Peter Abraham Der Affenstern Illustrationen von Gertrud Zucker
Der Kinderbuchverlag Berlin
ISBN 3-358-00126-1
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Peter Abraham Der Affenstern Illustrationen von Gertrud Zucker
Der Kinderbuchverlag Berlin
ISBN 3-358-00126-1
3. Auflage 1988 © DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN - DDR 1985 Lizenz-Nr. 304-270/305/88 Gesamtherstellung: Karl-Marx-Werk Pößneck V 15/30 LSV 7511 Für Leser von 10 Jahren an Bestell-Nr. 632 242 7 00860
Um Himmels willen: Carola ist wieder was eingefallen! In der großen Pause an einem Donnerstag sagte Carola Huflattich zu ihren Klassenkameraden auf dem Schulhof: »Ihr tut mir richtig leid, wegen des Diktats morgen.« »Und du, schreibst du etwa nicht mit?« sagte Willi Neuenhagen empört. »Nee«, sagte sie und schüttelte dabei ganz langsam den Kopf. »Ich fliege zum Mond!« Wedekind, der beste Schüler der 5 b, schnaufte verächtlich und verkniff sich ein Lachen. Emmi Winter fragte scheinheilig: »Und wann fliegst du?« »Heute um fünfzehn Uhr zwei. Übrigens, Willi Neuenhagen fliegt mit.« Willi schreckte bei der Nennung seines verehrten Namens regelrecht zusammen. Das kann ja heiter werden, dachte er. Wer weiß, was die sich wieder ausgedacht hat! Bisher war Willi durch Carolas Pläne immer nur Schaden erwachsen. Einmal hatte ihn der Arzt sogar für verrückt gehalten, und ein andermal hatte er von seinem Vater mörderische Dresche bekommen. Von den vielen Tagen Fernsehverbot nicht zu reden! Willi hatte sich wieder gefaßt. Er war fest entschlossen, dieses Mal Carola von ihrer unsinnigen Idee abzubringen. »Nachmittag pauken wir für das Diktat. Ich kann dir auch einen Spickzettel machen.« Obwohl Willi leise sprach, schnappte Wedekind das Wort Spickzettel auf. »Das melde ich Fräulein Prohaska«, plärrte er. Emmi Winter, die mit Stefan befreundet war, schämte sich für seine Petzereien. »Den Mund wirst du halten«, sagte sie bestimmt. »Ich habe eine andere Idee, wie wir Carola Huflattich reinlegen.«
»Na, gut«, murrte Wedekind. Und es war ein bißchen komisch, wie er sich von der viel kleineren Emmi zu Gudrun Wetterschlag zerren ließ, die an einen Baum gelehnt ihren Apfel kaute und dabei in den Himmel starrte. Die drei begannen ausgiebig zu tuscheln und zu kichern. Carola warf neugierige Blicke zu ihnen, aber hören konnte sie nichts. Am Nachmittag stellte sich Willi, wie immer, pünktlich bei Carola ein, um mit ihr gemeinsam die Hausarbeiten zu erledigen. Huflattichs wohnten, genau wie Neuenhagens, in der Stadtrandsiedlung. Ihre Häuser glichen sich wie Zwillinge. Man konnte sie nur an den andersfarbig gestrichenen Fensterläden und den Blumen in den Vorgärten unterscheiden. »Es bleibt also dabei«, sagte Carola, »wir starten um fünfzehn Uhr zwei!« Willi machte eine Bewegung, als müßte er eine Fliege fangen, die um seinen Kopf schwirrte. Carola nahm Willi die Schultasche aus der Hand und schleuderte sie auf die Holzbank im Hof. Sie legte den Arm um Willi und führte ihn in den Obstgarten. »Da ist es!« sagte sie feierlich und blieb vor der alten Badewanne stehen. Vater Huflattich hatte diese Wanne auf einem Gerümpelkarren entdeckt und auf seinem Fahrrad mühsam nach Hause transportiert. Er wollte Regenwasser zum Tomatengießen darin sammeln. Für diesen Zweck machte es nichts aus, daß an einigen Stellen der Wanne die Emaille abgeplatzt war. Im Abflußloch der alten Badewanne steckte ein ausgedienter Besenstiel, darauf hatte Carola zwei Querstangen genagelt. Zwischen diesen Latten knisterte Silberfolie. »Was soll das?« fragte Willi und berührte die blanke Folie. »Das ist ein Sonnensegelweltraumschiff. Es fliegt mit Hilfe der Sonnenenergie!«
Willi ging nachdenklich um die Badewanne herum. »Nehmen wir an«, sagte er, »du bekommst das Ding mit Hilfe der Sonnenenergie tatsächlich in eine Umlaufbahn der Erde, dann würde es bereits nach einer halben Erdumrundung abstürzen.« »Und warum?« »Ganz einfach, weil auf der sonnenabgewandten Seite der Erde Nacht ist. Da gibt es keine Sonnenenergie.« »Au, Mann«, sagte Carola, »du hast ja keinen Schimmer von der Weltraumfahrt. Wenn das Ding erst mal um die Erde kreist, benötigt es keine Energie mehr. Dann reicht der Schwung aus!« Blong, machte es. Willi und Carola sahen sich verwundert an. Schließlich nahm Willi einen kleinen Stein aus der Wanne. »Scheint so, als ob dein Sonnensegel Klamotten anzieht«, sagte er. »Wahrscheinlich handelt es sich um kosmisches Gestein«, meinte Carola. Blong, klang es wieder. Dieses Mal lag ein Stückchen Dachziegel in der Wanne. Gleichzeitig war entfernt ein Kichern zu hören. »Das ist Emmi Winter«, sagte Carola und rannte zum hinteren Zaun. In dem Brennesselmeer, das sich bis zum Anschlußgleis einer Werkbahn erstreckte, war niemand zu sehen. »Sag mal Honolulu«, tuschelte Willi Carola zu. »Emmi lacht sich über solche ungewöhnlichen Wörter tot.« »Honolulu«, brüllte Carola. Im gleichen Augenblick ertönte Emmi Winters typisches Kichern. Es hatte nun keinen Zweck mehr, sich versteckt zu halten. Emmi und Stefan Wedekind tauchten auf und, einen Kaugummi malmend, Gudrun Wetterschlag. »Wir wollen sehen, wie ihr startet«, sagte Stefan Wedekind.
»Bei so einer Weltsensation dürfen wir nicht fehlen. Mit dem Fotoapparat meines Vaters werde ich das Ereignis festhalten!« Carola musterte Stefan von oben bis unten: Wedekind wollte sich über sie lustig machen. Emmi hielt es nicht mehr aus und platzte laut gackernd los. »Ihr werdet euch wundern!« sagte Carola. Gudrun Wetterschlag sagte: »Tatsache, wenn das keine Spinne wäre, würde ich mitfliegen. Ich kann mir einfach nicht merken, wann man das mit einem s oder mit ß schreibt.« »Ihr könnt alle mitkommen«, sagte Carola großzügig. »Feige dürft ihr allerdings nicht sein! Wir fliegen in ein paar tausend Metern Höhe um die Erde und dann zum Mond.« Sie öffnete einladend das Pförtchen: »Bitte, nur herein.« Gudrun zögerte nicht lange. Bei Emmi siegte schließlich die Neugierde. Sie zog Stefan Wedekind hinter sich her. Carola zeigte den Kindern das Sonnensegelweltraumschiff. Stefan Wedekind verschränkte die Arme über der Brust und schüttelte den Kopf. »Technisch unausgereift.« Diese Redewendung hatte er von seinem Vater aufgeschnappt. Emmi kicherte wieder, Gudrun starrte uninteressiert in die Luft und zog den Kaugummi lang. »Das Starten ist kein Problem«, log Willi. »Das haben wir durchgerechnet. Nur die Landung ist noch nicht klar. Die alte Wanne wird herunterdonnern, daß wir unsere Knochen zusammensuchen müssen.« Aber auch daran hatte Carola gedacht. Sie scharrte Heu zusammen und warf es in die Wanne. Unter dem Heu kamen drei uralte Regenschirme zum Vorschein, die wahrscheinlich noch von Opa und Oma stammten. An die Enden der Drahtspeichen hatte Carola viele Strippchen gebunden. »Bremsfallschirme«, erläuterte sie.
Ich habe noch nie eine Badewanne fliegen sehen, dachte Willi, um sich zu beruhigen, aber bei Carola weiß man nie! »Leute«, sagte er, »wir sollten lieber die Wörter für das Diktat üben!« »Ich denke, wir fliegen zum Mond«, maulte Gudrun. »Wie spät ist es?« wollte Carola wissen. Stefan Wedekind warf einen Blick auf die Digitaluhr. »Vierzehn Uhr siebenundfünfzig und vier Sekunden.« »Die Kosmonauten werden gebeten, die Plätze einzunehmen!« sagte Carola. Gudrun war die erste, die in die Badewanne stieg. Auch Stefan Wedekind und Emmi Winter kletterten hinein. Von ihren Gesichtern las man ab, sie glaubten nicht im geringsten an einen Start. Sie freuten sich schon auf Carolas Blamage. Willi nahm Carola zur Seite. »Hast du dir überlegt, daß es in kosmischen Räumen keine Luft gibt! Wir werden ersticken!« »Au, Mann, Willi, gut, daß du mich daran erinnerst«, rief sie und rannte ins Haus. Willi fiel ein Stein vom Herzen. Wahrscheinlich würde Carola in Kürze aus der Dachluke des Hauses rufen: Angekohlt! oder so etwas Ähnliches. Er irrte sich jedoch. Carola kam nach wenigen Sekunden aus dem Haus gestürzt. In der Hand hielt sie mehrere prall gefüllte Tüten und ein Stück Plastefolie, das Vater Huflattich in den kalten Frühlingsnächten zum Abdecken seiner Tomatenstauden benutzte. »Luft in Tüten«, rief sie. »Habe ich gestern schon mit Himbeeraroma versetzt!« »Fünfzehn Uhr und eins«, sagte Stefan betont laut. Carola kletterte eilig in das Sonnensegelweltraumschiff. Willi blieb noch einen Moment unentschlossen stehen, dann stieg auch er ein. Die Badewanne war allerdings ein wenig eng. Außer
Carola waren jedoch alle sicher, daß dieses Spiel nicht lange dauern würde. »Festhalten«, sagte Carola. »Wir starten in wenigen Sekunden.« Sie begann zu zählen: »Neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins, null ...« Die Badewanne bewegte sich nicht vom Fleck. Auf Willis Stirn verschwanden die Sorgenfalten, und Stefan Wedekind sagte sehr überlegen: »Schön, wie wir fliegen, nicht wahr?« Carola schaute zum Himmel und schlug sich an die Stirn. Das Sonnensegelweltraumschiff konnte überhaupt nicht starten. Sie hätte das vorher wissen müssen! Die Sonne hatte sich nämlich hinter einer riesigen Wolke versteckt. Ohne Sonne keine Energie! Carola war, gottlob, nicht auf den Kopf gefallen. Sie sprang aus dem Sonnensegelweltraumschiff und rannte zum Stiefmütterchenbeet. Das waren nicht etwa Allerweltsstiefmütterchen, wie man sie in jeder Gärtnerei zu kaufen bekommt. Es handelte sich vielmehr um die Sorte Strahlende Valencia, die Vater Huflattich aus einem ausländischen Samen mit viel Mühe aufgezogen hatte. Carola grub eine der Stauden aus der Erde und pflanzte sie in einen Blumentopf. Stefan Wedekind hatte es sich inzwischen in der Badewanne bequem gemacht, die Augen geschlossen und war eingeschlafen. Mit offenem Mund drusselnd, sah er nicht gerade wie der schlaueste Schüler der 5 b aus. Carola hob den Blumentopf stolz in die Höhe. »Das ist unser Energiespender!« »Na«, sagte Willi. »Hättest lieber ein Raumschiff zum Treten konstruieren sollen!« »Verstehst du nicht. Diese Stiefmütterchen sammeln Sonnenstrahlen. Und wenn die Sonne nicht scheint, geben sie sie wie-
der ab. Später werden die Kinder das in der Schule lernen müssen, unter dem Namen: Huflattichs-Stiefmütterchen-Effekt!« »Spinnst ja wieder mal!« Seelenruhig stieg Carola mit dem Blumentopf in das Sonnensegelweltraumschiff. Sie begann wieder zu zählen: »Neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins, null ...« Willi bemerkte einen sanften Ruck. Carola schaute selbst ein wenig verwirrt auf die Krone des Apfelbaumes, die sich zu nähern schien. Tatsächlich berührte die Badewanne einen Ast und streifte eine Handvoll giftgrüner Äpfel ab. Ein Apfel fiel Stefan Wedekind auf den Kopf. Er schreckte auf und beugte sich über den Rand der Badewanne. »Wir flie ... flie ... flie ... gen«, stotterte er. »Ich will ru ... runter.« Seine Stimme hörte sich kläglich an. Emmi Winter rieb sich die Augen, kniff sich dann in die Wade, um festzustellen, ob sie träumte oder wach war. Gudrun Wetterschlag malmte seelenruhig den Kaugummi weiter. Sie nickte Carola anerkennend zu und dachte: Hauptsache, wir stürzen nicht über der Schule ab! In einer Kurve lag die Badewanne schräg, und alle konnten Huflattichs Haus sehen, das klein wie ein Spielzeug wirkte. Gerade kam Carolas Mutter mit Netz und Einkaufstasche behangen von der Arbeit, doch sie blickte nicht hoch. »Ich will a ... a ... aussteigen«, jammerte Stefan. »Mach lieber eine Luftaufnahme von meiner Mutter«, schrie ihm Carola zu. Wedekind riß die Kamera hoch, klick, klick, klapperte es. Dann packte Stefan wieder der Schrecken. »Ich will runter ...« Er beugte sich über den Badewannenrand. Willi und Emmi Winter hatten zu tun, ihn zurückzuzerren. Um ein Haar wäre er rausgestürzt.
»Ej, Wedekind«, schrie Willi, der sich bis jetzt geärgert hatte, daß er wieder auf eine von Carolas Ideen hereingefallen war. »Übernimm du die Navigation! In welche Richtung fliegen wir?« Stefan Wedekind wurde sofort ruhiger. »Wir fliegen Südost«, sagte er. »Seht ihr, wenn er was zu tun hat, vergißt er seine Angst«, triumphierte Willi. Die Badewanne kreiste jetzt über der Stadt. Stefan gab ständig den neuen Kurs an: »Südwest«, »Nordwest«, »Nordost.« Ganz klein sahen sie die Schule. Lehrer Palisander plagte sich auf dem Schulhof mit der Arbeitsgemeinschaft Korbball. Auf dem Dachgarten eines Stadthauses lag eine Frau im Liegestuhl. »Sieht aus wie Fräulein Prohaska«, sagte Carola. Das war die Klassenlehrerin der 5 b. An der Kirchturmspitze hingen zwei Männer und deckten das Dach. Carola erkannte den Vater und seinen Arbeitskollegen Anton Pekune. Der blickte zu ihnen hoch und gestikulierte wild mit den Händen. »Da, sieh doch mal«, rief er. Nun schaute auch der Vater zur fliegenden Badewanne. »Typisch, meine Tochter«, sagte er. »Die soll mal nach Hause kommen! Die Badewanne ist nicht zum Fliegen da!« Die Sonnenstrahlen schienen der Badewanne neuen Auftrieb zu geben. Sie stieg steil in die Höhe. Die Kinder rutschten ein wenig nach hinten. Wenige Sekunden später verspürten sie ein leichtes Schwindelgefühl. Stefan Wedekind begann schwer zu atmen. »Luft - ich brauche Luft!« preßte er zwischen den Zähnen hervor. »Die Luft wird immer dünner. Wir müssen das Sonnensegel-
Weltraumschiff abdichten!« sagte Carola. Sie gab Emmi den Stiefmütterchentopf und begann mit Willis Hilfe, Vater Huflattichs Folie auszurollen. Für den Besenstiel mit dem Segel hatte sie einen Schlitz geschnitten und einen alten Reißverschluß eingeklebt. An den Rändern der Badewanne flatterte die Folie wild. Gudrun kam auf die entscheidende Idee, wie dem abzuhelfen war. Sie spuckte den Kaugummi aus, und damit klebten die Kinder die Folie fest. Erst dann öffnete Carola eine der Lufttüten. Es roch nach Himbeeren. Schon nach wenigen Atemzügen beruhigte sich Stefan Wedekind. Willi registrierte, daß der unerträgliche Druck in den Ohren abnahm. Emmi Winter begann zu schluchzen. »Au Mann, was ist nun wieder los?« rief Carola. »Vielleicht - sehen - wir - unsere Stadt - nie - wieder!« jammerte Emmi. »Wenn du keine anderen Probleme hast!« sagte Carola. Aber einen Augenblick dachte sie an den verwilderten Fußballplatz in der Stadtrandsiedlung. Es wäre schade, den nicht wiederzusehen! Einen letzten Blick wollte sie noch riskieren. Da das Raumschiff ein wenig Schlagseite hatte, konnte sie die Erde sehen. Von der Stadtrandsiedlung war jedoch nicht die geringste Spur zu erblicken. Statt dessen entdeckte sie eine zartbläuliche Fläche mit grünen und braunen Flecken. Wie große weiße Ballons schwebten Wolken unter dem Sonnensegelraumschiff. »Mensch, das ist Italien, Portugal, Spanien ...«, rief Wedekind begeistert. »Das ist der schönste Globus, den ich je gesehen habe.« »Nur unser Haus ist nicht mehr da ...«, jammerte Emmi. Willi Neuenhagen blickte Carola lange und vorwurfsvoll an. »Diesmal«, sagte er, »wird mir mein Vater Fernsehen, Fußballspielen, Lesen, Sport und überhaupt alles verbieten ...«
Gudrun kicherte leise vor sich hin. »Verbieten, verbieten ..., sie müssen uns erst einmal erwischen! Wenn meine Eltern merken, daß ich verschwunden bin, werden die vielleicht sogar miteinander telefonieren.« Alle wußten, daß Gudruns Eltern geschieden waren. Inzwischen war es dämmrig geworden. Die Erde lag wie ein großer schwarzer Schatten tief unten. Über den Kindern, vor ihnen, hinter ihnen traten die Sterne zuerst schwach leuchtend, dann aber ganz hell hervor. Stefan deutete aufgeregt zu einem der Sternbilder. »Leute, das Kreuz des Südens! Von unserer Erdhalbkugel ist es niemals zu sehen!« »Und der Mond?« rief Carola. »Der Mond bleibt immer weiter hinter uns. Wedekind, du bist doch superschlau. Kannst du mir sagen, wo wir eigentlich hinfliegen?« »Du bist doch Kommandant!« »Aber du der Navigator!« Carola wollte noch etwas hinzufügen, aber das Wort blieb ihr im Halse stecken. Stefan Wedekind schwebte! Emmi hörte bei diesem Anblick sofort zu schluchzen auf. Ihr charakteristisches Lachen ertönte! »Was kann ich dafür, daß ich schwerelos bin«, sagte Stefan empört. Aber nicht er allein hatte die Schwerkraft verloren. Alle merkten, daß sie sich nur mit dem kleinen Finger abzustoßen brauchten, um zu schweben. Allerdings war das Sonnensegelweltraumschiff zu eng. Es gab Kuddelmuddel. Alle kicherten und gackerten durcheinander und rangen schließlich nach Luft. Carola mußte gleich zwei Lufttüten öffnen. Plötzlich wurde Carola von einem Sonnenstrahl genau auf der Nasenspitze getroffen. Sie mußte niesen. Als sie sich wieder
umdrehte, sah sie die Sonne hinter der Erdkugel. »Wie spät ist es?« fragte sie Stefan Wedekind. »Fünfzehn Uhr drei.« »Deine Uhr ist stehengeblieben.« »Nein. Wir sind erst eine Minute unterwegs.« Inzwischen war es ganz hell geworden. »Dolles Ding«, sagte Willi. »Man kann Sonne, Mond und Erde zugleich sehen.« Die Erde wurde beängstigend schnell kleiner. »Vielleicht sollten wir umdrehen«, sagte Emmi kleinlaut. »Will etwa jemand morgen das Diktat schreiben?« fragte Carola. Alle schüttelten die Köpfe. »Na, also!« Die Erde schien tischtennisballgroß zu sein. Auch Carola hätte gern das Sonnensegelweltraumschiff gewendet und wäre zurückgeflogen. Sie wußte einfach nicht, wie sie das bewerkstelligen sollte. Schließlich war die Erde nicht mehr zu sehen. Ringsum blinkten nur noch Sterne. Selbst der eifrige Stefan Wedekind wußte nicht, wie sie hießen. Er fühlte sich wie die anderen sehr verlassen und drückte einen kleinen Hebel an seiner Digitaluhr. Ganz fein erklang eine Melodie von den Beatles, die alle kannten. Carola dachte an die goldbraun gebratenen Puffer der Mutter. Willi mußte komischerweise an Schnee denken. Emmi kam das kuschlige Eichhörnchen in den Sinn, das sie jeden Abend heimlich mit ins Bett nahm. Stefan hätte gerade in diesem Augenblick gern im Konversations-Lexikon des Vaters geblättert. Gudrun fiel nur der Treppenabsatz ein, auf dem früher die Schuhe der Mutter, des Vaters und des Bruders immer nebeneinander gestanden hatten, wenn die ganze Familie daheim war.
Sie hatten jedoch nicht lange Zeit, traurig zu sein. Stefan wies nach vorne. Ein Sternenhaufen schien auf sie zuzukommen. Genauso schnell, wie sich die Erde entfernt hatte, rückten diese Planeten näher. Bald konnten die Kinder einzelne Planeten voneinander unterscheiden. Merkwürdig war, daß es drei Sonnen gab! Das Sonnensegelweltraumschiff flog auf Rauch- und Nebelschwaden zu. »Sieht aus«, sagte Willi, »als würden wir in einen riesigen Fabrikschornstein sausen.« Kurz danach tauchten sie in dunkle Wolken ein. Von den drei Sonnen war nichts mehr zu sehen. Dann wurde es plötzlich sehr hell. Das Raumschiff brannte. »Feuer an Bord«, rief Carola. »Wenn das mein Vater erfährt, macht er mich zur Briefmarke«, stöhnte Willi Neuenhagen.
Der einzige, der völlig ruhig blieb, war erstaunlicherweise Stefan Wedekind. »Habt ihr nie was über Weltraumforschung gelesen? Wenn ein Raumschiff in die Atmosphäre eintritt, brennt es infolge der großen Reibung. Was schließen wir also aus der Tatsache, daß unser Raumschiff brennt?« Er deutete auf Willi. »Bitte, Neuenhagen!« »Es gibt hier ... Luft und so ...« »Das ist eine gute Zwei, Neuenhagen ...« Das Feuer war erloschen. Die Plastefolie hatte sich mit einer Rußschicht überzogen. In der Aufregung bemerkten die Kinder nicht, daß ihre Körperschwere zurückgekehrt war. »Festhalten«, rief Carola. »Wir werden gleich landen!«
»Was ist mit den Bremsfallschirmen?« fragte Willi. In diesem Augenblick polterte es. Alle flogen durcheinander und landeten recht schmerzhaft mit den Hinterteilen auf dem Boden der Wanne. Mit einem Schlag war es im Raumschiff stockfinster, denn Emmi hatte den Blumentopf mit der Strahlenden Valencia fallen lassen und beim Aufprall auf den unbekannten Planeten das zarte Pflänzlein breitgewalzt.
Mein Name ist Hanibal Ein Weilchen stöhnten alle. Dann hörte man Carolas Stimme: »Scheint Nacht draußen zu sein!« Doch Willi löste die Folie an einer Stelle, und fades Dämmerlicht drang in das Raumschiff. Gleich darauf hörten sie eine knarrige, aber freundliche Stimme: »Willkommen, Fremde, auf dem Affenstern.« Carola sprang als erste aus dem Sonnensegelweltraumschiff.
Ein großer Affe mit langem Bart und faltigem Gesicht hockte neben einem Gestell, auf dem ein großer Magnet - in Form eines Hufeisens- montiert war.
Carola wollte guten Tag sagen, aber die Luft war so stickig und mit Rauch vermischt, daß sie husten mußte. Die anderen waren ausgestiegen und umstanden den alten Affen ebenfalls hustend. »Mein Name ist Hanibal«, sagte der alte Affe und erhob sich. »Hier, nehmt erst einmal eine dieser vorzüglichen Hustenpastillen.« Ein bißchen mißtrauisch griffen alle in das dargebotene Döschen. Als sie die Pillen lutschten, legte sich der Husten sofort. Der alte Affe musterte sie sichtlich vergnügt. »Ich habe immer daran geglaubt«, sagte er, »daß es auf anderen Planeten ebenfalls Affen gibt. Nun endlich ist mir der Beweis mit Hilfe meines Magneten gelungen. Er hat euch angezogen.« »Wir sind eine Weiterentwicklung des Affen«, sagte Stefan Wedekind belehrend, und dabei schoß er ein Foto von dem Affen. »Wir sind Menschen oder, falls Sie es besser verstehen, Homo sapiens.« Hanibal lächelte gütig: »Soso, eine Weiterentwicklung ...« Carola buffte Wedekind ärgerlich in die Seite, weil ihr sein superschlaues Geplapper auf die Nerven ging. Sie reichte dem Affen die Hand. »Mein Name ist jedenfalls Carola Huflattich, und das sind meine Freunde ...« Sie unterbrach sich und betrachtete zweifelnd Stefan, Emmi und Gudrun. Dann fuhr sie fort: »Wir kommen vom Planeten Erde, Klasse 5 b.« »Erde«, sagte Hanibal, »Klasse 5 b.« Dabei verbeugte er sich leicht. Sie standen auf einem breiten Sandstrand. Nicht weit entfernt brandeten Wellen, das Meer schien sich unendlich auszudehnen! »Eine Badehose müßte man haben«, sagte Willi. Er streifte seine Sandalen ab und rannte zum Wasser.
»Halt! Halt!« brüllte der Affe aufgeregt, aber Willi rannte in die Wellen. Im gleichen Augenblick schrie er jedoch laut auf und sprang zurück auf den trockenen Sand. Der Affe Hanibal zog ihn vom Ufer weg und betrachtete kopfschüttelnd Willis rotangelaufene Füße. Willi jammerte laut. »Wir müssen ihn in meine Hütte tragen«, entschied Hanibal. »Geradeaus, dort, wo die toten Bäume stehen.« Carola nahm Willi huckepack. Willis leises Jammern machte den Kindern angst. Niemand konnte sich so recht vorstellen, was passiert war. Carola lief der Schweiß über die Stirn. Es war auf dem Affenstern viel heißer als an den heißesten Sommertagen in ihrer Heimatstadt. Und es herrschte eine unangenehme feuchte Wärme. Nach hundert Metern keuchte sie: »Ich kann nicht mehr.« Emmi und Gudrun verständigten sich durch einen Blick. Sie legten die Arme so, daß sich Willi raufsetzen konnte. Ein Stückchen weiter übernahmen ihn Hanibal und Stefan. Langsam näherten sie sich riesigen kahlen Bäumen. In halber Höhe eines der Baumriesen befand sich eine Hütte, sie war um den Stamm gebaut. »Dort hinauf?« fragte Carola. Hanibal nickte. Als sie dann am Fuße des toten Baumes standen, sahen sie, daß sich Stufen hinaufwanden. Man hatte sie in den Stamm geschlagen. Es war sehr schwer, Willi hinaufzuschleppen, denn es gab kein Geländer zum Festhalten. Stefan kämpfte mit einem Schwindelgefühl. Es schien ihm lächerlich, Angst zu haben, denn den kosmischen Flug, der viel gefährlicher war, hatte er doch gut überstanden. »Ich will ihn jetzt tragen«, sagte er mühsam. Als sich Willi an seinen Rücken klammerte, spürte er nur noch die Last, die Angst war vergangen.
Die Hütte hatte von unten klein gewirkt. Als sie endlich oben anlangten, stellte sich heraus, daß die Behausung sehr groß war und aus mehreren Räumen bestand. Hanibal wies die Kinder an, Willi auf ein Moosbett zu legen. Er selbst ging eilig in den Nebenraum, der wie ein chemisches Labor aussah. In Glaskolben und Kühlschlangen zirkulierten farbige Flüssigkeiten. Der Affe kam mit einer Büchse Salbe zurück und rieb Willis Füße ein. Der Schmerz schien sehr schnell nachzulassen. Bald jammerte er nicht mehr. »Was ist eigentlich passiert?« fragte Carola. »Hier ist das Meer kochend heiß«, sagte Willi. Hanibal nickte. »Man badet nicht im Siedemeer.« »Na, woher sollte er wissen, daß ein Meer siedet!« sagte Carola. Wieder lächelte Hanibal. »Bei uns lernen es die Kin-
der schon in den unteren Klassen. Der Feuerfluß Roter Ringel mündet im Siedemeer. Darum ist es so heiß.« »Und woher kommt der Fluß?« wollte Stefan Wedekind sofort wissen. »Er entspringt dem Fuego-Gebirge.« Hanibal zeigte in die Ferne. Vom Fenster aus konnte man weit hinter den Wipfeln unzähliger toter Bäume drei riesige flammende Kegel sehen. Wedekind fotografierte sofort diese seltsame Erscheinung. »Doll«, rief er. »Das sind Farben!« Von den Bergen stiegen schwarze Rauchwolken auf. »Die Rauchwolken«, sagte Hanibal, »und der Dampf, der vom Siedemeer aufsteigt, umhüllen unseren Planeten. Darum haben wir dieses feuchtwarme Klima.« »Scheint hier niemals die Sonne?« wollte Carola wissen. »Die Sonne!« Der alte Affe ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. »In den alten Legenden ist viel von drei Sonnen die Rede. Ich habe mein Leben lang nicht eine erblickt.« »Aber wir haben sie gesehen, bevor wir landeten«, rief Gudrun. »Ihr glaubt nicht, wie ihr mich mit dieser Nachricht erfreut. Dann gibt es sie also noch ...« Der alte Affe blickte mit Tränen in den Augen zum wolkenverhangenen Himmel. An dieser Stelle wurde das Gespräch durch Emmi Winters schrilles Lachen unterbrochen. Sie starrte auf Willis Füße und schüttelte fassungslos den Kopf. »Au, Mann!« schrie Carola. Alle starrten auf Willis Füße. Sie waren mit braunem Affenpelz bedeckt. Hanibal kratzte sich verlegen am Hinterkopf. »Ich habe die Salbe für Affen erfunden. Wie konnte ich ahnen, daß sie einmal von unbehaarten Weiterentwicklungen, von Menschen, gebraucht werden würde!«
Außer Willi lachten alle. »Das wird mir mein Vater nie verzeihen«, jammerte er. »Einen Sohn mit Affenfüßen wird der nicht anerkennen!« »Laßt mir ein wenig Zeit. Irgend etwas werde ich schon erfinden«, erklärte Hanibal. »Ihr werdet gewiß hungrig sein. Wie spät ist es eigentlich?« »Fünfzehn Uhr fünf und dreiundzwanzig Sekunden«, rief Stefan. Dann stutzte er. Sollten erst drei Minuten seit ihrem Start von der Erde vergangen sein? - Doch seine Uhr schien vollkommen in Ordnung. »Also habt ihr auch die Zeit weiterentwickelt«, sagte Hanibal. »Bei uns gibt es nur zehn Stunden mit je hundert Minuten.« Er blickte auf eine Art Thermometer, das an der Wand hing. »Es ist jetzt sechs Uhr und zweiundsiebzig.« »Denkt mal, wie lang dann die Schulstunde wäre«, sagte Gudrun. Hanibal ging einen Augenblick aus dem Zimmer und kehrte mit einer Schüssel voll dampfender braungefleckter Früchte, die wie Birnen aussahen, zurück. Er stellte die Schüssel in die Mitte des Zimmers und machte eine einladende Geste. »Setzt euch, und laßt es euch schmecken!« Die Kinder ließen sich auf den Boden nieder. Auch Willi setzte sich in den Kreis. Die Füße schmerzten ihm nicht mehr.
Hanibal griff in die Schüssel und nahm sich eine Frucht. Die Kinder taten es ihm nach. Der Geschmack war seltsam, aber nicht schlecht. Es gab auf der Erde nichts Vergleichbares. »Gibt es bei euch auch Grohmchen?« wollte Hanibal wissen. »Sie sind das Hauptnahrungsmittel der Affensternbewohner. In manchen Tälern werden sie sogar faustgroß.« Nach der Mahlzeit fühlten sich alle unendlich müde. Hanibal sah es ihnen an, aber die Kinder stritten es ab. Trotzdem führte Hanibal sie in einen Raum, der ganz und gar mit Moos bedeckt war. Sie legten sich nieder. »Ohne Fernsehen kann ich überhaupt nicht einschlafen«, sagte Carola und gähnte dabei, als wollte sie jemanden verschlucken. Schon kurze Zeit später schnarchte sie. Emmi wollte sich darüber lustig machen. Jedoch mitten im Kichern schlief sie ein. Durch Emmi Winters aufgeregtes Geplapper erwachten alle. Emmi rannte von einem Fenster zum anderen und sagte: »Mensch, Mensch, Mensch, wenn das gut geht. Wenn bloß der olle Baum nicht umkippt ...« Sofort sprangen alle auf und schauten aus den Fenstern. Die Bäume wurden von der wogenden See umspült. Man konnte nicht allzu weit sehen, dicker Wrasen hüllte die Landschaft ein. »Unser Sonnensegelweltraumschiff«, stieß Carola entsetzt hervor. Hanibal, der unbemerkt eingetreten war, sagte: »Guten Morgen! Wir haben noch eine Stunde Zeit, dann tritt die Ebbe wieder ein, und die See zieht sich zurück. Übrigens habe ich mir erlaubt, euer Sonnensegelweltraumschiff sicherzustellen.« Er zeigte nach unten. Die alte Badewanne schwankte wie ein Boot auf den Wellen, sie war mit einem Seil am Baum vertäut.
»Leider«, fuhr Hanibal fort, »wird das Sonnensegelweltraumschiff euch nicht mehr von Nutzen sein, denn kein Sonnenstrahl dringt durch die Wolkendecke.« Du hast zwar den großen Weltraummagneten erfunden, dachte Carola, aber den Huflattich-Stiefmütterchen-Effekt kennst du nicht! »Wir werden Blumen brauchen«, sagte sie laut. »Blumen?« Hanibals Gesicht zeigte Verständnislosigkeit. »Wenn ihr glaubt, Blumen könnten euch helfen«, sagte er schließlich, »dann müßt ihr zu meinen Brüdern, den Felsenaffen, gehen. Sie sind hervorragende Naturgelehrte, Gärtner und Philosophen.« »Und wie finden wir diese Felsenaffen?« »Ihr müßt zuerst die Ebene der toten Bäume durchwandern.« Hanibal deutete die Richtung mit einer Handbewegung an. »Etwa fünfzig Steinwürfe weit. Das kann man normalerweise in einer Affensternstunde erreichen. Ihr werdet aber länger benötigen.« »Warum?« wollte Carola wissen. »Die toten Bäume versuchen, alles Lebendige an sich zu ziehen. Sie halten mich schon viele Jahre gefangen. Ihr aber seid noch jung und kräftig. Ihr werdet es schaffen, ihnen zu entrinnen.« Er winkte alle ein Stückchen näher heran, als wollte er ihnen etwas Vertrauliches erzählen. »Haltet die Augen offen. Vielleicht werdet ihr das Geheimnis des Affensterns ergründen.« »Welches Geheimnis?« riefen die Kinder wie aus einem Mund. Ihre Augen leuchteten voller Abenteuerlust. Stefan, der in Sport eine Null war, haute plötzlich mit der flachen Hand durch die Luft, als wollte er einen Karateschlag anwenden. »Das Geheimnis, warum dieser Stern zu einem glühenden Ball erstarrt, auf dem alles Leben sterben wird.«
Einen Augenblick herrschte unheimliche Stille in der Baumhütte. »Na«, sagte Gudrun Wetterschlag, »ob wir das wohl können, wo ich nicht mal weiß, wann man das mit s oder mit ß schreibt.« »Habt ihr nicht gesagt, ihr seid eine Weiterentwicklung des Affen?« »Darauf kannst du Gift nehmen«, sagte Stefan Wedekind überheblich und klopfte Hanibal wohlwollend auf die Schulter. »Ich persönlich bin Stadtsieger bei der Mathematikolympiade!« Auf Hanibal schien das jedoch keinen großen Eindruck zu machen. »Wie konnte ich ahnen, als ich mit meinem Magneten im Weltenraum fischte, daß mir Kinder an die Angel gehen würden. Bis gestern war ich fest davon überzeugt, daß nur ausgewachsene Affen fremder Planeten die Weltraumschiffahrt betreiben.« »Pustekuchen«, sagte Emmi weinerlich, »und jetzt sitzen wir hier und verglühen womöglich mit diesem verdammten Stern!« »Keine Angst«, sagte Hanibal, »es wird noch ein Weilchen dauern.« Die Flut des Siedemeeres war sichtlich gefallen. Das konnten sie an den nassen Rändern der toten Bäume sehen. Eine halbe Stunde später wurden die gebleichten Moose auf dem Waldboden sichtbar. Nach einem ausgiebigen Frühstück mit schmackhaftem Kuchen aus einer feinen Sorte Grohmchen waren die Kinder aufbruchbereit. Hanibal schleppte für jeden einen kleinen Beutel voller Grohmchen herbei. »Zur Wegzehrung«, murmelte er gedankenverloren und legte eine Schachtel Hustenpillen dazu. Irgend etwas schien er noch zu suchen. Endlich fand er es: einen Stein in Größe eines Tennisballes. Bevor die Kinder den Stein genauer betrachten konnten, hüllte er ihn sorgsam in ein
Tuch. »Ihr dürft ihn nur in außergewöhnlichen Situationen ansehen. Er macht bei häufigem Gebrauch dumm. Außerdem rate ich euch, den Stein niemandem zu zeigen!« Willi Neuenhagen deutete anklagend auf seine Affenfüße. »Und was wird damit?« »Kommt Zeit, kommt Rat«, sagte Hanibal. »Vielleicht sind sie dir unterwegs von Nutzen. Schuhe benötigst du jedenfalls nicht.« Hanibal reichte zum Abschied allen die Hand. »Ich würde gern mit euch gehen«, sagte er. »Vielleicht steht die Hütte noch auf den Felsen, in der ich meine Kindheit verbracht habe.« »Wir werden uns danach erkundigen«, sagte Carola. Hanibal hob erschrocken die Hände empor. »Erwähnt meinen Namen nicht. Die Brüder haben mich verstoßen.« Um allen Fragen vorzubeugen, fügte er hinzu: »Diese Geschichte ist nicht schnell erzählt. Und ihr müßt die Zeit der Ebbe nutzen!« Als die Kinder schon einige Meter von der Baumhütte entfernt waren, rannte ihnen Hanibal nach. Er zog aus seinem Kimono eine Rolle und überreichte sie Stefan Wedekind. »Du scheinst am besten mit einer Landkarte umgehen zu können«, sagte der Affe und kehrte um. Die Kinder breiteten die Karte auf dem Waldboden aus. Der Planet schien nicht sehr groß zu sein. Den größten Teil der Oberfläche nahmen das Siedemeer und das Eismeer ein, die das Festland umschlossen. Östlich der Ebene der toten Bäume floß der Rote Ringel ins Siedemeer. - Westlich von ihnen lag Sumpfland, und vor ihnen breitete sich die Ebene der toten Bäume aus. Dahinter ragten die Klippen der Felsenaffen hervor. »Na denn, vorwärts, Kumpels!« rief Carola.
Die Ebene der toten Bäume Carola führte die Gruppe an. Hinter ihr ging Stefan Wedekind mit der Karte. Dann folgten Emmi und Gudrun. Willi mit seinen Affenfüßen lief am Schluß. Den verhüllten Stein trugen sie abwechselnd. Stefan hatte bemerkt, daß die Baumstämme an einer Seite eine grüne Färbung aufwiesen. Das wird die Wetterseite sein, dachte er. Man braucht also immer nur darauf zu achten, daß die grüne Seite der Stämme rechter Hand blieb. Auf diese Weise würden sie leicht die Richtung halten können. »Hier liegt etwas!« rief Carola nach einem Weilchen. Auf dem farblosen Waldboden leuchtete ein rotes Federbüschel - ein toter Vogel! »Ist der schön!« rief Gudrun. »Er wird wohl von der Flut angespült worden sein«, meinte Emmi. »Denken war noch nie deine Stärke«, sagte Carola. »Der Vogel ist erst nach der letzten Flut abgestürzt, sonst hätte er nicht so leuchtende Farben.« Emmi war beleidigt. Besonders ärgerte sie, daß Stefan Carola zustimmte. Leider blieb es nicht der einzige tote Vogel, den sie fanden. Das Gefieder der Vögel leuchtete in den schönsten Farben, wie man sie auf der Erde nicht kannte. Es war ein trauriger Anblick, der die Kinder sehr bedrückte. Auf einmal hörten sie jämmerliches Schreien über sich. Ein marineblauer Vogel hockte auf einem kahlen Ast und versuchte wegzufliegen, aber immer wenn er sich aufreckte, die Flügel spreizte, schien er von einer unsichtbaren Kraft zurückgehalten zu werden.
