Rosemary Sutcliff Eine Erzählung aus der Zeit der römischen Besetzung Britanniens
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Rosemary Sutcliff Eine Erzählung aus der Zeit der römischen Besetzung Britanniens
Der Adler der Neunten Legion scanned by Ginevra corrected by Chase
Der römische Hauptmann (Centurio) Marcus hat sich nach Britannien beworben, weil dort, im hohen Norden des Landes, die Legion seines Vaters spurlos verschwunden ist. Kein einziger Soldat ist zurückgekehrt, und auch das Feldzeichen, den römischen Adler, hat niemand mehr wiedergesehen. Marcus möchte herausbekommen, was damals wirklich geschehen ist. Viel ere ignet sich jedoch, bis er endlich die Erkundungsreise antreten kann. Ob es ihm gelingen wird, den römischen Adler zurückzuholen? Sein britannischer Sklave Esca begleitet ihn als Freund bei diesem gefährlichen Unternehmen. Die englische Originalausgabe is t unter dem Titel ›The Eagle of the Ninth‹ 1. Auflage Mai 1971 10. Auflage Mai 1982: 96. bis 105. Tausend Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München Lizenzausgabe des Union Verlags, Stuttgart ISBN 3-423-07012-9
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Rosemary Sutcliff wurde in Surrey (England) geboren. Als kleines Mädchen erkrankte sie schwer und mußte viele Jahre auf dem Rücken liegend verbringen. So konnte sie lange Zeit keine Schule besuchen. Später befaßte sie sich intensiv mit historischen Studien, die sie in ihren Romanen verarbeitete. Ihre Geschichten zeugen von gründlicher Sachkenntnis und sind außerdem spannend zu lesen. Außer ›Der Adler der Neunten Legion‹ berichten auch die Bände ›Der silberne Zweig‹ (dtv junior 7069) und ›Drachenschiffe drohen am Horizont‹ (dtv junior 7260) von der römischen Besatzungszeit in Britannien.
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Anmerkung der Autorin Es war etwa im Jahre 117 nach Christi Geburt, als die Neunte Legion, die damals in Eburacum lag, wo heute York ist, nach Norden marschierte, um einen Aufstand unter den caledonischen Stämmen niederzuschlagen. Man hörte niemals wieder etwas von ihr. Bei den Ausgrabungen in Silchester fand man, fast achtzehn Jahrhunderte später, unter den grünen Feldern, die heute über den Straßen von Calleva Atrebatum liegen, einen flügellosen römischen Adler, von dem man jetzt noch einen Abguß im Museum zu Reading in Südengland sehen kann. Verschiedene Leute haben verschiedene Meinungen darüber gehabt, wie er dahin gekommen sein könnte, aber keiner weiß etwas Sicheres, ebensowenig wie jemand weiß, was aus der Neunten Legion geworden ist, nachdem sie in den nördlichen Nebel auszog. Ich habe diese beiden Rätsel miteinander in Verbindung gebracht, und so entstand die Geschichte vom »Adler der Neunten Legion«. R. S.
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Die Grenzfestung Die Straße, die von Fosseway westwärts nach Isca Dumnoniorum führte, war nur ein alter britischer Weg, den man verbreitert, mit Steinen beschüttet und an den schlimmsten Stellen mit Knüppeldämmen befestigt hatte; im übrigen wand sie sich wie in alten Zeiten unverändert durch die Berge, bis sie weit hinten in die ferne Wildnis einmündete. Es war eine belebte Straße, die viele Reisende sah: Händler mit Bronzewaffen und ungeschliffenem gelbem Bernstein in den Packtaschen ihrer Ponys, Bauern, die struppiges Vieh oder magere Schweine von Dorf zu Dorf trieben, manchmal eine Gruppe rothaariger Stammesbrüder aus westlicheren Gegenden, fahrende Harfner und quacksalbernde Augendoktoren, zuweilen auch einen leichtfüßigen Jäger, gefolgt von mächtigen Wolfshunden, und von Zeit zu Zeit einen Verpflegungswagen, der hin- und zurückkam und den römischen Grenzposten versorgte. Die Straße sah sie alle, und sie sah die Kohorten der römischen Armee, denen alle ändern Reisenden Platz machen mußten. Auch heute zog eine Kohorte von ledergekleideten Hilfstruppen die Straße entlang; sie hatte den weit ausschwingenden, stetigen Schritt der Soldaten, der sie in Tagesmärschen von zwanzig Meilen von Isca Silurium hergebracht hatte. Es waren die neuen Garnisonssoldaten, die die alten in Isca Dumnoniorum ablösen sollten. Weiter zogen sie, die Straße entlang, die sich nun zu einem Fußweg verengte, der bald zwischen feuchtem Sumpfland und hohem Himmel verlief, bald in tiefen, von Bären bewohnten Wald eintauchte oder in kahles Hochland aufstieg, wo nichts mehr wuchs als Ginster und Dornbüsche. Vorwärts ging es ohne Halt, immer im gleichen Schritt, während die Sonne hell auf der vorangetragenen Standarte glänzte und eine dicke Staubwolke sich hinten über dem Train ballte. An der Spitze der Kolonne marschierte der Pilus Prior Centurio, der Führer der Kohorte, und sein stolzes Aussehen offenbarte, daß dies 5
sein erstes Kommando war. Er war fest davon überzeugt, daß dies eine Kohorte sei, auf die man stolz sein könne: sechshundert gelbhaarige Riesen, die man aus den Stämmen des oberen Gallien ausgehoben hatte und die von Natur aus kämpferisch waren wie die Bergkatzen. Jetzt waren sie durch Drill und Zucht zu der seiner Meinung nach großartigsten Hilfskohorte geworden, die je in der Zweiten Legion gedient hatte. Es war eine neu zusammengestellte Kohorte; viele Männer hatten sich noch nicht im Kampf bewährt, und der Schaft ihrer Standarte trug noch keine Ehrenzeichen, keinen goldenen Lorbeerkranz und keine Siegeskrone. Die Ehrenzeichen mußten noch errungen werden – vielleicht unter seinem Kommando. Der Führer der Kohorte war vollkommen anders als seine Männer: Er war ein Römer vom Scheitel bis zur Sohle, ebenso drahtig und dunkel wie sie grobknochig und hell. Das olivenfarbene Gesicht unter dem geschwungenen Rand seines verzierten Helmes hatte keine einzige weiche Linie – es hätte hart gewirkt ohne die Lachfalten, die es durchzogen. Eine kleine senkrechte Narbe zwischen seinen geraden, schwarzen Augenbrauen bewies, daß er zu denen gehörte, die den Raben-Grad des Mithras errungen hatten. Der Centurio Marcus Flavius Aquila hatte bis vor einem Jahr wenig von der Armee gesehen. Seine ersten zehn Lebensjahre hatte er friedlich mit seiner Mutter auf dem Familiengut bei Clusium verlebt, während sein Vater Soldat in Judäa, Ägypten und hier in Britannien war. Sie wollten zu seinem Vater nach Britannien ziehen, aber noch bevor sie dazu kamen, war unter den nördlichen Stämmen ein Aufstand ausgebrochen, und die Neunte (Spanische) Legion, die Legion seines Vaters, war nach Norden marschiert, um den Aufstand niederzuschlagen. Sie kam niemals zurück. Bald darauf starb seine Mutter, und er wurde in Rom von einer ziemlich törichten Tante und einem dicken, protzigen Beamten erzogen, der ihr Mann war. Marcus haßte den Beamten, und der Beamte haßte Marcus. Sie sahen alles mit anderen Augen an. Marcus stammte aus einem Zweig der Familie, der an ihrer militärischen Tradition festgehalten hatte, nachdem ihre anderen Glieder das Soldatenhandwerk aufgegeben und sich dem Handel und anderen 6
Gewerben zugewandt hatten, und der lieber arm blieb und infolgedessen die Nase sehr hoch trug. Der Beamte entstammte einer Familie von Beamten, und er hatte eine vollkommen andere Auffassung vom Leben als Marcus. Keiner von beiden hatte auch nur einen Funken Verständnis für die Ideen des anderen, und so waren sie beide froh, als Marcus achtzehn war und sich als Centurio bewerben konnte. Marcus hatte die Augen ein wenig zusammengekniffen, als sie so in der Sonne marschierten, und er schnitt eine Grimasse, als er daran denken mußte, wie groß die Freude jenes dicken Beamten gewesen war. (Tramp, tramp, tramp machten die Füße der Kohorte hinter ihm.) Er hatte sich nach Britannien beworben, obwohl er dort in einer Hilfskohorte anfange n mußte statt in einer Kampftruppe. Er hatte das getan, weil der älteste Bruder seines Vaters sich in Britannien niedergelassen hatte, nachdem er seine Soldatenzeit hinter sich hatte, aber hauptsächlich wegen seines Vaters. Wenn man jemals etwas von der verlorenen Legion erfahren würde, dann zunächst in Britannien, und vielleicht konnte er sogar selber etwas herausfinden. Als er im honigfarbenen Abendlicht die Straße nach Isca Dumnoniorum entlangmarschierte, mußte er an seinen Vater denken. Er erinnerte sich sehr deutlich an einen schlanken, dunklen Mann mit Lachfältchen um die Augen, der von Zeit zu Zeit nach Hause gekommen war und ihm gezeigt hatte, wie man fischte, wie man knobelte und den Speer warf. Am deutlichsten erinnerte er sich an den allerletzten Abschied. Seinem Vater war gerade das Kommando über die erste Kohorte der Spanischen Legion anvertraut worden; und das hieß, daß er für den Adler der Legion verantwortlich und außerdem so etwas wie ihr stellvertretender Kommandeur war. Sein Vater hatte sich wie ein Schulbub darüber gefreut. Aber seine Mutter war etwas in Sorge gewesen, fast als ob sie ahnte… »Wenn es nur eine andere Legion wäre!« hatte sie gemeint. »Du hast selber gesagt, daß die Spanische keinen guten Namen hat.« Und sein Vater hatte geantwortet: »Ich würde keine andere Legion wählen, selbst wenn es in meiner Macht stünde. Ich hatte mein erstes Kommando in der Spanischen Legion, und man hängt sein Herz für 7
immer an seine erste Legion, ganz gleich, ob sie einen guten Namen hat oder nicht; und wir wollen doch einmal sehen, ob wir ihren Ruf nicht bessern können, wenn ich Führer der ersten Kohorte werde.« Lachend hatte er sich seinem kleinen Sohn zugewandt. »Bald wirst du an der Reihe sein. Wir sind in eine schlimme Zeit geraten, aber wir beide wollen eine gute Legion aus der Spanischen machen.« Als Marcus seine Gedanken so zurückwandern ließ, fiel ihm ein, daß die Augen seines Vaters geglänzt hatten wie die Augen eines Mannes vor der Schlacht; und das Licht hatte sich plötzlich in dem großen, adrigen Smaragd des Siegelringes, den er stets trug, gefangen und war wie ein Funke aus klarem, grünem Feuer aufgesprungen. Merkwürdig, wie man sich an so etwas erinnerte: an Kleinigkeiten, die dennoch ihre Bedeutung hatten. (Tramp, tramp, tramp machten die Füße der Kohorte hinter ihm.) Es wäre fein, dachte er, wenn Onkel Aquila so wäre wie sein Vater. Er kannte seinen Onkel noch nicht; nach seiner Ausbildung war er im regnerischen Spätherbst in Britannien angekommen und sofort nach Isca geschickt worden. Aber er hatte eine etwas unbestimmte Einladung, seinen Urlaub bei ihm in Calleva zu verbringen, wenn er einmal Urlaub erhielte. Es wäre sehr fein, wenn Onkel Aquila so wäre wie sein Vater. Es war übrigens ganz unwahrscheinlich, daß er und sein Onkel je viel miteinander zu tun bekommen würden. In ein paar Jahren würde er voraussichtlich in einem ganz anderen Teil des Römischen Imperiums Dienst tun, denn ein Kohortenführer blieb selten die ganze Zeit in der gleichen Legion. Immerhin… vielleicht stieg er von seinem jetzigen Rang zu dem seines Vaters als Führer einer ersten Kohorte auf; und dann? Für die meisten Männer, die es so weit brachten, war die Laufbahn damit beendet, aber für die wenigen, die wirklich etwas werden wollten – und Marcus wollte etwas werden -, trennten sich hier die Wege. Man konnte Kommandant eines Übungsplatzes werden, wie Onkel Aquila es geworden war, oder man konnte in der prätorianischen Garde dienen und es zum Kommandeur einer Legion bringen. Die Kommandeure einer Legion waren fast immer Männer im Rang eines 8
Senators, die keine andere militärische Ausbildung besaßen als ein Dienstjahr als Militärtribun in ihrer Jugend; aber es war seit langem Brauch geworden, daß die beiden Ägyptischen Legionen eine Ausnahme bildeten. Sie wurden von Berufsoffizieren geführt, und eine Ägyptische Legion stand Marcus als leuchtendes Ziel vor Augen, so lange er denken konnte. Aber eines Tages, wenn er bei der Armee ausgedient hatte, wenn er sich einen Namen gemacht hatte und Präfekt bei seiner Ägyptischen Legion geworden war, würde er in seine etruskischen Berge zurückkehren und vielleicht sogar das alte Gut zurückkaufen, das der dicke Beamte bedenkenlos verkauft hatte, um seine Schulden zu bezahlen. Für einen Augenblick überfiel ihn eine fast schmerzhafte Erinnerung an den sonnenbeschienenen Innenhof, der gescheckt war von den Schatten von Taubenflügeln, an den wilden Olivenbaum in der Flußschleife, an eine gekrümmte Wurzel, aus der einmal eine Art Gallapfel herausgewachsen war, der fast so aussah wie ein kleiner Vogel. Er hatte das Gebilde mit dem neuen Messer, das sein Vater ihm geschenkt hatte, aus der Wurzel herausgeschnitten und einen ganzen Sommerabend damit zugebracht, ihn mit der größten Sorgfalt auszuschmücken und mit Federn zu verzieren. Den kleinen Vo gel besaß er immer noch. Die Straße lief über einen sanften Hügel, und plötzlich lag Isca Dumnoniorum vor ihnen, und der Rote Berg, gekrönt von der Festung, erhob sich schattenschwarz vor dem Abendhimmel. Sehr plötzlich wurde Marcus in die Gegenwart zurückversetzt. Das Gut in den etruskischen Bergen konnte warten, bis er alt und müde und berühmt war; im Augenblick galt nur der Ruhm seines ersten Kommandos. Die britannische Stadt lag an dem südlichen Fuß des Berges; es war ein weithingezogenes Gedränge von schilfgedeckten Dächern, die, je nach Alter des Schilfs, in allen Farbtönen zwischen Honiggold und dem Schwarz von getrocknetem Torf schimmerten. Die geraden und klaren Linien des römischen Forums und der Basilika wirkten merkwürdig fremdartig zwischen ihne n; und über allem lag ein leichter Dunst von Holzfeuer.
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Die Straße führte gerade durch die Stadt hindurch und hinauf auf den gerodeten Hang jenseits von ihr, genau auf das prätorianische Tor der Festung zu. Ab und zu drehten sich Männer in roten oder gelben Mänteln nach der vorbeiziehenden Kohorte um und blickten sie eher abwartend als feindlich an. In den Ecken saßen Hunde, die sich kratzten, magere Schweine wühlten in den Abfallhaufen, und Frauen mit goldenen oder kupfernen Armringen um sehr weiße Arme saßen in niedrigen Hauseingängen und spannen oder mahlten Korn. Der blaue Rauch von vielen Herdfeuern kräuselte sich in der stillen Luft, und der würzige Duft von vielen Abendessen vermischte sich mit dem blauen Dunst der Holzfeuer und dem schärferen Geruch von Pferdeäpfeln, was Marcus aus allen britannischen Städten vertraut war. Es gab immer noch wenig Römisches trotz des Forums aus Stein. Wahrscheinlich würde es auch hier eines Tages gerade Straßen, Tempel und Badehäuser geben, und man würde nach römischer Sitte leben. Aber bis heute war es ein Ort, an dem zwei Welten unvermittelt aufeinanderprallten: Es war eine britannische Stadt, die sich im Schütze der Torfwälle zusammenkauerte, die einst das Bollwerk des Stammes gewesen waren und auf denen jetzt die römischen Wachtposten auf und ab gingen. Marcus schaute sich beim Marschieren unter dem geschwungenen Rand seines Helmes heraus nach allen Seiten um, da er wußte, daß sich an diesem Ort sein Leben im kommenden Jahr abspielen würde; dann sah er hinauf zu den Torfwällen und erblickte eine römische Fahne, die schlaff in der stillen Luft hing, und den großen, im Sonnenuntergang glühenden Helmbusch eines Wachsoldaten, und er hörte ein Trompetensignal, das aus dem feurigen Himmel zu tönen schien. »Ihr habt feines Wetter mitgebracht«, sagte der Centurio Quintus Hilarion, der auf der Fensterbank im Quartier saß und in den nächtlichen Himmel blickte. »Bei Herkules! Aber glaubt ja nicht, daß es anhält.« »Ist es wirklich so schlimm?« fragte der Centurio Marcus Aquila, der auf dem Tisch hockte. »Noch viel schlimmer! Es regnet in einem fort hier im Westen, außer wenn Typhon, der Vater allen Übels, einen Nebel 10
zusammenbraut, der so dick ist, daß man seine eigenen Füße nicht mehr sehen kann. Wenn ihr erst mal ein Jahr hier gedient habt, werden euch Giftpilze aus den Ohren sprießen, so wie es mir ergangen ist, und das kommt nicht nur von der Feuchtigkeit!« »Von was denn sonst?« fragte Marcus begierig. »Oh, auch, weil einem Gesellschaft fehlt. Ich bin ein geselliger Mensch und mag meine Freunde gern um mich haben.« Er verließ seinen Fenstersitz, ließ sich auf einer Bank mit Kissen nieder und zog die Knie an. »Na ja, ich mache mich auf und davon, sobald ich die Soldaten nach Isca zurückgebracht habe.« »Hast du Urlaub?« Der andere nickte. »Einen langen Urlaub, einen feinen Urlaub an den Fleischtöpfen von Durinum.« »Durinum – bist du da zu Hause?« fragte Marcus. »Ja. Mein Vater hat ausgedient und hat sich da vor ein paar Jahren niedergelassen. Wir haben einen guten Zirkus, viele nette Leute – und hübsche Mädchen. Wenn man aus der Wildnis zurückkommt, kommt einem der Ort noch viel schöner vor.« Plötzlich schien ihm etwas einzufallen. »Wohin willst du, wenn du Urlaub hast? Du kommst doch von drüben und hast wahrscheinlich niemanden hier?« »Ich habe einen Onkel in Calleva, den ich allerdings noch nicht kenne«, sagte Marcus, »und ich habe sowieso niemanden zu Hause, bei dem ich meinen Urlaub verbringen möchte.« »Leben dein Vater und deine Mutter nicht mehr?« fragte Hilarion mit freundliche m Interesse. »Nein. Mein Vater zog mit der Neunten Legion.« »Du meine Güte! Du meinst, als sie -« »Verschwand. Ja.« »Ach, das ist schlimm!« sagte Hilarion kopfschüttelnd. »Man erzählte sich allerlei häßliche Geschichten darüber – und man tut es auch jetzt noch; und sie verloren ja auch ihren Adler.« Sofort geriet Marcus in Harnisch, um seinen Vater und seines Vaters Legion zu verteidigen. »Wenn kein einziger Mann der Legion 11
zurückkam, ist es kaum verwunderlich, daß auch der Adler nicht wiederkam«, brauste er auf. »Na klar«, wandte Hilarion freundlich ein. »Ich wollte nicht der Ehre deines Vaters zu nahe treten, du brauchst dich also nicht so aufzuregen, mein Marcus.« Er lächelte den anderen offen und freundlich an, so daß Marcus, der eben noch einen Streit mit ihm anfangen wollte, plötzlich merkte, daß er das Lächeln erwiderte. Einige Stunden waren verstrichen, seit Marcus seine Kohorte über die dumpf tönende Brücke geführt und dem Ruf der Wache geantwortet hatte: »Vierte gallische Hilfskohorte der Zweiten Le gion, Ablösung für die Besatzung.« Sie hatten in der Offiziersmesse mit dem Quartiermeister, dem Arzt und den altgedienten Centurionen gegessen. Marcus waren die Schlüssel für die Geldkiste übergeben worden – denn in einer so kleinen Garnison gab es keinen Zahlmeister; und während der letzten Stunde hatte er hier in den Räumen des Kommandeurs im Prätorium zusammen mit Hilarion die Schreibarbeit der Grenzfestung durchgesehen. Nun hatten beide die verzierten Helme und die geprägten Brustpanzer abgelegt und ruhten sich aus. Durch den türlosen Eingang konnte Marcus fast die ganze Schlafzelle sehen, das schmale Feldbett mit farbenfrohen heimischen Decken, die glänzende Eichentruhe, den Lichthalter oben an der kahlen Wand, sonst nichts. Im äußeren Raum stand nur ein arg mitgenommener Tisch, auf dem Marcus saß, ein kreuzbeiniger Feldstuhl, die mit Kissen versehene Bank, die eine gewisse Bequemlichkeit andeutete, eine zweite Truhe für die Protokollrollen und eine bronzene Stehlampe von merkwürdig scheußlichem Aussehe n. Beide waren für einen Augenblick still geworden, und Marcus blickte sich in dem kahlen, von gelbem Licht durchfluteten Raum um und fand ihn wunderschön. Aber obwohl er morgen ihm gehören würde, war er heute nacht noch Gast hier, und er wandte sich mit einem schuldbewußten Lächeln wieder zu seinem Gastgeber um, denn es schien ihm, als hätte er allzu rasch von seiner Umgebung Besitz ergriffen. 12
Hilarion grinste. »Nächstes Jahr um diese Zeit wirst du anders denken.« »Ich weiß nicht«, sagte Marcus, während er seinen sandalenbeschuhten Fuß schlenkern ließ und das Schlenkern betrachtete. »Was kann man hier anfangen, außer daß man sich giftige Pilze wachsen läßt? Kann man gut auf die Jagd gehen?« »Sehr gut; und das ist auch das einzige, was für diese verlassene Ecke des Imperiums spricht. Im Winter gibt es Bären und Wölfe, und in den Wäldern wimmelt es nur so von Damwild. Unten in der Stadt sind ein paar Jäger, die dich für ein Tagegeld mitnehmen. Es wäre natürlich töricht, allein loszugehen.« Marcus nickte. »Hast du sonst noch einen Rat für mich? Ich kenne mich in diesem Land noch nicht aus.« Der andere überlegte. »Nein, ich glaube nicht.« Dann richtete er sich mit einem Ruck auf. »Ja, doch, falls noch niemand dich gewarnt hat. Aber das hat nichts mit der Jagd zu tun. Es ist wegen der Priester – der herumziehenden Druiden. Wenn einer von ihnen sich in der Umgegend sehen läßt, oder wenn du auch nur ahnst, daß einer in der Nähe ist, dann halte deine Waffen bereit. Das rate ich dir wirklich.« »Die Druiden?« Marcus war überrascht und erschrocken. »Aber Suetonius Paulinus hat doch vor sechzig Jahren ein für allemal mit ihnen abgerechnet, denke ich.« »Vielleicht mit der organisierten Priesterschaft; aber du kannst ebensogut diese heidnischen Nebel mit einem Schirm aus einem Palmblatt fernhalten wie du die Druiden vernichten kannst, indem du ihren Stammsitz zerstörst. Von Zeit zu Zeit tauchen sie wieder auf, und dort, wo sie auftauchen, steht den Kohorten meistens Schlimmes bevor. Sie waren in alten Zeiten das Herz und die Seele des britischen Widerstandes, und auch heute ist es noch so, daß immer, wenn- auch nur die geringste Unruhe in den Stämmen ausbricht, du jede Wette eingehen kannst, daß ein heiliger Mann diese Unruhe schürt.« »Erzähl weiter«, drängte Marcus, als der andere am Ende zu sein schien. »Jetzt wird es interessant.«
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»Ja, das ist so. Sie können einen heiligen Krieg verkündigen, und das ist der allerschlimmste, weil er bis zum letzten Blutstropfen ausgefochten wird.« Hilarion sprach bedächtig, so, als ob ihm beim Sprechen alles erst deutlich würde. »Die Grenzstämme sind nicht wie die Stämme an der Südküste, die schon halb romanisiert waren, ehe wir überhaupt landeten; sie sind wild und außerordentlich tapfer. Aber sogar sie haben fast alle eingesehen, daß wir keine bösen Teufel sind, und sie wissen, daß es sinnlos ist, die römische Festung hier zu zerstören, weil sie mit einem Feldzug bestraft würden, in dem ihnen die Häuser und das Korn auf den Feldern verbrannt würden und sie eine stärkere Besatzung bekämen, die schärfer durchgreifen würde. Aber wenn einer von ihren heiligen Männern auf sie einredet, dann ist das alles wie vom Wind davongeblasen. Sie denken nicht mehr an die Folgen ihres Aufstandes, sie sind überhaupt nicht mehr imstande zu denken. Sie halten ihren Göttern die Treue, indem sie ein Nest von Ungläubigen ausräuchern, und was hinterher geschieht, geht sie nichts mehr an, weil sie auf der Straße der Krieger nach Westen der Sonne nachziehen. Und wenn Menschen in solch einem Zustand sind, dann zieht leic ht ein Unheil herauf.« Draußen in der stillen Dunkelheit riefen die Trompeten zum zweiten nächtlichen Wachwechsel. Hilarion reckte sich und stand auf. »Laß uns heute lieber die späte Runde zusammen machen«, sagte er, langte nach seinem Schwert und zog sich den Schwertgurt über den Kopf. »Ich bin hier geboren«, fügte er gleichsam als Erklärung hinzu. »Daher kommt es auch, daß ich so viel von diesen Dingen weiß.« »Das dachte ich mir schon.« Marcus prüfte eine Schnalle an seiner Ausrüstung. »Es ist doch kein heiliger Mann hier irgendwo in der Gegend?« »Nein, aber meinem Vorgänger hat einer allerlei zu schaffen gemacht, kurz bevor ich kam, und der Unruhestifter ist ihm durch die Finger geschlüpft und verschwunden. Wir lebten ein bis zwei Monate auf dem Vulkan – um so mehr, als die Ernte zwei Jahre hintereinander schlecht war -, aber er brach nie aus.« Draußen hörte man Fußtritte, und ein rotes Licht leuchtete vor dem Fenster auf; sie gingen zusammen zu dem wachhabenden Centurio 14
hinaus, der mit einer brennenden Fackel draußen stand. Sie grüßten sich gegenseitig mit dem römischen Gruß und machten ihre Runde durch die verdunkelte Festung, oben auf dem Wall entlang, von Posten zu Posten, von Ausguck zu Ausguck und tauschten leise das Losungswort aus. Endlich kamen sie in den kleinen, erhellten Raum im Prätorium, wo die Geldkiste aufbewahrt wurde und die Standarte an die Wand gelehnt stand, und wo zwischen seinen Runden der wachhabende Centurio die ganze Nacht saß, das bloße Schwert vor sich auf dem Tisch. Marcus dachte: Ab morgen nacht werde ich allein der Fackel des Centurio von Posten zu Posten, von den Soldatenquartieren zu den Pferdeställen folgen, um zu sehen, ob an der Grenze des Imperiums alles in Ordnung ist. Am nächsten Morgen marschierte die alte Besatzung nach der üblichen, feierlichen Übergabe im Forum ab. Marcus sah sie abziehen, über den Festungsgraben und hügelabwärts durch die dichtgedrängten Hütten der britischen Stadt, deren schilfgedeckte Dächer von der Morgensonne goldüberzogen waren. Jahrhundert auf Jahrhundert marschierten sie so die lange Straße entlang, die nach Isca führte; und an ihrer Spitze glänzte golden und purpurrot die Standarte der Kohorte. In dem hellen Licht mußte er die Augen zu Schlitzen verengen, damit er ihren farbigen Glanz wahrnehmen konnte, bis er mit der Helligkeit des Morgens verschmolz. Der letzte Fahrer des Trains verschwand jenseits der ansteigenden Straße, das rhythmische Tramp, Tramp, Tramp von Füßen in schweren Sandalen verhallte in der sonnenhellen Luft, und Marcus war allein mit seinem ersten Kommando.
