Susanne Fröhlich
Der Tag, an dem Vater das Baby fallen ließ
Roman
Eichborn.
Für meine Männer Robert, Gert und Egbe...
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Susanne Fröhlich
Der Tag, an dem Vater das Baby fallen ließ
Roman
Eichborn.
Für meine Männer Robert, Gert und Egbert In Liebe
2 3 4 02 01 © Eichborn AG, Frankfurt am Main, 2001 Umschlaggestaltung: Irma Schick und Diana Lukas-Nülle Lektorat: Doris Engelke Satz: Fuldaer Verlagsagentur, Fulda Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck ISBN: 3-8218-0826-8 Verlagsverzeichnis schickt gern: Eichborn Verlag, Kaiserstraße 66, D-60329 Frankfurt am Main www.eichborn.de
Er würde für alle immer der Mann sein, der damals das Baby hatte fallen lassen. Einfach so, aus Versehen. Es war ihm aus den Händen gerutscht und in rasantem Tempo zu Boden gefallen. Aus dem 1. Stock auf den frisch gemähten Rasen unseres Einfamilienhauses. Auf dem wir anderen gerade spielten, Krocket. Dieses Spiel mit den Törchen und den Holzschlägern. das noch am gleichen Abend im Müll landete. »Obwohl das Spiel doch nichts dafür kann.«, wie Silke, meine Schwester, immer wieder betonte. Umsonst, denn seit dem Tag, an dem mein Vater meinen Bruder fallen ließ, war nichts mehr in unserer Familie wie zuvor… Hinreißend schnoddrig und anrührend, aber mit einer befreienden Prise schwarzen Humors schildert Susanne Fröhlich ans der Perspektive der jüngsten Tochter das erste Jahr danach.
1 Er würde für alle immer der Mann sein, der damals das Baby hatte fallen lassen. Einfach so, aus Versehen. Es war ihm aus den Händen gerutscht und zu Boden gefallen. Aus dem ersten Stock auf den frischgemähten Rasen unseres Einfamilienhauses. Auf dem wir anderen gerade spielten. Krocket. Dieses Spiel mit den Törchen und den Holzschlägern, das noch am gleichen Abend im Müll landete. »Obwohl das Spiel doch nichts dafür kann«, wie Silke, meine Schwester, immer wieder betonte. Umsonst, denn seit diesem Tag, dem Tag, an dem mein Vater meinen Bruder fallen ließ, war nichts mehr in unserer Familie wie zuvor. Er war sofort tot. Haben die Ärzte gesagt. Vielleicht um uns zu trösten. Direkt nach dem Aufprall. Genick gebrochen. »So jung und schon tot«, hat unsere Frau Hersler gesagt und damit auf den Punkt gebracht, was wir alle empfanden. Als meine Mutter nach drei Tagen und Nächten urplötzlich mit dem Weinen aufhörte, beschloß sie, das Baby genau an der Stelle im Garten zu begraben, wo es aufgeschlagen war. Als sie sich mit ihrem Wunsch auf den Ämtern und Behörden nicht durchsetzen konnte, hätte sie fast wieder das Weinen begonnen. Aber dann hat sie klein beigegeben, ohne zu weinen, und sich ihre persönliche Grabstätte im Garten geschaffen. Ohne irgend jemanden aus der Restfamilie zu fragen. Nicht mal meinen Vater. Ein eingezäuntes Rechteck, hellblau gefliest, in der Größe eines sechs Monate alten Babys, ziert seitdem unseren Rasen. Was nicht nur beim Mähen äußerst unpraktisch war. Man mußte jedesmal drumherum kurven. Und die Kanten, zur Einzäunung hin, mit der Hand schneiden. Die Mehrarbeit wäre ja noch erträglich gewesen.
Obwohl, gerecht war das auch nicht. Schließlich mußten nur Silke und ich den Rasen mähen. Aber dieses Sakrale, das von der Stelle ausging. Man konnte gar nicht mehr einfach so im Garten spielen. Ohne daran erinnert zu werden. Auch bei nachmittäglichen Kaffeerunden war eine gewisse Anspannung spürbar. Besonders bei Besuchern. Die oft vom Unglück nichts wußten und neugierig nach dem Rechteck fragten. Sogar kleine Scherze machten. Nach dem Motto »Ist das ein Liliputanerpool oder was?« So mancher Käsekuchen, das Renommierstück meiner Mutter, ist da in so manchem Hals steckengeblieben, wenn meine Mutter kühl und sachlich vom Ersatzgrab ihres Sohnes berichtete. Bis Frau Hersler das Elend nicht mehr mit anschauen konnte und das Rechteck entweihte, indem sie es als Meersau-Freigehege benutzte. Für unsere Haustiere. »Suzy«, mein Meerschwein, benannt nach Suzy Quatro, meinem damaligen Idol, und »Steven«, das von Silke. »Steven« hatte Silke nach ihrem persönlichen Gott Cat Stevens getauft. Obwohl ihr Meerschwein, genau wie meins, weiblich war. »Und wenn schon«, hat sie immer gesagt, »ist dem Schwein doch egal, daß es einen Männernamen hat. Und ansehen tut das dem Meerschweinchen auch niemand. Daß es eigentlich eine Frau ist. Also kann es doch ruhig Steven heißen.« Meine Mutter wäre beinahe durchgedreht. Nicht wegen des Namens, sondern wegen der Entweihung des Ersatzgrabes. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte der Hersler ein paar gescheuert. Aber dazu war sie fast zu erstaunt gewesen. Und hauen war eh nicht Mutters Ding. Vielleicht hatte sie auch Angst, die Hersler könnte zurückschlagen. Die hatte so was im Blick, daß man besser nicht widersprach. Wenn die Hersler mal was wirklich wollte, was selten vorkam, dann setzte die das auch durch. Da konnte sie richtiggehend energisch werden. Ein erstes Anzeichen war jedesmal ihre Frisur. Wenn die
brünette, exakt gefönte war es soweit, und der Hersler ging etwas gewaltig gegen den Strich. Silke und ich waren erleichtert. Es hatte so was Befreiendes wie die fiepsigen Meerschweinchen mit ihren langen Krallen über die himmelblaue Keramik schrappten. Vollkommen pietätlos. Geradezu ausgelassen. Petra, unserer großen Schwester, war das alles egal. Das Pseudograb und die Meersäue. So mitten in der Pubertät. Die hatte dermaßen Pusteln im Gesicht, daß wir sie insgeheim nur Krümelkuchen genannt haben. Was sie natürlich gewußt hat. Blöd ist Petra nie gewesen. Nur gleichgültig und genervt von Silke und mir. Zumal der Sommer, in dem mein Vater das Baby fallen ließ, der Sommer war, in dem sie vierzehn wurde. Fünf Tage nach dem Fenstersturz. Am Tag der Beerdigung. Ziemlich taktlos von meinen Eltern, aber es war der Tag, an dem der Leichnam meines Bruders freigegeben war. Um ihn zu beerdigen. Nach der Obduktion. Bei unnatürlichen Todesfällen gibt es immer eine Obduktion. Aber woran die merken, ob jemand sein Kind mit oder ohne Absicht aus dem Fenster fallen läßt, war mir ein Rätsel. Meine Schwester Silke war schon immer dreister als ich und hat den Kriminalbeamten gefragt. Den, der einige Tage lang immer wieder bei uns aufkreuzte. Der meinen Vater streng und meine Mutter mitleidig anschaute. Ein Herr Hauptkommissar Burken mit wahnsinnigen Schuppen. Mehr weiß ich von dem nicht mehr. Nur diese Schuppen. Unvergeßlich. Verbrecher kann der nicht werden, habe ich gedacht, dem rieseln die Beweise und Spuren ja nur so aus den Haaren. Da konnte man damals wohl noch nicht soviel gegen machen. Gegen die Schuppen. Oder es war ihm gleichgültig. Auf die Frage meiner Schwester Silke, woran die Polizei denn nun merkt, ob jemand mit oder ohne Absicht sein Kind aus dem Fenster hat fallen lassen, hat Herr Burken
recht überheblich reagiert: »Wir haben da so unsere Methoden, junges Fräulein«, hat er sie abgekanzelt. Auf solche Antworten hatte ich keine Lust. Deswegen fragte ich auch weniger als Silke. Brachte doch nichts. Meine Schwester Petra jedenfalls hatte sich so auf ihre Party gefreut. Die erste mit Jungs. Sieben waren eingeladen. Sieben Jungs und sieben Mädchen. »Dann seid ihr fünfzehn, und du kommst ja nun schließlich ins 15. Lebensjahr, das paßt doch schön«, hatte meine Mutter gelacht. In Wirklichkeit wollte sie alles, nur nicht den Überblick verlieren, und fünfzehn Teenager unter Kontrolle zu halten, das erschien meiner Mutter machbar. Vor allem, weil es dann ja auch nicht aufging. Bei fünfzehn blieb immer einer oder eine übrig. Bis zu dem Tag, an dem mein Vater das Baby fallen ließ, hatte ich noch nie erlebt, daß meine Mutter den Überblick verlor. Ich glaube, allein der Gedanke daran war ihr unheimlich. Deswegen war auch die Party längst perfekt vorbereitet. Chips und Erdnußflips waren schon besorgt. Organisation war alles. Sogar eine rote Glühbirne hatte mein Vater rausgerückt. Tage vor dem Ereignis. Und nun das. Nicht nur keine Feier, sondern auch noch eine totale Wendung im Leben. »Ich bin noch ungeküßt, und mein Bruder ist schon tot«, hat Petra kurz nach dem Unfall gesagt. So, als hätte sich das Baby aus dem Fenster gestürzt, um sie zu ärgern. Sie wirkte fast ein wenig beleidigt. Bei der Beerdigung hat sie dann aber doch die Form gewahrt. Obwohl es nicht leicht war. Am eigenen Geburtstag auf der Beerdigung des Bruders. »Geburt und Tod gehören halt zusammen«, hat unsere Frau Hersler gesagt, als sie Petra gratulierte. Wenigstens hatte sie den Geburtstag nicht vergessen. Mutter faselte nur was von wegen: »Du verstehst sicher, Petra, heute ist nicht der richtige Tag für so was« und hat ansonsten nur geweint. Sturz bachartig. Wie ein Mensch, der kaum ißt und trinkt, so viel Flüssigkeit in sich haben kann,
ist erstaunlich. Außerdem hatte sie eigentlich ja schon aufgehört. Mit dem Weinen. Auch Silke und ich haben schlimm weinen müssen. Schon wegen Mutter. Die eigene Mutter weinen zu sehen, ist ein Grauen. Fast trauriger als der Tod des Babys. Kinder weinen, nicht Mütter. Und sterben tun zuerst die Mütter. Alles andere ist gegen die Spielregeln. Petra hat nur geschluchzt und hing an Vaters Hand. Sie war schon immer sein Liebling. Seine »Große«. »Die hätte er nie fallen gelassen«, hat Silke später in einem äußerst eifersüchtigen Moment gehetzt. Was ziemlich gemein war. Und vor allem auch nicht stimmte. Oder nur im Ansatz, denn so klammerig wie Petra war, hätte sie, umgekehrt, sicher keinesfalls losgelassen. Bis heute kann die das nicht. Loslassen. Mein Vater hat erst mal keine mehr von uns hochgehoben. Nicht mal, um seinen berühmten Flieger zu machen. Der war immer ein Riesenspaß für Silke und mich gewesen. Wenn mein Vater uns an einer Hand und einem Fußknöchel packte und sich blitzschnell um die eigene Achse drehte. Dabei schaffte er es sogar noch, den Flieger, also uns, höher und tiefer durch die Lüfte sausen zu lassen. So stark war mein Vater. Nach dem Unglück war es mit dem Spaß vorbei. Er mußte es nicht einmal erklären. Niemand, selbst die vorlaute, naseweise Silke, wäre auf die Idee gekommen, Vater nach dem Flieger zu fragen. Wir hatten alle eine Art Barriere. Ein inneres Stopschild. Es gibt ja so Dinge. Da läßt man instinktiv die Finger von. Oder spricht nicht darüber. Das Bild von Vater mit Petra an seiner Hand hat mich nie losgelassen. Auf der Beerdigung. Wie innig verbunden die beiden da standen. Verschweißt. Petra mit ihren schrecklichen Aknepusteln, die sie dilettantisch und doch akribisch mit Abdeckstift beschmiert hatte, und daneben Vater, dessen Gesicht so ganz ohne Farbe war und fast maskenhaft wirkte. Starr. Ohne Leben. Er hielt Petra so fest, daß man die
Anspannung in seinen Fingern sehen konnte. Die Haut über den Knöcheln war weiß, und die Adern traten hervor. Als wolle er sagen: »Seht her, allerseits, dieses Kind werde ich festhalten.« Vielleicht brauchte er aber nur selbst ein wenig Halt. Meine Großmutter war empört. Darüber, daß mein Vater nicht an der Seite seiner Frau war. Dort, wo er hingehöre. Selbst in der kleinen Kapelle konnte sie ihren bösen Mund nicht halten. Hier, wo meine Mutter die letzte Messe für ihren runtergefallenen Sohn lesen lies. Nicht etwa vom Dorfpfarrer, sondern vom Weihbischof persönlich. »Diesem weibischen Gockel«, schimpfte Oma, als sie davon hörte. Meiner Großmutter waren Obrigkeiten schon immer suspekt. Kirchliche besonders. Und sie fürchtete sich auch nicht vor Leuten, die zu den Bestimmern gehörten. Gerade zu denen war sie gerne richtig garstig. Das war etwas, was ich an ihr bewunderte. Daß sie sich das traute. »Wenn du es nicht schaffst, hier neben deiner Frau am Sarg zu stehen, wirst du auch im Leben nie mehr an der Seite deiner Frau stehen. Das ist der Anfang vom Ende«, raunte sie ihrem Sohn, meinem Vater, während der Feierlichkeiten zu. Mein Vater ist der mittlere Sohn. Drei hat sie. Große, kräftige und schöne Söhne. Männer, nach denen man sich umdreht, wenn sie den Raum betreten. Erfolgreiche Männer, die kernig, aber nicht bäurisch wirken. So, wie es meine Großmutter gerne mag, Karohemden, aber dann doch vom Designer. Aus feinstem Flanell, erst auf den zweiten Blick erkennbar. Grobe, dezente Eleganz. Und nun tanzte mein Vater aus der Reihe. Ließ einfach so seinen Sohn fallen. Wie ein völliger Idiot. Ein Versager. Oder ein Wahnsinniger. Meine Großmutter hatte einen Blick, als wollte sie sagen: Dich muß ich nun auch fallenlassen. Einen Mann, der seinen winzigen Sohn nicht halten kann, den will ich nicht um mich haben. Was ist das für ein Mann? Ist das überhaupt einer? Wahnsinnig enttäuscht wirkte sie. Bekümmert. Und
sogar alt. Es war das erste Mal, daß ich meine Großmutter als alt empfand. Ihre entschlossene Unentschlossenheit und Strenge hatten dieses Adjektiv zuvor nie in ihre Nähe gelassen. Es mit einem Bann belegt und damit weit weg geschoben. Energisch und draufgängerisch, bestimmt und ausgelassen, das waren Eigenschaften, die einem bei Großmama in den Sinn kamen. Jetzt aber, hier am kleinen Sarg war sie erstmals alt. Eine richtig alte Frau. Ihre Verzweiflung hatte ganz offensichtlich weniger mit meinem toten Bruder, dem Baby, zu tun, als mit ihrer Angst, durch Erziehungsfehler bei der Aufzucht meines Vaters im Endeffekt selbst verantwortlich zu sein. »Dilemma«, hat sie das Drama um meinen Bruder später immer häufiger genannt. Absolut beiläufig. Vielleicht wollte sie dadurch ihre eigenen Schuldgefühle mildern. Obwohl meine Großmutter keine Frau war, die viel grübelte. Vor allem nicht über sich selbst. »Was ich tue, macht Sinn, sonst würde ich es ja nicht machen«, war einer ihrer Lieblingssätze. »Gesichtsverlust muß unter allen Umständen vermieden werden«, hatte sie uns Kindern oft als Parole erklärt. Bei aller Direktheit anderen gegenüber, mit sich selbst hat Großmutter oft geschummelt. Sich richtiggehend belogen. Ein gutes Beispiel war die Geschichte mit meinem Großvater. Dem Vater meines Vaters. Ein Mann, der schon vor Jahren verschwunden ist. Aus dem Leben von Oma und den Kindern. Den drei Jungs. Er hat sie sitzengelassen. Ist mit einer anderen, einer Änni, durchgebrannt. Zurückgelassen hat er meiner Großmutter noch nicht einmal einen Brief, eine noch so fadenscheinige Erklärung, sondern nur drei kleine Kerle, die aussahen wie er. Großmutter hat diese Erniedrigung tapfer getragen. Würdevoll. Für sie war ihr Mann tot. Nicht mehr unter uns und damit gestorben. Sie hat vor uns, ihren Enkeln, kaum von Opa, diesem geheimnisvollen Schwerenöter gesprochen. Obwohl wir alle zu gerne mehr darüber erfahren
hätten. Aber das Thema war in unserem Hause ziemlich tabu. Fragen traute sich keiner. Selbst Silke nicht. Wenn, dann fing Oma von selbst damit an. Zu Billy, ihrer Schwester, meiner Großtante, die den herrlichsten gedeckten Apfelkuchen von ganz Hessen backt, hat Oma einmal am ersten Weihnachtstag, im Punschrausch, vor uns Kindern ausgiebig davon gesprochen. Die Kränkung war nicht das Verlassen oder der Verlust, es war das Warum, denn für eine Änni verlassen zu werden, das sei ja wohl grotesk, hat Oma in Richtung Billy gelallt. Billy war das Thema längst leid, noch dazu hatte sie Änni immer gemocht. Die Bäckerstochter Änni, deren Vater in der Faschingszeit freigiebig gefüllte Kreppel verteilte, war in ihrer Parallelklasse gewesen und wie Billy eine der durchschnittlichen und freundlichen, aber doch eher nichtssagenden jungen Dinger. Unscheinbar. Änni und Billy wären, als Backwaren in der Auslage von Ännis Vater, vielleicht ordentliche Brötchen, Kaiserbrötchen, gewesen. Oma hingegen ein aufreizendes Puddingstückchen. Mit neckischer Kirsche mitten drauf. Insofern war Ännis Schandtat insgeheim auch ein Sieg der Langeweile, des Durchschnittlichen, über das Wilde und Ausgefallene. Also, ganz familiär betrachtet, ein Punkt für Billy im Schwesternkampf zwischen ihr und Oma. Ein kurzer Triumph der häßlicheren und älteren Schwester über die stets vergnügte Kleine, der alles nur so zuflog. »Für zu viel Glück und Übermut muß man eben bezahlen«, hat Billy mal zu meiner Mutter gesagt und dabei fast ein bißchen höhnisch gegrinst. Mutter und Billy haben sich immer gemocht und das Thema oft und gerne besprochen. Sogar vor uns. Das war ihnen irgendwie egal. Vielleicht weil sie was gemein hatten. Die unterschwellige Abneigung gegen Oma. Mutter hat ihre Schwiegermutter von Anfang an nicht wirklich gemocht. Schlau wie sie war, hat sie das aber zu Beginn geschickt
verborgen. So viel wußte meine Mutter über Taktik. Außerdem war sie schon immer auch ein wenig ängstlich. Als sie Großmutter das erste Mal sah, spürte sie deren Ablehnung sofort. So wie Hunde merken, ob jemand Angst vor ihnen hat. Besonders feine Antennen brauchte man in Omas Fall allerdings nicht. Mutter gefiel ihr nicht. Für ihre Jungs wollte sie etwas anderes. Nichts Besseres. Nein, extravaganter und origineller, das hätte Oma gemocht. Aber die Jungs waren allesamt schlau genug, Oma keine Konkurrenz ins Haus zu holen. Das wären extravagante und auffällige Frauen mit Sicherheit gewesen. Das Adrett-Hübsche meiner Mutter hingegen war für Oma nur fade. Gewöhnlich. Kein Grund zum Ärgern, aber auch kein Grund zu besonderer Freude. Tante Billy hatte Mutter all diese häßlichen Gedanken von Oma verraten, darunter auch die Vermutung, daß Oma unterschwellig wohl beleidigt war, entweder weil Mutter vom Typ ähnlich wie Ehebrecherin Änni und Billy war und Großmutter nicht nach dem Mann noch einen Sohn an »so eine trutschige Ziege« verlieren wollte, oder weil sie der Meinung war, daß Söhne, die ihre Mütter wirklich lieben, deren Ebenbild zur Frau wählen. Und wenn dem nicht so war, geschah das dann mit Absicht? Oder aus hormoneller Verwirrung? Obwohl, wie von Sinnen vor Leidenschaft, das hätte bei meinen Eltern nie gepaßt. Das hatte nicht nur Großmutter sofort registriert. Liebe und Zuneigung nahm man den beiden ab, die wilde Begierde nicht. Begierde war ihnen offensichtlich fremd. Sie täuschten sie auch nicht vor. Ihre Beziehung war von Anfang an so ruhig und gleichförmig wie eine Fahrt auf einem algenfreien, windgeschützten Baggersee. Omas Ehe dagegen ein kurzer, lebensbedrohlicher und rauschender Ritt über ein stürmisches Meer. Mit Haien und Seemonstern. Obwohl Oma unter Umständen auch den Baggersee in Wallung versetzt hätte. Bei Frauen wie ihr ist
alles möglich. Ihre Bandbreite ist nun mal eine andere als bei Frauen wie meiner Mutter. Eben noch erklärte Vegetarierin, schlachtet sie Sekunden später ein fettes Schwein. Rein bildlich gesprochen. »Mal hü, mal hott«, pflegte Billy immerzu den Zeigefinger zu erheben. Omas Antwort war auch immer die gleiche: »Mal hü, mal hott, aber immer flott.« All das Unberechenbare und Vitale war bei der Beerdigung wie weggeblasen. So hatten wir sie nie zuvor gesehen. »Wie im Märchen, als täte sie gleich zerfallen, zu Staub oder so was«, flüsterte mir Silke hinter Mamas Rücken zu. Die hatte vielleicht Nerven. Und echt Mumm. Obwohl ich mich gleich wieder sorgte. Hatte es jemand gehört? Würde sie Ärger kriegen? So, wie ich sie für ihre spontanen Äußerungen bewunderte, so sehr fürchtete ich mich vor den Reaktionen. Als wäre ich für sie verantwortlich. Dabei ist Silke die ältere von uns beiden. Bis das Baby kam, war ich Nesthäkchen. Und jetzt bin ich es wieder, ging mir durch den Kopf, und obwohl ich mich ganz doll dafür schämte, gefiel mir der Gedanke. Und wie. Wieder die Kleinste zu sein. Auf einer Art unsichtbarem Thron zu sitzen. Herrlich. »Hör auf, so zu grinsen, was sollen denn die Gäste denken«, herrschte mich Oma an. Als wären wir auf einer Party. Gäste. Welche Gäste, wollte ich sagen? Das hier ist eine Beerdigung. Aber ich schaffte es nicht. Wie immer. Widerspruch fiel mir schwer. Ich zuckte zusammen, lief rot an und fing prompt wieder an zu weinen. Seit dem Tag, an dem meinem Vater das passiert ist, haben wir alle soviel geweint, daß es schon automatisch floß. Mit einem klitzekleinen Gedanken an diesen kalten Körper, der da auf unserem Rasen lag, direkt neben einem Krockettörchen, dem gelben, konnte ich die Tränen reaktivieren. Und es wirkte. Oma ließ von mir ab. Dann war der Weihbischof fertig mit seiner Ansprache. So richtig zugehört hatte ich nicht. Silke auch nicht. Es gab dermaßen
viel zu gucken in der Kapelle, daß man sich kaum auf den Redeschwall konzentrieren konnte. Allein die ganzen Kränze. Wie riesige olympische Ringe lagen sie rund um den aufgebockten Sarg. Mir hat der von Gretzners, unseren Nachbarn vis-á-vis, am besten gefallen. Dabei hat die Gretzner sonst keinen guten Geschmack. »Die weiß überhaupt nicht, was Geschmack ist«, pflegte Mutter zu sagen, »guckt sie euch bloß an, dann wißt ihr, was ich meine.« Gut gekleidet war bei Gretzners wirklich niemand. Weder sie noch ihr Mann. Kinder hatten die beiden keine. Aber der Kranz war schön. Aus winzig kleinen Margeriten. So sonnig. Vaters Chef und Kollegen hatten einen nur aus Nelken. Weißen und rosafarbenen Nelken. Mutter wäre beinahe explodiert. Sie mochte Vaters Chef nicht. »Der hat wohl noch nicht kapiert gehabt, daß du doch noch einen Sohn hinbekommen hast. Rosa Nelken, was denkt der sich.« Mir war nicht klar gewesen, daß man mit einem einfachen Trauerkranz so viele Fehler machen konnte. Von der kleinen Kapelle ging es im Trauermarsch raus auf den Friedhof. Immer dem Sarg hinterher. Am Grab wurde es dann noch mal richtig traurig. Mama wollte fast hinterher. Mit in die Grube. Als meine Onkels und Vater den Sarg runterließen, diese großen, starken Kerle und der winzige weiße Schleiflacksarg in ihren Fingern, da schrie Mutter: »Nein.« Nur dieses »Nein«. Der Weihbischof und Oma zerrten sie zurück. »Ich will nicht mehr«, heulte sie. »Reiß dich zusammen«, zischte Oma. Der Sarg schwankte, weil Mutter an Vater zog. Vater war auf seiner Seite der alleinige Träger. Einen Kindersarg, den konnte man auch zu dritt gut tragen. Mutter zog. Petra, Silke und ich standen wie versteinert da. Frau Hersler rettete die Situation. Sie ging beherzt auf Mutter zu. Mit wippender Außenwelle. Ganz frisch geföhnt am Morgen. Wir konnten nicht hören, was sie in Mutters Ohr
flüsterte, obwohl es ganz, ganz ruhig war. »Ich weiß jetzt, was Totenstille ist«, bemerkte Petra abends, und das fanden wir alle sehr treffend. Mutter hat nie verraten, was Frau Hersler ihr da zugetuschelt hat. Aber sie hatte sich augenblicklich im Griff. Fast entschuldigend guckte sie in die Runde und seufzte zweimal tief. Sie trat zurück, nahm uns bei der Hand, Silke und mich, und während sie uns an der Hand hielt, strich sie sanft mit dem Zeigefinger über unsere Handrücken. Diese Geste beruhigte mich unglaublich. Ihr Ausbruch am Grab hatte mir Angst gemacht. Die Eifersucht geschürt. Weint sie so sehr, weil sie das Baby mehr als uns liebte? Vor allem mehr als mich? Würde sie für mich genauso weinen? In derselben Heftigkeit? Obwohl ich noch immer gewisse Zweifel hatte, besänftigte mich der Zeigefinger. Ich gönnte ihn sogar Silke. Den der anderen Hand. Als der Sarg endlich unten war, begann die Musik. Eigentlich sollte es irgend so ein Beerdigungsklassiker sein, hatten die von Pietät Müller-Lautenlot empfohlen, aber Mutter wollte das nicht. Sie wollte eigentlich nichts von dem, was Pietät Müller-Lautenlot wollte. Auch den Sarg fand sie scheußlich. Zu kitschig. So unwirklich. »Weißer Schleiflack für meinen Sohn, das paßt doch nicht«, erregte sie sich im Ladengeschäft der Pietät. Aber da war nichts dran zu ändern. Kindersärge gibt es nur extrem schlicht für die Armen oder eben weiß Schleiflack. »Kindersärge sind nicht so häufig gefragt«, versuchte der Junior von Pietät Müller-Lautenlot eine Erklärung, »deshalb die geringe Auswahl.« Daß die Antwort bei seiner Mutter, einer gigantisch fetten Frau mit griesgrämigem Gesicht nicht besonders gut ankam, war deutlich zu sehen. »Wir sind hier bei der Pietät«, raunte sie und: »Du hast noch einiges zu lernen, Junior.« Meine Mutter nickte nur. Notgedrungen wählte sie den Schleiflacksarg. Es sollte nicht so aussehen, als könnten wir uns nur das
Armeleute-Modell leisten. Auch mir gefiel der weiße Sarg besser. Ich wollte unbedingt mit zum Aussuchen. Erst war Mutter dagegen gewesen, »das ist nichts für Kinder«, aber dann willigte sie doch ein. Vielleicht war es mein hartnäckiges Quengeln oder einfach nur ihre Schwäche, daß sie es erlaubte. Musikalisch aber blieb Mutter hart. Kein Standard für ihren Sohn. Heintje und sein »Mama« mußten es sein. Vaters Versuch das zu verhindern, wurde von ihr im Keim erstickt: »Was den Tod des Babys angeht, so hast du den Zeitpunkt bestimmt, den Rest bestimme ich«, teilte sie ihm mit. Vater gab sich sofort geschlagen. Der Heintje-Verschnitt, der nun am offenen Grab sang, war aus meiner Schule. Michael Kunzer, einer aus der Untersekunda. Ein Streber. Häßlich noch dazu. Teigige Haut und schlechte Haltung. Aber schon seit Jahren im Schulchor. Deshalb hatte ihn der Direktor, der gleichzeitig den Chor leitete, meiner Mutter empfohlen. Daß sie den echten Heintje wohl kaum dazu bringen würde, am Grab ihres Sohnes zu singen, hatte sie nach zwei Telefonaten mit Heintjes Plattenfirma kapiert. Die waren entsetzt von dem Vorschlag. Schon allein die Idee. Gewagt. Und das von meiner Mutter. Die sonst Wagnisse verabscheut. Was so ein totes Baby alles bewirken konnte. Unfaßbar. Kunzer, der Ersatzheintje aus der Untersekunda, sang fast besser als das Original. »Er wird die Frauen bezaubern«, hauchte Frau Hersler gerührt. »Was nützt ihm diese Stimme, wenn die meisten Frauen nie mit ihm sprechen werden, so wie der ausschaut«, giftete Oma. Petra hingegen sah aus, als würde sie sehr wohl mit ihm sprechen. Wie frisch entflammt starrte sie auf das Teiggesicht. »Schön«, hauchte sie und alle glaubten, sie meine den Gesang. Silke und ich mußten uns nur ansehen und uns war klar, daß Petra den Kunzer meinte. Sie
mochte ihn. Peinlich, eine solche Schwester. Mutter sah fast glücklich aus. Gelassen, wie weggetreten oder nach reichlich Tabletten, ertrug sie auch den folgenden Kondolationsparcour. Das Schlangestehen zum Beileidwünschen. Der halbe Ort war aufmarschiert. Viele hatten meinen Bruder nie zuvor gesehen. Die Besitzerin von der Bäckerei Ott, die selbst aber nicht mehr im Laden steht, weil sie das nicht mehr nötig hat, erdreistete sich zu sagen: »Schad’, wo isch noch so en schöne Strampler als Gebortsgeschenk deheim liesche hab’. Na ja, vielleischt beim nächste Kind, gell.« Da hatte Mutter sichtbar zu schlucken. Aber ansonsten: bravouröse Gelassenheit. Auch uns gaben die Leute die Hand. Mit ernsten Gesichtern und Sprüchen wie: »Jetzt müßt ihr der Mutti aber schön behilflich sein.« Silke mußte fast lachen. »Was sollen wir denn jetzt helfen? Mutter hat doch weniger Arbeit als vorher.« Und wie meistens mußte ich Silke recht geben. Wir hatten eher Angst davor, daß Mutter sich jetzt wieder mehr auf uns stürzen würde. Ohne das Baby. Königin zu sein muß anstrengend sein, dachte ich während des ewigen Händeschüttelns. Die müssen ja ständig irgendwelchen Menschen die Hand geben. Wenn eine Königin Schwitzhände hat, dann ist das ja fast so was wie eine Berufskrankheit oder eher schon ein Grund zur Berufsunfähigkeit. »Tragen Königinnen beim Händeschütteln Handschuhe?« fragte ich meine Schwester Petra leise. Die hat nur besorgt geguckt. Hat wahrscheinlich gedacht, ich wäre kurz vorm Durchdrehen. »Ist dir schlecht?« hat sie sich fast teilnahmsvoll erkundigt. Was hatte ich schon erwartet? Petra konnte einfach nicht Hüpfdenken. So nannten das Silke und ich. Hüpfdenken. Von einem Thema abrupt in ein komplett anderes springen. Hüpfen eben. Petra war das fremd. In ihrem Kopf ging es irgendwie nicht so verquer zu wie bei Silke und mir. Man wußte bei Petra immer, woran man war. Ich hätte mir
die Frage also sparen können. Mein Fehler. Ich schüttelte den Kopf und konnte Petra durch diese Geste gerade noch davon abhalten, Papa zu informieren. Silke hat mir später gesagt, daß es wirklich eine Königin gibt, die immer Handschuhe trägt. Aber selbst die muß sie beim Händeschütteln ausziehen. Weil es sich so gehört. Das ist diese Königin aus England mit den lustigen Hüten. Elisabeth. Und der letzte, der uns die Hand schüttelte, war der Schornsteinfeger Reichendorf. Dessen Frau Elisabeth heißt. Ob daß ein Omen ist, schoß es mir durch den Kopf. Obwohl die Reichendorf wenig Königliches hatte. »Hätte der mal seine Arbeitskleidung an. Die schwarzen Sachen, das wäre doch für heute genau richtig gewesen. Glück brauchen wir, und Schwarz paßt doch auf einer Beerdigung«, quiekte Silke mir ins Ohr. Das Quieken entstand, weil sie eigentlich lachen mußte. Ich kannte Silke. Aber sie wollte es sich verkneifen. Und dadurch hörte sich ihre Stimme so quiekig an. »Danke, Herr Reichendorf«, sagte Mutter so freundlich, als hätte der ihr eben mal den Kamin gekehrt. Reichendorf, der Schornsteinfeger, war so perplex, daß er Mutter angrinste und sich dann, als er seinen Fauxpas bemerkte, schnellstmöglich davonmachte. »Das war’s dann«, sprach Mutter, und nach einem letzten Blick aufs Grab drehte sie sich um und ging. Wir mußten uns beeilen, um hinterherzukommen. Frau Hersler schnappte sich Silke und mich, und Papa mit Petra und Oma folgten.
2 Der Leichenschmaus wurde in der Golden Sonne abgehalten. Petra wollte Büffet. Mit russischen Eiern. Petra liebte russische Eier. Als sie später mal einen Freund mit russischen Vorfahren hatte, lästerte Silke: »Russische Eier hat die doch schon immer gemocht.« Nett war das nicht. Aber gelacht haben wir sehr. Nette Späße sind sowieso meist langweilig. Gemeines macht mehr Freude. Gemein war auch, daß es keine russischen Eier gab. Überhaupt kein Büffet. Mutter wollte keines. »Neumodischer Kram, Schnick-Schnack ist das«, befand sie, und: »Gestanden wird auf dem Friedhof genug.« Menü sollte es sein, »Dreigang, ganz klassisch«. Spargelcremesüppchen vorneweg, dann Filet mit Kroketten und Mischgemüse und als Nachtisch Ananascreme hatte Mutter bestellt. Das Essen war gut. In der Goldenen Sonne gab es immer gutes Essen. Schließlich war es das beste Lokal bei uns im Viertel. Gediegen eben. Sehr oft waren wir bisher nicht auswärts essen gewesen. Auch nicht in der Goldenen Sonne. Nicht, daß wir es uns nicht leisten konnten. Aber wir hatten ja unsere Frau Hersler, die für uns kochte. Außerdem meinte Mutter: »Kinder gehören nicht in die Wirtschaft.« Wenn, dann gingen Vater und Mutter deshalb allein aus. Am Hochzeitstag zum Beispiel. Da lud Vater Mutter gerne mal in ein Restaurant. Was waren wir da immer neidisch. Wenn die beiden, schick zurechtgemacht, aufbrachen, und wir mit einem Teller Reisbrei und Dosenpfirsichen zurückbleiben mußten. Nicht, daß wir Reisbrei nicht mochten, aber es war die große weite Welt, die uns lockte. Unser größter Spaß waren die freien Tage von Frau Hersler. Da fuhren wir, seit das Baby da war, manchmal zum Wienerwald. Nach Frankfurt. Nur mit Vater. Die halben
Hähnchen waren so lecker und das Gratis-Erfrischungstuch hoben wir oft wochenlang auf. Petra und ich. Silke benutzte es meistens gleich im Wienerwald. Wir wollten besitzen, Silke benutzen. Zum Wienerwald gehen, hieß auch: entspannt essen. Ohne eine Frau Hersler, die uns die Ellenbogen auf den Tisch haute, wenn wir mal den Arm aufstützten und Mutter, die uns ständig Benimmregeln um die Ohren klatschte. Man spricht nicht mit vollem Mund, man führt den Löffel zum Mund, nicht den Mund zum Löffel und so weiter. Im Wienerwald durften wir die halben Hinkel in die Hand nehmen, und Vater schien es gar nicht aufzufallen, wenn wir mit vollem Mund redeten. Es war wie im Paradies. Dachten wir. Wenn Vater sonntags sagte: »Heute geht’s in den Wienerwald«, da freuten wir uns wie verrückt. Das Baby und Mutter blieben daheim. »Ein Baby braucht seine gewohnte Umgebung«, pflegte Mutter zu sagen, wenn Vater versuchte, sie zum Mitkommen zu überreden. Jetzt, ohne Baby, gibt’s für Mutter ja keinen Grund mehr, daheim zu bleiben, überlegte ich und der Gedanke machte mich traurig. Wienerwald mit Mutter wäre irgendwie nicht richtig. Wie wenn man vom Freigehege in den Stall käme. Auf einen Schlag. Ohne Umgewöhnungsphase. Beengend. Außerdem gab es schon immer Dinge, die nicht zusammengehen, so wie Mutter eben und halbe Hähnchen aus der Hand. Die Spargelcremesuppe war nur lauwarm. Mir schmeckte sie trotzdem. Die breiige Konsistenz hatte etwas Beruhigendes, wie sie so langsam den Gaumen runterrann. Weich und angenehm temperiert. Oma mußte natürlich wieder meckern. »Spargelcremesuppe im Sommer, Mai ist Spargelzeit, wißt ihr das denn nicht.« Sie schaute gestreng in die Runde. Normalerweise regte sich Mutter schnell auf, wenn Oma meckerte. Diesmal reagierte sie kein bißchen. Niemand reagierte. Vielleicht ging es ihnen wie mir, und sie waren froh,
eine Suppe zum Festhalten zu haben. Oder froh darüber, daß überhaupt jemand sprach. Omas Gemecker war besser als die belastende Stille. Das Hinterzimmer in der Goldenen Sonne war voll. Die sechzig Sitzplätze komplett belegt. Neben Mutter saß der Weihbischof, und dann kamen wir. Rechts von Mutter und dem Weihbischof kam Silke, dann ich und dann Petra. Dann erst kam Vater. Das vergessene Geburtstagskind Petra strich ihm immerzu über den Arm. Selbst während sie aß. Ihre linke Hand war permanent am Tätscheln. So, wie man ein krankes Tier beim Tierarzt streichelt. Ein Tier, dem gleich Schreckliches widerfahren wird. Eine Spritze oder so etwas, und das vorbeugend besänftigt werden soll. Vater wirkte apathisch. Abwesend. Mutter hingegen gelassen. Ohne Oma anzusehen und ihrer Suppenbemerkung Beachtung zu schenken, begann sie einen Plausch mit dem Weihbischof. Wieder mußte die Suppe als Gesprächsthema herhalten. »Wie gut eine solch feine Suppe tun kann, gell, Herr Weihbischof«, säuselte sie und: »Eine Mahlzeit ohne Suppe ist doch keine Mahlzeit.« Der Weihbischof, ein knochiger Kerl mit häßlichen Knotenfingern, nickte nur. Dann waren wir dran. »Eßt nur Kinder, die Suppe bereitet den Magen vor. Eine gute Grundlage ist das A und O, das wißt ihr ja«, redete sie auf uns ein. Der Weihbischof hatte seinen Teller schon fast leer. »Noch einen Nachschlag, Herr Weihbischof«, scharwenzelte Mutter um ihn herum. Hätten wir so gegessen, hätte sie uns wahrscheinlich eine gelangt. Oder zumindestens einen Vortrag über ungesundes Schlingen gehalten. Jedenfalls nicht gefragt, ob wir einen Nachschlag wollen. Silke rollte mit den Augen. Sie konnte den Weihbischof nicht ausstehen. Da war sie mit Oma einer Meinung. Außerdem waren wir scharf auf die Kroketten. Vom Hauptgang. Und jetzt mußten alle warten, ob der gnädige Herr Weihbischof möglicherweise noch mehr Suppe wollte. »Es
gibt noch Kroketten und Fleisch«, raunte Silke dem Weihbischof zu. »Vielleicht weiß der gar nicht, daß nach der Suppe noch was kommt«, erklärte sie mir diesen wagemutigen Vorstoß später. Wären nicht so viele Menschen versammelt gewesen, hätte Silke garantiert ein paar gefangen. So zischte Mutter nur ein empörtes: »Silke, was soll denn das« und schaute entschuldigend zum Weihbischof. Der blieb ganz entspannt. Hob den Blick kurz vom Suppenteller, unterbrach sein Schlürfen mit den Worten: »Eine treffliche Wahl, meine Liebe, Kroketten gehören zu meinen Leibspeisen«, um dann unbeeindruckt weiterzuessen. Mittlerweile waren die meisten Gäste mit der Suppe fertig, und die Stimmung hatte sich merklich gebessert. Es schien, als würden die Leute nach und nach vergessen, warum sie versammelt waren und es schlicht genießen, mitten in der Woche in der Goldenen Sonne zu essen. Noch dazu gratis. »Billiger wäre doch ein kleiner Empfang bei uns zu Hause«, hatte Frau Hersler meinen Eltern vorgeschlagen. »Ein paar kalte Platten, Schnittchen mit Lachs und Ei sind schnell hergerichtet.« Mutter wollte aber die Leute nicht in unserem Haus: »Keinesfalls. Ich will nicht, daß sie hier rumschnüffeln. Gucken, wo es passiert ist. Ich will mein Haus für mich.« Die Hersler zuckte mit den Achseln und nuschelte was von: »Ist ja nicht mein Geld. Jeder, wie er es gern hat.« Endlich hatte der Weihbischof sein Süppchen fertig. Die dritte Portion. »Sein Bauch muß ein riesiger Spargelsuppenteich sein«, kicherte Silke auf dem Weg zum Klo. Aufs Klo gehen war der beste Ausweg bei Langeweile. Und langweilig war es uns schon. Die Toiletten in der Goldenen Sonne waren erste Sahne. Richtiggehend chic. Für Toiletten. Silke und ich wählten zwei Klos direkt nebeneinander. Es gab immerhin fünf. Ich machte nicht gern auf fremden Klos. Es war mir zu anstrengend, schließlich hatte
uns Mutter beigebracht, daß man sich niemals setzten darf. Auf aushäusige Klobrillen. Daß da die ekligsten Bakterien versammelt waren und man sich entsetzliche und noch dazu peinliche Krankheiten holen konnte. Diese Geschichten beeindruckten und schockten mich gleichzeitig dermaßen, daß ich mich nie im Leben auf irgendein Klo gehockt hätte. »Schwebend Pipi machen« war die Anordnung. Manchmal zitterten mir die Oberschenkel vor Anspannung. Aber ich mußte nun mal dringend. Als ich gerade losgelegt hatte, plärrte Silke los: »Nicht setzen, nur nicht setzen.« Wie witzig. »Kuckuck«, schrie sie weiter. Da erst merkte ich, daß meine Schwester von oben in meine Klokabine linste. Wie die das wieder gemacht hatte? Ihre Finger und ihr Kopf guckten über die Wand. »Du mußt dich nur auf den Rand stellen, dann kannst du dich ein bißchen hochziehen.« Bei dem Wort »hochziehen« rutschte sie weg. Ich hörte nur einen tierischen Plumps. »Hast du dir schlimm weh getan?« fragte ich. Daß sie sich weh getan hatte, daran gab es für mich keine Zweifel. »Ich hab mich naß gemacht, ganz doll naß«, kam die prompte Antwort. Schnell wechselte ich die Kabine. Allerdings nicht über die Trennwand, sondern ganz offiziell durch die Tür. Silke war wirklich leicht lädiert. Ihr Bein. Sie war vom Bakterienklodeckel abgerutscht und mit einem Bein in der Schüssel gelandet. Bis zum Knie war sie klitschnaß. Auch die neuen Sandalen. Dunkelblaues Leder. Mutter wird durchdrehen, dachte ich sofort. Der weiße Kniestrumpf sah aus wie ein alter Spüllappen. »Mist«, fluchte Silke. Daß das richtig Ärger geben würde, war ihr klar. »Vielleicht sieht sie es ja nicht«, keimte Hoffnung in ihr auf. »Wenn wir nicht bald zurück sind, kommt die uns noch suchen, und dann haben wir überhaupt keine Chance«, entgegnete ich. Schon stand die Hersler im Vorraum der Toiletten. Im Vorraum war alles in Altrosa. Selbst die Hülle der Kleenex-Box und die kleinen
Seifen. Silke hat sich sofort eine eingesteckt. »Als Erinnerung.« Obwohl ich wirklich keine schlechte Hüpfdenkerin war, konnte ich den Zusammenhang zwischen einer kleinen rosafarbenen Seife, dem nassen Bein und der Beerdigung meines Bruders nur schwer erfassen. Woran sollte sie die Seife bloß erinnern? Und wie konnte die schon wieder an Seife denken, wo wir eben noch panisch versucht hatten, ihre Strümpfe zu richten. Die Hersler erfaßte die Situation blitzschnell, obwohl ich mich geschickt vor Silke stellte. Sie packte meine Schwester und hob sie unter einen der Händetrockner. Die hatten echt die tollsten Dinge in der Goldenen Sonne. »Ich will nicht wissen, wie das passiert ist, aber ich weiß, eure Mutter wird nicht begeistert sein«, sprach die Hersler und zerrte an Silkes Strumpf. »Wollt ihr mich grillen«, krisch Silke. Richtiggehend hysterisch wurde sie, als ich so beiläufig sagte: »Iih, da hängt was Braunes an deinem Sandalen.« Die Hersler schmierte mir sofort eine, aber der Witz war es wert gewesen. Ich war bereit, für Witze, die mal nicht auf meine Kosten gingen, zu zahlen. Außerdem fiel mir selten einer ein. Und sehr weh taten die Ohrfeigen von der Hersler sowieso nicht. Im Speisezimmer mußten wir gleich noch mal für die KloEskapade zahlen. Wir hatten eine Krokette weniger als die Erwachsenen. Sogar als Petra. »Wieso hat die vier und wir nur drei?« erkundigte sich Silke sofort bei Mutter. Natürlich erst, nachdem sie ihren welligen Strumpf unter dem Tisch versteckt hatte. »Weil Petra heute Geburtstag hat und schon fast erwachsen ist.« Ich wollte nie erwachsen sein, aber wenn die mehr Kroketten bekamen, dann hatte es wenigstens einen verlockenden Aspekt. »Hat der Weihbischof heute auch Geburtstag?« fragte Silke artig. Der hatte nämlich sechs Kroketten. Also die zwei
von Silke und mir. Wie dieser knochige Kerl soviel in sich reinschaufeln konnte! »Nein, mein Kind, ich bin im Dezember geboren, wie unser Herr Jesus«, antwortete der Weihbischof höchstpersönlich und fügte leicht gehässig hinzu: »Die Kroketten sind wirklich delikat.« Mutter sagte nur: »Silke.« In diesem ganz speziellen Ton. Einem, der besagt: noch ein Pieps, dann gibt es mächtig Ärger. »Hoffentlich erstickt er dran«, hetzte Silke leise, und wie so oft war ich ganz ihrer Meinung. Bis zum Nachtisch gab es keine besonderen Vorkommnisse. Die Ananascreme war leicht wie Watte und schmeckte fantastisch. So süß. Leider fing Vater beim Nachtisch schrecklich an zu weinen. Er schluchzte beständig in sich hinein. Petra tätschelte und tätschelte, aber es wollte nicht helfen. Selbst der strenge Blick von Oma zeigte keinerlei Wirkung. Petra aß beim Tätscheln ihre Ananascreme, und nach dem letzten Bissen stand sie auf, ging quer durch den Saal und blieb bei Kunzer, dem Teiggesicht aus der Untersekunda, stehen. Der Grabsänger war natürlich auch zum Essen eingeladen worden. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Sicher hat der sogar da Pickel, Ohrenpusteln, wie widerlich«, kommentierte Silke das Geschehen. Komisch war nur, daß Kunzer direkt danach aufstand und den Raum verließ. Richtung Klo. Petra ging zurück zu ihrem Platz, tätschelte noch einmal Vaters Arm und verließ dann ebenfalls den Saal. Außer Silke und mir schien das keinem aufzufallen. Die Leute waren mittlerweile guter Dinge und unterhielten sich rege. Vaters Geschluchze störte niemanden mehr. Es war ja nicht laut und ziemlich regelmäßig. Silke hatte dann die Idee. »Laß uns gucken, wo die sind, der Kunzer und die Petra.« Sie hatte gleich geahnt, daß da was war. Etwas, was nicht sein durfte. Und sie hatte wieder mal recht. Schnell hatten wir die beiden gefunden. Knutschend in einer Damentoilette. Die waren so beschäftigt, daß sie nicht bemerkten, daß wir über den Rand
der Toilettenwand gierten. Silke streckte mir die Zunge raus, und ich sah sofort, was sie meinte. Mit Zunge. Eindeutig. Meine Schwester Petra steckte Teiggesicht Kunzer die Zunge in den Hals. An ihrem Geburtstag. Wie konnte sie nur! Angewidert stierte ich zu den beiden. In dem Moment öffnete Petra die Augen und sah uns. Es war ihr anscheinend nicht mal peinlich. Im Gegenteil: Fast triumphierend rief sie: »Wenn noch einer stirbt, einer von euch zum Beispiel, bin ich wenigstens nicht mehr ungeküßt.« Kunzer war es sehr peinlich. Er lief dunkelrot an. Rannte raus aus dem Klo, rein in den Saal und verabschiedete sich hektisch von meiner Mutter. »Ich muß los. Wiederschauen.« Weg war er. »Der hat sich sein Geld gar nicht geholt«, rätselte Mutter. »Keine Sorge, der ist bezahlt worden. Und nicht mal schlecht«, grinste Petra.
3 Daß wir in diesem Sommer nach Riccione fuhren, hatten wir eigentlich dem toten Baby zu verdanken. »So hat doch alles auch was Gutes«, war Frau Herslers Kommentar. Der Vorschlag für die Reise war von Onkel Rudolph gekommen. Onkel Rudolph ist Vaters Bruder. Der älteste Sohn von Oma. Ein Lustiger. Einer, der immer die neusten Witze kannte. Außerdem brachte er uns immer etwas mit. Bei jedem Besuch. Meistens Colafläschchen. Jedem sein eigenes Tütchen. Mit genau gleichviel Fläschchen. Wir liebten Colafläschchen und Onkel Rudolph. Vielleicht war er deshalb so nett zu uns, weil er selbst keine Kinder hatte. Nicht mal eine Frau hatte Onkel Rudolph. »Dem muß wohl noch eine gebacken werden«, tuschelten die Leute hinter seinem Rücken, aber Onkel Rudolph war das egal. »Warum hast du denn keine Frau? Alle wollen das wissen«, hat Silke mal neugierig gefragt. »Weil es keine wie dich in groß gibt«, antwortete Onkel Rudolph, und seitdem hielt sich Silke für seinen Liebling. »Völliger Quatsch«, meinte Petra, »wenn, dann mag er mich am meisten, weil ich sein Patenkind bin.« Dagegen konnte nicht mal Silke was sagen. Daß Petra sein Patenkind war, neideten wir anderen ihr sehr. Onkel Rudolph machte herrliche Geschenke. Dinge, die Eltern niemals schenken. Erste Büstenhalter, Plattenspieler und Nagellack. »Aber wenn er sie lieber hätte als uns, hätte sie dann nicht auch mehr Colafläschchen bekommen?« grübelte Silke und fügte hinzu: »Patenkinder kann man sich halt nicht aussuchen, eine wie mich täte er heiraten.«
»So geht das hier nicht mehr weiter«, polterte Onkel Rudolph an diesem Sonntagnachmittag, etwa acht Wochen nach der Beerdigung. »Ihr habt noch mehr Kinder«, ermahnte er meine Eltern, »und der Rasen muß auch dringend mal wieder gemäht werden.« Mutter schaute zu Silke und mir und sagte nur: »Ihr habt es gehört. Der Rasen. Einer mäht, und einer recht zusammen.« Rasenrechen ist Schwerstarbeit. Niemand will freiwillig rechen. Silke rollte mit den Augen, Onkel Rudolph schüttelte irritiert den Kopf, und wir alle waren sehr erleichtert als Vater einwarf, daß schließlich Sonntag sei und man da nun wirklich keinen Rasen mäht. Das leuchtete selbst Mutter ein. Die Idee mit der Urlaubsreise gefiel ihr. Sie blühte direkt auf. Daß es nach Italien ging, war kein Zufall. Nach Italien wollte Mutter schon in ihren Flitterwochen. Wie oft hatten wir uns das angehört: »Ich wollte nach Italien und landete im Allgäu. Ach, Kinder, mit dem Heiraten ist das so eine Sache.« Normalerweise folgte auf die Abhandlung mit den falschen Flitterwochen die Geschichte mit dem Kleid, das auch nicht das war, was Mutter eigentlich wollte, und dann die Feier, die Mutter lieber ein wenig stilvoller gehabt hätte. Manchmal, als Vater noch der vor dem Sturz war, lachte er und ergänzte: »Und der Mann, war der auch nicht der, den du haben wolltest?« und dann kicherte Mutter, und sie umarmten sich. Je nachdem wie Mutter gelaunt war natürlich. Manchmal brummte sie auch nur ein: »Ach, laß das.« Das war dann kein so gutes Zeichen. Also fuhren wir nach Italien. Mit dem Auto. Kurz vor Würzburg mußte Silke brechen. Sie saß nicht gerne hinten. Weil ihr hinten meistens schlecht wurde. Vater schimpfte erstaunlicherweise nur ganz wenig und putzte alles weg. Dann schüttete er eine Flasche Kölnisch Wasser drüber. »Das riecht ja fast schlimmer als die Kotze«, meckerte Petra. Ich fand die
Mischung der Gerüche schlimmer. Unsere Wurst- und Käsebrote mit dem Kölnisch-Wasser-Duft. Die Brote schmeckten schon danach. So seifig. Und über allem lag der Geruch von Vaters Bonbons. Puderbonbons nannten wir sie. Jedes Bonbon in der runden Blechdose, die in der Ablage zwischen Vater und Mutter ihren festen Platz hatte, war mit einer zarten Schicht Puderzucker überzogen. Petra und Papa liebten diese Bonbons. Wir anderen waren weniger begeistert. »Ich glaube nicht, daß Petra die echt mag, das macht die nur, um Vater zu gefallen«, meinte Silke. Ich war ausnahmsweise mal nicht ihrer Meinung. Das traute ich ihr nicht zu, daß sie massenweise Bonbons aß, die ihr nicht mal schmeckten. Wozu auch. Vaters Liebling war sie sowieso. Wir hatten enorme Mengen Proviant mit. Belegte Brote und Obst. »Das Zeug an den Raststätten kann man ja kaum essen«, hatte Mutter entschieden, und: »Bei eigenen Dingen weiß man, was man hat. Außerdem braucht der Körper Vitamine, besonders auf der Fahrt ins Ausland. Ob es da ausreichend Sachen mit Vitaminen gibt, weiß ja keiner so genau.« Frau Hersler hatte Brote geschmiert, als wollten wir selbst in den vierzehn Tagen in Italien nichts anderes essen. Daß wir darüber lachten, ignorierte sie: »Ihr werdet euch noch umschauen. Da unten soll es überhaupt kein ordentliches Schwarzbrot geben. Was meint ihr, was ihr dann froh sein werdet über die Vorräte. Ich kenn diesen Raststättenfraß zur Genüge.« Kurz hinter München machten wir Rast. Genau passend, denn Silke war es schon wieder schlecht. Oder immer noch. Obwohl sie seit Würzburg keinen Bissen zu essen bekommen hatte, war sie gelblich-grün. Wie eine abgestandene Erbsensuppe. Sie wankte sogar ein wenig, als sie von der Rückbank kletterte. Sie stöhnte: »Mir ist schlecht«, und Vater nahm sie teilnahmsvoll
in den Arm. »Paß bloß auf, daß sie nicht auf dich spuckt, wir kommen jetzt wirklich nicht an unseren Koffer mit den frischen Sachen ran«, war Mutters einziger Kommentar. »Es ist das Auto«, jammerte Silke, »das Auto ist schuld. Es riecht so. So eigenartig.« »Ein Mercedes riecht doch nicht«, erklärte Mutter kategorisch, und damit war das Thema für sie beendet. Mutter liebte den Wagen. Wir breiteten unseren Proviant auf den Holztischen aus und setzten uns auf die Bank. Das Wetter war herrlich. Der Himmel fast wolkenfrei; dabei waren wir bei strömendem Regen gestartet. Wenn das Wetter ein Omen ist, dann wird es ein wundervoller Urlaub, dachte ich und schnappte mir schnell noch eines von Frau Herslers delikaten Kalbsleberwurstbroten. Frau Hersler hatte ein absolutes Händchen für Kalbsleberwurstbrote. Viele Menschen essen unter Kalbsleberwurst auf keinen Fall Butter. Ich aber liebte diese Doppeldosis Fett. Dünn Butter und dann dick Kalbsleberwurst. Ab der Autobahnausfahrt Innsbruck spielten wir das Tierspiel. Einer kriegte die rechte, einer die linke Seite. Für jedes Tier gab es einen Punkt. Vater und ich spielten auf der linken, gegen Mutter und Silke. Petra stellte sich schlafend. Sie mochte keine Autospiele. Fand sie kindisch. »Die träumt bestimmt vom Teiggesicht«, spekulierte Silke. Vater und ich lagen schnell hinten. Unsere Seite war die mit der Mittelleitplanke. Mutter und Silke hatten die Wiesen und Felder. Ungerecht. Bei einem Stand von 7:2 wollte Silke eine Herde Kühe einzeln gewertet haben. Neun Punkte. Da platzte mir der Kragen. »Eine Gruppe Tiere zählt als eins«, beharrte ich auf die Einhaltung der Regeln. »Das gilt nur für Vögel«, konterte Silke, »oder wenn man die Tiere so schnell gar nicht zählen kann.«
»Wenn ihr streitet, ist Schluß mit Spielen«, beschied Mutter, denn sie mochte es kein bißchen, wenn Vater während des Fahrens in die Gegend guckte. Wir übernachteten im Gasthof Zum lahmen Esel. Beim Abendessen hingen die Schnitzel bis über den Tellerrand, und Vater ließ uns alle von seinem Germknödel probieren. Wir aßen im Garten der Wirtschaft. Die Servietten waren blau-weiß kariert, und auf den Bergen in der Ferne schimmerte es weiß. Der letzte Schnee und der erste Abend an dem Mutter aussah, als würde sie nicht an das tote Baby denken. Wahrscheinlich freute sie sich genauso auf den Urlaub wie wir. Die Stimmung änderte sich mit dem Überqueren der italienischen Grenze am nächsten Morgen. »Charmant, charmant, die Herren Italiener«, bemerkte Vater nach unserer Paßkontrolle ein wenig pikiert. Nur weil der kleinere der beiden Grenzer zu Mutter »Buon giorno, bella signora« gesagt hatte. »Grazie, grazie«, strahlte Mutter zurück und die Freude über diese Begrüßung war ihr anzusehen. Petra glaubte, nicht Mutter, sondern sie sei gemeint gewesen, und Vater wirkte fast eifersüchtig. »Diese Süßholzraspler, ohne jeden Sinn für Treue und Verantwortung«, machte er seiner Empörung Luft. »Verantwortung ist ein Thema, über das gewisse Menschen nie mehr sprechen sollten«, blaffte ihn Mutter darauf an. Was so Zollkontrolleure mit Verantwortung zu tun hatten, war mir rätselhaft. Und irgendwie war es auch ungeschickt von Vater, ausgerechnet von diesem Thema anzufangen. Petra nölte. Darüber, daß Vater es gewagt hatte, ihren Paß einfach so aus dem Autofenster zu halten. »Du hattest mir versprochen, mein Bild zuzuhalten, wie stehe ich jetzt da, vor den Italienern?« Als wäre dadurch, daß irgendein Zöllner ihr Paßbild gesehen hatte, ihr Image in Italien komplett ruiniert. Lächerlich. Obwohl, ihr Paßbild war wirklich schlimm. Ihre
Haare sahen wie eine Filzperücke aus. Eine schlecht toupierte Filzperücke. Ich hätte mit Silke zu gerne darüber gelästert, aber leider waren wir immer noch zerstritten. Wegen der Herde, die neun Punkte bringen sollte. Silke lenkte nach einem Streit nie ein. Sie hatte Geduld. Konnte warten. Bis ich es nicht mehr aushielt und wieder angekrochen kam. Obwohl ich mir jedesmal vornahm: Diesmal wartest du. Gegen Nachmittag erreichten wir Riccione. Unser Hotel hieß Da Giovanni, und im Vorgarten waren die europäischen Fahnen gehißt. Die wichtigsten. Deutschland, Frankreich, England und so. »Schmeichelei« nannte es Vater, »Rangeschmeiße«. Mutter hingegen war entzückt: »Wie aufmerksam und gastfreundlich, da fühlt man sich doch gleich ganz wie zu Hause.« Italien gefiel ihr. Das war seit der Grenze klar. Und daß es ihr, der »bella signora«, so gefiel, gefiel Vater überhaupt nicht. Hatte er sich zu sehr an die tieftraurige Mutter gewöhnt? Auch wir waren erstaunt über Mutters Heiterkeit. »Je weiter wir vom Unfallort weg sind, um so mehr vergißt sie alles«, glaubte Silke. Mir war egal, woran es lag, ob es das Wetter, das Land oder die Umgebung war. Es war schön, und Vater würde sich hoffentlich dran gewöhnen. Vielleicht ließ er sich von dieser neuen Laune sogar anstecken. Welch wunderbare Aussicht. Nach all den Wochen mal nicht mehr dauernd ans tote Baby denken müssen. Toll. Unsere Zimmer lagen im zweiten Stock. Mit Meerblick. »Kinder, schnell umziehen, auspacken können wir später, das Meer ruft«, überraschte uns Mutter. »Wie stellt ihr euch das vor, ich bin hundemüde von der Fahrerei«, beschwerte sich Vater. »Ruh dich ruhig auf dem Zimmer aus, wir anderen gehen schon mal vor«, entschied Mutter und übersah schlichtweg Vaters ärgerliches Gesicht.
