Katrin Sill Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule
Katrin Sill
Der Übergang von Kindern aus der Fami...
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Katrin Sill Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule
Katrin Sill
Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule Ein sozialpädagogisch begründetes Ganztagsbetreuungskonzept im Kontext der Transitionsforschung Mit einem Geleitwort von Hans-Ludwig Schmidt und Bernd Birgmeier
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Zugl.: Dissertation an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, 2010
. 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Dorothee Koch / Tanja Köhler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: STRAUSS GMBH, Mörlenbach Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17653-6
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Inhalt
Inhalt
Zum Geleit Transition als sozialpädagogischer Grundbegriff. Strukturontologische Skizzen zur sozialpädagogischen Transitionsforschung..... 9 Danksagung ....................................................................................................... 21 Zur Einführung Erziehung, Bildung und Betreuung im Spannungsfeld von Familie und Schule – Betrachtung des schulischen Ganztagsbetreuungskonzeptes aus sozialpädagogischer Perspektive im Hinblick auf die Bewältigung von Transitionen ................................................................................................. 23 1 1.1 1.2 1.2.1 1.2.1.1 1.2.1.2 1.2.1.3 1.2.2 1.2.2.1 1.2.2.2 1.2.2.3 1.2.2.4 1.2.3 1.3
Ein Blick in die Historie der Ganztagsschulentwicklung.................. 31 Die Vorläufer der modernen Ganztagsschule......................................... 31 Gründe für den Bedarf nach ganztägigen schulischen Konzepten ......... 32 (Bildungs-)politische und (schul-)pädagogische Begründungen............ 36 Optimierung der Lernkultur ................................................................... 36 Herstellung von Chancengleichheit........................................................ 38 Die Notwendigkeit einer Reformierung der Schule ............................... 39 (Sozial-)politische und (sozial-)pädagogische Begründungen ............... 40 Neuausrichtung der Erwerbs- und Betreuungsstruktur........................... 42 Wandel der Familiensituation................................................................. 44 Neustrukturiertes Umfeld für Heranwachsende ..................................... 45 Verändertes Erziehungsverhalten ........................................................... 48 Zusammenschau ..................................................................................... 54 Ganztagsschule als „frommer Wunsch?!“ .............................................. 56
2 2.1 2.2
Ganztagsschulkonzept versus Ganztagskonzept für die Schule....... 59 Charakteristika des Ganztagsschulkonzeptes ......................................... 63 Unterschiedliche Formen der Ganztagsschulkonzepte ........................... 65
6 2.2.1 2.2.2 2.3 3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.3 3.3.1 3.3.1.1 3.3.1.2 3.3.1.3 3.3.2 3.3.2.1 3.3.2.2 3.3.2.3 3.3.3 3.3.3.1 3.3.3.2 3.3.3.3 3.3.4 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.5 3.5.1
Inhalt
Offene Ganztagsschulen......................................................................... 66 Gebundene Ganztagsschulen.................................................................. 70 Die Ganztagsschule als Lern- und Lebensraum ..................................... 75
Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule ............... 77 Der Begriff Transition ............................................................................ 77 Theoretische Modelle zur Erklärung des Transitionsprozesses.............. 78 Der Ökopsychologische Systemansatz nach BRONFENBRENNER ........... 78 Das Schulreifekonstrukt nach NICKEL.................................................... 84 Das Transitionsmodell nach GRIEBEL und NIESEL ................................. 88 Entwicklungsaufgaben bei der Bewältigung von Transitionen .............. 90 Individuelle Ebene.................................................................................. 92 Veränderung der Identität durch einen neuen sozialen Status ................ 92 Bewältigung starker (transitionsbedingter) Emotionen .......................... 92 Kompetenzerwerb .................................................................................. 93 Interaktionale Ebene............................................................................... 93 Veränderung bzw. Verlust bestehender Beziehungen ............................ 93 Aufnahme neuer Beziehungen ............................................................... 93 Veränderung der Rollenerwartung ......................................................... 94 Kontextuelle Ebene ................................................................................ 94 Integration verschiedener Lebensumwelten ........................................... 94 Neue Strukturen und Inhalte................................................................... 96 Weitere familiale Übergänge.................................................................. 97 Zusammenfassende Darstellung............................................................. 97 Transition – Risiko oder Chance? .......................................................... 98 Transition als Risiko: Unbewältigte Übergänge................................... 100 Das Für und Wider eines gleitenden Übergangs .................................. 102 Transition als Chance: Bewältigung von Übergängen ......................... 104 Transition – Risiko und Chance!.......................................................... 106 Transitionsbewältigung im Kontext der Schule ................................... 109 Von der Familie in die Schule – die Unterschiedlichkeit der Systeme .......................................................................................... 109 3.5.1.1 Einzelne Dimensionen des Sozialisationskonfliktes ............................ 111 3.5.1.2 Ableitungen für den Schuleintritt ......................................................... 116 3.5.2 Die Einschulung als Übergang für die ganze Familie .......................... 120
Inhalt
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3.5.3 3.5.4 3.5.5
Das Kindergartenkind wird zum Schulkind ......................................... 121 Der Schulanfang als Problem- und/oder Entwicklungspotenzial ......... 124 Die pädagogische Gestaltung des Übergangs im Sinne der Entwicklungsaufgaben ......................................................................... 126 Schulbereitschaft und Schulfähigkeit des Kindes................................. 128 Die Verknüpfung vorschulischer und schulischer Lernprozesse.......... 132 Übergangsbewältigung und soziale Selektion – ein Zusammenhang?............................................................................. 133 Ausgewählte Ergebnisse der Resilienzforschung und ihr Beitrag zur Reformierung des schulischen Ganztagsbetreuungskonzeptes....... 138 Resilienz ............................................................................................... 138 Risiko- und Schutzfaktoren .................................................................. 140 Erkenntnisse der Resilienzforschung.................................................... 144 Die Schule als Schutzfaktor.................................................................. 146 Ansätze aus der Resilienzforschung zur Gestaltung von Ganztagsschulen................................................................................... 147
3.5.6 3.5.7 3.5.8 3.6 3.6.1 3.6.2 3.6.3 3.6.4 3.6.5 4
4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.3
Übergangsbewältigung und Ganztagsschulkonzept – Begünstigung oder Hemmung transitionsbedingter Entwicklungsaufgaben?..................................................................... 151 Pro und Contra des Ganztagsschulkonzeptes auf den verschiedenen Ebenen der Entwicklungsaufgaben............................... 151 Individuelle Ebene................................................................................ 152 Interaktionale Ebene............................................................................. 157 Kontextuelle Ebene .............................................................................. 160 Die Berücksichtigung der Kontextualität als Indiz eines „guten“ Ganztagsschulkonzeptes....................................................................... 171 Eine „gute“ Schule – Was ist darunter zu verstehen?........................... 171 Die Integration der Lebenswelten als Zielsetzung der Co-Konstruktion................................................................................... 175 Die Realisierung neuer Strukturen und Inhalte durch eine Öffnung von Schule.............................................................................. 181 Die Ganztagsschule auf der Suche nach Verbündeten ......................... 185
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Inhalt
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Der Beitrag der Sozialpädagogik für ein ganztägiges schulisches Betreuungsprogramm .................................................... 187 Sozialpädagogik – ein Grundriss.......................................................... 187 Sozialpädagogik und Schule................................................................. 190 Zum Verhältnis von Sozialpädagogik und Schule................................ 197 Perspektiven einer intensiveren Kooperation ....................................... 199 Sozialpädagogisches Handeln im Kontext der Ganztagsschule ........... 201 Ausgewählte Erkenntnisse empirischer Forschung im Zusammenhang mit schulischer Ganztagsbetreuung............................ 208
5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.3 5.4 6
Die sozialräumliche Dimension der Schule ...................................... 217
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„Quo vadis, (Ganztags-)Schule?“ – Conclusio und Ausblick ......... 223
Literaturverzeichnis ....................................................................................... 231 Abbildungsverzeichnis ................................................................................... 255 Tabellenverzeichnis ........................................................................................ 257
Zum Geleit
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Zum Geleit Transition als sozialpädagogischer Grundbegriff. Strukturontologische Skizzen zur sozialpädagogischen Transitionsforschung Bernd Birgmeier & Hans-Ludwig Schmidt
Was macht den Menschen heute aus? Wodurch wird er Mensch und welche Entwicklungen und Leistungen hat er zu vollbringen, um überhaupt ein menschliches – und explizit aus der Perspektive der Sozialpädagogik besehen: ein gelingendes, gutes – Leben führen zu können (vgl. Otto & Ziegler 2010)? Wie ist das MenschSein und vor allem die Mensch-Werdung in deren Gesamtstruktur zu erklären und zu verstehen? Und vor allem: Mit welchen Phasen und Stadien persönlicher Entwicklung ist diese, oder besser: alle Mensch-Werdung konfrontiert? Solcherart zentrale Fragen sind – wenn überhaupt – zunächst nur über eine kritische Reflexion bereits bekannter Sichtweisen über das Mensch-Sein anzugehen, um daraus im Vergleich zur Realperspektive menschlichen Daseins konkrete Anhaltspunkte zu finden, die die Fülle anthropologischer Modelle zu Verbildlichungen des Mensch-Seins spezifizieren und systematisieren helfen. Der Mensch, besonders derjenige, der aus der Sichtweise der Sozialpädagogik immer wieder beschrieben wird, kann in Anlehnung an Arnold Gehlen (1974), Hans Lenk (1989), Odo Marquard (2001) einerseits, an Silvia StaubBernasconi (1995), Jan Tillmann (1994) und Hans-Ludwig Schmidt (1994) andererseits als ein Wesen angenommen werden, das bedingt durch individuelle und/oder soziale Krisen bzw. Probleme unfähig ist zur Handlung, genauer: unfähig zur Handlung, um sein eigenes Leben „führen“ (vgl. Volz 2009) und die Anforderungen sowie Probleme bei Statuspassagen oder bei biographischen Brüchen „bewältigen“ (vgl. Böhnisch 2005) zu können, und dem hierdurch eine seitens der professionellen Sozialpädagogik bivalente, das heißt: pro- und metaphylaktische Hilfe zur Förderung und Entwicklung seiner Handlungsfähigkeiten zuteil werden muss. Dementsprechend sind in dieser Programmatik einer dezidiert handlungswissenschaftlich konturierten Sozialpädagogik – also einer Sozialpädagogik, die konkrete Aspekte menschlichen Handelns zu ihrem Objektbereich erhebt – zwei
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Zum Geleit
kategoriale Forderungen enthalten: zum einen die Forderung nach einer philosophisch-anthropologisch bzw. metatheoretischen Grundlegung des Wissenschaftsverständnisses von Sozialpädagogik, das objekttheoretisch sowohl das Erklären und Verstehen von Handlung und Handlungskrisen als auch das Erleben der Handlungsunfähigkeit seitens des Adressaten thematisiert (vgl. Birgmeier 2009); zum anderen die Forderung nach einer daraus resultierenden wissenschafts-, erkenntnis- und handlungstheoretischen Fundierung einer Sozialpädagogik als Handlungswissenschaft (vgl. Schmidt 1981; Birgmeier 2005). Mit einer metawissenschaftlichen Betrachtung des Objektbereichs Handlung blickt insbesondere die Handlungsphilosophie auf eine reichhaltige Tradition zurück. Im Namen der Philosophischen Anthropologie fragt sie nicht nur konkret nach dem Wesen des Menschen und den Bedingungen der Möglichkeiten seines Seins und Werdens, sondern sie legt auch zentrale Befunde vor, die für empirische, normative und rationale Handlungstheorien grundlegend sind. Dem philosophisch orientierten Handlungstheoretiker fallen diesbezüglich vor allem zwei anthropologisch basale Grundtatsachen auf, nämlich dass der Mensch ein handlungsfähiges und ein soziales, an Gemeinschaft gebundenes Wesen ist. Besonders deutlich zeigen sich diese zentralen Anthropika, die sozusagen als philosophisch-anthropologische „Vorbilder“ auch einer metawissenschaftlich ausgerichteten Sozialpädagogik gelten können, einmal: im homo (dis)agens; zweitens: im homo (dis)performans und drittens: im homo (dis)compensator. Als Subtypen dieser philosophisch-anthropologischen Ansätze seitens der Sozialen Arbeit lassen sich – in Analogie dazu – ableiten: a) der homo abusus oder: Der missbrauchte Mensch (vgl. Tillmann 1994); b) der im-perfekte Mensch und seine Bedürfnisse (vgl. Staub-Bernasconi 1995); und c) der sich in Sinn-/Handlungskrisen befindende Mensch (vgl. Schmidt 1994). Sämtliche dieser eben angeführten Menschenbildannahmen sind zentral für eine wissenschaftstheoretische Verortung der Sozialpädagogik in den Handlungswissenschaften, denn mit einem eigenen, spezifischen Begriff der Handlung des Menschen lässt sich die Sozialpädagogik disziplinär sowohl auf der Ebene der Metawissenschaften und Metatheorien, als auch auf der Ebene der Objekttheorien und der allgemeinen Handlungstheorien entwickeln. Doch der Rekurs auf die Bestimmung einer (Philosophischen) Anthropologie für eine handlungswissenschaftlich verortbare Sozialpädagogik reicht nicht aus, um sämtliche, auch ontologisch-ontischen Versatzstücke einer integrativen Sozialpädagogik berücksichtigt zu wissen (vgl. dazu Birgmeier, Mührel & Schmidt 2010). Denn ohne dezidiert strukturtheoretische Betrachtungsweisen von Forschungsaspekten innerhalb der Sozialpädagogik stünde diese Disziplin in Gefahr, die facettenreichen Situationen, Phasen und Verläufe in jedem subjektiven Leben nicht hinreichend umfassend zu „erhellen“. Daher sind insbesondere strukturanthropologische Parameter in jeglicher, vor allem in der (sozial-) päda-
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gogischer Forschung mit zu bedenken, will man dem Menschen – um den es in aller (Sozial-)Pädagogik ja geht – gerecht werden. Die Strukturanthropologie entspricht einem Ansatz, der sich entschieden gegen „jede ´Systemtheorie´ des Menschen und der Gesellschaft stellt“ (Rombach 1994, 19). Mit dieser Grenzlegung struktureller Ontologie verweist Rombach das „System“ – als alternativen Ansatz im Horizont einer Ontologie des Menschen – außerhalb seines eigenen philosophisch-anthropologischen Betrachtungsfeldes dadurch, dass er System als ein nur „sekundäres ontologisches Modell“ (1994, 20) ausweist, welches sich allenfalls auf künstliche Gebilde wie Geräte oder Apparaturen, keinesfalls jedoch auf den Menschen in seiner Individual- wie auch Sozialexistenz bezieht (vgl. auch Hundeck 2009). Daher kann eine anthropologischwissenschaftliche Betrachtung des Menschen – gleichgültig, in welcher Lebensaltersstufe er sich befindet: Kindheit, Jugend, Erwerbs- und Erwachsenenalter etc. (vgl. Böhnisch 2005) – nur über die ontologische Grundform der Struktur zutreffen. Alleine die Struktur kennzeichnet sich durch ihre „Offenheit und Lebendigkeit“ aus; zentrale Dimensionen, in denen Menschwerdung stattfindet und die beim Systemansatz keine Berücksichtigung fänden. Strukturen „bauen sich selber auf, gliedern sich nach innen aus, beziehen sich aktiv und reaktiv auf eine von ihnen in bestimmter Weise interpretierte Umwelt“, wodurch sie mit einer solcherart interpretierten Umwelt eine größere Struktur zu bilden beabsichtigen, „´in´ der sie sich selbst ermöglichen“ (Rombach 1994, 20). Das „In-sein“, das Rombach aus dem Gedankengut Heideggers abwandelt, ist für die Strukturverfassung unverzichtbar und führt so zu einem Implikationsverhältnis, das kleinere Strukturen in größeren beziehungsweise größere Strukturen über kleinere konstituiert sein lässt; keine kann die kleinste oder die größte sein. In diesem Sinne ist der Mensch sowohl als Individuum als auch als Teil des Sozialen stets Struktur. Individuales wie auch soziales Sein sind – wenn wir bei Heidegger bleiben – ontologisch bestimmbare Grundgrößen der Existenz. In gewissem Sinne können wir – in der Verknüpfung beider Philosophien – für spezifische Forschungsund Fragestellungen der Sozialpädagogik als eine auf das Humanum gerichtete Wissenschaft auch von Struktur-Existenzialismus sprechen, der das Leben, den Menschen, das menschliche (Er-)Leben überhaupt nicht als endgültigen, festen Bestand betrachtet, sondern als eine notwendige Möglichkeit, eigene Strukturen eigenen Lebens innerhalb eigener existenzieller Genesen zu deuten, zu interpretieren und zu verstehen. Struktur-Existenzialismus beschreibt daher die aktive Realisierung und Selbstschöpfung eigenen Lebens im konzentriertesten Selbsteinsatz des Individuums als Individual- wie auch als Sozialwesen innerhalb und außerhalb vorfindbarer Strukturen (vgl. Birgmeier 2007). Das strukturelle Sein – und damit sind wir bei der grundlegenden Ausgangshypothese auch von Katrin Sills Forschung zur Frage nach den Übergän-
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gen – ist demzufolge immer auch ein existenzielles Sein, konkreter formuliert: ein Werden; ein Werden im Übergang, im Durch-Fahren und im Existieren in Passagen. Denn wie im einen so auch im anderen gibt es keine kontinuierlichen Übergänge, sondern allenfalls Sprünge (vgl. Stegmüller 1989, 137) von einer Passage zur nächsten, von einer Grenze zur nächsten, von einer Situation zur nächsten, kurz: von einer Grenzsituation zur nächsten. Grenze drückt aus: „es gibt ein anderes“ (Jaspers). Grenzsituationen erfahren und Existieren ist dasselbe und findet vorwiegend in und durch Strukturen statt, in denen Autogenesen begründet werden. Derart zu kennzeichnende Strukturen sind also weitaus spezifischer als die – vor allem im aktuellen Theoriediskurs zur Sozialen Arbeit allseits hofierten und beinahe schon glorifizierten (vgl. Birgmeier & Mührel 2009; Mührel & Birgmeier 2009) – Systeme und – besonders von neuro-enhancement„infizierten“ (vgl. Dungs 2009) – Theorieentwürfen über Substanzen. Wenn – im Blick auf diese einleitenden Gedanken – auch in Katrin Sills Studie zum Übergang der Kinder aus der Familie in die Schule zuvörderst die Struktur als ontologische Betrachtungsform deutlich ersichtlich wird, dann wir einmal mehr deutlich, dass im Struktur-Ansatz die Individualität und die Sozialität des MenschSeins entsprechend als zentrale Phänomene berücksichtigt werden. Eine strukturanthropologische Festlegung impliziert zudem die Annahme, dass Autogenesen des Einzelnen stets auch von Soziogenesen des Ganzen abhängen und beeinflusst werden – und umgekehrt. Individuen entwickeln sich in und über soziale Beziehungen, denn diese gehen in die Individualität mit ein und prägen diese. Sozialität im Sinne einer „Beziehung zwischen individuellen Personen“ bedeutet daher nicht die Verneinung des Individuellen, sondern dessen Ermöglichung. Sämtliche Forschung, die auf Übergänge (Transitionen) fokussiert, basiert auf den strukturanthropologisch und -existentialistisch beschreibbaren individuellen wie auch sozialen Menschen und die Frage, nach welchen Mechanismen sein eigenes Leben er- und widerfahrend verläuft bzw. wodurch eine Selbstschöpfung des einzelnen Menschen ge- oder misslingen mag. Folglich werden gerade mit den von Katrin Sill ins Zentrum ihrer Forschung gehobenen „Transitionen“ Phänomene fokussiert, die darauf verweisen, dass der Mensch im Grunde genommen nicht ist, sondern Zeit seines Lebens in Bewegung, in Entwicklung, in Veränderung, im Prozess der Schöpfung seines selbst ist; kurz: dass sich der Mensch in stetigem Werden, im Prozess der Autogenese befindet. Eine solche, bereits von Hölderlin gezeichnete hyperionische Lebensweise bildet eine der Zentralannahmen, auf der eine auch in Katrin Sills Arbeit deutlich werdende Philosophie der Bewegung und eine Anthropologie des Übergangs fußt. Das menschliche Leben, so können wir aus Hölderlins Roman Hyperion ersehen, ist ein genetisches, das als Grundtatsache des menschlichen Daseins alles Leben und Erleben als Auf- und Untergang zugleich annimmt (Rombach 1987, 102), aus existenzialistischer Sichtweise in nichts weiter als in Sprüngen (von einer Situati-
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on/Funktion/Rolle/Lebensaltersstufe etc. in die nächste) besteht. Rombach verwendet nach diesem Bild des Menschen den genetischen Terminus: der Mensch sucht sich (1987, 102). Für diese mittels Erfahrungen zu machende Suche nach Möglichkeiten der Selbstschöpfung und -werdung benötigt er das ganze Leben „mit allen Wichtigkeiten und Unwichtigkeiten“ (vgl. ebd. 1987). Die Idee der Selbstschöpfung und die damit einhergehende Schlussfolgerung, dass der Mensch ein „endlich“ schöpferisches Wesen ist, das suchend seine je eigene Wirklichkeit auch nach seinem Bilde findet (1987, 96), kann daher als Leitidee für alle Wirklichkeit, für jegliches Werden in und durch die (begrenzte Lebens-)Zeit und als Grundbegriff der existenzialistischen Strukturontologie vorausgesetzt werden. Ebenso wichtig für den existenzialistisch-strukturontologischen Blick sind jedoch auch die Überlegungen Rombachs in Bezug auf die Situation. Denn: jeder Mensch ist Situation und seine Genese wird durch Situationen. Die von Rombach entwickelte Situationskokarde, innerhalb derer der Mensch in den Strukturgrößen Leib, Mitwelt, Umwelt und Welt genetisch und auch „transitional“ verortet wird, überschneidet sich sehr deutlich mit Derbolavs (1970; 1987) sog. Modell der Personagenese, die die raum-zeitliche Bewegtheit des Menschen strukturell in bio-, psycho-, sozio- und kosmogenetischer Perspektive vortrefflich beschreibt. In beiden Struktur-Modellen wird den intra- wie auch interpersonalen Prozessen humanpraktischer Autogenese Rechnung getragen, so dass auch Derbolavs Entwurf einen Beitrag einer Strukturanthropologie darstellt und gleichermaßen die Arbeit und das Gedankengerüst von Katrin Sill stützt. Mit Derbolav lässt sich demnach festhalten, dass jeder Mensch vom ersten Augenblick seines Werdens an Person ist und die Persönlichkeit in stetigem, bis zum Tod nie endgültig abgeschlossenem Werden besteht (vgl. Schmidt 1998, 187). Sich als Persönlichkeit zu realisieren geschieht somit immer in Situationen, in die die Person „geworfen“ ist oder sich selbst wirft. Dabei gilt generell, dass jede Person immer in einer Situation steht bzw. in ihr wird und sich darin auch bewähren muss. Individuelle Personagenesen sind daher immer von den verschiedensten Situationen abhängig, in denen sich der Mensch in Wirklichkeit vorfindet (vgl. Rombach 1987, 133 ff.) Die Struktur des Wesens einer Person-in-der-Situation bestimmt sich dementsprechend in der Tradition existenzialistischen Denkens dadurch, dass Erfahrungen des Einzelnen in Grenz-Situationen bzw. Krisen-Situationen entstehen, also dort, wo bisher gewonnene Deutungsmuster und Erfahrungsschemata, also Sinn-, Denk- und Handlungskompetenzen zur Bewältigung von Situationsanforderungen nicht genügen. Ganz allgemein werden Krisen – so Boschert – als eine Folge des Einbrechens von einem oder mehreren schwerwiegenden Ereignissen im Leben eines betroffenen Subjekts gesehen (vgl. 1987, 327). Sie entstehen im Rahmen reziproker Transaktionen zwischen Menschen und ihrer Umwelt insbe-
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sondere als Probleme, die mit Lebensaufgaben in Übergangssituationen, mit Aufgaben aus intra- wie auch interpersonalen Welten oder mit solchen aus zwischenmenschlichen Beziehungen verbunden sind. Strukturontologisch gefasst bedeutet dies, dass Krisen sowohl in jeder Lebenslage als auch in jeder Situation entstehen können und vom Betroffenen her eine dialektische Entscheidungssituation provozieren, die für den Einzelnen gleichzeitig eine Gefahr, aber auch eine Chance darstellt. Denn: Alle menschliche Lebensführung und alle Handlungen, aus denen sie sich aufbaut, sind grundsätzlich zugleich gelingensorientiert und misslingensbedroht. Menschen handeln unter den Bedingungen von Unsicherheit und unvollständigem Wissen (vgl. Volz 2009). Nicht von ungefähr stellt deshalb auch Bollnow fest, dass Leben und Krisen irgendwie notwendig zusammen zu gehören scheinen (vgl. 1983, 27) und dass das hyperiotische Wesen Mensch so in seiner von Bewegung und Übergängen gekennzeichneten Phänomenologie stets in Situationen die Chancen zur Selbstbestimmung zu suchen und potentielle Gefahren abzuwenden hat. Insbesondere im Kontext der Schule und der Familie sind – wie oben hergeleitet – die Übergänge bzw. „Transitionen“ ein wichtiges Merkmal der Kompetenz für eine gelingende oder – im negativen Falle – nicht gelingende Lebensführung und Lebensbewältigung. Aus der Perspektive der Adressaten aller Pädagogiken, insbesondere der Sozial- und Schulpädagogik, geht es daher um Kompetenzen für das Leben, das sowohl allgemeine Existenzialkompetenzen als auch spezifische Residualkompetenzen einfordert. Entscheidend für diese Differenzierung ist einmal die Tatsache, dass jeder Mensch grundsätzliche, existenzielle Kompetenzen benötigt, um Person zu werden; pädagogische Prinzipien, wie bspw. Mündigkeit, Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung spielen hierbei eine wichtige Rolle. Andererseits werden solche Existenziale (oder: Lebens-Kompetenzen) erweitert, ergänzt, spezifiziert und flankiert durch eine Reihe an Residualkompetenzen, mit Hilfe derer schwierige Lebenslagen, kritische Lebensereignisse und belastende Krisensituationen adäquat bewältigt werden können. Diejenigen Kompetenzen, die das Zentrum der Kompetenz für die (Sozial-) Pädagogik somit ausmachen, sind offensichtlich eine Lebensführungskompetenz (vgl. Volz 2009) und eine Lebensbewältigungskompetenz (vgl. Böhnisch 2005). Unschwer zu erraten, dass es sich dabei primär um Kompetenzen für das Leben von Adressaten handelt, die – wie es auch die Capability-Forschung postuliert – ein erfülltes, menschliches und glückliches Leben führen wollen (vgl. Otto & Ziegler 2010). Aus diesem Grund sind auch sämtliche Kompetenzen aller in der (Sozial-)Pädagogik Tätigen daran zu orientieren, eine umfassende Hilfe zum Erwerb der zentralen Kompetenzbereiche für die Adressaten, insbesondere in schwierigen Übergangssituationen, anbieten zu können. Erst durch den Fokus auf die Lebensführungs- und die Lebensbewältigungskompetenz erhält die (Sozial-)Pädagogik nicht nur ihre Legitimation für ihr professionelles Handeln, ein
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begründbares, klares Ausbildungsprofil und einen allgemein anzuerkennenden Forschungsgegenstand, sondern sie wird dadurch auch professionsethischen Anforderungen gerecht, mit denen dem Anspruch einer partizipativen und humanistischen Grundorientierung im Sinne einer Hilfe zur Mündigkeit, Selbstbestimmung und selbsttätigen Lebensverwirklichung genüge getan wird (vgl. Schmidt 2010; vgl. Mührel 2010). Grund genug auch für Katrin Sill, den Forschungsfokus in vorliegender Studie gerade auf diese „Zwischenräume“ biographischen Werdens – oder anders formuliert: des sich in unterschiedlichen Stadien, Phasen und Entwicklungsstufen Suchens und Findens – zu justieren und danach zu fragen, inwiefern vor allem schulische Konzepte (wie z.B. das derzeit stark in die Diskussion geratene Ganztagsschulkonzept) dazu beitragen, mit Hilfe pädagogischer Paradigmen, wie bspw. Erziehung, Bildung und Betreuung, Übergänge von familiären Sozialräumen hin zu schulisch-institutionellen Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsräumen zu bewältigen. Dass eine solche Fragestellung, die dem erkenntnisleitenden Interesse von Katrin Sill entspricht, vor allem aus dem Blickwinkel einer Sozialpädagogik als wissenschaftliche Disziplin und als multifunktionale Profession getätigt werden muss, ist einerseits der Durchdringung sämtlicher Lebenswelt-Aspekte eben durch die Sozialpädagogik geschuldet, andererseits der Modernisierung dieser Disziplin, mit der das eiserne Bäumer´sche „Grundgesetz“, Sozialpädagogik wirke überall dort, wo es nicht um Schule und Familie gehe, in den – überspitzt formuliert – Dunst überholter Historie zu verbannen ist. Die Ausdifferenzierung und Spezifizierung einer Sozialpädagogik in alle, den Menschen und seine Entwicklung betreffenden Erkenntnis- und Lebenshorizonte offenbart demnach ebenso ein metatheoretisches, interdisziplinäres und transprofessionelles Profil der Sozialpädagogik, mit dem – heute mehr denn je – vor allem die Probleme und Fragestellungen aus dem Kernbereich der Familie und aus jenem der Schule zu dezidiert sozialpädagogischen Interessensgebieten werden. Dies auch deshalb, weil gerade die Sozialpädagogik schon immer zuständig dafür war, jene Lebensphasen forschend zu beschreiben, zu erklären und zu verstehen, die nun eben nicht – salopp formuliert – nach den Zielen und Wünschen der Bezugspersonen verlaufen, mit anderen Worten: die eine „Bewährung“ in unspezifischen Lebensläufen und -verläufen offenbaren, wodurch an diesen „Bruchstellen“ biographischen Werdens sozialpädagogische Hilfe zur Überbrückung (als Aufgabe und Funktionen transitionaler Intentionen) notwendig wird. Eine „Bewältigung von Transitionen“, wie es auch Katrin Sill attestiert, kann demzufolge als Arbeitsund Forschungsformel für jegliches Denken, Erkennen und auch Handeln innerhalb sozialpädagogischer Interessensfelder grundgelegt werden. Vollkommen zu Recht ist daher auch für eine zwingende und fruchtbare Koalition von Schule und Sozialpädagogik zu plädieren, auch für eine Kooperation schul- und sozialpädagogischer Denk- und Handlungslogiken, mit denen
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Übergänge „gelingend“ bewältigt und vielfältige Entwicklungsaufgaben, die an Ganztagsbetreuungskonzepte gestellt werden, gemeinsam angegangen werden können. Denn nicht nur die Schule, auch die Sozialpädagogik hat mit neuen gesellschaftlichen Konstellationen zu kämpfen, die auf den andauernden gesellschaftlichen Wandel zurück zu führen sind, und zu zwei neuen Phänomenen geführt hat: die Phänomene der entfremdeten Sozialräume und der desorientierten Lebenswelten (vgl. Mührel 2010), die als Hauptindikatoren auch für die (neuen) Schwierigkeiten bei Übergängen jeglicher Art gelten können. Gerade dort im Wissenschaftsbetrieb, wo die Erfolge einzelner Disziplinen neuerdings gänzlich von ihren naturwissenschaftlichen Kompatibilitäten und technologieorientierten „Logiken“ abhängig gemacht werden und wo wir auf entfremdete Sozialräume und desorientierte Lebenswelten treffen, wird die Philosophie und mit ihr: die Pädagogik, die sich mit wahrhaft „existentiellen“ Fragen beschäftigt, notwendiger denn je. Denn ihre Aufgabe besteht – nach wie vor – darin, nach Antworten zu suchen, die auf ein Gelingen des Alltags, auf eine gelingende Lebenswelt und Lebensführung, auf eine den jeweils von kritischen Lebensereignissen Betroffenen angemessene Hilfe abzielt. Dass wir alle, besonders im Blick auf unser Werden, auf unsere Entwicklung und auf unser Streben nach einem (Lebens-)Sinn nicht immer „reibungslos“ durch unsere Zeit und unseren (Lebens-)Raum wandeln, liegt auf der Hand. Nicht das Konstante, das routinemäßig Verlässliche und das Plan- und Kalkulierbare scheint als Charakteristikum „eigenen Lebens“ (vgl. Beck 1986) zutreffend zu sein, sondern vor allem – wie es Marquard (2000) formulieren würde – das „Schicksalshafte“ – oder, mit Jaspers gesprochen – das Existieren in Grenzsituationen, das direkt auf das eigentliche Wesen der Transitionen verweist. In solch unüberschaubaren Lebenswelten muss sich jeder Mensch stets neu „suchen“ (vgl. Rombach 1987). Und gerade deshalb, weil die biographisch bedingten Brüche heutzutage aufgrund vielfältiger Umstände und Gegebenheiten einfach nicht mehr enden zu wollen scheinen, wird die Frage nach den Brücken zwischen den einzelnen Lebensphasen und -abschnitten umso relevanter. Überspitzt formuliert ließen sich diese Gedankensplitter auch weiter denken in einer Hypothese, mit der zum Ausdruck kommen mag, dass es in der heutigen Welt gar nicht mehr darum geht, Fixpunkte zu schaffen (und individuell zu verteidigen), sondern adäquat „gerüstet“ zu sein und Kompetenzen zu erwerben, die „fluide“ Welt der Übergänge (von einem Lebensabschnitt zum nächsten) so unbeschadet und nutzbringend zu schaffen, wie nur möglich. Demnach dürfen wir das traditionelle Verständnis einer (Allgemeinen) Pädagogik, den Zeichen der Zeit gemäß, heute durchaus als verkürzt erachten, wenn diese davon ausgeht, vorwiegend eben für die Erziehung, Bildung und Betreuung ihrer Klientel exakt in den festen, ja sogar unabänderlichen Strukturen des Lebens zuständig zu sein
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und alles, was zwischen den fixen Strukturen geschieht, was dem Einzelnen widerfährt (Kamlah) in den Funktions- und Aufgabenbereich der Sozialpädagogik zu schieben, die – nach Schmidt (1994) – stets dann auf den Plan tritt, wenn es zu Bewährungskrisen kommt. Weitaus expliziter und umfassender sind da die sozialpädagogischen Reflexionen und Überlegungen von Katrin Sill zur Gegenstandsthematik der Transitionen in Abhängigkeit des „Bestandes“ familiärer und schulischer Instanzen. In ihrer Arbeit, die nicht nur genau dieses „Dazwischen“, diese Phasen der Bewährung und die Suche nach einer jeweils neuen Identität, ja sogar das sozialpädagogische Wesen der Grenzsituation als solche analysiert und in ihren Wesenseinheiten beschreibt, treffen wir auf ein genuin sozialpädagogisches Interesse, stabile, erkenntnis- und interventionsbezogene Brücken gerade für Brüche in der Biographie zu bauen, die sich – im Blick auf die von der Autorin extrahierte Adressatengruppe – zwischen den (Lebens-)Bereichen der Schule und der Familie ergeben. Sozialpädagogik ist das, was nicht Schule und Familie ist – konstatierte vor mehr als 80 Jahren Gertrud Bäumer. Doch ebenso, wie wir das (oben angedachte) Verständnis der Allgemeinen Pädagogik heutzutage relativieren müssen, ist auch diese Bäumer´sche Programmformel für eine moderne, interdisziplinäre und multiprofessionell agierende Sozialpädagogik, wie sie auch Katrin Sill in ihrer Studie konturiert, nicht mehr haltbar. Daher sei es auch erlaubt, eine neue Arbeits- und Programmformel für die zukünftige Sozialpädagogik Grund zu legen, die da lautet: Sozialpädagogik ist das, was Schule und Familie zusammenführt und – Stichwort: Transitionen – sinnvoll zueinander bringt. Mit diesen Grundlegungen sind nun diejenigen Basisvariablen genannt, die es erlauben zu attestieren, dass Katrin Sill mit ihrer Arbeit nicht nur die Sozialpädagogik in ihrer disziplinären und professionellen (pädagogischen) Identität neu definiert, sondern – mit den Transitionen – auch einen Gegenstandsbereich absteckt, der eine ganze Reihe anderer Gegenstandsbeschreibungen aus der scientific community gewissermaßen (dialektisch ausgedrückt) auf eine höhere, allgemein verbindliche Ebene „aufhebt“ und – so wollen wir hoffen – auf eine breite Zustimmung stoßen wird. Denn die klassische sozialpädagogischen Objektfokussierungen auf Bewährung, Krise, kritische Lebensereignisse, Lebensbewältigung, erschwerte Lebenslagen, Soziale Probleme, um nur einige zu nennen, erfahren in den Transitionen einen Zentralbegriff, der für eine zukünftige Entwicklung der Sozialpädagogik als Wissenschaft höchstes Potential enthält. Mit der Arbeit von Katrin Sill wird Pionierarbeit im Namen einer an den pädagogischen Prinzipien orientierten, transdisziplinären Sozialpädagogik geleistet, die das Wohl des Adressaten (hier: vor allem der Kinder, die zwischen den Lebensweltbereichen der Familie und der Schule stehen) in den Mittelpunkt
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ihres Erkennens und Handelns stellt. Damit trägt sie dem Rechnung, was bereits seit längerem zu beobachten ist: eine zunehmende „Sozialpädagogisierung“ derjenigen Professionen und Handlungsfelder, die lange Zeit außerhalb des sozialen Sektors lagen (vgl. Kessl & Otto 2007). Es bleibt nicht nur zu hoffen und zu wünschen, dass sich die sozialpädagogische Relevanz vieler gesellschaftlicher Teilbereiche und sozialer Fragen in Zukunft noch stärker durchsetzt, sondern vor allem, dass sich auch eine sozialpädagogische Transitionsforschung als neues und innovatives Forschungsparadigma der Sozialpädagogik als Wissenschaft etablieren kann. Der Anfang ist gemacht. Literaturhinweise Beck, U. (1986): Risikogesellschaft. Suhrkamp. Frankfurt/M. Birgmeier, B. (2005): Sozialpädagogik als Handlungswissenschaft. In: Sozialmagazin 5/2005. 38-45 Birgmeier, B. (2007): Handlung und Widerfahrnis. Lang. München Birgmeier, B. (2009): Theorie(n) der Sozialpädagogik – reloaded! In: Mührel, E./Birgmeier, B. (Hg.): Theorie(n) der Sozialpädagogik – ein Theorie-Dilemma? VS. Wiesbaden. 13-32 Birgmeier, B./Mührel, E. (2009) (Hg.): Die Sozialarbeitswissenschaft und ihre Theorie(n). VS. Wiesbaden Birgmeier, B./Mührel, E./Schmidt, H.-L. (2010) (Hg.): Sozialpädagogik und Integration. Blaue Eule. Essen Böhnisch, L. (2005): Sozialpädagogik der Lebensalter. Juventa. Weinheim Bollnow, O.F. (1983): Existenzphilosophie und Pädagogik. Kohlhammer. Stuttgart Boschert, R. (1987): Krise und Existenz. In: neue praxis 17/1987. 326-335 Derbolav, J. (1970): Frage und Anspruch. Henn. Wuppertal Derbolav, J. (1987): Grundriss einer Gesamtpädagogik. Diesterweg. Frankfurt/M. Dungs, S. (2009): Aporien der Theorieentwicklung Sozialer Arbeit angesichts der „Rückkehr der Natur“. In: Birgmeier, B./Mührel, E. (Hg.): Die Sozialarbeitswissenschaft und ihre Theorie(n). VS. Wiesbaden. 41-58 Gehlen, A. (1974): Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt. Athenaion. Frankfurt/M. Hundeck, M. (2009): Die Angst vor der Unverfügbarkeit und der Anspruch auf Autopoiesis. In: Birgmeier, B./Mührel, E. (Hg.): Die Sozialarbeitswissenschaft und ihre Theorie(n). VS. Wiesbaden. 279-290 Kessl, F./Otto, H.-U. (2007): Soziale Arbeit. In: Albrecht, G./Groenemeyer, A. (Hg.): Handbuch Soziale Probleme. VS. Wiesbaden Lenk, H. (1989): Handlung. In: Seiffert, H./Radnitzky, G. (Hg.): Handlexikon zur Wissenschaftstheorie. Ehrenwirth. München. 119-127 Marquard, O. (2000): Philosophie des Stattdessen. Reclam. Stuttgart. 30-49 Marquard, O. (2001): Homo compensator. Reclam. Stuttgart. 11-29
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Mührel, E. (2010): Entfremdete Sozialräume und desorientierte Lebenswelten. In: Birgmeier, B./Mührel, E./Schmidt, H.-L. (Hg.): Sozialpädagogik und Integration. Blaue Eule. Essen. 77-91 Mührel, E./Birgmeier, B. (2009): Theorien der Sozialpädagogik. VS. Wiesbaden Otto, H.-U./Ziegler, H. (2010) (Hg.): Capabilities – Handlungsbefähigung und Verwirklichungschancen in der Erziehungswissenschaft. VS. Wiesbaden Rombach, H. (1987): Strukturanthropologie. Alber. Freiburg/Br. Rombach, H. (1994): Phänomenologie des sozialen Lebens. Alber. Freiburg/Br. Schmidt, H.-L. (1981): Theorien der Sozialpädagogik. Schindele. Rheinstetten Schmidt, H.-L. (1994): Die „Janusköpfige Sozialpädagogik“. In: Fell, M./Hablitzel, H./ Wollenschläger, M. (Hg.): Erziehung – Bildung – Recht. Duncker & Humblot. Berlin. 182-206 Schmidt, H.-L. (1998): „Und so weiter – Warum gerade ich?“. In: Pelzl, C.: Psychoonkologische Fragestellungen und sozialpädagogischer Handlungsbedarf bei Krebserkrankungen. BPB. Eichstätt. V-XIX Schmidt, H.-L. (2010): Integration durch Partizipation. In: Birgmeier, B./Mührel, E./ Schmidt, H.-L. (Hg.): Sozialpädagogik und Integration. Blaue Eule. Essen. 197-220 Staub-Bernasconi, S. (1995): Systemtheorie, soziale Probleme und Soziale Arbeit. Haupt. Bern Stegmüller, W. (1989): Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Stuttgart Tillmann, J. (1994): Der Gegenstand der Sozialarbeitswissenschaft. In: Ev. FH Hannover (Hg.): Annäherungen an eine Sozialarbeitswissenschaft. Eigenverlag. Hannover. 65-76 Volz, F.R. (2009): „In aller Freundschaft“. In: Mührel, E./Birgmeier, B. (Hg.): Theorien der Sozialpädagogik – ein Theorie-Dilemma? VS. Wiesbaden. 287-305
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Zum Geleit
Danksagung
„Nicht in die Ferne verliere dich, den Augenblick ergreife, er ist dein.“ (Friedrich Schiller)
Es hat sich als eine gute und wohlbewährte Tradition erwiesen, zu Beginn der Dissertationsschrift all jenen Personen einen Dank auszusprechen, die das Zustandekommen der vorliegenden Arbeit unterstützt und mitgetragen haben. Daher sei mir erlaubt, im Folgenden eine Würdigung der mir in dem Prozess nahestehenden Begleiter vorzunehmen. Allen voran gebührt mein besonderer Dank Herrn Univ.-Prof. Dr. HansLudwig Schmidt, der mir die Option eröffnete, dieses Vorhaben zu realisieren. Mit seinen fachlich fundierten Anregungen und Hilfestellungen trug er stets dazu bei, inspirierende Gedankengänge zu entwerfen und erhellende Ein- und Ansichten zu erhalten. Des Weiteren galt er als Meister der Präzision, wenn es darum ging, undurchsichtige resp. diffuse Aspekte zu erörtern. Ihm schulde ich ein herzliches Dankeschön für die Zeit und Geduld, die er mir entgegenbrachte sowie für die offene und persönliche Atmosphäre des Miteinanders, die stets einen äußerst angenehmen Charakter trug. Danke möchte ich ihm auch dafür sagen, dass er mir aufgrund seiner Flexibilität und der mir zuerkannten Eigenverantwortlichkeit in meiner Arbeitsweise die Möglichkeit bot, die Dissertation mit meiner beruflichen Tätigkeit zu vereinbaren. Darüber hinaus bin ich Herrn PD Dr. Bernd Birgmeier überaus dankbar für sein großes Engagement in der Ko-Begleitung der vorliegenden Arbeit. Viele seiner wertvollen Hinweise und Ratschläge ließen diese gedeihen und wissenschaftliche Züge annehmen. Besonders die nachmittäglichen Kaffeeklatschrunden dienten dem gemeinsamen Austausch und erhöhten meine Produktivität erheblich, indem sie meiner Motivation Aufschwung leisteten. Einen herzlichen Dank sage ich ihm als treuem Gesprächspartner für seine Mühe und die vielen guten Gedanken sowie die netten Aufmerksamkeiten und die freundschaftliche Unterstützung. Eine weitere nennenswerte Person, die allerdings eher vorbereitend agierte, stellt mein Seminarlehrer während des 1. Referendariatsjahres, Herr Dr. Friedrich Seßler, dar. Ihm verdanke ich die Idee und den Anreiz zur Promotion sowie den Mut, die Kontaktaufnahme mit dem Lehrstuhl für Sozialpädagogik und Gesundheitspädagogik der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt zu wagen.
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Danksagung
Die von ihm geprägte Aussage, dass wir im Leben manche Chancen nur einmal erhalten, habe ich in diesem Zusammenhang verinnerlicht und sie hat mich dazu bewogen, die mir dargebotene Option in Anspruch zu nehmen. Ihm spreche ich dafür meine Dankesworte aus. Gleichermaßen möchte ich mich bei meinen Freundinnen – und beruflich Gleichgesinnten – Frau Brigitte Bum und Frau Isabell Bosch für die Anregungen und Ratschläge bedanken. Sie waren mir kompetente Ansprechpartnerinnen in orthographischen und stilistischen Fragen. Letztlich gilt mein Dank von ganzem Herzen den Personen, die mich in den alltäglichen Wirren er- und getragen haben. An erster Stelle gebührt meinem Mann Jochen für seine unermessliche Geduld, seine Nachsicht und Besonnenheit mein herzlichster Dank. Er hat der Entstehung der vorliegenden Arbeit aktiv Vorschub geleistet, indem er mich bei diesem Vorhaben stets rücksichtsvoll und empathisch unterstützte. Zudem stellte er für mich die Quelle der Ruhe und Energie gleichermaßen dar, aus der ich immer wieder Kraft schöpfen konnte. Besonders danke ich ihm für sein Verständnis bezüglich der Entbehrungen, die er und wir in dieser Zeit vornehmen mussten, und hoffe, dass die nun vorhandenen Freiräume dazu dienen können, entschädigend zu wirken. Abschließend spreche ich meiner Familie, die mir stets begleitend zur Seite stand, meinen großen Dank aus. Vor allem meine Eltern waren mir eine unverzichtbare Stütze und zugleich unentbehrliche Adressaten für Freude, Sorgen und Nöte. Für ihre guten Gedanken und ihr stilles Mittragen und Mitfühlen sei ihnen herzlichst gedankt.
Zur Einführung
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Zur Einführung Erziehung, Bildung und Betreuung im Spannungsfeld von Familie und Schule – Betrachtung des schulischen Ganztagsbetreuungskonzeptes aus sozialpädagogischer Perspektive im Hinblick auf die Bewältigung von Transitionen
Dass in unserer pluralistischen Gesellschaft nicht von einem verbindlichen Wertekonsens ausgegangen werden kann, lässt sich u.a. im schulischen Kontext in unterschiedlichen Bezügen erfahren. Die persönlichen Vorstellungen der Lehrkräfte vom Lehren und Lernen, beispielsweise in Bezug auf Disziplin, Leistungsbereitschaft, Selbstständigkeit oder Zuverlässigkeit, divergieren häufig mit den Ansprüchen der Schüler1 und Erziehungsberechtigten. In diesem Spannungsfeld unterschiedlicher Werteorientierungen ist festzustellen, dass sich vonseiten der Schüler zunehmend ein Wertevakuum verzeichnen lässt; d.h. ihnen fehlt ein umfassendes Repertoire an personalen und sozialen Grundkompetenzen, das ein entscheidendes Fundament für die schulische Erziehungsarbeit und das spätere Berufsleben darstellen würde. Fraglich erscheint es nun, aus welchen Gründen dieser Wertekanon schwindet und wie dieser Entwicklung im schulischen Kontext entgegengewirkt werden kann. Da sich Kinder und Jugendliche in der Schnittstelle zwischen familialer und öffentlicher Erziehung befinden, werden diese mit unterschiedlichen Ansprüchen und Erwartungen konfrontiert. Diese Divergenzen treten insbesondere bei Übergängen zwischen Familie und Schule auf, da sich das Kind als „Pendler“ (FURTNER-KALLMÜNZER 1983, S. 86) zwischen den Lebenswelten in unterschiedlichen Systemen bewegt, wobei Familie und Schule oft geteilte Werte vertreten. Die Erziehung innerhalb der Familie vollzieht sich dabei im Rahmen der Privatheit und gilt als „natürliches Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ (Art. 6 GG). Zugleich stellt Art. 6 GG die Institution Ehe und Familie unter den „besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“ und misst dem familialen Bereich somit eine besondere Bedeutsamkeit zu. 1
Aufgrund der besseren Lesbarkeit verzichte ich auf die Nennung der weiblichen und männlichen Form. Selbstverständlich schließt diese Formulierung das weibliche Pendant mit ein.
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Die Familie als primäre Sozialisationsinstanz ist an erster Stelle für die Erziehung und Bildung ihrer Kinder zuständig2 und somit „der zentrale Ort des Aufwachsens von Kindern“ (BMFSFJ 2002, S. 42)3. Sie gilt als „wesentlicher Kristallisationspunkt für die Vermittlung und Aneignung allgemeiner Lebensführungskompetenzen“ (BRAKE & BÜCHNER 2003, S. 629) und ist und bleibt die „wichtigste Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsinstanz“ (BMFSFJ 2005a, S. 341).4 Über die Weitergabe und Aneignung von kulturellem Kapital5 ermöglicht sie den Kindern kulturelle Teilhabefähigkeit; die Vermittlung von sozialem Kapital trägt dazu bei, soziale Anschlussfähigkeit zu eröffnen (vgl. BRAKE & BÜCHNER 2003).6 „Familien [… ] erbringen im Kontext ihres Mikromilieus und ihrer Alltagspraxis eigenständige, genuin familiale Bildungsleistungen, die für die einzelnen Familienmitglieder und deren kulturelle Teilhabe und soziale Anschlussfähigkeit ebenso von Bedeutung sind wie für den Fortbestand und die Weiterentwicklung des Humanvermögens in der Gesellschaft insgesamt“ (BRAKE & BÜCHNER 2003, S. 620f.).7
So gilt die Familie als der „ursprüngliche und begleitende Ort der Bildung von Humanvermögen“ (WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT FÜR FAMILIENFRAGEN 2002, S. 9). Dieser private Ort der Erziehung wird ergänzt durch die öffentliche Erziehung, die sich in Form der Institutionen Krippe, Kindergarten und Schule, die allesamt unter „der Aufsicht des Staates“ (Art. 7 GG) stehen, manifestiert. Um beide Systeme mit ihren Wertigkeiten aufeinander zu beziehen, bedarf es an den Schnittstellen einer so genannten Co-Konstruktion, einer Kultur der Gestaltung von Übergängen, die von Kommunikation und Interaktion getragen wird. Diese umfasst das soziale System, in dessen Mittelpunkt das Kind steht (vgl. GRIEBEL & NIESEL 2004; NIESEL & GRIEBEL 2006) und kann über die Verflechtung der Lebenswelten Familie und Schule gelingen (vgl. WELZER 1993; GRIEBEL & NIESEL 2004). Die beiden Systeme können dann stärker aufeinander bezogen werden, wenn eine Öffnung der Schule für die familiale Lebenswelt stattfindet, wobei sich die Schule in diesem Prozess von einer geschlossenen zu einer offenen Institution entwickelt. 2 3 4 5 6 7
„Bildung fängt in der Familie an“ (WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT FÜR FAMILIENFRAGEN 2002, S. 26). Diese Aussage wird im Nationalen Aktionsplan wieder aufgegriffen (vgl. BMFSFJ 2005a, S. 343). Auch BRAKE & BÜCHNER (2003) messen der Familie einen erheblichen Bildungseinfluss zu. Die Terminologie „kulturelles“ und „soziales Kapital“ wurde von BOURDIEU (1983) begründet. Die PISA-Studie (Programm for International Student Assessment) kommt zu dem Ergebnis, dass die Qualität des kulturellen und sozialen Kapitals, das Kinder in ihren Herkunftsfamilien erwerben, das schulische Lernen entscheidend beeinflusst. Bildung besitzt laut BRAKE & BÜCHNER somit „Investitionscharakter“ (2003, S. 627).
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In diesem Zusammenhang stellt sich jedoch die Frage, wodurch diese Öffnung für die Lebenswelt der Schüler veranlasst wird. Aufgrund des gesellschaftlichen (Werte-)Wandels (Individualisierungstendenz, neue Familiensituation, verändertes Umfeld für Heranwachsende usw.) führt die Bewältigung von Betreuungs- und Erziehungsaufgaben innerhalb der Familie zunehmend zu Schwierigkeiten. Erziehungsberechtigte verfügen immer seltener über ausgewogene und adäquate Erziehungsmaßnahmen, viele fühlen sich von der Erziehungsarbeit überfordert und haben nicht selten resigniert. Darüber hinaus trägt die sich verändernde Kindheit zu einer erhöhten Gewaltneigung und einem unkontrollierten Konsum- und Medienverhalten von Kindern und Jugendlichen bei (vgl. HOLTAPPELS 1994, 1995; BERGMANN 2001). Da in zunehmendem Maße viele Eltern den Erziehungsaufgaben nicht nachkommen (können), werden diese mehr und mehr auf die Schule verlagert. So gehört es auch zu den vielfachen, falschen Erwartungen, „daß viele Eltern ihre eigene pädagogische Verantwortung für ihre Kinder an der Schultüre abgeben in der Annahme, die Lehrer würden es schon richten, denn schließlich würden sie ja dafür bezahlt“ (GIESECKE 1996, S. 7). Somit wird die Schule vor die Herausforderung gestellt, formale, scholarisierte Bildung zu vermitteln und gleichzeitig Erziehungsarbeit zu leisten. Mit anderen Worten: „Das Versagen der familiären Erziehung macht eine Verstärkung der öffentlichen Erziehung erforderlich“ (PORTMANN 2004, S. 20). Einige der oben dargestellten problematischen Bereiche der Familienarbeit könnten tatsächlich zum Teil in den Schulalltag integriert bzw. vonseiten der Schule ergänzt werden. Dazu zählen insbesondere z.B. Mittagsversorgung, Hausaufgabenbetreuung, nachmittägliche Angebote mit Anregungen zur sinnvollen Freizeitgestaltung, soziales Lernen, Freizeit-, Konsum- und Medienerziehung. Die Schule als Ort des Lernens würde somit zugleich auch ihrem Erziehungsauftrag wieder stärker gerecht werden, dessen zentraler Bestandteil die Werteerziehung und Persönlichkeitsentwicklung darstellen, denn schließlich sollen Schulen „nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden“ (Art. 131 BV). Die Institution Schule als Lern-, Bildungsund Lebensort betont damit ihren Stellenwert – auch und vor allem – als Ort der Erziehung. Damit die Schule jedoch weiterhin eine familienergänzende Einrichtung bleibt und nicht als kompensatorische Insitution verstanden wird, dürfen der Familie die primären Sozialisations- und Erziehungsaufgaben nicht entzogen werden. Denn diese ist „durch die Unmittelbarkeit der familialen Erfahrungen, ihrer Verbindlichkeit und Verantwortlichkeit wie auch durch ihre emotionale Qualität ein ganz besonderer
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Bildungsort, der in der Nachhaltigkeit seiner Wirkung für die soziale Kapitalakkumulation der Familienmitglieder bedeutsamer sein dürfte als andere Bildungsorte außerhalb der Familie“ (BRAKE & BÜCHNER 2003, S. 633).
Die grundlegende Vermittlung von Umgangs-, Verhaltensformen und Werten sollte innerhalb der Familie stattfinden, da die Hauptverantwortung für die Erziehung bei den Eltern liegt. TEXTOR konstatiert, „dass der Einfluss der Familie auf den Schulerfolg größer ist als der Einfluss der Schule oder als der Einfluss von Kindmerkmalen. In ihren Familien erwerben Kinder die meisten psychomotorischen, sozialen, affektiven und sprachlichen Kompetenzen“ (2005, S. 28; Hervorh. d. Verf.).8 Aus diesem Grunde bedarf es der Unterstützung der Eltern, ihre erzieherischen Aufgaben umfassend wahrzunehmen, denn „Erziehung ist Voraussetzung für Bildung“ (BÜNDNIS FÜR FAMILIE DER STADT NÜRNBERG 2004, S. 76). Nur dann kann Schule ihren Bildungs- und Erziehungsauftrag erfüllen, wenn die wesentlichen Kulturtechniken der Kinder bereits in der Familie grundgelegt werden. Dies gelingt laut dem WISSENSCHAFTLICHEN BEIRAT FÜR FAMILIENFRAGEN allerdings nur, „wenn die Schüler auf hinreichende Stützressourcen aus der Herkunftsfamilie zurückgreifen können, d.h. wenn sie in einem Netzwerk sozialer Beziehungen heranwachsen, das den Kompetenzerwerb fördert und unterstützt“ (2002, S. 23).9 Weiterhin bedeutet dies, dass die Erziehungsarbeit der Eltern mit dem Schuleintritt nicht beendet ist. Im Sinne einer Verknüpfung der verschiedenen Lernorte ist ein offenes, konstruktives und vertrauensvolles Verhältnis zwischen Eltern und Schule nötig (siehe Art. 74-76 BayEUG), „denn die Schule ist auf die aktive Mithilfe der Eltern angewiesen, wenn sie erfolgreich arbeiten will“ (WIS10 SENSCHAFTLICHER BEIRAT FÜR FAMILIENFRAGEN 2002, S. 21) . Eine Zusammenarbeit kann gelingen, wenn zwischen Elternhaus und Schule ein reger Informationsaustausch stattfindet und die Kooperationsbemühungen von beiden Seiten verstärkt werden. An dieser Stelle wird der Fokus dezidiert darauf gerichtet, welche Desiderate beide Seiten äußern und wie die einzelnen Aspekte aufeinander abgestimmt und umgesetzt werden können. Zudem gilt es bei diesen Überlegungen kritisch zu hinterfragen, ob bzw. unter welchen Bedingungen die Eltern8 9
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Auch die Expertise von BRAKE & BÜCHNER (2003) ergab, dass Merkmale der Familie und die Qualität des häuslichen Anregungsniveaus in der Regel einen deutlich größeren Einfluss auf die Entwicklungs- und Bildungsprozesse von Kindern besitzen als außerfamiliale Bildungsorte. „Die Qualität der zugrunde liegenden Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern, die Dichte und die Intensität der intergenerationalen Kontakte bildet also die zentrale Stellgröße für die erfolgreiche Aneignung des in der Familie verfügbaren Humanvermögens“ (BRAKE & BÜCHNER 2003, S. 632). Der WISSENSCHAFTLICHE BEIRAT FÜR FAMILIENFRAGEN (2002) plädiert darüber hinaus für eine Kooperation aller am Bildungsgeschehen beteiligten Instanzen und Personen.
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erziehung an Bedeutung verliert und ob es überhaupt im Sinn der Schule sein kann, diesen Mangel entsprechend zu kompensieren. Denn abgesehen von der familialen Erziehung haben v.a. die Ergebnisse der PISA-Studie11 offenbart, dass das „deutsche“12 Schulsystem erhebliche Mängel aufweist, da es extrem selektiv ist. In kaum einem anderen Land hängt der Bildungsabschluss der Schüler in so gravierendem Maße von dem sozialen und ökonomischen Status der Herkunftsfamilie ab. Dabei spielen Einflussfaktoren wie die Familienform, die berufliche und finanzielle Situation, der Migrationshintergrund und die Bildungsaspiration der Eltern eine tragende Rolle (vgl. BAUMERT & SCHÜMER 2001). Da Kindheit jedoch weit mehr als Schulkindheit ist, wird neben dem schulischen Bildungserwerb hierbei auch der außerschulische Bereich in Betracht gezogen. Über diesen eignen sich Kinder Techniken an (nach BOURDIEU & PASSERON (1971) als „kulturelles und soziales Kapital“13 bezeichnet), die in ihrer weiteren Lebensbiographie zu relevanten Kriterien hinsichtlich Zugangschancen und Verteilungsmöglichkeiten werden. Resümierend ist festzuhalten, dass die sozialen Ungleichheiten sowohl im schulischen als auch im außerschulischen Bildungserwerb zu beträchtlichen Benachteiligungen der Schüler führen, die aus Herkunftsfamilien des unteren sozialen Milieus stammen, wohingegen Kinder und Jugendliche mit einer höheren familiären Stellung in Bezug auf den Erwerb von Bildung und Aneignung des kulturellen und sozialen Kapitals begünstigt sind. Um der Ungleichheit der Bildungschancen Einhalt zu gewähren, bedarf es Lösungsansätze, die die Wechselwirkung von schulischem und außerschulischem Bildungserwerb umfassend beleuchten, sowie politischer und pädagogischer Konzepte, die das Aufrechterhalten der Ungleichheit beseitigen und auch den so genannten „Verlierern des Bildungssystems“14 zur Chancengleichheit verhelfen. Die Bildungskommission hat dazu bereits am 30./31. Januar 1969 proklamiert: „Die Grundentscheidung für das Bildungswesen, über die allgemeingültige Einmütigkeit besteht, heißt Chancengleichheit und individuelle Begabungsförderung“ (DEUTSCHER BILDUNGSRAT 1969, S. 9). Die Übernahme obiger Aufgaben ist allerdings kaum in dem momentanen Curriculum von Unterricht und Schule unterzubringen. Alternativ erscheint das schulische Ganztagsbetreuungsangebot (vor allem auch im Bereich der Grundschule) als eine mögliche Lösungsvariante (vgl. APPEL et al. 2004; H.-J. HOLTAPPELS 2004), wenn für alle Beteiligten ein Gewinn entstehen soll. Die Familie 11 12 13 14
Die Abkürzung PISA steht für Programme for International Student Assessment der OECD. Der Vereinfachung wegen wird hierbei der Kollektivbegriff verwendet, wohl in dem Bewusstsein, dass in Deutschland aufgrund der Bildungshoheit der Länder nicht von einem einheitlichen Schulsystem ausgegangen werden kann. vgl. hierzu auch BÜCHNER (1996) Als „Bildungsverlierer“ gelten laut der Aussage der PISA-Studie 2000 vor allem Migrantenkinder und Kinder aus sozial schwachem Milieu.
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würde in ihrer kontinuierlichen familialen Betreuung entlastet, die aufgrund der gestiegenen Anzahl an Alleinerziehenden und der zunehmenden Berufstätigkeit beider Eltern nur bedingt vonseiten der Familie geleistet werden kann, und die Schule könnte ihrem Erziehungsauftrag konsequenter nachkommen und dem Kind bzw. Jugendlichen unentbehrliche Erfahrungen der Institution Schule als Lebens- und Sozialraum ermöglichen, wobei Ganztagsbetreuungsangebote nicht zwingend zu einem Verlust an Familienzeit führen müssen, sondern eine Entlastung und zugleich Bereicherung des Familienlebens vermögen. Denn „[b]ei gut ausgebildeten Betreuungspersonen und entsprechend gut ausgestatteten Betreuungsstätten kann von einer Förderung der intellektuellen und sozialen Entwicklung ausgegangen werden“ (vgl. FTHENAKIS 1989)15. Damit eine schulische Ganztagsbetreuung diese qualitativ hochwertige Arbeit leisten kann, bietet es sich an, den schulpädagogischen Blick auf die Erziehung durch eine sozialpädagogische Sicht zu erweitern. Der Bildungsauftrag der Schule bleibt dabei das originäre Feld der Schulpädagogik – der Erziehungsauftrag könnte jedoch von der Anreicherung durch die Sozialpädagogik in erheblichem Maße profitieren. Denn v.a. in den außerunterrichtlichen Betätigungsfeldern ist der Bedarf nach alternativen Disziplinen geboten. Die Sozialpädagogik erweist sich hierbei als eine gute Partnerin der Schulpädagogik. Nimmt man demzufolge eine Verknüpfung des Themas Ganztagsschule mit der Disziplin der Sozialpädagogik vor, ist kritisch zu hinterfragen, inwieweit sich eine ganztägige schulische Betreuung nicht ausschließlich im Feld der Schulpädagogik bewegt, sondern ihre Rechtfertigung vor allem aus der Sozialpädagogik erfährt. COELEN behauptet sogar: „Ohne Sozialpädagogik gäbe es in Deutschland kaum eine einzige Ganztagsschule“ (2007, S. 44). Denn die besondere Spezifität der Ganztagsschulkonzepte besteht in den außerunterrichtlichen Angeboten, die bisher weder einen Teil der schulischen, noch der elterlichen Erziehung bildeten, sondern in den Zuständigkeitsbereich der Jugendhilfe (z.B. Hortbetreuung) fielen. Bezieht man sich zudem auf die Definition von Sozialpädagogik, die „[… ] alles was Erziehung, aber nicht Familie und nicht Schule ist“ (BÄUMER 1929, S. 3) umfasst, ist offensichtlich, dass das Novum der Schule als Ganztagsschule ein zentrales Aufgabengebiet der Sozialpädagogik darstellt. Die Sozialpädagogik ist einmal mehr herausgefordert, die disziplinäre und professionelle Dichotomie aus Defizit- und Differenzansatz, die in weiten Teilen bereits überwunden ist, erneut zu überdenken (vgl. COELEN 2007), um den Fokus nicht einseitig auf die kompensatorische Funktion der schulischen bzw. außerschulischen Erziehung zu richten. Die Stärke der Sozialpädagogik – im Gegensatz zur empirischen Schulforschung – kann vor allem in der ganzheitlichen Sicht des Individuums, in der wechselseitigen Interaktion mit Institutionen be15
zit. n. ROLFF & ZIMMERMANN 1997, S. 23
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trachtet werden. Sie überschreitet damit die Grenzen der schulischen Organisation und impliziert die konstitutiven Elemente der ganztägigen Betreuung innerhalb des Schulsystems. Die abschließende Frage lautet somit: „Will die Sozialpädagogik helfen, die Schule zu verbessern (im Sinne des Defizitansatzes), oder will sie einen anderen ‚pädagogischen Ort’ [… ] bieten (Differenzansatz)? Setzt sie angesichts der sozial- und schulstrukturellen Benachteiligungen auf eine grundlegende Reform der Schule oder auf die nicht-formelle Identitätsbildung und ihre spannungsreiche Relation zur formellen Ausbildung?“ (COELEN 2007, S. 68).
Dieser Aspekt soll im Hinblick auf Ganztagsbetreuungsangebote aufgegriffen und kritisch reflektiert werden, nämlich ob die schulischen Bedingungen – auch auf die (sozial-)pädagogische Kompetenz des Schulsystems bezogen – dieser Herausforderung Stand halten und unter welchen Voraussetzungen die Umsetzung einer schulischen Ganztagsbetreuung sinnvoll und geeignet wäre. Die vorliegende Ausarbeitung strebt damit folgende Zielsetzungen an: An erster Stelle gilt es zu prüfen, inwieweit die momentanen Ausprägungen schulischer Ganztagsbetreuungsangebote die Entwicklungsaufgaben bei der Bewältigung von Transitionen berücksichtigen und Kinder bei einem erfolgreichen Übergang aus der Familie in die Schule unterstützen. Des Weiteren soll, ausgehend von dem Kind als „Pendler“ (FURTNERKALLMÜNZER 1983, S. 86) zwischen den Institutionen Familie und Schule, der Gedanke der Kontextualität der kindlichen Lebenswelten beleuchtet und mögliche Rahmenbedingungen für eine stärkere Kooperation ganztägiger schulischer Betreuungsmodelle mit außerschulischen Institutionen eruiert werden. Abschließend wird im Zusammenhang mit einer Öffnung von Schule der Beitrag der Sozialpädagogik diskutiert und im Sinne lebensweltlicher bzw. sozialräumlicher Konzepte Konturen einer dezidiert an der Sozialpädagogik orientierten Ganztagsbetreuung entworfen, die zu einem Gelingen der Transitionsbewältigung von Kindern aus der Familie in die Schule beitragen. In Kapitel 1 wird demzufolge ein Blick in die Vergangenheit der Ganztagsschule gewagt und eruiert, worin der verstärkte Bedarf nach ganztägigen schulischen Betreuungsformen begründet ist. Neben der Darstellung (bildungs-) politischer und (schul-)pädagogischer Argumente werden im Anschluss (sozial-) politische und (sozial-)pädagogische Begründungsmuster aufgeführt, um abschließend zu beleuchten, ob die Ganztagsschule tatsächlich die erstrebenswertere bzw. erstrebenswerteste Schulform darstellt. Worin die eigentlichen Merkmale und Zielsetzungen der zur Zeit diskutierten Ganztagsschulkonzepte bestehen, wird in Kapitel 2 erörtert, wobei gleichzeitig eine Differenzierung in die unterschiedlichen Formen, offene versus gebundene Organisation, vorgenommen wird.
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Im nächsten Kapitel wird ausgehend von der Begriffsbestimmung der Transition das weite Forschungsfeld eröffnet, das sich in diesem Zusammenhang erschließt. Insbesondere die Entwicklungsaufgaben werden hervorgehoben, die bei Übergängen zu bewältigen sind. So schließt dieser Teil des 3. Kapitels mit der Frage: „Transition – Risiko oder Chance?“ und stellt die entwicklungsfördernden sowie -hemmenden Faktoren der Transitionsbewältigung gegenüber, bevor die Übertragung auf den schulischen Kontext erfolgt. Detailliert wird beschrieben, worin für alle Beteiligten die eigentlichen Herausforderungen des Übergangs von der Familie in die Schule bestehen und die Fragestellung aufgeworfen, inwieweit die Bewältigung von Transitionen in Verbindung mit einer möglichen sozialen Selektion gebracht werden kann. Ein Rekurs auf die Resilienzforschung rundet das Kapitel ab, um zugleich einen Ausblick auf mögliche Ansatzpunkte zur Gestaltung von ganztägigen schulischen Betreuungskonzepten zu bieten. Kapitel 4 vereint die oben dargelegten Inhalte und prüft die bereits vorhandenen Rahmenbedingungen und Qualitätskriterien der Ganztagsschulkonzepte dahingehend, ob diese eine Bewältigung des Transitionsprozesses von Kindern und Jugendlichen begünstigen oder hemmen. Des Weiteren werden unter dem Aspekt einer „guten“ (Ganztags-)Schule idealtypische Bedingungen für die Realisierung der schulischen Ganztagsbetreuung hinsichtlich der Übergangsbewältigung konstruiert. So leitet die Suche nach Verbündeten zum folgenden Kapitel (5) über, in dem der sozialpädagogische Gedanke deutliche Berücksichtigung findet. Ausgehend von einer Einführung in die Disziplin der Sozialpädagogik wird ihr Beitrag im Zusammenhang mit der schulischen Betreuung berücksichtigt und konkrete Betätigungsfelder für ein schulisches Ganztagskonzept entworfen. Entsprechende empirische Ergebnisse untermauern diesen Entwurf. Schließlich bietet Kapitel 6 einen kurzen Einblick in die aktuellen Forschungstendenzen, nämlich der sozialräumlichen Dimension der Schule eine stärkere Bedeutung beizumessen und ihre Berücksichtigung in ganztägigen schulischen Betreuungskonzepten vermehrt zu forcieren. Mit der Frage „Quo vadis, (Ganztags-)Schule?“ schließt die vorliegende Arbeit und rundet den vorab dargelegten Themenkomplex in Form einer zukunftsperspektivischen Betrachtung ab. Zugleich bezieht das letzte Kapitel (7) kritisch Stellung und versucht damit auch eine gedankliche Auseinandersetzung des Lesers anzustoßen. Dementsprechend hoffe ich, anhand der aufgeworfenen Fragestellungen, die der konkreten empirischen Überprüfung bedürfen, einerseits einen wesentlichen Anstoß für weitere Forschungsvorhaben zu leisten, andererseits auch eine Bereicherung der Diskussionskultur hinsichtlich der sozialpädagogischen Verortung eines die Transitionsbewätigung unterstützenden Ganztagskonzeptes für die Schule zu ermöglichen.
1.1 Die Vorläufer der modernen Ganztagsschule
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1 Ein Blick in die Historie der Ganztagsschulentwicklung
1.1 Die Vorläufer der modernen Ganztagsschule Die Diskussion um Ganztagsschulen ist nicht erst seit den gesellschaftlichen Veränderungen der Moderne oder der Veröffentlichung der PISA-Studie entbrannt. Vielmehr wurde bereits 1963 von FURCK die Schule für das Jahr 2000 mit einem ganztägigen Bildungskonzept vorhergesagt und Elemente vorgesehen, die in den heutigen Überlegungen zur Struktur der Ganztagsschule ebenfalls Erwähnung finden: „Die Schule für das Jahr 2000 wird eine ‚Tagesheimschule’ von 8.00 bis 16.30 Uhr sein. Das bedeutet keineswegs, daß die Zahl der Unterrichtsstunden einfach vermehrt wird, sondern man wird Erfahrungen der Jugendpflege und der Gruppenpädagogik weitgehend berücksichtigen. Dazu gehört auch [… ] das gemeinsame Mittagessen, die Mittagsruhe, Sport und Spiel. Die neue Schule bietet individuelle Studienmöglichkeiten in Werkstatt, Labor oder Bibliothek. Sie ist offen für die Initiative der Schüler und ein Ort jugendgemäßen Lebens und Arbeitens“ (1963, S. 505).
Spätestens seit 1969 wird die ganztägige schulische Form proklamiert. Als die Bildungskommission des DEUTSCHEN BILDUNGSRATES ihre Empfehlungen zur Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen auf der 19. Sitzung am 30./31. Januar 1969 aussprach, begründete sie ihr Vorhaben folgendermaßen:
„Chancengleichheit für alle; Förderung des einzelnen gemäß Neigungen und Fähigkeiten; Vermeidung verfrühter Schullaufbahnentscheidungen und deren ständige Korrigierbarkeit; breites Fächerangebot entsprechend der Vielfalt der Begabungen und der Erfordernisse der Gesellschaft“ (DEUTSCHER BILDUNGSRAT 1969, S. 9).
Dem Motiv der sozialen Gerechtigkeit misst die Bildungskommission eine besondere Bedeutung zu.16 Zum einen „widerspricht [die soziale Selektion; K.S.] 16
Der Vorwurf lautet, die traditionell höheren Schulen seien in ihren Strukturen, Inhalten und Leistungsnormen sehr einseitig an den Fähigkeiten der Kinder aus der sozialen Mittel- und Oberschicht orientiert (vgl. ebd., S. 29).
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1 Ein Blick in die Historie der Ganztagsschulentwicklung
sowohl dem Grundrecht jedes Individuums auf die optimale Förderung seiner Fähigkeiten wie dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach einer qualitativen Vertiefung der Bildung einer möglichst großen Zahl von Schülern“ (ebd., S. 27). Zum anderen soll die Schule eine Chance darstellen, dass Kinder und Jugendliche unterschiedlicher gesellschaftlicher Milieus miteinander in Kontakt treten und voneinander lernen können. „Die Begegnung der verschiedenen Sozialschichten in einer gemeinsamen Schule kann vielmehr zur Entdeckung und zum Bewußtwerden der sozialen Unterschiede führen. Soziale Konflikte können artikuliert und gemeinsam diskutiert werden. Die Schüler gewinnen eher die Einsicht, daß die in der Familie selbstverständlichen Lebensformen nicht naturgegeben und unveränderlich sind. Die Distanz, die so gegenüber der eigenen Herkunft und den bisher unreflektierten Lebensformen gewonnen werden kann, kann zugunsten einer Individualisierung wirken“ (ebd., S. 30).
Um Schülern sämtlicher Bildungsschichten ähnliche oder als hehres Ziel sogar gleiche Zugangschancen zu eröffnen, wird der Fokus des Weiteren auf die individuelle Begabungsförderung gelegt, wodurch sich die Bildungskommission stärkere Erfolgserlebnisse und eine Erhöhung der Lernmotivation vonseiten der Schüler versprach. Da das Angebot der Gesamtschule als ein möglichst umfassendes Betreuungs- und Förderungskonzept angelegt ist, wurde vom DEUTSCHEN BILDUNGSRAT als Schlussfolgerung konstatiert, dass Gesamtschulen in der Regel als Ganztagsschulen installiert werden sollen. Wie sich die Diskussion um ein ganztägiges schulisches Konzept im Laufe der Zeit gestaltet hat, mögen die weiteren Ausführungen verdeutlichen. 1.2 Gründe für den Bedarf nach ganztägigen schulischen Konzepten Kaum ein anderes Thema genießt im momentanen Diskurs um Bildungsqualität so viel Aufmerksamkeit wie die Ganztagsschule. Und neben der Durchsetzung eines gesetzlich garantierten Anspruches auf einen Krippenplatz für jedes Kind wäre die Fortsetzung der ganztägigen Betreuung von Kindern auch in der Schule konsequent. Doch woher rührt die plötzlich gesteigerte Nachfrage nach einer ganztägigen schulischen Betreuung? Nach PRÜß ist die Ganztagsschule „ein mehrfaktorielles Ergebnis und damit der Versuch, den konstatierten Bildungsdefiziten, den bewusst gewordenen Erziehungsmängeln, den offensichtlichen Werteverlusten und den familialen sowie außerschulischen Betreuungsdefiziten zu begegnen“ (2007, S. 74f.). Darüber hinaus lassen sich folgende Facetten der Diskussi-
1.2 Gründe für den Bedarf nach ganztägigen schulischen Konzepten
33
on schlaglichtartig benennen: Die PISA-Studie, die deutschen Schülern einerseits ein defizitäres Bildungsniveau bescheinigt und dem deutschen Schulsystem andererseits eine enorme Selektionswirkung zuweist; der gesellschaftliche Wandel, der sich in neuen Familienmodellen und in veränderten Bedingungen im Aufwachsen von Kindern zeigt; die geschwächte Kompetenz der Eltern, die nicht erziehen können oder wollen (vgl. OTTWEILER 2005). Dabei muss kritisch angemerkt werden, dass „jedes halbwegs für wichtig gehaltene politisch-gesellschaftliche Problem – und davon gibt es wahrlich genug – zumindest auch als pädagogisches formuliert und damit zur Aufgabe der Schule erklärt [wird; K.S.]“ (GIESECKE 1996, S. 7; Hervorh. d. Verf.). Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) merkt im Zwölften Kinder- und Jugendbericht an: Die Ganztagsschulen „gelten vielmehr seit ein paar Jahren als eine zeitgemäße Antwort auf gewandelte Bedürfnisse von Eltern, Erwerbsarbeit und Erziehung von Kindern zu vereinbaren, auf neue Anforderungen und Erwartungen an die Bildung des Nachwuchses und auf eine bessere Förderung insbesondere von bildungsbenachteiligten Kindern und Jugendlichen“ (2005b, S. 306).