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Federn im Wind Schon nach wenigen Tagen war Marcus das Leben in der Grenzfestung so vertraut, als hätte er nie anders gelebt. Die römischen Festungen glichen einander fast alle in der Anlage, und der Tagesablauf war überall ähnlich; wenn man also einmal in einer römischen Festung gelebt hatte, kannte man sie alle, ganz gleich, ob es das aus Stein erbaute Lager der prätorianischen Garde war oder eine Festung aus getrocknetem Lehm am oberen Nil oder diese hier in Isca Dumnoniorum, wo die Wälle aus festgestampftem Torf bestanden und die Standarte der Kohorte und die Offiziere recht beengt in Häusern aus Flechtwerk und Lehm wohnten, die um einen Innenhof mit Säulen standen. Aber nach ein paar Tagen fielen Marcus besondere Kennze ichen auf, durch die jedes Lager schließlich doch seine Eigenart bekam; und nicht die Ähnlichkeit mit allen Lagern, sondern gerade diese Eigenarten ließen Marcus in Isca schnell heimisch werden. Ein Künstler aus einer längst abgezogenen Truppe hatte mit seinem Dolch eine wunderbare springende Wildkatze in die Wand des Badehauses geritzt, und eine weniger geübte Hand hatte ein sehr derbes Bild von einem Centurio hinzugefügt, den er nicht leiden mochte. Man konnte erkennen, daß es ein Centurio sein sollte, weil unter dem Bild der Weinstock und das Zeichen der Centurionen eingekratzt waren. Unter der Dachtraufe in der Nische, wo die Standarte aufbewahrt wurde, hatte eine Schwalbe ihr Nest gebaut, und immer lag hinter dem Lagerhaus der zweiten Kohorte ein merkwürdiger und unerklärlicher Geruch. Und in einer Ecke im Innenhof der Offiziere hatte einer der früheren Kommandeure aus Sehnsucht nach der Wärme und den Farben des Südens in einem großen steinernen Weinkrug einen Rosenbusch gepflanzt, durch dessen dunkle Knospen es schon rosa schimmerte. Dieser Rosenbusch war für Marcus ein Zeichen der Fortdauer, er verband ihn mit denen, die vor ihm hier an der Grenze gewesen waren und mit denen, die nach ihm kommen würden. Er mußte schon lange da gestanden haben, denn er sprengte fast seinen Krug; im Herbst wollte er dafür sorgen, daß der Rosenbusch in ein richtiges Beet kam. 16
Es dauerte eine ganze Weile, bis er mit seinen Offizieren zurechtkam. Der Truppenarzt, der wie der Quartiermeister zum Inventar zu gehören schien, war ein freundlicher Mann, der sich in seiner Haut anscheinend recht wohl fühlte, solange ihm der feurige einheimische Sprit nicht ausging. Aber der Quartiermeister war ein Querkopf; er war ein kleiner, roter, zorniger Mann, der bei der Beförderung übergangen worden und infolgedessen bis zum Platzen von seiner eigenen Wichtigkeit erfüllt war. Lutorius, der die einzige Schwadron dakischer Reiterei in der Festung befehligte, verschwendete all seine Freundlichkeit für seine Pferde und war gegenüber allen Menschen, sogar gegenüber seinen eigenen Leuten, reserviert, wenn nicht sogar mürrisch. Die fünf altgedienten Centurionen, die Marcus unterstellt waren, waren alle so viel älter und erfahrener als er, daß er zuerst nicht recht wußte, wie er sie behandeln sollte. Da er erst knapp ein Jahr bei den Soldaten war, war es nicht so einfach, dem Centurio Paulus klarzumachen, daß er reichlich häufigen Gebrauch vom Weinstock auf dem Rücken seiner Männer machte oder dem Centurio Galba zu verstehen zu geben, daß, was immer auc h in den anderen Kohorten üblich sein mochte, solange er – Marcus – hier etwas zu sagen habe, kein Centurio der vierten gallischen Kohorte von seinen Männern Bestechungsgelder für die Erlassung bestimmter Dienstpflichten annehmen dürfte. Aber er schaffte es irgendwie, und das Merkwürdige war, daß Galba und Paulus zwar zuerst vor Zorn kochten und unter sich über den »jungen Schnösel« schimpften, hinterher aber ihrem Kommandeur gegenüber viel offener waren. Und Marcus und sein Stellvertreter verstanden sich von Anfang an sehr gut und wurden mit der Zeit sogar zu guten Freunden. Der Centurio Drusillus hatte sich, wie viele andere auch, langsam hochgedient; er hatte so manchen Feldzug mitgemacht und steckte voll merkwürdiger Weisheiten; seine Ratschläge waren hart, aber Marcus hatte sie in diesem Sommer nötig. Der Tag begann damit, daß die Trompeten von den Wällen zum Wecken bliesen, und er endete mit dem nächtlichen Rundgang; dazwischen lag ein kompliziertes System von Marschübungen und Dienst, von aus- und einziehenden Patrouillen, Stall- und Waffendienst. Er mußte jetzt auch selber den Richter spielen; er mußte eine Entscheidung fällen, wenn einer seiner Leute 17
behauptete, ein Britannier habe ihm einen wertlosen Hund verkauft; oder wenn ein Britannier sich bekla gte, jemand aus der Festung habe sein Geflügel gestohlen; oder wenn die Dakier und die Gallier wegen irgendeinem ihrer Götter, von denen er nie zuvor etwas gehört hatte, in Streit gerieten. Er mußte, besonders in den ersten Tagen, hart arbeiten, und er war dankbar, daß er den Centurio Drusillus hatte; aber das Soldatsein lag ihm im Blut genauso wie die Landwirtschaft, und er liebte seinen Dienst. Es gab ja auch nicht nur Arbeit; manchmal gingen sie einen Tag auf die Jagd – und es war eine gute Jagd. Hilarion hatte ihm nicht zuviel versprochen. Gewöhnlich war sein Führer und Gefährte auf der Jagd ein Britannier, der nicht viel älter war als er, ein Jäger und Pferdehändler namens Cradoc. Eines Morgens im Spätsommer ging er mit seinen Jagdspeeren von der Festung hinunter, um wie gewöhnlich Cradoc abzuholen. Es war sehr früh, die Sonne war noch nicht aufgegangen, und der Nebel hing wie ein weißer See zwischen den Hügeln. Der Dunst lag tief und schwer am Boden, und Marcus schnüffelte den Morgenhauch ein wie ein Hund. Und dennoch konnte er an diesem prächtigen Jagdtag nicht recht froh werden, weil ihn etwas bekümmerte. Es war nicht sehr schlimm, aber schlimm genug, um seine Freude zu trüben. Er kam nämlich nicht los von dem Gerücht, das seit ein oder zwei Tagen in der Festung umlief – dem Gerücht, daß man in der Gegend einen wandernden Druiden gesehen habe. Oh, niemand hatte ihn mit eigenen Augen gesehen, so war es nicht. Ihm war aber Hilarions Warnung eingefallen und er hatte versucht, den Gedanken daran von sich abzuschütteln, was ihm natürlich nicht gelungen war. Aber auch wenn wirklich etwas in der Luft lag, würde er nichts Bestimmtes erfahren – nicht einmal von den Männern, die im Dienste Roms standen. Wenn die sich in erster Linie an Rom gebunden fühlten, würden sie nichts erfahren, wenn sie ihrem Stamm die Treue hielten, würden sie nichts erzählen. Vielleicht war kein Funken Wahrheit an der Geschichte; es war wohl eines jener umlaufenden Gerüchte, die von Zeit zu Zeit von irgendwoher kamen wie ein Wind. Aber trotzdem mußte er Augen und Ohren offenhalten, besonders weil es so aussah, als würden sie dieses Jahr zum dritten 18
Male eine schlechte Ernte haben. Man konnte das an den Gesichtern der Männer und Frauen ablesen, und man sah es an den mageren Feldern, auf dene n das Korn in kümmerlichen kleinen Ähren stand. Mit einer schlechten Ernte kam meistens auch sonst Unruhe daher. Als Marcus jenseits des Forums durch die dichtgedrängten Hütten ging, fiel ihm wieder auf, wie vollkommen unrömisch dieser Ort war. Die Einheimischen fanden das Forum und die Basilika sehr praktisch für ihre Märkte. Der eine oder andere hatte seinen Jagdspeer in die Ecke gestellt, um in römische Dienste zu treten, manchmal sah man sogar eine römische Tunika. Überall wurde Wein verkauft, die Handwerker der Stadt fertigten Sachen für die Soldaten an, und jedermann verkaufte ihnen Hunde, Felle, Lebensmittel und Kampfhähne, während die Kinder hinter den Soldaten um Geld herbettelten. Aber trotzdem blieb Rom hier in Isca Dumnoniorum ein neuer Sproß, den man auf einen alten Stamm gepfropft hatte – und der Sproß war noch nicht angewachsen. Marcus gelangte zu den Hütten, die Cradoc gehörten, trat neben die Tür des Wohnhauses und pfiff ein paar Takte aus einem im Augenblick in den Legionen sehr beliebten Lied, mit dem er sich gewöhnlich bemerkbar machte. Der lederne Vorhang über der Tür wurde sogleich beiseite gezogen, aber statt des Jägers erschien eine junge Frau mit einem ernst blickenden, sonnenbraunen Baby auf dem Arm. Sie war groß wie die meisten britannischen Frauen und hielt sich wie eine Königin. Aber was Marcus an ihrem Gesicht auffiel, war der Ausdruck: Sie hatte einen merkwürdigen, wachsamen Blick, als hätte sie hinter ihren Augen einen Schleier zugezogen, damit er – Marcus – nicht nach innen schauen könnte. »Mein Mann ist hinten bei seinem Pferdegespann. Wenn der Kommandeur hingeht, wird er ihn finden«, sagte sie, trat zurück und ließ den Vorhang zwischen sich und ihn nieder. Marcus machte sich auf die Suche. Die Stimme des Jägers und das leise Wiehern eines Pferdes wiesen ihm den Weg, und so ging er an einem Holzstapel und einem festgebundenen Hahn vorbei, dessen Federn sich durch ihren metallischen Glanz von den stumpferen Farben der Hennen abhoben, gelangte zum Eingang eines niedrigen 19
Stalles und schaute hinein. Cradoc wandte sich zur Tür und grüßte ihn höflich. Marcus erwiderte den Gruß – inzwischen hatte er gelernt, fließend Keltisch zu sprechen, wenn auch mit erheblichem Akzent – aber er starrte in das Dunkel, das hinter dem anderen Mann war. »Ich wußte nicht, daß ihr hier vierspännig fahrt«, sagte er. »Wir sind nicht zu stolz, um von Rom etwas zu lernen. Hast du mein Gespann noch nie gesehen?« Marcus schüttelte den Kopf. »Ich wußte nicht einmal, daß du ein Wagenlenker bist, obwohl ich es mir beinah hätte denken können. Die Britannier sind ja alle Wagenlenker.« »Der Kommandeur hat Unrecht«, sagte Cradoc, während er mit der Hand über einen glänzenden Pferdehals strich. »Die Britannier können alle auf ihre alte Art einen Wagen lenken, aber nicht jeder ist ein Wagenlenker.« »Du bist wohl ein Wagenlenker?« »Man zählt mich zu den besten meines Stammes«, sagte Cradoc mit ruhiger Würde. Marcus war in den Stall getreten. »Darf ich dein Gespann einmal sehen?« fragte er, und der andere machte ihm wortlos Platz. Die vier liefen frei im Stall herum, kamen zutraulich wie Hunde auf ihn zu und beschnupperten seine Brust und die ausgestreckten Hände; es waren vier prächtig zusammenpassende schwarze Wagenpferde. Er mußte an das Arabergespann denken, das er manchmal in Rom gelenkt hatte. Diese waren kleiner – kaum vierzehn Handlängen groß, schätzte er -, hatten ein dickeres Fell und waren für ihre Größe etwas schwergliedriger, aber auf ihre Weise erschienen sie ihm unübertrefflich: die Köpfe, die ihm zart und klug zugewandt waren, die Ohren, gespitzt und fein wie Blütenblätter, die zitternden Nüstern, hellrot umrandet, die Brust und die Flanken breit und kräftig. Er wandte sich von einem zum nächsten, streichelte sie beim Herumgehen und liebkoste mit geübter Hand ihr e geschmeidigen Körper von der stolzen Mähne bis zum geschwungenen Schwanz. 20
Vor seiner Abreise aus Rom war Marcus auf dem besten Wege, ein Wagenlenker im Sinne Cradocs zu werden, und nun entbrannte ein heftiges Verlangen in ihm, kein Verlangen, das Gespann zu besitzen, denn er gehörte nicht zu den Menschen, die sich erst an etwas freuen können, wenn sie sagen können »es ist meins«, sondern das Verlangen, dieses Gespann draußen anzuschirren, den Boden des Wagens unter sich erzittern zu fühlen, die straffen Zügel dem Druck seiner Hände fügsam zu machen und diese schönen, feurigen Pferde zu lenken, so daß sein Wille mit dem ihren verschmolz. Während er leise beschnuppert wurde, drehte er sich um und sagte: »Darf ich dein Gespann einmal lenken?« »Ich verkaufe es nicht.« »Wenn du es tätest, könnte ich mir nicht leisten, es zu kaufen. Ich fragte, ob ich es lenken dürfte.« »Ist der Kommandeur denn auch ein Wagenlenker?« Bei den Saturnalienspielen im vorigen Jahr war Marcus damit betraut worden, mit einem geliehenen Gespann ein Rennen gegen einen Offizier zu fahren, der als bester Wagenlenker der Legion galt, und er hatte das Rennen gewonnen. »Man hält mich für den besten meiner Legion«, sagte er. Aber Cradoc schien mit der Antwort nicht zufrieden zu sein. »Ich weiß nicht, ob du mit meinen schwarzen Freunden fertig wirst.« »Wollen wir wetten?« fragte Marcus, seine Augen wurden plötzlich scharf und klar, und ein Lächeln umspielte seinen Mund. »Wetten?« »Daß ich dein Gespann zu deiner Zufriedenheit über ein Gelände lenke, das du auswählst.« Marcus löste eine Spange, die seinen grobgewebten Mantel auf der Schulter zusammenhielt. Er streckte sie dem anderen hin, und der rote Karneol in ihrer Mitte glänzte im Dunkel auf. »Diese Spange gegen – einen deiner Jagdspeere. Oder wenn du das nicht willst, gib selbst an, um was du wettest.« Cradoc schaute die Spange nicht an. Er blickte auf Marcus, fast so, als sei der junge Römer ein Pferd, dessen Feuer er abschätzen wollte; Marcus hielt dem kühlen, abwägenden Blick stand und fühlte, wie er 21
errötete. Der Jäger bemerkte die Zornesröte und den hochmütig erhobenen Kopf, und ein merkwürdiges kleines Lächeln zuckte in einem seiner Mundwinkel auf. Offenbar war er mit dem Ergebnis seiner Prüfung zufrieden, denn er sagte: »Ich nehme dein Angebot an.« »Wann wollen wir die Probe machen?« fragte Marcus, während er die Spange wieder an seinen Mantel steckte. »Morgen muß ich ein paar Pferde nach Durinum bringen, aber in acht Tagen bin ich wieder hier. Wir wollen das Proberennen machen, wenn ich zurück bin. Und nun wird es Zeit, daß wir gehen.« »Gut«, sagte Marcus, strich noch ein letztes Mal über einen der schimmernden Nacken, wandte sich um und folgte Cradoc nach draußen. Sie pfiffen die wartenden Hunde bei Fuß, holten die Jagdspeere von der Mauer des Wohnhauses, gegen die sie gelehnt waren, und machten sich auf in die Wildnis. Cradoc blieb länger fort, als Marcus vermutet hatte, und die Ernte, wenn man sie überhaupt so nennen konnte (diesen Winter würde manch einer in Isca Dumnoniorum hungern müssen), war eingebracht, als die Zeit für das Proberennen herbeigekommen war. Marcus dachte gerade darüber nach, wie er seine Vorräte an Korn vergrößern könnte, als er an dem verabredeten Platz ankam, wo das Land sich weit und flach in einer Flußschleife dehnte, und wo der andere ihn schon erwartete. Cradoc warf einen Arm zum Gruß hoch, als er am Waldsaum erschien, sprang in den Rennwagen, riß die Zügel herum und donnerte im Galopp durch den wogenden Farn auf ihn zu. Die Sonnenstrahlen sprühten als Funken von den bronzenen Verzierungen auf den Brüsten und Stirnen der Pferde hoch, und das lange Haar des Wagenlenkers flog wie die Mähnen seiner Tiere. Marcus hielt seinen Platz, wenn er auch ein merkwürdiges Gefühl in der Magengrube hatte, und im letzten Moment wurden die Pferde, schon fast über Marcus’ Kopf, mit einem starken Ruck zum Stehen gebracht, der Wagenlenker lief die Deichsel entlang und stand dann gelassen da. »Ein guter Trick«, sagte Marcus grinsend. »Ich hatte schon davon gehört, aber ich hatte es noch nie gesehen.« 22
Der andere lachte und stieg wieder in den Wagen, und als er das Gespann herumlenkte, trat Marcus beiseite und sprang neben ihm auf. Er übernahm die Zügel und die vielfach geknotete Peitsche, und Cradoc hockte sich hinten auf den Platz des Speerträgers, die eine Hand am Flechtwerk an der Seite des Wagens. »Lenke sie zuerst einmal zu der abgestorbenen Esche da drüben.« »Alles zu seiner Zeit«, sagte Marcus. »Ich bin noch nicht ganz fertig.« Die Pferde waren auf römische Art angeschirrt, die beiden inneren an die Deichsel, die äußeren mit Riemen an die Radachsen. So weit, so gut; aber mit dem Wagen war es etwas anderes. Bisher hatte er nur einen römischen Rennwagen gelenkt, eine kleine Muschelschale, in der nur Platz für den Lenker war; dieser Wagen war doppelt so groß, wenn auch ziemlich leicht, und weil der Wagen vorn kein Brett hatte, hatte er das ungewohnte Gefühl, als sei er unmittelbar über seinem Gespann. Um das Letzte aus Wagen und Gespann herauszuholen, mußte er sich auf gewisse Dinge umstellen. Er hielt die sorgfältig auseinandergehaltenen Zügel hoch, wie man es im Colosseum tat, stellte sich breitbeinig auf den geflochtenen Boden des Karrens und ließ die unruhigen Pferde laufen; langsam zunächst, um ein Gefühl für sie zu bekommen, dann vom Trab zum Galopp, immer auf das silbrige Ziel, die abgestorbene Esche, zu. Kurz vorm Ziel lenkte er sie, Cradocs Anweisungen gemäß, herum und brachte sie in schöner Eintracht in Kurven um die Speere, die der andere vor seinem Kommen aufrecht in das Gras gesteckt hatte, genauso, wie er die weißen Araberhengste auf dem Marsfeld durch die Übungspfähle gelenkt hatte. Er ließ die Pferde in einen Galopp fallen, und kein Schwanken der Räder brachte ihn aus dem Kurs. Er bestand mit dem Gespann alle Proben, die dessen Herr forderte, bis endlich der Augenblick kam, in dem er seine Schnelligkeit beweisen mußte, und sie jagten in vollem Galopp um die meilenweite Kurve am Waldsaum. In so einem Augenblick fühlte sich Marcus jedesmal wie neugeboren. So mußte einem Pfeil zumute sein, wenn er vom Bogen schnellte! Es war warm und drückend in seinem alten Leben gewesen, aber in diesem schlug ihm der kühle Wind entgegen wie Wasser; er 23
preßte seine dünne, rote Tunika gegen seinen Körper und brauste dahin mit dem leisen Donnern der fliegenden Hufe der Pferde in seinen Ohren. Er kauerte sich tiefer in den Wagen, dessen Boden unter ihm bebte und zitterte, er fühlte die gespannten Zügel in seiner Hand, und sein Wille strömte durch sie hindurch in die dahinfliegenden Pferde, die ihm willig gehorchten, so daß sie zu einem Wesen wurden. Er rief ihnen keltische Worte zu und feuerte sie an. »Vorwärts, meine Braven! Vorwärts, ihr Kühnen und Schönen! Eure Mütter sollen stolz auf euch sein, der Stamm soll euer Lob weitergeben an Kinder und Kindeskinder! Hü! Hü, meine Brüder!« Zum ersten Male holte er jetzt die Peitsche hervor, schwang sie hoch und ließ sie wie einen dunklen Blitz über ihren Köpfen zucken, ohne sie zu berühren. Der Waldrand sauste vorbei, der Farn schoß unter fliegenden Hufen und rasenden Rädern dahin. Er und sein Gespann waren ein auf den glänzenden Bahnen des Himmels niederstürzender Komet, ein vor der Sonne niederstoßender Falke… Dann zügelte er auf ein Wort von Cradoc die Pferde, straffer dann, und brachte sie jäh zum Halten, so daß sie plötzlich aus vollem Galopp zum Stehen kamen. Der Fahrtwind verging, und die schwere Schwüle hüllte ihn wieder ein. Es war sehr still, und das schimmernde, sonnenhelle Land schien vor seinen Augen zu wanken. Noch bevor die Räder stillstanden, war Cradoc abgesprungen und nach vorn zu den Pferden gegangen. Nach dem ersten erschreckenden Moment standen sie jetzt ganz still, ihre Flanken bebten ein wenig, aber nicht übermäßig. »Nun?« fragte Marcus und wischte sich mit dem Handrücken die feuchte Stirn. Cradoc blickte ernst zu ihm auf. »Der Kommandeur ist auf dem besten Wege, ein Wagenlenker zu werden«, sagte er. Marcus legte die Zügel und die Peitsche aus der Hand und trat neben ihn. »Ich habe kein besseres Gespann gelenkt als dieses hier«, sagte er und legte seinen Arm auf einen der geschwungenen Hälse. »Habe ich meinen Speer gewonnen?« »Komm mit und suche ihn dir selber aus, bevor du in die Festung gehst«, sagte der andere. Er hatte in der Brusttasche seiner Tunika 24
süße Brotkrusten, die er nun auf der flachen Hand vor die weichen, erwartungsvoll schnuppernden Lippen der Pferde hielt. »Diese vier sind meine größten Schätze. Sie stammen aus den königlichen Ställen der Ikener, und es gibt kaum jemand, der besser mit ihnen umgehen kann als der Kommandeur.« Und in seiner Stimme klang so etwas wie Trauer mit, die Marcus sich nicht erklären konnte, aber er sollte später daran zurückdenken. Sie fuhren langsam zurück und ließen den Pferden an diesem Sommerabend freien Lauf. »Es schadet ihnen nichts, wenn sie ein bißchen stehen, denn sie sind jetzt abgekühlt«, sagte Cradoc, als sie nach einer Fahrt durch die winkligen Gassen der Stadt bei seinem Haus ankamen. Er warf den Pferden die Zügel über den Kopf, ging auf den dunklen Eingang zu und rief: »Guinhumara, bring mir meine Speere nach draußen.« Der lederne Vorhang war weit zurückgezogen, um frische Luft hereinzulassen, und das rote Feuer glimmte in der Mitte des Wohnraums. Marcus sah, wie die große Frau sich wortlos erhob – sie hatte Weizenkuchen für das Abendessen ihres Mannes in der heißen Asche umgedreht – und mit der Dunkelheit eines innen gelegenen Raumes verschmolz. Ein paar Hunde, die um das kleine, braune, schlafende Baby auf dem aufgeschichteten Farn gelegen hatten, strichen schwanzwedelnd um ihren Herrn herum, aber das Baby schlief weiter und lutschte an seinem Daumen. Die junge Frau kam schnell wieder und trat zu ihnen in den Eingang; sie hatte ein Bündel Speere in der Hand, in deren glänzenden Spitzen sich die Abendsonne fing, so daß sie wie aufzuckende Flammen wirkten. »Der Kommandeur und ich hatten gewettet«, sagte Cradoc. »Seine Spange gegen einen meiner Jagdspeere. Er hat gewonnen und will sich nun seinen Speer aussuchen.« Während er sprach, zog er einen aus dem Bündel heraus, lehnte sich auf ihn und zeigte sehr deutlich, daß er sagen wollte: »Aber nicht diesen.« Die übrigen Speere waren feine Waffen, schön wie alle Waffen der Kelten, genau ausgewogen und tödlich; es waren leichte Wurfspeere darunter, einige waren breitschäftig und dienten zum Nahkampf, einige waren für den Krieg, andere für die Jagd. Die junge Frau 25
reichte Marcus einen nach dem anderen zu, und er prüfte sie alle sorgfältig, bis er sich endlich einen auswählte, der eine schlanke Spitze mit Widerhaken hatte und ein Querholz unter dem Griff. »Diesen«, sagte er. »Dieser soll es sein, wenn ich im Winter mit deinem Mann auf die Bärenjagd gehe.« Er lächelte sie an, aber sie erwiderte sein Lächeln nicht; ihr Gesicht trug den gleichen verschleierten Ausdruck, der ihm schon vorher an ihr aufgefallen war. Sie trat ohne ein Wort zurück und nahm die anderen Speere mit sich ins Haus. Aber Marcus hatte sich schon wieder dem Jäger zugewandt, denn er interessierte sich für den einen Speer, an den er beim Auswählen immerzu gedacht hatte. Er war im Vergleich zu allen anderen Speeren wie ein König unter seiner Leibtruppe; sein Schaft war dunkel von langem Gebrauch, die Eisenspitze so wohlgeformt wie ein Lorbeerblatt; ein seltsames und faszinierendes Muster war in sie eingraviert, das wirbelte wie Strudel in fließendem Wasser. Das Gewicht der Spitze wurde durch eine Kugel aus emaillierter Bronze am hinteren Ende ausgeglichen, und um den Speerschaft lief ein Band aus graublauen Reiherfedern. »Ich habe noch nie einen solchen Speer gesehen«, sagte Marcus. »Es ist doch ein Kriegsspeer, ja?« Cradoc strich liebevoll mit der Hand über den glatten Schaft. »Es war der Kriegsspeer meines Vaters«, sagte er. »Er trug ihn in der Hand, als er starb – dort unter unseren alten Schutzwällen, wo jetzt die Festungsmauern stehen. Siehst du, hier ist noch das Zeichen zu sehen… es ist sein eigenes Blut und das Blut seines Feindes.« Er zog die Reiherfedern auseinander, so daß oben am Schaft ein alter, dunkel gewordener Fleck sichtbar wurde. Bald darauf wanderte Marcus mit seinem neu errungenen Speer für die Bärenjagd wieder auf das prätorianische Tor zu. Kinder und Hunde balgten sich in den schräg einfallenden Sonnenstrahlen, und ab und zu rief ihm eine der Frauen aus ihrer niedrigen Hüttentür den Abendgruß zu, wenn er vorbeikam. Scheinbar war alles sehr friedlich, und dennoch hatte er das unheimliche Gefühl, als sei dieser Frieden nur eine dünne Hülle – ein Schleier wie jener, den die junge Guinhumara hinter ihren Augen vorgezogen hatte -, eine Hülle, hinter 26
der sich etwas ganz anderes rührte. Wieder mußte er an Hilarions Warnung denken. Denn das Band um den alten Kriegsspeer war erst kürzlich erneuert worden, und die Reiherfedern glänzten noch so metallisch hell wie die eines lebenden Vogels. Höchstwahrscheinlich war dieser Speer immer und immer wieder blank geputzt worden, weil der Sohn ihn in Erinnerung an seinen Vater gepflegt hatte; und dennoch fragte sich Marcus plötzlich, in wie vielen dieser schilfgedeckten Häuser man wohl einen alten Speer für den Kampf überholt hatte. Dann schüttelte er ungeduldig den Kopf und strebte schnellen Schrittes auf dem steilen Weg gegen das Tor zu. Ihm wuchsen wohl wirklich Pilze aus den Ohren, wie Hilarion prophezeit hatte. Und alles wegen ein paar neuer Federn. Aber konnte nicht eine Feder anzeigen, woher der Wind wehte? Wenn sie wenigstens eine gute Ernte gehabt hätten!
27
Der Angriff Zwei Nächte später wurde Marcus eine Stunde vor Morgengrauen von dem wachhabenden Centurio aus dem Schlaf gerissen. Für den Notfall brannte stets eine kleine Lampe in seiner Schlafkammer, und er war sofort hellwach. »Was ist los, Centurio?« »Die Wachen auf dem Südwall melden, daß zwischen uns und der Stadt Geräusche zu hören sind, als ob sich dort etwas bewegt, Herr.« Marcus war schon aus dem Bett gesprungen und hatte seinen schweren Soldatenmantel über seine Schlaftunika geworfen. »Bist du selbst auf dem Wall gewesen?« Der Centurio ließ ihn an sich vorbei ins Dunkle hinaus. »Ja, Herr«, antwortete er ruhig. »Kann man etwas sehen?« »Nein, Herr, aber da unten bewegt sich irgend etwas.« Schnell überquerten sie die Hauptstraße der Festung und kamen durch eine Reihe stiller Handwerksstuben. Dann stiegen sie die Stufen zum Schutzwall hinauf. Der Umriß vom Helm eines Wachtpostens hob sich dunkel gegen das Dämmerlicht über der Brustwehr ab, und mit Rascheln und dumpfem Klang setzte er seinen Speer zum Gruß auf den Boden. Marcus trat an die brusthohe Schutzmauer. Der Himmel hatte sich bezogen, so daß kein einziger Stern zu sehen war, und unten lag alles in gleichmäßigem Dunkel, aus dem sich nichts abhob als der schwache Schimmer des sich schlängelnden Flusses. Kein Lufthauch regte sich in der Stille, und Marcus lauschte, konnte aber ringsumher keinen anderen Laut vernehmen als das Sausen des Blutes in seinen eigenen Ohren, das schwäche r klang als Meeresrauschen in einer Muschel. Er wartete mit angehaltenem Atem. Da ertönte unten das kie-wick, kie-wick, wick, wick einer jagenden Eule und gleich darauf ein schwaches und unbestimmtes Geräusch, als bewege sich etwas. Aber es war vorüber, ehe er sicher war, ob er es sich nicht eingebildet hatte. 28
Er spürte, wie der Centurio vom Dienst neben ihm gespannt war wie ein Bogen vor dem Abschuß. Die Minuten schlichen zögernd dahin, die Stille schien sich schwer auf seine Ohrmuscheln zu legen. Dann waren wieder Geräusche zu hören, und mit den Geräuschen erschienen plötzlich undeutliche Gestalten auf dem dunklen, offenen Grasland unterhalb der Wälle. Marcus konnte fast hören, wie die Spannung zerplatzte. Der Wachsoldat fluchte leise vor sich hin, und der Centurio lachte. »Irgend jemand wird heute allerlei Ärger haben, wenn er sein ausgebrochenes Vieh sucht!« Ausgebrochenes Vieh – das war alles. Und obwohl die Spannung nun vorbei war, fühlte sich Marcus nicht erleichtert. Vielleicht wäre er es gewesen, wenn er nicht die neuen Reiherfedern auf dem alten Kriegsspeer gesehen hätte, aber er hatte sie gesehen, und tief in seinem Innersten hatte er seitdem gefühlt, daß Gefahr im Anzug sei. Rasch trat er von der Brustwehr zurück und sagte zu seinem Offizier: »Immerhin kann man mit ausbrechendem Vieh gut irgend etwas anderes decken. Centurio, dies ist mein erstes Kommando: Wenn ich ein Narr bin, mag das als Entschuldigung gelten. Ich gehe zurück und ziehe mich an. Laß die Kohorte so leise wie möglich in die Kampfstellungen einrücken.« Und ohne auf eine Antwort zu warten, drehte er sich um, stieg den Wall hinunter und ging in sein Quartier. Es dauerte nicht lange, bis er zurückkam, fertig ausgerüstet von den benagelten Sandalen bis zum Helm mit Federbusch; nur die rote Schärpe band er sich noch beim Gehen um seinen Brustpanzer. Aus den schwach erleuchteten Eingängen der Mannschaftsräume stürzten Männer heraus, knüpften beim Rennen ihre Schwertgurte oder Helmriemen fest und strebten ins Dunkle. »Bin ich denn wirklich ein Narr?« fragte sich Marcus. »Wird man über mich lachen, solange man meinen Namen noch in der Legion kennt, über den Mann, der wegen einiger Federn seine Wachen zwei Tage lang verdoppelte und der einmal seine Kohorte ausschickte, um eine Herde von Milchkühen zu vertreiben?« 29
Aber jetzt war es zu spät, darüber noch länger nachzudenken. Er ging wieder zu den Wällen zurück, die schon mit Männern besetzt waren, hinter denen sich die Reserven aufstellten. Centurio Drusillus erwartete ihn, und als er den älteren Mann ansprach, hatte seine Stimme einen traurigen Beiklang. »Ich glaube, ich bin verrückt geworden, Centurio; man wird mir das nie vergessen.« »Man soll sich lieber zum Gespött der Leute machen, als aus Angst vor ihrem Gespött eine Festung verlieren«, antwortete der Centurio. »Man soll an der Grenze nichts riskieren – und wir hatten letzte Nacht Neumond.« Marcus brauchte nicht zu fragen, was er damit sagen wollte. In seiner Welt zeigten sich die Götter bei Neumond, zur Saatzeit und zur Erntezeit und zur Sommer- und Wintersonnenwende; und wenn ein Angriff geplant war, dann war der Neumond gerade die rechte Zeit dafür. Heiliger Krieg. Hilarion hatte gewußt, was das zu bedeuten hatte. Er wandte sich seitwärts, um einen Befehl zu geben. Die Wartezeit dehnte sich; sein Handinneres wurde feucht und sein Mund unangenehm trocken. Der Angriff begann mit dem leisen Auftauchen vieler Schatten, die von allen Seiten herbeiströmten; sie fluteten so schnell und ungestüm den Torfwällen entgegen, daß sie, ohne daß der Graben sie daran gehindert hätte, ins Lager hinübergeströmt wären, wenn da nur die üblichen Wachtposten gewesen wären. Sie warfen Reisigbündel in den Graben, um sich Übergänge zu schaffen; dann kamen sie hinüber und bohrten Pfähle in die Wälle, damit sie hinaufkle ttern konnten. Aber im Dunkeln konnte man keine Einzelheiten erkennen; es war nur ein geistergleiches Auf- und Abwallen. Für einen kurzen Augenblick verlieh die vollkommene Stille dem Angriff etwas Entsetzliches; dann aber erhoben sich die Soldaten wie ein Mann und traten den Angreifern entgegen. Die Stille zersplitterte, nicht in wilden Aufruhr, sondern in leicht erstickte Geräusche, die sich die Wälle entlangzogen: die Geräusche von rasch vordringenden, aber schweigenden Männern. Das dauerte einen Augenblick an, dann ertönte aus der Dunkelheit das grelle Schmettern eines britischen Kriegshornes. Von den Wällen 30
antwortete eine römische Trompete auf die Herausforderung, als neue Wellen von Schatten zum Angriff aufbrandeten, und dann schien der ganze Tartarus losgebrochen zu sein. Die Stille war vergangen, die Männer kämpften jetzt mit gellenden Schreien; rote Flammen zuckten über dem prätorianischen Tor in die Nacht und wurden sogleich gelöscht. Überall auf den Wällen tobte eine wirbelnde, brüllende Schlacht, denn die Britannier schwärmten über die Brustwehr, um dann dem entschlossenen Widerstand der Verteidiger gegenüberzustehen. Marcus wußte später nicht mehr, wie lange- es gedauert hatte, aber als die Angreifer sich zurückzogen, kroch das erste spinnwebrige Licht einer grauen, feuchten Dämmerung über die Festung. Marcus und sein Stellvertreter blickten sich an, und Marcus fragte ganz leise: »Wie lange können wir aushallen?« »Wenn wir Glück haben, einige Tage«, murmelte Drusillus, indem er so tat, als habe er den Riemen an seinem Schild zu richten. »In drei Tagen – vielleicht sogar in zwei – könnte Verstärkung aus Durinum bei uns sein«, sagte Marcus. »Aber es kam keine Antwort auf unser Signal.« »Das ist kein Wunder, Herr. Man zerstört natürlich vorsorglich die nächste Signalstation, und keine Signallaterne leuchtet bei solchem Dunst über zwei Stationen.« »Möge Mithras gewähren, daß es sich aufklärt, damit sich die Rauchsäule erheben kann.« Aber keines der beiden Gesichter zeigte auch nur einen Anflug von Angst, als sie sich gleich darauf trennten. Der ältere Mann ging klirrend den befleckten und besudelten Waffengang auf dem Wall entlang, während Marcus die Treppen hinuntersprang und auf den vollen Platz unten gelangte. Er wirkte fröhlich, als sein scharlachroter Mantel so hinter ihm herflatterte, er lachte, hielt den Daumen hoch und rief: »Gut gemacht, Herrschaften! Laßt uns frühstücken, ehe sie wiederkommen!« Auch die anderen hielten die Daumen hoch. Männer lachten, und hier und da wurde ihm eine fröhliche Antwort zurückgerufen, als er mit dem Centurio Paulus auf das Prätorium zuging. 31
Niemand wußte, wie lange die Atempause dauerte; aber wenigstens hatte man Zeit, die Verwundeten zu bergen und den Soldaten eine Ration Rosinen und hartes Brot auszuteilen. Marcus selber bekam kein Frühstück, denn er hatte zu viel zu tun und zu bedenken, unter anderem, was mit der halben Hundertschaft unter Centurio Galba geschehen sollte, die auf Patrouille draußen war und vor Mittag wiederkommen mußte. Es war natürlich möglich, daß die Britannier sie schon überwältigt hatten, dann konnte man ihnen ohnehin nicht mehr helfen, aber es war ebensogut möglich, daß sie bei ihrer Rückkehr in eine Falle laufen und direkt unter den Wällen der Festung niedergemacht würden. Marcus gab Befehl, daß die Signallampe auf dem Dach angezündet bleiben sollte; sobald sie die sahen, würden sie wenigstens wissen, daß etwas nicht in Ordnung war. Er ließ eine Wache für sie aufstellen und schickte nach Lutorius, dem Führer der Reiter, um ihm die Lage zu erklären. »Wenn sie es bis hierher schaffen, machen wir natürlich einen Ausfall und holen sie herein. Mustere deine Schwadron und halte sie in ständiger Bereitschaft. Das ist alles.« »Ja, Herr«, sagte Lutorius. Seine trübe Laune war verflogen, und er sah fast fröhlich aus, als er fortging, um den Befehl auszuführen. Mehr konnte Marcus nicht für die bedrängte Patrouille tun, und er wandte sich den vielen anderen Dingen zu, die getan werden mußten. Es war heller Tag, als der nächste Angriff kam. Irgendwo gellte ein Kriegshorn, und noch bevor sein wildes Gellen verhallt war, brachen die Britannier aus ihren Verstecken hervor, schreiend wie dunkle Geschöpfe des Tartarus, als sie durch das Farnkraut schwärmten. Dieses Mal strebten sie auf die Tore zu; sie trugen Baumstämme zum Rammen und brennende Fackeln, die den Nieselregen vergoldeten und auf den Schwertklingen und den mit Reiherfedern geschmückten Speeren glänzten. Sie stürmten vor, ohne auf die römischen Pfeile zu achten, die ihre angreifenden Reihen lichteten. Marcus, der an der Schießscharte neben dem prätorianischen Tor stand, erblickte eine Gestalt an ihrer Spitze, eine wilde Gestalt mit wehenden Gewändern, durch die sie sich von ihren halbnackten Gefolgsleuten abhob. Funken 32
