Der Blut-Pirat
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 141 von Jason Dark, erschienen am 28.12.1992, Titelbild: Joe und Vit...
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Der Blut-Pirat
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 141 von Jason Dark, erschienen am 28.12.1992, Titelbild: Joe und Vito de Vito
Manche Vögel überflogen den Berg, weil sie spürten, daß etwas Schreckliches in ihm lauerte. Andere waren mutiger, landeten, starteten aber sehr schnell wieder und ließen sich nicht mehr blicken. Dieser Berg hatte etwas in sich, nicht an sich. Tief verborgen unter unzähligen Tonnen schweren Gesteins lauerte der schrecken. Etwas unsagbar Böses, ein Andenken aus der Urzeit, ein grausames apokalyptisches Wesen - der Blut-Pirat...
Manche Vögel überflogen den Berg, weil sie spürten, dass etwas Schreckliches in ihm lauerte. Andere waren mutiger, landeten, starteten aber sehr schnell wieder und ließen sich nie mehr blicken. Dieser Berg hatte etwas in sich, nicht an sich. Tief verborgen unter unzähligen Tonnen schweren Gesteins lauerte der Schrecken. Etwas unsagbar Böses, ein Andenken aus der Urzeit, ein grausames apokalyptisches Wesen – der Blut-Pirat! *** »Wenn du im Auto rauchst, kündige ich dir die Freundschaft«, sagte Suko. Er schielte auf meine Hände, die mit der Zigarettenschachtel spielten, aber das war auch alles. Es befanden sich noch drei Stäbchen darin, und die ließ ich stecken. Die Schachtel verschwand wieder in meiner Jackettasche, und Suko nickte, wobei er wieder ein freundlicheres Gesicht machte, obwohl wir schon zwei Stunden im Wagen hockten und sich in unserer Umgebung nichts getan hatte. Zumindest nichts, was uns zum Eingreifen gezwungen hätte. Liebespaare gingen uns nichts an, die ließen wir in Ruhe, und es gab zahlreiche in dieser Gegend, denn es war eine Lust, die Temperatur in einer derartig lauen Sommernacht zu genießen, wo sich der Sternenhimmel in einer beinahe schon südländischen Pracht zeigte – und das im Norden von London, einer idyllischen Gegend mit Feldern, Wäldern und einer gesunden Luft. Diese Gegend hatte sich auch die Firma TRANS EX ausgesucht, um hier ihre angeblich saubere Industrieanlage zu bauen. Es war eine Forschungsstätte, wie wir wussten, und die unterteilte sich in zwei Komplexe. Einmal in einen hermetisch abgeriegelten und zum zweiten in einen, wo nur gewisse Dinge aufbewahrt wurden, die harmlos waren. Wie Blut, zum Beispiel! Ja, es stimmte. Diese Firma machte Geschäfte mit dem Blut der Menschen. Hier wurden Spenden gelagert, weiterverkauft und auch auf Krankheiten wie AIDS untersucht. Dabei ging es um normales Blut und auch um Plasma, und damit wiederum begannen die Probleme der Firma. Es waren in der letzten Zeit einige Blutkonserven gestohlen worden. Zu viele, um darüber hinwegzusehen, und niemand wusste, was mit den gestohlenen Konserven geschehen war. Es hatte die unterschiedlichsten Meinungen und Ansichten gegeben. So waren einige Beamte davon ausgegangen, dass die Blutkonserven für einen vielfach überhöhten Preis ins Ausland verkauft wurden, aber das war, wie gesagt, nur eine Meinung. Es gab auch eine andere. Und die vertrat unser Chef, Sir James Powell.
Er hatte sich etwas ausgedacht. Will Mallmann, der Vampir, der sich auch Dracula II nannte, lag ihm noch immer wie ein dickes Geschwür im Magen. Er wusste ja, dass Vampire Blut brauchten, um existieren zu können, und da konnte es seiner Meinung nach durchaus sein, dass Mallmann versuchte, auch an Blutkonserven heranzukommen. Die Höflichkeit hatte es uns nicht erlaubt, Sir James unsere wahre Meinung zu sagen, denn wir waren davon nicht überzeugt, aber er hatte sich nicht davon abbringen lassen und so lange auf uns eingeredet, bis wir zugestimmt hatten. Suko und ich fahndeten nach den Blutdieben. Zusammen mit dem Werkschutz sollten wir mithelfen, sie zu stellen und ihnen dann die entsprechenden Fragen stellen. Ein Job, der unheimlich viel ›Spaß‹ machte, denn wir schlugen uns schon die zweite Nacht um die Ohren. Für drei Nächte hatten wir zugestimmt, und damit war Sir James auch einverstanden gewesen. Der oder die Diebe waren nach einem gewissen Rhythmus vorgegangen. Zweimal zuschlagen, dann zehn Tage Pause. Wieder zuschlagen, wieder eine Pause und so weiter. In dieser Nacht hätten sie eigentlich kommen müssen. Das Wachpersonal war alarmiert und einsatzbereit, sollte aber nicht eingreifen, denn man sollte uns die Diebe überlassen. Wie sie es geschafft hatten, in den Komplex einzudringen, hatte die Wachtruppe bereits herausgefunden. Die Diebe hatten Nachschlüssel besessen. »Wer stiehlt schon Blut?« fragte Suko. Wie so oft verdrehte ich die Augen. »Frag mich das nicht noch mal. Ich weiß es nicht.« Doch Suko ließ nicht locker. »Vielleicht ein Irrer oder Wallmanns Schergen?« »Wo ist da der Unterschied?« »Ha, ha…« Ich schaute auf die Uhr. Die Tageswende lag fast zwei Stunden zurück. Um diese Zeit hatten sich selbst die letzten Liebespaare wieder zurückgezogen, uns gehörte die Nacht und auch die Einsamkeit, die allerdings durch die Scheinwerfer am Zaun des Fabrikgeländes gestört wurde. Die Männer der Wachmannschaft waren gut verteilt. Sie würden die Täter ein- und auch wieder rauslassen, aber nur bis zu einem bestimmten Ort. Dort sollten sie dann von uns erwartet werden. Falls alles klappte… Die Minuten strichen dahin. Ich hatte Kaffee mitgenommen. Er schwappte in einer Thermoskanne. Sie war mittlerweile halbleer. Als ich Suko einen Becher anbieten wollte, winkte mein Freund ab. »Die Brühe ist mir zu kalt und zu bitter.« »Ansprüche hast du auch noch?«
»Klar doch.« »Okay, wie du meinst.« Ich schraubte den Verschluss ab, zog dann den Korken hoch, lauschte dem dabei entstehenden ›Plopp‹ und goss etwas von der dunklen Brühe ein. Nur weil Suko mich beobachtete und auf eine Reaktion wartete, gab ich keinen Kommentar. Aber er hatte recht gehabt, das Zeug schmeckte wirklich bitter. »Ein Genuss?« fragte er. »Toll.« »Hattest du den nicht gekocht?« »Ja, das hatte ich, und ich habe mich dabei an die Regeln einer Glenda Perkins gehalten.« »Nun ja, Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Das kann sich auch bei dir nur noch bessern.« Ich wollte eine entsprechende Antwort geben, kam aber nicht mehr dazu, denn das zwischen uns liegende Funkgerät quäkte so laut, dass es schon störend wirkte. Ich reagierte schneller als Suko, nahm es an mich und meldete mich. Zuerst hörte ich nur ein Kratzen, dann murmelte irgendjemand etwas, das nicht mir galt, doch bald hatte er sich so weit unter Kontrolle, dass er sich melden konnte. »Sir…?« »Ja, hier Sinclair.« »Wir haben hier etwas gesehen.« »Die Diebe? Sind sie da?« »Das wissen wir nicht, aber komisch ist es schon. Wir haben einige Bewegungen gesehen, die wir nicht identifizieren können. Uns hat eine gewisse Unsicherheit erfasst.« Suko, der mitgehört hatte, schüttelte den Kopf und zog die Augenbrauen hoch. Auch ich wusste nicht, was der Sprecher meinte und bat ihn, genauere Informationen preiszugeben. »Das kann ich schlecht.« »Warum?« Eine kurze Pause. Wieder das Flüstern, dann klang die Stimme erneut auf. »Es gab hier Bewegungen in der Nacht, in der Dunkelheit, verstehen Sie, Sir?« »Noch nicht.« Sein Atem war zu hören. »Die Bewegungen sind nicht identifiziert worden. Einige Kollegen haben von großen Vögeln gesprochen, groß wie Geier oder Adler.« »Was Sie nicht sagen«, murmelte ich. Meine Stimme klang überhaupt nicht spöttisch oder lustig, denn was dieser Mann mir soeben mitgeteilt hatte, war zumindest Suko und mir bekannt. »Haben Sie denn noch mehr erkennen können? Zum Beispiel, wo die Vögel hingeflogen sind?«
»Nein, mehr nicht. Es ist trotz des Scheinwerferlichts doch sehr dunkel in der Luft.« Er räusperte sich. »Nun ja, ich wollte Ihnen nur Bescheid geben, mit den Blutdieben wird das wohl nichts zu tun haben, denke ich.« »Das kann sein.« »Wir werden uns wieder melden.« »Das können Sie ruhig«, sagte ich, »aber auch wir werden unseren Standort verändern und nicht mehr hier draußen so weit entfernt warten. Wir fahren näher an das Ziel heran.« »Soll ich das Tor öffnen lassen?« »Noch nicht.« »Sie denken daran, dass die Diebe gewarnt werden können?« »Immer, Mister, doch ich denke auch etwas anderes. Aber lassen Sie das nur meine Sorge sein.« »Das geht in Ordnung, Sir.« Suko betrachtete mich mit Skepsis. »Du bist heute auch nicht der allernetteste Mensch.« »Ich habe nie behauptet, sehr nett zu sein. Wer das sagt, muss sich geirrt haben. Was hätte ich sagen sollen? Dass wir einen Verdacht auf Vampire haben? Die hätten uns ausgelacht. Diesen Blutraub nehmen sie noch hin, ihn jedoch mit Vampiren in Verbindung zu bringen, das kannst du ihnen nicht erzählen. Nicht jeder reagiert darauf so gelassen wie wir.« Ich hatte den Zündschlüssel gedreht und den Rover gestartet. Wie ein schwerbeladenes Schiff schob er sich aus der Parklücke hervor und schwankte durch eine Bodenerhebung. Wir hatten freie Sicht auf das Industriegelände. Die offizielle Straße und Zufahrt benutzten wir nicht, wir rollten quer auf die Straße zu, und mein Freund Suko suchte dabei den Himmel ab. Er hatte seinen Kopf aus dem Fenster gestreckt, die warme Nachtluft umfächerte sein Gesicht. Schwallartig füllte sie das Innere aus. Ich fuhr langsam. Auch meine Gedanken drehten sich. Irgendwo brachte ich sie immer mit Mallmann zusammen. Warum eigentlich? Gleichzeitig drückte sich eine andere Ahnung hoch. Sie war wie eine finstere Wolke, eine gemeine Bedrohung, der wir nicht ausweichen konnten. Lag es am Wetter, dass ich so ungewöhnlich reagierte, oder einfach daran, dass uns möglicherweise ein harter Strauß bevorstand? Suko setzte sich wieder normal hin. »Ich habe weder einen Vampir noch einen Vogel gesehen.« »Glaubst du denn, dass sich die Leute etwas eingebildet haben?« »Nein, das auch nicht.« »Und weiter?« »Nichts weiter, John. Wir lassen es einfach darauf ankommen.«
Ich drehte am Lenkrad und steuerte die normale Straße an. Kurz vor dem Fabrikgelände standen Scheinwerfer, die ihr Licht auf das graue Asphaltband schickten. Stopp- und Warnschilder fielen uns ebenfalls auf. Man wollte keine ungebetenen Gäste haben. Aber die waren schon da. Weshalb sonst hätten wir die knatternden Geräusche gehört? Es waren Schüsse… Plötzlich war unsere Lethargie verschwunden. Wenn jemand schoss, tat er das nicht grundlos. Wir hatten uns auf die Geräusche konzentriert und festgestellt, dass es mehrere Salven gewesen waren, die die Stille zerschnitten hatten. Suko schaute mich an. »Vogelschießen?« fragte er spöttisch. »Kann sein.« Der Rover schoss vor, denn ich hatte ihm Gas gegeben. Ich schaltete auch das Fernlicht ein. Die langen, blauweißen Streifen vermischten sich mit dem Licht der Lampen vor dem Tor und hinterließen dort einen kalten Glanz. Einzelheiten fielen uns auf. Das Tor bewegte sich jetzt zur Seite, damit wir freie Fahrt auf das Fabrikgelände hatten, über das bewaffnete Gestalten huschten. Es wurde nicht mehr geschossen. In der Erinnerung daran hatten sich die Schüsse angehört wie ein kleines Feuerwerk. Als wir auf das Gelände rollten, winkte uns ein Posten durch. Er trug die graue Uniform des Werkschutzes. Ich wollte nicht so recht daran glauben, dass es die Blutdiebe gewesen waren, die sich das kurze Feuergefecht geliefert hatten, und auch Suko war meiner Meinung. »Da steckt etwas anderes dahinter«, sagte er und wies auf einen Mann, der im Scheinwerferlicht erschien und mit beiden Händen winkte. Vor ihm stoppten wir. Ich löschte das Licht, schaltete den Motor aus und stieg aus. Suko stand schon draußen. Ich hörte, wie der Wachtmensch mit ihm sprach. »Wir… wir mussten schießen.« »Auf wen?« »Da waren Schatten.« »Aber nicht die Diebe.« Der Mann war noch verstört. Er strich über sein Gesicht und hob die Schultern. Ich empfand die Luft als unangenehm schwül, wie kurz vor einem mächtigen Gewitter. Man schwitzte schon beim Denken. Auch mir klebte die Kleidung am Körper. »Nein, keine menschlichen. Ich… wir alle haben sie über uns gesehen. Diese Riesenvögel.« Unwillkürlich schauten wir zum Himmel hoch. Er war zwar nicht mehr so blank wie vor einer Stunde, weil sich Wolkenfetzen vor die Gestirne geschoben hatten, aber die fliegenden Schatten sahen wir nicht. Wenn es tatsächlich Vampire gewesen waren, dann hielten sie sich gut
versteckt. Ich wollte auch nicht zu sehr in Details gehen und die Leute hier nervös machen. Inzwischen standen wir nicht mehr zu dritt auf dem Hof. Andere Wachtposten waren gekommen. Ihre Gesichter sahen im Kunstlicht der Scheinwerfer oft blass aus. Immer wieder schauten die Männer gegen den Himmel. Schließlich kam auch der Chef der Wachttruppe. Er hieß Hogan und war ein Mann in unserem Alter. Mir fielen seine dichten Augenbrauen auf, die ungewöhnlich schräg standen. »Gut, dass Sie hier sind.« »Was ändert das?« fragte ich. »Nicht viel, aber es gibt uns Sicherheit.« Er spielte mit den Knöpfen an seiner Uniform. »Wir sind eigentlich darauf gedrillt, Diebe zu fangen. Die Firma hat uns ausgebildet und bezahlt gut, aber was hier passiert ist, damit komme ich nicht zurecht.« »Sie sprechen von den Schatten.« »Ja, Mister Sinclair, von den großen Vögeln.« Er schaute wieder nach oben und duckte sich dabei zusammen. »Wir haben für ihre Existenz keine Erklärung geben können. Es ist alles so ungewöhnlich, so anders. Ich habe mich mit meinen Leuten unterhalten. Einige meinten, dass die Vögel künstlich wären und den Dieben als Ablenkungsmanöver dienten. Andere sprachen von Segelflugzeugen. Ein ehemaliger Kollege von Ihnen, der jetzt bei uns arbeitet, war der Meinung, dass sich ein Drachenflieger über das Gelände hinwegbewegt hätte. Also da kommt einiges zusammen, aber was richtig ist, weiß keiner.« »Weshalb wurde geschossen?« fragte Suko. Hogan zeigte zum Himmel. »Weil sie wieder da waren. Auf einmal huschten sie über das Gelände hinweg. Sie waren sehr groß und bewegten sich ziemlich schnell.« »Schneller als eine Kugel?« »Wir wissen nicht, ob wir getroffen haben.« »Waren es mehr als zwei?« fragte ich. »Das haben wir nicht genau mitbekommen. Jedenfalls bewegten sie sich sehr schnell.« »Und Sie haben nur Schatten gesehen, Mister Hogan? Keine anderen Einzelheiten, an die Sie oder Ihre Männer sich erinnern können?« »Nein.« Er schaute zu Boden und legte seine Stirn in Falten. »Bis auf eine Beobachtung, die ich allerdings nicht ernst nehmen kann und sie der Phantasie einem meiner Männer zuschreibe.« »Wir hören es gern.« »Nun ja… der… der Mann hat da von roten Punkten gesprochen. Wie glühende Augen…« Ich schaute Suko an und sah sein langsames Nicken, das keinem anderen auffiel. »Aber daran haben Sie nicht geglaubt, Mister Hogan?« »So ist es.«
»Können wir mit dem Mann ein paar Worte reden?« Hogan zeigte Erstaunen. »Wieso…? Warum wollen Sie das? Glauben Sie ihm etwa?« »Was wir glauben, ist hier zweitrangig. Wir wollen nur keine Möglichkeiten außer acht lassen. Vergessen Sie nicht, dass wir Polizisten sind und uns auch entsprechend verhalten. Jede Beobachtung kann hier wichtig sein.« »Ja, sehe ich ein.« Hogan erkundigte sich bei seinen Leuten, wo ein gewisser Peak zu finden war. Er hatte Innendienst. Als einziger im Moment, denn das Auftauchen der Schatten hatte die Männer nach draußen gelockt. Peak bewachte den Kühlraum, wo auch die Blutkonserven in großen Schränken aufbewahrt wurden. »Wollen Sie dorthin?« fragte Hogan. »Natürlich.« »Gut, ich gehe vor.« Suko und ich schlossen uns ihm an. Mein Freund schaute einige Male mit gerunzelter Stirn zur Seite. Er war sich noch nicht im Klaren darüber, wie es weitergehen würde, und er meinte auch, dass man uns möglicherweise reingelegt hatte. »Wer denn?« Er gab die Antwort leise. »Die andere Seite, John. Wer immer sie auch sein mag.« »Mallmann?« »Ich denke auch immer an ihn. Er kann seine Helfer geschickt haben. Schade, dass dieser Peak keine Riesenfledermaus gesehen hat.« »Du willst aber auch alles leicht haben.« »Manchmal bin ich eben unverschämt.« Er lächelte und stieg hinter Hogan eine breite Treppe hoch. Ich schaute mich noch einmal um. Auf und über dem Gelände hatte sich nichts verändert. Diese seltsamen Riesenschatten schienen sich die Männer nur eingebildet zu haben. Hogan hatte die Tür aufgestoßen. In einem breiten Flur brannte nur die Notbeleuchtung. Es war so richtig schön ungemütlich. Hier erinnerte mich alles an Klinik. Dazu trugen die weißen Wände ebenso bei wie der etwas dunklere Fußboden. Wir brauchten zum Glück keine Schutzkleidung überzustreifen. Die Blutkonserven wurden in absolut dichten Edelstahlzylindern aufbewahrt. Sie wiederum standen ebenfalls in verschlossenen Schränken. Peak, der Wachtposten, saß auf einer Bank. Es wunderte mich, dass er nicht aufstand, denn er musste uns längst gehört und gesehen haben. Auch Hogan fiel dies auf. Er ging plötzlich schneller, blieb neben seinem Mitarbeiter stehen und fluchte. Als er sich umdrehte, waren wir bei ihm. »Tot?« entfuhr es mir.
»Nein, er ist nur bewusstlos.« Hogan deutete auf die Tür. »Dann sind die Diebe wohl schon da.« Ich zog meine Beretta. »Das kann man wohl sagen.« Auch Hogan hatte seine Pistole gezogen. Es war die Spannung, die uns schwitzen ließ. Wir unterhielten uns nur mehr flüsternd, und Hogan schaute sich das komplizierte Türschloss an. »Keine Beschädigungen festzustellen«, meldete er. »Kann ich mir denken. Der oder die Diebe besitzen Nachschlüssel. Bleiben Sie mal zurück.« »Wieso? Ich…« »Wir sind eingespielt, mein Partner und ich.« Dem hatte er nichts entgegenzusetzen. Ich schaute Suko an, der nickte und deutete auf die Tür. Der Zeigefinger zielte dabei auf den Knauf, den ich umklammerte. Langsam drehte ich ihn nach links. Ich merkte, dass ich schon Kraft aufwenden musste, um die relativ schwere Tür aufzuzerren. Alles sollte zudem schnell gehen. Wir wollten nichts dem Zufall überlassen. »Okay, John?« »Okay!« Ich riss die Tür auf. Dabei erwischte Hogans Atem meinen Nacken. Der Chef des Sicherheitsdienstes stand hinter mir. Ich sah kein strahlendes Licht, das mir entgegendrang, nur diese gekühlte Dämmerung, denn der Raum war mit einer Klimaanlage ausgestattet. Ich stürzte nicht hinein, das überließ ich Suko, aber auch der war vorsichtig. Blitzartig stürmte er vor, dann zur Seite und zielte mit der Waffe in den Raum. Dann war auch ich über die Schwelle gehetzt, glitt zur anderen Seite weg, und im selben Augenblick strahlte das kalte Licht der Deckenröhren auf. Hogan hatte den Schalter gedrückt. Wir sahen zwei Männer, die fassungslos in unsere Mündungen schauten und die Welt nicht mehr verstanden… *** Die Blutdiebe waren von uns gestellt worden. Herrlich, wie einfach das gewesen war. Richtig super, beinahe wie im Kino, und genau das störte mich. Es war mir zu glatt gegangen. Nicht dass ich immer nur an die großen Vögel gedacht hätte, da kamen auch noch andere Dinge hinzu. Es war das Gefühl, dass es zu einfach gewesen war, und ich konzentrierte mich jetzt auf die erschreckten Gesichter der beiden Männer.
Sie waren noch jung, etwa zwanzig, und sahen eigentlich nicht aus wie abgebrühte Killer, sondern eher wie geschmeidige Diebe, die sich auf einer gewissen Ebene bewegten und immer nur das taten, was man ihnen auftrug. Aber darin waren sie dann auch Profis, denn von der Dunkelheit unterschieden sie sich kaum. Sie trugen schwarze Kleidung und hatten sich Strickmützen über den Kopf gezogen, in die sie Sehschlitze geschnitten hatten. Beide standen vor den breiten Kühlschränken, in denen die Konserven aufbewahrt wurden. Zwischen den Dieben hatte eine Ledertasche Platz gefunden. Der Reißverschluss war noch nicht geschlossen worden. Zur Hälfte war die Tasche mit Konserven gefüllt. »Jetzt heben Sie mal die Hände hoch, meine Herren!« sagte ich und winkte mit der Waffe. Die beiden schauten sich an, flüsterten, dann hoben sie die Schultern und kamen unserer Aufforderung nach. Sie hatten eingesehen, dass sie hier nichts mehr reißen konnten. Ich hakte mit der linken Hand die Schelle los und warf sie meinem Freund Suko zu. Beide Diebe waren noch so überrascht, dass sie an eine Gegenwehr nicht dachten. Suko konnte ihnen problemlos die Handschellen anlegen und sie zur Seite dirigieren. Erst dann trat Hogan in Aktion. Er räumte die Konserven aus der Tasche wieder in den Schrank ein. Die Diebe schwiegen. Wie zwei arme Sünder standen sie am Fenster und schauten zu Boden. Ihre Gesichter sahen so blass aus wie mehliger Teig. Sie nagten auf den Unterlippen, als hätten sie sich abgesprochen. Nur ihr Atem war zu hören. Hogan hatte die Zylinder wieder eingeräumt. Wütend schaute er die Diebe an. »Was machen wir denn jetzt mit ihnen?« »Verhören.« »Sie wollen das?« »Sicher!« Hogan knetete sein Kinn. »Ich könnte Ihnen mein Büro zur Verfügung stellen…« »Das wäre nett.« »Kommen Sie mit.« Suko kümmerte sich um die Männer. Wir verließen den Raum, und über Sprechfunk gab Hogan das Ende des Alarms bekannt. Er berichtete auch, dass wir die beiden Diebe gestellt hatten. Alles war glattgegangen, zu glatt für meinen Geschmack, was nicht an den Dieben lag, sondern an den Umständen und natürlich auch an uns. In Hogans Büro stand auch eine Kaffeemaschine. Hogan fragte nach Kaffee, und diesmal stimmte auch Suko zu. Die beiden Männer hatten sich hinsetzen können. Es gab genügend Stühle. Sie saßen mit dem Rücken an der Wand, während wir vor ihnen
hockten. Hogan verließ das Büro noch einmal, er wollte sich um einen bewusstlosen Mitarbeiter kümmern und dann zurückkehren. Suko stellte mich und sich vor. Auch jetzt reagierten sie nicht und blieben stumm. Der Inspektor wollte ihre Namen wissen, die sagten sie uns. Einer hieß Tino Gray, der andere sagte nur Cervio. Er war größer als Tino, sein Haar hatte er grau gefärbt. Wir sahen es, weil Suko ihnen die Mützen von den Köpfen gezogen hatte. Tinos Haar war schwarz. Im Nacken hatte er es zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Auf den bleichen Gesichtern der Männer schimmerten Bartschatten. Sie sahen aus, als würden sie im weitesten Sinne zur Mafia gehören. Aber was sollte die mit dem Raub der Blutkonserven zu tun haben? War die ›Ehrenwerte Gesellschaft‹ in den Handel mit Blut eingestiegen? Ich musste mit allem rechnen, denn die Mafia hatte ihre Finger eigentlich überall und in jedem Geschäft stecken. »Für wen arbeitet ihr?« fragte Suko. Schweigen. »Ihr habt also keinen Auftraggeber?« Schulterzucken. »Mafia?« Nichts. Ich schaute auf die blubbernde Kaffeemaschine, während Suko weiterfragte, ohne eine Antwort zu erhalten. Sie wollten einfach nicht sagen, für wen die Blutkonserven bestimmt waren. Ich glaubte daran, dass der Fall noch kompliziert werden konnte. Als Hogan zurückkam, war der Kaffee durchgelaufen. Hogan war die Erleichterung anzusehen, und er freute sich schon darauf, Informationen zu bekommen. »Was haben sie gesagt?« »Nichts.« Hogan schluckte. »Wieso nicht?« »Nur ihre Namen.« Ich sagte sie ihm, während ich für Suko Kaffee einschenkte und ihm die Tasse dann brachte. Die beiden Diebe bekamen nichts. Wer schwieg, brauchte auch nicht trinken. Hogan schüttelte den Kopf. »Das verstehe, wer will, aber nicht ich. Warum haben sie nichts gesagt?« »Wahrscheinlich aus Angst vor ihren Auftraggebern. Wir können uns vorstellen, dass die Mafia dahintersteckt. Haben Sie schon davon gehört, Mister Hogan?« Er trank einen Schluck. »Mafia im Blutkonservenhandel«, murmelte er. »Also, vorstellen könnte ich mir so etwas, aber ich weiß nicht, ob das einen so großen Profit abwirft, dass es für die verdammte Bande interessant gewesen wäre.« »Damit kennen wir uns leider auch nicht aus, aber wir werden noch dahinterkommen.«
»Meinen Sie?« »Bestimmt.« Hogan grinste. »Wissen Sie, Sinclair, ich bin ja nicht schadenfroh, aber mich freut es schon, dass Sie die Dinge jetzt am Hals haben. Für uns ist der Käse damit gegessen, finde ich.« »Da haben Sie recht.« »Wollen Sie die Typen sofort mit nach London hinein nehmen oder erst später abholen lassen?« »Nein, wir nehmen sie mit.« Er lächelte erleichtert. »Das ist mir auch lieber, wenn ich ehrlich sein soll.« Verdenken konnten wir es ihm nicht. Auch ich hätte an seiner Stelle so gehandelt. Die leere Tasse stellte ich zurück und baute mich vor den beiden auf. Suko stand neben mir. Sein Gesicht sprach Bände. Er war wütend darüber, dass er nichts erreicht hatte. Ich unternahm noch einen Versuch und erklärte ihnen, dass es besser war, wenn sie redeten, denn der Diebstahl von Blutkonserven war nicht mit dem eines Fahrrads zu vergleichen. Da würden die Richter andere Maßstäbe anlegen, denn im Hintergrund grassierte immer das Schreckgespenst AIDS. »Damit haben wir nichts zu tun!« sagte Cervio. »Womit dann?« Er hob die Schultern. Ich beugte mich vor. »Verdammt noch mal, weshalb seid ihr so verstockt? Wollt ihr für die großen Hintermänner die Kastanien aus dem Feuer holen? Ihr seid die letzten in der Reihe, denn die Kleinen hängt man, aber die Großen kommen davon.« »Wir wissen nichts«, sagte Tino Gray. »Das glaube ich euch nicht.« »Wir haben sie nur geholt.« »Und leer getrunken, wie?« höhnte ich. »Nein, wir gaben sie ab.« »Das ist doch schon etwas. Wo denn?« »In London.« »Die Stadt ist groß. Genauer, bitte.« Tino nannte uns eine Adresse. Sein Kollege schaute zu Boden. Dabei bewegte er seine Füße auf der Stelle hin und her. Wahrscheinlich wollte er nicht reden, aber Tino gab mir die Adresse. Die Straße lag im Norden, nicht weit vom Zoo entfernt. Keine gute Gegend. »So, und jetzt können Sie mich einsperren. Mehr kann ich euch nicht sagen.« Ich lächelte breit. »Vielleicht reicht das auch.« Dann schaute ich auf die Uhr. Mir war eingefallen, dass ich Sir James versprochen hatte, ihn
anzurufen. Die Zeit sollte dabei keine Rolle spielen. Er wartete bereits darauf. Von diesem Büro aus wollte ich nicht telefonieren, denn die beiden Diebe sollten nicht unbedingt zuhören. Ich erkundigte mich nach einem weiteren Anschluss. »Gehen Sie zum Empfang, Mister Sinclair«, sagte Hogan. »Dort haben Sie die nötige Ruhe.« »Danke.« Suko winkte mir zu. Er wollte bei den Gefangenen bleiben und sie nicht aus den Augen lassen. Gut ging es ihnen nicht. Sie schwitzten Blut und Wasser. Wahrscheinlich bereuten sie ihre Aussagen schon. Ich verließ das Büro und machte mich auf den Weg zum Empfang. Der Fall war leicht und locker abgelaufen. Eigentlich hätte ich zufrieden sein müssen. Ich war es trotzdem nicht und grübelte jetzt mehr als noch vor einer halben Stunde über die Gründe nach. Ich fand sie nicht. Aber ich kam mir vor wie jemand, der einen Stein ins Wasser geworfen und für gewaltige Wellenbewegungen gesorgt hatte. Da kam noch etwas auf uns zu, das stand für mich fest… *** Als John Sinclair die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließ er Suko und Hogan zurück. Hogan lächelte knapp und meinte, dass er nicht in Sukos Haut stecken wollte. »Warum nicht?« »Das kann ich Ihnen sagen. Sie haben jetzt den Ärger noch vor sich. Oder glauben Sie, dass es damit getan ist, dass Sie die beiden Diebe gefangen haben?« »Nicht direkt.« »Sehen Sie. Wenn tatsächlich die Mafia dahintersteckt, werden Sie gegen Betonwände rennen. Ich kann mir vorstellen, dass dieser Bluthandel durchaus lukrativ aufgezogen worden ist.« »Sorry, da wissen Sie mehr als ich. Doch glauben Sie mir, Mister Hogan, wir werden uns damit beschäftigen und auch Hintergründe herausfinden. Das, was hier geschehen ist, passierte nicht grundlos. Da steckt viel mehr dahinter, finde ich.« Hogan nickte, schenkte sich wieder Kaffee ein und meinte: »Nur eines bleibt ein Rätsel.« »Was denn?« »Die… die Vögel«, sagte er und trank, wobei er fast den Kaffee verschüttet hätte, weil einer der Diebe einen Schrei ausstieß und plötzlich leichenblass wurde.