MACK hingegen beleuchtet den verstärkten Bedarf nach ganztägigen schulischen Konzepten aus der bildungspolitischen, familienpolitischen, sozialpolitischen und arbeitsmarktpolitischen Perspektive: „Hohe Erwartungen sind an Ganztagsschulen gerichtet, viele Ziele sollen mit dem Ausbau erreicht werden: bildungspolitisch sollen bessere Lernbedingungen geschaffen werden, damit Schülerinnen und Schüler in der Förderung ihrer Kompetenzen nicht hinter den Möglichkeiten zurückbleiben; familienpolitisch soll die Ganztagsschule durch ein verlässliches, öffentliches Betreuungsangebot Familien entlasten und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit ermöglichen; sozialpolitisch soll somit auch das Armutsrisiko von Familien verringert werden und arbeitsmarktpolitisch soll durch eine bessere Nutzung des Potenzials an Qualifikationen Arbeit und Beschäftigung gefördert werden. Bildung und Betreuung sind somit die beiden zentralen Leistungen, die von Ganztagsschulen erwartet werden“ (2007, S. 11).
Ausgehend von den Vorläufern der modernen Ganztagsschule wollen ganztägige schulische Einrichtungen die Bildungsaufgaben stärker wahrnehmen und die Innovation der Lernprozesse vorantreiben.17 Der DEUTSCHE BILDUNGSRAT (1969) führt im Zusammenhang mit dieser Argumentationslinie folgende Motive für die Versuche mit Ganztagsschulen an:
17
vgl. hierzu die „Qualifikationsfunktion“ der Ganztagsschule nach WEIDINGER (1983, S. 29ff.)
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1 Ein Blick in die Historie der Ganztagsschulentwicklung
Da die Familie nicht „alle notwendigen Tugenden des öffentlichen Verhaltens“ (ebd., S. 162) vermitteln kann, muss die Schule auf das Leben in der Gesellschaft vorbereiten. Da jedoch die Halbtagsschule einseitig auf die Vermittlung des Unterrichtsstoffes ausgerichtet ist, bedarf es der Einrichtung von Ganztagsschulen, um mehr Zeit und Möglichkeiten für andere Kommunikationsformen und Inhalte bereit zu stellen. Unser Schulsystem vermag die Bildungsunterschiede zwischen Kindern verschiedener sozialer Schichten nicht auszugleichen. Weil vielfach die Anregungen und Zugänge zu kulturellen Angeboten von familiärer und schulischer Seite fehlen, mangelt es Kindern aus sozial benachteiligten Schichten an Interesse daran, es existieren Sprachhindernisse und Bildungsschranken. Die Schule nimmt zudem eine Funktionsteilung vor, indem sie ihren Fokus ausschließlich auf den Unterricht richtet, während der Familie die Hausaufgabenbetreuung übertragen wird. Wiederum werden hier Motivierung, Anregungen und Arbeitshilfen vorausgesetzt, die überwiegend von Familien aus der Mittel- und Oberschicht geleistet werden können. In sozial benachteiligten oder bildungsfernen Schichten resultieren aus der Überforderung häufig Konflikte.18 Kinder, die aufgrund der Berufstätigkeit der Mutter bzw. beider Elternteile nur temporär betreut werden, benötigen weitere Angebote, um in ihren Schulleistungen die Unterstützung und Förderung zu erfahren, die Kindern in häuslicher Betreuung zugute kommt. Schüler sollen in der Ganztagsschule Arbeitsformen erlernen, auf die sie später im Berufsleben zurückgreifen können. Hierunter wird sowohl die Fähigkeit zur Einzelarbeit als auch in besonderem Maße die Bereitschaft zur Kooperation verstanden. Zudem wird der Schwerpunkt auf die Vermittlung rationeller und systematischer Arbeitstechniken gelegt. Die Tagesstruktur der Schule muss sich aufgrund veränderter didaktischer Lern- und Organisationsformen ändern, wobei die tageszeitbedingten physiologischen Leistungsschwankungen der Schüler Berücksichtigung finden sollten.
Der DEUTSCHE BILDUNGSRAT erwartete von der Ganztagsschule somit die Abmilderung sozialer und pädagogischer Problemfelder, wobei schwerpunktmäßig die veränderten Bildungsaufgaben der Schule Betonung fanden. Die Diskussion um den Bedarf nach Ganztagsschulen wurde hiermit eröffnet und bewegt sich bis heute im Spannungsfeld unterschiedlicher Begründungs18
In der Studie von PAETZOLD (1988) wird deutlich, dass die Hausaufgaben unabhängig von der sozialen Schicht zu häufigen Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Schulkind führen.
1.2 Gründe für den Bedarf nach ganztägigen schulischen Konzepten
35
linien19. Doch „woher kommt dieser Optimismus, dass die Ganztagsschule die ‚bessere’ Schule ist, wenn Wissenschaftler darauf verweisen, dass hinsichtlich der Entwicklung der kognitiven Leistungsfähigkeit von Schülern die Halbtagsschule zu gleichwertigen, wenn nicht sogar zu besseren schulischen Leistungen kommt?“ (PRÜß 2007, S. 74).20 Dieser Frage wird im Folgenden nachzugehen sein, wobei die anschließende Betrachtung der zu erörternden Argumentationen für einen stärkeren Ausbau von Ganztagsschulen der Systematik von OTTWEILER (2003, 2005) folgt, der eine Unterscheidung in (bildungs-)politische und (schul-)pädagogische sowie (sozial-)politische und (sozial-)pädagogische Begründungen vornimmt. Während HOLTAPPELS (1994) von der Dominanz sozialer Aspekte spricht, ist seit den Erkenntnissen der PISA-Studie eine Umkehrung im öffentlichen Diskurs um den Bedarf an Ganztagsschulen auszumachen, da bildungspolitische Argumentationen mehr Gewicht erhalten (vgl. APPEL & RUTZ 2005; ZELLER 200521; WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT FÜR FAMILIENFRAGEN 2006). „Fragt man, seit wann es denn in der Bundesrepublik wieder eine Diskussion über Ganztagsschulen, gar eine Ganztagsschulentwicklung gibt, so ist die Antwort einfach: seit PISA“ (TILLMANN 2005, S. 51).22 Die PISA-Studie hat mit der Forderung nach ganztägigen Betreuungsmodellen die Erwartungen geweckt, die Schule könne über die Öffnung des Unterrichts eine ganzheitliche Bildung für neue Lernformen realisieren. Gleichzeitig ist damit die Hoffnung verbunden, milieubedingte Unterschiede auszugleichen (v.a. im Hinblick auf Schüler mit Migrationshintergrund) und Chancengerechtigkeit herzustellen. Die Ganztagsschule wurde demzufolge „inszeniert als ein politisches Gerangel um publizistische Aufmerksamkeit und politische Zuständigkeiten“ (BRENNER 2006, S. 168), um den vernichtenden Ergebnissen der PISA-Studie eine möglichst schnelle, effektive Strategie entgegenzusetzen. Gleichzeitig wird sie damit zum „schulpolitischen Hoffnungsträger und Rettungsanker stilisiert“ (OTTWEILER 2003, S. 24). 19
20 21
22
vgl. überblicksartige Darstellung in der Einleitung, verfasst von den gleichnamigen Herausgebern, in PRÜß, F./KORTAS, S./SCHÖPA, M. (2008): Die Ganztagsschule: von der Theorie zur Praxis. Anforderungen und Perspektiven für Erziehungswissenschaft und Schulentwicklung. Weinheim/München. S. 9ff. Den fehlenden Zusammenhang zwischen Ganztagsschulsystem und gesteigertem Schulerfolg bzw. erhöhter Schulleistung beleuchten LUDWIG (1987, S. 140); STEINERT, SCHWEIZER & KLIEME (2003); HOLTAPPELS (2006b, S. 16); RADISCH, KLIEME & BOS (2006, S. 47f.). ZELLER, M. (2005): Stellungnahmen zur Ganztagsschule. Eine Synopse. Expertise für das Deutsche Jugendinstitut im Rahmen des Projekts Ganztagsangebote im Schulalter. Unveröffentlichtes Manuskript (zit. n. BMFSFJ 2005b, S. 307). In einer überarbeiteten Version ist dieses von ZELLER im Jahre 2007 erschienen: ZELLER, M. (Hg.) (2007): Die sozialpädagogische Verantwortung der Schule. Kooperation von Ganztagsschule und Jugendhilfe. Baltmannsweiler. PRÜß vertritt die Meinung dass die PISA-Studie nur den „kumulierten Anlass“ (2007, S. 74) darstellte, um über die Struktur des „deutschen“ Schulsystems erneut nachzudenken.
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1 Ein Blick in die Historie der Ganztagsschulentwicklung
Da der verstärkte Ausbau des Ganztagsschulsystems als „notwendige bildungspolitische Aktivität“ (KUHLMANN & TILLMANN 2009, S. 36) hervorgehoben wird, werden die (bildungs-)politischen und (schul-)pädagogischen Begründungen, abweichend von der Abfolge, die OTTWEILER (2003, 2005) vornimmt, an erster Stelle behandelt. 1.2.1 (Bildungs-)politische und (schul-)pädagogische Begründungen Ausgehend von den Ergebnissen der PISA-Studie verspricht die Ganztagsschule eine Linderung der Schulmisere23 bzw. der „PISA-Misere“ (OTTWEILER 2003, S. 24), da sie „mehr Chancen zu besserer pädagogischer Effizienz und Qualität“ (BARGEL & KUTHE 1991, S. 187) bietet. Im Sinne eines erweiterten Bildungsverständnisses trägt das Ganztagsschulsystem zur Optimierung der Lernkultur bei, die jeden Schüler, unabhängig von seiner familiären bzw. sozialen Herkunft, berücksichtigt. Über eine stärkere individuelle Förderung begünstigt es darüber hinaus die Verbesserung der Bildungschancen aller Schüler. Diese Qualitätssteigerung von Schule kann jedoch nur gelingen, wenn eine grundsätzliche Reformierung der schulischen Organisation vollzogen wird. Ausführlich seien diese (bildungs-)politischen und (schul-) pädagogischen Begründungen nachfolgend erörtert.24 1.2.1.1
Optimierung der Lernkultur
Aufgrund des Ausmaßes des Scheiterns und der sozialen Auslese muss fördernde Hilfe über eine Differenzierung der Lernkultur und eine erhöhte Förderungsintensität im schulischen Kontext geboten werden (vgl. HOLTAPPELS 2007). Eine ganztägige Betreuung vermag die Schüler aufgrund der erweiterten Lernzeit auch individueller und differenzierter zu fördern. Somit können Begabungen gestärkt und Benachteiligungen ausgeglichen (vgl. HOLTAPPELS 2006b) sowie die Lernergebnisse gesteigert und Kompetenzen verbessert werden (vgl. BMFSFJ 2005b). „Die gemeinsame Anstrengung von Bund und Ländern zur flächendeckenden Einführung von Ganztagsangeboten in Deutschland verfolgt weiterhin das Ziel, eine 23 24
Das Investitionsprogramm IZBB („Zukunft Bildung und Betreuung“) stellt eine „bildungspolitische Antwort“ (BMFSFJ 2005b, S. 308) der Bundesregierung auf die PISA-Studie dar. Eine ausführliche Gegenüberstellung der bildungspolitischen Pro- und Contra-Argumente zur Ganztagsschule findet sich darüber hinaus in KIPER (2005, S. 179f.).
1.2 Gründe für den Bedarf nach ganztägigen schulischen Konzepten
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bessere und frühere individuelle Förderung aller Schülerinnen und Schüler zu ermöglichen und die nachgewiesen hohe Koppelung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg aufzulösen. Vor dem Hintergrund der schlechten PISA-Ergebnisse geht es aber auch darum: das deutsche Bildungssystem im internationalen Bildungswettbewerb wieder nach vorne zu bringen, es unter die bestplatzierten Bildungsnationen einzureihen“ (ZICKGRAF 2006, S. 19).
Das Ganztagsschulsystem stellt somit eine Reaktion auf die gewandelten Bildungsanforderungen dar, indem es der Qualifikationsfunktion von Schule stärker nachkommt (vgl. COELEN 2007). Da Schüler immer
„seltener und weniger bereit und fähig sind, sich zu bilden, also dauerhaft und fest diejenigen Kenntnisse zu erwerben und kognitiven Fähigkeiten zu entwickeln, die in den Zielen der Schule formuliert sind, und derer der Arbeitsprozeß bedarf, seltener und weniger bereit und fähig sind, zu arbeiten, d.h., sich auf eine Tätigkeitsform einzulassen, die sich der spontanen Bewältigung sperrt, die also Zeit und Kraft kostet und Aufmerksamkeit verlangt, seltener und weniger bereit und fähig sind, sich sozial zu verhalten, also Regeln des Zusammenlebens einzuhalten, sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen, auf ihn Rücksicht zu nehmen, Gemeinschaft zu pflegen und zusammenzuarbeiten – im Gegenteil: In der Regel geht es darum, sich selbst aggressiv durchzusetzen“ (HENSEL 1995, S. 25),
müssen diese Tugenden in der Schule wieder vermehrt angebahnt werden. Denn zum einen ist eine Tendenz zu höheren Bildungsabschlüssen zu beobachten (Stichwort: „Hauptschule als Restschule“), zum anderen werden über die in der Schule vermittelten fachlichen Inhalte weitere Kompetenzen notwendig, um sich im späteren (Berufs-)Leben bewähren zu können. Darunter sind im Einzelnen die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen, erfahrungsbezogenes Lernen und die Bearbeitung zentraler Lebensfragen zu subsummieren, die andere Unterrichtsmethoden und Zeitstrukturen (vgl. HOLTAPPELS 2006b; APPEL 2008) sowie ein ganzheitliches Bildungsangebot erforderlich machen (vgl. ZELLER 2007a). Diese bildungssoziologische Begründungslinie wird auch von H.G. HOLTAPPELS (1994, 2004) unterstützt, der im Hinblick auf die schulische Funktion der sozialen Auslese25, die vermehrten Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten und somit einem Anstieg der Schulversagerquote an die ganztägige schulische Betreuung die Erwartung richtet, dass mit der Hausaufgabenbetreuung, individu-
25
In diesem Zusammenhang ist die Bildungsbenachteiligung von Migranten- und Arbeiterkindern sowie die Selektion von Kindern, die sonderpädagogischer Förderung bedürfen, zu nennen.
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ellen Förderprogrammen und speziellen Hilfsangeboten einerseits die Leistungen der Schüler verbessert26 und Chancengleichheit27 hergestellt, andererseits die elterlichen Unterstützungsleistungen minimiert werden könnten, wodurch auch eine Entlastung von Problemen erreicht würde. Allerdings müsse dafür der nötige zeitliche Rahmen, verbunden mit einem höheren Aufwand an finanziellen Mitteln, zur Verfügung gestellt werden, denn „eine kindgemäße Entwicklung, kindgemäßes Erkennen und Lernen brauchen mehr Zeit, als an Halbtagsschulen üblicherweise zur Verfügung steht“ (RICHTER 2004, S. 87).28 1.2.1.2
Herstellung von Chancengleichheit
Kinder aus bildungsfernen Schichten, einschließlich Migrantenkinder, sollen Aktivierung und Förderung erfahren sowie deren Erziehungsdefizite aufgearbeitet werden (vgl. RICHTER 2004), indem gesellschaftlich bedingte Benachteiligungen abgebaut und vorhandene Begabungsreserven besser ausschöpft werden.29 Somit tragen ganztägige schulische Konzepte zu einem Abbau sozialer Selektionshürden und über die „Durchbrechung der ‚sozialen Vererbung’“ (OTTO & COELEN 2004, S. 7) zu einer Minimierung von Chancenungleichheit bei (vgl. LUDWIG 1987; POPP 2006). Die Bildungspolitik stellt sich somit auch als Gesellschaftspolitik dar (vgl. SÜNKER 2004). Aus dieser Argumentation dürfe jedoch nicht abgeleitet werden, dass ganztägige schulische Betreuungsmodelle ausschließlich für Kinder mit individuellen (bezogen auf die Verhaltens- oder Leistungsebene), herkunftsbedingten, familiären und/oder sozialen Problemlagen bestimmt seien. „Eine Ganztagsschule als ‚Defizitschule’ für Bedürftige mit kompensatorischem Charakter ist weder zeitgemäß noch richtungsweisend“ (POPP 2006, S. 182). POPP (2006) und APPEL (2008) heben in diesem Zusammenhang hervor, dass an Ganztagsschulen auch leistungsstarken Schülern eine entsprechende Förderung zukommen muss. Als Folgerung spricht sich der WISSENSCHAFTLICHE BEIRAT FÜR FAMILIENFRAGEN (2006) für die Ganztagsschule als Regelangebot aus und forciert die Förderung der Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen (nicht nur im Sinne einer kompensatorischen Wirkung) sowie die qualitative Verbesse26 27 28 29
Hierdurch verspricht sich das BMFSFJ (2005b) eine drastische Senkung der Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss. Durch diese soll die gesellschaftliche Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen gewährleistet werden (vgl. BMFSFJ 2005b). vgl. auch APPEL (2008) Der Beseitigung der Benachteiligung bei der schulischen und sozialen Integration im Rahmen der Diskussion um die Ganztagsschule messen auch BARGEL & KUTHE (1991) und APPEL (2003, 2008) eine erhebliche Evidenz zu.
1.2 Gründe für den Bedarf nach ganztägigen schulischen Konzepten
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rung der Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen. „Die Ganztagsschule ist ein Bildungsangebot mit einer ausgeprägten inhaltlichen Qualität“ (STMUK 2008, S. 4). Aufgrund der erweiterten Bildungs- und Fördermöglichkeiten gilt die Ganztagsschule auch als eine besondere Möglichkeit, um Benachteiligungen aufgrund der sozialen Herkunft auszugleichen und einer „Bildungsarmut“ (WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT FÜR FAMILIENFRAGEN 2006, S. 20) entgegenzuwirken. Zusammenfassend wird daher für „die Sicherung eines verbesserten gesamtgesellschaftlichen Humanvermögens“ (ebd., S. 96) plädiert. 1.2.1.3
Die Notwendigkeit einer Reformierung der Schule
Um das Humanvermögen zu formen, bedarf es aufgrund der gewandelten Bildungsanforderungen einer Reformierung der Schule. „Ganztagsschulen werden somit als Chance für die pädagogische Schulentwicklung begriffen“ (HOLTAPPELS 1994, S. 19), die die Rahmenbedingungen schulischen Lernens verändert (vgl. ZELLER 2007a). „Die Schule soll wegkommen von der autoritären Stoffvermittlung, soll mit vielfältigen Arbeitsformen Selbständigkeit und soziale Kompetenz fördern – und benötigt dafür einen umfangreicheren zeitlichen Rahmen“ (TILLMANN 2006, S. 36)30. Allein der zeitliche Rahmen ist allerdings nicht entscheidend dafür, dass Erziehung, Bildung und Betreuung in der Ganztagsschule besser als an Halbtagsschulen gelingen kann. Gefordert wird eine „ganzheitliche Menschenbildung“ (LUDWIG 1987, S. 130), die eine grundlegende Umstrukturierung des pädagogischen Konzeptes nach sich zieht. „An die Schule ist der Anspruch gestellt, ein Ort des Lernens (bzw. Entwicklung kognitiver Leistungsfähigkeiten), ein Ort des Prägens (bzw. Entwicklung demokratischer Verhaltensweisen) und ein Ort des Schutzes (bzw. Sicherung von Unterstützung und Abwehr von Gefährdungen) sein zu können. Dieses alles kann die herkömmliche Schule unter den sich im Laufe der Zeit veränderten familialen, schulischen, strukturellen und gesellschaftlichen Bedingungen nicht oder nicht mehr erfüllen“ (PRÜß 2007, S. 75).
Die Veränderungen, die der gesellschaftliche und familiale Wandel mit sich bringt31, stellen an das Schulsystem vielfältige Herausforderungen, die im Rahmen der halbtägigen Betreuung nicht geleistet werden können. Daher beziehen 30 31
TILLMANN gibt darüber hinaus zu bedenken, dass alle profilierten Reformschulen als Ganztagsschulen geführt werden (2005, S. 51). „Der Bildungsnotstand ist eine Folge des Erziehungsnotstandes“ (BUEB 2007, S. 155).
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die Verfechter eines ganztägigen schulischen Konzeptes im Besonderen hieraus ihre Rechtfertigung. BRENNER prangert jedoch an, dass der Anstoß zur Diskussion um die Ganztagsschule weniger in einer Leistungssteigerung der Schüler bestand, sondern vielmehr als Entlastung der Familien von ihren Kindern gesehen werden kann: „Die Ganztagsschule ist weniger eine Schule vom Kinde aus als eine Schule von den Eltern aus“ (2006, S. 169). Die Schulpolitik findet sich somit wieder in einem Agglomerat von Familien-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, das im folgenden Gliederungspunkt beleuchtet wird. 1.2.2 (Sozial-)politische und (sozial-)pädagogische Begründungen IPFLING empfahl bereits 1981 die Ganztagsschule für folgendes Schülerklientel: „Kinder aus unvollständigen Familien; Kinder, deren beide Elternteile berufstätig sind; Kinder aus Familien, die nur eine sehr eingeschränkte Anregungsumwelt bieten (können); Kinder, die von zu Hause in stärkerem Maße zur Mitarbeit (im Betrieb, in der Landwirtschaft etc.) herangezogen und dadurch von der Wahrnehmung von Bildungsangeboten abgehalten werden; Kinder, die zu wenig Gelegenheit haben, Spielkameraden zu finden; behinderte Kinder, die umfangreicher Förderung bedürfen“ (1981, S. 74f.).32
Mit Blick auf die momentane Diskussion lässt sich erkennen, dass sich – mit Ausnahme der Kinder, die als zusätzliche Arbeitskraft im häuslichen Betrieb benötigt werden, – die von IPFLING genannten Begründungsmuster wiederfinden. Für Kinder mit berufstätigen Eltern zeigt die Neuausrichtung der Erwerbs- und Betreuungsstruktur ihre Auswirkungen. Kinder aus unvollständigen Familien erleben einen Wandel der Familiensituation, verbunden mit veränderten Formen des Zusammenlebens. Das neustrukturierte Umfeld für Heranwachsende dokumentiert sich vorrangig in dem Verlust von Sozialkontakten und in einem Schwinden von Erfahrungsräumen. Darüber hinaus lassen sich im Freizeitverhalten von Kindern und Jugendlichen (überwiegend destruktive) Veränderungen feststellen. Für Kinder, die im häuslichen Umfeld zu wenig bzw. keine Aufmerksamkeit erhalten oder deren Eltern keine individuelle Förderung (beispielsweise bei Verhaltensauffälligkeiten, psychischen Störungen, Behinderungen) leisten können, macht sich das veränderte Erziehungsverhalten bemerkbar. In eben dargestellter Auflistung werden die angesprochenen gesellschaftlichen Veränderungen analysiert, die der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht als „Entgrenzung von Bildung, Betreuung und Erziehung“ (BMFSFJ 2005b, S. 73f.) 32
BARGEL & KUTHE (1991) kritisierten an dieser Auflistung, dass es sich um eine Zuweisung von „Problemgruppen“ handle.
1.2 Gründe für den Bedarf nach ganztägigen schulischen Konzepten
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beschreibt, und daraus die Begründungsmuster bzw. der Bedarf nach ganztägigen schulischen Betreuungsangeboten abgeleitet, bevor in einem letzten Schritt eine kurze Zwischenbilanz gezogen wird. Vorab fasst HENSEL, aus seinen langjährigen eigenen Erfahrungen als Lehrkraft, seine Beobachtungen über die „neuen Schüler“33 in den Eingangsklassen pointiert – wenn auch, wie er es selbst formuliert, in „plakativer Verallgemeinerung“ (1995, S. 21) – als gedankliche Einstimmung zusammen:34 „Es ist häufiger ein Junge als ein Mädchen, hat keine Geschwister. Die Eltern des Kindes leben nebeneinander her oder sind geschieden. In diesem Fall lebt es bei der Mutter. Familienerziehung hat es kaum erfahren. Es erinnert sich daran, daß Familie Streit, auch männliche Gewalt und Alkoholmißbrauch bedeutet. Zeitweise lebt es bei den Großeltern oder wird sonstwo verwahrt. Zumeist fehlt Geld. Allerdings kommt auch materielle Überversorgung vor. Beide Male fehlt es an Zuwendung. Der abwesende Vater und die anwesende Mutter kümmern sich kaum um ihr Kind. Es lebt neben der Mutter her und hört nicht auf sie. Täglich sieht es viele Stunden fern. Der Konsum von Sex-Filmen und auch pornographischen Filmen ist ihm nicht fremd. Sein Frauen-Bild – wenn es ein Junge ist –, seine Vorstellungen von Sexualität und Liebe bilden sich durch den Konsum entsprechender Fernsehfilme und Videos. Horror- und Action-Filme sind seine tägliche Zerstreuung. Es bleibt abends lange auf und ist morgens müde. Nicht selten kommt es zu spät zur Schule. Nicht selten hat es nicht gefrühstückt, hat es keine Pausenbrote mit. Die Hausaufgaben hat es nicht oder nur zum Teil gemacht. Lernergebnisse, die durch Memorieren erfolgen und zu sichern sind, sind ihm nicht abzuverlangen. In der Regel fehlt ihm Schulmaterial wie Papier, Stifte usw., zumindest ist dies nur zum Teil vorhanden und schadhaft. Allerdings hat es oft elektronisches Spielzeug dabei. Den Unterricht findet es langweilig, und das sagt es den Lehrkräften auch, und zwar vor, während und nach dem Unterricht. Es gibt kaum ein Thema und kaum eine Unterrichtsmethode, die ihn Unterricht interessant finden läßt. Demzufolge unterhält es sich während des Unterrichts, ruft in die Klasse hinein, hält keine Regeln des Umgangs ein. Wenn die Schule zu einer Veranstaltung einlädt, vergessen Kind und Mutter die Rückmeldung. Zahlungen erfolgen verspätet und nach zahlreichen Mahnungen. Im allgemeinen ist es nicht bereit, eine Anweisung zu akzeptieren; die Lehrkräfte müssen ihm ein und dasselbe mehrmals nacheinander sagen, ehe es dies wahrnimmt – was noch nicht bedeutet, daß es Anweisungen befolgt. Gelegentlich entscheidet es, nicht mehr mitzuarbeiten, packt seine Tasche eine Viertelstunde vor Unterrichtsende und sagt: Ich habe keine Lust mehr. Es sehnt sich nach Anerkennung und hat gar nicht vor, faul zu sein oder sich asozial zu verhalten; es ist nur so, daß es nicht anders kann, daß es sich nicht 33 34
HENSEL bringt mit der Bezeichnung „neue Kinder“ im Sinne einer Sammelkategorie zum Ausdruck, dass (Schul-)Kinder in unserer heutigen Zeit neues, teilweise befremdliches Verhalten aufweisen. Aus Gründen der Vollständigkeit sei an dieser Stelle erlaubt, obgleich der Länge des Zitates keine Kürzungen vorzunehmen, um HENSELS Einschätzungen in seiner umfassenden und treffenden Weise abbilden zu können.
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steuern kann, daß es jeder Empfindung sofort nachgeben und jeder Anstrengung aus dem Weg gehen muß. Was es tut, muß Spaß machen und leicht sein. Es wird aggressiv, wenn es im Ausleben seiner Individualität behindert wird – als Junge häufiger denn als Mädchen. Seine Noten sind ausreichend bis mangelhaft. Seine Schrift ist kaum zu entziffern. Später will es viel Geld verdienen“ (ebd., S. 21f.).
1.2.2.1
Neuausrichtung der Erwerbs- und Betreuungsstruktur
Bereits die Vorläufer der modernen Ganztagsschule führten Legitimationsgrundlagen für ihre Berechtigung an. Ein Blick auf die Begründungsmuster der Vergangenheit lässt Parallelen zur derzeitigen Diskussion erkennen. Nach LOHMANN bildete die Berufstätigkeit der Mutter „das wichtigste soziale Motiv, mit dem seit den letzten Jahren die Notwendigkeit einer Ganztagsschule begründet wird“ (1965, S. 115). Neben den aufgrund des volltechnisierten Haushaltes weniger zeitaufwändigen häuslichen Tätigkeiten und dem Bedürfnis, den erlernten Beruf auch tatsächlich auszuüben, nannte LOHMANN den Wunsch nach Unabhängigkeit sowie aus finanzieller Hinsicht die Notwendigkeit zur Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit bzw. die Erhaltung und Steigerung des erreichten Lebensstandards. Wenn Mütter nun in verstärktem Maße einer Erwerbstätigkeit nachgehen und ganztägig berufstätig sind, ergibt sich das Problem der Betreuung der schulpflichtigen Kinder, das LINDE treffend beschreibt: „Als Prototyp des häuslich unzureichend besorgten Kindes erscheint in einschlägigen Publikationen immer wieder das Schlüsselkind, welches nach Schulschluß in der elterlichen Wohnung keinen Erwachsenen antrifft, aber doch auf die Wohnung als seinen Aufenthaltsort verwiesen ist, also nicht bei Verwandten, Bekannten als Verwahrkind oder in einer Tagesstätte als Hortkind aufgehoben ist“ (1963, S. 24; Hervorh. d. Verf.).
Für die so genannten „Schlüsselkinder“ sollte durch die Einrichtung von Ganztagsschulen die fehlende häusliche Betreuung am Nachmittag sichergestellt werden, bei „Verwahr- und Hortkindern“ die Pendelsituation bzw. Dreiteilung der Lebens- und Aufenthaltsorte zwischen Familie, Schule und Hort bzw. einer anderen Betreuungsperson aufgehoben werden (vgl. LOHMANN 1965). Aus sozialpolitischer Perspektive begründete auch LUDWIG (1987) im Zusammenhang mit der Diskussion um Gesamtschulen, die als Ganztagsschulen geführt werden sollten, die Einführung einer ganztägigen Betreuungsform mit der verlässlichen Versorgung der Kinder, um die Familien zu entlasten. Die damalige Zielsetzung entsprang u.a. aufgrund des verstärkten Wunsches der Mütter nach Erwerbstätigkeit und spiegelt sich in der Neuordnung der fami-
1.2 Gründe für den Bedarf nach ganztägigen schulischen Konzepten
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liären Rollenstruktur in Verbindung mit einer sich verändernden Erwerbsstruktur auch bis zum heutigen Zeitpunkt wider (vgl. LUDWIG 1993a, S. 4f.). Somit wird an dieser Argumentationslinie in der Diskussion um den vermehrten Bedarf nach Ganztagsschulen festgehalten (vgl. HOLTAPPELS 1994, 1995, 2006a; BERGMANN 2001; APPEL & RUTZ 2005; WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT FÜR FAMILIENFRAGEN 2006; ZELLER 2007a35), auch wenn die Zielrichtung vonseiten der Bundesregierung aufgrund demographischer Aspekte latent flankiert wird von der Absicht, den Wunsch und die Bereitschaft (zumeist bildungsnaher Eltern) nach Familiengründung zu verstärken (vgl. WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT FÜR FAMILIENFRAGEN 2006). Aufgrund steigender Erwerbsquoten von Frauen und Müttern ist eine verlässliche und konstante Betreuung v.a. schulpflichtiger Kinder vonnöten. Mit einem ganztägigen schulischen Konzept trägt man einerseits dem Bedürfnis der Frauen nach (Wieder-)Aufnahme der Berufstätigkeit (z.B. nach der Elternzeit) Rechnung, andererseits wird damit auch Chancengleichheit in Bezug auf die berufliche Anstellung eingefordert (vgl. BARGEL & KUTHE 1991) und deren Potenzial für den Arbeitsmarkt erkannt. Ganztagsschulen bieten somit Betreuung und erzieherische Unterstützung von Eltern, um deren Verfügbarkeit auf dem Arbeitsmarkt zu sichern und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu gewährleisten (vgl. RICHTER 2004; BMFSFJ 2005b; COELEN 2007), wodurch das Erwerbspotenzial besser ausgeschöpft wird (vgl. WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT FÜR FAMILIENFRAGEN 2006) sowie angemessene (emanzipatorische) Formen familiärer Arbeitsteilung ermöglicht werden (vgl. HOLTAPPELS 1994; STMUK 2008). Sie mildern hiermit zugleich die Entstehung sozio-ökonomischer Ungleichheiten aufgrund der erzieherischen Versorgung ab und tragen zur Verringerung der von Sozialtransfers abhängigen Eltern bei (vgl. WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT FÜR FAMILIENFRAGEN 2006). Darüber hinaus lassen sich (berufliche) Selbstverwirklichungswünsche einzelner Elternteile stärker realisieren bzw. zeitliche Ressourcen für öffentliches Engagement schaffen (vgl. ebd.).36 Des Weiteren stellt dies auch eine Reaktion auf veränderte Familienkonstellationen und Betreuungsmodelle dar. Alleinerziehende Mütter und Väter, die einer Berufstätigkeit nachgehen, oder Familien, in denen beide Elternteile voll erwerbstätig sind und über kein familieninternes37 oder nachbarschaftliches Netzwerk verfügen, das die Betreuung der Kinder während der beruflichen Ab35 36 37
ZELLER merkt an dieser Stelle an, dass vor allem vonseiten der bundesdeutschen Parteien der Aspekt einer verlässlichen Betreuungsstruktur hervorgehoben wird. Inwieweit eine ganztägige schulische Betreuung auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf tatsächlich begünstigend wirkt, ist bisher noch nicht empirisch verifiziert (vgl. COELEN 2007). TILLMANN (2005) spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Generationenstaffelung schwindet und somit in der Familie nicht zwingend von der Verfügbarkeit adäquaten Betreuungspersonals ausgegangen werden kann.
44
1 Ein Blick in die Historie der Ganztagsschulentwicklung
wesenheit der Eltern übernehmen könnte, profitieren von der erweiterten Organisation der Betreuung (vgl. BARGEL & KUTHE 1991; HOLTAPPELS 1994). Schulen in Ganztagsform stellen laut HOLTAPPELS (2006b) einen Beitrag zur soziokulturellen Infrastruktur dar, da sie als sozial- und wirtschaftspolitisches Instrument die Erwerbstätigkeit unterstützen und somit die gesellschaftlichen Teilhabechancen der Familien sichern.38 1.2.2.2
Wandel der Familiensituation
Die angespannte Betreuungssituation der Familien resultiert laut APPEL (2008) allerdings nicht nur aus der zunehmenden Berufstätigkeit der Eltern, sondern auch aus der Veränderung in den familialen Formen des Zusammenlebens. Der soziale Wandel, verbunden mit der Tendenz zur Individualisierung, führt zur häufigen Änderung der Zusammensetzung der Familie (vgl. TILLMANN 2005) und bringt neue Familienformen hervor (vgl. LUDWIG 1993a; HOLTAPPELS 1994; APPEL & RUTZ 2005), die wiederum einen verstärkten Bedarf nach Ganztagsangeboten erfordern. LINDE (1963, S. 35ff.) verweist darauf, dass psychische und soziale Belastungen vorwiegend in unvollständigen oder sozial außenstehenden Milieus auftreten. „Ein vermehrter Erziehungseinfluß der Schule auf Kinder aus solchen Familien sowie ein zeitlich begrenzter Aufenthalt im Spannungsfeld solcher Verhältnisse hätten sicherlich positive Auswirkungen“ (GUTER 1976, S. 18). Dies impliziert einerseits die Problemfelder der neuen Formen des Zusammenlebens, umfasst aber auch die gestiegene Erziehungsinkompetenz bzw. den zunehmenden Erziehungsunwillen vieler Eltern, die an anderer Stelle ausführlich erörtert werden (vgl. Gliederungspunkt 1.2.2.4.). Familien mit Trennungs- bzw. Scheidungsproblematik und Einelternfamilien39 sollen durch das Ganztagsschulsystem in ihrer kustodialen und erzieherischen Funktion entlastet bzw. unterstützt werden (vgl. BARGEL & KUTHE 1991).
38
39
Das Forschungsprojekt StEG (Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen) konnte nachweisen, dass im Grundschulalter die Teilnahme an Ganztagsschulen stark vom Erwerbsstatus der Eltern abhängt und somit der Betreuungsaspekt dominiert. Kinder, bei denen beide Elternteile berufstätig sind, sind deutlich überrepräsentiert (vgl. ZÜCHNER, ARNOLDT & VOSSLER 2007, S. 120). ZÜCHNER, ARNOLDT & VOSSLER (2007, S. 120) konnten im Rahmen von StEG bei alleinerziehenden Elternteilen eine verstärkte Inanspruchnahme ganztägiger schulischer Angebote feststellen.
1.2 Gründe für den Bedarf nach ganztägigen schulischen Konzepten
1.2.2.3
45
Neustrukturiertes Umfeld für Heranwachsende
Neben gesellschaftspolitischen sowie familien- und sozialpolitischen Perspektiven finden sich kinder- und jugendpolitische Begründungen, die auf Probleme des Aufwachsens und der Orientierung im Kindes- und Jugendalter verweisen (vgl. BARGEL & KUTHE 1991). Die im Folgenden erörterten Bedingungen beleuchten in individueller, sozialer und kultureller Hinsicht das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft. Rückgang von Sozialkontakten Aufgrund der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse lässt sich ein Rückgang von sozialen Kontaktchancen und ein Mangel an Erfahrungsräumen in der Umwelt von Schulkindern verzeichnen (vgl. LUDWIG 1993a; HOLTAPPELS 1994; TILLMANN 2005). Zum einen wird der Verlust intrafamilialer Kontakte durch die gestiegene Zahl von Einzelkindern und Einelternfamilien angenommen. Darüber hinaus sinkt die Häufigkeit und Intensität von Erfahrungsmöglichkeiten im Wohnumfeld, da durch die zunehmende Anonymität die nachbarschaftlichen Kommunikationsnetze in der Wohnumwelt der Heranwachsenden schwinden (vgl. TILLMANN 2005) und somit gleichaltrige Spielgefährten fehlen (vgl. BARGEL & KUTHE 1991). Dies führt einerseits zu einem „Rückgang von Gratiskontakten in Familie und Nachbarschaft“ (HOLTAPPELS 2003, S. 181), andererseits fehlt die Unterstützung des sozialen Umfeldes, die dadurch eine „Lücke der Sozialbezüge und Gemeinschaftsnähe“ (APPEL 2008, S. 61) hervorruft. Aus den dargestellten Aspekten wird ein Bedarf nach vermehrten Optionen für soziale Erfahrungen und Kontakte von Kindern untereinander sowie nach umfassenderen pädagogischen Angeboten abgeleitet, die innerhalb der Schule eine zeitgemäße Sozialerziehung sowie eine soziale Koeduktion von Gleichaltrigen und Kindern unterschiedlicher Altersgruppen ermöglichen (vgl. HOLTAPPELS 1994, 1995, 2006a; BERGMANN 2001; APPEL & RUTZ 2005; WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT FÜR FAMILIENFRAGEN 2006): Schule soll zu einem „Ort der sozialen Geschwister“ (APPEL & RUTZ 2005, S. 25) werden. Darüber hinaus beinhaltet die Ganztagsschule im Sinne einer sozialintegrativen Funktion auch die Chance, Kontakte zu Menschen anderer Generationen und sozialer Gruppen über eine Öffnung von Schule herzustellen sowie die heranwachsende Generation zu „autonomen, handlungsfähigen und sozial verantwortlichen Individuen“ (WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT FÜR FAMILIENFRAGEN 2006, S. 95) zu erziehen. TILLMANN (2005) schreibt der Schule hierbei eine kompensatorische Funktion im Bereich der Sozialerziehung und des sozialen Lernens zu.
46
1 Ein Blick in die Historie der Ganztagsschulentwicklung
Resümierend wird an ein ganztägiges Schulangebot somit die Hoffnung geknüpft, u.a. die Defizite in den Sozialkontakten zu kompensieren bzw. „soziale Lerngelegenheiten [zu; K.S.] schaffen und Bildungsprozesse initiieren [zu; K.S.] können, die von der Familie nicht zu realisieren sind“ (POPP 2006, S. 185). Schwinden von Erfahrungsräumen Unzureichende Wohnverhältnisse, vor allem zu kleine Wohnungen, und ungenügende Sport- und Spielmöglichkeiten (vgl. BARGEL & KUTHE 1991) tragen dazu bei, dass die Erfahrungsräume von Kindern und Jugendlichen in der Umwelt schrumpfen und die außerschulische Erfahrungswelt verarmt (vgl. LUDWIG 1993a; APPEL & RUTZ 2005; APPEL 2008). Die Ursachen hierbei können zum einen in städtebaulichen Veränderungen, einem Rückgang nachbarschaftlicher Verbindlichkeiten und dem gestiegenen Medienkonsum liegen. Zum anderen zieht das gesellschaftliche Streben nach Individualisierung und die Pluralisierung von Lebens- und Freizeitformen eine zeitliche und räumliche Segmentierung von Kinderaktivitäten nach sich (vgl. ROLFF & ZIMMERMANN 1997; ZEIHER & ZEIHER 1998; APPEL & RUTZ 2005). „Kinder planen zunehmend ihre Freizeit und halten sich zu festen Terminen in verschiedenen Institutionen auf. Kinderalltag wird mehr und mehr zur ‚Verinselung’“ (ROLFF & ZIMMERMANN 1997, S. 152). Eine ganztägige schulische Betreuung vermag diese Defizite durch „selbsttätiges und erfahrungsbezogenes Lernen ebenso wie aufklärende Bildung und Lernen in Zusammenhängen“ (H.G. HOLTAPPELS 2004, S. 7) ausgleichen und mangelnde Bewegungsmöglichkeiten in Wohnungen und im Freien durch entsprechende Angebote kompensieren (vgl. HOLTAPPELS 1994). Anregungsarmut im Freizeitverhalten Mit dem Schwund an Erfahrungsmöglichkeiten in der Umwelt erweitern sich gleichzeitig die Informationsräume in der Medienwelt, wodurch die Erfahrungen der Heranwachsenden zunehmend der Mediatisierung unterworfen sind (vgl. HOLTAPPELS 1994; TILLMANN 2005; APPEL 2008). Darunter leidet sowohl die kulturelle Anregung (vgl. BARGEL & KUTHE 1991) durch eine sinnvolle Freizeitgestaltung als auch die Pflege von Sozialkontakten. Schulen in Ganztagsform wirken dahingehend kompensatorisch, indem sie eine professionelle Konsum- und Medienerziehung vornehmen (vgl. APPEL 2008) und nach HOLTAPPELS (2006b) zugleich einen Beitrag zur soziokulturellen Infrastruktur leisten, da sie über Freizeitangebote Anregungen im sozialen und kulturellen Bereich bieten. Schülern wird Raum und Zeit für unterschiedliche Aktivitäten und Interessen zur Verfügung gestellt und Impulse zur kreativen und eigens initiierten Freizeitgestaltung geboten, durch die sie ihre Fähigkeiten und Neigungen umfassend entwickeln können (vgl. HOLTAPPELS 1994; WISSEN-
1.2 Gründe für den Bedarf nach ganztägigen schulischen Konzepten
47
BEIRAT FÜR FAMILIENFRAGEN 2006).40 Die Schule verfolgt damit das Ziel der Gleichheit regionaler Infrastrukturen, indem sie sinnvolle Spiel-, Freizeit- und Kulturangebote, verbunden mit Lern- und Erfahrungsgelegenheiten, bereit hält (vgl. COELEN 2007). Sie „erhöht [zugleich; K.S.] die Zeiten sinnvoller Aktivitäten über den ganzen Tag und wirkt damit auch Problemen wie Drogenkonsum, Gewaltbereitschaft, Kriminalität usw. entgegen“ (BAASEN et al. 2007, S. 80). Des Weiteren ermöglicht sie den „Aufbau eines Erziehungsraumes gegen die ‚Hetze der Zeit’, in dem Ruhe und Gemächlichkeit, Gelassenheit und Muße noch den Tagesablauf bestimmen können“ (LINDE 1963, S. 44) und die Schüler neben dem Lernen in der Schule auch ihren eigenen Interessen und Bedürfnissen nachgehen können und ihrem individuellen Rhythmus folgen dürfen. „Kinder brauchen eine ‚Kultur des Aufwachsens’ in der Gesellschaft, in der sie Kinder sein dürfen, aber auch als eigene Individuen ernst genommen werden, eine Gesellschaft, die ihren Bedürfnissen grundsätzlich einen gewichtigen Platz einräumt“ (BERGMANN 2001, S. 13). Die Schule wird neben dem (ganzheitlichen) Bildungsauftrag umso mehr auch ihrem Erziehungsauftrag gerecht, indem sie die Schüler zu eigenverantwortlichen, selbstständigen und mündigen Menschen erzieht. Denn „Bildung ist mehr als Schule“ (BMFSFJ 2005b, S. 46) und Schule ist mehr als Unterricht. Die Entwicklungen in unserer modernen Gesellschaft, die aufgrund der Verinselung und Verhäuslichung der Kindheit, der Mediatisierung und der Ausdünnung sozialer Kontakte für Kinder und Jugendliche beispielsweise mit sozialer Desintegration, Problemen der Identitätsfindung und dem Rückgang an Eigentätigkeit und Bewegung verbunden sind, weisen der Schule nunmehr familienergänzende bzw. kompensatorische Aufgaben mit dem Schwerpunkt des sozialen Lernens zu. Heranwachsende bedürfen Orientierung und Unterstützung, die aufgrund oben dargestellter gesellschaftlicher Umbrüche von der Familie nur bedingt geleistet werden können. Mit dem Wunsch nach einer ganztägigen schulischen Betreuung ist zugleich die Hoffnung verbunden, diese könne die Missstände auffangen und den beeinträchtigenden Einflüssen gegensteuern. „Die Schule kommt hier als geeignete Institution ganzheitlicher Ganztagsbildung ins Spiel“ (HOLTAPPELS 2006b, S. 10) und wird in ihrer sozialerzieherischen Funktion gestärkt. Doch wie viel Verantwortung wird an die Schule abgegeben? Bleibt sie weiterhin eine familienergänzende Institution oder entwickelt sie sich unter diesen Vorgaben zu einer familienersetzenden Einrichtung? SCHAFTLICHER
40
WEIDINGER bezeichnet dies als die „Motivationsfunktion“ (1983, S. 31) der Ganztagsschule.
48
1 Ein Blick in die Historie der Ganztagsschulentwicklung
1.2.2.4
Verändertes Erziehungsverhalten
Während die Familie die Übung der privaten Tugenden Liebe, Opferbereitschaft, Hingabe, Innerlichkeit, Wahrhaftigkeit, Natürlichkeit und Treue pflegt, ist die Schule für das Erlernen der öffentlichen Tugenden wie Fairness, Toleranz, Selbstbewusstsein, Hilfsbereitschaft, Dank, Friedwilligkeit und Gerechtigkeit verantwortlich (vgl. DAHRENDORF 1961). Da die Kinder den überwiegenden Teil ihrer Lebenszeit in der Familie verbringen, lässt sich folgern, dass „daraus [… ] mit einer gewissen Notwendigkeit ein Schultyp, in dem die öffentlichen Tugenden des Miteinander-Auskommens und Zusammenlebens gegenüber den privaten Tugenden des Lernens, des individuellen Fleißes zurücktreten, [erwächst; K.S.]. Der Einzelne wird also zur Gesellschaft hinzugeführt, indem er von ihr ferngehalten wird“ (ebd., S. 107). Insofern ist die (Ganztags-)Schule aufgefordert ihre Sozialisationsaufgabe41 – im Sinne der Eingliederung des Individuums in die Gesellschaft – stärker wahrzunehmen und auszuweiten (vgl. HOLTAPPELS 1994). Da jedoch nicht mehr zwingend davon ausgegangen werden kann, dass in den Familien (private) Tugenden vermittelt werden, stellt sich die Frage, wie sich die Schule demzufolge verhalten kann bzw. muss. Darüber hinaus ist nicht vorauszusetzen, dass Kinder und Jugendlichen ihre Zeit außerhalb der schulischen Verpflichtungen tatsächlich überwiegend in einer anregungsreichen Familienwelt verbringen. „Viele Lehrerinnen und Lehrer haben in ihren Klassen Schülerinnen und Schüler, die zu viel sich selbst überlassen sind, keine geregelten Mahlzeiten erhalten, gehäuft fernsehen, ihre Hausaufgaben schlampig erledigen. Nicht selten stellen sie bei diesen Kindern auch gehäuft Lern- und Verhaltensdefizite fest“ (KNÖRZER, GRASS & SCHUMACHER 2007, S. 41).
Sozialisationsdefizite und Entwicklungsprobleme resultieren häufig aus unvollständigen bzw. instabilen Familienkonstellationen oder aus dem Versagen der elterlichen Erziehungskompetenz. Der ständige Wechsel von Bezugspersonen, Erfahrungen von Trennung und Scheidung und die mangelnde Erziehungsfähigkeit bzw. Erziehungsunsicherheit der Eltern (vgl. HENSEL 1995) werden hierbei angeführt, um die familienunterstützende Funktion institutioneller Erziehung zu begründen. „Die sinkende Erziehungsleistung der Familie fordert vor allem eine weit stärkere Übernahme der erzieherischen Aufgaben gegenüber der Berufsund Arbeitswelt einerseits und gegenüber dem öffentlichen und staatsbürgerlichen Verhalten andererseits durch die Schulen“ (SCHELSKY 1967, S. 36). SCHELSKY spitzt diese Tatsache generalisierend zu und spricht allgemein von 41
WEIDINGER tituliert diese als „Sozialisationsfunktion“ (1983, S. 31f.) der Ganztagsschule.
1.2 Gründe für den Bedarf nach ganztägigen schulischen Konzepten
49
einer „sinkenden Erziehungsfähigkeit der Familie“ (1967, S. 35; Hervorh. d. Verf.) bzw. einem „Funktionsverlust“ (ebd., S. 31; Hervorh. d. Verf.). Diesen führt er auf folgende Faktoren zurück: „Abwandern der ökonomischen Produktionsfunktionen aus dem Familienraum, Trennung von Arbeitswelt und Familienwelt, Übergang von Solidaritätsfunktionen an Staat und Großorganisationen der Daseinssicherung […], Abgabe von Erziehungsfunktionen an den Staat und außerfamiliäre Institutionen […], Abwanderung des Erholungs- und Unterhaltungslebens in außerfamiliäre Bindungen, fast geschwundene Öffentlichkeitsfunktion der Familie […], geschwächte Sanktionen der öffentlichen Meinung gegenüber dem familiären Zusammenhalt und Familienleben […], geringeres Gewicht der religiösen Sanktionen gegenüber der Familie“ (ebd., S. 31f.).
Da sich die Familie in den Bereich der Privatheit zurückzieht, während die Arbeits- und Organisationswelt immer öffentlicher wird, schwindet der umfassende Einfluss zum „Aufbau der sozial-kulturellen Persönlichkeit“ (ebd., S. 33; Hervorh. d. Verf.) des Kindes bzw. Jugendlichen. Die „Tugendkataloge“ (ebd.) des Zusammenlebens in der Familie und des Verhaltens in der Gesellschaft sind weitgehend unidentisch geworden. Neben einem verstärkt partnerschaftlichen Erziehungsstil zwischen Eltern und Kind, findet die Erziehung des Kindes „weitgehend in Arbeitsfremdheit, vielfach sogar im Erholungs-, Unterhaltungsund Vergnügungsraum des Erwachsenenlebens“ (ebd., S. 34) statt, in dem die „Freizeitgesetzlichkeiten“ (ebd.; Hervorh. d. Verf.) der Konsumbestimmtheit dominieren. Diese Beliebigkeit bzw. Desorientierung vonseiten der Eltern ruft häufig Verhaltensauffälligkeiten und Erziehungsschwierigkeiten im Umgang mit ihren Kindern bzw. Jugendlichen hervor. Sie fühlen sich dabei in ihrer Erziehungskompetenz überfordert und haben nicht selten resigniert (vgl. HOLTAPPELS 1994, 1995, 2006a; BERGMANN 2001; APPEL & RUTZ 2005). Zudem beeinträchtigen schulische Belastungen das Familienleben zusätzlich. „Angesichts der gewachsenen Bedeutung von Schulabschlüssen und guten Schulleistungen für das individuelle und familiäre Lebensschicksal hat die Schule vielfach einen zentralen Einfluß auf das Zusammenleben in der Familie gewonnen“ (HOLZMÜLLER 1982, S. 128). Dieser Einfluss dokumentiert sich vor allem in den Hausaufgaben, die einen „Kristallisationskern von Konflikten“ (ebd.) darstellen. So lässt sich – vor allem bei bildungsfernen Schichten42 – eine übermäßige Beanspruchung vieler Eltern durch Betreuung und Hilfe bei den Schularbeiten feststellen. Vonseiten der Schule wird dabei an das Elternhaus die Erwartung gerichtet, Defizite schuli42
PAETZOLD (1988) stellte in ihrer Untersuchung fest, dass überwiegend Mütter aus der Unterschicht bzw. Mütter mit geringerer Schulbildung mit ihren Kindern zusätzlich üben, weil sie davon ausgehen, dass der schulische Erfolg von der Unterstützung der Eltern abhängt.
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scher Lernprozesse auszugleichen und zugleich eine Entlastungsfunktion auszuüben. Auch ein Großteil der Eltern gibt an, mit der Hausaufgabenbetreuung die Schwächen ihrer Kinder (wie mangelnde Motivation, geringe Konzentrationsfähigkeit oder Leistungsschwäche) ausgleichen zu wollen. Da über den Schulabschluss Berufsabschlüsse und -chancen vergeben werden, wovon künftig die materiellen und sozialen Lebensbedingungen abhängen, sehen sich Eltern gezwungen, ihren Beitrag in Form häuslicher Unterstützung zu leisten. Für manche gilt ein weiterführender Schulabschluss sogar als unabdingbare Voraussetzung, um einen gesellschaftlichen Abstieg zu vermeiden. Obgleich Hausaufgaben von den Erziehungsberechtigten als Notwendigkeit erachtet werden, führen sie in vielen Familien zu Spannungen und Auseinandersetzungen und stellen eine Quelle für Konflikte dar (vgl. PAETZOLD 1988). Einige Eltern betrachten die Hausaufgabenbetreuung ihrer Kinder als „leidiges Übel nach Feierabend“ (GUTER 1976, S. 17). Andere würden ihren Kindern gerne beratend zur Seite stehen, fühlen sich aber aufgrund der Komplexität der Inhalte überfordert. Diese Überforderung kumuliert, wenn bei lernschwachen Schülern zusätzliche Fördernotwendigkeiten angebracht wären (vgl. BARGEL & KUTHE 1991). Da sie somit zugleich permanent dem Gefühl der „Ohnmacht“ (HOLZMÜLLER 1982, S. 143) ausgesetzt wären, beschränkt sich das elterliche Verhalten darauf zu kontrollieren, ob die Aufgaben für die Schule sorgfältig und pünktlich erledigt wurden. Daher stellt sich die Hausaufgabenbetreuung in der Praxis weniger als inhaltliche Mithilfe, sondern eher als formale, kontrollierende Überwachung dar. Des Weiteren mangelt es vielen Kindern zu Hause an geeigneten Arbeitsplätzen, um ihre schulischen Aufgaben ungestört erledigen zu können (vgl. BARGEL & KUTHE 1991; HOLTAPPELS 1994). Da Eltern mit der Hausaufgabenhilfe sowohl inhaltlich wie zeitlich überlastet sind und zudem das elterliche Unterstützungsvermögen sozialschichtspezifisch variiert (vgl. SASS & HOLZMÜLLER 1982), gilt die Hausaufgabenintegration in die Schule43 als wesentliches Moment der Angleichung von Lernchancen und der Reduzierung von Chancenungleichheit (vgl. hierzu auch KRECKER 1977, S. 35ff.). Nimmt man alle genannten Kriterien zum Vergleich, so lässt sich attestieren, dass eine ganztägige schulische Betreuung einerseits eine erzieherische Zielsetzung verfolgt, indem sie die Familie in ihrer Erziehungsfunktion unterstützt (vgl. LUDWIG 1987; HENSEL 1995; BMFSFJ 2005b) und familienergänzende und -unterstützende Angebote der Erziehung und Betreuung im Rahmen einer erweiterten 43
Die Ganztagsschule als „hausaufgabenfreie Schule ganztägiger Art“ (APPEL & RUTZ 2005, S. 126) konnte nicht realisiert werden, jedoch stellt die individuelle und differenzierte Hausaufgabenbetreuung innerhalb der Schule eine Chance für die Schüler und Entlastung für die Eltern dar.
1.2 Gründe für den Bedarf nach ganztägigen schulischen Konzepten
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Kooperation zwischen Schule und Elternhaus anbietet (vgl. HOLTAPPELS 2007).44 Über die systematische inhaltliche und organisatorische Verknüpfung der beiden Institutionen gelingt eine Neudefinition des Verhältnisses und mit einer Stärkung der Bildungs- und Erziehungspartnerschaft wird das Ziel der bestmöglichen Entwicklungsförderung der Kinder verfolgt (vgl. WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT FÜR FAMILIENFRAGEN 2006). Die Schule leistet damit einen wesentlichen Beitrag zur „Schaffung notwendiger Bildungsofferten für gelingende Partizipation an und Integration in die Wissensgesellschaft“ (POPP 2006, S. 185). Andererseits stellt die Ganztagsschule in sozialpädagogischer Hinsicht eine Einrichtung für Kinder dar, die aufgrund beeinträchtigender Bedingungen in ihrer Umwelt Hilfe bedürfen (vgl. RICHTER 2004). „Der Gedanke der Tagesheimschule45 hat seine stärkste Legitimation in der Überlegung, daß da, wo das Elternhaus nicht in der Lage ist, in der allseitigen Besorgung des Kindes und der Förderung seiner Entwicklung den Mittelpunkt darzustellen, […] die Einschaltung einer dritten Institution die Schwierigkeiten der labilen pädagogischen Situation des Kindes nur noch vermehrt. Daher mußte die Schule selbst die durch das Elternhaus nicht leistbaren oder der Vernachlässigung verfallenen Funktionen aus pädagogischer Verantwortung an sich ziehen, um die Zersplitterung der pädagogischen Kompetenzen zu verhindern bzw. die Zahl der Institutionen von 3 (Eltern, Hort, Schule) auf zwei zurückzuführen (Elternhaus und Schule)“ (LINDE 1963, S. 128; Hervorh. d. Verf.).
Auch in der aktuellen Diskussion zeichnet sich in zunehmendem Maße eine kompensatorische Ausrichtung ab. Die ganztägige schulische Betreuung kann demzufolge vor allem für Kinder mit erziehungsunfähigen, belasteten, abgelenkten oder desinteressierten Eltern46 einen sozialen Ausgleich gewährleisten (vgl. HOLTAPPELS 1994, 1995, 2006a; BERGMANN 2001; APPEL & RUTZ 2005), „den durch Kein-richtiges-Zuhause-Haben belasteten Kindern, den Hin- und Hergestoßenen des Lebens, ein entlastendes Kinderreich […] schaffen, das geeignet ist, die aus ihrer Belastung erwachsenen Fehlhaltungen und Leistungsbeschränkungen zu vermindern und ihre sozialen Startchancen zu verbessern“ (LINDE 1963, S. 41).
44 45 46
Die tatsächlichen Auswirkungen einer ganztägigen schulischen Betreuungsform auf das Familienleben liegen laut COELEN jedoch „völlig im Dunkeln“ (2007, S. 55). Die Tagesheimschule lässt sich in der Organisationsform mit dem heutigen Modell der voll gebundenen Ganztagsschule vergleichen (vgl. Gliederungspunkt 2.2.2.). Hierunter werden milieugeschädigte Kinder, Kinder von Eltern mit instabiler Psyche bzw. ungeliebte Kinder verstanden.
52
1 Ein Blick in die Historie der Ganztagsschulentwicklung
Das Forschungsprojekt LUGS47 konnte den Trend zur Ganztagsschule als Kompensationsinstitution wissenschaftlich bestätigen. KOLBE und REH stellten an den untersuchten Schulen einen erheblichen Legitimationsdiskurs vonseiten des schulischen Personals fest. Auf der einen Seite kann Schule im Sinne einer familienersetzenden Sozialisationsfunktion wirken und ein „Gegenstück zu ‚häuslichem Elend’ und familiärer ‚Verwahrlosung’“ (REH 2008, S. 70)48 bieten. Die Ganztagsschule fungiert in diesem Sinne als „eine Art Ersatzfamilie für eine sozial deprivierte, vernachlässigte oder ungenügend erzogene Schülerschaft“ (KOLBE 2008, S. 205).49 Hierbei wird der Familie ein defizitärer Sozialisationscharakter zugeschrieben. Auf der anderen Seite sollte sie auch in der Lage sein, milieubedingte Unterschiede der Schüler durch entsprechende Förderangebote auszugleichen und eine neue Lernkultur im Verständnis reformpädagogischer Ideen zu schaffen, um auf der individuellen Ebene die Lern- und Leistungsmängel auszugleichen. Beide Autoren beurteilen die Ausweitung bzw. Dominanz der kompensatorischen Funktion kritisch, da der neben dem Erziehungsauftrag existierende Bildungsauftrag verdrängt wird und Schule sich in einem diffusen Netz von Zuständigkeiten verstricken könnte (vgl. KOLBE 2008; REH 2008). Andere Wissenschaftler vertreten die Meinung, dass die Schule gefordert ist, dieser Aufgabe verstärkt nachzukommen, wenn innerhalb der Familie den Kindern die notwendigen Fähig- und Fertigkeiten, um sich später in der Gesellschaft zurechtzufinden, nicht mehr vermittelt werden. „Erziehungsdefizite […] erfordern eine ‚Lebensschule ganzheitlicher Art’, die Partnerschaftlichkeit, Toleranz und Zuwendung als Aufgabenschwerpunkte zum Inhalt hat“ (APPEL 2008, S. 61). Dazu sollte die zeitgemäße Ganztagsschule nach SCHLAFFKE (2004) leistungsfähiger und wettbewerbsfähiger sein als die Halbtagsschulen. Die Defizite der Familie sollen behoben werden, indem in der Schule wieder stärker erzogen wird (vgl. GIESECKE 1996). Schlagworte wie die Ganztagsschule als „soziale Hilfe“ (LINDE 1963, S. 41), als „zeitgemäße Erziehungsstätte“ (ebd., S. 49), „Schule als ‚soziale Reparaturwerkstatt’“ (APPEL & RUTZ 2005, S. 14) oder „Schule als Kompensationsinstitution für Sozialisationsdefizite und Erziehungsprobleme“ (ebd., S. 25)50 47
48 49 50
Das Forschungsprojekt „Lernkultur- und Unterrichtsentwicklung in GanztagsSchulen“ (LUGS), unter der Leitung von FRITZ-ULRICH KOLBE und SABINE REH, eruiert die Entwicklung der Lernkultur und der erweiterten Angebote von Ganztagsschulen unterschiedlicher Schulformen. Dazu wurden zwölf Ganztagsschulen in Rheinland-Pfalz, Brandenburg und Berlin zwischen 2005 und 2008 untersucht (vgl. KOLBE 2008; REH 2008). Diese Begrifflichkeiten sind den Aussagen der befragten Personen entnommen. Diese Position ist überwiegend im Bereich der Grund- und Förderschulen zu finden. WEIDINGER verweist in diesem Zusammenhang auf die „Kompensationsfunktion“ (1983, S. 32f.) der Ganztagsschule.
1.2 Gründe für den Bedarf nach ganztägigen schulischen Konzepten
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verdeutlichen die Funktion institutioneller schulischer Erziehung (vgl. HOLTAPPELS 1994) und die Erwartungen, die an ein ganztägiges Angebot gerichtet werden.51 Die Schule kann – so die einhellige Meinung – bei Kindern in schwierigen Lebenssituationen „im günstigen Fall als Fluchtpunkt, als Nische, als Insel der Ordnung und der Struktur in einem sonst eher chaotischen Alltag, als Ort der persönlichen Zuwendung, der Einbindung in Freundschaftsbeziehungen und der Bestätigung eigener Werthaftigkeit erlebt werden“ (GÖPPEL 2007, S. 255). Kann und will die Ganztagsschule dies leisten? Denn im Gegensatz birgt dies auch die Gefahr, dass Schule zu einem „Ort des erneuten Versagens und der Beschämung, des Zwangs und der Demütigung, der Ausgrenzung und der Entmutigung“ (ebd.) wird. Sollte die Ganztagsschule als „Restschule“ für unerzogene, verhaltensauffällige oder lernschwache Kinder konzipiert sein bzw. entwickelt sie sich in diese Richtung? „Das Argument der Defizitkompensation stärkt aber Vorurteile, dass Ganztagsschulen hauptsächlich für Kinder mit sozialen Mängeln, Ausländerkinder und Lernschwache geeignet seien. Das Konzept ‚Ganztagsschule’ darf sich nicht als ein Konzept der ‚Hilfs’-Schule für sozial Benachteiligte entwickeln52. Eine solche Sortierung beinhaltet das Risiko, die Auslese bzw. Privilegierung nach sozialer Herkunft, die unser Schulsystem in besonderem Maße kennzeichnet, noch zu vergrößern“ (PORTMANN 2004, S. 20).
Diese Formulierungen lassen bereits erkennen, dass eine einseitige Polemik vorliegt, die in sich die Gefahr der Stigmatisierung birgt. Wird die ganztägige schulische Betreuung vor allem von oben dargestellter Population nachgefragt, könnte damit zugleich eine Skepsis bzw. Ablehnung des Ganztagsschulangebotes durch Eltern höherer Sozial- und Einkommensschichten einhergehen, während das bildungsferne Milieu dieses befürwortet, da es darin die (einzige) Chance für seine Kinder sieht, nicht zu den Bildungsverlierern der Gesellschaft zu gehören. In diesem Kontext kann die Ganztagsschule rasch zur „sozialen Gettoschule“ (IPFLING 1981, S. 75) oder zur „Aufbewahrungs- und Trimmstätte“ (ebd.) werden. Sowohl IPFLING als auch LORENZ sprechen sich gegen die „Gettoschule schwacher Sozialschichten“ (IPFLING & LORENZ 1979, S. 356) aus. Sie plädieren dafür, dass die Ganztagsschule keinen Ersatz der Familie bedeutet, sondern eine Ergänzung mancher Familien. 51 52
In sozialen Brennpunkten wird die Milderung sozialer Probleme an Schulen erwartet (vgl. BMFSFJ 2005b). Ähnlich argumentieren APPEL & RUTZ (2005), die für eine Grundversorgung mit ganztägigen schulischen Betreuungsangeboten plädieren, die alle Schularten umfasst, bevor die Einrichtung von Ganztagsschulen als so genannte „Brennpunktschulen“ erfolgt.
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1 Ein Blick in die Historie der Ganztagsschulentwicklung
„Jedes Kind braucht zu seiner optimalen Entwicklung physische Versorgung, personale Zuwendung, soziale Erfahrungen, geistige Anregung und einen persönlichen Spielraum. Überall dort, wo diese Bedingungen bestimmten Einschränkungen unterliegen, könnte die Ganztagsschule eine gewisse Hilfe sein, weil sie in den genannten Bereichen etwas mehr bieten könnte als die Halbtagsschule“ (IPFLING 1981, S. 85).
Sie kann vor allem im Bereich der Leistungs- und Sozialisationsdefizite kompensatorisch wirken und eine reichhaltigere Anregungsumwelt als die Halbtagsschule gewährleisten (vgl. IPFLING & LORENZ 1979), „wenn das dortige Erziehungsklima den Kindern hohe Zuwendung zukommen lässt und klar strukturierte Erwartungen bereit hält“ (WALPER & ROOS 2001, S. 34). Damit dieses Erziehungsklima allen Kindern und Jugendlichen zuteil wird, muss die ganztägige schulische Betreuung zum Regelangebot an allen Schultypen werden: „Wenn man davon ausgeht, dass Ganztagsschulen nicht defizitär-kompensatorisch, also auch nicht stigmatisierend für Schülerinnen und Schüler ausgelegt sein sollen (Stichwort: Brennpunktschulen), sondern Reformschulen mit erweitertem Bildungsanspruch, nämlich Lebensschulen ganzheitlicher Art sein sollen, dann sprechen wir von Schulen für alle Kinder aller Schularten […]“ (APPEL 2008, S. 59).
1.2.3 Zusammenschau Da das Argumentationsgerüst der Begründungslinien für ein vermehrtes Angebot an ganztägigen schulischen Betreuungsangeboten auf der Systematik von OTTWEILER (2005) beruht, wird auch abschließend Bezug auf dessen Ausführungen genommen und die ausführlich dargestellten Aspekte im Sinne einer Synopse sowohl in inhaltlicher als auch in graphischer Hinsicht präsentiert. Die vermehrte Diskussion um ein schulisches Ganztagsbetreuungsangebot bezieht ihre Legitimation zusammenfassend aus folgenden Argumentationslinien: „a) sozialpolitische und sozialpädagogische Begründungen Betreuung häuslich unversorgter Kinder bei zunehmender Berufstätigkeit der Mütter bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf Erhöhung der Erwerbstätigkeitsquote von Frauen; Stärkung des Wirtschaftsstandorts erzieherische Entlastung und Unterstützung der Familien, zum Beispiel gestörte Familienverhältnisse; Alleinerziehende bei Scheidung Minderung familiärer Belastungen durch Wegfall schulischer Hausarbeiten Kompensation mangelnder Bewegungsmöglichkeiten in Wohnungen und im Freien durch multifunktionale Nutzung des Schulgeländes und des schulischen Umfeldes
1.2 Gründe für den Bedarf nach ganztägigen schulischen Konzepten
55
b) bildungspolitische und schulpädagogische Begründungen bessere Förderungsmöglichkeiten schwächerer und leistungsstärkerer Schüler, beispielsweise ‚mehr Zeit zum Lernen’, Folgerungen aus den TIMSS-, PISAErgebnissen Abbau von Chancenungleichheit kompensatorische Funktion und Aufgabe institutioneller Erziehung bei Erziehungsschwäche des Elternhauses, ‚Schule als Lebensraum’, ‚Lebensgemeinschaftsschule’ Verstärkung sozialen Lernens, beispielsweise durch außerunterrichtliche Veranstaltungen, Arbeitsgemeinschaften, Projekte Chance für die innere Schulreform, Einführung neuer Lerninhalte und Lernformen, beispielsweise Öffnung von Schule, Freizeiterziehung, handlungsorientiertes und erfahrungsorientiertes Lernen, Projektunterricht“ (OTTWEILER 2005, S. 181f.).
Abbildung 1:
Argumentativer Bezugsrahmen (nach: OTTWEILER 2005, S. 182)
56
1 Ein Blick in die Historie der Ganztagsschulentwicklung
1.3 Ganztagsschule als „frommer Wunsch?!“53 Unabhängig davon, ob der Schwerpunkt der Diskussion für ein ganztägiges schulisches Angebot auf dem Aspekt der Bildung (bildungspolitische Ausrichtung), der Betreuung (sozialpolitische Linie) und/oder der Erziehung (Überschneidungsbereich der Bildungs- und Sozialpolitik) liegt, bieten die aufgeführten Argumentationsinhalte keine wesentliche Neuerung. Stellt man einen Vergleich zu der vom DEUTSCHEN BILDUNGSRAT (1969) vorgeschlagenen Ausgestaltung von Ganztagsschulen an, so finden sich die oben dargestellten Bezugspunkte in ähnlicher Ausprägung wieder. Daher ergibt sich die Frage, wodurch die derzeitige Proklamation einer ganztägigen schulischen Betreuung ihre Legitimation gewinnt und worin das Novum der Debatte besteht. Das wirklich Neue ist allenfalls „die Vehemenz, mit der Ganztagsschule bzw. Ganztagsangebote als angemessene und erfolgversprechende Antwort auf die als dringend notwendig erachtete Leistungssteigerung der Schülerinnen und Schüler bewertet wird, ebenso die besondere Betonung, dass das Betreuungsangebot für Kinder und jüngere Jugendliche spürbar auszubauen ist und schließlich die deutliche Priorität vieler Bundesländer, mit der dieses auszubauende Betreuungsangebot an den schulischen Kontext und nicht wie zuvor vornehmlich an die Jugendhilfe (Horte) angegliedert werden soll“ (OELERICH 2007, S. 22).
Die Begründungslinien Leistungssteigerung, angeheizt durch die fatalen Ergebnisse der PISA-Studie, und der Ausbau des Betreuungsangebotes, u.a. als Resultat des gesellschaftlichen Wandels, wurden bereits an anderer Stelle ausführlich erörtert und stellen in ihrer momentanen Akzentuierung lediglich eine marginale Neuausrichtung der Diskussion dar. Einzig die Verlagerung der Verantwortlichkeit für die ganztägigen Betreuungsangebote von der Jugendhilfe an die Schule kann als wesentlicher „Zugewinn“ betrachtet werden. Die Begrifflichkeit des Zugewinns lässt sich jedoch ambivalent werten: Der Jugendhilfe wird einerseits ein breites Betätigungsfeld entzogen, über das sie im außerschulischen Umfeld ihre Legitimation bezog – in diesem Sinne ließe sich eher von einem „Verlust“ sprechen. Andererseits könnte für diese eine Zusammenarbeit mit der Schule von Interesse sein, „weil über den schulischen Kontext auch solche Jugendliche erreicht werden können, die aus eigener Initiative an Angeboten der Jugendarbeit nicht teilnehmen“ (OELERICH 1996, S. 229), wodurch die Jugendhilfe in der Tat eine Aufwertung erfahren würde. Ein entscheidendes Kriterium, ob eine Kooperation von Jugendhilfe und Schule gelingen wird, bildet die gerechte Verteilung von Zuständigkeiten, die verhindert, dass sich keine der beiden Institutionen als 53
WIERE 2007, S. 75
1.3 Ganztagsschule als „frommer Wunsch?!“
57
alleiniger Gewinner bzw. Verlierer versteht. Dass dieser hehre Anspruch in der konkreten Umsetzung immer wieder an seine Grenzen stößt, wird an gegebener Stelle dargelegt (vgl. dazu Kapitel 5.2.). Eine weitere erwähnenswerte Anmerkung ergibt sich meines Erachtens aus der Tatsache, dass OELERICH die „Vehemenz“ (2007, S. 22), mit der die ganztägige schulische Betreuungsform als „angemessen“ (ebd.) und „erfolgversprechend“ (ebd.) angepriesen wird, hervorhebt. Die Ganztagsschule erweckt den Eindruck, als ob sie ein „pädagogisches und didaktisches Allheilmittel“ (PETER54 ßEN 1976) für sämtliche individuellen und gesellschaftlichen Problemfelder, die zuhauf angeführt werden, verkörpert. So setzen die zusätzlichen Zeiten und Möglichkeiten ganztägiger Schulmodelle eine Kettenreaktion unterschiedlicher Erwartungen, Begehrlichkeiten, Ansprüche und Ideen frei, wie z.B. „Nachmittagsbetreuung der Kinder zugunsten beruflicher Teilhabe von Müttern und Vätern, Verbesserung von Schulleistungen, keine Hausaufgaben mehr, bessere Entwicklung sozialer Kompetenzen, ausgleichende Gerechtigkeit in Bezug auf Bildungschancen und Schulerfolg vor dem Hintergrund unterschiedlicher familiärer Hintergründe, Schaffung zusätzlicher Erlebnis- und Erfahrungsräume, weniger Stress im Schul- und Unterrichtsalltag oder stärkere individuelle Fördermöglichkeiten. All dies und vielleicht noch mehr soll die Schule in Ganztagsform gemeinsam mit der Jugendhilfe in Deutschland leisten – ein frommer Wunsch?!“ (WIERE 2007, S. 75).
Als „Breitband-Pädagogikum“ (HOLTAPPELS 2005, S. 41) scheint das Prinzip einer ganztägigen schulischen Betreuung einfach: „Wenn sich das Lernleistungsproblem (Stichwort: PISA), das Betreuungsproblem (Stichwort: Frauenerwerbsquote, Geburtenrate)55 und das Integrationsproblem (Stichwort: Sprachförderung) und weitere Aufgaben durch eine Ganztagsschule lösen lassen, warum dann nicht einfach das Nichtformelle ‚inkorporieren’?“ (COELEN 2006, S. 137; Hervorh. d. Verf.)56. Eine Inkorporation des Nichtformellen, der informellen und non-formalen Bildungsinhalte, lässt Ganztagsschule als schulische Einrichtung fraglich erscheinen. Übernimmt die Schule Aufgaben, die bisher den Bereichen der Familie und Jugendhilfe zuzuordnen waren, verliert sie ihren originären 54 55
56
Dem Vorwort aus DORNER & WITZEL (1976, S. 7) entnommen. Auch wenn in Bezug auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, gekoppelt mit einer hohen Geburtenrate, an dieser Stelle gerne auf das vorbildliche französische Bildungssystem verwiesen wird, schneidet auch Frankreich – ähnlich wie Deutschland – bei der PISA-Studie mit einem durchschnittlichen Ergebnis ab und verzeichnet eine enge Koppelung zwischen sozialer Herkunft und Leistungsniveau der Schüler. Darüber hinaus hat Frankreich auch mit Integrationsproblemen, Gewalt und Jugendarbeitslosigkeit zu kämpfen. Summa summarum lässt sich in dieser Hinsicht kein deutlicher Zugewinn durch das schulische Ganztagsangebot ausmachen (vgl. HÖRNER 2005). vgl. BMBF (2004)
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1 Ein Blick in die Historie der Ganztagsschulentwicklung
Auftrag und lässt sich dann tatsächlich als „Breitband-Pädagogikum“ (HOLTAP2005, S. 41) „missbrauchen“. Damit würde sie weder ihrem Bildungs-, noch ihrem Erziehungsauftrag gerecht. Eine Ganztagsschule, die sich die Versäumnisse der Gesellschaft aufbürden lässt, büßt an Glaubwürdigkeit ein und ist – weil sie unter der Last der unterschiedlichen Begehrlichkeiten zusammenbricht – zugleich zum Scheitern verurteilt. Noch kann jedoch nicht von einer Aufbürdung gesprochen werden – zumindest in der praktischen Umsetzung nicht. Die Vehemenz der Diskussion um eine ganztägige schulische Betreuung schlägt sich bisher nicht in dem Ausbau entsprechender Angebote nieder. Daher ist zu attestieren, dass sich Deutschland „nach wie vor nicht auf dem Weg zur Ganztagsschule“ (H.G. HOLTAPPELS 2004, S. 10) befindet, selbst dann nicht, wenn die Akzeptanz gestiegen ist, sich die Möglichkeiten für einen Ausbau verbessert haben und die bereit gestellten Fördermittel sowohl finanziellen Anschub als auch Anstöße zur Umsetzung neuer Konzeptionen bieten. Noch bleibt also die Zeit, durchdachte Konzepte zu entwerfen, damit die Ganztagsschule kein „frommer Wunsch?“ (WIERE 2007, S. 75) bleibt, sondern als „frommer Wunsch!“ (ebd.) in die Tat umgesetzt wird. Ein Beitrag dazu soll in den folgenden Ausführungen geleistet werden, indem von meiner Seite der Versuch gewagt wird, das bereits vorhandene Ganztagsschulkonzept einem „durchdachten“ Ganztagskonzept für die Schule gegenüber zu stellen.