Italien war herrlich. Nicht zuletzt wegen der delikaten Kokosnußstreifen, die es am Strand gab. Mutter war skeptisch: »Kokosnüsse essen wie die Affen, also ich weiß nicht.« Nach ihrem ersten Versuch war jedoch sie die, die um die Mittagszeit schon immer Ausschau nach dem Kokosmann hielt. Vater wollte nicht einmal probieren. Angeblich wegen seiner Zähne. »Außerdem Kinder, schaut euch den Kerl gut an, der das Zeug verkauft. Sieht der nicht selbst schon bald wie ein Affe aus«, lästerte er mürrisch. Natürlich meinte er eigentlich nicht uns, sondern Mutter mit seinen Bemerkungen. Mutter, die durchaus gerne nach dem Kokosmann schaute. Sich vielleicht sogar mehr auf den Verkäufer als auf seine Ware freute. Ich konnte sie gut verstehen. Appetitlich war er, der Kokosmann. Mit seinem braungebrannten Oberkörper und seinen blitzblanken weißen kurzen Jeans. Und diesen lustigen kleinen Löckchen auf seiner Glanzbrust. Vater und Petra hatten keinen Blick für diese spezielle Art der Schönheit. Die so gut zu Sonne und Meer paßte. Die bei uns daheim in Kelkheim keinen interessiert hätte, weil man die Brust meist bedeckt. »Wie kann Petra ein Teiggesicht wie Kunzer küssen, wenn es solche Exemplare gibt«, schwärmte Silke. Vater war, wenn der Kokosmann kam, meistens unterwegs. Ging am Strand spazieren. »Ich bin doch kein Brathühnchen, das hier rumliegt, bis es gar ist, und dabei merkwürdige Dinge ißt und zusieht, wie die eigene Familie einen Mann anschwärmt, der mehr Ähnlichkeit mit einem Orang-Utan als einem Mensch hat«, erklärte er. Uns war es recht. Wir amüsierten uns eindeutig mehr, wenn er nicht da war. Wir hatten unseren Platz in der vierten Reihe, vom Meer aus gesehen. Ganz vorne konnte man nur mit Beziehungen eine Liege ergattern. Meinten jedenfalls die, die keine ganz vorne hatten. So wie die Leinereichs, die neben uns lagen. Riccione-erfahrene Dortmunder. Bei denen hatte jeder seine eigene Liege. »Man
macht doch nur einmal Urlaub, da muß das drin sein«, sagten sie in breitestem Ruhrpottdialekt und mit Blick auf unsere Liegen. Wir hatten nur drei. »Ist doch Quatsch, so viel Geld für Liegen zu bezahlen, wenn ihr Kinder eh meistens im Wasser seid«, hatte Vater entschieden. Jetzt war er derjenige, der fast nie da war. Petra und Mutter hatten ihre festen Liegen. »Die Sonne ist gut für eure Schwester, wegen der Pickel«, begründete Mutter diese Sonderbehandlung. Wahrscheinlich hatte sie immer noch ein schlechtes Gewissen wegen der Geburtstagsparty. Der verpatzten. Silke und ich durften uns, wenn Vater unterwegs war, seine Liege teilen. Daß Silke viel vorne am Wasser saß, das war mein Glück. So hatte ich die Liege oft für mich. Silke liebte es nun mal, ihre Füße ins Wasser zu halten und die Wellen zu begucken. »Kelkheim wäre fantastisch, ein Traum, wenn es Meer hätte«, philosophierte sie vor sich hin. Ich mochte das Meer, hatte aber immer ein wenig Angst. Nicht vor dem Untergehen, sondern vor dem, was sich da im Wasser tummeln könnte. Ich mochte Tiere, aber nicht im Wasser. Der Gedanke, ein Fisch könnte mich berühren oder eine Qualle mir in den Weg schwimmen, war ekelerregend. Ich wollte selbst entscheiden, ob ich ein Tier berühre oder eben lieber nicht. Mir gefiel es besser, in sicherem Abstand zum Meer zu liegen und zu dösen. Auch wenn bei ungünstigen Windverhältnissen immer mal wieder eine Ladung Sand auf mir landete. Von den LeinereichZwillingen und ihrem wilden Geschippe. Die bauten, als bekämen sie es bezahlt, diese Leinereichs. Vati Willi hatte Talent fürs Sandburgenbauen. Perfekt ausgerüstet schippte er nahezu den ganzen Tag. Sein Renommierstück war ein Sportwagen aus Sand. Ein Zweisitzer. In dem die Zwillinge richtig sitzen konnten. Wenn die Leinereichs mittags ins Hotel gingen, mußten wir den Sportwagen wässern. Damit er nicht zerfiel. So hing der Leinereich an seinem Kunstwerk. »Aber
bitte nicht reinsetzen, ihr seid wirklich zu groß dafür«, ermahnte er uns jedesmal, so als wären wir verrückt darauf. Als Gegenleistung fürs Rennwagengießen durften wir eine ihrer Liegen mitbenutzen. »Man muß doch zusammenhalten«, tönte der Leinereich schon am ersten Tag. Mutter und Frau Leinereich waren sich nicht allzu sympathisch. »Wahrscheinlich mag sie dich nicht, weil ihr Mann dich immer so anguckt«, meinte Vater. Das war nun wirklich etwas übertrieben. Wie wollte Vater das beurteilen. Wo er doch kaum da war. »Geltungssüchtig ist der, sonst gar nichts, der will beklatscht werden, egal von wem«, versuchte meine Mutter Vater zu beruhigen und »überhaupt, du warst doch sonst nie so eifersüchtig.« Vater zuckte nur mit den Achseln und cremte vor sich hin. Er cremte sich ständig ein. »Sonnenbrand ist ungesund« war sein Standardsatz, wenn ihn jemand belächelte. Ich wurde recht schnell braun. So wie Silke und Mutter auch. Petra dagegen verbrannte aufs derbste. Dabei cremte auch sie sich dauernd ein. Allerdings mit Kokosnussöl. Machte man die Augen zu, hing ein solcher Duft in der Luft, daß man glauben konnte, der Kokosmann wäre im Anmarsch. Aber das Öl taugte nichts. Am Rücken und im Ausschnitt hatte Petra schnell richtiggehende Brandblasen, die Mutter abends mit Joghurt pflegte. Obwohl Buttermilch besser gewesen wäre. Hatten die Italiener aber nicht. »Aber die Blasen lenken von den Pickeln ab«, befand Silke, nicht ohne Häme. Trotz ihrer verbrannten Teile und ihrer Pickel, die durch die Sonne allerdings wirklich etwas besser aussahen, war Petra begehrt. Die Jungs reckten die Hälse nach ihr. »Weil sie Brüste hat«, meinte Silke, »da stehen die Typen drauf.« Petra machte auch wirklich von morgens bis abends an ihrem Bikini rum. Die Körbchen des Oberteils konnte man verstellen und so zurechtschieben, daß fast nur noch die Brustwarze bedeckt
war. Lustig sah es aus, wenn sie abends den Bikini auszog und ihre Brüste wie kleine weiße Hügelchen leuchteten. Petra haßte unsere Blicke. Meist schloß sie sich im Badezimmer ein, um sich ungestört und unbeobachtet zurechtzumachen. Wir drei teilten uns ein Zimmer. Petra, Silke und ich. Doppelzimmer mit Beistellbett. Silke und ich teilten das Doppelbett, Petra wählte freiwillig das Beistellbett. Obwohl es nicht bequem aussah. Ich glaubte, sie wolle ihren Körper für sich. Keinesfalls aus Versehen berührt werden. So wie ich im Wasser. Nur, daß Silke und ich ja keine glitschigen Viecher sind. Silke war anderer Meinung. »Die teilt halt nicht gerne, egal was, die verwöhnte Kuh, angefaßt werden würde die gern mal«, urteilte sie. Mutter und Vater schliefen zwei Räume weiter. Ein Versehen, denn eigentlich sollten unsere Zimmer direkt aneinandergrenzen. Mit Verbindungstür. Uns gefiel die Tatsache, daß die Tür fehlte, besonders. Wir kamen uns irre erwachsen vor. Unkontrolliert. Nahezu wie Alleinreisende. Dabei achtete Mutter darauf, daß nicht alles drunter und drüber ging. Sie bestimmte, was wir abends zum Essen anziehen sollten. Sie weckte uns morgens und überprüfte als letzte pädagogische Tat des Tages noch mal unsere Zähne. Mutter hatte einen totalen Zahnputztick. »Ihr könnt noch so hübsch sein, mit fauligen Zähnen habt ihr keine Chancen, einen Mann zu finden«, beschied sie uns streng, wenn wir mal wieder rumnörgelten und alles dafür gegeben hätten, mit ungeputzten Zähnen ins Bett zu kriechen. Silke und ich mußten abends immer im Partnerlook zum Essen gehen. Dunkelblaue Faltenröckchen, weiße Kniestrümpfe und Blusen. »Wie Babys«, meckerte Silke. »Ich möchte dieses Wort nie mehr hören«, kam es eisigst von Mutter, und von diesem Tag an wagte nicht mal mehr Silke eine Beschwerde. Wenn Mutter so sprach und schaute, dann war jedem klar, daß höchste Vorsicht geboten war.
In einem behielt Frau Hersler recht. Es gab dauernd Spaghetti. Nur, daß wir sie nicht leid wurden. Im Gegenteil: Wir konnten gar nicht genug bekommen. Die Nudeln und ihre putzigen Namen faszinierten uns. Spaghettini, Farfalle, Papardelle, Maccaroni, und wie sie alle hießen. Ich mochte die, die aussahen wie eine Schleife, aber Schmetterlingsnudeln genannt wurden, am liebsten. Farfalle. Silke die Rigatoni. Röhrennudeln nannte Vater die. Dabei hatte es doch einen ganz anderen Klang, wenn man Rigatoni sagte. Überhaupt, die Sprache. Italienisch hatte so was Zartes. Wie ein Liebeslied. Eine Sprache, die eine Melodie hatte. Silke und ich versuchten jeden Tag mindestens ein neues Wort zu lernen. Immer beim Frühstück, das Vater nur »eine Katastrophe« nannte, löcherten wir den Kellner. Maurizio, seinen Namen verriet er uns gleich am ersten Morgen, hatte an unserem kleinen Sprachkurs mindestens soviel Spaß wie wir. Oder er tat jedenfalls so als ob. Meinte Petra. »Der will ordentlich Trinkgeld, deshalb gibt der sich mit euch ab«, versuchte sie es uns zu vermiesen und streckte Maurizio keck ihren Busen entgegen. Nur, um schnell mal zu zeigen, daß sie uns jederzeit die Show stehlen konnte. Aber Maurizio hatte schon ganz andere Brüste gesehen oder so viele, daß er kaum reagierte. »Die sind ihm zu mickrig«, zischte Silke eines Morgens Petra zu, als die einen erneuten Versuch startete, »er mag richtige Busen.« Petra fing prompt an zu heulen und hysterisch auf Silke einzuschlagen. »Dieses Frühstück ist eine Katastrophe«, schimpfte Vater, »aber das, was ihr hier veranstaltet, ist fast schlimmer.« Maurizio, der vielleicht spürte, daß alles irgendwie mit ihm zu tun hatte, oder doch mehr verstand, als wir ahnten, strich beiden einmal sanft über den Kopf und brabbelte beruhigend auf sie ein. So weit fortgeschritten, daß wir ihn hätten verstehen können, waren wir noch nicht mit unserem Frühstückskurs. An diesem Morgen brachte er uns dann noch das Wort »pace« bei. Frieden.
»Ein sensibler Mensch, dieser Maurizio«, lobte denn auch Mutter. »Bei aller Sensibilität, lieber wäre es mir, sie hätten Wurst, Käse und Eier zum Frühstück, das würde meinen Seelenfrieden erheblich mehr stärken«, kommentierte Vater die Lage. »Fremde Länder, fremde Sitten, sei froh, daß wir nicht in Japan sind, die essen rohen Fisch sogar schon zum Frühstück«, sagte Mutter und schlürfte genüßlich ihren Milchkaffee. Café latte, den hier sogar die Kinder tranken. Die italienischen Kinder. Wir mußten Kakao trinken. Wurden von Mutter gezwungen. »Da können wir uns ja gleich ein Schild umhängen ›Hallo, hier sitzen die Kleinkinder aus Deutschland‹«, beschwerte sich Silke, die nur zu gern Café latte bestellt hätte. Um erwachsen zu wirken. Aber so erstaunlich großzügig Mutter in diesem Urlaub auch war, das ging ihr dann doch zu weit. Mir war es egal. Und eigentlich mochte ich Kakao sowieso lieber. Jeden Abend fragten Silke und ich uns gegenseitig ab. Italienisch-Vokabeln. Die Verliererin mußte der Gewinnerin den Nachtisch überlassen. Das Eis oder die Crème caramel. Etwas anderes gab es nie. So kam es, daß wir uns nahezu jeden Abend in der Wolle hatten und am Ende doch jeder seinen Nachtisch selbst aufaß. Weil wir uns, um uns nicht komplett zu zerfleischen, zum Schluß auf ein Unentschieden einigten. Ab und an nach dem Abendessen spielte Giovanni, der Chef des Hauses, Gitarre. Selbst auf seinen Fingern sprossen ihm Haare. Büschel schwarzer Haare. Drahtig sahen die aus. Wie Borsten einer Schuhbürste, die man für den groben Schmutz benutzt. Der Saal kochte, wenn Giovanni aufspielte. Alle sangen mit und betranken sich dabei mit Lambrusco. Oder Valpolicella. Je nach Brieftasche. Zu späterer Stunde wurde dann getanzt. Engtanz. »Schieber«, sagte Vater. Immer dann war es soweit. Wir mußten ins Bett. Petra durfte noch bleiben. Am nächsten Tag war sie dann noch eingebildeter als sonst. »Sie ist
mehrmals aufgefordert worden«, erzählte Mutter. »Von Vater?« wollten wir wissen, weil wir uns nicht vorstellen konnten, daß jemand anderes mit Petra tanzen wollte. Freiwillig. Als wir hörten, daß einer der Tanzpartner Maurizio gewesen war, waren wir beleidigt. Er, unser Maurizio, hatte uns verraten. »Wenn du mit Kunzer gehst, darfst du dann mit Maurizio tanzen?« fragte Silke streng, nachdem sie sich vom ersten Schock erholt hatte. »Was weißt du Baby denn davon«, plusterte sich Petra auf. »Du hattest die Zunge in seinem Hals, das weiß ich«, petzte Silke und schaute provokant in die Runde. Mutter und Vater tauschten konsternierte Blicke. Petra lief unter ihrem Sonnenbrand an. Dunkelrot. »Du spinnst, du blöde kleine Mistkuh«, schrie sie und rannte vom Frühstückstisch weg. Vater und Mutter führten noch am selben Tag ernsthafte Gespräche mit Petra. Gespräche, bei denen wir zu gern dabeigewesen wären. Das Resultat war eine äußerst beleidigte Petra. Zur Strafe ignorierte sie uns für den Rest der Ferien völlig. »Um so besser«, war Silkes Kommentar. Auch mich störte es wenig, daß Petra uns links liegen ließ. Wir hatten selten Spaß mit ihr. Weil sie wenig davon vertrug. Man konnte sie ohne Häme als komplett humorlos bezeichnen. Vater nannte sie »zuverlässig« und »eben eher ernsthaft«. Oft spazierten die beiden jetzt gemeinsam den Strand entlang. »Ist das nicht sterbenslangweilig?« wollte Silke wissen, aber die zwei schüttelten nur den Kopf. Mutter fragte nicht weiter nach. Sie genoß das faule Leben. Sie bewegte sich in diesem Urlaub so gut wie gar nicht. Drehte, je nach Stand der Sonne, die Liege und schwätzte ab und zu ein bißchen mit den Leinereichs, die in Dortmund eine der größten Metzgereien besaßen. »Behaupten sie«, sagte Vater. »Metzgerei und Partyservice«, unterstrich Frau Leinereich immer wieder. Als die Leinereich merkte, daß Mutter mit Herrn Leinereich nichts vorhatte, taute sie ein bißchen auf. »Ich bin die Renate«, bot
sie Mutter in der zweiten Woche sogar das Du an. Er hieß Willi, und wir fanden, das paßte perfekt zu einem Metzger. »Unser Laden ist schon eher so was wie eine Fleischboutique, den kennt jeder in Dortmund und Umgebung«, protzte Willi ständig. Selbst vor den Italienern machte er nicht halt. Mit Händen und Füßen versuchte er, ihnen seine Fleischboutique nahezubringen. Sein »io vende cane« sollte sicher »ich Fleisch verkaufen« heißen, klang aber mehr nach »ich Hund verkaufen«. Weil »carne« Fleisch und »cane« Hund heißt, wie wir von Maurizio gelernt hatten. Willi vernuschelte leider immer das R, und spätestens wenn nach dem Satz »io vende cane« auch noch das Zeichen für Essen kam, »mangiare cane« – also »Hund essen« – guckten die Italiener betroffen. Alle fanden das lustig. Bis auf Willi. Und Petra natürlich. Die Meckerziege. »Die sollten gar nicht so glotzen, die Italiener. Wer Singvögel frißt, kann auch gleich Hunde essen. Vorspeise Vögel, Hauptgang Hund.« Vater, der seit langem mal wieder herzhaft gelacht hatte, war sofort ruhig. Petra konnte einem wirklich den Spaß verderben. Ein echtes Talent hatte die darin. Auch wir Kinder durften Willi und Renate zu den Leinereichs sagen. Sie duzen. Obwohl es uns schwerfiel. Nach Möglichkeit umgingen wir deshalb die direkte Anrede. Die Zwillinge der Leinereichs waren häßliche Kinder. In einem nervigen Alter. Viereinhalb Jahre alt. Nicht mehr klein genug, um süß zu sein, aber auch noch nicht groß genug, um interessant zu sein. Noch dazu wollten sie ständig mit uns spielen. Boccia oder Federball, am Wasser. »Dabei sind die doch zu blöd, den Schläger zu halten«, ärgerte sich Silke. Leider hatten wir kein eigenes Federballset und da wir uns das von Leinereichs dauernd ausliehen, mußten wir ab und zu auch die Zwillinge mit in Kauf nehmen. »Wie toll die Kleinen zusammen spielen«, freute sich dann Renate, und wir ärgerten uns noch mehr. Was fiel dieser Frau ein, uns »Kleine« zu nennen? Die
hätte uns in ihrer Fleischboutique glatt ein Scheibchen Gelboder Fleischwurst in die Hand gedrückt. Aber wahrscheinlich nahm Renate Kinder auch nur so wahr. Gelbwurstalter oder raus aus dem Gelbwurstalter. »Ob es an zuviel Fleisch liegt?« spekulierte Mutter mal beim Abendessen über das Aussehen der Zwillinge. Paul und Paula, so hatten Renate und Willi ihre Augäpfel genannt, waren nicht dick, aber stämmig. Fleischig. Wie zwei lebende Frikadellen. Das war auch unser Spitzname für die beiden. Für zweieiige Zwillinge sahen die sich sehr ähnlich. Silke führte deshalb die Abkürzungen PF und F ein. Paul war PF und Paula F. Pimmelfrikadelle und Frikadelle. Das war wieder mal sehr gewagt von Silke, aber es wußte ja keiner, was die Abkürzungen bedeuteten, und deshalb war selbst ich mutig genug, sie zu benutzen. P und PF waren der absolute Stolz von FG und HG, wie wir Renate und Willi in unserem Abkürzungswahn getauft hatten. Frau und Herr Gelbwurst. HG und FG hatten die Zwillinge sehr spät bekommen. »Mir hatten schon mit dem Thema abgeschlossen und überlegt, ob wir uns ‘n Collie kaufen«, vertraute HG eines Nachmittags meinen Eltern an. Wäre besser gewesen, auch für uns, dachten Silke und ich, und Mutter machte ein Gesicht, als würde sie genau das gleiche denken. »Mehr als elfeinhalb Pfund hatten die zusammen, der Paul und die Paula, fast soviel wie ein ausgewachsenes Ferkel«, protzte Willi. »Kinder, die mit Ferkeln verglichen werden und aussehen wie Frikadellen, ob die es mal leicht haben«, überlegten wir abends im Bett und waren froh, daß unsere Eltern keine Fleischboutique hatten und wir nicht wie Frikadellen aussahen. »Stell dir vor, man könnte vom Aussehen der Kinder auf den Beruf des Vaters schließen, was wäre dann Vater?« fragte mich Silke noch schnell vor dem Einschlafen. Ich hatte nicht den Hauch einer Idee. »Bäcker«, kicherte Silke, »weil Petra die
Streusel im Gesicht hat.« Der Witz war nun echt hart. Aber Petra war mal wieder noch auf und konnte ihn nicht hören. Im schlimmsten Fall tanzte sie gerade mit Maurizio. Obwohl Mutter das nur ungern sah. »Er ist hier angestellt, Petra, vergiß das nicht.« Und mit strenger Stimme gab sie Vater, der ein wenig erstaunt schaute, die Erklärung: »So einen Hang zum Küchenpersonal muß man im Keim ersticken. Du weißt, wie das enden kann.« Vater guckte nicht so, als wisse er, wovon sie rede, hielt aber sofort den Mund. In diesem Urlaub lernten wir, daß Männer häufig Grund für Streitereien unter Frauen waren, man nicht darüber spricht, wer seine Zunge in wessen Hals steckt, Frikadellen laufen können und ein Federballspiel manchmal Leben verändert. Das mit dem Federballspiel kam so.
4 Kurz vor Ende des Urlaubs, zu Beginn unserer dritten Woche in Riccione, reisten die Leinereichs ab. »Die Frikadellen sind durchgebraten«, bemerkte Silke, und daß wir PF und F loswaren, stimmte uns nicht gerade traurig. Leider nahmen sie auch ihr Federballspiel mit. Das wiederum war Pech, denn wir hatten es mittlerweile zu einer gewissen Fertigkeit gebracht. Vielleicht ließ sich Vater deshalb nun erweichen, uns ein eigenes zu kaufen. Das kleine Geschäft an der Strandpromenade, bei dem wir bisher alles erstanden hatten, führte keine Federballspiele. »Die haben doch sonst alles«, motzte Mutter und meinte nur lapidar: »Dann habt ihr eben Pech. Spielt Boccia.« Da platzte Silke der Kragen. »Du bist so gemein. Außerdem hat Vater es uns versprochen.« Ich nickte eifrig zur Unterstützung. »Da hat sie recht«, erhielten wir überraschend Schützenhilfe von Petra. Petra, die doch entschlossen war, nie mehr mit uns zu sprechen. »Du redest ja mit mir«, Silke vergaß für einen Moment fast das versprochene Federballspiel und vor allem ihre Empörung. »Ich rede nicht mit dir, sondern mit Vater über dich. Und mit Mutter«, verteidigte sich Petra und schaute Silke und mich streng an. »Aber wir dachten, wegen der Geschichte mit der Zunge im Hals von Kunzer«, versuchte Silke eine Erklärung. »Ich kann doch nicht sauer sein wegen einer Sache, die stimmt. Ja, ich hatte meine Zunge in seinem Hals. Und soll ich euch was sagen: Es war prickelnd.« Ungewohnt provokant für Petra. Mutter sah denn auch aus, als würde sie in wenigen Sekunden einen Kreislaufkollaps bekommen. Oder schlicht tot umfallen. Dann konnte sie aber doch noch sprechen: »Wir gehen sofort ins Hotel, auf der Stelle«, zischte sie uns an. Da
passierte es: Vater, der seit dem Tod des Babys nie mehr widersprochen hatte, sagte äußerst bestimmt: »Nein, Petra hat recht, ich muß den Kindern ihr Spiel kaufen.« Mutter, die aussah, als wüßte sie nicht mehr, worüber sie empörter sein sollte, über Petra oder Vater oder die Tatsache, daß wir alle nicht parierten, drehte sich auf der Stelle um und rannte davon. Richtung Hotel. Mit einem Mal waren die Urlaubsrollen getauscht. Vater war plötzlich ganz entspannt und souverän. Was war da mit den beiden schon wieder los? Warum war Mutter auf einmal so zickig? Konnten nicht beide fröhlich sein? Ging das nicht mehr? Erst im dritten Laden entdeckten wir, kurz vor dem Aufgeben, ein Federballspiel. Aber nicht nur das. Denn hinter dem Tresen stand ein Mann, der mich sofort an irgend jemanden erinnerte. Er hatte etwas wahnsinnig Vertrautes. Nahes. »Papa, Papa, der Mann da sieht aus wie du, nur in alt und braun«, brachte Petra unsere Gedanken auf den Punkt. Vater schaute auf und blickte dem Mann ins Gesicht. Wir alle starrten ihn unverblümt an. Sekundenlang passierte nichts. »Findest du«, fragte Vater. Nur diesen einen Satz. Findest du. »Hört auf, ihn so anzuglotzen, wie peinlich, was soll der denn denken«, versuchte ich den Bann zu brechen. Den Zauber. Es war wie ein Zwang. Wir konnten nicht anders. Die Ähnlichkeit war absolut frappierend. »Buon giorno, signore«, stammelte Petra, vielleicht um die Situation zu retten. »Buon giorno«, sagte der Mann mit einer warmen Stimme. Freundlich und ein wenig kratzig hinten im Rachen. Das hatten viele hier, dieses Kratzen. »Kommt vom Rauchen«, behauptete Mutter immer. »Diese Südländer, die qualmen ja wie die Schlote.« Mutter mochte das Rauchen nicht. »Eine Dummheit, die zum Himmel stinkt«, nannte sie
es. Vater war nicht ganz so streng: »Laß die Leute doch, wenn es ihnen Spaß macht, jeder, wie er es gerne hat.« Der Mann hinter dem Tresen zog eine Packung Zigaretten hervor und bot Vater eine an. »Vuole, signore?« fragte er mit seiner warmen Stimme. Vater schüttelte energisch den Kopf. »Io nix fumare.« »Sie rauchen nicht, wie vernünftig«, antwortete der Tresenmann. »Nein«, sagte Vater, »ich rauche nicht« und wirkte kaum erstaunt darüber, daß der Mann Deutsch sprach. »Rudolph?« fragte der Mann nun. Vater schüttelte den Kopf. »Richard oder Rainer?« setzte der Mann die Fragerei fort. »Richard«, sagte Vater und dann »Papa?« Der Mann nickte, und Vater stotterte nur noch »Papa, ach Papa«. Der Tresenmann öffnete eine Klappe am Tresen, trat auf Vater zu, umschloß ihn mit seinen braungebrannten Armen und schluchzte: »Endlich, endlich. Ach Richard, was habe ich gewartet.« Es war ergreifend. Wir wollten ein Federballspiel kaufen und entdeckten Opa. Vaters Vater. Obwohl wir einen Moment brauchten, um zu verstehen. Wir hatten Vater, außer bei der Beerdigung des Babys, noch nie so aufgelöst gesehen. Er weinte und klammerte sich an seinen frisch gefundenen Vater. Als würde der sonst so schnell wieder verschwinden, wie er aufgetaucht war. Erst nach einer Viertelstunde waren beide ansprechbar. Das Federballspiel in meiner Hand war schon ganz feucht, so schwitzte ich vor Aufregung. Silkes Mund stand halb offen. Wir waren alle wahnsinnig gerührt. Einen solchen Gefühlsausbruch zu sehen. Einen, der auch noch positiv war. Einen freudigen. Opa, Vaters Vater, ging zur Ladentür, schloß ab und schob uns, seine wiederentdeckte Familie, ins Hinterzimmer. »Setzt euch«, sagte er: »Es gibt viel zu erzählen.«
»Und zu erklären«, verlangte Vater, der langsam wieder mehr er selbst zu sein schien. »Ja«, sagte Opa »es stimmt; es gibt viel zu erklären, ich hoffe, ihr bringt genug Zeit mit.« Wir nickten, und Opa versorgte uns mit Limonade. Die Männer tranken Grappa. »Wenn ihr Eis wollt, holt es euch aus der Kühltruhe«, strahlte uns Opa an, und mit den Worten: »Schuld an allem ist, wie so oft die Liebe gewesen«, begann er seine große Beichte. Es störte ihn überhaupt nicht, daß wir Kinder dabei waren. In Deutschland hätte niemand vor Kindern über die Liebe gesprochen. Opa hatte wohl schon viel von den Italienern übernommen. Bei denen durften die Kinder alles tun, alles hören und vor allem überallhin mitgehen. Café latte trinken und immerzu Nudeln essen. »Herrliches Leben haben die hier«, dachte ich, um dann völlig fasziniert Opa zu lauschen. »Elsa, eure Oma, war eine aufregende Frau. Schön und anziehend. Alle waren verrückt auf Elsa, und Elsa genoß das. Wenn wir ausgingen, war sie der Mittelpunkt. Wie die plötzliche Farbe in einem Schwarzweißfilm. Aber sie strahlte für alle, nicht nur für mich. Ich war nicht der Grund für das Strahlen, ich durfte nur daran partizipieren. Hätte sie für mich gestrahlt und die anderen hätten es mit genossen, wäre alles anders gekommen. Glaube ich. Ich hätte zu gern geteilt, wenn ich der Anlaß gewesen wäre. Aber das wichtigste war für sie das Gefallenwollen. Das Auffallenwollen ihre tiefste Befriedigung. Nicht um mir zu gefallen oder näherzukommen. Ich spielte keine Rolle in diesem Spiel. Ich war nur ein Bestandteil des Publikums. Einer von vielen. Ein Claqueur. Leider. Bis ich mir eingestand, was der Grund für ihr Verhalten war. Sie liebte mich nicht, hatte mich wahrscheinlich nie geliebt, und deshalb lief ich fort. Ich konnte auf Dauer nicht nur lieben und bewundern, ich wollte auch geliebt werden. Oder
wenigstens bewundert. Ich hatte tiefe Angst, nie mehr in meinem Leben von einer Frau geliebt zu werden. Bis ich auf Änni traf, hatte ich ehrlich vor, mich mit dieser Tatsache zu arrangieren. Capito?« Opa sagte dauernd capito. Er war halt doch schon ein halber Italiener geworden. Nach dem »capito« nickten wir immer brav, und dann ging es weiter. »Beim Kirchgang sah ich Änni das erste Mal. Ich war immer allein in der Kirche. Eure Oma Elsa haßte es. ›Das ganze Getue und Gemache ist doch widerlich, diese verlogene Bagage‹, pflegte sie zu sagen. Für mich aber gehörte es zum Sonntag dazu. Kirche entspannte mich. Außerdem bin ich katholisch, und da ging man eben. Änni ging auch regelmäßig. Mit ihren Eltern. Ich saß oft in derselben Reihe wie sie und werde nie vergessen, mit welchen Blicken sie mich angeschaut hat. Wochenlang. Es war die reine Begierde. Sie war vernarrt in mich. Sie wollte mich. Niemanden sonst. Das sagte jeder Wimpernschlag von ihr überdeutlich. Irgendwann habe ich sie dann angesprochen. Obwohl klar war, was passieren würde. Wir wußten das beide. Und wollten es trotzdem. Ich weiß, es hört sich verrückt an, aber es war klar, welches Ende das mit uns nehmen würde, wenn wir erst mal anfingen. Capito?« Stilles Nicken von uns. »Wir trafen uns nach der Kirche. Zu Elsa sagte ich, ich würde noch ein wenig Spazierengehen. Änni erzählte daheim was von einem Frauenbibelkreis für ledige junge Frauen. Ich weiß nicht, ob sie ihr je geglaubt haben, so offensichtlich erschien mir ihre Bewunderung, aber Ännis Eltern haben nie nachgefragt. Änni war nicht so schön wie Elsa. Lange nicht so schön. Sie hatte etwas Scheues, fast Unscheinbares. Aber wenn hinter dieser optischen Stille etwas aufflackerte, dann haute es einen um. Man hatte das Gefühl, diese Frau lebt und existiert
nur für dich allein. Eine Sternschnuppe, die niemand sonst sieht, die im Verborgenen schimmert. Wenn Elsa Farbe war, dann war Änni der Regenbogen, der sich erst auftut, wenn die Wolke weicht, der dann aber alles in sich vereint. Capito? Es war nicht nur der Sex, der anders war als mit Elsa, es war vor allem mein Gefühl. Das Gefühl, ein wunderbarer Mann zu sein, ein begehrter Liebhaber. Nicht ein Ernährer oder ein Vater. Nur ein Mann. Ich wollte Mann sein. Änni ließ das nicht nur zu, sie wollte auch nichts sonst von mir. Elsa, deine Mutter, eure Oma, war zur Mutter geworden. Sie brauchte einen Vater, keinen Mann. Sie hätte, vor die Wahl gestellt, immer die Kinder gewählt, nie mich. Sie mochte mich, aber geliebt hat sie nur euch und natürlich sich selbst«, klagte Opa mit Blick auf seinen Zweitältesten Sohn Richard. »Änni hatte kein Interesse an meinem Geld, meiner Position oder meinem Haus. Auch nicht an Kindern, die sie vielleicht von mir hätte haben können. Nur an mir. Sie liebte es, mir zuzuhören. Hing an meinen Lippen. Aber nicht gekünstelt und berechnend, wie es Frauen manchmal tun. Sie hörte mir gerne zu. Man sah, daß es ihr ein Vergnügen war, mir zu lauschen. Sie fiel mir nicht ins Wort, so wie Elsa, oder rollte genervt mit den Augen. Elsa rollte ständig mit den Augen. Vor allem vor anderen Leuten. So, als wollte sie sagen: Dieser Mann ist wirklich eine Prüfung für mich. Änni interessierte sich für alles, was ich sagte. Sie war anders und gut für mich. Sie bekam mir. Das wußte ich sehr schnell. So, wie der eine eher Fleisch und der andere eher Gemüse verträgt. Elsa war das Fleisch, Änni das Gemüse. Sie war der Auslöser für alles, aber nicht der Grund. Änni war nicht der Grund, capito? Der Grund war die fehlende Liebe. Ich wußte, Änni gibt sie mir. Deshalb bin ich fort. Sonst wäre ich verdorrt. Emotional vertrocknet.«
Er machte eine Pause und sah in die Runde. »Capito?« fragte er. »Ja, ich glaube ja«, antwortete Vater. »Ungern zwar, aber ja.« »Kino ohne Bilder«, seufzte Silke und fragte dann: »Kriegen wir jetzt eigentlich das Federballspiel oder nicht?« Vater ging fast an die Decke. »Wo bleibt dein Gefühl für die Situation«, bekam Silke ihre verbale Ohrfeige. Opa, den wir nach dieser ergreifenden Beichte sofort als Opa anerkannten , zeigte mehr Verständnis für Silke. »Laß doch, Richard«, sagte er zu seinem Sohn, und zu Silke und mir gewandt: »Nehmt euch, was ihr wollt aus dem Laden, ihr seid immerhin meine Enkelinnen.« Wir fühlten uns wie in unseren geheimsten Träumen. Denen, in denen man nachts in einem Kaufhaus eingeschlossen wird und alles essen und ausprobieren kann, ganz nach Lust und Laune. Sicherlich war das kein Kaufhaus und wir nicht komplett unbeobachtet, aber ein ganzer Laden nur für uns, das war schon was. Zur freien Verfügung. Wir sprangen vom Tisch auf und verließen das Hinterzimmer. Bis auf Petra. »Unsere Miß Zunge bleibt lieber bei den Erwachsenen«, lästerte Silke gleich wieder. Petra reagierte darauf überhaupt nicht so, wie wir es erwarteten. Silke hatte es nämlich extra laut genug gesagt, damit Petra es hörte. »Stimmt Silke«, sagte sie, »ich will hier sitzen bleiben, denn ich will wissen wie es weitergeht. Mit der Liebe und mit Änni. Sandeimer sind mir da egal. Kinderkram blöder. Hier geht es um das Leben, und das will ich auch: leben. Wirklich leben. Geht ihr nur schön spielen.« Da hatte sie es Silke aber gegeben. Das war ein klarer Punktsieg für Petra gewesen. Eindeutig. Mich hatte sie jedenfalls sofort überzeugt, und ich setzte mich schnellstens wieder an den Tisch. Opa räusperte sich, steckte sich eine weitere seiner Zigaretten in den Mund und zog gierig daran. Wie ein Lungenkranker an einer Sauerstoffflasche. Als wollte
er sich Kraft für das weitere Erzählen heraussaugen. Kraft, die er ohne diese Hilfe nicht gehabt hätte. »Wir beschlossen, nach Italien zu gehen. Änni und ich. Es war vor allem ihr Wunsch. Die Frauen lieben nun mal Italien. Meer wollte sie. Wenn diese Frau Meer will, dachte ich damals, dann soll sie es haben. Es war der einzige Wunsch, den sie mir gegenüber geäußert hat. › Alles, was du willst, mein Liebster‹, hat sie immerzu gesagt, ›aber bitte mit Meer.‹ Ich wäre für sie nach Sibirien gegangen. Capito?« Automatisches Kopfnicken war die Folge. Silke hatte inzwischen auch wieder Platz genommen. Die Angst, etwas zu versäumen, war doch größer als die Gier nach all den schönen Dingen. »Italien war nicht so weit zu fahren und doch so fern von Kelkheim. Wir planten nicht lange. Zwei Wochen nach unseren ersten geheimen und wilden Küssen waren wir weg. Mit der Eisenbahn gen Süden. Ich hatte überlegt, ob ich Elsa etwas sage. Oder eine Nachricht hinterlasse. Ich entschied mich dagegen. Ich wußte, wenn ich ohne ein Wort gehe, dann kann sie mich hassen. Muß kein Verständnis haben. So waren meine Überlegungen. Ich wollte spurlos verschwinden. Vielleicht war es auch meine Angst, durch einen Brief oder eine Andeutung zu zeigen, daß mir die Entscheidung doch zu schaffen machte. Trotz meiner bedingungslosen Liebe zu Änni. Elsa war nicht der Grund meiner Sorge. Elsa war schon immer patent gewesen. Elsa würde mit dem Problem wachsen. Das redete ich mir jedenfalls ein. Um einem schlechten Gewissen vorzubeugen. Ehrlich gesagt, ich hatte nicht mal um euch Angst. Elsa würde irgendwie für euch sorgen. Ich machte mir die meisten Sorgen um mich selbst. Würde ich in Italien zurechtkommen? Würde ich es schaffen, ohne euch zu leben? Ich dachte nur in diese eine Richtung. Was mit mir sein würde.
Wie würde ich in Italien leben können? Würde ich Erfolg haben? Ich war völlig auf mich konzentriert. Auf meine Befindlichkeit. Wenn ich an den Verlust dachte, dann nur an meinen. Was ihr verlieren würdet, daran verschwendete ich kaum einen Gedanken. Heute ist mir das sehr peinlich, und ich habe mich oft gefragt, wie ich so sein konnte. Ob mich Ännis Bewunderung zu einem solchen Egozentriker hatte werden lassen? Ich weiß es nicht. Vielleicht war ich auch schon immer so gewesen. Vielleicht war es nur Selbstschutz? Hätte ich wirklich darüber nachgedacht, was ich da tue, euch damit antue, hätte ich es vielleicht doch nicht geschafft. Einfach fortgehen ist so einfach nicht. Es geht nur, wenn man mögliche Folgen ausblendet. Ich tat das, indem ich mich voll auf Änni konzentrierte. Die wiederum schien nur für mich zu leben. Zu atmen. Zu existieren. Es gab in dieser Zeit nichts um uns herum. Wir kreisten um uns selbst. Um unsere Gefühle. Änni liebte mich, und ich liebte es, daß sie mich so sehr liebte. Dieses Gefühl ist gigantisch, und wer es je erlebt hat, kann mich vielleicht verstehen. Das soll keine Entschuldigung sein, für das, was ich getan habe. Mein Verhalten ist unentschuldbar. Ich sollte mich dafür schämen und tue das auch manchmal. Aber ich bereue es nicht. Ich schäme mich, aber kann nicht bereuen.« Opa nahm einen großen Schluck Grappa. Er sah in die Runde, und sein Blick ging zu Vater: »Es tut mir unendlich leid für euch. Richard, du mußt mir das glauben. Ich habe das nicht gewollt. Ich mußte es tun. Für mich. Ich wäre im Unglück ertrunken ohne Änni. Ich brauchte diese Liebe. Wie eine Blume das Wasser.« Ich überlegte noch, ob das nicht alles fast schon kitschig war, als Opa zu weinen begann. Die Tränen liefen ihm nur so über sein braungebranntes Gesicht. Opa war trotz seines Alters und seiner Falten ein gutaussehender Mann. Er hatte volles graues
Haar, akkurat gescheitelt, und eine silberumrandete kleine Brille. Das schönste an Opa war sein Mund. Wie ein Herz, ein pochendes, pralles, fein geschwungenes Herz. »Einen Mund zum Küssen hat der«, schwärmte Petra noch am selben Abend und genau das war es. Seine Lippen waren eine Aufforderung. Eine Einladung. Eine, die man nicht ausschlagen konnte. Wenn man diese Lippen aufmerksam ansah, ahnte man, warum Änni ihnen verfallen war. »Wo ist eigentlich Änni? In eurem Haus oder wo?« fragte Petra. Opa wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, schenkte Vater und sich noch einen Grappa ein und seufzte. »Änni ist in Amerika. Sie hat mich verlassen. Sehr bald, nachdem wir hier in Italien waren. Ich habe das lange nicht verstehen können, aber heute weiß ich, warum das passieren mußte. Ich war der beste Italiener, den sie in Kelkheim kriegen konnte, aber hier, verglichen mit den Originalen, war ich nichts mehr. Im Vergleich mit den Kelkheimern war ich ein südländischer Typ. Aber tief drinnen eben doch nur ein Kelkheimer. Als Änni die wahren, echten Italiener erst mal gesehen hat, war es um sie geschehen. Es ging sehr, sehr schnell. Wie bei einem Tumor, der rasant wächst und dem Befallenen keinen Ausweg läßt.« »Aber eure Liebe, eure wunderbare Liebe«, kam es von Petra, der man das Entsetzen darüber ansieht, daß ihr der Glaube an die romantische Liebe so rasch wieder kaputtgemacht wird. »Ännis Bewunderung ist immens, aber zeitlich beschränkt. Ihre Liebe hatte ein Verfallsdatum. Ich hätte es von vorneherein wissen können. Spüren müssen. Aber ich wollte es nicht. Ich wollte darauf hoffen, daß man lebenslang geliebt und bewundert werden kann. Vor allem in dieser enormen Intensität. Ich hatte es mir wie wahnsinnig gewünscht. Aber Wünsche sind eben nur Wünsche. Ich konnte Änni nicht
halten. Sie wollte weiter. Frauen wie Änni sind wie Schmetterlinge. Sie bezaubern einen und flattern doch weiter. Ihr Zauber erlischt schnell. Wenn man sie aufhält oder fängt, dann verletzten sie sich und gehen ein. Schmetterlinge sind sensibel. Und so ist auch die Liebe. Zerbrechlich und sensibel.« Petra schien immer noch nicht zu begreifen. Oder begreifen zu wollen: »Aber ihr wart doch füreinander gemacht? Was ist denn mit Euch passiert? Wie kann so etwas schiefgehen?« Petra wollte schon immer alles ganz genau wissen. Jedenfalls alles, was mit dem Thema Liebe und Leidenschaft zu tun hatte. Diesmal waren wir ihr für ihre Fragen dankbar. »Ach Kinder«, lächelte Opa traurig, »ich glaube im nachhinein, es waren nur unsere Körper, die füreinander gemacht waren. Wenn wir uns umarmten, dann verschmolzen wir miteinander. So, wie es nur zwei Puzzleteile gibt, die passen. Sich zusammenfügen. Wir waren die beiden. Es war himmlisch, was wir erlebten. Wir konnten die Finger nicht voneinander lassen. Keine Sekunde. Sie war der Ton, der in meine Form gegossen wurde.« Vater nutzte die genießerische Atempause seines Vaters, um ihn zur Ordnung zu rufen: »Bitte Vater. Denke dran, es sind Kinder hier. Meine Kinder.« Da war sie wieder: die typische Prüderie der Deutschen. Achtung, Achtung: Kinder anwesend, bitte über nichts Interessantes sprechen. Silke muckte auch sofort kurz auf, merkte aber schnell, daß ihr Genöle nichts änderte. »Warum bist du nicht zu uns zurückgekommen«, fragte Vater schließlich, sicherlich auch, um das heikle Thema endgültig zu beenden und gefährliches Terrain zu verlassen. Opa schüttelte nur sachte den Kopf: »Es war unmöglich für mich. Nach einer solchen Liebe konnte ich den Gedanken nicht ertragen, ihr Scheitern zuzugeben. Das hätte ich tun müssen. Eingestehen,
noch dazu öffentlich, daß wir es nicht geschafft hatten. Mich dem Geschwätz der Leute aussetzen. Dazu bin ich nicht der Mann. Meine Generation tut sich schwer im Gestehen von Schwächen. Außerdem wußte ich nicht, ob mir Elsa verzeihen würde. Ich hatte meine Zweifel und ein weiteres Nein einer Frau wäre zuviel für mich gewesen. Für mein Ego. Capito? Ich wußte, ich habe zwar Änni für immer verloren, aber doch eine Chance gewonnen. Die Chance auf ein ganz neues Leben. Ohne Altlasten. Ohne Vergangenheit. Ohne Image. Ein weißes Blatt, das man neu bemalen konnte. Eine faszinierende Vorstellung war das für mich. Außerdem: mir gefiel Italien. Ich mochte die Menschen und vor allem das Wetter. Ich wollte mein altes Leben nicht wieder. Auf keinen Fall. Das ist die Wahrheit. Nach all den Jahren sollte ich dir nichts vorlügen. Entschuldige Richard. Ich weiß, es muß schrecklich für dich klingen.« Ich war geschockt. Wie konnte Opa, den ich eben noch so nett gefunden hatte, so etwas zu meinem Vater sagen? Ihn so direkt und brutal verletzen. Ich stellte mir vor, mir würde das passieren und mußte augenblicklich anfangen zu zittern. Der Gedanke hatte etwas Existenzbedrohendes und machte mir Angst. Vater hingegen sah zornig aus. Richtig wütend. Daß man nicht gewollt ist, daß sich der eigene Vater gegen ein Leben mit einem selbst entscheidet, schien ihn sehr zu treffen. Er stand auf, und ein richtiger Ruck durchfuhr seinen Körper. Die Stimmung, eben noch geprägt von Sentimentalität und Zärtlichkeit, kippte abrupt. Vater streckte sich und holte tief Luft. So, als wolle er Atem schöpfen für den Gegenschlag. Es seinem Vater heimzahlen. Da klopfte es. Vorne. An der Ladentür. Opa nutzte die Gelegenheit und floh aus dem Hinterzimmer. »Einen kleinen Moment, Richard, halte deine Worte fest, bis ich wieder da bin«, entschuldigte er sich. Manchmal benutzte Opa putzige
Ausdrücke. »Worte festhalten.« Silke und ich mußten gleich ein wenig kichern. Mit Nebeneffekt: Vater entspannte sich merklich. »Mach es nicht wieder kaputt«, flehte ihn dann auch noch Petra an, und irgend etwas in ihrem Blick stimmte ihn gleich viel milder. Sie hatte einfach einen ganz besonderen Draht zu ihm. Man sah ihr an, daß ihr die Geschichte besonders zu Herzen ging. Aufgewühlt durch Pubertätshormone und erste zarte Erfahrungen mit Teiggesicht Kunzer und dessen Zunge war sie dafür noch viel empfänglicher als Silke und ich. Und sicherlich auch noch viel bestürzter. »Es ist eine große deutsche Frau und ich glaube, sie sucht euch«, tönte es aus dem Laden. Bevor wir gucken konnten, hörten wir auch schon Mutters aufgeregte Stimme: »Richard, Kinder, seid ihr vielleicht da hinten?« Eine Stimme, die überdeutlich die gesamte Bandbreite von Mutters Regungen aufzeigte. Erleichterung darüber, uns gefunden zu haben und Ärger darüber, wo wir gesteckt hatten. Jetzt erst dachten wir bewußt darüber nach, wie lange wir hier nun schon saßen. Sicherlich mehr als eine Stunde. Schlagartig überfiel uns das schlechte Gewissen. Dabei hatten wir diesmal nun wirklich einen Grund. Man entdeckt ja nicht jeden Tag Verwandtschaft in irgendwelchen kleinen Lädchen. Mutter schoß mit einem kurzen »pardon, signore« an Opa vorbei ins Hinterzimmer. Da kannte sie nichts. Jetzt war sie nur noch sauer. Aber wie: »Seid ihr vielleicht verrückt geworden, ich war krank vor Sorge. Habe ich nicht genug gelitten in letzter Zeit? Glaubt ihr, ich will noch mehr Kinder verlieren, oder warum macht ihr so was? Wenn auf euren Vater schon kein Verlaß ist, dann könntet ihr doch wenigstens darauf achten, mich nicht so unmöglich zu behandeln.« Sie schniefte zornig, und wie ein trotziges Kleinkind stampfte sie mit dem Fuß auf. Bevor wir reagieren
konnten, trat Opa in Aktion. »Signora, calma ti, beruhigen Sie sich, nehmen Sie erst mal einen Grappa oder einen schönen kleinen Amarettino«, schlug er ihr vor. Sie starrte ihn an. Fast überrascht über seine Anwesenheit. Als hätte sie ihn eben gar nicht wahrgenommen. Mutter konnte Menschen und Dinge, die ihr gerade nicht genehm waren oder schlicht nicht in den Kram paßten, ausblenden. Nun aber sahen wir ihr deutlich an, in welchem Moment es klick machte, und auch sie bemerkte, daß da was war. Etwas, das nicht stimmte. Sie merkte, genau wie wir vorher, daß dieser Mann nicht irgendein Mann war. Daß sie das merkte, war ihrem Gesicht deutlich abzulesen. Mutter konnte ihre Regungen nie gut verheimlichen. »Wenn du nicht willst, daß die Leute sehen, was du denkst und fühlst, mußt du dich verschleiern«, hatte mal ein Bruder von Vater auf einer Feier zu ihr gesagt und damit absolut recht gehabt. Mutter war eine katastrophale Schauspielerin. Welcher Bruder es damals war, hatte ich allerdings vergessen. Mutter schüttelte verwirrt den Kopf, murmelte: »Nein danke sehr, der Herr«, und ohne den Blick von Opa zu nehmen, fragte sie uns: »Was macht ihr überhaupt hier, und wer ist dieser Mann?« Höflich war das bestimmt nicht, jemanden anzustarren und dabei über ihn zu sprechen, aber Mutter ging es ähnlich wie uns. Sie war dermaßen elektrisiert, daß sie jegliche Umgangsformen vergaß. Vater trat zu ihr hin, legte ihr einen Arm um die Schulter, eine Geste, die wir seit dem Tod des Babys nicht mehr gesehen hatten und die uns optimistisch stimmte: »Vater, das ist meine Frau; Regina, das ist mein Vater.« »Sehr angenehm«, sagte Opa und strahlte meine Mutter voller Begeisterung an. Sicherlich nicht nur aus reiner Freude über das Kennenlernen, sondern auch, weil ihr plötzliches Auftauchen ihn aus einer prekären Situation gerettet hatte. Mutter, die gute Manieren schon immer schätzte, strahlte zurück. Wenn meine Mutter lachte, dann lebte ihr Gesicht auf.
