KLEINE
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LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HERMANN
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HERMANN
HEFTE
GERSTNER
DER ARMENDOKTOR Dr. med. C H R I S T O P H W I L H E L M H U F E L A N D
VERLAG
SEBASTIAN
LUX
MURNAU • MÜNCHEN • INNSBRUCK-BASEL
Unfriedliche Zeiten l V l . a n schreibt das Jahr 1831. Die Stürme des Napoleonischen Zeitalters sind schon halb vergessen, denn neue Unruhen halten Europa in Atem. Auf dem Balkan hat im Vorjahr Griechenland nach einem heroischen Freiheitskampf gegen den Türkensultan die Freiheit wiedergewonnen. Auch die Rumänen haben sich ihre Unabhängigkeit von Konstantinopel erkämpft. Frankreich hat mit seinen Kanonenbooten die algerische Flotte niedergezwungen und bezieht Algerien in sein Kolonialreich ein. Im gleichen Jahre trennen sich Belgien und Holland aus der erzwungenen Union der „Vereinigten Niederlande" und beginnen ihr eigenes selbständiges staatliches Leben. In Italien ringen Freischärler um die nationale Einheit der Apenninenhalbinsel. Im Osten sind die Polen rebellisch geworden und greifen zu den Waffen, um die russische Fremdherrschaft abzuschütteln. Die erregte Pariser Bevölkerung verjagt in der „Julirevolution" den absolutistisch regierenden König Karl X. und setzt den liberalen Ludwig Philipp als „König der Franzosen" an seine Stelle. Auch außerhalb Europas regen sich die Freiheitsgeister: Ägypten wirft die Fessel der türkischen Oberhoheit ab und wird Vizekönigreich. In Übersee gewinnen Venezuela, Ecuador und Kolumbien ihre Souveränität. Selbst in den deutschen Ländern sind die Kräfte der Freiheit entfesselt. Die deutschen Bürger fordern die Mitbestimmung, die ihnen in Not und Triumph der Befreiungskriege versprochen worden i s t . . . Von all der Unrast in der Welt wird der fast Siebzigjährige, der sich das schöne Landhaus nahe dem Berliner Tiergarten als Alterssitz erwählt hat, nur noch wenig berührt. Die Hände schützend vor die Augen gebreitet, ruht er auf der steinernen Bank unter den schattigen Wipfeln. Dort zwischen den Büschen und auf den gepflegten Gartenwegen spielen seine Enkel. Mit dem einen Auge sieht der Rastende seit Jahren nichts mehr, auch das zweite Auge droht zu erblinden. Aber Dr. Christoph Wilhelm Hufeland ist keineswegs unglücklich. Durch ein gesegnetes Leben gereift, ruht er ganz in sich selbst. Um die Güter dieser Welt braucht er sich keine Sorgen mehr zu machen, die verbleibenden Jahre für den Kreis der Familie sind gesichert. 2
Seit Wochen diktiert der Doktor hier im Garten Frau Helene den „Lebensbericht des Arztes Christoph Wilhelm Hufeland" in die Feder. Seine Enkel, die sich dort in der Sonne tummeln, sollen einmal erfahren, wie der Großvater das Leben und seine Probleme bewältigt, was er erstrebt und erkämpft hat und was er ihnen als Auftrag für das Leben zurücklassen wird. Wenn sie einmal in den Erinnerungsblättern lesen können, wird sie das Wort zu Anfang seiner Selbstbiographie an die Urgroßeltern erinnern: „Die erste und größte Wohltat Gottes war es, mich von so guten und frommen Eltern geboren und erzogen werden zu lassen."
Am 12. August 1762 ist Christoph Wilhelm Hufeland in Langensalza in Thüringen auf die Welt gekommen. Wie schon der Großvater, so war auch der Vater als Arzt tätig. Was ist nun die früheste Erinnerung des diktierenden Siebzigjährigen, wenn er nachdenklich die Jahrzehnte zurückwandert? Die ersten Lebensjahre in Langensalza liegen in magischem Dunkel. Doch nein, aus dieser Dunkelheit taucht ein quälendes Bild auf: Bedeckt mit den furchtbaren Pocken, gegen die man noch keine schützende Impfung kennt, liegt der Kleine — gleichsam auf einem glühenden Rost — in seinem Bett. Hilflos sitzt der Vater mit einem herbeigerufenen ärztlichen Freund vor dem Fiebernden. Die erste im Gedächtnis bewahrte Erfahrung seines Lebens also ist Leid. Freilich nach seiner Genesung hat der Junge die Erkrankung bald vergessen, aber in dem greisen Hufeland wirkt sie noch immer wie ein Alpdruck nach. Deutlicher und heller wird die Erinnerung an eine Reise nach Weimar, wohin der Vater, als Christoph drei Jahre alt ist, seinen Wirkungskreis verlegt. Der Vater, auf den man stolz sein kann, kauft am Marktplatz ein eigenes Haus und sorgt dafür, daß die Kinder zu geregelten Zeiten unterrichtet werden, daß sie mit Milch, Butterbrot und Obst, Suppe und Mus ein einfaches, aber gesundes Essen erhalten. Lateinisch und Griechisch, damals die wichtigsten sprachlichen Fächer, kommen zu ihrem Recht. Nach den Schulstunden macht es dem Jungen Freude, Mineralien und Kupferstiche zu sammeln, im Garten herumzugra3
ben, ein Puppentheater zu bauen und dazu die Texte zu schreiben. Bei allem Fleiß ist es nicht leicht, den strebsamen Vater zufriedenzustellen: Zu seinem Geburtstag muß der junge Christoph Wilhelm eine lateinische Rede ausarbeiten und auswendig hersagen. Nicht nur vor den Lebenden kriegt so ein kleiner Bursche Respekt, noch mehr fürchtet er sich vor den abgeschiedenen Geistern, den Gespenstern. Aber er wehrt sich gegen diese Angst. Als die Großmutter stirbt, ist er gerade fünfzehn Jahre alt. Wahrend die Tote im Hause aufgebahrt liegt, sitzt er im Dunkeln allein in seiner Kammer. Plötzlich im Nebenzimmer ein Poltern. Zuerst duckt er sich unter der Furcht. Dann aber überwindet er sich, reißt die Tür auf — und siehe da, eine Katze ist durch das offene Fenster hereingeschlüpft, hat allerlei Durcheinander angerichtet und entwischt gerade mit einem schnellen Satz wieder durch das Fenster. Man muß sich selber stark machen, spricht der Junge vor sich hin. Tatsächlich: Er hat in der gleichen Minute seine Gespensterfurcht verloren. Als Christoph Wilhelm achtzehn Jahre alt ist, verläßt er das elterliche Haus und geht nach Jena, um sich, der Familientradition entsprechend, für das Studium der Medizin einschreiben zu lassen.