Es war Cervio, und er saß geduckt und wie sprungbereit auf seinem Stuhl. Seinem Partner ging es kaum anders. Er kam Suko vor wie eingefroren. »He, was ist los? Mögt ihr keine Vögel?« »Vögel sind es nicht!« flüsterte Tino. »Was dann?« Tino schüttelte den Kopf. Damit war Suko überhaupt nicht einverstanden. »Kommen Sie, Mann. Jetzt haben Sie schon so viel erzählt, dann müssen Sie den Rest auch noch sagen.« Er sprach zu ihm wie der Vater zu einem Kind. Ihm war nicht entgangen, dass beide Männer zitterten. Auch Hogan schüttelte den Kopf. An Suko gewandt fragte er: »Was haben die denn?« »Keine Ahnung, aber es muss mit den Vögeln zusammenhängen, nach denen ich fragte.« »Es sind keine Vögel!« Jetzt sprach Cervio. Wie anklagend streckte er Suko die gefesselten Hände entgegen. »Das sind alles, nur keine Vögel, glauben Sie mir.« »Dann sagen Sie uns, wer oder was sie sind.« Die Diebe schauten sich noch einmal an. Zuerst nickte Cervio, danach sein Freund. »Keine Vögel, sondern Vampire…« Jetzt war es heraus, und eigentlich hätten die beiden erwartet, ausgelacht zu werden, doch Suko lachte nicht. Er war ernst geblieben, im Gegensatz zu Hogan, der zwar auch nicht lachte, dafür den Kopf schüttelte. Ein wütender Ausdruck war dabei in sein Gesicht getreten, denn er fühlte sich auf den Arm genommen. Er holte tief Atem, bevor er fragte: »Spinnen Sie? Sind Sie verrückt?« Gemeinsam schüttelten sie die Köpfe, und sie bekamen in Suko einen Fürsprecher. »Ich glaube schon, dass die beiden recht gehabt haben, und Sie sollten sich auch damit abfinden, dass es diese Vampire gibt. Es waren keine Vögel, die Ihre Männer entdeckt haben, Mister Hogan, das waren riesige Fledermäuse – Vampire, die dieses Gelände unter Kontrolle hielten.« Suko hatte so ernst gesprochen, dass selbst Hogan davon beeindruckt war. Er hob die Hand und fuhr über seine Kehle hinweg, als wollte er dort nach Vampirbissen tasten, die er zum Glück nicht fand. Das Spotten allerdings war ihm vergangen. Sehr ernst fragte er: »Und das sagen Sie so als Polizeibeamter?« »Genau.« »Aber warum denn?« Suko lächelte kantig. »Weil mein Kollege und ich uns damit beschäftigen. Nicht allein mit Vampiren, sondern auch mit anderen übersinnlichen, okkulten, dämonischen und in der Regel unerklärlichen
Vorgängen und Ereignissen. Man hat uns nicht ohne Grund zu Ihnen geschickt, Mister Hogan. Da steckt schon Methode dahinter.« Hogan setzte sich. »Ich kann es nicht fassen, verflucht. Es ist doch der reine Wahnsinn. Vampire!« Er hob einen Arm und ließ die Hand klatschend auf den Oberschenkel fallen. »Ich kann es nicht fassen, es ist mir unbegreiflich, es will mir nicht in den Kopf, und ich frage Sie, wie wir die Vampire, die Diebe und das Blut unter einen Hut bringen können. Natürlich«, er gab sich selbst die Antwort, »Vampire sind nun mal Bluttrinker. Wahrscheinlich sind sie hier, um den Dieben ihre Beute wieder abzunehmen.« Er lachte sich selbst aus. »Verdammt, jetzt rede ich schon, als würde auch ich daran glauben.« »Tun Sie das ruhig«, sagte Suko. »Springen Sie über Ihren eigenen Schatten. Umso weniger Überraschungen werden Sie erleben. Das können Sie mir glauben.« »Möchte ich ja gern, aber…« »Sie sind noch hier«, flüsterte Tino Gray. »Sie… sie sind uns auf der Spur.« »Und sie hätten euch die Konserven abgenommen, nicht wahr?« »Das nehmen wir an!« flüsterte Tino. Suko blieb beim Thema. »Ihr wisst Bescheid. Habt ihr die Vampire schon öfter gesehen?« »Einmal.« »Seid ihr angegriffen worden?« Diesmal schüttelte Cervio den Kopf. »Nein, auch nicht. Vielleicht waren wir zu schnell. Wir haben den Wagen in der Nähe versteckt. Sie konnten uns nicht mehr verfolgen.« »Dann hätten sie euch heute wahrscheinlich erwischt«, sagte Suko. Beide bekamen eine Gänsehaut, und beide gaben Suko durch ihr Nicken recht. Er fragte weiter. »Habt ihr euch darüber Gedanken gemacht, wer sie auf eure Fersen gesetzt hat?« »Nein«, murmelte Tino. »Es müsste demnach eine Gegenpartei geben, die euch nicht eben wohlgesonnen ist und die nicht möchte, dass die Blutkonserven, die ihr raubt, irgendwo eingesetzt werden können.« »Wahrscheinlich. Nur haben wir darüber nicht nachgedacht. Wir glauben aber, dass sie noch in der Nähe sind.« »Als Fledermäuse? Oder habt ihr sie auch in einer anderen Gestalt gesehen?« »Nur fliegend.« »Können die sich denn verwandeln?« fragte Hogan. »Ist das wie in diesen Dracula-Filmen?« »Richtig, Mister Hogan. Damit kommen Sie der Sache schon sehr nahe. Und an Aufgabe denken sie so leicht nicht. Außerdem haben sie keine
Schwierigkeiten gehabt, auf dieses bewachte Gelände zu gelangen, wie auch die beiden Diebe.« Hogan strich über seine Augenbrauen. »Ja, das macht mir auch Sorgen, wenn ich ehrlich sein soll.« Suko ging zum Fenster. Bisher hatte er die Fledermäuse noch nicht zu Gesicht bekommen. Obwohl dieses Unternehmen in einem freiliegenden Gelände seinen Sitz hatte, gab es Verstecke genug. Die Blutsauger brauchten sich nur auf die flachen Dächer zu legen, dann waren sie so leicht nicht zu sehen. Er öffnete das Fenster, was Proteste bei den beiden Dieben auslöste. »Nein, nicht, Sie locken die Bestien nur!« beschwerte sich Tino. »Das wäre mir sogar sehr recht«, murmelte Suko. »Wie können Sie das nur behaupten?« Der Inspektor gab keine Antwort. Er drückte seinen Kopf an der Aluminiumkante des Fensters vorbei und schaute in die tiefe Dunkelheit der Nacht hinaus. Sie lag still und unbeweglich wie ein gewaltiger Schwamm über dem Land. Noch immer regte sich kein Windhauch, auch der Innenhof lag leer vor ihm. Er sah das Licht der Lampen, das gegen den finsteren Untergrund geschleudert wurde und an bestimmten Stellen für eine sehr grelle Helligkeit sorgte. Das war auch alles. In der Luft tat sich ebenfalls nichts. Was sich weit oben leicht bewegte, waren Wolken. Eine tiefe Ruhe hielt das Gelände umschlungen. Er beugte sich nach links. Dort standen einige Transportwagen dicht nebeneinander in einer Parkreihe. In den Lücken zwischen ihnen konnte sich natürlich jemand verstecken, aber es gab auch die anderen Möglichkeiten wie eben die flachen Dächer. Suko zog sich wieder zurück und schloss das Fenster. Die Diebe atmeten erleichtert auf. »Was entdeckt?« fragte Hogan. »Nein, gar nichts.« Hogan wirkte erleichtert. »Dann scheinen wir noch einmal Glück gehabt zu haben.« »Kann sein.« Cervio hatte etwas dagegen. »Nein«, sagte er heftig. »Nein, das glaube ich nicht.« »Warum nicht?« »Die lassen bestimmt nicht locker, und wir wollen auch in der Nacht nicht hier weg. Das ist doch ihre Zeit, das ist ihre Welt. Da sind sie den Menschen weit überlegen.« Suko gab ihm recht, aber er dachte an etwas anderes. Hogan fiel auf, wie oft er auf die Uhr schaute. »Haben Sie was, Suko?«
»Ja, ich mache mir Sorgen. Diesmal nicht wegen der Vampire. Ich wundere mich nur, dass mein Freund und Kollege John Sinclair noch nicht zurückgekehrt ist.« Hogan überlegte. »Tja«, sagte er dann, »das ist in der Tat seltsam. Dann denken Sie auch an das, was ich…?« Er ließ den Satz unausgesprochen. Dafür weiteten sich seine Augen, und er starrte zum Fenster. Suko fuhr herum. Hinter der Scheibe bewegte sich ein bleiches Gesicht, und im nächsten Augenblick zerplatzte das Glas… *** Ich hatte die Portierloge nicht abgeschlossen und auch leer vorgefunden, so dass ich in aller Ruhe mit meinem Chef, Sir James, telefonieren konnte. Es war ja verabredet gewesen, dass ich mich mit ihm in Verbindung setzte, und schon nach dem zweiten Durchläuten hob er ab. »Ich wusste, dass Sie es sind, John«, sagte er, bevor ich noch ein Wort hatte sprechen können. »Was haben Sie entdeckt?« »Wir haben die Diebe.« »Das ist gut. Aber es ist nicht alles – oder?« »Nein, Sir«, gab ich süß-sauer lächelnd zu. »Das ist wirklich nicht alles gewesen. Sie scheinen den richtigen Riecher gehabt zu haben, muss ich leider zugeben.« »Blut und Vampire?« »Irgendwo schon.« Ich hörte ihn seufzen. Es klang zufrieden. Wahrscheinlich legte er sich jetzt bequemer hin. »Nun, dann berichten Sie mal, John. Ich bin auch um diese Zeit ganz Ohr.« Den Gefallen tat ich ihm gern. Nur konnte ich ihm nichts von einer Entdeckung sagen, denn mir war noch kein Blutsauger – in welcher Gestalt auch immer – zu Gesicht gekommen. Sir James ließ sich den Bericht durch den Kopf gehen. Dann meinte er: »Es könnte durchaus Probleme geben, nehme ich an – oder?« »Damit rechne ich.« »Ich werde natürlich die Adresse überprüfen lassen, die Sie mir gegeben gaben, aber kommen wir noch einmal zu Ihnen. Da sind Diebe, die Blutkonserven stehlen. Gleichzeitig existieren da riesige Fledermäuse, die ihnen die Beute höchstwahrscheinlich wieder abnehmen wollen. Das lässt darauf schließen, dass die bei der Firma TRANS EX zwischengelagerten Konserven nicht für die Fledermäuse bestimmt waren.« »So denke ich auch.«
»Für wen dann?« »Das ist die große Frage. Als einzige Spur haben wir eben nur diese Anschrift. Durch sie können wir weiterkommen und den Fall möglicherweise aufrollen, aber ich will mir da keine Grenzen setzen, denn es kann auch ganz anders laufen.« »Sehe ich ein, John. Wann kann ich Sie zurückerwarten? Oder wollen Sie noch Jagd auf Ihre speziellen Freunde machen?« »Das hatte ich eigentlich nicht vor. Ich würde aber auch nicht nein sagen, wenn sie mir über den Weg laufen.« »Das ist gut. Noch eine Frage. Denken Sie auch an Mallmann, der im Hintergrund die Fäden ziehen könnte?« »Ja, auch an ihn.« »Und an Assunga?« »Sicher.« »Dann seien Sie bitte auf der Hut, John.« »Werde ich, Sir. Eine gute Nacht noch.« Er lachte und legte auf. Ich erhob mich. Die Luft stand. Wieder war mir der Schweiß ausgebrochen. Durch die breite Verglasung schaute ich nach draußen, wo der Innenhof still vor meinen Augen lag. Wirklich so still? Ich war mir da nicht sicher. Mein Gefühl sagte mir, dass die andere Seite auf Fehler wartete, um dann blitzschnell zuschlagen zu können. Und Fehler wollte ich vermeiden. Um gegen die Blutsauger ankämpfen zu können, trug ich die richtigen Waffen bei mir. Deshalb machte es mir auch nichts aus, das Gebäude zu verlassen und in die tiefe finstere Nacht hineinzutreten. Ich ließ eine Treppe zurück und schaute mich um. Nichts war zu sehen. Nicht einmal Staub trieb durch die hellen Lichtinseln der Lampen. Alles lag still und verlassen. Still stimmte schon, aber auch verlassen? Um das herauszufinden, musste ich einen Stellungswechsel vornehmen. Ich wollte mir auch die Rückseiten näher anschauen, denn noch immer glaubte ich daran, dass die Vampire hier lauerten. Für sie bewegten sich hier Blutkonserven auf zwei Beinen. Als so etwas fühlte ich mich nicht, aber ich dachte auch an das ahnungslose Wachpersonal, und das musste ich vor den Blutsaugern in Schutz nehmen. In der Ferne war der Himmel etwas heller. Dort lag der gewaltige Moloch London, der auch in der Nacht nie zur Ruhe kam. Ich schaute zum Himmel, wo sich nichts tat. Stille um mich herum. Ich ging weiter über den Hof. Die Wachposten sah ich nicht mehr. Der Alarm war aufgehoben worden, und so hatten die Männer auch ihre Außenstellen verlassen.
Gedanklich beschäftige ich mich wieder mit den beiden Bluträubern. Mit ihnen kam ich nicht zu Recht und noch weniger mit der unbekannten Person, die ihnen die Aufträge erteilt hatte. Ich glaubte auch nicht mehr daran, dass dieses Blut in die Länder der Dritten Welt weiter verschachert wurde, man hatte damit etwas anderes vor. Vampire spielten plötzlich mit… Untote, die auf das Blut aus der Konserve scharf waren? Das wollte mir einfach nicht in den Kopf, und meine Rechnung stimmte hier vorn und hinten nicht. Ich hatte das Gebäude umrundet und die Rückseite erreicht. Hinter den allermeisten Fenstern lag die tiefe Dunkelheit, nur eines in der Mitte war erleuchtet. Dort befand sich das Büro des Sicherheitschefs Hogan. Da wartete auch Suko mit den beiden Dieben. Über dem Fenster gab es keine zweite Reihe mehr. Eine Etage hatte ausgereicht. Doch auf dem flachen Dach sah ich eine Bewegung. Sofort meldete sich meine innere Alarmglocke. Diese Bewegung auf dem Dach war nicht normal. Dort lauerte etwas Fremdes, und für mich kam nur ein Blutsauger in Frage. Hatte er mich gesehen? Davon ging ich aus, weil ich mich auf keinen Fall versteckt hatte. Ich stand gewissermaßen auf dem Präsentierteller als Lockvogel für den Blutsauger. Etwas flatterte auf. Ich wollte meine Waffe ziehen. Im selben Augenblick hörte ich hinter mir ein Geräusch. Ein leichtes Zischen, mehr nicht. Es reichte aus. Ich wirbelte herum, zog noch in der Bewegung meine Beretta, setzte sie aber nicht mehr ein, denn der heftige Schlag trieb mir den Schmerz durch den rechten Arm. Wie von selbst öffneten sich die Finger, und die Beretta fiel zu Boden. Ich hörte noch das Splittern eines Fensters, dann hing mir der Blutsauger bereits an der Kehle… *** Der Vampir hechtete zusammen mit den Glasscherben in den Raum. Sie flogen Suko entgegen, der ihnen jedoch auswich und sich mit einer blitzschnellen Bewegung drehte, so dass er vor den beiden Dieben stand und sie mit seinem Körper schützte. Was dann geschah, spielte sich innerhalb weniger Sekunden ab, doch es kam den Beteiligten lang vor.
Der Vampir hatte sich auf Suko konzentrieren wollen. Da dieser jedoch seiner Reichweite entwichen war, jagte er auf ein anderes Opfer zu, auf Hogan. Der Mann wollte seine Pistole ziehen, doch der Blutsauger war schneller. Er schmetterte ihm die kalte Totenfaust ins Gesicht. Hogan flog zurück und krachte gegen die Tür. Sofort setzte der Wiedergänger nach. Er bekam ihn zu fassen und riss ihn wieder hoch. Er starrte dabei in das blutige Gesicht des Menschen, und das stachelte seine Gier noch weiter an. Hogan war benommen. Er konnte sich nicht wehren und wäre eine sichere Beute für den Vampir geworden, wenn es da nicht noch einen anderen gegeben hätte. Suko war dicht hinter ihm in seinem Rücken aufgetaucht. Er legte ihm die rechte Hand auf die Schulter. Der Blutsauger schrak zusammen. Dann drückte er sich in die Knie, und im nächsten Augenblick schnellte er hoch, wirbelte dabei herum, breitete die Arme aus, als wären sie Schwingen. Suko tauchte unter den wirbelnden Händen hinweg, dann schlug er einmal nur mit der Dämonenpeitsche zu, deren Riemen längst aus dem Griff gerutscht waren. Sie umwickelten den Blutsauger. Der Wiedergänger zuckte zusammen. Er drückte sich nieder in die Knie, er keuchte plötzlich. Auf seinem bleichen, fetten glänzenden Gesicht erschienen erste Falten, als es Risse bekam. Die Magie der Peitsche durchwühlte nicht nur die Gestalt, sie zerstörte sie auch radikal und gönnte ihr kein Überleben. Er brach zusammen. Schon als er den Boden berührte, war auch die restliche Haut alt und grau geworden. Er hatte es auch nicht mehr geschafft, sich zu verwandeln, seine Vernichtung war einfach zu schnell über die Bühne gelaufen. Ein verkrustetes Monstrum lag auf dem Büroboden, und es wurde von den beiden Dieben aus großen Augen angestarrt. Darum kümmerte sich Suko nicht. Er zerrte Hogan auf die Beine und drückte ihn auf einen Stuhl. Hogans Lippen waren aufgeplatzt. Er blutete auch aus der Nase, denn die steinharte Faust hatte ihn mit ihrer vollen Wucht erwischt. »Ist sonst alles in Ordnung?« fragte Suko. Hogan nickte nur. Die beiden Diebe brauchte er nicht zu fragen. Sie hatten sich am besten aus der Affäre gezogen. Suko hatte mit wenigen Schritten das Fenster erreicht. Er glaubte nicht daran, dass es nur ein Blutsauger gewesen war. Er hatte richtig getippt.
Suko sah den zweiten. Und der befand sich im Kampf mit seinem Freund John Sinclair… *** Ich hätte schneller sein müssen, so wären mir die Wunden am Hals wohl erspart geblieben. Da ich es nicht mehr schaffte, konnten die langen Nägel des Blutsaugers blutige Furchen in meine dünne Haut hineinritzen, was mein Gegner als einen Erfolg notierte, denn anders konnte ich den freudigen Fauchlaut bei ihm nicht erklären. Er wollte mein Blut. Deshalb warf er sich vor. Aus dem Oberkiefer hatten sich die schimmernden Eckzähne wie kleine Waffen nach vorn geschoben. Wenn sie zupackten, würden sie wie Stifte in meine Haut eindringen. Auch mit Fäusten kann man sich gegen einen Vampir wehren. Zwar nicht immer, aber es klappte schon, wie auch bei mir, als ich ihn mit einem heftigen Rammstoß der Rechten auf Distanz hielt. Ich hatte seinen Hals erwischt und das Gefühl dabei gehabt, gegen Baumrinde geschlagen zu haben. Der Vampir drehte sich unter der Wucht des Treffers. Er knurrte, fing sich schnell wieder und wollte mich erneut angreifen. Als er kam, sah er nicht nur mich, sondern auch den silbernen Dolch, dessen Klinge von unten nach oben schräg auf ihn zielte. Natürlich ahnte er die Gefahr, er wollte auch weg, aber so schnell war er nun doch nicht. Auch mit einer Verwandlung in die riesige Fledermaus klappte es nicht so ganz. Ich war schneller, sprang ihn an – und drückte ihm die Klinge gegen die Kehle. Ich hörte es zischen und nahm den Dolch um einen Zentimeter zurück. Er befand sich aber immer noch so nah an seinem Hals, dass sich der Wiedergänger der Gefahr sehr genau bewusst war, in der er schwebte. Er verdrehte die Augen und kam mir dabei vor, als wollte er für einen Zirkusauftritt üben. Ich schielte über die Klinge hinweg gegen seinen Hals, wo die Haut eigentlich totenweiß schimmerte, aber nicht in der gesamten Breite, denn an einer Stelle war sie verbrannt und sah wirklich aus wie nasse Baumrinde. »Du hast verloren«, sagte ich zu ihm. »Du hast endgültig verloren! Siehst du das ein!« Er rollte mit den Augen. Sein Mund zuckte. Aus dem rechten Winkel rann eine dunkle, widerlich riechende Flüssigkeit. Der gleiche Geruch strömte mir auch aus seiner Halswunde entgegen, aber das war mir in diesem Fall egal. Ich wollte von ihm Informationen haben. Die eine Adresse war mir einfach zuwenig.
Ein Vampir ließ sich normalerweise nicht einschüchtern. Es sei denn, es geschah unter dem Zeichen des geweihten Silbers, wie es hier der Fall war. Mein Dolch strahlte aus. Nicht so stark wie das Kreuz, aber für ihn reichte es. Zudem sagte ihm mein Blick, dass ich kein Pardon mit ihm kannte. »Wer hat dich geschickt? Wer?« Er wollte sich bewegen und zurückdrücken, aber die Klinge blieb hautnah bei ihm. »Wer?« »Wir sind gekommen…« »Das habe ich gesehen. Bestimmt nicht von allein. War es Mallmann? Seid ihr seine Vasallen?« Er brauchte mir keine normale Antwort zu geben. Das Rollen und erschreckte Aufleuchten in seinen Augen reichte mir aus. Mit dieser Frage hatte ich genau ins Schwarze getroffen. »Also Mallmann! Warum?« »Nein, ich…« Wieder berührte ich ihn mit der flachen Seite des Dolchs. Diesmal an einer anderen Stelle des Halses, dicht unter dem rechten Ohr. Und abermals klang das Zischen aus, zog sich die Haut zusammen, um der eines Bratherings immer ähnlicher zu werden. »Beim dritten Mal stirbst du endgültig!« versprach ich ihm. »Ich will wissen, warum euch Mallmann geschickt hat.« »Das Blut… das Blut…« »Die Konserven meinst du?« »Ja.« »Was ist mit ihnen?« »Sie… sie…« gurgelte er, »sie sollten nicht für ihn sein. Das will Mallmann nicht.« »Für wen denn?« »Rabanus!« Ich hatte einen Namen gehört, der mir bisher völlig unbekannt gewesen war. Deshalb fragte ich noch einmal nach. »Tatsächlich Rabanus?« »So heißt er.« »Und was ist er?« »Der Blut-Pirat, der Blut-Pirat. Er soll wieder zu neuem Leben erweckt werden, aber Mallmann will es nicht. Schon zuviel Blut ist für ihn gesammelt worden…« »Wo wird er erweckt?« »Aus der Erde, tief aus der Erde. Er ist einer von den ganz alten, sagt Mallmann.« Bei dieser Antwort rann mir ein Schauer über das Gesicht. Ich kannte diese ganz alten. Höchstwahrscheinlich verbarg sich dahinter eine fürchterliche Dämonenart, die es schon seit Bestehen der Welt gab und
die sich bisher immer versteckt gehalten hatte, wobei sie in der Lage war, alle möglichen Gestalten anzunehmen. Es waren die Kreaturen der Finsternis. Nicht mehr und nicht weniger, doch dahinter verbarg sich meiner Ansicht nach der absolute Schrecken, denn das hatte ich schon mehr als einmal zu spüren bekommen. Als Vampire hatte ich sie bisher nicht erlebt, aber warum sollten sie, die Urzeit-Dämonen, auch nicht die Gestalt eines Blutsaugers annehmen können? Alles war hier möglich. »Was weißt du noch über Rabanus?« »Nichts mehr!« kreischte der Blutsauger. »Er… er… war nur begraben…« »Ist er schon frei?« Der Vampir heulte auf. »Weiß nicht. Blut ist genug da. Sie haben es hier geholt.« Er brach ab, und ich merkte, wie er körperlich schwächer wurde. Das war mir egal, denn meine Gedanken hatten sich bereits auf Wanderschaft begeben. Es war also Blut geholt worden. Kein frisches, direkt aus dem Körper, das wäre möglicherweise noch mehr aufgefallen. Wenn Blutkonserven gestohlen wurden, dachte doch kein Mensch daran, dass dies für einen Vampir geschah. Da verdächtigte man eher einen gewissen illegalen Handel. Die Diebe hatten es schon raffiniert angestellt, und ich merkte, wie der Ärger in mir hochstieg, auch gepaart mit einer gewissen Furcht, weil die Vampire alle Möglichkeiten ausnutzten. Die beiden Diebe wussten dabei sicherlich am wenigsten. Der Untote röchelte und versuchte verzweifelt, sich auf den Beinen zu halten, was ihm immer schwerer fiel, denn die Verletzungen am Hals stellten sich als noch schlimmer heraus, als sie im ersten Moment ausgesehen hatten. Er taumelte von mir weg. Ich setzte auch nicht mehr nach. Er riss die Hände hoch und drückte die Finger gegen seinen Hals. Mit den Nägeln riss er dort die weiche Haut ab. Es war ein erschreckendes Bild. Ich konnte davon ausgehen, dass er nicht überleben und sehr langsam sterben würde. Diesmal für immer. Mitleid empfand ich nicht. Auf keinen Fall mit Kreaturen, wie er eine war. Er würgte seine Zunge hervor, die aussah wie ein alter Lappen, dann drehte er sich im Fallen herum und blieb auf dem Bauch liegen. Keine Chance mehr. Ich wollte auch nicht weiter auf den zuckenden Körper schauen. Wichtig war nur, dass ich mehr erfahren und Mallmann wieder einen seiner Diener genommen hatte. Rabanus! Dieser Name spukte durch meinen Kopf. Man hatte ihm auch einen Kampfnamen gegeben. Rabanus, der Blut-Pirat. Das hörte sich verflucht gefährlich an, sicherlich war er es auch. Und Mallmann alias Dracula II?
Ich konnte mir vorstellen, dass ihm dieser Konkurrent keineswegs zu Freudensprüngen verhalf. Das sah mir ganz nach einem Vampirkrieg aus. Mal sehen, ob wir da die lachenden Dritten sein konnten… *** Ich war durch das zerstörte Fenster in Hogans Büro geklettert, wo sich bereits ein als Sanitäter ausgebildeter Wachtposten um seine Verletzungen kümmerte. Suko stand daneben und schaute zu. Die beiden Diebe saßen als traurige Figuren auf ihren Stühlen und wussten nicht, wo sie hinschauen sollten. »Hat alles geklappt?« fragte Suko. Ich deutete auf den Rest des am Boden liegenden Blutsaugers. »Ja, genau wie bei dir.« »Ist okay.« Wir warteten, bis der Sanitäter verschwunden war. Hogan wollte noch bleiben, auch wenn er nur nuschelte, anstatt zu sprechen. Zwei breite Pflaster, um die Verbandmull gelegt worden war, zierten sein Gesicht. In seinen Augen las ich noch immer das Nicht-Begreifen. Für ihn war eine Welt zusammengebrochen. »Es war gut, dass wir sie erwischt haben«, sagte ich und nahm auf der Schreibtischkante Platz. Mit einem Taschentuch wischte ich über meinen feuchten Nacken. »Wieso?« fragte Suko. »Der eine hat geredet.« Sukos Augen leuchteten auf. »Und? Können wir weitermachen? Hast du eine neue Spur?« »Ja, sie heißt Rabanus.« Er schaute mich ebenso komisch an, wie ich den Vampir angesehen hatte. »Rabanus«, wiederholte er. »Verdammt noch mal, den Namen habe ich noch nie gehört.« »Ich vorher auch nicht.« »Und jetzt?« »Werden wir ihn suchen.« »Wie schön. Sicherlich weißt du auch, wo du dabei anfangen willst – oder?« »Kann ich dir sagen.« »Bitte.« Ich deutete auf die Diebe. »Die Adresse, die sie uns angegeben haben, muss so etwas wie eine Kontaktstelle gewesen sein. Etwas anderes kann ich mir nicht erklären.« »Und sonst?«
»Nichts weiter«, sagte ich leise und streckte mich. »Da müssen wir hin. Für diesen Rabanus war das Blut bestimmt, und ich gehe mal davon aus, dass es gereicht hat.« »Für eine Erweckung?« »Ja.« »Dann ist Rabanus ein Vampir.« Ich nickte sehr langsam und fügte noch hinzu: »Nicht nur ein Vampir, er ist noch mehr.« »Was denn noch?« »Eine Kreatur der Finsternis!« Suko wusste Bescheid, die anderen nicht. Deshalb schauten auch sie ziemlich ungläubig oder neutral. Mein Freund aber schrak zusammen, und seine Gesichtszüge verhärteten sich. Wie ich, so wusste auch er, welche Erfahrungen wir mit diesen Dämonen gesammelt hatten, die in diesen perfekten Masken auftraten und so gut wie kaum durchschaut werden konnten. Das war schon schlimm. »Was ist dieser Rabanus denn nun? Ein Vampir oder eine Kreatur der Finsternis?« »Beides.« Suko überlegte und fragte dann nach einem Grund. »Gibt es den überhaupt?« »Ich habe keine Ahnung. Aber Mallmann muss Wind von der Sache bekommen haben. Ich glaube nicht, dass er sich einen so starken Konkurrenten leisten kann.« »Das sehe ich auch so, John. Was bleibt, ist Feindschaft – Todfeindschaft und Vernichtung, wobei keiner von uns weiß, wer von beiden stärker ist und wem wir die Daumen drücken sollen.« »Keinem!« »Tatsächlich?« »Wir können nur hoffen, dass sie gleich stark sind. Wäre doch toll, wenn sie sich gegenseitig vernichten – oder? Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und dazu noch die lachenden Dritten zu sein, das stünde uns mal zu.« »Und was träumst du nachts?« fragte Suko. »Ich für meinen Teil hege da keine großen Hoffnungen. Bleiben wir mal wieder in der Gegenwart. Wenn mich nicht alles täuscht, können wir hier unsere Zelte abbrechen. Die Sache ist gelaufen.« Auch Hogan hatte zugehört. »Moment mal.« Er bemühte sich um eine verständliche Aussprache. »Sie meinen, dass die Gefahr damit vorbei ist und wir nicht mehr damit rechnen müssen, von weiteren Bestien attackiert zu werden?« »Das meinen wir«, gab ich ihm recht. »Wie können Sie so sicher sein?« »Aus Erfahrung.«
»Was ist denn mit uns?« Bisher hatten die beiden Diebe geschwiegen. Nun aber meldete sich Cervio, und in seiner Stimme hatte Angst mitgeklungen. Er war noch immer kreidebleich, hockte wie ein Häufchen Elend auf dem Stuhl und schaute uns von unten herauf bittend in die Gesichter. Sein Kollege sah kaum anders aus. »Ihr habt versagt«, stellte Suko fest. »Aber wir bringen euch in Sicherheit, auch vor den eigenen Leuten.« »Wohin denn?« Suko lächelte. »Scotland Yard hat immer sichere Orte, darauf könnt ihr euch verlassen. Bis dahin reicht nicht mal der lange Arm der Mafia. Ihr braucht also nicht zu zittern.« Sie nickten synchron und waren erleichtert. Man konnte sie ja nicht als Schwerverbrecher bezeichnen. Sie würden es beim Yard sogar noch gut haben. »Dann mal hoch«, sagte Suko. »Eine Fahrt in den anbrechenden Morgen hinein ist was Schönes, glaubt mir.« Da konnte er recht haben. Ich aber dachte daran, dass ich mich noch etwas hinlegen wollte. Die nahe Zukunft würde hart genug werden, das lag auf der Hand… *** Der Sprengmeister hieß Guy Sullivan, und er gehörte zu den harten Typen, die auch in einer TV-Serie gut als Sprengmeister hätten auftreten können, denn so wie er aussah, stellte man sich einen solchen Mann zumeist vor. Breit in den Schultern, trotzdem nicht dick, ein Kopf voller grauer Haare, die unter dem roten Helm des Chefs verschwanden. Arme, die Muskeln aufwiesen, und ein Gesicht, das Wind und Wetter regelrecht gegerbt hatte. Wenn es schwierig wurde, dann holte man ihn. So wie an diesem Berg, der abzurutschen drohte. In diesem Fall würde eine Ortschaft unter den Steinmassen zerstört werden. Ein ähnliches Phänomen hatte es vor kurzem in Germany gegeben, als ein Hang im Begriff war, in den Fluss Mosel zu rutschen. Durch eine genau getimte Sprengung war es den Spezialisten gelungen, die Gefahr zu bannen und den Hang so zu verflachen, dass nicht ein Felsstück in den Fluss gerollt war. Ähnliches wollte auch Sullivan durchführen. Er hatte mit den Sprengexperten aus der Schweiz gesprochen und sich noch gute Tipps geholt. Bei ihm war es nicht so schwierig, es sollte nur ein Drittel des Berges weggesprengt werden, und nicht nur, weil dieser Teil Gefahr lief, beim nächsten Regen abzurutschen, sondern auch, weil eine Straße geplant war, die direkt zum Highway führen sollte.
Natürlich hatte es genügend Proteste von Umwelt-Organisationen gegeben, aber die waren ignoriert worden. Außerdem bedrohte der Berg die Menschen, da musste gesprengt werden, obwohl an dieser Bedrohung die Menschen selbst die Schuld trugen, denn sie hatten den Hang im Laufe der Jahre einfach abgeholzt. Es hatte auch andere Warnungen gegeben. So war ein Esoteriker zu Sullivan gekommen und hatte von einer drohenden Gefahr berichtet, die im Berg lauerte. Darüber hatte der Sprengmeister nur gelacht und die später folgenden schriftlichen Warnungen allesamt in den Papierkorb geworfen. An einem Donnerstag endlich war es soweit. Schaulustige hatten sich eingefunden, standen aber in einer großzügig angelegten Sicherheitszone, wo nichts passieren konnte. In einem Zelt saßen Sullivan und zwei seiner Assistenten noch einmal zusammen. Wieder gingen sie den Plan durch, stellten noch einmal Berechnungen an, und der Computer druckte die Ergebnisse aus, die sich nicht von den übrigen Berechnungen unterschieden. Das gab den Männern ein gutes Gefühl. Der Champagner stand schon kalt, und Guy Sullivan blickte auf seine Uhr. »Tja, Freunde, es ist soweit. In fünf Minuten wird es krachen.« Seine Assistenten nickten. Sie erhoben sich erst, als auch Sullivan aufgestanden war. Er verließ das Zelt, hielt aber noch die rechte Klappe hoch und fragte, wie es mit den Zeitungshyänen aussah. »Wir haben sie zurückschaffen lassen!« lautete die Antwort. »Das war gut.« Sullivan ging über einen schmalen Weg bis zu der Stelle, wo er vor einem Abgrund endete. Jedenfalls lief ein Hang so steil nach unten, dass es wie ein Abgrund wirkte. Wer hier stand, konnte sich wie ein Feldherr fühlen, so erging es auch Guy Sullivan. Vor ihm lag der Berg. Eine gewaltige Masse an Gestein, tonnenschwer, durch Druck zusammengehalten, praktische Physik und Geologie. Sullivan hatte seine Leute überall verteilt. Einer der Assistenten schleppte den Kasten heran mit dem elektronischen Zünder. Man musste noch einen Stab drücken, um zünden zu können. Der Sprengmeister griff zum Sprechgerät. An den strategisch wichtigen Stellen hatte er seine Leute verteilt und erfuhr von ihnen, dass alles okay war. Sogar das Wetter spielte mit. Es war warm. Unter dem Himmel lag eine leichte Wolkendecke. Guy Sullivan wollte, dass die Geräte seiner Mitarbeiter eingeschaltet blieben. Jeder sollten den Countdown genau mitbekommen. Diese Sprengung musste etwas fürs Lehrbuch werden. Seine Assistenten nickten.
