Der Commissioner
Metropolis Film Produktion Berlin präsentiert in Coproduktion mit New Era Vision London und Saga Fil...
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Der Commissioner
Metropolis Film Produktion Berlin präsentiert in Coproduktion mit New Era Vision London und Saga Film Brüssel mit RTBF mit Unterstützung von Filmboard Berlin-Brandenburg, Niedersächsische Filmförderung des NDR, Filmstiftung NRW, FilmFörderung Hamburg, Filmförderungsanstalt FFA und Eurimages, in Zusammenarbeit mit CANAL +, eine Metropolis Film Produktion:
Der Commissioner mit John Hurt Rosana Pastor Alice Krige und Armin Mueller-Stahl Regie Produzenten Co-Produzenten
Executive Producer Drehbuch nach dem Roman von Bildgestaltung Schnitt Production Design Musik
George Sluizer Christina Kallas Luciano Gloor Marc Samuelson Hubert Toint Peter Samuelson Jaqueline Pierreux George Reinhart Christina Kallas George Sluizer Stanley Johnson Bruno de Keyzer BSC Denise Vindevogel Heidi Luedi SFK Loek Dikker
Zum Autor: Stanley Johnson ist Autor zahlreicher Thriller und Sachbücher. Er arbeitete bei der Weltbank, den Vereinten Nationen, war Mitglied des Europäischen Parlaments und bis 1990 im Umweltrat der Europäischen Kommission in Brüssel. Heute lebt er als freier Schriftsteller in London.
Stanley Johnson
Der Commissioner Aus dem Englischen von Heinz und Christa Zwack
Econ Taschenbuch Verlag
Veröffentlicht im Econ Taschenbuch Verlag Der Econ Taschenbuch Verlag ist ein Unternehmen der Econ & List Verlagsgesellschaft Deutsche Erstausgabe © 1998 by Econ Verlag GmbH, Düsseldorf und München © 1997 by Stanley Johnson Titel des englischen Originals: The Commissioner Aus dem Englischen übersetzt von: Heinz und Christa Zwack Umschlagkonzept: Büro Meyer & Schmidt, München – Jorge Schmidt Umschlagrealisation: Init GmbH, Bielefeld Titelabbildung: © action press, Thomas Meyer Lektorat: Tanya A. Wegberg Gesetzt aus der Baskerville Satz: Josefine Urban – KompetenzCenter, Düsseldorf Druck und Bindearbeiten: Ebner Ulm Printed in Germany ISBN 3-612-27511-9
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I
sobel Mortons Friseuse war stolz darauf, gut über ihre Kundinnen informiert zu sein. Sie hatte sich ihr Geschäft über Kontakte und Mundpropaganda aufgebaut und wußte sehr wohl, daß die Damen, die ihr nobles Etablissement in Knightsbridge aufsuchten, dies nicht nur deshalb taten, um sich das Haar richten, die Beine enthaaren oder sich maniküren zu lassen; sie kamen, weil sie, ohne das je auszusprechen, wußten, daß sie mit Patricia über viel mehr als nur das alltägliche Geschehen reden konnten, ganz besonders über ihre Ehemänner und Kinder und Liebhaber, und daß Patricia ihre Vertraulichkeiten hüten und für sich behalten würde. Ganz wasserdicht war dieses System natürlich nicht. Aber das sollte es auch nicht sein. Die Damen, die unter den Trockenhauben saßen, waren ja nicht alle dumm. Einige von ihnen vertrauten sich Patricia in der vagen Hoffnung an, daß sie das Gehörte weitergeben würde, so daß die Wellen sich ausbreiten und eines Tages das Boot zum Schwanken bringen würden. Ein Teil von Patricias professionellem Geschick und ihrem persönlichen Charme bestand darin, daß sie zwischen echten Vertraulichkeiten und bewußten Indiskretionen zu unterscheiden vermochte. Aber Isobel Morton machte sie unsicher, verwirrte sie. Zum Teil lag das vielleicht daran, daß sie Amerikanerin war. Sie benutzte nicht denselben Code wie die ande7
ren. Die Signale, die sie aussandte, verwirrten. Während Patricia an diesem Morgen ihrer Arbeit nachging, äußerte Isobel sich mit ganz besonders heftigen Worten über ihren Ehemann und das Leben, das er führte. »Es ist verrückt, völlig verrückt, einfach absoluter Wahnsinn. Geradezu archaisch ist das, ich sage es Ihnen. Man könnte glauben, sie lebten noch im neunzehnten Jahrhundert und nicht an der Schwelle des neuen Jahrtausends. Bis tief in die Nacht hinein sitzen sie beisammen. Ich kann mir das nur so vorstellen, daß sie so lange bleiben müssen, bis die Einpeitscher ihnen sagen, daß sie jetzt ohne Gefahr nach Hause gehen können. Ich hatte immer gedacht, nach den Wahlen würde es besser sein, wo wir jetzt doch schon seit einer Weile nicht mehr an der Macht sind. Soweit ich das beurteilen kann, hat es überhaupt keinen Sinn, jetzt eine Abstimmung zu erzwingen, weil wir sie ja doch nicht gewinnen können. Aber die Einpeitscher sehen das anscheinend anders. James kommt abends immer noch genauso spät wie eh und je nach Hause. Er ist so fürchterlich gewissenhaft. Ich weiß wirklich nicht, wie lange ich das noch ertrage.« Patricia warf einen Blick auf das hübsche, jetzt etwas verdrießlich wirkende Gesicht im Spiegel. Dies war eine der seltenen Gelegenheiten, wo sie nicht klar erkennen konnte, ob die Botschaft, falls es überhaupt eine war, für sie – und nur für sie – bestimmt war, oder ob Isobel gerade dabei war, die Bedingungen bekanntzugeben, die in nicht allzu ferner Zukunft für eine geordnete Fortführung der allgemein als äußerst erfolgreich geltenden Mortonschen Ehe zur Anwendung kommen sollten. 8
Sie griff nach ihrem Kamm und zupfte damit etwas gedankenverloren am Haar über Isobels linker Schläfe herum. »Sie wissen ja, daß die Frauen einiger Parlamentsmitglieder hierherkommen. Alle sagen, daß sie sich das nicht gefallen lassen. Aber in Wirklichkeit tun sie es doch. Abgesehen von denen, die es sich nicht gefallen lassen.« Isobel verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Die meisten von denen sind alte Schachteln. Die lassen es sich gefallen, weil sie keine andere Wahl haben. Die will ja sonst keiner haben.« Sie stand auf, um zu gehen. Groß. Gebieterisch. Eines mußte man Isobel lassen, dachte Patricia: Ihr würde es nie an Alternativen mangeln, falls sie einmal zu dem Entschluß gelangen sollte, daß es nichts einbrachte, die Frau eines Parlamentsmitglieds zu sein, und dem armen alten James den Laufpaß geben würde. »Fahren Sie heute abend wieder zurück aufs Land?« erkundigte sich Patricia. »Nein, erst morgen früh. Wenn es sein muß, schleppe ich ihn mit Gewalt mit. Entweder haben wir noch ein Privatleben, oder wir haben keines. Verstehen Sie?« Plötzlich war sie ganz ernst. Der Blick, mit dem Patricia sie ansah, war beinahe liebevoll. Isobel kam jetzt seit zwei oder drei Jahren immer donnerstags zu ihr, um sich das Haar richten zu lassen, und sie mochte die offene und freimütige Art, die die Frau an sich hatte. Das war eine Frau, die wußte, was sie wollte, die nie fad oder langweilig wirkte. Vermutlich lag das an ihrer amerikanischen Herkunft, überlegte Patricia. Amerikanerinnen 9
kamen entweder in London hervorragend zurecht und gaben den Ton an, oder sie packten ihre Sachen und fuhren wieder nach Hause. Bei Isobel war Patricia sich immer noch nicht sicher, ob es am Ende das eine oder das andere sein würde. Sie hielt ihrer Kundin und Freundin die Tür auf. »Wollen Sie ein Taxi?« »Nein, ich stehe im Parkverbot.« Zum Glück hatte der Wagen keine Klammer abbekommen. Isobel fuhr schnell und riskant. Ihre Unzufriedenheit war für die anderen Verkehrsteilnehmer eine echte Gefahr. Sie war reich; ihr war es vorbestimmt – daran zweifelte sie nicht –, ganz groß rauszukommen. Aber irgendwie hatte sie sich dafür den falschen Mann ausgesucht. James Morton besaß viele Eigenschaften, die sie bewunderte. Er war groß, das war schon einmal ein guter Anfang. Sie hatte immer etwas für große Männer übriggehabt. Und nett und liebenswürdig war er auch und hatte sich in den sechs Jahren ihrer Ehe immer die größte Mühe gegeben, sich ihr anzupassen. Als sie geheiratet hatten, hatte sie geglaubt, sie sei in ihn verliebt. Das war sie damals wahrscheinlich auch gewesen. Aber jetzt suchte sie mehr. Als sie sich entschlossen hatte, nach England zu gehen, und dann später auch den Beschluß gefaßt hatte, dort zu bleiben; als sie ein entschlossenes Auge auf James Morton geworfen hatte, einen der gefragtesten Junggesellen seiner Zeit; als sie sich für Mortons politische Karriere engagiert hatte, hatte sie das nicht so sehr deshalb getan, weil sie ehrgeizige Pläne für ihn hatte, obwohl das der Fall war, sondern weil sie eigene ehrgeizige Pläne verfolgte. Sie wollte einmal an 10
den Punkt gelangen, wo sie ihre lausige Familie zu Hause anrufen und ihr sagen konnte, daß sie ihren Weg gemacht hatte, ratet mal, von den Schloten von Trenton, New Jersey, nach Downing Street, London. In ihren kühnsten Träumen sah sie sich selbst auf Nummer 10, eine Lady M. des zwanzigsten Jahrhunderts, die auf ihre unnachahmliche Art Einfluß ausübte und Gunstbeweise verteilte. In etwas realistischerer Stimmung hätte sie sich auch mit Nummer 11 begnügt. Schließlich gab es da interessante Präzedenzfälle. Hatte nicht Jenny Jerome, die man einmal für das schönste Mädchen von Philadelphia gehalten hatte, Lord Randolph Churchill geheiratet? Und war Randolph Churchill nicht – mit fünfunddreißig Jahren, wohlgemerkt – der jüngste Schatzkanzler aller Zeiten gewesen? Nun ja, dachte sie, als sie in den Beauchamp Place einbog, es sah nicht so aus, als würde sie es schaffen, in irgendeiner Eigenschaft nach Downing Street zu gelangen, es sei denn, sie entschied sich dafür, eine Kaffeetante zu werden. James Morton hatte einfach nicht das Zeug dazu – das war der betrübliche Schluß, zu dem sie sich genötigt sah. Er war jetzt seit fast vierzehn Jahren in der Politik. Sein Wahlbezirk drunten in Berkshire war einer der sichersten im ganzen Land. Als so viele seiner konservativen Kollegen bei dem letzten Debakel ihre Sitze verloren hatten, hatte James überlebt. Aber jetzt, wo die Tories in der Opposition saßen, war James vom Schattenkabinett immer noch so weit entfernt wie vorher vom Kabinett selbst. Was sie ärgerte, war, daß andere, die sie für weniger intelligent und weniger qualifiziert hielt, James in dem schmutzigen Rennen zur Spitze überholten. Vermutlich fehlte ihm der Killerinstinkt, das 11
Bestreben, um beinahe jeden Preis Erfolg zu haben. Und wenn man den in der Politik nicht hatte, dann hatte man gar nichts. Isobel Morton besaß durchaus die Fähigkeit, sich ein Urteil über die eigene Person zu bilden. Sie brauchte keine langen Sitzungen auf der Couch eines Psychiaters, um zu der Erkenntnis zu gelangen, daß die eine Fähigkeit, die sie in reichlichem Maße besaß, exakt diejenige war, an der es ihrem Mann allem Anschein nach mangelte: der Killerinstinkt, der Drang zum Erfolg. Am Ende von Beauchamp Place angelangt, hielt sie ruckartig vor einem hübschen Laden mit georgianischer Fassade an, dessen Schaufenster mit einer Auswahl von Chintzstoffen dekoriert war und über dem ein elegantes, handbemaltes Schild Isobel lautete. Während sie die Treppe hinaufging, schätzte sie, daß dieses kleine Unternehmen ihr einen Gewinn in fünfstelliger Höhe eingebracht hatte, und dabei betrieb sie es erst seit drei Jahren. Das konnte man mit Schwung und Entschlossenheit erreichen. Isobel hatte unter ihrer energischen Leitung praktisch die Marktführung als Lieferant hochwertiger Stoffe für teure Salons erobert. Darüber hinaus hatte Isobel Morton ihr Talent für Innendekoration entdeckt. Ein von Isobel eingerichteter Salon war für die Reichen und Superreichen heutzutage das gleiche, als habe man einen Chagall oder einen Matisse an der Wand hängen. Nicht selten war beides der Fall. »Hallo, Mädchen!« Ihr schwungvoller Auftritt war eher der eines Potentaten auf Staatsbesuch als der eines desinteressierten bloßen Kapitalgebers. »Was gibt es Neues?« 12
Die »Mädchen« waren drei süß aussehende, aber knallharte Japanerinnen, alle Anfang Zwanzig und alle von Isobel persönlich konkurrierenden Etablissements abgeworben. »Engländerinnen würde ich nie einstellen«, hatte Isobel einmal Patricia anvertraut. »Die sind faul, schmutzig und gewöhnlich nicht einmal ehrlich.« Die älteste der drei Japanerinnen, Chiko Muramatsu, sprang auf, legte die Fingerspitzen aneinander und verbeugte sich. Die beiden anderen taten es ihr gleich. Isobel schickte sie mit einer Handbewegung an die Arbeit zurück, so wie man ein Hündchen in seinen Korb winkt. Im Laden herrschte Betrieb, aber noch keine Hektik, da Weihnachten noch achtunddreißig Verkaufstage entfernt war. Isobel war gar nicht darauf erpicht, einen vollen Laden zu haben. Wenn weniger Betrieb herrschte, wirkte alles eleganter. Schließlich führte sie ja keinen Billigladen. Und die Laufkundschaft pflegte ohnehin normalerweise nicht das große Geld auszugeben. Die Reichen und Superreichen kamen nicht her; sie ging zu ihnen. Bei solchen Anlässen pflegte sie eines der Mädchen mitzunehmen. Sie machte dann das Geschäft und das Mädchen die Sklavenarbeit. Das war eine gute Kombination. Sie durchquerte den Laden und ging die Treppe hinauf in ihr Büro im Obergeschoß. Inneneinrichtung fing wie Wohltätigkeit zu Hause an. Isobel Mortons Geschäftsräume vereinigten Komfort, Eleganz und Zweckmäßigkeit. Das Wort Funktionalismus existierte in ihrem Vokabular nicht. Banalitäten wie etwa eine schwenkbare Schreibtischlampe waren nirgends in Sicht. Das Telefon stand auf einem kleinen Intarsientischchen neben dem Sofa. Isobel setzte sich, 13
schlug ein gebräuntes Bein über das andere, nahm den Hörer ab und wählte eine Nummer. »Ich bin unterwegs.« Sie legte den Hörer wieder auf, nahm ein Museumof-Modern-Art-Adreßbuch vom Tisch, schrieb ein paar Nummern auf und drückte dann den Klingelknopf an der Wand. Als Chiko in der Tür auftauchte, reichte ihr Isobel die Liste. »Die möchte ich alle im Laufe der nächsten zehn Tage besuchen. Das gibt Arbeit für eine ganze Saison.« Chiko nickte. »Kommen Sie heute noch einmal?« »Vielleicht schau’ ich mal rein. Wenn nicht, dann kommen Sie ja zurecht, oder nicht, Chiko?« Isobel lächelte ein breites, strahlendes Lächeln und ließ dabei eine Reihe großer, makellos weißer Zähne sehen. (Das war auch so etwas, was sie an den Engländern nicht ausstehen konnte. Die Arbeit der Zahnärzte war so schlecht oder die Leute waren so geizig, daß sie erst zum Zahnarzt gingen, wenn es zu spät war.) Chiko lächelte zurück. »Uns ist es allen lieber, wenn Sie hier sind. Dann arbeiten wir auch härter.« Sie lachte kurz – das Höchstmaß an Fröhlichkeit, das sie sich je erlaubte. Dann nickte sie, und ihr kurzes dunkles Haar fiel nach vorn. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand noch härter arbeitet als ihr drei Mädchen.« Und das meinte Isobel auch so. Sie gab dem Mädchen einen Kuß auf die Wange und entschwebte. Diesmal hatte sie Pech. An ihrem Wagen stand ein Parkwächter und schrieb gerade einen Strafzettel aus. Als er ihn 14
unter den Scheibenwischer schieben wollte, sagte Isobel: »Lassen Sie nur. Geben Sie ihn mir. Das ist mein Wagen. Tut mir leid, das ist heute wieder einer von diesen Tagen.« Erstaunlicherweise versetzte sie diese kurze Begegnung mit der Obrigkeit in gute Laune. Isobel Morton machte es nie etwas aus, wenn die Leute ihre Arbeit taten. Sie störte es, wenn sie das nicht taten. Wenn sie einen Strafzettel für widerrechtliches Parken bekam, dann war das eben Pech. Wenn man sich nicht an die Regeln hielt, mußte man auch bereit sein, die Folgen zu tragen. Falls das Parken im Parkverbot am Beauchamp Palace ein Beispiel für Isobel Mortons Neigung war, sich nicht an die Regeln zu halten, war Tim Kegan ein weiteres. Isobel hatte Tim vor sechs Wochen bei irgendeiner Veranstaltung der konservativen Partei »entdeckt«. Tim war ebenso wie James Morton ein Tory-Parlamentsmitglied. Weite Kreise hielten ihn für einen der intelligentesten jungen Männer in der Partei. Er war vierunddreißig und damit zwei Jahre jünger als Isobel, aber das nahm sie ihm nicht übel. Da störte es sie schon eher, daß er ein wenig kleiner war als sie. Wenn sie mit ihm zusammen war, mußte sie darauf achten, sich darauf einzustellen. Nicht daß sie sehr viel mit ihm zusammen gewesen wäre. Bis jetzt jedenfalls noch nicht. Als sie in den Dolphin Square einbog, dachte sie darüber nach, was sie eigentlich wirklich beabsichtigte. Zweimal Mittagessen und einmal ein Drink vor dem Abendessen stellten schließlich keinen Ehebruch dar. Bis jetzt noch nicht. Was suchte sie bei ihm? Was suchte er bei ihr? Tim Kegan wohnte in den Midlands, einer Gegend, von 15
der Isobel nur die unbestimmte Vorstellung hatte, daß sie irgendwo »nördlich von Watford« lag. Dort hielt er Mrs. Kegan und drei kleine Kegan-Kinder verborgen. Isobel legte keinen gesteigerten Wert darauf, ihre Bekanntschaft zu machen, weder zu Hause noch sonstwo, aber ihre Existenz war eine nicht zu leugnende Tatsache. Sie fuhr mit dem Fahrstuhl in den fünften Stock. Herrgott, was für eine Bruchbude, dachte sie, als sie durch den Korridor ging. Es erinnerte sie an die schlimmsten Wohnblocks in New York – finster, stickig und überheizt. Man nehme ein menschliches Wesen, kippe es um, zeichne ein Rechteck darum, und man hatte ein Zimmer. Wenn man das hundertmal nacheinander tat, hatte man ein Gebäude, tausendmal, dann hatte man Dolphin Square – ohne die Delphine. »Du mußt unbedingt hier raus«, sagte sie, als er die Tür öffnete. »So geht das einfach nicht.« Das verblüffte ihn. Tim Kegan war ein Mann, der sich aus eigener Kraft hochgearbeitet hatte, ein Konservativer neuer Prägung. Er war mit dem, was er bisher erreicht hatte, ganz zufrieden. Und die Wohnung am Dolphin Square gehörte auch mit dazu. Normalerweise mußten die Leute jahrelang in der Schlange warten, aber zum Glück hatte jemand für ihn an ein paar Fäden gezogen, und Tim war nach vorn gerutscht. Sein Gesicht verfinsterte sich. »Ich finde es hier ganz in Ordnung. Aber komm erst mal rein.« Isobel warf ihren Mantel auf einen Sessel im Flur. »Ich brauche einen Drink. Ich bin jetzt seit neun Uhr morgens unterwegs.« 16
Er brachte ihr einen großen Whisky. »Wo hast du dir die Haare machen lassen? Sieht ja großartig aus.« »Bei Patricia. Sie hat einen kleinen Laden hinter Harrods. Ich gehe da schon seit Jahren hin.« In dem Blick, mit dem er sie ansah, lag so etwas wie Verwunderung. Natürlich war er imstande, sich auf dem alltäglichen Schlachtfeld des politischen Lebens zu behaupten, und dazu gehörte auch die gesellschaftliche Seite. Aber tief im Innersten wußte er, daß er einfach nicht das Selbstbewußtsein und die Gewandtheit dieser verdammten alten Eton-Absolventen hatte. Diese Leute gingen davon aus, daß sie am Ende die Party mit der hübschesten Frau verließen. Er nicht. Das war der Unterschied. Er wußte immer noch nicht, ob Isobel Morton ihn als den, der er war, mochte oder als den, der er ihrer Meinung nach einmal sein würde. Vermutlich eher letzteres als ersteres. Aber wie auch immer, er war geschmeichelt und fühlte sich irgendwie in ihren Bann gezogen. Er fand sie strahlend schön und bezaubernd – und war bereit, sich für sie zum Narren zu machen. Er warf einen verstohlenen Blick in den Spiegel und versuchte sich so zu sehen, wie andere Leute ihn sahen. Wie Isobel ihn sah. Er fand sein Gesicht ziemlich blaß, geradezu käsig. Er wußte, daß er zuviel gearbeitet hatte und daß man ihm das ansah. Seine Hose saß an der Taille enger als früher. Als aufsteigender Stern am politischen Firmament, selbst wenn man der Opposition angehörte, mußte man an einer Unmenge Essensveranstaltungen teilnehmen. Er wandte sich ihr zu, das Glas in der Hand, zog den Bauch ein und täuschte ein Selbstbewußtsein vor, das er gar nicht 17
empfand. Er wollte lässig und weltmännisch klingen, so als wisse er über diese Dinge Bescheid, was natürlich nicht der Fall war. »Wie lange kannst du bleiben?« Sie lehnte sich auf dem Sofa zurück und drehte ihren Kopf so, daß das schräg durch das hohe Fenster hereinfallende Licht auf die Unterseite ihres Kinns fiel. »Wie lange hast du denn Zeit?« Ein naßkalter Novembertag war kaum die richtige Zeit für Räucherlachs, aber den hatte er angerichtet, und den Wein – einen nicht sonderlich originellen Muscadet – hatte er wahrscheinlich im Hugh-Johnson-Weinführer gefunden. Aber das störte sie nicht; das Drumherum würde sich schon zur rechten Zeit einstellen. »Mußt du später zur Sitzung?« Ihm war nicht ganz klar, was sie mit später meinte, aber er nickte trotzdem. »Dein Mann soll sich heute in die Nordirland-Debatte einschalten.« »So, tatsächlich?« Isobel schien das völlig gleichgültig zu sein. »Am besten wäre, die würden die Finger ganz von Nordirland lassen. Eine einmalige Chance für eine neue Regierung.« »Ich glaube nicht, daß wir dem zustimmen können. Außerdem brauchen wir die Unionisten in Anbetracht der gegenwärtigen Kräfteverhältnisse im Haus mehr denn je.« Isobel war hungrig und legte sich noch einmal Lachs auf den Teller. »Ich höre, du bist als Parteivorsitzender im Gespräch. Gratuliere.« Sie hob ihr Glas. 18
»Das, was von der Partei übriggeblieben ist«, meinte Kegan mit einem gequälten Lächeln. »Wie hast du das denn erfahren?« »Ein kleines Vöglein …« Sie lachte, sah ihn über den Tisch hinweg an. Er war so ganz anders als die anderen Männer, die sie kannte, das schiere Gegenteil ihres Mannes. Was für ein Chaos sie doch in seinem Leben anrichten würde. In seinem und ihrem! Sie wandte sich ihm mit halbgeöffneten Lippen zu, die unausgesprochene Frage hing zwischen ihnen in der Luft. Er stand auf und ging ans Fenster, blieb dort stehen. Ein Leichter arbeitete sich den Fluß hinauf auf Teddington zu. »Weißt du, so etwas ist wirklich nicht mein Fall. Verheiratete Frauen.« »Verheiratete Männer. Wo liegt da der Unterschied?« Er dachte nach. »Doch. Da ist schon ein Unterschied. Du hast meine Frau nie kennengelernt. Du weißt nicht einmal, wie sie heißt.« Das stimmte, wurde Isobel klar. Mrs. Kegan konnte ebensogut Helen wie Nicola oder Tracey heißen. »Wie heißt sie denn?« »Phyllis.« Du lieber Gott, dachte Isobel. Was manche Männer sich antun. Sie trat zu ihm ans Fenster. »Damit da keine Unklarheiten aufkommen. Wir sind beide erwachsen. Wir wissen beide, was wir tun und was wir wollen.« Für einen Mann, dessen Fall das nicht war, legte Tim 19
Kegan eine glaubwürdige Leistung hin. Er folgte ihr ins Schlafzimmer. »Ich möchte dir beim Ausziehen zusehen.« »Aber bitte.« Sie fand die Umgebung immer noch schmuddelig und beengt, aber da war wohl nichts zu machen. Sie stieg aus ihrem Rock, knöpfte ihre Bluse auf und drehte ihm den Rücken zu. »Mach du das.« Als er ihren BH aufhakte, registrierte er das blasse Gold ihrer Haut, den makellosen Glanz eines gepflegten Körpers. Er strich mit den Fingerspitzen leicht über ihre Schultern. Vom Fenster aus, ein Stück stromabwärts, konnte er die Parlamentsgebäude sehen. Etwa in diesem Augenblick, malte er sich aus, würde James Morton dastehen und über Nordirland sprechen. Plötzlich wollte Tim Kegan nicht an das Unterhaus denken, nicht an Nordirland und auch nicht an James Morton. Einen Augenblick lang war Isobel wichtiger als das alles. Er zog sie über sich, ein armer Junge, der es zu etwas gebracht hatte, ein Goldgräber, der auf eine ertragreiche Ader gestoßen war. Er hätte das nie zugegeben, nicht einmal vor sich selbst, aber in Wahrheit waren für Tim Kegan wie für so viele andere erfolgreiche Politiker Sex und Ehrgeiz eng aneinandergekoppelt. Es ging dabei um dieselbe Art von Trieb, denselben Lohn. Die Heftigkeit seiner Leidenschaft überraschte sie, und weil es sie überraschte, ertappte sie sich dabei, wie sie auf eine Art und Weise auf ihn reagierte, die in ihr Erinnerungen an jene heißen, klebrigen, grandiosen Nächte in Harvard weckten, wo das alles noch den Reiz der Neuheit gehabt 20
hatte. Er erinnerte sie an Seth Wiederman, der sie dort oben in seiner Wohnung einen ganzen Sommer lang gebumst hatte, als würde sein Leben davon abhängen. »Du bist doch nicht Jude, oder?« fragte sie. James Morton, nicht einmal eine Meile von ihr entfernt, fühlte sich bei weitem nicht so wohl. Wenn es gerecht zuginge, hätte die Verantwortung dafür, in der Nordirlandfrage Fehler zu machen, eigentlich gar nicht bei ihm liegen sollen. Aber der Schattenaußenminister hatte klar erkannt, daß dies keine günstige Gelegenheit war, und deshalb dringende Geschäfte andernorts entdeckt und das Feld einem Rangniedrigeren überlassen. Morton hatte in dem halbleeren, aber um nichts weniger feindseligen Haus sein Bestes gegeben. Wenn er einen guten Tag hatte, machte er am Rednerpult eine gute Figur. Seine Stimme konnte dann angemessen sonor und voller Autorität klingen. Er war jetzt siebenundfünfzig, und sein Haaransatz hatte sich ein wenig von der Stirn nach hinten geschoben, aber nur in bescheidenem Maße. Niemand konnte sagen, daß James Morton jugendlich wirkte (was selbst in den späten neunziger Jahren ein nicht zu unterschätzender Vorteil war), andererseits konnte man ihn aber auch in keiner Weise als onkelhaft bezeichnen. Die Franzosen würden sagen, daß er gut in seiner Haut aussah. »Ich glaube, Mr. Speaker«, erklärte er zum Vorsitzenden gewandt und im Begriff, zum Ende seiner Ausführungen zu kommen, »daß man die Entscheidung der Regierung als einen Rückzug im Angesicht des Terrorismus betrachten kann, als eine Konzession an die Gewalt. Wir sind mit 21
diesem Vorgehen nicht einverstanden. Unsere Politik bleibt unverändert.« Von den Bänken der Opposition waren ein paar halbherzige Rufe »Das ist ja das Problem« und »Die hat sich seit vierhundert Jahren nicht verändert« zu hören, aber James Morton ignorierte sie. Er fuhr unverdrossen fort, den Kopf hoch erhoben, beide Hände fest auf das Rednerpult gestützt. »Meine ehrenwerten und hochehrenwerten Freunde auf beiden Seiten dieses Hohen Hauses wissen das ebenso gut wie ich. Wir glauben, die Regierung sollte in ihrer Entschlossenheit, die Integrität von Nordirland und seine Bindungen an dieses Land zu bewahren, standhaft bleiben. Wir stehen einem gewissen Maß weiterer Dezentralisierung nicht abgeneigt gegenüber. Das sollte aber auf keinen Fall als Andeutung darauf betrachtet werden, daß man die Bande, die das Schicksal unserer Völker über die Jahrhunderte hinweg verknüpft haben, in irgendeiner Weise schwächen oder gar zerschneiden sollte.« Als er unter oberflächlichem Applaus seinen Platz in der vordersten Reihe wieder einnahm, fragte er sich, ob »verknüpft« wirklich das richtige Wort war. Hätte er besser »verbunden« sagen sollen? Er würde darüber nachdenken und später eine entsprechende Korrektur vornehmen, noch bevor Hansard erschien. In der Vorhalle stieß er auf Harry Braithwaite. Braithwaite war viele Jahre Chefeinpeitscher der Regierungsfraktion gewesen und übte jetzt in der loyalen Opposition Ihrer Majestät dieselbe Funktion aus. Gutmütig derb, jovial und entsprechend korpulent nahm Braithwaite Morton am Arm und bugsierte ihn in den Rauchersaal. 22
»Sind Sie am Sonntag frei? Man hat mich wissen lassen, daß der Premierminister Sie in Chequers zum Mittagessen sehen möchte. Keine Ahnung, worum es geht. Ich weiß es nicht. Nett, daß die da mich einschalten.« Er bemerkte Mortons bestürzte Miene und fügte beruhigend hinzu: »Der neue Mann probiert es mit der Präsidententour – die Opposition zum Lunch einladen und so. Soll uns recht sein. Passen Sie nur auf, was Sie sagen.« Morton gab sich redlich Mühe, sich nicht besonders interessiert zu zeigen. In Wirklichkeit war genau das Gegenteil der Fall. In den langen Jahren, in denen die Konservativen im Amt gewesen waren – zuerst unter Mrs. Thatcher und dann unter John Major – hatte er sich nie im inneren Kreis oder auch nur in seiner Nähe befunden, einem Kreis, der aus einer Handvoll Minister bestand, die an einem Sonntag morgen mit nichts anderem im Sinn als Lammbraten, Pfefferminzsoße und ein oder zwei Gläser Rotwein auf den Landsitz des PM in Buckinghamshire fuhren. »Vielen Dank, Harry. Bin neugierig, was er möchte.« Trotz Braithwaites beruhigender Worten verspürte Morton einen Anflug von Unbehagen. »Ist Isobel auch eingeladen?« wollte er noch wissen. »Ich glaube schon.« Am späteren Nachmittag traf sich Morton mit einer kleinen Gruppe aus seinem Wahlkreis, einem halben Dutzend getreuer Mitarbeiter – den Leuten, die sich am Wahltag um Stimmen bemühten, wichtigen Leuten –, und lud sie zum Tee in einem der Räume über dem Fluß ein. Er ertappte 23
sich dabei, wie er das vertraute Geplapper wiederholte, als habe er es auswendig gelernt. »Ja, die haben das alte William-Morris-Muster gefunden und es nachgedruckt. Hübsch, nicht wahr? Scones? Ja, die Scones schmecken hier ausgezeichnet.« Er fragte sich, ob er nach achtzehn Jahren im Parlament anfing einzurosten. Hatte er seinen Schwung verloren? Nachdem er in den kleinen Raum im ersten Stock des Westminsterparlaments zurückgekehrt war, den er benutzen durfte, beschloß er, seine Frau anzurufen und ihr von der Einladung für Sonntag zu erzählen. Chiko meldete sich im Geschäft. »Madame war vor dem Lunch hier, ist aber wieder weggegangen. Sie hat nicht gesagt, ob sie zurückkommen wird.« Mortons inneres Auge sah kurz ein Bild blasser Haut und dunkler Haare. Ebenso wie seine Frau hielt er viel von den Japanern. Sie waren ehrlich, gewissenhaft und arbeitsam. So sehr er auch den Schwung und die Energie seiner Frau bewunderte und daß sie wie ein Expreßzug durch das Leben fegen konnte, fragte er sich doch manchmal, ob ihr wirtschaftlicher Erfolg nicht mindestens ebenso dem unermüdlichen Einsatz Chikos und ihrer Kolleginnen zu verdanken war wie ihr selbst. »Wenn sie noch einmal kommt, würden Sie sie dann bitten, daß sie mich im Haus anruft?« Er überlegte kurz, wo Isobel wohl hingefahren sein mochte. Als James Morton ins Parlament gewählt worden war, hatte er ein Haus am Smith Square gekauft. Er war damals noch Junggeselle gewesen, aber da er nicht ausschließen wollte, daß er sich irgendwann einmal würde verehe24
lichen wollen, hatte er damals sichergestellt, Platz für eine Familie zu haben. Aber Isobel hatte keine Kinder bekommen. Obwohl sie das allem Anschein nach zunächst bedauert hatte, hatte Morton den Eindruck, daß sie ohne Kinder glücklicher war. Das ließ ihr mehr Bewegungsfreiheit. Und obwohl er selbst einmal davon geträumt hatte, den kleinen Thomas oder die kleine Amanda ins Bett zu bringen, ehe er seinem mannhaften Broterwerb in der Mutter aller Parlamente nachging, mußte er sich mit der stark gesunkenen Wahrscheinlichkeit abfinden, daß er noch Gelegenheit bekommen würde, seine Fähigkeiten als Vater zu beweisen. Trotzdem gab er sich Mühe, an den Abenden, die er und Isobel in London und nicht auf dem Lande verbrachten, auf einen Drink oder zum Abendessen nach Hause zu kommen. Er war wirklich froh, daß er die Klingel hatte einbauen lassen. Wenn er schnell ging, konnte Morton in gut drei Minuten in der Abstimmungslobby sein. Isobel schien erfreut, ihn zu sehen, als er gegen halb acht nach Hause kam. Er fand, daß sie besonders gut aussah, geradezu von innen heraus strahlte. Er würde ihr sagen müssen, daß sie am Sonntag nicht ganz so dick auftragen durfte. Die neue Labour Party war anders geworden. Es gab eine Menge Designerkleidung, aber es war besser, nicht allzusehr zu übertreiben. Bei Isobel würde man allerdings irgendwelche Exzesse ohnehin ihrer amerikanischen Herkunft zuschreiben – sie war schließlich Ausländerin. »Du siehst großartig aus.« Er gab ihr einen Kuß auf die Wange und schenkte sich aus der Karaffe auf der Anrichte einen Scotch ein. Scheiße, dachte Isobel. Da verbringe ich den Nachmittag 25
damit, einen seiner Kollegen zu vögeln, und er bemerkt überhaupt nichts. Auftritt Morton, Mitte, küßt Frau, tritt an Anrichte, schenkt sich Drink ein. Kann er das denn nicht riechen? »Wie war dein Tag heute?« Ihre Stimme klang vergnügt und interessiert. »Wie war deine Rede? Maurice hat dich da ja ganz schön hineingeritten, nicht wahr, dir einfach seine Rede aufzuhalsen, also, ich muß schon sagen!« Morton hätte nie etwas auf seine Kollegen kommen lassen, nicht einmal seiner Frau gegenüber. Das gehörte zu den Dingen, die er unerträglich fand. Das Leben hatte so viele Schattenseiten, die Arbeit bis in die Nacht hinein, ein lächerlich niedriges Gehalt, unsichere Aufstiegschancen – und er brachte es nicht einmal fertig, über seine Kollegen zu klatschen. »Oh, das würde ich nicht sagen«, erwiderte Morton. »Wir müssen uns die Arbeit ein wenig aufteilen. Maurice hatte dringende Verpflichtungen andernorts.« Das klang bei ihm so, als würde er es wirklich glauben. Sie hätte ihm einen Tritt geben können. Weshalb begriff er eigentlich nicht, daß die ihn ausnutzten? Tim Kegan, überlegte sie, hätte sich nie so hereinlegen lassen. Sie mußte unwillkürlich an den Kontrast zwischen den beiden Männern denken. Morton war von beiden der nettere Mann, daran gab es gar keinen Zweifel. Aber es gab auch keinerlei Zweifel daran, welcher von beiden in diesem Rennen derjenige sein würde, der die Goldmedaille nach Hause brachte. »Wir sind am Sonntag nach Chequers eingeladen«, sagte Morton. »Ich weiß nicht, warum. Harry Braithwaite hat mich in der Lobby aufgehalten und es mir gesagt.« 26
Isobel sah ihn fragend an. »Wirst du nicht versuchen, das vorher herauszubekommen?« »Das glaube ich nicht. Wir werden es ja früh genug erfahren. Sag mir, was du heute gemacht hast.« Sie wußte, daß es ihn nicht sehr interessierte. Das machte es leichter. Isobel hatte schon vor längerer Zeit herausgefunden, daß James Morton die unbestimmte Vorstellung hatte, daß Frauen, abgesehen von dem, was sie zu Hause taten, noch irgendeine Beschäftigung haben sollten. Aber er hatte keine klare Vorstellung davon. Es reichte völlig aus, ihm zu sagen, daß man beschäftigt war; man konnte dann sehen, wie er erleichtert aufatmete und sich einem angenehmeren Thema zuwandte. Er hielt nicht viel von weiblicher Emanzipation oder Chancengleichheit oder ähnlichen Theorien, akzeptierte aber, daß gewisse Schritte in dieser Richtung ein notwendiger Teil der häuslichen Harmonie waren. »Ich habe dich heute nachmittag in deinem Geschäft angerufen, habe dich aber leider verpaßt.« Dafür war sie dankbar. Sie war nicht mehr zurückgekommen und hatte keine Gelegenheit gehabt, bei den Mädchen nachzufragen. Außerdem hätten sie ihr möglicherweise gar nicht ausgerichtet, daß James angerufen hatte. »Heute nachmittag war viel zu tun. Ich dachte, ich würde es vielleicht noch schaffen, aber dann hat die Zeit nicht mehr gereicht. In Cadogan Place gibt’s eine Menge Arbeit.« Als sie das sagte, glaubte sie beinahe selbst, daß sie den Nachmittag in Cadogan Place verbracht hatte. Sie sah ihn quer durchs Zimmer an, quer durch ihr ge27
meinsames Zimmer. Wie typisch es doch war, dachte sie betrübt, daß er im Grunde gar nicht wissen wollte, wo sie am Nachmittag gewesen war. Wenn er etwas hartnäckiger gewesen wäre, hätte sie es ihm vielleicht sogar gesagt. Vielleicht wollte sie sogar, daß er es wußte. Wollte eine Explosion, um die Luft zu reinigen, ein alles erschütterndes Gewitter, nach dem der Himmel vielleicht wieder blau und heiter erscheinen würde, während das Schiff majestätisch dem von der Sonne erleuchteten Horizont entgegensegelte. Sie fühlte sich ein wenig bedrückt. Manche Frauen, so schien ihr, wurden einfach zur Untreue gezwungen, wenn sie viel zu spät feststellten, daß sie brave, anständige Männer geheiratet hatten, die einfach zu langweilig waren, als daß man mit ihnen auskommen konnte. Am liebsten wäre sie damit herausgeplatzt, hätte ihm gesagt, daß sie Tim Kegan besucht, mit ihm ins Bett gegangen war, Spaß daran gehabt hatte und zu allem Überfluß auch vorhatte, es wieder zu tun. Sie saßen immer noch beim Abendessen, als die Abstimmungsglocke ertönte. »Es wird nicht spät werden«, sagte er. »Ich geh’ wahrscheinlich schlafen. Laß uns morgen früh wegfahren.« »Ich werde mich im Haus vergewissern müssen, daß die Luft rein ist, aber bis elf sollte ich fertig sein.« »Dann bin ich auch soweit.« Es hatte wirklich keinen Sinn, sich am Wochenende in London aufzuhalten, dachte sie. Niemand blieb übers Wochenende in London. Und Tim Kegan würde bis Mittag bereits in einem Zug sitzen und in seinen Wahlkreis fahren. Eigentlich war es absurd, aber sie fing bereits an, ihn zu vermissen. 28
Als Morton weggegangen war, legte sie sich in die Badewanne und dachte über ihr Leben nach. Genaugenommen hatte sie alles, was sie sich je wünschen konnte oder brauchen würde. Einen liebenden Ehemann, Häuser in London und auf dem Land und eine klar definierte Position in ihrer Wahlheimat. Sie bewegte ihre langen schlanken Zehen, hob ein Knie aus dem Badewasser, um ihre anmutig geschwungene Wade zu bewundern, und folgte der Linie dann am Schenkel hinauf bis zu dem Hügel mit den blonden Kräusellöckchen. Immer noch ein fester Bauch, dachte sie, und Brüste, die mehr als passabel waren. Sie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel am Fußende der Badewanne. Es war ein gutes Gesicht. Sie mochte es. Sie hatte sich daran gewöhnt. Als sie noch ein Teenager war, zu Hause auf der High School, hatte man sie einmal zum hübschesten Mädchen ihrer Klasse gewählt. Ach, was soll’s, dachte sie, mit dem Aussehen ist es genauso wie mit dem Leben, das man hat. Man muß es sich erarbeiten.
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as Landhaus der Mortons in Berkshire, nicht weit von Newbury, war keine sechzig Meilen Luftlinie von Chequers entfernt. Da die Einladung auf Mittagessen lautete, fuhren sie über Land und erfreuten sich an den kahlen Feldern und der winterlichen Sonne. Trotz der Verwüstungen, die die modernen Ackerbautechniken in der Landschaft angerichtet hatten, fand Isobel, daß ein Großteil der ländlichen Schönheit selbst hier, keine hundert Meilen von der Hauptstadt entfernt, durchaus überlebt hatte. Sie genoß die stillen Dörfer, die Pubs mit ihren handgemalten Schildern, die an diesem strahlenden Morgen ein blühendes Geschäft machten, das Gefühl der Dauerhaftigkeit, das von allem ausging. Gerade weil sie Ausländerin war, Amerikanerin, schätzte sie an England Qualitäten, die andere, die hier geboren waren, inzwischen als selbstverständlich betrachteten. Wenn man in Trenton, New Jersey, aufgewachsen war, kam einem jedes stille englische Dorf, das sich seine Tradition bewahrt hatte, jede im Urzustand erhaltene Landschaft wie das Paradies vor. Sie sah zu Morton hinüber, der am Steuer saß. Auf dem Land sah er gut aus; hier gehörte er hin. Die Mortons hatten über ein Jahrhundert ihr Land in Berkshire bewirtschaftet. Die Brauntöne in seinem Anzug gefielen ihr, viel besser, fand sie, als diese scheußlichen Nadelstreifen, die die meisten Tories trugen, wenn das Parlament tagte. Sie 30
mochte seine gerade Nase und sein festes Kinn, die Art und Weise, wie er die Straße taxierte und die Kurven nahm, als wolle er sagen, das hier ist mein Land, es gehört mir, hier tue ich, was ich am besten kann. Sie seufzte und gestand sich innerlich ein, daß das Problem nicht so sehr bei ihm, sondern bei ihr lag. »Was ist denn, Liebes?« Er drehte sich halb zu ihr herum. »Ich habe an das Fest gedacht, das ich nächste Woche eröffnen muß.« »Man muß Feste feiern oder fallen.« Das war ein alter Witz, aber sie lachten beide. Als sie die Polizeifahrzeuge sahen, wußten sie, daß sie ihr Ziel beinahe erreicht hatten. Normalerweise sah man auf dem Land an einem Sonntag vormittag keine Polizeifahrzeuge. Aber wenn der Premierminister das Wochenende in Chequers verbrachte, machte die Polizei von Buckinghamshire Überstunden. »Die, die man sieht und erkennt, sind keineswegs alle«, erklärte ihr Morton. »Die haben auch Zivilfahrzeuge auf den Straßen mit Polizisten in Zivil. Der alte Knabe, der Chequers dem Land gestiftet hat, hat nicht in erster Linie an Sicherheit gedacht. Von dem Aspekt aus betrachtet kann ich mir eine ganze Menge Orte vorstellen, wo sich ein Premierminister besser erholen kann.« Der Premierminister selbst kam gerade von der Kirche zurück, als sie eintrafen. Wie jugendlich er doch aussieht, dachte Isobel, als sie ihn dabei beobachtete, wie er vor der eleganten elisabethanischen Fassade stand und seine Gäste begrüßte; dabei vermittelte er auf höchst gekonnte Art den Eindruck, das alles gehöre ihm. Sie überlegte, ob er seit den 31
Wahlen nicht ein oder zwei Pfund zugelegt hatte. Wenn ja, dann kleidete ihn das zusätzliche Gewicht, verlieh ihm eine Aura der Bedeutsamkeit, ganz im Einklang mit dem hohen Amt, das er jetzt bekleidete und auch sichtlich genoß. »Ah, James, Mrs. Morton, Isobel, ich darf doch Isobel sagen? Wirklich nett, daß Sie gekommen sind!« Der Premierminister komplimentierte sie in die getäfelte Eingangshalle mit ihrer einmaligen Sammlung von Porträts aus der Zeit Cromwells. »Wir werden ein ganz formloses Mittagessen einnehmen. Kennen Sie Gordon Cartwright, den Chef von United Chemicals? Natürlich kennen Sie ihn. Gordon und Rose verbringen mit uns das Wochenende.« Abgesehen von der Tatsache, daß Sir Gordon Cartwright die Labour Party frühzeitig und in erheblichem Maße finanziell unterstützt hatte, wußte Morton sehr wenig über ihn. Im Gegensatz zu einigen seiner Vorgänger als Aufsichtsratsvorsitzender von United Chemicals zog Sir Gordon es vor, dem Rampenlicht fernzubleiben. Er war ein blasser, hochgewachsener Mann mit dunklem Haar, das er im Stil von Robert McNamara glatt aus der Stirn gekämmt trug. Seine Frau war eine ziemlich plump wirkende schottische Lady, die sich im Glanz von Chequers nicht recht wohl zu fühlen schien. Isobels Eintreffen hatte auch nicht gerade dazu beigetragen, ihr Selbstbewußtsein zu stärken. Isobel strahlte Glanz und Vitalität aus. Was Rose Cartwright anging, hätte sie ebensogut von einem anderen Planeten wie von der anderen Seite des Atlantiks kommen können. Der Premierminister entschied sich dafür, die »Männer«, wie er es ein wenig ironisch formulierte, vor dem Lunch in der Bibliothek ihre Drinks einnehmen zu lassen, während 32
er die »Ladies« durch das Anwesen führte. Morton mußte sich von Cartwright über Dinge ausfragen lassen, von denen er nur wenig verstand. Ganz besonders schien Sir Gordon sich für Mortons Ansichten zur Industriepolitik zu interessieren. »Finden Sie nicht, daß wir überreguliert sind? In zu vielen Bereichen behindert? Sind Sie nicht meiner Meinung, daß man der Industrie die Zügel viel lockerer lassen muß, wenn sie ihr ganzes Potential entwickeln soll?« Cartwright bombardierte ihn förmlich mit Fragen und erzeugte in Morton das unbehagliche Gefühl, ins Schwimmen zu geraten. Abgesehen von ein paar Aufsichtsratsmandaten, wie sie sich jeder Parlamentarier der Tories fast automatisch einsammelte, hatte Morton sehr wenig Erfahrung in der Wirtschaft. Er hatte den größten Teil seines Lebens auf dem Land verbracht und vertrat eine Wählerschaft, deren Hauptinteressen immer noch Ackerbau und Viehzucht waren, wenn auch in letzter Zeit entlang der Fernstraße ein paar Hochtechnologiefirmen entstanden waren, deren Tätigkeitsbereich Morton zugegebenermaßen ein Rätsel war. In seinem Wahlbezirk gab es kaum Arbeitslosigkeit und, soweit ihm das bekannt war, praktisch keinerlei gewerkschaftliche Aktivität, mit Ausnahme der Bauern, und das war eine ganz andere Geschichte. »Ja, unbedingt.« Er hatte das Gefühl, daß es am besten sein würde, Sir Gordon beizupflichten. Vermutlich wußte der Mann, wovon er redete; sonst wäre er ja schließlich nicht Aufsichtsratsvorsitzender von United Chemicals. »Und in allererster Linie«, fuhr Gordon Cartwright fort und schritt dabei mit seinem Gin Tonic in der Hand auf 33
und ab, »müssen wir diesen Bürokraten in Brüssel die Flügel stutzen. Ihnen die Flügel stutzen, sie unter Kontrolle halten, finden Sie nicht auch? Fairer Handel und Wettbewerb sind eine Sache, aber verdammte Einmischung ist etwas völlig anderes«, eiferte Cartwright weiter. Das war ein Terrain, auf dem er sich etwas sicherer fühlte. Morton hatte im Laufe der Jahre vor vielen Versammlungen seiner Wahlgemeinde und vor potentiellen Wählern in Rathaushallen und Schulsälen überall in seinem Bezirk Reden gehalten. Er war nicht gerade ein eingefleischter Euroskeptiker, aber es gab da gewisse Formulierungen, die man sofort erkannte, wie »Brüsseler Bürokraten« und »Einmischung in unsere alltäglichen Geschäfte«. Das waren Reflexfragen und Reflexantworten, und eine solche lieferte er jetzt als getreues Echo der Ansichten seines Gesprächspartners. »Da kann ich Ihnen nur von ganzem Herzen zustimmen … man muß die zurechtstutzen … Ich habe nie an Harmonisierung lediglich um der Harmonisierung willen geglaubt …« Zu seiner Überraschung erkannte Morton, daß er allem Anschein nach die Prüfung bestanden hatte, wenn es eine Prüfung war, als Sir Gordon nach seinem Ellbogen griff und ihn in den Speisesaal lenkte. »Wir dürfen den Premierminister nicht warten lassen; er nimmt seinen Lunch gern pünktlich ein.« Es war ein erfreuliches, wenn auch kaum festliches Mahl. Der Premierminister betrachtete Isobel ganz offenkundig mit einigem Argwohn. Isobel ging einen Augenblick lang durch den Sinn, daß der PM vielleicht über ihre Beziehung mit Tim Kegan Bescheid wußte, falls man 34
das wirklich eine Beziehung nennen konnte. Wurden die Parlamentarier etwa von MI5 überwacht? Und hatte es vielleicht vor dem Eintreffen der Gäste so etwas wie eine »Lagebesprechung« für den Premierminister gegeben, bei dem man ihm derartiges Material vorgelegt hatte? Aber dann tat sie den Gedanken als albern ab. Dies war schließlich Großbritannien und nicht Rußland. So funktionierte das hier einfach nicht. »Weshalb haben Sie sich dazu entschieden, sich im Vereinigten Königreich niederzulassen?« fragte sie der Premierminister mit einem strahlenden Lächeln. In Wirklichkeit willst du doch fragen, warum ich nicht nach Hause zurückgehe, wo ich hingehöre, dachte sie und lächelte ebenso strahlend zurück. »Weil ich James kennengelernt und beschlossen habe, ihn zu heiraten.« Wenn er über Kegan Bescheid weiß, wird ihm das sicherlich Spaß machen! »Wie romantisch!« Der Premierminister wandte sich seinem anderen weiblichen Gast zu. »Und Sie, Rose, Sie haben wohl beschlossen, in England zu bleiben, nachdem Sie Gordon kennengelernt haben?« »O nein. Gordon hat mich in Schottland kennengelernt und beschlossen, dort zu bleiben. Er hat seine ersten fünfzehn Jahre bei United Chemicals in Schottland verbracht. Er hat sich hochgearbeitet, wissen Sie.« Der Premierminister lachte. »Ich habe mich auch hochgearbeitet. Das ist mit nichts zu vergleichen.« James Morton hörte sich das Wortgeplänkel an und fragte sich, worauf das alles hinauslief. Aber der Premierminister lieferte ihm erst am Ende der Mahlzeit einen Hinweis dar35
auf. »Wie groß war denn Ihre Mehrheit bei den letzten Wahlen, James? Waren es nicht über zwanzigtausend?« James Morton war sich absolut sicher, daß der Premierminister die Antwort auf seine Frage kannte. Aber er antwortete trotzdem. »Dreiundzwanzigtausendzweihundertundzweiundzwanzig, um es ganz genau zu sagen.« Er sah über den Tisch zu Isobel hinüber und beteiligte sie damit an der gemeinschaftlichen Leistung, als die er das empfand. »Wir hatten eine der größten Mehrheiten im ganzen Land. Und das in einem schwierigen Jahr.« »Das stimmt ganz genau.« Der Premierminister wandte sich – allem Anschein nach zufrieden – Gordon Cartwright zu. »Hatten Sie beide heute morgen ein gutes Gespräch?« Gordon Cartwright beantwortete die Frage für sie beide. »Ein sehr gutes, Prime Minister. Wir stimmen ganz sicherlich in den Hauptproblemen überein.« Nach dem Lunch war Morton ein paar Augenblicke mit dem Premierminister in dessen Arbeitszimmer allein. Sie saßen in Ledersesseln links und rechts vom Kamin. »Ich weiß, es wird hart sein, James, aber es ist zum Nutzen unseres Landes. Und ich denke, für Sie wird es auch gut sein. Und für Isobel vielleicht auch.« James Morton wußte damit nichts anzufangen, ganz besonders nicht mit der letzten Bemerkung. »Was meinen Sie damit, Prime Minister?« Der Premierminister schien überrascht. »Sie werden nach Brüssel gehen.« Er beugte sich vor und tippte ihm aufs Knie. »Bis zur nächsten Erweiterung der Europäischen Union hat Großbritannien wie die anderen großen Staaten zwei Kommissare. Neil Kinnock wird natürlich bleiben. 36
Aber Leon Brittan geht. Ich habe schon mit Ihren Leuten gesprochen, und die sind sehr zufrieden. Sie haben keine Sorge, daß sie die Nachwahlen in Newbury verlieren könnten. Und ich bin auch froh. Daß wir beide nicht derselben politischen Partei angehören, ist unwesentlich. Ich will in Brüssel jedenfalls einen Mann haben, dem ich vertrauen kann, einen Mann, der zu Hause Gewicht und Einfluß hat. Es könnte auf vier Jahre sein, James; es könnten auch acht Jahre werden. Das wird von Ihnen abhängen.« »Ich würde das gern mit Isobel besprechen«, sagte Morton. Das klang lahm, aber er meinte es wirklich so. »Was hat Isobel damit zu tun?« herrschte der Premierminister ihn an. Das Gespräch mit dem Premierminister hatte Morton ziemlich mitgenommen. Alles war so plötzlich, so unerwartet gekommen. Natürlich war ihm bekannt, daß Sir Leon Brittan die Europäische Kommission am Ende seiner Amtszeit verlassen würde. Das war allgemein bekannt. Aber obwohl jedermann erwartet hatte, daß der neue Premierminister die Tradition des Zweiparteienprinzips respektieren würde, wenn die neue Kommission am l. Januar 1999, also in wenigen Wochen, antrat, war ihm nie in den Sinn gekommen, daß er als Ersatz für Sir Leon ausgewählt werden könnte. Er sah, wie die Cartwrights in einer von einem Chauffeur gesteuerten Limousine wegfuhren, und fragte sich, welche Verbindung wohl zwischen Gordon Cartwrights Anwesenheit beim Mittagessen und der überraschenden Ankündigung des Premierministers bestanden hatte. Daß es eine solche Verbindung gab, stand für ihn fest, gerade als 37
ob der PM Cartwright gebeten hätte, ihm auf den Zahn zu fühlen. Isobel war allem Anschein nach von einem der Angestellten abgeholt worden, der ihr die Porträts zeigte. So stand Morton ziemlich hilflos in der Eingangshalle herum, bis sie schließlich wieder auftauchte. Sie fuhren stumm zusammen nach Hause. Isobel wartete darauf, daß er anfangen würde, aber Morton zögerte. Er war lange genug mit Isobel verheiratet, um zu wissen, daß es Themen gab, an die man behutsam herangehen mußte. Und dies würde eines dieser Themen sein. Ein Dorf nach dem anderen zog an ihnen vorbei. Sie hatten bereits die halbe Strecke nach Hause zurückgelegt, als Isobel schließlich, den Blick starr nach vorn gerichtet, sagte: »Weißt du, ich gehe da nicht hin.« Morton spielte auf Zeit, gab sich unschuldig. »Was meinst du?« »Keine zehn Pferde bringen mich nach Brüssel. Das hättest du ihm sagen sollen.« Morton seufzte. »Dazu war gar keine Gelegenheit. Das geht auch nicht so. Und im übrigen, woher weißt du es überhaupt?« »Diese langweilige alte Schachtel Rose Cartwright hat es mir gesagt, als du hineingegangen bist. Die wissen das offensichtlich seit Wochen. Das ist wieder einmal typisch für dich, noch im dunkeln zu tappen, wo es offensichtlich schon halb London gehört hat und sich darüber kranklacht. Da reden die Leute immer von Hinaufgelobtwerden. Aber das ist ein Wegloben.« Morton spürte, wie er ärgerlich wurde, und widerstand 38
seiner ersten Regung, kräftiger aufs Gas zu drücken. Statt dessen sprach er ganz langsam und präzise und bemühte sich darüber hinaus, besonders leise zu sprechen. Daß er ärgerlich war, wußte sie, als er sie im selben Satz zweimal mit »Liebste« ansprach. »Schau, Liebste«, sagte er. »Ich glaube, du siehst das ganz falsch, Liebste. Das war schließlich nur ein vorläufiges Gespräch. Entschieden ist noch gar nichts.« Er hielt inne, spielte auf Zeit. Es war nicht ganz ausgeschlossen, daß er sie umstimmen konnte. »Wenn man nach Brüssel geht, ist das ja nicht gerade, als würde man nach Sibirien gehen. Brüssel ist schließlich keine politische Provinz, jedenfalls heutzutage nicht mehr. Leon hat sich in den letzten paar Jahren einen ziemlichen Namen gemacht, und Neil ist ja auch nicht gerade aus dem Blickfeld verschwunden.« Jetzt wurde sein Tonfall versöhnlich. »Wir brauchen jetzt gar keine Entscheidungen zu treffen. Wir können einfach einmal abwarten und darüber nachdenken. Was meinst du, fahren wir mal hin und sehen uns um? Ich war schon seit Jahren nicht mehr in Belgien.« Jetzt drehte sich Isobel das erstemal halb herum und sah ihn an. Plötzlich tat er ihr leid. Sie wußte, daß sie es ihm nicht gerade leicht machte. Die Ankündigung des Premierministers mußte für ihn ein schlimmer Schock gewesen sein. Sie wußte, daß James tief in seinem Innersten immer noch die Hoffnung auf ein hohes oder zumindest höheres Amt hegte, vielleicht sogar auf einen Kabinettsitz, falls die Konservativen wieder an die Macht zurückkehrten. Und jetzt waren all diese Hoffnungen ganz plötzlich brutal und ohne jegliche Warnung an einem halben Nachmittag 39
zunichte gemacht worden. Niemand, der einmal in Brüssel gewesen war, hatte bisher ein ernsthaftes Comeback in das politische Leben Großbritanniens geschafft. Das paßte einfach nicht ins Schema. Sie tätschelte sein Knie. »Entschuldige, James. Dir muß scheußlich zumute sein. Du wirst es nicht schaffen, wie? Jedenfalls nach den Begriffen deines Landes nicht. Die Welt ist hart. Ja, es tut mir leid, aber mir solltest du nicht vormachen, daß die Dinge nicht entschieden sind, wenn sie in Wirklichkeit bereits feststehen.« »Wenn du nicht nach Brüssel kommen willst, dann gehe ich auch nicht. Ganz einfach.« Morton meinte das nicht so, und das wußte sie. »Sei nicht albern. Du weißt, daß sie dir nie mehr etwas anderes anbieten werden. Und das hier ist vielleicht besser als gar nichts. Die Partei ist bereit, dich gehen zu lassen. Sie haben zu Hause nichts Besseres für dich. Aber auf mich darfst du nicht rechnen. All dieses Gerede von wegen ›Wo du hingehst, da gehe auch ich hin‹ paßt hier nicht. Jedenfalls heutzutage nicht mehr und nicht für meine Person. Ich habe recht klare Vorstellungen davon, wie ich mein Leben einrichten möchte, und Brüssel, Belgien, hat keinen Platz darin.« Morton gestattete sich einen kleinen bösartigen Tritt auf das Gaspedal. »Ich bin immer noch der Ansicht, daß wir darüber reden sollten.« Jetzt gab sie nach. »Natürlich können wir das, wenn du möchtest. Aber ich verspreche dir gar nichts.« An jenem Abend waren der Vorsitzende ihres Wahlkreises und seine Frau bei ihnen zum Dinner. Das war eine der 40
Verpflichtungen, die Isobel inzwischen unangenehm geworden waren. Morton konnte ihr das nachfühlen, bestand aber dennoch darauf. »Einmal im Jahr, mehr braucht es nicht«, sagte er zu ihr. »Das hält sie bei Laune, und uns muß es das einfach wert sein.« Isobel war da nicht so sicher. Sie fand die meisten Wähler ihres Mannes geradezu qualvoll langweilig, und Walter und Elizabeth Clegg waren da keine Ausnahme. Sie waren weder Bauern noch gehörten sie dem Landadel an. Mr. Clegg hatte vor einigen Jahren an der Börse viel Geld verdient und beschlossen, sich nach Berkshire zurückzuziehen, wo er sich mit einer Teilzeitbeschäftigung als Funktionär des örtlichen konservativen Parteiverbands recht wohl fühlte. Mrs. Clegg schien mit der Rolle der treusorgenden Ehefrau glücklich und zufrieden. »Warum hast du es ihnen nicht gesagt?« fragte Isobel Morton, als die beiden sie verlassen hatten. »Wir haben uns ja selbst noch nicht entschieden. Was hätte ich denn sagen sollen?« Er folgte ihr in die Küche und machte sich als schwache Geste des guten Willens mit einem Geschirrtuch zu schaffen. Er war immer noch um Versöhnung bemüht. Als er sich in dem Raum umsah, dachte er, daß er ihr für die Zeit nach Brüssel hier vielleicht eine neue Küche versprechen sollte. Wo Überredung nichts fruchtet, kann immer noch Bestechung helfen. Aber tief im Innersten wußte er, daß Isobel nicht so leicht zu überzeugen sein würde. »Dann entscheide dich eben.« Isobel zuckte die Achseln und war plötzlich von alldem schrecklich gelangweilt. Nachdem sie zu Bett gegangen war, saß er noch lange 41
Zeit unten. Dann entscheide dich eben, hatte sie gesagt. Konnte man sich denn am Ende ganz isoliert von anderen selbst entscheiden? Spielten da nicht immer auch andere Faktoren mit? Wenn er sich Mühe gab, konnte er Isobels Standpunkt durchaus nachvollziehen. Genau deshalb hatte er sie geheiratet: weil sie einen eigenen Willen hatte, weil sie ein Ziel hatte und weil sie wußte, was sie wollte. Gerade diese Zielstrebigkeit hatte zu den Eigenschaften gehört, die ihn am meisten zu ihr hingezogen hatten. Er wollte sie ganz bestimmt nicht verlieren und wußte, daß er das riskierte, wenn er die Position annahm. Und doch – was hatte er denn für eine Wahl? Entweder stellte man sich dem Kampf, oder man ließ es bleiben. Selbst Brüssel war noch besser als etwa die Position eines untergeordneten Schattensprechers zum Thema Nordirland, wo doch die andere Seite den Eindruck machte, als würde sie wenigstens die Hälfte des neuen Jahrtausends im Amt bleiben. In dem Punkt hatte Isobel recht. Er trank sich beharrlich durch eine halbe Flasche Whisky. Isobel würde vermutlich im Haus bleiben. Also könnte er ja an den Wochenenden zurückkommen. Natürlich würde sie ziemlich viel Zeit in London verbringen. Es war ein Glück, daß sie dort auch ein Domizil hatten. Gott sei Dank gab es keine Kinder; zumindest das war eine Erleichterung. Wie er so dasaß und den Mond betrachtete, der gerade über den Hügeln aufging, wurde ihm bewußt, daß er wie ein Mann dachte und redete, der eher eine Scheidung erwägt als nur eine zeitliche Trennung, die sich aus beruflichen Notwendigkeiten ergibt. Er riß sich zusammen, leerte entschlossen sein Glas und schraubte die Flasche zu. Er hatte 42
seine Ehe mit Isobel, so schwierig sie manchmal auch war, als einen festen Orientierungspunkt in seinem Leben betrachtet. Sie würden gemeinsam irgendeine Lösung finden müssen. Er ging nach oben und hoffte, sie würde noch wach sein. Aber er wurde enttäuscht. Sie lag mit dem Gesicht nach unten, das goldene Haar über das Kissen ausgebreitet, und atmete sanft und regelmäßig. Es war offenkundig, daß das Dilemma, das Morton so zu schaffen machte, Isobel weit weniger berührte. Er ging ins Arbeitszimmer und schloß die Tür hinter sich, damit das Licht sie nicht störte. Dann stand er da und betrachtete sorgfältig die der Reihe nach angeordneten Krawatten, die dort hingen. Eine Krawattensammlung, dachte er, war ebenso gut wie eine Art Lebenslauf, wie ein Eintrag im Who is who, nur wesentlich farbenprächtiger. Da waren seine Schulkrawatten, dann die Regimentskrawatten, dann waren da die Universitätskrawatten; die elitären Dinnerclubs, Vincents; the Bullington. Und schließlich kamen die Krawatten, die er in seiner Zeit als Parlamentsabgeordneter angesammelt hatte, einige mit dem berühmten PortcullisEmblem in verschiedenen Ausprägungen, andere diskreter, als bloße Andeutung, daß der Träger einem erlesenen Kreis angehörte, dessen Mitglieder man an den Fingern einer Hand abzählen konnte. Während sein Blick über die in dichter Reihe angeordneten Krawatten wanderte, fragte er sich, wo er den falschen Weg eingeschlagen hatte. Auf den ersten Blick waren seine Referenzen makellos. Praktisch von dem Augenblick an, in dem er in das Parlament eingetreten war, hatte man 43
ihm den Aufstieg prophezeit. Seine Ehe mit Isobel war ihm ebenfalls zustatten gekommen. Wenigstens hatte es ursprünglich so ausgesehen. Sie hatte die Rolle der Ehefrau eines Parlamentsmitglieds mit einem gewissen Schwung und einer Art Flair erfüllt. Damals, ganz zu Anfang, hatte sie sich mit ganzem Herzen auf ihre Arbeit gestürzt, hatte Kaffeevormittage abgehalten, Kranke besucht, ihn sogar einmal bei der jährlichen Generalversammlung vertreten, als er wegen einer wichtigen Abstimmung London nicht hatte verlassen können. Ja, in jenen frühen Jahren war Isobel eindeutig ein Pluspunkt für ihn gewesen. Zwischen ihr und vielen der Ladies aus seinem Wahlkreis lagen Welten, und doch hatte es für ihn den Anschein gehabt, als würde sie sie sympathisch finden und auch auf Gegenliebe stoßen. Und in einer Saison, erinnerte er sich, hatte Isobel doch tatsächlich am Samstag eine Hetzjagd mitgemacht und ihn dann am Sonntag in die Kirche begleitet. Das hatte ihr große Sympathien eingebracht. Er rückte ein paar Krawatten auf ihren Haken zurecht, zog dann sein Jackett aus und hängte es weg. Angefangen schiefzulaufen hatte es, überlegte er, vor ein paar Jahren, als John Major noch an der Macht war. Er – Morton – hatte gerade seinen dreiundfünfzigsten Geburtstag hinter sich gebracht. Als er sich eines Tages die Liste vorgenommen hatte, hatte er zu seiner Überraschung festgestellt, daß einige seiner Kollegen, die er für gleichaltrig hielt, in Wirklichkeit ein halbes Jahrzehnt jünger waren als er und jetzt in jeder Hinsicht höhere Positionen einnahmen. Einer von ihnen hatte es ins Kabinett geschafft. Andere bekleideten wie er untergeordnete Positionen in der Ministerialbürokratie, 44
aber immerhin in Ministerien, die im Gegensatz zu dem seinen wenigstens nicht politische Provinz waren. Er hatte sich eingestehen müssen, daß sein Aufstiegstempo sich ziemlich dramatisch verlangsamt hatte. Wenn sich nicht bald etwas tat, wenn es keine neuen Impulse gab, dann war ziemlich klar, daß sich die ursprüngliche Hoffnung nicht erfüllen würde. Jetzt, wo die Konservativen auf den Oppositionsbänken saßen, hatte er offenkundig eine Position erreicht, wo man ihn nach einer angemessenen Zeit auf der vordersten Bank wieder auf eine der hinteren Bänke setzen würde – vielleicht verbunden mit der Erhebung in den Ritterstand (wenn auch in einen der niedrigeren Ränge). James Morton hatte kein besonderes Talent, sich selbst zu analysieren. Obwohl er in Oxford die Biographien der großen Männer Englands gelesen hatte, war er kein Geist, der zu tiefschürfenden Fragen neigte. So verbrachte er beispielsweise nicht viel Zeit damit, über die Bedeutung der Existenz oder über die Bedeutung der Bedeutung nachzudenken. Er war ein praktischer Mensch, dem es mehr darum ging zu erledigen, was zu erledigen war, und sich dabei einigermaßen wohl zu fühlen. Wenn man Landwirt war – auch wenn man diesen Beruf nur nebenbei ausübte –, bedeutete das, daß man die Dinge mehr vom praktischen Standpunkt aus betrachtete als der typische Akademiker in seinem Elfenbeinturm. Aber heute, am Ende dieses langen, anstrengenden Tages, sah er sich gezwungen, Inventur zu machen. »Hmm, Morton?« konnte er den Bericht des Chefeinpeitschers der Konservativen hören. »Loyal. Nicht gerade sonderlich ehrgeizig. Allerdings in der Partei beliebt 45
und auch bei seinen Kollegen. Wie wäre es mit Brüssel? Das könnte Morton doch sehr gut machen? Schließlich müssen wir jemanden als Nachfolger von Leon hinschicken. Wir würden gut daran tun, einen von unseren Leuten zu finden, sonst kommen diese Euro-Parlamentarier auf die Idee, daß sie jetzt an der Reihe wären, und das geht doch wirklich nicht. Ich weiß, das bedeutet eine Nachwahl, aber Morton sitzt im ganzen Land am sichersten auf seinem Platz. Ich kann nicht viele Nachteile erkennen. Warum schlagen wir dem PM denn nicht Morton vor, wenn er uns fragt, wen wir nominieren wollen?« War das Zeugnis gerecht? War es fair? Sagte es alles aus, was gesagt werden mußte? Nein, das tat es natürlich nicht. Aber so war das in der Politik eben. So viel hing von Glück und Temperament ab. Vielleicht war er einfach nicht der Mann für diese Zeit. Die moderne konservative Partei war eine völlig andere Angelegenheit als das, was sie früher einmal gewesen war. Männer mit breiten Äckern und breiten Hintern fanden sich allmählich in der Minderheit. Es gab da heute einen neuen Menschenschlag, Leute wie Tim Kegan, beweglich, hart arbeitend, wortgewandt und – zumindest für Mortons Geschmack – zutiefst widerwärtig. Er würde nie verstehen können, weshalb Isobel, die das eigentlich doch besser wissen sollte, sich allem Anschein nach zu jemandem wie diesem Kegan hingezogen fühlte. Das Problem war, daß Isobel als Amerikanerin die Dinge einfach nicht so sah, wie man sie sehen sollte. Sie konnte die Feinheiten manchmal nicht richtig erfassen. Jemand hatte ihm neulich erzählt, so wie Leute das eben tun, daß sie Isobel beim Lunch zusammen mit Kegan bei Wheeler’s 46
gesehen hätten. Nun, soweit es ihn anging, konnte Isobel ihren Lunch einnehmen, mit wem sie wollte. Das war ihre Sache. Und er hatte ganz sicher nicht die Absicht, damit anzufangen, seine Frau zu fragen, wie sie sich die Zeit zwischen Mittag und drei Uhr nachmittags einteilte. Aber er konnte einfach nicht begreifen, wie irgend jemand, ganz zu schweigen von Isobel, den Wunsch verspüren konnte, mit Tim Kegan zu Mittag zu essen. Vielleicht war der Mann wirklich der klügste Bursche, den die konservative Partei seit Disraeli hervorgebracht hatte; vielleicht würde er am Ende (und Morton hoffte, daß das sehr am Ende sein würde) all die anderen shooting stars überflügeln, diese jungen Aufsteiger, die so erpicht darauf waren, sich einen Namen zu machen. Aber das hieß immer noch nicht, daß man ihn mögen mußte! Er knipste das Licht im Ankleidezimmer aus, schlich sich ins Schlafzimmer zurück und legte sich neben seiner schlafenden Frau ins Bett. Dichtung war nie seine starke Seite gewesen, obwohl er von Zeit zu Zeit ganz passable Verse zustande gebracht hatte, wie man das von jemandem mit einer klassischen Ausbildung erwartete; aber als er jetzt sachte ihr Haar vom Kissen auf seiner Seite des Bettes wegschob, kam ihm eine Zeile aus einem Gedicht in den Sinn: »Leg dein schlafend Haupt, Geliebte, menschlich auf mein’ treulos Arm.« Er erinnerte sich nicht daran, wer das geschrieben hatte, und kam auch nicht dahinter, wer das zu wem gesagt hatte, aber irgendwie gefiel ihm der Klang der Worte. Er schloß die Augen. Großer Gott im Himmel, dachte er. Brüssel! Was für eine Grabinschrift für eine politische 47
Laufbahn, die nie richtig in Gang gekommen war! Aber dann, als sich langsam der Schlaf einstellte, während draußen die Eulen riefen, kam ihm plötzlich eine Idee. Nicht gerade eine brillante Idee, keine großartige Idee, aber immerhin eine solide, ernsthafte Idee. Warum konnte er eigentlich nicht all denen einen Schock versetzen, die unter James Mortons politische Karriere im frühen Alter von siebenundfünfzig »ENDE« schreiben wollten? Warum konnte er ihnen nicht zeigen, daß man sich in Brüssel ebensogut einen Namen machen konnte wie am Rednerpult im Unterhaus? Am nächsten Morgen stellte sich die kalte Realität ein. The Times berichtete darüber auf der Titelseite. Morton las den letzten Absatz mit düsterer Einsicht. Der Artikel stammte aus Brüssel und kam aus der Feder des dortigen Korrespondenten des Blattes – Murray Lomax. »Offiziell«, schrieb Lomax, »ist es der Standpunkt der jetzt stark reduzierten konservativen Partei in Westminster, daß sie eine hochrangige Persönlichkeit nach Brüssel schickt und damit weiterhin ihre nachhaltige Verpflichtung für die Ideale Europas zum Ausdruck bringt. In Wirklichkeit ist klar, daß sich die Welle von Euroskepsis, die die Partei seit ihrer Wahlniederlage erfaßt hat, auch in dieser Besetzung widerspiegelt. Inoffiziell konnte man gestern abend von führenden Tories hören, daß Morton, ein passabler mittelmäßiger Gefolgsmann, der geeignete Kandidat für diesen Posten sei, der allgemein als Sackgasse gilt. Fest steht jedenfalls, daß es bis zur Stunde keinem britischen Politiker gelungen ist, sein Ansehen durch eine Amtsperiode in Brüssel zu verbessern. Natürlich wird viel von der Aufgabenverteilung in 48
der neuen Kommission abhängen: Sollte sich nämlich der Premierminister dafür stark machen, daß der neuernannte Kommissar ein wichtiges Amt wie Außenbeziehungen oder Landwirtschaft erhält und sich damit auch durchsetzt, könnte es durchaus sein, daß diejenigen, die Mortons Versetzung nach Brüssel heute mit einiger Skepsis betrachten, einen Rückzieher machen müssen.« Er war gerade bei den letzten Zeilen des Artikels angelangt, als Isobel zum Frühstück herunterkam. Er hielt ihr wortlos die Zeitung hin und tippte mit dem Zeigefinger auf den Artikel. »Ich weiß. Ich habe es schon im Radio gehört, als ich im Bad war.« Ehe Isobel mehr sagen konnte, klingelte das Telefon. Morton ging in den Flur hinaus und hob ab. »Oh, hallo, Walter. Nein, ich konnte es Ihnen gestern abend nicht sagen; da war es noch nicht offiziell; tatsächlich wußte ich nicht einmal, daß es jetzt schon offiziell ist. Ich hatte den Premierminister gebeten, mir noch etwas Zeit zu lassen, um es mit Isobel zu besprechen.« Er lachte kurz. »Wahrscheinlich hätte ich es gleich wissen müssen. Ja, natürlich muß es eine Nachwahl geben. Man kann nicht gleichzeitig Kommissar in Brüssel und Mitglied des Unterhauses sein.« Er kehrte zum Tisch zurück. »Das war Walter Clegg.« Er griff nach ihrer Hand. »Tut mir leid, Liebste. Ich finde das eine recht brutale Art, mit den Dingen umzugehen. Du hattest ein Recht darauf, gefragt zu werden, und das hat man nicht getan. Ich habe mich wirklich bemüht, ehrlich. Aber willst du es nicht versuchen? Ich weiß schon, die meisten Leute sagen, Brüssel sei stinklangweilig, aber wir 49
könnten ja etwas daraus machen.« Er sprach bewußt in der Mehrzahl. Sie war nicht den ganzen Weg aus dem Nichts gekommen, um das alles hinzuwerfen, ohne noch einmal darüber nachzudenken. Dazu war sie viel zu schlau. Verdammt, schließlich pendelten Senatoren und Kongreßabgeordnete auch zwischen ihren Wohnsitzen und Washington hin und her und hielten sich am Wochenende zu Hause auf. Waren sie denn nicht auf dem Wege zu so etwas wie den Vereinigten Staaten von Europa? War denn Brüssel so völlig anders als Washington? Sie mochte ihr Haus auf dem Land, ihre Wohnung in London, das Geschäft am Beauchamp Place, Lunch bei Wheeler’s, Liebe am Nachmittag, selbst in einer muffigen kleinen Wohnung am Dolphin Square. Und Morton mochte sie auch, mochte ihn sogar sehr, hatte ihn einmal geliebt und würde ihn vielleicht immer noch lieben. Der Mann war gut zu ihr gewesen. Außerdem bezahlte er die Rechnungen. Was auch immer man sonst über die Männer sagen konnte, sie verstanden sich darauf, die Rechnungen zu bezahlen! An diesem Morgen, gründlich ausgeschlafen, war sie zu einem Kompromiß gestimmt. Sie schenkte ihm Kaffee ein und bediente sich dann selbst. »Mach du nur, James. Richte dich dort ein, sieh nach, wie es ist. Ich meine nicht nur die Stadt, ich meine das Leben dort. Ich habe keine Ahnung von Brüssel, nur daß die dort eine Statue von einem kleinen pinkelnden Jungen haben und daß der Rosenkohl von dort kommt. Vielleicht lebt es sich dort auf die Dauer nicht besonders. Aber man kann ja auch zu Besuch hinkommen.« 50
Sie lachte, war plötzlich ganz vergnügt. Vielleicht war es gar keine so schlechte Lösung, die beste aller möglichen Welten. Sie konnte gelegentlich für ein Wochenende nach Brüssel fliegen; Morton konnte von Zeit zu Zeit zurückkommen; Tim Kegan würde da sein, ohne Frau, in den Nächten, die sie in der Stadt verbrachte. Ja, bei einigem Nachdenken fand Isobel, es würde sich alles vielleicht ganz gut einrichten lassen. Sie trat hinter seinen Stuhl und legte ihre Hand mit den langen Fingern auf seine Schulter, beugte sich vor und knabberte an seinem Ohr. »Du mußt mir nur Zeit lassen, James.« Morton seufzte innerlich tief und erleichtert. Er haßte es mehr als alles andere, allein sein zu müssen. »Aber freilich, soviel du brauchst. Ich werde alles organisieren. Du hältst die Dinge hier im Auge und kommst nach, wenn du soweit bist. Übrigens«, fügte er hinzu, »Bettler werden wir mit dem Gehalt eines Kommissars nicht gerade sein.« Isobel lachte vergnügt. »Da wäre ich nicht so sicher! Ich habe neulich gerade Nancy Tate in der amerikanischen Botschaft getroffen. Sie und Jack sind gerade nach London gekommen, ihre letzte Station war Belgien. Sie hat mir erzählt, daß die dort drüben ununterbrochen Geld ausgeben, bloß um nicht vor Langeweile zu sterben. Sonst gibt es dort überhaupt nichts zu tun.« »Ich bin sicher, du wirst in der Beziehung genauso erfolgreich sein, Liebste, wie sonst auch.« Isobel sah ihn überrascht an. Das war mehr als nur ein Anflug von Ironie in Mortons Stimme gewesen. 51
Als er ein paar Minuten vor ein Uhr die Treppe hinaufging, erinnerte er sich, daß Phileas Fogg seine Achtzig-Tage-Reise um die Welt vom Reform Club aus angetreten hatte. Der Lunch, den er mit Sir Rupert Evans, dem Leiter des diplomatischen Dienstes, in dieser etwas verstaubten Umgebung einnahm, war auch eine Art Abschiedsveranstaltung. Soweit es Sir Rupert anging, mochte Brüssel zwar nicht gerade finsterstes Afrika sein, aber er schaffte es jedenfalls, den Eindruck zu vermitteln, daß es ein Ort war, den man, wenn überhaupt, nur unter Protest aufsuchte. Trotz der Tatsache, daß Großbritannien jetzt seit mehr als einem Vierteljahrhundert Mitglied der Europäischen Union war, gehörte Sir Rupert zu denjenigen, die an altmodische Diplomatie glaubten, die Beziehung zwischen souveränen Staaten und den Austausch bevollmächtigter Vertreter. Die Europäische Union paßte nicht in dieses Denkschema. Seiner Ansicht nach konnte Großbritannien darauf wirklich verzichten. Aber er hatte diese Zweifel natürlich für sich behalten, da er sonst nicht an der Stelle gewesen wäre, wo er sich befand. Sie saßen mit ihren Drinks, die das Mittagessen einleiten sollten, an einem Tisch über dem Atrium. Sir Rupert, ein hochgewachsener Mann mit schütterem rötlichblondem Haar und dem etwas verwitterten Teint, den einem Jahre in den Tropen eintragen, kaute eine Olive. »Die schwarzen sind viel besser als die grünen, finden Sie nicht?« Morton war kein Experte für Oliven, vermutete aber, daß er bald einer würde werden müssen, da Oliven, sei es nun in Gestalt von Bäumen oder Öl, allem Anschein nach die 52