stud. med. in Jena und Göttingen Die Studenten in Jena sind ein ungesittetes Volk. Sie treiben es reichlich roh: Üble Saufereien auf den Kommersen und Schlägereien gehören zum studentischen Alltag. Der junge Hufeland ist mit dem Willen in die Stadt gekommen, sich von groben Ausschweifungen fernzuhalten. So nimmt er alle Kraft zusammen, um gegen den ansteckenden Radau-Bazillus gefeit zu sein. Wird die Versuchung zu groß, schleicht er sich in seine Studierstube oder wandert in die herrliche thüringische Bergwelt hinaus. Am meisten hilft es ihm, wenn er sich, auch zu ungewöhnlicher Zeit, im Anatomiesaal mit dem Studium des menschlichen Leibes befaßt. Das ist gar nicht so einfach: Zwei Leichname müssen allen Medizinstudenten für ein ganzes winterliches Anatomiestudium genügen. Aber das Wissen — so hat er es vom Vater gehört — hängt nicht von der Menge der Präparate ab, sondern von der Genauigkeit, mit der 4
Der junge Professor
man sich das einzelne erarbeitet. Hufeland ist ein sehr exakter Anatom. Als der Vater in Jena einmal nach dem Rechten sieht, meint er freilich, in dieser Umgebung könne man bestenfalls ein durchschnittlicher Arzt werden, die Vergnügungen seien doch eine zu große Verlockung. Darum kommt der junge Hufeland Ostern 1781 nach Göttingen. Hier herrscht ein anderer Geist. Der Studiosus findet an diesem neuen Ort kein größeres Vergnügen, als untertags die Vorlesungen zu hören, am Seziertisch zu arbeiten und abends in seiner Klause die Niederschriften zu wiederholen und Fachbücher zu wälzen. Daß seine geliebte Mutter in dieser Zeit plötzlich stirbt, macht ihn noch ernster und vergrößert seinen Eifer. Drei Lehrer wirken am tiefsten auf seine Ausbildung. Dem Chirurgen Richter, verdankt er die Neigung zur praktischen Heilkunde, Johann Friedrich Blumenbach begeistert ihn durch seine Gabe, Naturvorgänge durch die Anleitung zu genauer und geduldiger Beobachtung verständlicher zu machen, und der Physiker und hintergründige Lebensphilosoph Georg Christoph Lichtenberg gefällt ihm durch seine großen, alles umfassenden Ansichten von der Natur und durch seine treffsicheren Geistesblitze, mit denen er seine Hörer zum Nachdenken über Welt, Menschen und Leben zwingt. Im Sommer 1783 beschließt Hufeland seine medizinischen Studien. Er hat gerade wieder einmal erfahren, wie gefährdet das menschliche Leben auf diesem Planeten ist: Ein schweres Erdbeben erschüttert soeben das süditalienische Kalabrien, im Katastrophengebiet sind gewaltige Staubmassen hochgewirbelt und treiben, über die Alpen geweht, als trockener Höhenrauch über Göttingen hinweg. Wie schmal ist die Schwelle zwischen Leben und Tod, wie schnell ist sie überschritten! Mit solchen Gedanken geht Hufeland ins Examen und diskutiert mit den Professoren seine Dissertation, in der er die Wirkung der Elektrizität auf Scheintote untersucht. Das Examen ist bestanden. Hufeland vergißt die Mühen des Studiums und kümmert sich nicht mehr um das Staubgewölk dort am Himmel — das Leben scheint wie eine schöne, weite Landschaft vor ihm zu liegen. Mit geschwellter Brust, das Zeugnis der bestandenen Prüfung in der Rocktasche, besteigt er die Postkutsche, die ihn heim nach Weimar tragen soll. 6
Hausarzt Goethes und Schillers Er steigt die Treppe in die vertraute elterliche Wohnung hinauf. Die Schwestern erwarten ihn, umarmen familienstolz den frischgebackenen Doktor. Dem Vater begegnet er erst in der Stube. Der Rücken des alten Mannes ist gebeugt, ein Freudenschimmer tritt in seine Augen, er nimmt den Kopf des Heimgekehrten in seine Hände, umtastet die Wangen, die Stirn, den Mund des Sohnes: „Es ist nichts Rechtes mehr mit mir", sagt er, „die Augen wollen nicht mehr." Als der Sohn mit den Schwestern allein ist, erfährt er, was sie ihm in den Briefen nach Göttingen verschwiegen haben: Der Vater ist hinfällig geworden, fühlt sich oft schwindlig, das Herz läßt nach. Die ärztliche Praxis ist kaum noch zu bewältigen. Christoph Wilhelm ist einundzwanzig Jahre alt, er hat noch keinerlei ärztliche Erfahrungen — aber er fühlt in dieser Stunde, daß es ihm bestimmt ist, dem Vater zur Seite zu stehen und die eigenen Pläne zurückzustellen. Anderentags übernimmt er die große Praxis, die nicht nur Patienten hier in Weimar, sondern auch rings im Lande betreut. So wird der junge Hufeland zur Stütze des Vaters, zum Helfer der vier Schwestern, die im gleichen Hause mit ihm leben, und zum arbeitsamen Vorbild für den zwölf Jahre jüngeren Bruder. In aller Frühe ist er auf, im Sommer sitzt er bereits um fünf Uhr, im Winter um sechs Uhr am Schreibtisch und entwirft heilkundige Abhandlungen. Von neun Uhr früh bis sieben oder acht Uhr abends ist er mit der Arzttasche kreuz und quer von einem Stadtpatienten zum anderen unterwegs. Mehrmals in der Woche reist er über Land, wenn er von einem Gutspächter, einem Bauern oder einem Landpfarrer verlangt wird. Zu Pferd oder in der Kutsche geht es dann auf den abscheulichen Landwegen der Zeit vier oder fünf Meilen weit bei Wetter und Wind in die bäuerliche Umgebung. Wenn der junge Doktor mit den Krankenbesuchen fertig ist und endlich heimkommt, beginnt für ihn noch längst nicht der Feierabend. Nach der Sitte der Zeit ist er sein eigener Apotheker. Nicht wie heute sind Mixturen und Pillen fertig verpackt, der Arzt muß die Pülvcrchen und Arzneien selber zubereiten. Übermüdet und erschöpft setzt er sich nach der Pillendreherei noch ans Pult, um die Krankenbücher zu führen und die täglich verabreichten Arzneien einzutragen. Nur 7
ausnahmsweise kann er dann noch eine gemütvolle Stunde mit Vater und Geschwistern genießen. Oft ist Hufeland so ausgelaugt, so von Berufssorgen niedergedrückt, daß er sich wünscht, aus dem traumlosen Schlaf nicht mehr aufzuwachen. Selbst nachts wird er zu plötzlich erkrankten Patienten gerufen. Hufeland fügt sich in dieses schwere Leben, und er erinnert sich an das Wort seiner Lehrer, daß ihm das Leben nicht zum eigenen Genüsse, sondern zum Dienst für andere gegeben ist. Diese anderen sind nicht nur die Kranken, sondern auch der fast blinde Vater, dessen Werk er weiterführt. Er ist bei aller Müdigkeit und Überlastung getröstet von dem Gedanken: „Der Segen des Vaters bauet den Kindern Häuser." Auch in dieser Zeit größter Beanspruchung findet Hufeland noch Zeit, die bei Blumenbach und Lichtenberg begonnenen wissenschaftlichen Versuche aus dem Bereich der noch jungen Elektrizitätsforschung fortzusetzen und sich mit Hilfe der väterlichen Bibliothek auf allen Gebieten der Medizin weiterzubilden. An einem Märztag des Jahres 1787 geht der Vater still aus dem Kreis der Familie, und Hufeland steht mit seinen Geschwistern aliein in der Welt. Als er im Totenzimmer dem Heimgegangenen die Lider über die Augen streift, bricht die Morgensonne warm und licht durch das Fenster. Der junge Arzt wird sich nicht der Bitterkeit des Todes, sondern des Glaubens an die Auferstehung bewußt. Die Geschwister bleiben einträchtig beisammen. Hingebend erfüllt Hufeland Tag für Tag seine Pflichten als Arzt. Er folgt dabei den Versen, die er in sein Tagebuch schreibt: „Der Menschen Leiden zu versüßen, das höchste Glück ganz zu genießen, ein Helfer, Tröster hier zu sein, dies, Gott, laß mich bei allen Sorgen gerührt empfinden." Der junge Mann in den zwanziger Jahren gewinnt mit diesem Idealisrrius in Weimar das Vertrauen der großen Klassiker. Er wird der Hausarzt Herders und Wielands, Goethes und Schillers. Die Persönlichkeit Herders hat ihm seit je mächtig imponiert. Eindrucksvoll ist ihm noch in spätesten Jahren die Gestalt Herders mit den edlen, durchgeistigten Gesichtszügen lebendig: „Er predigte gewaltig und nicht wie ein Schriftgelehrter. Wie ein Apostel stand 8
er auf der Kanzel." Wenn Herder die Hände faltet und ohne theatralische Gesten mit seiner tiefen Stimme vom höheren Dasein des Menschen und von seiner überirdischen Sendung spricht, dann fühlt sich auch Hufeland mit anderen Zuhörern dem Herrgott näher. Nicht weniger begeistert ist Hufeland von Goethe. Zeitlebens vergißt er nicht eine Weimarer Aufführung der „Iphigenie", in der Goethe seinen Orestes selbst darstellte. „Man glaubte einen Apollo zu sehen", schreibt Hufeland, „noch nie erblickte man eine solche Vereinigung physischer und geistiger Vollkommenheit und Schönheit in einem Manne als damals an Goethe." Zwar gibt der Dichter, dessen Gesundheit in der Regel vortrefflich ist, dem Hausarzt wenig zu tun. Aber als Naturforscher unterhält sich Goethe gern und oft mit ihm, und Hufeland empfindet diese „Stunden der interessantesten Mitteilung, Belehrung und geistigen Erwekkung" wie ein großes Glück. „Solche Erfahrungen gehören zu den seltensten Geschenken des Himmels", bekennt er dankbar. Kein Wunder, daß Hufeland sich durch den Umgang mit den erlesensten Geistern des Jahrhunderts in seinem Streben bestärkt fühlt. Angeregt vom literarischen Schaffen dieser Denker und Dichter, greift auch er entschlossen zum Federkiel und formuliert in den Morgenstunden vor Praxisbeginn seine Gedanken zu den medizinischen Problemen seiner Zeit.