Sullivan grinste nur und drückte seinen roten Helm zurück. Der Zünder wurde eingestellt auf minus zehn Sekunden. »Sie können, Mister Sullivan.« Guy nickte. Er zählte von zehn ab nach unten. Niemand sprach mehr. Stille umgab ihn, und nur seine Stimme war zu hören. Selbst die Vögel schienen nicht mehr durch die Luft zu fliegen, und die gesamte Natur hielt den Atem an. Als Sullivan bei der Zahl fünf angelangt war, schoss ihm wieder die Warnung dieses Esoterikers durch den Kopf. Er dachte auch an die komischen Männer, die er vor zwei Tagen hier gesehen hatte. Sie waren ihm nicht geheuer gewesen und hatten ausgesehen wie Mafiosi. »Drei…« Es klappte alles, dachte er, es muss klappen. »Zwei…« Er spannte sich. Plötzlich war sein Mund trocken geworden. Dass ihm das als alten Hasen noch passieren musste. »Eins!« Stille. »Zünden!« Er drückte den Stab nach unten. Wenn jetzt nichts geschieht, dachte er, dann kannst du dich pensionieren lassen. Für den Bruchteil einer Sekunde spürte er die wahnsinnige Angst vor dem Fehlschlag, aber das traf nicht ein. Die Technik war perfekt. Der Berg grummelte. Er stöhnte auf, er rumorte, und dann flog plötzlich seine rechte Flanke mit einem gewaltigen Krachen auseinander, und ein noch größerer Staubpilz breitete sich aus. Wie eine gewaltige Nebelwand drückte er sich nach vorn. Eine Wolke, die alles verdeckte, auch den Erfolg. Sullivan wusste, dass er es geschafft hatte, sonst wäre die Flanke nicht so weggebrochen. Als nächstes Geräusch würden die Champagnerkorken knallen, das stand fest. Er starrte nach vorn, die Hände in die Seite gestützt, breitbeinig auf der Stelle stehend, und er wartete darauf, dass sich der Staub allmählich senkte. Von irgendwoher klang dünner Beifall auf. Da standen Leute, die schon mehr gesehen hatten. Sullivan krauste nur die Stirn und hob die Augenbrauen. Er brauchte keinen Beifall, er wusste sowieso, was er wert war. Als es soweit war, ließ er sich von seinem Assistenten ein Fernglas reichen. Schon beim ersten Blick erkannte er, dass die Sprengung hundertprozentig geklappt hatte. Daran hätte niemand etwas aussetzen können.
Die Wand war weg. Sie war einfach nach unten gefallen und sah aus wie abrasiert. Jetzt konnte die Straße gebaut werden, wenn die Aufräumungsarbeiten vorbei waren. Er war zufrieden. Man gratulierte ihm, das war er gewohnt. Dann wurde nach Champagner gefragt. »Ja, las die Korken knallen, aber die Zeitungsschmierer will ich nicht haben.« »Da sind welche vom Fernsehen, die ein Interview wollen.« »Nicht jetzt.« »Sie lassen sich nicht abblitzen.« »Schmeißen Sie die Scheißer in die Schlucht!« Mehr sagte er nicht. Er wollte die Publicity nicht, denn er wusste genau, was er konnte. Sein Lachen war scharf, als man ihm das mit eiskaltem Champagner gefüllte Glas reichte. »Auf den Sieger!« rief jemand. »Ja, auf den Sieger!« Sie tranken, und das hatten sie sich verdient. Nur das Beste war gut genug für sie. Etwa eine Stunde blieb der Mann noch auf seinem Feldherrnhügel, dann verließ er ihn. Allerdings ging er nicht bis hinab zur Absperrung, sondern blieb dort stehen, wo er seinen Wagen geparkt hatte. Es war ein Mercedes Kombi. Von der Farbe war nicht viel zu sehen. Sie verschwand unter einer Staubschicht. Für den nächsten Tag hatte sich Sullivan mit seinen Assistenten im Hotel verabredet, den Rest des Tages wollte er allein verbringen und genau nachvollziehen, wie die Spannung in ihm abklang. Später würde er dann ein Callgirl anrufen, das ihm die Zeit ein wenig vertrieb. So handelte er immer nach einem harten Job, und er fand, dass ihm dies zustand. Zuvor aber würde er sich die neue Flanke des Berges genau ansehen und an ihr entlang wandern. Sollte doch etwas nicht so geklappt haben, er würde es schon entdecken. Im Wagen wäre es heiß. Zu heiß für ihn. Deshalb öffnete er die beiden vorderen Türen und schuf Durchzug. Ein Glas Champagner hatte er getrunken, mehr hätte er sich auch nicht leisten können als Autofahrer. Woher die Gestalt plötzlich kam, hatte er nicht gesehen, jedenfalls stand der dürre Mann in seinem dunklen Anzug plötzlich vor ihm, und wie schon bei der ersten Begegnung trug er wieder den schwarzen Hut mit der flachen Krempe, der ihn aussehen ließ wie einen italienischen Padre aus der Pizza-Werbung. Es war der Esoteriker, und er hatte sein dünnes Gesicht in noch stärkere Falten gelegt. »Was wollen Sie denn hier?« »Sie bedauern, Mister Sullivan.«
»Ach ja?« Der Mann nickte. »Ja, ich möchte Sie bedauern, dass Sie nicht auf meinen Rat gehört haben. Nun ist es zu spät. Sie haben sich bereits in die Gefahr begeben und werden darin umkommen. Sie haben das Böse geweckt. Ich kann Ihnen nicht einmal sagen, was es ist, aber es ist schrecklich, und wehe uns Menschen. Wehe uns und wehe Ihnen!« »Noch was?« fragte er und gab seiner Stimme einen sehr aggressiven Tonfall mit. »Nein!« »Dann hauen Sie endlich ab, verdammt! Sie brauchen sich um mich keine Sorgen zu machen. Ich schaffe es schon allein.« Der Esoteriker blieb standhaft. »Das Böse lässt sich nicht vertreiben, auch nicht durch eine Sprengung. Achten Sie auf die Zeichen der Natur, dann werden Sie sehen…« »Leck mich!« knirschte Guy Sullivan. Der Warner verstummte. Sein Gesicht bekam noch mehr Falten, der Mund wurde zu einem Halbmond, so dass Sullivan nicht wusste, ob der andere ihn angrinste oder nicht. Zudem wollte er nichts mehr hören, zerrte wütend die Wagentür auf und setzte sich hinter das Lenkrad. An diesem Tag hatte er einen großen Sieg errungen. Es war sein Erfolg gewesen, und den wollte er sich von keinem Menschen miesmachen lassen. Er ließ den Motor an. Sein seltsamer Besucher rührte sich noch immer nicht. Er war mit dem Boden wie verwachsen, und die Augen lagen im Schatten der Hutkrempe, so dass Sullivan den Blick nicht sehen konnte, der ihm zugeworfen wurde. Er fuhr, und der Esoteriker wich um keinen Schritt zur Seite, so dass der Sprengmeister gezwungen war, sein Fahrzeug um die Gestalt herum zu lenken. Sullivan bedachte den Fremden noch mit einem wüsten Schimpfwort, dann gab er Gas. Der Wagen rutschte auf dem schmalen Weg talwärts, wo sich Sullivan von seinem Erfolg aus nächster Nähe überzeugen wollte. *** Eigentlich hätte er happy sein müssen. Er war es nicht, und darüber ärgerte er sich. Irgendwo war ein verdammt ungutes Gefühl zurückgeblieben. Ob der Besuch des Fremden damit zu tun hatte? Der Sprengmeister wusste es nicht. Er ärgerte sich nur über sich selbst, weil ihm die Worte des Mannes einfach nicht aus dem Kopf gehen wollten. Auch sah er immer die Gestalt vor sich, bis er sich gefangen hatte.
»Las dich nur nicht verrückt machen, Guy, nur nicht…« Es war geschehen, die Welt um ihn herum hatte sich verändert. Sie war nicht mehr so wie noch vor unzähligen Jahren, als alles auf der Welt anders gewesen war und er sich in den Tiefen des Gesteins versteckt gehalten hatte. Rabanus war nicht gestorben. Rabanus lebte. Er hatte sich nur nicht bewegen können, aber er hatte überlebt und sehr viel mitbekommen. Strömungen hatten ihn erreicht und von gewissen Entwicklungen und Veränderungen berichtet, die mit der Welt geschehen waren. Ihn hatte das alles nicht berührt, denn er gehörte zu dem, was als Urgestein bezeichnet wurde. Er würde sein Gefängnis verlassen. Die Menschen selbst hatten ihm den Weg freigeschaufelt, und er würde Helfer finden, das stand für ihn fest. Eines hatte sich nicht verändert. Auch schon zu uralter Zeit hatte er eine bestimmte Nahrung zu sich genommen. Er war über Tiere hergefallen und hatte sie leergetrunken. Ihr Blut war für ihn die große Wohltat gewesen, es hatte ihm Kraft gegeben. Die Zeiten mochten wechseln, gewisse Dinge aber blieben im Prinzip gleich. Rabanus wusste darüber genau Bescheid, und er merkte dann die gewaltige Erschütterung, die auch an ihm nicht vorüberging und dafür sorgte, dass mächtige Gesteinstonnen weggesprengt wurden. Sie wirbelten zur Seite, sie flogen dahin, sie waren nicht mehr zu halten gewesen, und sie hatten ihm einen Teil des Wegs freischaufeln können. Frei… Er hatte immer gewusst, dass dies einmal der Fall sein würde. Freiheit für ihn, für seine Gier, für seinen Trieb. Er würde wieder Jagd machen, so wie es ihm angeboren war, und er fragte sich, was mit den Kreaturen der Finsternis geschehen war, während er dem grollenden Echo lauschte, das sich durch die restlichen Gesteinsmassen pflanzte und ihn erreichte. War er frei? Eigentlich schon, aber er fühlte sich noch immer wie ein Gefangener, denn noch lag über ihm eine dünne Schicht aus Steinen. Sie hatten sie zusammengeschoben, sie bildeten eine regelrechte Decke, allerdings mit Lücken, denn Luft erreichte sein Gesicht. Zum ersten Mal seit urlanger Zeit spürte er wieder den Wind. In seinem Gesicht bewegten sich Augen, deren Pupillen in einer wie erstarrt wirkenden Flüssigkeit schwammen. Rabanus drückte seine Schulter herum. Es klappte nur zum Teil, dann klemmte er wieder fest. Das machte ihm nichts aus, weil er wusste, dass dieser neue Zustand nicht mehr lange anhalten würde. Er würde freikommen, das Schicksal hatte
ihm diesen Weg gewiesen, und dann würde er sich so verhalten wie damals. Staub umgab ihn. So dicht, dass er nicht sehen konnte, nur riechen und schmecken. Mit jedem Körnchen, das sich auf seine Lippen niederlegte, spürte er ein Stück von dieser neuen Welt, in der sich alles verändert hatte, was er auch wusste, denn die Informationen waren selbst durch die dicke Felsschicht gedrungen. Unzählige Jahre der Steifheit waren dahin, und die Kreatur der Finsternis fühlte sich ausgetrocknet wie ein Stein. Sie versuchte es mit Bewegungen, obwohl sie noch in der Felsspalte festklemmte. Sie streckte ihre Füße, sie zuckte damit, das war alles. Rabanus wusste nicht einmal, wie er aussah und welche Spuren die Zeit an ihm hinterlassen hatte. Er erinnerte sich jedoch an die Vergangenheit, als er noch eine Kreatur der Finsternis gewesen war und sich von den anderen abgehoben hatte. Er hatte nicht so unwirklich und monströs aussehen wollen wie sie, bei ihm war alles anders gewesen, denn er hatte schon früh genug den Drang der Veränderung in seinem Innern verspürt. Er hatte gemerkt, dass er mehr konnte oder wollte als die meisten, und er hatte sich danach gerichtet. Verändern… in eine andere Haut schlüpfen… nach Blut dürsten… sich dabei tarnen… Bruchstückhaft zuckte die Erinnerung durch seinen Kopf. Er stellte sich selbst vor. Er hatte einen Kopf, einen Körper mit Armen und Beinen. Er hatte einen Mund, in dem etwas lag, das sich anfühlte wie ein klumpiges Geschwür. Was war er? Blut! Nur Blut! Saft, der in den Körpern der Lebewesen kroch, die er überfallen hatte. Er hatte sich durch die Urzeit bewegt wie ein Beutegigant, er hatte die Tiere angefallen, gerissen und sie ausgeschlürft. Warmes, dampfendes Blut… Auch heute hatte sich dabei nichts verändert. Noch immer durchrann es die Adern der Lebewesen, noch immer würde es warm sein und dampfen, wenn es aus den Wunden floss. Gedanken und Erinnerungen ließen sich nicht einfach abschütteln, auch bei ihm nicht, und er freute sich auf den Schrecken, den er verbreiten würde. Viel war geschehen, aber er wusste jetzt schon, dass er sich in der neuen Welt auch zurechtfand. Viele Informationen waren ihm zugetragen worden. Er war der Blut-Pirat und würde dies beweisen. Sogar mächtige Helfer würden ihm zur Seite stehen, das stand längst fest. Nur musste er sich noch befreien. Es war schwer, es würde wohl auch nicht klappen, wenn er wieder zu Kräften gekommen war. Aber es gab Helfer, und die würden Rabanus nicht im Stich lassen.
Sie würden kommen. Sehr bald sogar… *** Guy Sullivan hatte seinen Benz gescheucht und war auch rücksichtslos gefahren. In ihm hatte eine irrsinnige Kraft gesteckt, ein Hass, den er sich nicht erklären konnte, ein völliger Wahnsinn, eine furchtbare Vorstellung von gewissen Dingen, die nur in seiner Phantasie existierten, an deren Entstehung dieser Fremde allerdings die Schuld getragen hatte. Er war es gewesen, er hatte den Keim eingepflanzt, der immer mehr wuchs und wucherte, je mehr er sich seinem Ziel, dem Talgrund, näherte, wo sich einiges verändert hatte. Nichts war wie sonst. Tonnen von Gestein waren durch die Sprengung gelöst worden und waren ins Tal gepoltert. Es würde lange dauern, bis die Bagger und Raupen alles so gerichtet hatten, dass die Verbindungsstraße wieder benutzt werden konnte. Man war sich nur noch nicht einig, ob sie durch oder um den Berg herumführen sollte. Jedenfalls hatte er verändert werden müssen, weil diese Seite eben vom Einsturz bedroht war. Seinen Helm hatte er abgenommen und neben sich auf den Beifahrersitz gelegt. Auch die Fenster waren nach unten gekurbelt worden. Der Wind strich durch den Wagen, er peitschte sein graues Haar, er streichelte sein verschwitztes Gesicht, aber er war einfach zu warm, um die nötige Kühlung zu bringen. Vor Sullivan lag eine Mondlandschaft. So karrst, so trocken und felsig. Nicht glatt, sondern hügelig, mit Spitzen und Kanten, über die er hinwegsteigen musste, denn fahren konnte er nicht mehr. Sullivan stoppte. Der Staub wälzte sich allmählich nach unten. Die Sonne stand am Himmel und brannte mal wieder auf die trockene Erde nieder. Dieser verdammte Sommer war viel zu warm. Er quälte die Menschen, die ein derartiges Klima nicht gewohnt waren. Guy Sullivan hatte zwar einen Erfolg errungen, doch er gehörte zu den Menschen, die ihn sich gern aus der unmittelbaren Nähe anschauten. Deshalb wollte er Details überprüfen, um festzustellen, was er bei anderen Sprengungen eventuell hätte anders machen können. Das alles würde er schon sehen, sein Auge war geübt genug, und die entsprechenden Schuhe trug er ebenfalls. Mit den dicken Profilen konnte er über die Geröllmassen hinwegschreiten, die sich zusammengedrückt hatten, wobei die schwächeren Steine von den stärkeren zerbracht worden waren und andere einen Wall bildeten, der sich in die Höhe schob. Als er ihn überwunden hatte, ging es besser. Der Weg führte ihn jetzt über die Steine hinweg.
An der rechten Seite ragte der eigentliche Berg in die Höhe. Seine verbliebene Flanke bot kaum Schatten. Es kam ihm vor, als wollte sie sich rächen für diese Verletzung, die ihr zugefügt worden war. So trafen ihn die Sonnenstrahlen mit elementarer Wucht. Er war das einzige Lebewesen zwischen dem grauen Gestein, und Sullivan kam sich vor wie in einem Backofen. »Ich muss verrückt sein, dass ich so etwas tue«, keuchte er. »Ich muss nicht alle Tassen im Schrank haben.« So einsichtig war er immerhin, aber er gab auch zu, dass er eben zu den Perfektionisten gehörte, und die reagierten nun mal so. Keiner konnte aus seiner Haut, auch er nicht, und deshalb machte er weiter, weil er das gesamte Geröllfeld absuchen wollte. Er ging parallel zum Berg. Nach der Explosion war wieder Ruhe eingekehrt. Man hatte die Absperrungen sehr weit von der Sprengstelle entfernt aufgebaut, so dass er von den Leuten, die sich dort aufhielten, auch nicht gestört wurde. Falls sie dort noch standen und es nicht vorgezogen hatten zu verschwinden, denn es gab nichts mehr zu sehen. Er ging, kontrollierte und suchte. Bisher hatte er keinen Fehler gefunden. Das Gestein hatte sich genauso verteilt, wie es von ihm und den anderen Mitarbeitern berechnet worden war. Ein Lächeln huschte über seine Lippen. Wieder einmal war er stolz und konnte sich auf die eigene Schulter klopfen. Und doch war etwas zurückgeblieben. Das Gefühl steckte in seinem Innern und bohrte in den Eingeweiden wie eine Faust, die sich ständig drehte, als wollte sie bestimmte Stellen erfassen und sie irgendwann einmal in die Höhe drücken. Es war die Erinnerung an diesen in Schwarz gekleideten Esoteriker, der dies alles in ihm hochsteigen ließ. Nicht, dass er vor ihm Furcht gehabt hätte, nur dessen Worte konnten ihm nicht gefallen haben, denn sie waren einfach nicht zu verdrängen. An der Natur hätte er sich orientieren müssen. Darüber dachte er nach, als er auf einer leicht nach vorn abfallenden Felsplatte stehenblieb und gegen den Berg schaute. Hier gab es keine Natur, hier waren nicht einmal Grashalme zu sehen, die aus irgendwelchen Ritzen oder Spalten wuchsen. Alles war so grau, so tot, leer und staubig. Was war hier Natur? Sullivan schaute in die Höhe. Er tat es nicht einmal bewusst, er wollte nur über seine Stirn wischen. Über ihm lag der Himmel. Ein weites, strahlendes Blau, ein unendliches Zeltdach, in dem sich nichts bewegte. Nichts bewegte? Keine Vögel und keine…
Jetzt stockten seine Überlegungen. Wieder dachte er an die Worte des komischen Heiligen, wobei diese ihm nicht mehr so komisch vorkamen. Er hatte von etwas Bösem gesprochen, aber sich nicht darüber ausgelassen, was er damit genau meinte. Das Böse konnte überall sein… Guy Sullivan hob die Schultern und setzte seinen Weg fort. Lange würde er nicht mehr unterwegs sein, denn den größten Teil des Geröllfeldes hatte er bereits überprüft. Genau in diesem Augenblick fiel ihm etwas auf. Er hätte die Vertiefung beinahe übersehen, aber ein irgendwie anders gefärbter Schatten erregte seine Aufmerksamkeit. War das was? Er musste näher an den Berghang heran. Zuerst dachte er an ein einsam wachsendes Gesträuch, das seinen Weg durch den Fels in die Freiheit gefunden hatte, aber das war nicht der Fall. Da ragte kein Gestrüpp empor, es füllte auch keine Spalte aus, das war etwas ganz anderes und erweckte natürlich Sullivans Begierde. Sehr komisch, dass ihm gerade jetzt wieder die Warnung des Esoterikers einfiel, aber der konnte ihm, zum Teufel noch mal, gestohlen bleiben. Guy Sullivan ging entschlossen weiter und hielt dabei genau auf die bestimmte Stelle zu. Und dann war alles anders. Er blieb stehen, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Was er da sah, war einfach unmöglich, das durfte es nicht geben, aber es entsprach den Tatsachen. Vor ihm, in einer Felsspalte eingeklemmt, lag eine uralte, wie aus Stein und Baumrinde gleichzeitig bestehende Gestalt, deren knorpelige Glotzaugen ihn von unten her anstarrten wie der Tod persönlich… *** Der Sprengmeister bezeichnete sich selbst als einen harten Mann. Wer in einem derartigen Job arbeitete, den konnte nichts erschüttern. Mehr als einmal hatte er Kollegen gesehen, die zerrissen worden waren, weil sie beim Entschärfen einer Bombe zu unachtsam gewesen waren. Diese Bilder waren bestimmt nicht schön gewesen, aber er hatte die Erinnerungen daran abstreifen und löschen können. Der Tod gehörte in seinem Job eben zum Berufsrisiko. Doch all die Dinge hatten ihn nicht so erschüttert wie diese im Gestein eingeklemmte Gestalt, die ihn an einen – ja, an was erinnerte sie ihn? Das war kein Mensch, das konnte kein Mensch sein, weil ein Mensch eben nicht so aussah. Sullivan wusste, dass es sehr alte Bäume gab mit einer entsprechend aussehenden Rinde. Und so wirkte auch dieses Wesen. Ein Körper, der
aussah, als wäre er aus dünner Rinde geschnitten worden, die zudem noch durch das Gestein zusammengepresst wurde. Er sah einen knorpeligen Kopf ohne Haare, die dünnen Strickstockarme, die ebenfalls dürren Beine, die an Baumäste erinnerten, einen mageren Leib, bei dem seltsamerweise kein Knochenstück hervorschaute, und eine normale Haut war natürlich nicht vorhanden. Ein versteinertes Wesen eben, das möglicherweise mehr als eine Million Jahre hier festgeklemmt lag. Wahnsinn war das… Oder war es das Böse, von dem dieser seltsame Heilige gesprochen hatte? Er fand keine Antwort auf die Frage, aber er nahm es als gut möglich hin. Sullivan tat nichts. Er stand nur da und schaute nach unten. Hinter seinen Augen spürte er einen harten Druck. Der Schweiß auf seiner Haut hatte sich mit dem Staub vermisch!. Es gab kaum eine Stelle in seinem Gesicht, die nicht juckte, aber das war ihm egal. Es kümmerte ihn überhaupt nicht, denn andere Dinge waren wichtiger. Lebte das Wesen? Zuerst wollte er es nicht wahrhaben, aber er konnte es sich auch nicht ausreden. Eine Botschaft erreichte ihn… Sie drang in sein Hirn, sie füllte ihn aus, auch wenn er an Flucht gedacht hatte, er konnte es jetzt nicht schaffen. Diese andere Kraft war einfach zu stark. Sie bannte ihn nicht nur, er fühlte sich allmählich als ihr Diener, als wäre er nur wegen ihr über das gewaltige Geröllfeld geschritten, um ihr dann zur Seite zu stehen. Sullivan empfing die Botschaft. Er wurde zum ersten Mal in seinem Leben mit diesen außergewöhnlichen Tatsachen konfrontiert und konnte diesen Gruß aus einer anderen Welt kaum fassen. Etwas lag dick in seinem Magen, und trotzdem beugte er sich vor. Mit dem Kopf schwebte er genau über der Spalte, und so starrte er die alte Gestalt auch an. »Raus! Raus hier!« Es war ein Befehl, der in sein Gehirn drang und einfach nicht mehr ignoriert werden konnte. Sullivan war im Leben oft genug der Stärkere gewesen, hier musste er kapitulieren und die andere Macht neidlos anerkennen. Wieder hörte er den Befehl, und dass er nickte, bekam er kaum mit. Er handelte, beugte sich hinab, streckte seine Arme der Gestalt entgegen und kniete schließlich über der Spalte, weil diese Haltung seinem Vorhaben mehr entgegenkam. Vor einigen Minuten hätte er sich noch gefürchtet, diese Person überhaupt zu berühren, jetzt machte es ihm nichts aus. Er griff mit beiden Händen in die Spalte, bekam den ersten Kontakt und hatte den
Eindruck, als würde sich die Haut feucht und trocken zugleich anfühlen. Tatsächlich wie alte, feucht gewordene Rinde, mit der er behutsam umgehen musste, weil er auf keinen Fall etwas zerstören wollte. Er wunderte sich darüber, wie schwer die Gestalt war, die eigentlich so leicht und luftig ausgesehen hatte. Nahezu mühelos konnte er sie aus der Spalte hervorheben. Zwar hatte er damit gerechnet, dass sie festgeklemmt war, aber das war nur der erste äußere Eindruck gewesen. Sie lag locker in ihrem Grab. Er hob sie an und ließ sie auf seinen Armen starr liegen, weil er Angst davor hatte, sie einzuknicken. Zu leicht konnte dieses außergewöhnliche Fundstück verletzt werden. Es ging alles glatt. Zitternd und voller Aufregung holte er die Beute hervor. Das Wesen war sehr nahe bei ihm, er konnte es auch riechen. Dieser Geruch kam ihm alt und modrig vor. Wie lange mochte dieses Wesen hier gelegen haben? Eingeklemmt unter Megatonnen von grauem Gestein. Jahrmillionen möglicherweise oder noch länger. Er dachte nach, und ihm fiel ein, dass er vielleicht einen Fund gemacht hatte, der ihm Ruhm brachte. Vielleicht war es der älteste Mensch, der jemals gefunden worden war. Man hatte vor nicht allzu langer Zeit in den Alpen eine mumifizierte, etwa fünftausend Jahre alte Leiche entdeckt, doch diese hier musste älter sein. Der Körper hatte zwar eine menschliche Form, doch eigentlich war er kein Mensch. Sullivan sah ihn als ein Gebilde an, das einmal Mensch hatte werden wollen. Wohin mit ihm? Es lag auf der Hand, dass er seinen Fund sehr vorsichtig zum Fahrzeug transportieren musste. Dazu musste er die gesamte Strecke wieder zurücklaufen, was auch nicht einfach war. Wenn er dabei ausrutschte oder stolperte, konnte alles zu spät sein. Er trug ihn wie der Vater sein Kind. Starr lag er auf den Armen des Mannes, und Sullivan drehte sich um, weil er den Rückweg einschlagen wollte. In diesem Moment fiel ihm etwas auf. Es mochte Zufall gewesen sein, dass sein Blick das ›Gesicht‹ des Wesens streifte, aber er sah genau in dieser Sekunde die Bewegung der Augen. Sie hatten gezuckt. Der Fund lebte! Sullivan stöhnte auf. Plötzlich zitterte er am gesamten Leib. Es kostete ihn Mühe, die Gestalt zu halten, aber er gab nicht auf, er packte sie fester und war froh, dass sie ihm nicht durch die schweißigen Hände rutschte. So ging er die ersten Schritte.
Hitze waberte ihm entgegen. Er kam sich ausgetrocknet vor. Die Steine strahlten die Hitze zurück, sie waren wie eine grausame Folter für ihn, doch Sullivan dachte an den Erfolg, an den Ruhm, den er ernten würde, und er ging weiter. Er schaltete sein Hirn ab. Er wollte nicht mehr denken, er dachte auch nicht mehr an das Gewicht. Nur hin und wieder schüttelte er den Kopf, um die Schweißperlen wegzuschleudern, die sonst in seine Augen gelaufen wären. Nur fort von hier. Im Wagen lag noch eine Flasche Wasser in der Kühlbox, und der Gedanke daran richtete ihn auf. Das Zeug würde ihm wieder etwas Kraft geben. Guy schaute nicht auf die Uhr. Er ging weiter, er stolperte nicht einmal. An seinen Füßen schienen Sensoren vor gefährlichen Stellen zu warnen. Er merkte auch nicht, dass die Sonne wanderte und sich deshalb die Lage der Schatten veränderte. Irgendwann aber, als er wegen der trockenen Kehle nicht in der Lage war, auch nur ein Wort herauszubringen, da sah er den kantigen Gegenstand vor sich, nach dem er sich so unwahrscheinlich gesehnt hatte. Es war sein Benz! Andere hätten nach einer derartigen Tortur gejubelt, er versuchte es auch, nur drang aus seiner Kehle nicht mehr als ein dünnes Krächzen, das war alles. Sullivan legte auch die letzten Yards zurück. Der Wagen warf einen Schatten auf den Boden, und dorthin legte der Sprengmeister sein wertvolles Fundstück. Geschafft! Aber auch er war geschafft. Er konnte einfach nicht mehr. Er war völlig von der Rolle, denn als er sich wieder aufrichtete, da packte ihn der Schwindel mit einer elementaren Wucht und ließ ihn taumeln. Er hätte den Helm besser aufbehalten sollen, so wäre die Sonne nicht so stark auf seinen Kopf niedergebrannt. Mit dem Rücken zuerst kippte er gegen den Kombi und musste einfach warten, bis sich der Pudding in seinen Knien stabilisiert hatte. Er dachte auch daran, einen Hitzschlag bekommen zu haben, der dann in einen Fieberwahn mündete, aber das alles war ihm egal. Geschafft! Sullivan riss sich zusammen. Er ballte die Hände, er dokumentierte, dass er ein Kämpfer war, aber auch ein Fighter wie er kam nicht ohne Wasser aus. Die Flasche lag in der Kühlbox. Dazu musste er die Heckklappe öffnen. Mit weichen Knien bewegte er sich auf das Ziel zu. Es dauerte auch hier seine Zeit, bis er es geschafft hatte. Dann beugte er sich in den Wagen hinein, denn die schwarze Kühltasche stand ziemlich weit hinten auf der Ladefläche. Er streckte
den Arm und die Hand, damit er den schmalen Griff an der Boxseite erreichen konnte, um das Gefäß näher zu ziehen. Dabei hatte er auch seinen Kopf nach rechts gedreht, so dass er gegen die Autoscheiben schaute. Dort sah er die Bewegung. Huschend, schnell und ebenso rasch wieder verschwunden, wie sie erschienen war. Und doch hatte Guy Sullivan etwas erkennen können. Als er darüber nachdachte, trommelte sein Herz plötzlich, und in der Brust spürte er das Ziehen. Das… das durfte nicht wahr sein. Das war unmöglich. Er konnte die Gestalt nicht gesehen haben. Die Sonne und die Hitze hatten seinen Kopf und sein Gehirn aufgeweicht. Einbildung… Er schaute für einen Moment weg, dann wieder hin – und war zufrieden, weil er die Gestalt nicht mehr sah. Also hatte er sie sich doch eingebildet. Sullivan gratulierte sich selbst dazu, nicht die Übersicht verloren zu haben. Endlich hatte er den schmalen Griff der Tasche gepackt und zerrte das Gefäß zu sich heran. Seine Hände sahen trocken und spröde aus, der Staub lag auf ihnen ebenso wie auf dem übrigen Körper. Die Flasche war noch kalt. Zitronenwasser ließ den Inhalt hellgelb aussehen. Sullivan drehte den Verschluss auf. Plötzlich leuchteten seine Augen. Es war für ihn ein irres Feeling, als er die Kälte zuerst an seiner Hand und dann an den Lippen spürte. Danach trank er. Dabei kam er sich vor wie einer der Sportler aus der TV-Werbung, die für irgendein Aufbaugetränk aus der Büchse Reklame machten. Er schüttete das Zitronenwasser in sich hinein und war froh darüber, dass es nicht mit Kohlensäure angereichert war. Herrlich… Bis zur Hälfte leerte er die Flasche und genoss es, wie sich die Kälte in seinem Innern verteilte. Das Wasser hatte auch seine Kehle wieder freigespült, verschwunden war der Staub, aber auch den Druck spürte er nicht mehr. Die Flasche hielt er in der Hand, als er von der Ladefläche rutschte, um nach seinem Fund zu schauen. Er wollte ihn nicht so lange liegenlassen, sondern einladen. Guy Sullivan drehte sich um den Kotflügel am Heck – und bekam riesengroße Augen. Der Urmensch war verschwunden! *** Eine leere Stelle, mehr nicht!