Europäische Kommission immer noch in hohem Maße beschäftigten. »Hmm«, erwiderte er unverbindlich und fügte dann hinzu: »Weil wir schon gerade von Oliven reden: Meinen Sie, wir sollten uns um das Landwirtschaftsressort bemühen? Das hat Großbritannien noch nie gehabt.« »Wir hatten nie einen qualifizierten Kandidaten«, antwortete Sir Rupert etwas scharf. »Henry Plumb – Lord Plumb – hätte das vielleicht hingekriegt, aber dann hat er es doch vorgezogen, im Europäischen Parlament zu bleiben. Keine Ahnung, warum.« Er sah Morton über sein Glas hinweg an. »Sie haben doch einen landwirtschaftlichen Betrieb, oder? In den Berkshire Downs? In meiner Jugend bin ich dort viel gewesen. Ein wunderschönes Land. Ja, vielleicht sollten wir wirklich versuchen, das Landwirtschaftsressort zu bekommen. Allerdings ist Großbritannien auch stark am Handelsressort interessiert. Leon Brittan hat da großartige Arbeit geleistet, und wir sollten versuchen, das Ressort möglichst zu behalten.« Dann nahmen sie sich ihren Lunch vor. Der Speisesaal des Reform Club wimmelte von höheren Beamten, die sich vor Weihnachten noch einmal richtig vollstopften. In Morton hatte sich ein Gefühl wohliger Wärme eingestellt. Nicht nur vom Essen und dem Wein, sondern auch wegen dieser Begegnung mit dem Leiter des diplomatischen Dienstes, die ihm die Gewißheit verschafft hatte, daß die Regierung sich für ihn um einen Schlüsselposten in der ab Anfang Januar amtierenden neuen Kommission bemühen würde. Er strich Lachsmousse auf ein dünnes, etwas welliges Stück Toast. »Es bedarf wohl keiner Erwähnung, daß ich 53
jede Aufgabe übernehme, die man mir zuweist. Aber ich würde es natürlich ganz besonders begrüßen, so wie das jeder in meiner Lage sicherlich tun würde, wenn ich die Chance bekäme, eines der wichtigen Ämter zu übernehmen.« Dabei ließen sie es bewenden. Als er im späteren Verlauf des Nachmittags in seinem Büro im Parlament damit beschäftigt war, seinen Schreibtisch zu räumen (die Nachwahl in Newbury war inzwischen bereits angekündigt worden), rief Morton Isobel an. Diesmal traf er sie in ihrem Geschäft an. »Ich glaube, es wird klappen«, sagte er zu ihr. Isobel, die sich schon, wenn auch widerstrebend, darauf eingestellt hatte, wenigstens eine Zeit in Brüssel zu verbringen, war gerade dabei, ihre Terminpläne für das bevorstehende Jahr neu zu arrangieren, und wußte nicht gleich, was er meinte. »Das Ressort, meine ich«, erklärte Morton. »Die Regierung wird sich um Landwirtschaft oder Handel bemühen.« »Nicht Landwirtschaft.« Isobel klang unnachgiebig. »Davon haben wir zu Hause schon genug. Handel könnte interessant sein, denke ich. Ich nehme an, der Kommissar für Handel fliegt die ganze Zeit auf Staatskosten an exotische Orte?« »Das ist nicht der Punkt. Reisen würden ein notwendiger Bestandteil der Position sein.« Wenn Morton mürrisch klang, dann war das durchaus im Einklang mit seiner Stimmung. Er hatte bereits bemerkt, wie schnell die Leute die Dinge in den falschen Hals bekamen. Sowohl in seiner Wählerschaft als auch im Unterhaus hatte es schon genug spitze Bemerkungen über hohe steuerfreie Gehälter und das Leben auf Spesen gegeben. 54
»Tut mir leid, wenn ich nicht gerade enthusiastisch klinge, Liebling«, versuchte Isobel ihn zu besänftigen. »Wir stehen hier im Geschäft augenblicklich ziemlich unter Druck. Ich finde, das klingt großartig, und ich hoffe, du bekommst es, was auch immer es ist.« Schon wieder Oliven, dachte Morton. Diesmal ein Ölzweig. Er würde Isobel schon rumkriegen. Zu Beginn der folgenden Woche, als seine parlamentarische Laufbahn bereits Geschichte war und in seinem Wahlbezirk schon ein neuer Kandidat nominiert war, flog Morton nach Brüssel. In Zaventem holte ihn ein junger Mann aus der britischen Mission bei der Europäischen Union ab. »Ich bin Peter Simpson von UKREP.« »Das klingt ja ziemlich häßlich«, meinte Morton, während sie zum Diplomatenparkplatz gingen. »Das ist die Abkürzung für ›United Kingdom Permanent Representation to the European Communities‹.« Simpson betonte die letzte Silbe. »Genaugenommen sind wir nicht mit der Europäischen Union als solcher befaßt, sondern auch mit der Kohle- und Stahlgemeinschaft und mit Euratom. Seit dem Verschmelzungsvertrag bedient die Kommission alle drei Körperschaften.« Morton unterdrückte ein Seufzen. Er hoffte nur, daß Brüssel nicht von intelligenten jungen Männern wie Peter Simpson wimmeln würde. Ehrgeizlinge aus dem Foreign Office konnten recht lästig sein. Er lächelte liebenswürdig. »Ich nehme an, mit der Zeit werde ich den Jargon schon lernen.« UKREP hatte für ihn einen teuer aussehenden Rover be55
sorgt. Ein flach gebautes, elegantes Fahrzeug, dem man seine Kraft ansah. Sie rollten über die Fernstraßen. Ein paar Minuten später erreichten sie die Stadtgrenze von Brüssel. Einige sehr hochrangige konservative Politiker wie Peter Carrington, erinnerte sich Morton, konnten in ihrem Lebenslauf vermelden, daß sie Brüssel seinerzeit befreit hatten und vom König der Belgier dafür dekoriert worden waren. Er selbst war zu Beginn des Krieges geboren und hatte diese Gelegenheit natürlich verpaßt. Beim Blick auf die Unzahl häßlicher Gebäude am Stadtrand fragte er sich, ob die Stadt wirklich wert gewesen war, befreit zu werden. Ein äußerst unfreundlicher Gedanke – er würde sich zusammenreißen müssen. Er hatte hier eine Aufgabe zu erfüllen und würde das Beste daraus machen. »Da ist Monty«, ließ Simpson ihn wissen. »Und das ist der Montgomery Square. Das heißt, ein richtiger Platz ist es ja gar nicht, sondern ein Kreis.« Morton betrachtete interessiert die überlebensgroße Statue des großen Feldherrn. Er stand da, die Hände fest hinter dem Rücken verschränkt, und sah auf den Verkehr herab, der unter ihm durch eine Unterführung geleitet wurde. Montys Rücken war der Stadt zugewandt; der Rhein lag natürlich noch vor ihm. »Gibt es hier auch einen Churchillplatz?« »Nein, aber eine Avenue Winston Churchill.« »Und was ist mit Heath? Er hat doch den Vertrag von Rom unterzeichnet, oder nicht? Wie wäre es mit einem Edward-Heath-Boulevard? Bemüht sich das Foreign Office darum?« 56
Simpson lachte. »Ich glaube nicht, daß das auf der Liste unserer diplomatischen Prioritäten einen hohen Platz einnimmt. Nicht unter den augenblicklichen Umständen.« Morton fragte sich, ob die Belgier je eine Straße oder auch nur eine Sackgasse nach einem britischen Kommissar benannt hatten. Eigentlich bezweifelte er es. Ein paar Minuten später wurde er in das Büro des britischen Botschafters bei der Europäischen Union geführt. Das UKREP-Gebäude lag an der Avenue d’Auderghem, mehr oder weniger gegenüber dem Hauptquartier der Kommission im Breydel-Gebäude an derselben Straße. Man munkelte, daß die Kommission bald wieder in das riesige Berlaymont-Gebäude am Rond-Point-Schuman ziehen würde, wo augenblicklich Arbeiter mit umfangreichen Umbauarbeiten beschäftigt waren, die man ganz zu Anfang wegen der Asbest-Ängste in Angriff genommen hatte. Morton hatte Bilder des Berlaymont-Gebäudes gesehen, aber als er jetzt in das Büro des Botschafters trat und sich dem mächtigen, sternförmigen Bau gegenübersah, der wie eine große schimmernde Klippe auf der anderen Straßenseite aufragte, überraschte ihn die Realität dennoch. Der Botschafter, Sir Oliver Passmore, merkte, wo er hinsah. »Nein, hübsch ist es nicht, oder? Aber das Breydel ist auch nicht gerade eine architektonische Schönheit. Trotzdem werden Sie sich wahrscheinlich daran gewöhnen. Das tun alle, wie man mir sagt.« Er gab ein trockenes, brüchig klingendes botschafterliches Lachen von sich. Sir Oliver befand sich bereits seit einigen Jahren in Brüssel. Er hatte Kommissare kommen und gehen sehen, schien aber 57
selbst wie der sprichwörtliche Fels von ewiger Dauer zu sein. Eine Menge Leute war ohnehin der Ansicht, der Leiter der britischen Mission bei der Europäischen Union in Brüssel sei wesentlich mächtiger als ein britischer Kommissar. Passmore war so hager, daß er geradezu ausgezehrt wirkte. Er hatte sich seinen Ruf im Fernen Osten erworben, und seine Haut hatte es irgendwie fertiggebracht, wie durch Osmose einen etwas gelblichen Schimmer anzunehmen und zu behalten. Er besaß eine der schönsten Sammlungen chinesischer Zeremonienschwerter, von denen einige drohend die Wände seines Büros schmückten. Als Morton sich gegenüber einem besonders schönen Exemplar auf das Sofa setzte, fragte er: »Wem hat das denn gehört? Damokles?« Der Botschafter schob fragend eine Augenbraue hoch. »Wahrscheinlich dem Kaiser Kwang Su. Er war der Sohn von Prinz Chun, Bruder des Kaisers Hsien Fung und erster Vetter des Kaisers Tung Chi. Wahrscheinlich hat dieses Schwert zu seiner Zeit ein oder zwei Köpfe abgeschlagen.« Er lachte, wieder eine kleine trockene Explosion. Morton sah ihn an und entschied für sich, daß Sir Oliver wahrscheinlich gar nicht abgeneigt war, gelegentlich selbst einen Kopf abzuschlagen, wenn die Umstände das erforderten. Peter Simpson stand immer noch da. »Setzen Sie sich, Peter.« Der Botschafter wies ungeduldig auf einen Sessel. »Alles, was ein Kommissar weiß, sollte sein Chef de Cabinet ebenfalls wissen.« Als er Mortons verblüfften Blick bemerkte, fuhr der Botschafter fort: »Die Wahl des Chef de Cabinet liegt natürlich ausschließlich bei Ihnen. Es wird einige 58
Kandidaten geben, und Peter wird einer davon sein. Aber ich betone«, wiederholte er, »die Wahl liegt bei Ihnen.« »Wie sagte doch Henry Ford?« murmelte Morton. »Sie können jede Farbe bekommen, solange es nur Schwarz ist!« Sir Oliver Passmore sah ihn scharf an. Was er bis zur Stunde über James Morton gehört hatte, hatte in ihm die Meinung aufkommen lassen, daß es sich bei dem Mann um einen gemäßigten, phantasielosen Durchschnittspolitiker handelte, der ganz sicherlich nicht für ein hohes Amt in Frage kam, was ja die Berufung nach Brüssel bestätigte. Morton hatte ganz offensichtlich keine Ahnung, wie die Dinge in Brüssel liefen. »Die meisten Entscheidungen der Kommission werden von den Chefs vorbereitet«, sagte er scharf. »Als Kommissar«, fuhr er dann nach einer kurzen Pause fort, »sind Sie natürlich völlig unabhängig –« Das wiederholte er sogar. »Völlig unabhängig. So lautet auch Ihr Amtseid, den Sie vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg ablegen. Aber Sie werden es sicherlich als nützlich empfinden, jemanden zu haben, der mit uns in Verbindung steht, ganz gleich, wen Sie auswählen.« Während dieses Wortwechsels war Peter Simpson stumm geblieben. Das war ungewöhnlich, weil er ein Mann war, der von sich und dem Wert seiner eigenen Ansichten zu vielen Themen eine hohe Meinung hatte. Als er jetzt das Wort ergriff, tat er dies mit einstudiert wirkender Bescheidenheit. »Es wäre mir eine große Ehre, wenn Ihre Wahl auf mich fallen würde.« Morton stellte fest, daß der junge Mann ein wenig zu korpulent war. Das viele üppige Essen in den Brüsseler 59
Restaurants, dachte er. Aber er machte einen fähigen Eindruck, sonst würde der Botschafter ihn sicherlich nicht so empfehlen. Er spürte, daß er unter Druck gesetzt wurde, aber im Augenblick schien er dagegen nicht viel unternehmen zu können. Der Botschafter war ganz offensichtlich informiert und er nicht. »Ich nehme das zur Kenntnis«, erwiderte er. Das war die Redeweise eines Politikers, und als solchen betrachtete sich Morton immer noch. Sir Oliver ließ sich seine Erleichterung nicht anmerken. In seiner langen Erfahrung als ständiger Vertreter Großbritanniens bei den Europäischen Gemeinschaften hatte er gelernt, daß die Ernennung eines Kabinettchefs häufig recht knifflig sein konnte. Ein neuer Kommissar konnte eigene Vorstellungen darüber haben, wer seine rechte Hand sein sollte, und diese Vorstellungen mußten nicht notwendigerweise mit den Ansichten des Botschafters oder denen der Regierung übereinstimmen. Manche Kommissare hatten über die Besetzung der Spitzenposition in ihrem Büro sogar höchst unpassende Gedanken gehabt, die man ihnen nur mit großer Mühe hatte ausreden können. Den größten Teil der nächsten Stunde verbrachte Sir Oliver Passmore damit, James Morton über die Kommission und die Europäische Union aufzuklären. Er war mit dem Thema vertraut und präsentierte es gut. Er hatte aus Erfahrung gelernt, daß das Maß an technischen Einzelheiten, das man einem neuen Kommissar bei seinem ersten Erkundungsbesuch in Brüssel zumuten durfte, beschränkt war, also begnügte er sich mit einer Darstellung in groben Zügen. »Der Theorie nach macht die Kommission, wie Sie wis60
sen, Vorschläge, und der Rat trifft die Entscheidungen. Irgendwo dazwischen gibt es das Europäische Parlament. Wenn es nicht seine Zeit damit verbringt, zwischen Brüssel und Straßburg und gelegentlich Luxemburg hin- und herzupendeln, gibt das Parlament seinen Rat – Meinungen, wie man das nennt – zu den Vorschlägen der Kommission oder zu dem vom Rat vorbereiteten Budgetentwurf ab. Abgesehen vom Budget – und selbst dort sind wir bemüht, den Schaden einzugrenzen – nimmt der Rat die Meinung des Parlaments nicht besonders zur Kenntnis. Im Grunde genommen wurde im ersten Vertrag von Maastricht der Versuch gemacht, die Befugnisse des Parlaments zu Lasten der anderen Institutionen auszuweiten, aber da ist inzwischen der Dampf raus. So wie die Dinge jetzt geregelt sind, läßt es sich leben. Sie werden natürlich gelegentlich Leute von einem ›demokratischen Defizit‹ reden hören, aber das ist weitgehend Rhetorik. Niemand meint das ernst.« Der Botschafter war auf einnehmende Weise offen, und Morton hörte ihm interessiert zu. Als der Vormittag dem Ende zuging, fragte er Sir Oliver, ob es hinsichtlich der Ressortverteilung schon irgendwelche Ergebnisse gegeben habe. »Ich hatte mit Sir Rupert Evans zu Mittag gegessen. Er sagte, wir würden uns, wenn es um die Verteilung der Zuständigkeiten in der neuen Kommission geht, für Landwirtschaft oder Handel stark machen.« Er merkte, wie bei diesen Worten ein Schatten über die fahlen Züge des Botschafters ging. Morton setzte nach. »Es ist doch ganz sicherlich wichtig, daß wir uns um eines der maßgeblichen Ressorts bemühen?« 61
Sir Oliver antwortete, ohne lang nachzudenken: »Die Leute denken, daß das Handels- oder das Landwirtschaftsressort die einzigen sind, die sich lohnen. Aber das stimmt nicht unbedingt. Es gibt eine Menge anderer wichtiger Dinge zu tun. Aber wir werden natürlich unser Bestes tun, um sicherzustellen, daß die Dinge ihren richtigen Lauf nehmen. Am Ende liegt die Entscheidung beim designierten Präsidenten der Kommission, Dr. Horst Kramer, der, wie Sie wissen, die Nachfolge von Jacques Santer aus Luxemburg antreten wird. Das ist das erste Mal seit Walter Hallstein in den fünfziger Jahren, daß die Deutschen einen Präsidenten der Kommission stellen.« Morton war enttäuscht, daß er nicht mehr von ihm erfahren konnte. Obwohl formal der designierte Kommissionspräsident für die Ressortverteilung zuständig war, wobei das Europäische Parlament ein Befragungsrecht hatte, hatten doch die Ansichten der einzelnen Regierungen wichtigen, häufig sogar entscheidenden Einfluß auf das Ergebnis. Er hatte Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen, als der Botschafter das Gespräch auf andere Themen lenkte. Am Ende des Treffens nahm Sir Oliver Passmore Morton zum Lunch mit in seinen Amtssitz an der Rue Ducale. Das Gebäude war jahrelang die offizielle Residenz des Botschafters des Vereinigten Königreichs beim König der Belgier gewesen, aber infolge einer raffinierten Manipulation seitens einer der Vorgänger Passmores war die Botschaft nach Uccle, einem der grünen Vororte von Brüssel, verlegt worden, während man dem ständigen Vertreter einen Amtssitz in der Stadt zugewiesen hatte. In einer Stadt, wo die Bulldozer seit Jahrzehnten Überstunden machten, 62
hatte die Rue Ducale es wie durch ein Wunder geschafft, ihren früheren Glanz zu bewahren, auch wenn sie nicht ganz das Prestige der Residenz in Paris, einen knappen Steinwurf vom Elysée entfernt, oder Washington hatte, wo das Botschaftsgebäude den oberen Teil der Massachusetts Avenue dominierte. Aber es war ein wunderschönes Gebäude, das – wie Morton fand, als man ihn hineinkomplimentierte – für die bestehende Aufgabe mehr als ausreichend war. »Ein ruhiges, formloses Mittagessen«, hatte Sir Oliver erklärt, als sie vom Rond-Point Schuman die Rue de la Loi hinunterfuhren. »Mary wird natürlich da sein, das ist meine Frau. Und dann habe ich noch Murray Lomax dazugebeten. Er ist der Times-Mann in Brüssel. Sie werden feststellen, daß die Presse recht hartnäckig ist, manchmal sogar nachgerade feindselig. Kann also nicht schaden, ein paar Freunde im Pressekorps zu haben.« Morton erinnerte sich an den Artikel, den Lomax geschrieben hatte, als seine Berufung als Kommissar bekanntgegeben worden war. Er war nicht besonders freundlich gewesen. Aber das hatte er auch nicht erwartet. Nach seiner Erfahrung bedeuteten Journalisten gewöhnlich Ärger. So wollte er zum Beispiel nicht, daß sie herumschnüffelten und Fragen nach Isobel stellten, wann sie nach Brüssel kommen würde und so weiter. Das war seine Angelegenheit und ging sonst niemanden etwas an. Mary Passmore war offensichtlich derselben Ansicht. Als sie sich zum Lunch setzten, steuerte sie das Thema mit großem Feingefühl an. »Lassen Sie uns bitte wissen, wenn wir Ihnen irgendwie bei der Suche nach einem Haus behilflich 63
sein können. Ich habe inzwischen viele Bekannte in Brüssel und bin sicher, daß wir eine Vorauswahl an geeigneten Häusern für Sie zusammenstellen können. In welchem Teil von Brüssel möchten Sie denn gern sein? Hat Mrs. Morton in dem Punkt bestimmte Vorstellungen? Immobilien gibt es genug, aber ich nehme an, wenn Sie nur fünf Jahre hier sein werden, wäre mieten vielleicht günstiger als kaufen.« Vom anderen Ende des Tisches fühlte sie – es war kein Sehen – den warnenden Blick ihres Mannes. Sie fing sich sofort. »Damit will ich natürlich nicht andeuten, daß Sie nicht länger bleiben werden. Ich wollte nur sagen, daß die normale Zeit für einen Kommissar fünf Jahre beträgt. Christopher Tugendhat hat natürlich acht Jahre abgeleistet – aber damals war die Amtszeit vier Jahre, nicht fünf. Ich bin aber nicht sicher, ob Julia so lange bleiben wollte. Und Leon wird, so wie es sich entwickelt hat, am Ende mehr als zehn Jahre hiergewesen sein.« Morton genoß ihre Verlegenheit, wenn man das so nennen konnte. Insgesamt spielte Mary Passmore – Lady Passmore für die Allgemeinheit – ihre Rolle makellos. Der Aufstieg ihres Mannes auf einen der höchsten Posten im diplomatischen Dienst war in keinem geringen Maß der hervorragenden Unterstützung durch Lady P über all die Jahre hinweg zu verdanken. Sie war ziemlich klein – petite war wohl die richtige Bezeichnung, vermutete Morton –, aber sie strahlte eine große Gelassenheit aus, und man spürte an ihr die Fähigkeit, sich mit den Realitäten des diplomatischen Lebens auseinanderzusetzen und sie zu meistern. Vor zwanzig Jahren hatte sie für sich die Entscheidung getroffen, daß ihre Aufgabe darin bestand, alles nur Mögliche zu 64
tun, um Oliver Passmores Karriere zu fördern, selbst wenn das den unvermeidlichen Verzicht auf einige ihrer eigenen Interessen und Ambitionen bedeutete. Und das war ihr in bewundernswerter Weise gelungen. »Ich wollte sagen«, erklärte sie mit einem Lächeln, »daß der Kauf eines Hauses ganz schön mühsam sein kann, ganz besonders in Brüssel, wo man beim Kauf hoch besteuert wird. Sie sollten also sicher sein, daß Sie das auch wirklich wollen.« Morton war nicht so schnell beleidigt. Er hatte zu viele Nachmittage am Gatter eines Viehpferchs verbracht und den Kühen beim Wiederkäuen zugesehen, um sich wegen echter oder eingebildeter Kränkungen seiner Würde aufzuregen. »Ich werde Ihnen für jede Unterstützung dankbar sein. Isobel ist Innendekorateurin, wissen Sie. Brüssel könnte für sie zu einer Herausforderung werden.« »Ah!« murmelte Lady Passmore, die jetzt endlich erfahren hatte, was sie hatte wissen wollen. »Es freut mich wirklich sehr, daß Mrs. Morton Sie begleiten wird. Wir hatten Andeutungen gehört, daß sie vielleicht in England bleiben könnte.« Sie wandte sich Murray Lomax zu. »Ohne Zweifel einer Ihrer Artikel?« Lomax war ein kleiner, rotgesichtiger Mann von etwa fünfundvierzig Jahren. Er hatte sich in Bonn mit präziser und korrekter Berichterstattung einen Namen gemacht, worauf ihn The Times nach Brüssel versetzt hatte, einer Stadt, in der, vom journalistischen Standpunkt aus betrachtet, die Fäden wesentlich verworrener waren und wo es einem immer wieder passieren konnte, daß scheinbar harte Nachrichten sich beim weiteren Bohren als weich erwie65
sen. Trotzdem machte Lomax seine Arbeit Spaß. Er hatte gelernt, die verschiedenen Schichten Brüssels auseinanderzuhalten. Da war zunächst die europäische Dimension mit der Kommission und dem Europarat im Mittelpunkt – das war der Anlaß für seinen heutigen Besuch in der Rue Ducale. Dann gab es die NATO-Dimension, die allerdings in überwiegendem Maße von speziellen Korrespondenten betreut wurde. Und schließlich waren da noch die Belgier, »les Belges«. Lomax hatte bereits gelernt, daß es riskant sein konnte, »les Belges« zu unterschätzen. Wenn man versuchte, in Brüssel zurande zu kommen, ohne sich sozusagen mit den Eingeborenen zu arrangieren, dann ging man das Risiko ein, eine ganze Menge zu verpassen, und Lomax, in dem viele einen zukünftigen Herausgeber der Zeitung sahen, war nicht der Mann, der sich irgend etwas entgehen ließ. Er hielt inne, die Gabel mit einem Stück geröstetem Fasan einige Zentimeter vor den Lippen, und lächelte. »Nicht meine Story. Ich weiß, daß The Times, verglichen mit früheren Jahren, heutzutage manchmal ziemlich pikant sein kann. Aber wenn es sich vermeiden läßt, neigen wir nicht zu Spekulationen.« Er schüttelte in gespieltem Tadel für Mary Passmore den Kopf. Morton war der Mann sofort sympathisch. »Dafür bin ich Ihnen dankbar«, sagte er. Dann wandte er sich wieder seinen Gastgebern zu. »Ich bin sicher, daß es Isobel hier gefallen wird.« Das war Wunschdenken, aber etwas anderes schien er im Augenblick nicht sagen zu können. 66
Zum Abendessen war er wieder in London. Unter normalen Umständen hätte er sich sofort ins Parlament begeben, aber jetzt gab es da eine seltsame Lücke in seinem Leben. Plötzlich hatte er Zeit zur Verfügung und konnte Isobel den Tagesablauf in allen Einzelheiten schildern, beginnend mit seiner Ankunft am Flughafen von Brüssel, dem Lunch bei den Passmores und schließlich der etwas hektischen halben Stunde im Büro eines Immobilienmaklers, der ihm versichert hatte, daß es das allergeringste seiner Probleme sein würde, eine geeignete Behausung zu finden, vorausgesetzt, er war bereit, den entsprechenden Preis dafür zu bezahlen. Isobel hatte gemäßigtes Interesse gezeigt. »Hast du die Breughels gesehen? Es soll dort im Museum ein paar großartige Breughels geben.« Morton seufzte. »Ich fürchte, heute ging es mehr um das Grundsätzliche.« »Hmm. Na ja. Ganz verstehe ich ja immer noch nicht, warum du das machen willst.« Das klang gereizt, fast bitter. Die Dinge in ihrem Leben entwickelten sich doch nicht ganz so, wie sie sich das wünschte. Am Nachmittag hatte Tim Kegan einen verstörten Eindruck gemacht, als sie angedeutet hatte, daß sie mehr Zeit miteinander würden verbringen können, wenn Morton künftig in Brüssel war. Morton seufzte erneut. »Ein britischer Kommissar ist kein Futterkrippenpolitiker. Kein besserer Verwaltungsbeamter. Die Aufgabe eines Kommissars erfordert ein unabhängiges Urteil und unabhängiges Handeln.« Es überraschte ihn selbst, daß er so ernst zu ihr gesprochen hatte, eigentlich hatte er das gar nicht gewollt. Aber Isobel war nicht so leicht zu beruhigen. »Das kannst du dei67
ner Großmutter erzählen. Ich wette, dieser leisetreterische Botschafter hat dich genau da hinbugsiert, wo er dich haben wollte. Du hast mir gerade gesagt, daß er sogar deinen Stabschef ausgesucht hat, Chef de Cabinet oder wie auch immer du ihn nennen willst. Warum hast du ihm denn nicht gezeigt, daß du selbst für dich entscheiden und handeln kannst?« Dabei beließen sie es. Morton bezweifelte, daß sie je alle Feinheiten seines Berufes verstehen würde.
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n der Woche vor Weihnachten flog er nach Köln. Dr. Horst Kramer, der designierte Präsident der Kommission, hatte sein Team zu vorläufigen Gesprächen auf ein Schloß eingeladen, das er sich eigens für diesen Zweck ausgeliehen hatte. Es gehörte einem mit Kramer befreundeten mächtigen Industriellen, wie man Morton zu verstehen gegeben hatte, als er sich nach dem Ort der Veranstaltung erkundigt hatte. Dahinter steckte der Gedanke, daß die neuen Kommissare sich bei gutem Essen und Trinken persönlich wie beruflich näherkommen sollten, um dann ab Januar als Kollegium zusammenzuarbeiten. Ehe er sich nach Köln aufmachte, telefonierte Morton mit Sir Oliver Passmore, um sich zu erkundigen, was es Neues gab, und um von ihm zu hören, was ihn bei der Veranstaltung erwartete. Passmore wählte seine Worte mit Bedacht, so wie er es den größten Teil seines Lebens gehalten hatte. »Wir wissen nicht ganz genau, was Kramer vorhat«, erklärte er. »Vielleicht will er das gleiche tun, was Jacques Delors getan hat, als er damals 1985 designierter Präsident war.« »Und was war das?« »Delors wollte die ›Nacht der langen Messer‹ verhindern, wie sie das nannten. Frühere Kommissionen hatten gewöhnlich ihre Arbeit mit höchst unziemlichen Rangeleien darüber begonnen, wer welche Aufgabe übernehmen 69
sollte. Diese Streitereien dauerten manchmal die ganze Nacht und vermittelten der Presse und der Öffentlichkeit den Eindruck, daß die neuen Kommissare sich wie zänkische Schuljungen benahmen, anstatt sich auf den Aufbau Europas zu konzentrieren. Delors machte dem ein Ende, indem er sie vorher alle zusammenholte – an einem eleganten Kurort in Frankreich, wie Sie unschwer erraten werden – und sie dort mehr oder weniger vor vollendete Tatsachen stellte.« »Und Sie meinen, Kramer könnte etwas Ähnliches versuchen?« Morton stellte sich den pergamentgesichtigen Botschafter vor, wie er, umgeben von seinen chinesischen Schwertern, an seinem Schreibtisch in Brüssel saß. »Ja. Vielleicht wird Kramer sogar noch versuchen, einen Schritt weiter als Delors zu gehen.« »Und was meinen Sie damit?« Der Botschafter am anderen Ende der Leitung klang erfreulich offen. »Genau weiß ich das natürlich nicht. Wir wissen alle nicht besonders viel über Kramer und seine Methoden, abgesehen von der Tatsache, daß er ganz offensichtlich das Ohr des deutschen Bundeskanzlers hat. Sonst wäre er nicht in sein Amt berufen worden. Kramer könnte möglicherweise einige Überraschungen in petto haben.« Sir Oliver Passmore schien die Vorstellung solcher Überraschungen ziemlich erheiternd zu finden. Als Morton den Hörer auflegte, fragte er sich, wieviel Passmore wirklich wußte. Wie er Isobel so häufig zu erklären versucht hatte, gab es immer Nuancen, mehrere Schichten von Bedeutung. Wer zog an welchen Fäden? Wer waren die Marionetten, und wer bewegte sie? Es gab Persönlichkeiten 70
und Institutionen, Motive und Maskeraden. Würde das Wochenende in Deutschland Licht in das Dunkel bringen? Ein Wagen erwartete ihn bei seiner Ankunft am Flughafen. In der Ferne sah er den Kölner Dom, dessen Zwillingstürme hoch über der Stadt aufragten; dann schlugen sie einen weiten Bogen um die Stadt und fuhren in nördlicher Richtung auf der Ringstraße in Richtung auf das Hügelland. Als sie über die Rheinbrücke rollten, sah Morton einen gewaltigen Chemiekomplex, der sich am Flußufer entlangzog und sich über eine halbe Meile landeinwärts erstreckte. Der Anblick war futuristisch, ein Labyrinth aus Tanks und Röhren, gewaltigen Bottichen und Schloten, aus denen Gaswolken strömten. Er ließ das Seitenfenster des Wagens herunter und schnüffelte, erkannte den unverkennbaren Geruch von Reichtum. In England redete man zungenfertig vom Wachstum der Dienstleistungsindustrie – wahrscheinlich, weil es sonst nicht viel Wachstum gab. Aber Leute wie die Deutschen, und ganz besonders die Deutschen, wußten, daß man nie ganz auf Produktion verzichten konnte, und das Herz der modernen Wirtschaft war immer noch die Chemie. Die Deutschen mochten in letzter Zeit einige wirtschaftliche Probleme durchgemacht haben, aber wenn man das Ausmaß der Herausforderung bedachte, die die Wiedervereinigung ihnen gebracht hatte, konnte das kaum überraschen. Die Strukturen, die allem zugrunde lagen, waren gesund. Daran gab es keinen Zweifel. Der Fahrer sah oder spürte, was Mortons Interesse auf sich gezogen hatte. »Das ist Deutsch-Chemie, das größte Chemieunternehmen in Deutschland. Wahrscheinlich eines der größten in der Welt.« 71
Morton ließ das Fenster wieder nach oben gleiten. »Sind Sie Engländer?« »Ire, aber ich verzeihe Ihnen.« Morton musterte das Gesicht des Mannes im Rückspiegel. Er hatte einen rötlichen Teint, aber Morton bezweifelte, daß Fahrer der Kommission im Dienst tranken. »Wie heißen Sie?« fragte er. »Gerry McLoughlin«, erwiderte der Mann. »Wenn ich Sie die nächsten vier Jahre fahren werde, hoffe ich, daß Sie Gerry zu mir sagen werden.« »Wann sind Sie zur Kommission gekommen, Gerry?« »Das war ’73, ob Sie es glauben oder nicht, als Großbritannien und Irland in die Gemeinschaft eintraten. Die brauchten damals Fahrer, also habe ich mich beworben und den Job bekommen. Und seitdem bin ich bei der Kommission. Das ist ein guter Job, man bekommt dabei die besten Wagen zu fahren. Ich bin froh, daß Sie sich für einen Jaguar entschieden haben, Sir. Es ist eine ganze Weile her, daß wir zuletzt einen Jaguar hatten; die anderen britischen Kommissare hielten sich immer an Rover. Ist ja gut, wenn man ein paar britische Autos in der Fahrbereitschaft hat, aber ich halte nicht viel von Rover.« Sie verließen die Autobahn und schlängelten sich durch eine Reihe von Dörfern, die Morton überraschend hübsch fand. Westdeutschland hat eine schlechte Presse, entschied er. Die Leute erwarten dort nur Schwerindustrie und hohe Bevölkerungsdichte. Umweltschäden aller Art. Aber sobald man einmal den Rhein und die Kohlefelder der Ruhr hinter sich gelassen und die reinere Luft der Hügellandschaft erreicht hatte – Berge konnte man sie ja nicht nennen –, 72
war alles völlig verändert. Es war nicht gerade Bayern mit Männern in Lederhosen, Frauen in Dirndln und Kühen mit Glocken um den Hals, aber es war echt; es war authentisch; hier gab es Leute, die ihre Arbeit für richtiges Geld verrichteten, ohne dazu Telefone, Schreibmaschinen, Computer, Kopiergeräte oder das Internet zu brauchen. Plötzlich ging ihm durch den Sinn, daß vier Jahre auf dem Kontinent möglicherweise sogar Spaß machen würden. An Newbury war nichts auszusetzen und an London natürlich auch nicht. Aber Abwechslung konnte einem nie schaden. Er wünschte, Isobel hätte das auch so sehen können. Morton lehnte sich zurück und sah zu, wie die Landschaft draußen an ihm vorbeiglitt, während es allmählich Abend wurde. Sein Vater und sein Großvater hatten gegen die Deutschen gekämpft. Unterschiedliche Kriege, unterschiedliche Waffen, aber derselbe Feind. Und jetzt war er zu einem Schloß auf einer Hügelkuppe über dem Rhein unterwegs, wo ein Deutscher, ja, ein Deutscher, der als nächster Präsident der Europäischen Kommission nominiert worden war, im Begriff war, mit ihm und seinen Kollegen darüber zu reden, wie er vorhatte, Europa zu lenken. Das Ganze entbehrte nicht einer gewissen Ironie. Seine Aktentasche lag auf dem Sitz neben ihm. Er klappte sie auf und holte die Papiere heraus, die man ihm in Vorbereitung dieser ersten, dem gegenseitigen Kennenlernen dienenden Zusammenkunft geschickt hatte. Er nahm sich zuerst das Blatt mit den persönlichen Daten von Dr. Horst Kramer. Wer zur Hölle war dieser Kramer eigentlich? Morton studierte die von der Kommission (mutmaßlich nach Unterlagen, die der Mann selbst geliefert hatte) ausge73
arbeitete Zusammenstellung. Da war zu lesen, daß Kramer 1938 in Mannheim zur Welt gekommen war, in Heidelberg studiert und anschließend noch ein paar Semester in den Vereinigten Staaten zugelegt hatte. Den größten Teil seiner beruflichen Laufbahn hatte er im Bundesverband der Deutschen Industrie verbracht. Man konnte lesen, daß Kramer schließlich zum Präsidenten des BDI gewählt worden war, daß er tatsächlich über fünfundzwanzig Jahre für diese Organisation tätig gewesen war, ehe Deutschland ihn für die Spitzenposition in der Kommission nominiert hatte. Kein Wunder, dachte Morton, daß Kramer ein paar Freunde hatte, die ihm, wenn er das brauchte, für ein Wochenende ein Schloß zur Verfügung stellten. Und seine freundschaftlichen Beziehungen würden sich sicherlich nicht auf Deutschland beschränken. Ob Kramer wohl Gordon Cartwright kannte? Dafür sprach einiges. Er betrachtete die Fotografie, die die Kommission beigelegt hatte. Wieviel konnte man aus einem Gesicht schließen? Ein verbindliches Lächeln. Schwere Brille. Schütter werdendes Haar über einer hohen Stirn. Ein wenig Übergewicht, dachte er, obwohl man das nicht mit Sicherheit sagen konnte. Es fing an, dunkel zu werden. Morton knipste seine Leselampe an und sah sich die anderen Lebensläufe an. Das Durchschnittsalter in der Kommission, so stellte er fest, betrug etwa fünfzig, wobei der doyen d’age der Grieche Dimitrios Kafiri war, während das jüngste Teammitglied ein Spanier mit dem unglaublich aristokratisch und bedeutsam klingenden Namen Ariosto Rivera Azul de Balaquentes war. Der französische Kommissar, Pierre Duchesne, war nur unwesentlich älter als Rivera. Morton hatte von dem 74
Mann gehört und wußte, daß er im Ruf stand, ein brillanter Technokrat zu sein, ein Mann, der einen wesentlichen Beitrag zur Sanierung von Renault, dem kränkelnden französischen Automobilhersteller, geleistet hatte, ehe man ihn für Brüssel nominiert hatte. Kenner der französischen Politik hatten angedeutet, erinnerte sich Morton, daß Duchesnes fünf Jahre in der Kommission nur ein Sprungbrett für einen hohen Regierungsposten sein würden, vielleicht sogar ins Matignon selbst. Die Franzosen hatten offenbar wesentlich optimistischere Vorstellungen über die langfristigen Aussichten eines Kommissars als manche seiner Freunde zu Hause. Morton studierte die Papiere eine Weile, las, was dort stand und – soweit er das konnte – auch zwischen den Zeilen. Häufig waren solche Lebensläufe nicht nur in dem, was sie preisgaben, interessant, sondern auch in dem, was sie verbargen. So wußte er beispielsweise, daß der irische Kommissar, Paddy McGrath, eine äußerst bewegte Vergangenheit gehabt hatte. Aber davon war in den Dokumenten nicht die leiseste Andeutung zu finden. Und Ippolito Camino, der italienische Kommissar, war, wie er sich erinnerte, in den Zusammenbruch der Vatikanbank verwickelt gewesen. Auch davon kein Hauch. Er lächelte. Vielleicht lasen die anderen Kommissare in diesem Augenblick seine eigene Biographie mit ähnlicher Skepsis. Er wandte sich dem kurzen Curriculum Vitae zu, das er vor einigen Wochen eingeschickt hatte. James Morton; das ist Ihr Leben. Wie viele Lügen enthielt das Blatt? Keine, soweit er das feststellen konnte. Aber wenn da in großen Lettern »Minister für Nordirland« stand, war das nicht ei75
gentlich ein wenig übertrieben? Das ließ ihn wie eine Art Statthalter erscheinen, jemand, der die Macht über ferne Ländereien ausübte, während die Realität doch ein wenig anders war. Er war eine Art Juniorminister gewesen und wäre möglicherweise nicht weiter aufgestiegen. Morton hatte keine Zeit, Einzelheiten über die anderen Kommissare zu lesen: den Belgier, den Holländer, den Luxemburger, den Dänen und die Portugiesin (letztere, soweit er das dem Foto entnehmen konnte, eine junge und recht attraktive Frau), weil der Fahrer sich zu ihm herumdrehte und sagte: »Ich glaube, wir sind jetzt gleich da.« Morton legte die Papiere beiseite, schaltete die Leselampe aus und blickte auf, als der Wagen ein wuchtiges steinernes Tor passierte und dann über eine kiesbedeckte Auffahrt auf ein etwa zweihundert Meter entferntes, von Parklandschaft umgebenes und mit Tiefstrahlern hübsch beleuchtetes schmuckes Schloß zurollte. Ein Polizist hielt sie an und ließ sich vom Fahrer Mortons Papiere zeigen. Nachdem er sich Morton, der auf dem Rücksitz saß und sich in hohem Grade verletzbar vorkam – warum schoß der Bursche nicht einfach? –, angesehen hatte, winkte er sie weiter. Zehn Minuten später befand sich Morton in seinem Zimmer und packte aus. »Dinner um acht«, hatte der Butler ihm gesagt, als er das Schloß betreten hatte. »Drinks um viertel acht.« »Meinen Sie viertel nach sieben?« hatte Morton gesagt und dabei auf seine Uhr gesehen. Von einem Butler erwartete man nicht, daß er lächelte, aber der hier lächelte. »Es tut mir leid, Sir, in Deutschland sagen wir viertel acht, 76
wenn wir viertel nach sieben meinen – neunzehn Uhr fünfzehn.« »Vielleicht ist das der Grund, weshalb die Deutschen immer so pünktlich zur Arbeit kommen.« Morton hatte in seinem Leben viel zu oft das Weekend auf Landhäusern verbracht, um sich von einem bescheidenen deutschen Schloß einschüchtern zu lassen. Und er hatte die Erfahrung gemacht, daß man einen Butler immer bei guter Laune halten sollte. Es gab weder bestickte Pantoffeln auszupacken noch steif gestärkte Hemden in Schubladen zu verstauen. Morton reiste mit leichtem Gepäck. Er hängte seinen Anzug auf einen Bügel, nahm ein Bad, schenkte sich aus der wohlbestückten Bar einen Drink ein und setzte sich dann vor den Fernseher, um sich die Sieben-Uhr-Nachrichten anzusehen. Sein Deutsch war bestenfalls lückenhaft, aber als das Bild des Schlosses auf dem Bildschirm erschien und darunter etwas von »EU-Kommission« stand, wußte er, daß EU Europäische Union bedeutete. Ihn überraschte es einigermaßen, daß die Kommission hier auf dem Kontinent, vielleicht ganz besonders in Deutschland, Nachrichtenwert hatte. In seinem Land wurde die Europäische Union von den Medien als ein allenfalls peripheres Phänomen behandelt. Bestenfalls diente sie als Zielscheibe, um sie mit Schlamm zu bewerfen. Er bezweifelte, daß die BBC, falls die zwanzig Kommissare das Wochenende auf Schloß Windsor verbracht hätten, darüber berichtet hätte. Plötzlich war er gut gelaunt. Sich die Nachrichten anzusehen, war eine Sache, selbst Bestandteil davon zu sein, eine völlig andere. Er hoffte, wenigstens ein- oder zweimal während seiner Amtszeit 77
in den Nachrichten zu erscheinen, und wenn es auch nur die deutschen Nachrichten waren. Um Punkt sieben Uhr fünfzehn ging er hinunter. Der Butler, der in der Halle herumstand, wies ihm den Weg in den Salon mit Blick über den Park und den künstlichen See, den mehrere von Scheinwerfern angestrahlte Statuen schmückten. Horst Kramer, der seiner Fotografie sehr ähnelte, stand mitten im Raum und unterhielt sich mit einem älteren Herrn, bei dem Morton vermutete, daß es der Grieche Dimitrios Kafiri war (in seinem Fall hatte die Kommission taktvoll ein Foto geliefert, das ihn etwa zwanzig Jahre jünger erscheinen ließ). Die beiden Männer unterbrachen ihr Gespräch, als er auf sie zuging. »Ah, Mr. Morton, nicht wahr?« Kramer hatte eine tiefe, sonore Stimme. »Hatten Sie eine gute Reise? Der Wagen war doch am Flughafen, nicht wahr?« »Ja, ausgezeichnet.« Morton schüttelte beiden Männern die Hand. »Guten Abend. Kalispera.« Er sprach kaum Deutsch und noch weniger Griechisch, war aber bereit, es zu versuchen. Beide Männer lachten. Kramer winkte den Butler heran. »Whiskey? Champagner? Oder vielleicht ein Glas Wein? Wir müssen schließlich etwas wegen des Weinsees tun! Er trocknet anscheinend nie ein!« Kramer lachte laut und teutonisch über seinen eigenen Witz. Morton vermutete, daß er ihn nicht zum erstenmal machte und wahrscheinlich auch nicht zum letztenmal. Er entschied sich für Whiskey. Er nahm gern Wein zu den Mahlzeiten, aber nicht vorher. Und Champagner 78
fiel zu unterschiedlich aus. Manchmal konnte er köstlich sein, und dann wieder bekam man einen trockenen Mund und Kopfschmerzen davon. Der Raum füllte sich, während sie sich unterhielten. Morton musterte seine Kommissionskollegen mit Interesse. Sie waren alle neu, aber im Gegensatz zu Neulingen auf der Schule würden diese Leute alle gleich als Präfekten anfangen. Mit Ausnahme von Neil waren nur zwei von ihnen, der Ire Paddy McGrath und der Grieche Kafiri, schon einmal Kommissar gewesen. Die anderen waren genauso grün wie er. Als Kramer sich von ihm abgewandt hatte, um die neuen Gäste zu begrüßen, wandte er sich seinem dänischen Kollegen zu, einem rotgesichtigen Mann Ende Sechzig, der früher einmal Wirtschaftsminister seines Landes gewesen war. »Mein Name ist Jurgen Larsen.« »Ich bin James Morton.« Morton hatte immer etwas für die Dänen übrig gehabt. In England gingen Wikinger und Normannen sehr früh in das historische Bewußtsein der Schulkinder über, was dazu führte, daß sich ein Teil der Legende auf die heutigen Bewohner Skandinaviens übertrug. »Die Angeln, Sachsen und Juten werden in dieser neuen Kommission eine Minderheit darstellen«, sagte Morton. Larsen lachte. »Als man Spanien und Portugal aufnahm, hat das ganz sicherlich den Charakter der damaligen EWG verändert; der Schwerpunkt hat sich zum Mittelmeer hin verschoben. Aber jetzt haben wir zum Ausgleich die Finnen, die Schweden und die Österreicher. Ich glaube nicht, daß Kramer zulassen wird, daß die Dinge außer Kontrolle geraten.« 79
»Sie kennen Kramer?« »O ja«, erwiderte Larsen. »In meiner Ministerzeit in Dänemark hatte ich, wie Sie sich vorstellen können, häufig mit den Deutschen zu tun. Als Kramer den Bundesverband der Deutschen Industrie führte, war er ein wichtiger Machtfaktor.« Morton sah, wie der Deutsche sich am anderen Ende des Raums zielbewußt von einer Gruppe zur nächsten bewegte, jedes einzelne Mitglied seines künftigen Teams begrüßte und dafür sorgte, daß niemand allein in einer Ecke herumstand. Er strahlte Selbstbewußtsein und zugleich eine gewisse Gutmütigkeit aus. Ein starker Mann, dachte Morton; überraschend behende und wahrscheinlich auch ein schneller Denker. Ein Mann von der Art, wie ihn die Kommission brauchte. »Ja, das kann ich mir vorstellen«, sagte er. Ein Gongschlag kündigte an, daß das Essen bereit war; die vertäfelten Türen an einem Ende des Salons wurden geöffnet, und die Kommissare traten der Reihe nach ein. Paul, der Butler, erwartete sie mit einem silbernen Tablett, auf dem zwanzig Namenskärtchen entsprechend der Sitzordnung an der Tafel angeordnet waren. Morton fand sich am Kopfende der Tafel mit dem Dänen zu seiner Rechten und dem Griechen zu seiner Linken. Kramer hatte in der Mitte, mit dem Rücken zum Fenster, Platz genommen. Die anderen Kommissare waren ohne für ihn erkennbares System um die Tafel verteilt. Er wandte sich Larsen zu. »Weiß Mrs. Larsen, was sie sich entgehen läßt?« Der Däne lächelte betrübt. »Meine Frau ist leider letz80
tes Jahr gestorben. Aber eine solche Veranstaltung hätte ihr wahrscheinlich keinen Spaß gemacht. Wir Dänen halten nicht viel von Förmlichkeiten. Wir sind recht einfache Leute, wissen Sie.« Morton spürte, wie er sich für den Mann erwärmte. Larsen würde sicherlich ein Verbündeter in der Kommission sein, falls er je Verbündete brauchte. Der Mann war ganz offensichtlich gradlinig und unkompliziert. Der Grieche zu seiner Linken war da bestimmt eine härtere Nuß. Er lebte, wie es schien, sehr in der Vergangenheit und redete voll Leidenschaft von Ereignissen und Menschen wie Venezelos und der Schlacht von Inonu, was Morton beides wenig sagte. Kafiri war ein alter Mann, und das merkte man auch. Er war zwanzig Jahre lang Bürgermeister von Pyrgos gewesen, unweit von Olympia auf dem Peloponnes. Er war alle vier Jahre zu dem heiligen Ort gefahren und hatte in einer bewegenden kleinen Feier die Flamme entzündet, die dann durch die ganze Welt nach Tokio, Los Angeles, Montreal oder Seoul getragen wurde – wo auch immer die Olympischen Spiele gerade stattfanden. »Wie geht es denn Fitzroy McLean?« fragte Kafiri. »Wir haben zusammen in den Bergen von Albanien gekämpft. Er hat mich einmal in Pyrgos besucht.« Morton erklärte ihm, daß es um Fitzroy McLean ziemlich ruhig geworden war. Als sie etwa in der Mitte des ersten Ganges waren, klopfte Horst Kramer an sein Glas und erhob sich. Er schob seinen Stuhl zurück und wartete reglos, bis Stille eingetreten war. »Meine Herren Kollegen«, begann Kramer, »wenn ich heute hier stehe, bin ich mir der langen Tradition bewußt, 81
die hinter mir liegt. Ich bin mir der illustren Männer bewußt, die vor mir den Posten bekleidet haben, den ich jetzt einnehme … Jean Rey, Walter Hallstein, Mansholt, Malfatti, Ortoli, Roy Jenkins, Gaston Thorn, Jacques Delors, Jacques Santer. Es ist dies eine stolze Tradition, und ich werde mein Bestes tun, um sie fortzusetzen. Wir alle sind heute Teil jener Tradition. Männer – und Frauen« – er neigte den Kopf leicht vor der weiblichen Kommissarin –, »die sich entschlossen haben, sich dem Dienst an Europa zu widmen. Denn heute haben wir uns hier natürlich nicht als Vertreter unserer Nationen versammelt, nicht als Delegierte unserer jeweiligen Staaten, sondern als Diener am europäischen Ideal.« Er hielt inne. »Ich kann diesen Punkt gar nicht genug betonen. Manche Leute scheinen der Ansicht zu sein, die Kommission sei nur ein weiterer Zweig des Europarates, ein Gremium, in das die Mitgliedstaaten ihre Männer und Frauen entsenden, damit sie dort ihren Anweisungen folgen. Bei meiner Kommission wird das nicht der Fall sein.« Und um dem Nachdruck zu verleihen, schlug er mit der Hand auf den Tisch. Morton musterte die Gesichter seiner Kollegen, während Kramer redete. Wie viele glauben wohl das, was Kramer gerade sagt, überlegte er. Irgendwann im Januar, wenn die neue Kommission die Arbeit aufnahm, würden sie alle nach Luxemburg strömen und in Gegenwart der erlauchten Mitglieder des Europäischen Gerichtshofes ihren Eid ablegen. Aber würde irgendeiner von ihnen in der realen Welt die Tatsache je ganz aus seinem Bewußtsein verdrängen können, daß sie von Regierungen nominiert worden waren? Obwohl die Regierungen sie, sobald sie einmal ernannt wa82
ren, nicht mehr aus ihrem Amt abberufen konnten, würden sie doch auch daran denken, daß einmal der Zeitpunkt kommen würde, wo ihr Mandat erneuert werden mußte. Dennoch hörte er Kramer aufmerksam zu, und was er hörte, gefiel ihm. Der Gedanke, hier auf eigenen Beinen zu stehen, reizte ihn. Wenn der Premierminister etwa glaubte, er habe ein Schoßhündchen nach Brüssel gesandt, dann würde er sich noch wundern. Die Frage seiner Zuständigkeit war noch offen. Vor seiner Abreise nach Deutschland war die Lage diesbezüglich noch recht unklar gewesen. Das Foreign Office behauptete nach wie vor, daß sie sich mit Nachdruck über alle geeigneten Kanäle (was auch immer das bedeuten mochte) um das Ressort bemühten, das er haben wollte. Aber es war noch zu keiner Entscheidung gekommen. »Meine Herren Kollegen.« Morton bemerkte, daß der Tonfall Kramers sich verändert hatte. »Ich weiß, Sie warten jetzt alle darauf, daß ich über die Ressortverteilung in meiner Kommission sprechen werde, und deshalb will ich Sie nicht länger auf die Folter spannen.« Er lachte. »Ebenso wie mein Vorgänger, Jacques Delors, möchte ich die Bitterkeit und die Unstimmigkeiten vermeiden, die diesen Vorgang häufig gekennzeichnet haben. Wenn wir unsere Arbeit als Kollegen fortsetzen sollen, müssen wir sie auch als Kollegen beginnen. Ich will keine Nacht der langen Messer, ich will nicht all das Blut auf dem Boden nach einer Sitzung, die die ganze Nacht in Anspruch nimmt. Jeder von Ihnen wird vor sich auf seinem Platz einen verschlossenen Umschlag mit seinem Namen vorfinden. Ich möchte Sie jetzt bitten, diesen Umschlag zu öffnen, die darin enthaltene Karte her83
auszunehmen und zu lesen, was auf ihr steht. Sie finden dort die Bezeichnung des Ressorts oder in manchen Fällen auch der Ressorts, die nach meiner Ansicht am besten zu Ihren besonderen Fähigkeiten oder Ihrer bisherigen Tätigkeit passen. Bitte«, drängte er sie, »und während Sie das tun, kann ich mich wieder dem Essen widmen!« Wieder dieses kehlige Lachen. Es war wie ein Spiel auf einer Party, dachte Morton, als er nach seiner Karte griff. Eine Art Lotterie, bei der die Preise schon vorher festgelegt worden waren. Er öffnete den Umschlag, der vor ihm lag, und entnahm ihm eine grüne Karte, in die das große griechische E eingeprägt war, das die Gemeinschaft sich als Symbol Europas ausgewählt hatte. Ein einziges Wort stand in Schreibmaschinenschrift auf der Karte: INDUSTRIE. Er spürte förmlich, wie er blaß wurde. Diese Blödmänner! dachte er. Diese unfähigen Blödmänner! Sie hatten ihm zugesichert, so gut wie fest versprochen, daß er eines der großen Ressorts bekommen würde; das war einer der Gründe gewesen, daß er sich einverstanden erklärt hatte, auf den verdammten Kontinent zu gehen. Was für ein Spiel hatte Evans getrieben? War Passmore informiert? Er hätte sie alle abknallen können. Er wollte gerade seinem Zorn und seiner Verbitterung Luft machen, als Kramer sich wieder erhob. »Ich hoffe, nicht zu viele von Ihnen sind unangenehm überrascht. Ich habe mir Mühe gegeben, alle Faktoren in Betracht zu ziehen. Wie Sie sich vorstellen können, hätte ich jetzt ungern eine Diskussion, weil ich nicht der Meinung bin, daß eine Diskussion uns nützen könnte. Dies ist die Ressortverteilung, die ich vornehmen möchte. Aber selbstverständlich kann es 84
Detailfragen geben. Ah, ich sehe, unser spanischer Kollege hat ein Problem.« Ariosto Rivera Azul de Balaquentes wedelte mit seiner Serviette, um den Kommissionspräsidenten auf sich aufmerksam zu machen. »Sí, Señor«, nahm Kramer die Unterbrechung zur Kenntnis. Aus der Stimme des jungen Spaniers klang die kalte Wut; er hatte beide Hände vor sich auf dem Tisch zu Fäusten geballt. »Informationspolitik! Was ist Informationspolitik? Das ist keine Aufgabe für den spanischen Kommissar. Ich kann meinen Landsleuten nicht sagen, daß man Ariosto Rivera Azul de Balaquentes, Sproß der ältesten Familie des Landes, aufgefordert hat, sich um Information zu kümmern. Ich bin nach Brüssel gekommen, um zu handeln, nicht um zu reden. Um der Ehre meines Landes willen fordere ich in aller Form ein anderes Ressort. Ich werde den Raum verlassen, während Sie darüber diskutieren.« Er stand auf, stieß seinen Stuhl zurück und stelzte mit bleicher Miene aus dem Saal. Vierhundert Jahre früher war ein anderer Rivera Azul de Balaquentes als Kapitän eines Schiffs in der großen spanischen Armada samt Schiff im Meer vor Plymouth untergegangen. Heute wäre er auf seinen entfernten Nachfahren stolz gewesen. Morton sah ihm nach. Zum Teufel, dachte er. Wenn er das kann, kann ich das auch. Er schwankte am Rande des Protests, begann schon seinen Stuhl nach hinten zu schieben und räusperte sich, wie um zum Reden anzusetzen. Drei Dinge hielten ihn davon ab. Das erste war ein natürliches Widerstreben, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Im Gegensatz zu dem Spanier hielt Morton nicht viel 85
von Feuerwerk, betrachtete sich insgesamt nicht als einen Exhibitionisten; die Jahre, die er auf einer Public School in England verbracht hatte, hatten ihn gelehrt, Exzesse jeder Art zu vermeiden. Der zweite Faktor, der ihn zögern ließ, war das Gefühl, daß er, wenn er jetzt protestierte, am Ende vielleicht ein noch schlechteres Ressort bekommen würde. Kramer war offenbar recht geschickt; wenn Morton das Industrieressort ablehnte, könnte der designierte Präsident einen Tausch mit dem Informationsressort vorschlagen, und dann würde er vom Regen in die Traufe kommen. Auf die Unterstützung seiner Kollegen konnte er nicht zählen. Das Vereinigte Königreich hatte im Laufe der Jahre im gemeinsamen Markt der Europäischen Gemeinschaft oder, wie sie heute hieß, der Europäischen Union gewonnen. Dafür hatte die starre Taktik der jeweiligen britischen Regierung, besonders 1980, als es um das Budget der Gemeinschaft ging, und bei der BSE-Krise in den neunziger Jahren gesorgt. Morton hatte auch keine Zeit gehabt, persönliche Bedürfnisse zu schmieden, auf die man sich in einer Krise verlassen konnte. Am Ende würde die Kommission darüber abstimmen, und es stand keineswegs fest, daß das Votum zu seinen Gunsten lauten würde. Der dritte Grund zur Vorsicht war die Tatsache, daß Kramer selbst, obwohl ihn Riveras Ausbruch einen Augenblick lang verblüfft hatte, wieder das Wort ergriffen hatte – diesmal, ohne sich zu erheben. Er setzte sichtlich seine ganze Überredungskraft ein, wohl wissend, daß es, obwohl er seine Autorität von Anfang an behaupten mußte, auch notwendig war, eine gewisse Sensibilität – ja sogar Flexibilität 86
zu zeigen. Er würde sie nicht mit einer Eisenstange, sondern mit einem Polyesterstab regieren. »Meine Herren Kollegen«, appellierte er in besänftigendem Tonfall an sie. »Wenn sonst niemand Probleme mit seinem Ressort hat« – sein strenger Blick wanderte um die Tafel; er wartete auf ihre Äußerung, ließ aber gleichzeitig erkennen, daß er keinen Widerspruch hören wollte –, »denke ich, sollten wir uns alle mit der von Señor Rivera aufgebrachten Frage befassen. Ich kann durchaus verstehen«, fuhr er fort, »daß unser spanischer Freund offenbar gewisse sehr präzise Probleme mit dem von mir vorgeschlagenen Ressort hat. Wenn ich überlege, kann ich, da ich die Gefühle seiner Landsleute und den historischen Stolz jener iberischen Rasse kenne, durchaus begreifen, daß ihm die Verantwortung für die Informationspolitik der Union für sich allein betrachtet keine hinreichende Herausforderung zu sein scheint. Ich selbst teile diese Bewertung natürlich keineswegs. Wenn wir uns den Menschen draußen in der Welt präsentieren wollen, wenn wir uns selbst den Menschen innerhalb der Union besser darstellen wollen, sind Information und Kommunikation von entscheidender Bedeutung. Dennoch kann ich nachvollziehen, was Señor Rivera empfindet, und bin der Ansicht, daß wir etwas unternehmen sollten.« Er hielt inne. »Vielleicht kann ich selbst den Anfang machen. Als Präsident der Kommission habe ich mir selbst die Verantwortung dafür vorbehalten, künftige Erweiterungsverhandlungen maßgeblich zu überwachen. Wir sind heute eine Union aus fünfzehn Nationen. Aber andere Länder, nicht nur im Osten, klopfen an unsere Tür. Selbst die Türkei 87
ist immer noch ein offizieller Kandidat. Ich beabsichtige, das Erweiterungsressort unserem spanischen Kollegen zu übergeben.« Horst Kramers Miene war unbewegt, als er seine letzte Bemerkung über die Türkei machte. Einige der anderen allerdings konnten ein Lächeln nicht unterdrücken. Insbesondere Dimitrios Kafiri fand die Vorstellung, die Türkei könne in die Union aufgenommen werden, alles andere als komisch. »Herr Vorsitzender, ich vertraue doch darauf, daß die Haltung Griechenlands in dieser Angelegenheit völlig klar ist. Sie wissen, daß mein Land einem Eintritt der Türkei in die Europäische Union nie zustimmen wird.« »Bei seinen Beitrittsverhandlungen hat Griechenland sich aber anders geäußert«, erinnerte Kramer ihn mit einem Anflug von Schärfe. Kafiri war ein zu schlauer Fuchs, um sich davon einschüchtern zu lassen. »Was man sagt, wenn man einem Club beitreten will, ist eine Sache«, meinte er. »Wie man sich dann verhält, wenn man einmal Mitglied ist, ist eine völlig andere.« Seine Bemerkung wurde mit allgemeinem Gelächter aufgenommen. Das löste die Spannung. Kramer wußte jetzt, daß er sie dort hatte, wo er sie haben wollte. »Ist sonst noch jemand bereit, einen kleinen Teil seines Ressorts abzugeben?« Morton hatte schon auf der Zunge, daß Ariosto Rivera Azul de Balaquentes gern das Industrieressort haben konnte und seine besten Wünsche obendrein, aber Kramer schien seinen Blick nicht wahrzunehmen. Statt dessen sah der Deutsche hartnäckig zum anderen Ende der Tafel, wo der 88
irische Kommissar Paddy McGrath neben Pierre Duchesne, dem Franzosen, saß. »Mr. McGrath?« Kramers Stimme klang locker, beinahe, als wolle er etwas Witziges sagen, aber sein Blick war ernst. »Wie wäre es, wenn Sie unserem spanischen Kollegen die Verantwortung für Verbraucherangelegenheiten überließen? Sie hätten dann immer noch Energie und Waldwirtschaft.« »In Irland gibt es keine Wälder«, erwiderte McGrath beinahe schroff. »Deshalb weiß ich nicht, warum man mir die Verantwortung für die Waldwirtschaft gibt. Aber ich habe sie wohl. Aber, ja, wenn er das Verbraucherressort haben will, dann soll er es haben. Er soll bloß die Finger davon lassen, wie wir unser Guinness brauen.« Sein Gesicht hellte sich auf. Er lächelte breit. »Wenn Sie wollen, hole ich ihn und überbringe ihm die gute Nachricht. Information, Verbraucherangelegenheiten und Erweiterung – damit sollte man doch leben können.« Ein paar der Anwesenden klatschten Beifall. Paddy McGrath hatte ganz offenkundig Spaß daran, die Rolle des »good ole boy« zu spielen. Als er ihm zusah, wie er aufstand, um Rivera zu holen, überlegte Morton unwillkürlich, ob es an McGrath nicht auch noch andere Seiten gab. Als der Spanier sich einige Augenblicke später wieder zu ihnen gesellt hatte, herrschte ringsum Friede und Harmonie. Morton wußte, daß die Gelegenheit zum Protest vorbei war. Der Handel war in dem Augenblick unterzeichnet und besiegelt gewesen, als sie zugelassen hatten, daß Paddy McGrath den Raum verließ, um Spanien die gute Nachricht zu überbringen, und Rivera dann seinerseits seine Bereitschaft zur Annahme erklärt hatte. Schließlich war es ein formeller Pro89
test gewesen, eine Angelegenheit des Nationalstolzes, nicht mehr. Ariosto Rivera Azul de Balaquentes war nicht dumm. Er wußte sehr wohl, daß die Verhandlungen über zusätzliche Erweiterungen der Union sehr schwierig sein würden, selbst wenn man einmal von der Türkei absah, und für die Rolle der Verbraucher in der Europäischen Union interessierte er sich nicht mehr, als Paddy McGrath darauf erpicht gewesen war. Aber drei Ressorts klangen besser als eines. Das würde sich in Palomares verkaufen lassen. Als nach dem Fisch der Fleischgang aufgetragen wurde, fand Morton sich damit ab, daß er der für Industriebelange zuständige Kommissar war, und beschloß, das Beste daraus zu machen. Nach dem Essen fand er sich wieder im Gespräch mit Horst Kramer. Sie waren aus dem Speisesaal in den Salon zurückgekehrt. Die meisten Kommissare waren jetzt sichtlich entspannter als zu Beginn des Abends. Kramer hielt eine dicke Zigarre wie seinen persönlichen Schornstein in der Hand und gestikulierte damit, um seine Worte zu unterstreichen. »Ich bin wirklich froh, daß Sie bereit waren, das Industrieressort zu übernehmen, Mr. Morton. Ich kann Ihnen dazu im Vertrauen sagen, daß die britische Regierung großen Wert darauf gelegt hat. In London weiß man sehr wohl, wie wichtig dieses Ressort ist.« Er griff nach Mortons Arm, schob ihn zu den breiten Glastüren, durch die man auf den Schloßpark hinausblicken konnte, und fügte dann etwas leiser hinzu: »Es gab andere, die sich darum bemüht hatten, das kann ich Ihnen sagen, Leute, die diese Zuständigkeit nicht richtig gesehen hätten.« Ehe Morton fragen konnte, was er mit »richtig sehen« meinte, war Kramer weitergegangen, bemüht, noch ein90
mal mit jedem Mitglied seines Teams ein paar Worte zu wechseln. Als Morton an jenem Abend zu Bett ging, war er recht nachdenklich. Weshalb hatte die britische Regierung sich um das Industrieressort bemüht, ohne ihm Bescheid zu sagen? Weshalb hatte Kramer dem zugestimmt? Seinem Wissen und seiner Erfahrung hinsichtlich der industriellen Probleme Europas konnte das kaum zuzuschreiben sein. Er zog die Hose aus und hängte sie über einen Brokatsessel, ging dann ins Bad, wusch sich das Gesicht und putzte sich die Zähne. Sollte sie doch alle der Teufel holen, dachte er. Welche Motive auch immer dieser Entscheidung zugrunde lagen, mochten sie nun unklar sein oder nicht, Tatsache war, er war en poste und hatte vor, verdammt gute Arbeit zu leisten. Was sein Amt von ihm verlangen würde, wußte er nicht, aber das würde er ja bald genug herausfinden. Er hatte noch im Ohr, was dieser aufgeblasene alte Kaplan immer in der Kapelle des Unterhauses zu sagen pflegte: »Für den Tag genügt sein Böses …« Am nächsten Morgen stand er bereits früh auf und machte vor dem Frühstück einen Spaziergang im Schloßpark. Eine hochgewachsene hagere Gestalt mit hochgeschlagenem Mantelkragen, den Hut fest auf dem Kopf, kam ihm in entgegengesetzter Richtung um den See entgegen. Morton kannte den Mann nicht, und an dem Dinner gestern abend hatte er ganz sicher nicht teilgenommen. »Guten Morgen«, sagte er. »Guten Morgen.« Der andere hob den Hut. Morton registrierte eine hohe Stirn, scharfgeschnittene Züge und tiefliegende Augen, die selbst bei dieser ersten Begegnung 91
Klugheit und Humor erkennen ließen. Der Mann streckte ihm die Hand entgegen. »Ich bin Leopold Brugmann, der Generalsekretär der Kommission.« »Ah ja, natürlich.« Morton hielt ihm die Hand hin. Das war also Brugmann, der Mann, der praktisch sein ganzes Leben lang in verschiedenen Institutionen der Gemeinschaft gearbeitet hatte und dem der Ruf voranging, alles zu wissen, was man überhaupt über das Funktionieren des Gebildes Europa wissen konnte; ein belgischer Aristokrat, der darauf stolz sein konnte, ein Schüler Henri Spaaks zu sein, und der auf seine eigene ruhige, bescheidene Art seinem Herrn und Meister durchaus ebenbürtig geworden war. »Es freut mich außerordentlich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, fügte Morton hinzu. »Ich hatte Sie gestern abend beim Dinner erwartet.« Brugmanns melancholisch und müde blickende Augen umgaben sich plötzlich mit einem feinen Netz von Lachfältchen. »O nein. Am ersten Abend müssen die Kommissare unter sich sein. Der Generalsekretär kennt seinen Platz. Und ich komme auch am nächsten Tag nie zum Frühstück. Auf die Weise ist klar, falls es am Vorabend Krach gegeben hat, daß ich nicht daran beteiligt war. Der Generalsekretär ist bemüht, seine Objektivität zu bewahren.« Er lachte. »Aber Sie hatten einen guten Abend?« Morton argwöhnte, daß der Belgier bis ins Detail über alles informiert war, was am vergangenen Abend geschehen war. »Es gab da eine kurze Phase, wo unser spanischer Kollege, Señor Rivera, den Eindruck machte, als sei er von seinem Ressort nicht gerade begeistert, aber dafür haben wir dann eine Lösung gefunden.« 92
Wieder das Lächeln, einfühlsam, wissend, beinahe weltverdrossen. »Ah. Spanien. Ich habe immer gewußt, daß es mit Spanien Probleme geben würde. Die Leute in Spanien sind völlig anders. Wir aus den Niederlanden wissen das sehr wohl. Schließlich hat uns Spanien jahrhundertelang regiert. Ich hatte Kramer gewarnt, daß ein Ressort allein nicht ausreichen würde. Und Sie selbst, Mr. Morton, sind Sie zufrieden mit Ihrer Aufgabe? Das war in hohem Maße Dr. Kramers eigene Entscheidung. Ich hatte damit nichts zu tun. Das müssen Sie mir glauben.« Brugmann sprach mit großem Ernst, als versuche er, eine verschlüsselte Botschaft zu vermitteln oder sogar – wer weiß? – eine Warnung. Ein Rudel Gänse, das von Dänemark herunterkam, landete unter großem Gezeter auf der ruhigen Oberfläche des Sees vor ihnen. Morton beobachtete die Vögel, wie sie die letzten paar Sekunden vor dem Aufsetzen mit flatternden Flügeln und mit den Füßen schlagend in der Luft hingen. Ihn überkam das Bedürfnis, offen zu sein. »Für mich wird das eine schwierige Aufgabe sein. Ich bin nicht sicher, ob ich genug darüber weiß. Mich hat die Ernennung selbst überrascht.« Leopold Brugmann – Graf Leopold Brugmann, um ihm seinen Titel nicht vorzuenthalten, wie man ihn in High Life, dem unersetzlichen Gesellschaftsregister Belgiens, finden konnte – schüttelte ihm ein zweites Mal die Hand. »Sie können jederzeit auf meine Hilfe zählen, dazu bin ich da.« »Ich danke Ihnen.« Morton meinte das aufrichtig. Die Kommission selbst, das war ihm bereits klargeworden, würde ein Dschungel sein. An der Oberfläche waren sie alle Kollegen; auf dem Papier – und für die Welt draußen – han93
delten sie als ein »Kollegium«. Aber innerhalb des Hauses würde es harte Rivalitäten und Spannungen geben, bei denen die Schwächeren, so wie das immer der Fall gewesen war, an die Wand gedrängt wurden. Es würde gut sein, einen Mann zum Freund zu haben, der ein Leben lang gedient und es fertiggebracht hatte, über die meisten, wenn nicht alle persönlichen Ambitionen hinauszuwachsen. »Lassen Sie uns zusammen zurückkehren«, sagte er. »Inzwischen muß es Zeit für das Frühstück sein.« Brugmann zog sich den Mantel über den Schultern zusammen. »Brrr, ist das kalt. Wahrscheinlich haben Sie recht. Vermutlich werden Sie heute sogar ein englisches Frühstück bekommen. Kein kontinentales, so wie Sie das nennen.« Morton lachte. »Das Nordseeöl mag ja langsam zur Neige gehen, aber unser grandioses englisches Frühstück haben wir immer noch.« Einige der anderen Kommissare hatten sich bereits im Frühstücksraum versammelt. Wahrscheinlich hatte es, so wie bei den Gänsen auf dem See, eine Menge Geschnatter und Geflatter gegeben, als sie zur Landung ansetzten. Aber jetzt speisten sie ruhig und friedlich. Als sie das Schloß erreicht hatten, hatte Brugmann sich entschuldigt und gesagt, er müsse vor der für den Vormittag angesetzten Arbeitssitzung mit Kramer sprechen. »Bis später dann«, hatte Morton sich von ihm verabschiedet. Er setzte sich mit dem Dänen und dem Griechen an einen Tisch. Paul hatte heute morgen Dienst. »Guten Morgen, Paul.« »Guten Morgen, Sir. Was möchten Sie zum Frühstück?« »Speck, zwei Spiegeleier und die Financial Times.« Wenn 94
er schon Industriekommissar sein sollte, würde er sich auch dementsprechend verhalten. Die restlichen Kommissare tröpfelten kleckerweise herein. Morton staunte immer wieder darüber, wieviel das Frühstück doch über die Persönlichkeit eines Menschen verriet. Es gab Leute, die sich so früh am Tage überhaupt nicht in der Öffentlichkeit sehen ließen – was vielleicht ein Hinweis darauf war, daß sie das Gesicht, das sie der Welt am frühen Morgen zeigten, entweder nicht mochten oder ihm nicht vertrauten. Andere waren so wortkarg, daß es schon an Verschlossenheit grenzte; versteckten sich hinter ihren Zeitungen und antworteten kaum, wenn man sie ansprach. Wieder andere – Morton nahm an, daß er zu dieser Gruppe zählte – blickten der Mahlzeit mit einer an Begeisterung grenzenden Freude entgegen. Für sie war das der erste Schritt dazu, sich ernsthaft mit dem bevorstehenden Tag auseinanderzusetzen. Gewöhnlich fühlte er sich beim Frühstück sehr wohl. Schließlich brauchte man keine Zeit darauf zu vergeuden, eine Speisekarte zu studieren, und sich auch nicht darum zu bemühen, den Kellner auf sich aufmerksam zu machen. Als er dann mit seinen Spiegeleiern und dem Speck beschäftigt war, nahm er einen Hauch von teurem Parfum wahr, und als er aufblickte, sah er die portugiesische Kommissarin, Helena Noguentes. In einem kurzen Gespräch vor dem Dinner am vergangenen Abend war Morton von Helenas Charme und ihrer Intelligenz angenehm beeindruckt gewesen. Aus den Unterlagen, die man verteilt hatte, wußte er, daß sie fünfunddreißig war und vor ihrer Berufung Bürgermeisterin von Porto gewesen war. Er erinnerte sich, daß sie beim 95
Dinner eine cremefarbene Seidenbluse mit hohem Kragen getragen hatte, die einen reizvollen Kontrast zu ihrem schulterlangen schwarzen Haar gebildet hatte. Jetzt trug sie ein hervorragend geschneidertes Kostüm. Er erhob sich und schob dabei seinen Stuhl zurück. »Bitte, bleiben Sie sitzen«, begrüßte sie ihn mit einem Lächeln. »Normalerweise komme ich nicht herunter, aber der Tag heute schien mir zu schön, um in meinem Zimmer zu bleiben.« Auf dem Tisch war Aufschnitt angerichtet: Frühstück nach deutscher Art. Morton hielt Helena, die rechts von ihm Platz genommen hatte, die Platte hin, aber sie lehnte ab. »Ich halte mich an Kaffee und Croissants.« Anschließend machten sie sich alle an die Arbeit. Sie versammelten sich in der Bibliothek im Ostflügel des Schlosses, einem düsteren Saal mit ledergebundenen Folianten, unter denen sich, wie Morton erfahren hatte, eines der drei existierenden Exemplare der Freiburger Bibel und die erste gedruckte Version von Martin Luthers Kommentar zum Brief des heiligen Paulus an die Römer befanden. Einige Dürer-Stiche hingen an den Wänden, und am vorderen Ende des langen Saals konnte man ein geschickt angestrahltes Triptychon von erlesener Qualität bewundern. Die Mittelplatte zeigte Christus am Kreuz, während die Flügel Heilige und Jünger in unterschiedlicher Kleidung, aber alle in trauernder Haltung zeigten. Morton, der mehr als beiläufig an Kunst interessiert war, erkannte, daß es sich um ein mittelalterliches deutsches Gemälde von hohem Wert handelte. 96
»Wissen Sie, von wem das ist?« fragte er seinen italienischen Nachbarn, Ippolito Camino, als er an dem langen, breiten Tisch, der die Mitte des Raums beherrschte, Platz nahm. Camino war ein Italiener der alten Schule und im Lauf eines langen Lebens weit herumgekommen. Mittelalterliche Gemälde in Siena, in Arezzo oder hier im nördlichen Deutschland waren für ihn so etwas wie tägliches Brot. Die Leute redeten heute von der Europäischen Union, als ob das eine kühne neue Entwicklung wäre. Aber Camino blickte auf eine Tradition zurück, wo Europa durch den Geist der Menschen, durch den Umgang der Gelehrten miteinander und den Austausch künstlerischer Ideen vereint gewesen war. Damals waren die Alpen weniger eine Grenze gewesen, als sie das heute waren. »Ein früher Schongauer«, erwiderte er, »ein Vorläufer des berühmten Altaraufsatzes von Colmar.« Morton war beeindruckt. Als sie um den Tisch herum Platz genommen hatten, eröffnete Kramer die Sitzung. Er wirkte frisch und rosagesichtig, fast engelhaft, dachte Morton. Wenn das Licht in einer bestimmten Art auf seine Brille fiel, konnten seine Augen freilich eher drohend als unschuldig blicken. »Ich werde nicht wieder eine Rede halten«, begann Kramer, »jedenfalls keine lange. Vielleicht könnte ich diesen Morgen damit einleiten, daß ich sage, was ich gestern abend nicht gesagt habe, nämlich, daß wir alle dem Besitzer dieses herrlichen Anwesens, Ludwig Ritter, dafür dankbar sein müssen, daß er uns sein Heim für dieses Wochenende zur Verfügung gestellt hat. Da dies unser erstes offizielles 97
Treffen als Kommission ist und wir heute unseren hochgeschätzten Generalsekretär bei uns haben« – er wandte sich zur Seite und nickte Leopold Brugmann, der neben ihm saß, freundlich zu –, »denke ich, sollten wir im Protokoll dieser Sitzung vermerken, daß wir Herrn Ritter für seine Gastfreundschaft danken.« »Wer ist Ludwig Ritter?« fragte Morton im Flüsterton seinen Nachbarn. »Der Vorstandsvorsitzende von Deutsch-Chemie in Köln.« Morton nickte. Er erinnerte sich an die große Fabrik am Rheinufer, die er am vergangenen Nachmittag gesehen hatte. Als Camino jetzt den Namen erwähnte, erinnerte er sich auch an einen Artikel in irgendeiner Zeitschrift, in dem Ritter als der »Boß der Bosse« geschildert worden war, eine schattenhafte Gestalt, die sich nur selten in der Öffentlichkeit sehen ließ; ein Mann von ungeheurem Reichtum, dessen Einfluß angeblich bis ins Kanzleramt reichte. Es war ein langer Tag. Sie legten Pausen für Kaffee und später für das Mittagessen ein, aber davon abgesehen ließ Kramer sie hart arbeiten. Beim Dinner am vergangenen Abend waren die Ressorts zugeteilt worden; jetzt ging es darum, die Arbeitsmethoden der Kommission zu strukturieren, das Ganze mit Leben zu erfüllen und die wichtigen Vorhaben zu identifizieren, die in Kramers Amtszeit zu bewältigen waren. Sie beendeten die Sitzung gegen fünf Uhr, so daß die Kommissare noch am selben Abend nach Hause zurückfliegen konnten. »Wie war es denn?« stellte Mortons Fahrer die nahelie98
gende Frage, als er den Kommissar über die Autobahn zurückfuhr. Morton nahm die Frage vordergründig auf. Wie war die Konferenz gelaufen? Er war zwar mit britischer Politik vertraut, aber in diesen europäischen Angelegenheiten war er ein Neuling; er hatte noch keine Zeit gehabt, sich mit dem Jargon vertraut zu machen, wußte nicht genug über die Hintergründe, die Arbeitsmethoden und die täglichen Kompromisse, wie sie jeder Institution aufgezwungen wurden, die einer Vielzahl von Interessen dienen wollte. Aber wenn er den Tag so objektiv wie möglich betrachtete, war ihm eher ein wenig unbehaglich. Horst Kramer hatte das Ganze für seinen Geschmack ein wenig zu glatt inszeniert. »Wissen Sie, eigentlich kann ich das noch gar nicht sagen, Gerry«, erwiderte er nachdenklich. »In mancher Hinsicht ist diese Kommission wirklich ein ulkiger Verein.« »Das können Sie laut sagen, Sir. Ich habe da schon einiges erlebt.« Morton hielt es für klug, nicht weiter zu fragen. Er würde früh genug herausfinden, wie das Leben im BreydelGebäude ablief.