stoben aus der Fackel, die sie schwang, und in ihrem Licht schienen die Spitzen des Sichelmondes, den sie über der Stirn trug, ihren eigenen, unbeständigen Glanz auszustrahlen. Marcus sagte leise zu dem Bogenschützen an seiner Seite: »Schieß auf diesen Wahnsinnigen!« Der Mann setzte einen neuen Pfeil an, spannte und schoß mit einer schnellen Bewegung ab. Die gallischen Soldaten waren ausgezeichnete Bogenschützen, ebenso wie die britannischen, aber der Pfeil sauste nur durch das wilde Haar des Besessenen. Jetzt war keine Zeit mehr zu verlieren. Der Angriff brandete gegen die Tore, ergoß sich in wilder Wut und ohne Rücksicht auf Verluste über die Toten im Graben. Aus den Tortürmen schossen die Bogenschützen unentwegt ihre Pfeile mitten in die Menge der Angreifer hinunter. Der beißende Geruch vo n dickem Rauch zog vom Rechten Tor, das die Britannier in Brand gesteckt hatten, über die Festung. Auf den Wällen war ein dauerndes Hin und Zurück: Reserven und Waffennachschub wurden gebracht, die Verwundeten abtransportiert. Die Toten konnte man jetzt nicht wegbringen; man stieß sie vom Wallumgang, damit die Füße der Lebenden nicht über sie stolperten, und man ließ sie einfach liegen, auch wenn es der beste Freund war, bis man später Zeit für sie hatte. Der zweite Angriff ließ schließlich nach, und die Toten blieben mit verrenkten Gliedern zwischen dem niedergetrampelten Farn liegen. Noch einmal gab es für die hart bedrängte Festung eine Atempause. Der Morgen zog sich dahin; die Britannier hockten sich hinter die dunklen Schlehdornbüsche, die sie bei ihrem ersten Angriff zur Deckung in die Erde gesteckt hatten, und schossen mit Pfeilen auf die Wälle, sobald sich dort etwas bewegte; der nächste Vorstoß konnte jeden Moment folgen. Die Festung hatte mehr als achtzig Mann verloren, die teils tot, teils verwundet waren. In zwei Tagen konnte Verstärkung aus Durinum dasein, wenn nur der Nieselregen, der die Sicht nahm, nachlassen würde; wenn es nur so lange aufklarte, daß man das Rauchsignal aufsteigen lassen konnte und die anderen es sahen. Aber als Marcus zu dem flachen Signaldach auf dem Prätorium hinüberging, sah es nicht so aus, als ob es sich aufklaren würde. Der 33
Regen schlug ihm ins Gesicht, leise und kälteverkündend und mit leichtem Salzgeschmack. Graue Regenschwaden zogen über die nahen Hügel, und die Hügel dahinter waren nur ein dunkler Strich, der sich im Nichts verlor. »Es hat keinen Sinn, Herr«, sagte der Soldat, der an der Brüstung lehnte und das große Holzkohlenbecken in Glut hielt. Marcus schüttelte den Kopf. War es so gewesen, als die Neunte Legion unterging? fragte er sich. Hatten sein Vater und alle die anderen auf die fernen Hügel geschaut, wie er es jetzt tat, und gewartet, ob es sich aufklaren würde, damit sie ein Feuerzeichen geben konnten? Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er betete, betete, wie er nie zuvor gebetet hatte, und sein Gebet um Hilfe stieg durch die grauen Wolken in den klaren Himmel hoch oben. »Großer Gott Mithras, Besieger des Stieres, Herr der Zeiten, laß die Nebel sich teilen und deinen Glanz erstrahlen! Nimm den Nebel zurück und gewähre uns für eine kleine Weile klare Luft, damit wir nicht in die Dunkelheit hinabsteigen müssen. O Herr der Legionen, höre den Schrei deiner Söhne. Sende uns dein Licht, sende es uns, deinen Söhnen von der vierten gallischen Kohorte der Zweiten Legion!« Er wandte sich wieder zu dem Soldaten um, der weiter nichts bemerkt hatte, als daß der Kommandeur einen Augenblick still neben ihm gestanden hatte, den Kopf zurückgelegt, als ob er in dem verhangenen, feuchten Himmel nach etwas ausschaute. »Wir können nichts tun als warten«, sagte er. »Sieh zu, daß du dein Feuer jeden Moment entfachen kannst.« Er drehte sich um und ging um den großen Haufen von Gras und Farn herum, der neben dem Becken lag, dann trampelte er die enge Treppe hinunter. Unten an der Treppe wartete Centurio Fulvius mit einer dringenden Frage auf ihn, die gleich geklärt werden mußte, und es dauerte eine ganze Weile, ehe er wieder einen Blick auf den Wall werfen konnte; da aber schien es ihm, als ob er ein bißchen weiter sehen könnte als vorhin. Er berührte Drusillus, der neben ihm stand, an der Schulter. 34
»Bilde ich es mir nur ein, oder wird es wirklich klarer?« Drusillus schwieg einen Augenblick, das verschlossene Gesicht ostwärts gewendet. Dann nickte er. »Wenn du es dir einbildest, dann bilde ich es mir auch ein.« Sie warfen sich einen raschen Blick zu, der Hoffnung enthielt, die sie nicht auszusprechen wagten; dann ging jeder seiner eigenen Arbeit nach. Aber bald begannen andere Soldaten es sich zu zeigen und mit Augen voll sehnsüchtiger Hoffnung nach Osten zu blicken. Mehr und mehr wuchs das Licht: der Nebel stieg und stieg… und Hügelrücken um Hügelrücken trat hervor. Hoch oben auf dem Dach des Prätoriums stieg eine schwarze Rauchsäule in die Luft, blähte sich nach den Seiten und wurde zu einem schlaffen Schleier, der sich über die nördlichen Wälle legte und den Männern in den Kehlen kratzte; dann aber erhob sich die Rauchsäule wieder und stieg steil und dunkel und schnell in den Himmel. In den nächsten Minuten waren alle Augen und Herzen flehe ntlich auf jene fernen Hügel gerichtet. Es waren scheinbar sehr, sehr lange Minuten; und dann ertönte ein Schrei bei den Beobachtern, als einen Tagesmarsch weit im Osten ein schwacher dunkler Rauchfaden in den Himmel stieg. Die Bitte um Hilfe war verstanden worden. In zwei Tagen oder höchstens in drei würde Verstärkung hier sein; und eine zuversichtliche Stimmung überkam die ganze Festung. Knapp eine Stunde später erhielt Marcus vom nördlichen Wall eine Meldung, daß die fehlende Patrouille auf der Straße gesichtet worden sei, die zum Linken Tor führte. Er war im Prätorium, als ihm die Meldung überbracht wurde, und legte den Weg zum Tor zurück, als habe er Flügel an den Hacken; er winkte die Reiterei herbei, die neben ihren gesattelten Pferden stand, und sogleich war Drusillus wieder an seiner Seite. »Die Britannier haben ihre Deckung verlassen, Herr«, sagte der Centurio. Marcus nickte. »Ich muß eine halbe Hundertschaft von der Reserve haben. Mehr können wir nicht entbehren. Ein Trompeter muß mit und 35
jeder verfügbare Mann hinter das Tor, falls sie durchzubrechen versuchen, wenn es offen ist.« Der Centurio gab den Befehl und wandte sich ihm wieder zu. »Laß mich sie lieber anführen, Herr.« Marcus hatte schon die Spange an der Schulter seines Mantels gelöst und das schwere Tuch, das ihm hinderlich sein konnte, abgeworfen. »Wir haben schon früher darüber gesprochen. Aber du kannst mir deinen Schild leihen.« Der andere ließ den Schild wortlos von der Schulter gleiten, Marcus nahm ihn und wandte sich zu der halben Hundertschaft um, die sich schon vor dem Tor aufstellte. »Macht euch bereit, die ›Schildkröte‹ zu bilden«, befahl er. »Und ihr könnt mir Platz lassen. Diese Schildkröte wird nicht mit herausgestrecktem Kopf in den Kampf gehen!« Es war ein kümmerlicher Scherz, aber ein Lachen lief durch den erbärmlich kleinen Haufen, und als er an seinen Platz an der Spitze der Kolonne trat, wußte Marcus, daß sie bis zum letzten zu ihm halten würden; diese Jungen würden für ihn durchs Feuer gehen. Die großen Riegel wurden zurückgeschoben, und Männer standen bereit, um die schweren Türflügel zu öffnen. Er hatte das unbestimmte Gefühl, daß hinter und neben ihm grimmig entschlossene Soldaten standen, die das Tor halten und ihn und seine Freunde hereinholen würden, falls sie überhaupt wieder zum Tor zurückkämen. »Aufmachen!« befahl er, und als die Türen sich in ihren eisenbeschlagenen Pfosten nach außen zu öffnen begannen, rief er: »Schildkröte!« Er nahm beim Sprechen den Arm hoch und spürte, wie hinter ihm die Kolonne mit der gleichen Armbewegung antwortete, hörte das leise Klirren und Stoßen von Metall an Metall, als jeder Mann seinen Schild an den seines Nebenmannes hielt, so daß ein Dach aus Schilden entstand, das dieser Kampfstellung ihren Namen verliehen hatte. »Los!« Die Torflügel standen weit offen, und wie ein seltsames vielbeiniges Tier, eher einer gigantischen Laus ähnelnd, zog die »Schildkröte« über den Damm und strebte hügelabwärts, an beiden Seiten von der tapferen kleinen Reitergruppe flankiert. Die Tore schlossen sich hinter ihnen, und vom Wall und vom Torturm folgten 36
ängstliche Blicke ihrem Weg. Es war alles so rasch gegangen, daß die Kampfgruppe sich eben erst am Fuße des Hanges vereinigt hatte, als die Britannier sich gellend auf die Römer stürzten, die sich eilig im Quadrat formiert hatten. Die »Schildkröte« war keine Kampfformation; aber um eine Stellung zu gewinnen oder einen Durchbruch zu machen, war sie unübertroffen. Außerdem sah sie grausam und furchterregend aus, was oftmals nützlich war. Als sie jetzt so plötzlich auftauchte und sich vom Hügel hinunter zu stürzen schien, brach unter den herbeischwärmenden Britanniern eine kurze Verwirrung aus. Nur für einen Augenblick schwankten ihre wilden Reihen und wichen zurück; aber im gleichen Moment sah das die hartbedrängte Patrouille und stürmte mit einem lauten Schrei vor, um zu den Kameraden zu stoßen. Hinunter fegte Marcus mit seiner halben Hundertschaft, hinunter und mitten hinein in das wilde Kampfgetümmel des Feindes. Einmal wurden sie aufgehalten, niemals aber zum Stehen gebracht, einmal lösten sich ihre Reihen, aber sie schlossen sich wieder. Sie waren ein eiserner Keil, der in die Reihen der Britannier getrieben wurde, bis endlich der Augenblick kam, wo die »Schildkröte« nicht mehr aktionsfähig war; und über den Schlachtenlärm hinweg rief Marcus dem Trompeter neben sich zu: »Blas: ›Schildkröte auflösen!‹« Die klaren Trompetentöne erhoben sich über dem Aufruhr. Die Männer senkten ihre Schilde und sprangen seitwärts, um Platz zum Kämpfen zu haben; ein Schwarm von Pfeilen schwirrte in die wankende Horde der Britannier und stiftete Tod und Verwirrung, wo immer die Eisenspitzen trafen. Dann hieß es »Zieht die Schwerter!«, und der Angriff begann mit dem Ruf »Cäsar! Cäsar!« Hinter ihnen kämpfte die tapfere kleine Handvoll Reiterei, um die Rückzugslinie freizuhalten, vorn kämpfte sich die Patrouille zu ihnen durch. Aber zwischen ihnen war immer noch eine lebende Mauer aus schreienden, kampfbesessenen Kriegern, unter denen Marcus wieder jene Gestalt mit dem gehörnten Mond auf der Stirn erblickte. Er lachte und sprang ihnen entgegen, und seine Männer stürmten hinter ihm her. Die Patrouille und die zu Hilfe gekommenen Soldaten vereinigten sich. 37
Sofort begannen sie ihren Rückzug in die Festung und bildeten eine rautenförmige Formation, die ebenso schwer festzuhalten war wie ein nasser Kieselstein in der Hand. Die Britannier fielen sie von allen Seiten an, aber langsam und stetig gelangten sie an das Festungstor heran, denn ihre kurzen Klingen bildeten eine Hecke aus lebendigem, springendem Stahl, und die Reiterei bahnte ihnen in wilden Vorstößen den Weg – allen denen, die noch von ihnen übrig waren. Zurück und zurück. Plötzlich ließ der Ansturm nach; Marcus, der an der Flanke kämpfte, warf einen kurzen Blick über die Schulter zurück und sah die Tortürme dicht vor sich und die ausschwärmenden Reihen der Verteidiger bereit, sie hereinzuholen. In diesem Augenblick ertönte ein warnender Trompetenstoß, und ein Donner von Hufen und Rädern brauste heran, als über den Hügel gegenüber, gedeckt durch den Waldsaum, eine Reihe von Streitwagen fegte. Kein Wunder, daß der Ansturm nachgelassen hatte! Die schweren Schlachtwagen waren den Britanniern seit langem verboten; dies waren leichte Streitwagen wie jener, den Marcus vor zwei Tagen gelenkt hatte. Auf jedem stand nur ein Speerträger neben dem Lenker, aber als sie mit ihren donnernden Gespannen näher rasselten, erkannte Marcus mit Schaudern die entsetzlichen, sich drehenden Sensenblätter an den Naben der Räder. Eine enge Kampfaufstellung war – da nun ihre Pfeile verschossen waren – gegenüber solch einem Angriff sinnlos; wieder gellten die Trompeten einen Befehl, und die Reihen brachen auf und zerstreuten sich, und jeder rannte auf das Tor zu, wenn auch niemand es zu erreichen glaubte, bevor die Kampfwagen über ihnen waren. Aber immerhin strebte jeder mit ganzer Kraft nach dem höher gelegenen, günstigeren Gelände. Marcus rannte wie alle anderen, und es schien ihm plötzlich, als sei er vollkommen schwerelos. Er war durch und durch von einem glaskla ren Erkennen des Lebens erfüllt, von der Schönheit des Lebens, das er in der hohlen Hand hielt, des Lebens, das fortrollen konnte wie die schimmernden Bälle, mit denen die Kinder in den Gärten Roms spielten. Im letzten Augenblick, als die Angreifer fast über ihnen waren, sprang er von seinen Männern fort, aus der Reihe 38
heraus und wieder zurück auf den eben zurückgelegten Weg, schwang sein Schwert und stand in äußerster Spannung mitten auf der Bahn der heranrollenden Streitwagen. In der knappen Atempause, die ihm verblieb, war sein Denken sehr kalt und klar, und es war ihm, als habe er viel Zeit zum Nachdenken. Wenn er vorn auf das erste Gespann sprang, würde er wahrscheinlich nur niedergeworfen und überrollt werden, ohne den wilden Galopp aufzuhalten. Seine größte Chance war, sich auf den Wagenlenker zu stürzen. Wenn er ihn herunterreißen könnte, würde das Gespann in Unordnung geraten, und auf dieser steilen Böschung würden die nachfolgenden nur schwer den zertrümmerten Wagen wegräumen können. Es war nur eine geringe Chance, aber wenn er Glück hätte, würden seine Männer dadurch jene Minuten gewinnen, die über Leben und Tod entscheiden konnten. Für ihn selbst bedeutete es Tod. Er sah das mit vollkommener Klarheit. Sie waren unmittelbar über ihm, ein Hufdonner, der das All zu erfüllen schien, schwarze, himmelwärts strömende Mähnen, die Pferde, die er noch vor zwei Tagen »Brüder« genannt hatte. Sein Schild klirrte, als er es zwischen sie stieß, und als er beiseite sprang, blickte er in das graue Gesicht Cradocs, des Wagenlenkers. Für den Bruchteil einer Sekunde blickten sie sich in die Augen und wechselten so etwas wie einen Gruß, einen Abschiedsgruß zwischen zwei Menschen, die Freunde hätten sein können. Dann sprang Marcus unter dem niederfahrenden Stoß des Speerträgers durch und seitwärts über das Vorderteil des Wagens. Er fiel mit vollem Gewicht auf die Zügel, die nach britannischer Sitte um die Hüften des Wagenlenkers geschlungen waren, so daß das Gespann vollkommen durcheinandergeriet; seine Arme umklammerten Cradoc, und sie fielen miteinander um. Seine Ohren waren erfüllt von dem Geräusch zersplitternden Holzes und dem gräßlichen Schrei eines Pferdes. Dann kehrten sich Himmel und Erde um, als er, ohne seinen Griff zu lockern, unter die trampelnden Hufe geschleudert wurde, unter die Räder mit den Sensen und den über ihm berstenden Wagen; und die Dunkelheit schlug über ihm zusammen.
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Die letzte Rose Auf der anderen Seite der Dunkelheit war Schmerz. Lange Zeit wußte Marcus nur dieses eine. Zuerst war er weiß und blendend, aber plötzlich verwandelte er sich in Rot, und langsam begann Marcus durch das Rot des Schmerzes hindurch andere Dinge wahrzunehmen: Menschen, die sich in seiner Nähe bewegten, Lampenlicht, Tageslicht, Hände, die ihn berührten, einen bitteren Geschmack im Mund, dem jedesmal wieder die Dunkelheit folgte. Aber alles war verworren und unwirklich wie ein entfliehender Traum. Und dann hörte er eines Morgens, daß die Trompeten zum Wecken bliesen. Der vertraute Trompetenruf, der in die Unwirklichkeit drang wie eine Schwertklinge in ein verwickeltes Wollknäuel, rief andere wirkliche und vertraute Dinge ins Bewußtsein zurück: die Morgenkühle auf seinem Gesicht und einer bloßen Schulter, das ferne Krähen eines richtigen Hahnes, den Geruch der brennenden Lampe. Er öffnete die Augen und merkte, daß er flach auf dem Rücken auf dem schmalen Feldbett in seiner eigenen Schlafzelle lag. Das Fenster dicht über ihm bildete in dem dunklen Gold der lampenerhellten Wand ein Viereck aus zartem Aquamarin, und auf dem dunklen Dachfirst der Offiziersmesse saß eine schlafende Taube, die sich so deutlich und klar gegen den Morgenhimmel abhob, daß Marcus glaubte, die Spitze jeder der aufgeplusterten Federn erkennen zu können. Aber das war ja auch ganz klar, weil er selber sie geschnitzt hatte, als er zwischen den Wurzeln des wilden Olivenbaumes in der Flußschleife saß. Dann fiel ihm ein, daß das ein anderer Vogel gewesen war, und plötzlich war er voll bei Bewußtsein. Er war also doch nicht tot. Er war leicht überrascht, aber nicht sonderlich erfreut. Er war nicht tot, aber er war verwundet. Der Schmerz, der zuerst weiß und dann rot gewesen war, war immer noch da, er war nicht mehr das einzige auf der Welt, aber er war so groß wie sein ganzes rechtes Bein: Es war ein dumpfes, mahlendes Pochen mit Stichen von ärgerem Schmerz, die ihn immer wieder bohrend und
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stechend durchführen. Es war der schlimmste Schmerz, den er je erlebt hatte. Nur einmal hatte er früher ein paar so schwindelerregende Sekunden erlebt, als ihm das Mithraszeichen in die Stirn gebrannt wurde. Aber weder der Schmerz noch die Tatsache, daß er am Leben war, berührten ihn jetzt sehr stark. Er wußte noch genau, was geschehen war, aber das war alles so furchtbar lange her und lag auf der anderen Seite der Dunkelheit. Er war nicht einmal in Sorge, denn wenn römische Trompeten von den Wällen bliesen, bedeutete das ja, daß die Festung immer noch in den Händen der Römer war. Jemand war draußen in dem äußeren Raum und tauchte gleich darauf im Eingang auf. Marcus drehte langsam seinen Kopf um, der sehr schwer zu sein schien, und er erblickte den Festungsarzt, der eine schmutzige Tunika trug, rotgeränderte Augen und einen mehrere Tage alten Bart hatte. »Ah, Aulus«, sagte Marcus und fand, daß seine Zunge merkwürdig dick war. »Du siehst aus, als ob du einen Monat lang nicht geschlafen hättest.« »Nicht ganz so lange«, sagte der Arzt, der schnell herbeigekommen war, als er Marcus’ Stimme hörte, und sich nun über ihn beugte. »Gut! Sehr gut!« fügte er hinzu und nickte ermunternd mit dem Kopf. »Wie lange?« fragte Marcus stockend. »Sechs Tage, ja, ja, vielleicht auch sieben.« »Es kommt mir vor wie – Jahre.« Aulus hatte die grobgewebten, einheimischen Decken zurückgeschlagen und legte eine tastende Hand auf Marcus’ Herz. Er schien zu zählen und antwortete nur mit einem Nicken. Aber plötzlich stand Marcus alles wieder deutlich und beängstigend vor Augen. »Die Verstärkung – kam sie denn wirklich zu uns durch?« Aulus zählte so bedächtig die Pulsschläge weiter, daß es zum Verrücktwerden war, und dann zog er die Decken wieder hoch. »Ja, ja, fast eine ganze Kohorte von der Legion aus Durinum.« »Ich muß Centurio Drusillus sprechen – und den – Kommandeur der Verstärkung.« 41
»Gleich, gleich, wenn du schön still liegst«, sagte Aulus und beschäftigte sich mit der blakenden Lampe. »Nein, nicht gleich. Jetzt! Aulus, das ist ein Befehl: Ich kommandiere immer noch in dieser -« Er versuchte, sich auf den Ellenbogen zu stützen, und sein Wortstrom erstickte in einem rasselnden Keuchen. Einen Augenblick lag er ganz still und starrte den anderen Mann an, und Schweißperlen traten auf seine Stirn. »So! Nun hast du es schlimmer gemacht!« schalt Aulus ihn leise. »Das kommt davon, wenn man nicht still liegen kann, wie ich es befohlen habe.« Er nahm eine rote Schale von der Truhe und stützte Marcus den Kopf mit einem Arm. »Trink dieses jetzt. So, so! Das wird dir guttun.« Marcus war zu schwach, um zu widersprechen, und als er den Schalenrand an seinen Zähnen fühlte, trank er. Es war Milch, aber sie hatte den bitteren Geschmack, der immer die Dunkelheit wiederbrachte. »Gut«, sagte Aulus, als die Schale leer war. »Nun mußt du schlafen. Schlaf, mein Junge.« Und er legte Marcus’ Kopf auf die gefaltete Decke zurück. Am nächsten Tag kam Centurio Drusillus; und während er dasaß, die Hände auf den Knien, den Schatten seines bebuschten Helmes blau auf der sonnenbeschienenen Wand hinter ihm, gab er seinem Kommandeur einen kurzen Bericht über alles, was seit seiner Verwundung geschehen war. Marcus hörte angestrengt zu; er merkte, daß er sehr angestrengt zuhören mußte, weil sonst seine Gedanken anfingen zu wandern: zu dem Knarren eines Dachbalkens, zu dem Vogel, der am Fenster vorbeiflog, zu den Schmerzen seiner Wunden oder zu den schwarzen Haaren, die dem Centurio aus der Nase wuchsen. Aber als der Centurio zu Ende war, wollte Marcus immer noch mehr wissen. »Drusillus, was wurde aus dem heiligen Mann?«
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»Der ist zu seinen Göttern eingegangen, Herr. Er geriet zwischen die Verstärkung und uns. Und manch einer von dem Stamm ging mit ihm.« »Und der Wagenlenker? – Mein Wagenlenker?« Centurio Drusillus zeigte mit dem Daumen nach unten. »Tot, was wir auch von dir dachten, als wir dich unter dem zermalmten Wagen herauszogen.« Einen kleinen Moment schwiegen sie beide. Dann fragte Marcus: »Wer holte mich in die Festung?« »Das ist schwer zu sagen, Herr. Die meisten von uns waren dabei.« »Ich wollte so gern Zeit für die anderen gewinnen.« Marcus fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Was geschah dann?« »Ach Herr, es ging alles so schnell… Galba kehrte um, er und alle anderen kamen zu dir, und wir mußten alles aufs Spiel setzen; also ließen wir die Reserven ausfallen – es war ja nur einen Speerwurf weit – und zogen dich heraus.« »Und dabei wurdet ihr von den Streitwagen zerstückelt?« fragte Marcus hastig. »Es hätte schlimmer werden können. Dein Wagen bremste den vollen Ansturm.« »Ich möchte gern Galba sprechen.« »Galba liegt mit einer Wunde im Schwertarm im Krankenblock«, sagte Drusillus. »Ist es sehr schlimm?« »Eine glatte Wunde. Sie heilt schon.« Marcus nickte. »Du gehst doch sicher zu ihm? Bring du ihm an meiner Stelle einen Gruß, Centurio. Sag ihm, daß ich kommen werde, damit wir unsere Wunden vergleichen können, wenn ich vor ihm wieder auf den Beinen bin. Und richte den Soldaten aus, daß ich schon immer gesagt habe, daß die vierte gallische Kohorte die beste der Armee ist.« »Das will ich tun, Herr«, sagte Drusillus. »Die Soldaten haben viel nach dir gefragt.« Er stand auf, hob grüßend den Arm, der mit vielen 43
silbernen Ehrenreifen. behängt war, und ging mit schweren Schritten wieder an seine Arbeit. Marcus lag eine lange Zeit, den Unterarm vor den Augen, und ließ vor dem Dunkel seiner geschlossenen Augenlider die Bilder an sich vorüberziehen, die Drusillus ihm gezeigt hatte. Er sah die Verstärkung die Straße entlangziehen, tramp, tramp, tramp, er sah den Staub hinter ihr aufsteigen. Er sah den letzten Widerstand der Britannier zerbrechen und den mondgeschmückten Fanatiker niederfallen, er sah die britische Stadt als rauchenden Trümmerhaufen und die kleinen Felder auf Befehl des Kommandeurs der Verstärkung unter Salzwasser gesetzt. (Häuser aus Flechtwerk und Lehm waren schnell wieder aufgebaut, und versalzene Felder würden in drei Jahren wieder tragen, aber nie und nimmer würden die jungen Männer des Stammes wiederkommen, dachte er und stellte erstaunt fest, daß ihn das bekümmerte.) Er sah die toten Männer, unter denen auch Lutorius war; er hoffte, daß Lutorius auf den Elysischen Feldern Pferde finden würde. Am allerdeutlichsten sah er wieder und wieder Cradoc vor sich, wie er tot auf dem zertrampelten Farn am Hang lag. Er hatte eine große Bitterkeit gegenüber Cradoc empfunden; er hatte den Jäger gern gehabt und geglaubt, daß der andere ihn auch gern mochte, und dennoch hatte Cradoc ihn verraten. Aber das war vorüber. Cradoc hatte ihm ja nicht die Treue gebrochen; es war einfach so, daß er in erster Linie eine andere und stärkere Treue bewahren mußte. Marcus verstand das jetzt. Später kam der Kommandeur der Verstärkungstruppe zu ihm, aber sein Besuch verlief nicht sehr glücklich. Centurio Clodius Maximus war ein guter Soldat, aber ein kühler Mensch von düsterem Aussehen. Er stand verschlossen im Eingang und sagte, daß er, da nun ja alles in Ordnung sei, beabsichtige, den unterbrochenen Marsch nach Norden morgen fortzusetzen. Er hätte gerade Soldaten nach Isca gebracht, als das Notsignal der Grenzfestung Durinum erreicht habe, und er sei ausgeschickt worden zu helfen. Er würde zwei Hundertschaften dalassen, um die Festung vorübergehend zu verstärken, und außerdem Centurio Herpinius, der das Kommando in der Festung so lange übernehmen würde, bis ein Ersatzmann für Marcus und zweifellos auch Nachschub an Soldaten aus Isca eintreffen würden. 44
Marcus stellte fest, daß das alles höchst vernünftig war. Die Verstärkung hatte aus Legionssoldaten bestanden, die eine Kampftruppe waren, und es war ganz klar, daß ein Legionscenturio über einem Centurio der Hilfstruppen rangierte; und wenn er, Marcus, eine Zeitlang ausfallen würde, mußte selbstverständlich ein Ersatzmann für ihn kommen, solange er seinen Dienst nicht tun konnte. Aber trotzdem kränkte ihn die hochnäsige Art des Mannes, kränkte ihn um Drusillus’ willen und auch um seinetwillen. Und plötzlich überkam ihn Angst. So wurde er sehr kühl und sehr hochmütig und beha ndelte den Fremden von nun an mit einer riesigen Höflichkeit, die beinahe verletzend war. So verging Tag um Tag, und einer war wie der andere: Das Tageslicht ging in dunkle Nacht über, Essen wurde gebracht, das er nicht wollte, und die Schatten im Hof vor seinem Fenster nahmen ab und zu. Aulus machte ihm seine Besuche, ein Sanitätssoldat kam und verband die Speerwunde in seiner Schulter (er hatte damals nicht bemerkt, daß der Speer ihn traf, als er unter dem Stoß des Speerträgers durchsprang), und die vielen häßlichen Wunden brannten in seinem rechten Oberschenkel. Es dauerte eine ganze Weile, bis sein Ersatzmann aus Isca kam, weil mehrere Offiziere mit Sumpffieber lagen. Der Mond, der beim Aufstand der Britannier Neumond gewesen war, nahm zu und wieder ab, und wie eine bleiche Feder hing wieder ein Neumond am Abendhimmel. Marcus’ Wunden waren bis auf die tiefsten und heftigsten alle geheilt. Da sagten sie ihm, daß er nicht mehr bei den Soldaten dienen könne. Er solle nur Geduld haben, dann würde das Bein ihn eines Tages wieder ganz gut tragen, versicherte Aulus ihm, aber nie wieder lange, nein, er konnte nicht sagen, wie lange. Marcus müsse doch einsehen, so versuchte er kläglich zu beweisen, daß man nicht einen Oberschenkelknochen zertrümmern und die Muskeln in Stücke reißen könne, um dann zu glauben, es könne alles wieder werden wie vorher. Das war das, wovor Marcus seit seiner Unterredung mit Centurio Maximus Angst gehabt hatte. Nun brauchte er keine Angst mehr zu haben, nun nicht mehr. Er nahm es sehr ruhig hin; aber er verlor nun 45
fast alles auf der Welt, was er liebte. Das Leben in der Armee war das einzige Leben, das er erstrebt hatte, das einzige Leben, für das er ausgebildet wurde; und nun war es vorbei. Er würde nie Kommandeur einer Ägyptischen Legion werden, er würde nie das Gut in den etruskischen Bergen zurückkaufen können oder ein ähnliches erwerben. Er hatte die Legion verloren und mit der Legion auch sein eigenes Vaterland; und die Zukunft sah auf den ersten Blick ziemlich düster und furchterregend aus: mit einem lahmen Bein, ohne Geld und ohne Aussichten. Vielleicht ahnte Centurio Drusillus, was mit ihm los war, obwohl Marcus nie mit ihm darüber sprach. Jedenfalls fand er wohl, daß das Zimmer des Kommandeurs ein guter Platz war, an dem man jede freie Minute zubringen konnte. Und obwohl Marcus, der sich wie ein krankes Tier nach Einsamkeit sehnte, ihn oftmals auf die andere Seite des Römischen Imperiums wünschte, erinnerte er sich später dankbar an die Treue seines Centurios in einer bösen Zeit. Ein paar Tage später lag Marcus da und lauschte der Ankunft des neuen Kommandeurs. Er war immer noch in seinem alten Quartier, denn als er vorgeschlagen hatte, man solle ihn in den Krankenblock bringen und die beiden Räume im Prätorium für ihren rechtmäßigen Besitzer frei machen, hatte man ihm gesagt, daß man andere Räume für den neuen Kommandeur vorbereitet habe und daß er bleiben solle, wo er sei, bis er imstande sei zu reisen – bis er zu Onkel Aquila könne. Ihm war nur halbwegs klar, daß er Glück hatte, daß es Onkel Aquila gab. Auf alle Fälle würde er sehr bald wissen, ob der unbekannte Onkel seinem Vater ähnlich war. Er konnte jetzt im Bett sitzen und auf den Hof hinaussehen, und gerade vor seinem Fenster stand der Rosenbusch in seinem Weinkrug. Zwischen den dunklen Blättern war immer noch eine dunkelrote Rose, und als er hinüberschaute, fiel ein Blütenblatt herunter wie ein großer, langsam fallender Blutstropfen. Bald würden auch die anderen Blätter fallen. Sein erstes und einziges Kommando hatte gerade so lange gedauert wie die Blütezeit des Rosenbusches… Der Topf wurde wirklich zu eng, dachte er, vielleicht würde sein Nachfolger etwas tun.
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Sein Nachfolger: wer immer das auch sein mochte. Er konnte die Tür zum Hof nicht sehen, aber schnelle Fußtritte schallten den Säulengang entlang und dann im äußeren Zimmer, und gleich darauf stand der neue Kommandeur in der Tür, ein eleganter und sehr staubiger junger Mann mit dem Helm unter einem Arm. Es war der Besitzer des Gespannes, das Marcus bei den Saturnalienspielen gelenkt hatte. »Cassius!« begrüßte Marcus ihn. »Ich war gespannt, ob es jemand wäre, den ich kenne.« Cassius trat neben ihn. »Mein lieber Marcus, was macht das Bein?« »Es heilt, so gut es kann.« »So. Das freut mich sehr.« »Was hast du mit deinen Braunen gemacht?« fragte Marcus schnell. »Du hast sie doch sicher nicht mit herübergebracht?« Cassius ließ sich auf die Kleidertruhe fallen und rückte sich mit nachlässiger Eleganz zurecht. »Beim Jupiter! Nein! Ich habe sie Dexion geliehen, zusammen mit meinem Pferdeburschen, der ein wachsames Auge auf sie haben soll – und auf ihn auch.« »Sie sind bei Dexion gut aufgehoben. Was für Soldaten hast du mitgebracht?« »Zwei Hundertschaften von der dritten: Gallier wie die anderen auch. Es sind nette Burschen, abgehärtete Soldaten; sie waren auf dem Wall und haben Steinwege angelegt und ab und zu einen Pfeil mit den Tätowierten gewechselt.« Er zog eine Augenbraue nachlässig hoch. »Aber wenn sie sich im Kampf ebenso bewähren wie deine rauhbeinige vierte, dann brauchen sie sich nicht degradiert zu fühlen.« »Ich glaube nicht, daß es in dieser Gegend wieder Unruhen geben wird«, sagte Marcus. »Dafür hat Centurio Maximus gründlich gesorgt.« »Ach, du meinst die verbrannten Dörfer und die versalzenen Felder? Ein Straffeldzug ist nie sehr schön. Aber ich entnehme deinem bitteren Ton, daß du dich für Centurio Maximus nicht sehr erwärmen konntest.« »Nein, ich mochte ihn nicht.« 47
»Ein höchst befähigter Offizier«, betonte Cassius mit der Miene eines grauhaarigen Legaten. »Ich wollte nichts gegen seine Befähigung sagen«, warf Marcus rasch ein. »Wenn du den Bericht sehen würdest, den er einreichte, als er wieder ins Hauptquartier kam, würdest du ihm wahrscheinlich etwas freundlicher gesonnen sein.« »War er denn gut?« fragte Marcus überrascht. Er hatte nicht den Eindruck gehabt, daß ein Mann vom Schlage des Centurio Maximus enthusiastische Berichte einreichte. Cassius nickte. »Mehr als gut sogar. Es lief außerdem, bevor ich nach Süden ging, ein Gerücht über so etwas wie einen goldenen Lorbeerkranz um, damit die Standarte der vierten gallischen Kohorte auf der nächsten Parade schön wäre.« Es entstand eine kurze Stille, und dann sagte Marcus: »Das ist nicht mehr, als wir – als wir verdienen! Hör mal, Cassius, wenn das nicht nur ein Gerücht ist, laß es mich wissen. Ich sage dir, wo du mich erreichen kannst. Ich würde mich sehr freuen, wenn die Kohorte ihre ersten Ehrenzeichen unter meinem Kommando gewonnen hätte.« »Vielleicht würde das die Kohorte auch freuen«, sagte Cassius rauh und stand lässig auf. »Ich will ins Badehaus. Ich bin von oben bis unten voll Staub!« Er hielt einen Augenblick inne, blickte zu Marcus hinunter und hatte seine müde Eleganz plötzlich ganz vergessen. »Sorg dich nicht. Ich werde deine Kohorte nicht vor die Hunde gehen lassen.« Marcus lachte, wenn er auch plötzlich einen Kloß im Hals hatte. »Paß nur auf, daß du das nicht tust, oder ich schwöre dir, daß ich Wege finden werde, deinen Wein zu vergiften! Es ist eine feine Kohorte, die beste in der Legion, und – viel Glück für dich mit ihr!« Draußen im Hof fielen die letzten dunkelroten Blütenblätter in einem leichten, glänzenden Schauer von dem Rosenbusch im alten Weinkrug.
