank des Wirkens einer unbekannten Kraft. Und doch hatte ihnen diese Kraft gestattet, abzuheben und zur Mondbasis zurückzukehren… samt Shermeen. Aber warum? Warum hatte man die Kräfte der Alphaner zunächst eingeschränkt und sie ihnen dann aus keinem ersichtlichen Grund wiedergegeben? Und warum der sehnsüchtige Blick in den schönen blauen Augen der Botanikerin, als sie zu dem geheimnisvollen Bauwerk hinübersah? Woher stammte ihre Macht über den wilden Thaed – den Hüter des Tempels? »Konnte man aus ihr etwas herausbekommen?« fragte Maya. »Nur den Namen des Planeten – Sunim. Keine Ahnung, wie sie den erfahren hat. Wenn ich sie mit Fragen bedränge, regt sie sich furchtbar auf. Aus Sicherheitsgründen habe ich ihr einen Bewacher mitgegeben.« Maya verfiel ins Nachdenken. »Sunim«, wiederholte sie versonnen. »Das ist Minus… rückwärts gelesen. Interessant.« Koenig sah sie scharf an. »Paßt das zu deinen anderen Ergebnissen?« »Möglich.« Sie drückte einen Knopf, und sie sahen zu dem großen Bildschirm hin. Die Video-Aufzeichnung aus dem Tempelinnern war darauf zu sehen. Eine Säule nach der anderen, jede mit den kaum sichtbaren, die menschliche
Entwicklung darstellenden Zeichnungen. Sie studierte die Zeichnungen eingehend. »Das war auf einer Steinsäule«, sagte Maya. »Was soll das bedeuten?« fragte Verdeschi. Er verließ seine Konsole und kam interessiert näher. »Die Bilder stellen den gesamten Entwicklungsprozeß des Menschen dar – angefangen von seinem Ursprung aus einem bewegten, urzeitlichen Meer aus Urschleim, sein Durchlaufen aller Entwicklungsstufen… Affe, Australopithecus, Neandertaler, Cromagnon-Mensch bis zu seiner heutigen…« Der Bildschirm wurde dunkel, als der Blickwinkel wechselte. Dann wurden die undeutlichen, versengten Umrisse menschlicher Gestalten sichtbar – auf dem Boden, an den Wänden, sogar an der Decke. »Die sehen ziemlich menschlich aus«, bemerkte Koenig unangenehm berührt. »Sie sehen so aus, aber ich weiß nicht, ob sie es sind«, meinte Maya darauf. »Was soll das heißen?« »Nur eine Theorie. Irgendwo auf einer Entwicklungsstufe – während einer Zeitperiode – passierte etwas.« Sie machte eine Pause, während die schweigenden Bilder der Verdammnis dramatisch vorüberzogen. »Das Leben hörte auf. Ein gewaltsamer Tod…« »Vielleicht ein Krieg?« fragte Verdeschi. »Man könnte es Krieg nennen – ein Krieg besonderer Art. Wer immer diese Menschen waren, sie starben, sie wurden von einem sengenden Energieausbruch getötet. Damit wären die Brandspuren erklärt.« »Unsere Sensoren zeigten aber an, daß es auf Sunim kein Leben gibt. Und das zeigen sie auch jetzt noch an«, sagte Verdeschi nachdenklich. »Eine Erklärung dafür?« Koenig beugte sich zu Maya hinüber.
Die Psychonierin machte ein skeptisches Gesicht. »Ich weiß, es ist unglaublich, aber meine Theorie – auf meinen eigenen Beobachtungen und der Computerhypothese basierend – lautet dahingehend, daß wir es mit einem Konflikt zwischen Antimaterie und Materie zu tun haben.« In der Kommandozentrale trat eine Stille ein, während auf dem Bildschirm der schreckliche Dokumentarbericht abrollte. Die toten Phantome strömten einen Hauch von Tod und Verzweiflung aus. Ein Schauer überlief die Betrachter. Dann rückten die zwei großen vitrinenartigen Schränke ins Blickfeld. »Das ist ein Beschleuniger«, stellte Maya fest, ehe jemand eine Frage stellen konnte. »Er wurde im Tempel aufgestellt. Ich habe nur einmal etwas Ähnliches gesehen – auf Psychon.« Koenig und Verdeschi wechselten erleichterte Blicke, weil man dem Tempel und seiner Wirkungsweise auf der Spur zu sein schien. »Jetzt kommen wir ein Stück weiter«, meinte Koenig. »Welche Funktion hat dieser Beschleuniger?« »Er dient dazu, Antimaterie zu materialisieren«, entgegnete Maya. Koenig grinste verkrampft. »Mein schlichtes Gemüt erfaßt das nicht ganz. Ich bitte, mich in einfachen Worten aufzuklären.« Noch ehe sie eine Antwort geben konnte, hatte Verdeschi einen Stuhl hochgestemmt. Den ließ er vor dem lächelnden Koenig zu Boden krachen. »Das hier besteht aus Materieteilchen…« Dann sah er sich nach etwas anderem um. Er schlug mit der Hand auf Mayas Konsole. »Und das da ebenfalls.« »Sogar dies hier!« sagte Maya lachend und verabreichte Verdeschi einen Klaps auf den Kopf. »Um das zu begreifen, braucht man kein Genie zu sein!«
Verdeschi sah sie strafend an. »Für jede Materiepartikel existiert eine ausgleichende Antimateriepartikel. Das alles ist als Symmetriegesetz bekannt…« Er rieb sich den Kopf und grinste Koenig an. »In einfachen Worten«, beendete Maya an seiner Stelle den Satz, »die Natur sorgt immer für Gleichgewicht. Daraus folgt die Theorie: da wir in einer Welt der Materie leben… muß es auch eine Welt der Antimaterie geben.« »Und wo soll diese existieren?« fragte ein erstaunter Mitarbeiter aus dem Hintergrund. »Hier. Jetzt«, antwortete Verdeschi. Der andere war nun doppelt verwirrt. »Und sie nimmt womöglich unseren Raum ein?« »Sie nimmt ihren eigenen Anti-Raum ein«, sagte Koenig lachend. »Diese Elementarbegriffe kenne ich zum Glück«, rügte er Verdeschi und Maya gutmütig. Dem fragenden Mitarbeiter zuliebe fuhr er in seiner Erklärung fort: »Stünde hier ein antimaterielles Wesen… würde meine Hand kein Hindernis finden.« Er demonstrierte diese Behauptung mittels einer Handbewegung, und der andere schnappte erstaunt nach Luft. »Wie bei einem Geist?« fragte er. Maya nickte. »So könnte man ein antimaterielles Wesen nennen…« »Wäre es denn so schrecklich, wenn antimaterielle Wesen in unsere Welt eindrängen?« fragte der Kollege. Maya drückte einen Knopf. Das Band spulte verkehrt ab, die Bilder auf dem Schirm wurden ein Wirrwarr. Sie drückte einen anderen Knopf, das Band wurde gestoppt und zeigte nun die Umrisse einer der versengten Gestalten. »Das Schwierige dabei ist nur… materielle und antimaterielle Wesen sind unvereinbar«, fuhr sie in ihrem Vortrag fort. Als ihm die Bedeutung ihrer Worte dämmerte, machte der Kollege ein
entsetztes Gesicht. »Wenn sie miteinander in Berührung kommen, zerstören sie sich gegenseitig. Dieses Bild zeigt, was sich in diesem Stadium ereignet haben muß. Aber ihre Umwandlungsmaschine – dieser Generator, versagte…« Sie drückte erneut einen Knopf, und das Band spulte weiter ab. Sie stoppte es bei einem Bild der Instrumentenbank. Sie konnten erkennen, daß auch diese von der gewaltigen Kraft, die im Tempel explodierte, beschädigt worden war. Koenig runzelte die Stirn. »In diesem Zusammenhang existiert ein noch weitaus beängstigenderes Prinzip – die Erhaltung des Gleichgewichtes. Für jedes antimaterielle Wesen, das in unsere Welt eindringt, muß einer von uns in die andere Welt…« Er sah Maya an. »Damals kann dies niemand gewußt haben… aber als ihr, du und Shermeen, den Tempel betratet, seid ihr wahrscheinlich in eine feindselige antimaterielle Welt eingetreten.« Sein Blick wanderte wieder zum Bildschirm, auf dem die Schränke sichtbar waren. »Sie kamen dem Ziel ganz nahe – zu nahe. Mit einem Nukleargenerator hätten sie es vielleicht geschafft…« Versonnen betrachtete er den Bildschirm, als ihn die volle Bedeutung seiner eigenen Worte wie ein Blitz traf. Ohne weiter darüber nachzudenken, hatte er nur das Naheliegende ausgesprochen – ja, ein Nukleargenerator würde es schaffen! In seinem Kopf fügten sich Gedanken aneinander und explodierten beinahe. »Maya! Du mußt Fraser erreichen! Alle Eagle-Schiffe haben bis auf weiteres Startverbot!« rief er. Als die Psychonierin aktiv wurde, wählte er die Frequenz des Bewachers, den er vor der hydroponischen Abteilung postiert hatte. Keine Antwort. Aufs höchste beunruhigt, wechselte er mit Verdeschi einen Blick. Sie standen auf und liefen hinaus. Maya wollte ihnen noch nachrufen, daß sie von Fraser keine Antwort bekommen hatte.
Sie rannten die schimmernden kahlen Gänge entlang, stiegen über Gleitrampen hinunter, durchliefen endlose Trakte und Feuertüren. Sie kamen zu spät. Die Tür zur hydroponischen Anlage stand offen… und schon das war ein grober Verstoß gegen die Sicherheitsvorschriften, etwas, was kein Alphaner bei klarem Verstand tun würde. Genauso wie kein Alphaner vom Commander angerufen, nicht antworten würde, es sei denn, er wäre durch Umstände daran gehindert, auf die er keinen Einfluß hatte. Sie liefen hinein, zwischen den hindernden Abteilen hindurch, die alle offen waren und deren verschiedene Atmosphären sich nun vermengten. In einem fanden sie den Körper Potters, eines Assistenten aus der Instrumentenabteilung, in einem Kürbisbeet. Im nächsten Abteil lag der leblose Körper eines Wachpostens mit den Überresten einer schleimigen verfaulenden Pflanze bedeckt, die über ihm zusammengesunken war. Der Geruch war so widerlich, daß sich ihre Mägen zusammenkrampften. Unter würgendem Ekel kratzten sie die klebrigen Pflanzenreste von ihm ab und schleppten den Unglücklichen hinaus. Sowohl Posten als Assistent sahen aus, als würden sie noch eine ganze Weile bewußtlos bleiben! Koenig nahm unverzüglich Kontakt mit Helena auf. Statt dessen erreichte er Maya. Sie hatte sich eingeschaltet und machte ein todernstes Gesicht. »John, Shermeen hat sich samt Fraser mit dem Eagle Eins aus dem Staub gemacht… außerdem bekam ich eben eine Meldung aus der Instrumentenabteilung. Ein kleinformatiger Nukleargenerator fehlt…« Koenig nickte verkniffen. Seine Laune sank auf den Nullpunkt. »Ich weiß. Sie haben uns ausgetrickst! In drei
Minuten sehen wir uns an Bord von Eagle Zwei. In der Zwischenzeit muß er startklar gemacht werden!«
Jenseits der Substanz des positiven Universums, jenseits des materiellen Zustandes von Tischen und Stühlen, jenseits von Konsolen und Eagle-Schiffen, jenseits von Sternen und eisigen Wirbeln entfernter Nebelflecken, jenseits von Leben und Liebe. Die geisterhaften, schattenhaften Bewohner des antimateriellen Universums kreischten, heulten und lärmten, um ihrer sterbenden Welt zu entfliehen. Vindrus’ längliches, angespanntes, doch bestechend hübsches Gesicht lächelte durch die Dunkelheit des Tempels Shermeen zu. Seine Ruhe ausstrahlende Augen waren der Ausdruck schierer Freundlichkeit. Sie fühlte, wie sie von einer Woge des Glücks und der körperlichen Befriedigung überschwemmt wurde. Maya, Tony Verdeschi, die Mondbasis und sämtliche Prüfungen und Leiden, die sie bedrückten, schienen nunmehr bedeutungslos. Sie hatte das Gefühl, eine neue, reifere Frau geworden zu sein. Mit Freuden blickte sie zurück auf die jüngere und weniger erleuchtende Person, die zu verdrängen Vindrus ihr geholfen hatte. »Du hast dich gut gemacht«, lobte sie der Geist, und sie erglühte vor Stolz. Der schwere Nukleargenerator lag neben den zwei Beschleunigungsbehältern, wohin sie ihn gerollt hatte. Sie hatte ihn unter Aufgebot all ihrer schwachen Kräfte vom Eagle in den Tempel geschafft. Der Generator trug das Warnzeichen für Radioaktivität und die Aufschrift: Eigentum von Mondbasis Alpha. Die tödliche, gewaltige Kraft, die in ihm gespeichert war, würde bald dazu benutzt werden, die Übertragungs- und Empfangskraft der zwei Schränke zu aktivieren. Zu welchem Zweck wußte sie nicht.
Die Enden der dicken Hochleistungskabel des Generators waren bereits an die Instrumentenkonsole angeschlossen. Bald hatte sie den Generator in Gang gesetzt und begann unter Vindrus’ Anleitung die verschiedenen Schalter zu betätigen. »Ausgezeichnet.« »Ist die Maschine eingestellt?« fragte sie. Er nickte stumm. »Jetzt brauche ich nur noch in deine Welt zu kommen, Shermeen… und dann können wir zusammen sein! Rasch, du mußt in deinen Schrank. Die Energie steigt an.« Sie zögerte. Es war die erste Anwandlung von Vorsicht, die sie spürte. Doch ihr Glaube an den neuen Guru überrannte ihre Gefühle. Sie wollte sich keine Blöße geben, indem sie ausgerechnet in dem Augenblick, da er sie am dringendsten brauchte, klein beigab. Das hatte sie schon zu oft in ihrem Leben getan. Tapfer öffnete sie die durchsichtige Tür der Zelle und trat ein. Fast sofort bereute sie ihren Entschluß. Die Luft war eisig – man hatte das Gefühl, sich in einer gefrierenden Flüssigkeit zu befinden. Die Luft haftete an ihrer Haut, und Shermeen versuchte, sich davon zu befreien, doch ihre Glieder waren gelähmt. Sie hatte nicht einmal soviel Kraft, um die sich langsam schließende Tür aufzuhalten. »Laß mich raus!« schrie sei, doch ihre Stimme drang aus ihrem Kerker nicht heraus. Vor sich sah sie den zweiten Schrank. Darin hatte sich die lächelnde, durchsichtige Gestalt von Vindrus materialisiert. Doch Shermeens Todesangst war nicht mehr zu mildern, auch nicht durch seine Tröstungen. Seine Macht über sie war geschwunden. Im klaren, kalten Dunkel des Beschleunigungsapparates wünschte sie nichts sehnsüchtiger, als die freundlichen, beruhigenden Gesichter der Alphaner, trotz deren zahlreicher Fehler, um sich zu sehen.
Während die vom Generator gelieferte Energie zunahm, verlor sie die Gewalt über ihre körperlichen Sinne. Ihre Gedanken rückten von ihr ab und wurden unendlich. Unaussprechlicher Schmerz zerrte an ihrem Sein, sie verlor völlig den Sinn dafür, wer oder wo sie war. Eine unendliche Zeitspanne lang schwebte sie im Nichts, während die feurigen Ströme der Übertragungsenergie ihre entfesselten Atome über die Grenzen zwangen, die einst ihren materiellen Leib vom antimateriellen Universum geschieden hatten. Dann aber fügte sie sich allmählich wieder zusammen. Sie erwachte wie nach einem gräßlichen Traum. Ein kleiner Teil ihrer Psyche hatte sich mit aller Kraft an das Innere des Schrankes geklammert. Alles andere hing irgendwo hinter ihr im kalten, dunklen Nichts. Es schien, als wäre sie in einer Welt wiedergeboren worden, die im Niedergang begriffen war und nur darauf wartete, daß sich ihre letzten Energien erschöpften. Die verzweifelt protestierenden Stimmen der unsichtbaren Bewohner schnatterten und schwatzten im Hintergrund. Vindrus hatte seinen Schrank verlassen und stand vor ihr. Er sah gesund und sehr fleischlich aus. Er lächelte strahlend – ein Lächeln, das nicht so sehr unschuldiges Glück zum Ausdruck brachte, als vielmehr selbstzufriedenen Triumph. »Shermeen, dir wird nichts geschehen. Ich halte mein Wort.« Aber sie glaubte ihm nicht. Verzweifelt kämpfte sie darum, sich in jener Welt wieder zu behaupten, die er ihr geraubt hatte, doch vergebens. In ihrer eigenen Welt, der Welt, die sie einst liebte, konnte sie sowenig leben wie ein Fisch außerhalb des Wassers. Plötzlich zuckte Vindrus zusammen. Er hatte etwas gehört und drehte sich nach den Stufen um, die aus dem Tempel hinausführten. »Die Alphaner!« hörte sie ihn murmeln. »Sie werden bald hier sein!« Er drehte sich wieder zu ihr um, diesmal aber sah er sie nicht an. Er sah an ihr vorbei – zu
seinen antimateriellen Freunden hin. »Bringt sie hinunter«, befahl er. »Nein, nein!« Shermeens Wesen krümmte sich vor Entsetzen, als sie spürte, daß ihre letzte noch bestehende Verbindung mit der realen Welt durchschnitten werden sollte. »Bitte, ich möchte bleiben…« Doch zu spät. Frostige, aussätzige Hände faßten nach ihr und zogen sie mit sich.
Koenig, Helena und Verdeschi bahnten sich krachend den Weg durchs Unterholz auf den Tempel zu. Sie waren auf der Lichtung neben Eagle Eins von Bord des Eagle Zwei gegangen. Eine oberflächliche Untersuchung Bill Frasers hatte ergeben, daß dieser sich in einem Trancezustand befand. Sie mußten ihn bis zu ihrer Rückkehr liegenlassen. »Wir müssen verhindern, daß Shermeen über die Grenze geschickt wird!« rief Koenig im Laufen. »Nicht nur um ihretwillen, sondern auch um unser aller willen! Das positive materielle Universum hält einen Massenexodus aus dem Antimaterie-Universum nicht aus!« Die schweigende, üppige Vegetation lichtete sich, der Tempel kam in Sicht. Bei ihrer Annäherung stieß der Thead zur Warnung ein Gebrüll aus. Verdeschi hob den Laser und wollte nach vorne. Koenig hielt ihn zurück. »Nein, Tony! Das überlaß mir!« Er winkte Verdeschi und Maya zurück und trat hinaus auf den glatten, sonderbar malerischen Rasen. Der Thaed knurrte und senkte angrifflustig den Schädel. Langgezogene, grollende und klagende Laute drangen aus dem gewaltigen Leib. Tempel und Rasen gerieten optisch ins Schwanken, als das Tier zum Angriff überging, doch wurde das Gefühl der Erschütterung nicht durch den Boden übertragen. Es schien sich um ein rein
geistiges Phänomen zu handeln. Koenig ging kühl auf das sich nähernde Ungeheuer zu und bot sich diesem kühn als Ziel dar. Er hoffte, daß er mit seiner Annahme recht hatte. Verdeschi wollte ihm nach, doch Maya zog ihn zurück. »Nein… ich glaube, ich weiß, warum er es tut. Vertraue ihm.« In Verdeschi kämpften Unglauben und Entsetzen, als er sah, was sich nun vor ihm abspielte. »Wir – wir können nicht…« stammelte er. Doch dann ereignete sich das Unglaubliche. Der riesige Thaed und die kleine hilflose Gestalt des Commanders kamen miteinander in Berührung – und es geschah gar nichts. Trotz seines Schnaubens und Prustens war der Thaed nur ein Geist. »Woher wußtest du?« stieß der Italiener hervor. Er lief zu Koenig hin, befühlte ihn, um sich zu vergewissern, daß er tatsächlich unversehrt war. Koenig lächelte. »Unsere Scanner zeigten auf Sunim keine Lebensformen an. Es mußte sich um eine Erscheinung handeln…« »John!« Maya tat plötzlich einen Schritt vor. Sie starrte erstaunt zu den Tempelstufen hinüber. Sie drehten sich um. Eine große, schlanke Gestalt in weißem Gewand stand ruhig vor ihnen. »Willkommen auf Sunim!« sagte die Gestalt und lächelte gebieterisch. »Euren Sensoren unterlief ein Fehler. Es gibt hier Leben.«
X
»Noch eine Erscheinung?« fragte Verdeschi zynisch. »Es gibt nur einen Weg dahinterzukommen«, antwortete Koenig. Er ging, gefolgt von den anderen, auf die Gestalt zu. Auf der obersten Stufe angekommen, blieb er stehen und streckte die Hand zum Gruß aus. »Ich bin Commander Koenig von Mondbasis Alpha.« Vindrus’ gelassene Züge deuteten Zögern an. Dann zeigte er offen sein Erstaunen. »Bei uns ist es Sitte, bei der Begrüßung die Hände zu schütteln«, erklärte Koenig mit Betonung. Die Gestalt nickte und lächelte, als hätte sie plötzlich verstanden. »Ach ja.« Er schüttelte die dargebotene Hand. »Willkommen auf Sunim. Ich bin Vindrus.« Koenig zuckte unter dem schmerzhaften Druck von Vindrus’ Händedruck zusammen und war froh, als der Unbekannte endlich losließ. Er sah Verdeschi und Maya an. »Willkommen?« Koenig hatte sich gefaßt und sah bedeutungsvoll zu dem Thaed hinüber, der wütend grollte und zu wiederholten Angriffen ansetzte. »Ach, Thaed!« erklärte Vindrus beiläufig. »Der soll nur den Zutritt zum Tempel verwehren.« »Thaed…« wiederholte Koenig gespannt. »Death… Tod, in umgekehrter Reihenfolge. Eine Erscheinung also, Vindrus. Du weißt es – wir wissen es.« »Eure wissenschaftliche Beobachtungsgabe ist erstaunlich«, erwiderte Vindrus mit gelindem, distanziertem Sarkasmus. Koenig schenkte ihm keine Beachtung. »Wir suchen jemanden von uns – ein Mädchen. Sie landete vor einer Weile
auf diesem Planeten… und sie ist mit Sicherheit keine bloße Erscheinung«, setzte er mit Bestimmtheit hinzu. Vindrus sah sie fragend an. »Und ihr glaubt, daß sie… ins Tempelinnere gelangt sein könnte?« »Ist es so?« fragte Verdeschi verärgert. Vindrus schien verblüfft. »Ihr seid scheinbar sehr skeptisch.« Achselzuckend trat er beiseite. »Warum seht ihr nicht selbst nach?« Das brauchte man Koenig nicht zweimal zu sagen. Er ging den anderen voraus in den Tempel. »Sucht sie…« wies er Maya und Verdeschi in leisem Flüsterton an. Während die anderen zwei sich zwischen Schränken und Fresken in der Dämmerung umsahen, hielt Koenig sich an Vindrus, sah sich trotzdem aber genau im Raum um. »Wie ihr seht, ist dieses Mädchen nicht da«, bemerkte Vindrus nach einer Weile. Er wollte in seiner vertrauenerweckenden Art weitermachen und sie damit hinters Licht führen, als Maya in der Dunkelheit einen scharfen Ausruf tat. »John! Hier ist der Generator!« Vindrus’ Gesicht veränderte sich jäh. Koenig warf ihm einen Blick voller Widerwillen zu und lief zu Maya und Verdeschi hin, welche die Schränke umstanden. Er untersuchte hastig den Generator und wandte sich sodann aufgebracht an Vindrus. »Wo ist sie?« Der andere runzelte die Stirn. »Ihr wollt also vage Vermutungen von mir hören?« Mit Koenigs Geduld war es vorbei. Er holte tief Luft. »Bei unserer ersten Landung zeigten unsere Scanner keine Lebensformen an…« »Vielleicht funktionierten eure Instrumente nicht?« antwortete Vindrus kühl.