Carola hielt den Anblick des sich quälenden Vogels nicht aus. Sie sprang in gewohnter Art den Stamm an, um hinaufzuklettern. Ihre Füße ruderten verzweifelt in der Luft. Sie fand keinen Halt und rutschte ab, doch sie gab nicht auf. Immer wieder und immer wütender versuchte sie, den Stamm zu erklimmen. Auf der Erde gab es keinen Baum, den sie nicht erklettert hätte. »Na, laß mal Onkel Willi machen«, sagte Willi. Und merkwürdig, obwohl Willi nie gut im Klettern gewesen war, bezwang er den Stamm im Handumdrehen. »Na, mit Affenfüßen ist das natürlich kein Kunststück«, murmelte Carola. Willi tastete sich auf dem Ast zu dem Vogel hin. Er nahm an, der Vogel hätte sich in einer Spalte des Astes verfangen. Das erwies sich als Irrtum. Es war nicht zu erkennen, warum der Vogel, der Willi hoffnungsvoll anblickte und zu schreien aufgehört hatte, nicht fortflog. Willi versuchte vorsichtig die Füße vom Ast zu lösen. Er wollte den Vogel nicht verletzen. Einen Augenblick hielt er das Tier triumphierend hoch, dann erhob sich der marineblaue Vogel jubelnd in die Lüfte. Carola, Stefan, Emmi und Gudrun riefen: »Bravo!« und klatschten Beifall. Willi war das Hochgefühl schnell vergangen, nun klebten seine Hände an dem Ast. Auch die anderen sahen es jetzt. Die Worte Hanibals kamen ihnen wieder in den Sinn: Die toten Bäume versuchen alles Lebendige festzuhalten. Carola begann zu ahnen, warum es so viele tote Vögel gab! »Armer, armer Willi!« jammerte Emmi. »Mund halten!« schrie Carola. »Irgendwie bekommen wir Willi wieder frei!« »Nur wie ist die Frage«, sagte Gudrun nachdenklich. »Ich
habe eine Idee. Wir sollten uns ausziehen und aus den Kleidern eine Art Seil knüpfen. Das werfen wir ihm zu und ziehen.« »Er wird sich die Knochen brechen, wenn er endlich loskommt«, sagte Carola. »Es ist ganz schön hoch.« »Macht schon«, stöhnte Willi. »Ich habe doch jetzt Affensprungbeine.« Carola begann sich zu entkleiden. Gudrun schloß sich ihr an. Emmi zögerte einen Moment, dann beeilte sie sich um so mehr. Nur Stefan trat verlegen auf der Stelle. »Hab dich nicht so«, schrie Carola. »Oder denkst du, wir gucken dir was ab.« Sie begann, ihre Kleidungsstücke kunstvoll miteinander zu verknoten. Emmis und Gudruns Kleider ergaben eine beachtliche Länge Seil, aber dieses »Seil« war immer noch zu kurz. Sehr zögernd begann sich Stefan Wedekind Hemd und Jeans auszuziehen. »Los, das Unterhemd!« forderte Carola. Stefan zog auch das Unterhemd noch aus und versuchte an den nackten Mädchen vorbeizusehen. »Die Badehose geb ich nicht her«, sagte er kläglich. Die Schwierigkeit bestand darin, wie jemand, dessen Hände festgehalten werden, ein Seil zu fassen bekommt. Ungefähr beim zwanzigsten Mal erwischte Willi das Seil mit dem Mund und biß sich darin fest. »Hol weg!« kommandierte Carola. »Hol weg!« Die Mädchen zogen mit aller Kraft, während Stefan Wedekind schamhaft abseits stand. Plötzlich löste sich Willi von dem Ast und sauste in die Tiefe. Die »Affenfüße« federten geschickt den Aufprall ab, und außerdem gelang es ihm, eine Rolle vorwärts zu drehen. »Alles klar, Willi?« fragte Carola. »Wir müssen weiter!« »Alles klar«, sagte Willi fröstelnd. »Mir war, als würde der Baum meinem Körper alle Wärme entziehen. Schrecklich!«
Nach kurzer Zeit war die Gruppe abmarschbereit. Sie wanderten weiter. Und wieder lagen auf ihrem Weg viele tote Vögel. Plötzlich hielt Carola an. »Seht euch diesen Vogel an«, sagte sie. Alle starrten auf das rote Bündel. Ohne Zweifel war es der Vogel, den sie zuerst gefunden hatten. Sogar der Ast, mit dem Carola ihn berührt hatte, lag noch da. »Unmöglich, daß wir im Kreis gelaufen sind«, sagte Stefan. »Ich habe mich an der Farbe der Bäume orientiert!« »Verdammt, hier ist aber auch alles anders als auf unserer guten alten Erde«, sagte Carola. »Weiß übrigens jemand, wann die Flut wiederkommt?« fragte Gudrun. Niemand beantwortete Gudruns Frage, aber alle wußten, daß ihr Leben davon abhing. Plötzlich tauchte der marineblaue Vogel über ihnen auf. Er flog so niedrig, daß sie den Luftzug, den sein Flügelschlag verursachte, spürten. Immer wieder flog der Vogel hin und her. Gudrun hielt einladend die Hand empor: »Setz dich, Vogel!« Doch der ging nicht darauf ein. »Vielleicht will er uns den Weg zeigen«, sagte Emmi. Sie beobachteten den Vogel aufmerksam. Sein Flug schien in eine bestimmte Richtung zu deuten. »Es bleibt uns nichts anderes übrig, als ihm zu vertrauen«, sagte Gudrun. Ohne lange zu überlegen, ging sie los, und die anderen folgten ihr. Nachdem sie eine längere Strecke zurückgelegt hatten, schrie Carola plötzlich: »Halt!« Sie riß Gudrun zurück. Im gleichen Augenblick stürzte krachend ein dicker Ast nieder. Jetzt übernahm Carola die Führung. Der Vogel zeigte ihnen eindeutig den Weg.
Willi, der am Schluß lief, rief: »Schneller, Leute, schneller!« Als sie sich umschauten, sahen sie, wie sich eine dichte Nebelwand heranschob. Sollte das schon die Flut sein? »Wie spät ist es, Stefan?« wollte Carola wissen. »Fünfzehn Uhr sieben. Aber immer noch der gleiche Tag, an dem wir abgeflogen sind!« »Merkwürdig«, japste Emmi, »dann wären wir erst fünf Minuten von zu Hause weg.« Hinter sich hörten sie ein gewaltiges Rauschen, als würden die toten Bäume in Erwartung der Flut aufstöhnen. Emmi, die gerade den verhüllten Stein tragen mußte, warf ihn plötzlich fort, um schneller laufen zu können. Erst wenige Schritte weiter begriff Willi, was sie getan hatte. Ohne ein Wort zu sagen, kehrte er um und nahm den Stein auf. Ohne Grund hat ihn Hanibal uns nicht mitgegeben, dachte er. Der Wald hörte auf, und das Gelände stieg sanft an. »Wir sind gerettet«, stieß Emmi hervor. Die siedende Flut wallte heran. »Wo ist unser marineblauer Vogel?« fragte Emmi. Vergeblich hielten sie Ausschau. Willi allein wußte, wo er abgeblieben war. Er hatte ihn in die siedende Flut stürzen sehen. Aber er wollte den anderen nicht die Freude verderben.
Der König der blinden Vögel Die Dämmerung war hereingebrochen. Gudrun Wetterschlag warf sich bäuchlings in das Moos. »Ich habe Hunger, daß mir der Kopf wackelt«, sagte sie und begann, ihren Beutel auszupacken. Merkwürdigerweise hatten sich die Grohmchen schwarz verfärbt. Eilig öffneten auch die anderen ihre Proviantbeutel. Die Grohmchen luden nicht gerade zum Essen ein.
»Wie sie aussehen, ist schließlich unwichtig«, sagte Willi und biß in eines hinein. Doch er spuckte sofort alles aus. »Pfui, Teufel«, rief er. »Der Geschmack dieser Dinger erinnert mich verdammt an das Gefühl, das ich hatte, als ich an dem Ast des Baumes hing!« »Na, nun höre mal, Neuenhagen«, sagte Stefan Wedekind. »Ein Geschmack ist noch immer etwas anderes als ein Gefühl!« Er biß in eines der Grohmchen, spuckte aber auch. Kleinlaut sagte er: »Tatsächlich, es ist, als würde man erfrieren ...« Carola schüttete den Inhalt ihres Proviantbeutels aus. »Los, alles wegschütten, sonst vergiftet sich noch einer!« In der Zwischenzeit war es Nacht geworden. Nur die Flammen des fernen Fuego-Gebirges erleuchteten die Ebene. »Wir müssen versuchen, sehr schnell zu den Felsenaffen zu gelangen. Dort werden wir auch was zum Essen bekommen.« Stefan hielt Hanibals Karte so, daß er sie im fahlen Licht lesen konnte. Die Klippen, auf denen die Felsenaffen lebten, waren noch einige Kilometer entfernt. Stöhnend und ächzend erhoben sich alle. Einen richtigen Weg gab es nicht. Sie mußten quer über die bemooste Ebene gehen. Sie waren etwa eine halbe Stunde gelaufen, als Carola der Länge nach hinfiel. Sie wollte wieder aufspringen, doch irgend jemand drückte sie ins Moos. Zuerst nahm sie an, Willi erlaubte sich einen Spaß mit ihr. Sie wollte schon wütend werden; doch einen Moment war es ihr gelungen, den Kopf seitwärts zu wenden, und sie sah, wie riesige Affen Willi, Stefan, Emmi und Gudrun am Genick packten. Sie begriff, sie waren Gefangene. »Da sind uns ja eklig kleine Äffchen in die Fänge gekommen«, hörte sie eine rauhe Stimme sagen. »Die haben nicht einmal Fell!«
»Meiner hat behaarte Füße!« sagte eine andere Stimme. Carola wurde wieder auf die Füße gestellt und bekam einen Schubs. »Vorwärts«, sagte die rauhe Stimme. Emmi wollte losplärren, wie so oft auf dem Schulhof. Carola zischte ihr jedoch ein gebieterisches »Ruhe« zu, was sofort seine Wirkung tat. »Was trägst du da für einen Stein?« wollte jemand wissen. »Das ist ein Stein zum Fußballspielen«, sagte Willi möglichst gleichmütig. »Schön dumm, einen Stein zu schleppen«, sagte der Affe. Carola atmete erleichtert auf. Hanibals Stein schien zunächst einmal gerettet. »Wohin führt ihr uns?« »Mund halten, ihr Glattaffen!« »Hören Sie mal«, ließ sich Stefan Wedekinds empörte Stimme vernehmen. »Wir sind Menschen! Sozusagen eine Weiterentwicklung der Affen!« »Hört euch das an«, rief der eine. »Dabei besitzen sie nicht mal ein Fell!« Die Affen fielen in sein schallendes Gelächter ein.
In einer Senke befand sich ihr Lager. Links und rechts der Lagerstraße standen lange Gestelle. Im Schein der Lagerfeuer erkannten die Kinder, daß darauf angekettete Vögel mit verbundenen Augen hockten, die von den Affen gefüttert wurden. Die Kinder warfen begehrliche Blicke auf die Grohmchen. Endlich, vor einem großen Zelt, machten die Affen halt. Sie ließen die Kinder frei. Der Anführer rief: »Oh, König der blinden Vögel, wir bringen dir die Glattaffen!« »Ich habe Ihnen bereits gesagt ...«, wollte Stefan protestieren, aber sein Bewacher hielt ihm einfach den Mund zu, so daß Stefans Stimme gurgelnd erstarb. Aus dem Zelt trat ein Affe, der eine Krone trug und einen weiten Mantel, schwarze Vögel waren darauf abgebildet. Sein Gesicht wirkte böse. »Wisset, Fremde«, sagte der König, »ihr seid meine Gefangenen!«
»Wer gibt Ihnen das Recht ...«, rief Carola. »Dieses Gebiet hier ist von mir zu >keinem Gebiet< erklärt worden«, sagte der König. »Ihr aber seid durch dieses Gebiet gegangen.« Stefan Wedekind schüttelte den Kopf. »Wenn das hier >kein Gebiet< ist, dann können wir es nicht betreten haben!« »Ihr seid aber durch das Gebiet gegangen, das >kein Gebiet< ist.« Carola war über die merkwürdigen Worte des Königs weniger verwundert als Stefan Wedekind. Sie kannte ähnliche Behauptungen von der Erde. Da gab es zum Beispiel auch offene Türen, über denen zu lesen war: Kein Eingang. Rechthaberei schien ihr fehl am Platze, da sie sich in der Gewalt des Affenkönigs befanden. »Warum durften wir denn durch das >kein Gebiet< nicht gehen?« fragte sie mit einer Freundlichkeit, die ihr die Situation empfahl. »Hier ist Übungsgebiet für blinde Vögel«, sagte der König etwas milder. »Ich habe mir die Aufgabe gestellt, allen blinden Vögeln des Planeten das Fliegen beizubringen.« »Das ist wirklich nett!« sagte Emmi Winter. »Vielleicht könnten Sie sich auch zur Aufgabe stellen, halbverhungerten Menschenkindern etwas Eßbares anzubieten!« »Kasagranda«, gebot der König einem seiner Diener, »bring den Fremden ein paar Grohmchen. Aber von den guten!« Kasagranda starrte seinen Herrn begriffsstutzig an. »Ich denke, es sind Spione.« Der König gab ihm statt der Antwort einen Tritt, so daß er sich in Bewegung setzte. Er wandte sich höflich an die Kinder: »Wo seid ihr her, Fremde?« »Wir sind von der Erde«, sagte Stefan Wedekind mit Stolz. »Das ist ein Planet, der sehr weit von hier entfernt ist.«
»Ho«, sagte der König, »dann werden euch die Füße weh tun vom Marsch. Nehmt Platz und eßt mit mir!« Kasagranda kam mit einer großen Schüssel Grohmchen aus dem Zelt. Die Kinder griffen eifrig zu. Willi empfand das Gesicht des Königs jetzt nicht mehr so böse. »Gibt es auf der Erde auch so köstliche Grohmchen?« wollte der König wissen. »Grohmchen gibt es nicht. Dafür aber Brot«, sagte Carola. »Man schmiert Butter und Wurst darauf.« »Die Erdenbewohner nähren sich sehr unterschiedlich«, belehrte Stefan. »In einigen Gebieten werden Brot, Kartoffeln als Hauptnahrungsmittel gegessen, in anderen Reis, Mais oder Fladen aus verschiedenen Getreidesorten.« Der König schaute Stefan offenen Mundes an. Carola hätte dem Affen beinahe geraten, sich eine Prothese anfertigen zu lassen, denn in seinem Gebiß fehlten viele Zähne. Dazu kam sie nicht, weil Emmi als Hauptnahrungsmittel auch Speiseeis nannte und Gudrun auf den Vitamingehalt von Kaugummi hinwies. Der König tippte an seine Krone. »Gibt es auf der Erde Könige?« »Kaum«, sagte Carola. »Sie sind ein bißchen aus der Mode gekommen.« »Sehr schade«, sagte der König. »Und wie steht es mit Speeren?« »Ich kenne einen Speerwerfer«, sagte Willi, »der war vor ein paar Jahren sogar olympiaverdächtig.« Der König schien Willis Worte ebensowenig zu verstehen wie die der anderen. »Ich meine«, sagte er, »womit kämpft man bei euch im Krieg?« »Man hat Bomben und Granaten erfunden, die ganze Städte vernichten können«, sagte Stefan.
»Das ist ja beträchtlich«, nickte der König. »Wäre einer von euch in der Lage, so ein kleines Bömbchen zu basteln?« »Bomben, wir? Nee!« sagte Willi heftig. »Wir sind froh, wenn keine fallen.« Der König nickte. »Es interessiert mich nur. Ich selbst habe mein Leben einem guten Werk verschrieben. Und auch ihr scheint friedliche Affen zu sein. Ich will also von einer Bestrafung absehen.« Nun wurde Willi doch leichter ums Herz. Ein wenig später wollte der König wissen, wohin die Kinder gingen. Carola erklärte ihm, daß sie hofften, bei den Felsenaffen eine Blume zu bekommen. »Die Felsenaffen sind außerordentlich liebe und fleißige Affen, das seht ihr an mir«, sagte der König. »Heute werdet ihr hier im Zelt übernachten. Morgen früh könnt ihr dann gehen. Ich gebe euch ein Geschenk für die Brüder mit!« Die Kinder legten sich auf das Moos des Zeltbodens nieder. Carola lag neben Willi. »Was hältst du von diesem König?« tuschelte sie ihm zu. »Der sieht nur ein bißchen böse aus. Wahrscheinlich ist er ganz in Ordnung.« »Na«, sagte Carola, »ich glaube, er ist ein ganz falsches Aas!« Sie verständigten sich untereinander und wollten der Reihe nach wach bleiben, um beobachten zu können, wenn etwas Verdächtiges geschah. Carola übernahm die erste Wache. Sie sollte dann Willi wecken. Der König legte sich ebenfalls schlafen. Er begann sofort so rhythmisch zu schnarchen, daß Carola auch einschlief. Darum konnte sie Willi nicht wecken. Und Willi konnte demzufolge Gudrun nicht ... na, und so weiter. Sie wachten alle zusammen am anderen Morgen auf. Der König war schon auf den Beinen. Sie hörten, als sie aus dem Zelt
traten, wie er einem Zug Greifvögel Kommandos zurief, der in der Luft mit verbundenen Augen übte. Der Diener Kasagranda bat sie mit einer einladenden Geste Platz zu nehmen. Eine Schüssel mit gebratenen Grohmchen war schon aufgetragen. »Na, siehst du, wir leben noch!« sagte Willi zu Carola. Sie nickte, schaute aber zwei Affen nach, die eine Stange mit angeketteten Greifvögeln zum Flugfeld trugen. »Warum sind die Vögel angekettet?« fragte Carola Kasagranda. »Sie könnten sonst herunterfallen - die armen blinden Geschöpfe«, sagte er. Carola schien es, als würde er ein Grienen unterdrücken. Nach dem Frühstück kam der König zu ihnen, um sich zu verabschieden. Er winkte Kasagranda, der mit einem kleinen Krug abseits stand. »In diesem Krug befindet sich eine Flüssigkeit«, sagte der König, »die unverwundbar macht, wenn man sich damit einreibt. Überreicht ihn den Felsenaffen als Geschenk von mir.« Carola nahm den Krug vorsichtig. »Bring den Brüdern die besten Grüße von Thilo.« »Wer ist Thilo?« wollte Willi wissen. »Thilo bin ich«, sagte der König. »Aber erwähnt den Felsenaffen gegenüber nichts von meiner Königswürde. Das würde sie nur wütend machen. Sie sind ein wenig eigenartig. Ihr werdet es selbst merken. Ach, bevor ich's vergesse, auch über die Vögel sagt nichts. Sie mögen sie nicht!« »Wahrscheinlich, weil sie die Kirschen von den Bäumen picken«, sagte Emmi. »Mein Onkel stellt wegen der Stare immer eine Vogelscheuche auf«, sagte Carola.
»Der Stamm der Vogelscheuchen ist mir so unbekannt wie Kirschen. Doch mit guten Vorschlägen könnt ihr das Vertrauen der Felsenaffen gewinnen«, sagte der König. »Sie sind sehr mißtrauisch. Wenn ihr euch ihnen nähert, ist es am besten, so zu tun, als würdet ihr sie nicht sehen, sonst rennen sie weg. Wenn ihr sie begrüßen wollt, dann tut so, als würdet ihr vor euch hin sprechen. Ich sagte ja, sie sind sehr eigenartig. Falls ihr etwas seht, das euch interessiert, laßt es nicht merken. Sie sind ständig in Angst, daß ihnen jemand ihre Geheimnisse stiehlt.« Die Kinder bedankten sich beim König der blinden Vögel. »Gestattest du, König der blinden Vögel, daß ich ein Foto von dir schieße?« fragte Stefan ehrerbietig. Auf der Stirn des Königs zeigte sich eine tiefe Zornesfalte. »Das ist also der Dank für meine Gastfreundschaft!« rief er. »Er will auf mich schießen!« Kasagranda riß Stefan den Fotoapparat aus der Hand. »Dich werden wir damit erschießen«, sagte er. Dabei richtete er das Objektiv auf Stefan und drückte ab. Stefan lächelte, weil er immer lächelte, wenn ihn jemand fotografierte. »Es scheint nicht weh zu tun«, sagte der König. »Vielmehr sieht es so aus, als wäre es angenehm.« Stefan nahm Kasagranda den Fotoapparat wieder aus der Hand und richtete das Objektiv auf den König. »Ich befürchtete schon, ihr wolltet Unfrieden auf unserem Planeten stiften. Nun aber bin ich beruhigt. Geht in Frieden dahin!« Die Kinder machten sich auf den Weg. »Du warst zu mißtrauisch«, sagte Willi zu Carola. »Es sind gutmütige Affen. - Nur ein wenig dumm.« »Hoffentlich«, antwortete Carola.
Carola sagt: W-a-h-n-sinn! Als die Kinder die Bodensenke hinter sich ließen, sahen sie in der Ferne steil aufragende Felsen, die unterschiedlich hoch waren und sich nach oben hin verbreiterten. Als sie näher herankamen, konnte man Einzelheiten erkennen. Manche Felsen waren von niedrig gewachsenen Bäumen bedeckt. Auf anderen waren steinerne Gebäude mit Türmen errichtet und einzelne Klippen durch waghalsig anmutende Brücken verbunden. Nirgends jedoch war eine Aufstiegsmöglichkeit zu erkennen. »Wahrscheinlich können die Felsenaffen fliegen«, sagte Carola. »Ich kann es jedenfalls nicht!« »Abwarten, Onkel Willi findet schon irgendeine Treppe!« »Mich kriegen da keine zehn Pferde rauf«, sagte Emmi. »Zehn Pferde«, sagte Gudrun. »Ich habe hier noch kein einziges Pferd gesehen, sonst wäre ich längst wieder zu Hanibal galoppiert!« »Und wie willst du jemals zur Erde zurückkommen?« wollte Stefan wissen. »Überhaupt nicht, solange sich meine Eltern nicht wieder vertragen!« »Seht mal da!« rief Willi plötzlich. Nicht weit von ihnen entfernt arbeitete eine Gruppe Affen. Mit Schaufel und Spaten schippten sie irgend etwas in hölzerne Mulden. Emmi begann zu winken und wollte die Affen anrufen, als Carola den Finger auf die Lippen legte und warnend zischte: »Denk daran, was Thilo über die Felsenaffen gesagt hat!« Willi schaute auf das Moos zu seinen Füßen. »Ach«, sagte er laut, »ich hätte Lust, irgend jemandem einen schönen Tag zu wünschen.«
»Nicht nur einen schönen Tag«, sagte Carola, die ebenfalls vermied, zu den Affen zu schauen. »Ich wünschte auch Gesundheit und Wohlergehen!« »Und viele Geschenke zu Weihnachten ...«, rief Emmi. »... und ein hervorragendes Schulzeugnis, so eines wie meins«, ergänzte Stefan. Carola beobachtete aus den Augenwinkeln, wie die Felsenaffen weiterarbeiteten. Aber ihre Mienen ließen erkennen, daß sie die Grüße gehört hatten. »Wenn mich einer freundlich grüßen würde«, sagte einer der Affen, »würde ich freundlich zurückgrüßen.« »Zum Beispiel könnte man demjenigen guten Tag wünschen.« »Warum nicht auch Gesundheit!« »Man könnte den fremden Affen alles Schöne und Gute wünschen, wenn sie nur recht schnell vorübergingen«, sagte eine Affenmutter, die ihr Kind auf dem Rücken trug. Verdammt, die wollen uns abwimmeln, dachte Carola. Aber wer eine Huflattich abwimmeln will, der muß früher aufstehen! Sie tat so, als würde sie stolpern, und schrie dabei laut: »Au, jetzt habe ich mir den Fuß verknackst!« Sie ließ sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einen Felsbrocken sinken. Die anderen umringten sie sofort. Willi sagte besorgt zu Carola: »Du wirst mir doch keinen Kummer machen!« Carola kniff verschmitzt ein Auge zu. »Die legen wir rein«, flüsterte sie. Gleich darauf schrie sie wie am Spieß: »Auuuuaah, Auuuuuaaah! Ist das ein furchtbarer Schmerz!« Die Felsenaffen ließen ihre Schaufeln fallen und eilten herbei. Sie umstanden die jammernde Carola. Ein Affe beugte sich über ihren Fuß. »Vielleicht helfen kalte Umschläge«, meinte er.
»Nein«, sagte die Affenmutter, »sie muß zum Arzt!« »Ho, ho, wenn das man kein Trick ist, um bei uns auf den Felsen was abzugucken!« meinte einer der Affen. Er tastete Carolas Knöchel ab und schüttelte den Kopf. »Nichts zu spüren!« »Überhaupt, was geht es uns an!« sagte ein anderer. Es sah so aus, als würden sich die Affen abwenden, um wieder ihrer Arbeit nachzugehen. Willi überlegte krampfhaft, wie er die Felsenaffen zurückhalten konnte. Zufällig fiel sein Blick auf den Krug, den Carola neben sich gestellt hatte. »Wenn wir schon hier sind«, sagte er, »sollten wir wenigstens Thilos Geschenk überreichen!« Carola hörte mit dem Gejammere auf. »Ja, wir müßten einen Verantwortlichen finden.« »Ich bin der Leiter des Bodentransportes!« sagte einer der Affen. »Wenn ihr es mir übergebt, werde ich es dem weisen Jango aushändigen.« »Thilo hat uns aufgetragen, dem weisen Jango selbst den Krug zu überreichen«, log Carola. Die Felsenaffen sahen sich ratlos an. »Fremde«, sagte der Leiter des Bodentransportes, »wir leben seit vielen Generationen im Frieden und widmen uns den Wissenschaften. Der Frieden ist uns nur erhalten geblieben, weil wir auf diesen unbezwingbaren Felsen leben und jeden Umgang mit anderen Affen ablehnen. Wir halten uns aus allem heraus. Mögen sich die Langschwanz- und die Kurzschwanzaffen gegenseitig die Köpfe einschlagen, wir nehmen es nicht zur Kenntnis. Aber immer wieder schicken sie Späher, um bei uns etwas herauszufinden, was dem einen oder dem anderen im Kriege irgendeinen Vorteil verschafft. Darum müßt ihr verstehen, Glattaffen, daß wir auch euch nicht erlauben können, unsere Felsen zu betreten. Behaltet also das Geschenk des guten Thilo und zieht weiter!«
Emmi fing plötzlich laut zu heulen an. »Dann werden wir unsere Erde niemals wiedersehen.« »Dumme Gans«, brummte Carola. Laut sagte sie: »Achten Sie nicht auf ihr Geplapper. Sie weiß nicht, was sie redet.« Der Leiter des Bodentransportes sagte: »Erde? Erde? Ist das nicht ein ferner Planet? Wir erhielten schon häufig Radiosignale von dort. Selbstverständlich haben wir bisher jeden Kontakt vermieden.« »Sollten wir nicht, ich meine, könnten wir nicht ...«, stammelte ein Felsenaffe mit einem gewaltigen Schnurrbart. »... es wäre eine Bereicherung für die Wissenschaft ... Dort auf der Erde leben Glattaffen, die behaupten, keine Affen zu sein, sondern Mönschen.« »Was heißt hier behaupten«, empörte sich Stefan. »Und außerdem heißt es Menschen!« »Es wäre zu bedenken, ob ein direkter Kontakt mit den Glattaffen unserer Wissenschaft nützlich sein könnte«, sagte der Leiter des Bodentransportes. »Andererseits habe ich einige Bilder gesehen, die von der Erde gesendet wurden. Das waren lauter Albernheiten. Offensichtlich vertreibt man sich auf der Erde damit die Zeit, daß dauernd Geschichten in Bildern erzählt werden, in denen sich die Glattaffen gegenseitig mit allerlei Gerätschaften umbringen. Einige gewitzte Kerlchen müssen dann herausbringen, wer wen umgebracht hat. Merkwürdiger Zeitvertreib!« »Ach, Sie meinen die Fernsehkrimis«, rief Carola erfreut. »Dolles Ding, daß man bei Ihnen unser Fernsehen empfangen kann!« Gudrun legte Hanibals Stein vorsichtig ins Moos. »Was ist das?« wollte der Leiter des Bodentransportes wissen. »Ein Stein - von Hanibal«, sagte Gudrun arglos.
»Hanibal!« riefen die Felsenaffen wie aus einem Munde und rückten von den Kindern ab. »Möchte bloß wissen, was die gegen Hanibal haben«, sagte Gudrun empört. »Er ist ein Abtrünniger«, antwortete der Leiter des Bodentransportes. »Er ist fortgezogen, um sein Wissen unter den Affen des Planeten zu verbreiten. Allerdings konnte er diese teuflische Absicht nicht verwirklichen, weil ihn der Wald der toten Bäume gefangenhält.« »Und das ist gut so«, murmelten einige Affen. Die Affenmutter mischte sich ins Gespräch: »Immerhin ist er einer von uns. Und er ist der Bruder des weisen Jango. Bevor wir die Glattaffen wegschicken, sollten wir uns mit Jango beraten.« Die Affen nickten. Daraufhin ging der Leiter des Bodentransportes abseits und begann, auf einer Flöte zu spielen. Als Antwort ertönte von oben ebenfalls eine Melodie. Sieh an, dachte Carola, sie haben hier so etwas wie Telefon. Nach einem Weilchen trat er wieder in den Kreis: »Die Weisung lautet: Den Fremden die Augen verbinden und sie durch den Felsen Maradar hinaufbegleiten. Die Fremden brauchen außerdem nicht die ganze Pflicht zu erfüllen!« Die Kinder schauten sich verständnislos an. »Die Pflicht lautet, daß jeder, der die Felsen erklimmt, eine Mulde voll Boden hinaufträgt. Ihr müßt nur die Hälfte tragen!« »Auch noch schleppen!« empörte sich Emmi. »Warum denn das?« Der Leiter des Bodentransportes sagte: »Es ist eine unserer Lebensaufgaben, Boden hinaufzutragen, damit oben etwas gedeiht.« »Mal müßt ihr doch genug davon haben!« warf Willi ein. Die Affen machten betrübte Gesichter. Einer sagte: »Wenn es
regnet, wird ein Teil des Bodens wieder hinuntergeschwemmt. Darum haben wir immer zu tun.« »W-a-h-n-sinn«, stieß Carola hervor und dachte an diese Riesenarbeit, gegen die das Unkrautzupfen in Papas Garten ein Kinderspiel war. »W-a-h-n-sinn«, sagte sie noch einmal. Doch das verstanden die Felsenaffen offensichtlich nicht.
Die Sprache der Töne Der Felsenaffe mit dem Schnurrbart verband ihnen die Augen. Gudrun nahm Hanibals Stein und den Krug mit der Flüssigkeit. Die anderen trugen zwei halbgefüllte Mulden. Der Leiter des Bodentransportes sagte: »Hermes wird euch führen. Guten Aufstieg!« Hermes hieß der Affe mit dem Schnurrbart. Carola war froh, daß man ihn zum Führer auserwählt hatte. Er erschien ihr sehr sympathisch. »Geradeaus!« befahl Hermes. Und nach einem Weilchen: »Halb links! Rechts! Geradeaus!« Carola hatte das Gefühl, als liefen sie im Kreise. Sie versuchte allerlei Fratzen zu schneiden, damit sich das Tuch verschob. Das war mühsamer als das Tragen der Mulde. Schließlich schaffte sie es und konnte durch einen winzigen Spalt schielen. Sie gingen auf einem schmalen Weg zwischen einer Felswand und einem Bach, der sich wenig später zu einem kleinen künstlichen Teich erweiterte. »Halt«, kommandierte Hermes. Heimlich beobachtete Carola, wie der Affe ein Tau aus dem Wasser fischte, das Ende um einen Stock wand und angestrengt daran zerrte. Plötzlich gab es einen Ruck, und Hermes fiel auf den Allerwertesten. Carola
konnte mühsam ein Kichern unterdrücken. Im Teich bildete sich ein Strudel, und der Wasserspiegel sank von Minute zu Minute. Carola begriff, daß Hermes einen gewaltigen Stöpsel aus dem Teichgrund gezogen haben mußte. Das Wasser floß ab. Wahrscheinlich hatte der Affe vorher, ohne daß es Carola sehen konnte, den Zufluß gesperrt. Sie schaute sich unauffällig um. Tatsächlich, sie entdeckte ein Wehr. Als das Wasser gurgelnd verschwunden war, sagte Hermes: »Vorsichtig geradeaus. Ihr werdet jetzt zehn Stufen abwärts steigen. Die Stufen sind glitschig!« »Ich denke, wir wollen auf die Felsen«, maulte Emmi. Niemand antwortete ihr. Alle waren damit beschäftigt, die Mulden zu schleppen. Hermes geleitete die Karawane über den felsigen Grund des Teiches zu einem Stollen. Der Weg stieg wieder an. Als sie ungefähr die Höhe des Uferweges erreicht hatten, rief Hermes: »Setzt die Mulden ab! Ihr dürft auch die Tücher abnehmen!« Sie hatten ihre Last noch nicht abgesetzt, als sie ein Rauschen und Gurgeln vernahmen. Carola begriff: Hermes ließ wieder Wasser in den Teich. Als sie sich umwandte, sah sie: Der Durchgang stand unter Wasser. Von dort kam auch das mattdämmrige Licht, das den Stollen kümmerlich erleuchtete. Hermes ergriff eine der zahlreichen Laternen, die auf Brettern an der Wand standen. Aus einem Gefäß entnahm er einen Stein und schlug ihn heftig gegen die Felswand. Der Stein begann zu brennen und ein rotgelbes Licht zu verbreiten. Hermes warf ihn in die Laterne. »Nehmt euch auch eine Lampe. Ihr könnt sie auf die Mulden stellen.« Stefan betrachtete interessiert die Steine in dem Behälter.
»Es sind einfache Feuersteine«, sagte Hermes erklärend. »Der größte Teil unseres Planeten besteht daraus.« »Das ist aber gefährlich«, sagte Stefan. Der Affe mit dem Schnurrbart nickte nachdrücklich. »Ihr habt doch gewiß das Fuego-Gebirge gesehen? Es brennt. Und das Feuer breitet sich allmählich über den ganzen Planeten aus. Der Rote Ringel, ein Fluß, der in den Fuego-Bergen entspringt, hat das Land weiter nördlich von hier in Flammensümpfe verwandelt. Jedes Jahr nimmt sich das Feuer mehr!« »Welcher Strolch hat das Feuer angezündet?« fragte Carola. »Es gibt Geschichten, aus denen hervorgeht, wer es angeblich getan hat. Aber darüber möchte ich schweigen. Es ist unser oberster Grundsatz: Wir Felsenaffen schweigen und mischen uns nicht ein.« »Haben Sie nicht Angst, daß Ihre Felsen mal abbrennen?« wollte Emmi wissen. Hermes schüttelte langsam lächelnd den Kopf. »Der Fels brennt nicht! Aber, bitte, laßt uns jetzt weitergehen!« Sie nahmen die Mulden auf und folgten dem Gang durch den Fels, der sanft, aber stetig anstieg. Übrigens schien es allen, als würde die Last immer schwerer. Emmi blieb unvermittelt stehen. »Warum soll ich immer das Schwere tragen, während sie sich einen schönen Tag macht!« Anklagend blickte sie zu Gudrun. »Du solltest mit mir tauschen!« »Meinetwegen«, sagte Gudrun und übergab Emmi den Stein und das Gefäß. Willig packte sie mit Stefan Wedekind die Mulde. Nach einem Weilchen begann Emmi wieder zu jammern: »Das ist ja noch schwerer! Du hast es gewußt, Gudrun! So was will meine Freundin sein!«
»Also gut!« sagte Gudrun. »Tauschen wir wieder.« »Die Felsenaffen sind doch schlaue Leute«, sagte Emmi. »Warum habt ihr keinen Fahrstuhl gebaut?« Sie setzte die Last so unverhofft ab, daß Stefan die Mulde beinahe fallen ließ. Hermes blieb stehen. Er lächelte. »Vielleicht gibt es einen solchen Fahrstuhl!« »Na, das ist ein Ding«, rief Carola. »Warum lassen Sie uns hier rackern?« »Der Fahrstuhl ist außer Betrieb!« »Bei uns im Hochhaus geht der Fahrstuhl auch dauernd kaputt«, sagte Stefan Wedekind. »Wir haben den Fahrstuhl selbst außer Betrieb gesetzt«, sagte Hermes. »Ein jeder soll spüren, wie schwer das Leben ist!« Er lächelte hintergründig. »Ich will kein schweres Leben«, erwiderte Emmi. »Ich will ein schönes Leben.« »Nur ein schweres Leben ist schön«, sagte Hermes. »Wenn alles immer nur leicht ist, werden die Affen schnell unzufrieden. Sie verlieren ihren Stolz, weil sie nichts getan haben, was stolz macht.« Willi dachte darüber nach. Er gab dem Affen innerlich recht. Einmal hatte er die Aufgaben für die Mathearbeit schon einen Tag vorher im Lehrerzimmer liegen sehen. Er hatte sich die Lösungen und die Lösungswege aufgeschrieben. Natürlich hatte er eine Eins bekommen. Die hatte ihn aber nicht richtig froh gemacht. »Als der Fahrstuhl noch in Gang war«, sagte Hermes, »wurden die Felsenaffen von Tag zu Tag dicker. Wir mußten ein Trainingsgerät erfinden, das genausoviel Kraft erforderte wie das Hinauftragen des Bodens.« In der Ferne erklang Musik.
»Hört ihr das?« fragte Hermes. »Das ist Angela. Sie ist Professor für Musik.« Diese Musik hatte wenig mit der Musik, wie man sie auf der Erde kannte, gemeinsam. Trotzdem klang sie den Kindern nicht unangenehm in den Ohren. Plötzlich brach sie ab. Man hörte Füße schurren. »Die Vorlesung ist beendet«, sagte Hermes. »Die Studenten gehen nach Hause.« Bald darauf erreichten die Kinder einen großen Saal, der in den Fels gehauen war. Eine Wand wurde vom Tageslicht erhellt. Stefan erkannte als erster, daß diese Wand aus durchsichtigen Quarzen bestand. Die Landschaft draußen konnte man nur verschwommen erkennen. »Setzt eure Lasten ab«, sagte Hermes. »Schaut euch um!« Vor der durchsichtigen Wand stand ein Gestell mit Tasten, ähnlich einem Klavier. An der Stirnfront des Saales ergoß sich ein Wasserfall und verursachte glockenähnliche Töne. »Was ist das?« fragte Stefan und wies auf ein umständliches System von Hunderten kleiner Röhrchen, die an fast unsichtbaren Fäden in unmittelbarer Nähe des Wasserfalles aufgehängt waren. Eine Affenfrau in dunklem Gewande trat in den Saal. »Dies sind Glattaffen von der Erde«, stellte Hermes die Kinder vor. Stefan Wedekind wollte widersprechen, aber er spürte rechtzeitig, wie sinnlos das war. Die Affenfrau musterte sie kurz mit einem freundlichen Lächeln. »In welchem Studienjahr seid ihr?« »Wir sind aus der 5 b«, sagten alle wie aus einem Mund. Die Professorin konnte offensichtlich nicht viel mit ihrer Antwort beginnen. Sie ging zu dem klavierähnlichen Instrument
und schlug einige Tasten an. Es erklang wieder jene Musik, die sie schon aus der Ferne gehört hatten. Willi stieß Stefan Wedekind an und deutete auf den Wasserfall. »Tolle Idee«, hauchte er.
Stefan begriff: Wenn man eine der Tasten anschlug, wurde Wasser durch ein bestimmtes Röhrchen geleitet und ergoß sich auf eine steinerne Säule, die einen Ton von sich gab. Die Professorin schlug kräftige Akkorde an. Die Kinder sahen, wie das Wasser aus vielen Röhrchen hervorschoß und die Steine zum Singen brachte. Hermes berührte die Professorin leicht am Ärmel. »Angela, vielleicht bittest du die Glattaffen, etwas für uns zu spielen.« Die Professorin machte eine einladende Geste. Carola, die am nächsten stand, schlug die Tasten mit einem Finger an. Es erklang der weltbekannte Hit: Hänschen klein, ging allein, in die weite Welt hinein . . .
Angela sagte lächelnd: »Ich verstehe diese Botschaft nicht!« »Was für eine Botschaft?« fragte Carola. »Nun, jede Musik überbringt doch irgendeine Weisheit oder nicht?« Angela spielte eine kurze, sehr einprägsame Melodie. »Verstehst du nicht?« fragte sie. »Es bedeutet - wenn a kleiner ist als b, dann ist b größer als a.« Gudrun drängelte sich nach vorn. »Können Sie auch die Regeln für die Rechtschreibung darauf spielen? - Zum Beispiel, wann man das mit s und wann mit ß schreibt ...« Die Professorin Angela schlug spielerisch ein paar Töne an. »So einfach ist das ...« »Aha«, sagte Gudrun, obwohl sie die Töne nicht verstanden hatte. Stefan, der schon eine Weile ungeduldig herumzappelte, setzte sich auf den Schemel und fing an zu spielen. Obwohl Carola und Willi oft über ihn gespottet hatten, weil er dreimal in der Woche zur Klavierstunde ging, waren sie jetzt stolz auf ihn, weil er sozusagen die Ehre der Glattaffen rettete. Die Professorin und Hermes hörten intensiv zu. Als er geendet hatte, klatschten sie in die Hände. »Ist dir diese Melodie allein eingefallen?« wollte Angela wissen. Stefan Wedekind wurde verlegen. »Nein, das ist doch ein Impromptu von Schubert.« »Impromptu ...«, empörte sich Carola, die Stefans Art, klug zu schwätzen, nicht ausstehen konnte. »Was kann ich dafür, wenn es so heißt ...« Die Professorin beachtete den Streit der beiden nicht. Nachdenklich sagte sie: »Die Botschaft dieser Melodie ist schwer in Worte zu fassen. Der Erfinder dieser Melodie scheint sagen zu wollen, das Leben der Glattaffen ...«
»... Menschen ...«, korrigierte Stefan. »Das Leben der Menschen ist traurig und gleichzeitig lustig ..., es ist ganz ernst und sehr heiter ...« »Das ist doch richtig«, rief Emmi. »Ich kann traurig und lustig zugleich sein ...« Als wollte sie ihre Worte beweisen, begann sie, auf ihre Art zu kichern. »Müssen alle Felsenaffen dieses Wasserfallklavier spielen können?« fragte Willi. »Ja, natürlich! Sonst würden sie doch die Mathematik, Physik und Grammatik nicht verstehen.« »Besser als Diktate schreiben«, sagte Carola. Hermes verbeugte sich vor Angela. »Die Gäste von der Erde danken für deine Erklärungen ...« »Ja, ja, ja ...«, stammelten die Kinder. Hermes bat sie, die Lasten wieder aufzuehmen. »Schade, daß man Töne nicht fotografieren kann«, sagte Stefan. Während sie den Felsensaal verließen und in einem der Stollen untertauchten, spielte Angela wieder eine Melodie. Stefan stöhnte: »Mir ist so, als würde ich in der nächsten Sekunde begreifen, was sie uns sagen will, aber dann ist es wie weggeblasen.« Emmi summte die Melodie mit. Plötzlich unterbrach sie sich: »Ich verstehe immer: Prüfe, ob klein a klein a ist, ob groß A groß A ist ...« Hermes lächelte Emmi zu: »Du bist wirklich sehr musikalisch. Du hast es ganz richtig gedeutet.« »Aber ist das nicht sinnlos?« »Nein, es ist eine Weisheit«, sagte Hermes. Alle dachten nach, ohne den Sinn der Weisheit entschlüsseln zu können.