Sonnenstrahlen brannten auf das Gestein nieder. Sie hatten es so heiß gemacht, dass man darauf hätte Spiegeleier braten können. Wieder glaubte Sullivan an eine Halluzination oder, besser gesagt, an eine Fata Morgana, die bei diesen Temperaturen nicht einmal so unmöglich war. »Das ist doch nicht wahr!« keuchte er. »Ich… ich habe mir das alles nicht eingebildet, verdammt…« Die Leiche blieb verschwunden. Sullivan erinnerte sich daran, dass er sie von der Ladefläche aus vor dem Seitenfenster gesehen hatte, wo sie tatsächlich auf beiden Beinen gestanden hatte. Sollte das doch gestimmt haben? Ihm wurde kalt trotz der brennenden Hitze. Eine schmale Eisbahn kroch über seinen Rücken, die sich irgendwann verlief. Automatisch bildete sich die Gänsehaut, die ebenfalls wanderte, was er sehr genau nachvollziehen konnte. Der Nacken spannte sich, und gleichzeitig drang ein Gefühl in ihm hoch, das ihn warnte. Gefahr! Nichts war mehr wie sonst. Er kam sich vor wie jemand, der in eine Falle getappt war. Hier wurde ein böses Spiel getrieben, und er dachte wieder an den Esoteriker. Waren seine Warnungen zu Recht erfolgt? »Scheiße!« flüsterte er, fühlte sich wieder trocken und trank noch einen Schluck Wasser. Er hatte die Flasche kaum abgesetzt, als es passierte. Das Kratzen oder Schaben, das ihm gegenüber aufklang. Er hörte, doch er sah nichts. Aber er wollte es wissen! Deshalb ging Guy Sullivan auch dorthin, wo er das Geräusch gehört hatte. Wieder umrundete er den Kotflügel, um diesmal an die andere Seite zu gelangen. Da sah er seinen Fund! Das vertrocknete Wesen war dabei, sich aufzurichten. Dabei glitt es an dem Fahrzeug entlang, doch das war nicht das Entscheidende für ihn. Er sah durchaus den Stein, den sein Schützling in der rechten Hand hielt. Mit einigen Kanten schaute er noch zwischen den Lücken hervor, und Sullivan ahnte, dass er nicht mehr weg kam. Der Stein flog auf ihn zu. Vielleicht hatte die Gestalt auch nur zugeschlagen, doch was spielte das schon für eine Rolle? Die Explosion fand in seinem Kopf statt. Er spürte die Schmerzen wie Blitze, die durch den Schädel rasten und ihn fast zum Zerspringen brachten.
Sullivan fühlte sich fortgetragen und merkte nicht, dass er nach hinten kippte. Er hatte sich nicht mehr halten können, der Druck schleuderte ihn zu Boden. Unter ihm schleiften einige Steine, was er nicht richtig mitbekam, denn die Finsternis schwebte heran und breitete sich wie ein großes Tuch vor seinen Augen aus. Kälte und Hitze durchströmten ihn, sein Schädel explodierte noch immer in kleinen Wellen, und er wunderte sich darüber, noch nicht bewusstlos zu sein. Stattdessen spürte er die warme Flüssigkeit, die aus einer Wunde an der Stirn quoll und danach über seine Wange in Richtung Mund und Ohr rann. Wie klebrige Konfitüre, doch das war es auf keinen Fall. Aus der Wunde sickerte sein eigenes Blut. Da lag er nun, halbtot, angeschlagen und nicht mehr in der Lage aufzustehen. Seine Sinne aber funktionierten. Dazu zählte auch das Gehör. Als er das Kratzen und Schleifen mitbekam, da wusste er genau, was ihm bevorstand. Der andere kam. Er beugte sich nieder. Sullivan hatte die Augen weit aufgerissen. Er sah dieses Monstrum zunächst nur als Schatten, doch dessen Konturen nahmen immer klarere Formen an. Das rindenartige Etwas schob sich über ihn wie ein ausgetrockneter Stamm. Gesicht an Gesicht. Es öffnete sein Maul. Was er darin entdeckte, wollte er zuerst nicht glauben. Zwei Dolche wuchsen aus dem oberen Kiefer hervor. »Was willst du?« keuchte er und versuchte mit einer großen Kraftanstrengung, den Körper von sich zu stoßen. Es war nicht mehr möglich, denn das Wesen hatte sich an ihm festgekrallt. Es wollte ihn! Und es biss zu. Sullivan zuckte noch einmal, dann spürte er das Reißen an seiner Wange, später an seinem Hals, und beide schmerzenden Stellen vereinigten sich zu einem Ganzen. Es war für Sullivan furchtbar. Sein letzter Gedanke war ein schrecklicher. Der frisst dich auf… der frisst dich auf… Ich hatte mich noch hinlegen können, doch an Schlaf war nicht zu denken gewesen. Zwei Stunden verbrachte ich in einem unruhigen Schlummer, dann hielt ich es nicht mehr aus und stand auf. Es gab nur noch eines, was mir half: die Dusche. Lauwarm, eiskalt, dann wieder warm. So wechselte ich ab, und es tat mir gut.
Noch mit dem um die Hüften geschlungenen Handtuch ging ich in den Wohnraum, weil sich dort das Telefon gemeldet hatte. Wir hätten eigentlich schon im Büro sein müssen, aber darauf konnte ich vorläufig verzichten. Es war nicht Glenda, die nach mir fragte, sondern mein Freund Suko von nebenan. »Bist du fit?« »Nein, hier spricht nur meine Hülle. Das Innere liegt noch im Bett, verdammt.« Suko lachte. »Was ist los? Keine Kondition mehr?« »Auch keine Lust.« »Stell dich nicht so an, John. Oder soll ich allein zu der entsprechenden Adresse hinfahren?« »Untersteh dich.« »Dann komme ich rüber.« »Ja, ist gut.« Als er mit dem Zweitschlüssel die Wohnungstür öffnete, war ich bereits angezogen und hatte auch mein nasses Haar gekämmt. Suko fand mich in der Küche an einem Tisch stehend und eine Tasse Kaffee schlürfend. Dazu aß ich eine Scheibe Brot mit Konfitüre. »Tolles Frühstück«, sagte er. »Was hast du denn gegessen?« Erzählte auf. »Zuerst einmal ein Müsli. Danach einen Apfel, dann noch eine Banane, Saft…« Ich winkte ab. »Hör auf, Mann, da kann sich einem normalen Menschen ja der Magen umdrehen.« »Seit wann bist du normal?« »Seit ich sehe, wie unnormal du bist.« Ich kippte den Rest Kaffee in die Kehle. Auf eine zweite Tasse verzichtete ich und erfuhr von Suko, dass er bereits mit dem Büro telefoniert hatte. »Hast du Grüße von mir bestellt?« »Das nicht gerade, aber ich habe uns abgemeldet.« »War man begeistert?« »Keine Ahnung, aber wir sollen Sir James auf dem Laufenden halten.« »Der war natürlich schon im Büro – wie?« »Ja. Nimm dir ein Beispiel.« »Lieber nicht.« »Mit welchem Wagen fahren wir?« Ich grinste Suko schief an. »Da ich ja weiß, wie sehr du deine Schleuder verhätschelst, bin ich dafür, dass wir den Dienstwagen nehmen.« »Sehr gut.« »Ich freue mich schon auf den Verkehr.« »Nicht auf die Wärme?« »Noch mehr.«
Der Rover stand in der Tiefgarage. Allmählich dachte ich wieder über die Vorkommnisse der vergangenen Nacht nach. Da hatte sich etwas angebahnt, das noch weitreichende Folgen haben konnte, wenn es uns nicht gelang, gewisse Dinge zu stoppen. Blut aus Konserven. Ein geheimnisvolles Wesen namens Rabanus, das erweckt werden sollte. Soviel wussten wir. Nur kannten wir nicht den Ort, wo dies alles stattfand, und so gingen wir beide davon aus, bei dieser Kontaktadresse einen Hinweis zu ergattern. Wir fuhren quer durch die Stadt nach Norden, wo auch der Zoo lag. Ihm ging es schlecht, man sprach davon, ihn abzuschaffen, aber angeblich hatte sich ein japanischer oder orientalischer Geldgeber gefunden, der dem Zoo eine Finanzspritze geben wollte. Daran dachte ich nur am Rande, denn ich hatte wirklich andere Sorgen. Die Gegend war nicht die beste, in die wir fuhren. Alte Wohnblocks standen hier, dazwischen auch neue, die nicht besser aussahen. Durch enge Straßen quälte sich der Verkehr, und wir fanden zum Glück noch einen Parkplatz dicht bei einem Wochenmarkt, wo ich den Wagen zwischen zwei Verkaufswagen parken konnte. Als sich der Besitzer beschwerte, zeigte ich ihm meinen Dienstausweis. Damit war er zufrieden. Wir mussten eine Straße überqueren und auf das Haus gegenüber zugehen. Im unteren Geschoss befand sich eine Reinigung. Darüber verteilten sich rechteckige Fenster, die viel höher als breit waren. Sie passten in dieses alte Haus aus rotem Backstein, der einen grauen Schmutzfilm bekommen hatte. Wir mussten in den ersten Stock. Von den beiden Dieben hatten wir noch den Namen erfahren. Miller! So phantasiereich, wie wir fanden. Die Tür war nicht verschlossen. Im Hausflur stand die Luft. Sie war feucht und schwül. Das mochte auch an der Reinigung liegen, die von einem Chinesen betrieben wurde. Besser konnte es für Suko nicht kommen. Er lotste mich in den Laden und erkundigte sich nach dem Besitzer. Eine kleine rundliche Frau schleifte uns hinter einen Vorhang, wo ein Schreibtisch stand. An ihm saß der Chef und tippte Zahlen in eine Rechenmaschine. Er sah uns, konzentrierte sich auf Suko, und die beiden begrüßten sich im kantonesischen Dialekt. Ich war nur Zuhörer und Zuschauer. Natürlich tauschten sie Höflichkeiten aus, kamen aber bald zur Sache, und als wir den stickigen Raum verließen, kam mir die Luft im Treppenhaus direkt klar und rein vor. »Was hat er gesagt?« »Dass wir ruhig nach oben gehen können.«
»Und dann?« »Komm mit.« Vor der Tür mit dem Schild Miller blieben wir stehen. Viel hatten wir nicht erreicht, doch als ich Sukos Lächeln sah, wusste ich, dass der Nächste schlag noch kam. »Also, wie sieht es aus?« »Gar nicht so schlecht. Hier wird gleich jemand erscheinen, der dieser Wohnung einen kurzen Besuch abstattet. Das ist jeden Tag der Fall, man hat sich bereits daran gewöhnt.« »Wer ist denn dieser Knabe?« »Das wusste mein Vetter auch nicht.« »Schämen sollte er sich.« Suko hob die Schultern. »Wir warten.« Damit war ich einverstanden. Nur wollte ich nicht direkt vor der Tür stehenbleiben, sondern dachte an einen alten Einbrechertrick. Eine Treppe höher, gut versteckt im toten Winkel. Genau dort ließen wir uns nieder und warteten. Als Suko mein Gesicht sah, schüttelte er den Kopf. »Was ist los? Bist du sauer?« »Warum?« »Du siehst so aus.« »Ich finde es nur toll, dass wir in unserem Job immer wieder Überraschungen erleben. Jetzt hocken wir hier wie zwei Schulkinder, die sich irgendwelche Streiche ausgeheckt haben und darauf warten, dass andere darauf hereinfallen.« »Mal was Neues.« »Hoffentlich lasst uns dieser Miller nicht im Stich. Es kann sich auch bis zu ihm herumgesprochen haben, was da abgelaufen ist.« »Wir müssen eben auf unser Glück vertrauen.« Das tat ich nicht. Stattdessen schaute ich auf die Uhr. Wenn der Knabe pünktlich war, würden wir nicht lange warten müssen. Ich hoffte, dass er uns nicht sitzenließ. Im Haus war es ziemlich ruhig. Irgendwo über uns stand ein Flurfenster offen. Ein warmer Luftzug wehte durch das Gebäude. Zudem hörten wir den Lärm und Stimmenwirrwarr vom Wochenmarkt. Beide Geräusche wollten nicht abreißen. In der Reinigung spielte der Chef zweimal verrückt. Wir hörten, wie er tobte. Ich schüttelte den Kopf. »Und so was nennst du deinen Vetter, Suko.« »Man kann sich die Verwandten leider nicht immer aussuchen.« »Stimmt.« Wir warteten weiter. Das Haus kam mir wie ausgestorben vor, denn eine derartige Ruhe im Treppenhaus hatte ich selten erlebt. Aber das änderte sich.
Als sich der Luftzug verstärkte, wussten wir, dass jemand die Haustür geöffnet hatte. Sofort spannten sich unsere Haltungen. Suko stand als erster auf und schlich hoch bis zum nächsten Absatz. Ich folgte ihm. Beide lauschten wir den Trittgeräuschen, die von unten her hochdrangen. Da kam jemand die Treppe hoch, und wir konnten uns gut vorstellen, dass dieser Knabe Miller hieß. Wir standen günstig und konnten die Stufen hinab bis zum Absatz vor der entsprechenden Tür schauen, wo eine Gestalt in unser Sichtfeld trat, die erst einmal stehenblieb und sich mit einem großen Tuch den Schweiß von der Stirn wischte. Das war ein stiernackiger Bursche mit dunklem Kraushaar, das glänzte, als wäre es mit Fett eingeschmiert worden. Breite, leicht gerundete Schultern, den Kopf vorgestreckt und mächtige Arme, bei denen sich die Muskeln unter dem dünnen T-Shirt abzeichneten. Man soll ja nicht vom Aussehen eines Menschen auf den Charakter schließen, aber dieser Kerl kam mir vor wie ein Mafioso aus dem Bilderbuch. Allerdings einer von den unteren Rängen. So etwas wie ihn setzte man als Schläger ein. Er steckte das große Tuch wieder weg. Als die Hand wieder aus der Tasche hervorkam, hielt sie einen Schlüssel, der bestimmt passte, darauf hätte ich jede Wette angenommen. Eröffnete die Tür. Kein Blick nach rechts, keiner nach links. Zum Glück für uns ließ er sich Zeit, und als ich Sukos Nicken sah, war ich schon unterwegs. So lautlos wie möglich huschte ich die Stufen herab, Suko ebenfalls, und beide hielten wir die Berettas fest. So wie an diesem Tag war der Kerl wohl noch nie in seinem Leben überrascht worden. Er reagierte viel zu spät. Als er sich dann endlich gedreht hatte, glotzte er wie ein Auto und sah die beiden Mündungen auf sich gerichtet. Er hob die Arme leicht und fragte: »Was ist los?« »In die Wohnung gehen!« sagte ich. »Und weiter?« »Geh rein!« Er tat es. Da wir zu zweit erschienen waren, versuchte er keine Tricks. Wir ließen ihn in einen schmalen Flur gehen, in dem sich kein einziges Möbelstück befand. Da alle Türen offenstanden, fiel Licht aus den anderen Räumen in den Flur, so dass wir nicht im Dunkeln standen. »Gehen Sie dorthin, wo Sie immer hingegangen sind. Nur keine falschen Hemmungen.« Er schaute uns an und hob die breiten Rundschultern. Wir hatten auch sein Gesicht sehen können. Es wies Ähnlichkeit mit dem eines Boxers auf, der im Ring viel mitbekommen hatte.
Er führte uns in einen großen Raum, wo zwei alte Sessel und ein Tisch standen. Der Kühlschrank^ in einer Ecke neben dem Fenster wirkte ein wenig deplaziert. Die Hände hatte er hochnehmen müssen. Erst dann durfte er sich setzen. Während ich vor ihm stand und ihm die Beretta zeigte, durchsuchte Suko ihn und holte einen stupsnasigen Colt-Revolver hervor. »Wie schön, unser Freund läuft mit einer Kanone herum.« »Ja, die Zeiten sind unsicher!« sagte ich und fragte ihn nach seinem Namen. Er schwieg. »Wie heißen Sie?« »Haut ab, ihr Stinker, sonst…« »Haben Sie Stinker gesagt? Sie wollen doch keine Scotland-Yard-Leute beleidigen – oder?« Er schwitzte plötzlich stärker. Dass wir Polizisten waren, damit hatte er nicht gerechnet. Wahrscheinlich hatte er uns für Konkurrenten gehalten. Nun aber sah für ihn alles anders aus, und seine Haltung entspannte sich etwas. »Ich habe übrigens einen Waffenschein«, sagte er. »Das glauben wir Ihnen sogar. Wir wollen trotzdem wissen, wie Sie heißen.« »Miller!« »Ach«, sagte Suko, der noch immer hinter ihm stand. »Das ist aber schön. Darauf wären wir nicht gekommen.« »Steht ja an der Tür.« »Dann haben Sie die Wohnung gemietet?« fragte ich. »Sicher.« »Ich könnte mir direkt einen anderen Namen vorstellen, Mister Miller, aber lassen wir das mal. Ich möchte gern zur Sache kommen. Die beiden Männer, die Sie hier erwartet haben, werden nicht kommen. Sie hatten das Pech, von uns festgenommen zu werden. Es ist ja wirklich nicht die feine englische Art, Blutkonserven zu stehlen. Schließlich werden sie dringend benötigt. Man lagert sie nicht zum Spaß.« Er zuckte zusammen. Mit der Zunge fuhr er über die dicken Lippen. Plötzlich war er aus dem Konzept geraten. Ein Spitzen-Mafioso hätte über diese Dinge nur gelacht, doch dieser Miller gehörte zum Fußvolk, und in einem Kreuzverhör würde er zusammenbrechen, das stand fest. »Sie werden das Blut nicht bekommen«, sagte Suko. »Da wird Ihr Boss ganz schön sauer sein.« »Welche Konserven? Welcher Boss?« »Einer, der gern ausgefahrene Gleise verlässt«, sagte mein Freund. »Ich könnte mir einen gewissen Logan Costello sehr gut vorstellen. Meinen Sie nicht auch?« In seinen dunklen Augen flackerte es. Er fing wieder an zu schwitzen. Dann hob er die Schultern. »Kenn ich alles nicht.«
»Tatsächlich nicht?« fragte ich. »Ja.« »Gut, dann werden wir Ihren Boss fragen. Zu dritt statten wir ihm einen Besuch ab. Wenn Costello die Namen Suko und Sinclair hört, ist er immer außer sich vor Freude.« Mein Vorschlag hatte ihm überhaupt nicht gefallen, denn er geriet noch mehr ins Schwitzen und überlegte. Suko bedrängte ihn, und das war auch in meinem Sinne. »Hier anwachsen wollen wir nicht, Miller. Sie müssen sich schon entscheiden. Aber keine Sorge, wir werden Costello vorher anrufen und ihm alles erklären. Das wird unseren Besuch bei ihm bestimmt erleichtern.« »Nein, nein!« Ich zwinkerte Suko zu, als ich die Antwort gehört hatte. Jetzt hatten wir ihn wahrscheinlich soweit. »Was ist denn los?« fragte mein Partner. »Sind Sie plötzlich zur Vernunft gekommen?« »Nicht zu Costello.« »Wohin dann?« »Ich weiß nicht.« »Was war mit den Konserven?« fragte ich. Miller schwitzte immer stärker. Wir erlaubten ihm, sein Gesicht abzuwischen. Er roch auch nach Knoblauch und anderen Gewürzen. »Ja, es stimmt, ich habe die Dinger hier abgeholt, die gebracht wurden. Ich bin damit losgefahren.« »Wohin?« »Zu Freunden.« »Aha«, sagte Suko, »und dann?« »Dort wurden sie gesammelt. Heute Morgen sollte ich die letzten abholen. Ist das ein Verbrechen?« »Nein, das nicht«, stimmte Suko zu. »Aber wieso die letzten? Was habt ihr vorgehabt?« »Sie sollten weggeschafft werden.« »Heute?« »Si.« Jetzt sprach er italienisch. Seine Herkunft wurde uns immer deutlicher. »Und wohin sollten die Blutkonserven geschafft werden?« fragte ich sofort nach. »In die Berge.« »Aber doch nicht die Alpen – oder?« »Nein, das nicht. Sie… sie bleiben im Land. In die Hügel südlich von Croydon. Da ist ein Ort, wo eine Sprengung stattgefunden hat. So genau weiß ich nicht, wo er liegt, aber dorthin sollten die Blutkonserven geschafft werden. Das schwöre ich beim Grab meiner Mutter.« »Höchstens bei deinem Fräulein Mutter«, sagte ich. »Es stimmt!« rief er.
Suko nickte mir zu. Ich kannte das Zeichen und war ebenfalls der Meinung, dass wir von ihm nichts mehr erfahren würden, der wusste einfach nicht genug. Ich hatte trotzdem noch eine Frage. »Was sagt Ihnen denn der Name Rabanus, Mister Miller?« Miller schwieg. Sein Schweigen war für uns Antwort genug. Der Name Rabanus schien ihm nicht unbekannt zu sein, doch er gab nicht zu, ihn zu kennen. »Wer ist Rabanus, Mister Miller?« Der Stiernackige schüttelte den Schädel. »Keine Ahnung, ich weiß es nicht.« »Aber Sie kennen den Namen?« »Ja.« »Woher?« »Man hat über ihn gesprochen.« »Wie schön. Wer denn?« »Das kann ich nicht sagen.« »Sie wollen es nicht sagen!« »Nein!« schrie er. »Nein! Ich… ich habe keine Ahnung. Verdammt, das müssen Sie mir glauben. Ich kenne nur den Namen, aber er muss was Besonderes sein, weil ja auch für ihn das Blut bestimmt ist.« »Soll er es trinken?« fragte ich. »Kann sein.« »Dann wäre Rabanus möglicherweise ein Vampir«, meldete sich Suko. »Oder sehe ich das falsch?« »Ich habe keine Ahnung«, flüsterte er. »Ich habe auch nichts getan, verdammt! Lassen Sie mich laufen. Ich will hier weg! Sie können mir nichts anhängen.« »Das ist nicht gesagt, Mister Miller. Wenn wir Sie jetzt laufenlassen, werden Sie bestimmt Ihrem großen Boss einen Tipp geben wollen. Und genau das passt uns nicht in den Kram. Dafür müssten Sie doch Verständnis haben. Es ist sicherer, wenn wir Sie zu uns bringen.« »Wie meinen Sie das?« »Schutzhaft. Für einen Tag.« Er wollte aufspringen, dachte aber an unsere Waffen und protestierte im Sitzen. »Das können Sie nicht! Ich habe nichts Ungesetzliches getan, und mir gehört auch die Wohnung. Ich bin hier nicht eingebrochen. Was Sie vorhaben, ist ungesetzlich.« »Überhaupt nicht«, sagte Suko. »Sie bleiben ja nur einen Tag beim Yard. So lange ungefähr wird es dauern, bis die Kollegen Ihre Angaben, was die Waffe angeht, überprüft haben. Wir sind in der Urlaubszeit etwas unterbesetzt. Da muss man schon mit gewissen Wartezeiten rechnen, Mister Miller. Aber es wird Ihnen niemand den Kopf abreißen. So wie sie oft gezeigt werden, sind Polizisten nun wirklich nicht.«
Er sah ein, dass er keine Chance hatte, schluckte und nickte dann. Sicherheitshalber legten wir ihm Handschellen an, führten ihn aus der Wohnung und aus dem Haus, aber so, dass es nicht auffiel, wie wir ihn gefesselt hatten. Vom Rover aus rief ich Sir James an, um ihn zu informieren. Er sollte herausfinden, wo im Süden von London etwas gesprengt worden war. »Das ist zu schaffen, John.« Er wollte noch wissen, welche Schlüsse wir aus Mister Millers Aussagen gezogen hatten. Da Suko fuhr und unser Freund im Fond sicher an den Haltegriff gekettet war, konnte ich antworten. »Wir gehen davon aus, dass Costello einen Vampir erwecken will. Ein uraltes Monstrum, wobei mir der Vergleich mit Vampiro-del-mar in den Sinn kommt, obwohl wir es bei Rabanus auch mit einem Wesen der Finsternis zu tun haben können. Aber so genau steht das nicht fest.« Sir James räusperte sich. »Dann will Costello also wieder in das Spiel eingreifen?« »Sieht so aus.« »Dabei dachte ich, dass er die Nase voll hätte. Na ja, wir werden sehen. Wenn Sie hier eingetroffen sind, werden die Informationen sicherlich schon vorliegen.« Ich bedankte mich und schaute in den Fond. Der Stiernackige hockte dort wie ein Häufchen Elend. Er bewegte die Lippen, aber seine Flüche waren nicht zu hören. Dabei hatte er es besser als wir. Seine Probleme lagen hinter ihm, unsere aber lagen noch vor uns… *** Rabanus stand auf. Er konnte nicht fassen, dass ihm der Lebenssaft so köstlich geschmeckt hatte. Sein Gesicht war blutverschmiert, es glänzte feucht, und er senkte den Kopf, um auf die leblose Hülle zu seinen Füßen zu schauen. Das war einmal ein Mensch gewesen. Rabanus hatte schrecklich gewütet. Er wollte die Gestalt auch nicht mehr sehen, deshalb bückte er sich, zerrte den leblosen Körper hoch und schleifte ihn so weit weg, bis er so etwas wie eine Spalte gefunden hatte, in die er ihn hineindrücken konnte. Um ihn festzuklemmen, trat er noch mit dem Fuß nach. Dann war er zufrieden. Langsam drehte sich Rabanus herum. Er war noch nicht lange aus seinem Tiefschlaf erwacht, aber er fühlte sich wesentlich anders als sonst. Etwas in seiner Gestalt hatte sich verändert. In ihn war eine Kraft hineingedrungen, die ihn geschmeidig machte, und er testete es, indem er seine Hände bewegte.
Er drückte sie einmal zu Fäusten zusammen, streckte sie, ballte sie wieder und war zufrieden. Kraft, die alte Kraft, der Strom der Urzeit, der durch seinen Körper floss. Damals schon war das Blut eben Blut gewesen, und das hatte sich bis in die heutige Zeit nicht geändert, vor der er sich überhaupt nicht fürchtete, weil ihm im Laufe der langen, langen Zeit immer wieder Informationen mitgegeben worden waren. Er war nie allein geblieben, die anderen Kreaturen der Finsternis hatten stets den geistigen Kontakt gesucht und ihn mit Informationen überschüttet. So wusste er viel über die Menschen, aber auch über Freunde und über seine Feinde. Sie existierten, und sie waren ihm sogar namentlich bekannt, obwohl er sich zu dieser Zeit, kurz nach seiner Wiedergeburt, nicht so recht daran erinnern konnte. Er ging wieder dorthin, wo der Wagen stand. Da konnte er dem direkten Sonnenlicht entweichen, denn da war der Schatten. Rabanus bot ein schlimmes, ein schauriges Bild, als er über das Geröll schlurfte. Das Blut in seinem Gesicht war inzwischen getrocknet. Auf der Haut sah es aus wie dicke Rostflecken. Und noch etwas hatte er erfahren. Auch nach seiner Erweckung stand er nicht allein. Es gab Helfer, die von den Kreaturen der Finsternis eingesetzt worden waren und auf die er sich verlassen konnte. Wenn sie hier erschienen, würde er sofort wissen, ob er ihnen vertrauen konnte. Bisher jedoch war er allein. Er sah es als gut an, denn so konnte er sich auf die schweren Zeiten vorbereiten. Er bewegte sich nur im Kreis. Immer wieder umging er den geparkten Wagen und merkte sehr bald, dass seine Bewegungen geschmeidiger wurden. Das Blut des Fremden verfehlte seine Wirkung nicht. Es gab ihm Kraft, es fand seinen Weg, ließ sich durch nichts aufhalten und sorgte dafür, dass er sich immer besser fühlte. Er würde wieder so werden wie früher. Er hatte sich gewünscht, als Bluttrinker zu existieren, dieser Wunsch war ihm jetzt erfüllt worden. Wieder ein Vampir, nur diesmal in einer viel, viel späteren Zeit, wobei sich in der Zwischenzeit so unheimlich viel getan hatte, denn die Rasse der Menschen war entstanden. Damals hatte es sie noch nicht gegeben, doch die mächtigen Kräfte der Finsternis, die allerhöchsten Dämonen, hatten schon gewusst, wie sie später aussehen würden und ihm deshalb diese Gestalt mitgegeben. Er sollte so aussehen wie ein Mensch. Er sah beinahe so aus… Doch die Veränderung lief weiter. Seine Augen klärten sich, er konnte zuschauen, wie die Haut an seinen Armen mehr Straffheit bekam. Wie die weichen Falten und Runzeln verschwanden, wie die Feuchtigkeit
blieb, und er wusste auch, dass er sich bald von den normalen Menschen kaum unterscheiden würde. Er hockte sich auf den Boden. Mit dem Rücken lehnte er sich gegen das Fahrzeug. Hier wartete er ab, hier verwandelte er sich weiter. In seinem Innern zog und zerrte es. Er spürte Schmerzen, als wären Kräfte dabei, an seinem Körper und gleichzeitig an den inneren Organen zu zerren. Rabanus presste die Hände gegen den Leib, der einmal aufquoll, dann wieder zusammensackte. Er hatte den Mund aufgerissen, und der Atem pfiff aus seinem Maul, als würde ein Windstoß durch eine Felsrinne wehen. Seine ausgestreckten Beine bewegten sich ebenfalls. Mit den Hacken hämmerte er auf das Gestein und freute sich darüber, dass er Schmerzen spürte. Wurde er ein Mensch? Nein, kein Herz schlug in der Brust dieses Monstrums. Er blieb eine Bestie, ein Blutjäger, aber er musste sich immer weiter regenerieren, und seine Haut sah bereits glatter aus. Erkämpfte weiter, und er merkte, wie die Schmerzen allmählich nachließen. Einige Minuten noch ließ er sich Zeit, dann hob er seine Hände an, die keine Krallen mehr waren, und fuhr damit durch sein Gesicht. Da war keine Haut mehr, die er wie eine alte Pelle zwischen seinen Fingern drücken konnte, jetzt lag sie glatt auf seinen Knochen. Er konnte nicht genug davon bekommen, immer wieder nachzufassen, und er fand auch noch mehr heraus. Er hatte eine Nase, einen Mund, Augen und Ohren. Was sollte ihn jetzt noch von einem normalen Menschen unterscheiden? Vielleicht die Zähne. Nur zwei waren es. Die aber reichten aus, um Opfer zu reißen und Blut zu trinken. Mehr wollte er nicht. Blut, nur immer Blut, denn nicht grundlos war er der Blut-Pirat, und er wollte keine Konkurrenz neben sich dulden. Rabanus wusste, dass es andere Blutsauger gab, die sehr mächtig waren. Sie nannten sich Vampire. Diese Informationen hatte man ihm auch mitgegeben, er musste sich darauf einstellen, und er würde sich darauf einstellen. Andere Blutsauger konnten ihm nichts antun, er war zu stark und auch zu gut, und seine Gier nach dem Lebenssaft würde nie vergehen. Endlich stand er auf. Diesmal nicht mit torkelnden Bewegungen, sondern sehr geschmeidig. Das klappte bei ihm so wunderbar, als hätte er nie unzählige Jahre im Stein begraben gelegen. Er stand da.
Den Mund hielt er offen, die Augen glotzten wie zwei kalte Kugeln nach vorn, und zwar dorthin, wo sich allmählich eine Staubwolke abzeichnete. Rabanus wusste nicht, was diese Wolke zu bedeuten hatte, er konnte sich jedoch vorstellen, dass es da eine Verbindung zwischen ihm und dieser Wolke gab. Man hatte ihm ja von Helfern berichtet, und sie mussten ihn auch irgendwann erreichen. Die Wolke verdichtete sich zusehends. Der Gegenstand kam näher, er schälte sich hervor. Er war breit, kantig und tiefschwarz, dazu rollte er auf Rädern dahin. Wie bei dem Mann, dem Opfer… Dann hielt der Wagen an. Rabanus bewegte sich auch nicht. Er lauerte. Irgendetwas musste geschehen, und es passierte auch was. Zwei Türen öffneten sich. Lautlos wie Flügel schwangen sie auf. Mit Maschinenpistolen bewaffnete Männer verließen das Fahrzeug. Sie trugen Sonnenbrillen, ansonsten lockere Sommerkleidung, so dass sie nicht gerade aussahen wie Bilderbuch-Mafiosi. Es waren Menschen, wie Rabanus feststellte. So wie der andere, dessen Blut er getrunken hatte, auch ein Mensch gewesen war. Er hatte noch immer Durst und hätte sich gern auf die Opfer gestürzt, um sie zu zerreißen, aber da stand wieder die Botschaft in seinem Hirn, dass sie gekommen waren, um ihm zu helfen. Die Türen schwappten wieder zu. Etwas verunsichert blieben die Männer neben der dunklen Limousine stehen. Sie sprachen miteinander, wobei beide die Schultern hoben. »He, bist du Rabanus?« Der Vampir hörte die Frage, aber er konnte die Worte nicht in einen Zusammenhang bringen. Ihm fehlten da zu viele Informationen. Er hörte nur das Kauderwelsch. »Bist du es?« Er gab Antwort. Es klang eher wie ein finsteres Röhren. Dann hob er die Arme. Eine instinktive Geste, die von den Mafiosi verstanden wurde. »Das muss er sein.« »Ich gehe!« sagte der Fahrer. Er behielt die Maschinenpistole in der Hand; die Mündung zeigte zu Boden. Aber er würde sie blitzschnell wieder hochreißen können, um sich Respekt zu verschaffen. Rabanus wartete. Je dichter der Mensch an ihn herantrat, umso intensiver nahm er ihn auf. Nein, er war kein Feind. Er gehörte zu seinen Helfern und zog die ölig glänzenden Lippen in die Breite, als der Mafioso vor ihm stehenblieb. Der Mann sprang zurück, als er die beiden Zähne sah und auch die getrockneten Blutflecken im Gesicht des Vampirs. Man hatte ihn und seinen Kollegen auf einiges vorbereitet. Dass es so dick kommen würde, das hätte er nicht gedacht.