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Die Saturnalienspiele Onkel Aquila wohnte am äußersten Ende von Calleva. Man erreichte sein Haus durch eine enge Seitenstraße, die kurz hinter dem Osttor abging, das Forum und die Tempel hinter sich ließ und in einen stillen Winkel bei den alten britannischen Wällen führte – denn Calleva war vollkommen britannisch gewesen, bevor es eine römische Stadt wurde -, wo immer noch Weißdorn und Haselsträucher wuchsen und wohin manchmal noch scheue Waldvögel kamen. Es sah ähnlich aus wie die meisten Häuser in Calleva, es war aus Holz, hatte ein rotes Dach und wirkte behaglich, war in Hufeisenform um einen kleinen Innenhof gebaut, auf dem Gras wuchs; und rund um den Rasen standen in großen Steinkrügen importierte Rosen und Zistrosen. Aber es besaß etwas, das es von den anderen Häusern unterschied: einen dicken, viereckigen, flachdachigen Turm, der sich an einer Ecke erhob; denn Onkel Aquila, der fast sein ganzes Leben unter den Wachttürmen von Memphis bis Segedunum verbracht hatte, fühlte sich ohne einen Turm nicht wohl. Hier unter seinem eigenen Wachtturm, den er als Studierzimmer benutzte, fühlte er sich außerordentlich wohl; seine Gesellschaft bestand aus seinem ältlichen Wolfshund Procyon und der ›Geschichte der Belagerungen‹ an der er seit zehn Jahren schrieb. Gegen Ende Oktober war Marcus dazugekommen. Er erhielt eine Schlafkammer, die zum Säulengang im Hof offen war. Es war eine weißgetünchte Kammer mit einem schmalen Bett, auf dem gestreifte, einheimische Decken lagen, mit einer blanken Truhe aus Zitronenholz und einer Lampe, die oben an der Wand in einem Lampenhalter hing. Wäre die Tür nicht an einem anderen Platz gewesen, es hätte sein altes Quartier in der Grenzfestung sein können, die sieben Tagesmärsche von hier entfernt war. Aber er brachte den größten Teil des Tages in dem langen Atrium zu, dem Hauptraum des Hauses, manchmal mit Onkel Aquila, meistens aber allein, außer wenn Stephanos oder Sassticca nach ihm sahen. Es störte ihn nicht, wenn Stephanos kam, der alte griechische Leibsklave seines Onkels, der sich nun ebenso um 49
ihn kümmerte wie um seinen Herrn, aber mit der Köchin Sassticca war das etwas anderes. Sie war eine große und finstere alte Frau, die schlagen konnte wie ein Mann, und die das oftmals tat, wenn einer ihrer Mitsklaven sie ärgerte; aber Marcus behandelte sie wie ein kleines, krankes Kind. Sie brachte ihm heiße Kuchen, wenn sie gebacken hatte, und warme Milch, weil sie ihn zu dünn fand, und sie machte ein derartiges Getue um ihn, daß er nahe daran war, sie zu hassen, denn jetzt fürchtete er sich vor jeder Freundlichkeit. Dieser Herbst war eine schlimme Zeit für Marcus, denn er fühlte sich zum erstenmal in seinem Leben richtig elend, hatte fast ununterbrochen Schmerzen und sah sich einer Welt gegenüber, in der alles in Trümmern lag, was er kannte und liebte. Morgens wachte er auf und hörte, wie in der Ferne im Durchgangslager vor den Stadtwällen zum Wecken geblasen wurde, und das machte sein Los nicht leichter. Er hatte Heimweh nach den Legionen; er hatte furchtbares Heimweh nach seinem eigenen Land. Denn nun, da ihm seine Heimatberge für immer verloren schienen, erwachte in ihm eine brennende Liebe für sie, und jede Einzelheit der Landschaft, der Düfte und Geräusche stand in lebendiger Klarheit vor seinen Augen. Er erinnerte sich an das silbrige Zittern der Olivenhaine, wenn ein Südwind wehte, an den sommerlichen Duft von Thymian und Rosmarin und der kleinen weißen Zyklamen zwischen dem sonnenwarmen Gras, an die Lieder der Mädchen bei der Weinlese. Und hier in Britannien fuhr der Wind ächzend durch öde Wälder, der Himmel weinte, und nasse, sturmgepeitschte Blätter schlugen an die Fenster, hingen dort fest und warfen armselige, kleine Schatten auf das trübe Glas. Es hatte auch in seinem eigenen Land häufig schlechtes Wetter gegeben, aber das war das schlechte Wetter von zu Hause; hier gab es nur den Wind und den Regen und die nassen Blätter der Fremde. Das alles wäre nicht ganz so schlimm für ihn gewesen, wenn er einen gleichaltrigen Gefährten gehabt hätte; aber er war das einzige junge Geschöpf im Hause, denn selbst Procyon hatte graue Haare um die Schnauze, und so war er ganz auf sich selbst angewiesen, und obwohl er es nicht wußte, war er entsetzlich einsam. 50
Ein Lichtstrahl zeigte sich aber doch für ihn in der Dunkelheit jenes Herbstes. Bald nachdem er in Calleva angekommen war, hatte Cassius ihm die Nachricht übersandt, daß die Standarte der vierten gallischen Kohorte von nun an auf der Parade einen goldenen Lorbeerkranz tragen würde; und ein wenig später wurde Marcus mit einem Armreifen ausgezeichnet, was er überhaupt nicht erwartet hatte. Das war nicht, wie die verschiedenen Kronen, eine reine Tapferkeitsauszeichnung; ein Armreifen wurde eher für die gleichen Qualitäten verliehen, die der Zweiten Legion den Titel »Pia Fidelis« eingetragen hatten. Solche Titel wurden tief in den goldenen Armreifen unter dem Rangabzeichen des Steinbocks der Legion eingraviert. Marcus trug den Reif ständig um den Arm, seit er ihn bekommen hatte; und dennoch bedeutete er ihm beinah weniger als die Tatsache, daß seine alte Kohorte ihren ersten Lorbeer errungen hatte. Die Tage wurden kürzer und die Nächte länger, und die Wintersonnenwende war herbeigekommen. Die Nacht paßte genau zu der dunklen Jahreswende, dachte Marcus. Ein ewiger Wind sauste durch den Wald von Spinaii unter den alten britannischen Wällen und trieb Hagelschauer vor sich her, die gegen die Fenster prasselten. Im Atrium war es warm, denn was Onkel Aquilas Haus auch sonst für Eigentümlichkeiten haben mochte, die Heizung war in Ordnung, und weil es schön aussah, wenn es auch nicht nötig war, brannte im Kohlenbecken ein Feuer aus wilden Kirschzweigen auf Holzkohle und erfüllte den Raum mit einem schwachen, aromatischen Duft. Das Licht aus der einzigen Bronzelampe, das in einer goldenen Lache auf die Gruppe vor dem Feuer fiel, reichte kaum bis zu den getünchten Wänden; das hintere Ende des Raumes lag in schattendurchzogenem Dunkel, in dem nur das Licht glimmte, das immer vor dem Schrein der Hausgötter brannte. Marcus lag auf den Ellenbogen gestützt auf seinem üblichen Lager, Onkel Aquila saß ihm gegenüber auf seinem großen Stuhl mit den gekreuzten Beinen, und neben ihnen auf dem warmen Mosaikfußboden lag ausgestreckt Procyon, der Wolfshund. Onkel Aquila war sehr groß, das war das erste, was Marcus an ihm aufgefallen war und was ihm immer aufs neue auffiel. Seine Gelenke waren so elastisch, als seien sie mit nassem Leder zusammengeknüpft. 51
Sein Kopf mit den Sommersprossen auf der hohen Stirn und seine knochigen, schönen Hände waren im Verhältnis zum übrigen Körper groß, und seine ganze Erscheinung strahlte eine Autorität aus, ohne daß er sich dessen sonderlich bewußt war. Selbst wenn man bedachte, daß er zwanzig Jahre älter war als Marcus’ Vater, glich er ihm nicht im mindesten; aber Marcus hatte es längst aufgegeben, ihn mit irgend jemand anderem zu vergleichen und zu messen. Er war einfach Onkel Aquila. Sie hatten die Abendmahlzeit beendet, und der alte Stephanos hatte ein Schachbrett auf den Tisch zwischen Marcus und seinen Onkel gesetzt und war fortgegangen. Im Lampenlicht glänzten die Elfenbein- und Ebenholzquadrate in tiefem Weiß und Schwarz. Onkel Aquila hatte seine Figuren schon aufgestellt, aber Marcus war langsamer, weil seine Gedanken woanders waren. Er setzte seine letzte Elfenbeinfigur mit einem leichten Knall auf das Brett und sagte: »Ulpius war heute morgen hier.« »Ach, unser dicker Arzt«, sagte Onkel Aquila und nahm seine Hand, mit der er eben den Eröffnungszug machen wollte, auf die Stuhllehne zurück. »Hatte er irgend etwas Besonderes zu sagen?« »Nur das Übliche. Ich soll warten und warten.« Plötzlich brach es aus Marcus zwischen Lachen und Verzweiflung hervor: »Er sagte, ich müßte ein bißchen Geduld haben und nannte mich seinen lieben jungen Mann und hielt mir seinen parfümierten, dicken Finger unter die Nase. Er ist wie die weichen, weißen Dinger, die man unter Steinen findet!« »Stimmt«, sagte Onkel Aquila. »Trotzdem mußt du warten – es bleibt dir nichts anderes übrig.« Marcus sah vom Brett auf. »Das ist der Haken. Wie lange kann ich warten?« »Hm?« sagte Onkel Aquila. »Ich bin seit zwei Monaten hier, und wir haben nie über die Zukunft gesprochen. Ich habe das von einem Besuch dieses dicken Blutsaugers bis zum nächsten verschoben, weil – weil ich nie an ein anderes Leben gedacht habe, als an ein Leben bei der Armee, und ich weiß nicht, wie ich ein neues anfangen soll.« Er lächelte seinen Onkel entschuldigend an. »Aber wir müssen einmal darüber sprechen.« 52
»Einmal ja, aber nicht jetzt. Du brauchst dir keine Gedanken über deine Zukunft zu machen, solange dein Bein dich noch nicht trägt.« »Aber nur Mithras weiß, wie lange das noch dauern wird. Sieb, mal, ich kann mich dir doch nicht ewig aufhalsen.« »Oh, mein guter Junge, sei doch kein Narr!« unterbrach ihn Onkel Aquila, aber seine Augen unter den buschigen Augenbrauen waren plötzlich freundlich. »Ich bin kein reicher Mann, aber ich bin auch nicht so arm, daß ich nicht einen Verwandten in meinem Hause mit durchbringen kann. Du bist mir nicht im Wege, und ehrlich gestanden vergesse ich meistens, daß du überhaupt da bist; du spielst einigermaßen gut Schach. Selbstverständlich bleibst du hier, es sei denn « – er beugte sich plötzlich vor – »es sei denn, du möchtest lieber nach Hause.« »Nach Hause?« echote Marcus. »Ja. Ich nehme doch an, du bist immer noch bei meiner komischen Schwester zu Hause?« »Und bei dem angeheirateten Onkel Tullus Lepidus?« Marcus hob den Kopf, und seine schwarzen Brauen zogen sich zusammen, so daß sie sich über der Nase berührten, und die Nase sah aus, als stiege ein übler Geruch auf. »Eher würde ich mich an den Tiber setzen und mein Brot von den armen Frauen erbetteln, die dort ihre Wasserkrüge füllen!« »So?« Onkel Aquila nickte mit seinem großen Kopf. »Da das also klar ist, können wir jetzt wohl spielen?« Er hatte den Eröffnungszug gemacht, und Marcus zog nach. Eine Zeitlang spielten sie schweigend. Der lampenerhellte Raum war eine Muschel aus Stille mitten in dem Meeresrauschen des Sturmes; die kleinen, safrangelben Flammen knisterten in dem Kohlenbecken, und ein verbrannter Kirschbaumast fiel mit leisem Rascheln in die rote Mulde der Holzkohle. Ab und zu ertönte ein leises Klick, wenn Marcus oder sein Onkel eine Figur auf dem Brett vorrückte. Aber Marcus hörte die kleinen, friedlichen Geräusche kaum, und er sah nicht den Mann ihm gegenüber, denn er dachte an mancherlei, an das er den ganzen Tag nicht hatte denken wollen. 53
Es war der vierundzwanzigste Abend im Dezember, der Abend der Wintersonnenwende – der Abend von Mithras’ Geburt; und nun würden sich bald in Lagern und Festungen, überall dort, wohin die römischen Legionen gekommen waren, Männer versammeln, ihn anzubeten. Bei den Vorposten und in den kleinen Grenzfestungen würde es nur eine Handvoll Männer sein, aber in den großen Standorten einer Legion würden über hundert Männer in den Höhlen zusammenkommen. Letztes Jahr in Isca war er einer von ihnen gewesen, zum erstenmal hatte er das Schlachtopfer mit herrichten dürfen, als ihm die Wunde des Raben-Grades noch zwischen den Brauen brannte. Er wünschte sich sehnlichst das letzte Jahr zurück, wünschte sich das alte Leben und das Zusammensein mit den Kameraden. Er setzte einen Elfenbeinmann ein wenig blindlings vor, denn er sah nicht das schwarz-weiß gewürfelte Brett vor sich, sondern die Männer vom letzten Jahr, die aus dem prätorianischen Tor herauskamen und der Höhle zustrebten. Er sah, wie sich der Helmbusch des Centurio vor ihm schwarz vor dem flimmernden Licht des Orion aufrichtete. Er erinnerte sich an das erwartungsvolle Dunkel der Höhle; dann, als die Trompeten von den fernen Wällen .zum dritten Wachwechsel der Nacht bliesen, erstrahlten plötzlich Kerzen, die flackerten und blau wurden und dann hell aufflammten: das neugeborene Licht des Mithras am dunkelsten Punkt des Jahres… Ein mächtiger Windstoß fuhr gegen das Haus wie ein wildes Wesen, das Einlaß begehrte, das Lampenlicht zuckte und flackerte und ließ Schatten über das gewürfelte Brett tanzen – und die schemenhaften Gestalten des letzten Jahres waren wieder um Jahresfrist entfernt. Marcus sah auf und sagte, mehr um seine Gedanken zu verscheuchen: »Ich möchte mal wissen, wieso du dich hier in Britannien niedergelassen hast, Onkel Aquila. Du hättest doch nach Hause gehen können!« Onkel Aquila rückte seine Figur mit peinlicher Sorgfalt, bevor er mit einer neuen Frage antwortete. »Du findest es wohl sehr merkwürdig, daß jemand, der nach Hause gehen kann, seine Wurzeln in dieses barbarische Land schlägt?«
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»In einer Nacht wie dieser ist es einfach unvorstellbar«, sagte Marcus. »Ich hatte nichts, was mich nach Hause zog«, sagte der andere schlicht. »Ich hatte meine meisten Dienstjahre hier verbracht, obwohl ich damals in Judäa war, als meine Zeit bei der Armee um war. Was habe ich mit dem Süden zu tun? Ein paar Erinnerungen, nur ein paar. Ich war ein junger Mann, als ich zum erstenmal vor dem Bug der Transport-Galeere die weißen Felsen von Dubris sah. Viel mehr Erinnerungen im Norden. Du bist am Zug…« Marcus setzte eine Elfenbeinfigur in das nächste Feld, und sein Onkel zog seine nächste Figur. »Wenn ich mich im Süden niedergelassen hätte, hätte ich den Himmel entbehrt. Hast du mal bemerkt, wie schnell der britische Himmel sich verändert? Ich habe Freunde hier – einige. Die einzige Frau, die mir jemals lieb war, liegt in Glevum begraben.« Marcus sah schnell auf. »Ich wußte nicht -« »Wie solltest du auch? Aber ich war nicht immer der alte Onkel Aquila mit dem kahlen Kopf.« »Nein, natürlich nicht. Wie war sie?« »Sehr schön. Sie war die Tochter meines alten Lagerkommandanten, der ein Gesicht hatte wie ein Kamel, aber sie war sehr schön mit ihrem vollen, weichen braunen Haar. Achtzehn war sie, als sie starb. Ich war zweiundzwanzig.« Marcus sagte nichts. Was sollte er auch sagen? Aber als Onkel Aquila den Ausdruck in seinem Gesicht sah, lachte er auf. »Nein, du siehst es nicht richtig. Ich bin ein sehr selbstsüchtiger alter Mann und bin mit meinem Leben, so wie es ist, höchst zufrieden.« Und nach einer Pause griff er einen anderen Punkt aus ihrem früheren Gespräch wieder auf. »Ich tötete meinen ersten Bären in Siluria; ich habe Blutsbrüderschaft mit einem Tätowierten da oben geschlossen, das war noch hinter der Gegend, wo heute der Hadrianswall läuft. Ich habe eine Hündin in Luguvallium begraben – sie hieß Margarita; ich habe ein Mädchen in Glevum geliebt; ich habe römische Soldaten in schlechterem Wetter als heute kreuz und quer durch Britannien geführt. Das alles brachte mich dazu, hier Wurzeln zu schlagen.« 55
Marcus sagte nach einer Weile: »Jetzt verstehe ich dich langsam.« »Gut. Du bist am Zug.« Aber nachdem sie die nächsten Züge schweigend getan hatten, blickte Onkel Aquila wieder auf, und die Krähenfüße an seinen Augen vertieften sich. »In was für eine düstere Stimmung sind wir geraten! Wir brauchen ein bißchen Abwechslung, du und ich.« »Was schlägst du vor?« fragte Marcus und erwiderte das Lächeln. »Ich schlage vor, daß wir morgen zu den Saturnalienspielen gehen. Wir können zwar nicht ganz mit dem Colosseum konkurrieren hier in Calleva, aber wir haben Raubtierkämpfe und einen Scheinkampf mit etwas Blutvergießen – ich meine, wir sollten hingehen.« Und sie gingen hin; Marcus wurde in einer Sänfte getragen, als sei er ein Magistratsbeamter oder eine feine Dame, wie er ärgerlich feststellte. Sie waren sehr zeitig da, aber als sie sich auf einer der kissenbelegten Bänke niedergelassen hatten, die für den Magistrat und dessen Familien reserviert waren (Onkel Aquila gehörte zum Magistrat, wenn er auch nicht in einer Sänfte gekommen war), füllte sich das Amphitheater vor dem Osttor schon mit erwartungsvollen Zuschauern. Der Wind hatte jetzt nachgelassen, aber es war frisch, und Marcus atmete begierig die frostklare Luft ein, während er sich enger in seinen alten Soldatenmantel hüllte. Nachdem er so lange in seine vier Wände verbannt gewesen war, erschien ihm die Sandfläche der Arena sehr groß; sie war eine weite, leere Fläche innerhalb der sie umschließenden Ränge; auf denen sich Reihe auf Reihe der vollbesetzten Bänke erhob. Wenn auch die Britannier vieles, was von Rom kam, ablehnten, so hatten sie doch mit einer wahren Leidenschaft die Spiele übernommen, dachte Marcus, als er die besetzten Bänke überblickte, wo sich Stadtleute und Landleute mit Frauen und Kindern mit viel Gedränge und Geschrei um die besten Plätze stritten. Einzelne Soldaten aus dem Durchgangslager waren gekommen, und Marcus erblickte in der Menge einen gelangweilten jungen Tribun, der von ein paar britannischen jungen Leuten umgeben war, die sich alle ebenso römisch und ebenso gelangweilt zu geben versuchten. Er mußte an die Mengen im Colosseum denken, die schwatzten, schrien, sich stritten, 56
Wetten abschlossen und klebriges Zuckerzeug aßen. Die Britannier waren bei ihren Vergnügungen zwar nicht ganz so laut, aber auf fast jedem Gesicht lag der gleiche erwartungsvolle, beinah gierige Ausdruck, den Marcus von den Gesichtern der Menschen im Colosseum kannte. Eine kleine Unruhe in seiner Nähe lenkte Marcus’ Aufmerksamkeit auf die Ankunft einer Familie, die eben ihre Plätze auf den Magistratsbänken rechts von ihm einnahm. Es war eine britannische Familie von super-römischer Art, ein großer, freundlich aussehender Mann mit Ansätzen zum Dickwerden, wie das häufig bei Männern ist, die für ein hartes Leben erzoge n wurden und ein bequemes führen; eine Frau mit einem hübschen und ziemlich dummen Gesicht, aufgetakelt nach der Mode, die vor zwei Jahren in Rom der letzte Schrei gewesen war – sie muß schön frieren in ihrem dünnen Mantel, dachte Marcus – , und ein Mädche n von ungefähr zwölf oder dreizehn Jahren mit einem spitzen kleinen Gesicht, das in dem Schatten ihrer Haube nur aus goldenen Augen zu bestehen schien. Der dicke Mann und Onkel Aquila grüßten sich über die Köpfe der Leute hinweg, und die Frau verneigte sich. Ganz Rom lag in dieser Verneigung; aber die Augen des Mädchens hingen in schreckerfüllter Erwartung an der Arena. Als die Ankömmlinge sich auf ihren Plätzen niedergelassen hatten, berührte Marcus das Handgelenk seines Onkels und zog eine Braue fragend in die Höhe. »Ein Magistratsmitglied wie ich, Kaeso ist sein Name, mit seiner Frau Valaria«, sagte Onkel Aquila. »Übrigens sind es unsere nächsten Nachbarn.« »Wirklich? Aber das junge Mädchen – sie ist doch wohl kein Sproß von ihrem Stamm?« Er bekam keine Antwort auf seine Frage, denn ein lautes Getön von Zimbeln und eine Trompetenfanfare zeigten an, daß die Spiele begannen. Die ganze vollbesetzte Runde war plötzlich still und voller Spannung. Wieder ertönten die Trompeten. Die Doppeltüren an der anderen Seite wurden geöffnet, und aus den unterirdischen Zellen marschierte eine Doppelreihe von Gladiatoren in die Arena ein; jeder 57
Gladiator trug die Waffen, die er später bei den Spielen benutzen würde. Eine Welle von Schreien begrüßte ihr Erscheinen. Für einen kleinen Zirkus in einem besetzten Land sahen die Gladiatoren recht gut aus, dachte Marcus, während er beobachtete, wie sie die Runde abschritten; zu gut vielleicht, obwohl sie wahrscheinlich alle Sklaven waren. Marcus hatte etwas ketzerische Ansichten über die Spiele; er sah ganz gern einen Raubtierkampf oder auch einen gut durchgeführten Scheinkampf, aber Männer aufzustellen – mochten es auch Sklaven sein -, die auf Tod und Leben kämpften, um die Menge zu belustigen, erschien ihm sinnlos. Die Männer hatten nun vor den Bänken des Magistrats haltgemacht; und in den wenigen Augenblicken, da sie dort standen, wurde Marcus’ ganze Aufmerksamkeit auf einen von ihnen gelenkt: einen Schwertund Schildmann, der ungefähr so alt war wie er selbst. Er war für einen Britannier ziemlich klein, aber kräftig. Sein rotbraunes Haar, das durch die wilde stolze Kopfhaltung nach hinten geworfen war, ließ das gekappte Ohr frei, durch das er als Sklave gebrandmarkt war. Offenbar war er im Krieg gefangen genommen worden, denn seine Brust und seine Schultern – sein Oberkörper war nackt – waren mit blauen Kriegermustern tätowiert. Aber von alledem sah Marcus nichts, er sah nur den Blick in den weit auseinanderliegenden, grauen Augen, den Blick in dem düsteren, jungen Gesicht des Gladiators, der ihn anschaute. Dieser Mann hat Angst, fühlte Marcus in seinem Herzen. Angst – Angst, und sein Magen drehte sich um. Waffen glänzten in dem winterlichen Licht auf, als sie mit einem Schrei hochgeschleudert und wieder aufgefangen wurden, und die Gladiatoren schwenkten um und durchschritten den weiten Bogen, der sie wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückführte. Aber der Blick in den Augen des jungen Schwertmannes ließ Marcus nicht wieder los. Der erste Programmpunkt war ein Kampf zwischen Wölfen und einem braunen Bären. Der Bär war kampfunlustig und mußte mit den langen, wirbelnden Peitschenriemen der Wärter in den Kampf gejagt werden. Plötzlich wurde er unter dem lauten Geschrei des Publikums getötet. Sein Kadaver wurde mit denen der beiden Wölfe, die er 58
gerissen hatte, herausgeschleppt; die anderen wurden bis zum nächsten Kampf in ihre fahrbaren Käfige zurückgelockt, und Wärter streuten frischen Sand über das Blut in der Arena. Marcus warf, ohne recht zu wissen warum, einen raschen Blick zu dem Mädchen mit der dunklen Haube hinüber; er sah sie vollkommen erstarrt dasitzen, die Augen in ihrem aschfahlen Gesicht waren groß und schreckerfüllt. Obwohl er immer noch merkwürdig betroffen von jenem seltsamen Augenblick war, in dem er sich mit dem jungen Gladia tor verbunden gefühlt hatte, der so große Angst hatte, stieg jetzt in ihm schrecklicher Zorn gegen Kaeso und seine Frau auf, weil sie dem jungen Mädchen dieses zumuteten, ein Zorn auf alle Spiele und allen Pöbel, der geifernd vor Begierde nach Schrecken zu den Spielen kam, ein Zorn sogar auf den Bären, weil er getötet worden war. Der nächste Programmpunkt war ein Scheinkampf, bei dem sich die Kämpfer nur ein paar Fleischwunden beibrachten. (Das lag daran, daß die Zirkusdirektoren es sich nicht leisten konnten, zu verschwenderisch mit ihren Gladiatoren umzugehen.) Dann kam ein Boxkampf, in dem die schwere Kette um die Hand der Kämpfer mehr Blutvergießen verursachte als die Schwerter vorhin. In einer Pause wurde die Arena wieder gesäubert und mit neuem Sand bestreut; dann lief eine Welle der Erwartung durch die Menge, selbst der gelangweilte junge Tribun richtete sich auf und wurde aufmerksam, als sich nach einem neuen Trompetenstoß die Doppeltüren wieder weit öffneten und zwei Gestalten Seite an Seite in die weite, leere Arena traten. Dies war das Richtige: ein Kampf auf Leben und Tod. Auf den ersten Blick konnte man glauben, die beiden wären unterschiedlich bewaffnet, denn während der eine mit Schwert und Schild ausgerüstet war, trug der andere, ein schlanker, dunkler Mann, der in Gesicht und Gestalt etwas Griechisches hatte, nur einen dreizackigen Speer und über der Schulter ein eng zusammengelegtes Netz, das mit kleinen Bleiplatten beschwert war. Aber in Wirklichkeit hatte der Mann mit dem Netz die ungleich größeren Chancen. Man nannte ihn den Fischer, und Marcus sah zu seinem Schrecken, daß der andere der junge Schwertmann war, der Angst hatte.
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»Ich habe das Netz nie gemocht«, murrte Onkel Aquila. »Das ist kein gerechter Kampf, nein!« Einen Augenblick vorher hatte Marcus noch gefühlt, daß er einen schlimmen Krampf in seinem Bein bekam; er war hin- und hergerutscht und hatte gehofft, daß er den Schmerz dadurch lindern könnte, ohne Onkel Aquilas Aufmerksamkeit zu erregen, aber jetzt, als die beiden Männer auf die Mitte der Arena zugingen, war sein Bein vergessen. Das Gebrüll, das die beiden Kämpfer begrüßte, war in atemlose Stille übergegangen. In der Mitte der Arena wurden die beiden Männer von dem Aufseher der Gladiatoren genau zehn Schritte voneinander entfernt aufgestellt, so daß keiner von beiden einen Vorteil durch Sonne oder Wind hatte. Das geschah schnell und sicher, dann trat der Aufseher an die Schranke zurück. Lange Zeit, so schien es, bewegte sich keiner von beiden. Augenblick um Augenblick verstrich, und sie standen immer noch regungslos als Mittelpunkt des riesigen Umkreises von starrenden Gesichtern. Dann begann der Schwertmann, sich ganz langsam zu bewegen. Ohne die Augen von seinem Gegner zu lassen, schob er einen Fuß vor den anderen; er duckte sic h etwas, um seinen Körper mit dem runden Schild zu decken, und tastete sich Zentimeter um Zentimeter vor, jeden Muskel angespannt. Der Fischer stand unverändert still, sein Gewicht lagerte auf den Fußballen, in der Linken hielt er den Dreizack, die Rechte verbarg sich in den Falten des Netzes. Knapp außerhalb der Reichweite des Netzes hielt der Schwertmann für einen langen, schreckenvollen Augenblick inne und sprang dann vor. Sein Angriff kam so schnell, daß das ausgeworfene Netz seinen Kopf nicht berührte, der Fischer sprang rückwärts und dann zur Seite, um dem Stoß auszuweichen, drehte sich um und rannte um sein Leben, indes er sein Netz für einen neuen Wurf zusammenraffte, während der junge Schwertmann ihm unmittelbar auf den Fersen war. Sie rannten geduckt um die halbe Arena. Der Schwertmann war nicht so groß und leicht gebaut wie der andere, aber er hatte die Leichtfüßigkeit eines Jägers – vielleicht war er dem Wild nachgejagt, bevor sein Ohr gekappt wurde -, und er hatte sein Wild jetzt fast erreicht. Die beiden stürmten um die Schranken herum auf die Bänke des Magistrats zu, und direkt vor ihnen wirbelte 60
der Fischer herum und warf noch einmal. Das Netz zischte hoch wie eine dunkle Flamme und umzüngelte den laufenden jungen Schwertmann, der so in seine Jagd vertieft war, daß er das gefährliche Netz vergessen hatte. Das Gewicht schloß die tödlichen Maschen enger und enger, und die Menge brach in Geheul aus, als er kopfüber niederfiel und sich überschlug, hilflos verstrickt wie eine Fliege im Spinnennetz. Marcus reckte sich vor und meinte zu ersticken. Der Schwertmann lag unmittelbar unter ihm, so nahe, daß sie sich etwas hätten zuflüstern können. Der Fischer stand auf seinem gefallenen Gegner, den Dreizack zum Schlag erhoben, ein kleines Lächeln auf dem Gesicht, obwohl sein Atem durch die geweiteten Nasenflügel pfiff, während er sich in der Menge umsah und auf ihren Befehl wartete. Der gefallene Mann schien den verstrickten Arm heben zu wollen, was ein Zeichen dafür war, daß der besiegte Gladiator die Menge um Gnade bat, dann aber ließ er ihn stolz wieder zurücksinken. Durch die Falten des Netzes vor seinem Gesicht sah er Marcus gerade in die Augen, und sein Blick war so offen und vertraut, als seien sie die beiden einzigen Menschen in dem ganzen weiten Amphitheater. Marcus war aufgestanden und stützte sich mit einer Hand auf die Schranke, während er mit der anderen Hand das Zeichen der Gnade machte. Wieder und wieder machte er es, in leidenschaftlichem Feuer, mit der ganzen Kraft seines Willens, während er seinen dringlich flehenden Blick über die vollbesetzten Bankreihen schweifen ließ, wo schon verschiedentlich Daumen nach unten gezeigt wurden. Dieser Pöbel, dieser unaussprechlich dumme, blutrünstige Pöbel, der irgendwie dazu gebracht werden mußte, auf das Blutvergießen zu verzichten, das er sich wünschte! Alles in ihm empörte sich gegen den Pöbel, und eine Kampfeslust regte sich in ihm, die nicht größer hätte sein können, wenn er mit dem Schwert in der Hand über dem gefallenen Gladiator gestanden hätte. Daumen hoch! Daumen hoch! Ihr Narren!… Er hatte bemerkt, daß Onkel Aquilas großer Daumen von Anfang an himmelwärts zeigte; plötzlich merkte er, daß einige andere die Geste nachahmten, und dann noch einige. Für lange, lange Minuten hing das Schicksal des Schwertmannes in der Schwebe, und als dann Daumen um Daumen nach oben zeigten, senkte der Fischer 61
langsam seinen Dreizack und trat mit einer kleinen spöttischen Verneigung zurück. Marcus atmete in tiefer Erleichterung auf und überließ sich einer Welle von Schmerz in seinem verkrampften Bein, als ein Wärter kam, um den Schwertmann aus seiner Verstrickung zu lösen und ihm auf die Beine zu helfen. Er blickte nicht mehr auf den jungen Gladiator. Dieser Augenblick war für ihn beschämend, und Marcus fühlte sich nicht berechtigt, Zeuge dieser Scham zu werden. Abends fragte Marcus seinen Onkel bei ihrem täglichen Schachspiel: »Was wird nun aus diesem Burschen?« Nach gebührendem Nachdenken rückte Onkel Aquila eine Ebenholzfigur. »Der junge Narr von Schwertmann? Er wird höchstwahrscheinlich verkauft. Die Menge gibt ihr Geld nicht aus, um einen Mann kämpfen zu sehen, der schon einmal besiegt war und von ihrer Gnade abhing.« »Das habe ich mir gedacht«, sagte Marcus. Er sah bei seinem eigenen Zug auf. »Wie hoch sind die Preise in dieser Gegend? Wäre er für fünfzehnhundert Sesterzen zu haben?« »Wahrscheinlich. Warum?« »Weil ich so viel von meinem Sold und einer Abschiedsgabe von Julius Lepidus übrig habe. In Isca Dumnoniorum hatte ich nicht viel Gelegenheit zum Geldausgeben.« Onkel Aquilas Augenbrauen zogen sich fragend in die Höhe. »Willst du damit sagen, daß du ihn selbst kaufen willst?« »Würdest du ihn in deinem Hause aufnehmen?« »Ich denke schon«, sagte Onkel Aquila. »Obwohl mir nicht ganz einleuchtet, warum du dir einen zahme n Gladiator halten willst. Warum willst du es nicht lieber mit einem Wolf probieren?« Marcus lachte. »Ich brauche nicht so sehr einen zahmen Gladiator wie einen Leibsklaven. Ich kann dem armen alten Stephanos auf die Dauer nicht zu viel zumuten.« Onkel Aquila beugte sich über das gewürfelte Brett. »Und du glaubst also, daß ein Ex-Gladiator einen guten Leibsklaven für dich abgibt?« 62
»Ehrlich gesagt, darüber habe ich noch nicht nachgedacht«, sagte Marcus. »Wie fange ich es wohl am besten an, ihn zu kaufen?« »Schick jemand zu dem Sklavenmeister im Zirkus und biete die Hälfte von dem, was du zu zahlen gedenkst. Und danach schlaf mit einem Messer unter dem Kopfkissen«, sagte Onkel Aquila.