Und Carola dachte: Wenn die hier so weise sind, müssen sie doch ständig Kopfschmerzen haben. Nach einem steilen Anstieg wurde es im Stollen langsam heller. Sie näherten sich einem Durchlaß, der ins Freie führte. Überrascht standen sie auf einer der steinernen Brücken, die zwei Felsen miteinander verbanden. Stefan schauderte, als er in den Abgrund blickte. Er zog Emmi eilig auf den gegenüberliegenden Felsen. Erst dort konnte er sich die Landschaft in aller Ruhe ansehen. Gespenstisch ragten die Äste der kahlen Bäume in den grauverhangenen Himmel. Wenn man sich anstrengte, konnte man auch auf einem der Bäume in Richtung des Siedemeeres einen dunklen Punkt erkennen: Hanibals Baumhütte. In anderer Richtung lag das Fuego-Gebirge. Carola hielt unwillkürlich nach dem König der blinden Vögel Ausschau. Weder ihn noch seine Vögel entdeckte sie. Zum ersten Mal sahen die Kinder riesige rote Felder in der Ferne. »Das wird Heidekraut sein«, sagte Stefan. Hermes schüttelte bedauernd den Kopf. »Es sind die Flammensümpfe. Wenn ihr ganz genau hinseht, könnt ihr Thilos Haus sehen.« Willi machte eine Hütte in weiter Ferne aus. Sie war armselig und hatte überhaupt nichts von einem Schloß an sich. Warum mochte Thilo, der König der blinden Vögel, in solch einer elenden Hütte hausen? »Auch Thilo ist einer unserer Brüder«, sagte Hermes. »Er ist der kräftigste Felsenaffe, den man je gesehen hat. Mit einem Male kann er drei Lasten Boden hinauftragen. Leider ist er nicht sehr klug. Er verließ uns, weil er unseren Reden und unseren Melodien nicht folgen wollte. Er verriet aber keines unserer
Geheimnisse, denn er besitzt einen festen Charakter.« »Wer hat ihm beigebracht, blinden Vögeln das Fliegen zu lehren?« platzte Emmi heraus. Carola faßte sich an die Stirn. Emmi begriff, daß sie sich verplappert hatte. Hermes runzelte die Stirn: »Er bringt blinden Vögeln ...« »Nein, nein«, rief Carola dazwischen. »Er sprach nur einmal von blinkenden Vögeln, die manchmal vorüberfliegen.« »Blinkende Vögel«, wiederholte Hermes. »Wer hätte schon einmal blinkende Vögel gesehen! Nun, ich sagte es ja, unser Thilo war nie der Schlaueste!« Sie nahmen die Lasten wieder auf und gingen weiter. Schon nach kurzer Zeit erreichten sie Felsenaffen, die mit Harken den Boden gleichmäßig auf einem Felsen ausbreiteten. Hermes grüßte die Affen mit einer Handbewegung. Die Kinder nickten. Doch die Felsenaffen beachteten sie nicht. »Man kann den Boden hierherschütten«, sagte einer der Affen wie zu sich selbst und deutete auf eine Stelle. Während die Kinder die Mulden entleerten, fragte Hermes den Affen: »Was soll hier gepflanzt werden?« »Wenn es nach mir ginge, Sonnenblumen ...« Hermes lachte. »Kann ich mir vorstellen. Aber sie sind ja, solange ich denken kann, nicht mehr gewachsen.« Der andere Affe nickte trübsinnig. »Darum säen wir Grohmchen.« Willi und Carola tauschten Blicke. Hoffentlich wuchsen auf diesem lausigen Planeten überhaupt Blumen! Von den Lasten befreit, schlenderten sie in Richtung der Gebäude. Carola hatte den Krug und Willi den Stein genommen. »Irre«, sagte Carola, als sie bemerkte, daß Hermes auf einen seltsamen Bau zusteuerte. Es war ein dicker Turm, der nach
oben hin spitz auslief. Man konnte auf den Gedanken kommen, ein auf den Kopf gestellter Rettich hätte Modell gestanden. Der Turm bestand aus weißem Gestein, mit unsymmetrisch eingesetzten Glasscheiben. Auch die anderen Bauten in der Umgebung zeigten keine einzige gerade Linie. Zum Teil waren sie kugelförmig, zum Teil glichen sie in der Form Birnen oder Pilzen. Offenbar liebten die Felsenaffen das Licht, überall, wo es nur möglich war, hatte man Glasscheiben eingesetzt. Hermes führte die Kinder durch das geöffnete Tor in den Turm. Der Raum wirkte leer. Nur ein Mooslager und ein Schreibpult, hinter dem ein Affe mit schwarzen Ärmelschonern stand, entdeckten sie. »Guten Tag, Jango«, sagte Carola. Der Affe mit den Ärmelschonern legte den Finger auf den Mund. »Leise, ihr Glattaffen«, sagte er. »Jango denkt gerade über ein Problem nach. Ich bin sein Sekretär Oswaldo.« »Aha«, sagte Carola, »grüß dich, Oswaldo! Aber wo ist er?« In diesem Moment hörten sie über sich Flötenspiel. Sie schauten empor. Auf einer Schaukel, die mit Stricken in der Kuppel des Turmes befestigt war, schwang sich ein Affe hin und her. Oswaldo ritzte eifrig die Melodie in die Wachsplatte. Das Flötenspiel brach unmittelbar ab. Und der Affe auf der Stange stützte nachdenklich den Kopf. »Über welches Problem denkt der Jango nach?« fragte Stefan Wedekind. »Im Nachdenken bin ich nicht gänzlich ungeübt. Ich habe bei der Matheolympia ...« »Pst«, machte Oswaldo, da gerade in diesem Augenblick die Flöte wieder erklang. Als sie verstummte, sagte der Sekretär: »Das heutige Thema lautet: Ist Feuer gefährlich?«
»Na und?« wollte Emmi Winter wissen. Oswaldo zuckte die Achseln. »Ich glaube, er wird die Antwort sogleich finden.« Jango setzte die Flöte an die Lippen. Emmi versuchte, die Melodie mitzusummen. »Feuer ist gefährlich«, sagte sie. Oswaldo lächelte ihr ermunternd zu. »Das war nur der Anfang der Melodie . . . aber immerhin, dafür, daß du nur ein Glattaffenmädchen bist ...« Emmi wurde vor Stolz mindestens zehn Zentimeter größer. Oswaldo erläuterte die Fortsetzung der Melodie: »Der weise Jango meint: Feuer sei nur gefährlich für den, der sich in der Nähe des Feuers befindet. Darum merket, Affen: Geht nicht zu nahe ans Feuer!« »Da sollte der weise Jango mal unseren Feuerwehrhauptmann Möhrmann hören«, empörte sich Willi. »Der behauptet nämlich, das Feuer rennt wie ein Fuchs auf der Rennbahn ... von Haus zu Haus!« »Diesen Aspekt wird Jango bedacht haben, ihm aber keine Bedeutung beimessen«, sagte Oswaldo würdig. Er schwang mehrmals kunstvoll eine Klingel. Dann schaute er zur Schaukel. »Ich habe verstanden«, sagte Jango. »Die Affen von der Erde sind da. Seid gegrüßt ...« Er gab sich einen neuen Schwung und sauste durch die Turmkuppel. Das kann ja eine Unterhaltung werden, dachte Carola. Am Ende werden wir uns den Hals verrenkt haben. »Wir haben ein Geschenk von Thilo mitgebracht«, rief sie. »In dem Gefäß befindet sich eine Flüssigkeit, die unverwundbar macht.« »Stellt es neben Oswaldos Schreibpult!« rief Jango.
»Wir sollten es persönlich abgeben«, sagte Willi in der Hoffnung, den Weisen vom Schaukeln abzuhalten. »Dieses Zeug ist sowieso unnötig«, rief Jango. »Wer sollte uns auf den Klippen angreifen?« Wieder sauste er über ihre Köpfe hinweg. »Wir hätten noch eine Bitte«, sagte Carola. »Könntest du bitte nicht einen Augenblick mit dem Schaukeln aufhören!« »Tragt die Bitte Oswaldo vor. Ich muß schweben - nur wenn man sich frei durch den Raum bewegt, kann man wirklich weise sein.« Oswaldo schellte wieder. Darauf trat ein ähnlich aussehender Affe, ebenfalls mit Ärmelschonern bekleidet, ein. Oswaldo stellte ihn vor: »Mein Zwillingsbruder Alberto!« Dann nahm er Carola den Krug aus der Hand, stellte ihn neben das Pult und bat sie, ihm zu folgen. Vor der Tür des Turmes fanden sie Hermes wieder. »Ich nehme an, Oswaldo«, sagte der, »unsere Gäste haben Hunger. Wir wollen ihnen etwas anbieten.« »Bestimmt wieder Grohmchen«, sagte Emmi resignierend.
Was sind Glitzersteine? Bei dem Wort Grohmchen verzogen die Kinder das Gesicht. Sie schmeckten nicht schlecht, aber sie waren doch eine recht eintönige Nahrung. »Dort drüben ist das Speisehaus«, sagte Hermes und wies auf ein langgestrecktes Gebäude. »Ich glaube, wir sollten uns nicht erst aufhalten«, sagte Stefan. »Was wir am dringendsten benötigen, ist eine Blume!« »Eine Blume?« Oswaldo zog die Augenbrauen erstaunt empor.
»Kennt ihr etwa hier keine Blumen?« fragte Willi besorgt. »O doch, natürlich. Wir führen sogar Blumen in unserem Stammeswappen.« Er zeigte auf den Turm, den sie gerade verlassen hatten. Über dem Eingang prangte ein Wappen, Blumen waren darauf abgebildet. Die Kinder atmeten erleichtert auf. »Wozu, meine jungen Freunde, benötigt ihr eine Blume?« »Die Blume ist der Energiespender für unser Raumschiff, wenn wir diesen Planeten wieder verlassen wollen.« »Ich verstehe«, sagte Oswaldo und warf Hermes einen ratlosen Blick zu. »Gehen wir doch erst einmal ins Speisehaus«, rief Hermes plötzlich übertrieben eilig und ging voran. Widerstrebend folgten ihm die Kinder. Der Saal war schmucklos. Überall auf dem moosüberwucherten Fußboden saßen Felsenaffen, die Gesichter hielten sie hinter farbenprächtigen Fächern verborgen. Zusammen mit den unvermeidlichen Grohmchen erhielten die Kinder ebenfalls einen Fächer.
Carola begann, sich Luft zuzufächeln. »Die Fächer sind dazu da«, belehrte sie Hermes, »um das Gesicht beim Essen zu verdecken. Die anderen könnten sich gestört fühlen.« »Merkwürdiger Brauch«, sagte Willi. »Ist ja fast, als müßte man sich des Hungers schämen.« »Sehr richtig«, sagte Hermes hinter seinem Fächer. »Essen ist etwas Dummes, Geistloses. Der weise Jango denkt häufig darüber nach, wie man es abschaffen könnte.« »Na, bei den Grohmchen ist das auch kein Wunder«, ließ sich Emmi hinter ihrem Fächer hören. »Spaghetti mit Tomatensoße ist was anderes ...« Einen Moment dachten alle an ihre Lieblingsspeisen: Willi an Salzhering mit Pellkartoffeln und Leinöl, Carola an Kartoffelpuffer. Stefan aß am liebsten gebratene Ente, und Gudrun mochte Linseneintopf für ihr Leben gern. Ob sie wohl jemals wieder ihre Lieblingsspeise essen würden? Unwillkürlich stöhnten alle. Der Sekretär Oswaldo hockte ohne Fächer und ohne zu essen dabei. »Ich bin streng erzogen«, erläuterte er. »Meine Familie ißt nur im Dunklen.« Außer Gudrun aßen alle schnell, beinahe hastig. Während die anderen längst ihren Fächer zur Seite gelegt hatten, blieb Gudrun noch lange dahinter verborgen. Willi riß schließlich der Geduldsfaden. »He, bist du eingeschlafen, Gudrun Wetterschlag?« Gudrun tauchte mit dem unschuldigsten Gesicht auf. »Nur wer langsam ißt, lebt lange, sagte meine Oma immer!« Willi sprang auf. Die anderen hatten sich schon halb erhoben. Da fragte Gudrun: »Wer hat eigentlich das Fuego-Gebirge angesteckt?«
»Das ist eine etwas längere Geschichte«, sagte Oswaldo und ließ sich ins Moos zurückplumpsen. »Ma-a-a-ann!« preßte Carola zwischen den Zähnen hervor. Aber auch ihr blieb nichts übrig, als sich wieder zu setzen. Oswaldo begann, gemächlich zu erzählen: »Früher waren alle Affen auf dem Affenstern sehr freundlich zueinander, müßt ihr wissen. Jeder ging irgendeiner Arbeit nach. Die einen betätigten sich auf den Hirsefeldern, die anderen zogen Blumen. Die Wiesen waren grün, und vierbeinige Tiere mit Hörnern weideten darauf. Man konnte sie melken und bekam Milch, aus der man Butter und Käse herstellte.« »Schrien diese Tiere vielleicht zufällig manchmal?« fragte Carola gereizt. »O ja! Sogar sehr laut.« »Hörte sich das zufällig so an - mmmmmmmuh!« »Ganz genau!« rief Oswaldo erfreut. »Wir haben die Stimme der letzten Kuh, so hießen diese Tiere hier auf dem Affenstern, im Museum gespeichert. - Aber zurück zu meiner Geschichte: Wenn also ein Affe Butter haben wollte, dann ging er einfach zu einem anderen, der eine Kuh besaß und tauschte Hirse gegen Butter. Die Butter konnte man nur kurze Zeit aufbewahren, dann wurde sie ranzig, und Getreide zu lagern lohnte sich auch nicht sonderlich. Es kamen kleine vierbeinige Tiere mit langen Schwänzen, die man Mäuse nannte, sie fraßen alles weg. Darum besaß jeder gerade soviel, wie er zum Leben benötigte. - Eines Tages aber fand irgend jemand im Gebirge, an entlegener Stelle, Glitzersteine.« »Glitzersteine?« »Nun ja, Glitzersteine. Sie sind beinahe durchsichtig und sehr schön. Im Grunde bestehen sie nur aus Kohlenstoff.. « Stefan rief wie aus der Pistole geschossen: »Diamanten.«
Oswaldo zuckte die Achseln. »Vielleicht heißen sie auf der Erde Diamanten. Hier nennt man sie Glitzersteine! Sie sind sehr selten. Einige Affen kamen auf die dumme Idee, anstatt Butter gegen Hirse oder umgekehrt Butter oder Hirse gegen diese Glitzersteine einzutauschen. Die konnte man lange aufbewahren. Sie wurden niemals ranzig, und die Mäuse fanden auch keinen Geschmack daran.« »Sozusagen Geld«, nickte Stefan. »Die Affen erfanden so etwas wie Geld!« »Vielleicht nennt man die Glitzersteine auf der Erde Geld. Hier heißen sie Glitzersteine! Und sie waren sehr begehrt, obwohl sie keinen richtigen Nutzen haben. Manche Affen, die viele Glitzersteine im Gebirge gesammelt hatten, verliehen sie ärmeren und verlangten ein oder zwei Steinchen mehr zurück, als sie einst gegeben hatten. Und einer der gierigsten war der König der Langschwanzaffen. Er begann, mit seinen Kriegern die Kurzschwanzaffen zu überfallen und auszurauben. Als ihm die erbeuteten Glitzersteine immer noch nicht ausreichten, kam er auf eine unsinnige Idee. Er glaubte, man müßte das FuegoGebirge anzünden, dann würde es sich in einen riesigen Glitzerstein verwandeln. Seit dieser Zeit brennt das Gebirge.« »Und hat es sich in einen Glitzerstein verwandelt?« fragte Gudrun. Oswaldo schüttelte den Kopf: »Nein, in graue Asche.« »Schöne Schweinerei!« rief Carola. »Und die Felsenaffen«, wollte Stefan wissen, »tauschen die auch mit Glitzersteinen?« »Nein«, lachte Oswaldo. »Wir sind nicht so dumm!« »Und womit tauscht ihr?« »Wir tauschen überhaupt nicht. Wir arbeiten gemeinsam, und jeder bekommt, was er braucht. So einfach ist das!«
»Aber vielleicht gibt es bei euch doch Felsenaffen, die heimlich tauschen«, sagte Gudrun. »Ich würde meinen Kamm gern gegen den Fächer hier vertauschen!« »Du darfst den Fächer behalten«, sagte Hermes. »Und ihr anderen auch! Wir Felsenaffen sind nur an geistigem Reichtum interessiert. Und den kann man nicht eintauschen!« Carola Huflattich wandte sich ab, sie kannte solche Worte aus den Reden des Schuldirektors, die alle darauf hinausliefen, daß man wie ein Teufel lernen sollte. »Wir sollten endlich aufbrechen!« sagte sie.
Ein Meer von Blumen Draußen war es schwül und rauchig. Der Wind hatte gedreht und trieb die Rauchwolken vom Fuego-Gebirge auf die Klippen zu. Um den Hustenreiz niederzukämpfen, bot Carola Hanibals Hustenpillen an. Auch die beiden Felsenaffen griffen zu. Sie prüften die Pillen eingehend. »Hanibal«, sagten Hermes und Oswaldo zugleich, und es klang nicht gerade freundlich. Sie gingen einen Weg, der etwas unterhalb des Gipfels der Felsen lag. An den Wänden klebten die Behausungen wie Schwalbennester. Affenkinder tummelten sich vor den Hütten. Ihre Spiele glichen denen der Kinder auf der Erde. Einige Affenmädchen hatten mit Kreide Striche auf den Fels gezeichnet und hüpften auf einem Bein herum. Andere spielten Versteck. Emmi schielte sehnsüchtig zu ihnen. Hermes zeigte auf einen großen Felsen, von dem gewaltige Antennen emporragten. »Die Klippe Lago! Die Antennen stammen vom Institut zur Erforschung der Affen auf anderen Planeten.«
»Wohnte dort nicht Hanibal?« Hermes nickte. »In der letzten Hütte. Er arbeitete im Institut.« »Bis zu dem Tage«, sagte Oswaldo, »da er eigenmächtig und gegen alle Verbote eine Nachricht zum Planeten Erde absandte.« »Ist sie angekommen?« fragte Carola. »Nein«, sagte Oswaldo, »wir haben sie noch im Weltraum zerstören können.« »Ach!« Die Kinder blieben überrascht stehen. »Was war das für eine Nachricht?« wollte Stefan wissen. Oswaldo winkte geringschätzig ab. »Nichts von Bedeutung. Hanibal hatte von irgendeiner Gefahr gefaselt, die dem Affenstern angeblich drohe, und um Rat gebeten. Dabei hätte er den Glattaffen verraten, daß es uns hier gibt.« Carola zwinkerte Willi zu. Der verstand aber nicht, was sie wollte. Als er näher an sie herantrat, zischte sie aus Angst, Oswaldo und Hermes könnten ihre Worte verstehen: »Ich sag's dir später!«
Plötzlich endete der Weg. Carola glaubte schon, die beiden Affen hätten sie absichtlich in die Irre geführt, da deutete Hermes auf lange Seile, die vom Gipfel der Klippe Lago herabhingen. Hermes hängte sich an eines der Seile, ließ sich ein Weilchen hin und her pendeln und schwang sich hinüber. Carola zögerte ein wenig, dann tat sie es Hermes gleich. Für wenige Sekunden blieb ihr fast das Herz stehen, als sie unter sich die tiefe Schlucht erblickte, und Carola war sehr froh, als sie wieder felsigen Boden erreichte. »Los, mir nach!« brüllte sie den anderen zu, die noch immer unentschlossen herumstanden und mit Oswaldo wahrscheinlich über eine andere Möglichkeit des Hinüberkommens debattierten. Oswaldo schüttelte den Kopf. Endlich angelte sich Willi ein Seil und schwang sich zur Klippe Lagos. Emmi und Gudrun folgten ihm. Wedekind gestikulierte unentschlossen. Carola sagte: »Das schafft die Flasche nie!« Sie schwang sich beherzt zurück und winkte auch Willi zu sich. Sie nahmen Stefan in die Mitte und transportierten den Zappelnden über den Abgrund. Kaum daß er festen Boden unter sich fühlte, stammelte Stefan Wedekind: »Gibt es hier eine Toilette?« Lächelnd deutete Hermes auf einen Eingang in der Felswand. Stefan sauste wie der Blitz dorthin. Als er wieder zum Vorschein kam, sagte er anerkennend: »Sogar mit Wasserspülung.« Bei ihrem Gang über die Felsen hatten die Kinder des öfteren pilzförmige Dächer bemerkt, unter denen Felsenaffen hockten. Diese Affen trugen lange Rohre, die ihnen über den Rücken hingen. Am Institut gab es viele solcher Pilze. Carola betrachtete diese Affen im Vorbeigehen unverhohlen. Zu Willi sagte sie: »Hast du die Pusterohre gesehen?« Willi nickte. »Möchte wissen, was die da durchpusten. Holunderbeeren oder Kieselsteine?«
»Ihr täuscht euch«, sagte Hermes. »Das sind keine Pusterohre, sondern große Flöten.« Und Oswaldo sagte: »Sollte sich irgendwann einmal ein Feind nähern, um uns unsere Geheimnisse zu stehlen, dann werden die Wachen den Angreifer in der Sprache der Töne zurechtweisen.« »Hoffentlich verstehen die Gegner die Sprache der Töne«, wandte Willi ein. Oswaldo lächelte grimmig. »Der Feind wird unter der Last des bekannten Lehrsatzes: In jedem rechtwinkligen Dreieck ist das Quadrat über der Hypothenuse gleich der Summe der Quadrate über den Katheten, zusammenzucken und die Flucht ergreifen!« Die Kinder schauten erwartungsvoll auf Stefan Wedekind. Der war doch immer der Schlaueste! Aber diesmal zuckte er bedauernd die Achseln. »Das kommt erst in der achten Klasse dran.« Über einem Felseneingang, den sie nun erreichten, stand in großen Buchstaben: Felsenmuseum. »Aber wir wollen doch eine Blu ...«, sagte Emmi.
Hermes schnitt ihr das Wort ab. »Sogleich werdet ihr ein Meer von Blumen sehen!« Das Museum war in mehreren großen Felsenhöhlen untergebracht, die von brennenden Feuersteinen erhellt wurden. Zuerst besichtigten sie Skelette früherer Lebewesen des Affensterns. Neben riesigen Echsen mit Flügeln, die den Sauriern glichen, die einmal auf der Erde gelebt hatten, fanden sie ausgestopfte Hunde, Katzen, Ziegen und eine Kuh, die auf einen Knopfdruck hin zu muhen anfing. Alle diese Ausstellungsstücke interessierten die Kinder wenig. Endlich, in einem großen Felsensaal, fanden sie, was sie suchten: eine riesige Parkanlage mit Tausenden von Blumen. Merkwürdigerweise blühten hier die Maiglöckchen zusammen mit den Herbstastern. Auch herrliche Stiefmütterchen waren zu sehen. Carola hätte wetten mögen, daß es sich um die Sorte Strahlende Valencia handelte. Leider waren die Blumenbeete durch einen Eisenzaun von den Wegen getrennt, hin und wieder standen kleine Boxen. »Ich würde gern mal an einer Blume riechen«, sagte Carola. Sie suchte nach einem Grund, um über den Zaun zu klettern. Oswaldo zeigte auf eine Box. Dort fand Carola eine Art Geruchsmaske. Kaum hatte sie diese übergestülpt, roch sie die Maiglöckchen. »Hm«, sagte Carola unzufrieden, »wie ist es nun, bekommen wir eine Pflanze oder nicht?« Oswaldo lächelte und sagte: »Ich wußte, daß es euch hier gefällt.« Willi schaltete sich ein. »Wir brauchen unbedingt eine Blume, Oswaldo, verstehst du?« Der Sekretär des weisen Jango nickte heftig. »Es ist ein wunderbarer Duft!«
Stefan wandte sich an Hermes, der ihm der gutmütigere zu sein schien: »Wenn du uns eine Blume gibst, könnten wir dir vielleicht einige Geheimnisse der Erde verraten!« »Setzt euch!« sagte er statt einer Antwort. Carola zog Willi an das andere Ende der Halle, um mit ihm zu tuscheln. »Das wollte ich dir vorhin schon sagen - sie werden uns niemals eine Blume geben, weil sie befürchten, daß wir wieder heimkehren und ihre Geheimnisse verraten.« »Hast du hier Geheimnisse entdeckt?« Carola schüttelte den Kopf. »Versteh doch, es ist schon ein Geheimnis, daß es auf diesem Planeten Lebewesen gibt!« Willi nickte. »Dann müssen wir eine Blume ...« Er machte die Geste des Stehlens. »Es wäre ein bißchen gemein, denn sie sind so nett zu uns.« »Wir werden müssen! Oder willst du hier bleiben?« »Verdammt«, rief Willi, »immer wenn man sich mit dir einläßt, kommt man in die Klemme!« Sie gesellten sich wieder zu den anderen. Als sie das Museum verließen, beobachtete Carola, wie sich Willi die Tür des Museums genau ansah. Sie war nicht verschließbar! In den Fels am Eingang hatte jemand die Formel gemeißelt: a=a A=A »Da könnte auch Willi = Willi stehen«, sagte Carola. »Und so was nennen die hier eine große Weisheit. Au, Mann!« Draußen dunkelte es bereits. Oswaldo und Hermes führten die Kinder in Hanibals Hütte. »Der weise Jango bittet euch, hier zu übernachten«, sagte Oswaldo. »Morgen könnt ihr euren Weg fortsetzen.« »Und was ist mit der Blume?« fragte Stefan noch einmal. Oswaldo und Hermes verneigten sich. »Gute Nacht! Später wird man euch Grohmchen bringen.«
Als die beiden gegangen waren, weihten Carola und Willi die anderen in ihre Pläne ein. Sie waren fest entschlossen, in der Nacht eine Stiefmütterchenpflanze zu stehlen. »Am besten wird es sein, wenn Willi und ich die Sache übernehmen«, sagte Carola. »Wir haben eine gewisse Übung im ...« Sie stockte verwirrt. »... im Klauen«, setzte Emmi Winter fort. Das entsprach nicht genau der Wahrheit, denn weder Willi noch Carola waren Diebe. Sie hatten vor längerer Zeit von einem Baum in der Gärtnerei unreife Äpfel gemaust und davon Durchfall bekommen. Und einmal hatte Willi auf Carolas Geheiß aus der Handtasche ihrer Klassenlehrerin einen Taschenspiegel genommen. Aber richtig gestohlen hatten beide noch nicht. Darum empörten sie sich auch. Emmi, die hatte es nötig! Die war im Selbstbedienungsladen mit zwei Lutschern ertappt worden! Gudrun unterbrach die Diskussion, die in einen handgreiflichen Zank überzugehen drohte. »Um was für unwichtiges Zeug ihr euch streitet! Meinetwegen könnt ihr euch noch hauen! Mir ist das gleichgültig!« Sie legte sich gemütlich im Moos zurecht und stellte sich vor, wie ihr Vater die Frau anschrie, mit der er jetzt zusammenlebte: Was, ich soll mich nicht aufregen, weil meine Tochter verschwunden ist! Ich lasse mir das Aufregen nicht verbieten! Und wem es nicht paßt, daß ich mich aufrege, der kann ja gehen! O ja, Gudrun kannte ihren Vater. Der hatte sich schon immer aufgeregt, wenn irgendwas nicht an seinem Platz war, die Schuhbürste oder sonst was. Und die andere Frau würde nach diesem Gebrüll zu heulen anfangen. Aber Gudrun hatte kein Mitleid! Carola und Willi schwiegen betreten. Natürlich war das mit dem Lutscher jetzt unwichtig!
Nachdem es in der Felsenaffensiedlung ruhig geworden war, brachen Carola und Willi auf. Es war dunkel draußen. Manchmal half ihnen der Feuerschein des Fuego-Gebirges bei der Orientierung. Willi hatte sich den Weg genau gemerkt. Sie mußten vorsichtig sein, um die Wachen nicht zu alarmieren. Plötzlich ertönte vor ihnen eine Flöte. Sie hielten den Atem an. Galt das ihnen? Einen Moment warteten sie, dann schlichen sie weiter. Sofort ertönte die Flöte wieder. Schließlich flüsterte Willi: »Wir müssen zurück. Es hat keinen Zweck.« Niedergeschlagen gingen sie zurück. Die anderen erwarteten sie voller Spannung. Carola und Willi berichteten, was ihnen widerfahren war. »Vielleicht haben sie euch überhaupt nicht bemerkt«, sagte Stefan, »und nur aus Langeweile gespielt.« »Niemals«, sagte Willi. »So weise Affen kennen keine Langeweile!« »Los, versuchen wir es noch einmal«, sagte Emmi. »Ich komme mit.« »Du?« riefen Willi und Carola wie aus einem Munde. »Ja, ich«, sagte Emmi. »Im Gegensatz zu euch verstehe ich ein bißchen die Sprache der Töne!« In Carola stieg Neid auf. Wie kam es, daß gerade Emmi Winter, die sonst kein großes Licht war, die Sprache der Töne verstand? Vielleicht hing es damit zusammen, daß sie sich leicht Melodien merken konnte? Sie brauchte einen Titel nur kurz im Radio zu hören, schon hatte sie ihn im Kopf. »Na, wenn du unbedingt mitkommen willst«, sagte Carola. Es klang nicht gerade freundlich. Sie tasteten sich zu dritt durch das Dunkel. Aber schon nach hundert Metern ertönte unmittelbar vor ihnen eine Flöte. Es
war eine schöne Melodie, die in kurzen Abständen wiederholt wurde. Emmi lauschte angestrengt. Als die Melodie zum dritten Mal erklungen war, flüsterte sie: »Welches Wasser kann man im Sieb tragen?« »In dem Satz sehe ich keinen Sinn«, sagte Carola. »Vielleicht hast du das falsch verstanden!« Emmi schüttelte wütend den Kopf. Willi murmelte: »Welches Wasser kann man im Sieb tragen? Na, Eis, würde Onkel Willi meinen ...« »Mensch, das ist ein Rätsel . . . wir müssen antworten!« »Wir haben keine Flöte ...« Emmi pfiff einige Akkorde. »Bist du verrückt!« sagte Carola. »Jetzt haben wir uns verraten!« Die Flöte ertönte wieder. Diesmal war es nur ein kurzer Pfiff. Carola war fest überzeugt, man würde sie zurückschicken. »Wir können weitergehen«, sagte Emmi, »wurde uns zugeflötet.« Als sie ein Stückchen gegangen waren, sagte Willi: »Die Sache ist ganz einfach. Die Felsenaffen halten sich für so schlau, daß sie anderen nicht zutrauen, ihre Rätsel lösen zu können.« »Da haben sie sich ganz schön geschnitten«, sagte Carola hämisch. Gleichsam als Antwort ertönte aus dem Dunkel erneut eine Melodie. »Eis«, sagte Willi. »Ganz einfach Eis lautet die Antwort.« »Diesmal wollen sie etwas anderes wissen«, flüsterte Emmi. »Wer spricht alle Sprachen und behält immer das letzte Wort?« »Ich«, sagte Carola. »Ich behalte immer das letzte Wort.« »Du sprichst nur nicht alle Sprachen.«
Carola mußte akzeptieren, daß Willi recht hatte. Schon spielte die Flöte wieder. Diesmal schien sie die Frage eindringlicher zu stellen. Die Melodie klang etwas verzerrt, der Spieler hatte sich gedreht, und die Melodie wurde nun von einer Felsenwand zurückgeworfen. »Hier ist ein Echo«, sagte Emmi. »Au, Mann, Emmi! Aus dir kann noch was werden«, sagte Carola begeistert. Aber Emmi begriff nicht, daß sie das Lösungswort gefunden hatte. »Los, pfeif schon - das Wort Echo!« Endlich fiel bei Emmi der Groschen, und sie pfiff die Antwort. In der Ferne schien ihnen ein Echo zu danken. Sie durften weitergehen und stießen eine ganze Weile auf keine Wachen. Beinahe hatten sie ihr Ziel erreicht, als wieder eine Flöte ertönte. Sie spielte eine lange, heitere Weise. Emmi stöhnte: »Das nimmt kein Ende und reimt sich auch noch.« »Nur nicht die Ruhe verlieren«, sagte Willi. Aber Emmi schien dieses Mal überfordert. »Du kannst es dir noch einmal anhören. Bestimmt spielen sie es wieder dreimal«, sagte Willi. »Was ist, wenn wir es auch beim dritten Mal nicht rauskriegen?« barmte Emmi. »Dann ist es wie im Märchen. Wir müssen sterben.« »Ach was«, sagte Willi. »Die Felsenaffen sind friedlich.« »Pst!« machte Emmi und lauschte angestrengt den Flötentönen. Sie übersetzte zögernd: »Es hat einen Rücken und kann nicht liegen, es hat zwei Flügel und kann nicht fliegen, es trägt 'ne Brille und kann nicht sehen, es kann wohl laufen, aber nicht gehen ...«
Willi kicherte fröhlich. »Wirklich, sehr komisch!« »Na, du bist gut«, fuhr ihn Carola an. »Es nützt nichts, das komisch zu finden. Wir müssen herauskriegen, was es ist!« Emmi begann vor Aufregung zu heulen. »Wir werden ewig auf diesem Affenstern bleiben«, schluchzte sie und zog dabei die Nase geräuschvoll hoch. »Hast du kein Taschentuch? Hört sich ja grauenhaft an«, knurrte Carola. »Na, wenn meine Nase läuft ...« »Nase, Nase, Nase ...«, triumphierte Willi, »denkt doch mal nach!« Emmi zog erstaunt ein letztes Mal hoch. Dann pfiff sie drauflos. Sofort ertönte das Zeichen zum Weitergehen. Endlich standen sie vor dem Eingang des Museums. Vorsichtig versuchte Carola die Tür aufzustoßen. Sie war jedoch fest zu. Carola tastete die Tür von oben bis unten ab. Sie konnte weder ein Schlüsselloch noch ein Vorhängeschloß ertasten. »Wenn wir mit voller Wucht gegen die Tür stoßen, bricht sie vielleicht auf«, sagte sie. »Nein, nein, das gibt einen Riesenkrach. Ich wette, da steckt wieder so ein Rätsel dahinter.« »Aber welches?« »Klein a gleich klein a, groß A gleich groß A«, sagte Emmi. »Das habe ich vorhin an der Felswand gelesen. Es ist auch eine der Melodien, die Angela spielte.« »Dann pfeif sie doch«, sagte Carola. Kaum hatte Emmi die Melodie gepfiffen, als sich die Tür öffnete. Die drei tasteten sich in der dunklen Höhle langsam voran. Willi fand einen Feuerstein und schlug ihn kräftig gegen die Wand. Sofort wurde es hell.
Geradewegs gingen sie zum Blumensaal. Schon von weitem sahen sie die Blumen im Halbdunkel leuchten. Willi runzelte nachdenklich die Stirn. Ihm war aus dem Biologieunterricht bekannt, daß sich nachts die Blumenkelche schlossen. Wieso leuchteten diese hier? Mit einem Satz sprang er über den Zaun und wollte eines der Stiefmütterchen ausgraben. Zu seiner Verwunderung besaß die Pflanze keine Wurzel. Statt dessen kam ein metallischer Faden zum Vorschein. Willi riß diesen Faden ab. Im selben Augenblick erlosch das leuchtende Stiefmütterchen. Das gesamte Blumenbeet versank im Dunkel. »Kurzschluß«, sagte Carola bitter. »Das sind elektrisch beleuchtete Kunstblumen«, hauchte Willi. »Das nutzt uns nichts«, rief Carola erbost. »Irgendwo werden sie doch Blumen züchten«, sagte Emmi, bereits wieder jammernd. »Es gibt keine Blumen auf den Felsen«, sagte plötzlich eine bekannte Stimme. Hermes stand wie aus dem Boden gewachsen vor ihnen. Er schlug ihnen die Feuersteine aus den Händen und trat sie aus. »Welch Wunder, daß man euch bei dieser Festbeleuchtung noch nicht entdeckt hat. Folgt mir, ich bringe euch unbemerkt hinaus.« Sie waren zu niedergeschlagen, um Fragen an Hermes zu richten. Schweigend folgten sie ihm durch die dunklen Säle. Vor dem Museum mußten sie sich auf eine der Steinbänke setzen. Sie taten es ohne Widerspruch. Keine Blumen auf den Felsen, spukte es in Carolas Kopf. Wie sollten sie jemals wieder nach Hause kommen! »Ich wußte«, sagte Hermes, »daß ihr versuchen würdet, eine Blume zu stehlen. Ich erkannte es an Carolas und Willis Blicken.
Leider habe ich mich verspätet, um euch zu hindern, die Anlage zu zerstören. Morgen wird man eure Tat entdecken ...« »Sie werden uns abmurksen ...«, sagte Emmi jämmerlich. »Die Felsenaffen verabscheuen es, jemanden zu töten«, sagte Hermes. »Ich fürchte allerdings, Jango wird euch auf der Büßerklippe für immer festhalten wollen.« Carola sprang auf. »Dann sollten wir sofort abhauen!« »Das würde euch nicht gelingen. Gerade in dieser Nacht werden alle Wege, die ins Flachland führen, besonders bewacht.« »Die nehmen uns ganz schön wichtig«, sagte Carola zu ihren Freunden. »Es geht nicht um euch«, sagte Hermes. »Nicht weit von hier sind Langschwanzaffen gesichtet worden! Sie versuchen alle paar Jahre, uns zu überfallen. Es ist besser, wenn ihr in Hanibals Hütte zurückkehrt. Ich werde in dieser Nacht noch das Blumenbeet reparieren. Und morgen zeige ich euch den Weg nach Schlaragossa. Möglich, daß der bucklige Szabo euch helfen kann.« Szabo - das war jetzt die neue Hoffnung der Expedition Huflattich. Unwillkürlich rückten alle dichter an Hermes, um seine Worte besser verstehen zu können. »Na, ihr werdet mich erdrücken«, sagte er. »Dieser Szabo scheint euch zu interessieren. - Nun, er war unser ärgster Gegner beim Wettbewerb um die prächtigsten Blumen des Planeten. Seinen Vater, einen gewissen Karli, konnten wir noch durch unsere Tulpen und Rosen schlagen. Aber von Jahr zu Jahr wurde es schwieriger, Blumen auf den Klippen zu züchten. Immer seltener drangen Sonnenstrahlen durch den dichten Gürtel aus Rauch und Dampf. Damals erfanden unsere Vorfahren die beleuchteten Blumen. Damit schlugen sie den alten Karli in mehreren Wettbewerben, denn seine Blumen aus Schlaragossa wa-
ren auch nicht mehr die allerschönsten. Der junge Szabo bemerkte leider die Täuschung. Wenn er unsere prächtigen Blumen sah, wollte er sich schieflachen. Wir versuchten selbstverständlich nachzuweisen, daß auch seine Blumen beleuchtet waren. Das gelang uns nie. Er muß irgendeinen Trick beherrschen, der die Blumen auch ohne Sonne wachsen läßt.« Hermes sah sich scheu nach allen Seiten um. »Ich fürchte, jetzt habe ich wieder etwas Unerlaubtes ausgeplaudert. Wir haben niemals zugegeben, daß unsere Blumen künstlich sind.« »Ich glaube, du hast uns gern«, sagte Emmi zögernd. Sie wurde dabei rot, aber das sah man nicht, weil es dunkel war. »Kann sein«, sagte Hermes. »Vielleicht aber setze ich bestimmte Hoffnungen in euch.« »Welche?« fragten alle auf einmal. »Daß ihr klüger seid als wir, daß ihr einen Ausweg wißt ...« »Was für einen Ausweg«, wollte Emmi wissen. »Denkt nach!« sagte Hermes, erhob sich und verschwand. »Wißt ihr, was er gemeint hat?« fragte Emmi. Weder Willi noch Carola hatten Hermes verstanden. Aber sie wollten es nicht zugeben. Darum hüllten sie sich in Schweigen und gingen einfach los. Emmi stolperte hinterdrein. Der Weg zurück war einfach; da die Wachen noch nicht gewechselt hatten, wußten die Kinder alle Antworten auf ihre Fragen. Einmal versuchte der gänzlich unmusikalische Willi sogar die Antwort in der Sprache der Töne zu pfeifen. Das mißlang gründlich, und Emmi übertönte ihn durch lautes Singen. Als sie die Hütte betraten, fanden sie Stefan und Gudrun in heller Aufregung über ihr langes Ausbleiben. Carola erzählte von ihren Erlebnissen. Emmi fand, daß ihre Rolle bei dem nächtlichen Ausflug nicht genug gewürdigt wurde, und ließ die
Daheimgebliebenen alle Rätsel raten und übersetzte sie in die Sprache der Töne. »Irgend etwas ist heute hier los«, sagte Stefan plötzlich und zeigte auf das Fenster, von dem aus man einen weiten Blick ins Land hatte. Im Flachland blitzten immer wieder Lichter auf. Vielleicht war es der Widerschein der Lagerfeuer, an denen die Langschwanzaffen ihre Grohmchen brieten? Genaues konnte man jedoch nicht erkennen. Der Schlaf ließ auf sich warten. Das Gefühl eines drohenden Unheils hatte alle erfaßt. Da sie die Langschwanzaffen noch nicht gesehen hatten, stellten sie sie sich als eine Art grimmiger Teufel mit unendlich langen Schwänzen vor. Was mochte aus Thilo, dem König der blinden Vögel, geworden sein? Da er zu den Felsenaffen gehörte, müßte er doch ein Feind der Langschwanzaffen sein? Vielleicht hatte er sich zurückgezogen. Plötzlich sagte Gudrun sehr laut: »Wenn dieser Thilo ein Felsenaffe ist, dann möchte ich wissen, warum er soviel größer als all die anderen Felsenaffen ist!« »Du hast es doch von Hermes gehört. Er ist sehr kräftig und kann dreimal soviel Boden wie ein gewöhnlicher Felsenaffe schleppen. Nur geistig scheint er ein bißchen zu kurz gekommen zu sein«, sagte Willi. »Das hat man ja beim Fotografieren gemerkt«, sagte Stefan.
»Wir bedanken uns für die ungeheure Gnade!« Am Morgen erwachten die Kinder von aufgeregten Rufen der Felsenaffen. Einer stürzte in die Hütte und forderte sie auf, hinter den Klippen Deckung zu suchen.