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uß es denn Luxemburg sein?« Isobel wirkte eingeschnappt. Ihrer Kenntnis nach war in Luxemburg noch nie etwas passiert, und es war auch höchst unwahrscheinlich, daß je etwas passieren würde. Es hatte da einmal irgendeine Prinzessin gegeben, für die sich angeblich Prinz Charles interessiert hatte, oder vielleicht war es auch umgekehrt gewesen. Aber wie jedermann wußte, war daraus nichts geworden. »Die neue Kommission muß ihren Amtseid vor dem Europäischen Gerichtshof ablegen. Ich werde mit dem Wagen von Brüssel aus hinfahren; du kannst ja aus London mit dem Flugzeug kommen.« Morton hatte sich darauf eingestellt, ihr gegenüber geduldig zu sein. Es war ihr letztes gemeinsames Wochenende in England, und sie verbrachten es auf dem Lande. Am Ende hatten sie sich dafür entschieden, beide Häuser zu behalten, nicht nur weil Isobel sich immer noch hartnäckig weigerte, ganz auf den Kontinent zu ziehen, sondern auch weil Mortons Gehalt als Kommissar es unnötig machte, das eine oder das andere Haus zu vermieten. Und im übrigen konnte man damit den Anschein aufrechterhalten, daß sich nichts geändert hatte. Wenigstens nichts von grundsätzlicher Bedeutung. Sie gingen zu den Hügeln über Hungerford hinauf. Isobel hatte sich ein Kopftuch über die Haare gebunden, um sie vor dem Wind zu schützen, der dort oben ziemlich heftig 100
wehte. Wie sie so mit gesenktem Kopf neben ihm ging, mußte Morton unwillkürlich daran denken, wie oft sie damals, kurz nach seiner Wahl ins Unterhaus, in den Berkshire Downs spazierengegangen waren. Er erinnerte sich noch gut daran, wie glücklich er damals gewesen war und wie neidisch ihm andere vorgekommen waren. Die Presse hatte damals in ihren Farbbeilagen von einem »perfekten Team«, einem »politischen Duett« geschrieben. Aber die Zeit war weitergelaufen. Er fragte sich, ob wohl jemals wieder alles in Ordnung kommen würde. »Ich frage mich, wer von uns beiden sich mehr verändert hat«, sagte er plötzlich. »Du oder ich?« Sie drehte sich überrascht zu ihm herum. Sie hielt ihn im großen und ganzen nicht für einen Mann, der zu bohrenden Fragen neigte. »Schau, Jimmy, wir sind im Augenblick beide ein wenig durcheinander, machen wir uns doch nichts vor. Kann sein, daß wir da wieder rauskommen, aber vielleicht auch nicht. Laß uns keine tiefschürfenden Fragen stellen. Wir sollten einfach den Dingen ihren Lauf lassen, einen Schritt nach dem anderen tun.« »Schön. Aber wirst du jetzt nach Luxemburg kommen?« »Zum Teufel, ja, wenn es sein muß.« Ein großer Sieg war das nicht. Aber es war ihm genug für den Anfang. Außerdem hatte sie seit Jahren nicht mehr Jimmy zu ihm gesagt. Von ihrem Platz im Gerichtssaal konnte Isobel Morton sich des Gefühls nicht erwehren, daß das Ganze doch ziemlicher Mummenschanz war. Sie sah die Richter des Europäischen Gerichtshofs vor sich, wie sie in ihrem ganzen Glanz dasa101
ßen. Scharlachrote Roben, weißer Brustlatz und Halstuch, Samthosen. Du lieber Gott, dachte sie. Ebensogut könnten sie sich noch im tiefsten Mittelalter befinden! Eine Frau, die neben ihr saß, vermutlich auch eine Ehefrau eines der Kommissare, sagte: »Wissen Sie, früher haben die sogar noch Perücken getragen, aber die haben sie vor ein paar Jahren aufgegeben.« »Dem Himmel sei Dank dafür; sie sehen auch so noch lächerlich genug aus«, erwiderte Isobel. Sie hatte nie viel von Pomp und Zeremoniell gehalten. Morton übrigens, um ihm gegenüber fair zu sein, auch nicht. Sie beugte sich vor, um hören zu können, was der Präsident des Gerichtshofs, der den mittleren Platz in der Reihe von Richtern einnahm, sagte. Professor Cornelius van Rjin, ein holländischer Rechtsanwalt von hohem Ansehen, der erst im vergangenen Jahr die Nachfolge im Präsidentenamt des Gerichts angetreten hatte, hatte sich allem Anschein nach bewußt dazu entschlossen, den feierlichen Charakter des Amtseids hervorzuheben, den die Mitglieder der Kommission in Kürze ablegen würden. »Die Verfasser der Verträge« – er sah sich mit strengem Blick im Saal um, sah nicht nur die Mitglieder der Kommission an, die vor ihm Platz genommen hatten, sondern auch das Publikum im Gerichtssaal und die Presse auf den Galerien – »haben ein hohes Maß an Weisheit an den Tag gelegt, indem sie diese öffentliche Eidesleistung vorgesehen haben. Natürlich würde niemand, der mit unseren Institutionen vertraut ist, an der Unabhängigkeit ihrer Mitglieder zweifeln, aber dennoch ist es richtig, daß die102
ser Eid abgelegt wird und daß diese Zeremonie zu Beginn der Amtszeit der Kommission stattfindet. Als Hüter der Verträge muß die Kommission sicherstellen, daß das Gesetz der Union von der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten respektiert wird …« Isobels Aufmerksamkeit begann zu erlahmen, während van Rjins Stimme weiterleierte. Sie sah sich um und betrachtete die Gemälde und Gobelins im Gerichtssaal. Sie hatte keine Ahnung, wie viele Millionen Dollar – oder was auch immer die hier verwendeten – es gekostet haben mußte, diesen Europäischen Gerichtshof hoch oben auf dem Plateau de Kirchberg zu erbauen. Aber sie hatte nicht die geringsten Zweifel, daß sie mit einem vergleichbaren Budget bessere Arbeit hätte leisten können. Warum mußte sich die Justiz eigentlich immer so pompös darstellen? Konnte man nicht auch einem ernsten Zweck dienen, ohne daß der äußere Rahmen den Eindruck einer Beerdigungszeremonie machte? Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie einen mit Licht und Luft erfüllten Gerichtssaal vorgezogen, offen für die Augen der ganzen Welt, nicht einen Ort, der von Würde und Feierlichkeit erdrückt wurde. Vier Reihen vor sich sah sie, wie sich der Präsident der Kommission, ein massig wirkender Mann, von dem sie wußte, daß er Horst Kramer hieß, von seinem Platz erhob und vor das Podium trat. Sie drehte an dem Knopf an der Armlehne ihres Sessels, um die englische Übersetzung zu hören, da Kramer, wie es sein Recht war, sich dafür entschieden hatte, den Amtseid in seiner Muttersprache abzulegen. Sie hörte eine sympathische Frauenstimme – verbargen sich hinter ihr grüne, lächelnde Augen und 103
braunes, welliges Haar? – sagen: »Ich, Horst Kramer, von den Regierungen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaften als Präsident der Kommission der Europäischen Gemeinschaften benannt, verpflichte mich feierlich, meine Amtsgeschäfte in völliger Unabhängigkeit und im allgemeinen Interesse der Gemeinschaften zu verrichten. Ich gelobe feierlich, daß ich bei Ausübung meiner Pflichten von keiner Regierung und keiner anderen Körperschaft irgendwelche Anweisungen einholen oder akzeptieren werde und mich jeglicher Handlung enthalten werde, die mit dem Wesen meiner Pflichten unvereinbar ist. Ich nehme auch zur Kenntnis, daß jeder Mitgliedsstaat sich verpflichtet hat, dies zu respektieren, und nicht versuchen wird, die Mitglieder der Kommission in der Ausübung ihrer Aufgabe zu beeinflussen.« Morton war als achter an der Reihe. Isobel hatte keine Ahnung, wie die Reihenfolge der Eidesleistung festgelegt worden war, aber als ihr Mann schließlich vortrat, um den Eid abzulegen, dachte sie, daß sie ihn bereits auswendig kannte. Da Morton englisch sprach, verstummte die Dolmetscherin. Isobel hörte trotzdem über Kopfhörer zu und bemerkte mit einiger Überraschung, daß Morton – wenigstens seinem Tonfall nach zu schließen – bewegt war. »Gelobe feierlich … meine Pflichten ausüben … volle Unabhängigkeit … weder einholen noch akzeptieren …« Für sie waren die Worte abgedroschene Formeln, Teil des Hokuspokus, den Europäer stets für so wichtig zu halten schienen. Aber für Morton schienen sie Bedeutung zu haben. Sie hatte ihn seit dem Augenblick – lag er wirklich sechs Jahre zurück? –, als er in jener eisigkalten Kirche in 104
Newbury »Ich will« gesagt hatte, nicht mit solchem Gefühl reden hören. Sie rutschte auf ihrem Stuhl nach vorn, um die hochgewachsene, vertraute Gestalt besser sehen zu können. Was auch immer andere über sein Brüsseler Amt denken mochten, es war klar, daß Morton sich voll dafür einsetzen würde. Sie fuhr mit ihm nach Brüssel zurück. »Wer war die Dame, mit der ich dich gesehen habe?« fragte sie, als sie die Ardennen erreichten. »Unsere portugiesische Kollegin. Ein ziemlich komplizierter Name.« »Ich wußte gar nicht, daß die Frauen hineinlassen.« »Das haben sie auch jahrelang nicht, aber jetzt schon.« »Sie sieht ganz gut aus.« »Tatsächlich?« Morton hatte die Augen geschlossen, und sie konnte nicht erkennen, ob sein Desinteresse echt oder gespielt war. Jetzt, wo sie darüber nachdachte, wurde ihr klar, daß sie eigentlich nie richtig gewußt hatte, ob Morton sich für andere Frauen interessierte. »Laß jedenfalls die Finger von ihr. Ich werde die Augen offenhalten.« Morton lächelte immer noch mit geschlossenen Augen. »Wenn die Katze aus dem Haus ist …«, sagte er. Gerry McLoughlin kannte die Straße von Luxemburg nach Brüssel ebenso gut wie die zwischen Cork und Dublin. »Wir passieren gerade Bastogne«, sagte er. »Die Deutschen wären hier ’44 fast durchgebrochen.« Morton schlug die Augen auf, sah auf die Wälder und Felder, die sich bis zum Horizont dehnten, und malte sich die Panzerdivisionen aus, die hier durchratterten, auf 105
Brüssel und Paris zu. Es gab mehr als einen Weg, dachte er, um Europa zu erobern. Wenn man es nicht mit Waffengewalt schaffte, konnte man schiere industrielle Macht einsetzen. Er mußte an den mächtigen Chemiekomplex denken, Deutsch-Chemie, den er vor ein paar Tagen am Rheinufer außerhalb von Köln gesehen hatte. Wer hatte eigentlich in letzter Instanz wirklich den Krieg gewonnen – die Sieger oder die Besiegten? Sie erreichten Brüssel am frühen Abend und fuhren ins Stadtzentrum durch. Morton hatte mit Hilfe eines von Lady Passmore empfohlenen Immobilienmaklers eine recht elegante Wohnung im Sablon gefunden, einem der wenigen Stadtteile von Brüssel, die sich ihren malerischen mittelalterlichen Charakter erhalten hatten. Abgesehen von der Grand’ Place selbst, dem Sablon und vielleicht dem Quai aux Briques war der größte Teil Brüssels im Laufe der letzten zwanzig oder dreißig Jahre den Verwüstungen der Baulöwen zum Opfer gefallen. Dies galt offenbar ganz besonders für britische Unternehmen, die jetzt, nachdem sie es geschafft hatten, London auf geradezu spektakuläre Weise zu demolieren, eifrig bemüht waren, ihre besonderen Fähigkeiten dorthin zu exportieren, wo es noch architektonische Traditionen gab, die so aussahen, als könnten sie die Zeitläufe überdauern. Wirklich eine Ironie des Schicksals, daß die Alliierten Brüssel befreit hatten, um es dann auf andere Weise zu zerstören. Aber der Sablon hatte wie durch ein Wunder überlebt. In letzter Minute hatte sich eine Einwohnergemeinschaft gebildet, sich der Hilfe von ein oder zwei Kabinettsministern versichert, ohne Zweifel auch ein wenig Geld springen las106
sen und erreicht, daß wenigstens etwa hundert wirklich wertvolle Gebäude rings um die Kirche von Notre Dame du Sablon überlebten, keinen Steinwurf vom Palais Royal entfernt. Sie parkten im Schatten der Kirche auf einer Fläche, wo am Sonntag morgen immer ein Antiquitätenmarkt abgehalten wurde. »Das ist aber hübsch!« Trotz ihrer Entschlossenheit, sich um jeden Preis in Belgien zu langweilen, war Isobel beeindruckt. »Komm mit rauf und sieh dir meine Gemäldesammlung an.« Das war nicht gerade eine originelle Bemerkung, aber sonst fiel ihm nichts ein. Morton war sich der Basis nicht mehr sicher, auf der seine Beziehung mit Isobel weiterlaufen würde, falls es überhaupt eine solche Basis gab. Er entschied sich dafür, behutsam vorzugehen und nichts für selbstverständlich zu halten. Wenn er ganz von vorn beginnen mußte, dann würde er das eben tun. »Was für Gemälde hast du denn?« fragte sie und ging auf sein Spiel ein. »Nichts Außergewöhnliches, leider. Ein halbes Dutzend ganz brauchbare Stücke von weniger bekannten Künstlern.« Im Rückblick hatte Morton das Gefühl, es sei eine der merkwürdigeren Erfahrungen seines Lebens gewesen. Schließlich war er schon länger als ein halbes Jahrzehnt mit ihr verheiratet, und doch stand er jetzt da vor seiner Wohnung, lud sie zu sich ein und führte sie in der Wohnung herum, als ob sie sich zum erstenmal begegnet wären. 107
Sie standen an den hohen, bleiverglasten Fenstern und blickten, beide mit einem Glas in der Hand, auf den beleuchteten Platz hinunter. Die schicken Restaurants unmittelbar gegenüber bereiteten sich auf ihre Abendkundschaft vor; die Antiquitätenläden ließen die Gitter herunter. »Dort drüben ist Wittamer, dort gibt es die beste Schokolade der ganzen Stadt.« Morton deutete auf eine elegante Fassade etwas in der Mitte des Sablon. Isobel war teurer Schokolade keineswegs abgeneigt. »Vielleicht ist Brüssel gar nicht so schlecht.« Morton wußte, daß mehr als Schokolade dazugehören würde, um sie nach Belgien zu locken, aber das war immerhin ein gutes Zeichen, fand er. Ein Hinweis, daß Isobel – wenn die Umstände dafür günstig waren – bereit war, auch das Positive an ihrer Situation zu sehen. »Kannst du zum Abendessen bleiben?« Die Frage klang beinahe schüchtern. Eigentlich war er ein selbstbewußter Mann, aber Isobels Flucht war ein schwerer Schlag für seine Selbstachtung gewesen. Er wollte sich nicht unnötigen Zurückweisungen aussetzen. Sie lächelte. »Wenn du magst, bleibe ich sogar zum Frühstück.« Sie gingen zu Fuß zur Grand’ Place und nahmen das Abendessen im Maison du Cygne ein. Das Restaurant befand sich in einem der ältesten und hübschesten Häuser am Platz. Die Qualität der Speisen war ausgezeichnet, der Service tadellos und die Rechnung astronomisch. Morton nahm die Quittung und verwahrte sie in seiner Brieftasche. »Kannst du das absetzen? Bin ich eine Geschäftsausgabe?« 108
In dem Augenblick war er beleidigt, zum erstenmal an diesem Tag. Ihre Bemerkung ging ihm unter die Haut. Er hatte die Rechnung nicht deshalb behalten, um einen Spesenschwindel damit zu machen – das war nicht seine Art –, sondern aus sentimentalen Gründen. Er wollte sich an den Abend erinnern, an den Anlaß, der sie zusammengeführt hatte. Verdammt noch mal, er wollte sich daran erinnern, daß er an dem Tag, an dem er seinen Amtseid abgelegt hatte, mit seiner ihm vor dem Gesetz angetrauten Frau zu Abend gegessen hatte. Und was zum Teufel war daran eigentlich auszusetzen? »Weißt du, Isobel« – seine Stimme klang kühl –, »ich bin jetzt gar nicht mehr so sicher, daß du über Nacht hierbleiben solltest.« »Ach, jetzt reg dich doch nicht auf, James! Das war doch nur ein Witz.« Sie gingen zu Fuß durch die Straßen. Es war kalt, aber nicht unerträglich. »Wann geht dein Flug?« fragte er. »Um elf.« »Ich muß schon wesentlich früher weg. Ich bin gern um neun im Büro. Aber der Wagen bringt dich hin.« »Reden wir jetzt nicht von morgen.« Sie hakte sich bei ihm unter, und er ließ sich erweichen. Sie blieb vor Wittamer stehen, um sich die Auslage anzusehen. »Haben die Belgier auch etwas für Sex übrig?« Sie drehte sich zu ihm herum. »Keine getrennten Betten, nicht heute nacht, Jimmy. Heute nacht will ich dich.« Tief im Innersten drängte es ihn, ihr zu sagen, sie solle doch abhauen, aus seinem Leben verschwinden und ihn 109
jetzt nicht durcheinanderbringen, wo er gerade im Begriff war, die Dinge geradezubiegen. Aber das sagte er natürlich nicht. Statt dessen griff er mit der Hand unter ihren Ellbogen und lenkte sie weg von dem Konfekt, in Richtung seiner Wohnung.
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ährend Morton sich die ersten paar Wochen bemühte, sich mit seinen Amtspflichten vertraut zu machen, war ihm die Zeit in Brüssel wie im Flug verstrichen. Peter Simpson, der junge Mann aus dem Foreign Office, den er als Chef de Cabinet übernommen hatte, hatte sein Büro geschickt organisiert und legte ihm verläßlich zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Papiere zur Unterschrift vor, aber Morton wollte sich nicht damit zufriedengeben, lediglich die Rolle einer Marionette zu spielen. Er war ein beharrlicher Mensch und hegte immer noch die Illusion – zweifellos in den Augen vieler eine gefährliche Illusion –, daß er die Position, auf die man ihn berufen hatte, jetzt auch nach besten Kräften ausfüllen sollte. Ein Großteil der ihm vorgelegten Unterlagen war ihm fremd, aber er gab sich alle Mühe, sich in die Themen einzuarbeiten. »Was zum Teufel soll das alles?« fragte er immer wieder, wenn man ihm abends gegen sieben einen Stapel Papier zur Unterschrift vorlegte. »Kann ich sie nicht wenigstens in englisch bekommen?« Aber er erkannte schnell, daß es einfach unrealistisch war, zu hoffen, manchmal in höchster Eile irgendwo in den Tiefen des Breydel-Gebäudes formulierte komplizierte Schriftsätze zu verstehen oder zu erwarten, daß sie auch sofort in seine Sprache übersetzt wurden. Das System konnte einfach nicht funktionieren, wenn jeder Kommissar darauf bestand, jederzeit sämtliche Dokumente 111
in seiner Muttersprache zu erhalten, obwohl er vernünftigerweise erwarten durfte, daß dies wenigstens gelegentlich der Fall war. Aber innerhalb dieser notwendigen Grenzen tat Morton sein Bestes. Selbst Peter Simpson, der den meisten seiner Mitmenschen eine gesunde Geringschätzung entgegenbrachte, ließ gelegentlich Anzeichen von Anerkennung gewahr werden – wenn nicht für die intellektuelle Auffassungsgabe des Kommissars, so doch wenigstens für seine hartnäckige Entschlossenheit. »Der Mann hat nicht die leiseste Ahnung von Industrie, sei es nun in seinem Lande oder in ganz Europa«, sagte Simpson eines Abends zu seiner Frau, als er vom Büro nach Hause kam. »Aber er ist interessiert und lernwillig. Das könnte gefährlich sein!« lachte er. Jill Simpson, eine hochintelligente Frau von knochigem Körperbau, die die intellektuelle Arroganz ihres Ehemanns häufig als irritierend empfand – wußte er denn nicht, daß manche Leute einfach die alltägliche Arbeit tun mußten, zum Beispiel die einer Frau und Mutter? –, sah ihn argwöhnisch an. »Was meinst du damit?« Aber Simpson, der inzwischen zu einem umfangreichen späten Abendessen Platz genommen hatte (Nahrung in jeglicher Form faszinierte ihn), blieb schweigsam. Isobels Abwesenheit war ein weiterer Faktor, der Mortons Hingabe an seine Arbeit förderte. Ihm machte es nichts aus, einen Stapel Papiere in seine Aktentasche zu stopfen und sie sich in aller Ruhe am Abend vorzunehmen, zuerst in irgendeinem Restaurant am Sablon oder in der Nähe und dann später in dem wuchtigen Armsessel, der neben dem 112
jetzt nicht benutzten offenen Kamin in seiner Wohnung stand. Nach ein paar Wochen wurde ihm klar, daß aus dieser Übung eine Gewohnheit geworden war, die ihm Befriedigung verschaffte. Normalerweise wurde im Breydel spätabends Post geliefert, die in den Eingangskörben liegenblieb, bis die Sekretärinnen sie früh am nächsten Morgen sortierten. Sein Chef de Cabinet hatte – das wußte er – die Regel aufgestellt, daß nichts zum Kommissar gebracht werden durfte, was nicht seinen – Simpsons – Sichtvermerk trug. Im allgemeinen war das eine vernünftige Vorsichtsmaßregel, die dem Chef de Cabinet die Möglichkeit gab, über alle Vorgänge informiert zu sein, und andererseits auch sicherstellte, daß der Kommissar nicht mit einer Menge unsinnigem Kleinkram belästigt wurde. Aber es hatte bereits ein oder zwei Fälle gegeben, wo Morton gelinde gesagt verstimmt hatte feststellen müssen, daß Simpson auf irgendeinem Dokument – einem Brief oder einem Aktenvermerk – gesessen hatte, auf das er dringend gewartet hatte. Deshalb war es ihm angenehm, ein- oder zweimal die Woche selbst seine Eingangskorrespondenz abholen zu können. Auf die Weise konnte er sie in aller Ruhe in der angenehmen Abgeschiedenheit seiner Wohnung durchblättern und am nächsten Morgen im Büro sagen, was er, Morton, dachte, anstatt daß es umgekehrt lief. Äußerlich betrachtet war der Umschlag, den Morton eines Abends zu Beginn des Frühjahrs, als in der Innenstadt von Brüssel bereits die ersten Touristenströme aufgetaucht waren, in seinem Hauseingang fand, in keiner Weise ungewöhnlich. Er war fünfzehn mal zwanzig Zentimeter groß, 113
trug eine deutsche Briefmarke, und die Adresse war mit der Maschine geschrieben. Irgendein Firmenrundschreiben, entschied er und legte den Umschlag für seine Sekretärin beiseite, während er sich zum Grunde des Stapels durcharbeitete. Eine Stunde später, als die Glocken von Notre Dame du Sablon gerade zehn geschlagen hatten, war Morton mit Lesen fertig. Er legte die Papiere wieder in seine Aktentasche und wollte sich gerade zum Bettgehen fertigmachen, als er den braunen Umschlag dort liegen sah, wo er ihn hingelegt hatte. Anstatt die Aktentasche noch einmal aufzuschließen, nahm er den Umschlag und schlitzte ihn auf. Er bediente sich dazu eines Brieföffners aus Elfenbein mit dem Kopf der Königin Nofretete, den er vor Jahren im Basar von Kairo gekauft hatte. Der Umschlag enthielt einen einmal zusammengefalteten Brief auf einem einfachen Blatt Papier und ein vierseitiges, in der linken oberen Ecke zusammengeheftetes Dokument. Es las zuerst den Brief. »Sehr geehrter Herr Kommissar«, begann er, »der beiliegende Aktenvermerk schildert die Inkorrektheiten, ja sogar die Verbrechen, die augenblicklich von einer bedeutenden europäischen Chemiefirma praktiziert werden und die der Verfasser dieser Zeilen selbst nach den augenblicklich niedrigen Maßstäben der pharmazeutischen und chemischen Industrie nicht für akzeptabel hält. Der Verfasser dieser Zeilen möchte anonym bleiben, aber falls Sie daran interessiert sind, mehr zu erfahren, sollten Sie sich eine Anzeige auf der Rückseite des International Herald Tribune ansehen, welche Tulpenliebhaber zum Besuch der Tulpenfelder von Keukenhof auffordert.« Morton musterte den Brief angewidert. Während seiner 114
Zeit als Unterhausabgeordneter hatte er von Verrückten, auch anonymen Verrückten, genügend Korrespondenz erhalten, um damit ein kleines Zimmer tapezieren zu können. Manche Leute konnten einfach dem Drang nicht widerstehen, ihre Ergüsse zu Papier zu bringen. Aber an diesem Brief hier war etwas, das seine Aufmerksamkeit erregte. Das war nicht das übliche handschriftliche Gekritzel mit zahlreichen Unterstreichungen und reichlichem Gebrauch des Ausrufezeichens. Er war ordentlich getippt und wirkte professionell. Er sah so aus, als wäre er auf einem Computer verfaßt worden, wenn er auch keine Ahnung hatte, um was für ein Gerät genau es sich handelte. Das war eine Sache für Fachleute. Auch das Papier selbst zeigte keine speziellen Merkmale, wobei möglicherweise eine fachmännische Analyse Schlüsse auf seine Herkunft zulassen würde. Morton wandte sich jetzt dem Memorandum selbst zu, das allem Anschein nach auf demselben Computer wie der Brief getippt war. Trotz seines instinktiven Widerstrebens merkte Morton nach zehn Minuten, daß der Inhalt des Schriftstücks ihn völlig in seinen Bann gezogen hatte. Das Memorandum begann mit einer allgemeinen Attacke auf die pharmazeutische und chemische Industrie Europas. »Pharmazeutische und Pestizide produzierende Firmen mit Sitz in der Europäischen Union kontrollieren den größten Teil des Weltmarkts dieser Produkte. Zwanzig Prozent des Medikamentenmarktes der Welt im Wert von einer Billion Dollar und fast 50 Prozent der Exportmärkte der Welt werden von Firmen mit Sitz in der Europäischen Union beherrscht. Mehr als 40 Prozent des gesamten Weltumsatzes 115
an Pestiziden im Gesamtwert von 17 Milliarden US-Dollar und ein geradezu schwindelerregend hoher Anteil von 61 Prozent der Exportmärkte werden von Pestizidfirmen mit Sitz in der Europäischen Union kontrolliert. Die europäischen Regierungen ziehen Nutzen aus diesen Geschäften, haben aber versäumt sicherzustellen, daß die innerhalb Europas geltenden Sicherheitsnormen auch in gleicher Weise für die Exportmärkte angewendet werden. Viele Produkte, deren Verkauf in Europa verboten oder stark eingeschränkt ist oder die man aus dem Handel gezogen hat, sind für den Export freigegeben. Die Folge dieses internationalen Handels mit Pharmazeutika ist, daß die Bemühungen um eine Verbesserung des Gesundheitsstandards stark verzerrt werden. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat etwa zweihundert Medikamente als für die Behandlung der meisten Krankheiten ›essentiell‹ identifiziert. Es befinden sich jedoch weltweit etwa fünfzigtausend Präparate auf dem Markt. Das UNZentrum für transnationale Gesellschaften hat festgestellt, daß in vielen Ländern die von transnationalen Pharmazeutikunternehmen auf den Markt gebrachten Produkte ›nicht den wesentlichen Gesundheitserfordernissen und -prioritäten eines jeden Landes entsprechen‹. In Bangladesch hat ein Expertenausschuß festgestellt, daß fast ein Drittel des für Medikamente ausgegebenen Geldes für ›unnötige und nutzlose Medizin‹ ausgegeben wurde. Das Insektizid Dieldrin, das von der Weltgesundheitsorganisation als ›äußerst gefährlich‹ eingestuft wurde, ist im Januar 1981 in der Europäischen Union verboten worden – aber nicht für den Export. Studien in Nigeria ergaben, 116
daß das Präparat viele Spezies nützlicher Insekten sowie Fische, Fledermäuse und Eichhörnchen getötet und eine Affenspezies praktisch ausgelöscht hat. Die Pestizidindustrie hat im Verlauf der letzten dreißig oder vierzig Jahre sogar zu einem gesteigerten Einsatz von Pestiziden aufgerufen, mit der Behauptung, diese seien für die Verbesserung der landwirtschaftlichen Erträge ›wesentlich‹. Aber mit jenem gesteigerten Einsatz ist eine ernsthafte Bedrohung für die Gesundheit und die Umwelt einhergegangen. Einfach formuliert sind Pestizide dazu bestimmt zu töten. Unglücklicherweise wissen sie nicht, wann sie damit aufhören sollen.« Nach diesen umfassenden Feststellungen bezüglich der chemischen und pharmazeutischen Industrie Europas nahm sich der Verfasser der Denkschrift eine bestimmte Firma im Detail vor, ohne dabei Namen zu nennen, und legte die wohl vernichtendste Anklage gegen die moralischen, ethischen, kommerziellen und industriellen Gepflogenheiten eines maßgebenden Wirtschaftsunternehmens vor, die Morton je zu Gesicht bekommen hatte – immer vorausgesetzt, die Behauptungen stimmten. Er war jetzt beim letzten Absatz angelangt. »Nach Ansicht des Verfassers«, las er, »sind die vorangegangenen Darlegungen, so erschreckend sie auch scheinen mögen, nur ein Teil des Ganzen, sozusagen die Spitze des Eisbergs. Sämtliche in diesem Schriftstück aufgezählten unkorrekten Praktiken, Mißbräuche und tatsächlichen Straftaten können dokumentiert und bewiesen werden.« Morton kam der Raum, in dem er sich befand, plötzlich heiß und stickig vor. Er betupfte sich mit dem Taschentuch 117
die Stirn, erhob sich aus seinem Sessel, ging ans Fenster und riß es auf. Der Lärm, der vom Sablon hereinschlug, verdoppelte sofort seine Intensität. Dann stand er da, blickte auf das abendliche Treiben hinaus und versuchte zu entscheiden, was zu tun war. Er konnte natürlich die ganze Sache am nächsten Morgen Peter Simpson übergeben, der dann seinerseits die zuständigen Mitarbeiter darauf ansetzen konnte, das Material auszuwerten. Ja, dachte er, das würde er tun. Schließlich gab es in Brüssel Hunderte hochbezahlter fonctionnaires, die nur darauf warteten, etwas zu tun. Nun, sie konnten sich von ihrem Hintern erheben und etwas arbeiten. Wenn ein Kommissar einmal anfing, persönlich allen Beschwerden nachzugehen, die man ihm vorlegte, würde er zu nichts anderem mehr Zeit haben. Als er sich wieder dem Zimmer zukehrte, sah er einen Augenblick lang das selbstgefällige Gesicht seines Chef de Cabinet vor sich. Das Bild ließ ihn zusammenzucken. Zum Teufel, dachte er, konnte er Simpson wirklich vertrauen, konnte er wirklich darauf vertrauen, daß die fonctionnaires der Wirtschaftsabteilung der Kommission diesen Skandal aufdeckten? Würden sie nicht eher dazu neigen, das Ganze zu vertuschen? Morton war überrascht, wie radikal seine Überlegungen plötzlich geworden waren. Das Klima von Brüssel zeigte schon die ersten Auswirkungen, vermutete er. Plötzlich änderte er seine Meinung. Nein, dachte er; er würde Simpson lieber aus der Sache heraushalten – wenigstens für den Augenblick. Er würde zunächst selbst einige Erkundigungen anstellen und – soweit er das konnte – herausbekommen, 118
wieweit die Denkschrift zutraf. Für den Anfang war das genug. Ohne Zweifel gab es genügend Leute, die von ihm erwarteten, daß er seine Position als eine einträgliche Pfründe betrachtete. Aber wenn das der Fall war, dachte er, würden sie möglicherweise am Ende enttäuscht sein. »Ich sehe, Sie haben gestern abend Ihre Post mit nach Hause genommen, Herr Kommissar.« Peter Simpson tauchte bereits kurz nach Mortons Eintreffen in dessen Büro auf. »Ich konnte einfach nicht widerstehen.« Morton hoffte, daß das so gleichgültig klang, wie er beabsichtigte. Er stellte seine Aktentasche auf den Schreibtisch und entnahm ihr ein kleines Bündel Papiere. »Ich glaube nicht, daß etwas sonderlich Dringendes dabei ist.« Er reichte sie Simpson. »Aber Sie werden sie sich sicherlich trotzdem ansehen wollen.« Simpson schien den leicht ironischen Unterton in Mortons Stimme nicht wahrgenommen zu haben. »Dürfte ich vielleicht vorschlagen, Herr Kommissar, mit dem allergrößten Respekt natürlich, daß es wahrscheinlich am besten wäre, wenn ich oder wenigstens irgendein anderes Mitglied des Kabinetts einen kurzen Blick auf die Papiere werfen würden, ehe sie zu Ihnen gelangen? Ich bin sicher, daß das allen auf lange Sicht Ärger ersparen wird.« »Aber natürlich.« Morton wirkte echt zerknirscht. Die beiden Männer unterhielten sich dann etwa eine Viertelstunde und besprachen, was in nächster Zeit zu tun sein würde. Da es Mittwoch war, würde die Kommission zusammentreten, und Morton schloß aus der Länge der Tagesordnung, daß die Sitzung den größten Teil des Tages in Anspruch 119
nehmen würde. Wie viele seiner Vorgänger war Dr. Horst Kramer fest entschlossen, in den ersten hundert Tagen seiner Amtszeit ein Zeichen zu setzen. Außerdem hatte er darauf bestanden, daß Kommissare nur wegen äußerst dringlicher Angelegenheiten den wöchentlichen Sitzungen fernbleiben durften. Morton hatte schon manche lange und manchmal sinnlose Diskussion zwischen Kollegen miterlebt, die fest entschlossen schienen, den Standpunkt des anderen nicht zur Kenntnis zu nehmen; dennoch respektierte er Kramers Wunsch und hatte bisher an sämtlichen Sitzungen der Kommission teilgenommen. Heute zumindest freute er sich darauf, daß er für die langweiligeren Phasen der Sitzung Lesestoff mitgebracht hatte. »Wenn Sie gehen, sagen Sie doch bitte Vivian, sie möchte hereinkommen. Wären Sie so nett, Peter?« Gleich darauf trat Vivian Perkins, die Sekretärin, die sich während seiner vierzehn Jahre im Unterhaus um Morton gekümmert hatte und ihm nach Brüssel gefolgt war, ins Zimmer. »Ah, Vivian!« Morton freute sich immer, wenn er sie sah. Loyalität gehörte für ihn zu den Dingen, die er am meisten schätzte. »Wie sieht es denn heute aus?« »Sie haben gestern wieder Ihre Post mitgenommen. Mr. Simpson hat auf mich recht verärgert gewirkt.« Morton trat an das große Fenster und blickte auf die Stadt Brüssel hinab, die sich unter ihm ausbreitete. Was für ein schreckliches Durcheinander, dachte er. Die Kombination raffgieriger Baulöwen mit dem Wachstum der europäischen Institutionen wie der Kommission, dem Europarat und in jüngster Vergangenheit dem Europäischen Parlament mit seinen grandiosen Gebäuden an der Rue Belliard war ei120
nigermaßen tödlich. Er konnte zwar einige Inseln traditioneller Architektur erkennen, ganz gewöhnliche Häuser für ganz gewöhnliche Leute, aber sie waren dünn gesät, so wie ehrliche Männer in der Politik. Er drehte sich zu seiner Sekretärin um. »Ich glaube nicht, daß Sie oder ich uns völlig von Mr. Simpsons Gedanken und Wünschen leiten lassen müssen, oder, Vivian?« Vivian lächelte auf eine mütterliche Art. Obwohl der Altersunterschied zwischen ihnen nicht sehr groß war – sie war nur ein oder zwei Jahre älter als er –, hatte Mrs. Perkins James Morton immer mit einer Art Mutterstolz betrachtet. Während ihrer Jahre im Parlament hatte sie für die Leute nichts übriggehabt, die immer behauptet hatten, Morton hätte schneller und zu einem höheren Amt aufsteigen sollen. Sie hielt nicht viel von Karrieremachern und Aufsteigern. Sie mochte Morton so, wie er war: ehrlich, anständig, geradlinig. Er hatte sie immer gut behandelt; deshalb war sie ihm auch nach Brüssel gefolgt, und im übrigen hatte sie auch der Auslandsposten nach so vielen Jahren in England fasziniert. Was sie betraf, änderte die Mitgliedschaft Großbritanniens am gemeinsamen Markt am Status von Brüssel überhaupt nichts. Ausland war Ausland. Abgesehen von der Tatsache, daß seine Einwohner nicht mit Stäbchen aßen, hätte Brüssel ebensogut Ulan Bator sein können. »Ich muß sagen, Commissioner« (es machte ihr Spaß, ihn mit seinem neuen Titel anzusprechen), »da bin ich ganz Ihrer Ansicht. Manchmal halten sich diese jungen Männer aus dem Foreign Office schon für besonders schlau.« Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch und ging seinen Kalender mit ihr durch, stimmte Termine und Verab121
redungen ab. »Ich habe den ganzen Morgen Kommissionssitzung, und die kann sich durchaus bis in den Nachmittag ausdehnen, denn die Tagesordnung ist ziemlich voll. Könnten Sie mir etwas aus der Bibliothek besorgen und es mir in den Sitzungssaal bringen lassen? Ich hätte gern einen Ausdruck über die chemische Industrie. Bücher und Berichte, alles, was von Belang ist. Sagen Sie denen, daß ich es schnell haben will.« »Für die ganze Welt oder nur für Europa?« »Für die ganze Welt, aber unter Einschluß von Europa, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Vivian Perkins nickte. »Ich gehe gleich in die Bibliothek.« Als etwas später am Vormittag der französische Kommissar Pierre Duchesne in einem verbalen Feuerwerk schwelgte, das Morton kaltließ, reichte ihm einer der uniformierten Saaldiener – huissiers, wie man sie nannte – einen braunen Umschlag. Morton öffnete ihn und entnahm ihm seinen Inhalt, bei dem es sich, wie er gehofft hatte, um eine Auflistung von Büchern und Schriftstücken in der Bibliothek der Kommission handelte, die in irgendeiner Weise auf die chemische Industrie Bezug hatten. Morton wußte selbst nicht recht, was er eigentlich zu finden erwartete. Seit er gestern abend die anonyme Denkschrift in der untersten Schreibtischschublade seiner Wohnung eingeschlossen hatte, hatte er darüber nachgegrübelt, wie er am besten weitermachen sollte. Daß übereiltes Handeln nicht ratsam war, stand für ihn heute morgen noch ebenso fest wie am vergangenen Abend. Wenn es sein mußte, war er durchaus bereit, schnell und energisch zu handeln, aber ehe er das tat, wollte er das Problem in seiner 122
ganzen Tragweite erfaßt haben. Das war eine Eigenschaft, die er mit vielen seiner Landsleute teilte – die Fähigkeit, zu erkennen, wie die Dinge liefen. Als er den Ausdruck überflog, blieb sein Auge an einer Eintragung hängen. Unwillkürlich entfuhr ihm ein Grunzlaut der Überraschung, worauf der Franzose mitten in seinem Redefluß innehielt und ihm einen indignierten Blick zuwarf. Wunderdrogen und Wirtschaftskriminalität: Die Praktiken der pharmazeutischen Industrie. Morton sah, daß das Buch vor zwei Jahren in den Vereinigten Staaten und England erschienen war. Aber was ihn noch mehr interessierte als der Titel, war der Name des Verfassers: F. Murray Lomax. Konnte es sein, daß es noch einen Murray Lomax gab? Er schickte den huissier mit einer kurzen Nachricht zu seiner Sekretärin und bat sie darin, das Buch so bald wie möglich aus der Bibliothek zu holen. Als er das getan hatte, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Vortrag des französischen Kommissars zu. Genau zehn Minuten nach eins, als der Landwirtschaftskommissar und der Budgetkommissar sich in einem scheinbar endlosen Streit über die in der bevorstehenden Anbauperiode anzusetzenden Preise verstrickt hatten, fuhr Horst Kramer ziemlich brutal dazwischen und sagte: »Meine Herren Kollegen, da ist noch ein Thema, das ich Ihnen heute vormittag vor der Mittagspause zur Kenntnis bringen möchte. Vor etwa einer Stunde haben die Vorstände der beiden größten Chemiefirmen in Europa – United Chemicals in England und Deutsch-Chemie in Deutschland – eine gemeinsame Pressekonferenz abgehalten und bekanntgegeben, 123
daß sie eine Fusion planen. Es freut mich, Ihnen sagen zu können, daß beide Herren gemäß der römischen Verträge die Notwendigkeit erkannt haben, bei der Kommission um Zustimmung zu dieser Fusion nachzusuchen. Ich habe per Telefax den Wortlaut der beiden Erklärungen erhalten und werde veranlassen, daß der Text sofort verteilt wird. Die Kommission kann dazu natürlich heute keine Stellungnahme abgeben. Das ist völlig ausgeschlossen. Aber ich würde gern noch heute morgen bekanntgeben, daß uns die Situation bekannt ist und wir so schnell wie möglich dazu Stellung nehmen werden. Können die Herren Kollegen dem zustimmen?« Leopold Brugmanns überraschter Gesichtsausdruck ließ erkennen, daß Kramers Ankündigung ihn völlig unvorbereitet traf. Normalerweise bereitete Brugmann gemeinsam mit den Kabinettchefs die Tagesordnung der Kommissionssitzungen in allen Details vor. Er kannte das wahrscheinliche Ergebnis der Diskussion zu jedem einzelnen Punkt im voraus; die meiste Zeit deckten sich die Beschlüsse der Kommission exakt mit denen, die Brugmann sich wünschte. Aber an diesem Morgen mußte Brugmann erkennen, daß Kramer ihn ausgetrickst hatte, wobei er nicht sagen konnte, ob das Absicht gewesen war. Indem er den Punkt unmittelbar vor der Mittagspause einschob, hatte Kramer eine seriöse Diskussion praktisch unmöglich gemacht und dennoch ins Protokoll gebracht, daß die Kommission von dem Fusionsantrag informiert war und darauf entsprechend reagieren würde. An und für sich war daran nichts auszusetzen. Das Ungewöhnliche war, daß der ganze Vorgang nicht durch die üblichen Kanäle gelaufen war und der nor124
male Zeitablauf auf diese Weise radikal verkürzt werden würde. Eines verblüffte ihn. Kramer hatte erklärt, er habe während der Sitzung von der geplanten Fusion erfahren. Aber Brugmann, der unmittelbar rechts von Kramer saß und gewöhnlich das Kommen und Gehen im Sitzungssaal scharf im Auge behielt (so hatte er beispielsweise registriert, daß man Morton, dem britischen Kommissar, einen braunen Umschlag gebracht hatte), konnte sich nicht daran erinnern, daß man Kramer irgend etwas wie eine Presseverlautbarung, ob nun per Fax oder sonstwie eingegangen, gebracht hatte. Aber er ging nicht näher darauf ein. Vielleicht war er abgelenkt gewesen, und der Präsident hatte im Verlauf der Vormittagssitzung tatsächlich einige Nachrichten erhalten. Er warf Morton einen Blick über die polierte Eichenplatte des Konferenztisches zu und flüsterte Kramer zu: »Vielleicht sollten wir unseren Industriekommissar um seine Ansicht bitten, zumal er ja nach der neuen Ressorteinteilung auch für Wettbewerbsfragen zuständig sein wird?« Ein Schatten zog über Kramers Gesicht. »Es ist genügend Zeit, diese Angelegenheit gründlich zu studieren. Wir brauchen uns jetzt nicht damit zu befassen.« Aber Morton hob dennoch die Hand. »Wenn Sie gestatten, Herr Präsident. Ich möchte ins Protokoll aufgenommen haben, daß unsere endgültige Position in dieser Angelegenheit in keiner Weise durch das beschleunigte Verfahren präjudiziert ist.« Kramer sah ihn scharf an. »Aber sicherlich, Mr. Morton, das ist doch wohl keine Frage.« »Ich wollte es aber dennoch festhalten, Herr Präsident«, 125
sagte Morton ruhig, aber fest. Er wollte, wie die anderen auch, jetzt zum Mittagessen gehen, sah aber nicht ein, weshalb er sich unter Druck setzen lassen sollte. Ehe Kramer antworten konnte, kam der Italiener – Ippolito Camino – Morton zu Hilfe. »Das sind äußerst komplizierte Angelegenheiten, Kollegen. Wir sollten da nichts überstürzen. Ich glaube, Mr. Mortons Vorbehalt sollte ins Protokoll aufgenommen werden.« Kramer spürte die Sympathie, die Morton aus dem Saal entgegenschlug, und lächelte freundlich. »Der Punkt ist bereits notiert. Wollen wir uns jetzt vertagen?« sagte er und sah dabei über den Rand seiner Brille. Morton ging nachdenklich zu seinem Büro zurück. Er beschloß, den Rat seines Kabinettchefs einzuholen. Normalerweise nahmen die Kabinettchefs nur dann an den Kommissionssitzungen teil, wenn die jeweiligen Kommissare nicht zugegen waren. Der Mittwoch war jener Tag in der Woche, an dem ein Kommissar wahrscheinlich etwas besser über die laufenden Vorgänge Bescheid wußte als sein Kabinettchef. An diesem Morgen freilich stellte Morton fest, daß Peter Simpson bereits gut über die Ereignisse des Vormittags informiert war. Er wartete in Mortons Büro, als dieser zurückkam. »Vor einer halben Stunde hat sich die Financial Times aus London hier gemeldet«, verkündete Simpson vergnügt. »Sie wollten wissen, wie wir uns zu der geplanten Fusion stellen würden. Ich habe ihnen gesagt, wir würden die Unterlagen studieren und daß wir auf den ersten Blick keine Probleme sehen, aber das sei natürlich nicht zur Veröffentlichung bestimmt.« 126
Morton sah auf die Uhr. Der Dreizehner-Club gab zu seinen Ehren einen Lunch. Und da dem Dreizehner-Club die Spitzen der dreizehn größten Industriefirmen Europas angehörten, wollte er sich nicht verspäten. Er legte seine Papiere auf den Tisch und ging zur Tür. »Da haben Sie sicherlich recht, Peter; aber unsere Leute sollten sich das dennoch ansehen.« Dann fügte er beiläufig hinzu: »Ich habe heute morgen gesagt, daß ich mich persönlich um diesen Vorgang kümmern möchte. Sorgen Sie bitte dafür – sobald unsere Mitarbeiter die Prüfung abgeschlossen haben –, daß ich sie vor allen anderen zu sehen bekomme, ja?« »Aber Sie sind doch nächste Woche in Portugal, Commissioner«, setzte Simpson zum Widerspruch an. »Das könnte zu Verzögerungen führen …« Er verstummte, als ihm bewußt wurde, daß Morton bereits das Zimmer verlassen hatte. »Scheiße!« fluchte Simpson, als er durch das Vorzimmer zu seinem eigenen Büro zurückkehrte. Vivian Perkins, die noch an ihrem Schreibtisch saß – sie nahm sich selten die Zeit, zu Mittag zu essen –, blickte streng auf: »Wie bitte?« »Entschuldigung, Vivian.« Simpson kehrte in sein Büro zurück und knallte die Tür hinter sich zu. Im Wagen auf dem Weg zu seiner Verabredung fragte sich Morton, ob vielleicht zufälligerweise entweder DeutschChemie oder United Chemicals in die Unregelmäßigkeiten verwickelt waren, die in dem anonymen Brief erwähnt wurden. Konnte die Kommission mit der einen Hand eine Untersuchung in Gang setzen und mit der anderen eine Fusion billigen? Und überdies, konnte er – als Industrie127
kommissar – mit dem Hasen laufen und mit den Hunden jagen? Die Ampel am Ende der Rue de la Loi schaltete genau im richtigen Augenblick auf Grün, und sie bogen mit gut achtzig Stundenkilometer nach links in den Inneren Ring. Ein paar Minuten später bogen sie vor dem Palast scharf nach rechts ab, folgten den Trambahngeleisen auf dem Place Royale und rollten dann die breite geschwungene Straße zum Zentrum hinunter. Nummer l Rue Ravenstein, das Domizil des DreizehnerClubs, erwies sich als ein kleines Juwel von einem Gebäude, erbaut im mittelalterlich-flämischen Stil in dessen Blütezeit. Es war die Art von Haus, dachte Morton, die man auf den Gemälden von Memling und Breughel zu sehen bekam. Rechts neben der schweren Eichentür war eine kleine Messingplatte angebracht, auf der ›Cercle Privé‹ stand. Morton wies seinen Fahrer an, ihn um drei Uhr wieder abzuholen, und wollte gerade den Klingelknopf drücken, als die Tür sich öffnete und ein livrierter älterer Herr erschien, der ganz wie die mit Warzen und Hautflecken übersäten Gestalten aussah, die die alten Meister auf ihren Gemälden verewigt hatten (beinahe als hätten ihm die Jahrhunderte nichts anhaben können). »Monsieur Morton. Entrez, s’il vous plaît.« Als er dem Mann ins Innere des Hauses und durch einen von wertvollen Gobelins gesäumten Korridor folgte, tastete Morton nach seiner Brusttasche, um sich zu vergewissern, daß er seinen Redetext nicht vergessen hatte. Sein Mitarbeiterstab hatte ihm einen ersten Entwurf geliefert, aber er hatte selbst einige wesentliche Änderungen vorge128
nommen und war einigermaßen sicher, daß er den richtigen Ton finden würde. Wenn man mit den Agnellis dieser Welt sprach, mußte man seine Worte mit Sorgfalt wählen. Leute wie die Agnellis pflegten zuzuhören. Das war einer der Gründe dafür, weshalb sie an die Spitze gelangt waren. Sie absorbierten Informationen wie eine Erntemaschine. Morton sah sich mit einiger Neugierde um. Von außen schien das Haus nur bescheidene Ausmaße zu haben, aber der Schein trog. Obwohl die Türen der meisten Räume entlang des Korridors geschlossen waren, registrierte Morton zwei Konferenzräume und ein Computerzentrum sowie einen von klassischen Statuen umgebenen Swimmingpool. Daß es dem Dreizehner-Club nicht gerade an finanziellen Mitteln mangelte, war klar zu erkennen. Am Ende des Korridors bogen sie nach rechts ab und stiegen eine breite steinerne Freitreppe hinauf. Morton fiel es nicht schwer, einen Pieter de Hooch und einen Vermeer zu erkennen. Auf dem ersten Treppenabsatz stand er plötzlich vor einem herrlichen Stadtgemälde, das die Rue Ravenstein so zeigte, wie sie vor vierhundert Jahren ausgesehen haben mochte. »Monsieur le Président a acheté ce tableau, il y a deux ans, chez le Rijksmuseum du Amsterdam«, ließ ihn sein Führer mit einem Anflug von Stolz wissen. »Et qui est Monsieur le Président?« »Monsieur Ritter«, erwiderte der Mann leicht überrascht. »Vous ne le saviez pas?« Morton schüttelte den Kopf. Irgendwie hatte man versäumt, ihm zu sagen, daß der Präsident des DreizehnerClubs kein anderer als Ludwig Ritter selbst, der Chef von Deutsch-Chemie war – der Mann, der unter anderem mitge129
holfen hatte, den heutigen Strom von Presseverlautbarungen auszulösen. Nachdem Morton sich bemüht hatte, französisch zu sprechen, wechselte er jetzt auf seine eigene Sprache über. »Ritter wird ja vermutlich nicht hier sein. Ich höre, er war heute morgen in Köln.« Es war klar, daß das alte Faktotum wenigstens so gut Englisch sprach wie Morton Französisch. »O nein«, erwiderte er, »Mr. Ritter ist vor wenigen Minuten mit dem Hubschrauber eingetroffen. Der König erlaubt ihm natürlich, im Hof des Palais Royal zu landen.« »Ich verstehe.« Dabei war Morton keineswegs sicher, daß er das verstand. Als sie oben an der Treppe angelangt waren, erwartete sie dort ein verbindlich lächelnder pomadisierter Herr, der sich als Luciano Rossi vorstellte. »Ich bin der Sekretär des Dreizehner-Clubs. Wirklich sehr liebenswürdig, daß Sie sich zu uns bemühen, Mr. Morton. Die Mitglieder werden sehr erfreut sein, Sie zu sehen.« Rossi nahm den Kommissar am Ellbogen und bugsierte ihn in einen prächtigen Raum mit hoher Decke. Morton hatte kaum Zeit, die eindrucksvolle Anordnung von Silber und Kristall auf der langen Mahagonitafel zu bewundern, als jemand mit festem Griff seine Hand erfaßte. »Guten Tag, Herr Kommissar«, begrüßte ihn Ludwig Ritter. »Ich hoffe, Sie haben heute ohne Mühe hierhergefunden. Der Dreizehner-Club will nicht auf sich aufmerksam machen. Das ist nicht wie das Hilton-Hotel, aber wahrscheinlich werden Sie feststellen, daß das Essen hier ein wenig besser ist.« Er wies lächelnd auf die Tafel. 130
Ludwig Ritter erinnerte in mancher Hinsicht an Dr. Kramer, war aber mindestens zehn Jahre älter. Beide Männer hatten etwas Wuchtiges an sich, eine Ausstrahlung von Macht, die beinahe erdrückend wirkte. Aber wo Kramers Haut einen Rosaton hatte, den man sowohl an seiner kräftigen Backenpartie wie an seiner hohen Stirn wahrnehmen konnte, wirkte Ritters Gesicht dunkler; seine Schultern waren breiter und massiger als die Kramers – ja, dachte Morton, dies war ein Mann, dem man die physische Kraft nicht nur ansah, sondern der sichtlich auch Spaß daran hatte. Jemand, dem man nicht in einer dunklen Nacht in einer finsteren Gasse begegnen wollte. Er schätzte Ritters Alter auf etwa fünfundsiebzig plus oder minus ein, zwei Jahre. Irgendwie kamen ihm die Gesichtszüge des Mannes bekannt vor, als hätte er Ritter schon einmal gesehen, aber im Augenblick wollte ihm nicht einfallen, wann oder wo das gewesen sein konnte. »Verzeihen Sie, wenn ich mich etwas verspätet habe, Mr. President.« Wie leicht man sich doch diese kontinentalen Gepflogenheiten angewöhnte, dachte Morton. Mr. President, Mr. Commissioner, Exzellenz, Onorevole – die salbungsvollen Worte flossen einem förmlich von den Lippen, und nach nur wenigen Wochen in Brüssel ertappte er sich dabei, wie er sich beinahe unbewußt daran gewöhnt hatte. »Wie Sie ja vielleicht wissen, tagt die Kommission immer am Mittwoch vormittag, und das zieht sich manchmal ein wenig in die Länge.« Während er das sagte, fiel Morton ein kurzer Blickwechsel zwischen Ritter und Luciano Rossi, dem italienischen Sekretär des Dreizehner-Clubs, auf. War das die Andeutung 131
eines Grinsens in Rossis Gesicht? Waren die Herren des Dreizehner-Clubs nicht nur längst mit der Tagesordnung der Kommission, sondern auch mit den Ergebnissen ihrer Diskussion vertraut? »Ah, ja, natürlich. Ich hoffe, Sie hatten eine erfolgreiche Diskussion.« Die Andeutung des Verhörs war in Ritters Tonfall nicht zu überhören. Morton war überzeugt, daß der Mann ganz genau wußte, daß die geplante Fusion zwischen United Chemicals und Deutsch-Chemie in der Sitzung am heutigen Vormittag zur Sprache gekommen war, beschloß aber, die Frage, falls es wirklich eine Frage war, unbeantwortet zu lassen. Alles zu seiner Zeit. Soweit es ihn betraf, handelte es sich um ein schwebendes Verfahren. Ritter führte seinen Gast schnell um den Saal herum, so wie vielleicht ein Jockey sein Pferd vor dem Rennen um den Sattelplatz führt. Morton machte in schneller Folge die Bekanntschaft der Kapitäne und Kommandanten der europäischen Industrie. Wie Ritter strahlten auch die anderen Mitglieder des Dreizehner-Clubs eine Aura von Gewichtigkeit und Solidität aus. Erfolgreich zu sein war eine gewichtige Sache, und zwar in jedem Sinne des Wortes. Einige der Namen waren ihm vertraut; einige der Gesichter waren ihm vertraut. Manchmal deckten sich vertraute Namen mit vertrauten Gesichtern. Die traditionellen Sektoren der europäischen Industrie waren vertreten – Stahl, Schiffbau, Automobilbau, Chemie. Man redete von »Vergleichsvorteilen«, redete davon, die schmutzige Arbeit Japan und Korea und Singapur und den anderen sogenannten neuen Industrieländern zu überlassen; aber die Realität, 132
die sie alle kannten, war, daß Europa nie überleben würde, wenn die klassischen, Wohlstand produzierenden Sektoren unter den Wellen des internationalen Wettbewerbs versanken. Die neuen Industrien waren ebenfalls vertreten – Telekommunikation, Biotechnologie, Computer. Morton wußte, daß er, sobald er die Zeit dafür hatte, alle Dossiers im Detail würde studieren müssen, um eine Verbindung zwischen den Gesichtern und den Männern sowie den Männern und ihren Tätigkeiten herzustellen. Am anderen Ende des Saals entdeckte er jemanden, den er kannte. »Ich glaube, Sir Gordon Cartwright kennen Sie schon«, sagte Ritter, als er ihn zu dem Engländer führte. Morton begrüßte den großen britischen Industriellen, den er zuletzt auf Chequers beim sonntäglichen Lunch gesehen hatte – und wie weit schien das jetzt schon zurückzuliegen! »Sind Sie auch mit dem Hubschrauber eingeflogen?« »Nein, mit meinem Firmenjet. Ich fliege nach dem Lunch zurück; soll ich Sie mitnehmen? Platz ist genug.« Als er im späteren Verlauf des Tages auf das gemeinsame Mittagessen zurückblickte, verdichtete sich bei Morton der Eindruck, daß man ihn zur Schau gestellt hatte, geradezu als stünde er vor Gericht. Als sie schließlich Platz genommen hatten, hatte er festgestellt, daß seine beiden Nachbarn Ritter und Cartwright waren. Obwohl beide Männer das Gespräch auf die geplante Fusion gebracht hatten, hatte Morton sich jeden Kommentars enthalten und lediglich angedeutet, daß die Kommission die Angelegenheit untersuchen und sich zu gegebener Zeit dazu äußern würde. Er hatte eine gewisse Enttäuschung gespürt, beinahe als hoff133
ten seine Gesprächspartner, daß er einen Hinweis auf das wahrscheinlich positive Ergebnis der Überlegungen der Kommission geben würde. »Für England wird es gut sein«, versicherte ihm Cartwright zwischen dem Käse und dem Obst. »Und auch gut für Europa. Und ganz sicherlich für uns bei United Chemicals. Wir müssen in Europa industrielle Einheiten schaffen, die es an Größe und Komplexität mit den Amerikanern und den Japanern aufnehmen können. Das ist es, worum Ludwig und ich uns bemühen, nicht wahr, Ludwig?« Er beugte sich vor und sah dabei den Präsidenten des Dreizehner-Clubs an. »Ganz sicher.« Ritter zögerte keinen Augenblick, seinem britischen Kollegen zuzustimmen. Aber Morton ließ sich nicht weiter ausfragen, und als die beiden Männer das erkannten, ließen sie das Thema mit einigem Widerstreben fallen. Später, als man die Teller abgeräumt und Kaffee und Digestifs aufgetragen hatte, tippte Ritter mit dem Finger an sein Glas und bat um Stille. »Gentlemen.« Er las seine Rede von einem maschinengeschriebenen Manuskript ab: »Heute ehren wir den neuen Kommissar für Industrie Europas. Dies ist unsere erste Zusammenkunft im neuen Jahr, Commissioner, und wir hielten es für richtig, daß Sie hier anwesend sein sollen. Nehmen Sie unseren Glückwunsch zu Ihrer Ernennung entgegen!« Er beugte sich vor, hob sein Glas und forderte damit alle Anwesenden auf, es ihm gleichzutun. Morton, der eingehüllt in Zigarrenrauch und Alkoholdunst sitzengeblieben war, ertappte sich bei dem Gedan134
ken, wie diese sympathischen Gentlemen, die jetzt alle so liebenswürdig geplaudert hatten, wohl reagieren mochten, wenn man ihnen auf die Zehen trat. Jedes einzelne Mitglied des Dreizehner-Clubs verfügte über beträchtliche Macht. Zusammengenommen repräsentierten sie eine schier überwältigende Machtfülle. Nachdem Ritter wieder Platz genommen hatte, setzte Morton zu seiner Erwiderung an. Er sprach bedächtig, der Tatsache wohl bewußt, daß er – in gewissem Sinne – seine eigene Philosophie darlegte, die Art und Weise, wie er an seine Aufgabe herangehen wollte, so wie er das in diesen frühen Tagen erkannte. »Wir müssen tatsächlich sicherstellen«, sagte er seinen Gastgebern, »daß Europa die industrielle Kraft und auch die nötigen Muskeln besitzt, um sich mit dem zunehmenden Wettbewerb aus Amerika und Asien auseinanderzusetzen. Das bedeutet natürlich, daß die Strukturen der Aufgabe gewachsen sein müssen.« An einigen Stellen am Tisch war ein gemurmeltes »Hört, hört!« zu vernehmen. Sie waren sich nicht ganz sicher, was er meinte – Morton selbst war auch nicht ganz sicher, was er meinte –, aber seine Worte hatten allem Anschein nach den richtigen Klang. »Zugleich«, fuhr Morton fort, »müssen wir danach streben, das Element des freien, fairen Wettbewerbs innerhalb Europas zu bewahren und sogar auszuweiten. Der Wettbewerb bewirkt, daß die Preise sinken, und der Wettbewerb sichert dem Verbraucher die freie Wahl und die Qualität der Produkte.« Diesmal war die Reaktion wesentlich gedämpfter. Die 135
Männer hier um den Tisch hatten den größten Teil ihres Lebens im Glauben daran verbracht, daß Größe der Gottesfurcht gleichkam, und sie waren nicht bereit, ihre Denkweise überhastet zu ändern. Aber obwohl Morton die Gefahr erkannte, blieb er bei seinem Text. »Während meiner Amtszeit als Kommissar werde ich bemüht sein, mich von diesen Prinzipien leiten zu lassen – der Reform der industriellen Strukturen und der Aufrechterhaltung des fairen Wettbewerbs.« Als er sich setzte, gratulierte ihm Ludwig Ritter etwas oberflächlich. »Natürlich ist der Wettbewerb sehr wichtig, Commissioner. Ich weiß, daß er ein Grundprinzip des Vertrages von Rom darstellt, aber wir müssen erkennen, daß die Welt heute völlig anders ist als zu der Zeit, als der Vertrag von Rom unterzeichnet wurde.« Nach dem Essen war Morton ein paar Minuten mit Gordon Cartwright allein. Der Industrielle griff nach Mortons Ellbogen und lenkte ihn vertraulich in einen Winkel. »Ich war neulich mit dem PM zusammen, James. Wir haben über Sie gesprochen. War das nicht an dem Wochenende, an dem wir beide in Chequers waren, daß er Sie gebeten hat, Kommissar zu werden?« Morton überraschte die Frage. Er hatte einige Male an jenen merkwürdigen Sonntag gedacht und war für sich zu dem Schluß gelangt, daß Cartwrights Anwesenheit in Chequers kein bloßer Zufall gewesen war. All die Fragen, die er ihm, Morton, hinsichtlich seiner Ansichten zum Geschehen in der Industrie gestellt hatte! Es war gerade, als wäre Cartwright damals beauftragt gewesen, seine Eignung 136
für das Industrieressort zu überprüfen, als England bereits beschlossen hatte, sich um dieses Ressort zu bemühen. Weshalb tat Cartwright also jetzt so, als würde er sich nicht mehr an die äußeren Umstände dieses Treffen erinnern? »Ja, das war es tatsächlich«, erwiderte Morton trokken. »Ich muß sagen, mich hat das damals ziemlich überrascht.« Cartwrights Stimme wurde leiser. »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß der PM begeistert davon ist, wie Sie sich in Ihr Amt eingearbeitet haben. Ich weiß, daß Sie beim Lunch nicht viel sagen konnten, aber ich bin sicher, Ihnen ist klar, wie sehr der PM wünscht, daß diese Fusion stattfindet. Er ist in der europäischen Frage bei weitem nicht so belastet wie John Major, und das war auch – offen gestanden – einer der Umstände, die nach meiner Ansicht zum Untergang der Tories geführt haben. Der PM glaubt an die europäische Lösung. Unter uns beiden, das war einer der Gründe, weshalb Leute wie ich ihn bei den Wahlen unterstützt haben.« Die Hartnäckigkeit des Mannes verblüffte Morton. Er spürte, wie sich tief in seinem Magen ein harter, zorniger Knoten bildete. Bewußt bemüht, liebenswürdig zu bleiben, sagte er: »Ich würde natürlich gern behilflich sein, Gordon. Das müssen Sie und der PM wissen. Aber ich habe bereits festgestellt, daß die Kommission eine höchst merkwürdige Institution ist. Die richtige Vorgehensweise hat da großes Gewicht. Es ist nicht immer leicht, die Dinge abzukürzen.« Er hielt inne und fügte dann locker hinzu, während seine Wut sich steigerte: »Selbst wenn man etwas abkürzen wollte. Und ich bin gar nicht so sicher, daß ich das will.« Kurz nach diesem ziemlich kühlen Wortwechsel war 137
Mortons Besuch zu Ende. Da der Dreizehner-Club allem Anschein nach noch etwas zu besprechen hatte, verabschiedete sich Morton, indem er reihum wieder Hände schüttelte. Luciano Rossi führte ihn bis zur Tür. Als sie den langen Korridor entlanggingen, fragte Morton: »Was geschieht denn, wenn der Club hier nicht tagt? Wird das Gebäude dann auch benutzt?« Luciano Rossi schien zu zögern. »Ich bin natürlich ständig hier, weil der Club ja einen dauernden Sekretär braucht. Und wir haben einige zentrale Einrichtungen für Recherchen und für Dokumentation.« Auf einer der geschlossenen Türen, an denen Morton bei seiner Ankunft vorbeigekommen war, sah er eine Tafel mit der Aufschrift »Action Industriel«. »Was ist Action Industriel?« »Das ist Französisch und bedeutet das gleiche wie Ihr englischer Begriff Industrial Action, also Arbeitskampf.« »Das weiß ich«, erwiderte Morton ungeduldig. Der gekkenhafte Italiener war ihm inzwischen zutiefst unsympathisch. »Ich meine, was geschieht da?« Wieder äußerte Rossi sich ausweichend. »Manchmal beschließen die Mitglieder des Dreizehner-Clubs, daß sie in bestimmten Bereichen nicht individuell handeln, sondern gemeinsam die Initiative ergreifen werden.« Morton ließ es dabei bewenden. Es war klar, daß der Mann nicht beabsichtigte, ihm das näher zu erklären, und außerdem ging es ihn nichts an, solange sie sich an die Regeln hielten. Action Industriel war, so stellte er sich vor, eine PublicRelation-Aktivität irgendwelcher Art. 138
Auf der Rückfahrt zu seinem Büro fühlte Morton sich plötzlich müde. Aus irgendeinem Grund hatte ihn dieses Zusammentreffen mit dem Dreizehner-Club ziemlich angestrengt. Er hatte das Gefühl, daß jemand versuchte, ihn für seine Zwecke einzusetzen, und das war eine Vorstellung, die ihm nicht gerade behagte.