»Unsere Instrumente sind tadellos«, sagte Koenig barsch. »Erst seitdem dieser… dieser Beschleuniger wieder instand gesetzt wurde, gab es hier Leben.« Vindrus nickte spöttisch. »Eine bewundernswerte Schlußfolgerung, Commander.« War schon Koenigs Gleichmut aufs höchste beansprucht, so stand Verdeschi knapp vor dem Überkochen. Er hatte lange an sich gehalten. Jetzt aber trat er vor und schrie den Unbekannten wutentbrannt an: »Schluß mit dem Spiel! Eure Antimaterie gegen unsere Materie! Du hast Shermeen benutzt, um diesen Generator herzuschaffen. Du hast ihn angeschlossen und sie dann in eure Welt verfrachtet, damit du in unsere eindringen konntest!« »Wir wissen genau, daß dies der einzige Weg war, Vindrus – du mußtest das Gleichgewicht erhalten«, sagte Koenig, ehe der Unbekannte sich eine Verteidigung ausdenken konnte. »Wieder eine bewundernswerte Schlußfolgerung«, äußerte Vindrus seelenruhig. »Eine Tatsache! Wir möchten Shermeen wiederhaben«, verlangte Koenig barsch. Vindrus gestattete sich ein knappes Lächeln. Während er Zeit gewinnen wollte, langte er hinter sich in die Dunkelheit. Er führte die Finger in die leere Augenhöhle einer fratzenähnlichen Zeichnung neben der Tür ein. Knirschend begannen sich die schweren Holztüren zu schließen, und das Tageslicht verschwand. Die Alphaner reagierten sofort und liefen auf den Ausgang zu. Bis auf Maya, die es schaffte, waren alle zu langsam. Sekunden nachdem die Türen dumpf ins Schloß gefallen waren, riß Koenig sein Funkgerät heraus und schaltete es auf Empfang. Mayas atemloses Gesicht erschien auf dem Monitor. »Commander…«
»Maya!« rief Koenig, doch noch ehe er ihr weitere Instruktionen geben konnte, wurde der Kontakt unterbrochen. Wütend wandte er sich zu Vindrus um und richtete den Laser auf ihn. Auch Verdeschi brachte die Waffe in Anschlag. Aber der Unbekannte ließ sich nicht beirren und lächelte gönnerhaft. Die zwei Alphaner drückten ab, doch war den Waffen nur ein wirkungsloses Klicken zu entlocken. »Das tut mir leid«, sagte Vindrus entschuldigend – und meinte es im Ernst. Koenig kochte vor Wut. »Ich möchte Shermeen wiederhaben.« »Unmöglich«, schüttelte Vindrus den Kopf. »Shermeen und ich erzielten einen perfekten Austausch.« Er ging an ihnen vorbei auf die Wand zu, die durch einen merkwürdigen Scheinwerfereffekt beleuchtet wurde. Bekümmert wies er auf die versengten Umrisse eines Körpers. »Das Ergebnis eines vorangegangenen Versuchs. Ihr habt recht – unser Generator versagte.« »Und vernichtete alle…« ergänzte Koenig hin klug hinhaltend. Er hielt sich mit eiserner Gewalt zurück, um ihren Kerkermeister abzulenken und ihn überrumpeln zu können. Vindrus nickte. »Aber wir aus der antimateriellen Welt erlitten einen gleichwertigen Verlust.« »Warum wollt ihr unbedingt in unsere Welt?« fragte Verdeschi. Er durchschaute Koenigs Absichten und sah sich während des Sprechens nach einer möglichen Ablenkung Vindrus’ oder einem Fluchtweg um. Da Shermeen und möglicherweise auch Maya auf dem Spiel standen, war es zu riskant, Vindrus eben jetzt physisch zu überwältigen – was er am liebsten getan hätte, wenn es nach ihm gegangen wäre. »In eurer Welt schreitet die Zeit vorwärts«, erklärte Vindrus. Er ging von Säule zu Säule und zeigte auf die
entwicklungsgeschichtlichen Fresken. »Ihr entsteigt dem Urschleim und entwickelt euch nach oben… immer einer höheren Art entgegen. In der Welt der Antimaterie jedoch läuft die Zeit nach rückwärts… um das Gleichgewicht zu erhalten.« Seine letzten Worte waren von Bitterkeit gefärbt. »Wenn die Antimaterie im Rückschritt begriffen ist, dann ist dein Volk im Abstieg begriffen…«, folgerte Koenig. »Zurück in den Urschleim!« erklärte der andere zynisch. Koenig tauschte mit Verdeschi einen Blick und signalisierte ihm, er solle endlich Vindrus ablenken. Vindrus fuhr fort, ohne sie weiter zu beachten: »Mein Erscheinen ist ein Akt der Selbsterhaltung. Wäre alles umgekehrt, würdet ihr dasselbe tun.« Verdeschi trat mit Nachdruck vor: »Nein! Das stimmt nicht. Wie steht es mit Shermeens Überleben?« Die Gestalt schnaubte unwillig. »Auf sie wartet ein AntiLeben von Hunderten von Jahren.« »Damit willst du sagen, Vindrus, daß Shermeen nur eine Vorhut bildet«, sagte Koenig und ging an dem Unbekannten vorbei. Als Vindrus den Kopf wandte, um Koenig mit dem Blick zu folgen, schlüpfte Verdeschi hinter ihn. »Wie viele von uns brauchst du?« fragte Koenig herausfordernd. »Gewiß nicht uns allein. Und sicher nicht nur die Mondbasis.« Vindrus sagte hocherhobenen Hauptes, von seinen Zukunftsvisionen hingerissen: »Wir werden im ganzen Universum Maschinen wie diese hier installieren.« »Im ganzen Universum!« rief Verdeschi hinter ihm aus. Der Unbekannte drehte sich bestürzt um. Sofort wurde Koenig hinter ihm aktiv. Vindrus, eine Kriegslist ahnend, zog eine handgroße Laserwaffe und drehte sich blitzschnell zu dem überraschten Koenig um. Er gab einen Warnschuß in den
Boden neben Koenig ab. Ein Schauer von Granitsplittern prasselte durch die Luft. Er wich zurück, bis er beide im Schußfeld hatte und blickte sie wachsam und mit einer gewissen Wehmut an. Koenig lächelte. »Als Tote sind wir nutzlos für dich – du brauchst uns lebendig, damit du den Austausch vornehmen kannst.« Ihr Gegner lächelte bekräftigend. »Seid vernünftig«, sagte er. »Findet euch ab mit dem Wechsel – ihr beide. Ich kann euch versprechen, daß ihr als Individuen eine verlängerte Lebenszeit haben werdet.« »Und als Gattung?« fragte Koenig erbost. Vindrus nickte bestätigend. »Als Gattung seid ihr dem Untergang geweiht…« Mancherlei im Gehaben des Unbekannten deutete darauf hin, daß ihm das selbst gesetzte Ziel nicht ganz geheuer war, doch sahen Verdeschi und Koenig, daß es keinen Zweck hatte, an sein Mitleid zu appellieren. Sie mußten hilflos zusehen, wie Vindrus sein Medaillon herauszog. Er ließ es vor ihren Augen baumeln. Es schimmerte und funkelte hell und bewirkte, daß sie schläfrig wurden. Entschlossen ging er auf sie zu. »Tony! Nicht hinsehen!« rief Koenig aus. Gerade noch rechtzeitig konnte Verdeschi den Blick abwenden. Sie schirmten sich mit den Armen gegen das hypnotische Licht ab und zogen sich – jeder in eine andere Richtung – ins Dunkel zwischen den Säulen zurück. Vindrus verfolgte sie mit dem Medaillon, das nun seine wichtigste Waffe darstellte. Hinter dem Materie-Beschleuniger wurde das Tempelinnere von der riesigen dreieckigen Wand zweigeteilt, die sie bereits von außen gesehen hatten. Dort, wo die Wand durchs Dach stieß, war durch einen kleinen Schlitz Tageslicht sichtbar. Ein
kleines Gesicht, von Helligkeit umrahmt, erschien in der Öffnung und spähte fragend herunter. »Maya!« rief Koenig leise aus. Er war nicht wenig erleichtert. Das Gesicht ließ nun den ganzen Körper sehen, und ein kleines Baumäffchen ließ sich auf den Tempelboden fallen. Vindrus hörte den leisen Aufprall der Pfoten und drehte sich um. Wütend und verwirrt ballerte er los, doch der sengende Strahl verfehlte das behende Tier. Koenig und Verdeschi erkannten sofort ihre Chance und begannen wieder ihr Nervenspiel. Sie hielten sich an das Dunkel und nahmen Vindrus ins Kreuzfeuer der Worte. »Eine Erscheinung, Vindrus…« sagte Koenig leise, als der Fremdartige sich auf Verdeschi zubewegte. Wieder drehte Vindrus sich um, diesmal in die Richtung, aus der die Stimme kam. Dabei hielt er sein Medaillon zum Angriff bereit. Hinter ihm ertönte Verdeschis spottendes Gelächter. »Du siehst Gespenster«, höhnte der Sicherheitschef. »… Vindrus, wir sind hier die einzigen Lebensformen…«, konterte Koenig von seiner Seite des dunklen Tempels her. Vindrus bewegte sich nun mit größter Behutsamkeit und versuchte sie auszumachen. Doch das hysterische Gelächter des Äffchens ertönte aus einer dritten Richtung, und er wandte sich nervös um, weil er sehen wollte, was das Tier trieb. »Vindrus…?« rief Koenig. Um ihn zu verhöhnen, aber auch, um an Maya eine Aufforderung zu richten, sagte er: »Shermeen kommt wieder…« Der Affe ließ sich kurz sehen und verschwand sogleich wieder hinter einer Säule. Vindrus hielt nun total konfus auf Koenig zu. »Sie kommt wieder«, wiederholte Koenig. »Unmöglich!« stieß Vindrus hervor.
»Nein, nicht unmöglich…« antwortete Verdeschi wie ein lebendiges Echo. »Sie ist nie vollständig in eure Welt gelangt«, führte Koenig das Thema weiter aus, »Sie ist bloß den halben Weg gegangen…« Vindrus schien amüsiert, als ihm klarwurde, daß sie ihn fast überlistet hatten. »Das ist unmöglich«, sagte er. Doch es klang auch Unsicherheit aus seinen Worten. »Wir wußten, was du wolltest«, improvisierte Verdeschi geschickt. »Wir konnten es uns an Hand der Bilder aus dem Tempel zusammenreimen, die Maya auf Video aufnahm. Wir programmierten daraufhin den Generator…« »Es ist zwecklos, Vindrus… sie kommt wieder… sie kommt wieder…«, stichelte Koenig. »Vindrussss…?« zischte eine weibliche Stimme, Shermeens Stimme, hinter einer Säule hervor. Vindrus erstarrte. Er drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Sein Gesicht war eine Maske des schieren Unglaubens. Und während er hinsah, trat Maya/Shermeen hervor. Sie schwebte anmutig zwischen den Säulen. »Komm, Vindrus…«, hallte ihre Stimme hohl von den Wänden wider. Vindrus starrte zunächst sie an, sodann der Reihe nach Koenig und Verdeschi, um deren Reaktion zu erfassen. Sie erwiderten ernst seinen Blick. Jetzt zeigte er erste Anzeichen von Furcht. »Hier bin ich, Vindrus… folge mir…«, beschwor ihn Maya. Sie winkte ihm über die Schulter. »Fürchte dich nicht…« Er umklammerte sein Medaillon. Vindrus war wie versteinert. Jetzt sprang Koenig vor und entriß ihm das hypnotisierende Zaubermedaillon. Ehe Vindrus reagieren und nach seiner Waffe greifen konnte, hatte Koenig das Medaillon umgedreht und hielt es ihm vor die Augen.
»Wir müssen zurück…«, sang Maya leise. »Sie erwarten uns…« Ihre schwebende Gestalt führte sie vor die Schränke. »Wir wollen dich…« Sie bedeutete ihm einzutreten. Sein Gesicht war eine Maske aus hervorquellenden Adern, während er angespannt gegen die Macht des Medaillons ankämpfte. Vergebens – gegen diese Energie konnte er nichts unternehmen. Und dann ertönte ein Todesgeheul aus der Richtung des Beschleunigers. Es war das unirdische, markerschütternde Heulen der gequälten Bewohner der antimateriellen Welt, die ihn zum Kampf aufstachelten. Nun wuchsen ihm die Kräfte eines vom Wahnsinn erfaßten Supermannes. Während sein böser Blick noch immer von dem Zauber festgehalten wurde, zwang er seine Hand zur Waffe. Im Zeitlupentempo zog er die Laserwaffe und richtete sie gegen Koenigs Leib. Mit letzter Kraft versuchte er abzudrücken. Sein ganzer Körper wurde von der Kraftanstrengung geschüttelt, während er um das letzte Gramm Energie kämpfte – und doch konnte er es nicht aufbringen. Er sank in sich zusammen, die Waffe fiel scheppernd zu Boden. Verdeschi, der wegen der hypnotischen Strahlen des Medaillons zur Unbeweglichkeit verdammt war und nicht einschreiten konnte, hob sie auf und schleuderte sie weit weg. Jetzt war der letzte Kampfgeist aus Vindrus gewichen. Er folgte Koenig und Maya wie ein gebrochener Mensch. »Hier hinein, Vindrus… hier…«, flötete Maya und er folgte der Stimme in sein Verderben. Das protestierende und wütende Heulen aus den Schränken wurde lauter, als er jenen Schrank betrat, den Maya für ihn vorbereitet hatte – es war der, in welchem Shermeen verschwunden war. »Türe schließen – rasch!« rief Koenig. Er stieß Vindrus hinein und knallte hinter ihm die Tür zu.
»Wir müssen uns beeilen…beeilen…«, setzte Maya ihr melodisches Flöten fort, als sie sich über die Schalter des Generators beugte. Sie schaltete ihn ein. Nun setzte ein lautes Summen ein. Sie traten zurück und beobachteten die Vorgänge. Koenig hielt das Medaillon noch immer gegen die durchsichtige Tür gerichtet. Vindrus verzerrtes, schweißnasses Gesicht bewegte sich unter Schmerzen vor und zurück, während in ihm die Mächte einander bekämpften. Das Summen steigerte sich zu einem hohen Geheul, der Schrank begann eine pulsierende Lichtkorona auszustrahlen. Das Licht steigerte sich zu einem Höhepunkt und zerbarst explosionsartig vor ihren Augen. Dann wurde es allmählich schwächer, und der Summton verstummte. Die Alphaner rannten zum zweiten Schrank und versuchten hineinzusehen. Sie wußten ja nicht, welche Sorte Geschöpf ihnen an Vindrus’ Statt zurückgegeben wurde. Es war eine Sache des Ausgleichs, der Kompensation, und sie hofften, Shermeen vorzufinden. »Commander… helfen Sie mir…«, hörten sie eine verängstigte, gedämpfte Stimme aus dem Inneren. »Shermeen!« rief Maya aus. Sie öffnete die Tür. Da kauerte das Mädchen kläglich im Inneren! Als sie sah, daß sie sich tatsächlich wieder im Land der Lebenden befand, warf sie sich ihnen mit Tränen der Freude und Erleichterung entgegen. Das Heulen der Antimaterie-Menschen wurde immer kläglicher und hallte im Tempelinneren. Der Körper von Vindrus war verschwunden, aufgesogen von der PhantomSchar, die er in eine neue Welt zu führen gehofft hatte. Die heulenden Geschöpfe drohten durch ihre Überzahl durchzudringen, und Koenig bekam es mit der Angst zu tun. »Tony… schaffe Maya und Shermeen raus! Ich stelle das Gerät auf Selbstzerstörung ein!«
Verdeschi war entsetzt. »Dann wird ja der ganze Planet radioaktiv!« Koenig wurde ungeduldig. »Haben wir eine andere Wahl?« »Und das Volk dieses Vindrus? Wir können es doch nicht vernichten… wenn diese Gespenster auch scheußlich klingen«, sagte Maya schaudernd. »Das werden wir nicht«, erwiderte Koenig. »Wir zerstören nur den Beschleuniger. Es wird nur Materie zerstört. Keine Antimaterie. Jetzt aber… raus hier!« Verdeschi und Shermeen liefen an die Tür und öffneten, als Koenig vor den Nukleargenerator trat. Er zog ein kleines Werkzeugbesteck aus der Tasche und begann mit einem Schraubenzieher die Außenverkleidung des Generators abzumontieren. Die inneren Teile mußte er mit seinem Laser zerschneiden. Und erst dann konnte er an die komplizierten Instrumente heran und entsprechende Schaltungen vornehmen. Damit würde er den Generator von einem friedlichen Energielieferanten in eine Atombombe gewaltiger Wirkungskraft verwandeln. Die Geisterstimmen murmelten bekümmert und stießen leise Drohungen aus, während er im trüben Licht eifrig arbeitete. Die im Tempel leuchtenden Scheinwerfer wurden nämlich von den unsichtbaren Kräften der Reihe nach ausgeschaltet. Farbige Lichter und Formen zuckten um ihn herum durch die Finsternis. Eisige Finger griffen vergeblich nach ihm, schrille Stimmen ertönten. Er zog seine Waffe und feuerte probeweise gegen eine Wand. Weißglühendes Licht schoß aus der Mündung und schmolz ein Loch in den Fels. Entschlossen richtete er den Lauf nach unten und begann mit der Arbeit an der Innenverkleidung. Ein einziger Fehler, und der Generator würde unbrauchbar sein. Schwitzend brannte er die Ecken ab. Mit behutsamen Händen zog er die Metallverschalung weg. Dahinter lagen die komplizierten Stromkreise der potentiellen
Bombe. Und darin enthalten waren die Zwillingskerne tödlichen Plutoniums. Die Arbeit gestaltete sich äußerst mühselig. Er mußte sich tief über das komplizierte Innere beugen, um etwas sehen zu können. Ihm war, als sei ein Heer von bösen Geistern und Gespenstern in den Raum eingedrungen. Das Heulen und Kreischen verzweifelten AntiLebens erfüllte den Tempel mit unerträglichem Lärm. Endlich hatte er den letzten Draht befestigt. Dabei hoffte er, daß die ihn umschwebenden Geister keine Möglichkeit fänden, seine Arbeit zunichte zu machen. Dann richtete er sich aus seiner unbequemen Stellung auf und bahnte sich mühsam den Weg durch die Klaustrophobie erzeugende, farbenerfüllte Atmosphäre. Er lief die Stufen hinauf, über den Rasen, an dem grollenden Thaed/Tod vorüber in den unendlich großen Wald. Der Tempel auf der Lichtung erglühte in einem weißen Licht, als der Generator sich überhitzte. Das Gebiet saugte einen stürmischen Wind an, die Bäume wurden gepeitscht und geknickt und erlebten nie gekannte Qualen. Viele krachten im Dickicht um Koenig zu Boden, als die nicht tief im Erdreich steckenden Wurzeln unter der Belastung nachgaben. Vom wild bewegten Strauchwerk zerstochen, zerschrammt und gepeitscht, erreichte er endlich die Lichtung, auf der wie zwei riesenhafte, majestätische Donner-Eidechsen die zwei Eagles standen und darauf warteten, ihn in Sicherheit zu bringen. Aus dem offenen Einstieg von Eagle Zwei winkte Maya. Hinter ihr stand Shermeen. Atemlos setzte er sich in Trab und sprang mit einem Satz hinein. »Tony und Bill nehmen den Eagle Eins«, sagte Maya, während sie in die Passagierabteilung traten. Koenig lief vor in die Pilotenkanzel und ließ sich in seinen Sitz fallen. »Sofort den Startbefehl an die anderen durchgeben!« rief er ihr zu. Hastig und gekonnt betätigte er die Instrumente. Ein Hitzeschwall des zerschmelzenden Landes um sie herum traf
die Flanken der zwei Raumschiffe und brachte die Sensoren zum Glühen. Die mächtigen Raketen erwachten Titanen gleich explosionsartig zum Leben, und die Schiffe hoben gleichzeitig im letzten möglichen Moment von der dem Untergang geweihten Oberfläche von Sunim ab.
»Eagle Zwei… Commander, hier Mondbasis Alpha. Hören Sie mich?« gab Sandra Benes, die Computerexpertin der Kommandozentrale durch, während die Schiffe auf sicheren Kurs zum Mond gingen. »Laut und klar, Mondbasis!« rief Koenig zurück. Er warf einen zufriedenen Blick auf seinen Bildschirm, auf dem spinnenähnliche Lichtspuren die entfernte Explosion anzeigten. »Wir sind bereits auf Heimatkurs!« Er lächelte Shermeen und Maya zu, die hinter ihm standen. »Freuen Sie sich bloß nicht zu früh, John!« sagte Sandra. Ihr Gesicht auf dem Monitor lächelte. »Was soll denn das wieder heißen?« fragte er stirnrunzelnd. »Ich pflege mich nie zu früh zu freuen. Raus mit der Sprache!« »Es sieht ganz nach doppelten Unannehmlichkeiten aus«, sagte sie schon ernster. »Wir versuchten schon eine ganze Weile, Sie zu erreichen. Es handelt sich um zweierlei – erstens um ein Vorkommnis, zweitens um eine Erscheinung.« »So?« Er richtete sich in seinem Sitz auf. »Das Vorkommnis sind dreiundfünfzig unidentifizierte Flugobjekte, welche die Flugbahn des Mondes berühren…« Sie hielt inne und wartete Koenigs Reaktion ab. Er stöhnte auf, und sie fuhr fort: »Die Erscheinung ist eine Wolke unbekannter Zusammensetzung… noch zu entfernt, um sich ernsthaft Sorgen zu machen… aber immerhin untersuchenswert.«
»So ein Pech!« Koenigs Laune sank beträchtlich. »Und ich hoffte schon, wir könnten die Suche nach Tiranium vorantreiben…« »Leider nein, Commander.« Koenig dirigierte seine Gedanken zurück zu den harten, kalten Tatsachen des Weltalls… weg von der Vorstellung einer schönen, wärmenden Ruhepause auf einem idyllischen Planeten in einem Bereich des Alls, der so weit wie möglich von dem verwünschten, dahintreibenden Felsbrocken entfernt war, den zu befehligen sein unentrinnbares Los war. »Na schön«, gab er resignierend von sich. »Gib mir die Aufnahmen durch. Ich habe ohnehin nichts zu tun.«
XI
Die Aufnahmen waren scharf und deutlich. »Sieht aus wie ein Schwarm von Weltraumbienen…«, bemerkte Helena von ihrem Arbeitsplatz in der Kommandozentrale aus. »Und jede einzelne vielleicht mit einem Atomstachel ausgerüstet«, warf Simon Hayes unbekümmert ein. Koenig betrat die Zentrale und setzte sich an seinen Platz. Sie waren seit wenigen Stunden von Sunim zurück – oder vielmehr von den im All treibenden Bruchstücken, auf die der Planet reduziert worden war. Koenig hatte knapp Zeit gehabt, sich umzuziehen, zu waschen und wenigstens einen kleinen Imbiß zu sich zu nehmen. »Entfernung?« fragte er, während er aufmerksam den ›Bienenschwarm‹ auf dem großen Bildschirm beobachtete. »Im Moment noch peripher. Sie nähern sich jedoch deutlich«, sagte Sandra mit einem Blick auf ihre Instrumente. »Sensorenwerte?« Maya drückte ein paar Knöpfe an ihrer Konsole. »Dreiundfünfzig Ufos, dichte Beschaffenheit, metallisch, Länge schätzungsweise zehn Fuß, ungenügende Daten, um ihre Absichten zu erkennen…« »Kurs?« knurrte er Sandra an. »Auf einen Punkt hinter dem Mond.« »Na, hoffentlich halten sie den Kurs«, brummte Koenig. Die schlanken, unheilvoll aussehenden Geschosse mit den grauen, gefurchten Seiten und den stumpfen Nasen stimmten mit den eben geäußerten Angaben genau überein. Sie schwebten bedrohlich im All und waren auf dem Bildschirm so echt und
scharf zu sehen, daß man den Eindruck hatte, sie befänden sich bereits in der Zentrale. Und sie sahen aus, als brächten sie nichts Gutes. Auf Hayes’ Konsole blinkte ein grünes Licht auf. Er drückte einen Knopf. »Wir können vergrößern«, meldete er. Der Schwarm heller Objekte löste sich in ein größeres, noch deutlicheres Bild auf, das sich vor einem sternenbesetzten Hintergrund von links nach rechts bewegte. »Das müssen Flugkörper sein!« erklärte Hayes. Er wollte nach dem roten Alarmknopf greifen, doch Koenig hinderte ihn daran. »Nicht! Wenn sie an uns vorüberfliegen – dann lassen wir sie unbehelligt!« Gespannt sahen sie zu, wie die gerillten Objekte sich wieder entfernten. Koenig wartete geduldig, bis sie vorübergeflogen waren. »John! Sie machen kehrt!« meldete Sandra Benes erschrocken. Unruhig sah er zum Bildschirm hin. Die Flugobjekte wandten ihre Stumpfnasen der Kamera zu. Es gab kein Entrinnen mehr. »Alarmstufe!« rief er und rückte in seinem Sitz vor. In allen Zentralen und Abteilungen auf allen Stufen erklang das Heulen der Alarmsirene. »Eagle Eins und Zwei startklar machen!« Hayes’ dringende Aufforderung entsprach dem eingedrillten Vorgehen. Koenig drückte einen Knopf, und das Bild auf dem großen Schirm wurde zweigeteilt, und zeigte erst den Start des ersten, sodann des zweiten Eagle in einem orangefarbigen Flammenstreifen. Helenas Stimme ertönte, als sie Meldung erstattete. »Krankenstation bereit zur Aufnahme von Verletzten und Schwerverletzten.« Der Heulton hörte nicht auf, und auf den Konsolenmonitoren sah man die in weißen Asbestanzügen steckenden Ärzte,
Schwestern und Rettungsmannschaften durch die Gänge zu ihren Posten rennen. »Entfernung nimmt ab – 180… 160…«, begann Sandra den Countdown, während sie den näher kommenden Gegner aufmerksam im Auge behielt. »Schutzschilde ausfahren…«, befahl Hayes. »130… 110…« Sandras Stimme klang hastiger und trockener. Ihr Herz hämmerte wie wild, doch jahrelanges Training bewirkte, daß sie auf ihrem Posten blieb. »Hauptlaser in Position«, ordnete Koenig an. »Schußbereit.« Simon Hayes gingen die Nerven durch. »Bei diesem Affentempo bekommen wir sie nicht alle ins Visier!« überschrie er das Sirenengeheul. Die todbringenden Stumpfnasen der Flugobjekte hielten auf den Mond zu und verdunkelten mit ihren dunklen Leibern den Bildschirm. Die massiven Varioobjektive der Kameras verkleinerten das Bild, konnten aber mit der rasenden Geschwindigkeit der UFOs nicht Schritt halten. Der Bildschirm zeigte bald nur mehr den sternenfunkelnden Hintergrund.