Bevor die Kinder ihre Hütte verlassen konnten, hörten sie Steine poltern, von unsichtbarer Hand geschleudert. Wahrscheinlich hielten sich die Angreifer so dicht am Fuße der Felsen auf, daß sie von oben nicht zu sehen waren. Die Steine begannen nach dem Aufprall sofort zu brennen, es waren Feuersteine. Hanibals Hütte fing Feuer, auch die anderen Hütten brannten. Die Kinder rannten, um irgendwo Schutz zu finden. Dann besann sich Carola und brüllte den anderen zu: »Helft die Hütten zu löschen.« Womit aber konnten sie das Feuer löschen? In der Nähe gab es kein Wasser. Willi schaute sich verzweifelt um. Er erfaßte schnell, wie die Felsenaffen das Feuer löschten. Mit Rutenbesen schlugen sie auf das Feuer ein. Auch neben Hanibals Hütte waren Besen zu einer Pyramide gefügt. Jeder griff sich einen, und in wenigen Minuten war die Gefahr gebannt. Sie fanden aber keine Zeit zum Verschnaufen. Von allen Seiten kamen jetzt Pfeile geflogen. Als die erste Welle verebbt war, rannte Willi und sammelte die Pfeile ein. Er wollte sie auf die unsichtbaren Angreifer zurückschleudern, doch Oswaldo hinderte ihn daran. Der Sekretär des weisen Jango sagte vorwurfsvoll: »Willi, hast du nicht bedacht, daß 'diese Pfeile einen Langschwanzaffen verletzen oder gar töten könnten!« Willi sah Oswaldo fassungslos an. »Sie haben uns doch mit diesen Pfeilen angegriffen!« stieß er empört hervor. Oswaldo lächelte. »Glaubst du, wir hätten keine anderen Mittel, sie zu vernichten, wenn wir es wollten! Einer unserer Wissenschaftler hat schon vor vielen Jahren ein schwarzes Pulver erfunden, mit dem man sogar Felsen in die Luft sprengen kann. Wir könnten auch wirksame Geschosse herstellen . . . wir tun es aber nicht. Wir halten uns aus allem heraus, wir wollen nicht töten.«
Willi schwieg einen Augenblick verblüfft, sagte dann aber trotzig: »Die wollen euch doch umbringen!« In diesem Moment sausten neue Pfeile durch die Luft. Oswaldo bat die Kinder, in Deckung zu gehen. »Hört zu«, sagte er, »Jango schickt mich mit einem kleinen Fläschchen jener Flüssigkeit, die ihr von Thilo gebracht habt. Ihr sollt euch damit einreiben.« Stefan Wedekind griff als erster nach dem Fläschchen. Er gab es angewidert an Emmi weiter. »Das stinkt wie die Pest.« Emmi roch daran, verdrehte die Augen, und reichte das Wundermittel Gudrun, die es mit gespreiztem Arm Willi gab. Willi lehnte ebenfalls ab. Carola sagte: »Lieber durch einen Pfeil umkommen, als durch diesen Gestank!« »Wie kann man nur so dumm sein«, rief Oswaldo verzweifelt. »Ihr seid unsere Gäste. Wir wollen nicht, daß ihr zu Schaden kommt. Seht, es ist leicht, sich zu überwinden!« Er goß sich etwas auf die Hand und rieb sich damit ein. Man sah ihm an, daß er sich überwinden mußte. »Laßt es schlecht riechen, wenn's um das liebe Leben geht«, rief er. »Viele unserer Brüder haben sich damit eingerieben.« In diesem Augenblick wurde aller Aufmerksamkeit von einer seltsamen Erscheinung beansprucht. Am Himmel erschien eine schwarze Wolke, die sich schnell näherte. Ein unheimliches Geräusch erfüllte plötzlich die Luft. Es war ein langgezogenes heiseres Krächzen, das von den Felsenwänden gebrochen wurde. Je näher die Wolke kam, desto dunkler wurde es. Lauter und lauter wurde das Krächzen - sie erkannten die Greifvögel. »Ihr braucht keine Angst zu haben«, sagte Oswaldo. »Die Vögel haben uns noch nie etwas getan. Wir füttern sie oft.«
»Aber wir sind Glattaffen«, sagte Stefan. Oswaldo schüttelte lächelnd den Kopf. »Ob Fell- oder Glattaffe - unsere Gestalten gleichen sich.« »Man hat ihnen die Augen verbunden, Oswaldo!« sagte Carola. Jangos Sekretär war nicht aus der Ruhe zu bringen. »Sie besitzen einen ausgezeichneten Geruchssinn ...« In diesem Augenblick scherte einer der Vögel aus und flog direkt auf sie zu. Die Augen des Tieres waren verbunden. Eine Lanze war an der Brust befestigt, die Spitze ragte weit heraus. »Man hat uns überlistet«, sagte Oswaldo tonlos und verzweifelt. Der Vogel steuerte zielsicher auf ihn zu. Eine Sekunde später wurde Oswaldo von der Lanze durchbohrt - die Spitze brach ab. Der Vogel schlug mit voller Wucht auf und blieb betäubt liegen. Oswaldo schwankte und brach zusammen. Er versuchte noch etwas zu sagen. Bevor er aber ein Wort herausbringen konnte, wurde sein Blick abwesend. Die Kinder begriffen: Oswaldo war tot. Von den Felsen ringsum ertönten Klageschreie verwundeter Affen und das Rauschen der angreifenden Vögel. »Was haben wir angerichtet!« stöhnte Gudrun und hielt sich entsetzt die Hände vors Gesicht. Alle begriffen, daß sie das Opfer eines Betruges geworden waren: Der König der blinden Vögel war tatsächlich Aun, König der Langschwanzaffen, und nicht Thilo! Willi starrte vor sich hin. Warum waren sie nicht eher daraufgekommen, daß der angebliche Thilo kein Felsenaffe war. Die Felsenaffen waren doch viel kleiner und zierlicher. Stefan ging die Weisheit durch den Kopf, die Angela ihnen auf den Weg gegeben hatte: Prüfe, ob a = a und A = A ist! Und
sie hatten sich darüber lustig gemacht, statt zu prüfen, ob Thilo wirklich Thilo war! Gudrun trug Moos zusammen und schob es dem toten Oswaldo unter den Kopf. Plötzlich schrie Emmi: »Wir müssen sofort weg! Sie werden uns die Schuld an dem ganzen Schlamassel geben!« Das leuchtete allen ein. Carola schüttelte den Kopf: »Es ist feige, einfach wegzulaufen. Wir werden Jango alles erklären!« »Da«, sagte Willi und zeigte auf die gegenüberliegende Felsenwand. Die Langschwanzaffen waren aus der Deckung getreten. Sie schleppten Leitern heran. Sofort stellten sich zwei Felsenaffen mit Flöten an den Felsenrand und fingen zu spielen an. Es war eine traurige Melodie. Doch die Langschwanzaffen ließen sich davon nicht abhalten und begannen aufzusteigen. Auch zu den Kindern kamen zwei Flötenspieler und musizierten, ihr Spiel wurde immer eindringlicher und intensiver. Die Langschwanzaffen kletterten unbeirrt, und wenn sie einen Felsenvorsprung erreicht hatten, zogen sie die
Leiter Zentimeter für Zentimeter hinauf und suchten eine Stelle, auf der sie wieder sicher stand. Das dauerte eine ganze Weile. Aber sie näherten sich langsam dem Felsenrand. »Die schaffen das!« sagte Gudrun empört. Willi legte sich auf den Bauch und kroch an den Rand. Seine Ahnungen hatten ihn nicht getrogen, auch an ihrer Wand versuchten die Langschwanzaffen emporzuklettern. Carola, Gudrun und Emmi waren Willis Beispiel gefolgt. Nur Stefan Wedekind war zurückgeblieben. Er hatte bekanntlich Höhenangst. Carola richtete sich auf und schrie den Flötenspielern zu: »Vielleicht spielt ihr die falschen Melodien!« Die beiden Affen brachen ihr Spiel ab. Einer sagte: »Ich fürchte, sie verstehen die Sprache der Töne nicht.« Die Langschwanzaffen schickten sich an, die letzte Etappe zu bewältigen. Die Leiter ragte schon über den Klippenrand hinweg. Es konnte sich nur um Minuten handeln, dann würden die Langschwanzaffen die Plattform erreicht haben. »Ich habe Angst«, jammerte Emmi. Die Felsenaffen begannen wieder zu spielen. Aber vor Angst spielten sie unmelodisch. Willi schüttelte den Kopf. »Onkel Willi muß eingreifen«, sagte er. Carola hatte den gleichen Gedanken. Beide packten die Leiter und begannen, sie zu schütteln. Plötzlich kippte die Leiter um. Die Langschwanzaffen sprangen ab, versuchten sich irgendwie festzuhalten. Man sah sie nicht mehr, hörte sie jedoch laut schimpfen. Auch die Langschwanzaffen an der gegenüberliegenden Felsenwand hatten die Plattform beinahe erreicht. Willi gestikulierte. Aber diese Affen ließen sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie spielten weiter.
»Kippt die Leiter um«, schrie Carola. Keine Reaktion. Stefan Wedekind riß plötzlich einem der Spieler auf ihrer Seite die Flöte aus der Hand und reichte sie Emmi Winter. Sie flötete ein paar schrille Piepser. Die Felsenaffen auf der anderen Seite packten zögernd die Leiter und stießen sie ab. Die Langschwanzaffen purzelten in die Tiefe. »Sagt euren Kumpels auf den anderen Felsen, daß die Flöterei keinen Sinn mehr hat!« sagte Carola zu einem der Flöter. Der nickte und spielte eine Melodie, die von den anderen wiederholt wurde. »Wir müssen Oswaldos Familie verständigen«, sagte der Flöter. Wieder ertönten die Flöten. Und ihre traurige Melodie wurde von Wache zu Wache weitergegeben. Ein kläglicher Schrei war zu hören. Der Greifvogel, der Oswaldo getötet hatte, war zu sich gekommen. Vergeblich versuchte er sich aufzurichten. Willi ging mit erhobenem Pfeil auf ihn zu. Gudrun fiel ihm in den Arm. »Das ist ungerecht! Der Vogel ist auch betrogen worden!« Sie riß dem Tier das Tuch ab. »Das Licht blendet ihn«, sagte Stefan. Erst nach Sekunden öffnete der Vogel die Augen. Er schien sich verwundert umzuschauen und entdeckte den getöteten Oswaldo, schien aber nicht zu begreifen, daß er der Mörder war. Gudrun beugte sich nieder und entfernte den Strick, mit dem die Lanze am Leib des Tieres befestigt war. Jetzt konnte sich der Vogel ungehindert aufrichten. Zögernd bewegte er sich vorwärts, dann entfaltete er die Schwingen und erhob sich in die Lüfte. Noch einmal kreiste er über den Kriegsplatz. Alle blickten ihm nach, bis er in den Wolken verschwunden war. Gudrun war nicht sicher, ob sie richtig gehandelt hatte. Die anderen wußten es auch nicht.
Kurze Zeit später näherten sich Felsenaffen. Voran rannten zwei Affenmädchen und ein kleiner Junge. Auch der Sekretär Alberto - Oswaldos Bruder - und eine Frau kamen auf die Unglücksstelle zu. Die Affenkinder begriffen nicht, daß Oswaldo tot war. »Spiele mit uns, Papa«, riefen sie immer wieder. Die Frau sagte leise: »Vater ist tot!« »Wann wird er wieder mit uns spielen?« fragte beharrlich der Kleine. »Nie mehr! Nie mehr!« sagte Alberto. »Du lügst, Onkel Alberto! Du lügst«, riefen die Mädchen, Tränen liefen über ihre Wangen. Die Frau zog mit müden Bewegungen ihren Kittel aus und bedeckte den Toten. Dann blieb sie mit gesenktem Kopf stehen. Alberto stand schweigend daneben. Carola wandte sich um und trocknete sich heimlich die Tränen. - Aus der Ferne sahen sie Hermes mit schnellen Schritten herankommen. Er bedeutete den Kindern, zu ihm zu kommen. Langsam setzten sie sich in Bewegung. - Wußten sie doch nicht, ob ihnen eine Strafe drohte. Während des Weges über die Felsen versuchten sie mehrmals, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Jedesmal drehte er sich um und legte den Finger auf den Mund. Die Kinder sahen mehrere getötete Felsenaffen, oft auch die trauernden Angehörigen. In der Siedlung standen die Bewohner beieinander und debattierten. Als sie der Erdenbewohner ansichtig wurden, wandten sie sich ab. Der weise Jango empfing sie auf einem Felsenvorsprung sitzend, er beobachtete offensichtlich einen Zug Langschwanzaffen, der sich in der Ebene zum Abmarsch rüstete.
Carola erkannte den angeblichen König der blinden Vögel, der mit wehendem Umhang herumkommandierte. Willi nahm einen Stein und warf ihn in diese Richtung. Ohne sich umzuwenden, sagte der weise Jango, als hätte er auch hinten Augen: »Laß das, Glattaffe! Ich will keine Gewalt!« Willi versuchte zu erklären, aber Jango schnitt ihm durch eine herrische Handbewegung das Wort ab. »Genug, daß ihr die Wachen dazu gebracht habt, Gewalt anzuwenden!« sagte er bestimmt. »Au, Mann«, schrie Carola außer sich. »Sie hätten eure Felsen besetzt!« »Wer seid ihr, daß ihr die Zukunft voraussagen könnt!« fragte Jango. Stefan Wedekind wollte gerade wieder erklären, daß er Stadtsieger bei der Matheolympiade ist, aber auch ihm wurde befohlen zu schweigen. »Ihr kennt nicht die Gewalt unseres Flötenspiels!« Carola winkte müde ab. Sie wußte, mit dem weisen Jango würde es so sein wie mit den meisten Erwachsenen: Wenn die sich etwas in den Kopf gesetzt haben, sind sie nicht bereit, davon abzugehen. Jango schien zu ahnen, was Carola dachte. »Natürlich glaubt ihr jungen Glattaffen, uns an Schlauheit überlegen zu sein«, fuhr er fort. »Dennoch wart ihr so dumm, Aun, unseren schlimmsten Feind, für Bruder Thilo zu halten. Die Flüssigkeit, die angeblich unverletzlich machen sollte, zog durch ihren Gestank die Vögel auf denjenigen, der sich damit einrieb. Fünfundzwanzig Felsenaffen starben.« Jango schwieg, die Kinder ebenfalls. Plötzlich drehte er sich um. »Zu viele unserer Geheimnisse habt ihr erfahren. Ihr werdet sie ausplaudern.«
»Kein Wort«, rief Carola und hob die rechte Hand zum Schwur. Die anderen taten es ihr nach. Der weise Jango schüttelte den Kopf. »Vielleicht würde es euch gelingen, auf den Planeten Erde zurückzukehren. Wie mir durch Bilder aus dem Weltall bekannt ist, sind die Glattaffen zänkisch untereinander. Wüßten sie von unserer Existenz, würden sie noch mehr Unheil über uns bringen. Ihre Pfeile sind furchtbarer als die der Langschwanz- und der Kurzschwanzaffen zusammen.« Jango blies einmal kurz auf der Flöte. Ein neuer Sekretär die Kinder erkannten es an den Ärmelschonern - trat mit einer verzierten Dose zu Jango. »Eigentlich wollte ich euch auf den Büßerfelsen schicken«, sagte Jango. »Ich will euch aber noch eine Chance geben, weil ihr euch während des Überfalls der Langschwanzaffen, bis auf die unerlaubte Gewaltanwendung, gut geführt habt. Ihr habt einen Monat Zeit, die Bräuche der Felsenaffen zu lernen, vor allem das Flötenspiel. Und euch wird ein schönes Fell wachsen, wenn ihr diese Salbe benutzt. Dann nehmen wir euch in die Gemeinschaft der Felsenaffen auf. Ich hoffe, ihr seid mir dankbar!« Die Kinder blickten unsicher Hermes an, der neben ihnen stand. Das ist ja eine schöne Aussicht, dachte Carola. Entweder sie lassen uns auf dem Büßerfelsen versauern, oder wir müssen Affen werden. Hermes zwinkerte ihnen unmerklich zu. »Wir bedanken uns für die Gnade«, sagte Carola auf einmal. Sie hatte das so frech gesagt, daß die anderen zusammenzuckten. Aber Frechheiten schienen dem weisen Jango gänzlich fremd zu sein. Er nickte gütig. »Das hatte ich von euch erwartet!«
Mit einer Handbewegung waren sie entlassen. Gesenkten Hauptes gingen die Kinder hinter Hermes her, der die Dose mit der Salbe trug. Er führte sie zu einem merkwürdigen, von einer dicken Mauer umgebenen Gebäude. Das Bauwerk bestand aus Felsensteinen. Auf einer Plattform war ein riesiges Rad angebracht. Die Kinder konnten erst eintreten, als sich die Tür durch Hermes' kompliziertes Flötenspiel öffnete. Sie betraten eine Halle. »Ist das ein Bahnhof?« fragte Emmi. Weit und breit waren jedoch keine Eisenbahnschienen zu sehen. An den Wänden entdeckten sie Mosaike und Schriftzeichen. »Lapatos-Berg«, entzifferten die Kinder. Lapatos war der Name des Felsens, auf dem sie sich befanden. Die Mosaike erzählten von den Wünschen der Felsenaffen: Ein wunderschöner bunter Vogel fütterte einen kleinen Affen mit Trauben. Andere Affen ritten, die Köpfe in einer umgestülpten Blüte versteckt, auf einem Schimmel. Ein Felsenaffe umarmte eine Langschwanzaffenfrau . . . »Merkwürdig«, stieß Stefan hervor. »Auf den Bildern sieht man die schönsten Früchte der Welt: Kirschen, Erdbeeren, Äpfel ..., aber ihr eßt immer nur Grohmchen!« Hermes lächelte wehmütig. »Vor langer Zeit hat es das alles einmal gegeben.« Hier und da waren Bänke aufgestellt. An einer verwitterten Tafel standen zwei Wörter: Berg und Tal. Darunter waren lange Zahlenkolonnen zu erkennen. Stefan blieb vor der Tafel stehen. »Sieht aus ...«, sagte er. Hermes legte gebieterisch den Finger auf den Mund und deutete mit einem Blick auf den Eingang. Mehrere Felsenaffen, mit Körben beladen, traten ein. In dem einen lagen Flöten, in dem anderen Grohmchen. Und ein Affe brachte einen Wasserkrug.
»Ich habe diesen Ort ausgewählt. Ihr könnt mit dem Üben beginnen«, sagte Hermes und legte die Salbendose vor Carola. Dann drehte er sich um und folgte den anderen, die Tür schloß sich sofort hinter ihnen. Willi rannte hinterher und rüttelte vergeblich. Ein heftiger Regen prasselte nieder und verbesserte nicht gerade die Stimmung. Eilig suchten die Kinder unter dem Hallendach Schutz. Erst jetzt stellten sie fest, daß in der Decke der Halle ein großes viereckiges Loch war - für die Anlage des riesigen Rades. Ein dickes Drahtseil reichte bis auf den steinigen Boden der Halle und verschwand hier in einem Schlitz. Wozu das alles diente, war ihnen unklar. Die Kinder senkten die Köpfe und schwiegen. Jeder hing finsteren Gedanken nach. Gudrun stand schließlich auf und begann, das Tuch mit Hanibals Stein hervorzukramen. »Irgendwofür muß der Stein doch gut sein«, sagte sie. »Oder sollten wir ihn umsonst geschleppt haben!« »Die Frage ist«, sagte Carola, »befinden wir uns in einer außergewöhnlichen Situation? Die häufige Benutzung des Steins macht dumm.« »Gerade jetzt, wo es darauf ankommt, schlau zu sein!« stimmte ihr Willi zu. »Wie wäre es, wenn der Dümmste den Stein benutzte«, sagte Stefan Wedekind. »Na, Emmi«, rief Carola, »dann fang mal an!« Emmi ließ spielerisch eine Flöte von der linken in die rechte Hand gleiten. »Wenn du so schlau bist, dann bitte ich dich herzlich, in der Sprache der Töne mit mir zu reden«, sagte sie schnippisch. Carola fand es unter ihrer Würde zu antworten.
Entschlossen wickelte Gudrun den Stein aus dem Tuch. »Bei mir ist nicht viel zu verlieren«, sagte sie. Die anderen drehten sich eilig um. Wer wollte schon dumm werden! Gudrun starrte den Stein eine Weile an. Plötzlich fing sie an zu grinsen und lachte dann laut los. Die anderen fanden ihre Heiterkeit nicht passend. Sie machten verdrießliche Gesichter. »Erzähl schon, was du siehst«, sagte Carola ärgerlich. »Was ich sehe?« krähte Gudrun. »Es ist so, als würdest du dir eine Unterhaltungsshow ansehen. Wahnsinnig komisch. Irrsinnig ulkig. Zum Kaputtlachen!« Und sie lachte wie verrückt. »Man scheint sehr schnell zu verblöden«, sagte Willi. »Hör auf, Gudrun, deck das Tuch über den Stein!« Aber Gudrun lachte und kicherte. »Ich muß sie von dem unheimlichen Ding wegholen, schließlich ist sie meine Freundin«, rief Emmi Winter. Alle merkten sofort, Emmi suchte lediglich einen Vorwand, um selber den Stein zu betrachten. Kaum hatte sie einen Blick darauf geworfen, begann sie genau wie Gudrun zu gackern und zu kichern. »Das geht einem auf die Nerven«, sagte Stefan und hockte sich neben die Mädchen. Die Wirkung des Steins zeigte sich bei ihm ebenfalls. »Hör zu, Willi«, sagte Carola. »Ich muß wissen, was da vor sich geht. Du bekommst den Auftrag, mich wegzureißen, wenn's zu doll wird. Binde dir am besten das Tuch vor die Augen!« Willi band sich eilig das Tuch um. Das fehlte noch, dachte er, daß Onkel Willi verblödet! Carola setzte sich neben die anderen, und sofort wurde sie
von einem Lachen befallen. Dabei war es ein gewöhnlicher Stein, der lediglich bläulich schimmerte. Aber kaum schaute man ihn an, sah man alles mögliche Verrückte: Clowns, die Purzelbäume Schossen; eine Lehrerin, der während des Unterrichts ein Bart wuchs; einen Suppenteller, in dem kleine bunte Fische schwammen. Willi ärgerte sich immer mehr über seine gackernden Kumpels. Mein Gott, wie konnte man nur so albern sein! Er tastete sich heran, riß sich das Tuch schnell von den Augen und verdeckte den Stein. Nur langsam hörten alle zu lachen auf. Sie hielten sich die Bäuche. »So schön müßte Fernsehen mal sein!« sagte Gudrun. »Aber aus unserer Bildröhre springen nie Frösche!« Stefan packte Emmi und stemmte sie mit einer Hand in die Höhe. »Juchu! Juchu! Juchu!« schrie er dabei. Willi kam aus dem Staunen nicht heraus. Woher hatte der Schwächling Wedekind auf einmal soviel Kraft! Emmi schrie: »Ist das heute nicht ein wunderschöner Sonnentag!« Das Steinansehen verblödet nicht nur, dachte Willi, es gibt auch Kraft und macht offensichtlich fröhlich! »Willi«, rief Carola, »was machst du für ein Gesicht! Freu dich doch!« »Das würde ich gern«, entgegnete Willi. »Aber im Moment denke ich darüber nach, wie wir von hier wegkommen.« Carola winkte ab. »Mach dir darüber nicht so viele Gedanken. Es gibt einen Knall, und wir sind zu Hause!« Alle außer Willi waren bester Stimmung. Er beneidete die Freunde um ihre gute Laune. Warum sollte nicht auch er? Aber Willi war ein disziplinierter Mensch. Einer muß 'nen klaren Kopf behalten, dachte er.
Als es dunkelte, trat Hermes mit einem riesigen schwarzen Regenschirm in die Halle. Die Kinder umringten ihn. Hermes schaute auf die Beine der Kinder. Außer Willi hatten alle nach wie vor glatte Haut. »Gewöhnlich wirkt die Salbe schneller«, sagte Hermes kopfschüttelnd. »Oder soll ich von euren unbehaarten Beinen schließen, daß ihr die Ehre, Felsenaffen zu werden, ablehnt?« »Es reicht«, sagte Willi zerknirscht, »wenn einer von uns Affenbeine besitzt.« Alle blickten ihn an und feixten. Willi versuchte durch besonders grimmige Blicke die anderen einzuschüchtern, aber es gelang ihm nicht. Hermes dämpfte seine Stimme. »Als Felsenaffen könnt ihr beim Bodentragen entfliehen ...« Lauter fuhr er fort: »Unser Fell ist doch sehr kleidsam!« »Werden wir eben Affen«, sagte Carola in bester Laune. Sie holte die Salbendose. Willi trat ihr in den Weg. »Halt! Du scheinst total verblödet zu sein. Als Affen sperren sie uns auf der Erde in den Zoo! Meine Beine kann ich notfalls in langen Hosen verstecken!« Hermes zuckte resignierend die Schultern. »Dann kann ich nicht helfen. Ich habe Jango versprochen, daß ihr dieses Gebäude nur als Affen verlaßt. Das Gelände ist von Wachen umstellt.« Carola hatte Gudrun untergehakt; Gudrun wiederum Emmi. Stefan bildete den Schluß der Reihe. Sie sangen aus Leibeskräften: »Wir werden alle, alle, alle Affen ...« »Beachte sie am besten nicht«, sagte Willi zu Hermes. »Bei denen ist im Dachstübchen eine Sicherung durchgebrannt.« Die Singenden ließen sich lachend und quietschend auf den Bänken nieder, gähnten kräftig, umarmten sich wieder und schliefen dann ein.
Hermes wiegte den Kopf hin und her. »Ich hoffe, Willi, du empfindest es nicht als eine Beleidigung, wenn ich feststelle, daß deine Brüder ...«, er begann nach Worten zu suchen, »... nun, einfach nicht klug genug sind, um Felsenaffen zu werden.« Willi unterdrückte eine Antwort. »Vielleicht ist es doch besser, wenn ihr flieht«, sagte Hermes nachdenklich. »Allerdings ohne meine Hilfe.« »Aber wie?« Hermes deutete mit dem Zeigefinger auf den steinernen Boden. Verständnislos zuckte Willi die Achseln. Doch für Hermes schien der Fall erledigt. Er ging mit langen Schritten umher und betrachtete interessiert das Gebäude. Willi lief, in der Hoffnung, einen wichtigen Hinweis zu erhalten, im Regen neben ihm her. »Ein gelungener Bau«, sagte Hermes. Willi interessierte sich jedoch nicht im geringsten für die Baukunst der Felsenaffen. »Wenn man bedenkt, daß es eine ganz einfache Station war.« »Was für eine Station?« »Nun, die Bergstation!« Unvermittelt reichte Hermes Willi die Hand. »Und halte die Augen offen. Vielleicht gelingt es dir, das Geheimnis des Affensterns zu enträtseln!« So etwas Ähnliches hatte auch Hanibal zu ihnen gesagt: ... das Geheimnis, warum dieser Planet wieder ein glühender Ball wird, auf dem alles Leben erstirbt . . . Während Willi über diese Worte nachdachte, verschwand Hermes. Willi ging langsam zu der Tafel, auf der die Worte Berg und Tal zu lesen waren. Wenn das eine Bergstation ist, existiert auch eine Talstation. Hatte nicht Hermes von einem Fahrstuhl erzählt, den es einmal gegeben haben sollte?
Willi ging suchend umher. Wo war dieser Fahrstuhl? Er sah nach oben und betrachtete das Rad. Vielleicht hatte es einmal zum Emporhieven des Fahrstuhls gedient? Willi erinnerte sich, auf Abbildungen so etwas schon gesehen zu haben. Bergwerke auf der Erde besaßen solche Anlagen. Er sah sich genau die Stelle an, wo das Drahtseil im Felsen verschwand. Die Nässe hielt Willi nicht davon ab, sich auf den Boden zu hocken und in den dunklen Spalt zu spähen. Ein feiner Luftzug verriet ihm, daß sich hier ein Schacht befand. Er tastete den Boden ab, der aus sorgfältig aneinandergefügten quadratischen Platten bestand. Die Fugen waren erst nach genauem Hinsehen zu entdecken. »Gute Arbeit«, murmelte Willi. Er fand auch einen Griffring, der sich nur mit einiger Mühe hervorpusseln ließ. Allerdings schaffte es Willi nicht, eine der Platten anzuheben. Er wollte den anderen diese Neuigkeiten mitteilen, aber sie schliefen fest und ließen sich nicht wachrütteln. Ihm blieb nichts anderes, als geduldig zu warten. Erst als es dunkelte, erwachten alle wieder. Sie gähnten und reckten sich und klagten über schreckliche Kopfschmerzen. Willi reichte ihnen den Wasserkrug, und nachdem sie sich an Grohmchen gestärkt hatten, erzählte er ihnen von seinen Entdeckungen. Ihre Hoffnungen sanken. - Die Steinplatten rückten nicht von der Stelle, obwohl alle gemeinsam mit ganzer Kraft versuchten, sie zu heben. »Wozu gibt es die Hebelgesetze«, rief Stefan ärgerlich, »wenn hier kein anständiger Hebel aufzutreiben ist!« »Hört mal«, sagte Willi, »vorhin wart ihr alle ganz schön doof. Dafür hattet ihr Kräfte wie Bären. Vielleicht müßte einer von uns wieder einen kleinen Blickwechsel mit dem Stein wagen!«
»Klar, du bist dran!« sagte Carola. »Ich? Bleibt auch wirklich nichts zurück?« »Sehen wir so aus«, sagte Gudrun. »Ich glaube, es ist so ähnlich, als wenn man betrunken ist. Mein Papa hat dann auch immer am nächsten Morgen schreckliche Kopfschmerzen!« »Gut«, sagte Willi, »opfere ich mich eben!« Dabei platzte er vor Neugierde, die Wirkung des seltsamen Steines kennenzulernen. Er setzte sich, entfernte das Tuch und schaute auf den Stein. Wenige Minuten später begann er zu zittern. Ein Lachkrampf schüttelte ihn. Die anderen merkten nichts. Sie hatten sich vorsichtigerweise abgewandt. Endlich konnte sich Willi durch ein lautes Lachen befreien. Es packte ihn derart, daß ihm die Tränen über die Wangen kollerten. Nach einem Weilchen rief Carola: »Jetzt reicht es.« Sie hielt sich die Augen zu und bedeckte den Stein wieder. Willi stand lachend und prustend auf. Von Carola geführt, gelangte er zu den Steinplatten. »So, nun zeig, was du für Kräfte hast!« Willi blieb jedoch dumm grinsend stehen und verstand nicht, was man von ihm verlangte. Erst als Carola auf die Platten zeigte, bückte er sich. »Solchen Ring müßte man sich durch die Nase ziehen«, sagte er und wollte sich beinahe totlachen. Die anderen wechselten stumme Blicke. Kraft allein schien nicht immer auszureichen. Stefan Wedekind begann, Willi vorzuspielen, was von ihm verlangt wurde. Willi ahmte ihn kichernd nach, ohne jedoch die Platte anzuheben. Endlich fiel Carola ein, wie sie schon in anderen Fällen Willi dazu gebracht hatte, Dinge zu tun, die er nicht tun wollte. »Willi, du traust dich nicht, die Platte anzuheben!« rief sie.
»W-a-s!« schrie Willi zurück. »Ich traue mich nicht!« Mit einem gewaltigen Ruck schleuderte er eine Platte zur Seite und packte auch die danebenliegenden. Breite Stufen kamen zum Vorschein. Während Willi wie im Rausch eine Platte nach der anderen wegschleuderte, schlug Gudrun einen Feuerstein an. Langsam gingen die Kinder einige Stufen abwärts. Hier unter der Erde befand sich die richtige Bergstation. Ein Förderkorb, in der Form ähnlich den Mulden, die von den Felsenaffen zum Bodentransport benutzt wurden, hing als Fahrstuhl an dem Seil. Stefan betrachtete diesen Fahrkorb argwöhnisch. »Wenn das Ding elektrisch betrieben wird, müßte es doch einen Schalter geben.« Er kletterte in den schwankenden Fahrkorb. Ein Schalter jedoch war nirgends zu finden. Emmi rannte hoch, holte eine Flöte und reichte sie Stefan. »Versuch es mal mit der Formel klein a gleich klein a, groß A gleich groß A!« »Wie ist die Melodie?« »Ganz einfach ...« Sie sang ihm ein paar Töne vor. Plötzlich ruckte der Fahrstuhl an, und Stefan sauste in die Tiefe. »H-i-1-f-e!« hörte man seinen Schrei, der schnell leiser wurde. Dann schien sich der beste Schüler der 5 b beruhigt zu haben. Man hörte wieder die Melodie. Das Seil ruckte an, und in wenigen Sekunden hielt der Förderkorb mit dem kreidebleichen Stefan an der Bergstation. Carola und Gudrun gingen jetzt nach oben, um den schlafenden Willi zu holen. Emmi trug die übrigen Sachen.
Als endlich alle im Fahrkorb Platz genommen hatten, spielte Emmi die Melodie. Der Korb glitt ohne Widerstand in die Tiefe. Die Wände des Schachtes waren feucht. Hin und wieder gab es auch Nebenstollen. Mit einem Ruck blieb der Förderkorb stehen. Das Gewölbe, das sie erreicht hatten, erinnerte ebenfalls an eine Station. Lapatos-Tal stand dort in den Stein gemeißelt. An einer Wand war ein Mosaik zu sehen. Gudrun hielt den Feuerstein so, daß man es genau betrachten konnte. Alle zuckten zusammen. Gestalten schienen sie anzustarren. Die abgebildeten Wesen waren durchweg mißgestalt: Ein geflügelter Fisch hatte krumme Beine; ein gepanzerter Hund fletschte die Zähne; ein vogelhaftes Wesen mit bösartigen Zügen schien einen Felsenaffen getötet zu haben . . . »Laßt uns gehen, sonst träume ich noch davon«, rief Emmi schaudernd. Alle spürten dasselbe Verlangen, nur schnell ins Freie zu gelangen. Der schlafende Willi, den sie schleppen mußten, machte es ihnen schwer, schnell vorwärts zu kommen. Zuerst führte der Stollengang ohne Abzweigungen geradeaus. Nach etwa fünfhundert Metern blieb Carola, die voranging, ohne ersichtlichen Grund stehen. »Warum gehst du nicht weiter!« schimpften die anderen. Carola deutete stumm auf den Weg. Als alle genau hinsahen, entdeckten sie ein Gewebe, das einem Spinnennetz glich. Vorsichtig berührte Carola das Netz. Sie zuckte zurück, weil ein Ton erklang, der nach einigen Sekunden als lautes Echo zurückkehrte. Wieder berührte Carola das Gewebe vorsichtig. Selbst diese leise Berührung hatte einen Ton zur Folge. Plötzlich hörten sie den Förderkorb brummen.
»Ich furchte, das ist so was wie eine Alarmklingel«, sagte Stefan. »Sie haben durch dieses Teufelsding unser Verschwinden bemerkt. In wenigen Minuten werden sie mit dem Fahrstuhl hiersein!« Carola hielt sich die Ohren zu und rannte gegen das Netz an. Eine Flut von Tönen verursachte einen Lärm, der fast unerträglich war, doch das Netz zerriß. Die Kinder bewegten sich im Eiltempo weiter. Unerwartet teilte sich der Stollen in fünf Nebenstollen. An dieser Stelle stand ein Sockel, auf dem eine zerbrochene steinerne Flöte lag. Der mittelste Gang führte nach wenigen Metern zu einem Ausgang, der aber durch ein Gitter verschlossen war. Emmi zögerte nicht lange. Sie nahm ihre Flöte und spielte die Melodie a = a, A = A. Das Gittertor blieb verschlossen. »Wir müssen die Melodie finden, die das Gitter öffnet«, sagte Carola. Stefan klopfte sich an den Kopf. »Los, arbeite, mein Köpfchen!« rief er. »Also, die Felsenaffen lieben Rätsel ...« Er ging einige Schritte zurück und betrachtete die Wände genau, aber nicht das geringste war zu entdecken. Vor der zerbrochenen Flöte blieb er stehen. »Leute, das ist das Rätsel! Flöte ..., das Wort Flöte.« Emmi übersetzte »Flöte« in die Sprache der Töne - nichts geschah. »Zerbrochene Flöte«, rief Stefan. Auch darauf reagierte das Gitter nicht. »Seid mal leise!« Carola lauschte angestrengt in Richtung Fahrstuhl. Von dorther waren Schritte zu hören. Ein Lichtschein kam auf sie zu. »Versuchen wir es mit einem anderen Gang!« rief Carola. Obwohl sie rannten, schnarchte Willi leise vor sich hin. Sie
mochten eine Viertelstunde gelaufen sein, als vor ihnen wieder der Sockel mit der zerbrochenen Flöte auftauchte. »Dieser Gang ist eine Falle«, sagte Carola. Gudrun trat plötzlich den Feuerschein aus. Das war Rettung in letzter Minute. Mehrere Felsenaffen tauchten auf. Hermes führte sie. Vor dem Sockel beratschlagten sie, wie sie weiter vorgehen wollten. »Wir teilen uns in zwei Gruppen und durchsuchen die Gänge. Zuerst nehmen wir die linken Gänge, dann die rechten. In der Mitte des Ganges treffen wir uns wieder . . . und wenn wir Glück haben, auch die Glattaffen ...« »Sie könnten durch das Gitter entkommen«, wandte einer ein. »Da müssen sie die richtige Melodie kennen!« »Und die ist so leicht«, lachte einer, »aber sie haben nicht genug Verstand!« »Schweig!« sagte Hermes scharf. Und es schien Carola, als hätte er es in ihre Richtung gesagt. Stefan teilte ihre Vermutung, daß Hermes sie entdeckt hatte. Als die Affen in den Gängen verschwunden waren, schlug Gudrun den Feuerstein wieder an. Die Kinder gingen langsam auf die zerbrochene Flöte zu. »Leuchte!« sagte Stefan. »Also mit der Flöte verständigen sich die Felsenaffen in der Sprache der Töne. Wenn man die Flöte zerbricht, kann man nicht mehr in der Sprache der Töne reden. Aber warum soll man die Flöte zerbrechen?« Carola stieß hervor: »Weil man draußen in der Ebene keine Geheimnisse der Felsenaffen verraten soll!« »Richtig«, rief Stefan. »Und vielleicht wollte uns Hermes helfen, als er sagte: Schweig!«
Emmi setzte die Flöte an und spielte in der Sprache der Töne: Schweig! Beinahe geräuschlos öffnete sich das Gittertor und gab den Weg frei. Emmi fiel Stefan vor Freude um den Hals. Dabei ließ sie Willi unsanft fallen, und er erwachte. »Au, Mann«, stöhnte er. »Onkel Willi hat Kopfschmerzen.« Gudrun schob ihn in Richtung Ausgang. Als alle endlich wohlbehalten in der Dunkelheit vor den Felsen standen, nahm Carola Emmi die Flöte weg, zerbrach sie und warf sie zurück in den Stollen. »Was soll denn das?« maulte Emmi. »Das bedeutet, daß wir auch über das schweigen, was wir gesehen haben!«
Ein lebendes Dach Es regnete immer noch. Vom Flammenschein des Fuego-Gebirges leuchteten die Felsenwände. An mehreren Stellen flossen Rinnsale ins Tal, sie vereinigten sich am Fuße der Felsen zu einem Bach, der rauschend und tosend dahinschoß. Immer wieder türmten sich Bodenablagerungen auf, die ihn zwangen, seine Richtung zu ändern. Es war allen klar, daß es sich um den Boden handelte, den die Felsenaffen auf die Klippen tragen. Und solange es Felsenaffen gab, würden sie den Boden rauftragen, und der Regen würde ihn wieder hinabschwemmen. »Sie tun es, damit man sie in Frieden läßt«, sagte Willi. »Auf den Felsen und Klippen fühlen sie sich sicher.« »Sie sind doch so superschlau«, sagte Carola ironisch. »Warum benutzen sie ihre Schlauheit nicht und schaffen Frieden unter den Affen!«
»Ihr redet wie die Professoren«, meldete sich Emmi. »Aber wie wir wieder nach Hause, auf unsere Erde kommen, das kann mir keiner sagen.« Sie blieben unvermittelt stehen und sahen fragend zu Carola. »Wenn es an einer Stelle des Affensterns noch Blumen gibt, dann in Schlaragossa bei Szabo!« Stefan Wedekind breitete die Karte auf einem Stein aus. »Schlaragossa liegt weiter nördlich. Leider müssen wir über den Roten Ringel. Wer weiß, ob es dort Brücken gibt.« »Schwimmen wir eben rüber«, sagte Emmi. »Mensch, das ist ein Feuerfluß!« »Was haltet ihr davon, Thilo zu fragen. Ihr wißt schon, den wirklichen Thilo«, meinte Gudrun. »Stockdumm soll der sein«, sagte Stefan arrogant. Carola und Willi stimmten ihm zu. »Und ihr«, sagte Emmi boshaft, »versteht nicht einmal die Sprache der Töne!« Carola fuchtelte mit dem rechten Zeigefinger vor Emmis Nase herum. »Du verstehst zwar Töne, aber sonst nicht ein Gramm.« Wütend schlug sie den Weg Richtung Thilos Hütte ein, wie sie ihn von den Felsen aus entdeckt hatte. Nach und nach drang Feuchtigkeit durch die Kleider der Kinder. Der Wind kam von vorn und trieb ihnen Regentropfen ins Gesicht. Es machte Mühe, die Augen offenzuhalten. Sie liefen hintereinander, und jeder legte seinem Vordermann die Hand auf die Schulter. Plötzlich trat einer dem anderen in die Hacken. Carola war unvermittelt stehengeblieben. Im Dämmerschein des Gebirgsfeuers ragten Steine auf, sie sahen wie versteinerte Menschen aus. Carola riß die Augen weit auf. Sie glaubte, einer der Steine hätte sich bewegt.
Die anderen gruselten sich genauso. Niemand wagte, ein Wort zu sprechen. Alle drehten sich wie auf ein Kommando um und rannten weg. - Ein furchtbarer, menschenähnlicher Schrei hatte die Stille zerrissen. Sie hörten hinter sich Flügelschlagen und Rauschen. Endlich begriffen sie: Was sie für Steine gehalten hatten, waren Vögel. Minuten später flogen Auns Greifvögel gespenstisch hin und her. Die Kinder warfen sich zu Boden. Sie erwarteten, von den Vögeln angegriffen zu werden. Noch immer waren die mit Lanzen bewaffnet. Aber die Vögel schienen keine kriegerischen Absichten zu haben. »Los, wir hauen ab«, rief Carola. »Wo diese Bestien sind, befinden sich auch die Langschwanzaffen.« Sie waren nur wenige Schritte gelaufen, als einige Vögel landeten. Ein Greifvogel kam auf sie zu. Die Kinder schützten ihr Gesicht mit den Händen vor eventuellen Schnabelhieben. Nichts geschah. Als sie durch die Finger luchsten, sahen sie, daß der Vogel sich unaufhörlich verbeugte. »Der einzige, der sehen kann«, sagte Emmi und nahm die Hände vom Gesicht. »Das ist meiner«, rief Gudrun erfreut und ging auf den Vogel zu. Alle dachten, Gudrun sei übergeschnappt. Der Vogel öffnete die Schwingen, als wollte er sie umarmen, blieb jedoch starr, mit gesenktem Kopf, stehen. Gudrun streichelte ihn sanft. Er ließ es geschehen. Carola begriff, es war der Vogel, den Gudrun von der Lanze und vom Augentuch befreit hatte. »Los«, rief sie, »nehmt auch den anderen die Tücher ab. Befreit sie von den Lanzen!« Sie ging auf einen Vogel zu. Willi schlich sich mit dem Stein Hanibals hinterher, um notfalls Carola beizustehen. Der Vogel
aber blieb ruhig. Als er befreit war, senkte er dankbar den Kopf. Nach geraumer Zeit waren alle Vögel wieder sehend, und die Lanzen lagen auf einem Haufen. Erschöpft ließen sich die Kinder auf dem feuchten Boden nieder. Die Vögel umstanden sie. »Wenn doch endlich der Regen aufhören würde«, sagte Emmi. Als hätten sie die Worte verstanden, stellten sich die Greifvögel so auf, daß ihre Schwingen ein Dach bildeten. »Das ist ein Ding«, sagte Carola. Mehr vermochte sie nicht zu sagen. An einen Vogel gelehnt, schlief sie ein. Als Carola erwachte, war es Tag. Geschwind weckte sie die anderen. Noch immer hielten die Vögel ihre Schwingen über die Expedition Huflattich ausgebreitet. »Ganz hübsch hier«, sagte Willi. »Leider fängt mein Hemd zu schimmeln an.« »Hab ich Hunger!« ließ sich Gudrun vernehmen. Wie auf ein Stichwort verdunkelte sich der Eingang der merkwürdigen Behausung. Einer der Greifvögel streckte seinen Kopf herein und ließ mehrere Grohmchen aus dem Schnabel fallen. Als er sich zurückgezogen hatte, erschien der nächste. Und wieder purzelten Grohmchen auf die Kinder. »Sehr aufmerksam«, sagte Carola und griff hungrig zu, fast verbrannte sie sich die Finger an den heißen Früchten. »Ob die Vögel sie auf Feuer rösten?« Ein Vogel warf den Kindern ein Dutzend Fächer zu. Willi lachte laut. »Da haben wir es! Sie holen sich die Grohmchen von den Felsenaffen.« »Ich kann ohne Fächer essen«, sagte Emmi. »Ich war schon ärgerlich, daß wir die bunten Fächer verloren
haben. Nun können wir sie als Beweis für unsere Reise auf der Erde vorweisen«, sagte Gudrun. Aus dem Schnabel des nächsten Vogels flatterte ein Zettel. »Merkwürdig, schreiben können sie auch! Und nicht schlecht!« rief Stefan. »Hört zu!« Er begann vorzulesen: »Lebt wohl, Glattaffen! Leider habt Ihr die hohe Ehre ausgeschlagen, vollwertige Affen mit schönem Pelz zu werden. Der weise Jango hat mich aus Groll, daß ich Euch entkommen ließ, auf den Büßerfelsen verbannt. Endlich habe ich Zeit, über unseren Stern gründlich nachzudenken. Nehmt Euch in acht vor Aun, dem König der Langschwanzaffen. Aber auch Clawdila, die Anführerin der Kurzschwanzaffen, ist nicht gut! Ebenso solltet ihr Euch vor den Einwohnern der Stadt Schlaragossa hüten. Sie sind krank. Ich fürchte, jetzt habe ich wieder einige Geheimnisse unseres Planeten verraten. Ich vertraue Euch! Diese Botschaft sende ich nebst Grohmchen und Fächern. Die Vögel sind gut, lassen sich aber aus Dummheit oft für das Böse benutzen. Euer Hermes von dem Büßerfelsen.« Alle dachten wehmütig an Hermes, der ihnen so oft geholfen hatte. »Wir können es nicht ändern«, sagte Willi traurig. Es regnete noch immer. Trotzdem brachen sie auf. Ihre Kleidung, durch die Körperwärme ein wenig getrocknet, wurde in wenigen Minuten wieder naß. Sie verbeugten sich vor den Vögeln, und die Vögel verbeugten sich vor ihnen. Dann gingen sie weiter in Richtung Thilos Haus. Die Vögel schwangen sich in die Lüfte und waren bald ihren Blicken entschwunden.