Sie hatte schon immer beeindruckende Zähne. Fast zu schön, um echt zu sein. Schnurgerade und leuchtend weiß. »Nein, so was«, stammelte sie, immer wieder: »Nein so was, nein so was« und dann »jetzt nehme ich doch einen Amaretto. Aber keinen kleinen. Einen ordentlichen. Bitte.« Sie setzte sich an den Tisch, Opa lief los, um den Amaretto zu holen, und wir redeten auf sie ein. Versuchten, ihr mit unseren Worten die Beichte von Opa nachzuerzählen. Das Wasserglas Amaretto, das Opa ihr hinstellte, war schnell geleert. Sie trank noch ein halbes und den Rest Grappa aus Papas Glas. Mir war, als brauche sie den Alkohol, um all die Neuigkeiten runterzuspülen. Sie hörte sich alles schweigend an und sagte schließlich: »Ich werde nie mehr normal Federball spielen können. Nie in meinem Leben.« Alle nickten ergriffen. Wir verabredeten uns mit Opa zum Abendessen. Es war sein Vorschlag: »Ihr eßt doch bei mir, seid meine Gäste, si?« Vater schaute Mutter an, die nickte, und Opa freute sich: »Ich hole euch ab. In eurem Hotel. So um 21.00 Uhr. Okay? Va bene?« Als hätte er Angst, daß wir ihm sonst entwischen. Vater nannte ihm das Hotel, und wir verließen den Laden durch den Hinterausgang. Mutter hatte den Hals voller hektischer Flecken. Rot gesprenkelt leuchteten sie durch ihre braune Haut. »Die Aufregung«, war ihre Erklärung. »Wohl eher der aufregende Amaretto«, sagte Vater grinsend, und sie schien kein bißchen böse darüber. Es herrschte eine ganz besondere Stimmung. Wir alle waren in Aufruhr. Auf dem Weg zum Hotel kaufte Vater Mutter ein Paar dieser hochmodischen Sandalen. Lila, mit Glasperlen geschmückt. Ein Riemen verlief zwischen ihrem großen Zeh und dem nächsten, und oben auf dem Spann saßen die blaßlila Perlen. Wie ein fettes Bündel Trauben. Es waren Sandalen, die
eigentlich gar nicht zu Mutter paßten. Sandalen, die viel zu verrückt waren. Mutter trug eher praktische Schuhe. »Schuhe sind zum Laufen da«, hatte sie immer gesagt. Mutter war schon in dem Moment, in dem sie die Sandalen probierte, eine komplett andere Frau. Sie ging jedenfalls irgendwie anders. Wiegender. Powackelnder. Und immer wieder schaute sie dabei verzückt auf ihre Füße. Die Schuhe waren wahnsinnig teuer. Ohne den Amaretto und den entdeckten Opa hätte Mutter es niemals zugelassen, daß Vater für einen solchen Luxus so irrsinnig viel Geld ausgibt. So aber war sie nur begeistert. Sie weigerte sich, die Schuhe überhaupt wieder auszuziehen. Völlig kindisch und aufgekratzt tänzelte sie den Weg bis ins Hotel. Petra genierte sich natürlich. »Mutter, wir sind hier auf der Straße, alle können uns sehen. Das ist peinlich, hör auf damit. Bitte.« Mutter, sonst ja eher der Anstand in Person, reagierte nicht. Im Gegenteil. Wie als wolle sie Petra necken, hüpfte sie auch noch hoch. Bei jedem Sprung wippten die Perlentrauben mit. Petra wechselte prompt die Straßenseite. Vater natürlich gleich hinterher. »Laß sie doch, Richard«, rief Mutter, aber wenn es um Petra ging, gab es für Vater kein Halten. Silke hatte wie immer eine Erklärung: »Die ist doch nur neidisch auf die Sandalen«, raunte sie und fügte hinzu: »Wetten, wenn Mutter wieder normal ist, schenkt sie die Dinger Petra. Du wirst sehen.« Mir war das egal. Ich hätte mich niemals getraut, derart aufreizende Sandalen zu tragen. Ich mochte sowieso keine Sandalen. Meine Zehen gefielen mir nicht. Ich hatte die Zehen meines Vaters geerbt. Der große war überlang und die anderen im Verhältnis dazu viel zu kurz. Wenn ich Sandalen anhatte, guckte unter dem vorderen Riemen nur der große Zeh raus, die kleinen wurden verdeckt. »Einzeh«, nannte mich Silke, wenn sie mich ärgern wollte und es funktionierte jedesmal. Ich hätte viel dafür gegeben, Silkes Füße mit den gleichmäßig kürzer
werdenden Zehen zu haben. Wie die Orgelpfeifen waren die. Niedlich. Eben so, wie Zehen sein sollten. Wann immer ich konnte und Mutter es erlaubte, trug ich Socken oder sogar Kniestrümpfe in den Sandalen. Mutters neue Sandalen waren für mich also keineswegs eine Versuchung. Die Vorstellung, mit so auffälligen Dingern auf die Straße zu müssen, eher eine Heimsuchung. Opa war überpünktlich. Um fünf Minuten vor neun stand er in der Hotelhalle. »Und das bei einem Fast-Italiener«, scherzte Mutter, und wenn man sie kannte, bemerkte man, daß sie immer noch einen klitzekleinen Schwips hatte. Sie war so ausgelassen. Fröhlich geradezu. »Dein Vater«, sagte sie, kurz bevor Opa kam, zu meinem Vater, »dein Vater ist ein Mann, wie du einer sein könntest. Wenn du ein bißchen anders wärst. Mutiger und entschlossener. Kerniger eben.« Vater erblaßte bei diesem Vorwurf, packte sie bei den Schultern und schüttelte sie ein- oder zweimal ziemlich unsanft: »Wenn ich wie mein Vater wäre, dann wärst du eine verdammt einsame Frau. Dann hätte ich dich nämlich verlassen, und du würdest mitsamt der Kinder sehen, wie du zurechtkommst. Alleingelassen und dem Spott der Leute ausgesetzt. Ist das für dich mutig? Entschlossen? Kernig? Regina, ich muß mich doch sehr über dich wundern.« Wir alle schwiegen geschockt. Wie konnten die beiden das vor uns besprechen? Wo sie sich sonst bei ganz anderen Dingen schon total anstellten. Lag es an Mutters Schwips? Aber auch Vater verhielt sich anders, daß er Mutter in dieser Deutlichkeit zurechtwies kam selten vor. Warum auch? Normalerweise war schließlich Mutter die Vernünftige. Aber in diesem Urlaub ging es drunter und drüber. »Man weiß ja überhaupt nicht mehr, woran man ist«, stöhnte sogar Petra. Ich konnte ihr nur beipflichten. Silke hatte mal wieder ihre eigene Theorie: »Es sind die Sandalen. Die Sandalen haben sie verhext. Wenn sie die trägt, dann geht es
mit ihr durch. Diese lila Teile sind magisch. Wer die Schuhe trägt, verändert sein Leben.« Mit einem dramatischen Seufzer unterstrich sie diese gewagte These. »Totaler Quatsch«, waren Petra und ich uns einig. Seit der Zungenärger mit Teiggesicht Kunzer aus dem Weg geräumt war, ließ es sich mit Petra direkt gut auskommen. Ich fing fast an, sie zu mögen. Opa hatte einen kleinen quietschegelben Bus. So eine Art VW-Bus, aber von Fiat. Galant, als wäre es eine nachtschwarze Stretchlimousine und Mutter die Königin von Riccione, öffnete er ihr die Beifahrertür. »Signora Regina, Sie sehen bezaubernd aus heute abend«, begrüßte er Mutter formvollendet. Ein Satz mehr, und Mutter wäre mit ihm ausgewandert. Jedenfalls guckte sie so. Ich hätte volles Verständnis dafür gehabt. Opa war nicht nur charmant, er sah tatsächlich einfach toll aus. Dunkles Poloshirt, lange beige Hose und schwarze Lederslipper. Ein Krokodil-Hemd. Lacoste. »Bestimmt echt«, flüsterte Silke ergriffen. Wir liebten Lacoste-Hemden. Hatten aber keine. Mutter fand sie viel zu teuer für uns Kinder. Opa sah aus, als wäre er in einem geboren. Strümpfe trug er keine. Barfuß steckte er in seinen schwarzen Slippern mit den lustigen Bommeln. Die sind bestimmt samtweich, ging es mir durch den Kopf, und ich hätte sie furchtbar gerne einmal angefaßt. Ein Mann, der ohne Strümpfe ging. In Kelkheim war das unvorstellbar. Vater trug selbst in Sandalen welche. Und in Hausschuhen. »Wie Opa wohl in jung ausgesehen hat«, ratschte mir Silke ins Ohr. Wir saßen hinten im Bus. Eine Reihe vor uns Vater und Petra, und auf dem Beifahrersitz thronte Mutter. Opa und Mutter wären glatt als Paar durchgegangen. »Wenn der so aussah, wie jetzt, nur in jung halt, dann wäre ich mit ihm überallhin, ich kann diese Änni so was von gut verstehen«, schwärmte Silke. Und wirklich: Opa war bei ehrlicher
Musterung um einiges attraktiver als sein Sohn. Opa war lässig, Vater im Vergleich die biedere Billigausgabe. Mutter schien das ähnlich zu empfinden. Sie scherzte gutgelaunt mit Opa. Die beiden lachten miteinander wie alte Bekannte. Als wäre Vater gar nicht da. »Mutter paßt sich den Schuhen an«, flüsterte Silke, die nach wie vor besessen von ihrer »Zauberschuh«-Theorie war. Vater wurde von Kilometer zu Kilometer immer schweigsamer. Als wir nach einer halben Stunde Autofahrt landeinwärts in einem kleinen Ort namens »Mascona« auf einer kurvigen Straße an einem kleinen Häuschen hielten, atmete er erleichtert auf. »Endlich«, sagte er nur, und ein bißchen gehässig: »Tatütata, die Post ist da!« »Was ist denn mit dir los«, fragte Mutter überrascht, als Vater aus dem Auto kletterte. Überrascht, nicht von seinem offensichtlich käsigen Aussehen, sondern weil er überhaupt mit war. Als hätte sie ihn während der Autofahrt komplett vergessen. In der Tür des eher mickrigen Häuschens stand eine junge Frau mit langem dunklem Haar und einem glockig geschnittenen Kleid mit bunten Sommerblumen. An den Füßen hatte sie Sandalen, ähnlich wie die lila Neuerwerbung von Mutter. Noch auffälliger allerdings. Knallrot mit gelben Perlen. Perfekt passend zum Kleid. »Buona sera«, rief die junge Frau und stürzte sich in Opas Arme. »Bist du Opas Tochter«, platzte Silke heraus. Sie konnte ihre Klappe eben nie halten. Natürlich fragten wir uns alle, wer die Schöne war. Es hätte eigentlich auch seine Enkelin sein können. Insofern war Silkes Frage schon fast höflich. Opa war keineswegs gekränkt und beantwortete die Frage durch eine Geste. Er küßte die junge Frau auf den Mund. Und wie. »Seine Tochter, ha ha«, raunzte Petra in Richtung Silke, und Mutter, eben noch wie gedopt aus dem Auto gestiegen, wechselte schockierte Blicke mit Vater. Dieser Kuß sah wieder mal ziemlich nach einem mit Zunge aus. Langsam bekamen Silke
und ich Erfahrung in der Kußbewertung. »Willkommen in unserem Haus, das ist Carlotta, meine Liebste, wir freuen uns, euch hier zu haben. Hoffentlich habt ihr auch guten Appetit mitgebracht.« Carlotta lachte und nahm einen nach dem anderen zur Begrüßung in den Arm. Mutter wurde augenblicklich steif wie ein Stock, und hätte sie die Sandalen von sich gekickt, hätte es keinen von uns gewundert. Mutter war wieder unsere Mutter. Obwohl mir die andere besser gefiel, war mir meine Standardmutter doch viel vertrauter. Eine Mutter ohne Zauberschuhe. »Wie ein läufiger Hund hat der sich auf die gestürzt«, hetzte Mutter mal Wochen später, als sie Tante Billy davon erzählte, und im Unterton hörten wir ein wenig Neid heraus. »Insgeheim wäre sie gerne auch so eine Frau, bei der den Männern die Zunge bis sonstwohin hängt«, interpretierte Petra diese Situation, und das war an sich ja eine ziemlich fiese Bemerkung. Aber es leuchtete Silke und mir ein. Carlotta war um die dreißig. Jedenfalls eine komplett andere Altersklasse als Opa. So was kannten wir nur von Liz Taylor oder anderen wahnsinnig berühmten Menschen. In Kelkheim schauten die Männer zwar gerne nach den jungen Frauen, aber heirateten die anderen. »Opa lebt das, was sich andere nur insgeheim wünschen, aber niemals trauen würden. Aus Angst vor den Leuten und vor der eigenen Courage«, verteidigte Petra ihren neugewonnenen Opa am nächsten Morgen beim Frühstück selbst vor Mutter. Es gab natürlich Nudeln bei Opa. Schließlich waren wir in Italien. Gemischte Nudeln, sogenannte Pasta mista mit verschiedenen Soßen. »Wie praktisch, schnell gemacht und immer günstig«, sagte Mutter, und wer sie kannte, konnte den gemeinen Unterton raushören. Die Einrichtung in Opas Haus war nichts Besonderes. Zusammengestückelte Möbel, hier ein
Holzstuhl, da eine abgewetzte Blumencouch. Ein paar Madonnenbildchen und ein Riesenfernseher. »Lacoste-Hemden tragen, aber nicht mal ein ordentliches Sofa haben, so sind sie die Leute, gerade die Italiener«, meckerte Mutter seitdem häufig, wenn sie auf der Straße jemanden mit diesen Hemden sah. Während des Essens, das ausgezeichnet schmeckte, erklärte uns Opa, wie das mit Carlotta gekommen war. »Nach Ännis Fortgehen war ich lange allein. Hatte gar keine Lust mehr, mich zu verlieben. Wenn Liebe immer auch Leid bedeutete, wollte ich versuchen, alleine das Leben zu genießen. Mit meinem Beruf konnte ich hier unten eh nichts anfangen. Ich sprach ja kaum Italienisch. Welches Krankenhaus hätte mich da genommen? Dieses Wissen war eine Erleichterung für mich. Ich war nie wirklich gerne Arzt. Ich mochte es nicht, Menschen, die alt und häßlich waren, zu untersuchen. Sie anzufassen. Es ekelte mich oft. Offene Beine, Krampfadern und Prostata. Ich bin keiner dieser wirklich guten Menschen. Nie gewesen. In Kelkheim hätte ich aus diesem Kreislauf nicht entwischen können. Hätte nie den Mut gehabt, meine Stelle hinzuschmeißen, die Praxis zu schließen oder zu verkaufen und anders zu leben. Elsa hätte das nicht mitgetragen. Niemals. Hier wußte ja nach Ännis Fortgehen niemand, daß ich Arzt bin. Ich besorgte mir einen Aushilfsjob in einem kleinen Lädchen. Dem, in dem ihr mich gefunden habt. Ich arbeitete nur morgens und verbrachte meine Nachmittage am Meer. Mit Nichtstun. Man braucht ja nicht viel, so allein. Als der Besitzer des Lädchens vor drei Jahren verstarb, habe ich seinen Kindern den Laden abgekauft. Weil er mir so sehr ans Herz gewachsen ist. Die Kinder von Herrn Gribaldi, so hieß der Alte, mein Chef, hatten kein Interesse. Die Frau ist schon lange tot. Der Sohn ist Arzt, was soll der mit einem Touristenlädchen?« Opa lachte. Mutter und Vater
stimmten etwas gequält mit ein. Opa fühlte sich verstanden, hörte die schiefen Untertöne in ihrem Lachen nicht. »Carlotta hat als Aushilfe im Lädchen angefangen. Sie studiert noch. Auch Medizin. Tja Kinder, so werde ich doch immer wieder mit meiner Vergangenheit konfrontiert. Aber Carlotta will wirklich helfen und heilen. Sie ist so ganz anders als ich. Ein guter Mensch. Ja, das ist sie. Carlotta ist ein guter Mensch. Das gefällt mir so an ihr. Und daß sie, als guter Mensch, sich mit mir eingelassen hat. Mit einem alten und längst nicht so guten Menschen. Und natürlich liebe ich ihre Schönheit. Ihre Jugend und daß sie keine Krampfadern hat.« Das hatte was Fieses, wie Opa das sagte. Wir schauten trotzdem alle automatisch auf unsere Beine. Bis auf Carlotta. Sie stand auf und küßte Opa auf den Kopf. Obwohl sie unsere Sprache offensichtlich nicht verstand, hatte sie doch begriffen, daß es um sie ging. »Hätte sie ihn verstanden, hätte sie ihn verlassen müssen«, machte meine Mutter ihrem Ärger am nächsten Morgen Luft. »Dann wäre sie beleidigt gewesen«, schwächte Vater ab, der wohl ahnte, daß wir alle die Luft angehalten hatten, weil Mutter ziemlich zu Krampfadern neigte. Opa hatte mit diesem Satz alles, was Mutter je gut an ihm gefunden hatte, zerstört. »Daß es so entscheidend sein kann, keine Krampfadern zu haben«, befand auch Petra noch nachts auf unserem Zimmer. Sie war an diesem Abend von Minute zu Minute enttäuschter von Opa, und man sah ihr das auch an. Erst das mit der großen Liebe und dann die Krampfadergeschichte. »Opa ist wie ein König, der sich selbst den Thron weghaut«, meinte Silke. Mir gefiel der Vergleich. Und zu Petra spottete Silke: »Eigentlich hat die doch nur Angst davor, auch Krampfadern zu kriegen, und dabei verdrängt, daß wir mit Sicherheit alle welche kriegen, weil das bei uns nun mal in der Familie liegt.« Mein Verhältnis zu Krampfadern war anders. Ich fand sie nicht schön, aber spannend. Wie sie sich die Beine hochschlängelten
und ab und zu pochten, wie von einem anderen Stern in unsere Körper gebeamt. Und kaum waren sie drin im Körper, fingen sie an zu leben. Nicht daß ich welche wollte, aber die Vorstellung war schon aufregend. Zum Nachtisch wollte Opa mit uns ins Café am Dorfplatz: »Nach dem Essen geht es hier immer noch eine Runde raus auf die Piazza, sich zeigen, reden, Spaß haben. Hier hockt nicht jeder in seiner Hütte und wartet auf Ereignisse. Die Italiener schaffen Ereignisse. Eine Frau wie Carlotta kann ein Ereignis sein. Ein guter Grappa. Und ein gutes Fußballspiel. Alles eben. Und sie genießen so gerne, diese Italiener. Deshalb liebe ich sie und ihr Land: Italien.« Wie um seine Worte zu unterstreichen, streichelte er Carlotta über den Po. Für alle sichtbar. Sollte das jetzt auch schon ein Ereignis sein? Ich war hin- und hergerissen. Konnte man so einen wie Opa mögen, oder sollte man ihn verachten? War das toll, was er machte, oder eklig? War er ein Faulpelz mit einer viel zu jungen Geliebten oder ein Mann, der nur tut, was ihm gefällt? Egal, was andere vielleicht denken konnten. Würden nicht alle Männer sich eine junge Carlotta schnappen, wenn sie könnten? Trauten die anderen sich nur nicht? War Opa einfach mutiger? »Ein gebildeter, studierter Mann wie du in einem Lädchen mit Federballspielen und Schwimmreifen, wie konntest du das aushalten? Wie hältst du das aus?« Vater war immer noch geradezu fassungslos. Opa wiegte bedächtig seinen Kopf hin und her. Laß das Opa, es macht dich alt, dachte ich. Er sah plötzlich so alt aus, wie er war. Nur weil er sich anders bewegte. Ich wußte nicht, ob das Alt-Aussehen zu ihm paßte. Zu Carlotta vor allem. Auf einmal guckte Opa sehr ernst, und dann, nach einem schweren Atmer, antwortete er: »Ich weiß, Richard, es ist schwer vorstellbar. Aber ich wollte etwas mit ganzem Herzen tun. Nicht was man tut, sondern wie
man es tut, ist entscheidend im Leben. Das habe ich hier gelernt. Ich konnte nicht mit ganzem Herzen Arzt sein. Obwohl ich es wollte. Es mir einredete. Aber weit weg von Kelkheim ist vieles entspannter. Komischerweise machte mir die Arbeit hier im Laden gleich Freude. Große sogar. Macht mir immer noch Freude. Die Angst zu verkümmern, habe ich nicht. Mein Verstand kann das aushalten. Ich muß ihn nicht beim Arbeiten befriedigen. So einfach ist das. Und doch so schwer zu begreifen, ich weiß.« Vater sah geknickt aus. Geknickt darüber, daß er seinen Vater immer weniger verstehen konnte. Daß sein Vater einen für ihn faszinierenden Beruf wegwarf, um Federballspiele zu verkaufen. »Könntest du das«, fragte ihn Petra, »vom Labor in so einen Laden?« Man sah Vater an, daß er für einen Moment die Möglichkeit erwog, in einem Lädchen Bocciakugeln und Sonnenmilch zu verkaufen, und man sah auch, wie alles in ihm sich bei dem Gedanken schüttelte. Vater in einem Lädchen, mit Kunden schnatternd, ein Bild der Unmöglichkeit. In seiner und auch unserer Vorstellung. Vater gehörte ganz seinem Labor, den Reagenzgläsern. Jetzt genierte er sich. Dafür, daß sein Vater in einem Lädchen stand, und vor allem dafür, daß er dabei auch noch zufrieden schien. Vater gab Petra keine Antwort, und es war doch eine. Wir gingen dann doch nicht mehr ins Dorf. Irgendwie war die Stimmung hin, und Opa erwähnte seine Piazza auch nicht mehr. Die Großen tranken noch einen schnellen Espresso nach dem Essen, in den Mutter Milch hineinrührte. »Scusa, Regina, Espresso und Milch, das geht doch nicht zusammen«, neckte sie Opa. »Es gibt viel, was auf den ersten Blick nicht zusammengeht und doch harmoniert«, retournierte Mutter. Opa war keineswegs beleidigt, obwohl sie ganz offensichtlich ihn und seine Carlotta gemeint hatte. Im Gegenteil. »Wie wahr, wie wahr«, sagte er nur, und zur Bekräftigung tätschelte er
noch mal Carlottas Popo. Wir Kinder staubten noch ein Vanilleeis mit so komischen Stückchen drin ab, und dann brachen wir auf. Silke und ich wären schrecklich gerne noch geblieben. »Besser als im Hotel garantiert ins Bett müssen«, meckerte Silke. »Können wir nicht noch auf die Piazza gehen, ach bitte, ich würde so gerne mal eine Piazza sehen«, versuchte ich es mit Gebettel. Aber Mutter blieb hart: »Für heute reicht’s, es wird Zeit, daß ihr ins Bett kommt.« Wir Kinder mußten mal wieder als Entschuldigung herhalten, damit unsere Eltern heimkonnten. »Porca miseria«, zischte mir Silke ins Ohr, als klar war, daß wir gehen würden. »Porca miseria« hatten wir heute morgen beim Frühstück gelernt. Natürlich hinter dem Rücken von Mutter und Vater. »Porca miseria« hieß Schweine-Elend und wir kamen uns verdammt verrucht vor, wenn wir »Porca miseria« sagten. Der Abschied war dann doch recht herzlich. Opa und Carlotta umarmten uns mit einer Heftigkeit, als wäre dieses Wiedersehen eine einmalige Angelegenheit gewesen und wir würden danach wieder für immer verschwinden. Vielleicht war das auch insgeheim Carlottas Wunsch. »Stell dir vor, du hast einen Mann, der auf einmal sogar Enkelkinder hat. Erst gehört er dir allein, und dann ist sein Kind älter als du. Das ist doch grausig. Das muß der doch stinken«, kommentierte Silke. Beim Hinausgehen stolperte ich, und im Fallen berührte ich sie. Die Schuhe von Opa. Die schwarzen Bommelslipper. Das Leder war hart, spröde und unangenehm. Es hatte mich getäuscht. Das Leder. So wie Opa auch. Gemein. »Porca miseria.« Beim Frühstück am nächsten Morgen stritten meine Eltern. »Du mußt sie sofort anrufen«, keifte Mutter immerzu, »sie hat ein Recht, es zu erfahren.« Mutter hielt zu Oma Elsa. Daß das mal passieren würde, Oma Unterstützung von Mutter
bekommen würde, dagegen hätte vor dieser denkwürdigen Reise jeder aus unserer Familie gewettet. Wahrscheinlich sogar Mutter selbst. Wenn sie ehrlich bei solchen Dingen wäre, allemal. Aber jetzt flackerte bei Mutter eine Art ›Ich bin auch eine Frau, und Frauen halten zusammen‹ auf: »Ich würde es sofort wissen wollen, wenn mir so etwas passieren würde.« »Warum soll ich ihr den Schreck am Telefon verpassen«, versuchte sich Vater aus der Affäre zu ziehen. Mutter insistierte: »Ich nehme dir das übel, Richard, sehr, sehr übel, wenn du nicht sofort, noch heute morgen, deine Mutter anrufst.« Mutter hatte einen Blick wie ein Tiefkühlfach. »Da wird einem ja der Kakao kalt«, flüsterte Silke, die meinte, Mutter sei nur so hartnäckig, weil sie es nicht abwarten konnte, Oma ordentlich eins auszuwischen. Und wirklich, da lag nicht nur etwas Kühles, sondern auch etwas außerordentlich Triumphierendes in Mutters Blick. Wie eine Jägerin, die weiß, sie kurz davor steht, die Beute zu schnappen. So, als freue sie sich darauf, die inzwischen vernarbten Wunden von Oma wieder aufzureißen und dann noch ätzende Flüssigkeit reinzukippen. Sie hielt eine flammende Rede über Betrug und die Handlanger des Betruges, und während sie Vater anschaute wie einen Schwerverbrecher, knibbelte sie an ihrer Nagelhaut. Wie besessen. Nagelhautknibbeln war ein Alarmzeichen bei Mutter. Das tat sie nur bei höchster Aufregung. Wie an dem Tag, an dem das Baby gefallen war. An ihrem Daumen blutete schon wieder eine kleine Stelle. Wenn sie knibbelte, dann nahm sie den Daumen. Den der rechten Hand. Das war wie ein Ritual. Immer Daumen, immer rechts. »Ich versuche meine Nervosität in bestimmten Grenzen zu halten«, begründete Mutter ihre Vorliebe für den Daumen. Sie gestattete sich einfach keinen anderen Finger. Mit ihrer Zunge, die hervorschoß wie bei einem Chamäleon, einer kleinen, aber sehr wendigen Zunge, leckte sie die Wunde,
die sie sich selbst zugefügt hatte. Mutters Zunge war wirklich wie eine Echsenzunge. Sie leuchtete in einem satten Rot, wie eine Kinderzunge bei Scharlach. Himbeerzunge nennt man die, schoß es mir durch den Kopf. Ich wußte das nur, weil Petra schon mal Scharlach hatte und wir alle damals über diese Zunge gestaunt hatten. Meine Zunge hatte nicht dieses Rot. Meine war immer ein bißchen belegt. Nicht so gleichmäßig. Eher vielfarbig. Mutters war rosiger. Sah frisch aus, wie eine neu gekaufte Zunge. Dabei war ich doch das Kind und hätte die frischere Zunge verdient. Rein altersmäßig gesehen. Meine Zunge gefiel mir nicht. Irgendwie eklig war die. »Das kommt von deinen ewigen Mandelentzündungen«, erklärte mir Mutter den Belag, »das ist völlig normal, daß da die Zunge belegt ist.« Trotzdem, jedesmal wenn ich ihre perfekte Zunge sah, war ich neidisch. Silke konnte das nie verstehen: »Du bist doch bescheuert, ist doch wurscht, was man für eine Zunge hat. Wer sieht die schon?« Es ging mir nicht darum, daß irgend jemand diese Zunge sehen und daran Anstoß nehmen könnte. Ich wollte diese Zunge nicht in meinem Mund. Sie gehörte nicht zu mir. In meinen Mund paßte eine dieser niedlichen himbeerroten Modelle, wie Mutter sie hatte. Silke fand das plemplem, und wenn sie mich ärgern wollte, legte sie sich beim Abendessen eine Scheibe tiefrotes Corned Beef auf ihre Zunge und streckte sie mir entgegen. Natürlich nur, wenn von den Eltern keiner guckte. Angewidert schaute Mutter auf ihren Daumen. An der blutigen Stelle am Daumen stand noch ein winziger Hautfetzen, wie ein letzter aufrechter Kämpfer. Eine Herausforderung. Würde sie den Fetzen in Ruhe lassen oder der Versuchung erliegen? Petra grinste Mutter an. Hämisch. Es war ihr eine offensichtliche Freude, Mutters Nageldilemma mitzuerleben. Eigentlich war nämlich Petra unsere Nagelexpertin. Sie kaute
fast andauernd. »Nur Proleten knabbern an ihren Nägeln«, bekam Petra jedesmal zu hören, wenn sie genußvoll Fingernägel kaute und von Mutter erwischt wurde. Petra mochte das Kauen. Es war ihr nicht einmal besonders peinlich. »Es beruhigt mich eben und macht nicht fett«, war ihre Begründung. Silke und ich waren Nicht-Kauerinnen. Ich ekelte mich insgeheim vor Petras Fingern. Mutter hatte alles im Kampf gegen Petras »Unsitte« versucht. »Unsitte«, so nannte Mutter das Nägelkauen. Senf draufgeschmiert, nachts Handschuhe übergezogen und eine beißende Tinktur aus der Apotheke aufgetragen. Alles umsonst. »Die Tinktur gibt dem Ganzen eine herrliche herbe Würze«, spottete Petra nur, wenn Mutter wieder hektisch mit dem Glasfläschchen rumfuchtelte. Auch Mutters Vorschlag, wenigstens nur einen Fingernagel zu knabbern, lehnte Petra ab. »Einer ist mir nicht genug«, war ihr Leitmotiv. »Wenn du deine Mutter nicht stante pede anrufst, reise ich noch heute ab, Richard«, keifte Mutter schrill und riß dabei, wie zur Unterstützung ihrer Drohung, den kleinen hartnäckigen Hautfetzen vom Daumen. Vater blieb erstaunlich ruhig. »Ich werde ihr das nicht per Telefon verkünden, egal, wie sehr du hier rumschreist. Was soll das bringen? Sie hat so viele Jahre gelebt, ohne etwas über ihn zu wissen, meinst du, es hat nicht noch eine Woche Zeit? Jetzt wirklich, beruhige dich mal wieder.« In Mutters Dekolleté tanzten rote Flecken. »Hektikflecken« nannte Mutter sie. »Und deine Brüder, sollten die nicht hören was los ist? Haben die kein Recht, alles über ihren Vater und seine blutjunge Gespielin zu erfahren?« versuchte Mutter noch einmal lautstark, Vater zu überzeugen: »Ich fahre ab, wenn sich da nichts tut, Richard, ich schwöre es.« Vater drehte den Kopf zu uns Kindern und sagte sehr ruhig und sehr deutlich: »Wir
bleiben hier und genießen unseren Urlaub; was du tust, ist deine Entscheidung, du bist eine erwachsene Frau.« Ich mußte nach Luft schnappen, so gewagt fand ich Vaters Antwort. Und nicht nur ich. Im Speisesaal herrschte eine ungewohnte Stille. Spätestens seit dem Satz mit der »blutjungen Gespielin« lauschten alle, die auch nur ein bißchen Deutsch verstanden. Silke trat mich unter dem Tisch gegen das Schienbein, und wie in Zeitlupe stand Mutter auf. »Rufst du sie an? Ja oder nein, Richard, ich frage dich zum letzten Mal.« Es war ein Moment wie im Film. Eine Dramatik wie in einem Western. Mutter quasi mit gezogener Pistole und Vater mit erhobenen Händen. Aber er gab nicht auf: »Du kennst meine Antwort. Ich werde sie nicht anrufen und die letzte Woche hier am Meer mit den Kindern in aller Ruhe genießen. Auch ich brauche die Erholung und den Abstand zu der Sache.« Jetzt hatte Vater auch noch den Unfall mit dem Baby erwähnt. Die »Sache« sagte er immer. Das war eindeutig zuviel für Mutter. Wer Mutter an die »Sache« erinnerte, mußte mit den Folgen zurechtkommen. Man merkte es sofort. Sie wurde nahezu cholerisch. Mutter, die sonst so sehr darauf achtete, was die Leute denken, schrie: »Ist das dein letztes Wort, Richard?« Der Countdown lief. Bevor Vater antworten konnte, näherte sich Maurizio, unser aller Liebling, dem Tisch. Er wollte uns helfen und unterbrach die Show meiner Eltern: »Signora, wollen Sie Tasse latte macciatta.« Mutter stieß ihn unsanft zur Seite. »Trinken Sie Ihre Brühe selbst, ich mache mir sowieso nichts draus«, ließ sie ihren Zorn nun auch noch an Maurizio aus. Wir waren entsetzt und warfen ihm entschuldigende Blicke zu. Dieses arrogante Getue meiner Mutter beschämte uns mehr als der gesamte Auftritt. Wir wollten es uns nicht mit Maurizio verscherzen. Es gab an den Tischen um uns herum sowieso genug Konkurrenz. Neu angereiste Familien, von denen wir sicher waren, daß sie uns Maurizio abspenstig machen wollten.
Deshalb waren wir natürlich besonders sauer auf Mutter. Maurizio aber schien gar nicht böse. Er zwinkerte mir zu und trollte sich. Silke war überzeugt, es hätte ihr gegolten, das Zwinkern, und nicht mir, aber ich wußte, was ich gesehen hatte, und deshalb ließ ich sie in ihrem Irrglauben. Wenn es sie glücklich machte, daran zu glauben, bitte sehr. Da konnte ich ganz locker großzügig sein. Ich wußte, der Sieg war meiner. Maurizio tanzte zwar mit Petra, aber nur weil ich ja so früh schlafen gehen mußte und er den Kontakt mit meiner Familie pflegen wollte. Eigentlich mochte er nur mich. In meinen Tagträumen lebte ich längst mit Maurizio hier in Riccione. Wie Opa, ein bißchen außerhalb. Morgens ging er ins Hotel, und ich kümmerte mich um unsere Kleinen. Wir hätten zwei. Selbstverständlich einen Jungen und ein Mädchen. Die Kleine, ein Ebenbild ihres Vaters, und der Junge ganz die Mama. Mittags zu Nudeln und Tomatensauce, die ich schnell besser als die Italienerinnen selbst kochen könnte, würde Maurizio nach Hause kommen, und nachmittags wäre ich immer mit den Kleinen am Strand und würde nur auf seinen Dienstschluß warten. Maurizio würde mir jeden Wunsch von den Augen ablesen. Er wäre wahnsinnig in mich verliebt. Besessen geradezu. Nie würde er mich anderes als »Bella« nennen. Seine »Bella«. Meine Schwestern würden natürlich schon bei der Hochzeit fast vor Neid umkommen und Mutter, mit Blick auf mein perlenbesticktes Kleid aus reinster Seide, immerzu seufzen: »Ja, das ist sie, die wahre echte reine Liebe.« So ähnlich jedenfalls. Petra fing an zu heulen, ihr war Mutters Benehmen schrecklich unangenehm: »Ich hasse das. Können wir nicht Urlaub machen wie andere auch. Müßt ihr alles versauen?« Ihre kleinen Brüstchen hüpften durch die Schluchzer hoch und runter. Wie zwei Wackelpuddings, die gerade aus der Form gestülpt worden waren und erst zur Ruhe kommen müssen.
Auswackeln. Ihre rechte Brust war einen winzigen Tick größer als die linke. Die rechte von ihr aus gesehen. »Das gleicht sich schon noch aus«, tröstete Mutter sie immer, wenn Petra darüber jammerte. Was sie häufig tat. »Es gibt auch Frauen, die haben auf der einen Seite riesige Euter und auf der anderen fast nichts und müssen sich den BH dann ausstopfen, da wo nichts ist«, hatte mir Silke erzählt. »Was machen die denn am Strand oder im Schwimmbad?« hatte ich zurückgefragt, und Silke hatte nur düster blickend den Kopf geschüttelt und gesagt: »Schwimmen geht mit der Wattefüllung im BH natürlich nicht. Leider.« Das Ganze so laut, daß Petra es mithören konnte. Das war schon fies von Silke gewesen. Aber ab und zu war Petra so eine überhebliche Kuh, daß es ihr doch wieder recht geschah, wenn sie einen ordentlichen Dämpfer bekam. Silke und ich hofften jedenfalls, daß wir richtige, gleiche Brüste bekamen und nicht so Dinger wie Petra. Ich war überhaupt unentschlossen, ob ich welche wollte. Manchmal sehnte ich mich nach welchen, und dann wieder haßte ich allein den Gedanken daran, jemals Brüste zu haben. Seit diesem Urlaub war ich dem Thema gegenüber milder gestimmt. Maurizio würde es bestimmt mögen, wenn ich Brüste hätte und deshalb hatte ich mich damit angefreundet. Petra steigerte sich jetzt richtig rein. Ins Heulen. Bis Vater mit der Faust auf den Tisch schlug, mein Kakao umfiel und Silke über die Shorts lief. Jetzt war allen klar, daß es Zeit war, das Frühstück zu beenden. Es hätte nicht viel gefehlt und der Saal hätte uns beim Abgang applaudiert. Vater rief Oma nicht an. Bis zum Mittag nicht. Und seine Brüder auch nicht. Am Nachmittag hatte Mutter gepackt. Ohne große Worte. Einfach gepackt. Ihre Sachen, sonst nichts. Als sie dann wirklich aus der Hoteltür stapfte, mit ihrem Koffer in der Hand
und der Handtasche unter dem Arm, konnten wir es immer noch nicht glauben. Sie würde das nicht tun, dachten wir. Sie würde nur um die Ecke gehen und dann wiederkommen. Sie hatte uns doch nur ganz kurz und flüchtig geküßt. Das konnte doch kein wirklicher Abschied gewesen sein. Wir hatten uns getäuscht. Wir saßen drei Stunden in der Hotelhalle, aber Mutter kam nicht wieder. Vater sammelte uns dann in der Lobby ein und brachte uns auf unser Zimmer. »Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte er, »wir fahren hinterher oder wir bleiben hier.« Ich wollte hinterher. Ich hatte Angst, wie wir ohne Mutter zurechtkommen sollten. Silke und Petra waren für hierbleiben. Teiggesicht war auch im Urlaub, deshalb war Petras Entscheidung klar: »Schließlich ist sie weggelaufen, nicht wir. Selber schuld«, argumentierte sie. Aber Petra war immer ein bißchen parteiisch. Eben Papas Liebling. Silke war pragmatischer. Ihr ging es nicht um Schuld oder Unschuld, sondern um ihr Vergnügen. »Laß uns hierbleiben. Ist doch klasse. Urlaub am Meer nur mit Vater. Das wird toll. Außerdem haben wir jetzt endlich ein eigenes Federball, da wäre es doch doof heimzufahren.« Als wir noch unentschlossen schauten, zischte sie uns ein »Denkt an den Wienerwald« zu. Wie so oft überzeugte mich ihre Argumentation. Wir blieben. Es war herrlich. Wir trugen Plastiklatschen, selbst zum Abendessen. Wir blieben alle zum Tanz wach und gingen ins Bett, wenn wir müde waren. Wir waren frei. Befreit von Mutter. Wir fühlten uns fantastisch, und daß wir uns fantastisch fühlten, machte uns ein schlechtes Gewissen, das wir aber erfolgreich unterdrücken konnten. Meist waren wir tagsüber allein am Strand, denn Vater hockte im Lädchen von Opa. »Wir haben einiges an Zeit nachzuholen«, begründete er diesen Entschluß. Abends kam Opa dann ins Hotel, manchmal mit Carlotta, manchmal ohne. »Sie muß lernen, für ihr
Studium«, sagte er uns. Silke und ich waren sicher, daß sie keine Lust hatte, Abend für Abend mit uns rumzuhängen. Sie konnte ja gar nicht mitreden. Sprach kein Wort Deutsch. »Das muß doch furzlangweilig für die sein«, mutmaßten wir. Vater und Opa verstanden sich von Tag zu Tag besser. Vater trug jetzt auch schon Hemden, Hosen und Schuhe wie Opa. »Was würdet ihr davon halten, ein paar Jahre hier zu leben?« fragte Vater an einem unserer letzten Abende in Riccione. Petra, sonst stets auf Vaters Seite, war entsetzt. Ihr Gesichtsausdruck schrie nach Teiggesicht Kunzer aus der Untersekunda. Ich wollte fast schon sagen, daß ich ja bald sowieso hier leben würde, wegen Maurizio und so, verkniff es mir aber. In letzter Zeit war Maurizio ein bißchen viel um den Tisch mit den Neuen aus Bochum geschwänzelt. Die hatten eine rothaarige Tochter, voll mit Sommersprossen, die war total verknallt in Maurizio. Elke mit den bleichen Beinen. Wahrscheinlich nutzte er das Verknalltsein nur wegen des zu erwartenden Trinkgelds aus, aber irgendwie nervte es schon, wie er ständig mit der Familie rumkicherte. Signora hier, Signora da. Silke hatte außerdem angeblich gesehen, wie er am Strand mit Elke geknutscht hatte. Angeblich gesehen. Das war das Problem. Ich wußte nicht, ob Silke sich das alles nur ausdachte, um mich zu ärgern, oder ob es wirklich stimmte. Sie selbst hatte den Kampf um Maurizio schon aufgegeben. Petra auch. Aber die behauptete doch glatt, daß Maurizio ihr aufgelauert hätte und sie ihm einen Korb gegeben hätte, nach dem Tanzen. »Der war sauer, weil ich einen festen Freund zu Hause habe«, erklärte sie uns. »Quatsch«, meinte Silke, »das wäre für den doch egal. Um so praktischer, wenn du einen zu Hause hast. Dann weiß er, daß er Ruhe von dir hat. Der war sauer, weil du dich nicht hast antatschen lassen.« Miß Oberschlau. Diese Weisheit war natürlich nicht auf ihrem eigenen Mist gewachsen. Opa hatte ihr das erklärt. »Die treiben es hier alle ziemlich doll«, hatte er
ihr verraten, »sind ganz schöne Hallodris. Ihr dürft das nicht zu ernst nehmen.« Ich konnte mir das bei Maurizio nur schwer vorstellen. Eigentlich überhaupt nicht. Er hatte so liebe und treue Augen. Vielleicht war Opa nur neidisch. Auf Maurizio und seinen Erfolg bei den Frauen. Oder Maurizio war eine der wenigen Ausnahmen. Am vorletzten Tag gab er mir seine Adresse. Beim Frühstück. Weil er an meinem letzten Morgen freihatte. »Bin ich nix da morgen, wenn du fährst heim, kleine Bella«, strahlte er mich an. Die Adresse war die Hoteladresse. Als ich ihn darauf ansprach, lachte er. »Maurizio immer Hotel, besser schreiben Hotel«, beruhigte er mich und strich mir liebevoll über den Kopf. Diese Geste machte es mir noch einmal mit voller Kraft klar: Er würde auf mich warten. Er hoffte, genau wie ich, auf eine gemeinsame Zukunft. Ich war glücklich. Silke und Petra lachten darüber. »Du bist ein Baby für den. Ein verliebtes Baby.« Ich dachte nur: Ihr werdet schon sehen und freute mich auf ihre bescheuerten Gesichter bei unserer Hochzeit. Daß er sich die Wartezeit ziemlich offensichtlich mit der Pippi Langstrumpf aus Bochum vertrieb, schob ich auf seine starken Triebe. Die beiden hatten die Hälse voller Knutschflecken. Ich hätte es gar nicht bemerkt; Petra wies mich mit einer gewissen Gehässigkeit darauf hin. Als wir abreisten, standen Opa und Carlotta Spalier. Um zu winken. Vater und Opa weinten. Hielten sich lange umarmt und beteuerten, sich bald wieder zu besuchen. Zum Abschied schenkte Opa uns Traubensandalen. Solche, wie Vater Mutter gekauft hatte. In Türkis. Mit pinkfarbenen Traubenperlen. Zu unseren braunen Füßen eine himmlische Farbkombination. Selbst an meinen Füßen waren sie eine Augenweide. Geschmack hatte er, das mußte man ihm lassen.
5 In Kelkheim landeten sie sofort im Müll. Die Traubensandalen. Ansonsten war Mutter erstaunlich freundlich. Selbst zu Vater. Sie benahm sich, als wäre nichts vorgefallen. Nur die Hersler stöhnte, als sie uns sah: »Ihr seht ja komplett verwildert aus, das ist ja unglaublich.« Wir landeten sofort in der Badewanne, und Frau Hersler war erst zufrieden, als wir frisch gewaschen und mit geföhntem Haar vor ihr saßen. Petra allerdings konnte ihr entwischen. »Ich geh mal zur Trudi, wegen der Schule und so«, rief sie schnell Mutter zu und war weg. Von wegen Trudi und Schule. Ihr Blick lechzte nach Teiggesicht. Neidvoll blickten wir ihr nach. Sie trug die Traubenperlenschuhe. Hatte sie sich wieder aus der Tonne geholt. »Eine Verschwendung, für so einen wie Teiggesicht Kunzer«, meinte Silke. Aber auch wir hätten die Sandalen schrecklich gerne wiedergehabt. Silke traute sich. Beim In-die-Tonne-klettern langte sie dummerweise in eine alte Konservendose und blutete dermaßen, daß sie ein Pflaster brauchte. Die waren im Medizinschränkchen im Bad. Das Schränkchen war wie immer abgeschlossen. Also holten wir die Hersler, die prompt alles Mutter petzte. Die Schuhe konnten wir danach natürlich vergessen. Vor allem, weil Mutter vorsorglich die Perlen abschnitt. Sie konnte eben radikal sein. Erst die Abreise und nun das. Die Perlensandalen waren wie das Krocket. Unschuldig mußten sie stellvertretend dran glauben. Schade für uns. Am ersten Nachmittag zu Hause kam Oma. Sie küßte uns zur Begrüßung, ging zu ihrem Sohn, schaute ihn streng an und gab ihm eine saftige Ohrfeige. »Und nun erzähl mir alles«, brummte sie. »Fang damit an, wo Änni ihn sitzengelassen hat;
ich möchte etwas zum Genießen. Ich will hören, wie er gelitten hat. Wie er das verdaut hat, was er mit mir gemacht hat. Und bitte, Richard, laß mir kein Detail aus.« Vater kannte seine Möglichkeiten. Keine. Er mußte erzählen oder seine Mutter für immer abschreiben. Er rieb sich kurz die Wange und begann. »Anscheinend waren die ersten Wochen in Italien für die zwei ganz schön. Sie wohnten in einer kleinen Pension und verbrachten ihre Tage am Meer. Es lief gut, solange sie keinen Kontakt zu anderen hatten. Der Anfang vom Ende war ein Alberto, glaube ich. Der Bademeister, der in der Hochsaison gucken mußte, daß niemand ertrank. Alberto hatte viel Zeit und Langeweile, es war schließlich Nebensaison, und die paar Touristen sahen aus, als könnten sie schwimmen, so hatte er Muße und schnell bemerkt, wie ihn Änni anschaute. Schon sehr bald war aus dem Duo ein Trio geworden, Alberto gehörte dazu. Sie unternahmen alles gemeinsam. Opa, Alberto und Änni. Der Italiener zeigte ihnen die Stadt und stellte ihnen Leute vor. Als das Trio wieder zum Duo wurde, war Opa raus aus dem Spiel. Er stand allein da. Alberto und Änni waren auf einmal ein Paar. Opa wußte, daß Gegenwehr sinnlos war. Er hat es als Strafe begriffen. Hat er mir erklärt: Strafe für sein unmoralisches Verhalten.« An dieser Stelle grunzte Oma. Zustimmend. Sie nickte Vater zu und sagte nur: »Weiter.« »Als Änni nach Alberto dann mit Paolo, einem Kellner, anbändelte, um danach mit Stefano nach Amerika zu gehen, hatte Opa Ännis Naturell endlich verstanden. Sie war eine Schmetterlingsfrau. Ihr braucht gar nicht so zu gucken, so hat er sie nun mal vor mir genannt: Schmetterlingsfrau. Aus der Raupe zum Schmetterling geworden, konnte sie nichts mehr genießen, als von Blume zu Blume zu flattern. Komischerweise war er ihr nicht mal richtig böse.«
»Was für ein Idiot, er war schon immer so. Einfältig geradezu. Auf so was reinzufallen. Änni ein Schmetterling. Pah. Lächerlich ist das. Ein Flittchen von mir aus, aber doch kein Schmetterling. Der eingebildete alte Bock. Freut mich, daß sie ihn abserviert hat. Geschieht ihm mehr als recht, dem Fremdgänger, und noch dazu für einen Bademeister, das ist die Krönung, sie hat ihn stehengelassen für einen Bademeister. Eine gesellschaftliche Null.« So vulgär kannten wir Oma gar nicht. Mutter versuchte, sie kurz zu ermahnen und mit einem Blick auf uns Kinder in die Schranken zu verweisen, aber meine Oma hatte sich noch nie von Mutter etwas sagen lassen. »Mach dich nicht lächerlich«, herrschte sie Mutter an, »was glaubst du, was die Kinder diese Ferien so gehört haben, da schadet es nicht, wenn sie auch noch die Wahrheit über ihren sogenannten Opa erfahren. Opa. Daß ich nicht lache. Opa.« Mutter, die sofort bemerkte, daß Oma keinesfalls zu stoppen war, reagierte auf ihre Weise. Sie schickte uns raus. Alle, auch Petra. »Geht und kümmert euch um eure Schultaschen, nach dem Wochenende geht der Ernst des Lebens wieder los.« Wir haßten es, wenn Mutter so redete. Als ob wir das ohne ihren blöden Hinweis nicht gewußt hätten, das mit der Schule. Albern. Petra nutzte die Chance und verdrückte sich. »Rasch mal zu Trudi«, sagte sie. Das beste daran war, daß sie tatsächlich glaubte, wir würden ihr das abnehmen, obwohl alles an ihr ihr wahres Ziel verriet. So gierige Augen wollen wohl kaum zu Trudi, war Silke und mir sofort klar. Als wir ihr das auf den Kopf zusagten, wurde Petra schnippisch. »Haltet die Klappe«, fuhr sie uns an. Kunzer wohnte nicht weit und Trudi war eine so gute Freundin von Petra, daß sie mit Sicherheit für sie lügen würde. Wir Übriggebliebenen hatten nichts zu tun, wagten nicht, einfach abzuhauen und versuchten deshalb zu lauschen. Silke
behauptete, Oma würde weinen, wie verrückt weinen, aber ich konnte selbst mit größter Anstrengung nichts davon hören. Es erschien mir auch unvorstellbar. Oma, die nicht mal bei der Beerdigung des Babys geweint hatte, sollte jetzt weinen, nur wegen Opa? Wegen einer Geschichte, die so lange her war? Nach etwa zwanzig Minuten stürmte Vater aus dem Raum. »Ich fahre noch mal ins Labor«, brüllte er, schnappte sich eine Jacke und knallte die Haustür zu. Daß wir so offensichtlich gelauscht hatten, interessierte ihn kein bißchen. Er war so sauer, daß er uns fast umgerannt hätte. Zum Abendessen um sieben war er immer noch nicht zurück. Es gab Wurstbrot, hartgekochte Eier und Gurkensalat, und nach all den Wochen Pasta war das Essen ein Genuß. Daß Vater nicht da war, war geradezu skandalös. Der 19.00-UhrTermin war bei uns Pflicht. Beim Abendessen fehlen, ein richtiges Vergehen. Es wurde ein sehr stilles Essen. Mutter und die Hersler, die abends häufiger mit uns aß und danach mit dem Zug um 19.40 Uhr in den Hintertaunus fuhr, wo sie bei ihrer asthmakranken Mutter wohnte, warfen sich quer über den Tisch merkwürdige Blicke zu. Die Hersler lebte nicht bei uns. Es war Mutter lieber so. Obwohl wir genug Platz gehabt hätten. »Ich möchte auch ein bißchen Privatleben, ohne Personal«, begründete Mutter die Entscheidung, lieber ein Zimmer leerstehen zu lassen. Für die Hersler bedeutete diese Entscheidung viel Fahrerei. Eine gute Stunde war sie morgens und abends mit der Taunusbahn unterwegs. Aber statt sich darüber aufzuregen, betonte sie häufig: »Meine schönste Zeit am Tag. Da bin ich ganz für mich allein.« Zu behaupten, in einem vollbesetzten Zug allein zu sein, erschien uns komplett idiotisch. Aber die Hersler war nun mal anders als die meisten Erwachsenen, die wir kannten. Sie konnte aus Radieschen und gelben Rüben richtige Kunstwerke schnitzen. Kleine Figürchen, Tiere oder Blumen.
Selbst aus Gurken ging das. »Alte chinesische Tradition; wer in China Essen anrichtet, kann das«, erklärte sie uns. Die Hersler hatte nämlich mal drei Jahre in China gelebt. Bei einer deutsch-chinesischen Familie. Sie sprach kaum darüber, trank aber ständig einen gelblichen Tee, der laut Silke aussah wie Pipi und trotz seiner Farbe »grüner Tee« hieß. »Da sieht man wie bekloppt die Schlitzaugen sind«, meinte Petra, »gelben Tee grün zu nennen.« Vor der Hersler hätten wir das natürlich niemals gesagt. Witze über China oder die Chinesen haßte sie. Da wurde sie sehr, sehr böse. »Ihr dummen Dinger habt nicht den Hauch einer Ahnung«, hatte sie uns einmal angeschrien, als wir einen klitzekleinen Witz über ihren Tee machten. Silke hatte beim Probieren gesagt, der Tee schmecke wie Pferdepisse. Seitdem ließen wir es zwar nicht, achteten aber sehr darauf, nicht von ihr erwischt zu werden. Angeblich machte die Hersler morgens auch Übungen im Freien. Tai Chi, so eine Art Schattenboxen. »Alle Chinesen tun das, es ist ein perfekter Start in den Tag«, meinte sie. Ich war neugierig und bearbeitete sie so lange, bis sie mir ein oder zwei Übungen zeigte. Ein merkwürdiges Gezucke mit Armen und Beinen. Mutter sprach danach mit ihr, und seitdem ist Tai Chi hier im Haus kein Thema mehr. Aber der Chinaaufenthalt machte die Hersler zu einer besonderen Person. Sie kannte eben mehr als andere. So ganz genau wußte auch niemand, was die Hersler nach China verschlagen hatte und das machte sie spannend. Die normalen Leute, die wir kannten, fuhren mal nach Italien, an den Bodensee oder im Höchstfall nach Amerika. Wir spekulierten viel darüber, was die Hersler wohl in China gemacht hatte. Petra glaubte an die einfachste Möglichkeit: »Eine Familie, bei der sie gearbeitet hat, ist nach China. Und da ist sie mit, damit die Kinder nicht nur komischen Kram zu essen kriegen.« Silke und mir erschien das zu profan. Aber aus der Hersler bekamen wir nichts raus. Was die Gründe anging.
Wenn überhaupt, berichtete sie über Essen und Trinken. Gebräuche und Sitten. Chinesisch sprechen konnte sie nicht. »Wir können nach drei Wochen Italien schon richtig reden und die kann nach drei Jahren China nicht mal guten Tag sagen«, ereiferte sich Silke, »hat die etwa in Gefangenschaft gelebt und durfte nicht raus?« Mutter verbot uns das Rumraten: »Wenn ihr alt genug seid, werde ich es euch erklären. Die Frau Hersler hat eine Menge mitgemacht. Wir wollen nicht über das Thema sprechen. Habt ihr mich verstanden?« Selbstverständlich hatten wir sie verstanden, aber ihr Verbot schürte unsere Neugier nur noch mehr. Auch Vater konnte uns keine Auskunft geben. Es hatte nur irgendwie mit der chinesischen Hausherrin zu tun. Und dem Mann. »Vielleicht hat die Hersler mit dem Ehemann«, vermutete ich. Ihr Aussehen sprach allerdings dagegen. Die Hersler war zwar nicht häßlich, aber doch keineswegs attraktiv. Außerdem hatte sie so was schrecklich Seriöses, gar nicht Ehebrecherisches. Ob sie gerne länger in China geblieben wäre, wollten wir mal von ihr wissen. »Der Tee ist sehr wohl grün, zuerst jedenfalls, dann wird er durch die Gerbsäure gelb. So ist es mit vielen Dingen. Erst so, dann so. Und nie so, wie sie scheinen.« Wir fanden die Antwort reichlich verschroben. Aber wir merkten auch, hoppla, hier ist Vorsicht angebracht. Es hatte wenig Sinn zu bohren. Manchmal sprach sie von selbst von China, und das war dann eindeutig das beste. So war die Hersler nun mal, zwingen ließ die sich nicht. Man mußte Geduld haben, abwarten können. Manchmal begann sie völlig unverhofft zu erzählen. Unsere liebste Geschichte war die vom Affen, dem sie bei lebendigem Leib den Schädel abgehauen hatten und dann in aller Ruhe das Hirn rausgegessen haben. Der Affe hat noch gezuckt und gezappelt, und nur das Hirn hat aus einem Loch im Tisch hervorgeguckt. Noch in der Hirnschale. Dem
Schädel. Wie in einer Schüssel. Einer pelzigen Schüssel. Mit einem metallischen scharfen Löffel, ähnlich wie ein Grapefruitlöffel, kratzt man das Hirn aus der Schale. »Es ist angenehm warm und viel weicher, als man denkt«, erzählte uns Frau Hersler über dieses grausige Gericht, »gar nicht knorpelig.« Es schmecke ähnlich wie Kalbsfrikassee, und sie glaube, mit einem guten Sößchen und ein wenig Petersilie würden wir es sicher auch mögen. Ob Reis oder Kartoffeln als Beilage sei allerdings sicher Geschmackssache. Als wir diese Geschichte das erste Mal hörten, entschied Petra sich spontan für den Reis und mir wurde schlecht. Der Gedanke, einem Affen bei lebendigem Leib den Kopf abzuschlagen und dann noch genüßlich aus seiner Hirnschale zu naschen, war mir zuwider. Ich konnte es zuerst überhaupt nicht glauben, daß Menschen so etwas taten. »Aber es sind doch Chinesen«, betonte Petra, die mich oft für begriffsstutzig hielt, »die Koreaner essen sogar Hunde, fritiert wie Pommes frites.« Was für eine Logik. Aber so war Petra. Daß Chinesen Hirn von lebenden Affen aßen war ekelhaft, aber daß eine Frau Hersler dasselbe getan haben sollte, war doch das Schlimmste der Angelegenheit für mich. Schließlich war die Hersler keine Chinesin, sondern die Frau, die mir mittags den Ellenbogen auf den Tisch donnerte und bei dem kleinsten Anzeichen von Geschmatze fast wahnsinnig wurde, und die aß Affenhirn. »Warum tun die Chinesen und sogar die Hersler das?« wollte ich wissen. Ich vermutete magische Rituale. »Gibt Affenhirn besondere Kräfte, oder was geschieht, wenn man das ißt?« löcherte ich Frau Hersler. »Es ist ein Zeichen von Wohlstand, so ein Affe kostet ganz ordentlich, aber besondere Kräfte gibt er nicht. Obwohl bei einigen Menschen das Affenhirn sicherlich das erste bißchen Hirn in ihrem Körper ist«, gab mir die Hersler als Antwort. Das mit dem Hirn sollte wahrscheinlich ein Witz sein. Eigentlich war die Hersler aber
kein Typ, der Witze machte, und so war ich mir nicht hundert Prozent sicher. Petra war jedesmal genervt von meinen Fragen. Sie hatte wesentlich weniger Probleme mit der Affengeschichte: »Hummer werden doch auch bei lebendigem Leib gekocht, da regt sich keiner so auf. Ich weiß nicht, was dann so schlimm ist, wenn die gerne Affenhirn essen. Fremde Länder, fremde Sitten.« Silke war meiner Meinung. Richtiggehend aufgebracht war die. »Wir müssen dagegen kämpfen«, stachelte sie mich an. Sie ging in ihren Aktivitäten sogar so weit, in unserer Änderungsschneiderei Frau Sung auf das Thema anzusprechen. Gott sei Dank sprach Frau Sung nur schlecht Deutsch und verstand nicht alles, was Silke da mit hochrotem Kopf und wild gestikulierend von ihr wissen wollte. Sie stammelte nur immerzu was von wegen Zoo. Wahrscheinlich dachte sie, wir wollten wissen, wo wir einen Affen sehen könnten. Unser Glück, denn später sagte uns Mutter, daß Frau Sung keine Chinesin, sondern Thailänderin sei. »Egal«, meinte Silke » wer weiß, was die so in sich reinschaufeln.« Ansonsten fanden wir selbst nach intensiver Suche niemanden, den wir im Kampf gegen die Affenhirnesserei anprangern konnten. »Kelkheim ist eine weitgehend schlitzaugenfreie Zone«, meinte Silke und wußte auch direkt, warum: »Wir haben zuwenig Affen hier. Was sollen die reichen Chinesen denn dann essen?«
6 Vater fehlte auch beim Frühstück. Mutters Kopf steckte hinter der Zeitung. Wir verstanden und hielten den Mund. Silke und ich freuten uns auf den ersten Schultag nach den Ferien. Der machte immer Spaß. Vor allem jetzt, wo wir verreist waren. Da konnte man so herrlich angeben. Die meisten fuhren nach Österreich oder so. Höchstens. Berge und Seen. Ein wenig wandern und Kirchen gucken. Meer war etwas Besonderes. Nur Familien mit Geld fuhren ans Meer. Aber auch am Meer gab es eine Rangordnung. Jugoslawien galt nicht so viel wie Italien, Frankreich oder Spanien. Hatte immer den Hauch von Billigurlaub. Leute wie die Kritzners, deren Sohn Ralf bei Silke in der Klasse war, solche Leute fuhren nach Jugoslawien. Oder nach Ungarn an den Plattensee. »In die Ostländer brächten mich keine zehn Pferde, da lege ich mich wirklich lieber hier in den Garten«, war Mutters Meinung. »Mit Krethi und Plethi in einem See, also da wird es mir ganz anders. Wenn ich mir vorstelle, die Kritzner und ich gemeinsam an einem Ort. Wir alle in Badebekleidung. Nein.« Die Kritzners machten jeden Sommer Campingurlaub. Richtig mit Wohnzelt, Gaskocher und Isomatten. Silke und ich beneideten sie insgeheim um das Abenteuer, hätten das aber natürlich niemals vor Ralf zugegeben. Ralf war ein an sich recht hübscher Junge, was Silke zwar vehement bestritt, aber so, wie sie ihn ab und an anschaute, wußte ich, daß sie eigentlich meiner Meinung war. Vor allem, weil sie es so bestritt. Das war ein eindeutiges Zeichen bei Silke. Je mehr sie schrie und sich empörte, desto mehr war dran. Leider war der hübsche Ralf ein Junge, der immer einen Tick danebenlag. Er trug Jeans, aber keine Wrangler sondern Jinglers von C&A.
So, wie mit den Jeans war es bei Ralf mit allem. Deshalb nützte ihm sein Aussehen wenig. Ralf war nicht angesagt. »Kein Umgang«, befand meine Mutter, und damit war das Thema für sie erledigt. Sie kannte Ralf nicht, hatte nur seine Eltern mal auf einem Elternabend erlebt. Petra bekam zuviel, wenn Mutter so redete. »Nur weil seine Mutter dick ist, ist der doch noch lange kein Idiot, mit dem man sich nicht abgibt. Was kann ein Mensch für seine Eltern?« verteidigte sie Ralf. Ralfs Mutter war nicht dick wie Petra gesagt hatte, sie war fett. Sie war gigantisch. Wenn sie ging, bestand sie aus einem einzigen rollenden Teil. Nicht wie normale Menschen, deren Arme schwingen und deren Beine sich separat bewegen und deren Kopf auf dem Hals sitzt. Sie, die Mutter von Ralf, hatte keine einzelnen Gliedmaßen mehr, jedenfalls keine sichtbaren, alles war durch das Fett miteinander verbunden. Eine riesige, wogende Masse. Wabernd und unausweichlich wie Lava kam sie auf einen zu. Ich hatte sie das erste Mal im Supermarkt gesehen. In einem ärmellosen, weiten, kaftanähnlichen Umhang. Wenn das meine Mutter wäre, ich würde mich niemals in ihrer Nähe sehen lassen, dachte ich und wußte nicht, ob ich Ralf dafür bewundern sollte, wie fröhlich und unbeeindruckt er an ihrer Seite den Einkaufswagen schob. Es war, als würde er sich nicht schämen. Ist er so blöd, oder warum macht ihm das nichts? überlegte ich. Dieses Schaulaufen, nur ohne Schlittschuhe. Alle glotzen seine Mutter an. Auch ich konnte nicht anders. Sie war noch dazu nicht nur fett, sondern auch noch extrem laut. Auffällig. Wollte augenscheinlich gar nichts verdecken. Ihr Kaftan war nicht dunkelblau oder grau, sondern grellbunt gemustert. »Selbstgenäht«, informierte mich Frau Kritzner, ohne daß ich sie gefragt hatte. Sie sprach einen einfach so an. Ich haßte das, hatte das Gefühl, der ganze Supermarkt würde mich anstarren und sich überlegen, was ich mit der fetten Kuh zu tun hätte.