XII
Diesmal waren sie praktisch aus dem Hinterhalt überrumpelt worden, sagte sich Koenig resignierend. Doch es war nicht ihre Schuld. Hätte er von Sunim aus Kontakt mit der Mondbasis gehabt, hätte der Angriff abgewendet werden können – indem man einfach eine Aufklärungsabteilung ausschickte, welche die Flugobjekte inspizierte, ehe diese in den Raumbereich des Mondes einflogen. Man hätte die Objekte leicht zerstören können. Auf jeden Fall hätte der Mondbasis mehr Vorbereitungszeit zur Verfügung gestanden. Mit Ausnahme Helenas hatten sich aber die maßgeblichen Leute auf Sunim befunden, und die Ärztin war durch die Pflege des kranken Wachtpostens und einem damit verbundenen Ausbruch einer Pflanzeninfektion derart eingespannt, so daß niemand da war, der die für eine solche Entscheidung notwendige Autorität besaß. Die Kameras hatten die Flugobjekte wieder erfaßt. Sie befanden sich bereits in gefährlicher Nähe des großen Felsbrockens, den die Alphaner ihre Heimat nannten. Sie hatten die Abwehreinrichtungen der Mondbasis überwunden, jetzt konnte sie nichts mehr aufhalten. Die Alphaner konnten nur dasitzen und abwarten, bis die Sprengköpfe sie trafen – und den Mond samt seinen Bewohnern in Millionen herumwirbelnde Stücke verwandelten. Sie waren von einem dem Untergang geweihten Planeten zum anderen gewandert, dachte Koenig voll Ironie. »Eagles steigen zur Abwehr auf!« unterbrach Sandras Stimme seine Gedankengänge. Die Eagles konnten jetzt ohnehin nichts mehr ausrichten. Die Flugobjekte waren zu
schnell. Und sie hatten sich der Mondoberfläche so weit genähert, daß sie, belegte man sie mit Feuer, den Mond unweigerlich so vernichten würden, als wären sie mit ihm kollidiert. Doch war erstere Lösung vorzuziehen, da sich damit wenigstens die Eagle-Piloten in ihrem Lebenskalender ein paar Tage zusätzlich kauften. Er rief ihnen über Funk zu: »Feuerbereitschaft!« Sandra Benes drückte auf ihrer Konsole einen Knopf. Sie wirkte zwar beunruhigt, aber nicht zu Tode erschrocken. Was sie mit Sicherheit gewesen wäre, hätte sie die Wahrheit gekannt, dachte Koenig insgeheim. Nicht einmal Hayes lieferte brauchbare Ideen. »Es sind zu viele – ein paar entgehen uns sicher.« »Kritische Entfernung«, meldete Sandra Benes. »Laser schußbereit«, rief Koenig mit Nachdruck. Nur mit Mühe wurde er seiner Tränen Herr. Er wußte, daß nur ein Wunder sie retten konnte. »John!« rief Sandra aufgeregt und sehr erleichtert aus. »Sie ändern den Kurs!« »Was?« Koenig erwachte zur Aktivität. »Nicht feuern!« Ungläubig starrte er den Bildschirm an. Unglaublich, aber wahr: die Flugobjekte hatten ihre Geschwindigkeit vermindert und ihre schnüffelnden Nasen abgewendet. »Sie ziehen ab…«, meldete Hayes verblüfft. »Auswertung negativ«, rief Maya kühl wie immer von ihrem Platz her. Sie las die von ihrem Computer gelieferten Angaben ab. »Sie gehen in den Orbit um den Mond.« »Wie steht es mit ihrer Bewaffnung?« fragte Hayes sie. Koenig schüttelte ungläubig den Kopf. Diese Leute verhielten sich und sprachen normal, ohne zu wissen, wie nahe sie dem Tod gewesen waren. Dankbar gedachte er der militärischen Ausbildung, die es ihnen ermöglichte, eine
solche Situation zu überstehen. Er fragte: »Besteht die Möglichkeit einer Detonation?« Dabei ließ er sich von seinen Gefühlen nichts anmerken. »Einen Augenblick!« rief Maya aus. »Ich habe Simons Frage noch nicht beantwortet…« Sie studierte eifrig die Computerangaben. »Noch immer ungenügende Werte. Die Sensoren können die Außenhülle nicht durchdringen. Und was Ihre Frage betrifft, John… es gibt da drei Möglichkeiten. Druck, Zeitzünder oder Fernsteuerung.« Koenig nickte bekräftigend. »Transport-Eagle startklar machen!« Hayes warf ihm einen fragenden Blick zu, und Koenig erklärte seine Maßnahme: »Wir müssen uns Gewißheit über sie verschaffen. Wir können nicht einfach zulassen, daß fünfzig Flugobjekte auf ewige Zeiten über unseren Köpfen fliegen!« Koenig trat aus der Transport-Kabine in die Luftschleuse des Eagle. Maya stieg mit ihm ein. Die Luke schloß sich hinter ihnen. Koenig griff nach der Sprechanlage an der Wand, schaltete ein und sagte zum Piloten: »Alles startklar machen.« Er und Maya holten aus den Ausrüstungsschränken an der Wand ihre Raumanzüge. Bald hatten sie diese, bis auf die Helme, übergezogen und gingen nun schwerfällig, die Helme unterm Arm, in die Pilotenkanzel. »Los jetzt, bring sie hoch«, wies Koenig den Piloten an, nachdem er und Maya sich gesetzt und angeschnallt hatten. Die Antriebe erwachten donnernd zum Leben, überwanden die geringe Anziehungskraft des Mondes und hoben das Raumschiff mühelos von der Startrampe ab. Sehr bald hatte der Pilot das Schiff längsseits zur Flotte der kleinen Flugobjekte hingesteuert. Die Objekte waren nicht größer als ein menschlicher Körper. Koenig begutachtete sie genau auf dem Monitor. Hinter ihnen, weiter draußen im All, sah man die zwei Eagle-
Kriegsschiffe. Koenig lenkte die Aufmerksamkeit des Piloten auf zwei der Flugobjekte, die abgesondert von der großen Masse dahinflogen. »Geh näher heran«, sagte er. Dann drehte er sich um und gab Maya ein Zeichen. Sie beide standen auf und gingen wieder in die Passagierabteilung. Dort stülpten sie die Helme über. Während Maya einen dreifußförmigen Sensor einsatzbereit machte, von dem sie die Werte ablesen konnte, wartete Koenig an der Luke ab, bis der Pilot sein Manöver ausgeführt hatte. »Los, Commander«, meldete sich schließlich die Stimme des Piloten krächzend im Kopfhörer. Koenig streckte einen umhüllten, behandschuhten Arm aus und aktivierte den Mechanismus der Schleuse. Der Umweltanzeiger blitzte auf und zeigte an, daß sie ihre Spezialausrüstung zu Recht angelegt hatten. Langsam glitten die Innentüren auf, er betrat die Schleuse. Er wartete, bis Maya den fast gewichtslosen Sensor nachgezogen hatte und ebenfalls eingetreten war. Automatisch schlossen sich die Innentüren. Nach einer kleinen Pause öffnete sich die Außentür. Unter ihnen, in dem schweigenden, riesigen Abgrund, der ihre winzigen Existenzen und das ebenso kleine Schiff umgab, hingen die zwei UFOs. Scheinbar nur einen Schritt unter ihnen hing, fast vollständig verdeckt vom grauen Schwarm der Störenfriede, das unförmige graue Rund des Mondes. Von der trägen Rotation der Mondwelt abgesehen, schien es keine Bewegung zu geben. Die verschiedenen Objekte und ihre komplexen Beziehungen schienen auf ewige Zeiten erstarrt. Koenig machte sich an einem nabelschnurähnlichen Seil fest, das von riesigen, an den Luftschleusenwänden befestigten Rädern abspulte. Mit geübten Griffen setzte er den Antriebsapparat auf seinem Rücken in Gang und ließ sich vom Rand der Schleusenstufen gleiten.
Er hielt auf das nächstgelegene Flugobjekt zu und machte sich daran mittels Saugnäpfen fest. Aufmerksam studierte er die Oberfläche. Sie bestand aus irgendeinem Metall und war von tiefen Rillen durchzogen. Er lockerte die Saugnäpfe und umkreiste das geheimnisvolle Objekt wie ein neugieriges Insekt, das einen riesigen geometrischen Abfallhaufen umkreist. Das Schiff war höchstwahrscheinlich unbemannt. Das Ding lief nach hinten spitz zu und sah ganz nach einem ferngelenkten Geschoß ohne Steuerschwanz aus. Wenn es das war, warum hatte es seine Aufgabe nicht erfüllt? Warum war der Schwarm im letzten Moment ausgewichen? Es drängte sich ihm der Gedanke auf, daß der- oder dasjenige, das diese Dinge steuerte, erreichen wollte, daß die Objekte näher untersucht würden. Er stieß sich ab und drehte seinen Körper langsam im richtungslosen, schwerelosen Nichts um. Er orientierte sich von neuem und sah zu dem zweiten Objekt hinüber. Es war mit dem ersten völlig identisch. Die übrigen einundfünfzig UFOs dahinter hielten keine geordnete Formation ein. »Sie fliegen nicht in Formation«, gab er über sein HelmFunkgerät an Maya weiter, die noch immer mit dem Sensor in der Luftschleuse wartete. »Sie fliegen in willkürlicher Anordnung. Zu zweit, zu dritt, zu viert…« »Keine Anzeichen elektrischer Aktivität… keine Hitzestrahlung… wenn man dem Sensor Glauben schenken kann…« »Komm’ rüber«, gab Koenig durch. Er sah zu, wie der zierliche Körper sich von den Stufen gleiten ließ und zu ihm herüberjettete. Im Weltall konnte man die drei Dimensionen optisch nicht erfassen – man sah nur zwei. Das bedeutete, daß sich Entfernungen nicht abschätzen ließen, wenn man die relative Größe der zu vergleichenden Objekte nicht kannte. Was wie ein Zentimeter entfernt aussah, konnte im Extremfall Millionen Lichtjahre weit sein! Das war mit einer der Gründe,
warum das All für den Menschen nicht der geeignete Lebensraum war. Ohne ihre Instrumente als Krücke, die sie leitete, hätten sie keine Überlebenschancen. Maya hatte einen kleinen Handsensor bei sich und jettete ans Schwanzende des Objektes, gefolgt von Koenig. Sie begutachteten das primitive Auspuffsystem. »Raketenmotorantrieb«, stellte Koenig fest. »Gasöffnungen… das deutet auf eine gewisse Orientierungsfähigkeit hin.« Maya untersuchte die Öffnungen und das umgebende verbrannte, geschwärzte Metall. Sie las die Werte ab. »Nicht… mehr… funktionsfähig.« Simon Hayes’ Stimme krächzte in den Kopfhörer. »Gibt’s was, John?« »Zu wenig für eine endgültige Bewertung…«, antwortete Koenig. »Wir müßten einen Blick ins Innere tun können. Wir werden ein Exemplar kapern und zur Landung bringen.« Es trat eine überraschte Pause ein. »Zur Landung bringen?« »Ganz richtig«, sagte Koenig. Er schaltete seinen Antrieb ein und schob das Objekt an. »Eines der Außengebäude auf Alpha soll bereitgestellt werden. Wir wollen das Ding dort aufknacken – möglichst weit entfernt von der Kommandozentrale.« Mühelos schoben er und Maya das Objekt durch den Raum auf die großen Greifer des reglosen Eagle zu.
Der Forschungstrakt lag am äußersten Rand der Mondbasis – die Gründe hierfür waren klar. Falls etwas schiefging, würde die übrige Mondbasis hoffentlich nichts davon abkriegen. Der Trakt war mit Alpha nicht einmal durch Gänge verbunden, sondern nur durch Transportröhren-Fahrzeuge. Helena brauchte fünfzehn Minuten, um von der Kommandozentrale aus hinzukommen. Ihre Anwesenheit war
für den Fall erforderlich, falls sich beim öffnen des Flugobjektes ein Unfall ereignete. Vor ihr öffneten sich die Türen der Transportröhre, und sie trat hinaus. Vor ihr lag ein kurzer Korridor. Am Ende befand sich das Labor, in das man den rätselhaften Fund geschafft hatte. Sie trat ein. Dieses Labor war wie alle anderen in zwei Abteilungen unterteilt – einen Arbeitsbereich und einen Beobachtungsbereich. Diese beiden Bereiche wurden durch eine dicke, schützende, aber durchsichtige Trennwand geteilt, in der sich eine Tür befand. »Sanitäts- und Rettungseinheit in Bereitschaft«, meldete sie beim Betreten des Beobachtungsbereiches. Koenig und Maya waren hereingestürzt und noch im Begriff, ihre Raumanzüge auszuziehen. Koenig nickte und setzte sich schweigend auf einen Drehstuhl vor der Steuerkonsole. Maya setzte sich neben ihn und bediente die Instrumente. Helena stand ernst hinter ihnen und beobachtete den Vorgang. Durch das Glas konnte sie mitansehen, wie das Flugobjekt von einem Arbeitstrupp auf einem Karren durch einen separaten Eingang hereingeschoben wurde. Die Männer trugen Schutzkleidung und schoben den Karren zu einer drehbaren Arbeitsplattform. Dort luden sie das Objekt ab. »Wir können uns gegen bekannte Gefahren schützen – gegen Bakterien, toxische Chemikalien – aber alles andere sind reine Vermutungen«, informierte Helena sie. Koenig nickte wieder. Er sagte in seinen Monitor: »Simon – verbinde uns mit dem Hauptcomputer. Wir müssen jeden nur möglichen Test machen, bevor wir die Außenhülle durchdringen.« »Computer über Hauptleitung eingeschaltet«, antwortete Hayes fast augenblicklich. »Na, dann fangen wir an«, verkündete Koenig voll Spannung. Die Männer, die das Ding hereingekarrt hatten, waren wieder
verschwunden. Das bedrohlich aussehende Objekt lag nun allein unter den starken Lichtstrahlen. Auf Mayas Knopfdruck hin bewegte sich im Arbeitsabteil ein ferngesteuerter, beweglicher Vielzweckscanner in die richtige Position. Gehorsam drehte sich der zu untersuchende Zylinder auf seiner Unterlage. »Testergebnisse folgen sofort«, informierte Hayes Koenig von der schriftlichen Computermeldung. Noch während er sprach, kamen aus der Konsole vor Maya und Helena schon die Ergebnisse. »Was gibt es?« fragte Koenig. Maya studierte die Daten. »Sie geben nur theoretische Möglichkeiten der Konstruktionstechnik bekannt – aber nichts von praktischer Bedeutung für unser Öffnungsvorhaben.« Sie schien enttäuscht. Helena war von ihren Ergebnissen ebenfalls nicht beeindruckt. »Keine Daten, die einem zur richtigen Einschätzung eventueller chemischer oder bakterieller Gefahren verhelfen könnten.« »Ein Teufelskreis«, bemerkte Koenig tonlos. »Also gut – wir müssen uns blindlings in das Abenteuer stürzen.« Er nickte Maya zu. Innerhalb des Arbeitsbereiches sandte der Scanner-Arm einen Strahl reinen weißen Lichtes aus. Das Licht traf den Zylinderkörper und löste sich in einen hellen, glühenden Punkt auf. Der Strahl verengte sich zu einem nadelfeinen Laserstrahl. Die durchsichtige Wand verdunkelte sich, um die Zuschauer vor der Helligkeit zu schützen. Dort wo der Laser den Metallkörper traf, kam es zu einer blendenden Lichtexplosion. Sie erlosch und hinterließ ein unregelmäßiges Loch. Beklommenes Schweigen senkte sich auf die Beobachtungsabteilung. Das Loch klaffte unheilvoll, und alle traten unbehaglich von einem Fuß auf den anderen und
warteten, was sich wohl ereignen würde. Ein schwaches Tickund Schnurrgeräusch drang durch die Lautsprecher. »Das sind bewegliche Teile!« rief Koenig aufgeregt. »Womöglich ein funktionstüchtiger Mechanismus im Inneren!« »Vielleicht eine Sprengvorrichtung«, dämpfte Maya seine Begeisterung. »Computerreaktion?« fragte Koenig. Lichter blinkten an der Konsole, als der Computer sich selbst übertraf. Gleich darauf kamen die Ergebnisse. So schnell auch die Papierstreifen ausgespuckt wurden, Helena las gleich mit. »Kein Ansteigen der Strahlung… keine bakteriologischen Veränderungen… keine Druckänderung… kein Vorhandensein toxischer Chemikalien…« »Das Innere mit Stickstoff durchspülen«, befahl Koenig. Es war eine rasche Entscheidung. Maya drückte Knöpfe und drehte Schalter. Vom ScannerArm senkte sich eine Röhre in das Loch an der FlugkörperAußenhülle. Ein Geysir weißen Stickstoffdampfes eruptierte in die Luft, als das gefrorene flüssige Nitrogen hineingespült wurde – und fing sofort zu brodeln an, als es der Raumtemperatur ausgesetzt wurde. Kochend spritzte es über den Rand der Öffnung. Über die Lautsprecher hörte man ein starkes Zischen, das die Geräusche der surrenden, klickenden Mechanismen übertönte. Angespannt sah Koenig zu, wie immer größere Mengen des flüssigen Gases hineingepumpt wurden. Schließlich verstummten die mechanischen Geräusche, da die sie verursachenden Apparate eingefroren waren. Er hob die Hand, und Maya stoppte den Stickstoffzufluß. Das Zischen verstummte, und wieder herrschte absolute Stille. Sie warfen einander nervöse Blicke zu.
Koenig wollte bereits aufstehen und eine nähere Inspektion vornehmen, als sich plötzlich mitten im Arbeitsraum eine schwere Explosion ereignete, die die Trennwand aufriß und sie alle zu Boden schleuderte. Metallteile wurden durch den Raum geschleudert und bohrten sich in die Wände. Überschüssiger Stickstoff verkochte – bis wieder Stille eintrat. Sie rafften sich auf, unverletzt bis auf Schnittwunden und Abschürfungen. Helena drückte den Alarmknopf. Aus dem Gang stürzte der Entseuchungstrupp herein und richtete die Schläuche der Kanister auf das Flugobjekt. Es folgte die Sanitätseinheit, die mit Tragbahren und kompletten Erste-Hilfe-Ausrüstung bestückt hereinlief, angeführt von Ben Vincent. Man half Maya auf die Beine und versorgte eine Platzwunde an Koenigs Kopf. »Was war das, John?« fragte die bleiche Helena, während sie einem Sanitäter half. Koenig verzog das Gesicht, als man ihm die Wunde desinfizierte. »Die Außenhülle muß explodiert sein… unter gewaltigem, angestautem Innendruck. Vermutlich mein Fehler, weil ich Stickstoff hineinblasen ließ.« Da ertönte ein Entsetzensschrei – ein Mann des Entseuchungstrupps hatte ihn ausgestoßen. »Commander! Rasch! Kommen Sie!« Erschrocken riß sich Koenig von dem Sanitäter los, kletterte über die zerstörte Trennwand und trat an das Flugobjekt heran. Er machte sich auf einen unangenehmen Anblick gefaßt und spähte durch den seitlichen Riß hinein. Da lagen Kopf und Schultern eines Jünglings – frosterstarrt und von Eis umrahmt. Die Augen starrten glanzlos vor sich hin. Die Lippen verzerrt von der Totenstarre. Von Entsetzen und Kummer überwältigt wandte er sich ab. »Was ist es denn, John?« fragte Helena.
Sie kam langsam auf Koenig zu. »Was oder wer das auch sein mag… er… das da drin… ist humanoid. Wir haben ihn eben getötet…«
XIII
Der Knabe war noch sehr jung, höchsten achtzehn, schätzte Helena. Das von blonden Locken umrahmte Gesicht war von engelhafter Unschuld. Wie andere junge Leute war er einst unbekümmert und energiegeladen gewesen. Er trug eine leuchtendgelbe Tunika mit rotem Band und war etwa gleichgroß wie Helena. Und wenn ihre Instrumente nicht trogen, war er tot. Sie und Ben Vincent starrten ihn durch das Sauerstoffzelt aus Plastik an, das man um sein Bett errichtet hatte. Auf der Erde hatten sie einst eigene Kinder gehabt und waren nun von Trauer überwältigt. Der Junge war durch eine Unzahl von Leitungen und Röhren mit dem verschiedensten Apparaten und Monitoren verbunden. Im Vordergrund hob und senkte sich matt ein Atemsack aus rotem Gummi. »Fibulator einschalten«, sagte Helena zum zweiten Arzt. Vincent nickte und aktivierte das Gerät. Da trat Koenig von Neugier getrieben ein. »Er lebt, John«, kam sie seiner Frage zuvor. »Eben jetzt waren die ersten Anzeichen zu erkennen.« »Unmöglich!« stieß Koenig hervor. »Der flüssige Stickstoff, den wir in den Behälter einströmen ließen, hätte ihn erfrieren lassen müssen…« »Es sieht ganz so aus, als wäre er bereits tiefgefroren gewesen, als wir den Zylinder öffneten«, fuhr Helena fort. »Cryobiologie. Anwendung der Tiefkühltechnik bei lebendem Gewebe.« Eine Veränderung auf einem der Oszilloskope, die die Herztätigkeit des Jungen aufzeichneten, erregte ihre
Aufmerksamkeit. »Spannung des Fibulators erhöhen. Er wird schwächer.« Koenig runzelte die Stirn. »Hat er eine Chance? Wird er durchkommen?« »Wir können die Wirkung der Explosion nicht abschätzen«, erklärte ihm Vincent. Koenig überlegte. Plötzlich aber drehte er sich um und drückte den Knopf einer Sprechanlage. Verdeschis Gesicht erschien auf dem kleinen Wand-Bildschirm. »Tony… ich möchte, daß ein zweiter Flug-Container heruntergeholt wird. Rasch.« »Transport-Eagle startklar machen«, hörte man Verdeschis Stimme, der die Anweisung weitergab. Er sah wieder in die Kamera: »Soll es ein ganz bestimmter Container sein?« Koenig antwortete nach einer kleinen Pause: »Ja. Der Zwilling dessen, den wir hier haben.« Helena sah auf, als die Verbindung mit Verdeschi ausgeschaltet wurde. »Warum das? Wir wissen doch nicht, wie man sie sachgemäß öffnet.« Koenig deutete auf den Sterbenden. »Er kann uns sagen, wie man den Container öffnet… sieh zu, daß er weiterlebt.« Helena war empört. »Ich bin Ärztin, John. Ich rette ein Leben, um des Lebens willen.« Koenigs Überlegungen lagen auf einer völlig anderen Ebene. »Diese Menschen kennen das Geheimnis der Raumfahrt«, sagte er. »Eines Tages wird vielleicht unser Überleben davon abhängen, ob auch wir das Geheimnis kennen.« Helena war besänftigt. »Die Antwort kennen wir bereits teilweise. Eine Plastikmembran, die den ganzen Körper bedeckt.« Koenig spähte durch das Zelt. »Man sieht es nicht«, sagte Helena. »Die Membran ist so fein wie menschliches Gewebe… aber widerstandsfähig…« Wieder
galt ihre Sorge der absinkenden Herztätigkeit. »Spannung verdoppeln«, sagte sie zu Vincent. Der ältere Arzt sah überrascht auf. »Damit werden Sie ihn töten!« erklärte er. »Verdoppeln! Und zwar rasch!« äußerte sie knapp. Vincent drehte an der Einstellung. Eine Nadel des Apparates schlug gefährlich in die Rot-Zone aus. Helena starrte wie gebannt die Oszilloskop-Röhre an. Die den Herzschlag darstellende Welle schlug plötzlich zweimal aus, und Helena lächelte erleichtert. Sie trat ans Bett, entfernte Zelt, Röhre und Sauerstoffmaske. »Er wird es schaffen«, erklärte sie glücklich. Sie scharten sich in respektvollem Abstand um den Jungen und ließen ihn nicht aus den Augen. Flatternd schlug er die Augen auf und ließ den Blick wandern. In ihm schien sich ein Kampf abzuspielen, seine schönen jugendlichen Züge verzerrten sich. »Cantar…« stieß er matt hervor, fast unhörbar. »Ich heiße Cantar.« Koenig beugte sich zu ihm und sagte eindringlich: »Cantar…« »Mein Volk… rettet mein Volk…!« flüsterte der Junge schon etwas kräftiger. »Das werden wir, wenn du uns hilfst…«, sagte Koenig sanft. Die verzerrten Züge glätteten sich, der Junge schien ungemein erleichtert. Er versuchte sich aufzusetzen, um sehen zu können, wer Koenig war, schaffte es aber nicht. »Die anderen… haben Sie die anderen gesichtet?« fragte er. Koenig tätschelte den deckenumhüllten Körper. »Sie umkreisen unsere Basis.« Plötzlich wurde der Junge unruhig. »Sie… müssen… sie retten«, keuchte er. »Sofort… die Zylinder…« »John!« rief Helena beschwörend. »Laß ihn in Ruhe.«
Koenig rückte vom Bett ab und warf einen Blick auf das Oszilloskop. Die Ausschläge wurden flacher. Trotzdem sagte er zu Helena: »Wir müssen es erfahren, Helena.« Cantar schlug bebend die Augen auf. Er sprach so leise, daß sich alle über ihn beugen mußten. »Sie sind so konstruiert, daß sie der Schwerkraft nicht standhalten. Sie werden zerschellen, wenn sie länger in der Umlaufbahn bleiben…« »Wie sollen wir sie öffnen, ohne sie in Stücke zu reißen?« fragte Koenig und beugte sich noch tiefer über den Jungen. Helena verschränkte wütend die Arme. »Man muß… den Innendruck senken, indem man die Kapsel von außen erwärmt…« Und der Junge versank wieder in einen tiefen, komaähnlichen Schlaf. Helena ließ sich nun nicht mehr erweichen. »Jetzt nicht mehr«, sagte sie eisern. »Mehr kann ich nicht erlauben.« »Ganz recht, Doc.« Koenig erhob sich aus seiner kauernden Stellung. Er hatte erfahren, was er wissen wollte. Im Gehen gab er Helena einen Kuß auf die Wange, sie aber verscheuchte ihn wütend.