Die Insel in den Flammensümpfen Es war ein merkwürdiges Gefühl, wieder ganz auf sich gestellt zu sein. In der Nacht hatten sie sich von den Vögeln beschützt gefühlt. Je weiter sie in der Steppenlandschaft vordrangen, desto öder wurde sie. An dem schwankenden Boden unter ihren Füßen merkten sie, daß sie ein Sumpfgelände überquerten. Plötzlich züngelte unter Carolas Schuhen eine Flamme. Erschrocken sprang sie vorwärts. Aber wo sie auch hin trat, loderten Flammen. »Helft mir!« rief sie. Die anderen wären stehengeblieben und sahen hilflos zu, wie Carola umhersprang. Stefan rief: »Versuch, ganz vorsichtig aufzutreten.« Carola jedoch hopste und sprang weiter. »Tritt du mal vorsichtig auf, wenn du Feuer unter den Sohlen hast.«
»Langsam weiter«, befahl Willi. Ganz vorsichtig tasteten sie sich vorwärts. Carola hatte eine kleine Insel mit verkohltem Gras entdeckt, die sich ein wenig über das Sumpfgelände erhob. Dort war der Boden fest. »Hierher«, rief sie. Alle langten wohlbehalten bei ihr an. »Wenn mich nicht alles täuscht, sind wir in den Flammensümpfen«, sagte Stefan, über die Karte gebeugt. »So wie manche Flüsse hier statt Wasser Feuer führen, bestehen die Sümpfe offensichtlich aus Feuer und schwimmenden Grasinseln.« »Das ist ja gefährlich«, sagte Emmi empört. »Alles scheint hier gefährlich zu sein«, sagte Gudrun. »Schade, daß mich weder mein Vater noch meine Mutter sehen können. Vor Angst um mich würden sie sich zerfetzen!« »Du hast Probleme!« Carola betrachtete die Sohlen ihrer Sandalen. »Die brennen glatt durch, wenn wir weitergehen.« Willi überlegte, weshalb es in den Flammensümpfen Inseln gab, die nicht verbrannten. Er begann, den Boden zu untersuchen. Zuerst versuchte er, mit den Fingern zu scharren, dann fand er einen verkohlten Ast und stocherte damit. Er stieß auf verschieden große Plättchen, die wie Versteinerungen aussahen. Am Rande der Grasinseln stehend, drückte Willi den Ast in den Sumpf. Sofort züngelte eine Flamme empor. »Neuenhagen kann das Kokeln nicht lassen«, sagte Stefan. Willi hielt jetzt solch ein Plättchen über die Flamme. Es brannte nicht! Nicht einmal heiß wurde es. Er winkte Carola und zeigte ihr seinen Fund. »Das ist so ähnlich wie Asbest«, sagte sie. »Mit diesem Zeug hat mein Vater manchmal zu tun.« »Ich habe eine Idee«, sagte Willi.
»Das ist die beste Idee, die du je gehabt hast«, rief Carola, die Willis Idee begriff, bevor er sie ausgesprochen hatte. »Wir binden uns das Zeug irgendwie unter die Füße!« »Aber wie? Jede Strippe brennt nach ein paar Schritten durch!« Carola kramte in den Hosentaschen und zog, nachdem sie Nägel, ein abgebrochenes Taschenmesser, zwei Wäscheklammern, einen Luftballon, ein Fahrradkatzenauge, mehrere Pfennige und Omnibusfahrscheine ans Licht gefördert hatte, ein Knäuel Draht heraus. Willi und Carola suchten sich geeignete Plättchen und befestigten sie an den Schuhen. Dann verließen sie probehalber die Grasinsel. Die Flammen konnten ihnen jetzt nichts mehr anhaben. Wieder auf festem Boden, verteilte Carola den Draht. Stefan Wedekind war zu ungeschickt, die Plättchen zu befestigen; Carola riß ihm den Draht ungeduldig aus der Hand und half ihm. »Ohne Huflattichs Carola würdest du glatt vor die Hunde gehen«, sagte sie. Stefan erwiderte nichts. Die Mitglieder der Expedition sahen eigenartig aus, als sie sich durch die Flammensümpfe bewegten. Ihr Gang war schwerfälliger geworden. Manchmal schossen Flammen unter ihren Füßen hervor. Außerdem dampften die nassen Kleider. Ohne Hanibals Hustenpastillen hätten sie diesen Marsch nicht durchgehalten. Die Landschaft wurde immer unfreundlicher und unwegsamer. Die Sicht war schlecht. Wasserdampf und Rauch verhinderten, mehr als ein paar Meter voraus zu sehen. Eines waren sich die Kinder gewiß: Der König der Langschwanzaffen und seine Krieger würden sich nicht hierherwagen.
Auch die Greifvögel schienen dieses Gebiet zu meiden. Wovon sollte sich auch ein Lebewesen in den Sümpfen ernähren? Beim Buddeln auf der Grasinsel war Willi weder auf Würmer noch auf Käfer gestoßen. Wie schön ist dagegen unser Teufelssumpf, dachte Carola. Manchmal fuhr sie sonntags mit dem Vater und Bruder Max mit dem Fahrrad dorthin. Die Mücken hatte sie nicht gerade als angenehm empfunden. Aber man konnte Kröten, Wasservögel und Blindschleichen beobachten, und in den Tümpeln gab es die verschiedensten Fische. Wie wäre sie jetzt froh gewesen, das Summen einer Mücke zu hören. Zwei schwarze Gestalten wuchsen plötzlich aus dem Nebel. Carola glaubte zuerst, sie wären nun doch in eine Falle der Langschwanzaffen gelaufen. Die beiden - es waren ein Affenmann und eine Affenfrau - hoben drohend Waffen. Beim näheren Hinsehen entpuppten sich die »gefährlichen« Waffen als Rutenbesen. »Halt, wer da?« fragte der Mann. Carola sah Willi ratlos an. Wie sollten sie sich bezeichnen? Stefan brüllte: »Wir sind Menschen!« »Menschen, Menschen? Was ist das nun schon wieder für eine Teufelei von Aun?« murrte der Affe. »Wir sinken ein, wenn wir nicht weitergehen«, jammerte Emmi kläglich. »Meine Schuhe werden immer heißer.« Die beiden Affen waren näher gekommen. Ihr Fell war vom Ruß geschwärzt und an vielen Stellen versengt. Hinter ihnen tauchten mehrere kleine Affen mit Rutenbesen auf. »Gib es ihnen, Papa«, brüllte einer aus sicherer Entfernung. Je länger die Kinder stehenblieben, desto tiefer sanken sie ein. Verzweifelt machte Carola einen Schritt vorwärts. Der Affe holte drohend aus.
»Wer bist du?« fragte Gudrun. Der Affe hielt ein. »Ich bin Thilo, wenn es interessiert.« »Wir kommen von Hermes«, sagte Carola. »Wenn du uns nicht sofort weitergehen läßt, werden wir verbrennen.« Die Flammen züngelten unter Carolas und Emmis Schuhen wild hervor. Die Affenfrau boxte Thilo kräftig in die Seite. »He, das ist doch dein Bruder, dieser Hermes.« Aber Thilo hatte kein Ohr für sie. In seinem Gesicht zuckte es. Dann lachte er laut. Auch die Affenkinder schüttelten sich vor Lachen. »Nacktaffen, Nacktaffen!« brüllten sie. »Wenn schon, dann bitte Glattaffen!« sagte Carola mit Würde.
Die Affenfrau boxte Thilo in die Seite. »Laß sie endlich weitergehen«, rief sie. »Siehst doch, sie sind nicht abgehärtet!« Thilo trat einen Schritt zur Seite und ließ die Expedition Huflattich vorbeigehen. Die Affenfrau ging voraus, während die Affenkinder lachend und kichernd herumtanzten. Thilo ging am Schluß des Zuges. Nach kurzem Fußmarsch spürten die Kinder, wie der Boden fester wurde. Wahrscheinlich befanden sie sich wieder auf einer Grasinsel. Vom Gras waren auch hier nur verkohlte Stoppeln übriggeblieben. Rauch und Nebel ließen immer mehr nach. Schließlich entdeckten sie eine Hütte in der Ödnis, die aus dem gleichen feuerfesten Material bestand wie die ausgebuddelten Plättchen. Vor der Hütte blieb Thilo stehen. »Was seid ihr? Menschen, Nacktaffen oder Glattaffen?« »Wir kommen vom Planeten Erde«, sagte Stefan. »Also Erdaffen ...« »... und wir suchen eine Blume auf dem Affenstern ...«, sagte Carola. »... zwecks Rückreise zur Erde. Wir benötigen die Energie ...« Willi brach ab, weil er dem Affen ansah, er verstand sie nicht. Die Affenfrau redete auf Thilo ein: »Sie sind gute Erdaffen, verstehst du, keine Feinde!« Thilo begriff. »Gute Erdaffen! Gute Erdaffen! Ihr seid meine Freunde!« Er ging von einem zum anderen und küßte sie auf die Stirn. Emmi verzog ein wenig die Nase, denn Thilo roch aufdringlich nach Rauch. Der Affe zeigte auf die Affenfrau. »Das ist Sabina, meine Frau. Sie ist eine gute Frau!« Sabina trat zu den Kindern und küßte sie ebenfalls.
»Das sind meine Kinder«, stellte Thilo die Kleinen vor. »Ephraim, Josua, Achmed, Jessika, Anjuta . . . , alle sind gute Affen!« Die Affenjungen küßten die Erdenkinder. Obwohl alle nach Rauch rochen, hatte Emmi das Naserümpfen aufgegeben. Bilde ich mir eben ein, es riecht nach Geräuchertem, dachte sie. »Ihr müßt essen!« sagte Sabina, ging in die Hütte und kehrte mit einer Schüssel dampfender Grohmchen zurück. »Wachsen die hier?« fragte Willi erstaunt. »Ja, doch«, rief Achmed. »Ich baue sie an. Sie gedeihen gut, weil der Boden feucht und warm ist.« Alle aßen gemeinsam. Gudrun zückte ihren Fächer und wollte nach der Art der Felsenaffen essen. Doch die Affenkinder brachen in helles Gelächter aus. Da klappte sie den Fächer stillschweigend zu und aß wie alle anderen. Willi betrachtete die Affen. Thilo hatte wenig von einem Felsenaffen. Seine Gesichtszüge waren gutmütig und grob. Sein Körper war von Brandwunden entstellt. Kein Wunder, daß er mit der feinsinnigen Sprache der Töne nicht zurechtgekommen war. Sabina dagegen hatte liebliche Züge. An ihrem Schwanz war zu erkennen, sie gehörte zu einem anderen Affenstamm als Thilo. Sollte Thilo wirklich eine Langschwanzaffenfrau genommen haben? Viel Zeit zum Überlegen hatte Willi nicht. Kaum war das letzte Grohmchen verspeist, stand Thilo auf. »Wir müssen uns beeilen! Heute ist uns schon zuviel Zeit verlorengegangen.« »Beeilen? Wobei?« wollte Emmi wissen. »Nun, ihr seid gute Affen. Gute Affen schlagen das Feuer tot!« Die jungen Affen reichten den Erdenkindern Rutenbesen. Widerstrebend nahmen sie die Besen in die Hand.
»Wir wollten eigentlich ...«, sagte Emmi. »Wir freuen uns, daß wir euch helfen können«, sagte Willi laut und brachte Emmi mit einem Blick zum Schweigen. Im Gänsemarsch gingen sie hinter der Affenfamilie, bis sie die Brandstellen erreichten. Thilo zeigte ihnen, wie man am wirkungsvollsten mit den Rutenbesen arbeitete. In breiter Front gingen sie den Schwelbränden zu Leibe. Zuerst glaubten sie, es wäre eine leichte Arbeit. Aber schon nach einer halben Stunde taten den Kindern Rücken und Arme weh. Herumfliegende Funken brannten Löcher in ihre Kleidung, und außerdem holten sie sich kleinere Brandwunden. Thilo zeigte ihnen, wie man diese Wunden mit Boden kühlte. Emmi war dem Heulen nahe. »Eine alte Redensart der Affen lautet: Bis du heiratest, ist alles wieder vergessen«, sagte Thilo tröstend. »Löscht ihr schon mehrere Tage?« wollte Carola wissen. »Tage?« sagte Thilo. »Wir arbeiten viele Jahre.« »Wieviel Land habt ihr den Flammen entrissen?« fragte Stefan. Thilo schaute ihn verständnislos an. »Entrissen? Die Flammensümpfe brennen immer! Wir schaffen an einem Tage gerade soviel, wie sich das Feuer in einer Nacht vorwärtsfrißt.« Er fügte stolz hinzu: »Noch nie haben die Flammen unser Haus erreicht!« Carola sah Willi mit verdrehten Augen an. »Wahnsinn«, sagte sie. »Wahnsinn«, sagte auch Willi. »Die einen schleppen Boden auf die Felsen, den der Regen wieder hinabspült; die anderen löschen einen Brand, der nie aufhört!« »Gute Affen arbeiten«, sagte Thilo. »Sonst verbrennt unser Stern!« Mit diesen Worten begann er wieder mit bedachtsamen Schlägen auf die Flammen einzuschlagen.
»Solange ihr die Flammensümpfe nicht trockenlegt, wird es immer wieder brennen!« sagte Stefan Wedekind. Thilo nickte ihm zu. »Wir schaffen es nicht. Es gibt zuwenig gute Affen. Die Felsenaffen, meine Brüder, denken zuviel. Die Langschwanzaffen und die Kurzschwanzaffen führen Krieg. Und wer löscht die Flammen?« Er schlug sich auf die Brust: »Thilo und seine Familie!« »Und uns rechnest du wohl nicht!« sagte Carola. »Doch, doch! Ihr seid auch gute Affen«, sagte Thilo fröhlich. Am Abend gingen alle zur Hütte zurück. Die Gäste von der Erde warfen sich erschöpft auf das Moospolster. Thilo lachte. »Leider macht sich die Arbeit nicht von selbst!« Die Kleinen wurden lebendig. »Man müßte einen Rutenbesen erfinden, der von ganz allein Feuer löscht«, rief Jessika. »So, wie in dem Märchen Das Erbe des Läbäckes«, sagte Anjuta. »Vater, erzähl uns von Läbäcke!« bettelten Ephraim und Josua. Thilo ließ sich nicht lange bitten. »Ihr wißt ja«, sagte er, »dieser Läbäcke war ein alter buckliger Langschwanzaffe, der sich nur an Krücken fortbewegen konnte. Für die Arbeit war er immer zu schwach gewesen. Läbäcke ernährte seine Familie mit dem, was ihm mitleidige Nachbarn schenkten. Später, als seine drei Söhne zu Männern herangewachsen waren, versorgten sie ihren Vater. Es waren fleißige Affen.« »Das Märchen erzählt von der Zeit, als noch die drei Sonnen unseren Stern umkreisten«, sagte Josua. Thilo nickte. »Sie züchteten auch Schafe und andere Tiere. Am liebsten aber gingen die drei zur Jagd. Als Läbäcke nun spürte, daß sich sein Leben dem Ende zu-
neigte, wollte er sich seinen Söhnen gegenüber dankbar erweisen. Er hatte all die Jahre viel nachgedacht und war einigen Geheimnissen der Natur auf die Spur gekommen. Dieses Wissen benutzte er, um den Söhnen Geschenke besonderer Art zu schaffen. Dem ersten Sohn schenkte er ein Messer, das selbständig Holz spalten konnte und außerdem allerlei nützliche Arbeit verrichtete. Dem zweiten Sohn schenkte er einen Schleier, der ihn bei der Jagd unsichtbar machte. Dem dritten übergab er ein Pulver, das Lebewesen für einige Zeit versteinerte, wenn man sie damit bestreute. Läbäckes Söhne freuten sich über diese Gegenstände und begannen, sie eifrig zu benutzen. Zu seinem Leidwesen stellte Läbäcke bald fest, daß sich die Söhne das Leben immer bequemer machten, weil sie die Zauberdinge für sich arbeiten ließen. Der älteste Sohn fand heraus, daß man mit dem Messer andere Affen bedrohen und ausrauben konnte. Der zweite Sohn stahl mit Hilfe des Schleiers bei den Nachbarn. Und der dritte bestreute, wenn man ihn und seine Brüder verfolgte, die Bestohlenen mit dem Pulver, und sie erstarrten. Läbäcke wurde vor Kummer krank, als er vom Treiben seiner Söhne erfuhr. Mit letzter Kraft erfand er einen Gegenstand, der durch seinen Glanz die Söhne unwiderstehlich anzog und sie alles vergessen ließ. Als dieser Gegenstand, ein bläulicher Stein, die Söhne in den Bann gezogen hatte, nahm Läbäcke das Messer, den Schleier und das Pulver und humpelte langsam davon. Er wurde niemals mehr gesehen!« Thilos Kinder schwiegen beeindruckt.
»Hat man je erfahren, wo dieser blaue Stein abgeblieben ist?« fragte Gudrun. Thilo schüttelte den Kopf. Gudrun sagte wie zu sich selbst: »Ich kann mir denken, wo er ist.« Dabei strich sie wie zufällig über das Tuch, in dem sich der Stein befand, den Hanibal ihnen gegeben hatte. Carola, Willi, Stefan und Emmi begriffen, was sie meinte. Dieser Stein schimmerte bläulich. Thilo ging nicht darauf ein. »Heute habt ihr euch eingearbeitet. Morgen werdet ihr viel mehr schaffen«, sagte er optimistisch. »Morgen?« Die Kinder schreckten auf. »Morgen müssen wir weiter«, sagte Willi. »Versteh doch, wir brauchen die Blume!« Thilo schüttelte den Kopf. »Unser Affenstern brennt, und ihr, ihr sucht eine Blume?« »Damit wir zur Erde zurückfliegen können!« »Was bedeutet Erde?« wollte Thilo wissen. »Das ist ein anderer Planet«, sagte Wedekind. »Oh, und der brennt auch?« Carola schüttelte den Kopf. »Nein, die Erde brennt nicht. Dort scheint die Sonne. Es gibt riesige grüne Wälder und Meere. Man muß nicht dauernd husten, weil die Luft gut ist.« »Na«, sagte Wedekind, »überall ist die Luft nicht gut. Und die Wälder, die sind nicht überall grün ...« Willi sagte: »Mach bloß unsere Erde nicht schlecht, du!« »Und gibt es dort auch Grohmchen zu essen?« Emmi schüttelte den Kopf: »Es gibt auf der Erde viele schöne Dinge: Kartoffeln, Reis, Spaghetti, Eierkuchen ...« » . . . Salzheringe, saure Gurken, Süßkirschen . . . « , setzte Carola fort.
Jessika sagte zu Thilo: »Schöne Märchen können die Nacktaffen erzählen.« Thilo nickte und streichelte die Tochter. »Und Krieg? Gibt es auch Krieg zwischen den Nacktaffen?« Die Kinder schwiegen. »Warum sprecht ihr nicht weiter?« fragte Sabina interessiert. Gudrun sagte heftig: »Nein, auf der Erde gibt es keine Kriege!« Danach errötete sie. Carola warf ihr einen dankbaren Blick zu. Irgendwie tat es ihr leid, die Affenfamilie zu enttäuschen. »Dann sind also alle Nacktaffen gut!« sagte Sabina. »Jetzt kann ich verstehen, daß ihr auf die Erde zurückwollt.« Später legte Stefan die Karte vor Thilo und fragte, welcher Weg nach Schlaragossa der beste ist. Thilo hatte jedoch noch niemals eine Landkarte gesehen. Er lachte über die Linien, die Flüsse darstellten, und über die Punkte, die Ortschaften andeuteten. »Das soll der Affenstern sein?« sagte er zweifelnd. »Der Affenstern ist viel, viel größer!« Stefan versuchte zu erklären, daß eine Landkarte alles viel kleiner darstellt, als es in Wirklichkeit ist. Er redete vom Maßstab und von Längen- und Breitengraden. Thilo dagegen sagte, er sei schon viel auf dem Affenstern herumgekommen, aber noch nie sei er über einen solchen Breiten- und Längengrad gestolpert. Da gab es Stefan auf. »Wenn ihr nach Schlaragossa wollt«, sagte Sabina, »müßt ihr zuerst nach Ogathrak.« Den Ort Ogathrak fand Stefan schnell auf der Karte. »Ach, du lieber Himmel«, rief er. »Das bedeutet, daß wir einige Stunden durch die Flammensümpfe waten müssen!« Thilo nickte. »Es gibt aber einen kalten Weg durch die
Sümpfe. Wenn ihr uns helft, einen Vorsprung gegen das Feuer herauszuarbeiten, führen wir euch!« Die Kinder erklärten sich bereit, den nächsten Vormittag das Feuer bekämpfen zu helfen.
Die Stadt Ogathrak Am Mittag des nächsten Tages, nachdem sie geholfen hatten, den Schwelbrand auf weiten Flächen zu löschen, machten sie sich auf den Weg zur Stadt Ogathrak. Thilo schritt mit seinem Lieblingssohn Achmed voraus. Einige hundert Meter hinter der Hütte verdichteten sich Rauch und Wasserdampf zu einer schier undurchdringlichen Wand. Der Weg jedoch war fest, aber bereits wenige Schritte entfernt zuckten Flammen auf. Thilo und Achmed blieben ab und zu stehen und legten die Hände an die Ohren und lauschten. Weder Carola noch die anderen konnten das geringste vernehmen. Erst als sie eine längere Strecke gegangen waren, hörten sie einen unheimlich tiefen Ton. Manchmal gesellte sich ein ganz hoher dazu. Dann wurden ihre Führer unruhig und deuteten an, daß der Weg weiter nach rechts oder links verliefe. Der tiefe Ton käme vom mittleren Haupttor der Stadt, erklärten sie, die helleren Töne dagegen von den östlichen und westlichen Toren. Man müsse darauf achten, den tiefen Ton gut zu hören, dann sei man auf dem richtigen Weg. Die Stadt Ogathrak lag auf einem kleinen Hügel. Im Rauch und Nebel erkannten die Kinder hohe Häuser und Türme. Offensichtlich handelte es sich um eine reiche Stadt. Das Haupttor, von dem der tiefe Ton jetzt unerträglich laut schallte, war eine Überraschung. Die Kinder hatten sich das Tor als Gebäude mit Zinnen, viel-
leicht sogar mit einer Zugbrücke vorgestellt - aber ein steinerner Riesenaffe mit sechs Armen bildete das Tor. Die Arme hielten Hammer, Zange, Schere, Kochlöffel, Spaten und Hacke. Die Beine der Statue waren gespreizt und bildeten das eigentliche Stadttor. Gruselig wirkte sein Schädel. Stefan begriff als erster, woher der tiefe Ton kam. - Der Kopf der gewaltigen Figur funktionierte wie eine Flöte, wenn der Wind wehte. »Hoffentlich sind die Bewohner von Ogathrak nicht so hohlköpfig wie das Tor«, sagte Emmi. »Ich bin aus Ogathrak«, sagte Sabina leise. Die Kinder gingen, von niemandem aufgehalten, durch das Tor. Gleich hinter der Stadtmauer begann eine breite Straße. Die Gebäude waren jedoch ausgebrannt. Im Innern lagen die moos-
überwucherten Trümmer meterhoch. In den schwarzverrußten Fensterhöhlen hing manchmal eine Jalousie. Dort, wo einmal Läden gewesen waren, sah man noch Aufschriften wie Fellpflegesalon, Spielzeug und Grohmchenkuchen. Die Kinder betrachteten entsetzt die zerstörten Straßenzüge. Zuerst hatten sie geglaubt, nur einige Häuser seien ausgebrannt. Aber auch die Querstraßen, die vom Boulevard abzweigten, boten den gleichen Anblick. Ogathrak war eine Geisterstadt. Das Leben war hier ausgestorben. Im Zentrum der Stadt befand sich die Ruine des Palastes. Drei schlanke Türme überragten alle anderen Gebäude. Unversehrt war der große Platz mit seinem zweifarbigen, kunstvoll gesetzten Straßenpflaster. »Der Palast unseres lieben Herzogs«, sagte Sabina. » . . . unseres lieben Herzogs«, knurrte Thilo. Unbeirrt wies Sabina auf ein Denkmal in der Mitte des Platzes, ein in Stein gehauener Affe breitete segnend die Hände aus. »Das ist er . . . unser Herzog!« Der Kopf der Figur war abgeschlagen und lag neben dem Denkmal, und obwohl er beschädigt war, erkannten die Kinder edle Gesichtszüge. »Was ist mit dieser Stadt geschehen?« wollte Stefan wissen. Sabina und Thilo holten tief Luft, sie sahen sich an und schwiegen. Achmed sagte betrübt: »Wenn sie darüber sprechen, zanken sie sich immer!« An die Eltern gewandt, fuhr er fort: »Vielleicht solltet ihr nacheinander reden.« »Bitte«, sagte Thilo und forderte Sabina zum Sprechen auf. »Bitte, fang du an«, sagte sie und stupste ihn in die Seite. Das ging ein Weilchen hin und her, bis Sabina alle bat, auf den Stufen des ehemaligen Palastes Platz zu nehmen.
»Ogathrak war einmal die schönste Stadt des Affensterns«, begann sie. »Unser lieber Herzog Ernst, der die letzten Jahre regierte, war weise und gütig.« Thilo wollte widersprechen, aber Achmed hob die Hand. »Seit vielen Jahren trugen die Herzöge von Ogathrak als Zeichen ihrer Würde eine Krone auf dem Kopf. Aun, der König der Langschwanzaffen, war jedoch der Ansicht, nur ihm allein stünde die Krone zu. Der Herzog hätte lediglich das Recht, einen Hut aufzusetzen. Aun forderte von Herzog Ernst, die Krone abzuliefern. Anderenfalls würde er mit seinen Kriegern die Stadt besetzen und sich die Krone holen. Ihr werdet verstehen, daß die Bürger von Ogathrak sich das nicht gefallen lassen wollten. Ich war damals noch ein junges Mädchen, aber ich war genauso wütend wie alle.« »Dir konnte es eigentlich egal sein, ob Herzog Ernst einen Hut oder eine Krone trug«, sagte Gudrun. »Bei Regen ist so ein Hut auch praktischer«, fügte Carola hinzu. »Ich dachte, ihr Erdaffen würdet begreifen, was die Ehre einer Stadt bedeutet!« Thilo bedeckte sein Gesicht mit der Hand, um zu verbergen, daß er lächeln mußte. Doch Sabina sah es. »Du solltest dich heraushalten!« sagte sie wütend zu ihrem Mann. »Du kannst ja nicht einmal einen Herzog von einem König unterscheiden!« Um den Streit zu beenden, griff Achmed in das Gespräch ein. »Wie ihr seht, hat Aun dem Herzog nicht nur die Krone genommen und ihn getötet, er hat auch die Stadt in Brand stecken lassen.« »Und die Leute von Ogathrak?« fragte Willi. »Sie kämpften, die meisten kamen um«, sagte Sabina. »Andere gerieten in Gefangenschaft. Nur wenige leben noch ...«
Sie brach in Tränen aus. »Aber die haben den Verstand verloren ...« Thilo umarmte seine Frau tröstend. »In Wahrheit ging es nicht um Hut oder Krone«, sagte er. »Wenn der Herzog statt der Krone einen Hut aufgesetzt hätte, dann wäre Aun etwas anderes eingefallen, um einen Streit hervorzurufen. In Wirklichkeit wollte er den wertvollen Schatz des Affensterns, der hier in der Stadt aufbewahrt wurde. Übrigens hat ihn Aun nicht gefunden. Er ist verschollen.« »Und du, Sabina, wie hast du das Feuer überlebt?« fragte Gudrun. »Sie war ein junges Mädchen, als ich zum ersten Mal die schöne und reiche Stadt Ogathrak betrat«, sagte Thilo. »Ich war den Brüdern von den Felsen weggelaufen, um die Flammensümpfe zu löschen. Ich hatte keine Zeit, Grohmchen anzupflanzen. Wenn der Hunger zu groß wurde, ging ich als Bettler in die Stadt. Sabina war die Tochter des Grohmchenbäckers. Sie gefiel mir sehr.« Sabina lächelte ihm versöhnt zu. »An einem Tag, als ich wieder Grohmchen betteln wollte, fand der Überfall statt. Ich traf draußen vor den Toren die betrunkenen Krieger Auns. Ich sah, wie sie sich um die Beute prügelten. Als die Flammen über den Dächern aufloderten, bin ich über die Stadtmauer geklettert. Ich wußte, an welcher Stelle des Marktes Sabina mit ihrer Backware hockte. Ich fand sie zwischen angsterfüllten Händlern, packte sie und trug sie aus der Stadt!« »Nein«, sagte Sabina, »er erzählt nicht die ganze Geschichte. Wir gerieten unter brennende Trümmer eines Hauses. Noch heute sieht man die Narben der Brandwunden, die Thilo erlitt. Am Stadttor fielen Auns wütende Krieger über uns her. Er
kämpfte mit ihnen und schlug sie mit einem brennenden Balken in die Flucht - doch er trug mehrere Messerstiche davon ...« Thilo lächelte. »Das Fell ist nachgewachsen, die Messerstiche verheilt.« »Höchst merkwürdig«, sagte Stefan mehrmals. »Was findest du höchst merkwürdig?« wollte Achmed wissen. »Ich finde es merkwürdig, daß einige Affen, statt das Feuer zu löschen, das alle bedroht, selbst Feuer legen.« Thilo nickte. »Schade, daß ihr nicht bei uns bleiben wollt. Zusammen mit euch würden wir vielleicht die Flammensümpfe in ein paar Jahren löschen können.« »Wir müssen weiter«, sagte Willi und erhob sich. Thilo stellte sich neben Willi und Stefan. Er deutete in die nördliche Richtung. Am Ende der Straße war wieder ein riesiger steinerner Affe zu sehen. Es schien ein ähnliches Tor wie das Haupttor zu sein, durch das sie gekommen waren. »Geht durch das Tor und dann immer geradeaus. Ein tiefer Ton wird euch leiten. Sowie ihr die hellen Töne hört, seid ihr in Gefahr, vom Wege abzukommen. In einigen Stunden werdet ihr dann den Zeterwald erreichen. Der Wald ist ein wenig seltsam. Beachtet nicht das Getuschel und Gemunkel, das pausenlos zu hören ist!« »Wer tuschelt und munkelt dort?« wollte Emmi wissen. »Eigentlich niemand«, sagte Thilo. »Es wird euch nur so vorkommen. Ihr müßt den Wald ohne Pause durchwandern. Keinesfalls dürft ihr euch setzen oder hinlegen, dann wäre es aus mit euch, meine lieben Erdaffen! Viele Wanderer sind in diesem Wald schon umgekommen.« »Vielleicht sollten wir überhaupt nicht dort langgehen«, sagte Stefan.
»Dann werdet ihr nie zu der Stelle gelangen, an der man den Roten Ringel überqueren kann, dort ist eine Landzunge aus nicht brennbarem Gestein.« »Und wie kommen wir dann weiter?« »Ihr werdet ein Floß aus den Stämmen des Zeterwaldes bauen. Aber achtet darauf, daß dieses Floß aus mehreren Lagen Holz besteht!« Stefan beugte sich über die Landkarte. »Warum müssen wir überhaupt auf die andere Seite des Feuerflusses?« »Dafür gibt es zwei Gründe. Der erste ist, daß hinter dem Zeterwald Auns Königsstadt liegt. Ihm wollt ihr doch nicht in die Hände fallen. Oder?« »Nein!« brüllten alle. »Der zweite Grund ist, daß ihr den Viadukt von Partas erreichen müßt. Es ist der einzige Weg nach Schlaragossa.« »Ja, aber am anderen Ufer befindet sich die Stadt Partas, die Hauptstadt der Kurzschwanzaffen. Sie könnten uns auch gefährlich werden! Vielleicht sollten wir nach Westen gehen und uns einen Weg an der Küste suchen!« Thilo lachte und schlug auf die Karte. »So unsinnig sind diese Karten! Seht mal, ich kann meine Hand auf das Meer legen, und sie friert nicht ab.« »Warum sollte sie abfrieren?« »Weil im Westen das Meer des ewigen Eises ist. Davor liegt eine Bergkette, die bisher noch kein Affe überwunden hat.« Sabina mischte sich in das Gespräch: »Ihr könnt uns glauben! Wir waren selbst dort, als wir eine neue Heimat suchten. In den Gebirgen blitzt und donnert es unablässig. Und oft bläst ein kalter Wind vom Meer, der einem das Blut gefrieren läßt.« »Ich hasse den Winter«, sagte Gudrun. »Irgendwie werden wir den Zeterwald und den Roten Ringel schon überstehen!«
Stefan knipste noch ein Abschiedsfoto. Dann umarmten Thilo, Sabina und die jungen Affen alle Mitglieder der Expedition Huflattich heftig. Und wie auf Kommando drehte sich die ganze Affenfamilie um und ging in entgegengesetzter Richtung davon. Schwermütig marschierten die Kinder auf das nördliche Stadttor zu. Thilos Familie war allen ans Herz gewachsen. Sie hatten erkannt: Er war nicht so dumm, wie ihn Hermes hingestellt hatte. Die Sprache der Töne beherrschte er nicht. Landkarten waren für ihn Rätsel. Dennoch schien er mehr praktischen Verstand zu besitzen als seine Brüder. Wenn auch sein Plan, die Flammensümpfe trockenzulegen, unausführbar schien, so war das doch ein Versuch, der klüger war, als auf die Felsen zu ziehen und sich aus allem herauszuhalten. Schon ein Weilchen bemerkte Carola einen Schatten, der hier und dort in den Ruinen auftauchte und wieder verschwand. Sie hielt es für eine Sinnestäuschung. Bald aber entdeckten ihn die anderen auch. Sie sprangen entsetzt zur Seite, als ein Trümmerberg ins Rutschen kam. Eine Steinlawine polterte auf die Straße, und ein weißhaariger, zerlumpter alter Affe purzelte von Staubwolken umhüllt den Kindern genau vor die Füße. Gudrun wollte dem alten Mann aufhelfen, er warf sich jedoch in den Staub. »Oh, König der Langschwanzaffen, habt Erbarmen«, flehte er Emmi an, die verdutzt zurückwich. »Ich bin nicht dieses Miststück Aun!« rief sie. »Verschont mein Leben, König«, rief der alte Affe wieder flehentlich. »Ich bin Kabu, Herzog Ernsts Schatzmeister.« Carola wollte den alten Affen von seiner Idee, Emmi sei der grausame Aun, abbringen. Sie reichte ihm eines der Grohmchen, die Achmed ihnen mitgegeben hatte.
Der weißhaarige Affe verschlang das Grohmchen hastig und rief: »Dank dir, Herr Kasagranda, du Liebling des Königs!« »Pfui, Teufel!« schrie Carola. Diese »Ehre« wollte sie nicht auf sich nehmen. »Er ist verwirrt«, sagte Willi. Auch er reichte dem Affen ein Grohmchen. »Ich bin euer Gefangener«, sagte der Affe. »Tötet mich nicht! Ich bewahre das Geheimnis des Schatzes in meinem Herzen.« »Ist ja gut«, sagte Carola. »Hau ab! Wir schenken dir die Freiheit!« »Nein, ich kenne eure Heimtücke. Ihr werdet mich hinterrücks erstechen wie meine Brüder!« Carola schenkte Kabu noch ein Grohmchen. Während der Affe aß, machte sie den anderen ein Zeichen. Sie setzten sich in Bewegung, ohne ihn weiter zu beachten. Doch er sprang auf und begann, irrsinnig lachend sie zu umkreisen. »Ihr werdet den Schatz niemals finden, Krieger des Aun!« »Wir brauchen deine albernen Glitzersteine nicht!« rief Carola. Kabu wiederholte das Wort Glitzersteine mehrmals und kicherte. »Sucht nur nach den Glitzersteinen. Nie werdet ihr sie finden, wenn ich euch das Geheimnis nicht verrate, und ich verrate es nicht!« Er lief jetzt neben Gudrun, die Hanibals Stein unter dem Arm trug. »Teure Gespielin des Königs, darf man einen Blick unter das Tuch tun?« »Nein«, sagte Gudrun bestimmt. »Du bist schon verwirrt genug. Der Stein wird dich noch dümmer machen.« »Macht der Stein nicht auch lustig?« fragte der alte Affe. »Woher weißt du das?« Kabu zog unerwartet ein Messer aus dem zerschlissenen Ge-
wand. Die Kinder wichen zurück. Der Affe warf ihnen das Messer vor die Füße. »Ihr werdet den Schatz nicht finden, obwohl ihr ihm nahe seid.« »Vielleicht benötigen wir mal ein Messer«, sagte Willi, nahm es auf und gab dem Affen weitere Grohmchen. Kabu schien Freude am Tauschen zu finden. Er legte Emmi einen Beutel vor die Füße. Sie nahm ihn und gab ihm einige Grohmchen. Dann betrachtete sie ihn genauer und zog einen Schleier heraus. »Den heb ich mir bis zur Hochzeit auf.« Sie steckte das Gewebe wieder in den Beutel. Kabu legte nun ein Röhrchen vor Carola. Auch sie schenkte dem Affen Grohmchen. Der Inhalt des Röhrchens war enttäuschend: graues Pulver, das weder roch noch nach irgend etwas schmeckte. Kabu bewegte sich hastig, die Grohmchen an die Brust gedrückt, rückwärts auf die Ruinen zu. Er schien erstaunt, daß ihn niemand zurückhielt, und rief höhnisch: »Nie werdet ihr den Schatz finden, denn nie findet jemand einen Schatz, wenn er danach sucht!« Er lachte und verschwand hinter den Trümmern. »Er tut mir leid«, sagte Gudrun. »Möchte nur wissen, woher er Hanibals Stein kennt«? murmelte Carola und begann, das Pulver achtlos auf die Straße zu streuen. »Halt, Huflattich!« brüllte Stefan. »Wirf das Pulver nicht weg, bevor du weißt, wozu es gut ist.« »Stefan hat recht«, sagte Willi. »Irgendein Geheimnis hängt damit zusammen.« »Vielleicht findet man mit Hilfe des Pulvers den Schatz!« rief Emmi. Carola bezweifelte das. Trotzdem verschloß sie das Röhrchen wieder.
Aus einer Nebenstraße schob eine alte Affenfrau einen Riesenkinderwagen langsam auf die Hauptstraße. In diesem Wagen hätten mindestens zehn Affenkinder Platz gefunden, er war jedoch leer. Die Affenfrau trug eine ehemals weiße, jetzt verschmutzte Haube auf dem Kopf und eine Schürze, die auch nicht mehr sauber war. Ohne die Kinder zu beachten, bog sie in die Hauptstraße ein. Sie redete wirres Zeug: »Na, kleine Hanna, wirst du dem Dieter mal nicht den Ball wegnehmen! Und Mary, sei artig, sonst erzähle ich abends alles deiner Mutter!« Die Kinder blieben stehen und starrten die alte Frau an. »He, du ...«, sagte Carola zu der Affenfrau. »Geh aus dem Wege«, sagte die, »siehst wohl nicht, daß hier der Kindergarten kommt ...« Langsam ging die Frau mit dem leeren Wagen an den Kindern vorbei. »Kommt bloß weiter«, rief Emmi. »Mich gruselt's!« Vor Jahren, als die Stadt überfallen wurde, war die Frau eine junge Kindergärtnerin gewesen, erriet Carola. Seitdem mußte sie dem Wahnsinn verfallen sein. Bestimmt hatte sie Furchtbares erlebt!
Alle spürten das gleiche Verlangen, schnell die Stadt zu verlassen. Sie begannen zu rennen und gelangten bald zum nördlichen Tor, das sie ohne weitere Hindernisse passierten. Emmi Winter setzte sich an die Spitze der Expedition. Sie hatte von allen das beste Gehör und winkte den anderen, mal mehr links, mal mehr rechts zu gehen, und alle folgten ihr ohne Widerspruch.