PELS
2 Ganztagsschulkonzept versus Ganztagskonzept für die Schule
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2 Ganztagsschulkonzept versus Ganztagskonzept für die Schule
Ein kurzer Blick in die Historie (vgl. Kapitel 1) genügt, um das für alle offensichtliche Desiderat der Ganztagsschulentwicklung zu ergründen: Ganztagsschule soll Schule den ganzen Tag hinweg sein, damit Kinder und Jugendliche konstant und verlässlich betreut werden; in einer Schule, die ihrem Bildungs- und Erziehungsauftrag57 gleichermaßen gerecht wird und die den Schülern als Lebenswelt dient. „Zeit für mehr“ tituliert dies das Bundesministerium für Bildung und Forschung (vgl. BMBF 2003)58 und stellte im Rahmen des „Investitionsprogramms Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB)59 eine respektable Summe von vier Milliarden Euro bereit, um die Qualität an deutschen Schulen zu verbessern, konkret mit dem Ziel, „das deutsche Bildungssystem in zehn Jahren wieder an die Weltspitze [zu; K.S.] bringen“ (ebd., S. 3)60 und mit der „Einführung ‚nationaler Bildungsstandards’ die ‚Outputqualität’ des bundesrepublikanischen Schulsystems zu verbessern“ (JÜRGENS 2006, S. 192). Der Plan scheint aufzugehen: Bereits zwei Jahre nach Ankündigung des IZBB-Programmes entstanden 5000 Ganztagsschulen. Angesichts einer Anzahl von 44.000 Schulen in Deutschland relativiert sich jedoch das Verhältnis drastisch.61 Fraglich ist nur, warum man sich ausgerechnet vom Ganztagsschulsystem eine Steigerung der Bildungsqualität erhofft. Die Antwort liegt scheinbar auf der 57 58 59
60 61
„Die Frage, auf die überall eine neue Antwort gesucht wird, ist die: Kann man in der Schule nicht nur unterrichten, sondern auch erziehen?“ (BUYTENDIJK 1962, S. 32). Ausführliche Informationen zum Thema Ganztagsschule sowie zum „Investitionsprogramm Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB), initiiert vonseiten des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, finden sich unter www.ganztagsschulen.org. Das IZBB wurde am 12.05.2003 von Bund und Ländern unterzeichnet und sollte sich ursprünglich über einen Zeitraum von fünf Jahren erstrecken (wurde jedoch verlängert bis 2008/ 2009). Das Ziel bestand darin, den flächendeckenden Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen voranzutreiben. Das Zitat ist dem Vorwort der Imagebroschüre „Investitionsprogramm Zukunft Bildung und Betreuung“ des BMBF (2003) von Edelgard Bulmahn entnommen. In den Jahren 2002 bis 2006 verdoppelte sich der prozentuale Anteil der Verwaltungseinheiten mit Ganztagsschulbetrieb. Faktisch bedeutet dies, dass dennoch lediglich ein Drittel aller Schulen als Ganztagsschulen geführt werden (vgl. PRÜß 2008).
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2 Ganztagsschulkonzept versus Ganztagskonzept für die Schule
Hand: „Gute Bildung braucht Zeit. An Ganztagsschulen ist Zeit – Zeit für mehr Qualität im Unterricht, individuelle Förderung, kreative Freizeitgestaltung und familienfreundliche Betreuung“ (BMBF 2003, S. 3)62. Sie ermöglichen mit ihrem erweiterten Zeitrahmen ein intensiveres Lernen – und dieses wiederum führt zu nachhaltigeren Lernergebnissen sowie besseren Leistungen. Demzufolge ließe sich vermuten, dass eine ganztägige schulische Betreuung tatsächlich mit mehr Bildungsqualität gleichzusetzen wäre. „Die Ganztagsschuldiskussion erweckte in der öffentlichen Wahrnehmung den Eindruck, es sei ein neues Heilmittel gegen den desolaten Zustand der deutschen Schule gefunden worden“ (BRENNER 2006, S. 169) – die Ganztagsschule, die sich, vor allem bedingt durch das desaströse Abschneiden der deutschen Schüler bei der PISA-Studie, als ein „probates Mittel zur Steigerung der Schülerleistungen“ (OELERICH 2007, S. 29) entpuppte. Dient allein eine Ausweitung der täglich verbrachten Zeit in der Schule tatsächlich dazu, qualitativ besser und effektiver zu arbeiten? Führt mehr Zeit automatisch zu mehr Output? BRENNER wirft zurecht die Frage auf, „warum der Schule nachmittags gelingen solle, woran sie vormittags scheitert“ (2006, S. 169). Sie wird weiter bzw. erneut scheitern, wenn sich die Diskussion in der Betonung institutionalisierter Bildung erschöpft, die einseitig die kognitiven Aspekte betont63, und somit wenig neue Ansatzpunkte verspricht, um den vermeintlichen Bildungsnotstand auszugleichen (vgl. BRAKE 2003). Die einseitige Leistungsfokussierung des schulischen Ganztagsbetreuungsangebotes muss an dieser Stelle um den Begriff des Kompetenzerwerbs64 erweitert werden. „Mehr Zeit für Pädagogik! Mehr Zeit für kindgemäße Entwicklung, für kindgemäßes Erkennen und Lernen! Mehr Zeit für die Harmonisierung zwischenmenschlicher Beziehungen! Mehr Zeit für intensive Zuwendung! Mehr Zeit für die Humanisierung des Schultages! Mehr Zeit für sozialen Ausgleich! Mehr Zeit für die Behebung von Defiziten und mehr Zeit für die Förderung von Talenten! Mehr Zeit für lebensorientierten Unterricht. Mehr Zeit für Kinder und Lehrkräfte“ (APPEL 2003, S. 109).
Mehr Zeit für …? Mit dem Slogan „Ganztagsschulen – Zeit für mehr“ (vgl. BMBF 2003) ist die Hoffnung verknüpft, in der Schule tatsächlich für das Leben zu lernen, so wie es SCHMIDT in folgendem Zitat zum Ausdruck bringt: „Die ganze Schulerziehung muß nicht eine Erziehung abseits des Lebens, sondern eine Erziehung im Leben und für das Leben sein“ (1958, S. 298). Diese Art der 62 63 64
Das Zitat ist dem Vorwort der Imagebroschüre „Investitionsprogramm Zukunft Bildung und Betreuung“ des BMBF (2003) von Edelgard Bulmahn entnommen. vgl. hierzu die Anmerkungen von SÜNKER (2004) Der Begriff der (Handlungs-)Kompetenz umfasst gegenüber dem Prinzip der Leistung neben fachlichen (kognitiven) auch personale, soziale und methodische Aspekte.
2 Ganztagsschulkonzept versus Ganztagskonzept für die Schule
61
Erziehung würde dem entsprechen, was ganztägige schulische Betreuung eigentlich ausmacht: Eine Verknüpfung formeller und nicht-formeller Anteile (vgl. OTTO & COELEN 2004)65, eine ganzheitlich angelegte Bildung, die den Schüler als ganzen Menschen umfasst und ihm Fähigkeiten vermittelt, die er im sozialen Gefüge unserer Gesellschaft und zur Bewältigung seiner individuellen Biographie benötigt. „Aufgabe der Schule ist demnach, mit ihren besonderen Möglichkeiten – nämlich denen des Unterrichts im weitesten Sinne – jedem Kind die Chance zu geben, seine Fähigkeiten in optimalem Maße zu entfalten, damit es in einer Gesellschaft voller Optionen eine individuell befriedigende Balance zwischen objektiven Anforderungen und subjektiven Bestrebungen finden und darauf seine persönliche Lebensplanung […] gründen kann“ (GIESECKE 1996, S. 9).
Dazu muss der Schüler bereits in der Schule einen Eindruck davon erhalten, was neben bzw. nach der Schule auf ihn wartet. „Macht die Schule auf, laßt das Leben rein“ (ZIMMER & NIGGEMEYER 1986)66, muss die Devise lauten, um die Kinder und Jugendlichen mit ihrer Lebenswelt und Lebenswirklichkeit vertraut zu machen. Nimmt man diese Forderung ernst, wird man den „Ergebnissen von PISA […] daher nicht gerecht, wenn Bildung weiterhin auf schulisches Lernen verkürzt wird“ (OTTO & COELEN 2004, S. 7). Denn damit würde vorausgesetzt, dass das formelle Lernen der Schule vorbehalten bleibt, wodurch zugleich die außerschulische Bildung sowie die Familie ihres Anteils beraubt wird. Ganztagsbildung – als vorgeschlagene Begrifflichkeit von OTTO & COELEN (2004) – kommt diesem Ansinnen nach und integriert sowohl die formalen und non-formalen als auch die informellen Bildungsaspekte67, die einem erweiterten Bildungsverständnis Rechnung tragen, in Bezug auf die Gestaltungselemente einer ganztägigen schulischen Betreuung jedoch nicht ohne entsprechende Auswirkung bleiben. Betrachtet man hierzu die Merkmale, die dem pädagogischen Konzept einer Ganztagsschule als Leitlinien dienen sollten, ergibt sich theoretisch ein ähnliches Bild. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung nennt folgende Qualitätskriterien: 65 66 67
Zur Begriffsbestimmung formeller, nicht-formeller und informeller Bildung vgl. BUNDESJUGENDKURATORIUM (2002, S. 164f.) und VON REISCHACH (2007, S. 24ff.). zit. n. HOLTAPPELS 1994, S. 155, der sich auf den Titel des folgenden Werkes bezieht: ZIMMER, J./NIGGEMEYER, E. (1986): Macht die Schule auf, laßt das Leben rein. Von der Schule zur Nachbarschaftsschule. Weinheim/Basel Der WISSENSCHAFTLICHE BEIRAT FÜR FAMILIENFRAGEN (2006) misst den non-formalen und informellen Bildungsprozessen im Zusammenhang mit den bildungspolitischen Begründungen der Ganztagsschule eine erhebliche Bedeutung zu.
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2 Ganztagsschulkonzept versus Ganztagskonzept für die Schule
„Individuelle Förderung und Eröffnen von Lernchancen durch eine Pädagogik der Vielfalt, die konsequent die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt, wie zum Beispiel Begabungen, Lernhaltung, die Lernumgebung im Elternhaus und Vorwissen Veränderung von Unterricht und Lernkultur durch Verknüpfung von Unterricht, Zusatzangeboten und Freizeit über Vor- und Nachmittag, zum Beispiel Lösung vom 45-Minuten-Takt, Raum für freien Unterricht und für Projekte Soziales Lernen über verschiedene Altersgruppen hinweg durch Angebote, die das Leben und Lernen in Gemeinschaft, respektvollen Umgang miteinander und soziale Kompetenz fördern Partizipation durch verbesserte Möglichkeiten der Mitentscheidung, Mitgestaltung und Mitverantwortung von Eltern sowie Schülerinnen und Schülern Öffnung von Schule durch Kooperation mit der Kinder- und Jugendhilfe, sozialen und kulturellen Einrichtungen und Betrieben vor Ort Kreative Freizeitgestaltung durch Einbeziehung außerschulischer Angebote, zum Beispiel von Jugendhilfe, Musikschulen, Sportvereinen Qualifizierung des Personals durch entsprechende Weiterbildungen für Schulleitung, Lehrkräfte, pädagogisches Personal und außerschulische Partner“ (BMBF 2003, S. 7; Hervorh. d. Verf.).
Dieses Konzept von Schule klingt plausibel und praktikabel – mutiert jedoch leicht zur Utopie, wenn einerseits keine spezifische Theorie vorliegt, die „das gedrängte, überwiegend lehrgangsorientierte Lernen, wie es in der Halbtagsschule oft aus Zeitgründen stattfinden muss, mit den lebensweltlichen Bezügen einer selbst- bzw. mitbestimmten Nachmittagsgestaltung verbinden will“ (REKUS 2003, S. 91), sondern ein Wildwuchs unterschiedlicher Ansätze existiert. Andererseits ist jegliches theoretische Konstrukt von Ganztagsschule wertlos, wenn die praktische Umsetzung fehlt. Es bleibt zu hoffen, dass sie nicht zu diesem „Theoriefriedhof“ (OTTWEILER 2003, S. 25) verkommt. Schule den lieben langen Tag bedeutet darüber hinaus noch „mehr Zeit, um mehr zu lernen“ (ZELLER 2007a, S. 41), d.h. mehr Wissensvermittlung und eine höhere Beanspruchung der Schüler. Dabei würden Kinder und Jugendliche eine Verlangsamung des Lebens dringend gebrauchen. „Wer sich im Tempo unseres Lebens keine Zeit mehr für seine Kinder nimmt, der macht Kinder unstet und unsicher“ (HENSEL 1995, S. 33). Zugleich heißt dies: noch weniger Zeit zur Erholung, weniger Möglichkeiten, eigenen Interessen nachzugehen und soziale Kontakte ungezwungen zu pflegen. Im Grunde: weniger Zeit zur freien Verfügung und persönlichen Entfaltung. Das Ganztagsschulkonzept, das der Schule die Möglichkeit einräumt, ihren schulischen Bildungsauftrag über den ganzen Tag auszuweiten, bedarf somit
2.1 Charakteristika des Ganztagsschulkonzeptes
63
einer Neuorientierung aus sozialpädagogischer Perspektive im Sinne eines Ganztagskonzeptes für die Schule, das als ganzheitliches Konzept den „ganzen Menschen und das ganze Leben“ (VON DER GROEBEN 2008, S. 240; Hervorh. d. Verf.) umfasst und die Schule kindgemäßer werden lässt (vgl. NIESEL, RIBEIRO & VON HOLLEN 2006). Dabei würde sie ihre originäre Funktion als Bildungsinstitution weiterhin fortführen, während die Disziplin der Sozialpädagogik die erzieherischen Aufgaben ergänzend hinzufügt und somit die Erziehungskraft der Schule in der Realisierung ihres Erziehungsauftrages deutlich stärkt. „Die Forderung nach mehr Ganztagsschulen macht unseres Erachtens nur Sinn als Forderung nach einer ganztägig anderen Schule denn der bestehenden: als Forderung nach einer pädagogisch intensiveren und qualitativ anspruchsvolleren Schule nämlich, die die Entmündigung der Kinder nicht verschärft, sondern sich der Probleme einer ganztägig institutionalisierten Fremdbestimmung von Kindern und Jugendlichen stets bewußt bleibt und gerade deshalb die Selbständigkeitsentwicklung der Heranwachsenden gezielter fördert, als es der traditionellen Halbtagsschule möglich ist (NEUMANN & RAMSEGER 1991, S. 23; Hervorh. d. Verf.).
Dazu benötigt die Schule ein „neues pädagogisches Verständnis, eine neue pädagogische Kultur“ (MACK 2007, S. 11). 2.1 Charakteristika des Ganztagsschulkonzeptes Da im Folgenden der Begriff des Ganztagsschulkonzeptes Verwendung findet, ist vorab zu klären, welche Bestimmungsmerkmale dieses formal und inhaltlich umfasst. Dabei werden häufig Definitionen und begriffliche Abgrenzungen aufgegriffen und als wörtliches Zitat angeführt, um die fachliche Genauigkeit zu wahren. Die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) definiert Ganztagsschulen als Schulen, bei denen
„an mindestens drei Tagen in der Woche ein ganztägiges Angebot für die Schülerinnen und Schüler bereitgestellt wird, das täglich mindestens sieben Zeitstunden umfasst, an allen Tagen des Ganztagsschulbetriebs den teilnehmenden Schülerinnen und Schülern ein Mittagessen bereit gestellt wird, die Ganztagsangebote unter der Aufsicht und Verantwortung der Schulleitung organisiert und in enger Kooperation mit der Schulleitung durchgeführt werden sowie in einem konzeptionellen Zusammenhang mit dem Unterricht stehen“ (2009, S. 4).
64
2 Ganztagsschulkonzept versus Ganztagskonzept für die Schule
Die Kultusministerkonferenz formuliert Rahmenvorgaben, die in inhaltlicher, zeitlicher und konzeptioneller Hinsicht für Ganztagsschulen Orientierungskriterien darstellen. Die genaue Ausgestaltung der einzelnen Aspekte regelt dabei die jeweilige Schule selbst, wobei zusätzlich die oben dargestellten Qualitätskriterien vorgegeben sind. Zusammenfassend lässt sich der konzeptionelle Rahmen einer ganztägigen schulischen Betreuung wie folgt darstellen (vgl. Abb. 2):
Abbildung 2:
Strukturen und Konzeptionsmerkmale einer Ganztagsschule (nach: APPEL & RUTZ 2005, S. 72)
2.2 Unterschiedliche Formen der Ganztagsschulkonzepte
65
2.2 Unterschiedliche Formen der Ganztagsschulkonzepte Im Rahmen dieser Definition von Ganztagsschule gestalten die jeweiligen Schulen die Konzeption in dreifacher Hinsicht. Bezüglich der Verbindlichkeit der Teilnahme an einer ganztägigen Betreuung lassen sich voll gebundene, teilweise gebundene und offene Konzepte unterscheiden:
„In der voll gebundenen Form sind alle Schülerinnen und Schüler verpflichtet, an mindestens drei Wochentagen für jeweils sieben Zeitstunden an den ganztägigen Angeboten der Schule teilzunehmen. In der teilweise gebundenen Form verpflichtet sich ein Teil der Schülerinnen und Schüler (z.B. einzelne Klassen oder Klassenstufen), an mindestens drei Wochentagen für jeweils sieben Zeitstunden an den ganztägigen Angeboten der Schule teilzunehmen. In der offenen Form können einzelne Schülerinnen und Schüler auf Wunsch an den ganztägigen Angeboten dieser Schulform teilnehmen. Für die Schülerinnen und Schüler ist ein Aufenthalt, verbunden mit einem Bildungs- und Betreuungsangebot in der Schule, an mindestens drei Wochentagen im Umfang von täglich mindestens sieben Zeitstunden möglich“ (KMK 2009, S. 5; Hervorh. d. Verf.).
Zieht man den Bericht der KMK (2009) über die allgemeinbildenden Schulen in Ganztagsform in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland heran, zeichnet sich ab, dass bis zum Jahre 2004 mehr als 60% aller Ganztagsschüler eine (teilweise oder voll) gebundene Einrichtung besuchten. Lediglich 40% der Schüler nutzten die Möglichkeit offener Ganztagsschulangebote. Anzumerken ist an dieser Stelle, dass davon ein nicht unerheblicher Teil der Schülerschaft (ca. ein Drittel) den Gesamtschulen zuzuordnen ist, die zumeist in gebundener Form geführt werden. Seit dem Jahr 2002 ist jedoch ein deutlicher Anstieg der offenen ganztägigen Schulen zu verzeichnen. So kommt die Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG) zu dem Ergebnis, dass die teilgebundenen Formen in der deutschen Schullandschaft mit 18% und die voll gebundenen mit einem Anteil von 23% vertreten sind, während 59% aller Ganztagsschulen in offener Form geführt werden (vgl. HOLTAPPELS 2007) – dieser Trend könnte in den nächsten Jahren erheblich an Bedeutung gewinnen, da anzunehmen ist, dass trotz der deutlichen zeitlichen Ausweitung des Ganztagsschulbetriebes nach dem IZBBProgramm vermehrt offene Konzepte mit einem weniger verbindlichen und umfangreicheren Angebot zunehmen, das wiederum nur einen Teil der Schülerschaft erreicht.
66
2 Ganztagsschulkonzept versus Ganztagskonzept für die Schule
2.2.1 Offene Ganztagsschulen Da die offenen Formen den größeren Anteil der Ganztagsschulen ausmachen68, wird – abweichend von der oben angeführten Begriffsklärung – mit dieser Konzeption begonnen. Im Hinblick auf die Bedeutsamkeit der Ganztagsschulkonzepte für die Bewältigung von Übergängen liegt der Fokus des Weiteren auf den gebundenen Betreuungsformen, weshalb diese im Nachgang behandelt werden. Bestimmungsmerkmale Die offene Form setzt auf die fakultative Teilnahme der Schüler. Dementsprechend besitzen die Angebote am Nachmittag lediglich einen optionalen Charakter mit einer geringen Verbindlichkeit. Der fachliche Unterricht wird zudem überwiegend vormittags platziert. APPEL & RUTZ beschreiben die offenen Ganztagsschulkonzepte anhand folgender Kriterien:
68
„Die verpflichtende Unterrichtszeit liegt vorwiegend in den Vormittagen; der Unterricht erfolgt im Vergleich zur Halbtagsschule in modifizierter Form, da die Hausaufgabenpraxis nicht aufrecht zu erhalten ist. Nach der Unterrichtszeit steht ein freiwilliger Mittagstisch zur Verfügung, dabei ermöglichen Stadtteilschulen oft die häusliche Essensteilnahme mit anschließender Rückkehr. Eine freiwillige Hausaufgabenbetreuung unter professioneller (pädagogischer) Aufsicht wird täglich angeboten. Schüler/innen und Eltern sind gelegentlich in Assistentenverfahren eingebunden. Der Freizeitbereich (Außerunterrichtlicher Bereich = so genannter AUB), unterschieden in den ‚gebundenen’ und ‚ungebundenen’ Part, findet am Nachmittag seinen Platz. Nachmittags gibt es Fördermaßnahmen unterschiedlicher Art (z.B. in Sprachen, Naturwissenschaften, Verhaltenstraining, aber auch Angebote der Spitzenförderung). Nachmittags sind die Arbeitsgemeinschaften und Kursveranstaltungen terminiert (thematisch ausgefächert unter Berücksichtigung des gegenüber der Halbtagsschule erweiterten Bildungsauftrages).
Die Zahl der Ganztagsschulen, die ein offenes Konzept verfolgen, liegt weit vor den teilweise und voll gebundenen Ganztagsschulen. Während in den letzten Jahren ein deutlicher Anstieg des Anteils der Schüler in offenen Ganztagsschulen zu verzeichnen ist, lässt sich ein wesentlich geringerer Zuwachs bei den Ganztagsschulen mit gebundenen Konzepten beobachten (vgl. PRÜß 2008).
2.2 Unterschiedliche Formen der Ganztagsschulkonzepte
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Nachmittags erfolgt der Projektunterricht (dieser zuweilen auch nur an Einzeltagen. Ebenso verhält es sich mit Angeboten zur ‚Öffnung von Schule’, Exkursionsvorhaben usw.). Nachmittags sind in zumeist breitem Spektrum Neigungs- und Hobbykurse anberaumt (oft als Schwerpunkt der ‚offenen Ganztagsschule’), zu Teilen auch mit Eltern- und Experteneinbeziehung. Neu entwickelte Unterrichtsfächer (z.B. Praktische Ökologie, Familienunterricht, Stadtteilkunde, Werkstattunterricht) gibt es vereinzelt, angesiedelt je nach Stundentafelauslastung vor- oder nachmittags“ (2005, S. 102f.).
Das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus (STMUK) formuliert für die offene Konzeption folgende Zielsetzung: „Offene Ganztagsschulen wollen: Schülern einen strukturierten Tagesablauf bieten, sie bei der Erledigung der Arbeiten unterstützen, Schülern vielfältigen Erfahrungsraum für soziales Miteinander bieten und sie zur sinnvollen Freizeitgestaltung anleiten“ (2008, S. 8; Hervorh. d. Verf.). Förderliche Aspekte „Offene Ganztagsschulen bieten eine verlässliche Betreuung und Förderung der Schülerinnen und Schüler“ (MODESTO 2008, S. 155), wodurch die Eltern in vielfacher Weise entlastet werden. Wie auch die gebundene Form bieten offene Ganztagsschulen (als additive Modelle) den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit eines warmen Mittagessens (vgl. STMUK 2008). Zudem sind Hausaufgabenbetreuung69 und Angebote zur kreativen und sinnvollen Freizeitbeschäftigung vorgesehen; bei Bedarf können auch individuelle Fördermaßnahmen in Anspruch genommen werden (vgl. ebd.). Insgesamt gewährleisten offen organisierte Ganztagsschulkonzepte somit „durchaus förderliche Erziehungsleistungen und eine attraktive Freizeitbetreuung“ (HOLTAPPELS 1995, S. 27). Hinderliche Aspekte Im Gegensatz zu so genannten integrierten Ganztagsschulmodellen der gebundenen Form weisen additive Konzepte der offenen Ganztagsschule Schwächen in folgenden Bereichen auf: Aufgrund der fakultativen Teilnahme der Schülerschaft am nachmittäglichen Programm, das vorwiegend der Freizeitbeschäftigung und Betreuung der Schüler dient, läuft es Gefahr, „zu einem ‚Jahrmarkt’ diffuser und inkompatibler Angebote“ (H.G. HOLTAPPELS 2004, S. 9) zu verkommen. Wäh69
Damit ist jedoch noch nicht impliziert – wie von vielen Eltern fälschlicherweise angenommen wird –, dass nach dem Ganztagsschulbesuch keinerlei (Haus-)Aufgaben mehr zu erledigen sind.
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2 Ganztagsschulkonzept versus Ganztagskonzept für die Schule
rend eine gezielte individuelle Förderung ausbleibt (vgl. H.G. HOLTAPPELS 2004)70, konzentriert sich der Unterricht auf den Vormittag. Eine sinnvolle Rhythmisierung von Phasen der An- und Entspannung sowie eine flexible Verzahnung der Angebote kann wesentlich problematischer realisiert werden (vgl. OELERICH 2007) und eine Veränderung der Unterrichtskultur bleibt aus, da die nachmittäglichen Angebote lediglich einen Anhang zum Unterricht darstellen (vgl. TILLMANN 2005; JÜRGENS 2006; RADISCH, KLIEME & BOS 2006): „der Vormittag voll gestopft mit Pflichtunterricht, der Nachmittag organisiert mit additiven Betreuungsangeboten statt mit förderlichen Lernangeboten für alle“ (JÜRGENS 2006, S. 200). JÜRGENS prangert in diesem Zusammenhang den „Etikettenschwindel“ (ebd., S. 198) an, da offene Ganztagsangebote im eigentlichen Sinne keine Ganztagsschulen seien. „Wo aber in dieser Schrumpfgestalt von Ganztagsschule Fachlernen und Unterrichtsgestaltung unangetastet bleiben, da sind Betreuungs- und Freizeiten nur ein schwacher Trost“ (HARDER 2005, S. 17). Zudem werden die Nachmittagsangebote lediglich von einem Teil der Schüler in Anspruch genommen71 – FLOERECKE & HOLTAPPELS sprechen hierbei von einer „sozial selektierten Teilschülerschaft“ (2004, S. 902) –, wobei „der für das soziale Lernen notwendige soziale Mix der Schülerschaft“ (HÖHMANN, HOLTAPPELS & SCHNETZER 2004, S. 260) ausbleibt. Durch die hohe Personalfluktuation72, den häufigen Wechsel der Gruppenbildungen und somit den Brüchen in den Lernprozessabläufen wird eine kontinuierliche Gestaltung des Schullebens erschwert (vgl. HOLTAPPELS 1995, 2006b; FLOERECKE & HOLTAPPELS 2004; HÖHMANN, HOLTAPPELS & SCHNETZER 2004; PRÜß 2008). Zudem werden Probleme im Unterricht bzw. mit Lehrkräften kaum in ihrem Entstehungskontext bearbeitet, sondern anderen Erziehungskräften zugewiesen. Auch die Hausaufgabenbetreuung durch außerschulisches Personal zeigt wegen der Unkenntnis der Lernentwicklung wenig Effekte hinsichtlich der individuellen Förderung (vgl. FLOERECKE & HOLTAPPELS 2004). Aufgrund der erörterten Gesichtspunkte kommt HOLTAPPELS zu dem Schluss, dass bei den additiven Modellen der Ganztagsschule der „Verwahraspekt“ (1995, S. 27) dominiert. „Die neue Offensive für Ganztagsschulangebote verspricht nur teilweise schulpädagogische Innovation“
70 71
72
„Die Ganztagsschule bietet mehr Zeit, die aber auch effektiv genutzt werden muss“ (PRÜß 2007, S. 97). Obgleich offene Ganztagsschulen an mindestens drei Nachmittagen Beschäftigungen in den unterschiedlichsten Bereichen anbieten, nimmt ein Großteil der Schüler nach den Ergebnissen von StEG lediglich an einem oder an weniger als drei Tagen dieses Angebot wahr (vgl. KLIEME et al. 2007, S. 359). Auch die Kooperation von Lehrkräften, sozialpädagogischem Personal und außerschulischen Partnern gestaltet sich problematisch, da Personalausfälle und organisatorische Belastungen die Kontinuität der Arbeit erschweren.
2.2 Unterschiedliche Formen der Ganztagsschulkonzepte
69
(2004, S. 6) und zeigt wenig Einfluss auf die Lernkultur und die pädagogische Entwicklung der Schule. FISCHER, RADISCH & STECHER (2007, S. 276) sowie ZÜCHNER, ARNOLDT & VOSSLER (2007, S. 117f.) kamen im Rahmen des Forschungsprojektes StEG zu dem Ergebnis, dass offene Angebote eine gewisse Selektivität in Bezug auf die soziale Herkunft aufweisen. Kinder aus bildungsfernen und benachteiligten Milieus sind in den Ganztagsgrundschulen, die überwiegend in offener Form geführt werden, leicht unterrepräsentiert.73 Auch WAHLER, PREIß & SCHAUB (2005) bestätigen den Trend, dass durch die mangelnde Verbindlichkeit der Angebote überwiegend Schüler aus gehobenen sozialen Schichten angesprochen werden, während solche aus bildungsbenachteiligten Milieus diese nicht oder nur bedingt nutzen. Die Intention, die hinter der Einführung von Ganztagsschulen steht, die Kompensation herkunftsbedingter Unterschiede durch gezielte Förderung, wird nach der momentanen Kenntnislage durch offene Konzepte nicht erreicht. In den weiteren Untersuchungen, vor allem auch vonseiten der StEG, gilt es im Folgenden zu beobachten, inwieweit sich diese Tendenz verfestigt oder verliert. Fraglich bleibt, ob offene Ganztagsschulangebote eine soziale Selektivität forcieren und gebundene Konzepte dieser entgegenwirken oder ob der Schultyp74 die wesentliche Determinante darstellt. Resümee OELERICH übt Kritik daran, dass vonseiten der Schulpädagogik der Fokus einseitig auf die Vorteile des gebundenen Ganztagsschulsystems gerichtet ist und „die offenen Ganztagsschulformen und Ganztagsangebote eher als weniger angemessene Unterformen der ‚echten’ Ganztagsschule betrachtet werden“ (2007, S. 30). Sie merkt hierzu an, dass die Verantwortung für die Bildung und Erziehung der Kinder und Jugendlichen im Vordergrund stehen müsse und auch offene Angebote entwicklungsfördernde Potenziale aufweisen, wenn eine Integration in das außerschulische Umfeld erfolgt. Diesem Aspekt wird allerdings bisher noch zu wenig Bedeutung beigemessen.75 Während offene Ganztagsschulangebote zumeist in der Sekundarstufe I bzw. im Jugendalter in Anspruch genommen werden, dominieren im Kindesalter bzw. bei Übergängen zwischen Schularten die gebundenen Konzepte. Dies ist vor allem auf den stärkeren Betreuungsbedarf während der ersten Schuljahre und 73 74 75
Hinsichtlich des Migrationshintergrunds konnte keine soziale Selektivität festgestellt werden. Starke Inanspruchnahme von Ganztagsgrundschulen in offener Form vonseiten privilegierter Schichten versus Überrepräsentanz bildungsferner bzw. benachteiligter Schichten an Ganztagshaupt- und -gesamtschulen, die zumeist in gebundener Form vorhanden sind. Überlegungen zu einer möglichen Einbindung der verschiedenen Akteurgruppen im schulischen Kontext unternehmen in Anfängen HOLTAPPELS (2006b) und KOLBE (2006).
70
2 Ganztagsschulkonzept versus Ganztagskonzept für die Schule
die zunehmende Entwicklung von Selbstständigkeit in den höheren Klassen zurückzuführen (vgl. WAHLER, PREIß & SCHAUB 2005). 2.2.2 Gebundene Ganztagsschulen Bestimmungsmerkmale Während offene Ganztagsschulkonzepte die Freiwilligkeit der Schülerschaft betonen, gilt bei den gebundenen Formen die verlässliche und kontinuierliche Betreuung der Schüler über den ganzen Tag als entscheidendes Kriterium. Demzufolge stellt die Rhythmisierung des Tagesablaufs einen wesentlichen Bestandteil der gebundenen Konzeptionen dar. APPEL & RUTZ formulieren für diese die im Folgenden aufgeführten Charakteristika:
„Der verpflichtende Unterricht wird auf Vor- und Nachmittage verteilt (Auflösung der ‚Stundentaktschule’ mit deren Kopflastigkeitsstruktur am Vormittag). Teilweise werden die 45-Minuten-Stunden in Phasen zerlegt, und fächerübergreifender Unterricht wird dabei einbezogen. Das Organisationsprinzip erfolgt dabei nach dem biologischen Rhythmus und/oder den berücksichtigten Elternwünschen und/oder den unterrichtsorganisatorischen Prioritäten (letztgenannter Terminus schließt auch ‚erträgliche’ Lehrerstundenpläne ein) oder anderen pädagogischen oder weltanschaulichen Vorgaben. Der Mittagstisch ist weit gehend obligatorisch, da die Schüler/innen nachmittags Regelunterricht oder anderweitig gefüllte Präsenzzeiten haben. Die schriftlichen Hausaufgaben sind konzeptionell eingebunden, zu Teilen auch in modifizierter oder substituierter Form (tägliche Übungs- und Ergänzungsphasen, daneben auch erhöhte Fachstunden oder obligatorische Arbeitsstunden). Mündliche Hausaufgaben werden zusätzlich, jedoch in geringerem Umfang als an Halbtagsschulen gestellt. Gebundene und ungebundene Freizeit (Außerunterrichtlicher Bereich) findet sowohl vormittags als auch nachmittags an wechselnden zeitlichen Platzierungen im Tagesablauf statt, zuweilen auch jahrgangs- oder klassenintegriert. Fördermaßnahmen unterschiedlicher Art werden in der Zeitplanung des Tages an verschiedenen Stellen oder in gesondert ausgewiesenen klassenoder jahrgangsbezogenen Differenzierungsstunden realisiert. Projektunterricht erfolgt in stärkerem Umfang, als dies an offenen Ganztagsschulen der Fall ist, und mehr in übriger Unterrichtseinbindung als nur ausschließlich am Nachmittag.
2.2 Unterschiedliche Formen der Ganztagsschulkonzepte
71
Neigungskurse, Hobbygruppen und Arbeitsgemeinschaften sind überwiegend nachmittags in obligatorischer oder teilobligatorischer Einbindung anberaumt. Hier und da ist auch die Einbeziehung außerschulischer Kräfte anzutreffen. Neu entwickelte sowie modifizierte Unterrichtsfächer (z.B. Umweltkunde, Klassenforum, Museumsunterricht), auch deutliche Anteile reformpädagogischer Unterrichtssequenzen (z.B. Freiarbeit, Wandzeitungsforum, offene Unterweisungszeit, Projektansätze) finden sich in der vor- und nachmittäglichen Konzeption“ (2005, S. 103f.).
Die Zielsetzungen der gebundenen Ganztagsschulkonzepte werden mit Blick auf die Verlautbarungen des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus deutlich: „Gebundene Ganztagsschulen wollen: stärker individuell fördern, um Defizite zu beheben oder besondere Begabungen zu unterstützen, verstärkt Aufgaben im Bereich der Werteerziehung übernehmen und soziale Kompetenzen vermitteln, einen ganzheitlichen Bildungsansatz verwirklichen, Hilfen zur Berufsorientierung und zur Förderung der Ausbildungsfähigkeit der Schüler bieten, zu einer sinnvollen Freizeitgestaltung erziehen, zur Gesundheitserziehung durch Erziehung zu mehr Bewegung und zu gesunder Ernährung beitragen, Familien durch verlässliche sowie kompetente Betreuung und Förderung der Schüler am Nachmittag unterstützen“ (STMUK 2008, S. 6; Hervorh. d. Verf.). Obgleich bei oben genannter Konzeption besonders die Unterstützung der Familie hervorgehoben wird, merkt GANTKE an: „Gebundene Ganztagsschulen verfolgen jedoch primär pädagogische Ziele. Förderung, Bildung und Erziehung bilden hier eine Einheit“ (2008, S. 161). Förderliche Aspekte Wie bei den offenen Ganztagsschulkonzepten stellt eine tägliche Mittagsverpflegung auch bei den gebundenen Betreuungsformen einen positiven Aspekt dar (vgl. STMUK 2008). Darüber hinaus liegen die Vorteile in der „Möglichkeit der ganzheitlichen Erziehung, in der Rhythmisierung des Schultages und in der deutlich günstigeren Sozialisation innerhalb der Schulgemeinde“ (APPEL & RUTZ 2005, S. 101). Aufgrund der Lern-, Personal- und Gruppenkontinuität (vgl. hierzu auch HOLTAP-
72
2 Ganztagsschulkonzept versus Ganztagskonzept für die Schule
2006b76) wird ein pädagogisch sinnvolles Arbeiten ermöglicht, da Schüler Orte brauchen, „wo sie kontinuierliche Zuwendung und Lernhilfen sowie stabile Beziehungen und integrierende Gruppenbezüge vorfinden“ (HOLTAPPELS 2005, S. 31). Des Weiteren ist sowohl für eine effektivere Lernförderung als auch für das soziale Lernen eine soziale Mischung der Schülerschaft möglich (vgl. FLOERECKE & HOLTAPPELS 2004; STMUK 2008). Die Verbindlichkeit schafft zudem Orientierung, indem für alle Schüler die verpflichtende Teilnahme geklärt ist und Diskussionen über eine mögliche Inanspruchnahme des Nachmittagsangebotes entfallen (vgl. HOLTAPPELS 2005). Außerdem kann eine Öffnung von Schule unter Einbeziehung qualifizierter externer Partner durch ein kontinuierliches Angebot leichter realisiert werden (vgl. STMUK 2008). Die gebundene Ganztagsschule bietet neben einem pädagogisch gestalteten Freizeit- und Neigungsbereich den Unterricht ergänzende und individuelle Arbeits- und Übungsphasen an (vgl. ebd.) und stellt „mit ihren Angeboten und unter aktiver Einbeziehung von Schülerinnen und Schülern und Eltern ein Optionengefüge dar, das individuell genutzt werden und optimale Bedingungen für die Entwicklung jeder Schülerin und jedes Schülers schaffen kann“ (PRÜß 2008, S. 36; Hervorh. d. Verf.). Während RADISCH, KLIEME & BOS (2006) die stärker auf kognitive Förderung ausgerichtete Angebotsstruktur betonen, heben WAHLER, PREIß & SCHAUB (2005) die individuelle Förderung der Schüler, unabhängig von erzieherischen, finanziellen und zeitlichen Ressourcen der Familie, hervor (vgl. hierzu auch STMUK 2008), die im Rahmen von StEG bestätigt werden konnte: 97% aller voll gebunden Ganztagsschulen77 verfügen über Maßnahmen zur Förderung (HOLTAPPELS 2007, S. 191)78. Dabei werden die Angebote mit steigender zeitlicher Teilnahme am ganztägigen Schulsystem (gemessen in Schultagen) vermehrt und durchgängig wahrgenommen. Während im Grundschulbereich vor allem die fachbezogenen Fördermaßnahmen (inkl. Hausaufgabenbetreuung) nachgefragt werden, ist in der Sekundarstufe ein Interesse an fach- und freizeitbezogenen Inhalten zu verzeichnen (vgl. HOLTAPPELS 2007). Auch die veränderte Lern- und Unterrichtskultur mit innovativen Unterrichtsformen trägt zu einer differenzierten Förderung bei (vgl. STMUK 2008). Durch die in den Nachmittag verlagerten Angebote verringert sich für alle Schüler die tägliche häusliche Lernzeit. Die gebundene Form der Ganztagsschule PELS
76 77 78
Eine ausführliche Darstellung findet sich bei HOLTAPPELS (1994, S. 243ff.). Hingegen bieten 80% der offenen und 88% der teilgebundenen Ganztagsschulen Förderangebote an (HOLTAPPELS 2007, S. 191). Auch wenn keine Aussagen über die inhaltliche Qualität der Angebote zu treffen sind, zeigt die ausführliche Darstellung von HOLTAPPELS (2007), dass mit der Implementierung eines ganztägigen schulischen Konzeptes (unabhängig von der jeweiligen Form) eine deutliche Bereicherung der Lernkultur einhergeht, die den Schülern erweiterte Lernzugänge und Möglichkeiten zur Kompetenzentwicklung bietet.
2.2 Unterschiedliche Formen der Ganztagsschulkonzepte
73
macht „die Schulzeit verlässlich und erwartet vom Elternhaus in der Regel keine Zeit zum Aufarbeiten von Defiziten“ (RICHTER 2004, S. 88), sucht jedoch die intensive Zusammenarbeit mit den Eltern (vgl. STMUK 2008). Für Schüler, die zu Hause dahingehend bisher wenig Initiative zeigten, stellt die gebundene Form eine Chance dar, ihr Leistungspotenzial zu verbessern, wenn entsprechend individuell und differenziert gestaltete Förderangebote vorhanden sind.79 Hinderliche Aspekte Da die voll gebundene Ganztagsschule von einer verpflichtenden Teilnahme aller Schüler an den nachmittäglichen Angeboten ausgeht, muss sich das Konzept den Vorwurf des Zwangs gefallen lassen. Es besteht die Gefahr, dass die Schüler in ihren Interessenbereichen eingeengt werden, da sie das Angebot der Schule nutzen müssen. Entschwächt wird dieses Argument dadurch, dass diese ein breites Spektrum an Aktivitäten zur Verfügung stellt, in dem jeder Schüler das für ihn passende Angebot findet (vgl. PRÜß 2008). In Bezug auf die Rhythmisierung des Tagesablaufs kritisieren WAHLER, PREIß & SCHAUB (2005), dass diese vor allem in den höheren Jahrgängen aufgrund der Ausweitung der Stundentafel in den Nachmittag erschwert wird. Bei Schülern, bei denen im System der Halbtagsschule nach Unterrichtsschluss regelmäßig und gezielt Nachbereitungen stattfanden, könnte sich das verpflichtende Angebot negativ auswirken, weil einerseits die elterliche Unterstützung wegfällt bzw. eingeschränkt wird und andererseits die Freizeitangebote eine willkommene Abwechslung und Ablenkung vom Lernen darstellen könnten. Um allen Schülern gemäß ihren individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen gerecht zu werden, „sind gestufte Angebote und dementsprechende professionelle pädagogische Betreuungsformen erforderlich, die jeden Schüler auch dort abholen, wo er sich befindet“ (PRÜß 2007, S. 99). Resümee „Ganztagsschule ist eine Schule für alle Kinder und Jugendlichen und nur in gebundener Form pädagogisch sinnvoll und vertretbar“ (BAASEN et al. 2007, S. 79), denn nur gebundene Ganztagsschulkonzepte „haben Aussicht, Kontinuität, Stabilität und Nachhaltigkeit in der Bildung zu entwickeln“ (PRÜß, KORTAS & SCHÖPA 2008, S. 367)80, wenn folgende Voraussetzungen gegeben sind: eine individuelle 79 80
Eine Hausaufgabenbetreuung im traditionellen Sinne erfüllt hierbei nicht den erforderlichen Zweck. vgl. auch APPEL (2008, S. 65). Diesem Plädoyer für die gebundene Ganztagsschule widerspricht die Entwicklung in den letzten Jahren, in denen ein deutlicher Zuwachs der Ganztagsschulen in offener Form zu konstatieren ist (vgl. PRÜß 2008). Nach PRÜß, KORTAS & SCHÖPA (2008) könne diese Tendenz weder systemverändernd wirken, noch die Schüler erreichen, die einer ganztägigen schulischen Betreuung tatsächlich bedürfen.
74
2 Ganztagsschulkonzept versus Ganztagskonzept für die Schule
Förderung des Schülers, damit er sich optimal entwickelt; die Herstellung von Eigenverantwortung und Gemeinschaftsfähigkeit über Partizipation; die effektive Nutzung vorhandener pädagogischer und organisatorischer Potenziale (vgl. KLIEME et al. 2007; PRÜß 2008). Denn „[d]ie Aufhebung der starren Zeitrhythmen und der strikten Trennung zwischen kognitivem und sozialem Lernen sowie die Aufarbeitung von Schulproblemen ist nur mit einem integrierten Bildungs- und Erziehungskonzept zu realisieren“ (HOLTAPPELS 1995, S. 27). Obgleich sich aufgrund der Ergebnisse von StEG weder die Auswirkungen der Ganztagsschule auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, noch der Erfolg eines ganztägigen schulischen Konzeptes abschätzen lassen (vgl. HOLTAPPELS 2006b, S. 12; KLIEME et al. 2008, S. 376), kommen gebundene Organisationsformen „der bildungstheoretisch begründeten Konzeption von Ganztagsschule […] bislang durchschnittlich am nächsten“ (HOLTAPPELS 2007, S. 197). Ganztägig organisierte Formen mit einem in das Schulprogramm integrierten Ganztagskonzept „zeigen in fast allen Organisations- und Prozessfaktoren sowie in Lernkultur und Förderpraxis günstigere Ergebnisse“ (HOLTAPPELS 2006b, S. 24).81 Des Weiteren scheint nur diese Form der Ganztagsbetreuung langfristig und nachhaltig das schulische System zu verändern (vgl. EDELSTEIN 2009). Somit plädieren Vertreter aus Schul-, Jugend- und Bildungsforschung (vgl. OERTER 2002; WUNDER 2003; H.G. HOLTAPPELS 2003, 2004; TILLMANN 2004) für die gebundene Ganztagsschule als Pflichtangebot für alle Schüler, damit die „sozialisatorischen, entwicklungspsychologischen und pädagogischen Vorteile genutzt, Chancengerechtigkeit gefördert und tragfähige, nachhaltige Kooperationen zwischen Schule und Jugendhilfe realisiert werden“ (POPP 2006, S. 179) können. Gerade für Kinder und Jugendliche aus bildungsfernem Milieu ist die schulische Bildung und Betreuung in gebundener Form angebracht, denn „in sozialen Brennpunkten kommen die Verantwortlichen selbst bei guter inter-institutioneller Kooperation oft kaum an bildungsbenachteiligte Zielgruppen heran“ (WAHLER, PREIß & SCHAUB 2005, S. 97). Da ein offen gestaltetes Ganztagsschulangebot diese aufgrund der freiwilligen Teilnahme nicht bzw. nur unzureichend erreicht, muss der Grad der Verbindlichkeit deutlich gesteigert werden, um die Herstellung von Chancengleichheit zu realisieren. „Wenn alle – besonders die benachteiligten, aus bildungsfernen Familien kommenden – Schüler/innen optimal von der Schule profitieren sollen, müssen auch alle an der Ganztagsschulkultur teilhaben und diese mitgestalten können“ (PRÜß, KORTAS & SCHÖPA 2006, S. 40).82 Diese Aussage unterstützt die Notwendigkeit der verpflichtenden Teilnahme aller Schüler an ge81 82
Auch HÖHMANN, HOLTAPPELS & SCHNETZER (2004) heben die weiter entwickelte Organisations- und Lernkultur an gebundenen Ganztagsschulen hervor. vgl. hierzu auch VOGELSAENGER & VOGELSAENGER: „Ziel muss der Ganztag für alle sein, um allen Kindern bestmögliche Bildungschancen zu eröffnen“ (2006, S. 77).
2.3 Die Ganztagsschule als Lern- und Lebensraum
75
bundenen ganztägigen Schulen und betont den ausgleichenden Effekt vor allem für Kinder bildungsferner Schichten (vgl. hierzu auch BUEB 2007, S. 142). „Die bildungspolitische und pädagogische Zielsetzung kann daher nur heißen: Obligatorische Ganztagsschule für alle mit einem pädagogischen Gesamtkonzept für Unterricht und Schulleben – nicht als Paukschule, sondern als Lern-, Erfahrungs- und Lebensraum zur allseitigen Förderung von Kindern und Jugendlichen“ (H.G. HOLTAPPELS 2004, S. 10). Zieht man die Ergebnisse des Forschungsprojektes LUGS (vgl. KOLBE 2008; REH 2008) heran, lässt sich feststellen, dass in der aktuellen Ganztagsschuldiskussion vonseiten der professionellen Beteiligten das Prinzip der Kompensation gelebt wird und Ganztagsschule somit nicht eine Schule für alle, sondern lediglich für Benachteiligte darstellt. Zudem wird das gebundene Ganztagsschulkonzept von SPIEWAK als schwer durchsetzbares bildungspolitisches Wagnis bezeichnet: „Eine Schule für alle […] wagt niemand in Deutschland“ (2004, S. 18) und genießt auch vonseiten der Lehrkräfte und Eltern keine uneingeschränkte Akzeptanz (vgl. WUNDER 2004). „Insgesamt gesehen heißt die Devise: Die schulischen Angebote müssen für Schüler und Eltern so attraktiv sein, daß möglichst viele oder gar alle Kinder daran teilnehmen“ (HOLTAPPELS 1995, S. 28). 2.3 Die Ganztagsschule als Lern- und Lebensraum Die Ganztagsschule macht nur dann Sinn, „wenn sich das Schulleben so verändert, dass die SchülerInnen (und LehrerInnen) auch bereit sind, den ganzen Tag in der Schule zu verbringen. Es wird sich daher Erhebliches an Lehrinhalten und -formen, an der Organisation, an der Schulkultur, an der Eigenverantwortlichkeit von SchülerInnen, LehrerInnen und Schulleitung verändern müssen. Denn eine bloße Verlängerung dessen, was jetzt schon nachweislich schlecht funktioniert, kann nicht im Interesse aller Beteiligten sein“ (FUCHS 2006, S. 214; Hervorh. d. Verf.).83
Es geht also konkret darum, dass sich für Schüler in der Ganztagsschule ein Raum erschließt, der einerseits zum Lernen, andererseits zum Leben einlädt: Schule als Lern- und Lebensraum. Die große Herausforderung besteht darin, die Balance zwischen beiden Polen zu finden und zu halten. Während in der aktuellen Diskussion der Schule als Lernraum erhebliche Bedeutung beigemessen wird, verkümmert die Schule als Lebensraum. Der Gedanke der Ganztagsschule 83
vgl. auch FUCHS (2005)
76
2 Ganztagsschulkonzept versus Ganztagskonzept für die Schule
allein genügt nicht, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Dazu bedarf es weitreichenderer Überlegungen, die nicht dominant den Leistungsgedanken im Blick haben, sondern den Schüler in den Blick nehmen und im Sinne eines erziehenden Unterrichts „eine ausgedehnte und anders gestaltete Unterrichtszeit“ (REKUS 2003, S. 100) vorsehen. Da mit einer ganztägigen Betreuungsform „in Wahrheit das Problem der Bildungswirksamkeit der Schule“ (HERRMANN 2005, S. 26) verbunden ist, muss sich die Schule sowohl als „Reformerin als auch Bewahrerin ganzheitlicher ‚schulischer’ Bildung“ (JÜRGENS 2006, S. 203f.) begreifen. Eine gute Schule sollte demzufolge daran zu erkennen sein, „ob es sich in ihr ‚leben’ lässt, ob man sich willkommen fühlt, in seinen persönlichen Eigenheiten akzeptiert wird, in seinen individuellen Möglichkeiten anerkannt wird und sich einbringen kann“ (SCHLÖMERKEMPER 2009, S. 14). Das Prinzip des Willkommenseins und des Wohlfühlens ist für den Schüler vorwiegend dann relevant, wenn es sich um die markanten Stellen der Übergänge zwischen Institutionen handelt. Besonders deutlich ist der Blickwinkel des Schülers an den Nahtstellen zwischen Familie und Schule einzunehmen, da das Kind bzw. der Jugendliche vor Entwicklungsaufgaben gestellt wird, deren Bewältigung einen erheblichen Einfluss auf die Schulbereitschaft und den weiteren Schulerfolg besitzen.
3.1 Der Begriff Transition
77
3 Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule
Unsere gesellschaftliche Struktur macht es erforderlich, dass sich Kinder neben der Familie in Institutionen aufhalten, die die Bildung und Erziehung übernehmen bzw. weiterführen. Die Übergänge zwischen den unterschiedlichen Systemen stellen an den Akteur bestimmte Entwicklungsaufgaben, die es zu meistern gilt, um von einer gelungenen Transitionsbewältigung sprechen zu können. Dabei werden diese von speziellen Ritualen begleitet, die für den Transitionsbewältiger das „Überwechseln“ markieren. „In jeder Gesellschaft besteht das Leben eines Individuums darin, nacheinander von einer Altersstufe zur nächsten und von einer Tätigkeit zur anderen überzuwechseln. Wo immer zwischen Alters- und Tätigkeitsgruppen unterschieden wird, ist der Übergang von einer Gruppe zur anderen von speziellen Handlungen begleitet. […] Zu jedem dieser Ereignisse gehören Zeremonien, deren Ziel identisch ist: Das Individuum aus einer genau definierten Situation in eine andere, ebenso genau definierte hinüberzuführen. […] Jedenfalls hat sich das Individuum verändert, wenn es mehrere Etappen hinter sich gebracht und mehrere Grenzen überschritten hat” (VAN GENNEP 1986, S. 15).
Wie dieses „Hinüberführen“ des Individuums von einer Lebenssituation in eine andere konkret stattfindet und welche Veränderungen dies mit sich bringt, dem wird im Folgenden nachgegangen. 3.1 Der Begriff Transition Die Transitionsforschung haben im deutschsprachigen Raum neben FTHENAKIS vor allem GRIEBEL und NIESEL vorangetrieben und mit ihren Erkenntnissen einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass Transitionen als „Phasen beschleunigter Veränderung und als besonders lernintensive Zeit“ (WELZER 1993, S. 37) verstanden werden. „Die Grundannahme des Übergangskonzepts ist, daß durch situative, biologische oder psychische Veränderungen ein bedeutsamer Wechsel der Entwicklungsdynamik und/oder der Entwicklungsrichtung auf der Ebene des manifesten Verhaltens zu verzeichnen ist“ (BEELMANN 2006, S. 16).
78
3 Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule
Im Vergleich zu Begrifflichkeiten wie Übergänge, Entwicklungsschritte oder Passagen greift die Bezeichnung Transition umfassender die Kontextbezogenheit auf, da neben den intrapsychischen Prozessen auch die Beziehungen zu anderen Personen umgestaltet werden müssen (vgl. COWAN 1991). Zusammenfassend wird der Begriff Transition „auf Lebensereignisse bezogen, die eine Bewältigung von Veränderungen auf mehreren definierten Ebenen erfordern – der individuellen, interaktionalen und kontextuellen – und in der Auseinandersetzung des Einzelnen und seines sozialen Systems mit gesellschaftlichen Anforderungen Entwicklungen stimulieren und als bedeutsame biographische Erfahrungen in der Identitätsentwicklung ihren Niederschlag finden“ (GRIEBEL & NIESEL 2004, S. 36).
Als Transitionen werden somit komplexe, ineinander übergehende und sich überblendende Wandlungsprozesse bezeichnet, die „sozial prozessierte, verdichtete und akzelerierte Phasen in einem in permanentem Wandel befindlichen Lebenslauf“ (WELZER 1993, S. 37; Hervorh. d. Verf.) darstellen. Sie können als „langandauernde Prozesse verstanden werden, die es mit sich bringen, daß es zu einer qualitativen Neugestaltung innerpsychologischer wie interpersonaler Prozesse kommt, welche interdependent aufeinander Einfluß nehmen können“ (FTHENAKIS 1999, S. 48). 3.2 Theoretische Modelle zur Erklärung des Transitionsprozesses Aus der Vielzahl der unterschiedlichsten theoretischen Modelle zur Erklärung von Transitionsprozessen wurden die im Hinblick auf die Bedeutsamkeit für Übergänge von der Familie in die Schule fruchtbaren Ansätze analysiert und dahingehend die Auswahl der folgenden Erklärungsmodelle getroffen: zum ersten der Ökopsychologische Systemansatz nach BRONFENBRENNER, zweitens das Schulreifekonstrukt nach NICKEL und drittens das Transitionsmodell nach GRIEBEL und NIESEL. 3.2.1 Der Ökopsychologische Systemansatz nach BRONFENBRENNER Nach dem Ökopsychologischen Systemansatz (vgl. BRONFENBRENNER 1981) wird die Anpassung an eine Institution außerhalb der Familie als ökologischer Übergang bezeichnet, der Veränderungen in der Identität, in Rollen und Beziehungen mit sich bringt. Die Veränderung der Rolle impliziert auch die Veränderungen der mit einer bestimmten Gesellschaftsstellung verbundenen Verhaltenserwartungen. Die-
3.2 Theoretische Modelle zur Erklärung des Transitionsprozesses
79
ser ökologische Übergang findet somit statt, „wenn eine Person ihre Position in der ökologisch verstandenen Umwelt durch einen Wechsel ihrer Rolle, ihres Lebensbereichs oder beider verändert“ (BRONFENBRENNER 1981, S. 43). Die Bewältigung des Übergangs zwischen unterschiedlichen Lebensbereichen hängt dabei von der Passung der Anforderungen der jeweiligen Entwicklungskontexte ab. „Dieser Prozeß wird fortlaufend von den Beziehungen dieser Lebensbereiche untereinander und von den größeren Kontexten beeinflußt, in die sie eingebettet sind“ (ebd., S. 37), wobei die Umwelt als zu gestaltende und gestaltbare Welt verstanden wird. „In der ökologischen Entwicklungsforschung müssen die Eigenschaften von Person und Umwelt, die Strukturen der Lebensbereiche in der Umwelt und die Prozesse, die in ihnen und zwischen ihnen ablaufen, als voneinander abhängig angesehen und als System analysiert werden“ (ebd., S. 59). Daher ist das Individuum, das im Sinne BRONFENBRENNERS als „aktiver, sich entwickelnder Mensch“ (ebd., S. 37) gilt, herausgefordert, sich „den wechselnden Eigenschaften seiner unmittelbaren Lebensbereiche“ (ebd.) anzupassen. Diese bilden die Umwelt der jeweiligen Person und untergliedern sich in unterschiedliche Systeme. Unter Umwelt versteht BRONFENBRENNER die subjektiv erfahrene Wirklichkeit, die einer aktiv konstruierten Welt entspricht. „Man muß sich die Umwelt aus ökologischer Perspektive topologisch als eine ineinandergeschachtelte Anordnung konzentrischer, jeweils von der nächsten umschlossener Strukturen vorstellen. Diese Strukturen werden als Mikro-, Meso-, Exo- und Makrosysteme bezeichnet“ (ebd., S. 38; Hervorh. d. Verf.).
Dabei kann das Mikrosystem nach BRONFENBRENNER beschrieben werden als „ein Muster von Tätigkeiten und Aktivitäten, Rollen und zwischenmenschlichen Beziehungen, die die in Entwicklung begriffene Person in einem gegebenen Lebensbereich mit den ihm eigentümlichen physischen und materiellen Merkmalen erlebt“ (ebd.). Es stellt somit die unmittelbare Umwelt dar, die durch die Interaktion des Individuums mit den Bezugspersonen und physikalischen Gegebenheiten bestimmt ist. Dieses Mikrosystem unterliegt einem permanenten Wandel und ist eingebettet in ein Meso- bzw. Exosystem. Das Mesosystem „umfaßt die Wechselbeziehungen zwischen den Lebensbereichen, an denen die sich entwickelnde Person aktiv beteiligt ist“ (ebd., S. 41). Es beinhaltet die Bereiche eines Individuums, in denen es direkten Kontakt zu anderen pflegt, d.h. es handelt sich um die Wechselwirkung zwischen zwei oder mehreren Mikrosystemen. Das Exosystem hingegen gilt als „Lebensbereich oder mehrere Lebensbereiche, an denen die sich entwickelnde Person nicht selbst beteiligt ist, in de-
80
3 Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule
nen aber Ereignisse stattfinden, die beeinflussen, was in ihrem Lebensbereich geschieht, oder die davon beeinflußt werden“ (ebd., S. 42) und interagiert über indirekte Beziehungen dadurch mit den Mikrosystemen der Person. Somit kann die Institution Schule ein exogenes System darstellen, wenn deren Einfluss die Eltern lediglich indirekt über ihr Kind tangiert; zum Mesosystem wird diese jedoch, wenn ein intensiver Austausch zwischen Elternhaus und Schule stattfindet. Das Makrosystem, im Sinne generalisierter Wertvorstellungen, Ideologien, Organisationsmuster u.ä. einer Gesellschaft, umfasst das Mikro-, Meso- und Exosystem. Es „bezieht sich auf die grundsätzliche formale und inhaltliche Ähnlichkeit der Systeme niedrigerer Ordnung (Mikro-, Meso- und Exo-), die in der Subkultur oder der ganzen Kultur bestehen oder bestehen könnten, einschließlich der ihnen zugrunde liegenden Weltanschauungen und Ideologien“ (ebd.).
Auf die Kontexte Familie und Schule bezogen, lassen sich obige Ausführungen in der folgenden Abbildung veranschaulichen:
Abbildung 3:
Mikrosysteme des Kindes in den Umweltbereichen Familie und Schule (nach: STÖCKLI 1989, S. 26)
Für den Schuleintritt dient der Ökopsychologische Ansatz BRONFENBRENNERS insofern als Erklärungsmodell, als ökologische Übergänge einen Wandel von Bedeutungsgehalten forcieren. Entwicklung als „dauerhafte Veränderung der Art und Weise, wie die Person die Umwelt wahrnimmt und sich mit ihr auseinandersetzt“ (BRONFENBRENNER 1981, S. 19) vollzieht sich, wenn das Individuum
3.2 Theoretische Modelle zur Erklärung des Transitionsprozesses
81
herausgefordert ist, die Umweltereignisse bzw. Gegebenheiten subjektiv zu bewerten und sich an die neuen Umwelten anzupassen. Ökologische Übergänge stellen somit keine hinreichenden, sondern lediglich notwendige Bedingungen für Entwicklung dar, wobei Entwicklungseffekte stets dann auftreten, „wenn die Person aus dem gegenwärtigen in einen anderen […] Lebensbereich übertritt, […] der ihr die Initiative zur Erschließung neuer Anregungs- und Unterstützungsquellen abverlangt“ (ebd., S. 262). Zudem ist die Entwicklung abhängig von den Beziehungen bzw. dem Austausch zwischen den ökologischen Bereichen und den Personen (Dyade). Der Wechsel von der Familie in den Umweltbereich Schule begünstigt die Anwendung des Ökopsychologischen Ansatzes nach BRONFENBRENNER, da die Eltern-Kind-Beziehung einer Neudefinition unterliegt.
Abbildung 4:
Der ökologische Übergang des Kindes von der Familie in die Schule mit den (vermutlichen) Wirkungen auf die Eltern-KindBeziehung (nach: STÖCKLI 1989, S. 35)
Das Schulkind pflegt sowohl Dyadenbeziehungen im Mikrosystem Familie als auch im Mikrosystem Schule und wird mit veränderten Rollen(erwartungen) konfrontiert. Diese Überschneidung der beiden Lebensbereiche beinhaltet für den Schüler ein Mesosystem, das DUNLOP & FABIAN graphisch umfassend herausarbeiten (vgl. Abb. 5).
82
3 Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule
Abbildung 5:
A transition systems approach (nach: DUNLOP & FABIAN 2002, S. 151)
„Das entwicklungsfördernde Potential eines Lebensbereichs in einem Mesosystem wird gesteigert, wenn die Person den ersten Übergang in diesen Lebensbereich nicht alleine vollzieht, wenn sie also in Begleitung einer anderen Person oder mehrerer anderer Personen, mit denen sie an früheren Lebensbereichen teilgenommen hat, in den neuen Lebensbereich eintritt“ (BRONFENBRENNER 1981, S. 201f.).
3.2 Theoretische Modelle zur Erklärung des Transitionsprozesses
83
Dies impliziert einerseits die unterstützende Begleitung der Eltern beim ersten Schultag sowie informelle Kontakte zu Lehrkräften, andererseits ist damit auch die Klassenbildung nach Freundschaftsgruppen gemeint. BRONFENBRENNER spricht in diesem Fall von einem „doppelten Übergang“ (ebd., S. 201), der sowohl die Eltern als auch den angehenden Schüler betrifft. „Das entwicklungsfördernde Potential eines Lebensbereichs wächst mit der Anzahl der unterstützenden Verbindungen zu anderen Lebensbereichen“ (ebd., S. 205) bzw. „die Konstruktivität des Mesosystems Elternhaus – Schule als auch der Aufbau unterstützender Verbindungen insbesondere durch Personen aus Primärdyaden […] beeinflussen nachhaltig die Bewältigung dieser Statuspassage“ (SCHNEIDER 2001, S. 469). Ein erfolgreicher Übergang basiert daher auf intakten Dyadenbeziehungen, die „ein reichhaltiges und differenziertes Tätigkeitsrepertoire, positive affektive Beziehungen untereinander und die Möglichkeit des Kindes, vielfältig beobachten und selbst tun zu können“ (ebd.) umfassen. Diese Tätigkeiten wiederum sollten durch „ein motivationales Beharrungsvermögen und zunehmende Komplexität und inhaltliche Vielfalt“ (ebd.) gekennzeichnet sein. Des Weiteren wird eine positive Übergangsbewältigung davon begünstigt, dass „die Rollenanforderungen in den verschiedenen Lebensbereichen einander vereinbar sind und wenn die Rollen, Tätigkeiten und Dyaden, die die sich entwickelnde Person aufnimmt, gegenseitiges Vertrauen, positive Orientierung und Zielübereinstimmung in den Lebensbereichen fördern und Kräfteverhältnisse entstehen lassen, die sich allmählich zu ihren Gunsten verändern“ (BRONFENBRENNER 1981, S. 202)
und zwischen den Lebensbereichen Verbindungen – auch indirekter Art – bestehen, die von der sich entwickelnden Person beeinflusst werden können. Auch „einschlägige Informationen, Beratung und Erfahrungen“ (ebd., S. 208) dienen dazu, den Übergang in einen neuen Lebensbereich zu erleichtern. Am Beispiel des Schuleintritts begünstigt die regelmäßige Kommunikation und Interaktion zwischen Elternhaus und Schule die Verbindung zwischen diesen beiden Systemen (vgl. SCHNEIDER 2001). Darüber hinaus ist das Schulkind als Bewältiger des Übergangs herausgefordert, mit den an es gestellten Anforderungen konstruktiv umzugehen. „Menschliche Entwicklung ist der Prozeß, durch den die sich entwickelnde Person erweiterte, differenziertere und verläßlichere Vorstellungen über ihre Umwelt erwirbt. Dabei wird sie zu Aktivitäten und Tätigkeiten motiviert und befähigt, die es ihr ermöglichen, die Eigenschaften ihrer Umwelt zu erkennen und zu erhalten oder auf nach Form und Inhalt ähnlich komplexem oder komplexerem Niveau umzubilden“ (BRONFENBRENNER 1981, S. 44).
84
3 Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule
Das Kind wird dabei im Sinne Piagets als aktiver Mitgestalter betrachtet, das seine Umwelt bewusst steuern bzw. beeinflussen kann: „Die sich entfaltende phänomenale Welt des Kindes ist nicht lediglich eine Reproduktion, sie ist […] eine ‚Konstruktion der Realität’. Anfangs kann das kleine Kind […] subjektive und objektive Umweltaspekte nicht immer unterscheiden und daher Frustration erleben oder sogar körperlich Schaden nehmen, wenn es das physikalisch Unmögliche versucht. Nach und nach kann es seine Phantasie den Grenzen der objektiven Realität immer besser anpassen, sogar die Umwelt umformen und seinen Fähigkeiten, Bedürfnissen und Wünschen besser vereinbar machen“ (ebd., S. 27).
Gelingt es dem Kind, die neue Umwelt für sich umzuformen und mit seinen Bedürfnissen und Wünschen zu vereinbaren, stellt dies einen „Ausdruck von Entwicklung auf ihrem höchsten Niveau“ (ebd.) dar. Konklusiv lässt sich festhalten, dass mit Hilfe des Ökopsychologischen Systemansatzes Entwicklungsprozesse von Kindern beim Übergang von der Familie in die Schule vor allem auf der Ebene der Interaktionen und der Reorganisation bzw. Neustrukturierung von Bedeutungsinhalten beleuchtet werden. BRONFENBRENNER hingegen formuliert die Vorzüge seines Modells wie folgt: „Schließlich ist jeder ökologische Übergang ein perfektes ‚natürliches Experiment’ mit eingebauter ‚Vorher-Nachher’-Anordnung, in dem jede Versuchsperson als ihre eigene Kontrollperson dient. Insgesamt bieten ökologische Übergänge die besten Bedingungen für das Auftreten von Entwicklungserscheinungen und für ihre systematische Untersuchung“ (ebd., S. 44; Hervorh. d. Verf.)84. 3.2.2 Das Schulreifekonstrukt nach NICKEL Der theoretische Ansatz des Ökologischen Übergangs (vgl. BRONFENBRENNER 1981) postuliert, dass die subjektive Wahrnehmung der Umwelt durch den Einzelnen in entscheidendem Maße dessen Verhalten und Entwicklung prägt und der Übergang aufgrund von Veränderungen in der Identität, in Rollen und Beziehungen bewältigt wird. Dieses heuristische Modell der Systemebenen wurde in Deutschland von NICKEL (1981a, 1981b, 1990) auf die Einschulung übertragen und richtet den Blick auf das gesamte System, dem das Individuum angehört. Der ökologische Übergang des Schuleintritts impliziert einen Wechsel des Mesosystems. Das Kind erweitert den Lebensbereich Familie um ein weiteres Mikrosystem, die Schule (siehe folgende Darstellung).
84
vgl. hierzu auch Abb. 4 aus STÖCKLI (1989, S. 35)
3.2 Theoretische Modelle zur Erklärung des Transitionsprozesses
Abbildung 6:
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Ein ökopsychologisches Schulreifemodell (nach: NICKEL 1996, S. 94)
Rekurrierend auf BRONFENBRENNERS Annahme sprechen NICKEL & SCHMIDTDENTER immer dann von einem „ökologischen bzw. gesellschaftlich bedingten Übergang“ (1995, S. 225), wenn ein Übertritt von einem Lebensbereich in einen anderen vorgenommen und bewältigt werden muss. Die Einschulung besitzt dabei Schwellencharakter: „Das Individuum kann sie überschreiten und damit erfolgreich sein oder es kann die Schwelle nicht überwinden und damit schulisch versagen“ (NICKEL 1993, S. 48). Somit beinhalten ökologische Übergänge aufgrund der hohen Anforderungen an die Bereitschaft zur Anpassung an die neue(n) Umwelt(en) einerseits Krisencharakter, andererseits auch fördernde Potenziale, die die psychische Entwicklung stimulieren (vgl. NICKEL 1982). Geoder Misslingen der Übergangssituation hängt dabei wesentlich von schulischen Anforderungen und individuellen Voraussetzungen ab, die im Zusammenhang mit situativen und ökologischen Faktoren stehen.
86
3 Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule
NICKEL fasst diese Komponenten in folgendem interaktionistischen Konstrukt zusammen:
Abbildung 7:
Ökopsychologisches Schulreifemodell (nach: NICKEL 1993, S. 5785)
Das ökopsychologische Schulreifemodell86 umfasst vier Teilkomponenten, die zueinander in einer wechselseitigen Beziehung stehen.
Die Teilkomponente Schule beinhaltet das Schulsystem, das einen wesentlichen Beitrag zu einem bruchlosen Übergang leisten kann, die allgemeinen schulischen Anforderungen und spezielle Unterrichtsbedingungen, worunter
85
Dieses Modell wurde von NICKEL erstmals 1981 schematisch dargestellt und daraufhin mehrmals modifiziert. Ein erster Entwurf des ökopsychologischen interaktionistischen Konstrukts findet sich bei NICKEL (1981a, S. 25). NICKEL (1993) hingegen legt seiner Graphik folgende Quelle zugrunde: NICKEL, H. (1982): Schulreife und Schulerfolg als ökopsychologisches Problem. In: LÖSCHENKOHL, E. (Hg.): Bericht über den 23. Kongreß des Bundesverbandes österreichischer Psychologen in Klagenfurt. 1981. Wien. S. 84 vgl. NICKEL 1981a, 1981b, 1982, 1989, 1990, 1993
86
3.2 Theoretische Modelle zur Erklärung des Transitionsprozesses
87
insbesondere die jeweiligen Lernbedingungen und die Organisation des Lernens zu verstehen sind. Die Schüler verfügen im Einschulungsalter über unterschiedliche körperliche und psychische Lernvoraussetzungen. Neben diesen Entwicklungsbedingungen tragen primär die kognitiven Fähigkeiten, im Sinne der Schulreife, und die motivationalen und sozialen Bedingungen – auch als Schulbereitschaft zu titulieren – zu einem gelingenden Übergang bei. Die ökologische Komponente bezieht sich auf die familiäre, vorschulische und schulische Umwelt. Im Sinne von BOURDIEU & PASSERON (1971) bestimmt das ökonomische, kulturelle und soziale Kapital der Familie als Zugangsvoraussetzung den schulischen Übertritt und den Erfolg des Kindes. Des Weiteren ist für die Bewältigung des Übergangs von der Familie in die Schule von Bedeutung, inwieweit das Kind vorab durch den Besuch einer Kindertagesstätte institutionell sozialisiert wurde. Letztlich leisten die schulischen Gegebenheiten, wie Schulraumgestaltung, didaktische Konzepte, pädagogische Einstellung der Lehrkraft etc. ihren Beitrag zu einem positiv erlebten Übertritt. „Nur bei einem integrativen Zusammenwirken aller ökologischer Bereiche ist ein bruchloser gleitender Übergang möglich“ (NICKEL 1990, S. 221), der im Sinne eines „begleiteten ökologischen Übergangs“ (ebd.; Hervorh. d. Verf.) zu verstehen ist. Obgleich GRIEBEL & NIESEL (2002a) im Zusammenhang mit der Transitionsbewältigung die diskontinuierlichen Aspekte hervorheben, ist in obiger Feststellung NICKELS deutlich das von GRIEBEL und NIESEL proklamierte Prinzip der Co-Konstruktion angesprochen (vgl. Gliederungspunkt 4.2.2.). Die letzte Komponente bildet die gesamtgesellschaftliche Situation – das Makrosystem im Verständnis BRONFENBRENNERS (1981) –, die mit ihren Wert- und Normvorstellungen und ihren Leistungserwartungen mit den übrigen Teilsystemen interagiert.
Die Einschulungsproblematik lässt sich nach NICKEL nur lösen, wenn alle Teilkomponenten gleichermaßen berücksichtigt werden. Bisher wurde das Augenmerk überwiegend auf den Schüler gerichtet, wobei die schulischen Bedingungen vernachlässigt wurden. „Alle schülerbezogenen Maßnahmen können nur erfolgreich sein, wenn sie von gleichsinnigen Maßnahmen auf seiten der Institution Schule unterstützt werden“ (NICKEL 1993, S. 53). Dazu bedarf es einer Reformierung der Schule, indem die individuellen Lernvoraussetzungen und Lernbedingungen im Unterrichtsgeschehen eine stärkere Beachtung finden. Er plädiert daher dafür, „ohne generellen Niveauverlust inhaltliche Anforderungen und besonders den Unterrichtsstil den interindividuell stark variierenden Lernvoraussetzungen der Schulanfänger besser anzupassen. Möglichkeiten dazu bieten vor
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3 Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule
allem eine stärkere Individualisierung und innere Differenzierung des Unterrichts87“ (NICKEL 1981a, S. 315). 3.2.3 Das Transitionsmodell nach GRIEBEL und NIESEL GRIEBEL und NIESEL88 haben am Staatsinstitut für Frühpädagogik (IFP) in München aus den Erkenntnissen der Transitionsforschung ein übergreifendes theoretisches Konzept entworfen. Um die Entwicklungslinie des Transitionsmodells nachvollziehen zu können, werden vorab die Vordenker bzw. Vorläufer erörtert. Grundlegende Überlegungen stellt COWAN (1991)89 an, der für die interpersonale („Sicht von Außen“) und intrapersonale („Blick von innen“) Ebene beschreibt, welche Herausforderungen der Übergang an das Individuum stellt. Transitionen bedeuten seiner Ansicht nach nicht nur einen Zustand des Ungleichgewichts und der Neugestaltung bzw. Umstrukturierung von Beziehungen (von FTHENAKIS 1999, S. 4390 als „Reorganisation von Beziehungen“ (Hervorh. d. Verf.) bezeichnet), sondern auch eine „Reorganisation von Rollen“ (ebd., S. 44; Hervorh. d. Verf.). Neue Rollen werden angenommen und somit andere aufgegeben, diese werden erweitert bzw. redefiniert oder innerhalb der Übergangsphase stabilisiert. Der Beginn eines neuen Stadiums zieht spezifische Aufgaben des Rolleninhabers nach sich. Diese können sich als „qualitative Veränderungen eher äußerlicher Art […] (das sind Rollenveränderungen, Restrukturierungen der persönlichen Kompetenz zur Lösung der neuen Aufgaben und drittens Reorganisationen von Beziehungen)“ (REICHLE 2002, S. 353; Hervorh. d. Verf.) oder als „qualitative Veränderungen im Selbst- und Weltbild des betroffenen Individuums“ (ebd.; Hervorh. d. Verf.) vollziehen. Da Individuen in der Regel mehrere Rollen innehaben, bedeutet der Wandel einer zentralen Rolle auch eine Neukonzeptionalisierung anderer Rollenarrangements und eine Veränderung der Erwartungen und Verhaltensweisen des sozialen Umfeldes (vgl. hierzu auch die Annahmen von BRONFENBRENNER 1981). Auf der emotionalen Ebene sind Transitionen mit kontrastreichen Gefühlen verbunden, die balanciert werden müssen. Ziel der „interpersonalen Affektregulie87 88 89 90
Diesem Anspruch trägt das Bundesministerium für Bildung und Forschung mit den im Jahr 2003 entworfenen Leitlinien zur Konzeption von Ganztagsschulen Rechnung (vgl. BMBF 2003). vgl. GRIEBEL & NIESEL 2002a, 2004, 2005a, 2005b; NIESEL & GRIEBEL 1998a, 1998b, 2000, 2003; FTHENAKIS 2005 COWAN (1991) bezieht sich konkret auf den Übergang zur Elternschaft, wobei die Ausführungen aufgrund ihrer allgemeingültigen Darstellung deutliche Bezugspunkte zu anderen Transitionen herstellen lassen. Dieser bedient sich in seinen Formulierungen der Terminologie von COWAN (1999). Im Folgenden werden die von FTHENAKIS (1999) zitierten Begrifflichkeiten verwendet.
3.2 Theoretische Modelle zur Erklärung des Transitionsprozesses
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rung“ (FTHENAKIS 1999, S. 45; Hervorh. d. Verf.) ist die „Wiederherstellung relativer Autonomie und Kontrolle der eigenen Lebenssituation“ (ebd.), wobei eine Transition dann als vollzogen gilt, „wenn die Person und das sie integrierende Familiensystem zu einem balancierten Verhältnis zwischen positiven und negativen Affekten gekommen ist“ (ebd.). Somit fordert jede Transitionsphase das Individuum zur „Restrukturierung personaler Kompetenz“ (ebd.; Hervorh. d. Verf.) heraus, indem die eigenen Kompetenzen und vorhandene Problemlösestrategien überprüft, verändert bzw. angepasst werden (müssen). Dabei ist der Prozess der Transition stets mit der Frage nach der eigenen Identität verbunden. Das Individuum („Blick von Innen“) forscht nach der „Bedeutung des eigenen ‚Selbst’“ (ebd., S. 46; Hervorh. d. Verf.), indem es kritisch reflektiert, wer es bisher war und wer es künftig sein wird bzw. will. Auch das „Bild von der Welt“ (ebd., S. 47; Hervorh. d. Verf.) – bezogen auf das innerfamiliale oder das externe Weltbild – ist möglicherweise einer Korrektur unterworfen, wenn Strukturen und Prozesse obsolet erscheinen. Wenn alte Muster, bisherige Annahmen und Einstellungen nicht mehr greifen, reagiert das Individuum mit Gefühlen wie Angst, Spannung oder Unsicherheit. Die „intrapersonale Affektregulierung“ (ebd.; Hervorh. d. Verf.) dokumentiert sich neben der Selbstregulierung emotionaler Zustände auch in einem flexiblen Verhaltensrepertoire, um die Transitionssituation zu meistern. Nach dem Familien-Transitions-Ansatz, der wesentlich von FTHENAKIS (1999) geprägt wurde, stellen Übergänge somit Herausforderungen auf der individuellen und familialen Ebene dar. Das Transitionsmodell nach GRIEBEL und NIESEL geht, unter besonderer Berücksichtigung der Bedeutung der diskontinuierlichen Verläufe, davon aus, dass das Individuum in diesem Transitionsprozess vor Entwicklungsaufgaben gestellt wird, die sich auf der individuellen, interaktionalen und kontextuellen Ebene91 bewegen. Sie nehmen hierbei Bezug auf den Familien-Transitions-Ansatz nach CO92 WAN (1991) , der entworfen wurde, um Übergänge in der Familienentwicklung zu untersuchen und die Perspektive aller Mitglieder einzubinden (vgl. FTHENAKIS 1999; GRIEBEL 2004d) und übertragen diesen auf den Übergang von der Familie in den Kindergarten und vom Kindergarten in die Schule (vgl. NIESEL & GRIEBEL 2000; GRIEBEL & NIESEL 2002a). 91 92
Diese Struktur familialer Übergänge wurde erstmals von FTHENAKIS (1999) herausgearbeitet. COWAN (1991) hebt dabei die subjektive Sicht des Einzelnen hervor, dessen Selbst- und Weltkonzept sich in der Phase des Übergangs verändert. Obgleich jeder Übergang seine spezifischen Anforderungen besitzt, ähneln sich Prozesse und Strukturen, die für die Anpassung der Beteiligten wichtig sind, und können daher einem Vergleich unterzogen werden. Das Transitionskonzept von GRIEBEL und NIESEL beruht auf einer Auswahl zentraler Entwicklungsimpulse – so genannter Entwicklungsaufgaben –, für die Anpassungsleistungen beschrieben werden.