Andererseits war ich nicht mutig genug, einfach zu gehen. Zu wohlerzogen. So stand ich wie betäubt vor dieser Riesin und starrte auf ihr zeltartiges Gewand. Der pink-gelb gemusterte Stoff war mit Papageien bedruckt. Über und über. Ralf hatte einen Turnbeutel aus dem gleichen Stoff. Schon der Turnbeutel war eigenartig, aber ein Kleid mit Papageien an einer Frau, die mit Sicherheit mehr als 150 Kilo wog, das war zuviel. »Bist du nicht die Schwester von der kleinen Silke?« fragte mich die Papageienfrau. Ich nickte. Ralf grinste, und seine Mutter hielt mir eine Packung Kekse vor die Nase: »Nimm dir nur, aber nicht zuviel, sonst werde ich nicht mehr satt«, lachte sie laut. Alle schauten. Sie hatte die Kekse eben erst aus dem Regal genommen und gleich aufgerissen. »Beeilung«, sagte sie, während sie sich die Kekse in ihren riesigen Mund stopfte, »Beeilung, sonst sind sie weg.« Ich sah diesen Mund mit dem knallrosa Lippenstift und den Ecken voller Kekskrümel. Ich konnte nur »Nein, danke« stammeln und hauchte ein »Auf Wiedersehen« hinterher. Nichts wie weg, dachte ich und kaufte vor lauter Schreck zwei Liter Milch, deren Verfallsdatum schon am nächsten Tag erreicht war. Natürlich schickte mich meine Mutter wieder zurück in den Laden, um die Milch umzutauschen. In so Dingen war sie eisern. Da mußte ich noch einmal 15 Minuten hin- und 15 Minuten zurücklaufen, und das alles nur wegen der komischen Mutter von Ralf. Vater hatte Frau Kritzner mal beim Bowling gesehen. Auch in einem Kaftan. Allerdings geblümt. »Einen Turban dazu und man würde glauben, sie wäre direkt von einem afrikanischen Markt hierhergeflogen«, war sein Kommentar. Das war es. Er hatte recht. Das Irritierende an Frau Kritzner war nicht allein ihr Fettsein, sondern ihr Umgang damit. Daß sie es betonte. Sie war wie aus einer anderen Welt. Mutter schrie nun schon zum dritten Mal nach Petra. In einem Ton, der um einiges schärfer als sonst war. Wir waren
schon fast fertig mit dem Frühstück und »Madam Kunzer«, wie wir sie heimlich nannten, noch gar nicht erschienen. »Wahrscheinlich noch in wilden Liebesträumen«, tuschelte mir Silke zu und machte einen Knutschmund. Unser Lachen machte Mutters Laune nicht besser. »Spart euch jeden Kommentar«, herrschte sie uns an und als von Petra auch diesmal keinerlei Reaktion kam, rastete Mutter aus. Sie knallte die Zeitung auf den Tisch und rannte in den ersten Stock. Dort waren all unsere Schlafzimmer. Das der Eltern, Petras, das von Silke und mir und das abgeschlossene Zimmer, in dem das Baby gewohnt hatte. Seit dem Unfall durfte keiner mehr das Zimmer betreten. Petra behauptete, Mutter würde manchmal nachts darin sitzen, aber wir waren nicht sicher, ob wir ihr glauben sollten. »Ich weiß es hundertprozentig«, schwor Petra, »ich höre ihr Schluchzen. Erbärmlich klingt das, wirklich erbärmlich.« Dafür sprach, daß Petras Zimmer direkt neben dem des Babys lag. Dagegen, daß Petra sich gerne wichtig machte und wir bisher nichts gehört hatten. Mutter redete auch nie mehr vom Baby. Bis auf die Hersler erwähnte es eigentlich niemand mehr. So, als könne man vergessen durch verschweigen. Silke und ich sprachen mal drüber. Eines Nachts, als wir nicht schlafen konnten. Erschrocken stellten wir fest, daß es in unseren Köpfen kein Bild unseres Bruders mehr gab. Wir hatten vergessen, wie er aussah. Wir waren darüber fast entsetzter als über seinen Tod. Wir hätten Mutter gerne dazu befragt, trauten uns aber nicht. Was, wenn sie die Frage in erneute Trauer stürzen würde? Das Risiko wollte keine von uns eingehen. »Frau Hersler, kommen sie mal eben hoch, bitte«, tönte Mutters Stimme zittrig aus dem ersten Stock. Frau Hersler war schon seit 7.00 Uhr in der Küche zugange, wischte und räumte wie jeden Morgen. Mutters Stimme ließ Aufregendes vermuten. Mit der Hersler stürmten deshalb auch wir die
Treppen rauf. Mutter stand in Petras Zimmer. Im Halbdunkel, denn die Klappläden waren nur einen Spalt geöffnet. Aus Petras Bett kam ein Stöhnen und ein: »Haut bloß ab.« Petra sah nur noch ein ganz bißchen aus wie Petra. Ihr Kopf war angeschwollen, die Haut gespannt, die Nase breitgeklopft und die Augen fast verschwunden. Hätten wir es nicht besser gewußt, hätten wir asiatische Vorfahren vermutet. »Das ist ja eklig«, schüttelte sich Silke, »kommt das nur vom Knutschen?« Mutter schob Silke und mich sofort aus dem Zimmer. »Hättest du nicht mal deine Klappe halten können«, fauchte ich meine Schwester an, »jetzt verpassen wir wieder die Hälfte, nur wegen dir.« »Aber es ist doch wirklich eklig«, gab sie beleidigt zurück. Daß es schlimm aussah, was immer es war, stimmte. »Meinst du, es ist aus Italien, und wir kriegen es auch?« fragte ich ängstlich bei Silke nach. Sie erschrak, wahrscheinlich weil ihr die Idee bis dahin noch nicht gekommen war, und zuckte mit den Schultern: » Ich hoffe nicht. Stell dir mal vor, so in die Schule, das ist ja der Horror.« Frau Hersler kam mit ernstem Gesicht aus Petras Zimmer und ermahnte uns: »Erster Schultag die Damen, husch husch, die Waldfee.« Das war einer ihrer Standardsprüche. »Und was ist mit der? Geht die auch in die Schule oder muß sie ins Krankenhaus?« wollten wir noch schnell wissen. »Kümmert euch mal um euren eigenen Kram«, belehrte uns die Hersler streng. Wir bemerkten die Aussichtslosigkeit und machten uns auf den Weg. Unser Schulweg dauerte etwa 25 Minuten. Wenn wir normal gingen. Auf halbem Weg mußten wir über den Bahnübergang. Da traf sich ganz Kelkheim. Die von oben kamen, waren die aus den besseren Familien und die, die erst hinter dem Bahnübergang von links oder rechts dazustießen, waren die aus den schlechteren. »Die von unten«, nannte Mutter sie. Auch wenn Freunde erstmals zu Besuch kamen, war eine von
Mutters Fragen immer die nach »oben oder unten«? Am Bahnübergang trafen wir den Kunzer. Er war einer von oben. Aber ganz kurz vor unten. Er wohnte gleich am Bahnübergang. Rechts dahinter. Wie er auf einmal neben uns auftauchte, konnte man den Verdacht haben, er hätte uns abgepaßt. Enttäuscht schaute er sich um. »Petra ist schwerkrank«, posaunte Silke, »ob das wieder wird, so entstellt wie die ist, wer weiß.« Kunzer wurde unter seiner weißen Haut noch weißer. Ich war fasziniert, daß das überhaupt möglich war. »Vom Knutschen scheint es nicht zu sein, sonst hätte der das doch auch«, raunte mir Silke zu. Teiggesicht Kunzer sah wirklich aus wie immer. Bleich und pickelig. Obwohl er vor den Ferien mehr hatte. Mehr Pickel. Vielleicht hatte Petra gar nicht mehr mit ihm geknutscht, und die Krankheit würde das jetzt verraten. »Wir müssen nur gucken, wer auch so aussieht, dann haben wir den Neuen von ihr«, war mein Vorschlag. Kunzer unterbrach uns. »Darf ich mal erfahren, was los ist? Wo ist Petra? Was fehlt ihr? Kann ich sie sehen?« Silke wiegte bedächtig den Kopf hin und her: »Es sieht nicht gut aus, vor allem ihr Gesicht. Irgend etwas Schreckliches ist da passiert. Vielleicht kriegst du es auch noch.« Kunzer tapste von einem Fuß auf den anderen. Er sah schrecklich fertig aus. Nervös und besorgt. Als die Bahnschranken aufgingen, drehte er sich um und sagte nur: »Ich muß hin und mir das angucken. So kann ich nicht zur Schule gehen. Wenn sie stirbt, verzeih ich mir das nie.« »Wow«, sagte Silke nur, und auch ich war ehrlich beeindruckt. »Der liebt die echt. Aber wenn der die jetzt sieht, wird das tragisch enden«, meinte Silke nachdenklich, und ich konnte mir auch nicht vorstellen, daß Kunzer das einfach so wegstecken würde. In der zweiten großen Pause kam er dann mit ernstem Gesicht auf mich zu. Die wird doch nicht schon tot sein,
fröstelte es mich trotz angenehmer Temperaturen. Sofort hielt ich nach Silke Ausschau. Die lief zwar mit mir bis zur Schule, dort aber ließ sie sich nur ungern mit ihrer jüngeren Schwester sehen. Daß ich nur eine Klasse unter ihr war, spielte dabei keine Rolle. Silke stand wie meist mit ihren Freundinnen unter der großen Kastanie. Um den Stamm der Kastanie war eine Bank gebaut, die fest im Besitz von Silke und ihrer Clique war. Silke und ihre Sklavinnen nannte ich sie. Silke war eindeutig eine der Bestimmerinnen. Die Bestimmerin schlechthin. Ich winkte zur Kastanie hinüber, und eine aus Silkes Gefolgschaft machte meine Schwester darauf aufmerksam. Ich konnte selbst aus einiger Entfernung ihr unwirsches Gesicht erkennen. Als sie Kunzer neben mir entdeckte, änderte sich das. Neugierig wie sie nun mal war, kam sie sofort angerannt. Teiggesicht genoß seinen Auftritt und ließ uns gekonnt einen Moment zappeln. »Sie ist weg«, sagte er und schaute uns mitleidig an. »Was heißt hier weg?« wollte Silke erschrocken wissen: »Im Krankenhaus, Leichenschauhaus oder eben mal einkaufen?« Mir kamen die Tränen. Das wird Vater nicht überleben, erst das Baby und jetzt seine Lieblingstochter, dachte ich und fing ein bißchen an zu weinen. Ich hatte Angst, daß er dann nie mehr heimkommen würde, wenn nur Mutter, Silke und ich auf ihn warten würden. Für ihn könnte es wie Rache wirken. Er läßt den Sohn fallen, dafür macht Mutter irgendwas Grausiges mit der Lieblingstochter. »Weg heißt: nicht zu Hause. Woher soll ich wissen, wo die hin ist«, entschärfte Teiggesicht Kunzer die Situation: »Diese Frau da in eurem Haus meinte, ich solle zusehen, daß ich in die Schule komme, und mich um meinen eigenen Kram kümmern.« Er wußte also nichts und hatte sich nur wichtig gemacht. Gut, daß die Hersler ihm wenigstens verbal ein paar übergebraten hatte. Die restlichen Schulstunden war ich mit meinen Gedanken woanders. Obwohl es ein besonders
spannender erster Schultag war. Nicht nur, weil ich diejenige war, die den tollsten Urlaub verbracht hatte, sondern weil wir zwei Neue in der Klasse hatten. Ein Mädchen und einen Jungen. Aus der Türkei. Das war der Hammer. Ein Zwillingspaar. Richtig ähnlich sahen die sich aber nicht. Außer daß sie beide wahnsinnig dunkle Haare hatten und Namen, die man sich nur schwer merken konnte. Hakan und Jiyan. Hakan ging ja noch, aber Jiyan. Ausgesprochen wurde das Schijan. Britta, die neben mir saß, hatte eine Idee, wie wir uns den Namen merken könnten: »Denk an Skier und ans Anziehen; als wärst du Skilehrerin und du würdest zu all den Kindern in deiner Gruppe sagen: Ski an.« Britta saß schon zwei Jahre neben mir und fuhr jeden Winter mit ihren Eltern zum Skifahren. Immer nach Zermatt in der Schweiz. Zum Matterhorn. Britta hatte schon so viel darüber erzählt, daß es niemanden in der Klasse gab, der das Matterhorn nicht haßte. Käsefondue und Matterhorn. Wenn man zuviel über etwas redet, werden die Leute es leid. Britta begriff das nicht und das, obwohl sie sonst sehr schlau war. Sie hatte jedes Jahr das beste Zeugnis, und alle Lehrer liebten sie. Sie war eine totale Streberin, aber immerhin eine, die einen abschreiben ließ. Jedenfalls manchmal. Deshalb saß ich neben ihr. Ich hatte Probleme mit Englisch und bei den Vokabeltests wäre ich ohne Britta ziemlich angeschmiert gewesen. Wenn ich nicht nett zu ihr war, strafte sie mich und hielt mit der Hand das Heft zu. »BB 1« hieß Britta, wenn sie nicht dabei war. »Britta – Betragen 1.« Das sagt nun wirklich alles über sie. Für den Heimweg brauchten wir nur 16 Minuten. Neuer Rekord. Kunzer rannte mit und nahm uns, bevor er nach dem Bahnübergang einbog, noch das Versprechen ab, ihm irgendwie Bescheid zu geben. Es schmeichelte uns, wie sich einer aus der Untersekunda vor uns klein machte. Uns
anbettelte. Wir suhlten uns einen kleinen Moment in diesem Zustand und willigten dann gnädig ein. Zu Hause angekommen war das Essen noch nicht fertig. »So früh heute, die Damen«, begrüßte uns Frau Hersler. »Was ist mit ihr, lebt sie noch?« bestürmten wir sie im Gegenzug. »Natürlich«, antwortete Frau Hersler überrascht und schickte uns erst mal zum Händewaschen. »Was gibt es«, schrie Silke aus dem Klo. »Schneckenschleimsuppe«, tönte Frau Herslers Stimme kichernd durch unseren großen Flur. Unser Flur hatte allein durch seine Größe etwas Herrschaftliches. Unterstützt wurde dieser Eindruck sicherlich noch durch den imposanten Kronleuchter. »Hopp, hopp, die Schneckenschleimsuppe ist soweit«, rief Frau Hersler. Wir lachten. Jeden Tag präsentierte sie uns ein neues Schauergericht. Wie die das schaffte, sich ständig was Neues auszudenken? Silke war da anderer Meinung: »Wieso ausdenken, das sind wahrscheinlich alles Sachen, die sie in ihrem komischen China schon gegessen hat. Unter Reis gemischt, merken die doch gar nicht, was sie essen. Meinst du, wer Affenhirn ißt, macht vor Schneckenschleim halt?« Ich war verunsichert. Die Schneckenschleimsuppe war eine Hühnerbrühe. Mutter stand mit rotem Kopf vor dem Herd und rührte. Die Suppe dampfte und Silke nörgelte. Sie mochte Suppe nicht. Silke war Fleischfan. Bratwurst oder Schnitzel ließen ihr Herz höher schlagen. »Ich hab doch noch Zähne, wieso gibt es da Suppe«, jaunerte sie vor Mutter rum. »Eure Schwester kann nichts anderes essen mit ihren Verbrennungen; sie kriegt den Mund kaum auf, da wird es den Damen wohl genehm sein, auch mal Suppe zu essen, Fleisch hast du sowieso genug auf den Rippen«, kam die prompte Retourkutsche von Mutter. Silke war beleidigt. Aber Mutter hatte recht. Um die Hüften rum war sie seit unserem Italienaufenthalt ein wenig rund. Silke hatte die gesamte Pasta
des Urlaubs als Rettungsring gebunkert. »Wo hat es denn gebrannt, hier bei uns im Haus? Wieso haben wir nichts davon gemerkt?« schrien wir fast gleichzeitig. »Setzt euch, dann reden wir«, sorgte Frau Hersler für Ruhe. So, wie Mutter am Herd stand und in der Suppe rührte und Frau Hersler die Kommandos gab, hätte wohl kaum jemand gesehen, wer die Hausherrin und wer die Angestellte war. Frau Hersler war eben eine Institution. Wir hörten auf sie, und eigentlich mochten wir sie auch. Das leicht Skurile der Hersler und ihre fantastischen Pfannkuchen begründeten unsere Zuneigung. Über die wir natürlich nie sprachen. Oder, wie in meinem Falle, nach dem ersten zaghaften Versuch nicht mehr davon anfingen. Ich hatte mal Mutter von meiner Liebe zu Frau Hersler erzählt. Versucht zu erzählen. Sie lachte nur und höhnte etwas vom Hang zum Küchenpersonal. »Die ist eifersüchtig auf die Hersler«, meinte Silke, »weil die bessere Pfannkuchen kann.« Was stimmte. Mutters waren immer ein wenig zu pappig. Die Hühnersuppe aber war gut. Heiß und aromatisch. »Was ist jetzt mit Petra«, wollten wir wissen. »Sie hat gemeint, sie müsse ihre Bräune noch ein bißchen intensivieren und sich unter die alte Höhensonne gesetzt. Die aus dem Keller. 20 Minuten auf höchster Stufe. Verbrennungen zweiten und dritten Grades hat Dr. Friedrich attestiert. Die Haut wird ihr in Fetzen vom Gesicht fallen, dem dummen Ding«, klärte uns Mutter auf. Wir waren fast enttäuscht über die Lösung. Verbrennungen hörten sich so spektakulär an, aber aus Dummheit zu lange unter der Höhensonne zu hocken, damit war nun wirklich kein Staat zu machen. Vor allem für Petra. Wie peinlich. »Was muß sie jetzt machen«, wollten wir noch wissen, »wird sie operiert, kriegt sie Haut verpflanzt? Müssen wir ihr welche spenden? Oder kriegt sie Tierhaut?«
Die Hersler grinste. Ganz leicht nur, aber wir sahen es. »Papperlapapp, sie muß ihr Gesicht eincremen mit einer Salbe, und morgen geht sie wieder in die Schule. Sie hat Glück gehabt.« Von wegen Glück gehabt. So in die Schule zu gehen, war der Horror. Eine Katastrophe. Obwohl Petra uns oft genug sehr auf den Wecker ging, tat sie uns nun doch leid. »Die muß mit diesem Gesicht in die Schule?« fragte Silke ungläubig nach. »Selbst schuld«, sagte Mutter ungerührt. »Danke, vielen Dank«, tönte es aus dem Flur. Petra, mit einem Gesicht wie eine Außerirdische, kam zum Essen. Die Augen nahezu verschwunden, die Backen wie die eines Hamsters, und das Ganze glänzte in einem ungesunden Rot. Eine wie von einem anderen Stern mit fettigem Haar. »Ich kann so nicht in die Schule, ich fühle mich gar nicht danach«, versuchte es Petra. »Du kannst nicht nur, du mußt«, erwiderte Mutter. Da war eindeutig jeder Widerspruch aussichtslos. Mutter hatte ihre Tiefkühlmiene. Petra verstand sofort. »Darf ich wenigstens noch die Haare waschen?« bettelte sie. Mutter runzelte die Stirn: »Du hast gehört, was Dr. Friedrichs gesagt hat, was soll also die Frage?« Natürlich vergaßen wir, Kunzer anzurufen. Kein Wunder, daß er nachmittags vor unserer Tür stand. Mit ein paar Blümchen für Mutter. »Ich wollte mich erkundigen, wie es Petra geht«, stammelte er schüchtern. Mutter nahm die Blumen entgegen und musterte ihn streng: »Sie empfängt keinen Besuch, sie braucht Ruhe.« Sie wünschte ihm noch einen schönen Tag und, rumms, war die Tür zu. Petra hatte oben am Treppenabsatz gestanden und alles mit angehört. Sie heulte. Weil Kunzer nicht zu ihr durfte, oder weil er sie nicht, so sehen sollte; ich glaube, so recht wußte sie es selbst nicht warum. Das Teiggesicht war hartnäckiger und auch verliebter, als wir gedacht hatten. Der
ließ sich nicht so einfach von Mutter abservieren. Am frühen Abend hörten wir es. Auf der Straße. Schräg unter Petras Fenster. Er sang für sie. Amore mio. Eine richtige italienische Schnulze. Mir hätte was von Suzy Quatro besser gefallen, aber für einen Nichtitaliener machte er seine Sache gut. Allerdings schaffte er nur die erste Strophe, dann hatte ihn Mutter. Ein kurzer Wortwechsel und weg war er, der Kunzer. »Wenn der mich so sieht, dann ist es vorbei. Für immer. Wer will schon eine Frau mit so einem Gesicht«, jammerte Petra beim Abendessen. »Ein Junge mit seinem Gesicht, hätte dann endlich die passende Ergänzung«, bemerkte Mutter kühl und machte Petra noch mal unmißverständlich klar, daß sie diese Verbindung keinesfalls gutheißen könne. Daß man in Petras Alter überhaupt keine Verbindung brauche und wenn, dann mit einem, der mehr hermache als dieser Kunzer. Zur Abwechslung heulte Petra daraufhin mal nicht, sondern drohte mit Auszug. Entschlossen stand sie auf und warf einen wilden Blick in die Runde. Triumphierend schaute sie Mutter an und warf ihr ein trotziges: »Und wieder ein Kind weg!« an den Kopf. Mutter wurde ganz bleich und schnellte vom Stuhl auf. »Tu, was du nicht lassen kannst, Petra«, sagte sie mit leiser Stimme, die aber für Silke und mich furchterregender klang als jedes Geschrei. »Niemals macht die das«, flüsterte Silke, und obwohl ich 50 Pfennige darauf verwettete, daß sie es tun würde, behielt Silke recht. »Wieso gehst du nicht«, fragte ich enttäuscht, nicht zuletzt wegen meiner 50 Pfennige. »Wohin soll ich denn, Michael wohnt doch auch noch zu Hause«, schluchzte sie, »und außerdem, mit meinem Gesicht kann ich doch niemals wirklich untertauchen; jeder würde mich erkennen.« Da hatte sie aber wirklich recht. Ihr Geheule hatte ihrem Gesicht keinesfalls gutgetan. Sie war noch verschwollener, und daß sie mal Augen hatte, konnte man nur noch ahnen. »Wenn wir sie
mit einem Hut auf die Zeil setzen, könnten wir richtig viel Geld machen«, schlug Silke vor. Die Zeil war Frankfurts Haupteinkaufsmeile, und es stimmte, wenn Bettler behindert waren, gaben die Leute eher was. Selbst Mutter wurde da weich. Wir versuchten Petra zu überreden, blieben aber erfolglos. »Auf die Zeil setze ich mich nicht, das könnt ihr euch abschminken. Stellt euch vor, mich sieht jemand, der mich kennt«, verwarf sie unseren Vorschlag. »Wer sollte dich so erkennen«, konterte Silke: »Du wirst Unsummen verdienen und das an einem Tag.« Aber Petra ließ sich nicht umstimmen. Mutter auch nicht und so kam es, daß Petra am zweiten Schultag nach den Sommerferien mit fettigem Haar und entstellt in die Schule gehen mußte. An der Bahnschranke wartete schon Kunzer. Er schien so glücklich sie zu sehen, daß er vor lauter Freude fast ihr Aussehen gelobt hätte. Nach unseren Vorwarnungen hatte er Schlimmeres erwartet. Er küßte sie sogar in dieses Gesicht. Mittenrein und vor allen Leuten. Petra genoß das Angehimmeltwerden und nahm jeden Spott in der Schule mit völliger Gelassenheit. Sie war wie unter Drogen. Im Glücksrausch. »Seine Küsse haben sie geimpft gegen die Lästereien«, sagte Silke, und es war wirklich so. Selbst, daß sie seitdem nur noch »die Schlange« hieß, war Petra egal. Es hatte sich eben noch nie jemand während des Unterrichts so herrlich gehäutet. Die Hautfetzen fielen einfach von ihr ab. Ärgerlich für sie, denn auch die Bräune war damit weg. Weggeschuppt. Schneller, als sie gekommen war.
7 Am Abend war Vater plötzlich wieder da. Als wäre er nie weggewesen. Mutter hatte ihn angerufen und das mit Petra erzählt. »Wenn es seine Petra irgendwo juckt, kommt der angeschossen«, eifersüchtelte Silke. »Wo warst du denn«, bohrte sie dann auch beim Abendessen. »Ich hatte zu tun, im Labor, was sonst«, kam die knappe Antwort von Vater, »eine wichtige Kontrolle.« »War es was total Verschimmeltes?« keimte Silkes Neugier. Sie liebte Vaters Geschichten von übelriechenden Lebensmitteln und modernden Pilzen und Keimen. Vater war Lebensmittelchemiker und prüfte Gaststätten. Natürlich ging er nicht selbst hin, um die Proben zu holen, das machten die vom Gesundheitsamt. Schim und Bak nannte Vater die. Schimmel und Bakterium. Spitznamen eben. Mutter kicherte jedesmal. So, als hätte er einen wirklich irre komischen Scherz gemacht. Es waren immer Zweier-Teams, die zu Überprüfungen geschickt wurden. Damit es nicht so leicht zur Bestechung kommen konnte. Allerdings verstand ich nie, warum man nicht auch zwei Leute bestechen konnte. Vater ging nicht mit in die Restaurants. Das hatte er nicht nötig. Er wartete, bis Bak und Schim mit ihren kleinen Behältern und Plastikhüllen im Labor erschienen. Dann durchleuchtete und untersuchte er die Proben und entschied, ob das Zeug eßbar oder eben ungenießbar war. Manchmal mußte er auch veranlassen, daß Gaststätten geschlossen wurden. Dann wurden Bak und Schim noch mal hingeschickt und mußten richtig theatralisch das Lokal versiegeln. »Danach schafft es kaum einer, wieder Fuß zu fassen«, betonte Vater immer. »Einmal vom Gesundheitsamt geschlossen, da hat man
seinen Stempel weg. Für immer.« Vater war der Chef von allen, und einmal im Jahr waren seine Mitarbeiter bei uns zum Essen eingeladen. »Das macht man eben so«, erklärte uns Mutter mit miesepetrigem Gesicht. Auch Schim und Bak kamen dann. Obwohl Vater nicht direkt ihr Chef war. »Aber irgendwie doch«, sagte Petra , die sich gerne vor uns aufspielte und immer so tat, als wüßte sie alles. Mutter haßte diese Essen. »Die gucken anders als normale Leute, diese kritischen Augen, ständig auf der Suche nach Spuren von Verwesung, eklig ist das.« Ihr war sowieso schleierhaft, wie Menschen, die ständig mit Widerlichkeiten dieser Art zu tun hatten, noch essen konnten. »Ich hätte längst eine ordentliche Gelbsucht, schon beim Gedanken an eure Tests verfärbt sie sich, meine kleine Leber.« Vater lachte dann nur. Er kannte alle diese Sprüche, denn natürlich reagierten die meisten Menschen so oder ähnlich, wenn er erzählte, womit er sein Geld verdiente. Wir mochten diese Abendessen. Es war dann bei Tisch wie im Horrorfilm. Schaurige Geschichten von der Vorspeise bis zum Nachtisch. Besonders hatte es uns die von vor zwei Jahren angetan. Eine Geschichte über ein italienisches Restaurant, in dem ganz vornehme Menschen verkehrten. Solange es noch geöffnet war. Denn als Schim und Bak eines Tages eine »Spoko« machten, eine sogenannte Spontankontrolle, da passierte es. Vorne saßen die vornehmen Leute und hauten sich den Wams voll, und hinten in der Küche, direkt vor den Augen von Schim und Bak, platzte ein Karamelflan auf, und Ungeziefer krabbelte heraus. Wenn das nicht fies war. Die spitzen Schreie der Damen im Pelz und der Herren im dreiteiligen Anzug und dazu die dämlichen Gesichter des Personals. Don Luigi, der Besitzer, war außer sich. Nicht vor Scham, wie es sich ja wohl gehört hätte, sondern vor Wut. »Ausländerhasser, ihr beide«, hat er geschrien und »bürokratische Drecksland.« Bak hat nur sehr gelassen gesagt:
»Beim Thema Dreck sollten Sie sich ein wenig zurückhalten, oder? Madenluigi!« Das war jedesmal die Pointe, und wir liebten sie. Netterweise erlaubte uns Vater, bei diesen »PseudoGratifikationsessen« dabeizusein, obwohl Mutter Jahr für Jahr dagegen argumentierte: »Das ist ein Arbeitsessen und keine Kindergartenfeier.« Vater aber bestimmte: »Die Kinder sollen meine Arbeit und meine Kollegen ruhig kennenlernen, dann haben sie auch eine ungefähre Vorstellung davon, womit und mit wem ich meinen Tag verbringe.« Daß Vater seine Mitarbeiter, die ihm ja eigentlich untergeben waren, Kollegen nannte, gefiel mir. Mutter war da eher für klare Verhältnisse. »Kumpelgetue ist das, genau wie die Duzerei. Letztlich bist du doch der Chef, was haben sie also davon, wenn du so tust, als könnten sie entscheiden. Außerdem, irgendwann geht jedweder Respekt flöten, das garantiere ich dir«, argumentierte sie wieder und wieder. Obwohl es sie ja strenggenommen gar nichts anging. Außerdem war normalerweise sie es, die darauf pochte, daß keiner dem anderen reinredete. »Das hier ist mein Beruf, und da habe ich das Sagen«, mit diesen Worten verbat sie sich jegliche Einmischung im Haushalt. Umgekehrt hielt sie sich weniger daran. Vater machte sich nichts aus ihrem Gerede, oder er ließ sich nichts anmerken. Er war nun mal ein geduldiger Mensch. Aber an diesem Abend war er schlecht gelaunt. Fuhr selbst seiner Petra über den Mund. Gab keine Antwort. Das war wirklich selten. Wir begriffen und hielten den Mund. Es war ein trübsinniges Abendessen. Das Essen hätte uns eine Warnung sein können. Was folgte, war noch schlimmer. In den nächsten Wochen war Vater mehr im Labor als zu Hause. Petra war sowieso nur noch weg und
Mutter von einer beleidigten Schweigsamkeit. Silke und ich spielten, soviel es ging, draußen und versuchten, Mutter nicht in die Quere zu kommen. Als der erste Schnee dieses Winters fiel, entschied sich Vater, nach Italien zu fahren. »Ich habe Sehnsucht nach meinem Papa«, verkündete er. Mutters diverse Einwände interessierten ihn nicht. »Ich habe genug Überstunden, um einige Wochen wegzufahren«, beschied er knapp, »und ansonsten werde ich hier doch sowieso kaum gebraucht.« Wir protestierten, Petra natürlich ganz besonders laut, aber insgeheim mußte ich ihm recht geben. Im normalen Alltagsleben spielte Vater eine eher untergeordnete Rolle. Da war eine Frau Hersler sicherlich wichtiger. Sie und Mutter waren die, die unsere Lehrer kannten, wußten, wer welche Note nach Hause brachte und schienen sich sogar dafür zu interessieren. Wir konnten also kaum Einwände haben. Mutter hatte aber dennoch einen: »Denk an deine Mutter, das verzeiht die dir nie«, sagte sie bedeutungsschwanger. Vater schüttelte den Kopf: »Manchmal muß man einfach das tun, was man für wichtig hält. Kinder, seid brav und übt Klavier.« Damit war für ihn alles gesagt. Auch über sein häusliches Wissen, denn ich spielte schon seit mehr als einem halben Jahr kein Klavier mehr. Mutter hatte keine Einwände. Die beiden waren miteinander kalt wie Hundeschnauzen im Winter. Vater fuhr. Zwei Tage nach seiner Ankündigung. Oma tobte. Vaters Brüder waren beleidigt. Sie hatten Opa noch nie gesehen, und Vater traf ihn nun schon zum zweiten Mal. »Dann fahrt doch mit«, schlug Vater vor. Er wußte selbst, daß das nahezu ausgeschlossen war, und hatte eine kindliche Freude daran, daß er fahren konnte. »Ich habe mich nie vorgedrängelt und oft verzichtet, jetzt ist es mir ein so
dringendes Bedürfnis, daß ich nicht bleiben kann. Ich muß einfach fahren. Versteht es oder laßt es. Ich habe bisher immer Rücksicht geübt. Diesmal denke ich an mich. Nur an mich.« Ich fand das ein bißchen dick aufgetragen, aber irgendwie auch beeindruckend. Mutter war sehr zornig. Sie versuchte aber, sich vor uns Kindern nichts anmerken zu lassen. Was natürlich nicht klappte, denn Mutter war weiß Gott eine miserable Schauspielerin. Einmal belauschte ich ein Gespräch mit Frau Hersler, in dem Mutter ihr Herz ausschüttete, und da erst erkannte ich die Tragweite des Ganzen. Es war von Schuld die Rede. Von Liebe, die sich verzogen hatte, und von mangelnder Verantwortung. Von Egoismus. Sie redete von Vater. Und die Hersler nickte dazu. War eindeutig auf Mutters Seite. Wie gern hätte ich gerufen und gesagt: »Stop, so ist er nicht. Er leidet auch. Redet nicht so gemein über ihn.« Aber das konnte ich ja nicht. Dafür hätte ich zugeben müssen, daß ich lauschte, und das wäre fatal gewesen. Abends hielt ich Krisenrat mit Silke und Petra. »Ich sage es euch, die werden sich scheiden lassen. Es fehlt nur noch so viel.« Dazu zeigte ich mit den Fingern einen Zentimeter. Etwa. Silke heulte, und Petra hielt alles für übertrieben. »In der Liebe geht es auf und ab«, kommentierte sie meinen Lagebericht trocken. Unbeeindruckt. Wie eine in Liebesdingen absolut erfahrene Person. »Du hast doch keinen Dunst«, schluchzte Silke, »ein bißchen Knutschen mit Teiggesicht macht dich noch lange nicht zur Expertin.« Unsere größte Sorge war die, ins Heim zu kommen. In klapprigen Doppelstockbetten zu liegen und nur Brot und dünne Süppchen zu essen zu bekommen. Wir würden mager und immerzu frieren. »Warum sollten die groß heizen im Heim«, meinte Silke.
Dann aber schaffte sie es, nach einer halben Stunde exzessivem Heulen, die Sache fast schon wieder positiv zu sehen. Vielleicht würde es wie bei Hanni und Nanni im Internat. Oder es käme eine wahnsinnig reiche Familie mit Schwimmbad und eigener Eistruhe und würde sie, die kleine Silke, sofort liebgewinnen und adoptieren. »Und sie täten mir einen Hund kaufen, einen wuscheligen weißen, genau so einen, wie ich schon immer will«, ging ihre Spinnerei weiter. »Meinst du, ich hätte eine Chance mitzukommen?« wollte ich wissen. »So leid es mir tut, nein. Die Leute wollten nur ein Kind. Sie hätten sich spontan für mich entschieden.« »Quatsch«, unterbrach sie Petra, »wenn Mutter und Vater sich trennen, dann bleiben wir bei Mutter und müssen raus aus dem Haus. Wir sind dann arm , weil Mutter ja kein Geld hat und auch schuld ist an allem. Wer schuld ist, kriegt nichts bei einer Scheidung. Ich weiß das von Ruklars.« Daß das der Wahrheit näher kam als Silkes Hirngespinste war eindeutig. Nur das mit der Schuld wollte mir nicht einleuchten. Wieso war Mutter schuld, wenn Vater nach Italien fuhr? Außerdem, hatte nicht er das Baby fallen lassen? War es dann nicht Vaters Schuld? Aber er hatte es doch nicht extra gemacht. War man auch schuldig, wenn man etwas nicht gewollt hat? »Schuld hat man, wenn man schuld ist«, damit war für Petra die Frage abschließend behandelt. Ich glaube, Vater fühlte sich schuldig. Obwohl ich, wie alle anderen, immer wieder betonte, er könne ja nichts dafür, war ich insgeheim der Meinung, er könne natürlich etwas dafür. Selbst ich konnte ein Baby halten, da durfte es doch einem erwachsenen Mann nicht aus der Hand flutschen. Wenn ich etwas fallen ließ, ein Glas oder eine Vase, wie damals am 1. Advent bei Oma, dann war ich auch schuld. Es war eine sehr häßliche Vase gewesen aus dickem Bleikristall, aber Oma war dennoch mordssauer.
Vaters Aufenthalt in Italien veränderte unsere häuslichen Mehrheitsverhältnisse. Oma, jahrelang nicht unbedingt eine Verbündete von Mutter, hatte das Lager gewechselt. Sie suchte geradezu Mutters Nähe. Obwohl eine ihrer Hauptmaximen im Leben bedingungslose Loyalität war, galt diese Regel doch mehr für die anderen als für sie selbst. Daß Vater so rasch von ihr zu seinem Vater gewechselt hatte, nahm sie ihm sehr übel. Es war für sie eine Art Fahnenflucht. Und kränkte sie. Zutiefst. Aber zu Omas Naturell hätte nicht gepaßt, daß sie sich diese Kränkung anmerken ließ. Nun war sie eben auf Mutters Seite. Ohne Bemerkung oder Begründung. Jemand wie Mutter mußte froh sein, wenn jemand wie Oma sich ihr zuwendete. Meinte Oma. Natürlich nicht Mutter gegenüber. So offen war sie wieder nicht. Aber zu Billy, ihrer Schwester, sagte sie es. Und Billy petzte es Mutter. Billy und Mutter waren eine alte Verbindung. Eine, die funktionierte. So war es nicht verwunderlich, daß sich Mutters Begeisterung über Omas Sinneswandel in Grenzen hielt. Mutter vergaß eben nichts. Sie war ein wenig nachtragend, und natürlich war ihr auch klar, daß Omas vermeintliches Interesse an ihr hauptsächlich Neugier auf anderes war. Oma wußte, je mehr sie sich bei uns aufhielt, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, Aktuelles aus Italien zu erfahren. Dabei waren Vaters Anrufe so kurz und meist so belanglos, daß der Neuigkeitswert häufig gen Null tendierte. Die interessanteste Geschichte, die Vater am Telefon erzählte, hatte nichts mit unserer Familie zu tun. Es war die von Maurizio, unserem Kellner. Unserem Objekt der Begierde. Er hatte die Rothaarige, die, die er nach uns angeschmachtet hatte, weil »ich nicht wollte«, wie Petra verlogen behauptete, um sich ihre Totalniederlage nicht einzugestehen, geschwängert. Sie würde ein Baby bekommen, und die beiden würden in den nächsten Wochen heiraten. »Das hätte ich sein
können«, berauschte sich Petra an der Vorstellung, »ich wäre Maurizios Frau und würde bald Mutter. Welch eine Aufgabe.« »Kannst du dir eigentlich vorstellen, Oma zu sein?« rannte sie sofort zu Mutter. Mutter schluckte, wurde sehr blaß und sagte: »Petra, willst du mich umbringen? Erst das mit unserem Baby und jetzt so was. Wie konntet ihr nur? Ich hatte gleich kein gutes Gefühl bei deinem Kunzer. Ich hätte es ahnen können. So ein gewöhnlicher Mensch.« Jetzt wurde Petra blaß. »Ich habe gedacht du magst ihn, du hast immer gesagt, du magst ihn«, heulte sie direkt los. Als Mutter ihren dummen Irrtum bemerkte, versuchte sie sich rauszureden, aber Petra war beleidigt. »Wie man hier in dieser Familie die Wahrheit erfährt, das ist doch so was von brutal. Ich hasse euch. Alle hasse ich, alle, alle außer Vater. Und der ist weg. Der weiß schon, warum. Freiwillig würde niemand hier bleiben.« Was Silke und ich ziemlich unfair fanden, denn schließlich hatten wir zwar auch schon über Kunzer gelacht, aber nie heimlich. Immer in aller Offenheit. Jetzt wurden wir mit Mutter mitbestraft. Für Petra gehörten wir nun mal zu Mutter, schon weil sie nicht dazugehörte. Auch unser zaghaftes »wir halten zu dir« konnte Petra nicht umstimmen. Es war halt stimmungsmäßig eine arg bescheidene Zeit.
8 Vaters Abwesenheit hatte uns zu einem richtigen Weiberhaushalt gemacht. Aber ohne die netten Seiten. Keine gemütlichen Abende, kein fröhlicher Klamottentausch und keine heiteren Verschönerungsaktionen. Die Atmosphäre hatte etwas Negatives. Vom Verlust geprägt. Nur die Reihenfolge war eine andere als üblicherweise. Nicht erst der Vater, dann der Sohn, sondern erst der Sohn und dann der Vater. Aber im Resultat doch gleich: weg. Beide waren weg. Die Hersler fuhr nun immer häufiger nicht mehr heim. Bis spät saßen die zwei, Mutter und die Hersler, in der Küche und redeten. »Warum setzt ihr euch nicht ins Wohnzimmer, aufs Sofa«, wollte Silke wissen, als sie eines Nachts noch mal in die Küche tapste, um sich ein Glas Wasser zu holen. Silke stand oft nachts auf. Mal hatte sie Durst, mal träumte sie schlecht und mal konnte sie einfach nicht schlafen. »Du bist mein kleiner nachtaktiver Hamster«, frotzelte Mutter, wenn sie ausnahmsweise gut gelaunt war. Den Sofahinweis ignorierten die beiden, als wäre das Wohnzimmer eine Tabuzone. »Da muß sie zu sehr an Vater denken«, war Silkes Erklärung und, »da gehört die Hersler nicht hin.« Oma fand sowieso, daß diese Fraternisierung mit dem Personal zu weit ging. Hätte sie gewußt, wie weit, sie wäre wahrscheinlich auf der Stelle tot umgefallen. Denn eines Nachts, als Vater etwa drei Wochen fort war, mußte Silke mal wieder aufs Klo. Auf dem Weg ins Bad hielt sie irritiert vor dem Elternschlafzimmer. Die Geräusche, die dumpf durch die Tür drangen, waren
ungewohnt und machten ihr Angst. Silke weckte mich, und gemeinsam zerrten wir Petra aus dem Bett, was ziemlich mühselig war, denn wenn die mal schlief, dann schlief die. »Erst will sie nicht rein, und dann kriegt sie keiner mehr raus«, war Mutters Standardsatz. Auch in dieser Nacht mußte Silke erst »Mutter wird von Einbrechern als Geisel gehalten, sie kann nur noch stöhnen, wir müssen sie befreien« sagen, bevor Petra bereit war, ihren immer fetter werdenden Hintern aus dem Bett zu rollen und uns zur Seite zu stehen. »Sollen wir nicht lieber gleich die Polizei rufen«, war mein Vorschlag. Ich war nun mal eher vorsichtig. »Wir rufen doch keine Polizei, weil zwei Zwerge Hirngespinste haben«, bürstete Petra mich eiskalt ab. Sie wurde immer mehr zu einer wahrhaft arroganten Ziege. »Dann geh halt du, bevor Mutter tot ist«, raunzte Silke mutig zurück. Seit dem Sturz des Babys wußten wir schließlich, wie schnell man tot sein konnte. Petra schlurfte vor sich hinmuffelnd zu Mutters Schlafzimmer. Es war ruhig. Völlig ruhig. »Jetzt sind wir zu spät, sie haben sie schon umgebracht«, war Silkes Erklärung. Petra meckerte natürlich sofort los. »Untersteht euch, mich noch mal nachts rauszuzerren wegen nichts und wieder nichts, dann kriegt ihr echt Ärger. Ätzend ist das. Kleine Schwestern. Ätzend.« Ätzend war ihr neues Lieblingswort. »Selber ätzend«, zischte Silke. »Wenn du dich so aufregst, dann guck halt nach, geh, such die Leiche«, spöttelte Petra. Dann packte sie die Türklinke mit den Worten: »Meine Damen, das Leichenschauhaus präsentiert« und wollte die Tür öffnen. Vergebens. Es war abgeschlossen. Nun war selbst Frau Oberschlau stutzig. Mutter schloß nie ab. »Wenn man mal dringend raus muß und dann nachts die Tür nicht aufkriegt« war einer ihrer Lieblingssätze, mit dem sie uns das Absperren verboten hatte. Deshalb war die verschlossene Tür merkwürdig. Das schien selbst Petra zu finden. Sie rüttelte, als
ob sie beim ersten Versuch einer Täuschung aufgesessen wäre. Nichts. »Der Mörder hat sich mit ihr eingesperrt«, heulte nun Silke. »Da siehst du es, wenn du schneller aufgestanden wärst, könnte sie noch leben.« Ich heulte sofort mit. »Blödsinn«, herrschte uns Petra just in dem Moment an, als die Tür von innen aufgeschlossen wurde. Wir traten alle instinktiv einen Schritt zurück. »Was macht ihr denn hier«, murmelte Mutter, die die Tür aber nur einen Spalt breit geöffnet hielt. »Du lebst ja«, jauchzte Silke, und selbst ich hörte sofort auf zu heulen. »Natürlich lebe ich, warum sollte ich denn tot sein; geht in eure Betten, wo ihr hingehört. Auf der Stelle.« »Aber Mutter«, bäumte sich Silke kurz noch mal auf. »Petra, bei den Kleinen lasse ich so was mal durchgehen, aber daß du mitten in der Nacht gegen meine Tür hämmerst, ist wirklich unglaublich. Wir sprechen uns morgen. Abmarsch in eure Betten.« Mit diesen Worten zog sie die Tür wieder zu. »Ich könnte kotzen«, brummte Petra. »Ich hasse sie, immer bin ich schuld. Wenn Vater nicht bald wiederkommt, verschwinde ich von hier.« »Kann ich dann dein Zimmer haben«, fragte Silke total ungeniert. Die wußte Situationen zu nutzen. »Mir doch egal«, antwortete Petra etwas überrascht. Silke und ihre schrägen Gedankenhopser brachten uns alle manchmal aus der Fassung. Kurz vor unserem Zimmer packte uns Petra an den Armen und sagte: »Eins, das merk ich mir: Ihr seid schuld. Ihr habt mich rausgeholt. Ätzend seid ihr. Total ätzend.« Sprach es und verschwand. »Mutter hatte kein Nachthemd an«, flüsterte Silke von oben aus dem Stockbett, als ich fast schon eingeschlafen war: »Hast du das gemerkt? Aber nackt war sie auch nicht, sie hat es sich
vorgehalten. Das heißt, die schläft nackt. Komisch oder?« redete Silke immer weiter. Es war aber auch eindeutig komisch. Mutter, die ständig davon sprach, wie schnell man sich besonders »da unten rum« verkühlen konnte, ausgerechnet die schlief nackt. »Vielleicht will es Vater nicht, und jetzt wo er weg ist, kann sie schlafen, wie sie will«, überlegte ich laut. »Quatsch«, protestierte Silke sofort von oben herab, »Männer wollen Nackte.« »Und Papa?« wollte ich wissen. »Papa ist auch nur ein Mann«, klärte mich Silke auf, und da konnte auch ich dann nicht mehr widersprechen. Am nächsten Morgen war die Laune von Mutter auf einem Tiefpunkt. Während wir frühstückten, hielt sie uns eine mittlere Predigt. Warum man nachts nicht in fremder Leute Zimmer rennt und daß die Nacht nun mal zum Schlafen da sei. Petra und ich ließen es einfach über uns ergehen. Petra, beleidigt wie sie war, sprach an diesem Morgen überhaupt nicht. Außerdem war Schweigen bekanntermaßen das schlaueste, wenn Mutter sich in Rage redete: einfach den Mund halten. Nur Miß Vorwitzig Silke schaffte es mal wieder nicht: »Wieso warst du nackig?« platzte es aus ihr heraus. Mutters Gesicht vereiste. Gefror. »Rede nicht so einen Unsinn«, schossen die Worte wie Giftpfeile aus ihrem verkniffenen Mund, Silke sah mich an. Um Unterstützung bettelnd. Ich schüttelte nur ganz schwach den Kopf. »Feigling«, sagte sie in meine Richtung, und es stimmte. Ich wollte nicht noch mehr Ärger. Petra, mit dem versiegelten Mund, sprang Silke allerdings zur Seite. Eine neue Allianz. »Ich hab es auch gesehen, du hattest nichts an«, kam es motzig aus ihrer Richtung. Sie hob nicht mal den Blick vom Teller, um diese Mitteilung zu machen. Jetzt wollte auch ich nicht zurückstehen. Silke war meine Lieblingsschwester. Die ließ
ich mir von Pickel Petra nicht abspenstig machen. »Stimmt«, schob ich deshalb in einem Anflug von Mut hinterher. Revolution beim Frühstück. Drei Aufständische. Wir ahnten, was kommen würde, und schauten betreten auf unsere Toasts mit Erdbeermarmelade. Mutter blickte einmal rundherum. Von Tochter zu Tochter. Und dann lachte sie. Die Hersler, bisher stumm beim Herdschrubben, drehte sich um und lachte mit. Erwachsene waren eine abstruse Sorte Mensch. Die beiden lachten noch, als wir zur Schule gingen. Wir waren erleichtert. Obwohl Mutter die Frage unbeantwortet gelassen hatte. Aber eine Mutter, die so selten mal fröhlich war, erneut zu verärgern, das war selbst Silke zu heikel. Zwei Nächte später ahnten wir langsam, wieso die beiden so herzhaft gelacht hatten. Wieder war es die hellhörige und schlecht schlafende Silke, die mich weckte. »Geh raus und hör selbst«, sagte sie, als ich knurrend weiterschlafen wollte. Ich schlich mich, irgendwie doch neugierig geworden, vors Zimmer und traf dort auf Petra. Auch sie war aufgewacht. Kein Wunder bei dem Gegrunze und Gestöhne. »Was ist das?« erkundigte ich mich ängstlich. »Verdächtig ist das«, antwortete sie. »Äußerst verdächtig. Aber sterben wird davon keiner.« Ich war ein wenig ratlos, und sie sah es mir anscheinend an. »Sex haben die da drin. Wer auch immer da drin ist, hat Sex mit unserer Mutter.« »Aber Papa ist in Italien«, stammelte ich nur. »Und?« zuckte Petra mit den Achseln. Mit einem »Sex kann man sogar alleine haben« ließ sie mich auf dem Flur stehen. Ich rannte zurück in unser Zimmer und trat so lange von unten gegen die obere Matratze des Doppelstockbettes, bis Silke entnervt aufgab. Tritte waren mein Signal für wichtige
Neuigkeiten. In aller Schnelle erzählte ich ihr. Silke hatte daraufhin die Idee, so lange im Flur zu wachen, bis irgend jemand aus dem Zimmer kommen würde. »Der wird da drin ja wohl nicht überwintern, und dann wissen wir Bescheid.« Der Plan gefiel mir, und ich fing mit der Nachtwache an. Wir hatten als Position eine winzige Nische gegenüber dem Badezimmer gewählt. Gegen halb zwei hörte ich eine Tür. Ich schreckte auf und drückte mich, so gut es ging, in die Ecke. Aus dem Schlafzimmer von Mutter kam die Hersler. In Unterhose. Einer hellblau geblümten Unterhose. Und sie ging in unser Badezimmer. Obwohl sie eigentlich, wie alle, die uns besuchten, das Gästeklo im Erdgeschoß benutzen sollte. Ich wußte wirklich nicht, wie ich das finden sollte, vor allem, weil Mutter, als Heike Kunopist aus meiner Klasse mal auf unser Klo gegangen war, die kleine Heike mit der dicken Brille, einen riesigen Aufstand gemacht hat. Von wegen »man weiß nicht, was andere Leute für Keime mit rumschleppen. Keime, die sich dann munter auf unserer Toilettenbrille vermehren.« War Mutter sicher, daß die Hersler keimfrei war? Meine Verwirrung legte sich erst, als wir drei, Petra, Silke und ich, uns am nächsten Tag in der großen Pause auf dem Schulhof berieten. Die Reaktionen waren sehr unterschiedlich; Silke jedenfalls war fast erleichtert: »Die Hersler übernachtet bei uns, damit sie nicht ständig so weit fahren muß. Und damit Mutter nicht allein ist. Die ratzen in einem Zimmer, so wie wir auch gerne in einem Bett schlafen. Zum Schwätzen.« Ein Erklärungsmodell, das mir sofort einleuchtete. Petra lachte nur spöttisch.
»Ihr seid ja wohl ätzend blöd. Das könnt ihr doch nicht ernst meinen. Kapiert ihr nicht, was da los ist? Mutter und die Hersler sind ein Paar. Mutter ist eine Lesbe. Die ficken zusammen. Traumhafte Familie: ein totes Baby, ein Vater in Italien und eine Lesbenmutter. Na bravo. Gut, daß ich bald weg bin aus diesem Sündenbabel.« Sprach es, drehte sich auf dem Absatz um und entschwand. In der nächsten Stunde hatte ich passenderweise Religion. Doch die Erlösung schien mir ferner denn je. Petras Worte donnerten mir durch den Kopf. Ein Sündenbabel. »Was ist eigentlich ein Sündenbabel?« nutzte ich die Gunst der Stunde und fragte den Fachmann, Kaplan Wermann, der sich bei jedem zweiten Satz die Oberlippe leckte. Mein Religionslehrer war überrascht. »Das ist momentan nicht unser Thema«, wollte er sich aus der Affäre ziehen. »Wer hat das zu dir gesagt«, wurde er dann aber doch neugierig. Zweimal fuhr seine Zunge blitzschnell über seine Oberlippe. Als habe er ein bißchen genascht und würde sich die leckeren Reste wegschlecken. Eklig sah das aus. Glitschig glänzend. Ein Chamäleon in Schwarz mit steifem weißem Kragen. Sein Kragen war so eng, daß ich oft Angst hatte, er könne uns mitten im Unterricht ersticken. Oder der Adamsapfel würde zerquetscht und die Reste über den Kragen spritzen. Nicht, daß Kaplan Wermann sonderlich beliebt gewesen wäre, aber Religion war ein Fach, in dem sich keiner von uns übermäßig anstrengen mußte. Eine Erholungsstunde, die so dahinplätscherte. Und da man nie wußte, wer folgen würde, wollten wir den Kaplan ruhig noch einige Schuljahre behalten. »Ich weiß nicht mehr«, log ich dem Herrn Kaplan ziemlich dreist ins Gesicht, aber hätte ich Petra verraten, hätte er sie garantiert ausgehorcht. Als Petze der Nation dazustehen und
außerdem Gefahr zu laufen, daß die ganze Schule mitbekam, daß meine Mutter anscheinend eine Lesbe war – diese Peinlichkeit wollte ich mir ersparen. Beim Lügen kreuzte ich sicherheitshalber die Finger auf dem Rücken, obwohl das bei einem Kaplan wohl wenig half. Aber bei meinem familiären Hintergrund waren meine Chancen, in den Himmel zu kommen, wahrscheinlich sowieso verschwindend gering. Ich war nun mal ein Lesbenkind mit einem gefallenen toten Bruder und einem Vater, der sich verpißt hatte. Da mußte ich Petra recht geben. Das tröstliche war, daß Petra und Silke keineswegs besser dastanden. Ob zu all den Dingen jetzt noch eine Lüge kam, war nun wirklich egal. Wenn schon Sünde, dann mit allem Drum und Dran. Wermann jedenfalls gab sich mit der Antwort zufrieden. So nah bei Gott, daß sie Lügen sofort erkennen konnten, waren Kapläne anscheinend nicht. Beruhigend. Menschlich. Er war mir fast sympathisch. »Kinder, aufgepaßt, wer weiß denn, was Babel ist?« ging er auf meine Erlösungsunterbrechung ein. Schweigen. Nicht mal Pia, die Fastheilige, die ihr Kommunionskleid noch Jahre nach dem Ereignis unter Folie im Kleiderschrank hängen hatte, meldete sich. »Babel ist hebräisch und steht für Babylon. Tor Gottes. Babylon war eine Ruinenstadt im alten Irak«, versuchte sich der Kaplan vorsichtig an den Sündenbabel heranzutasten. »Kelkheim hat doch auch eine Ruine«, schrie Rudi rein. »Sind wir hier auch ein Sündenbabel?« Rudi war eigentlich nicht sehr klug, hatte aber reiche Eltern mit Hallenschwimmbad, wo man ohne Bademütze schwimmen durfte und hinterher noch Karamalz bekam, soviel man wollte. Deshalb war Rudi ziemlich beliebt. Äußere Umstände konnten Dummheit doch sehr mildern. Diesmal erschien uns sein Einwand allerdings
gar nicht blöd und ließ uns alle zusammenzucken. Lebten wir, ohne es zu wissen, seit Jahren in einem Sündenbabel? Der Kaplan leckte eifrig. Petra nannte ihn zu Recht »Herrn Oberlippenaquaplaning.« »Kinder, Kinder«, versuchte er uns zu beruhigen: »Natürlich nicht. Nehmen wir mal an, Frankfurt, das ihr sicher alle vom Einkaufen kennt, wäre eine Stadt des babylonischen Reichs. Frankfurt mit all den Hochhäusern. Dann wäre Frankfurt ein Sündenbabel.« Jetzt wurde Annegret aber richtig fuchsig. Annegret, die sowieso schnell mal wütend wurde und in einem Tobsuchtsanfall schon das Poesiealbum von Marianne, die immerhin Klassensprecherin war, zerfetzt hatte. Um so was zu tun, mußte man schon einigermaßen Mumm haben. Schließlich war Marianne eine der beliebtesten Schülerinnen. Sogar bei den Lehrern. »Meine Patentante, Tante Hedwig wohnt in Frankfurt, und die ist keine Sündenbabelfrau. Das sage ich meiner Mutter, daß Sie das gesagt haben, und meiner Tante. Meine Mutter ist nämlich die Schwester von meiner Tante. Kennen Sie meine Tante, oder warum sagen sie einfach so Tante Hedwig ist eine Sünderin?« attackierte Annegret den Kaplan. Sie redete sich richtig in Rage. Wie jedesmal war sie auch diesmal kurz davor zu heulen. Annegret heulte, wenn sie sauer war. Und bekam rote Flecken am Hals und im Ausschnitt. Das mieseste aber war, daß Annegret auch gerne petzte. Und Dinge so drehte, wie sie ihr am angenehmsten waren. Wer es geschafft hatte, nach dem Anschlag auf Mariannes Poesiealbum ohne Strafe davonzukommen und fast noch selbst getröstet zu werden, den sollte man mit Vorsicht genießen, da waren sich alle in der Klasse einig. Selbst der Kaplan wirkte eingeschüchtert von Annegrets harschem Vorstoß. »Kinder, Kinder«, beschwichtigte er uns, »Annegret, meine Liebe, ich kenne
deine gute Tante Hedwig doch gar nicht, beruhige dich, Kind. Kehren wir doch lieber zurück zur Erlösung.« Nach der Schule hielten Petra, Silke und ich Kriegsrat. Unser Thema: »Was tun mit Mutter?« Petra war dafür, sofort Vater anzurufen und ihn nach Hause zurückzubeordern. Silke hielt alles für übertrieben, und ich wußte mal wieder nicht so recht. Sollte es wirklich stimmen, daß Mutter und Frau Hersler lesbisch waren? Hatte Vater dann nicht sogar die Schuld daran? Würde Mutter mit Frau Hersler, wenn Vater zur Verfügung stünde? Oder konnte man einer Frau überhaupt zumuten, mit einem Mann, na ja, das zu tun, einem Mann, der nicht mal sein Baby halten konnte? »Wenn wir anrufen und Papa sagen, was ist, dann kommt der doch erst recht nicht wieder. Dann bleibt der für immer da unten«, gab ich der aufgebrachten Petra zu bedenken. Sie guckte uns beide an, wurde seltsam blaß im Gesicht und sagte auf einmal ganz ruhig: »Dann bring ich mich um oder heirate.« Nach den letzten Monaten war ich mir nicht mehr sicher, was schlimmer war. Tot zu sein oder verheiratet. Wenn ich an Petras Kunzer dachte, erschien der Tod geradezu verlockend. Silke beendete unsere triste Runde mit den schlichten Worten: »Laßt uns heimgehen, ich habe Hunger.« Es gab Pfannkuchen mit Apfelbrei. Immerhin. Ein Lichtblick. Die Hersler mochte eine Lesbe sein, aber Pfannkuchen machen, das konnte sie. Und Apfelbrei auch.
9 Petra rief Vater nicht an. Statt dessen zog sie sich immer mehr zurück. Nachmittags nach den Hausaufgaben verschwand sie und kam fast nie pünktlich zum Abendessen. Natürlich gab es deshalb dann auch nahezu jeden Abend Krach mit Mutter. Unpünktlichkeit war etwas, was Mutter nicht duldete. Immer häufiger mußte Petra nun zur Strafe ohne Essen ins Bett. Manchmal schafften es Silke und ich, ihr noch etwas zuzustecken, aber es schien ihr fast egal zu sein. »Essen kann man sich abgewöhnen, es wird sowieso überbewertet«, kommentierte sie unsere Bemühungen. »Undankbare Ziege«, meinte Silke, und sie hatte, wie ich fand, wieder mal recht. Trotzdem bewunderte ich Petras dauerhaften Ungehorsam. Ihr fehlte jegliche Angst vor Strafe, und selbst Mutters legendäre Ohrfeigen ließen sie sichtlich kalt. Ihre Ignoranz und Konsequenz machte Mutter noch wütender, und sie richtete ihren Zorn auf Petras Schätzchen Kunzer. »Das ist sein Einfluß, meine Petra war vorher nicht so«, lamentierte sie häufig. Daß es nie ihre Petra gewesen war, sondern immer Vaters Petra, hatte sie wohl vergessen. Teiggesicht und Petra waren mittlerweile so was wie siamesische Zwillinge. Gingen sie nebeneinander, sahen sie aus, als wären sie aneinander festgewachsen. Eine Person mit zwei Köpfen. Sie fingen sogar schon an, sich ähnlich zu sehen. Leider war es aber Petra, die immer mehr zu Kunzer wurde. »Umgekehrt wäre für beide besser gewesen«, stellte Silke fest. Noch hatte Kunzer ein bißchen mehr Pickel und Petra das längere Haar; ihr Gang, ihr Geruch und ihr Gesichtsausdruck waren jedoch schon fast identisch. In den Pausen waren sie
miteinander verschlungen, daß der chinesische Staatszirkus seine Freude gehabt hätte. »Die Pubertät ist ein Kreuz«, stöhnte Mutter täglich, und die Lesbenhersler nickte immer unterstützend dazu. Was wir wirklich ziemlich frech fanden: Lesbe sein und sich über andere mokieren, das war ja nun die Unverschämtheit schlechthin. Seit der Geschichte nachts hatten wir alle Schwierigkeiten, normal mit der Hersler umzugehen. Es konnte nicht in Ordnung sein, lesbisch zu sein. Warum also sollten wir uns von dieser Frau sagen lassen, wie wir uns zu benehmen hatten? »Von mir aus soll die ruhig so sein, aber daß sie Mutter angesteckt hat, ist fies. Von selbst wäre Mutter bestimmt nicht auf die Idee gekommen. Sie war ja auch vorher keine Lesbe«, maulte Silke. »Wer weiß, wer angefangen hat«, gab Petra zu bedenken. Sie stand nun mal ungern auf Mutters Seite. Selbst in diesem Fall. »Wetten, deshalb mußte die Hersler auch bei den Chinesen weg. Sie hat die Chinesenfrauen angesteckt, und da sind die Männer sauer geworden«, war eine weitere These von Silke. »Die Hersler ist gefährlich, nicht mal die Chinesen sind mit ihr fertig geworden. Sie mußten sie aus dem Land schicken. So Angst hatten die vor ihr. Die ist eine richtige Staatsfeindin. Deshalb will die da auch nicht mehr hin. Weil sie gesucht wird. Vom Chinesen-FBI.« Für Silke war der Fall klar. Auch die Schuldfrage. »Affenhirnesserin und lesbisch, ist doch klar, wer da angefangen hat.« Petra sagte dauernd nur noch: »Wie ekelhaft. Das ist total ätzend und eklig. Aber sollen sie doch machen, was sie wollen. Ich mach auch nur noch, was ich will. Und sobald ich kann, bin ich weg.« Die machte es sich mal wieder leicht.