Die seltsame Wirkung von Pilzen Die Kinder waren froh, als der Zeterwald aus dem Nebel der Sümpfe auftauchte. Es begann schon zu dämmern. Die Bäume des Waldes erinnerten Willi an die Windflüchter, die er im Urlaub mit den Eltern an der See gesehen hatte. Die Bäume hatten keine Krone, und die meisten waren ohne Laub und Nadeln. Man konnte sie bequem mit beiden Händen umfassen, und sie standen so dicht, daß man nicht eindringen konnte. »Irgendwo muß es einen Weg geben«, sagte Stefan. Emmi plumpste in das kärgliche Gras am Rande des Waldes und streifte die Schuhe ab. »Auf, auf«, sagte Gudrun, »hast du vergessen, was Thilo gesagt hat!« »Er sprach davon, daß man sich im Wald nicht setzen dürfte. Wir sind noch am Rande!« Emmi streckte sich gemütlich hin. »Ruht euch nur aus«, sagte Willi väterlich. »Wahrscheinlich können wir lange nicht mehr rasten! Onkel Willi opfert sich auf, geht in Richtung des Roten Ringel und sieht nach, ob irgendwo ein Weg in diesen verflixten Wald führt.« Carola sagte: »Opfere dich mal, mein Junge. Ich suche die andere Richtung ab!«
Die anderen widersprachen nicht. Froh über die Ruhepause, sanken Stefan und Gudrun neben Emmi auf den Boden. Einige Zeit später kehrten die beiden Kundschafter zurück. Sie hatten einen Weg in den Zeterwald gefunden. Doch zunächst stärkten sich alle an den noch verbliebenen Grohmchen. »Wir müssen den Roten Ringel bei Dunkelheit überqueren«, sagte Carola. »Vielleicht bewachen die Langschwanz- oder die Kurzschwanzaffen den Übergang.« Obwohl alle sehr müde waren, sahen sie doch die Notwendigkeit ein, weiterzugehen. Die Dunkelheit schien ihnen kein Hindernis. Sie waren dem Fuego-Gebirge im Laufe der letzten Tage näher gekommen, und die Flammen leuchteten ihnen den Weg. Doch im Zeterwald standen die Bäume so dicht, daß kein Lichtschein hineindrang. Stefan ging mit ausgestreckten Armen voran. Zu allem Unglück gabelte sich der Weg mehrmals. Ohne Zögern wandte sich Stefan nach rechts oder links. »Stefan, du hast wirklich einen verdammt guten Orientierungssinn«, sagte Carola. Dieses Lob ging ihr schwer über die Lippen. »Wieso ich?« fragte Stefan. »Du kommandierst doch die ganze Zeit, wie ich gehen soll.« »Ich? Ich sag seit einer Viertelstunde überhaupt nichts, weil Gudrun dauernd den >Erlkönig< vor sich hin spricht!« »Hör mal, bei diesem Gedicht habe ich eine Vier bekommen, weil ich's nicht richtig gelernt hatte«, sagte Gudrun empört. »Gudrun schweigt, seitdem wir diesen Wald betreten haben«, ließ sich Emmi hören. »Dafür brabbelt Willi Neuenhagen pausenlos irgendwas über seinen Vater, der ihn furchtbar zusammenstauchen wird!« »Du hast ja einen Vogel«, schrie Carola. »Willi hat ein bißchen vor sich hin gepfiffen, sonst gar nichts.«
»Ich habe nicht vor mich hin gepfiffen«, sagte Willi. »Wahrscheinlich hat keiner von uns etwas gesagt. Thilo warnte uns, wir sollten nicht auf das dauernde Tuscheln hören!« Stefan blieb stehen. »Dann gehen wir wahrscheinlich in eine falsche Richtung. Ich habe mich danach gerichtet, was Carola sagte.« »Sagt er das nun wirklich?« fragte Carola. »Oder denke ich nur, er sagt es?« »Wir haben es alle gehört«, beruhigte sie Willi, »also hat er es wirklich gesagt.« »Au, Neuenhagen«, sagte Stefan Wedekind. »Von Logik hast du wohl noch nichts gehört, was! Woher willst du wissen, daß es alle gehört haben? Selbst wenn jeder sagt, er hat es gehört, kann es sein, daß du dir das alles einbildest!« »Hört mal«, schrie Carola, »wenn jetzt jemand spricht, muß er den Nächststehenden anstoßen, sonst ist es ungültig! Los, stoßt mich zur Bestätigung an!« Alle stießen Carola an. Gleich darauf bekam sie aber von Emmi eine Ohrfeige. Ohne lange zu überlegen, schlug Carola zurück. Emmi fing an zu heulen. »Von dir lasse ich mir keine knallen!« schimpfte Carola. »Na, hör mal, du hast doch gerade gesagt, wenn einer ausruhen will, soll er dir eine runterhauen!«
»Hab ich überhaupt nicht!« »Mir wird himmelangst«, sagte Willi. »Der Wald ist total verzaubert!« Bald erreichten sie eine kleine Lichtung. Hier war es ein wenig heller als im dichten Wald. Stefan reckte sich verzweifelt, um herauszubekommen, in welcher Richtung die Flammen des Fuego-Gebirges lagen. Willi hockte sich hin. Er hatte entdeckt, daß der Waldboden mit dünnstieligen Pilzen überwuchert war. Ein merkwürdig muffiger Geruch ging von ihnen aus. Jäh wurde Willi von einer Erkenntnis durchzuckt. Er wollte sich aufrichten, um die anderen zu warnen, doch er verlor das Gleichgewicht und fiel besinnungslos in die Pilzkolonie. Emmi bemerkte es zuerst. Sie wollte Willi hochziehen. Doch als sie sich hinhockte, verlor sie ebenfalls das Gleichgewicht. Sie versuchte, sich aufzurichten, ihre Kraft reichte jedoch nicht aus. Stefan und Carola bemerkten das Unglück gleichzeitig. Beide versuchten, die Niedergesunkenen wieder auf die Beine zu bringen. Dabei wurden auch sie von der rätselhaften Schlafkrankheit befallen. Gudrun stand erschrocken zwischen ihren schlafenden Freunden. Irgendwas muß mir jetzt einfallen, dachte sie. Aber es fiel ihr so schnell nichts ein. Ich darf nicht einschlafen, befahl sie sich und begann, im Kreis herumzugehen. Irgend etwas zerkratzte ihr Gesicht. Es war ein dicker Ast. Wütend brach ihn Gudrun ab und wollte ihn wegschleudern. Da kam ihr die Erleuchtung: Wer sich niederbeugte, wurde vom Geruch der Pilze betäubt. Man mußte die Nase oben behalten! Mit dem abgebrochenen Ast begann sie, nach Willis Arm zu angeln. Aber immer, wenn sie Willi einige Zentimeter hochgehoben hatte, fiel er wie leblos auf den Waldboden zurück. Auf diese Weise würde sie Willi nie-
mals auf die Beine bringen! Gudrun hielt den Atem an. Sie beugte sich blitzschnell und faßte Willi. Er war ganz schön schwer. Lange würde sie es, ohne zu atmen, nicht aushalten. Mit letzter Kraft richtete sich Gudrun wieder auf. Willis Gewicht zerrte sie nach unten. Schließlich schaffte sie es. Nach ein paar tiefen Atemzügen schlug Willi die Augen auf. Es dauerte aber noch Minuten, bis er wieder zu sich kam. Die beiden verständigten sich ohne Worte. Gemeinsam tauchten sie in die giftige Dunstschicht über dem Erdboden und hoben, ohne einzuatmen, einen nach dem anderen auf. »Bloß weg von hier«, keuchte Carola, als sie wieder auf den Beinen stand. Sie überlegten nicht lange, in welche Richtung sie sich bewegen sollten. Nur ein Wunsch beherrschte sie: diesen Wald so schnell wie möglich zu verlassen. Lange irrten sie umher, bis sie wieder freies Feld erreichten. In der Ferne waren Umrisse und Lichter einer Stadt deutlich sichtbar. »Wo sind wir?« fragte Emmi. »Ihr befindet euch vor den Toren der Königsstadt Ethan«, sagte eine Stimme neben ihnen, und ein Langschwanzaffe in einem strahlend weißen Umhang verneigte sich. Nachdem sich die Kinder vom ersten Schrecken erholt hatten, wollten sie schnell wieder in den Zeterwald zurück. Der Wald schien ihnen weniger gefährlich als König Aun. Doch sie erkannten, daß sie von Langschwanzaffen umringt waren.' »Ich bin der Oberpriester Ledom«, sagte der Affe im weißen Umhang. »Wir sind glücklich, euch begrüßen zu können, ihr Seligen! Dautz, gib dich uns zu erkennen!« Die Kinder sahen sich ratlos an. »Nun«, sagte der Priester lächelnd, »der Weg vom Baum der Seligen bis zu uns war anstrengend. Wir werden Geduld haben
müssen, bis du dich enthüllst, großer Dautz! Habt bitte die Güte, uns in die Stadt zu folgen.« Die Kinder zögerten. Sie wurden aber von den Gehilfen des Oberpriesters sanft vorwärts gedrängt. »Sie sind in der Übermacht«, seufzte Carola.
Die Seligen sollen leben! Die Kinder hatten niemals eine schönere Stadt als Ethan gesehen. Im hellen Licht der Feuersteine erkannten sie Paläste mit Säulen und Verzierungen, Türme, über und über mit Glocken behängt; lange, breite Straßen mit Wohnhäusern und Geschäften. Offensichtlich hatte man ihre Ankunft erwartet. Die Straßen wurden von einer vielköpfigen Affenmenge gesäumt, die sich bei ihrem Näherkommen verneigte. Ein ehrfurchtsvolles Gemurmel ging durch die Menge: »Der Dautz ist gekommen ...« An einer Stelle bildete sich ein Sprechchor: »Die Seligen sollen leben!«
»Absolut unsinnig!« murmelte Stefan Wedekind. »Selige sind doch Verstorbene. Wie sollten die wohl leben?« Sie wurden in ein großes Freilichttheater geführt. Die Masse der Langschwanzaffen strömte ihnen nach. Auf einer erhöhten Bühne gebot der Oberpriester Ledom den Kindern, in mit Fell bedeckten Sesseln Platz zu nehmen. Ein mit vielen funkelnden Steinen geschmückter Sessel blieb leer. Der ist wahrscheinlich für Aun reserviert, dachte Carola. Bei diesem Gedanken war ihr nicht wohl. Wirklich, in diesem Augenblick, betrat Aun die Bühne. Er erkannte die Glattaffen und lachte aus vollem Halse. »Das sollen die Seligen sein!« rief er. Ledom trat ihm mit sicheren Schritten entgegen. »Herr!« rief er. »Wir sind alle deine Untergebenen. Aber auch du bist ein Untergebener. Nämlich der des seligen Dautz, dessen Oberster Diener ich wiederum bin. Hier, auf dem Gelände der Brüderschaft, gilt mein Wort!« Aus der Menge kam zustimmendes Gemurmel. Aun knirschte mit den Zähnen und wollte im Sessel Platz nehmen. Der Oberpriester hob protestierend die Hand. »Dieser Platz gebührt allein dem Dautz.« »Sieh mich doch einmal richtig an«, brüllte Aun. »Alle Standbilder des Dautz ähneln mir!« »Sie sind in deinem Auftrage hergestellt worden. Die früheren sehen deinem Vater ähnlich. Und die noch viel früheren deinem Großvater. Ich bin hierhergestellt, um unsere Brüderschaft in ihrer Reinheit zu bewahren, auch vor den Königen!« Das zustimmende Gemurmel des Volkes wurde lauter. Unwillig zog sich Aun auf einen anderen Platz zurück. »Fürchte meinen Zorn!« murmelte er.
Ledom nahm eine feierliche Haltung ein und sprach zu den Affen, die bereits nach den ersten Worten in tiefes Schweigen fielen. »Heute vor vielen, vielen Affensternjahren, als noch Friede herrschte und die drei Sonnen jeden Tag schienen, legte sich der Dautz zum Sterben nieder. Seine letzten Worte waren: Wenn ihr in Not seid, Langschwanzaffen, dann ruft nach mir. Ich werde zu euch kommen. Hütet euch aber, so sagte der Dautz, vor falschen Propheten. Deren wird es viele geben!« Ledom blickte Aun lange an. »Habt Geduld! Mich, den Dautz, werdet ihr an meinen guten Taten erkennen ...« »An den guten Taten«, riefen viele Langschwanzaffen. »Hör zu, Willi«, sagte Carola. »Wir dürfen sie nicht enttäuschen. Einer von uns muß den Dautz spielen!« »Woher die guten Taten nehmen und nicht stehlen«, gab Willi zurück. Der Oberpriester Ledom fuhr fort: »Ich, euer Oberpriester, allein kann das Grau der Wolken durchdringen. Ich habe gesehen, wie der Dautz vom Baum der Seligen stieg und sich auf die Wanderschaft zu uns machte. Alle Zeichen deuten darauf, daß der Dautz und die Seligen bei uns angekommen sind.« Er wandte sich an die Kinder: »Dautz, gib dich zu erkennen!« »Einer muß«, sagte Carola noch einmal. »Das könnte die Rettung sein! Aun macht sonst aus uns Hackepeter!« Stefan Wedekind trat einen Schritt vor. »Habt Geduld ...«, sagte er. Dann verbeugte er sich, drückte die Taste seiner Digitaluhr, und man konnte die Melodie von den Beatles hören. Nachdem die Musik verklungen war, herrschte sekundenlanges Schweigen. Dann brach tosender Beifall los. Stefan trat irritiert zurück. Als endlich wieder Ruhe eingekehrt war, sagte der Oberpriester: »Habt also Geduld, ihr Langschwanzaffen, und geht nach
Hause. Irgendwann einmal, vielleicht schon morgen, wird sich der Dautz durch gute Taten zu erkennen geben.« Die Masse drängte zum Aufbruch. König Aun erhob sich und kam schnellen Schrittes auf die Kinder zu. Viel schneller aber drängte der Oberpriester zum Ausgang. Er wies auf ein Haus. »Dort seid ihr sicher«, sagte er. Das Haus war einfach eingerichtet. Die Wände hatten einen weißen Anstrich, Fenster gab es nicht. In der Mitte des Raumes stand eine Schüssel mit dampfenden Grohmchen. Das allein schien den Kindern im Augenblick wichtig. »Setzt euch, meine Lieben«, rief Ledom. »Greift zu. Ihr seid doch schon vor Stunden in Ogathrak aufgebrochen.« »Eines möchte ich klarstellen«, sagte Gudrun, »der Dautz befindet sich nicht unter uns! Wir sind Erdenmenschen. Wir müssen dir das sagen, damit du nicht enttäuscht bist, Ledom.« Der Oberpriester lächelte. »Natürlich weiß ich, daß niemand von euch der Dautz ist. Aber sollen die Leute weiter glauben, dieser nichtswürdige Aun ist der Dautz! Als ich durch meine Späher erfuhr, daß ihr im Anmarsch seid, hatte ich die Idee, mit eurer Hilfe Auns Pläne zu durchkreuzen. Aber, bitte, greift doch zu ...« Es wurde auch Zeit, daß sie die Einladung zum Essen erhielten. Emmi wurde vor Hunger schon schwindlig. Nach dem Essen sagte Carola zu dem Priester: »Also dann hast du uns vom richtigen Wege abgebracht. Wir wollten über den Roten Ringel nach Partas.« »Der Wald ist ein wenig schuld«, lächelte Ledom. »Auch Auns Krieger sind nicht unbeteiligt. Sie waren sehr an euch interessiert. Ich aber habe euch zum rechten Zeitpunkt abgefangen.« »Was will Aun von uns?« fragte Willi.
»Er sucht nach dem Schatz von Ogathrak. Ihr sollt darüber etwas wissen.« »Wir?« Stefan schüttelte den Kopf. »Suchst du auch den Schatz?« »Nein! Die Brüderschaft interessiert sich für so etwas nicht.« »Wirst du uns helfen, an das andere Ufer zu gelangen?« »Vielleicht«, sagte Ledom, »auch für euch gelten die letzten Worte des Dautz: Habt Geduld.« Bald danach brachten die Helfer des Oberpriesters Moospolster zum Schlafen. Die Kinder legten sich mit der Hoffnung nieder, bald dem Stadtstaat Ethan mit Hilfe des Oberpriesters entfliehen zu können. Am nächsten Morgen beim Frühstück teilte ihnen Ledom mit, daß sie sich frei in der Stadt bewegen könnten. »Und Aun? Wird er uns nicht einsperren?« »Nein«, sagte Ledom, »er kann es nicht wagen, nachdem euch das Volk für die Seligen hält. Es ist aber ratsam, meine Lieben, nicht so weit zu gehen. Man hat in der Nähe der Stadt Partanerinnen gesehen. Ein Angriff ist zu erwarten.« »Partanerinnen?« fragte Gudrun. »Ja. Es ist widerwärtig. Bei den Kurzschwanzaffen werden die Männer gezwungen, die niedrigsten Arbeiten zu verrichten. Die Frauen aber regieren und führen Krieg. Schon deshalb müssen wir sie vernichten, austilgen ...« »He, he, he«, rief Carola, »du redest ja nicht wie ein Priester, sondern wie ein Krieger.« »Wenn es sein muß, dann bin ich ein Krieger.« »Darf man erfahren, was ihr gegen die Kurzschwanzaffen habt?« wollte Emmi wissen. »Kurzschwanzaffen sind die niedrigste Affenrasse, die es gibt! Außerdem glauben sie nicht an den Dautz und an die Seligen.
Sie glauben, daß die Uräffin eines Tages mit einem goldenen Kanu den Feuerfluß heruntergefahren kommt und ihnen die drei Sonnen wiedergibt, die verschwunden sind!« Ledom war so wütend geworden, daß er am ganzen Körper zitterte. »Beruhige dich, alter Junge«, sagte Carola. »Laß sie glauben, was sie wollen! Und ob einer einen langen oder einen kurzen Schwanz spazierenführt, ist doch nicht so wichtig.« »Geht mir aus den Augen«, rief Ledom wild, »sonst vergesse ich mich!« Carola wollte, wie immer, widersprechen. Willi gab ihr einen solchen Stoß in die Rippen, daß ihr der Atem wegblieb. Einer der Gehilfen des Oberpriesters machte ihnen beschwörende Zeichen, schnell den Raum zu verlassen. Erst als sie auf der Straße standen, sagte der Gehilfe: »Wenn jemand nicht Ledoms Meinung ist, kann er in seiner Wut furchtbar sein! Übrigens, ich bin Mark, und das sind meine Brüder. Wir bewachen euch bei den Spaziergängen!« »Ich denke, wir dürfen uns frei bewegen«, sagte Stefan. »Als Gastgeber sind wir um eure Sicherheit besorgt«, antwortete Mark und kniff ein Auge zu. Dann wandte er sich an Carola. »Wenn es dich tröstet, ich bin ganz deiner Ansicht. Es gibt so wunderschöne Kurzschwanzaffenmädchen! Wir würden sie lieber heiraten, als ständig Krieg gegen sie zu führen.« Die anderen, die ebenfalls jung waren, nickten beifällig. Einer sagte: »Aber wir haben nichts zu sagen.« »Wer hat denn hier etwas zu sagen?« wollte Carola wissen. »König Aun und der Oberpriester Ledom, die sich ständig streiten, jeder will mächtiger sein.« »Und die anderen Langschwanzaffen?« »Sie wollen ihre Ruhe, wollen arbeiten, essen, heiraten. Vom
ewigen Krieg mit den Kurzschwanzaffen haben sie genug. Seht euch doch nur die Stadt an!« Stefan hatte die Kamera schußbereit, ließ sie aber enttäuscht sinken. Die Stadt, die sie gestern noch so beeindruckt hatte, sah bei Tageslicht ganz anders aus. Sie bestand aus größeren und kleineren eckigen, fensterlosen Gebäuden; Fenster, Türen, Säulen und andere Verzierungen waren draufgemalt. »Das ist ja alles Schwindel«, rief Willi empört. »Ist die Stadt nicht wunderschön?« sagte Mark und kniff wieder ein Auge zu. »Früher gab es allerdings richtige schöne Häuser mit Türmen und Balkons. Sie wurden im fünften und sechs-
ten Ethanisch-Partasischen Krieg zerstört. Dann hat sich als zweckmäßig erwiesen, diese Bunker zu bauen und sie zu bemalen.« Obwohl es nicht kalt war, gruselte es Gudrun. Eine trostlose Stadt, dachte sie. Etwas abseits entdeckten sie ein richtiges Haus mit Erkern und einem großen Balkon. Eine Fahne wehte am Giebel. »Das ist das Botschaftsgebäude von Schlaragossa«, erklärte Mark. »Es wird im Krieg stets verschont. Schlaragossa ist neutral.« Für Emmi war niederschmetternd, daß auch die Schaufenster nur gemalt waren. Aber im Innern der Bunker konnte man Verschiedenes kaufen: Dinge, die die Kinder nicht auf dem Affenstern vermutet hatten. Zum Beispiel wurden farbige Sonnenschirme angeboten, Kleidungsstücke aller Art, Wohnungseinrichtungen, Schmuck und Parfüms, Lippenstifte und Nagellack. Am liebsten hätte Emmi sich die Lippen rot angemalt. Aber Carola hielt sie zurück. »Das sind alles Waren aus Schlaragossa«, sagte Mark, als sie den Verkaufsbunker wieder verlassen hatten. »Doch die meisten Langschwanzaffen haben nicht einmal genug Glitzersteine, um ausreichend Grohmchen zu kaufen.« »Dabei besitzt Ethan die größte Glitzersteinschürferei des Affensterns«, sagte einer der Helfer des Oberpriesters leise. »Wo bleiben aber die vielen Glitzersteine?« wollte Stefan wissen. »Wir kaufen in Schlaragossa dafür Lanzen und Steinschleudern«, sagte Mark. »Lanzen und Steinschleudern sind ja auch ungeheuer wichtig«, sagte Gudrun spöttisch. Stefan entrollte Hanibals Landkarte und schüttelte den Kopf.
»Ihr liefert also Glitzersteine nach Schlaragossa, und sie liefern euch Lanzen und Steinschleudern.« Mark nickte. »Es gibt aber nur einen Weg nach Schlaragossa: Man muß den Roten Ringel überqueren, Partas umgehen und dann über den Viadukt nach Schlaragossa. Wenn die Kurzschwanzaffen es wollten, könnten sie den Handel unterbinden.« Mark strich Stefan übers Haar. »Du bist ein schlaues Kerlchen. Ich habe darüber auch schon nachgedacht. Es muß noch einen Weg geben, einen geheimen. Aber laßt uns über andere Dinge reden. Solche Gespräche werden bei uns mit dem Tode bestraft. Wir zeigen euch jetzt einen Kinderspielplatz. Das ist weniger gefährlich.« Sie betraten abermals einen Bunker. Die Wände waren mit phantastischen Landschaften bemall. Ein Fluß schien durch die Mitte des Gebäudes zu fließen, aber es sah nur so aus. Viele Langschwanzaffenkinder gaben sich Spielen hin. Einige schoben Puppenkinderwagen, doch der größte Teil spielte Krieg. Alle besaßen Steinschleudern und kleine Lanzen. Einige hatten ihre Schwänze so geschickt auf den Rücken gebunden, daß man sie kaum noch sah - sie waren die Kurzschwanzaffen. Zuerst schienen die Langschwanzaffen zu gewinnen. Sie bewarfen die angeblichen Kurzschwanzaffen mit Steinen. Dann wendete sich das Kriegsglück. Die kleinen Langschwanzaffen wurden von der Gegenoffensive der Kurzschwanzaffen in die Flucht geschlagen und in einer Ecke des Bunkers zusammengedrängt. Die vermeintlichen Kurzschwanzaffen forderten, daß sie sich ergäben. In dieser Phase des Spiels trat ein älterer Langschwanzaffe dazwischen und erklärte den »Krieg« für ungültig, weil es unmöglich war, daß die Langschwanzaffen verlören. »Warum spielen sie nicht draußen?« fragte Emmi.
»Wir haben Krieg. Draußen ist es zu gefährlich«, sagte Mark. Als sie den Bunker verließen, erwartete sie ein alter Bekannter vor der Tür: Kasagranda, der Liebling König Auns. Er verbeugte sich höflich vor den Kindern. »Meine Seligen«, sagte er ironisch, »König Aun bittet euch in aller Freundlichkeit um ein Gespräch.« »Da kann er lange bitten«, sagte Carola. »Wird er aber nicht!« antwortete Kasagranda und hob die Hand. Sofort umringten Affen in weißer Kleidung der Brüderschaft die Kinder. Mark und seine Helfer versuchten, sie zurückzudrängen. Es gelang nicht, weil die anderen in der Überzahl waren. Kasagrandas Leute drängten die Kinder zu einem Bunker, der durch eine Königskrone gekennzeichnet war. Mark schrie laut: »Zu Hilfe, man will die Seligen entfuhren!« Kasagrandas Leute brüllten: »Die Seligen sollen hochleben!« Einige Langschwanzaffen blieben am Straßenrand stehen. Sie bemerkten jedoch nicht, daß hier eine Entführung stattfand. Sie stimmten sogar in den Ruf ein: »Die Seligen sollen hochleben!« Das dauerte alles nur wenige Minuten, dann befanden sich die Kinder im Bunker Auns. Kaum hatten sich die Türen hinter ihnen geschlossen, warfen Kasagrandas Leute ihre weißen Kittel ab und verwandelten sich wieder in Krieger des Langschwanzaffenkönigs. Mark und seine Helfer schienen ausgesperrt worden zu sein. »Vorwärts, ihr Seligen«, rief Kasagranda. »Aun erwartet euch!« Kein Protestieren half. Auns Krieger stießen sie rücksichtslos vorwärts. Auch Auns Behausung war nur ein fensterloser Bunker. Die Kinder wurden durch prächtige Säle geschubst. Trotzdem er-
kannten sie, daß weder die Säulen noch die überladenen Stuckdecken echt waren. Alles nur gemalt. Schließlich standen sie vor dem Thron des Königs der Langschwanzaffen. »Erkennt ihr mich wieder, Glattaffen? Als wir uns das letzte Mal sahen, war ich der König der blinden Vögel. Erinnert ihr euch?« »So eine Visage vergißt man nicht!« antwortete Carola. Der König wollte wütend aufspringen, aber Carola redete einfach weiter. »Vielleicht ist es besser, König, wenn du uns gleich sagst, was du von uns willst.« Der König ließ sich zurücksinken. »Sehr vernünftig! Sehr vernünftig!« sagte er. »Ihr sollt mir nur ein wenig von euren Erlebnissen auf dem Affenstern erzählen, rein zur Zerstreuung. Mich würde zum Beispiel sehr interessieren, wie ihr auf die Felsen gekommen seid.« »Oh, das war ganz einfach«, sagte Emmi. »Wir ...« Carola unterbrach Emmi grob. »Verdammt! Wenn Emmi den Mund aufmacht, dann lügt sie.« »Aber sie hat ja noch gar nichts gesagt«, meinte Aun. »Da hört ihr es!« sagte Emmi empört. »Also, am Fuße der Felsen ist so ein Tümpel ...« »Wer dort hineinspuckt«, fuhr Willi fort, »dem wachsen kleine Flügel, und er kann sofort auf die Klippen fliegen!« »Sehr interessant«, rief Aun, »Kasagranda, merk es dir genau.« »Von wegen, ich lüge ...«, rief Emmi empört. »Denk an die zerbrochene Flöte«, sagte Stefan beschwörend zu Emmi. Endlich begriff sie, daß sie beinahe die Geheimnisse der Felsenaffen ausgeplaudert hätte. »Als nächstes interessiert mich der Schatz von Ogathrak. Was könnt ihr mir darüber berichten?«
»Nichts«, sagte Willi. »Ihr lügt!« schrie der König. »Ihr seid doch nur auf den Affenstern gekommen, um den Schatz zu rauben! Ich ahne schon, euch bringt man nur durch ein Bad im Roten Ringel zum Reden.« »Das laß mal lieber, hochverehrter König«, jammerte Stefan. »Brandwunden tun furchtbar weh. Carola Huflattich wird dir erzählen, wo der Schatz zu finden ist.« »Du spinnst wohl, Wedekind!« Aber Stefan tuschelte ihr zu: »Erzähl ihm irgend etwas, dir fällt doch sonst immer was ein.« »Also gut!« willigte Carola scheinheilig ein. »Der Schatz liegt hier unter deinem Thron vergraben!« Der König sprang auf und rückte den Thron eilig zur Seite. »Allerdings in zehn Meter Tiefe«, sagte Carola. »Kann auch sein, daß es zwanzig Meter sind.« Der König kam auf Carola zu: »Du lügst! Du lügst!« »Ich sage nur, was mir der ehemalige Schatzmeister von Ogathrak erzählt hat.« »So, der Schatzmeister? Dann kannst du mir vielleicht auch seinen Namen nennen?« Gespannt starrten Aun und Kasagranda sie an. »Er hieß Kabu«, sagte Carola ruhig. »Tatsächlich«, sagte Kasagranda. »Er hieß Kabu und hat sich vor uns versteckt. Wir werden ihn greifen.« »Das wird nicht gehen«, sagte Willi. »Wir schenkten ihm Grohmchen. Er war so ausgehungert, daß er sich daran verschluckte und mausetot umfiel. Vielleicht kommt er eines Tages mit dem Dautz als Seliger zurück.« »Schweig!« rief Kasagranda erschrocken. Der König reckte sich auf: »Hört zu, was ich beschlossen
habe. Ihr werdet hier an dieser Stelle graben. Weh euch, ihr findet den Schatz nicht!« An die Krieger gewendet, rief er: »Schafft Hacken und Spaten herbei!« »Da hast du uns was Schönes eingebrockt«, maulte Emmi Carola ins Ohr. Als die Arbeitsgeräte gebracht wurden, setzte sich Aun gemütlich in seinen Thronsessel. Willi und Carola nahmen widerstrebend die Hacken. Die anderen griffen nach den Spaten. Sie merkten schon in den ersten Minuten, daß sie viel Zeit benötigen würden, um nur einen Meter tief in den Boden zu dringen. Der Königspalast war auf steinigem Grund gebaut. Nachdem sie ein Weilchen schweigend gearbeitet hatten, warf Gudrun den Spaten hin, nahm Hanibals Stein und trat vor den König. »Es hat keinen Zweck, weiterzulügen«, sagte sie. »Wir haben einen Teil des Schatzes gefunden. Unter dem Tuch befindet sich der größte Glitzerstein des Affensterns.« »Das kannst du doch nicht machen!« sagte Stefan und wollte sie zurückhalten. Gudrun legte den Stein vor Auns Füße. Kasagranda und die Krieger des Königs, die sich in der Nähe aufhielten, umdrängten Aun. Gudrun drehte sich zu ihren Freunden. »Haltet euch die Augen zu!« Kasagranda riß das Tuch von dem bläulich schimmernden Stein. Sekunden später begannen Aun und seine Kriegerschar zu kichern. Vom Eingang her drängten sich neugierig die Wachen. Und aus den Gemächern des Bunkerschlosses strömten die Diener. Der Stein zog alle in den Bann, nur noch ungeheures Lachen und Gackern war zu hören. Niemand beachtete mehr die Kinder. Sie gingen gemächlich zum Ausgang des Bunkers.
»Schade um den Stein«, sagte Emmi. »Immerhin sind wir diesem Aun entkommen«, erwiderte Stefan. »Wir sollten sehen, daß wir Ledom nicht wieder in die Hände fallen!« Carola öffnete die große Tür, die ins Freie führte. Sie trat vor Schreck einen Schritt zurück. Eine riesige Affenmenge hatte sich versammelt. »Die Seligen sollen leben!« riefen die Langschwanzaffen, als sie die Kinder erblickten. Ledom trat auf sie zu. »Ich dachte, Aun wollte euch gefangenhalten. Darum habe ich die Bürger herbeigerufen!« Sie gingen zurück zum Tempel der Brüderschaft. Ihr Weg führte sie wieder an der Botschaft Schlaragossas vorüber. Auf einem Balkon saß ein beleibter Affe mit spiegelblanker Glatze. Als sich die Menge näherte, erhob er sich, verbeugte sich vor den Seligen und lächelte. Dabei wurde sein goldenes Gebiß sichtbar. »Der Botschafter von Schlaragossa, Herr von Loyola«, informierte Ledom. Carola blieb stehen. »Herr Botschafter«, rief Carola, »wir möchten nach Schlaragossa. Bitte, helfen Sie uns!« »Guten Tag«, rief der Botschafter. »Schlaragossa fühlt sich sehr geehrt. Sehr geehrt!« Nach diesen Worten ging er vom Balkon. »Warten Sie!« rief Emmi flehend. Der Botschafter hatte aber bereits die Balkontüren geschlossen. Carola wollte ins Haus gehen. Ledom hielt sie jedoch zurück. »Es hat wenig Zweck, mit ihm zu sprechen«, sagte er. »Herr von Loyola ist taub, stocktaub.« »Können wir nicht mit jemand aus der Botschaft sprechen?« »Sie sind alle taub, stocktaub!« sagte Mark verschmitzt.
»Schlaragossa ist neutral«, sagte Ledom. »Es mischt sich nicht in die Angelegenheiten der Stadt Ethan.« »Und wann, bitte schön, dürfen wir endlich weiterwandern?« fragte Emmi. »Ihr werdet eure Wanderung fortsetzen, wenn der Dautz und die wirklichen Seligen bei uns erschienen sind.« »Na, Prost Mahlzeit!« entfuhr es Emmi.
Die Nacht der Verliebten Im Haus des Oberpriesters leistete Mark den Kindern Gesellschaft. Sie wußten, daß er sie bewachen sollte. Aber er war ihnen durch seine klugen Augen und seine Sanftheit und Freundlichkeit so vertraut geworden, daß sie in seiner Gegenwart ungeniert über ihre Probleme sprachen. »Wir müssen unbedingt verschwinden«, sagte Stefan. »Erinnert euch an die Wirkung des blauen Steins. Zuerst lacht man sich beinahe tot, dann schläft man ein. Wenn man endlich wieder erwacht, verfügt man eine Zeitlang über ungeheure Kräfte. Das bedeutet, daß Aun die Mauern dieses Bunkers zertrümmern kann!« Mark versuchte ihn zu beruhigen: »Diese Mauern? Nein! Und außerdem ist Aun nicht so dumm, sich gegen das gesamte Volk von Ethan zu stellen. Für das seid ihr die Seligen!« »Leider macht der Stein auch dumm«, sagte Stefan. »Aun wird alle Rücksicht vergessen.« Mark lächelte verschmitzt. »Ihr Glattaffen, verhöhnt mich nicht! Ich kenne das Märchen von Läbäcke genau. Ihr wollt mir weismachen, ihr hättet Aun das >blaue Auge< geschenkt. Etwas später werdet ihr mir einzureden versuchen, daß ihr auch noch andere Gegenstände des Schatzes besitzt.«
Carola sah Emmi an. Sie hatten beide den gleichen Gedanken. Als Carola Willi und Stefan anschaute, wußte sie, auch die Jungen waren daraufgekommen, daß all die seltsamen Gegenstände, die sie von Kabu erhalten hatten, vielleicht wirklich von diesem sagenhaften Läbäcke stammten. Carola schüttelte energisch den Kopf. Es schien ihr unwahrscheinlich, daß Kabu, der Schatzmeister von Ogathrak, ihnen diese wertvollen Dinge überlassen hatte. Außerdem stammte der blaue Stein von Hanibal. »Es gibt einen Weg aus der Stadt«, sagte Mark. »Ich würde ihn euch zeigen, Glattaffen, wenn ihr mir versprecht ...« »Sprich weiter!« sagte Carola. »Ihr müßt jemandem in Partas etwas sagen.« »Wem sollen wir was sagen?« riefen alle durcheinander. Mark winkte sie näher heran. »Einer gewissen Maimona sollt ihr sagen, daß ich sie am Südtor von Ogathrak erwarte.« »Du liebst sie?« fragte Carola. Mark nickte. »Ich habe sie oft von weitem beobachtet, wenn sie Wache stand. Einmal hat sie mich entdeckt und ihre Lanze auf mich gerichtet. Ich glaubte, sie wollte mich töten, da senkte sie die Waffe. >Ich kann dich deiner freundlichen Augen wegen nicht töten<, sagte sie. >Getötet muß aber werden, weil Krieg ist. Also bring du mich um!<« »Und du?« fragte Emmi atemlos. Mark lächelte. »Nun, wenn ich sie umgebracht hätte, könnte ich ihr keine Nachricht schicken.« »Und was wollt ihr in Ogathrak?« »Wir gehen in die Flammensümpfe. Dort soll es Affen geben, die gegen das Feuer kämpfen.« Die Kinder bestätigten das und erzählten von Thilo. »Wir werden Maimona die Nachricht überbringen«, sagte Willi am Ende des Gesprächs.
»Gut, dann werde ich euch heute nacht hinausführen.« Erst um Mitternacht, als vollends Stille im Hause des Oberpriesters herrschte, schlich sich Mark in das Zimmer der Kinder. Er brauchte sie nicht zu wecken. »Ihr müßt tun, was ich euch befehle«, sagte er. Sie fühlten sich ein wenig unsicher. Vielleicht hatte ihnen Mark seine Liebesgeschichte nur vorgelogen, und er war ein Beauftragter König Auns, der sie in eine Falle locken sollte? Doch sie hatten keine andere Wahl, als ihm zu vertrauen. »Gut, wir werden tun, was du uns befiehlst.« Mark teilte sie in drei Gruppen ein. Carola sollte mit Willi gehen. Stefan gesellte sich zu Emmi. Und Gudrun schloß sich Mark an.
Sie mußten die Schuhe ausziehen und ganz leise durch das spärlich erleuchtete Haus schleichen. Überall schliefen Ledoms Helfer in der Gewißheit, daß Mark Wache hielt. Als sie am Lager des Oberpriesters vorüberschlichen, richtete er sich plötzlich auf. Schlaftrunken betrachtete er die Kinder, die dem Ausgang zustrebten. Alles schien verloren. Ich probiere es einfach! dachte Carola und schüttete ein wenig von dem Pulver aus Kabus Röhrchen auf das Lager des
Oberpriesters. Im selben Augenblick erstarrte Ledom in der Haltung, die er eben eingenommen hatte. Carola war darüber so überrascht, daß sie nicht weiterging, hätte Willi sie nicht gerüttelt. »Ihr habt tatsächlich den Schatz von Ogathrak«, sagte Mark erstaunt. Gudrun war von diesem Anblick so erschüttert, daß ihr die Tränen über die Wangen rollten. »Er ist tot«, schluchzte sie. »Nein, er wird in drei Tagen wieder lebendig«, sagte Mark. »Ledom hat sich viele Jahre mit dem Geheimnis des Schatzes beschäftigt. Er weiß, daß dieser Schatz nicht aus Glitzersteinen besteht, und er ist krank vor Begierde, ihn an sich zu bringen.« Mark lachte leise. »Nur eins wußte er nicht, daß er heute dem Schatz so nahe war. Gehen wir!« Vor dem Hause befahl er: »Umarmt euch: Carola und Willi, Stefan und Emmi. Gudrun, komm zu mir.« Er zog sie an sich, dann küßte er sie plötzlich. Sie sträubte sich. »Du mußt gehorchen, Gudrun ...«
»Na, hör mal ...«, protestierte Gudrun, »knutschen, soweit kommt es noch!« »Heute ist die Nacht der Verliebten«, sagte Mark. »Alle Verliebten wandern hinaus durch das westliche Tor, um sich im Kalten Arm das Gesicht zu waschen. So ist es bei uns Brauch. Die Wachen müssen glauben, ihr seid Verliebte!« »Das ist nur ein Trick von dir«, sagte Gudrun. »Aber nein, ich habe euch doch von Maimona erzählt ...« »Hab dich nicht so, Gudrun«, sagte Emmi. »Sieh her, wie man das macht.« Sie küßte Stefan auf den Mund. Der stotterte verlegen: »Do ... doch nicht vor a-a-allen ...« »Also, bevor ich sterbe ...«, sagte Carola und verpaßte Willi einen lauten Schmatz. »Au«, rief Willi, »du rammst mir deine Nase ins Gesicht, daß mir Hören und Sehen vergeht.« »Ich glaube, ihr werdet das noch lernen«, sagte Mark. Die anderen folgten ihm und Gudrun. Engumschlungen schlenderten sie durch die nächtlichen Straßen Ethans. Aus den Seitenstraßen strömten verliebte Affenpärchen und nahmen den Weg zum westlichen Tor. Hoffentlich erkennt uns keiner, dachte Carola. Sie passierten unbehelligt das Stadttor. Die Wachen machten Witze über die Liebespärchen. Der Weg über das weite, freie Feld wurde von den Flammen des Fuego-Gebirges beleuchtet. Verschiedene Affenpärchen kamen ihnen entgegen. »Gut Wasser!« riefen die ihnen zu. Die Kinder antworteten: »Lange Liebe!« Bald hörten sie das Rauschen eines Wasserfalles. »Der Kalte Arm«, erläuterte Mark. Dann sahen sie, wie das Wasser von einem haushohen Felsen stürzte. Das brodelnde Wasser wurde von einem Steinbassin aufgefangen, zu dem drei Stufen führten.
Ein Pärchen nach dem anderen ging die Stufen hinunter, kniete nieder und tauchte die Gesichter in das Wasser. Dann küßten sich die Paare und traten den Rückweg an. »Es ist ein Versprechen auf ewig«, sagte Mark. Er führte Gudrun zu dem Bassin. »Und was passiert, wenn man das Versprechen nicht hält?« fragte Gudrun ängstlich. »Oh«, sagte Mark, »man bekommt eine Glatze.« Dabei kniff er wieder einmal listig ein Auge zu. Und Gudrun lachte beruhigt. Nach der Zeremonie schritten die Kinder, genau wie die anderen, der Stadt zu. Mark ging jedoch so langsam, daß sie überholt wurden. Als niemand mehr in der Nähe war, rief er: »Los, jetzt mir nach!« Er rannte querfeldein. Ein Weilchen später ging er wieder langsamer. Emmi versuchte Stefan erneut zu küssen. »Das ist jetzt nicht mehr notwendig«, sagte Mark. »Schade«, sagte Emmi leise. Links sah man die erleuchtete Stadt Ethan, rechts drohten die Massive des Feuergebirges. Vor ihnen lag wie eine dunkle Wand der Zeterwald. Aber unter der Führung Marks verlor er für die Kinder alle Schrecken. Er begleitete sie bis zur Landzunge, die weit in den Feuerfluß ragte. Die Bäume ließen nur am Rande des Flusses einen schmalen Weg frei. Willi erinnerte sich, wie er mit dem Vater im Urlaub an der See bei Sturm auf einer schmalen Mole zum Leuchtturm gewandert war. Die Wellen brandeten. Willi und der Vater wurden bespritzt. - Hier aber war eine feurige Gischt. Sie leckte am Ufer und schien nach den Kindern zu greifen. Emmi, die hinter Gudrun und Mark ging, blieb stehen. Sie begann plötzlich um sich zu schlagen und brüllte laut: »Nein, ich gehe nicht weiter!«
»Es gibt keinen anderen Weg«, sagte Mark. »Doch«, rief Emmi. »Es gibt einen geheimen Weg nach Schlaragossa. Lieber sterben als weitergehen!« Die Kinder versammelten sich ratlos um Emmi, und Gudrun versuchte, sie zu streicheln. Sie wurde weggestoßen. »Ich gehe nicht weiter! Ich gehe nicht weiter!« brüllte Emmi. Willi hielt sich die Ohren zu. Doch das Heulen hörte er trotzdem. Unvermutet packte er Emmi und schüttelte sie. Als er sie losließ, schien sie wie aus einem Traum zu erwachen. »Entschuldigt«, sagte sie beschämt. Den Rest des Weges bewältigten sie schnell. Am äußersten Zipfel war die Landzunge kahl. Viele Affen hatten hier schon Bäume gefällt. Der Weg, den die Bäume zum Fluß transportiert werden mußten, wurde immer länger. Mark zog eine Axt unter seinem Umhang vor und begann, einen Baum zu fällen. Bald hielt er ermattet ein und reichte die Axt Willi. Jeder mußte ein Weilchen arbeiten. Nachdem der erste Stamm gefallen war, gingen sie sofort den nächsten an. Unvermittelt schlug sich Mark an die Stirn. »Ich habe vollkommen vergessen, daß ihr den Schatz besitzt. Einer muß das Messer haben.« Willi reichte es ihm. »Meinst du, es gehört wirklich zum Schatz?« Er schilderte Mark, wie sie diese Dinge von Kabu gekommen hatten. Mark hob das Messer. »Ihr werdet sehen, es verrichtet von selbst die Arbeit! Aber du, Willi, sein jetziger Besitzer, mußt es ihm befehlen!« Stefan Wedekind zog die Stirn kraus: »Hört mal, warum hat sich der Herzog Ernst von Ogathrak nicht durch dieses Messer verteidigen lassen? Er hätte doch nur befehlen müssen!« »Sehr gut, daß du daraufkommst. Das Messer richtet sich ge-
gen den Besitzer, wenn dieser ein Lügner ist. Nach dem Überfall auf Ogathrak fand man den Herzog mit durchschnittener Kehle, obwohl Aun seinen Kriegern befohlen hatte, ihn lebendig zu fangen.« »Du meinst also, er war ein Lügner?« sagte Emmi. »Wir haben keine Zeit, Geschichten zu erzählen«, unterbrach Carola. »Willi, gib dem Messer den Befehl!« Willi schwieg jedoch. Alle drängten. Er wand sich. Schließlich sagte er kleinlaut: »Es geht nicht. Am Tag unseres Abflugs von der Erde habe ich meiner Mutter vorgelogen, daß der Kater die Streusel vom Kuchen gefressen hat, dabei ...« Er sprach nicht weiter. Trotzdem wußten natürlich alle, wer sich die Streusel hatte schmecken lassen. Mark legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Deshalb bist du noch kein Lügner, Willi. Solche Kleinigkeiten rechnen nicht.« Er reichte Willi das Messer und nickte ihm ermunternd zu. »Messer, ich befehle dir, Bäume zu fällen«, rief Willi und legte schnell die Hand auf den Hals. Das Messer schwebte waagerecht auf einen Baum zu. Nach wenigen Minuten fiel der Stamm krachend nieder. Während das Messer weiterarbeitete, zeigte Emmi Mark den Schleier. »Und wozu dient dieses Ding eigentlich?« »Leg es dir auf den Kopf und denk an nichts!« sagte Mark. »An nichts kann ich nicht denken«, sagte Emmi. Sie legte sich den Schleier lässig auf den Kopf, um zu zeigen, daß sie nicht auf alles hereinfiel, was man ihr erzählte. Im gleichen Moment war sie unsichtbar geworden. Nur ihre Stimme war zu hören: »Das Ding ist wahrscheinlich zu alt, um noch funktionieren zu können.«
Nachdem sich die anderen vom Schreck erholt hatten, lachten sie los. »Es ist wie in dem Märchen über Läbäcke«, sagte Gudrun verwirrt. »Nimm bloß den Schleier wieder vom Kopf!« »Und nichts denken!« rief Mark. Emmi wurde langsam wieder sichtbar. Sie steckte den Schleier resignierend in den Beutel. »Läbäcke, Schatz von Ogathrak ...«, sagte sie spöttisch. »Das ist alberner Quatsch!« Wieder brach ein Baum nieder. Stefan riß Emmi beiseite. »Der Betroffene selbst scheint nicht zu bemerken, daß er unsichtbar ist«, sagte er. »Das ist mir auch neu«, sagte Mark. »Soweit ist Ledom bei seinen Forschungen wohl nicht gekommen.« Nachdem das Messer genügend Bäume gefällt hatte, schleppten die Kinder sie zur Landzunge. Ohne Marks Hilfe, der sehr stark war, hätten sie das niemals bewältigt. Willi befahl dem Messer nun, große Nägel zu schnitzen, und Mark fügte die Stämme zusammen. Er hatte sie so gelagert, daß die Stämme zur Hälfte über den Feuerfluß hingen. Als das Messer Ruder geschnitzt hatte, kippte Mark das Floß in den Fluß. Willi sprang schnell mit einem Ruder hinterher, um ein Abtreiben zu verhindern. »Los, steigt ein!« rief Mark. »Ihr müßt euch beeilen, damit die Stämme nicht verbrennen, bevor ihr das Ufer erreicht.« Das Floß machte keinen sehr vertrauenerweckenden Eindruck. Die Flammen knabberten bereits an den Stämmen. Alle reichten Mark eilig die Hand zum Abschied. Nur Gudrun küßte ihn. »Heute ist doch die Nacht der Verliebten«, sagte sie und kniff schelmisch ein Auge zu, wie es Mark immer tat.