Der zweite der grauen, gerillten Container lag vor ihm. Diesen hatte man sehr viel einfacher herunterholen können, da man jetzt wußte, daß er nicht mit Waffen bestückt war. Aus Sicherheitsgründen wurde er jedoch in einem neuen Labor wieder mittels Fernsteuerung geöffnet. »Erwärmung bis auf sieben Punkt Maximalhöhe«, rief Maya. Das Objekt wurde in tiefrotes Licht getaucht und so gut wie gebraten. »Schluß jetzt«, entschied Koenig. Die Hitzebehandlung wurde eingestellt. Die Gruppe weißbekittelter Menschen im
Beobachtungsbereich wartete gespannt, ob ihr Experiment Wirkungen gezeigt hatte. Eine kleine Schiebeöffnung an der gerillten Oberseite des Zylinders glitt auf. Aus dem Inneren drang ein rotes Glühen. Die Techniker warteten auf Anzeichen von Leben. Als sich nichts rührte, öffnete Koenig die Tür in der Trennwand und betrat vorsichtig den Raum. Bald stand er direkt über der roten Öffnung und spähte hinein. Sämtliche Gesetze der Physik, des Lebens, der Wahrscheinlichkeit und des Universums hätten keiner härteren Probe unterworfen werden können, dachte er, während er überrascht den Anblick eines schönen jungen Mädchens, der Gefährtin des Jungen, in sich aufnahm. Makellos, die Züge in einem seligen Lächeln erstarrt, so war sie heil und unversehrt hier eingetroffen. Er überwachte voll Ungeduld das Herausheben des Mädchens aus der Kapsel und ihren Transport auf einer fahrbaren Liege in die Krankenstation. Eine um vieles glücklichere Helena begrüßte ihn. Seit dem kurzen Gespräch mit Cantar waren zwölf Stunden vergangen. Seither hatte sich der Junge bemerkenswert rasch erholt. »Die Bluttemperatur ist fast schon normal«, sagte Ben Vincent, als Koenig mit der neuen Patientin eintrat. Der Arzt sah von seinen Instrumenten auf und ließ sein Stethoskop fallen. Er und Helena liefen an die Liege und verfrachteten das Mädchen in ein vorbereitetes Bett – neben jenes von Cantar. Dasselbe Zelt hatte man für sie aufgebaut. Sie wurde rasch an die verschiedenen Sensorenleitungen angeschlossen und bekam eine Sauerstoffmaske, selbstverständlich wurde auch ein Elektrokardiogramm gemacht. Dann traten alle zurück, und die lebenserhaltenden Instrumente traten in Aktion. »Zova…« Hinter ihnen rief Cantar diesen Namen. Helena wollte ihn trösten und mußte ihn mit Gewalt im Bett halten. Er
setzte sich auf und sah flehentlich zum Isolationszelt hinüber. »Meine Frau…«, sagte er lauter. Aufgeregt und neugierig trat Koenig an sein Bett. Er hockte sich neben dem Jungen hin. »Seid ihr paarweise geflogen?« fragte er. »Paarweise… zu dritt… viert… in Familiengruppen«, antwortete Cantar. Dann sagte er mit erstaunlicher Bösartigkeit: »Das entsprach ihrem sadistischen Sinn für Humor.« Das sagte er, ohne nachzudenken, während er ängstlich Helena und Vincent beobachtete, die Zova betreuten. Koenig beugte sich voll Wißbegier vor. »Wessen Sinn für Humor? Woher kommt ihr?« fragte er eindringlich. Cantar ließ sich ermattet zurücksinken. »Wir, die wir auf Golos lebten, kannten ihn als Friedensplaneten…« »Dann kam eine Invasion?« fragte Koenig und half, den Jungen mit Kissen zu stützen. Cantar schien erleichtert, aber noch immer verbittert. »Man hat uns hinausgeworfen«, berichtete er. »Wir mußten gehen. Es war ein interner Zwist. Wir waren hilflos und unbewaffnet. Die anderen waren klein an Zahl, aber erbarmungslos…« Wieder wurde er von Gedanken an seine Frau abgelenkt. »Atmet sie?« fragte er Helena besorgt. Helena hatte Vincent geholfen. Jetzt trat sie kurz an das Bett des Jungen. »Sie wird sich erholen«, antwortete sie liebevoll und fühlte seinen fiebrigen Puls. Cantars Arm schlüpfte aus den Decken und langte nach dem Nachbarbett. Es war das erste Mal, daß er lächelte. Es war kein Lächeln des Glückes, sondern ein Lächeln der Erleichterung. »Ihr seid humane Menschen«, sagte er. »Ich weiß, daß ihr uns alle retten werdet…« Koenig war unangenehm berührt. Er ließ den Jungen zurücksinken und einschlafen. Für den Augenblick jedenfalls hatte er mit seinen Annahmen recht.
Er stand auf und ging hinaus. In ihm begann ein tieferes, dunkleres Bild Gestalt anzunehmen. Es war immerhin möglich, daß die Mondbasis doch Ziel eines Angriffes war. Eines Angriffes viel subtilerer Art. Eines Angriffes vielleicht, dessen sich sogar die Angreifer nicht bewußt waren… einer langsamen, schleichenden, heimtückischen psychischen Attacke. Er ging zurück in die Kommandozentrale und setzte sich nachdenklich. »Sandra – wie steht es mit dieser Wolke? Haben wir diesbezüglich schon nähere Angaben?« »Wir haben ein gutes, scharfes Bild auf weite Distanz. Sonst nichts Sicheres«, antwortete Sandra Benes von ihrer Konsole her. Mit ein paar fachmännischen Handgriffen brachte sie das Bild der Wolke auf den Bildschirm. Man konnte, wie sie schon sagte, damit nicht viel anfangen – aber was man sah, war unmißverständlich. Der Bildschirm war voller Sterne – allein in diesem kleinen Abschnitt des Alls sah man mit freiem Auge mehr, als man an allen Himmeln der Erde zählen konnte. Sandra stellte das Bild der Wolkenmasse, das Koenig sehen wollte, schärfer ein. Ein winziger schwarzer und kreisrunder Fleck, ziemlich unscheinbar. In Wirklichkeit jedoch befand sich die Wolke nach astronautischen Begriffen in unmittelbarer Nähe – mehr noch, sie lag ihrer Bahn bereits unbehaglich nahe. Koenig überlegte. Für die Aufnahme einer Verbindung war die Entfernung noch zu groß. Er mußte abwarten. Koenig drückte auf einen Knopf, und auf dem Bildschirm sah man wieder die kreisenden Raumkapseln.
Die Wolke behielt also ihre Geheimnisse für sich. Zwei Tage später hatte sich der jugendliche Weltraumreisende völlig erholt. Seine Jugend hatte den Ausschlag gegeben. Er wirkte kräftig, lebendig und voll Selbstvertrauen, so, als wäre er nie in
seinem Leben krank gewesen. Sein Selbstvertrauen war so unerschütterlich, daß es Koenig nervös machte. Die Erfahrung hatte den Commander gelehrt, daß – erwies man einem Mitmenschen im All eine gute Tat – sofort weitere gute Taten als selbstverständlich vorausgesetzt wurden. Zwar nicht als freiwillige Gabe, sondern als ein Anrecht. Das konnte in diesem Fall damit enden, daß die gesamte Mondbasis von diesen Typen übernommen wurde. »Deine Bitte ist unerfüllbar«, sagte er ernst zu dem Jungen, als Cantar ihn von neuem bat, seine im Orbit fliegenden Freunde wiederzubeleben. Sie standen in der Kommandozentrale, Hayes und Helena konnten zuhören. »Unser Lebenserhaltungssystem ist für diese große Zahl nicht eingerichtet. Unmöglich.« Cantar wirkte bedrückt, hatte aber sein Pulver noch nicht verschossen. »In sechsunddreißig Stunden wird die Schwerkraft diese Container zerschmettern. Wie können Sie das geschehen lassen und einfach zusehen?« Koenig stieß einen Seufzer der Erbitterung aus. Diese Diskussion dauerte bereits mehr als eine Stunde. Er deutete auf Helena und sagte: »Mein Sanitäts-Chef ist für Fragen der Lebensregelung auf Alpha zuständig. Helena, erkläre ihm alles.« »Wir gestatten auf Mondbasis Alpha nicht einmal Geburten, weil wir vor Überbevölkerung Angst haben«, sagte Helena zu dem Jungen. »Cantar, wir haben keine andere Wahl«, fügte Koenig hinzu. Der Gast preßte die Lippen aufeinander. Er kämpfte mit sich. Dann hatte er eine Idee – er brachte einen ganz neuen Aspekt zur Sprache. »Wir könnten euch eine Alternative anbieten… Zova und ich«, sagte er strahlend. »Mit unseren Fähigkeiten könnten wir eure Wiederaufbereitungskapazität um das Zehnfache steigern…«
Koenig runzelte ungläubig die Stirn. »Innerhalb von sechsunddreißig Stunden?« »Ja – wenn wir nicht mehr an Zeit haben«, erwiderte Cantar. Das Angebot war bestechend. Aber Koenig schüttelte den Kopf. »Cantar, es tut mir leid. Ich kann dieses Risiko nicht eingehen.« Wut und Angst zeichneten sich in Cantars Miene ab. Er unternahm einen letzten Versuch. »Sie sagten, Sie wollten unser Geheimnis des Scheintodes im All kennenlernen. Holen Sie die Container herunter und Sie werden es erfahren!« »Nein!« »Dann schickt uns zurück!« rief Cantar. »Zova und ich wollen mit unseren Leuten sterben!« Er drehte sich wutentbrannt um und lief hinaus. Koenig starrte unbewegt den großen Bildschirm an. Sein Entschluß war unwiderruflich. Tief im Innern war er nicht glücklich – nicht seiner Entscheidung wegen, die er für vernünftig hielt, sondern wegen der Tatsache, daß er sie mit Gewalt hatte durchsetzen müssen. Nach einigen Augenblicken der Überlegung stand er auf und ging in sein Quartier. Dabei spürte er die verständnislosen und empörten Blicke seiner Besatzung im Rücken. »Warum bin ich der einzige, der die Gefahren erkennen kann?« rief er enttäuscht aus, als er in seiner Unterkunft allein war. Er ließ die Faust auf den Schreibtisch niedersausen. Ihm blieb keine Zeit, sich länger zu ärgern, denn der Türsummer ertönte, und Helenas Gesicht erschien auf dem kleinen Monitor. »Dürfen wir herein?« fragte sie in entschlossenem Ton. Ohne zu antworten, drückte er auf den Öffnungs-Knopf. Helena trat, gefolgt von Hayes, ein. »Na, kommen noch mehr Sympathisanten?« fragte er sarkastisch. Er wußte genau, warum sie gekommen waren.
»Es sind Menschen, John, wie du und ich«, sagte Hayes anklagend. »Sie sehen aus wie du und ich. Mehr wissen wir über sie nicht. Von ihrer Denkungsart, ihren Absichten wissen wir gar nichts.« »Mußt du immer das Schlimmste annehmen?« fragte Helena, halb bittend, halb ärgerlich. »Ja… wenn es um die Sicherheit dieses Basis geht«, erwiderte Koenig. »Wir sollen sie also im Stich lassen?« fuhr Helena ihn an. »Zusehen, wie sie sterben?« Er stand auf und lief aufgeregt in seinem mit Büchern vollgestopften Raum auf und ab. Er hatte sehr selten nachgegeben – und jedesmal waren die Folgen katastrophal gewesen. »Als Weltraumkadett nahm ich an einer Nachschubexpedition zur Raumstation auf der Venus teil. Als wir mit dem Andockmanöver beginnen wollten, zeigte eine Computerdiagnose an, daß vierzehn der dortigen Wissenschaftler erkrankt waren. Drei waren bereits tot. Es war eine auf der Erde unbekannte Krankheit, gegen die wir kein Gegenmittel hatten. Mein Commander mußte nun eine Entscheidung treffen. Er durfte die Krankheit nicht auf der Erde einschleppen.« Koenig machte eine Pause. »Wir ließen diese Männer sterben.« Es trat betroffenes Schweigen ein. »Aber die jetzige Situation ist anders«, wandte Helena ein. »Diese Menschen sind nicht krank…« »Sie könnten ja etwas haben, was unsere Sensoren nicht anzeigen. Meine Sorge gilt dem Überleben dieser Basis.« »Ist denn überleben so wichtig?« fragte Hayes hitzig. »Was ist das für eine Gesellschaft, die fünfzig unschuldige Mitmenschen einfach aufgibt?«
»Natürlich denken wir auch an unser Überleben«, gab Helena Koenig Schützenhilfe. »Aber wir müssen uns entscheiden, welchen Preis wir dafür zu bezahlen bereit sind.« Wortlos und grimmig stand er da, während er überlegte, wie er seine Entscheidung in die Tat umsetzen und dennoch mehr Nächstenliebe zeigen könne. Sie starrten ihn erwartungsvoll an. Koenig drückte einen Knopf an seinem Tischmonitor. Das Gesicht von Sandra Benes erschien auf dem Bildschirm. »Was ist, John?« »Cantar soll zu mir kommen.« Er schaltete ab und ließ sich schwerfällig in seinen Stuhl fallen. Er zog eine Lade auf. »John… danke.« Helena trat vor. »Das ist verfrüht«, sagte er ernst. Alle warteten, bis der Türsummer ertönte. »Komm herein, Cantar«, sagte Koenig. Er drückte einen Knopf, und der noch immer wütende Cantar trat ein. Helena und Hayes lächelten ihm aufmunternd zu und gaben ihm so zu verstehen, daß eine günstige Wendung eingetreten war. Da zog Koenig plötzlich seine Betäubungswaffe aus der Lade, zielte damit auf den überraschten Cantar und feuerte, ehe ihn jemand daran hindern konnte. Helena und Hayes wichen entsetzt zurück. Vor Schreck brachten sie kein Wort heraus, als sie zusehen mußten, wie der Junge taumelte und zusammenbrach, umhüllt von einer hellen Aura der Lichtenergie. Mit unbeweglicher Miene ließ Koenig nun Sandra wieder auf dem Bildschirm erscheinen und beorderte sie, ein Team mit einer Tragbahre zu ihm zu schicken. Dann wandte er sich an die entsetzte Helena und einen gleichermaßen entsetzten und ratlosen Hayes. »Ich mußte mich vergewissern, ob unsere Waffen ihm gegenüber wirksam sind«, erklärte er und sah, wie plötzlich, widerwilliges Verstehen in den Mienen der beiden auftauchte. Er fuhr fort: »Laßt also die beiden ihre Versuche,
die Kapazität unseres Lebenserhaltungssystems zu vergrößern durchführen… aber ich wünsche, daß sie dabei ständig von Männern des Sicherheitssystems überwacht werden!« Hayes nickte matt. »Ich werde dafür sorgen, John. Sie werden im Bereich des Lebenszentrums keinen Augenblick alleingelassen werden.«
XIV
Als Ausgleich für all die Spannungen und Aufregungen, welche mit der Aufgabe, die Existenz der aus ihrer Bahn geratenen Mondbasis aufrechtzuerhalten und zu verteidigen verbunden waren, gab es eine beeindruckende und umfassende Reihe kultureller Einrichtungen. Sie reichten von Hallenfußball und Squash bis zu intellektuellen Bereichen, wie Kunst und Lektüre. Das alles hatte man im Laufe der Jahre ausgebaut, und wenn Zeit und Mittel es erlaubten, sorgte man für Neuerungen. Bei einer nicht lange zurückliegenden Expedition gab die Entdeckung eines Lagers von Modellierton bei Helena den Anstoß, ihren früheren künstlerischen Neigungen wieder nachzugehen. Sie ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen und brachte eine ausreichende Menge Tonerde mit. Das lag nun schon mehr als zwölf Monate zurück. Mittlerweile hatten sich auf den Regalen und in den Nischen ihres Raumes Tonbüsten und abstrakte Skulpturen angehäuft. Ihr jüngstes, einer Enthüllung noch harrendes Meisterwerk, war ein Selbstporträt. Cantar hatte sich von dem Betäubungsschuß bereits erholt und Zova, seine hübsche Frau, hatte ihren Tiefkühlschlaf gut überstanden. Während nun die beiden bei ihrer Arbeit waren, um ihre angeblichen Fähigkeiten, die Lebenskapazität Alphas vergrößern zu können, zu beweisen, fand Helena Zeit, an der Vollendung ihrer Skulptur zu arbeiten. »Na, gefällt sie dir?« richtete Helena die Frage an Maya, die sich in ihrer Gesellschaft eine Ruhepause gönnte. Helena trat einen Schritt zurück und wischte die Finger an ihrer Schürze ab. Maya sah von ihrer Lektüre über ›Damenmoden auf der
Erde‹ auf. Sie machte ein gebührend beeindrucktes Gesicht, konnte sich aber von ihrer Geschichtslektion nicht ganz losreißen. »Diese Frauenbewegung interessiert mich…«, sagte sie. »Sicher habt ihr Waffen gebraucht, um die einmal geweckte Begierde der Männer abzuwehren?« »Nein«, antwortete Helena. »In den achtziger Jahren entdeckten wir wieder unsere Vorliebe für Männer. Zu dieser Zeit hatten sie aufgehört, sich selbst zu wichtig zu nehmen. Sie hatten sogar gelernt, gelegentlich über sich zu lachen.« Maya war erstaunt. »Auch Commander Koenig?« »Warum nicht? Wenn er ausgeruht und nicht im Dienst ist, kann er wirklich Sinn für Humor entwickeln.« »Und er kann auch über sich selbst lachen?« »Gewiß«, sagte Helena lächelnd. Der Türsummer ertönte, und wie um den Beweis für ihre Behauptungen anzutreten, erschien Koenigs Gesicht auf dem Bildschirm. Helena warf einen ängstlichen Blick auf die Tonbüste, wie um sicherzugehen, daß das Kunstwerk ausstellungsreif wäre. Sie streifte die Schürze ab. Maya schien amüsiert. »Bist du sicher – daß Commander Koenig Humor hat?« Helena nickte. Sie mußte lachen, als sie Mayas Absicht durchschaute. Während sie den Türöffner drückte, flammte neben ihr weißes Licht auf. Als sie aufsah, hatte sich die Psychonierin bereits in ein exaktes Duplikat Helenas verwandelt. So perfekt, daß nicht einmal Koenig würde unterscheiden können, wer nun wer war. Koenig trat ein. Während der letzten Stunden hatte sich die Arbeitslast etwas verringert. Er war nicht mehr so angespannt, fühlte aber noch immer Unbehagen. Als er die zwei Helenas vor sich sah, schien er zunächst schockiert, faßte sich jedoch und lächelte sogar, als er merkte, daß er Opfer eines Scherzes
geworden war. Doch war er in Gedanken noch immer bei höchst praktischen Dingen. »Helena…?« sprach er verlegen beide zugleich an. »Ja, John?« fragte Maya/Helena und unterdrückte krampfhaft ein Lachen. »Schon gut«, grinste er und wandte den Kopf von Frau zu Frau. »Wer ist es?« »Du kannst uns also nicht unterscheiden?« spottete die echte Helena. »Natürlich kann ich«, sagte Koenig lachend. »Maya kann diese Gestalt höchstens eine Stunde beibehalten. Ich brauche mich nur gemütlich hinzusetzen und abzuwarten.« Er lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme. »Eine Stunde?« fragte Maya/Helena. Sie lächelte Helena zu. »Warum so lange warten?« Sie trat vor und schlang die Arme um seinen Nacken. Mit erstaunlichem Nachdruck küßte sie ihn auf den Mund. Nachdenklich, die unerwartete Aufmerksamkeit eigentlich genießend, wartete Koenig, daß die zweite Helena sich ihm näherte. In der gleichen Weise wie ihre Doppelgängerin gab auch sie ihm einen betörenden Kuß. Beide Küsse schmeckten gleich. Die Frauen traten zurück und lächelten neckisch. »Na…?« fragte Helena nach einer Weile. »Na…?« kopierte Maya/Helena ihr Vorbild. Koenig zuckte die Achseln und heuchelte Gleichgültigkeit. »Nichts leichter als das.« »Wirklich?« fragte Maya/Helena. »Gewiß doch – ich spüre nicht den geringsten Unterschied.« »Was!« explodierte die echte Helena wütend. »Das ist ja sehr gut! Nun, kein Mensch wird dir übertriebenes Unterscheidungsvermögen nachsagen können.«
Koenig lachte und winkte sie zu sich. »Schon gut, Helena – es wird Zeit, daß wir hinunter in den Forschungstrakt gehen. Deine Freunde wollen mit der Arbeit beginnen.« Er wandte sich an Maya/Helena. »Und du, Maya, zurück auf deine Station.« Maya verwandelte sich in Maya und kicherte. »Jawohl, Commander.« Noch immer höchst belustigt verließ sie den Raum. Jetzt erst sah Koenig die von Helena geformte Büste und studierte sie eingehend. »Na, was hältst du davon?« fragte sie ihn. »Bei dem Modell kann nichts schiefgehen.« Koenig drehte sich um und nahm sie in die Arme. »Wann bekomme ich das?« »Die Büste sofort«, erwiderte Helena und machte sich los. Sie präsentierte ihm das Kunstwerk. »Von mir an dich.« Sie gab ihm einen leichten Kuß auf die Wange. »Wenn ich von meinen Freunden aus dem Lebenserhaltungs-Zentrum zurückkomme, könnte ich ja vielleicht etwas anderes in Erwägung ziehen.« Damit ging sie hinaus, und überließ ihn seinen amüsierten Überlegungen, was er wieder falsch gemacht haben mochte.
Die Hochfrequenzphysik-Forschungsabteilung im Lebenserhaltungszentrum war überflutet von Wellen und Blitzen farbiger Lichter. Helena konnte es kaum aushalten, als sie durch die durchsichtige, schalldichte Tür eintrat. Sofort wurden ihre Ohren von einem lauten, ununterbrochenen Knallen bestürmt. Cantar und Zova, beide in der gelb-roten Tunika, die sie in ihren kryographischen Särgen getragen hatten, standen vor einer, mit komplizierten Instrumenten bedeckten Bank. Sie wandten ihr den Rücken zu, drehten sich aber um, als Helena zu ihnen trat. Sie lächelten sehr freundlich. Sonderbar, in
Anbetracht der Tatsache, daß Zeitnot die beiden bedrücken müßte, dachte Helena. Als er sah, daß Helena sich die Ohren zuhielt, schaltete Cantar zuvorkommend das Gerät ab, das die Knallgeräusche erzeugte. Er und Zova schienen darunter nicht zu leiden. »Na?« fragte Helena, nachdem das Dröhnen in ihren Ohren nachgelassen hatte. »Ich glaube, wir sind fertig«, sagte Cantar zu ihrer Verwunderung. »Sicherheit werden wir erst haben, wenn wir unter wirklichkeitsnahen Bedingungen einen Test gemacht haben – im Energiezentrum«, warf Zova harmlos ein. Sie drehte sich um und sah zu dem Posten, der vor der Tür zum Energiezentrum stand. Es schloß an das Labor an, und der Ärmste, der dort Wache hielt, war schon ganz wirr von den Farben und vom Lärm. Helena blieb standhaft. »Ihr kennt die Befehle des Commanders – der Energiebereich wird nicht betreten.« Cantar sah sie flehend an. »Bitte, reden Sie mit dem Commander. Sicher wird er Verständnis haben.«
»Nur mehr drei Stunden, bevor sie sich selbst in die Luft jagen«, sagte Koenig zu Verdeschi nach einem Blick auf die Uhr neben dem großen Bildschirm. Auf dem Bildschirm war die Flotte grauer, gerillter Lebensrettungs-Container zu sehen. »Das behauptet Cantar«, bemerkte Verdeschi von seiner Konsole aus. Koenig sah ihn ausdruckslos an und bewirkte damit, daß der Italiener fortfuhr: »Sie trauen ihm noch immer nicht, oder?« »Ich traue jedem – und ich überwache jeden.« Er beugte sich vor und berührte einen Knopf. Vor ihm auf dem
Konsolenbildschirm tauchte Helenas Gesicht auf. »Na, wie steht es?« fragte er. »Sie machen gute Fortschritte, John.« Sie wirkte aufgeregt. »Aber sie brauchen dringend deine Erlaubnis zum Betreten des Energiezentrums.« »Nein«, sagte Koenig schroff. »John – es bleiben ihnen nur drei Stunden.« »Trotzdem – nein!« Er schaltete ab und wandte sich an Maya. »Wie lange brauchst du, um herauszubekommen, was sie im einzelnen machen?« »Dazu müßte ich sie genauestens beobachten«, erwiderte die Psychonierin. »Dann geh hinunter und beobachte. Du auch. Simon«, sagte er zu Hayes. Und zu Verdeschi: »Wir tappen im dunkeln, und das gefällt mir nicht. Woher sollen wir wissen, was die da unten treiben? Woher sollen wir wissen, daß sie unsere kostbare Energie für die Zwecke verwenden, die sie angeben?« Verdeschi nickte bedächtig und verständnisinnig.