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3 Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule
Das Modell der Systemebenen von BRONFENBRENNER (1981), das von NI(1990, 1993, 1996) für die Einschulung modifiziert wurde, und ausgewählte Stressansätze (vgl. FILIPP 1995; LAZARUS 1995; OLBRICH 1995; BEELMANN 2002), die auf dem Gedanken der Kontinuität basieren und eine Erklärung für den Übergang als Belastungssituation bieten, werden integriert und um Veränderungen auf der subjektiven Ebene der Identität erweitert. Faktoren wie Stress, Bewältigung und Entwicklung lassen sich über die Theorie der kritischen Lebensereignisse erfassen. Da der Übergang als ein Prozess verstanden wird, der beeinflussbar ist, dient der Transitionsansatz dazu, die unterschiedlichen Anforderungen zu beschreiben, Reaktionen der Betroffenen zu verstehen und pädagogisches Handeln abzuleiten. Hierbei steht jedoch weniger die Beschreibung von Veränderungen für die Beteiligten im Vordergrund. Die Autoren betonen – im Gegensatz zu den vorherigen theoretischen Ansätzen – primär die subjektive Sicht des Individuums und berücksichtigen die Identität des Einzelnen als erlebten Status, das Selbstkonzept und die Verortung des Selbst in der eigenen Lebensgeschichte. Zudem ist allerdings impliziert, dass das Subjekt „sich in den und mit den Beziehungsgeflechten, in denen es sich bewegt und von denen es ein Teil ist“ (WELZER 1993, S. 284), verändert. So wird neben der Tatsache, dass auch die Eltern als aktive Bewältiger des Übergangs gelten, das Hauptaugenmerk auf die subjektiven Veränderungen, die das Erleben, die Rollenorganisation und die zentralen Beziehungen beeinflussen, gelegt, da zwischen der Bewältigung der Anpassung an die neue Situation, dem Leistungsniveau und der weiteren kindlichen Entwicklung ein starker Zusammenhang besteht. CKEL
3.3 Entwicklungsaufgaben bei der Bewältigung von Transitionen Übergänge stellen eine „Überbrückung zwischen Alt und Neu, zwischen Vertraut und Unvertraut“ (SPECK-HAMDAN 2006, S. 22) dar. Im Zusammenhang mit Transitionsphasen werden Kinder und Jugendliche vor Herausforderungen gestellt, die vom Individuum die Fähigkeit zur Reorganisation und Adaptation verlangen. „Da die Anpassungsleistungen in relativ kurzer Zeit erfolgen und verdichtete Lernprozesse als Entwicklungsstimuli gesehen werden, bezeichnet man diese Anforderungen als Entwicklungsaufgaben93“ (GRIEBEL 2006, S. 37). Diese transitionsbedingten Herausforderungen werden von GRIEBEL & NIESEL deshalb als Entwicklungsaufgaben tituliert, weil sie damit den „positiven motivationalen Charakter“ (2005a, S. 140) betonen. 93
vgl. GRIEBEL & NIESEL 2002a, 2004; GRIEBEL 2004d
3.3 Entwicklungsaufgaben bei der Bewältigung von Transitionen
91
Das Kind gilt im konstruktivistischen Sinne als Mit-Gestalter des Umfeldes und der eigenen Weiterentwicklung. Es setzt sich im Sinne eines „aktiven Bewältigers“ (ebd., S. 148)94 im Kontext sozialer Interaktionen und Beziehungen (vgl. OBERHUEMER 2004) mit den transitionsbedingten Aufgaben auf der individuellen, interaktionalen und kontextuellen Ebene95 auseinander und co-konstruiert seine Entwicklung, sein Lernen und seine Bildung als kompetent handelndes Wesen. Auf der individuellen Ebene ist der Einzelne mit „kontrastreichen Gefühlen [wie; K.S.] Vertrauen und Angst, Sicherheit und Unsicherheit“ (PLATTEAU & RIECKE 2003, S. 17) und eventuell mit Stress konfrontiert. Die Herausforderung, diesen „inneren Aufruhr“ (FTHENAKIS 1999, S. 47) zu bewältigen, bezeichnet FTHENAKIS als „intrapersonale Affektregulierung“ (ebd.; Hervorh. d. Verf.). Ein Wechsel der sozialen Systeme bedeutet zudem immer, sich neue Fähigkeiten, Strategien und Verhaltensmuster anzueignen („Restrukturierung personaler Kompetenz“96). Vor allem deshalb, weil neue Beziehungen geknüpft werden und bestehende Kontakte verloren gehen oder einer Veränderung unterworfen sind. Daher wird auf der interaktionalen Ebene notwendig, die eigene Rolle zu überdenken, die Rollenerwartungen zu verändern und neues Rollenverhalten zu erwerben („Reorganisation von Beziehungen“97 und „Reorganisation von Rollen“98). Da für das Individuum die Aufgabe vorrangig in der „Wiederherstellung relativer Autonomie und Kontrolle über die eigene Lebenssituation“ (ebd., S. 45) besteht, spricht FTHENAKIS von „interpersonale[r] Affektregulierung“ (ebd., S. 47; Hervorh. d. Verf.). Letztendlich bedeutet dies auf der kontextuellen Ebene, sich neue Strukturen und Inhalte anzueignen, um mit diesen Kompetenzen die Integration der verschiedenen Lebensumwelten herzustellen und eventuell weitere familiale Übergänge bewältigen zu können. Jedoch stellt nicht das Lebensereignis an sich die Transition dar, sondern dessen Verarbeitung und Bewältigung.
94 95 96 97 98
Die Person, die eine Transition aktiv vollzieht (der so genannte „Bewältiger“), wird begleitet von den „Moderatoren“, die die Transition unterstützen (vgl. GRIEBEL & NIESEL 2004; NIESEL 2004). In ausführlicher Darstellung finden sich die erarbeiteten Inhalte bei COWAN 1991; GRIEBEL 2004b; GRIEBEL & NIESEL 2004, 2005a und FTHENAKIS 2005. Einen zusammenfassenden Überblick bieten GRIEBEL & NIESEL 2004, 2005b. ebd., S. 45; Hervorh. d. Verf. ebd., S. 43; Hervorh. d. Verf. ebd., S. 44; Hervorh. d. Verf.
92
3 Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule
3.3.1 Individuelle Ebene 3.3.1.1
Veränderung der Identität durch einen neuen sozialen Status
Mit der Einschulung erlebt das Kind einen Wechsel in seinem sozialen Status. Aufgrund der elterlichen Zuwendung und Bewunderung kommt es „mit einer sehr hohen Selbsteinschätzung [seines; K.S.] Könnens in die Schule“ (KNÖRZER, GRASS & SCHUMACHER 2007, S. 184) und hat zum Teil ein überhöhtes positives Selbstbild – verbunden mit einem „Überoptimismus“ (ebd., S. 187) – entwickelt, das mit Beginn der Schulzeit im Rahmen der Selbstabwertung relativiert werden muss, um zu einer realistischen Selbsteinschätzung zu gelangen. Es bedarf einer Neudefinition der eigenen Identität und des Selbst des Kindes und der Veränderungen in den Annahmen bezüglich der Welt. Zusammenfassend kann diese Entwicklung wie folgt beschrieben werden: Das Kindergartenkind wird zum Schulkind (vgl. FTHENAKIS 2005). „Erst wenn der Übergang bewältigt ist, ist das Kind ein ‚fertiges’ Schulkind. Damit ist gemeint, dass das Kind eine neue Identität entwickelt hat“ (GRIEBEL & NIESEL 2002a, S. 105). Zudem wird mehr Selbstständigkeit beansprucht (vgl. GRIEBEL & NIESEL 2005a). Der Symbolische Interaktionismus (vgl. GOFFMAN 1967; KRAPPMANN 1975; MEAD 1985) setzt Transitionen im Sinne eines kritischen Lebensereignisses mit einer Identitätskrise gleich. Weichen die sozialen Erwartungen und persönlichen Einstellungen voneinander ab, ist das Individuum gefordert, seine IchIdentität als Balance zwischen der sozialen und persönlichen Identität auszubilden. Am Beispiel des Schuleintritts würde dies bedeuten, dass das Kind seine persönliche Identität aufgrund der veränderten sozialen Anforderungen umstrukturiert, um ein neues Gleichgewicht herzustellen. Die Fähigkeit zur Identitätsbalance setzt folgende Kompetenzen voraus (vgl. GOFFMAN 1967; KRAPPMANN 1975): Das Kind muss bereits gelernt haben, sich als Person kritisch zu hinterfragen (Rollendistanz), es muss fähig sein, Gefühle und Bedürfnisse anderer Personen wahrzunehmen (Empathie) und mit gegensätzlichen sozialen und persönlichen Erwartungen umzugehen (Ambiguitätstoleranz). Um seine Bedürfnisse zu artikulieren und sich in die soziale Interaktion aktiv einbringen zu können, sind darüber hinaus die sprachlichen Fähigkeiten evident (kommunikative Kompetenz und Fähigkeit zur Ich-Präsentation). 3.3.1.2
Bewältigung starker (transitionsbedingter) Emotionen
Die Einschulung ist mit starken Gefühlen wie Vorfreude, Neugierde, Stolz sowie Unsicherheit, Aufregung und zum Teil Ängstlichkeit verbunden (vgl. GRIEBEL & NIESEL 2005a). Diese Reaktionen des Kindes während der ersten Zeit in der
3.3 Entwicklungsaufgaben bei der Bewältigung von Transitionen
93
Schule können als Bewältigungsreaktionen begriffen werden (vgl. ebd.), da der Transitionsprozess eine Anpassung individueller Bewältigungsstrategien erforderlich macht (vgl. FTHENAKIS 2005). Ist es dem Schulanfänger gelungen, diese zu optimieren, kann er zu einer (stabilen) emotionalen Balance gelangen. „Wenn es den Kindern gut geht, sind sie auch für die weitere Schullaufbahn gut gerüstet (Fabian 2002[b; K.S.])“ (GRIEBEL & NIESEL 2002a, S. 38). 3.3.1.3
Kompetenzerwerb
Kompetenzen wie Selbstständigkeit, Aneignung der Kulturtechniken und neue Verhaltensweisen müssen erlernt werden, die dem Kind unter Umständen Mühe bereiten (vgl. STÖCKLI 1989). Diese Basiskompetenzen, inhaltlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten zeigen der Umwelt Entwicklungsschritte des Schulkindes an. Zudem definiert es sich „selbst zunehmend über das, was es lernt und was es kann, d.h. über seine Kompetenzen“ (GRIEBEL & NIESEL 2005a, S. 140). 3.3.2 Interaktionale Ebene 3.3.2.1
Veränderung bzw. Verlust bestehender Beziehungen
Die Einschulung ist mit dem Verlust von Beziehungen zu anderen Kindern, zu Erziehern und zur vertrauten Umgebung verbunden. Innerhalb der Familie verändern sich die Beziehungen dahingehend, dass das Schulkind seine Selbstständigkeit ausweitet und Eigenverantwortung entwickelt (vgl. GRIEBEL & NIESEL 2005a). 3.3.2.2
Aufnahme neuer Beziehungen
Aufgrund des Verlustes eines Teils des Freundeskreises begreift das Kind die Notwendigkeit, ein neues soziales Beziehungsnetz aufzubauen (vgl. FTHENAKIS 2005). Dazu müssen neue Interaktionsformen konstruktiv verarbeitet und akzeptiert sowie ein Platz im neuen sozialen Gefüge gefunden werden (vgl. WALPER & ROOS 2001). „Die sozialen Beziehungen des Kindes in seiner Schulklasse haben einen bedeutenden Einfluss auf sein Wohlbefinden in der Schule und auch darauf, wie seine Schullaufbahn insgesamt verlaufen wird“ (GRIEBEL & NIESEL 2002a, S. 24). In der Schulklasse gilt jedoch die Größe der Gruppe und die Tatsache, dass sich überwiegend Gleichaltrige in dieser befinden, als Herausforderung. Darüber hinaus muss das Kind aktiv am Gruppenbildungsprozess, der gleichzeitig von allen anderen gestaltet wird, teilnehmen und seine Position in
94
3 Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule
der Gruppe finden. „Beziehungen des Kindes schaffen personale Ressourcen, d.h. sie erleichtern dem Kind das Fertigwerden mit neuen Entwicklungsaufgaben und neuen Herausforderungen“ (DOLLASE 2000, S. 8). Daher sollten bei der Klassenzusammenstellung die soziometrischen Freundschaftsbeziehungen und das Klassenlehrerprinzip Berücksichtigung finden (vgl. ROLFF 1997). Insgesamt – vor allem bezogen auf die Kontaktaufnahme mit den Lehrkräften – sind die Beziehungen im Vergleich zu den familiären Mustern von einer stärkeren emotionalen Distanz geprägt (vgl. STÖCKLI 1989). 3.3.2.3
Veränderung der Rollenerwartung
Die Rolle des Kindes in der Familie wird um die des Schulkindes erweitert und stellt somit einen Rollenzuwachs dar, der sowohl Erwartungen als auch Sanktionen impliziert (vgl. GRIEBEL & NIESEL 2005a). „Man verlangt von den Schulanfängern ziemlich unvermittelt, daß sie einen guten […] Teil ihres Kindseins zumindest teilweise aufgeben und ihre Individualität und Spontaneität unterwerfen den sachlichen, zeitlichen und zwischenmenschlichen Regelungen einer zweckgerichteten Tätigkeit innerhalb eines organisierten Sozialverbandes […], ihr noch phantasiebetontes, naiv-egozentrisches Verhältnis zur Umwelt versachlichen zugunsten eines rational begründeten Weltverständnisses […], ihr unreflektiertes, emotional bestimmtes Ausdrucks-, Gestaltungs- und Bewegungsverhalten planmäßig kanalisieren in die Symbol- und Regelsysteme sog. Kultur- und Freizeittechniken“ (HAARMANN 1982, S. 34).
Wie HAARMANN es in obigem Zitat treffend formuliert, wird an die Rolle des Schulanfängers eine Reihe von Erwartungen geknüpft. Kinder, die dabei ohne größere Probleme in die Rolle des Schülers schlüpfen, beschleunigen damit ihre eigene Entwicklung (vgl. ENTWISLE & ALEXANDER 1998). 3.3.3 Kontextuelle Ebene 3.3.3.1
Integration verschiedener Lebensumwelten
Die individuelle Erfahrungswelt des Kindes wird durch neue Umwelten erweitert (vgl. STÖCKLI 1989). Zudem wechselt der Schulanfänger zwischen den Lebenswelten Familie und Schule und muss dadurch nicht nur den Umgang mit Raum und Zeit erlernen, sondern auch die unterschiedlichen Anforderungen wie Erho-
95
3.3 Entwicklungsaufgaben bei der Bewältigung von Transitionen
lung und Leistung, Entwicklung und Lernen in seine Lebenswelt integrieren (vgl. GRIEBEL & NIESEL 2005a). Das Schaubild verdeutlicht, dass Kinder bzw. Jugendliche als „Pendler“ (FURTNER-KALLMÜNZER 1983, S. 86) zwischen den Lebenswelten einen täglichen Wechsel zwischen der öffentlich-institutionalisierten Einrichtung der Schule als Ort des Lernens und der Erziehung sowie der privaten Institution Familie vornehmen.
öffentliche/ institutionalisierte Erziehung
Kind
private/ familiale Erziehung
Transitionen Abbildung 8:
Das Kind als Pendler zwischen den Lebenswelten
Da der Übergang in ein neues soziales System für das Kind auch eine entsprechende Anpassung an die neuen Strukturen erforderlich macht, müssen neue soziale Objekte besetzt und neue Beziehungsmuster internalisiert werden. Der Übertritt in die Schule kann dabei Orientierungsprobleme beinhalten, wenn die in der Familie erlernten Beziehungs- und Verhaltensmuster ihre Allgemeingültigkeit verlieren und nur bedingt anwendbar sind. PLAKE spricht hierbei von einem „strukturellen Sozialisationskonflikt“ (1974, S. 64). Wie das Kind den Übergang bewältigt, hängt somit nicht nur von den individuellen Dispositionen ab, sondern auch davon, wie ausgeprägt die Diskrepanzen zwischen Familie und Schule sind bzw. erlebt werden (vgl. WALPER & ROOS 2001).
96
3 Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule
3.3.3.2
Neue Strukturen und Inhalte
Der Lehrplan der Schule, die Inhalte, Lernziele und Methoden weichen stark von den bisherigen Erfahrungen des Kindes in der Familie und im Kindergarten ab (vgl. GRIEBEL & NIESEL 2005a), zudem findet eine Bewertung der Leistung statt (vgl. STÖCKLI 1989). Die äußeren Umstellungen, die die Einschulung für ein Kind mit sich bringt, lassen sich in folgenden Aspekten zusammenfassen99:
99
Die Veränderung im Zeiterleben dokumentiert sich vorrangig im neuen Rhythmus der Familie (vgl. STÖCKLI 1989), der ausschließlich von der Schule bestimmt ist. Schlaf- und Essenszeiten werden fortan extern beeinflusst und mit der Einteilung des Stundenplans in Schulstunden herrscht ein stark reglementiertes Diktat der Zeit. Die Chance einer ganztägigen Betreuung könnte hierbei im Wechsel zwischen Unterricht und Freizeit – und vor allem deren freien Einteilung – bestehen. „Auf jeden Fall ist Schule auch ein Ort der Sozialisation von Zeiterleben, Zeitbedürfnis und Umgang mit der Zeit“ (KNÖRZER, GRASS & SCHUMACHER 2007, S. 175). Da die Räumlichkeiten in der Schule im Vergleich zum Kindergarten eher nüchtern und pragmatisch eingerichtet sind und weder im Klassenzimmer noch im Schulhaus Rückzugsmöglichkeiten vorhanden sind, wird der Schulanfänger zudem mit einer Veränderung im Raumerleben konfrontiert. Auch in den Pausenzeiten ist wegen der mangelnden Spielangebote kaum Möglichkeit zur Ablenkung und Entspannung. Während im Kindergarten das Freispiel Raum für spontane Interessen bot, muss das Schulkind lernen, eigene Bedürfnisse zurückzustellen, weil das Lernen fremdbestimmt, systematisch und gleichzeitig stattfindet (Veränderung im didaktisch-methodischen Arrangement). Die Veränderung in den Verhaltensanforderungen und Verpflichtungen zeigt sich dadurch, dass der Handlungsspielraum der Schulanfänger eingeschränkt ist. Innerhalb der Schule müssen sie sich universellen Regeln unterwerfen, die nachmittägliche Freizeit ist durch schulische Verpflichtungen und Hausaufgaben eingeschränkt. Außerdem wird die Veränderung der Sozialbeziehungen zu einer Herausforderung. Die Klassenzusammensetzung wird altershomogen gebildet, wodurch Rivalitäten um Rollen innerhalb der Gruppe entstehen können. Des Weiteren ist innerhalb der Schulklasse weniger Zeit für die individuelle Betreuung des Einzelnen, sodass der Kampf um die Zuwendung der Lehrkraft beginnt. vgl. KNÖRZER, GRASS & SCHUMACHER 2007, S. 174ff.
3.3 Entwicklungsaufgaben bei der Bewältigung von Transitionen
3.3.3.3
97
Weitere familiale Übergänge
Überschneiden sich beim Schuleintritt mehrere soziale Übergänge, beispielsweise die Geburt eines Geschwisterkindes, die Aufnahme der Erwerbstätigkeit eines Elternteiles oder die Trennung der Eltern, kann die Transition zum Schulkind dadurch erschwert werden. 3.3.4 Zusammenfassende Darstellung Die Segmentierung des deutschen Bildungssystem erfordert von Kindern die Bewältigung von Übergängen von der Familie zu Betreuungs-, Erziehungs- und Bildungseinrichtungen, die mit den oben dargestellten Entwicklungsaufgaben einhergeht (vgl. Zusammenstellung von GROTZ 2005, S. 93f.100). Der erste Übergang von der Familie, die die primäre Sozialisation übernimmt, in eine außerfamiliale Einrichtung bedeutet für das gesamte familiale System eine Auseinandersetzung mit Diskontinuitäten (vgl. GRIEBEL 2004d). Vor allem das Kind als Bewältiger der Transition wird vor Herausforderungen gestellt, denen PARSONS auch eine gesellschaftliche Akzentuierung zuweist: „1. Emanzipation des Kindes von den primären emotionalen Bindungen an seine Familie; 2. Verinnerlichung einer Ebene gesellschaftlicher Werte und Normen, die eine Stufe höher liegt als jene, die ihm nur durch seine Familie vermittelt wird; 3. Differenzierung der Schulklasse im Rahmen sowohl der tatsächlichen Leistung als auch der differentiellen Bewertung des Leistungserfolges und 4. vom Gesichtspunkt der Gesellschaft aus Selektion und Verteilung der menschlichen Ressourcen entsprechend dem Rollensystem der Erwachsenen“ (1979, S. 179).
Diese Faktoren erlangen vor allem im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Wandel von Ehe und Familie im Sinne weiterer verdichteter Entwicklungsanforderungen wie Trennung oder Scheidung eine besondere Bedeutung, denn hierbei „spielen die spezifischen Vorerfahrungen und Entwicklungsbedingungen des einzelnen Kindes mit seinen besonderen Bedürfnissen eine wesentliche Rolle. Die Entwicklung der Identität, der Kompetenzen, der Beziehungen und der Rollen muss vor dem Hintergrund des bisherigen sozialen Kontextes gesehen werden, weil dies die Bewältigung der Veränderungen beeinflusst“ (GRIEBEL & NIESEL 2005b, o.S.).
100 nach PLAKE 1974; ZIMMER et al. 1975; BRONFENBRENNER 1981; NICKEL 1990; NICKEL & SCHMIDT-DENTER 1995; HACKER 2001b und GRIEBEL & NIESEL 2002a
98
3 Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule
So weisen die einzelnen sozialen Gruppen (beispielsweise alleinerziehende Elternteile, Familien mit Migrationshintergrund, sozial benachteiligte Familien) unterschiedliche Passung zwischen den Voraussetzungen und den jeweiligen Anforderungen auf. Je nachdem, ob das Ungleichgewicht des Einzelnen in der Interaktion mit seiner sozialen Umwelt überwunden oder beibehalten wird, spricht man von erfolgreicher oder misslungener Reorganisation. Bei gelungener Umstrukturierung ergibt sich ein neues Gleichgewicht, weil das Individuum sein Selbstwertgefühl und Wohlbefinden wiederherstellt, indem es sein Verhaltensrepertoire erweitert, soziale Kontakte knüpft und dadurch neue Ressourcen erschließt. Bei fehlenden Bewältigungsmöglichkeiten können die Entwicklungsaufgaben Stressreaktionen hervorrufen (vgl. LAZARUS & FOLKMAN 1987). 3.4 Transition – Risiko oder Chance? „Übergänge sind immer wichtige Einschnitte im Leben eines Menschen. Sie können ihn weiterbringen, aber auch Entwicklungen erst einmal stoppen bzw. ihren Fortgang verzögern, ihn aus dem Gleichgewicht bringen“ (TEXTORBECKER 1995, S. 63). Daraus lässt sich eine entscheidende Fragestellung ableiten, die im wissenschaftlichen Disput kontrovers diskutiert wird: Beinhalten Übergänge primär das Risiko des Scheiterns oder stellen sie im Sinne einer entwicklungsfördernden Herausforderung eine Chance zur Weiterentwicklung dar? „Übergänge bringen bedeutsame Veränderungen für das Individuum mit sich, die in soziale Prozesse eingebettet sind und mit konzentrierten Lernprozessen bewältigt werden müssen“ (GRIEBEL 2004d, S. 26)101, wobei der Einzelne versucht, das Vorige in das Gegenwärtige zu integrieren (vgl. DUNLOP & FABIAN 2002). Diskontinuitäten ergeben sich dabei aus den sozioökonomischen und soziokulturellen Umbrüchen unserer heutigen Zeit, erzeugen Ungleichgewicht und einen internen Konflikt (vgl. COWAN 1991) und verlangen vom Individuum Umstrukturierung sowie stetigen Wandel, der sich innerhalb des sozialen Systems bewegt. Das Konzept der transitionsbedingten Diskontinuitäten soll dazu genutzt werden, „Kindern Kompetenzen zu vermitteln, wie sich Übergänge in ihrer individuellen Entwicklung, im Familienentwicklungsprozeß wie auch im Bildungswesen besser bewältigen lassen“ (FTHENAKIS 1998a, S. 66). Den theoretischen Hintergrund dieses Modells bilden Forschungsergebnisse zu motivationalen Aspekten der Vorfreude bzw. zu Ängsten in Bezug auf bevorstehende Veränderungen sowie die Entstehung und Auswirkung von Stress und dessen Bewältigung (vgl. LAZARUS 1995). Die Theorie der kritischen Lebensereignisse (vgl. FILIPP 101 GRIEBEL (2004d) verweist an dieser Stelle auf WELZER (1993).
3.4 Transition – Risiko oder Chance?
99
1995; BEELMANN 2002) bzw. die Betrachtung des kritischen Lebensereignisses als entwicklungsfördernde Herausforderung (vgl. OLBRICH 1995) sowie Ansätze der Ökopsychologie und Systemtheorie (vgl. BRONFENBRENNER 1981; NICKEL 1990) ergänzen das Transitionsmodell. Der familiale (vgl. COWAN 1991; FTHENAKIS 1999) und der sozialkonstruktivistische (vgl. WELZER 1993) Transitionsansatz wurde auf den Übergang von der Familie in den Kindergarten (vgl. NIESEL & GRIEBEL 2000) sowie auf den Übergang vom Kindergarten in die Schule (vgl. GRIEBEL & NIESEL 2002a, 2002b, 2005a) übertragen und empirisch untersucht. So genannte „kritische Lebensereignisse“ (vgl. FILIPP 1995) können durch Veränderung innerhalb der familialen Strukturen (beispielsweise Übergang von der Partnerschaft zur Elternschaft, Geburt eines Geschwisterkindes, Beginn der Erwerbsarbeit, Trennung und Scheidung der Eltern) oder durch Eintritt in das Bildungs- und Betreuungssystem entstehen. Diesen ist gemeinsam, dass sie den „Charakter des Außergewöhnlichen“ (KNÖRZER, GRASS & SCHUMACHER 2007, S. 172) besitzen, von begrenzter Dauer sind und an das Individuum neue Anforderungen stellen. „Für kritische Lebensereignisse wie für Übergänge im Familienzyklus gilt, dass die Betroffenen bis zur vollzogenen Bewältigung nicht sicher sein können, ob sie den Übergang erfolgreich bewerkstelligen werden – was im Terminus des kritischen Lebensereignisses enthalten ist, denn Krise meint einen Wendepunkt zum Positiven oder Negativen“ (REICHLE 2002, S. 352).
Auch OLBRICH wirft die Frage auf, inwieweit der Übergang als Entwicklungskrise oder Herausforderung wahrgenommen wird, wobei er ebenfalls die diskontinuierlichen Abläufe in dessen Prozess betont. Dieser drückt sich in der Änderung von Verhaltens- und Prozessmerkmalen aus, die „einer quantitativen oder qualitativen Veränderung der Entwicklungsdynamik“ (1995, S. 123) unterliegen und je nach Geschwindigkeit, Richtung und Art der Entwicklung variieren. Krisenbewältigung und Coping finden immer dann statt, wenn das Individuum so genannten „normativen“102 Übergängen (vgl. COWAN 1991) ausgesetzt ist, die deren Verhaltenspotenzial nicht überfordert, sondern die „kognitiven, wert- und sozialbezogenen Strukturen bzw. Verarbeitungsprogramme der Person aktiviert“ (OLBRICH 1995, S. 134). Eine Entwicklung in Transitionsphasen kann konstatiert werden, wenn „ein ‚Entwicklungsreiz’ von einem aktiven, mit bestimmten Verhaltensprogrammen ausgestatteten Individuum zur Um- und Weiterprogrammie102 Darunter werden Veränderungen verstanden, die Menschen üblicherweise in ihrer Entwicklung bewältigen oder von der Mehrheit der Menschen angestrebt werden (vgl. FTHENAKIS 1999). Ergänzend hierzu bezeichnet REICHLE die Übergänge im Leben, die als „normal“ betrachtet werden können, weil die meisten Menschen sie durchlaufen, als „normative“ Stadien (2002, S. 352).
100
3 Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule
rung seines Verhaltensrepertoires genutzt wird“ (ebd., S. 136; Hervorh. d. Verf.). Wird dieser Entwicklungsreiz nicht wahrgenommen bzw. ist die jeweilige Person mit nicht adäquaten Verhaltensprogrammen ausgestattet, kann die Bewältigung des Übergangs misslingen. Bevor die begünstigenden Effekte von Übergangsphasen herausgearbeitet werden, soll dem Risiko des Scheiterns Beachtung geschenkt werden, wovon die Frage nach der Gestaltung gleitender Übergänge abgeleitet wird. 3.4.1 Transition als Risiko: Unbewältigte Übergänge Als Übergänge im familiären Bereich, häufig als Diskontinuitäten oder Brüche empfunden, sind Trennung der Eltern mit eventueller Wiederverheiratung, Wohnortwechsel oder temporäre Arbeitslosigkeit zu nennen. Im Zusammenhang mit der Schule macht sich vor allem der Übergang vom Kindergarten bzw. von der Grundoder Hauptschule zu einer weiterführenden Bildungsinstitution bemerkbar. REICHLE (2002) konstatiert, dass der Bewältigung von Übergängen Konflikte, Verlust und Unsicherheit vorausgehen. Der Verlust bezieht sich auf die Tatsache, dass alte, gewohnte Aufgaben zugunsten neuer Herausforderungen abgelegt werden müssen. In dieser Phase des Testens von Alternativen empfindet die Person „Asynchronizität“ (COWAN 1991, S. 19), wenn Veränderungen lediglich in einem Teilbereich vollzogen sind. Nach dem Ausprobieren von Alternativen gelangt das Individuum zu einer Bewältigung des Übergangs, „wenn die gestörte Person-Umwelt-Passung wieder im alten oder einem neuen ‚Äquilibrium’ ist – einem Zustand der eingespielten Routinen“ (REICHLE 2002, S. 354), wobei diese unterschiedliche Qualität besitzen. „Übergänge bedeuten nicht lediglich Zäsuren im äußeren Lebenslauf; sie sind Einschnitte, die die Existenz berühren und von tiefen Erschütterungen begleitet sein können, die wiederum, wenn sie nicht langsam auspendeln, ernsthafte Störungen des inneren Gleichgewichts verursachen können“ (SCHMIDT 1958, S. 288f.). Kinder, die Probleme bei der Transitionsbewältigung zeigen, sind nach KAGAN & NEUMAN (1998) weniger erfolgreich in der Schule, haben mehr Schwierigkeiten, Freunde zu finden und sind anfälliger für psychische Probleme (vgl. FTHENAKIS 1998a). Dabei ist das Scheitern „nicht immer Folge einer unzureichenden Begabung, es ist oft Ausdruck eines Nichtfertigwerdenkönnens mit den neuen Verhältnissen, des erschütterten Selbstvertrauens, des Fehlens einer Bindung, die ihm [dem jungen Menschen; K.S.] Halt und Sicherheit gibt“ (SCHMIDT 1958, S. 294). Ein Grund für dieses „Nichtfertigwerdenkönnen“ mit der neuen Situation kann u.a. darin bestehen, dass das Kind sich bei bisher durchlebten Übergängen keine oder unzureichende Bewältigungsstrategien aneignen konnte.
3.4 Transition – Risiko oder Chance?
101
„Je weniger ‚Techniken’ […] bereits erlernt worden sind, um so eher besteht die Gefahr, daß der plötzliche Wechsel von einer Lebenswelt zu einer anderen zu Problemen und Belastungen führt“ (ZIMMER et al. 1975, S. 69). Vor allem bei Kindern, die sich im Übergangsprozess durch die Veränderungen im sozialen Umfeld (Familie, pädagogische Betreuung103, Gleichaltrigengruppe) belastet fühlen, lassen sich Verhaltensauffälligkeiten in der Familie und der pädagogischen Einrichtung feststellen (vgl. BEELMANN 2006). „Das ganze Bild des jungen Menschen kann, wenn er mit der neuen Situation nicht fertig wird, eine Tendenz ins Negative bekommen. Er befindet sich dann in einem Zustand des Unzufriedenseins mit sich, wird mißmutig, zieht sich zurück, verschließt sich nach außen, zeigt sich aufsässig gegen seine Umgebung, äußert eine Ablehnung gegen Schule und Unterricht, wird ungerecht in der Beurteilung seiner Lehrer, verliert das Vertrauen zu sich, ist neidisch auf die, die den neuen Verhältnissen gewachsen sind, sucht das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit durch ein Geltungsbedürfnis auf anderen Gebieten zu kompensieren, bedient sich allerlei Mittel, um seinen inneren Zustand des Leidens zu verbergen, einen Zustand, der die Kräfte nach innen ablenkt und eine fröhliche Aufgeschlossenheit für die Dinge, die von außen an ihn herantreten, verhindert“ (SCHMIDT 1958, S. 289).
Die besondere Brisanz dieser Thematik ergibt sich vor allem dadurch, dass der Bewältigung von Transitionen eine besondere Evidenz zugewiesen wird. So scheint der Verlauf des ersten Übergangs von der Familie als Ort der primären Sozialisation in eine Kindertagesstätte (sekundäre Sozialisationsinstanz) prägend dafür zu sein, wie sich das Kind in anderen Systemen zurechtfinden wird (vgl. COWAN 1991). Zudem können „durch die Konfrontation mit neuen Lebensbedingungen bereits vorhandene Entwicklungsimpulse gefördert und neue geweckt werden“ (NICKEL & SCHMIDT-DENTER 1995, S. 225). Verläuft dieser Übergang erfolgreich, erwerben Kinder Kompetenzen, die bei der Bewältigung weiterer Übergangsprozesse und im Hinblick auf späteres Problemverhalten benötigt werden (Kompetenzentwicklung, Selbstwertgefühl, Entscheidungsfähigkeit).104 Dies dokumentiert sich im zunehmenden Grad der Anpassung an die neue Situation und zeigt sich als deutlicher Entwicklungsfortschritt (vgl. COWAN 1991). „Übergangsgeübte Kinder können Übergangskompetenzen erwerben und neue Übergänge als bewältigbare Herausforderungen annehmen“ (ESSLINGER-HINZ 2004, S. 183). 103 Eine ganztägige schulische Betreuung hat vor allem die konstante und verlässliche pädagogische Betreuung zum Ziel, die im Sinne einer gelungenen Transitionsbewältigung einen maßgeblichen Vorteil gegenüber täglich mehrfach wechselnden Bezugspersonen darstellt. 104 SCHEITHAUER & PETERMANN (1999) nennen Ressourcen wie gesteigerte Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, Stresstoleranz oder neue Problemlösungsstrategien.
102
3 Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule
Das pädagogische Handeln sollte demnach den Übergang als eine solche Herausforderung gestalten und Unter- oder Überforderung vermeiden. „So kann eine Passung zwischen den jeweiligen Aufgaben und den individuellen Voraussetzungen gesucht werden“ (NIESEL & GRIEBEL 2007, S. 448). 3.4.2 Das Für und Wider eines gleitenden Übergangs „Stellt der Übergang als Herausforderung nicht eine Bedingung für das Reifen und Wachsen und damit für jede Entwicklung dar? Trägt die Pädagogisierung des Übergangs zur Entwicklung des Kindes tatsächlich bei oder beraubt sie es um wichtige Lernchancen? Wie sollen Kinder mit Unstetigkeiten und Brüchen umgehen lernen, wenn sie diese nicht erleben?“ (ESSLINGER-HINZ 2004, S. 181).
Konzepte zur Herstellung eines „(bruchlosen) gleitenden“ oder „sanften“ Übergangs (vgl. CLAUSSEN 1981; NICKEL 1996; WEIGERT & WEIGERT 1997; HACKER 1998; HOPF, ZILL-SAHM & FRANKEN 2004) proklamieren eine deutliche Reduktion des Schulcharakters – v.a. in der Eingangsklasse. „Ein gleitender Schulübergang ist herzustellen, indem die äußeren Bedingungen (z.B. Räume, Zeitrhythmen, Arbeitsformen) und die inhaltlichen Bedingungen (z.B. Menschenbilder, Erziehungsstile) beider Einrichtungen zwar vielfältig bleiben, aber gut aufeinander abgestimmt sind“ (HOPF, ZILL-SAHM & FRANKEN 2004, S. 10). Der Kindergarten sollte sich hierbei in der Vorbereitung auf die Schule stärker an schulischen Regeln und Anforderungen orientieren, wohingegen sich die Lehrkräfte des ersten Schuljahres für Formen und Inhalte des Lernens im Kindergarten öffnen müssen. Gefordert wird außerdem eine enge Kooperation zwischen Elternhaus und schulischer Einrichtung, um „die Kontinuität der Persönlichkeitsentwicklung und des Bildungsganges jedes Kindes wahren zu können“ (ebd.).105 Da Transitionen allerdings immer dann auftreten, wenn Lebenszusammenhänge eine massive Umstrukturierung erfahren und somit für den Einzelnen Belastungen (und Chancen) bedeuten, die „verdichtete Entwicklungsanforderungen“ (WELZER 1993, S. 37) darstellen, wurde das „Kontinuitätsparadigma“ – von DOLLASE als „Kontinuitätsdoktrin“106 (2000, S. 5) tituliert – aufgegeben und der
105 NICKEL spricht hierbei in Anlehnung an BRONFENBRENNER (1981) von einem „begleiteten ökologischen Übergang“ (1996, S. 95). 106 DOLLASE kritisiert, dass „die Verwischung von Übergängen im Leben durch die Gestaltung allmählicher Übergänge“ (2000, S. 6; Hervorh. d. Verf.) lediglich dazu führt, dass sich die Konzeptionen unterschiedlicher Institutionen annähern. „Das Kompetenzniveau eines Individuums kann [jedoch, K.S.] davon profitieren, dass es sich hin und wieder im Leben an eine neue Situation anpassen muss“ (ebd.).
3.4 Transition – Risiko oder Chance?
103
Fokus in der aktuellen Diskussion primär auf die aktive Bewältigung von Diskontinuitäten gerichtet.107 „Diskontinuität ist nicht nur Stressor, sondern auch Stimulus für Entwicklung. Diesen Stimulus gilt es pädagogisch so zu nutzen, dass keine langfristige Überforderung, sondern für jedes einzelne Kind eine angemessene Herausforderung entsteht. Demzufolge müssen folgende Aspekte hervorgehoben werden: Das Streben nach Kontinuität ist nur eine unter mehreren Strategien zur Bewältigung von Transitionen. Diskontinuität in der Erfahrung darf nicht nur als Quelle von Problemen in der Entwicklung, sondern muss auch als wichtiger Stimulus für Entwicklung gesehen werden (vgl. Filipp 1995; [Olbrich 1995; K.S.]; Welzer 1993). Die Bewältigung von Diskontinuitäten wird auch außerhalb des gegliederten Bildungssystems eine unvermeidbare Entwicklungsaufgabe bleiben (vgl. Fthenakis [2005; K.S.]). Übergangsbewältigung erfordert die aktive Nutzung der Lernanforderungen durch Diskontinuitäten. Die pädagogische Gestaltung von Übergängen nutzt die Herstellung von Kontinuität als Unterstützung zur Übergangsbewältigung […]. Diskontinuitäten werden als Entwicklungsimpulse gesehen und pädagogisch als Förderung von Basiskompetenzen genutzt“ (NIESEL, RIBEIRO & VON HOLLEN 2006, S. 220).
Ebenso stehen HACKER (1998, 2001a)108 sowie SCHNEIDER (2001) und LICHTENSTEIN-ROTHER & RÖBE (2005) diesen Vorschlägen zur Umsetzung des gleitenden Übergangs vom Kindergarten in die Schule kritisch gegenüber. Sie führen an, dass „jeder Lebensabschnitt und die damit korrespondierenden Institutionen […] für den Lebensgang und die Anthropogenese des Kindes je spezifische Möglichkeiten [bieten; K.S.], die voll durchlebt und ausgeschöpft werden sollten“ (LICHTENSTEIN-ROTHER & RÖBE 2005, S. 63). „Da die geistige und charakterliche Entwicklung des Individuums […] kein kontinuierlicher, harmonischer Vorgang des Wachsens der Kräfte und der Entfaltung von Kompetenzen ist, sondern der kritischen Übergänge und der produktiven Umbrüche 107 vgl. hierzu die Ausführungen von GRIEBEL und NIESEL (insbesondere NIESEL & GRIEBEL 2003, 2004), die ein übergreifendes theoretisches Konzept für Transitionen – unter besonderer Berücksichtigung der Bedeutung der diskontinuierlichen Verläufe und der Tatsache, dass neben den Kindern auch die Eltern als aktive Bewältiger des Übergangs (zum Kindergarten bzw. zur Schule) gelten – entwickelten. Das Hauptaugenmerk wird hierbei auf die subjektive Sicht, die subjektiven Veränderungen, die das Erleben, die Rollenorganisation und die zentralen Beziehungen beeinflussen, gelegt. 108 Strategien des „gleitenden Übergangs“ konnten sich in der Praxis nicht etablieren (vgl. HACKER 2001a).
104
3 Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule
bedarf, kann die Schule nicht jener gesellschaftliche Schonraum sein, in dem die nachwachsende Generation aufgrund der Eigengesetzlichkeit des kindlichen Werdens heranreift und dabei behutsam zu fördern ist, sondern muß eine Stätte psychologischer Herausforderung, pädagogischer Anregung, geistiger Förderung und sozialer wie moralischer Orientierung sein“ (WEINERT 1989, S. 25).
Außerdem wird hervorgehoben, dass der Übergang vom Kindergarten in die Schule für das Kind wesentlich zum Aufbau seines Lebens- und Selbstwertgefühls beiträgt und die darin liegenden Chancen „nicht durch Verwischung und Vermischung der Eigenarten beider Institutionen geändert werden“ (LICHTENSTEIN-ROTHER & RÖBE 2005, S. 63) sollten: Kindergarten soll ein Ort des Spielens, Schule ein Ort des Lernens bleiben, wobei „das Gemeinsame […] im Verständnis von Bildung und Erziehung [liegt; K.S.]; Erziehung ist unteilbar“ (ebd., S. 64; Hervorh. d. Verf.). Somit muss für den Schulanfänger eine klare Abgrenzung zum Kindergarten existieren, indem das Neue betont wird, damit dieser Übergang bewusst und klar erfahrbar wird. „Übergänge als Qualitäten des Werdens sind immer dann entwicklungsfördernd, wenn sie individuell passgerecht sowohl bewahrende Momente enthalten, an die angeknüpft werden kann, als auch qualifizierende Momente, die für die Kinder zu bewältigende Herausforderungen darstellen. Schließlich sollten sie keine Momente enthalten, die für die vorangegangene Entwicklungsphase bestimmend gewesen sein kann. Demnach müsste sich die Gestaltung des Schulanfangs durch drei Merkmale auszeichnen: Fortführung und Weiterentwicklung vertrauter Elemente, Einführung neuer Elemente und der Verzicht auf überholte Elemente“ (SCHNEIDER 2001, S. 472).
3.4.3 Transition als Chance: Bewältigung von Übergängen Unter Übergangskompetenz verstehen NIESEL & GRIEBEL „die Fähigkeit und Bereitschaft, den Übergang erfolgreich zu bewältigen“ (2006, o.S.). Eine erfolgreiche Transition findet nach ALEXANDER & ENTWISLE (1988) statt, wenn größere Probleme fehlen109 bzw. nach YEBOAH (2002), wenn sich das Kind emotional, psychisch, physisch und intellektuell angemessen in der Schule präsentiert. Es „ist dann ein kompetentes Schulkind, wenn es sich in der Schule wohlfühlt, die gestellten Anforderungen bewältigt und die Bildungsangebote für sich optimal 109 GRIEBEL (2004b) ergänzt, dass in der aktuellen Diskussion eine Differenzierung zwischen (vorübergehenden bzw. kurzfristigen) Verhaltensweisen, die Bewältigungsreaktionen auf die neuen Anforderungen darstellen, und langanhaltenden Problemen, die auf eine fehlende Bewältigung hinweisen, vorgenommen wird. Die Unterstützung bei der Transitionsbewältigung variiert somit, da das Kind einen individuellen Zeitumfang für die Anpassung an die neue Situation benötigt (vgl. NIESEL & GRIEBEL 2000).
3.4 Transition – Risiko oder Chance?
105
nutzt“ (GRIEBEL & NIESEL 2004, S. 193) und somit über die so genannte Transitionskompetenz verfügt. Diese „beschreibt die Bewältigung von Entwicklungsherausforderungen, die mit Übergangsprozessen im Bereich Familie und im Zusammenwirken der Familie und Bildungsinstitution verbunden sind“ (GRIEBEL 2004c, S. 94). Die erfolgreiche Übergangsbewältigung eines Individuums führt COWAN (1991, S. 20ff.)110 auf mehrere Faktoren zurück. Die „Natur der physikalischen und sozialen Anforderungen“ (FTHENAKIS 1999, S. 48), denen die Person ausgesetzt ist, bestimmt, ob diese neue Fertigkeiten erwerben muss, Unterstützung vom Umfeld erfährt und ausreichend Zeit zur Verfügung hat. Je günstiger sich diese Bedingungen darstellen, desto leichter bzw. besser erfolgt die Transitionsbewältigung. Des Weiteren ist der „Bedeutungsgehalt der Transitionsphase von Wichtigkeit“ (ebd.), der festlegt, wie relevant die Situation empfunden wird. Dementsprechend gestaltet sich der Übergang auch als kritische oder stimulierende Phase. Letztlich tragen die persönlichen Ressourcen und die Unterstützungsmechanismen des sozialen Umfeldes in erheblichem Maße zur positiven Bewältigung des Übergangs bei. Da diese innerhalb des gesamten sozialen Kontextes des Kindes stattfindet, wird Transitionskompetenz auch als „Kompetenz des sozialen Systems“ (GRIEBEL 2004b, S. 217) verstanden, wodurch der Erfolg oder Misserfolg der Übergangsbewältigung maßgeblich bestimmt wird. „Eine Erweiterung des Verhaltenspotenzials, Erweiterung des sozialen Netzes und damit Erschließung von Ressourcen, Erhöhung des Selbstwertgefühls und des Wohlbefindens können als erfolgreiche Reorganisation der Passung zwischen dem Einzelnen und seiner Umwelt beschrieben werden. Einschränkung von Verhalten, Verschlechterung von Beziehungen und Verringerung von sozialen Kontakten, Verringerung des Selbstwertgefühls und der psychischen und physischen Gesundheit auf der anderen Seite können als Fehlanpassung ausgemacht werden“ (GRIEBEL & NIESEL 2004, S. 125).111
Lernen und Entwicklung vollzieht sich dabei in der Auseinandersetzung mit diesem System, indem das Kind sein Handeln als „Co-Konstruktion“ (GRIEBEL 2004b, S. 218) entwirft. „Über Dialog und Kommunikation der Handelnden entsteht Sinnhaftigkeit und Bedeutung der Konstruktion“ (vgl. BERGER & LUCKMANN 1966)112. Dabei hängen die von den Kindern bevorzugten Bewältigungsstrategien von der Qualität der Beziehung zu den Eltern ab, d.h. von familiären und kontextuellen Faktoren (vgl. FTHENAKIS 1998b). 110 vgl. hierzu die Ausführungen von FTHENAKIS (1999, S. 48) 111 vgl. hierzu das Konzept der kritischen Lebensereignisse nach FILIPP (1995) 112 zit. n. GRIEBEL 2004b, S. 218
106
3 Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule
WICKI (1997)113 differenziert diese individuellen und sozialen Unterstützungsmechanismen in dreifacher Hinsicht. Unter personalen Ressourcen subsummiert er Eigenschaften wie Persönlichkeit, Selbstwert, Selbstwirksamkeit, Sinn für Humor und Erziehungskompetenz. Während familiale Strukturen durch Kohäsion, Offenheit und Konfliktneigung, Partnerschaftsqualität und gegenseitige Unterstützung für die Übergangsbewältigung begünstigend wirken, sollte sich das außerfamiliale Umfeld durch Netzwerke und soziale Unterstützung sowie familienexterne Kinderbetreuung auszeichnen. In Bezug auf eine erfolgreiche Transitionsbewältigung lässt sich erkennen, dass den Unterstützungsmechanismen des sozialen Umfeldes eine erhebliche Bedeutung zukommt. Vor allem im Zusammenhang mit dem Übergang von der Familie in die Schule wird im Folgenden zu klären sein, wie der familiale und außerfamiliale Kontext beschaffen sein bzw. zueinander in Beziehung stehen sollte, um die Bewältigung zu begünstigen. 3.4.4 Transition – Risiko und Chance! Abschließend soll der Blick noch einmal auf die Ausgangsüberlegung gelenkt werden. Die plakative Eingangsfrage lautete: „Transition – Risiko oder Chance?“ Je nach individuellen Bewältigungsstrategien und sozialen bzw. kontextuellen Unterstützungsmechanismen kann der Übergang zwischen unterschiedlichen Institutionen ge- oder misslingen. „Auf der einen Seite können durch die Konfrontation mit neuen Anforderungen Impulse für Weiterentwicklung und Wachstum gefördert bzw. ausgelöst werden. Auf der anderen Seite enthalten sie aber auch die Gefahr des Scheitern und können krisenhafte Entwicklungen einleiten oder verstärken, wenn die mit dem Übergang einhergehenden Anforderungen zu hoch sind und/oder für deren Bewältigung keine ausreichenden Ressourcen zur Verfügung stehen“ (BEELMANN 2002, S. 71).
In den Worten von BEELMANN klingt deutlich die Ambivalenz der Transition an – verbunden mit einer chancenreichen Bewältigung und/oder eines riskanten Scheiterns. Der Versuch einer Antwort kann bedeuten: „Transition – Risiko und Chance!“
113 Diese Struktur findet sich in ähnlicher Weise bei COWAN (1991) (zit. n. FTHENAKIS 1999, S. 48), der in Bezug auf das System Familie von persönlichen Ressourcen einzelner Familienmitglieder, internen Ressourcen des Familiensystems und außerfamiliären Unterstützungssystemen formeller und informeller Art spricht.
3.4 Transition – Risiko oder Chance?
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„Der Anfang eines Lebensabschnittes wird von jedem als eine Chance, als ein Neubeginn gesehen, der Kräfte und Bereitschaft mobilisiert, der immer aber auch sehr viel Unbekanntes sowie Ungewisses und damit ebenfalls die Möglichkeit des Scheiterns, des Versagens, der Enttäuschung enthält“ (LICHTENSTEIN-ROTHER & RÖBE 2005, S. 22).
„Transition als Chance!“ – Diese Auffassung vertritt der Dichter HERMANN HESin dem von ihm verfassten Gedicht „Stufen“114. Um die pädagogische Intention von anderer Seite zu stützen, will der folgende Exkurs einen Blick auf die Aussagen des Gedichtes werfen und metaphorisch illustrieren, wie Übergänge im Leben aus poetischer Perspektive zu betrachten sind. „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben“ (HESSE 2002, S. 184), so formuliert dies HESSE in seinem Gedicht „Stufen“, womit er den Blick auf die die Entwicklung begünstigenden Effekte der Übergangsbewältigung lenkt. Er fordert Mut, bereit zum Abschied und Neubeginn zu sein sowie Tapferkeit, neue Bindungen einzugehen. Ohne Wehmut zu verspüren, soll die nächste Lebensstufe erklommen werden, denn nur „wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, mag lähmender Gewöhnung sich entraffen“ (ebd., S. 184). Der Dichter HERMANN HESSE sieht das Leben als eine Entwicklung, wie jemand, der Stufe um Stufe höher steigt. Dabei hat alles seine Zeit und nichts bleibt so, wie es ist. Jeder Lebensabschnitt, ob Kindheit, Jugend oder Erwachsenenalter, besitzt seinen eigenen Reiz und seine individuellen Herausforderungen und lässt sich mit einer Blüte vergleichen, die irgendwann verwelken muss. Ebenso vergeht die Jugend und wird nach und nach durch das Älterwerden abgelöst. Alles hat seine Zeit und braucht diese auch, um sich zu entfalten. Nichts, was im Leben wichtig ist, können wir erzwingen und ebenso wenig können wir etwas festhalten. „Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, an keinem wie an einer Heimat hängen“ (ebd., S. 184): Verschließe dich nicht vor den Änderungen der Zeit, dazu will uns dieses Gedicht ermutigen. Wer zu lange auf einer Stufe verweilt, der wird träge und dessen Leben wird eintönig. Freilich: Immer, wenn sich etwas Bedeutendes ändert, empfinden wir auch Unsicherheit und Angst. Veränderungen fordern uns heraus, sie kosten Kraft und müssen überwunden werden. Trotzdem: Wir sollten uns nicht zu sehr an das Gewohnte klammern. Das ist nicht der Auftrag, den wir mit unserem Leben erhalten haben. Jedes AbschiedSE
114 Es sei an dieser Stelle gestattet, das Gedicht „Stufen“ von HERMANN HESSE anzuführen – wohl wissend, dass es sich – abgelöst vom Themenkomplex dieser Dissertation – weder auf einen konkreten Übergang bezieht, noch einer wissenschaftlichen Fundierung folgt. Dennoch – und vielleicht gerade deswegen – macht es dem Leser Mut, sich im Leben auf Ungewohntes und Neues einzulassen und den Übergang als Chance zu begreifen.
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nehmen von einer Lebensstufe stellt zugleich einen neuen Anfang dar. Und wir dürfen darauf vertrauen, dass wir dabei von guten Mächten begleitet und beschützt werden. Es geht also immer um die Bereitschaft, sich dem Neuen, dem Ungewohnten bereitwillig zu öffnen. Und sogar am Ende des Lebens, in der Stunde des Todes kann es sein, dass sich ein Tor öffnet, dass wir in neue, bis dahin völlig unbekannte Räume eintreten dürfen. Das Gedicht der Lebensstufen drückt somit in einfühlsamen Worten eine tiefe Weisheit aus. Es hilft uns, eine positive Einstellung zum Lauf des Lebens zu finden. Es macht uns Mut, uns den Herausforderungen immer wieder zu stellen – es schenkt uns die Zuversicht, dass jede Veränderung letztlich ihren Sinn hat, auch wenn wir uns zunächst dagegen wehren. „Stufen Wie jede Blüte welkt und jede Jugend Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern. Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe Bereit zum Abschied sein und Neubeginne, Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern In andre, neue Bindungen zu geben. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben. Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, An keinem wie an einer Heimat hängen, Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten. Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen, Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen. Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde Uns neuen Räumen jung entgegensenden, Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden… Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“115
Abschied nehmen bzw. einen Neubeginn vollziehen – das trifft auch für die Kinder zu, die vor die Aufgabe gestellt werden, den Übergang von der Familie in 115 HESSE 2002, S. 184f.
3.5 Transitionsbewältigung im Kontext der Schule
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die Schule zu bewältigen. Dabei sollte vor allem im schulischen Kontext – wie mit den Worten von HERMANN HESSE verdeutlicht – stets der entwicklungsfördernde Aspekt der Transitionsbewältigung betont werden. Die Aufgabe der Schule besteht demzufolge darin, die nötigen Ressourcen bereit zu stellen, um allen Kindern – unabhängig von ihren individuellen und sozialen Dispositionen – möglichst gleiche Optionen zu bieten, sodass die Bewältigung dieser Transition für sie zu einer Herausforderung im Sinne einer echten Chance wird und nicht zu einem riskanten Verhängnis. 3.5 Transitionsbewältigung im Kontext der Schule Der Übergang von der Familie in die Schule ist – wie oben bereits dargestellt – mit einem Wechsel der unterschiedlichen Lebenswelten verbunden. Dieser vollzieht sich nicht in einmaliger Weise, wie STÖCKLI annimmt: „Der Schuleintritt ist demnach nicht nur als ‚Eintritt’ zu sehen; er gilt ebenso als eigentlicher ‚Austritt’ aus der ursprünglichen Welt der Familie“ (1989, S. 4). Das Kind bzw. der Jugendliche pendelt vielmehr täglich mehrmals zwischen beiden Lebenswelten (vgl. FURTNER-KALLMÜNZER 1983) und ist aufgefordert, die unterschiedlichen Strukturen miteinander in Einklang zu bringen. Dennoch ist STÖCKLI beizupflichten, dass der Schuleintritt einen zentralen Einschnitt in die Lebenswelt des Kindes bedeutet und mit diesem ein wesentlicher Prozess der Ablösung von der elterlichen Autorität in Gang gesetzt wird. Daher wird in den folgenden Ausführungen der Fokus der Betrachtung bewusst auf den Übergang von der Familie zur Schule gelegt, da „der Eintritt eines Kindes in die öffentliche Bildungsanstalt mit einem harten Schnitt alle Harmonie im Familienleben“ (vgl. ULICH 1989)116 beendet, wenngleich erstmalig mit dem Besuch der Kinderkrippe bzw. des Kindergartens transitionsbedingte Entwicklungsaufgaben zu bewältigen sind. 3.5.1 Von der Familie in die Schule – die Unterschiedlichkeit der Systeme Wie das Kind den Übergang bewältigt, wird insbesondere davon beeinflusst, wie ausgeprägt die Diskrepanzen zwischen Familie und Schule sind bzw. erlebt werden (vgl. WALPER & ROOS 2001). Verträglichkeit und Unverträglichkeit von Übergangssituationen hängen also ebenso davon ab, „inwieweit das Kind die Strukturmerkmale der Institution, von der es kommt (z.B. Familie), und die Strukturmerkmale der Institution, in die es eintritt (z.B. Schule), als miteinander 116 zit. n. WINKLER 2004b, S. 23
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3 Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule
verträglich erlebt“ (ZIMMER et al. 1975, S. 70). Während innerhalb der Familie partikularistische Zielvorstellungen das Miteinander bestimmen, strebt die Schule eine für alle verbindliche Sichtweise an (universalistische Orientierung). Je stärker die Erziehungsberechtigten in der Erziehungsarbeit somit individuelle Maßstäbe heranziehen, desto problematischer könnte der Übergang für das Kind verlaufen, wenn die erlebte Diskontinuität zur Überforderung wird. Diese Dimensionen des strukturellen Sozialisationskonfliktes, der sich aufgrund der Auseinanderentwicklung von Familie und Schule in der industriellen Entwicklung ergab, kennzeichnen den Übergang von familiären zu schulischen Institutionen.117 „Während die Schule immer stärker in den Bereich der Öffentlichkeit integriert wurde und zusätzliche Funktionen übernahm, ist die Familie umgekehrt durch Desintegration und Funktionsverlust gekennzeichnet. Dementsprechend haben sich auch die Beziehungsmuster, die in Familie und Schule dominieren und die soziale Struktur kennzeichnen, unterschiedlich entwickelt. Dies gilt nicht zuletzt […] für das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen in beiden Institutionen“ (PLAKE 1974, S. 62).
Die innerhalb der Familie erlernten Beziehungsmuster werden durch Internalisierung zu einem wesentlichen Bestandteil der kindlichen Persönlichkeit und bestimmen seine Interaktionen im sozialen Kontext, wodurch auch allgemeine familiäre Beziehungsstrukturen zu Mustern der sozialen Orientierung werden. Der Übertritt in die Schule kann für das Kind Probleme beinhalten, wenn die in der Familie erlernten Beziehungs- und Verhaltensmuster in der Schule ihre Allgemeingültigkeit verlieren und nur bedingt anwendbar sind. Da der Übergang in ein neues soziales System auch eine entsprechende Anpassung an die neuen Strukturen erforderlich macht, müssen neue soziale Objekte besetzt und neue Beziehungsmuster internalisiert werden. In der Schule ist dieser Gegensatz besonders präsent, da das Kind i.d.R. täglich in die Familie zurückkehrt und somit permanent zwischen den beiden Lebenswelten wechselt. Dies kann jedoch auch eine „systemadäquate Rollenausführung“ (ebd., S. 65) begünstigen, wenn in beiden Systemen unterschiedliche Bedürfnisse befriedigt werden. Gelingt es dem Kind nicht, aufgrund der Gegensätzlichkeit der Strukturen der beiden Systeme den Übergang zwischen Familie und Schule zu bewältigen, kann mit PLAKE von einem „strukturellen Sozialisationskonflikt“ (1974, S. 64) gesprochen werden. Dieser impliziert, dass der Schulanfänger zu wenig in der 117 PLAKE greift dabei die von PARSONS (1964) entworfenen „pattern variables“ auf, die grundlegende Handlungsorientierungen klassifizieren und als „allgemeine soziale Orientierungsmuster“ (PLAKE 1974, S. 27) definiert werden können, und modifiziert diese.
3.5 Transitionsbewältigung im Kontext der Schule
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Lage zu sein scheint, sich von den internalisierten familialen Verhaltensschemata zu lösen sowie sich neue, schulische Orientierungsstrukturen anzueignen und gebraucht daher Beziehungsmuster eines fremden Systems. Dieser Konflikt „hat insofern grundlegende Bedeutung, weil sich auf diese Weise die erste Auseinandersetzung des Kindes mit den komplexen, funktionalisierten Großgebilden der industriellen Gesellschaft vollzieht“ (ebd.) und eine allgemeine soziale Erfahrung darstellt. Ob sich dieser latente Konflikt jedoch manifestiert, hängt neben der Unterschiedlichkeit der Strukturen des familiären und schulischen Systems auch von den Sozialisationsbedingungen innerhalb der Familie, der Schule und anderen sozialen Gruppen (z.B. den Peers) sowie von so genannten „‚idiosynkratischen’ Elementen der Persönlichkeit“ (ebd., S. 65) ab. Für das Kind ergibt sich, dass es herausgefordert ist, „neue Beziehungsmuster zu internalisieren und alte Muster von neuen zu differenzieren“ (ebd., S. 66). Von einer gelungenen Anpassung an das System Schule kann ausgegangen werden, wenn eine Vermittlung der „vor allem in der Familie geprägten Orientierungen und Erwartungen [mit; K.S.] den Verhaltensanforderungen der Schule“ (ebd., S. 83) stattgefunden hat. Dieser Lösung des strukturellen Sozialisationskonfliktes misst PLAKE insofern eine erhebliche Relevanz zu – auch als Auswirkung auf das weitere Erwachsenenleben –, als er die Bewältigung der „Diskrepanz zwischen primären und sekundären Gebilden“ (ebd., S. 67) in engem Zusammenhang mit der späteren Berufswahl und -zufriedenheit sieht. 3.5.1.1
Einzelne Dimensionen des Sozialisationskonfliktes
Das von PARSONS (1979, S. 161ff.) entworfene fünfdimensionale Raster zur Bestimmung der Grundstruktur von Sozialbeziehungen in der Familie und Schule bildet Kontinua ab, als Ausprägung der normativen Grundstrukturen der verschiedenen Lebensräume, die die Grundlage der in diesen Lebensbereichen geltenden Rollen darstellen (vgl. Abb. 9). Die Bezeichnung „pattern variables“ macht deutlich, dass aufgrund der unterschiedlichen Ausprägungen in den verschiedenen Dimensionen ein spezifisches Muster als Struktur der Lebensräume entsteht.
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Abbildung 9:
3 Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule
Normative Grundstruktur der Sozialbeziehungen in Familie und in der Schule (nach: KNÖRZER, GRASS & SCHUMACHER 2007, S. 180)
3.5 Transitionsbewältigung im Kontext der Schule
113
Im Folgenden werden die von PLAKE (1974) entworfenen Dimensionen – die in obiger Abbildung den ersten drei „pattern variables“ nach PARSONS (1979) entsprechen – ausgewählt und einer genaueren Betrachtung unterzogen. Affektivität versus affektive Neutralität An erster Stelle erleben Kinder mit dem Schuleintritt, dass Beziehungen auch affektiv neutral geprägt sein können. Während innerhalb der Familie die Interaktion und Kommunikation gefühlsmäßig gesteuert werden („Affektivität“ nach PLAKE 1974, S. 67), herrscht in der Schule als öffentlicher Institution ein sachlich-neutrales (distanziertes) Klima („affektive Neutralität“118), wobei die Kontrolle dabei aus Rollenerwartungen, verbunden mit sozialen Zwängen, resultiert. Kinder, die in einem stark affektiv geprägten Familienklima aufwachsen, verhalten sich in neuartigen Situationen, zu denen auch der Eintritt in die Schule gehört, verunsichert und weisen Anpassungsstörungen auf. Die affektive Neutralität dokumentiert sich vor allem auch im argumentierenden und räsonierenden Sprachstil der schulischen, vorwiegend verbalen, Kommunikation. Der Schüler muss die emotionale Befindlichkeit des Lehrers erst aus den verbalen und nonverbalen Mustern decodieren. Während das Kind lernen muss, seine Beziehung zum Lehrer im Sinne der affektiven Neutralität zu gestalten, übt dieser gleichzeitig Kontrolle auf die Kontakte mit Gleichaltrigen aus, indem auch diese den Kriterien der schulischen Beziehungsmuster unterworfen werden. Die Grundschule passt sich insofern an diese Gegebenheiten an, als nach dem Prinzip des Klassenlehrers überwiegend eine Lehrkraft als primäre Bezugsperson fungiert, zudem meist weiblichen Geschlechts, um die Kontinuität der Sozialisationseinflüsse zu wahren. In den Eingangsklassen scheint darüber hinaus ein affektives Klima zu dominieren, damit „die Belastungen, die dem Kind durch ein System zugemutet werden, das ihm von seinen sozialen Erfahrungen her fremd ist“ (ebd., S. 71), minimiert werden. Diffusität versus Spezifität Des Weiteren zeichnen sich die Kontakte innerhalb der Familie durch ihre Offenheit und Allgemeinheit aus („Diffusität“ nach PLAKE 1974, S. 71), im schulischen Kontext orientieren sich diese an zeitlichen, personellen und inhaltlichen Vorgaben („Spezifität“119). Während das diffuse kindliche Verhalten nicht auf Anspruchs- und Leistungsbereiche festgelegt ist, werden in der Schule aus dem Verhaltensrepertoire des Schülers die adäquaten Handlungsmuster ausgewählt. Die Interaktion zwischen Lehrer und Schüler ist insofern spezifisch, als dass sie „1. 118 vgl. ebd. 119 vgl. ebd.
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3 Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule
auf bestimmte Zeitpunkte im Tages- und Wochenablauf fixiert; 2. auf bestimmte Verhaltensmuster beschränkt (die höchstmögliche Verallgemeinerung wäre Lehren und Lernen) und 3. auf bestimmte kognitive Inhalte fixiert“ (ebd., S. 72) ist. Auch die Aufteilung bestimmter Fächer auf gegebene Zeitintervalle und „die im Fachlehrersystem praktizierte Austauschbarkeit bringt die Spezifität und Funktionalität der Lehrer-Schüler-Beziehung deutlich zum Ausdruck“ (ebd., S. 74). Die Spezifität der schulischen Interaktion birgt somit die Gefahr der Anonymität, die vonseiten der Schüler häufig damit bewältigt wird, dass entweder das System verlassen wird (siehe Tagträume, Schulschwänzen) oder familienkongruente Verhaltensweisen praktiziert werden, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Eine an allgemeinen Normen ausgerichtete Erziehung innerhalb der Familie führt bei den Kindern häufiger zu einem konformistischen Verhalten und zu einer Behinderung in der Persönlichkeitsentwicklung. Daher lässt sich festhalten, dass „eine normativ-kontrollierende Erziehung die Schulanpassung in solchen Bereichen erleichtert, in denen das Handeln an Regeln ausgerichtet ist, durch eine nachgiebige Erziehung die Anpassung in den Bereichen gefördert [wird; K.S.], in denen Spontaneität, Originalität und Sensibilität verlangt werden“ (ebd., S. 107). In der Grundschule wird der Spezifität damit begegnet, dass ein geringer Fächerkanon existiert und der Klassenlehrer ebenfalls flexibel in der Stundenabfolge reagieren kann. Die Pausen wiederum tragen zur Unterbrechung und zum notwendigen spontanen und diffusen Austausch zwischen den Schülern bei. Partikularismus versus Universalismus Die Spezifität beinhaltet auch, dass die Leistungsbeurteilung und -bewertung des Kindes nicht, wie in der Familie, nach individuellen Maßstäben („Partikularismus“ nach PLAKE 1974, S. 77), sondern nach einheitlichen, möglichst objektiven Kriterien („Universalismus“120) vorgenommen wird. Die Normen, nach denen ein Verhalten bzw. eine Leistung beurteilt wird, können sich an Merkmalen in Bezug auf den Leistungsbereich, an Vorschriften für das Verhalten der Schüler vonseiten der Schule oder an Klassenregeln orientieren. Ein Kind, in dessen Familie stark partikularistische Beziehungen vorherrschen, hat i.d.R. nicht gelernt, soziale Normen als Bewertungsmaßstäbe anzulegen. Es fühlt sich dadurch von der Lehrkraft zu wenig beachtet, was einerseits dazu führen kann, dass es individuelle Aspekte aus der Interaktion mit dieser zu interpretieren versucht oder die Beziehung andererseits von Apathie geprägt ist. Die Unpersönlichkeit und der mangelnde Einfluss wird neben dem in der Schule vorherrschenden personenunabhängigen Belohnungssystem vor allem im Zusammenhang mit der Zensurengebung deutlich. Da die individuelle Leistung 120 vgl. ebd.
3.5 Transitionsbewältigung im Kontext der Schule
115
des Schülers nach objektiven Kriterien beurteilt wird, „macht das Kind in der formellen Organisation der Schule die Erfahrung, daß es vom Status der Familie weitgehend unabhängig eingestuft wird, also weitgehend ‚schutzlos’ den Selektions- und Bewertungsmechanismen der Schule ausgeliefert ist“ (ebd., S. 79). In den ersten Schuljahren wird der Schüler nur bedingt mit den Selektionsmechanismen konfrontiert, da schlechte Noten oder das Repetieren einer Klasse kaum gegeben sind. Zudem dominieren mündliche Leistungsnachweise, die nicht vorrangig auf ihre inhaltliche Qualität geprüft werden, und es überwiegen Methoden, die spielerisch Motivation zum Lernen wecken wollen. Des Weiteren ist die Grundschule als Lokalschule noch stärker in das soziale Netz der Gemeinde eingebunden, als dies bei weiterführenden Schulen der Fall ist. Die sozialen Kontakte haben somit auch eine stärkere Vertraulichkeit bzw. Verbindlichkeit des Lehrers mit der individuellen Situation des Schülers zur Folge. Die scheinbare Abmilderung der Diskrepanz zwischen partikularistischen und universalistischen Beziehungsmustern zu Beginn der Grundschule darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass beim Übergang zu weiterführenden Schultypen der Leistungs- und Wettbewerbsaspekt deutlich zunimmt und Diskontinuitäten daher überwiegend in den höheren Klassenstufen zu verzeichnen sind. Das „Partikularismus-Universalismus-Dilemma“ (ebd., S. 82) wird verstärkt, weil die Eltern erwarten, dass der Lehrer die Leistungsbeurteilung des Kindes vornimmt, und die Schule die Selektion nach universalistischen Maßstäben fordert. In Form einer Zusammenschau lassen sich die Ausführungen mit ZIMMER et al. (1975) in folgender tabellarischen Gegenüberstellung abbilden.
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3 Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule
Tabelle 1: Übersicht über unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten in Familie und Schule (nach: ZIMMER et al. 1975, S. 76)
3.5.1.2
Ableitungen für den Schuleintritt
Der erste wichtige Schritt des Kindes über die primären Bindungen der Herkunftsfamilie hinaus, ist dessen Eintritt in das System der formalen Erziehung (vgl. PARSONS 1979, S. 166). Während innerhalb der Familie die Statusposition aufgrund von Geschlecht, Generation bzw. Alter askriptiv determiniert ist, wird in der Schule die Statusdifferenzierung erstmals auf nichtbiologischer Basis institutionalisiert und somit zum erworbenen Status. Im Sinne der „Zuschrei-
3.5 Transitionsbewältigung im Kontext der Schule
117
bung/Qualität“ werden in der Familie Qualitätsmerkmale nicht durch Leistung erworben, wohingegen diese in der Schule den alleinigen Beurteilungsmaßstab bildet (vgl. PARSONS 1979; in einer Zusammenschau dargestellt von KNÖRZER, GRASS & SCHUMACHER 2007, S. 180). Der einzige prädisponierende Faktor, den das Kind bei seiner Einschulung trägt, stellt sich als Grad der Unabhängigkeit zur Erwachsenenwelt im Sinne der Selbstständigkeit dar. Daher werden sowohl Eltern als auch Kinder mit dem Eintritt in die Grundschule mit erheblichen Veränderungen konfrontiert. Die Schüler werden „aus der relativen Geborgenheit der Familie in eine neue, für sie ungewohnte Umgebung versetzt, […] mit Zwängen, Belobigungen und Strafen konfrontiert, die sie in dieser Form bisher noch nicht oder kaum kennengelernt haben“ (SASS & HOLZMÜLLER 1982, S. 35). Das Kind muss lernen, sich in eine Gemeinschaft zu integrieren und sich einer festen Ordnung zu fügen. Für die schulischen Anforderungen – besonders für die Ge- und Verbote – gilt, dass sie zum einen unpersönlicher als in der Familie wirken und zum anderen nicht abgemildert werden. Der Rollenwandel des Kindes zum Schüler bewirkt zudem, dass das Kind auch innerhalb der Familie die Rolle des Schülers besitzt. Während es in der Schule seine Identität mehr oder weniger ablegen muss, zeigt sich in der Familie die Schülerrolle stets präsent. Obgleich vonseiten der Schule versucht wird, diesen Diskontinuitäten zu begegnen, können (und dürfen) die Diskrepanzen zwischen den beiden Systemen nicht völlig absorbiert werden. „Auch wenn die Grundschullehrerin den Schulanfängern in hohem Maß entgegenkommt, auch wenn der soziale Umgang durch relativ hohe Affektivität und durch eine gewisse Diffusität gekennzeichnet ist, auch wenn sie die Wertschätzung der Schülerinnen und Schüler nicht nur von Leistung abhängig macht […] und etwa im Rahmen von Freier Arbeit […] universalistische Regelungen zu Gunsten eher partikularistischer aufgelockert sind, es ist unverkennbar, dass mehr und mehr Affektivität zurückgenommen werden muss, dass die soziale Interaktion sich wesentlich als unterrichtliches Geschehen darstellt und damit eher spezifisch ist, dass Regeln und Bewertungsmaßstäbe für alle gelten (Universalismus) und dass sich die Leistung als Grundlage von Anerkennung im Lauf der Schuljahre mehr und mehr in den Vordergrund schiebt. Schüler können das als schmerzlich erleben. Sie haben das Empfinden, die Lehrerin bringe ihnen zu wenig Liebe entgegen, habe zu wenig Interesse an ihnen. Sie fühlen sich durch universalistische Regeln eingeengt. Das erzeugt ein diffuses Unbehagen, das die Schüler nicht adäquat benennen und dessen Gründe sie nicht so ohne weiteres identifizieren können. Unlustgefühle, Vorbehalte gegen Schule bauen sich auf, zumal wenn andere Schwierigkeiten noch hinzukommen. Das kann massive Auswirkungen auf den Lernerfolg haben“ (KNÖRZER, GRASS & SCHUMACHER 2007, S. 182).
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3 Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule
Aus eben dargestellten Aspekten betrachtet auch PLAKE (1974) den Schulanfang als krisenhaftes Lebensereignis, „dessen Bewältigung dem Kind eine Umbildung seiner Persönlichkeitsstruktur abverlangt“ (WITTING 1989, S. 17). Für das Kind bedeutet Schüler zu werden, „seine Persönlichkeitsstruktur in einem eher schmerzhaften Prozeß reorganisieren zu müssen“ (ebd., S. 22). Anpassungsschwierigkeiten entstehen dabei, wenn es keine Differenzierung zwischen familialen und schulischen Orientierungsmustern vornimmt und somit die Internalisierung adäquater Handlungsmaßstäbe ausbleibt. PLAKE geht hierbei allerdings wenig von einer „kreativen Eigenleistung des Kindes“ (1974, S. 17) aus, sondern misst der kindlichen Person die „Position eines Opfers [zu; K.S.], konfrontiert mit der Alternative, sich den von einem abstrakten System gesteuerten sozialisatorischen Einwirkungen zu unterwerfen oder zu scheitern“ (ebd.). Die Aufgabe des Systems Schule besteht folglich darin, „schrittweise auf die Rollen der Erwachsenengesellschaft bzw. die ihnen zu Grunde liegenden Orientierungen vorzubereiten“ (KNÖRZER, GRASS & SCHUMACHER 2007, S. 179), um das Kind an die neuen sozialen Anforderungen heranzuführen und es nicht – wie von PLAKE angenommen – zum „Opfer“ der schulischen Sozialisationsinstanz werden zu lassen. „Dies geschieht in der Grundschule dadurch, dass in ihr die sozialen Beziehungen gegenüber den Beziehungen in der Familie eher affektiv neutral sind, dass in der Schule nicht die ganze Schülerpersönlichkeit interessiert, sondern nur bestimmte Aspekte des Verhaltens, wie Lernen und Disziplin […], dass für alle Schüler der Klasse die gleichen Regeln gelten und alle nach dem gleichen Maßstab bewertet werden (Universalismus), dass Anerkennung und Belohnungen, wie etwa Noten, nicht auf Grund bestimmter unverdienter Eigenschaften (soziale Herkunft, Geschlecht, Sympathie), sondern ausschließlich nach dem Kriterium der Leistung vergeben werden“ (KNÖRZER, GRASS & SCHUMACHER 2007, S. 181).
Trotz intensiver Bemühungen im Grundschulbereich, die unterschiedlichen Strukturen und Beziehungsmuster von Familie und Schule aufeinander abzustimmen, können und dürfen diese nicht zu einer Verwischung der beiden Systeme führen. Zu unterschiedlich sind die Bestrebungen und Intentionen in Bezug auf Erziehung und Bildung. Ergänzend zu den Darstellungen, die sich für die (Grund-)Schule ableiten lassen, hat HEBENSTREIT (1979) die Dimensionen des Sozialisationskonfliktes nach PLAKE auf den Übergang von der Kindertagesstätte in die Grundschule übertragen und weist dem Kindergarten eine Art Zwischenstellung zu. In Bezug auf die obigen Gegensatzpaare setzt sich dieser einerseits von den familialen
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Prägungen ab, distanziert sich andererseits jedoch auch (bewusst) von den schulischen Bedingungen und stellt insofern eine wichtige Vermittlungsinstanz zwischen beiden Lebenswelten dar, die in Anlehnung an ZIMMER et al. (1975) anhand folgender Übersicht deutlich wird.