Obwohl Emmi wieder einem Heulanfall nahe war, riß sie sich zusammen und sprang aufs Floß. Nur Stefan mußte fast mit Gewalt von Mark raufgeschoben werden. »Rudert, so schnell ihr könnt!« rief er. Die Kinder begannen, sich gewaltig in die Ruder zu legen. Sie bedienten sie so ungeschickt, daß sich das Floß auf der Stelle drehte. Mark brüllte: »Einer muß kommandieren!« »Hol - weg!« rief Carola. »Hol - weg!« Das Floß begann, sich langsam vom Ufer zu entfernen. »Halt«, sagte Willi. Er nahm das Messer und schleuderte es ans Ufer. »Fang«, rief er Mark zu. »Es gehört jetzt dir.« Mark fing das Messer geschickt auf. Er steckte es in eine Tasche und legte sorgsam die Hand darauf. Das sollte bedeuten: Bei mir ist es gut aufgehoben.
In der Mitte des Roten Ringel bekamen die Kinder die Strömung zu spüren. Sie mußten ihre ganze Kraft anwenden, um nicht abgetrieben zu werden. Mit Unbehagen beobachtete Carola, daß ihr Floß immer tiefer eintauchte. Durch die Ritzen zwischen den Stämmen quoll dichter Qualm. Selbst Hanibals Pillen konnten nicht verhindern, daß alle husten mußten. Gott sei dank wurden die Umrisse des anderen Ufers sichtbar. Kaum hatten sie festen Boden unter den Füßen, als das Floß in Flammen aufging. »Au, Mann!« sagte Carola. »Das war Olympiabestzeit!« Sie schauten zum anderen Ufer. Die Landzunge war jedoch im Rauch nicht mehr zu erkennen.
Die Flut Sie ruhten sich kurze Zeit am Ufer aus und beratschlagten, wie sie weitergehen sollten. Stefan zeigte nach Norden. »Dort liegt Partas, die Stadt der Kurzschwanzaffen. Es wäre am sichersten, wenn wir sie umgehen. Womöglich halten die uns sonst für Uraffen und verlangen, daß wir ihnen die drei Sonnen zurückgeben.« »Aber wir haben versprochen, Maimona eine Nachricht zu überbringen«, sagte Gudrun. »Ruhe«, zischte Willi. In der Nähe hörten sie Stimmen. Carola deutete auf Gesteinsbrocken in der Nähe des Ufers. Sie krochen auf einen zu und versteckten sich dahinter. Die Stimmen wurden lauter. Eine Gruppe Kurzschwanzaffenmädchen, mit Lanzen, Steinschleudern und Seilen bewaffnet, trat ans Ufer. »Späherinnen, halt!« erschallte das Kommando.
Die Kriegerinnen nahmen Aufstellung. Eine Äffin, offensichtlich die Anführerin, rief: »Der Auftrag lautet: Feindliche Befestigungsanlagen auskundschaften! Gefangene sind auf der Stelle zu töten!« »Hoffentlich erwischen sie Mark nicht!« flüsterte Gudrun. »Ich bin gespannt, wie die über den Fluß kommen. Hier ist weit und breit kein Baum zu sehen!« sagte Willi. Eine der Späherinnen knüpfte an das Ende eines Seils einen eisernen Haken, schwang das Seil kräftig und warf es über den Fluß. Der Haken schien sich am gegenüberliegenden Ufer irgendwo zu verankern, denn das Affenmädchen zog das Seil straff, nachdem sie einen zweiten Haken an einem Felsen befestigt hatte. Das alles dauerte nur wenige Augenblicke. »Entert über!« ertönte das Kommando der Anführerin. Die Späherinnen sprangen nacheinander und überquerten, mit Armen oder Beinen am Seil hangelnd, den Feuerfluß. Den Schluß bildete die Anführerin. Als alle außer Sichtweite waren, traten die Kinder hervor. »Stark«, sagte Carola. »Wir sollten machen, daß wir wegkommen. Ich schlage vor,
wir laufen bis in die Nähe der Stadt. Dort suchen wir uns ein Versteck. Emmi Winter geht dann allein nach Partas, um Maimona zu finden«, meinte Willi. »Was! Ich bin doch nicht plemplem!« »Dir passiert nichts, weil du dich unsichtbar machen kannst!« »Hört auf mit dem Quatsch«, sagte Emmi wütend. »Bitte, Emmi, tu uns den Gefallen!« sagte Stefan bettelnd. »Na, schön ...« Sie legte den Schleier um und verschwand im selben Moment. »Na also«, sagte Carola zufrieden. »Dir fällt es nicht schwer, überhaupt nichts zu denken.« »Ich glaube euch nur, daß ich unsichtbar bin, wenn ihr mir die Hand zum Ehrenwort gebt!« Stefan verdrehte die Augen. »Emmi, versuch doch mal dein bißchen Grips zu ordnen. Kein Mensch kann dir die Hand schütteln, wenn du unsichtbar bist.« »So«, sagte Emmi beleidigt, »jetzt könnt ihr lange warten, bis ich wieder sichtbar werde.« »Laßt uns gehen!« sagte Carola. Sie schlugen einen Weg ein, der sich zwischen Gesteinsbrocken schlängelte. Carola schlug ab und zu um sich, als würde sie von Fliegen belästigt. Den anderen erging es genauso, obwohl weit und breit keine Insekten zu sehen waren. »Emmi!« rief Carola voller Wut. Emmi lachte laut. Gleich darauf schrie Gudrun auf. Jemand hatte sie an den Haaren geziept. Willi kämpfte mit seinen Hosen, die rutschten, obwohl er den Gürtel eng geschnallt hatte. Stefan lachte dagegen immer mal albern auf, weil er von unsichtbarer Hand gekitzelt wurde. Die Nacht brach herein. Der Feuerschein des Fuego-Gebirges beleuchtete eine der Gesteinswände. Die Kinder lasen: Hier lie-
gen dreihundert Langschwanzaffenkrieger begraben, die im vierten Ethanisch-Partasischen Krieg den Heldentod starben. Auch auf den anderen Wänden entdeckten sie Inschriften. Einmal hatte man die Krieger von Ethan begraben, ein andermal die Kriegerinnen von Partas. »Merkt ihr was?« sagte Gudrun. »Im vierten Ethanisch-Partasischen Krieg waren es nur dreihundert Krieger, im fünften schon fünfhundert, im sechsten eintausendsiebenhundert, und wieviel werden es im siebenten sein?« Bedrückt gingen sie weiter. Emmi vergaß den Schabernack. Bald hatten sie die Landschaft mit den Gesteinsbrocken hinter sich gelassen. Vor ihnen lagen Felder. Als sie sich die niedrigen Stauden genau ansahen, stellten sie verwundert fest, daß hier Tomaten wuchsen. Mit Heißhunger aßen sie die Früchte. Endlich eine Abwechslung in der eintönigen Ernährung des Affensterns! Im Weitergehen hielten sie vergeblich nach der Stadt Ausschau. Stefan vertiefte sich immer wieder in Hanibals Karte. »Wir müssen ganz in der Nähe von Partas sein«, behauptete er. Die Felder wurden von Bewässerungsgräben begrenzt. Ab und zu sahen sie niedrige Steinhügel, die von kärglichen Büschen bewachsen waren. Auf einem dieser Hügel fanden sie eine Art Nest, das nach allen Seiten gute Deckung bot. Sie ließen sich nieder. Wo sich Emmi hingesetzt hatte, konnte man nur erraten. Wahrscheinlich diente dieses Nest als Unterschlupf für die Feldwachen. Willi, der die schärfsten Augen hatte, spähte umher und teilte den anderen nach kurzer Zeit mit, was er entdeckt hatte. Nicht weit von ihnen entfernt befand sich ein Wall aus Erdreich und Steinen, hinter dem sich ein riesiges Zeltlager erstreckte. Die Nacht auf dem Affenstern war kurz. Der Morgen
dämmerte bereits herauf, und zwischen den Zelten sah Willi in der Dämmerung ein Haus, auf dem die Flagge von Schlaragossa wehte. »Schlaragossa!« rief er. »Wir befinden uns an der Grenze von Schlaragossa!« »Unmöglich«, widersprach Stefan. »Es muß Partas sein! Das Gebäude ist die Botschaft von Schlaragossa.« Das schien allen einleuchtend. Aber warum die Stadt nur aus Zelten bestand, blieb unklar. »Ich vermute, die Stadt ist in den vielen Kriegen zerstört worden«, sagte Willi. »Vielleicht haben die Kurzschwanzaffen die Lust verloren, sie immer wieder aufzubauen.« Von Minute zu Minute wurde es heller. Die Zeltstadt schien zu erwachen. Man konnte beobachten, wie Händlerinnen ihre Ware zum Verkauf ausbreiteten. Durch einen Gang im Wall marschierten Kriegerinnen. Hinter ihnen drängten Kurzschwanzaffenmänner mit Ackergeräten auf den Schultern zu den Tomatenfeldern. Während sich die Kriegerinnen zur Wache aufstellten, begannen die Männer mit der Arbeit. Sie pflückten Tomaten oder gossen sie. Andere spannten sich vor hölzerne Pflüge und begannen mühevoll den Boden aufzureißen. Die Kinder beschlossen, den Tag in dem »Nest« zu verbringen. Nur die unsichtbare Emmi sollte in die Stadt gehen und Maimona die Nachricht von Mark überbringen. Nachdem sie zurückgekehrt wäre, wollten die Kinder in der Dunkelheit weiterwandern, ohne die Stadt zu berühren. »Na gut«, sagte Emmi, »während ihr einen faulen Maxen macht, werde ich arbeiten.« Carola teilte die Wache ein. Sie übernahm selbst die erste, während ihre Freunde bald in tiefen Schlaf fielen. Emmi hatte sich an das Unsichtbarsein gewöhnt. Sie war
nicht nur unsichtbar geblieben, weil sie mit den anderen Schabernack treiben wollte. Sie hatte festgestellt, daß man sich in diesem Zustand viel besser fortbewegen konnte, man spürte keine Müdigkeit. Auf dem Weg nach Partas begegnete sie Bauern und Kriegerinnen. Jedesmal rief Emmi laut und fröhlich: »Guten Morgen, ihr Kurzschwanzaffen!« »Guten Morgen!« antworteten die Gegrüßten, schauten aber verwirrt umher. Dann gingen sie weiter, weil sie glaubten, sich geirrt zu haben. Der größte Spaß stand Emmi noch bevor. Kurz vor der Stadt waren mehrere hundert Kriegerinnen aufmarschiert und exerzierten. Emmi rief: »Das Ganze - halt!« Die Kriegerinnen blieben stehen. Die Anführerin, eine uralte Äffin, bekam einen Wutanfall. »Hier gilt mein Befehl!« brüllte sie. Emmi schrie: »Im Gleichschritt - marsch!« Sofort kam wieder Bewegung in die Truppe. Die Kriegerinnen setzten sich in Marsch. »Im Dauerlauf!« kommandierte Emmi. Bevor sich die alte Kurzschwanzäffin gefaßt hatte, stürmte ihre Truppe davon. »Halt!« brüllte sie, aber ihre Stimme ging im Getrappel der Marschierenden unter. Da rannte die alte Äffin wutschnaubend hinter der Truppe her, ohne sie jedoch einholen zu können. Emmi lachte laut und konnte sich kaum beruhigen. Einige Affen, die in der Nähe standen und die Szene beobachtet hatten, wurden von Emmis Lachen angesteckt. Am Ende wußte niemand mehr, wer zuerst gelacht hatte. Ein alter Affe, der mit einem Stock Papier auf dem Exerzierplatz auflas, sagte erschöpft: »Das macht Spaß, einmal richtig zu lachen. Ich habe seit dem Beginn des siebenten Ethanisch-Partasischen Krieges nicht mehr so gelacht.«
Emmi durchschritt ohne das geringste Angstgefühl den Gang im Stadtwall. Vor ihr breitete sich ein Zeltmeer aus. Die Zelte dienten als Wohnhäuser und als öffentliche Gebäude. Man erkannte das an den Aufschriften: Villa Guter Duft, Haus Sorgenlos und so weiter. An einem Zelt las Emmi: 4. Partasische Faulenschule. Diese Inschrift erweckte ihre Neugierde. Sie ging hinein. Man brauchte nur die dünnen Zeltwände ein wenig auseinanderzuschieben. Dreißig Affenjungen wurden von einer Lehrerin unterrichtet. Die Affenjungen schrieben eifrig mit, was die Lehrerin sagte. »Die Rasse der Kurzschwanzaffen ist die überlegenste Affenrasse des gesamten Sterns«, erklärte die Lehrerin gerade. »Warum, Vincent?« Der Gefragte sprang auf und legte die Hände an die Naht der Leinenhose. »Die Kurzschwanzaffen sind allen überlegen, weil sie kurze Schwänze tragen.« »Gut, Vincent, das ist eine Eins«, sagte die Lehrerin und schrieb die Note in ein Buch. »In Partas sind alle Affen gleichberechtigt! Bitte, Geofry, erläutere das!« Geofry stand auf: »Ich finde, sie sind nicht gleichberechtigt. Mein Vater arbeitet den ganzen Tag im Steinbruch und bekommt nur sechs Tomaten täglich. Meine Mama dagegen kommandiert zehn Kriegerinnen und erhält dafür Glitzersteine, mit denen man dreißig Tomaten kaufen kann.« »Setzen!« sagte die Lehrerin. »Das ist eine Fünf! Merke dir, bei uns sind alle Kurzschwanzaffen gleich, sofern sie ein Kind zur Welt gebracht haben. Dein Vater hat das meines Wissens nicht getan, darum gehört er zu den Faulen. Aber bitte, er kann ja jederzeit beweisen, daß er ein Gleichberechtigter ist! Soll er doch ein Kind gebären.«
»Hören Sie mal, Sie dumme Ziege«, sagte Emmi. »Was Sie da sagen, ist Bockmist. Bockmist, verstehen Sie?« »Wer hat das gesagt?« Jetzt erst fiel Emmi ein, daß sie ja unsichtbar war. Sie hatte aber auch jede Lust verloren, in der Kurzschwanzaffenschule zu bleiben. So wie sie gekommen war, verschwand sie wieder, beim Rausgehen hörte sie noch den Wutausbruch der Lehrerin. Draußen auf der Straße sagte Emmi zu sich selbst: Schluß mit dem Spaß! Ernst, komm her! Wie finde ich nur diese Maimona? Sie wanderte durch die Straßen der Zeltstadt. Wenn ihr Kriegerinnen begegneten, rief sie laut: »Maimona!« Wenn niemand reagierte, ging sie weiter. Manchmal lauschte sie auch den Gesprächen der Kurzschwanzaffen. Sie erfuhr dadurch einiges über die Stimmung in der Stadt. Es gab Fanatikerinnen, die davon sprachen, alle Langschwanzaffen zu versklaven. Andere flüsterten von der Möglichkeit, Frieden mit den Langschwanzaffen zu schließen. Merkwürdig erschien Emmi, daß die Kurzschwanzaffenmänner überall als die Faulen bezeichnet wurden, obwohl sie sah, wie die Männer im Haushalt und auf den Feldern schufteten. Genauso merkwürdig fand sie die Kurzschwanzäffinnen, die überall den Männern Befehle erteilten, ohne selbst mitzuarbeiten. Sie nannten sich Dienerinnen. Auf einer Straßenbaustelle hörte sie die Aufseherin mit den Arbeitern schelten. »Unsereiner dient der heiligen Stadt Partas Tag und Nacht, indem er euch antreibt; und ihr Faulen verlangt für die Gnade, daß ihr schuften dürft, unverschämterweise immer mehr Tomaten und Grohmchen!« Eine verkehrte Welt, dachte Emmi. Am Nachmittag, nachdem sie vom ergebnislosen Suchen müde war, beschloß sie, in das große Zelt mit der Aufschrift Palast der Niedrigsten Dienerin zu schauen. Clawdila, so hieß
diese dicke Person, hockte auf einem Thron, der kunstvoll mit Glitzersteinen besetzt war. Dauernd traten Kriegerinnen oder Dienerinnen ins Zelt und meldeten die unterschiedlichsten Dinge, z.B.: Die Faulen in der Schneiderwerkstatt unserer Niedrigsten Dienerin weigern sich, ohne Mittagspause zu arbeiten. Clawdila sagte: »Dreißig Stockschläge auf den Allerwertesten werden sie zur Vernunft bringen!« Manche Dienerin verneigte sich lediglich und rief: »Ach, wie sehen unsere Niedrigste Dienerin wieder reizend aus.« Nach solchen Komplimenten schien Clawdila auf dem Thron einige Zentimeter größer zu werden. Emmi hätte ihr liebend gern gesagt, was sie von ihr hielt. Sie unterdrückte jedoch ihre Wut, weil sie sich rechtzeitig ihrer Aufgabe erinnerte. An Stelle
der Kriegerin am Eingang des Zeltes rief sie mit verstellter Stimme: »Hier kommt die Kriegerin Maimona mit einer wichtigen Meldung!« »Maimona?« sagte die dicke Clawdila. »Was will sie? Sie gehört doch zu den Wachtposten vor der Botschaft von Schlaragossa! Alberne Mädchen!« Emmi hüpfte vor Freude. Clawdilas Ärger interessierte sie nicht. Beim Verlassen des Palastzeltes konnte sie gerade noch einer Kriegerin ausweichen, die unangemeldet ins Zelt gerannt kam und schrie: »Der Rote Ringel ...« Weiter hörte Emmi nichts, weil sie möglichst schnell zur Botschaft von Schlaragossa wollte. Die Kinder im Nest schauten immer wieder zu den Zelten, ob nicht endlich Emmi auftauchte. Carola kam auf den Gedanken, daß Emmi vielleicht schon lange zurückgekehrt sei und unsichtbar in einer Ecke des Nestes schliefe. »Nein«, widersprach Stefan, »das würde Emmi niemals tun.« Etwas anderes beunruhigte die Kinder ebenfalls: Aus der Richtung des Feuerflusses drang dumpfes Grollen. Die Rauchschwaden verdichteten sich. Und Hanibals Pillen, die den Hustenreiz unterdrückten, gingen langsam zur Neige. In der Mittagszeit entdeckte Willi: Der Rote Ringel war über das Ufer getreten! Die Flut näherte sich schnell, die Tomatenpflanzungen, Büsche und Moos gingen in Flammen auf! Panik erfaßte Stefan: »Los, laßt uns laufen!« schrie er. »Der Rote Ringel greift nach uns!« Er wollte davonrennen. Willi hielt ihn zurück. »Wenn wir fliehen, dann geordnet«, sagte er. Die anderen waren ebenfalls der Meinung. Wahrscheinlich würden die Fluten nicht das Nest erreichen. Es konnte jedoch lange dauern, bis sich der Fluß wieder zurückzog. Vielleicht blieb dieses Gebiet gar auf Dauer überflutet. Darum
wollten sie, trotz ihrer Furcht vor den Kurzschwanzaffen, auf die Stadt zugehen. Nach kurzem Marsch erreichten sie die ersten Arbeitskolonnen der Kurzschwanzaffen; alle hatten sich vor dieser Begegnung gefürchtet. Doch keiner nahm von den Glattaffen Notiz. Alle wollten nur schnell den Wall, der die Stadt umschloß, erreichen. Dort wurden die heranstürmenden Affen aufgehalten. Man händigte ihnen Geräte aus, mit denen sie die Wälle verstärken sollten. Das Kommando ging von den Dienerinnen aus. Aber niemand schien Anstoß zu nehmen, daß hier und dort auch einige der Faulen Anordnungen trafen. Den Kindern wurden ebenfalls Arbeitsgeräte in die Hände gedrückt. Sie sollten einen tiefen Graben ausheben. Emmi Winter war inzwischen zur Botschaft von Schlaragossa gerannt. Eine Wache stand vor dem Hause. War das Maimona? Emmi wollte sich wieder sichtbar machen. Sie nahm den Schleier vom Kopf und versuchte an nichts zu denken. Sie wollte wieder zu den sichtbaren Wesen gehören. »Guten Tag. Bist du Maimona?« Die Kriegerin sagte: »Aber ja doch!« und schaute sich verwundert um. Emmi versuchte noch einmal, an nichts zu denken. Wie zum Trotz überfielen sie immer neue Fragen. War es gut, daß hier die Frauen über die Männer herrschten? Wäre es umgekehrt besser? Emmi schüttelte den Kopf, um die Gedanken loszuwerden. Doch das half auch nichts. - Warum führten diese Affen dauernd Krieg, statt genügend Tomaten und Grohmchen anzubauen, damit alle satt zu essen hatten? - Emmi merkte mit Schrecken, daß sie die Fähigkeit verloren hatte, an nichts zu
denken. Egal, dachte sie, irgendwie werde ich es schon wieder schaffen. »Hör zu, Maimona«, sagte sie. »Du brauchst nicht herumzugucken, ich bin unsichtbar.« Maimona warf entsetzt ihre Lanze zu Boden und wollte davonrennen. Emmi hielt sie jedoch fest. »Hör zu, meine Freunde und ich sollen dir eine Botschaft von Mark überbringen!« »Von Mark.« Maimona klatschte begeistert in die Hände und vergaß ihre Angst. »Wir sollen dir sagen, daß Mark dich am Südtor von Ogathrak erwartet.« »Ich eile sofort zu ihm«, sagte Maimona. Sie wollte losstürzen. »Unvorsichtiges Ding«, sagte Emmi, die sich im Augenblick sehr überlegen vorkam. »Du mußt deine Flucht gut vorbereiten, sonst erwischt dich diese Clawdila und läßt dir eine Tracht Prügel verabreichen!« »Prügel?« sagte Maimona. »Sie würde mich töten!« In diesem Augenblick rannten mehrere Kurzschwanzaffenkinder vorbei und riefen: »Feuer! Der Rote Ringel ist über die Ufer getreten!« »Oh«, sagte Maimona betroffen, »dann wird es noch lange dauern, bis ich Mark wiedersehe.« Am Wall vor der Stadt wurde mit ganzer Kraft gearbeitet. Die Feuerflut rückte unaufhaltsam näher. Hin und wieder hörte man kleine Explosionen, die von dumpfem Grollen begleitet waren. Manchmal schwappte die Flut einige Meter zurück, riß Steine und Boden mit sich und stürmte dann mit neuer Gewalt an. Inmitten des Feuermeeres blieben für kurze Zeit kleine Inseln aus Sand, Steinen und schwelendem Gebüsch stehen. Die Flammen griffen jedoch von allen Seiten an; leckten an den Er-
hebungen, bis sich in der Bodenkruste Risse zeigten und kurze Zeit später alles in den Fluten versank. Die Kinder dachten mit Schaudern, wie ihr Verbleiben im »Nest« geendet hätte. Die Hitzewelle war so stark, daß, lange bevor die Flut die Tomatenfelder erreicht hatte, die Früchte zu dampfen begannen, sich mit Blasen überzogen und platzten. Das Kraut fing an zu brennen. Durch die aufsteigende Hitze entstand starker Wind. Einer der Kurzschwanzaffen, der in letzter Minute ein vergessenes Arbeitsgerät retten wollte, wurde von den Flammen erfaßt. Seine Schreie gingen im allgemeinen Tumult unter. Zwar arbeiteten alle, so gut sie konnten, sogar die Kriegerinnen hatten die Lanzen mit Spaten und Hacken vertauscht, trotzdem gingen die Schanzarbeiten nur schleppend voran. Zu Hause hatte Carola häufig beobachtet, wie der Brigadier des Vaters die Arbeit beim Dachdecken einteilte. Sie erinnerte sich daran und erteilte den Kurzschwanzaffen Ratschläge, die zu ihrem Erstaunen befolgt wurden. Doch die Flut kam immer näher, so daß sich alle hinter den Wall zurückziehen mußten. »Wenn Emmi bei uns wäre, könnten wir die Stadt in Richtung Osten verlassen«, sagte Stefan. »Es wäre nicht gerade nett, die Stadt in der Not zu verlassen«, wandte Gudrun ein. Willi stieß Carola an: »Wir werden beobachtet!« Die Hände in die Hüften gestemmt, wurden sie schon eine ganze Weile von jener alten Kriegerin gemustert, der am Morgen durch Emmis Schabernack die Truppe davongelaufen war. »Statt uns anzustarren, solltest du die Zelte nahe dem Wall wegreißen lassen. Sonst beginnen sie zu brennen und zünden noch andere Behausungen an«, sagte Willi.
Die alte Kriegerin geriet derartig in Wut, daß ihr Federpuschel, den sie als Zeichen ihrer Würde auf dem Kopfe trug, zitterte. »Wie kannst du es wagen, Fauler, mir Ratschläge zu erteilen!« Eine jüngere Kriegerin trat heran und redete auf die Alte ein: »Heldische Ilse, auch ich bin über die Frechheit des Faulen empört. Er hat ja, außer an den Füßen, nicht einmal richtiges Fell. Dennoch scheint mir dieser schwanzlose Glattaffe nicht ganz unrecht zu haben!« Eines der Zelte fing Feuer. Willi, Carola, Stefan und Gudrun rissen das brennende Zelt nieder und traten das Feuer aus. Erst jetzt bequemte sich die Ilse, den Befehl zum Abbau der anderen Zelte zu geben. Dabei ließ sie die Kinder nicht aus den Augen. »Ist es möglich«, rief sie der jüngeren Kriegerin zu, »daß diese Glattaffen von unseren Feinden geschickt wurden? Vielleicht sind sie an der Flut, an der Vernichtung eines Teiles unserer Ernte schuld?« »Heldische Ilse«, sagte die jüngere Kriegerin. »Nicht, daß ich vorlaut sein will. Aber vielleicht gibst du mir den Befehl, diese Fremden in Gewahrsam zu nehmen.« »Mir lag auf der Zunge, dir diesen Befehl zu erteilen«, sagte die Ilse. »Los, weg«, sagte Carola. Aber dazu war es zu spät. Die junge Kriegerin und zwei Kameradinnen richteten die Lanzen auf die Kinder. »Abteilung-marsch!« Die bedrohlichen Lanzen im Rücken, blieb den Kindern nichts anderes übrig, als zu gehen. Sie wurden in die Botschaft von Schlaragossa geführt. Im Keller des Hauses befand sich der Aufenthaltsraum für die Wache. Dort angekommen, warfen die Kriegerinnen die Lanzen auf die Erde und umarmten sich. Endlich sagte die Anführerin zu den
Kindern: »Ich bin Maimona, und das sind meine Freundinnen!« Die beiden stellten sich vor. Eine hieß Mäggi und die andere Jhördis. Sie plapperten drauflos, die Kinder konnten kaum folgen. »Wenn die Flut vorbei ist, gehen wir fort.« »Ja, wir ziehen in die Flammensümpfe.« »Vorher suchen wir uns aber einen Bräutigam unter den Langschwanzaffen aus.« »Wir werden statt der Uniformen prächtige Kleider tragen.« »Die Lippen schminken wir uns.« »Halt!« Unerwartet war Emmis Stimme zu hören. »Wenn ihr so albern seid, wird euch die dicke Clawdila erwischen, bevor ihr über den Roten Ringel seid!« »Emmi war den ganzen Weg dabei und hat uns vor Angst schwitzen lassen«, rief Stefan erbost. Carola sagte: »Emmi, findest du es nicht ein bißchen unbequem, dauernd unsichtbar zu sein. Laß dich mal wieder blicken!« Emmis Stimme klang betrübt: »Das würde ich ja gern, aber ich kann einfach nicht mehr an nichts denken!« »Arme Emmi!« sagte Carola mit falschem Mitleid. »Ihr könnt es euch hier gemütlich machen«, sagte Maimona. »Der Botschafter ist nicht zu Hause.«
Die merkwürdigen Handelswege nach Schlaragossa Die Kinder schliefen aus Angst, daß die Flammen doch die Stadt erreichen würden, unruhig. Am nächsten Morgen gingen sie in die höhergelegenen Räume der Botschaft. Von hier aus bot sich ein guter Ausblick über den Stadtwall auf die Tomaten-
felder. Die Flut war schon zurückgegangen. Bei den Kurzschwanzaffenmädchen herrschte Zuversicht. Bald würde sich der Rote Ringel wieder mit dem alten Bett begnügen. Dann brauchten sie nur noch abzuwarten, bis der Boden wieder erkaltet war, um die Flucht anzutreten. Die Kinder erfuhren, daß sich diese Katastrophen in den letzten Jahren gehäuft hatten. Doch zum ersten Mal waren die Flammen bis zum Stadtwall gekommen. Man hatte längst einen Deich bauen wollen. Kriege hatten den Bau verhindert, und dem Stadtstaat fehlten Geld und Mittel. Einige Kurzschwanzaffen hatten prophezeit, daß eines Tages der gesamte Affenstern brennen würde. Diese Affen waren von Clawdila in die Glitzersteinminen unter Tage verbannt worden. Die Kinder wunderten sich, daß die Räume der Botschaft so ähnlich eingerichtet waren wie die Häuser auf der Erde. Jhördis, die schnell ins Schwärmen kam, schilderte ihnen, wie unendlich reich die Affen in Schlaragossa seien. Sie selbst würde gern in Schlaragossa leben. Dort besäßen die Frauen unzählige Haarspangen in allen Farben. »Warum gehst du nicht nach Schlaragossa?« wollte die unsichtbare Emmi wissen. »Nach Schlaragossa kann man nicht gehen«, antwortete Mäggi. »Schlaragossa ist nur über den Viadukt zu erreichen. Und er wird bewacht.« »Und außerdem ist Schlaragossa durch eine unsichtbare Mauer geschützt!« ergänzte Jhördis. »Es gibt nur eine Möglichkeit«, wußte Maimona zu berichten, »man muß dem Botschafter von Schlaragossa viele, viele Glitzersteine schenken, dann wird man eingelassen!« Die Kinder wollten versuchen, obwohl sie nicht einen Glitzerstein besaßen, den Botschafter zu überreden.
Am Nachmittag sagte ihnen Maimona, der Botschafter sei eingetroffen und halte sich für Audienzen bereit. Zunächst aber sei die Niedrigste Dienerin, die dicke Clawdila, bei ihm, um über neue Steinschleuderlieferungen zu verhandeln. »Und womit will sie bezahlen?« fragte Gudrun. »Jetzt, wo ein Teil eurer Ernte vom Roten Ringel gefressen wurde.« »Wahrscheinlich mit Glitzersteinen«, sagte Maimona. Nach einer guten Weile wurden sie beim Botschafter vorgelassen. Es war wieder Herr von Loyola, den sie schon in Ethan gesehen hatten. Der Botschafter erkannte sie ebenfalls und verbeugte sich: »Schlaragossa fühlt sich sehr geehrt, sehr geehrt! Darf man sich nach dem Befinden der Seligen erkundigen?« Stefan, der von seiner Mutter angehalten wurde, Erwachsene stets zuerst zu grüßen, bitte sehr und danke schön zu sagen, einen Diener zu machen, schien Carola geeignet, das Wort zu führen. Wirklich verbeugte sich Stefan vorbildlich. »Eure Exzellenz erlauben, daß wir Erdenbewohner es wagen, Ihnen eine Bitte vorzutragen«, sagte er. »Donnerwetter«, flüsterte Carola anerkennend. Der Botschafter sagte: »Ja, ja, das Wetter ...« Er nahm seine Brille ab und begann, sie ausgiebig zu putzen. »Auch in Ethan hat die Flut große Schäden verursacht.« »Wir möchten nach Schlaragossa, wegen einer Blume«, sagte Stefan. »Weiterhin guten Aufenthalt. Es hat mich sehr gefreut. Beehren Sie mich wieder.« Der Botschafter stand auf und wollte unter Verbeugungen den Salon verlassen. »Wahrscheinlich ist er wirklich stocktaub«, sagte Emmi ungeniert. »Habgierig ist er jedenfalls nicht. Von Glitzersteinen hat er nichts gesagt.«
Der Botschafter blieb in der Tür stehen. »Da fällt mir eine Volksweisheit unseres Landes ein: Tausendmal lächeln wiegt keinen Glitzerstein auf. Ist das nicht niedlich?« »Wir haben keine Glitzersteine«, sagte Willi laut. »Guten Tag!« Die Tür schloß sich hinter dem Diplomaten. In der Wachstube erzählten die Kinder den Affenmädchen von der Unterhaltung. »Er versteht nur ein Wort«, sagte Maimona, »Glitzersteine!« Nach Einbruch der Dunkelheit verabschiedeten sich die Kinder von Maimona und ihren Freundinnen. Sie wünschten sich gegenseitig einen guten Weg. Die drei Mädchen hatten beschlossen, noch in dieser Nacht den Roten Ringel zu überqueren. Nicht ohne Grund fürchteten sie, daß sich die alte Äffin, nachdem die Katastrophe vorüber war, an die Glattaffen erinnern würde. Wenn man sie dann nicht in Gewahrsam fände, hätte das böse Folgen für alle. Die Expedition Huflattich wollte die einzige Chance wahrnehmen, um Schlaragossa zu erreichen. Unbeobachtet gelang es ihnen, die Stadt in nördlicher Richtung zu verlassen. Die Straße, die auf der Karte verzeichnet war, schien seit langem unbenutzt. An manchen Stellen war sie völlig von Unkraut und Moos bedeckt. Stefan sah immer wieder zweifelnd auf Hanibals Karte. Schlaragossa und Partas trieben Handel. Irgendwie mußten die Waren doch hin und her transportiert werden. Gab es eine Straße, die auf der Karte nicht verzeichnet war? Um nach Schlaragossa zu gelangen, mußte man ein Tal des FuegoGebirges passieren. Eine andere Straße wäre nur über die Berge möglich. Und diese Straße hätte viele hundert Brücken benötigt, um die feurigen Bäche und Rinnsale, die talwärts strömten und sich in den Roten Ringel ergossen, zu überspannen.
Es blieb den Kindern nichts anderes übrig, als die alte Straße weiterzumarschieren. Zu Beginn des Tales mündete sie in den Viadukt von Partas. Der Viadukt bestand aus mehreren, aufeinandergebauten steinernen Brücken. Die Kinder näherten sich vorsichtig dem Viadukt. Emmi war vorausgeeilt und brachte die gute Nachricht mit, daß keine Wachen weit und breit zu sehen waren. Beim Näherkommen entdeckten die Kinder längs der Straße Stangen, auf denen große leuchtende Glaskörper angebracht waren. Darunter befanden sich Trichter, die an Lautsprecher erinnerten. Plötzlich erklang eine Stimme: »Zurück!« Das Echo brach das Wort und mischte die Silben zu einem unheimlichen Kauderwelsch. Die Kinder blieben stehen. Als die Stimme wieder erschallte, kehrten sie um. In einiger Entfernung berieten sie. »Die Glaskörper sind so etwas Ähnliches wie Fernsehkameras«, sagte Willi. »Sie sind genau auf die Straße gerichtet. Wir müssen eine Möglichkeit finden, sie zu umgehen.« »Bloß wie?« Alle schauten in Richtung des Viadukts und suchten nach Möglichkeiten, an den Glasaugen vorbeizukommen. Auf einmal wandte sich ein Glaskörper ab. Kurze Zeit später drehte sich der nächste. »Emmi?« sagte Carola. »Findet ihr nicht auch, unsichtbar ist unsere Emmi ausgesprochen nützlich!« Erst jetzt begriffen die anderen, wer die Glasaugen weggedreht hatte. Unbehelligt betraten sie nun den Viadukt. Stefan war der letzte, der Bedenken äußerte. »Vielleicht kracht das Bauwerk zusammen, wenn wir ohne Erlaubnis hinübergehen.« Die Riesenbrücke war mehrere Kilometer lang. Unter ihnen rauschten und schäumten die glühenden Zuflüsse des Roten
Ringels. Wenn sie in die Flammen schauten, waren die Kinder so geblendet, daß sie auf der vernachlässigten Straße stolperten. Schließlich gelangten sie wohlbehalten am Ende des Viaduktes an. Weiter ging es in Richtung Schlaragossa. Obwohl die Entfernung bis zur Stadtgrenze der Karte nach nicht weit war, konnten sie noch keine Vorboten der Großstadt erkennen. Der Wind drückte den Rauch des brennenden Gebirges ins Tal und versperrte die Sicht. Die unsichtbare Emmi ging als Späher voraus. In bestimmten Abständen rief sie: »Weiter, weiter ..., keine Gefahr.« Zuerst fühlte Carola, wie sie mit den Zehen gegen etwas Festes stieß, dann prallte sie mit dem Kopf gegen einen harten Gegenstand, obwohl sie kein Hindernis sah. »Laß den Quatsch, Emmi«, brüllte sie. Nun begannen auch Stefan, Gudrun und Willi zu schimpfen. Sie bildeten sich ein, Emmi hielte sie zurück. Doch ganz in der Ferne hörten sie Emmis Stimme: »Weiter, weiter . . . keine Gefahr!« »Das ist die unsichtbare Mauer«, sagte Willi. »Wo bleibt ihr nur?« rief Emmi. Die vier gingen einige Schritte zurück, kreuzten die Arme über der Brust und rannten auf Carolas Kommando gemeinsam gegen das unsichtbare Hindernis an. Das Ergebnis war entmutigend. Sie kamen nicht einen Schritt weiter als vorher, stießen sich aber schmerzhaft. »Warum kommt ihr denn nicht, zum Teufel?« sagte Emmi in ihrer Nähe. »Warum wohl ...« Emmi hatte nichts von der unsichtbaren Mauer bemerkt. »Es muß noch eine andere Straße geben«, beharrte Stefan, als er erneut die Karte betrachtete. »Nach rechts sind die Berge
zu steil, aber wie wäre es, wenn wir sie links suchen würden!« »Siehst du nicht, daß die Berge brennen?« rief Carola wütend. »Sie brennen nur stellenweise.« »Los«, sagte Willi, »tasten wir uns nach links, immer die Mauer entlang. Vielleicht stoßen wir auf deine Straße.« »Mit Sichtbaren wie euch hat man nichts als Ärger!« ließ sich Emmi vernehmen. »Für euch ist sogar eine unsichtbare Mauer unüberwindlich.« Die unsichtbare Mauer führte bergauf und bergab. Nach einer anstrengenden Klettertour erreichten die Kinder die Feuergrenze. Es gab kein Weiterkommen mehr. »Au, Mann, hätte ich bloß nicht auf dich gehört«, sagte Carola zu Stefan und ließ sich auf das Gestein sinken. »Na ja!« sagte Stefan schuldbewußt und setzte sich ebenfalls. »Übernachten wir hier«, meinte Willi. Sie hatten Hunger und waren todmüde. Emmi schnarchte schon laut. Als sich der Morgen unter der dichten, niedrigen Wolkendecke durch einen dämmrigen Schimmer bemerkbar machte, weckte Stefan alle. »Hört ihr das?« flüsterte er ängstlich. Sie vernahmen über sich ein leises Klirren. Außerdem war die Luft von einem Summen erfüllt. Carola rannte hin und her. Das Summen und Klirren war an der einen Stelle lauter, an der anderen leiser. »Los, mir nach!« sagte die unsichtbare Emmi. »Hierher, hierher ...« Sie gingen ihrer Stimme nach. Die Geräusche wurden ein wenig lauter. »Ich werde verrückt«, sagte Carola. »Hier ist ein Hochspannungsmast!«
Das riesige Eisengestell verjüngte sich nach oben. Die Spitze ragte in die Wolken hinein. Eindeutig stellten sie fest, daß die Geräusche von diesem Mast kamen. Carola entdeckte eine Leiter und kletterte hoch. »Wenn das eine Starkstromleitung ist, haben wir dich zum letzten Mal gesehen«, sagte Willi. »Wartet nur, ihr werdet mich bald wiederhaben«, sagte Carola und stieg unverdrossen weiter. Sie entschwand in den Rauchwolken. Aber schon kurze Zeit später kam sie im Eiltempo runter. Auf halber Höhe stammelte sie aufgeregt: »Los, mir nach! Ihr habt keine Ahnung ...« Und schon kletterte sie erneut hinauf.
Bis auf Stefan beeilten sich alle, ebenfalls die Himmelsleiter zu erklimmen. Das Summen und Klirren wurde lauter, je höher sie kamen. Am oberen Ende des Mastes erstreckten sich nach rechts und nach links Ausleger, die je ein Stahlseil hielten, das über Rollen geleitet wurde. Aus dem Dunst schwebte etwas heran. Die Umrisse wurden schnell deutlich. »Mensch, das ist eine Seilbahn!« schrie Willi begeistert. Die Lore glitt zum Greifen nahe an ihnen vorüber und verschwand wieder im Dunst. Stefan hatte die Ladung erkannt - Grohmchen. Loren, die in Richtung Partas schwebten, waren mit Lanzen und Steinschleudern beladen. Sie hatten die geheimnisvolle Handelsstraße nach Schlaragossa entdeckt! »Versteckt euch!« rief Carola. Aus dem Rauch glitt eine Personenkabine aus Partas heran. Stefan, Gudrun, Willi und Carola kletterten eilig einige Sprossen tiefer. Als sie vorüber war, sagte Emmi: »In diesem Ding saß der Herr von Loyola.« »Los«, sagte Carola, »wir fahren auch mit!« Sie sprang zusammen mit Willi in die nächste Lore Richtung Schlaragossa. Gudrun und Emmi hatten es schwer, den zappligen Stefan in die übernächste zu zerren.