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Esca Der Kauf ging am folgenden Tag ohne große Schwierigkeiten vonstatten, denn obwohl Marcus nicht sehr viel bieten konnte, wußte Beppo, der Zirkusdirektor, ganz genau, daß er für einen besiegten Gladiator nicht allzuviel Geld bekommen würde. So wurde der Handel nach einigem Feilschen abgeschlossen, und abends nach dem Essen ging Stephanos los, um den neuen Sklaven zu holen. Marcus wartete allein im Atrium auf ihre Rückkehr, denn Onkel Aquila hatte sich in sein Studierzimmer im Wachtturm zurückgezogen, um eine besonders schwierige Frage aus der Geschichte der Belagerungen zu lösen. Marcus hatte versucht, in Onkel Aquilas Kopie der ›Georgica‹ zu lesen, aber seine Gedanken schweiften von Vergil zur Bienenzucht und dann zu der bevorstehenden Begegnung. Er dachte zum erstenmal darüber nach – was er bisher noch nicht getan hatte – , warum das Schicksal eines Sklavengladiators, den er nie zuvor gesehen hatte, ihm so sehr naheging. Und es ging ihm nahe. Vielleicht war es eine innere Verwandtschaft; und dennoch verstand er nicht ganz, was er mit einem fremden Sklaven gemeinsam hatte. Plötzlich vernahm sein lauschendes Ohr hinten im Sklavenhaus Geräusche von Ankommenden, er legte die Papyrusrolle hin und blickte zum Eingang. Schritte kamen durch den Säulengang, und zwei Gestalten erschienen auf der Schwelle. »Centurio Marcus, ich bringe den neuen Sklaven«, sagte Stephanos und trat diskret ins Dunkel zurück; der neue Sklave ging an das Fußende von Marcus’ Lager und blieb dort stehen. Für einen langen Augenblick schauten die beiden jungen Männer sich an; sie waren so allein in dem leeren, lampenerhellten Atrium wie gestern in dem vollbesetzten Amphitheater, während das schlappernde Geräusch von Stephanos’ Sandalen sich im Säulengang verlor. »Du bist es also«, sagte der Sklave schließlich. »Ja, ich bin es.«
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Wieder senkte sich Stille nieder, und wieder brach der Sklave sie. »Warum hast du die Menge gestern umgestimmt? Ich habe nicht um Gnade gebeten.« »Vielleicht war das der Grund.« Der Sklave zögerte etwas und sagte dann trotzig: »Ich hatte gestern Angst, ich, der ich doch ein Krieger war. Ich wo llte nicht in dem Netz des Fischers erwürgt werden.« »Ich weiß«, sagte Marcus. »Aber trotzdem hast du nicht um Gnade gebeten.« Der andere schaute ihn etwas verwirrt an. »Warum hast du mich gekauft?« »Ich brauche einen Leibsklaven.« »Man sucht ihn sich gewö hnlich nicht in der Arena.« »Ich suchte ja auch einen ungewöhnlichen Leibsklaven.« Ein kaum wahrnehmbares Lächeln zuckte in Marcus’ Augen auf, als er in die trotzigen, grauen Augen schaute, die unverwandt auf ihn gerichtet waren. »Keinen wie Stephanos, der zeit seines Lebens Sklave war und darum nichts ist – als Sklave.« Es war ein seltsames Gespräch zwischen einem Herrn und seinem Sklaven, aber keiner von beiden merkte es. »Ich bin erst seit zwei Jahren Sklave«, sagte der andere ruhig. »Und vorher warst du Krieger – wie heißt du?« »Ich bin Esca, der Sohn Cunovals, vom Stamme der Briganten, die das blaue Kriegsschild führen.« »Und ich bin – ich war Centurio bei den Hilfstruppen der Zweiten Legion«, sagte Marcus und war sich selbst nicht ganz darüber klar, warum er dem anderen Rechenschaft ablegte. Der Römer und der Britannier sahen sich beim Lampenlicht in die Augen, während ihrer beider Herkunft wie eine Herausforderung zwischen ihnen zu hängen schien. Dann streckte Esca unbewußt eine Hand aus und berührte das Ende des Bettes. »Das wußte ich, denn der Bärtige, Stephanos, hat es mir erzählt, und auch, daß mein Herr verwundet wurde. Das tut mir leid.« 65
»Hab Dank, daß du das sagst«, erwiderte Marcus. Esca blickte auf seine Hand an der Bettkante herunter und schaute dann wieder auf. »Ich hätte heute unterwegs leicht entfliehen können«, sagte er langsam. »Der alte Bärtige hätte mich nicht aufhalten können, wenn ich den Weg in die Freiheit gewählt hätte. Aber ich entschied mich, mit ihm zu gehen, weil ich ahnte, daß du es wärest, zu dem wir gingen.« »Und wenn es dann doch jemand anders gewesen wäre?« »Dann wäre ich später in die Wildnis geflohen, wo mein gekapptes Ohr mich nicht verraten würde. Hinter der Grenze leben immer noch freie Stämme.« Beim Sprechen zog er ein schlankes Messer aus seiner grobgewebten Tunika; er hatte es unmittelbar auf der Haut getragen und behandelte es nun so zärtlich, als sei es ein lebendiges und geliebtes Wesen. »Ich hatte dies zu meiner Befreiung.« »Und jetzt?« fragte Marcus und sah das schmale, tödliche Ding nicht mit einem einzigen Blick an. Für einen Augenblick wich der Trotz von Escas Zügen. Er beugte sich vor und ließ den Dolch klirrend auf den Intarsientisch neben Marcus fallen. »Ich bin der Hund des Centurio und lege mich ihm zu Füßen«, sagte er. So kam Esca zu dem Haushalt dazu. Er trug einen Speer, was ihn als Leibsklaven kennzeichnete und über die Haussklaven erhob, er stand bei den Mahlzeiten hinter Marcus’ Liege und schenkte ihm Wein ein und kümmerte sich um alles, was er brauchte. Nachts schlief er auf einer Matratze quer vor Marcus’ Tür. Er war ein ausgezeichneter Leibsklave, so daß Marcus annahm, daß er früher, bevor sein Ohr gekappt wurde, bei jemand anderem Waffenträger gewesen sein mußte; vielleicht bei seinem Vater oder bei einem älteren Bruder, wie das bei den britannischen Stämmen Sitte war. Er fragte ihn nie nach dieser Zeit und auch nicht, wie er in die Arena von Calleva gekommen war, weil er an seinem Sklaven eine gewisse scheue Zurückhaltung bemerkte, die ihn davon abhielt, in den anderen zu dringen und unerwünschte Fragen zu stellen. Eines Tages 66
würde Esca vielleicht freiwillig den Mund auftun, aber so weit war es noch nicht. Wochen verstrichen, und plötzlich schwollen die Blattknospen an dem Rosenbusch im Hof, und in der Luft hing ein Hauch von frischem Wachstum, der den fernen Frühling ahnen ließ. Langsam, sehr langsam heilte Marcus’ Bein. Er wachte nicht mehr jedesmal in der Nacht von einem stechenden Schmerz auf, wenn er sich umdrehte, und er konnte immer leichter um das Haus herumhumpeln. Mit der Zeit kam er so weit, daß er seinen Stock liegen ließ und mit einer Hand auf Escas Schulter gestützt ging. Das schien etwas ganz Selbstverständliches zu sein, denn ohne daß es ihm ganz bewußt wurde, verhielt er sich Esca ge genüber nicht mehr wie ein Herr, sondern mehr und mehr wie ein Freund; Esca allerdings vergaß seit jenem ersten Abend auch nicht einen einzigen Augenblick, daß er Marcus’ Sklave war. In diesem Winter machten die Wölfe der ganzen Gegend viel zu schaffen. Der Hunger trieb sie aus ihren Höhlen, und sie kamen bis vor die Wälle von Calleva, und oft hörte Marcus in der Nacht ihr langgezogenes Geheul, das alle Hunde in der Stadt mit einer Raserei bellen machte, die halb Haß, halb Sehnsucht war, halb heulende Herausforderung zwischen zwei Feinden, halb Ruf zwischen Blut und Blut. Auf den abgelegenen Höfen in den gerodeten Lichtungen wurden Schafhürden überfallen, und die Männer hielten jede Nacht Wolfswacht. In einem ein paar Meilen entfernten Dorf wurde ein Pony getötet, in einem anderen ein kleines Kind geraubt. Eines Tages kam Esca aus der Stadt mit der Nachricht zurück, daß für den nächsten Tag eine Wolfsjagd über die ganze Gegend geplant sei. Die Jagd hatte auf den abgelegenen Höfen begonnen, wo man die tragenden Mutterschafe retten wollte, und dann hatte man ein paar Berufsjäger und einige junge Offiziere aus dem Durchgangslager für einen Tag dazugeholt; nun sah es so aus, als ob das halbe Land auf den Beinen war, um die Plage zu beenden. Er überschüttete Marcus mit all diesen Neuigkeiten. Die Jäger wollten sich zwei Stunden vor Sonnenaufgang an einem bestimmten Platz treffen und von dort aus das Dickicht mit Hunden und Fackeln durchstöbern. Marcus legte den 67
Gürtel beiseite, den er gerade reparierte, und hörte mit dem gleichen Eifer zu, mit dem sein Sklave erzählte. Während er zuhörte, wünschte er sich sehnlich, bei dieser Wolfsjagd dabeizusein und sich die Frühlingsunruhe abzurennen, und er wußte, daß die gleiche Sehnsucht in seinem Sklaven brannte. Es sah nicht so aus, als ob er selbst jemals wieder auf die Jagd gehen könnte; aber das war kein Grund dafür, daß Esca nicht mitgehen sollte. »Esca«, sagte er unvermittelt, als der andere mit seinem Bericht fertig war. »Es wäre doch eine gute Sache, wenn du diese Wolfsjagd mitmachtest.« Escas Gesicht strahlte vor Eifer und Verlangen, aber nach einem Augenblick meinte er: »Das würde bedeuten, daß der Centurio vielleicht eine Nacht und einen Tag ohne seinen Sklaven auskommen müßte.« »Ich komme gut zurecht«, sagte Marcus zu ihm. »Ich werde den halben Stephanos von meinem Onkel leihen. Aber wie ist es mit Speeren? Ich habe meine dem Mann in Isca hinterlassen, der mein Nachfolger wurde, sonst hättest du die nehmen können.« »Wenn mein Herr wirklich meint, daß ich gehen darf, dann weiß ich, wo ich mir Speere leihen kann.« »Gut. Dann geh jetzt und hol sie dir.« So lieh sich Esca also die Speere, die er brauchte, und in stockdunkler Nacht hörte Marcus, wie er aufstand und die Speere aus der Ecke nahm, wo er sie zusammengestellt ha tte. Er stützte sich auf seinen Ellenbogen und sagte ins Dunkel: »Gehst du jetzt?« Ein leises Schurren und eine Bewegung verrieten ihm, daß Esca neben ihm stand. »Ja, wenn der Centurio es wirklich will?« »Ja, ich will es. Geh und töte deinen Wolf.« »Ich würde mich von Herzen freuen, wenn der Centurio mitkommen könnte«, erwiderte Esca rasch. »Vielleicht nächstes Jahr«, meinte Marcus schläfrig. »Gute Jagd, Esca!« Einen Augenblick tauchte ein dunkler Schatten vor dem Dämmerlicht der Tür auf, dann war er fort, und Marcus lauschte nun 68
hellwach auf die schnellen, leichten Schritte, die im Säulengang verhallten. Im Morgengrauen des nächsten Tages hörte er die Schritte zurückkommen, ein wenig schwerer als beim Fortgehen, und der dunkle Schatten erschien wieder vor der spinnwebrigen Blässe des Eingangs. »Esca! – Wie war die Jagd?« »Die Jagd war gut«, sagte Esca. Er lehnte die Speere mit leisem Klappern an die Wand, kam heran, beugte sich über das Bett, und Marcus sah, daß er im Arm unter seinem grobgewebten Mantel etwas Zusammengerolltes trug. »Ich habe dem Centurio meine Jagdbeute mitgebracht«, sagte er und legte das Bündel auf die Decke. Es war lebendig, und da es sich gestört fühlte, fing es an zu wimmern. Marcus’ freudig tastende Hand entdeckte, daß es warm und zottelig war. »Esca! Ein Wolfsjunges?« fragte er, als er krabbelnde Pfoten und eine suchende Schnauze entdeckte. Esca hatte sich umgewandt, um Funken aus dem Feuerstein zu schlagen und die Lampe anzuzünden. Die niedrige Flamme sank und zuckte auf und wurde ruhig; und im Schimmer des gelben Lichtes sah er ein sehr kleines, graues Wolfsjunges, das sich auf seine wackligen Beine zu stellen versuchte, bei dem plötzlichen Licht zu niesen anfing und sich dann zärtlich, wie alle sehr jungen Wesen, in seine Hand kuschelte. Esca trat wieder an das Bett und kniete sich hin. Als er das tat, bemerkte Marcus, daß ein brennender Glanz in seinen Augen war, eine Helligkeit, die er vorher nie gesehen hatte, und er fragte sich betrübt und irgendwie verletzt, ob Escas Rückkehr in die Knechtschaft nach einem Tag und einer Nacht in Freiheit der Grund hierfür sein mochte. »Wenn eine Wölfin mit Jungen getötet wird, nehmen wir in meinem Stamm manchmal die Jungen mit und ziehen sie mit den Hunden auf«, sagte Esca. »Wenn sie so sind wie dieser hier, sehr, sehr klein, so daß sie noch keine Erinnerung haben und ihr erstes Fleisch aus der Hand ihres Herrn bekommen.« 69
»Ist er jetzt hungrig?« fragte Marcus, als die Schnauze des Jungen in seinem Handinnern schnüffelte und schnaufte. »Nein, er ist voll von Milch- und Essensresten. Sassticca wird es nicht merken. Sieh nur, er schläft schon beinah, darum ist er so freundlich.« Die beiden Männer blickten sich lachend an, aber der seltsame, brennende Glanz war noch in Escas Augen; das Wolfsjunge krabbelte winselnd in die warme Höhle an Marcus’ Schulter und machte es sich dort gemütlich. Sein Atem roch nach Zwiebeln wie der von jungen Hunden. »Wie hast du ihn bekommen?« »Wir töteten eine Wölfin, die noch Milch gab, und da gingen zwei andere und ich, um die Jungen zu suchen. Sie töteten den Rest des Wurfes, diese Narren aus dem Süden, aber diesen hier rettete ich. Sein Vater kam. Sie sind gute Väter, die Wölfe, sie verteidigen ihre Jungen wild. Das war ein Kampf, hei! Ein guter Kampf!« »Du hast sehr viel riskiert«, sagte Marcus. »Das hättest du nicht tun sollen, Esca!« Er war halb ärgerlich, halb beschämt, daß Esca sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um ihm ein Wolfsjunges zu bringen, denn er war selber ein so erfahrener Jäger, daß er sehr gut wußte, was man riskierte, wenn man ein Wolfslager ausraubte, solange der Vater noch lebte. Esca schien sich im gleichen Augenblick in sich selber zu verkriechen. »Ich vergaß, daß ich das Eigentum meines Herrn aufs Spiel setzte«, sagte er, und seine Stimme klang plötzlich schwer und belegt. »Sei kein Narr«, entgegnete Marcus rasch. »Das meinte ich nicht, das weißt du ganz genau.« Lange Zeit schwiegen sie. Die beiden jungen Männer sahen sich gegenseitig in die Augen, aus denen das Lachen jetzt vollkommen geschwunden war. »Esca«, fragte Marcus schließlich, »was ist passiert?« »Nichts.« 70
»Das ist eine Lüge! Irgend jemand hat ein Unheil angerichtet.« Der andere verharrte in verstocktem Schweigen. »Esca, ich will eine Antwort!« Der andere regte sich, und sein trotziger Ausdruck milderte sich etwas. »Es war meine eigene Schuld«, fing er schließlich an, und die Worte kamen sehr zögernd aus seinem Mund. »Da war ein junger Tribun, einer von denen aus dem Durchgangslager, der, glaube ich, Soldaten nach Eboracum bringt – ein sehr glänzender junger Tribun, schön wie ein junges Mädchen, aber ein geschickter Jäger. Er war einer von denen, die mit zu dem Wolfslager gingen; als der alte Wolf tot war und wir davongekommen waren, reinigte ich gerade meinen Speer, und da lachte er und sagte: ›Das war ein nobler Wurf!‹ Dann sah er mein gekapptes Ohr und fügte hinzu: ›für einen Sklaven.‹ Ich war wütend und hielt meine Zunge nicht im Zaum. Ich erwiderte: ›Ich bin der Leibsklave von Centurio Marcus Flavius Aquila; sieht der Tribun Placidus (so hieß er) darin einen Grund, daß ich ein schlechterer Jäger sein sollte als er selber?‹« Esca unterbrach sich einen Augenblick und holte tief Luft. »Er sagte: ›Nicht den geringsten; aber der Tribun Placidus kann sein Leben aufs Spiel setzen, wann es ihm gefällt. Dein Herr, der gutes Geld für seinen Sklaven bezahlt hat, wird dir nicht dankbar sein, wenn du ihn mit einem Kadaver sitzen läßt, den er nicht einmal beim Abdecker verkaufen kann. Denk daran, wenn du das nächste Mal deinen Kopf in ein Wolfslager hältst.‹ Und dann lächelte er, und sein Lächeln dreht mir noch jetzt den Magen um.« Esca hatte dumpf, hoffnungslos und monoton gesprochen, als sage er die bittere Geschichte auswendig her. In Marcus stieg beim Zuhören ein kalter Zorn gegen den unbekannten Tribun auf, und im Lichte seines Zornes wurde ihm plötzlich manches deutlich, an das er bisher nie gedacht hatte. Impulsiv streckte er seine freie Hand aus und umfaßte das Handgelenk des anderen. »Esca, habe ich dir jemals durch ein Wort oder eine Tat zu verstehen gegeben, daß ich so von dir denke wie dieser Mann, der erst sechs Monate Soldat ist, von seinen Sklaven?«
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Esca schüttelte den Kopf. Sein Trotz war verflogen, und sein Gesicht in dem erlöschenden Lampenlicht war nicht mehr verschlossen und finster, sondern nur noch bekümmert. »Der Centurio ist nicht so einer wie der Tribun Placidus, der seinem Hund grundlos die Peitsche zeigt«, sagte er traurig. Marcus, verwirrt, verletzt und zornig, verlor plötzlich die Fassung. »Dieser verfluchte Tribun Placidus!« brach es aus ihm hervor, während sein Griff um das Handgelenk des anderen fester wurde. »Gilt sein Wort denn so viel mehr bei dir als meins? Mußt du deswegen von Hunden und Peitschen sprechen? Im Namen des Sonnenlichtes! Muß ich dir in so vielen Worten sagen, daß ich ein gekapptes Ohr nicht für die Trennungslinie zwischen Mensch und Tier halte? Habe ich dir das nicht die ganze Zeit deutlich genug bewiesen? Für mich gab es im Umgang mit dir keinen Gedanken an gleich oder ungleich, Sklave oder freier Mann, obwohl du zu stolz warst, um mich ebenso zu behandeln! Zu stolz! Hörst du? Und nun« – er hatte im Moment das schlafende Wolfsbaby ganz vergessen, richtete sich mit einer plötzlichen Bewegung auf seinen Ellenbogen auf und fiel wieder zurück. Halb war er ärgerlich, halb mußte er lachen, und als er einen blutenden Daumen hochhielt, war sein Zorn geplatzt wie eine Blase. »Und nun hat dein Geschenk mich gebissen! Mithras! Sein Mund steckt voller Dolche!« »Dann bist du mir wohl für die Dolche eine Sesterze schuldig«, sagte Esca, und plötzlich brachen sie beide in Gelächter aus, in ein befreiendes, lautes Gelächter, das nichts damit zu tun hat, ob es einen Grund zum Lachen gibt, während auf der gestreiften Decke zwischen ihnen das kleine, graue Wolfsjunge wild, verwirrt, aber sehr müde herumkrabbelte. Die Hausbewohner nahmen das plötzliche Erscheinen des Wolfsjungen im Hause sehr unterschiedlich auf. Procyon war bei der ersten Begegnung mißtrauisch: Der Ankömmling roch nach Wolf, nach Wildnis, und der große Hund ging steifbeinig um ihn herum, sein Nackenhaar sträubte sich leicht, während das Wolfsjunge wie eine haarige, bösartige Kröte über den Fußboden im Atrium watschelte, die Ohren zurückgelegt, die Schnauze beim ersten Versuch zu knurren 72
gerunzelt. Onkel Aquila bemerkte kaum, daß er da war, weil er im Augenblick vollkommen von der Belagerung Jerusalems gefesselt war; und Marcipor, der Haussklave, und Stephanos betrachteten ihn mit scheelen Blicken – aus dem Wolfsjungen würde eines Tages ein ausgewachsener Wolf werden, der das ganze Haus unsicher machte. Aber überraschenderweise war Sassticca eine Verbündete. Sassticca erzählte ihnen rundheraus, die Hände in den Hüften, daß sie sich alle zusammen schämen sollten. Was bildeten sie sich eigentlich ein, schalt sie gellend, sie liefen mit zwei gesunden Beinen herum und gönnten ihrem Herrn nicht eine Meute Wolfsjunge, wenn er sie gern wollte? Und in heller Empörung buk sie ihre Kuchen aus und brachte Marcus gleich drei braune Honigkuchen in einem Tuch und außerdem eine angestoßene Schale mit einer aufgemalten Jagdszene und sagte, er könnte sie als Freßnapf für den kleinen Wolf haben. Marcus, der ihre Schimpfreden gehört hatte – sie hatte eine laute Stimme -, nahm beide Gaben mit gebührendem Dank an, und als sie gegangen war, teilte er die Kuchen mit Esca. Sassticca war ihm von da an nicht mehr ganz so unerträglich wie bisher. Ein paar Tage später erzählte Esca Marcus von der Zeit, bevor sein Ohr gekappt wurde. Sie waren im Badehaus, als das geschah, und sie trockneten sich gerade nach einem kalten Bad ab. Die Zeit, die Marcus jeden Tag im Badebecken zubrachte, war eine seiner schönsten Vergnügungen, denn das Becken war so groß, daß man darin herumplantschen und ein paar Züge schwimmen konnte; und wenn er im Wasser war, konnte er manchmal sein lahmes Bein ganz vergessen, falls er nicht sehr unvorsichtig war. Manchmal überkam ihn ein wenig von dem Gefühl, neu geboren zu sein, das ihn immer in der Zeit überkommen hatte, als er noch Wagenlenker war. Aber es ähnelte diesem Gefühl nur, wie ein Schatten der Wirklichkeit ähnelt, und heute morgen, als er sich auf der bronzenen Liege aufrichtete und sich abtrocknete, war er plötzlich krank vor Sehnsucht nach der alten Herrlichkeit. Einmal, nur einmal wollte er noch die rasende Schnelligkeit spüren, wenn das Gespann 73
losstürmte, einmal den Ruck und die Kraft und den sausenden Fahrtwind. Und in diesem Augenblick kam, als sei er durch ein großes Verlangen herbeigerufen, ein schnell gelenkter Wagen die Straße gegenüber der Mauer des Badehauses herangejagt. Marcus ließ sich von Esca die Tunika reichen und sagte: »Wir hören nicht oft etwas anderes als einen Gemüsekarren hier in der Straße.« »Das wird wohl Lucius Urbanus, der Sohn des Händlers, sein«, meinte Esca. »Von seinen Ställen führt ein Weg hinter dem Tempel der Minerva entlang.« Der Wagen fuhr nun am Haus vorbei, und offenbar hatte der Wagenlenker Ärger, denn sie hörten durch die Mauer des Badehauses einen Peitschenknall und lautes Fluchen, und Esca fügte verächtlich hinzu: »Besser wäre es ein Gemüsekarren mit einem Ochsen davor. Hör nur! Er verdient nicht, mit Pferden umzugehen!« Marcus zog den feinen Wollstoff über den Kopf und langte nach seinem Gürtel. »Esca ist also ein Wagenlenker«, stellte er fest, indem er den Gürtel festschnallte. »Ich war meines Vaters Wagenlenker. Aber das ist lange her.« Und plötzlich war es Marcus klar, daß er Esca jetzt nach der Zeit fragen konnte, bevor er Sklave wurde. Nun tat er nichts Unerlaubtes mehr. Er rückte ein wenig beiseite, wies auf das Fußende der Liege, und als der andere sich hinsetzte, sagte er: »Esca, wie kam es, daß der Wagenlenker deines Vaters zum Gladiator in der Arena von Calleva wurde?« Esca knüpfte den eigenen Gürtel zu; er tat das mit der größten Sorgfalt, umschloß dann mit beiden Händen sein hochgezogenes Knie und saß eine Weile still, die Augen auf seine Hände niedergeschlagen. »Mein Vater war ein Hauptmann im Stamme der Briganten, Herr über fünfhundert Speere«, begann er schließlich. »Ich war sein Waffenträger, bis die Zeit kam, da ich selber Krieger wurde – bei den Männern in meinem Stamm wird man nach seinem sechzehnten Sommer Krieger. Als ich ein Jahr oder mehr ein Mann unter Männern 74
und meines Vaters Wagenlenker gewesen war, erhob sich unser Clan gegen seine Herren, weil der Durst nach Freiheit in uns steckt. Wir sind ein Stachel im Fleisch der Legionen gewesen, solange sie nach Norden marschiert sind, wir, die Träger der blauen Schilde. Wir erhoben uns und wurden zurückgeschlagen. Wir leisteten zum letztenmal in unserem befestigten Platz Widerstand, und wir wurden überwältigt. Alle Männer, die übriggeblieben waren – es waren nicht viele -, wurden als Sklaven verkauft. Aber ich schwöre bei den Göttern meines Volkes, bei dem Licht der Sonne, daß ich als Totgeglaubter in einem Graben lag, als sie mich holten. Sonst hätten sie mich nicht bekommen. Sie verkauften mich an einen Händler aus dem Süden, der mich hier in Calleva an Beppo verkaufte, und das andere weißt du.« »Bist du der Letzte deiner ganzen Familie?« fragte Marcus nach einer Pause. »Mein Vater und meine beiden Brüder starben. Meine Mutter auch. Mein Vater tötete sie, bevor die Legionssoldaten durchbrachen. Sie wollte es so.« Nach einer langen Stille sagte Marcus leise: »Mithras! Was für eine Geschichte!« »Und doch ist es eine ganz alltägliche Geschichte. Glaubst du denn, daß es in Isca Dumnoniorum so sehr viel anders zugegangen ist?« Aber bevor Marcus antworten konnte, fügte er schnell hinzu: »Es ist trotzdem nicht gut, wenn man zuviel daran denkt. Die Zeit davor – alles, was vorher war -, das war die gute Zeit, an die man denken muß.« So saßen sie im fahlen Märzsonnenschein, der schräg durch das hohe Fenster einfiel, und da begann Esca, ohne daß einer von ihnen recht wußte, wie es dazu kam, Marcus über die Zeit vor der Gefangenschaft zu erzählen. Er erzählte, wie er zum Krieger ausgebildet wurde, vom Baden im Fluß, wenn die Mücken in der flimmernden Luft tanzten, von dem großen weißen Bullen seines Vaters, der für ein Fest mit Mohnblüten geschmückt wurde, von seiner ersten Jagd und von der zahmen Otter, die ihm und seinem Bruder gehört hatte… Eins fügte sich an das andere, und plötzlich erzählte er, 75
wie er vor zehn Jahren, als das ganze Land im Aufruhr war, hinter einem Felsbrocken gelegen hatte und eine Legion nach Norden marschieren sah, die nie wieder zurückkam. »Ich hatte noch niemals so etwas gesehen«, sagte er. »Das war wie eine glitzernde Schlange von Menschen, die sich die Hügel hinaufschlängelte, eine graue Schlange, gescheckt mit den scharlachroten Mänteln und Helmbüschen der Offiziere. Es liefen merkwürdige Gerüchte über diese Legion um; man erzählte sich, daß sie verflucht sei, aber sie sah stärker aus als jeder Fluch, stärker und todbringender. Und ich erinnere mich, wie der Adler in der Sonne erglänzte, als er vorbeikam – ein großer goldener Adler mit ausgebreiteten Schwingen. Oft habe ich Adler so auf einen quiekenden Hasen im Heidekraut niederstoßen sehen. Aber der Nebel kam vom Hochmoor heruntergekrochen, die Legion marschierte mitten hinein, und der Nebel schluckte sie auf und schlug hinter ihr zusammen, und fort war sie, als sei sie von einer Welt in eine andere gegangen.« Esca machte eine schnelle Bewegung mit seiner rechten Hand und spreizte die beiden ersten Finger wie Hörner. »Seltsame Geschichten waren das, die man sic h über die Legion erzählte.« »Ja, ich kenne diese Geschichten«, sagte Marcus. »Esca, das war die Legion meines Vaters. Sein Helmbusch war der rote Fleck hinter dem Adler.«
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Zwei Welten Zwischen einem Rosmarinbusch und einer schlanken Buche führten zwei flache Stufen von der offenen Seite von Onkel Aquilas Hof hinunter in den Garten. Er war ziemlich verwildert, denn Onkel Aquila hatte keinen besonderen Sklaven für die Gartenarbeit, aber es war ein sehr schöner Garten, der bis zu den zerfallenen Erdwällen des britannischen Calleva hinunterging. An einigen Stellen erhoben sich schon die starken, steinbesetzten Mauern. Eines Tages würden sie auch an diesem Platz errichtet werden, aber bis jetzt zog sich hier nur die sanft geschwungene Wellenlinie aus altem Torf hin, der durch die Zweige der wilden Obstbäume schien. Und dort, wo der Wall eingesunken war, hatte man ab und zu einen Durchblick auf Wälder, die sich Meilen über Meilen hinzogen und weit hinten in rauchblaue Ferne übergingen, wo der Wald von Spinaii zum Wald von Anderida wurde und der Wald von Anderida sich schließlich in die Marschen und die See verlor. Marcus, der den ganzen Winter drinnen eingesperrt gewesen war, erschien der Garten wunderbar groß und hell, als er ihn ein paar Tage später zum erstenmal betrat. Und als Esca mit einem Auftrag fortgegangen war, streckte er sich auf der grauen Marmorbank unter den wilden Obstbäumen aus, verschränkte die Arme hinter dem Kopf, kniff die Augen wegen des hellen Lichts zusammen und schaute hinauf in die blauen Höhen des Himmels. Unten im Wald sangen irgendwo Vögel, und in ihren Trillern lag ein entzücktes Staunen, wie immer zu Frühlingsbeginn; für eine ganze Weile lag Marcus still und sog das alles in sich ein: die Weite und die Helligkeit und den Vogelgesang. Dicht neben ihm lag das Wolfsjunge zu einem Knäuel zusammengerollt. Wenn man es so sah, konnte man kaum glauben, was für ein kleiner Teufel es sein konnte, wenn es mit zurückgelegten Ohren und entblößten Milchzähnen über seinen Futternapf herfiel. Dann nahm Marcus die Arbeit auf, die er sich mitgebracht hatte. Er gehörte zu den Menschen, die immer etwas in der Hand haben 77
müssen, und wenn es ein Stock zum Schnitzen ist; in ihm steckte ein Handwerker, der immer beschäftigt sein mußte. Wenn er nicht verwundet worden wäre, hätte er seinen Tätigkeitsdrang darauf verwendet, eine gute und tüchtige Kohorte auszubilden; aber wie die Dinge einmal lagen, hatte er sich dieses Frühjahr darangemacht, die keltischen Waffen zu überholen und zu erneuern, die der einzige Schmuck waren, den Onkel Aquila an seinen Wänden duldete. Heute hatte er das Prachtstück der kleinen Sammlung mitgenommen, einen leichten, mit Bronze eingefaßten Reiterschild aus Rinderhaut, dessen mittlerer Buckel mit einer wunderbaren Emaillearbeit geschmückt war. Aber die Riemen mußten schon schlecht gewesen sein, als Onkel Aquila ihn bekam, und jetzt waren sie dünn und brüchig wie Papyrus. Er legte sein Werkzeug und das Leder für neue Riemen neben sich auf die breite Bank und machte sich daran, die alten abzuschneiden. Es war eine schwierige Arbeit, die seine volle Aufmerksamkeit erforderte, und er sah erst wieder auf, als er sie beendet hatte und sich umdrehte, um die alten Riemen wegzulegen. Da sah er, daß er nicht mehr allein mit dem Wolfsjungen war. Ein Mädchen stand unter den wilden Obstbäumen, wo die Hecke zu dem alten Erdwall anstieg, und sie blickte zu ihm herunter. Es war ein britannisches Mädchen in einer blaßgelben Tunika, aufrecht und hell wie eine Kerzenflamme; mit einer Hand strich sie ihr volles Haar zurück, das die Farbe von rotem Bernstein hatte und das der leichte Wind ihr ins Gesicht geweht hatte. Sie sahen sich eine Weile schweigend an. Dann sagte das Mädchen in klarem, sehr sorgfältigem Latein: »Ich habe lange gewartet, daß du aufblickst.« »Das tut mir leid«, sagte Marcus steif. »Ich hatte mit diesem Schild zu tun.« Sie kam einen Schritt näher. »Darf ich mir das Wolfsjunge ansehen? Ich habe noch nie einen zahmen jungen Wolf gesehen.« Marcus lächelte plötzlich und legte seine abwehrende Haltung zusammen mit dem Schild, an dem er gearbeitet hatte, ab. »Gern. Hier ist es.« Er schwenkte seine Beine auf den Boden, langte nach unten und packte das schlafende Wolfsjunge beim Nacken, als das Mädchen 78
bei ihnen ankam. Der Wölfling war nicht wilder als die meisten Hundejungen, außer wenn man ihn ärgerte, aber weil er größer und stärker für sein Alter war, konnte er sehr ruppig sein, und Marcus wollte nichts riskieren. Darum setzte er den jungen Wolf auf die Füße und hielt ihn mit einer Hand an seiner schmalen Brust zurück. »Sei vorsichtig, er ist nicht an Fremde gewöhnt.« Das Mädchen lächelte ihm zu und hockte sich auf ihre Hacken, indem sie dem Wölfling vorsichtig beide Hände entgegenstreckte. »Ich erschrecke ihn nicht«, sagte sie. Und der junge Wolf, der zuerst mit angelegten Ohren und gesträubten Haaren zu Marcus zurückgekrochen war, schien sehr langsam seine Meinung zu ändern. Behutsam, immer bereit, bei jedem Anzeichen von Gefahr zurückzuzucken oder zuzubeißen, fing er an, ihre Finger zu beschnüffeln; sie hielt ihre Hände ganz still und ließ ihn schnuppern. »Wie heißt er?« fragte sie. »Wolf.« »Wolf«, sagte sie leise, »Wolf.« Und als er winselte und ein wenig aus dem Schutz von Marcus’ Hand zu ihr hinrückte, begann sie, die warme Grube an seinem Hals mit einem Finger zu streicheln. »Komm, wir wollen Freunde sein, du und ich.« Sie muß ungefähr dreizehn sein, dachte Marcus, als er sie beobachtete, wie sie mit Wolf spielte. Sie war ein großes, schlankes Mädchen mit einem spitzen Gesicht, das an den Schläfen breit und am Kinn schmal war; die Form ihres Gesichts und die Farbe ihrer Augen und ihres Haares erinnerten ein wenig an eine junge Füchsin. Wenn sie zornig ist, dachte er, muß sie genau aussehen wie eine Füchsin. Ihm war fast so, als hätte er sie schon einmal gesehen, aber er wußte nicht wo. »Wie kommt es, daß du etwas von Wolf wußtest?« fragte er. Sie sah auf. »Narcissa, meine Amme, erzählte es mir – vor ungefähr einem Monat. Und zuerst glaubte ich es nicht, weil Nissa so oft etwas nicht richtig mitbekommt. Aber gestern hörte ich, wie ein Sklave auf dieser Seite der Hecke einem anderen zurief: ›Oh, du Tölpel, der Wolf deines Herrn hat mich in den Zeh gebissen!‹ Und der andere rief 79
zurück: ›Dann mögen die Götter geben, daß ihm von dem Geschmack nicht übel wird!‹ Daher wußte ich, daß es stimmte.« Als sie Esca und den Haussklaven Marcipor so nachahmte, warf Marcus lachend den Kopf zurück. »Und ihm ist übel geworden! – jedenfalls von irgend etwas.« Das Mädchen brach auch in fröhliches Lachen aus und zeigte dabei ihre spitzen Zähne, die so weiß und scharf waren wie Wolfs. Und als ob durch ihr Lachen eine Tür aufgesprungen sei, wußte Marcus jetzt plötzlich, woher er sie kannte. Kaeso und Valaria waren ihm ziemlich gleichgültig gewesen, daher hatte er vergessen, daß sie im Nebenhaus wohnten, und obwohl ihn das Mädchen beeindruckt hatte, das dabeigewesen war, hatte er nicht mehr an sie gedacht, weil Esca, der unmittelbar danach gekommen war, so viel wichtiger gewesen war; aber jetzt erinnerte er sich wieder an sie. »Ich sah dich bei den Saturnalienspielen«, sagte er. »Aber dein Haar war unter dem Umhang, und darum habe ich dich nicht wiedererkannt.« »Aber ich habe dich wiedererkannt!« entgegnete das Mädchen. Wolf jagte inzwischen einer Biene nach, und sie ließ ihn, setzte sich zurück und faltete die Hände in ihrem Schoß. »Nissa sagt, du kauftest diesen Gladiator. Ich wünschte, du hättest den Bären auch gekauft.« »Er tat dir sehr leid, der Bär, was?« fragte Marcus. »Es war grausam! Wenn man ihn auf der Jagd tötet, das ist etwas anderes, aber sie nahmen ihm seine Freiheit! Sie hielten ihn im Käfig, und dann töteten sie ihn.« »Der Käfig war also schlimm, schlimmer als das Töten?« »Ich mag keine Käfige«, sagte das Mädchen sehr entschieden. »Oder Netze. Ich bin froh, daß du den Gladiator gekauft hast.« Ein kleiner kalter Windstoß fuhr durch den Garten, versilberte das hohe Gras und schüttelte die keimenden Zweige der wilden Birnen und Kirschen. Das Mädchen zitterte, und Marcus bemerkte, daß ihre gelbe Tunika aus sehr dünner Wolle war, und selbst hier im Schütze der alten Wälle war es doch erst sehr früher Frühling. 80
»Du frierst«, meinte er und nahm seinen alten Soldatenmantel auf, den er über die Bank geworfen hatte. »Häng dir den um.« »Brauchst du ihn nicht?« »Nein. Meine Tunika ist dicker als das dünne Ding, das du anhast. So, nun komm her und setz dich hier auf die Bank.« Sie gehorchte ihm aufs Wort und zog den Mantel eng um sich. Als sie das tat, hielt sie einen Augenblick inne, sah auf den glänzenden Stoff und dann wieder zu Marcus. »Dies ist ja dein Soldatenmantel«, sagte sie. »So einer wie ihn die Centurionen aus dem Lager tragen.« Marcus deutete spöttisch einen Gruß an. »Du erblickst in mir Marcus Aquila, Ex-Kohorten-Centurio der gallischen Hilfstruppen der Zweiten Legion.« Das Mädchen sah ihn einen Augenblick schweigend an. Dann sagte sie: »Ich weiß. Tut die Wunde noch weh?« »Manchmal«, antwortete Marcus. »Hat Nissa dir das auch erzählt?« Sie nickte. »Sie scheint dir eine ganze Menge erzählt zu haben.« »Sklaven!« Sie machte eine rasche, verächtliche Geste. »Sie stehen in den Türen und schwatzen wie die Stare, aber Nissa ist die schlimmste von allen!« Marcus lachte, und eine kleine Weile sprach keiner etwas; aber dann sagte er: »Ich habe dir erzählt, wie ich heiße. Wie heißt du?« »Meine Tante und mein Onkel nennen mich Camilla, aber mein richtiger Name ist Cottia«, entgegnete das Mädchen. »Sie haben alles gern sehr römisch, weißt du.« So hatte er also richtig vermutet, daß sie nicht Kaesos Tochter war. »Und du nicht?« fragte er. »Ich? Ich stamme von den Ikenern! Meine Tante Valaria auch, obwohl sie das am liebsten vergißt.« »Ich kannte einmal ein schwarzes Pferdegespann, das aus den königlichen Ställen der Ikener stammte«, sagte Marcus, weil er 81
merkte, daß ein weiteres Gespräch über Tante Valaria nicht ganz das rechte Thema war. »Wirklich? Gehörten sie dir? Aus welcher Linie?« Ihr Gesicht strahlte vor Eifer. Marcus schüttelte den Kopf. »Sie gehörten nicht mir, und ich hatte nur ein einziges Mal die Freude, sie zu lenken; das war eine Freude! Und ich habe nicht erfahren, aus welcher Linie sie stammen.« »Der große Zuchthengst meines Vaters stammte von Prydfirth ab, dem Lieblingspferd des Königs Prasutogus«, sagte Cottia. »Wir sind alle Pferdezüchter, wir Ikener, alle vom König abwärts – als wir noch einen König hatten.« Sie zögerte, und ihre Stimme verlor den hellen Klang. »Mein Vater kam um, als er ein junges Pferd zuritt, und darum bin ich jetzt bei meiner Tante Valaria.« »Das tut mir leid. Und deine Mutter?« »Ich nehme an, daß es meiner Mutter gutgeht«, stellte Cottia sachlich fest. »Da war ein Jäger, der sie schon immer wollte, aber ihre Eltern gaben sie meinem Vater. Und als mein Vater hinter die Sonne ging, ging sie zu dem Jäger, und in seinem Hause war kein Platz für mich. Mit meinem Bruder war das natürlich etwas anderes. Es ist immer anders mit Jungen. Also gab meine Mutter mich zu Tante Valaria, die selber keine Kinder hat.« »Arme Cottia«, sagte Marcus leise. »Ach nein. Ich wollte nicht in dem Haus des Jägers leben, er war nicht mein Vater. Nur…« Ihre Stimme verlor sich in Schweigen. »Nur?« Cottias ausdrucksfähiges Gesicht war plötzlich füchsisch, wie er es sich vorgestellt hatte. »Nur hasse ich es, bei meiner Tante zu leben; ich hasse es, in einer Stadt mit lauter geraden Linien zu leben und in Steinmauern eingesperrt zu sein und Camilla genannt zu werden, und ich hasse – hasse – hasse es, wenn sie wollen, daß ich so tun soll, als ob ich ein römisches Mädchen wäre und daß ich meinen eigenen Stamm vergessen soll und meinen eigenen Vater!«
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Marcus kam schnell zu der Überzeugung, daß er Tante Valaria nicht leiden mochte. »Wenn es dich tröstet«, sagte er, »scheinen sie bisher keine großen Erfolge gehabt zu haben.« »Nein! Das lasse ich auch nicht zu! Ich tue nur so, äußerlich. Ich antworte, wenn sie mich Camilla nennen, und ich spreche mit ihnen lateinisch: Aber innen drin unter meiner Tunika, da bin ich Ikenerin, und wenn ich meine Tunika abends ausziehe, sage ich: ›So! Nun bin ich Rom bis morgen früh los!‹ Und ich liege in meine m Bett und denke – und denke – an meine Heimat und an die Sumpfvögel, die von Norden kommen, wenn die Blätter fallen, und ich denke an die Zuchtstuten mit ihren Fohlen in den Weidegründen meines Vaters. Ich erinnere mich an all diese Dinge, an die ich mich nicht erinnern soll, und ich spreche mit mir selber in meiner eigenen Sprache -« Sie brach ab und sah ihn überrascht an. »Wir sprechen jetzt ja in meiner Sprache! Seit wann tun wir das?« »Seit du mir sagtest, daß dein richtiger Name Cottia ist.« Cottia nickte. Es schien ihr nicht in den Sinn zu kommen, daß ihr Zuhörer, dem sie dieses erzählte, selber ein Römer war, und auch Marcus kam es nicht in den Sinn. Im Augenblick war ihm nur bewußt, daß auch Cottia in der Fremde lebte, und er fühlte sich innerlich auf seltsame Weise mit ihr verbunden. Und als ob sie das merkte, rückte sie ein wenig näher und wickelte sich fester in den roten Mantel. »Ich fühle mich sehr wohl in deinem Mantel«, sagte sie zufrieden. »Man fühlt sich warm und beschützt wie ein Vogel in seinen Federn.« Von der anderen Seite der Hecke ertönte in diesem Augenblick eine Stimme, schrill wie ein Pfauenschrei vor dem Regen. »Camilla! Vögelchen! Oh, mein Fräulein Camilla!« Cottia seufzte bekümmert. »Das ist Nissa«, sagte sie. »Ich muß gehen.« Aber sie rührte sich nicht. »Camilla!« rief die Stimme, dieses Mal näher. »Das ist wieder Nissa«, sagte Marcus. »Ja, ich – muß gehen.« Sie stand langsam auf und ließ den schweren Mantel fallen. Aber sie zögerte immer noch, während die kreischende Stimme näherkam. Dann sagte sie hastig: »Laß mich 83
wiederkommen! Bitte, bitte! Du brauchst nicht mit mir zu sprechen, du brauchst dich nicht um mich zu kümmern.« »Oh, mein Fräulein! Wo bist du, Kind des Typhon?« klagte die Stimme, die nun in nächster Nähe war. »Komm, wenn du magst – ich freue mich, wenn du kommst«, sagte Marcus schnell. »Ich komme morgen«, versprach Cottia und ging in der Haltung einer Königin zu dem alten Wall hinüber. Die meisten britannischen Frauen schienen diese königliche Haltung zu haben, dachte Marcus, als sie hinter der Hecke verschwand; und er mußte an Guinhumara in der Hüttentür in Isca Dumnoniorum denken. Was war aus ihr und dem braunen Baby geworden, nachdem Cradoc tot war und die Hütten verbrannt und die Felder versalzen? Er würde es nie erfahren. Die schrille Stimme war nun am anderen Ende der Hecke in närrisches Gescheite übergegangen. Fußtritte ertönten auf dem Gras, und als Marcus den Kopf wandte, sah er Esca auf sich zukommen. »Mein Herr hat Gesellschaft gehabt«, sagte Esca, indem er grüßend die Speerspitze an die Stirn legte, als er neben ihm stand. »Ja, und es hört sich so an, als ob ihre Amme sie meinetwegen tüchtig ausschilt«, sagte Marcus etwas besorgt, während er auf die sich verlierende schrille Stimme lauschte. »Wenn alles stimmt, was ich höre, dann macht das Schelten diesem Mädchen nichts aus«, sagte Esca. »Du kannst genausogut einen fliegenden Speer ausschelten.« Marcus lehnte sich zurück, die Hände im Nacken verschränkt, und blickte zu seinem Sklaven auf. Er mußte immer noch an Guinhumara und ihr Baby denken, die ihm durch Cottia eingefallen waren. »Esca, warum lehnen sich alle Grenzstämme so erbittert gegen unser Kommen auf?« fragte er aus einem plötzlichen Impuls heraus. »Die Stämme des Südens haben sich viel williger unserer Art angepaßt.« »Wir haben unsere eigene Art«, sagte Esca. »Die Stämme des Südens hatten ihr Geburtsrecht schon verloren, bevor die Römer als Eroberer kamen. Sie verkauften es für die Dinge, die Rom ihnen bot. 84
Sie waren fett von römischen Waren, und ihre Seelen waren träge geworden.« »Aber all die Dinge, die von Rom kamen, waren doch gut?« fragte Marcus. »Gerechtigkeit und Ordnung und gute Straßen – das war doch etwas!« »Das ist alles gut«, stimmte Esca zu. »Aber der Preis ist zu hoch.« »Der Preis? Die Freiheit?« »Ja – und mehr als die Freiheit.« »Was noch? Sprich, Esca, ich möchte es wissen. Ich möchte euch verstehen.« Esca blickte starr vor sich hin und dachte eine Weile nach. »Sieh dir mal das Muster hier auf deiner Dolchklinge an«, sagte der andere schließlich. »Hier ist ein enger Bogen, und hier nach der anderen Seite offen ein zweiter Bogen, der das Gleichgewicht herstellt, und hier zwischen den Bögen ist eine kleine, runde, aufrechte Blume; und das alles wiederholt sich hier und hier und hier. Es ist schön, gewiß, aber es ist für mich so bedeutungslos wie eine erloschene Lampe.« Marcus nickte, als der andere zu ihm aufblickte. »Sprich weiter!« Esca nahm den Schild auf, den Marcus beiseite gelegt hatte, als Cottia kam. »Nun sieh dir mal diesen Schildbuckel an. Diese Wellenlinien hier fließen eine aus der anderen wie ein Wasserstrom aus dem anderen, ein Windstoß aus dem anderen, sie kreisen wie die Sterne am Himmel und treiben wie Sand in den Dünen. Das sind die Linien des Lebens, und der Mann, der sie gemacht hat, wußte in seinem Innern von verborgenen Dingen, zu denen dein Volk den Schlüssel verloren hat – wenn es ihn überhaupt einmal besaß.« Er blickte wieder sehr ernst zu Marcus auf. »Ihr könnt nicht erwarten, daß der Mann, der diesen Schild machte, seinen Nacken willig unter das Joch des Mannes beugte, der diese Dolchklinge machte.« »Die Klinge machte ein britannischer Handwerker«, sagte Marcus beharrlich. »Ich kaufte sie in Anderida, als ich zum erstenmal nach Britannien kam.« »Ein britannischer Handwerker schon, aber nach römischem Muster. Einer, der so lange unter dem Schütze Roms gelebt hatte – 85
auch seine Vorfahren schon – , daß er die Art und den Geist seines eigenen Volkes vergessen hatte.« Er legte den Schild wieder hin. »Ihr habt feste Steinwälle gebaut, ihr habt gerade Straßen geschaffen, eine geordnete Gerichtsbarkeit und disziplinierte Truppen. Das wissen wir, das wissen wir alles nur zu gut. Wir wissen, daß euer Recht besser ist als unseres, und wenn wir uns dagegen erheben, erleben wir, daß unser Ansturm an der Disziplin eurer Truppen zerschellt wie eine Welle am Felsen. Aber wir verstehen das nicht, weil alle diese Dinge zu dem maßvoll geordneten Muster gehören und für uns nur die freien Wellenlinien des Schildbuckels gelten. Wir verstehen euc h nicht. Und wenn die Zeit kommt, daß wir eure Welt zu verstehen beginnen, dann geschieht es nur allzu leicht, daß wir unsere eigene Welt nicht mehr verstehen.« Sie schwiegen eine Weile und sahen Wolf bei seiner Käferjagd zu. Dann sagte Marcus: »Als ich vor anderthalb Jahren von zu Hause kam, schien alles so einfach zu sein.« Er senkte seinen Blick wieder auf den Schildbuckel neben sich auf der Bank und sah die merkwürdigen schwellenden Linien auf dem Buckel mit neuen Augen. Esca hat sein Symbol gut gewählt, dachte er: Zwischen dem geformten Muster auf seiner Dolchklinge und der ungeformten und doch eindringlichen Schönheit des Schildbuckels lag eine tiefe Kluft, die zwei Welten trennte. Und dennoch wurde die Kluft zwischen einzelnen Menschen, Menschen wie Esca und Marcus und Cottia so schmal, daß die Hände sich in der Mitte berührten.