Der zweite Mann hatte mittlerweile den Kühlkasten aus dem Wagen geholt und ihn geöffnet. Sorgfältig nebeneinander standen die sechs Stahlflaschen mit dem Blut. Auch ihm war die ganze Sache nicht geheuer, aber Job war Job, daran gab es nichts zu rütteln. Beide mussten eben durch diese Hölle. Costello war der Chef, Costello hatte das Sagen, sie mussten sich nach ihm richten. Die beiden anderen kamen näher. Sie waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Oder sahen aus, als wären sie soeben aus einem Schreckenskabinett entlassen worden. »Das Blut, Marco!« Der Angesprochene nickte. Er holte die Zylinder hervor. Stellte drei von ihnen auf das Wagendach und drehte sich seinem Kumpel zu, der mit Rabanus stehengeblieben war. »Dreh sie auf, Marco!« Auch das tat der Mann. Kaum hatte er das erste Gefäß geöffnet, da drang aus dem Maul des Vampirs ein gieriger Schrei. Rabanus hatte das Blut gerochen! Wie ein Tier sprang er auf den Zylinder vor, riss ihn an sich und hielt ihn hoch. Dann kippte er sich die rote Flüssigkeit ins Maul. Er trank sie, ohne dabei zu schlucken. Nur in den Schlund hinein, das war wichtig. Die Mafiosi traten zur Seite. Sie waren vieles gewohnt, hatten einiges erlebt, aber das hier konnten sie nicht packen. Dieses Monstrum trank Blut wie andere ihr Bier. Und es blieb nicht bei dem einen Gefäß, die anderen fünf leerte es ebenfalls, bis schließlich ein zufriedenes Grunzen aus dem Maul dröhnte. »Das ist doch irre!« keuchte Franco, der zweite im Bunde. »Das darf nicht wahr sein! Ich träume – oder?« »Nein, du träumst nicht.« Beide duckten sich unwillkürlich, als das Monstrum den letzten leeren Zylinder in die Felsen hineinwarf, wo er irgendwo liegenblieb und vergessen war. Auch wenn beide Mafiosi Killer waren, sie konnten nicht anders und mussten sich bekreuzigen. Selbst die Maschinenpistolen kamen ihnen lächerlich vor. Das war einfach zuviel gewesen! »Hoffentlich will er nicht noch mehr«, murmelte Marco, ohne Rabanus aus den Augen zu lassen. »Nein, der ist zufrieden.« Franco hatte sich nicht getäuscht, denn Rabanus lehnte sich an die Limousine und drückte beide Hände gegen seinen Bauch. Und beide Männer konnten dabei zuschauen, wie sich seine nackte Gestalt wiederum veränderte. Seine Metamorphose war noch nicht abgeschlossen. Die zweite Etappe begann. Er stieß seinen Kopf zurück, knallte gegen das harte Blech, was ihm nichts ausmachte. Gleichzeitig
schnellte aus dem Maul ein dicker Klumpen hervor. Es war eine graue Zunge, die sich hektisch bewegte und dabei ihre Farbe veränderte. Die Graue verschwand, die Zunge nahm die Farbe einer menschlichen an, schnellte wieder zurück, blieb in der Mundhöhle verschwunden, doch die Veränderung im Gesicht war damit noch nicht abgeschlossen. Rabanus kämpfte. Was immer in seinem Körper auch tobte, verzweifelt versuchte er, es unter Kontrolle zu halten. Er tanzte auf der Stelle, er röchelte, er sank zusammen, es trieb ihn wieder hoch, des öfteren schlug er die Hände gegen sein Gesicht, wobei er seine Finger regelrecht festkrallte, als wollte er damit etwas abreißen. Die Mafiosi schauten zu. An ihren Gesichtern war abzulesen, wie unwohl sie sich fühlten. War das ein Mensch? War das ein Tier? War es eine Mischung aus bei dem? Sie kamen nicht zurecht, dafür waren sie sehr blass geworden und griffen auch nicht ein, als die Hände auf das Dach der dunklen VolvoLimousine trommelten. Dabei heulte Rabanus. Er hielt den Kopf nach vorn gedrückt und den Mund offen. Stinkender Geifer rann daraus hervor und verteilte sich auf dem heißen Blech. Schließlich richtete er sich auf. Atmen konnte man diese Geräusche nicht nennen, die da aus seinem Maul drangen. Abgehackte, keuchende Laute begleiteten das letzte Zucken seines Körpers. Dann lief es aus. Vorbei? Die beiden Mafiosi hofften es. Ihre Nerven waren bis an die Grenze strapaziert worden, und sie hatten sich nicht getäuscht. Rabanus drehte sich um. Dieses uralte Wesen hatte die Verwandlung zurück zu einem Menschen oder in einen Menschen glatt und sicher geschafft. Nur kleine Dinge störten, wie seine Nacktheit oder die beiden unter der Oberlippe hervorragenden Vampirzähne, die irgendwie an zwei lange Messerspitzen erinnerten. Vielleicht auch die Haut. Sie hatte den normalen Ton nicht angenommen. Ihr Teint schimmerte auch jetzt in einem für Menschen ungewöhnlichen Grau. Zischend atmeten die Männer aus. Die Waffen würden sie nicht mehr brauchen, darüber waren sie froh. Aber etwas anderes stand noch auf der Liste. Franco drehte sich um. Aus dem Wagen holte er einen Koffer. Er öffnete ihn und zog die Kleidungsstücke für Rabanus hervor. Eine dunkle Jacke ebenso wie die dunkle Hose. Dazu ein weißes Hemd mit Rüschen am Kragen. Auch Schuhe hatten sie. Rabanus schaute ihnen zu. Seine Handflächen glitten dabei über den Körper, als wollten sie ihn massieren, und sie drückten auch sein Gesicht zusammen. Danach massierten sie seinen Hals, um schließlich
die Kleidung an sich zu reißen und sie überzustreifen. Er zog sich noch ziemlich unsicher an, aber irgendwann würde er sich auch an seine neue Existenz gewöhnt haben. Es war alles gut gelaufen. Auch die Spannung bei den Männern ließ nach. Rabanus gehorchte. Er dachte überhaupt nicht daran, den Versuch zu starten, um an ihr Blut zu kommen. Gehorsam stieg er in den Wagen und nahm im Fond des Volvo Platz. Er schreckte nicht einmal zusammen, als die Tür zugeworfen wurde. Nur als sie abfuhren, da leckte er mit der Zunge über seine Lippen wie eine satte Katze. Er war da, und er würde Blut bekommen, viel Blut… *** Wir konnten uns beide vorstellen, dass dieser felsige Ort im Lauf des Tages zu einer wahnsinnigen Hitzeburg geworden war. Eine Mondlandschaft, die sengende Sonnenstrahlen knochentrocken gemacht hatte, und auch jetzt war es heiß wie in einem Backofen, obwohl die Strahlen nicht mehr senkrecht fielen. Suko hatte von einem Ort des Todes gesprochen, nach dem ersten Eindruck. Dem konnte ich nichts entgegensetzen, hier hatte der Tod in Form von Hitze durchaus seine Spuren hinterlassen, denn Pflanzen wuchsen keine, nur graues Gestein verteilte sich bis hin zu einem kleinen Berg, der ziemlich felsig war. An einer Seite jedoch hatte er sich verändert. Da war eine gesamte Flanke abgerissen worden, und sie breitete sich wie ein langes, hügeliges Plateau vor unseren Füßen aus. Sir James hatte schnell und sicher nachgeforscht. Es hatte nur diesen einen Ort gegeben, wo man eine ^Sprengung durchgeführt hatte. Noch jetzt hatte ich das Gefühl, den Staub zu schmecken, der bei der Aktion in die Höhe gewirbelt worden war. Wir mussten die dunklen Brillen aufsetzen, weil die Steine die Helligkeit zu ’ sehr reflektierten und das den Augen nicht gut tat. Ich war schon vor Suko ausgestiegen und hatte mich umgeschaut. Hinter mir hörte ich seine Schritte. Als er stehenblieb, sprach er aus, was ich ebenfalls dachte: »Ich denke, dass wir zu spät gekommen sind und Pech gehabt haben.« »Leider.« »Keine Spuren, kein Vampir…« »Bei dem Licht?« Suko lachte und hob die Schultern. »Das glaub’ ich alles nicht mehr. Seit ich weiß, dass es einen Dracula II gibt, stehe ich diesen alten Regeln anders gegenüber. Oder sollen wir ihn rufen?« »Rabanus?« »Ja.«
»Las die Scherze«, sagte ich und ließ ihn stehen, weil ich mich noch etwas umschauen wollte. Mein Freund und Kollege hatte ja recht, und ich ärgerte mich darüber, dass es so war. Ich musste davon ausgehen, dass wir den Ort des Schreckens oder der Wiedererweckung gefunden hatten, aber was brachte uns das? Nichts, überhaupt nichts. Beide gaben wir trotzdem nicht auf und suchten nach Spuren. Irgendetwas musste doch hinterlassen worden sein, so glatt ging es nicht vorüber. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass ein Monstrum erwachte und losging, obwohl es das auch gab, aber nicht hier. Wir hatten erfahren, dass Costello seine Hände im Spiel hatte, und er würde sicherlich dafür gesorgt haben, dass es dieser Bestie nicht zu schlecht ging. Wir hatten auch Reifenabdrücke dort gefunden, wo unser Rover stand, aber dort gab es viele Abdrücke, die sich verwischten. Hier jedenfalls fanden wir nichts. Zudem suchte Suko an einer anderen Stelle. Er befand sich noch immer nahe des Wagens, und als ich seinen Ruf hörte, drehte ich den Kopf. Er kniete und winkte mir zu. Dann hatte er etwas gefunden. Ich war schnell bei ihm. Da ging Suko bereits geduckt und schritt zudem einen Kreis, den Blick suchend zu Boden gerichtet. »Das kann Blut sein, John«, sagte er und deutete auf verschiedene Stellen, wo sich dunkle Flecken abzeichneten. Ich sah sie mir an. Ja, durchaus möglich. Nur waren diese Flecken sehr trocken geworden. Das helle und starke Sonnenlicht hatte sie beinahe schon wieder von den Steinen weggerannt. »Vampirblut?« murmelte ich. »Oder das eines Opfers.« Ich richtete mich wieder auf. Jetzt galt es nachzudenken. »Opfer«, murmelte ich, »muss man da wirklich von einem Opfer sprechen?« »Wovon dann?« »Wer besucht denn dieses Gebiet hier freiwillig?« »Das brauchte nicht zu sein. Costello kann seine Hände im Spiel gehabt haben und hat seinem Helfer geholfen. Das muss sogar so gewesen sein.« »Deutlicher, Bitte.« »Wie du willst.« Er schaute sich um und deutete gegen den Berg mit der neuen Form. »Nach unserem bisherigen Wissen können wir davon ausgehen, dass Rabanus erwachte, als die Sprengung erfolgte. Bist du damit einverstanden, Alter.« »Mach schon weiter.«
»Gut, wie du willst. Unser Freund hat also seit Millionen von Jahren im Gestein begraben gelegen. Eine Kreatur der Finsternis, ein Blut-Pirat, der älteste Vampir möglicherweise, das alles steht noch in den Sternen. Für mich jedoch ist klar, dass dieser Blut-Pirat nach seiner Befreiung schwach war. Er brauchte Saft, er brauchte Treibstoff, um den Motor wieder in Gang zu bringen. Ich kann mir vorstellen, dass er sich das Entsprechende geholt hat.« »Ein Opfer, einen Menschen.« »Ja.« »Warum aber dann das Blut aus der Konserve, Suko?« »Kann ich dir sagen. Weil Costello eben auf Nummer Sicher gehen wollte. Ich gehe auch davon aus, dass er diese Gestalt hat abholen lassen…« »Ich gebe dir nur zur Hälfte recht. Schau dich doch mal um. Die Gegend ist menschenleer. Hierher verirrt sich niemand, zwei Verrückte ausgeschlossen. Deshalb glaube ich nicht, dass er schon ein Opfer gefunden hat. Ich halte davon nichts.« »Muss ja auch nicht so sein, aber immerhin wird man ihn gefüttert haben. Und so leer, wie du diese Gegend hier ansiehst, ist sie auch nicht.« »Ja, wir sind hier.« »Nicht nur wir, John. Dreh dich mal um.« Ich glaubte nicht, dass sich Suko einen Scherz erlaubte. In der Tat waren wir nicht die einzigen. Dort, wo die Umgebung noch normal und nicht gesprengt worden war, sahen wir eine Gestalt auf einem Fahrrad hocken und langsam näher kommen. Schon jetzt konnten wir uns über sie wundern, denn sie trug sehr dunkle Kleidung und einen ungewöhnlichen Hut auf dem Kopf. Mit einer breiten Krempe, aber einem runden Buckel, der von seinem Schädel wie eine dicke Kerze Hochstand. »Das ist ein Typ«, murmelte Suko. »Warten wir mal ab.« Wir hörten ihn, weil das Rad erbärmlich quietschte. Er rollte über Bodenwellen hinweg, er schaukelte dabei, als würde er über Wasser fahren, und er hielt direkt auf uns zu. Als er den Rover erreicht hatte, stieg er vom Rad und lehnte es gegen den Wagen, denn einen Ständer hatte sein Gefährt nicht. Der Mann klopfte sich den Staub von der Kleidung. Jetzt erst sahen wir, dass er eine Soutane trug, aber ein Priester schien er nicht zu sein, eher ein seltsamer Kauz. Er richtete sich auf, schob den Hut etwas zurück und zeigte uns sein Gesicht. Es war blass und wirkte traurig. Schmale Augen, schmale Lippen, eine lappige Haut, eine hohe Stirn und Brauen, die kaum zu sehen waren. Wir nickten ihm zu.
Er kam noch näher. »Ja«, sagte er dabei, »da sind wir also und können nur mehr mit den Köpfen schütteln.« »Das müssen Sie uns erklären«, sagte Suko. »Es ist wirklich nicht schwer. Ich habe immer wieder gewarnt, doch es wollte keiner auf mich hören.« Er hob die mageren Schultern. »Sie haben mich nicht ernst genommen.« »Wovor haben Sie denn gewarnt?« »Vor dem Bösen, mein Freund. Ich warnte vor dem Bösen, denn ich wusste, dass es hier lauerte. Ich habe die Natur beobachtet, denn ihre Reaktion hat mir vieles gezeigt.« So ganz konnten wir ihm nicht folgen, aber das machte auch nichts. Wir würden schon dahintersteigen. »Sie wollten also nicht, dass gesprengt wird«, sagte ich. »So ist es.« »Aber man tat es.« »Ja.« »Und das Böse ist frei, das in diesem Berg gelegen hat.« »Ja.« »Wer war das Böse?« Er schüttelte den Kopf. »Das Böse hat keine Gestalt, es ist einfach vorhanden. Es ist Seele, es ist Geist, es gehört zu den Anfängen der Welt wie auch das Gute. Aber es ist älter als die Menschen, und es hat auch überlebt. An vielen Orten der Welt, besonders aber hier, eingeschlossen im Gestein, und nur wenige Kundige wussten davon. Das wollte ich euch sagen. Doch es ist zu spät. Es wurde gesprengt, und das Böse hat in die Freiheit gelangen können.« »Haben Sie es denn gesehen?« Der Mann mit dem Hut, dessen Namen wir noch immer nicht kannten, deutete ein Nicken an. »Ja, ich habe es gesehen. Es hat sich befreit, und es hat sich Blut nehmen können. Es hat zugeschlagen, das erste Opfer wurde bereits gerissen.« Der Mann wurde erst jetzt für uns richtig interessant. »Moment mal, Sie haben gesehen, wie sich das Böse regenerierte?« »Aus meinem Versteck hervor und mit einem Fernglas vor den Augen. Ich bin ein Zeuge.« »Wen griff die Gestalt an?« fragte Suko. »Einen Mann, der nicht auf meine Warnungen gehört hat. Er ist der Sprengmeister gewesen. Er wollte nachschauen, wie gut ihm alles gelungen ist. Das hat er nun davon.« »Und wo ist er jetzt?« Der Knabe mit dem Hut schaute Suko an, dann sah er an ihm vorbei. »Irgendwo«, flüsterte er, »irgendwo zwischen den Felsen. Eine blutleere Hülle, mehr nicht.«
»War das alles, was Sie sahen?« fragte ich. »Oder haben Sie da noch etwas entdeckt?« Er legte die Stirn in Falten. »Nein, es ging noch weiter. Es war ja kein Zufall, die Erweckung des Bösen ist auch irgendwo gesteuert worden, daran glaube ich.« »Dann erzählen Sie mal.« Bisher war er sehr redselig gewesen, das änderte sich nun, denn er schaute uns misstrauisch an. »Wie komme ich dazu, Ihnen alles zu sagen, was ich weiß?« »Weil Sie uns vertrauen«, sagte ich. Da nickte er und murmelte: »Komisch, Sie haben recht. Ich vertraue Ihnen. Sie gehören nicht zu denen.« »Und woher wissen Sie das?« »Es ist bei mir nicht nur das Gefühl, Ihnen vertrauen zu können, es kommt noch etwas anderes hinzu. Ich denke einfach, dass es immer zwei Pole in der Welt gibt. Einen guten und einen schlechten. Den schlechten habe ich erlebt, aber er kann nicht nur bleiben, es muss auch ein guter Pol kommen und das Gegenstück bilden. Deshalb sehe ich Sie als das Gegenstück zum Bösen an. Ich habe Ihre Ausstrahlung gespürt, Sie haben eine gute Aura.« Er deutete auf mich. »Besonders Sie, Mister…« »Ach ja?« Der seltsame Mensch nickte. »Ja, Sie tragen etwas bei sich, das diese Aura ausstrahlt.« Ich zeigte ihm mein Kreuz. Der Mann blieb stumm. Dafür ›sprachen‹ seine Augen. Sie waren plötzlich weit geöffnet. Die Pupillen darin wirkten wie dunkle, flackernde Flecken. Es dauerte, bis er sich gefangen hatte. »Ein wunderbares Kreuz«, flüsterte er. »Etwas Einzigartiges haben Sie da in Ihrem Besitz. Gütiger Himmel, sind Sie sich dessen bewusst?« »Ja, bin ich.« »Dann sind Sie hier richtig.« Aber wir wussten noch nicht, was er hier zu tun hatte und wer er denn war. Ich fragte ihn danach. Erhob die eckigen Schultern an. »Ich bin nur ein kleines Licht. Ich nenne mich Esoteriker. Ja, ich bezeichne mich immer wieder als solcher oder als Mahner. Ich habe das Glück, etwas bemerken zu können. Ich leite zudem eine Gruppe von Menschen, die das Gute wollen, die sich der Natur verschrieben haben und aus ihren Kräften Kraft für sich selbst schöpfen. Wir gehen den anderen, auch einen spirituellen Weg. Wir wollen erkennen, was hinter dem Sichtbaren liegt. Mich nennt man Johannes.« »Gut, Johannes, das akzeptiere ich. Sie haben also gespürt, dass sich in diesem Berg etwas Schreckliches verborgen hält.«
»Ja, die Strömungen waren einfach zu stark. Wir konnten nichts tun, nur hoffen, dass es für alle Zeiten dort bleibt. Aber das war nicht der Fall. Dumme, arrogante Menschen wollen die Wahrzeichen nicht akzeptieren. Sie hören nicht auf die Strömungen der Natur, sie wollten ihre Vorstellung durchsetzen. Hier wurde gesprengt, es musste ein Weg für eine Straße freigemacht werden, und so ist das Böse freigekommen. Auch ich konnte nichts mehr machen.« »Aber Sie haben es gesehen.« »Ja, es bewegte sich. Es trank sogar Blut. Es hat einen Menschen furchtbar zerstückelt. Aber das war nicht alles, denn es ging weiter. Schon jetzt hat das Böse Unterstützung bekommen, glauben Sie mir. Es kamen Männer, und sie haben das Böse in ein Auto geladen und weggeschafft. Doch zuvor gaben sie ihm zu trinken. Auch Blut, das sie mitgebracht haben. Jetzt ist das Böse noch stärker geworden.« Suko und ich schauten uns an. Mein Freund nickte. »Die Konserven«, murmelte er. »So fügt sich allmählich das Puzzle zusammen. Trotzdem wissen wir noch zuwenig.« Da war ich seiner Meinung und wandte mich wieder an den Esoteriker Johannes. »Sagen Sie, wenn Sie alles so gut beobachtet haben, können Sie doch sicherlich die Beschreibungen der Männer geben, die das Wesen abgeholt haben.« Er nickte nur sehr zögernd. »Sie kamen in einem dunklen Wagen. Ich habe die Marke nicht erkennen können, aber es war eine Limousine. Das Böse folgte ihnen. Sie ließen es einsteigen und fuhren mit ihm weg.« »Eine Autonummer haben Sie nicht zufällig erkennen können?« fragte mein Freund. »Nein, leider nicht.« Suko und der Esoteriker theoretisierten noch weiter. Meine Gedanken aber beschäftigten sich längst mit anderen Dingen, denn ich hatte etwas verdammt Gefährliches erfahren, das bisher untergegangen war. Rabanus hatte sich bereits ein erstes Opfer geholt und dessen Blut getrunken. Wenn er tatsächlich die Eigenschaften eines Vampirs hatte, dann würde es zu einer bestimmten Folge kommen müssen, die das Opfer allein anging. Durch den Biss war es ebenfalls zu einem Vampir geworden, würde irgendwann erwachen und sich auf die Suche nach Blut machen. Das Risiko konnten wir nicht eingehen. Suko fragte mich. »Denkst du an das gleiche wie ich?« »Ich glaube schon.« »Er muss noch hier sein…« »Fragen wir Johannes.« Der schaute hoch, als er seinen Namen hörte und kurz danach meine Frage. Ich wollte von ihm wissen, wo das Böse sein Opfer geholt hatte und was dann geschehen war.
»Hier auf dem Feld«, flüsterte er. »Auf den Steinen.« Er dachte nach und drehte sich dabei, bis er direkt gegen die kantige Felswand schauen konnte, wovon der größte Teil weggesprengt worden war. »Dort ist es nicht so grell, und wenn ich mich recht daran erinnere, hat er den Weg dorthin genommen.« »Wunderbar. Wobei Sie natürlich nicht gesehen haben, dass er sich irgendwo ein Versteck gesucht hat.« »Pardon, von wem sprechen wir?« »Von diesem ersten Opfer.« Johannes hob die Schultern. »Nein, das habe ich nicht mehr gesehen. Es ging auch nicht weg. Es müsste noch hier sein und auf die Dunkelheit der Nacht warten.« Suko nickte mir zu. »Soviel Zeit haben wir nicht, John. Ich schätze, wir werden ihn suchen.« Dafür war ich auch. Johannes nickte uns zu. »Ja«, sagte er. »Ja, tun Sie das. Ihnen traue ich zu, dass Sie damit fertig werden. Sie haben das Kreuz, und es ist einfach etwas Wunderbares. Es wird das kalte, eisige Grauen aus der tiefen Vergangenheit besiegen, davon bin ich überzeugt.« Ich war es nicht so sehr, behielt meine Meinung jedoch für mich, denn Rabanus war viel älter als mein Kreuz, und möglicherweise war ein Teil seiner Kraft auch in sein Opfer übergegangen. »Ich warte hier«, sagte er. »Ist gut.« Weder Suko noch ich waren von dem neuen Job begeistert, aber was sein musste, das musste einfach sein. Wir konnten es nicht riskieren, einen Vampir umherlaufen zu lassen. Wenn erst die Nacht hereinbrach, gewann er an Stärke. Noch lag der größte Teil des neuen Geröllfeldes im Licht der Sonne. Ihre Strahlen knallten gnadenlos nieder. Wir näherten uns der Wand. Sie sah schlimm aus, ihr Gefüge war durch die Explosion zerrissen worden. Von Sir James wussten wir, dass sie angeblich eine Gefahr dargestellt haben sollte, denn sie stand dicht vor dem Abkippen. Wir konnten dazu nichts sagen, weil uns das Fachwissen fehlte. So sahen wir uns mit einem gewaltigen Fragment frequentiert. Je näher wir der Felswand kamen, umso unwegsamer wurde die Strecke. Weiter hinter uns hatte sich das Geröll verlaufen, hier aber lag es noch wuchtig übereinander, und es hatte regelrechte Figuren sowie Landschaften gebildet. Was einmal grün gewesen war, lag unter den Steinmassen begraben. Nur die Wand vor uns strahlte eine gewisse Kühle ab, die auch gut tat. Nach wie vor gingen wir davon aus, dass sich der neue Vampir ein schattiges Plätzchen gesucht hatte. Unsere Vorsicht erhöhte sich, als wir in den Schatten der Wand eintauchten.
In unserer Umgebung war es sehr still. Da schien selbst die Natur den Atem anzuhalten, und so hörten wir nur unsere eigenen Schritte, die manchmal knirschten. Ich spürte auf dem Rücken das Kribbeln. Auch Suko war nicht mehr so ruhig. Er merkte ebenfalls, dass wir uns dem Ziel näherten und schaute öfter als gewöhnlich zu Boden. Spalten, Risse, kleine Erhebungen oder regelrechte Figuren, zu denen sich die Felsen zusammengedrückt hatten. In der Stille hörten wir jedes Geräusch, leider nicht das Fauchen oder Keuchen eines blutgierigen Wiedergänger. Ich ärgerte mich. Wie oft war ich schon von diesen Vampiren attackiert worden, aber jetzt, wo ich es praktisch herbeisehnte, da geschah nichts. Auch Suko dachte ähnlich, als er nach links abschwenkte und dabei leise fluchte. Ich wollte in der anderen Richtung suchen, beide blieben wir aber im Schatten der Felswand. Einer von uns hatte Glück. Es war Suko, der meinen Namen rief, nachdem ich erst wenige Schritte gegangen war. Ich drehte mich um. »Hier liegt unser Freund.« Die Entfernung war nicht sehr groß. Kaum hatte Suko den Satz ausgesprochen, als ich neben ihm stand und den Kopf senkte. Ich schaute dorthin, wo er ebenfalls hinsah. Da gab es eine Spalte im Fels, als wäre sie bewusst hineingesprengt worden. Sie war nicht sehr breit, doch breit genug für einen Körper, der sich hineingedrückt hatte, sogar auf dem Rücken lag und uns aus blanken Augen anstarrte. Das war er. Ich schluckte, denn sein Anblick war scheußlich. Rabanus hatte sich nicht damit begnügt, ihn zu beißen und sein Blut auszusaugen, er war dabei oder danach viel brutaler vorgegangen und hatte den Menschen wie ein wildes Tier behandelt. Die Wunden an dessen Körper waren kaum zu zählen. Er hätte längst tot sein müssen, das war er nicht, in ihm wohnte der schreckliche Geist des Untoten, der lebenden Hülle, und er würde sich irgendwann erheben und als Gestalt des Schreckens durch die Gegend laufen, auf der Suche nach frischem Blut. Auch jetzt überkam ihn bereits die Gier. Er zuckte in seinem engen Gefängnis. Da standen zwei Personen vor ihm, in dessen Adern das Blut floss, und er wollte einfach daran kommen. Ich sagte nichts, beobachtete ihn, wie er sich quälte, aber noch zu schlapp war, um aufzustehen oder sich überhaupt zu drehen. Nur einen Arm konnte er anheben. Es war der rechte. Den brachte er unter großen Mühen hoch, und auch seine Finger bewegten sich zuckend, als wollte er nach dem Opfer greifen. Das schaffte er nicht.