Tabelle 2: Unterschiede zwischen Familie, Kindergarten und Schule (nach: ZIMMER et al. 1975, S. 82) Der Kindergarten zeichnet sich im Vergleich zur Schule deutlich durch die emotionale Unterstützung aus, wobei sich die Intensität der Bindungen erheblich von dem familialen Miteinander unterscheidet und die verbalen Gefühlsäußerungen und die Gefühlskontrolle im Kindergarten zu einem zentralen Lerninhalt wird. Auch auf die Beziehungen erstreckt sich dieser Lernprozess, indem zunehmend kognitive Fähig- und Fertigkeiten innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens vermittelt werden. Dennoch steht die spielerische Vermittlung von Wissen und die individuelle Ausrichtung auf das Kind im Mittelpunkt, sodass der Kindergarten
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somit die Diffusität der familialen Strukturen aufnimmt, diese allerdings mit der Spezifität schulischer Bezüge paart. In Bezug auf die Dimension Partikularismus versus Universalismus ist anzumerken, dass die vorschulische Erziehung weder über ein fest installiertes Beurteilungssystem verfügt, noch eine Leistungsbewertung im Sinne einheitlicher Standards vornimmt. Im Zuge der aktuellen Debatte um die Qualität des deutschen Bildungssystems, wozu auch die Kindertagesstätten zu rechnen sind, wird dazu übergegangen, bereits im Kindergarten regelmäßige Beobachtungen durchzuführen und Entwicklungsschritte zu dokumentieren, um diese mit einem Kompetenzenkatalog abzugleichen (siehe Bayerischer Erziehungs- und Bildungsplan121). Außerdem zeigt sich im Hinblick auf den formellen Lernprozess eine Annäherung an die Schule, indem angestrebt wird, eine Verlagerung schulischer Strukturen und Lerninhalte zu vollziehen, um den Kindergarten in seiner Bedeutung als Einrichtung vorschulischer Bildung und Erziehung aufzuwerten. Diese Tendenz muss jedoch auch kritisch gewertet werden, da in der Folge somit die Vermittlung schulnaher Kompetenzen dominieren könnte, die wiederum die notwendigen Freiräume für Spiel und kreative Entfaltung einengen würde. Denn: „[d]ie Schule sollte Schule bleiben, der Kindergarten sollte Kindergarten bleiben. […] Es ist nicht notwendig […], dass sich Kindergarten und Grundschule bis zur Unkenntlichkeit ihrer Unterschiede in ihrer didaktischen und methodischen Konzeption aneinander annähern müssen. Eine gewisse Unterschiedlichkeit ist ein fruchtbarer Anreiz für die weitere Entwicklung unserer Kinder“ (DOLLASE 2000, S. 6).
3.5.2 Die Einschulung als Übergang für die ganze Familie Speziell der Schuleintritt kann nicht nur als eine individuelle Entwicklungsanforderung, sondern als Familienentwicklungsaufgabe gesehen werden122, mit der nicht nur das Kind ein Schulkind wird, „auch die Eltern werden Eltern eines Schulkindes, das eine Identitätsentwicklung vollzieht“ (BRANDL-HERRMANN 2004, S. 110).123 Diese werden zwangsläufig eingebunden in diesen Prozess, in dem das Kind einen Wechsel der Bezugspersonen vornimmt und sich in ein soziales Gefüge integrieren muss, jedoch gleichzeitig mit seinen Mitschülern konkur121 BAYERISCHES STAATSINSTITUT FÜR ARBEIT UND SOZIALORDNUNG, FAMILIE UND FRAUEN/ STAATSINSTITUT FÜR FRÜHPÄDAGOGIK 2006, S. 54-95 122 „Transitionen stellen zudem geeignete Zeitpunkte dar, an denen Interventionen erfolgen können, da für sie dann das Kind bzw. das Familiensystem relativ offen und empfänglich ist“ (FTHENAKIS 1998c, S. 3f.). 123 vgl. hierzu auch WILD & HOFER (2002)
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121
riert. Neben dieser Öffnung der Beziehungen nach außen, die häufig eine Lockerung des familialen Zusammenhalts bedingt, leisten die Familienmitglieder vor allem auch motivationale Unterstützung und helfen dem Kind bei schulischen Aufgaben und Anforderungen (vgl. WALPER & ROOS 2001). Diese Teilhabe am Leben des Kindes als Schüler dokumentiert sich auch dadurch, dass das familiale Zusammenleben durch eine veränderte zeitliche Rhythmisierung des Tagesablaufs vonseiten der Schule bestimmt wird.124 Weil mit der Einschulung unter anderem die Vorstellung eines eigenverantwortlichen Kindes einhergeht, werden dem Schüler zu Hause vermehrt Aufgabenbereiche übergeben, die er fortan selbstständig erfüllen muss. Diese Umverteilung der Verantwortlichkeiten kann sich jedoch auch aus der (Wieder-)Aufnahme der Berufstätigkeit der Mutter ergeben. Betrachtet man die eben dargestellten Gesichtspunkte, lässt sich festhalten, dass „der Schuleintritt zu einem normativen Entwicklungsschritt für Kinder und Familie [wird; K.S.], der wie kaum ein anderer ein Höchstmaß an altersgradierter Verbindlichkeit besitzt und die Kinder in einen neuen, gesellschaftlichen und bildungspolitisch regierten Entwicklungskontext einführt“ (ebd., S. 31). 3.5.3 Das Kindergartenkind wird zum Schulkind Der Übergang vom Kindergarten in die Schule stellt das Kind vor Entwicklungsaufgaben, die durch den Wechsel der unterschiedlichen Systeme bedingt sind. Es „erlebt die Schule als eine neue Welt, und in ihr wird es zum Schulkind“ (BAACKE 2004, S. 274). Diese neue Welt hält für den Schulanfänger Erfahrungen bereit, die der Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt bedürfen. „Als Schüler ‚aufgenommen’ zu werden, das heißt: bestimmten leistungsbezogenen Interaktionsmustern zu entsprechen, den Verpflichtungen und Erwartungen anderer nachzukommen, unabhängig von individuellen Bedürfnissen und Prägungen den für alle Schüler im Prinzip gleichen Aufgaben gerecht zu werden“ (JESKE 1981, S. 238). Das Kind verlässt die Kleingruppe der Familie bzw. des Kindergartens und somit die von Emotionalität besetzten Bindungen. In der Schule findet es eine stärkere emotionale Distanz in den Beziehungen vor, es hat sich „auf neue Bezugspersonen einzustellen, deren Verhaltensweisen sich aufgrund der strukturellen und inhaltlichen Divergenzen zwischen Kindergarten und Schule von den bisher aus dem Kindergarten bekannten unterscheiden“ (nach MACHOLDT &
124 Über die Tatsache der Strukturiertheit des Tagesablaufs und die Zunahme der Kontakte außerhalb der Familie, durch die die Verbindlichkeit der innerfamiliären Beziehungen schwindet, äußern sich die Eltern kritisch (vgl. ebd.).
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THIEL (1984) und PETILLON (1987))125. Hinzu kommt die Kontaktaufnahme mit den Klassenkameraden und die Eingliederung in eine größere Lerngruppe. In der schulischen Kommunikation dominieren verbale Ausdrucksformen – im Gegensatz zu einer stark nonverbalen Orientierung des gegenseitigen Miteinanders in der Familie und in der Kindertagesstätte. Auch die in der Schule angewandte Fachsprache ist für viele Kinder und Eltern nicht eindeutig interpretierbar. Während das Kind im Kindergarten verstärkt seinen momentanen Bedürfnissen nachgehen kann, ist die Freiwilligkeit und die freie Wahl der Beschäftigungen in der Schule deutlich eingeschränkt. So werden die zu bearbeitenden Aufgaben „von außen, also von der Lehrerin an das Kind herangetragen und sollen in einer bestimmten Zeit bewältigt werden“ (NIESEL 2009b, o.S.). Zudem findet eine „Trennung zwischen formalisiertem Lernen und Spiel“ (ebd.) statt und es fehlen Möglichkeiten zum individuellen Rückzug. Darüber hinaus lernt das Schulkind in der Schule neue Verhaltensregeln126 kennen, die ein Zurückstellen der eigenen Wünsche und Bedürfnisse erfordern und nach MACHOLDT & THIEL (1984) und PETILLON (1987) „teilweise als Einschränkung seiner Handlungsfreiheit und Aktionsmöglichkeiten empfunden wird“ (zit. n. BEELMANN 2006, S. 51). „Schulbetrieb ist ein soziales Geschehen nach geregelten, rationalen, immer wiederkehrenden Interaktionsmustern, die noch dazu an entscheidenden Stellen symbolisch-rituell unterstrichen und bekräftigt werden […]. Die gestellten Aufgaben und die Erfüllung der organisatorisch bekanntgemachten Ordnungs-(Verhaltens-)Erwartungen werden in der Schule noch konsequenter als im Elternhaus erzwungen“ (JESKE 1981, S. 238)
und bei Erfüllung belohnt bzw. bei Nichterfüllung mit negativer Rückmeldung versehen. Der Schüler erweitert dadurch seine Erfahrungswelt und zeigt durch seinen neuen Status vermehrt autonomes Verhalten. Darüber hinaus hat der Schulanfang „als verheißungsvoller Neubeginn […] für die Kinder einiges zu bieten, nämlich einen neuen Status, mehr Verantwortung, mehr Unabhängigkeit und neue Kompetenzen“ (SPECK-HAMDAN 2006, S. 22). Das Kind muss sich Fähig- und Fertigkeiten wie beispielsweise das Erlernen der Kulturtechniken aneignen und wird mit
125 zit. n. BEELMANN 2006, S. 51 126 „Verträglichkeit oder Unverträglichkeit von Übergängen ergeben sich daraus, inwieweit die Institutionen, zwischen denen der Übergang stattfindet, sich darin unterscheiden, wie sie Verhalten deuten und damit unter Umständen als problematisch wahrnehmen“ (ZIMMER et al. 1975, S. 70).
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neuartigen spezifischen Anforderungen127 sowie einer Lern- und Unterrichtssituation, die auf die Bewertung von Leistung ausgerichtet ist, konfrontiert. Damit veröffentlicht der Eintritt in die Schule die familiären Verhältnisse (vgl. DEUTSCHER BILDUNGSRAT 1975, S. 50), sodass die Gegenüberstellung der Leistung, der sozialen und materiellen Verhältnisse der einzelnen Schulkinder im Vordergrund steht und das Kind in eine Vergleichssituation drängt. Der Schuleintritt bringt des Weiteren organisatorische Veränderungen wie eine neue Tagesstruktur, oft einen längeren Weg zur Schule, die Erledigung von Hausaufgaben etc. mit sich, durch die sich eine stärkere Belastung der Kinder ergibt und die freie Zeitplanung der Familie beeinträchtigt wird. Durch kürzere Betreuungszeiten in der Schule wird das Kind im Anschluss häufig erneut fremdbetreut, womit ein weiterer Wechsel der Institutionen (z.B. Hort) oder Personen verbunden ist.128 Mit diesen formalen bzw. inhaltlichen Veränderungen wird das Kindergartenkind in der Übergangsphase zum Schulkind konfrontiert und ist herausgefordert, die Unterschiedlichkeiten der beiden Institutionen Familie und Schule in Einklang zu bringen. Dass dabei das Kind und das schulische System zuweilen in einem ambivalenten Verhältnis zueinander zu stehen scheinen, verdeutlicht folgendes Zitat: „Die Schule kommt also bestimmten Erwartungen des Kindes entgegen, und es ist schlimm, wenn sie enttäuscht werden. Das Kind weiß, dass es in der Schule anders zugeht (trotz Liedersingen und Schultüte am ersten Tag) als zu Hause oder beim Spielen, und es will das auch. Wenn jetzt Leistungssituationen, Fremdbewertung und Verbindlichkeit in dem, was man tut, zunehmen […], so ist dies, grundsätzlich betrachtet, ganz im Sinne des Kindes. Es will zeigen, daß es etwas kann (Leistungssituation); es will ernstgenommen werden und ist durchaus bereit, kleine Gesellschaftsverträge einzugehen, um eine bestimmte Aufgabe mit anderen erledigen zu können (Verbindlichkeit); es sträubt sich keineswegs dagegen, von für zuständig erachteten Erwachsenen Meinungen und Einschätzungen seiner Arbeit zu hören (Fremdbewertung). Der ‚Schulschock’, den schon viele Kinder haben, besteht also nicht darin, daß ihnen etwas zugemutet wird, das ihnen ganz und gar fremd wäre. Das Problem der Schule liegt woanders: Was den Kindern in gewisser Weise selbstverständlich ist, wird nun bestimmten Ritualen unterworfen, Rollenzuschreibungen und (strikten und ziemlich unbeweglichen) Verfahren, die wenig geeignet sind, die immer noch aufbrechende Spontaneität des Kindes, Brüche in seinem Verhalten abzufangen noch gar, seine ganz auf die Sache gerichteten Erwartungen so zu erfüllen, daß die übergreifenden Systemerfordernisse, denen Schule unterliegt, nicht störend 127 „Verträglichkeit oder Unverträglichkeit von Übergängen sind auch abhängig vom Ausmaß der Hilfe, die die Kinder in den Institutionen selber erfahren“ (ZIMMER et al. 1975, S. 70). 128 vgl. DEUTSCHER BILDUNGSRAT 1975; STÖCKLI 1989; BEELMANN 2006; NIESEL 2009b und die zusammenfassende Darstellung von GROTZ 2005
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dazwischentreten. Kinder, die aus der ‚Ganzheit’ des ökologischen Zentrums und Nahraums kommen, müssen nun mit Partialbeziehungen vorlieb nehmen – sowohl zu den Menschen wie zu den Sachen“ (BAACKE 2004, S. 276; Hervorh. d. Verf.).
3.5.4 Der Schulanfang als Problem- und/oder Entwicklungspotenzial Wie jeder Übergang, so beinhaltet auch der Eintritt in die Schule das Risiko des Scheiterns und die Chance zur Weiterentwicklung. Dieser zeichnet sich somit durch einen Doppelcharakter aus „der ein Spannungsfeld vielschichtiger Erlebensmöglichkeiten zum Ausdruck bringt. Schulanfang ist somit Entwicklungspotenz und Problempotenzial zugleich“ (SCHNEIDER 2001, S. 458). Das Prinzip des Doppelcharakters des Schulanfangs beleuchtet SCHNEIDER aus fünffacher Perspektive.
Der Schulanfang als Balanceerfahrung dokumentiert sich darin, dass „das Kind seine individuelle Einzigartigkeit, sein Selbstsein sowohl sozial, emotional, leistungsmäßig als auch organisatorisch mit den Anforderungen des Eingepasstseins in eine soziale Lerngruppe aus[balanciert; K.S.]“ (ebd., S. 460). Findet das Kind diese Balance im innerschulischen Kontext nicht, da „die Schule als Pflichtveranstaltung nur ein geringes Gewicht gegenüber [seinen; K.S.] Erlebnissen in anderen Lebenswelten“ (ebd., S. 465) besitzt, gleicht der Schulbesuch einem Erdulden der Situation. Da hierbei keine Identifikation mit der Lebenswelt Schule vollzogen wird, entwickelt sich diese zur Distanzwelt. Eine endgültige Brucherfahrung lässt sich feststellen, „wenn Erwartungen enttäuscht, Ängste nicht abgebaut und negative Erlebnisse in der Schule dem Kind zu schaffen machen“ (ebd., S. 464). Dieser Bruch kann einerseits die soziale und kognitive Entwicklung des Kindes hemmen, andererseits auch als Entwicklungsimpuls fungieren, wenn dieser überwunden wird. Im Gegensatz dazu können Schulanfänger den Eintritt in die Schule auch als Betreten eines Nestes wahrnehmen. „Für manche Kinder ist die Schule ein Hort der Geborgenheit: als Gegensatz oder ergänzend zum Elternhaus. […] Das Erleben elterlicher Zuwendung und der Geborgenheit in einer altersgemischten Kindergruppe unterstützen die Entwicklung persönlichkeitsstärkender emotionaler Komplementärerfahrungen“ (ebd., S. 466). Macht das Kind in der Schule darüber hinaus die Erfahrung, dass seine individuellen Bedürfnisse auch in sozialer Hinsicht befriedigt werden, kann ein „bedeutsamer Entwicklungsschub ausgelöst werden“ (ebd., S. 462), der
3.5 Transitionsbewältigung im Kontext der Schule
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den Schulanfang zum Impulsgeber werden lässt. Zum „Lernakteur“ (ebd.) entwickelt sich das Kind besonders dann, wenn es Erfolg bei seinen Aufgaben hat und die Sozialkontakte als positiv bewertet. Die Schule als Impulsgeber fordert den Schulanfänger – trotz der diskontinuierlichen Erfahrungen – heraus, eine Weiterentwicklung seiner individuellen Dispositionen vorzunehmen. „Da die geistige und charakterliche Entwicklung des Individuums […] kein kontinuierlicher, harmonischer Vorgang des Wachsens der Kräfte und der Entfaltung von Kompetenzen ist, sondern der kritischen Übergänge und der produktiven Umbrüche bedarf, kann die Schule nicht jener gesellschaftliche Schonraum sein, in dem die nachwachsende Generation aufgrund der Eigengesetzlichkeit des kindlichen Werdens heranreift und dabei behutsam zu fördern ist, sondern muß eine Stätte psychologischer Herausforderung, pädagogischer Anregung, geistiger Förderung und sozialer wie moralischer Orientierung sein“ (WEINERT 1989, S. 25).
„Der Schulanfang als Problem- und/oder Entwicklungspotenzial?“, lautete die Eingangsfrage. Das Ge- oder Misslingen zeigt sich wiederum in Abhängigkeit von den individuellen Dispositionen des Kindes und den sozialen Unterstützungsmechanismen. „Im Hinblick auf die Entwicklung des Kindes – mit davon betroffen auch die seiner Eltern – ist die Einschulung ein kritisches Lebensereignis. Der Übergang vom Elementar- in den Primarbereich muss bewältigt werden. Bei günstigen Rahmenbedingungen werden die eigenen Handlungsmöglichkeiten wahrgenommen, Selbstvertrauen und Zuversicht unterstützt. Im negativen Fall wird die Einschulung als Ausgeliefertsein an die Situation erlebt. Alle Kinder müssen sich der gesellschaftlich für eine bestimmte Lebensphase vorgesehenen ‚Entwicklungsaufgabe Schulanfang’ stellen. Ob sie positiv verlaufen kann, hängt nicht zuletzt davon ab, dass eine ‚Passung’ zwischen den Voraussetzungen, mit denen das Kind die Schule beginnt, und den schulischen Abläufen zustande kommt. Die Familie und die vorschulischen Lebens- und Entwicklungsbedingungen dürfen demnach nicht vergessen werden, wenn es um den Schulanfang geht“ (FAUST-SIEHL & SPECK-HAMDAN 2001, S. 7).
Wenn das Kind und das Umfeld – FAUST-SIEHL & SPECK-HAMDAN betonen an dieser Stelle vor allem die Familie und den Kindergarten bzw. die Kinderkrippe, die als schulvorbereitende Institutionen grundlegende Fähig- und Fertigkeiten sowie Umgangsformen vermitteln sollten – gemeinsam ihren Beitrag zur Übergangsbewältigung leisten, kann der Schulanfang als Entwicklungspotenzial genutzt werden.
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3.5.5 Die pädagogische Gestaltung des Übergangs im Sinne der Entwicklungsaufgaben Welche Ableitungen ergeben sich daraus für einen pädagogisch gestalteten Schulanfang? Dieser Fragestellung sind KNÖRZER, GRASS & SCHUMACHER (2007) nachgegangen und haben pädagogische Prinzipien für die ersten Schulwochen und -jahre entworfen, um den Kindern die Eingewöhnungsphase in das System Schule zu erleichtern (vgl. Abb. 10).
Abbildung 10: Pädagogischen Prinzipien für die ersten Schulwochen und Schuljahre (nach: KNÖRZER, GRASS & SCHUMACHER 2007, S. 290)
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Die einzelnen Gesichtspunkte werden im Folgenden erläutert und zugleich den verschiedenen Ebenen der Entwicklungsaufgaben zugeordnet. Auf der individuellen Ebene zählt die Erfahrung, in der Schule persönlich willkommen zu sein. Denn schließlich ist jedes Kind „eine einmalige Persönlichkeit und will auch in seiner Einmaligkeit, persönlich, nicht nur als Teil der Klasse angesprochen werden. Es will erfahren, dass die Lehrerin es ganz persönlich für wichtig und wertvoll hält und sich mit ihm abgibt“ (ebd., S. 290). Es erkennt somit, in seiner Identität als Schulkind wahrgenommen zu werden. Im Sinne des Kompetenzerwerbs sollte Schule als ein Ort erfahren werden, an dem jeder die für ihn individuell notwendige Lernzeit hat. Dieses Prinzip gilt nach KNÖRZER, GRASS & SCHUMACHER (2007) als grundlegendes Element des Anfangsunterrichts, da die Kinder unterschiedliche Lernvoraussetzungen besitzen. Durch Rhythmisierung des Unterrichts wird darüber hinaus sowohl der Individualität, als auch der Einhaltung des regulären Tagesablaufs Rechnung getragen. Schule wird dann zu einem Ort aktiven Lernens, wenn der Schüler seine Arbeit frei einteilen kann. Das Schulkind übt im Rahmen der freien Arbeit ein, für sein Tun Verantwortung zu übernehmen und selbst Aktivität zu zeigen. Außerdem eröffnet dies der Lehrkraft die Möglichkeit, einzelne Kinder intensiver zu fördern und individuelle Unterstützung anzubieten. Die interaktionale Ebene zeichnet sich dadurch aus, dass die Schule als Ort erlebt wird, an dem man sich wohl fühlt. Ob dies Kindern in der Schule gelingt, hängt im Wesentlichen davon ab, welche Beziehung sie zur Lehrkraft129 und den Mitschülern pflegen. Die Integration in die Klasse leistet somit einen erheblichen Beitrag zur Übergangsbewältigung. Zudem ist auch ein ansprechendes räumliche Umfeld für das Einleben im neuen Lebensraum Schule entscheidend. Die Auseinandersetzung mit neuen Strukturen und Inhalten gilt als wesentliche Entwicklungsaufgabe der kontextuellen Ebene. Die Kinder benötigen Unterstützung dabei, eine Balance zwischen der eigenen persönlichen Einmaligkeit und der Unterordnung unter die für alle geltenden Regeln zu finden. Hier geht es also um „die Balance zwischen persönlicher Einmaligkeit und Anpassung an soziale Erwartungen“ (ebd., S. 293). Das Kind muss einerseits das Gefühl haben, als individuelle Persönlichkeit anerkannt und wertgeschätzt zu werden, andererseits muss es auch lernen, sich in der Gruppe zurückzunehmen, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen und allgemein geltenden Regeln unterzuordnen. Feste, verbindliche Regeln vermitteln dabei Sicherheit und Orientierung: „Sie sind gewissermaßen äußere Stützen zur Entwicklung innerer Sicherheit“ (ebd., S. 294). Auch Rituale dienen dazu, Kindern Halt zu geben und das Dazugehörigkeitsgefühl zu stärken. 129 Als wichtiges Lernmotiv kann das Bestreben der Schüler angesehen werden, sich über gute Leistungen Anerkennung vonseiten der Lehrer und Eltern zu verschaffen.
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In diesem Rahmen erfahren Kinder Schule als Ort, an dem Fehler nicht entmutigen, sondern Hilfen für weiteres Lernen sind. Denn mit dem Eintritt in die Schule wird der Schulanfänger auch mit der Selektions- bzw. Allokationsfunktion konfrontiert. Er muss sich Leistungsbewertungen sowie -beurteilungen unterziehen und es findet ein Vergleich mit den Mitschülern statt. „In der Regel werden in der Schule die Kinder vor allem auf ihre Fehler hingewiesen, auf das, was sie noch nicht so gut können. Der Hinweis darauf, was sie schon alles können, wäre wichtig, kommt aber meist zu kurz. Eine entsprechende Veränderung der Sichtweise käme fast einem Paradigmenwechsel gleich“ (ebd., S. 300).
Vor allem für Grundschüler ist diese der Ermutigung dienende Sichtweise wichtig, da sie erheblich zur Stärkung des eigenen Selbstbewusstseins beiträgt. 3.5.6 Schulbereitschaft und Schulfähigkeit des Kindes Die Schule stellt an den Schulanfänger – in Abweichung von der Familie – besondere Ansprüche. Diesen muss es gerecht werden, wenn ihm die Schulreife attestiert werden soll. Dieser Begriff birgt jedoch in sich insofern eine Ambivalenz, als an das Kind Erwartungen gerichtet werden, denen es aufgrund seines Entwicklungsstandes zu diesem Zeitpunkt kaum nachkommen kann, da es sich noch in der „phantasiebewegten Periode seines Lebens“ (SCHMIDT 1958, S. 290) befindet. „Die Welt, die es umgibt, ist noch nicht etwas von ihm Gelöstes, der es souverän gegenübersteht, sie ist ein sinnvoller Zusammenhang, dem es als Glied eingebettet ist. In dieser Zeit verfügt der Mensch noch in hohem Maße über die Fähigkeit, aus allem alles zu machen, Verbundenes zu trennen und Getrenntes zu verbinden, wie es seiner schöpferischen Laune gefällt. Es ist eine freundlich lächelnde Welt, in der alles Lebende noch geschwisterlich eins ist. Die Dinge sind noch nicht gedachte Dinge, sondern Sinnendinge, denen souverän eine Funktion zugeteilt wird, wie es der jeweilige Zusammenhang gerade erfordert“ (ebd.).
Diese „aufbauende Periode der Kindheit in ihrer ungetrübten Realität“ (ebd., S. 291) gilt es dem Kind so lange wie möglich zuzugestehen, damit es die in ihm angelegten Fähig- und Fertigkeiten voll entwickeln kann und diese Phase mit ihrer Unbefangenheit der Betrachtung und Bewältigung der Entwicklungsanforderungen ausnutzen kann. Deshalb ist es umso wichtiger, „daß der Mensch wenigstens in einer Periode seines Lebens die Möglichkeit hat, ganz sich zu gehören, und dies muß die Zeit vor dem Schulbeginn sein“ (ebd.; Hervorh. d. Verf.).
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Einer Verlagerung schulnaher Kompetenzen in den Kindergarten wird von SCHMIDT hiermit eine Absage erteilt. Vielmehr geht es darum, dem Kind Möglichkeiten zu bieten, vor dem Eintritt in die Schule seinen Bedürfnissen nach Spontaneität, Kreativität und Freiwilligkeit unbefangen nachgehen zu können und Freude an seinem Tun zu entwickeln, denn die emotionale Einstellung zum Kindergarten und zur Schule stellt eine entscheidende Komponente in der Übergangsphase dar. So läuft der Übergang dann ohne größere Probleme ab, wenn sich das Kind bereits im Kindergarten wohl fühlt und auf den Schulbeginn freut (so genannte „Schulbereitschaft“130). Zusätzlich sollte es ausreichend131 auf die Schule vorbereitet sein132 und Erfolg in der Schule haben (vgl. BROSTRÖM 2002). Neben der Anpassungsfähigkeit des Kindes (vgl. GROTZ 2005) und dem Schulerfolg, der die Kompetenzen des Kindes stärkt und eine gelungene Schullaufbahn nach sich zieht (vgl. ENTWISLE & ALEXANDER 1998), scheinen die sozialen Kontakte eine weitere wesentliche Komponente für einen reibungslosen Übertritt zu bilden und die Bewältigung weiterer Übergänge im Leben zu begünstigen. Je unterstützender das Kind seine Eltern und die Lehrkraft empfindet, desto besser gelingt die Neuanpassung (vgl. GROTZ 2005), wobei diese die Aufgabe besitzen, „die Übergänge im Sinne eines verträglichen Anschlusses und eines gelingenden Neuanfangs zu gestalten“ (SPECK-HAMDAN 2006, S. 21). Ein befreundeter Gleichaltriger in der Klasse, eine gelungene soziale Interaktionen und der Aufbau (stabiler) sozialer Beziehungen erleichtern die Eingewöhnungsphase. Dabei sind Freundschaften zu Gleichaltrigen besonders wichtig, um einerseits Empathie einzuüben und andererseits emotionale Unterstützung zu erhalten. Besonders im Zusammenhang mit sozialen Kontakten sind positive Erfahrungen „für das Erlernen resilienter Verhaltensweisen und Einstellungen von großer Bedeutung“ (GRIEBEL & MINSEL 2007, S. 64f.). Insgesamt bewältigen Kinder den Übergang vom Kindergarten zur Schule besser, wenn vorherige Freundschaften erhalten bleiben und weitere Übergangserfahrungen ausbleiben (vgl. ENTWISLE & ALEXANDER 1998). Darüber hinaus bildet die Entwicklung eines positiven Bildes von der Lehrkraft eine weitere wichtige Bewältigungsstrategie, während hinsichtlich des Tages- und Wochenablaufs feste Strukturen und Rituale begünstigend wirken (vgl. GRIEBEL & NIESEL 1999).
130 vgl. GRIEBEL 2004c, S. 94 131 Eine kritische Frage sei an dieser Stelle erlaubt: Welche Merkmale zeichnen eine ausreichende Schulvorbereitung aus? 132 „Ob ein Übergang verträglich oder unverträglich ist, hat auch damit zu tun, wieweit ein Kind auf die neue Institution vorbereitet wurde“ (ZIMMER et al. 1975, S. 70).
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Ein langfristiger Schulerfolg scheint sich dann einzustellen, wenn sich das Kind in der Schule wohlfühlt, eine positive Grundstimmung und ein gutes Selbstkonzept entwickeln kann (vgl. NIESEL 2004). RAMEY & RAMEY bilden die Faktoren einer gelungenen Schulanpassung sowie einer erfolgreichen Übergangsbewältigung folgendermaßen ab:
Abbildung 11: A framework showing successful transitions to school as a function of preparation, comprehensive support, and positive expectations for the future (nach: RAMEY & RAMEY 1999, S. 220) Probleme beim Schuleintritt erhöhen hingegen die Wahrscheinlichkeit, dass auch nachfolgende Übergänge nicht adäquat bewältigt werden, da „eine starke Verbindung zwischen der Bewältigung der Anpassung an die Schule, dem Leistungsniveau und generell der weiteren kindlichen Entwicklung besteht“ (FTHENAKIS 2005, S. 33). Daher hängt von der Gestaltung des Übergang vom Kindergarten zur Schule in entscheidendem Maße ab, welche Schulbereitschaft und welchen Schulerfolg das Kind bzw. der Jugendliche in seiner weiteren Laufbahn
3.5 Transitionsbewältigung im Kontext der Schule
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verzeichnen wird. Hierzu ist anzunehmen, „dass eine erfolgreiche Bewältigung des Übergangs die Kompetenzen des Kindes für die weitere Bildungsbiographie stärkt, während Probleme bei der Bewältigung die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass auch nachfolgende Übergänge nicht angemessen bewältigt werden können“ (GRIEBEL & MINSEL 2007, S. 55)133. Somit kann die Bewältigung des Übergangs im Sinne eines Bewältigungslernens134 auch als Basiskompetenz für den weiteren Schulerfolg betrachtet werden (vgl. FTHENAKIS 2000, 2005; GRIEBEL & NIESEL 2004). In dem Prozess der Auseinandersetzung mit den Diskontinuitäten, die sich aus dem Wechsel der verschiedenen sozialen Systeme ergeben, ist das Kind bzw. der Jugendliche aufgefordert, so genannte „Basiskompetenzen“ (GRIEBEL 2004b, S. 217) zu erwerben. Neben der Sozialkompetenz, die die Begegnung mit anderen Menschen verlangt, und der Fähigkeit zur aktiven Problemlösung, wird besonders die Reorganisationskompetenz betont, die dazu dient, die verschiedenen Systeme in Beziehung zueinander zu stellen und Wandlungsprozesse zu gestalten. Denn „[d]ie Bewältigung von Übergängen bietet für das Kind die wichtige Chance des Wachstums und der konstruktiven Weiterentwicklung der Persönlichkeit in einem jeweils neuen sozialen und kulturellen Kontext“ (BMFSFJ 2005b, S. 221). Zudem eröffnet eine gelungene Transitionsbewältigung „größeres Selbstvertrauen, weitere gute Beziehungen mit anderen Kindern und Erwachsenen, vermehrte Motivation und größere Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen“ (GRIEBEL & NIESEL 2002a, S. 17). Damit Kinder in der Transitionsphase sowohl von der Familie als auch von schulischer Seite Unterstützung erhalten, hat GRIEBEL (2004c) – Bezug nehmend auf die Entwicklungsaufgaben – Bausteine der Schulfähigkeit auf den unterschiedlichen Ebenen abgeleitet, die wesentlich zur Bewältigung des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule beitragen. Auf der individuellen Ebene sollen Kinder beispielsweise Stressbewältigungskompetenz erwerben, indem sie einerseits Wissen über die Entstehung und Auswirkung von Stress erlangen, sich andererseits aber auch Strategien (z.B. Entspannungstechniken) aneignen, mit Stresssituationen umzugehen. Diese aktive Auseinandersetzung mit starken Emotionen und die Entwicklung neuer Kompetenzen zeigt eine gelungene Transition an. Zudem basiert diese Ebene auf der Vermittlung von Selbstvertrauen, Problemlösungsstrategien und Kommunikationsfähigkeiten, die einen Wandel der Identität bewirken. Daher entscheiden vor allem die individuellen Eigenschaften des Kindes, wie der Übergang wahrgenommen wird. Wichtig dabei ist vor allem 133 Die Autoren verweisen in diesem Kontext u.a. auf den Ökopsychologischen Systemansatz von BRONFENBRENNER (1989). 134 NIESEL & GRIEBEL (2000) verstehen darunter, dass die Anforderungen im Zusammenhang mit dem Übergang von der Familie in die Schule für das Kind so gestaltet werden sollten, dass sie zu Herausforderungen werden, von deren Bewältigung es einen Nutzen hat.
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„ein hohes Maß an Selbst-Wertgefühl und Selbst-Bewusstheit zu erwerben, eigene Einstellungen, Zukunftspläne und Handlungsweisen herauszubilden und ein hohes Maß ‚internaler Kontrollüberzeugungen’ zu erlangen, d.h. sich für Erfolg bzw. Misserfolg selbst verantwortlich zu fühlen und durch Erfahrungen der eigenen Wirksamkeit an sich zu glauben“ (HOPF, ZILL-SAHM & FRANKEN 2004, S. 17).135
Diese Fertigkeiten werden benötigt, um auf der interaktionalen Ebene mit anderen Kindern Beziehungen eingehen zu können. Zur Vorbereitung auf die Schule könnten Kindergartenkinder regelmäßig von einem Schulkind in die Struktur und die Abläufe des Schullebens eingeführt werden (sog. Tutorensystem). Dies hätte den Vorteil, dass Hemmungen und Unsicherheit genommen würden, das Schulkind zeigt dadurch Verantwortung, was sich wiederum positiv auf das Klassenklima auswirken könnte, und bearbeitet erneut die eigenen Erfahrungen mit diesem Übergang. Neben den Schulkindern könnten bewusst auch Lehrer und anderes pädagogisches Personal als Informationsquellen zur Verfügung stehen. Die positiv erlebten Beziehungen zu Mitschülern und Lehrern sowie die positiven Veränderungen in den familiären Beziehungen tragen zu einer Wiederherstellung des Gleichgewichts bei. Die Klarheit über die veränderte Rolle und die Zufriedenheit mit deren Gestaltung signalisieren die Bewältigung des Übergangs. Die kontextuelle Ebene136 umfasst schließlich den Anschluss der Bildungsund Erziehungskonzeption im Kindergarten (nach dem Bayerischen Bildungsund Erziehungsplan) an den Lehrplan der Grundschule. Dazu werden Lehrer als Kooperationsbeauftragte ausgebildet, die gemeinsame Veranstaltungen mit den Kindertagesstätten durchführen und inhaltliche Gesichtspunkte aufeinander abstimmen. Die Fähigkeit des Kindes, sich konstruktiv mit dem veränderten Curriculum auseinander zu setzen und die darin enthaltenen Entwicklungschancen aktiv zu nutzen, ist neben der Integration der Lebensbereiche Familie und Schule ein weiterer Hinweis für eine gelungene Transitionsbewältigung. 3.5.7 Die Verknüpfung vorschulischer und schulischer Lernprozesse „Zwischen vorschulischen und schulischen Lernprozessen muss mehr Anschlussfähigkeit gesichert sein, lautet die Forderung“ (GRIEBEL & NIESEL 2002a, S. 60; Hervorh. d. Verf.). HACKER spricht von einer „Verzahnung“ (1998, S. 108) zwischen Kindergarten und Schule, wobei der Fokus auf das Homogeni135 HOPF, ZILL-SAHM & FRANKEN (2004) verweisen an dieser Stelle auf folgende Literatur: FLAMMER, A. (1990): Erfahrung der eigenen Wirksamkeit. Einführung in die Psychologie der Kontrollmeinung. Bern/Stuttgart/Toronto 136 FTHENAKIS (1998c) konstatiert, dass die Optimierung der Entwicklungs- und Erziehungskontexte im Zusammenhang mit der Transitionsbewältigung stärkere Berücksichtigung finden sollte.
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tätsdiktat der Schule gelegt wird. Während die vorschulische Erziehung primär sozial integrative Funktion besitzt, die die Kinder dennoch in ihrer Individualität erkennt (Prinzip der Heterogenität), verkörpert die Institution Schule sozial selektive Aspekte, vor allem über die Zuweisung von Bildungsabschlüssen. Diese Diskrepanz dokumentiert sich auch als „Zielkonflikt“ (PEKRUN 1997, S. 55) in den unterschiedlichen Interessenlagen von Elternhaus und Schule. Konkret bedeutet dies, dass sich die Kooperation von Kindergarten und Schule an den Prinzipien der Individualisierung und Flexibilisierung orientieren sollte. Jedes Kind reagiert unterschiedlich auf die jeweiligen Entwicklungsimpulse und benötigt daher eine andere Art und Intensität der Unterstützung. Während die Herstellung von Kontinuität nach wie vor ein entscheidendes Kriterium darstellt, um Übergänge zu bewältigen, werden besonders die Diskontinuitäten im Lebensverlauf als Motor bzw. Stimulus der Entwicklung angesehen. Hierzu ist es notwendig, den Übergängen den Charakter einer Klippe zu nehmen; d.h. „[d]ie vorhergehende Situation muß organisch in die andere überleiten und die folgende sich organisch an die vorhergehende anschließen“ (SCHMIDT 1958, S. 290), was als Prinzip der „sinnvollen Überleitung“ (ebd., S. 295) bezeichnet werden kann. Kontinuität wird dabei nicht im Sinne von bruchlosen oder gleitenden Übergängen verstanden, sondern befasst sich mit der Fragestellung, welche Hilfestellungen die Beteiligten benötigen, um Brüche bzw. Diskontinuitäten zu bewältigen. Diskontinuierliche Erfahrungen, die zwangsläufig mit Entwicklungsanforderungen verbunden sind, führen, wenn sie im Sinne von Herausforderung statt Überforderung genutzt werden, zu einem intensiveren Lernen und treiben damit die individuelle Entwicklung voran. Die Devise könnte somit lauten: „Soviel Kontinuität wie nötig – nicht wie möglich“ (GRIEBEL & NIESEL 2002a, S. 62). Wird zudem das Prinzip der Differenzierung integriert, erlernen Kinder und Jugendliche unentbehrliche Basiskompetenzen, die für die Bewältigung weiterer Übergänge wichtige Voraussetzungen bilden. 3.5.8 Übergangsbewältigung und soziale Selektion – ein Zusammenhang? Im Hinblick auf die prekäre Situation im Bildungswesen sprechen Experten davon, dass sich „[d]urch die Schulen, durch die Berufsausbildung und auch durch die Hochschulen […] eine tiefe Spur des Scheiterns“ (BELLENBERG & KLEMM 2000, S. 51) zieht. Dieser ernüchternde Befund findet seine Begründung in unterschiedlichen Tatsachen. BÖTTCHER prangert an, dass „Scheitern und Erfolg in hohem Maße von der sozialen Herkunft der Individuen abhängen“ (2004, S. 215), jedoch trotz der PISA-Studie, die dem deutschen Schulsystem mangelnde Chancengleichheit attestierte, im öffentlichen Diskurs weiterhin die individuelle Leistung als Maß-
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stab für die Bewertung als Bildungsgewinner oder -verlierer dient. Die „Fortschreibung gesellschaftlicher Ungleichheitsstrukturen und ihre Legitimierung durch das Bildungssystem“ (ebd., S. 213) bleibt. Der Zusammenhang von sozialer Herkunft und der (Bildungs-)Leistung wird dabei an den Nahtstellen (Übergängen) des Schulsystems verstärkt (vgl. BÜCHNER 2003; MERTEN 2008), die „Weichenstellungen“ (DÄSCHLER-SEILER 2004, S. 27) für weitere Bildungsgänge bedeuten. Die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben wird abhängig von individuellen und umgebungsbezogenen Resilienzfaktoren137 geleistet, mit denen Kinder aus bildungsfernen Familien, aus Migrantenfamilien oder aus sozial schwächeren Schichten nicht zwangsläufig ausgestattet sind. Die mangelnde bzw. misslungene Transitionsbewältigung kann sich als eine Folge auch in ungenügenden schulischen Leistungen niederschlagen, denn „ein derart bürokratisch-ökonomisch konzipierter und organisierter Schulanfang setzt den emotionalen Bedürfnissen der Kinder nach Geborgenheit und Zuwendung, setzt ihren Kommunikations- und Interaktionsgewohnheiten eine derart strenge, objekt- und ‚produktorientierte’ Leistungserwartung entgegen, verlangt von ihnen ein Maß an Aufmerksamkeit und Ausdauer, Anpassung und Anstrengung, daß viele, besonders aber die sozial und national benachteiligten Kinder nachweisbar überfordert werden. Ihr wachsendes Unverständnis, Unbehagen und schließlich Unvermögen gegenüber den schulischen Anforderungen erstickt die anfängliche Lern- und Leistungsbereitschaft, Lern- und Verhaltensstörungen stellen sich ein oder werden unnötig verstärkt“ (HAARMANN 1982, S. 35).
Wenn Übergänge auf die „vielschichtige Problematik zwischen Entwicklungsfortschritt, Unstetigkeit im Erziehungsprozess und sozialer Auslese“ (DÄSCHLERSEILER 2004, S. 27) verweisen, wird dementsprechend auch die – gewollte oder ungewollte – Selektionsfunktion der Schule deutlich. Die Transitionsbewältigung benachteiligter Kinder und Jugendlicher wird vor allem dadurch erschwert, dass das System Schule Kompetenzen voraussetzt, die es im innerfamilialen Kontext vorab zu erwerben gilt, denn „Schule ist auch immer ein Weitergehen und ein Aufbauen auf bereits gelegter Basis“ (SPECKHAMDAN 2006, S. 22). Die schulischen Strukturen und Wertvorstellungen begünstigen jedoch eine Antizipation des Mittelschicht-Kindes, während die Unterschicht-Kinder aufgrund der Sozialisationsbedingungen ihres sozialen Umfeldes benachteiligt sind, da sie nicht gelernt haben, „sowohl den offiziellen Erwartungen zu entsprechen wie auch eigene Eindrücke und Erfahrungen in die Interaktionsprozesse einzubringen“ (PLAKE 1974, S. 130). Dieser Sachverhalt ist – mit JESKE – auf folgende Gegebenheiten zurückzuführen: 137 vgl. Kapitel 3.6.: Ausgewählte Ergebnisse der Resilienzforschung und ihr Beitrag zur Reformierung des schulischen Ganztagsbetreuungskonzeptes
3.5 Transitionsbewältigung im Kontext der Schule
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„Mittelschichten-Kinder beherrschen den elaborierten Kode der Schulsprache. Für sie ist die argumentierende, interpretierende Kommunikation vom Elternhaus her etwas Selbstverständliches. Sie haben es schon zu Hause gelernt, gegenwärtige Mühen und Anstrengungen mit der Aussicht auf zukünftige – d.h. vorerst langfristig aufgeschobene – Befriedigungen und Belohnungen zu ertragen sowie eigenständiges Leistungsstreben zu entwickeln. Sie reagieren auf symbolische und rituell deutbare Belohnungen. Die diffizile Disziplinierungstechnik der Lehrer ist ihnen, in der Grundstruktur ähnlich, schon als Elternverhalten vertraut. Der schulische Leistungswettbewerb entspricht dem Gesellschaftsbild, das ihnen als Funktionsprinzip einer gerechten Gesellschaft und als normaler sozialer Verhaltensstil frühzeitig vermittelt worden ist. Unterschichten-(Arbeiter-)Kinder haben es schwer, wenn sie sich – was unabdingbare Voraussetzung für Schulerfolg ist – mit der Schule und insbesondere mit den Leistungsanforderungen der Lehrer identifizieren sollen. Die Sprache des Schulbetriebes ist ihnen ebenso fremd wie die differenziert organisierte und situativ immer neu zu interpretierende und zu Anpassungsleistungen verpflichtende schulische Rollenstruktur. Symbolische Belohnungsformen (Zensuren) sind sie nicht gewöhnt, deren Qualität und Sinn verstehen sie oft nicht, da in ihrer kindlichen Erziehungsumwelt die direkten Bestrafungen und Belohnungen vorherrschen. Vieles, was sie in der Familie gelernt haben, was ihnen normal und üblich erscheint, fordert in der Schule Bestrafung heraus. Schulbetrieb ist prozessual immer auf längere Fristen hin angelegt; Erfolg oder Mißerfolg in der Schule ist ein Ergebnis des geduldigen Ausprobierens, des stetigen, langfristigen Sichbemühens. Aber Unterschichtenkinder sind kaum daran gewöhnt, ständig Befriedigungen ihrer Wunschvorstellungen zum Zwecke der erfolgreichen, aber mühseligen und frustrierenden Überwindung von Arbeitsphasen aufzuschieben. Ohne eine ausgeprägte langfristig orientierte Planungsperspektive ist ihre Leistungsorientierung schwach entwickelt. Derjenige, der ihnen gegenüber Schule repräsentiert, der Lehrer, bietet ihnen in der Regel durch sein Verhalten, seine Kommunikationsgewohnheiten, seine Leistungsansprüche und Belohnungsformen keine ausreichende Basis für schulische Identifikationsprozesse“ (1981, S. 239f.).
Diese Ausführungen bringen in aller Deutlichkeit zum Ausdruck, dass das soziale Milieu des kindlichen Aufwachsens seine Anpassung an schulische Strukturen in erheblichem Maße beeinflusst und Kinder aus bildungsfernen bzw. benachteiligten Familien de facto bereits vor dem Eintritt in die Schule zu den Bildungsverlierern gehören. Eine vergleichbare Position vertrat der DEUTSCHE BILDUNGSRAT bereits 1975 zur Herausforderung, den Übergang von der Familie zur Schule für Kinder bzw. Jugendliche unterschiedlicher Milieus zu gestalten. Schon damals wurden die unterschiedlichen Erziehungsstandards innerhalb der Familie hervorgehoben. Demnach sind „Unterschichtfamilien […] häufig durch andere Sprachmuster, körperliche Disziplinierungsmaßnahmen, starke Betonung von Werten wie Ordnung und Sauberkeit und geringere intellektuelle Anforderungen im Vergleich zu Familien der Mittelschicht
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3 Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule
charakterisiert, was im ganzen dazu führt, daß ein Teil der Kinder der Unterschicht den Anforderungen der Schule nicht gewachsen ist. […] Das Problem des Übergangs zwischen Elternhaus und Schule muß somit als Problem der Vermittlung verschiedener Erziehungsstandards gesehen werden. Es muß versucht werden, die durch die schichtspezifischen Formen der Sozialisation bedingten unterschiedlichen Voraussetzungen der Schule zu berücksichtigen und den Übergang auch unter diesen Aspekten kontinuierlich zu gestalten“ (ebd., S. 37f.).
Zielrichtung einer Vorbereitung auf die Schule, beispielsweise im Kindergarten, sollte nicht primär darin bestehen, den Kindern auf der individuellen Ebene kognitive Fähigkeiten zu vermitteln138, sondern den Fokus auf die Erziehungsfähigkeit der Familie zu richten und deren erzieherische Kompetenzen zu stärken. Weil darüber hinaus auch aus familialer Armut massive Konsequenzen für die Teilhabechancen von Kindern in der Schule resultieren, plädiert LORENZ (2007) dafür, möglichst frühzeitig Gefährdungen und Risiken zu erkennen und diesen im schulischen Kontext entsprechend präventiv zu begegnen. Die Schule trägt hierbei die Verantwortung, Wertigkeiten neu zu definieren und Handlungsoptionen anzubieten, um das eigene Verhaltensrepertoire zu erweitern und Kompetenzen zu erwerben, die die Grundlage für eine gelingende schulische Laufbahn bilden. „Um sozialer Isolation entgegenzuwirken, haben die Kinder Gelegenheit zu vielfältigen sozialen Kontakten – innerhalb der Gruppe als auch in ihrem Lebensumfeld (z.B. Kennen lernen von günstigen Freizeitmöglichkeiten). Sie können erfahren, dass ökonomische Ressourcen nicht über Ansehen und soziale Einbindung in der Gruppe entscheiden und diskriminierendem Verhalten konsequent entgegengewirkt wird. Oft ist die konkrete Förderung vieler Kompetenzen, insbesondere der Sprache, erforderlich. Kinder können z.B. Spiele/Bücher aus der Einrichtung nach Hause ausleihen, wobei den Eltern gleichzeitig Anregungen für die gemeinsame Gestaltung der Lese-/Spielsituationen gegeben werden können. Da Armut mit einer Einschränkung von Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten einhergehen kann, wird den Kindern Raum für viele Entscheidungen und für die Übernahme von Verantwortung gegeben. So erfahren sie ihre Lebenssituation als (mit)gestaltbar. […] Durch zielgerichtete Werteerziehung sind Rücksichtnahme und Solidarität unter den Kindern mit unterschiedlicher sozialer Herkunft zu stärken. Negativen Reaktionen […] wird vorgebeugt. Die Kinder werden sensibel für ihre eigene Lebenslage und die anderer. Sie lernen ihren eigenen Wert und den anderer nicht über die Finanzkraft der Familie zu definieren, sondern ihren Blick auf nicht materielle, nicht käufliche Besonderheiten zu lenken […]“ (LORENZ 2007, S. 161).
138 Der Bayerische Bildungs- und Erziehungsplan hat die Notwendigkeit umfassender Bildung erkannt, vermag die Schwachstellen in der praktischen Umsetzung jedoch auch nur bedingt zu beseitigen (vgl. BAYERISCHES STAATSINSTITUT FÜR ARBEIT UND SOZIALORDNUNG, FAMILIE UND FRAUEN/STAATSINSTITUT FÜR FRÜHPÄDAGOGIK 2006).
3.5 Transitionsbewältigung im Kontext der Schule
137
Ein umfassendes Erziehungs- und Bildungsprogramm ermöglicht somit auch benachteiligten Kindern und Jugendlichen die Teilhabe am Bildungserfolg. Vor allem dann, wenn dieser als eine wichtige Ressource verstanden werden will, der „den Zirkel von ökonomischer Benachteiligung, schulischem Scheitern, Ausgrenzung und schließlich gescheitertem Versuch des sozialen Aufstiegs potenziell durchbrechen kann“ (BÖTTCHER 2004, S. 226). Kinder aus bildungsfernen Schichten hätten laut BÖTTCHER & KLEMM ausschließlich im schulischen System die Gelegenheit, „den gesellschaftlichen Kernbestand von Wissen kennenzulernen, der nötig ist für eine kritisch-kompetente Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und ihnen die Chance gibt, ihrem sozialen Schicksal zu entkommen“ (2000, S. 37). Die Schule sollte demzufolge von dieser Gelegenheit zur Herstellung von Chancengerechtigkeit dringend Gebrauch machen. Wenn DÄSCHLER-SEILER jedoch davon ausgeht, dass der Übergang bedeutet, „dass Individuen passend gemacht werden“ (2004, S. 27), dann müssen vorab die Voraussetzungen benachteiligter Kinder „passend“ gemacht werden, damit der Übergang gelingen kann und als Herausforderung im positiven Sinne genutzt wird. Dies impliziert, dass der Ausgleich von Chancenungleichheit bereits vor Schuleintritt erfolgen muss (vgl. GRIEBEL & NIESEL 2005a, S. 137)139. Um diese „Bildung von Anfang an“ (BMFSFJ 2005b, S. 45) auch in der Schule fortzusetzen und, unter Berücksichtigung der heterogenen Schülerschaft, den unterschiedlichen Voraussetzungen und Interessen der Schüler gerecht zu werden, appellieren EHMANN & RADEMACKER (2003) für einen stärkeren Lebensweltbezug. Dies könne allerdings nur durch eine Öffnung von Schule und mit Hilfe von schulischen Ganztagsbetreuungsangeboten gelingen. „Im außerschulischen Alltag liegen nach wie vor die wesentlichen Voraussetzungen und Ressourcen dafür, dass Kinder und Jugendliche sich mit Aussicht auf Erfolg schulischen Lern- und Leistungsanforderungen stellen können – und das betrüblichste unter den Ergebnissen der PISA-Studie ist der Nachweis, dass gerade in Deutschland die Kopplung zwischen Schulleistungen und sozialer Herkunft am engsten ist. Schule ist hier also am wenigsten in der Lage, die unterschiedliche Ausstattung von Familien mit sozialem und kulturellem Kapital auszugleichen. Eine Schule, die dies ändern will – und die Initiative zum Ausbau von Ganztagsangeboten findet vor allem hier ihre sozialpolitische Begründung und Notwendigkeit –, muss daran interessiert sein, die außerschulischen Lebensverhältnisse ihrer Schüler/innen zur Kenntnis zu nehmen, wenn sie ihr Angebot auf deren Interessen und Erfahrungsmöglichkeiten beziehen will. […] Dazu ist gerade die deutsche Schule mit ihrer wenig entwickelten sozialpädagogischen Kompetenz schon deshalb auf Partner – insbesondere auf die Jugendhilfe – angewiesen, weil anders kaum die für ein solches Vorhaben unverzichtbare sozialpädagogische Fachlichkeit institutionell verfügbar gemacht werden kann“ (ebd., S. 133). 139 vgl. hierzu ebenfalls PIANTA & COX (1999a)
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3 Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule
In obigem Plädoyer ist einerseits der deutliche Hinweis auf die Implementierung einer ganztägigen schulischen Betreuung offensichtlich, andererseits verweisen EHMANN & RADEMACKER auf die Stärkung der sozialpädagogischen Dimension der Schule, um dem Kind adäquat begegnen zu können und seine individuelle Lebens(um-)welt in das schulische Lernen und Leben zu integrieren. 3.6 Ausgewählte Ergebnisse der Resilienzforschung und ihr Beitrag zur Reformierung des schulischen Ganztagsbetreuungskonzeptes 3.6 Ausgewählte Ergebnisse der Resilienzforschung „Transitionen im Bildungssystem kann man sich als Türhüter für die Entwicklungsumgebungen der Bildungseinrichtungen vorstellen, die im günstigen Falle als Türöffner für die Ressource Bildung und Entwicklung von Basiskompetenzen – und damit zu einem wichtigen Element der Resilienzentwicklung – wirken“ (GRIEBEL & MINSEL 2007, S. 66). Aus diesem Grunde möge der folgende Beitrag – zu verstehen als ergänzende und erweiternde Anfügung – erlaubt sein. 3.6.1 Resilienz Das Konzept der Resilienz140 beleuchtet Risiko- und Schutzfaktoren, die die Entwicklung des Kindes hemmen bzw. begünstigen. Kindes141, andererseits – als so genannte Vulnerabilitätsfaktoren – als biologische oder psychologische Merkmale. Als Schutzfaktoren gelten wiederum personale142 (z.B. Eigenschaften des Kindes) und soziale Ressourcen aus der Umwelt, die in familiale und außerfamiliale Einflüsse unterteilt werden können. 140 Der Begriff „Resilienz“ ist auf das englische Wort „resilience“ (= Spannkraft, Elastizität, Strapazierfähigkeit) bzw. den lateinischen Ursprung „resilere“ (= abprallen) zurückzuführen und bedeutet „Unverletzlichkeit“ (vgl. HAUG-SCHNABEL 2004). Resilienz lässt sich somit als „psychische Widerstandsfähigkeit von Kindern gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken“ (WUSTMANN 2004, S. 18) bzw. „die Fähigkeit, erfolgreich mit belastenden Lebensumständen umzugehen“ (NIESEL, GRIEBEL & NETTA 2008, S. 16) umschreiben. JULIUS & PRATER hingegen definieren Resilienz als „Prozeß einer erfolgreichen Adaptation trotz widriger Entwicklungsbedingungen“ (1996, S. 228). WUSTMANN spricht von Resilienz zusammenfassend als dem „Immunsystem der Seele“ (2007, S. 365). 141 Als ein Beispiel für Phasen erhöhter Vulnerabilität können Transitionen gelten, da so genannte risikoerhöhende Faktoren auf das psychosoziale Funktionsniveau des Individuums wirken (vgl. SCHEITHAUER & PETERMANN 1999). 142 FABIAN (2002b) führt, in Anlehnung an KROVETZ (1999, S. 7), vier Eigenschaften auf, die resiliente Kinder gemein haben. Er nennt Sozialkompetenz, Problemlösefähigkeit, Selbstständigkeit bzw. Unabhängigkeit und den Mut bzw. die Kompetenz, mit Nichtwissen und Herausforderungen umzugehen (im Englischen als „a sense of purpose and future“ bezeichnet). Diese Faktoren begünstigen den Aufbau von Selbstvertrauen, das wiederum eine wichtige Voraussetzung für die Bewältigung von Übergängen darstellt.
3.6 Ausgewählte Ergebnisse der Resilienzforschung
139
Abbildung 12: Risikoerhöhende und -mildernde Bedingungen in der kindlichen Entwicklung (nach: WUSTMANN 2004, S. 55)
140
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Neben diesen risikoerhöhenden Bedingungen verweist WUSTMANN (2004) im Besonderen auf die Phasen gesteigerter Vulnerabilität, die auftreten, wenn das Individuum normativen Übergängen ausgesetzt ist. Somit leistet die Resilienzforschung einen wesentlichen Beitrag zur Erhellung des Transitionskonzeptes. Das Resilienzparadigma begreift kritische Lebensbedingungen als Herausforderung zur Weiterentwicklung und fokussiert demzufolge die Bewältigung von Risikobedingungen bzw. -situationen. Dabei wird davon ausgegangen, dass Resilienz erlernbar ist und sich als „eine Kapazität, die im Verlauf der Entwicklung im Kontext der Kind-Umwelt-Interaktion erworben wird“ (WUSTMANN 2004, S. 28; Hervorh. d. Verf.), darstellt. „Die erfolgreiche Bewältigung von Entwicklungsaufgaben […] steht dabei in einem Zusammenhang zum psychischen Wohlbefinden und zu einem angepaßten Entwicklungsverlauf“ (SCHEITHAUER & PETERMANN 1999, S. 7). Das Forschungsfeld richtet daher den Blick von den Schwächen und Defiziten des Kindes auf dessen Bewältigungsressourcen (vgl. WUSTMANN 2004)143 und analysiert die speziellen Kompetenzen, die dazu notwendig sind, „um besonders belastende Lebenssituationen nicht nur unbeschadet zu überstehen, sondern diese sogar als Sprungbrett nutzen zu können, um ein Stück gesünder und stabiler aus dieser Anforderung hervorgehen zu können“ (HAUG-SCHNABEL 2004, S. 4)144. Aus diesem Grunde wird das Kind auch als „aktiver Bewältiger und Mitgestalter seines Lebens“ (WUSTMANN 2005, S. 117) betrachtet, dessen Stärken und Ressourcen entsprechend gefördert werden müssen. Resiliente Kinder verbindet dabei, dass sie stressreiche Situationen überwiegend als herausfordernd wahrnehmen und aktivproblemorientierte, anstatt passiv-vermeidender Bewältigungsstrategien anwenden, da sie „mit dem Erfolg eigener Handlungen rechnen, Problemsituationen aktiv angehen, ihre eigenen Ressourcen und Talente effektiv ausnutzen, an eigene Kontrollmöglichkeiten glauben, aber auch realistisch erkennen können, wenn etwas für sie unbeeinflussbar […] ist“ (WUSTMANN 2007, S. 367). 3.6.2 Risiko- und Schutzfaktoren Bewältigung (coping) wird verstanden als „sich verändernde kognitive Leistungen und Verhaltensanstrengungen, um mit spezifizierten Anforderungen fertig zu werden“ (GRIEBEL 2004d, S. 36). Sind ausreichend individuelle, familiale und kontextuelle Ressourcen vorhanden, wird diese positiv beeinflusst. 143 LAUCHT, ESSER & SCHMIDT merken kritisch an, dass die protektiven Faktoren lediglich eine Umkehrung der Risikofaktoren darstellen und daher die Tendenz besteht, „daß hier nichts anderes erfaßt wird als die ‚Kehrseite der Medaille’, das Fehlen von Risiken, und somit lediglich Risikoforschung mit umgekehrtem Vorzeichen betrieben wird“ (1997, S. 262f.). 144 An dieser Stelle lassen sich deutliche Parallelen zur salutogenetischen Betrachtungsweise erkennen, die sich mit der Frage beschäftigt, was Menschen gesund erhält.
3.6 Ausgewählte Ergebnisse der Resilienzforschung
141
Im Bereich der individuellen Faktoren145, die als so genannte „Schutzfaktoren“ (ebd.) das Risiko verringern können, fehlangepasstes Verhalten zu zeigen, sind „biologische zu nennen wie positives Temperament und hohe Intelligenz und psychosoziale Faktoren wie positives Sozialverhalten, positives Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeitsüberzeugungen sowie aktives Bewältigungsverhalten“ (ebd.). Vonseiten der Familie gelten ein emotional stabiles und unterstützendes Erziehungsverhalten, eine verlässliche Beziehung der Partner untereinander und zum Kind, sowie Vorbilder für gelungene Bewältigungsmuster als positiv beeinflussende Faktoren. Der soziale Kontext sollte sich durch einen guten sozioökonomischen Status, dauerhafte Beziehungsgeflechte und positive Erfahrungen im neuen sozialen Umfeld auszeichnen. Eine mögliche Gegenüberstellung der risikomildernden Faktoren bietet die folgende tabellarische Übersicht:
Tabelle 3: Risikomildernde Faktoren im Kindes- und Jugendalter (nach: SCHEITHAUER & PETERMANN 1999, S. 10) Zusammenfassend „lässt sich eine Reihe von Basiskompetenzen ermitteln, die Kinder brauchen, um besonderen Anforderungen gewachsen zu sein und sich zu ‚gesunden’ und kompetenten Erwachsenen zu entwickeln: (a) positives Selbstkonzept; (b) Kontrollerwartung und ein Gefühl der Selbstwirksamkeit; (c) Fähigkeit zur Selbstregulation; (d) Anpassungsfähigkeit im Umgang mit Belastungen oder übermäßigen Reizen (einschließlich der Fähigkeit, sich innerlich zu distanzieren); (e) Fähigkeit, sich vor gefährden145 Im Zusammenhang mit dem Resilienzkonzept betonen NIESEL & GRIEBEL (2004) als Voraussetzung einer gelungenen Übergangsbewältigung so genannte Basiskompetenzen, die im Bayerischen Bildungs- und Erziehungsplan ihren Niederschlag finden (vgl. BAYERISCHES STAATSINSTITUT FÜR ARBEIT UND SOZIALORDNUNG, FAMILIE UND FRAUEN/STAATSINSTITUT FÜR FRÜHPÄDAGOGIK 2006).
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den Einflüssen zu schützen; (f) Regelbewusstsein; (g) Fähigkeit zu konstruktivem Denken (auch bei widrigen Umständen); (h) Fähigkeit, sich zu entscheiden und zu organisieren (Selbstmanagement); (i) Fähigkeit, sich in verschiedenen kulturellen und sozialen Umwelten zu bewegen und mit unterschiedlichen Rollenerwartungen konstruktiv umzugehen; (j) Fähigkeit, Konflikte gewaltlos zu bewältigen; (k) Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen; (l) Kreativität und Explorationslust; (m) sachbezogenes Engagement und intrinsische Motivation“ (FTHENAKIS 2000, S. 17f.).
Neben den individuellen Schutzfaktoren sind vor allem Unterstützungsmechanismen aus dem Umfeld für die Herausbildung einer resilienten Persönlichkeit bedeutsam. „Sowohl bei der Entwicklung von Resilienz als auch bei der Bewältigung von Übergängen brauchen Kinder Kompetenzen, die sie mit Unterstützung des sozialen Systems erwerben“ (NIESEL, GRIEBEL & NETTA 2008, S. 18), die HAUGSCHNABEL aus diesem Grunde als „Zauberzutat für Resilienz“ (2004, S. 8) tituliert. Werden neben den Schutzfaktoren somit die Übergangskompetenzen betrachtet, die Kinder und Jugendliche benötigen, um den Übergang zu bewältigen, richtet sich der Fokus auf soziale und kommunikative Fähig- und Fertigkeiten. JULIUS & PRATER (1996) beleuchten die protektiven Effekte im Hinblick auf das Individuum und dessen Umwelt, die die Entstehung von Resilienz begünstigt. Als individuelle Attribute gelten der Aufbau von Selbstwirksamkeit, eine hohe Effizienzerwartung und die Entwicklung eines positiven Selbstbildes (vgl. HAUG-SCHNABEL 2004). Zudem stellen Konflikt- und Problemlösefertigkeiten, internale Kontrollüberzeugungen und soziale Kompetenzen weitere begünstigende Faktoren dar, die die Entstehung eines Kohärenzgefühls unterstützen. Innerhalb der Familie wirkt eine primäre Bezugsperson, die ein sicheres Bindungsverhalten aufweist, förderlich (vgl. ebd.). Der Erziehungsstil dieser Person sollte von zuverlässiger emotionaler Unterstützung, verbunden mit der Ermutigung des Kindes zu Unabhängigkeit und Risikoübernahme, geprägt sein. Neben klaren Regeln und Strukturen sind ein hohes Maß an elterlicher Aufsicht und eine positive männliche Identifikationsfigur von Vorteil. Außerhalb der Familie nehmen stabile Sozialbeziehungen zu Erwachsenen, die als positive Rollenmodelle fungieren, eine besondere Funktion ein, denn Resilienz entsteht u.a. auch durch resiliente Vorbilder und ist als „Beziehungskonstrukt […] das Ergebnis eines Prozesses zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen“ (ebd., S. 5). Somit wird in der Kindheit die „Erfahrungsschatzkiste“ (ebd., S. 6) gefüllt, in die das Individuum im weiteren Lebensverlauf bei Bedarf greifen kann und mit Hilfe des Inhalts widrige Umstände, wie beispielsweise die Übergangsphasen, meistern kann. Die gegenüberstellende Auflistung von GRIEBEL & MINSEL (2007) macht im Folgenden deutlich, wie eng die Thematik der Übergänge mit dem Konzept der Resilienz verknüpft ist.
3.6 Ausgewählte Ergebnisse der Resilienzforschung
143
Tabelle 4: Gegenüberstellung der Faktoren für eine positive Transitionsbewältigung und der protektiven Faktoren in der Resilienzforschung (nach: GRIEBEL & MINSEL 2007, S. 57146) 146 Die von GRIEBEL & MINSEL (2007) angeführte Quelle zu den Faktoren für eine positive Transitionsbewältigung (GRIEBEL & NIESEL 2007) wurde im Literaturverzeichnis unter NIESEL & GRIEBEL (2007) vermerkt. Die übrigen Angaben finden ihre Entsprechung im Literaturverzeichnis.
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3 Der Übergang von Kindern aus der Familie in die Schule
HAUG-SCHNABEL formuliert meines Erachtens sehr treffend, welche Faktoren eine resiliente Person auszeichnen. Aus diesem Grunde sei ihre Einschätzung resümierend angeführt: „Was Urvertrauen spüren lässt, resilienter, psychisch widerstandsfähiger werden lässt, was ich-stark macht und zu konstruktivem Coping befähigt, was genetische Potenzen im kognitiven Bereich realisieren lässt, sind Denkformen und Handlungsweisen, die auf der Basis sicherheitsgebender Beziehungen angeregt und möglich gemacht werden. Sie halten Kompetenzen unter Belastungen aufrecht und verhelfen zu einer Erholung von schwerwiegenden Einwirkungen. Wer solche soziale Unterstützung erfahren hat, was auch immer genau dazu gehören mag, um zu Vertrauen, Selbstständigkeit und Initiative zu ermutigen, und auf diese weiterhin bauen kann, wird widerstandsfähig und nahezu unbesiegbar – auch wenn die Welt erneut Anfechtungen bereit hält“ (2004, S. 8).
3.6.3 Erkenntnisse der Resilienzforschung Den Einfluss familialer und individueller Faktoren auf die Bewältigung von Übergängen fasst BEELMANN (2000)147 in vier Entwicklungsverläufen kindlicher Verhaltensauffälligkeiten, den so genannten Verlaufstypen, zusammen. Der Typus der Übergangsgestressten weist, im Vergleich zu den Übergangsgewinnern, bei denen Anpassungsprobleme abnehmen, eine deutliche Zunahme der Stresssymptome auf.148 Während die geringbelasteten Kinder konstant niedrige Verhaltensauffälligkeiten zeigen, lassen sich bei den Risikokindern deutliche Reaktionen vor und nach dem Übertritt beobachten. In Deutschland finden sich unter den Übergängern zur Grundschule 29% „Risikokinder“, 42% „Geringbelastete“, 14% „Übergangsgestresste“, die Stresssymptome zeigen, und 15% „Übergangsgewinner“, die sich in der Schule deutlich wohler fühlen (vgl. WALPER & ROOS 2001).149 Somit können bei einem großen Anteil der Kinder deutlich erkennbare Transitionsprobleme beobachtet werden. BEELMANN (2002) kommt in seinem Forschungsprojekt, das im Jahr 1997 durchgeführt wurde und sowohl die kindliche als auch die elterliche Perspektive und die Sicht der Erzieher bzw. Lehrer beinhaltet, zu folgendem Ergebnis: Der 147 zit. n. WALPER & ROOS (2001, S. 43ff.), die dieser Klassifikation folgenden Literaturhinweis zugrunde legen: BEELMANN, W. (2000): Normative soziale Übergänge im Kindesalter: Differentielle Anpassungsverläufe bei Eintritt in den Kindergarten, die Grundschule oder die weiterführende Schule. Poster auf dem 42. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Jena 2000 148 Die Untersuchungsergebnisse erfassen einen Zeitraum von ca. 3 Monaten vor und nach dem Übergangsereignis. 149 PIANTA & COX (1999a) bestätigen diese Zahlen für die USA.
3.6 Ausgewählte Ergebnisse der Resilienzforschung
145
überwiegende Teil der Kinder zeigt ab dem Kindergarten über die Grundschule hin zu einer weiterführenden Schule geringe Anpassungsstörungen im Kontext sozialer Übergänge, sodass kaum Probleme im Zusammenhang mit den neuen Anforderungen bestehen (Geringbelastete). Bei der zweitgrößten Gruppe (Risikokinder) verfestigen sich hingegen Verhaltensauffälligkeiten, die bereits vor dem Übergangsereignis auftraten und bleiben konstant auf einem hohen Niveau. Bei den beiden anderen Subgruppen zeigt sich einerseits eine Zunahme von Anpassungsstörungen (Übergangsgestresste), andererseits jedoch auch eine Relativierung, wodurch eine Reduktion der Verhaltensprobleme erreicht wird (Übergangsgewinner). Ausschlaggebende Bedingungsvariablen für die Bewältigung eines sozialen Übergangs liegen vor allem in der Persönlichkeit des jeweiligen Kindes. Temperamentseigenschaften (wie Emotionalität, Soziabilität und Aktivität) und problem- und emotionsorientiertes Verhalten sowie die Suche nach sozialer Unterstützung begünstigen die Bewältigung von Transitionen. Beim Übergang in eine weiterführende Schule spielen auch intellektuelle Fähigkeiten des Kindes eine tragende Rolle. Zudem sind soziale Faktoren, wie die sozial-emotionale Beziehung des Kindes zu seinen Eltern – besonders das mütterliche Erziehungsverhalten –, und situationale Merkmale (z.B. Formen der Ereignisantizipation oder die Gestaltung der Eingewöhnungsphase) von Bedeutung. Sowohl der Umfang des Bewältigungsrepertoires, wobei primär problemlösende versus emotionsregulierende Strategien favorisiert werden, als auch die Qualität der Eltern-KindBeziehung und das Erziehungsverhalten bestimmen die Anpassung an die neue Situation. „Kindbezogene (Bewältigungskompetenz des Vorschulkindes), familienbezogene und institutionsbezogene Schutz- beziehungsweise Risikofaktoren (vom Kind wahrgenommenes Ausmaß an sozialer Unterstützung nach dem Schuleintritt) sind für den Grad der Übergangsbewältigung entscheidend“ (GROTZ 2005, S. 223). Somit gilt es, dem Kind im Übergangsprozess problemlösende (anstelle von emotionsregulierenden) Strategien zur Verfügung zu stellen und die Eltern entsprechend einzubinden. „Die Qualität der Eltern-Kind-Beziehungen und das Erziehungsverhalten bilden wesentliche Kriterien für den Verlauf der kindlichen Anpassung“ (BEELMANN 2002, S. 77). Bei Kindern, die ein positives und exklusives Verhältnis zur Mutter pflegen, „scheint das Verlassen des familialen Schutzraumes und der Eintritt in die öffentliche Sphäre der Schule besonders belastend zu sein“ (WALPER & ROOS 2001, S. 45). Auch kontrollierende oder unaufmerksame Eltern wirken sich nicht nur nachteilig auf die Übergangsbewältigung, sondern auch auf die späteren schulischen Leistungen und das Sozialverhalten aus. Ein interessiertes und unterstützendes Elternhaus hingegen, das entsprechendes soziales Kapital vermittelt, erleichtert die Anpassung, verbunden mit besseren Schulleistungen und einem positiven Sozialverhalten. Die Übergangsgewinner profitieren hierbei vor allem von der erworbenen Soziabilität, die ihnen die Kontaktaufnahme mit Klassen-
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kameraden erleichtert. Allerdings begünstigt eine gezielte Vorbereitung auf den Kindergarten oder die Schule, beispielsweise durch Lernspiele, nicht die Fähigkeit, Übergänge problemlos zu meistern. Vielleicht werden zum einen falsche Erwartungen und Vorstellungen des Kindes von Kindergarten bzw. Schule produziert, zum anderen könnte eine entsprechende Erwartungshaltung der Erziehungsberechtigten an die Leistungen des Kindes suggeriert werden. Generell kann festgehalten werden, dass das Passungsverhältnis zwischen familialem und schulischem Kontext die entscheidende Determinante darstellt, wie Kinder den Übergang erleben. Je ähnlicher der Beziehungstyp und damit die Regeln und Orientierungen der unterschiedlichen Systeme, desto vorteilhafter wirkt sich dies auf das Verhalten und die Leistungen aus. 3.6.4 Die Schule als Schutzfaktor Die Schule kann einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, dass Kindern der Übergang von der Familie in eine schulische Einrichtung gelingt. Obgleich die individuellen Dispositionen des jeweiligen Schulkindes variieren, kann die Schule – und im Besonderen ein ganztägiges schulisches Angebot – einen Teil der sozialen Faktoren bestimmen.150 Sie fungiert dabei als Schutzfaktor im sozialen Umfeld, wenn:
„die Schüler mit einem hohen, aber angemessenen Leistungsstandard konfrontiert werden, den Schülern verantwortungsvolle Aufgaben übertragen werden, es klare, konsistente und gerechte Regeln gibt, Schüler häufig für ihre Leistungen und ihr Verhalten verstärkt werden (konstruktives Feedback in Form von Anerkennung, Lob und Ermutigung), Möglichkeiten des kooperativen Lernens und der Partizipation bestehen, Lehrer sich um ihre Schüler sorgen und aktives Interesse an ihnen signalisieren, Lehrer respekt- und verständnisvoll den Schülern begegnen, positive Peer-Kontakte bestehen, eine enge Zusammenarbeit mit dem Elternhaus und anderen sozialen Einrichtungen besteht, Schulsozialarbeit und weitere Förderangebote verankert sind, außerschulische Aktivitäten organisiert werden […], bei denen die Schüler gemeinsame Ideen und Interessen teilen können,
150 Hält sich das Kind aufgrund eines ganztägigen Betreuungsangebotes den überwiegenden Teil seiner täglich verbrachten Zeit in der Schule auf, kann davon ausgegangen werden, dass die Schule einen erheblichen Einfluss darstellt und somit auch die risikomildernden sozialen Faktoren, wie eine positive Schulerfahrung oder positive Freundschaftsbeziehungen, entsprechend gestalten kann bzw. sollte.
3.6 Ausgewählte Ergebnisse der Resilienzforschung
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insgesamt ein wertschätzendes Schulklima vorherrscht“ (JULIUS & PRATER 1996, S. 232f. […]; Hervorh. d. Verf.)151.
In den weiteren Ausführungen wird zu prüfen sein, inwieweit das schulische Ganztagskonzept unter den momentanen Bedingungen diesen Schutzraum gewähren kann. 3.6.5 Ansätze aus der Resilienzforschung zur Gestaltung von Ganztagsschulen Aus der Resilienzforschung lassen sich Ansätze zur Gestaltung von Ganztagsschulen erkennen. Exemplarisch werden einzelne Ergebnisse aufgegriffen und auf die Umsetzung eines schulischen Ganztagsbetreuungskonzeptes übertragen. Unter den personalen Ressourcen zeigen resiliente Kinder Eigenaktivität und persönliche Verantwortungsübernahme, die über Partizipation bzw. kooperative Lernformen realisiert werden können, so wie es auch die Leitlinien des Ganztagsschulkonzeptes vorsehen (vgl. BMBF 2003, S. 7). Dieser Aspekt kann allerdings erheblich ausgebaut werden, indem Kindern im schulischen Kontext mehr Eigenverantwortung und Selbstständigkeit übertragen wird – beispielsweise in der zeitlichen Einteilung der zu erledigenden Aufgaben oder der Wahl freiwilliger Kursangebote – und eine stärkere Einbindung in Entscheidungsprozesse erfolgt. Darüber hinaus besitzen Kinder, die resilientes Verhalten zeigen, ein spezielles Hobby bzw. eine besondere Freizeitbeschäftigung, die sie mit Freunden teilen. Diese außerschulische Tätigkeit bietet Ablenkung und spendet Kraft und Motivation für problematische Lebensverhältnisse. Inwieweit diese Effekte durch eine ganztägige Betreuung erreicht werden können, bleibt fraglich. Dennoch besitzt die Ganztagsschule die Chance, über kreative Freizeitangebote (vgl. ebd.) Möglichkeiten zur sinnvollen und abwechslungsreichen Gestaltung der freien Zeit zu schaffen und den schulischen Alltag im Sinne einer Rhythmisierung zu unterbrechen, um damit den Ablauf attraktiver bzw. abwechslungsreicher zu gestalten. Phasen der Ruhe und Entspannung müssten dabei jedoch vermehrt eingeplant werden. Im Zusammenhang mit den sozialen Ressourcen der Familie gelten ein positives Klima, im Sinne des autoritativen bzw. demokratischen Erziehungsstils152, die familiale Stabilität und der Zusammenhalt (Kohäsion) als Schutzfak151 zit. n. WUSTMANN 2004, S. 113. JULIUS & PRATER (1996) entwarfen obige Kriterien mithilfe von Erkenntnissen aus dem englischsprachigen Raum. Aufgrund der besseren Verständlichkeit wird auf die deutsche Übersetzung verwiesen. 152 Diese Erziehungsstile zeichnen sich durch eine emotional positive, zugewandte, akzeptierende und zugleich normorientierte, angemessen fordernde und kontrollierte Haltung vonseiten des Erziehers aus (vgl. WUSTMANN 2004).