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Der Heiler mit dem Messer Marcus hatte gesagt: »Komm, wenn du magst«, und Cottia hatte entgegnet: »Ich komme morgen.« Aber so einfach war es doch nicht. Kaeso hatte im Grunde nichts dagegen, denn er war ein umgänglicher und freundlicher Mensch, der großen Wert auf ein gutes Verhältnis zu seinem römischen Magistratsbruder legte. Aber Tante Valaria, die sich stets so benahm, wie man es in der »zivilisierten Gesellschaft« tat, wie sie sich ausdrückte, war der festen Überzeugung, daß es für ein wohlerzogenes römisches Mädchen völlig unmöglich war, in anderer Leute Garten zu gehen und sich dort mit fremden Menschen anzufreunden, zumal sich Aquila kaum jemals auch nur im entferntesten freundlich gezeigt hatte. Marcus erfuhr natürlich nichts davon, er merkte nur, daß Cottia am nächsten Tag nicht kam und auch nicht am übernächsten. Und er redete sich ein, daß sie ja auch keinen Grund zum Kommen habe. Es war in erster Linie Wolf gewesen, den sie sehen wollte. Nun hatte sie ihn gesehen, warum sollte sie also wiederkommen? Er hatte gedacht, sie wollte sich vielleicht mit ihm anfreunden, aber das war offenbar ein Irrtum gewesen, und was machte es schon aus? Aber am dritten Tag, als er sich geschworen hatte, nicht mehr ständig nach ihr auszuschauen, hörte er, wie sie ihn leise und dringlich beim Namen rief, und als er von der Speerspitze aufsah, die er gerade polierte, stand sie unter den wilden Obstbäumen, wo er sie zum erstenmal erblickt hatte. »Marcus! Ich konnte nicht eher von Nissa weg«, begann sie atemlos. »Sie sagen, ich darf nicht mehr herkommen.« Marcus legte den Speer beiseite und fragte: »Warum?« Sie warf einen schnellen Blick über die Schulter in ihren eigenen Garten. »Tante Valaria sagt, es zieme sich nicht für ein römisches Mädchen, sich so zu benehmen, wie ich es getan habe. Aber ich bin kein römisches Mädchen; und oh, Marcus, du mußt mir helfen, daß sie mich kommen läßt! Du mußt!« 87
Sie war die ganze Zeit beim Sprechen sprungbereit zur Flucht, und Marcus merkte, daß für unnützes Gerede und lange Erklärungen keine Zeit war. »Sie wird dich kommen lassen«, sagte er schnell, »aber vielleicht dauert es eine Weile. Nun lauf, bevor sie dich finden.« Er machte ihr eine leichte, lustige Verbeugung, die Hand an der Stirn, und sie wandte sich um und entschwand. Marcus machte sich wieder ans Polieren. Das Ganze war so schnell vorübergehuscht, wie ein Vogel über den Garten flog, aber hinterher war er glücklicher als in den letzten drei Tagen. Nachdem er die Sache mit Esca besprochen hatte, fragte er am gleichen Abend Onkel Aquila. »Und was meinst du«, sagte Onkel Aquila, als er ausgeredet hatte, »soll ich nun tun?« »Wenn du ein paar nachbarliche Bemerkungen machen würdest, wenn die Dame Valaria dir das nächstemal über den Weg läuft, wäre das, glaube ich, sehr nützlich.« »Beim Jupiter! Ich kenne die Frau kaum, ich grüße sie nur als Kaesos Frau.« »Darum scheinen mir ein paar nachbarliche Bemerkungen höchst angebracht.« »Und wenn sie nun ihrerseits nachbarliche Gefühle entwickelt?« fragte Onkel Aquila mißtrauisch. »Sie kann auf keinen Fall in deine Festung eindringen, weil hier keine Frauensleute sind, die sie empfangen können«, sagte Marcus mit Nachdruck. »Stimmt, da ist etwas Wahres dran. Warum möchtest du, daß das kleine Ding kommt?« »Oh – weil Wolf und sie sich gut verstehen.« »Und ich soll den Löwen vorgeworfen werden, damit Wolf einen Spielgefährten bekommt?« Marcus lachte. »Es ist nur ein Löwe, oder besser eine Löwin.« Und dann wurde er ernst. »Onkel Aquila, wir brauchen deine Hilfe wirklich. Ich würde es fertigbringen, selber den Perseus zu spielen, 88
aber im Augenblick könnte ich nicht das geringste zur Rettung Andromedas tun. Hier muß der Herr des Hauses selber eingreifen.« »Es war friedlich in diesem Haus, bevor du kamst«, sagte Onkel Aquila resigniert. »Du bist eine furchtbare Plage, aber ich denke, du sollst deinen Willen haben.« Marcus wurde es nie recht klar, auf welche Weise es eigentlich dazu kam. Onkel Aquila schien sich in der Sache jedenfalls nicht sonderlich zu bemühen, aber von nun an herrschte zwischen den beiden Häusern ein freundlicher Umgangston, und noch bevor die Wälder unterhalb der alten Wälle in vollem Laub standen, war Cottia bei Onkel Aquila wie zu Hause, und sie kam und ging, wie es ihr und wie es Marcus gefiel. Esca, der von Natur still war und nur gegenüber dem jungen Römer eine gewisse Scheu ablegte, hielt zuerst sehr streng auf seine Sklavenwürde, wenn sie kam. Aber nach und nach wurde er mit ihr vertrauter, soweit er überhaupt mit jemandem vertraut sein konnte, der nicht Marcus war. Marcus tyrannisierte sie und lachte über sie und war zufrieden, wenn sie da war; er brachte ihr bei, wie man »Knobeln« spielt, ein Spiel, das bei den Legionären und Gladiatoren beliebt war, und er erzählte ihr lange Geschichten von seiner Heimat in den Etruskerbergen. Als er Cottia davon erzählte und für sie die Landschaften, die Laute und die Düfte beschwor, rückte seine Heimat ihm irgendwie wieder näher, und das Leben in der Fremde wurde leichter; und beim Erzählen stand ihm wieder der Weg auf dem Berg mit den wilden Kirschbäumen vor Augen, von wo aus man das Gut zuerst sah. »In den Höfen und auf den Dächern flatterten und schwirrten immer eine Menge Tauben, das Sonnenlicht fing sich auf ihren Hälsen und schillerte grün und purpurrot; und kleine weiße Holztauben hatten wir mit korallenroten Füßen. Wenn man in den Hof kam, flogen sie alle aufgeregt in die Höhe, umkreisten dich dann und ließen sich zu deinen Füßen nieder. Dann kam immer der alte Argos aus seiner Hundehütte, bellte und wedelte mit dem Schwanz; es roch schon verlockend nach dem Abendessen – nach gegrillten Forellen oder bei festlichen Gelegenheiten nach Huhn. Und wenn ich den ganzen Tag draußen 89
gewesen war, kam meine Mutter an die Tür, wenn sie Argos bellen hörte…« Cottia wurde es nie müde, über das Gut in den Etruskerbergen zu hören, und Marcus nie zu erzählen, denn er hatte Heimweh. Eines Tages zeigte er ihr sogar seinen Vogel aus Olivenholz. Aber gegen Ende des Sommers hatte er me hr und mehr Kummer mit seiner alten Wunde. Er hatte sich so sehr an den dumpfen Schmerz in ihr gewöhnt, daß er sie manchmal ganz vergaß, aber nun war zu dem alten ein neuer, stechender Schmerz dazugekommen, den er nicht vergessen konnte, und manchmal waren die Narben heiß, wenn man sie anrührte, und sahen rot und häßlich aus. Die Sache kam an einem heißen Augustabend zur Sprache, als Marcus und sein Onkel ihre allabendliche Schachpartie gespielt hatten. Es war ein glutheißer Tag gewesen, und selbst hier draußen im Hof schien sich kein Lüftchen zu rühren. Die Hitze des Tages hatte alle Farben des Abendhimmels ausgelöscht, so daß der Himmel jetzt bleich und schwer war und der Duft der Rosen und Cistusstauden im Hof hing, schwer wie Rauch in nebligem Wetter in der Luft. Marcus war den ganzen Tag elend vor Schmerzen gewesen, und die schwere Süße der Blumen schien ihm den Atem zu rauben. Er spielte ein erbärmlich schlechtes Spiel, und er wußte das. Er konnte nicht stilliegen. Er rückte ein bißchen, um eine günstige Lage zu finden, dann rückte er wieder und tat so, als wollte er nach Wolf sehen – der nun halb ausgewachsen war und in seiner ganzen Schönheit ausgestreckt auf dem kühlen Gras neben Procyon lag, mit dem er längst Freundschaft geschlossen hatte. Onkel Aquila beobachtete eine gelbe Bachstelze auf dem Dach des Badehauses, und Marcus rückte wieder und hoffte, er würde es nicht merken. »Macht die Wunde dir heute abend zu schaffen?« fragte Onkel Aquila, während er noch immer der gelben Bachstelze zuschaute, die auf den warmen Ziegeln nach Fliegen pickte. Marcus sagte: »Nein, Onkel Aquila. Warum?« »Oh, ich dachte nur. Stimmt das wirklich?« 90
»Ganz bestimmt.« Onkel Aquila lenkte seinen Blick von der gelben Bachstelze auf Marcus. »Was für ein Lügner du bist«, sagte er ruhig. Dann, als Marcus die Lippen zusammenpreßte, beugte er sich vor, schlug mit seiner gewaltigen Hand auf das Schachbrett und schleuderte die Figuren fort. »Das habe ich jetzt lange genug mit angesehen! Wenn dieser Narr Ulpius sein Handwerk nicht versteht, habe ich einen alten Freund von der Zunft in Durinum, der das tut. Rufrius Galarius. Er war einer unserer Feldärzte. Er soll kommen und sich dein Bein einmal ansehen.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß er das tun wird«, sagte Marcus. »Es ist ein weiter Weg von Durinum.« »Er wird kommen«, sagte Onkel Aquila. »Er und ich haben oft zusammen Bären gejagt. O ja, er wird kommen.« Und er kam wirklich. Rufrius Galarius, früherer Feldarzt der Zweiten Legion, war ein Spanier mit blauen Backen und einem fröhlichen Blick, feingekräuseltem schwarzem Haar mit einzelnen grauen Strähnen und einem Brustkasten wie ein Faß. Aber Marcus merkte, daß seine dicken Ringerhände sehr sicher und sanft Zugriffen, als er ein paar Tage später abends auf seinem schmalen Feldbett lag und der Freund seines Onkels seine alten Wunden untersuchte. Marcus hatte das Gefühl, daß es sehr lange dauerte, bis er fertig war. Nach der Untersuchung zog Galarius die Decke wieder hoch, richtete sich auf und ging fluchend in der kleinen Kammer auf und ab. »Wer in Typhons Namen hat diese Wunde behandelt?« fragte er schließlich, indes er sich zu Marcus umwandte. »Der Lagerarzt in Isca Dumnoniorum«, sagte Marcus. »Der war zwanzig Jahre da und war jeden Abend betrunken wie ein Maultiertreiber bei den Saturnalienspielen«, schimpfte Galarius. »Ich kenne diese übergangenen Lagerärzte. Schlächter und Meuchelmörder sind sie alle!« Er gab einen unbeschreiblichen und sehr ordinären Laut von sich. 91
»Nicht jeden Abend, und er gab sich furchtbar viel Mühe«, sagte Marcus, um den struppigen und irgendwie rührenden alten Mann herauszureißen, an den er ganz gern zurückdachte. »Puh!« sagte Galarius. Dann besann er sich plötzlich und trat ans Bett und setzte sich auf die Kante. »Die Sache ist die, daß er seine Arbeit nicht beendet hat«, sagte er. Marcus befeuchtete seine unangenehm trockenen Lippen mit der Zungenspitze. »Du meinst – es muß alles noch einmal gemacht werden?« Der andere nickte. »Du wirst keinen Frieden haben, bis die Wunde noch mal gereinigt ist.« »Wann -«, begann Marcus und hielt ein, bemühte sich tapfer, das beschämende Zucken um seinen Mund zu unterdrücken. »Morgen früh. Da es nun einmal geschehen muß, je eher, desto besser.« Er legte eine Hand auf Marcus’ Schulter und ließ sie dort liegen. Für einen Augenb lick lag Marcus steif unter der dicken, freundlichen Hand, dann holte er einmal tief Luft und entspannte sich, während er einen etwas verunglückten Versuch machte zu lächeln. »Ich bitte dich um Verzeihung. Ich glaube, ich – bin ziemlich müde.« »Das scheint mir auch«, sagte der Arzt zustimmend. »Du hast dich in letzter Zeit beim Gehen sehr anstrengen müssen. O ja, ich weiß. Aber bald wirst du alles hinter dir haben, und dann geht es bergauf. Das verspreche ich dir.« Er saß noch eine ganze Weile da und sprach von Dingen, die meilenweit vom nächsten Morgen entfernt waren, er kam von dem Geschmack der einheimischen Austern auf die Verfehlungen der ländlichen Steuereinnehmer, spann sein Garn über die früheren Zeiten an der silurischen Grenze und längst vergangene Bärenjagden mit Onkel Aquila. »Wir waren große Jäger, dein Onkel und ich, nun werden unsere Gelenke steif, und wir werden alt und gesetzt. Manchmal denke ich, ich sollte mein Bündel schnüren und wieder auf Reisen gehen, bevor es zu spät ist und ich vollkommen eingerostet bin. Aber ich habe dafür nicht den richtigen Zweig in meinem Beruf gewählt. Als Wundarzt 92
kann man sein Handwerk nicht so leicht im Umherwandern ausüben. Wenn man den Trieb zum Wandern in sich hat, dann sollte man als Jünger des Äskulap Augenarzt werden! Hier im Norden, wo so viele die Sumpf-Blindheit haben, ist ein Augenarzt-Stempel ein Talisman, der einen sicher durch Gegenden bringt, in die kein Legionär sich trauen kann.« Und er kam auf die Abenteuer eines Bekannten zu sprechen, der das westliche Meer überquert und sein Gewerbe vor ein paar Jahren in den wilden Gegenden Irlands betrieben hatte. Marcus hörte nur mit halbem Ohr zu und ahnte nicht, daß eine Zeit kommen sollte, in der diese Geschichte für ihn höchst wichtig sein würde. Plötzlich stand Galarius auf und reckte sich, bis die Muskeln in seinem Stiernacken knackten. »Nun will ich mit deinem Onkel Aquila über die Jagd sprechen, bis es Zeit ist, ins Bett zu gehen. Lieg jetzt ganz still und schlaf, so gut du kannst, ich komme morgen sehr früh.« Er verabschiedete sich mit einem kurzen Nicken und ging in den Säulengang hinaus. Es war, als ginge mit ihm auch Marcus’ mühsam bewahrte Haltung fort. Er merkte mit Schrecken, daß er zitterte – zitterte vor dem Gedanken an die Schmerzen, so wie ein Pferd zittert, wenn es Feuer wittert. Er preßte seinen Arm gegen die Augen und züchtigte sich, indem er sich selbst verachtete, aber das half ihm nichts. Ihn schauderte es im Innersten, und er fühlte sich sehr allein. Plötzlich hörte er ein Tapsen auf dem Boden und spürte eine kalte Schnauze an seiner Schulter. Er öffnete die Augen und sah Wolfs Gesicht dicht vor sich. »Danke, Wolf«, sagte er, rückte ein wenig beiseite und umfaßte den großen Kopf mit beiden Händen, als Wolf seine Vorderpfoten auf das Bett legte und ihm liebevoll ins Gesicht schnaufte. Es war kurz vor Sonnenuntergang, das Licht der sinkenden Sonne flutete in die Kammer und sprühte wie schillerndes goldenes Wasser über die Wände und die Decke. Marcus hatte es nicht kommen sehen, und es schien ihm, als töne das Licht, so wie ein Trompetenstoß in den Ohren tönt. Das war das Licht des Mithras, das aus dem Dunkel bricht. 93
Esca, der Wolf gefolgt war, erschien in der Tür und warf einen großen Schatten auf die sonnenhelle Wand, als er zu Marcus trat. »Ich habe mit Rufrius Galarius gesprochen«, sagte er. Marcus nickte. »Er wird morgen früh deine Hilfe brauchen. Willst du das für mich tun?« »Ich bin der Leibsklave des Centurio; wer sollte es sonst tun als ich?« sagte Esca und beugte sich nieder, um die Decke in Ordnung zu bringen. Als er noch dabei war, hörte man aus dem Hof Lärm von einem Handgemenge. Stephanos’ alte, blökende Stimme protestierte laut, dann hörte man eine hohe, klare, energische Mädchenstimme. »Laß mich durch! Wenn du mich nicht durchläßt, beiße ich!« Das Handgemenge schien weiterzugehen, und einen Augenblick später verriet ein zorniger Schrei von Stephanos nur allzu deutlich, daß die Drohung ausgeführt worden war. Als Marcus und Esca fragende Blicke austauschten, kamen Schritte den Säulengang entlanggeflogen, und Cottia stürmte in die Tür, und die untergehende Sonne umgab ihre helle, kriegerische Gestalt mit einem Strahlenkranz. Marcus richtete sich auf einem Ellenbogen auf. »Du kleine Füchsin! Was hast du Stephanos getan?« »Ich habe ihn in die Hand gebissen«, sagte Cottia im gleichen klaren, energischen Ton. »Er wollte mich nicht hereinlassen.« Das Schurr-schurr von hastigen Sandalen ertönte hinter ihr, als sie noch sprach, und Marcus sagte bittend: »Esca, im Namen des Lichtes, laß ihn hier nicht rein!« Er merkte plötzlich, daß er im Augenblick nicht imstande war, mit einem zu Recht erbosten Stephanos fertig zu werden. Dann wandte er sich, als Esca seine Bitte ausführte, zu Cottia. »Und was führt dich hierher, meine Dame?« Sie kam heran, drängte sich neben Wolf und sah Marcus anklagend an: »Warum hast du es mir nicht erzählt?« fragte sie. »Was erzählt?« Aber er wußte, was. »Von dem Heiler mit dem Messer. Ich sah ihn aus dem Fenster der Vorratskammer auf einem Maultierkarren kommen, und Nissa hat mir erzählt, warum er kam.« 94
»Nissa schwatzt zuviel«, sagte Marcus. »Ich wollte nicht, daß du etwas erfahren solltest, bis alles vorbei war.« »Du hast kein Recht, mir das zu verschweigen«, brauste sie auf. »Es ist mein gutes Recht!« Und dann fragte sie ängstlich: »Was wird er dir tun?« Marcus zögerte einen Moment, aber wenn er es ihr nicht erzählte, würde die schlimme Nissa es zweifellos tun. »Die Wunde muß noch einmal gesäubert werden. Das ist alles.« Ihr Gesicht schien schmaler und spitzer zu werden, als er sie anblickte. »Wann?« fragte sie. »Morgen, sehr früh.« »Schick mir Esca, damit ich weiß, wann es vorbei ist.« »Es wird sehr früh sein«, sagte Marcus mit fester Stimme. »Du wirst dann noch gar nicht wach sein.« »Ich werde wach sein«, sagte Cottia. »Ich warte unten im Garten. Und ich warte da, bis Esca kommt, und ich lasse mich dort von keinem Menschen wegholen. Ich kann nicht nur Stephanos beißen. Wenn jemand mich holen will, dann beiße ich, und dann werde ich geschlagen. Du möchtest doch nicht, daß ich geschlagen werde, weil du Esca nicht schickst, Marcus?« Marcus gab sich geschlagen. »Esca wird kommen und dir Bescheid sagen.« Dann entstand eine Pause. Cottia stand regungslos und sah auf ihn nieder. »Ich wollte, ich wäre an deiner Stelle.« Das war leichter gesagt als getan, aber Cottia meinte, was sie sagte. Als Marcus sie anblickte, wußte er das. »Danke, Cottia. Ich werde daran denken. Und nun mußt du nach Hause gehen.« Sie verschwand gehorsam, als Esca in der Tür erschien. »Ich gehe jetzt nach Hause. Wann darf ich wiederkommen?« »Ich weiß nicht«, sagte Marcus. »Esca kommt und sagt es dir.« Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und ging hinaus in das goldene Licht. Auf ein Zeichen von Marcus folgte ihr der Sklave, und ihre Schritte verhallten langsam im Säulengang. Marcus horchte, bis 95
die Schritte verklungen waren, er lag ganz still und spürte die vertraute, rauhe Wärme von Wolfs Kopf unter seiner Hand. Er fühlte eine unangenehme Kälte in seiner Magengrube, aber er war nicht mehr allein. Auf eine ihm unerklärliche Weise hatten Wolf und Esca und Cottia ihn getröstet und ihm Kraft für alles Kommende gegeben. Das goldene Licht verblaßte, der Gesang eines Vogels durchzog die Stille, das dünne, klagende Herbstlied eines Rotkehlchens in dem wilden Birnbaum; und Marcus merkte, daß der Sommer bald vorüber war. Plötzlich stellte er mit freudiger Überraschung fest, daß es ein guter Sommer gewesen war. Er hatte Heimweh gehabt, gewiß, er hatte Nacht um Nacht von seinen Heimatbergen geträumt und war mit kummervollem Herzen aufgewacht; aber trotzdem war es ein guter Sommer gewesen. Er dachte an den Tag, an dem Wolf entdeckt hatte, daß er bellen konnte. Marcus war beinahe ebenso überrascht gewesen wie Wolf. »Aber Wölfe bellen doch nicht«, sagte er zu Esca; und Esca hatte gesagt: »Wenn du einen Wolf mit Hunden zusammen aufziehst, benimmt er sich ganz genauso wie die Hunde.« Und Wolf war so stolz auf seine Entdeckung gewesen, daß er den Garten tagelang mit seinem lauten Kleinhunde-Gebell erfüllt hatte. Andere scharf umrissene Erinnerungen tauchten vor ihm auf: heiße, hoch aufgegangene Strudel, die von Sassticca nach draußen gebracht wurden und die sie zu viert vergnügt verzehrt hatten, der Bogen, den er zusammen mit Esca gemacht hatte, Cottia, die ihre Hände schütze nd um seinen Vogel aus Olivenholz hielt. Ein freundlicher Sommer, ein Eisvogel-Sommer, und plötzlich war er dankbar dafür. Er schlief diese Nacht ruhig und leicht, wie ein Jäger schläft, und er wachte auf, als in dem fernen Lager die Trompeten zum Wecken bliesen. Es war so früh, daß die Spinnwebfäden des Altweibersommers noch dicht und grau vom Tau über dem Gras im Hof lagen. Der Duft des Tagesanbruchs hing kalt und frisch in der Luft, als Rufrius Galarius wiederkam; aber Marcus hatte schon lange auf ihn ge wartet. Er erwiderte den Gruß des Arztes und sagte: »Mein Sklave ist gegangen, um Wolf einzusperren. Er muß gleich zurück sein.« 96
Galarius nickte. »Ich habe ihn gesehen. Er holt noch ein paar Sachen, die wir brauchen«, sagte er, öffnete den bronzenen Kasten, den er mitgebracht hatte, und legte auf der Truhe seine Instrumente zurecht. Noch bevor er damit fertig war, kam Esca wieder, er brachte heißes Wasser, frisches Leinen und eine Flasche von dem hier gebrauten Gerstensaft mit, den Galarius zum Reinigen einer Wunde für besser hielt als Wein, wenn er auch schärfer war. »Es ist mehr heißes Wasser da, wenn du welches brauchst«, sagte er, indem er seine Sachen neben die Instrumente auf der Truhe stellte. Und dann beugte er sich über Marcus, beinahe so, wie Wolf es sonst tat. Galarius beendete seine Vorbereitungen und drehte sich um. »Nun, seid ihr soweit?« »Wir sind bereit«, sagte Marcus, warf die Decke zurück und biß die Zähne zusammen. Eine ganze Zeit später tauchte er aus der Dunkelheit auf, die über ihm zusammengeschlagen war, noch ehe die Arbeit ganz getan war, und er merkte, daß er unter warmen Decken lag und Rufrius Galarius neben ihm stand und seine flache Hand auf sein Herz hielt, so wie es der alte Aulus genau vor einem Jahr getan hatte, als er damals erwachte. Im ersten, noch unklaren Augenblick dachte er, es sei immer noch das andere Erwachen und er bewege sich traumhaft im Kreis. Aber dann, als er deutlicher sehen und hören konnte, bemerkte er Esca hinter dem Arzt und in der Tür einen gewaltigen Schatten, der nur Onkel Aquila sein konnte, und er hörte das verzweifelte Jaulen von Wolf, der im Vorratsraum eingesperrt war. Und so wie ein Schimmer aus der Tiefe auftaucht, kam er in die Gegenwart zurück. Der Schmerz der alten Wunde hatte sich in ein heftiges Pochen verwandelt, das seinen ganzen Körper zu durchziehen schien, so daß er unwillkürlich einen Seufzer ausstieß. Der Arzt nickte. »Ja, zuerst zieht es tüchtig«, sagte er. »Aber es wird gleich besser werden.«
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Marcus sah die blaugeäderten Backen des Spaniers etwas verschwommen über sich. »Bist du fertig?« murmelte er. »Ich bin fertig.« Galarius zog die Decke hoch. An seiner Hand war Blut. »In ein paar Monaten bist du ein gesunder Mensch. Lieg nun still und ruh dich aus, ich komme heute abend wieder.« Er klopfte Marcus aufmunternd auf die Schulter und machte sich daran, seine Instrumente einzusammeln. »Ich überlasse ihn jetzt dir. Du kannst ihm nun den Trunk geben«, sagte er im Fortgehen über die Schulter zu Esca. Marcus hörte ihn im Säulengang mit jemandem sprechen. »Genug Splitter, um ein Stachelschwein damit zu bestücken, aber die Muskeln sind weniger beschädigt, als man annehmen sollte. Der Junge wird jetzt wieder ganz gut in Ordnung kommen.« Dann war Esca mit einem Becher neben ihm. »Cottia – und Wolf «, stammelte Marcus. »Ich kümmere mich sofort um sie, aber erst mußt du dies trinken.« Esca ließ sich auf einem Knie neben dem Bett nieder, und Marcus merkte, daß er seinen Kopf an die Schulter seines Sklaven gelegt hatte und spürte beim Trinken den kühlen Rand des Bechers an seinem Mund. Er erinnerte sich an den bitteren Geschmack vom vorigen Jahr. Dann legte er, als der Becher fortgenommen wurde, seinen Kopf zufrieden in Escas Arm. Er sah, daß das Gesicht des anderen grau und zerquält aussah und daß er den Mund verzog, wie jemand, der spucken möchte und nichts zum Spucken im Magen hat. »War es denn wirklich so schlimm?« fragte er und machte einen schwachen Versuch zu lachen. Esca lächelte. »Schlaf nun.«
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Der Tribun Placidus Ein oder zwei Meilen südlich von Calleva, wo der Wald sich plötzlich öffnet und sich ein steiler, farnbestandener Hang senkt, standen zwei Männer: ein Römer und ein Britannier. Sie hatten einen jungen, gescheckten Wolf, der mit erhobenen Kopf Witterung nahm, bei sich. Plötzlich hielt der Römer an und löste den schweren, bronzebeschlagenen Halsriemen von dem Hals des Wolfes. Wolf war nun voll ausgewachsen, wenn auch noch nicht so kräftig, wie er werden würde, und die Zeit war gekommen, wo er sich entscheiden mußte, ob er in die Wildnis zurückkehren wollte. Man konnte ein wildes Tier zähmen, aber man konnte es erst als sein eigenes betrachten, wenn man ihm die freie Wahl zwischen seinen Artgenossen und sich selbst gelassen hatte und das Tier dann zu einem zurückkam. Marcus wußte das, seit er ihn besaß, und er und Esca hatten ihre Vorbereitungen mit äußerster Sorgfalt getroffen. Sie hatten Wolf wieder und wieder an diesen Platz gebracht, damit er den Weg nach Hause finden könne, wenn er heimkommen wollte – wenn er es wirklich wollte. Als Marcus seine Finger an den Buckel des Halsriemens hielt, fragte er sich, ob er je wieder die zottige, lebendige Wärme von Wolfs Hals fühlen würde. Der Riemen war nun gelöst, und er steckte ihn vorn in seine Tunika. Er gönnte sich noch einen kleinen Aufschub und kraulte die gespitzten Ohren. Dann richtete er sich auf. »Lauf los, Bruder! Gute Jagd!« Wolf sah erstaunt zu ihm auf; dann, als eine neue Welle von Walddüften in seine zitternde Nase stieg, trottete er am Waldsaum entlang fort. Die anderen beiden sahen ihm schweigend nach, wie er als gescheckter Schatten ins Unterholz schlüpfte. Dann drehte sich Marcus um und ging auf eine umgestürzte Birke ein Stückchen hangabwärts zu. Er bewegte sich schnell, aber unbeholfen auf dem unebenen Boden, und seine Schultern wankten bei jedem Schritt. Rufrius Galarius hatte gute Arbeit geleistet, und nun, acht Monate später, konnte Marcus wieder tun und lassen, was er wollte, wie es 99
ihm der Arzt versprochen hatte. Er würde die Narben bis an sein Lebensende behalten, und sein gekrümmtes Bein würde ihm den Weg in die Legionen versperren, aber das war alles. Nachdem er den ganzen Winter mit Escas Hilfe so hart trainiert hatte, als wolle er in der Arena auftreten, war er jetzt so stark wie ein Gladiator. Er kam zu dem umgefallenen Ba umstamm, setzte sich hin, und gleich darauf kauerte sich Esca zu seinen Füßen nieder. Hier war einer ihrer Lieblingsplätze. Man konnte bequem auf dem Baumstamm sitzen, und von dem steil abfallenden Hang hatte man einen weiten Blick über bewaldete Hügel und die blauen Bergketten in der Ferne. Er hatte diese wogenden Wälder in ihrer winterlichen Kahlheit gesehen, als sie gesprenkelt waren wie eine Rebhuhnbrust. Er hatte den ersten Schaum des Weißdorns aufwallen sehen; nun sprang die grüne Flamme des Frühlings durch den Wald, und die wilden Kirschbäume umsäumten die Waldwege wie brennende Kerzen. Die beiden saßen auf ihrem Lieblingsplatz und plauderten oder schwiegen lange, sie sprachen von vielen Dingen unter der Sonne, darunter von dem Gast, den Onkel Aquila heute abend erwartete. Es war kein Geringerer als der Legat der Sechsten Legion, der auf dem Weg von Eburacum nach Regnum war und dann nach Rom wollte. »Ist er ein sehr alter Freund deines Onkels?« fragte Esca träge. »Ja. Ich glaube, sie dienten zusammen in Judäa, als mein Onkel die erste Kohorte bei den Fretensern führte und dieser Mann sein Jahr als Tribun beim Stab abdiente. Er muß ziemlich viel jünger sein als Onkel Aquila.« »Und jetzt geht er wieder nach Hause?« »Ja, aber nur, um irgend etwas mit dem Senat zu regeln, sagt Onkel Aquila, und dann kommt er zur Armee zurück.« Nach einer Weile wurden sie beide still, weil jeder seinen eigenen Gedanken nachhing. Marcus beschäftigte sich, wie so oft in letzter Zeit, mit der Frage, was er aus sich und seinem Leben machen sollte, nachdem er nun wieder gesund war. Der Weg in die Legionen war ihm verschlossen, und so blieb ihm nur ein anderer offen, den er so gern gegangen wäre, wie ein Vogel heimwärts fliegt. Den meisten 100
seines Stammes lag die Landarbeit im Blut, angefangen bei dem Senator mit seinem Landgut in den albanischen Bergen bis zu dem ausgedienten Legionär mit dem Fleckchen Erde, auf dem er Kürbisse zog; so wie Marcus erzogen war, waren Landarbeit und Soldatendienst die beiden Lebensweisen, die ihm lieb und selbstverständlich waren. Aber um Landmann zu werden, brauchte man Geld. Der ausgediente Legionär war gut dran mit dem freien Stück Land, das er für seinen Dienst bekam. Auch Marcus wäre gut dran gewesen, wenn er seine zwanzig Jahre gedient hätte – selbst wenn er niemals Präfekt in einer Ägyptischen Legion geworden wäre, so hätte er doch Ersparnisse von seinem Sold und das Geld, das er als Centurio zum Abschied bekam, hinter sich gehabt. Aber wie die Dinge lagen, hatte er nichts. Er hätte sich um Hilfe an Onkel Aquila wenden können, aber das wollte er nicht. Sein Onkel hatte zwar sein gutes Auskommen, aber er war kein reicher Mann, und er hatte schon genug für ihn getan. Er hätte sich längst Gedanken darüber machen sollen, wie er seinen Lebensunterhalt jetzt verdienen wollte, überlegte er, aber einem freien Mann standen nur so wenig Wege offen, und es wurde ihm mit Schrecken bewußt, daß er schließlich irgendwo als Sekretär landen würde. Es gab Leute, die lieber einen freien Mann als einen Sklaven zum Sekretär hatten – hier, oder vielleicht sogar zu Hause in Etruria. Aber schon im Augenblick, als der Gedanke in ihm auftauchte, wußte er, daß eine Heimkehr für ihn keine rechte Heimkehr sein konnte, denn er war entwurzelt und hatte kein Heimatrecht mehr in dem Lande, in dem er aufgewachsen war, und er würde auch keines mehr gewinnen. Er würde die Fremde mit in seine eigenen Berge tragen, und die Berge würden nicht mehr die alten sein; so stand es mit ihm. Nein, er mußte sich hier in Britannien nach einer Sekretärstelle umsehen. Erst heute morgen hatte er beschlossen, Onkel Aquila am Abend seine Pläne mit der Sekretärstelle vorzutragen, aber der Legat hatte sich angekündigt, und so mußte er natürlich die Sache aufschieben, bis der überraschende Besuch wieder fort war. Und ein Teil von ihm – dessen er sich ziemlich schämte – betrachtete den Aufschub als eine Atempause, als einen geschenkten Tag, an dem noch etwas geschehen 101