Gudrun rieb sich ihr Hinterteil. Sie war unsanft gefallen. »Der Botschafter von Schlaragossa fährt bestimmt weicher!« Stefan, der sich wieder gefaßt hatte, prüfte die Ladung. »Weicher bestimmt«, sagte er. »Aber unsere Sitze sind wertvoller, sie bestehen aus Glitzersteinen!« Carola und Willi hatten eine Ladung Tomaten erwischt. »Wenn wir ankommen, ist alles Catchup«, meinte Carola. Aber eigentlich hatte niemand Grund zum Klagen. Nach den langen Fußmärschen der letzten Wochen war das eine sehr gemütliche Fahrt. Bald lichtete sich der Rauchschleier. Sie hatten einen guten Blick über das unheimliche Bergland. Neben brennenden oder glühenden Bergmassiven gab es Stellen, auf denen Krüppelkiefern und Moose wuchsen. Die Seilbahn glitt ins Flachland. Links erblickten die Kinder eine zweite Seilbahn. Sie errieten, daß damit die Waren von Ethan nach Schlaragossa und umgekehrt transportiert wurden. Unter ihnen zerschnitt eine mehrspurige Straße die Landschaft. Vierrädrige, gläserne Vehikel, die an Autos erinnerten, sausten darauf entlang.
»Eindeutig eine Autobahn!« sagte Stefan. Fabrikgebäude tauchten auf. Schnurgerade Kanäle, in denen Flammen züngelten, führten von den Bergen in die Werkhallen. Stefan brauchte nicht lange nachzudenken, um zu erraten, daß die Affen diese Feuerflüsse als natürliche Energiequelle nutzten. Aus dem Dunst, der überall auf dem Affenstern herrschte, hoben sich die Silhouetten zwanzig- und dreißigstöckiger Häuser ab. Die Seilbahnloren hielten auf eine Halle zu, die offensichtlich einen Bahnhof darstellte. Es war leicht, abzuspringen, weil die Loren in geringer Höhe über dem Boden dahinglitten. Stefan sprang rückwärts ab und fiel der Länge nach hin. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, musterte ihn Carola mitleidig. Seine prallgefüllten Hosentaschen standen merkwürdig ab. »Die Steine hättest du dir nicht einstecken sollen. Wirst dir die Hosen zerreißen!« Stefan grinste schadenfroh. »Ich habe mich nicht auf die Tomaten gesetzt!« Von Carolas und Willis Hosenboden kleckerte bei jedem Schritt Tomatenbrei.
Der Gestern Schlaragossa war die eindrucksvollste Stadt des Affensterns, die die Expedition Huflattich kennenlernte. Ein nichtabreißender Strom vierrädriger Vehikel aus Glas bewegte sich in Richtung des Stadtzentrums. Die Kinder gingen am Rande der Straße. Je näher sie dem Häusermeer kamen, desto mehr staute sich der Verkehr. Am Anfang hatten sie die Affen in den Vehikeln beneidet. Später kamen sie schneller voran als diese.
Die Fassaden der hohen Häuser des Zentrums waren aus Glas. Man konnte die Affen in den Büros bei der Arbeit oder in den Kaufhäusern beim Einkauf beobachten. Auf den Dächern und an den Hauswänden prangten vielfältige Reklamen: Gebißtraining durch Kaubonbons, Patsch macht ALLES sauber! Das Trinkwasser ist tot - es lebe Carolussaft! Einige Reklamen kamen den Kindern regelrecht verrückt vor: Verschwenden macht frei! Schmeiß täglich alles weg! Oder: Stündlich - frische Möbel! In Schlaragossa hasteten die Leute aneinander vorüber, ohne sich anzusehen. Eigentlich waren die Kinder müde, aber die Neugierde trieb sie ins Getümmel der großen Stadt. Auf den Bürgersteigen der Innenstadt drängten sich gutgekleidete Schlaragossaner von Schaufenster zu Schaufenster, in denen Waren aller Art zu besichtigen waren. Die Eingänge der Warenhäuser glichen großen Mäulern, die die Passanten einsogen. Kaum war man eingetreten, wurde man über Lautsprecher und durch Leuchtschriften mit Angeboten aller Art regelrecht überfallen.
Viele der Waren gab es auf der Erde nicht. So wurde eine Gesichtsbügelmaschine angepriesen, und wozu eine Nervenkitzelmaschine diente, konnten sich die Kinder nicht vorstellen. Emmi, die noch immer unsichtbar mitschlenderte, überredete ihre Kameraden zum Besuch einer Kinovorstellung. Den Werbefotos nach wurde ein Cowboyfilm gezeigt. Jetzt war es an Stefan, zu triumphieren. Er war der einzige Zahlungsfähige, denn in seinen Hosentaschen befanden sich Glitzersteine. Der Film unterschied sich von den Cowboyfilmen der Erde nur dadurch, daß die Cowboys von Affen gespielt wurden. Statt der Pferde benutzten sie ihre Vehikel. Nach der Vorstellung, wieder im Freien, bemerkte Stefan als erster, daß Emmi sichtbar geworden war. Der Film hatte sie befähigt, eine Weile an nichts zu denken. Sie selbst schien darüber am wenigsten glücklich zu sein. Gudrun ließ sich von der einladenden Reklame des Hotels Schlaragossa-Imperial fesseln. »Ich möchte endlich wieder mal in einem richtigen Bett schlafen«, sagte sie. Einmütig steuerten alle auf das riesige Gebäude zu und verlangten Zimmer.
»Es ist noch zu früh«, sagte ein Affe in grüner Livree. »Ihr müßt ein wenig warten, bis die Zimmereinrichtungen weggeworfen und die neuen aufgestellt sind!« »Oh, das ist nicht notwendig«, sagte Gudrun, »die Hauptsache, ein Bett ...« Der Portier musterte die fünf mißtrauisch. »Wir sind keine Absteige für Nichtse«, sagte er würdevoll. »Kommt in einer Stunde wieder! Der Frühstückssaal ist übrigens geöffnet!« Hunger hatten alle. Darum folgten sie dem Rat. Kaum hatten sie in dem prunkvollen Saal Platz genommen, schob der Boy einen großen, gläsernen Wagen, der mit Nahrungsmitteln beladen war, an ihren Tisch. Die Kinder kosteten von allem. Die Speisen bestanden aus achteckigen Würfeln verschiedener Farbe. Einige Würfel schmeckten nach gebratenem Huhn, andere nach Fisch, Honig, Rührei, Marmeladenstullen und so weiter. Nachdem sie sich richtig satt gegessen hatten, standen auch die Zimmer für sie bereit. Jeder bekam ein Appartement, das aus Wohn-, Schlaf- und Arbeitszimmer bestand. Die Möbel und Teppiche in den Zimmern rochen neu. Wenn mich jetzt meine große Schwester sehen würde, dachte Emmi. Die Matratzen waren so weich, daß man glaubte, man sei auf Schaum gebettet. Leider durften die Kinder nicht so lange schlafen, wie sie wollten. Schon nach einigen Stunden wurden sie vom Hotelpersonal geweckt, weil die Zimmereinrichtung ausgewechselt werden sollte. »Aber die Möbel sind doch neu«, empörte sich Gudrun. »Neu?« antwortete ein Hotelangestellter. »Sie sind mindestens drei Stunden alt!« Als der Angestellte gegangen war, sagte einer der beiden Möbelträger: »Ihr kommt wohl von weit her?«
Die Kinder bejahten das. Da setzten die beiden den Schrank wieder ab, den sie gerade auf den Hof werfen wollten. Sie unterschieden sich von den vielen Affen, denen die Kinder in den Straßen begegnet waren. Die Möbelträger trugen keine bunte, auffällige Kleidung. »Dann will ich euch warnen«, sagte ein Affe. »In Schlaragossa ist nur angesehen, wer täglich Kleidungsstücke, Möbel und überhaupt alles wegwirft! Wer seine Kleider länger als eine Woche trägt, macht sich strafbar!« Der andere knurrte seinen Arbeitskollegen an: »Los, weitermachen, Marcel. Was gehen dich diese Fremden an!« »Man muß sie schließlich warnen«, gab Marcel zurück. Carola fragte spitz: »Und ihr wechselt also auch wöchentlich, was?« »Wir sind Nichtse«, sagte Marcel. »Die Nichtse besitzen nichts und können sich deshalb nicht strafbar machen. Die Glitzersteinchen, die wir verdienen, reichen gerade für Grohmchen, und wir begnügen uns mit unserem Fellkleid.« »Los, los, Marcel«, schrie der andere wieder. Sie packten den Schrank und warfen ihn aus dem Fenster. Er landete mit lautem Krach im Hof. »Und wo kommt der Müll hin?« fragte Willi beeindruckt. »Wenn alle Leute alles immerzu wegwerfen, müßt ihr doch im Abfall ersticken?« Marcel lächelte über soviel Unwissenheit. Er deutete aus dem Fenster. »Seht ihr in der Ferne den Berg?« Im Norden der Stadt erhob sich ein gewaltiger Berg, dessen Gipfel im Dunst und Rauch verschwand. »Das ist der Gestern! Das gewaltigste Bauwerk unserer Zeit! Der ganze Müll der Stadt Schlaragossa wird durch den >Strom des Vergessens< dorthin transportiert und auf den Gipfel geschleudert.«
»Komm, wir werden nicht für das Erzählen bezahlt«, sagte der andere. Sie trotteten in das Nebenzimmer und warfen dort die Möbel aus dem Fenster. »Au, Mann«, sagte Carola, »ich glaube, hier sind alle verrückt!« Stefan klopfte sich wohlgefällig auf die prallgefüllten Hosentaschen. »Solange ich Glitzersteine habe, geht's mir gut!« »Du besitzt Glitzersteine?« entgegnete Carola. »Ich dachte, wir besitzen Glitzersteine!« Der Pförtner des Hotels hatte jetzt statt einer grünen Livree eine rote an. »Die Mittagszeitungen sind bereits eingetroffen«, sagte er und reichte ihnen höflich lächelnd die Blätter. Die Kinder fläzten sich in der Hotelhalle und begannen in den Zeitungen zu lesen. In der Hauptsache bestanden die Texte aus irgendwelchen Werbesprüchen. »Kein Wort von der Erde!« sagte Gudrun empört. Carola rief: »Hört euch das an! Hier steht: Gestern genehmigte der Oberste Rat von Schlaragossa weitere Lieferungen von Waffen nach Partas. Nach wie vor werden die Partaner von den kriegerischen Langschwanzaffen bedroht ...« »Hier in meiner Zeitung steht was anderes«, sagte Willi. »Auf der gestrigen Ratssitzung informierte der Minister über die kriegerischen Aktivitäten des Staates Partas gegen das benachbarte Königreich der Langschwanzaffen. Schlaragossa sei neutral, erklärte der Minister, solange sich beide Staaten dem Rat Schlaragossas fügen.« Gudrun sprang auf. »Hört mal zu«, schrie sie. »Skandal um Blumenzüchter! - Wie bereits gestern gemeldet, hat der Tod des hundertelfjährigen Blumenzüchters Szabo Sensationelles offenbart. Szabo, der als der letzte Blumenzüchter des Affensterns galt und als angesehener Bürger geachtet wurde, hat über Jahre
die von seinen Eltern geerbten Möbel benutzt. Auf raffinierteste Weise täuschte er die Öffentlichkeit darüber, daß er nichts wegwarf, nichts verbrauchte und damit unserer Wirtschaft unermeßlichen Schaden zufügte. Sein Sohn Haldor - einundsiebzig Jahre - ist ein Nichts. Er soll einer geheimen Vereinigung angehören, die sich zum Ziel gesetzt hat, vor einer angeblichen Feuersgefahr für den Planeten zu warnen.« Emmi begann zu heulen. »Jetzt ist es aus mit uns. Wir kommen nie mehr zur Erde zurück!« »Moment, Moment«, sagte Willi. »Vielleicht gibt es eine Möglichkeit. Wir müssen diesen Haldor finden! Vielleicht besitzt er noch eine Blume.« »Wartet mal«, sagte Carola. Sie rannte zu den Fahrstühlen und fuhr in das Stockwerk, in dem sie gewohnt hatten. Am Poltern hörte sie, wo sich die beiden Möbelwegwerfer befanden. »He, Marcel«, sagte sie, »kennst du einen gewissen Haldor?« »Marcel, laß dich da nicht mit reinziehen«, sagte der andere. »Haldor?« Marcel schüttelte den Kopf. »Nie gehört!« Als Carola schon wieder am Fahrstuhl war, kam Marcel ihr einige Schritte nachgerannt: »Wartet in einer Stunde auf mich am Hinterausgang!« Marcel hielt Wort. Er kam zum verabredeten Zeitpunkt. »Los, ich führe euch«, sagte er. »Die meisten Nichtse kennen Haldor. Viele haben Angst, mit ihm zusammen gesehen zu werden.« »Warum?« »In Schlaragossa ist es oberster Grundsatz, gute Laune zu haben. Schlechtgelaunte Leute kaufen nichts! Die geheime Vereinigung von Haldor verbreitet schlechte Laune, weil sie vor einer Gefahr warnt, vor der Gefahr, daß unser Planet verbrennt. Die Berge brennen schon, die Flüsse fuhren siedendes Wasser, und die Flammensümpfe breiten sich aus.«
»Gehörst du auch dieser geheimen Vereinigung an?« wollte Emmi wissen, die sich stets für Geheimnisse interessierte. »Wenn ich dir das verriete, wäre es keine geheime Vereinigung mehr!« Er lachte ihr ins Gesicht. Emmi schmollte. Sie entfernten sich in nördlicher Richtung vom Zentrum. Zunächst durchquerten sie einen Vorort mit villenartigen Häusern. Hinter schmiedeeisernen Gittern erstreckten sich große Rasenflächen, die von Nichtsen mit dem Staubsauger bearbeitet wurden. Natürlich war es künstlicher Rasen. Die Häuser schienen den Ehrgeiz zu haben, an Märchenschlösser zu erinnern. Es gab große Säuleneingänge, gewundene Freitreppen und verzierte Türme. »Hier wohnen die angesehenen Bürger der Stadt«, sagte Marcel. Gerade trat aus einem der Häuser ein Mädchen mit weißer Schürze und warf ein Tablett Goldrandporzellan in einen Müllcontainer. Emmi war nicht mehr zu halten. Sie beugte sich über den Container und wollte das Geschirr retten. Marcel riß sie weiter. »Es ist verboten, etwas aus dem Müll zu nehmen!«
Nach einer Weile hörten die Häuser gänzlich auf. Eine riesige Fläche war mit ausgedienten gläsernen Vehikeln und Buden aus Kisten übersät. Hier herrschte reges Leben. Die Affen betrachteten die Expedition Huflattich neugierig. Carola vermutete richtig, daß man sie für wohlhabend hielt, weil sie Kleidung trugen, während sich die Einwohner der Kistenstadt mit ihrem Fellkleid begnügen mußten.
Schließlich zeigte Marcel auf eine elende Bude, vor der ein Affe, mit einer Zeitung zugedeckt, lag. »Haldor, der Sohn des Blumenzüchters Szabo«, flüsterte er. Die Kinder traten vorsichtig heran. »Seid mir gegrüßt, ihr Glattaffen«, sagte der Affe mit geschlossenen Augen. »Ich habe euch schon erwartet!« »Wie ist das möglich?« rief Carola. »Ihr wurdet mir durch den Brief eines gewissen Hermes gemeldet!« »Hermes!« riefen die Kinder wie aus einem Mund. Haldor richtete sich auf.
»Die schwarzen Vögel warfen ihn ab. Seit einer Woche warte ich auf euch!« »Es geht darum ...«, sagte Stefan. »Weiß schon, weiß schon ...«, winkte Haldor ab. »Der einzige Affe, der euch helfen könnte, war mein. Vater. Aber leider ist er tot. Er besaß viele Sorten Blumensamen, die er in einem Fächerschränkchen aufbewahrte. Nach seinem Tode wurde das Schränkchen entdeckt und auf den Berg Gestern gefahren. Hoch oben wird es liegen ...« Die Kinder schwiegen entmutigt. Haldor tuschelte mit Marcel. »Ich möchte euch etwas fragen«, sagte Haldor. »Liebt ihr euren Stern so, daß ihr, um ihn wiederzusehen, euer Leben wagen würdet?« Wieder schwiegen die Kinder. Noch nie hatte ihnen jemand eine derartige Frage gestellt. »Wenn's nicht anders geht«, sagte Carola. Willi stimmte ihr durch ein langgezogenes Naja zu. Emmi meinte: »Wenn Totsein so ähnlich wie Unsichtbarsein ist ...« Gudrun, die meistens die Ruhe bewahrte, stieß hervor: »Ich wollte schon oft tot sein wegen meiner Eltern. Ich dachte auch, die Erde sei der scheußlichste Stern, den es gibt. Aber jetzt, jetzt möchte ich doch leben, aber auf der Erde!« Und Stefan sagte: »Habt ihr vergessen, wie oft wir hier auf dem Affenstern schon in Lebensgefahr waren. Ich glaube, auf diesem Planeten schwebt man ständig zwischen Leben und Tod.« Haldor nickte. »Wenn ihr euch einig seid, solltet ihr aufbrechen und den Berg Gestern besteigen. Darauf steht Todesstrafe. Vielleicht findet ihr den alten Fächerschrank in der Nähe des
Gipfels. Es ist eine vage Hoffnung, und vielleicht sind aus den Samen Blumen gewachsen. Allerdings müßt ihr sofort aufbrechen. Marcel wird euch bis zum >Strom der vergangenen Zeit< bringen. Ihr müßt euch bis zum Berg treiben lassen. Und heute noch, gleich nach dem Dunkelwerden, müßt ihr den Aufstieg beginnen! Morgen ist Feiertag, und die gewaltige Schleuder ruht. Schon übermorgen früh müßt ihr den Berg wieder verlassen haben, sonst werdet ihr unter dem Abfall der Stadt Schlaragossa begraben.« Die Kinder reichten Haldor die Hände und bedankten sich. »Grüßt mir Hanibal und richtet ihm aus: Ich habe beschlossen, meine Augen erst wieder zu öffnen, wenn ich hinter das Geheimnis unseres Sterns gekommen bin.« Bis jetzt hatten die Kinder angenommen, Haldor sei blind. »Wie kann man hinter ein Geheimnis kommen, wenn man mit geschlossenen Augen herumläuft?« sagte Carola. »Seid ihr schon dahintergekommen?« »Nein.« »Dabei habt ihr die Augen doch offen.« Haldor lächelte, weil die Kinder ihm nichts entgegnen konnten. Von einer neugierigen Horde Affenkinder begleitet, gingen sie unter Marcels Führung den Weg bis zum Fluß. In der Ferne sahen sie, wie eine riesige »Schlange« auf den Berg zukroch. Aus der Nähe erkannten sie, daß es ein endlos langes Band war, das die unterschiedlichsten Dinge zum Müllberg beförderte. »Das ist der >Strom des Vergessens<«, sagte Marcel. »Springt auf!« Das Band bewegte sich so langsam, daß es kein Problem war, aufzuspringen. Marcel ließ sich ebenfalls ein Stückchen mittreiben.
»Versteckt euch gut, damit ihr den Kontrollen entgeht!« sagte er und sprang ab. Sie fanden keine Gelegenheit mehr, Marcel zu danken. Er lief davon und drehte sich auch nicht mehr um. »Na«, rief Gudrun, »seht euch das an!« Sie hob anklagend einen Stapel Schreibhefte empor, die nur auf den ersten Seiten beschrieben waren. Emmi packte schweigend ein weggeworfenes Paket Speisewürfel aus und begann, mit gutem Appetit zu essen. Carola stieß verächtlich mit dem Fuß an eine komplett eingerichtete Puppenstube. »Deckung«, brüllte Willi, der als erster eines der blauen Kontrollaugen sichtete, die ihnen schon am Viadukt von Partas zu schaffen gemacht hatten. »Kein Problem«, meinte Emmi und legte ihren Tarnschleier auf den Kopf. Sie blieb jedoch sichtbar. »Verdammt, warum muß ich auch dauernd über das Geheimnis des Affensterns nachdenken!« Sie warf den Schleier wütend weg. »Ihr seid Lumpen«, rief Stefan. »Was?« empörte sich Carola.
»Ich meine, ihr sollt tun, als wäret ihr Kleiderlumpen«, verbesserte sich Stefan. Die Dämmerung brach herein. Der Gestern rückte näher. Plötzlich wurde die Luft von einem Donnerschlag erfüllt. Etwas Dunkles schoß in die Höhe und verschwand im Dunst. In der Nähe des Berges ergoß sich die Flut des »Stroms der vergangenen Zeit« in einen Trichter. Die Kinder sprangen rechtzeitig ab. Hinter Büschen fanden sie notdürftig Deckung.
Sie beobachteten mehrere Affen, die mit Stangen in dem Trichter stocherten. Dann blies einer ins Signalhorn, und alle brachten sich eilig in Sicherheit. Kurz nach dem zweiten Ton gab es einen lauten Knall. Die Ladung aus dem riesigen Mülltrichter wurde auf den Berg geschossen. Die Affen kamen aus ihren Verstecken. »Das war heute der letzte Schuß«, sagte einer. »Übermorgen zielen wir wieder auf den Südhang.« »Schade«, sagte ein anderer. »Ich hätte mir gern diesen alten Fächerschrank angesehen.« Nachdem sie das Förderband angehalten hatten, gingen die Affen in Richtung Schlaragossa. »Szabos Schrank scheint noch nicht verschüttet zu sein!« sagte Carola. »Also los! Dann haben wir es hinter uns!« Sie begannen den Aufstieg. Es war eine sehr beschwerliche Tour. »Von wegen haben wir's hinter uns«, höhnte Emmi. »Wir müssen den ganzen Weg wieder zurück!« Die Kinder blieben erstarrt stehen. Bisher hatte niemand an den Rückweg, seine Mühen und Gefahren gedacht. »Alle gehen Onkel Willi nach«, brüllte Willi los. »Wenn wir erst lange grübeln, schaffen wir es nicht!« Er kletterte behende mit seinen behaarten Beinen über all den Plunder, der auf dem Weg lag. Gegen Mitternacht erreichten sie die Wolkendecke, die den Affenstern umhüllte. In der Ferne grüßten Lichter und Reklameschriften der Stadt Schlaragossa. Emmi warf sich hin. »Ich kann nicht mehr!« »Wir sollten ein oder zwei Stunden ausruhen«, schlug Willi vor. Niemand widersprach. Jeder suchte sich irgendein Plätzchen.
»Wir dürfen nicht einschlafen«, sagte Gudrun. »Schlaft ruhig«, sagte Stefan, »ich stelle den Wecker meiner Armbanduhr.« Carola spottete: »Geht doch nicht. Wenn wir uns nach deiner Superuhr richten, sind wir erst dreieinhalb Stunden von der Erde weg!« »Drei Stunden, sechsunddreißig Minuten, vier Sekunden«, sagte Stefan. »Wenn ich den Wecker so stelle, daß er in einer Minute klingelt, können wir ein paar Stunden schlafen!« Als Stefans Uhr die bekannte Melodie von den Beatles spielte, graute bereits der Morgen. Schnell verteilte Emmi einige Speisewürfel. Dann ging es weiter bergan. Sie kamen nur mühsam voran, weil ein ständiger Hustenreiz sie peinigte. Um sich in dem dichten Dunst nicht aus den Augen zu verlieren, kramte Carola eine lange Schnur aus der Hosentasche. Alle hielten sich daran fest. »Hier wächst nie eine Blume«, schimpfte Emmi laut. Es wurde heller und heller und der Wolkenschleier immer durchsichtiger. Carola, die die letzte war, hörte Willis verzückte Ausrufe. Er war als erster aus dem Wolkenschleier herausgetreten und sah zwei der drei Sonnen des Affensterns aufgehen. Die Kinder schauten gebannt auf dieses Naturschauspiel. Gudrun umarmte plötzlich Carola. Dann umarmten sich alle. Es waren höchstens noch fünfzig Meter bis zum Gipfel. Wie auf Kommando rannten alle los. Doch das letzte Stück war mit den Augen schneller erstiegen als mit den Beinen. Der Gipfel war abgeflacht und mit Dingen aller Art übersät. Es würde schwierig sein, Szabos Fächerschränkchen zu finden, falls es noch existierte. Carola teilte die Fläche auf. Jeder sollte einen Abschnitt genau absuchen.
Erst jetzt fielen ihnen fünf große Greifvögel auf, die dicht beieinander hockten und die Kinder beobachteten. Hermes hatte ihnen geschrieben, die Vögel sind gut, ließen sich aber für das Böse benutzen. Auf welcher Seite standen sie in diesem Moment? Erinnerten sie sich der Kinder, die sie von den Augenbinden und Waffen befreit hatten, oder standen sie wieder in König Auns Dienst? Ebenso war es möglich, daß die Herrschenden in Schlaragossa sich ihrer bedienten. Gudrun ging ohne jede Angst auf die Tiere zu und redete sie halblaut an: »He ihr, wollt ihr euch nicht nützlich machen? Könntet ihr uns nicht bei der Suche nach Szabos Fächerschrank helfen?« Ein Vogel stieß einen unheimlich krächzenden Schrei aus, den man sowohl als Zustimmung als auch als Warnung auslegen konnte. Da sich die Vögel aber nicht von der Stelle rührten, blieben die Kinder unentschlossen. »Keine Zeit verlieren!« kommandierte Willi. »Wir müssen suchen!« - Alle sahen ein, daß Willi recht hatte. Die Suche dauerte den ganzen Tag. Sie fanden auf dem Müllberg die schönsten und verrücktesten Dinge: Stahl- und Holzmöbel, Bettgestelle, Sofas, Großvater- und Rollstühle, Wiegen, Bücherschränke mit vorgetäuschten Büchern, Geldschränke, Truhen, Tische, Schemel, Kissen, Gardinen, Warmwasserspeicher, Bierseidel, Bratpfannen, Steppdecken, Teppiche, Windjakken, Ballkleider, Sombreros, Perücken, Kuckucksuhren, Staubsauger, Küchenmaschinen, Besen, Einwecktöpfe . . . Je näher die Nacht nahte, desto schneller wühlten die Kinder herum. Unter einem herrlichen Sternenhimmel hockten sie dann traurig beisammen. Alles schien verloren. Gudrun kullerten Tränen über die Wangen. Emmi heulte sogar laut. Vor Kummer schliefen sie ein.
Als die Sonnen wieder aufgingen, erwachten sie. Wie versteinert hockten die fünf Greifvögel noch immer auf ihren Plätzen und schienen ebenfalls traurig zu sein. Vom Tal her war ein Knall zu hören. Natürlich wußten alle, was das zu bedeuten hatte. Die große Müllkanone war wieder in Betrieb. Instinktiv verkrochen sie sich unter irgendwelchen Möbelstücken. Die Ladung prasselte in unmittelbarer Nähe der Vögel nieder. Doch sie blieben unbewegt sitzen. Gudrun rannte, von Angst getrieben, auf die Tiere zu. »Rettet uns! Rettet uns!« schrie sie. Auf einmal blieb sie stehen und winkte den anderen. »Los, hierher! Beeilt euch!« Sie winkte wie eine Irrsinnige. Fünf Augenpaare starrten wie hypnotisiert auf die Tiere. Zwischen den Krallen eines Vogels sprossen Stiefmütterchen. Herrliche Stiefmütterchen, Vater Huflattich hätte seine Freude ge-
habt. Beim genaueren Hinsehen erkannten sie, warum sie Szabos Fächerschrank bisher nicht gefunden hatten. Zwei Vögel saßen darauf. Der kleine Schrank war auseinandergebrochen. Gudrun schob den Vogel vorsichtig zur Seite. Die Stiefmütterchen steckten in einem Topf, der denen glich, die man auf der Erde für Blumen verwendete. »Wir müssen weg!« drängte Emmi. Schon rumorte es wieder im Tal. Die Vögel begannen, wild mit den Flügeln zu schlagen. Gudrun drückte den Stiefmütterchentopf fest an sich. Mit einem Ruck flogen die Vögel auf, jeder packte eines der Kinder. Sie stiegen steil in die Höhe. Stefan Wedekinds Hosen fingen an zu rutschen. Zögernd nahm er einen Glitzerstein nach dem anderen aus der Tasche und ließ ihn fallen.
Was wir erlebt haben, kann uns keiner nehmen! Man kann nicht behaupten, daß die Mitglieder der Expedition Huflattich besonders glücklich aussahen, als sie, von den Greifvögeln festgehalten, dahinschwebten. Da die Greifvögel nicht sprechen konnten, blieb den Kindern unbekannt, in wessen Auftrag sie handelten. Erst als sie sich im Sturzflug durch die Wolkendecke fallen ließen und die Kistensiedlung von Schlaragossa in Sichtweite kam, ahnte Carola, wem sie ihre Rettung verdankten. Dort unten hockte der alte Haldor mit geschlossenen Augen und schien zu warten. Einer der Vögel stieß einen furchteinflößenden Schrei aus. Haldor sprang auf und winkte. Die Kinder winkten zurück, sie vermuteten, die Vögel würden landen. Doch sie setzten ihren Flug fort.
Bald sahen die Kinder das Geschäftszentrum von Schlaragossa unter sich. Eine Viertelstunde später entdeckten sie die Seilbahnen nach Partas und Ethan. Von der unsichtbaren Mauer spürten sie nichts, und niemand behelligte sie am Viadukt. Die Zeltstadt Partas wirkte wie ausgestorben. Etwas später wußten die Kinder den Grund dafür. Auf den Feldern von Partas - die Folgen der Überschwemmung waren noch zu erkennen - standen sich die Heere der beiden verfeindeten Städte im Kampf gegenüber. Viele Affen lagen tot auf dem Boden, Verletzte riefen nach Hilfe. Hier und da waren die Krieger ins Handgemenge geraten. Die dicke Clawdila und König Aun erteilten Befehle. Beim Anblick der Schlacht wurde Carola von furchtbarer Angst gepackt. Ihr war zumute, als würde sie von Lanzen durchbohrt. Instinktiv tastete sie nach dem Röhrchen mit dem grauen Pulver aus dem Schatz von Ogathrak. Sie schüttete das Pulver auf die Kämpfenden. Im selben Augenblick erstarrten alle auf dem Schlachtfeld. Dennoch wurde Carola nicht leichter ums Herz. Sie wußte, die Erstarrung würde sich wieder lösen. Und erneut griffe man zu den Waffen - alles ginge weiter: das Morden, das Leiden und das Sterben. Die Vögel überquerten den Feuerfluß. Die Bunkerstadt Ethan blieb rechter Hand liegen. Vor ihnen tauchten die Ruinen der Stadt Ogathrak auf. Dann überflogen sie die Flammensümpfe. In der Nähe von Thilos Haus löschten Affen das Feuer. Beim Näherkommen erkannte Gudrun Mark und Maimona. Auch Mäggy und Jhördis mit ihren Freunden hatten sich Thilos Gruppe angeschlossen. Emmi brüllte abwechselnd ihre Namen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »He«, sagte Stefan, »die kennen dich nicht. Du warst doch unsichtbar!«
Beim Überfliegen der Felsen pfiff Emmi eine Melodie und bekam Antwort. - Hermes hatte sie von den Büßerklippen aus verstanden. Er wünscht euch alles Gute, übersetzte sie. Es schien, als würden die Vögel aus Furcht vor der Ebene der toten Bäume höher steigen. Die Flut umspülte die gewaltigen Stämme des abgestorbenen Waldes. Die Greifvögel landeten vor dem Eingang zu Hanibals Baumhaus. Als hätte er sie erwartet, stürzte der freundliche Alte mit einer Schüssel Grohmchen aus der Tür und begann, ohne einen Blick für die Kinder zu haben, die Greifvögel zu füttern. Sie hackten gierig nach der Nahrung, stießen sich gegenseitig weg. Hanibal hatte zu tun, sich der Vögel zu erwehren. »Bleibt ruhig, meine Guten! Ihr bekommt alle ausreichend zu fressen!« Endlich waren die Vögel gesättigt. »Herzlich willkommen«, sagte Hanibal zu den Kindern, während die Vögel erschöpft ihre Köpfe unter die Federn steckten. »Verzeiht, aber ich mußte zuerst die Vögel füttern, sonst wären sie vor Überanstrengung krank geworden.« Die Kinder begrüßten Hanibal wie einen alten Bekannten. Er bat sie in das Haus und setzte ihnen ebenfalls Grohmchen vor. Schon während der Mahlzeit begannen die Kinder, von ihren Erlebnissen zu erzählen. Sie wechselten sich ab und korrigierten einander. Es kam vor, daß sich Carola oder Emmi besonders herausstreichen wollten. Das ließen die anderen nicht zu. Ab und an nickte Hanibal. Manchmal fragte er, um den Hergang genauer zu erfahren. Als die Rede auf den blauen Stein kam, lachte er triumphierend. »Man hat mich zwar hierher verbannt, aber man konnte nicht verhindern, daß ich mit einigen Freunden in Kontakt blieb. Kabu schickte mir den Stein durch einen Greifvogel, als der Überfall auf Ogathrak begann. Leider konnte er mir nicht den gesamten Schatz schicken, weil dazu keine Zeit
mehr war. Aber wie ich höre, hat er einen anderen Ausweg gefunden!« »Nein«, sagte Gudrun sehr ernst, »er hat's im Kopfe. Es war Zufall, daß die Zauberdinge nicht in falsche Hände gerieten!« Hanibal schüttelte den Kopf. »Ich kenne Kabu. Er ist listig. Durch den blauen Stein, den ihr bei euch hattet, wußte er, daß wir uns begegnet sind. Wahrscheinlich wurde er von Auns Leuten verfolgt. Es schien ihm am sichersten, euch den Schatz zu übergeben, ohne daß ihr wußtet, was ihr da mit euch herumtragt.« »Ja, das glaubte auch Mark«, sagte Willi. »Bestimmt hoffte Kabu, wir würden dir den Schatz übergeben. Leider haben wir ihn vertan!« »Nein, ihr habt den Schatz vor dem Mißbrauch bewahrt. Das ist die Hauptsache!« »Hinter das Geheimnis des Affensterns sind wir nicht gekommen«, sagte Gudrun. Hanibal legte die Hand auf Gudruns Schulter: »Ich glaube, ihr seid ihm nähergekommen. Ihr tragt das Geheimnis in euch, ihr wißt es nur noch nicht. Strengt eure Köpfe mal ein wenig an.« Alle versanken in tiefes Nachdenken. Aber Hanibal schüttelte lächelnd den Kopf: »Nein, nicht in diesem Augenblick sollt ihr nachdenken. Hebt es euch für später auf, wenn ihr wieder auf euren Planeten zurückgekehrt seid. - Vielleicht helfen euch die anderen Glattaffen dabei, die auf dieser Erde leben!« Bei dem Stichwort Erde erhoben sich alle. Emmi griff nach dem Topf mit den Stiefmütterchen. »Halt«, brüllte Willi, »ich kann doch nicht mit diesen Affenbeinen nach Hause.«
Hanibal aber bestrich schon Willis Beine mit einer Art Lehm. »Wenn das Zeug trocken ist, fällt es ab. Dann sind deine Beine so nackt wie früher!« »Ehrenwort?« »Ehrenwort! Doch mir würden glatte Beine nicht gefallen!« Die Flut des Siedemeeres war zurückgegangen. An zwei Tauenden schaukelte die Badewanne an einem dicken Ast. Die Kinder küßten Hanibal zum Abschied, kletterten auf den dicken Ast und ließen sich in die Badewanne plumpsen. Emmi reichte jedoch vorher den Topf Carola, die schon im Sonnensegelweltraumschiff Platz genommen hatte. Mit Stefan gab es die üblichen Schwierigkeiten. Er hatte Angst, vom Ast zu fallen, und klammerte sich ängstlich an den Stamm des Baumes. Der alte Hanibal nahm ihn schließlich an die Hand und führte ihn zum Einstieg. Nachdem endlich alle Platz genommen hatten, reichte Hanibal ihnen noch verschiedene Tüten. »Es ist künstliche Luft«, sagte er. Alle bemühten sich gemeinsam, die durchsichtige Folie wieder über das Sonnensegelraumschiff zu kleben, aber Gudruns Kaugummi erwies sich als untauglich. Hanibal half mit einem von ihm erfundenen Klebstoff aus. Carola begann zu zählen: »Acht, sieben, sechs ...« Bei null gab es einen Ruck. Hanibal löste eilig die Leinen. Das Raumschiff sauste so schnell auf die Wolkendecke zu, daß keine Zeit mehr zum Winken blieb. Bereits wenige Sekunden später sahen sie die drei Sonnen des Affensterns. Wieder sausten sie an fremden Sternen vorüber. Hinter ihnen wurde die riesige schwarze Wolke, die den Affenstern umschloß, kleiner und kleiner. Kurze Zeit später erblickten sie die gute Erdensonne und den Mond.
Das Sonnensegelraumschiff tauchte in die Erdatmosphäre ein, brannte wenige Sekunden, und nun sahen die Expeditionsteilnehmer einen Riesenglobus, unsere Erde! Noch ein wenig später lag unter ihnen die Heimatstadt. Aber weder Vater Huflattich noch sein Kollege arbeiteten am Kirchturm, noch übte die Arbeitsgemeinschaft Korbball unter der Leitung des Sportlehrers Palisander. Auch Fräulein Prohaska hatte das Sonnen auf dem Dachgarten aufgegeben. Die Stadt war merkwürdig still. - Es war Abendbrotzeit. »Au, Mann«, sagte Carola, »die werden ein Fest zu Ehren unserer Rückkehr veranstalten, daß die ganze Stadt kopfsteht!« »Gib lieber den Befehl, die Bremsfallschirme klarzumachen!« sagte Willi. Sie landeten halbwegs sanft in Huflattichs Garten. Nur Emmi rieb sich wieder ihren Po. Carola reckte und streckte sich, als sie aus dem Sonnensegelweltraumschiff ausgestiegen war. Plötzlich erstarrte sie, auf einem Bein stehend, wie zu einem Denkmal. Die Stimme ihrer Mutter drang deutlich an ihr Ohr: »Carola, wo bleibst du denn wieder. Das Abendbrot steht auf dem Tisch!« »Das ist eine Begrüßung nach drei Wochen!« murrte sie. »Wieso drei Wochen?« sagte Stefan. »Nach meiner Uhr waren es exakt einhunderteinundachtzig Minuten sieben Sekunden!« »Schmeiß sie weg, deine Uhr«, sagte Willi. Er stutzte: » . . . oder meinst du ...?« »Ja, ich meine«, sagte Stefan. »Wir sind wirklich erst vor rund drei Stunden gestartet. Ich habe mal gehört, auf anderen Sternen vergeht die Zeit schneller.« »Dann haben die vielleicht überhaupt nicht gemerkt, daß wir fort waren«, sagte Gudrun Wetterschlag enttäuscht.
»Au, Mann, au, Mann, au, Mann, und morgen schreiben wir das Diktat!« »Tschüß bis morgen«, sagte Willi müde. Er hatte nur noch den einen Wunsch: zu schlafen. Alle schauten auf seine verkrusteten Beine. Schon nach den ersten Schritten bröckelte der Lehm ab. Wirklich, seine Beine sahen wieder wie Menschenbeine aus. Ein wenig waren alle enttäuscht. »Tschüß«, sagten auch die anderen und trotteten davon. Als Carola in die Küche kam, saßen die Eltern und der Bruder Max am Tisch und verspeisten mit gutem Appetit Bratheringe. »Bin ich froh, wieder auf der Erde zu sein!« sagte Carola und ließ sich auf den Stuhl fallen. »Ihr könnt euch einfach nicht vorstellen, was auf dem Affenstern los ist!« Max hielt mitten im Kauen inne: »Auf dem Affenstern?« Er tippte sich an die Stirn. Die Mutter herrschte Carola an: »Mach lieber anständig deine Schularbeiten und spinne nicht dauernd herum!« »Aber Mama, wir sind wirklich auf dem Affenstern gewesen! Vater hat uns losfliegen sehen!« Der Vater nickte: »Meine Badewanne aus dem Garten haben sie genommen! Hauptsache, sie ist noch ganz!« Die Mutter sah prüfend zum Vater: »Na, Vater, sei ehrlich, wieviel Flaschen Bier hast du vor dem Abendbrot getrunken?« Der Vater schob den Teller empört weg. »Nicht eine, Hilde!« Die Mutter wollte sich erheben. »Ich schau mal nach!« »Also schön, zwei Flaschen habe ich getrunken«, gab der Vater zu. »Verträgst immer weniger, Heinrich«, sagte die Mutter. »Ihr glaubt mir also nicht«, schrie Carola. »Ich werde es euch beweisen.« Sie dachte nach. Die Fächer hatten sie unterwegs
verloren. Der Schatz hatte sich verflüchtigt. Das Stiefmütterchen. Aber das sah genauso aus wie alle Stiefmütterchen auf der Erde. »Ich werde euch Fotos zeigen«, sagte Carola, »sonst glaubt mir kein Mensch!« Am nächsten Morgen trafen sich die Teilnehmer der Expedition Huflattich niedergeschlagen vor der Schule. Niemand außer Vater Huflattich hatte ihnen Glauben geschenkt. »Mit den Fotos hätte ich alles beweisen können«, sagte Stefan. »Aber leider war kein Film in der Kamera!« »Nein!« schrie Carola und trommelte mit den Fäusten auf die Schultasche. Dann faßte sie sich wieder. »Macht nichts, Leute! Was wir erlebt haben, kann uns keiner nehmen!«
INHALTSVERZEICHNIS Um Himmels willen: Carola ist wieder was eingefallen! 7 Mein Name ist Hanibal 20 Die Ebene der toten Bäume 30 Der König der blinden Vögel 34 Carola sagt: W-a-h-n-sinn! 43 Die Sprache der Töne 48 Was sind Glitzersteine? 61 Ein Meer von Blumen 66 »Wir bedanken uns für die ungeheure Gnade!« 81 Ein lebendes Dach 104 Die Insel in den Flammensümpfen 109 Die Stadt Ogathrak 121 Die seltsame Wirkung von Pilzen 132 Die Seligen sollen leben! 137 Die Nacht der Verliebten 151 Die Flut 161 Die merkwürdigen Handelswege nach Schlaragossa 175 Der Gestern 185 Was wir erlebt haben, kann uns keiner nehmen! 202
ab 10 J.
... Ich habe noch nie eine Badewanne fliegen sehen, dachte Willi, um sich zu beruhigen, aber bei Carola weiß man nie! - „Leute”, sagte er. „wir sollten lieber die Wörter für das Diktat üben!” - „Ich denke, wir fliegen zum Mond”, maulte Gudrun. „Die Kosmonauten werden gebeten, die Plätze einzunehmen!” sagte Carola . . . In dieser utopisch-phantastischen Geschichte wird von den Bewohnern eines fernen Sternes erzählt, auf dem die Expedition Huflattich - Carola und ihre Freunde - landet. Eine unheimliche Welt finden die Kinder vor, alles ist ganz anders als auf der Erde! Erst nach und nach erkennen sie, woran es liegt: Die Affenbewohner können untereinander keinen Frieden halten und beschwören ständig Kriege herauf, die den Stern schon fast verwüstet haben.
Der Kinderbuchverlag Berlin ISBN 3-358-00126-1