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as bedeutet das F?« Morton wandte den Blick nicht von der Straße, als er die Frage stellte. Er hatte Gerry, seinem Chauffeur, das Wochenende freigegeben und genoß es, den Jaguar einmal auszufahren. Seit sie Brüssel verlassen hatten, war die Tachometernadel nie unter 140 Stundenkilometer gefallen. Es war Samstag morgen, und die Brüsseler strebten an diesem ersten schönen Frühlingstag in dichten Scharen zur Küste. Es lohnte sich also, vorsichtig zu sein. »Federico, ob Sie es glauben oder nicht«, lachte Murray Lomax. »Wir haben in Edinburgh gelebt, aber meine Mutter hat damals eine italienische Phase durchgemacht!« Die beiden Männer waren sich seit einigen Monaten nicht mehr begegnet – praktisch seit jenem Mittagessen in der Residenz des britischen Botschafters im vergangenen November nicht mehr. Wenn ihn jemand gefragt hätte, dann hätte Lomax eingeräumt, daß ihn der Anruf des Kommissars mitten in der Woche, mit dem Morton ihn um ein Zusammentreffen bat, einigermaßen überrascht hatte. Nicht daß es ungewöhnlich gewesen wäre, daß Kommissare Journalisten anriefen, ganz besonders die Korrespondenten angesehener Zeitungen wie The Times. Kommissare waren genauso wie andere Teilnehmer am politischen Geschehen darauf erpicht, daß man ihre Gedanken korrekt wiedergab, und deshalb gehörten formlose Treffs insbesondere mit der 140
Presse des eigenen Landes in hohem Maße zur Tradition. Was Lomax überrascht hatte, war, daß Morton ihn nicht etwa gebeten hatte, auf eine halbe Stunde in sein Büro zu kommen, was die übliche Vorgehensweise war, sondern – wesentlich phantasievoller – einen Ausflug nach Brügge vorgeschlagen hatte. »Ich bin seit Jahren nicht mehr dort gewesen«, hatte Morton gesagt. »Ich wollte mir wieder einmal das Groeninge Museum ansehen. Wir könnten uns unterwegs unterhalten und vielleicht eine Kleinigkeit zu Mittag essen.« Sie hatten bereits die Hälfte der Autobahnstrecke zurückgelegt und genossen gerade das delikate Aroma der Chemiefabriken in der Umgebung von Gent, als Morton zu erkennen gab, was er wollte. »Ich wollte Sie ein wenig über die europäische ChemieIndustrie ausfragen, Murray. Ich habe gesehen, daß Sie ein Buch über das Thema geschrieben haben. Wie hat es sich denn verkauft? Wunderdrogen und Wirtschaftsverbrechen. Ein recht reißerischer Titel, würde ich sagen.« Lomax sah den Kommissar durchdringend an. »Bücher verkaufen sich nicht nach ihrem Titel, Commissioner. Jemand muß hinter ihnen stehen. Der Verlag hat das meine wie die sprichwörtliche heiße Kartoffel fallengelassen. Soweit ich mich erinnern kann, haben wir gerade mal zweitausend Exemplare verkauft. Den Rest haben sie verramscht, und dann haben sie den Titel nach acht Monaten aus dem Programm genommen.« »Warum haben sie sich denn nicht mehr darum bemüht?« Lomax gab nicht gleich Antwort. Er sah interessiert auf die vorbeiziehende Landschaft hinaus. Seit Gent hinter ih141
nen verschwunden war, war die Luft sauberer geworden. Er ließ sein Fenster wieder herunter. »Darüber habe ich oft nachgedacht«, meinte er schließlich. »Meiner Ansicht nach hat sie jemand unter Druck gesetzt, vermutlich die Industrie. Denen hat das Buch nicht gefallen. Sie haben gedroht, nicht nur den Verlag, sondern auch den Handel zu verklagen. Das geschah zu spät, um das Erscheinen des Buches zu verhindern, aber zu einer Taschenbuchauflage ist es dann nicht mehr gekommen.« Sie hatten inzwischen die Fernstraße verlassen. Bis Brügge waren es nur noch zehn Kilometer. In der Ferne konnte man bereits die Silhouette des berühmten Glockenturms über den Feldern von Flandern aufragen sehen. Zwanzig Minuten später parkten sie den Wagen und machten sich zu Fuß auf den schmalen Straßen und entlang der Kanäle auf den Weg, wo bereits die ersten Bootsladungen Touristen wie frühe Osterglocken erschienen waren. Sie blieben immer wieder stehen, um die Halbreliefs und Steinmetzarbeiten an den alten Gebäudefassaden zu betrachten und die kunstvolle Architektur einer vergangenen Epoche zu bewundern und so den Anblick und den Geist dieses guterhaltenen Denkmals der europäischen Geschichte in sich aufzunehmen. »Bitte verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte Lomax, als sie im Hof der Bouginage standen, »ich erkenne die Rolle der Industrie und auch ihr Recht, Wohlstand und Gewinne zu erzeugen, durchaus an. Ohne den Wollhandel Flanderns hätte es nie ein Brügge gegeben. Ich bin nur gegen den Machtmißbrauch der Industrie. Das ist es, was ich in meinem Buch versucht habe anzuprangern.« 142
Später, beim Mittagessen, nachdem sie sich die Memlings im Hospital des Hl. Johannes und die Breughels und Boschs im Groeninge Museum angesehen und auch den Glockenturm erstiegen hatten, um auf das jetzt über fünfzehn Kilometer entfernte Meer hinauszublicken – einst der Ursprung von Ruhm und Macht Brügges –, kam Lomax auf sein Thema zurück. »Wenn Sie sich für Bestechung, Fahrlässigkeit oder Betrug, gefährliche Produktionsmethoden, Kartellverletzungen oder ganz schlicht den Vertrieb wirkungsloser oder gefährlicher Präparate insbesondere in Ländern der Dritten Welt interessieren, werden Sie für jedes einzelne dieser Vergehen in der pharmazeutischen Industrie konkrete Vorgänge finden. Und, was noch schlimmer ist, das geht immer weiter.« »Wie steht es denn mit der chemischen Industrie? Ist die genauso schlimm wie die pharmazeutische?« »Auf ihre Weise schon. Nehmen Sie nur Pestizide. Das ist ein gutes Beispiel. 1972 hat die Weltgesundheitsorganisation geschätzt, daß es jährlich etwa 500 000 Fälle von Pestizidvergiftung gibt, davon 9 200 tödlich. Nach Schätzungen von Oxfam ist diese Zahl inzwischen auf fast eine Million Fälle mit über 15 000 Todesfällen pro Jahr gestiegen. Etwa die Hälfte davon und drei Viertel der Todesfälle ereignen sich in Entwicklungsländern. Den Berichten nach soll Shell 1980 sieben Prozent seines jährlichen Gewinns aus dem Verkauf von drei Pestiziden erwirtschaftet haben – Aldrin, Dieldrin und Endrin –, die in der Europäischen Union verboten oder starken Beschränkungen unterworfen worden sind. Dabei gibt es keinerlei Hinweise, daß derar143
tige hochgradig toxische Chemikalien wirksamer sind als solche mit einem geringeren Maß an Toxizität.« Morton hörte Lomax’ Darlegungen aufmerksam zu. Das meiste von dem, was der Journalist sagte, bestätigte die Tendenz der Denkschrift, die er vor ein paar Tagen gelesen hatte. Er versuchte, das Gespräch etwas zu lenken. »Hatten Sie zufällig Gelegenheit, sich einmal zum Beispiel« – er war bemüht, die Frage möglichst beiläufig klingen zu lassen – »Deutsch-Chemie oder United Chemicals anzusehen? Wie sieht es denn mit deren Ethik aus?« Murray Lomax, ein trotz seines italienischen zweiten Vornamens meist vorsichtiger Schotte, wog seine Antwort bedächtig ab. »Ich wünschte, ich hätte mir die chemische Industrie selbst detaillierter ansehen können. Insbesondere die deutsche Chemieindustrie ist faszinierend, und ich hätte gern darüber geschrieben. Aber ich hatte keine Zeit mehr, und darüber hinaus ist mir auch das Geld ausgegangen. The Times hat mich auf sechs Monate für die Recherchen und das Schreiben des Buchs beurlaubt, aber das war unbezahlter Urlaub. Wieder einmal typisch Murdoch!« Morton steuerte ihn erneut so beiläufig wie möglich auf das ihn interessierende Thema zurück. »Was hat Sie denn speziell an der deutschen Chemieindustrie interessiert?« Lomax begann, sich für sein Thema zu erwärmen, und schenkte sich Wein nach. »Nehmen Sie beispielsweise I. G. Farben, Commissioner. Vor dem Krieg stellte I. G. Farben vermutlich die mit Abstand größte Konzentration industrieller Macht auf der ganzen Welt dar. Nach dem Krieg haben die Alliierten in ihrer Politik der Dezentralisierung den Komplex zerschlagen, so wie sie auch Krupp zerschla144
gen haben. Aber wenn Sie sich heute die Überreste des I. G. Farben-Imperiums ansehen, dann werden Sie feststellen, daß jeder Teil davon, ob es nun Hoechst oder BASF oder Bayer oder Deutsch-Chemie ist, wesentlich größer ist, als I. G. Farben das je war. Ein Konzern wie Deutsch-Chemie beispielsweise hat einen Jahresumsatz, der weit über sechzig Millionen Mark liegt. Oder sehen Sie sich doch die Leute an, die diese Firmen führen. Vor dem Krieg gab es Männer wie Duisberg, der auf seine Art ein Gigant war, das räume ich ein. Er war ganz sicherlich eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens in Deutschland. In viel höherem Maße, als das die augenblicklichen Chefs der deutschen chemischen Industrie sind. Aber wenn Sie an echten Einfluß und echte Macht denken, dann ist Duisberg im Vergleich zu jemandem wie Ludwig Ritter ein Waisenknabe. Man hört nicht viel über Ritter; er ist eine ziemlich schattenhafte Gestalt, aber was seinen Einfluß angeht, ist er ein Koloß. Wußten Sie, daß Ritters Bruder Innenminister der Bundesrepublik ist, der Mann, der für die Polizei und alle Sicherheitskräfte maßgeblich ist?« Jetzt war Morton plötzlich bewußt, weshalb ihm Ludwig Ritters Gesicht bekannt vorgekommen war, als er an jenem Tag im Dreizehner-Club in der Rue Ravenstein seine Bekanntschaft gemacht hatte. Die Familienähnlichkeit zwischen dem Industriemagnaten und dem Politiker war sehr ausgeprägt. »Ich kann mir vorstellen, daß Ludwig Ritter diese verwandtschaftliche Beziehung recht angenehm ist.« »Ich glaube, das gilt für beide.« Gegen Ende der Mahlzeit sagte Lomax: »Verzeihen Sie mir die Frage, Commissioner, aber haben Sie – wie soll ich 145
das ausdrücken? – ein tieferliegendes Motiv für all diese Fragen?« Er machte eine weit ausholende Handbewegung, die das elegante und teure Restaurant am Kanal, in das Morton ihn eingeladen hatte, umschloß. »Ich meine, es ist mir ein Vergnügen, für ein gutes Mittagessen sozusagen zu singen, noch dazu in so angenehmer Umgebung, aber dürfte ich vielleicht Ihre Gründe erfahren?« Morton musterte das rote Gesicht des Mannes mit der etwas knolligen Nase und den scharf, aber freundlich blickenden Augen. »Was ich Ihnen jetzt sagen werde«, antwortete er, »darf unter gar keinen Umständen von Ihnen benutzt werden. Noch nicht. Sie dürfen mit niemandem darüber sprechen. Aber ich möchte, daß Sie es wissen, und möchte Ihren Rat, falls Sie mir einen geben können.« Lomax wußte, wann es Zeit war, sich zu konzentrieren. Er schob die Weinflasche weg, außer Reichweite. »Ich höre«, sagte er. Eine Viertelstunde später hatte Morton alles gesagt, was er sagen wollte. »Nun?« fragte er erwartungsvoll. »Was halten Sie davon?« Lomax zog die Weinflasche wieder zu sich heran und füllte sein Glas. Als er dann zu reden begann, wählte er seine Worte mit Bedacht. »Wie ich Ihnen schon sagte, weiß ich mehr über die Pharmabranche als über die Chemie. Aber alles, was Sie da sagen, alles, was dieser Mann sagt – wer auch immer er ist –, klingt mir authentisch. Ich weiß nicht, welche Firma er im speziellen meint und möchte auch keine Spekulationen anstellen. Es könnte eine britische Firma sein; es könnte 146
eine französische sein; es könnte eine deutsche sein. Da der Brief in Deutschland aufgegeben wurde, ist es vielleicht eine deutsche. Aber von einem bin ich überzeugt, Commissioner: Die Denkschrift, die Sie da erhalten haben, ist von jemandem verfaßt, der weiß, wovon er redet. Und ich will Ihnen noch etwas sagen.« Lomax senkte jetzt die Stimme. »Wer auch immer diese Notiz verfaßt hat, ist ein sehr mutiger Mann. Wenn er immer noch für seine Firma tätig ist, dann riskiert er seine Karriere – und nicht nur die.« Plötzlich verspürte Morton einen eisigen Hauch. »Was wollen Sie damit sagen?« Aber Lomax erwiderte nur: »Diese Leute können, wenn sie das wollen, mit harten Bandagen kämpfen. Das habe ich am eigenen Leib gespürt, wie ich Ihnen ja sagte.« Sie fuhren auf gewundenen Landstraßen zurück, die sie durch die ruhigen Dörfer Flanderns führten. Es war ein sonniger Nachmittag, und die aus dem langen Winterschlaf erwachte Landschaft war ein Labsal für Auge und Herz. »Vielen Dank«, sagte Morton, als er den Journalisten vor dem Brüsseler Büro der Times aussteigen ließ. »Ich habe eine Menge von Ihnen gelernt.« Lomax gab Morton durch das Wagenfenster die Hand. »Wir könnten ein wenig mehr Würze gebrauchen, Commissioner.« Das klang wehmütig. Vom Standpunkt eines Journalisten aus betrachtet, war Brüssel wichtig, aber ganz sicherlich nicht aufregend. Morton lächelte. »Wenn es eine Story gibt, Murray, werden Sie der erste sein, der das erfährt.«
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ans Kunig war ein präziser, akkurater Mann. Als obere Führungskraft der Deutsch-Chemie hatte er unter Beweis gestellt, daß die Liebe zu harter Arbeit im Verein mit einer streng methodischen Vorgehensweise, sowohl was intellektuelle Probleme betraf als auch in der täglichen Organisation seines Lebens, reichlich Früchte tragen konnte. Seit seiner Ankunft aus Amerika vor vier Jahren war er in der Firmenhierarchie schnell aufgestiegen. Ob der Umstand, daß er schon recht früh von Ludwig Ritter selbst zur Kenntnis genommen worden war, zu seinem schnellen Aufstieg beigetragen hatte, wußte Hans Kunig nicht sicher. Als er sich heute anschickte, sein Büro zu verlassen, erinnerte Kunig sich an jene erste Begegnung. Man hatte ihm mitgeteilt, daß Ritter ihn zu sprechen wünschte – nicht in seiner Suite in der Firmenzentrale außerhalb von Köln (Ritter pflegte nur selten in der Firma zu erscheinen), sondern auf seinem Schloß auf dem Lande, vierzig Kilometer außerhalb der Stadt. Kunig hatte die Fahrt mit einiger Beklommenheit angetreten. Bisher hatte er den allmächtigen Vorstandsvorsitzenden von Deutsch-Chemie nur bei der jährlichen Weihnachtsfeier und einmal anläßlich einer Feier zum fünfzigsten Firmenjubiläum zu sehen bekommen, als Ritter eine aufmunternde Rede gehalten hatte. »Ich hoffe nur, daß er mich nicht feuern wird«, hatte er 148
halb im Scherz zu seiner Frau gesagt. »Vielleicht will er mich befördern.« Helga Kunig, eine hagere, nervöse Frau, die eigentlich nie aus den Vereinigten Staaten, wo ihr Leben ihrer Ansicht nach in fast jeder Hinsicht geradezu ideal verlief, nach Deutschland hatte zurückkehren wollen, hatte besorgt geklungen. »Halt du dich an dein Labor, Hans. Davon verstehst du etwas. Als Führungskraft kannst du ebenso schnell wieder abstürzen, wie du aufsteigst. Und was würden wir dann tun? Wir haben schließlich Kinder, an die wir denken müssen.« Aber das Gespräch mit Ritter war gut gelaufen. Kunig war zu früh eingetroffen und war zehn Minuten lang nervös herumgefahren, ehe er schließlich seinen ganzen Mut zusammengenommen und die Glocke am Außentor betätigt hatte. Zu seiner Erleichterung hatte der Butler, als er ihm die Tür geöffnet hatte, durchaus freundlich gewirkt. »Ah, ja, Herr Kunig! Der Herr Vorstandsvorsitzende erwartet Sie.« Ritter hatte ihn in der Bibliothek empfangen und freundlich begrüßt. Er hielt ein Papier in der Hand, in dem Kunig sofort die Fotokopie eines Artikels erkannte, den er kürzlich im Journal der Deutschen Chemischen Gesellschaft veröffentlicht hatte. »Äußerst interessant. Wirklich äußerst interessant.« Ritter hatte mit dem Mittelfinger seiner linken Hand auf das Blatt getippt. »Die Gleichungen stimmen doch, oder?« »Nach meinem besten Wissen ja. Und Kollegen, die immer noch an diesem Thema arbeiten, haben mich wissen 149
lassen, daß sie mit meiner Argumentation übereinstimmen.« »Ja, einer von ihnen hat mir den Artikel zur Kenntnis gegeben. Höchst aufmerksam von ihm.« An dem Punkt hatte Kunig immer noch keine Ahnung gehabt, wie das Gespräch verlaufen würde. Allmählich hatte er das Gefühl, daß seine arme, von ihm so geliebte Frau, die aus irgendeinem Grund das Leben so schwierig fand (ein Umstand, der ihn häufig traurig stimmte), in diesem Fall gute Gründe für ihre pessimistische Ansicht zu seinem Ausflug auf Schloß Ritter hatte. Er hatte den Artikel von den zuständigen Stellen genehmigen lassen, aber wenn Ritter ihn loswerden wollte, würde das nicht den geringsten Unterschied machen. Der Mann war ein Autokrat, war immer einer gewesen und würde immer einer sein. Erst als Ritter ihm das Papier in die Hand gedrückt und gefragt hatte: »Ist es das, was in Bhopal passiert ist?«, war er beruhigt gewesen. »So etwas Ähnliches. Das weiß niemand genau. Die Leute, die hätten erklären können, was dort geschehen ist, sind alle bei diesem Unfall ums Leben gekommen.« »Schrecklich, schrecklich.« Ritter hatte den Kopf geschüttelt. »Wie viele Menschen sind denn insgesamt gestorben?« »Damals wenigstens dreitausend, und selbst heute sterben noch Menschen an den Nachwirkungen.« Und dann hatte er hinzugefügt: »Natürlich lagen spezielle Umstände vor, die die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls gefördert haben.« »Was wollen Sie damit sagen?« Kunig spürte die eiserne Härte hinter Ritters freundlichem Wesen, und er hatte sich zu erklären beeilt: »Dort war Methyl-Isozyanat in beträcht150
licher Menge gelagert. Wesentlich größere Mengen, als je in Europa zulässig wären. Hier sind die Vorschriften äußerst streng.« »Und das Phosgen? Das hat doch auch dazu beigetragen, oder?« Merkwürdig, dachte Kunig, daß Phosgen – das im Ersten Weltkrieg als Basiskomponente des tödlichen Senfgases so verheerend gewirkt hatte – jetzt, so viele Jahrzehnte später, als notwendiger Bestandteil für die Produktion landwirtschaftlicher Pestizide wieder sozusagen zu Ehren gelangt war. »Ja, das Phosgen hat mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Beitrag dazu geleistet, obwohl, wie ich in dem Aufsatz ausführe, niemand das genaue Zusammenwirken kennt. Wir wissen nur, daß der Tank sich überhitzt hat und die Kühlsysteme ausgefallen sind, so daß die Flüssigkeit verdampfte und als Giftwolke in die Umwelt entwich. Ich wollte in meiner Arbeit lediglich darauf hinweisen, daß in anderen chemischen Prozessen, in denen Chemikalien mit analogen Molekularstrukturen eingesetzt sind, ähnliche Reaktionen auftreten könnten.« »Zum Beispiel?« Wieder der schroffe Verhörton. Kunig hatte kurz gezögert. »Nichts, was augenblicklich nach meiner Kenntnis irgendwo auf der Welt produziert wird. Aber erinnern Sie sich an Agent Orange oder 2-4-5-T, das Entlaubungsmittel, das die Amerikaner im Vietnamkrieg eingesetzt haben?« »Selbstverständlich erinnere ich mich«, hatte Ritter mit einem kurzen Kopfnicken bestätigt. »Nun, ich hatte den Eindruck« – Kunigs Stimme klang 151
immer noch irgendwie unsicher –, »daß diese Klasse von Verbindungen bei der Herstellung unter gewissen Umständen ähnliche Probleme und Gefahren aufwerfen könnte, sofern nicht entsprechende Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden. Ich gebe zu, daß meine Arbeit, basierend auf Computeranalysen chemischer Strukturen, eine Art vorausschauende Warnung darstellen sollte.« Anscheinend hatte Ritter an dem Punkt sein Interesse an dem Thema verloren. »Vielen Dank, daß Sie zu mir gekommen sind. Das war äußerst interessant.« Auf der Fahrt nach Hause war Kunig verwirrt gewesen. Ihm war nicht klar, weshalb Ritter ihn persönlich hatte sprechen wollen oder was das Gespräch überhaupt hatte bezwecken sollen. Er hatte nie wieder mit dem Vorstandsvorsitzenden von Deutsch-Chemie über diese Angelegenheit gesprochen. Aber seine Karriere in der Firma hatte sich nach dem Gespräch wesentlich schneller als zuvor entwickelt. Obwohl er es manchmal bedauerte, daß seine Versetzung in den Verwaltungsbereich und die verschiedenen Beförderungen, die sich anschlossen, ihn daran hinderten, weiterhin seinen Interessen in der Forschung nachzugehen, darunter auch den Forschungsarbeiten, die Thema seines Aufsatzes gewesen waren, hatte das Ganze natürlich auch erhebliche Vorteile. Helga beispielsweise hatte sich allmählich wieder an das Leben in Deutschland angepaßt. Es gefiel ihr zwar noch nicht, und sie träumte immer noch davon, zu Safeway zu fahren und ihren riesigen Chevrolet Station-Wagen mit einem Dutzend Kartons mit Lebensmitteln vollzupacken; sie vermißte die Freundinnen, die sie unter den Müttern der Schulkameraden ihrer Kinder 152
gefunden hatte. Aber sie erkannte, daß die Dinge sich gut für Hans entwickelten. Und wenn das der Fall war, dann mußte das wohl auch für sie gelten. Einmal, kurz nachdem sie in Europa eingetroffen waren, hatte sie ihn gefragt, weshalb er eigentlich Amerika verlassen habe. »Du hattest doch schon deine Einwanderungspapiere und deine Green Card, Hans«, hatte sie ihm vorgehalten. »Die Kinder hatten die amerikanische Staatsbürgerschaft; wir alle hätten dort bleiben können.« »So einfach ist das aber nicht«, hatte er darauf geantwortet. »Ich kann mich nicht an meine Eltern erinnern; ich habe sie nie zu Gesicht bekommen; man hat sie weggeholt, und ich bin nach Amerika gegangen, aber ich weiß, daß sie Deutsche waren. Ich wollte eines Tages an den Ort zurückkehren, wo sie gelebt haben, in das Land, wo sie gestorben sind.« Sie verstand das nie, hatte es damals nicht verstanden und verstand es auch jetzt nicht. Sie hatte den Eindruck, daß seit Jahrzehnten Menschen aus Europa nach Amerika ausgewandert waren und nur wenige, falls es überhaupt welche gab, später den überwältigenden Drang verspürten, in ihr Heimatland zurückzukehren. Aber der Versuch, ihn umzustimmen, war sinnlos. Das Merkwürdige war nur, daß Kunig, obwohl er seine alte Firma – Ponting Chemicals – verlassen hatte, immer noch mit ihr Verbindung hielt; das wußte sie. Wenigstens einmal im Monat kamen Briefe, bei denen sie ganz sicher war, daß sie von Kunigs ehemaligem Arbeitgeber stammten. Und auf ihrer Telefonrechnung, wo die Ferngespräche einzeln aufgeführt waren, fand sie häufig die Nummer in Delaware, wo die Zentrale von Ponting ihren Sitz hatte. 153
Kunig sah auf die Uhr. Es war erst fünf. Aber seine Sekretärin war bereits nach Hause gegangen. Wie in vielen anderen Industriefirmen in Deutschland war die Bürozeit von acht Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags. Leitende Angestellte blieben natürlich gewöhnlich länger. Aber selbst sie pflegten am späteren Nachmittag Schluß zu machen. Das war typisch für Deutschland. Früh beginnen, früh nach Hause gehen, früh zu Bett gehen, um für die Arbeit am nächsten Morgen wieder frisch zu sein. Die Wiedervereinigung hatte daran nicht viel geändert, wenn sich auch seitdem viele andere Dinge geändert hatten. In der Fabrik war das natürlich völlig anders. Dort wurde im Schichtbetrieb gearbeitet – auch an den Wochenenden –, um sicherzustellen, daß das Kapital der Aktionäre von Deutsch-Chemie in Deutschland und auf der ganzen Welt keinen Augenblick untätig und unproduktiv war. Ehe Kunig das Bürogebäude verließ, ging er noch zu dem Fotokopiergerät am Ende des Flurs, wo er ein paar Minuten verweilte. Dann kehrte er in sein Büro zurück, legte ein paar Papiere in seine Aktentasche und sah sich noch einmal um, wie um sich zu vergewissern, daß alles ordentlich aufgeräumt war, ging dann zum Aufzug und fuhr ins Erdgeschoß, wo er auf den Firmenparkplatz hinausging. Als Führungskraft stand ihm ein BMW der 5erSerie zur Verfügung. Andere seiner Kollegen bevorzugten Mercedes, aber ihm war diese Marke immer zu schwer und irgendwie zu solide vorgekommen. Der BMW spiegelte seine Persönlichkeit einfach besser wider, fand er. Schnell. Effizient. Praktisch. Vielleicht gefährlich? Die Fabrikanlage von Deutsch-Chemie am Rheinufer 154
oberhalb von Köln wirkte eher wie eine Ortschaft als wie eine Fabrik. Die chemischen Werke selbst waren der Kern, um den sich ein Satellitensystem anderer Gebäude, darunter auch Häuser und Appartements, Sportanlagen, Bibliotheken, Kliniken und einige Kirchen, gruppierte – alles gleichsam eine Bestätigung der stolzen Behauptung von Deutsch-Chemie, daß sie sich von der Wiege bis zur Bahre und selbst noch darüber hinaus um ihre Mitarbeiter kümmerte. Die Kunigs wohnten, wie andere leitende Angestellte auch, am äußeren Rand des Komplexes, ein Stück vom Fluß und den Fabrikationsanlagen entfernt in einer freundlichen Vorstadt, wo jedes Haus seine eigene Rasenfläche hatte – beinahe, wie Helga Kunig manchmal mit etwas Wehmut dachte, als ob sie wieder in Amerika wären. An jenem schönen Maiabend spielten die beiden Kinder der Kunigs vor dem Haus im Garten, als der Wagen ihres Vaters vorfuhr und Kunig ausstieg. Die zwei Kinder rannten auf den Wagen zu. »Papi!« riefen sie. Kunig drückte sie an sich. Das Mädchen – Katharina – war mit ihren neun Jahren die Ältere, ein erstaunlich reifes und nachdenkliches Kind, während der zwei Jahre jüngere Junge – Gunter – mit seinen zerzausten Haaren ein liebenswertes und äußerst schlampiges Kerlchen war. Ein paar Minuten später saßen sie alle wie eine Million andere deutsche Familien im ganzen Lande beim Abendessen. Helga betrachtete ihre Kinder voll Stolz. Sie waren ihre größte Freude auf der Welt, und zugleich verursachten sie ihr manchmal unerträglichen Schmerz. Tief in ihrem Innersten plagte sie die unvernünftige Angst, daß ihnen 155
oder ihr oder – was das allerschlimmste wäre – Hans einmal etwas passieren könnte. »Alles aufessen!« Das hatte sie bestimmt schon hundertmal gesagt. Katharina tat, was ihre Mutter von ihr verlangte; der Junge rannte nach draußen und mußte von seinem Vater zurückgeholt und mit gespielter Strenge zur Ordnung gerufen werden. Später, als die Kinder schliefen und sie in dem behaglichen Wohnzimmer ihres Hauses zusammensaßen, spürte sie, daß ihn irgend etwas belastete. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß es keinen Sinn hatte, in ihn zu dringen. Entweder würde er es ihr von sich aus sagen oder es für sich behalten. Der Blick, mit dem sie ihn musterte, verriet Zuneigung und Liebe. Als sie ihn vor zehn Jahren kennengelernt hatte, stand sie kurz vor dem Zusammenbruch. Sie hatte die Schule absolviert, das Universitätsstudium aufgegeben – der Druck, der dort auf ihr lastete, war einfach zu groß – und arbeitete zutiefst unglücklich in einer langweiligen Anwaltskanzlei in Bonn, als Kunig wie der sprichwörtliche Ritter in der weißen Rüstung und auf weißem Roß dort auftauchte, ihre Bekanntschaft machte und sie mit nach Amerika nahm. Er hatte sie von einer mittelmäßigen Bürolaufbahn befreit. Aber was viel wichtiger war, er hatte sie von sich selbst befreit. In Amerika hatte sie zwei Anfälle von Depressionen gehabt, von denen einer sogar über längere Zeit angehalten hatte. Aber Helga wußte, daß diese Depressionen sich ohne den Rückhalt und die Stabilität, die Hans ihr bot, zu etwas viel Schlimmerem hätte auswachsen können. Wieweit Hans das alles verstand, 156
wußte sie nicht. Hin und wieder fragte sie sich sogar, ob sie es selbst verstand. Die gelegentlichen Stimmungstiefs, unter denen sie litt, machten ihr solche Angst, daß sie manchmal am liebsten laut geweint hätte. Daß sie Kinder hatte, half, aber in ihren dunkelsten Momenten reichte selbst das nicht. Manchmal ertappte sie sich dabei, wie sie zitternd in der Küche stand, und nur das Geräusch des vor dem Haus vorfahrenden Wagens brachte sie dazu, sich wieder zusammenzureißen. »Was ist denn, Hans?« Sie musterte sein ebenmäßiges Gesicht, die schwere schwarze Brille, die leicht spitzen Ohren und gleichmäßigen weißen Zähne. Es würde ziemlich schwierig sein, dachte sie, sein Aussehen zu beschreiben, falls sie je eine Vermißtenanzeige aufgeben mußte. Aber wenn sie die Augen schloß, konnte sie seine Gesichtszüge ebenso deutlich sehen wie ihre eigenen im Spiegel. »Ich wäre wirklich froh, wenn du mir sagen würdest, was los ist«, fügte sie dann hinzu. Wenn ihn etwas plagte, plagte sie das nur noch mehr. Er lächelte. »Gar nichts ist los, Helga.« Sie wußte, daß er log – oder wenn er schon nicht log, dann verbarg er zumindest etwas vor ihr. »Du warst die letzten sechs Monate immer nervös und ängstlich. Das paßt gar nicht zu dir.« »Nervös? Ängstlich?« Er lachte und versuchte, ihre Befürchtungen damit abzutun. »Du bringst Papiere mit nach Hause«, sagte sie und deutete auf die Aktentasche neben seinem Stuhl. »Das hast du früher nie getan.« »Ich bin jetzt leitender Angestellter, Helga. Ich kann nicht 157
immer einfach mit Arbeiten aufhören, weil die Fabrik geschlossen ist.« Wieder lachte er, aber ihr kam es unsicher vor. Sie gingen früh zu Bett. Sie wünschte sich, daß er sie liebte, aber er drehte sich von ihr weg. Sie wußte nicht, ob er schlief. Später, als sie seinen ruhigen, gleichmäßigen Atem hörte, stahl sie sich enttäuscht, fast ärgerlich aus dem Bett. Sie spürte eine Anwandlung von Panik in sich, kämpfte aber dagegen an. Viel später, als sie ins Schlafzimmer zurückkehrte, war er wach. Als sie wieder ins Bett stieg, sagte er: »Eines Tages gehen wir nach Amerika zurück, Helga, das verspreche ich dir.« »Wann?« »Bald. Früher als du glaubst. Aber vorher muß ich hier noch einiges erledigen.« Sie hörten, wie der Junge im Nebenzimmer sich regte. »Schsch!« Er zog sie an sich. Als er sie dann in den Armen hielt, spürte sie, wie die Schwärze, die Panik, die sie erfaßt hatte, von ihr zurückwich. Vielleicht würde schließlich doch noch alles gut werden.
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ls Morton ihr am Rande einer Kommissionssitzung mitteilte, daß er einen Besuch in Porto beabsichtigte, war sie entzückt gewesen. »Das ist ja herrlich! Um die Zeit werde ich selbst auch dort sein. Wenn Sie über das Wochenende bleiben können, kann ich Ihnen Stadt und Umgebung zeigen.« Helena Noguentes hatte Wort gehalten. Sie holte ihn am frühen Samstag morgen in seinem Hotel ab. »Ich möchte Ihnen die Anlagen am Ufer des Douro zeigen. Alle großen Häuser haben dort ihre Keller – Cockburn, Sandeman, Taylor. Wie Sie ja wissen, haben die Briten« – dabei wandte sie sich halb von der Straße ab und sah zu ihm hinüber – »den Portweinhandel erfunden. Wenigstens die Hälfte der Häuser befindet sich auch heute noch in britischem Besitz.« »Die Clubs in St. James leben vom Portwein. Auch heute noch.« Morton lachte. Er war in guter Stimmung. Zwei Tage intensiver Gespräche mit Regierung und Industrie in Lissabon und Porto waren gut gelaufen. Seine Mitarbeiter waren am Abend zuvor nach Brüssel zurückgeflogen; er war froh, einmal eine Weile allein zu sein. Peter Simpson war ein tüchtiger junger Mann, wie er schnell festgestellt hatte, aber die beständige Überwachung durch seinen Kabinettchef ging Morton in zunehmender Weise auf die Nerven. »Nein, Peter«, hatte er ihm mit 159
Bestimmtheit erklärt. »Ich komme ausgezeichnet allein zurecht. Ich werde keine Reden halten, darauf können Sie sich verlassen!« Er hatte trotzdem eine kleine Rede halten müssen. Die ehrenwerten Meister des Portweininstituts von Porto hatten erfahren, daß sie an jenem Samstag morgen nicht ein, sondern sogar zwei europäische Kommissare besuchen würden, und hatten eine Führung durch eines der Häuser vorbereitet. Nachdem sie ihre Gäste durch die mit Traubengeruch geschwängerten Keller und Gewölbe geführt hatten, hatten die örtlichen Granden eine kleine Weinprobe arrangiert. Es erwies sich als nötig, auf die freundlichen Begrüßungsworte entsprechend zu antworten. Morton hatte sein Glas mit Tawny Port in das Licht gehalten, das durch die Fenster des alten Hauses hereinströmte. Ein paar Meter unter ihm floß der Douro das letzte kurze Stück Weges zum Meer. »Ich trinke auf Ihre Stadt, Ihr Land. Ich trinke auf Ihren berühmten Wein. Ich fühle mich geehrt, heute mit meiner Kommissionskollegin, Senhora Noguentes, hier sein zu dürfen. Ich möchte Ihnen sagen, daß wir uns alle glücklich preisen, eine so fähige Kollegin zu haben. Tatsächlich ist das das erste Mal, daß eine Frau aus Portugal der Kommission angehört, also muß ich Ihnen auch dazu gratulieren!« Trotz des Beifalls, den er bekommen hatte, war Morton keineswegs sicher, daß die mürrisch wirkenden alten Männer, die an diesem Morgen seine Gastgeber waren, auch begeisterte Feministen waren. Er bezweifelte das sogar. Aber daß sie von Helena als Person eine ganze Menge hielten, war deutlich zu erkennen. 160
Als sie eine halbe Stunde später dann die Stadt verlassen hatten, um in die Berge zu fahren, hatte er sie nach ihren Erlebnissen als Bürgermeisterin von Porto befragt. »Ich glaube, die meiste Beliebtheit habe ich mir damit erworben, daß ich den Douro gesäubert habe«, erklärte sie. »Diese netten alten Herren, mit denen wir heute morgen zusammen waren, gehörten zu den schlimmsten Umweltsündern. Ich habe ihnen allen den Kampf angesagt – und gewonnen.« Sie lächelte. »Heute gibt es Leute, die im Douro schwimmen, aber meine Sache ist das nicht. Ich bin sehr froh, daß Dr. Kramer in seiner Kommission Portugal das Umweltressort anvertraut hat. Das verschafft mir wenigstens manchmal das Gefühl, auch etwas von dem zu verstehen, wovon ich rede.« Der Tag hatte gut angefangen und entwickelte sich auch weiterhin gut. Nach etwa zwei Stunden bogen sie von der Hauptstraße ab, machten kurz in einem kleinen Café an der Straße halt, um zu Mittag zu essen, und fuhren dann auf Nebenstraßen in das bergige Landesinnere. Sie hatte einen Feldstecher mitgebracht, den sie ihm jetzt reichte, damit er die Berge und den Himmel betrachten konnte. »Vielleicht sehen Sie einen Goldadler oder einen Weißschwanzadler. Hier oben gibt es mehrere Adlerpaare.« Je weiter sie ins Bergland eindrangen, desto schmaler und steiniger wurde die Straße. Sie fuhr an den Straßenrand, und beide stiegen aus. Morton hielt sich das Glas vor die Augen. Er sah den Adler fast sofort, er schwebte hoch über einer Felsspalte, und seine Schwingen zeichneten sich deutlich vor dem klaren, wolkenlosen Blau des Himmels ab. 161
Sie sah, was er entdeckt hatte, und nahm ihm das Glas weg. »Ja, das ist unser Goldadler. Aquila chrysaetos. Der König der Vögel.« »Wir haben ein paar davon in Schottland. Sie stehen unter Naturschutz, aber die Bauern schießen auf sie. Sie behaupten, sie würden Lämmer reißen.« »Bauern sind überall gleich. Die Leute sind überall gleich. Manchmal frage ich mich, ob wir sie je verändern können.« Bis zu dem Augenblick hatte Morton sie einfach für eine geschickte Politikerin gehalten, die es fertiggebracht hatte, aus ihrem provinziellen Ruf etwas zu machen und landesweite Anerkennung zu gewinnen. Jetzt erkannte er an ihr Substanz, wo er bisher nur Form vermutet hatte. Sie kletterten einen steilen Felsweg zwischen zwei Bergspitzen hinauf, bis sie einen Aussichtspunkt erreichten, von dem aus sie nach Spanien und auf die Sierra Nevada blicken konnten. »Um hier über die Grenze zu gehen, braucht man ein Maultier«, meinte sie, »und ein paar Tage Zeit.« »Das würde ich gern einmal tun.« Wie er so dastand, wurde Morton unwillkürlich bewußt, wie fern ihm sein bisheriges Leben mittlerweile erschien. Wie konnte man jene endlosen Stunden im Unterhaus, die er damit verbracht hatte, in Kleinigkeiten der Gesetzgebung herumzupicken, mit diesem großen, leeren Land vergleichen, in dem die Raubvögel in den Luftströmen kreisten, die von den Bergen aufstiegen? Ihm schien es, daß er einen zu großen Teil seines Lebens damit verbracht hatte, sich auf Schienen zu bewegen, Schienen, die von Anfang an vorgegeben gewesen 162
waren – all die Krawatten, die in seinem Schrank hingen –, und er sich jetzt plötzlich in eine völlig andere Richtung bewegte. War er vielleicht auch im Begriff, dabei ein anderer Mensch zu werden? Als sie sich den steilen Pfad wieder hinunterarbeiteten, fragte er sie, ob sie ausgebildete Biologin sei. »Sie hatten diesen lateinischen Namen so schnell auf der Zunge.« »Ich habe die Grundausbildung, um einen Falken von einer Säge zu unterscheiden, wie euer William Shakespeare es formuliert hat. Aber meine Doktorarbeit habe ich in Chemie geschrieben. Die wissenschaftliche Ausbildung hilft einem, wenn man mit Umweltfragen befaßt ist. Ich kenne zwar die Antworten nicht, aber ich weiß, wie man die richtigen Fragen stellt.« Während sie das sagte, kam Morton eine Idee. In nicht zu ferner Zukunft würde er vielleicht Verbündete in der Kommission brauchen, wenn er das tat, was er möglicherweise würde tun müssen. Helenas Unterstützung könnte da äußerst wertvoll sein. Und wenn er es schaffte, den Griechen, den Dänen und den Österreicher auf seine Seite zu ziehen, würden sich vielleicht andere anschließen. Als sie erhitzt und durstig zum Wagen zurückkamen, holte Helena einen Picknickkorb aus dem Kofferraum. »Vinho verde, probieren Sie.« Sie schenkte Wein in ein Glas, und er leerte es mit einem Zug. »Besser als das Beste, was Sandeman zu bieten hat, und das will etwas bedeuten!« Er lachte. »James, wollen Sie mich nicht küssen?« Es klang so förmlich, so präzis und so absolut richtig. Er betrachtete sich selbst aus großer Höhe, als hätte er durch 163
irgendeine seltsame Verwandlung den Platz mit jenem riesigen am Himmel kreisenden Adler getauscht, den sie vorher gesehen hatten. »Donnerwetter, ja. Ich glaube schon.« Sie lachte laut auf, warf ihr schwarzes Haar zurück und wandte ihm dann ihr Gesicht zu. »Sie sind absurd und typisch britisch, James.« Er hatte vergessen, wie es war, wenn man jemanden das erstemal küßt. Als sie dann in einen früheren maurischen Palast, den man geschickt in ein Restaurant umgebaut hatte, in Porto zu Abend aßen, erzählte sie ihm von ihrer Kindheit und Jugend in den Bergen über dem Douro. »Meine Eltern waren reich, eine der großen Landbesitzerfamilien Portugals. Wir hatten dreitausend Hektar Weinberge. Die Bauern keltern die Trauben immer noch mit den Füßen. Mein Bruder leitet jetzt das Anwesen.« »Sehen Sie ihn oft?« »Eigentlich nicht. Er billigt meine politische Anschauung nicht.« Sie lächelte. Was für eine reizvolle Frau sie doch ist, dachte Morton. Sie hatte etwas Exotisches an sich, irgendwelche maurischen Züge, die ihr Gesicht mit ganz besonderem Zauber erfüllten. Er war hinreichend Chauvinist, um der Ansicht zu sein, daß die Ehe das angemessene Schicksal der Frauen war, ganz besonders, wenn sie hübsch waren. Und deshalb fragte er: »Waren Sie je – sind Sie – verheiratet?« Die Frage schien sie nicht im geringsten zu stören. »Einmal. Mit einem Grafen, der ein Anwesen in der Nähe des unseren hatte. Meine Eltern haben mich zu der Ehe getrieben. Sie waren der Ansicht, daß dies eine großartige 164
Verbindung zweier Landbesitzerfamilien wäre, und ich war damals zu jung, um mich zu wehren. Aber die Ehe hielt nicht lange. Er war kein übler Bursche, aber er hat sich nur für die Jagd interessiert. Nachdem wir uns dann getrennt hatten, zog ich in die Stadt und ging in die Politik.« Sie sagte das ganz schlicht, faßte ein Leben in einigen wenigen Sätzen zusammen. Falls die Ehe an ihr irgendwelche Narben hinterlassen hatte, waren diese an der Oberfläche nicht zu erkennen. »Und Sie?« fragte sie. »Mrs. Morton scheint ja nicht oft nach Brüssel zu kommen, oder?« Unter anderen Umständen hätte Morton versucht, ausweichend zu antworten. Seine ganze Erziehung, seine ganze Einstellung zum Leben hatten ihn gelehrt, jeglicher Intimität aus dem Wege zu gehen und, koste es, was es wolle, direkte Antworten auf direkte Fragen zu vermeiden, insbesondere Fragen, die darauf abzielten, etwas über sein persönliches Leben zu erfahren. Andere hatten das versucht, hatten an ihm herumgestochert, gebohrt, aber Morton hatte nie auch nur die leiseste Andeutung von sich gegeben, daß seine Ehe mit Isobel in irgendeiner Weise in Gefahr war, geschweige denn im Begriff zu scheitern oder gar vor dem völligen Bankrott. Er sah sie über den Tisch hinweg an. »Isobel und ich gehen im Augenblick einen etwas steinigen Weg.« So deutlich war er bisher noch nie gewesen. Sie fuhr ihn zu seinem Hotel zurück und nahm seinen Arm, als sie die Halle betraten. Der Türsteher kannte sie, begrüßte sie, und sie erwiderte seinen Gruß freundlich. »Für die bin ich hier immer noch die Bürgermeisterin.« 165
»Was würden sie wohl davon halten«, fragte Morton, »wenn die Bürgermeisterin von Porto die Nacht mit dem Gentleman aus England verbrächte?« »Natürlich werde ich die Nacht hier verbringen. Mein Zimmer liegt neben dem Ihren im fünften Stock. Man hat meine Koffer schon im Laufe des Tages hierhergebracht. Wenn ich auf dem Land geblieben wäre, dann wäre ich morgen früh nicht rechtzeitig am Flughafen, um die Maschine nach Brüssel zu erwischen!« Jetzt mußte er lachen. »Entschuldigung. Mir ist das alles ein wenig zu neu.« Und dann dachte er, wie sollte Isobel es je erfahren? Und selbst wenn sie es erfuhr – würde es ihr etwas ausmachen? »Ich bin kein besonderer Fang«, sagte er, als sie zusammen die Treppe hinaufgingen. »Gescheiterter Torypolitiker in mittleren Jahren, Anflug von Glatze. Sie könnten einen besseren finden, wissen Sie.« Sie ging gar nicht erst in ihr Zimmer, sondern folgte ihm in das seine und klammerte sich leidenschaftlich an ihn, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatten. »Ich habe dich gleich gewollt, schon an dem Tag, als ich dich das erstemal gesehen habe«, flüsterte sie, als sie ihn aufs Bett zog. »Hast du das nicht gemerkt?« »Also hör mal!« protestierte er. Aber es wirkte nicht überzeugend. »Hältst du das wirklich für klug? Schließlich sind wir Kollegen!« Jetzt wurde sie ernsthaft böse. »Was werden die Leute sagen? Was werden die Leute denken? An etwas anderes könnt ihr Briten anscheinend nie denken. Und außerdem, 166
warum sollten die anderen eigentlich etwas erfahren? Ich habe ja nicht vor, in Brüssel bei dir einzuziehen.« Aber Morton konzentrierte sich jetzt schon mehr auf die Gegenwart als auf die Zukunft. Er knöpfte ihre Bluse auf und ließ sie über ihre Schultern gleiten. Als er ihren schlanken, festen Körper und ihre kleinen olivfarbenen Brüste sah, erfüllte ihn plötzlich ein Gefühl schier unerträglich guter Laune. Am nächsten Tag flogen sie nach Brüssel zurück, jetzt ebenso Liebende wie Kollegen. Morton saß neben ihr, blätterte zufrieden im International Herald Tribune und fand dort drei Dinge, die ihn interessierten. Abgesehen davon, daß sie in derselben Ausgabe des Blattes abgedruckt waren, schien es keinen Zusammenhang zu geben. »Ein faszinierender Artikel, das da«, meinte er zu ihr gewandt und tippte mit dem Mittelfinger auf die Seite. »Hier wird angedeutet, daß die Amerikaner gegen die Guerillas und Rauschgiftbarone Entlaubungsmittel einsetzen, genauso wie sie das in Vietnam getan haben. Agent Orange oder das, was dem eben heute entspricht.« Sie nahm ihm das Blatt weg und studierte den Artikel sorgfältig. Als sie zu Ende gelesen hatte, sagte sie: »Wenn der Bericht stimmt, wer stellt das dann her? Agent Orange und ähnliche Substanzen sind auf der ganzen Welt verboten – seit über zwanzig Jahren. Falls jemand heute dieses Zeug herstellt, ist das ungesetzlich – gelinde gesagt.« Sie wandte sich wieder ihrer Lektüre zu. Mortons Gedanken kreisten immer noch um toxische Entlaubungsmittel und das Rätsel ihres Auftauchens in Zentralamerika, und 167
dabei sah er zum Fenster hinaus. Sie flogen jetzt über den Nordwesten Spaniens. In der Tiefe konnte er die Landschaft des Baskenlandes erkennen und, da der Himmel sehr klar war, sogar die Städte entlang der Küste. Als sie dann die französische Grenze überflogen, erinnerte er sich mit einem Anflug von schlechtem Gewissen daran, daß er seine Flitterwochen mit Isobel in Biarritz verbracht hatte. Das war vor der Eröffnung ihres Geschäftes in London gewesen, bevor diese verdammten Japanerinnen ihr Leben so erfolgreich gemacht hatten, bevor – der Gedanke bereitete ihm immer noch Schmerzen – sie zu dem Schluß gelangt war, daß er zu alt und zu langweilig für sie war und zuwenig dynamisch, um sie auf Dauer zu befriedigen. Er blickte nach unten und sah dicht am Wasser den auffälligen rosafarbenen Bau des Hotel du Palais – geschätzt von den Reichen, den Royals und den Berühmten. Er erinnerte sich, wie er einmal, während die rote Fahne am Strand flatterte, an den Felsen vorbeigeschwommen war und die Wächter im Hotel ihm mit Trillerpfeifen Zeichen gegeben hatten und er dann widerstrebend aus der Brandung hereingekommen war. Wenige Minuten später hatten sie einen Ertrunkenen an Land gezogen. Er seufzte. Das alles schien jetzt so weit entfernt. Er wandte sich wieder seiner Zeitung zu und entdeckte eine kleine Spalte: BRITISCHE TORIES NOMINIEREN NEUEN VORSITZENDEN. »Mr. Kegan«, las er, »ist schnell in den Rängen der konservativen Partei aufgestiegen. Er übernimmt das Amt des Parteivorsitzenden zu einem Zeitpunkt, wo die Moral der Partei sich auf einem Tiefpunkt befindet und, was vielleicht noch wichtiger ist, die Kriegskassen als 168
Folge der letzten Wahlkampagne, die so katastrophal für die Partei geendet hat, praktisch leer sind. Tim Kegan wird sich in hohem Maße um Wahlspenden bemühen müssen, besonders bei den großen Industriefirmen, deren Beiträge zu den Parteifinanzen in den letzten Jahren spärlich geworden sind. Viele Industrielle haben ja bekanntlich bei der letzten Wahl Labour unterstützt.« Tiens, dachte Morton. Dieser widerwärtige junge Mann hatte es bereits zu einigem gebracht und würde ohne Zweifel noch weiter aufsteigen. Er fragte sich, wie Kegan wohl mit Männern wie Gordon Cartwright zurechtkommen würde. Würde es ihm gelingen, Cartwright wieder zurückzuholen? Würde er ihn überzeugen können, daß die Zukunft von United Chemicals auf lange Sicht trotz der Schmeicheleien, mit denen die Regierung ihn ohne Zweifel augenblicklich zu umgarnen versuchte, bei den Konservativen besser aufgehoben war als bei der Labour-Partei? Seine Gedanken wanderten, wie so oft in den letzten paar Tagen, zu seinem Gespräch mit Murray Lomax zurück. Er hatte versucht, die von Lomax gelieferten Informationen nach allen Richtungen zu überprüfen, und sich dabei – selbstverständlich – bemüht, nicht den Argwohn des in Frage kommenden Industriezweigs zu erwecken. Das war nicht leicht gewesen, da er instinktiv beschlossen hatte, weiterhin Peter Simpson im dunkeln zu lassen. So tüchtig sein Kabinettchef auch sein mochte, wenn es darum ging, die Routine seines Arbeitsalltags zu gestalten, so spürte Morton doch, daß er nur mit einigem Widerstreben darangehen würde, eine delikate Untersuchung in den verworrenen Dickichten des industriellen Unterholzes Europas zu betreiben. 169
»Das ist doch ganz sicher nicht unser Problem, Commissioner«, konnte er Simpson förmlich in seiner oberflächlichen und doch bestimmten Art sagen hören. »Unsere Aufgabe besteht darin, die europäische Industrie zu unterstützen, nicht ihr Schwierigkeiten zu bereiten.« Also hatte Morton, was höchst ungewöhnlich war, seinen eigenen Stab übergangen und sich persönlich hineingekniet. Er hatte sich an den Leiter der juristischen Abteilung der Kommission gewandt, Laurent Guimard, einen kühlen, eleganten Franzosen Anfang der Vierzig, der es im Gegensatz zu so vielen anderen Absolventen der angesehenen École Nationale d’Administration Frankreichs irgendwie geschafft hatte, seine Menschlichkeit nicht von seinen unübersehbaren intellektuellen Fähigkeiten erdrücken zu lassen. »Natürlich werde ich Ihnen helfen«, hatte er Morton erklärt, »dazu bin ich schließlich hier. Wenn die Kommission die Hüterin der Verträge ist, dann muß der juristische Dienst der Kommission zugleich als Schild und als Speer fungieren. Wenn wir gemeinsam handeln, ist das wesentlich effizienter, als wenn jeder für sich vorgeht. Natürlich werden wir objektiv sein. Der juristische Dienst der Kommission ist immer objektiv, n’est-ce pas? Aber das heißt nicht, daß wir keinen Spaß an der Verfolgung unseres Opfers haben dürfen.« Und dann hatte der Franzose prüfend die Luft durch die Nase eingezogen wie ein alter chasseur, der in den Loirewäldern die Witterung prüft. Ein paar Tage später hatte Guimard sich in aller Stille in Mortons Büro geschlichen. Was der Franzose ihm über die Ergebnisse einiger äußerst diskret durchgeführten vorläufigen Ermittlungen gesagt hatte, hatte Morton davon 170
überzeugt, daß das Wild, das er jagte, ganz eindeutig zum Großwild gehörte. Erst als das Flugzeug schon zur Landung in Zaventem, dem nationalen Flughafen von Brüssel, ansetzte, fiel sein Blick im International Herald Tribune auf das dritte, besonders wichtige Thema. Es war eine Kleinanzeige auf der letzten Seite ganz unten in der Spalte. »Tulpenliebhaber treffen sich am nächsten Samstag mittag am Haupttor von Keukenhof«, las er. »Ah!« rief er aus. Helena blickte auf. »Etwas Interessantes gefunden?« »Sozusagen.« Sie verabschiedeten sich voneinander, als sie vor dem Ankunftsgebäude standen. Ihre Beziehung wirkte plötzlich förmlich, jedenfalls förmlicher als noch vor ein paar Stunden, als sie in den Strahlen der Morgensonne nackt auf dem Bett gelegen hatten. Morton wollte noch etwas sagen, wußte aber nicht, wie er es formulieren sollte. Er ahnte die Untiefen, die noch vor ihnen lagen, beschloß aber, sie für den Augenblick zu ignorieren, weil ihn jetzt andere Dinge beschäftigten.