Cantar und Zova entschuldigten sich diplomatisch bei Helena und kehrten an ihre Arbeit zurück. Sie wirkten erregt. Cantar trug dieselbe Miene zur Schau wie damals in der Kommando zentrale, als Koenig ihm sagte, er wollte die anderen Container nicht herunterholen. Im gewissen Sinne ein ungerechtfertigtes Aufbegehren in Anbetracht dessen, daß sie Gäste waren, dachte Helena bei sich. Doch sie schob den Gedanken von sich und rügte sich, weil sie so unfair über Menschen dachte, die doch nur versuchten, ihre Artgenossen zu retten. »Der letzte Test«, sagte Cantar warnend. Zova drehte einen Schalter. Die Lichter blinkten, das laute Knallen ertönte wieder. Diesmal so rasch hintereinander, daß die Knallerei zu einem einzigen ununterbrochenen Gekreisch
zusammenwuchs. Helena und der Posten hielten sich gequält die Ohren zu. Cantar und Zova wechselten einen Blick des Einverständnisses. Und als das Geräusch den Höhepunkt erreichte, machte Cantar einen Satz zur Tür des Energiezentrums. »Cantar!« rief Helena, doch ihre Stimme verhallte ungehört. Der Posten hob die Waffe, und preßte die Zähne zusammen, so weh tat ihm das Geräusch. Zova schaltete die Instrumente ab, und als das Geräusch verstummte, erholte sich der Posten. »Tut mir leid«, sagte er atemlos. »Ich darf niemanden hineinlassen.« Cantar schien fest entschlossen, sich Eintritt zu verschaffen. Er ging unbeirrt auf den Posten zu, der Helena einen fragenden Blick zuwarf. Helena nickte angespannt. Die Waffe ging los, ein dünner weißer Laserstrahl traf den Jungen. Statt zusammenzubrechen, wie damals, als Koenig auf ihn gefeuert hatte, blieb Cantar reglos stehen und verzog verächtlich das Gesicht. Er kam näher, es folgte ein kurzes Handgemenge. Es endete, als Cantar einen Punkt am unteren Rückgratende des Gegners berührte. Sein Opfer brach mit einem Schmerzensschrei bewußtlos zusammen. Der Fremde hob die Waffe des Postens auf. Er schwenkte sie gegen Helena und drückte die Tür zum Energiezentrum mit der freien Hand auf. Er warf Zova einen besorgten Blick zu. Sie war noch immer mit den Instrumenten beschäftigt. Er konnte nicht auf sie warten und verschwand im Energiezentrum. Damit gab er Helena die Chance, ihm nachzulaufen. Cantar stürzte sich auf die an der Wand aufgereihten Apparate, als wäre das Eindringen in diesen Raum von Anfang an sein Wunsch gewesen. Er schien Helena vergessen zu haben, und sie machte einen Satz zum roten Alarmknopf an der Wand. Kaum hatte ihre Hand den Knopf berührt, als sie
einen plötzlichen, lähmenden Schmerz im ganzen Körper verspürte. Der Schmerz kam aus dem Rücken, und sie hatte nur mehr kurze Zeit, Zova wahrzunehmen, als sie auch schon das Bewußtsein verlor. Die Türen zum Labor glitten auf, Verdeschi und Maya stürmten herein. Sie hatten den Kampf von weitem mitangesehen. Beide hielten die Waffen schußbereit. Sie sahen sich hastig im leeren Raum um. Der Sicherheitschef sah, daß sich die Tür zum Energiezentrum langsam schloß, und er sprang hin, um ein völliges Schließen zu verhindern. Er erzwang sich den Eintritt und schleuderte Zova durch den ganzen Raum. Cantar drehte sich um und zielte mit der Waffe des Postens. Verdeschi duckte sich und sprang auf den Alarmknopf zu. Beim zweiten Mal erwischte ihn der Stunner – aber da hatte er bereits die Mondbasis alarmiert. Ein wütendes Kläffen ertönte aus dem Labor, und Cantar lief zur Tür und versuchte sie zu schließen. Zu spät, denn ein geifernder, wütender Dobermannpinscher jagte herein und sprang ihm an die Kehle. Er wurde zu Boden geschleudert. Seine Waffe fiel ihm aus der Hand und schlitterte dorthin, wo Zova sich benommen vom Boden aufraffte. Sie packte die Waffe und legte auf den knurrenden, zuschnappenden Hund an und betäubte ihn. Mitten in einem Sprung fiel er seitlich um. Entschlossen lief Zova los und versperrte die Tür. Cantar stand auf und trat schwankend an die Schalttafeln.
Vom Alarm aufgeschreckt, stürzte Koenig mit zwei Wachen ins physikalische Labor. Da sie den Raum leer vorfanden und den Posten auf dem Boden liegen sahen, liefen sie an die Tür und versuchten sie zu öffnen – vergebens. Kochend vor Wut preßte Koenig das Gesicht an das in die Tür eingelassene Beobachtungsfenster. Er sah Cantar und Zova
an den Instrumenten, und die reglosen Körper von Verdeschi, Helena und Maya auf dem Boden. Er riß die Waffe aus dem Gürtel und feuerte sie auf den Türmechanismus ab. Die Explosion wurde von Flammen und beißendem Rauch begleitet. Doch die Tür ließ sich noch immer nicht öffnen. Jetzt feuerte Koenig auf die Steuerungs-Box der Tür, bis sie nur mehr ein total zertrümmertes, brennendes Stück Schrott war. Schließlich glitten die Türen auseinander, und sie konnten eindringen. Kreischende Geräusche pulsierten durch den Raum und bewirkten, daß sie vor Schmerz fast zusammenbrachen. Doch sie kämpften sich weiter vor, in einen intensiv sich drehenden Wirbel blauen Lichtes, das ihre Haut mit negativer Energie verbrannte. Undeutlich konnte Koenig die Gestalten Cantars und Zovas ausmachen und die Körper auf dem Boden. Er kämpfte sich weiter vor und schützte dabei die Augen vor dem Licht. Da trat eine Verringerung der Intensität von Licht und Geräusch ein. Der gewaltige Energiefluß, der den Vorräten der Alphaner entnommen wurde, hörte auf. Als Licht und Geräusch total nachgelassen hatten, sah Koenig mit Entsetzen, daß die zwei Fremden und die Körper Verdeschis und Helenas verschwunden waren. Bis auf die reglose Gestalt Mayas war das Energiezentrum leer.
XV
Helena erwachte und mußte feststellen, daß sie von lebensechten, bildhaften Visionen bedrängt wurde. Sie war nur halb wach und hätte ebensogut träumen können. Ob Traum oder Wirklichkeit, der kalte blaue, widerliche Strudel, in den sie stürzte, war ein Alptraum. Es gab kein Entkommen. Sie fiel hilflos immer tiefer. Ihre Ohren hallten von dem raschen aufeinanderfolgenden Geknalle wider, das sie im Labor gehört hatte. Schließlich verschwand der blaue, wirbelnde Dunst, und sie fiel kopfüber in dichten Nebel. Durch die Nebenwände konnte sie flüchtige Blicke auf eine kraterdurchsetzte, gebirgige Landschaft werfen, Vegetation und Wasser gab es in geringem Ausmaß. Als sie immer tiefer fiel, sah sie Städte, aus Flachdachhäusern bestehend. Bahnen für den Schnellverkehr durchschnitten die Talböden und verschwanden in den Flanken der Berge. Das Gefühl des Fallens hörte plötzlich auf. Sie stand nun mit Verdeschi in einem großen, farbigen Raum mit vielen Konsolen. Ihr gegenüber, hinter einem großen zentralen Schalttisch, nahmen die Figuren von Cantar und Zova Gestalt an. Zwei Männer, offenbar Wissenschaftler, wandten ihr den Rücken zu und arbeiteten an dem Tisch. Sie sahen überrascht zu Cantar und Zova auf. Der ältere der beiden Wissenschaftler stieß einen Entsetzensschrei aus. »Exilierte…« Der andere wollte aufstehen, aber noch ehe er den Alarmknopf erreichte, feuerte Zova den Stunner der Alphaner ab. Die Glashülle über dem Alarmknopf zerschmolz, und damit war die Anlage unbrauchbar.
Schockiert und von ihrer merkwürdigen Reise durch das All noch immer aufgewühlt, wurden die Alphaner nun Zeugen einer Szene brutaler Grausamkeit. Nie hätten sie für möglich gehalten, daß die hübschen, scheinbar liebenswürdigen jungen Unbekannten in Wirklichkeit Verbrecher waren. Auch Cantar zog eine Waffe hervor und legte auf eine komplexe Anordnung von Glasröhren und Becken inmitten der Steuerungsanlage an. In den Röhren sprudelten und strömten verschiedenfarbige Flüssigkeiten. »Eine kümmerliche Waffe«, sagte er zu den Wissenschaftlern. »Aber sie tut ihren Dienst…« Der ältere der Wissenschaftler wandte sich ihm mit entsetzter Miene zu. Den Alphanern fiel auf, daß er ungeachtet seines Alters viel Ähnlichkeit mit Cantar und Zova aufwies. »Nein!« bat er verzweifelt: »Wenn ihr dieses System zerstört, sterben innerhalb weniger Stunden Hunderte unserer Leute…!« Cantar lachte und gab einen Schuß ab. Mehrere Röhren zersprangen, die in ihnen enthaltenen Flüssigkeiten strömten zischend aus und wurden zu Dampf. Er richtete die Waffe auf den Hauptteil der Anlage. Der Wissenschaftler bat noch flehentlicher: »Nicht! Das ist der wichtigste Teil. Ihr tötet alle Bewohner von Golos!« Cantar lachte den Alten aus. Er schoß aber nicht. »Schaff Ragnar her«, verlangte er. »Sag ihm, Cantar würde alles Leben auf Golos vernichten, wenn er nicht käme.« Der Wissenschaftler schien unentschlossen. Er versuchte stammelnd etwas vorzubringen, wurde jedoch von Cantar grob unterbrochen. »Schaff ihn her!« schrie Cantar. Er gab einen Schuß ab und zerstörte weitere Röhren. Die Wissenschaftler verloren die Nerven und liefen hinaus. Der junge Mörder wandte sich an die Alphaner. Er lächelte herrisch, die klaren blauen Augen blitzten vor Energie und
Vitalität. Jetzt sah Helena, was in ihm steckte und warum er ihr immer so sonderbar vorgekommen war. Sie war ihnen zu freundlich begegnet und verwünschte sich tausendfach, weil sie Koenig von seinem Entschluß abgebracht hatte. Der Fremde sah sie an. »Sie sehen mich so erstaunt an, Dr. Russell«, sagte er. »Verächtlich, Cantar«, erwiderte sie. Allmählich hatte sie ihre Fassung wiedergewonnen. Cantar stieß verbittert aus: »Sie sind wie die Menschen hier auf Golos – geschwächt von moralischen Vorstellungen wie Loyalität, Dankbarkeit, Fairneß…« »Während du und Zova – ihr seid vermutlich sogenannte freie Geister«, entgegnete sie eiskalt. »Frei zu hassen, zu drohen und zu töten…« Verdeschi versetzte ihr einen kleinen Rippenstoß. »Sie verschwenden nur Zeit, Helena. Er versteht gar nicht, wovon die Rede ist.« »Soll sie ruhig sprechen. Es amüsiert mich«, gab der Junge arrogant zurück. »Mir ist klar, warum Ragnar euch hinausgeworfen hat«, fuhr Helena schneidend fort. »Mich wundert nur, daß er euch überhaupt am Leben ließ.« »Jetzt aber genug!« rief Cantar und erhob drohend die Waffe gegen sie. Ein Surren ertönte und eine Tür ging auf. Alle drehten sich um. Aus dem Eingang strömte eine grüne Lichtflut. Im Türrahmen stand eine uralte, sehr würdige und stattliche Dame. Sie war etwa siebzig und sah sich im Raum mit einem überlegene Macht und Weisheit verratenden Blick um. Die Alphaner empfanden Ehrfurcht, die zwei Exilierten wurden nervös. Als sie den Eindruck gewann, daß man ihre Anwesenheit gebührend zur Kenntnis genommen hatte, trat sie aus dem grünen Licht hinaus in den Raum. Hinter ihr glitt die
Tür zu. Jetzt sah man, daß sie ein langes, schlichtes Gewand in tiefem Safrangelb trug. Das üppige lange Silberhaar hing lose herunter. Sie fixierte Cantar und trat vor ihn hin. Als sie ihn eindringlich und unbeirrt ansprach – weder unterwürfig noch hochmütig –, verzerrte sich das Gesicht des Rebellen vor Haß. »Ich bin gekommen, Cantar.« »Ich wollte Ragnar!« schrie Cantar wutentbrannt. »Ragnar ist schon lange tot«, gab die alte Dame zurück. »Ich bin Mirella – Oberster Rat von Golos.« Jetzt war es an Cantar, überrascht zu sein. So sehr, daß ihm der Mund offenblieb. »Seine Tochter?« »Seine Nachkommin«, sagte Mirella und steigerte damit seine Verblüffung. »Ragnar starb vor über dreihundert Jahren.« »Ja, natürlich…«, sagte Cantar benommen, während er die Vorstellung auf sich einwirken ließ. »Eure Welt lebte fort, während wir im Weltraum trieben…« »Zur Zeit Ragnars hat man euch wegen der Verbrechen gegen unser Volk hinausgeworfen. Jetzt kehrt ihr wieder, mit Waffen und Drohungen…« Sie wandte sich zu Helena und Verdeschi. »Sind das eure Verbündeten?« »Ihre Gefangenen«, sagte Helena und trat vor. »Wie ihr selbst sind auch wir unter Zwang hier. Sie benutzten unseren Energievorrat, um hierherzukommen…« Mirella wandte sich wieder an Cantar. »Ihr seid zu zweit, ihr könnt Golos nicht auf ewige Zeiten in eurer Gewalt behalten.« »Jetzt sind wir nur zu zweit… aber es werden mehr sein«, sagte Cantar lächelnd. »Auf der Mondbasis Alpha fanden wir die ideale Plattform zur Wiederbelebung unserer Leute«, äußerte Zova. Helena konnte ihre Verachtung nicht für sich behalten. »Ihr glaubt wohl, John Koenig würde mitmachen?«
Cantar drehte sich zu ihr um. Seine Miene war der Ausdruck nicht zu überbietender Bösartigkeit. »Zova wird dafür sorgen, daß er es tut.«
Koenig lief erregt vor dem großen Bildschirm auf und ab. Hin und wieder warf er einen Seitenblick auf die brodelnde braune Masse aus Weltraumstaub und anderen planetarischen Partikeln, die auf dem Bildschirm zu sehen waren. Sie hatten die Raumwolke endlich eingeholt… oder waren vielmehr von ihr eingeholt worden. Er konnte den Sachverhalt nicht mit Sicherheit feststellen. Das Bild war aus einer Entfernung von mindestens hunderttausend Meilen aufgenommen worden, doch jetzt war die Wolke genügend nahe für die Scanner, die auch sofort festgestellt hatten, daß sie höchst gefährlich war. Vorausgesetzt, daß die Wolke ihren Kurs beibehielt, würde sie nicht mit ihnen zusammentreffen. Sie würde sie um einige tausend Meilen verfehlen. Aber schädliche unbekannte Strahlen, die von ihr ausströmten, würden dieselbe Wirkung tun, wie ein unmittelbares Zusammentreffen – sie würden den Tod aller Alphaner bedeuten. Man hatte Eagle Sechs mit dem Chefpiloten Macinlock zur Erkundung ausgeschickt, doch war die Funkverbindung unterbrochen worden. Sandra Benes hatte ihm die Neuigkeit vom Nahen der Raumwolke durchgegeben, kurz nachdem er das Energiezentrum verlassen hatte. Nicht viel später trafen Meldungen von der Krankenstation ein – die Betten füllten sich rasch mit Verletzten. Sie mußten jetzt von der Annahme ausgehen, daß Macinlock tot war. Koenig lief ruhelos auf und ab, als befände er sich in einem Alptraum. Verzweifelt versuchte er die Einzelheiten zu einem Ganzen zusammenzufügen. Der einzige beruhigende Faktor schien die gewohnte, souveräne Ruhe von Helenas Büste zu
sein, die er auf seine Konsole gestellt hatte. Wenigstens ein Zeichen der Stabilität in einem tobenden Unwetter. »Okay, laßt sie herein«, sagte er zu Sandra, die aufmerksam und ruhig an ihrer Konsole saß. Zova erschien im Eingang. Vielleicht war sie schlichtende Vermittlerin, die Ordnung und Vernunft wiederherstellen würde. Zumindest bewies ihre Anwesenheit eines: Helena und Verdeschi waren nicht ganz verloren. Sie stellte eine, wenn auch schwache Verbindung zu ihnen dar. »Commander Koenig«, sagte Zova und trat vor ihn hin. Dabei schien es, als lege sie es darauf an, neben der Tonbüste zu stehen. »Ich glaube, wir sollten uns miteinander unterhalten. Sie holen unsere Leute herunter – und wir geben Helena Russell und Tony Verdeschi heraus.« Der Aufruhr, den Koenig spürte, war ihm nicht anzumerken, als er antwortete. Er wirkte ganz ruhig und gesammelt, als er sich mit voller Absicht in seinen Kommandositz setzte und sie ruhig ansah. Zova zog eine taschenlampenförmige Sprechanlage aus dem Gürtel. »Der Kontakt wäre hergestellt… kann ich Cantar Ihre Antwort übermitteln?« »Sie verlangen von mir, daß ich Mondbasis Alpha der Vernichtung preisgebe«, stellte Koenig mit hörbarer Verachtung fest. »Die Energie, die wir brauchen, um euch alle dorthin zu befördern, woher ihr kommt, würde uns fehlen. Wir wären ausgelaugt. Nein, das lasse ich nicht zu.« Zova grinste spöttisch. »Sie vergessen, daß wir Dr. Russell haben…« Koenig beugte sich vor und packte sie an ihrer Tunika. »Und wir haben dich«, sagte er. Er bemühte sich, seinen Haß zu unterdrücken, um ihr nicht womöglich auf der Stelle den Hals umzudrehen. Sogar in dieser Situation lachte sie spöttisch. Mit plötzlich aufflammendem Haß gegen ihn und seine Art packte
sie die noch immer weiche Tonskulptur Helenas. Sie grub ihre Nägel mit aller Gewalt in die Masse und zerkratzte das feinmodellierte Antlitz. Plötzlich zerriß ein markerschütternder Schmerzensschrei die Atmosphäre der Kommandozentrale, und Koenig ließ entgeistert das Mädchen los. Diesen Schrei hatte Helena ausgestoßen. Er fragte sich bestürzt, woher er gekommen war. Zova drückte die Tonmasse sadistisch, bis sie zwischen ihren Fingern hervorquoll. Helenas Schreien steigerte sich, wurde immer gräßlicher, bis Koenig es schließlich nicht mehr ertrug. Täuschung oder nicht – er rief dem Mädchen zu, sie möge aufhören. Gemächlich und mit einem Lächeln löste Zova ihre Hände vom Ton. Das Schreien hörte auf und ging in ein klägliches Schluchzen über. »Na?« fragte Zova. »Gut«, antwortete Koenig matt. »Sie haben gewonnen.« »Noch ein Wort der Warnung, Commander«, fuhr Zova fort. »Ihr lebenserhaltendes System ist jetzt auf meine Gehirnprozesse eingestellt. Mittels einfacher Konzentration könnte ich es zerstören.« »Und Sie würden nicht zögern, es zu tun«, bemerkte Koenig grimmig. Zova nickte gleichgültig. »Wenn Sie mir Grund gäben…« »Wir werden die übrigen Flug-Container herunterholen«, sagte Koenig langsam. »Sie können sofort mit den Vorbereitungen beginnen.« Zova nickte. Sie ging aus der Kommandozentrale und lief zu den Startrampen. Koenig gab der bleichen Maya ein Zeichen. Sie stand auf, und gemeinsam folgten sie der heimtückischen Erpresserin, die nun die ganze Mondbasis im Griff hatte.
Ungeachtet der wachsenden Ungeduld und Überheblichkeit Cantars, bewegte sich die gelassene, würdige Herrscherin von Golos anmutig und ruhig zu ihrem Thron vor der Hauptschaltanlage. Cantar drückte ihr die Waffe in den Rücken. »Sagt ihnen… sagt dem Volk, daß wir die neuen Herrscher von Golos sind«, verlangte er. »Volk von Golos…«, begann Mirella ruhig ihre Rede. Sie sprach in ein Übertragungsgerät, das an der Schaltanlage angebracht war. »Vor dreihundert Jahren schickten unsere Vorfahren die Herrscher dieses Planeten ins Exil…« Helena stieß Verdeschi in die Seite, als Cantars Aufmerksamkeit zum Teil von der Rede in Anspruch genommen wurde. Sie flüsterte: »Ich habe eine Idee. Diese Schutzmembran, die Cantar und Zova tragen… sicher ist es diese Hülle, die das Leben über dreihundert Jahre hinweg erhält.« Während des Sprechens betrachtete sie beziehungsvoll ihre sorgfältig manikürten Nägel. Es waren lackierte, lange und scharfe Messer. »Du mußt ihn ablenken«, sagte sie. »Ich brauche nur drei Sekunden.« Verdeschi reagierte sofort. Er trat vor und ließ seine Hand kräftig auf eine Schaltbank niedersausen. Elektrizität zischte auf, und die Konsole ging in Flammen auf. Cantar drehte sich blitzschnell um und schoß. Doch da sprang Helena ihn an und grub ihre Nägel tief in seine Wange. Entschlossen riß sie seine Haut auf, um sicherzugehen, daß sie die starke, lebenserhaltende Membran, die seinen Körper bedeckte, zerstörte. Mit einem wilden Wutschrei stieß der Junge, den sie in ihrem Krankenhausbett der Welt wiedergegeben hatte, sie beiseite und fuhr mit der Hand an sein Gesicht. Er blutete. Ein ganz eigenes, schreckliches Gefühl durchflutete ihn, als er spürte, wie seine Lebenskraft ihn verließ.
Die schreiende, sterbende Stimme seines Energie-Wesens legte Tausende Lichtjahre des Alls zurück. Sie erreichte das EagleSchiff, in dem seine schöne, auf dieses Phänomen eingestimmte Gefährtin Zova das Hereinholen ihrer Blutsbrüder aus deren schwebenden Grüften überwachen wollte. Sie, Maya und Koenig trugen Raumanzüge und standen am Rand der Luftschleusentür, bereit, ins All hinauszutreten. »Zova!« Cantars unsichtbarer Energie-Leib traf auf das Schiff auf und hüllte Zova in Schmerz ein. Sie krümmte sich gepeinigt und wußte sofort, daß er dem Tode geweiht war. Koenig erkannte seine Chance, riß die Feueraxt von der Wand der Luftschleuse und hieb das Sicherheitsseil des Mädchens durch. Gemeinsam mit Maya drückte er den schreienden Körper zurück in den unheilbringenden Schoß des Alls, aus dem er gekommen war. Dann schlossen sie die Türen – für immer.