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toren. „Eltern in dieser Erziehungsfunktion zu stärken, kann damit als ein wichtiger Ansatzpunkt zur Resilienzförderung angesehen werden“ (WUSTMANN 2007, S. 367) und wird daher auch zu einer zentralen Aufgabe der Ganztagsschule – vor allem im Zusammenhang mit der Bewältigung von Übergängen. „Die Bildungseinrichtungen können insofern z.B. als Schnittstelle für die Förderung kindlicher Basiskompetenzen und die Förderung elterlicher Kompetenzen fungieren“ (WUSTMANN 2005, S. 131). Dazu führt WUSTMANN folgende Hinweise auf, die für ein positives familiales Erziehungsklima sorgen und in deren Umsetzung Familien unterstützt werden sollten – denkbar ist dies als möglicher Katalog zur Orientierung bzw. Überprüfung des eigenen Verhaltens – auch im Kontext der Schule. „Ausschlaggebend ist also, dass: Eltern als positive Modelle fungieren, an denen sich das Kind orientieren kann (Vorleben und Vermitteln von Werten und Einstellungen), Eltern responsiv und einfühlsam auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen, Eltern Wärme, Fürsorge und Schutz ausstrahlen, Eltern wichtige Ansprechpartner für das Kind sind, Eltern Respekt gegenüber dem Kind sowie Anerkennung und Akzeptanz in der Kommunikation widerspiegeln (sowohl verbal als auch nonverbal), Eltern hohe, aber realistische und angemessene Erwartungen an das Kind haben, Eltern aktives Interesse an den Leistungen und Fähigkeiten des Kindes signalisieren, konkrete Verhaltensstandards existieren und das Kind konstruktives Feedback über sein Verhalten bekommt, das Kind in wichtige Entscheidungsprozesse mit einbezogen wird, Eltern dem Kind eine anregende, stimulierende Umwelt anbieten, offen über Gefühle gesprochen wird, Konflikte thematisiert werden, Eltern bei Problemen unterschiedlichster Art Unterstützung und Ermutigung anbieten“ (WUSTMANN 2004, S. 109f.).
Die Forcierung der Elternarbeit gilt als unabdingbares Merkmal, um die Kinder einerseits nicht von der Familie zu entfremden, andererseits über eine Kenntnis der familialen Bedingungen die individuelle Förderung auf die Bedürfnisse des jeweiligen Schülers auszurichten (vgl. BMBF 2003, S. 7). WALPER & ROOS vermuten, „dass Kinder aus engagierten Familien mit sehr engen, positiven Beziehungen und hoher elterlicher Zuwendung besonders hohe familiale Ressourcen und damit günstige Voraussetzungen zur Bewältigung des Schuleintritts erwerben. Andererseits mag eine stark partikularistisch orientierte, kindzentrierte Familie den Übergang erschweren, da die Diskrepanz zu den neuen Erfahrungen unter diesen Umständen besonders hoch ist“ (2001, S. 43).
3.6 Ausgewählte Ergebnisse der Resilienzforschung
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Auch das weitere soziale Umfeld trägt wesentlich zur Entwicklung und Erhaltung von Resilienz bei, wenn Quellen emotionaler und sozialer Unterstützung (z.B. Verwandte, Nachbarn, Erzieher, Lehrer etc.), auch als mögliche Ansprechpartner bei Problemen, und gute Kontakte zu Freunden vorhanden sind. An dieser Stelle ist der erneute Verweis auf die oben dargestellten Schutzfaktoren innerhalb des sozialen Umfeldes (vgl. SCHEITHAUER & PETERMANN 1999, S. 10), insbesondere gelungene Freundschaftsbeziehungen und positive Schulerfahrungen, anzubringen. Im Kontakt und Spiel mit Gleichaltrigen üben Kinder beispielsweise Kommunikationsfähigkeit, Kreativität, Perspektivenwechsel, Impulskontrolle und Empathie ein. „Kinder darin zu unterstützen, Freundschaften mit kompetenten Peers zu entwickeln (d.h. prosoziale Beziehungen aufzubauen), kann insofern als ein wesentliches Präventions- und Interventionsziel angesehen werden. In diesem Zusammenhang erweisen sich z.B. die Arbeit in Kleingruppen oder Tutorien sowie gemeinschaftliche Projektarbeiten in den Bildungsinstitutionen als mögliche Ansatzpunkte“ (WUSTMANN 2005, S. 125).
Die Begegnung gleicher und/oder unterschiedlicher Altersgruppen stellt ein wesentliches Ziel der Ganztagsschule dar, denn aufgrund der zeitlichen Ausdehnung bietet diese die Gelegenheit, soziale Kontakte aufzunehmen bzw. zu pflegen (vgl. BMBF 2003, S. 7). Kritisch zu betrachten ist allerdings, dass diese zumeist unter sozialer Kontrolle stattfinden und für ungezwungene sowie unbeobachtete Begegnungen wenig Raum bleibt. Dem sozialen Lernen wird jedoch besonders über die Veränderung des Unterrichts und der Lernkultur Rechnung getragen und über eine Öffnung von Schule die Gemeinwesenorientierung – verbunden mit der Kontaktaufnahme außerschulischer (intergenerativer) Partner – realisiert (vgl. ebd.). Dieser kurze Abriss möge an dieser Stelle genügen. Wenngleich er keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, offenbart er die fruchtbaren Ansätze, die aus der Resilienzforschung für ein ganztägiges schulisches Betreuungskonzept gewonnen werden können und zum Teil bereits Realisierung erfahren haben. An dieser Stelle sei ausblickend auf die ausführliche Gegenüberstellung der Schwächen und Chancen der Ganztagsschulkonzepte verwiesen, wovon im Weiteren Ableitungen für die praktische Umsetzung getroffen und somit die bisher dargelegten Aspekte vervollständigt werden.
4.1 Pro und Contra des Ganztagsschulkonzeptes
151
4 Übergangsbewältigung und Ganztagsschulkonzept – Begünstigung oder Hemmung transitionsbedingter Entwicklungsaufgaben? 4
Übergangsbewältigung und Ganztagsschulkonzept
Die Eingangsfrage lautete: „Welchen Beitrag können Ganztagsschulkonzepte leisten, um die Transitionsbewältigung für Kinder und Jugendliche zu gewährleisten?“ Während in den bisherigen Ausführungen das Ganztagsschulkonzept vorgestellt und die Faktoren einer ge- bzw. misslungenen Bewältigung von Übergängen näher beleuchtet wurden, sollen diese Einzelaspekte im Folgenden einer Synthese unterzogen werden. 4.1 Pro und Contra des Ganztagsschulkonzeptes auf den verschiedenen Ebenen der Entwicklungsaufgaben 4.1 Pro und Contra des Ganztagsschulkonzeptes Der Übersichtlichkeit wegen wurde die tabellarische Gegenüberstellung gewählt, die an die Struktur von GRIEBEL & NIESEL (2004, 2005b) angelehnt ist. Diese folgen der Systematik von FTHENAKIS (1999) und heben in Anlehnung an COWAN (1991) die subjektive Sicht des Transitionsbewältigers hervor. Zu Beginn werden die Entwicklungsaufgaben genannt, mit denen Kinder bei der Bewältigung von Übergängen konfrontiert werden, wobei die einzelnen Ebenen jeweils durch die konkreten Dimensionen ergänzt werden. Die Inhalte der ausführlichen Darstellung (vgl. Gliederungspunkt 3.3.) werden hierbei pointiert aufgeführt. Anhand entsprechend vermerkter Fachliteratur werden diesen die Vorzüge bzw. Stärken sowie Problemfelder bzw. künftige Herausforderungen des Ganztagsschulkonzeptes zugeordnet. Dies soll der Einschätzung dienen, bezüglich welcher Kriterien das exstierende Ganztagsschulsystem Schwächen aufweist und worin die Chancen im Rahmen der Übergangsbewältigung liegen. Anzumerken ist an dieser Stelle, dass pauschal von einem Ganztagsschulkonzept ausgegangen wird, das keine Differenzierung hinsichtlich der unterschiedlichen Betreuungsmodelle vornimmt. Wie bereits im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Formen ganztägiger schulischer Betreuung erörtert und im Nachgang unter den ausgewählten Ergebnissen der empirischen Forschung er-
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wähnt, variiert die Wirksamkeit der offenen, der teilweise gebundenen und der gebundenen Konzeption erheblich. Dieser Aspekt ist bei den folgenden Ausführungen zu bedenken und die jeweiligen Gesichtspunkte dahingehend zu prüfen. 4.1.1 Individuelle Ebene Veränderung der Identität durch einen neuen sozialen Status Es bedarf einer Neudefinition der eigenen Identität und des Selbst des Kindes sowie der Veränderungen in den Annahmen bezüglich der Welt. Vereinfacht ließe sich dies in folgender Aussage formulieren: Das Kindergartenkind wird zum Schulkind. Das Kind muss dabei zu einer realistischen Selbsteinschätzung gelangen und ein evtl. vorhandenes überhöhtes positives Selbstbild bzw. Überoptimismus überwinden. Die erworbene Ich-Identität gilt nach dem Symbolischen Interaktionismus (vertreten durch GOFFMAN 1967; KRAPPMANN 1975; MEAD 1985) als Balance zwischen der sozialen und persönlichen Identität. Die Fähigkeit zur Identitätsbalance setzt Rollendistanz, Empathie, Ambiguitätstoleranz, kommunikative Kompetenz und die Fähigkeit zur Ich-Präsentation voraus. Vorzüge bzw. Stärken des Ganztagsschulkonzeptes Die Ganztagsschule trägt wesentlich zum Aufbau und zur Unterstützung der Identität bei (vgl. OERTER 2002), da der Lebensraum Ganztagsschule vielfältige Möglichkeiten für die Auseinandersetzung mit der eigenen Person eröffnet (vgl. HURRELMANN 1994). Darüber hinaus fordern die Veranstaltungsund Ausstattungsangebote die Schüler zu differenzierter Betätigung in weitgehender Selbstbestimmung auf (vgl. RICHTER 2004).
Probleme bzw. künftige Herausforderungen des Ganztagsschulkonzeptes Eine ganztägige schulische Betreuung birgt in sich die Gefahr des Individualverlustes (vgl. APPEL & RUTZ 2005).
Bewältigung starker (transitionsbedingter) Emotionen Das Kind empfindet und äußert Gefühle wie Vorfreude, Neugier, Stolz sowie Unsicherheit und Angst.
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4.1 Pro und Contra des Ganztagsschulkonzeptes
Vorzüge bzw. Stärken des Ganztagsschulkonzeptes
Probleme bzw. künftige Herausforderungen des Ganztagsschulkonzeptes
In Ganztagsschulen lässt sich bei den Schülern eine höhere Schulzufriedenheit sowie eine stärkere Motivation verzeichnen (vgl. BARGEL & KUTHE 1991; WITTING 1997; RADISCH & KLIEME 2004; HOLTAPPELS 2006b). Gute Ganztagsschulen begünstigen eine Lehr- und Lernkultur, die Freude am Lernen und an Leistung vermittelt (vgl. www.ganztagsschulen.org).
Im Hinblick auf Schulangst unterscheiden sich Ganztagsschulen in den Erscheinungsformen nicht von vergleichbaren Halbtagsschulen (vgl. HOLTAPPELS 1994).
Die Reaktionen des Kindes können als Bewältigungsreaktionen begriffen werden, da Strategien neu angepasst werden müssen und daher zu Verunsicherung und Instabilität führen. Vorzüge bzw. Stärken des Ganztagsschulkonzeptes
Probleme bzw. künftige Herausforderungen des Ganztagsschulkonzeptes
Verhaltensauffälligkeiten und Gesundheitsbeeinträchtigungen von Kindern und Jugendlichen können im Rahmen der Ganztagsarbeit besser und schneller erkannt werden, da eine individuellere Betreuung der Schüler existiert (vgl. HURRELMANN 1994).
Hinsichtlich Disziplinproblemen lassen sich keine signifikanten Unterschiede zwischen Ganztags- und Halbtagsschulen erkennen (vgl. HOLTAPPELS 1994).
„Wenn es den Kindern gut geht, sind sie auch für die weitere Schullaufbahn gut gerüstet (Fabian 2002[b])“ (GRIEBEL & NIESEL 2002a, S. 38). Vorzüge bzw. Stärken des Ganztagsschulkonzeptes
Probleme bzw. künftige Herausforderungen des Ganztagsschulkonzeptes
Durch das Einbeziehen von sozialpsycho– logischen und sozialpädagogischen Fachkenntnissen in das Schulkollegium kann das Unterstützungspotenzial der Institution Schule gesteigert werden (vgl. HURRELMANN 1994). Die Schulsozialarbeit als eine Form sozialpädagogischer Arbeit versteht sich dabei als Hilfe zur Lebensbewältigung und unterstützt Schüler bei der Bewältigung von Übergangsphasen (vgl. HOLTAPPELS 1994).
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Kompetenzerwerb Kompetenzen wie Selbstständigkeit, Aneignung der Kulturtechniken und neue Verhaltensweisen müssen erlernt werden. Das Schulkind definiert sich über das, was es lernt und kann (sog. Kompetenzen). Vorzüge bzw. Stärken des Ganztagsschulkonzeptes Einleitend seien die Untersuchungsergebnisse von FTHENAKIS (1989) angeführt: „Bei gut ausgebildeten Betreuungspersonen und entsprechend gut ausgestatteten Betreuungsstätten kann von einer Förderung der intellektuellen und sozialen Entwicklung ausgegangen werden.“153 Ein umfangreiches Angebot an zusätzlichen Aktivitäten gibt jedem Schüler die Möglichkeit, seine besonderen Fähigkeiten zu entdecken und zu entfalten (vgl. www.ganztagsschulen.org). Durch mehr schulische Zeit werden über Neigungs- und Vertiefungsstunden individualisierte Lerngelegenheiten geboten (vgl. PRÜß 2007; www.ganztagsschulen.org) und dadurch eine individuellere Förderung – vor allem auch der schwächeren Schüler – erreicht (vgl. BUNDESJUGENDKURATORIUM 2004; BEUTEL 2006; STMUK 2008). Die Ganztagsschule wird somit zu einem „Ort der vielseitigen Bildung und Anregung, des gemeinsamen Wachsens und Weiterentwickelns“ (BUROW 2006, S. 16). Der kindgerecht rhythmisierte Tagesablauf eröffnet darüber hinaus Möglichkeiten für intensiveres Leben und Lernen (vgl. POPP 2006). Eine ganztägige schulische Betreuung bietet aufgrund des vielfältigen Angebotes und des erweiterten Zeitrahmens somit bessere Voraussetzungen, um Kinder zu eigenverantwortlichen, kreativen und kompetenten Persönlichkeiten heranwachsen zu lassen (vgl. www.ganztagsschulen.org). Sie be-
Probleme bzw. künftige Herausforderungen des Ganztagsschulkonzeptes –
„Warum soll der Schule nachmittags gelingen, woran sie vormittags scheitert?“, merkt BRENNER (2006, S. 169) kritisch an und bezieht sich in seiner Fragestellung auf die Tatsache, dass sich in Bezug auf Schulleistung und Schulerfolg keine wesentlichen Unterschiede zwischen Ganztags- und Halbtagsschulen ergeben (vgl. HOLTAPPELS 1994).
153 zit. n. ROLFF & ZIMMERMANN 1997, S. 23; ebenso äußert sich PORTMANN (2004), die der ganztägigen (schulischen) Betreuung in dieser Hinsicht keine Nachteile beimisst.
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4.1 Pro und Contra des Ganztagsschulkonzeptes
günstigt zudem eine Lehr- und Lernkultur, die die Interessen und Voraussetzungen des einzelnen Kindes stärker berücksichtigt und die Schüler zur Selbstständigkeit erzieht (vgl. ebd.) sowie den Schülern ermöglicht, ihre Kompetenzen, sich in der Welt zurechtzufinden und verantwortlich zu handeln, zu entwickeln (vgl. ebd.). Insgesamt trägt die Ganztagsschule zu einer – optimalen (Re-)Produktion von Humanvermögen bei und erzieht die heranwachsende Generation zu autonomen, handlungsfähigen und sozial verantwortlichen Individuen (vgl. BMFSFJ 2006), wie dies in folgendem Zitat zum Ausdruck kommt: „Kinder und Jugendliche werden hier [in der Ganztagsschule; K.S.] leichter als ganze Personen, nicht nur als ‚Lerner’ erkennbar und interessant. In den bedrängenden Fragen der Erziehung wird hier das Wegsehen erschwert, wird Bemühen um eine lebensstiftende Werteorientierung erleichtert. Zwischenmenschliche Beziehungen können hier mit größerer Selbstverständlichkeit zur Basis auch der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Statusgruppen werden“ (HARDER 2005, S. 21f.). Da die Angebote der Ganztagsschule den Schülern eine Erweiterung ihrer Anregungsumwelt bieten (vgl. IPFLING 2005), sollen dadurch u.a. unterschiedliche Bildungschancen ausgeglichen werden, indem benachteiligte Kinder Betreuung, Beratung und kulturelle Anregung erhalten (vgl. RICHTER 2004; BMFSFJ 2006; GANTKE 2008). Der StEG zufolge gelingt es Ganztagsschulen, Kinder aus bildungsfernen Schichten verstärkt zu erreichen (vgl. FISCHER, RADISCH & STECHER 2007; ZÜCHNER, ARNOLDT & VOSSLER 2007) und ihnen neue Inhalte und Erfahrungen zu vermitteln (vgl. ZÜCHNER 2007). Zudem bietet die Ganztagsschule Kindern
Die einseitige Betonung einer ganztägigen Beschulung so genannter Problemkinder birgt neben dem Aspekt der Verschulung die Gefahr der Stigmatisierung und selektiven Sozialkontrolle (vgl. HOLTAPPELS 1995). Auch vonseiten der Eltern, die bisher von der sozialen Auswahl des Schulsystems profitiert haben, werden Bedenken geäußert, da sie „den ‚Zukunftsschlüssel’ für ihre Kinder verständlicherweise nicht aus der Hand geben“ (PORTMANN 2004, S. 31) wollen.
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und Jugendlichen aus anderen Kulturen und Sprachbereichen aufgrund der längeren Verweildauer in der deutschsprachigen Umgebung und den damit verbundenen Erfahrungen Vorteile gegenüber der Halbtagsschule (vgl. APPEL & RUTZ 2005; BAASEN et al. 2007). Die schulische Ganztagsbetreuung kann lernschwachen Kindern einerseits mehr Aufmerksamkeit schenken (vgl. BARGEL & KUTHE 1991). Andererseits trägt die Betreuung der Haus- und Übungsaufgaben zum Aufbau von Chancengleichheit bei, da jedes Schulkind individuelle Unterstützung erfährt und keiner weiteren institutionalisierten Nachhilfe bedarf, die aufgrund der finanziellen Belastung einkommensschwachen Familien nur bedingt zugänglich ist (vgl. RICHTER 2004). Es lassen sich Tendenzen erkennen, die darauf hinweisen, dass sich die Unterschiede zwischen leistungsstarken und leistungsschwachen Schülern minimieren. PORTMANN (2004) führt dies auf den Verlust der Privilegien der Leistungsstarken zurück, denen mit der Ganztagsbetreuung die häusliche Unterstützung bei schulischen Aufgaben entzogen wird. Ein weiteres Indiz könnte sein, dass das ganztägige Schulsystem bisher primär auf die Förderung von leistungsschwachen Schülern ausgerichtet ist. In Bezug auf die individuelle Förderung gilt daher: „Auch Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern bzw. Kinder, deren Eltern es ‚sich nicht leisten können’, hätten nun Gelegenheit, ihre besonderen Fähigkeiten zu entwickeln und von Angeboten Gebrauch zu machen, die bisher nur Privilegierten vorbehalten waren. Entsprechend organisierte Ganztagsangebote führen nicht zu einem Verlust von Individualität, sondern zu einem Verlust von Privilegien“ (ebd., S. 28). Der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg kann somit verringert
PORTMANN (2004) merkt an, dass bei einer ganztägigen schulischen Betreuung Kinder aus bildungsnahen Familien ihre Privilegien verlieren würden. Obgleich sie diesen Aspekt im Sinne der Chancengleichheit als Stärke des Ganztagsschulsystems einordnet, stellt sich dies meines Erachtens als Problemfeld dar, da die Vermittlung des kulturellen und sozialen Kapitals innerhalb der Familien somit beschnitten werden könnte.
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4.1 Pro und Contra des Ganztagsschulkonzeptes
und damit die gesellschaftliche Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen verbessert werden (vgl. BMFSFJ 2005b). – Darüber hinaus besteht die Chance, durch die gezielte individuelle Förderung die Zahl der Schulversager zu reduzieren und kostspieligen Nachhilfeunterricht sowie die Gefahr der Klassenwiederholung zu vermeiden (vgl. SCHLAFFKE 2004). Nach POPP (2006) sollte dieser positive Aspekt des ganztägigen schulischen Konzeptes bewusst in den Fokus der Diskussion gerückt werden, um den Eltern die möglichen Optionen für ihre Kinder zu vergegenwärtigen.
4.1.2 Interaktionale Ebene Veränderung bzw. Verlust bestehender Beziehungen Die Einschulung ist mit dem Verlust von Beziehungen zu anderen Kindern, zu Erziehern und zur vertrauten Umgebung verbunden. Vorzüge bzw. Stärken des Ganztagsschulkonzeptes Die Ganztagsbetreuung könnte den Einfluss „erziehungsmächtiger“ Familien reduzieren (vgl. TEXTOR 2005).
Probleme bzw. künftige Herausforderungen des Ganztagsschulkonzeptes Die Eltern verlieren ihren Einfluss und ihre Verantwortung für den Erziehungsprozess der Kinder und diese werden von der Familie entfremdet (vgl. KRECKER 1977; IPFLING 1981; HOLTAPPELS 1994; PORTMANN 2004). Eine ganztägige schulische Betreuung könnte somit einen Familienentzug der Kinder bewirken (vgl. APPEL & RUTZ 2005).154
Innerhalb der Familie verändern sich die Beziehungen dahingehend, dass das Schulkind einerseits seine Selbstständigkeit ausweitet und Eigenverantwortung entwickelt, andererseits durch die schulischen Anforderungen mehr Konfliktpotenzial besteht.
154 Laut NEUMANN & RAMSEGER (1991) liegen hierfür jedoch keine empirischen Befunde vor.
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Vorzüge bzw. Stärken des Ganztagsschulkonzeptes –
Probleme bzw. künftige Herausforderungen des Ganztagsschulkonzeptes Manche Eltern fürchten, dass die Ganztagsschule durch die stärkere Einflussnahme Werte vermittelt, die nicht ihren eigenen entsprechen (vgl. PORTMANN 2004), wodurch u.a. innerfamiliäre Konflikte entstehen könnten.
Aufnahme neuer Beziehungen Das Kind begreift die Notwendigkeit, ein neues soziales Beziehungsnetz aufzubauen. Vorzüge bzw. Stärken des Ganztagsschulkonzeptes Eine schulische Ganztagsbetreuung eröffnet Kontaktchancen zu Gleichaltrigen und schafft mehr Anlässe sozialen Miteinanders (vgl. STMUK 2008). Stärker als an Halbtagsschulen können Freundschaften geschlossen und gepflegt sowie soziale Verhaltensweisen eingeübt werden (vgl. POPP 2006). Vor allem im Hinblick auf die Bewältigung des Schuleintritts wird dieser dadurch erleichtert, dass Freundschaften mit älteren Kindern eingegangen werden können (vgl. GRIEBEL, NIESEL & SOLTENDIECK 2000). Die Schule erfüllt somit eine zentrale sozialintegrative Funktion (vgl. BMFSFJ 2006): „Schule wird wieder mehr Ort der Kommunikation, der Begegnung, mehr Stätte gesellschaftlicher Realität“ (RICHTER 2004, S. 92). Sie versteht sich daher als Lebensraum (vgl. HOLTAPPELS 1994) und wichtiger sozialer Erfahrungsraum bzw. Aufenthaltsbereich (vgl. HURRELMANN 1994), um neue soziale Erfahrungs- und Lernmöglichkeiten zu erschließen (vgl. HOLTAPPELS 1994). Sie bildet ein Haus des Lernens und einen Ort der sozialen Begegnungen (vgl. RICHTER 2004). Über eine Öffnung von Schule werden darüber hinaus Kontakte zu Menschen anderer Generationen und sozialer Gruppen ermöglicht (vgl. BMFSFJ 2006).
Probleme bzw. künftige Herausforderungen des Ganztagsschulkonzeptes Die Kontaktaufnahme unter Gleichaltrigen ohne erwachsene Betreuungsperson und die damit verbundenen Möglichkeiten zur individuellen und sozialen Entwicklung schwinden (vgl. MONVILLE, MOSEBACH & SCHMIEDER 2005). Des Weiteren werden soziale Kontakte zu Gleichaltrigen außerhalb der Schule eingeschränkt (vgl. KRECKER 1977; IPFLING 1981). Zeitliche und örtliche Räume für selbstorganisierte und eigeninitiierte Prozesse sind jedoch wichtig, um das Bildungspotenzial des sozialen Lernens in der Gruppe der Gleichaltrigen nutzen zu können (vgl. FURTNERKALLMÜNZER et al. 2002).
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Die Gruppengröße der Klasse und die Tatsache, dass sich überwiegend gleichaltrige Kinder in dieser befinden, gilt als Herausforderung. Darüber hinaus muss der Einzelne aktiv am Gruppenbildungsprozess, der gleichzeitig von allen Kindern gestaltet wird, teilnehmen und seine Position im neuen sozialen Gefüge finden. Der Schüler ist demzufolge aufgefordert, neue Interaktionsformen konstruktiv zu verarbeiten und zu akzeptieren. Vorzüge bzw. Stärken Probleme bzw. künftige Herausfordedes Ganztagsschulkonzeptes rungen des Ganztagsschulkonzeptes Die Ganztagsschule arbeitet nach dem Prin- – zip der sozialen Koeduktion (vgl. NEUMANN & RAMSEGER 1991) und leistet somit einen wichtigen Beitrag zur „sozialen Entmischung“ (WUNDER 2004, S. 31). Die innovative, flexible Unterrichtsgestaltung eröffnet den Kindern neue Lernchancen und fördert den interkulturellen Zusammenhalt. So wird der Grundstein für weltoffenes Denken und ein tolerantes Miteinander gelegt (vgl. www.ganztagsschulen.org). Zudem wird die Kooperation von Schülern und Lehrern sowie Kontakte zwischen Schülern aus unterschiedlichen Schichten intensiviert (vgl. RICHTER 2004): Konfliktbereitschaft, Kommunikationsfähigkeit, Toleranz und demokratisches Handeln können eingeübt und erlernt werden. Durch die gemeinsam verbrachte Zeit entwickelt sich zwischen Schülern und Lehrern ein solides Vertrauensverhältnis (vgl. www.ganztagsschulen.org). Deshalb besitzt die Ganztagsschule die Chance eines gelasseneren Umgangs der Lehrer mit den Schülern sowie der Schule mit den Schülern (vgl. NEUMANN & RAMSEGER 1991), wodurch sich das Schulklima erheblich verbessert (vgl. BARGEL & KUTHE 1991; WITTING 1997; RADISCH & KLIEME 2004; HOLTAPPELS 2006b).
Beziehungen des Kindes schaffen personale Ressourcen, die die Bewältigung des Übergangs erleichtern.
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Vorzüge bzw. Stärken des Ganztagsschulkonzeptes –
Probleme bzw. künftige Herausforderungen des Ganztagsschulkonzeptes Bei der Klassenzusammenstellung sollten vorherige Freundschaften erhalten bleiben (vgl. ENTWISLE & ALEXANDER 1998) und die soziometrischen Freundschaftsbeziehungen Berücksichtigung finden (vgl. DOLLASE 2000). Da die Ganztagsschule zumeist ein freiwilliges Angebot darstellt, ist dies problematisch zu realisieren, da nicht davon ausgegangen werden kann, dass alle Kinder einer Klasse dieses gleichermaßen in Anspruch nehmen.
„Es kommt nicht so sehr darauf an, ob ein Kind von einer oder mehreren Bezugspersonen betreut wird, sondern auf die Qualität der Beziehungen zwischen Bezugsperson(en) und Kind“ (HURRELMANN 1994, S. 120).
Zudem wäre das Klassenlehrerprinzip wünschenswert (vgl. ROLFF 1997), um eine kontinuierliche und verlässliche Betreuung zu gewährleisten.
Veränderung der Rollenerwartung Zur Rolle des Kindes in der Familie kommt die des Schulkindes mit Erwartungen und Sanktionen hinzu. Dieser Rollenzuwachs impliziert eine Beschleunigung der Entwicklung, wenn das Kind die Identifikation als Schulkind ohne größere Probleme vollzieht. 4.1.3 Kontextuelle Ebene Integration verschiedener Lebensumwelten Das Kind pendelt zwischen den Lebenswelten Familie und Schule und muss dadurch nicht nur den Umgang mit Raum und Zeit erlernen, sondern auch die unterschiedlichen Anforderungen, wie Erholung und Leistung, Entwicklung und Lernen integrieren. Da der Übergang in ein neues soziales System auch eine entsprechende Anpassung an die neuen Strukturen erforderlich macht, müssen neue soziale Objekte besetzt und neue Beziehungsmuster internalisiert werden. Wie das Kind die Transition bewältigt, hängt dabei nicht nur von den individuellen Dispositionen ab, sondern auch davon, wie ausgeprägt die Diskrepanzen zwischen Familie und Schule sind bzw. erlebt werden (vgl. WALPER & ROOS 2001). Der Übertritt in die Schule kann für das Kind Orientierungsprobleme
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beinhalten, wenn die in der Familie erlernten Beziehungs- und Verhaltensmuster dabei ihre Allgemeingültigkeit verlieren und nur bedingt anwendbar sind. PLAKE spricht hierbei von einem „strukturellen Sozialisationskonflikt“ (1974, S. 64). Vorzüge bzw. Stärken des Ganztagsschulkonzeptes Mit der Ganztagsschule ist eine kontinuierliche und verlässliche Betreuung gewährleistet.
Probleme bzw. künftige Herausforderungen des Ganztagsschulkonzeptes Die soziale Kontrolle wird ausgedehnt (vgl. NEUMANN & RAMSEGER 1991; HOLTAPPELS 1994), verbunden mit der Gefahr einer Kolonialisierung der Lebenswelten von Schülern (vgl. HOLTAPPELS 1994).
Kinder berufstätiger oder allein erziehender Eltern können intensiver beschult und betreut werden, zudem wird auch überforderten bzw. desinteressierten Erziehungsberechtigten das Angebot der schulischen Ganztagsbetreuung gerecht (vgl. RICHTER 2004; BMFSFJ 2005b). Im Hinblick auf den gesellschaftlichen Wandel und die neuen Formen des Zusammenlebens kann die ganztägige Betreuung vor allem für Kinder aus unvollständigen Familien eine Unterstützung darstellen. Es wird angenommen, „dass bei Scheidungskindern die Kontinuität in der Betreuung und die Förderung sozialer und emotionaler Kompetenz entscheidende Förderfaktoren sind“ (SCHLEMMER 2005a, S. 97).
Es zeichnet sich der Griff der Schule nach dem ganzen Menschen ab (vgl. BRENNER 2006), denn es besteht die Gefahr der Beeinträchtigung der Familienerziehung, indem der Einfluss der Eltern zugunsten der Schule zurückgedrängt bzw. die Verantwortlichkeit an die Schule delegiert wird (vgl. IPFLING 1981; KRECKER 1997). APPEL & RUTZ (2005) befürchten einen Entzug der Familie, TILLMANN (2004) spricht von einer fortschreitenden Fremdbestimmung. Aus der Verlagerung der Erziehung vom Elternhaus auf öffentliche Einrichtungen kann eine „erzieherische Enthaltsamkeit“ (HOLTAPPELS 1995, S. 30) oder eine „konflikthafte Konkurrenz“ (ebd.) resultieren.
Eine ganztägige schulische Betreuung kann Leistungen erbringen, die zu einer Verbesserung des familiären Zusammenlebens beitragen (v.a. bei erhöhten Belastungen oder Überforderung) und die bildungsbezogenen Interessen von Eltern und Kindern adäquat bedienen (vgl. BMFSFJ 2006).
„Wenn die Schule der Familie ein ganzheitliches Betreuungsangebot macht, verstärkt sie den ohnehin vorhandenen Trend, bisher von der Familie wahrgenommene Aufgaben und vor allem Elternpflichten an die öffentliche Institution zu delegieren. […] Sie akzentuiert damit genau die Tendenz […] – nämlich die Neigung vieler Eltern, sich ihrer Kinder zu Zwecken der Freizeitmaximierung zu entledigen oder sich der Mühsal des Erziehens zu entziehen“ (EDLER 1996, S. 33).
162 Ganztagsschulen tragen zu einer Entlastung der Eltern bei (vgl. BARGEL & KUTHE 1991) und ergänzen das Familienleben sinnvoll (vgl. www.ganztagsschulen.org).
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Das Engagement der Eltern bei der Mitgestaltung des Schulalltags ist ausdrücklich erwünscht (vgl. www.ganztagsschulen.org). Die Zusammenarbeit mit diesen wird von Ganztagsschulen in intensiver und zeitlich umfangreicher Form verfolgt, jedoch durch die zeitlich begrenzten Möglichkeiten der Eltern erschwert und eingeschränkt (vgl. HOLTAPPELS 1994).
Häusliche Aktivitäten können zum Teil in Die Ganztagsschule als „hausaufgabenfreie der Schule ausgeführt werden (vgl. HOLT- Schule ganztägiger Art“ (APPEL & RUTZ APPELS 1994) und stellen damit einen 2005, S. 126) wurde nicht realisiert. wesentlichen Vorteil für die Eltern dar, die mit der Hausaufgabenhilfe sowohl inhaltlich wie zeitlich überlastet sind. Zudem variiert das elterliche Unterstützungsvermögen sozialschichtspezifisch (vgl. SASS & HOLZMÜLLER 1982). Die Hausaufgabenintegration in die Schule gilt somit als wesentliches Moment der Angleichung von Lernchancen und der Reduzierung von Chancenungleichheit (vgl. KRECKER 1977). Dies wird von vielen Eltern als erhebliche Entlastung erfahren (vgl. BARGEL & KUTHE 1991) und stellt einen „Beitrag zur Befriedung der Familien“ (RICHTER 2004, S. 90) dar. Eine Ganztagsbetreuung kann vielfältige positive Rückwirkungen auf Familien haben (vgl. BMFSFJ 2006), weil durch das umfassende schulische Angebot mehr Zeit bleibt (vgl. www.ganztagsschulen.org).
Die ganztägige schulische Betreuung schränkt familiäre Kontakte ein und wirkt sich nachteilig auf die gemeinsame Wochenplanung aus (vgl. KRECKER 1977; IPFLING 1981). Beispielsweise können Mittagsmahlzeiten nicht mehr gemeinsam eingenommen werden und die Zeitplanung für Unternehmungen wird erschwert. Die Familie ist somit in ihrem Erlebnisraum (vgl. LINDE 1963) und ihrer Autonomie eingeengt (vgl. BMFSFJ 2006) und der Schüler wegen geringer Rückzugschancen und langer Abwesenheit von zu Hause überbeansprucht (vgl. KRECKER 1977; IPFLING 1981).
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Die Ganztagsschule erreicht eine hohe Akzeptanz bei Eltern, die auf schulische Betreuung angewiesen sind (vgl. HOLTAPPELS 1994).
Bildungsnahe Elternhäuser beklagen häufiger die Reduzierung schulbezogener Kommunikationsmöglichkeiten (vgl. BARGEL & KUTHE 1991). Es herrscht darüber hinaus Skepsis und Ablehnung bei Eltern, die höhere Zeiten für familiäre Erziehung betonen (vgl. HOLTAPPELS 1994).
„Jedes Kind braucht zu seiner optimalen Entwicklung physische Versorgung, personale Zuwendung, soziale Erfahrungen, geistige Anregung und einen persönlichen Spielraum. Überall dort, wo diese Bedingungen bestimmten Einschränkungen unterliegen, könnte die Ganztagsschule eine gewisse Hilfe sein, weil sie in den genannten Bereichen etwas mehr bieten könnte als die Halbtagesschule“ (IPFLING & LORENZ 1979, S. 356). Für Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Milieus kann diese somit ein Lern- und Erfahrungsfeld bieten, das die deprivierenden familialen Bedingungen nicht ermöglichen (vgl. MERTEN 2008). Im Rahmen der ganztägigen schulischen Betreuung werden die Schüler in einer sozial fördernden und stabilisierenden Umwelt von der Straße und von gefährdenden Peergruppen ferngehalten (vgl. OERTER 2002), wodurch das Verwahrlosungsrisiko sinkt (vgl. GIESECKE 1996; WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT FÜR FAMILIENFRAGEN 2002). „Ganztagsangebote oder gar Ganztagsschulen sind dort hilfreich und unterstützen den schulischen Unterrichtsauftrag, wo die Nachmittagsverwahrlosung der Kinder und Jugendlichen ein Ausmaß annimmt, das die Erfüllung des schulischen Auftrages gefährdet“ (BRENNER 2006, S. 173). Die Ganztagsschule kann demzufolge eine Kompensation von Defiziten im Schulumfeld bewirken (vgl. HOLTAPPELS 1994).
Die ganztägige Schulorganisation weist einen meist überdurchschnittlichen Anteil von Kindern mit besonderen Lebensproblemen auf und erzeugt dadurch einen abschreckenden Effekt auf die Familien, die im Elternhaus ausreichend Förderung und Unterstützung anbieten können (vgl. NEUMANN & RAMSEGER 1991). Aufgrund des Prinzips der sozialen Segregation entwickelt sich die Ganztagsschule laut WUNDER (2004) zur Defizitschule und könnte sich in der Fortführung zur „sozialen Gettoschule“ (IPFLING & LORENZ 1979, S. 358) herausbilden. Zudem besteht in einer Ausweitung der kuratorischen Aufgaben die Gefahr, dass sie ihren schulischen Charakter einbüßt und einseitig den Erziehungsauftrag wahrnimmt (vgl. LADENTHIN 2005). Die Schule als „Treffpunkt der Perspektivenlosen“ (TAUSCH 2006, S. 20) wird von TAUSCH insofern negiert, als sie auf die gesellschaftlichen Tendenzen (alleinerziehende Elternteile, berufstätige Eltern) im Sinne eines stärkeren Bedarfs nach Ganztagsbetreuungsangeboten und das starke Interesse der Eltern an ganztägiger schulischer Betreuung verweist.
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Neue Strukturen und Inhalte Der Lehrplan der Schule, die Inhalte, Lernziele und Methoden weichen stark von den bisherigen Erfahrungen des Kindes in der Familie und im Kindergarten ab. Die äußeren Umstellungen der Einschulung stellen sich folgendermaßen dar: Veränderung im Zeiterleben, im Raumerleben, im didaktisch-methodischen Arrangement, in den Verhaltensanforderungen und Verpflichtungen sowie eine Veränderung der Sozialbeziehungen. Nach NIESEL (2008b) können die für den Schulanfänger neuartigen Strukturen folgendermaßen zusammengefasst werden:
Trennung zwischen formalisiertem Lernen und Spiel Vermittlung der Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen Einhalten von Verhaltensregeln, Zurückstellung spontaner Wünsche und Bedürfnisse kaum freie Wahl der Tätigkeiten (Freiwilligkeit versus „Zwang“) positive Rückmeldungen bei Erfüllung der Rollenanforderung – negative bei Nichterfüllung.
Vorzüge bzw. Stärken Probleme bzw. künftige Herausfordedes Ganztagsschulkonzeptes rungen des Ganztagsschulkonzeptes Die ganztägige schulische Betreuung besitzt – die Chance, die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen erheblich zu erweitern, sie produktiver und lebenswerter zu machen (vgl. KERBER-GANSE 2007) und somit die Qualität des Aufwachsens zu verbessern (vgl. BMFSFJ 2006). Die Ganztagsschule trägt zu einer Entschulung der Schule bei (vgl. BMFSFJ 2005b), da ein selbstbestimmter und selbstgestalteter, weitgehend nicht pädagogisierter und kontrollierter Freiraum existiert (vgl. HOLTAPPELS 1995).
Die Zeit des Schülers wird verplant und pädagogisiert (vgl. IPFLING & LORENZ 1979). Die Kinder unterliegen einer mangelnden Entscheidungsfreiheit zur Gestaltung ihrer eigenen Lebenszeit (vgl. MONVILLE, MOSEBACH & SCHMIEDER 2005).
Lernintensive Fächer können über den ganzen Tag verteilt und der Fachunterricht am Vormittag durchbrochen werden (vgl. RICHTER 2004), wodurch die Ganztagsschule bessere Möglichkeiten zeitlicher Flexibilisierung besitzt (vgl. PRÜß 2007). Durch die vielfältigen Angebote bzw. die Rhythmisierung des Tagesablaufs entsteht ein
Probleme der Belastung von Schülern und der Rhythmisierung der Aktivitäten über den Tag hinweg erscheinen noch wenig geklärt (vgl. BARGEL & KUTHE 1991). BRENNER (2006) merkt kritisch an, dass die Schüler aus schulmedizinischer Sicht überbeansprucht werden, da der Nachmit-
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ausgewogenes Nebeneinander von Konzentration und körperlicher Betätigung, von Gemeinsamkeit und Individualität (vgl. www.ganztagsschulen.org).
tagsunterricht zu einer Zeit stattfindet, in der das geistige und körperliche Leistungsniveau deutlich absinkt.
Der Unterricht an der Ganztagsschule bietet – mehr Möglichkeiten für freiere Unterrichtsformen wie z.B. Projektarbeit (vgl. STMUK 2008). Somit weisen die vermittelten Inhalte eine stärkere Lebensnähe auf (vgl. ebd.) und die neue Lern- und Lehrkultur kann eine Vertiefung der pädagogischen Qualität zur Folge haben (vgl. LUDWIG 1987). Darüber hinaus steigert eine ganztägige Schulform die Lernergebnisse der Schüler und verbessert die Lernkompetenzen (vgl. BMFSFJ 2005b; POPP 2006). Deren pädagogisches Angebot lässt sich daher als umfassender und der Unterricht als fachlich anspruchsvoller beschreiben (vgl. NEUMANN & RAMSEGER 1991). – Das gemeinsame Mittagessen fördert nicht nur eine gesunde Ernährung, sondern ermöglicht auch soziales Lernen und das Erleben eines Gemeinschaftsgefühles (vgl. RICHTER 2004; www.ganztagsschulen.org). Darüber hinaus bietet es für viele Schüler die Gelegenheit, täglich wenigstens eine warme Mahlzeit einzunehmen. Schule und Freizeitgestaltung finden in der ganztägigen schulischen Form zusammen (vgl. www.ganztagsschulen.org); insbesondere sind auch kreative Angebote fester Bestandteil. „Die Ganztagsschule bietet die potentielle Chance der Entwicklung einer Gesamtphilosophie von Bildung im schulischen Ganztag, indem die unterrichtlichen und außerunterrichtlichen Angebote aufeinander bezogen sind bzw. bezogen werden können. D.h. nicht für alle alles in gleicher Weise, wohl aber so, dass jeder ergänzende Angebote vorfindet, die seine kognitive Entwicklung befördern können“ (PRÜß 2007, S. 97).
Der Freizeitbereich der Schule stellt sich als „programmierter und kontrollierter Spielraum“ (LINDE 1963, S. 152) dar, der immer den „Charakter einer permanenten geschlossenen Veranstaltung“ (ebd.) trägt. Die Freizeit des Schülers im Sinne der Möglichkeit zur freien Zeiteinteilung wird eingeschränkt (vgl. KRECKER 1977; IPFLING 1981), da die über den Unterricht hinaus gehenden Lern- und Freizeitmöglichkeiten von der Schule vorstrukturiert werden (vgl. NEUMANN & RAMSEGER 1991; HOLTAPPELS 1994). Es besteht die Gefahr, dass die Schüler in
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4 Übergangsbewältigung und Ganztagsschulkonzept
ihren Interessenbereichen eingeengt werden, da sie das Angebot der Schule nutzen müssen und beispielsweise nicht einem individuell gestalteten Freizeitangebot nachgehen können. Diese Fremdbestimmung kann eine Verschulung der frei zu besetzenden Zeit des Kindes hervorrufen (vgl. KENTLER 1972; HOLTAPPELS 1995). Die Möglichkeiten an Freizeitaktivitäten und Neigungsgruppen sind breiter und werden positiv evaluiert (vgl. BARGEL & KUTHE 1991). Außerunterrichtliche Aktivitäten haben zudem positive Rückwirkungen auf den Unterricht, unter anderem auf eine verstärkte Leistungsbereitschaft im Pflichtbereich (vgl. IPFLING 1981; HOLTAPPELS 1994).
Im Angebot des Wahl- und Förderunterrichts ist kein besonderer Vorsprung gegenüber den Halbtagsschulen festzustellen (vgl. BARGEL & KUTHE 1991). Die Freizeitangebote in der Schule sind zudem stark institutionell geprägt und stellen lediglich eine Ausweitung des konventionellen Unterrichts dar, wodurch die schulische Kontrolle verstärkt wird (vgl. HOLTAPPELS 1995). Die Angebote von Unterricht und Freizeit drohen des Weiteren in zwei getrennte Sektoren auseinander zu fallen, da der Fokus im Unterricht primär auf dem kognitiven, bei dem Freizeitprogramm im sozialen Lernbereich liegt. Die zeitliche Aufteilung in vor- und nachmittägliche Angebote verstärkt diese Diskrepanz (vgl. NEUMANN & RAMSEGER 1991; HOLTAPPELS 1994). Es droht die Gefahr der Entpädagogisierung des Unterrichts, wenn Angebote wie Hortbetreuung oder Schulsozialarbeit installiert sind, die vorwiegend die sozialpädagogische Betreuung und Erziehung der Schülerschaft übernehmen (vgl. HOLTAPPELS 1995).
Die Lern- und Freizeitangebote am Nachmittag und die zusätzlichen Einrichtungen und Veranstaltungen begünstigen eine aktive Mitwirkung von Schülern, Eltern und Schulnachbarn im Sinne der Partizipation (vgl. HOLTAPPELS 1994). „Die Ganztagsschule kann […] insofern
Es kann eine Konkurrenz mit außerschulischen Anbietern, v.a. in Bezug auf die Freizeitangebote, entstehen. Zudem kann zwischen inner- und außerschulischen Anbietern sozialpädagogischer Dienste ein „doppeltes, nämlich ein zeitliches und ein inhaltliches Konkur-
4.1 Pro und Contra des Ganztagsschulkonzeptes
167
stärker zwischen Schule und Leben vermitteln als sie zum einen selbst ihr Spektrum über ‚Schule’ hinaus erweitert (Essen, Freizeit, Neigungsgruppen, Clubs etc.), zum anderen auch das ‚Leben’ eher in die Schule holen kann (Mitverantwortung, Einbeziehung der Eltern und anderer Nicht-Lehrer, öffentliche Veranstaltungen etc.)“ (IPFLING & LORENZ 1979, S. 357). Die ganztägige Betreuungsform setzt deshalb verstärkt auf die innerschulische Kooperation pädagogischen Personals unterschiedlicher Profession und die Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern (vgl. STMUK 2008).
renzproblem“ (RAUSCHEN-BACH & OTTO 2008, S. 26) resultieren.
Kindern aus weniger privilegierten Bildungsschichten werden Optionen zur sinnvollen Freizeitgestaltung geboten, die sich auch auf das Gemeinwohl positiv auswirken, denn „in der Langeweile liegt ein Hauptmotiv für entgleitendes und fehlverlaufendes Verhalten bis hin zur Kriminalität“ (PORTMANN 2004, S. 29). Außerdem wird durch die Integration von Randgruppen, sozial schwachen Kindern und Jugendlichen, von Migranten oder Behinderten Toleranz und Rücksichtnahme vermittelt und eingeübt.
Dem schulischen Angebot der Freizeitgestaltung wird häufig die Befürchtung gegenüber gestellt, dass eine „kulturelle Verarmung“ (PORTMANN 2004, S. 30) stattfinden könnte. Die Schüler sind demzufolge verpflichtet, ähnliche Interessen auszubilden, sie erhalten lediglich einen eingeschränkten Zugang zu Freizeitmöglichkeiten und Vereine verlieren dadurch ihre Mitglieder. Bildungsnahe Eltern äußern sich kritisch, dass ihren Kindern exklusive kulturelle Angebote (z.B. Klavier- oder Ballettunterricht, Golfspielen, Theaterbesuche u.a.) somit verwehrt würden. Zudem schwingt ein weiteres Argument latent mit: „Die eigenen Kinder könnten bei der Freizeitgestaltung in der Schule zu viel Zeit mit den ‚falschen’ Kindern verbringen und Freundschaften knüpfen, die nicht den elterlichen Vorstellungen entsprechen“ (ebd.).
Einer fortschreitenden Verarmung der kindlichen Erfahrungswelt kann entgegengewirkt werden, indem den Schülern authentische Erfahrungen zur Natur- und Umweltwahrnehmung geboten werden (vgl. RICHTER 2004).
Die Ganztagsschule birgt in sich die Gefahr der kulturellen Verarmung, wenn die Schule ihre eigene Kultur bildet, ohne sich für die reale Erfahrungswelt der Schüler und die außerschulische
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4 Übergangsbewältigung und Ganztagsschulkonzept
Umwelt zu öffnen (vgl. NEUMANN & RAMSEGER 1991). Kinder und Jugendliche besitzen darüber hinaus weniger Gelegenheit für außerschulische Erfahrungen und Lernprozesse (vgl. NEUMANN & RAMSEGER 1991; HOLTAPPELS 1994) und verlernen das Leben außerhalb der Schule (vgl. BRENNER 2006).
Evtl. weitere familiale Übergänge Beispielsweise die Geburt eines Geschwisterkindes, die Aufnahme der Erwerbstätigkeit eines Elternteils oder die Trennung der Eltern kann die Transition zum Schulkind verkomplizieren. Aufgrund der ausführlichen Darstellungen des Für und Wider einer ganztägigen schulischen Betreuung im Zusammenhang mit den transitionsbedingten Entwicklungsaufgaben soll im Nachgang lediglich eine Auswahl relevanter Kriterien erfolgen. Auf der individuellen Ebene stellt sich meines Erachtens der Kompetenzerwerb als hervorstechendes Merkmal dar. Das Ganztagsschulkonzept verspricht eine individuelle Förderung, um die besonderen Fähig- und Fertigkeiten des jeweiligen Kindes zu entdecken und zu vertiefen. Da es ganzheitlich und umfassend berücksichtigt werden kann, wirkt sich die an Ganztagsschulen zur Verfügung gestellte Zeit u.a. auf die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes positiv aus. Betrachtet man hierzu die beigefügten Quellenangaben, wird jedoch deutlich, dass die Formulierungen überwiegend dem staatlichen Bemühen um Steigerung der Reputation der ganztägigen schulischen Betreuung entspringen (vgl. BUNDESJUGENDKURATORIUM 2004; BMFSFJ 2006; STMUK 2008), flankiert von der Internetplattform www.ganztagsschulen.org, die ebenfalls dieses Ziel verfolgt. Die Stoßrichtung der Diskussion ist offensichtlich: Die PISA-Studie fordert auf der bildungspolitischen Ebene eine deutliche Leistungssteigerung der Schüler, der man mit einem „Mehr an Zeit“ (vgl. BMBF 2003) in der Ganztagsschule nachkommen will. Und dennoch ist eine „Verbesserung des durchschnittlichen Leistungsniveaus […] auf Dauer aber nur möglich, wenn die große Streuung zwischen kompetenzschwachen und kompetenzstarken Teilgruppen reduziert wird, und zwar durch eine bemerkbare Verbesserung der unteren Leistungsbereiche“ (PRENZEL, CARSTENSEN & ZIMMER 2004, S. 368). Dass bisher keine empirischen Studien vorliegen, die bezüglich Schulleistung und Schulerfolg einen Unterschied zwischen Halb- und Ganztagsschule belegen, bleibt außer Acht. Immerhin besteht noch die Hoffnung, das Forschungsprojekt StEG könne dies wissenschaftlich bestätigen.
4.1 Pro und Contra des Ganztagsschulkonzeptes
169
Auch im Hinblick auf den Ausgleich von Benachteiligungen und der Minimierung des Zusammenhangs von sozialer Herkunft und Bildungserfolg wird das Konzept der Ganztagsschule dem Ansinnen der PISA-Studie gerecht. In keinem anderen Land determiniert die soziale Herkunft den Bildungserfolg der Kinder in so gravierendem Ausmaß, wie dies in Deutschland vorfindbar ist. Die Ausführungen von TILLMANN & MEIER (2003) unterstreichen, dass der familiäre Hintergrund einen wesentlichen Einfluss auf die Zugangschancen der Kinder ausübt und das deutsche Bildungssystem eine enorme Selektionswirkung besitzt. Das heißt konkret: „Die Auslese im allgemeinen Schulsystem ist keinesfalls ausschließlich Auslese aufgrund von schulischen Leistungen, sondern immer auch und immer noch – gewollt, geduldet oder ungewollt – soziale Auslese“ (BÜCH155 NER 1996, S. 164). Die so genannten „Verlierer des Bildungssystems“ sollen in einem ganztägigen schulischen Betreuungssystem „ausradiert“ werden. Aber sowohl die Fokussierung auf so genannte Problemkinder, die in sich die Tendenz zur Stigmatisierung trägt, als auch die Vorbehalte bildungsnaher Elternhäuser könnten eine abschreckende Wirkung der Ganztagsschule erzeugen. Insgesamt lässt sich in Bezug auf den Kompetenzerwerb attestieren, dass die Bemühungen im Rahmen des Ganztagsschulkonzeptes sicherlich eine beachtliche Stoßrichtung verfolgen – fraglich erscheint allerdings, inwieweit die gewünschten Effekte erzielt werden. Dazu bedürfte es meines Erachtens weitreichenderer Reformen. Die Berufsabschlüsse und -positionen der Eltern bestimmen weitgehend „das ‚kulturelle’ und das ‚soziale Kapital’ einer Familie; beide wirken sich dann – je nach Ausprägung – begünstigend oder hemmend auf die schulischen Lernprozesse der Kinder aus“ (TILLMANN & MEIER 2003, S. 361).156 Gefordert werden daher Lösungsansätze, die die Wechselwirkung von schulischem und außerschulischem Bildungserwerb umfassend beleuchten sowie politische und (sozial-)pädagogische Konzepte, die das Aufrechterhalten der Ungleichheit beseitigen und auch den Bildungsverlierern zur Chancengleichheit verhelfen. Die interaktionale Ebene lässt sich anhand der Aufnahme neuer Beziehungen bestimmen. Schule stellt sich als ein Ort der Begegnungen dar, wobei bestehende Kontakte intensiviert und neue Beziehungen geknüpft werden können. Das Ganztagsschulsystem bietet aufgrund der Ausweitung der in der Schule verbrachten Zeit und der rhythmisierten Lerngelegenheiten die optimalen Voraussetzungen dafür. Vor allem hinsichtlich des Rückgangs an Sozialkontakten innerhalb unserer Gesellschaft eröffnet die ganztägige schulische Betreuung vielfache Möglichkeiten des Miteinanders. In den außerunterrichtlichen Phasen – beispielsweise während der Pausenzeiten oder bei nachmittäglichen Freizeitan155 Kernaussage der PISA-Studie 156 vgl. hierzu auch BAUMERT & SCHÜMER (2001, S. 326ff.)
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4 Übergangsbewältigung und Ganztagsschulkonzept
geboten – können sich Schüler (und Lehrer) freundschaftlich und unvoreingenommen begegnen. Dies trägt wesentlich zur Verbesserung und Bereicherung eines von Akzeptanz und Toleranz geprägten Schulklimas bei. Kritisch anzumerken ist jedoch, dass soziale Kontakte stets unter der Kontrolle Erwachsener stattfinden. Unter Gleichaltrigen erfahren Kinder und Jugendliche soziale Normen der Kooperation und Wechselseitigkeit, indem auf angemessenes Verhalten mit Freundschafts- und Anerkennungsbekundungen reagiert wird und auf unerwünschte Verhaltensweisen Ablehnung bzw. Isolation folgt. Die Interaktion in der Schule unterliegt hingegen dem Leistungsgedanken, d.h. soziales Verhalten wird dann positiv bewertet, wenn es einem konzentrierten Lernen und damit verbunden einem störungsfreien Umgang miteinander dient. Es mangelt somit an unbeobachteten Lerngelegenheiten in der Gruppe, innerhalb derer sich die Heranwachsenden ungezwungen bewegen und positionieren können. Des Weiteren wird die Kommunikation mit außerschulischen Personen bzw. Partnern eingeschränkt, sodass Netzwerke im Umfeld schwinden. Diese soziale Verarmung stellt meines Erachtens eine erhebliche Schwäche dar, wenn jenseits der gesellschaftlichen Entwicklungen davon ausgegangen werden kann, dass Kinder und Jugendliche Kontakte im familiären und nachbarschaftlichen Kontext pflegen. Zusammenfassend mag das Ganztagsschulkonzept für einen Teil des Schülerklientels tatsächlich einen sozialen Raum eröffnen, der neue Freundschaften erschließen kann bzw. vertraute Kontakte intensivieren hilft (vgl. KESSL, LANDHÄUßER & ZIEGLER 2006). Über die gemeinsamen Zeiten des Miteinanders begünstigt es somit sicherlich wesentlich die Bewältigung von Übergängen. Dennoch sollte dieser Aspekt immer in dem Bewusstsein betrachtet werden, dass die Herausbildung sozialer Verhaltensweisen vor und während der Schulzeit vor allem über Erfahrungen im Familienkontext und innerhalb der Peergroup erfolgt. Die Schule stellt lediglich eine „Lernangelegenheit“ (KUNTER & STANAT 2003, S. 168) unter vielen anderen Optionen dar, die ausgeblendet werden, wenn ausschließlich die schulische Bildung, Erziehung und Betreuung dominiert. Die weiteren Quellen sozialen und kulturellen Kapitals drohen dadurch zu versiegen. Da der kontextuellen Ebene hinsichtlich der Übergangsbewältigung eine besondere Evidenz zukommt, ist dieser das folgende Kapitel gewidmet. Damit wird dem Kritikpunkt von ENTWISLE & ALEXANDER (1998), dass die Transitionsforschung primär die individuellen Faktoren berücksichtige und die kontextuellen Einflüsse zu wenig Beachtung fänden, Rechnung getragen.
4.2 Die Berücksichtigung der Kontextualität als Indiz eines „guten“ Ganztagsschulkonzeptes
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4.2 Die Berücksichtigung der Kontextualität als Indiz eines „guten“ Ganztagsschulkonzeptes Die Bewältigung des Übergangs hängt in besonderem Maße vom Schulklima ab und dieses stellt im Rahmen eines schulischen Ganztagsbetreuungskonzeptes ein wesentliches Qualitätskriterium dar. Daher werden vorrangig Einflussfaktoren eruiert, die sich in diesem Kontext als günstig erweisen. Meines Erachtens ist hinsichtlich der Integration verschiedener Lebensumwelten die Zusammenarbeit der Systeme Familie und Schule zu forcieren, während sich die Schule in Bezug auf die neuen Strukturen und Inhalte einer stärkeren Öffnung unterziehen sollte, die wiederum im Zusammenhang mit einer sozialpädagogischen Dimension schulischen Lehrens und Lernens steht. Diese Desiderate werden im Folgenden auf ihre Realisierung überprüft und Ableitungen für ein ganztägiges schulisches Betreuungssystem vorgenommen. Dies jedoch nicht, ohne vorab zu klären, was im Allgemeinen unter einer „guten“ Schule verstanden wird. 4.2.1 Eine „gute“ Schule – Was ist darunter zu verstehen? Als kurze Vorbemerkung sei folgender Vorspann erlaubt: Das Prädikat „gut“ begnügt sich damit, dass Schule nicht „ausgezeichnet“ oder „perfekt“ sein muss, sondern „lediglich“ den Ansprüchen zu genügen hat, die an sie gestellt werden. Dass es die „beste“ Organisationsform von Schule tatsächlich nicht zu geben scheint, zu diesem Ergebnis kam auch WEINERT, wenn er sich wie folgt äußert: „Da man inzwischen weiß, daß es weder die beste Schulorganisation noch die beste Schulform oder die beste Unterrichtsmethode gibt, geht es vor allem um eine größere Flexibilität in der Schulorganisation, um mehr Adaptivität des Unterrichts gegenüber unterschiedlichen Fähigkeiten, Interessen und Lernverläufen der Schüler, um die Steigerung der Instruktionsqualität durch verbesserte fachliche, diagnostische und didaktische Bildung der Lehrer, um eine intensivierte Beratung von Schülern und Eltern und schließlich um eine zunehmende Humanisierung der Schule durch Abbau der auf Lehren und Lernen hin instrumentalisierten Lehrer-SchülerBeziehungen zugunsten der Entfaltung leistungsunabhängiger persönlicher Wertschätzungen“ (1989, S. 34).
Von einer „guten“ Schule kann demzufolge ausgegangen werden, wenn in ihr aufgrund einer flexiblen Struktur individuelle Förderung und differenziertes Lernen der Schüler ermöglicht wird durch Fachkräfte, die auf einem hohen pädagogischen Niveau – in enger Kooperation mit den Eltern – arbeiten, wobei ein
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4 Übergangsbewältigung und Ganztagsschulkonzept
Klima der Wertschätzung herrscht. Oder – auf das Wesentlichste verkürzt: Eine „gute“ Schule ist eine „humane“ Schule. Während mit WEINERT der Fokus auf den lebenswerten Aspekt gelegt wird, charakterisieren APPEL & RUTZ eine Schule als „erfolgreich“157, „wenn in ihr die Schülerinnen und Schüler bessere Leistungen und bessere Sozialkompetenzen erlangen, als man dies auf Grund ihrer Voraussetzungen erwarten dürfte“ (2005, S. 169). Die Autoren heben hierbei einerseits den Gedanken der Kompetenzerweiterung hervor, will heißen, eine „gute“ Schule fördert die Schüler individuell und steigert ihre kognitiven und sozialen Fähigkeiten. Andererseits wird die kompensatorische Funktion der schulischen Einrichtung betont. In den Schülern werden, unabhängig von ihren individuellen und familiären Ressourcen, Kompetenzen geweckt und gestärkt. Die Schule versteht sich somit als „pädagogische Handlungseinheit“ (ebd.), als „lernende Organisation“ (ebd.) sowie als „Lebensschule ganzheitlicher Art“ (ebd.), die die Schülerschaft umfassend fördert. Schule soll im Grunde das möglich machen, was aufgrund der Voraussetzungen der Schüler unmöglich erscheint. Sie soll zu „überwältigenden“ Ergebnissen kommen, die losgelöst von den Dispositionen der Schüler erfolgen. Damit wird ihr etwas aufgebürdet, das sie nicht leisten kann bzw. dessen sie nicht missbraucht werden darf. Gleichzeitig nimmt diese Argumentationslinie die Stimmung in der momentanen Bildungslandschaft auf (vgl. hierzu u.a. die Folgerungen aus den Ergebnissen der PISA-Studie) und führt sie konsequent fort: Schule soll soziale Ungleichheit beseitigen und Chancengerechtigkeit herstellen. Da das Konzept einer ganztägigen schulischen Betreuung jedoch weit mehr impliziert als nur die Angleichung von Chancen, muss eine „gute“ Ganztagsschule weitere Kriterien erfüllen. An einer – so VOGELSAENGER – guten Ganztagsschule
„fühlen sich Kinder und Lehrkräfte wohl, macht Lernen Spaß und wird gewissermaßen zur ‚Nebensache’, entsteht eine Kultur eigenverantwortlichen Lernens mit hoher Innovationskraft, sind Ruhe, Ausgeglichenheit, Lern- und Lehrwille offenkundig, werden soziale Kompetenzen ausgebildet und Integrationskraft gestärkt“ (2007, S. 134).
Diese Auflistung erweckt auf den ersten Blick den Eindruck, als ob die „gute“ Schule ein Ort wäre, den alle Beteiligten gerne besuchen, ein von Freiwilligkeit und Ausgeglichenheit anmutender Raum, der Schüler zu höchst innovativem und kooperativem Verhalten anspornt. Diese Einschätzung wäre jedoch zu kurz ge157 Die Bezeichnung „erfolgreich“ impliziert im Vergleich zu einer „guten“ Schule meines Erachtens deutlich den Leistungsgedanken – Schule muss „Output“ liefern.
4.2 Die Berücksichtigung der Kontextualität als Indiz eines „guten“ Ganztagsschulkonzeptes
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griffen, v.a. dann, wenn wir VOGELSAENGERS Idee einer guten Schule als „Lernoase“ (2007, S. 141) Rechnung tragen wollen. Dieser Begriff „beinhaltet sowohl die emotionale Dimension des Wohlfühlens als auch die inhaltliche Dimension von individuellem Fordern und Fördern. Kerngedanke ist die innovative Schule, die das eigenverantwortliche Lernen und Handeln der Kinder bestmöglich entwickelt“ (ebd.). Diese Charakterisierung kommt meines Erachtens – aus einer (sozial-)pädagogischen Betrachtungsweise – der Konzeption einer „guten“ Ganztagsschule am Nächsten. Wird Schule als „Lernoase“ verstanden, lässt sie Zeit zum Aneignen unterschiedlicher Fähig- und Fertigkeiten sowie zur individuellen Entfaltung, wobei jeder Schüler sein Lerntempo und die Wahl der Tätigkeiten in einem vorgegebenen Rahmen selbst festlegt. Die Institution Schule lebt in diesem Verständnis von außerunterrichtlichen Angeboten, die den vielfältigen Zugang zur Welt eröffnen. Schule als „Lernoase“ impliziert den Aspekt des Wohlfühlens. Eine ganztägige schulische Betreuung macht nur Sinn, wenn sie sich als ein Raum erschließt, in dem sich alle Beteiligten wahr- und ernstgenommen fühlen und einander vertrauensvoll begegnen können. Damit sich Schule zu dieser „Lernoase“ entwickeln kann, ist eine weitere Differenzierung in fünffacher Hinsicht vorzunehmen (vgl. PESCH 2006158).
Im Sinne des Lebensweltbezugs sollen Ganztagsschulen den Charakter erhalten, „Häuser des Lebens und Lernens für Kinder“ (ebd., S. 266) zu werden, indem sie im Sinne der Lebensweltorientierung auf „Offenheit, Ganzheitlichkeit und Alltagsorientierung“ (ebd.) ausgerichtet sind. Der Begleitung von Übergängen zwischen den Systemen und Lebensräumen misst PESCH eine besondere Bedeutung zu und plädiert hierbei für die Stärkung der Kompetenzen der Kinder. Da Bildung „zunehmend zur entscheidenden Ressource für die aktive und kreative Gestaltung der eigenen Lebensumstände wie der sozialen Umgebung“ (ebd., S. 267) wird, setzt die Ganztagsschule auf eine Bildungskultur, die in den Lern- und Arbeitsformen, den Zeitrhythmen und der Kooperation mit außerschulischen Partnern den individuellen Bedürfnissen der Kinder gerecht wird. „Die Häuser des Lebens und Lernens für Kinder sind offene Organisationen, die Lern- und Erfahrungschancen des räumlichen und sozialen Umfelds aktiv aufsuchen bzw. einbeziehen“ (ebd., S. 268).
158 Nach PESCH (2006) gelten die folgenden Merkmale als Qualitätskriterien für die schulische Ganztagsbetreuung im Primarbereich. Meines Erachtens lassen sich diese Merkmale jedoch über den Primarbereich hinaus auf jegliche ganztägige schulische Betreuungsform anwenden.
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4 Übergangsbewältigung und Ganztagsschulkonzept
In der Einrichtungskultur dokumentiert sich, dass Häuser des Lebens und Lernens nicht nur Häuser für Kinder, sondern auch „Häuser der Kinder“ (ebd., S. 269) sind, in denen sie ihre Zeit gerne verbringen. Dies umfasst u.a. die freundliche Atmosphäre des Umgangs miteinander, vielfältig gestaltete Räumlichkeiten, Mittagsverköstigung, attraktive Freizeitangebote und Gelegenheit, Beziehungen aufzunehmen und Freundschaften zu pflegen. Teamarbeit auf institutioneller und personeller Ebene sowie Partizipation aller Beteiligten gilt als weiteres Qualitätsmerkmal einer kindgerechten Ganztagsbetreuung. „Partizipation ermöglicht Identifikation, fordert heraus und hilft, eine Schulmüdigkeit der Kinder zu vermeiden, die häufig aus der Empfindung eines passiv erlittenen Schulalltages resultiert. Zudem werden die Eltern durch Partizipationsangebote in der Wahrnehmung ihres Erziehungsauftrages unterstützt“ (ebd., S. 270).
Als „Lernoasen“ (VOGELSAENGER 2007, S. 141) bzw. als „Häuser der Kinder“ (PESCH 2006, S. 269) könnte die Schule somit dem Anspruch einer „guten“ Schule gerecht werden. Dazu ist besonders die Ganztagsschule aufgerufen, wenn sie „nicht nur eine weitere hilflose Aktion zur Verbesserung der Qualifikation unserer Kinder sein soll, sondern tatsächlich eine Wende in unser erneuerungsbedürftiges Ausbildungssystem bringen soll, dann muss sich zunächst etwas in den Köpfen aller Beteiligten ändern. Hier können nur die Eckpfeiler eines solchen Denkens genannt werden: Heterogenität als Chance […] Integration statt Selektion Förderung individueller Lernwege Teamarbeit bei Schüler/innen, Lehrer/innen und Schulleitung Zeit für Schülerinnen und Schüler unabhängig von Lehrerpflichtstunden […] Öffnung von Schule zum Leben hin, Zulassen alternativer Lernorte Wertschätzung jedes/jeder Einzelnen […] Intensive Elternarbeit […] Ein Bildungsbegriff, der alle Bereiche des menschlichen Lebens umfasst und nicht nur auf kognitive Leistungen beschränkt ist Ein positiver Umgang mit Fehlern Ein System der Ermutigung und Bestärkung […] Zielgerichtete Fort- und Ausbildung von Lehrer/innen“ (VOGELSAENGER & VOGELSAENGER 2006, S. 76).
4.2 Die Berücksichtigung der Kontextualität als Indiz eines „guten“ Ganztagsschulkonzeptes
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4.2.2 Die Integration der Lebenswelten als Zielsetzung der Co-Konstruktion Kinder und Jugendliche im Schulalter bewegen sich permanent zwischen den Institutionen Familie und Schule, die „die wichtigsten stützenden und fördernden Einflussfaktoren für die erfolgreiche Bewältigung der lebensgeschichtlichen Entwicklungsaufgaben“ (WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT FÜR FAMILIENFRAGEN 2002, S. 27) darstellen. Da eine mangelnde Kooperation zwischen diesen beiden Einrichtungen „zu teilweise gravierenden Brüchen in kindlichen Bildungsbiografien und zu Reibungsverlusten an den Übergangsstellen“ (BMFSFJ 2005b, S. 17) führt, bedarf es zur Bewältigung der Transition zwischen allen Beteiligten eines „Dialogs von Anfang an“ (NIESEL & GRIEBEL 1998a, S. 9), denn „die Verwirklichung einer Kultur des Förderns und Forderns funktioniert in allen Bildungsbereichen besonders gut, wenn die am Bildungsprozess beteiligten Menschen und Professionen eng und teamorientiert zusammenarbeiten“ (BMFSFJ 2005b, S. 12). Diese Kultur der Gestaltung von Übergängen, die von Kommunikation und Interaktion getragen ist, wird als „Co-Konstruktion“ (GRIEBEL 2004b, S. 218) bezeichnet und umfasst das soziale System, in dessen Mittelpunkt das Kind steht (vgl. GRIEBEL & NIESEL 2005a; NIESEL & GRIEBEL 2006). Für einen pädagogisch optimal gestalteten Übergangsprozess ist dabei auf eine gleichberechtigte und ausgewogene Beteiligung aller Institutionen zu achten (vgl. Abb. 13), denn „im Konzert der Sozialisationsfaktoren kann eine pädagogische Instanz, z.B. die Schule, nicht das ganze Orchester sein, sondern nur ein Instrument in diesem“ (GIESECKE 1996, S. 7; Hervorh. d. Verf.). Übergänge lassen sich co-konstruieren, da sie sich als soziale Prozesse darstellen und somit von den beteiligten Akteuren beeinflusst werden können (vgl. GRIEBEL & NIESEL 2002b). Dabei ist zu bedenken, dass nur über den Dialog der Akteure die Bedeutung der Konstruktion entsteht (vgl. GRIEBEL & NIESEL 2004, S. 94)159, wobei Co-Konstruktion Kooperation übersteigt, da eine Verständigung über Begriffe, Prozesse und Handlungsansätze erreicht und „über Kommunikation und Partizipation der Akteure eine Übereinstimmung in der Sinnhaftigkeit für alle Beteiligten“ (NIESEL 2004, S. 96; Hervorh. d. Verf.) hergestellt wird. An erster Stelle müssen demzufolge die Bedürfnisse der beteiligten Akteure bzw. Moderatoren160 geklärt werden, da die Kenntnis der unterschiedlichen Vorstellungen und Erwartungen dazu dienen kann, den interagierenden Personen adäquater zu begegnen. FABIAN (2002a) bietet in folgender Übersicht eine Zusammenschau, indem er die unterschiedlichen Perspektiven des Kindes, der Eltern und der Schule gegenüberstellt (vgl. Tab. 5). 159 vgl. ebenfalls BERGER & LUCKMANN (1966) 160 Während das Kind und die Eltern den Übergang aktiv bewältigen (sog. Akteure), fungiert die Fachkraft als Moderator des Übergangs.
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4 Übergangsbewältigung und Ganztagsschulkonzept
Abbildung 13: Co-Konstruktion der kindlichen Lebenswelten
Tabelle 5: What the main stakeholders need during induction (nach: FABIAN 2002a, S. 31)
4.2 Die Berücksichtigung der Kontextualität als Indiz eines „guten“ Ganztagsschulkonzeptes
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Die Zusammenarbeit zwischen vorschulischer Einrichtung, Schule und Eltern wird als wesentlicher Faktor bei der Übergangsbewältigung angesehen (vgl. GRIEBEL & NIESEL 2005a)161, wobei die Kinder und Eltern im Sinne einer „Transitionsbegleitung“ (FAUST 2005, S. 295) professionell unterstützt werden sollten. Während die Eltern Begleitung in Form der Beratung benötigen, steht bei den Kindern der Abbau von Unsicherheiten im Vordergrund. Dementsprechend lässt sich das Zusammenwirken aller am Übergang Beteiligten folgendermaßen darstellen:
Abbildung 14: Transition als co-konstruktiver Prozess (nach: GRIEBEL & NIESEL 2004, S. 120) Wie Kinder die Transition vom Kindergarten zur Schule bewältigen, hängt demzufolge davon ab, wie die vorschulische Einrichtung, die Schule und die Eltern 161 vgl. hierzu die Beiträge von BROSTRÖM 2002; FABIAN 2002b; MARGETTS 2002; YEBOAH 2002
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4 Übergangsbewältigung und Ganztagsschulkonzept
zusammenarbeiten (vgl. GRIEBEL & NIESEL 2004). Auch europäische und internationale Studien bestätigen den Bedarf nach verstärkter Kooperation zwischen den am Übergang beteiligten Personen und Institutionen. Im Einzelnen kamen sie zu folgenden Ergebnissen:
„Kinder, die eine allgemeine optimistische Grundeinstellung, ein starkes Selbstwertgefühl und eine positive Einstellung zum Lernen und zur Schule haben und die über soziale persönlichkeitsbezogene Kompetenzen verfügen, erfahren den Übergang als Herausforderung im positiven Sinne (vgl. Fabian 2002[a]; Griebel & Niesel 2002[a]; Pianta & Cox 1999[b]; Ramey & Ramey 1999; […] Sirsch […] 2000; Spangler 1999). Kinder, die im Vorfeld über hinreichende realistische Informationen über die Schule (Bezugsgruppen, Zeitstruktur, Erwartungen) verfügen, sind in der Lage, sich besser auf ihre künftige Situation einzustellen (vgl. Fabian 2002[a]; Sirsch […] 2000). Kinder, deren Eltern eine positive, entspannte Einstellung zum Lernen und zur Schule haben, haben bessere Übergangsbedingungen als Kinder, deren Eltern problembelastete oder angstbesetzte Sichtweisen haben (vgl. Ramey & Ramey 1999). Die Eltern nehmen beim Übergang vom Kindergarten in die Grundschule eine wichtige Rolle ein (vgl. Krumm 1999). Der vorschulische Austausch zwischen Lehrerinnen und Eltern (vgl. Pianta & Cox 1999[b]) und insbesondere die aktive Einbeziehung der Eltern in die Gestaltung des Übergangs beeinflussen das Übergangserleben von Vorschulkindern positiv (vgl. Beelmann 2006 […]). Ungeachtet der großen Bedeutung, die den Eltern zukommt, pflegen die Grundschullehrerinnen vor Schuleintritt nahezu keinen Kontakt zu den Eltern ihrer künftigen Schülerinnen und Schüler (vgl. Griebel & Niesel 2002[a]). Auch für die Zusammenarbeit der Erzieherinnen und Grundschullehrerinnen scheint eine Verbesserung der Kommunikation und Kooperation dringlich (vgl. Peters 2002; Griebel & Niesel 2002[a]). Denn die hierzu vorliegenden Studien belegen, dass die divergenten vorschulischen und schulischen Erwartungen an die Kinder nachteilige Auswirkungen auf deren Bewältigung des Übergangsprozesses haben (vgl. […] Pianta & Cox 1999[b])“ (KNÖRZER, GRASS & SCHUMACHER 2007, S. 107).
Die Schulfähigkeit wird im Transitionsansatz insofern zur Aufgabe für alle Beteiligten und stellt sich somit als Kompetenz des sozialen Systems dar (vgl. NIESEL 2009a; GRIEBEL 2004a, 2006), die maßgeblich über den Erfolg bzw. Misserfolg der Übergangsbewältigung entscheidet (vgl. GRIEBEL & NIESEL 2004). „Soll die Anschlussfähigkeit der Bildung verbessert werden, müssen sich beide Institutionen bewegen: Die Grundschule muss mehr Vertrauen in die Selbstbildungskräfte der Kinder entwickeln, muss Instruktion stärker durch Konstruktion und KoKonstruktion ersetzen und Lehrer(innen) müssen mehr Freiräume bei der Wahrneh-
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mung von Bildungsaufgaben eingeräumt werden. Umgekehrt ist im Kindergarten der Ko-Konstruktion mehr Raum zu geben, zumal sich diese Notwendigkeit aus einem veränderten Weltverständnis zwangsläufig ergibt“ (HACKER 2005, S. 289).