Ich hätte es vor meinen Schwestern nicht zugegeben, aber insgeheim stand ich auf Mutters Seite. Und auf der von Frau Hersler. Was sollte sie denn dann machen, wenn Vater sich nicht blicken ließ? War es nicht ihr Recht, sich jemanden anderes in ihr Bett zu holen? Mußte sie einsam bleiben, bis der Gnädigste wieder zurückkam? Der, der eigentlich gut daran getan hätte, dazubleiben und seine Frau zu trösten. Der schließlich an allen Schrecklichkeiten schuld hatte. Der der Auslöser für unser Unglück war. Warum kam Vater nicht wieder nach Hause? Warum ließ er uns so im Stich? Mutter zu fragen, traute ich mich nicht, doch als Oma mal wieder zum Mittagessen vorbeischaute, fragte ich sie. Natürlich nicht vor allen, sondern in meinem Zimmer. Sie reagierte unwirsch: »Kind, wenn ich wüßte, was da in ihm vorgeht. Dein Vater scheint mir zur Zeit sehr verwirrt, hoffen wir mal, daß es nichts Ernstes ist«, beendete sie das Thema sofort wieder. Zur Klärung hatte sie damit rein gar nichts beigetragen. Ich war noch mehr durcheinander als zuvor. Wieso etwas Ernstes, meinte sie eine Krankheit? »Ob er sie noch alle hat, hat die andeuten wollen«, erklärte mir Silke. Sie war, obwohl sie ja nur ein knappes Jahr älter als ich war, irgendwie gewiefter. Und sie bekam Brüste. Richtige Brüste. Es fiel mir kurz vor meiner Erdkundearbeit auf. Der, in der ich erstmals eine Vier schrieb. Und als ich sie entdeckte, waren sie schon größer als Petras. Vor allem gleich groß. Wie zwei Mandarinen mit einer kleinen Brustwarze drauf. Petra war total sauer, obwohl Silke wirklich kein bißchen mit ihren angab. Ich war überrascht, denn ich hätte hundertprozentig damit angegeben. Silke wollte sie überhaupt nicht. »Die nerven, beim Völkerball tut es viel mehr weh, wenn du abgeschossen wirst«, war ihr Kommentar. Völkerball war Silkes Leben. Wenn Silke nicht als eine der ersten gewählt wurde, war der Tag für sie gelaufen.
Völkerballsüchtig war die. Die ging sogar so weit, in der Pause Annegret aus meiner Klasse zu wählen, Annegret, die immer so schnell zornig wurde und die keiner richtig leiden konnte. Aber Annegret konnte eben Völkerball spielen. Massig, wie die war, blieb die stehen, egal wie man drauf ballerte. Für ihr Völkerball kannte Silke weder Freund noch Feind. Petra war nur noch am Glotzen. Vor Neid. Nicht nur, daß ihre kleine Schwester mehr hatte, die Dinger waren auch um einiges formschöner als ihre eigenen. Außerdem war durch Silkes schnellwachsenden Busen Mutters ständiger Trost: »Petra, das wird schon noch, Brüste brauchen auch ihre Zeit« deutlich widerlegt. Das ärgerlichste für Petra war aber die Tatsache, daß Silke offensichtlich kaum Interesse daran hatte. »Die braucht ihre nicht, und ich habe so scheppe Minidinger«, nölte sie rum. »Ich wüßte nicht, wozu du deine so dringend brauchst«, fuhr Mutter sie scharf an, als sie das Genörgel eines Morgens mitbekam. »Für ihren Kunzer«, flüsterte mir Silke zu, »zum Betatschen.« Der Gedanke, daß Teiggesicht meine Schwester an ihre schiefen Brüste faßte, war mir peinlich. Für meine Schwester. Nachher dachte der Kunzer noch, wir hätten alle so ein Vorderfrontungleichgewicht. Wir hatten es fast nicht mehr für möglich gehalten, aber nach knapp sechs Wochen kam Vater zurück. Eine Woche vor Weihnachten, braungebrannt und mit nagelneuen, cognacfarbenen Lederslippern. Silke und ich waren geschockt. Wir hatten nicht mit ihm gerechnet und deshalb natürlich auch kein Weihnachtsgeschenk. Nur Petra hatte etwas vorbereitet, insgeheim also immer auf seine rechtzeitige Rückkehr gehofft. Einen kleinen Bilderrahmen hatte sie bestickt, Kreuzstich in Meerestönen, vier verschiedene Blaus, und in den Rahmen
hatte sie ein Bild von Opa, Vater und sich selbst aus dem Sommer getan. »Wie soll das nun weitergehen«, rätselte Silke. »Wollen die jetzt da oben zu dritt schlafen, die Hersler, Vater und Mutter?« Ich war sicher, die Hersler würde ihren Platz schnellstens räumen und ich behielt, was selten genug vorkam, recht. Der Tag, an dem Vater wieder auftauchte, war denn auch der erste Tag seit Wochen, an dem die Hersler ihre asthmakranke Mutter wieder erwähnte. Die, wegen der sie jahrelang den Zug um 19.40 Uhr nach Seelenberg nehmen mußte. »Gell, es ist Ihnen doch recht, wenn ich mich schon aufmache, meine Mutti fühlt sich nicht so«, bat sie unsere Mutter. Wir hatten gedacht, die Mutter der Hersler hätte sich längst totgehustet nach all den Nächten, die die Hersler sie allein gelassen hatte und der Zug um 19.40 Uhr nach Seelenberg ohne sie gefahren war. »Da sieht man mal, so Asthmakranke sind zäher, als man denkt«, bemerkte Petra trocken in Mutters Richtung. Mutter zischte nur: »Petra«, Vater guckte irritiert, und die Hersler verabschiedete sich. Merklich kühler. Aber mit einem langen Blick zu Mutter. Einem flehenden, gierigen Blick. So, als wolle sie sagen: Ich fahre ihn persönlich wieder nach Italien, wenn du das willst! Du mußt nur ein Wort sagen, Regina. Es war ein Blick wie im Film, nur daß keine von beiden ein Mann war, was im Film nicht vorkam. Deswegen hatte die Szene auch was Bizarres. Wie bei einem Suchbild, unter dem steht: »Entdecken Sie den Fehler.« Er war offensichtlich. Ha, da kannst du schmachten wie du willst; jetzt ist Schluß, Pech gehabt, Lesbenhersler, hätte ich am liebsten gerufen, konnte es mir aber zum Glück verkneifen. Wir wollten ja Vater nicht sofort wieder vertreiben. Und bei aller Schuld, die Vater nun offensichtlich hatte, war es doch schön, ihn wieder zu Hause zu haben. Nicht nur wegen seiner Mitbringsel: neue
Traubensandalen für uns Mädchen. Mutter bekam keine. Wir waren beeindruckt: Traubensandalen im Winter aufzutreiben war sicherlich äußerst schwierig gewesen. Wir durften sie beim Abendessen probetragen. Meine waren dunkelblau mit rosa Perlen und Silkes bordeauxrot mit goldenen Perlen. Eindeutig mondäner. Erwachsener. Sogar als die von Petra. Ihre waren himmelblau mit silber. Vaters Lieblingsfarbe: himmelblau. Wie die Farbe des Stramplers, den das Baby angehabt hatte. Petras Sandalen erinnerten mich deshalb sofort an den Sturz und den kleinen Körper. Das Hellblau auf dem satten Grün des Rasens. Die Farben passen nicht, hatte ich damals auch kurz gedacht, irgendwas ist hier falsch. Das Abendessen war schön. Es war, als wäre nichts gewesen, als hätten Vater und Mutter stillschweigend abgemacht, friedlich miteinander umzugehen. »Dein Geschenk aus Italien bekommst du später, wenn wir beide allein sind«, lächelte Vater Mutter verschmitzt an, und trotz unseres Protestes – wir waren irrsinnig neugierig, was es wohl sein könnte – blieb Vater standhaft. »Bei manchen Geschenken sind Eltern lieber unter sich«, tat er besonders geheimnisvoll. »Alles wird gut«, sagte ich nach dem Essen beim Tischabräumen zu Silke und fühlte mich seit langem mal wieder so richtig glücklich. Ich war nicht nur herrlich satt, was mir immer ein gutes Gefühl machte, sondern auch Mitglied einer intakten Familie. An diesem Abend, bei diesem Abendessen, waren wir eine gewesen. Silke wirkte skeptisch, ihr Nicken kam zögernd. Petra nutzte die Gunst der großen Rundherumharmonie um wegzugehen. Und das unter der Woche. Eine Sensation. Aber Mutter hatte den Kopf so voll, daß sie nicht einmal nein sagen konnte. »Die ist dermaßen gespannt auf ihr Geschenk, daß sie vergißt, daß Petra abends eigentlich gar nicht raus darf«, staunte Silke. Mich wunderte,
daß Petra so erpicht darauf war, an Vaters erstem Abend wieder zu Hause auszugehen. Und das als Vaters Liebling. »Bedeutet das, daß sie Kunzer noch über Vater stellt?« fragte ich Silke, aber sie wußte es auch nicht sicher. Natürlich gab sie mir trotzdem eine Antwort. »Nein.« Silke war kein Mädchen, das einem eine Antwort schuldig blieb. Sie hatte immer eine. Aber wer sie gut kannte, konnte heraushören, ob sie sich sicher war oder etwas nur so dahersagte, um eben eine Antwort zu haben. In einem waren wir uns einig. Wir wollten auf jeden Fall mitkriegen, was Vater Mutter mitgebracht hatte. »Wir hocken uns in die Hersler-Nische und halten Wache«, planten wir gemeinsam. Die Hersler-Nische war die kleine Ecke, in der wir gehockt hatten, als wir Mutter und die Hersler erwischten. Dingen einen Namen zu geben, ihn zu erfinden, war ein Heidenspaß für uns. Das Tolle daran war: Je mehr sonderbare Namen wir aussponnen, um so umfangreicher wurde unsere Geheimsprache. Wir liebten es, uns bedeutungsvoll guckend Wörter und kleine Sätze zuzuwerfen, die für niemanden außer uns Sinn machten. Die Idee hatten wir aus einem alten Nesthäkchen-Band. Oder war es Pucki gewesen? Egal. Wir mußten nur knapp eine Stunde warten, bis Vater und Mutter ins Bett gingen. Schnell nahmen wir die Plätze in der HerslerNische ein und wurden für unsere strategische Planung belohnt. Instinktiv hatten wir geahnt, daß Vater seine große Geschenkeübergabe erst im Schlafzimmer starten würde. Ein Geschenk, das wohnzimmertauglich gewesen wäre, hätte er ja auch vor uns Kindern überreichen können. »Vergiß es, Richard«, war das erste, was wir hörten. »Was soll er vergessen«, fragte ich, aber Silke zischte nur: »Psst. Halt die Klappe.«
Vater bettelte: »Aber Regina, alles kann wiederkommen. Auch das Glück. Wir müssen es nur wollen.« »Da liegt das Problem, Richard. Ich weiß nicht, ob ich es will. Das Glück und dann noch das Glück mit dir. Ich bin überhaupt nicht mehr so ganz sicher, was ich will. Will ich das alles hier? Oder ein ganz neues Leben? Habe ich je gewußt, was ich will, oder mir nur eingeredet, ich wüßte es? Und vor allem, ich wollte es.« Das war Mutter. Wir schauten uns entsetzt an. Wir hatten mit einer heiteren Geschenkeübergabe gerechnet. Das hier klang nicht sehr verheißungsvoll. Eher wie ein unheilvoller Countdown in einem miesen Cowboyfilm. Mutter war in Fahrt gekommen. »Ich habe viel gelesen, Richard. Sehr viel. Ich hatte ja auch genug Zeit, als du weg warst. Erinnerst du dich an Sylvia Plath«, fragte sie Vater. »Natürlich, wer hat dir denn ihre Bücher geschenkt, sie dir ans Herz gelegt. Ich, oder hast du das auch vergessen, Regina?« Wie oft die beiden sich beim Vornamen nannten war komisch. Das taten sie sonst fast nie. Es gab dem Gespräch eine formelle Note. Eine Ernsthaftigkeit, die uns Angst machte. »Ich weiß, daß die Bücher von dir sind. Ich weiß, daß ich lange nichts damit anfangen konnte. All das weiß ich, auch ohne daß du es mir noch mal aufs Brot schmierst. Aber Richard, erinnerst du dich an den Satz von Sylvia Plath über das Leben. Diesen Satz: ›Warum kann ich nicht verschiedene Leben anprobieren wie Kleider und sehen, welches mir am besten paßt und steht?‹« Mutter machte eine Pause. Auch Vater schwieg. »Was willst du damit sagen, Regina? Ist dir unser Kleid zu eng geworden, willst du es einfach ausziehen und wegschmeißen?« Vaters klang empört. Ohne ihn zu sehen, wußten wir, wie er die Hände ineinander verdrehte. Das tat er, wenn er angespannt war. Sich ärgerte.
Mutter konterte sofort: »Sagt mir das der Mann, der genauso verfährt, wenn ihm eine Situation unangenehm ist? Der wie ein kleines Kind wegrennt, wenn es brenzlig wird. Bist du nicht derjenige, der wochenlang zu seinem Vater flieht und jetzt kurz vor Weihnachten wiederkommt, weil er darauf spekuliert, daß ihn in der allgemeinen Lebkuchengroßherzigkeit niemand kritisieren wird?« Bis zu diesem Abend hatten Silke und ich Monopoly für spannend gehalten. Das hier hatte eine andere Dimension. Eine Wanderung am Abgrund war das, ohne daß klar war, wer fallen würde, oder ob vielleicht sogar beide die andere, sichere Seite der Schlucht erreichen würden. »Ich mußte fahren, das weißt du, Regina. Aber, wie willst du ohne mich leben, welches Leben willst du anprobieren?« Vaters Frage klang scharf. Aber Mutter ließ sich nicht verunsichern: »Ich habe schon längst ein anderes ausprobiert, Richard. Es war genug Zeit während deiner Abwesenheit. Und ich sage es nicht um dich zu quälen, oh nein, dieses andere Leben hat viel Schönes gehabt. Sehr viel Schönes. Es hat mir gepaßt, würde Sylvia Plath sagen. Ja, es hat sogar sehr gut gesessen. Es war die perfekte Größe. Maßgeschneidert.« Silke hüstelte: »Mein Gott, sie sagt es ihm. Sie beichtet ihren Lesbenkram. Das ist das Ende.« Sie legte mir ihre rechte Hand, die kaum merklich zitterte, auf den Oberschenkel. Ich spürte die Kälte durch den Flanellanzug. Im Winter trugen wir nur Flanell. Und immer Schlafanzüge. »Nachthemden sind Unsinn, halten kein bißchen warm, verrutschen und sind dann komplett nutzlos«, war Mutters Meinung. Aber vielleicht auch nur damals. In einem anderen Leben. Mutter war nicht mehr die Frau, für die wir sie immer gehalten hatten. Liebte sie möglicherweise inzwischen sogar Nachthemden? »Welches andere Leben hast du anprobiert? Habt ihr abends warm und mittags kalt gegessen, war es das, das sogenannte
andere Leben?« kam es höhnisch und spöttisch von Vater. »Regina, was soll das ganze Gerede?« Er wurde langsam richtig ärgerlich. Mutter blieb ruhig, holte tief Luft und legte dann los: »Spar dir deinen Sarkasmus. Du wolltest es wissen, Richard, und du sollst es wissen. Hör gut zu: Ich habe mit Frau Hersler geschlafen. In unserem Bett. Nahezu jede Nacht. Sie ist eine grandiose Liebhaberin. Feinfühlig und wild. Wir hatten viel Spaß. Mehr als wir beide in den letzten Jahren. Vielleicht sogar mehr, als wir je hatten.« Das war eine Wortbombe. Eine fulminante, alles zerstörende Wortbombe. Es wurde still. Wir hörten unseren eigenen Atem und hätten zu gern Vaters Gesicht gesehen. Es dauerte einen Moment, bis er antwortete: »Du bist verrückt, Regina. Vollkommen durchgedreht. Das meinst du nicht ernst.« Mutter sagte nur: »Doch. Es ist mein Ernst. Alles.« Wir hatten Angst, er würde ihr etwas tun. Statt dessen rannte er, sein Plumeau unter den Arm geklemmt, raus aus dem Schlafzimmer, ganz dicht an uns vorbei, Gott sei Dank, ohne uns zu sehen, und die Treppe runter ins Wohnzimmer. » So frisch kastriert schlafe ich lieber hier unten«, schrie er mit zittriger, schluchzender Stimme. Mutter riß die Tür auf und schrie: »Das hast du ganz allein besorgt, der ist schon lange ab. Dafür kannst du mir die Schuld nicht in die Schuhe schieben. Um ihn abzuschneiden, hätte er dasein müssen!« Wir gingen ins Bett. Das Schauspiel hatte uns gereicht. »Wie fandest du den Satz?« Silke schnatterte los, bevor die Zimmertür noch richtig zu war. Weder sie noch ich konnten nach der Vorstellung an Schlafen auch nur denken. »Welchen Satz, den mit der Kastration?« mußte ich wieder mal nachfragen. »Nein, den mit den Leben von dieser Sylvia«, korrigierte sie. »Was für ein toller Gedanke: ein anderes Leben
anprobieren, testen, ob es einem vielleicht mehr behagt. Sag mal, welches würdest du gerne mal ausprobieren? Welches Leben?« Ich wußte, welches Eis ich gerne aß, Heidelbeere und Pistazie, und daß ich mal mit dem Flugzeug nach Amerika wollte, aber welches Leben ich wollte? »Das von Suzy Quatro, ich nehme das Leben von Suzy Quatro. Zu wissen, ich könnte ›Can the can‹ singen. Das wäre Wahnsinn.« »Von der Größe her wäre es keine große Veränderung«, kaum hatte ich meine große Verehrung offenbart, lästerte Silke los. Suzy Quatro war tatsächlich winzig, aber was daran so wichtig war, daß man ständig Witze darüber machen mußte, konnte ich nicht verstehen. »Allein ihre weißen Lacklederstiefel mit dem Overall in weißem Nappa. Selbst wenn ich nicht zurückkönnte: Ja, ich würde Suzy werden.« In Kopfspielereien, die dermaßen unwahrscheinlich waren, fiel es mir leicht, auch mal mutig zu sein. »Und du«, wollte ich nun auch wissen, »welches Leben willst du?« Silke war unentschlossen. »Ich hoffe, man kann ganz viele probieren, erst mal werde ich allerdings Rudi.« Da war ich platt. »Warum Rudi, willst du sehen, wie es ist, doof zu sein? Langt dir dein eigenes Doofsein nicht?« war meine Retourkutsche für ihr Gehetze über Suzys Winzigkeit. Silke war schon annähernd Rudi, denn sie reagierte überhaupt nicht. »Stell Dir nur vor, Einzelkind und tägliches Schwimmen ohne Badekappe. Du kriegst, was du willst. Obwohl du doof bist. Sicher finden Rudis Eltern ihn noch nicht mal doof. Wenn man nur einen hat, kann man ja nicht so vergleichen. Wie es ist, reich zu sein, das würde ich gerne wissen. Wie sich das anfühlt, immer die Taschen voller Geld zu haben.« Ob Rudi die Taschen voller Geld hatte, wagte ich zu bezweifeln. Aber nicht laut. Sollte Silke doch phantasieren wie sie wollte. Ich war enttäuscht, daß ihre Phantasie nur bis zu Rudi Ranninger
langte. Wenn man alles haben konnte und dann Rudi auswählte, war das, als würde man einen Joker einfach so verschleudern. Als würde eine wundervolle Fee im Eissalon sagen: »Nimm, was immer du willst, egal was es kostet«, und man nimmt ein gemischtes Eis mit drei Kugeln statt einem gigantischen Eisbecher mit Sahne, Früchten, Krokant und Likör. Oder war das bescheiden? Mutter sagte immer: »Haltet euch zurück. Man muß nicht immer beide Hände vorstrecken, wenn es etwas gratis gibt. Wohlerzogene Menschen tun so was nicht.« Andererseits, wohlerzogene Menschen gingen wohl auch kaum mit der Haushälterin ins Ehebett. »Könntest du es aushalten, wie Rudi auszusehen«, wollte ich von meiner Schwester wissen. Die Vorstellung, mit“ Rudis Gesicht durch die Welt zu gehen, war mir ein Grauen. »Was nützt dir das Geld, wenn du so aussiehst«, bohrte ich weiter. »Reiche können aussehen wie Scheiße, das macht nichts. Es wird auch keiner was über dich sagen, wenn du viel Geld hast. Geld macht schöner«, bemerkte Silke. Ich war unschlüssig. »Laß uns, wenn sie wieder da ist, Petra fragen, welches Leben sie gerne hätte«, schlug Silke vor. Wir warteten, bis sie wieder da war, rüttelten an ihrer Zimmertür, und nachdem sie mehrfach »Ätzend, was wollt ihr denn, ihr Nervensägen, haut ab« gemeckert hatte, gab sie auf. Wir erzählten ihr, was wir gehört hatten. Vom Leben ausprobieren bis hin zur Kastration. Alles, wie wir es in Erinnerung hatten. »Das ist das Ende, definitiv das Ende. Frohes Fest, kann man da ja nur sagen, schöne Weihnachten allerseits«, war ihre Reaktion. Bis Weihnachten hatten Silke und ich noch überhaupt nicht gedacht. »Siehst du«, meinte Silke nur. »War doch richtig, daß wir kein Geschenk für Vater gemacht haben.« In ihrer ersten Empörung wollte Petra sofort zu Vater rennen, »ihn ein bißchen trösten, die Hexe da oben macht den doch völlig kaputt. Die ist so fies. Gemein.« Mit Mühe
konnten wir sie davon abhalten. »Wenn du das machst, weiß er, daß wir gelauscht haben. Dann erzählen wir dir niemals mehr was«, drohte Silke. Petras Neugier war noch größer als ihr Mitgefühl, deshalb verzichtete sie. »Und, welches Leben würdest du dir aussuchen«, fragte Silke dann Petra. Ich tippte insgeheim auf irgendeine Schauspielerin mit Pfirsichhaut. Wie Farah Fawcett. Eine große Blonde mit aufregender Fönfrisur und garantiert gleich großen Brüsten. Ich an Petras Stelle hätte auf jeden Fall jemanden genommen, der keine Akne hat. Petra überlegte einige Minuten lang. »Na los«, drängelte Silke, »das kann doch nicht so schwer sein. Es war, als wollte sie sagen: Hat nicht fast jeder ein aufregenderes Leben als du?« »Ich hab’s«, richtete sich Petra in ihrem Bett auf, schüttelte ihr Kissen, um die Spannung noch zu erhöhen und blickte uns leicht grinsend an. »Ich will Michael sein, Kunzer.« Wir waren völlig aus dem Häuschen. »Kunzer, warum denn das«, erkundigte sich Silke irritiert, »der ist doch nicht mal reich. Der ist nichts. Nicht reich und nicht schön.« »Rafft ihr das nicht«, insistierte Petra, »wenn ich Kunzer bin, kann ich sehen, ob er mich liebt.« Ich war unsicher: »Was bringt es, ein anderes Leben auszutesten, wenn man dann doch wieder ganz nah an sich selbst dran ist? Dann kann man sein altes Leben ja gleich behalten.« Silke war anderer Meinung: »Es muß super sein, sich selbst von außen zu betrachten. Sich zuzusehen. Man könnte hören, was andere über einen denken. Wie man wirkt.« Wahrscheinlich war es das, was mir eben eher wenig reizvoll erschien. Ich wollte gar nicht wissen, was andere über mich dachten. Nachher war es etwas Schlechtes, und ich wäre mit Sicherheit sehr unglücklich darüber. Silke ließ sich nicht
verletzen. Ich mich schon. Oft hatten Leute, die an mir rumnörgelten, eigentlich sogar recht, und statt sie zu hassen, haßte ich mich dann meistens selbst noch etwas mehr. »Ich könnte dafür sorgen, daß er mich noch intensiver liebt. Daß er keinen Blick mehr auf andere wirft. Niemals. Daß er für immer nur mich will. Daß er das mit meinen Brüsten gar nicht merkt«, berauschte sich Petra an ihrer Kunzer-Idee. »Schade, daß es nur ein Gedankenspiel ist!« »Es gibt Menschen, die machen so was einfach, die probieren ein anderes Leben aus, guck dir Opa an«, warf ich ein. »Ist Opa etwa jemand anderer geworden, vielleicht John Travolta, oder was?« frotzelte Petra. »Es geht doch nur darum, alles Drumherum zu verändern«, versuchte ich, es Petra zu erklären. »Stimmt«, nickte Silke, »das ist es doch auch bei Mutter, das hat sie gemeint. Sie will niemand anderes sein. Sie will verschiedene Leben testen. Sehen wie sie wäre, wenn sie zum Beispiel woanders leben, mit anderen zusammen wäre« – »und keine Kinder hätte«, ergänzte Petra. Was hinterfotzig von ihr war, denn Mutter hatte niemals etwas in der Art gesagt. Auch als Lesbe mit der Hersler hatte sie sich immer um uns gekümmert. Wir waren nun wirklich kein bißchen verwahrlost oder so. Außerdem hatte Petra vom Gespräch zwischen Mutter und Vater nur durch uns erfahren, es war also ziemlich frech von ihr, jetzt so zu tun, als wäre sie selbst dabeigewesen. »Wie Opa – habe ich doch gesagt«, wiederholte ich meine These und lenkte damit, wie ich fand, ziemlich geschickt von Petras gehässigen Anmerkungen ab. Aber hatte Opa wirklich ein neues Leben angezogen und anprobiert? Oder hatte er dadurch, daß er Änni mitgenommen hatte, eben doch Teile seines alten Lebens angelassen? Wie einer, der sich nicht vollkommen ausgezogen, sondern heimlich die Strümpfe angelassen hat. Durfte nur der sein neues Leben genießen, der absolut mutig war? Gleich in die Vollen geht? Sollte Opa gezwungen
werden, ein wirklich anderes Leben zu probieren? Ohne Rückversicherung. War es demnach eine Art Vorsehung, daß Änni mit dem Bademeister geturtelt hatte? »Ihr nervt mit euren anderen Leben. Opa hat kein anderes Leben angezogen, er hat ‘ne andere Frau gebumst. Weiter nichts. Wenn ihr da was reininterpretiert: Schön, wenn’s euch hilft, es hat aber mit der Sache selbst herzlich wenig zu tun.« Petra nahm uns alle Illusionen. Und wie sie von Opa sprach. Respektlos. Andere Frau gebumst. Das war Gossensprache. »Unterste Schublade«, hätte Oma gesagt. Oder statt dessen einen Herzinfarkt bekommen.
10 Am Tag nach dem großen nächtlichen Knall war die Hersler weg. »Das war Vater«, zischte Petra, »er hat ihr gekündigt. Na, besser für sie. Besser ohne Arbeit als tot. Wenn ich mit der was gehabt hätte, ich glaube, der Michael hätte die umgebracht.« »Redet die von dem Michael, den wir kennen, von Teiggesicht Kunzer, dem pickeligen Schlappschwanz«, raunte mir Silke ungläubig zu und: »Liebe macht echt blind.« Mir tat es leid, daß die Hersler weg war. Lesbe hin, Lesbe her. Ich mochte ihre Scherze, wie die mit der Schneckenschleimsuppe, und vor allem konnte sie astrein kochen. Jetzt schon vermißte ich ihre Pfannkuchen. »Wo ist denn Frau Hersler?« traute ich mich, Mutter zu fragen. »Die kann nicht mehr kommen. Wegen ihrer Mutter. Das Asthma ist zur Zeit äußerst schlimm. Fast schon lebensbedrohlich, neulich wäre Frau Hersler senior beinahe erstickt.« Mutter rollte theatralisch mit den Augen. Was für eine miese Ausrede sie sich da für uns ausgedacht hatte. Wochenlang lebte die Hersler seelenruhig im Haus, Tag und Nacht, und mit Vaters Wiederkehr nimmt das Asthma von Frau Herslers Mutter so dramatische Züge an, daß sie nicht mal mehr tagsüber kommen kann? Kontrollierte am Ende das Asthma von Frau Hersler senior unser Familienleben? Waren Vater und Frau Hersler senior auf magische Art und Weise verbunden? Mutter guckte, als wüßte sie genau, daß wir ihr nicht glaubten, aber ihr Blick machte deutlich, daß sie uns empfehlen würde, so zu tun, als ob wir ihr glaubten. Es
funktionierte. Wir hielten den Mund und gingen freiwillig sogar früher in die Schule. Das Mittagessen war eine positive Überraschung. Nudelauflauf, der außen eine tolle Kruste hatte und innen drin richtig schön matschig war. Mit reichlich Kochschinken. »Wer hätte Mutter das zugetraut«, flüsterte Petra und lud sich eine weitere Portion auf den Teller. Mutter leistete uns Gesellschaft. Nachdem wir ihr das Neuste aus der Schule erzählt hatten, daß Rudi Ranningers Eltern jetzt sogar eine Kühltruhe mit verschiedenen Eissorten am Pool hatten, war die Tagessensation und daß eine aus Petras Klasse, Silvia Wartkling, beim Stehlen im Edeka erwischt worden war, offenbarte uns Mutter eine weitere Neuigkeit: »Tja Kinder, es ist also so: Vater wird für eine Weile nicht hier wohnen. Er zieht zu Onkel Rudolph, dem geht es zur Zeit nicht so und da will Papa ihm natürlich zur Seite stehen.« Wir schauten betreten auf unsere Tischsets. Geflochtene Bastmatten in einem satten Orange. »Hat der auch saisonweise Asthma«, schrie Petra. Mutter anzuschreien war neu in dieser Familie. Das hatte sich bisher niemand getraut. Mutter erhob sich langsam von ihrem Platz, holte aus und pfefferte Petra eine gewaltige Ohrfeige. »Frollein, auch wenn du meinst, du wüßtest alles besser, mußt du dir eines merken: Petra, nur weil du in irgendeiner dunklen kleinen Ecke mit irgendeinem Straßenjungen geknutscht hast, kannst du noch lange nicht entscheiden, was in einer Ehe gut und was böse ist. Und vor allem: wer gut und wer böse ist. Wenn ich sage; Papa muß zu Onkel Rudolph, dann muß Papa zu Onkel Rudolph. Ist das schwer zu verstehen?« Mutter keifte in einem Ton, der nicht nach Diskussion rief. Wir mußten uns eben damit abfinden, daß es bei uns ein bißchen zuging wie bei den zehn kleinen Negerlein. Nur das wir nicht zu zehnt waren
und nicht braun, nicht mal sonnengebräunt. Aber auch wir wurden immer weniger. Zum Frühstück war die Hersler weg, zum Mittagessen Vater, ich war gespannt, wen es abends erwischen würde. Und tatsächlich, abends fehlte Petra. »Sie will nichts, da habe ich sie auf ihr Zimmer geschickt. Um über alles mal nachzudenken«, sagte Mutter. »Oh, schade«, kommentierte Silke, »ich dachte, ich krieg’ endlich ihr Zimmer.« Mir war das alles, was da in unserem Haus vor sich ging, schrecklich peinlich. »Was soll ich denn sagen, wenn mich einer fragt«, nervte ich Mutter. »Was du willst«, antwortet sie lakonisch. »Erst das gefallene Kind, dann Opas Auferstehung und jetzt Vaters Rückzug. Was hier vor sich geht, wundert niemanden mehr. Es kommt auch nicht mehr darauf an. Vielleicht nehme ich mir bald noch einen Liebhaber, um alles abzurunden«, versuchte sie einen Scherz. Ich war mir nur nicht sicher, ob es ein guter Scherz war. Vater kam am nächsten Tag zum Mittagessen: Mischgemüse, Frikadellen und Kartoffeln, ein bißchen trocken, aber schmackhaft. Schmackhaft war ein Wort von Tante Billy. Ein lustiges, altmodisches Wort, das mir sehr gefiel. Vater wollte uns beruhigen: »Keine Sorge, Kinder, Weihnachten bin ich auf alle Fälle hier, aber zur Zeit geht es eurem Onkel Rudolph schlecht, und deshalb ist es wichtig, daß ich dort bin und ihm zur Seite stehe.« »Aber wir brauchen auch jemanden, der uns zur Seite steht«, jammerte Silke. »Ihr habt nicht nur eure Mutter«, bemerkte Vater mit einem nervösen Seitenblick auf Mutter, »ab übermorgen wird außerdem Helene Pitzhammer dasein und Frau Herslers Aufgaben übernehmen.« Welch eine aufregende
Neuigkeit. Helene Pitzhammer, wie das klang. »Wie ist sie«, rief Silke, »alt oder jung, hübsch oder häßlich, streng oder lieb, ernst oder lustig? Habt ihr ein Foto?« »Ich fürchte, ihr müßt euch gedulden, übermorgen könnt ihr sie selbst begutachten«, machte uns Vater nur noch neugieriger und hatte damit äußerst geschickt abgelenkt. »Nur eines noch, Kinder«, sagte er in sehr ernstem Ton, kurz bevor er zurück ins Labor ging, »tut mir den Gefallen und sagt Oma nichts davon, daß ich zur Zeit nicht hier, sondern bei Onkel Rudolph wohne. Er möchte nicht, daß sie mitkriegt, daß er so seine Probleme hat. Ich verlasse mich auf euch.« Der arme Onkel Rudolph. »Onkel Rudolph ist doch nur vorgeschoben. Mit dem ist nix, da geht’s nur um Vater und Mutter. Vater ist weg, weil Mutter ja jetzt eine gemeine Lesbe ist. Ganz schön nett von ihm, daß er das auch noch verschleiert und Mutter vor Oma schützt«, knallte mir Petra an den Kopf, als ich laut darüber spekulierte, welche Probleme Onkel Rudolph wohl haben könnte. »Nie«, empörte ich mich, »so würden sie uns niemals anlügen. Du bist negativ, ätzend.« Es waren schließlich unsere Eltern und nicht irgendwelche verschlagenen Rumtreiber. Aber so war Petra nun mal. Sie nutzte jede Gelegenheit, um Mutter ein paar reinzuwürgen. Der nächste Tag verging schnell. Wir rätselten, was für ein Typ die neue Frau Hersler, Helene Pitzhammer, sein würde. »Klingt kuhäugig und sanft«, befand Silke in ihrem radikalen Optimismus. »Katholisch, spindeldürr und trotzdem lahmarschig«, war mein Tip. Petra hielt sich zurück. »Lang bin ich eh nicht mehr hier, was interessiert mich also eine Frau Pitzhammer«, demonstrierte sie Desinteresse. Mutter, die wir fast stündlich befragten, hielt sich sehr bedeckt. »Sie ist eine
patente Person«, war das einzige, was wir ihr entlocken konnten. Viel mehr ließ sich auf den ersten Blick auch nicht über sie sagen. Träume von Mary Poppins würde sie nicht erfühlen, das sah man sofort. Frau Helene Pitzhammer hatte eine freundliche Ausstrahlung, aber ohne einen Funken Energie oder Witz. Sie sah nicht aus, als würde sie oft lachen. Und verdammt jung war sie. »Die ist doch höchstens zwanzig«, meinte Petra nach einer ersten Musterung. Sie wurde uns beim Mittagstisch vorgestellt, und ohne daß Mutter ihr irgend etwas erklären mußte, ahnte Frau Pitzhammer, in welche Schränke was gehörte. Wir hatten kaum aufgegessen, da war schon alles weggespült. Nachdem die Küche tiptop war, stellte sie sich vor: »Pitzhammer, aber man nennt mich gemeinhin Pizzi. Ihr könnt auch Pizzi zu mir sagen. Wir werden auskommen.« Nur auskommen. Sie hatte nicht gut auskommen oder prima auskommen gesagt, sondern nur: auskommen. »Unheimlich ist mir die, außerdem hat sie riesige Hände. Wie Teller. Und so rissig. Ich mag die nicht«, erklärte Silke noch am gleichen Tag. Silke entschied sich bekanntermaßen schnell, aber nie endgültig. Ich wollte abwarten, ob sie kochen konnte und sie anhand ihrer Pfannkuchen beurteilen. Insgesamt bot sie wenig Angriffsfläche. Sie war irgendwie eine »weder noch.« Petras Meinung verwunderte uns. »Ich denke, sie gefällt mir«, befand sie. »Wieso denn das?« fragte Silke, aber Petra beließ es bei ihrer schlichten Sympathiebekundung. Pfannkuchen konnte sie nicht besonders. »Wegen ihrer riesen Hände«, hetzte Silke, »da fehlt das Feingefühl. Ätzend.« Jetzt fing die auch noch an, ständig ätzend zu sagen! Was große Hände und Feingefühl mit Pfannkuchen zu tun hatten, verstand ich nicht. Pizzis Essen war in Ordnung, aber nicht spektakulär.
»Eßbar«, sagte Silke und betete abends für Frau Herslers Rückkehr. Ich fand Pizzi war wie ihr Essen. In Ordnung, aber weiter nichts. So sah sie auch aus. Immer adrett, aber nie schick. Oma war ganz angetan. Pizzi gefiel ihr um einiges besser als Frau Hersler. »Ein so junges Ding kannst du doch noch formen, das ist was anderes als diese aufsässige Frau Hersler«, freute sich Oma, »mit dieser Pizzi, das ist ja fast wie damals mit den schwererziehbaren Mädchen, die statt in die Besserungsanstalt in die Haushalte von feinen Familien kamen. Die durften nicht mucken, sonst mußten sie in die Anstalt. Was die gesprungen sind, so was gibt’s heute nicht mehr. Leider. Es waren halt doch ganz andere Zeiten.« Mutter kicherte leise. Eine ungebührliche Reaktion, wie man an Omas Blicken ablesen konnte. »Ein schwererziehbares Mädchen hatte ich schon, ein älteres, sehr schwer erziehbares«, gickelte Mutter albern. Oma war verwirrt. Schließlich wußte sie von den wilden Lesbenspielen in unserem Haus nichts. Mutter nahm sich von Monat zu Monat mehr raus. Ihre Angst vor Oma schien zu schwinden, und Oma bemerkte das natürlich. »Was soll denn das?« herrschte sie Mutter an. »Das war ein Witz nur für mich, nicht für Schwiegermütter, ein kleiner, intimer, persönlicher Witz«, antwortete Mutter, immer noch mit einem leichten Glucksen in der Stimme. »Andere trinken einen, ich mache mir meine gute Laune im Kopf«, strahlte sie Oma an. »Ich muß mich doch sehr wundern«, meckerte Oma kopfschüttelnd und wirkte dabei nicht verwundert, sondern richtig sauer. Daß Vater nicht mehr bei uns wohnte oder wie Mutter sagte, zur Zeit nicht bei uns wohnte, merkte Oma nicht. Wieso auch? Wenn sie abends überraschend auf einen Sprung vorbeikam, behauptete Mutter, Vater hätte noch im Labor zu tun, und damit gab sich Oma zufrieden.
Wahrscheinlich hätte Oma nie etwas mitgekriegt, wenn nicht Silke Vater verraten hätte. Nicht daß sie direkt bei Oma gepetzt hatte. Das würde Silke nicht tun. Aber sie hatte ihre Hausaufgaben nicht gemacht, mehrfach, und dann bei den Lehrern die Mitleidsmasche abgezogen. »Ich kann mich nicht mehr konzentrieren, mein Vater hat uns verlassen. Ich muß immer an ihn denken und viel weinen.« Frau Bruckling, ihre Klassenlehrerin, eine ältere Frau mit zu tiefer Stimme und leicht lilastichigem Haar sprach Petra und mich in der Pause darauf an. »Stimmt denn das mit eurem Vater, diese schreckliche Geschichte?« Ich habe versucht, ihr die OnkelRudolph-Variante, die offizielle, unterzujubeln, aber Petra hat einfach nur gesagt: »Ja. So ist es. Vater ist weg. Einfach weg und hat uns sitzengelassen. Er konnte nicht anders.« Damit war meine Version natürlich hinfällig und die Lehrer alarmiert. Schon am nächsten Tag nahm mich meine Klassenlehrerin Frau Firscher beiseite: »Willst du mir irgendwas erzählen«, fing sie harmlos an. Frau Firscher anzulügen war schwer. Sie hatte einen dermaßen eindringlichen Blick, und wenn sie einem in die Augen schaute, war das wie eine Art Hexenzauber. Ein Wahrheitsserum, das aus ihren tiefgrünen Augen hervorschoß, einen erwischte und zwang, alles zu sagen. Die Firscher hatte Augen wie eine Katze. Und in ihrem linken Auge war so ein winzig kleiner, dunkler Fleck. Genau in der Mitte. Neben der Pupille. Wie eine kleine Ersatzpupille. Ulkig. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Aber die Firscher war eh eine besondere Person. Sie trug immer Jeans. Immer. Im Winter, im Sommer, wahrscheinlich sogar an Weihnachten. Hat sie jedenfalls behauptet, als der Ranninger sie mal frech gefragt hat. »Tragen Sie auch Weihnachten und im Bett Jeans?« hatte er in einer Deutschstunde zwischendrin wissen wollen. Obwohl wir gerade über den Genitiv gesprochen hatten. »Vom Genitiv auf Frau Firschers Jeans, bei dem muß ja
voll ‘ne Schraube locker sein«, hatte Marianne, unsere Klassensprecherin, gemeint, und die meisten fanden das auch. Aber weil Rudi dabeistand, verteidigten wir ihn. Wir wollten eben alle mal wieder zum Schwimmen eingeladen werden. Frau Firschers Augen stierten. Die Zweitpupille glänzte, und ich wußte nicht, was ich tun sollte. »Ich will nichts dazu sagen«, war alles was ich stockend rausbrachte, denn ich wollte weder Vater verraten noch Mutter in Schwierigkeiten bringen. Hoffnungsvoll guckte ich Frau Firscher an, aber, wie erwartet und befürchtet, gab die sich mit dieser Ausredeantwort nicht zufrieden. »Kleine, wovor hast du denn solche Angst«, fragte sie. Ich senkte den Blick, um dieser Glitzerpupille zu entgehen. »Ich will halt nicht darüber sprechen«, blieb ich standhaft. Frau Firscher, die auf ihre sanfte Art meist alles erreichte und selbst die größten Rabauken gut im Griff hatte, gab auf. »Gut, wenn sich was ändert und du reden willst, sage es mir. Du weißt, ich will dir nur helfen. Es gibt nichts, wofür man sich schämen muß.« Die hatte leicht reden. Ich nickte und verdrückte mich, so schnell ich konnte. Nichts, wofür man sich schämen muß. Wer hatte denn die getrennten Eltern? Sie oder ich. Wer hatte die Lesbenmutter und den toten Bruder? Ich und nicht die Firscher. Die hatte gar keinen Mann, und ob sie einen Bruder hatte, wer wußte das schon? Wie konnte mir so eine helfen? Wie wollte die wissen, wie man sich fühlt, wenn um einen herum alles wegbröckelt? Es war noch nicht einmal so, daß ich wirklich unglücklich war. Ich mußte nicht ständig weinen oder so. Es war nur ungewohnt, und es war falsch. Da war ich mir sicher. Es mußte falsch sein. Sonst würden es ja mehr Leute machen. »Kinder von Eltern, die geschieden sind, denen geht es doch genauso wie uns«, meinte Silke. Allerdings hatte mir Marianne, die Klassensprecherin aus unserer Klasse, erzählt, daß die Eltern von ihrer Kusine Julia geschieden sind und Julia
das total gut fände. »Die geht am Wochenende zu ihrem Vater und der macht tolle Sachen mit der. Manchmal gehen sie in den Zoo, manchmal ins Kino und sogar in Filme ab zwölf, obwohl Julia erst elf ist. Stell dir das mal vor! Und Weihnachten kriegt die viel mehr als ich. Letztes Jahr Rollerskates und Skier. Ich wollte, meine Eltern würden sich scheiden lassen. Mein Vater ist doch eh nie da«, überlegte sie laut. »Außerdem hat da jeder Mitleid mit dir und alle verzeihen dir alles, weil sie denken, du bist ein armes Scheidungskind. Habe ich gehört, als meine Mutter mit meinem Vater über Julia gesprochen hat. Scheidungswaise, haben die gesagt. Und man müßte sich mal kümmern um die arme Kleine. Wenn die wüßten. Julia ist kein bißchen unglücklich. Die gibt noch voll an mit ihren geschiedenen Eltern. Und wenn wir uns streiten, dann kriegt die immer recht. Laß doch, Marianne, denk doch mal dran, was deine arme Kusine mitgemacht hat, so redet meine Mutter dann. Und Julia grinst blöd. Die kann auf Kommando heulen. Aber die Alten raffen das nicht.« Ich war unschlüssig. Richtig geschieden waren Mutter und Vater halt nicht. »Kriegen wir trotzdem doppelt Geschenke«, fragte mich Silke kurz vor Heiligabend, »was glaubst du?« Ich hatte keine Ahnung, woher auch. Familien, in denen es so war wie bei uns, kannte ich nicht. Daß wir Weihnachten zusammen feiern wollten, gefiel mir. Petra hätte am liebsten mit Kunzers Familie gefeiert, aber das ging Mutter entschieden zu weit. »Du drehst ja wohl langsam komplett durch«, fuhr sie Petra an: »Weihnachten findet hier statt, wie immer. Wenn Vater und Onkel Rudolph kommen, wird es auch für dich möglich sein oder, Petra?« Petra ahnte, daß Gegenwehr zwecklos war und heulte statt dessen. Kunzers wären viel netter und hätten sie vor allem auch gern. Mutter schien zu erschrecken, nahm Petra in den Arm und streichelte ihr sehr zärtlich über den Kopf. Es sah
komisch aus, weil sie das so selten machte. »Meine Große, ich hab dich doch auch lieb, es ist nur alles so verworren, nimm es mir nicht übel, ich liebe dich.« Mich durchfuhren auf Anhieb heftige Neid wellen. Mutter zeigte ihre Zuneigung nur sehr selten, und das war mehr als irgend jemand, vielleicht mit Ausnahme des gefallenen Babys, in den letzten Jahren von ihr gehört und genossen hatte. Und das für Petra, die eigentlich auf Mutter immer nur rumhackte. Petra heulte auf wie eine Wölfin, die in eine riesige metallene Schnappfalle getreten ist, und kuschelte sich an Mutter. Silke und ich standen betreten dabei. »Kommt mal alle her«, rief Mutter, und unbeholfen umarmten wir uns zu viert. Es fühlte sich schön an. »Es kommt schon wieder alles in Ordnung, meine Mädchen, alles wird wieder«, beteuerte Mutter, und Petras Schluchzen ebbte langsam ab. Es war einer der himmlischsten Momente überhaupt. Wir hatten das Gefühl, eine Familie zu sein. Trotz allem. Als Pizzi ins Wohnzimmer trat, um Staub zu saugen und anschließend das Parkett zu wischen, leicht feucht nur, war sie überrascht. »Störe ich?« erkundigte sie sich. »Pizzi, komm rein, alles wird doch gut«, erwiderte Mutter. Pizzi hatte zwar mit Sicherheit bemerkt, daß Vater nicht im Haus schlief, aber wir wußten nicht, ob und was Mutter darüber zu ihr gesagt hatte. Was also sollte Pizzi jetzt mit Mutters Satz: »Alles wird gut« anfangen? Pizzi warf den Staubsauger an und löste damit unsere kleine Gemeinschaft schnell wieder auf. »Weihnachten steht unter einem guten Stern«, waren sich Silke, Petra und ich nach diesem unglaublichen Umarmungsmorgen sicher.
11 Wieder mal regnete es am Morgen des 24. Dezember. »Lieber Gott, wir wollten Schnee, nicht Regen, was ist da mit unserer Bestellung passiert«, beschwerte sich Silke beim Frühstück. Ansonsten hatte der Tag aber herrlich angefangen. Vater war da und hatte frische Brötchen mitgebracht, und nach dem Frühstück wollte er mit uns Kindern den Baum holen. Es gab eine kleine Lichtung im Hochtaunus, kurz hinter dem Sandplacken, wo wir jedes Jahr unseren Tannenbaum schlugen. So war der Baum ein bißchen billiger, was aber nicht ausschlaggebend dafür war, daß wir immer wieder hier unseren Baum kauften. »Es ist anders, wenn man ihn selbst aussucht und schlägt«, war Vaters Meinung, und Mutter fand die Bäume besonders gut gewachsen. Wir liebten diese Fahrt hoch zum Sandplacken, die unzähligen Kurven, die der Mercedes sanft und elegant nahm. Den größten Spaß aber machte es im Schnee. Wenn wir, während Vater den Baum mit der Axt fällte, uns mit Schnee einrieben und zum Schluß von dem kleinen, dicken Mann mit den strähnigen Haaren, der die Bäume verkaufte und dem die Lichtung zu gehören schien, einen Kinderglühwein bekamen und uns regelmäßig mit dem ersten Schluck die Zunge verbrannten. Jahr für Jahr. Jahr für Jahr beteuerte der kleine dicke Mann auch immer wieder, daß in dem Kinderglühwein keinerlei Alkohol sei, und zwinkerte uns dabei zu. Jahr für Jahr fühlten wir uns dann schrecklich erwachsen und merkten sofort, daß natürlich Alkohol drin war. Das war das Aufregende. Wir wußten, das es auch Vater wußte, und mochten sehr, daß er es nie sagte. Bei der Auswahl der Tanne halfen wir immer mit. Mutter war sehr wählerisch. Unter einer Edeltanne tat sie es nicht. Wenn wir, aus einem
mitleidigen Moment heraus, eine etwas schiefe oder gakelige Tanne nach Hause brachten, war das gesamte Fest in Gefahr. »Es zerstört das Gesamtbild«, pflegte Mutter zu sagen, »wenn alles schön ist, will ich keinen mickrigen Baum.« Silke kämpfte trotzdem jedes Jahr für irgendeinen Kümmerling. »Wenn wir den nicht nehmen, dann wird er nie geschmückt in irgendeinem Wohnzimmer stehen«, war ihr Argument. Sie konnte herumjammern, als ginge es um ein armes Waisenkind und nicht um einen Baum. In diesem Jahr entschied Vater ganz allein. »Die oder keine«, sagte er, und wir alle waren sofort begeistert. Es war ein riesiger Baum. Bestimmt drei bis vier Meter hoch. »Wir werden neuen Schmuck brauchen«, gab Petra zu bedenken, »das, was wir haben, langt da nie.« Aber Vater hatte schon ausgeholt und wenn man einen Baum anschlug, mußte man ihn auch nehmen. So waren die Regeln, auf deren Einhaltung der kleine, dicke Mann genau achtete. Jedes Jahr wieder erzählte er uns zur Begrüßung die Geschichte von der Familie aus Offenbach, die fünf Bäume angeschlagen hatten, um dann keinen zu kaufen. »Ich hätte sie anzeigen können, es wäre mein Recht gewesen«, war immer der feierliche Schlußsatz, »aber wer macht so was schon am Morgen des Heiligen Abend.« Vater lobte dann jedes Jahr seine Großherzigkeit, und der kleine Mann freute sich. Unser diesjähriger Baum ging kaum aufs Autodach. Er ragte nicht, wie sonst, nur nach hinten, sondern auch nach vorne über. »Eine gute Wahl«, bewunderte der kleine dicke Mann wie jedes Jahr unseren Kauf. Und wie in jedem Jahr antwortete Vater: »Bei Ihnen kann man ja keinen schlechten Baum erwischen, bis nächste Weihnachten dann.« Wir winkten bis hinter die erste Kurve. Auf dem Heimweg hielten wir in Königstein und aßen dort unsere alljährliche Linsensuppe. Beschwingt vom angeblichen Kinderglühwein und gestärkt von der sämigen Linsensuppe
wagte Silke die Frage: »Wann ziehst du wieder zu uns?« Mein Gott, dachte ich nur, wird das gut gehen oder unseren wundervollen Morgen kaputtmachen, alles vermiesen? Es ging glatt. Vater wurde kein bißchen böse und meinte: »Kommt Zeit, kommt Rat, Silke, es wird sich alles finden. Sorgt euch nicht so, ihr kleinen Mäusezwerge.« Zum Glück unterließ die hartnäckige Silke jegliche Nachfragen und gab sich mit Vaters Antwort zufrieden. »Mäusezwerge« sagte Vater nur in absolut entspannten Momenten, und wir hatten den Ausdruck lange nicht mehr gehört. Traditionell schmückten bei uns die Frauen den Baum. Mutter und wir. Danach ging es immer in die Kirche. Seit dem Tod des Babys war niemand außer mir mehr in der Kirche gewesen. Ich mußte, denn wer sich Sonntagsmorgens nicht regelmäßig blicken ließ, so kurz nach der Erstkommunion, konnte die Firmung vergessen. Da waren die knallhart in unserer Gemeinde. »Für die paar Geschenke muß man ganz schön Zeit opfern«, hatte sich Petra beschwert. Wir wären sowieso alle viel lieber evangelisch gewesen. »Konfirmation ist tausendmal besser, die kriegen Stereoanlagen mit Plattenspielern und manche sogar ein Mofa, ich habe ein doofes Nagelnecessaire bekommen. Ätzend«, reklamierte Petra. Das Nagelset, Feile und diverse Scheren, war für Petra wirklich ein albernes Geschenk; schließlich kaute sie dermaßen Nägel, daß zum Schneiden, geschweige denn Feilen nichts mehr übrig war. Was sie allerdings immer unterschlug, war die Uhr, die sie von Oma bekommen hatte. Eine richtig tolle Uhr, mit römischen Ziffern und einem Eidechsenarmband in Mitternachtsblau. Der kleine Knopf zum Aufziehen hatte einen echten Saphir drin. Sehr klein, aber trotzdem. Silke und ich hatten ihr sogar Geld geboten, um die Uhr einmal in der Schule tragen zu dürfen. Aber in solchen Dingen war Petra
ekelhaft geizig. »Die Uhr ist mir«, lehnte sie unser Angebot kategorisch ab. Da ließ die nicht mit sich reden. Pizzi war über Weihnachten weggefahren. Wir hatten ihr angeboten, mit uns zu feiern, aber Weihnachten schien nicht ihr Thema zu sein. Ziemlich brüsk beschied sie uns: »Weihnachten findet für mich nicht statt.« »Bist du doof?« wollte Silke entgeistert wissen. Das war sicherlich ein wenig frech von ihr, aber Weihnachten freiwillig nicht zu feiern war für uns Kinder der pure Wahnsinn. »Doof ist derjenige, der andere doof nennt«, sagte Pizzi und wendete sich ab. Es war, als hätte sie solche Kommentare schon häufiger gehört. »Und früher?« konnte sich Silke nicht beherrschen, »habt ihr da auch kein Weihnachten gefeiert?« »Nein, nie«, antwortete Pizzi, »niemand in meiner Familie tut das. Trotzdem wünsche ich euch und euren Eltern ein schönes Fest«, verabschiedete sie sich dann relativ eilig. »Kriegst du dann auch keine Geschenke«, schrie Silke noch hinter ihr her, aber Pizzi war mit ihrem abgegriffenen dunkelgrünen Handkoffer, der von einem Ledergürtel zusammengehalten wurde, schon um die Ecke. »Wo geht sie hin?« fragten wir Mutter neugierig. »Was macht die denn dann an Weihnachten?« nervte Petra. »Kinder, sie ist nicht unsere Leibeigene, sondern eine Haushälterin. Wenn sie freihat, macht sie, wozu sie Lust hat. In einem bestimmten Rahmen natürlich«, machte uns Mutter klar. »In welchem Rahmen?« grübelte Silke. »Im Rahmen des Anstands«, sagte Mutter nur, und als wir darauf alle ein bißchen betreten schauten, lachte sie. Richtig spitzbübisch. Mutter stöhnte laut auf, als sie unsere Riesentanne auf dem Autodach entdeckte. »Der Baum ist ja bald so groß wie der Henninger Turm«, jammerte sie und warf Vater einen tadelnden Blick zu: »Richard, so viel Unvernunft in deinem
Alter, das ist doch unglaublich.« Daß der Baum extrem schön gewachsen war, mußte sie zugeben. »Es gibt auf der Welt viel sehr Schönes, aber es muß trotzdem nicht immer passen. Was für den einen schön ist, ist für den nächsten ein Makel.« Ich verstand nicht, was sie meinte und meinen Schwestern schien es ähnlich zu gehen. Mutter sah es uns auch an: »Kinder, dieser Baum ist zweifelsohne eine Schönheit. Aber er ist höher als unser Raum. Was bedeutet, er muß gestutzt werden. Wäre nicht vielleicht ein anderer, weniger schöner Baum, den man aber in seiner Gänze belassen könnte, schöner als dieser Baum?« Eine komplizierte Frage. Konnte man Mutters Baummodell auch auf Menschen übertragen? Konnte es sein, daß ein Mensch hier besonders schön wirkte und an anderer Stelle völlig unpassend war? Gar nicht mehr schön? Trotz der aboperierten Spitze war der Baum immer noch prachtvoll. Er stieß nur noch ganz leicht an die Decke, und mit seinen ausladenden Zweigen erinnerte er an einen gigantischen Kerzenleuchter. Daß die Spitze fehlte, merkte man fast gar nicht. Leider war unser Christbaumständer ein bißchen zu klein für den Baum. Er wackelte leicht, aber nur wenn man irgendwo anstieß. Natürlich hatten wir, wie Petra schon im Wald erahnt hatte, zu wenig Schmuck. Wir entschieden uns, nicht alles spärlich, sondern die Vorderfront üppig zu behängen und die Seite, die zur Wand stand, frei zu lassen. Ich verteilte die Kugeln, Silke die Strohsterne, und Petra durfte die Kerzenhalter mit den Kerzen befestigen. Mutter war die oberste Kritikerin der Baumschmucktruppe, stand in gebührendem Abstand zum Objekt, dem Tannenbaum, und dirigierte unsere Bemühungen: »Ein bißchen mehr links, ein wenig höher, so ist es perfekt.« In diesem Jahr hatten wir uns gegen unsere sonstige Gewohnheit für rote Kerzen entschieden. Das heißt, Mutter hatte entschieden. Traditionell hatten wir immer weiße, aber es hatte sich so viel in der
Familie geändert, warum also sollte man nicht einmal eine neue Kerzenfarbe probieren? Petra mochte das Rot nicht. »Es ist nicht edel, sondern so bäuerisch«, nölte sie. Mutter sagte nichts dazu außer: »Findest du?« Ich mochte das Rot. Allerdings vermißte ich, wie jedes Jahr, das Lametta. Oma war geradezu fanatische Lamettahasserin, deshalb kam an unseren Baum keines dran. »Aber es ist unser und nicht Omas Baum«, protestierte ich jedes Jahr. »Mir macht es nichts, es wegzulassen, und Oma regt sich nicht auf«, war Mutters Standardantwort darauf immer gewesen. Um so erstaunter war ich, als sie in diesem Jahr mit verschmitztem Gesicht und einem lauten Trara einen riesigen Strang silberglänzendes Lametta aus einer Tüte zog. Mit den Worten: »Du hast lange genug darauf warten müssen, mein Schatz«, reichte sie mir das Glitzerzeug. Ich mußte weinen, obwohl ich natürlich wußte, daß Weinen die falsche Reaktion war. Aber ich war so glücklich und überrascht, daß ich es nicht unterdrücken konnte. Silke war perplex: »Was heulst du denn?« »Vor Freude heule ich«, gab ich unter kleinen Schluchzern zurück. Als das Weinen abebbte, mußte ich immer noch schlimm schluchzen. »Ein Streifen Lametta bringt dich dazu, vor Freude zu heulen, du bist ja bekloppter als die Pizzi«, lästerte Silke. Mutter nahm mich tröstend in den Arm. »Wenn man lange auf etwas hofft, es vermißt und es dann unverhofft bekommt, dann ist das sehr wohl zum Vor-Freude-Tränenverdrücken, egal wie profan es anderen erscheint«, nahm sie mich in Schutz. An Lametta hatte Mutter bei diesem Satz garantiert nicht gedacht. Wollte sie vielleicht ihre Hersler zurück, oder sogar Vater? Ist es das, worauf sie hofft? spekulierte ich, immer noch im Arm meiner Mutter. »Na los, ran an den Baum mit dem Zeug«, forderte sie mich auf. Es war herrlich, die einzelnen Glitzerfäden über die Zweige zu drapieren. Ob es den Baum wirklich verschönerte, dessen war
ich mir nicht sicher. Aber mit den roten Kerzen und dem Lametta sah er in diesem Jahr auf jeden Fall auffällig anders aus. »Oma trifft der Schlag«, meinte Petra. »Wenn die das sieht, fährt sie glatt wieder heim.« »Jeder muß seine Entscheidungen treffen«, erwiderte Mutter kühl und ziemlich gelassen. »Wenn sie die Geschenke hier läßt, kann sie von mir aus gehen«, gab Silke keck ihren Senf dazu. Zum Gottesdienst am frühen Abend machten wir uns schick. Silke und ich hatten nachtblaue, fast schon schwarze Samtkleider mit einer Schleife um den Ausschnitt, und Petra trug einen dunkelblauen engen Rock mit einer cremefarbenen Bluse und echten Nylons. Das war der Hit. Echte Nylons. Silke und ich platzten vor Neid, denn wir mußten natürlich Wollstrumpfhosen tragen. Silke versuchte es mit Gebettel: »Mutter, das ist dermaßen kindisch. Alle werden lachen. Wir schämen uns. Gib uns doch auch Nylonstrümpfe. Nur diesmal. Nur für Weihnachten. Wir rühren sie dann nie mehr an. Versprochen. Bitte.« Mutter blieb unerbittlich: »Wenn es kindisch ist, dann ist ja alles in Ordnung. Schließlich seid ihr Kinder und keine Erwachsenen. Ihr geht in euren normalen Strümpfen. Basta.« Daß das mit den Nylons nicht klappen würde, war mir klar gewesen. Lametta und Nylons, das wäre einfach zuviel des Guten. Ich glaubte nicht an die Erfüllung aller Wünsche. So was gab’s nur im Märchen. Im richtigen Leben konnte man froh sein, wenn überhaupt mal ein Wunsch Wirklichkeit wurde. Außerdem durfte man Mutters neue Stimmung auch nicht überstrapazieren. Obwohl ich schrecklich gerne Nylons gehabt hätte, schon weil die Wollstrumpfhosen immer so eklig kratzten. Onkel Rudolph und Oma holten uns zu Hause ab, und wir gingen alle gemeinsam zur Kirche. Dieser Gang war in jedem
Jahr der sogenannte Kelkheimer Schaulauf. Kurz bevor wir die Straße betraten, fragte Vater: »Und, seid ihr bereit für unsere Modenschau?« Nachdem wir alle »ja« geschrien hatten, öffnete er die Haustür, und los ging es. Welche Ehefrau trug Pelz, und welche Familie machte im ganzen am meisten her? Oma trug wie jedes Jahr ihren Nerz, Onkel Rudolph und Vater lange, schwere dunkelgraue Mäntel und einen Hut mit Krempe, und Mutter hatte ihre Fuchsjacke an. Die, wo am Kragen noch die Pfötchen baumelten. Ich hatte heimlich furchtbare Angst vor der Jacke, ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß irgendeine Kreatur dieser Erde es verzeihen würde, wenn man sie so zurichtet und rechnete ständig damit, daß diese kleinen Pfoten auf einmal zupackten und den Kragen um Mutters Hals zuzogen. Silke hatte ich, unter dem Siegel der Verschwiegenheit natürlich, mal von meiner Angst erzählt. Seither wußte sie, wie sie mir drohen konnte. »Wenn du schläfst, hole ich die Jacke aus dem Schrank und lege sie auf dich.« Allein der Gedanke! Ich, begraben unter einer Fuchsjacke, die lebendig wird. Die ihre steifen Pfoten mit den hornigen Krallen in mein Gesicht streckt, um es dann genüßlich in Fetzen zu reißen. Die langen feinen Fuchshaare würden in meine blutenden Wunden fallen. Mutters Fuchsjacke haarte extrem. »War ja auch ein Sonderangebot«, ärgerte Mutter gerne Vater. Immer, wenn sie die Jacke trug, versuchte ich, ihr nicht zu nah zu kommen. Der Gottesdienst war nichts Besonderes. Nur daß uns der Pfarrer nach der Messe und dem obligatorischen »Stille Nacht« noch direkt ansprach. Er stand immer vorne im Vorraum, wo die Kirchenblättchen und Gesangbücher auslagen, um allen noch mal per Handschlag »schöne Weihnachten« zu wünschen. Das war’s dann aber normalerweise auch schon. Diesmal nahm er Mutter überraschenderweise in den Arm. So richtig. Sie war mindestens so erstaunt wie wir, und man
konnte deutlich sehen, wie sie ganz steif wurde. Mutter und Pfarrer Stegmaier hatten kein besonders gutes Verhältnis. Eher überhaupt kein Verhältnis. Auch deshalb hatte Mutter damals bei der Beerdigung des Babys auf dem Weihbischof bestanden. Pfarrer Stegmaier war ihr zu dörflich, und außerdem fand sie ihn unappetitlich. »Wenn ich seine Hände sehe, könnte ich nach Hause fahren, die Nagelschere holen und selbst Hand anlegen«, hatte sie schon häufig gesagt. In solchen Dingen war Mutter penibel. Wenn ihr einmal etwas unangenehm aufgefallen war, war es stets das erste, worauf sie achtete. Wir hätten uns nicht gewundert, wenn sie während der Weihnachtsmesse ein Fernglas hervorgeholt hätte, um die aktuelle Fingernagellänge von Pfarrer Stegmaier zu kontrollieren. Jetzt hatten ebendiese Hände, mit ebendiesen Fingernägeln, Mutter umschlungen. »Ich habe dafür gebetet, daß es in ihrem Leben wieder besser läuft«, sagte Pfarrer Stegmaier leise zu Mutter. Seine Fingernägel waren ungepflegt wie immer. »Danke«, antwortete Mutter nur und entspannte sich merklich. »Die hat bestimmt Angst gehabt, daß der meckert, weil sie so lange nicht da war«, flüsterte Silke. Ich stimmte ihr zu und hätte es sogar richtig von ihm gefunden. Er war ein freundlicher Mensch, und das mit seinen Fingernägeln war nun wirklich seine Sache. »Heute ging es direkt mit seinen Schippen«, lästerte Mutter bei Oma. Schmutzige Nägel nannte sie Dreckschippen. Oma war die aus unserer Familie, mit der Mutter am ehesten über solche Dinge sprechen konnte. Vater bemerkte schmutzige Nägel nicht. Es waren für ihn Nebensächlichkeiten. Daß Petra eine fette Laufmasche hatte, wäre ihm wahrscheinlich auch nicht aufgefallen. Zweifingerbreit lief sie ihr ungeniert mitten übers Knie. »Kann ich was dafür, wenn die Holzbänke so rauh wie Bimsstein sind«, meckerte Petra sofort los, als wir die Laufmasche entdeckten und so laut darüber redeten, daß es garantiert auch
Mutter hören würde. Die elegantere Art zu petzen, nannten Silke und ich das. Oma zeigte zur Überraschung aller eine gewisse Lamettatoleranz. Sie erwähnte weder die roten Kerzen noch das Lametta. Sie schien auch kein bißchen aufgeregt des wegen. In dieser Familie war es mit Verhaltensvorhersagen bedeutend schwerer geworden. Auf Onkel Rudolph aber war wie immer Verlaß. Seine Geschenke waren wie in jedem Jahr die besten. Diesmal bekamen Silke und ich original Bonanza-Räder mit langem Sattel und Handschaltung. Sie in orange, ich in lila. Die Räder waren fantastisch, das orangefarbene allerdings noch einen Deut schöner als mein lilafarbenes. »Nicht mal Rudi hat so eins«, freute sich Silke unbändig. Etwas vor Rudi Ranninger, dem reichen Knopp, zu besitzen, war unglaublich. Der hatte Sachen manchmal schon, bevor sie erfunden waren. So kam es einem jedenfalls vor. Am liebsten wären wir sofort durchs gesamte Viertel gefahren um sicherzugehen, daß auch jeder unsere neuen Räder sieht. Ansonsten war das mit den Geschenken eher enttäuschend. Nachthemden von Oma wie in jedem Jahr. Diesmal waren es bodenlange mittelblaue, obenrum gestreift und mit Herzchen auf der Brust. Wir hatten stapelweise neue Nachthemden im Schrank liegen. Am liebsten aber schliefen wir in T-Shirts und Unterhose, was Mutter allerdings nur an sehr gut gelaunten Tagen erlaubte. Ansonsten war unsere zweite Wahl der Schlafanzug. Nachthemden rutschten ständig, und man hatte dann in Hüft- oder Kniehöhe solche Stoffwürste hängen. Unpraktisch. Mutter und Vater hatten unsere stillen Hoffnungen nicht erfüllt. Sie schenkten zusammen, obwohl sie getrennt lebten. »Wir sind wirklich blöde dran«, befand Silke, »wir haben die Nachteile von Scheidungskindern, aber nicht
mal deren Vorteile. Das ist doch Beschiß.« Im Vergleich zu Petra kamen wir aber noch recht gut weg, was die Geschenke von Mutter und Vater betraf. Sie hatte Band eins einer Enzyklopädie unter dem Baum liegen. Ein dickes Buch mit goldgeprägter Schrift. Buchstabe A und B. Das ließ auch für die nächsten Jahre wenig Hoffnung aufkommen. »Wenn das in dem Tempo weitergeht, ist die ja fast tot, bis das Alphabet komplett ist«, kicherten Silke und ich. Wir hatten ein neues Monopoly-Spiel, bei unserem alten waren die meisten Geldscheine abhanden gekommen, ein Kleid für besser, aus dunkelgrauem Cord, Tagesdecken für unsere Betten und jede einen kleinkarierten Bikini bekommen. »Den hat Vater bestimmt aus Italien mitgebracht, und Mutter hat ihn einkassiert, um noch ein Weihnachtsgeschenk zu haben. Eigentlich wäre der Bikini ein Mitbringsel, da bin ich total sicher«, quengelte Silke. Der Bikini war süß. Türkisblau und weiß. Mit Schleifchen neben an der Hose und vorne zwischen den Körbchen. Das doofste war natürlich die Tagesdecke. Mir war an unseren alten nichts Schlimmes aufgefallen. Die hätten noch Jahre auf den Betten liegen können. »Die waren doch komplett verfilzt«, bemängelte Mutter, »und außerdem sehen die neuen viel freundlicher aus.« »Freundliche Tagesdecke«, feixte Petra, die froh war, daß wir doch nicht soviel besser weggekommen waren als sie. »Gott, ich danke dir, daß es Onkel Rudolph gibt, er ist: der Beste. Laß ihn niemals heiraten und eigene Kinder kriegen«, schickte ich ein klitzekleines Dankgebet Richtung Himmel. Daß Onkel Rudolph irgendwann selbst Familie haben konnte, war unsere Horrorvision. Dann wäre Schluß mit diesen herrlichen Geschenken, das wußten wir mit Sicherheit. Deshalb gaben wir uns im Umgang mit ihm besondere Mühe. Wenn wir wollten, konnten wir richtig nett sein. Die Devise
war: Er darf auf keinen Fall eine eigene Familie vermissen. Wir sind quasi seine Kinder. Wir hätten es nicht für möglich gehalten, aber es war ein besonders schönes Weihnachten. Vater und Mutter küßten sich sogar. Beim Essen. Vater lobte Mutters Kochkünste und gab ihr dann den Kuß. Vor uns allen. Es hätte nicht viel gefehlt und wir hätten applaudiert. Silke trat mich unterm Tisch, und sogar Petras Augen glänzten rührselig. Ich dachte nur: Ja, es wird wieder. Es wird alles wieder gut. Schließlich war das der erste offizielle öffentliche Kuß, seit das mit dem Baby geschehen war. Und das mit der Hersler. Und überhaupt. Selbst Oma war wie eine ungewürzte Version ihrer selbst; und sie war dadurch nicht etwa fad, sondern einfach nur für alle um vieles bekömmlicher geworden. Wer hatte sie in diese verträgliche Variante ihrer selbst verwandelt? Wie war das möglich gewesen? »Egal wie, derjenige hat auf alle Fälle eine Medaille verdient«, stellte Silke fest, »man sollte ihm einen Präsentkorb schicken. Einen richtig großen mit Sekt und Lachs und so. Sogar Kaviar.« »Vielleicht kommt es vom Altern, daß man nachsichtiger wird«, sagte ich. »Die ist doch schon lange alt, da wäre sie doch längst mal nachsichtiger geworden«, kommentierte Silke. Ich widersprach: »Aber wann merkt man selbst, daß man alt ist? Vielleicht war das bei Oma jetzt erst.« Petra war anderer Meinung. »Quatsch. Da gibt’s keinen Zeitpunkt. Das geht so schleichend. Man altert so vor sich hin.« Es ist wie mit dem Sterben, schoß es mir durch den Kopf. Will man vorher wissen, daß man demnächst stirbt oder ist es besser, es macht bumm und man fällt tot um? Einfach tot sein, ohne Vorwarnung, wollte ich auf keinen Fall. Silke wollte auch beim Sterben die schnelle Lösung. Umfallen und weg.