Über die Ausrottung der Pocken Wie die Klassiker mit ihren Dichtungen Geist und Seele des Menschen große und heilsame Werke schenken, so will Hufeland zu seinem Teil das leibliche Leid mildern. Er hat mittlerweile ein junges Mädchen als Frau heimgeführt, muß für sie und weiterhin für die Geschwister sorgen — aber zugleich gelten seine Gedanken allen Leidenden und Beladenen. Eine plötzlich hereinbrechende Pockenepidemie in Weimar zwingt ihm erneut die Feder in die Hand; er denkt an seine eigene Pokkenerkrankung als Kind, seine früheste Erinnerung. Nun sieht er als Folge dieser Seuche, die alljährlidi Zehntausende dahinrafft und der man nahezu machtlos gegenübersteht, Entstellung und Tod. Im Jahre 1787 läßt Hufeland seine Abhandlung erscheinen: „Über die 9
Ausrottung der Pocken." Als einziges zu seiner Zeit bekanntes Mittel gegen die Ausbreitung der Pocken kann freilich selbst ein forschender Arzt wie Hufeland nichts anderes empfehlen als die Absonderung der Kranken. Erst einige Jahre später, als dem englischen Landarzt Eduard Jenner die segensreiche Entdeckung der Schutzpockenimpfung gelingt, kommt man einen Schritt weiter. Jenner stößt mit seiner neuartigen Methode lange Zeit auf das Unverständnis und den Widerstand vieler zeitgenössischer Kollegen — Hufeland ist einer der wenigen, die Jenner sofort beipflichten, und es ist nicht zuletzt sein Verdienst, daß die zum Teil abergläubischen Vorurteile gegen das geniale Impfsystem aufgegeben werden. Neben dem schriftstellerischen Kampf gegen die Pocken beschäftigt Hufeland in seiner Weimarer Zeit der bedrückende Gedanke, es könnte einer scheintot begraben werden. Die mehrtägige Sicherheitsfrist bis zur Bestattung kennt man noch nicht. Er schreibt seine Abhandlung: „Über die Ungewißheit des Todes." Weite Kreise in Weimar sind von diesem Aufsatz bewegt. Der Praktiker Hufeland ist glücklich darüber, daß seine Worte die Menschen aufrütteln, um den schrecklichen Fall, daß ein Mensch lebendig begraben wird, für immer zu verhüten. Eine Sammlung wird veranstaltet, mit deren Hilfe man auf seinen Vorschlag das erste Leichenhaus in Weimar errichtet, einen Bau, der die Toten einige Tage aufnimmt, bis man die absolute Gewißheit ihres Hinscheidens gewonnen hat. Der Menschenfreund Hufeland fördert auch in seinen späteren Lebensjahren die Errichtung ähnlicher Leichenhäuser in Berlin und an anderen Orten. Aus dem hilfsbereiten Arzt Weimars wird mehr und mehr ein wahrhaft menschenfreundlicher Geist, der in die Weite und in die Zukunft wirkt.
Professor in Jena Im Hause Goethes trifft sich jede Woche am Freitag eine Gesellschaft hochgebildeter Menschen. Zu den Gästen gehören Wieland, Herder und mancher andere aufgeschlossene Weimarer Bürger, auch der Arzt Hufeland kommt gern herüber. Es sind Männer aus verschiedenen Berufen und von eigenwilligem Denken, die nicht nur in ihrem eigenen Fach beschlagen sind, sondern auch an der beruf10
Manni Hesse
Digital unterschrieben von Manni Hesse DN: cn=Manni Hesse, c=DE Datum: 2007.01.07 10:27:24 +01'00'
Königin Luise in Königsberg, zu ihrer Linken der Kronprinz der spätere König Friedrich Wilhelm IV., zur Rechten Prinz Wilhelm, der spätere Kaiser Wilhelm I. (Gemälde von Karl Steffeek). 11
liehen und geistigen Welt der übrigen Anteil nehmen. In den Gesprächen erwägen sie all das, was die abendländische Kultur in Jahrtausenden erarbeitet hat, zugleich aber bemühen sie sich, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Die Freunde der Tischrunde berichten von ihrer Arbeit, ihren Liebhabereien, freimütig mischen sich die Hörenden in die Diskussion, die alle Gebiete des menschlichen Geistes einbezieht. So erweitert man Bildung und Wissen auf lebendige Art. Kommt ein angesehener Fremder nach Weimar, so wird er eingeladen, an dem Gespräch im stattlichen Haus am Frauenplan teilzunehmen. Goethe selbst beteiligt sich an dem illustren Kreis durch manchen Beitrag, er liest die Übertragung der „Ilias" von Johann Heinrich Voss vor, man klatscht dem Vortragenden und dem Übersetzer Beifall, man rühmt das dem Verfasser der „Ilias" nachgebildete Versmaß der Hexameter, das dem Werk Homers weite Verbreitung in deutschen Landen sichern wird. Wieder einmal nimmt Hufeland an der Freitags-Gesellschaft teil. Der Herzog von Weimar wird an diesem Abend Gast im Goetheschen Hause sein. Hufeland begrüßt im Empfangszimmer ehrerbietig den Landesfürsten. Ihm kommt heute die besondere Aufgabe zu, aus seinem medizinischen Arbeitsbereich ein Referat zu halten. Das „organische Leben" und die Erhaltung von Gesundheit und Leben sind das Thema, das er mit Goethe vereinbart hat. Er läßt sich durch die Anwesenheit des Landesherrn nicht beirren. Zustimmend nickt Goethe, wenn der Arzt eine seiner einleuchtenden Gedanken zur Volksgesundheit entwickelt. Am Ende zögert auch der Herzog nicht mit seinem Beifall und bittet in einer Pause den Gastgeber zur Seite. „Der Hufeland paßt zu einem Professor", sagt der Herzog, „ich will ihn nach Jena versetzen." Goethe bestärkt den Herzog in seinem Entschluß. Diese Freitags-Sitzung findet im Herbst 1792 statt. Ein halbes Jahr später, zu Ostern 1793, übernimmt Hufeland die medizinische Professur an der Universität Jena. Bis zum Jahre 1801 bleibt er in diesem Amt. Seine Vorlesungen werden jedesmal zu einem Ereignis für die junge akademische Welt. Im Hörsaal sind, wenn Hufeland das Katheder betritt, bis zu fünfhundert Zuhörer versammelt, eine Zahl, die für die damalige Zeit wahrhaft ungewöhnlich ist. Um das neue Arbeitspensum zu bewältigen und um die Vorle12
sungen über Krankhcitslehre, Heilkunde und Arzneiwissenschaft ausarbeiten zu können, muß Hufeland wieder in aller Herrgottsfrühe ans Werk gehen. Untertags hat er dafür keine Zeit; denn dann füllen die Patienten das Wartezimmer. Und abends muß- man sich mitunter eine Stunde mit den Professoren-Kollegen zusammensetzen, zu denen die Philosophen Fichte und Schelling und der Dozent für Dichtungsgeschichte, August Wilhelm Schlegel, gehören. Hufeland gewinnt in diesen Jenaer Jahren durch seine Lehrtätigkeit und seine Veröffentlichungen einen solch großen Namen, daß er gegen Ende der neunziger Jahre von vielen anderen Universitäten als Lehrer begehrt wird. Auch aus Rußland kommt eine Einladung; Zar Paul will ihn zu seinem Leibarzt machen. Italien bietet ihm eine Professur in Pavia an. Aber aus Dankbarkeit gegenüber seinem thüringischen Heimatland bleibt er weitere Jahre in Jena. Ungetrübt vergeht freilich auch diese Zeit nicht. Zwei Geschehnisse bürden in Jena dem erfolgreichen Professor Mühen und Lasten auf. Einmal ist es der wissenschaftliche Streit mit dem sogenannten Brownianismus. Die Anhänger dieser Lehre, die nach dem schottischen Arzt John Brown benannt ist, stellen die Behauptung auf, daß das Leben durch dauernde Reize und die dadurch hervorgerufene Erregung des Organismus erhalten werde. Hufeland wehrt sich dagegen, daß man die Medizin in ein bestimmtes System pressen will. Er will die Freiheit der Forschung nicht durch einseitige Theorien einengen lassen, sondern vertraut auf die vielseitige praktische Erfahrung. Da der Gelehrtenzwist von den Vertretern des Brownschen Systems recht unduldsam und mit persönlichen, nicht selten pöbelhaften Angriffen ausgetragen wird, fühlt sich Hufeland oft verletzt. Als zweites kommt ein körperliches Mißgeschick hinzu. Der hilfsbereite Doktor muß an einem naßkalten Novembertag des Jahres 1798 im offenen Wagen über Land zu einem Kranken fahren. Drei Stunden lang holpern die Räder über die schlechten Straßen. Erst gegen acht Uhr am Abend kommt Hufeland durchnäßt und durchfroren heim. Als er sich umgekleidet und sich etwas erwärmt hat, entdeckt er auf seinem Schreibtisch eine Neuerscheinung aus dem klassischen Weimar, die der Postbote gebracht hat: Goethes „Hermann und Dorothea". Trotz der Anstrengungen des Tages und der 13
Ermüdung durch die Streitigkeiten mit den medizinischen „Kollegen" vertieft sich Hufeland sofort in das Epos. In dieser Nacht verbringt er Stunde um Stunde mit den Versen, bis ihm zuletzt bei dem schlechten öllicht die entzündeten Augen schmerzen. Erst um Mitternacht legt er das Buch aus der Hand. Als er am nächsten Tag erwacht, ist das Licht des rechten Auges wie ausgelöscht. Er muß sich gleich in die Behandlung eines Spezialisten begeben — doch nichts hilft, das Auge bleibt zeitlebens blind.