So wie Zova den Tod Cantars gefühlt hatte, spürte auch Cantar ihr Ende. Und er wurde noch schwächer. In seiner Wut jedoch begriff er nicht, daß er dem Tode geweiht war. »Koenig… dafür wird sie sterben«, wütete er und verbrauchte dabei Energie. Mit blindem Haß wandte er sich gegen Helena. »Sie wird sterben für das, was ihr Zova angetan habt!« Er legte auf sie an und feuerte. Doch Helena hatte hinter einem Schirm Deckung gesucht, und der Schirm zersprang. »Cantar«, rief Mirella ihm zu. Sie stand von ihrem Sitz auf und versuchte, ungeachtet ihres vorgerückten Alters, ihm die Waffe zu entreißen. Er besaß noch genügend Kraft, um ihren zarten Körper zu Boden zu werfen. Taumelnd und stolpernd
näherte er sich Helena und legte auf sie an. Sie wich rücklings in ein Gewirr von Röhren und Behältern aus. Er drückte ab und verfehlte sie abermals. Dabei beschädigte er weitere der kostbaren Behälter. Schwaden farbigen Dunstes stiegen in die Luft. Verdeschi kämpfte sich benommen auf ein Knie hoch. Ein Schlag mit dem Stunner, als er Cantar ablenken wollte, hatte ihn außer Gefecht gesetzt. »Die Zeit ist bald um, Cantar«, rief Helena dem rasenden Exilierten zu. Sie bewegte sich sehr rasch hin und her, so daß er mit seinen immer langsamer werdenden Reaktionen nicht mit ihr Schritt halten konnte. »Zeit… keine Zeit mehr…?« wiederholte der Junge fragend. Zum ersten Mal zeigten sich Anzeichen von Furcht hinter seiner Raserei. Verzweifelt führte er die Hände ans Gesicht. Wo er einst feine glatte Haut, das Zeichen der Jugend, gespürt, berührte er nun tiefe Falten. Entsetzt sah er die runzeligen Handrücken. Cantar reagierte mit Terror. Die Beweise, die er vor sich sah, glatt leugnend, hob er von neuen die Waffe und feuerte auf jene Stelle, wo er Helena vermutete. »Ich bin jung!« schrie er heiser. »Ich war jung, als Ragnar lebte – und ich bin noch immer jung. Nichts hat sich verändert!« »Du bist über dreihundert Jahre alt«, spottete Helena aus den dunklen Ecken des dämmrigen Raumes. »Nein!« brüllte er in einer Mischung aus Angst, Wut und Schmerz. Wieder feuerte er und zerstörte weitere Röhren. »Sieh dich an, Cantar!« fuhr Helena in ihrer ureigenen Art psychologischer Kriegsführung fort. »In weniger als zehn Sekunden bist du zum Greis geworden!« »Nein!« kreischte Cantar verzweifelt. »Ich sage euch… das kann nicht sein!«
Der Mensch, der alles verloren hatte, der nie jenen Abschnitt des Lebens erlebte, den er am meisten herbeisehnte, nämlich seine Jugend, taumelte trunken zwischen den Apparaten umher und gab wahllos Schüsse ab. Er wollte so viele als möglich mit sich in den Tod nehmen. Schließlich brach er zusammen und blieb liegen. Sein Haar war lang und grau geworden, seine Haut runzlig wie eine getrocknete Backpflaume. Doch auch jetzt hatte die Zeit von ihm noch nicht ihren hohen Zoll ganz gefordert. Vor ihren Augen alterte er weiter, bis übers Grab hinaus. Er zerfiel zu feinem Staub, der im Sog des Luftstromes, welcher den zerbrochenen Lebensbehältern entwich, ziellos verwehte.
XVI
»Das All ist unendlich. Es ist dunkel… Das All ist neutral. Es ist kalt… Das All ist nicht bedrohlich. Das All tröstet nicht. Es schläft nicht. Es wacht nicht. Es träumt nicht…« Worte, die Koenig vor langer Zeit in einem längst vergessenen Buch auf der Erde gelesen hatte, kamen ihm jetzt wieder ins Gedächtnis. Das All war keines von diesen Dingen. Es war gleichzeitig alles. Es war schön. Es war trügerisch… Der mächtige Eagle, der ihn durchs All befördert hatte – solange sein Treibstoff ausreichte – landete. Er und Maya traten glücklich hinaus in die Transportröhre und fuhren eilig zurück in die Kommandozentrale. Zwar gab es zum Glücklichsein keinen Grund. Helena und Verdeschi waren bereits vor ihnen zurückgekommen – Dankesbezeigungen einer alten und dankbaren Herrscherin –, aber ansonsten ging es auf der Mondbasis drunter und drüber. Die Energiereserven waren erschöpft. Die im Lebenserhaltungs-Zentrum vorrätige Energie reichte höchstens für einige Tage – dann würde die Mondbasis sterben. Er spürte Übelkeit. Längere Zeitspannen schienen zu vergehen, während er Gänge und Türen an sich vorübergleiten sah. In der Zentrale dräute der große Bildschirm. Darauf wallte die braune Wolke und blies ihm ihren widerlichen Geruch entgegen. Sein Vorsatz war, die Ordnung wiederherzustellen. Er wollte sich zusammenreißen, doch die Strahlen und Emanationen, die sein Herz so angriffen, strömten ihm aus der braunen Katastrophe entgegen. Ja… er… würde… wieder… Ordnung… schaff…
schaffen – ging es ihm holpernd und scheppernd durch den Sinn. »John!« Von irgendwoher hörte er Helenas besorgte Stimme. »John, das reicht. Du kommst jetzt schön mit auf die Krankenstation, ob du willst oder nicht! Jetzt hat Tony das Kommando… jetzt… jetzt…« »Nein!« setzte er sich vergeblich zur Wehr. »DIE WOLKE! ICH MUSS…« Er spürte, wie klare, kühle Hände ihn berührten, sodann glatte feste Laken ihn einhüllten und dann… Friede, perfekter Friede…
»Er wird sich bald erholen«, beruhigte Verdeschi Helena. Damit überzeugte er sie jedoch nicht, vielleicht deswegen, weil er selbst nicht überzeugt war. Koenig war das letzte Opfer der Mattigkeit, Niedergeschlagenheit und Willensschwäche, die auf der Mondbasis um sich gegriffen hatte. Er legte Helena begütigend die Hand auf die Schulter. »Das war bei ihm schon die längste Zeit zu erwarten.« »Wir kennen die Ursache der Krankheit nicht«, klagte Helena. »Wenn wir darüber etwas wüßten, könnten wir helfen.« Sie verzweifelte, wenn sie die vollen Betten sah. Sie und Ben Vincent waren plötzlich in einen Alptraum an Arbeit gestürzt worden. Am beunruhigendsten daran war die Tatsache, daß die Mondbasis mit einem Minimum an Personal arbeiten mußte. Der Treibstoff war beinahe aufgebraucht – sie waren auf ihrem tiefsten Stand angelangt. Das Auftreten einer verheerenden, unbekannten Krankheit brachte sie alle dem Tode noch näher. Der Monitor an der Wand piepste, und Sahns Gesicht wurde sichtbar. Sahn war eine Hilfstechnikerin, welche die normalerweise von Sandra und Yasko besetzten Stellen
einnahm. Ihr lächelndes Gesicht war im Moment das einzige Heitere auf ganz Alpha. »Was ist denn, Sahn?« fragte Verdeschi. »Wir haben Eagle Sechs geortet!« gab die Inderin fröhlich zurück. Tony und Sandra sahen einander verblüfft an. Eagle Sechs war das Schiff, das Koenig zu Erkundungszwecken der All-Wolke entgegengeschickt hatte und mit dem der Kontakt unterbrochen worden war. »Unmöglich!« rief Verdeschi aus. »Ich komme sofort!« Er winkte Helena zu und lief hinaus. Die noch gesunde Maya begegnete ihm in der Zentrale. Sie und Sahn schienen beunruhigt. Verdeschi runzelte fragend die Stirn. »Wir bekommen keinen Kontakt«, sagte die Psychonierin und drückte verschiedene Knöpfe auf ihrer Konsole. Plötzlich wurde die Zentrale vom eindrucksvollen Rumpf des Eagle Sechs beherrscht. Sie hing im All, als hätte sie weder Richtung noch Energie. Die Wolke, von der das Schiff kam, war bei dieser Vergrößerung nicht sichtbar. Daraus war zu ersehen, daß das Schiff sich dem Mond-Heimathafen näherte und kurz vor dem Andocken stand. Verdeschi versuchte den Kontakt mit dem Piloten herzustellen. »Tony!« sagte Maya, plötzlich von ihren Schaltern aufblickend. Ihre Miene drückte höchste Besorgnis aus. »Meine Sensoren können keine Lebensform ausmachen… tot oder lebendig.« »Was!« Verdeschi ging an seine eigene Konsole und rief Helena. »Helena, ich muß John unbedingt sprechen!« »Er braucht absolute Ruhe, sonst ist es aus mit ihm! Tut mir leid. Es hat keinen Zweck.« Hastig erklärte Verdeschi, was sich ereignet hatte und schaltete ab. Er rief die Sicherheitsabteilung an und ließ einen Posten an der Transportröhre Stellung beziehen, zwei weitere
in der Zentrale. Es waren die drei letzten einsatzfähigen Posten auf ganz Alpha. Er gab Bill Fraser ein Zeichen. Sie liefen gemeinsam hinaus. Der Eagle stand kurz vor dem Andockmanöver. Verdeschi hoffte zur Stelle zu sein, wenn er aufsetzte – genau vor der Luftschleusentür. Wenn die Sensoren kein Leben feststellen konnten, wollte er feststellen, wodurch denn zum Teufel das Schiff gesteuert würde! Sie trafen den Posten an den Türen zur Transportröhre und zwängten sich alle drei hinein. Die Türen glitten hinter ihnen zu. An der Landerampe angekommen, warteten sie vor den verschlossenen Außentüren, während der Andockmechanismus des Eagle eine luftdichte Verbindung mit ihnen herstellte. Verdeschi sah ungeduldig auf die Uhr. »Er müßte schon angedockt sein«, sagte er. Und da glitten die Türen auch schon auf – wie auf Befehl. Sie warteten gespannt und versuchten, im Passagierabteil des Schiffes Bewegung auszumachen. Kein Lebenszeichen. Das Schiff war totenstill und schien verlassen. »Entweder sind unsere Sensoren ausgefallen, oder das Schiff ist ferngesteuert gelandet«, bemerkte Fraser nachdenklich, während er und Verdeschi vorsichtig, die Waffen im Anschlag, eindrangen. Im Inneren war es finster. Zwischen den stillen Konsolen und Schränken hingen dunkle Schatten. Verdeschi drängte Fraser zur Pilotenkanzel hin: Beide nahmen vor den geschlossenen Türen Aufstellung. Die luftdicht verschlossenen Türen ließen keinen Lichtstrahl durchdringen. Der Sicherheitschef zog den automatischen Türöffner und zielte damit auf die Türe – aber ehe er noch Zeit hatte, den Knopf zu drücken, glitten die Türen von selbst auseinander – ganz langsam. Und plötzlich blendete sie ein heller Lichtkeil. »Macinlock…?« Fraser blinzelte, während er erregt den Namen des Piloten rief.
Keine Antwort. Statt dessen wurden die geschwärzten Umrisse eines massigen Wesens sichtbar.
XVII
Das monströse Wolken-Wesen war zum Teil menschenähnlich. Es ruhte auf zwei Hinterbeinen, stand, wenn es sich in voller Größe aufrichtete, wie ein kräftig gebauter Mann von einsachtzig da. Doch damit endete leider die Menschenähnlichkeit. Der zweite beherrschende Einfluß auf seine genetische Bauweise stammte aus dem Reich der Reptilien. Das Wesen hatte einen geistlosen Froschschädel und riesige, teilweise mit Schwimmhäuten ausgestattete Klauen, die ganz so aussahen, als könnten sie ohne jede Schwierigkeiten massive Stahlwandungen zerfetzen. Auf dem Schädel wuchs ein wilder, lappiger Kamm, auf der Haut schimmerten Schuppen, die sich bei jeder Bewegung der mächtigen Muskeln wellenartig auswarfen. Die Alphaner erstarrten vor Schreck, während das dämonische Wesen sie kalt anstarrte. Die eidechsenhafte Leere des Blickes machte jede Hoffnung zunichte, daß es sich um ein zivilisiertes Wesen handeln könne. Dennoch drängte Verdeschi den Impuls, einfach draufloszuschießen zurück, und trat beherzt einen Schritt vor. »Wer bist du?« fragte er. Ohne sichtbare Veränderung des Ausdrucks und ohne zu antworten bewegte sich das Wesen auf ihn zu. »Was ist mit Macinlock?« Verdeschi schluckte trocken, behauptete jedoch tapfer seine Stellung. Die Weltraum-Echse hielt unbeirrt auf ihn zu. Sie wirkte schwerfällig und benommen. Doch bestand über ihre Absichten kein Zweifel, als sie direkt vor ihm die riesigen Klauen hob. »Halt, oder wir schießen!« rief Verdeschi drohend.
Den Kiefern des Wesens entströmte schauerlicher Atem. Er klang wie das Ächzen eines Gewichthebers. Ganz plötzlich erwachten die Augen zum Leben und glühten in Zornesröte. Der Leib bewegte sich mit erschreckender Schnelligkeit vorwärts. »Feuer!« Verdeschi schrie den Befehl heraus, kurz bevor das fremde Monster sich auf sie stürzen wollte. Er, Fraser und der Wachposten feuerten gleichzeitig – und mußten entsetzt feststellen, daß die weißglühenden Strahlen des Laser-Lichtes von den Schuppen wirkungslos abprallten. Das Wolken-Wesen packte in wilder Raserei den Wachposten, Verdeschi, der ihm zu Hilfe kommen wollte, wurde beiseite geschleudert. Eben hatte er sich aufgerappelt, als das Wesen seine Aufmerksamkeit von seinem Opfer ab – und ihm und Fraser zuwandte. »Lauf los!« rief der Italiener. Das brauchte man Fraser nicht zweimal zu sagen. Beide stolperten durch die Dunkelheit der Passagierabteilung in die Landeschleuse. Hinter sich hörten sie das laute Keuchen des Ungeheuers, das die Verfolgung aufnahm. Sie stürzten weiter in ihre Transportröhre und betätigten mit zitternden Händen den Sperrmechanismus. Die schweren Außentüren schlossen sich im Bruchteil einer Sekunde. Unter dem lauten, peinigenden Geräusch reißenden Metalls – als die Türen wütend auseinandergefetzt wurden – sauste das Transportgefährt davon – zu seiner letzten Fahrt. Verdeschi warf sich erschöpft in einen Sitz des Fahrzeuges und versuchte, seine verwirrten Gedanken zu ordnen. Sein Funkgerät meldete sich, und auf dem Monitor erschien Mayas erschrockenes Gesicht. »Tony… ist alles in Ordnung?« »Ja… im Augenblick schon.« Unter keuchenden Atemzügen erklärte er ihr, was geschehen war. »Eure Transportröhre wird verfolgt…«, sagte sie entsetzt. »Knapp hinter euch… es muß…«
»Das ist doch unmöglich!« rief Fraser in fassungslosem Schrecken aus. »Doch nicht bei unserer Geschwindigkeit…!« »Mich wundert nichts mehr, nach dem, was wir sahen«, bemerkte Verdeschi noch immer erschüttert. »Maya, gibt es weitere Einzelheiten?« »Die Sensoren zeigen an, daß es groß, stark und schnell ist.« »Sage den beiden Sicherheitsleuten, daß ich sie unten, im Gang, bei der Transportröhre brauchen werde, ausgerüstet mit schweren Raketengeschützen…«, befahl Verdeschi. »Und mit doppelter Bestückung!« Kaum hatten sie kurz darauf die Transportröhre verlassen, hörten sie wieder hinter sich das Reißen von Metall, begleitet vom laut pfeifenden Atem des Wolken-Wesens. Eilig schlossen sie die schweren Außentüren, die geschaffen waren, auch den schwersten Angriffen von der Mondoberfläche her standzuhalten. Die zwei Sicherheitsposten, die Verdeschi vorher vor der Kommando zentrale postiert hatte, kamen atemlos den Gang entlang. Befehlsgemäß schleppten sie zwei großkalibrige Raketengeschütze mit sich und stellten sie an Ort und Stelle sogleich auf. »Was immer da aus dem Tunnel herauskommen mag… ihr feuert, ohne zu zögern…«, befahl Verdeschi und lief mit Fraser in die Kommando zentrale. Die dichte, wallende Nebelmasse auf dem großen Bildschirm schien dichter und bösartiger als zuvor. Sie glühte und pulsierte in nervösem Rhythmus und warf einen düsteren braunen Schatten über die Zentrale. »Sahn, ich brauche die genaue Position«, sagte Maya, als Verdeschi und Fraser eintraten. Sie war totenbleich. Die beiden beugten sich über Mayas Unterlagen und studierten die Computerergebnisse. Plötzlich drang eine unbekannte Stimme
aus dem Audiosystem des Bildschirms. Alle sprangen vor Schreck von den Sitzen. »Unser relativer Standort ist von untergeordneter Bedeutung«, dröhnte die Stimme. Verdeschi sprang zum Sitz des Commanders und drückte einen Knopf. »Wer bist du?« fragte er heiser. »Wer wir sind? – Nun, eine Erklärung würde euer Begriffsvermögen übersteigen«, erwiderte die kalte Stimme überheblich. »Versuch es«, rief der Sicherheitschef herausfordernd. »Das erlaubt die Zeit nicht mehr«, entgegnete die Stimme. »Wir haben Zeit… jede Menge«, sagte Fraser von Mayas Konsole her. »Irrtum. Ihr habt sehr wenig Zeit.« »Was wollt ihr?« Verdeschi versuchte in anderer Richtung weiterzukommen. »Euer lebenserhaltendes System.« Lähmendes Schweigen senkte sich über die wenigen in der Zentrale verbliebenen Alphaner. Verdeschi rang sich ein nervöses Lachen ab. »Ihr glaubt, wir würden das so einfach herausrücken?« »Wir haben jemanden ausgeschickt, der es holen wird.« »Das geht nicht… wir können ohne dieses System nicht leben!« rief Maya empört. »Wir auch nicht… aus diesem Grund müssen wir es euch wegnehmen«, erwiderte die gleichgültige Wolke mit einer Erbarmungslosigkeit, die ihnen Schauer über den Rücken jagte, Sahn sah Verdeschi scharf an. »Tony… bei der Transportröhre gibt es Schwierigkeiten!« Die Wolke lachte. »Seht ihr? Ich überlasse euch wieder den Bildschirm, damit ihr euch selbst überzeugen könnt.« Die braunen, amorphen Greifarme schlängelten sich aus der Bildfläche. An ihre Stelle trat das Bild der Türen der
Transportröhre, vor denen die zwei Sicherheitsleute Stellung bezogen hatten. Die Geschütze ruhten auf Dreifußgestellen. Dahinter standen die Männer, mit dem Finger am Abzug. An den Türen wurde mit aller Gewalt gerüttelt. Vor Verdeschis und Mayas Blicken begannen sie sich wie Papier auszubeulen und zu knittern. Eine Klaue des Ungeheuers hatte sich durchgebohrt. Die andere Klaue wurde sichtbar. Die zwei Greifarme rissen die Metallplatten wie Vorhänge auseinander. Das Wesen trat unter lautem Zischen hervor. Die schuppige, kleine Wellen schlagende Haut schimmerte in unirdischen psychedelischen Farben. Der große, halslose Froschschädel zuckte. Als die flammendroten Augen die zitternden Posten erspähten, machte das Ungeheuer geschmeidig einen Satz auf sie zu. Doch gleichzeitig kam es zu einer gewaltigen Explosion, und der Bildschirm füllte sich mit dichtem weißem Rauch und Flammen. Triumphierend faßte Maya nach Frasers Hand. Verdeschi lächelte schief. Gegen diese Waffen war jeder Gegner machtlos. Es waren die wirksamsten Geschütze, über die sie verfügten. Doch ihre Mienen änderten sich jäh und drückten Unglauben, ja, blankes Entsetzen aus. Als sich der Rauch verzog, sahen sie nämlich die offenbar unversehrbaren Umrisse des Ungeheuers. Es war nicht einmal gestreift worden, statt dessen waren die Wände des Ganges und des Einlasses zur Transportröhre total zerstört. Mit wildem Zischen sprang das Ungeheuer den ersten Mann an. Der zweite hob die Waffe und versuchte damit das Wesen niederzuknüppeln, doch er wurde niedergemacht. Die in der Kommandozentrale gebannt zusehenden Alphaner mußten sich von der Szene des Grauens abwenden. »Wir müssen etwas unternehmen…«, flüsterte Verdeschi. »Wir werden etwas unternehmen…«, äußerte Verdeschi mit Ingrimm und Verzweiflung. »Wir werden unser Lebenssystem
retten, wir werden Alpha retten.« Inzwischen untersuchte das Mörder-Reptil die Wände des Ganges, wie um sich zu orientieren. »Lauft hinunter zur Krankenstation«, wies Verdeschi Maya und Sahn an. »Aber Tony…«, protestierte Maya. »Keine Widerrede… rasch hinunter«, rief Verdeschi wütend. Er rief Helena, als Maya und Sahn widerstrebend die Zentrale verließen. »Helena… dringend! Melde mir, sobald Maya und Sahn unten ankommen.« Er schaltete ab und warf einen entsetzten Blick auf das Reptil auf dem Bildschirm. Es bewegte sich jetzt aus dem Blickfeld heraus auf das Lebenserhaltungszentrum zu. Angespannt sahen er und Fraser zu, während sie Helenas Anruf abwarteten. Als sie sich fünf Minuten später meldete, sprang Verdeschi auf eine der Computer-Konsolen zu. »Computer… es handelt sich um Dringlichkeitsstufe eins«, sprach er in den Stimm-Aufschlüssler. »Von diesem Augenblick an lassen sich sämtliche Türen nicht mehr öffnen. Ich wiederhole… alle Türen bleiben geschlossen… und werden nur geöffnet, wenn ich den Befehl gebe.« »Deine Bemühungen sind vergeblich«, dröhnte die kalte, belustigte Stimme wieder in die Zentrale. Der Sicherheitschef drehte sich ruckartig um und sah zu der brodelnden braunen Masse auf dem Bildschirm hin. Sie sprach weiter: »Gebt euer lebenserhaltendes System auf und sterbt in Frieden.« Verdeschi knirschte mit den Zähnen. »Wir sterben nicht einfach nach Wunsch.« »Wir wollen keine Gewalt anwenden…« »Wie man ja sieht«, unterbrach Verdeschi die Stimme schneidend. »… es sei denn, man geht auf unsere Forderungen nicht ein.«
Verdeschi wandte sich wutentbrannt und angeekelt ab. Er gab Fraser ein Zeichen. Die zwei Männer liefen durch die leere Kommandozentrale auf den Haupteingang zu. Zu spät. Der Abgesandte der Wolke kam bereits auf sie zugestapft. »Der andere Ausgang!« Fraser wich zurück und riß Verdeschi mit sich. Eilig liefen sie zwischen den Konsolen hindurch zum Nebenausgang. Ein wildes Dröhnen setzte in der Kommandozentrale ein, als das Geschöpft wie rasend auf die Türen einhieb. Verdeschi beobachtete durch das Fenster des Nebenausganges, wie das Reptil sich Eingang verschaffte. Entgegen seinen Erwartungen, begann es herumzuschleichen und die Konsolen zu beschnüffeln. Er sah auch, daß das Geschöpf einen Blick auf den großen Bildschirm warf. Sicher empfing es Anordnungen von der Wolke. Gleich darauf machte es kehrt und lief den Weg zurück, den es gekommen war – in Richtung Lebenszentrum. Verdeschi preßte die Kiefer zusammen. Er wandte sich an Fraser. »Wir müssen uns hier trennen.« Fraser nickte. »Ich baue im Lebenszentrum eine Verteidigung auf…« »Ich werde ihn ködern. Viel Glück.« Verdeschi wußte nicht warum, aber er reichte Fraser die Hand. Der andere ergriff sie, und sie tauschten einen langen, kräftigen Händedruck. Fraser lief los und nahm eine Abkürzung, während Verdeschi die entgegengesetzte Richtung einschlug in der Hoffnung, ihren Angreifer an einem dazwischenliegenden Punkt abfangen zu können. Die meisten Schwerpunkte der Mondbasis waren, obwohl voneinander völlig getrennt, auf wohldurchdachte Weise miteinander verbunden. Das Wesen hatte den üblichen Weg eingeschlagen, doch gab es daneben für den Notfall Abkürzungen, von denen der Lenker des Untiers offenbar keine Ahnung hatte.