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ans Kunig fuhr am linken Rheinufer entlang und überquerte die Grenze nach Holland bei Arnheim. Die berühmte, nach dem Krieg wieder aufgebaute Brücke zeigte nur wenige Spuren der erbitterten Kämpfe, die dort im September 1944 getobt hatten. Wie schön und friedlich die Landschaft jetzt doch aussah, dachte er, während er weiter in Richtung auf die Blumenfelder an der Küste zufuhr. Es fiel heute schwer, sich auszumalen, wie es damals gewesen sein mußte, bereitete Mühe, die offenkundige Ordnung und Prosperität mit den düsteren Fakten des Krieges in Einklang zu bringen. Die Holländer verstanden sich darauf, zu bauen und auch wieder aufzubauen, dachte er. Sie bearbeiteten jeden Fußbreit ihres winzigen Landes und verwandelten natürliche Nachteile in unnatürliche Vorteile. Man brauchte beispielsweise nur den Rhein zu nehmen. Während er weiterfuhr, blickte er auf den mächtigen Strom, der links von ihm parallel zur Straße dahinfloß. Trotz der Bemühungen mehrerer Umweltminister benutzten die Deutschen den Rhein immer noch als eine Art industriellen Abwasserkanal, während die Holländer keine andere Wahl hatten, als das Wasser, wenn es zu ihnen gelangte, zu reinigen und es chemisch und biologisch zu behandeln. Nur so konnte sichergestellt werden, daß am Ende die braven holländischen Bauern auf ihren Feldern oder auf dem Meer abgewonnenem Polderland oder auch die Stadtbewohner, 172
die ihre Büros in Rotterdam oder Amsterdam aufsuchten, am Morgen unbesorgt ihre Tasse Tee oder Kaffee trinken konnten. Bei dem Gedanken, daß das Wasser, das die guten Bürger von Arnheim tranken, möglicherweise ein paar Kilometer rheinaufwärts auf der deutschen Seite der Grenze sein Leben als Abwasser in den gewaltigen Anlagen von Deutsch-Chemie begonnen hatte, schauderte ihm. Es war ein heißer Tag. Der Frühling war plötzlich in den Sommer übergegangen. Er zog sein Taschentuch heraus und wischte sich die Stirn. Ihm war nicht nur heiß, sondern er verspürte zugleich auch ein Gefühl wachsender Erregung. Ihm war wohl bewußt, daß er einen ersten Schritt und vielleicht sogar mehr als nur einen ersten Schritt auf einem gefährlichen Pfad getan hatte. Wenn Morton ihr Rendezvous einhielt, die Dokumente entgegennahm und danach handelte, dann konnte er in der Zentrale von Deutsch-Chemie unter ebenso heftigen Beschuß geraten wie seinerzeit die Kämpfer auf jener Brücke, über die er gerade gefahren war. Er rechnete nicht damit, daß der Finger des Verdachts je auf ihn zeigen würde, und im übrigen würden sie, wie er das Helga vor gar nicht so langer Zeit versprochen hatte, bald in die Staaten zurückkehren. Sein Gesicht verdüsterte sich. Seinen eigenen Hals zu riskieren war eine Sache; Gesundheit und Schicksal seiner Familie aufs Spiel zu setzen war etwas völlig anderes. Wieder wischte er sich die Stirn. Der Wegweiser hoch über der Straße sagte ihm, daß Den Haag nur noch achtzig Kilometer entfernt war. Er sah auf seine Uhr; er hatte noch genügend Zeit. Wenn man die Blumenschau von Chelsea nahm, sie um das Tausendfache vervielfältigte, dann noch ein paar 173
Windmühlen und künstliche Seen hinzugab und Kaninchen, die über Rasenflächen hoppelten, schließlich noch eine sanfte Brise, die von der Nordsee hereinwehte und die Köpfe einiger Millionen Tulpen beugte, dann kam das vielleicht einer einigermaßen zutreffenden Beschreibung der Blumenfelder von Keukenhof im Frühsommer nahe. Selbst die Scharen von Neugierigen brachten es irgendwie fertig, sich von der Szenerie gefangennehmen zu lassen. Was hätte wohl Wordsworth – der liebe, langweilige, alte Wordsworth, dessen Herz bereits einen Satz machte, wenn er eine Osterglocke entdeckte – aus Keukenhof gemacht? Morton saß auf einer Bank vor dem Haupttor, wie jeder andere Blumenliebhaber oder Tulpenfan. Er hatte für das Wochenende auf Gerrys Dienste verzichtet und an der schnellen Fahrt mit dem Jaguar von Brüssel nach Antwerpen und dann weiter nach Den Haag großen Spaß gehabt. Das war das Besondere an Europa, dachte Morton. Sobald man einmal den Kanal überquert und vier schnelle Räder unter sich hatte, war fast alles in Reichweite. Auf dem Kontinent zu sein war mehr als nur eine geographische Tatsache; es veränderte die Art und Weise, wie man die Dinge betrachtete. Wenn man zum Mittagessen nach Paris oder zum Tee nach Amsterdam fahren konnte, kamen einem nationale Grenzen ziemlich belanglos vor. Die Eröffnung der Tunnelverbindung zwischen England und Frankreich hatte den Kontinent für die Briten zugänglicher gemacht. Aber man konnte nicht einfach durchfahren. Man mußte seinen Wagen immer noch auf den Zug verladen. Er beobachtete die Menschen, die an den Toren der 174
Gartenanlagen eintrafen, einige zu Fuß, einige mit Fahrrädern, einige mit ihren Autos und einige in den großen, klimatisierten Omnibussen, die, wie ihm schien, den Fernverkehr in Europa revolutioniert hatten. Er hatte keine Ahnung, wie der- oder diejenige aussah, den er erwartete. »Ich werde Ihnen vertrauen müssen«, sagte der Mann, der sich in diesem Augenblick neben ihn auf die Bank setzte. »Ich weiß, daß ich keine schriftlichen Garantien für den Schutz meiner Anonymität erwarten kann.« Morton blickte überrascht auf. Er hatte sich so auf das Gedränge am Eingang konzentriert, daß ihm gar nicht aufgefallen war, daß er Gesellschaft bekommen hatte. »Sie sind doch Mr. Morton, nicht wahr?« fragte der sorgfältig gekleidete dunkelhaarige Mann mit der schweren schwarzen Brille, der eine Aktentasche auf dem Schoß hielt. »Können wir reden? Mein Name ist Hans Kunig.« »Sie sind ein mutiger Mann, Mr. Kunig.« Als Morton die Worte ausgesprochen hatte, wurde ihm bewußt, daß das exakt derselbe Satz war, den Murray Lomax vor einigen Tagen zu ihm gesagt hatte. Sie mischten sich unter die Menge und passierten die Tore zu den Gartenanlagen. Als sie drinnen angelangt waren, ließ der Druck der Menschenmassen nach, und die Touristen verteilten sich in verschiedene Richtungen, suchten ihre eigenen Wege in der üppigen Vegetation. »Mir hat die Fahrt jedenfalls Spaß gemacht«, sagte Morton. »Ich bin noch nie hier gewesen.« »Ich auch nicht. Aber ich dachte, das wäre ein guter Treffpunkt.« Kunig wirkte nervös, und Morton versuchte, ihn zu be175
ruhigen. »Natürlich haben Sie mein Wort, und ich spreche damit für die ganze Kommission. In dem Punkt kann ich Sie beruhigen. Alles, was Sie mir sagen, und alles, was Sie mir geben, wird mit äußerster Diskretion behandelt werden. Falls die Kommission sich dazu entscheidet, diesen Fall weiterzuverfolgen, wird niemand je erfahren, daß Sie damit zu tun hatten.« Sie standen am hinteren Ende eines der großen Gewächshäuser, denen Keukenhof seinen Ruhm verdankte. Sie waren ganz allein, niemand hielt sich in ihrer Nähe auf. Die meisten Leute schienen es vorzuziehen, im Freien zu bleiben und die milde Seebrise zu genießen. Kunig sah den großen, gutmütig wirkenden Mann an, der vor ihm stand. »Ich glaube Ihnen«, sagte er schlicht. »Damit allein wird es nicht getan sein. Ich möchte wissen, weshalb Sie das tun. Weshalb nehmen Sie ein solches Risiko auf sich?« Kunig seufzte, zog wieder sein Taschentuch heraus und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. »Das ist eine lange Geschichte, und hier ist es zu heiß. Wollen wir nach Scheveningen fahren? Ich kenne dort ein kleines Restaurant am Meer, wo wir uns unterhalten können.« Zwei Stunden später, nachdem er den Mann ausführlich und gründlich ausgefragt hatte, wußte Morton, daß das, was er erfahren hatte – immer vorausgesetzt, die Dokumente bestätigten es –, ausreichen würde, um darauf eine Anklage aufzubauen. »Ich war die letzten vier Jahre für Deutsch-Chemie tätig«, 176
hatte ihm Kunig erklärt. »Vorher habe ich in Amerika gearbeitet.« »Bei wem haben Sie in den Staaten gearbeitet?« »Ponting Chemicals.« Morton war überrascht. »Dann sind Sie ja zur Konkurrenz gegangen, als Sie die Stellung bei Deutsch-Chemie angenommen haben. Wieso hat Ponting Sie gehen lassen? Deutsch-Chemie ist doch in manchen wichtigen Feldern ihr Hauptkonkurrent, nicht wahr?« Kunig zuckte die Achseln und schien nicht gewillt, sich mit der Vergangenheit zu befassen. »Oh, das ist in aller Freundschaft abgelaufen.« Nach einer Weile hatten Mortons Fragen sich in eine andere Richtung bewegt. »Was hat bei Ihnen ursprünglich den Argwohn aufkommen lassen, daß bei Deutsch-Chemie etwas nicht astrein ist?« »Ich habe recht bald bemerkt, daß dort konsequent Testergebnisse gefälscht wurden.« »Was für Tests?« Kunig tippte auf die Aktentasche, die er neben sich auf einen Stuhl gestellt hatte. »Da ist alles drin. Die EGVorschriften verlangen, daß jedes neue Produkt, ehe es auf den Markt gebracht wird, einer ganzen Reihe von Tests unterzogen wird. Die Vorschriften dafür sind in Brüssel im sogenannten Sechsten Nachtrag der EG-Direktive über gefährliche Substanzen niedergelegt. Aber das war bei weitem nicht alles.« Kunig schilderte ihm eine ganze Liste von Unkorrektheiten, die bei Deutsch-Chemie gang und gäbe waren, und zitierte jeweils die entsprechenden EGVorschriften dazu. 177
Aus seinen Gesprächen mit Murray Lomax und seiner Lektüre der Denkschrift, die Kunig ihm geschickt hatte, war Morton einigermaßen auf das vorbereitet, was er hier zu hören bekam. Trotzdem verblüffte ihn die lange Liste von Verfehlungen. Die Fälschung von Testergebnissen war nur ein Anfang. Viel schlimmer war der ganz bewußte Einsatz menschlicher Versuchskaninchen – Leute aller Art, jung und alt –, die man mit finanziellen Anreizen dazu überredet hatte, an verschiedenen Experimenten teilzunehmen – die manchmal irreparable Gesundheitsschäden und sogar ihren Tod verursacht hatten. Anschließend schilderte Kunig überzeugend, wie Deutsch-Chemie seine führende Marktposition mißbraucht, Preisabsprachen getroffen und alle möglichen monopolistischen Praktiken ausgeübt hatte. Damit waren sie bei dem Bereich angelangt, wo Morton besonders bohrend fragen mußte, auch wenn Kunig Widerstreben an den Tag legen sollte. Er sah den Mann über den Tisch hinweg an, sah ihm gerade in die Augen und bannte seinen Blick, setzte seine ganze Willenskraft ein, um eine aufrichtige Antwort zu bekommen. »Warum sagen Sie mir das alles? Sie haben, so wie ich das verstehe, eine gute Position in der Firma. Diese Position setzen Sie aufs Spiel, und vielleicht sogar noch mehr als das.« Ein Schatten zog über Kunigs Gesicht, und dann konnte Morton Sorge, ja Angst im Ausdruck seines Gegenübers erkennen. »Können wir hinausgehen – an den Strand? Ich würde gern ein Stück gehen.« »Selbstverständlich.« Morton fragte sich, ob der Mann vielleicht ohnmächtig werden würde. 178
Sie gingen hinaus und schlenderten am Strand entlang auf die mächtigen Dünen zu, die trotz der dichten Bebauung in der Nähe wie durch ein Wunder überlebt hatten. Abgesehen von gelegentlichen Spaziergängern und einer Gruppe kleiner Kinder, die im Sand buddelten, war der Strand leer. Die Möwen, die von der Nordsee hereinschwebten, zogen träge und ziellos über ihnen dahin. Eine Weile schritten sie schweigend aus. Morton wollte den Mann nicht unter Druck setzten. Sollte er sich ruhig Zeit lassen und dann reden, wenn ihm danach war. Sein Tonfall war möglicherweise ebenso wichtig wie der Inhalt seiner Worte. »Ich werde Ihre Frage beantworten«, sagte Kunig schließlich, »aber es wird einige Zeit beanspruchen. Ich werde dazu auf die Geschichte eingehen müssen. Was wissen Sie über die Ursprünge der deutschen chemischen Industrie?« »Nicht genug, scheint mir.« Kunig blieb stehen, wie um seine Gedanken zu sammeln. »Wir müssen wirklich am Beginn dieses Jahrhunderts anfangen«, begann er. »Damals gab es drei deutsche Firmen, die den Weltmarkt für Farbstoffe beherrschten. Die Namen kennen Sie wahrscheinlich. BASF, das steht für Badische Anilin- und Soda-Fabrik in Ludwigshafen, Bayer in Leverkusen und Hoechst, benannt nach der Stadt Hoechst am Main.« Morton hörte interessiert zu. Murray Lomax hatte damals in Brügge bereits seinen Appetit geweckt. »Der Kampf um die Überseemärkte«, fuhr Kunig fort, »basierte auf der Grundlage einer mörderischen Konkurrenz auf dem Binnenmarkt. Preisabsprachen, Bestechung, 179
Patentstreitigkeiten – all das gehörte damals mit zu den Spielregeln. Erst als Carl Duisberg, der damalige Generaldirektor von Bayer, die Firmen in einer Interessengemeinschaft, wie er das nannte, zusammenführte, kam Ordnung in das Chaos. Duisberg machte seinen Vorschlag auf dem Höhepunkt der Somme-Schlacht im Juli 1916. Die drei Großen, also BASF, Bayer und Hoechst, schlossen sich mit fünf anderen Firmen zusammen und bildeten die Interessengemeinschaft der Deutschen Teerfarbenindustrie. Später kannte man diesen Zusammenschluß einfach als I. G. und die einzelnen Mitglieder als die I. G.-Gesellschaften. Das war der Ursprung von I. G. Farben. Man sollte sich daran erinnern, daß die I. G.-Gesellschaften, im speziellen die BASF, hinter dem Einsatz von Giftgas im Ersten Weltkrieg standen.« Kunig hielt inne. »Ich sage Ihnen das alles«, fuhr er dann fort, »weil es wichtig ist, wenn Sie die augenblickliche Situation und meine persönlichen Beweggründe verstehen wollen. Aber gehen wir vom Ersten Weltkrieg auf den Zweiten über. I. G. Farben war praktisch von Anfang an in hohem Maße in den Aufstieg der Nazibewegung verwickelt. Bis zum Jahre 1937 waren fast alle Mitglieder des I. G.-Vorstandes der Nazipartei beigetreten, darunter auch Karl Krauch, Fritz Ter Meer, von Schnieler, Maximilian Ilgner, Otto Ambros und andere – Sie werden gleich begreifen, weshalb ich mich so gut an die Namen erinnere. Zu dem Zeitpunkt arbeiteten die Fabriken und Laboratorien der I. G. praktisch rund um die Uhr und halfen, Hitlers Angriff auf den Rest der Welt vorzubereiten. Wenn Sie sich die Produkte ansehen, die die I. G. damals herstellte, 180
dann werden Sie erkennen, daß es dort fast alles gab, was Hitler zum Krieg brauchte: synthetisches Öl, synthetischen Gummi, Giftgase, Magnesium, Schmieröl, Sprengstoffe, Methanol, Seren, Farbstoffe, Nickel und tausend andere Dinge. Der Motor des Ganzen war Karl Krauch. Krauch wurde praktisch das Symbol für den Beitrag der I. G. zur militärischen Macht Deutschlands. Als die Wehrmacht Europa überrannte, hat Hitler persönlich Krauch mit dem Eisernen Kreuz dekoriert, das gewöhnlich nur für militärische Leistungen verliehen wurde. Hitler nannte ihn ›einen Mann, der auf dem Schlachtfeld der deutschen Industrie großartige Siege errungen hat‹.« Am Ende eines langen Sandstreifens stand eine Bank. »Warum setzen wir uns nicht einen Augenblick?« Sie nahmen nebeneinander Platz, Kunigs Aktentasche stand zwischen ihnen. »Ich komme jetzt zum schwierigsten Teil meiner Geschichte«, fuhr Kunig fort, »und das ist die Beteiligung der I. G. Farben an Hitlers Programm zur Vernichtung der Juden. Haben Sie je von Zyklon B gehört?« »Nein.« Morton schüttelte den Kopf. Aber er ahnte, was jetzt kommen würde. »Zyklon B war das tödliche Gas, das von einer I. G.-Firma hergestellt und für den Einsatz in Auschwitz und anderen Todeslagern vorgesehen war. Als die Deutschen Polen eroberten, hat Hitler spezielle SS-Kommandos aufgestellt, um den Massenmord zu beginnen. Das erste Vernichtungszentrum wurde im Herbst 1939 in der polnischen Stadt Chelmno errichtet. In dem Stadium setzten sie noch Kohlenmonoxid aus den Auspuffrohren von Fahrzeugen ein. Das 181
war ziemlich primitiv und nicht sehr effizient. Trotzdem schafften sie es, tausend Juden pro Tag zu töten.« Morton schauderte, als Kunig jetzt fortfuhr, entschlossener denn je, zum Ende seiner Darstellung zu kommen: »Im August 1941 führte Hoess, der Kommandant von Auschwitz, in die hermetisch abgeschlossenen Räume dort ein Erstickung hervorrufendes Mittel, Zyklon B, ein, das technisch unter der Bezeichnung Blausäure bekannt ist. Für den Versuchseinsatz waren fünfhundert russische Kriegsgefangene abgestellt. Zyklon B wurde, wie ich schon sagte, von einer I. G.-Farben-Gesellschaft hergestellt, und sein Einsatz hat das Programm für die Endlösung der Judenfrage revolutioniert. Es steht zweifelsfrei fest, daß der Geschäftsleitung von I. G. Farben bekannt war, wofür das Produkt eingesetzt wurde; sie waren im vollen Umfang über die Konzentrationslager informiert. Aber damit nicht genug – es gab in Auschwitz eine Sonderabteilung, die allgemein als I. G. Auschwitz bezeichnet wurde. Dabei handelte es sich um eine Produktionsanlage für Chemikalien, in der ausschließlich Sklavenarbeiter aus dem Konzentrationslager tätig waren. Aus den uns zugänglichen Aufzeichnungen wissen wir, daß dreihunderttausend KZ-Arbeiter I. G. Auschwitz durchliefen, von denen wenigstens fünfundzwanzigtausend dort den Tod fanden. Die Fabrikanlagen waren, als sie schließlich fertiggestellt wurden, so riesengroß, daß sie mehr Elektrizität als die ganze Stadt Berlin verbrauchten.« Kunig lehnte sich auf der Bank zurück und starrte mit glasigen Augen aufs Meer hinaus. Die Erzählung schien ihn völlig erschöpft zu haben. 182
»Was ist nach dem Krieg aus Männern wie Krauch geworden?« fragte Morton. Kunig lächelte grimmig. »Oh, das war ein echter Skandal! Als das Nürnberger Tribunal sich nach den militärischen Kriegsverbrechen den industriellen Kriegsverbrechen zuwandte, begann man sich wegen der Bedrohung durch die Sowjets Sorgen zu machen. Der Kalte Krieg war dazwischengekommen, und die Russen, die während des Krieges auf der Seite der Alliierten gestanden hatten, wurden jetzt als ernsthafte Bedrohung betrachtet. Industrielle in Amerika, die die Verbindung mit ihren Kollegen in Deutschland nie hatten abreißen lassen, begannen im Kongreß die Kriegsverbrecherprozesse in Frage zu stellen, insbesondere die Prozesse gegen Geschäftsleute. Als daher die Verfahren abgeschlossen wurden, war der Dampf raus, und die Urteile fielen lächerlich mild aus. Nehmen Sie beispielsweise Karl Krauch: Das Gericht fand ihn schuldig der Erzwingung von Sklavenarbeit und des Massenmordes, aber er wurde lediglich zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt und hat nicht einmal diese Strafe ganz verbüßt.« Dann drehte Kunig sich zu ihm herum und fügte fast beiläufig hinzu: »Meine Eltern sind in Auschwitz im I. G.Farben-Lager gestorben. Außerdem bin ich der Ansicht, daß Ludwig Ritter maßgeblich an ihrem Tod beteiligt war, unmittelbar oder mittelbar.« Er zog ein paar Fotos heraus. »Sehen Sie sich das an.« Er blätterte der Reihe nach durch. »Hier ist ein Bild der Mitglieder des I. G.-Vorstandes im Jahre 1937. Das sind Schmitz, Kuehne, Krauch selbst, Ter Meer, Hermann Abs und so weiter. Und dieser junge Mann im Hintergrund ist Ludwig Ritter, der damals persönlicher 183
Assistent Krauchs, eine Art Adjutant, war.« Er wandte sich der nächsten Fotografie zu. »Das ist ein Bild von Himmler bei einem Besuch der I. G.-Farben-Fabrik in Auschwitz im März 1941. Sie können Krauch erneut auf dem Bild sehen und auch andere Vertreter von I. G. Und da, unmittelbar hinter Himmler, geht Ritter.« Morton pfiff durch die Zähne. Selbst jetzt, so viele Jahre später, glaubte er die Ähnlichkeit zwischen dem schwergewichtigen alten Mann, den er neulich in Brüssel kennengelernt hatte, und dieser schlanken jugendlichen Gestalt hinter einem von Hitlers Henkersknechten zu erkennen. Aber er konnte natürlich nicht sicher sein. Kunig blätterte durch den Rest der Fotos. »Das ist Krauch bei der Urteilsverkündung in Nürnberg. Sehen Sie sich seinen Gesichtsausdruck an. Selbst vor Gericht hat er sich mit der Effizienz gebrüstet, mit der in Auschwitz das Arbeitskräfteproblem gelöst wurde.« Morton sah, daß seinem Gesprächspartner die Tränen über die Wangen rannen. Etwas drängte ihn, dem Deutschen den Arm um die Schultern zu legen, aber angeborene Scheu hielt ihn davor zurück. »Ich glaube, jetzt verstehe ich«, sagte er langsam. »Es geht um Rache, nicht wahr? Selbst heute noch, nach so vielen Jahren.« Kunig kämpfte gegen seine Tränen, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und schneuzte sich dann lautstark. »Ja, natürlich ist es Rache. Aber es ist mehr als das. Ich sehe, wie diese Leute weiterhin das tun, was sie immer getan haben. Lug und Trug. Giftgas im Ersten Weltkrieg. 184
Auschwitz im Zweiten. Agent Orange in Vietnam, und heute … noch schlimmer. Sie können einfach nicht anders.« Sie saßen stumm auf der Bank und blickten aufs Meer hinaus, beide tief in ihre eigenen Gedanken versunken. Nach etwa zehn Minuten entschied sich Morton. »Ich denke, wir sollten jetzt gehen.« Seine Stimme war leise, aber entschlossen. »Ich nehme das, wenn Sie wollen.« Sie gingen den Weg zurück, den sie gekommen waren. Diesmal trug Morton die Aktentasche. Während sie so über den Sand schritten, warf Morton hie und da einen Blick auf den Mann neben ihm. Kunig wirkte auf ihn jünger, als er vermutlich war. Wenn seine Eltern in Auschwitz gestorben waren, mußte er während des Krieges, wenn nicht schon davor zur Welt gekommen sein. Einen Augenblick lang war er verwirrt, versuchte zu rechnen, ließ den Gedanken dann aber fallen. Manche Männer hielten sich einfach besser als andere, dachte er. Inzwischen hatten sie den Scheveninger Strand wieder erreicht. »Jetzt sehen Sie es«, sagte Kunig und brach damit plötzlich das lange Schweigen. »Deutsch-Chemie ist natürlich eine unmittelbare Nachfolgefirma von I. G. Farben. Die Alliierten haben den Konzern bei Kriegsende in einige Teilbereiche zergliedert. Hoechst, Bayer, Deutsch-Chemie und so weiter. Und jetzt ist jeder dieser Teile größer, als die Muttergesellschaft einmal war. Ritter ist nach dem Krieg nicht einmal unter Anklage gestellt, geschweige denn verurteilt worden. Wenn die oberste Leitung von I. G. Farben praktisch straffrei ausging, welchen Sinn hätte es dann gehabt, junge Männer wie Ritter anzuklagen, die ihre Laufbahn gerade erst begonnen hatten?« 185
Morton hatte das Gefühl, daß die Zeit gekommen war, das Thema zu wechseln. Trotz des langen Spaziergangs wirkte Kunig immer noch bleich und angespannt. »Erzählen Sie mir von Ihren Kindern.« Zum erstenmal an jenem Tag zog ein Lächeln über Kunigs Gesicht. »Ich habe zwei. Einen Jungen und ein Mädchen. Der Junge wollte heute mitkommen und die großen Lastkähne auf dem Rhein sehen.« »Ich möchte Ihre Kinder einmal kennenlernen.« Während er das sagte, ging ihm durch den Kopf, was er und Isobel wohl verpaßt hatten, weil sie nie eine richtige Familie geworden waren. Wäre es besser für sie gewesen, wenn ein paar Kinder im Haus gewesen wären? Aber dann drängte er diese Gedanken zurück und konzentrierte sich wieder auf das, was er in der letzten Stunde gehört hatte. Als sie zu ihren Fahrzeugen kamen, streckte Morton Kunig die rechte Hand hin, während seine linke immer noch die Aktentasche hielt. »Auf Wiedersehen«, sagte er. »Und vielen Dank.« Kunig stieg als erster in seinen BMW und schoß davon. Morton folgte ihm nach fünf Minuten. Er fuhr langsamer, da er es nicht eilig hatte, nach Brüssel zurückzukehren. Schließlich kam er nicht jeden Tag nach Holland. Er hatte die Tulpenfelder und die Küste gesehen, war in Scheveningen an den Dünen entlangspaziert. Die Zeit reichte noch für einen schnellen Besuch im Hafen von Rotterdam. Als Industriekommissar gehörte ein Besuch in Rotterdam einfach mit zu seinen Obliegenheiten. Weniger als eine Stunde später stand Morton am Kai von Europas jüngstem und größtem Industriehafen und 186
beobachtete das Kommen und Gehen der Schiffe, das Rotterdam zu einem der am schnellsten wachsenden Zentren des Welthandels gemacht hatte. Von dort, wo er stand, konnte er wenigstens zwanzig Schiffe sehen, die derzeit be- oder entladen wurden, und das war nur ein Teil des geschäftigen Treibens. Es faszinierte ihn, wie die Rheinlastkähne, jene großen, langen, schwerfälligen Boote, deren langsame, stetige Fahrt durch die Landschaft er am Morgen auf dem Weg zum Keukenhof beobachtet hatte, bis in den eigentlichen Hafen kamen, um sich dort mit den gigantischen Containerschiffen ein Stelldichein zu geben. Er schlenderte zu zwei Winden, wo eine kleine Gruppe von Schauermännern mit einer Flasche Genever das Ende des Nachmittags feierte. Seine holländischen Sprachkenntnisse beschränkten sich auf ein paar flämische Brocken, die er in Brüssel aufgeschnappt hatte. Aber einer der Dockarbeiter kam ihm zu Hilfe und deutete an, daß er durchaus Englisch sprechen konnte, wenn er das wollte. Er brachte sogar ein Glas zum Vorschein und bot Morton einen Drink an. »Gezondheid!« sagte Morton, was ihm eine Runde gutmütigen Applaus eintrug. Er deutete auf einen vorüberziehenden Schleppkahn, der mit Blechfässern beladen war. Jedes der Fässer trug eine Codebezeichnung und eine Nummer. »Wo kommt das Zeug her?« fragte er beiläufig. »Ganz bestimmt aus Deutschland«, erwiderte einer der Holländer. »Chemikalien für den Export. Heutzutage bekommen wir zwei oder drei Sendungen pro Woche, die den Rhein herunterkommen.« 187
»Wer überprüft die Ladung?« »Die Behörden, nehme ich an.« Der Mann zuckte die Achseln. »Das geht uns nichts an; wir verladen hier nur.« »Dank U wel!« Nach ein paar Minuten stellte Morton sein leeres Glas zu den anderen auf den Sockel der Winde und ging zu seinem Wagen zurück. Es dürfte ein Kinderspiel sein, die Schilder auszutauschen. Welcher Zollbeamte würde schon, wenn er sich dem unheilverheißenden Symbol mit dem Totenschädel und den zwei gekreuzten Knochen gegenübersah, je Tests durchführen, um sich zu vergewissern, daß die für den Export bestimmte Substanz in dem Faß tatsächlich auch die war, die auf den Papieren vermerkt war? Auf halbem Wege nach Brüssel bog er von der Autobahn ab und setzte die Fahrt auf einer Landstraße fort. Mitten auf einer Brücke über einen kleinen Kanal hielt er an, nahm sämtliche Papiere aus Kunigs Aktentasche und schloß sie, nach einem schnellen Blick darauf, im Kofferraum seines Wagens ein. Dabei stieß er eine Dose mit Öl um. Er stellte sie wieder auf und verstaute sie an der Seite, wobei er bemerkte, daß eines der Blätter einen kleinen Ölschmierer abbekommen hatte. Morton ging an das Brückengeländer, sah nach links und rechts, um sich zu vergewissern, daß niemand kam, und ließ die leere Tasche dann in den Kanal fallen. Er wartete, bis sie in den schaumigen Wellen versunken war, richtete sich dann auf und ging zum Wagen zurück. Einen knappen Kilometer entfernt beobachtete ihn Peter Simpson durch ein Fernglas. Er hatte schon seit einer Weile das Gefühl, daß Morton sein eigenes Spiel spielte, eines, in 188
das sein Kabinettchef nicht eingeweiht war. Da war dieser eine Abend gewesen, an dem Morton Papiere mit nach Hause genommen und sie am nächsten Tag nicht mehr alle zurückgebracht hatte. Und dann der halbe Tag, den er mit Murray Lomax verbracht hatte. Worum in aller Welt war es dabei gegangen? Dann das Exemplar des International Herald Tribune in seinem Papierkorb mit dem Bleistiftkreuz an der Kleinanzeige. Am Ende hatte Simpson beschlossen, seiner Neugierde nachzugeben. Und reine Neugierde war es eigentlich gar nicht, überlegte er. Er hatte schließlich auch einen Auftrag zu erfüllen.
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orton hatte den Eindruck gehabt, daß Isobel recht ärgerlich gewesen war, als er nun schon zum zweitenmal hintereinander angerufen und ihr mitgeteilt hatte, er könne am Wochenende nicht zu ihr nach England kommen. »Kannst du es denn nicht irgendwie einrichten? Ich habe dich schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.« Morton hatte auf der Zunge gelegen, daß das Problem ja von ihr ausging und nicht von ihm. Aber er hatte sich zurückgehalten. Nach seiner Erfahrung konnten es einem Frauen nur selten nachsehen, wenn man sie auf die Wahrheit hinwies. Außerdem war er sich im Augenblick gar nicht sicher, daß er Isobel jetzt wirklich sehen wollte, sei es nun in England oder in Belgien. Mit ihrer Entscheidung, nicht mit nach Brüssel zu kommen, hatte sie eine Änderung in ihrer Beziehung erzwungen. Zuerst hatte Morton nicht wahrhaben wollen, daß da irgend etwas im Gange war, und hatte sich und seiner Umgebung vorzumachen versucht, das Ganze sei nur eine Frage der Logistik. Aber Morton war schließlich weder dumm noch naiv. Ein Blick auf den Kalender verriet ihm, daß Isobel, abgesehen von ihrer Stippvisite in Luxemburg zur Amtseinführung der Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof, hartnäkkig auf ihrer Seite des Kanals geblieben war. Morton war jetzt klar, daß man wirklich nicht behaupten konnte, daß 190
alles in Ordnung sei. Früher einmal hätte ihm das vielleicht sehr viel ausgemacht, aber seit jenem Wochenende in Portugal mit Helena sah er die Dinge allmählich in einem ganz anderen Licht. Helena hatte ihn ungewöhnlich stark beeindruckt. Ihr ganzes Wesen, ihre Persönlichkeit, ihr wacher Verstand machten ihm Freude; und es hatte ihm auch Freude gemacht, mit ihr ins Bett zu gehen. In diesem Punkt erinnerte Morton die Nacht, die sie zusammen in Porto verbracht hatten – und die Liaison, die sich daraus entwikkelt hatte –, an die frühen glücklichen Tage seiner Ehe, in denen sie sich beide mit großer Erfindungsgabe umeinander bemüht hatten. Es gab da auch noch etwas anderes, was ihm für den Augenblick ein Zusammentreffen mit Isobel nicht sonderlich wünschenswert erscheinen ließ. Morton hatte nie viel für Klatsch übriggehabt; er hatte dafür einfach keinen Sinn und zog es im großen und ganzen vor, einfach nichts zu wissen, selbst wenn andere Leute allem Anschein nach wild darauf waren, es ihm zu sagen. Aber selbst Morton konnte zu guter Letzt die hartnäckigen Gerüchte über Isobels Beziehung zu dem neuernannten Vorsitzenden der konservativen Partei, Tim Kegan, die ihm zugetragen wurden, nicht mehr einfach ignorieren. Wenn es nur Gerede von Türstehern und dergleichen gewesen wäre, hätte Morton sich einfach taub gestellt. Aber es war mehr als das. Die Einpeitscher der Parteien hatten für solche Dinge natürlich ein äußerst scharfes Ohr. Allem Anschein nach hatte Mrs. Kegan oben in Birmingham oder wo auch immer sie wohnte, angefangen, Krawall zu schlagen, und damit war die ganze Suppe so ins Brodeln gekommen, daß sie sich gar 191
nicht mehr sicher waren, alles unter Kontrolle halten zu können. Ob Morton nicht vielleicht, hatte der Chefeinpeitscher vorgeschlagen, so feinfühlig, wie das am Telefon eben möglich war, seine Frau ein wenig zügeln könne? »Nicht daß ich mich in Ihre persönlichen Angelegenheiten einmischen möchte, alter Junge, selbstverständlich nicht. Da sei Gott vor. Aber das ist eine Parteiangelegenheit, wissen Sie. Würde ja wirklich nicht besonders gut aussehen, im Augenblick einen Eheskandal zu haben, in den Kegan verwickelt ist, jetzt, wo er Vorsitzender geworden ist.« Morton überraschte es, daß die Parteihierarchie die Affäre in erster Linie in Kategorien der Schadensbegrenzung sah, wobei der Schaden natürlich nicht etwa daran gemessen wurde, wie er das Leben der betroffenen Leute beeinträchtigte, sondern im rein politischen Kontext. »Ich nehme das zur Kenntnis, Harry«, hatte er dem Chefeinpeitscher frostig am Ende ihres Gesprächs gesagt. »Ich werde darüber nachdenken.« Morton äußerte sich Isobel gegenüber jedoch nicht. Ein solches Gespräch führte man nicht am Telefon – und außerdem war Morton sich keineswegs sicher, daß er überhaupt ein Gespräch darüber führen wollte. Er hatte sich manchmal im Laufe seiner Ehe gefragt, ob Isobel sich nicht gelegentlich einen kleinen Seitensprung geleistet hatte. »Nichts anbrennen lassen« war die Formulierung, die ihm dabei in den Sinn kam, etwas, was Männer halb im Spaß voneinander zu sagen pflegten, wenn es in den Bars im Abgeordnetenhaus ein wenig spät geworden war. Doch mit alldem hatte er sich arrangiert, hatte Isobel so genommen, wie sie war. 192
In einer Hinsicht allerdings erleichterten ihn Harry Braithwaites kaum verschleierte Andeutungen. Wenn Isobel untreu gewesen war, dies auch jetzt noch war, dann hatte er doch sicherlich auch das Recht dazu? Treue war keine Einbahnstraße, n’est-ce pas? Eines Tages würden sie die Dinge natürlich auseinanderklauben und Ordnung schaffen müssen, aber bis dahin freute ihn, daß seine Kavaliersdelikte, falls das der richtige Ausdruck dafür war, durch die ihren mehr als ausgeglichen wurden. »Nein, Liebes«, wiederholte er, »es tut mir leid, aber an diesem Wochenende kann ich wirklich nicht kommen. Die Kommission hat eine Klausurtagung in irgendeinem Landhaus außerhalb von Paris. Le weekend de reflexion nennen sie das. Langfristige Überlegungen, du weißt schon.« »Das sollten wir vielleicht auch einmal machen.« Nachdem Isobel aufgelegt hatte, starrte Morton den Hörer überrascht an. Bedeutete ihr das, was mit ihnen geschah, wirklich etwas? Oder hieß das nur, daß die Dinge im Augenblick für sie nicht sonderlich liefen? Isobel, so überlegte er mit einer Mischung aus Bitterkeit und Bewunderung, verstand sich hervorragend darauf, jede Situation erstaunlich präzise danach einzuschätzen, wo ihr Vorteil lag. Le weekend de reflexion war nicht etwa ein Fantasiegebilde Mortons. Über die Idee war praktisch schon zu Beginn der Amtszeit der neuen Kommission diskutiert worden, aber die alltäglichen Geschäfte hatten immer wieder zu Verschiebungen des Termins geführt. Erst jetzt, Mitte Mai, hatten die zwanzig Mitglieder der Kommission schließlich einen Termin gefunden, der ihnen allen paßte. Sie hatten sich einzeln oder in Gruppen zu dem ehemaligen Benediktiner193
kloster am Stadtrand von Paris begeben, das man vor einiger Zeit in ein hochkarätiges Konferenzzentrum umgebaut hatte. Sie hatten eine Anzahl formloser Sitzungen von Freitag nacht bis Sonntag morgen abgehalten und die meisten Themen diskutiert, die, wie Horst Kramer es formuliert hatte, »für die Konstruktion eines Vereinigten Europas relevant waren«, einschließlich – dies mit großer Ausführlichkeit – der Fragen um den Euro, und auch eine ganze Menge Themen, die das keineswegs waren. Die Sitzungen endeten am Mittag des letzten Tages. »Damit hätten wir uns jetzt wohl unsere Freizeit verdient«, scherzte Kramer. Morton war entzückt gewesen, als Helena am Ende der Tagung den Vorschlag gemacht hatte, gemeinsam mit ihm nach Brüssel zurückzufahren. »Eine ausgezeichnete Idee! Wir könnten in Paris Station machen und dort zu Mittag essen.« Sie aßen in einem zwar teuren, aber unauffälligen kleinen Restaurant auf dem linken Seineufer im Schatten von Notre Dame. Es war ein herrlicher Tag. Klarer blauer Himmel, die Bäume in Blüte, überall zwitschernde Vögel und Kinder, die in dem Sandkasten in dem kleinen Park spielten, den der Bürgermeister von Paris, der jetzt Präsident von Frankreich war, fantasievollerweise im Schatten der Kathedrale hatte anlegen lassen. Morton sah zu, wie sich ein Lastkahn langsam flußabwärts zwischen dem linken Ufer und der Ile de la Cité bewegte. Auf Deck war eine Wäscheleine gespannt, und er konnte die Leute in der von der Sonne hell erleuchteten Kabine beim Essen sitzen sehen. 194
»Ich würde gern auf einem Flußkahn leben«, sagte er. »Ich bin sicher, daß man sich diesem Lebensrhythmus schnell anpassen könnte. Diese Leute verbringen vermutlich ihr ganzes Leben auf den Wasserstraßen Europas.« Während er das sagte, sah Morton vor seinem inneren Auge ein Bild von sich – einen älteren, weiseren Mann, frei von Leidenschaften und Politik –, wie er friedlich dem Vergessen entgegentuckerte. »Mach dir doch nichts vor«, riß Helena ihn aus seinem Traum. »Du bist viel zu ehrgeizig, um auch nur zehn Wochen so zu verbringen, geschweige denn zehn Jahre.« Sie sah ihn über den Tisch hinweg an. »Ich habe dir an diesem Wochenende zugehört, James. Du hast die auf deine burschikose britische Art gut eingenebelt. Aber nach meiner Einschätzung bist du von all denen der Cleverste. Wenn Kramer aus irgendeinem Grund verschwinden sollte, könnte es leicht sein, daß du an seine Stelle kommst.« »Du schmeichelst mir.« Der Lastkahn verschwand hinter einer Flußbiegung und war nicht mehr zu sehen. Morton blickte ihm eine Weile nach, bis sich auch die letzten Wellen geglättet hatten. Dann drehte er sich zu ihr herum. »Sicherlich, es gibt noch viele Dinge, die ich tun möchte. Ich nehme an, daß man das als Ehrgeiz bezeichnen kann.« Als sie ihre Mahlzeit beendet hatten, gingen sie über die Brücke zur Kathedrale. Helena deutete auf die Fassade des mächtigen Bauwerks. »Sieh mal. Der Zersetzungsprozeß an den Steinen hat immer noch nicht aufgehört. Mag ja sein, daß es in Paris keinen Rauch und keinen Smog mehr gibt, aber die Säuren hängen immer noch in der Luft. In 195
weniger als einem halben Jahrhundert haben wir es geschafft, das Werk von tausend Jahren zu zerstören.« In ihren Worten klang wieder dieselbe Leidenschaft, dieselbe Überzeugung wie an jenem Nachmittag in den Bergen über ihrer Heimatstadt. Und in diesem Augenblick, wie sie vor der Fassade von Notre Dame standen und zu den herrlichen Mosaikfenstern aufblickten, die für Morton eine derartige künstlerische Vollkommenheit darstellten wie wenig anderes, was er in seinem Leben gesehen hatte, entschied er, daß er es ihr sagen mußte. »Helena.« Er nahm ihren Arm, als sie weitergingen. »Es gibt da etwas, was ich dir sagen muß, etwas Wichtiges, das im Augenblick unter uns bleiben muß …. nichts Persönliches«, fügte er hinzu, als ihre Augenbrauen sich in die Höhe schoben. Als sie dann später auf der Autoroute von Paris nach Brüssel unterwegs waren, sagte er ihr alles, natürlich ohne seine Informationsquellen preiszugeben. (Es war nicht nötig, daß Helena etwas von Kunig erfuhr; niemand brauchte das zu wissen.) »Ich möchte Deutsch-Chemie vor den Europäischen Gerichtshof bringen«, schloß er. »Ich möchte diese ganze widerwärtige Geschichte auffliegen lassen. Ich bin überzeugt, daß ich genug Material habe, damit die Kommission das Verfahren gewinnen kann. Aber ich werde Hilfe brauchen.« »Du wirst mehr brauchen als nur mich. Du spielst mit dem Feuer. Ist dir klar, womit du dich anlegst? Und im übrigen, wie kommst du eigentlich darauf, daß die Kommission 196
dich unterstützen wird? Du weißt genau, daß das keine radikale Kommission ist. Nicht, wenn Kramer sie führt.« Sie fuhren gerade an Mons vorbei. In der Ferne konnte Morton die riesigen Abraumhalden sehen, die Zeugnis für den Bergbau in Mons’ Vergangenheit ablegten. Als sie tiefer nach Belgien eindrangen, veränderte sich das Wetter spürbar. Der Tag, der mit so strahlendem Sonnenschein begonnen hatte, war jetzt trüb und mit Wolken verhangen. Mortons eigene Stimmung spiegelte den Wetterumschwung wider. Sie war noch am Mittag wie die Türme und Spitzen von Notre Dame gewesen, sank aber jetzt. »Bist du da sicher?« fragte er trübsinnig. Helena drehte sich halb zu ihm herum und sah ihn an. »Kopf hoch, James. Es gibt Mittel und Wege, die Chancen zu steigern.« »Zum Beispiel?« »Ach, hör doch auf!« Ihre Stimme klang jetzt ungeduldig. »Du bist doch Politiker, oder? Du weißt doch, wie man das spielt. Du mußt an die Öffentlichkeit gehen! Wenn du sie vorher fragst, wirst du die Kommission nie dazu bekommen, daß sie sich hinter dich stellt. Kannst du dir denn vorstellen, daß Kramer sich bereiterklärt, die deutsche Industrie zu attackieren? Kannst du dir vorstellen, daß ein Mann wie Duchesne dich unterstützt? Nein. Die einzige Chance, das durchzubekommen, ist, die Öffentlichkeit auf deine Seite zu ziehen. Du mußt zuerst schießen und dann erklären!« Zwanzig Kilometer vor Brüssel verkündete eine Tafel neben der Fernstraße Waterloo – Champs de Bataille. Als er die Tafel sah und gleichzeitig verarbeitete, was Helena gesagt hatte, stand Mortons Entscheidung fest. Helena hatte recht. 197
Ehe er Deutsch-Chemie vor den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg bringen und in die Knie zwingen konnte, mußte er zuerst seine Schlacht im eigenen Haus gewinnen. Helena holte ihn in die Gegenwart zurück. »Komm zu mir zum Abendessen. Ich koche gern und bekomme nur noch selten Gelegenheit dazu.« Morton sah sie überrascht an. Er hatte das Gefühl, daß sie sich bewußt darum bemüht hatte, das Gespräch nicht auf persönliche Dinge kommen zu lassen. Normalerweise redeten Frauen nicht über Luftverschmutzung, so faszinierend das Thema auch sein mochte, wenn sie andere persönliche Dinge zu sagen hatten. »Willst du das wirklich?« »Ja, natürlich will ich das.« Später, als sie an dem mit Kerzen beleuchteten Tisch in ihrer Wohnung über dem Cinquantenairepark saßen, vom guten Essen und dem Wein freundlich gestimmt (ein einfaches Steak mit Salat und eine Flasche Chateau Margaux, um beides hinunterzuspülen), erklärte sie es ihm. »Natürlich will ich dich, James. Ich habe die ganze Zeit seit unserer Rückkehr aus Porto daran gedacht. Aber ich weiß auch, daß du verheiratet bist und daß dir deine Frau etwas bedeutet. Wenn du mir sagen willst, daß Portugal eine Sache ist und Brüssel eine andere, würde mir das zwar etwas ausmachen, aber ich würde es auch verstehen.« Als er über den Tisch nach ihrer Hand griff, wohl wissend, daß er auf einen Weg gezogen wurde, den er eigentlich gar nicht einschlagen wollte, fügte sie hinzu: »Du brauchst dich am Morgen auch nicht von einem Wagen abholen zu lassen, James. Du brauchst nur über die Straße zu gehen.« 198
Also blieb er die Nacht bei ihr, teilte sich mit ihr ihre Zahnbürste und schlief mit ihr in ihrem großen Doppelbett. In der Art, wie sie sich liebten, war etwas Drangvolles, eine fast primitive Vitalität, als könne schiere körperliche Aktivität all das Unsichere ihrer Lage ausgleichen.
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ch glaube nicht, daß wir uns weiterhin sehen können«, sagte er. Isobel, die nackt neben ihm lag, dachte einen Augenblick, das solle ein Witz sein. Heutzutage würde doch sicherlich niemand mehr so etwas sagen, höchstens im Scherz. Aber dann erinnerte sie sich daran, daß Tim – nicht daß der arme Teufel etwas dafür gekonnt hätte – in bezug auf die feinere Lebensart einige Defizite hatte, so etwa seine Neigung, abgedroschene Phrasen zu benutzen. Sie stützte sich auf den Ellbogen, so daß ihr langes blondes Haar sich über dem rosa Seidenkissen ausbreitete. (Diesmal trafen sie sich in ihrer Wohnung, nicht in der seinen.) Sie warf einen traurigen Blick auf ihn, wie er so auf dem Rücken dalag, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und die Bettdecke schicklich über seine untere Körperpartie drapiert, als wäre er ein klassisches Standbild. »Du meinst das wirklich ernst? Was ist denn los?« »Nichts und zugleich alles mögliche«, erwiderte Kegan. »Phyllis hat einen Verdacht, und ich glaube, die Parteispitze auch. Ich war neulich am Smith Square, und dabei ist dein Name gefallen. Unsere Beziehung ist offensichtlich nicht so geheim geblieben, wie wir das gedacht haben.« »So geheim, wie du gehofft hast!« Sie sagte das mit bitterem Tonfall; warum konnten Männer eigentlich nie den 200
Mut haben, zu ihrer Überzeugung zu stehen? »Okay, wir haben ein- oder zweimal bei Wheeler’s zu Mittag gegessen. Das beweist doch noch lange nicht, daß wir eine heiße Affäre haben, oder? Aber wie auch immer, weshalb ist mein Name erwähnt worden?« Er seufzte. Er ging wirklich gern mit Isobel ins Bett, war sogar geradezu wild auf sie. Aber sie redete zuviel. Daran gab es keinen Zweifel. »Also, sag es mir schon.« »Eigentlich war es nicht so sehr dein Name«, erwiderte Kegan müde. »Eher der deines Mannes. Er entspricht nicht ganz den Erwartungen – wenigstens, was die Partei betrifft.« »Was willst du damit sagen?« Kegan wollte sich eigentlich nicht ausfragen lassen, aber Isobel gab keine Ruhe. Schließlich sagte er: »Es gab eine ganze Menge Leute, die darauf gehofft hatten, daß Morton die geplante Fusion zwischen Deutsch-Chemie und United Chemicals positiv sehen oder zumindest bereit sein würde, sie der Kommission zu empfehlen.« Isobel sprang ärgerlich aus dem Bett und hüllte sich in ihren Morgenrock. »Herrgott, ihr seid alle so zynisch! Wahrscheinlich fragt ihr euch, ob ihr Gordon Cartwright wieder auf eure Seite ziehen könnt und was er dann für die Parteikasse springen läßt, wenn James die richtige Entscheidung trifft. Habt ihr ihn etwa deshalb als Industriekommissar nach Brüssel geschickt?« Sie stürmte ins Badezimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Wenn sie jetzt am Dolphin Square gewesen wäre, überlegte Kegan, dann hätte das halbe Stockwerk ihren Streit 201
mitangehört, doch das war es eigentlich nicht, worauf es ankam. Aber worauf kam es denn an? Er blieb liegen, starrte zur Decke und versuchte, Klarheit in seine Gedanken zu bekommen. Ein paar Minuten später kam Isobel völlig bekleidet und in versöhnlicher Stimmung aus dem Badezimmer. Sie brauchte einen Mann in ihrem Leben, und Kegan schien ihr immer noch geeignet. Aber während sie sich für ihren plötzlichen Gefühlsausbruch bei ihm entschuldigte, wurde ihr bewußt, daß ihr Eintreten für den abwesenden Morton völlig spontan und aus tiefstem Herzen gekommen war. Wenn man lange genug mit einem Mann zusammenlebte, schlug man einfach Wurzeln, ob es einem nun paßte oder nicht. »Warum hast du dich angezogen?« fragte er. »Ich bin doch derjenige, der weg muß, nicht du.« Er zog sie beinahe unsanft neben sich aufs Bett. Das Abgedroschene nahm bei ihm viele Formen an, beschränkte sich nicht nur auf seine Sprache. Nach einem heftigen Streit miteinander zu schlafen war auch abgedroschen, aber Kegan konnte einfach nicht widerstehen. Nachdem er sie verlassen hatte, lag Isobel im Bett und dachte über ihr Leben nach. Was Kegan gesagt hatte, hatte sie mehr erschüttert, als sie das je für möglich gehalten hätte. Wenn ein Mann von »sich nicht mehr sehen« zu reden anfing, dann war das – wie sie aus ihrer beträchtlichen Erfahrung wußte – ein deutliches Zeichen. Es war offenkundig, daß Kegan Angst hatte. Isobel machte sich bedächtig daran, ihre Pläne neu zu gestalten. 202
Aus Kegans Worten war zu entnehmen gewesen, daß Morton allem Anschein nach überraschend schwungvoll an seine Tätigkeit in Brüssel heranging. Kegans Darstellung, wie Morton sich gegen die Parteidisziplin sträubte, hatte ein beträchtliches Maß widerstrebender Bewunderung erkennen lassen. Vielleicht, dachte Isobel, hatte sie ihren Mann nach all den Jahren falsch eingeschätzt. Sie wußte, daß er anständig und ehrlich war. Aber konnte es sein, daß er dort drüben auf der anderen Seite des Kanals vielleicht auf dem Weg zum Ruhm war? Verdammt, wenn das der Fall war, würde sie möglicherweise völlig umdenken müssen. Insbesondere, wenn Kegan zu wackeln anfing. Sie griff nach dem Telefon neben ihrem Bett. Es war Sonntag abend. Morton würde also sicherlich zu Hause sein. Sie ließ das Telefon lang klingeln, aber es meldete sich niemand. Zwei Stunden später versuchte sie es noch einmal. Wieder vergebens. Verwirrt und einigermaßen verärgert legte Isobel den Hörer auf. Wo zum Teufel steckte er denn um diese Zeit noch?
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n dem Dienstag nach dem Weekend de reflexion der Kommission erwachte Morton am frühen Morgen in seiner Wohnung am Sablon, sah auf seine Uhr und griff nach dem Telefon. Wenn man ihn gefragt hätte, hätte er sicherlich nicht sagen können, wann genau bei ihm der Entschluß gereift war, die direkte Unterstützung von Murray Lomax zu suchen. Ihm war jetzt schon seit einiger Zeit klar, genaugenommen, seit er sich die Unterlagen von Kunig gründlicher hatte ansehen können, daß er Verbündete brauchte, solche, auf die man sich verlassen konnte, nicht nur in der Kommission selbst, sondern auch außerhalb. Sich um Hilfe an die Presse zu wenden widersprach eigentlich Mortons Instinkt. Wie bei so vielen Politikern war seine Einstellung zu Journalisten ambivalent. Ihm war bewußt, daß sie nützlich sein konnten, zugleich empfand er aber gesunden Argwohn bezüglich ihrer Motive. Aber in den letzten paar Tagen war ihm in zunehmendem Maße auch bewußt geworden, daß die Medien in seiner Strategie eine entscheidende Rolle spielen würden. Tatsächlich hatte er nach jenem langen Gespräch mit Helena auf der Rückreise von Paris für sich den Schluß gezogen, daß er die Schlacht in der Kommission nur gewinnen konnte, wenn er sie vorher außerhalb gewann. »Murray Lomax? Hier spricht James Morton.« Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang schläf204
rig. Lomax spielte ein- oder zweimal die Woche bis in die frühen Morgenstunden mit Kollegen aus dem internationalen Pressekorps Bridge. »Hallo, Commissioner. Was kann ich für Sie tun?« »Können wir zusammen zu Mittag essen? Ich hoffe, Sie haben Zeit. Ich brauche Ihre Hilfe.« »Sagen Sie wann und wo.« In Gedanken hatte Lomax die Tennispartie bereits abgesagt, zu der er sich mit seinen Kollegen im Castle Club, einem eleganten Etablissement in Wezembeek außerhalb der Ringstraße, verabredet hatte. Die Journalisten und Bürokraten pflegten dort häufig zu Mittag zu essen, wobei sie vorher auf dem Tennisplatz Kalorien verbrannten, die sie dann später bei Tisch wieder zu sich nahmen. Gegen sechzehn Uhr kehrte Morton mit selbstgefälligzufriedener Miene in sein Büro zurück. »Gut gegessen?« Vivian Perkins kannte die äußeren Anzeichen. Schließlich hatte sie jahrelang Unterhausabgeordnete dabei beobachten können, wie sie sich auf die Fragestunde des Premierministers vorbereiteten. »Ausgezeichnet sogar. Vielen Dank, Vivian.« Als die Hälfte des restlichen Nachmittags verstrichen war, tauchte Peter Simpson einigermaßen gehetzt in Mortons Büro auf. Ohne die üblichen Höflichkeitsformeln hielt er Morton eine Unterschriftenmappe hin. »Diese Papiere haben Sie leider nicht unterschrieben, Commissioner, ehe Sie am Freitag zu Ihrem Weekend de reflexion weggefahren sind.« Simpsons Stimme hatte einen beinahe höhnischen Unterton, als hege er beträchtliche Zweifel an den intellektuellen Fähigkeiten des Kollegiums und dem205
zufolge auch am Nutzen ausgedehnter Klausurtagungen. »Die hat man uns gerade zurückgeschickt.« »Das tut mir aber wirklich leid.« Obwohl Simpson ihm manchmal auf die Nerven ging, war Morton an diesem Nachmittag freundlich gestimmt. Er nahm seinem Chef de Cabinet die Unterschriftenmappe ab, griff nach seinem Füllhalter und schickte sich an, zu unterschreiben. Doch dann schob er die Mappe stirnrunzelnd von sich. »Nein. Das ist zu früh, Peter. Ich bin nicht bereit, die Fusion zu billigen oder gar der Kommission ihre Billigung zu empfehlen, bloß weil die zuständige Abteilung in einem Aktenvermerk erklärt, daß sie a priori keine Probleme erkennen kann. Ich glaube, wir müssen uns das etwas gründlicher ansehen. Ich habe diese Dokumente am Freitag nicht unterschrieben, weil ich nicht unterschreiben wollte, nicht weil ich sie übersehen habe.« Simpson setzte zum Protest an, und sein etwas pausbäkkiges Gesicht rötete sich verärgert, aber Morton fiel ihm ins Wort. »O ja, ich weiß sehr wohl, daß das ein Punkt auf der nächsten Tagesordnung der Kommission ist. Aber dort steht lediglich, daß ich eine Stellungnahme abgeben werde. Nun, das werde ich.« Der Presseraum der Kommission im Erdgeschoß des Breydel-Gebäudes war zum Bersten voll. Murray Lomax hatte ganz offensichtlich seine Sache mit »den Jungs« gut gemacht. Journalisten aus allen fünfzehn Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, dazu auch andere Mitglieder des internationalen Pressekorps wie die Amerikaner und Japaner und sogar einige Osteuropäer waren anwesend, deren 206
Regierungen darauf hofften, in nicht zu ferner Zukunft der Europäischen Union beizutreten. Als Morton um punkt zwölf den Saal betrat, hatte er sogar den Eindruck, daß augenblicklich dort mehr ausländische Korrespondenten versammelt waren, als man irgendwo mit Ausnahme einer Pressekonferenz im Weißen Haus versammelt finden konnte. Er entdeckte Lomax an seinem üblichen Platz in der dritten Reihe auf der linken Seite des Saals. Lomax gab ihm ein kurzes Zeichen mit erhobenem Daumen, und der Kommissar nickte unauffällig zurück. »Ladies and Gentlemen« – Morton kam sofort zu seinem Thema –, »wie Ihnen vermutlich bekannt ist, liegt der Kommission ein Antrag vor, eine Fusion zwischen zwei der größten Chemiefirmen Europas, Deutsch-Chemie und United Chemicals, zu genehmigen. Ich werde jedoch der Kommission empfehlen, irgendwelche Maßnahmen zu diesem Antrag so lange aufzuschieben, bis eine Untersuchung einer der beiden betroffenen Firmen abgeschlossen ist. Uns liegen Hinweise auf ein ernsthaftes Fehlverhalten vor, zu denen ich mich heute natürlich nicht äußern kann, die aber, falls sie sich bestätigen sollten, die Entscheidung der Kommission erheblich beeinflussen könnten.« Wenigstens ein Dutzend Leute im Saal waren von Lomax darauf hingewiesen worden, daß der Industriekommissar vorhatte, eine wichtige Erklärung abzugeben, die wenigstens einer großen europäischen Chemiefirma nicht gefallen würde. Aber wenige hatten mit der Bombe gerechnet, die Morton hatte platzen lassen. »Ist das endgültig, Herr Kommissar?« Die Frage klang scharf, beinahe inquisitorisch. Morton erkannte den Mann, 207
der sie gestellt hatte. Es war Konrad Gruber, der Vertreter einer der großen deutschen Nachrichtenagenturen, der dpa. Was Gruber schrieb, erschien am Tag darauf in über hundert Zeitungen und war über Radiostationen in ganz Deutschland zu hören. »Ja«, erwiderte Morton knapp und fest. »Die Kommission ist jetzt damit beschäftigt, das ihr vorliegende Beweismaterial zu überprüfen, und wird den Fusionsantrag erst in Erwägung ziehen, wenn dieser Vorgang abgeschlossen ist.« Er sah sich um, um die nächste Frage zu beantworten, und entdeckte Lomax’ erhobene Hand. »Ja, Mr. Lomax?« »Können Sie uns sagen, Commissioner, welche der beiden Firmen überprüft wird?« »Ich kann Ihnen sagen, daß es nicht United Chemicals ist.« »Mit anderen Worten, es ist Deutsch-Chemie?« Diesen so unkomplizierten Wortwechsel hatten Morton und Lomax bei dem Lunch, den sie zusammen eingenommen hatten, sorgfältig abgesprochen. Morton hatte es zunächst widerstrebt, Namen zu nennen, aber Lomax war, sobald er begriffen hatte, worum es bei der Pressekonferenz gehen sollte, hartnäckig geblieben. »Sie müssen Roß und Reiter nennen, sonst bringen die es nicht, oder zumindest nicht so, wie Sie es haben wollen.« »Sie haben recht, Mr. Lomax«, erwiderte Morton jetzt. »Ich werde morgen empfehlen, daß die Kommission Deutsch-Chemie unter Einsatz der Vollmachten, die sie gemäß der Vertragsartikel besitzt, überprüft und wenn nötig auch entsprechende Maßnahmen ergreift.« Diesmal fiel der Groschen. Ein hörbares Aufstöhnen ging 208
durch den Saal. Die Kommission war in beinahe zwei Jahrzehnten jeder frontalen Auseinandersetzung mit der europäischen Industrie aus dem Wege gegangen – praktisch seit den Kämpfen mit Hoffmann-La Roche und Ciba-Geigy über Librium und Valium. Und was der Geschichte einen noch sensationelleren Charakter verlieh, war die Tatsache, daß sich ausgerechnet der Industriekommissar, ein Mann, von dem die Mehrheit ohne Zweifel annahm, daß er den multinationalen Unternehmungen – gelinde ausgedrückt – nahestand, zum Verfechter dieser Aktion machte. Der Lärm im Saal nahm allmählich tumultartige Ausmaße an, als Morton eine letzte Frage entgegennahm. Sie kam wieder von der deutschen Presse; eine auffallend gutaussehende Blondine stellte sie, die Die Zeit vertrat. Morton erinnerte sich daran, daß er die Journalistin bei irgendeinem Cocktailempfang kennengelernt hatte. Wie hieß sie doch gleich? Barbara …? »Sind Sie sicher, daß Sie bei der Sitzung morgen die Unterstützung der Kommission haben werden?« Auch auf diese Frage war er vorbereitet. »Die Kommission ist die Hüterin der Europäischen Verträge.« Er sah sich im Saal um. Einen Augenblick lang herrschte atemlose Stille, ehe der unvermeidliche Sturm auf die Telefone einsetzte. »Ich danke Ihnen, Ladies und Gentlemen. Das wäre alles.« Als er fünf Minuten später in sein Büro zurückkehrte, klingelten sämtliche Telefone, und seine Sekretärin machte einen ernsthaft verstörten Eindruck. »Ich habe Sir Oliver Passmore auf einer Leitung und den Präsidenten der Kommission auf der anderen. Sie wirkten beide ziemlich verärgert. Genauer gesagt sogar äußerst ver209
ärgert.« Vivian Perkins konnte die Besorgnis nicht ganz aus ihrer Stimme verbannen. Hoffentlich wußte Morton, was er tat. »Was soll ich ihnen sagen?« »Sagen Sie ihnen, daß ich beim Mittagessen bin, Vivian, und daß ich auch heute nicht mehr zurückkomme. Nein, das ist mein Ernst. Nicht erreichbar. Incommunicado. Verschwunden. Abgehauen. Untergetaucht.« Morton blieb seinem Wort treu. Er verbrachte den Nachmittag mit einem langen Spaziergang im Forêt de Soignes und gab sich ganz der eindrucksvollen Stille und Schönheit des Waldes hin, die ihre Wirkung auf ihn nicht verfehlten. Äußerlich mochte James Morton ruhig und gefaßt erschienen sein. Für seine Umgebung, wie zum Beispiel seine Sekretärin, war sein Verhalten an jenem Vormittag nach der Pressekonferenz von einer Lässigkeit, die an Prahlerei grenzte. Aber die Wirklichkeit war ganz anders. Morton wußte, daß er an jenem Tag seinen ganz persönlichen Rubikon überschritten hatte und daß die Dinge nie wieder so sein würden, wie sie einmal gewesen waren. Er wußte auch, daß er an jenem Morgen nicht etwa wirr und vorschnell gehandelt hatte, sondern ganz bewußt und mit Vorbedacht – das war etwas, wie ihm jetzt bewußt wurde, worauf er sich seit Monaten, wenn nicht Jahren, geistig vorbereitet hatte. »Soll sie doch alle der Teufel holen«, sagte er zu niemandem im speziellen, während er mit langen Schritten zwischen den Bäumen dahineilte. In seine Wohnung kehrte er rechtzeitig zu den NeunzehnUhr-Nachrichten zurück. Es tat ihm gut, daß sowohl der französische als auch der flämische Kanal des belgischen 210
Fernsehens über die Pressekonferenz am Vormittag berichteten und daß sie es sogar geschafft hatten, in ihren Archiven ein Foto des britischen Kommissars ausfindig zu machen. Er ließ die anderen Kanäle an sich vorbeiziehen. Die Deutschen waren allem Anschein nach besonders groß eingestiegen und zeigten Archivmaterial über die Anlagen von Deutsch-Chemie am Rheinufer sowie ein kurzes Interview mit dem indignierten Ludwig Ritter. Das gleiche galt in stärkerem oder schwächerem Ausmaß für die holländischen und französischen Sender. Soweit Morton das feststellen konnte, war die Haltung der Redaktionen größtenteils positiv. Ein hübsches Mädchen auf Antenne Eins, die die abendliche Nachrichtensendung moderierte, ging sogar so weit zu bemerken, die Maßnahmen des Kommissars hätten »eine neue Dynamik in den Dialog zwischen den Sozialpartnern« gebracht. Morton war nicht ganz sicher, was sie damit meinte – die Franzosen neigten dazu, die Dinge in hochtrabende Worthülsen zu kleiden –, aber seinem Gefühl nach war es eher ein Kompliment als das Gegenteil. BBC, stellte er fest, als er das Ende der SechsUhr-Nachrichten erwischte (England war wie immer eine Stunde hinter Europa her), berichtete objektiv ohne jegliche redaktionelle Stellungnahme. Morton vermutete, daß das Pressebüro von Downing Street da einen diskreten Hinweis gegeben hatte. Zu erwarten, daß die BBC, die der neue Premierminister naheliegenderweise als gefährlich konservative Anstalt zu betrachten schien, sich Mortons Maßnahmen entgegenstellte, wäre zuviel gewesen, aber man konnte zumindest erwarten, daß sie unter Druck in der Angelegenheit relativ neutral blieben. Bei ITV kam er bes211
ser weg; ein begeisterter Korrespondent kommentierte ihn folgendermaßen: »Während seiner Jahre im Unterhaus hat niemand viel von James Morton zu hören bekommen.« Das war schroff, aber fair. »Aber heute hat sich das ganz eindeutig geändert. Der Industriekommissar des Vereinigten Königreichs hat heute erheblichen politischen Zündstoff geliefert. Es steht jetzt fest, daß die geplante Fusion zwischen Deutsch-Chemie und United Chemicals, eine der größten Fusionen, die je in Europa erörtert wurden, jedenfalls in unmittelbarer Zukunft nicht über die Bühne gehen kann. Die City ist heute abend dabei, sich ein Urteil über die Situation zu bilden, aber der Aktienwert von United Chemicals ist bereits um einige hundert Millionen Pfund gesunken. Wir werden uns in unseren Zehn-Uhr-Nachrichten ausführlicher mit diesem Vorgang befassen …« Morton schaltete den Fernseher ab, als das Telefon klingelte. Es war Isobel. Ihre Stimme klang merkwürdig; er spürte, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. »Hallo, Liebster. Alle reden hier heute über dich. Offenbar war Gordon Cartwright bereits bei den Parteigrößen. Er scheint ziemlich sauer zu sein.« »Augenblick mal.« Mortons Stimme hatte einen stählernen Unterton. »Woher weißt du das alles?« Er glaubte die Antwort auf seine Frage zu kennen, wollte aber hören, was Isobel zu sagen hatte. Die ließ sich nicht beirren. »Ich war heute nachmittag bei Patricia, um mir die Haare richten zu lassen. Amanda Braithwaite war vor mir dort. Allem Anschein nach ist Harry beinahe geplatzt, als er von deiner Pressekonferenz hörte.« 212
Das klang durchaus plausibel, überlegte Morton, aber Isobel hatte schon immer schnell eine passende Antwort parat gehabt. »Wo bist du jetzt?« »Zu Hause«, erwiderte sie schnell und fügte dann hinzu, ehe er etwas sagen konnte: »Wirklich, das ist mein Ernst, James. Ich bin beeindruckt. Wann hast du das Beweismaterial bekommen?« Isobels Frage schien ganz natürlich, aber Morton ging kein Risiko ein. Er kannte seine Herren Kollegen zu Hause und traute ihnen durchaus zu, daß sie Isobel vor ihren Karren spannten. »Du mußt verstehen, daß ich das nicht sagen kann. Nicht einmal dir.« Isobel lachte nur, als wäre die Angelegenheit für sie ohne Bedeutung. »Amtseid, wie?« »Du kannst es nennen, wie du magst.« Immer noch der Stahl. Sie wechselte das Thema. »Ich wollte dich Sonntag am späten Abend erreichen, aber da hat sich niemand gemeldet.« »Unser Weekend de reflexion hat länger gedauert. Wir sind erst Montag morgen zurückgekommen.« Selbst gutmütige, anständige Männer waren zu Ausreden fähig, wenn die Umstände es erforderten. Er wußte nicht, ob Isobel ihm glaubte oder nicht, und als er den Hörer auflegte, wurde ihm bewußt, daß es ihm eigentlich gleichgültig war. Eine halbe Stunde später klingelte das Telefon wieder. 213
Diesmal erkannte er die Stimme nicht gleich. Dem Akzent nach jemand aus den Midlands, Birmingham vielleicht? Nicht daß er jemals in Birmingham gewesen wäre. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie zu Hause anrufe.« Kegan kam gleich zur Sache. »Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden, und Sie würden das auch sicher nicht von mir erwarten. Die Partei ist wütend. Wir hatten uns bemüht, Cartwright wieder zurückzugewinnen. Er ist so etwas wie ein Leithammel für die Wirtschaft im Ganzen. Können Sie das nicht wieder hinbiegen, ehe es zu spät ist? Uns würde das bei unseren Freunden mächtig schaden.« »Welchen Freunden im speziellen?« »Denen, auf die es ankommt. Denen, die uns das Geld liefern, damit wir die nächsten Wahlen gewinnen. Wir haben soviel an Boden verloren, daß wir auf Jahrzehnte in der Opposition festsitzen werden, wenn wir nicht sofort zum Gegenangriff antreten.« »Ich gebe nur eine Empfehlung ab. Die Kommission hat durchaus das Recht, sich dieser Empfehlung nicht anzuschließen.« Plötzlich wurde Morton ärgerlich. »Ich weiß nicht, wie Sie an meine Privatnummer gekommen sind, aber ich empfinde dieses Gespräch jedenfalls als höchst ungehörig. Lesen Sie in den Regeln nach, Kegan. Ich habe einen Amtseid abgelegt.« Als Morton den Hörer heftig atmend auf die Gabel knallte, hatte er intuitiv das Gefühl, daß Isobel diejenige war, die Kegan seine Nummer gegeben hatte. Hatte Kegan Isobel aufgefordert, ihn anzurufen, und sich dann später, als Isobel nichts erreicht hatte, entschieden, ihn selbst anzurufen? Arbeiteten die beiden etwa in dieser Sache zusam214
men? Er wählte Isobels Nummer in London, aber niemand meldete sich. An jenem Abend saß Morton noch lange mit einem Glas in der Hand vor dem Fernseher, dessen Ton er auf ein leises Murmeln gestellt hatte, und dachte über die beiden Trümmerhaufen nach, die jetzt vor ihm lagen – der seiner Ehe und der seiner Karriere. Aber als er am nächsten Tag bei seinem Zeitungshändler im Sablon die Zeitungen kaufte, wußte er, daß er recht hatte. Die meisten Blätter brachten den Bericht auf der Titelseite. Und was noch wichtiger war, sie waren über die nüchternen Fakten seiner Erklärung bei der Pressekonferenz hinausgegangen und präsentierten bereits in groben Zügen die gegen Deutsch-Chemie erhobenen Vorwürfe. Wie Lomax es angestellt hatte, diese Einzelheiten in Umlauf zu setzen, wußte Morton nicht, aber der Mann verstand sich jedenfalls auf sein Handwerk. The Times widmete dem Vorgang mehr Platz als jedes andere Blatt – sowohl was die eigentliche Nachricht als auch was den Hintergrund anging; aber das war in Anbetracht der Umstände ja nur richtig und angemessen. Zwei Stunden später, als Morton (bewußt verspätet) bei der Mittwochmorgensitzung der Kommission erschien, verriet ihm der finstere Blick, den Dr. Horst Kramer ihm zuwarf, sofort, daß die Sitzung nicht ohne ein Feuerwerk ablaufen würde. Als er Platz nahm, stockte die Diskussion einen Augenblick lang, und er hörte den französischen Kommissar Pierre Duchesne in recht feindseligem Tonfall sagen: »Il ne faut pas exagérer quand même.« Und dann fuhr der Mann in englischer Sprache fort, damit Morton ihn unmit215
telbar verstehen konnte: »Dürfte ich vielleicht vorschlagen, Mr. President, daß wir jetzt, wo Mr. Morton uns mit seiner Anwesenheit beehrt, die Tagesordnung unterbrechen und uns sofort mit den gestrigen Ereignissen befassen?« Kramer antwortete darauf unverzüglich, als habe er Duchesnes Vorschlag erwartet: »Ich halte das für eine ausgezeichnete Idee.« Aber Morton ließ sich nicht einschüchtern. Helena war sichtlich auf seiner Seite; sie hatte ihm, als er den Saal betreten hatte, versteckt zugewinkt. Morton nickte ihr grüßend zu. Daß er in diesem wichtigen Augenblick von seiner Geliebten und nicht von seiner Frau Unterstützung bekam, war eine Ironie des Schicksals. Als er dann seine Papiere vor sich zurechtlegte, stellte er fest, daß es in der Runde noch ein oder zwei Kollegen gab, die ihm aufmunternd zulächelten. Der Grieche und der Italiener schienen ebenfalls auf seiner Seite zu stehen. Morton beschloß, nötigenfalls eine Abstimmung zu erzwingen. »Entschuldigen Sie, Chairman; entschuldigen Sie, wenn ich mich täuschen sollte – ich bin bedauerlicherweise aufgehalten worden und konnte daher am Beginn der Sitzung nicht teilnehmen –, aber gehe ich recht in der Annahme, daß Sie bei Beginn der heutigen Sitzung die Tagesordnung genehmigt haben?« »Ja, das ist richtig.« Kramers Stimme klang mürrisch und argwöhnisch. Was führte Morton jetzt im Schilde? »In dem Fall«, fuhr Morton mit einem strahlenden Lächeln fort, »sehe ich keinen Anlaß, von der Geschäftsordnung abzuweichen, die Sie selbst gerade erst so festgelegt haben. Sie werden sehen, daß der Tagesordnungspunkt Industrie216
politik – Mitteilung des verantwortlichen Kommissars – als Punkt neun auf der Tagesordnung steht. Aber ich stelle mich mit dem größten Vergnügen einer Abstimmung, falls Sie das möchten.« Kramer gab mit finsterer Miene nach. Er wollte sich nicht dem Risiko aussetzen, in einer Geschäftsordnungsfrage überstimmt zu werden. Es gab Kommissare im Saal, die ihn vermutlich inhaltlich unterstützen würden, sich jedoch trotzdem hinter Morton stellen würden, wenn es darum ging, daß die Kommission sich an die Tagesordnung hielt, die sie selbst festgelegt hatte. Für Morton war das ein kleiner, aber bedeutsamer Sieg. Nicht zum ersten Mal hatte er klar zu erkennen gegeben, daß man ihn nicht einfach herumschubsen konnte. Als sie schließlich gegen Mittag zu Punkt neun kamen, schien das Thema einiges an Brisanz verloren zu haben. Alle Anwesenden hatten im Verlauf des Morgens die täglich zusammengestellte Pressemappe der Kommission bekommen, die Fotokopien entsprechender Artikel aller bedeutenden europäischen Zeitungen enthielt. Und damit hatten sie auch selbst das positive Echo zur Kenntnis nehmen können, das Mortons Initiative gefunden hatte. Natürlich neigte jeder Kommissar dazu, sich zuerst die Presse des eigenen Landes anzusehen. Wenn in Rom und Madrid Beifall gespendet wurde, dann würde es ungefährlich sein, auch in Brüssel zu applaudieren. Selbst Paddy McGrath, der irische Kommissar, der nicht gerade Mortons engster Verbündeter war (welcher Ire machte schon je mit einem Briten gemeinsame Sache, wenn er das vermeiden konnte?), mußte anerkennen, daß die Irish Times und der Irish Independent 217
Mortons Initiative begrüßten, und er mäßigte seine eigene Haltung entsprechend. »Jetzt, wo wir endlich zu diesem Tagesordnungspunkt gekommen sind, Mr. President«, sagte McGrath, »dürfen wir vielleicht Mr. Morton bitten, uns freundlicherweise mitzuteilen, weshalb er es für nötig gehalten hat, mit seinen Empfehlungen sozusagen an die Öffentlichkeit zu gehen, ehe seine Kollegen die Gelegenheit hatten, ihn selbst zu hören.« Ein oder zwei Kommissare brummten zustimmend zu McGraths Worten, aber Morton beschloß, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. »Jeder von uns muß sich seiner eigenen Verantwortung stellen. Das habe ich getan. Vielleicht möchten die Kollegen jetzt meinen Bericht im Detail hören. Ich bin ganz sicher, daß ich etwaige Besorgnisse entkräften kann.« Am Ende fand keine Abstimmung statt, obwohl Kramer sicherlich eine erzwungen hätte, wenn er sicher gewesen wäre, einen Abstimmungssieg zu erzielen. Aber es war offenkundig, daß eine große Mehrheit der Kommission für sich bereits entschieden hatte, daß sie als umsichtige Politiker am besten Mortons Vorgehensweise billigten. Am Ende des Vormittags hatte die Kommission beschlossen, jede weitere Erörterung des Fusionsantrages zwischen Deutsch-Chemie und United Chemicals aufzuschieben, bis die entsprechenden Ermittlungen abgeschlossen waren. Einige der Kommissare, insbesondere McGrath und Duchesne und natürlich Kramer selbst, hatten versucht, Morton dazu zu bewegen, seine Informationsquelle preiszugeben. Aber Morton war hartnäckig geblieben. »Ich bin sicher, meine Herren Kollegen, Sie werden 218
Verständnis dafür haben, daß es für mich nicht richtig wäre, das selbst innerhalb dieser vier Wände preiszugeben.« Als Morton sagte »selbst innerhalb dieser vier Wände«, meinte er natürlich »ganz speziell innerhalb dieser vier Wände«, war aber so taktvoll, es nicht auszusprechen. Wie alle sehr wohl wußten, waren die meisten Indiskretionen im BreydelGebäude den Kommissaren selbst zuzuschreiben. Darüber hinaus beschloß die Kommission an jenem Morgen, Morton die Verantwortung für die notwendigen Ermittlungen und – in Zusammenarbeit mit dem juristischen Dienst der Kommission – für die Vorbereitung entsprechender rechtlicher Schritte zu übertragen, falls solche angezeigt sein sollten. Kurz vor 13 Uhr unterbrachen sie die Sitzung für das Mittagessen. Als Morton seine Papiere einsammelte und sich anschickte, den Saal zu verlassen, ging der Kommissionspräsident auf ihn zu. Morton hatte selten einen Menschen so finster blicken sehen. Er hatte hektische rote Flecken auf beiden Wangen, und sein Atem ging schwer, als habe er große Mühe, einen Wutausbruch zu unterdrücken. »Bitte folgen Sie mir«, zischte er. Dann stürmte er aus dem Saal und eilte den mit Teppich belegten Korridor hinunter, ohne auf Mortons Antwort zu warten. Im Laufe der Jahre waren im Büro des Präsidenten der Europäischen Kommission Präsidenten und Premierminister, Staatsoberhäupter und Regierungschefs, selbst der Papst empfangen worden; politische Konzepte und Budgets waren dort formuliert und ehrgeizige Strategien entwickelt worden, um den »Bau eines geeinten Europas« zu fördern, 219
ein Begriff, der natürlich für jeden einzelnen Amtsinhaber etwas anderes bedeutet hatte. Vom rein historischen Standpunkt aus betrachtet, war das Schauspiel an jenem Nachmittag daher nicht gerade erbauend. »Ihr Verhalten war nicht korrekt, Mr. Morton.« Kramer stand mit dem Rücken zu seinem Schreibtisch und funkelte Morton an, als dieser den Raum betrat. »Das wissen Sie, und das weiß ich. Einmal mögen Sie damit durchgekommen sein, aber ein zweites Mal werden Sie mit der Kommission kein solches Spiel treiben können.« Ehe Morton darauf antworten konnte, fuhr Kramer fort: »Ihre eigene Regierung wird Sie niemals unterstützen. Ich werde Sie niemals unterstützen. Was Sie getan haben, ist sowohl der Geschäftsordnung nach als auch inhaltlich falsch. Ich weiß nicht, woher Sie Ihre Informationen bekommen haben, aber ich kann Ihnen versichern, daß Sie im Begriff sind, einen großen Fehler zu machen.« Einen Augenblick lang war Morton von der beinahe körperlich wahrnehmbaren Intensität von Kramers Angriff überwältigt, in solchem Maße, daß er sich in die Defensive gedrängt fühlte. Konnte es sein, daß Kramer recht hatte? Hatte er möglicherweise nicht nur in der Art und Weise, wie er die Kommission überfahren hatte, sondern auch in den Fakten unrecht? Aber dann erinnerte er sich an den Spaziergang, den er mit Kunig am Strand gemacht hatte, erinnerte sich an den qualvollen Ausdruck des Mannes, als er vom Tod seiner Eltern gesprochen hatte, erinnerte sich an seine Gespräche mit Lomax und die Unterlagen, die Laurent Guimard ihm zur Verfügung gestellt hatte. 220
»Mr. President« – er fand endlich die Worte –, »ob mich meine Regierung unterstützt oder nicht, ist ohne Belang. Ich diene hier der Kommission, nicht der britischen Regierung. Ob Sie mich unterstützen oder nicht, ist allerdings von erheblicher Bedeutung, nicht für mich, sondern, wie ich behaupten möchte, für ganz Europa. Ich hoffe, Sie im Laufe der Zeit überzeugen zu können, daß ich recht habe und Sie unrecht.« Einen Augenblick lang dachte Morton, daß Kramer ihn jetzt gleich schlagen würde. »Nie, nie, nie!« Er spuckte die Worte förmlich aus. »Da können Sie ganz sicher sein, Mr. Morton.« Ohne auf Mortons Antwort zu warten, stürmte Kramer aus dem Raum.