Die Kunst, das Leben 2u verlängern Wie schon in Weimar, so hat Hufeland auch die Jahre in Jena genutzt, um in neuen Veröffentlichungen seine ärztlichen Erfahrungen weiteren Kreisen bekannt zu machen. Er schreibt einen „guten Rat an die Mütter über die wichtigsten Punkte der körperlichen Erziehung der Kinder in den ersten Jahren", er ist Mitherausgeber mehrerer medizinischer Zeitschriften, unter anderem des „Journals der praktischen Arzneikunde und Wundarzneikunst" — sein Hauptwerk aber wird in dieser Zeit die „Makrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern". Dieses Buch erregt ein solches Aufsehen, daß es nicht nur in zahlreichen deutschen Ausgaben erscheint, sondern auch in alle europäischen Sprachen übersetzt wird und auch in überseeischen Ländern große Verbreitung findet. Seit dem ersten Erscheinen dieses Buches im Jahre 1796 haben Medizin und Naturwissenschaften zwar großartige neue Erkenntnisse gewonnen, aber der Grundgedanke des Werkes Hufelands hat auch heute nichts von seiner Bedeutung verloren. Mit den wohldurchdachten Ausführungen, wie der Mensch der Neuzeit durch einen vernünftigen Tagesablauf sich Jahre der Gesundheit hinzugewinnen kann, hat Hufeland ein bleibendes Hausbuch für eine naturnahe Lebensweise geschaffen. Von der Lebensdauer der Pflanzen und Tiere ausgehend, untersucht er, welche Zeit dem Menschen zugemessen ist. Er bringt Beispiele eines hohen Alters bei Kaisern und Königen, Philosophen und Gelehrten, Künstlern und Handwerkern. Er betrachtet, wie Klima und Wohnlage die Gesundheit beeinflussen, wie Arbeit und Ehe, Stadt- und Landleben sich auswirken, und stellt den Nutzen 14
des naturgemäßen Verhaltens dar. Indem er die körperlichen Organe im einzelnen in ihrer Funktion betrachtet, erklärt er, wie das Bild eines zum langen Leben bestimmten Menschen aussehen sollte. Er gibt Anweisungen, wie man die Krankheitsursachen vermeidet, wie man sich abhärtet und durch einen sinnvollen Lebensstil zu seiner Gesundheit beitragen kann; wie Ausschweifungen aller Art, Verzärtelung, Unmäßigkeit und Überreizung das Leben verkürzen und wie verderblich Müßiggang und aufpeitschende Gifte sich auswirken. Als Mittel, das Leben zu verlängern, empfiehlt er abhärtende körperliche Erziehung, arbeitsame Jugend, Beherrschung der Leidenschaften, ausreichenden Schlaf, körperliche Bewegung, Genuß der freien Luft, ein erholsames Land- und Gartenleben, Sauberkeit im allem, Mäßigkeit im Essen und Trinken, ständige Zahnpflege, innere Zufriedenheit und seelisches Gleichmaß. All das sind auch heute noch Leitsätze eines guten Hausarztes. Am Schluß, nachdem Hufeland seine wohlfundierten Ratschläge vorgetragen und mit vielen praktischen Angaben belegt hat, gibt er dem Leser noch ein Wort zur Beherzigung mit ins Leben: „So bleibt es ewig wahr, was unsere Alten in zwei Worten als den Inbegriff aller Lebensregeln aussprachen: Bete und arbeite — das Übrige wird Gott machen. Denn was heißt das anders als: Der Friede Gottes im Herzen und nützliche Tätigkeit nach außen sind die einzig wahren Grundlagen allen Glücks, aller Gesundheit und allen langen Lebens."
An der Charite Das Glück freilich ist einem Manne wie Hufeland auch in der Zukunft nicht immer willfährig. Das Jahr 1800 findet ihn niedergebeugt und bekümmert. Die Französische Revolution hat die deutschen Monarchen gegen die Professoren mißtrauisch gemacht. Sie fürchten, daß die revolutionären Freiheitsideen von den Universitäten aus auf das Voik übergreifen könnten. Den Universitäten werden die Zuschüsse gekürzt, auch die Jenaer Universität wird in steigendem Maße vernachlässigt. In dieser Zeit erreicht Hufeland ein Ruf aus Berlin, er solle dort an Stelle eines verstorbenen Kollegen königlicher Leibarzt werden. Zugleich werden ihm das Amt des Direktors des ..Medizinisch-chir15
urgisdien Kollegiums" und der Posten eines ersten Arztes an dem bekannten Krankenhaus „Charite" angetragen. Das Angebot ist verlockend: Es eröffnet dem unternehmungsfrohen Arzt einen größeren Wirkungskreis, als ihm Jena je bieten könnte. Ein berühmtes Krankenhaus, eine breite Lehrtätigkeit als Dozent, das Leben in einem Staat, der freiheitlicher und großzügiger zu sein scheint als die kleine Welt, die Hufeland bisher gekannt hat; all das fällt ins Gewicht. Auch die aufblühende Stadt Berlin reizt ihn, zumal die Kinder dort eine andere Zukunft finden können als in dem engen Umkreis von Weimar oder Jena. Hufeland braucht keine langen Überlegungen anzustellen. Er nimmt den Ruf in die preußische Hauptstadt an, um fortan über dreißig Jahre lang mit seinen großen Kenntnissen und seiner rechtlichen Gesinnung in der preußischen Königsfamilie als Arzt und in der preußischen Gesundheitsverwaltung als Organisator zu dienen. Im Jahre 1801 beginnt er seine neue Tätigkeit. Sie ist sehr vielseitig. Am Morgen wird Hufeland zu einem Angehörigen des königlichen Hofes gerufen, um als Leibarzt tätig zu sein, eine Stunde darauf trifft er als Direktor der medizinischen Fakultät wichtige Entscheidungen, dann kümmert er sich als Chefarzt in der Charite um die ernsteren Fälle oder nimmt an einer unaufschiebbaren Sitzung der Akademie der Wissenschaften teil. Täglich sind dreißig bis vierzig Krankenbesuche zu machen, so daß man den vielbeschäftigten und dabei stets gewissenhaften Arzt immer in Eile sieht. Die einzige Erholung findet er in dem eigenen Haus, das er durch die großzügige Hilfe des Königs erwerben kann. Der Monarch weiß, daß er in Hufeland einen der bedeutendsten Praktiker seiner Zeit gewonnen hat. Darum sagt er auch: „Wenn man den Vogel behalten will, so muß man ihm ein Nest bauen." Und es ist eine stattliche Beihilfe, die Hufeland für sein „Nest" erhält. Der Arzt dankt mit unermüdlicher Arbeit. Auch in Berlin ist der medizinische Schriftsteller Hufeland am Werk. Er kümmert sich nicht um die wechselnden Theorien, sondern macht seine reichen Erfahrungen fruchtbar. Nicht was geschrieben steht, ist für ihn verbindlich, sondern was nach eigener Einsicht für die Gesundheit förderlich ist: Der Mensch bleibt für ihn das Maß der Dinge. All sein Bemühen hat das große Ziel, den Gesundheitszustand der breiten 16
Goethes Stadthaus am Weimarer Frauenplan. Hufeland war Hausarzt Goethes. Schillers, Herders und Wielands. Volksschichten zu verbessern. Darum empfiehlt er, was damals keineswegs selbstverständlich ist, die allgemeine Anwendung von warmen Bädern, berichtet über erfolgreiche Kuren in den Badeorten, weist auf die heilsame Bedeutung der Impfinstitute hin und warnt vor dem gefährlichen Mißbrauch des Branntweins. Sein literarisches Hauptwerk zu Beginn dieser Berliner Jahre ist sein zweibändiges „System der praktischen Heilkunde" (1800—1805) — ein Werk, das möglichst großen Volksschichten ein gesundes und glückliches Leben bescheren will.