Der Nebel, der in Koenigs Kopf das Denkvermögen getrübt hatte, lichtete sich mit der Anwendung der Medikamente und zufolge der übrigen von Helena vorgeschriebenen Behandlung. Dennoch war er geschwächt. Es dauerte lange, bis er imstande war, sich aufzusetzen. Maya und Sahn saßen am Bettrand. Entgegen Helenas Instruktionen hatte sie ihn, weil er darauf bestanden hatte, über den neuesten Stand der Dinge unterrichtet. Die Neuigkeiten wirkten auf sein Befinden wie Medizin. Er kämpfte sich hoch und schwang die Beine über den Bettrand. Ein Schwächeanfall übermannte ihn, er fiel zurück und mußte sich enttäuscht seine Ohnmacht eingestehen. »John, so kräftig bist du noch nicht«, sagte Helena, die selbst erschöpft wirkte. Auf der Station lagen an die hundert Patienten, die meisten auf dem Boden, alle in ernstem Zustand. Etwa hundert andere, die auf dem Wege der Besserung waren, hatte man in ihre Unterkünfte geschickt, wo sie sich abgesondert von den anderen Leuten aufhalten sollten. Die Epidemie schien von einer Art Grippevirus zu stammen, wahrscheinlich unter Einfluß der Wolke, doch wie und wann das Virus eingedrungen war, wußte sie nicht. »Doch, bin ich«, murmelte Koenig matt mit geschlossenen Augen. »Tony hat mir befohlen, hierzubleiben«, sagte Maya bestürzt. »Sie müssen ihn dazu bringen, daß ich ihm behilflich sein kann.« Helena unterbrach sie schroffer als beabsichtigt. »Wenn du ihn umbringst. «, sie deutete auf Koenig, »wird es Tony nicht viel nützen.« »Wenn wir Tony nicht helfen, werden wir alle tot sein!« gab Maya zornig zurück. »Tut mir leid«, entschuldigte sie sich sofort.
Mit großer Willensanstrengung zwang Helena sich, Mayas Standpunkt einzusehen. Die Wurzel ihrer Meinungsverschiedenheit war in der Liebe zu suchen. Es war nur verständlich, daß die Psychonierin Tony beschützen wollte – genauso wie es selbstverständlich war, daß sie selbst Koenig schützen wollte. Koenig setzte sich mühsam auf. »Helena… eine Hand…«, bat er matt. Helena zögerte zunächst, und half ihm sodann auf die Beine. Mit ihrer Hilfe schaffte er es bis zur Tür. »Bitte, den Türöffner«, sagte er. Er nahm das Gerät in Empfang und hielt es an die Tür. Unsicher drückte er einen Knopf. Das Gerät piepste, die Tür blieb geschlossen. Koenig machte ein ernstes Gesicht. »Tony muß dem Computer eingegeben haben, daß alle Türen geschlossen bleiben.« »Dann kann keiner von uns helfen«, sagte Helena. »Wenn dieses Geschöpf so ist, wie du sagst, Maya, hat Tony getan, was er tun mußte…«, stieß Koenig atemlos hervor. Er war einer Ohnmacht nahe, und sie halfen ihm zurück ins Bett. Alan Carter, der ihr Gespräch auf einer Decke am Fußboden neben Koenigs Bett liegend, mitangehört hatte, richtete sich, auf einen Ellbogen gestützt, auf. Er hatte das Ärgste überstanden und war schon wieder ganz gut auf den Beinen, ruhte sich aber aus, wann immer es ging. »Kann ich das Gerät haben?« fragte er. »Ich will herausbekommen, wo Tony sich aufhält, dann können Sie ihn vielleicht auf den Monitor kriegen.« Dankbar reichte Maya ihm das Vielzweckgerät. Er stellte Verdeschis Frequenz ein und wartete ab. Nach einer längeren Pause erschien das Gesicht des Sicherheitschefs auf dem kleinen Schirm. »Tony, wie ist die Lage?« fragte Carter. »Verzweifelt, Alan.«
»Können wir irgendwie helfen?« »Alle sollen uns möglichst aus dem Weg bleiben.« »Wo bist du?« »Technisches Labor fünf. Ich versuche, das Biest in die Vakuumkammer zu locken.« Carter winkte Maya zu sich. Sie lief zum Monitor der Krankenstation. In wenigen Sekunden hatte sie Verdeschis Bild ganz vor sich. Das Labor war ein kleiner Raum, in dem Raumanzüge getestet und ausgebessert wurden. In diesem Raum gab es eine große Tür aus rostfreiem Stahl mit der Aufschrift ›Gefahr. Vakuumkammer‹. Verdeschi stand neben der Tür zur Kammer und tippte eben eine Reihe von Knöpfen, um sie zu öffnen. Dabei sprach er mit Carter über sein Sprechgerät, das er um sein Handgelenk geschnallt hatte. Die schwere, sechs Zoll dicke Tür schwang auf, und Verdeschi wich zurück. Er verschwand jetzt aus dem Bereich der Kamera, da er auf den Gang vor dem Labor hinaussehen wollte. Gleich darauf war er wieder da. Er schien bestürzt. Leise sprach er in das Gerät: »Alan, ich sitze in einer verteufelten Klemme.« »Geh bloß kein Risiko ein.« »Wenn das, was da auf mich zukommt, in Aktion tritt, werde ich vielleicht keine Gelegenheit zu Risiken mehr haben«, sagte er mit schiefem Lächeln. Er hob seinen Laser und feuerte auf den Eindringling. Vor der Kamera blitzte ein erschreckendes Durcheinander von Farben auf. Die Alphaner in der Krankenstation hielten die Luft an. Das Durcheinander klärte sich, als das Wesen, das es verursacht hatte anhielt, und viele der Zuschauer zum ersten Mal mit dem gräßlichen Anblick konfrontiert wurden. Schreckensschreie ertönten. Maya wurde plötzlich von Angst erfaßt. Vor Entsetzen fast wahnsinnig, mußte sie mitansehen, wie Verdeschi sich vor dem Ungeheuer duckte. Sie riß ihren
Blick vom Bildschirm los und lief wie ein gefangenes Tier im Käfig auf und ab und suchte einen Fluchtweg.
Verdeschi wich langsam vor den rasiermesserscharfen Klauen und dem weitaufgerissenen, pfeifenden Rachen zurück. Die vorquellenden Froschaugen des Nebel-Geschöpfes glühten haßerfüllt alles an, was sie erspähten. Der schuppige, faltige und vielfarbige Leib strahlte starke Hitze aus. Der Geruch überhitzten Metalls drang beißend an Verdeschis Nase. Er wich in die Vakuumkammer zurück, und das wutschnaubende Wesen folgte ihm. Die zylindrische Vakuumkammer war etwa fünfzehn Fuß hoch und maß zirka zehn Fuß im Durchmesser. Durch die offene Tür sah er hinter dem Koloß des näher kommenden Reptils die schimmernde Hülle einer gläsernen Kugel eines Luft-Kompressors auf dem Arbeitstisch des technischen Labors. Er legte mit seinem Laser darauf an und feuerte. Mit lautem Knall zersprang die Kugel und bewirkte, daß der Angreifer mitten im Lauf innehielt und den gräßlichen Schädel wandte. Verdeschi packte die Gelegenheit beim Schopf. Er lief an dem Wesen vorüber aus der Vakuumkammer. Noch ehe das Geschöpf merkte, was da vor sich ging, hatte er den Türknopf gedrückt. Befriedigt sah Verdeschi, daß die, eine halbe Tonne schwere Tür krachend zufiel. Sofort drang Gehämmer an den Türen aus dem Inneren. Der Stahl erzitterte kaum merklich und bewies zu Verdeschis großer Erleichterung, daß er dem Angriff des Reptils standhalten würde. Also gab es wenigstens einen Ort auf Alpha, wo man das Tier gefangenhalten konnte. Jetzt erst machte sich der Schock bei Verdeschi bemerkbar, er zitterte, der Schweiß lief ihm in Strömen übers Gesicht. Er drückte verschiedene Knöpfe auf der Schalttafel der Kammer und
beobachtete befriedigt, wie die den Druck anzeigende Nadel langsam sank. Schließlich war die gesamte Luft entwichen. Da brach Verdeschi erschöpft im Stuhl zusammen. Das Hämmern an den Türen ließ nach. Allmählich hörte es überhaupt auf. Aufatmend schaltete Verdeschi sein Sprechgerät ein und rief Helena. »Na endlich, du Held, du«, sagte sie mit einem matten Lächeln. »Wir haben auf dem Monitor alles mitangesehen. Das müßte reichen…« Sie sah blaß und geschwächt aus, wahrscheinlich als Folge des immensen Arbeitspensums, das sie und Vincent zu bewältigen hatten. »Helena, kann ich John sprechen?« fragte er. »Tut mir leid, Tony…« »Das braucht dir nicht leid zu tun…«, er grinste matt. »Dann möchte ich mit Alan reden…« Er hatte noch nicht ausgesprochen und mußte mitansehen, wie Helena die Augen schloß und aus dem Gesichtskreis der Kamera verschwand. »Helena!« rief er erschrocken. Da tauchte Carter auf dem Bildschirm auf, angespannt, aber irgendwie zuversichtlich. »Sie ist ohnmächtig geworden, Tony«, sagte er. »Sie hat die Krankheit erwischt… eigentlich höchste Zeit. Ansonsten hätte sie sich zu Tode gearbeitet.« »Kümmere dich um sie, Alan«, sagte Verdeschi leise. Nervös wandte er sich wieder der Tür der Vakuumkammer zu. Er fürchtete, das Wesen hätte irgendwie überlebt und würde versuchen, sich zu befreien. Er wandte sich an Carter. »Ich werde jetzt die Tür öffnen. Wir müssen uns vergewissern, daß es tot ist.« Carter nickte grimmig. »Gar kein Zweifel, es ist tot. Unmöglich, daß ein Lebewesen eine Vakuumkammer überlebt… Aber nachsehen müssen wir. Du könntest mich hinauslassen und…«
»Nein«, erwiderte der Italiener mit Bestimmtheit. »Ich werde selbst nachsehen… Was ist mit Maya? Geht es ihr halbwegs?« Carter nickte. »Ja, als ich sie zum letzten Mal sah.« Da sah er Verdeschis erschrockenes Gesicht und erklärte hastig: »Sie verwandelte sich in eine Maus und schlüpfte in ein Ventilatorgitter… wir konnten sie nicht aufhalten.« Verdeschi stieß einen Fluch aus. »Die dumme…«, setzte er an. Aber es war zwecklos, kostbare Energie zu vergeuden. Er schaltete den Monitor aus. Es kostete ihn große Willensanstrengung, sich wieder dem Problem in der Vakuumkammer zuzuwenden. Er ballte die Hände zu Fäusten und knirschte mit den Zähnen – so erhob er sich und drückte den Knopf, der bewirkte, daß die Kammer wieder mit Luft gefüllt wurde. Er tat es hastig, damit es bei seinem Entschluß kein Zurück mehr geben konnte. Ebenso hastig betätigte er den Öffnungsmechanismus. Langsam schwang die Tür auf. Im Inneren herrschte Totenstille. Gespannt spähte er durch den sich weitenden Spalt zwischen Tür und Wand. Das Untier lag reglos auf dem Boden. Verdeschi verschluckte sich fast vor Schreck, als er bemerkte, daß der Körper heil geblieben war. Er war weder aufgequollen noch von dem extremen Vakuum zerrissen. Nur die Körperfunktionen waren verlangsamt. Jetzt aber bewegte sich der Froschschädel und drehte sich beim Geräusch der sich öffnenden Tür rachsüchtig um. Die flammenden, haßerfüllten Augen starrten den zitternden Menschen an, der vor Todesangst erstarrt dastand. Brüllend sprang es auf die offene Tür zu und schleuderte Verdeschi durch das ganze Labor. Der Italiener sackte hilflos in einer Ecke zusammen und schrie auf, als die groteske Echse sich drohend vor ihm aufbäumte.
XVIII
Von innen gesehen, glichen Decke und Wände der Ventilationsschächte der Innenverkleidung jener massiven, rechteckigen Verkehrsstränge aus Aluminium, welche die Mondbasis durchzogen. Es herrschte in ihrem Inneren ein warmer, starker Luftzug, und die Wände vibrierten unter dem Summen der Riesenventilatoren, welche die Luft bewegten. Maya hielt an einer Kreuzung mit vielen Abzweigungen inne. Ihr emsiges Nagetierhirn – ausgestattet mit der Verstandeskraft ihres größeren Psychonier-Hirnes, überlegte rasch, welche Abzweigung die richtige wäre, und sie eilte sogleich weiter. Der Schacht führte jetzt steil nach unten. Das letzte Stück vor dem großen Gitter ließ sie sich hinuntergleiten. Trotz des Surrens der Ventilatoren hörte sie jetzt das wütende Zischen und Keuchen des Reptils und die letzten, erstickten Schreie Verdeschis. Vor Entsetzen verlor sie beinahe den Verstand. Sie sprang durchs Gitter und landete auf dem Boden des Labors. Der gebuckelte Rücken des Wolken-Wesens war direkt vor ihr. Der dicke, schuppenbewehrte Schwanz fegte hin und her und peitschte den Boden. Zwischen den massiven Beinen des Monsters hindurch sah sie Verdeschi, der sich hinter einem Metallgestellt verschanzt hatte. Er feuerte völlig wirkungslos auf das Reptil, während dieses wütend an den Stahlträgern des Gestells rüttelte und sie schließlich knickte, als wären es Streichhölzer. Maya konzentrierte sich angestrengt. Verzweifelt versuchte sie, sich das Bild eines schrecklichen Wesens ins Gedächtnis zu rufen, dem sie als Kind, mit ihrem Vater, vor langer Zeit auf einem fernen Planeten begegnet war. Mentor, ihr Vater, hatte
sie damals gebeten, dieses Wesen nachzuahmen, und zu seiner Verwunderung hatte sie es tatsächlich fertiggebracht. Jetzt versuchte sie es wieder. Sie schloß die Augen und konzentrierte sich auf die Tiefen ihres Seins. Aber sosehr sie sich abmühte, die Erinnerung kam nur bruchstückhaft. Weil die Zeit knapp wurde, entschloß sie sich, sich nur in jene Teile des Wesens zu verwandeln, an die sie sich erinnern konnte. Die zitternde, zuckende Maus wurde heftig geschüttelt. Sie verwandelte sich in eine blendende Spindel reiner Energie. Das Licht der Liebe erfüllte das kleine Labor und bewirkte, daß das feurige und unbesiegbare Wolken-Wesen sich umdrehte. Beim Anblick des blendenden Lichtes zischte und kreischte es und wollte darauf zu. Als sich das Licht allmählich auflöste und die Umrisse eines riesenhaften scheußlichen, ihm selbst nicht unähnlichen Wesens sichtbar wurde, erhob es sich auf Zehenspitzen und bleckte in unverhohlenem tierischem Haß die Zähne. Das Wesen war am ganzen Leib tiefschwarz. Es war so groß wie das Wolken-Wesen und sah ebenso wild aus mit seinen zwei zuschnappenden Köpfen und einem Paar häßlicher, kammartiger Vordergliedmaßen. Rücken und Schwanz waren mit Stacheln gespickt. Als es sich seinem Gegner zuwandte, erglänzte der schwarze Leib, und die Energie in seinem Inneren verwandelte sich in wütenden Haß. Das schwarze Haupt brüllte und spuckte, Feuer züngelte aus den zwei feurigen Bäuchen. Die zwei monströsen Geschöpfe fielen übereinander her und schleuderten und stießen einander in dem winzigen Raum herum. Verdeschi, dem nun eine Atempause vergönnt war, kroch unter dem Gestell hervor und lief hinaus auf den Gang. Dabei entging er nur knapp dem Zerquetschtwerden durch das schwarze Schein-Ungeheuer, das donnernd gegen die Wand geworfen wurde. Von draußen konnte er nun den Kampf
beobachten. Schon in den ersten Runden war klar, daß die schwarze Psychonierin unterlegen war – wohl deswegen, weil sie nicht so wuchtig gebaut war wie das Wolken-Wesen. Er mußte mitansehen, wie sie immer schwächer wurde. Sie kämpfte tapfer und entschlossen und hieb mit den scharfen Zacken ihrer Arme wütend auf Schädel und Brust des WolkenWesens ein, obgleich sie wußte, daß sie unterliegen würde. Ihre Angriffe schienen der Haut des Gegners nicht im geringsten zu schaden, während ihre eigene Haut an vielen Stellen aufgerissen war. »Maya!« rief Verdeschi ihr verzweifelt zu. »Hier heraus!« Er sah sich suchend im Gang um. Sein Blick fiel auf den großen roten Wandschrank des Lösch-Schlauches. Er lief hin, zerschmetterte mit der bloßen Hand die Glasscheibe in der Tür und riß sodann die Tür aus den Angeln. Im Inneren hing die graue Schlauchrolle. Es war ein Hochdruck-KohlendioxydGerät. Sein Strahl war so stark, daß der Schlauch normalerweise bei jedem Einsatz von zwei Leuten gehalten werden mußte. Rücksichtslos riß er die Chrommündung los. »Maya!« rief er wieder. »Ich helfe dir! Heraus in den Gang!« Zu dem Zischen des Wolken-Wesens und dem Poltern und Krachen des Kampfes gesellte sich jetzt ein schrilles hohes Schreien. Instinktiv wußte er, daß es Mayas Schmerzensschrei war. Tränen liefen ihm übers Gesicht, während er mit dem Schlauch dastand und immer wieder ihren Namen rief. Wenn es ihr nicht gelang, das Wolken-Wesen heraus in den Gang zu locken, waren sie beide verloren. Nach unendlich langer Wartezeit wölbten sich plötzlich die Wände des Labors wie unter einem gewaltigen Gewicht nach außen. Sie gaben nach, und der Riesenleib des Wolken-Wesens rollte heraus. Ihm folgte das schwarze doppelköpfige Monstrum durch die aufgerissene Öffnung. Es war mit seiner Kraft am Ende. Als es Verdeschi erblickte, wollte es auf ihn
zu. Doch das Wolken-Wesen erhob sich bereits unbeholfen, es war unverletzt geblieben. Als es merkte, daß das blutüberströmte gegnerische Wesen zu entkommen versuchte, warf es sich ihm entgegen und zwang es in die Knie. Mit einem Wutschrei riß Verdeschi den Schlauch aus dem Behälter und wickelte ihn auf. Sofort spürte er den Druck des explodierenden Kohlendioxyd-Gases im Schlauchinnern. Aus der Mündung schoß weißer Schaum, Verdeschi wurde gegen den Hydranten geschleudert. Er klammerte sich verzweifelt an die Mündung und mußte sämtliche Kräfte aufbieten, um sich ein paar Schritte vorwärts bewegen zu können. Jeder Muskel schmerzte, die vortretenden Adern in seinem Gesicht drohten zu platzen. Doch er schaffte es, die schaumsprühende Mündung gegen den Schädel des Wolken-Wesens zu richten und das Biest von seiner Beute abzudrängen. Das in den letzten Zügen liegende Wesen kam auf ihn zugekrochen. Im Kriechen hüllte sich die Gestalt in ihren Kokon aus gleißendem Licht. Das Licht verblaßte, und die schwerverwundete Maya stand an seiner Stelle. Sie war über und über mit blutenden Wunden bedeckt. Sie lächelte matt und brach zu Verdeschis Füßen zusammen. Verdeschi bemühte sich nun, die sprühende Schlauchmündung so im Hydrantenrad zu verklemmen, daß sie in die Richtung des Wolken-Wesens wies. Augenblicklich war das Ungeheuer von dem Hochdruckstrahl festgenagelt. Verdeschi hob Maya auf und lief mit ihr durch das Gewirr von Gängen und Abteilungen zur Krankenstation. »Öffnen!« rief er vor allen Türen. Sie reagierten auf den Stimm-Code und glitten vor ihm auf. Alan Carter lief ihm entgegen und half ihm. Gemeinsam trugen sie Maya zu einem Bett. Sahn machte sich daran, ihr zu helfen. »Was ist passiert?« fragte Carter Verdeschi, der sich total erschöpft auf das Fußende von Mayas Bett sinken ließ.
»Es läuft noch immer frei herum… wir konnten nichts ausrichten«, berichtete der Italiener. Carter ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Laser können ihm nichts anhaben – und Sauerstoffmangel auch nicht. Ist denn gegen dieses Biest kein Kraut gewachsen?« »Auch wenn wir etwas Wirksames hätten – wie könnten wir es anwenden?« fragte Sahn und sah von ihrer Samaritertätigkeit auf. Verdeschi sagte zähneknirschend: »Vielleicht wäre eine hohe Dosis eines Betäubungsmittels das Richtige… mit einem Betäubungsgewehr…« Er sah sich nach Helena um. Da fiel ihm ein, daß auch sie erkrankt war. Er sah Vincent über einen Patienten gebeugt und bat ihn zu sich. »Jonethermyecin«, sagte der Arzt, nachdem Verdeschi ihm erklärt hatte, was sie wollten. »Unser wirksamstes Mittel. Für Menschen zu stark.« »Das Monster ist nicht menschlich!« erwiderte Verdeschi ergrimmt. »Geben Sie uns die Kanone – und das Betäubungsmittel.« Der weißbekittelte Arzt ging an einen Schrank und sperrte ihn auf. Er kam mit der Schußwaffe und speziellen, mit dem Betäubungsmittel präparierten Pfeilen zurück – ähnlich jenen, die Jäger auf der Erde einst verwendeten, wenn sie besonders große und angriffslustige Tiere fangen wollten. Vincent lud die Waffe und reichte sie Verdeschi wortlos. Der Sicherheitschef nickte. Er legte das Ding vor sich übers Knie und starrte es an, während er überlegte, mit welchem Trick er die Pfeile dem Untier am besten hineinjagte. »Tony, vielleicht wirkt das Mittel nicht«, äußerte Carter Bedenken. Er fürchtete um das Leben des Italieners. »Es muß wirken. Irgend etwas muß einfach wirken.« »Aber wie kommen wir nahe genug heran?«
»Ich weiß es nicht, aber wir müssen es versuchen.« Er raffte sich matt vom Bett auf und schleppte sich zum Wand-Monitor. Er drückte mehrere Knöpfe und versuchte festzustellen, in welchem Bereich der Mondbasis das Ungeheuer eingedrungen war. Schließlich entdeckte er es in einem Gang nahe dem Waffen-Depot und fixierte das Bild. »Es will noch immer zum Lebenszentrum«, stellte Carter fest, was ohnehin alle wußten. »Wenn es sein Ziel erreicht, sind wir verloren!« Verdeschi drehte sich teilnahmslos um. Er dachte noch immer angestrengt nach und schien einer Lösung nahe. »Wie geht es Maya?« fragte er Vincent, der sich der Psychonierin widmete. »Sie wird sich erholen«, erwiderte der Arzt. »Die meisten Wunden sind nur oberflächlich… sie leidet vor allem unter dem Schock. Die Spritze, die wir ihr eben verpaßten, müßte sie eigentlich in Kürze wieder auf die Beine bringen.« »Das soll wohl ein Scherz sein!« gab Verdeschi zurück. Vincent schüttelte den Kopf. »Sie ist anders als wir. Sie wird sich sehr rasch erholen.« Mit einem verwunderten Achselzucken drehte Verdeschi sich um und winkte Carter. »Ich brauche deine Hilfe… glaubst du, daß du es schaffst?« »Jede Wette«, erwiderte der blonde Australier und nahm die Herausforderung an. Seit Stunden schon juckte es ihn, aktiv zu werden, doch die Krankheit hatte ihn bis jetzt daran gehindert. Er fühlte sich zwar noch nicht topfit, aber die Bedeutung des Auftrages beflügelte ihn und überflutete ihn mit einer ungewohnten Adrenalinwoge, die seine Müdigkeit mehr als wettmachte. Verdeschi gab den Auftrag, die Türen zu öffnen. Er und Carter traten vorsichtig hinaus auf den Gang. Es war noch immer nicht sicher, ob das Reptil an der Krankenstation
vorbeikommen würde oder nicht. Nirgends ein Lebenszeichen. Hinter ihnen schlossen sich die Türen. »Das Biest wird vor uns das Lebenszentrum erreichen«, sagte Carter. »Möglich«, antwortete Verdeschi. Als sie einige Minuten gegangen waren, bog er zum Waffen-Depot ab. Er vergewisserte sich, daß das Reptil nicht da war. Dann aktivierte er den Wand-Monitor. Wie vorhin, drückte er wahllos mehrere Knöpfe, um festzustellen, wo sich das Tier im Augenblick befand. Er entdeckte es, wie es unsicher einen Gang entlangstapfte. »Es muß den richtigen Weg finden… vielleicht indem es Signale der Wolke empfängt«, mutmaßte Verdeschi. »Versuchen wir mal, ob wir es ein wenig verwirren können.« Er querte die leere Abteilung und drückte den Alarmknopf. Das grelle Heulen des Notsignals ließ die Mondbasis erbeben. Der monströse Eindringling reagierte sofort. Er sah sich nach allen Richtungen um, und versuchte auszumachen, woher das Geräusch kam. »Es fällt darauf herein«, murmelte Verdeschi, der wieder vor dem Monitor stand. »Jetzt wollen wir sehen, wie weit es sich verwirren läßt.« Er steckte die Betäubungswaffe in den Gürtel und drückte einen anderen Knopf. Fast jeder Quadratzoll der Mondbasis wurde von Videofilm erfaßt, und der Gang, in dem sich das Monster bewegte, wurde von mehreren Kameras, die in gewissen Abständen angebracht waren, überwacht. Die Waffen-Abteilung war einer der Schlüsselbereiche der Basis, von dem aus man jeden Teil der übrigen Anlage sehen und mit ihm sprechen konnte. »He, Geschöpf!« rief Verdeschi über einen in der Nähe des Reptils befindlichen Monitor.