»Aber wenn man Bescheid weiß, kann man alles planen und sich auch verabschieden. Das ist doch auch für alle anderen besser. Wenn das Baby nicht so abrupt gestorben wäre, hätten wir uns drauf einstellen können. Es wäre vieles leichter gewesen.« »Niemals«, sagte Silke, »dann ist man nur länger traurig, weil man weiß, was bald passiert. Lieber zufrieden und fröhlich, bis es passiert.« »Aber mildert es nicht die Trauer hinterher, wenn man schon vorher Bescheid weiß?« wollte ich von meiner Schwester wissen. Wie immer tendierte sie zur extremen Lösung: »Würdest du lieber eine Stunde ganz leicht gekitzelt oder eine Minute volle Pulle?« Silke hatte oft so schräge Vergleiche. Aber einleuchtend. Wir beide wollten lieber eine Minute volle Pulle. Nach dem Essen durften wir tatsächlich mit den Rädern um den Block fahren. »Klemm dir doch deine Enzyklopädie untern Arm und komm auch eine Runde mit raus!« versuchte Silke, Petra zu ärgern. Die reagierte nicht einmal. »Darf ich noch mal«, bettelte sie statt dessen Mutter an. Inbrünstig. Mutter schaute Vater an, der kaum merklich nickte. »Na gut, und wünsche den Kunzers frohe Weihnachten von uns«, gab Mutter ihre Erlaubnis. Petra rannte in ihr Zimmer, kam mit einem kleinen Päckchen in mohnrotem Seidenpapier und eindeutig ein bißchen Lipgloss zurück. Das Seidenpapier knisterte ganz leise. Ohne, daß Petra sich irgendwie bewegte. »Was wackelt denn da drin?« fragte ich neugierig. »Es ist mein Herz. Das hüpft vor Freude«, antwortete Petra. »Die tickt ja nicht mehr richtig«, meinte Silke. Petra sagte gar nichts mehr, und ehe irgendwer auch nur einen klitzekleinen Einspruch erheben konnte, war sie mit ihrem hüpfendem Herzen und dem Lipgloss auch schon weg.
Onkel Rudolph und Vater rauchten Zigarillos und spielten eine Partie Schach. Die beiden liebten Schach. Fast immer gewann Vater, was gut so war, denn verlieren fiel Onkel Rudolph leichter als ihm. Ich war, wie Vaters älterer Bruder, auch kein Typ, der sich lange ärgerte, wenn er verlor. Warum auch? Es nützte nichts, sich im nachhinein aufzuregen über Dinge, die nicht mehr zu beeinflussen waren. Oma und Mutter räumten die Küche auf. »Laß uns verschwinden, bevor wir noch mithelfen müssen«, zerrte mich Silke aus dem Zimmer. Im Flur klingelte das Telefon. Ich war die erste am Apparat. Es war Opa. »Buon natale«, schrie er, als müsse seine Stimme die vielen Kilometer so überwinden. »Schöne Weihnachten«, rief ich zurück, »auch für Carlotta«, und Silke, die jetzt kapierte, wer dran war, rannte sofort, um Vater zu holen. Vater und Onkel Rudolph. Schließlich waren sie beide Opas Kinder. Wir blieben in der Nähe, um zu lauschen, was die Männer mit Opa besprechen würden, aber sie sagten eigentlich nur Dinge wie »ach, das wäre fein, ja, da freuen wir uns aber sehr.« Es war ein kurzes Gespräch, aber Vater und Onkel Rudolph wirkten zufrieden. Mit einem verschwörerischen: »Oma muß hiervon nichts wissen«, zwinkerten sie uns zu, lachten, und Silke meinte nur: »Jetzt aber nichts wie raus.« Mit den neuen Rädern zu fahren, war ein traumhaftes Gefühl. »So muß es sein, mit einem wilden, weißgescheckten Pony durch die Prärie zu sausen«, kicherte Silke und riß den Lenker hoch. »Es ist der Sattel mit Rückenlehne, man thront geradezu«, schwärmte ich. Silke liebte ihren Lenker und das
Orange. »Was für eine Farbe, ist sie nicht atemberaubend«, sagte sie ständig. Wahrscheinlich vor allem, weil sie wußte, daß ich ihr das Orange ein bißchen neidete. Ich reagierte aber nicht. Den Triumph wollte ich ihr nicht gönnen. Und jetzt im Abendlicht sah das Lila auch ziemlich schick aus. Meine Klingel war herzförmig, die von Silke eine Blume. Es waren tatsächlich die aufregendsten Fahrräder die ich je gesehen hatte. Wir fuhren überall vorbei, wo wir hofften, jemanden zu sehen. Aber an Heiligabend war auf den Straßen nicht allzuviel los. Die einzige, die wir sahen, war Frau Petrusilker, von zwei Häusern weiter, die allerdings schon so verwirrt war, daß wir nicht mal sicher sein konnten, ob sie überhaupt merkte, daß wir Fahrräder hatten. Frau Petrusilker soll früher angeblich eine sehr schöne Frau gewesen sein, merken konnte man davon jedoch nichts mehr. Ihre Augen zuckten, wenn sie einen ansah, und ihr rechter Mundwinkel hing immerzu ein bißchen runter. An ihren Haaren war seit Jahren kein Friseur mehr gewesen, und insgesamt war sie einen Tick ungepflegt. Kinder, die sie nicht kannten, hätten sich garantiert vor ihr gefürchtet, aber hier im Viertel kannte jeder Frau Petrusilker und ihre schauerliche Geschichte. Der Mann von Frau Petrusilker war bei einem Verkehrsunfall gestorben, und seither war Frau Petrusilker langsam, aber sicher verfallen. Körperlich. Sie hat ihn damals auf der Straße liegen sehen, direkt vor ihrem Haus ist er gestorben, ohne daß sie was tun konnte; sie wäre sogar fast noch drübergefahren, als sie mit ihrem zitronengelben Kharmann Ghia um die Ecke bog. Die Petrusilker hatte immer ganz ordentlich Tempo drauf. Sie konnte natürlich nicht wissen, daß an diesem Tag, wenige Meter vor ihrem Haus, ihr Mann lag. Im Randstein. Als sie ausstieg, zornig über den Trottel auf der Straße, und ihn beschimpfen wollte, hat sie erst gemerkt, daß der Trottel ihr Mann war. Angefahren von einem betrunkenen Motorradfahrer, der den Petrusilkers ein Päckchen
vorbeibringen wollte. Einen Bildband über Hessens Burgen, gewonnen von Frau Petrusilker bei einem Preisausschreiben der Spar-Lebensmittelkette. Frau Petrusilker hat den Bildband selbstverständlich niemals auch nur angeschaut und beim nächsten Wohltätigkeitsbasar gespendet. Leider wußten die meisten Besucher von der tragischen Geschichte, und niemand wollte den unheilvollen Burgenbildband haben. Selbst als sie ihn verschenken wollte. Frau Petrusilker hat ihn dann vor den Augen aller zum Sperrmüll gestellt. Einer der Sperrmüllmänner hat ihn sich geschnappt. Man munkelt, er hätte sich wenige Tage später einen komplizierten Leistenbruch zugezogen, als er den Bildband ins Regal stellen wollte, aber ob das stimmt, da gehen die Meinungen auseinander. Herr Petrusilker im Randstein hat, wahrscheinlich weil er den Kharmann Ghia hörte, noch einmal die Augen geöffnet, angestrengt geschaut, als wolle er etwas sagen, und dann war er weg. Für immer. »Das verkraftet niemand. Und daß er ihr noch was sagen wollte und sie bis heute nicht weiß was, macht die Frau kaputt«, so hatte Vater oft über die Geschichte geredet. Ob er das heute anders sah? Nach seinem Mißgeschick mit dem Baby? Wußte er jetzt, daß es irgendwie doch nachließ. Hatte er sich nicht auch schon ziemlich beruhigt? Ich glaube, das mit dem Traurigsein war ein bißchen wie mit einem Brief, der im Licht lag. Die Schrift verblaßte. Ob es einen Unterschied macht, wenn ein Kind oder der Mann starb? Anders war es sicherlich, aber was war schlimmer? »Wenn man mehrere Kinder hat«, war Silkes Meinung, »dann ist es schlimmer, wenn einem der Mann wegstirbt. Wenn man ihn liebt. Wenn nicht, ist es ja mehr eine Erlösung. Hat man nur ein Kind, ist es ungefähr gleich blöd.«
Quatsch, dachte ich. Wenn Kinder sterben, ist es immer ungerecht und deshalb auch schlimmer. Ich würde, wenn ich erwachsen wäre, immerzu denken, hätte er doch mich genommen und nicht das Kind. Der Gott. Schon wegen des Alters. Es geht halt der Reihe nach. Einen neuen Mann kann man sich wieder suchen, egal, wie alt man ist, ein neues Kind geht irgendwann nicht mehr. »Lieber den Mann als das Kind«, entschied ich für mich. Silke kapierte das nicht. »Bist du trauriger wenn ein Fünfjähriger stirbt, nur weil er erst fünf ist. Ist es das Alter, oder hat es nicht was mit Liebe zu tun. Wie sehr man jemanden liebt? Was schert mich der Tod eines Kindes irgendwo, wenn hier meine Oma stirbt. Na ja, vielleicht ist das mit Oma nicht der richtige Vergleich. Aber wenn es eine Oma wäre, die ich sehr, sehr lieben würde, wäre ich dann nicht viel trauriger als bei einem Kind, egal wie klein und niedlich es ist?« Frau Petrusilker lobte tatsächlich nicht unsere Fahrräder, sondern unsere Kleider, zupfte dann gedankenverloren ein bißchen an ihrem rum, als würde ihr erst in diesem Moment aufgehen, daß eine Kittelschürze, verfleckt wie nach einem Batikversuch, wohl kaum das richtige für Weihnachten ist. »Der Mond steht heute nacht im Mars«, sagte sie bedeutungsschwanger, zeigte zum Himmel, und wir nickten, obwohl wir keinen einzigen Stern entdecken konnten. Geschweige denn den Mars. Es war viel zu bewölkt. Frau Petrusilker tätschelte uns den Kopf und schlurfte dann zu ihrer Garage. »Mal sehen, wie es dem Kleinen heute nacht geht«, erklärte sie und öffnete das Garagentor. Der Kleine war der zitronengelbe Kharmann Ghia. Bei schönem Wetter öffnete sie manchmal das schwarze Faltdach, und an ihren fröhlichsten Tagen setzte sie sich sogar hinein. In der Garage. Gefahren war sie seit dem Tod ihres Mannes nie mehr. »Ich kann nicht mehr fahren«, hatte sie mal meiner Mutter verraten. »Ich sehe
ständig Menschen in Randsteinen und auf Straßen liegen und habe schreckliche Angst, darüber zu fahren. Es geht nicht mehr.« Mutter wollte wissen, warum sie ihr Auto dann nicht verkaufe. »Es kann doch nichts dafür, und wahrscheinlich geht es ihm ähnlich wie mir«, meinte Frau Petrusilker. »Ich habe es immer gemocht, und so kriegt es jetzt sein Gnadenbrot.« Mutter hatte, wie alle, denen Frau Petrusilker diese Geschichte erzählte, erhebliche Probleme mit dieser seltsamen Logik, aber Frau Petrusilker hatte so eine Art zu gucken, daß man sich jeden Kommentar verkniff. Es gab eine Menge Leute, die der Meinung waren, Frau Petrusilker sei seit dem Tod ihres Mannes sehr stark verwirrt, Mutter hingegen fand sie schon immer, auch zu Lebzeiten von Herrn Petrusilker, ein wenig komisch. »Wenn einem der Mann stirbt, kann man schon irr werden«, sagten besonders die Männer hier aus dem Viertel, und man hatte das Gefühl, dieser Gedanke gefiel ihnen. »Manche werden auch irr, weil der Mann nicht stirbt«, giftete Oma einmal und hatte damit die Frauen auf ihrer Seite. Die meisten Frauen. Großtante Billy allerdings konnte es sich damals nicht verkneifen, darauf hinzuweisen, daß manche Frauen nicht so lange warten müssen, weil er vorher verschwindet. Obwohl wir Großtante Billy lieber mochten als Oma, war das doch eine ganz schön gemeine Anspielung. Oma nahm es tapfer. »Gut, ich bin verlassen worden«, räumte sie ein, »aber es gibt ja Frauen, die haben nicht mal einen abgekriegt. Da ist keiner, der einen verlassen könnte.« Die beiden schenkten sich wirklich nichts. »Du weißt, warum ich nie geheiratet habe«, versuchte sich Billy zu wehren. »Weil sie Schlange gestanden haben«, lachte Oma gehässig, und damit war für sie das Thema erledigt. »Warum denn?« interessierte sich Silke. »Warum hast du nicht geheiratet?« »Weil der, den ich wollte und der mich wollte, nicht durfte«, erzählte Billy. »Wieso durfte der nicht?« hakte Silke nach.
»Weil es seiner Familie nicht gefiel, das mit uns beiden. Die hatten eine andere für ihren Sohn ausgesucht. Und er hat klein beigegeben. Sich am Ende für das Geld und die Sicherheit entschieden.« Wir wollten es genauer wissen. Tante Billy, deren Augen ein bißchen feucht wurden, ließ sich erweichen: »Seinen Eltern gehörte das Hammelbräu. Diese Brauerei in Frankfurt. Mit dem großen Hammelbräu Turm. Ihr wißt schon, die, die auch das Malzbier machen. Und Karoline Breitmüller war die älteste Tochter von Mineralwasser Breitmüller im Vogelsberg. Die Väter kannten sich und hatten die Verbindung ausgeklügelt. Durch die Heirat entstand die Breithammelbräu. Da hat Heinz, so hieß er, nicht widerstehen können. Heinz mochte diese Karoline Breitmüller, aber Liebe war da weiß Gott nie im Spiel. Karoline und Heinz waren Limo und Bier. Nicht mehr. Sie verstanden sich, aber Liebe, nein! Hätte er sich für mich entschieden, hätte seine Schwester Christa die Brauerei geerbt. Damit hatten ihm die Eltern gedroht. Die beiden sind immer noch verheiratet, Karoline und Heinz. Ich habe sie mal in einer dieser Klatschzeitschriften gesehen. Mit ihren Töchtern und den Enkeln. Alle schon jetzt so breithüftig wie Karoline. Die konnte eine Wasserkiste links und eine rechts abstellen. Ich habe ihn, außer in der Zeitung, nie mehr gesehen. Meinen Heinz. Aber ich würde ihn noch heute vom Fleck weg heiraten.« »Hast du nie daran gedacht, einen anderen zu nehmen und Heinz damit eifersüchtig zu machen?« fragte Silke nach. Großtante Billy schüttelte den Kopf. »Nein, nie. Die Liebe ist kein dummes Kinderspiel. Merkt euch das. Es ist wichtig. Er hat sich entschieden. Ich hatte verloren. Man muß wissen, wann ein Spiel vorbei ist, Kinder.« »Man darf nie aufgeben, muß kämpfen, auch wenn man auf verlorenem Posten steht«, mischte sich Oma ein, und an Silkes
Gesicht konnte ich erkennen, daß sie in diesem Fall auf Omas Seite war. So oder so, richtig Glück in der Liebe hatte in unserer Familie anscheinend niemand. Deswegen konnten wir auch verstehen, was Petra gemacht hatte. Obwohl es reichlich gewagt war. Sie zeigte es uns in der Nacht zum 1. Feiertag. Nachdem wir die Fahrräder in der Garage weggeschlossen und allen artig »gute Nacht und vielen Dank« gesagt hatten. Oma und Onkel Rudolph verließen gemeinsam das Haus und Vater blieb. Silke rutschte ein: »Schläfst du heute endlich mal wieder hier« raus, und dafür kassierte sie von Mutter einen leichten Klaps auf den Mund. Kaum daß sie es gesagt hatte. Zum Glück hatte Oma nichts gehört, wahrscheinlich weil sie ordentlich vom Weihnachtspunsch getrunken hatte. Erleichtert über die Neuigkeit gingen wir, die Hände voller Zimtsterne, zum Schlafen. Was für ein Weihnachten: erst die fantastischen Räder und dann noch die Versöhnung von Mutter und Vater. Oder jedenfalls der erste Ansatz dazu. »Das wird, das wird, ich hab da so ein Gefühl«, kicherte Silke. »Ich muß euch noch mal sprechen«, kam es übertrieben ernst von Petra. »Sprich doch«, frotzelte Silke. »Kommt zu mir, und ihr werdet sehen«, sagte Petra und verschwand in ihrem Zimmer. »Ob ihr die eine Brust endlich nachgewachsen ist?« fragte Silke. Ich war mir sicher, es war was mit Kunzer. »Er will sie verlassen, oder sie will uns sein Geschenk zeigen«, waren meine Vorschläge. »Wir haben den Ring doch schon gesehen, meinst du, sie hat noch was gekriegt?« Silke schüttelte den Kopf. »Nie im Leben, so ein Ring kostet doch schon ganz schön. Wo soll der den das viele Geld herhaben?« Der Ring, den Petra von ihrem Teiggesicht hatte, sah tatsächlich sehr wertvoll aus. Er war schmal und schlicht und hatte in der Mitte einen blauen Stein. Einen kleinen blauen Stein. »Es ist ein echter Saphir«, protzte Petra.
»Ob der tatsächlich echt ist?« zweifelte Mutter. Oma fand, Kunzer sei auf dem richtigen Weg. »Edelsteine sind das einzig wahre Geschenk für Frauen, die man liebt«, sagte sie mit Blick auf Vater, der Mutter eine Daunendecke geschenkt hatte. »Pikant, wenn der wüßte, wer da vielleicht drunterkriecht«, kam es fies von Petra. Das laut zu sagen hätte sie sich aber nicht getraut. Mir gefiel das Geschenk. Es hatte etwas Fürsorgliches. Er will, daß sie warm und kuschelig schläft, dachte ich, und es beruhigte mich. Kaum hatten wir die Nachthemden an, schlichen wir uns zu Petra. »Zeig her, was gibt’s«, geiferte Silke. Schweigend zog Petra, nachdem sie ihre Zimmertür theatralisch zweimal verschlossen hatte, ein Päckchen unter dem Bett hervor. Silke war platt: »Wow, von wem ist denn das? Auch noch von Kunzer?« »Quatsch«, zickte Petra, »das habe ich gestern vom Paketboten. Es ist nicht für mich. Es ist für Mutter. Ich habe es abgefangen. Und jetzt guckt euch an, von wem!« Es war von Frau Hersler. Ich erkannte ihre sehr genaue, feine Schrift sofort. Sie hatte die Angewohnheit, alles groß zu schreiben. »Es liest sich besser«, hatte sie uns immer gesagt. »Und was machst du hier in deinem Zimmer mit Mutters Päckchen?« fragte Silke. Petra griff sich an den Kopf: »Kapierst du nicht? Jetzt waren wir sie endlich los. Nachher will die zurück. Vor allem in Mutters Bett. Das müssen wir verhindern.« »Vielleicht ist es was ganz Harmloses. Was sie aus Versehen noch von uns hatte. Und jetzt zurückschickt. Ein Handtuch oder so«, war mein erster Gedanke. »Wir machen auf, und dann wissen wir’s«, beschloß Petra. Silke war direkt dafür. »Wie aufregend, los, mach schon.« Ich war dagegen: »Wenn es was ganz Normales ist, was dann? Dann haben wir es geöffnet, und jeder merkt es.« Silke sagte nur: »Dann schmeißen wir es eben weg. Pakete können auch
verlorengehen, oder!« Ich war trotzdem dagegen, aber Petra zerrte schon am Papier. In dem Paket waren ein Brief und ein Geschenk. Der Brief steckte in einem cremefarbenen Umschlag und duftete sogar nach Frau Hersler. Ganz schwach, wenn man mit der Nase nah ran ging, konnte man es riechen. Petra riß den Umschlag auf und las uns dann laut vor: Liebste Regina, Die Chinesen sagen: Die Dinge scheinen oft komplizierter als sie sind. Ich höre Dich direkt lachend rufen: Was willst Du denn hier in Kelkheim mit Deinen chinesischen Weisheiten! In unserem Fall, meine Liebe, haben sie, glaube ich, unrecht und Du tatsächlich recht. Die Dinge sind absurd, kompliziert und verwickelt. Um mir selbst Klarheit zu verschaffen, habe ich beschlossen, Dir noch diesen einen Brief zukommen zu lassen. Das, was mit uns geschehen ist, konnte keiner je erahnen. Bis auf mich vielleicht, aber ich habe dieser mikroskopisch kleinen Ahnung, die mehr eine absonderliche Hoffnung war, nie Kaum gegeben. Habe sie immer zurückgedrängt, weil ich Euer Leben, um das ich Euch lange sehr beneidet habe, nicht kaputtmachen wollte. Das Zerstörerische ist nun von selbst gekommen. Mit aller Wucht und Gewalt. Durch eine Ungeschicklichkeit. Einen miesen Zufall. Ohne Absicht, aber mit verheerenden Folgen. Am Tag der Beerdigung habe ich am offenen Grab erstmals an uns beide als Paar gedacht. Ich wußte, daß Deine Liebe zu Richard dieses Desaster nicht überstehen würde. Eure Liebe ist eine ordentliche und zweckmäßige, aber Inbrunst und Leidenschaft konnte ich nie entdecken. Verzeih, wenn das falsch ist! Ich versuche nur, Dir meine Motivation zu erklären. Als Du am Grab gestanden hast, habe ich mich ganz
wahnsinnig in Dich verliebt. Deine Größe, Richard nicht mit Vorwürfen zu überschütten und dazu diese seltsame Ruhe ihm gegenüber. Das, kombiniert mit Deiner Aufgewühltheit, als sie den Sarg im Dunkel versenkten, ließ mich erahnen, was in Dir steckt. Ich weiß, sich an einem solchen Tag zu verlieben, klingt roh und makaber. Aber zeigt nicht gerade das Verhalten an einem so schweren Tag ganz deutlich, was in Menschen steckt? Du warst, in diesem Moment, eine leidende und doch ungeheuer leidenschaftliche Frau. Ich wollte mich dagegen wehren, aber es überkam mich mit einer solchen Wucht, daß ich nichts tun konnte. Liebe ist schwer aufzuhalten. Ab einem gewissen Zeitpunkt verselbständigt sich alles, die Lawine rollt. Die emotionale Lawine. Wie ein Laster mit gerissenen Bremszügen. Ich bin ein solcher Laster und nach berauschender, rasanter Fahrt jetzt im Graben gelandet. Nein, keine Sorge, ich will nicht jammern. Dir mein Leid klagen. Ich will nur erklären. Übrigens, Regina, ich glaube bis heute, daß einer unserer intimsten Momente der am Grab Deines Sohnes war. Als ich Dir ins Ohr flüsterte und dabei merkte, wie sich Dein zarter Flaum im Gesicht erst gesträubt und dann gelegt hat. Dieser Augenblick war einer der intensivsten in meinem heben. Trotz all der Menschen drumherum. Diesen Sekundenbruchteil werde ich niemals vergessen. Habe ich Dir je erzählt, daß Deine Schwiegermutter natürlich noch beim Leichenschmaus zu mir kam, um zu fragen, was ich Dir ins Ohr gesagt habe? Ich habe sie belogen und behauptet, ich hätte gesagt: »Nehmen sie sich zusammen.« Sie hat es sofort geglaubt, die böse alte Hexe, natürlich schon deswegen, weil es ihrer Meinung entsprach. Ich habe sie nie leiden mögen und sehr kurz in Erwägung gezogen zu sagen: »Nun, ich habe ihrer Schwiegertochter meine Zunge ins Ohr gesteckt und sie ein
bißchen verwöhnt, auf die Schnelle. Sonst tut das in dieser Familie ja keiner.« Ihr Gesicht hätte ich gerne gesehen. Da würde selbst der mal die Sprache wegbleiben. Ein schöner Gedanke, stimmt ‘s, Regina? Ich sehe es vor mir, wie Du jetzt nickst und Dir dabei Deine renitente lustige Haarsträhne ins Gesicht fällt. Wie gerne würde ich sie für Dich zurückstreichen. Eine kleine Berührung, eine winzige Zärtlichkeit, schon das könnte mich trösten. All das denke ich nun, während ich hier im düsteren, nebligen Hintertaunus sitze und von Dir träume. Was bin ich nur für eine Haushälterin? Ich erinnere mich noch genau, wie Du das zu mir gesagt hast. »Frau Hersler«, hast Du gestöhnt, »was sind sie nur für eine Haushälterin. Gehört das hier zu Ihren Aufgaben?« Am süßesten war der Satz nach diesem Abend: »Frau Hersler, äh Luise, das hier gehört ab sofort zu ihren dringlichsten Aufgaben.« Und mein Gott, ich habe diese Aufgaben geliebt! War es nicht ein herrlicher Abend, als wir zwei nach dem süßlichen Lambrusco über die Matratzen gekugelt sind? Dein angekogelter BH an der Lampe. Überhitzt wie wir. Erinnerst Du Dich an die verdutzten Gesichter Deiner Töchter, als wir uns zu laut geliebt haben und die drei wie die sieben Zwergen vor der Tür standen? Daß Du je so ausgelassen sein könntest, habe ich nicht gewußt, aber erahnt. Oh, wie ich Deinen Bauchnabel vermisse!! Deine Brüste, Deine Küsse, Dich eben. Kegina, bitte! Liebste, das waren nur Sachen, die mir im Kopf herumschwirren. Ungeordnet und vielleicht auch nur für mich verdammt bedeutungsvoll. Wenn auch Du Sehnsucht hast, die Lust und die Liebe vermißt, gib mir noch eine Chance. Triff mich ein letztes Mal, am Silvestermorgen im Café Kranzler an
der Hauptwache in Frankfurt. 11 Uhr. Ich kann Dich nicht vergessen. Was soll ich bloß tun? Ich denke immer noch, der Laster könnte aus dem Graben gehoben werden und wieder in Fahrt kommen. Möglicherweise nicht ganz so ungebremst. Ist das verrückt? Oder denkbar? Ist nicht da, wo Liebe ist, auch Hoffnung? Für immer, Deine Luise. PS. Wenn Du nicht kommst, weiß ich Bescheid und werde Dich nicht mehr belästigen. Oder es zumindest versuchen.
Sie hieß Luise. Wir hatten das nie gewußt. Und nie gefragt. Luise Hersler. Wahnsinn, so romantisch. Das hätte der Hersler keiner zugetraut. Eines war nun aber, nachdem wir den Brief gelesen hatten, klar. Mutter durfte diese Liebeserklärung nicht bekommen. »Wenn die das liest, wird die noch schwach; ich will auf keinen Fall mit zwei Müttern groß werden, im Lesbenhaushalt, wie peinlich; außerdem ist das eklig. Zwei Frauen. Bäh«, nölte Petra angewidert. »Wenn Vater das mitkriegt, ist der sofort wieder weg, das läßt der sich nicht gefallen«, sagte Silke. Die Frage war nur: Was tun mit dem Brief? »In den Müll damit, was sonst«, meinte Petra. Ich nahm ihn und brachte es dann doch nicht übers Herz ihn wegzuwerfen. Einen Brief, voll mit Emotionen, einfach in die Tonne zu knallen, wäre mir herzlos erschienen. Ich beschloß, ihn zu verwahren. Gut versteckt natürlich. Nicht zuletzt, weil ich ihn noch einmal in aller Ruhe lesen wollte. Meine Schwestern mußten ja nicht alles wissen.
Vielleicht konnte ich ihn irgendwann mal als Vorlage verwenden. »Und wenn wir hingehen am Silvestermorgen und gucken, ob Mutter auch wirklich nicht da ist, wäre das nicht gut?« war Silkes Vorschlag. »Sichergehen, weil: Nachher ruft die Hersler noch mal an, und dann?« Das leuchtete uns allen ein. Petra berauschte sich geradezu an der Idee: »Wie die Hersler da sitzt und wartet, allein und sehnsüchtig, das sehe ich mir an. Das will ich sehen. Zur Kontrolle und so. Wegen Mutter.« Es klang bitterböse, wie Petra das sagte. Als würde es ihr Spaß machen, die Hersler zu quälen. Sie hat uns doch nie was getan, ging es mir durch den Kopf. Insgeheim tat sie mir ausgesprochen leid. Der Brief war wirklich wunderschön gewesen, ich hätte selber gern mal einen solchen Brief bekommen, aber trotzdem durfte sie meine Familie nicht zerstören. Liebe, wen du willst, aber nicht meine Mutter, dachte ich. Das ging zu weit. Das mußten wir, wenn irgend möglich, verhindern. Obwohl ich auch Mutter die Liebe durchaus gönnte. Es mußte schön sein, so geliebt zu werden. Aber Mutter hatte ja auch noch uns und unsere Liebe. Liebe gab es nicht unbegrenzt. Jeder hatte ein bestimmtes Kontingent, das ihm zustand und wenn das erschöpft war, mußte man sich eben bescheiden. Sonst hätte Mutter doch die Hersler und Vater lieben können. Wen würde das eigentlich stören, überlegte ich, wenn sie genug Gefühl für beide hätte? Wäre es nicht herrlich, wenn es mehr Liebe gäbe? Andererseits hätte ich Mutters Kinderliebe auch gerne für mich allein gehabt. Ohne meine Geschwister. Abgeben war immer Mist. Auch in der Liebe.
Das Geschenk im Päckchen war ein seidiger Schal mit einem Drachen drauf. Ein grüner Drachen auf einem roten hauchdünnen Stoff. »Hat die Hersler bestimmt aus China mitgebracht«, grübelte Petra, während sie den Schal wieder und wieder durch die Finger gleiten ließ. »Was das wohl bedeuten soll, daß sie ihr einen Schal schenkt?« überlegte ich. Will sie sie anbinden? An sich? Festbinden? Einfangen? Sich ihr um den Hals schmiegen? Nah bei ihr sein. Wir waren ratlos. Einigten uns darauf, daß der Schal in China vielleicht Symbolcharakter hatte. »Rot steht für Leidenschaft und der Drache für Sex«, spekulierte Petra. Der Schal war so völlig anders als Mutters sonstige, eher dezente und praktische Garderobe. Er hatte etwas Demonstratives, Extravagantes. Es war ein: »Seht her, hier bin ich«-Schal. Ein Schal wie die Traubensandaletten aus Italien. »Der würde an Mutter eh nichts aussehen«, beschied Petra und stopfte den Schal wieder in die kleine rotlackierte Schachtel. »Was machen wir jetzt damit?« fragte Silke. »Verbrennen«, meinte Petra. »Alles andere ist zu heikel. Verstecken oder so. Stellt euch vor, die findet den. Zufällig beim Aufräumen. Das Risiko können wir nicht eingehen.« Wir machten es im Waschbecken. Ich hatte natürlich wieder mal schlimm Angst. Einmal die Angst, erwischt zu werden, und zum anderen auch, das Haus abzufackeln. Feuer war mir generell sehr unheimlich. Es gab ja Kinder, für die war es das Spannendste überhaupt, mit Feuerzeugen und Streichhölzern zu spielen. Ich fürchtete mich sogar davor, ein Streichholz anzuzünden. Kerzen mit angefeuchteten Fingerspitzen zu löschen, war mir ein Greuel. Die Vision, in Windeseile komplett in Flammen zu stehen, nur weil man ein Streichholz nicht rechtzeitig losgelassen hatte, war für mich ein Albtraum. Selbst Silke hatte Respekt vor Feuer. An Silvester waren wir die, die immer mindestens zehn Meter von jedem Kracher und
Knaller entfernt standen. »Stell dir vor, du zündest eine Rakete an und behältst das Streichholz zu lange in der Hand, und dann explodiert dir die Rakete und schießt, statt in den Himmel, in deinen Körper.« Silke konnte dieses Szenario detailgetreu ausmalen: »Die Innereien werden, wenn die Rakete sich in deinen Körper bohrt, wie auf einem Schaschlikspieß aufgespießt und am Rücken wieder rauskommen. Bis du merkst, daß du ein Loch im Bauch hast und deine Leber, die Milz und der Kram, vielleicht sogar die Nierchen, an einer alten Rakete hängen, kann es Minuten dauern. Selbst wenn deine Eltern schnell mit dir ins Krankenhaus rasen und den Raketenspieß mitnehmen, wirst du jämmerlich verbluten. Wie eklig. Was für ein Tod. Ausbluten wie ein Stück Fleisch am Haken beim Metzger. Dann stehen deine Eltern da, auf dem Krankenhausflur, mit dem Spieß in der Hand, du bist längst tot und sie können deine Milz spenden, oder wenn sie schon zu vertrocknet ist, in den Müll werfen. Oder mitbeerdigen. Den Sargfritzen fragen, ob er alles wieder reinstopft und zunäht.« Vater mochte das Geballer. »Männer zündeln gern, das liegt denen eindeutig im Blut«, stellte Mutter jedes Jahr wieder mit Vehemenz fest. So, als wäre es eine absolut neue Erkenntnis. Petra startete die Raketen zwar nicht selbst, stand aber immer wie Vaters Assistentin treu an seiner Seite. Sie genoß diese Momente ungeteilter Zweisamkeit, denn sie wußte ja, an dieser hochexplosiven Front würden Mutter, Silke und ich ihr niemals in die Quere kommen. »Wenn Vater dabei ist, macht die alles mit«, hetzte Silke gerne. Ich beneidete Petra um dieses tiefe Vertrauen, das sie anscheinend zu Vater hatte. Oder war es schlicht weniger Angst? Silke nannte es Dummheit. Gepaart mit Glück. »Bisher hat es sie nicht erwischt, purer Zufall, irgendwann ist sie Silvester dran.
Gallenspieß, sage ich nur«, verzog Silke bedeutungsvoll das Gesicht. Das Schalverbrennen war wesentlich weniger spektakulär als gedacht. Wir legten ihn ins Waschbecken, Silke und ich traten einen guten Schritt zurück, und Petra entzündete ihn genau da, wo dem Drachen die Flamme aus dem Maul schoß. »Unsere Mutter wirst du nicht entflammen«, mit diesen Worten überließ sie das Tuch seinem Schicksal. Ich weiß nicht genau, was wir erwartet hatten, alles vom lodernden Feuer bis zur gewaltigen Seidentuchexplosion wahrscheinlich, aber nichts davon geschah. Der Schal verbrannte dezenter, als es sein Aussehen vermuten ließ. Begleitet nur von einem zarten Zischen. Die Reste spülten wir durch den Syphon. Wenn alles im Leben so leicht zu beseitigen wäre, ging es mir durch den Kopf, wäre das nicht schön?
12 Am Morgen des 31. Dezember, dem Tag der geheimen Verabredung, deutete nichts daraufhin, daß Mutter irgend etwas erfahren hatte. Wir dagegen waren schon beim Frühstück zappelig. Würde unser Plan klappen? Würden wir die Hersler erwischen? Wir verabschiedeten uns nach dem Frühstück und erzählten was von Treffen auf dem Schulhof. Ferientreffen. Mit den anderen. Um über Weihnachten und so zu reden. Petra konnte es nicht lassen und schmückte die Ausrede auch noch aus. »Vielleicht sind sogar Lehrer dabei. Es wird bestimmt ein Spaß. Und Brote sollen wir mitbringen. Oder was Süßes. Das geht bestimmt bis heute Nachmittag, das Treffen. Also über Mittag allemal. Schließlich wollen die aus der Oberstufe was vorführen. Ein Theaterstück.« Wie die das schaffte. Ohne zu zucken, log sie Mutter die Hucke voll. Mutter machte dann auch brav Brote. »Die Süßigkeiten sind nur für die Kleinen, Petra. Du weißt, warum.« Jeder, der Petra anschaute, sah den Grund. Sie hatte den gigantischsten Eiterpickel auf der Nase, den ich je gesehen hatte. Man konnte nicht anders, als ihn anstarren. Der einzige Vorteil des Pickels war, daß er von den zahllosen anderen kleineren ablenkte. Wenn man lange genug hinschaute, auf den Nasenpickel, bekam man fast schon einen Silberblick. »Ihre Pickel führen noch dazu, daß wir das Schielen anfangen«, meinte Silke, die Pickel gern mit Vulkanen verglich. »Der ist doch kurz vor dem Ausbruch. Guck doch nur«, redete sie dann auf mich ein, »gleich wird die Lava ihre Nase runterlaufen.« Ich fand das ziemlich eklig und hoffte, daß mir so was später erspart
bleiben würde. Mutter glaubte, Petras schlechte Haut läge an zuviel Süßigkeiten. »Fett und Zucker, das du in deinen Körper reinstopfst, kommt da, zum Beispiel auf deiner Nase, wieder raus. Hör einfach auf, soviel Drecksessen in dich reinzuschaufeln. Dann wird auch deine Haut besser.« Pubertät war für sie kein wirkliches Argument. »Ich hatte nie Pickel, auch nicht in der Pubertät«, betonte sie immer wieder. »Mutters Pubertät findet ja auch gerade erst statt«, war Petras neuestes Gegenargument, was sie allerdings nie direkt zu Mutter sagte. Das traute sie sich dann doch nicht. Wir hatten beschlossen, nicht mit der Taunusbahn, sondern per Anhalter zu fahren. Um das Geld zu sparen. Keiner von uns wollte, trotz aller Neugier, das tapfer ersparte Taschengeld für eine Bahnfahrt ausgeben. Vierzig Minuten standen wir, den Daumen erhoben, an der Hauptausfahrtstraße von Kelkheim. Nur einmal hielt ein Wagen an, aber nicht etwa um uns mitzunehmen, sondern damit uns der Fahrer zurufen konnte, daß wir uns schleunigst nach Hause scheren sollten. Während wir zu frieren anfingen, plagte uns die Angst, gesehen zu werden. »Was, wenn irgendein Bekannter uns sieht und es Mutter petzt?« fragte ich meine Schwestern. »Mach dir nicht in die Hose«, antwortete mir Petra und streckte die Zunge raus. Manchmal haßte ich sie. Dann aber dachte ich wieder an ihre Pickel, an Teiggesicht Kunzer und ihre abgekauten Nägel, und ich konnte sie nicht mehr ganz so hassen. Es war ein ewiges Auf und Ab mit mir und Petra. Allerdings eines, von dem sie nichts ahnte. Zum Glück. Während ich schon dafür war, einfach wieder heimzugehen und deshalb auf meine Schwestern einredete, hielt ein Wagen. Ein zitronengelber Kharmann Ghia. »Genauso ein Auto wie es die Petrusilker in der Garage hat«, stellte Petra verwundert fest. Noch erstaunter waren wir allerdings, als wir sahen, daß
es die Petrusilker selbst war, die rasant auf dem Standstreifen neben uns hielt. »Wohin, ihr drei Hübschen«, fragte uns die alte Dame. »Nach Frankfurt«, preßten wir verlegen raus, aber sie sagte nur: »Dann rein mit euch.« Keinerlei Verwunderung oder so. Als wäre es das Normalste der Welt, daß wir an der Hauptstraße standen. Petra und Silke saßen gemeinsam auf dem Vordersitz, und ich quetschte mich hinten rein. Quasi auf die Hutablage. »Wieso fahren Sie wieder? Ich meine, Sie sind doch schon so lange nicht mehr gefahren«, fragte die neugierige Silke, und man merkte, wie sie versuchte, auf keinen Fall den Tod von Herrn Petrusilker anzusprechen. »Das Auto hatte einfach schreckliche Lust, mal wieder auszufahren, und ich konnte ihm den Wunsch nicht versagen. Es hat dermaßen gebettelt, da bin ich weich geworden«, antwortete Frau Petrusilker. Mit aller Wucht wurde mir klar, daß ich bei einer Wahnsinnigen im Auto saß. Einer Frau, die mit ihrem Cabrio sprach. Das und meine unbequeme Lage, dauernd schlief mir ein Bein ein, ließ mich den Ausflug schon jetzt bitter bereuen. Petra, die wohl auf Nummer sicher gehen wollte, bat sie, nichts zu Mutter zu sagen, denn es ginge um eine Überraschung für sie. Raffinierter Schachzug, das mußte ich zugeben. Die Petrusilker nickte nur kurz, reichlich desinteressiert, und wir waren beruhigt. Mitten in der Innenstadt Frankfurts ließ sie uns raus. »Wo fahren sie denn noch hin«, wollte meine neugierige Schwester Silke wissen. »Wohin der kleine Kharmann Ghia will, mir ist es gleich«, lachte Frau Petrusilker und keiner von uns war sich sicher, ob das ernst gemeint war oder sie uns veräppelte. Insgeheim befürchtete ich, daß es völlig ernst gemeint war. Auf jeden Fall war ich sehr froh, aus dem Wagen raus zu sein. Den anderen beiden ging es ähnlich, denn wir beschlossen sofort, für den Heimweg die Bahn zu nehmen.
Dank Frau Petrusilker, die mit quietschenden Reifen davonfuhr, waren wir sogar noch eine halbe Stunde zu früh am Café Kranzler. »Laß uns reingehen und eine Tasse Kakao trinken oder eine Cola«, war Petras Vorschlag. »Erst fahren wir aus lauter Sparsamkeit nicht mit dem Zug und jetzt sollen wir da drin teure Colas trinken«, entgegnete ich. Mir taten die Beine noch immer weh. Aber wie. Ich bereute diesen Ausflug, noch ehe er beendet war. Silke war auch gegen die Cola. Weniger wegen des Geldes, sondern mehr wegen der Gefahr, entdeckt zu werden. »Wer verbietet uns in den Ferien im Café Kranzler eine Cola zu trinken. Kann doch Zufall sein, daß wir da dann die Hersler treffen«, meinte Petra, die neuerdings immer häufiger die Abgebrühte mimte. »Die ist doch nicht blöd, die weiß doch dann genau, was los ist. Also nee, das mach ich nicht mit«, kam es mutig von Silke. Ich war Silkes Meinung. Dreist im Café zu sitzen, das ging mir zu weit. Wir stellten uns in einen Hofeingang, von dem aus wir das Café bestens im Blickfeld hatten. Fünf Minuten nach elf war es soweit. Frau Hersler bog um die Ecke. Eine Frau Hersler, die wir erst auf den zweiten Blick als unsere Frau Hersler identifizierten. Sie trug einen glatten Pagenschnitt mit langem Pony, und das Ganze in Kastanienrot. Und die neue Frau Hersler hatte Jeans an. Enge Wrangler. Und dazu eine Lederjacke. »Sie kann es nicht sein«, hauchte Silke entsetzt, »vielleicht eine Schwester oder Zwillingsschwester.« »Die war garantiert bei ›Brigitte‹«, war Petras Kommentar. »Machen Sie das Beste aus Ihrem Typ, oder so. Mutter liest das auch immer. Ist ja der Hammer.« Ich war vollkommen sprachlos. Und unentschlossen. War die Hersler so überhaupt noch die Hersler? »Sie sieht super aus, ätzend«, stammelte Silke immerzu. »Die Farbe, irre.« Ihre Haare wippten nicht mehr. Kein bißchen. Sie hingen einfach runter. Schade, dieses
Wippen, dieses Eigenleben der Haare hatte ich immer gemocht. Die Hersler war mir fremd. Petra war platt und wollte sofort auch so eine Beratung, von der wir gar nicht wußten, ob die Hersler sie tatsächlich gehabt hatte. »Ob das bei dir geht«, runzelte Silke die Stirn, »also, ich glaube, bei den Pickeln, da geht nix.« Die knallt ihr eine, dachte ich, aber es passierte nichts. Petra war dermaßen gefesselt von der neuen Frau Hersler, daß sie nicht mal reagierte. Frau Hersler lief vor dem Café hin und her und sah ständig auf ihre Uhr. Wie schrecklich, jetzt hat sie sich rausgeputzt wie doll und wartet vergeblich, ging mir durch den Kopf. »Da nützen dir auch deine neuen Haare nichts«, lästerte Petra und schien sich zu freuen. Bei genauer Betrachtung war Petra eigentlich kein wirklich guter Mensch. Aber in diesem Fall sollte sie nicht recht behalten. Um zehn Minuten nach elf erschien Mutter. Unsere Mutter. Leibhaftig. Die beiden umarmten sich und blieben vor dem Café stehen. Wir waren schockiert. Wie konnte Mutter von der Verabredung wissen? Was war in unserer Planung schiefgelaufen? Hatte die Hersler angerufen? Oder Mutter? Oder war das Ganze schlicht Zufall? Ahnte Mutter, wo das Päckchen abgeblieben war? Wie sollten wir das mit dem verbrannten Drachentuch erklären? Ich fing schon bei dem Gedanken an den Krach und die daraus resultierenden Folgen zu weinen an. Wochenlang weder Taschengeld noch Fernsehen, das war in einem solchen Fall sicherlich das mindeste. Wer weiß, vielleicht würden sie uns sogar in ein Heim stecken. Ich konnte mich gar nicht mehr beruhigen. Petra blieb gelassen: »Wir streiten alles ab, die kann uns doch nicht beweisen, daß wir das Paket haben verschwinden lassen.« Silke sagte nur: »Hoffentlich.« An dem leichten Zittern in ihrer Stimme merkte man aber, wie ängstlich selbst sie war. Die beiden Frauen, Mutter und Frau Hersler, standen noch immer vor dem Café. So, als würden sie
warten. Wenige Minuten später war klar, auf wen. Auf Vater. Gemeinsam gingen sie ins Café. Das war uns nun wirklich zu hoch. »Sodom und Gomorrha«, kommentierte Petra und machte Würgegeräusche, »prima, meine Eltern treiben es kreuz und quer. Die Lesbe ist auch noch bi. Ekelhaft. Ich könnte glatt kotzen.« Silke und ich waren verwirrt. Was war daran denn jetzt ekelhaft? Und was war jetzt bi? Und wieso Kotzen? Wußte Vater etwa Bescheid und wollte mitmachen? War das bi? Alle zusammen. Oder war er der Narr, der es als letzter erfuhr? Oder willigte er zu allem Unglück auch noch ein und gab Mutter frei? Ich hätte am liebsten laut geschrien. Warum muteten die mir das zu? Konnten die nicht wie alle anderen leben? So, wie man das eben machte, mit dem Leben. Wie beim Zugfahren. Einsteigen mit Fahrschein und an der richtigen Haltestelle raus. Nicht zwischendrin irgendwo raushüpfen und dann wieder rein und das alles ohne Ticket. Scheiße. Ich fand, daß das nun langsam an Zumutung grenzte. Wir hatten schließlich noch anderes um die Ohren. Die Schule, das Klavier und die Meerschweinchen. Mir langte es. Je mehr ich darüber nachdachte, welche Ungerechtigkeit ausgerechnet über mich ausgeschüttet wurde und wie wenig ich das an sich verdient hatte, um so mehr mußte ich heulen. »Die flutet noch die Hauptwache«, blökte mich Petra an, und ich schluchzte nur: »Du hast immerhin Teiggesicht. Ich meine Kunzer. Den Michael halt.« Ich wollte geordnete Verhältnisse. Silke fing nun auch an. Zu heulen. »Ich hätte euch ätzenden Babys nichts verraten sollen. Ihr seid der Sache nicht gewachsen. Mist.« Wie Petra das sagte, der »Sache« nicht gewachsen. Wie bei dem Sturz des Babys. Der hieß, wenn denn wirklich mal jemand darüber sprach, auch immerzu »der Vorfall«, »die Sache« oder so was.