Mit der Königin auf der Flucht Das arbeitsame Leben wird durch die politischen und militärischen Ereignisse jäh unterbrochen. Im Jahre 1806 hat Hufeland als ärztlicher Begleiter der liebenswürdigen Königin Luise in Bad 17
Pyrmont noch einmal friedvolle Tage verlebt, er bezeichnet sie als die „glücklichste Zeit seit vielen Jahren". Aber noch im gleichen Jahre wird Preußen in den Krieg gegen Napoleon getrieben. Im Oktober verliert die veraltete preußische Armee die Doppelschlacht von Jena und Auerstedt. Die Existenz des Staates steht auf dem Spiel. Einige Tage später! In der Frühe des 18. Oktober wird Hufeland ins Palais zu Königin Luise gerufen, die eben in der Nacht vom Schlachtfeld zurückgekommen ist. In voller Verzweiflung steht sie ihrem Leibarzt gegenüber. „Alles ist verloren", sagt sie, „das Heer ist auf der Flucht, Napoleon im Anmarsch auf Berlin. Ich muß mit den Kindern fliehen und Sie müssen uns begleiten." In Hufelands Innerem überstürzen sich die Gedanken. Kann er in dieser Stunde der allgemeinen Gefahr seine Frau und seine Kinder, deren jüngstes erst ein Jahr alt ist, verlassen? Muß er als Vater nicht bei den kriegsbedrohten Seinen bleiben, darf er als Arzt die Königin allein lassen? Hufeland entscheidet sich im tragischen Widerstreit der Pflichten für die Aufgabe, die er als königlicher Leibarzt übernommen hat. Die pferdebespannten Wagen mit den Flüchtlingen verlassen die Stadt. In Danzig findet man erste Sicherheit, während der Korse triumphierend in Berlin einzieht und ganz Norddeutschland von den Franzosen besetzt wird. Für Hufeland ist dieses erzwungene Asyl kein Ort der Ruhe. Man beordert ihn nach Königsberg, wo ein Mitglied des Königshauses, Prinz Karl, von einem gefährlichen „Nervenfieber", dem Typhus, ergriffen ist. Mitten in der Nacht bricht Hufeland auf. Der Novembersturm tobt, als er in Pillau ankommt. Die Matrosen weigern sich, bei der hochgehenden See die Fahrt zu wagen. Hufeland zwingt die Zögernden, die Anker zu lichten. Nachts um zwei Uhr geht er in Königsberg an Land. Er findet den Prinzen bewußtlos, dem Tode nahe. Nur eines kann dem Fiebernden und tödlich Geschwächten vielleicht noch helfen: ein heißes Kräuterbad. Hufeland sorgt selber für die Zubereitung, und das Wagnis gelingt. Das Fieber mäßigt sich, die Krisis ist überstanden. Die Typhusepidemie, die den Prinzen befallen, breitet sich unter den Flüchtlingen aus. Tag und Nacht ist Hufeland von einem Kran18
kenbett zum anderen unterwegs, ein Glück, daß er selber von der Ansteckung verschont bleibt. Aber die Königin, die er zutiefst verehrt, wird von der Krankheit ergriffen, und es ist unsicher, ob sie die Fieberanfälle übersteht. In der Stunde der größten .Ungewißheit wütet draußen ein fürchterlicher Sturm. Ein Giebel des alten Schlosses, in dem die Todkranke um ihr Leben ringt, stürzt krachend herunter. Die Kur Hufelands wirkt sich günstig aus, und in den nächsten Tagen scheint sich der Zustand der Königin zu bessern. Der Arzt atmet auf. Doch schon um die Wende des Jahres kommt eine neue Hiobsbotschaft: Die Armeen Napoleons rücken heran. Noch ist die Königin nicht gesund. Darf man sie erneut den Strapazen einer Flucht aussetzen, jetzt mitten im Winter? Königin Luise erklärt mit Bestimmtheit: „Ich will lieber in die Hände Gottes als in die Hände der Feinde Preußens fallen!" Am 8. Januar 1807, bei eisiger Kälte und hartem Sturm, geht es über die Kurische Nehrung auf Memel, die östlichste Bastion des preußischen Staates, zu. Knietief ist der Schnee auf den schmalen Sandgürtel der Nehrung geworfen. Über die Dünen fegen niedrige Wolken, gegen den Strand schlägt grüne Brandung. Wo es geht, sucht man den Weiterweg über das Eis, manchmal fährt man am Strand durch die Sturmwellen des Meeres. Das Wagengefolge zieht Spuren durch verschneite Wälder. Auch nachts findet man keine Erquickung. Die Fischersleute hier auf der armen Nehrung haben auf ihren Lagern nichts anderes als Säcke, die mit Schilf ausgestopft sind. Selbst der beste Schlafraum ist armselig. Kaum tagt es, muß man wieder hinaus in die Kälte. Die Fiebernde im Reisewagen ist mit Kissen und Decken umhüllt, da das Verdeck nicht vor den seitwärtigen Windstößen schützt. Hufeland sitzt der Kranken gegenüber. Wenn das Meer, das zwischen den Eisblöcken in die Dünensenken einströmt, allzu laut brüllt, fährt die Königin zusammen. Manchmal versinken die Räder im Schnee. Dann greift Hufeland mit dem Kutscher in die Speichen, um das Gefährt wieder flott zu machen. Die kranke Königin träumt von ihrer Rückkehr, von den hohen Gemächern des Schlosses, vom Park von Sanssouci, wo in der Orangerie schon die kleinen roten Früchte des Südens reifen. 19
„Majestät, wir sind am Ziell Drüben am Ufer liegt Memel!" Zum erstenmal auf dieser schrecklichen Reise gegen Sturm und Tod geschieht es, daß die Sonne durchbricht und mild und schön die Silhouette der Stadt beleuchtet, die in der nächsten Zeit der Königin, ihrem kleinen Gefolge und ihrem Leibarzt Zuflucht sein wird. Auf der Freitreppe des Hauses erwartet König Friedrich Wilhelm seine Gemahlin.
Im Exil zu Memel und Königsberg Vom 11. Januar 1807 bis zum 15. Januar 1808 dauert das Memeler Exil. Sonderbar erscheint hier dem vielbeschäftigten Arzt das Leben. Die sechs Berliner Jahre haben ihn mit anstrengender Berufsarbeit Tag und Nacht in Atem gehalten. Hier in der Abgeschiedenheit der kleinen Stadt an der äußersten Grenze, fern von Frau und Kindern, kommt ihm das Leben wie die Stille nach dem Sturm vor. Freilich, eine gefährliche Stille! Hufeland sitzt oft mit ernsten Gedanken allein in seiner kleinen Behausung. Die Zeitläufte haben alle bisherige staatliche Ordnung zerstört. Besitz und Stellung des einzelnen sind bedroht. Hufelands Augenleiden hat sich infolge der unmenschlichen Strapazen verschlimmert, nur in seltenen Stunden kann er sich durch Lesen ablenken — ablenken auch von dem, was sich in seiner Familie zugetragen hat. Die bösen Zeiten haben seine Ehe zerstört, seine Frau hat sich einem anderen Manne zugewandt. Nach achtzehnjähriger Ehe ist Hufeland wieder allein, die Kinder, die in einer unbekannten Ferne leben, können ihm nicht beistehen. Nur der Beruf ist dem einsamen Manne geblieben. Zu seinem eigenen Trost liest er in den Stunden, da sein Augenleiden es zuläßt, die Bibel, Kapitel für Kapitel, vom Anfang bis zum Ende. Wenn er von den großen Buchstaben der Bibel aufblickt, fühlt er sich gestärkt für den morgigen Tag. Der König hat sich nach Tilsit begeben, um mit Napoleon über den Frieden zu verhandeln. Hufeland weilt gerade bei der Königin, als ein Kurier ins Zimmer tritt und ein Schreiben Friedrich Wilhelms überreicht. Der König bittet Luise, nach Tilsit zu kommen, um durch persönliche Vorsprache mildere Friedensbedingungen für Preußen zu erbitten. Die Königin ist außer sich bei dem Gedanken, 20
als Bittstellerin vor den Sieger zu treten: „Das habe ich nicht erwartet, gedemütigt vor Napoleon dastehen zu müssen . . . Es ist das schmerzlichste Opfer, das ich meinem Volk bringe . . . Aber ich will es auf mich nehmen." Ihre Vorsprache bei dem allmächtigen Herrn Europas ist demütigend und ohne Erfolg. Am 9. Juli 1807 wird in Tilsit der Diktatfriede unterzeichnet. Preußen tritt alles Gebiet jenseits der Elbe ab. Am 15. Januar 1808 verläßt Hufeland mit dem Hof Memel und begleitet die königliche Familie nach Königsberg. Hier wird er im Hause eines hochachtbaren Arztes einquartiert und genießt die Gepflegtheit des trefflichen Hauses. Die Frühstunden gehören wieder seiner literarischen Tätigkeit, untertags kümmert er sich um die Kranken, die seiner bedürfen. Wie schon in Memel, so ist auch hier für ihn die schönste Zeit des Tages jene Stunde gegen Abend, wenn er bei der Königin zum Tee geladen ist. Bei diesen Gesprächen am Teetisch, an der Mittagstafel des Königs und bei den Unterhaltungen mit den Ministern geht es nicht mehr um persönliche Dinge. Man bespricht die neue Organisation, mit der man den Staat nach dem Friedensschluß wieder aufbauen will. Hufeland durchdenkt alle Maßnahmen, die getroffen werden müssen, um das zerrüttete staatliche Gesundheitswesen neu zu ordnen. Er wird in dieser Eigenschaft erster wissenschaftlicher Beirat in dem zuständigen Ministerium. Viel beachtet werden seine Vorschläge, wie man Preußen durch Neugründung einer Universität wieder eine Mitte für Wissenschaft und Forschung geben könne. Hufeland hat mit seinem Rat dazu beigetragen, daß man Berlin als Sitz dieser neuen Universität bestimmt.