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ür den Freitag hatte er Karten für die Oper – eine mehr als passable Aufführung von Don Giovanni. (Die Brüsseler Oper war zwar nicht die Mailänder Scala oder Covent Garten, aber ihr Ruf wuchs beständig, und dem Gerücht nach gab es sogar Liebhaber mit Abonnements, die für einen Opernabend eigens aus Paris anreisten.) Morton lud Helena ein, ihn zu begleiten. »Die Belgier machen, wie man mir sagt, ein großes Tamtam aus Premieren«, meinte er Nachsicht heischend. »Ich muß meinen Smoking ausgraben.« Am Ende eines langen Tages im Büro fuhr er nach Hause, um sich umzukleiden. Er hatte mit Helena verabredet, daß sie zu seiner Wohnung kommen und sie dann gemeinsam ins Theater fahren würden. Was für eine seltsame Wendung doch sein Leben genommen hatte, dachte er, als er sich ankleidete. Da stand er jetzt und zog seinen alten, aber durchaus noch brauchbaren Smoking an, ein Kleidungsstück, das er im Lauf der letzten dreißig Jahre regelmäßig getragen hatte – angefangen beim Jubiläumsball in Oxford und dann zu denkwürdigen Anlässen wie jenem unvergeßlichen Abend in Glyndebourne, als Isobel einen Wutanfall bekommen hatte, weil der Champagner nicht kalt war –, und doch, wenn auch die Kleider dieselben blieben, der Mann, der in ihnen steckte, hatte sich gründlich verändert. Er verspürte in sich ein Maß an Schwung und 222
Zielstrebigkeit, dessen er sich früher nie richtig bewußt gewesen war. Da er frühzeitig fertig war, ging er ans Fenster und wartete auf Helenas Ankunft. Sie war neulich bei der Kommissionssitzung eine große Hilfe für ihn gewesen, hatte sich klar und überzeugend zugunsten von Mortons Vorgehensweise ausgesprochen und hatte damit vermutlich einige der anderen Kommissare auf seine Seite gezogen. Eigentlich eigenartig, dachte er, wie man in eine Beziehung hineinschlittern konnte, ohne richtig darüber nachzudenken. Wenn Isobel von Anfang an mit nach Brüssel gekommen wäre, hätte er ganz sicherlich nie eine Affäre mit Helena angefangen. Er war ganz gewiß kein Schürzenjäger, war nie einer gewesen und würde nie einer sein. Aber Männer waren Gewohnheitstiere und liebten ihre Behaglichkeit. Am Anfang war es ihm ganz recht gewesen, am Abend allein dazusitzen und seine Akten zu studieren. Er hatte sich damals in seine neue Tätigkeit eingearbeitet, und allein zu sein war für ihn eine relativ neuartige Erfahrung gewesen, ganz besonders nach der fast kumpelhaften Kameradschaft, die im Unterhaus geherrscht hatte. Aber auf lange Sicht war er nicht für das Alleinsein geschaffen, das wußte er. Er sah ihren Wagen hinter einem großen braunen Citroën anhalten, der unmittelbar unter seinem Fenster parkte. Er registrierte beiläufig und ohne sich dabei etwas zu denken, daß der Citroën deutsche Nummernschilder trug. Irgendwelche Touristen vermutlich, die sich eine teure Mahlzeit im Ecayer Royal leisteten. Daß Leute aus Deutschland zum Essen nach Belgien fuhren, überraschte 223
ihn keineswegs. Schließlich war die deutsche Küche ja nicht gerade für ihre Vielfalt berühmt. In der Oper selbst genoß er das Gefühl, so etwas wie ein Prominenter zu sein. Brüssel hatte seine eigenen Rhythmen und Prioritäten, und der Gemeinsame Markt, oder die Europäische Union, wie man das jetzt so großspurig zu bezeichnen pflegte, rangierte da nicht gerade sonderlich weit oben. Aber les Belges waren sich nichtsdestoweniger wohl bewußt, daß sie der Anwesenheit internationaler Organisationen in ihrer Mitte eine ganze Menge verdankten. Die Wellen, die Mortons sensationelle Pressekonferenz geschlagen hatte, hatten sich weitverbreitet, aber einige davon hatten auch näherliegende Ufer erreicht. Graf Armand de Grote beispielsweise, dessen Großvater die Stahlindustrie Belgiens gegründet hatte, begrüßte ihn mit einem Lächeln, das Morton ein wenig spöttisch vorkam. »Ah! Der Held der Stunde!« Der Graf war ein älterer Mann, hochgewachsen, steif wie eine Laternenstange und mit einem weißen Walroßbart geschmückt, der beim Sprechen leicht zitterte. »Wir schlottern alle in unseren Schuhen und fragen uns, wer der nächste sein wird.« Der Graf schloß seine Bemerkung mit einem kleinen Lacher ab, aber Morton hatte die Warnung in seiner Stimme nicht überhört. Inmitten der Menschentraube, die in der ersten Pause zur Bar stürzte, sah Morton eine Gestalt, die ihm bekannt vorkam, die er aber im Augenblick nicht einordnen konnte. Der Mann war makellos gekleidet. Sein silbernes Haar, jede Strähne an Ort und Stelle, bildete einen deutlichen Kontrast zu seinen bronzefarbenen Gesichtszügen, das 224
Ganze auf bewundernswerte Weise betont durch ein dunkelblaues Dinnerjacket aus Samt, das offenbar in einem der edleren Etablissements der europäischen Haute Couture erworben war. Morton sah, wie der Mann in seine Richtung blickte, und dann fiel ihm plötzlich ein, wo er ihn schon einmal gesehen hatte. Das war an dem Tag gewesen, als er zu dem Dreizehner-Club gesprochen hatte, jener etwas seltsamen Veranstaltung in dem alten Haus an der Rue Ravenstein, als Europas führende Industrielle sich hauptsächlich – wenigstens war es ihm so erschienen – zu dem Zweck versammelt hatten, ihm ein Mittagessen zu geben. Wie hieß der Mann doch gleich? Rizzi? Rossi? Ja, Luciano Rossi. Er seufzte, als er sah, wie Rossi, nachdem er sich sein Glas wieder hatte füllen lassen, entschlossen auf ihn zusteuerte. »Mr. Morton! Wie schön, Sie hier zu sehen!« Helena, die kurz weggegangen war, um in einem anderen Teil des Saals mit dem portugiesischen Botschafter und seiner Frau zu sprechen, war jetzt wieder zu ihm zurückgekehrt, und Morton stellte ihr den Italiener vor. Luciano Rossi beugte sich über Helenas Hand und hob sie an seine Lippen. Es war die traditionelle Geste der eleganten Gesellschaft, aber irgendwie wirkte sie an dem Italiener geckenhaft. Dann wandte er sich wieder Morton zu. »Und wie fühlen Sie sich in Ihrer Wohnung im Sablon? Ist doch hoffentlich nicht zu laut?« Eine kleine Handbewegung und ein Hauch teures Eau de Cologne, dann war der Italiener verschwunden. »Woher weiß er denn, daß du im Sablon wohnst?« fragte Helena. 225
»Ich denke, das muß ich ihm damals gesagt haben, als ich vor dem Dreizehner-Club sprach.« Morton war leicht verwirrt – er erinnerte sich nicht daran, mit Luciano Rossi über seine Wohnung gesprochen zu haben. Aber jetzt ertönte die Glocke zum zweiten Akt von Don Giovanni, und er vergaß das Ganze. Nach der Oper gingen sie zu einem Empfang, den eine der größten Banken Belgiens veranstaltete. Morton hatte inzwischen erkannt, daß dies ein Land war, in dem die Welt des Geschäfts, der Hochfinanz und die gehobene Gesellschaft unentwirrbar miteinander vermengt waren. Natürlich gab es auch viel altes Blut, aber einige der prominentesten Mitglieder des Le High-Life stammten von Familien ab, deren Vermögen im letzten Jahrhundert oder in den Anfangsjahren dieses Jahrhunderts geschaffen worden waren und deren Titel – Graf oder Baron oder was auch immer – ihrem Wohlstand so gefolgt waren, wie der Pflug dem Traktor folgt. Es war beinahe Mitternacht, als Morton und Helena endlich gehen konnten. Er fuhr sie zu ihrer Wohnung zurück und wollte sie an der Tür absetzen, aber sie drehte sich zu ihm herum und sagte: »Morgen ist Samstag. Warum bleibst du nicht? Wir könnten ausschlafen und dann aufs Land fahren. Etwas ausspannen würde dir sicherlich guttun. Und mir ganz bestimmt auch.« »Ich habe nichts zum Anziehen bei mir. Ich werde morgen doch nicht den ganzen Tag in diesem Pinguinaufzug rumlaufen.« Sie lachte. »Dann fahr doch und hol dir etwas. Dazu brauchst du höchstens zwanzig Minuten.« 226
Tief im Innersten war Morton bewußt, daß er eigentlich die Nacht gar nicht in Helenas Wohnung verbringen wollte. Er hatte das einmal getan und dann für sich die Entscheidung getroffen, daß daraus keine Gewohnheit werden durfte. Er hatte keine Ahnung, wie die Dinge zwischen ihm und Isobel standen (sie hatten seit Tagen nicht mehr miteinander telefoniert); aber so wie jetzt konnte es sicher nicht weitergehen. Aber das hieß nicht, daß er bereit gewesen wäre, eine unvollkommene Beziehung gegen eine andere einzutauschen. Er fühlte sich sehr zu Helena hingezogen, aber reichte das? Er seufzte, als er zu seiner Wohnung zurückfuhr und damit schließlich doch ihrem Druck nachgab. Wieso war eigentlich sein Leben plötzlich so kompliziert geworden? Als er das Gebäude betrat, stellte er fest, daß der braune Citroën mit den deutschen Nummernschildern immer noch dastand. Wenn der Fahrer des Wagens noch irgendwo in einem Restaurant saß, dann mußte das ein veritables Festmahl sein, dachte Morton. Er zog sich schnell um, steckte Rasierapparat und Zahnbürste ein und schaltete das Licht in seiner Wohnung aus. Der Mann, der ihn fünfzig Meter entfernt auf der anderen Seite des Platzes in seinem Wagen sitzend beobachtete, sah, wie die Lichter ausgingen, und nickte befriedigt. Er zog sein Handy heraus und tippte eine Nummer ein, nur um festzustellen, daß die Batterie den Geist aufgegeben hatte. Verärgert ließ er den Motor an und fuhr schnell an der Kirche vorbei, bog nach links in die Rue de la Regence und fuhr dann weiter bis zur Place Royale. Die erste Telefonzelle, die er erreichte, war außer Betrieb. Der Mann 227
stieß eine wütende Verwünschung über dieses Werk namenloser Vandalen aus und stieg wieder in den Wagen, um die nächste Telefonzelle anzusteuern. Als er schließlich ein funktionsfähiges Telefon entdeckt hatte, war sein Gespräch kurz und knapp. »Er ist zurück.« Morton entschied sich dafür, nicht mit dem eigenen Wagen zu Helena zu fahren. Sein großer weißer Jaguar war ein auffälliges Fahrzeug, und er wollte ihn nicht die ganze Nacht vor Helenas Gebäude abstellen. Deshalb winkte er sich ein Taxi heran, das auf der Suche nach Nachzüglern durch die Straßen rollte, beugte sich nach vorn und forderte den Fahrer auf, ihn zum Cinquantenaire zu bringen. Als der Mann, der sein Haus beobachtet hatte, vom Telefonieren zurückkam, sah er, daß der weiße Jaguar immer noch vor Mortons Gebäude stand. Er fuhr seinen eigenen Wagen – einen blauen Renault 5 – rückwärts in eine Seitenstraße, von wo aus er immer noch Mortons Gebäude im Auge behalten konnte, und sah dann auf die Uhr. Drei Uhr morgens, hatte der Boß gesagt. Na schön, wenn der Boß das so wollte, dann sollte er seinen Willen haben. Es war ein strahlender, von der Sonne wie verzauberter Tag. Sie schliefen bis tief in den Vormittag hinein, frühstückten auf Helenas Terrasse und fuhren dann in die Ardennen. »Nicht gerade eine Wildnis, aber trotzdem beeindrukkend, nicht wahr?« Sie standen auf einer Hügelkuppe und blickten auf das Panorama der schier endlos erscheinenden Fichtenwälder hinab. Es war nicht sein Land, und dennoch 228
verspürte Morton das Bedürfnis, es zu verteidigen. Zu viele Leute machten sich über Belgien lustig, ohne überhaupt zu wissen, wieviel dieses Land doch zu bieten hatte. In einem kleinen Ardennendorf, einer von einem schnell dahinplätschernden Flüßchen zweigeteilten Ansammlung grauer Steinhäuser, aßen sie zu Mittag – die traditionellen moules et frites. Anschließend sagte ihr Morton, von dem unbehaglichen Gefühl geplagt, sich zu lange verdrückt zu haben, er müsse wieder zurück. Sie bestand darauf, ihn zum Sablon zu fahren. Als sie den Platz erreichten, fiel ihnen als allererstes auf, daß die Kirche keine Mosaikfenster mehr hatte. »Was zur Hölle …?« setzte Morton an, aber dann sah er, daß da nicht nur keine Fenster mehr in der Kirche waren, sondern daß das hübsche mittelalterliche Gebäude, in dem sich seine Wohnung befand, ein klaffendes Loch an der Seitenwand aufwies. Das ganze Areal war abgesperrt worden, und Polizeibeamte drängten die schaulustige Menge hinter hölzerne Barrikaden zurück. Es war unmöglich, näher an den Schauplatz des Geschehens heranzukommen. Deshalb parkte Helena ihren Wagen in einiger Entfernung. Sie erkannten sofort, daß keine Eile geboten war. Aller Schaden war bereits vor einigen Stunden entstanden. Was sie jetzt hier zu sehen bekamen, waren lediglich die Aufräumarbeiten. Morton entdeckte die Fernsehkameras außerhalb des abgesperrten Areals. Leichenfledderer, dachte er. Dicht von Helena gefolgt, bahnte er sich seinen Weg durch die Menge bis zur Absperrung. Als er die hölzernen Barrikaden erreichte, tippe er einem Polizisten auf die 229
Schulter, worauf der Mann sich zu ihm herumdrehte. »Was ist hier passiert?« fragte Morton. Der Mann schien überrascht, daß es noch jemanden gab, der das nicht wußte. »Eine Autobombe ist letzte Nacht hier explodiert, gegen drei Uhr morgens.« Und dann fügte er hinzu, als wäre das die größte Tragödie an dem ganzen Vorfall: »Die haben Wittamers zerstört. Keine Schokolade mehr.« »Ist jemand ums Leben gekommen?« fragte Morton besorgt. »Ja«, war die lakonische Antwort des Polizeibeamten. »Der britische Europakommissar, wie es scheint. Er hatte seine Wohnung im ersten Stock; sein Wagen parkte davor. Da, schauen Sie.« Der Mann deutete auf Wrackteile eines Wagens, die man bereits zur Seite geräumt hatte; Morton erkannte die Überreste seines weißen Jaguars. Einen Augenblick lang sah er vor seinem inneren Auge einen braunen Citroën, der in der Nacht zuvor vor dem Gebäude geparkt hatte. »Sie sind gerade dabei, ihn aus den Trümmern auszugraben.« »O mein Gott!« rief Morton aus. Fast konnte er die Gewalt der Explosion körperlich spüren. Der Polizeibeamte, der schon Schlimmeres miterlebt hatte – er hatte in der Nacht, in der Liverpool gegen Juventus gespielt hatte, im Heysel-Stadium Dienst gehabt –, zuckte die Achseln. »Wenn es nicht die Pädophilen sind, sind es Terroristen. Belgien wimmelt heutzutage von diesem Gesindel. Wie ich höre, haben die flämischen Nationalisten sich bereits zu dem Attentat bekannt. Ich denke, der Kommissar hat da einfach zufällig am falschen Ort gewohnt.« 230
Morton erkannte, daß er sich dem nicht entziehen konnte. »Ich bin der Kommissar«, sagte er. Einen Meter von ihm entfernt drehte sich eine Frau zu ihm herum. Sie hatte den Rettungsmannschaften gespannt dabei zugesehen, wie sie im Schutt herumstocherten, aber als Morton sagte: »Ich bin der Kommissar«, drang seine Stimme zu ihrem Bewußtsein durch, und sie drehte sich um. Morton gab es einen Stich, als er das mit Tränen verschmierte Gesicht der Frau erkannte. »Isobel?« rief er aus. »Was in aller Welt machst du denn hier?« »Oh, Jimmy!« Sie warf sich in seine Arme. »Es war so schrecklich. Ich habe es in den Nachrichten gehört und gleich das erste Flugzeug genommen. Gott sei Dank lebst du noch.« Und dann fiel ihr Blick mit unbeirrbarem Instinkt auf Helena. Scheiße! dachte Morton. Seine Miene verfinsterte sich, und er fragte sich, ob es nicht vielleicht besser gewesen wäre, wenn er in der Explosion umgekommen wäre. Dann fing er sich und sagte ziemlich förmlich: »Isobel, ich glaube, du kennst Helena Noguentes schon. Helena, das ist Isobel!« Und dann dachte er: James Morton, diesmal hast du wirklich Mist gebaut, wie? Isobel, die aus Helenas Anwesenheit immer noch nicht ganz die entsprechenden Schlüsse gezogen hatte, brach in Tränen aus. »Und ich dachte, du wärst dort drinnen, vom Schutt begraben!« Morton atmete tief durch. Manchmal konnte man sich einfach aus einer kniffligen Situation herausreden, aber er war nicht so sicher, ob dies eine solche Situation war. »Nein, Isobel.« Er sprach mit ganz ruhiger Stimme, wohl 231
wissend, daß die Mikrofone auf ihn gerichtet waren. »Ich war letzte Nacht nicht hier.« Dann drehte er sich halb zur Seite, nur um festzustellen, daß Helena sich bereits in aller Stille entfernt hatte.
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ie nahm Brüssel im Sturm. Sie nahm ihn im Sturm. Morton hatte in den Monaten ihrer Trennung vergessen, wie energisch Isobel sein konnte. Während er noch ganz unter dem Schock seiner knappen Rettung gestanden hatte, hatte Isobel sein Leben von Grund auf in neue Bahnen gelenkt, einfach indem sie wieder in dieses Leben eingetreten war. Wie es schien, hatte das Bombenattentat sie zu der Entscheidung gezwungen, wo und wie sie leben wollte. Sie sah das ganz simpel. Wenn Morton jemandem wichtig genug war, daß dieser ihn ermorden wollte, dann bedeutete das schlicht und einfach, daß er wichtig war. Also hatte sie ihn vielleicht die letzten paar Jahre falsch eingeschätzt. Während Isobel sich nach einem Haus umsah, wohnten sie im Hotel Amigo in der Nähe der Grande Place. Im Flur vor ihrer Suite und in der Hotelhalle hatten sich Leibwächter postiert, die ihm überallhin folgten. Selbst wenn Morton Helena hätte besuchen wollen, wäre das nicht einfach gewesen. Er hätte dann sozusagen mit Gefolge auftreten müssen. Und Isobel wäre dafür ganz bestimmt nicht zu haben gewesen. Einmal, als sie in aller Eile in einen Vorort fuhren, um sich dort ein Haus anzusehen, auf das sie ein Auge geworfen hatte, sagte sie: »Wir haben beide Mist gebaut. Du hast über die Stränge geschlagen, aber du mußt nicht meinen, daß ich ein Engel war.« Sie legte die Hand auf sein Knie, als 233
sie sich recht aggressiv ihren Weg durch den Verkehrsstrom auf der Chaussée de Waterloo bahnte, ganz so wie sie auch durch Knightsbridge zu fahren pflegte, wenn sie zu ihrem Laden am Beauchamp Place wollte. »Ich will damit nicht sagen, daß das, was du getan hast, dasselbe ist wie das, das ich getan habe oder umgekehrt, aber wenigstens schafft es einen gewissen Ausgleich.« Morton lachte. Isobel sah die Dinge so erfrischend realistisch. »Ich will über diese Geschichte mit dir und Kegan gar nichts wissen, wenn sie nur vorbei ist. Sie ist doch vorbei, oder?« Sie überholte einen Bus auf der falschen Seite. »Ja, verflucht«, antwortete sie, und dabei wurde ihr zum eigenen Erstaunen bewußt, daß sie das auch durchaus ernst meinte. »Es wäre auch ohne die Bombe vorbei gewesen. Mir hat das nicht gefallen, wie er dich unter Druck gesetzt hat, wie sie das alle getan haben. Ehrlich gesagt ist mir dabei richtig übel geworden.« »Darüber wußtest du also Bescheid? Du warst gerade bei ihm, wie? Ich muß sagen, damals habe ich mir Gedanken darüber gemacht. Zuerst hast du angerufen und dann eine halbe Stunde später Kegan. Gerade als wäre es abgestimmt gewesen. Du kannst ganz schön egoistisch sein, weißt du.« Das klang recht unbeschwert, aber er spürte doch noch einen Anflug von Bitterkeit. Isobel griff wieder ans Steuer, um einen ungeduldigen Fußgänger anzuhupen, der, ohne auf seine Ampel zu warten, die Straße überqueren wollte. »Was ist mit Helena?« »Überlaß das mir.« Morton erinnerte sich an die Nachricht, die Helena ihm nach dem Bombenattentat geschickt 234
hatte. »Bitte, laß mich wissen, laßt mich beide wissen, ob ich irgend etwas tun kann, um zu helfen.« Später hatte Morton mit ihr im Flur im dreizehnten Stockwerk ein kurzes Gespräch gehabt. »Sie ist deine Frau, James. Ich habe den Blick in ihren Augen gesehen, als sie plötzlich erfuhr, daß du noch am Leben bist und nicht unter den Ruinen begraben. Wir können immer noch zusammenarbeiten, wir müssen sogar zusammenarbeiten. Aber jetzt, wo ich sie kennengelernt habe, werde ich euch keinen Ärger machen. Wie könnte ich?« Sie versuchte, es ihm leicht zu machen, und dafür war Morton ihr dankbar. Trotzdem schmerzte es. Sie hatte ihm mehr bedeutet, als er sich eingestehen wollte. Es gab Augenblicke, wo ihm Isobels melodramatische Rückkehr fast unangenehm war. Das Haus, das sie schließlich fanden, war eine alte Villa in Rhode St. Genese, einem der südlichen Vororte von Brüssel. Es war groß und hell und – das gefiel ihnen beiden besonders – ringsum von einem herrlichen Garten umgeben, den die vorherigen Bewohner, ein älteres belgisches Ehepaar, die in ein kleineres, pflegeleichteres Haus gezogen waren, mit großer Hingabe gepflegt hatten. Als sie es das erstemal sahen, standen die Azaleen in voller Blüte, und obwohl die Blütenpracht in Kürze verblassen würde, gab es Rhododendren und Obstbäume – Apfel, Birne, Pfirsich, Kirschen –, die ausreichen würden, um ein ganzes Regiment zu versorgen. »Und außerdem kannst du jeden Morgen im Wald joggen«, hatte Isobel ihm scherzhaft vorgeschlagen. »Deine unnatürlichen Triebe abarbeiten!« 235
Das war ein Vorschlag, den Morton höflich ablehnte – Jogging war ihm immer ziemlich sinnlos erschienen –, aber er verliebte sich ebenso wie Isobel in das Haus. Ganz besonders hatten es ihm der alte Tennisplatz im Schatten der Bäume und die Kletterpflanzen am äußersten Ende des Grundstücks angetan. »Aber Tennis werde ich ganz bestimmt spielen. Beide können wir spielen.« »Wir werden Tennispartys geben.« Plötzlich entdeckte Isobel die Perspektiven ihrer neuen Rolle als châtelaine und sah sich schon elegant zwischen ihren Gästen auf dem von der Sonne bestrahlten Rasen dahinschweben. Eine Konsequenz des Bombenattentats war, daß die belgischen Behörden darauf bestanden, ihn ständig unter Polizeischutz zu stellen, und dazu auf der Straße vor ihrem Haus eine Art Schilderhäuschen aufstellten. Außerdem schärften sie Morton ein, sich jeden Tag auf einer anderen Route ins Büro fahren zu lassen, was freilich leichter gesagt als getan war. Aber im Laufe der Zeit stellte sich wieder der normale Lebensrhythmus ein, und die Bilder der Gewalt verblaßten. Morton glaubte allmählich, daß die Zerstörung seiner Wohnung ein reiner Zufall gewesen war – es hatte auch früher schon Explosionen im Zentrum von Brüssel gegeben, die nicht gegen EU-Kommissare gerichtet gewesen waren. Anscheinend neigte auch die Polizei zu dieser Ansicht. Regionale Konflikte – Wallonen gegen Flamen – waren bedauerlicherweise eine besondere Eigenheit Belgiens, in die manchmal auch Unschuldige hineingezogen wurden. Vielleicht war auch tatsächlich Wittamer, das berühmte Schokoladengeschäft, das Ziel 236
gewesen. Ein bizarrer ökologischer Protest gegen das Luxusleben? Aber eines Abends, als er und Isobel auf ihrer Terrasse saßen und die Farbenpracht ihres Gartens betrachteten, meinte Morton: »Heute ist im Büro etwas Seltsames passiert.« »Was?« Isobel, die gerade darüber nachdachte, ob man dem Garten neben dem Tennisplatz auch noch ein Schwimmbecken zumuten konnte, hörte nur mit halbem Ohr hin. »Ein belgischer Polizeibeamter, der Inspektor, der mit den Ermittlungen des Sablon-Bombenattentates betraut ist, hat mich aufgesucht. Er hat gesagt, da man ja den Verdacht habe, daß die Bombe durch Fernsteuerung ausgelöst worden sei, wolle man überprüfen, ob man damals irgendwelche verdächtigen Fahrzeuge oder Menschen bemerkt habe.« »Und?« Isobel war zu dem Entschluß gelangt, daß ein Schwimmbecken eine Menge Arbeit bereiten und außerdem das harmonische Bild des Gartens stören würde. Wenn sie und Morton Kinder gehabt hätten, wäre das vielleicht etwas anderes gewesen. Sie konzentrierte sich jetzt auf das, was ihr Mann sagte. »Allem Anschein nach hat man in jener Nacht einen Renault ein paar Stunden lang in einer Seitenstraße stehen sehen. Jemand hat sich die Zulassungsnummer aufgeschrieben, und die Polizei hat festgestellt, daß der Wagen auf einen gewissen Luciano Rossi zugelassen war. Die weiteren Nachforschungen ergaben natürlich eine durchaus plausible Erklärung. Rossi war an jenem Abend in der 237
Oper – ich bin ihm dort sogar begegnet –, und sein Fahrer hatte in der Nebenstraße gewartet, um ihn nach einem späten Abendessen noch im Restaurant abzuholen.« Während er das erzählte, erinnerte Morton sich an seine erste Begegnung mit Luciano Rossi an dem Tag, als er den Dreizehner-Club in der Rue de Ravenstein besucht hatte. Er erinnerte sich an die geschlossenen Türen entlang des Korridors und die diskrete Tafel mit der Aufschrift »Action Industriel«. War denn vorstellbar, daß Rossi oder seine Brötchengeber in der Industrie ein Attentat auf ihn organisiert hatten, weil er als Kommissar ihre Interessen oder, präziser gesagt, Ludwig Ritters Interessen bedrohte? Je mehr er darüber nachdachte, um so plausibler kam ihm der Gedanke vor. Am Tag darauf verabredete er sich mit dem belgischen Innenminister Hugo van Reder, einem überschwenglichen und sehr populären Politiker, der auch noch die Funktion des Bürgermeisters einer der flämischen Kommunen der Stadt ausübte. »Überlassen Sie das mir«, sagte van Reder zuversichtlich, nachdem Morton ihm seinen Verdacht geschildert hatte. Eine Woche später erwiderte der Minister Mortons Kompliment, indem er ihm im Kommissionsgebäude einen Gegenbesuch abstattete. »Vielen Dank für Ihren Hinweis«, sagte er. »Wie sich herausstellte, haben meine Leute bereits ähnliche Überlegungen angestellt. Wir haben den Dreizehner-Club besucht, aber dort nichts Ungewöhnliches vorgefunden. Damit hatten wir natürlich auch nicht gerechnet, aber wir haben uns auch mit Mr. Rossi unterhalten – auf sehr freundliche Weise. Ich glau238
be, die Botschaft ist angekommen, und er wird sie auch zweifellos an seine Vorgesetzten weiterleiten. Aller Wahrscheinlichkeit nach weiß er natürlich, daß wir keinerlei Beweise haben. Aber er weiß auch, daß wir keine Beweise brauchen, um ihm das Leben recht schwierig und unangenehm zu machen. Wir mögen es nicht, wenn Leute in unserer Stadt Bomben zur Explosion bringen. Falls Ihr Verdacht zutreffen sollte, so zweifle ich stark daran, daß Sie aus der Richtung künftig mit weiterem Ärger zu rechnen haben. Für die illustren Mitglieder des Dreizehner-Clubs steht in anderen Bereichen viel zuviel auf dem Spiel. Und wenn Ihr Verdacht nicht zutreffen sollte, nun ja, dann« – er lächelte entwaffnend –, »was haben wir dann schon verloren außer ein paar Stunden unserer Zeit? Trotzdem meine ich, wir sollten die Wachen noch beibehalten, finden Sie nicht auch?« Also blieben die gendarmes als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme in ihrem Häuschen am Ende der Einfahrt. Aber Morton war insgesamt beruhigt. Hugo van Reder war ein harter Brocken und würde Rossi und Konsorten keine Zweifel gelassen haben, welche Konsequenzen künftige ungezügelte Aktivitäten von Action Industriel haben würden. Und die bloße Tatsache, daß die Kommission als Institution sich jetzt unwiderruflich darauf festgelegt hatte, das Verfahren gegen Deutsch-Chemie zu betreiben, machte zugleich seine eigene Position etwas weniger exponiert. Selbst wenn sie mich erwischen, dachte Morton in pessimistischeren Phasen, gibt es andere, die nach mir den Stab ergreifen und das Rennen fortsetzen würden. An jenem Wochenende begab Isobel sich zum Shopping in die Innenstadt von Brüssel. 239
»Deux grandes boites, s’il vous plaît.« Jetzt, da Wittamer wieder geöffnet hatte, gab es wirklich keinen Grund mehr zur Zurückhaltung, fand sie. Belgische Pralinen waren unwesentlich teurer als Gold, wenn man sie Gramm für Gramm dagegen aufwog, schmeckten aber ohne jeden Zweifel besser als ein Schokoriegel. Als sie mit ihren elegant verpackten Einkäufen in der Hand das Geschäft verließ, sah sie Helena Noguentes auf dem Bürgersteig die im Schaufenster ausgestellten Torten und Süßigkeiten betrachten. Hinter ihr, auf der anderen Seite des Sablon, konnte Isobel die riesige Plane sehen, mit der man die Fassade des Gebäudes verhängt hatte, in dem sich einmal Mortons Wohnung befunden hatte. Sie spürte die Aufwallung bitterer, rachsüchtiger Wut wie Feuer in sich. Da war sie jetzt in diesem langweiligen Belgien und hatte so schöne Dinge wie ihre Arbeit, ihre Friseuse und ihren Liebhaber zurückgelassen, um in der Fremde wie eine gute Ehefrau einen Haushalt zu begründen. Und was passiert? Besagter Ehemann, anstatt seiner besseren Hälfte für all die Mühe dankbar zu sein, der sie sich unterziehen muß, um beispielsweise Köchinnen und Putzfrauen zu besorgen und Elektriker ins Haus zu holen, um die schrecklichen Lampen in allen Räumen auszutauschen, versinkt einfach in tiefe Melancholie, sieht sich einmal um und sehnt sich nach etwas, das nicht mehr sein kann. Das alles nur, weil er es ein paarmal mit so einem ausländischen Miststück getrieben hat, das vermutlich das Höschen vor ihm runtergezogen hat, um ihn ins Bett zu kriegen. Wahrscheinlich wäre es einfacher gewesen, dachte sie, 240
wenn Mortons Seitensprung mit Helena lediglich einer von vielen gewesen wäre. Dann wüßte der Mann wenigstens, wie man mit solchen Dingen umgeht, statt die ganze Zeit wie ein waidwund geschossenes Reh mit dieser stummen Leidensmiene herumzulaufen. »Senhora Noguentes, nicht wahr? Wie schön, Sie zu sehen!« Der Charme, den sie dabei ausstrahlte, hatte etwa die Temperatur eines Gletschers. »Ah, Mrs. Morton. Wie geht es Ihnen?« Helena lächelte ein wenig unsicher. Isobel musterte sie kühl und mußte – ohne das eigentlich zu wollen – Helenas dunkle Schönheit und den faszinierenden Kontrast des rabenschwarzen Haars und ihres olivfarbenen Teints bewundern. »Pralinen mögen Sie also offenbar auch?« Der Sarkasmus in ihrer Frage war so dick aufgetragen, daß man ihn fast greifen konnte. Einen Augenblick begriff Helena nicht ganz, aber als ihr dann klar wurde, worauf Isobel anspielte, erwiderte sie mit ruhiger Würde: »Ihr Mann muß sich selbst entscheiden, Mrs. Morton. Meine Haltung habe ich bereits deutlich gemacht.« Damit ging sie kühl an ihr vorbei und betrat den Laden. Isobel, die diesmal ihre Meisterin gefunden hatte, dachte an all das Bösartige, was sie über Helena sagen könnte, und fügte dann noch ein paar Bosheiten hinzu. Einen Augenblick lang war sie versucht, die Pralinen auf die Straße zu werfen, entschied sich aber dann dagegen. Es brachte nie etwas, wenn man gutes Geld dem schlechten nachwarf. Eigentlich komisch, dachte sie. Nach all den Jahren war 241
sie wirklich bereit, einen geraden Weg zu gehen, fest entschlossen, »es hinzukriegen«, wie man so sagte; bereit, den Mann zu lieben mit seinen Warzen und allem. Und doch glitt er ihr durch die Finger. Isobel erkannte, daß vielleicht zum erstenmal in ihrem Leben andere Einflüsse, die nichts mit der Kraft ihrer Persönlichkeit zu tun hatten, den Fortgang der Ereignisse bestimmen würden. Wenn sie nur ein Baby gehabt hätte! In der Rolle des stolzen Vaters würde Morton wie Wachs in ihrer Hand sein.
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otokopien von Fotokopien?« Die Stimme von Dr. Horst Kramer, dem Präsidenten der Europäischen Kommission, klang skeptisch. »Wie soll man da etwas erkennen können?« »Sie irren«, erwiderte Peter Simpson ruhig, aber entschieden. »Das hier sind die Originalkopien, nicht Kopien von Kopien, falls Sie wissen, was ich meine. Ich habe sie ausgetauscht. Wenn Sie Ritter diese Kopien hier geben, kann er sie Experten übergeben, die aller Wahrscheinlichkeit nach exakt feststellen können, welches Fotokopiergerät benutzt wurde, und damit wird man auch die Herkunft ausfindig machen können. Jedes Kopiergerät«, erläuterte er dann, »hat seine eigenen ganz charakteristischen Eigentümlichkeiten, so winzig die auch sein mögen. Ein Kratzer im Glas ist für den Fachmann und unter dem Mikroskop auf der Kopie feststellbar, und damit kann man das jeweilige Gerät ebenso eindeutig identifizieren wie mit einer Seriennummer.« Als er das sagte, war Simpson dankbar, daß er in einem frühen Stadium seiner Laufbahn der dunkleren Seite des diplomatischen Lebens ausgesetzt gewesen war. (»Ein Intensivkurs in Geheimdiensttechniken«, hatte diese alte Schwuchtel bei Magdalen gesagt.) Morton nach Holland zu folgen, den Safe im Büro des Kommissars zu öffnen und die Papiere herauszuholen und sie zu kopieren – all das 243
hatte ihm ebensowenig Mühe bereitet wie einem alten Profi, dachte er voll Stolz. Die zwei Männer hatten sich einmal spätabends – als alle anderen schon längst nach Hause gegangen waren – in Kramers Büro im Breydel getroffen. Die Initiative für die Begegnung war ursprünglich von Simpson ausgegangen, aber Kramer hatte schnell reagiert. Daß ein enger Mitarbeiter Mortons die Sache auffliegen ließ, hatte ihm sogar sichtlich eine gewisse bösartige Freude bereitet. »Gott sei Dank gibt es immer noch Leute mit gesundem Menschenverstand«, hatte Kramer Simpsons Bericht am Ende mit einer Art mürrischer Anerkennung kommentiert. »Morton hat die Kommission mit dieser Geschichte wie mit einer Dampfwalze überfahren, und wenn wir ihn nicht daran hindern, wird er es mit dem Europäischen Gerichtshof genauso machen.« Er zündete sich eine dicke Zigarre an und paffte ein paar Augenblicke daran, ehe er fortfuhr: »Ich will versuchen zusammenzufassen, was Sie mir berichtet haben: Der Wagen ist auf einen Mann namens Kunig zugelassen, der anscheinend für Deutsch-Chemie tätig ist; Sie haben gesehen, wie Kunig Morton eine Aktentasche übergab, später haben Sie dann gesehen, wie Morton die Aktentasche in Holland in einen Kanal geworfen hat; Sie haben in Mortons Bürosafe Papiere gefunden, die sich mit den Aktivitäten von Deutsch-Chemie befassen; Sie nehmen an, daß diese Papiere ursprünglich von Kunig in der Hauptverwaltung von Deutsch-Chemie außerhalb von Köln kopiert worden sind, aber letzteres nehmen wir nur an und wollen, daß die Firma selbst das feststellt. Habe ich recht? Schließt sich der Kreis?« 244
»Richtig.« Simpson hatte das Gefühl, alles in seinen Kräften Stehende getan zu haben. Alles weitere war jetzt eindeutig Kramers Sache. Der massig gebaute Deutsche hatte noch eine Frage: »Warum tun Sie das, Simpson? Für einen Kabinettschef ist das doch ein einigermaßen ungewöhnliches Verhalten, nicht wahr?« Simpson überlegte kurz, ob er Kramer sagen sollte, daß er in Wirklichkeit Passmore und seinen Hintermännern verpflichtet war und – unter anderem – sicherstellen sollte, daß Morton das tat, was man von ihm erwartete, und, falls er das nicht tat, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen hatte. Aber dann wurde ihm klar, daß das Kramer gegenüber wenig sinnvoll war. Er sah dem anderen gerade in die Augen. »Ich tue es, weil ich der Meinung bin, daß es richtig ist. Richtig für die Kommission und richtig für Europa. Die Fusion von United Chemicals und Deutsch-Chemie bietet uns die Chance, eine chemische Industrie von Weltformat aufzubauen. Wir sprechen hier von Globalisierung. Wenn die Fluggesellschaften das können – und die Kommission sie nicht daran hindern möchte –, warum dann nicht auch die chemische Industrie? Ich bedaure, sagen zu müssen, daß die Maßnahmen meines Kommissars in dieser Sache nicht objektiv sind.« »Nicht objektiv? Wird er von Senhora Noguentes beeinflußt?« Simpson schüttelte den Kopf. »Ich habe genug gesagt. Bitte sagen Sie niemandem, welche Rolle ich in dieser Sache gespielt habe.« 245
Das war eine Sprache, die Kramer verstand. Er erhob sich und streckte Simpson die Hand hin. »Sie können sich auf mich verlassen.« Nachdem Simpson gegangen war, setzte sich Dr. Horst Kramer an seinen Schreibtisch, griff nach dem Telefon mit seiner privaten Leitung und wählte eine Nummer in Deutschland. Als jemand sich am anderen Ende meldete, sagte Kramer: »Ich möchte bitte Dr. Ritter sprechen.« »Darf ich ihm sagen, wer ihn sprechen möchte?« Der Butler erkannte die Stimme sofort. Abgesehen von der Veranstaltung in dem Schloß, bei der Kramer den Vorsitz geführt hatte, hatte er im Verlauf der letzten Wochen mehrere Anrufe des Präsidenten der Europäischen Kommission entgegengenommen. Obwohl ihn das nichts anging, war für ihn deutlich zu erkennen, daß die persönliche Beziehung zwischen Ritter und Kramer von dem Wirbel, den es in letzter Zeit um Deutsch-Chemie gegeben hatte, nicht beeinträchtigt war. Es überraschte ihn, daß Kramer es diesmal ablehnte, ihm seinen Namen zu sagen. Aber das machte ihm nichts aus. »Sagen Sie ihm einfach, daß es wichtig ist«, drängte ihn Kramer. »Selbstverständlich.« Der Butler legte den Hörer auf das Marmortischchen in der Halle und ging seinen Herrn und Meister suchen. Falls Simpson auf der Fahrt nach Hause irgendwelche Reue verspürte, ließ er sich davon jedenfalls nichts anmerken. Seine Frau stellte sogar ganz im Gegenteil fest, daß er einen noch gesünderen Appetit als sonst hatte, und äußerte 246
sich auch dementsprechend. Während er einen Teller voll aufgewärmter Lasagne in sich hineinschaufelte, überlegte Simpson, daß die Loyalität zahlreiche Gestalten annehmen konnte. Man konnte seinem unmittelbaren Vorgesetzten loyal ergeben sein. In diesem Falle Morton. Oder man konnte seine Loyalität einem umfassender angelegten Konzept der Pflicht widmen, einer politischen Partei beispielsweise oder der jeweiligen Regierung. Oder, und das war die nützlichste Art der Loyalität, seinen eigenen Interessen. Das gute alte Eigeninteresse. Das war immer noch das beste, nichts kam ihm gleich. Er reichte seiner Frau den Teller, um sich eine zweite Portion geben zu lassen, und tröstete sich mit dem Gedanken, daß die meisten Handlungen, auch die seinen, höchst unterschiedlich interpretiert werden konnten und daß Zweideutigkeit häufig das Geheimnis des Überlebens war. Als er dann später allein in seinem Arbeitszimmer saß, rief er Sir Oliver Passmore zu Hause an und kam sofort zur Sache. »Ich habe getan, was Sie mir vorgeschlagen haben, Sir. Ich bin ziemlich sicher, daß Kramer entsprechend reagieren wird.« Sir Oliver war sichtlich erfreut. Das trockene, spröde klingende Lachen war nicht anders zu deuten. »Ausgezeichnet, Simpson. Ich würde Ihnen vorschlagen, daß Sie sich in nächster Zeit etwas bedeckt halten.« Simpson legte den Hörer auf, überzeugt, daß seine langfristigen Karrierechancen, auch wenn es in nächster Zeit in seiner unmittelbaren Umgebung ein wenig heiß hergehen sollte, eindeutig einen Aufschwung genommen hatten. Sir 247
Peter Simpson? Das klang gut. Obwohl man in letzter Zeit mit Titeln etwas sparsamer umging (es gab heutzutage einige hochrangige Botschafter, die leer ausgingen), war er doch überzeugt, daß es, wenn die Reihe an ihn kam, keine Zweifel und kein Zögern geben würde. Morton brauchte sich die nächsten paar Tage nicht über Mangel an Beschäftigung zu beklagen. Er konzentrierte sich in enger Zusammenarbeit mit Laurent Guimard auf die Vorbereitung des Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof. Guimard hatte Morton mehr als einmal nach seinen Informationsquellen befragt und dabei darauf hingewiesen, daß eine persönliche Zeugenaussage, falls eine solche möglich war, für das Verfahren von großem Nutzen wäre. Aber Morton war in dem Punkt hart geblieben; er hatte Kunig sein Wort gegeben, daß er seine Identität unter keinen Umständen und in keinem Stadium des Verfahrens preisgeben würde, und hatte sich bisher strikt an dieses Versprechen gehalten. »Dann müssen wir eben aus dem, was wir haben, das Beste machen.« Der Franzose hatte sich darangemacht, den Schriftsatz der Kommission so wirksam wie möglich zu gestalten, wobei er sich widerstrebend damit abfand, daß der Starzeuge (wer auch immer das sein mochte) nie in den Zeugenstand treten würde. Es war eine Sache, einem Gericht Dokumente vorzulegen – glaubwürdige, persönliche Aussagen, noch dazu von Zeugen, die sich einem Kreuzverhör stellten, waren da wesentlich wertvoller. »Wir treten sozusagen mit gebundenen Händen auf«, hatte Guimard ihn umzustimmen versucht. 248
Morton hatte nur mit den Achseln gezuckt. Er konnte da nichts tun. Wenn Morton alle Hände voll zu tun hatte, so galt das – allem Anschein nach – auch für Isobel. Sobald sie sich in Brüssel niedergelassen hatten, hatte sie, wie Morton feststellte, sofort einen großen Kreis intimer Freundinnen aufgebaut, mit denen sie in regelmäßigen Abständen in teuren Brüsseler Restaurants zu Mittag aß. »Hat doch schließlich keinen Sinn, wenn all das schöne Geld bloß auf der Bank liegt.« Abgesehen vom Aufbau eines aktiven gesellschaftlichen Lebens hatte Isobel bereits erste Schritte unternommen, hier in Brüssel eine Filiale ihres Geschäfts zu eröffnen. »Hast du gesehen, wie die hier wohnen?« Sie war echt erstaunt. »Manche sind noch völlig im viktorianischen Stil eingerichtet. Chiko und ihre Mädchen werden Spaß haben, sobald ich sie hierhergeholt habe.« Sie hatte ein elegantes altes Gebäude in der Nähe der Place St. Catherine gemietet – einem gerade in Mode gekommenen Viertel unweit des Zentrums – und traf bereits erste Vorbereitungen für die Eröffnung von Isobel de Bruxelles. »Aber erwarte bloß nicht, daß ich deine Ex-Geliebte einlade, Liebster«, hatte sie ihn mit honigsüßer Stimme wissen lassen. »Ich kann ja wohl nicht verhindern, daß du dich weiter mit ihr im Büro triffst, nehme ich an. Aber das reicht dann wohl auch, wie?« Sie hatte ihm dabei mit dem Finger gedroht. Ohne Zweifel hatte Morton von der kleinen Begegnung vor Wittamers gehört. Aber um so besser. Er sollte ruhig wissen, wie die Dinge standen. 249
Morton hatte gar nichts darauf gesagt. Wenn Isobel sich über ihn lustig machen wollte – nun, dann war das eben Isobels Art. Ihm hatte schon eine Bemerkung auf der Zunge gelegen, daß der Schuh auch auf ihren Fuß paßte, aber dann hatte er es bleibenlassen. Eine häusliche Krise hätte ihm jetzt gerade noch gefehlt. Eines Abends traf er sich mit Helena auf einen Drink in ihrer Wohnung. »Weiß Isobel, daß du hier bist?« fragte sie. »Nein. Selbstverständlich nicht.« »Warum bist du dann hier? Ich habe dir doch gesagt, daß ich mich nicht zwischen dich und deine Frau stellen möchte.« Sie wurde weich, als sie Mortons Leidensmiene sah. »Du bist nicht in mich verliebt, James. Du hängst an Isobel, und so wird das immer sein. Je mehr sie dich verletzt, desto enger wirst du dich an sie klammern. Ich kenne euch Engländer und eure Public-School-Mentalität. Ihr seid alle Masochisten.« Er nahm sie in die Arme, als könne er damit ihre Feststellung entkräften, und sie stellte sich auf die Zehenspitzen und hob ihre Lippen den seinen entgegen, wie in ihrer ersten Nacht in Porto. »Du fehlst mir, James. Das mußt du wissen.« »Isobel ist heute nacht in London«, murmelte er. »Sie wird bestimmt anrufen. Aber ein paar Stunden wenigstens können wir zusammensein.« »Ich wünschte, du könntest die ganze Nacht bleiben. Ich würde so gern wieder mit dir aufwachen. Natürlich werde ich mich zwischen dich und Isobel stellen, wenn du mir auch nur die geringste Chance dazu gibst!« 250
Morton lachte leise und wechselte dann das Thema. »Ich weiß nicht, was du in mir siehst.« »Du bist ein ganz normales menschliches Wesen, James. Das sehe ich in dir. Davon gibt es nur so wenige.« Am Ende blieb er bis Mitternacht. Sie liebten sich mit einer Leidenschaft, wie Morton sie noch nie erlebt hatte. Tief in seinem Herzen wußte er, daß es wohl das letzte Mal sein würde. Aber das auszusprechen oder auch nur zu denken, konnte er nicht ertragen.
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nsgesamt fuhren vier Polizeifahrzeuge vor, und ihre Insassen, alles Angehörige des deutschen Verfassungsschutzes, verstanden sich auf ihr Handwerk. Sie hatten die Stunde vor Anbruch der Morgendämmerung gewählt, jene Zeit, wo der Tageszyklus des Körpers sich auf dem tiefsten Niveau befindet und die Reaktionen langsam und der Widerstand schwach sind. Sie umstellten das Haus in dem ruhigen Kölner Vorort, sorgten dafür, daß alle Fluchtwege abgeriegelt waren, und dann, als der Himmel sich über den Linden, die den Garten umgaben, aufzuhellen begann, gingen die beiden Männer aus dem vordersten Wagen die Zufahrt hinauf und pochten an die Eingangstür. Sie ließen ihm Zeit, sich anzuziehen, aber nicht mehr. Als Kunig protestierte, hielt ihm einer der Männer Papiere mit Stempel und Dienstsiegel des Innenministeriums hin, das unter anderem auch für die Staatssicherheit zuständig war. Und als er bat, einen Anwalt anrufen zu dürfen, erklärte man ihm unsanft, daß dafür später genügend Zeit sein würde, sie aber für den Augenblick eindeutige Anweisungen hätten: Er müsse sofort mitkommen. »Und meine Frau? Meine Kinder?« Der Anblick Helgas und der Kinder, die sich fassungslos am Treppengeländer drängten, weil sie instinktiv erkannten, daß ihnen der Mittelpunkt ihrer Existenz entrissen wurde, war qualvoll. Helga hatte ein Schultertuch über ihr dünnes Nachthemd 252
geworfen und folgte ihm jetzt die Treppe hinunter, dabei redete sie auf die Beamten ein. Tränen rannen ihr über die Wangen, und ihre Schultern zitterten unkontrollierbar, als ihr bewußt wurde, was da geschah. »Lassen Sie ihn doch. Das muß ein Irrtum sein. Ganz bestimmt! Sag ihnen doch, daß es ein Irrtum ist, Hans.« Aber die Männer warfen ihr nur vernichtende Blicke zu. Kunig hatte etwas sagen wollen, hatte sie beruhigen und ihr erklären wollen, daß es wirklich ein Irrtum war und daß er bis zum Frühstück und ehe die Kinder in die Schule mußten, wieder da sein würde; aber am Ende blieben ihm die Worte in der Kehle stecken, und lähmende Angst überkam ihn. »Darf ich mich wenigstens verabschieden?« fragte er. Aber die beiden Polizisten schienen ihn überhaupt nicht zu hören; sie drängten ihn zu dem wartenden Wagen, während die anderen bereits anfingen, das Haus zu durchsuchen. Das letzte Geräusch, das Kunig aus seinem Haus hörte, war das herzzerreißende Schluchzen seiner Frau. Er versuchte, die Geräusche zu verdrängen, als der Wagen sich in Bewegung setzte. Jetzt war nicht die Zeit, an Helga und die Kinder zu denken. Er mußte an sich selbst denken. In jedem Fall mußte er alles leugnen, was man ihm vorwerfen würde. Er durfte sich nicht zu einem Geständnis zwingen lassen. Sie hatten überhaupt nichts in der Hand, das stand für ihn fest; er hatte alle denkbaren Vorsichtsmaßregeln getroffen. »Mit welcher Begründung verhaften Sie mich?« Er sprach mit einer Ruhe, die er nicht empfand. Der Fahrer drehte sich zu Kunig um, der mit Handschellen gefesselt auf dem Rücksitz saß. 253
»Gemäß Staatssicherheitsvorschrift Nummer vierzehn. Sie werden des Verrats von Wirtschaftsgeheimnissen bezichtigt. Wie Sie wissen, ist das in Deutschland nicht nur eine Straftat gegen die davon betroffene Firma, sondern auch gegen den Staat selbst.« Kunig spürte, wie alles Blut aus seinen Wangen wich. Er schloß die Augen. Was in aller Welt ging hier vor? Wie hatte das alles schiefgehen können? »Ich verlange noch einmal, daß man mich mit meinem Anwalt sprechen läßt.« »Oh, mit Ihrem Anwalt werden Sie schon sprechen dürfen«, sagte der Polizeibeamte. Als sie das ganze Haus durchsucht hatten, kamen die drei Polizisten in die Küche, wo Helga benommen und zitternd wartete. »Sie dürfen das Haus nicht verlassen, haben Sie verstanden? Sie müssen abwarten, bis Sie wieder von uns hören. Möglicherweise sind Sie auch in die Sache verwickelt.« Dann hatte einer von ihnen Mitleid mit ihr. »Sie haben sich eben den falschen Mann ausgesucht, nicht wahr? Das ist Pech, aber das kann jedem passieren.« Bis die Nachricht von Kunigs Verhaftung nach Brüssel gelangte, vergingen zwei Tage. Morton bereitete sich gerade darauf vor, zur routinemäßigen Mittwochsvormittagssitzung der Kommission zu gehen, als Peter Simpson in sein Büro trat. »Oh, übrigens, Commissioner«, sagte er beiläufig, nachdem sie ein paar Routineangelegenheiten erledigt hatten, »haben Sie im Fernsehen mitbekommen, daß die Deutschen 254
da in Köln einen Angestellten von Deutsch-Chemie verhaftet haben? Er heißt Hans Kunig, allem Anschein nach einer der leitenden Leute.« Morton war, als habe ihm jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt. »Kunig? Nie gehört«, parierte er. »Was wirft man ihm denn vor?« »Unbefugte Weitergabe von wichtigen Wirtschaftsinformationen an außenstehende Dritte.« Morton atmete tief durch. Das beste war, sich unwissend zu stellen, jetzt und in Zukunft. Es gab keinerlei Beweise, daß Kunig mit der Kommission Verbindung aufgenommen hatte, und ohne Beweismaterial hatten die Deutschen nichts in der Hand. Sie konnten Kunig nur dann festnageln, wenn er, Morton, zugab, daß es zwischen ihm und dem Mann eine Beziehung gab. Jetzt hatte er sich von dem Schrecken erholt und meinte lässig: »Selbst wenn das richtig wäre, sehe ich immer noch keinen Zusammenhang mit der deutschen Regierung. Ist es denn strafbar, wenn man die Behörden über Unkorrektheiten seines Arbeitgebers informiert, immer vorausgesetzt, daß das hier überhaupt das Thema ist?« Simpson warf Morton einen eigenartigen Blick zu. Er wußte, weil er selbst Zeuge dieses Vorgangs gewesen war, daß Morton tatsächlich mit Kunig Kontakt gehabt hatte. Und da er Gelegenheit gehabt hatte, sich die Dokumente anzusehen, die Morton aus Holland mitgebracht hatte, wußte Simpson sogar konkret, daß die Anklage, die die Kommission gegen Deutsch-Chemie vorbereitet hatte, in erheblichem Maße auf dem von Kunig gelieferten Material basierte. 255
»In Deutschland ist es das«, sagte er. »Die Deutschen sind in dem Punkt wie die Schweizer. Abgesehen von Mord und Hochverrat ist der Verrat von Wirtschaftsgeheimnissen für sie eines der verabscheuungswürdigsten Verbrechen, die man begehen kann.« Morton nahm seine Papiere vom Schreibtisch und schickte sich an, zu der Sitzung zu gehen. Er sah seinem Kabinettchef gerade in die Augen. »Ich habe keine Ahnung, wer Kunig ist oder was er vielleicht getan hat. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß das so oder so Auswirkungen auf das Verfahren der Kommission gegen Deutsch-Chemie haben könnte, aber halten Sie mich auf dem laufenden, falls Sie irgend etwas hören, ja?« Als Morton sein Büro verlassen hatte, ging Simpson ins Vorzimmer. »Vivian, könnten Sie unsere Presseleute bitten, eine Erklärung vorzubereiten? Sagen Sie ihnen, daß der Kommissar Kunig nicht kennt – das ist der Mann, den man gerade unter dem Vorwurf der Industriespionage in Deutschland verhaftet hat – und zu etwaigen Äußerungen keinen Kommentar abgeben wird.« Anschließend begab sich Simpson mit einem zufriedenen Lächeln in sein eigenes Büro. Was hier ablief, war auf seine Art so etwas wie eine klassische Geiselsituation. Er hatte Kramer von Mortons Kontakten mit Kunig berichtet, und Kramer mußte das seinerseits Ritter gesagt haben. Ritter hatte daraufhin offenbar beschlossen, seinen Bruder Ernst, den deutschen Innenminister, einzuschalten. Und die Deutschen, das war offenkundig, waren Kunig gleich ganz gewaltig aufs Dach gestiegen. Die Anklage selbst würde von der Bundesstaatsanwaltschaft erhoben werden, aber 256
Deutsch-Chemie würde ihr die Hand führen und dafür sorgen, daß die Bundesstaatsanwaltschaft genau wußte, was sie zu sagen hatte. Morton mußte inzwischen sicherlich klar sein, daß Kunigs Chancen auf ein geringes Strafmaß äußerst schlecht waren, falls die Kommission das Verfahren gegen Deutsch-Chemie fortsetzte. Als Morton am Abend nach Hause kam, war er nahe am Verzweifeln. Er saß mit einem Glas Whisky in der Hand auf der Terrasse und sagte zu Isobel: »In Wahrheit war ich einfach wild darauf, etwas zu unternehmen, wahrscheinlich, um mir einen Namen zu machen und weil ich nicht wollte, daß die Leute sagen ›jetzt haben sie den alten Morton nach Brüssel geschickt, eine Sackgasse für einen Politiker, der am Ende seiner Laufbahn angelangt ist.‹ Stolz, persönliche Eitelkeit – das war es.« Er drehte sich zu ihr herum. »Und wer zahlt den Preis dafür? Ich nicht. Ich sitze hier von Rhododendren und einer liebenden Ehefrau umgeben in meinem Garten und trinke Whisky.« Er lächelte schief. »Der Mann, den es den Kopf kosten wird, ist der arme Kunig. Zuerst verliert er seine beiden Eltern in einem Konzentrationslager, und jetzt wird er wahrscheinlich den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen.« Ehe Isobel antworten konnte, hörten sie das Geräusch von Reifen auf der kiesbedeckten Zufahrt, sahen einen langen, schwarzen Mercedes vors Haus fahren und eine große Gestalt aus dem Wagen steigen und auf sie zukommen. »Leopold!« Morton streckte ihm die Hand hin. »Was für ein Vergnügen, Sie hier zu sehen! Kommen Sie auf einen Drink rein? Kennen Sie meine Frau?« Plötzlich spürte Morton, wie seine Stimmung sich wieder hob. Seit ihrem 257
ersten Zusammentreffen auf dem deutschen Landschloß war ihm in zunehmendem Maße bewußt geworden, daß Leopold Brugmann das solide Fundament war, sozusagen die Grundfeste, auf die die Kommission sich stützte. »Entschuldigen Sie, James, daß ich Ihren häuslichen Frieden störe« – Brugmann lächelte, vielleicht mit einer Andeutung von Ironie –, »aber ich hielt es für das beste, hier und nicht etwa im Büro mit Ihnen zu sprechen. Die Wände haben Ohren, sagt man, ganz besonders im Breydel.« Morton wappnete sich für das, was jetzt kommen würde. »Sagen Sie mir das Schlimmste.« »Kramer wird versuchen, Sie Ihres Amtes entheben zu lassen. Die deutsche Regierung ist wütend und setzt ihn unter starken Druck. Kramer ist übrigens auch wütend. Er hat Ihnen nie verziehen, daß Sie ihn und die Kommission praktisch zu der Anklage gegen Deutsch-Chemie erpreßt haben.« »Anders hätte man die Dinge nie in Bewegung bringen können.« Brugmann seufzte. »Sie haben sich zu viele Feinde gemacht, James. Kramer könnte das Kollegium zu einer Abstimmung zwingen, und dieses Mal könnte es sein, daß Sie nicht gewinnen.« Das war jetzt an diesem Tage schon das zweite Mal, daß Morton das Gefühl hatte, jemand habe ihm einen Schlag auf den Solarplexus versetzt. »Und was wird aus dem Verfahren gegen DeutschChemie, wenn die Kommission mich rauswirft?« fragte er. »Das wird die Kommission fallenlassen wie eine heiße Kartoffel, fürchte ich.« Brugmann schüttelte sein graues 258
Haupt. »Ein oder zwei Kommissare könnten das Verfahren ja möglicherweise weiterführen wollen, aber die meisten werden einfach nicht den Mumm dazu haben, diesen Kampf wirklich zu führen. So ist die Welt eben – das Big Business regiert.« »Also laufe ich mit eingezogenem Schwanz nach Hause und habe exakt gar nichts erreicht. Was meinst du, Isobel?« »Warum hörst du dir nicht an, was Mr. Brugmann dir sagen will?« antwortete Isobel ruhig. Sie wandte sich zu dem Generalsekretär. »Sie sind doch heute abend nicht nur deshalb hierhergekommen, um meinem Mann zu sagen, daß er seinen Posten los ist, oder?« Wieder lächelte der Graf dasselbe flackernde, kaum wahrnehmbare Lächeln. »Nein, selbstverständlich nicht. Ich bin gekommen, um meine Hilfe anzubieten. Sehen Sie« – er spreizte die Hände, eine überaus elegante, bezaubernde Geste, wies auf die Rosenbüsche, die sie umgaben –, »ich bewundere, was Ihr Mann sich vorgenommen hat, und mir ist da eine Idee gekommen, die vielleicht hilfreich sein könnte.« Er wandte sich wieder Morton zu. »Vor zwei Tagen ist in Deutschland ein Mann verhaftet und bezichtigt worden, der Kommission Industriegeheimnisse übergeben zu haben. Sein Name ist Hans Kunig. Ihr Büro hat heute morgen eine Erklärung verbreitet, in der man lesen kann, daß Sie ihn nicht kannten und auch nichts mit ihm zu tun gehabt haben. Diese Erklärung war doch falsch, oder?« Als Morton keine Antwort gab, fuhr Brugmann fort: »Das ist auch jetzt nicht wichtig. Sie brauchen nichts zu sagen. Ich weiß aus meinen eigenen Quellen, daß die deutsche 259
Regierung um Ihre Kontakte mit Kunig weiß; man weiß, daß er Ihnen interne Dokumente von Deutsch-Chemie geschickt oder gegeben hat, und man ist in der Lage, die wesentlichen Punkte Ihrer Beziehung ziemlich genau zu beweisen.« Morton starrte Brugmann mit halbgeöffnetem Mund an. »Die können unmöglich etwas wissen«, protestierte er schließlich. »Geschweige denn etwas beweisen.« »Jemand hat eine Aktentasche aus einem Kanal in Holland gefischt«, meinte Brugmann mit leichtem Tadel. »Die Aktentasche hat Kunig gehört. Allem Anschein nach hat man Sie dabei beobachtet, wie Sie sie ins Wasser geworfen haben. Und es gibt auch noch andere Beweise.« »Was für Beweise?« Morton war immer noch wie benommen. »Genug.« Brugmann beugte sich in seinem Sessel nach vorn, und seine Stimme wurde eindringlich. »Sie müssen Ihre Kontakte zu Kunig zugeben. Wenn Sie Ihre Stellung in der Kommission retten und nach wie vor das Verfahren gegen Deutsch-Chemie gewinnen wollen, müssen Sie jetzt eine Erklärung abgeben und angeben, daß Hans Kunig der Mann ist, der Ihnen das Beweismaterial geliefert hat. Und darüber hinaus, daß die Kommission vorhat, ihn als ihren Starzeugen vor den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg vorzuladen!« Morton spürte, wie Ärger in ihm hochkam. »Und was geschieht mit Kunig? Lassen die Deutschen die Anklage gegen ihn fallen, bloß weil er als Zeuge vor dem Europäischen Gerichtshof aufgetreten ist? Jedes Wort, das Kunig in 260
Luxemburg von sich gibt, wird später bei seinem eigenen Prozeß als Beweis gegen ihn verwendet werden. Er wird die Aussage verweigern. Sonst schaufelt er sich doch das eigene Grab.« »Glauben Sie denn ernsthaft« – der Anflug eines Lächelns huschte über Brugmanns Gesicht –, »daß ein Mann, der in Isolierhaft in einem deutschen Gefängnis festgehalten wird, zu der Chance nein sagen wird, das Großherzogtum Luxemburg zu besuchen, und wäre es nur, um dort vor Gericht eine Aussage zu machen? Insbesondere wenn in Wirklichkeit die deutschen Strafverfolgungsbehörden bereits alle erforderlichen Beweismittel in Händen halten.« Morton sah zu Isobel hinüber, und dann sahen beide Brugmann an. »Sie meinen …«, begann Morton. Brugmann hob warnend den Finger an die Lippen. Als Brugmann gegangen war, sagte Isobel zu Morton: »Bei dieser Sache kannst du voll auf mich zählen, Liebling. Wir haben einen ziemlichen Schlamassel aus unserer Ehe gemacht, und ich habe wahrscheinlich den größeren Teil der Schuld daran. Aber ich will dir dabei helfen, gegen diese Mistkerle zu kämpfen. Und wie du weißt, kann ich recht energisch sein!« Morton sah sie überrascht an. »Es kann aber sein, daß wir nicht gewinnen.« »Aber versuchen können wir es.« Dieser kurze Wortwechsel hatte in Morton ein Glücksgefühl erzeugt, wie er es schon lange nicht mehr empfunden hatte. Isobel konnte eine höchst effektive Verbündete 261
sein. Das wußte er. Und im übrigen – schließlich war er ja immer noch mit diesem verdammten Weib verheiratet. »Darauf sollten wir ein Glas Champagner trinken.« Er entkorkte eine Flasche. »Obwohl ich eigentlich ein schlechtes Gewissen dabei habe, wenn wir feiern, während Kunig im Gefängnis schmachtet.« »Dann laß uns eben auf seine Freilassung trinken.« Als Morton sein Glas hob, ging ihm durch den Sinn, wie seltsam es doch war, daß jetzt ein so großer Teil seines Lebens und – wenn Brugmann recht hatte – auch seine persönliche Zukunft mit dem Schicksal eines leitenden Angestellten in der deutschen Industrie verknüpft war, einem Mann in mittleren Jahren, mit dem er nur ein einziges Mal zusammengewesen war. Wer zum Teufel hatte Kunigs Kontakte zur Kommission verraten? Jemand von seinen Kollegen bei Deutsch-Chemie? Ein Nachbar oder ein ›Freund‹? Und wie in drei Teufels Namen hatten sie eigentlich die Aktentasche gefunden? Selbst Kunig hatte nicht gesehen, wie er sie in den Kanal geworfen hatte. Aber wer sonst? Wer konnte überhaupt gewußt haben, daß er an jenem Tag in Holland gewesen war? »Isobel«, sagte er plötzlich, »ich muß jetzt ins Büro fahren.« »Wozu in aller Welt?« »Ich muß nachsehen, ob noch alle Papiere im Safe sind.« Zu Mortons Überraschung war seine Sekretärin noch im Büro. »Ich dachte, Sie wären schon vor Stunden nach Hause gegangen.« »Ich versuche nachzukommen.« Vivian Perkins ging 262
oft als letzte, sie pflegte länger zu bleiben als die meisten Mitarbeiter des Kommissars. »Wer kennt außer Ihnen und mir die Kombination des Safes?« Morton kam gleich zur Sache. »Simpson?« »Nein, ganz bestimmt nicht. Ich habe sie immer für mich behalten.« »Könnte er sie herausgefunden haben?« »Nun, möglich ist das schon«, antwortete sie vorsichtig. »Ich weiß, daß er Mrs. Morton Blumen zu ihrem Geburtstag geschickt hat. Er hat mich gebeten, das für ihn zu veranlassen.« Vivian überlegte. »Da er ihr Geburtsdatum kennt, könnte er die Nummer der Kombination erraten haben. Wir haben uns für Mrs. Mortons Geburtstag entschieden, weil Sie gesagt haben, das sei das einzige Datum, das Sie sich merken können. Sie hatten damals gesagt, Sie hätten Angst, es zu vergessen!« erinnerte ihn Vivian. »Ich hätte klüger sein müssen«, brummte Morton. Sie gingen zusammen ins Büro und öffneten den Safe. Zu seiner Überraschung waren die Papiere, die Kunig Morton gegeben hatte, noch da. Eigentlich hatte er damit nicht gerechnet. Er nahm sie heraus und untersuchte sie gründlich. Nach seiner Kenntnis hatten sie sein Büro nie verlassen. Selbst Laurent Guimard, vertrauter Mitstreiter, der er war, hatte sie an Ort und Stelle lesen müssen. Als er sie dann mit Vivian Perkins an seiner Seite studierte, wurde Morton bewußt, daß das in Wirklichkeit nicht die Dokumente waren, die Kunig ihm gegeben hatte. »Wo ist der Ölfleck? Sehen Sie sie sich gründlich an, Vivian; sehen Sie nach, ob Sie auf einem der Blätter einen Ölfleck finden können.« 263
Sie wußte nicht, weshalb er sie dazu aufforderte – wie konnte sie? –, aber sie kam seiner Aufforderung nach. (Sie hätte sogar Froschschenkel gegessen, wenn Morton sie darum gebeten hätte.) »Da ist auf keinem Blatt etwas.« Sie reichte ihm den Stapel Papier zurück. Er erinnerte sich an den Vormittag in Sir Oliver Passmores Büro, an dem man ihm Peter Simpson sozusagen auf einem silbernen Tablett als Chef de Cabinet in spe überreicht hatte. »Verdammt soll er sein!« fuhr es aus ihm heraus. »Beide sollen sie verdammt sein!« Er schob die Papiere wieder hinein und schloß den Safe mit einem lauten Knall.