Das Nebel-Wesen drehte sich zum Monitor um. Die bunten Schuppen schimmerten hell im Licht. Wütend zischte es Verdeschis Bild an. »Du… Geschöpf…!« wiederholte Verdeschi spottend. Das Reptil sprang hoch und zerschlug mit einem einzigen Hieb seiner riesigen, schwimmhautbewehrten Klauen den Schirm. Verdeschi schaltete sich auf den nächsten Monitor ein, der sich im Gang befand – und versuchte so, das Geschöpf weg vom Lebenszentrum und hin zum Waffen-Depot zu locken. »Hier bin ich!« rief er. Wütend stürzte das Reptil auf den zweiten Monitor und zerschmetterte auch diesen. Offenbar wurden die von der Wolke empfangenen Signale noch von der Alarmsirene übertönt. Verdeschi lockte den Eindringling immer näher an die Stelle heran, wo er und Carter auf der Lauer lagen. Er wandte sich an den Australier: »Stelle ein Raketengeschütz auf… draußen im Gang. Wenn das Monster in Sicht kommt und dich sieht, werde ich versuchen anzugreifen. Ich werde hinter dir stehen und ihm so viele Pfeile verpassen wie nur möglich. Und dann ballerst du mit der Rakete los.« Carter nickte verbissen und machte sich an die Arbeit, während Verdeschi ihr potentielles Opfer weiter aufstachelte. Beide Wußten, daß der Plan vielleicht nicht klappen würde. Aber sie mußten es versuchen, sie hatten keine andere Wahl.
Ohne zu wissen, was sich in anderen Bereichen der Mondbasis ereignete, werkelte Fraser zielstrebig an seiner eigenen Falle. Er arbeitete hastig und gab acht, daß der froschähnliche Hybride ihn nicht mitten in der Arbeit überraschte. Auf seine vormilitärische Ausbildung als Elektrotechniker in der US-Air Force zurückgreifend, hatte er einen dichten
Verhau aus dickem Stahldraht quer über den Gang gebaut. Diesen Zaun hatte er mit massiven Haken, die er mühsam in der Wand befestigte, gesichert. Das Geschöpf konnte an keiner Stelle hindurch, ohne daß es mit Kabeln in Berührung kam. In der Nähe des Lebenszentrums befand sich eine mächtige Hochspannungsanlage, deren Verschlußdeckel entfernt worden war. Er hatte im Schaltkasten mehrere Kabel festgemacht und war eben im Begriff, sie anzuschließen. Wegen ihrer Dicke und der Stromstärke mußte er alles so solide wie möglich anlegen. Während er sich mit Gesichtsmaske und Wasserstoffschweißgerät darüberbeugte, betete er inständig, daß er rechtzeitig fertig würde.
Vor Schmerzen fast außer sich, lag Maya im Bett und ließ den Kopf von einer Seite zur anderen rollen. Man hatte ihr gesagt, wohin Verdeschi verschwunden war. Sie lechzte nach Freiheit und hatte wiederholt versucht, sich aufzusetzen, nur, um immer wieder sanft, aber bestimmt von Vincent in die Kissen gedrückt zu werden. »Damit helfen Sie ihnen am meisten«, mahnte sie der erschöpfte Arzt. »Sie müssen sich ausruhen und alles übrige ihnen überlassen.« »Aber…« »Wenn es Tony und Alan nicht gelingt, diesen entlaufenen Roboter aufzuhalten, dann gelingt es niemandem«, sagte er mit Bestimmtheit. Maya ließ sich matt zurücksinken. In ihrem Kopf schwammen Worte und Gedanken. Roboter! Vincent hatte das Wesen unabsichtlich einen… Sie setzte sich auf und starrte wild um sich. »Ja, deswegen können wir es nicht töten…«, schrie sie. »Deswegen können wir…« Sie sank bewußtlos zurück. Vincent schüttelte
bekümmert den Kopf. Am besten ließ man sie in Ruhe einschlafen. Als er sich umdrehte und sich einem anderen der zahllosen Kranken widmete, weinte er. Es waren stille Tränen der Wut. Die Perspektive der leeren Gänge vor dem Waffen-Depot krümmte sich und flimmerte vor Carters Augen, während er sich hinter dem Raketengeschütz zusammenkauerte. Der Gang sah aus wie ein langer, glänzender Geschützlauf. Er hallte vom schrillen Geheul des Alarmsirene und dem wilden Geschrei Verdeschis wider, der das Wolken-Wesen näher heranlockte. Nach schmerzhaft langer Wartezeit tauchte endlich das Opfer auf. Es kam verwirrt und stolpernd auf sie zu und blockierte den ganzen Korridor mit seinen wütenden Versuchen, die Video-Monitoren zu zerstören. Das Sirenengeheul verstummte, als Verdeschi mit seiner makabren Vorstellung Schluß machte. Der Monitor an der Wand über Carters Kopf knackte, das Gesicht des Sicherheitschefs wurde jetzt sichtbar. »Hierher, Geschöpf!« keuchte er. »Hierher, hol dir deine Medizin!« Das erboste Tier sah auf und bemerkte jetzt erst Carter, es ging sogleich zum Angriff über. Der Eagle-Pilot geriet in Schweiß, der Finger am Abzug erstarrte, trotzdem bewahrte er Ruhe. Hinter ihm kam Verdeschi aus dem Waffen-Depot. Er wartete ab, bis das Monster knapp vor ihnen war. Dann erst schoß er die Pfeile ab. Er schoß in rascher Folge so viele als möglich gegen Schädel und Brust des Reptils. »Feuer!« rief er Carter zu. Ohne zu zögern drückte Carter auf den Knopf der Abschußvorrichtung. Es gab eine schwere Explosion – Korridor und Monster verschwanden in einer brodelnden Wolke aus Feuer und Rauch. Der Australier raffte sich eilig auf und ergriff mit Verdeschi zusammen die Flucht, in der Hoffnung, bereits außer
Sichtweite zu sein, wenn das Ungeheuer aus der Rauchwolke auftauchte – falls es überhaupt je wieder auftauchte. »Hier rein… wir beobachten es über Monitor…«, keuchte Verdeschi, als sie endlich die Kommando zentrale erreicht hatten. Sie liefen durch den zerstörten Haupteingang und erreichten Mayas verlassene Konsole. Verdeschi aktivierte den Monitor und bekam sofort das Bild des verwüsteten Korridors herein. Ihre Hoffnungen sanken in Nichts zusammen. Der Rauch hatte sich verzogen, man sah keine Spur vom WolkenWesen. »Das kapiere ich nicht.« Verdeschi drückte verschiedene Knöpfe und versuchte die Route des rasenden Monsters festzustellen. Hin und wieder sah er ängstlich zum Eingang. Das Wesen war ihnen offenbar nicht gefolgt. Verzweifelt drückte er eine andere Knopfreihe, welche die Verbindung zu den Gängen herstellte, die zum Lebenszentrum führten. Dort entdeckte er schließlich das Wolken-Wesen. Es stapfte auf seinen großen, mit Schwimmhäuten versehenen Füßen einher und befand sich nur mehr fünf Minuten von seinem angepeilten Ziel entfernt. Das schwere Betäubungsmittel, das man ihm so mühsam injiziert hatte, schien keinerlei Wirkungen hinterlassen zu haben. »Was, zum Henker, hält dieses Biest in Gang?« Carter starrte es entsetzt an. Er schien einem Zusammenbruch nahe. »Ist es denn unsterblich?« Ein amüsiertes, elektronisch verstärktes Kichern ertönte in der Zentrale. Sie drehten sich erschrocken um und sahen, daß sich auf dem großen Bildschirm wieder die biegsamen Greifarme der Wolke schlängelten. »Warum widersetzt sich eure Gattung dem Unvermeidlichen?« fragte die Wolke. »Können wir euch nicht davon überzeugen, daß wir euch keine Schmerzen zufügen wollen?«
Sie waren schon zu schwach und von der Hoffnungslosigkeit ihrer Lage überwältigt, als daß sie sich zu mehr als einem saftigen Fluch aufraffen konnten. Doch die höhnischen Worte der Wolke hatten unwissentlich dazu beigetragen, ihnen das Rückgrat zu stärken. Diese prahlerische Siegesgewißheit steigerte ihre Widerstandskraft zu einem Zeitpunkt, da sie andernfalls schon zum Aufgeben bereit gewesen wären. Den geringen Chancen zum Trotz und die lähmende, bewußtseinszerstörende Verzweiflung mißachtend, verließen sie den Raum, um in einem letzten verzweifelten Versuch den Vorboten der Wolke abzuwehren.
Der goldhelle Energiekern, das Herz der Mondbasis, schlug kräftig. Seine lebenspendende Energie war wie eine Sonne und strahlte seine Kräfte dauernd und beständig aus, wo immer sie gebraucht wurden. Aber anders als die Myriaden von Sonnen, die Hitze und Licht ins Universum ausstrahlten, war dieser Energiekern kein Selbstversorger. Er hing von den Bemühungen der Menschen ab, ausreichend Tiranium heranzuschaffen. Obwohl es im Moment noch einen beständigen, reichlichen Energiefluß abgeben konnte und ihn abgeben würde, bis das letzte Tiraniumatom verbraucht war, waren die Vorräte fast erschöpft. Sie reichten nur mehr für höchstens zwei Tage. Danach würde der Energiekern niemandem mehr nützen – weder Menschen noch Andersartigen. »Ich verstehe es nicht… ich verstehe es nicht…«, wiederholte Verdeschi in seiner Muttersprache immer wieder. Er und Carter kauerten hinter dem Raketengeschütz, das Fraser hinter dem elektrischen Zaun aufgebaut hatte. Fraser stand gespannt neben ihnen und hielt die Hand in der Nähe des Schaltkastens. Es war ihnen geglückt, das Wolken-Wesen in
der hydroponischen Abteilung aufzuhalten, indem sie es in einem Gewächs-Abteil mit tödlichem Chlorgas besprühten – besser gesagt, mit einem für Menschen tödlichen Chlorgas. Doch wieder hatte das Geschöpf seine Unempfindlichkeit gegenüber so drastischen Maßnahmen unter Beweis gestellt und sich gewaltsam befreit. Jetzt blieb ihnen nur die letzte Möglichkeit, mit Aufbietung ihrer letzten Kraftreserven das Lebenszentrum selbst zu verteidigen. »Da kommt etwas…!« flüsterte Fraser. Sie erstarrten und hefteten ihre Blicke unwillkürlich auf die Kreuzung am Gangende. Die meisten Beleuchtungskörper waren ausgefallen, der für gewöhnlich strahlend helle Gang war jetzt voller dunkler Schatten und Winkel. Einer dieser Schatten bewegte sich, stieß grotesk an die Wände und verriet, daß er bald die Kreuzung erreichen und sichtbar werden würde. »Alles fertig…«, flüsterte Verdeschi. »Viel Glück.« Jetzt konnte man Schritte unterscheiden. Verdeschi runzelte die Stirn. Es waren langsame, stolpernde Schritte. Er wollte die anderen eben zur Vorsicht mahnen, als die geisterhafte Gestalt Mayas um die Ecke bog. Sie wirkte, als wäre sie nicht Herrin ihrer selbst. Verdeschi fielen fast die Augen aus dem Kopf. Aber dann gewann seine Besorgnis die Oberhand. Irgendwo hinter Maya hörte man bereits das unverkennbare Zischen des WolkenWesens. Er unterdrückte einen Aufschrei, um das Ungeheuer nicht zu warnen, sprang hinter dem Geschütz hervor und durchkletterte den Kabelverhau. Er lief der gespenstisch bandagierten Gestalt entgegen und hob sie hoch. »Heilige Muttergottes…!« schrie Verdeschi wütend, nachdem er Maya sicher durch den Verhau geschafft hatte. Maya war totenblaß und sank ermattet zu Boden. »Ich mußte dir sagen…«, flüsterte sie fast unhörbar.
»Was sagen?« fragte Verdeschi aufgebracht. Er sah zu, wie sie aus einem Behälter, den sie bei sich hatte, eine Injektionsspritze entnahm. Mit zitternden Händen öffnete sie eine Phiole und füllte den Inhalt in die Spritze um. Ihm war jetzt klar, daß sie verzweifelt versuchte, sich fit zu machen, um ihnen etwas sehr Wichtiges mitteilen zu können. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß das Reptil noch nicht zu sehen war, kniete er neben ihr nieder und nahm ihr die Spritze aus der Hand. »Laß mich das machen.« Er winkte Carter herbei, der aufstand und zu Hilfe kam. »Drücke ihren Arm«, wies Verdeschi ihn an. Der Australier kam der Bitte nach, Verdeschi führte die Nadel ein und gab Maya die Injektion. Ihre Augen begannen zu flattern, Röte stieg ihr in die Wangen. Sie wollte etwas sagen, als Fraser plötzlich einen Entsetzensschrei ausstieß. Sie nahmen wieder hinter ihren Geschützen Deckung und spähten gelähmt vor Angst durch den Verhau. Da kam das Wesen. Die abstoßend häßlich gefärbte Haut leuchtete und kündete von großer Lebendigkeit. Die Augen flackerten wie rote Fackeln und erhellten das Dunkel, während es immer näher kam. »Strom einschalten!« rief Verdeschi, doch Fraser stand wie versteinert da und starrte geistesabwesend das näher kommende Ungetüm an. Verdeschi stieß wüste Verwünschungen aus und sprang auf. Er stieß Fraser weg und riß den Schalthebel herunter – nicht eine Sekunde zu früh. Das Reptil blieb vor den dicken Kabeln, die ihm den Weg versperrten, vorsichtig stehen. Es spähte durch den Verhau und zischte die Mondbesatzung dämonisch an. Die glühenden Augen erspähten hinter ihnen das offene Lebenszentrum. Der Kreislauf des Monsters schien aufzuleben, als das übergroße Hirn Signale empfing, die ihm anzeigten, daß dort vorne sein Ziel lag. Schnaubend und zischend vor neuentflammter
Energie, wollte es das letzte Hindernis aus dem Weg räumen. Statt dessen eruptierte es in einer sprühenden, knisternden weißen Lichtkugel. Der ganze Körper glühte weiß auf und wurde zu Boden geschleudert. Zitternd wagten Verdeschi und Carter sich vor. Ein winziger Hoffnungsschimmer hatte sich in ihr fieberndes Bewußtsein eingeschlichen. Doch die Enttäuschung folgte auf dem Fuße. Wütender und rasender als je zuvor, raffte sich das unmögliche Reptil wieder auf und ging zu einem zweiten Angriff auf den Kabelverhau über. Die Alphaner, die ihren fünf Sinnen schon längst nicht mehr trauten, starrten das Wesen in ungläubigem, blankem Entsetzen an.
XIX
»Wie kann ein lebendiges Wesen das alles aushalten?« fragte Verdeschi außer sich. Angesichts des Unmöglichen hatte sein, im italienischen Temperament wurzelnder Zorn sich ein Ventil geschaffen. Er war wütend, daß ein solches Geschöpf überhaupt existierte und imstande war, sämtlichen Gesetzen der Naturwissenschaft zu trotzen. »Tony… es ist kein lebendiges Wesen…«, versuchte Maya verzweifelt sich Gehör zu verschaffen. »Das versuche ich euch ja klarzumachen. Es ist ein Roboter…« »Ein Roboter!« wiederholte Verdeschi laut, ja beinahe verächtlich. »Ich weiß, es sieht nicht so aus«, sagte Maya. Sie hatte sich zum Stehen aufgerafft und schwankte bedenklich. Nur mit Mühe wurde sie ihrer Unsicherheit Herr. »Bei der Rückkehr von Eagle Sechs zeigten meine Sensoren keine Lebensform an…« Sie warf einen Blick zu dem Monster hinter dem Verhau, das sich auf den dritten Angriff vorbereitete. »Es hat das Vakuum überlebt. Es gibt nichts, was ihm etwas anhaben kann – Laser, Chlorgas, Strom… nichts…« Das Reptil holte erneut zu einem Schlag gegen die Stromkabel aus, und es folgte eine gewaltige Funkenexplosion. Aber diesmal wurde es nicht zurückgeschleudert. Es hielt sich fest und riß mit einem mächtigen Ruck die dicken Stahldrähte aus den Halte-Haken. Sodann schleuderte es die noch unter Strom stehende, schmelzende Masse Fraser und Carter entgegen. Dieser Schock reichte aus, um die zwei Alphaner wieder zur Besinnung zu bringen. Sie wichen aus und suchten hinter den Raketengeschützen Deckung. Abwechselnd feuernd,
verursachten sie eine Mammutexplosion von Feuer, Rauch und verbogenen Metallteilen, in der das Monster umhertappte. Zusammen mit Verdeschi und Maya flüchteten sie ins Lebenszentrum und schlossen hinter sich die Türen. »Tony, es ist ein Roboter…«, versuchte Maya es von neuem. Verdeschi schien verwirrt und nervös. In der kurzen, ihnen noch verbleibenden Zeitspanne spielte das keine Rolle mehr. »Ist doch egal, was es ist…«, schrie er. »Wenn es uns den Energiekern wegnimmt…« »Wir könnten ihn überwältigen, Tony«, beschwor Maya ihn. »Wie denn?« fragte er wütend, während unzählige widerstrebende Kräfte und Gedanken in ihm einen Kampf ausfochten. »Wenn wir bis zu seiner Steuerung vordringen könnten…« »Wir wissen doch nicht mal, wo was…« Mit einem gräßlichen Geräusch flog die Tür auf, und die zischende, sich aufblasende Fratze des Wolken-Wesens spähte herein. Der Hals war gräßlich angeschwollen, ob als Nachwirkung des Stromschlages oder nicht, das konnten sie nicht unterscheiden. Verdeschi registrierte zähneknirschend, doch auch befriedigt, daß das Ungeheuer wenigstens geringe Schäden als Folge ihrer Bemühungen davongetragen hatte. Das Wesen stieß Fraser und Carter beiseite und hielt mit unbeirrbarer Zielstrebigkeit auf die Anlagen mit dem Lebensenergie-Kern zu. So knapp vor dem angestrebten Ziel schienen die Alphaner dem Monster völlig gleichgültig zu sein. Wichtig war jetzt nur mehr, daß es den Kern an sich brachte und mit ihm die Basis verließ. Verdeschi zog den Laser und feuerte ihn gegen den sich kräuselnden Rücken des Reptils. Er feuerte so lange, bis es sich gereizt und wütend umdrehte und auf ihn losging. Auf diese Weise lenkte er es vom Kern ab und gab Carter und
Fraser die Möglichkeit, sich mit irgendwelchen Instrumenten zu bewaffnen und sich ihrem Angreifer entgegenzuwerfen. »Auf die Kehle zielen!« rief er ihnen zu. Es war seine letzte Hoffnung, durch gemeinsame Konzentration ihrer geringen Kräfte auf einen schwachen Punkt, vielleicht doch noch eine Wendung herbeiführen zu können.
Maya suchte den Riesenleib nach Anzeichen einer elektronischen Steuerungseinrichtung ab. Sie war nach wie vor davon überzeugt, daß es sich bei dem Reptil in Wahrheit um einen Roboter handelte. Sie sah, vor Schrecken starr, wie es mit einem einzigen kräftigen Hieb der Arme Verdeschi fällte, sich umwandte und Fraser und Carter ähnlich außer Gefecht setzte, nachdem es ihnen die lächerlichen Instrumente aus den Händen geschlagen hatte. Unbeeindruckt stapfte es zurück zur Anläge mit dem Energie-Kern. Es bückte sich und packte das lange und dicke Zylindergehäuse, das den Kern in sich barg, und hob ihn vorsichtig heraus. Die große Mondbasis erlebte einen völligen Stillstand. Alle Mechanismen hörten auf zu funktionieren. Das Leben innerhalb der Basis erstarb. Einen Augenblick lang herrschte im Lebenszentrum völlige Dunkelheit, dann aber flackerten matte Notlichter auf. Das schwerfällige Monstrum machte kehrt und schleppte die kostbare Last zur Tür, während Verdeschi, Carter und Fraser sich mit Mühe aufrappelten. Mit Rufen und Schreien zogen sie die Aufmerksamkeit des Wesens auf sich, so daß es sich zischend und geifernd umdrehte. Doch diesmal konnte es keine Attacke starten. Es schleppte ja den Kern mit sich. Einen Augenblick schien es verwirrt. Es hielt inne, um neue Anweisungen abzuwarten. Dann aber entschloß es sich, die
Beschimpfungen der Alphaner zu ignorieren und verließ den Raum. Als das Biest sich umdrehte, fiel Mayas aufmerksamer suchender Blick auf eine kleine dunkle Öffnung seitlich am Reptilschädel. Das Loch war von einer dicken, lippenartigen Schutzmembran umgeben. Sie vermutete, daß diese Öffnung das Ohr war. Falls es ihr gelang hineinzukommen, konnte sie sich vielleicht Zutritt zu den gesuchten Schaltzentren verschaffen. Sie nahm alle Kräfte zusammen und verwandelte sich in eine kleine Wespe. Summend flog sie dem Wolken-Wesen und dem Trio hilfloser Alphaner, die es verfolgten, nach.
Der Gehörgang war dunkel und eng – zu eng, als daß ihr kleiner Wespenleib darin einfach hochklettern konnte. Doch gleich bei ihrem Eindringen hatte sie gemerkt, daß sie mit ihrer Vermutung recht behalten hatte. Es war heiß, und sie roch den erstickenden Geruch nach verbranntem und wieder auskühlendem Metall. Während sie sich mühselig weiterarbeitete, füllte sich der Kanal mit einem schwachen roten Licht, das von einer vor ihr liegenden Stelle auszugehen schien. Das Licht wurde stärker. Bald befand sie sich inmitten höchst komplizierter elektrischer Schaltkreise. Die Drähte waren verbrannt und geschwärzt von der starken Hitze, der das Wesen standgehalten hatte, und dennoch funktionierte die Anlage, die sicher besonders widerstandsfähig angelegt worden war. Es war eine Ironie des Schicksals, daß ein paar zusätzliche Elektroschocks und Raketeneinschläge den Roboter vielleicht erledigt hätten. Sie kroch im hochentwickelten elektronischen Steuerungszentrum des Wolken-Wesens umher. Dabei verursachte ihr störender Körper eine Reihe von Kurzschlüssen, bis schließlich das
unbesiegbare Reptil zu schwanken begann und nicht mehr weiterkonnte.
Verdeschi, Carter und Fraser liefen vor dem Wolken-Wesen davon und rannten dann wieder zurück, als es mit seiner kostbaren Last immer näher kam. Sie feuerten ihre Laser gegen den geblähten pulsierenden Hals ab. Aus den gebleckten Kiefern heulte und zischte der Atem, als erleide das Monster große Schmerzen. Die roten Augen verglühten nach einem letzten Aufflackern. Die grellen polychromatischen Farben der Schuppen verblaßten zu einem stumpfen, toten Grau. »Es bleibt stehen…!« rief Verdeschi mahnend. Er lief hin und faßte nach dem Energie-Kern, bevor das Wesen ihn fallen lassen konnte. Doch das Biest schüttelte ihn ab und schleppte sich mit letzter Kraftanstrengung noch ein Stück den Gang entlang. Jetzt war es nur mehr wenige Meter von der demolierten, zur Eagle Sechs führenden Transportröhre entfernt. Sie liefen verzweifelt hinter ihm her. Doch das war gar nicht mehr nötig. Der letzte Kraftausbruch war auf die unerklärliche Gier der zu allem entschlossenen Wolke zurückzuführen. Ein gutes Stück von den zerstörten Türen zur Transportröhre war das Reptil völlig am Ende. Es kippte mit großem Getöse um, als die Zerstörungen in seinem Inneren ein Ausmaß angenommen hatten, das jenem der von ihm bewirkten Verwüstungen gleichkam. »Sie haben es geschafft, geschafft!« rief Koenig wie im Fieberwahn in seinem Krankenbett. Das schwache gelbe Notlicht erlosch, und die große Beleuchtung funktionierte wieder. Sahn lief ans Thermometer und stellte mit Erleichterung fest, daß es wieder wärmer wurde. Doch
eingedenk ihrer neunen Pflicht wandte sie sich mit strenger Miene zu Koenig um. »Marsch zurück ins Bett!« befahl sie. »Bett? Soll das ein Scherz sein? Ich fühle mich tadellos… besser als je zuvor!« erklärte Koenig überschwenglich. Er stand endgültig auf und lief auf und ab, um zu zeigen, daß er völlig wiederhergestellt war. Aber auch mehrere andere Patienten standen auf, es war klar, daß nach dem Sieg über das Wolken-Wesen sein unheilvoller Einfluß schwand. Auf dem Bildschirm tauchte Verdeschis Gesicht auf, der gemeinsam mit Fraser und Carter im Lebenszentrum war… beide halfen der blassen und noch zitternden Maya. Sie sahen ungemein erleichtert aus. Doch Koenig hatte den Eindruck, daß sie nicht so glücklich wirkten, wie es eigentlich in dieser Situation normal gewesen wäre. Er wußte auch warum. Nachdem sie ihm berichtet hatten, wie sie das Wolken-Wesen endlich überwältigt hatten, teilten sie den Alphanern in der Krankenstation mit, daß die verbliebenen Tiraniumvorräte der Mondbasis nur mehr für einen einzigen Tag ausreichten…