Berliner Universität und Poliklinik Drei Jahre verbringt Hufeland mit seinem König im Exil. Erst im Dezember 1809 kann man die Rückreise nach Berlin antreten. Als der Arzt nach so langer Abwesenheit wieder durch die Räume seines alten Hauses wandert, fühlt er sich freilich einsamer als früher, da nur einige von seinen Kindern zu ihm zurückgekommen sind; trotzdem geht er, seinem ärztlichen Eid getreu, mit Feuereifer daran, die Pläne, die man im Exil gefaßt hat, zu verwirklichen. In der beruflichen Arbeit vergißt er sein persönliches Unglück. 21
Das erste Arbeitsfeld findet er an der neu gegründeten Universität. Wo der Staat wieder Theologen, Philologen und Juristen ausbildet, soll auch die Medizin im Ringe der Wissenschaften glänzen. Hufeland wird der erste Dekan der medizinischen Fakultät. Als Professor der speziellen Krankheitskunde und der Heilkunde fühlt er sich wieder in seinem Element. Die größte Freude ist es für ihn, als er am Pult steht und als ersten Hörer seiner Vorlesung den eigenen Sohn Eduard den Hörsaal betreten sieht. Die zweite Aufgabe, die der Heimgekehrte zu Anfang des Jahres 1810 in Angriff nimmt, ist die Gründung einer medizinisch-chirurgischen Gesellschaft, die später den Namen „Hufelandsche Gesellschaft" annimmt. Am 1. Februar versammeln sich namhafte Ärzte im Hause
Das Berliner Schloß, in dem Hufeland als Hofarzt tätig war. 22
Hufelands, und man beschließt, daß man sich alle vierzehn Tage treffen wird, um im lebendigen Gespräch oder in Vorträgen Erfahrungen aus der Praxis auszutauschen, interessante Krankheitsfälle zu erörtern, die Wirkung neuer Arzneimittel zu prüfen, oder notwendige Maßnahmen auf dem Gebiet des Gesundheitswesens zu klären. Die medizinisch-wissenschaftliche Gesellschaft gibt den Ärzten Gelegenheit, sich über den neuesten Stand ihrer Wissenschaft zu unterrichten. Der dritte Wirkungskreis ist die medizinische „Poliklinik", die Hufeland im März 1810 eröffnet — das erste Institut dieser Art für arme Kranke in Berlin. Der Mann, der so oh an der königlichen Tafel speisen durfte, hat gerade für die mittellosen Patienten ein besonderes Herz. Der König stiftet anläßlich seiner Rückkehr für die Klinik einen namhaften Betrag. Die poliklinischen .Anstalten', so fordert Hufeland, sollen dem jungen Arzt eine vielfältige Ausbildung vermitteln, sie sollen ihn frühzeitig mit dem menschlichen Elend in Verbindung bringen und ihn dadurch zu einer moralischen Persönlichkeit erziehen, sie sollen das Gefühl des Arztes für die Ärmsten erwecken, damit er nicht bloß ein Rezeptverschreiber wird, sondern ein „Retter und Tröster der Verlassenen". Andererseits sollen die Polikliniken besonders bedürftigen Patienten zugute kommen. In seinen Vorschriften für die neue Anstalt kümmert sich der mitleidvolle Arzt auch um Einzelheiten, er bestimmt, in welchen Fällen die Patienten auf bessere Kost gesetzt werden sollen und wann ihre Einweisung in die Charite notwendig ist. Auch die Charite, das große Krankenhaus, das seinen Namen dem christlichen Wort Nächstenliebe verdankt, hätte sich keinen besseren Arzt wünschen können. Um den Mittellosen auch die richtige Versorgung mit Medikamenten zu sichern, schreibt Hufeland eine „Armenpharmakopöe", ein Arzneibuch, das in der Folge viele Krankenhäuser des In- und Auslandes übernehmen. Hufeland ist ein wahrer Armendoktor geworden, obwohl man ihn zum Staatsrat ernannt hat. Sein Wort gilt in allen ärztlichen Dingen bei arm und reich. Der Ruf Hufelands ist mittlerweile so sehr gewachsen, daß ihn der König von Holland, Louis Napoleon, ein Bruder Bonapartes, der an Lähmungen leidet, zur Beratung heranziehen möchte. Im Einverständnis mit dem preußischen König reist Hufeland im Mai 23
1810 nach den Niederlanden, um dem Erkrankten zu helfen. Unterwegs wird er von einem Wechselfieber befallen. Er unterdrückt die Anfälle durch stärkste Gaben von Chinin, um rechtzeitig in Holland zu sein. Als er in Harlem eintrifft, empfängt ihn König Louis Napoleon mit aller Hochachtung. Welche Wende des Schicksals: Hufeland, der einst im grausamen Winter vor den Truppen Napoleons geflüchtet ist, wird von einem Bruder des Korsen willkommen geheißen! Freilich kommt es nicht mehr zu einer ausführlichen Behandlung, da Louis Napoleon selber flüchten muß; seine Zwangs-Untertanen haben sich gegen ihn erhoben. So ändert sich der Weg des Schicksals üfcer Nacht! Hufeland ist seiner Aufgabe ledig und reist unter widrigen Umständen durch das aufrührerische Land heimwärts. Unterwegs hört er zu seiner Bestürzung, daß während seiner Abwesenheit die verehrte Königin Luise gestorben ist. In Berlin läßt er sich gleich beim König zur Audienz melden. Der Arzt, der in seinem Leben so viel Leid gesehen und ertragen hat, bringt vor Trauer und Schmerz kein Wort heraus. Tränen ersticken seine Stimme. „Es war mir", schreibt Hufeland, „als wenn die leuchtende und erwärmende Sonne unseres Horizontes untergegangen wäre, alles kam mir kühl, trübe und erstorben vor."
Wirre Zeiten In den Jahren 1812 und 1813 bringt das zu Ende gehende Napoleonische Zeitalter in das Leben Hufelands noch einmal Verwirrung. Der Arzt ist mit mannigfaltigen wissenschaftlichen Forschungen beschäftigt. Unter anderem schreibt er über den Wert der Impfung, über die „Geschichte der Gesundheit des Menschengeschlechtes", über die Bedeutung des Opiums. Noch bevor er die Arbeiten abgeschlossen hat, kommt aus Rußland die Kunde vom Untergang der Armeen Napoleons nach dem Brand von Moskau. Preußen schließt mit den siegreichen Russen ein Bündnis und beginnt den Befreiungskrieg gegen den Militärdiktator. Wieder muß die königliche Familie aus Berlin fliehen; diesmal wendet man sich nach Schlesien. Zum zweiten Male beugt auch Hufeland sich dem Schicksal und folgt dem Hofe. Wiederum liegt die Zukunft dunkel und ungewiß vor ihm. Wenn der Kampf gegen Napoleon noch einmal, wie im Jahre 1807, unglücklich 24
ausgehen sollte, gibt es weder für den König noch für seinen Arzt Hufeland eine Rückkehr. So bringen die Tage viele Sorgen. Im Breslauer Exil faßt sich Hufeland wieder. Er vertraut der göttlichen Vorsehung, widmet sich seiner stillen wissenschaftlichen Arbeit, freut sich der Nähe der Kinder, die bei ihm geblieben sind, verkehrt auch mit Gelehrten und Künstlern. Seine Gedanken weilen freilich oft genug bei dem Sohne Eduard, der im Heere gegen Napoleon steht. Erst als am 19. Oktober 1813 ein Kurier die Nachricht vom Sieg der Verbündeten in der Völkerschlacht bei Leipzig überbringt, fühlt man sich befreit. Napoleons Macht ist gebrochen. Im Januar 1814 kann Hufeland für immer nach Berlin zurückkehren. Da die Zeiten friedlicher zu werden scheinen, geht Hufeland mit neuem Mut, mit neu entfachter Kraft an seine Aufgaben. Er wirkt als vorbildlicher Lehrer an der Berliner Universität, dient nach wie vor als Leibarzt der königlichen Familie, schenkt wie vor der Flucht dem gesamten Medizinalwesen des Staates seine Aufmerksamkeit und wirkt wieder als der Armendoktor in den Elendsvierteln der Stadt. Um die Einsamkeit aus seinem Haus zu bannen und den Kindern wieder eine Mutter zu geben, vermählt er sich 1815 mit Helene Troschel, die ihm für die weiteren Jahre eine treue und liebende Gefährtin und den Kindern eine verständige Mutter und Erzieherin ist.
