Elias Canetti Der Blinde (Aus: Ohrenzeuge: 50 Charaktere) Der Blinde ist nicht von Hause aus blind, doch ist er’s mit le...
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Elias Canetti Der Blinde (Aus: Ohrenzeuge: 50 Charaktere) Der Blinde ist nicht von Hause aus blind, doch ist er’s mit leichter Mühe geworden. Er hat eine Kamera, die hat er überall und es ist eine Lust für ihn, die Augen geschlossen zu halten. Es geht wie im Schlaf, er hat noch gar nichts gesehen und schon nimmt er’s auf, denn dann, wenn es alles nebeneinanderliegt, gleich klein, gleich groß, immer viereckig, ordentlich, abgeschnitten, benannt, numeriert, bewiesen und vorgezeigt, dann sieht man’s auf alle Fälle besser. Der Blinde erspart sich die Anstrengung, etwas vorher gesehen zu haben. Er sammelt, was er gesehen hätte und stapelt es auf und freut sich daran, als wären es Briefmarken. Um der Kamera willen bereist er die Welt, nichts ist fern, nichts ist leuchtend, nichts absonderlich genug - er holt sich’s für die Kamera. Er sagt: da war ich, und zeigt drauf und könnte er nicht drauf zeigen, er wüßte nicht, wo er war, die Welt ist verwirrend, exotisch und reich, wer soll sich das alles merken. Der Blinde glaubt nichts, was nicht aufgenommen wurde. Leute schwatzen und prahlen und reden daher, sein Motto ist: heraus mit den Fotos! Da weiß man, was einer wirklich gesehen hat, da hält man’s fest in der Hand, da kann man den Finger drauf legen, da kann man auch ruhig die Augen öffnen, statt sie sinnlos vorher schon zu vergeuden. Alles im Leben hat seine Zeit, zuviel ist zuviel, das Sehen erspare man sich für Fotos. Der Blinde liebt es, seine Aufnahmen vergrößert an die Wand zu werfen und seine Freunde damit zu bewirten. Zwei oder drei Stunden dauert ein solches Fest, Schweigen, Erleuchtungen, Deutungen, Hinweise, Ratschläge, Humor. Der Jubel, wenn man etwas verkehrt eingelegt hat, die Präsenz, wenn man merkt, daß etwas zum zweitenmal gezeigt wurde! Es ist nicht zu sagen, wie wohl ein Mensch sich fühlt, wenn die Aufnahmen groß sind und es lange genug dauert. Endlich die Belohnung für die unbeirrbare Blindheit einer ganzen Reise. Auf, auf, ihr Augen, jetzt dürft ihr sehen, jetzt ist es soweit, jetzt wart ihr dort, jetzt sollt ihr’s beweisen! Der Blinde bedauert, daß andere es auch beweisen können, doch er beweist es besser.
LITERATUR \ CANETTI