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arum?« fragte Morton wütend. »Herrgott noch mal, warum?« Zum erstenmal in seinem Leben machte Simpson einen zerknirschten Eindruck. Die Heftigkeit, mit der Morton ihn förmlich überfallen hatte, als er sein Büro betrat (Morton war zu diesem Zweck bewußt früh gekommen), hatte ihn überrascht. Jetzt stand er starr vor dem breiten Schreibtisch des Kommissars wie ein Schuljunge, den man wegen irgendeiner Verfehlung zum Direktor der Schule gerufen hat. »Ich habe getan, was ich für richtig hielt. Was Sie getan haben, was Sie immer noch tun, entspricht nach meiner Ansicht nicht den Interessen der Kommission und auch nicht denen der Regierung Ihrer Majestät und im übrigen auch nicht denen Europas. Sie mögen es vielleicht fertigbringen, solche Überlegungen einfach zu ignorieren. Ich kann das nicht. Sie wollen einfach nicht auf vernünftige Argumente hören und haben darauf bestanden, das Verfahren gegen Deutsch-Chemie zu betreiben, zum Schaden, wie ich das empfand, Britanniens und Europas – und Sie haben das als Europakommissar für Industrie getan, eine Position, um die sich unsere Regierung sehr bemüht hat, und dies, wie ich sagen muß, mit voller Unterstützung Ihrer eigenen Partei, die dafür ohne Zweifel ihre eigenen Motive hatte. Schließlich habe ich, wie gesagt, getan, was ich tun mußte. Wie Sie ganz richtig annehmen, bin ich Ihnen nach 265
Holland gefolgt, habe den Safe geöffnet, die Dokumente gelesen und, ja, auch das ist richtig, den Präsidenten der Kommission informiert.« Morton hatte einige Mühe, die in ihm aufsteigende Wut unter Kontrolle zu halten. »Und Kunig? Haben Sie auch an die Konsequenzen für ihn gedacht?« Simpson ließ sich nicht beirren. »Kunig tut mir leid, Commissioner. Aber ich glaube, es gibt in diesem ganzen Vorgang wichtigere Aspekte.« Simpson preßte die Lippen zusammen. Er wußte, daß für ihn der Kampf noch nicht zu Ende war, daß er überleben würde. Das hatte man ihm garantiert. Morton wartete, bis er sicher war, daß seine Wut sich gelegt hatte. »Ich möchte, daß Sie bis Mittag hier verschwunden sind«, sagte er schließlich, und dann konnte er einfach der Versuchung nicht widerstehen, noch hinzuzufügen: »Gehen Sie zurück zu Passmore, Simpson. Vielleicht können Sie ihm dabei helfen, seine zeremoniellen Schwerter zu polieren. Hier ist für Sie kein Platz. Ich glaube an das, was ich tue, und brauche Leute in meiner Umgebung, die mir helfen wollen, statt mich zu behindern.« Als Simpson gegangen war, rief Morton in Kramers Büro an und bat um ein sofortiges Gespräch, mußte aber erfahren, daß der Präsident der Kommission nicht beabsichtige, den Industriekommissar jetzt oder in nächster Zukunft zu empfangen. Nun gut, dachte Morton, damit gab es wenigstens keine Zweifel an der Schlachtordnung. »Was werden Sie jetzt tun?« Vivian Perkins, die diskret 266
neben ihm stand, wollte Morton nicht zu irgendwelchen unnötigen Offenbarungen drängen, hatte aber das untrügbare Gefühl, daß der Kommissar in der Stimmung war, sich jemandem anzuvertrauen. Statt gleich zu antworten, zog Morton ein Stück Papier aus der Tasche. »Würden Sie das bitte für mich abtippen, Vivian, und es gleich ins Pressebüro schicken? Für die Information der Presse um zwölf Uhr.« Während er das sagte, erinnerte er sich der berühmten Worte aus Macbeth: »Wär’s abgetan, wenn’s mal getan ist, dann wäre gut, ’s wär’ schnell getan.« Vivian las die Vorlage, als sie zu tippen begann: »James Morton, der Europakommissar für Industrie, gab heute bekannt, daß die Kommission beabsichtigt, Hans Kunig, den augenblicklich in Deutschland in Untersuchungshaft einsitzenden Mitarbeiter von Deutsch-Chemie, als Zeugen in dem Verfahren aufzurufen, das die Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg angestrengt hat …« Sie war halb mit ihrem Text fertig, als Morton, der in sein Büro zurückgekehrt war, wieder den Kopf hereinsteckte. »Ich brauche dann einen Wagen von der Fahrbereitschaft.« Vivian blickte überrascht von ihrer Schreibmaschine auf. »Wo fahren Sie hin?« »Nirgends, nicht heute. Ich muß hier sein, wenn die Bombe platzt. Aber Mrs. Morton wird eine kleine Reise unternehmen. In Dienstgeschäften.« »Darf ich fragen, wohin? Die müssen das in der Fahrbereitschaft wissen.« Aber Morton war bereits eine andere Idee gekommen. 267
»Wenn ich es mir noch einmal überlege, Vivian, dann schicke ich wohl besser Gerry mit Isobel weg. Er hatte sich neulich beklagt, daß er in letzter Zeit gar nicht mehr herauskommt, zuviel in der Stadt herumfahren muß, und außerdem könnte es sein, daß Isobel Hilfe braucht, und da ist mir Gerry lieber. Ich kann mir selbst einen Wagen aus der Fahrbereitschaft besorgen.« Sie war ausgesprochen hochgestimmt, als sie sich wieder ihrer Schreibmaschine zuwandte. Ohne Zweifel würde das ein interessanter Tag werden. Im späteren Verlauf des Vormittags, kurz nachdem er zwei in Frage kommende interne Kandidaten (diesmal war er fest entschlossen, sich jeglichem von außen kommenden Druck zu widersetzen) für die Nachfolge Peter Simpsons interviewt hatte, hörte er, wie es leise an der Seitentür klopfte, die direkt vom Korridor im zehnten Stock des Breydel in sein Büro führte. Die ungeschriebene Regel der Kommission sah vor, daß nur Kommissare selbst das Büro eines Kollegen aufsuchten, ohne sich im Vorzimmer anzumelden. Er blickte auf und sah Helena Noguentes vor sich. »Störe ich?« Ihr strahlendes Lächeln ließ keine Spur von Verlegenheit erkennen. »Nein, ganz und gar nicht.« Aber Morton konnte das leichte Zögern in seiner Stimme nicht verdecken. Der Champagner, den er und Isobel am vergangenen Abend getrunken hatten, und das Gefühl, gemeinsam am selben Strick zu ziehen, das dabei aufgekommen war, war nicht gerade die beste Vorbereitung auf eine unerwartete Begegnung mit seiner Geliebten. Oder sogar Ex-Geliebten. Morton hatte das Gefühl, daß er dabei war, schnell den 268
Umgang mit den kleinen Komplikationen des Lebens zu lernen, aber vielleicht doch nicht schnell genug. Der Duft ihres Parfums stieg ihm in die Nase und ließ ihn einen kurzen Augenblick lang überlegen, ob er wirklich so willensstark war, wie er das annahm. »Wie schön, dich zu sehen!« Er erhob sich hinter seinem Schreibtisch, hauchte ihr einen Kuß auf die Wange und schob sie dann entschlossen zu dem großen Ledersofa am anderen Ende seines Büros. Sie spürte sein Unbehagen. »Keine Sorge, James. Das ist ein rein dienstlicher Besuch.« Sie stellte amüsiert fest, wie seine Haltung sich lockerte. Wirklich schlimm, wie schwer diese Engländer sich doch mit persönlichen Beziehungen taten! Aber vielleicht war sie auch zu streng zu ihm, entschied sie für sich. Schließlich hatte der Mann eine Frau und wollte sie – aus einem Grund, den er selbst am besten kennen mußte – behalten. Was blieb ihm also schon anderes übrig, als sie mit einem frostigen Küßchen zu begrüßen, ganz besonders mit diesem alten Drachen von einer Sekretärin im Vorzimmer? Sie lächelte ihn trotzdem an. »Erinnerst du dich, wie ich dir in Porto erzählt habe, daß ich den Douro gesäubert hatte? Nun, als ich als Kommissarin für Umweltfragen nach Brüssel kam, habe ich mir eine Liste der Wasserqualität aller größeren Flüsse in Europa erstellen lassen, um zu sehen, wieviel auf dem gesamten Kontinent noch zu tun ist.« Morton nickte. Er durchschaute noch nicht ganz, worauf Helena hinauswollte, aber zumindest war jetzt klar, daß sie nicht im Begriff war, ihm eine Szene zu machen oder ihn auf dem Boden seines Büros zu verführen. »Wie könnte ich Porto vergessen!« 269
Helena lächelte, um ihm damit zu zeigen, daß sie seinen Versuch, galant zu sein, registriert hatte. »Vielleicht sollte ich erklären«, fuhr sie fort, »daß wir besonders die Grenzregionen unter die Lupe nehmen. Schließlich ist die EU eine supranationale Institution, und wir müssen uns deshalb mit der Qualität des Wassers beim Übergang von einem Land in das andere befassen. Wir haben uns den Rhein stromabwärts von Köln angesehen, weil das das Wasser ist, das nach Holland fließt – das Wasser, das die Holländer trinken müssen. Und wenn es verseucht ist, dann könnte man feststellen, daß die holländische Wasserversorgung in einem ganz erheblichen Umfang gefährdet ist.« »Weiter.« Morton begann zu begreifen, weshalb Helena ihm all das sagte. Aber sein Drängen war überflüssig. »Ich möchte nicht zu sehr auf technische Details eingehen; vielleicht genügt es, wenn ich sage, daß die Holländer in den letzten Wochen einige Male ihre Wassereinlässe wegen starker Verschmutzung stromaufwärts schließen mußten. Mit anderen Worten, sie mußten über Zeiträume von vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden die Verwendung von Rheinwasser einstellen, bis die Wasserqualität wieder vertretbare Werte erreicht hatte. Die Holländer waren darüber natürlich ziemlich aufgebracht und haben uns eingeschaltet.« »Wo kommt die Verschmutzung her?« »Das wissen wir nicht genau. Möglicherweise von irgendwelchen Industrieunternehmen aus dem Bereich zwischen – sagen wir – Köln und Düsseldorf. Was uns und insbesondere die Holländer am meisten beunruhigt, ist die Art dieser Verschmutzung. In allen drei Fällen, in denen die Holländer 270
ihre Einlässe sperren mußten, geschah das, weil man eine unzulässige Konzentration hochtoxischer Chemikalien festgestellt hatte.« »Was für Chemikalien?« »Zuallererst PCB und PCT. Außerdem« – sie hielt kurz inne, um die Tragweite des Gesagten zu betonen – »2-4-5-T und andere Verbindungen, die normalerweise mit der Herstellung von Agent Orange in Verbindung stehen oder den neueren und noch gefährlicheren Verbindungen, die man inzwischen für den gleichen Einsatzzweck geschaffen hat.« Helena erhob sich und lächelte. »Wir haben uns natürlich an die deutschen Behörden gewandt, aber dort bekommen wir, wie du dir vorstellen kannst, nicht viel Unterstützung. Das deutsche Innenministerium hat allem Anschein nach einigen Druck auf das Umweltministerium ausgeübt. Als wir uns bei den Leuten in Bonn nach diesem speziellen Bereich des Rheins erkundigten, haben sie uns die kalte Schulter gezeigt und erklärt, diese chemischen Abwässer unterlägen der Geheimhaltung, wie sämtliche industriellen Verfahren in Deutschland! Ich dachte mir, das würde dich vielleicht interessieren.« Sie blieb an der Tür stehen. »Und dann ist da noch etwas, was ich dir sagen muß, James. Ich weiß, daß das, was zwischen uns war, vorbei sein muß. Aber du sollst auch wissen, daß du trotzdem immer sehr wichtig für mich sein wirst.« Morton war ihr dankbar, daß sie es ihm so leicht machte. Er wußte, daß ihre Beziehung ein Ende haben mußte. Aber im Gegensatz zu ihr hätte er nie die Worte gefunden, um das zu sagen, was gesagt werden mußte. Er trat vor sie und legte beide Hände auf ihre Schultern. 271
»Ich danke dir, Helena. Ich danke dir für alles.« Dann gab er ihr einen Abschiedskuß. Als sie sein Büro verlassen hatte, stand Morton ein paar Minuten am Fenster, blickte auf das verwüstete Herz von Brüssel hinab und versuchte, die einzelnen Stücke dieses Puzzlespiels – im persönlichen wie im beruflichen Bereich – zusammenzufügen. Als Isobel am späten Abend aus Deutschland nach Brüssel zurückkehrte, war sie trotz des anstrengenden Tages geradezu überschwenglich gut gelaunt. Sie setzte sich neben Morton auf das Sofa, während dieser sich die Nachrichten im Fernsehen ansah. »Helga Kunigs Schwester kümmert sich um die Kinder«, erklärte sie. »Helga selbst hat offenbar eine Art Nervenzusammenbruch gehabt und befindet sich im Krankenhaus. Kunigs Verhaftung hat sie zu sehr belastet. Aber man rechnet damit, daß sie am Wochenende wieder nach Hause entlassen wird.« »Hast du mit den Kindern gesprochen?« »Ja. Zum Glück sprechen beide Englisch. Anscheinend hat Helga immer gehofft, daß sie eines Tages alle nach Amerika zurückkehren würden, also hat sie zu Hause mit ihnen Englisch gesprochen. Die Schwester hat mir gesagt, daß sie nie verstanden hat, weshalb Kunig überhaupt seine Stellung bei Ponting aufgegeben hat.« »Heute begreife ich das, glaube ich, auch nicht mehr«, sagte Morton, »nicht, wenn man sieht, in was für eine scheußliche Lage er geraten ist. War die Schwester kooperativ?« »Ja. Ansonsten glaubt sie nicht, daß Kunigs Chancen besonders rosig aussehen.« Isobel schloß die Augen und 272
lehnte sich zurück. Ein kleines, zufriedenes Lächeln zog über ihr ebenmäßiges Gesicht. »Ich bin übrigens schwanger«, sagte sie. Als sie sah, wie ihm vor Staunen der Mund offenstehen blieb, fügte sie schnell hinzu: »Oh, keine Sorge, Liebster, das Baby ist von dir, nicht von einem anderen. Ein großer, munterer Mortonjunge, der einmal all diese herrlichen Ländereien erben wird. Das war die Nacht nach dem Bombenattentat, als wir ins Amigo gezogen sind. Das weiß ich ganz sicher.« Dann wird also doch noch alles gut werden, wie? dachte Morton. Er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen traten. Sie hatten landauf, landab Ärzte und Quacksalber konsultiert, aber ohne Erfolg, und schließlich vor Jahren die Hoffnung aufgegeben. Und dann, nach all der vergeudeten Zeit und vergeblichen Mühe, schafft sie es doch, aber wie ein Zauberer, der ein Kaninchen aus seinem Zylinder zieht. Er legte den Arm um sie und drückte sie an sich. »Gut gemacht, Liebling!« Wie skrupellos sie doch war, dachte er. Sie hatte die allerletzte Waffe eingesetzt und natürlich gewonnen. Wie konnte eine sanftmütige Seele wie Helena hoffen, mit Isobel zu konkurrieren? »Das schreit schon wieder nach Champagner.« Er machte Anstalten, aufzustehen. »Nicht für mich, James. Kein Alkohol. Von nun an kein Tropfen. Nicht einmal Champagner. Tut mir leid. Für mich bitte Wasser.« »Dann eben Wasser«, entschied Morton. »Ein doppeltes.«
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addy McGrath, der irische Kommissar, der für das EU-Budget verantwortlich war, blieb hartnäckig. »Wir bekommen das nie durch, James. Selbst wenn mein Budgetdirektor mitmachen würde, wofür ich keine Chance sehe, würde ganz sicher der Rechnungshof dahinterkommen. Sie sprechen da immerhin von einem Betrag, der mehr als 500 000 Pfund entspricht. Soviel Geld kann man nicht einfach verstecken.« »Die Deutschen wollen Kunig nicht vor dem Europäischen Gerichtshof aussagen lassen, wenn keine Sicherheiten gestellt werden. Diese lächerlich hohe Summe verlangen sie natürlich, weil sie nicht wollen, daß Kunig aussagt. Für mich ist ganz klar, daß die Deutschen oder mindestens ihr Innenministerium in dieser ganzen Geschichte mit Deutsch-Chemie unter einer Decke gesteckt haben. Die Staatsanwaltschaft in Köln ist nicht viel mehr als eine Marionette.« Mortons Tonfall wurde jetzt bittend. »Die Kommission kann sich ihrer Verantwortung in dieser Angelegenheit nicht entziehen. Sollten wir nicht die Kaution stellen, ganz gleich, wie hoch der Betrag ist?« »Die ersten Schritte gingen von diesem Mann aus, nicht wahr?« McGrath klang noch keineswegs hilfsbereit. »Ja. Aber ich bin dann der Sache nachgegangen. Er hat auf die Kommission vertraut, sich darauf verlassen, daß 274
wir seine Identität nicht preisgeben würden, und dann haben wir ihn im Stich gelassen.« McGrath begann zu begreifen. Als Politiker, insbesondere als irischer Politiker, war er mit Ränkespielen jeder Art vertraut. Das Spiel mit gezinkten Karten war eine Last, die sie alle gelegentlich tragen mußten. Und er wußte sehr wohl, wie schmerzlich diese Last sein konnte. »Und Sie sind sicher, daß Kunig das Geld nicht hat?« »Absolut sicher«, erklärte Morton mit Nachdruck. »Isobel war in Kunigs Haus. Es ist ganz klar, daß Kunig kein reicher Mann ist. Er könnte niemals aus eigenen Mitteln eine halbe Million Pfund aufbringen.« McGrath überlegte. »Wenn Kunig schon im Knast bleiben muß«, sagte er dann, und Morton hörte einen Anflug von Heiterkeit aus seiner Stimme heraus, »warum bleibt er dann nicht im Knast in Luxemburg – wenigstens für die Dauer des Prozesses? Gibt es nicht irgendeine EUDirektive, wonach ein Mensch das Recht hat, überall im Gefängnis zu sitzen, wo er will, solange es nur innerhalb der Europäischen Union ist?« Zum ersten Mal an diesem Vormittag brachte auch Morton ein Lächeln zustande. »Sie meinen, wenn Zahnärzte ihren Beruf überall in der Gemeinschaft ausüben können, warum dann nicht auch Untersuchungsgefangene? Wenn Kunig die Kaution nicht aufbringen kann, dann sollte die Kommission wenigstens darauf drängen, daß er vom Gefängnis aus aussagen kann. Selbst wenn das bedeutet, daß es ein Gefängnis in Luxemburg ist. Und dann natürlich …« Er verstummte, als sich ihm die reiche Vielfalt von Möglichkeiten darstellte. 275
Paddy McGrath legte Morton großspurig den Arm um die Schulter. »Ihr Briten mögt ja manchmal ein wenig langsam im Begreifen sein, aber wenn ihr bei der Sache bleibt, dann schafft ihr es am Ende auch! Wir müssen jetzt wohl etwas unternehmen, wie? Vielleicht sollte ich mit einigen meiner Freunde reden.« Morton wußte nicht recht, was McGrath meinte, wenn er von »Freunden« sprach, und war auch gar nicht sicher, ob es klug war, dem nachzugehen. Zehn Tage später wurde das Verfahren »Kommission gegen Deutsch-Chemie« vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg eröffnet. Das ohnehin schon große Interesse an diesem ungewöhnlichen juristischen Ereignis wurde noch durch die Ankündigung gesteigert, daß Hans Kunig, der Mann, den die Europäische Kommission als ihren Hauptinformanten genannt hatte, in das Hauptgefängnis, genauer gesagt, das einzige Gefängnis der kleinen Stadt Luxemburg überstellt worden war und daß die Regierung des Großherzogtums seinem großen und mächtigen Nachbarland Deutschland die Garantie gegeben hatte, Kunig für die Dauer des Verfahrens in sicherem Gewahrsam zu halten. Das Gericht erlebte deshalb das ungewöhnliche Schauspiel eines Gefangenen, der jeden Tag unter bewaffneter Obhut eintraf, und gendarmes waren während des ganzen Verfahrens im Gerichtssaal anwesend. Wie es bei so vielen anderen juristischen Schlachten dieser Art der Fall ist, ließen sich die Streitparteien durch Bevollmächtigte vertreten. Das Anwälteteam der Kommission unter Führung von Laurent Guimard zeichnete ein sehr 276
wenig schmeichelhaftes Bild der Aktivitäten von DeutschChemie über mehrere Jahre und stützte sich dabei nicht nur auf die von Kunig gelieferten Dokumente, sondern auch auf zeitlich gut abgestimmte und wohlüberlegte Einlassungen von Kunig selbst. Morton, der Mann, der hinter allem stand, hielt sich von Luxemburg fern und empfing täglich schriftliche und mündliche Berichte über die Entwicklung des Verfahrens. In gleicher Weise konnte man sehen, wie Ludwig Ritter, der Vorstandsvorsitzende von DeutschChemie, höchst auffällig am ersten Tag des Verfahrens ein Flugzeug in Frankfurt bestieg, um, wie bekanntgegeben wurde, einen längeren Urlaub in der Karibik anzutreten. Aber auch Ritter wurde von getreuen Statthaltern in der Kölner Zentrale von Deutsch-Chemie detailliert auf dem laufenden gehalten. Hans Kunig, der Starzeuge der Kommission, enttäuschte die in ihn gesetzten Erwartungen nicht. Während das Verfahren seinen Gang nahm, wurde bald klar, daß seine Aussagen beträchtliche Wirkung zeitigten. Am zehnten Tag des Verfahrens, einem Freitag, rief Guimard Morton in Brüssel an. »Unser Mann macht seine Sache gut«, sagte er. »Er ist bis jetzt mit Abstand der eindrucksvollste Zeuge, nicht nur mit dem, was er sagt, sondern auch in der Art und Weise, wie er es vorbringt. Er versucht gar nicht erst, irgendwelche Kontakte zur Kommission und speziell zu Ihnen in Abrede zu stellen. Und daß er sich damit in bezug auf seinen Prozeß in Deutschland mit seinen eigenen Worten ins Unglück redet und das Gericht das weiß, macht ihn nur um so überzeugender.« 277
Morton hatte dieses Gespräch kaum beendet, als das Telefon erneut klingelte. Diesmal war es Paddy McGrath. »Die Jungs sind unterwegs.« Isobel stand neben ihm, als er den Hörer auflegte. »Bist du bereit?« fragte er. »Natürlich. Das bin ich schon seit Tagen.« In Isobels Augen funkelte Kampfeslust. »Dann solltest du am besten gleich morgen früh losfahren.« »Keine Sorge. Ich habe dir gesagt, daß du auf mich zählen kannst, und das habe ich auch so gemeint. Ich habe schon seit Jahren keinen solchen Spaß mehr gehabt.« Morton sah sie an. Was Isobel unter Spaß verstand, war ihm nicht so ganz klar, aber er vertraute fest darauf, daß Isobel ihn, was auch immer vielleicht sonst auf der langen, kurvenreichen Straße ihrer Ehe passiert sein mochte, in diesem ganz speziellen Fall sicherlich nicht im Stich lassen würde. Das neue Gefängnis, das Ende der siebziger Jahre in Luxemburg gebaut worden war, war vermutlich ein ganzes Stück komfortabler als das finstere Verlies, das die zehn Jahrhunderte vorher diesem Zweck gedient hatte, dachte Kunig. Aber selbst wenn seine Umgebung unwirtlicher, mittelalterlicher gewesen wäre, hätte es Kunigs Stimmung keinen Abbruch tun können. Er hatte gute Nachrichten von zu Hause bekommen. Helga hatte sich anscheinend von ihrem Zusammenbruch erholt und das Krankenhaus verlassen und hielt sich jetzt zusammen mit den Kindern bei ihrer Schwester auf. Die aufmunternden Worte, die sie 278
ihm hatten zukommen lassen, hatten Kunig ungeheuer gutgetan. Und dann war da noch eine Botschaft gewesen. Jetzt, wo Kunig seine Zeugenaussage abgeschlossen hatte, konnte er am Nachmittag – das hatte ihn sein Anwalt wissen lassen – mit einem Besuch von James Morton, dem Eurokommissar für Industrie, rechnen. »Es wäre unklug gewesen, wenn Sie beide zusammengekommen wären, solange Sie noch im Zeugenstand waren. Aber da dieser Teil des Verfahrens jetzt abgeschlossen ist, sehe ich keine weiteren Schwierigkeiten.« Morton war überrascht, wie gut der Mann aussah. Er hatte Kunig seit jenem Tag in Holland, an dem dieser ihm die Tasche mit den Dokumenten und damit die Basis für das Verfahren der Kommission gegen Deutsch-Chemie übergeben hatte, nicht mehr persönlich zu Gesicht bekommen. Äußerlich zumindest hatte Kunig sich seit damals überhaupt nicht verändert. Sein Gesicht war vielleicht ein wenig blasser geworden, und er wirkte auch etwas müde, aber das war ja nicht gerade überraschend. Er hatte bereits einige Wochen in Deutschland in Untersuchungshaft verbracht, ehe man ihn nach Luxemburg verlegt hatte. »Hallo.« Morton streckte die Hand aus, als er den Besucherraum des Gefängnisses betrat und Kunig auf der anderen Seite des breiten Tisches sitzen sah. (Die Gefängnisbehörden hatten die traditionelle Glasplatte zwischen Gefangenen und Besuchern abgeschafft, aber es gab immer noch gewisse Formalitäten, die eingehalten werden mußten.) Kunig beugte sich über den Tisch, um Mortons Hand zu 279
schütteln, und ließ sich dann mit einem erwartungsvollen Blick wieder auf den Stuhl zurücksinken. »Nun? Habe ich es richtig gemacht?« »Ganz hervorragend sogar. Mehr hätten wir wirklich nicht verlangen können. Jetzt liegt es beim Generalstaatsanwalt und am Ende bei den Richtern. Aber wenn die Kommission gewinnt, dann haben Sie das für uns möglich gemacht.« Genau dies hatte Kunig offensichtlich hören wollen. Er zögerte kurz und fragte dann: »Und was ist mit mir? Sie haben mir Ihr Wort als Ehrenmann gegeben. Ich sage nicht, daß Sie mich persönlich im Stich gelassen haben – obwohl Sie das in gewissem Sinne getan haben, weil Sie meine Identität nicht geschützt haben. Aber die Kommission trägt ganz sicherlich die Verantwortung. Ich befinde mich jetzt im Gefängnis, und wenn ich nach Deutschland zurückkehre, werde ich höchstwahrscheinlich lange Zeit im Gefängnis bleiben. Beunruhigt Sie das, beunruhigt es die Kommission? Das sollte es nämlich.« Kunigs Tonfall war ärgerlich geworden. Morton sah sich um. Der Wachmann am anderen Ende des Raums las Zeitung und schien an ihrem Gespräch völlig desinteressiert. Morton bezweifelte, daß der Mann zuhörte oder verstand, was sie redeten. Trotzdem senkte er die Stimme und beugte sich über den Tisch. »Wir werden Sie nicht im Stich lassen. Das kann ich Ihnen versprechen.« Dann redete er schnell und mit eindringlichen Worten auf Kunig ein und teilte dem anderen in kurzen, präzisen Sätzen alles mit, was er wissen mußte. Als Morton zu Ende gesprochen hatte, nickte Kunig. 280
»Ich verstehe. Ich hoffe nur, daß Sie schnell handeln werden. Ich muß am Montag ein letztes Mal vor Gericht auftreten, aber man hat mich bereits in Kenntnis gesetzt, daß die deutschen Behörden darauf bestehen, daß ich spätestens bis Dienstag wieder dem deutschen Gewahrsam überstellt werde.« »Keine Sorge«, beruhigte ihn Morton. »Wir haben die Dinge gut im Griff.« Ehe er ging, mußte er Kunig noch eine Frage stellen: »Ich erinnere mich, daß Sie mir damals in Scheveningen gesagt haben, Sie wären Ritter einmal persönlich begegnet. Es ging da um irgendeinen Artikel, den Sie geschrieben hatten. Können Sie mir dazu Näheres sagen? Das könnte wichtig sein.« Kunig sah ihn überrascht an. »In welcher Hinsicht?« Morton schilderte ihm in wenigen Worten die Situation, die Helena ihm vor ein paar Tagen beschrieben hatte. »Stromabwärts von der Anlage von Deutsch-Chemie geschieht irgend etwas Eigenartiges mit dem Rhein«, schloß er. Kunig stieß einen leisen Pfiff aus. »Das ist die Erklärung!« »Die Erklärung für was?« »Weshalb Ritter mich sprechen wollte. Ich hatte in meinem Artikel unter anderem darauf hingewiesen, daß die Herstellung von 2-4-5-T, einem der Grundbestandteile des Herbizids Agent Orange und ähnlicher Präparate, das eindeutige Risiko mit sich bringt, daß tödliche Dioxine entstehen. Was mich damals gewundert hat, war, daß Ritter sich dafür interessierte, da man Deutsch-Chemie wie jeder 281
anderen Chemiefirma auf der ganzen Welt die Produktion dieser Art von Chemikalien klar und eindeutig verboten hat.« Während Kunig das sagte, erinnerte Morton sich an den Artikel über den Einsatz toxischer Entlaubungsmittel in Zentralamerika, den er auf dem Rückflug aus Portugal im Herald Tribune gelesen hatte. Er erinnerte sich an die mit Chemikalien aus Deutschland beladenen Lastkähne im Hafen von Rotterdam. »Und wie erklären Sie sich Ritters Besorgnis?« fragte er. Kunig überlegte sorgfältig, ehe er antwortete. »In der Chemie kommt es häufig auf die Struktur an«, erwiderte er schließlich. »Nehmen Sie beispielsweise einen chlorierten Kohlenwasserstoffring. Wenn Sie das Chloratom auf, sagen wir, Position sieben statt sechs bringen, können Sie damit die ganze Struktur des Moleküls verändern. Aus der Sicht des Herstellungsprozesses brauchen Sie nur ein wenig an der Reaktion zu rütteln, um unter Einsatz derselben Grundelemente eine völlig andere Substanz zu bekommen. Eine Anlage, die zur Herstellung, sagen wir, eines gewöhnlichen Unkrautvernichters eingerichtet ist, könnte ohne weiteres auf die Produktion von 2-4-5-T oder sonst etwas umgestellt werden, und nur der betreffende Betriebsingenieur würde das wissen.« »Mit entsprechendem Dioxinrisiko?« »Genau.« Kunig schien nicht mehr sagen zu wollen, und Morton setzte ihm nicht zu. Er hatte jedenfalls genug gehört, um zu wissen, daß da etwas äußerst Unkorrektes im Gang war und sich möglicherweise eine Katastrophe zusammenbrau282
te, im Vergleich zu der Bhopal wie ein Nadelstich wirken konnte. Morton verabschiedete sich von Kunig und fuhr in düsterer Stimmung nach Brüssel zurück. Am folgenden Montag, dem elften Tag des Verfahrens, traf die grüne Minna, die gewöhnlich Kunig jeden Morgen aus dem Gefängnis abgeholt und ihn auf der Treppe des Gerichtsgebäudes oben auf dem Plateau de Kirchberg abgesetzt hatte, nicht ein. Der Vorsitzende des Gerichtshofs, Professor Cornelius van Rijn – der Mann, der einige Monate früher den Vorsitz bei der Amtseinführung der neuen Kommission gehabt hatte –, wartete eine halbe Stunde und vertagte dann die Anhörung. Die Richter in ihren feierlichen Amtsroben verließen den Gerichtssaal und begaben sich in ihre Amtszimmer, wo sie geduldig (da die Justiz ja keine Ungeduld kennt) darauf warteten, über irgendwelche weiteren Entwicklungen informiert zu werden. Um die Mittagszeit war die Peinlichkeit nicht länger zu vertuschen. Hans Kunig befand sich, nachdem er den größten Teil seines Beweismaterials geliefert hatte, nicht mehr in Luxemburg – oder zumindest nicht in dem Gefängnis, in dem er sich hätte aufhalten sollen. Wie er seine Flucht bewerkstelligt hatte, war unklar. In Ermangelung eines plausibleren Übeltäters gab man einer türkischen Putzfrau, die Kunig als letzte in seiner Zelle gesehen hatte und die jetzt nicht zur Arbeit erschienen war, die Schuld. Aber nichts war sicher. Klar war nur, daß sich zwischen Luxemburg und Deutschland eine Kontroverse von monumentalen Ausmaßen zusammenbraute. Die deutsche Regierung bezichtigte ihren winzigen 283
Nachbarn mit Recht, die Verpflichtungen nicht erfüllt zu haben, die sie so feierlich übernommen hatte. Die Regierung des Großherzogtums hatte, nachdem der Vorfall in einer hastig einberufenen Sitzung gründlich erläutert worden war, als Erwiderung auf den Vorwurf nicht viel zu sagen, außer der etwas entwaffnenden Andeutung, daß sie sich vielleicht nicht so gut darauf verstanden, Gefängnisse zu führen wie die Deutschen, aber daß jedenfalls Ermittlungen im Gange seien. Spät in der Nacht erhielt Morton einen Anruf von Paddy McGrath. »Ich habe Nachricht, daß er sicher in Spanien eingetroffen ist.« »Dem Himmel sei Dank dafür.« Morton verspürte ein geradezu überwältigendes Gefühl der Erleichterung. Natürlich war es bedauerlich, daß Kunig vor Ende des Verfahrens verschwunden war. Die Richter des Europäischen Gerichtshofs waren vermutlich nicht weniger reizbar und launenhaft als ihre Amtskollegen anderswo auf der Welt und würden es sicherlich übelnehmen, daß ein Schlüsselzeuge, der sich in mancher Hinsicht in ihrem Gewahrsam befunden hatte, einfach verschwunden war. Aber Kunig hatte sagen können, was zu sagen gewesen war. Morton glaubte nicht, daß die Abwesenheit des Mannes in diesem Stadium so oder so noch wesentlichen Einfluß auf den Spruch des Gerichtes haben würde. »Wie ist es abgelaufen, Paddy?« Am anderen Ende der Leitung war ein tiefes, kehliges Lachen zu hören. »Wissen Sie, genau weiß ich das selbst nicht. Die Jungs sind in solchen Dingen ziemlich erfah284
ren und haben natürlich praktisch überall ihre Kontakte. Ich glaube, daß vielleicht jemand einfach weggesehen hat. Luxemburg mag ein winziges Land sein, nicht viel größer als die Grafschaft Cork, wenn man es einmal richtig überlegt. Aber diese Leute mögen es nicht, wenn ihre Nachbarn sie zu sehr unter Druck setzen. Und ganz besonders nicht der große Bruder im Osten!« Morton ließ es dabei bewenden. Er bezweifelte, ob er oder sonst jemand je die ganze Geschichte erfahren würde. Wichtig war, daß der Plan geglückt war. »Und Sie haben die Kinder abgeholt?« fragte McGrath. »Sie sind heute nachmittag hier eingetroffen«, beruhigte ihn Morton. »Sie schlafen jetzt.« »Und Isobel?« »Die schläft auch.« Morton erinnerte sich noch ganz deutlich an den Augenblick, wo der Wagen in die Einfahrt gerollt war und er das Gesicht seiner Frau gesehen hatte. Sie hatte Tränen in den Augen gehabt, als sie die verstörten Kinder ins Haus gebracht hatte. Sie hatte sie den ganzen Tag über wie eine Glucke bemuttert, ganz in ihrer neuen Rolle aufgehend, während Helga Kunig verwirrt und benommen im Wohnzimmer gesessen hatte. »Isobel wird morgen mit ihnen abreisen«, erklärte er McGrath. »Die Papiere sind alle fertiggestellt. Sie wird auf direktem Wege nach Madrid fliegen – Spanien hat mit Deutschland keine Auslieferungsvereinbarung, und ihr Vater wird sie dort begrüßen.« Morton hatte noch etwas zu sagen. »Wir waren in dieser Sache anfänglich unterschiedlicher Ansicht, Paddy. 285
Aber ich möchte Ihnen sagen, daß ich Ihnen für Ihre Hilfe sehr dankbar bin. Ohne Sie hätte ich das nicht geschafft. Ich hätte nicht gewußt, an wen ich mich hätte wenden sollen.« »Ach was«, wischte McGrath seine Beteuerungen weg. »Das war das mindeste, was ich tun konnte. Sie kommen mir manchmal wie ein Stier vor, der auf das rote Tuch losgeht, James. Aber alles in allem laufen Sie in die richtige Richtung.« Am Morgen des Tages darauf kam Gerry McLoughlin, um sie abholen. Morton begleitete Isobel, Helga und die Kinder zum Flughafen. Isobel war immer noch aufgeputscht und schwankte dauernd zwischen übertriebener Fröhlichkeit und angespannter Nervosität hin und her. Als sie mit Morton an den Schalter der Fluggesellschaft ging, drückte sie seinen Arm. »Ich glaube nicht, daß ich in meinem ganzen Leben schon etwas so Wichtiges getan habe.« Morton hätte gern gesagt: »Da hast du völlig recht, meine Liebe«, ließ es aber bleiben. Die neue Isobel, die sensible, rücksichtsvolle Isobel, die an dem Tag das Licht der Welt erblickt hatte, an dem sie ihm gesagt hatte, daß sie schwanger war, war immer noch ein Phänomen der jüngsten Vergangenheit, ein zartes Pflänzchen, das sehr leicht in einem unfreundlichen Windhauch verderben konnte. Murray Lomax wartete am Schalter, wo Passagiere für den Air-Iberia-Flug eincheckten. »Ich habe mit meinen Pressekollegen in Bonn gesprochen, Commissioner.« Er sprach mit leiser Stimme und zog Morton etwas zur Seite, 286
während die anderen ihre Formalitäten erledigten. »Die Deutschen sind allem Anschein nach stinksauer.« »Meinen Sie, daß sie wissen, was es mit Kunigs Flucht auf sich hat?« Lomax lachte. »Nein, Commissioner. Die Brüsseler Bürokraten müssen sich alles mögliche nachsagen lassen, insbesondere Gesichtslosigkeit, Dummheit und Faulheit. Aber entschiedenes Handeln à la James Bond traut man ihnen ganz sicherlich nicht zu. Soweit reicht die Phantasie nicht. Die meisten scheinen zu glauben, daß er ganz einfach die richtigen Leute geschmiert hat.« Ein Seufzer tiefer Erleichterung entrang sich Morton. Wie sehr auch immer er Kunig moralisch verpflichtet sein mochte, es stand außer Zweifel, daß das, was er und Paddy McGrath getan hatten, von jeder Warte aus betrachtet zutiefst ungesetzlich war. In der Hoffnung, daß niemand da war, der zwei und zwei zusammenzählen konnte, ging Morton mit ihnen zum Flugzeug (Kommissare genossen auf Flughäfen gewisse Privilegien) und wartete, bis sie sicher an Bord waren. »Komm bald wieder, Liebste.« Der Kuß, mit dem er sich von ihr verabschiedete, verriet echte Zuneigung. Isobel riß sich einen Augenblick lang von ihren kleinen Schützlingen los und lächelte ihm zu. »Ganz bestimmt, Jimmy.« Morton sah dem Flugzeug nach, wie es zur Startpiste rollte. Ob es ihnen nun gefiel oder nicht, dachte er, die James-und-Isobel-Morton-Show war zum Erfolg verurteilt. Jetzt die Ankündigungen zurückzunehmen würde mehr Aufwand und Energie erfordern, als ihm zur Verfügung 287
stand – und außerdem war er gar nicht sicher, daß er das wollte. Lomax fuhr mit Morton in die Stadt zurück. »Ich höre, das Gericht wird sich vertagen«, sagte er, »und seinen Spruch später fällen. Erst nach der Sommerpause.« »Tatsächlich?« Morton war echt überrascht. Er hatte angenommen, die Jury würde ihren Spruch, wie es bei Verfahren vor Old Bailey üblich war, am Ende des Verfahrens fällen. Aber Journalisten waren häufig besser informiert als die Parteien, überlegte er. »Und was ist der Grund für die Verzögerung?« »Der Europäische Gerichtshof neigt zu späten Urteilssprüchen. Das gibt den Richtern Zeit, ihre Gedanken zu sammeln. Und außerdem braucht man diese Zeit auch, um die Übersetzungen in elf Sprachen anzufertigen!« »Wenn das Gericht dann seinen Spruch fällt, wie meinen Sie denn, daß er lauten wird?« fragte Morton. »Sie haben dieses Verfahren so aufmerksam wie kaum einer verfolgt. Ich halte sehr viel von Ihrer Meinung; ich selbst bin viel zu befangen, um klar sehen zu können. Wie beurteilen Sie die Chancen?« Lomax blickte auf die graubraunen Gebäude hinaus, die an ihnen vorbeiglitten, sah den Bürgern Brüssels zu, wie sie ihre Hunde zum Morgenspaziergang ausführten. Was für eine Unmenge Hunde es doch gab! Kein Wunder, daß die trottoirs so verunreinigt waren. »Sechzig zu vierzig«, erwiderte er schließlich. »Gegen Sie natürlich. Kunig war gut, aber er war nicht gut genug. Tief im Innersten mag keiner einen Denunzianten, und das war Kunig schließlich und endlich doch.« »Oh, Scheiße!« 288
Lomax tat der Mann leid. »Aber die Chancen können sich ändern, Commissioner.« Das war ein schwacher Trost, aber besser als gar nichts, dachte Morton.
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s war wie im »Sitzkrieg« im Sommer 1939. Beide Seiten befanden sich im Kriegszustand, aber die regelrechten Feindseligkeiten hatten bis jetzt noch nicht begonnen. Innerhalb der Kommission hatten sich zwei klare Lager gebildet. Da waren diejenigen, die davon überzeugt waren, daß Morton richtig gehandelt hatte und auch weiterhin richtig handelte. Dazu gehörten Helena Noguentes, Larsen, der Däne, Paddy McGrath, Ippolito Camino und, was Morton einigermaßen überraschte, jenes wandelnde Denkmal vergangener Zeiten, der alte Dimitrios Kafiri. Auf der anderen Seite hatten sich aufgereiht der Präsident der Kommission, Dr. Horst Kramer, der Morton jetzt mit einer geradezu giftigen Ablehnung behandelte, die er auch unverhohlen zur Schau stellte, der Franzose Pierre Duchesne, der fest überzeugt war, daß Morton zu weit gegangen war, und der hochmütige junge Spanier Ariosto Rivera Azul de Balanquentes, der sich immer noch dankbar an Kramers Bemühungen beim Amtsantritt der Kommission erinnerte, ihn in seinem Wunsch nach einem substantielleren Ressort zu unterstützen. Und dann gab es da noch die Unentschlossenen, wie zum Beispiel die Kommissare aus den Benelux-Ländern, die sich bis jetzt noch nicht entschieden hatten, auf welche Seite sie sich schlagen sollten, und für die lediglich feststand, daß ihre Entscheidung vom Spruch des Gerichtshofs abhängen würde. Wenn das Gericht sich 290
für die Kommission, genauer gesagt für Morton aussprach, würden sie die ersten sein, die seiner Hartnäckigkeit Beifall spenden würden, nicht zuletzt auch, weil er damit seine Bereitschaft dokumentiert hatte, viele Konventionen des bürokratischen Verhaltens nicht unbesehen hinzunehmen. Falls andererseits Deutsch-Chemie straffrei ausging oder im schlimmsten Fall mit einer eher symbolischen Geldbuße davonkam, würden sie keinen Augenblick zögern, daraus den Schluß zu ziehen, daß Kramer schließlich doch recht gehabt hatte. Morton wußte, daß seine eigene Position in der Kommission in diesem Fall stark ins Wanken geraten würde. Anfang August gab der Vorsitzende des Europäischen Gerichtshofs seine Ansicht bekannt, daß es der Kommission nicht gelungen sei, in ihrem Verfahren gegen Deutsch-Chemie stichhaltiges Beweismaterial vorzulegen. Für Morton – und andere, die mit ihm zusammengearbeitet hatten, wie Laurent Guimard – war das ein schwerer Schlag. Die Ansicht des Vorsitzenden war natürlich nicht bindend. Die Richter würden im weiteren Verlauf des Sommers diese Meinung entweder bestätigen oder verwerfen. Aber Morton war nicht verblendet genug, um sich oder Isobel vormachen zu können, daß die Vorzeichen sonderlich gut standen. Er wußte, daß in neun von zehn Fällen der Spruch des Gerichtes der Ansicht des Vorsitzenden folgte. »Aber warum ist das so?« Zu ihrer eigenen Überraschung wurde Isobel bewußt, daß ihr das Ergebnis des Verfahrens beinahe ebenso wichtig war wie ihm. In all den Jahren, die Morton in Westminster verbracht hatte, selbst zu der Zeit, als er seinen Posten im Ministerium innegehabt hatte, war 291
sie nie so engagiert gewesen. Ganz zu Anfang ihrer Ehe hatte sie immerhin den Anschein gewahrt. Aber später, als sich dann zeigte, daß Morton keine schnelle Karriere machen würde, hatte sie sich ohne große Unzufriedenheit damit abgefunden, den Entwicklungen im politischen Leben ihres Ehemannes wenig Beachtung und Anteilnahme zu widmen. Herrgott, sie erinnerte sich noch daran, als Morton im Unterhaus irgendeine Rede gehalten hatte (um Nordirland war es dabei wohl gegangen), und sie, anstatt wie eine treu ergebene Ehefrau auf der Galerie zuzuhören, hatte in dieser entsetzlichen kleinen Wohnung am Dolphin Square mit Tim Kegan im Bett gelegen. Was war eigentlich aus Kegan geworden? Sie hatte seit einer Ewigkeit nichts mehr von ihm gehört. Ohne Zweifel hatte Lilly oder Edna oder Phyllis (oder wie Mrs. Kegan auch heißen mochte) ihn inzwischen wieder fest im Griff. Sie fühlte sich jäh aus ihren Gedanken gerissen, als sie hörte, wie Morton ihre Frage beantwortete. »Auf diese Weise verteilen sie die Last, denke ich.« Mortons Stimme klang zynisch. »Wenn einer von den alten Knaben einen Haufen Arbeit leistet, dann werden die anderen ihn wohl nicht ohne guten Grund im Stich lassen. Es heißt immer, daß die Diebe ihre Ehre haben – ebensogut könnte man auch sagen, daß für Richter Solidarität das höchste Gut ist. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus!« »Warum hat Pantaloni denn gegen dich entschieden?« Isobel mußte unwillkürlich lächeln, wenn sie an den Namen des italienischen Juristen dachte, der das Richterkollegium anführte. 292
Sie saßen auf der Terrasse ihrer Villa am Stadtrand von Brüssel und genossen einen seltenen sonnigen Morgen. Morton zog das Glas mit Oxford-Orangenmarmelade zu sich hin. Alltägliche Dinge wie dieses halfen ihm, sich die tiefe Bedrücktheit nicht anmerken zu lassen, die auf ihm lastete. »Für mich klang es wie juristisches Kauderwelsch. Soweit ich das begriffen habe, war Pantalonis Haupteinwand der, daß die Kommission sich auf unrechtmäßig erworbene Dokumente gestützt hat. Offenbar tut man so etwas in Italien nicht! Im wesentlichen lief seine Argumentation etwa so: Der Diebstahl der Dokumente war illegal, folglich könne man nicht zulassen, daß ein auf illegalem Beweismaterial basierendes Verfahren zum Erfolg führt, ganz gleich wie gerechtfertigt die Behauptungen auch sein mögen. Ich glaube, es gibt irgendeinen lateinischen Begriff dafür. Materiae causa oder so etwas Ähnliches.« »Klingt für mich ziemlich albern.« Ein paar Minuten später verdüsterte sich Mortons Stimmung noch weiter, als Laurent Guimard anrief. »Ich habe gerade aus dem Büro der Kommission in Spanien gehört, daß Kunig die Kommission auf Schadensersatz verklagen will.« »Was in aller Welt soll das denn wieder?« »Er behauptet, die Kommission habe es versäumt, seine Identität angemessen zu schützen. Indem die Kommission zuließ, daß Deutsch-Chemie oder die deutschen Behörden seinen Namen erfuhren, behauptet er, habe die Kommission die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß ihm schwerer materieller und psychischer Schaden zugefügt wurde.« 293
»Du liebe Güte!« Morton konnte diese neueste Wendung kaum fassen. Es stimmte zwar, daß Simpson Kramer von Kunig berichtet hatte, und es traf vermutlich auch zu, daß Kramer selbst die Deutschen verständigt hatte, obwohl der Kommissionspräsident derartige Andeutungen empört von sich gewiesen hatte. Aber verdammt noch mal, sie hatten sich doch schließlich alle Mühe gegeben, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Kunig war jetzt ein freier Mann und hatte das Morton und McGrath zu verdanken. Und seine Familie – Helga und die Kinder –, die man sonst vielleicht jahrelang in Deutschland festgehalten hätte, waren ebenfalls in Sicherheit und hatten das Isobels mutigem Handeln und seiner, Mortons, geschickten Organisation zu verdanken. »Kunig hat natürlich recht«, hörte er Guimard sagen. »Die Kommission hat ihn tatsächlich in eine unangenehme Lage gebracht, und er hat Anspruch auf Entschädigung.« Morton legte den Telefonhörer erschüttert auf. »Was ist denn?« fragte Isobel, als er auf die Terrasse zurückkehrte. »Kunig verklagt die Kommission, weil sie seine Identität nicht geschützt hat. In der Praxis bedeutet das: Er verklagt mich. Ein Anwalt, der mich ins Kreuzverhör nimmt, wird seinen Spaß daran haben. Ich höre ihn förmlich: ›Sie haben also dieses Exemplar des Herald Tribune in Ihrem Büro liegen lassen, Mr. Morton, und Zeit und Ort Ihres Zusammentreffens mit Mr. Kunig in Holland waren dort mit Bleistift angekreuzt? Und die Zahlenkombination des Safes beruhte auf dem Geburtstag Ihrer Frau, ist das richtig? Ist Ihnen nicht in den Sinn gekommen, daß Mr. Simpson 294
das vielleicht erraten könnte?‹« Er ließ sich schwer in den Sessel ihr gegenüber fallen. »Weißt du, Isobel, ich glaube, es wäre besser, wenn ich zurücktrete, ehe sie mich rauswerfen. Das könnte unser Ruin sein. Und ich meine wirklich unser Ruin. Finanziell und auch in jeder anderen Hinsicht.« Isobel warf mit ihrer Serviette nach ihm. »James Edward Morton, wir wollen eines klarstellen: Du hast mehr Zivilcourage und mehr Entschlossenheit an den Tag gelegt als irgend jemand anderer, den ich mir innerhalb der Kommission oder auch außerhalb vorstellen kann. Wirf das jetzt nicht alles weg. Wehr dich doch, um Himmels willen. Es wird dir doch etwas einfallen.« Morton hob die Serviette auf und gab sie ihr zurück. Isobels Ausbruch hatte ihm auf seltsame Weise Mut gemacht. Als Morton am Morgen darauf in seinem Büro eintraf, fand er ein Buch auf seinem Schreibtisch. »Das hat die Bibliothek geschickt«, erklärte seine Sekretärin. »Allem Anschein nach war es ausgeliehen, als Sie es angefordert haben, und es ist gerade erst zurückgekommen.« »Was habe ich angefordert, Vivian, und wann?« »Bücher über die chemische Industrie. Das ist jetzt Monate her. Die Bibliothek hat Ihnen damals einen Ausdruck geschickt.« »Ach ja, ich erinnere mich.« Erst jetzt sah Morton sich das Buch, das er in der Hand hielt, genauer an. Sein Titel lautete Illustrierte Geschichte der I. G. Farben. Die nächsten Minuten vertiefte Morton sich ganz in das 295
Buch. In groben Umrissen kannte er den Inhalt natürlich. Dafür hatten Lomax und Kunig gesorgt. Es überraschte ihn sogar, wie genau das, was Kunig ihm an jenem Tag in Holland erzählt hatte, dem entsprach, was er jetzt las. Es war beinahe so, als hätte Kunig selbst seine Information aus der Schrift bezogen, die jetzt vor ihm lag. Er versuchte, sich jenen langen Nachmittag auf den Dünen von Scheveningen zu vergegenwärtigen, und stellte fest, daß er sich mit großer Klarheit an die traurige Geschichte erinnerte, die Kunig ihm damals vorgetragen hatte, an die Leidenschaft, mit der der Mann gesprochen hatte. Im nachhinein war ihm jetzt bewußt, daß der kritische Augenblick der gewesen war, als Kunig davon erzählt hatte, wie seine Eltern im Konzentrationslager in Auschwitz ums Leben gekommen waren und daß Ritter damals als Assistent eines der führenden Männer im I. G.Farben-Konzern dabeigewesen war. Kunigs Wunsch nach Rache, nach Gerechtigkeit war es gewesen, mehr als alles andere, was ihm die Worte des Mannes hatte glaubwürdig erscheinen lassen. Er wandte sich den Fotografien in dem Buch zu. Zwei oder drei davon kamen ihm bekannt vor. Bei genauerem Hinsehen sah Morton, daß sie exakt die gleichen waren, die Kunig ihm gezeigt hatte. Für sich betrachtet, war das kein Wunder. Die Bilder stammten ohne Zweifel aus den Archiven der Firma (wo immer sich die heute befinden mochten); und wenn der Verfasser der Illustrierten Geschichte der I. G. Farben Zugang zu ihnen gehabt hatte, dann gab es keinen Grund, weshalb sie nicht auch Kunig hatte verwenden können. Der Verfasser der Illustrierten Geschichte der 296
I. G. Farben hatte in den Bildunterschriften die Namen aufgeführt, und Morton stellte fest, daß sie denen entsprachen, die Kunig ihm aufgezählt hatte: Schmitz, Kuehne, Krauch, Ter Meer, Herman Abs – alle waren sie da. Und dieser junge Mann, der sich da bescheiden im Hintergrund hält, dachte Morton, ist der junge Ritter. Er sah auf die Textzeile unter der Fotografie und erwartete dort Ritters Namen zu finden oder wenigstens eine Vermutung des Verfassers hinsichtlich der Identität von Krauchs Assistenten. »Im Hintergrund«, las er, »hinter Krauch, steht ein weiterer leitender Mitarbeiter der I. G. Farben namens Oberndorfer, der bei Kriegsende starb. Weitere Bilder auf den folgenden Seiten.« Morton blätterte um. Er sah ein weiteres Bild von Oberndorfer. Diesmal ein Porträt. Ohne Zweifel handelte es sich um denselben Mann wie auf dem Gruppenfoto des I. G.Farben-Vorstandes, aber – und das war ebenso eindeutig – es gab keinerlei Zweifel, daß Oberndorfer nicht Ludwig Ritter war! Morton hatte Ritter persönlich kennengelernt, und so sehr sich auch die Gesichtszüge eines Mannes im Lauf der Jahre ändern konnten, er wußte, daß das Bild, das er vor sich hatte, unmöglich das von Ritter sein konnte. Verblüfft schlug er den Index des Buches auf, fand dort aber keinerlei Hinweis auf Ludwig Ritter oder einen anderen Ritter. Andererseits gab es mehrere Hinweise auf Oberndorfer, der offenbar vor seinem zu frühen Tod einer der vielversprechenden Jungstars von I. G. Farben gewesen war. Schließlich klappte Morton das Buch zu und starrte be297
nommen zum Fenster hinaus. Was war er doch für ein Narr gewesen! dachte er. Was für ein unglaublicher, stümperhafter Idiot! Er griff nach dem Telefon. »Verbinden Sie mich bitte mit Murray Lomax, Vivian. Ja, es ist ziemlich dringend.«
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ährend Morton sich immer tiefer in die zahlreichen Verästelungen der Deutsch-Chemie-Sache verstrickte, erfreute sich Isobel – was vielleicht für die Frühphase einer Schwangerschaft ungewöhnlich war – eines beinahe euphorischen Gefühls von Wohlbehagen und grenzenloser Energie. Kaum daß sie ihr persönliches Leben neu organisiert hatte (die Eröffnung ihres neuen Geschäfts Isobel de Bruxelles war ein großer Erfolg gewesen, und Chiko und ihr Team hatten ihr beinahe die Schau gestohlen), beschloß sie, auch gemäß ihrem Status als Ehefrau des britischen Kommissars in der Öffentlichkeit aufzutreten. Die britische Kolonie in Belgien begrüßte das sehr. Sie waren davon entzückt, daß Isobel, die sie bereitwillig als eine Art »Ehrenbritin« betrachteten, bereit war, Verpflichtungen zu übernehmen, die ihr Mann sonst möglicherweise abgelehnt hätte. »Wie wäre es, wenn du nach Arnheim fahren würdest?« hatte er sie eines Tages gefragt. »Man hat mich gebeten, dort einen neuen Flügel des Kriegsmuseums zu eröffnen, aber ich bin an dem Tag in Brüssel unabkömmlich. Könntest du statt meiner hinfahren? Du bist allerdings Amerikanerin, und es wird wohl eine ziemlich britische Angelegenheit sein …« Isobel hatte ihn wütend angefunkelt. »Unsere Boys sind schließlich auch dort gefallen, oder? Ich habe den Film gesehen. Ich vertrete die Alliierten.« 299
Und genau das hatte Isobel getan. Sie hatte, umgeben von Veteranen und Würdenträgern, auf dem Rednerpodium im neuen Flügel des Museums gestanden und eine Rede gehalten, die ebensoviel Schwung wie historische Unrichtigkeiten enthalten hatte. Die Zuhörer waren begeistert gewesen. Der einzig peinliche Augenblick war der gewesen, als sie sich dazu entschloß, die Schlacht von Arnheim mit der Verteidigung der Thermopylen durch die Spartaner zu vergleichen. Als sie spürte, daß die Aufmerksamkeit ihrer Zuhörer zu erlahmen drohte, hielt sie mitten im Satz inne, nahm einen langen Schluck Wasser aus dem Glas, das man ihr aufs Rednerpult gestellt hatte, und fing statt dessen an, über Die Kanonen von Navarone zu reden. »Ist doch schließlich egal«, erklärte Isobel Morton, als sie nach Brüssel zurückkehrte. »Es waren doch schließlich alles Helden, oder?« Morton hatte ihr väterlich den Kopf getätschelt. »Trink einen Schluck, Liebes. Ich bin überzeugt, daß du deine Sache sehr gut gemacht hast.« Er hatte schon dazu angesetzt, ihr einen Whisky einzuschenken, aber Isobel hatte ihn daran gehindert. »Ich halte mich immer noch streng an Wasser, tut mir leid. Aber das ist gut für mich …« Am späten Abend fuhren sie mit dem Schlafwagen von Brüssel nach Auray an der äußersten Westküste der Bretagne. Von dort brachte sie ein Taxi nach Quiberon, wo sie sich nur so lange aufhielten, bis sie ein Boot gemietet hatten, das sie nach Hoedic brachte. »Ein Hotel gibt es dort nicht. Wir werden also im Haus eines der Inselbewohner übernachten«, hatte Morton Isobel 300
erklärt. »Ich glaube, der Mann ist Fischer. Wir sollten dort guten Hummer bekommen.« »Ich hoffe nur, daß er kein Telefon hat. Wir können wirklich einmal Ruhe gebrauchen, Jimmy. Selbst wenn es nur für eine Woche ist.« »Keine Sorge«, beruhigte er sie. »Wie ich höre, gibt es auf der ganzen Insel höchstens drei Telefone.« Die Überfahrt dauerte etwa eine Dreiviertelstunde. Die See war ruhig, die Nacht warm. Obwohl sie sich, was die geographische Breite anging, nur wenig südlich von Brüssel befanden, hatten sie doch den Eindruck, klimatisch in einer völlig anderen Welt zu sein. Die weiche Brise, die ihnen ins Gesicht wehte, wirkte beinahe tropisch, und das gleiche galt für die üppige Vegetation, die sie begrüßte, als sie schließlich in den winzigen Hafen von Hoedic einliefen. »Ist das schön hier!« sagte Isobel und sah den Möwen zu, die schnatternd und kreischend in eleganten langen Bögen zu ihren Nestern in den Klippen schwebten. »Ich liebe dich.« Morton griff nach ihrem Arm und stützte sie, als sie über die Planke zum Kai stieg. Als sie zu Abend aßen, kam der Fischer, in dessen Haus sie abgestiegen waren, an ihren Tisch. Er war etwa fünfundsechzig Jahre alt, ein typischer Bretone, auf der Insel geboren und aufgewachsen, mit lederartiger Haut und wasserblauen Augen, die auf keltische Vorfahren deuteten. »Einmal wollten die hier einen Hafen bauen, aber dann ist Anfang der vierziger Jahre, als ich noch ein kleiner Junge war, ein Schiff vor der Insel gesunken; eine Menge Leute sind dabei ertrunken. Ich erinnere mich noch ganz deut301
lich daran. Das Fischereigewerbe hat sich nie mehr davon erholt. Die Leute sagen, die Hummer hätten das Fleisch der Ertrunkenen gefressen.« Sie hörten fasziniert zu, wie der Mann von Piraten und Wracks erzählte, Geschichten aus einer fernen Vergangenheit, von Männern und Frauen, die der unwirtlichen Felsenküste ihren Lebensunterhalt abgerungen hatten. »Sie erleben uns heute bei Sonne; aber die meiste Zeit sieht es hier ganz anders aus. Nicht daß es besonders kalt wäre, aber rauh und feucht. Und die Zukunft sieht auch nicht so rosig aus. Die meisten von den jungen Leuten sind weggegangen, aufs Festland.« Am Abend machten sie einen Spaziergang auf den Klippen. In der Ferne konnten sie die Lichter des französischen Festlands sehen – von Quiberon, Trinité-sur-Mer und anderen Küstenstädten. Ebensogut hätten sie Astronauten sein können, die aus dem Weltraum hinunterblickten. Morton nahm ihren Arm. »Verstehe mich bitte nicht falsch«, erklärte er. »Ich bin kein Fanatiker. Ich denke nur, daß es auf der Welt Platz für solche Orte geben muß – und für Leute wie diesen alten Knaben, mit dem wir uns beim Abendessen unterhalten haben. Wenn die Kommission den Prozeß verliert, dann werde ich traurig sein, nicht nur, weil ich glaube, daß wir den Sieg verdient haben, sondern weil ich glaube, daß wir siegen müssen. Firmen wie Deutsch-Chemie haben auf dieser Welt zu lange getan, was ihnen paßt.« Aus der Nacht schoß ein Rudel Sturmmöwen heran und suchte die Nistplätze an der Steilklippe unter ihnen auf. 302
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omax nahm die Ein-Uhr-Maschine der Sabena von Brüssel nach Washington D. C. Er landete am späten Nachmittag auf dem Dulles International Airport und ließ sich von einem Taxi in die Stadt bringen. Als sie von der Flughafenstraße in den Beltway bogen und anschließend über den George Washington Memorial Drive am Potomac entlangrollten, schlug eine Flut von Erinnerungen über ihm zusammen. In Washington hatte er seine Lehrjahre als Journalist verbracht; war hier sozusagen flügge geworden. Er hatte Watergate miterlebt – angefangen bei dem ersten Einbruch in die Parteizentrale der Demokraten über die Anhörungen auf dem Capitol Hill, das Drama der verschwundenen Tonbänder und schließlich endend in der qualvollen Agonie, die am Ende zu Nixons Rücktritt geführt hatte. Es war eine faszinierende Zeit gewesen. Die Journalisten hatten damals entdeckt, daß sie über eine Macht verfügten, die ihnen bisher gar nicht bewußt gewesen war. Wenn man imstande war, einen Präsidenten zu zerbrechen, dann gab es nichts, wozu man nicht fähig war. Sie fuhren an der CIA-Zentrale in Langley vorbei (wieviel wußten sie eigentlich von dem, was geschah, fragte sich Lomax) und rollten dann über die Key Bridge weiter zur M Street. Er hatte immer noch gute Bekannte, bei denen er hätte wohnen können, wollte aber nicht, daß sich seine 303
Anwesenheit herumsprach. Jemand würde sonst ganz bestimmt eine Party für ihn veranstalten, und dann würde man ihm Fragen stellen, weshalb er hier sei – und deshalb war sein Ziel das Washington Marriott an der 22nd und M. Mit beinahe zweihundert Dollar die Nacht kam ihn die Anonymität nicht gerade billig zu stehen, aber wenn er kein Zelt am Flußufer aufschlagen wollte, sah er sonst keine Alternative. Lomax ließ sich auf sein Zimmer führen, packte aus, schwamm fünfzig Bahnen im hoteleigenen Schwimmbecken, nahm im Restaurant eine Mahlzeit zu sich, führte ein paar Telefongespräche und ging dann schlafen. Dr. Thomas Barnard erwartete ihn um neun Uhr am kommenden Morgen in seinem Büro. Barnard war wissenschaftlicher Direktor in der Nordamerika-Sektion des World Wildlife Fund und hatte daher einen vollen Terminkalender, schaffte es aber trotzdem immer noch, Zeit für eigene Forschungsarbeiten zu finden. »Wenn ich mir nicht gelegentlich die Hände schmutzig machen kann, schaffe ich diesen Job einfach nicht«, erklärte er Lomax. »Man kann nicht eine große Organisation leiten, wenn man nicht weiß, was dort wirklich gespielt wird.« Barnard war Anfang Vierzig und stand auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Er hatte so ziemlich jeden Umweltschutzpreis bekommen, den Nordamerika zu vergeben hatte, und kannte die Wälder von Mittel- und Südamerika so gut wie andere Leute vielleicht ihren Supermarkt; und was noch viel wichtiger war, er besaß die Fähigkeit, mit anderen Leuten zu kommunizieren und sie zu begeistern. 304
Als Lomax ihn am Abend zuvor zu Hause angerufen hatte, hatte Barnard sofort verständnisvolles Interesse gezeigt. »Möglich wäre es. Durchaus möglich. Kommen Sie morgen in mein Büro, dann reden wir darüber. Ich werde mir die Zeit nehmen.« Tatsächlich blieb es nicht beim Reden. »Sehen wir uns doch draußen um«, schlug Barnard vor. »Hat ja keinen Sinn, hier in einem Büro an der Connecticut Avenue zu sitzen, wo wir draußen die Beweise vielleicht mit Händen greifen können.« Also setzten sie sich in Barnards Wagen – einen zerbeulten Landrover, der in der Hälfte der Länder Mittelamerikas einiges über sich hatte ergehen lassen – und fuhren in den Rock Creek Park, das achthundert Hektar große Stromtal, das die Hauptstadt der Nation in zwei Teile spaltete. »Als Kind haben wir in diesem Tal immer Baumhäuser und Dämme gebaut«, erzählte Barnard, nachdem sie den Wagen abgestellt hatten und durch die Schlucht zum Fluß hinuntergingen. »Ich erinnere mich noch gut daran, wie es im Wald hier im Frühling und im Sommer von Vögeln geradezu wimmelte. Natürlich sieht man die Arten, die das ganze Jahr hier leben, wie Eichelhäher, Meisen, Kardinalvögel und Kleiber, aber in den letzten Jahren fehlen mir die brütenden Gattungen, die früher hier weit verbreitet waren, ganz besonders diejenigen, die in die Neotropen ziehen.« »Neotropen?« »Die Karibik und das südliche Mexiko, ganz Mittelamerika und Zentralsüdamerika. In den Vereinigten Staaten gibt es sechshundertfünfzig Vogelarten, und die Hälfte davon verbringt bis zu zwei Drittel ihres Lebens in jenem 305
Teil unserer Hemisphäre. Und einhundertundsieben Arten – und das schließt die meisten unserer vertrauten Singvögel ein – sind vom Tropenwald abhängig. Die Audubon-Gesellschaft hat auf einem dreißig Hektar großen Gelände hier im Rock Creek Park jährliche Zählungen von Brutvögeln veranstaltet und festgestellt, daß die Zahl einiger Zugvögelarten drastisch zurückgegangen ist. Das gibt einen stillen Frühling. Sobald einmal die tropischen Habitate dieser Arten nicht mehr existieren, werden die Vogelarten ebenfalls verschwinden, ganz gleich, wieviel Brutraum wir hier oben für sie haben.« Endlich stellte Lomax die Frage, die ihm am Herzen lag. »Ich kann verstehen, daß Sie Wälder in Zentralamerika wegen des Bevölkerungsdrucks, des Abholzens usw. verlieren. Aber gibt es denn andere Ursachen für die Abholzung oder die Entlaubung, die auch zu Artenverlust führen könnte?« Barnards Blick wurde durchdringend. »Warum wollen Sie das wissen?« Lomax war sich nicht sicher, wieviel er ihm sagen sollte. Ein großer Teil seines Beweismaterials beruhte noch auf Spekulationen, und es war keineswegs gewiß, daß es wirklich kausale Verbindungen gab. Aber wenn er Barnards Hilfe haben wollte, würde er dem Mann auch vertrauen müssen und ihm sagen, welchen Verdacht er hegte – oder besser gesagt, welchen Verdacht Morton hegte. Eine halbe Stunde später saßen sie wieder in Barnards Büro in der Zentrale des World Wildlife Fund an der Connecticut Avenue oberhalb des Dupont Circle. Barnard hatte einige Kurvenblätter auf seinem Tisch ausgebreitet und erklärte Lomax jetzt, was sie zu bedeuten hatten. »Diese 306
Darstellung ist ein Versuch, jede Wandervogelgattung, die in der nearktischen Zone auftaucht, mit ihren Brutplätzen in den Neotropen in Verbindung zu bringen. Wie Sie sich vorstellen können, ist das ein umfangreiches Vorhaben. Wir haben Naturforscher und Wissenschaftler in der ganzen Hemisphäre darauf angesetzt; tatsächlich ist dieses Vorhaben eines der größeren Projekte des WWF. Bis vor kurzem war auch die US-Regierung über die Wild- und Fischsektion des Innenministeriums beteiligt, aber im letzten Monat haben sie plötzlich die Mittelzuweisungen eingestellt.« »Hat man dafür irgendwelche Gründe genannt?« »Nein. Uns hat es ziemlich überrascht. Wir haben kräftig geschluckt, es allgemeinen Budgetkürzungen zugeschrieben und den Differenzbetrag selbst zusammengekratzt.« Er sah Lomax an. »Jetzt, wo ich mit Ihnen gesprochen habe, frage ich mich, ob vielleicht irgend jemand da draußen in der Regierungsbürokratie angefangen hat, sich Sorgen zu machen, was bei diesen Forschungsarbeiten herauskommen könnte, und daraufhin den Beschluß gefaßt hat, daß es besser wäre, das Projekt zu torpedieren. Ja«, fuhr er fort, und seine Stimme klang jetzt besorgt, »das könnte es sein! Sehen Sie sich doch beispielsweise die Verteilung hier an.« Er deutete auf die Kurvenblätter. »Wir sehen eine allgemeine Verringerung der Zahl der Zugvögel aus den neotropischen Waldregionen, und das läßt sich, wie ich schon sagte, durch den anhaltenden Abholzungsprozeß in diesem Bereich erklären. Aber wenn Sie die Spezies nehmen, die in den Regionen von El Salvador in den sogenannten montanen und prämontanen Bereichen brüten, dann stel307
len wir fest, daß sie praktisch verschwunden sind. Eine Ausrottung von Vogelarten in diesem Ausmaß – wie wir es aus der Zahl der im Norden ankommenden Vögel schließen können – ist ein äußerst ungewöhnliches Vorkommnis und könnte« – Barnard wählte seine Worte jetzt sehr sorgfältig – »sich durch bewußten und weitverbreiteten Einsatz von Entlaubungsmitteln erklären lassen.« »Und welcher Effekt würde dabei entstehen?« »Ein doppelter«, erwiderte Barnard. »Zunächst würde man den Verlust von Vegetation, eine Beschleunigung der Entwaldung und das Verschwinden von Nahrungsquellen, die für die jeweilige Spezies wichtig sind, feststellen. Außerdem würden Sie vom Einsatz des Entlaubungsmittels auch eine direkte toxische Einwirkung auf das Vogelleben feststellen. Ich vermute, daß das, was wir hier sehen, auf das Zusammenwirken beider Phänomene zurückzuführen ist.« Barnard legte die Kurvenblätter beiseite und stand auf. »Wie Sie sich vorstellen können, Mr. Lomax, ist der WWF eine unpolitische Organisation. Unser Ziel ist der Schutz der wildlebenden Tiere und Pflanzen. Aber eines sollten Sie wissen. Wenn ich oder sonst jemand hier Ihnen dabei helfen kann, die Agent-Orange-Geschichte hieb- und stichfest zu machen, dann werden wir das mit dem größten Vergnügen tun. Im Augenblick verfügen Sie lediglich über Indizienbeweise, und das wird nicht ausreichen.« Er streckte Lomax die Hand hin. »Sie können auf uns zählen. Wir tun alles, was in unseren Kräften steht.« Lomax schüttelte dem Mann dankbar die Hand. »Ich werde diesen Vormittag ganz bestimmt nie vergessen.« 308
Murray Lomax neigte nicht zu großen Worten, aber diesmal meinte er jedes Wort ernst. Als er zu Fuß zu seinem Hotel zurückging, dachte er, wie seltsam es doch war, daß die Geschichte sich so wiederholen sollte. Zuerst Vietnam, jetzt Zentralamerika. Aber eigentlich war es gar nicht so seltsam, überlegte er dann. Es lag im Wesen der Dinge, daß die Guerillas, die Banditen und die Rauschgifthändler, die vor dem Gesetz flohen, in den bewaldeten Bergregionen Zuflucht suchten, wo sie schwer zu finden waren. Entlaubung – ob nun in Asien oder Mittelamerika – war ganz sicherlich eine wirksame Waffe, um solche Elemente unschädlich zu machen. Die Vereinigten Staaten hatten es in Vietnam versucht; wenn man bedachte, was für krisenhafte Dimensionen der Rauschgifthandel angenommen hatte, überraschte es nicht, daß sie es in Ländern wie El Salvador und Kolumbien wieder versuchen würden, nur daß diesmal die Geheimhaltung vollkommen sein würde. Es sei denn … Am darauffolgenden Morgen verließ Lomax Washington und begab sich nach Delaware. Ihm war es ein Rätsel, weshalb so viele der großen amerikanischen Industrieunternehmen ihre Zentrale in jenem Staat hatten. Vermutlich hatte es mehr mit der günstigen Steuerregelung als besonderen Umweltvorteilen zu tun. Ponting Chemicals war einer der drei größten dort angesiedelten Konzerne. Lomax hatte die Firma in der Vergangenheit schon einmal besucht; das war zu der Zeit gewesen, als er für sein Buch über die pharmazeutische Industrie recherchiert hatte. Die mächtigen Bauten am Ufer des Delaware-Flusses waren ihm deshalb bereits vertraut. Auch die glattzüngige Heuchelei von 309
Ed Murphy, dem Chef der Public-Relations-Abteilung von Ponting, war ihm nicht neu. »Wir waren von Ihrer Arbeit damals nicht gerade begeistert, Murray«, hatte Murphy ihm gesagt. »Wir sind der Meinung, daß Sie einiges völlig falsch verstanden haben. Die Menschen brauchen Pharmazeutika. Sie wollen sie. Sie haben es so hingestellt, als würden wir ihnen diese Dinge förmlich aufzwingen. Aber wenn die zweite Ausgabe Ihres Buches gegenüber der ersten verbessert wird, dann unterstützen wir Sie natürlich gern. Dem Himmel ist ein reuiger Sünder lieber als die anderen neunundneunzig, was?« Murphy hatte unaufrichtig in den Telefonhörer gelächelt und sich dabei fest vorgenommen, daß jegliche Information, die der britische Journalist diesmal bekommen würde, gründlich vorgekaut und in kleiner Dosis verabreicht werden würde. »Selbst Journalisten können sich zu ihren Feinden bekennen.« Lomax war bemüht gewesen, besänftigend zu wirken, was ihm allem Anschein nach auch gelungen war. Die beiden Männer nahmen ein ausgedehntes Mittagessen im Direktionskasino ein, in dessen Verlauf Murphy sich bemühte, Lomax die Grundtatsachen der pharmazeutischen Industrie im allgemeinen und bei Ponting Chemicals im speziellen klarzumachen. Am Ende der Mahlzeit fragte Lomax, so beiläufig ihm das nur möglich war: »Erinnern Sie sich an einen gewissen Hans Kunig? Er hat in dem Deutsch-Chemie-Verfahren, von dem Sie vielleicht in letzter Zeit gelesen haben, als Zeuge der Europäischen Kommission ausgesagt. Ich glaube, er war einmal für Ponting tätig.« 310
Murphy zögerte einen winzigen Augenblick, ehe er antwortete: »Nein, an den Namen kann ich mich nicht erinnern. Wir haben hier schließlich allein in der Zentrale ein paar tausend Angestellte, ganz zu schweigen von den Ponting-Fabriken auf der ganzen Welt. Kunig? Klingt irgendwie deutsch.« »Seine Eltern waren Deutsche.« Murphy lachte. »Das überrascht mich nicht. Haben Sie je einen reinrassigen Amerikaner kennengelernt?« Lomax ließ es dabei bewenden. Sein Instinkt sagte ihm, daß Murphy log, aber er wollte den Mann nicht argwöhnisch machen, indem er nachbohrte. Gegen Abend suchte er die örtliche Bibliothek auf und ließ sich die Jahresberichte von Ponting Chemicals geben. Wie so viele amerikanische Firmen nutzte Ponting seine Jahresberichte dazu, über seine guten Beziehungen zur Öffentlichkeit und zwischen Geschäftsleitung und Mitarbeitern zu berichten und die Gewinne (niemals Verluste) des jeweiligen Jahres bekanntzugeben. Nach etwa einer Stunde fand Lomax, was er gesucht hatte. Es gab da einen Artikel von Ed Murphy, Direktor für Public Relations, unter dem Titel »Gewinner der Goldmedaille«. Der Artikel enthielt eine Fotografie von fünf leitenden Angestellten in dunklen Anzügen, denen Oscar Harman jr., der Vorstandsvorsitzende von Ponting Chemicals, eine Medaille überreichte. Einer der Medaillenempfänger, so stellte Lomax fest, hieß Hank King. Er studierte das Foto gründlich und versuchte, sich an die Beschreibung zu erinnern, die Morton ihm von seinem Gespräch mit Kunig geliefert hatte. Sie hatten 311
an jenem Tag bei ihrem gemeinsamen Mittagessen in der Villa Loraine über so viele Dinge gesprochen, daß er sich nicht mehr genau erinnerte, ob Morton sich ausführlicher über Kunigs Aussehen geäußert hatte; lediglich daß der Kommissar dunkles Haar und eine Brille erwähnt hatte. Nun, das paßte soweit. Jeder Medaillenempfänger wurde kurz vorgestellt. Hank King, so las Lomax, war seit dreizehn Jahren bei Ponting tätig gewesen. »Hank wurde in Surrey Falls, Iowa, geboren, hat die State University von Iowa absolviert und dann an der John Hopkins University den Doktortitel in Chemie erworben.« Lomax war so auf seine Lektüre konzentriert, daß er gar nicht bemerkte, wie die Bibliothek geschlossen wurde. »Wenn Sie morgen wiederkommen wollen, lege ich Ihnen die Bücher auf die Seite.« Der Bibliothekar war ein freundlicher Mann, der Pontings Jahresberichte seit Jahren in seine Regale gestapelt hatte. Es war schön zu sehen, daß sich endlich einmal jemand für sie interessierte. »Nein, ich bin fertig. Vielen Dank.« Lomax trat aus der klimatisierten Kühle des Gebäudes in die stickige Abendluft hinaus. Zwölf Stunden nachdem er das Bibliotheksgebäude verlassen hatte, befand Lomax sich in Surrey Falls, Iowa, einer Ortschaft mit einer Bevölkerung von 1031 Bewohnern (das verkündete eine Tafel am Ortsrand mit vermutlich unechter Präzision) etwa dreißig Meilen von Iowa City entfernt. Es war eine Ortschaft mit Mais und Schweinen, amischen Familien, die auf ihren Pferdekarren über die Straße rollten, als ob die Zeit die letzten zweihundert Jahre lang 312
stillgestanden hätte, und weißen, aus Brettern zusammengezimmerten Kirchen, die in der heißen Sommersonne schimmerten. So klein die Ortschaft auch war, war sie doch durchaus auf Touristen eingestellt. Aber Lomax als professioneller Journalist wußte, wie man mit dem Hintergrund verschmolz, wenn das erforderlich war. Er unterhielt sich freundlich mit den Ortsansässigen und blieb dabei so nahe wie möglich an der Wahrheit. Er war britischer Journalist und arbeitete an einer Story über Leute, die im Zweiten Weltkrieg aus Europa geflohen waren und sich in Amerika niedergelassen hatten. Hatten sich ihre Hoffnungen erfüllt? Wie viele von ihnen waren geblieben, wie viele nach Europa zurückgekehrt? Am späten Nachmittag, als die riesengroße rote Sonne sich bereits dem endlos flachen Horizont der Ebene entgegensenkte, fand Lomax in einem Winkel des Friedhofs am Rand der Ortschaft einen Grabstein, dessen Inschrift ihn sehr interessierte. Wie üblich waren auf dem Grabstein die Namen des dort begrabenen Ehepaars sowie ihre Geburtsund Todesdaten aufgezeichnet. Unter der Inschrift stand »Nach den Mühen des Lebens in Frieden«.