Gesegnete Jahre Der Friede ist in Europa eingekehrt. Noch stehen die Verfassungskämpfe in den einzelnen Staaten bevor. Aber diese Beunruhigung erscheint gering gegenüber dem Unheilvollen der Ära Napoleons. Man genießt die neue Ordnung des Friedens wie ein großes Glück. Dr. Hufeland veröffentlicht seine Erfahrungen über die „Kriegspest alter und neuer Zeiten", spricht über den tierischen Magnetismus, schreibt über die „Gleichzahl beider Geschlechter im Menschengeschlecht", erörtert das „Recht des Arztes über Leben und Tod", beobachtet die folgenschwere Cholera, die vom Orient her Europa bedroht, gibt einen zusammenfassenden Bericht über die Heilkunst seiner Zeit und schreibt viele Aufsätze für das von ihm geleitete „Journal der praktischen Heilkunde". 25
Nach seinen Arztgängen durch die Armenviertel, nach den Vorlesungen und Vorträgen kann er sich in den Abendstunden der Familie widmen. Er nimmt sich all der kleinen und großen Sorgen seiner Kinder an. Eduard ist als Offizier von der Armee zurückgekehrt und möchte den ärztlichen Beruf auf dem Lande ausüben. Hufeland segnet und fördert diesen Entschluß, so wie er als vorbildlicher Vater auch seine anderen Kinder in eine gesunde, gesicherte Zukunft hineinzuführen sucht. Er erlebt als Alternder, wie sich die Töchter an würdige Männer verheiraten. In schönen Urlaubstagen genießt er an der Seite seiner Frau die Freude des Reisens, kehrt in den deutschen Badeorten ein, um sich über ihre Heilkräfte zu unterrichten, besucht Wien und Italien. In seiner Berliner Arbeitswelt geht ein Tag nach dem andern im Gleichmaß einer befriedigenden und segensreichen Tätigkeit dahin. Immer enger wird sein Verhältnis zum König, der ihn nicht nur mit Orden, sondern auch mit der Erhebung in den Adelsstand auszuzeichnen sucht. Aber auch hier erweist sich die selbstsichere und doch zugleich bescheidene Art Hufelands. Nachdenklich geht er durch seine Klinik, denn dieser Antrag, ihn zu adeln, ist ihm nicht recht. Er fürchtet, daß damit seinen Kindern ein Gefühl der Überheblichkeit eingepflanzt werden könnte, während doch seine christliche Überzeugung die Demut lehrt. Er will dem ehrlichen Bürgerstand, in dem er geboren ist, nicht untreu werden. Und so schreibt er in aller Ehrerbietung an Friedrich Wilhelm, der König möge auf diese Ehrung verzichten, er wolle das bleiben, was er bisher war: der Arzt Christoph Wilhelm Hufeland, ein Helfer der Leidenden.
Ein humaner Geist Der Mann, der so viele Kranke gesund gemacht hat, muß erneut die menschliche Hinfälligkeit im eigenen Umkreis erleben. Sorgenvoll sitzt er am Krankenbett seiner geliebten Frau und bittet Gott um Genesung. Ihr Zustand wendet sich zum Besseren. Aber dann packt das Leid ihn selber. Als er in diesen Tagen ein medizinisches Journal zu Hand nimmt, um sich in einen Artikel zu vertiefen, merkt er, wie die Buchstaben vor seinen Blicken zu tanzen beginnen und plötzlich zur Hälfte verschwinden. Das alte Augenübel hat sich verschlimmert. Er de'nkt an den Vater und wie er allmählich 26
erblindete. Ein befreundeter Arzt kann ihm nur den Rat geben, die Augen zu schonen und nicht mehr zu schreiben und zu lesen. „Ich werde dir helfen und für dich schreiben und dir alles, was du wünschest, vorlesen", tröstet und ermuntert ihn der Freund.Die treueste Vorleserin wird ihm die Gattin. Als sie ihm eines Tages aus der Zeitung vorliest, welche Leiden das griechische Volk in seinem Freiheitskampf gegen die Türken erdulden muß, denkt Hufeland an die furchtbaren Kriegsjahre, die er selber durchlebt hat. Die Griechen sind der Gefahr des Verhungerns preisgegeben, da niemand ihnen zu Hilfe kommt. Er sieht Bilder des Schreckens vor sich, tiefstes Mitleid erfüllt ihn, und er beschließt, alles, was in seinen Kräften steht, zu tun, um dem schwer geprüften Volk beizustehen. Hufeland will sich an die Öffentlichkeit wenden, läßt sich beim König melden und bittet ihn, eine Sammlung zugunsten der griechischen Freiheitskämpfer eröffnen zu dürfen. Der König erlaubt es. Als er die Schwierigkeiten, die ihm von nachgeordneten Ministern bereitet werden, überwunden hat, entwirft er mit Freunden einen Aufruf und gibt ihn zur Veröffentlichung den Redaktionen. Der Appell ist ein Fanal für ganz Europa. Von allen Seiten kommen Unterstützungen, bald ist ein Betrag beisammen, der ausreicht, Tausende vom Hungertode zu erretten. In vielen Ländern brechen Freiwillige auf, um dem um seinen Bestand ringenden Griechenvolk Hilfe zu leisten. Auch im Umkreis des eigenen Berufsstandes sieht Hufeland nach dem Rechten. Bereits im November 1829 hat er den „Plan zu einem Hilfsverein für notleidende Ärzte" entworfen und die lebhafteste Zustimmung der Ärzte gefunden. Im November 1830 bestätigt eine Kabinettsverfügung die Hufelandsche Stiftung, die fortan vermögenslose, durch Krankheit, Altersschwäche und sonstige Schicksalsschläge in Not geratene Ärzte unterstützen soll. Einige Zeit später wird diese Stiftung von Hufeland durch eine zweite ergänzt, mit der man die Witwen der Ärzte und ihre Kinder vor Not zu bewahren sucht. Nicht zuletzt dient diese Hilfeleistung dazu, die Bildung eines unabhängigen Ärztestandes zu sichern. Trotz zahlreicher Ehrungen, die auch weiterhin dem großen Arzt und Forscher zuteil werden, bleibt Hufeland bescheiden wie immer. Im Jahre 1833 begeht er das fünfzigjährige Jubiläum der erworbe27
nen Doktorwürde. Er entzieht sich allen öffentlichen Feiern und fährt zu einem seiner Kinder auf ein Gut in der Lausitz. Der König läßt ihm einen hohen Orden überreichen, die Prinzen und Prinzessinnen schicken dem Leibarzt ihre Bildnisse mit herzlichen Widmungen, die Ärzte Preußens lassen von Bildhauer Rauch ein Marmorbildnis des Gefeierten anfertigen, eine goldene Medaille wird zu seiner Ehre geprägt. Von allen Seiten kommen gelehrte Abhandlungen, Ergebenheitsadressen, Diplome, dreitausend Verehrer und dankbare Patienten verbinden sich in einer Glückwunschliste zur Gratulationscour. Während Hufeland in der Abgeschiedenheit verharrt und sich im kleinen Kreis an sein tätiges Leben zurückerinnert, feiert ihn die Berliner Universität mit Festreden und vereinigt sich zu einem prunkvollen Festmahl. Zu seiner Ehre erklingen die Gläser.
Ein erfülltes Leben In seinen Wirkungskreis zurückgekehrt, entwirft Hufeland trotz vermehrter Altersbeschwerden erweiterte Vorschriften für die Hebung der Volksgesundheit. In seiner medizinischen Zeitschrift veröffentlicht er neue Aufsätze — mehr als vierhundert Arbeiten sind aus seiner Feder hervorgegangen. Besonders beschäftigt den Alternden in den letzten Jahren das „Enchiridion medicum oder die Anleitung zur medizinischen Praxis". Die Zeitgenossen greifen begeistert nach diesem Vermächtnis aus einer fünfzigjährigen ärztlichen Erfahrung. Schon nach kürzester Zeit ist die erste Auflage vergriffen. Sofort geht Hufeland an die Bearbeitung der zweiten Auflage. Selbstlos vermacht er das Honorar dieses „Vermächtnisses" der Hufelandschen Stiftung. Der Ertrag seines Werkes soll der Unterstützung notleidender Ärzte dienen. „Lehre und Tat war mein Leben", schreibt Hufeland in der Vorrede, „und ich habe in einer fünfzigjährigen, teils ärztlichen, teils lehrenden Wirksamkeit hinlänglich Gelegenheit gehabt, zu erkennen, sowohl was in der Praxis feststehend, wesentlich und heilbringend ist, als was jungen Leuten bei ihrem Eintritt in die praktische Laufbahn die rechte Richtung und Leitung zu geben vermag. Das Buch ist ein Tribut, den ich noch vor meinem Abgang der Welt schuldig zu sein glaubte. Möge es in diesem Sinn seinen Zweck 28