Suko stellte die entscheidende Frage: »Wer macht es? Du oder ich?« »Eine Kugel ist zu schade.« »Dann nehme ich die Peitsche.« Damit war ich einverstanden. Sie war zwar keine ultimative Waffe, aber auch nicht weit davon entfernt, ihr hatte auch dieser widerliche Dämon nichts entgegenzusetzen, hoffte ich zumindest. Es war keine schöne Aufgabe, dementsprechend zeigte sich auch Sukos Gesichtsausdruck. Der Anblick des Vampirs widerte ihn an. Hinzu kam der Gestank, der uns aus der schmalen Grube entgegenwehte. Es war eine Mischung aus stockigem Blut und faulendem Fleisch, der perfekte Ekel. Suko schlug den Kreis. Ich schaute zu, wie die drei Riemen hervorrutschten. In der Grube bewegte sich der Blutsauger. Er schabte über die Ränder hinweg, und als Suko seinen rechten Arm anhob, um zunächst einmal zu zielen, da wehte, uns ein gewaltiges Röhren entgegen, ein erstes und ein letztes Aufbegehren. Frei kam er nicht mehr. Die drei Riemen klatschten wuchtig gegen die Gestalt des Wiedergänger. So wurde Magie mit Magie bekämpft, doch die der Peitsche war stärker und gewann. Noch einmal der Schrei! Diesmal anders. Hoch und schrill, ein verzweifelter Versuch, sich aufzubäumen, der aber nichts brachte. Der Vampir blieb in der Felsspalte liegen und verging. Jetzt war er endgültig tot… Ich drehte mich um, ging einige Schritte und wartete dann auf Suko. »Wir haben Glück gehabt, ihn gefunden zu haben«, sagte ich leise, hörte von Suko allerdings nur ein kratziges Lachen. Dann meinte er: »Rabanus wäre mir lieber gewesen.« »Den holen wir auch noch.« »Wo und wann?« Ich hob die Schultern. »Darüber habe ich mir, ehrlich gesagt, noch keine Gedanken gemacht.« »Eine Spur gibt es.« »Costello?« »Wer sonst?« Suko runzelte die Stirn. »Da hast du natürlich recht, aber du glaubst doch nicht daran, dass er zugeben wird, sich um Rabanus gekümmert zu haben.« »Das nicht. Aber wir sollten trotzdem mit ihm sprechen. Wir müssen ihm klarmachen, dass er schon öfter reingefallen ist. Zuerst mit der Mordliga, dann mit dem Teufel. Er hat immer hoch gepokert, weil er mehr wollte, aber er hat es nie geschafft, seine Macht so zu vergrößern, dass ihm
keiner mehr etwas anhaben konnte. Ich frage mich, warum er überhaupt wieder in das Geschäft eingestiegen ist.« Der Inspektor hob die Schultern. »Das kann ich dir auch nicht sagen. Da musst du mich schon was Leichteres fragen. Vielleicht ist es ihm zu langweilig geworden…« »Glaubst du daran?« »Im Prinzip nicht.« »Eben.« »Dann sag mir deine Theorie.« Ich lächelte. »Willst du sie auch wissen, wenn ich sie sehr weit herhole?« »Besser als nichts.« »Folgendes, Alter. Ich denke daran, dass Asmodis und Costello einmal gut miteinander ausgekommen sind, und der Teufel vergisst nichts, das weißt du selbst. In der Zwischenzeit hat sich einiges getan, da sind andere Konstellationen entstanden, unter anderem spielt unser Freund Mallmann eine nicht unwichtige Rolle. Er ist stark geworden, er will eine Weltmacht der Vampire. Er setzt überall seine Hebel an, und er hat sich natürlich Feinde geschaffen.« »Wie den Teufel!« »Perfekt kombiniert.« »Hör auf mit dem Spott, John!« »Deshalb denke ich, dass sich der Teufel, weil Mallmann mächtiger wurde, wieder an seine alten Spezis erinnert hat. Er will ein Gegengewicht zu Dracula II aufbauen, und dazu benutzt er einen gewissen Logan Costello und schiebt ihm Rabanus, eine Kreatur der Finsternis, unter. Damit sie schließlich, möglicherweise zusammen mit Logan Costello, gegen Dracula II angehen kann.« »Gut«, sagte Suko. »Auch perfekt?« »Das kann ich nur hoffen, John. Aber es wäre eine Möglichkeit, denke ich.« »Genau das meine ich auch.« »Deshalb werden wir uns an Costello halten müssen. Ob er will oder nicht.« »Viel Spaß.« »Wir können uns ja in einiger Entfernung aufhalten und zusehen, wie er die Sache schaukelt. Es wäre nicht einmal schlecht, der lachende Dritte zu sein.« Diesmal lächelte ich, bevor ich weitersprach. »Kannst du dir vorstellen, dass Mallmann stillhalten wird?« »Nein.« »Ich auch nicht. Er muss in Rabanus einfach einen Konkurrenten sehen. Alles kann er vertragen, nur keine Konkurrenz.« »Du rechnest also mit einem Kampf zwischen den beiden Giganten, wenn ich dich richtig verstanden habe.«
»Ja, denn Dracula II muss etwas tun. Er kann nicht zusehen, wie der Blut-Pirat in seinen Pfründen wuchert. Zudem hat er schon verhindern wollen, dass das Blut gestohlen wurde. Auf dieser Schiene, Suko, läuft bereits einiges.« Er stimmte mir zu. »Dann aber sind wir hier genau falsch.« »Ich weiß, las uns gehen.« Zuvor warfen wir noch einen Blick auf das Vampirgrab. Zu sehen war nicht viel, vielleicht die Reste der eingeklemmten Masse, doch über der Öffnung wehte noch graugrüner Qualm, der widerlich roch, als wäre altes Fleisch verschmort worden. Wir hatten den Esoteriker Johannes schon wieder vergessen und wurden an ihn erinnert, als er uns zuwinkte und auch einige Male klingelte. Wir gingen schneller. Gespannt schaute er uns entgegen, dabei hatte er eine Hand auf den Sattel des Fahrrads gelegt. »Nun, ich denke schon, dass Sie Erfolg gehabt haben. Genau konnte ich es nicht sehen, aber ich nehme es doch an.« »Ja«, sagte Suko, »Sie haben richtig getippt. Es gibt das erste Opfer des Rabanus nicht mehr.« »Haben Sie ihn erlöst?« »So ist es.« Er atmete auf. »Himmel«, flüsterte er dann, »es gibt doch noch Gerechtigkeit auf der Welt. Beinahe hätte ich den Glauben an sie schon verloren, aber jetzt sehe ich wieder optimistischer.« Ich schränkte seine Freude ein. »Es war nur ein kleiner Sieg. Ob wir den großen erringen werden, steht in den Sternen.« »Nein, nein, Sie müssen. Sie sind der richtige Mann. Sie werden dem Bösen trotzen.« »Ich hoffe es.« »Da ist auch noch etwas gewesen. Es passierte, als Sie… nun ja, als Sie auf der Jagd waren.« »So? Was denn?« Johannes deutete auf den Wagen. »Sie haben dort ein Telefon. Es… es hat sich gemeldet.« »Danke.« Ich stieg ein. Wahrscheinlich hatte Sir James etwas von uns gewollt, und deshalb wählte ich auch seine Nummer. Er hob sofort ab. »Das ist gut, John, dass wir reden können. Erst einmal die Frage an Sie. Haben Sie einen Erfolg errungen?« »Das haben wir, Sir.« »Und wie, bitte?« Ich gab ihm einen Bericht und konnte zwischendurch hören, wie erstaunte. Auch er sah eine gewaltige Gefahr auf uns zukommen und brachte sie ebenfalls mit Costello in Verbindung. »Dieser Mann gibt nicht auf, egal, ob er nun gezwungen wurde oder nicht. Wir hatten ja schon zuvor über ihn gesprochen, deshalb müssen Sie an ihn heran.«
»Klar, aber…« »Keine Bedenken, John. Oder nicht mehr. Ich habe mich mit ihm in Verbindung gesetzt.« »Wie bitte?« »Ja, Sie kennen ja auch meinen Einfluss. Diese Bitte konnte er mir nicht abschlagen. Ich habe ihn zudem daran erinnert, dass wir lange Zeit auf gewisse Razzien verzichtet haben. Er erklärte sich einverstanden, Sie beide zu empfangen.« »Soll ich mich bedanken, Sir?« »Das können Sie mir sagen, wenn alles vorbei ist. Nun aber zu ihm selbst. Sie wissen ja, dass er mehrere Domizile und Ausweichquartiere besitzt. London ist ihm zu heiß geworden. Sie müssen ans Meer fahren, in die Nähe von Brighton. Dort stößt eine schmale Halbinsel in die See hinein. Er hat sie gekauft und sich dort ein Sommerhaus bauen lassen.« »Ja, Sir, mit Blut, Tränen und Mord.« Ich war sauer, denn ich dachte daran, wie der mächtigste Mafiaboss Londons sein Geld verdiente, wobei man das Wort verdienen erst gar nicht in den Mund nehmen durfte. Es gab praktisch kein Verbrechen, das ihm fremd war. Am meisten Geld holte er aus seinen Drogengeschäften. »Wie heißt das Fleckchen Erde denn?« erkundigte ich mich. »Costello Island.« Ich lachte. »Klar, darauf hätte ich auch selbst kommen können. Wahrscheinlich ist es dort auch bekannt.« »Davon müssen Sie ausgehen, John.« »Gut, wir haben hier nichts mehr zu tun und werden starten. Ich hoffe nur, dass wir Rabanus dort auch finden.« »Bestimmt, John. Achten Sie auch auf Mallmanns Boten. Dann können Sie sicher sein.« »Machen wir, Sir.« Ich stieg aus dem Wagen und wischte mir zunächst einmal den Schweiß aus dem Gesicht. Suko hatte zwar zugehört, aber nicht alles mitbekommen. Ich ließ ihn auch noch schmoren und wandte mich an den Esoteriker Johannes. »Danke sehr, dass Sie uns so außergewöhnlich gut geholfen haben.« »Nein, nicht mir müssen Sie danken. Das Schicksal hat es gut gemacht. Die Kräfte der Natur haben endlich gezeigt, wozu sie fähig sind.« Er hob einen Finger. »Sie nehmen nicht alles hin, und das wiederum gibt mir neuen Mut.« Er wünschte uns für die Zukunft noch alles Gute, schwang sich auf seinen Drahtesel und radelte davon. Wir schauten ihm hinterher. Suko wiegte den Kopf. »Ein ungewöhnlicher und seltsamer Zeitgenosse.« »Stimmt, aber nicht unsympathisch.« »Da hast recht. Aber jetzt zu Costello. Was ist mit ihm? Sir James sprach ja davon.«
»Ja, richte dich auf eine kleine Reise ein.« »Wie schön. Wohin?« »In den Süden, an die Küste, zu einer Halbinsel. Dort sind wir angemeldet. Sagt dir der Name Costello Island etwas?« »Bis jetzt nicht.« »So heißt der Flecken Erde, wo sich der große Capo vom Blutgeld ein Sommerhaus hat bauen lassen. Sir James hat sich mit ihm in Verbindung gesetzt und dafür gesorgt, dass er uns empfängt.« Suko staunte. »Wie schaffte er das denn?« »Tja, er ist eben manchmal besser, als wir annehmen.« »So kann man sich täuschen«, sagte Suko und fragte, ob ich fahren wollte. »Ja, dann kannst du schlafen.« »Danke, ich werde mich bemühen, auch nicht zu schnarchen.« Danach stiegen wir in den Backofen mit vier Rädern. Eine Hoffnung hatten wir. An der Küste war es sicherlich kühler, obwohl uns dort sicherlich ein heißer Tanz bevorstand… *** Logan Costello wurde nicht grundlos das Betongesicht genannt. Er war ein Mann mit bleichgrauer Haut, die immer wie gemeißelt wirkte. Hinzu kam das graue Haar, das er in letzter Zeit hatte länger wachsen lassen, um es dann nach hinten zu kämmen. Jetzt war es so lang geworden, dass es sich im Nacken aufrollte, aber auch das war ja modern. Wenn es um ein neues Geschäft ging, fühlte er sich meist gut, denn dann spürte er das innere Kribbeln, das ihn schon als junger Mensch überkommen hatte, wenn es galt, bestimmte Dinge in die Tat umzusetzen. Costello hatte alles versucht, um seinen Machtkreis zu erweitern. Er hatte sich sogar mit den Mächten der Finsternis zusammengetan, dabei jedoch Schiffbruch erlitten, und er hatte geglaubt, die Zeit abhaken zu können, um sich wieder um seine eigentlichen Geschäfte zu kümmern. ’Ein Irrtum! Der Teufel hatte nichts vergessen. Er war zu ihm gekommen und hatte ihn sehr deutlich an die alten Zeiten erinnert und ihm zudem erklärt, dass er, der Höllenherrscher, mächtiger war als jeder Mensch. Logan Costello hatte begriffen und nur gefragt, was der Teufel von ihm verlangte. Es ging um Rabanus, einen Dämon, der sich ein Dasein als Vampir ausgesucht hatte. Er sollte bei Costello bleiben, denn der Teufel hatte ihn sich als Günstling ausgesucht, um gegen einen anderen Feind, ebenfalls einen Vampir, anzugehen. In Anbetracht der Dinge war Costello nichts anderes übriggeblieben, als zuzustimmen und sogar seine Leute als Hilfskräfte einzusetzen. Asmodis
war davon überzeugt gewesen, dass nichts schief laufen könnte, doch er hatte sich geirrt. Bei seinem Besuch hatte er kein Wort über John Sinclair und diesen Suko gesagt, nun aber würden beide bei Costello erscheinen, und wieder war es einem anderen gelungen, ihn so unter Druck zu setzen, dass er nicht hatte ablehnen können, ohne sich verdächtig zu machen und unangenehme Folgen tragen zu müssen. Er fühlte sich wie eine Walnuss, die bereits in der Zange klemmte, mehr allerdings auch nicht. Erst langsam, sehr langsam würde sie zugedrückt werden, um ihn zu zermalmen. Das aber wollte Costello nicht. Wenn er daran dachte, wie lange er schon auf dem Thron saß und es keinem bisher gelungen war, ihn herabzustoßen, dann würde er auch jetzt nicht aufgeben, sondern versuchen, der Zange zu entweichen. Nur das Wie war die große Frage. Wie kam er da raus? Wie konnte er sich da vorbeidrücken? Er wusste es nicht. Er musste taktieren und nach Lösungen suchen, wenn bestimmte Situationen eingetreten waren, denn noch ging es ihm gut. Da hatte er nichts zu befürchten. Er stand in dem großen hallenartigen Raum am Fenster mit Meerblick. Costello schaute auf die See hinaus, die wie welliges Blei vor ihm lag. Zwischen ihm und dem Wasser befand sich eine Scheibe aus Panzerglas, denn für eine bestimmte Sicherheit hatte er immer gesorgt. Wo er sich auch aufhielt, er fühlte sich immer bedroht, obwohl er so mächtig war. Zum Glück hatte er das erreicht, was er wollte. Seine Leute hatten diese alte Kreatur gefunden und in einer wahren Höllenfahrt hergeschafft. Bisher hatte Costello nur einen knappen Blick auf sie werfen können, das würde er ändern, wenn er gleich hinab in den Keller ging, wo die Mauern aus Beton bestanden und atombombensicher waren. Aus seiner Tasche holte er eine Pillendose. Wenig später verschwand eine weiße Tablette zwischen seinen Lippen. Er zerknackte sie und spülte mit einem Schluck Wasser nach. In seinem Alter brauchte man eben Tabletten, um möglichst fit zu sein. Das tragbare Telefon stand in seiner Reichweite. Er hob es hoch und drückte eine zweistellige Nummer. Sofort hob einer seiner Vasallen ab. Er bestellte Marco und Franco zu sich. Sie stammten aus Neapel und waren erst seit einigen Monaten bei ihm. Die Heimat hatten sie deshalb verlassen müssen, weil man ihnen zu stark auf den Fersen war, und in London, bei Costello, hatten sie ihren Unterschlupf gefunden. Er konnte sich auf sie verlassen, das hatten sie bei ihrem ersten großen Auftrag bewiesen.
Wenig später klopfte es, dann betraten sie das große Zimmer und grüßten. Sie waren größer als Costello. Er schaute zu ihnen hoch, was ihm nichts mehr machte. Früher hatte er sich darüber geärgert, heute stand er darüber. »Was ist mit Rabanus?« »Er fühlt sich wohl.« »Ihr seid sicher?« »Si.« Costello verengte seine Augen. »Ich glaube euch nicht. Ich kann euch nicht glauben, weil ich mich mit Vampiren auskenne, ihr aber nicht. Für euch sind Dämonen neu, das weiß ich. Und ich glaube nicht, dass er sich wohl fühlt. Jemand wie er wird Blut haben wollen, das sollte euch doch klar sein.« Beide nickten, und doch widersprachen sie. »Nicht bei uns, Capo, nicht bei uns. Er verhält sich still. Er sitzt auf dem Hocker und schaut kaum hoch.« »Gut«, sagte Costello, bevor er das Thema wechselte und von einem Besuch sprach, der bald kommen würde. Er erklärte auch, wer die beiden Männer waren und bekam an den Reaktionen seiner Leute mit, dass sie sich nicht eben wohl fühlten, denn bei dem Begriff Polizei reagierte jeder Mafioso allergisch. »Ihr verhaltet euch ruhig, und ihr werdet auch mit keinem über unseren Besuch sprechen.« »Si.« »Gut, dann führt mich zu ihm.« Die beiden gingen vor. Sie verließen den Raum und blieben in einem verhältnismäßig kleinen Flur stehen, der praktisch nur wegen des Fahrstuhls gebaut worden war, der die Treppe ersetzte und es Costello ermöglichte, bequem in die unteren Räume zu gelangen. Die Kabine war mit roten Samtpolstern ausgestattet. Wie Wülste bedeckten sie die Wände. Es stand auch ein Stuhl bereit. Erzeigte ebenfalls ein weiches Polster. Costello setzte sich nieder. Er stand erst wieder auf, als der Lift im Keller hielt, wo es keine Spur von Freundlichkeit gab und der Beton nur grau war. Glatt wie Spiegel sahen die Wände aus, nur unterbrochen von Eisentüren. Hinter einer Tür lag der Komplex mit den Zellen. Es hatte schon etwas Perverses an sich, wenn ein Mafia-Chef sich eine Gefängnislandschaft baute, denn hier lagen mehrere Zellen nebeneinander und waren durch die Gitter frei einsehbar. Durch Quergitter waren drei Zellen entstanden. Nur eine war belegt, die in der Mitte.
Dort hockte Rabanus. Logan Costello schritt sehr bedächtig näher. Auch er konnte ein gewisses Grausen nicht unterdrücken, denn es war ja nicht jedermanns Sache, sich mit einem Vampir zu unterhalten. Er spürte genau die frostige Atmosphäre, was nicht allein an den relativ niedrigen Temperaturen lag im Vergleich zu oben, sondern eine Kälte war, die von einer bestimmten Person abstrahlte. Rabanus rührte sich nicht. Er hatte auf dem Hocker hinter den Gittern seinen Platz gefunden, den Oberkörper nach vorn gebeugt und die Ellenbogen auf seine Oberschenkel gestützt. Costello umfasste mit beiden Händen die Stäbe. Erinnerungen zuckten dabei in ihm hoch, denn er dachte daran, dass er in früheren Jahren auch schon auf der anderen Seite des Gitters gestanden hatte. Heute passierte ihm das nicht mehr, da war er schlau geworden und verließ sich zudem auf die Hilfe seiner Anwälte. Von Sekunde zu Sekunde fühlte er sich sicherer. Er konnte jetzt auf Leibwächter oder Zeugen verzichten, deshalb schickte er die beiden Helfer weg. Allein blieb er mit Rabanus zurück. Bestimmt hatte dieser seinen neuen Besucher bemerkt, doch er tat so, als würde er ihn nicht sehen, und Costello wartete noch eine Weile, bis er die richtigen Worte gefunden hatte, um einen Anfang machen zu können. »Du weißt, Rabanus, wer dich aus deinem Gefängnis hervorgeholt hat…?« Er bekam eine Antwort. Sie allerdings bestand nur mehr aus einem Knurren, begleitet von einem heftigen Kopfschütteln. »Weißt du warum?« Rabanus rührte sich. Er drehte sich herum. Alles geschah langsam, aber er blieb auf seinem Hocker sitzen, und wenig später starrten sich die beiden so unterschiedlichen Personen an. Costello erschrak leicht. Er hatte bisher die Blutsauger mit einem anderen Aussehen erlebt, nicht so wie dieser hier, dessen Haut sehr glatt und grau war. Der Mafioso konzentrierte sich auf den Mund und sah nur die beiden Stifte aus dem Oberkiefer wachsen. Nicht einmal krumm, sondern gerade wie Nägel. Darunter lag eine dicke Unterlippe, ebenfalls sehr blass, wie auch die Augen, die allerdings wiederum um eine Idee dunkler als die übrige Haut. Augen ohne Gefühl, ohne Gnade. Costello spürte die schlimme Aura, und trotz ihr kam Rabanus dem Mafioso lächerlich vor. Es mochte an der Kleidung liegen, die nicht zu ihm passte. Zwar von der schwarzen Farbe her, aber sie hatten ihm einen Smoking gegeben, dazu ein weißes Hemd und ihm sogar eine Fliege umgebunden. Ja, sie hatten ihn lächerlich gemacht.
Rabanus selbst war das sicherlich nicht bewusst, er fand sich damit ab, denn für ihn zählten andere Dinge. Zudem wunderte sich der Mafioso darüber, dass dieser Blut-Pirat kein einziges Wort sprach. Errechnete damit, dass Rabanus es nicht einmal bewusst tat, sondern nur schwieg, weil er nicht sprechen konnte. »Ich habe dem Teufel einen Gefallen getan und dich geholt«, erklärte Costello. »Ich weiß nicht, was der Teufel mit dir vorhat, aber ich denke schon, dass er es mir sagen wird. Solange wirst du hier unten bleiben, verstanden?« Rabanus starrte ihn nur an. Costello bekam eine trockene Kehle. Er hasste diesen Blick plötzlich und spürte wieder den Druck der Walnuss. Er geriet ins Schwitzen, sein Mund zuckte, doch er brachte kein Wort mehr hervor. Konnte Rabanus nicht reden? Der Dämon drehte sich wieder um. Er griff in die Tasche, und zu Costellos Überraschung holte er ein Päckchen Zigaretten hervor. Aus ihm klaubte er einen Glimmstängel, steckte ihn zwischen seine Lippen, dann gab er sich mit einem Einwegfeuerzeug Feuer. Das konnte er, wahrscheinlich hatten es ihm die Mafiosi beigebracht. Einen rauchenden Vampir hatte Costello auch noch nicht kennengelernt, und erschaute den Qualmwolken entgegen, die in seine Richtung quollen. Er drehte sich um, weil er hier nicht länger bleiben wollte. Mit dieser Bestie kam er einfach nicht zu recht. Rasch verließ er die Zelle. Draußen warteten Franco und Marco. »Ihr bleibt in der Nähe. Wenn es Veränderungen gibt, die den anderen betreffen, gebe ich euch Bescheid.« »Si!« Costello war froh, als ihn der Lift wieder nach oben brachte, auch wenn ihm wiederum eine nicht sehr angenehme Begegnung bevorstand, denn er rechnete minütlich mit dem Erscheinen der beiden Geisterjäger Sinclair und Suko. Im Wohnraum angekommen, griff er zum Wasser. Er verdünnte es mit Rotwein. Diesen Schluck hatte er sich verdient. Mit dem Glas in der Hand wanderte er wieder auf das Fenster zu. Er liebte den Anblick des Meeres, denn die See gab ihm immer das Gefühl von Freiheit, die er trotzdem nicht richtig genießen konnte, weil er immer auf der Hut sein musste. Die Sonne hatte sich zurückgezogen. Zwar dämmerte es noch nicht, aber aus westlicher Richtung waren Wolkenformationen herangetrieben worden. Hellgrau, aber nicht sehr dick, eher mit einer auseinandergezogenen Decke zu vergleichen. Für Costello war dies nichts Neues, er hatte es in den letzten Tagen immer wieder erlebt, doch diesmal nahm er es nicht so einfach hin, denn
die herantreibenden Wolken drückten etwas von seiner Stimmung aus, die in ihm steckte. Er spürte zwar keine Angst, aber das Walnuss-Gefühl drängte sich stärker denn je auf. Lag es nur an seinem Besuch bei Rabanus? Das wollte er nicht so ohne weiteres unterschreiben. Es musste die gesamte Situation sein, die ihn so beunruhigte. Seine Augen verengten sich zuerst, dann aber weiteten sie sich, und er konnte die Bewegungen der Vögel erkennen, die sich nahe der Wolken tummelten und manchmal so aussahen, als wollten sie in das dicke Grau hineintauchen. Große Vögel – sehr große sogar… Er runzelte die Stirn und dachte daran, dass sie eigentlich zu groß und mächtig waren. Riesige Schwingen und… Costello schluckte. Vielleicht Fledermäuse? Sofort wusste er Bescheid, denn er gehörte zu denjenigen Menschen, die Fledermäuse in einen direkten Zusammenhang zu den Vampiren stellten. Und einen Vampir beherbergte er in seinem Keller. Sollte dieser Blutsauger vielleicht Helfer bekommen haben? Das wäre irgendwie logisch, aber nicht nachvollziehbar. Komischerweise nicht in seiner Situation. Er wollte daran nicht glauben und überlegte, ob diese Riesenfledermäuse nicht gekommen waren, um ihm eine Falle zu stellen. Möglich war alles. Die Walnuss, dachte er, die verdammte Walnuss… Dann läutete das Telefon. Es lenkte ihn ab. Er vergaß die Vampire, um zu erfahren, was passiert war. Man meldete ihm zwei Besucher. John Sinclair und Suko! »Ja!« knirschte er. »Schafft die beiden herein. Und haltet euch in Bereitschaft…« *** Ich gehöre nun wirklich nicht zu den neidischen Menschen. Doch was sich Costello da hatte hinsetzen lassen, das konnte schon Neid erzeugen. Es war ein prächtiges Haus, auch nicht zu protzig, was mich wiederum wunderte. Weil es eben nicht so hoch gebaut war, passte es sich der Gegend an, und man hatte zudem einen wunderbaren Blick über das Meer. Ich war nicht sauer, weil sich jemand ein derartiges Haus leisten konnte, ich ärgerte mich allein darüber, mit welch einem Geld es errichtet worden war.
Auf dem Rücken unendlichen Leids und zahlreicher Toter, die letztendlich auf das Gewissen des Mafioso gingen. »Ich weiß, was du denkst, John«, sagte Suko, »aber trage es mit Fassung, sonst verlierst du noch die Beherrschung.« »Ich bin nahe daran.« Costello hatte die Halbinsel zum Land hin durch einen Zaun gesichert. Ein hellweiß gestrichener Zaun, der sich vom Grün der Umgebung wunderschön abhob. Weniger schön war der Typ am Tor, der sich erhob, als er unseren Rover langsam auf das Ziel zufahren sah. Er schaute ziemlich finster aus der Wäsche. Selbst sein buntes Hemd ließ ihn nicht fröhlicher aussehen. »Ich steige mal aus«, sagte Suko, als ich stoppte. »Okay.« Mein Freund ging auf das Tor zu und unterhielt sich mit dem Knaben. Ich wartete und trommelte mit den Fingern auf dem Lenkradring. In mir tobte eine Unruhe, über die ich mich ärgerte. Es war nicht nur das Problem Rabanus, auch andere kamen hinzu, denn ich dachte an Mallmann und auch an Logan Costello. Lange Zeit hatten wir von ihm nichts gehört, aber er war da, er würde immer da sein, und wenn er in der Versenkung verschwand, wurde es gefährlich. Oft genug hatten wir versucht, ihn zu Boden zu drücken, es war uns nicht gelungen, wir hatten ihm nur hin und wieder ein Bein stellen können, was ausreichte, um einen irrsinnigen Hass gegen uns wachsen zu lassen. Logan Costello war allerdings auch so schlau, uns diesen Hass nicht offen zu zeigen. Vielleicht hatte er sich auch mit einem Unentschieden abgefunden. Suko hatte mit dem Kerl gesprochen, der sich nun per Telefon im Haus erkundigte. Dann ging alles sehr schnell. Suko winkte mir zu, gleichzeitig öffnete sich das weiße Tor elektrisch, und so rollte ich hinein in den herrlichen Park mit alten, hohen Bäumen, in dem uns die Luft wie eine Wohltat empfing. Ich ließ meinen Freund Suko noch einsteigen, dann fuhren wir auf das andere Haus zu. Ja, es war schon toll. Und auch die gepflegten Rasenflächen, die eine Hügellandschaft bildeten, passten dazu. Feuerrot wirkte das Dach. Auf die Ziegel schien die Sonne aus südwestlicher Richtung. Sie hatte noch soviel Kraft, um die graue, herannahende Wolkendecke zu durchdringen. Meinen Rover stellte ich neben den Fahrzeugen ab, die drei- und viermal so teuer waren wie meine Kutsche. Trotzdem überkamen mich keine Minderwertigkeitskomplexe, denn der Rover war nicht mit Blutgeld bezahlt worden. Über eine breite, aus Bruchsteinen gebaute Treppe erreichten wir den Eingang. An der Glastür stand ebenfalls ein Typ, der uns hereinbat und
sich sogar Mühe gab, freundlich zu sein, obwohl er dabei seinen Mund bewegte, als wollte er die eigenen Lippen wegkauen. So sehr stand er unter Druck. »Kommen Sie!« Wir gingen hinter ihm her. Ich schaute mich im Haus um. Dunkle, wuchtige Möbel, Jagdtrophäen an den Wänden, Teppiche und Felle auf dem Boden, so dass weiche Inseln auf dem Stein geschaffen worden waren. Wir wussten aus Erfahrung, dass Costello immer wieder den prunkvollen Auftritt liebte. Das hatte er auch jetzt nicht abgelegt, denn er empfing uns in seinem Wohnraum, dessen Inneres mir kalt vorkam, was auch an Costello liegen konnte, denn wann immer ich das Betongesicht sah, fror etwas in meinem Innern ein. Auch jetzt war es so, und ebenso frostig fiel die Begrüßung aus. »Sie können sich setzen«, sagte der Mafioso, »und auch was trinken. Da bin ich heute großzügig.« Suko gab die Antwort. »Erstens bleiben wir stehen, und zweitens haben wir keinen Durst.« »Bei dem Wetter nicht?« »Auch dann nicht.« »Seltsam.« »Außerdem haben Ihre Getränke stets einen modrigen Geschmack nach Leichen und Blut!« setzte ich noch einen Satz drauf. »Sie können mich gar nicht meinen.« Costello trank seinen verdünnten Wein. »Dann kommen Sie zur Sache. Ihr Chef hat mir ja schon den ersten Teil des Tages durch seinen Anruf verdorben.« »Wir machen es kurz«, sagte ich. »Allerdings kommt das auch auf Sie an, Costello.« »Und?« blaffte er. »Wo halten Sie Rabanus versteckt?« Eine knappe Frage, aber keine knappe Antwort. Dafür stierte er, grinste, trank wieder, leckte Tropfen von seinen Lippen und erkundigte sich mit ausdruckslosem Gesicht und auch tonloser Stimme, wer denn Rabunis bitte sehr wäre. »Rabanus!« verbesserte ich. »Meinetwegen auch der. Was ist denn mit ihm? Ich kenne keinen solchen Kerl.« Costello log, ohne rot zu werden. Wäre das anders gewesen, hätte er sich wohl nicht bis an die Spitze ›hocharbeiten‹ können. »Rabanus ist ein Vampir.« »Na und?« »Der in gewisser Hinsicht unter dem Schutz des Teufels steht und nach Millionen von Jahren erweckt wurde.«
»Schönes Märchen«, sagte der Mafioso. »Costello, Sie sollten doch den Teufel kennen.« »Das war einmal.« »Wir wissen es«, sagte Suko. »Nur erwähnten wir ja, dass dieser Rabanus unter dem Schutz des Teufels steht. Vielleicht will er einen Blutsauger als Leibwächter haben, möglich ist ja alles. Hinzu kommt, dass Rabanus kein normaler Vampir ist. Hinter ihm steckt die Kreatur der Finsternis. Doch das ist alles nur der Prolog. Es geht tatsächlich um ganz andere Dinge, um Machtkämpfe.« »Und da glauben Sie, dass mich das interessiert?« »Ja.« »Warum?« »Haben Ihre Leute Rabanus nicht in Empfang genommen?« fragte ich sehr sanft. Costello lachte widerlich. »Wer hat euch das Märchen denn erzählt?« »Wir wissen es eben.« »Irrtum. Ich habe nichts mit Rabanus zu tun und auch nichts mit dem Teufel.« »Dabei bleiben Sie?« »Ja, Sinclair.« »Schade, denn es wäre gut gewesen, wenn Sie mit uns zusammengearbeitet hätten.« »Mit… mit euch zusammenarbeiten?« fragte Costello. »Das schlug ich vor.« »Und weshalb sollte ich das?« höhnte er nach einem tiefen Atemzug. »Weil die Probleme anwachsen werden, Costello. Es wird Ärger geben, denn da ist noch eine dritte Kraft im Spiel, und die zu unterschätzen ist tödlich.« »Ihr redet doch von euch – oder?« »Nein, auf keinen Fall«, sagte Suko lächelnd. »Wir reden von einem gewissen Will Mallmann, einem Vampir der Extraklasse, der sich auch Dracula II nennt und nicht eben ein Freund des Teufels ist. Deshalb will Asmodis ihn ja mit Rabanus bekämpfen, wenn Sie verstehen. Der Satan möchte, dass Rabanus, der Blut-Pirat, Mallmann ausschaltet. So einfach ist das.« Costello hatte zugehört, auch wenn er zur Seite schaute. Er drehte sich uns wieder zu. »War das alles, was ihr mir sagen wolltet? Mehr nicht, verdammt?« »Es sollte doch reichen.« »Scheiße! Nichts reicht, gar nichts. Ich will nicht, dass in meinem Haus ein derartiger Mist erzählt wird. Mich geht dieser Rabanus nichts an und auch nichts dieser… dieser komische Dracula.«
»Wie schön«, lobte ich ihn. »Aber das, Costello, sagen Sie jetzt. Sie werden Ihre Meinung sicherlich noch revidieren müssen. Das kann ich Ihnen versprechen.« Er holte röchelnd Luft. »Und was habt ihr damit zu tun? Los, was führt euch her?« »Vielleicht wollen wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen«, erwiderte Suko. »Warum nicht drei?« »Sie als Zugabe wäre nicht schlecht.« Sein Mund verzog sich. »Raus, verdammt! Haut ab aus meinem Haus! Ich will euch nicht mehr sehen, ihr stinkt.« »Sie sollten nicht von sich auf andere schließen«, sagte Suko und drehte ihm den Rücken zu. Ich blieb noch stehen. »Es wird sicherlich ein netter Abend und eine noch nettere Nacht für Sie werden, Costello. Das kann ich Ihnen versprechen.« Er erstickte fast an seiner Wut, sagte aber nichts und ließ uns davonziehen. Wie auf Kommando atmeten wir im Freien beide tief durch. »Hier riecht es nicht nach Blut und Tränen«, sagte Suko leise. Er schüttelte sich. »Ich kann die Nähe dieses verfluchten Killers einfach nicht ertragen, tut mir leid.« Ich nickte nur und schaute mich noch einmal um. Es war nicht zu sehen, ob man uns beobachtete, ich glaubte jedoch, dass es eine elektronische Überwachungsanlage gab, die uns zumindest hier auf dem Weg nicht aus den künstlichen Augen ließ. »Wie geht es jetzt weiter?« Suko fragte gegen den Windstoß an, der mit den Blättern spielte und sie deshalb geheimnisvoll rascheln ließ. »Ich weiß es nicht.« »Hast du keinen Plan?« »Du denn?« Er lächelte. »Zumindest habe ich versucht nachzudenken. Es ist so, John. Vielleicht hast du es nicht gespürt, aber ich bin auch jetzt noch der Meinung, dass hier einiges in der Luft liegt. Natürlich kennt er Rabanus, ich bin sogar sicher, dass er ihn in seinem Bau versteckt hält. Costello wird sich hüten, dem Teufel zu widersprechen. Das nicht in Worten und auch nicht in Taten.« »Sehr gut ausgedrückt, Alter. Aber was schlägst du vor?« »Wir sollten uns auf die Lauer legen.« »Du meinst – warten.« »Ja. Bis zum Einbruch der Dämmerung ist es nicht mehr lange. Da beginnt doch ihre Zeit.« Er wies gegen den Himmel. »Schau dir an, wo die Sonne ist. Du siehst sie nicht mehr. Es ist relativ dunkel geworden, und das könnte für Vampire ideal sein.«
»Stimmt. Wir brauchen nur einen Platz, der sicher genug für uns ist.« Ich war am Rover stehengeblieben und schloss ihn auf. Warme Luft strömte uns entgegen. Erst als wir die Fenster geöffnet hatten, starteten wir, und sicherlich waren einige Typen froh darüber. Aber sie sollten sich nicht zu früh freuen. Ich glaubte einfach daran, dass wir wiederkehren würden, und dann sah die Sache anders aus. Suko stellte eine Frage, mit der ich nicht zurechtkam. »Hat Costello eigentlich Angst gehabt?« »Wieso?« »Ich hatte so das Gefühl, John. Ich weiß nicht, er kam mir irgendwie anders vor. Zwar gab er sich noch immer sicher und arrogant, doch nicht wie bei unseren sonstigen Besuchen. Er schien sauer zu sein und in der Klemme zu stecken. So muss sich jemand vorkommen, der sich wie ein fünftes Rad am Wagen fühlt. Vielleicht steckte er in der Klemme. Möglicherweise hat er sich zuviel vorgenommen, oder andere haben ihn gezwungen. Wie dem auch sei, John, hier hat sich einiges verändert. Nur kann ich nichts beweisen.« Das konnte ich auch nicht, gab Suko allerdings recht. Auch mir war Costellos Reaktion – verglich ich sie mit den sonstigen – nicht ganz geheuer vorgekommen. Wir erreichten das Tor und hätten eigentlich den Aufpasser mit seinem Funksprechgerät in der Nähe sehen müssen. Wir sahen ihn auch, nur anders, als wir es uns vorgestellt hatten. Er lag auf dem Boden, als hätte er sich niedergelegt, um ein Stündchen zu schlafen. Der dichte Rasen wirkte dabei wie ein grüner Teppich. Uns war klar, dass er das genau nicht getan hatte. Die bösen Ahnungen verdichteten sich. Suko stieg als erster aus. Ich blieb noch im Wagen sitzen, schaute in die Spiegel. Hinter uns rührte sich nichts. Der Garten lag dort als friedliche Landschaft und erinnerte mich dabei an ein Gemälde. Als ich die Tür öffnete, richtete sich Suko wieder auf. Er war ziemlich blass geworden, schaute sich dabei gespannt und lauernd um, bis ich vor ihm stand. »Es hat ihn erwischt, John!« Ich schaute nieder und sah kein Blut. Als ich mich bücken wollte, hielt mich mein Freund fest. »Bevor du das tust, nimm deinen Dolch, der ist lautlos.« Ich starrte ihn an. Ein Kribbeln lief über meine Haut. »Wieso Dolch? Ist er…?« »Ja, er ist auf dem Weg, ein Vampir zu werden.« Mit dem Fuß drehte Suko die lebende Leiche um. Der Kopf rollte so, dass ich die linke Halsseite erkennen konnte.