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iet Lummers, ein großer bärtiger Holländer, der gerade seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert hatte, hatte die letzten fünfzehn Jahre im Wasserüberwachungszentrum in dem kleinen holländischen Dorf Hagedorp am Rheinufer nahe der deutschen Grenze gearbeitet. Seine Tätigkeit war nicht sehr anspruchsvoll; schließlich war die Wasserüberwachung in hohem Maße automatisiert. In Hagedorp wurden in regelmäßigen Abständen zwanzig Parameter der Wasserqualität von Computern überwacht, angefangen bei der Temperatur des Wassers und seinem Eintrübungsgrad bis hin zum Vorhandensein toxischer Stoffe wie Arsen, Quecksilber und Cadmium. Außerdem wurden regelmäßig Proben entnommen, um »Drine« festzustellen, wie man eine ganze Kollektion von Pestiziden wie Aldrin, Dieldrin und Endrin im Fachjargon bezeichnete. Lummers war ein gewissenhafter Mann, der seine Arbeit sehr ernst nahm. Ihm war wohl bewußt, daß ein großer Teil des Trinkwassers Hollands unmittelbar oder mittelbar von der Zufuhr von Oberflächenwasser abhing, das den Rhein herunterkam, und daß es deshalb von höchster Wichtigkeit war, dessen Qualität strengen Proben zu unterziehen. Natürlich konnte man mit modernen Methoden der Wasserbehandlung eine ganze Menge bewirken. Man konnte beispielsweise einen großen Teil der in Suspension befindlichen Feststoffe entfernen; man konnte destillieren 314
und purifizieren. Aber es gab einige Dinge – er und seine Kollegen pflegten sie als »Ultraekel« zu bezeichnen –, denen mit keiner Behandlung beizukommen war. Unter solchen Umständen blieb einem nur die Wahl, die Einlaßventile zu schließen und abzuwarten, bis die Schadstoffe, welcher Art auch immer, flußabwärts vorbeigezogen waren, der Nordsee entgegen, wo sich dann die Fische mit ihnen auseinanderzusetzen hatten. Weil das Zentrum von Hagedorp der erste Punkt auf der holländischen Seite der Grenze war, wo das rheinabwärts von Deutschland kommende Wasser kontrolliert wurde, hatten die Behörden besondere Sorgfalt dafür aufgewandt, um das einwandfreie Funktionieren des Systems sicherzustellen. Computerwerte, die bestimmte festgelegte Konzentrationen von wichtigen Schadstoffen anzeigten, insbesondere von »Ultraekel«, lösten automatisch ein Alarmsystem aus. Dieses System warnte nicht nur die Männer wie Piet Lummers, die in der Meßzentrale tätig waren, es führte darüber hinaus auch zu einem Schließen der Wassereinlässe stromabwärts und verschaffte den Behörden damit Zeit, nähere Untersuchungen anzustellen und entsprechende Korrekturmaßnahmen einzuleiten. Selbstverständlich funktionierte das System auch an den Wochenenden, wenn das Zentrum nicht besetzt war. Lummers war im Laufe der letzten paar Jahre mehr als einmal am Montag morgen an seinem Platz erschienen und hatte festgestellt, daß während seiner Abwesenheit eine Verschmutzungs»episode« stattgefunden hatte und die Einlässe geschlossen worden waren, bis die Gefahr vorübergezogen war. Gelegentlich beunruhigte es ihn natürlich, daß soviel den Maschinen überlassen 315
war. Vergleichbar einem Piloten, der sich für die Lenkung eines Flugzeugs wenn schon nicht für unersetzlich, so doch mindestens für nützlich hält, vertrat Lummers gelegentlich gegenüber seinen Kollegen im Zentrum die Meinung, daß es vielleicht unklug war, die ganze Verantwortung für den Schutz des holländischen Trinkwassers an den langen Wochenenden irgendeinem Roboter zu überlassen, so fähig dieser Roboter auch sein mochte. In Lummers Augen kam der Interpretation der Meßdaten große Bedeutung zu, ganz gleich, wie gut der Roboter programmiert war. Es gab »Blips« auf den Bildschirmen und Linienbilder, die möglicherweise einem automatischen Scanner nichts bedeuteten, die aber einem geschulten Auge sehr wohl verraten konnten, daß der Fluß nicht so süß und friedlich dahinfloß, wie er das sollte. Seine Kollegen, die nicht die geringste Lust hatten, ihre Wochenenden an der Arbeitsstelle zu verbringen, neigten im großen und ganzen dazu, sich über Lummers Ängste lustig zu machen. Wenn das System bis jetzt funktioniert hatte, so meinten sie, dann gab es keinen Grund, weshalb es nicht auch in Zukunft funktionieren sollte. Am dritten Montag im August fuhr Lummers mit seinem Fahrrad zur Arbeit, wie er das seit fünfzehn Jahre tat. Er lehnte sein Rad an die Ziegelmauer des Wasserüberwachungszentrums, nahm seine Hosenspangen ab und verstaute sie in den Jackentaschen, schlüpfte im Vorraum des Zentrums in einen weißen Overall und ging dann in den Kontrollraum, um die Meßdaten des Wochenendes zu überprüfen. Soweit ihm bekannt war, hatte es während des Wochenendes keinen Alarm gegeben. Reiner Routinebetrieb also – und ent316
sprechende Daten erwartete er auch auf dem Ausdruck zu finden, den er routinemäßig jeden Montagmorgen als erstes inspizierte. So war es keine Überraschung für ihn, daß die Kurven und die Zahlenwerte auf den Ausdrucken bezüglich der normalen Parameter nichts Ungewöhnliches anzeigten. Die Linien flossen, ebenso wie der große Strom draußen vor der Tür, gleichmäßig und kräftig. Wie sehr sich seine Arbeit doch seit jenen frühen Tagen verändert hatte, als er seine Tätigkeit in Hagedorp aufgenommen hatte: Wo heute Stunde um Stunde Meßwerte aufgenommen und registriert wurden, hatte man damals – buchstäblich – einen Eimer an einem Seil ins Wasser lassen und ihn wieder herausziehen und sich seinen Inhalt ansehen müssen. Aber die Technik hatte sich weiterentwickelt und mit ihr auch der Alltag, sowohl im täglichen Leben als auch in seiner Arbeit. Piet Lummers legte den ersten Stapel Ausdrucke beiseite und wandte sich dem nächsten zu. Er hatte gerade angefangen, die Daten des vergangenen Samstags zu studieren, als er die deutlichen Spuren einer Verschmutzungs»episode« erkannte, die – wenn auch nicht schwerwiegend genug, um die Alarmsignale auszulösen – doch für das geübte Auge unübersehbar waren. Er zog die Blätter näher heran, um sich die Kurven genauer ansehen zu können. »Oh, oh, oh«, machte er. »Was haben wir denn da?« Er sah sofort, daß sich gegen 22 Uhr am vergangenen Samstag etwas höchst Ungewöhnliches ereignet hatte. Die Sensoren hatten eine hohe Konzentration von »Drinen« und dazu auch noch drei »Ultraekel« registriert. Lummers kritzelte eine Notiz auf seinen Block. Die Drine und die 317
Ultraekel beunruhigten ihn für den Augenblick gar nicht so sehr; schließlich hatten sie unter dem Gefahrenniveau gelegen. Viel mehr beunruhigte ihn, daß die Sensoren darüber hinaus auch noch große Mengen eines unbekannten Schadstoffs aufgezeichnet hatten, den sie mit den einprogrammierten Analysemethoden nicht identifizieren konnten. Auf den Datenblättern stand schlicht: »Probe entnommen und für anschließende Analyse verwahrt.« Wieder kritzelte Lummers etwas auf seinen Block und stieß dabei eine halblaute Verwünschung aus. Das war genau die Situation, die sie alle vermeiden wollten. Ein unbekannter Schadstoff, der am Wochenende stromabwärts kam, wenn niemand da war. Natürlich hatten die Sensoren getan, wofür sie gebaut waren; das System hatte keinen Fehler gemacht – es war schlicht und einfach unzureichend gewesen. Er warf einen letzten Blick auf das Datenblatt. Die Verschmutzungs»episode« mit der unbekannten Substanz hatte fünfundzwanzig Minuten gedauert. Mit anderen Worten, das verseuchte Wasser hatte fünfundzwanzig Minuten gebraucht, um an dem Meßpunkt vorbeizufließen. Er sah auf die Uhr. Es war jetzt 8 Uhr 35 am Montag morgen. Der Rhein floß mit einer Geschwindigkeit von rund zehn Stundenkilometern. Das bedeutete, daß das Problem, worin auch immer es bestand, inzwischen schon lange in der Nordsee eingetroffen war. In den letzten sechsunddreißig Stunden hatten Städte wie Arnheim, Rotterdam und Amsterdam von den Reservoiren, aus denen sie gespeist wurden, verunreinigtes Wasser aufgenommen. Er spürte, wie ihm der Schweiß auf der Stirn ausbrach, als er auf der Konsole vor sich die Knöpfe drückte, die 318
am Rhein entlang Alarm auslösen würden. Es gab drei Gefahrenstufen, die von WARNUNG über GEFAHR bis HÖCHSTE GEFAHR reichten. Er zögerte einen Augenblick lang – niemand ließ sich gern nachsagen, daß er blinden Alarm geschlagen hatte –, entschied sich dann aber, seinem Instinkt vertrauend, für die höchste Stufe. Binnen Sekunden schlossen sich die Ventile und Absperrhähne der Leitungen in den Reservoiren und Wasserreinigungsanlagen. Die Konstruktion des Systems, in das Milliarden von Gulden investiert worden waren, garantierte in solchen Notfällen ein perfektes Funktionieren und erwies sich auch jetzt der Aufgabe gewachsen. Lummers zog sein Taschentuch heraus und tupfte sich die Stirn. Wieviel Schaden war bereits angerichtet worden? Und wenn irgendeine gefährliche Chemikalie in die Wasserversorgung von halb Holland geraten war, war dann noch genug Zeit, um etwas dagegen zu unternehmen? Er griff nach dem Telefon, um seine Frau anzurufen. Als sie sich meldete, sagte er, bemüht, sich seine Sorge nicht anmerken zu lassen: »Kein Wasser trinken, ich wiederhole, unter keinen Umständen Wasser trinken. Und laß auch die Kinder keines trinken!« Er knallte den Hörer auf die Gabel und rannte in das Labor, das sie vor fünf Jahren neben dem Kontrollraum gebaut hatten. Die Technikerin war noch nicht da, also nahm Lummers sich die Testergebnisse selbst vor. Theoretisch stellte das Labor eine technisch höchst anspruchsvolle Unterstützung für die konventionelleren Messungen des Zentrums dar. Seine Programmierung sah beispielsweise die Analyse von Schadstoffen außerhalb des normalen Meßbereichs vor und erlaubte es, 319
Wasserproben detaillierter zu untersuchen, als das für die Routinemessungen des Zentrums möglich war. Natürlich erforderten diese komplizierten Methoden auch Zeit; manchmal waren dazu höchst komplizierte chemische Programme erforderlich, und selbst nach Abschluß der Tests waren die Ergebnisse nicht immer sofort verfügbar. Lummers wußte, die Wahrscheinlichkeit war äußerst gering, daß zur Zeit der Verunreinigungs»episode« entnommene Proben komplett analysiert worden waren. Aber es lohnte jedenfalls, nachzusehen. Nach zwei oder drei Versuchen gelang es ihm, die Daten auf den Bildschirm zu holen. »Probe 220«, las er. »Dies ist eine Vertikalprobe der Wassersäule im Rhein am HagedorpWasserprüfzentrum um 21.00 Uhr am 19. August. Letzte Probe ist um 20.00 Uhr entnommen worden, nächste Probe um 22.00 Uhr. Probe 220 befindet sich noch in Analyse. Ergebnisse erwartet: 8.45 Uhr.« Piet Lummers sah zum zweiten Mal auf die Uhr. Es war exakt 8.45 Uhr. Beinahe im gleichen Augenblick begann der Bildschirm vor ihm zu pulsieren, und in der rechten oberen Ecke erschien ein leuchtendroter Stern. DIE PROBE ENTHÄLT DIOXIN. AKUTES TOXIZITÄTSNIVEAU. SÄMTLICHE FÜR DEN NOTFALL FESTGESETZTEN VERFAHREN SOLLTEN EINGELEITET WERDEN. Lummers stellte fest, daß er am ganzen Körper zu zittern begonnen hatte, als ihm das schiere Ausmaß der Katastrophe bewußt wurde, die möglicherweise bevorstand. Wenn es einen Alptraum gab, den ein Ingenieur mehr als alles andere fürchtete, dann den, daß irgendein gefährli320
cher Schadstoff in das System geriet. Und wenn es sich bei diesem Schadstoff um Dioxin handelte, eine Substanz, die zehntausendmal gefährlicher als Zyanid war, dann kamen einem alle anderen Ängste im Vergleich dazu belanglos vor. Er wußte mit absoluter Sicherheit, daß es bisher noch nie einen solchen Unfall gegeben hatte. Warum es jetzt dazu gekommen war, war ihm ein Rätsel, und er hatte auch nicht vor, das zu ergründen. Soweit es Piet Lummers anging, war die einzig vernünftige Reaktion jetzt, Alarm zu schlagen – so schnell, so laut und so heftig es ging. Er stand auf, als die Technikerin das Labor betrat. Sie war ein hübsches Mädchen, im sechsten Monat schwanger und von positiver Lebenseinstellung (was einer der Gründe war, weshalb sie ein Baby erwartete). »Kennst du den Dorfpfarrer, Cathy?« fragte Lummers. Sie sah ihn mit überrascht aufgerissenen Augen an. »Pater Smeets? Natürlich kenne ich ihn. Er wird mein Baby taufen, wenn es da ist.« »Dann lauf schnell zu ihm«, drängte sie Lummers. »Sag ihm, er soll die Kirchenglocken läuten, so wie sie es im Krieg getan haben.« Als sie wie erstarrt stehenblieb und sich nicht von der Stelle rührte, gingen plötzlich die Nerven mit ihm durch. »Los, lauf schon, Cathy!« schrie er sie an. »Das Leben von Menschen hängt vielleicht davon ab!« Das ließ das Mädchen sich kein zweites Mal sagen. Sie machte unter der Tür kehrt und rannte, so schnell sie konnte, davon, ließ die Tür hinter sich offenstehen.
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Max van Tromp, der junge, athletisch gebaute holländische Umweltminister, wollte seinen Ohren nicht trauen. »Sie wollen allen Ernstes behaupten, Sie könnten nicht vorhersagen, was geschehen wird?« Der hochrangige Beamte, den der Minister zu einer dringenden Besprechung in sein Büro in Den Haag zitiert hatte, schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Fälle von oraler Aufnahme hat es bisher nie gegeben. In Seveso ging es um äußerliche Einwirkungen von Dioxin, und in Bhopal ebenfalls.« »Ich dachte, in Bhopal war es Methyl-Isozyanat«, fuhr ihm der Minister scharf ins Wort. Er war wie stets auf Details versessen. »Gut, dann eben Methyl-Isozyanat.« Der Beamte hatte Minister kommen und gehen sehen, junge, athletische ebenso wie alte, klapprige, und hatte nicht vor, sich einschüchtern zu lassen. »Worauf ich hinausmöchte, ist, daß es trotz allem, was man bisher in phantasievollen Thrillern gelesen hat, nie eine größere Gesundheitskatastrophe gegeben hat, die auf die Verseuchung der Wasserversorgung zurückzuführen ist. Vor ein paar Jahren war da zwar diese Katastrophe in Spanien, aber die Ursache war gepanschtes Öl und nicht verseuchtes Wasser.« Das Telefon auf dem Schreibtisch des Ministers klingelte. »Ihr Konferenzgespräch«, meldete eine Stimme, als Max van Tromp den Hörer abnahm. Die nächsten zehn Minuten führte der holländische Umweltminister eine angespannte Diskussion mit vier führenden Dioxinexperten. Vom technischen Standpunkt aus war die über drei Kontinente geführte Besprechung, an der der 322
Direktor des Seuchenkontrollzentrums in Atlanta, Georgia, sowie Wissenschaftler in England, der Schweiz und Japan teilnahmen, ein Triumph. Die Tonqualität war ausgezeichnet, und die fünf Teilnehmer schafften es auch, nicht alle gleichzeitig zu reden. Vom inhaltlichen Standpunkt aus betrachtet freilich ergab das Gespräch wenig oder gar nichts. Am Ende war der Minister am Verzweifeln. »Was Sie mir sagen, meine Herren, ist, daß Sie es einfach nicht wissen. Dioxin kann, wenn es verschluckt wird, die lebenswichtigen Organe angreifen, zuallererst Leber und Milz; kann Tumore und Verwachsungen, auch solche an schwangeren Frauen, entstehen lassen; andererseits muß das aber nicht sein; feststellen kann man das erst, wenn es soweit ist. Es gibt keine Gegenmittel. Kurz gesagt: Wir haben entweder eine größere Katastrophe, oder wir haben keine. Wir müssen einfach abwarten und sehen, was geschieht.« Als der Minister den Hörer auflegte, war er bleich und sichtlich erschüttert. Der hohe Beamte konnte sein Mitgefühl nicht unterdrücken. Er hatte einen Blick für gescheiterte Karrieren. »Tut mir leid, Herr Minister.« »Ich brauche Ihnen nicht leid zu tun, Jan. Leid tun müssen Ihnen all die Leute dort draußen, die jetzt monatelang in Angst und Unsicherheit leben müssen.« Er griff nach einem Stift. »Wir sollten uns jetzt gleich mit dem Entwurf einer Rücktrittserklärung befassen. Wenn ein Umweltminister die Wasserversorgung seines Landes nicht sicherstellen kann, taugt er nicht viel, oder?« Max van Tromp kritzelte ein paar Minuten und reichte dem Beamten dann das Papier. »Würden Sie das bitte für 323
mich abtippen lassen, Jan – und dann werde ich es unterschreiben.« Der Minister stand auf und ging mit steifen Schritten hinaus.
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n ihrem vierten Morgen, den sie auf der Insel verbrachten, ging Morton an den Strand hinunter und sah zu, wie die wenigen übriggebliebenen Fischerboote in den winzigen Hafen einliefen. Zu seiner Überraschung erblickte er auf einem der Boote die vertraute Gestalt von Murray Lomax. »Du liebe Güte! Was machen Sie denn hier? Ich hoffe doch nicht, daß Sie mich suchen?« Zum ersten Mal, seit Morton den Journalisten kannte, klang er ein wenig verstimmt. Lomax ließ sich nicht einschüchtern. »Ich bin Ihnen nicht durch halb Europa nachgereist, Commissioner, um mir jetzt die kalte Schulter zeigen zu lassen. Entschuldigen Sie, wenn ich Sie im Urlaub störe, aber wenn ich Ihnen die Gründe dafür sage, werden Sie mich, glaube ich, verstehen.« Während die Fischer ihren Fang am Kai ausluden, erklärte Lomax: »Am letzten Wochenende ist eine größere Menge Dioxin in den Rhein geraten. Möglicherweise ist die Wasserversorgung in Arnheim und Rotterdam und einigen anderen holländischen Städten verseucht worden. Wie Sie sich vorstellen können, sucht man nach dem Ursprung des Dioxins. Die Holländer glauben, daß es flußabwärts aus Deutschland gekommen ist. Die Deutschen behaupten, sie hätten Nachforschungen angestellt und könnten keine Hinweise auf einen Unfall finden. Die deutschen Behörden 325
deuten an, daß das holländische Überwachungssystem falsch angezeigt hat – anscheinend wurde der Vorfall nur von einer Station gemeldet. Unterdessen hat sich zwischen den Wissenschaftlern in der Industrie und den Gesundheitsbehörden ein heftiger Gelehrtenstreit entwikkelt, weil sie sich nicht darüber einigen können, was für Folgen orale Aufnahme von Dioxin haben könnte; das ist nämlich das erstemal, daß so etwas je vorgekommen ist. Und die Politiker stehen natürlich dazwischen. Der holländische Umweltminister ist bereits zurückgetreten.« »Ich werde selbstverständlich sofort nach Brüssel zurückkehren.« Morton wandte sich vom Hafengelände ab und ging mit langen Schritten auf das Haus zu, in dem er und Isobel wohnten. Als Lomax ihm nacheilte, wurde ihm bewußt, daß er das, was er für Morton tat, nur für wenige andere Menschen getan hätte. Am Anfang waren seine Beweggründe vorwiegend beruflicher Natur gewesen, aber jetzt ging es um wesentlich mehr. Er empfand Loyalität für Morton, eine Bewunderung für die Standfestigkeit dieses Mannes, der anscheinend nie aufgab, und darüber hinaus glaubte er – obwohl Journalisten eigentlich nicht für solche Überlegungen bezahlt wurden –, daß Morton recht hatte. »Ich wette tausend zu eins«, sagte er, als er ihn eingeholt hatte, »daß es nicht nur eine Frage der juristischen Haftung ist, daß niemand zugibt, Dioxin in den Rhein geleitet zu haben; das hat auch damit zu tun, daß ein Schuldeingeständnis Aufschluß über den dahinterstehenden Produktionsprozeß geben würde.« Sie waren jetzt oben auf der Klippe angelangt und blieben stehen. Unter ihnen 326
kreisten die Möwen um die Fischerboote und warteten auf ihren Tribut. Jenseits des Wassers, vierzig Minuten entfernt, winkte ein Kontinent. »Können wir es Deutsch-Chemie anhängen?« fragte Morton. Das könnte der Durchbruch sein, den er suchte. »Ich meine, es ihnen wirklich nachweisen.« Lomax lächelte. »Journalisten haben es gern, wenn sie exklusiv berichten können. Aber diesmal habe ich es für besser gehalten, die Nachricht zu verbreiten. Im Augenblick« – er sah auf die Uhr – »würde ich sagen, daß etwa fünfzig Journalisten und Journalistinnen unterschiedlicher Nationalität an den Hinweisen arbeiten, die ich ihnen gegeben habe. Dazu hat es genügt, den Presseagenturen einen Tip zu geben. Anschließend läuft das einigermaßen automatisch. Ich vermute, daß in diesem Augenblick wenigstens dreißig Journalisten und ein halbes Dutzend Fernsehcrews in der Zentrale von Deutsch-Chemie in Köln herumschnüffeln. Wenn es einen Zwischenfall gegeben hat, der jetzt vertuscht wird, werden die das finden. Und anschließend, darauf können Sie sich verlassen, wird die Hölle losbrechen.« Er hielt inne und fragte dann, immer noch lächelnd: »Ob Sie mich wohl mitnehmen könnten, Commissioner?« Morton begriff nicht gleich, was er meinte, und deshalb erklärte Lomax: »Ich habe veranlaßt, daß hier in zwanzig Minuten ein Hubschrauber der Küstenwache landet. Er wird Sie zu einem französischen Militärstützpunkt außerhalb von Quiberon bringen. Dort erwartet Sie eine Mystère, die Sie nach Brüssel bringen wird.« Um fünf Uhr nachmittags war Morton wieder in seinem Büro. Um den Fernseher in der Ecke hatte sich eine kleine 327
Menschentraube gebildet. Laurent Guimard und einige andere Beamte, die an dem Verfahren gegen Deutsch-Chemie beteiligt waren, erwarteten ihn bereits. Man konnte die Erregung im Raum gleichsam mit Händen greifen. »Auf dem französischen Kanal kommt in einer Minute das Journal Télévisé«, sagte Guimard und machte Morton neben sich auf dem Sofa Platz. »Aber ich vermute, die holländischen und deutschen Sender werden die Story ebenfalls bringen.« Sie sahen sich den holländischen Kanal an. Irgendwie hatte die führende Fernsehnation der Niederlande es geschafft, ein Reporterteam in die Fabrik zu schleusen und durch sorgfältig ausgewählte Interviews mit Angestellten von Deutsch-Chemie (von denen einige unmittelbar involviert gewesen waren) den Vorfall zu rekonstruieren. Wie es schien, war eine chemische Reaktion schiefgegangen. Die Substanzen hatten sich überhitzt, waren aber im Gegensatz zu Bhopal nicht in die Atmosphäre entwichen, sondern das Gas hatte sich in dem Kühlsystem verflüssigt. Der Vorfall hatte sich ereignet, als eines der Eindämmungsgefäße platzte, was dazu führte, daß verseuchtes Wasser in den Rhein strömte. Einige Arbeiter in der Fabrik waren mit der Flüssigkeit in Verbindung gekommen (die Werksleitung hatte sich bemüht, das zu vertuschen, ebenso wie sie auch keinerlei Informationen über den eigentlichen Vorfall bekanntgegeben hatte). Die Prognose lautete, daß dem Dioxin ausgesetzte Personen davon krank werden würden, aber anscheinend wußte niemand, in welchem Maße. »Was wir mit Sicherheit sagen können«, erklärte der holländische Kommentator, »ist, daß es sich hier um einen 328
Unfall handelt, wie er nie hätte passieren dürfen. Hier gibt es heute abend Andeutungen, daß Deutsch-Chemie mit der Herstellung illegaler Chemikalien, und zwar im speziellen einiger neuer, höchst potenter toxischer Derivate des berüchtigten Agent Orange, befaßt war. Wenn sich diese Andeutungen bestätigen, verleihen sie einem ohnehin schon makabren Vorfall eine noch schrecklichere Dimension.« Guimard sagte zu Morton: »Das könnte unsere Chance sein, Commissioner.« Morton lehnte sich auf dem Sofa zurück und schloß die Augen, um die Bilder, die er auf dem Bildschirm gesehen hatte, zu verdrängen. »Wollen wir wirklich auf diese Weise gewinnen?« fragte er. Er stand auf und ging, von Wut und Empörung getrieben, aus dem Raum. Als er abends nach Hause kam, fand er Isobel vor dem Fernseher. »Die interviewen jetzt Leute in Arnheim und versuchen herauszubekommen, wie viele mit dem Zeug in Berührung gekommen sind«, sagte sie. Morton setzte sich neben sie und hörte einem bärtigen Holländer zu, der allem Anschein nach in irgendeiner Meßstation an der holländischen Grenze tätig war und schilderte, wie sein Verdacht entstanden war. »Es besteht immer die Gefahr, daß so etwas an einem Wochenende geschieht«, sagte der Mann auf dem Bildschirm. »Diesmal haben wir Pech gehabt. Wer auch immer am letzten Wochenende hier in Arnheim Wasser getrunken hat, ist ein Risiko eingegangen, das ihm unmöglich bewußt gewesen sein kann.« 329
»Du lieber Himmel. Ich war letzten Samstag selbst in Arnheim«, rief Isobel aus. »Unmittelbar bevor wir in die Bretagne gefahren sind. Das scheint mir jetzt so lange her, daß ich es beinahe vergessen hätte.« Morton war sofort besorgt. »Ich hoffe, du hast kein Wasser getrunken.« »Keine Sorge, ich trinke immer nur Perrier.« Doch dann fiel es ihr ein, und sie wurde blaß. »Jimmy, ich hatte ein Glas Wasser vor mir stehen, als ich diese Rede gehalten habe. Das war kein Perrier. Das war gewöhnliches Wasser. Leitungswasser. Es hat irgendwie komisch geschmeckt.« »O Gott!« stöhnte Morton. Was hatten die Fachleute gesagt? Wenn es Konsequenzen gab, dann aller Wahrscheinlichkeit nach bei schwangeren Frauen. Die zehnfache Wirkung von Contergan, hatte einer der Wissenschaftler gesagt. Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich werde nicht abtreiben lassen, James.« Isobel hatte nie entschlossener und unbeugsamer geklungen. »Das ist unser Kind, das einzige, das wir in sechs Jahren Ehe zustande gebracht haben. Und es wird so zur Welt kommen, wie die Natur es vorgesehen hat.« Zehn Tage später fuhren Morton und Isobel nach Luxemburg, um dort den Spruch des Europäischen Gerichtshofs in dem Verfahren der Europäischen Gemeinschaften gegen Deutsch-Chemie zu hören. Obwohl Isobel wegen der Unsicherheit ihrer eigenen Situation deprimiert und ängstlich war (anscheinend gab es ebenso viele Meinungen, wie es ärztliche Experten gab), hatte sie darauf bestanden, ihn zu begleiten. 330
»Falls du dort eine Niederlage erleiden solltest, James, möchte ich bei dir sein. Und anschließend werde ich vor der Presse eine Erklärung abgeben und sagen, daß du recht gehabt hast, auch wenn das Gericht gegen dich entschieden hat.« Sie nahmen ihre Plätze im Gerichtssaal ein, während die Richter im ganzen Glanz ihrer Roben aufzogen. Abgesehen von dem italienischen Vorsitzenden, Ernesto Pantaloni, der ziemlich erregt wirkte, machten die anderen Richter einen gelassenen, beinahe gelangweilten Eindruck. Es war beinahe so, als sei eine Art reziproke Beziehung am Werk: Je interessanter und wichtiger der Spruch war, den sie zu fällen hatten, um so weniger Erregung oder Anteilnahme durfte an den Tag gelegt werden. Als der hochgelehrte Professor Cornelius van Rijn, Präsident des Europäischen Gerichtshofs, anfing, die nicht weniger als zehn oder zwölf Seiten umfassende Präambel zu verlesen, stellte selbst Morton fest, daß seine Aufmerksamkeit nachließ. »Komm doch zur Sache«, murmelte er innerlich. Die Spannung im Gerichtssaal begann zu steigen. Die Presseleute auf der Galerie warteten mit dem Stift in der Hand; es schien einfach unbillig, daß eine Angelegenheit, die man so summarisch hätte erledigen können, jetzt von einer Unmenge juristischem Hokuspokus verzögert werden sollte. Er fing den Blick von Murray Lomax auf der Tribüne auf und nickte ihm zu. Am Ende, als die Zuhörer im Saal bereits sichtbar ungeduldig wurden, kam der Präsident des Gerichts zu dem entscheidenden Abschnitt: »Wir sind deshalb zu dem Schluß gelangt«, tönte er, »daß die von der Kommission 331
erhobenen Vorwürfe wohlbegründet sind und daß DeutschChemie im Sinne der Anklageschrift schuldig ist. Es ist die Entscheidung dieses Gerichtshofs, daß Deutsch-Chemie innerhalb von dreißig Tagen einen Betrag von einer Milliarde Deutsche Mark als Bußgeld und Wiedergutmachung zu zahlen hat und künftiges korrektes Verhalten garantieren muß.« Der Holländer blickte von seinen Notizen auf. »Abschließend möchte dieses Gericht der Europäischen Kommission und ganz speziell …« »Du hast gewonnen!« zischte Isobel, die neben Morton saß, erregt. »Schsch!« Morton legte ihr die Hand auf den Arm, um sie zum Schweigen zu bringen. Cornelius van Rijn schien die kurze Störung nicht bemerkt zu haben. »… ganz speziell dem Kommissar für Industrie, Mr. James Morton, gratulieren. Es ist anzunehmen, daß ohne seinen Mut, seine Hingabe und seine feste Überzeugung dieses Verfahren nicht zustande gekommen wäre. Europa wäre ärmer gewesen.« Van Rijn schob seine Papiere zusammen und erhob sich, um damit anzudeuten, daß die Sitzung beendet war. Der Blick, den er Morton zuwarf, enthielt mehr als nur die Andeutung eines Lächelns. Gewonnen! dachte Morton. Hauptgewinn! Er hatte sie alle auf die Hörner genommen und gewonnen, und sie hatten ihn zu allem Überfluß sogar noch mit Blumen überhäuft. Später am Vormittag, bevor er die Rückreise nach Brüssel antrat, ging er quer über die Straße zu dem großen Gebäude, das die Regierung von Luxemburg für 332
das Europäische Parlament errichtet hatte. Obwohl das Parlament immer noch die meiste Zeit in Straßburg tagte, hatte es Luxemburg geschafft, wenigstens ein oder zwei Plenarsitzungen pro Jahr an sich zu ziehen, und hegte die Hoffnung, daß es im Laufe der Zeit mehr werden würden. Praktisch zum gleichen Zeitpunkt, an dem der Europäische Gerichtshof seinen Spruch fällte – er befand sich tatsächlich sogar noch im Gerichtssaal und nahm die Glückwünsche von Kollegen und Beamten entgegen –, hatte man Morton die Mitteilung überbracht, daß eine Delegation von Angehörigen des Europaparlaments dringend ein Gespräch mit ihm führen wollte – jedenfalls bevor er nach Brüssel zurückkehrte. Während Isobel im Holiday Inn auf ihn wartete, erfuhr Morton – sozusagen aus berufenem Munde –, daß die Parlamentarier sich mit der Absicht trugen, sofort einen Mißtrauensantrag gegen den Kommissionspräsidenten wegen mangelhafter Führung der Kommissionsgeschäfte einzubringen – ein Antrag, der, soweit Morton das erkennen konnte, auf der Kenntnis des Parlaments von Kramers Rolle im Deutsch-Chemie-Verfahren basierte. Da die Europaparlamentarier ein breites Spektrum an Nationalitäten und politischen Richtungen vertraten, war Morton klar, daß man dieses Vorhaben nicht einfach lokker abtun konnte, obwohl vom streng verfassungsrechtlichen Standpunkt aus gesehen das Parlament auch nach den letzten Ergänzungen des Vertrages nicht das Recht hatte, Mißtrauensanträge gegen einzelne Kommissionsmitglieder einzubringen. 333
»Warum sagen Sie mir das?« fragte er mit leiser Stimme, obwohl niemand da war, der hätte mithören können. Trotzdem verspürte er keine Lust, sich in irgendwelche Verschwörungen einzulassen. »Wir wollten, daß Sie rechtzeitig informiert sind.« Morton erkannte die Sprecherin – es war eine junge deutsche Radikale, eine Frau, die vor einigen Jahren die Grünen einen entscheidenden Schritt aus der Bedeutungslosigkeit zur Teilhabe an der Macht geführt hatte. »Also, vielen Dank«, hatte Morton recht kurz angebunden gesagt, was auch durchaus seiner Absicht entsprach, und sich dann zu Isobel begeben. Ein Anflug von Verwirrung mischte sich in das Triumphgefühl, das ihn erfüllte. Standen etwa weitere Schlachten bevor? Auf der langen Fahrt zurück quer durch die Ardennen nach Brüssel redeten sie kaum miteinander. Beide waren tief in ihre eigenen Gedanken versunken. In der Nähe von Namur fragte Isobel schließlich: »Warum hat das Gericht eigentlich seine Meinung geändert?« »Das hat es nicht. Es hat einfach beschlossen, sich der Meinung des Vorsitzenden nicht anzuschließen.« Davon wollte Isobel nichts hören. »Du weißt genau, was ich meine«, beharrte sie. »Wenn dieser Zwischenfall im Rhein nicht gewesen wäre, die Gefahr, daß eine von Deutsch-Chemie verursachte Dioxinvergiftung Tausende, ja vielleicht Zehntausende von Menschen in Gefahr bringt, dann hätte sich Pantalonis Ansicht durchgesetzt. Es ist doch wirklich geradezu grotesk, daß du vielleicht deshalb gewonnen hast, weil ich möglicherweise ein deformiertes Kind zur Welt bringen werde.« 334
Er sah zu ihr hinüber. Sie wirkte weder wütend noch hysterisch. Soweit er das beurteilen konnte, war ihre Stimmung eher bedrückt und nachdenklich. Er beugte sich nach vorn, um das Gespräch im Keim zu ersticken. Die Euphorie des Vormittags war verflogen. Sein Triumph, wenn es überhaupt ein Triumph war, war bittersüß und trug die Saat der Verzweiflung in sich. »Schalten Sie die Nachrichten ein, Gerry.« Gerry McLoughlin hörte nicht zu. Seine Gedanken weilten gerade bei dem weißgetünchten Haus hoch oben auf den Klippen von Connemara, von dem er wußte, daß es eines Tages ihm gehören würde. Während er den schweren Wagen über die Straßen Belgiens lenkte, konnte er fast hören, wie sich unten die mächtigen Wellen des Atlantiks an den Felsen brachen. Noch ein paar Jahre, und er würde mit einer fetten EU-Pension dorthin zurückkehren können. »Die Nachrichten, Gerry.« »Selbstverständlich, Sir.« McLoughlin zwang sich in die Gegenwart zurück und stellte BBC ein, weil er wußte, daß Morton die Nachmittagsnachrichten dieses Senders besonders schätzte. Der Sprecher begann mit dem Bericht über die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg. Morton freute sich, daß die politische Führung aller Parteien seines Landes (auch seine eigene) die Rolle der Kommission würdigte und auch die freundlichen Worte des Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs über den Industriekommissar lobend erwähnte. Unter den gegenwärtigen Umständen freilich, mit der bedrückt blickenden Isobel neben sich, war das nur ein schwacher Trost. 335
Als sie sich Brüssel näherten, wurde der Verkehr dichter. Isobel hatte die Augen geschlossen und war allem Anschein nach eingeschlafen. Aber als sie plötzlich seinen Arm packte, wurde ihm bewußt, daß sie in Wirklichkeit der Nachrichtensendung zuhörte: »Hör dir das an, James.« Morton hörte den Sprecher sagen: »Die chemische Industrie Europas stand natürlich in den letzten Wochen insbesondere wegen des Dioxinzwischenfalls unter starkem Beschuß. Die gute Nachricht heute ist, daß eine soeben in den betroffenen Bereichen Hollands abgeschlossene Untersuchung darauf hindeutet, daß die Zahl abnormaler Geburten nicht zugenommen hat. Weiterhin zeigen Untersuchungen an einer großen Zahl schwangerer Frauen – die möglicherweise dem verseuchten Wasser ausgesetzt waren – keinerlei Anzeichen auf irgendwelche fötalen Unregelmäßigkeiten. Aus wissenschaftlichen Kreisen verlautet heute, daß möglicherweise Dioxin sogar zu jener sehr kleinen Gruppe toxischer Verbindungen gehören könnte, die in niedriger Konzentration ohne Gefährdung oral eingenommen werden können, während jede andere Berührung damit – also auf der Haut oder in den Lungen – zu dauernder Beeinträchtigung oder sogar zum Tode führen kann.« Isobel packte seine Hand. »Alles wird gut, Jimmy. Ich weiß es. Ich werde da hingehen und selbst einen Test machen. Aber ich weiß jetzt, daß alles gut ist.« Zwei Tage später ließ Isobel eine Fruchtwasserpunktion durchführen, die eine völlig normale Fötalentwicklung aufzeigte. Als der Arzt sie fragte, ob sie auch wissen wolle, 336
welches Geschlecht ihr Kind habe, antwortete Isobel darauf in ihrer typisch burschikosen Art: »Ach was, nein, solange es nur ein Baby ist!«
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m Ende räumte Dr. Horst Kramer, zehnter Präsident der Europäischen Kommission, seinen Platz in aller Stille. Er gab seinen Rücktritt bei der Kommissionssitzung bekannt, die auf das überwältigende Mißtrauensvotum im Europäischen Parlament folgte. Als Morton seine kurze Abschiedsrede hörte, ging ihm durch den Sinn, daß nichts so sehr Kramers Amtsführung entsprach wie die Art und Weise seines Abgangs. Er würde wohl nie freundschaftliche Gefühle für den Mann empfinden, aber er konnte zumindest erkennen, daß Kramer bei diesem Anlaß eine gewisse sperrige Würde an den Tag legte. »Ich werde mich nicht zu der sogenannten DeutschChemie-Affäre äußern«, erklärte Kramer, »ich will nur sagen, daß ich davon überzeugt bin und das auch weiterhin sein werde, daß ich korrekt und richtig gehandelt habe. Ebensowenig werde ich mich zu der Resolution des Europäischen Parlaments äußern, sondern nur sagen, daß diejenigen, die sich jetzt gegen mich wenden, sich über kurz oder lang, wenn Sie ihnen das durchgehen lassen, gegen jeden einzelnen von Ihnen wenden werden. Daß die Resolution ultra vires ist, welche politische Bedeutung ihr auch immer beigemessen werden mag, ist eindeutig. Ich entbiete Ihnen meine besten Wünsche für die Zukunft.« Mit diesen Worten verließ Kramer den Saal und hinterließ ein Kollegium von Kommissaren, die wie gebannt 338
auf die polierte Eichenplatte des Konferenztischs vor sich starrten, als wollten sie eine Schweigeminute für einen hingeschiedenen Freund abhalten. Aus dem Augenwinkel bemerkte Morton, daß Leopold Brugmann sich in aller Stille nach dem Präsidenten aus dem Saal geschlichen hatte. Hut ab vor dem Mann, dachte Morton. Was auch immer Brugmann selbst von Kramer halten mochte, er würde immer sicherstellen, daß die Würde des Amtes angemessen respektiert wurde. Ex-Präsidenten der Kommission waren eine ehrenwerte Schar, unter denen sich gute und große Männer befanden, in Vergangenheit und Gegenwart. Wenn man einen abwertete, wertete man alle ab. Aber mit der gleichen Loyalität, die Brugmann jetzt an den Tag legte, würde er auch Kramers Nachfolger dienen. Das wußte Morton. Dimitrios Kafiris Stimme riß ihn aus seinen Gedanken. »Ich glaube, ich bin hier der doyen d’age. Unter diesen Umständen schlage ich vor, daß ich – wie es üblich ist – den Vorsitz übernehme.« Als Kafiri sah, daß niemand Einwände gegen seinen Vorschlag erhob, fuhr er fort: »Wir befinden uns heute ganz offensichtlich in einer noch nie dagewesenen Lage, für die es keine Regeln oder Richtlinien gibt. Ich persönlich bin der Ansicht, daß wir uns sofort und ohne weiteres Aufhebens an die Wahl eines neuen Präsidenten machen sollten. Ja, mehr noch, um alle Spekulationen zu vermeiden und jeglichem Druck von außen, welcher Art auch immer, aus dem Wege zu gehen, schlage ich vor, daß wir das hier und jetzt tun. Darüber hinaus bin ich der Ansicht, daß es wichtig, ja sogar entscheidend ist, daß der Mann oder die Frau unserer Wahl sich der Unterstützung 339
der größtmöglichen Zahl von Kollegen sicher sein kann. Ich schlage deshalb vor, daß als Voraussetzung für die Wahl nicht eine einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich sein soll, sondern im Gegenteil, daß der nächste Präsident der Kommission die Stimmen von wenigstens drei Vierteln seiner Kollegen auf sich vereinigen sollte, wobei Stimmenthaltungen als Stimme zählen sollen. Die Abstimmung wird geheim stattfinden; es wird keine bunten Wahlpapiere geben, wie es leider bei anderen Gelegenheiten der Fall war.« Er gestattete sich ein melancholisches Lächeln und spielte damit auf die letzte Präsidentenwahl im griechischen Parlament an. »Der erste Wahlgang«, fuhr Kafiri fort, »wird unmittelbar nach Abschluß meiner Ausführungen stattfinden. Weitere Wahlgänge werden in Abständen von einer halben Stunde erfolgen.« Er blickte in die Runde, ein alter Mann, der endlich im Begriff war, das zu erlangen, was ihm zustand. So mancher alte Mann, der als Übergangskandidat gewählt worden war, dachte Morton – Adenauer oder Deng –, hatte anschließend die oberste Macht lange ausgeübt. Er bezweifelte, ob dies auch auf Kafiri zutreffen würde. Aber es amüsierte ihn jedenfalls, daß der alte Knabe sich mit solcher Vehemenz dem Kampf stellte. Kafiri sah sich um. »Irgendwelche Fragen?« Pierre Duchesne, stets hellwach und auf der Hut, wollte das Naheliegende wissen: »Wer sind denn die Kandidaten bei dieser Wahl, Herr Vorsitzender? Wenn es keine Kandidaten gibt, wie kann es da eine Wahl geben? Sollten wir nicht Zeit haben, unsere Regierungen zu konsultieren?« 340
»Ich sehe nicht, was die Regierungen damit zu tun haben«, wies Kafiri ihn scharf zurecht. »Selbstverständlich muß Dr. Kramer durch ein anderes deutsches Mitglied ersetzt werden, und die Regierungen, zumindest die deutsche Regierung, werden da ohne Zweifel eingeschaltet sein. Aber einen anderen Grund, die Ministerien und Regierungskanzleien Europas zu stören, sehe ich nicht. Schließlich steht die Kommission ja nicht am Anfang ihres Mandats.« Alle, auch Pierre Duchesne, waren sichtlich von Kafiris entschlossenen Worten beeindruckt. Alle Achtung, dachte Morton und sah amüsiert, wie das spöttische Lächeln vom Gesicht des cleveren jungen Franzosen verschwand. Kafiri sprach immer noch. »Lassen Sie mich Ihnen noch eines versichern«, sagte er mit einem Lächeln. »Ich habe nicht die Absicht, mich selbst zur Wahl zu stellen. Dazu bin ich zu alt. Aber vielleicht darf ich um andere Nominierungen bitten.« Helena Noguentes dachte an den großen goldenen Adler, der hoch über den Bergen der Sierra gekreist war. Vielleicht hätte sie Morton doch festhalten sollen, solange dazu noch Gelegenheit gewesen war. Vielleicht hätte sie standhalten und mit Isobel um ihn kämpfen sollen. Vielleicht hätte sie auch schwanger werden sollen! Der arme alte James, wie er wohl damit fertig geworden war? Sie sah ihn über den Tisch hinweg an. Also war der Mann eilig zu seiner Frau zurückgekehrt. Durfte sie ihm das wirklich übelnehmen? Aber im übrigen stand für sie eindeutig fest, daß sonst keiner für den Posten geeignet war. »Ich schlage James Morton vor.« Morton schüttelte ungläubig den Kopf, nicht so sehr bei dem Gedanken, er könne Präsident der Europäischen 341
Kommission werden (in der Beziehung zweifelte er nicht an seinen Fähigkeiten), sondern über Helenas Großzügigkeit, ihn vorzuschlagen. Während er ihr mit einem Lächeln dankte, fragte Kafiri: »Unterstützt jemand diesen Vorschlag?« »Allerdings.« Paddy McGrath, jetzt ein verläßlicher Verbündeter, wollte den anderen zuvorkommen. Aber wenigstens drei weitere Kommissare hoben die Hand. Kurzer Applaus kam auf. Kommissionssitzungen konnten manchmal schwülstige, langgezogene Angelegenheiten sein. Aber diese zumindest würde in den Annalen Europas als eine Sternstunde verzeichnet werden. »Ich sehe, daß das der Fall ist«, stellte Kafiri fest und fuhr dann fort: »Falls das nicht ungehörig ist, würde ich gern sehen, daß auch mein Name im Protokoll unter denen verzeichnet wird, die Mr. Mortons Kandidatur unterstützen.« Er hielt inne und sah sich diesmal sichtlich mit gedämpftem Enthusiasmus unter den versammelten Kommissaren um. »Irgendwelche anderen Nominierungen?« Als das Schweigen im Saal sich in die Länge zog, wurde immer deutlicher, daß es keine weiteren Nominierungen geben würde. Kafiri schlug mit dem Hammer des Vorsitzenden auf den Tisch. »Da keine anderen Nominierungen vorliegen, schreiten wir jetzt zur Abstimmung. Falls Mr. Morton im ersten Wahlgang die notwendige Dreiviertelmehrheit nicht erreicht, werde ich um neue Nominierungen bitten, und wir werden die Abstimmung dann fortsetzen.« Er wandte sich zum Generalsekretär der Kommission, der mittlerweile seinen Platz wieder eingenommen hatte. »Mr. Brugmann, können wir beginnen?« 342
James Morton erwartete schon, daß Brugmann »Aye-aye, Sir« oder etwas in diesem Sinne sagte, als Pierre Duchesne die Hand hob und um das Wort bat. »Herr Vorsitzender, gestatten Sie, daß ich einen Vorschlag mache?« »Bitte, Monsieur Duchesne.« Der Franzose wußte, daß es für ihn, was auch immer heute geschah, eines Tages auch eine Chance geben würde. Das konnte er ebenso klar erkennen wie die Tatsache, daß die Flut heute in Mortons Richtung strömte. Er hatte keine Lust, seine eigene Position bei späteren Anlässen dadurch zu schwächen, daß er heute das Falsche tat. »Ich bin nicht ganz sicher, unter welchen Regeln wir heute handeln, und meine deshalb, daß wir für zukünftige Situationen dieser Art sicherstellen sollten, daß wir darauf besser vorbereitet sind. Aber was den Augenblick angeht – dürfte ich da vorschlagen, daß wir vielleicht auf die förmliche Abstimmung verzichten? Könnten wir nicht Mr. Morton durch Akklamation wählen?« Den Anwesenden war nicht ganz klar, ob Duchesnes Vorschlag lediglich eine Entscheidung für das weitere Vorgehen herbeiführen sollte oder ob er ein eigenständiger Antrag war. Jedenfalls schien das den Kommissionsmitgliedern nichts auszumachen, und sie hoben entweder die Hand oder applaudierten oder versuchten, beides gleichzeitig zu tun. Kafiri wartete, bis das Stimmengewirr sich gelegt hatte. Dann sagte er schlicht: »Ich erkläre Mr. Morton als gewählt und habe deshalb die große Freude, ihn zu bitten, den Vorsitz bei dieser Sitzung zu übernehmen.« Wenn James Edward Morton, ehemals Member of 343
Parlament (Conservative) für Newbury und früherer Juniorminister in der Regierung Ihrer Majestät, das geringste Widerstreben empfand, jetzt vorzutreten und das Amt zu übernehmen, das Horst Kramer vor so kurzer Zeit niedergelegt hatte, ließ er sich das jedenfalls nicht anmerken. »Ich danke Ihnen, meine Herren Kollegen.« Er nahm auf dem Präsidentensessel mit der etwas höheren Lehne Platz. »Wollen wir weitermachen?«
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m folgenden Mittwoch nach der ersten Plenarsitzung der Kommission unter seinem Vorsitz lud er Isobel ins Comme Chez Soi ein, um den Anlaß mit einem Mittagessen zu feiern. Manche Leute hielten es für das beste Restaurant Brüssels, obwohl seine Lage – eingezwängt hinter der Statue des Männeken Pis (»dem kleinen pinkelnden Jungen«, wie Isobel in ihrer Anti-Brüssel-Phase verkündet hatte) – nicht gerade zu den besten zählte. Während sie sich tapfer durch das Menu Degustation arbeiteten, wandte sich ihr Gespräch geradezu zwangsläufig den Ereignissen der letzten Wochen und Monate zu. »Aber was ist aus Kunig geworden?« wollte Isobel wissen. »Ich dachte, er wollte die Kommission wegen Vertrauensbruch auf Schadensersatz verklagen.« Morton lächelte. »Erinnerst du dich an diese Formulierung in Mord im Dom? Die, wo es darum geht, das Richtige aus falschem Grund zu tun?« Isobel schüttelte den Kopf. Als hübschestes Mädchen der ganzen Klasse hatte sie nicht viel Zeit für T. S. Eliot gehabt. »Jetzt mach es nicht so geheimnisvoll, James«, kritisierte sie ihn scharf. Hoffentlich würde es ihm nicht zu Kopf steigen, daß er jetzt Präsident der Kommission war. Der neue James Morton gefiel ihr – er war ganz eindeutig ein selbstbewußterer Mann als der, den sie in seinen Westminster345
Jahren gekannt hatte, und auch im Bett besser (wo er das nur herhatte?) –, aber trotzdem brauchte jede Beziehung das richtige Gleichgewicht, insbesondere eine, an der sie beteiligt war. »Entschuldige, Liebes«, versuchte Morton sie zu besänftigen. »Ich wollte sagen, daß Kunig von Anfang an Industriespion war. Ponting hatte ihn bei Deutsch-Chemie eingeschleust, mit detaillierten Anweisungen, Informationen über die Verfehlungen dieser Firma zu sammeln und das Ergebnis seiner Ermittlungen der Kommission zugänglich zu machen. Und genau das hat er getan, und ich habe es geschluckt, Köder, Haken und Leine. Wie gesagt – das Richtige getan aus dem falschen Grund. Es gibt gar keinen Zweifel, daß Deutsch-Chemie sich schuldig gemacht hat – die Firma hat tatsächlich verbotene Chemikalien hergestellt, und der Europäische Gerichtshof hat deshalb völlig korrekt gegen sie entschieden. Aber für mich gibt es in gleicher Weise nicht den geringsten Zweifel, daß Kunig aus den niedrigsten Motiven gehandelt hat. Er war ein IndustrieMaulwurf im Sold der Amerikaner und hat seinen Auftrag brillant erfüllt. Nach dem Schuldspruch des Gerichts, nach der Dioxingeschichte ist Deutsch-Chemie als Firma praktisch erledigt. Und genau das wollte Ponting. Entweder werden sie sie jetzt in ihrem geschwächten Zustand aufkaufen und sich damit einen Brückenkopf in der chemischen Industrie Europas verschaffen – oder Deutsch-Chemie geht völlig vor die Hunde und scheidet damit aus dem Wettbewerb aus, und darüber würde sich Ponting sicherlich auch nicht beklagen.« Er schenkte sich Wein nach. Der Pouilly Fumé war aus346
gezeichnet, und die Flasche war noch halb voll, da Isobel immer noch keinen Alkohol trank. Ein Lächeln ging über sein Gesicht. Seine Hercule-Poirot-Rolle gefiel ihm, wie er sozusagen im Salon auf das Eintreffen der Gäste wartete, um ihnen dann zu sagen, was wirklich vorgefallen war. Isobel führte eine Gabel pochierten Heilbutt zum Munde, ihrem seidigen Schmollmündchen. Seit ihrer Schwangerschaft hatte sie kaum mehr Appetit. Aber das Comme Chez Soi war eben etwas Besonderes, fand sie. Sie kaute nachdenklich und genoß den delikaten Fisch, kostete das zarte Aroma der Kräuter aus. »Wann hast du angefangen, Kunig zu verdächtigen?« »Leider viel zu spät. Als ich ihn das erstemal sah, war mir irgendwie vage bewußt, daß er jünger war, als er das hätte sein dürfen, wenn seine Geschichte stimmte. Aber ich muß das irgendwie verdrängt haben. Erst als ich feststellte, daß er in bezug auf Ritter gelogen hatte und daß der Mann gar nicht in der I. G.-Farben-Fabrik in Auschwitz gewesen war, begann ich zu begreifen. Ritter war niemals als Assistent irgendeiner Nazigröße in Auschwitz, selbst wenn er das altersmäßig hätte sein können. Und Kunigs Eltern sind niemals im Konzentrationslager von Auschwitz ums Leben gekommen. Sie sind unter dem Namen King in einer kleinen Stadt im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten außerhalb von Des Moines, Iowa, gestorben und auch dort begraben worden. Auch das kann ich beweisen.« Dann schilderte Morton Isobel, was Lomax während seiner Reise in die Vereinigten Staaten auf der Suche nach dem »echten Hans Kunig«, wie er es formulierte, in Erfahrung gebracht hatte. 347
»Woher weiß Lomax denn, daß die in Iowa begrabenen Kings Hans Kunigs Eltern waren?« fragte Isobel. »Die Geburtsorte und die Geburtsdaten stimmten überein. Beide Kings sind in den zwanziger Jahren in Deutschland geboren, und der Weg von King zu König zu Kunig ist nicht sehr weit.« »Elementary, my dear Morton«, lächelte Isobel. »Es paßte alles zusammen. Das einzige, was Kunig schaffen mußte«, schloß ihr Mann, »war, mich von seiner Aufrichtigkeit zu überzeugen, seiner moralischen Überzeugung. Und das ist ihm ohne Zweifel gelungen.« »Dann hatte Kramer also doch recht? Er wollte die Fusion nicht verhindern, von der er glaubte, daß sie im Interesse Europas sei, und er glaubte auch nicht, daß die Kommission sich in ihrer Entscheidung ausschließlich oder auch nur überwiegend auf Kunigs Beweismaterial stützen sollte.« »Hey, Moment mal.« Daß sie das so sah, ärgerte Morton sichtlich. »Deutsch-Chemie ist schuldig gesprochen worden und war auch schuldig, das solltest du nicht vergessen.« Doch sie war davon nicht überzeugt. »Das mag sein. Aber wie man es auch dreht und wendet – am Ende hat Ponting den Nutzen davon. Versteh mich nicht falsch, James. Ich bin Amerikanerin. Wie du sehr wohl weißt, bin ich zwischen den Fabrikschloten von New Jersey aufgewachsen. Aber wenn wir hier von Ethik sprechen, dann zweifle ich stark daran, ob es einen großen Unterschied zwischen Ponting und Deutsch-Chemie gibt. War es denn ethisch korrekt, Kunig dort einzuschleusen?« Morton seufzte. Er hatte es ihr nicht sagen wollen. Bis 348
jetzt war es noch nicht amtlich. »Behalte das, was ich jetzt sage, für dich«, sagte er, »sonst bin ich erledigt. Du weißt schon, die Insiderregelung. Deutsch-Chemie wird nicht untergehen. Und Ponting wird die Firma auch nicht kaufen. Heute morgen hat die Kommission die Fusion mit United Chemicals gebilligt. Tatsächlich ist es gar keine Fusion, eher eine Übernahme. United Chemicals bekommt die Aktien für einen Spottpreis, und die Kommission ist sehr dafür. Die Kartellanwälte haben ihre Einwände zurückgezogen. Selbst die überzeugtesten Vertreter einer wirksamen Wettbewerbspolitik können sich der Erkenntnis nicht verschließen, daß es besser ist, in Europa einen europäischen Chemieriesen operieren zu lassen als einen amerikanischen. Wenn Ponting Deutsch-Chemie übernehmen würde, dann wäre es nur eine Frage der Zeit, bis die anderen – Hoechst und Bayer, United Chemicals und Rhône-Poulenc – ihnen auch zufallen würden. Sir Gordon Cartwright ist natürlich von dieser neuen Wendung der Dinge höchst entzückt.« »Und ohne Zweifel ist bereits eine ansehnliche Spende auf dem Weg in die Parteikasse?« Isobel klang immer noch ein wenig skeptisch. »Jetzt komm schon, meine Liebe.« Ein Anflug von Herablassung schlich sich in Mortons Tonfall (schließlich war er Präsident der Kommission und konnte sich ein wenig Herablassung leisten). »Du wirst dir doch nicht einbilden, daß das alles so geplant war.« »Nein?« Isobels Stimme klang müde und ein wenig gelangweilt. Sie wollte jetzt in das Haus in Rhode St. Genese zurück – inzwischen empfand sie es als Zuhause – und Vorhänge für das Kinderzimmer nähen. 349
»Entschuldige, Jimmy«, sagte sie, »ich habe mich nie besonders auf all die feinen Verästelungen verstanden. Aber wenn du meinst, daß es gut läuft, dann wird das sicherlich so sein. Vielen Dank für das Mittagessen. Das war wirklich eine nette Idee.« Sie gab ihm einen kleinen Kuß auf die Wange und schwebte hinaus, während er die Rechnung beglich.
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omax hatte den schlimmen Augenblick so lange wie möglich hinausgeschoben. Er wußte, was er wußte, und Mortons Wahl zum Präsidenten der Europäischen Kommission machte es nur noch schlimmer. Wenn er schon vorher einen Knüller gehabt hatte, dann stand jetzt fest, daß es ein noch viel größerer Knüller war. Vielleicht noch nicht ganz ein Megaknüller. Noch nicht. Aber es entwickelte sich dahin. Ted Smith, sein Chefredakteur, der für persönliche Nettigkeiten im Gegensatz zu professionellen Nettigkeiten keine Zeit hatte, setzte ihn gnadenlos unter Druck. »Herrgott, Murray!« brüllte er ihn eines Tages am Telefon an, als er von Mortons Wahl gehört hatte. »Die Story wird uns noch kalt werden, wenn wir sie jetzt nicht bald bringen. Wer zum Teufel wird sich in zwei Wochen noch daran erinnern, wer Kunig ist?« Lomax konnte Ted Smiths Standpunkt verstehen. Am Ende hatte er Mortons Büro angerufen und um einen Termin gebeten. Es war bedauerlich – für Morton natürlich –, daß der ehemalige Industriekommissar ihn so ins Vertrauen gezogen hatte. Doppelt bedauerlich – wiederum für Morton –, daß er Lomax gebeten hatte, für ihn in den Vereinigten Staaten Handlangerdienste zu tun. Lomax war sich wohl bewußt, daß er selbst voll Begeisterung mitgemacht hatte, aber das hieß nicht, daß man am 351
Ende die Grundregeln des Journalismus über Bord warf. Ein Journalist ist ein Journalist ist ein Journalist. Morton hatte ihn nie zur Geheimhaltung vergattert und hätte dazu auch kein Recht gehabt. Als Morton von seinem Lunch mit Isobel zurückkam, erwartete ihn Lomax bereits. Morton spürte sofort, daß etwas nicht stimmte. »Kommen Sie rein, Murray.« Lomax kam sofort zur Sache. »Wir werden die Story bringen, Mr. President. Die ganze Geschichte. Die Druckerpressen stehen sozusagen schon bereit.« Morton spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Er wußte nicht, was er sagen oder denken sollte. In Berkshire gab es so etwas nicht. »Ich arbeite nicht für die Kommission«, fuhr Lomax mit ruhiger Stimme fort. »Ich arbeite für eine Zeitung. Wir müssen unsere Auflage verkaufen, sonst sind wir aus dem Geschäft. Und diese Story wird dafür sorgen, daß wir eine Menge Blätter verkaufen. KOMMISSION VON INDUSTRIESPION HEREINGELEGT. NEUGEWÄHLTER KOMMISSIONSPRÄSIDENT JAMES MORTON GIBT ZU, IN UNWISSENHEIT GEHANDELT ZU HABEN. Ich kann die Schlagzeilen schon sehen.« Alle Muskeln in Mortons Gesicht schienen eingefroren zu sein, aber er schaffte es trotzdem, ein Lächeln zustande zu bringen. »Murray Lomax, ich gratuliere Ihnen. Sie sind ein verdammt tüchtiger Journalist. Sie müssen Ihren Job tun, also los, tun Sie ihn. Wenn ich in Ihrer Story wie ein Narr aussehe, ist das eben so – und das wird auch wahrscheinlich nicht das letzte Mal sein.« 352
Er stand auf. Am liebsten hätte er diesem verdammten fettärschigen Schotten so heftig in den Hintern getreten, daß er bis nach London geflogen wäre. Murray Lomax kehrte in niedergeschlagener Stimmung in sein Büro zurück. »Na schön«, dachte er, »soll doch Ted Smith entscheiden, was er tun will.« Dafür war Smith schließlich Chefredakteur, und er, Lomax, war das nicht. Er ging ans Telefon und ließ sich mit London verbinden. »Sie haben Ihre Wette verloren, Ted«, sagte er. »Morton hat nicht versucht, mich daran zu hindern. Er hat nicht gesagt, daß die Kommission künftig den Korrespondenten der Times sämtliche juristischen Privilegien entziehen würde; er hat nicht einmal gesagt ›Dann druckt eben, und der Teufel soll euch holen‹. Er hat bloß gesagt ›Gratuliere‹, auch wenn es ihm schwergefallen ist.« Am anderen Ende war nur Schweigen zu hören. »Ted, sind Sie noch da?« Lomax dachte schon, das Gespräch sei unterbrochen worden. »Natürlich bin ich da. Halten Sie einen Augenblick lang den Mund. Ich denke nach. Vielleicht muß ich damit zu meinem Chef gehen.« »Jetzt übertreiben Sie es bloß nicht, alter Junge.« Lomax wartete ungeduldig, während die Minuten verrannen. Schließlich war Ted Smiths Stimme wieder zu hören. Sie klang ungewöhnlich gedämpft. »Ich habe gerade mit dem Herausgeber gesprochen, und wir haben beschlossen, es sein zu lassen. Anscheinend ist der Herausgeber ein Kumpel von Morton. Die beiden waren 353
zusammen in Bullingdon, was auch immer das heißt.« Smith seufzte. »Ich lasse höchst ungern eine gute Story sausen, Murray, aber …« »Ehrlich gesagt, ich bin froh, daß Sie sie nicht bringen, Ted. Morton hat hier gerade erst angefangen. Es gibt nicht viele Leute wie ihn. Sie haben ihm gerade einen Gefallen getan. Aber den hat er verdient.« »Bloß einen. Den ersten und den letzten.« Das war wieder der alte Ted Smith, härter und zäher denn je. »Von jetzt an gehen Sie mit harten Bandagen auf ihn los.« Am späten Nachmittag erhielt James Morton zwei Anrufe in seinem Büro. Der erste war von Lomax. Der Journalist spürte die kaum verhohlene Feindseligkeit in Mortons Stimme und kam gleich zur Sache. »Wir werden die Story nicht drucken. Wenn Sie versucht hätten, uns daran zu hindern, hätten wir sie gedruckt. Aber das haben Sie nicht getan.« Morton seufzte erleichtert auf. »Vielen Dank, Murray. Ich weiß, Sie haben nur Ihren Job getan. Aber ich bin trotzdem froh, daß Sie sie nicht bringen. Das hätte hier einiges erschwert.« »Für Sie?« »Nein, für Sie. Ich möchte Sie als meinen Chef de Cabinet haben, und das hätte doch peinlich für Sie werden können, wenn der neue Präsident der Kommission von Ihrem ehemaligen Brötchengeber unter Beschuß ist!« »Ist das Ihr Ernst?« »Natürlich ist das mein Ernst. Ich brauche jemanden, dem ich vertrauen kann. Ihr erster Auftrag wird übrigens sein, 354
daß Sie nach Madrid fliegen und Kunig klarmachen, daß wir ihn, wenn er nicht alle Vorwürfe gegen die Kommission zurücknimmt, in einem halben Dutzend Ländern wegen Industriespionage unter Anklage stellen. Also, was ist? Nehmen Sie mein Angebot an?« Lomax zögerte keinen Augenblick. »Ich weiß nicht, ob ich das schaffe, aber ich werde mir verdammte Mühe geben.« Der zweite Anruf kam vom britischen Premierminister. »Ah, James, schon vom Lunch zurück? Da habe ich wohl Glück, daß ich Sie erreiche. Ich weiß doch, wie wichtig euch Leuten in Brüssel eure Mahlzeiten sind! Ich dachte, ich würde Sie mal anrufen, weil wir schon eine Weile nicht mehr miteinander geredet haben. Ich wollte Ihnen bloß sagen, wie sehr ich bewundere, wie Sie dort drüben vorankommen. So wollen wir es. Jemand, der sich voll in den Kampf stürzt. Ich habe immer gewußt, daß Sie der richtige Mann sind. Und jetzt sind Sie tatsächlich Präsident der Kommission, ein britischer Präsident, James. Und das zählt …« Während der Premierminister weiterredete, ohne ihm Gelegenheit zur Antwort zu lassen, mußte Morton unwillkürlich denken, daß der Mann noch nie so freundlich zu ihm gewesen war und noch nie in so honigsüßen Worten mit ihm geredet hatte. Dann wanderten seine Gedanken zu dem Lunch in Chequers zurück, und plötzlich kam ihm ein so verblüffender Gedanke, daß er wie gelähmt war: Konnte es sein, daß die ganze Geschichte eine raffinierte Intrige gewesen war, um den deutschen Kommissionspräsidenten durch einen Briten zu ersetzen, ein teuflisch raffiniertes 355
Komplott, das ein gerissener Fuchs wie Sir Oliver Passmore ausgeheckt und der Premierminister selbst mit seinem Segen versehen hatte? Konnten sie gewußt haben, daß er, wenn sie ihn nach Brüssel schickten und zuließen, daß er das Industrieressort übernahm, wenn sie vielleicht sogar darauf bestanden, daß er Industriekommissar wurde, über kurz oder lang mit Kramer in Konflikt geraten würde? Konnte es sein, daß man Peter Simpson tatsächlich damit beauftragt hatte, einen solchen Konflikt herbeizuführen, indem er zum Verräter wurde? Und konnte es sein, daß sie, wer auch immer sie waren, die künftige Entwicklung der Ereignisse vorhergesehen hatten: den Zusammenbruch von Deutsch-Chemie, die Übernahme durch United Chemicals? Hatten sie die ganze Zeit gewußt, daß Kunig von den Amerikanern eingeschleust war, mit der Anweisung, all den Schmutz über Deutsch-Chemie auszugraben und sicherzustellen, daß die Kommission – unter Anführung des heroischen, leichtgläubigen Industriekommissars – sich Hals über Kopf in eine Anklage stürzte, während sie selbstgefällig abwarteten, bis die Bombe platzte, um anschließend ihre Interessen zu verfolgen? War Gordon Cartwright von Anfang an mit eingeweiht gewesen, seit jenem ersten Zusammentreffen in Chequers? Er spürte, wie ihm die Zornesröte ins Gesicht stieg, als er an das Bombenattentat auf seine Wohnung dachte. Das zumindest konnte doch ganz sicher nicht Teil des Komplotts gewesen sein? Er schüttelte den Kopf und versuchte, die Bilder eines doppelten und dreifachen Verrats von sich abzuschütteln. Nein, das war alles einfach zu unglaublich! »… ein britischer Präsident der Kommission«, sagte der 356
Premierminister. »Wenn wir uns einfach in die Schlange gestellt hätten, hätten wir die nächsten vierzig Jahre keinen britischen Präsidenten bekommen, nicht bei den vielen anderen Ländern, die alle hinter den Kulissen warten. Und zu allem Überfluß haben wir noch einen Chemiegiganten von Weltklasse mit Firmensitz in Britannien als Zugabe bekommen. Das nenne ich Globalisierung! Bravo, James! Und grüßen Sie Isobel. Wirklich eine großartige Nachricht, das mit dem Baby!« Nein! wiederholte Morton für sich, das konnte einfach nicht wahr sein! So raffiniert, so zynisch, so schlau konnte einfach niemand sein! War es wirklich vorstellbar, daß alles das vorausgeplant gewesen war? »Aber, Prime Minister«, setzte er endlich zur Antwort an, nur um festzustellen, daß der bemerkenswerte junge Mann, der in London das Steuer übernommen hatte, sich bereits wieder anderen Geschäften zugewandt hatte.
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