erreichen: Nutzen zu stiften und insbesondere angehenden Ärzten ein sicherer Wegweiser am Krankenbett zu sein!" Das Werk, das seitdem in weiteren Auflagen erscheint, hat viel dazu beigetragen, die sittliche Auffassung — das Ethos — des.ärztlichen Berufes zu stärken. Hufeland verbreitet sich nicht nur über die verschiedenen Krankheiten und die Heilungsmöglichkeiten nach dem Stande seiner Zeit, er vermittelt auch allgemeine Lebensgrundsätze, die von der fortschreitenden Entwicklung der Medizin nicht überholt werden können, sondern bleibende Bedeutung haben. So schreibt er in den Denksprüchen und Regeln für angehende Praktiker: „Wir haben andere Namen, selbst andere Formen der Krankheiten, andere Mittel der Heilung, andere Begriffe und Erklärungsarten als das Altertum: Aber die Heilkunst ist immer noch dieselbe, die Natur dieselbe, und es bedarf noch immer derselben Eigenschaften, um ein großer Arzt zu sein wie zu Hippokrates' Zeiten." Oder: „Jeder Kranke ist ein Tempel der Natur. Nahe dich ihm mit Ehrfurcht und Weihe, entferne von dir Leichtsinn, Selbstsucht und Gewissenlosigkeit, dann wird die Natur gnädig auf dich blikken und ihr Geheimnis dir aufschließen. Du bist von Gott gesetzt zum Ausspender seiner höchsten Gaben, Gesundheit und Leben. Ein hohes und heiliges Geschäft! Verwalte es rein, nicht zu deinem Vorteil, noch zu deinem Ruhme, sondern zur Ehre Gottes und zum Heil deines Nächsten. Dereinst wirst du Rechenschaft davon geben müssen." Und weiter: „In tödlicher Gefahr des Kranken wage alles zu seiner Rettung, selbst deinen Ruhm. Überhaupt denke nie an dich, sondern nur an den Kranken. Vergesset nicht, daß ihr es nicht seid, die die Krankheiten heilen, sondern daß es immer die Natur ist, die solches vollbringt, und ihr euch nur als Gehilfen, die ihr Werk befördern, unterstützen, ja oft erst möglich machen können, anzusehen habt." Als Hauptregel gilt für den Arzt: „Richte alle deine Handlungen so ein, daß dadurch der höchste Zweck deines Berufes, Erhaltung des Lebens, Wiederherstellung der Gesundheit und Milderung der Leiden anderer, aufs möglichste erreicht werde." Darum darf auch der Arzt bei der Ausübung seiner Kunst keinen Unterschied ma29
chen zwischen Armen und Reichen, Großen und Niedrigen. Der am meisten Leidende, der in der größten Gefahr Schwebende soll den Vorrang vor den übrigen haben. „Was ist eine Handvoll Gold", schreibt der Begründer der Berliner Poliklinik, „gegen die Tränen des Danks in den Augen des Armen! Wie oft ist der Arzt der einzige Freund, der dem Armen in seiner Not übrig bleibt!" Mahnend fordert Hufeland, daß der Arzt nicht daran denken dürfe, ob ihn die Armenpraxis fördere. Gerade in der Behandlung der Mittellosen und in ihrer Rettung soll der Arzt seinen ideellen Lohn finden. Die Stimme des Gewissens soll ihn leiten. Noch abends soll sich der Praktiker über all seine Fälle klar werden, kein Abend soll vergehen, an dem sich der Arzt nicht noch einmal über alle behandelten Patienten Gedanken gemacht habe. Was Hufeland im einzelnen über die rechte Art, die Kranken zu betreuen, niederschreibt, hat mit seiner hohen Berufsauffassung heute und immerdar Gültigkeit. Der Arzt nach seinem Herzen ist ein Mann des Volkes, verschwiegen, jeder Gewinnsucht abhold und immer voller Verantwortung gegenüber dem von Gott geschenkten Leben. Hufeland selbst hat den Glaubenssatz, der ihn bei der Ausübung seines Berufes und bei seinen medizinischen Werken geleitet hat, in einen einzigen Satz zusammengefaßt: „Der erhabenste Beruf des Menschen, nach dem Gottesdienst, bleibt doch der, Priester der heiligen Flamme des Lebens und Verwalter der höchsten Gaben Gottes und der geheimsten Kräfte der Natur für das Menschengeschlecht zu sein, das heißt — Arzt zu sein."
Leid und Tod Hufeland hatte das Leid des Menschen in unzähligen Stunden am Krankenbett erfahren; in seinen letzten Jahren vertieft er seine Erfahrungen durch das zunehmende eigene Leid. Die Schwächung der Sehkraft ist nicht mehr aufzuhalten. Trotzdem bereichert er noch das von der Berliner medizinischen Fakultät herausgegebene „Wörterbuch der medizinischen Wissenschaften" mit gedankenreichen Beiträgen. Im Jahr 1836 muß er sich einer Operation unterziehen. Noch auf dem Krankenlager sinnt er seinem Lieblingsgedanken nach, wie man dem Menschen zu einem langen Leben voller Gesundheit verhelfen könne. 30
Für das einfache Volk diktiert er seiner treuen Helferin Lebensregeln, in denen es heißt: „Willst leben froh und in die Läng, leb in der Jugend hart und streng. Mit Milch fängst du dein Leben an, mit Wein kannst du es wohl beschließen. Doch fängst du mit dem Ende an, so wird das Ende dich verdrießen. Die Luft, Mensch, ist dein Element, Du lebest nicht von ihr getrennt: Drum täglich in das Freie geh und besser noch auf Berges Höh." Wie ein rechter guter Hausarzt wendet sich Hufeland noch einmal an alle seine Patienten. Er, der königliche Leibarzt, der preußische Staatsrat, der erste Arzt der Charite, der Universitätsprofessor, der erfolgreiche Autor schließt diese letzte Epistel mit den Versen: „Willst sterben ruhig ohne Scheu, so lebe deiner Pflicht getreu, betracht den Tod als deinen Freund, der dich erlöst und Gott vereint." Am 25. August 1836 kommt der Tod auch zu ihm, und Hufeland erwartet ihn in dem Bewußtsein, daß sein Leben erfüllt ist. Auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin wird er beigesetzt, über seinem Grabplatz errichtet man ein mächtiges dunkles Kreuz. Der Geistliche spricht die Worte: „Er starb in einem guten Alter, voll Leben, Segen und Ehre." Der König und die Prinzen und die höchsten Vertreter des Staates und der Wissenschaft haben sich zum letzten Geleit eingefunden; im Kreis der Trauernden stehen auch die Armen. „Was er den Seinen, den zahllosen Freunden, den Armen und Verlassenen, den Kranken und Sterbenden war?" fragt der Geistliche bei der Beisetzung und antwortet: „Ach wir dürfen nur in uns, wir dürfen nur um uns schauen, um die Antwort zu verneh31
men. W o l l t e n w i r seine T u g e n d e n nach den T r ä n e n zählen, die um ihn fließen — wir w ü r d e n v e r a r m e n . " C h r i s t o p h Wilhelm H u f e l a n d w a r für jeden K r a n k e n , ob a r m oder reich, ein w a h r h a f t königlicher Leibarzt. Er w a r einer der edelsten M ä n n e r seiner Zeit — ein h u m a n e r Geist, ein V o r b i l d für jeden Arzt.
L i t e r a t u r a n g a b e n : Die H a u p t w e r k e von Christoph Wilhelm Hufeland: Ü b e r die A u s r o t t u n g d e r Pocken, 1787.' — Ü b e r die U n g e w i ß h e i t des Todes, 1791. — J o u r n a l der p r a k t i s c h e n A r z n e i k u n d e u n d W u n d a r z n e i k u n s t ( s p ä t e r : J o u r n a l der p r a k t i s c h e n H e i l k u n d e ) , M i t h e r a u s g e b e r i n d e n J a h r e n 1795 ff. — Aufsätze z u r B e f ö r d e r u n g d e r G e s u n d h e i t u n d des W o h l seins, 1797. — Die Kunst, das menschliche L e b e n zu v e r l ä n g e r n , 1796. — G u t e r R a t a n die M ü t t e r ü b e r die wichtigsten P u n k t e d e r physischen E r z i e h u n g d e r K i n d e r in d e n e r s t e n J a h r e n , 1799. — S y s t e m d e r p r a k tischen H e i l k u n d e , 1800—1805. — A r m e n p h a r m a k o p ö e , 1810. — A n k u n f t d e r Cholera an der Grenze von E u r o p a , 1823. — Die H o m ö o p a t h i e , 1831. — Enchiridion m e d i c u m o d e r A n l e i t u n g zur medizinischen P r a x i s , 1836. — Selbstbiographie, 1863. Ü b e r Christoph Wilhelm Hufeland: J. J. Sachs, Hufeland. Ein Rückblick auf sein siebzigjähriges L e b e n u n d W i r k e n , 1832. — J. J. Sachs i n : Medizinischer Almanach auf das J a h r 1837. — Fr. L. Augustin, H u f e l a n d s L e b e n u n d W i r k e n für Wissenschaft, S t a a t u n d Menschheit, 1837. — E. Osann, i n : Encyklopädisches W ö r t e r b u c h der medizinischen Wissenschaften, Bd. 17, 1838. — Allgemeine deutsche Biographie, 13. Bd., 1881. — Hufeland in W e i m a r , i n : F o r t s c h r i t t e d e r Medizin, 28. Jg., 1910. — H u f e l a n d u n d die Hufelandsche Gesellschaft in Berlin von K a r l Sudhoff, in: M ü n c h n e r medizinische Wochenschrift, 57. Jg., 1910. — E. Ebstein, Ärzte-Briefe aus vier J a h r h u n d e r t e n , 1920. — E. Ebstein, Ä r z t e - M e m o i r e n a u s vier J a h r h u n d e r t e n , 1923. — Hirsch, Gurlt, W e r nich, Biographisches L e x i k o n d e r h e r v o r r a g e n d e n Ärzte, 3. Bd., 1931. — H. H e r t w i g , Der Arzt der das L e b e n v e r l ä n g e r t e , 1941 (Neuaufl. 1952).
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Bilder:
Ullstein-Bilderdienst u n d Verlagsarchiv. — UmschlagbilQ: T o n b ü s t e Hufelands von Gottlieb M a r t i n Klauer, 1801.
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