Dahingehend formulieren GRIEBEL & NIESEL (2005b) und GRIEBEL (2006) für das Mikrosystem Familie162, Kindergarten und Schule Kompetenzen für die beteiligten Akteure. Sie führen den Aspekt der Passung auf der bildungsprogrammatischen Ebene an, worunter die inhaltliche Anschlussfähigkeit der Bildungs- und Grundschulpläne verstanden wird. Darüber hinaus sind Kooperation – auf struktureller Ebene als geregelte Formen der Zusammenarbeit – und Kommunikation, die die Verständigung zwischen Kindern, Lehrkräften und Eltern erleichtert, wesentliche Aufgaben der Co-Konstrukteure des Übergangs, denn „Transitionen sind co-konstruktive Prozesse und hängen von effektiver Kommunikation ab“ (GRIEBEL 2004a, S. 98). Infolgedessen können Eltern sich und ihrem Kind diesen Übergang dahingehend erleichtern, dass sie regelmäßig Kontakt zur Schule aufnehmen und „in einen konstruktiven Dialog mit den Lehrkräften“ (BRANDL-HERRMANN 2004, S. 111) treten, der von Gesprächsbereitschaft, Empathie und Ambiguitätstoleranz geprägt ist. Demnach tragen die Eltern in entscheidendem Maße dazu bei, wie ihre Kinder Schule erleben und verarbeiten (vgl. FEND 1991). KAGAN & NEUMAN bezeichnen diese sogar als „Schlüsselfigur[en; K.S.]“ (1998, S. 374) bei der Herstellung von Kontinuität im Leben ihrer Kinder, die hierzu vonseiten der Lehrer entsprechender Anleitung bedürfen. Zudem gilt, dass der tägliche Übergang vom Elternhaus in die Schule primär entwicklungsfördernd wirkt, wenn die Eltern eine positive Einstellung zur Schule besitzen (vgl. PETILLON 1987) und zwischen beiden Instanzen eine „horizontale Kontinuität“ (HACKER 1998, S. 97) gegeben ist. Zwischen Kindergarten und Schule sollte ebenfalls ein reger Informationsaustausch stattfinden, um eventuelle Neuerungen oder Veränderungen an die Eltern weitergeben zu können. Informationsmaterialien und das pädagogische Konzept bzw. die Anforderungen in der ersten Klasse, Schnuppertage und Gespräche mit Lehrkräften oder derzeitigen Erstklasseltern können Ängste und Befürchtungen der Eltern verringern, was sich wiederum positiv auf die Einstellung der Kinder auswirkt.163
162 Da im Hinblick auf die Übergangsbewältigung vor allem die strukturelle Ebene der Schule interessiert, wird das System Familie in den Ausführungen nicht näher beleuchtet. Detaillierte Informationen hierzu finden sich u.a. bei GRIEBEL & NIESEL (2005b). 163 vgl. BRANDL-HERRMANN (2004, S. 110-112); BÜNDNIS FÜR FAMILIE DER STADT NÜRNBERG (2004, S. 81-84)
180
4 Übergangsbewältigung und Ganztagsschulkonzept
Vor allem die Schule müsste verstärkt Aktivitäten unternehmen, denn sie ist „der wichtigste Partner der Eltern in der Erziehung und Bildung ihrer Kinder“ (APPEL & RUTZ 2005, S. 286). Konkret bedeutet dies: „Gelingende Leistungen der Schule als Institution, die die Familie unterstützt und ergänzt und mit den Eltern zusammenarbeitet, setzen familienbezogene Kompetenzen der Lehrkräfte und eine familienorientierte Zeitstruktur des Schullebens voraus. Zusammenarbeit ist auf ausreichende Mitwirkungsrechte sowie geeignete Organisations- und Kooperationsstrukturen angewiesen […]“ (BMFSFJ 1994, S. 233).
Dazu sollte die Schule in einen engeren Kontakt mit der Familie treten, um an die Lernvoraussetzungen des Kindes besser anknüpfen zu können, denn zwischen Elternhaus und Schule ist eine sinnvolle und erfolgreiche Erziehungsarbeit nur dann möglich, „wenn man sich um ein Mindestmaß an Erziehungskontinuität zwischen den beiden Instanzen bemüht“ (LUDWIG 1987, S. 133). Wichtig ist bei alledem, dass die Kooperation nicht verordnet wird, „Schule und Elternhaus müssen zusammenarbeiten wollen“ (WEIGERT & WEIGERT 1997, S. 43; Hervorh. d. K.S.). Doch wie soll diese aktive Zusammenarbeit konkret realisiert werden, wenn Vorbehalte von beiden Seiten vorhanden sind? Eltern beklagen beispielsweise, dass die Möglichkeiten der Mitsprache und Teilhabe an schulischen Belangen nur in eingeschränktem Maße realisierbar sind und Informationen selektiv weitergegeben werden. Die Schule hingegen würde sich ein größeres Engagement der Eltern – vor allem im Zusammenhang mit Erziehungsfragen – und eine aktivere Mitgestaltung des Schullebens wünschen. Zur Bestimmung dieses Verhältnisses von Elternhaus und Schule schlägt TEXTOR den Begriff der „Erziehungspartnerschaft“ (2000, S. 13) vor und bringt damit zum Ausdruck, dass zum einen Lehrer und Eltern auf die kindliche Entwicklung einwirken und zum anderen „die gemeinsame Verantwortung für die Erziehung der Kinder […] im Mittelpunkt der Beziehung zwischen beiden Seiten [steht; K.S.]“ (ebd.).164 Die Schule sollte versuchen, „mehr als bisher zu einer Neben- und Parallel-Organisation des Elternhauses, zu einem verläßlichen Vertreter seiner Interessen und vertrauten Helfer in seinen familiären Aufgaben zu werden, dagegen sich weniger als eine Agentur des Staates und der Öffentlichkeit anzusehen und so zu funktionieren“ (SCHELSKY 1967, S. 26). Da im Hinblick auf die PISA-Studie der Begriff der Erziehungspartnerschaft zu kurz greift, ist dieser um die „Bildungspartnerschaft“ (TEXTOR 2009, o.S.) zu erweitern, womit dokumentiert wird, dass auch in Bezug auf Bildung 164 Die Bundesregierung greift diese Forderung auf, indem sie im Nationalen Aktionsplan postuliert, die „Bildungs- und Erziehungspartnerschaft zwischen Eltern und pädagogischen Fachkräften zu verbessern“ (BMFSFJ 2005a, S. 14).
4.2 Die Berücksichtigung der Kontextualität als Indiz eines „guten“ Ganztagsschulkonzeptes
181
eine „Co-Produktion“ (TEXTOR 2005, S. 33) erforderlich ist, bei der Eltern und Fachkräfte mit dem Kind als „Ko-Konstrukteure der kindlichen Entwicklung“ (FTHENAKIS 2001, S. 6) fungieren. Um diese Zusammenarbeit der Familie mit der Schule zu forcieren, bedarf es einer stärkeren Durchlässigkeit der scharfen Trennlinie zwischen beiden Institutionen (vgl. BMFSFJ 1994, rekurrierend auf die Expertise GRUNDMANN & HUININK 1991). Das Ziel der Bemühungen um Zusammenarbeit sollte darin bestehen, dass die Schule „die Erziehungskraft der (Rest-)Familie stärkt, indem sie vermehrte Kontakte zwischen Schule und Elternhaus stiftet, den Eltern einen erzieherischen Umgang mit ihren Kinder auch in der Schule ermöglicht und sich darüber hinaus für soziale Erfahrungen und Lernmöglichkeiten in der Wohngegend der Kinder öffnet“ (NEUMANN & RAMSEGER 1991, S. 23; Hervorh. d. Verf.). Diese Öffnung zur Lebenswelt der Schüler und zum Schulumfeld, die vonseiten einer sozialräumlich orientierten Sozialpädagogik forciert wird (vgl. hierzu Kapitel 6), beinhaltet die Chance, die inhaltlichen und strukturellen Gegebenheiten der Schule zu modifizieren, die in einer ganztägigen Betreuungsform wiederum unabdingbarer Bestandteil der Konzeption sind. 4.2.3 Die Realisierung neuer Strukturen und Inhalte durch eine Öffnung von Schule Die Institution Schule lässt sich bisher mit dem Bild einer Insel vergleichen, die ihren eigenen Lebensraum – unabhängig von den verschiedenen beteiligten Akteuren – selbst gestaltet. Demgemäß ist laut des WISSENSCHAFTLICHEN BEIRATES FÜR FAMILIENFRAGEN (2002) in den von Hilflosigkeit und Einseitigkeit geprägten Debatten nach der PISA-Studie eine deutliche Schullastigkeit zu beobachten, ohne dass die außerschulischen Lernprozesse Berücksichtigung finden. Diese Umstände führen demgemäß auch zu der Forderung, „[d]ass wir erheblich mehr über die Bedeutung und das komplexe Zusammenwirken der unterschiedlichen Bildungsorte wissen müssen“ (BRAKE & BÜCHNER 2003, S. 635). Es wird eine unentbehrliche Aufgabe der Schule sein, sich für die Lebenswelt der Schüler zu öffnen und diese in den schulischen Alltag zu integrieren, um damit zugleich „integraler Bestandteil des Gemeinwesens“ (BUNDESJUGENDKURATORIUM 2004, S. 201) zu werden. Dabei spielt – für eine erfolgreiche Weiterentwicklung der Schule – vor allem die „Wiedergewinnung des Erzieherischen“ (ROLFF & ZIMMERMANN 1997, S. 33) eine wichtige Rolle, „deren Lösung auf der anderen Seite ohne Unterstützung aus dem schulischen Umfeld überhaupt nicht möglich ist, also ohne Unterstützung aus der Nachbarschaft, den sozialen Einrich-
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4 Übergangsbewältigung und Ganztagsschulkonzept
tungen, den Kirchen usw.“ (ebd.). Diese Öffnung muss sozialräumlich begleitet werden von Institutionen wie den Kirchengemeinschaften, sozialen Einrichtungen der Altenpflege, Kinder- oder Behindertenheimen, staatlichen Funktionsträgern wie der Polizei, Beratungsstellen, von Sportvereinen, Musikgruppen oder Betrieben und Firmen der freien Wirtschaft (vgl. BÜNDNIS FÜR FAMILIE DER STADT NÜRNBERG 2004, S. 84f.). Mit Hilfe von Angeboten in den Bereichen Sport, Kultur, Musik, soziales und/oder kirchliches Engagement werden Schülern neue Perspektiven eröffnet, Anregungen zu sinnvoller Freizeitgestaltung geboten und das soziale Lernen ermöglicht. Denn „Bildung braucht mehr Beteiligung – und: aktive Beteiligung fördert Bildung“ (BMFSFJ 2005b, S. 55). In diesem Zusammenhang betont der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht die „Entwicklung der Heranwachsenden zu handlungsfähigen, kompetenten, sozialen und verantwortlichen Personen […]. Diese müssen auf dem Weg des Erwachsenwerdens in die Lage versetzt werden, in einer unübersichtlichen Welt ihr Leben eigenverantwortlich zu regulieren, müssen lernen, als teilhabefähige ‚Ko-Produzenten’ an der Gestaltung der Familie, des sozialen Nahraums, der Arbeitswelt und der politischen Öffentlichkeit mitzuwirken“ (BMFSFJ 2005b, S. 337f.).
Diese Entwicklung findet in einer Trias von Erziehung, Bildung und Betreuung statt, wobei die einzelnen Elemente den unterschiedlichen Institutionen Familie, Schule und Kinder- und Jugendhilfe nicht stringent zuzuweisen sind. „Wenn […] Bildung verstanden wird als eine umfassende Form des Kompetenzerwerbs mit Blick auf die unterschiedlichen Bereiche der Weltaneignung; wenn Erziehung zu einem Synonym wird für den Erwerb einer moralischen Urteilskraft bzw. einer lebenspraktischen Entscheidungs- und Orientierungskompetenz sowie einer Kompetenz zur Selbststeuerung; und wenn Betreuung ihre Qualität in der Bindungsintensität wechselseitiger Beziehungen zum Ausdruck bringt […]: Wenn man eine derartige inhaltliche Akzentuierung ins Auge fasst, dann wird ungleich deutlicher sichtbar, dass der Prozess des Aufwachsens gleichermaßen allen drei Dimensionen zuzuordnen ist“ (ebd., S. 338; Hervorh. d. Verf.).
Diesen Postulaten kommt das Ganztagskonzept insofern nach, als es den schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrag, der allen Schulformen gemein ist, durch die ganztägige Betreuung erweitert. Vor allem die nachmittäglichen Angebote ergänzen das schulische Repertoire durch eine Öffnung zum Schulumfeld, da „Lernen im Ganztag milieuorientiertes Lernen [ist; K.S.] und an innerschulischen und außerschulischen Lernorten“ (BAASEN et al. 2007, S. 80) stattfindet, wobei dies in extenso lediglich in der voll gebundenen Form der Ganztagsschule vorhanden ist.
4.2 Die Berücksichtigung der Kontextualität als Indiz eines „guten“ Ganztagsschulkonzeptes
183
Eine Öffnung von Schule erfolgt einerseits über die Berücksichtigung der Lebenswelt der Schüler, andererseits muss diese wiederum selbst den Praxisbezug über die Ermöglichung authentischer Erfahrungen herstellen. Da die Ganztagsschulkonzeption v.a. nachmittags Bereiche der Jugend-, Sozial- und Kulturarbeit tangiert, ist auch eine Zusammenarbeit mit außerschulischen Institutionen in zeitlicher und räumlicher Hinsicht sinnvoll (vgl. HOLTAPPELS 1994). „Sowohl zur Vermeidung des Verschulungsdilemmas als auch zur Anreicherung der pädagogischen Ganztagsgestaltung scheint eine Öffnung der Schule nach innen und nach außen durch Kontakte und Bezüge zur Schulumwelt und zur Lebenspraxis naheliegend. Dies geschieht vor allem dadurch, daß Lerninhalte, -anlässe und -gelegenheiten des Schulumfelds für schulisches Lernen in Unterricht und Schulleben aufgegriffen und genutzt werden; entweder werden alternative Lernorte erschlossen und aufgesucht oder Lerngegenstände in die Schule hereingeholt und Experten, Laienhelfer sowie Eltern am Schulgeschehen beteiligt werden“ (HOLTAPPELS 1995, S. 21f.).
Durch die veränderte Konzeption soll die Schule den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen Rechnung tragen. Veränderte Familienkonstellationen, ein Rückgang der Nachbarschaftskontakte, eine erfahrungsarme Wohnumgebung und die Mediatisierung des Alltags stellen die Schule vor neue Herausforderungen und provozieren geradezu Parolen wie: „Macht die Schule auf, laßt das Leben rein“ (ZIMMER & NIGGEMEYER 1986)165. Die Lern- und Freizeitangebote in der Ganztagsschule gewährleisten hinsichtlich des Wandels der Familienformen eine umfassende Betreuung, Lernförderung und familienunterstützende Erziehung in einer pädagogisch-professionellen Institution. Außerdem wirken Ganztagsschulkonzepte durch ihr reformiertes Bildungsverständnis der Mediatisierung, Informatisierung und Expertisierung des Alltags entgegen und Kommunikations- sowie Begegnungsmöglichkeiten können den Rückgang von Gratiskontakten in Familie und Nachbarschaft kompensieren.166 Weil es dazu der Herstellung nachbarschaftlicher Bezüge und sozialer Netze bedarf, wird der Schule in diesem Zusammenhang eine Sozialisations- und Integrationsaufgabe zugeschrieben, wobei die interkulturelle Bildung und Erziehung hervorzuheben ist. „Insbesondere in sozial destabilisierten oder infrastrukturell defizitären Umfeldern soll die Schule zur Gemeinwesenentwicklung beitragen, in dem sie für Schulmitglieder zum einen ein gemeinwesenorientiertes Curriculum und Schulleben entfaltet, zum anderen sozio-kulturelle Leistungen für das Gemeinwesen über pädagogische Veranstaltungen, Räume und Personal erbringt“ (HOLTAPPELS 1994, S. 19). 165 zit. n. HOLTAPPELS 1994, S. 155 166 Die Vorzüge einer verstärkten Kooperation mit anderen Organisationen oder Institutionen des Schulumfeldes wurden in Anlehnung an HOLTAPPELS (1994) erörtert.
184
4 Übergangsbewältigung und Ganztagsschulkonzept
Als weiteres zentrales Begründungsmuster gilt das Zusammenführen institutionellen Lernens und gesellschaftlicher Praxis. Schulisches Lernen soll sich demnach stärker an der Lebenswelt der Schüler orientieren, indem der lebenspraktische Bezug der Inhalte fokussiert wird und eine Vorbereitung der Schüler auf die Bewältigung aktueller Lebensereignisse und -anforderungen erfolgt. Der Grund hierfür liegt darin, dass „[d]ie Erfahrung von Sinnzusammenhängen und authentischer Wirklichkeit sowie praktisches Handeln zur Anreicherung schulischen Lernens [beiträgt; K.S.] und […] im wesentlichen über gemeinwesenorientiertes Lernen durch Einbeziehung des Schulumfeld und die Erschließung entsprechender Lernorte bzw. die innerschulische Bearbeitung entsprechender Lernanlässe realisiert“ (ebd., S. 20) wird. Dies beinhaltet, dass im Sinne einer Öffnung nach innen auch im konkreten Unterrichtsgeschehen ganzheitliche Lernformen zum Einsatz kommen und Unterrichtsinhalte sowie die -organisation dahingehend verändert werden. „Auf der einen Seite kann dies für die Schulentwicklung sowohl eine Aufgabenerweiterung im Sinne einer Kompensation von Defiziten im Schulumfeld bedeuten als auch zu einer pädagogischen Neuvermessung des bisherigen Bildungs- und Erziehungsverständnisses als notwendiger Reflex auf veränderte Sozialisationsbedingungen führen. Auf der anderen Seite wächst in Schulen die Einsicht in die Notwendigkeit, eigene institutionelle Entwicklungsprobleme und Widersprüche, also hausgemachte Schulprobleme, über innere Schulreform zu überwinden“ (ebd., S. 155).
Über die effektive Nutzung von Ressourcen, im Sinne einer multifunktionellen Raumnutzung bzw. multipersonalen Zusammenarbeit verschiedener Einrichtungen, wird auch eine Vernetzung von Schule und Jugend- bzw. Sozialarbeit angestrebt. Aufgrund deren Trennung entstanden unterschiedliche Zuständigkeiten für die Erziehung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen. Eine Kooperation der beiden Bereiche könnte beispielsweise mit der Schulsozialarbeit – als ein Aspekt sozialpädagogischer Orientierung von Schule – realisiert werden. Diese versteht sich als eine Form sozialpädagogischer Arbeit, als „Hilfe zur Lebensbewältigung“ (ebd., S. 123) und setzt vor allem an individuellen Problemlagen und Bedürfnissen an. Dazu zählen „Hilfekonzepte zur Stützung und Vernetzung alltäglichen Normalisierungshandelns, zur Bewältigung von Übergangsphasen und Integrationsproblemen und zur Selbstbehauptung und Nutzung biographischer Chancen“ (ebd.). Dabei birgt die personelle Struktur an der Ganztagsschule die Gefahr, dass Lehrer in ihrer Funktion als Wissensvermittler ausschließlich unterrichten, hingegen die Sozialpädagogen die Verantwortlichkeit für die Freizeitaktivitäten übernehmen und primär den Erziehungsauftrag der Schule erfüllen.
4.3 Die Ganztagsschule auf der Suche nach Verbündeten
185
„Wünschenswert wäre daher eine sozialpädagogisch orientierte Schule mit erzieherisch qualifizierten Lehrern und einer engen Kooperation beider Gruppen im Sinne einer verstärkten Integration unterrichtlichen und sozialpädagogischen Handelns, so daß sich Lehrer/innen und Sozialpädagogen organisatorischen und erzieherischen Aufgaben gemeinsam verpflichtet fühlen, sich in ihrem Arbeitsverhältnis aufeinander zuentwickeln“ (ebd., S. 130).
Für das Lehrerpersonal bedeutet dies, verstärkt sozialpädagogische Lehrerqualifikationen auszubilden, wie z.B.:
„sozialerzieherisches Handlungsrepertoire, besonders hinsichtlich eines erziehenden Unterrichts und sozialer Lernprozesse; diagnostisches Fallverstehen und Beratungskompetenz zur Diagnose von Lernfortschritten, Lern- und Verhaltensproblemen und Prozeßverläufen, zum Verständnis von Lern- und Interaktionssituationen sowie zur Beratung von Lernenden, Lerngruppen und Eltern; methodische Fähigkeiten zur individuellen Förderung einzelner Schüler/innen im Rahmen von binnendifferenzierten Lernprozessen, für die Leitung von Lerngruppen und die Organisation von Lernarrangements, Lernmaterialien, Lernumwelten etc.; ausgeprägte Kooperations- und Teamfähigkeit für die pädagogische Kooperation im Lehrerkollegium und mit außerschulischen Partnern sowie in der Teamentwicklung für Aufgaben enger fachlicher und erzieherischer Koordination“ (ebd., S. 132f.).
Letztendlich ist es unabdingbar, die geplanten Vorhaben zu dokumentieren. Die Entwicklung eines individuellen und auf die Ausprägungen des sozialökologischen Kontextes ausgerichteten Schulprogramms sollte vor allem die Intensivierung der Kontakte mit dem Umfeld – vorrangig die Elternarbeit – zum Ziel haben. Hierbei wird deutlich, dass eine Öffnung von Schule einerseits eine cokonstruktive Zusammenarbeit mit den Eltern forciert, andererseits auch den Einbezug des (außerschulischen) sozialen Umfeldes impliziert. Um den Aspekt der Kontextualität der kindlichen Lebenswelten im Rahmen eines ganztägigen schulischen Betreuungskonzeptes entsprechend zu würdigen, wird die sozialräumliche Dimension eine der wesentlichen künftigen Aufgaben der Ganztagsschule bilden. 4.3 Die Ganztagsschule auf der Suche nach Verbündeten Im Hinblick auf die dargestellten Inhalte gewinnt das bisher existierende indifferente Verhältnis der Schule zur Lebenswelt der Schüler v.a. im Zusammenhang mit problematischen Zeiten des Aufwachsens – sei es bedingt durch private oder
186
4 Übergangsbewältigung und Ganztagsschulkonzept
familiäre Krisen – Brisanz. Erfahrungen misslungener Übergangssituationen oder unbewältigter Entwicklungsaufgaben verschärfen dabei diese Tatsache. Für eine Neubestimmung dieses Verhältnisses gilt daher die Kinder- und Jugendhilfe für die ganztägige schulische Betreuung als wichtiger Partner (vgl. BMFSFJ 2005b), da „eine geregelte Form der Kooperation der öffentlichen Anbieter weitaus bessere Synergieeffekte bei Kindern und Jugendlichen erzielt“ (ebd., S. 342). Dies lässt sich darüber realisieren, dass die Schule ein Netzwerk mit unterschiedlichen außerschulischen Anbietern sozialer Dienste knüpft, um zu einer lebensweltorientierten Öffnung von Schule zu gelangen. Die Aufgabe der Schulentwicklung versteht sich somit als Gestaltung der Schullandschaft im kommunalen Raum, um eine Infrastruktur von Bildung, Erziehung und Betreuung zu schaffen. Die Aufteilung „Familie = Erziehung“, „Schule = Bildung“ sowie „Kinder- und Jugendhilfe = Betreuung“ wird innerhalb dieser Trias aufgeweicht – letztlich aufgelöst – und durch ein umfassendes Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungskonzept ersetzt.167 Damit begegnen sich die Systeme Familie, (Ganztags-)Schule und Kinder- und Jugendhilfe auf einer neuen Ebene. Richtet man den Fokus auf die ganztägige schulische Betreuung, beinhaltet deren Aufgabe auch eine „sozialpädagogische Verantwortung der Schule“168 (ZELLER 2007b, S. 8), womit ZELLER auf eine „Neujustierung von Schule“ (ebd.) verweist. Denn unter den momentanen Gegebenheiten erweckt die Schule keinen besonders rühmlichen Eindruck. „Die Vorstellung, dass eine staatliche Einrichtung Kinder und Jugendliche den ganzen Tag nicht nur unter ihrer Obhut, sondern auch unter ihrer Kontrolle haben soll, setzt ein großes Vertrauen in den Staat und die Schule voraus, und dieses Vertrauen hat sich die staatliche Schule bisher nicht erworben“ (BRENNER 2006, S. 173). Die Institution Schule muss sich daher neu ausrichten und auf dem bunten Markt der Möglichkeiten zurechtfinden. Sie wird auf verschiedene außerschulische Disziplinen stoßen und auf ihrer „Suche nach Verbündeten“ (GRAUMANN & MROCHEN 2001)169 auch der Sozialpädagogik begegnen. Wie dieser Kontakt aussehen mag, bleibt offen, denn weder Harmonie noch Streitsucht sind vorprogrammiert. Fakt ist: Eine Kollision von Schule und Sozialpädagogik sollte tunlichst vermieden, eine Koalition bewusst angestrebt werden. Aus diesem Grunde wird im Folgenden eine behutsame Annäherung im Hinblick auf ein ganztägiges schulisches Betreuungssystem versucht.
167 Auch der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht (vgl. BMFSFJ 2005b) spricht sich für ein „konsequenteres Ineinander von Bildung, Betreuung und Erziehung“ (VON REISCHACH 2007, S. 21) aus. 168 Zum Thema „Kooperation von Ganztagsschule und Jugendhilfe“ hat ZELLER (2007b) unter dem gleichnamigen Titel ein Buch herausgegeben. 169 Diese Aussage findet sich im Untertitel des eben genannten Werkes.
5.1 Sozialpädagogik – ein Grundriss
187
5 Der Beitrag der Sozialpädagogik für ein ganztägiges schulisches Betreuungsprogramm
Der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht (vgl. BMFSFJ 2005b) proklamiert, dass das Projekt Ganztagsschule nicht als alleinige Antwort auf die PISA-Studie im Sinne einer Schulreform gesehen werden darf. Mit der Ausweitung der Ganztagsschule findet ein Paradigmenwechsel statt, indem der Schule neben der Erziehung und Bildung auch die Betreuung von Kindern und Jugendlichen zugewiesen wird.170 Dies impliziert einerseits eine Neubestimmung des Verhältnisses von Schule und Familie, da abzustimmen ist, wie die Kompetenzen der jeweiligen Institutionen verteilt sind. Andererseits führt die Ganztagsschule zu einer verstärkten Kooperation von Schule und Kinder- und Jugendhilfe, wodurch Umverteilungen in fachlicher, organisatorischer, finanzieller und struktureller Hinsicht bedingt sind. Darüber hinaus wirkt sich die Ausweitung der Schulzeit auch auf das Verhältnis der Generationen untereinander aus. Mit dem mehr an Zeit werden Erwartungen an die Schüler – u.a. in Bezug auf Leistung – gerichtet. Es gilt sich darüber zu verständigen, wie viel selbstbestimmte Freiräume diesen zugestanden und welche Ansprüche an Bildung gestellt werden können. Aus diesem Grund „kann eine Ganztagsschuldebatte im Zeichen ‚zeitgemäßer’ Bildung weder die Auseinandersetzung um schulische Bildungsstandards ausblenden noch darauf hoffen, die Bildungsaufgabe der Schule durch sozialpädagogisch überformte Bildungskonzepte unterlaufen zu können“ (JÜRGENS 2006, S. 203). Über Bildungsstandards wurde (und wird) im Zusammenhang mit einer ganztägigen schulischen Betreuung viel diskutiert und in den bisherigen Ausführungen zur Genüge erörtert – der sozialpädagogischen Dimension jedoch wird (noch) wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Nicht im Sinne einer „Überformung“, wohl aber als „Untermauerung“ widmet sich das folgende Kapitel dieser Tatsache. 5.1 Sozialpädagogik – ein Grundriss THIERSCH sprach bereits 1992 von einem „sozialpädagogischen Jahrhundert“ (1992, S. 9ff.), womit er zum Ausdruck bringen wollte, dass sich die Sozialpäda170 Der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht spricht hierbei von einer Trias der Erziehung, Bildung und Betreuung (vgl. BMFSFJ 2005b, S. 338).
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5 Der Beitrag der Sozialpädagogik für ein ganztägiges schulisches Betreuungsprogramm
gogik zu einem „selbstverständlichen und akzeptierten Bestandteil in der Infrastruktur sozialer und pädagogischer Dienstleistungen“ (ebd., S. 10; Hervorh. d. Verf.) des Sozialstaates entwickelt hat. Die Sozialpädagogik stellt sich „als ein ‚Produkt der Moderne’“ (RAUSCHENBACH 1999, S. 32) dar, die „zu einem unverzichtbaren öffentlichen Instrumentarium zur Lebensbewältigung unter sozialen Ungewißheitsbedingungen geworden“ (ebd.) und daher derzeit nicht mehr aus dem pädagogischen Geschäft wegzudenken ist (vgl. MÜLLER 2005). Wenn die wissenschaftliche Disziplin der Sozialpädagogik als elementarer Bestandteil der pädagogischen Arbeit deklariert wird, gilt es zu hinterfragen, welche Auffassung sich hinter dieser Perspektive verbirgt.171 Folgt man der Begriffsbestimmung von BÄUMER, so ist Sozialpädagogik „nicht ein Prinzip, dem die gesamte Pädagogik, sowohl ihre Theorie wie ihre Methoden, wie ihre Anstalten und Werte – also vor allem die Schule – unterstellt ist, sondern ein Ausschnitt: alles was Erziehung, aber nicht Familie und nicht Schule ist. Sozialpädagogik bedeutet hier den Inbegriff der gesellschaftlichen und staatlichen Erziehungsfürsorge, sofern sie außerhalb der Schule liegt“ (1929, S. 3; Hervorh. d. Verf.).
Das heißt, die Sozialpädagogik wird als erzieherische Instanz in dem Zwischenraum von Familie und Schule verortet und umfasst dabei sämtliche Bereiche der nicht-elterlichen und außer-unterrichtlichen Erziehung, Betreuung und Bildung.172 Sie lässt sich als „Praxis und Theorie einer Erziehung“ (MOLLENHAUER 1993, S. 19) definieren und ist „der Bereich von Erziehung und Erziehungswissenschaft, der in besonderer Weise an (pro)sozialem Verhalten orientiert ist“ (BUCHKREMER 2009, S. 26). Auf dem Hintergrund von Prosozialität und Solidarität war die Sozialpädagogik von jeher „ein Antworten auf die Probleme dieser Gesellschaft, die der Sozialpädagoge zu Erziehungsaufgaben umformulierte“ (MOLLENHAUER 1993, S. 19). Sie sieht sich somit dem „Werden der Gesellschaft“ (ebd., S. 21) gegenübergestellt, indem sie eine „Kultur des Aufwachsens“ (vgl. BMFSFJ 1998, S. 297f.)173 verkörpert. Dazu beginnt „sozialpädagogisches Denken in pragmatischer Absicht“ (WINKLER 1988, S. 278) mit der Überlegung, „wie ein Ort beschaffen sein muß, damit ein Subjekt als Subjekt an ihm leben und sich entwickeln kann, damit er auch als Lebensbedingung vom Subjekt kon171 SCHMIDT (1981) eröffnete seine Monographie „Theorien der Sozialpädagogik“ mit der Feststellung, dass die Sozialpädagogik heute einem „Theorie-Dilemma“ unterläge und entwarf einen handlungstheoretischen Neuansatz, der die pädagogische Ausrichtung einer Theorie der Sozialpädagogik fokussierte. MÜHREL & BIRGMEIER (2009) greifen diesen Aspekt erneut auf und generieren eine Zusammenschau unter dem Titel: „Theorien der Sozialpädagogik – ein Theorie-Dilemma?“. 172 Laut LÜDERS & WINKLER (1992) setzen jedoch gerade die Institutionen Familie und Schule sozialpädagogisches Handeln selbstverständlich voraus und operieren mit deren Konzepten. 173 Position des Zehnten Kinder- und Jugendberichtes
5.1 Sozialpädagogik – ein Grundriss
189
trolliert wird“ (ebd., S. 278f.). Obgleich im Rahmen der sozialpädagogischen Reflexion „Familie und Schule als Lebensorte thematisiert werden, welche Aneignungsprozesse hindern oder stören, Subjektivität gar beschädigen“ (ebd., S. 267), werden diese zugleich als Räume begriffen, „in welchen Leben, Aneignung und Entwicklung aufgrund der ‚örtlichen’ Gegebenheiten möglich werden“ (ebd.). Dementsprechend lässt sich der Sozialpädagoge mit einem „Kritiker der Gesellschaft“ (ebd., S. 279) vergleichen, „da er ihre Ausgrenzungsprozesse durchbricht und die so entstandenen Plätze einer Aneignung wieder zugänglich macht“ (ebd.). Somit konstituiert das sozialpädagogische Handeln – orientiert an den Möglichkeiten des Individuums – einen „neuen, von gesellschaftlicher Determination freien Raum“ (ebd.). Dieser eröffnet dem Subjekt die Möglichkeit eine andere Perspektive zu den es umgebenden Lebensverhältnissen einzunehmen und sich in einer veränderten sozialen Stellung zu positionieren. Die Sozialpädagogik als „Pädagogik der unsteten Vorgänge“ (ebd., S. 285) verweist in diesem Zusammenhang auf den Impulscharakter des sozialen Ortes. Er gibt „einen Blick auf neue, vorher nicht gesehene Handlungsmöglichkeiten frei und führt so zu einer veränderten Orientierung, schließlich auch zu einem Wandel in der inhaltlichen Bestimmung des Handelns selbst“ (ebd., S. 294). Diesem Handeln wiederum muss eine eigendynamische Komponente zugestanden werden, indem der Erzieher das Prinzip des „Offenhaltens (oder der Öffnung) von Zukunft“ (ebd.) garantiert und dem Individuum Bildungsprozesse ermöglicht, die „zu einem souveränen, moralischen Wertungen zugänglichen Umgang mit Lebensumständen und dem eigenen Selbst befähigen“ (WINKLER 2004a, S. 926). Diese Unterstützung bei der Entwicklung der Sozialisation und Personalisation zeichnet sich vor allem im Hinblick auf die Veränderungsdynamik unserer modernen Gesellschaft ab und legt „auf eine radikale Weise den Sinn des Begriffs der Sozialpädagogik frei“ (ebd., S. 927). In Bezug auf die Bedeutung der Sozialpädagogik für die pädagogische Arbeit in der Schule ergibt sich somit, dass sich diese als „Erziehungsleistung“ (WINKLER 2006c, S. 56) versteht, die die Lernfähigkeit des Subjekts herstellt. Gerade in diesem Bestreben nach „Ermöglichung von Bildung“ (ebd., S. 57; Hervorh. d. Verf.) wird sie zu einer wesentlichen Voraussetzung des Bildungsgeschehens, weil sie den Blick auf die Bedingungen für Entwicklung richtet.174 Diese Einschätzung lässt jedoch leicht in Vergessenheit geraten, dass der Sozialpädagogik in der Vergangenheit stets „die schmutzige Arbeit im pädagogischen Geschäft“ (MÜLLER 2005, S. 273) überlassen wurde und sie als „Nothilfe174 Die Betonung des Bildungsaspektes vonseiten der Sozialpädagogik findet ihren deutlichen Niederschlag im Zwölften Kinder- und Jugendbericht (vgl. BMFSFJ 2005b). Dass der Bildungsbegriff allerdings in einem scholaren Sinne Gebrauch findet, weist gleichzeitig auf eine fehlende theoretische Fundierung hin (vgl. WINKLER 2006c).
190
5 Der Beitrag der Sozialpädagogik für ein ganztägiges schulisches Betreuungsprogramm
pädagogik [galt; K.S.], wenn andere, vorgeblich normale Erziehungsinstanzen, wie etwa Familie, Schule und Beruf, versagten“ (ebd.). Die Erledigung der „Drecksarbeit“ – während andere sich die Finger nicht schmutzig machen – erinnert an ein wohlbekanntes Märchen: Aschenputtel. THIERSCH (1990) verwendet diese Metapher, um seine Hoffnung zu artikulieren, dass die Sozialpädagogik unter ihren Schwestern letztendlich zur „Gewinnerin“ zählt. Dennoch erscheint es laut LÜDERS & WINKLER unwahrscheinlich, „daß sich die graue Küchenmaus in den Star des Schlossballs verwandelt, das Wohlgefallen eines Prinzen gewinnt und zur strahlenden Prinzessin avanciert“ (1992, S. 359). Denn Aschenputtel hat „längst den adelig feudalen Weg verlassen und eine bürgerliche Perspektive gewählt“ (ebd.) mit dem Ergebnis, „daß das Vorhandensein und die Inanspruchnahme von Sozialpädagogik mittlerweile auf allen Ebenen und in nahezu jeder Hinsicht zur Normalität geworden ist bzw. gerade wird“ (ebd., S. 364). Die Sozialpädagogik entwickelt sich tatsächlich langsam von einer speziellen Nothilfepädagogik benachteiligter Personengruppen in besonderen Lebenslagen weg hin zu einer Gruppenhilfepädagogik zur Bewältigung der Normalität. Sie übernimmt damit die Funktion einer „lebensweltorientierten Hilfe zur Lebensbewältigung“ (THIERSCH 1992, S. 16; Hervorh. d. Verf.) und wird auch im 21. Jahrhundert sozialpädagogische Probleme auffinden. Wie sich die Sozialpädagogik jedoch in der „Postmoderne“ positioniert, ist noch offen (vgl. THIERSCH 1992). Auch im Bildungssektor wird „der ‚Einzug’ der Sozialpädagogik in die bislang noch erheblich vernachlässigte Schule letztlich nicht aufzuhalten sein“, äußerten sich HOMFELDT et al. bereits 1977175. Heute – im Jahre 2010 – gilt es zu hinterfragen, was sich bis dato in der Bildungslandschaft verändert hat und inwieweit die Sozialpädagogik für das Selbstverständnis der gegenwärtigen Schule tatsächlich zu einem unverzichtbaren Element wurde bzw. wird. 5.2 Sozialpädagogik und Schule Schule erscheint aus Sicht der Sozialpädagogik als „eine Institution, die mit ihrem Bildungsauftrag Schwierigkeiten hat und ihren Erziehungsauftrag weitgehend nicht zur Kenntnis nimmt oder delegiert, als eine Institution, die ihre Aufgabe und ihre Chance zum Bildungsabenteuer in der Anstrengung um Wissensplunder verspielt, weil ihr die Verbindung von Leben, Erfahren und Lernen nicht gelingt, als eine Institution, die Schwierigkeiten hat mit den besonderen Lebensproblemen der Schüler ebenso wie mit einer Institutionen übergreifenden pädagogischen Kollegialität“ (THIERSCH 2005, S. 148). 175 vgl. HOMFELDT et al. (1977, S. 232)
5.2 Sozialpädagogik und Schule
191
Eine sozialpädagogisch orientierte Schule besitzt die Aufgabe, künftig wieder zu einer Einheit aus Bildung und Erziehung zu gelangen (vgl. HOMFELDT et al. 1977), indem der Verwissenschaftlichung der Schule Einhalt geboten und deren „kulturellen Austrocknung“ (EDELSTEIN 2009, S. 92) durch Aktivierung begegnet wird. Die kognitive Ausrichtung der schulischen Inhalte bedarf einer Ergänzung durch lebensweltorientierte Fähigkeiten und Sinnorientierungen, „die jedem Schüler jenes kulturelle Grundwissen vermittelt, das nötig ist, um dem Zerfall der sozialen Bindekräfte entgegenzuwirken“ (BRENNER 2006, S. 195) und deren soziale Identität zu formen. Diese ist durch ein „curriculum vitae hominis humani“ (BUCHKREMER 2009, S. 433) als „Lehrplan für eine durch alle Entwicklungs- und Lebensstufen hindurchgehende Lebensführung, die wir als mitmenschlich, sozial und solidarisch wünschen“ (ebd.), festzuschreiben. Der von einer sozialpädagogischen Ausrichtung inspirierte Lehrplan enthält Tugenden eines „humanen“ Menschen, der sich innerhalb der Gesellschaft zurechtfindet und prosoziales Verhalten zeigt, wobei sich die Problematik einer verbindlichen Festlegung wünschenswerter sozialer Eigenschaften sowie Umgangsformen ergibt. Der Beitrag der Sozialpädagogik besteht darin, „einer Menschheit das Curriculum zu entwickeln, nach dem sie die prosozialen Qualitäten befördern kann, die wir uns alle wünschen“ (ebd., S. 434). Die Schule bildet in diesem Zusammenhang ein geeignetes sozialerzieherisches und -kommunikatives Lernfeld, da sie aus Sicht der Schüler vorwiegend einen sozialen Ort darstellt, der Kontakte ermöglicht und zur anregenden Kommunikation – auch außerhalb des Unterrichts – dient (vgl. PRÜß 2009). „Sozialpädagogik, orientiert am allgemeinpädagogischen Ziel der Unterstützung der Subjektwerdung von Kindern und Jugendlichen, stellt im Kontext Schule spezifisch inszenierte Räume her, die Strukturierungs- und Integrationsangebote vereinen und als sozialräumliches Angebot Aneignungsprozesse von Kindern und Jugendlichen in Auseinandersetzung mit ihren Strukturen, Herausforderungen und personal-interaktiven Dimensionen erlebter pädagogischer Beziehung zu relevanten Erwachsenen ermöglichen“ (MAYKUS 2001, S. 135).
Ausgehend von diesem Verständnis der Schule als einem genuin sozialpädagogischen Ort (vgl. WINKLER 1988) leitet MAYKUS eine „schulalltagsorientierte Sozialpädagogik“ (2001, S. 135) ab, die gemeinsam mit der Schule die „Arbeit an Bildungsgeschichten, an der Entdeckung und Stabilisierung von Lebenssouveränität“ (THIERSCH 2005, S. 143) verfolgt. Denn „die Unübersichtlichkeit der Lebensstrukturen und die Vielfältigkeit und Offenheit von Weltwissen macht Selbstbildung zum zentralen Moment der Lebensgestaltung“ (THIERSCH 2009, S. 32), indem das Individuum die Balance zwischen Chancen und Zumutungen findet sowie sich „in den heutigen gesellschaftlichen Anforderungen im Zeichen
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5 Der Beitrag der Sozialpädagogik für ein ganztägiges schulisches Betreuungsprogramm
von Anerkennung und Gerechtigkeit“ (THIERSCH 2004, S. 221) behaupten lernt. Die lebensweltorientierte Soziale Arbeit erklärt sich nach dem Prinzip der „Einmischung“ (ebd., S. 215) für diese Lebensbewältigung zuständig, indem sie den Menschen ganzheitlich erfasst und aufgrund brüchiger und widersprüchlicher Verhältnisse zu einer gelingenderen Lebenswelt beiträgt (vgl. THIERSCH 2004, 2005; FÜSSENHÄUSER 2006). Sie stellt dabei die Verbindung zu dem jeweiligen Lebenskontext her und „meint den Bezug auf die gegebenen Lebensverhältnisse der Adressaten, in denen Hilfe zur Lebensbewältigung praktiziert wird, meint den Bezug auf individuelle, soziale und politische Ressourcen, meint den Bezug auf soziale Netze und lokale/regionale Strukturen“ (THIERSCH 2005, S. 5). Damit zielt sie auf die individuelle Handlungsmotivation in konkret gelebten Situationen. Die Lebensweltorientierung ist somit das „Produkt von Verschiebungen, Brüchen und Schwierigkeiten in unserer gegebenen sozialen Situation; ist zugleich Indiz der Krise und Versuch, in der Krise angemessen und produktiv zu arbeiten“ (ebd.). Einerseits nimmt sie damit Bezug auf die gesellschaftlichen Veränderungen, andererseits tangiert sie auch die sich aus dem Schulsystem ergebenden biographischen Brüche im Zusammenhang mit der Übergangsproblematik (vgl. SCHLEMMER 2005b).176 Dadurch wird ein „sozialpädagogisches Handlungsspektrum markiert, das Förderung anbieten kann, erstens den Übertritt insbesondere aus der Perspektive der Entwicklung sozialer Kompetenzen zu meistern und zweitens misslungene Übertritte zu bewältigen, ohne dabei bei der weiteren individuellen Kompetenzentwicklung die Motivation zu verlieren“ (ebd., S. 26). Eine Kooperation von Schule und Jugendhilfe „reagiert damit auf entstehende Abweichungen und drohende Karrieren des Scheiterns im Bildungssystem, versucht differenzierte Möglichkeiten der individuellen und sozialen Förderung benachteiligter oder von Benachteiligung bedrohter Kinder und Jugendlicher zu realisieren und Bildungsoptionen zu erschließen“ (MAYKUS 2004, S. 177). Neben der Institution Familie gewinnt die Schule, unter Einbeziehung der Sozialpädagogik, erhebliche Bedeutung und Legitimation hinsichtlich der ganzheitlichen Förderung der Heranwachsenden, um eine Integration in die Gesellschaft und darin eine gelungene und befriedigende Positionierung zu ermöglichen (vgl. BUNDESJUGENDKURATORIUM 2004). „In der Familie wird der kulturelle Charakter in seinen Grundzügen fixiert, die Schule vermittelt den kulturellen Wissenskanon mit den zu seinem Erwerb notwendigen Techniken und Einstellungen; die Sozialpädagogik leistet Integrationshilfen an den vielen Übergängen und Konfliktstellen, die das Heranwachsen in der modernen Gesellschaft charakterisieren und bessert die Schäden aus, die dem Einzelnen dabei 176 Vor allem im Zusammenhang mit der Ganztagsschule sollten die Übergänge zwischen den Schultypen durchlässiger gestaltet werden (vgl. BUNDESJUGENDKURATORIUM 2004).
5.2 Sozialpädagogik und Schule
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immer wieder zugefügt werden. Alle pädagogischen Bereiche orientieren sich dabei an dem Bild einer funktionierenden Gesellschaft und eines Menschen, der möglichst schadlos in ihr existieren soll“ (MOLLENHAUER 1993, S. 26).
Aus diesem Grunde stellt die Lebensweltorientierung „keine Zutat zum sonst laufenden Schulbetrieb dar, sondern heißt vielmehr, die Grundlagen schulischer Arbeit unter gewandelten Bedingungen neu zu bestimmen“ (MACK, RAAB & RADEMACKER 2003, S. 208). Dennoch werden kritische Stimmen laut, die der Vorstellung von Schule als Lebenswelt vorwerfen, sie hole zu viel Leben in das schulische System und grenze sich von den gesellschaftlichen Tendenzen nicht in ausreichendem Maße ab (vgl. GIESECKE 1998). Dabei überschätze sich die Schule, „wenn sie glaubt, in ihren Räumen […] bedeutsame Erfahrungen des wirklichen Lebens konterkarieren zu können. Einleuchtender wäre es, diesen Erfahrungen jene andersartigen entgegenzusetzen, die sich aus dem Zweck des schulischen Unterrichts ergeben, damit wenigstens die Einsicht aufleuchten kann, daß die Welt aus unterschiedlichen sozialen Orten besteht, die unterschiedliche Verhaltensweisen erfordern, und daß nicht überall im Leben Konsumstimmung herrschen kann“ (ebd., S. 194).
Nicht im Sinne von zu viel Leben, sondern als „Unterstützungselemente für die Entwicklung junger Menschen am Ort Schule“ (PRÜß et al. 2001, S. 15), stellt die „Schulbezogene Jugendhilfe“ (ebd., S. 14) eine Verknüpfung zwischen den Institutionen Schule und Jugendhilfe dar. Dabei agiert sie in Kooperation mit der Schule in zweifacher Hinsicht. Während lebenslagengestaltende präventive Angebote den sozialräumlichen Kontext des Schülers – in Bezug auf die Raum- und Beziehungsdimension – in den Blick nehmen und „Unterstützung und Hilfe zur Reduzierung und Handhabbarmachung von erlebter Komplexität, Offenheit und Orientierungsschwierigkeiten“ (MAYKUS 2004, S. 179) anbieten, heben problembearbeitende Unterstützungsmechanismen eine integrierende Ausrichtung hervor, indem sie „verhaltenskorrigierende und Sozialintegration fördernde Hilfen mit Interventionscharakter“ (ebd.) verfolgen. Diese so genannte „lebensweltorientierte Jugendhilfe“ (OLK, BATHKE & HARTNUß 2000, S. 192; Hervorh. d. Verf.) setzt sich dabei zum Ziel, „sowohl die strukturellen Verhältnisse, unter denen Kinder und Jugendliche leben, als auch deren Deutungsmuster und Strategien der Lebensbewältigung abzustützen. D.h. gegebene Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten in den Lebenschancen werden kompensiert, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wird befördert und individuelle Krisen bei der Identitätsfindung und der Entwicklung tragfähiger Lebensentwürfe können bewältigt werden“ (ebd., S. 192f.).
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5 Der Beitrag der Sozialpädagogik für ein ganztägiges schulisches Betreuungsprogramm
Sie erweist sich somit „nicht als ‚Zusatz’ zur Schule, als etwas Additives, sondern vielmehr als ein Angebot mit einem eigenen Leistungsspektrum und als Beförderer von Schulentwicklung durch Erschließung weiterer Ressourcen“ (PRÜß & MAYKUS 2002, S. 5). Indem die Sozialpädagogik dadurch einerseits die Schulentwicklung tangiert, andererseits auch die sozialräumlichen Bildungs- und Förderungsstrukturen berücksichtigt, ermöglicht sie eine „‚reflexive Sozialintegration’, die sensibel ist für die weitreichendere und miteinander verbundene subjekt- und institutionenbezogene Integrationsperspektive, die sie konzeptionell und strukturell fordert sowie auf Folgeprobleme einer reinen ‚Schulfunktionalität’ als Integrationsziel aufmerksam macht“ (MAYKUS 2004, S. 187). Diese vollzieht sich – unter Berücksichtigung der „Eigensinnigkeit der Bildungsprozesse“ (THIERSCH 2009, S. 37) – in der Aneignung von Wirklichkeit, um die eigene Lebensgestalt zu finden und Lebenskompetenz auszubilden. Dabei forciert eine lebensweltorientierte Bildung, die non-formellen Prozesse des Lernens zu reformieren und zugleich die informellen Anteile aufzuwerten (vgl. THIERSCH 2004), um Bildung als Ressource von Lebensbewältigung zu begreifen (vgl. BÖHNISCH 2008). Denn besonders in einer Gesellschaft, in der nicht nur die „institutionellen ‚Geländer der Lebensführung’“ (BUNDESJUGENDKURATORIUM 2002, S. 162) immer weniger verlässliche Stützen hinsichtlich biographischer Planungen bieten können, sondern – deshalb – auch die „Verläufe in mögliche Zukünfte tendenziell unkalkulierbar werden, wird Bildung auch für die alltägliche Lebensbewältigung der Kinder und Jugendlichen zur entscheidenden und unverzichtbaren Ressource“ (ebd., S. 162f.; Hervorh. d. Verf.), die sich auf die Bewältigung der Gegenwart und die Gestaltung der Zukunft richtet. Zu einseitig dominiert in unserem Gesellschaftsverständnis und damit zugleich im schulischen Kontext die Relevanz (formalisierter) (Berufs-)Kompetenzen, während Aufgaben der Lebensbewältigung der persönlichen Gestaltung in der Privatheit überlassen bleiben. Dabei werden (Schlüssel-)Qualifikationen, die wesentliche Voraussetzungen für schulisches Lernen bilden, über nicht-formelle und informelle Bildung177 in der Aneignung der jeweiligen Lebenswelt erworben (vgl. DEINET 2002b). BRAUN spricht hierbei von dem „jugendkulturellen Kapital […], welches relativ unabhängig vom kulturellen Kapital der Herkunftsfamilie eine Bedeutung für die eigene Lernbiografie hat“ (2005, S. 57; Hervorh. d. Verf.). Diese informellen Prozesse fassen Bildung als sich bilden (vgl. BUNDESJUGENDKURATORIUM 2002) im Sinne einer Selbst- bzw. Subjektbildung von Kindern und Jugendlichen auf und ermöglichen über eine „Befähigung zur eigenbestimmten Lebensführung“ (ebd., S. 164) die Entwicklung von Lebenskompetenz. Sie stellen damit einen 177 Zur Begriffsbestimmung formeller, nicht-formeller und informeller Bildung vgl. BUNDESJUGENDKURATORIUM (2002, S. 164f.) und VON REISCHACH (2007, S. 24ff.).
5.2 Sozialpädagogik und Schule
195
wesentlichen Ansatzpunkt für die Kinder- und Jugendhilfe dar178, die „ihren Bildungsbegriff fruchtbar an das Aneignungskonzept anlegen und ihre gesellschaftliche Funktion gerade im Bereich des sozialen informellen Lernens entwickeln“ (DEINET 2005, S. 146) kann.179 „Die Profilierungen im Konzept Lebensorientierung aber lassen sich gleichsam als vermittelnde Brücke zwischen lebensweltlichen Erfahrungen und dem scholarisierten Lernen in den offeneren Möglichkeiten des nichtformalisierten Lernens verstehen. Diese Arbeitszugänge sind anregend, provozierend und zu Kooperationen einladend für eine Schule, die in der Priorität der Vermittlung kognitiven Weltwissens, verbunden mit Aufgaben der Selektion und Qualifizierung, sich gegen die Offenheiten und Irritationen des Aufwachsens in der Moderne abschirmen kann, und zudem im allgemeinen Schulwesen durch hoheitliche Funktionen und spezifische Sanktionen in ihrer Selbstreferentialität gestützt wird“ (THIERSCH 2004, S. 219).
Obgleich einer lebensweltlich orientierten Schule neue Optionen des Lehrens und Lernens offen stehen, sieht diese sich stets den Anforderungen der modernen Gesellschaft gegenübergestellt. Unter Berücksichtigung der jeweiligen individuellen und sozialen Ressourcen der Schüler bedeutet Bildung „allerdings nicht nur Freisetzung und neue Chancen, erweiterte Möglichkeiten für kreative Aneignung und Selbstbestimmung für die Menschen. Sondern hierin liegen auch für alle wachsende Orientierungsprobleme, Herausforderungen und Anstrengungen, eben schwieriger werdende Aufgaben der Lebensbewältigung“ (MÜNCHMEIER 2002, S. 17). Dies führt dazu, dass diejenigen, die nicht in der Lage sind, diesen 178 WINKLER hingegen sieht die Gefahr, dass die Sozialpädagogik in der Betonung der informellen und non-formalen Bildung im Sinne spontaner und nicht organisierter Lernprozesse zu einem „Anhängsel des scholaren Bildungsunternehmens“ (2006b, S. 51) degradiert werden könnte. 179 Der Begriff der Aneignung steht dabei für die „subjektive aktive Gestaltung und Veränderung von Räumen und Territorien“ (DEINET & REUTLINGER 2004, S. 7) und gilt als „schöpferischer Prozess der eigentätigen Auseinandersetzung mit der gegenständlichen und symbolischen Kultur“ (ebd., S. 10). Territorien stellen Handlungssituationen dar, die das Kind bzw. der Jugendliche vorfindet, und diese als „dynamisches Individuum […] vor dem Hintergrund seiner biographischen Bewältigungsaufgaben und von den Bedeutungen, welches es der physisch-materiellen und sozialen Welt beimisst“ (ebd., S. 9), konstituiert. Im Zusammenhang mit der Bildungsdiskussion gewinnt das Aneignungskonzept in den Bereichen der informellen Bildung insofern an Bedeutung, weil Räume bzw. Territorien als Bildungschancen zu verstehen sind und „die in ihnen eingelagerten gesellschaftlichen Sinngebungen vom Subjekt erschlossen werden müssen bzw. Kinder und Jugendliche Orte und Räume einen eigenen Sinn geben und sich so ihre Lebenswelt erschließen“ (ebd., S. 8). Eine gelungene Aneignung trägt dazu bei, dass „das Individuum handlungsfähig in handlungsoffenen Situationen“ (DEINET 2006, S. 35) wird und damit zugleich seine Kompetenzen erweitert. Bezüglich einer Sozialraumorientierung kann sich die Kinder- und Jugendhilfe selbst zu einem „Medium der Raumaneignung für Kinder und Jugendliche machen und über die Gestaltung der Jugendarbeit als ‚Aneignungsraum’ ein jugendpolitisches Mandat zur Revitalisierung öffentlicher Räume wahrnehmen“ (ebd., S. 38).
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5 Der Beitrag der Sozialpädagogik für ein ganztägiges schulisches Betreuungsprogramm
Ansprüchen zu genügen, einem „enormen Druck sowie [der; K.S.] Gefahr wachsender Benachteiligung und Marginalisierung“ (ebd.) ausgesetzt sind. Möchte die Schule Lebensorientierung herstellen, muss sie dieses Konzept einer Bildung als „Risiko eines offenen Lebensentwurfs“ (THIERSCH 2009, S. 34) aufnehmen und in einem Haus des Lernens über individualisierte, exemplarische Zugänge realisieren, um die Schüler auf ihr weiteres Leben vorzubereiten. Die Ausrichtung schulischer Bildung und Erziehung auf die zukünftigen An- und Herausforderungen greift PRÜß insofern auf, als er die lebensweltorientierte Dimension der Schule um eine „lebensweltgestaltende“ (2004, S. 119; Hervorh. d. Verf.) erweitert. Schule versteht sich demzufolge als „Ort der gegenwartsorientierten Lebensgestaltung und zukunftsorientierten Lebensentwicklung“ (ebd.), die als „soziokulturelles Zentrum des Aufwachsens junger Menschen“ (ebd.) eine schulstandortintegrierte Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe verlangt (vgl. PRÜß 2003), die im Sinne einer sozialräumlichen Jugendarbeit180 gestaltet ist. Fraglich erscheint aus Sicht der Sozialpädagogik jedoch, ob sich die Schule nicht „allzu sehr darauf verläßt, daß sie eine Pflichtveranstaltung ist, die in der Vorgabe eines Kanons und der gesellschaftlichen Aufgaben der Selektion und Statuszuweisung legitimiert und in ihrer Arbeit durch sekundäre Motivation gestützt ist, eine Institution, die es sich im Status der Monopolinstitution leistet, auf Herausforderungen und Vorgaben der gegenwärtigen Gesellschaft und der durch sie geprägten Heranwachsenden nur bedingt einzugehen“ (THIERSCH 2005, S. 155).
THIERSCH spitzt seine Einschätzung über die Schule zu, indem er sie als „in ihrer Geprägtheit anachronistisch, gleichsam wie ein Dinosaurier in den modernen Beweglichkeiten“ (ebd., S. 156) bezeichnet und für längst überfällige Reformen plädiert. Die Sozialpädagogik passt demzufolge „in die besonderen Aufgaben und Schwierigkeiten einer Zeit, in der überlieferte Normalitätsentwürfe brüchig und durch Krisen hindurch, neue Orientierungen gesucht werden. In dieser Offenheit ist Sozialpädagogik herausfordernd für Schule“ (ebd., S. 157f.). Somit gewinnt diese auch Bedeutung für den allgemeinen pädagogischen Diskurs, denn sie ist „eine der Schlüsselinstanzen, um Erziehung auch unter Bedingungen sozialer und kultureller Prekarität sicher zu stellen und damit überhaupt erst die Voraussetzung von Bildungsprozessen zu bewahren“ (WINKLER 2006a, S. 199).
180 BÖHNISCH & MÜNCHMEIER (1990) haben die Debatte um den Zusammenhang von sozialen Räumen und der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen entscheidend angestoßen, auf deren Grundlage sich der Ansatz einer sozialräumlichen Jugendarbeit entwickelt hat.
5.2 Sozialpädagogik und Schule
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5.2.1 Zum Verhältnis von Sozialpädagogik und Schule Die aktuelle Bildungsdebatte beinhaltet für die Sozialpädagogik die Chance, aus ihrem Schattendasein in das Rampenlicht der schulischen Bühne zu treten. Lange genug wurde sie als gesellschaftliches Konfliktlösungsmodell einer Jugendhilfe außerhalb der Schule verortet (vgl. MOLLENHAUER 1993181). Die Scheinwerfer – vor allem im Zusammenhang mit ganztägigen schulischen Betreuungsmodellen – sind auf sie gerichtet und erwarten eine intensivere Kooperation in Bezug auf die Elternarbeit, konkrete (Erziehungs-)Hilfen im Rahmen der Schulsozialarbeit und unterrichtsergänzende sozialpädagogische Angebote. „Die Schule ist nicht nur ein Lebensumstand der Schüler neben anderen, sondern sie ist der Ort, wo die Lebensumstände der Schüler artikuliert, berücksichtigt und im emanzipatorischen Sinne im Lernen eingebunden werden müssen. Genau in diesem Sinne macht Sozialpädagogik Schule“ (MÜHREL 2005, S. 42). Dabei wird vorwiegend die Sozialpädagogik ihr Verhältnis zur Schule bestimmen müssen, um „nicht ausschließlich als Erfüllungsgehilfe anderer Institutionen, sondern mit ihrem eigenständigen Bildungsauftrag und einer (Selbst-) Verortung als genuine Bildungs-, Erziehungs- und Sozialisationsinstanz“ (LINDNER 2003, S. 47) im Sinne einer „Gleichgewichtigkeit“ (BUNDESJUGENDKURATORIUM 2004, S. 200) zu agieren. Diese Ausrichtung ist angebracht, um die Kinder- und Jugendarbeit in ihrer Eigenheit zu wahren sowie ihrem originären Auftrag treu zu bleiben und nicht von der Schule im Sinne einer freundlichen Übernahme (vgl. DEINET 2002b) „verschlungen“ (THIERSCH 2009, S. 26) zu werden. Weil „die Schule ihrerseits die Themen Betreuung und Erziehung bislang mehr oder weniger arrogant negiert“ (VON REISCHACH 2007, S. 21), wird zu einseitig an die Jugendhilfe die Zuständigkeit für problematische Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen bzw. die Abdeckung der außerunterrichtlichen Angebote delegiert (vgl. OLK & SPECK 2004), obgleich deren Bildungsauftrag nach § 11 SGB VIII keine kompensatorische, sondern eine komplementäre Funktion vorsieht (vgl. PRÜß et al. 2001; MERTEN 2008). Vor allem hinsichtlich der momentanen Diskussion um Bildung, Bildungsaufgaben, Bildungszugänge und Bildungsverlierer spitzt sich die Frage nach der Verortung der Sozialpädagogik zu. Während die Schule ihrer Selektionsfunktion nachkommt, die Integrationsfunktion aber der Jugendhilfe zuweist (vgl. OLK, BATHKE & HARTNUß 2000; HOMFELDT & SCHULZE-KRÜDENER 2001), trägt sie gleichzeitig dazu bei, dass die schulbezogene sozialpädagogische Arbeit in dem Bemühen um Chancenausgleich „die Differenzierungsfunktion der Schule einerseits als Faktor einer meist kumulativen Benachteiligung [anerkennt; K.S.], […] 181 Dabei blieb MOLLENHAUER durchaus der Tradition treu, wenn man die Sozialpädagogik nach BÄUMER (1929) in dem Erziehungsfeld außerhalb von Familie und Schule verortet.
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aber andererseits genau auf diese Differenzierung Wert legen [muss; K.S.], wenn schulische Erfolge nicht als Mittel sozialer Sicherung oder sozialen Aufstiegs für Benachteiligte entwertet werden sollen“ (RAAB, RADEMACKER & WINZEN 1987, S. 14). Die Schule muss daher ihre Integrationsfunktion stärken und sich ihrer Differenzierungsfunktion bewusst werden.182 Wenn die Sozialpädagogik Partei für die Verlierer des Bildungssystems ergreift und das Bildungswesen „also gleichsam von unten und außen“ (THIERSCH 2009, S. 25) sieht, müsste sie der einseitigen Fokussierung auf das Humankapital eine Absage erteilen und zu einer „Neuvermessung“ (ebd., S. 26) des Bildungsverständnisses beitragen. Bildung als Lebenskompetenz, als Lebensbewältigung bzw. Lebenskunst (vgl. MÜNCHMEIER, OTTO & RABE-KLEBERG 2002)183 impliziert auch „Teilhabeinteresse und Teilhabefähigkeit in den verschiedenen Lebensbereichen“ (LIEBAU 2002, S. 30). In diesem Verständnis stellt sich Bildung als Kompetenzentwicklung unter den Bedingungen des gesellschaftlichen Wandels dar und wird demzufolge „zur entscheidenden Voraussetzung für ein gelingendes Leben, zum Rohstoff jeder individuellen Biografie, zur Ressource der Lebensführung, zur Lebenskompetenz“ (MÜNCHMEIER 2002, S. 17). Als „notwendiger Beitrag zur Bildung als Selbstbildung in der Auseinandersetzung mit Welt“ (THIERSCH 2009, S. 29) gilt die Sozialpädagogik in diesem Sinne als „sozialpädagogische Bildung“ (ebd., S. 28; Hervorh. d. Verf.) und ergibt über den Aspekt der Selbstbildung ein gleichberechtigtes Pendant zur schulischen Bildung, worin laut THIERSCH „ein nicht unbeträchtlicher Gewinn der neuen Bildungsdiskussion“ (ebd., S. 38) bestünde. Dennoch ist auch die Schule dazu aufgerufen, sich einen neuen Status aufzubauen, denn: „die Brüchigkeit der sozialen Traditionen der Wissensbestände, die neuen Selbstverständlichkeiten der Jugendkultur – einhergehend mit der Verlängerung und Intensivierung der Schulzeit – verlangen neue Muster einer Schule als spezifischem Lebens- und Lernort. Schule aber hat sich in den letzten Jahren in bezug auf die Grundstruktur und die Hauptaufgaben nicht gravierend verändern können. Wenn Schule als schwieriges Geschäft in schwierigen Aufgaben sich auch überfordert sieht und darin akzeptiert, braucht sie weitergehende Ressourcen“ (THIERSCH 2005, S. 157).
Diese weitergehenden Ressourcen der Schule, um sich zu einem Lebens- und Lernort zu entwickeln, finden sich überwiegend in einer sozialpädagogischen Ausrichtung, die Schule wesentlich als Lebensort prägt. Wie eine intensivere Kooperation zwischen der Disziplin der Sozialpädagogik und dem schulischen Kontext aussehen kann, mag das folgende Kapitel erörtern. 182 Zu den unterschiedlichen Funktionen von Schule vgl. FEND (1980). 183 Diese Aspekte der Bildung sind dem Vorwort des angegebenen Werkes, verfasst von der Vorsitzenden des Bundesjugendkuratoriums, Ingrid Mielenz, entnommen.
5.2 Sozialpädagogik und Schule
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5.2.2 Perspektiven einer intensiveren Kooperation Obgleich der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht (vgl. BMFSFJ 2005b) den Bereich der Bildung wieder verstärkt in den Verantwortungsbereich der Jugendhilfe rückt, sind Schule und Jugendhilfe von einer konstruktiven Kooperation noch weit entfernt. Im Einzelnen führt PRÜß eine Zusammenstellung der Faktoren auf, die die Zusammenarbeit erschweren: „1. die unterschiedlichen Erwartungen bei Lehrerinnen und Sozialpädagogen. Aus diesen erwachsen dann einerseits Vorurteile und andererseits Missverständnisse in der Zusammenarbeit. 2. die mangelnde gegenseitige Anerkennung der Arbeit des Anderen. Es werden noch keine Beziehungen zwischen Lehrern und Sozialpädagogen auf der Basis von Gleichwertigkeit entwickelt. 3. unklare Zuständigkeiten und Entscheidungskompetenzen. D.h., da die einzelnen Aufgaben nicht definiert und nicht genau bestimmt sind, erfolgt oft eine ungenügende Abgrenzung voneinander und keine Zuordnung bestimmter Aufgaben zu bestimmten Professionen. 4. die unklare fachliche Rolle der Schulbezogenen Jugendhilfe oder Schulsozialarbeit, die kein klar umrissenes Profil hat, woraus dann auch unklare Funktionen und Ziele der Schulsozialarbeit erwachsen, die die Kooperation außerordentlich behindern. 5. die mangelnde gegenseitige Bereitschaft, sich in die Rolle des Anderen zu versetzen. Jeder erfüllt seine Aufgabe und geht nicht vom Denken der anderen Profession aus, um sie abgestimmt mit der Anderen zu realisieren. 6. schlechte materielle und räumliche Bedingungen der Schulsozialarbeit. D.h., dass sowohl die räumlichen Bedingungen als auch die Ausstattung und die finanziellen Ressourcen außerordentlich begrenzt sind und keine flexible Arbeit ermöglichen. 7. die fehlende zeitliche Perspektive. Hier geben ca. 55% der Lehrer an, dass sie nicht genügend Zeit zur Verfügung haben, um hinreichend mit den Sozialpädagogen Probleme zu beraten. Diese fehlende zeitliche Perspektive führt dann auch dazu, dass keine kontinuierlichen Abstimmungen erfolgen. 8. und schließlich besonders die fehlende personelle Kontinuität in den Projekten. Zu oft wechseln Sozialpädagogen, sind also nur über einen relativ kurzen Zeitraum stabil tätig und ermöglichen damit auch keine kontinuierliche Arbeit. Die quantitative Auswertung unserer Untersuchungsergebnisse [Prüß et al. 2001; K.S.] zeigt, dass als Beeinträchtigungsfaktoren an erster Stelle die fehlenden zeitlichen Perspektiven und die fehlende personelle Kontinuität genannt werden. Diese beeinträchtigen in besonderem Maße die Kooperation“ (2003, S. 16f.).
Zu viele Vorbehalte behindern eine Annäherung – stattdessen werden additive Modelle bevorzugt184, die ermöglichen, dass jeder die – laut BMFSFJ (2005b) 184 Der Grad der Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule differiert entsprechend der Kooperationsstruktur. HÖHMANN, HOLTAPPELS & SCHNETZER unterscheiden hierbei „additive“ und „integrierte“ Modelle (2004, S. 259f.), während ergänzend hierzu PRÜß et al. (2001, S. 13) und
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eigentlich untrennbar verbundene – Trias Bildung, Betreuung und Erziehung auf seine Weise ausfüllt (vgl. PRÜß 2009). Dabei fokussiert die Schule die inhaltsorientierte Arbeit im Sinne des Bildungsauftrages, während die Jugendhilfe eine beziehungsorientierte Ausrichtung pflegt (vgl. PRÜß 2004). Da der Umgang mit Kindern und Jugendlichen jedoch immer auch Entwicklungsarbeit darstellt und diese zugleich Erziehungsarbeit erforderlich macht, ist eine Kooperation mit der Institution, die sich der Beziehungsarbeit verschreibt – der Jugendhilfe nämlich – unumgänglich. Dabei ist für ganztägige Lernarrangements die Bildung sozialer Netzwerke im Sinne eines „sozialraumorientierten Bildungsmanagements“ (PRÜß 2009, S. 174) unabdingbar, die alle Beteiligten herausfordert, eine Kooperationskultur zu entwickeln, die langfristig die Schulkultur und -qualität verbessert. Schule und Jugendhilfe stehen somit vor gemeinsamen Herausforderungen, „die sie nur durch eine gemeinsame Organisation des Lernens und Lebens im öffentlichen Raum bewältigen können“ (BMFSFJ 2002, S. 162). Statt Schulsozialarbeit schlägt PRÜß als Begrifflichkeit daher die „Schulbezogene Jugendhilfe“ (2004, S. 111) vor, um einerseits die Zuständigkeit der Jugendhilfe zu betonen, andererseits eine Verkürzung auf die Soziale Arbeit zu vermeiden. Er möchte sie als eigenständigen Leistungsbereich der Jugendhilfe verstanden wissen, die eine „Scharnierstelle zwischen der Institution Schule und der Institution Jugendhilfe im Zuge des Aufeinanderzugehens“ (ebd.) bildet. Die Schulbezogene Jugendhilfe ist demzufolge nicht als Dienstleistung für die Schule zu verstehen, sondern als „Brückenfunktion“ (OLK, BATHKE & HARTNUß 2000, S. 184) zwischen den beiden Sozialisationsinstanzen und impliziert somit einen durch sozialpädagogisches Personal getragenen „komplementären Bereich für Schulkinder und Schuljugendliche zu ihrem gesunden Aufwachsen in einer immer komplexer werdenden Gesellschaft durch Schaffung von Verbindlichkeiten und Bezugspersonen in überschaubaren Sozialräumen“ (PRÜß 2009, S. 176). Zwischen Lehrkräften und sozialpädagogischem Personal stellt sich die Zusammenarbeit jedoch deshalb problematisch dar, weil sich beide nicht „‚auf Augenhöhe’ begegnen“ (BRAUN & WETZEL 2006, S. 43). In der Auseinandersetzung um die „bessere“ Pädagogik und die stärkere Bedeutsamkeit für die Bildung und Erziehung der Schüler beanspruchen die Lehrer für sich die Vormachtstellung, da sie sowohl quantitativ als auch institutionell überlegen sind – aufgrund ihres staatlich verankerten Auftrages und der qualifizierten Aus- und Weiterbildung seien sie „besser“ geeignet, um Kinder und Jugendliche bilden und erziehen zu können. Hingegen erheben die Sozialpädagogen den Anspruch, sie könnten wegen des „besseren“ Vertrauensverhältnisses – weil sie nicht den SePRÜß & MAYKUS (2002, S. 15f.) „delegative“ sowie „kooperative“ Erscheinungsformen des Zusammenwirkens anführen.
5.3 Sozialpädagogisches Handeln im Kontext der Ganztagsschule
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lektionsmechanismen der Schule unterliegen – einen intensiveren Zugang zu den Schülern entwickeln (vgl. BRAUN & WETZEL 2006). Jenseits aller Hemmnisse, die eine intensivere Kooperation von Jugendhilfe und Schule behindern, konstatieren OLK, BATHKE & HARTNUß, dass „überall dort, wo Projekte der Schulsozialarbeit installiert wurden, sehr bald über eine Bereicherung und Verbesserung des Klassen- und Schulklimas, eine entspanntere Atmosphäre, über verträglichere Umgangsformen der beteiligten Gruppen untereinander und eine bessere Vernetzung der Schule mit dem Umfeld berichtet“ (2000, S. 176) wird. All die genannten Faktoren stellen vor allem im Zusammenhang mit der Diskussion um ganztägige schulische Betreuungssysteme wesentliche Desiderate dar, weswegen im Folgenden zu prüfen sein wird, wie die Jugendhilfe in diesem Betätigungsfeld ihren Beitrag zu einem gelingenderen Schulleben leisten kann. 5.3 Sozialpädagogisches Handeln im Kontext der Ganztagsschule In der Bildungslandschaft ist aufgrund der ernüchternden Ergebnisse der PISAStudie ein deutlicher Anstieg der ganztägigen schulischen Betreuung zu verzeichnen, woraus ein weiterer Aufschwung für die Jugendhilfe resultieren könnte.185 Denn nicht vergessen werden darf, dass ohne den Beitrag der Sozialpädagogik weder national noch international eine Ganztagsschule existieren würde (vgl. COELEN 2007; COELEN & WAHNER-LIESECKE 2008). „Das, was die neue Organisationsform überhaupt ‚ganz’-tägig macht, ist bisher zum größten Teil außerschulisch gewesen und daher konstitutiv auf – zumeist – Jugendarbeit angewiesen“ (COELEN & WAHNER-LIESECKE 2008, S. 241).186 Die „Schule in Not“ (GRAUMANN & MROCHEN 2001)187 macht sich weiter bzw. intensiver auf die „Suche nach Verbündeten“ (ebd.)188 und findet ihre Kooperationspartner u.a. in der Sozialpädagogik, von der sie sich eine präventive und interventive Wirkkraft verspricht (vgl. SCHLEMMER 2005b). Da Ganztags185 Tatsächlich stellt neben der Übergangsbegleitung vom Kindergarten in die Grundschule die Ganztagsbetreuung das größte Kooperationsfeld zwischen Jugendhilfeeinrichtungen und Schule dar (vgl. DEINET & ICKING 2005, S. 14-16), sodass von der Jugendhilfe laut COELEN als der „Dritten Sozialisationsinstanz“ (2007, S. 44) gesprochen werden kann. 186 In der Vergangenheit wurden jedoch auch kritische Stimmen laut, die eine Konkurrenz zwischen Jugendhilfe und Schule befürchten (vgl. KENTLER 1972; HOMFELDT & SCHULZEKRÜDENER 2001). Sie nehmen an, dass mit der Ganztagsschule als „fast totaler Verschulung des Lebens der Jugendlichen“ (KENTLER 1972, S. 11) der Sozialpädagogik der „Garaus“ (ebd.) gemacht werde, indem deren Betätigungsfeld, das sich üblicher Weise außerhalb der Schule befand, schwinde. 187 Unter diesem Titel ist das gleichnamige Werk von GRAUMANN & MROCHEN (2001) erschienen. 188 Diese Aussage findet sich im Untertitel des eben genannten Werkes.
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schule aber nach wie vor als Schule über den ganzen Tag verstanden wird, mangelt es an konzeptionellen und inhaltlichen Dimensionen, die die konkrete Umsetzung betreffen (vgl. OLK & SPECK 2004; WINKLER 2006b). Dabei darf die Beseitigung des Betreuungsdefizites am Nachmittag nicht im Mittelpunkt des Interesses stehen, sondern es muss eine Kultur des Aufwachsens (vgl. BMFSFJ 1998, S. 297f.) und „ein neues Verständnis von öffentlicher Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen“ (BMFSFJ 2002, S. 42) angestrebt werden, das über die „Gestaltung und Sicherung der sozialen Infrastruktur für Kinder und Jugendliche und ihre Familien“ (ebd.; Hervorh. d. Verf.) und „eine qualifizierte Wahrnehmung und Erweiterung des Bildungsauftrags in allen Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe“ (ebd., S. 54) zu realisieren ist. Über das Lernen und Leben in der Schule besteht die Chance der Ganztagsschule in der Entwicklung einer Beziehungskultur, die die Bedürfnisse der Kinder berücksichtigt und Möglichkeiten zu deren Befriedigung schafft. Darüber hinaus hat sie „Erziehung zu leisten, um Bildung zu ermöglichen“ (WINKLER 2006a, S. 199). Um vor allem aus Sicht der Jugendhilfe mögliche Ansatzpunkte einer Kooperation mit der Schule herauszuarbeiten, bedarf es der Berücksichtigung folgender Problemfelder (vgl. OLK & SPECK 2004). In Bezug auf eine partnerschaftliche Zusammenarbeit scheinen weder additive Angebote, als reines Nebeneinander von Schule und Jugendhilfe, noch das hierarchische Modell der Jugendhilfe als „Feuerwehrfunktion“ (ebd., S. 94) oder „Reparaturbetrieb“ (ebd.) geeignet, die sozialpädagogische Arbeit an der Schule ihrer Randständigkeit zu entbinden. Diese „wird so von einer Beseitigung ihrer strukturellen und pädagogischen Probleme sowie von einer konsequenten Veränderung ihrer Lernkultur enthoben“ (FLOERECKE & HOLTAPPELS 2004, S. 902). Sinnvoll und gewinnbringend wird hingegen eine konzeptionelle Verständigung über Ziele, Aufgabenbereiche und Erfolgskriterien in Form des integrierten Modells erachtet189, wobei die Kooperation nur über eine konsequente Teambildung funktioniert (vgl. FLOERECKE & HOLTAPPELS 2004). Dabei sollte Wert auf die Einhaltung sozialpädagogischer Grundprinzipien gelegt werden. Damit die Jugendhilfe nicht zur „besseren Schule am Nachmittag“ oder in den Pausen umfunktioniert bzw. degradiert wird (vgl. KENTLER 1972), muss sie ihren sozialpädagogischen Auftrag realisieren können. Dieser umfasst Grundprinzipien wie „Freiwilligkeit der Teilnahme an den Angeboten, die partnerschaftliche, offene und bedürfnisorientierte Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen, die Schaffung von Erfahrungsräumen sowie nicht zuletzt die Autonomie der Träger hinsichtlich ihrer Ausrichtung, Inhalte, Methoden und Arbeitsformen“ (OLK & SPECK 2004, S. 94). 189 In der Praxis finden sich jedoch häufig „Abschottungstendenzen und Differenzen in inhaltlicher und methodischer Hinsicht“ (FLOERECKE & HOLTAPPELS 2004, S. 903).