»Ich geh da jetzt rein«, sagte ich zu meinen Schwestern und ging. Ich wußte, daß sie versuchen würden, mich daran zu hindern. »Es ist mir egal was ihr tut, ich will jetzt wissen, was da los ist. Ich geh und frage Mutter und Vater. Außerdem spare ich mir dann das Geld für den Heimweg. Die nehmen mich nämlich garantiert mit.« Natürlich waren Petra und Silke empört. Ich würde sie alle verraten, wäre die Petze schlechthin, und sie würden mich nie mehr in etwas einweihen. All das erschien mir in diesem Moment völlig unwichtig. Vielleicht wäre es sogar besser, manche Dinge gar nicht erst zu wissen. Hätte ich von dem Brief und dem Drachentuch nichts erzählt bekommen, wäre mir die Fahrt hinten in Frau Petrusilkers Kharmann Ghia erspart geblieben. Ich würde an diesem letzten Tag des Jahres gemütlich in unserer Straße Bonanza-Rad fahren und müßte nicht heulend und frierend in einem Hauseingang in der Frankfurter Innenstadt stehen. Ich wollte ab sofort lieber nicht mehr eingeweiht werden, und deshalb machten mir die Drohungen meiner Schwestern nichts aus. Im Gegenteil. Sie erleichterten mich. Mutter war wesentlich weniger erstaunt über mein plötzliches Erscheinen, als ich gedacht hatte. »Ach, da bist du ja«, sagte sie nur lakonisch und fügte lachend hinzu: »Bringst du mir den Schal vorbei?« Auch die Hersler und Vater kicherten. »Wo stecken denn deine Schwestern«, erkundigte sich Vater, als wäre klar, daß sie nicht weit sein könnten. Na prima, jetzt würden die beiden denken, ich hätte sie verpetzt. Das auch noch. Ich lief dunkelrot an. Vom Gefühl her schon eher bordeauxrot. Wer hatte uns bloß verraten? Die Petrusilker? Konnte die derart schnell wieder daheimgewesen sein, um Mutter zu informieren? Niemals. Sie mußte angerufen haben. Das war es. Ich hätte nicht gedacht, daß sie das tut. Vater bestellte mir eine heiße Schokolade und ein Stück Frankfurter
Kranz. Ich hoffte inständig, Silke und Petra könnten es sehen. Oder die heiße Schokolade riechen. Der Neid würde sie in Null Komma nichts hier rein treiben. Aber nichts geschah. So oft ich mich auch umschaute und darauf wartete, daß die Drehtür Silke und Petra freigab: Es geschah nichts. Den Hauseingang, in dem wir gelauert hatten, konnte ich von meinem Platz aus nicht sehen. »Sie werden niemals mehr mit mir sprechen«, war ich überzeugt, aber der süße Kakao mit einem riesigen Schlag Sahne versöhnte mich ein bißchen mit meinem Schicksal. »Was macht ihr eigentlich hier«, fragte ich mutig, nachdem ich die Hälfte des Frankfurter Kranzes in mich reingestopft hatte. »Wir trinken gepflegt Kaffee, was sonst?« grinste Mutter. Eine rätselhafte Veranstaltung war das. Vor allem das dauernde Gekicher. Und dazu diese neue Ausgabe von Frau Hersler. »Was ist mit Ihren Haaren passiert?« erkundete ich vorsichtig. »Die waren einfach mal beim Friseur« , beschied Frau Hersler. Mehr zu fragen traute ich mich nicht. »Und du, was machst du denn hier so allein in der Stadt, ist euer Schulhoftreffen vorbei?« kam prompt die Retourkutsche von der Hersler. »Wegen Silvester einkaufen und so, das in der Schule, dieses Treffen war schon vorbei«, stammelte ich mir zurecht. Mein Kopf hörte gar nicht mehr auf zu leuchten. Wenn das so weiterging, würde ich für immer mit dieser Leuchtbombe durch die Welt traben. Und daran auch noch selbst schuld sein. »Sollen wir dich mit nach Hause nehmen oder hast du noch was zu erledigen«, fragte Mutter scheinheilig. »Ich bin fertig, nehmt mich ruhig mit«, antwortete ich schnell. Mit der Ausrede, eben mal zur Toilette zu müssen, rannte ich raus, um nach Silke und Petra zu schauen. Ich wollte sie wenigstens fragen, ob sie nicht doch auch mitfahren wollten. Aber sie waren weg. Verschwunden. Wenn sie verschwanden, ohne ein Wort, dann war das nicht mehr mein Problem. Sagte ich mir. Obwohl ich genau wußte, daß das natürlich spätestens zu
Hause mein Problem sein würde. Wochen würden die mich dafür strafen. Wenn nicht Monate. Besonders Petra, die nachtragende Ziege. Ich sah schon ihr Gesicht vor mir. Zusammengepreßte Lippen und Haß im Blick. Die Pickelliese konnte so böse gucken, daß man Angst hatte, tot umzufallen. Trotzdem fuhr ich mit Vater und Mutter im Auto nach Hause. Darauf kam es jetzt sowieso nicht mehr an. Die Hersler verabschiedete sich noch im Café Kranzler von uns. Sie drückte Mutter ganz fest, nahm auch mich in den Arm, strich mir sanft über den Kopf und nickte Vater zu. Mehr nicht. Aber in diesem Nicken steckte eine Menge Tapferkeit. Vielleicht hatte ich ihre letzte Chance durch mein plötzliches Auftreten ruiniert. Meinen Eltern klar gemacht, was da noch war, wir, die Kinder eben, und das Thema dadurch im Keim erstickt. Wahrscheinlich hatten sie sich getroffen, um noch einmal über alles zu reden und dann zu entscheiden. Ich hatte die Entscheidung nun herbeigeführt. Nur durch meine Anwesenheit. Ein genialer Schachzug, nachträglich betrachtet. Meine Schwestern werden sich am Ende noch bei mir bedanken müssen, dachte ich und fühlte mich gleich viel wohler. So schnell konnte sich eine Lage um 180 Grad drehen. Herrlich. Ich war die Retterin und nicht die Petze. Die Heldin und nicht die Verräterin. Das war ein Signal für das kommende Jahr. Für den Silvesterabend. Das nächste Jahr würde unter einem anderen, einem guten Stern stehen, und wir würden eine normale und wieder glückliche Familie sein. Petra sprach vier Wochen nicht mehr mit mir. Silke gab nach knapp zwei Tagen auf. So stur und verkniffen wie Petra war sie nun mal nicht. Die beiden waren mit der Taunusbahn heimgefahren, und Petra hatte in der Aufregung ihre kleine dunkelbraune Umhängetasche mit dem Portemonnaie liegengelassen. »Sie findet, daß du dran schuld bist. Weil du
uns so aufgeregt hast. Die wird dir das nie verzeihen«, war sich Silke sicher. Immerhin waren siebenundzwanzig Mark in der Tasche gewesen. Aber ich fühlte mich ausnahmsweise nicht schuldig. Petra ließ oft etwas liegen. Sie war, wie selbst ihr geliebter Papi, der sonst immer auf ihrer Seite war, zugab, einfach ein wenig schusselig. »Schlampig«, hatte es die Hersler immer genannt. Die konnte schon sehr direkt sein, die Hersler. Um den heißen Brei reden, war jedenfalls nicht ihr Ding. Unsere neue Hilfe Pizzi war da anders. Sie sprach viel weniger. Und wenn, dann eigentlich hauptsächlich mit Petra. Sie und Petra hatten sich von Anfang an gemocht. Pizzi war insgesamt, genau wie ihre Haare waren. Dünn und strähnig, ohne allerdings fettig zu sein. Ungepflegt war sie keineswegs. Die Haare hingen wie leblose Fäden vom Kopf. Sauber, aber glanzlos. Adrett, aber nicht schön. »Welche Haarfarbe hat Pizzi«, fragte mich Silke gerne. Die an sich einfache Frage war in diesem Fall fast nicht zu beantworten. Sie war weder blond noch braunhaarig. Grau war es auch nicht. Aschig traf es am besten. »Ihr Haar sieht tot aus«, sagte Silke mal, und als ich es im Vorübergehen aus Versehen berührte, mußte ich zugeben, daß Silke recht hatte. Es hätte unecht sein können. Eine Perücke. »Wer würde eine so häßliche Perücke aufsetzen«, widersprach Silke. Ich war mir nicht sicher. »Das genau könnte der Trick sein«, dachte ich. Eine Perücke, die so fade aussieht: Wie raffiniert. Pizzi und Petra saßen jetzt oft noch abends nach Pizzis Dienstschluß in Petras Zimmer zusammen. »Worüber redet ihr?« wollten wir schrecklich gerne wissen, aber Petra gab keine Antwort. »Über Jungs«, mutmaßte Silke, »worüber sonst?« »Was soll man denn über Teiggesicht groß reden«, bezweifelte ich Silkes Vermutung.
Mutter, die ja früher, ebenso wie Oma, immerzu gesagt hatte, man dürfe sich keinesfalls mit dem Personal verbünden, hatte gegen Petras Treffen mit Pizzi nichts. Wie sollte sie auch, nach dem, was sie selbst mit Personal gemacht hat. »Getrieben«, nannte es Petra, die behauptete, daß sich Mutter weiterhin mit der Hersler traf. »Ihr denkt, die geht mittwochs abends echt in Yoga, ich sage euch, die verrenkt sich ganz woanders. Im Team mit der Hersler.« »Kannst du das beweisen«, fragten wir ziemlich geschockt, denn seit Vater wieder bei uns wohnte, waren wir davon ausgegangen, daß alles so war, wie es bei normalen Familien eben war. »Ich kann gar nichts beweisen. Aber andere, die ich nicht nennen darf, haben es mir mitgeteilt. Es ist hundertprozentig sicher«, machte Petra uns nur noch neugieriger. Wer der geheimnisvolle Informant war, verriet sie uns natürlich nicht. Alte Wichtigtuerin. Das war es auch, was sie mit Pizzi machte. Sich wichtig tun. Die beiden führten sich auf, als hätten sie fast jeden Abend ungeheuer Spannendes zu bereden. »Ich kann viel von ihr lernen«, war die einzige Äußerung, die wir unserer großen Schwester entlocken konnten. Wollte Petra jetzt etwa Haushälterin werden? Was sonst sollte sie von Pizzi lernen? Merkwürdig war das. Kunzer sah diese neue Verbindung überhaupt nicht gerne. Es war schließlich für alle erkennbar, daß Petra lieber mit Pizzi als mit ihm zusammen war. Immer häufiger gab sie ihm, wenn er anrief, einen Korb. Manchmal weigerte sie sich sogar, ans Telefon zu gehen. Schüttelte hysterisch den Kopf, wenn wir sie riefen und gab uns Zeichen, damit wir sagten, sie sei nicht zu Hause. Was Kunzer natürlich merkte, wir waren schließlich keine professionellen Lügnerinnen und außerdem, wo sollte Petra schon sein? Teiggesicht wurde richtiggehend eifersüchtig, und nach vier Wochen in denen Petra von Woche
zu Woche desinteressierter wurde, nicht mal mehr in den Schulpausen seine Gesellschaft suchte, kündigte er ihr die Beziehung. Aber wie! Knall auf Fall. Morgens an der Bahnschranke. Wir bekamen alles hautnah mit, weil Kunzer dermaßen laut schrie und dann, als Petra kaum reagierte, zu weinen begann. »Sie hat mich nie geliebt und nur benutzt«, schluchzte er so laut, daß es wirklich jeder mitbekam. Silke und ich trösteten ihn, so gut wir konnten. »Sei froh, daß du die los bist«, versuchte es Silke mit der direkten Variante, aber Kunzer war einfach heillos in unsere Schwester verschossen und schien uns überhaupt nicht wahrzunehmen. Petra, der wir in der ersten großen Pause alles haarklein berichteten, ließ das alles sichtlich kalt. Selbst die Tränen. »Er ist nun mal eine Heulsuse«, tat sie Kunzers Schmerz ab, »ich hebe meine Liebe für den einen auf. Den einzig Wahren.« Weder Silke noch ich kapierten, was sie damit meinte. Zu weiteren Erklärungen war sie aber nicht bereit. Mutter schien sich wenig Gedanken zu machen, sie war bloß froh, daß die Geschichte mit Kunzer erledigt war. »Ich konnte ihm nie ins Gesicht sehen, ohne an die Beerdigung zu denken«, sagte sie am Abend nach der Bahnschrankenszene, wie Silke und ich das Drama nannten, zu Vater, und Vater stimmte ihr zu. »Ich höre noch genau den Schmalz in seiner Stimme, als er das ›Mama‹ sang, einen Tick zu tief war er, weißt du noch«, bestätigte er Mutter. Dann lachten beide. Unvermittelt und lauthals. Wie gewagt. Beim Thema Beerdigung, und auch noch der des eigenen Kindes zu lachen. »Das ist der Durchbruch«, meinte Silke, »sie werden wieder wie sie mal waren. Die Beerdigung ist nur noch Vergangenheit.«
Ich war mir da unsicher. Vielleicht hatten sie nur aus Verlegenheit gelacht. Um nicht abzugleiten und den anderen mitzureißen in eine noch immer vorhandene, aber nicht sichtbare Traurigkeit. Durfte man nur still im Verborgenen trauern, weil alles andere als übertrieben gegolten hätte? Weil Trauer, so wie Joghurt oder ein halber Liter Frischmilch ein Verfallsdatum hatte. »Ein Jahr muß reichen, genug der Trauer. Ab jetzt bitte wieder normale Heiterkeit.« Punkt. Aus. Ende. Schluß. Dazu paßte auch Omas Lieblingsspruch: »Zeit heilt alle Wunden.« War das nicht völliger Unsinn? Gab es nicht auch Wunden, die nie heilten? Die immer wieder aufbrachen, eiterten, sich neu entzündeten. Wunden, die die Zeit nur schlimmer und nicht besser machte.
13 Seit dem Tag des Bahnschrankendramas sprach Kunzer nicht mehr mit uns. Daß er nicht mehr mit Petra sprechen wollte, konnten wir noch verstehen, aber hatten wir nicht alles getan, um ihn aufzuheitern? Fast demonstrativ auf seiner Seite gestanden? Sogar gegen die eigene Schwester. Es wurde einem wirklich nichts gedankt im Leben. »Da seht ihr, wie er tief in seinem Inneren ist«, triumphierte Petra. »Wer weiß, wer soviel Zeit mit Petra verbracht hat, muß vielleicht so werden, tief drinnen«, meinte hingegen Silke. »Quatsch«, widersprach ich. »Wir sind doch auch dauernd mit ihr zusammen und noch nicht wie sie.« »Aber sie wird immer mehr zu einer Pizzi«, argumentierte Silke, und das stimmte tatsächlich. Sie kleidete sich sogar ähnlich. Ging fast nur noch im Rock mit Rolli oder Bluse und benutzte nicht mal mehr ihre vorher heißgeliebte Wimperntusche. Das merkwürdigste aber war die Geschichte mit den Traubensandalen. Erst hatte sie sie mühsam aus dem Müll errettet, nun warf sie sie selbst wieder hinein. Ausgerechnet jetzt, wo es doch Frühjahr wurde. Wir waren darüber dermaßen verwirrt, daß wir Mutter fragten, was mit Petra los sei. Ihre Antwort war kurz und erklärte uns eigentlich nichts: »Die Pubertät ist eine Achterbahn, Kinder, Petra dreht gerade den Doppellooping. Nicht hinschauen, da wird einem gleich mit schlecht und man ärgert sich, daß man eingestiegen ist. Auch wenn es nur mental war.« Den Doppellooping mental nehmen, aha. Nur, warum warf man dann Traubensandalen weg? Silke und ich waren keinen Deut schlauer als vorher. Im Gegenteil. Aber Mutter machte nicht den Eindruck, als wäre sie zu weiteren Erklärungen
bereit. Eines war uns allerdings klar: Kunzer und Petra hatten uns durch ihre Aktionen mit Wucht vor Augen geführt, daß wir niemals in die Pubertät kommen wollten. Wenn Pubertät bedeutete, man hatte die Wahl, pickelgesichtige Langweiler zu knutschen oder mit wortkargen, bleichen Haushälterinnen im Kämmerlein zu sitzen, dann wollten wir beide, Silke und ich, gerne verzichten. »Sollte es bei mir losgehen, halte mich bitte davon ab, erinnere mich an das, was wir beschlossen haben, keine Pubertät, keine Kunzers und keine Pizzi-Abende«, nahm mir Silke das Versprechen ab, und ich zwang mich, nicht auf ihre ständig wachsenden Brüste zu gucken. Was wirklich schwer war, so wie die hin- und herwippten. Eins war klar, körperlich war Silke ein absoluter Frühstarter, also schon mittendrin im Looping. Da konnte man sie nicht mehr von abhalten. Wie auch? Die BHs von Petra waren ihr längst zu klein. »Leider«, seufzte Silke, denn die, die Mutter aussuchte, waren lange nicht so keck wie die Modelle, die Onkel Rudolph Petra geschenkt hatte. Mutter kaufte hautfarbene Büstenhalter, die auf dem Rücken überkreuz laufende Träger hatten. »Hautfarben ist dezenter, dann fällt das alles nicht auf«, war sie überzeugt. Als könnte man diese stattlichen Dinger durch einen Farbtrick verbergen. Lächerlich. »Du wirst dich daran gewöhnen«, sagte Mutter sehr häufig zu Silke, was irgendwie kein sehr großer Trost war. Wahrscheinlich waren Mutter Silkes Brüste auch nicht geheuer. Sie selbst hatte völlig normale. Etwa eine gute Handvoll. Unauffällig in jeder Hinsicht. »Jemand mit solchen Durchschnittsbrüsten kann überhaupt nicht beurteilen, wie es ist, Riesenbusen zu haben«, klagte Silke. Manchmal ging einem das Geheule wirklich auf die Nerven; die tat, als hätte sie eine Hasenscharte oder irgendwas Schreckliches. Eine Bekannte von Pizzi hatte eine Hasenscharte. »Guck dir das mal
an«, ermahnte ich Silke. »Da starrt jeder drauf. Und toll finden tut das keiner.« »Nur weil es noch Schlimmeres gibt, heißt das doch nicht, daß meins nicht schlimm ist«, antwortete Silke. Weil ich protestieren wollte, schob sie sofort ein Beispiel hinterher. »Nimm das mit dem Baby, stell dir vor, es wäre mir auf den Kopf gefallen und ich wäre seither geistig behindert und das Baby trotzdem tot. Das wäre ja wohl noch schlimmer als das nur mit dem toten Baby. Trotzdem ist es auch ohne meine geistige Behinderung schlimm. Oder?« Bei dem, was die an wirrem Kram redete, war ich mir, ehrlich gesagt, nicht sicher, ob da nicht doch was Geistiges schieflief. Aber behindert war vielleicht zu stark. Die hatte sie nur oft nicht alle. In unserer Familie schien das fast normal zu sein. Nicht normal zu sein. »Wir können uns nicht normal entwickeln mit dem toten Baby und der Lesbenmutter. Das ist nahezu ausgeschlossen«, redete sich Silke immer raus, wenn sie irgendwas Beklopptes machte. Im Ausredenerfinden war die von jeher ganz groß. Das neue Jahr stand aber trotzdem unter einem guten Stern. Vater war regelmäßig beim Abendessen dabei und seit Frühjahrsbeginn schlief er auch wieder in einem Bett mit Mutter. Alles begann so zu werden, wie es früher einmal war. Bis auf Silkes Brüste natürlich. Ab und an fuhren wir sonntags sogar wieder zum Wienerwald. Beim ersten Mal waren wir sehr gespannt, ob Mutter nun, wo das Baby tot war, mitkommen würde. Sie ließ es. »Ich mache mir nichts aus Hähnchen, geht ihr mal alleine«, war ihre Ausrede. »Sie gönnt uns die Zeit allein mit Vater«, war Silkes Vermutung, aber Petra war sich sicher, daß Mutter die Stunden nützte, um sich mit der Hersler zu treffen. Für ihre Theorie sprach, daß Mutter sich jedesmal, wenn wir wegfuhren, bis in die Innenstadt mitnehmen ließ. Und dafür,
daß sie angeblich nur ein bißchen spazierenging, machte sie sich verdammt schick. »Ich werde herausfinden, was da vor sich geht«, war Petras fester Vorsatz. »Die soll reinlegen, wen sie will, aber mich nicht, mich garantiert nicht«, motzte sie. Silke bot sofort ihre Mithilfe an, aber mit einem strengen Blick auf mich und einem verächtlichen: »Nein danke, ich habe noch genau in Erinnerung, was passiert, wenn man mit Kleinkindern gemeinsame Sache macht«, lehnte Petra ab. »Ätzend, jetzt muß ich für deinen Schiß büßen«, meckerte mich Silke voll. »Sei doch froh«, fand ich, »du kannst jetzt entspannt nichts machen, weil sie es ist, die dich nicht dabeihaben will, das ist doch super. Voll praktisch. Du kannst immer sagen: Ich wollte dir ja helfen.« Silke war trotzdem enttäuscht. Sie spielte nun mal gerne Detektivin. »Wenn ihr alle nicht mit in den Wienerwald fahrt, ist unsere Tarnung aufgeflogen«, beruhigte sie Petra. »Ich brauche dich im Wienerwald, als Ablenkung für Vater. Es langt schon, daß ich nicht mitkomme«, erklärte sie uns. Silke war auch direkt ein bißchen besänftigt. Was uns allerdings gleich wieder aufregte, war ihr beiläufig erwähntes: »Außerdem wird mir Pizzi helfen.« »Was hat die mit unserer Familie zu tun, was geht die das an«, wollte ich empört wissen, aber Ziege Petra machte ihre fiesen Schlitzaugen und ließ mich ohne ein Wort stehen. Es war der Sonntag, zwei Wochen vor dem Jahrestag des Babyabsturzes, als Petra schon morgens begann die Sache einzufädeln. »Mir ist schlecht«, murmelte sie beim Frühstück und ließ tapfer jegliches Essen stehen. Selbst das weichgekochte Ei. Petra liebte weichgekochte Eier, man mußte im Normalfall sogar aufpassen, daß sie einem nicht noch das eigene wegfraß. Daß sie das konnte, angesichts aller Verlockungen zu verzichten, war etwas, was ich an Petra
bewunderte. Wenn die etwas wirklich wollte, dann wollte die und wurde auch nicht schnell schwach. Silke war auch voller Bewunderung. Auf Essen zu verzichten, war unvorstellbar für Silke. Was man ihr mittlerweile auch ansah. Ihre Hüften, seit dem Italienurlaub schon ein wenig ausladend, hatten sich noch weiter verbreitert. Nicht in dem Maße wie ihre Brüste, aber doch auffällig. Die meisten Hosen saßen knalleng, und ich erbte den Teil, bei dem es aussah, als würde sie demnächst rausplatzen. Was natürlich dazu führte, daß Silke dauernd neue Hosen bekam und ich nicht. Sie wurde fett, und ich hatte die Nachteile davon. »Du mußt dich ein wenig zügeln«, mahnte Mutter regelmäßig alle zwei bis drei Tage, aber Silke schien das egal. »Ich wachse noch, und mein Körper braucht die Nahrung«, sagte sie ernst. Vater war auf ihrer Seite. »Laß sie Regina, das pendelt sich schon ein, und es steht ihr doch auch.« Es paßt zusammen, wäre die bessere Antwort gewesen. Und die ehrlichere, denn eins war wirklich so: Man sah die Riesenbrüste gar nicht mehr so sehr. Da nach und nach alles riesig wurde. Bis auf den Kopf. Der war noch immer recht niedlich. Silke war im Gesicht ziemlich hübsch und wußte das auch. Sie sah von uns dreien am besten aus. Insofern war das mit dem Dickwerden eine Art fairer Ausgleich. Silke hatte das schöne Gesicht und ich dafür den schöneren Hintern und die dünneren Schenkel. Das war uns beiden klar. Obwohl ich nie etwas über ihre Mopsfigur sagte, konnte sie es nicht lassen, mir abends vor dem Einschlafen die Frage zu stellen, was im Leben wichtiger sei, das Gesicht oder der Körper. Und während ich ernsthaft überlegte, ganz unparteiisch, fing sie schon an mir zu erklären, daß die Antwort wohl vollkommen eindeutig wäre. »Man kann alles verdecken. Außer das Gesicht. Hat man ein Scheiß-Gesicht guckt einem keiner mehr auf den Po. Da guckt überhaupt niemand noch irgendwo hin. Mit einem Scheiß-Gesicht ist sofort Essig.« Ich beschloß, gar
nicht zu reagieren. Damit konnte nicht ich gemeint sein. Mein Gesicht war nämlich keinesfalls ein Scheiß-Gesicht. Nur weil es nicht ganz so niedlich war wie das von Silke, war es noch lange kein Scheiß-Gesicht. Aber so direkt hatte es Silke ja auch nicht gesagt. Letztlich ging es nur um Kopf oder Po. Petra hätte bei dem Spiel auf jeden Fall verloren. In der Kunzer Zeit hatte sie sich noch angestrengt, aber in den letzten Wochen mit Pizzi wirkte sie immer altmodischer. So bieder. Und langweilig. Petras Verzicht auf weichgekochte Frühstückseier war nicht erfolgreich. Vater beschloß, da es seiner Petra nicht gutging, den Wienerwaldbesuch an diesem Sonntag komplett zu streichen: »Woche für Woche Hähnchen, die Dinger hängen mir auch schon zum Hals raus, wir bleiben heute mal gemütlich daheim. Ohne Petra macht es doch sowieso nur halb soviel Spaß, gell?« Silke und ich waren sofort beleidigt. Wie konnte Vater offen zugeben, daß ihm ein Ausflug ohne seine Große keinen Spaß machen würde? »Mutter hatte das Baby, Vater hat seine Petra, und wir sind die Idioten dieser Familie«, brachte es Silke auf den Punkt. »Stell dir vor, es hätte gebrannt, damals, als das Baby noch lebte. Hier im Haus. Ich schwöre dir, wir wären glatt verbrannt. Mutter hätte das Baby und Vater seine Petra gerettet. Sie hätten uns geopfert. Die mittleren Kinder sind immer weniger wert. Die ersten sind der Knaller. Weil sie was Neues sind. Verstehst du?« Schwer zu verstehen war das nun wirklich nicht. »Natürlich«, sagte ich und, »übertreibst du nicht etwas?« »Von wegen«, antwortete Silke. »Von wegen. Das erste und das letzte Kind, die sind es. Anfang und Ende. Das Nesthäkchen. Wenn es dann auch noch ein Junge ist, wie bei uns, und der Rest nur Mädchen, dann ist alles gelaufen. Dann wird es eigentlich sofort heiliggesprochen: das glorreiche Nesthäkchen. Eltern sollten am allerbesten nur zwei Kinder
kriegen. Ein erstes und ein Nesthäkchen. Dann wären beide Kinder fein raus. Ich wollte, das hätten unsere Eltern auch getan. Nur das erste und das zweite gekriegt. Ich wäre dann Nesthäkchen, und Mutter wäre der ganze Kummer mit dem Baby erspart geblieben.« Ich mußte mir Mühe geben, nicht zu weinen; schließlich hatte meine Schwester, auch noch meine Lieblingsschwester, gerade gesagt, es wäre besser, es würde mich nicht geben. So kam es, daß Petras Mißtrauen und ihre blöde Idee, Mutter aufzulauern, uns den Tag völlig versauten. Die einzige, die gut gelaunt das Haus verließ, war Mutter. Wieder mal war also alles anders gekommen, als wir erwartet hatten. Nur eine Genugtuung blieb Silke und mir: Petra durfte den ganzen Tag nichts essen. »Wenn dir morgens so übel ist, dann ist es sicherer, mal einen Tag auf das Essen zu verzichten«, sorgte sich Vater um seinen Liebling. Auch ihr »Ich glaube es, geht schon wieder« blieb ohne Wirkung. »Der Magen ist nachtragend, mein Schatz«, beharrte Vater auf seiner Anordnung und verdoppelte unbewußt Petras Leid, als er für sich und uns Pizza besorgte. Petra liebte Pizza. Man sah förmlich, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief. Statt hoch auf ihr Zimmer zu gehen, setzte sie sich, obwohl sie nichts essen durfte, auch noch zu uns an den Tisch. »Zu wissen, es gibt Pizza und man kriegt nichts, muß schlimm sein, aber warum guckt sie sich das noch an. Quält die sich gerne, oder was soll das?« überlegte Silke. Ich glaubte, daß sie immer noch darauf hoffte, was abzukriegen. Heftiger als das Essensverbot traf Petra die Tatsache, daß Vater ihr nicht erlaubte, mit Pizzi am Nachmittag wegzugehen. »Pizzi darf herkommen, aber raus gehst du mit deinem verkorksten Magen auf keinen Fall.« Petra tobte und weinte, blieb aber erfolglos. Und das bei Vater. Als Pizzi, wie immer
pünktlich auf die Minute, zum Abholen kam, verschwanden die beiden auf Petras Zimmer. Aber schon nach wenigen Minuten verabschiedete sich Pizzi wieder. »Termine sind Termine, die Pflicht ruft.« »Gute Besserung auch«, rief sie beim Rausgehen. Was für eine Show. Die wußte doch garantiert, daß Petra kein bißchen schlecht war. »Was für Termine«, löcherten wir Petra. »Sag ich euch, wenn ihr groß seid«, antwortete sie überheblich und verzog sich auf ihr Zimmer. Es gab keine Bemerkung, die wir mehr haßten. Wenn ihr groß seid! Was sollte das wohl bedeuten? Das, was ich tue, ist so aufregend, daß ihr es nicht verkraften würdet? Oder war es wie immer nur Angeberei? Innerhalb der nächsten Wochen fiel selbst uns auf, daß sich Petra mehr und mehr veränderte. Das Komischste aber war das mit ihrem Geburtstag. Ein heikler Tag, denn schließlich hatten wir exakt an diesem Tag vor einem Jahr das Baby zu Grabe getragen. »Dieses Jahr kannst du deine Party machen«, versprach ihr Mutter. Aber Petra lehnte dankend ab. »Geburtstag feiern, das ist für mich erledigt. Spart euch Geschenke und Gratulationen. Ich feiere keinen Geburtstag mehr.« Das war nun wirklich eine Sensation. Petra hatte sich tatsächlich entschlossen, ihren Geburtstag zu ignorieren. Die einzige im Dunstkreis unserer Familie, die das normal zu finden schien, war Pizzi. »Jeder sollte das für sich entscheiden«, war ihr Kommentar. »Bei uns feiert niemand Geburtstag«, sagte sie ergänzend, und das führte natürlich dazu, daß sie uns noch merkwürdiger vorkam. Kein Geburtstag und kein Weihnachten, das mußte ja eine verdammt heitere Sippe sein. Mutter machte sich Sorgen und redete Petra gut zu. Sie ging sogar so weit, sich dafür zu entschuldigen, daß sie damals die Beerdigung nicht auf einen anderen Tag gelegt
hatte. Aber selbst als Vater sich in die Diskussion einschaltete, blieb Petra stur. »Vergeßt es einfach«, trotzte sie und, »laßt mich damit in Ruhe.« Vor dem Geburtstag, der ja, wenn es nach dem Geburtstagskind ging, nun keiner mehr sein sollte, lag ein anderer Tag, der uns allen schon im Vorfeld sehr zu schaffen machte. Der Jahrestag des Fenstersturzes. Der Tag, an dem unser Baby gefallen und gestorben war. Der Tag, der alles bei uns verändert hatte. Einfach alles. Wie sollten wir diesen Tag verbringen? »Ich bin verdammt froh, daß wir erst mal in die Schule gehen müssen«, meinte Silke und mir ging es ebenso. Mutter wurde schon ein paar Tage vorher von einer gewissen Hektik erfaßt. Sie begann wie eine Fließbandkonditorin Kuchen zu backen. »Wer soll denn das alles aufessen?« fragten wir ratlos. »Das werdet ihr schon noch sehen«, antwortete sie, um dann ganz eifrig eine weitere Sahnetorte zu dekorieren. Man konnte fast ein wenig eifersüchtig werden, schließlich war sie zu faul, für uns große Kinder einen Sandkuchen zu backen. Von Sahnetorten gar nicht zu reden. »In diesem Haus kriegen Tote mehr Aufmerksamkeit als Lebende und mehr Kuchen«, hetzte ich vor Silke und schämte mich sofort dafür. »Wäre der groß geworden, hätten wir nichts mehr zu melden gehabt«, hatten Silke und ich mal festgestellt, und selbst Petra hatte uns zugestimmt. »Weil er ein Junge war oder weil er nun mal der Kleinste war, das Baby halt?« fragten wir uns wieder und wieder. »Was macht das für einen Unterschied«, wunderte sich Petra, »ist es nicht egal, warum sie ihn lieber hatte als uns? Ist nicht, daß sie ihn lieber hatte als uns, schlimm genug?« Von Petras Warte aus war die Argumentation gar nicht mal dumm. Für sie machte das Warum wirklich keinen Unterschied. Aber für mich. Wenn Mutter ihn so geliebt hatte, weil er der
Kleinste, ihr Baby war, dann würde ich diese Position jetzt wieder ausfüllen. Übernehmen können. Hatte sie ihn so geliebt, weil er ein Junge war, dann hatte auch ich Pech gehabt. »Vielleicht wäre es das beste, sie bekäme noch ein Baby«, war Silkes Vorschlag. Ich schwankte. Nicht nur, weil ich gerne die Jüngste bleiben wollte, sondern auch weil ich mir unsicher war, ob unsere Familie das aushalten konnte. Noch ein Baby. Und damit die Angst, daß mit diesem neuen Baby wieder etwas Furchtbares passieren konnte. Der Fall des Babys war ja nun auch nahezu der Zerfall unserer Familie gewesen. Wir waren ja wie eine Schüssel. Nicht unkittbar in Hunderte von Scherben zersprungen, sondern voller haarfeiner Risse. Noch benutzbar, aber eben nur mit äußerster Vorsicht. Eine Schüssel, die man nicht überladen durfte, weil man nicht wußte, wann diese feinen kleinen Risse sich weiten und die Schüssel zum Zerbersten bringen würde. Wir entschieden uns nach reiflicher Überlegung dann alle gegen ein Baby. Petra, Silke und ich.
14 Am Todestag des Babys war herrliches Wetter. Die Sonne schien, als gäbe es was zu feiern. Fast pietätlos. Wir hatten mit vielem an diesem Tag gerechnet, aber nicht mit Mutters demonstrativ guter Stimmung. »Wir trinken draußen Kaffee«, erklärte sie heiter, als wir gemeinsam zu Mittag aßen. »Decken Sie den Gartentisch bitte recht hübsch«, bat sie Pizzi, »und nehmen Sie das gute Geschirr. Für acht Personen.« Wir waren gespannt. Acht Personen. »Wer kommt denn«, fragten wir Mutter. »Sieben Frauen, die ich gerne um mich habe. Frauen aus meiner Gruppe«, antwortete Mutter knapp. »Und wir? Dürfen wir auch dabeisein?« wollten wir wissen, denn die Anzahl der Gedecke sprach nicht dafür. »Nein«, sagte Mutter nur. »Ihr dürft gerne ein Stückchen Torte drin essen, aber heute, an diesem besonderen Tag, will ich mit meinen Freundinnen allein sein. Es ist Babys Tag. Alle anderen gehören euch. Dieser nur ihm. Das versteht ihr sicher!« Es war weniger eine Frage als eine Feststellung. Ich war beleidigt. Da war sie wieder, die Eifersucht. Ich hätte heulen können, weil Mutter mit ihrer Antwort all das bestätigte, was ich immer befürchtet hatte. Silke war damit zufrieden, Kuchen zu kriegen, und Petra wollte nur eines wissen: »Welche Gruppe Freundinnen denn? Die aus dem Yoga? Geht Mutter denn tatsächlich? Oder woher kommen diese Frauen sonst? Sieben Freundinnen? Seit wann hat Mutter sieben Freundinnen?« Das war eine Frage, die auch mich beschäftigte. Mutter war eine Frau, die fast freundinnenfrei lebte. Sie hatte eine, die damals auch zur Beerdigung da war, aber beim Leichenschmaus schon weg mußte. Weil ihr Zug ging und sie
abends gern daheim sein wollte. Lieselotte Grämer. Eine ehemalige Klassenkameradin von Mutter, die aber nach München geheiratet hatte, und deshalb sahen sich die beiden kaum noch. Lieselotte Grämer hatte ich erst zweimal in meinem Leben gesehen, und ehrlich gesagt, mochte ich sie nicht besonders. Das netteste an ihr waren ihre Sommersprossen. Sie war voll davon. Über und über. Was aus ihrer Kleidung rausguckte, hatte Sprossen. Selbst auf den Ohrläppchen und den Fußzehen hatte sie welche. Als sie uns das erste Mal hier in Kelkheim besuchte, habe ich sie darauf angesprochen. Auf die Sprossen. Ob sie schon immer so viele habe, oder ob die sich von Jahr zu Jahr weiter vermehren? Lieselotte, wie wir sie nennen sollten, verzog den Mund und bevor sie antworten konnte, hatte uns Mutter schon aus dem Zimmer geschickt. »Redet nicht solchen Unsinn«, rief sie uns noch hinterher. Später, als die sprossige Lieselotte wieder Richtung München unterwegs war, erklärte uns Mutter, wie schlimm das mit den Sommersprossen für Lieselotte gewesen war. In der Schulzeit. Von der Angst ihrer Klassenkameradin und besten Freundin, daß die Dinger zusammenwachsen und sie so zur Farbigen würde. Von den Versuchen, wenigstens die im Gesicht mit Bleichcreme zu verscheuchen oder mit MakeUp abzudecken. Kein Mann wollte mit Lieselotte näher zu tun haben. In der Tanzstunde war sie die, die immer bis zuletzt stehen blieb. Und so tat, als wäre es ihr egal. Mutter seufzte und gestand, daß sie ab und an Männer angefleht hatte, mal mit ihrer Freundin zu tanzen. Insgeheim zweifelte ich daran, daß nur die Sprossen schuld sein sollten. Denn noch dazu war sie sehr schlau. »Zu schlau, das machte den Männern Angst«, sagte Mutter. Als sie unsere verdutzten Gesichter sah, schob sie hinterher: »Man darf es sie nur nicht merken lassen. Sie lieben das Gefühl, der Klügere zu sein.«
Lieselotte hatte nie Lust gehabt, dieses kleine Spiel mitzumachen. Und deshalb blieb sie oft genug stehen. Daß sie dann doch noch einen Mann fand, kam durch die Universität. Lieselotte, die Schlaue, ging nach München, um Physik zu studieren. Und dort traf sie dann Fritz. Auch schlau. Auch Physikstudent. »Und jetzt experimentieren die beiden gemeinsam rum«, hat Vater oft gelacht, und an guten Tagen konnte Mutter sogar mitlachen. »Wir sind noch Freundinnen, weil wir eine gemeinsame Vergangenheit haben, ich bezweifle, ob wir uns heutzutage angefreundet hätten«, wußte auch Mutter. Vater erklärte uns, was sie mit dieser Bemerkung meinte: »Lieselotte ist mittlerweile eine berühmte Wissenschaftlerin, die gerne stundenlang über irgendwelche Stromgeschichten redet. Eure Mutter hat keinen Dunst von Physik. Ihre Geschichten über Familie und Nachbarn, welches Kind gerade welchen Zahn kriegt, langweilen hingegen Lieselotte, die sich aus Kindern nicht viel macht. Undankbare Dinger, die erst Arbeit machen, dann Nerven kosten und dich am Ende nicht mal im Altersheim besuchen, das war das, was sie mal so halb spaßig gesagt hat. Da war eure Mutter schon ärgerlich.« »Worüber redet ihr dann, wenn ihr telefoniert oder euch trefft«, wollte Silke wissen. »Über früher«, sagte Mutter. »Über die Zeit, die wir zusammen verbracht haben.« Bei Lieselottes Einstellung zu Kindern hatte es uns auch nicht gewundert, daß Mutter nach dem Unfall mit dem Baby nicht nach München gefahren war. Obwohl Lieselotte sie mehrfach eingeladen hatte. »Wie soll sie das verstehen, meinen Schmerz«, hatte Mutter Vater entgegnet, als der auch noch dafür plädierte, daß sie mal einige Tage in der bayerischen Hauptstadt verbringen sollte. »Es ist nicht ihre Welt, und die ihre ist nicht die meine, also bleib ich lieber hier.«
Hier in der Nachbarschaft hatte Mutter sicher einige Bekannte, aber ob man die Freundinnen nennen konnte, da waren wir unsicher. Die eine oder andere schaute mal auf ein Täßchen Kaffee vorbei, aber wirklich eng schien keines dieser Verhältnisse. »Wenn die wissen, was Mutter und die Hersler getrieben haben, dann verstehe ich gut, warum sich keine mit Mutter einläßt. Die haben Angst, Mutter will mehr von ihnen«, meinte Petra. Wir wußten, daß das nur eine ihrer üblichen Gehässigkeiten war, denn Mutters Verhältnis zu den Nachbarinnen hatte sich seit der Herslergeschichte kein bißchen verändert. Mutter war nun mal kein Freundinnentyp. Sie verließ sich nicht gerne auf andere und war freundlich, aber doch immer ein wenig distanziert. Deshalb waren wir enorm gespannt, für wen all diese leckeren Torten waren. Wird die Hersler dabeisein? spekulierten wir. Sie war nicht dabei. Es waren völlig fremde Frauen. Noch dazu sehr unterschiedlich. Auch im Alter. Schick und weniger schick. Aber allesamt wirkten extrem herzlich miteinander. Nahmen Mutter zur Begrüßung in den Arm, drückten und streichelten sie. Petra war empört. »Eine Hersler war ihr nicht mehr genug«, tuschelte sie aufgebracht. Sie vermutete, etwas wie eine hessische Lesbenvereinigung hätte nun bei uns Versammlung, wollte daraufhin direkt ausziehen. Eine der Frauen beendete unaufgefordert unsere Verwirrung. »Ja, wißt ihr denn nicht, wer wir sind?« erkundigte sie sich verwundert. Es war eine große, blasse Frau, die Winter hieß und sehr dunkel lackierte Fingernägel hatte Bordeauxfarben. Passend zu ihrem Polohemd und ihren Pumps. Frau Winter hatte etwas Winterliches und das mitten im Hochsommer. Ich war unsicher, ob es an ihrer extrem hellen Haut, den düsteren
Farben ihrer Klamotten oder der Flanellhose lag. Wie konnte die Frau das aushalten? Bei 25 Grad im Schatten eine dunkelgraue Flanellhose zu tragen? Und vor allem, dabei so völlig kühl auszusehen. Frau Winter hatte in ihrer Jugend bestimmt noch schlimmere Akne als Petra gehabt, denn ihre Haut sah arg hügelig und verkratert aus. »Wir sind die Gruppe, in die eure Mama seit einem guten Dreivierteljahr geht. Wir haben alle ein Kind verloren. Deshalb stehen wir uns so nahe«, erklärte sie mit einer erstaunlich lieben und angenehmen Stimme. Eine Stimme, die klang, als gehöre sie zu einer ganz anderen Frau. Einer im hellgelben Sommerkleid mit lockigem blondem Haar und rosafarbenem Lippenstift. Einer hellen, freundlichen Person. »Wer weiß, vielleicht war sie mal so eine hellgelbe Sommerfrau, und das verlorene Kind hat sie zu dieser Winterfrau gemacht«, mutmaßten Silke und ich abends vor dem Schlafen. Eure Mama hatte sie gesagt. Niemand von uns nannte Mutter Mama; so nahe konnten die sich demnach nicht stehen. Sonst hätten sie das ja wohl gewußt. Das also war Mutters angebliche Yogagruppe. Sieben Frauen, die alle ein Kind verloren hatten. Wie sich das anhörte. Verloren. Man konnte Schlüssel verlieren, Ohrringe oder Regenschirme. Aber Kinder? Eine blöde Formulierung war das. So lapidar. Nebenbei. Und auch viel zu hoffnungsvoll, denn was man verlor, konnte man mit Glück doch auch wiederfinden. Verlorene Kinder waren für immer verloren. Insgesamt aber waren wir doch sehr beruhigt. Diese Gruppe hatte einen Grund. Und vor allem, es gab überhaupt eine Gruppe. Petras fiese Vermutung, Mutter würde sich mittwochs mit der Hersler treffen, war damit widerlegt. Mit diesen sieben Frauen verbrachte Mutter ihre Mittwochabende. Warum aber hatte sie uns nichts davon gesagt, uns etwas von einer Yogagruppe vorgelogen? Wollte sie uns schonen, nicht mehr
mit dem Thema belasten oder was? Wir waren schrecklich neugierig und hätten zu gerne alle ausgefragt. Wo und wann und wie sie ihre Kinder verloren hatten. Waren bei ihnen auch die Ehemänner schuld gewesen? War es eine Spezialgruppe für Frauen, die ihre Kinder verloren hatten, weil ihre Männer sich dumm angestellt hatten? Oder hatte eine der Mütter vielleicht selbst schuld gehabt? Waren Kinder bei Autounfällen umgekommen oder sogar ermordet worden? Diese Fragen lagen auf der Hand, aber Mutters Miene machte klar, daß Fragen nicht angebracht waren. Unerwünscht. Ebenso wie unsere Anwesenheit. Wir durften guten Tag sagen, mehr aber nicht. Das war eindeutig. Eine der Frauen, die letzte die kam, eine dunkelhaarige dicke Person, deren Schenkel sich beim Laufen berührten und dabei so schabende, schmatzende Geräusche machten, eine Frau mit zotteliger Frisur und apricotfarbenem Twinset, starrte immerzu Petra und Pizzi an. Sie holte sogar extra ihre Brille aus der Handtasche. »Euch beide habe ich schon einmal gesehen, da ich bin mir ganz sicher. Nur wo? Woher kenne ich euch bloß?« überlegte sie laut und schaute fragend zu Mutter. Petra und Pizzi machten daraufhin ganz komische Gesichter und verneinten fast gleichzeitig. Allerdings, ohne die Frau gründlich anzusehen und noch dazu mit einer solchen Heftigkeit, daß es irgendwie übertrieben wirkte. Erschrocken sahen die beiden aus. Ertappt. Pizzi murmelte was von »viel zu tun« und »sie entschuldigen mich bitte« und verschwand in der Küche. Blitzschnell. Die gleiche Pizzi, die sonst selten unaufgefordert das Feld räumte. Die dicke Frau schien weiter zu grübeln, bis Mutter sagte: »Laß uns zu den anderen rausgehen Sonja, vielleicht fällt es dir ja später noch ein, woher du meine Älteste, die Petra, und unsere Pizzi kennst. Ist doch auch nicht weiter wichtig. Die
Torten warten.« Sonja hieß die Frau also, die beim Stichwort Torte sofort hinter Mutter herwatschelte. Ein absolut unpassender Name für sie. Sonjas sollten leicht und quirlig sein und Rehbeine haben. Keinen Watschelgang mit schabenden Oberschenkeln. Aber woher sollten Eltern bei der Namensfindung wissen, wie ihre Kinder als Erwachsene werden? Wer würde bei einem zarten Säugling daran denken, daß er sich zu einer koloßartigen Frau wie Sonja entwickeln könnte? Wäre es nicht gut, man hätte die Möglichkeit, Namen nach Jahren der Entwicklung noch einmal zu überprüfen und eventuell zu ändern? Silke gefiel meine Idee. Sie hätte am liebsten täglich ihren Namen geändert. Für die dicke Sonja wählten wir spontan Gerda aus. Das hatte was Oberschenkelschabendes. Dieses Gerda. Und keinesfalls was Leichtes. »Das würde perfekt passen«, klatschten wir uns selbst Beifall und fühlten uns großartig. Die Frauen mit den verlorenen Kindern blieben den ganzen Nachmittag. »Warum auch nicht, sie haben keine Kinder mehr, was sollen die sonst schon machen«, war der gehässige Kommentar von Petra. Was natürlich Quatsch war, denn wir wußten ja nicht, ob manche Frauen vielleicht noch mehr Kinder hatten. So wie Mutter. Petra war zwar die älteste von uns, aber manchmal, fand ich, dachte sie ein bißchen wenig nach. Oder sie wollte die Dinge eben auf eine bestimmte Art und Weise sehen. Man hatte beinahe das Gefühl, es hätte ihr besser in den Kram gepaßt, wenn Mutter sich heimlich mit der Hersler getroffen hätte. Petra wollte anscheinend partout nicht gut von Mutter denken, und diese Gruppe paßte ihr überhaupt nicht ins Konzept. Da war schließlich nichts Verwerfliches dran, sich mit anderen Frauen zu treffen, die ähnlich traurig waren. Obwohl sie sich an diesem Nachmittag, immerhin dem Todestag des Babys, so gar nicht traurig anhörten. Im
Gegenteil. Es wurde ziemlich viel gelacht beim Kaffeeklatsch. Und die lauteste Lache von allen hatte die klapprigste Erscheinung. Frau Hellmann. Eine extrem schmale Frau, in viel zu weiten Kleidern. Sie sah aus, als hätte sie sich ihr Kostüm von Sonja, der Oberschenkelschaberin, geliehen. Oder als wäre sie in ihrem Kostüm geschrumpft und hätte es selbst noch gar nicht bemerkt. Oder als würde sie Verstecken in ihren eigenen Kleidern spielen. Aber lachen konnte sie wie ein Bierkutscher. Tief und laut. Es war die Lache, die man am besten raushören konnte. Sie lachte nicht nur lauter als alle anderen, sondern auch länger. Sie war die Vorlacherin, sie fing an, die anderen fielen ein, und sie beendete das Lachen. Wie bei einem Chor. Worüber diese Frauen in unserem Garten, fast genau auf dem Fleck, auf dem vor genau einem Jahr das Baby gelandet war, so herzhaft lachten, war mir ein Rätsel. Warum Mutter den Tisch und die Stühle ausgerechnet dort und nicht wie sonst, auf der Terrasse, aufgebaut hatte, war laut Pizzi eine »Geschmacklosigkeit sondergleichen.« Das hatte sie allerdings nicht zu uns gesagt. Sondern zu Petra. Die hatte es dann wiederum uns erzählt. Mit einer Stimme, als würde sie die Botschaft des Herrn verkünden. Das war es auch für Petra. Alles, was Pizzi von sich gab, war Gesetz. Mir war es vollkommen egal, wo Mutter den Terrassentisch aufstellte. Der einzige Nachteil der jetzigen Position war, daß wir zwar Stimmen hörten, aber nichts verstehen konnten. Stand der Tisch auf der Terrasse konnten wir perfekt lauschen, so kam nur ein mulchiger Brei aus Tönen bei uns an. Mehr nicht. Nur von Frau Hellmann, der Dürren mit der lauten Lache, schnappten wir das ein oder andere auf. Wortfetzen, die jedoch wenig aussagekräftig waren. Auch als der Tisch längst im Schatten lag, was bei uns meist so gegen halb sechs war, blieben die Frauen. Erst ganz kurz bevor Vater vom Arbeiten kam, verabschiedeten sie sich. Mir
erschien es wie Absicht, als wollten sie keinesfalls dem Täter über den Weg laufen. Bevor alle aufbrachen, sangen sie noch ein Lied. Happy Birthday. Und das in einer Lautstärke, daß mich noch zwei Tage später Frau Petrusilker auf der Straße darauf ansprach. Als ich ihr erklärte, daß die Frauen zu Babys Todestag »Happy Birthday« gesungen hatten, war sie noch nicht einmal erstaunt. Eine Frau, die mit ihrem Auto sprach und deren Mann von einem Motorradfahrer überfahren worden war, der eigentlich nur einen Gewinn vorbeibringen wollte, so eine Frau fand wahrscheinlich nichts sonderbar. »Schön, wenn ihr ein nettes Fest hattet«, sagte sie, und einen winzig kleinen Moment dachte ich, sie hätte das mit dem Baby und was darauf folgte, überhaupt nicht mitbekommen, aber eigentlich war das auch egal. Der Nachmittag mit all diesen Frauen hatte Mutter sehr gut getan, und weil sie auch am nächsten Tag lustiger als gewöhnlich war, trauten wir uns, sie ein bißchen auszufragen. Unser Glück, Mutter war in Gesprächslaune. Mit der Lebensgeschichte von Sonja, der mit den schabenden Oberschenkeln und den zotteligen Haaren ging’s los. Das Kind war bei einem Unfall ums Leben gekommen. Die Schwiegereltern von Sonja hatten das Kleine, ein Mädchen namens Annabelle, gerade fünf Jahre alt, abgeholt, um in den Zoo zu gehen. Sonja wollte eigentlich mitgehen, hatte sich dann aber entschieden, lieber ein Mittagsschläfchen zu halten, weil sie von ihrer Ananas-Hollywooddiät so geschwächt war. Sie war schon immer eher dick gewesen und hatte beschlossen, mit der Ananas die Pfunde zu vertreiben. Wegen dieser teuflischen Müdigkeit war Sonja zu Hause geblieben und hatte ihre kleine Annabelle den Schwiegereltern mitgegeben. »Du hast gewußt, daß mein Vater nicht gut Auto fährt«, hat Sonjas Mann Ernst-Dieter nach dem Unfall immer wieder zu seiner Frau gesagt. Und es stimmte, Sonja hatte es gewußt, sich aber
überhaupt keine Gedanken darüber gemacht. »Das einzige was mich an diesem Mittag beschäftigte, war, wann ich meine Ration Papaya essen darf.« Niemals hatte sie seither wieder eine exotische Frucht angerührt. Weder Ananas noch Papaya oder Kiwi. Nicht mal Maracujasaft trank sie. Selbst winzige Spuren in gemischten Multivitaminsäften wurden gemieden. Schwieriger als der Verzicht auf den Genuß exotischer Früchte war allerdings ihre hartnäckige Weigerung, die Schwiegereltern wiederzusehen. »Ich weiß, das Stopschild zu übersehen und in den Lieferwagen zu fahren, es hätte jedem passieren können, aber es ist ihnen passiert. Ich kann sie nie mehr sehen. Ich kann das nicht verzeihen. Ich wollte, sie wären tot und nicht Annabelle.« Das war nun wirklich ein ziemlich brutaler Standpunkt. Brutal fanden wir, daß sie das genau so, auch den Schwiegereltern gesagt hatte. Am Telefon. Danach hat sie nie mehr mit ihnen gesprochen. Jeglichen Kontakt verweigert. Mutter fuhr fort: »Nicht mal auf der Beerdigung hat sie die beiden geduldet. Aber damals hat noch jeder gedacht, es läge am Schock und würde sich schon noch geben. Von wegen.« »Ich hätte es wissen müssen«, war Sonjas Hauptargument für ihre Teilschuld, und sie haßte sich dafür fast so sehr, wie sie ihre Schwiegereltern haßte. »Wäre ich gefahren, wäre das nicht passiert.« Natürlich war das nicht zu beweisen, aber für Sonja war die Lage klar. Hätte sie keine Diät gemacht und wäre deswegen schlapp gewesen, dann hätte sie den Wagen gefahren und nicht ihr Schwiegervater, und die kleine Annabelle wäre heute schon in der Oberschule, denn ein solcher Unfall wäre ihr niemals passiert. Mit anderen Worten: Ihre Eitelkeit war schuld am Tod ihres Kindes. Dachte sie und behauptete seither: »Diäten sind Teufelswerk.« Kein Wunder, daß sie aussah, wie sie aussah.
»Was ist mit den Schwiegereltern passiert«, erkundigten wir uns. »Keine Ahnung«, sagte Mutter. Sonja hat sie nie mehr wiedergesehen und sich ein Jahr nach der Katastrophe von ihrem Mann getrennt. Seither lebt sie allein. Ihr Mann hat sich geweigert, sich komplett von seinen Eltern loszusagen. Sie aber hatte die Entscheidung trotzdem verlangt, wohl wissend, daß die zu ihren Ungunsten ausfallen könnte. Vielleicht wollte sie es sogar so. »Haben die Schwiegereltern sich denn nicht bei ihr entschuldigt?« fragten wir. »Natürlich«, antwortete Mutter und bekam einen ganz schmalen Mund: »Aber was nützt da eine Entschuldigung. Oder Verständnis? Schuld ist nicht zu entschuldigen. Auch wenn sie aus Versehen über einen gekommen ist. Schuld ist Schuld und muß gesühnt werden.« Wie konnte Mutter etwas so Hartherziges sagen. Und was bedeutete das für unseren Fall? Hatte Vater schon gesühnt? War seine Schuld getilgt durch Mutters Intermezzo mit Frau Hersler? Oder stand uns noch Schreckliches bevor? »Schuld und Sühne gibt’s auf der Bühne, im wahren Leben muß man vergeben«, Petra wollte damit wohl zu Vater und den Schwiegereltern halten, oder hauptsächlich demonstrieren, wie belesen sie war. Alte Angeberin. »Wenn du einen Dostojewski herbeizitierst, dann müßtest du schon wissen, daß Schuld und Sühne nun wahrlich kein Theaterstück ist«, fegte Mutter den Einwand radikal vom Tisch. »Ätsch«, dachten wir und freuten uns. Obwohl wir nicht den Hauch einer Idee hatten, um wen es sich da handelte. Es gab fast nichts Peinlicheres, als mit Wissen anzugeben und dann als Wissenshochstaplerin entlarvt zu werden. »Warum kann sie nicht verzeihen, wäre das nicht viel leichter für sie, wenn sie einfach verzeiht?« fragte ich meine Mutter. Ohne es auszusprechen, war uns allen klar, daß es nicht nur um Sonja, sondern immer auch um Mutter, Vater und unser totes Baby
ging. Ich wollte wissen, ob sie ihm verziehen hatte. Das war mein Hintergedanke und ich kam mir ausgesprochen raffiniert vor, diese Frage so gut getarnt zu haben. Mutter verzog leicht das Gesicht. »Genug getratscht«, beendete sie das Gespräch und ließ die Frage nach dem Verzeihen einfach so im Raum stehen. Wie immer waren meine Schwestern beleidigt, aber nicht etwa wegen Mutter, sondern wegen mir. Es sei meine Schuld, daß Mutter nichts mehr erzählen wolle.