konnte, obwohl er selber sich nicht darüber klar war, was eigentlich geschehen sollte. Während sie schweigend auf ihrem Lieblingsplatz saßen, rückte die Wildnis dicht an die beiden heran. Plötzlich verriet ihnen ein roter Schimmer, der durch das sich aufrollende Farnkraut und den jungen Fingerhut in der Senke der Lichtung schlüpfte, wo eine Füchsin lief. Sie blieb einen Augenblick in voller Sicht stehen, die spitze Schnauze erhoben, während die Sonne einen fast metallischen Glanz auf ihr Fell warf; dann verschwand sie zwischen den Bäumen. Und während Marcus ihrem rostroten Schimmer nachschaute, mußte er plötzlich an Cottia denken. Der freundschaftliche Verkehr zwischen ihrem und seinem Hause dauerte an. Er kannte Kaeso inzwischen recht gut und auch Valaria ein bißchen; Valaria, die rundlich, geziert und töricht war, mit hellen Schleiern behängt, mit Armreifen klirrend, das Haar fein gekräuselt wie ein Widderfell. Er sah sie immer nur in ihrer Sänfte, wenn er ab und zu in Calleva war, wo er in die Bäder, ins Gymnasium oder ins Gasthaus zum »Goldenen Wein« ging, aus dessen Ställen er und Esca kürzlich für einen Ausritt ein- oder zweimal Pferde geliehen hatten; immer mußte er stehenbleiben und sich mit ihr unterhalten. Aber Cottia hatte er im Laufe des Monats immer seltener gesehen, fiel ihm plötzlich ein. Als er wieder ein freies Leben vor sich hatte, hatte er sie nicht mehr so dringend gebraucht, und sie hatte sich ohne ein Zeichen des Bedauerns immer mehr zurückgezogen. Trotzdem fühlte er sich ihr gegenüber keineswegs schuldig, und plötzlich wurde ihm klar, wie leicht Cottia, wenn sie gewollt hätte, Schuldgefühle in ihm hätte aufkommen lassen können, und ein warmes Gefühl der Dankbarkeit ihr gegenüber stieg in ihm auf. Das Merkwürdige war, daß er Cottia jetzt wieder brauchte wie immer, als er nun über sie nachdachte; oftmals dachte er nicht mehr bewußt an sie, aber er wußte im Inneren, daß er sehr unglücklich sein würde, wenn er sie nie wiedersehen sollte, vielleicht ebenso unglücklich, wie wenn Wolf nicht wiederkommen würde…
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Würde Wolf denn überhaupt zurückkommen? Würde der Ruf seines eigenen Blutes stärker sein als das Band, das ihn an seinen Herrn fesselte? Wie es auch ausgehen mochte, Marcus hoffte, es würde schnell und leicht und endgültig sein. Er sollte sein Herz nicht wegen Wolf in zwei Teile zerreißen. Er machte eine Bewegung und sah zu Esca hinunter. »Wir haben hier lange genug herumgesessen.« Der andere legte den Kopf zurück, und einen Augenblick sahen sie sich in die Augen. Dann stand Esca auf und half Marcus beim Hochkommen. »Der Centurio sollte einmal pfeifen, falls er hier in der Nähe ist; dann gehen wir.« Marcus pfiff den schrillen, kurzen Pfiff, mit dem er Wolf immer bei Fuß gerufen hatte, und stand dann lauschend. Eine Elster, die aufgeschreckt war, schimpfte laut aus den Bäumen hinter ihnen, dann war es still. Kurz darauf pfiff er noch einmal. Aber wieder antwortete kein Bellen, keine gescheckte Gestalt tauchte am Waldsaum auf. »Er kann uns nicht hören«, sagte Esca. »Er kennt den Weg nach Hause, und ihm wird nichts zugestoßen sein.« O nein, Wolf würde nichts zugestoßen sein. Er war in und um Calleva herum wohlbekannt, und da er schon längst seinen Wolfsgeruch verloren hatte, hielten die Hunde ihn für einen ihresgleichen, und zwar für einen, den man respektieren mußte. Auch seine eigenen Blutsbrüder würden ihm nichts tun, denn außer wenn Menschen sich einmischten, gab es keine Fehden zwischen Wölfen und Hunden, die sogar oft genug zusammenlebten, so daß man kaum unterscheiden konnte, wer Wolf und wer Hund war. Aber wenn er zu seinem eigenen Blut zurückging, konnte der Tag kommen, an dem Menschen Wolf erlegen würden, wie sie seine Mutter erlegt hatten. Marcus hätte sich brennend gern noch einmal umgesehen, als sie am Waldrand in das Haselgestrüpp gingen, denn vielleicht kam Wolf jetzt doch noch den Hügel herabgejagt. Aber jetzt gab es kein Umschauen mehr! Und mit seinem Sklaven an der Seite machte er sich standhaft auf den Heimweg. Sie gelangten an das Südtor von Calleva und gingen hindurch, und Esca fiel sogleich in den üblichen Abstand von drei Schritten zurück. Sie schnitten, den Weg ab, indem sie hinter dem Tempel der Minerva 103
herumgingen, und betraten das Haus durch die nächste Tür, die zu den Sklavenräumen und in den Garten führte. Wenn Wolf überhaupt noch kommen würde, würde er wahrscheinlich über die alten Erdwälle am Ende des Gartens kommen, denn er war an diesen Weg gewöhnt, aber Marcus hatte mit den Torwächtern der Stadt gesprochen, falls er den anderen Weg nahm. Niemand war im Hof, als sie dort ankamen, und während Esca eilte, um seinem Herrn eine saubere Tunika zu holen, ging Marcus durch den Säulengang auf das Atrium zu. Als er sich der Tür näherte, hörte er drinnen eine fremde Stimme. Der Gast war also schon eingetroffen. »Meinst du wirklich?« fragte die Stimme, eine harte, klare, aber freundliche Stimme. »Ich könnte ihn ohne weiteres ins Durchgangslager schicken.« Onkel Aquilas Stimme antwortete: »Wenn ich nicht Platz genug hätte, um zwei Gäste gleichzeitig zu beherbergen, sagte ich es. Du bist ein Narr, Claudius.« In dem langen Raum bei Onkel Aquila waren zwei Fremde, beide in Uniform: Bei dem einen glänzte unter der Staubschicht die vergoldete Bronze eines Legaten; der andere, der etwas hinter ihm stand, war offenbar ein Stabsoffizier. Sie schienen gerade erst angekommen zu sein, denn sie hatten nur ihre Mäntel und die Helme mit dem Federbusch abgelegt. Mehr sah Marcus nicht, als er einen Augenblick auf der Schwelle zögerte, bevor sein Onkel sich umsah und ihn erblickte. »Ah, da bist du wieder, Marcus«, rief Onkel Aquila, und dann sagte er, als Marcus zu ihnen herüberkam: »Claudius, ic h stelle dir meinen Neffen Marcus vor. Marcus, dies ist mein guter alter Freund Claudius Hieronimianus, Legat der Sechsten Legion.« Marcus hob die Hand, um seines Onkels Freund zu grüßen, und er blickte in ein rabenschwarzes Augenpaar, hinter dem die Sonne zu stehen schien. Der Legat war Ägypter und, so schätzte er, aus einem alten Geschlecht, denn er hatte nichts von der syrischen Weichheit in seinem Gesicht, die er so oft in den Gesichtern der Männer vom Nil gesehen hatte. »Es ist eine große Ehre für mich, den Legaten der ›Siegreichen‹ kennenzulernen«, sagte er. 104
Ein Lächeln überzog das Gesicht des Legaten, das tausend kleine Lachfältchen um seinen Mund und seine Augen spielen ließ. »Und ich freue mich sehr, daß ich einen Verwandten meines alten Freundes treffe, um so mehr, als ich bisher nichts von irgendwelchen Verwandten wußte.« Er deutete auf seinen Gefährten. »Ich stelle dir den Tribun Servius Placidus aus meinem Stab vor.« Marcus wandte sich dem jungen Offizier zu, und sogleich durchzuckte ihn der Gedanke an sein krummes Bein. Bisher hatte er nur ein- oder zweimal Menschen getroffen, die ein solches Gefühl in ihm weckten, und das hatte sie ihm nicht gerade näher gebracht. Die beiden begrüßten sich, wie die Höflichkeit es erforderte, aber ohne Wärme. Der Stabsoffizier mußte ungefähr so alt sein wie Marcus, er war ein sehr schöner junger Mann, dessen graziöse Haltung, ovales Gesicht und dichtes Haar auf athenische Herkunft deuteten. Schön wie ein Mädchen, dachte Marcus in rascher Abneigung; und die Worte schienen ihm irgendwie vertraut. Auch der Name, Placidus, kam ihm bekannt vor, aber es war ein häufiger Name, und ohnehin war es jetzt nicht angebracht, verschwommenen Erinnerungen nachzujagen. Marcus hatte den Eindruck, daß es seine Pflicht sei, den Tribun so lange zu unterhalten, bis die Gäste gingen, um sich den Reisestaub abzuwaschen, damit Onkel Aquila sich ganz seinem alten Freund widmen konnte. Marcipor hatte Wein für die Reisenden hereingebracht, und als er eingeschenkt war, ließen die beiden jungen Männer die älteren allein und schlenderten zu dem sonnenerhellten Fenster hinüber. Eine Weile unterhielten sie sich über allerlei belanglose Fragen, aber mit der Zeit fiel Marcus kaum noch ein neues Thema ein, während der Tribun schon von der Wiege an zur Langeweile bestimmt zu sein schien. Schließlich war Marcus am Ende seiner Weisheit, so fragte er: »Kehrst du mit dem Legaten nach Rom zurück, oder begleitest du ihn nur bis Regnum?« »Oh, nach Rom. Bacchus sei Dank, ich lasse Britannien ein für allemal hinter mir, wenn ich in zwei Tagen die Galeere besteige.« »Britannien war wohl nicht nach deinem Geschmack?« 105
Der andere zuckte mit den Achseln und trank einen Schluck Wein. »Die Mädchen hier sind ganz nett, und die Jagd ist gut. Im übrigen – Roma Dea! Der Abschied fällt mir nicht schwer!« Ein Zweifel schien ihm zu kommen. »Du bist doch wohl nicht in diesem finsteren Land geboren?« »Nein«, sagte Marcus. »Ich bin hier nicht geboren.« Und dann merkte er, daß er etwas zu schroff geantwortet hatte und fügte hinzu: »Ich bin noch nicht einmal drei Jahre von drüben weg.« »Warum bist du denn überhaupt weggegangen? Die Reise muß doch ziemlich beschwerlich für dich gewesen sein.« Nicht so sehr die Worte als der Ton, in dem sie gesprochen waren, brachten Marcus, der sowieso wegen Wolf sehr niedergeschlagen war, in Wut. »Ich kam hierher, um zu meiner Legion zu gehen«, sagte er kühl. »Oh.« Placidus geriet aus der Fassung. »Du wurdest verwundet?« »Ja.« »Ich kann mich nicht erinnern, daß ich dich zu Hause jemals im Klub der Trib unen gesehen habe.« »Das kannst du wohl kaum. Ich war nur ein Kohorten-Centurio.« Marcus lächelte, aber die ganze Verachtung, die der Berufssoldat gegenüber dem Aristokraten empfindet, der ein Jahr lang Soldat spielt, lag kaum verhüllt in seinen Worten, wenn er sie auch höflich und ruhig sprach. Placidus errötete leicht. »Wirklich? Weißt du, das hätte ich gar nicht gedacht.« Er gab den Hieb zurück, und in seinem Ton lag eine solche Schärfe, daß Marcus ihm gegenüber geradezu höflich wirkte. »Habe ich es mit einem Kameraden von der ›Siegreichen‹ zu tun? Oder war der Steinbock oder der angreifende Bär dein Zeichen?« Bevor Marcus noch antworten konnte, hörte er den Legaten, der ihnen den Rücken zuwandte, leise kichern. »Für einen, der sich – sogar mit einem gewissen Recht – für einen erfahrenen Jäger hält, bist du auffällig unaufmerksam gegenüber kleinen Dingen, mein Placidus.« Er sagte über die Schulter: »Ich habe schon früher davon gesprochen. Du findest das Zeichen seiner Legion an seinem linken 106
Handgelenk«, und dann nahm er wieder sein Gespräch mit Onkel Aquila auf. Bei seinen Worten kam Marcus eine plötzliche Erleuchtung, und als der Tribun seinen Blick auf das schwere goldene Armband senkte, das Marcus immer trug, erinnerte dieser sich der Worte »schön wie ein junges Mädchen, aber ein geschickter Jäger«, die Esca gebraucht hatte; der Name war Placidus gewesen. Marcus fühlte eine derartige Abneigung gegen den Tribun, daß sein Mund trocken wurde, und als sich in dem Gesicht des anderen für einen flüchtigen Auge nblick Verwirrung zeigte – beinahe so etwas wie Neid -, fühlte er sich mehr um Escas als um seiner selbst willen befriedigt. Placidus fing sich sofort wieder und setzte seine etwas hochmütige Miene auf. »Es ist schon etwas wert, unter einem Legaten zu dienen, der dafür bekannt ist, daß er Verständnis für seine jungen Offiziere hat«, murmelte er. »Mein lieber Marcus, ich gratuliere.« Seine Augen weiteten sich plötzlich, und die leise, affektierte Stimme wurde lebendig: »Roma Dea! Ein Wolf!« Bevor er ausgesprochen hatte, fuhr Marcus herum. In der Tür zum Säulengang stand eine gescheckte Gestalt, sie hielt den wilden Kopf wachsam hoch, auf der Hut vor den Fremden drinnen, deren unbekannter Geruch ihn auf der Türschwelle angehalten hatte. »Wolf!« schrie Marcus, »Wolf!« und bückte sich, als die gescheckte Gestalt sich mit freudigem Aufbellen auf ihn stürzte, sich gegen seine Brust warf und gurgelte wie ein Topf beim Kochen. Wolfs Flanken bebten, denn er war furchtbar gerannt, um seinen Herrn zu finden, und er war schrecklich reumütig, weil er ihn verloren hatte. Und Marcus umfaßte den großen Kopf und schubberte mit dem Daumen die Gruben hinter den gespitzten Ohren. »Du bist also wiedergekommen, Bruder«, sagte er. »Du bist wirklich wiedergekommen, Wolf.« »Es ist ein Wolf! Es ist tatsächlich ein Wolf – und das Biest benimmt sich wie ein junger Hund!« sagte Placidus mit sichtlichem Unbehagen. »Ich glaube, wir sind Zeugen eines Wiederfindens. Wir sind also in einer glücklichen Stunde gekommen«, sagte der Legat. 107
Marcus befreite sich aus Wolfs Liebkosungen und stand auf. »Wiederfinden – ja, so könnte man es nennen«, sagte er. Dann tat Wolf etwas, was er noch nie getan hatte. Er drängte seinen gesenkten Kopf zwischen Marcus’ Knie, wie ein Hund es manchmal tut, wenn er einem Menschen vollkommen vertraut; und so blieb er zufrieden stehen, in der einzigen Stellung, in der er ganz wehrlos und der Gnade seines Herrn ausgeliefert war. Und während er so stand und langsam mit dem Schwanz wedelte, holte Marcus den bronzebeschlagenen Halsriemen aus seiner Tunika hervor, bückte sich nieder und legte ihn wieder um seinen Hals. »Seit wann hast du ihn gehabt?« fragte Placidus, der halbwegs interessiert zuschaute, als der Wolf sich heftig schüttelte, nachdem der Halsriemen befestigt war, und sich dann mit heraushängender Zunge und halbgeschlossenen Augen gegen das Bein seines Herrn lehnte. »Seit er ein ganz junges Tier war, länger als ein Jahr«, sagte Marcus, während er ein zuckendes Ohr kraulte. »Dann sah ich, wenn ich mich nicht irre, wie er aus der Wolfshöhle genommen wurde, nachdem seine Mutter getötet war! Der bemalte Barbar, der ihn herausholte, behauptete, er sei der Sklave eines gewissen Marcus Aquila. Das fällt mir jetzt wieder ein.« »Du irrst dich nicht«, sagte Marcus ruhig. »Der bemalte Barbar hat mir alles erzählt.« Zum Glück erschien in diesem Moment Stephanos und blieb wartend in der Tür stehen. Onkel Aquila nahm dem Legaten den geleerten Weinbecher ab. »Ihr werdet euch den Reisestaub abwaschen wollen«, sagte er. »Wir mögen zwar am Ende der Welt wohnen, aber das Badewasser könnte selbst in Rom nicht heißer sein. Eure eigenen Sklaven werden euch sicher in euren Räumen erwarten. Stimmt das, Stephanos? Gut. Wir sehen uns dann beim Essen wieder.«
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Der Marschbefehl Als die vier gebadet und sich umgezogen hatten, trafen sie sich sogleich wieder in dem kleinen Eßraum, der sich zum Atrium hin öffnete. Dieser Raum war ebenso einfach wie alle anderen Räume im Haus; der einzige Schmuck an den getünchten Wänden war ein bronzebeschlagener Reiterschild dem Eingang gegenüber, hinter dem ein Paar gekreuzte Speere steckten. Die drei Liegen um den Tisch waren statt mit den üblichen Polstern und Stickereidecken mit wunderbar gemusterten Hirschfellen belegt. Und in der Regel waren die Mahlzeiten, die Marcus und sein Onkel hier einnahmen, ebenso einfach wie der Raum. Aber heute abend war ein Fest, und Sassticca hatte ihr Bestes getan, ein Essen zu bereiten, das der festlichen Gelegenheit entsprach. Als Marcus sich bei dem weichen gelben Licht der Palmöl- Lampen auf dem Tisch im Räume umsah, schien ihm alles in festlichem Glanz zu schimmern, weil Wolf wiedergekommen war. Die Zukunft und die Frage, wovon er leben sollte, war im Augenblick in den Hintergrund gerückt. Er war nach einem Tag im Freien angenehm müde, er hatte ein kühles Bad genommen und seine grobgewebte Tunika mit einer aus feiner weißer Wolle vertauscht, er war sogar bereit, mit Placidus Frieden zu halten, denn Esca hatte nur gelacht, als er von seiner Ankunft gehört hatte. Sie waren mit den Hauptgängen des Essens fertig. Onkel Aquila hatte eben den Hausgöttern, deren kleine Bronzestatuen neben den Salzfässern an den Ecken des Tisches standen, das zweite Trankopfer dargebracht, und Esca und die anderen Sklaven hatten den Raum verlassen. Das weic he, flackernde Licht zeichnete ein feines Strahlengewebe auf den Tisch, ließ die roten Schalen erglühen wie Korallen, verwandelte die verschrumpelten gelben Äpfel vom letzten Herbst in die Äpfel der Hesperiden, schuf hier eine Blüte aus Licht auf dem geschliffenen Rund eines Glases, entfachte dort eine aufzüngelnde rote Flamme in einer gedrungenen Flasche Falemerwein 109
und erfüllte die Gesichter der Männer, die auf den linken Ellenbogen gestützt um den Tisch lagen, mit seltsamem Leben. Bisher hatten die beiden älteren Männer die Unterhaltung hauptsächlich bestritten, sie hatten von alten Zeiten gesprochen, von alten Kämpfen, alten Lagern an der Grenze, alten Freunden und Feinden, während Marcus und Placidus hier und da ein Wort einwarfen und sich gelegentlich miteinander unterhielten – die Waffenruhe hielt noch an -, im übrigen aber ihr Essen schweigend verzehrten. Und dann fragte Onkel Aquila, während er Wasser in seinen Falernerwein groß: »Claudius, wie lange ist es eigentlich her, daß du von den Fretensern fort bist?« »Es werden im August achtzehn Jahre.« »Jupiter!« sagte Onkel Aquila nachdenklich. Plötzlich starrte er seinen alten Freund an. »Achtzehn Jahre werden es im August, seit du und ich zusammen aus der gleichen Schüssel gegessen haben; und nun bist du schon fast drei Jahre in Britannien und hast keinen Versuch gemacht – nicht einmal den schwächsten – , mich zu treffen!« »Und du keinen, mich zu sehen«, sagte Claudius Hieronimianus, indem er nach einem von Sassticcas Honigkuchen langte, auf den er Rosinen häufte. Er sah von seinem Teller auf, und sein fremdartiges Gesicht überzog sich mit einem lebhaften Lächeln. »Ist es nicht immer so, wenn wir dem Adler folgen? Wir gewinnen hier und da einen Freund, in Achea, in Cäsarea oder in Eburacum; unsere Wege trennen sich wieder, und wir bemühen uns herzlich wenig, in Verbindung zu bleiben. Aber wenn die Götter, die unser Schicksal lenken, es so fügen, daß unsere Wege sich wieder kreuzen – ja dann…« »Ja dann nehmen wir die alten Fäden genau dort wieder auf, wo wir sie fallen ließen«, sagte Onkel Aquila. Er hob sein neugefülltes Glas. »Ich trinke auf die alten Fäden. Nein, doch nicht. Nur alte Menschen blicken immer zurück. Ich trinke darauf, daß wir neue Fäden an die alten knüpfen.« »Dann mußt du nach Eburacum kommen, wenn ich zurück bin«, sagte der Legat, als er sein Glas niedersetzte. 110
»Das könnte sogar wahr werden – eines Tages. Ich bin nun schon ganze fünfundzwanzig Jahre nicht mehr in Eburacum gewesen, und ich würde es gern einmal wiedersehen.« Plötzlich fielen Onkel Aquila seine Gastgeberpflichten ein, und er wandte sich an den jungen Tribun. »Ich brachte einmal während einer der Unruhen einen Teil der Zweiten Legion dorthin. Daher kenne ich den Ort ein wenig.« »So?« Placidus brachte es fertig, gleichzeitig gelangweilt und höflich zu antworten. »Das muß doch wohl zur Zeit der Spanischen Legion gewesen sein. Du würdest den Ort jetzt kaum wiedererkennen. Er ist fast menschenwürdig geworden.« »Jetzt baut man gewöhnlich aus Stein, wo man früher den Wald rodete und aus Holz baute«, sagte Onkel Aquila. Der Legat schaute nachdenklich in sein Weinglas. »Manchmal denke ich, daß in Eburacum die Grundmauern der alten Bauten noch unheilvoll unter dem Neuen liegen«, sagte er. Marcus wandte sich ihm rasch zu. »Was meinst du damit, Herr?« »In Eburacum – wie soll ich es ausdrücken? – geistert noch immer ganz mächtig die Neunte Legion herum. Oh, ich meine nicht, daß ihre Geister vom Schlachtfeld in Ra herübergewandert sind, aber trotzdem spukt es an dem Ort. Es geistert um die Altäre für spanische Götter, an denen sie ihre Gottesdienste verrichteten; die Namen und Nummern der Legionssoldaten, die sie flüchtig in die Mauern geritzt haben, sind noch da, und es gibt noch britannische Frauen, die sie geliebt haben, und Kinder mit spanischen Gesichtern, die ihre Kinder sind. All dieses liegt gleichsam als Rückstand unter dem neuen Wein einer späteren Legion. Und es ist fast furchterregend, wie sie im Gedächtnis der Menschen heute noch weiterleben.« Er machte eine kleine Geste mit flacher Hand. »Es klingt nach nichts, wenn man es in Worte faßt, und trotzdem können all diese Dinge eine Atmosphäre schaffen, die beunruhigend ist. Ich bin kein phantasievoller Mensch, aber ich sage euch, daß es Zeiten gegeben hat, in denen der Nebel aus den Hochmooren herunterkam, so daß ich manchmal glaubte, die verlorene Legion käme wieder.« Es entstand eine ausgedehnte Stille, und ein kleiner Schauer lief durch den Raum wie ein Windstoß durch hohes Gras. Onkel Aquilas 111
Gesicht sah undurchdringlich aus. Das von Placidus zeigte deutlich, was er von solchen Hirngespinsten hielt. Dann sagte Marcus: »Hast du eine Idee – oder eine Theorie -, was aus der Spanischen Legion wurde, Herr?« Der Legat blickte ihn aufmerksam an. »Ihr Schicksal bedeutet dir etwas?« »Ja. Mein Vater war Führer ihrer ersten Kohorte – Onkel Aquilas Bruder.« Der Legat wandte den Kopf um. »Aquila, das wußte ich ja gar nicht.« »O ja«, sagte Onkel Aquila. »Habe ich dir nie von ihm erzählt? Ich habe nicht viel mit ihm zu tun gehabt, denn wir waren der Älteste und der Jüngste in der Familie und zwanzig Jahre auseinander.« Der Legat nickte, und nachdem er einen Augenblick nachdenklich geschwiegen hatte, wandte er sich wieder Marcus zu. »Es besteht natürlich die Möglichkeit, daß sie irgendwo abgeschnitten und so gründlich ausgerottet wurden, daß keine Überlebenden mehr da waren, die von dem Unglück berichten konnten.« »Aber es ist doch ausgeschlossen, Herr«, sagte Placidus im Tone höchster Unterwürfigkeit, »daß fast viertausend Mann in einer Provinz von der Größe Valentias, selbst im ganzen Caledonien, spurlos verschwinden können. Ist es nicht viel wahrscheinlicher, daß sie die Nase voll hatten vom Soldatenspielen, diejenigen ihrer Offiziere, die nicht mitmachen wollten, umbrachten und zu den eingeborenen Stämmen überliefen?« Marcus sagte nichts; der Tribun war seines Onkels Gast; aber sein Mund wurde zu einem schmalen, heißen Strich. »Nein, ich halte das nicht für wahrscheinlich«, sagte der Legat. Aber Placidus hörte nicht auf zu sticheln. »Ich sehe das ein«, sagte er heuchlerisch. »Ich gelangte zu der Überzeugung, daß dieses die einzig mögliche Erklärung für das Geheimnis sei, da die Spanische Legion ja einen außerordentlich schlechten Ruf hatte. Aber ich stelle befriedigt fest, daß ich ihm Irrtum war.« »Bestimmt bist du das«, sagte der Legat mit leichtem Spott. 112
»Aber du hältst doch wohl auch nicht die Theorie für sehr wahrscheinlich, daß sie in eine Falle gelockt wurden, Herr?« Marcus häufte sich mit aller Umständlichkeit Rosinen auf, die er gar nicht haben wollte. »Ich kann kaum glauben, daß irgendeine Legion des römischen Imperiums so tief sinken kann, daß die andere Erklärung zutreffen könnte.« Der Legat zögerte, und sein Gesicht bekam schärfere Züge, es war nicht mehr das Gesicht eines Mannes, der sich an einer Mahlzeit freut, dachte Marcus, sondern das Gesicht eines Soldaten. Er begann unvermittelt wieder zu sprechen. »In letzter Zeit lief an der Grenze ein Gerücht um – das mir übrigens Anlaß gab zu wünschen, der Senat möchte mich nicht gerade in diesem Augenblick zurückgerufen haben, obwohl ich den Lagerkommandanten und den Führer der ersten Kohorte dort zurücklasse, die beide ihr Handwerk besser verstehen als ich -, ein Gerücht, nach dem, wenn es wahr ist, die Spanische Legion wirklich im Kampf untergega ngen ist. Es ist nur Marktgeschwätz, aber oft enthält so etwas ein Körnchen Wahrheit. Man erzählt sich, daß der Adler der Legion gesehen wurde und daß ihm in einem Stammesheiligtum im hohen Norden göttliche Ehrungen zuteil werden.« Onkel Aquila, der mit seinem Weinglas gespielt hatte, setzte es so heftig nieder, daß ein Tropfen auf seine Hand spritzte. »Weiter!« sagte er, als der andere einhielt. »Das ist alles, mehr kann man nicht sagen, und mehr kann man nicht tun, das ist das Schlimme. Aber du verstehst, was ich meine?« »O ja, ich verstehe dich.« »Aber ich glaube, ich verstehe dich nicht ganz«, sagte Marcus. »Wenn eine Legion abtrünnig wird, würde sie wahrscheinlich ihren Adler verstecken oder in Stücke schlagen oder ihn einfach in den nächsten Fluß werfen. Sie würde weder den Wunsch noch die Möglichkeit haben, ihn im Tempel eines einheimischen Götzen aufzustellen. Aber ein Adler, der im Kampf erobert wird, ist etwas ganz anderes. Den Stämmen außerhalb der Wälle muß es so scheinen, als hätten sie den Gott der Legion erobert. Also bringen sie ihn im Triumph heim, brennen Fackeln an, opfern vielleicht einen schwarzen 113
Widder und geben ihm einen Platz im Heiligtum ihres eigenen Gottes, damit der Adler die jungen Männer stark macht für den Kampf und das Getreide reifen läßt. Verstehst du?« Marcus verstand ihn. »Und was willst du nun tun, Herr?« fragte er nach einem Augenblick. »Nichts. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist nichts Wahres an der Geschichte.« »Aber wenn doch etwas daran ist?« »Dann kann ich trotzdem nichts unternehmen.« »Aber es ist der Adler, Herr, der verlorene Adler der Spanischen Legion!« sagte Marcus, als wolle er einem Menschen, der nicht recht bei Verstand ist, eine Idee einhämmern. »Adler verloren – Ehre verloren, Ehre verloren – alles verloren«, zitierte der Legat. »O ja, ich weiß.« Das Bedauern in seiner Stimme ließ erkennen, daß er die Sache für erledigt hielt. »Mehr als das, Herr.« Marcus beugte sich vor und fing vor Aufregung fast an zu stottern. »Wenn man den Adler finden und zurückbringen könnte, dann – würde man die Legion wieder bilden.« »Auch das weiß ich«, sagte der Legat. »Und ich weiß noch etwas, was mich stärker beunruhigt. Wenn es im Norden wieder Unruhen geben sollte, dann könnte ein römischer Adler in den Händen der Tätowierten allzu leicht eine Waffe gegen uns werden, denn ihm wohnt zweifellos eine Kraft inne, die die Herzen und Gemüter der Stämme anfeuern würde. Aber wie die Dinge liegen, kann ich nicht auf ein bloßes, vom Winde hergetragenes Gerücht hin etwas unternehmen. Wenn ma n ein Expeditionskorps ausschicken würde, gäbe es offenen Krieg. Eine ganze Legion würde kaum durchkommen, und es gibt nur drei in ganz Britannien.« »Aber wo eine Legion nicht durchkommt, könnte ein einzelner Mann es schaffen, um wenigstens die Wahrheit herauszufinden.« »Das stimmt, wenn man den rechten Mann fände. Es müßte einer sein, der die nördlichen Stämme kennt und den sie aufnehmen und durchziehen lassen würden, und es müßte, glaube ich, einer sein, dem das Schicksal des Adlers der Spanischen Legion sehr am Herzen liegt, 114
denn sonst wäre niemand verrückt genug, seinen Kopf in ein solches Wespennest zu stecken.« Er setzte das Glas nieder, das er beim Sprechen hin- und hergedreht hatte. »Wenn ich einen solchen Mann unter meinen jungen Leuten gehabt hätte, hätte ich ihm den Marschbefehl gegeben. Die Sache scheint mir dringlich genug dafür zu sein.« »Schick mich!« sagte Marcus mit Nachdruck. Seine Augen wanderten von einem zum anderen der Männer rund um den Tisch, richteten sich dann auf den Vorhang vor dem Eingang, und er rief: »Esca! He! Esca!« »Was bei den -«, begann Onkel Aquila und brach ab, weil ihm plötzlich die Sprache wegblieb. Niemand sagte etwas. Rasche Fußtritte kamen durch das Atrium, der Vorhang wurde beiseitegezogen, und Esca erschien auf der Schwelle. »Der Centurio hat nach mir gerufen?« In so wenig Worten wie möglich erklärte Marcus ihm, worum es ging. »Willst du mit mir kommen, Esca?« Esca trat neben seinen Herrn. Seine Augen strahlten im Lampenlicht. »Ich komme mit«, sagte er. Marcus wandte sich wieder dem Legaten zu. »Esca ist dort geboren und aufgewachsen, wo jetzt der Grenzwall läuft, und der Adler war der Adler meines Vaters. Wir erfüllen also beide zusammen deine Bedingungen genau. Schick uns!« Die merkwürdige Stille, die die anderen Männer umfangen hatte, wurde plötzlich gesprengt, als Onkel Aquila mit der flachen Hand auf den Tisch schlug. »Das ist Wahnsinn! Reiner, völliger Wahnsinn!« »Nein, das ist es nicht!« protestierte Marcus heftig. »Ich habe einen höchst vernünftigen und durchfü hrbaren Plan. Im Namen des Lichtes, hört mich an!« Onkel Aquila holte Luft für eine wortreiche Antwort, aber der Legat wandte ruhig ein: »Laß den Jungen reden, Aquila«, und so ergab er sich seufzend. Eine ganze Weile starrte Marcus auf die Rosinen auf seinem Teller, indem er sich bemühte, einige Ordnung in den wirren 115
Plan in seinem Kopf zu bringen. Er versuchte, sich genau an das zu erinnern, was Rufrius Galarius ihm erzählt hatte und was ihm jetzt helfen würde. Dann blickte er auf und begann eifrig, aber mit großer Sorgfalt und langen Pausen zu sprechen, als ob er seinen Weg beim Sprechen ertastete und erforschte. »Claudius Hieronimianus, du sagst, es muß jemand sein, den die Stämme aufnehmen und durchlassen würden. So einer ist ein fahrender Augendoktor. Es gibt hier im Norden viele entzündete Augen, und die Hälfte der fahrenden Leute auf den Straßen sind Quacksalber. Rufrius Galarius, der Feldarzt bei der Zweiten Legion war« – er schaute seinen Onkel mit einem vagen Lächeln an -, »erzählte mir einmal von einem Mann, den er gut kannte, der sogar die Wasser im Westen überquert hat und sein Gewerbe kreuz und quer in Irland ausgeübt hat und mit heiler Haut wiederkam und seine Geschichte erzählte. Und wenn der Stempel eines Augenarztes einen Mann sicher durch Irland bringt, dann wird er ganz bestimmt auch Esca und mich durch ein Land bringen, das schließlich früher eine römische Provinz war!« Er richtete sich auf seiner Liege auf und sah die beiden älteren Männer beschwörend an. Placidus hatte er vergessen. »Vielleicht gelingt es uns nicht, den Adler zurückzubringen, aber wenn die Götter es wollen, werden wir jedenfalls herausfinden, ob dein Gerücht wahr oder unwahr ist.« Es entstand ein langes Schweigen. Der Legat schaute Marcus nachdenklich an. Onkel Aquila brach das Schweigen. »Ein kühner Plan, gegen den nur eine Kleinigkeit spricht, die dir anscheinend entgangen ist.« »Und das wäre?« »Du weißt nicht mehr als ein faules Ei über die Behandlung von entzündeten Augen.« »Das gleiche trifft auf drei von vier Quacksalbern zu, die herumziehen, aber ich werde Rufrius Galarius aufsuchen. Gewiß, er ist Wundarzt und nicht Augendoktor, das habe ich nicht vergessen, aber er wird doch so viel davon verstehen, daß er mir sagen kann, wie man ein paar wirksame Salben herstellt und wie man sie anwendet.« Onkel Aquila nickte zustimmend mit dem Kopf. 116