5.3 Sozialpädagogisches Handeln im Kontext der Ganztagsschule
203
Da die Jugendhilfe aufgrund des rapiden Ausbaus des Ganztagsschulsystems in Zukunft mit vermehrten Anfragen zu rechnen hat, stellt sich auch die Frage nach der Bereitstellung der erforderlichen Ressourcen. Einer Vereinnahmung sowie einer einseitigen Leistungsforderung durch die Schule ist durch gezielte Klärung der Zuständigkeiten im Rahmen einer ausgeprägten Kommunikationsstruktur zu begegnen. Jenseits dieser Problemfelder kann die Ganztagsschule aufgrund ihrer veränderten räumlichen und zeitlichen Gestaltungsmöglichkeiten wesentlich dazu beitragen, dem sozialpädagogischen Betätigungsfeld die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit es sich voll entfalten kann (vgl. SCHLEMMER 2005b; BRAUN & WETZEL 2006).190 Im Einzelnen kann darunter die Einbeziehung anderer pädagogischer Personengruppen, die Kooperation mit Angeboten der Kinderund Jugendhilfe in Form von kommunalen Bildungszentren, das Aufsuchen außerschulischer Lernorte sowie die Kommunikation und Zusammenarbeit mit nichtpädagogischen Fachkräften verstanden werden. Durch ihre große Optionsvielfalt führt sie „schulische und außerschulische Formen von Bildungs- und Erziehungsprozessen zusammen, ermöglicht die Einbindung sozialer, kultureller und sportlicher Organisationen, bezieht den sozialen Kontext der Kinder stärker mit ein und bietet so Grundlage und Zeit zur intensiveren Förderung individueller Begabungen“ (BUNDESJUGENDKURATORIUM 2004, S. 199f.) Diese pädagogische Ausrichtung der Ganztagsschule im Sinne einer „sozialpädagogischen Profilbildung“ (BRAUN 2005, S. 67; Hervorh. d. Verf.) – verknüpft mit der Berücksichtigung der privaten Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen – betonen COELEN (2004, 2006, 2007) und OTTO & COE191 einführen, der LEN (2004, 2005), indem sie den Begriff der Ganztagsbildung folgendermaßen zu umschreiben ist: „Wenn sich moderne, d.h. gesellschaftliche Bildung überhaupt organisieren lässt, dann nicht durch eine Ausweitung von Schule als Unterricht und auch nicht durch eine angehängte Betreuung, sondern nur durch die Integration von formellem und nicht-formellem Lernen, also vor allem durch eine neue institutionalisierte Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe unter Einbeziehung von Eltern und Familien“ (OTTO & COELEN 2004, S. 8). 190 WINKLER (2006c) prangert an, dass im Zusammenhang mit der Ganztagsschuldiskussion die Sozialpädagogik zugunsten der Schulpädagogik zurückgedrängt wird. 191 Der bewusst polemisch akzentuierte Begriff der Ganztagsbildung bringt zum Ausdruck, dass sich nicht nur die Schule in der Position befindet, den Bildungsanspruch für sich zu behaupten – zumal Aneignung von Bildung nicht nach Schulschluss endet. Auch andere Einrichtungen tragen dazu bei, dass Kinder und Jugendliche sich bilden. „Gleichwohl eignet sich das Wort ‚Ganztagsbildung’ als begriffliche Verdichtung für eine von zahlreichen möglichen Institutionalisierungsformen der Zusammenarbeit zwischen Schulen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe“ (COELEN 2004, S. 247).
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5 Der Beitrag der Sozialpädagogik für ein ganztägiges schulisches Betreuungsprogramm
Diese subjektorientierte Auseinandersetzung mit Bildungsbedingungen findet unter Berücksichtigung des sozialen Kontextes in Verzahnung schulischer und außerschulischer Angebote sowie Lernfelder statt und bietet eine „Balance von Emotionalität und Rationalität im schulischen Raum“ (SCHLEMMER 2004, S. 190). Dabei ist die Jugendhilfe aufgefordert, ihren Bildungs- bzw. Betreuungsauftrag neu zu definieren, denn die bildungsorientierte Ausrichtung wurde zunehmend vernachlässigt, „weil die Jugendarbeit einerseits den Trend hin zur Freizeit-/Erlebnisgesellschaft mitmachte und weil sie andererseits in den Sog einer Umwidmung von Bildung in Betreuung geriet. Jetzt müsste eine Renaissance der außerschulischen Jugendbildung auf der Tagesordnung stehen“ (BRENNER 1999, S. 251; Hervorh. d. Verf.). Dennoch besitzen sozialpädagogische Angebote im Rahmen des außerunterrrichtlichen Betätigungsfeldes einen hohen Stellenwert und erfreuen sich vor allem im ganztägigen schulischen Betreuungssystem reger Nachfrage. Denn v.a. die Freizeitpädagogik besitzt die Chance, den Kindern und Jugendlichen Zugang zu sozialen, kulturellen, kreativen und kommunikativen Angeboten zu eröffnen, um ein notwendiges Korrektiv gegenüber den gesellschaftlichen Tendenzen der Produktivität und Leistung sowie deren beruflicher Verwertbarkeit zu bilden (vgl. OPASCHOWSKI 1978). „Im Sinne einer Lebens- und Kulturhilfe, so könnte man die Zielvorstellung von Freizeitpädagogik verstehen, geht es somit nicht nur um Erholung, Spaß und Entspannung, sondern ebenso um Konsum- und Medienerziehung, Kultur- und Sozialarbeit, Projektgestaltung und Animation, um Lebensstil und Kontaktberatung und nicht zuletzt um Bildung und Lebensplangestaltung” (APPEL & RUTZ 2005, S. 115).
Eine Verkürzung nachmittäglicher Angebote auf den Betreuungs- bzw. Freizeitaspekt würde der Intention der Sozialpädagogik somit nicht gerecht. Vielmehr geht es um die Berücksichtigung des Lern- und Lebensortes Schule und daher um einen Ausgleich zu den kognitiven Inhalten des Unterrichts. Denn die herkömmliche Schule bietet aufgrund ihrer räumlichen, zeitlichen, sozialen und didaktischen Struktur ungünstige Unterrichtsbedingungen, die bei Schülern folgende feststellbare Bedürfnisdefizite hervorrufen:
5.3 Sozialpädagogisches Handeln im Kontext der Ganztagsschule
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Abbildung 15: Bedürfnisdefizite von Schülern im regulären Schulsystem (nach: OPASCHOWSKI 1977, S. 74) Darüber hinaus muss von einer Erweiterung des Kompensations- und Freizeitanspruchs ausgegangen werden. Sozial- und freizeitpädagogische Angebote ermöglichen den Schülern daher eine Bereicherung des Schulalltags. Neben Lernmöglichkeiten sowie Informations- und Wissensvermittlung begünstigen außerunterrichtliche Projekte die Kommunikativität und Soziabilität und stellen Hilfe und Unterstützung bei Konflikten dar. Des Weiteren bieten sie Gelegenheit zum Ausgleich, zur Entspannung und Selbsterprobung (vgl. PRÜß et al. 2001). In einer Zusammenschau lassen sich diese Faktoren nach APPEL & RUTZ (2005, S. 70)192 in folgende acht verschiedene Raumarten nach Funktionen und Nutzungsformen unterscheiden, um den Bedürfnissen und Interessen der Kinder und Jugendlichen gerecht zu werden. 192 Diese Unterscheidung erfolgt in Anlehnung an die Freizeit-Bedürfniskategorien nach OPASCHOWSKI (1978, S. 60ff.) und an das Schema „Freizeit-Funktions-Bereiche in der Ganztagsschule“ (ebd., S. 83).
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Abbildung 16: Freizeit-Funktions-Bereiche in der Ganztagsschule (nach: OPASCHOWSKI 1978, S. 83) Neben den Möglichkeiten individuellen Neigungen nachzugehen und neue Interessengebiete zu entdecken, gewährleisten Freizeitangebote auch vielfältige Gelegenheiten, um soziale Kontakte zu knüpfen bzw. zu intensivieren. Vor allem Bereiche der Rekreation, Kompensation sowie Kontemplation schaffen in der Ganztagsschule Raum zum Rückzug und zur Erholung, womit vor allem auch das Prinzip der Rhythmisierung Berücksichtigung findet. Schließlich sind Schüler auch bestrebt, im Rahmen der Schulfamilie Verantwortlichkeiten zu über-
5.3 Sozialpädagogisches Handeln im Kontext der Ganztagsschule
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nehmen und das Schulleben aktiv zu beeinflussen, damit der ganztägige Aufenthalt ihren Bedürfnissen Rechnung trägt und den Charakter des Wohlfühlens besitzt. Diese Darlegungen führen zu folgender vereinfachten Darstellung.
Abbildung 17: Funktionen der Freizeit- und Wahlbereiche einer Ganztagsschule (nach: ARTELT 2006, S. 125) Der eigentliche Sinn der Freizeitpädagogik besteht dabei nicht in einer „bloßen Anti-Haltung zum technologischen Fortschritt oder zu den Strukturen der Industriegesellschaft. Die Kritik der Freizeitpädagogik ist vielmehr eine Kritik an der Überbewertung und einseitigen Auswahl der von unserer Gesellschaft prämierten Leistungen (Durchsetzungsfähigkeit, Ellenbogenaktivität, Egoismus u.a.), die humane und soziale Fähigkeiten (Hilfsbereitschaft, Kooperation, Solidarität u.a.) verkümmern lassen. Dem Prozeß der Verkümmerung und Entfremdung von humanen und sozialen Haltungen und Verhaltensweisen steht eine einseitige ‚Leistungszüchtigung’ in Schu-
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5 Der Beitrag der Sozialpädagogik für ein ganztägiges schulisches Betreuungsprogramm
le, Ausbildung und Beruf gegenüber, die bisher – da kein qualitatives Gegengewicht vorhanden war – durch Freizeitkonsum kompensiert, nicht aber in Frage gestellt oder gar aufgehoben werden konnte“ (OPASCHOWSKI 1978, S. 40).
In der praktischen Umsetzung außerunterrichtlicher Angebote sind allerdings erhebliche Defizite auszumachen. Kritisch lässt sich anmerken193, dass die Ganztagsschule die Vielfalt der Freizeitangebote, die außerschulische Betreuungsund Bildungsinstitutionen anbieten, nicht leisten kann. Zudem mangelt es an der nötigen sozialen Durchmischung, da die Schulgemeinschaft eine relativ homogene Zusammensetzung aufweist. „Nicht selten sind Migrantenkinder zwar in der Klasse gut integriert, ihre Freizeit verbringen aber deutsche Kinder und Migrantenkinder getrennt voneinander. Das führt dazu, dass die beiden Gruppen von Kindern […] sich gegenseitig fremd bleiben“ (KNÖRZER, GRASS & SCHUMACHER 2007, S. 65). Des Weiteren sollte es bei den außerunterrichtlichen Angeboten „nicht nur darum gehen, mehr anzubieten, sondern dabei stärker auch die Interessen und Bedürfnisse verschiedener Schülergruppen, insbesondere jugendtypische und alterbezogene Besonderheiten zu beachten“ (PRÜß et al. 2001, S. 41; Hervorh. d. Verf.), um die Attraktivität zu steigern. Über die Akzeptanz nachmittäglicher Angebote hinaus möge der Blick nun umfassender auf das Ganztagsschulkonzept gelenkt werden. Bei allen idealistischen Annahmen bezüglich der Effekte ganztägiger schulischer Betreuungsformen sollen im Folgenden Fakten herangezogen werden, die stichhaltig zu belegen versuchen, wie es um das System der Ganztagsschule steht. 5.4 Ausgewählte Erkenntnisse empirischer Forschung im Zusammenhang mit schulischer Ganztagsbetreuung 5.4 Ausgewählte Erkenntnisse empirischer Forschung Die Betrachtung der Erwartungen an ein ganztägiges Schulkonzept ergibt folgendes Bild194: „Die Ganztagsschule stellt sich gleichsam als ein pädagogisches und didaktisches Allheilmittel dar, wirksam in gleicher Weise als kompensatorisch-ausgleichendes Moment bei allen individuell und sozial bedingten Erziehungs- und Lerndefiziten, wie auch als unfehlbares Mittel zu optimaler ganzheitlicher Erziehung und Bildung. Im einzelnen wird erwartet, die Ganztagsschule könne das leidige Problem der Hausaufgaben überwinden, könne ganze Schülergruppen ihrem erziehungsungünsti193 vgl. hierzu die Ausführungen von TAUSCH (2006) 194 Wenngleich PETERßEN diese Desiderate bereits 1976 verfasste, hat die Brisanz seiner Aussagen bis heute Bestand und diese Erwartungen an die Ganztagsschule werden unverändert – sicherlich in unterschiedlicher Ausprägung – postuliert.
5.4 Ausgewählte Erkenntnisse empirischer Forschung
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gen Milieu entreißen, könne die soziale Integration von Kindern aller sozialen Schichten leisten, könne Kommunikationsfähigkeiten fördern und psychische Verschlossenheiten aufbrechen, könne Umgangsformen schulen, könne Herz, Kopf und Hand in ausgewogenem Verhältnis formen, könne unkonventionelle und bisher vernachlässigte Lernbereiche – wie Freizeit, Hobby, Zusammenleben – erzieherisch auffüllen … Die Reihe der angenommenen Vorzüge ist beliebig fortführbar“ (PE195 TERßEN 1976) .
Konnte die Ganztagsschule diese Erwartungen bisher erfüllen und wird sie diesem Anspruch auch weiterhin gerecht? Lässt sich dieser Anspruch an eine ganztägige schulische Betreuung überhaupt rechtfertigen? „Die Ganztagsschule kann weder die sozialen Verhältnisse ändern, in denen unsere Kinder aufwachsen, noch die Folgen aufheben, die sich aus solchen Unterschieden ergeben. Trotzdem kann sie viel. Vor allem aber ist sie eine Herausforderung. Sie kann nur so gut sein wie das pädagogische Konzept, das ihr zugrunde liegt und das sie verwirklichen soll. Sie kann die Pädagogik fördern, die auf ganzheitliches Lernen, auf die Ausschöpfung aller Begabungsrichtungen und Lernfähigkeiten zielt. Sie kann gesellschaftliche Benachteiligungen wenigstens teilweise kompensieren, individuelle Lernprofile begünstigen, dem Lernen seinen natürlichen Erfahrungskontext zurückgeben und die Verantwortung der Gesellschaft für die nachwachsende Generation stärker verankern. Sie kann nicht die Probleme der Gesellschaft lösen. Sie kann auch die bestehende Ungleichverteilung der Chancen nicht aufheben. Aber sie kann zumindest gegensteuern, sie kann dazu beitragen, dass alle Kinder und Jugendliche eine faire Chance bekommen, unter vielfältigen Lernangeboten auswählen und je individuelle Profile entwickeln zu können, zu Menschen heranzuwachsen, die etwas können, die gebraucht werden, die ihr Leben selbstbewusst und verantwortlich in die Hand nehmen“ (VON DER GROEBEN 2008, S. 247f.).
Ein Blick in die bisher vorhandenen empirischen Daten aus Untersuchungen zu ganztägigen schulischen Betreuungskonzepten mag Antwortversuche vornehmen. Da jedoch im deutschsprachigen Raum keine expliziten empirischen Studien zum Schulerfolg von Schülern in Ganztagsschulangeboten durchgeführt wurden196, muss auf die im Rahmen der Gesamtschulforschung gewonnenen Ergebnisse, die jedoch zeitlich weit zurückliegen, zurückgegriffen werden (vgl. LUDWIG 1993b, S. 579). Die Erkenntnisse von FEND (1982), die sich auf Gesamtschulen bezogen, die im Prinzip wie gebundene Ganztagsschulen konzipiert waren, wurden von RADISCH & KLIEME (2004) im Hinblick auf das heutige ganztägige Schulsystem 195 Dem Vorwort aus DORNER, R./WITZEL, H. (Hg.) (1976): Ganztagsschule – Zielsetzungen und Organisation eines alternativen Schulmodells. Ravensburg. S. 7 entnommen. 196 H.G. HOLTAPPELS konstatiert ein „beträchtliches Forschungsdefizit“ (2004, S. 8).
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ausgewertet. Dabei konnte in Bezug auf die Schulleistung zwischen leistungsstarken Schülern197 der Gesamtschule und Schülern im gegliederten Schulsystem festgestellt werden, dass durch die zeitliche Ausdehnung der täglichen Schulzeit keine Leistungssteigerung – v.a. der schwächeren Schüler – erreicht wurde (vgl. FEND 1982, S. 250f.). Stattdessen war eine geringe Verschlechterung der leistungsstarken Gesamtschüler zu erkennen198, die auf den Wegfall der familiären häuslichen Unterstützung zurückzuführen sein könnte. Obgleich nachmittägliche Hausaufgabenbetreuung und Förderangebote zur Verfügung standen, wurden diese von den Schülern scheinbar nur unzureichend bzw. nicht genutzt, „so dass diese nicht substitutiv für den Wegfall der Leistungsdifferenzierung im Gesamtschulsystem wirken konnten“ (RADISCH & KLIEME 2004, S. 156). Neuere Untersuchungen wiederum bestätigen die Tatsache, dass Schüler im ganztägigen Schulsystem weder Defizite in gewissen Bereichen, noch eine allgemein geringere Begabung aufweisen (vgl. WITTING 1997199). Auch IPFLING konstatiert, dass hinsichtlich Schulleistung und Schulerfolg weder die Halb- noch die Ganztagsschule zu präferieren ist (vgl. IPFLING 1981, S. 64). Hingegen konnten IPFLING & LORENZ (1979) eine Leistungssteigerung von Schülern in ganztägigen schulischen Systemen feststellen, wobei die Umfrage weder repräsentativ war noch eine Kontrollgruppe bestand. Aus den Erkenntnissen lassen sich jedoch mögliche Schwerpunkte für weitere Forschungsvorhaben generieren. An dieser Stelle sind drei weitere Expertisen aktuellerer Datierung anzuführen, die deshalb von Interesse sind, weil Teilaspekte der Halb- und Ganztagsschule einem Vergleich unterlagen und sich erste Tendenzen beobachten lassen, aus denen jedoch „keine stichhaltigen Nachweise für Effekte“ (RADISCH & KLIEME 2004, S. 164) abgeleitet werden können.
STEINERT, SCHWEIZER & KLIEME stellten bereits 2003 eine sekundäranalytische Auswertung von Daten der hessischen Arbeitsplatzuntersuchung (APU) an, die im Rahmen des Projektes „Schulentwicklung, Qualitätssicherung und Lehrerarbeit“ durchgeführt wurde. Dabei wurden Lehrkräfte unterschiedlicher Schultypen hinsichtlich der Lehrerkooperation, des Schulund Lernklimas sowie der Erfüllung von Leistungs- und sozialen Integra-
197 Da Daten zu leistungsschwachen Schülern nicht vorliegen, lässt sich der Vergleich nur einseitig vornehmen. 198 Auch WITTING (1997, S. 195ff.) konnte diese Tendenz in Bezug auf die Ganztagsgrundschule bestätigen. Bei einer entsprechenden Berücksichtigung der schichtspezifischen Effekte ist jedoch aufgrund des schlechteren sozialen Hintergrunds der Ganztagsschüler eine Leistungssteigerung zu erwarten (vgl. RADISCH & KLIEME 2004, S. 163). 199 Die Daten dieser Untersuchung beziehen sich auf die Ganztagsgrundschule.
5.4 Ausgewählte Erkenntnisse empirischer Forschung
211
tionszielen befragt, die Aufschlüsse über Unterschiede zwischen Halb- und Ganztagsschulen200 bieten sollten. In Bezug auf die programmatische und unterrichtsbezogene Kooperation von Lehrkräften zeigten sich zwischen halb- und ganztägigen schulischen Betreuungskonzepten signifikante Unterschiede im Bereich der Integrierten Gesamtschulen. Bei den anderen Schulformgruppen wurde ein geringer bis kein Zusammenhang festgestellt, sodass die Lehrerkooperation schulformabhängig variiert. Die geringen Unterschiede zwischen Schulen mit und ohne Ganztagsbetreuungsangebot deuten darauf hin, dass additive Ganztagskonzepte keine nennenswerte positive Rückkoppelung auf die unterrichtsbezogene Lehr- und Lernkultur ausüben. Auch im Hinblick auf die Mitarbeit von Schülern ließen sich keine eindeutigen Tendenzen erkennen – wenngleich die Integrierten Gesamtschulen in Ganztagsform minimale Interaktionseffekte verzeichneten. Hingegen wird das Schulklima deutlich positiv beeinflusst: Lehrkräfte an Ganztagsschulen – vor allem an verbundenen Grund-, Haupt- und Realschulen sowie an Gymnasien – schätzen das wahrgenommene Aggressionsniveau deutlich geringer ein. „Für die allgemeine Qualitätsentwicklung der Schule können Angebote schulischer Ganztagsbetreuung daher durchaus von Bedeutung sein“ (STEINERT, SCHWEIZER & KLIEME 2003, S. 82). Während Schulen ohne Ganztagsbetreuung bei der Erreichung von Leistungszielen besser abschneiden, vermögen (additive) ganztägige Konzepte201 die soziale Integration – besonders ausländischer Schüler – stärker zu realisieren. Insgesamt kann konstatiert werden, „dass Vorteile der ganztägigen Schulstruktur wohl am ehesten in erzieherischen und sozialpädagogischen Bereichen zu suchen sind. Eine direkte Wirkung auf schulische Leistung […] konnte dagegen nicht nachgewiesen werden“ (RADISCH & KLIEME 2004, S. 162). Dazu wären Studien notwendig, die einerseits Längsschnittuntersuchungen darstellen und sich andererseits nicht nur auf das Urteil von Lehrkräften beziehen.
200 Eine Ganztagsbetreuung wird der Schule hierbei bereits zugesprochen, wenn die Lehrkräfte angeben, dass eine Mittagsverköstigung und nachmittägliche Angebote zur Verfügung stehen. Eine Differenzierung nach Formen der Ganztagsangebote (offen, voll gebunden, teilweise gebunden) fand nicht statt. 201 An verbundenen Grund-, Haupt- und Realschulen gelingt dies besonders gut, während an Gymnasien die sozialen Integrationsziele nicht und an Kooperativen Gesamtschulen kaum erfüllt werden.
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Die Sonderauswertung der Hamburger LAU-Studie202 (vgl. RADISCH & KLIEME 2004, S. 159ff.) ergab eine marginale Differenz der fachlichen Leistungen zwischen Schülern der Halb- und Ganztagsschule.203 Allerdings wiesen ganztägige schulische Betreuungsformen eine geringere Leistungsstreuung auf. Zu eruieren wäre an dieser Stelle, wie diese Streuung zustande kam. Konnten die leistungsschwachen Schüler von dem System der Ganztagsschule profitieren und ihre Defizite ausgleichen oder fällt das Ergebnis zu Ungunsten der leistungsstarken Schüler aus, die nicht in ausreichendem Maße individuell gefördert wurden und somit ihren Fortschritt einbüßten? Des Weiteren wurde im Grundschulbereich eine Sekundäranalyse zu Daten der IGLU-Studie204 vorgenommen (vgl. RADISCH, KLIEME & BOS 2006), die ebenfalls bestätigt, dass in Bezug auf das Leseverständnis keine Leistungsunterschiede zwischen halb- und ganztägigen Schultypen existieren. Hinsichtlich der Schulleistung und des Schulerfolges der Schüler ergeben sich daher keine wesentlichen Unterschiede zwischen Ganztags- und Halbtagsschulen (vgl. auch RADISCH & KLIEME 2004, S. 47f.; HOLTAPPELS 2006b, S. 15f.), worin die eigentliche Zielsetzung des IZBB bestand. Vielmehr lässt sich mit Blick auf die PISA-Studie erkennen, dass sich im internationalen Vergleich kein Zusammenhang zwischen Unterrichtsumfang und Schulleistung feststellen lässt (vgl. SCHÜMER 2001, S. 416ff.). Darüber hinaus – und dieses Ergebnis ist aus pädagogischer Sicht weitaus gravierender – konnte auch keine Korrelation zwischen Lernleistung (bezogen auf die Lesekompetenz) von Ganztags(grund)schülern und ihrer sozialen Herkunft hergestellt werden. Obwohl an den untersuchten Ganztagsgrundschulen zusätzliche Förderangebote bereit gestellt wurden205, zeichnete sich keine Leistungssteigerung ab (vgl. RADISCH, KLIEME & BOS 2006, S. 34 und S. 47f.) und die bildungsfernen Milieus konnten nicht erreicht werden. Der sozioökonomische Status der Schülerschaft wies zwischen Halbtags- und Ganztagsschule keine Unterschiede auf. Lediglich an Schulen, die mindestens dreimal in der Woche nachmittägliche Zusatzangebote bereit stellten, konnte ein höherer Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund verzeichnet wer-
202 Die Studie „Aspekte der Lernausgangslage und der Lernentwicklung“ (LAU) wurde an Hamburger Schulen in der 7. bis 9. Jahrgangsstufe durchgeführt. Aufgrund des geringen Stichprobenumfangs ist jedoch keine Repräsentativität der Ergebnisse gegeben. 203 Während im Vergleich zu halbtägig geführten Schulen Ganztagsschüler der Haupt- und Realschule eine minimale Leistungssteigerung aufzeigten, fielen Gesamtschüler in ihrer Leistung ab. 204 IGLU steht für „Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung“. 205 Wobei an dieser Stelle zu fragen wäre, inwieweit diese Angebote auch genutzt werden oder im Sinne einer freiwilligen Teilnahme eine geringe Verbindlichkeit besitzen und somit die eigentlichen Adressaten wiederum nicht erreicht werden (vgl. zum Prinzip der Freiwilligkeit: HOLTAPPELS 2006b, S. 22).
5.4 Ausgewählte Erkenntnisse empirischer Forschung
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den (vgl. ebd., S. 44). Dies untermauert wiederum die These, dass lediglich gebundene Ganztagsschulkonzepte die Intention der Reduzierung von Chancenungleichheit verfolgen können. „Das ernüchterte Fazit lautet, dass Betreuungsarrangements – sofern sie freiwillige Angebote sind – die sozialen Ungleichheiten nicht nur nicht kompensieren, sondern sie sogar reproduzieren und die nach Klassenlagen differenten Ausbildungsaspirationen stabilisieren“ (COELEN 2007, S. 63f.). Dieses Ergebnis macht erneut deutlich: „Schule kann nicht alles leisten“ (KUCHARZ & SÖRENSEN 1996, S. 19) und sie lässt sich auch nicht als „Reparatureinrichtung der Gesellschaft“ (ebd.) gebrauchen. Vor allem gebundene Ganztagsschulen, deren nachmittägliches Programm in einem konzeptionellen Zusammenhang mit dem vormittäglichen Unterricht stand, konnten durch die inhaltliche Qualität ihrer zusätzlichen Angebote überzeugen, die die kognitiven Fähig- und Fertigkeiten der Schüler fördern.206 „So werden in Grundschulen mit erweitertem Zeitrahmen nach Einführung der neuen Zeitstruktur insgesamt spürbare Qualitätszuwächse in der Lernkultur, sowohl im Unterricht als auch im außerunterrichtlichen Schulleben, feststellbar“ (HÖHMANN, HOLTAPPELS & SCHNETZER 2004, S. 273). Eine Bremer Ergänzungsstudie zu IGLU207 konnte an voll gebundenen Ganztagsgrundschulen ebenfalls ein unterstützendes Lernklima sowie eine differenzierte Lernkultur bestätigen (vgl. HOLTAPPELS & HEERDEGEN 2005). Darüber hinaus wiesen die Lehrkräfte ein hohes Maß an Reformbereitschaft und Kooperationsbemühungen auf. Vor allem hinsichtlich der Leistungen ließen sich Unterschiede konstatieren: Zum einen war ein höheres Leistungsniveau der Schülerschaft zu beobachten, das „unstrittig und mit hoher Wahrscheinlichkeit der pädagogischen Qualität der Schule bzw. der Organisationsform selbst zuzurechnen“ (ebd., S. 370) ist; zum anderen konnten außerschulische Einflussfaktoren der sozialen Herkunft besser kompensiert werden, was für eine deutliche Verbesserung der Chancengleichheit spricht. Da die bis dato erhobenen empirischen Daten keine eindeutige Schlussfolgerung auf mögliche Leistungsunterschiede zwischen Schülern an Halb- und an Ganz206 Als einen besonderen „Erfolg“ der gebundenen Ganztagsgrundschule verzeichneten RADISCH, KLIEME & BOS (2006) die Tatsache, dass vor allem Schüler mit Migrationshintergrund durch dieses Angebot erreicht werden konnten – die Zielgruppe, die in den Ergebnissen der PISAStudie als sog. Verlierer des Bildungssystems galt. 207 Untersucht wurden 14 Grundschulen mit einem vollen Halbtagsangebot und zwölf „verlässliche“, sog. traditionelle Grundschulen, wobei die Ergebnisse auf Lehrerbefragungen basieren. Obgleich hierbei eine geringe Stichprobe vorliegt, können die Ergebnisse erste Tendenzen erkennen lassen.
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tagsschulen zulassen208, erhofft man sich neue Erkenntnisse vonseiten des Forschungsprojektes StEG209. Aufgrund der bisherigen Ergebnisse lassen sich weder die Auswirkungen der Ganztagsschule auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, noch der Erfolg eines ganztägigen schulischen Konzeptes abschätzen (vgl. HOLTAPPELS 2006b, S. 12; KLIEME et al. 2008, S. 376). Wenn durch das schulische Ganztagssystem eine Auswirkung auf das Leistungsspektrum erreicht werden soll, gilt es darüber hinaus zu prüfen, in welchem Umfang Schüler die freiwilligen Angebote wahrnehmen und optimal nutzen (vgl. PRÜß 2007). „Jenseits von Erfahrungsberichten, deskriptiven Daten, Akzeptanzbefragungen und reformpädagogisch inspirierter Programmatik hat der wissenschaftliche Diskurs zum ganztägigen Lernen gegenwärtig noch wenig zu bieten. […] Es mangelt an repräsentativen bzw. breit angelegten Surveys, die zu systematischen Mehr-EbenenVergleichen genutzt werden können, sowie an quasi-experimentellen Studien. Auch der Bezug auf internationale Forschungsbefunde hilft derzeit nicht weiter“ (RADISCH, KLIEME & BOS 2006, S. 31f.).
Dieses Forschungsdefizit im Hinblick auf die pädagogische Gestaltung und die Wirksamkeit von Ganztagsschulen hebt auch HOLTAPPELS (2006b, S. 12) hervor, indem er bemängelt, dass sich die vorhandenen Expertisen überwiegend auf die Schulorganisation oder die Elternnachfrage beziehen. Zu betonen gilt es allerdings, dass sich im Zusammenhang mit ganztägigen schulischen Konzepten eine positive Rückkoppelung auf die Schulkultur verzeichnen lässt.210 Diese Tatsache ist besonders hervorzuheben, da die Ganztagsschule eindeutige Vorzüge hinsichtlich des Schulklimas und sozial-integrativer Merkmale aufzuweisen scheint (vgl. JOPPICH & KASTEN 1979, S. 638ff.; WITTING 1997, S. 207ff.) sowie die sozialen und erzieherischen Kompetenzen der Schüler stärkt (vgl. RADISCH & KLIEME 2004, S. 162). Diese „entwickeln in besonderer Weise Sozial- und Selbstkompetenzen und fördern dadurch ihre Persönlichkeitsentwicklung. Die Ganztagsschule bietet wahrscheinlich auf verschiedenen Gebieten ein Anregungsmilieu, das insgesamt höhere Wirkungen als die Halbtagsschule erzeugt“ (PRÜß 2007, S. 81). Deutlich erkennbar ist die vorsichtige Annahme einer positiven Rückkoppelung des ganztägigen Schulsystems auf 208 RADISCH & KLIEME stellen fest, „dass aus empirischer Sicht die Wirkung ganztägiger Schulorganisation auf die Entwicklung der Schüler derzeit als weitgehend ungeklärt angesehen werden muss“ (2004, S. 165; Hervorh. d. Verf.). Ebenso merken RADISCH, KLIEME & BOS an: „Die Frage nach den Wirkungen ganztägiger Angebote auf den schulischen ‚Outcome’ bleibt beim gegenwärtigen Erkenntnisstand […] offen“ (2006, S. 34). 209 Die Ausgangserhebung erfolgte 2005. Im Jahr 2007 und 2009 fanden weitere Erhebungen statt. 210 Anzumerken ist an dieser Stelle jedoch, dass die Erhebungen sich fast ausschließlich auf Aussagen von Eltern bzw. Lehrer beziehen und somit die Perspektive der Schüler ausgeblendet wird.
5.4 Ausgewählte Erkenntnisse empirischer Forschung
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das Sozialverhalten der Schüler. Diese positiven Effekte können jedoch nur wirksam werden, wenn das Mehr an verfügbarer Zeit auch pädagogisch sinnvoll konzipiert genutzt wird. Denn „[d]ie Stärke ganztägiger Schulorganisation besteht offensichtlich in der Verbindung des erweiterten Zeitumfangs mit pädagogischen Konzepten, wie sie durch das Investitionsprogramm des Bundes ‚Zukunft Bildung und Betreuung’ explizit gefordert werden“ (RADISCH & KLIEME 2004, S. 165; Hervorh. d. Verf.). Ob die Ganztagsschule jedoch tatsächlich die „bessere“ Schule ist und ob sie die Schüler „besser“ auf ihr zukünftiges Leben vorbereitet, bleibt weiterhin offen. Es lassen sich wohl Tendenzen erkennen, dass diese positive Effekte aufweist, „aber ermöglicht sie auch die sinnreichere Bildung?“ (COELEN 2007, S. 69). „Die Ganztagsschule lässt sich im Lichte der bisherigen Wirkungsforschung weder hinsichtlich der Lernleistungen (Verbesserung des Leseverständnisses) noch der sozialpolitischen Zielsetzungen (Überwindung der Reproduktion von Benachteiligung) empirisch begründen, wohl aber hinsichtlich der familien- und frauenpolitischen Absichten (Vereinfachung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf) sowie der sozialpädagogischen Effekte (soziales Lernen, Gemeinschaftserfahrungen, Vielfältigkeit etc.)“ (ebd., S. 66; Hervorh. d. K.S.).
Im Hinblick auf die sozialpädagogische Ausrichtung dieser Arbeit ergibt sich dadurch ein wesentlicher Ansatzpunkt. Wenn die Ganztagsschule aufgrund ihrer Konzeption positive Auswirkungen auf das soziale Lernen, die erzieherischen und sozialen Kompetenzen der Schüler, auf sozial-integrative Effekte sowie das Schulklima ermöglichen kann, dann ist die Disziplin der Sozialpädagogik aus der Schule nicht mehr wegzudenken. Wenn mit einer ganztägigen schulischen Betreuung „ein bildungstheoretisches und pädagogisches Gesamtkonzept für Unterricht- und Schulentwicklung vorgelegt wird, das sich auf den aktuellen Erziehungs- und Bildungsauftrag des staatlichen Schulwesens bezieht“ (JÜRGENS 2006, S. 203), muss der Erziehungsauftrag der Schule durch sozialpädagogische Angebote flankiert werden – und dies möglichst zügig, denn die Zeit drängt. „Die Ganztagsschulentwicklung gerät […] in die ‚Ausbau-Qualitäts-Falle’. Druck und Tempo hinsichtlich eines quantitativen Ausbaus von Ganztagsplätzen könnten am Ende den Weg für eine echte Ganztagsschule für alle Schüler/innen behindern, wenn nicht bald Qualitätsstandards für Ganztagsschulen greifen, die Beliebigkeit und instabile Organisationsformen in die Schranken weisen“ (HOLTAPPELS 2005, S. 40f.).
Dieser Beliebigkeit ist Einhalt zu gebieten, indem die von der Bundesregierung veröffentlichten Qualitätskriterien (vgl. BMBF 2003) nicht nur auf der theoretischen Ebene existieren, sondern in der praktischen Umsetzung mit dem umfassenden Erfahrungsschatz der Sozialpädagogik angereichert werden.
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5 Der Beitrag der Sozialpädagogik für ein ganztägiges schulisches Betreuungsprogramm
Des Weiteren darf es sich die Schule nicht mehr leisten, den Erziehungsund Bildungsauftrag in eigenbrötlerischer Art und Weise individuell erfüllen zu wollen. Sie „kann sich angesichts knapper Ressourcen immer weniger legitimieren, wenn sie sich von ihrer Umgebung abschottet, sich nicht als Bestandteil des Gemeinwesens und als Ressource im Sozialraum definiert“ (BMFSFJ 2005b, S. 346). Dieser Bezug zur sozialräumlichen Umgebung ist unabdingbar – wie es das folgende Kapitel aufzeigen und begründen will –, um Schule zum Lern- und Lebensort werden zu lassen.
6 Die sozialräumliche Dimension der Schule
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6 Die sozialräumliche Dimension der Schule
„Soziale Arbeit ist räumlich geworden!“, so konstatiert REUTLINGER (2009, S. 17), weil sie durch die sozialräumliche Dimension „anpassungsfähiger, modern(er) und deshalb ‚besser’“ (ebd.) zu sein scheint und sich über den Raum „neu sortieren“ (ebd., S. 18) kann. Denn „[e]s geht nicht mehr darum, Raum als relationale Anordnung nur über das Lageverhältnis zu bestimmen. Im Mittelpunkt der Ausführungen steht nun die Frage, was angeordnet wird (Dinge, Ereignisse etc.?), wer anordnet (mit welchem Recht, mit welcher Macht?) und wie Räume entstehen, sich verflüchtigen, materialisieren oder verändern und somit Gesellschaft strukturieren“ (LÖW 2001, S. 151).
Räume werden somit als „(An)Ordnungen von Lebewesen und Gütern an Orten“ (LÖW 2006, S. 16) verstanden – Sozialräume als „ständig (re)produzierte Gewebe sozialer Praktiken“ (KESSL & REUTLINGER 2007, S. 19; Hervorh. d. Verf.), die das Ergebnis von Handlungsprozessen darstellen, wobei „das Wechselspiel von symbolischer Wirkung materialisierter Raumordnungen und Reden vom Raum und deren permanenten (Re)Konstruktion als Kampf um die Vorherrschaft bestimmter Redeweise und Raumanordnungen“ (KESSL & REUTLINGER 2008, S. 14; Hervorh. d. Verf.) zu einer konstitutiven Verortung der Sozialraumarbeit führt. Eine Sozialpädagogische Sozialraumorientierung „beschreibt eine kleinräumige Neujustierung sozialpädagogischer Handlungsvollzüge, mit der bisherige institutionelle Differenzierungen überwunden, Angebote Sozialer Arbeit passgenauer und bürgernäher gestaltet, die Betroffenen und ihre nahräumliche Umgebung stärker beteiligt und die Realisierung sozialpädagogischer Maßnahmen durch diesen konkreten Ortsbezug effektiver und effizienter realisiert werden sollen“ (KESSL & REUTLINGER 2007, S. 42; Hervorh. d. Verf.).
Sie umfasst demzufolge die „(Neu)Ordnungen des Räumlichen“ (KESSL & REUT2008, S. 12), womit das Spannungsgefüge von Institution und Intervention überwunden und das dialektische Verhältnis von Raum und (sozialer) Entwicklung betont wird (vgl. REUTLINGER 2008). Sie „versucht vor diesem Hintergrund systematisch – diskursive wie materielle – Raumordnungen in ihrer historischen und aktuellen Formation und deren (Re-)Produktion zu fokussieren“ LINGER
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6 Die sozialräumliche Dimension der Schule
(REUTLINGER 2009, S. 20). Indem Räume gelassen und geschaffen werden (vgl. REUTLINGER 2009), eröffnen sich individuelle Gestaltungs- und Entwicklungsprozesse im Sinne sozialräumlicher Ermöglichungskontexte (vgl. REUTLINGER 2005). „Legt man die drei Forderungen nach Prävention, Adressatenorientierung und Effizienz wie Effektivität als Prämissen einer ‚zeitgemäßen Sozialen Arbeit’ zugrunde, scheint diese in den Programmen einer sozialraumorientierten Sozialen Arbeit zu sich selbst zu finden“ (KESSL, LANDHÄUßER & ZIEGLER 2006, S. 195). Die Sozialraumarbeit versteht sich somit „explizit als Arbeit am sozialen Raum, das heißt sie begreift sich selbst als aktive Gestalterin sozialer Zusammenhänge, als deren bewusste Ausgestalterin“ (KESSL & REUTLINGER 2007, S. 129). Räume zu schaffen, die Entwicklung fördern, und diese aktiv zu gestalten, weist im Besonderen auch auf die Rekonstruktion des Sozialraums Schule, der einen Teil des Bildungssystems und zugleich einen konkreten Ort in einem lokalen Kontext darstellt. Vor allem hinsichtlich der Generierung eines ganztägigen schulischen Betreuungsmodells aus sozialpädagogischer Perspektive gilt es die Kontextualität der kindlichen Lebenswelten vermehrt in den Blick zu nehmen (vgl. hierzu die Ausführungen in Kap. 4.2.). Die Schule als Sozialraum lässt sich dabei beschreiben als eine „aus verschiedenen Interaktionsgeflechten entstehende Bedeutungsstruktur […], die als solche in einem bestimmten Quartier wirkt und gleichzeitig von spezifischen Bedingungen vor Ort als auch von strukturellen Rahmenbedingungen durchdrungen ist“ (REUTLINGER 2009, S. 23; Hervorh. d. Verf.). In Form der mitagierenden Sozialraumarbeit, unter Einbezug der unterschiedlichen Akteure, können Ermöglichungskontexte eröffnet und ermöglichende Räume geschaffen werden. Auch hinsichtlich der Zusammenführung lokaler Bildungs-, Betreuungsund Erziehungsinstitutionen wird im Fachdiskurs neuerdings vermehrt von Quartierschulen, Stadtteilschulen, Nachbarschaftsschulen oder auch community education gesprochen, wobei davon laut HINTE & TREEß „das bestehende Schulsystem Lichtjahre entfernt ist“ (2007, S. 168)211. Die Schule zielt mit ihrer Öffnung zum Schulumfeld und zur Lebenspraxis der Schüler – die bereits im 12. Kinder- und Jugendbericht (vgl. BMFSFJ 2005b) postuliert wurde – aus bildungssoziologischen bzw. schulpädagogischen Gesichtspunkten einerseits bewusst auf eine soziale Veränderung ab, indem sie einen direkten Einfluss auf das soziale Umfeld vornimmt. Nach dem Ansatz des community development begründen Schulen ihre Vorgehensweise somit nach soziokulturellen Gesichtspunkten und verstehen die Öffnung nach außen als community education (vgl. HOLTAPPELS 1994). Andererseits unterstützen diese Bestrebungen die Schule dabei, die genormten geschlossenen Räume zu verän211 Bei VON HENTIG (1993) und HINZ (1998) finden sich gelungene Beispiele für die konkrete Umsetzung der sozialräumlichen Idee in der Schule.
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dern, ihre starren Zeitstrukturen zu überdenken und sich in der Diskussion um die Ganztagsschulbetreuung dadurch günstig zu positionieren. Darüber hinaus wird eine Stärkung ihrer Autonomie gegenüber der Schulbürokratie angestrebt (vgl. HINTE & TREEß 2007). Die Aufgabe der Schule besteht demnach darin, Kindern und Jugendlichen Zugänge zu Bildung und Erfahrung zu eröffnen, die diesen im familialen bzw. sozialen Umfeld verwehrt bleiben. Außerdem „kann sich die Schule nicht mehr sozial abschotten“ (BÖHNISCH 1994, S. 91) und die Herstellung des Sozialen anderen überlassen, denn sie ist „‚unter der Hand’ zur sozialräumlichen Szenerie geworden“ (ebd.). Als pädagogischer Ort, der wesentlich die kindliche Entwicklung beeinflusst, ist es aus sozialpädagogischer Perspektive geboten, sich auch mit der Frage auseinander zu setzen, „wie ein Ort beschaffen sein muß, damit ein Subjekt als Subjekt an ihm leben und sich entwickeln kann, damit er auch als Lebensbedingung vom Subjekt kontrolliert wird“ (WINKLER 1998, S. 278f.). Um diesem Anspruch gerecht zu werden, muss die Schule ihre eigene Bildungswelt „konstruieren“ (MOLLENHAUER 1983, S. 67) und „endlich diese künstliche Aufteilung von einerseits ‚Schulwelt’ (formale Bildung) und andererseits übrige Lebenswelt (informelle Bildung)“ (GRIMM & DEINET 2009, S. 129) überwinden. Der Lernraum Schule ist jedoch in mehrfacher Hinsicht „künstlich“ (MACK & SCHROEDER 2005, S. 337), da dieser einerseits sichtbar vom sozialräumlichen Umfeld abgekoppelt ist, andererseits lebensweltliche Aspekte ausschließlich in didaktisch aufbereiteter Form vermittelt – nicht zu Unrecht erhält die schulische Bildung und Erziehung dadurch das Stigma der Lebens- und Realitätsferne, weil sie in ihrem Selbstverständnis herausgehoben ist „aus dem ‚richtigen’ Leben, ja man kann sagen: Schule und Sozialraum bilden ein Gegensatzpaar“ (ebd.). Der „Containerraum“ (ebd., S. 338) Schule ermöglicht in der Distanzierung zum sozialen Umfeld gleiche Bedingungen für Bildung herzustellen, um diese für alle zu gewährleisten. „Im ‚Schonraum’ Schule wird, allen Widrigkeiten des Lebens zum Trotz, Lernen möglich, hier sollen und hier dürfen alle Kinder und Jugendlichen ‚gleich’ sein – anders als im gesellschaftlichen Leben“ (ebd.). Deutlich klingt an dieser Stelle der Aspekt der Chancen(un)gleichheit an. Mit einer sozialräumlichen Schulentwicklung ist insgeheim die Hoffnung verknüpft, die Reproduktion sozialer Ungleichheiten zu reduzieren und den Sozialraum als Chance zur Herstellung von Bildungsgerechtigkeit zu nutzen (vgl. ebd.). Eine sozialraumorientierte Arbeit zielt laut SCHNURR jedoch weniger ab auf „Kompensation von Defiziten, sondern mehr auf die Gestaltung von Lebenswelten und die Mobilisierung von Ressourcen im unmittelbaren sozialen Bezugssystem ihrer Adressaten“ (2006, S. 139). Diese Neujustierung „einer Problemlösung ‚vor Ort’ soll die Soziale Arbeit auch näher an die Bedürfnisse der Adressatinnen und Adressaten bringen“ (KESSL, LANDHÄUßER & ZIEGLER 2006, S. 205). Denn während sich
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der Begriff Sozialraum „auf einen sozialgeografisch abgegrenzten Lebensraum“ (DEINET 2002a, S. 155) bezieht, weist der Ansatz der Lebensweltorientierung auf die subjektive Sichtweise von sozialen Räumen hin (vgl. THIERSCH 1998) und betont, „dass die Menschen in ihrem ‚konkreten Alltag’ auch über Kompetenzen und Ressourcen verfügen können, ihre Probleme eigenständig und in ihrem Sinne (eigensinnig) zu lösen“ (SCHRAPPER 2006, S. 43). Mit Sozial-Raum wird dabei zum Ausdruck gebracht, dass die Bezugspunkte zum einen soziale Merkmale – mit den Worten von SCHRAPPER: „Das Soziale prägt den Raum“ (2006, S. 43) –, zum anderen strukturelle bzw. räumliche Dimensionen – „Der Raum prägt das Soziale“ (ebd.) – bilden. Fruchtbar für die Sozialraumforschung könnte sich zudem das sozialökologische Betrachtungsmodell der menschlichen Entwicklung erweisen (vgl. BRONFENBRENNER 1981), da ausgehend von der individuellen Perspektive die aktive Gestaltung von sozialen Räumen fokussiert wird. „Daher liefern die Untersuchungen von Bronfenbrenner aus mikrosozialer Perspektive auch wichtige Anhaltspunkte für die zukunftsfähige Gestaltung von sozialen Ordnungsstrukturen“ (GRUNDMANN & KUNZE 2008, S. 183). Der Gegensatz zwischen Schule und Sozialraum zeigt sich des Weiteren dadurch, dass innerhalb der Schulpädagogik eine begriffliche Verortung fehlt und sich Schule in ihren Bemühungen bislang lediglich auf die Binnengestaltung beschränkt, während eine Öffnung nach außen nur ansatzweise Realisierung findet. Eine Kooperation mit der Schule hängt jedoch im Wesentlichen davon ab, inwieweit es ihr gelingt, „in einen stärkeren Austausch mit der sozialen Umwelt zu treten, um einmal sich selbst mehr als Sozialraum verstehen und zum anderen außerschulische Sozialprozesse auch sozial mitsteuern zu können“ (BÖHNISCH 1994, S. 91; Hervorh. d. Verf.). Nimmt man hierbei – in Anlehnung an LÖW & STURM (2005) und LÖW, STEETS & STOETZER (2008) – an, dass die soziale Funktion des Raumes nicht auf die Eigenschaft als Ort reduziert bleibt (vgl. hierzu auch KESSL & MAURER 2005), sondern ein Zusammenhang zwischen Vergesellschaftung, sozialen Handlungen und gegebenem Raum existiert, in dessen Aneignung und Nutzung die Gesellschaft sich „einschreibt“ (MACK & SCHROEDER 2005, S. 338), wird Räumlichkeit in gesellschaftskritischer Perspektive zum Bezugspunkt einer „achtsamen Sozialen Arbeit“ (KESSL & MAURER 2005, S. 122; Hervorh. d. Verf.). Diese setzt als so genannte „‚Grenzgängerin’ […] an den gesellschaftlichen Grenzen, an deren Verschiebung, Öffnung, Durchlässigkeit – aber eben immer auch an deren Sicherung“ (ebd.) an und schafft Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe. Sie ist es, „die im Bündnis mit gesellschaftskritischen Akteursgruppen wenigstens zeitweise die brüchigen Stellen aufsucht, an denen sich Zeit- und Raumdimension quasi kreuzen, an denen sich Unerwartetes ereignen und an denen sich vordem eng Begrenztes vorübergehend öffnen kann“ (ebd., S. 123).
6 Die sozialräumliche Dimension der Schule
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Vor allem im schulischen Kontext gewinnt eine „Soziale Arbeit als Grenzbearbeitung“ (ebd.; Hervorh. d. Verf.) im Zusammenhang mit der Bewältigung von Transitionen Bedeutung, wenn sie auf Brüche in der Biographie hinweist und sensibel macht für das Unerwartete und Unvorhergesehene in der menschlichen Entwicklung. Die raumbezogene Schulentwicklung stellt sich demzufolge als „eine Form der gesellschaftlichen Aneignung sozialer Räume und als Bestandteil sozialräumlicher Teilungsprozesse“ (MACK & SCHROEDER 2005, S. 338) dar. Die Konstruktion schulischer Bildungsräume steht somit in Abhängigkeit zu den sozialen Handlungen der Akteure und sollte stets die Entfaltungsmöglichkeiten und Lebenschancen der Beteiligten berücksichtigen (vgl. KESSL, LANDHÄUßER & ZIEGLER 2006). „Die Aneignung ihrer jeweiligen Lebenswelt als schöpferischer Prozess der eigentätigen Auseinandersetzung mit der gegenständlichen und symbolischen Kultur der Gestaltung und Veränderung von Räumen und Situationen – sozusagen die Bildung des Subjektes im Raum – wird wesentlich beeinflusst, gefördert oder eingeschränkt durch die sozialstrukturellen Bedingungen von Dörfern, Wohnquartieren, Stadtteilen, Regionen“ (DEINET 2004, S. 242).
Diese außerschulischen Lebenswelten verkörpern Orte informellen Lernens, in denen die für den schulischen Bereich relevanten (Schlüssel-)Qualifikationen erworben werden (vgl. DEINET 2002b, 2004). Die Struktur dieser Lebenswelten und die individuellen Fähig- und Fertigkeiten beeinflussen in erheblichem Maße, inwieweit sich Kinder diese Kompetenzen aneignen (können). Als ein Einsatzbereich der Kinder- und Jugendhilfe ergibt sich im Hinblick auf Prozesse des informellen bzw. sozialen Lernens, dass die Schule nicht nur als Lernort, sondern – als ein Bestandteil subjektiver Lebenswelten – auch als Lebensort fungiert, der einen „Lehrplan des Lebens“ (GRIMM & DEINET 2009, S. 130) verfolgt. Denn „[d]ie Schule benötigt eher mehr Zeit für pädagogisches Handeln – für komplexe und offene Lernprozesse, Möglichkeiten der Lernförderung und einer sozialpädagogisch orientierten Ausgestaltung des Schullebens. Dies ist nur in einer veränderten Konzeption von Schule realisierbar: Erstens werden sich Bildungsinhalte und Lernformen auf die veränderten Bildungs- und Qualifikationsanforderungen einstellen müssen, zweitens wird die Schule den individuellen Belastungen, Problemen und Lernvoraussetzungen der Schüler/innen in neuer Weise gerecht werden müssen, drittens müßte die Schule eine Funktionserweiterung, vor allem im Hinblick auf ihre Ausgestaltung als Lebensraum mit Schwerpunkten des sozialen Lernens und sozialer Integration, erfahren“ (HOLTAPPELS 1994, S. 55).
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Daraus lässt sich ableiten, dass die Konstruktion von Räumen „als konstitutiver Bestandteil sozialpädagogischer Handlungsvollzüge“ (KESSL & MAURER 2005, S. 111) betrachtet werden muss. Eine sozialräumlich orientierte Schulsozialarbeit versteht sich somit „als Bindeglied zwischen dem Lebensort Schule und den Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen“ (DEINET & ICKING 2005, S. 11) und wird zum „Medium der Öffnung von Schule“ (DEINET 2004, S. 253) sowie zu einem „Motor“ (ebd.), dass sich Schulen tatsächlich zu Lebensorten entwickeln. Eine weitere Option, die sozialräumliche Idee im Kontext von Schule und deren regionalem Netzwerk zu verwirklichen, sehen MACK & SCHROEDER in der „Schaffung von lokalen Bildungsräumen“ (2005, S. 350), die zur Aufgabe von Schule und Jugendhilfe wird. Über die „Herausbildung einer Infrastruktur für Kinder, Jugendliche und Erwachsene als Lernende“ (ebd.) stellt das soziale Umfeld Bildungsangebote bereit, die von unterschiedlichen Institutionen getragen werden. Vor allem hinsichtlich eines ganztägigen schulischen Angebotes ergeben sich dadurch neue Möglichkeiten der Kooperation. Insgesamt müsste der sozialräumlichen Idee im Rahmen der Schule – im Besonderen aber im Zusammenhang mit der Diskussion um die Konzeption der schulischen Ganztagsbetreuung – deutlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Denn die Ganztagsschulen sind auch als eine Aufforderung an außerschulische Akteure zu verstehen, an der Gestaltung des Bildungssystems teilzunehmen. Darüber hinaus bedürfen gelingende Übergänge zwischen den verschiedenen Bildungskontexten einer übergreifenden Verknüpfung der Bildungsinstitutionen. Zu stark ist die Schule bisher mit ihren eigenen Belangen beschäftigt und nimmt diese Herausforderungen nicht offensiv genug wahr, wobei sie den Blick für das soziale Umfeld verliert.
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7 „Quo vadis, (Ganztags-)Schule?“ – Conclusio und Ausblick
„Wohin gehst du, (Ganztags-)Schule?“ Bevor der Ausblick hinsichtlich der zukünftigen Gestaltungselemente eines ganztägigen schulischen Betreuungssystems vorgenommen wird, erfolgt im ersten Schritt, Bezug nehmend auf die eingangs dargelegten Zielsetzungen, eine Zusammenschau der bisherigen Erkenntnisse. Im Folgenden wird erörtert, welche Effekte hinsichtlich der momentanen Ausprägungen schulischer Ganztagsbetreuungsangebote in Bezug auf die Berücksichtigung der Entwicklungsaufgaben bei der Transitionsbewältigung erzielt werden und inwieweit dies zu einer erfolgreichen Unterstützung von Kinder bei dem Übergang aus der Familie in die Schule beiträgt. Ausgehend von den unterschiedlichen Ebenen der Entwicklungsaufgaben ist aus individueller Perspektive vor allem der Kompetenzerwerb hervorzuheben. Über ein ganztägiges schulisches Betreuungsangebot kann eine intensivere und individuellere Förderung des Schülers erfolgen (vgl. BUNDESJUGENDKURATORIUM 2004; BEUTEL 2006; STMUK 2008), wodurch dessen jeweilige Fähig- und Fertigkeiten gezielter berücksichtigt werden (vgl. www.ganztagsschulen.org; BUROW 2006; PRÜß 2007). Dadurch lassen sich einerseits spezifische Interessen stärker ausbauen, andererseits auch (milieubedingte) Benachteiligungen ausgleichen (vgl. RICHTER 2004; BMFSFJ 2006; GANTKE 2008). Vor allem leistungsschwachen Schülern kann mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden (vgl. BARGEL & KUTHE 1991) und Kinder aus bildungsfernen Schichten profitieren von dem umfassenden Angebot der Ganztagsschule (vgl. FISCHER, RADISCH & STECHER 2007; ZÜCHNER, ARNOLDT & VOSSLER 2007). Dem gegenüber ist jedoch zu Recht die kritische Frage zu stellen, warum der Schule „nachmittags gelingen soll, woran sie vormittags scheitert?“ (BRENNER 2006, S. 169). Denn bislang konnte empirisch nicht belegt werden, dass sich in Bezug auf Schulleistung und Schulerfolg Unterschiede zwischen Halbtagsund Ganztagsschulen ergeben (vgl. HOLTAPPELS 1994). Dieser Nachweis müsste dringend erbracht werden. Darüber hinaus birgt die einseitige Fokussierung auf so genannte Problemkinder in sich nicht nur die Tendenz der Verschulung ganztägiger Angebote, sondern vor allem auch den Aspekt der Stigmatisierung und selektiven Sozialkontrolle (vgl. HOLTAPPELS 1995). Die Ganztagsschule läuft in dem Bestreben
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um Ausgleich von Bildungsbenachteiligungen dabei Gefahr, eine einseitige Ausrichtung auf die Vermittlung fachlicher Kompetenzen vorzunehmen. Zudem büßt sie möglicherweise Attraktivität bei bildungsnahen Milieus ein, für die das schulische Ganztagsangebot in der Orientierung am lern- und leistungsschwachen Klientel kaum Anreiz besitzt (vgl. PORTMANN 2004). Auf interaktionaler Ebene liegen die Vorzüge der Ganztagsschule in den vielfachen Gelegenheiten zur Aufnahme neuer Beziehungen. Kontaktchancen zu Gleichaltrigen (vgl. STMUK 2008) sowie zu Menschen anderer Generationen und sozialer Gruppen (vgl. BMFSFJ 2006) im Sinne einer Öffnung von Schule ermöglichen soziales Lernen (vgl. POPP 2006) und lassen die Ganztagsschule zu einem wichtigen sozialen Erfahrungsraum (vgl. HOLTAPPELS 1994; HURRELMANN 1994) und einem Ort der sozialen Begegnungen (vgl. RICHTER 2004) werden. Vor allem im Zusammenhang mit dem in unserer Gesellschaft zu verzeichnenden Rückgang an Sozialkontakten gewinnt die ganztägige schulische Betreuung hierbei vermehrt an Bedeutung. Als problematischer Aspekt ist dabei allerdings zu betrachten, dass die Kontaktaufnahme stets unter Beaufsichtigung erwachsener Personen in institutionalisiertem Rahmen erfolgt und daher unbeobachtete Lerngelegenheiten fehlen (vgl. MONVILLE, MOSEBACH & SCHMIEDER 2005), die selbstorganisierte und eigeninitiierte Lernprozesse anregen. Des Weiteren könnte die Kontaktpflege außerschulischer Beziehungsnetze vernachlässigt bzw. erschwert werden (vgl. KRECKER 1977; IPFLING 1981). Hinsichtlich der kontextuellen Ebene gestaltet sich die Integration verschiedener Lebensumwelten als vorteilhaft. Aufgrund des veränderten Erziehungsverhaltens sind Kinder im familialen Kontext z.T. überforderten bzw. desinteressierten Erziehungspersonen ausgesetzt (vgl. RICHTER 2004; BMFSFJ 2005b) und damit einem Verwahrlosungsrisiko unterworfen (vgl. GIESECKE 1996; WISSENSCHAFTLI-CHER BEIRAT FÜR FAMILIENFRAGEN 2002). Kindern, die in einem sozial deprivierten Umfeld aufwachsen oder Kindern berufstätiger bzw. alleinerziehender Elternteile wird mit Hilfe einer kontinuierlichen und verlässlichen schulischen Ganztagsbetreuung die Möglichkeit geboten, sich in einem fördernden und stabilisierten Lern- und Erfahrungsfeld aufzuhalten (vgl. HOLTAPPELS 1994; MERTEN 2008). Somit trägt die Ganztagsschule auch zu einer Entlastung der Eltern bei (vgl. BARGEL & KUTHE 1991) und kann positive Rückwirkungen auf das familiäre Zusammenleben aufweisen (vgl. BMFSFJ 2006). Vor allem die Ausführung häuslicher Aktivitäten in der Schule (beispielsweise die Erledigung von Hausaufgaben) wird vonseiten der Eltern als deutliche Entlastung empfunden (vgl. BARGEL & KUTHE 1991; RICHTER 2004). Im Rahmen neuer Strukturen und Inhalte ist die zeitliche Flexibilisierung und Rhythmisierung des Tagesablaufs in Phasen der An- und Entspannung als deutlicher Zugewinn der Ganztagsschule zu verzeichnen (vgl. PRÜß 2007,
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www.ganztagsschulen.org), wobei die zeitliche Ausdehnung des Schultages umstritten ist (vgl. BRENNER 2006). Aufgrund der freien Unterrichtsformen kann darüber hinaus ein stärkerer Bezug zur Lebenswelt der Schüler hergestellt werden (vgl. STMUK 2008), der sich förderlich auf die Lernkompetenzen auswirkt (vgl. BMFSFJ 2005b; POPP 2006). Auch die nachmittäglichen (Lern-)Angebote erzeugen positive Rückwirkungen auf die Leistungsbereitschaft im Unterricht (vgl. IPFLING 1981; HOLTAPPELS 1994). Sie wirken zudem einer Verarmung der kindlichen Erfahrungswelt entgegen (vgl. RICHTER 2004) und bieten vor allem Kindern aus weniger privilegierten Bildungsschichten Anregungen zur sinnvollen Freizeitgestaltung (vgl. PORTMANN 2004). Kritisch anzumerken ist jedoch an dieser Stelle, dass der Freizeitbereich als „programmierter und kontrollierter Spielraum“ (LINDE 1963, S. 152) vorstrukturiert ist und die Schüler in ihren Interessenbereichen einengt (vgl. KENTLER 1972; HOLTAPPELS 1995), woraus eine „kulturelle Verarmung“ (PORTMANN 2004, S. 30) resultieren könnte. Darüber hinaus besteht die Gefahr einer stärkeren Abgrenzung der vor- und nachmittäglichen Angebote, die einerseits zu einer einseitigen Zuordnung kognitiver bzw. sozialer Lernbereiche führt (vgl. NEUMANN & RAMSEGER 1991; HOLTAPPELS 1994), andererseits das Prinzip der Rhythmisierung erschwert. Zusammenfassend können, ausgehend von den theoretischen Qualitätsmerkmalen, deutliche Stärken bzw. Vorzüge ganztägiger schulischer Betreuungsmodelle verzeichnet werden. Das Ganztagsschulkonzept erweist sich hinsichtlich der Unterstützung von Kindern bei der erfolgreichen Transitionsbewältigung von der Familie in die Schule somit als Hoffnungsträger. In der konkreten Realisierung der einzelnen Kriterien lassen sich jedoch auch ernstzunehmende Problemfelder ausmachen, die die Umsetzung des Ganztagsschulkonzeptes künftig herausfordern und eventuell behindern. Ob die Ganztagsschule tatsächlich das ersehnte „Allheilmittel“ (PETERßEN 1976)212 bzw. den erhofften „Rettungsanker“ (OTTWEILER 2003, S. 24) verkörpert oder lediglich ein „frommer Wunsch“ (WIERE 2007, S. 75) bleibt, wird sich erst in Zukunft erweisen. Als zweiter Gesichtspunkt wird, ausgehend von dem Kind als „Pendler“ (FURTNER-KALLMÜNZER 1983, S. 86) zwischen den Institutionen Familie und Schule, beleuchtet, welche Bedingungen gegeben sein sollten, um – ausgehend von dem Kind als Transitionsbewältiger – den Aspekt der Kontextualität der kindlichen Lebenswelten im Rahmen ganztägiger schulischer Betreuungsmodelle zu realisieren. Um eine gelungenere Integration der Lebenswelten Familie und Schule herzustellen, bedarf es einer intensiveren Zusammenarbeit beider Institutionen. Dabei 212 Dem Vorwort aus DORNER & WITZEL (1976, S. 7) entnommen.
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setzt ein pädagogisch optimal gestalteter Übergangsprozess Kommunikation und Partizipation aller Beteiligten voraus (vgl. GRIEBEL & NIESEL 2004). Diese so genannte Co-Konstruktion (vgl. GRIEBEL & NIESEL 2005a), als Kultur der Gestaltung von Übergängen, umfasst das gesamte soziale System, in dessen Mittelpunkt das Kind steht (vgl. NIESEL & GRIEBEL 2006) und entscheidet maßgeblich über Erfolg bzw. Misserfolg der Übergangsbewältigung (vgl. GRIEBEL & NIESEL 2004). In der konkreten Umsetzung bedeutet dies eine stärkere Öffnung von Schule zur Lebenswelt der Schüler und zum Schulumfeld. Vor allem hinsichtlich einer sinnvollen Freizeitgestaltung und der Ermöglichung sozialen Lernens ist eine Ausweitung der Kooperation mit dem schulischen Umfeld und außerschulischen Institutionen dringend geboten, worin der Beitrag der Sozialpädagogik, der im folgenden Aspekt der Conclusio ausführlich erörtert wird, deutlich zum Tragen kommt. Im Sinne einer Trias aus Erziehung, Bildung und Betreuung (vgl. BMFSFJ 2005b) wird das Zusammenwirken unterschiedlicher Bildungsorte forciert (vgl. BRAKE & BÜCHNER 2003) und der Auftrag der Ganztagsschule somit künftig deutlicher flankiert von der Familie sowie der Kinder- und Jugendhilfe, wobei sich die Schule auf die „Suche nach Verbündeten“ (GRAUMANN & MRO213 CHEN 2001) zu begeben hat, die sie in der Ausgestaltung ihres Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungsauftrages unterstützen. Diese sich öffnende Neuausrichtung des ganztägigen schulischen Betreuungskonzeptes stellt einen wesentlichen Ansatzpunkt für die Disziplin der Sozialpädagogik dar, die in dieser Hinsicht bislang noch wenig Würdigung und Berücksichtigung erfährt. So werden abschließend Konturen einer dezidiert an der Sozialpädagogik orientierten Ganztagsbetreuung resümiert, die rekurrierend auf lebensweltliche bzw. sozialräumliche Konzepte zu einem Gelingen der Transitionsbewältigung von Kindern aus der Familie in die Schule beitragen. Bisher gestaltete sich die Zuständigkeit wie folgt: Die Schule fokussierte die inhaltsorientierte Arbeit, die Jugendhilfe die beziehungsorientierte Ausrichtung (vgl. PRÜß 2004). Da die Schule auch und vor allem eine Sozialisations- und Integrationsaufgabe vertritt, ist eine stärkere Vernetzung von Schule und Jugendbzw. Sozialarbeit anzustreben, um innerhalb des schulischen Lernens und Lehrens eine Einheit aus Bildung und Erziehung herzustellen (vgl. HOMFELDT et al. 1977). Diese würde die Tendenz der Schule zur Verwissenschaftlichung deutlich reduzieren (vgl. EDELSTEIN 2009) und vermehrt die Vermittlung lebensweltorientierter Fähigkeiten betonen (vgl. BRENNER 2006). Im Zusammenhang mit einer an der Sozialpädagogik orientierten schulischen Ganztagsbetreuung gewinnt die Formung der sozialen Identität an Bedeutung (vgl. BUCHKREMER 2009). Ihr Beitrag besteht demzufolge darin, „einer 213 Diese Aussage findet sich im Untertitel des eben genannten Werkes.
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Menschheit das Curriculum zu entwickeln, nach dem sie die prosozialen Qualitäten befördern kann, die wir uns alle wünschen“ (ebd., S. 434), wobei die Schule als geeignetes sozialerzieherisches und -kommunikatives Lernfeld (vgl. PRÜß 2009) in der Erfüllung dieses Auftrages somit zu einem genuin sozialpädagogischen Ort (vgl. WINKLER 1988) wird, der eine „schulalltagsorientierte Sozialpädagogik“ (MAYKUS 2001, S. 135) vertritt. In diesem Vorhaben kann die Schule vonseiten einer „lebensweltorientierte[n] Jugendhilfe“ (OLK, BATHKE & HARTNUß 2000, S. 192; Hervorh. d. Verf.) Unterstützung finden, die den Menschen nach dem Prinzip der „Einmischung“ (THIERSCH 2004, S. 215) ganzheitlich erfasst und aufgrund brüchiger und widersprüchlicher Verhältnisse zu einer gelingenderen Lebenswelt beiträgt (vgl. THIERSCH 2004, 2005; FÜSSENHÄUSER 2006). Diese „lebensweltgestaltende“ (PRÜß 2004, S. 119; Hervorh. d. Verf.) Dimension der Schule reagiert im Sinne der Transitionsbewältigung „auf entstehende Abweichungen und drohende Karrieren des Scheiterns im Bildungssystem, versucht differenzierte Möglichkeiten der individuellen und sozialen Förderung benachteiligter oder von Benachteiligung bedrohter Kinder und Jugendlicher zu realisieren und Bildungsoptionen zu erschließen“ (MAYKUS 2004, S. 177). Vor allem die Betonung informeller und non-formeller Bildungsprozesse (vgl. BUNDESJUGENDKURATORIUM 2002; DEINET 2002b, 2004; THIERSCH 2004), die bisher überwiegend außerschulisch verortet wurden, führt zu diesem Verständnis von „Bildung als Selbstbildung in Auseinandersetzung mit Welt“ (THIERSCH 2009, S. 29). Diese Selbstbildung wird im Sinne der Sozialpädagogik als „sozialpädagogische Bildung“ (ebd., S. 28; Hervorh. d. Verf.) begriffen, die es im schulischen Kontext in den sozialpädagogischen Auftrag der Schule zu integrieren gilt. Vorwiegend über außerunterrichtliche Angebote bzw. die nachmittägliche Freizeitgestaltung an der Schule lassen sich diese informellen und non-formellen Bildungsinhalte transportieren, worüber die für den schulischen Bereich relevanten (Schlüssel-)Qualifikationen erworben werden (vgl. DEINET 2002b, 2004) und worin deutliche Ansatzpunkte für die Verflechtung mit der Disziplin der Sozialpädagogik zu erkennen sind. Die Schule stellt sich somit zugleich ihrer „sozialpädagogischen Verantwortung“ (ZELLER 2007b, S. 8), indem sie selbst als Lernund Lebensort einem „Lehrplan des Lebens“ (GRIMM & DEINET 2009, S. 130) folgt, der den Schülern Gelegenheit zur Selbstbildung bietet. Um den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen gerecht zu werden, ist die geforderte Lebensweltorientierung der Schule jedoch nur über eine Öffnung zum Schulumfeld und zur Lebenspraxis der Schüler zu realisieren. Eine sozialräumlich orientierte Schulsozialarbeit strebt daher eine Verbindung des Lebensortes Schule mit den Lebenswelten von Kindern an (vgl. DEINET & ICKING 2005) und wird zum „Medium der Öffnung von Schule“ (DEINET 2004, S. 253). Gleichzeitig impliziert
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der Blick auf die sozialräumliche Dimension der Schule das Prinzip einer „achtsamen Sozialen Arbeit“ (KESSL & MAURER 2005, S. 122; Hervorh. d. Verf.), die eine „Grenzbearbeitung“ (ebd., S. 123; Hervorh. d. Verf.) vornimmt, indem sie den Blick auf die brüchigen bzw. durchlässigen Stellen des gesellschaftlichen Miteinanders richtet, die im schulischen Kontext vor allem im Zusammenhang mit einer erfolgreichen Transitionsbewältigung Relevanz besitzen. Konklusiv lässt sich festhalten, dass der Gedanke der Lebensweltorientierung bzw. der Sozialräumlichkeit des schulischen (Ganztagsbetreuungs-)Systems bisher noch wenig verankert ist, für eine sozialpädagogische Ausrichtung eines ganztägigen schulischen Betreuungskonzeptes, das eine gelungene Bewältigung von Übergängen von Kindern aus der Familie in die Schule unterstützt, allerdings unabdingbar erscheint. Die obige Zusammenschau der bisherigen Erkenntnisse führt erneut zu der berechtigten, jedoch zugleich prekären Frage, auf die eine eindeutige Antwort herausfordernd, gar illusorisch erscheint: „Wohin gehst du, (Ganztags-)Schule?“ Der Illusion zum Trotz soll der Blick in die Zukunft nun gerade deshalb gewagt werden – wenn auch mit spekulativen Anteilen. „Quo vadis, (Ganztags-)Schule?“ Statt des „Wohin?“ müsste vielmehr das „Wie?“ eruiert werden. Denn wirklich fraglich ist, „ob die Schule sich weiterhin als ein Ort pädagogischen Handelns verstehen will“ (MÜHREL 2008, S. 25), was dann entsprechende Auswirkungen auf das „Wohin“ hätte. Wie sich die Schule resp. die Ganztagsschule zukünftig darstellen wird, ist meines Erachtens untrennbar mit diesem Selbstverständnis von Schule – dem „Wie“ – verbunden. Entscheidet sich die (Ganztags-)Schule dafür, ein Ort pädagogischen Handelns zu werden, „dann bietet die sozialpädagogische Besinnung eine historische Chance einer Neuorientierung weg von der Bestimmung des Ausgangspunktes einer objektiven Leistungsanforderung hin zu einem der individuellen und sozialen Förderung junger Menschen zu Personen, die auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben sind und dies mit demokratischem und solidarischem Handeln zu verbinden wissen“ (ebd.).
Trifft sie jedoch die Entscheidung dagegen, stehen die Sterne für das künftige (Ganztags-)Schulsystem schlecht. Ohne die sozialpädagogische Besinnung bliebe eine Neuorientierung aus und die Schulstruktur so mangelhaft wie bisher. Vor allem hinsichtlich der ganztägigen schulischen Betreuungsmodelle wären sämtliche Bemühungen zunichte gemacht. Das kann sich eine Schule, die Perfektion und Innovation verspricht, nicht leisten! Und wahrscheinlich will sie es sich auch nicht leisten. Allzu lange wurde an dem „deutschen“ Schulsystem herumgemäkelt, wurden Schwachstellen und Schlupflöcher enttarnt. Die Schule hat genug von dem Genörgel und besinnt sich eines Besseren. Der Wille scheint vorhanden
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zu sein – die Umsetzung steht jedoch tatsächlich in den Sternen. Mit vielen Hindernissen ist zu rechnen, viele Einflussfaktoren müssen Berücksichtigung finden und professionelles (sozialpädagogisches) Handeln ist gefragt. Doch kann und will sich die (Ganztags-)Schule dieser Herausforderung stellen? Fühlt sie sich zumindest der (Sozial-)Pädagogik verpflichtet, dann kann sie sich „von der Verantwortung für diese Zukunft nicht dispensieren“ (FURCK 1963, S. 502), sondern muss die nachwachsende Generation ab sofort als das Zentrum ihrer Bemühungen betrachten. Diese wäre es tatsächlich wert, wahrgenommen und wertgeschätzt zu werden, um einer wertvollen Zukunft entgegen zu blicken und zu gehen. Das ist die (Ganztags-)Schule ihren Kindern und Jugendlichen schuldig.
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Abbildungsverzeichnis
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Argumentativer Bezugsrahmen (nach: OTTWEILER 2005, S. 182) ............................................... 55 Abbildung 2: Strukturen und Konzeptionsmerkmale einer Ganztagsschule (nach: APPEL & RUTZ 2005, S. 72) .................. 64 Abbildung 3: Mikrosysteme des Kindes in den Umweltbereichen Familie und Schule (nach: STÖCKLI 1989, S. 26) ...................... 80 Abbildung 4: Der ökologische Übergang des Kindes von der Familie in die Schule mit den (vermutlichen) Wirkungen auf die Eltern-Kind-Beziehung (nach: STÖCKLI 1989, S. 35) ................ 81 Abbildung 5: A transition systems approach (nach: DUNLOP & FABIAN 2002, S. 151).................................... 82 Abbildung 6: Ein ökopsychologisches Schulreifemodell (nach: NICKEL 1996, S. 94)........................................................ 85 Abbildung 7: Ökopsychologisches Schulreifemodell (nach: NICKEL 1993, S. 57)........................................................ 86 Abbildung 8: Das Kind als Pendler zwischen den Lebenswelten .................... 95 Abbildung 9: Normative Grundstruktur der Sozialbeziehungen in Familie und in der Schule (nach: KNÖRZER, GRASS & SCHUMACHER 2007, S. 180)......... 112 Abbildung 10: Pädagogischen Prinzipien für die ersten Schulwochen und Schuljahre (nach: KNÖRZER, GRASS & SCHUMACHER 2007, S. 290)...................................................................................... 126 Abbildung 11: A framework showing successful transitions to school as a function of preparation, comprehensive support, and positive expectations for the future (nach: RAMEY & RAMEY 1999, S. 220)..................................... 130 Abbildung 12: Risikoerhöhende und -mildernde Bedingungen in der kindlichen Entwicklung (nach: WUSTMANN 2004, S. 55)........ 139 Abbildung 13: Co-Konstruktion der kindlichen Lebenswelten........................ 176 Abbildung 14: Transition als co-konstruktiver Prozess (nach: GRIEBEL & NIESEL 2004, S. 120).................................. 177
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 15: Bedürfnisdefizite von Schülern im regulären Schulsystem (nach: OPASCHOWSKI 1977, S. 74)........................................... 205 Abbildung 16: Freizeit-Funktions-Bereiche in der Ganztagsschule (nach: OPASCHOWSKI 1978, S. 83)........................................... 206 Abbildung 17: Funktionen der Freizeit- und Wahlbereiche einer Ganztagsschule (nach: ARTELT 2006, S. 125) ......................... 207
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5:
Übersicht über unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten in Familie und Schule (nach: ZIMMER et al. 1975, S. 76) .......... 116 Unterschiede zwischen Familie, Kindergarten und Schule (nach: ZIMMER et al. 1975, S. 82)............................................... 119 Risikomildernde Faktoren im Kindes- und Jugendalter (nach: SCHEITHAUER & PETERMANN 1999, S. 10) ..................... 141 Gegenüberstellung der Faktoren für eine positive Transitionsbewältigung und der protektiven Faktoren in der Resilienzforschung (nach: GRIEBEL & MINSEL 2007, S. 57) ..... 143 What the main stakeholders need during induction (nach: FABIAN 2002a, S. 31) ...................................................... 176