Jetzt sah ich das Blut und ebenfalls die beiden kleinen Wunden, die wie Schnittstellen aussahen. Aus ihnen war der rote Lebenssaft gelaufen und hatte sich auf der Haut verteilt. Vor uns lag ein Vampir! »Frag mich nicht, wer es getan hat, John. Es könnte da einige Möglichkeiten geben.« »Das schätze ich auch.« »Mach es!« Es war einfach unsere Aufgabe, so schlimm es sich auch anhörte. Um mir den endgültigen Beweis zu liefern, weil er mein Zögern sah, drückte Suko die Oberlippe des Wächters zurück, und da sah ich die beiden Zähne, die schon spitz geworden waren. »Überzeugt dich das jetzt?« Ich nickte. Dann tat ich es. Und ich kann wahrlich nicht behaupten, dass es mir Spaß bereitete, aber es musste leider gemacht werden. Als ich mich wieder erhob, nachdem ich die Klinge gereinigt hatte, legte mir Suko eine Hand auf die Schulter. »Ich weiß, John, wie dir zumute ist, aber es gab keine andere Möglichkeit.« »Natürlich.« Mit meinen Gedanken war ich schon woanders. »Ich frage mich nur, wer das getan hat und ob unser Freund Costello davon erfahren hat. Wie weit hat man ihn eingeweiht?« Suko winkte ab. »Das interessiert mich nicht einmal. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass es Rabanus gewesen sein soll. Ich für meinen Teil gehe davon aus, dass ein zweiter Joker in diesem Spiel steckt. Muss ich dir den Namen sagen?« »Nein!« »Er hat schließlich auch seine Helfer geschickt, die die Bluträuber vernichten sollten.« »Das stimmt genau!« Die Stimme klang nicht mal laut, war aber in der Stille gut zu hören. Wir drehten uns um. Hinter einem Gebüsch war eine Gestalt hervorgetreten. Dunkel gekleidet, dunkle Haare, eine hohe Stirn, auf der ein blutrotes D leuchtete. Das Zeichen für Will Mallmann, der sich auch Dracula II nannte… *** Logan Costello hatte der Besuch der beiden Polizisten so gepasst, als hätte man ihm ein Pfund Zucker in seine Minestrone-Suppe gekippt. Er war sauer, er war wütend, was man ihm zum Glück nicht ansah, aber wer ihn kannte, der konnte seine Gefühle schon einschätzen, denn unter der dünnen Haut an der Stirn bewegte sich zuckend eine Ader.
Sie wussten Bescheid, die beiden. Nicht nur über ihn, auch über Rabanus. Ausgerechnet sie, die er am wenigsten erwartet hätte, hatten sich wieder eingemengt. Wie er sie hasste! Wie er den Teufel hasste. Und wie er sich selbst dafür hasste, dass er sich von ihm zu sehr in die Defensive hatte drängen lassen. Er hatte ihm einen Gefallen erweisen sollen, aber dieser Gefallen war eskaliert, und er sah sich als Zielscheibe im Mittelpunkt. Costello ging wieder zum Fenster und schaute bis über die Klippen hinweg auf das Meer. Wieder regte sich nichts in seinem Gesicht. Jegliches Gefühl war daraus verschwunden. Eingefrorene Züge und ein Mund, der sich aus Strichen bildete. In ihm kochte es. Er zitterte, selbst die Augen brannten, und er persönlich fühlte sich so außen vor, was ihm überhaupt nicht passte, denn sonst war er es gewesen, der die Befehle gab. Nun kam er sich selbst vor wie ein Rädchen in der großen Maschinerie, und das machte ihm zu schaffen. Die früheren Jahre wollte er vergessen. Da hatte er sich mit den Mächten der Finsternis eingelassen, auch gern für sie gearbeitet, weil er Erfolge gesehen hatte, das aber stimmte jetzt alles nicht mehr. Man hatte ihn gezwungen und damit das Steuer aus der Hand genommen. Der Höllenfürst hatte ihm nicht von den Gefahren erzählt, die mit einer Erweckung des uralten Blutsaugers verbunden gewesen waren, und nun hatte er diesen Blut-Piraten im Haus. Er hätte ihm gern die beiden Bullen als Opfer zugeführt, doch das wäre zu riskant und auch nicht einfach gewesen, zudem musste sich der Capo um andere Dinge kümmern. Er hatte immer wieder an die ungewöhnlichen Flugtiere denken müssen, die nahe des Hauses geflogen waren. Keine Vögel, dazu waren sie zu groß gewesen. Costello konnte sich vorstellen, dass diese Wesen – für ihn waren es Fledermäuse – ausgeschickt worden waren, um ihn unter Beobachtung zu halten. Das waren keine Helfer, die auf der Seite des Blut-Piraten standen. Die gehörten zu jemandem, der den Blut-Piraten bekämpfte, und Costello wusste nicht, wer von den beiden der Stärkere war. Zudem fürchtete er sich davor, zwischen die Mahlsteine zu geraten, wo er eine weitere Gefahr ebenfalls nicht aus den Augen lassen durfte, nämlich die beiden Bullen Sinclair und Suko. Sie mischten wieder mit! Ausgerechnet sie! Er ballte seine Hände, als er an sie dachte und dabei das Meer und den Himmel beobachtete. Plötzlich schrak er zusammen. Draußen war ein Schatten über die Scheibe geglitten. Ein zuckendes, schwarzgraues Etwas, als hätte jemand ein Tuch in die Höhe geworfen.
Kein Vogel, bestimmt nicht. Eine Riesenfledermaus, ein Vampir, die sich tatsächlich schon nahe an das Haus herangewagt hatte. Für den Mafioso war es ein Zeichen, seinen verbrecherischen Grips besonders anzustrengen. Es war niemand da, der ihm die Entscheidung abnahm. Auf einen Helfer konnte er sich nicht verlassen, der hatte sich zurückgezogen. Es kam jetzt einzig und allein auf ihn an, damit er auch das Richtige tat. Costello öffnete das Fenster nicht, um nachzuschauen. Dieser eine Vorgang hatte ihm völlig ausgereicht. Er stellte sich nur so hin, dass er nach links und rechts blicken konnte, aber das Wesen war verschwunden. Eingetaucht in das Grau der allmählich herankommenden Dämmerung des Abends. Trotz Klimaanlage, die für angenehme Temperaturen sorgte, schwitzte Costello. Das Gefühl, eine Walnuss zu sein, hatte sich noch mehr verstärkt. Er spürte schon den Druck von beiden Seiten. Diesmal befand er sich in einer Situation, wie er sie lange nicht mehr durchgemacht und erlebt hatte. Er war gezwungen, etwas zu tun und sich gegen einen Feind zu stellen, den er nicht kannte. Wer stand auf seiner Seite? Da konnte er hin und her überlegen, zu einem Ergebnis kam er kaum. Doch, es gab einen. Zumindest hoffte Costello, dass ihm Rabanus positiv gegenüberstand. Bisher hatte er nicht einmal den Versuch unternommen, ihn anzugreifen, und so etwas ließ hoffen. Also selbst etwas tun. Nicht warten, bis andere die Initiative vollends übernommen hatten. Er drehte sich um und ging durch den großen Raum. Völlig allein kam er sich vor, aber das war er eigentlich immer, doch in diesem Fall wirkte es irgendwie schlimmer. Costello dachte an Rabanus. Der Blut-Pirat lauerte im Keller. Er befand sich jetzt noch hinter Gittern. Da er ein Vampir war, würde er auch wie ein Vampir handeln und versuchen, an das Blut der Menschen heranzukommen. Oder konnte er bei dieser Bestie vielleicht auf eine gewisse Loyalität hoffen? Costello wusste es nicht. Niemand konnte ihm darauf eine Antwort geben. Er musste die Theorie beiseite schieben und sich um die Praxis kümmern. Das hieß, hinunter in den Keller fahren und Rabanus freilassen. Das Monstrum musste sich einzig und allein auf seinen Instinkt verlassen, der sich hoffentlich auf seine echten Feinde konzentrierte. Costello würde ihn freilassen, weil er einfach davon ausging, dass es besser war, wenn sich Rabanus im Garten aufhielt und Jagd auf die Fledermäuse machte. Mit ihm würden sie nicht so leicht fertig werden! Costello lächelte. Er fand seinen Plan plötzlich gut und holte sich den Lift heran…
*** Ich spürte eine wahnsinnige Wut in mir hochsteigen. Einen Zorn, der kochte und sich in Hass verwandelte. Es gibt nicht viele Personen, bei denen ich rot sah, aber Dracula II gehörte dazu. Ich musste mich davor hüten, meine Gedanken rückwärts laufen zu lassen, um daran zu denken, welchen Ärger uns dieses Wesen schon bereitet hatte. Auch Suko dachte ähnlich wie ich, denn ich hörte, wie er leise aufstöhnte. Dann erreichte mich sein Flüstern. »Es könnte sein, dass die Lage nie mehr so günstig wird wie jetzt, John.« »Vielleicht…« Ich dachte an die Beretta, die wirkungslos gegen ihn war, da er den Blutstein besaß. Wenn ich überhaupt eine Chance hatte, musste ich es mit dem Kreuz versuchen, aber Mallmann kam mir zuvor. Unwillig schüttelte er den Kopf. Er konnte sich zudem vorstellen, was sich in meinem Gehirn abgespielt hatte, wir beide kannten uns einfach zu gut, und er flüsterte: »Beherrsche dich, Sinclair. Tu dir selbst diesen Gefallen. Es wäre besser, wenn ihr beide mich anhört, wirklich besser.« Er hatte so drängend gesprochen, dass wir ihm sogar glaubten. Suko deutete ein Nicken an, und ich entspannte mich wieder ein wenig. Mallmann wollte mir etwas erklären. Normalerweise hätte ich auf Erklärungen und Entschuldigungen verzichtet, in diesem Fall allerdings dachte ich anders. Da musste ich mich wieder auf mein Gefühl verlassen, das wiederum sagte mir, dass es besser war, wenn ich auf ihn einging. »Bitte, wir hören.« »Ihr wollt Rabanus, nicht?« »Ja!« sagte Suko schlicht. »Ich will ihn auch!« »Wie nett«, spottete ich. »Suchst du noch Helfer, die dir zur Seite stehen?« »Nein, Sinclair, nein.« Sein schmaler Mund verzog sich. »Oder schätzt du mich als so schwach ein, dass ich nicht allein mit ihm fertig werde?« »Wer weiß…« »Das ist eine Sache zwischen ihm und mir.« Er schüttelte unwillig den Kopf. »Sie geht nur uns beide etwas an, sonst keinen. Ich will keinen Helfer, ich bin gekommen, um die Sache allein zu regeln.« Seine Stimme veränderte sich, sie wurde hoch und leicht spöttisch. »Außerdem weiß ich nicht, weshalb ihr euch beschwert. Ihr habt es doch gut, sehr gut sogar. Diesmal könnt ihr die Zuschauer sein.« »Vielleicht wollen wir das nicht«, sagte Suko. »Das hat uns noch nie gepasst.«
Scharf winkte er ab. »Rabanus gehört mir.« »Einspruch, Mallmann. Dieser Vampir ist auch unser Problem. Er unterscheidet sich da nicht von dir. Das sollte dir doch klar sein. Oder hast du unseren Job vergessen?« »Überhaupt nicht, Sinclair.« »Na, bitte.« »Er gehört trotzdem mir!« beharrte der Vampir. »Ich werde ihn jagen. Es ist eine Sache zwischen uns beiden. Ich kann keine Konkurrenz gebrauchen, erst recht nicht, wenn sie Millionen von Jahren unter Gesteinsmassen begraben gelegen hat und tatsächlich eine Kreatur der Finsternis ist, die sich aus einer Laune heraus als Vampir ausgibt. Andere nehmen menschliche Formen und Gewohnheiten an, aber das brauche ich euch wohl nicht zu sagen.« »Stimmt. Nur hast du vergessen, dass wir es sind, die ebenfalls auf Kreaturen der Finsternis Jagd machen. Wir werden uns nicht heraushalten, denn da gibt es noch ein Problem namens Logan Costello, falls du ihn vergessen haben solltest.« »Ein Mafioso bringt mich nicht einmal zum Lächeln.« »Wir lächeln auch nicht über ihn. Aber eine andere Frage. Hält Costello Rabanus versteckt?« »So ist es.« »Warum?« fragte Suko. »Weil er es muss.« »Also nicht freiwillig?« »Nein, man hat sich wieder seiner erinnert.« Mallmanns Mundwinkel zuckten, als er weiter sprach. »Es war der Teufel, der nichts vergessen hat. Er hilft seinem alten Freund Costello, denn er möchte mich mit den eigenen Waffen schlagen.« »Indem der Blut-Pirat geholt wurde?« Suko konnte ein Lachen nicht unterdrücken. »Ich habe immer angenommen, dass du an der absoluten Spitze stehst, aber nun kommt es knallhart. Du scheinst unsicher zu sein, Mallmann, trotz Assunga, der Hexe mit dem Zaubermantel. Ich wundere mich darüber, denn wir haben dich tatsächlich für stärker angesehen. Dass du vor Rabanus Furcht zeigst…« »Ich fürchte mich nicht vor ihm!« sprach er in Sukos Worte hinein. »Das solltet ihr euch mal aus den Köpfen wischen. Es gibt keinen Schwarzblütler, vor dem sich Mallmann fürchtet. Doch das will ich mal dahingestellt sein lassen. Ich kann euch nur einen großen Gefallen erweisen, auch wenn es mir schwerfällt. Haltet euch aus dem Kampf heraus, dann werdet ihr nicht in Lebensgefahr schweben.« »Wo steckt er denn?« »Ich weiß es nicht. Irgendwo im Haus. Wenn er nicht kommt, werde ich Rabanus holen. Ich habe das Gelände hier unter Kontrolle.« Mallmann deutete mit beiden Händen in die Höhe. Er verwandelte sich immer
stärker in eine düstere Gestalt, in die die Schatten der anbrechenden Dämmerung hineinzukriechen schienen. Mir juckte es ebenso in den Fingern wie Suko, aber Mallmann zog sich zurück. Er war auf einmal weg, als wäre er in den Boden hineingetaucht, um nicht mehr hervorzukommen. Allein blieben wir zurück. Eine seltsame Atmosphäre umgab uns. Sie war bedrückend, sehr still, ungewohnt, als wäre die Umgebung in tiefes Wasser getaucht worden. Die mächtigen Bäume auf dem großen parkähnlichen Gelände schienen mit ihren Ästen an den tiefen Schatten zu kratzen. Noch konnten wir ohne Licht sehen, aber der Himmel zeigte mehr dunkle als helle Farben. Ich wunderte mich darüber, dass es auch im Park finster blieb. Normalerweise waren derartige Geländestücke und Häuser auch durch Lichter gesichert. Kaum war dieser Gedanke in mir aufgekommen, als es schon passierte. In unserer Umgebung wurde es an bestimmten Stellen hell. Bleiche Inseln entstanden. Kaltes Licht strömte in verschiedene Richtungen weg, auch in die Höhe, wo es als silbriger, geheimnisvoller Schein an den Baumstämmen entlang in das Geäst kroch und der Flora ein völlig anderes Gesicht gab, ein geisterhaftes… Das war schon ein Wetter für Vampire. Und Mallmann war sicherlich nicht allein gekommen. Er brachte meist Helfer mit. Fledermäuse, gewaltig und unheimlich, die als Schatten wie Vögel über den Himmel segelten. Wenn Mallmann sie gegen Rabanus einsetzte, war es fraglich, ob der Blut-Pirat noch eine Chance hatte. Sosehr wir uns auch bemühen, Mallmann war nicht mehr zu entdecken. Hatten wir eine Chance vertan? Wir wussten es beide nicht, aber wir machten uns keine Vorwürfe, denn Mallmann hätte sich uns nicht so offen gezeigt, ohne einen Trumpf in der Hinterhand zu halten. Suko hatte sich ein wenig entfernt. Er kehrte schulterzuckend zu mir zurück. »Nun?« »Ich hätte mich gern mit Rabanus unterhalten«, sagte er leise, »aber der scheint sich zurückzuhalten.« »Noch.« »Wie schätzt du Costello ein, John? Wird ihm bekannt sein, wer sich noch auf seinem Grundstück herumtreibt?« Ich schaute in die Höhe, ohne dort allerdings etwas anderes zu entdecken als Wolken und Dämmerung. »Ich blicke hier nicht richtig durch. Für mich ist es nach wie vor Mallmanns Spiel.« »Was uns nicht davon abhalten sollte, als Joker aufzutreten«, sagte mein Freund. Er deutete zum Haus. »Ich schätze, dass wir hier falsch sind. Das Spiel wird dort anfangen.« »Rechnest du damit, dass Mallmann das Haus betritt?«
»Auch. Außerdem wird er dort genügend Nahrung finden. Costellos Wachtposten sind für ihn eine leichte Beute. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es einer von denen schafft, sich gegen den Vampir durchzusetzen. Genau das Beispiel haben wir ja erlebt.« Es stimmte alles. In der Theorie waren wir perfekt. Hoffentlich auch in der Praxis. »Okay, Alter, dann schauen wir uns mal etwas um…« *** Logan Costello hatte seine Leute ins Haus geholt. Nicht aus reiner Sorge oder Menschenfreude, er ging einfach davon aus, dass auch gut ausgebildete Mafiosi gegen die überraschenden Angriffe der Vampire keine Chance hatten. Und seine Leute brauchte er noch, er dachte stets sehr egoistisch. Sie hatten keine Fragen gestellt, und Costello hatte ihnen auch nichts erklärt, sondern nur gesagt, dass sie sich in dem Haus auf verschiedene Ebenen verteilen sollten, mit Ausnahme des Kellers. Den hatte er sich als sein Revier ausgesucht. Jetzt stand er vor dem Gitter. Rabanus hockte noch immer auf seinem Platz. Er rauchte sogar eine Zigarette, und auf seinem Kopf saß der Hut schief. Eigentlich bot er ein lächerliches Bild, aber Costello hütete sich davor, auch nur mit den Lippen zu zucken. Er wollte dieser Bestie keine Gelegenheit geben, ihn anzugreifen. Wer wusste schon, was in einer derartigen Gestalt vorging. Zudem tat Rabanus, als hätte er seinen Besucher überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Er schaute gegen den Boden, rauchte, ließ die Zigarette dann fallen, und der Stummel gesellte sich zu den anderen Kippen, die auf dem Betonboden lagen. In der Zelle selbst war die kalte Deckenleuchte durch ein graues Tuch verhängt worden. Es filterte einen Teil des Lichts, so dass der Rest als graues Schattenmuster dem Boden entgegensickerte. Der Schlüssel zum Gefängnis steckte in Costellos Tasche. Er holte ihn hervor und schob ihn in das flache Schloss. Dabei entstand ein sehr leises Geräusch, was der Blut-Pirat allerdings hörte, denn er veränderte seine Haltung und drehte sich sehr langsam um. Noch sitzend starrte er gegen die Gittertür. Das Betongesicht Costello fühlte sich verdammt unwohl in seiner Haut, als er die Tür aufzog. Vorjahren hätte ihm dies nichts ausgemacht, doch er hatte den Kontakt mit den Schwarzmagiern verloren, sie waren nur mehr böse Erinnerungen, und er musste sich jetzt wieder eingewöhnen. Die Tür quietschte, als er sie aufzog. Costello bekam eine Gänsehaut. Er biss sich für einen Moment auf die Unterlippe, der Mund zuckte dabei, aber er machte weiter.
Als die Tür zu den Gitterstäben einen rechten Winkel bildete, ging er einen Schritt vor und sprach Rabanus an. »Du kannst jetzt kommen. Man wartet auf dich. Ich gebe dir die Freiheit. Du hast einen mächtigen Beschützer. Er will, dass du alles aus dem Weg räumst, was dir gefährlich werden könnte. Töte deine Feinde, Rabanus.« Ob ihn der Blut-Pirat verstanden hatte, wusste Costello nicht. Er war nur froh, als ein Ruck durch die Gestalt des Wesens glitt, und sich der BlutPirat dann erhob. Zuckend stand er auf. Er schüttelte sich und schleuderte mit einer wilden Bewegung seinen Hut zur Seite, als würde ihn diese Kopfbedeckung stören. Das Haar des uralten Vampirs sah grau wie kalte Asche aus. Ebenso grau wie die Haut, die mehr an ein glattes Fell erinnerte. Nur die Pupillen waren dunkler. Costello erinnerten sie an schwarze Tropfen, die jemand in die Augenhöhlen getupft hatte. Rabanus ging. Es war mehr ein Schleichen, und kaum ein Laut entstand, als er seine Füße bewegte. Er glich einem Raubtier, das auf der Suche nach Beute war, und er verströmte dabei eine Aura, die an Gefahr und exzessive Gewalt erinnerte. Als Costello den Blick auf sich gerichtet sah, schwankte er für einen Moment. Er fragte sich, ob er alles richtig gemacht hatte, winkte dann mit beiden Händen ab und machte sich so selbst Mut. Rabanus schlich an ihm vorbei. Da bewegte sich nicht einmal die Luft, nur ein alter, widerlicher, kaum zu ertragender Geruch hing in seinem Körper oder in seiner Kleidung fest. Costello kam damit nicht zurecht, weil er so etwas noch nicht gerochen hatte, und er schüttelte sich, als würden kleine Eiskörner über seinen Rücken rinnen. Rabanus verließ die Zelle. Im Gang blieb er stehen, drehte sich um und bekam mit, wie der Mafioso die Tür schloss. Dann berührte Costello den anderen. Er erschrak über seinen eigenen Mut, doch Rabanus reagierte nicht darauf. Anders als Costello selbst, der den Eindruck gehabt hatte, in kalten Schlamm zu fassen. So weich und auch widerlich hatte sich die Haut angefühlt. »Komm mit!« Ob Rabanus ihn verstand, wusste er nicht, aber er gehorchte ihm. Folgsam wie ein gut dressierter Hund trottete der BlutPirat hinter ihm her. Costello wusste nicht genau, wie es weiterging, weil er keinen Plan hatte. Jedenfalls musste er aus dem Keller heraus und in die oberen Etagen. Dort konnte sich Rabanus entscheiden, ob er im Haus bleiben oder es verlassen wollte.
Im Lift standen sie sich gegenüber. Der Blick des Blut-Piraten war unruhig geworden. Damit steckte er auch Costello an, der sich nicht auf einen bestimmten Punkt konzentrieren konnte und des öfteren ins Leere schaute, nur um den Blick der grausam-kalten und doch irgendwie leeren Vampiraugen zu entwischen. Sehr bald endete die Fahrt, und darüber war Logan Costello froh. Dieses Walnuss-Gefühl hatte sich im Fahrstuhl noch mehr verstärkt. Es ließ erst etwas nach, als sie die Kabine in seiner Etage verließen. Costello sah einen seiner Männer in der Nähe stehen. Nach einem raschen Wink von ihm verschwand der Wächter. Costello wollte seinem Begleiter keine Chancen geben, an frisches Blut heranzukommen. Sein großer Wohnraum schien ihm am besten geeignet zu sein, um sich dort aufzuhalten. Rabanus blieb hinter ihm. Seine Schritte waren kaum zu hören. Er schien den Boden kaum zu berühren. Costello hatte noch nie jemanden erlebt, der sich so lautlos bewegen konnte. Erst im großen Wohnraum atmete der Mafioso auf. Er drehte sich um und stellte fest, dass Rabanus von ihm keine Notiz nahm. Er durchmaß den Raum wie ein Polizist, der eine Durchsuchung vornahm. Überall schaute er hin, nichts blieb ihm verborgen. Die Arme hatte er leicht vorgestreckt, die Hände waren gespreizt, und die Finger bewegten sich nach vorn und wieder zurück. Er tastete, er suchte, er nahm die Atmosphäre in sich auf. Möglicherweise brauchte er auch frisches Blut, und dann ging er auf das breite Fenster zu. Es war zwar ein Fenster, aber ein besonderes, denn die gewaltige, aus Panzerglas bestehende Scheibe ließ sich auch im Boden versenken. Dahinter lag ein Garten wie eine wundervolle Landschaft. Sie reichte bis an die Klippen heran, wo das Gelände steil und felsig war. Da hatte Costello eine Treppe in das Gestein hineinschlagen lassen. Über dem Land lagen die Abendwolken wie dicke, graue Kissen. Der Wind bewegte sie nur leicht, manchmal zitterten sie auch, dann wiederum sanken sie herab oder wurden in die Höhe geweht, als hätte sie jemand mit seinen mächtigen Händen getrieben. Unheimlich sah die Welt um diese Zeit aus… Dämmriges Licht sickerte zu Boden. Es vereinte sich mit den hellen Lichtinseln des Gartens, wo Lampen brannten. Costello hielt sich hinter dem Blut-Piraten auf. Eigentlich hätte er dessen Spiegelbild als schwachen Umriss in der Scheibe sehen müssen, doch der Ort war völlig leer. Vampire haben so etwas nicht. Rabanus war unruhig. Costello hatte er vergessen. Entlang der dicken Scheibe ging er auf und ab. Manchmal öffnete er seinen Mund und gab
knurrende Geräusche von sich. Er blieb auch stehen, drehte sich dabei nie um, dafür fuhren die Handflächen über das dicke Glas hinweg, als wollten sie testen, ob es ihn durchließ. Costello beobachtete weiter. Er begriff allmählich. Wahrscheinlich war dieser Ort kein guter Platz für Rabanus, doch er fragte sich gleichzeitig, weshalb der Blut-Pirat sein Haus verlassen wollte, in dem eigentlich alles vorhanden war, was er für ein Weiterleben brauchte. Besonders Blut… Viele Menschen, die… Seine Gedanken brachen ab, weil Rabanus reagierte. Er hatte sich für einen Moment zusammengeduckt, um dann wieder in die Höhe zu schnellen. Dabei stieß er wieder das harte Röcheln aus und hatte den Kopf schräg gelegt, weil er in die Höhe schauen wollte. Auch Costello schaute in die Richtung. Er hatte nur seinen Platz gewechselt, um einen besseren Blickwinkel zu haben. Der Himmel, die Wolken – beinahe ein graues Einerlei. Aber nur beinahe, denn dann entdeckte der Mafioso die Bewegung über dem Garten, doch unter den Wolken. Kein Vogel, eine Fledermaus! Bevor Costello noch irgendwelche Schlüsse ziehen konnte, fuhr Rabanus herum. Er tat es mit einer wilden, Costello erschreckenden Bewegung. Er hatte sich auch verändert, denn sein graues Gesicht zeigte nicht mehr die graue Glätte. Jetzt hatte es sich in eine wutentbrannte Fratze verwandelt, in der der Mund besonders auffiel, weil er weit offenstand und Rabanus die Zähne blicken ließ. Er wollte Blut, er wollte den Kampf! Diesmal nicht mit den Menschen, denn er hatte die zwei großen Fledermäuse in seiner Nähe gesehen, die über dem Gelände schwebten. Sein eisiger Blick sagte Costello genug. Der Mafioso wusste, dass er Rabanus nicht mehr würde im Haus halten können, er musste ihn freilassen, auch wenn es ein Risiko war, die Scheibe nach unten fahren zu lassen, dann war dieser Schutz verschwunden. Er tat es trotzdem. Obwohl Rabanus nichts zu ihm gesagt hatte, sprach dessen Blick doch Bände. Costello brauchte nur zwei, drei Schritte zur Seite zu gehen und seinen Finger auf einen in die Wand eingelassenen Knopf zu legen. Er hörte das leise Summen… Danach hatte er das Gefühl, als würde die Scheibe rucken. War sie defekt? Nein, sie senkte sich herab. Ein zischendes Geräusch ertönte, und das Summen blieb.
Feuchte und etwas kühlere Luft strömte in den großen Raum. Sie durchwehte ihn wie ein Atemstoß, und Rabanus stand vor der Scheibe. Er schaute zu, wie sie immer tiefer glitt und ihm ein ständig größeres Stück von Freiheit präsentierte. Obgleich es ihn drängte, wartete er, bis die Scheibe den Boden erreicht und in dem Spalt verschwunden war. Der Blut-Pirat hatte freie Bahn. Rabanus betrat den Garten mit einem großen Schritt. Er wartete auf die Opfer… *** Wir waren unterwegs und konnten uns nur wundern. Uns waren einige von Costellos Fluchtburgen oder Häusern bekannt, aber was wir hier erlebten, war für uns völlig neu. Es gab keine Wächter, keine Aufpasser, die durch den Garten patrouillierten. Er war leer, ausgestorben, und wir wussten nicht einmal, ob die sehr versteckt angebrachten Augen der Kameras unser Eindringen auf Monitoren übertrugen. Neben einer schief gewachsenen Linde blieb Suko stehen und schaute von unten her gegen das Blätterdach, als könnte er dort oben wichtige Erkenntnisse sammeln. »Es gefällt mir nicht, John, es gefällt mir ganz und gar nicht.« »Was denn?« Beinahe böse schaute mich Suko an. »Alles hier. Die Ruhe, das Haus, die Lichter. Es ist einfach zu harmlos, und uns ist bisher leider noch kein Blick hinter die Kulissen gelungen.« »Da hast du recht.« »Mehr nicht? So einfach machst du es dir?« Ich lächelte. »Zumindest wissen wir, dass sich Mallmann hier irgendwo aufhält.« »Das kommt noch hinzu.« Suko schüttelte sich. »Er und Rabanus, ich habe sie nicht gern.« »Auch nicht als der lachende Dritte?« »Glaubst du daran?« Ich hob die Schultern. Suko hatte ja recht. Wir sollten uns nicht darauf verlassen, nur als Zuschauer hier herumzustehen und uns die Hände zu reiben. So etwas konnte zu leicht ins Auge gehen. Wir hatten inzwischen das Haus erreicht, wussten aber noch immer nicht, wie das Gelände dahinter aussah. Das wollten wir herausfinden. Am Meer kommt gegen Abend oder in der Nacht immer Wind auf. Hier war es nicht anders. Nach der Hitze tat er gut, als er wie mit seidigen Fingern durch unsere Gesichter strich und auch mit dem Laub der Bäume spielte. Ein leises Rauschen erreichte unsere Ohren, nicht so
fern wie das des Meeres, und es begleitete uns, als wir den Weg fortsetzten, nach wie vor über weichen, sehr gut gepflegten Rasen liefen, wobei wir das Haus an der Seite umgingen, denn wir wollten so an die Rückseite gelangen. Unserer Ansicht nach spielte die Musik dort. Manchmal war der Blick frei und auch weit. Da sahen wir in der Ferne das Meer wie eine einzige große Woge liegen, die sich ständig bewegte und an verschiedenen Stellen mit glitzernden Schaumkronen bedeckt war. Suko und ich hielten uns im Schatten einer windabweisenden Buschgruppe. Der hintere Garten des Hauses lag rechts von uns. Noch konnten wir nicht hineinschauen, da uns die Stämme großer Bäume die Sicht nahmen, aber die Hecke links von uns bildete so etwas wie eine Grenze. Und die Bäume standen bald auch nicht mehr so dicht. Schwacher Lichtschein sickerte aus dem Haus nach draußen. Er verteilte sich auf der Terrasse, die in den großen Garten überging. Mir fiel auf, dass im Gelände nur wenige Lampen brannten. Neben einer, die nicht eingeschaltet war, standen wir. Sie bestand aus einem Pflock und einer pilzförmigen Haube. Im Garten war es still geblieben, was nicht hieß, dass wir diese Stille auch genossen. Sie kam uns gefährlich vor, wirkte wie ein rauer Reif, der sich um uns drehte. Ich schaute in die Höhe, weil ich einfach den Eindruck hatte, dass sich dort etwas abspielte, was nicht unbedingt mit den Wolkenformationen in direktem Zusammenhang stand. Und ich sah etwas. Schatten! Lautlose Gebilde, die sich mit bestimmten Flügelschlägen bewegten, aber nicht wegflogen, sondern über dem Grundstück blieben und dort ihre Kreise zogen. Dabei sanken sie auch tiefer… Zwei Vampire, zwei Riesen-Fledermäuse mit kleinen Köpfen und breiten Schwingen. War das der Beginn? Sie veränderten ihre Höhe und sanken tiefer. Dabei sah es aus, als würden Tücher nach unten fallen, die immer wieder in einen Auftrieb gerieten, der ihren Fall verzögerte. »Das sind sie!« wisperte Suko. »Wir befinden uns auf der richtigen Spur.« Ein kantiges Lächeln zeichnete sein Gesicht. Die Augen glänzten, er wischte seine Hände an den Hosenbeinen ab und wirkte auf mich wie startbereit. Ich wartete noch ab, während sich Suko von mir entfernte. Allerdings nur wenige Schritte, dann holte ihn mein leiser Pfiff ein. Er stoppte und sah meinen ausgestreckten Arm.