15 Petras Geburtstag war in diesem Sommer wahrlich unspektakulär. Sie zwang uns, so zu tun, als wäre nichts. Sie boykottierte ihren eigenen Geburtstag. Ging über Gratulationen hinweg und verschmähte sogar die Käsesahnetorte von Mutter. Wer diese Torte je probieren durfte, wußte, wie schwer der Verzicht war. Wir waren sehr erstaunt. Was hatte diesen Irrsinn bewirkt? War es die Pubertät, die mit Wucht nicht nur auf Haut und Busen, sondern auch aufs Gehirn schlug? Oder war sie schlicht verrückt geworden? Unsere Eltern akzeptierten diesen Wahnsinn. »Wer nicht will, der hat schon«, unterstützte auch Oma deren Haltung. »Es spart mir Arbeit und Nerven«, begann Mutter schnell auch die guten Seiten der Totalverweigerung zu sehen. »Sie hätte eine Party bekommen, eine mit allem. Und Jungs und so«, Silke schlug vor, Petra einweisen zu lassen. »Wer zu Geschenken nein sagt, gehört in die Geschlossene. Nach Niederrad. In die Anstalt. Die Klapse. Zu den Bekloppten.« Ich räumte es ungern ein, aber sie hatte wieder mal recht. Ich sah uns schon Wochenende für Wochenende mit einer Petra in Zwangsjacke über düstere Anstaltshöfe marschieren. »Bekloppte lüften«, nannte es Silke, und gemeinsam beschlossen wir, nur jedes zweite Wochenende hinzufahren. »Wir können doch nichts dafür, daß die durchdreht. Wer zuviel in Irrenhäuser fährt, wird selbst irre. Hat Vater mal gesagt. Daß die, die da arbeiten, selbst einen an der Klatsche haben. Diese Psychofritzen. Das wäre ja noch schöner, wenn wir dann auch noch balla balla würden. Nur wegen Petra.«
Der einzige Knaller an Petras Geburtstag, der ja rein äußerlich nichts von einem Geburtstag hatte, blieb der Besuch von Kunzer. Teiggesicht Michael Kunzer. Obwohl längst abserviert und nahezu vergessen, ließ er es sich nicht nehmen, nachmittags mit pompös verpacktem Geschenk vor der Tür zu stehen. »Was willst du«, herrschte ihn Petra an. Dabei war es offensichtlich, was er wollte. Ein Geschenk übergeben und sie dabei zurückgewinnen. »Wenn Männer Geschenke bringen, wollen sie was, hat Oma doch immer gesagt«, wisperte mir Silke zu. Kunzer war zwar noch kein richtiger Mann, aber doch auf dem Weg dorthin. Die Frage war nur, was er von Petra wollte? »Glaubst du, er will sie wiederhaben?« fragte mich Silke. Ich war mir nicht sicher. Petra war zwar keine Schönheit, aber doch die erste Freundin, die Kunzer gehabt hatte. Und seither hatte er keine neue. Wenn, hätten wir das in der Schule garantiert gesehen. Und die erste, die prägte. Hatte Silke in der Bravo gelesen. Bei Silke in der Klasse lasen fast alle die Bravo. Manchmal lieh sie sich ein Heft aus und brachte es mit nach Hause. Wir durften keine Bravo kaufen. Auch nicht von unserem Taschengeld. Mutter war dagegen. »Drecksblättchen« war ihre Bezeichnung. Petra hatte eine Weile heimlich die Bravo gekauft, sie uns aber demonstrativ nicht geliehen. »Ihr seid noch zu klein, ich will keine Babyzwerge schocken«, hatte sie uns oft genug geärgert und mit dem Heft vor der Nase rumgewedelt. Seid ihrer engen Pizzifreundschaft allerdings war auch Petra zur Bravogegnerin geworden. »Schund«, sagte sie mit angeekelter Stimme, und das mit der Verachtung ging sogar so weit, daß sie ihre bis dato wie einen Schatz gehütete Sammlung bei ihrer Freundin abholte und demonstrativ in den Müll warf. Natürlich so, daß wir sie nicht wieder rausholen konnten. Sie goß einen halben Liter geronnene Buttermilch darüber. Ein wirklich fieser Auftritt, denn sie wußte selbstverständlich, daß in der
Märzausgabe etwas war, wofür ich meine rechte Hand geopfert hätte. Der Kopf von Suzy Quatro. Maßstabsgetreu. Und das war das einzige Teil, das mir bei meinem Starschnitt fehlte. Ohne den Kopf sah das Ganze an meiner Wand immer ein wenig gruselig aus. Ein weißer Anzug mit Gitarre und einem Hals. Rudi Ranninger, der mit dem Schwimmbad und der Eistruhe am Pool, hatte mir die Teile geschenkt. Wenn der Lust hatte, kaufte der sich drei oder sogar vier Hefte. Einfach so. Aber den Kopf wollte er nicht ohne Belohnung rausrücken. Ich hätte ihm sofort Geld bezahlt, schließlich hatte ich genug Taschengeld gespart, aber Rudi wollte kein Geld. Er wollte mich alleine einladen, und ich sollte ohne Bikinioberteil in seinem Pool schwimmen. So sehr ich den Kopf auch wollte, der Preis war mir dann doch zu hoch. Silke jedoch riet mir zu. »Mach. Da ist doch eh noch nicht viel zu sehen. Und so ohne Kopf sieht das Bild ätzend aus. Das kannst du wegschmeißen ohne Kopf.« Irgendwo hatte sie recht, aber vor Rudi nackig oder immerhin halbnackig zu schwimmen war mir dermaßen zuwider, daß ich lieber täglich auf die kopflose Suzy Quatro guckte. Insgeheim hoffte ich natürlich auch, daß der Ranninger irgendwann weich wurde und mir den Kopf so geben würde. »Warum hast du dir das Heft nicht gekauft?« fragten mich alle, denen ich mein Elend erzählte. Dummerweise war ich mir zu sicher gewesen, daß Rudi wie immer umsonst liefern würde, und bis er mir die »Kopfbedingungen« nannte, war das Heft ausverkauft. Ganz schön schlau für den dummen Rudi. Viel Geld verdirbt eben doch den Charakter. Rudi fand den Preis gerechtfertigt. »Ich will die Brüste, du den Kopf, und dann sollte doch jeder kriegen, was er will«, meinte der verwöhnte Kerl. Als wären meine Brüste, oder der Blick darauf, nicht ungleich mehr wert als ein papierener Kopf, selbst von Suzy Quatro. »Kauf dir anderswo welche«, schrie ich ihn an. »Gut«, sagte er und war noch nicht mal beleidigt, was mich dann auch
wieder ärgerte. »Er ist es zwar gewöhnt, zu kriegen, was er will, aber wenn du ihm deine nicht zeigst, macht es eine andere. Brüste sind Brüste«, verteidigte Silke ihn, »ist doch in Ordnung, daß er es mal probiert. Kannst ja nein sagen.« »Zeig du ihm doch deine Riesendinger, wenn das so normal ist«, schrie ich jetzt auch noch Silke an. »Will ich den Kopf oder du?« konterte sie total unaufgeregt. Kühl. Ich beschloß mir von einem Ranninger und einer bescheuerten Schwester nicht mein Idol madig machen zu lassen. Suzy Quatro war fantastisch, sogar ohne Kopf. Was Kunzer und sein Geschenk betraf, blieb Petra hart. Sie fertigte ihn aufs knappste an der Haustür ab. Nicht mal das Geschenk wollte sie annehmen, aber Kunzer, der auch stur sein konnte, weigerte sich, es wieder mitzunehmen. Mit einem: »Na, dann gib halt her«, entriß sie ihm das Päckchen, sagte nicht mal danke und knallte die Haustür zu. Wie bei einem miesen Staubsaugervertreter. Wie kann der, nach dem, was da passiert ist, noch kommen und ein Geschenk abgeben? Der muß doch völlig bedeppert sein, davon war ich überzeugt. Das hatte er mit seiner verflossenen Petra gemein. »Die eine will keine Geschenke, obwohl sie Geburtstag hat, der andere bringt Geschenke, ohne erwünscht zu sein. Am besten, die gehen zusammen in die Klapsmühle«, brachte es Silke auf den Punkt. »Und wir stecken sie in eine Zwangsjacke, gemeinsam«, schob sie hinterher und wir hatten viel Freude an dem Zwangsjackenbild. »Es gab Zeiten, da hätte die noch was dafür bezahlt, mit Kunzer zusammengeschnürt zu sein«, erinnerten wir uns. Heute wäre ihr Pizzi garantiert lieber. Bei der Zeit, die beide miteinander verbrachten, war mir schon der Gedanke gekommen, Petra könnte da doch auf Mutter rauskommen. Aber zwei Lesben in einer Familie? So selten wie Lesben im täglichen Leben vorkamen, konnte das eigentlich nicht sein.
Statistisch gesehen. Oder es war was Erbliches. In den Genen drin. »Ich merk noch nix«, versuchte Silke diesen Satz zu entkräften. »Noch nicht, noch nicht. Petra hat ja auch den Umweg über Kunzer gemacht und Mutter über Vater. Vielleicht ist uns ein Mann vorherbestimmt. Ein Mann und dann ab ins Lesbentum«, erläuterte ich meine Vererbungsthese. Silke schüttelte sich: »Ich steck meine Zunge doch keiner Tussi in den Hals«, sagte sie angewidert. Ich war insgeheim gar nicht so entsetzt von der Vorstellung. In meiner Klasse waren die Mädchen um einiges netter als die Jungs, also warum nicht? Wenn es nur diese beiden gab, und man das mit der Zunge eben machte, dann waren mir die Mädchen wesentlich angenehmer. Daß Leute ein solches Theater um das Thema Liebe machten und es sich im Endeffekt nur um Gezüngel handelte, war mir rätselhaft. »Ich werde ganz verzichten und meine Zunge für mich behalten«, vertraute ich Silke an, und die nannte mich daraufhin die nächsten fünf Tage Nonne. »Oh, da kommt unsere Nonne zum Essen, oh Frau Nonne geht schlafen, oh, Nonne geht spielen.« So ging das von morgens bis abends. Wenn die mal was witzig fand, dann konnte die richtig darauf rumreiten. Am Ende würden wir doch noch alle zusammen in der Klapse landen. Petra packte das Geschenk noch in der Diele aus. Unsanft zerriß sie das Papier mit den kleinen Herzchen, und bei jedem Ratsch konnte man spüren, wie egal ihr das alles war. Wir sahen gleich, daß es ein Buch war. Aber nicht irgendeins, sondern eine Bibel. »Niederrad , sie kommen«, plärrte Silke, und Petra runzelte nur die Stirn und legte das Buch auf den Dielentisch. »Könnt ihr haben«, war ihr einziger Kommentar. »Bedien dich«, sagte Silke und lachte mich an. Das muß was bedeuten, dachte ich, warum schenkt der ihr eine Bibel? Ich nahm sie mit in mein Zimmer in der Hoffnung, irgendwo eine
Botschaft zu finden. Das einzige war eine Widmung. Auf der ersten Seite stand in Kunzers Schrift: Liebe Petra, ich weiß es. Alles. Komm auf den rechten Pfad zurück. Laß Pizzi und das in Kühe, oder ich sage es Deinen Eltern. Dein Michael Kunzer Sprachlich war das wahrlich nichts Besonderes. Ich hätte Kunzer Dramatischeres zugetraut. Mehr Tiefgang. Herz und Schmerz. Der Brief von der Hersler hatte mir wesentlich mehr imponiert. Da sprang einen die Leidenschaft richtig an. Hier bei Kunzer stand so gar nichts von Liebe und Gefühl. Es klang mir mehr wie ein Drohbrief aus einem Buch von »Fünf Freunde«. Und er hatte eine ziemliche Mädchenschrift. Für einen Jungen. Natürlich zeigte ich meine Entdeckung sofort Silke. Wir verbrachten den gesamten Nachmittag damit zu überlegen, was diese karge Inschrift zu bedeuten hatte. Silke neigte zu der Theorie, daß Kunzer auf Pizzi eifersüchtig sei und Petra erpressen wolle. »Damit er sie dann wieder für sich hat, deswegen macht der das«, schlußfolgerte sie. »Aber warum sollte er«, fragte ich, »wenn er sie doch gar nicht mehr liebt?« »Er will sie ärgern, weil sie ihn hat sitzenlassen«, war mein Vorschlag, »Rache ist sein Motiv. Und ich kann es irgendwie sogar verstehen. Nach dem Abgang, den die gemacht hat, will er sie wenigstens genauso verletzen.« Unklar war uns beiden, womit er Petra da unterschwellig drohte? Wollte er etwa andeuten, was ich in schlimmen Momenten auch schon vermutet hatte? War es tatsächlich so, daß Petra und Pizzi ebenso veranlagt waren wie Mutter und die Hersler? War das
eine generelle Schwäche von Haushälterinnen? Neigten die alle dazu? Aber woher wollte Kunzer das wissen? Hatte er die zwei irgendwo erwischt? Ihnen aufgelauert, nachspioniert? Oder sie rein zufällig gesehen? Silke hielt meine Ideen für absolut abwegig. »Weißt du nicht mehr, wie ekelhaft Petra das bei Frau Hersler und Mutter gefunden hat, da würde die doch selbst nicht genau dasselbe tun.« Das einfachste wäre mit Sicherheit gewesen, Petra zu fragen, was die komische Bibelinschrift zu bedeuten hat. Aber wir waren uns relativ sicher, daß sie uns keine Antwort geben würde. »Wir müssen Kunzer fragen«, schlug Silke vor, und das war, wie ich fand, eine kluge Idee. Kunzer allerdings war wenig kooperativ. Er verzog seinen Mund, die Pickelhaut spannte sich unangenehm, so als stünden die Pusteln kurz vorm Aufplatzen, und dann schüttelte er seinen Kopf. »Das Geschenk war für Petra und nicht für euch. Eure Neugier ist widerlich. Ich sage nichts«, servierte er uns ab. Obwohl wir bis dahin immer zu Kunzer gehalten hatten, war jetzt der Moment gekommen, wo wir Petra verstehen konnten. Kunzer war innendrin genau wie seine Haut. Es stimmte, was Oma immer sagte: Die Haut ist das Spiegelbild der Seele. »Wenn das so ist«, meinte Silke, »dann muß es bei dem drin ja wüst zugehen. Da kann er noch so viel Bibeln verschenken, den Himmel kann der sich mit einem solchen Innenleben abschminken. Wer sich so verhält, kommt da niemals rein.« Wenn Silke damit recht hatte, würde es verdammt einsam werden im Himmel für uns zwei. Schließlich kamen weder Vater noch Mutter rein. Vater hatte das Baby fallen lassen und Mutter hatte es mit der Hersler getrieben. Ein Gott würde so etwas garantiert nicht durchgehen lassen. Bei Opa war die Lage klar. Wer seine Familie sitzen ließ, hatte direkt Hölle
gebucht. Auch für Petra sah es eher schlecht aus: Sie war nun mal insgesamt kein freundlicher Mensch und hatte am Tag der Beerdigung ihres Bruders Kunzer die Zunge bis zu den Rachenmandeln reingesteckt. Das war hundertprozentig nicht in Ordnung. Und wer wußte, was sie sonst noch trieb. Wegen nichts schrieb Kunzer bestimmt keine Drohbriefe. »Willst du überhaupt in den Himmel, wenn niemand da ist, den du kennst«, wollte Silke wissen. Ich war mir unsicher. »Gehst du?« fragte ich. Sie verneinte. »Wenn da nachher nur solche wie du sind, dann wird das ja verdammt langweilig werden«, sagte sie und guckte mich mitleidig an. Ich wäre wirklich gerne ein Einzelkind gewesen. Was die merkwürdige Inschrift in Petras Geburtstagsbibel zu bedeuten hatte, klärte sich mehr per Zufall. Durch Sonja, Mutters Freundin aus dem Trauerkreis, die keine tropischen Früchte mehr essen konnte, ansonsten aber alles nur so in sich reinstopfte. Die dicke Sonja verriet Petra. Und damit auch Pizzi. Sie hatte ja schon beim großen Kaffeeklatsch im Garten behauptet, Petra und Pizzi, von uns in dieser Zeit nur noch das Doppel-P genannt, irgendwo schon einmal gesehen zu haben. Drei Wochen später war es ihr wieder eingefallen, und sie hatte es sofort Mutter gepetzt. War sogar extra zu uns gefahren, so wichtig war ihr das. »Hör gut zu«, sagte sie zu Mutter wie zu einem kleinen Kind, »hör nur gut zu. Die beiden, deine Kleine und die Haushälterin, standen vor meiner Tür, an einem Samstagnachmittag, der Tag von Wimbledon, an dem der Chinese so großartig abgeräumt hat, ihr erinnert euch doch, dieser kleine Südchinese, Wang oder so, der kaum größer als das Netz war, und sie wollten mit mir über die Bibel sprechen. Petra und diese Pizzi, wie ihr sie nennt. Natürlich habe ich ihnen die Tür vor der Nase zugeknallt. Ausgerechnet mit mir über die Bibel sprechen. Das ist ja wohl ein Witz«,
ereiferte sich Sonja. Entschuldigend fügte sie hinzu: »Ich konnte schließlich nicht wissen, daß es deine Tochter war. Sonst hätte ich sie natürlich wenigstens mal reingebeten.« Mutter reagierte nicht. Stand da, als wäre sie auf einer anderen Veranstaltung und sah ziemlich abwesend aus. Sonja trat einen Schritt auf Mutter zu. »Hör mal, du hättest es mir sagen können, wenn ihr in diesem Verein seit. Solange du mich nicht bekehren willst, sind die mir egal. Aber mich für ‘ne Sekte zu gewinnen, ist aussichtslos. Die Mühe könnt ihr euch sparen.« Langsam dämmerte es mir, was die dicke Sonja da von sich gab. Die glaubte doch tatsächlich, wir alle wären in irgendeiner Sekte. Die ganze Familie. »Du meinst, meine Tochter stand vor deiner Tür und wollte dir den Wachturm verkaufen?« fragte sie ungläubig. »Genau«, antwortete Sonja nur, »ganz genau das wollte sie. Im Schlepptau von dieser bleichen Haushälterin. Und das, als dieser Wang kurz davor war, den zweiten Satz für sich zu entscheiden. Gott, war das spannend.« Mutter fing an zu schreien: »Petra, Pizzi, kommt sofort hierher. Und du komm rein«, sagte sie zu ihrer Freundin. »Das müssen wir ja nicht auf der Straße abhandeln, so ein Thema. Laßt uns ins Wohnzimmer gehen.« Petra und Pizzi kamen angeschlichen. An ihrem Gesichtsausdruck sah man, daß sie wußten, was passiert war. Sie waren erwischt, guckten aber nicht mal betroffen, sondern eher trotzig in die Runde. Mutter packte sich Petra, schüttelte sie und fragte nur: »Stimmt das, was ich da gehört habe? Bist du bei den Zeugen Jehovas?« Petra fing zu weinen an und nickte. »Pizzi, ich frage Sie hier in aller Deutlichkeit«, wurde Mutter dann ganz förmlich, »sind Sie Zeugin Jehovas?« Pizzi traute sich zu grinsen, schaute Mutter ins Gesicht und sagte nur: »Ja, und ich bin stolz darauf. Seien Sie froh, das sich immerhin eine Ihrer Töchter für diesen Weg entschieden hat.«
Hätte Mutter eine Waffe gehabt, wären Pizzis Chancen, weiterhin eine Zeugin Jehovas zu sein, sehr gering gewesen. So sagte Mutter nur sehr streng und knapp: »Pizzi, ich bin zutiefst enttäuscht. In zehn Minuten sind sie aus meinem Haus verschwunden, und ich möchte Sie nie mehr wiedersehen. Sollten Sie versuchen, Kontakt mit meiner Tochter aufzunehmen, werden Sie das bitter bereuen. Raus. Wenn mein Mann Sie erwischt, werden Sie sich wünschen, nie geboren worden zu sein.« Was für Drohungen, und das aus Mutters Mund! Wir bekamen richtig Angst, obwohl sie uns gar nicht gemeint hatte. Sonja, die »Verräterin Gottes«, wie Pizzi ihr noch leise zurief, applaudierte sogar. »Das nenne ich Durchsetzungsvermögen«, sagte sie immer wieder und: »Was bin ich stolz auf dich.« Sie meinte natürlich Mutter, deren strenge Ansprache auch tatsächlich äußerst wirkungsvoll war. Pizzi verschwand kurz um zu packen, viel hatte sie eh nicht, und so war sie nach knapp fünfzehn Minuten raus aus dem Haus. Wir sahen sie nie wieder. Und ich muß sagen, ich vermißte sie nicht sonderlich. Auch Petra blieb nicht mehr lange. Sie folgte allerdings nicht etwa Pizzi, sondern kam ins Internat. Zu den Nonnen. Direkt nach den Sommerferien. St. Angela im Allgäu. Bei Oberstdorf gelegen. Am Nebelhorn. Ein reines Mädcheninternat, und der einzige Mann im Haus war passenderweise der Hausmeister. Er war im Prospekt der Schule abgebildet. Ein ulkiger Kerl mit einem gigantischen Schnurrbart in Kupferrot, an den Rändern kunstvoll nach oben gezwirbelt, der kein »Kn« sprechen konnte. »Ihr müßtet mal hören, wenn der Knochen sagen will«, kicherte Petra andauernd in ihren ersten Internatsferien und preßte ein verzerrtes »Nochen« heraus. Immer wieder sagte sie es. »Nochen, Nochen.« Nasal und grunzend. Uns war nie klar,
warum es so irrsinnig komisch war, daß ein Mann kein »Knochen« sagen konnte. So wichtig war das Wort ja nun auch nicht. Aber vieles von dem, was Petra aus ihrem Internat erzählte, kam uns seltsam vor. »Warum ist die auf einmal so anders?« wollten wir von Papa wissen, und der sagte dann immer nur: »Zu viele Frauen auf einem Haufen, das macht selbst meine Petra wirr. Das schafft die stärkste Frau.« »Die stärkste Frau«, höhnte Silke daraufhin, »die stärkste Frau würde sich auch von einer Sekte einfangen lassen. Ha. Ha. Lachhaft. Petra und stärkste Frau.« Wo sie recht hatte, hatte sie recht. Vater sah das mit der Stärke jedoch völlig anders und war von Anfang an gegen das Internat gewesen. Aber Mutter hatte darauf bestanden, und seit der Geschichte mit dem Baby traf Mutter die Entscheidungen in der Familie. »Du hast für ein Kind eine schwerwiegende, endgültige Entscheidung getroffen, für die Kinder, die noch übrig sind, entscheide nur noch ich.« Die Bemerkung war eine Art Operation am offenen Herzen, aber ohne jede Betäubung. Vater schluckte mehrmals schwer, hatte Tränen in den Augen und sagte dann mit ganz leiser Stimme: »Ein Unglück ist ein Unglück, ich habe mich zu dieser Tat wahrlich nicht bewußt entschieden, sie ist mir passiert. Das weißt du genau, also hör auf, mich zu verletzen.« Trotzdem ließ er Mutter entscheiden, und Petra kam, letztlich gegen seinen Willen, ins Internat. Richtig verziehen hat sie ihm das nie. Zum Glück war vor der Internatsverschickung genug Zeit, um Petra über die Zeugen Jehovas auszuhorchen. Schließlich war sie das erste Sektenmitglied, das Silke und ich je zu Gesicht bekommen hatten. »Wie haben sie dich geködert?« bohrten wir so lange, bis sie uns etwas erzählte. »Hört gut zu«, begann sie theatralisch, »ich werde euch einmal alles sagen, aber dann
will ich nie mehr wieder da von reden, ist das klar!« Wir nickten, was blieb uns schließlich übrig? »Es begann, kurz nachdem Pizzi bei uns anfing. Ich bewunderte ihre Ruhe. Und daß sie so genau wußte, was sie wollte. Hier war alles durcheinander. Pizzi konnte mir sagen, was richtig war im Leben. Was man tat und was nicht. Am Anfang haben wir zusammen die Bibel studiert. Wenn die da erzählte, war das richtig spannend.« Silke lachte. Das klang aber auch zu witzig. Spannendes Bibelstudium. »Habt ihr Haschisch oder LSD genommen?« fragte Silke, nachdem sie sich erholt hatte. Petra schaute völlig verwirrt. »Spinnst du jetzt total, es gibt Geschichten, da schlackern euch die Ohren. Ich werde euch eine erzählen. Zum Beweis.« »Nur zu«, sagte Silke und Petra begann: »Einmal sind wir nach Frankfurt gefahren, zum Kaufhof, um den Wachturm zu verkaufen. Wir waren erst etwa eine Dreiviertelstunde da, als uns eine Negerin ansprach. Auf Englisch. Eine ganz schwarze Frau, man hatte ehrlich Mühe, in ihrem Gesicht die Augen zu sehen. Weil die auch so dunkel waren. Wirklich. Und die Haare waren wie Zuckerwatte, nur eben schwarze Zuckerwatte. Sie musterte uns und sagte: »What are you doing there?« oder so ähnlich. Pizzi guckte mich verstört an. Sie verstand kein Wort. »Was will die von uns«, fragte sie. Sicher war ich mir auch nicht, aber immerhin hatte ich ungefähr kapiert, worum es ging. »Sie will wissen, was wir machen«, übersetzte ich. »Was geht die das an?« antwortete Pizzi ganz panisch. Die Negerin rückte näher und grinste uns mit den weißesten Zähnen an, die ich je gesehen habe. Daß in diesem wahnsinnigen Tiefschwarz auf einmal ein solches Knallweiß auftauchte, war verblüffend. Aber auch ein wenig furchterregend. Pizzi schaute, als würde es sie nicht überraschen, wenn die Frau zubeißen würde. Schnell und
brutal ihre schneeweißen Zähne in die Haut von Pizzi oder mir hauen würde. »Sag was zu der«, herrschte mich Pizzi an, »irgendwas, damit die verschwindet.« Obwohl ich nicht gerne Englisch vor anderen rede, traute ich mich in diesem Fall. Schließlich konnte Pizzi gar kein Englisch und somit auch nicht merken, wenn ich Fehler machte. Ich stammelte: »We work for God« und fuchtelte der Negerin mit unseren Wachturmheften vor der Nase rum. Sie schnappte sich eins, blätterte ein bißchen und lachte. Pizzi wurde sauer. Über den Wachturm zu lachen, das ging zu weit. »Da können Sie noch so schwarz sein, so viel Anstand sollte selbst eine Negerfrau haben«, schnauzte sie die Frau an. Ich war sprachlos. In diesem Ton mit einer Erwachsenen zu sprechen, fand ich doch äußerst gewagt, und es hätte mich keineswegs gewundert, wenn die Frau Pizzi ein paar gescheuert hätte. Aber weit gefehlt. Die Negerin dachte gar nicht daran, Pizzi zu ohrfeigen. Statt dessen lachte sie nur noch mehr. Und das in einer Lautstärke, daß ich das Gefühle hatte, die halbe Zeil würde auf uns schauen. Ihre Haare, das riesige Zuckerwattengebilde, schwankte auf ihrem Kopf hin und her. Fertig mit Lachen, klopfte sie uns auf die Schultern und beim Weggehen rief sie uns noch »I am very proud of you« zu. »Sie sagt, sie ist stolz auf uns«, erklärte ich umgehend Pizzi. Die glaubte mir kein Wort. »Nie im Leben«, sagte sie, »da hast du was mißverstanden, nachdem ich die so angemeckert habe, ist die doch nicht stolz auf uns. Quatsch. Wir können froh sein, daß sie uns nicht geschlagen hat. Sehr wahrscheinlich ist sie geisteskrank und aus einer Irrenanstalt geflohen.« Mir war das alles sehr suspekt. Wie konnte eine Frau, die wir derart offensichtlich schlecht behandelt hatten, lachend davongehen? War sie tatsächlich eine Irre, wie Pizzi meinte? Oder sind Neger vielleicht generell so seltsam? Ich kenne nun mal keine.
Vielleicht sind die einfach anders als wir. Oder wurden oft so unhöflich behandelt, daß es ihnen schon nichts mehr ausmacht. »Ja und, weiter «, unterbrach Silke Petra. »Was dann, war sie eine berühmte Sängerin, oder hat sie euch angezeigt oder was?« »Nichts weiter, das war es, das Erlebnis. Mir war es spannend genug«, rechtfertigte sich Petra. »Was glaubt ihr, was wir aufgeregt waren.« Mir hatte die Geschichte auch nicht übel gefallen, an Petras Stelle hätte ich aber das Ende doch noch etwas ausgeschmückt. Hätte die Negerin mit Hamburgern zurückkommen lassen oder sie zu einer Beobachterin der Sekte gemacht, die überprüfen sollte, wie ernst es die Wachturmverteilerinnen nahmen. Aber Petra war nun mal anders als ich. »Phantasielos«, meinte Silke verächtlich, man hätte es aber auch ganz schlicht ehrlich nennen können. »Aber warum bist du denen auf den Leim gegangen?« wollte ich noch wissen. Diese, alles entscheidende Frage hatte Pizzi bis dato nun mal nicht beantwortet. »Könnt ihr euch nicht vorstellen, wie allein ich zu der Zeit war? Mutter und die Geschichte mit der Hersler, Vater und sein Vater, und dazu ihr beide. Nur ich war über. Und so fühlte ich mich auch. Übrig.« Sie machte eine kleine Pause und guckte betreten. »Eigentlich, wenn man es genau nimmt, seid ihr dran schuld, daß ich mich auf Pizzi und die Zeugen überhaupt eingelassen habe.« Ohne Schuld lief in unserer Familie anscheinend nichts. Aber was Petra da sagte, war gar nicht falsch. Nur Silke konterte: »Wieso allein, du hattest doch deinen Kunzer, der fast schon wie dein siamesischer Zwilling war. Da hat sich doch keiner auch nur in eure Nähe getraut. Wenn, dann bist du selbst dran schuld.«
»Ach schuld. Ätzend«, sagte Petra, die doch selbst mit dem Thema angefangen hatte. »Und Kunzer«, ergänzte sie, »der ist ja fast noch langweiliger als die Zeugen.« Da war es raus. Petra hatte sich also bei den Zeugen gelangweilt. »Aber die loszuwerden ist nicht so leicht, wie Kunzer in die Wüste zu schicken«, jammerte sie uns einen vor. »Jedes Wochenende schleppte mich Pizzi in eine Versammlung. Die Versammlung im sogenannten Königreichsaal. Der ist aber nichts anderes als ein x-beliebiges Bürgerhaus. Das in Fischbach, um genau zu sein. Wo dann irgendwelche älteren Männer stundenlang vorlesen, und man darf nicht mal aufs Klo. Also, man darf schon, aber Störungen werden ungern gesehen.« Wir verstanden nicht, wieso man irgendwo hinging, wenn es einem überhaupt nicht gefiel. »Nein, nein«, wehrte sie ab, »es gefiel mir ja. Meistens, oder, na ja, ehrlich gesagt, mehr so manchmal. Was mir gefiel war die Eindeutigkeit. Die Richtung war klar. Man wußte, was man zu tun und zu lassen hat. Es bedurfte keiner großen Kopfanstrengungen. Zeugen halten zusammen. Gegen die Ungläubigen.« »Wo ist da der Unterschied zu unserer Kirche oder zu Mutter, bei der man auch am besten brav hinterherdackelt?« fragte Silke, und auch ich war mir unschlüssig. Es hörte sich alles viel weniger spektakulär an, als ich mir das vorgestellt hatte, und aufs Klo gingen wir während einer Messe schließlich auch nicht. Wenn der einzige Unterschied der war, daß man sich statt in der Kirche im Bürgersaal traf, war das wahrlich nicht doll. Von einer Sekte erwartete ich einfach mehr. Aufsehenerregendes. Ein klein bißchen spannender waren die Geschichten, die Petra von ihren Rundgängen mit Pizzi erzählte. Wie sie in Hochhäusern von Tür zu Tür gezogen sind und was sie da für Gestalten getroffen haben. »Einmal hat uns ein Typ vollkommen nackt die Tür geöffnet«, berichtete Petra fast
schon schwärmerisch. »Und weiter?« fragten wir, weil wir das allein noch nicht sehr aufregend fanden. »Hatte er einen, einen großen… du weißt schon«, fragte Silke, die alles gerne ganz genau wußte. »Keine Ahnung. Er hat die Tür gleich wieder zugeknallt, und so schnell konnte ich gerade mal erkennen, daß es ein Mann war«, antwortete Petra, »und ehrlich gesagt, das mit den Türen ging uns ständig so. Kaum hatten wir gesagt, was wir wollten, machte es peng. Es gab Häuser, da kam man sich vor wie ein fieser Vertreter.« »Wart ihr nicht auch genau das?« fragte Silke dazwischen. Ich zischte sie an: »Halt doch einmal im Leben deine Klappe«, weil ich Angst hatte, Petra könnte nichts mehr erzählen. Von den Zeugen Jehovas gab es etwas aufregendere Geschichten. Die Schwiegermutter von einer engen Zeugenfreundin von Pizzi war gestorben, weil sie und ihre Verwandtschaft eine Blutkonserve verweigert hatten. Blutkonserven waren bei den Zeugen streng verboten. »Selbst, wenn jemand sonst stirbt?« wollten wir wissen. »Selbst dann. Dann hat er Pech und kommt immerhin in den Zeugenhimmel. Mit der Konserve kann man vielleicht überleben, aber der Zeugenhimmel ist für immer versperrt. Ein guter Zeuge hat keine Wahl. Er muß halt aufs Blut verzichten.« Petra seufzte. So, als hätte sie diese Entscheidung selbst schon Dutzende von Malen treffen müssen. Reinsteigern konnte sie sich schon immer. »Und weiter«, bohrten wir auf der Suche nach dem Wilden und Verbotenen. »Nix weiter. Wir mußten viel die Bibel studieren und sonst eigentlich nichts.« Ätzend. Übrig blieb für mich nur eine Frage: Warum soll ein Mensch zu einer Sekte gehen, die trister ist als das normale Leben? Nur einmal noch kam eine von denen zu uns, um mit Mutter und Vater zu reden. Eine Frau Linder. Ich öffnete ihr die Tür. Sie war groß und schlank und trug einen weißen Rock. Bis zu
den Knien. Auf ihren Beinen schlängelten sich die Besenreiser. Blutrot, haarfein, aber doch deutlich zu sehen auf dem Weiß der unrasierten Beine. Wie Tausende von winzigen Regenwürmchen auf dem Weg durch den Dschungel ans Licht. Den Haardschungel. Frau Linder hatte wahnsinnig dichtes dunkles Haar. Ihre Haut war schlecht. Man sah die Aknenarben deutlich. Da konnte auch die Halskette nicht von ablenken. Eine schöne Kette, die perfekt zur orangefarbenen Handtasche mit den silbrig glänzenden Schnallen paßte. Sie war jung, aber ihr Anblick ließ einen traurig werden. Dabei war sie nicht häßlicher als der Durchschnitt. Aber viel ungeschickter. In der Aufmachung. Und noch dazu war sie eine Zeugin. Mit manchen war Gott wirklich nicht gerecht. Mir jedenfalls tat sie nur leid. Sie war wie eine Pflanze, die nach Wasser schrie, und niemand konnte es hören. Auch bei uns wollte niemand das hören, was sie zu sagen hatte. Mutter fragte nur kurz: »Sind Sie auch von diesem Verein, diesen Sektenfritzen?« und als diese Frau Linder geradezu stolz »ja« sagte, schob Mutter sie aus der Tür und bemerkte danach giftig: »Was soll eine Frau mit solchen Beinen auch machen, außer in die Sekte gehen.«
16 Damit war das Kapitel Zeugen Jehovas für uns abgeschlossen. Was blieb, war Petra im Internat und ein kleiner Vorteil für Silke, die in Religion beim Aufsatzschreiben zum Thema »Sekten« das mit der Blutkonservenverweigerung verarbeitete. Sie ließ in ihrem Aufsatz gleich eine ganze Familie umkommen. Alle waren Zeugen, und nach einem Flugzeugabsturz über dem Mittelmeer brauchten sie dringend frisches Blut. Die Großmutter, eilig herbeigerufen, verweigerte die Transfusionen und gab erst nach langem Zögern die Einwilligung für das kleinste der vierköpfigen Familie, ein acht Monate altes Mädchen namens Karla mit K. Und das auch nur, weil die Italiener, in deren Krankenhaus die Familie lag, wirklich Druck machten. Alle überlebten, die kleine Karla mit Konserve, der Rest der Familie ohne. Leider mußten die Eltern, als es ihnen wieder gutging, ihre Tochter Karla verstoßen, und seither lebte das arme Mädchen im Heim. So konnte es einem Zeugenkind ergehen, nur weil es fremder Leute Blut im Körper hatte. Silke bekam nur eine 3+ auf ihren Aufsatz, denn eigentlich war das Thema verfehlt und hieß »Was tut die Kirche im Kampf gegen die Sekten?« Silke war beleidigt und fand, sie hätte mindestens eine 2 verdient. Wenn nicht eine 1. Schließlich hatte sie doch geschrieben, die Italiener, und die meisten von denen waren doch katholisch, hätten Druck gemacht. War das etwa kein Kirchenkampf gegen Sekten? »Aber die Lehrer mögen es nicht, wenn man mehr weiß als sie«, gab sie trotzig an. Was natürlich völlig übertrieben war. Und bestimmt auch kein bißchen wahr. Wie auch ihre gesamte Geschichte. »So weit würden garantiert nicht mal Zeugen
gehen«, stritt ich mit ihr. Überheblich wie sie sein konnte, lachte sie nur kurz und sagte: »Was weißt denn du.« Mehr nicht. Nur: »Was weißt denn du.« Das sagte sie gern, wenn ihr sonst nichts einfiel und sie trotzdem das letzte Wort behalten wollte. Manchmal war sie eine wirklich blöde Kuh. Petras Abgang ins Internat hatte weniger Vorteile für uns als erwartet. Die erste große Enttäuschung war, daß sie ihr Zimmer behielt. »Schließlich ist sie in den Ferien hier und soll sich doch auch jederzeit zu Hause fühlen«, war Mutters Argument. »Man kann einem Kind nicht alles auf einmal nehmen«, schloß sich Vater an. »Wieso eigentlich nicht«, fand Silke. Sie hatte fest damit gerechnet, als Nächstälteste endlich in das größere Zimmer aufzurücken. Alleinherrscherin zu werden. Zimmerbesitzerin. Petra sollte, wenn sie in den Ferien anreiste, dann bei mir schlafen. Das war Silkes Plan. »Unzumutbar«, entschied Mutter abschließend, und diese Bemerkung machte sowohl mich als auch Silke wirklich sauer. »Was ist denn unzumutbar daran, mit mir in einem Raum zu schlafen«, war mein Standpunkt. Silke hingegen meinte: »Warum wird mir was jahrelang zugemutet, was Petra nicht mal ein Wochenende ertragen kann.« Ganz lässig fügte sie ein »Nimm’s nicht persönlich« hinzu. Das war die Zeit, in der ich begann das Baby zu vermissen. Vielleicht wäre der Kleine mein Verbündeter geworden. Hätte die Verhältnisse ausgeglichen. Mich unterstützt. Der Nesthäkchenposten, den ich immer so geliebt hatte, bot bei genauer Betrachtung, im täglichen Leben, weniger Annehmlichkeiten als erwartet. Die jüngste der Familie zu sein, war nur so lange interessant, wie ich es nicht war. Leider. Ich hatte es besser in Erinnerung gehabt, als es tatsächlich war.
An sich wäre das Zimmerproblem in unserem Haus überhaupt keins gewesen. Wenn das Zimmer des Babys zur Verfügung gestanden hätte. Aber allein die Erwähnung, daß da ja noch ein Zimmer war, das niemand nutzte, bedeutete Drama. Oma hatte es einmal versucht. Nach dem Motto: »Leben geht weiter, gib einem der Mädchen das Zimmer.« Was sie mit diesem Vorstoß auslöste, war gigantisch. Mutter weinte, heulte und tobte, bis Vater ihr mehrere Beruhigungstabletten aufzwang. Als wären Schleusen, die schon zugeschweißt und verlötet waren, neu geöffnet worden. Ein Ausbruch, der uns klarmachte, daß dieses Thema absolut tabu war. Noch immer. Oma war schockiert. Worte wie »hysterisch« und »hat sich nicht im Griff« fielen. Vater allerdings wies seine Mutter zurecht. Der kam mit der Attacke, dem völligen Schmerzdammbruch am besten zurecht. Als könne er mit der trauernden Ehefrau, die wie von Sinnen war, besser umgehen als mit der kühlen, zurückhaltenden Frau die Mutter sonst war. Merkwürdig. Es war, wieder mal, keine besonders tolle Zeit für mich. Die Wende kam mit meinen Bauchschmerzen. Zwei Wochen lang durfte ich nichts Blähendes essen. Was an sich sehr angenehm war, schließlich bläht vor allem Gemüse und ich bin nicht unbedingt verrückt auf Gemüse. Trotz des Verzichts ging es mir nicht besser. Im Gegenteil. Der Schmerz wurde immer schlimmer. »Magen-Darm-Infektion« war die Diagnose des Kinderarztes. Jetzt sollte ich mit Wärmflasche schlafen. Jede Nacht. Die Hitze aus dem wabbeligen lilafarbenen Teil machte mich fast rasend. Außerdem hatte ich bei der alten Flasche ständig Angst, sie könnte auslaufen und zusätzlich zu den Bauchschmerzen wäre ich dann noch verbrüht und fürs Leben gezeichnet.
»Eventuell ist es doch schon hormonell«, orakelte meine Mutter und rollte bedeutsam die Augen. Nach drei Wochen war der Punkt erreicht, wo mir alles egal war. Ich wollte nur, daß es aufhört. Und zwar schnell. Der einzige Vorteil war der mit der Schule. Mindestens dreimal die Woche war ich nun schon früher aus dem Unterricht heimgegangen und dann eineinhalb Wochen ganz zu Hause geblieben. Ich war nie der Typ Schülerin, der sich ohne Schule wie amputiert fühlte. Es gab ja solche. Die nur dann aufblühten, wenn Schule war. Die ein großes Publikum brauchten. Für ihre Angebereien. Menschen wie Rudi Ranninger, die anderen nur so zum Spaß Köpfe vorenthielten. Köpfe, die sie nicht mal brauchten. Ich hatte zuwenig zum Angeben, und auch wieder zuviel zum Jammern. Ein wahres Mitte-Kind eben, nicht nur von der Familienposition her. Die Bauchschmerzen waren das erste, was mich ein wenig in den Mittelpunkt rückte, und deswegen verfluchte ich sie insgeheim gar nicht so sehr. Sie taten weh, aber sie brachten mir auch was. Mutter sprang richtiggehend um mich rum. In guten Momenten dachte ich sogar, sie hätte Angst um mich, und das gefiel mir unglaublich gut. Die schönsten Momente waren die, wenn Mutter mit dem Tablett in der Tür stand, mir frischen Pfefferminztee und Zwieback brachte, das Kissen aufschüttelte, die Fenster aufriß, um Frischluft reinzulassen, und mir anbot, ein bißchen fernzusehen. Während die anderen in der Schule schwitzten, hockte ich mit Clarence, Daktari und meinem Pfefferminztee auf der Couch und versuchte, das Bauchweh nicht zu bemerken und alles andere zu genießen. Noch mehr Genuß hatte ich jeden Mittag, wenn Silke aus der Schule kam und ich ihr so nebenbei erzählte, was ich an einem Vormittag alles im Fernsehen gesehen hatte. Die drehte immer fast durch. Hatte richtige Neidanfälle. »Küß mich«, bettelte sie,
»von mir aus sogar mit Zunge. Bitte.« Sie wollte sich unbedingt anstecken, aber ich tat mein möglichstes, um das zu vermeiden. Einmal sollte etwas nur mir gehören. So leicht ließ ich mir das nicht nehmen. Nicht mal von einer Silke. Die Nacht, in der es dann wirklich dramatisch wurde, werde ich nie vergessen. Es war gegen halb elf, als ich aufwachte. Vor Bauchweh. Es tat dermaßen weh, daß ich kaum Luft bekam. Die einzige Position, in der ich meine Schmerzen ertragen konnte, war mit angezogenen Beinen. Ich schrie nach Mutter. »Komm her, wenn du was willst«, war ihre erste Reaktion. Sie saß vor dem Fernseher, das konnte ich der Richtung entnehmen, aus der ihre Stimme kam. »Es tut so weh«, rief ich, und wahrscheinlich war es der Tonfall meiner Stimme, der ihr den Ernst der Lage verriet. Minuten später lag ich auf der Bahre der Rettungssanitäter. Laufen konnte ich nämlich nicht mehr. Das war auch der Grund, weshalb meine Eltern beschlossen hatten, den Rettungswagen zu rufen. »Jetzt ist es genug gelitten, nun ist Schluß«, sagte Vater. Und Mutter war, wie entspannend, seiner Meinung. Beide wirkten richtig ängstlich. Wenn einem schon mal ein Kind gestorben ist, dann neigt man zur Überängstlichkeit, hatte Petra schon oft gesagt, eigentlich immer wenn Mutter oder Vater was verboten, und hätte sie das Theater in dieser Nacht gesehen, wäre sie in ihrer Ansicht mehr als bestätigt gewesen. Die Rettungswagenaktion war ein Wahnsinnsspektakel, das ich ohne diese teuflischen Bauchschmerzen sicher noch mehr genossen hätte. Die Nachbarschaft war fast vollständig auf der Straße versammelt, als ich auf der Trage in den Krankenwagen geschoben wurde. Wie auf einem Backblech in den Ofen ging mir durch den Kopf, und weil das so ein Quatschgedanke war, hatte ich direkt Angst, auch was am Gehirn zu haben. Mutter durfte mitfahren im Krankenwagen, und die letzte, die ich sah, bevor die Tür zugeknallt wurde, war Frau Petrusilker. »Grüß
mir meinen Mann«, krisch sie noch, und ich zermarterte mir die gesamte Fahrt bis zum Stadtkrankenhaus Höchst den Kopf, wie das gehen sollte und was sie wohl damit gemeint hatte. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder, sie dachte, ich würde sterben und ihren Mann dann eventuell im Himmel treffen, oder sie ging davon aus, daß ihr Mann im Krankenhaus lag. Die zweite Variante war mir um einiges lieber, aber wenn die Petrusilker nur halbwegs bei Sinnen war, mußte sie die erste gemeint haben. Schließlich war sie selbst dabeigewesen, als ihr Mann tot von der Straße gekratzt wurde. Mit anderen Worten: Die Petrusilker war überzeugt, daß ich sterben würde. Trotz aller Schmerzen glaubte ich das nicht. Ich hatte tief drinnen doch so was wie ein gutes Gefühl. Mutter und der jüngere Rettungssanitäter verstanden sich auf Anhieb prima. Mir gefiel er nicht. Er roch irgendwie seltsam. Dieser Rettungssanitäter, Herr Pudal, stand auf seiner Weste, beugte sich auch noch ständig tröstend über mich, und jedesmal war ich wie eingehüllt in seinen Geruch. Hatte das Gefühl, nichts anderes würde mehr meine Nase erreichen außer dieser Mischung aus Zimt und etwas Scharfem. Einem Reiniger. Oder was zum Desinfizieren. Mir wurde grauenvoll übel. Zusätzlich zu den Schmerzen. Und genau in diesem Moment mußte ich mich auch schon übergeben. Mutter und Herr Pudal hatten Glück und bekamen nichts ab. Aber der Rettungswagen war gut vollgekotzt. »Treffer«, hätte Silke gesagt, wenn sie dabeigewesen wäre, aber das, also das hätte mir gerade noch gefehlt. Mutter schimpfte überhaupt nicht und widmete sich wieder mehr mir anstatt Herrn Pudal. Was ja nur gerecht war in meinem Zustand. Natürlich ahnten die zwei nicht, daß ich nur gekübelt hatte, weil der Pudal komisch roch. Das hätte auch sicherlich Ärger gegeben. Im Krankenhaus angekommen, war ich sehr schnell sehr nackt und lag in einem dünnen weißen Kittel auf einer anderen Trage. Verschiedene
Hände tatschten über meinen Bauch. Ich weinte. Es ging einfach nicht anders. Ich konnte es nicht halten. Jeder Druck auf den Bauch ließ neue Tränen fließen. Als würden die ein Ventil aufdrehen: »Wasser marsch« war der stumme Befehl. »Notoperation – der ist bestimmt kurz vor dem Durchbruch, gleich machen…« waren Wortfetzen, die durch die Luft schwirrten. »Es ist dein Blinddarm«, klärte mich Mutter auf. »Der scheint doch entzündet und muß raus. Sie werden dich gleich noch operieren.« Sie machte eine Pause und guckte mich ganz eindringlich an. »Die können das hier. Das ist Routine für die. Wie ein einfacher kleiner Schimmelpilz für deinen Vater.« Mit einem einfachen Schimmelpilz verglichen zu werden, das hatte schon was. Aber in diesem Fall hatte es Mutter sicherlich nett gemeint. Wollte mir klarmachen, daß alles ganz harmlos war. Ihr Blick aber sagte etwas anderes. Sollte die Petrusilker doch recht gehabt haben? Waren das hier auf dieser schäbigen Trage meine letzten Minuten? »Im Grab will ich nicht diesen doofen Kittel anhaben«, flüsterte ich noch schnell Mutter zu, »bitte laß mich die Jeans von der Silke anziehen, die mit dem Superschlag und dem bestickten Saum«, und ehe Mutter antworten konnte, wurde ich auch schon weggeschoben. Hoffentlich hatte sie mich noch verstanden. Ein grünkitteliger Kerl mit Mundschutz und extrem buschigen Augenbrauen, der aussah wie vom Planet der Affen, beugte sich über mich. »So, junge Dame, jetzt ist er bald weg, der böse Schmerz«, und während er das sagte, drückte er mir eine riesige Plastikmaske über Mund und Nase. »Zähl bitte bis fünf, oder wenn du kannst bis zehn«, grinste er mich noch an. Was dachte der denn von mir? Daß ich nicht in der Lage war, bis zehn zu zählen? Hielt der mich für blöde oder was? Ich konnte Männer, die mich junge Dame nennen, noch nie leiden. Ich kam bis vier. Dann war ich weg.
»Hallo, hörst du mich, Kleine«, kam es wie durch einen Daunenanorak, so dumpf und leise klang die Stimme. Ich wußte zwar nicht recht, wo ich war, aber eines war mir sofort klar: Ich lebte. Es war kein Himmelsgefühl. Und auch kein totes. Dazu spürte ich meine Füße viel zu sehr. Sie juckten. Im Himmel würden einem nicht die Füße jucken. Niemals. »Kratzen bitte«, versuchte ich der Frau, die über mir hing und mich anglotzte, zu sagen. Sie hatte eine kleine rote Brille und absolut nichts von einem Engel. »Gleich geht’s aufs Zimmer, du bist noch auf der Wachstation«, sagte sie freundlich und strich mir über den Kopf. Am linken Nasenflügel hatte sie einen eitrigen Pickel. Wenn die Brille rutschte, würde er explodieren. Obwohl es extrem eklig aussah, konnte ich nicht anders und mußte hinschauen. Es war geradezu spannend. Alles wäre prima gewesen, wenn nicht meine Füße so teuflisch gejuckt hätten. Ich versuchte den einen am anderen zu kratzen. Die Frau streichelte mir weiter über den Kopf. Es war ein angenehmes Gefühl, schön und doch irgendwie nicht wirklich. Wie im Halbschlaf, wenn Mutter mich morgens weckte und ich nicht raus wollte, weil ich den Traum noch fertigträumen wollte. Genau so war es. Dieses Streicheln. War die Frau eine Fee? Oder doch ein Engel? Eben ein moderner mit roter Brille und Pustel am Nasenflügel? Würde sie gleich ihren Zauberstab zücken und mir drei Wünsche erfüllen? Aber wo waren ihre Flügel? Und was wären überhaupt meine Wünsche? »Süße, meine kleine Maus, hier ist Mama, hörst du mich?« Das war eindeutig Mutters Stimme. Sie nannte mich Süße, ihre kleine Maus. Wie wundervoll. Würde sie aufhören, wenn ich eine Reaktion zeige? Ich ließ die Augen geschlossen. Hielt es aber vor lauter Neugier wieder mal nicht lange aus. Es war tatsächlich Mutter. Und Vater. Beide beugten sich über mich
und sahen sehr froh aus. »Endlich bist du wieder wach. Wir haben uns schon sehr um dich gesorgt«, flüsterte Vater und strahlte mich an. »Es war der Blinddarm, und er war schon vollkommen vereitert; nicht viel, und er wäre durch gewesen. Der Eingriff war nicht ungefährlich. Das hätte böse enden können.« Hätte können, war aber nicht. Und ich hätte die Augen zu lassen sollen. Kaum hatte ich geguckt, verabschiedeten sie sich auch schon. Nach dem Motto: Sie lebt, da können wir wieder gehen. Kaum war klar, daß ich überlebt hatte, gab es auch schon erste Anordnungen: »Sei lieb, ärgere die Schwestern nicht und bis heute abend«, weg waren sie. Zuneigung und Besorgnis zeigten Eltern, jedenfalls meine Eltern, eben nur im Extremfall. Trotzdem habe ich natürlich beim ersten Besuch vor Silke damit angegeben. »Mutter war so traurig, fix und fertig vor lauter Sorge war die, die hat gedacht, ich sterbe«, erzählte ich Silke mit tiefster Genugtuung. Ich wußte, das würde sie richtig ärgern. Neidisch machen. Mich im Dauerwettkampf um das beliebteste Kind in eine wesentlich bessere Position schieben. Aber Silke blieb erstaunlicherweise äußerst gelassen. »Es ging nicht um dich. Na ja, oder nur so am Rande. Es ging denen drum, daß es natürlich peinlich wäre, noch ein Kind zu verlieren. Zwei Tote, so kurz nacheinander, das verkraftet keiner und das hätte auch doof ausgesehen.« Blöd fand ich das. Vor allem, weil dadurch mein Triumphgefühl enorm schrumpfte und ich nicht mal sicher war, ob sie vielleicht doch recht hatte. Sie gönnte mir nichts. Nicht mal das klitzekleinste bißchen Glücksgefühl. Ich lag in einem Dreibettzimmer. Am Waschbecken. Nahe der Tür. Wir waren zu dritt im Zimmer. Drei Mädchen. Evi, elf Jahre alt, und Luise, gerade mal acht. Eine Babyziege, die ständig heulte und uns Eis voraß. Demonstrativ. Mindestens dreimal am Tag. Meistens Dolomiti. Das mit den Zacken.
Grün-weiß-rot. Das beste, was es an Eis gab. An Kiosk-Eis. Eissalon-Eis war noch mal was anderes. Ich mußte jedesmal fast sabbern, wenn Luise eins aß. Wir bekamen nichts außer Haferschleim, Tee und, wenn es gut lief, ein trockenes Brötchen in Milch. Den Haferschleim konnte man unmöglich essen. Der schmeckte und sah aus wie Kotze. Mutter fand, daß man das nicht sagen durfte, aber gestimmt hat es trotzdem. Selbst hätte die so was auch niemals gegessen. Glücklicherweise war Evi ganz nett, und wir ignorierten die Eis-Vorfresserin Luise, so gut es eben ging. Das Ärgerliche war, daß sie zwischen uns lag, wir also über sie weg reden mußten. Sehr schwierig, denn Luise mischte sich ständig ein. »Gestörte Wort-Flugbahn«, nannte Evi das, was sich da abspielte, und Luise fragte jedesmal: »Was ist denn das?« So doof war die. Außerdem gab sie dauernd mit ihrem Gips an. Sie hatte das komplette linke Bein in Gips. Bis zum Oberschenkel. Komplizierter Bruch. Auf der Kellertreppe ausgerutscht, als sie Mineralwasser holen sollte. Seitdem hatte die ihre Eltern voll im Griff. »Hättet ihr mich nicht geschickt, wäre das nicht passiert, Kinder sind keine Diener«, hat Luise ihren Eltern wieder und wieder gesagt. Bis die Herr und Frau Schuldgefühl waren. Obwohl ich es frech von ihr fand und auch noch Quatsch dazu, beneidete ich sie um ihre Strategie. Das mußte man sich erst mal trauen. Trotzdem war sie eine Nervensäge, die nichts kapierte. Immer, wenn wir sie zu sehr ärgerten, drohte sie, daß wir nicht auf ihrem Gips unterschreiben dürften. Was wir natürlich sehr gerne wollten. Aber nie zugaben. Evi hatte, wie ich, einen schlimmen Blinddarm gehabt. Aber nicht ganz so arg wie bei mir. Nur vereitert, nicht kurz vor dem Durchbruch. Vielleicht mochten wir uns deshalb. Weil wir jetzt beide Blinddarmlose waren. Vielleicht kriegen Leute, die sich ähneln, auch ähnliche Krankheiten. Sagte die Ähnlichkeit der Krankheiten auch was
über die Ähnlichkeit des Charakters? Bekamen bestimmte Typen eben eher Bauchschmerzen und andere Kopfweh? Hatten die einen schwächliche Knochen wie Luise und die anderen anfällige Blinddärme? Lag es am Ende nur daran, daß wir Luise nicht mochten? Weil sie nicht in unseren blinddarmfreien Club gehörte? Oder waren Krankheiten völlig wahllos? Suchten sich die Menschen mehr nach dem Zufallsprinzip? Am sechsten Tag nach der Notoperation, es war schließlich keine normale Operation gewesen, an diesem sechsten Tag ging nachmittags die Tür auf und Rudi Ranninger stand da. Mich besuchte ein Junge! Evi und Luise fingen sofort an zu kichern. Aber wie. Ich schämte mich, und Rudi Ranninger lief knallrot an. »Ich wollte dir nur was bringen«, stammelte er und warf mir ein flaches Päckchen aufs Bett. »Auch ohne Duweißt-schon – und alles Gute von meinen Eltern«, rief er noch, und ehe ich antworten konnte, war er schon wieder weg. Ich wußte es sofort. Was in dem Päckchen war. Als wahrer Fan spürt man so was. Und wirklich: Es war der Kopf von Suzy Quatro. Ich hatte mich damit abgefunden, ihn nie zu bekommen, und da war er nun. Vorsichtig legte ich ihn auf mein Nachtschränkchen, und je länger ich ihn anschaute, um so klarer wurde mir: Das ist ein Zeichen. Dieser Kopf ist mehr als nur der Kopf von Suzy Quatro. Er will mir was sagen. »Es wird doch noch alles gut.« Das mit dem Baby und mit Vater und Mutter. Vielleicht sogar mit Sektenpetra. Man muß nur Geduld haben. Warten können. Dann kommen die Dinge von allein, selbst die, die man schon aufgegeben hat. Wie der Kopf. Der allerdings, wie Evi sofort erwähnte, ein bißchen zerknittert war. Aber das sah man nur, wenn man sehr genau hinguckte. Und so würde es auch bei uns enden. Die Familie hatte leichte Knitter. Aber wenn man großzügig schaute, fielen sie kaum auf.
Der Kopf machte mich deshalb richtig glücklich. Mein Leben ohne Blinddarm ließ sich wirklich vortrefflich an.
17 Zwei Wochen nach der Operation wurde ich entlassen. Es war ein strahlender Tag. Die erste, die ich in unserer Straße wahrnahm, direkt nach dem Aussteigen aus unserem Wagen, war die Petrusilker. Sie schrubbte den Kharmann Ghia. Auf der Straße. Er glänzte und glitzerte wie eine zweite Sonne. Doppelsonne. Von oben und unten. Noch ein gutes Omen. Drei Tage später kam die dicke Sonja zu Besuch. Die von Mutters Trauerklub. Unangemeldet. Gegen Abend. Wir aßen Matjessalat mit roter Bete und Lauchstreifen, bei dem ich immer ein wenig Angst hatte, er könne schon um sein. Umgekippt. »Wie soll das gehen«, spöttelte Mutter jedesmal, wenn ich nur ganz behutsam einen solchen Verdacht andeutete. »Mit einem Mann wie deinem Vater im Haus, der schon von Berufs wegen jeden Grad der Verwesung erschnüffelt. Nie würde ich mich wagen.« Vater lachte, als wäre das witzig. Die dicke Sonja hatte zu unserer Überraschung ein Baby dabei. In einer dunkelblauen Cordtragetasche lag es. »Es ist soweit«, sagte sie zu meiner Mutter, und die nickte nur. Mehr sprachen die beiden nicht. Geheimnisvoll wie bei einer Verschwörung. Sonja hob die kleine gelbpaspelierte Daunendecke hoch, nahm das Kind aus der Tasche, und Mutter und sie verließen, mitsamt dem Baby den Tisch. Und den Raum. Wir hörten sie die Treppe hochgehen. »Was soll denn das?« fragte Silke, aber Vater hatte offensichtlich auch keine Ahnung. Er guckte mindestens so verwirrt wie wir. Ehe einer auch nur irgend etwas sagen konnte, stürmte Mutter zurück an
den Tisch. Ohne Sonja und das Baby. »Kinder, seid so lieb und geht raus in den Garten. Auf die Wiese. Zum Stein«, gab sie uns Weisung. »Und du«, sie drehte sich zu Vater, »kommst mit mir.« Ihre Stimme war so kühl und dabei doch sehr aufgeregt, daß keiner wagte, ihre Anordnungen zu hinterfragen. Oder gar zu widersprechen. Wir schlappten mit Pantoffeln über die Veranda in den Garten. Es war ein herrlicher Abend mit immer noch angenehm warmem Gras. Vom Tage aufgeheizt. Der Stein, das blaugekachelte Ersatzgrab unseres Bruders, schimmerte wie frischpoliert. »Ist die verrückt geworden, sprengt sie Vater und sich in die Luft, oder was soll das jetzt?« spekulierte Silke nachdenklich. Ihre Frage, die in mir Wellen der Angst auslöste, wurde schnell beantwortet. »Kinder«, rief eine Stimme aus dem ersten Stock. »Kinder, seht her.« Es war die dicke Sonja. Mit dem Baby auf dem Arm. Sie lehnte sich provokant aus dem Fenster. »Oh, mein Gott«, stöhnte Silke auf. »Sie wird es runterwerfen, es ist ein Opfer, ein ausländischer Brauch, sie ist auch verrückt. Ich bin umgeben von Wahnsinnigen.« Ich fing an zu heulen. »Bitte, bitte, lieber Gott, mach, daß nicht alles wieder von vorne anfängt«, schluchzte ich. Da trat Vater ans Fenster. Nun hatte er das Baby auf dem Arm. So wie damals unser Baby. Er hielt es aus dem Fenster. Auch wie damals. »Ich kann es halten«, schrie er und wedelte das arme Baby hin und her. »Ich kann es, ich kann es.« Vater trat zurück und machte Mutter Platz. Sie weinte. »Kommt herein, ihr Mädchen, und dann erkläre ich euch alles«, preßte sie unter Tränen hervor und verschwand im Zimmer. Die dicke Sonja beendete das wirre Fensterspiel und schloß das Fenster. Wir waren komplett verunsichert, aber die Neugierde trieb uns schnell zurück ins Wohnzimmer. »Hört zu«, begann Mutter, »ich weiß, das eben war sehr komisch für euch.« Sie wischte sich eine Träne von der Backe. »Aber es
mußte sein. Ich wollte euren Vater wieder so, wie er früher war. Zupackend, voller Zutrauen zu sich selbst. Keinen Mann, der keinen Halt geben kann, weil er selbst nichts mehr halten kann. Oder das jedenfalls glaubt. Deshalb dieser Test. Eine Idee von Sonja und den anderen aus dem Trauerkreis. Er muß die Situation noch mal durchstehen und schaffen, haben die Frauen behauptet, und ich habe ihnen geglaubt. Versteht ihr mich?« Silke nickte. Ich beschloß, es ihr gleichzutun, obwohl ich nicht sicher war, verstanden zu haben. Vater, noch immer mit dem Baby im Arm, fing nun auch an zu weinen. »Danke«, schnüffelte er. »Danke.« Jetzt weinte auch das Baby. »Daß eine Frau wie sie, die selbst so viel Leid erfahren hat, durch anderer Schuld ihr Kind verloren hat, daß Sie mir ihr Kind geben für diesen Versuch, das werde ich Ihnen nie vergessen.« Sonja, die sich bisher dezent im Hintergrund gehalten hatte, was bei ihrer Körperfülle wahrhaftig nicht leicht war, trat auf Vater zu. »Ha, ha«, dröhnte es aus ihrem Kugelbauch. »Mein Kind. Ha, ha. Niemals hätte ich Ihnen meines gegeben. Das ist das meiner Nachbarin. Ich passe heute nur mal drauf auf. Mein Kind, wie lustig. Ihnen geben. Ha, ha.« Eigentlich war das eine ziemliche Beleidigung. Aber sie entschärfte die Situation. Und weil Sonja nicht aufhören konnte zu lachen, lachten wir anderen eben mit. Selbst Vater, und irgendwie, irgendwie war das alles ja auch zum Lachen.