Mit dem Zeigefinger wies ich auf die große Terrasse, meinte aber nicht die hellen Gartenmöbel, die dort standen, sondern eine düstere Gestalt, die das Haus verlassen hatte. Sie bewegte sich nicht einmal ängstlich. Mir kam sie vor, als hätte sie auf etwas Bestimmtes gewartet. Mitten auf der Terrasse blieb sie stehen und legte den Kopf nach hinten, um in den Himmel schauen zu können. Ich wusste, dass Logan Costello Rabanus freigelassen hatte, und ich wusste auch, was er wollte. Die beiden Fledermäuse, die zu Mallmanns Boten gehörten. Es sah alles so aus, als könnten wir uns auf einen harten Kampf einrichten. Diesmal wollten wir Zuschauer sein… *** Der Mafioso hatte überlegt, ob er ebenfalls auf die Terrasse gehen sollte, hatte sich dann aber anders entschieden. Er blieb lieber im Haus, das erschien ihm sicherer. Er traute sich zwar vieles zu, diesmal allerdings hatte er es mit Gegnern zu tun, die er mit normalen Maßstäben überhaupt nicht messen konnte. Eine falsche Reaktion von ihm, dann wurde er, die Walnuss, geknackt. Darauf konnte Costello verzichten. So suchte er seinen Platz auf, von dem er die Terrasse fast vollständig überblicken konnte. Es war einer der wuchtigen, bequemen Ledersessel. Beinahe schon gemütlich, und das Geschehen auf der Terrasse erinnerte ihn an eine Kinoleinwand, die als Hologramm gebaut war, um einen dreidimensionalen Film ablaufen zu lassen. Nur war dies kein Film, sondern Realität, in die er jedoch nicht eingreifen würde. Er sah den Rücken des Blut-Piraten. Rabanus setzte seinen Weg nicht weiter fort. Ungefähr auf der Mitte der Terrasse war er stehengeblieben und freundete sich zunächst mit seiner Umgebung an, die bisher für ihn ein Fremdkörper gewesen war. Er wartete. Zwei riesige Fledermäuse schwebten über ihm. Sie mussten ihn längst gesehen haben, wie auch umgekehrt, aber die blutgierigen Bestien ließen sich zunächst noch Zeit, sie umschwebten ihn für eine Weile, als wären sie sich nicht sicher, was sie unternehmen sollten. Dann aber flogen sie aufeinander zu, und plötzlich kippten sie nach unten. Gleichzeitig drifteten sie auseinander, weil sie Rabanus von verschiedenen Seiten her angreifen wollten. Das bekam Costello aus seiner Position sehr genau mit. Er konnte nicht mehr sitzenbleiben und sprang in die Höhe.
Auch ihn hatte die Aufregung gepackt. Er überlegte, wer hier der Sieger bleiben würde. An seine Besucher Sinclair und Suko dachte er nicht mehr, wieder einmal sah er sich hineingezogen in den Strudel einer magischen Auseinandersetzung, die ihn kaum aus ihren Klauen lassen würde, wobei er nur hoffte, dass er nicht direkt mit hineingezogen würde. Von der linken Seite huschte eine Fledermaus auf Rabanus zu. Sie flatterte über die Terrasse hinweg, und sie würde ihren Gegner in Schulterhöhe erwischen. Rabanus drehte sich. Dass die zweite Fledermaus von der anderen Seite auf ihn zu jagte, interessierte ihn nicht. Er war voll und ganz auf den linken Angreifer fixiert. Auf einmal war er nicht mehr zu sehen. Kurz vor Erreichen des Gegners war die große Fledermaus in die Senkrechte geschnellt. Sie wollte praktisch über ihn hechten, Rabanus umfangen wie ein großes Tuch, was er auch mit sich geschehen ließ, aber nicht untätig blieb, denn Costello konnte genau sehen, wie sich die Schwingen heftig bewegten, weil unter ihnen eben diese Unruhe war. Einen Moment später hörte er ein Geräusch, als hätte jemand starkes Papier oder Pappe zerrissen. Dann hörte er einen Schrei! Oder hatte er sich ihn nur eingebildet? Egal, was da auch passiert war, er bekam die Folgen brandaktuell mitgeliefert, denn Rabanus bewies nun, wie mächtig er war. Es war ihm gelungen, beide Schwingen an den Rändern zu fassen. Ruckartig spreizte er die Arme, riss sie quasi voneinander weg und zerstörte auch die Fledermaus. Er trennte die Verbindung zwischen Flügeln und Kopf, riss sie wuchtig auseinander. Sofort ließ er sie los, und es machte ihm auch nichts aus, dass die zweite Fledermaus inzwischen gegen seinen Rücken gerammt war, er blieb auf den Beinen. Die erste Fledermaus flatterte in Fetzen zu Boden. Sie würde nie mehr zusammenwachsen, und mit einem wuchtigen Tritt seines rechten Fußes erwischte er den Kopf der Bestie. Die Hacke zermalmte ihn… Jetzt erst hatte er freie Bahn für den zweiten Gegner. Dessen Schädel zwischen den Schwingen bewegte sich ruckartig vor und zurück. Da sollten Zähne in den Hals geschlagen werden, um Hautstücke und Blut herauszureißen. Rabanus schlug blitzschnell die Arme zurück. Seine Finger krallten sich in der lederartigen Haut dermaßen hart fest, dass der Fledermaus keine Flucht mehr gelang. Und Rabanus steigerte seine Aktivitäten noch. Er zerrte den flatternden, um sich schlagenden Gegner von seinem Rücken
fort, bückte sich dabei und wuchtete ihn über seinen gebeugten Rücken und den Kopf hinweg. Das ›Tier‹ klatschte zu Boden. Diesmal nicht zerstückelt, sondern eingerissen. Die Flügel bestanden aus mehreren Teilen, die nur mehr flattrig miteinander verbunden waren. Die Fledermaus landete am Boden. Noch war sie nicht vernichtet, sie schlug um sich, aber in den verletzten Schwingen steckte keine Kraft mehr. Rabanus fühlte sich als Sieger. Aus seinem Maul drang ein bestimmtes Röhren, ein Zeichen des Sieges, der noch nicht perfekt war. Deshalb bückte sich Rabanus und riss seinen Gegner wieder an sich. Diesmal hielt er nicht die halbzerstörten Schwingen fest, sondern den dreieckigen Schädel dazwischen. Er presste ihn zusammen. Kurz zuvor hatte Costello die Fledermaus noch schreien gehört. Ein wirklich quiekender, schriller Laut in höchsten Dissonanzen, doch dieser Schrei verstummte, als Rabanus den Schädel zusammendrückte wie eine Ziehharmonika. Die Fledermaus starb… Er schleuderte den verformten und klumpigen Rest zu Boden, trat noch einmal darauf, und wäre er ein Mensch gewesen, so hätte er jetzt richtig durchgeatmet. Stattdessen genoss er seinen Triumph auf eine andere Weise. Er schaute wieder in den Himmel und fing an zu lachen. Es klang widerlich und krächzend zugleich, aber es dokumentierte so etwas wie eine menschliche Reaktion. Er war der Sieger. Costello, der Zuschauer im Haus, musste sich den kalten Schweiß von der Stirn wischen. Dieser Kampf hatte ihn fasziniert und gleichzeitig mitgenommen. Jetzt wusste er, welch mächtiges Kuckucksei ihm der Teufel ins Nest gelegt hatte, doch er war nicht unfroh darüber. Ein solches Wesen in der Nähe zu wissen, konnte auch eine gewisse Sicherheit bedeuten. Gut, dass Rabanus nicht sein Feind war. Er fragte sich gleichzeitig, wer ihm überhaupt gefährlich werden konnte. Kleinere Dämonen sicherlich nicht, höchstens die mächtigen, die Herrscher, die auch dafür gesorgt hatten, dass Rabanus erweckt wurde. Costello war ein Mensch, dem Sicherheit und Rückendeckung über alles ging. Er konnte sich auch denken, dass dieser Kampf so etwas wie ein Vorspiel gewesen war. Das dicke Ende kam sicherlich noch nach. Deshalb blieb er auch sitzen und beobachtete Rabanus, der einige Schritte zur Seite gegangen war und neben dem wuchtigen, viereckigen Gartentisch stand. Rabanus suchte nach weiteren Gegnern. Das tat auch Logan Costello, nur suchte der an der falschen Stelle oder in der falschen Richtung. Bis er hinter sich ein Geräusch hörte! Der Mafioso ›fror‹ ein!
Sofort wusste er mit hundertprozentiger Sicherheit, dass es keiner seiner Leute war, die sich ihm näherten. Der Hauch einer tödlichen Gefahr erreichte ihn, aber er schaffte es, sich aus dem Sessel zu drücken und sich dann, als er stand, langsam umzudrehen. »Mehr wirst du nicht dürfen!« hörte er die geflüsterten Worte. Costellos Augen weiteten sich. In seinem Gesicht zeigte sich sogar eine Gefühlsregung. Er bekam Angst. Angst vor dem Eindringling, der in seiner dunklen Kleidung fast mit der Graue des Zimmers verschmolz. Nur etwas leuchtete in seinem Gesicht. Das blutrote D! *** Es hatte außer Costello noch zwei Zeugen gegeben, die den Kampf mit Interesse verfolgt hatten, nämlich Suko und ich. Wir hatten die Angriffe der beiden Riesenfledermäuse erlebt und mitbekommen, wie stark sie waren, aber da stand ihnen ein Uralt-Vampir entgegen, der noch stärker war. Rabanus ließ nichts anbrennen. Eiskalt, grausam und tödlich präzise wehrte er sich gegen die Attacken, und so hatte es nur einen Sieger geben können – nämlich ihn. Suko wischte über seine Wange, weil Spinnweben die Haut gekitzelt hatten. Sein Mund war trocken geworden, das hörte ich, als er mich ansprach. »John, da steht uns was bevor.« Ich nickte nur, denn meine Gedanken drehten sich um Dracula II. War auch er Zeuge gewesen, oder hielt er sich zurück? Wenn er den Kampf mitverfolgt hatte, dann war er einfach gezwungen, etwas zu tun. Die Fledermäuse hatten zu seinen Dienern oder Boten gehört, er musste sie rächen, er durfte es nicht hinnehmen, dass sich sein Todfeind auf die Siegerstraße begab. Der Blut-Pirat hatte die Terrasse nicht verlassen. Er stand neben dem wuchtigen viereckigen Tisch. Seine Haltung und auch das Warten kamen mir auf eine gewisse Art und Weise provozierend vor, als wollte er damit ausdrücken, dass ihm keiner etwas konnte. »Was ist mit Mallmann?« hörte ich Suko flüstern, der ähnlich gedacht hatte wie ich. »Darüber zerbreche ich mir auch den Kopf.« »Holen wir uns Rabanus?« »Ich habe nichts dagegen und überlege nur, wie ich das anstellen soll.« »Dein Kreuz wird dir kaum helfen, John.« Suko zog die Peitsche und schlug den Kreis, damit die drei Riemen aus der Röhre rutschen konnten. »Ich denke, dass ich damit mehr erreichen kann.«
»Du schätzt sie stärker ein als Rabanus?« »Ja.« »Weißt du, was mich noch interessieren würde?« Ich musste lächeln. »Er ist eine Kreatur der Finsternis. Da würde ich gern sein wahres Gesicht sehen. Er hat sich das Dasein als Vampir ja selbst ausgesucht. Tatsächlich aber sieht er anders aus.« »Glaube ich auch. Wir werden ihn fragen.« Suko war nicht mehr zu halten. Als er startete, lief auch ich. Wir hatten es nicht weit, und zudem kam uns die Dunkelheit zugute. Das schwache Licht, das aus dem Haus fiel, erreichte nur einen Teil der Terrasse. Zudem konnten wir uns in der Dunkelheit bewegen. Es gab keine Lichtquelle, die wir durchqueren mussten. Durch zwei knappe Gesten hatte mir Suko zu verstehen gegeben, dass er für eine Trennung war. Wir wollten Rabanus in die Mitte nehmen und von zwei Seiten angreifen. Das war einfach die beste Lösung. Sie hatte uns bisher immer Erfolge gebracht. Zugleich erreichten wir die Terrasse. Nur eben von verschiedenen Seiten. Wobei Rabanus uns noch nicht entdeckt hatte, jedenfalls tat er nichts, was darauf hingedeutet hätte. Ich konnte Suko als Umriss sehen und sah auch, wie er seine Hand hob. Das war auch für mich ein Zeichen. Wir betraten die Terrasse. Erst in diesem Augenblick bemerkte der Blut-Pirat die Gefahr. Er zog sich zusammen und erinnerte mich dabei an ein Reh, das Witterung aufgenommen hatte. Er sah so aus, als wollte er den Kopf schütteln, so schnell bewegte er ihn in verschiedene Richtungen. Er musste Suko sehen, und er musste mich sehen. Er sah uns. Und er tat nichts. Wir gingen von zwei Seiten auf ihn zu. Auch wenn Suko der Meinung war, dass es nichts brachte, ich hatte mich trotzdem auch auf mein Kreuz verlassen und hielt es nicht länger versteckt. Mit der rechten Hand umschloss ich den Talisman. Suko war richtig in Form. »Rabanus, das ist dein Ende!« drohte er. »Aber nicht durch dich, Chinese!« Die Stimme, die wir dann vernahmen und die Sukos Aktion stoppte, konnte nur einem gehören. Dracula II! ***
Irgendwo wollte es Costello nicht glauben. Dieser Anblick hatte ihn einfach mit einer zu großen Wucht getroffen. Er hatte ihn von seinem Podest gerissen, denn zugleich mit Rabanus fühlte auch er sich als der Sieger in diesem ersten Kampf. Und jetzt erwischte ihn dieser Schlag. Er war wie vor den Kopf geschlagen, rührte sich nicht, was jemand wie Mallmann natürlich sofort ausnutzte. Mit wenigen Schritten näherte er sich ihm. Costello nahm seinen alten, stockigen und widerlichen Blutgeruch wahr, der ihm beinahe den Magen umdrehte. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, von einer Faust im Magen erwischt zu werden. Er steckte in der Klemme, und wieder sah er sich als Walnuss an mit einer Schale, die allmählich Druck bekam und deshalb knackte. Er versteifte sich, als er zwei Hände spürte, die seine Arme umfassten und sie in Höhe der Ellenbogen so dicht gegen seinen Körper pressten, dass er sich nicht rühren konnte. Mallmann hielt die Trümpfe in der Hand. Er konnte sich allein auf seine Kraft als Untoter verlassen, die als übermenschlich angesehen werden musste. Wen er einmal hatte, den ließ er nicht mehr los, und er setzte zudem noch seinen größten Trumpf ein. Am Hals spürte Costello den leichten Druck. Vampirhauer… Mallmann hatte den Mund weit geöffnet und die Zähne gegen den Hals gepresst. Er musste sich beherrschen, um nicht hineinzubeißen, denn er merkte sehr deutlich, wie sich in den Adern das Blut bewegte, wie es strömte und pulsierte. »Du bist ganz ruhig!« zischelte er stattdessen. »Du tust, was ich dir sage!« »Jaaa…« »Dann geh vor.« Costello bewegte sich mit den langsamen Schritten eines kleinen Kindes. Er war auch steif, er konnte sich nicht entspannen, und er fürchtete um sein Leben. Gern hatte er mit den Mächten der Finsternis paktiert. Über den Schwarzen Tod bis zum Teufel, er kannte viel, doch unter dem Bis eines Vampirs zu einem Untoten zu werden, das war der Schrecken seiner Träume. Da konnte er nicht mehr nüchtern denken, da drehte er durch. Er ging weiter, immer den Druck der beiden Zähne an seinen Hals spürend. Der Weg nach draußen war nicht sehr weit, trotzdem erlebte er ihn dreimal so lange. Sein Blick hatte sich verschleiert. Obwohl Licht auf die Terrasse floss, bereitete ihm das Erkennen doch sehr große Mühe. Aber es tat sich etwas. Rabanus war nicht mehr allein.
Zwei Gestalten näherten sich von verschiedenen Seiten. Sie gerieten auch in den Lichtschein, und Costello erkannte sie. Sinclair und Suko! Sollte er sich freuen? Er wusste ja, wie stark die beiden Geisterjäger waren, aber auch Mallmann durfte er nicht unterschätzen. Zudem hatte der sich ihn als Geisel geholt. »Rabanus, das ist dein Ende!« Suko hatte die Worte gesprochen, und eine Antwort gab Mallmann. »Aber nicht durch dich, Chinese!« *** Ausgerechnet jetzt war er gekommen. Ausgerechnet zum ungünstigsten Zeitpunkt. Ich spürte, wie es in mir kochte, und Suko erging es sicherlich nicht anders. Ich konnte ihn nicht sehen, weil mir der Blick auf ihn durch Rabanus genommen war. Der aber interessierte uns im Augenblick nicht so sehr, denn Mallmanns Stimme hatte uns aus allen Siegerträumen gerissen. Damit bekam die Situation noch eine doppelte Spitze. Der Blut-Pirat tat nichts. Beinahe locker blieb er auf der Stelle und schaute weder in die eine noch in die andere Richtung. Er wartete darauf, was sein Feind unternehmen würde. Suko und ich schauten ihn von verschiedenen Seiten her an – und stellten fest, dass er nicht allein war. Mallmann hatte sich ausgerechnet Costello als Geisel genommen. Ein Witz, wirklich. Wäre die Lage nicht so ernst gewesen, hätte ich darüber gelacht, aber so etwas konnte ich mir hier nicht leisten. »Neue Lage, ihr beiden«, sagte er nicht ohne Stolz in der Stimme. »Was werdet ihr jetzt tun?« Ich gab ihm die Antwort. »Suko soll sich auf Rabanus konzentrieren. Du glaubst doch nicht, dass wir auf eine miese Verbrechertype wie Logan Costello es ist, Rücksicht nehmen? Eine bessere Chance für die Stadt, diesen Widerling loszuwerden, gibt es nicht. Mach ihn zum Vampir, Mallmann, beiß zu, dann haben wir einen Grund, ihm die geweihte Silberkugel ins Herz zu schießen. Wir sind dir im Nachhinein sogar noch dankbar.« Natürlich hatte auch Costello die Worte gehört. Und er reagierte darauf. »Sinclair!« gurgelte er. »Verdammt noch mal, Sinclair, das kannst du doch nicht tun. Das ist Irrsinn, das ist nicht dein Stil!« »Tatsächlich?« höhnte ich und ging sogar auf ihn zu. Nach drei kleinen Schritten stoppte ich. »Ja, Sinclair. Okay, wir waren nie Freunde, aber eines haben wir gemeinsam.« »Was denn?«
»Wir sind Menschen!« brüllte er, wobei sich seine Stimme überschlug. »Verdammt, wir sind Menschen!« Er jaulte die Worte hinaus, und keiner seiner eigenen Leute kam ihm zur Hilfe. Entweder hatten sie den entsprechenden Befehl bekommen, zurückhaltend zu sein, oder sie waren auch heimliche Zeugen gewesen. Ich lachte ihn hart an. »Du, Costello, siehst nur aus wie ein Mensch. Du bist auch kein Tier, du bist eine zweibeinige Bestie. Wie viele Tote hat es durch dich indirekt gegeben? Drogen, Morde, arme Opfer, die sich nicht wehren konnten und nun dahinvegetieren. Du bist schlimmer als mancher Vampir. Ich frage mich, weshalb ich die Londoner Schandplage retten sollte?« Ich hatte Mallmann und Rabanus vergessen. Es brach aus mir hervor wie eine Sturzflut, der es endlich gelungen war, einen Damm zu durchbrechen. »Dieses Schicksal hast du verdient, Costello. Es tut mir nicht einmal leid.« Hätte Mallmann den Mafioso nicht gehalten, er wäre sicherlich zusammengebrochen. Costello war am Ende. Der große Capo präsentierte sich hier als ein Häufchen Elend. Er weinte wie ein kleiner Junge, dem das Spielzeug gestohlen worden war. Widerlich… »Nicht einmal wie ein Mann willst du sterben, Costello!« rief ich ihm zu und lachte auf. Das gefiel Mallmann nicht. Ihm gefiel überhaupt nicht, wie die Sache hier ablief. Er hatte sich vorgestellt, uns in die Knie zwingen zu können und sah seine Felle plötzlich wegschwimmen. »Hör auf, Sinclair! Seit wann bist du so menschlich? Willst du wirklich, dass ich sein Blut trinke?« Er amüsierte sich. »Okay, ich kann es tun, ich gebe dir fünf Sekunden Bedenkzeit, um zu verschwinden. Denn Rabanus gehört mir. Wenn ihr nicht geht, hole ich mir beide. Erst Costello, dann Rabanus.« »Probier es aus, Mallmann!« Auch Suko hatte Rabanus nicht angegriffen. Der Blut-Pirat war ihm gleichgültig geworden, denn die Musik spielte zwischen mir und Dracula II. Für Suko wäre es allerdings besser gewesen, Rabanus im Auge zu behalten, denn so konnte er sich vorbereiten. In seinem Innern ging etwas vor. Alte, uralte Kräfte meldeten sich zurück. Sie waren verschüttet gewesen, aber nicht verschwunden, und aus irgendwelchen Tiefen stiegen sie wieder in ihm hoch. Sie packten ihn, sie drängten sich in ihn hinein, und sie sorgten dafür, dass er sein Vampirdasein vergaß. Er war eine Kreatur der Finsternis. Er stammte aus den Anfängen der Welt, er hatte dort anders ausgesehen, und diese Urgestalt war noch in seinen dämonischen Genen gespeichert.
Sie kehrte zurück, und es fing an, unter seiner Haut zu rumoren. Er spürte die Hitze, die diese Verwandlung begleitete, er merkte auch, dass sich sein Gesicht veränderte, es aber noch nicht für andere sichtbar war, weil es von der Haut verdeckt wurde. Tatsächlich formte sich etwas neu zusammen. Es gab Verschiebungen unter der Haut, er spürte Schmerzen, etwas begann zu brennen wie Feuer und Säure zugleich. Die Menschen unterhielten sich, der Blut-Pirat aber wurde zu einer Kreatur der Finsternis. Seine graue Haut wurde dünner. Ein anderes Gesicht schimmerte durch. Gleichzeitig merkte er den Drang, alles zu vernichten, was sich in seiner Umgebung befand. Noch einmal den Druck. Dann fuhr er herum. Ich sah die Bewegung, schaute auf Rabanus und bekam große Augen. Vor mir stand kein Vampir mehr, sondern eine Kreatur der Finsternis, wie sie scheußlicher nicht sein konnte… *** Wie viele andere hatte auch er eine lange Schnauze mit widerlichen Reißzähnen. Augen, aus denen Eiter tropfte, glotzten mich an. Heißer Atem strömte mir zischend entgegen, und ich dachte an die fünf Sekunden Galgenfrist, die mir Mallmann gegeben hatte. Im selben Augenblick bewegte Rabanus seine Arme. Nein, das waren irgendwelche Tatzen oder Krallen. Er schlug nach mir, sprang zugleich vor, und auch Suko handelte jetzt. Leider eine Sekunde zu spät, denn Rabanus war einfach zu schnell. Die drei Peitschenriemen wischten dicht hinter seinem Rücken vorbei und landeten mit einem Klatschen auf der Terrasse. Ich war nach hinten weggetaucht, doch mit einem direkten Angriff brauchte ich nicht zu rechnen. Der Blut-Pirat wollte einen anderen. Auf ihn stürzte er zu. Es war Dracula II! Wie hatte Mallmann noch gesagt? Es wird ein Kampf zwischen Rabanus und mir. Wir hatten es nicht glauben wollen. Doch nun traf es ein! *** Natürlich war durch diese Attacke auch Logan Costello in allerhöchste Gefahr geraten, doch gleichzeitig hatte er Glück gehabt, denn Mallmann konnte sich um ihn nicht so kümmern.
Für den Biss und das erste Trinken oder Saugen des Blutes hätte er Sekunden gebraucht, die ihm dann gefehlt hätten. Obwohl es ihm leid tat, schleuderte er Costello zur Seite, der zwischen die Stühle flog. Dass er schrie, bekamen wir kaum mit, denn nun begann der Kampf der beiden Giganten. Sie hassten sich. Jeder wollte der erste sein. Aber Mallmann duldete keine Konkurrenz, auch nicht, wenn der Teufel persönlich sie ihm auf den Hals hetzte. Wer war Mensch, wer war Monster? Mallmann sah zwar aus wie ein Mensch, aber auch er war eine Bestie, und er war nicht feige. Er wuchtete sich auf Rabanus zu, der für mich eine tanzende Teufelsgestalt war in all seiner Hässlichkeit und Widerwärtigkeit. Die Wolfsfratze, der aus den Augen fließende Eiter, der bissige Qualm und sein sichtbar gewordener monströser Körper, der aussah wie eine Mischung aus Reptil und Wolf. Grüne Krallen an den Füßen, auch an den Händen. Spitz und gebogen, die dem Vampir das untotes Fleisch von den Knochen reißen wollten. Das wusste auch Mallmann, trotzdem griff er an. Er und hatte irres Glück, dass sich die Krallen nicht in seinem Körper, sondern in seinem Mantel verfingen, den er, Dracula zu Ehre, fast immer trug. Wir hörten, wie der Stoff riss. Mallmann drückte sich zur Seite. Er probierte den Gegenzug, während das lange Maul vorschnappte und nach ihm beißen wollte. Noch erwischte es ihn nicht, und Dracula II konnte sich mit einem Ruck befreien. Zwischen den Krallen hingen die Fetzen des Umhangs. Rabanus war verstört. Er röhrte wütend auf, schleuderte die Beute dann weg und startete einen neuen Angriff. Mallmann erwartete ihn. Er hatte sich allerdings eine ›Waffe‹ besorgt. Einen Stuhl hochgerissen, den er für einen Moment als Deckung vor sich hielt und Rabanus dann entgegenschleuderte, als dieser nahe genug herangekommen war. Ausweichen konnte das Monstrum nicht. Das Möbelstück krachte gegen ihn und schleuderte ihn fast um. Er geriet dabei in unsere Nähe, war für einen Treffer mit der Peitsche aber noch zu weit entfernt. Ich muss es ehrlich zugeben. Mich faszinierte dieser Kampf. Ich hoffte sogar, dass Mallmann verlor, dass ihn dieses Gebiss zerreißen würde, dann hätten wir eine große Sorge weniger gehabt und wären auch an den Blutstein herangekommen. Der Vampir sah ein, dass seine Chancen nicht so gut waren. Er hatte mit dieser schnellen Rückverwandlung nicht gerechnet und änderte plötzlich seinen Plan.
Bevor ich mich versah, jagte er auf mich zu. Ich hätte noch zur Seite gekonnt, aber die Fliesen waren zu glatt. Von irgendwoher hörte ich Sukos entsetzten Schrei, dann lag ich schon auf dem Boden, und der blutgierige Vampir über mir. Ich schützte instinktiv meinen Hals, er geriet leider nicht mit dem Kreuz in Berührung, dass ihn möglicherweise schwächen konnte. Dann war seine Hand unter meiner Jacke, und einen Moment später fehlte mir die Beretta. Mallmann hatte sie und jagte hoch. Sofort lief er geduckt zur Seite, den Blick und die Mündung auf seinen Feind gerichtet. Das war neu. Ein Vampir, der mit Silberkugeln schießen wollte, um seinen Feind zu erledigen. Er feuerte auch. Ich rollte mich weiter, der Tisch gab mir einigermaßen Deckung, und noch immer auf dem Boden liegend schaute ich hinter einem der dicken Beine auf Rabanus. Mallmann stand geduckt. Die Waffe bäumte sich noch einmal kurz auf, als er zum dritten Mal schoss. Wieder wurde Rabanus erwischt. Diesmal jagte das Geschoss in seinen Kopf, der mir irgendwie leuchtend vorkam, so dass ich die Kugel als einen blitzenden Klumpen in dem Schädel sah. Sie gab ihre Kraft ab, aber es war zuwenig, um Rabanus zu stoppen, und ich wollte meine Waffe zurückhaben. Suko schoss auf Mallmann. Er lenkte ihn ab, weil er geahnt hatte, was ich plante. Als der Vampir auf Suko schaute, setzte ich zu einem Sprung an. Diesmal war ich über ihm. Für einen winzigen Moment sah ich sein bleiches Gesicht mit den weit und erschreckt aufgerissenen Augen, und ich sah auch das Schimmern der hellen Reißzähne. Dann gelang es mir, seine rechte Hand zu packen. Und ich hämmerte das Gelenk auf die Steine. Schmerzen verspürte er nicht. Ich hoffte nur, dass der Druck ausreichte, um die Beretta aus seiner Hand zu fegen. Wären er und ich allein gewesen, hätte ich wohl keinen Erfolg gehabt, so aber musste er sich noch auf Rabanus konzentrieren und hatte die Rechte dabei für ihn etwas unglücklich gedreht. Jedenfalls verlor er die Waffe! Bevor sie auf der glatten Fläche wegrutschen konnte, hatte ich schon nach ihr gegriffen. Dann trat mir Mallmann gegen den Hals. Im Hintergrund hörte ich Geschrei, auch Sukos Stimme meldete sich. Ich wälzte mich auf die Seite, weil ich sehen wollte, was mein Partner tat. Er stand Mallmann zur Seite, denn er griff Rabanus direkt an…
*** Der Kampf war aus dem Rahmen gelaufen, hatte die Regeln verlassen, und Suko sah ein, dass John und er keine Zuschauer mehr sein konnten. Hier gab es keinen lachenden Dritten, hier gab es nur ein Entweder Oder. Und Suko wollte das Entweder! Seinem Freund konnte er nicht helfen, der musste mit Mallmann allein zurechtkommen, aber Rabanus gehörte zu den Kreaturen der Finsternis, zu dem Bösen, was zu Beginn der Welten erschaffen worden war, und das ebenfalls durch das das Böse vernichtet werden konnte. Durch die Dämonenpeitsche. Ihre Riemen bestanden aus der Haut eines ebenfalls mächtigen Dämons, den Suko durchaus zu den urzeitlichen Geschöpfen rechnete. Bisher hatte ihn die Peitsche nicht im Stich gelassen, und er hoffte, dass es sich auch diesmal nicht ändern würde. Er griff Rabanus an. Das Untier drehte sich. Suko sah für einen Moment frontal gegen die überaus hässliche Kreatur. Er sah die Zähne, die ihn so liebend gern zerrissen hätten, und er schrie, als er zuschlug, dabei aber den Weg der Riemen im Fallen noch verfolgen konnte, wie sie so wunderbar auseinanderfächerten und Rabanus trafen. Das Klatschen war Musik in Sukos Ohren. Rabanus, jetzt wieder Kreatur der Finsternis, erlebte, dass andere Waffen stärker waren als er. Die Schmerzen waren furchtbar, wie Feuer und Säure zusammen. Sie fraßen sich durch seinen Körper, sie zerstörten ihn, sie jagten lange Wunden in ihn hinein, sie verbrannten ihn und ließen kleine Flammen hochschlagen. Zischend und knisternd platzte die dicke Haut weg. Die Kreatur der Finsternis sprühte wie ein Feuerwerkskörper. Sie schrie dabei, und der widerliche Schädel bewegte sich hektisch aus dem Feuerkranz hervor, der noch nicht seinen Schädel erreicht hatte, plötzlich aber aufpuffte und ihn umgab wie eine Lohe. Er brannte weg! Rabanus hatte keine Chance mehr. Feuer hatte auch schon zu Urzeiten vernichtet. So war es, so würde es immer sein. Suko aber wollte mehr wissen. Denn Rabanus war nicht allein gewesen. Da gab es noch John Sinclair und Dracula II. Genau in dem Augenblick, als sich Suko umdrehte, hörte er das Lachen des Vampirs. Ein kalter Schauer rann über seinen Rücken… ***
Ja, Mallmann lachte. Nicht aber, weil er mich besiegt hatte, er hatte mitbekommen, wie Rabanus vernichtet worden war, und als dieser brannte, da konnte er nicht anders, musste lachen und tauchte plötzlich ein in die Dunkelheit des Gartens, wo er sich blitzschnell verwandelte und ebenfalls als Riesenfledermaus in die Höhe stiegt. Er hatte die Gunst der Sekunde genutzt. Zwar angeschlagen und mit einigen Blessuren versehen, doch ich war sicher, dass er sich auf das nächste Wiedersehen mit uns freute. Ich war ziemlich sauer, als ich ihm nachschaute, und ich zerbiss nur mühsam einen Fluch. Vielleicht war er trotzdem über meine Lippen gedrungen, denn Suko kam zu mir und sprach mich an. »Keine Sorge, irgendwann kriegen wir ihn.« »Wie Rabanus?« »Ja, schau hin!« Von ihm war eigentlich nichts mehr zu sehen. Ich bekam noch mit, wie sein widerlicher Schädel in den restlichen Flammen zu einer öligen Flüssigkeit zerschmolz, aber das interessierte mich nicht mehr. Wichtig für uns war, dass der Blut-Pirat Vergangenheit war und auch für immer bleiben würde. Auch wenn wir Mallmann damit einen Gefallen getan hatten. Aber das hatte sich leider nicht ändern lassen. Dann erlebten wir noch eine weitere Überraschung. Logan Costello kroch aus seiner Deckung hervor. Auf allen vieren bewegte er sich wie ein Tier. Wir schauten ihn an. Er kam mühsam auf die Beine, blieb stehen und spie aus. »Ist das der Dank?« fragte ich. »Du hättest mich verrecken lassen, du Drecksbulle! Haut ab! Verlasst mein Grundstück, sonst lasse ich euch in Fetzen schießen, ihr Hunde!« Ich musste grinsen und setzte mich langsam in Bewegung. Suko ging an meiner Seite. Diesmal verließen wir als Sieger die Arena…
ENDE