Und dann fragte der Legat nach einer kleinen Stille plötzlich: »Wie steht es eigentlich mit deinem Bein?« Marcus hatte die Frage erwartet. »Es taugt zwar nicht mehr für die Parade, aber sonst ist es beinahe so leistungsfähig wie früher«, sagte er. »Bei einem Wettrennen hätten wir keine großen Chancen, glaube ich, aber in einem fremden Land würden wir es natürlich kaum auf ein Wettrennen ankommen lassen.« Wieder wurde es still. Marcus saß mit erhobenem Kopf da und blickte abwechselnd den Legaten und seinen Onkel an. Sie überlegten sich das Für und Wider, und er wußte das. Sie überlegten, ob er durchkommen konnte und ob er sein Ziel erreichen würde. Als sich die Minuten dehnten und dehnten, wurde der Wunsch, den Marschbefehl zu bekommen, immer brennender in ihm. Es ging hier um Leben oder Tod der Legion seines Vaters, der Legion, die sein Vater geliebt hatte. Und weil er seinen Vater von ganzem Herzen geliebt hatte, war das Unternehmen seine persönliche Suche, eine Suche mit leuchtendem Ziel. Aber hinter diesem leuchtenden Ziel lag die harte Tatsache verborgen, daß ein römischer Adler in Händen war, die ihn eines Tages als Waffe gegen Rom gebrauchen konnten; und Marcus war Soldat. So war es nicht allein der Durst nach Abenteuern, der ihn erfüllte, während er auf den Urteilsspruch wartete, sondern zugleich das Bewußtsein, daß die Suche einen tieferen Sinn hatte. »Claudius Hieronimianus, du sagtest eben, daß du einen Mann ausgeschickt hättest, wenn du einen unter deinen jungen Leuten hättest«, sagte er schließlich, als er nicht mehr länger schweigen konnte. »Bekomme ich meinen Marschbefehl?« Es war sein Onkel, der zuerst sprach, und er redete den Legaten und Marcus zugleich an. »Die Götter meiner Väter mögen verhüten, daß ich einen meiner Blutsverwandten davon abhalte, sich für eine gute Sache den Hals zu brechen, wenn er Lust dazu hat.« Es lag eine gewisse Ironie in seinen Worten, aber als Marcus in seine scharf dreinblickenden Augen unter den buschigen Augenbrauen schaute, wußte er, daß Onkel Aquila viel mehr von dem ahnte und verstand, was die Suche für ihn bedeutete, als Marcus gedacht hatte. 117
Der Legat sagte: »Du bist dir über die Lage im klaren? Die Provinz Valentia ist heute, was immer sie auc h bedeutet haben mag oder einst bedeuten wird, keinen Pfifferling mehr wert. Du gehst allein in feindliches Land, und wenn dir etwas zustößt, kann und wird dir Rom nicht helfen.« »Das weiß ich«, sagte Marcus. »Aber ich werde nicht allein sein. Esca geht mit mir.« Claudius Hieronimianus neigte den Kopf. »So geht denn! Ich bin nicht dein Legat, aber ich gebe dir den Marschbefehl.« Später saßen sie um das Kohlenbecken im Atrium und sprachen verschiedene Einzelheiten durch. Da sagte Placidus plötzlich etwas höchst Überraschendes. »Ich wünschte beinahe, in diesem verrückten Suchtrupp wäre Platz für einen dritten! Beim Bacchus! Ich würde Rom eine Weile Rom sein lassen und mit euch kommen!« Für die Dauer eines Augenblicks hatte sein Gesicht den Ausdruck müder Lange weile verloren, und als die beiden jungen Männer sich beim Lampenlicht anblickten, fand Marcus ihn zum erstenmal, seit sie sich gesehen hatten, ganz nett. Aber das dünne Band der Zuneigung zerriß sehr schnell wieder, als Placidus eine Frage stellte: »Bist du sicher, daß du deinem Barbaren bei einem solchen Unternehmen trauen kannst?« »Esca?« sagte Marcus überrascht. »Ja, vollkommen sicher.« Der andere zuckte mit den Schultern. »Du weißt das zweifellos am besten. Ich persönlich würde es nicht riskieren, mein Leben an solch einem seidenen Faden aufzuhängen, wie es die Treue eines Sklaven ist.« »Esca und ich -« begann Marcus und brach ab. Er wollte seine und Escas tiefsten Gefühle nicht zur Schau stellen, um einen Menschen wie den Tribun Placidus zu amüsieren. »Esca ist schon lange bei mir. Er pflegte mich, als ich krank war, er tat alles für mich die ganze Zeit, als ich mit meinem Bein lag.« »Warum auch nicht? Er ist dein Sklave«, sagte Placidus obenhin. 118
Vor Überraschung fand Marcus keine Worte. Es war lange he r, seit er Esca als Sklaven betrachtet hatte. »Er tat es nicht darum«, sagte er. »Das ist auch nicht der Grund dafür, daß er jetzt mit mir kommt.« »Wirklich nicht? Oh, mein Marcus, was für ein Einfaltspinsel du bist; Sklaven sind alle – Sklaven. Schenk ihm seine Freiheit und sieh zu, was dann passiert.« »Das will ich«, sagte Marcus. »Dank, Placidus, das will ich tun!« Als Marcus später am Abend mit Wolf auf den Fersen in seinen Schlafraum kam, legte Esca, der wie üblich auf ihn gewartet hatte, den Gürtel beiseite, dessen Schnallen er geputzt hatte, und fragte: »Wann brechen wir auf?« Marcus schloß die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. »Wahrscheinlich morgen in der Frühe – das heißt, jedenfalls ich. Die Einzelheiten ordnen wir später, aber du nimmst besser erst dieses«, und er streckte ihm eine dünne Papyrusrolle hin, die er in der Hand hielt. Esca ergriff sie mit einem verwirrten Ausdruck, rollte sie auf und hielt sie in das Lampenlicht. Und während Marcus ihm zuschaute, überkam ihn plötzlich die schmerzliche Erinnerung an einen Augenblick des Nachmittags, als er Wolfs Halsriemen gelöst hatte. Wolf war zu ihm zurückgekommen – aber Esca? Esca blickte von der Papyrusrolle auf und schüttelte den Kopf. »Große Buchstaben kann ich«, sagte er, »aber mit dieser Schrift kann ich nichts anfangen. Was heißt das?« »Deine Lossprechung – deine Freiheit«, sagte Marcus. »Ich schrieb sie heute abend, und Onkel Aquila und der Legat bezeugten sie. Esca, ich hätte dich längst freilassen sollen; ich bin ein vollkommen gedankenloser Narr gewesen, und es tut mir leid.« Esca blickte noch einmal auf die Rolle in seiner Hand hinunter und dann wieder auf Marcus, als wisse er nicht, ob er recht verstanden habe. Dann ließ er den Papyrus wieder zusammenrollen und sagte sehr langsam: »Ich bin frei? Ich kann gehen?« »Ja«, sagte Marcus. »Du kannst gehen, Esca.« 119
Es entstand eine lange, lastende Stille. Weit in der Ferne rief eine Eule, und ihr Ruf klang traurig und spöttisch zugleich. Wolf blickte von einem zum anderen und winselte leise. Dann sagte Esca: »Heißt das, daß du mich fortschickst?« »Nein! Du mußt dich entscheiden, ob du gehen oder bleiben willst.« Esca lächelte, er lächelte sein langsames, ernstes Lächeln, das immer ein wenig unwillig zu kommen schien. »Dann bleibe ich«, sagte er und zögerte. »Vielleicht bin ich es nicht allein, der törichte Gedanken wegen Tribun Placidus hat.« »Vielleicht.« Marcus streckte die Arme aus und legte dem anderen beide Hände leise auf die Schultern. »Esca, ich hätte dich nie gefragt, ob du mit mir in dieses Abenteuer gehen willst, wenn du nicht die freie Wahl gehabt hättest. Es wird wohl eine wilde Jagd werden, und ob wir zurückkommen oder nicht, das liegt im Schoß der Götter. Niemand sollte einen Sklaven auffordern, mit ihm eine solche Fährte aufzunehmen, es sei denn – er fragt ihn als Freund.« Er blickte fragend in Escas Gesicht. Esca warf die dünne Papyrusrolle auf das Bett und legte seine Hände auf Marcus’ Hände. »Ich habe dem Centurio nicht gedient, weil ich sein Sklave war«, sagte er und fiel unbewußt in die Sprache seines eigenen Volkes. »Ich habe Marcus gedient, und es war kein Sklavendienst… Ich werde frohen Herzens auf diese Jagd gehen.« Nachdem der Legat versprochen hatte, daß er seinen alten Freund wieder besuchen würde, wenn er im Herbst auf dem Rückweg in den Norden war, brach er am anderen Morgen mit Placidus, von einer halben Reiterschwadron begleitet, auf. Und Marcus beobachtete, wie sie die lange Straße auf Regnum und die wartenden Galeeren zu ritten, aber der Anblick war nicht ganz so schmerzlich für ihn, wie er gewesen wäre, wenn er nicht mit den eigenen Vorbereitungen zu tun gehabt hätte. Escas Freilassung verursachte im Haushalt weniger Aufregung und weniger neidische Gefühle, als man hätte meinen sollen. Sassticca, Stephanos und Marcipor waren als Sklaven geboren, da sie Kinder von Sklaven waren; Esca, der frei geborene Sohn eines freien Häuptlings, war nie ganz ihresgleichen gewesen, auch wenn er mit 120
ihnen am gleichen Tisch aß. Sie waren alt und mit ihrem Leben zufrieden; sie hatten einen guten Herrn, und die Sklaverei beengte sie so wenig wie ein altes, bequemes Gewand. Darum beneideten sie Esca nicht sonderlich um seine Lossprechung, sondern nahmen sie als etwas, das sowieso eines Tages geschehen mußte – denn er und der junge Herr waren, wie Sassticca sagte, die ganzen letzten Monate wie die beiden Hälften einer Mandel gewesen -, und so murrten sie nur ein bißchen, wenn sie unter sich waren, aber mehr, weil ihnen das Murren Spaß machte. Und da Marcus ohnehin – wie man im Hause erzählt hatte – am nächsten Tag fortging, um ein dringendes Geschäft für seinen Onkel zu erledigen, und da Esca ihn begleitete, hatte niemand, auch Esca nicht, viel Zeit, Schwierigkeiten zu machen oder auch nur daran zu denken. Am Abend ging Marcus, als er mit den wenigen notwendigen Vorbereitungen fertig war, unten in den Garten und pfiff nach Cottia. Sie hatte in letzter Zeit immer gewartet, bis er nach ihr pfiff; sie kam zu ihm heraus durch die wilden Obstbäume am Fuß der alten Wälle, die eine Seite ihres pflaumenblauen Mantels über den Kopf geschlagen, um sich gegen den heftigen Frühlingsregen zu schützen, der eben begonnen hatte. Er erzählte ihr die Geschichte in knappen Worten, und sie hörte ihm still zu. Aber ihr Gesicht schien schmaler und spitzer zu werden, und als er fertig war, sagte sie: »Wenn sie diesen Adler wiederhaben wollen, wenn sie fürchten, daß er ihnen sonst schaden kann, laß sie doch jemand anderen schicken! Warum mußt du gehen?« »Es war meines Vaters Adler«, sagte Marcus zu ihr, weil er instinktiv fühlte, daß sie das verstehen könnte, während sie für die anderen Gründe seiner Suche kein Verständnis haben würde. Eine persönliche Treue war etwas Selbstverständliches, aber er wußte, daß es nicht in seiner Macht stand, Cottia die seltsamen, komplizierten, weiterreichenden Treuepflichten des Soldaten verständlich zu machen, die sich ebenso von denen eines Kriegers unterschieden wie die Linie der sich brechenden Welle auf dem Schildbuckel von dem streng geordneten Muster auf seinem Dolch. 121
»Weißt du, bei uns lebt eine Legion durch ihren Adler; solange er in römischen Händen ist, und selbst wenn nur eine Handvoll Männer am Leben geblieben ist, dann gibt es die Legion noch. Nur wenn wir den Adler verlieren, ist es aus mit der Legion. Darum ist nie wieder eine Neunte Legion aufgestellt worden. Aber es gibt immer noch mehr als ein Viertel der Männer von der Neunten Legion, die auf jenem letzten Marsch nicht mit nach Norden marschierten, weil sie an anderen Grenzen eingesetzt waren oder weil sie krank waren oder Garnisonsdienst taten. Sie werden anderen Legionen zugeteilt sein, aber man könnte sie wieder zusammenholen, um den Kern einer neuen Neunten Legion zu bilden. Die Spanische war die erste Legion meines Vaters, und sie war seine letzte, und es war die, die ihm von allen Legionen, in denen er gedient hat, am meisten am Herzen lag. Du siehst also…« »Du willst deinem Vater die Treue halten?« »Ja«, sagte Marcus, »unter anderem. Es ist gut, die Trompeten wieder blasen zu hören, Cottia.« »Ich glaube, ich verstehe dich nicht ganz«, sagte Cottia. »Aber ich sehe ein, daß du gehen mußt. Wann brichst du auf?« »Morgen früh. Ich werde zuerst Rufrius Galarius aufsuchen, aber ich komme nicht wieder durch Calleva, wenn ich nach Norden gehe.« »Und wann kommst du wieder?« »Ich weiß nicht. Vielleicht, wenn alles gutgeht, noch vor dem Winter.« »Und Esca geht mit dir? Und Wolf?« »Esca«, sagte Marcus. »Wolf nicht. Ich lasse Wolf in deiner Obhut, und du mußt jeden Tag zu ihm herüberkommen und mit ihm von mir sprechen. So werdet ihr mich beide nicht vergessen, bis ich wiederkomme.« Cottia sagte: »Wir haben ein gutes Gedächtnis, Wolf und ich. Aber ich werde jeden Tag kommen.« »Gut.« Marcus lächelte sie an und versuchte, ihr ein Lächeln zu entlocken. »Oh, und Cottia, erzähl niemandem etwas von dem Adler. 122
Die anderen glauben, ich habe ein Geschäft für meinen Onkel zu erledigen. Aber – ich wollte gern, daß du die Wahrheit weißt.« Da kam das Lächeln, aber es erlosch sofort wieder. »Ja, Marcus.« »So ist es besser. Cottia, ich kann nic ht länger bleiben, aber bevor ich gehe, möchte ich dich um noch etwas bitten.« Beim Sprechen zog er den schweren goldenen Armreifen mit dem eingravierten Zeichen vom Arm. Die Haut um seinen braunen Knöchel war mandelweiß, wo er gesessen hatte. »Ich kann ihn dort nicht tragen, wohin ich gehe; willst du ihn für mich aufbewahren, bis ich ihn mir von dir wiederholen werde?« Wortlos nahm sie ihm den Reifen ab und sah auf ihn nieder. Das Licht fing sich in dem Zeichen des Steinbocks und den Worten, die darunterstanden. »Pia Fidelis.« Sehr sanft wischte sie die Regentropfen von dem Gold und steckte den Reifen unter ihren Mantel. »Ja, Marcus«, sagte sie wieder. Sie stand sehr aufrecht und regungslos, sehr verloren, und ihr helles Haar war unter dem Dunkel ihres Mantels verborgen, wie damals, als er sie zum erstenmal sah. Er wußte nicht, was er ihr sagen sollte; er hätte ihr so gern für vieles gedankt, was sie für ihn getan hatte, aber da er schon ganz von dem erfüllt war, was vor ihm lag, konnte er nicht die rechten Worte finden, und er wollte Cottia keine leeren Redensarten sagen. Im letzten Augenblick überkam ihn der Wunsch, ihr zu sagen, daß sie den Armreifen behalten sollte, falls er nicht zurückkäme, aber das sagte er wohl besser Onkel Aquila. »Du mußt nun gehen«, sagte er. »Das Licht der Sonne sei mit dir, Cottia.« »Und mit dir«, sagte Cottia. »Und mit dir, Marcus. Ich werde horchen, wann du kommst – wann du hier unten in den Garten kommst und nach mir pfeifst, wenn die Blätter fallen.« Im nächsten Augenblick hatte sie einen tropfenden Weißdornzweig beiseite gebogen und sich von ihm abgewandt. Und er sah ihr nach, wie sie ohne einen Blick zurück durch den kalten, dünnen Regen davonging.
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Über die Grenze Der Wall lief von Luguvallium im Westen bis Segedunum im Osten und paßte sich in seinem Verlauf dem hügeligen Land an; er war eine große Wunde aus Steinen, eine frische, noch offene Wunde. Achtzig Meilen weit reihten sich Festungen, Meilenhäuser, Wachttürme entlang dem großen, geschlossenen Wall, hinter dem der Wallgraben und die Straße für die Legionen von Küste zu Küste verlief. Und an seine Südseite kauerte sich eine Menge von niedrigen Weinschenken, Tempeln, Wohnungen der verheirateten Soldaten und Handelsplätzen, die überall entstanden, wohin eine Legion kam. Ein großer, nie endender Lärm brauste über allem: von Stimmen, marschierenden Füßen, rollenden Rädern, den Hammerschlägen eines Waffenschmiedes auf dem Amboß und den klaren Trompetensignalen darüber. Das war der berühmte Hadrianswall, der die Gefahr aus dem Norden bannte. An einem Morgen im frühen Sommer erschienen zwei Reisende, die ein paar Tage in einem schmutzigen, vernachlässigten Gasthaus dicht unter den Wällen von Chilumium gewohnt hatten, in dem prätorianischen Tor der Festung und baten um Durchlaß in den Norden. Es war kein großes Kommen und Gehen über die Grenze, gewöhnlich wechselten nur die Grenzposten hinüber. Sonst kamen hauptsächlich Jäger oder Fallensteller mit wilden Tieren an der Kette für die Arena, manchmal ein Wahrsager oder ein Quacksalber, und sie alle mußten die großen Festungen am Wall passieren. Sie waren ein ziemlich unansehnliches Paar, die beiden, als sie auf ihren kleinen ausgedienten Kavalleriepferden arabischer Zucht ankamen, die offensichtlich einmal bessere Tage gesehen hatten. Die Legionen fanden immer guten Absatz für ihre alten Pferde, die billig, gut trainiert und jahrelang zu harter Arbeit erzogen waren. Man traf sie überall an den Straßen des Römischen Imperiums, und man sah diesen beiden Pferden nicht an, daß sie nicht mit Geld gekauft waren, sondern mit ein paar Worten auf einem Stück Papyrus, die der Legat der Sechsten Legion unterzeichnet hatte. 124
Esca sah nicht wesentlich anders aus als sonst, denn er hatte es nicht nötig; er hatte sich einfach wieder so gekleidet, wie sein Volk es tat, und das war alles. Aber mit Marcus war das etwas anderes. Er hatte sich auch britannisch gekleidet, er trug lange safrangelbe Hosen aus Wolle, die bis zum Knie bewickelt waren, darüber eine Tunika von verblichenem, ausgesprochen schmutzigem, violettem Tuch. Kniehosen waren in einem kalten Klima angenehm, und viele herumziehende Kräutersammler und fahrende Leute trugen sie. Aber der dunkle Umhang, den er über die Schulter geworfen hatte, hing in Falten, die fremdartig und exotisch wirkten, und er trug eine schmierige phrygische Kappe aus rotem Leder, die er sich verwegen auf den Hinterkopf gesetzt hatte. Ein kleiner silberner Talisman, geformt wie eine offene Hand, bedeckte das Mithraszeichen auf seiner Stirn, und er hatte sich einen Bart stehen lassen. Es war noch kein sehr guter Bart, da er erst wenig älter war als einen Monat; aber was an Bart vorhanden war, hatte er mit wohlriechendem Öl getränkt. Er sah fast so aus wie die meisten wandernden Quacksalber, wenn auch trotz des Bartes reichlich jung; aber man sah ihm jedenfalls nicht mehr an, daß er einst Centurio bei den Adlern gewesen war. Sein Topf mit Salben, die Rufrius Galarius ihm bereitet hatte, war in dem Packen hinter Escas Sattelkissen verstaut, wo auch der Stempel war, der ihn als Augendoktor kennzeichnete, und außerdem ein Stück Schiefer, auf dem die getrockneten Salben zerrieben wurden und auf dem in großen, eingeritzten Buchstaben zu lesen war: »Das unübertreffliche Heilmittel des Demetrius von Alexandrien für alle Arten von schlechten Augen.« Die Wachen ließen sie unbehindert in die Festung von Chilurnium ein, in eine Welt von rechtwinklich ausgerichteten Soldatenquartieren und in ein Leben, das sich nach Trompetensignalen vollzog, so daß es Marcus scheinen wollte, als komme er nach Hause. Aber als sie zum Nordtor kamen, begegnete ihnen eine Schwadron der tungrischen Reiterkohorte, die hier als Besatzung lag und die eben von einer Übung zurückkam. Sie lenkten ihre Pferde beiseite und beobachteten, wie die Schwadron vorbeiritt. In dem Augenblick überkam eine starke und altvertraute Erinnerung Vipsania, Marcus’ Pferd, und als die letzten Reiter der Schwadron vorbeikamen, bäumte sie sich mit einem 125
lauten Wiehern auf und wollte ihnen folgen. Wegen seiner alten Wunde hatte Marcus wenig Kraft in seinem rechten Knie, und es verging eine ganze Weile unter Trampeln und Schwitzen, bevor es ihm gelang, sie wieder zu bändigen und zum Tor zu lenken, und als er das schließlich geschafft hatte, sah er, daß der Decurio der Torwache an der Wand des Wachhauses lehnte und sich die Seiten vor Lachen hielt, während seine vergnügt grinsenden Männer im Hintergrund standen. »Man soll nie einen gestohlenen Kavalleriegaul in Kavallerielager bringen«, sagte der Decurio freundschaftlich, als er sich ausgelacht hatte. »Den guten Rat gebe ich euch!« Marcus, der immer noch seine zornige und enttäuschte Stute beruhigte, fragte mit hochmütiger Miene, die Äskulap selbst kaum hätte übertreffen können, wenn man ihn des Pferdediebstahls bezichtigt hätte: »Du glaubst doch wohl nicht, daß ich, Demetrius von Alexandrien, der Demetrius von Alexandrien, die Gewohnheit habe, Pferde zu stehlen? Oder wenn ich es schon täte, sollte ich dann nicht klug genug sein, ein besseres zu stehlen als dieses hier?« Der Decurio war eine lustige Seele, und der kleine grinsende Haufen, der sich um ihn gesammelt hatte, spornte ihn zu weiteren Fragen an. Er zwinkerte mit den Augen. »Man kann das Brandzeichen auf ihrer Schulter erkennen, das ist doch klar wie ein Speerschaft.« »Wenn du nicht ebenso klar wie ein Speerschaft sehen kannst, daß das Zeichen gelöscht ist«, gab Marcus zurück, »dann brauchst du dringend etwas von meinem unübertrefflichen Heilmittel für alle Arten von schlechten Augen! Ich will dir einen kleinen Topf für drei Sesterzen überlassen.« Darauf folgte brüllendes Gelächter. »Nimm lieber zwei Töpfe, Sextus«, rief jemand. »Weißt du noch, wie du die Beine des Pikten damals nicht gesehen hast, die aus dem Ginsterbusch vorguckten?« Der Decurio erinnerte sich offenbar noch an die Beine des Pikten, wenn auch ungern, denn obwohl er mit den anderen lachte, klang sein Lachen doch etwas gezwungen, und er wechselte schnell das Thema. »Gibt es nicht genug entzündete Augen für deine Salben im 126
Römischen Imperium? Hast du es nötig, über die Grenze zu gehen, um welche zu finden?« »Vielleicht bin ich wie Alexander und suche neue Welten, die ich erobern kann«, sagte Marcus bescheiden. Der Decurio zuckte die Achseln. »Jeder nach seinem Geschmack. Mir genügt die alte Welt – mit einer ganzen Hufe Land, auf der ich sie genießen kann!« »Mangel an Unternehmungsgeist. So steht es mit dir.« Marcus rümpfte die Nase. »Wenn es mir daran gefehlt hätte, wäre ich dann der Demetrius von Alexandrien, der Erfinder des unübertrefflichen Heilmittels, der berühmteste Augendoktor zwischen Cäsarea und – « »Cave! Der Kommandeur kommt«, sagte jemand. Sofort verzogen sich diejenigen aus der Gruppe, die hier nichts zu suchen hatten, und die übrigen nahmen Haltung an und taten sehr geschäftig. Und Marcus, der immer noch in voller Lautstärke seine Bedeutung und die Wunderkräfte seines unübertrefflichen Heilmittels anpries, wurde durch den dunklen, mit Soldaten vollgestopften Torbogen hinausgedrängt, und Esca folgte ihm in würdevollem Ernst. Die Grenze lag hinter ihnen, und sie ritten hinein in die einstmals römische Provinz Valentia. In Chilurnium muß es schön sein für die Besatzungssoldaten, dachte Marcus, als er seine Augen über das flache, bewaldete Tal und den stillen Fluß schweifen ließ. Man konnte hier fischen und baden – solange keine Unruhen schwelten – und in den Wäldern jagen; hier ließ es sich besser leben als in den Festungen im Hochland weiter westlich, wo der Wall durch karge Hochmoore lief und von Kamm zu Kamm in den schwarzen Bergen kroch. Aber er sehnte sich jetzt nach den hohen Bergen, nach dem heulenden Wind und dem Ruf der Brachvögel, und sobald sie Chilurnium im Rücken hatten, wandten sie sich freudig westwärts und schlugen die Richtung ein, die ihnen ein Jäger gewiesen hatte, bevor sie aufbrachen. Sie ließen das stille Tal hinter sich und strebten den fernen, pflaumenblauen, dunklen Höhenzügen des Hochlandes zu, die sich hinter einer Schneise der Eichenwälder zeigten. 127
Esca war jetzt an seiner Seite, und sie ritten einträchtig und schweigend nebeneinander, und die unbeschlagenen Hufe ihrer Pferde waren auf dem unebenen Grasland kaum zu hören. In der Wildnis gab es weder Straßen noch Hufschmiede. Das Land südlich des Walles war schon wild und einsam gewesen, aber in dem Land, das sie heute durchritten, schienen keine Lebewesen zu hausen als Hirsche und Bergfüchse; und obwohl nur ein von Menschenhand geschaffener Wall dieses Land vom Süden trennte, wirkten die Berge hier öder und die Ferne düsterer. Es war ihnen fast so, als ob sie in einer Menge von Fremden ein vertrautes Gesicht entdeckten, als sie am frühen Nachmittag über den Kamm eines Hochmoores in ein enges grünes Tal hinunterkamen, durch das ein heller Bach über Steine plätscherte, wo die Ebereschen in Blüte standen und die warme Luft mit einem honigsüßen Duft erfüllten. Das war ein guter Platz für eine Rast, fanden sie. Sie stiegen ab, und nachdem sie die Pferde getränkt und zum Grasen geführt hatten, tranken sie aus der hohlen Hand und streckten sich am Ufer aus. Sie hatten Weizenkuchen und getrockneten Fisch in ihren Satteltaschen, aber sie rührten nichts davon an, denn sie waren es gewöhnt – Marcus von den Märschen und Esca von der Jagd – nur morgens und abends etwas zu essen. Esca hatte sich mit einem zufriedenen Seufzer der Länge nach unter den überhängenden Ebereschen ausgestreckt; aber Marcus hatte sich auf einen Ellenbogen gestützt und sah dem Bach nach, bis er hinter der Biegung des Tales verschwand. Die Stille der Berge umfing sie, eine Stille aus vielen kleinen Lauten: dem Murmeln des Wassers, dem Gesumm der wilden Bienen in den Ebereschenblüten über ihnen, dem zufriedenen Grasen der beiden Stuten. Hier oben war gut sein, dachte Marcus, nach all der Zeit, die sie auf Wege und Mittel für die Reise gesonnen hatten, nach den Tagen, die sie in der Nähe des Walles herumhingen, sich die Hacken in den Leib standen und auf den leisesten Hauch von einem Gerücht warteten, das offensichtlich fortgeweht war wie ein flüchtiger Wind, nachdem der Legat es vernommen hatte. Hier hoch oben in den Bergen fiel alle Mühe und alle Ungeduld der letzten Wochen, die ihn ganz einzuspinnen 128
schienen, von ihm ab, und er sah sich von Angesicht zu Angesicht seiner Aufgabe gegenüber. Vor Wochen hatten sie in Onkel Aquilas Studierzimmer, das nun weltenweit entfernt zu sein schien, einen groben Feldzugsplan entworfen. Er war sehr einfach: Sie wollten sich langsam nach Norden vorarbeiten, indem sie von Küste zu Küste hin- und herzogen wie ein Hund, der eine Spur verfolgt. So mußten sie jedesmal zwischen den Küsten auf die Spur des Adlers – und damit auch auf die der Legion – treffen; und irgendwo würden sie auch sicherlich auf sie stoßen, wenn sie Augen und Ohren offenhielten. In Onkel Aquilas Studierzimmer hatte das alles ganz einfach ausgesehen, aber hier in der großen Weite jenseits der Grenze war es ein gigantisches Unternehmen. Aber gerade daß die Sache so hoffnungslos aussah, faßte Marcus als Herausforderung auf, die er freudig begrüßte. Im Augenblick vergaß er die nüchternen Forderungen seiner Suche und dachte nur noch an sein persönliches Anliegen. Und als er so in dem kleinen, sonnenerwärmten Tal saß, überkam ihn plötzlich ein freudiges und fast schmerzhaftes Vorgefühl, in dem er den herrlichen Augenblick genoß, da er den verlorenen Adler nach Eburacum zurückbringen würde und wußte, daß seines Vaters Legion wieder entstehen würde, daß ihr Name vor aller Welt reingewaschen war. Und ganz, ganz sicher konnte kein Gott, der menschliche Verehrung verdiente, so ungerecht sein, daß er seinen Vater nicht wissen ließ: Marcus hat dir die Treue gehalten. Esca brach plötzlich das Schweigen. »Die Planerei ist also vorbei«, sagte er, und es sah so aus, als spreche er in die bienensummenden Zweige der Eberesche über seinem Kopf, »und die Jagd kann endlich losgehen.« »Der Jagdgrund ist weit«, sagte Marcus und blickte auf seinen Gefährten hinunter. »Und wer weiß, in was für seltsame Gefilde die Jagd uns führen mag? Esca, du kennst dieses Land besser als ich, und wenn die Leute hier auch nicht deines Stammes sind, so sind sie dir doch verwandter als mir. Es sind die Menschen, die zu den Linien auf dem Schildbuckel gehören und nicht zu dem Muster auf meinem 129
Dolch. Darum werde ich alles tun, was du sagst, und ich werde dich nicht viel fragen, warum.« »Mag sein, daß du recht hast«, sagte Esca. Plötzlich richtete sich Marcus auf und blickte nach der Sonne. »Ich glaube, wir müssen bald aufbrechen, wenn wir heute nacht nicht im Walde schlafen wollen. Wir haben das Dorf noch nicht gefunden, von dem der Mann in dem Gasthaus sprach.« Selbst südlich des Walles ging man nicht nach Einbruch der Dunkelheit in ein unbekanntes Dorf, es sei denn, man war lebensmüde. »Wir werden nicht lange suchen müssen«, sagte Esca, »wenn wir bachabwärts reiten.« Marcus zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Woher weißt du das?« »Rauch. Drüben über dem Hügel; ich sah ihn vor einer Weile vor den Birken da aufsteigen.« »Vielleicht ist es ein Heidefeuer.« »Es war Herdfeuer«, sagte Esca schlicht und bestimmt. Marcus streckte sich wieder im Gras aus. Dann zog er, als sei ihm plötzlich etwas eingefallen, seinen Dolch heraus und begann, kleine quadratische Rasenstücke aus dem feinen Gras am Bach auszustechen. Er löste und hob sie mit großer Sorgfalt. Als er genug hatte, bedeckte er die kahle Stelle wieder mit den überhängenden Dornbüschen und mit Schierling, trug die Rasenstücke etwas weiter den Bach hinauf und fing an, sie aufeinanderzuschichten. »Was tust du da?« fragte Esca, der ihm eine Weile schweigend zugeschaut hatte. »Ich baue einen Altar«, sagte Marcus, »hier an unserem ersten Rastplatz.« »Für welchen Gott?« »Für meinen Gott. Für Mithras, das Licht der Sonne.« Esca verstummte wieder. Er bot Marcus nicht seine Hilfe an, denn der errichtete seinem Gott einen Altar, einem Gott, der nicht Escas Gott war. Aber er kam näher, setzte sich, umfaßte seine hochgezogenen Knie und sah dem Werk zu. Marcus beschnitt und 130
schichtete die Rasenstücke; die krümelige Erde fühlte sich noch warm an in seinen Händen, und ein tief herunterhängender Ebereschenzweig warf feingemaserte Schatten auf seine schaffenden Hände. Als der Altar fertig war, säuberte er seinen Dolch und steckte ihn in die Scheide, dann schob er mit den Händen die lose Erde von dem Gras um den Altar. Aus Birkenrinde, trockenem Reisig und abgestorbenem Heidekraut – Esca half ihm beim Sammeln – baute er eine kleine Feuerstelle oben auf dem Altar. Er tat das mit großer Sorgfalt, und in der Mitte höhlte er sie ein klein wenig aus, als wolle er ein Nest für etwas machen, das ihm sehr lieb war. Er brach einen blütenschäumenden Zweig von der Eberesche, zupfte Blüte um Blüte aus und streute sie über alles. Zuletzt zog er seinen Vogel aus Olivenholz aus seiner Tunika. Er war von jahrelangem Gebrauch blankgewetzt und dunkel; eigentlich ein plumper und lächerlicher kleiner Vogel, fand Marcus, als er ihn jetzt anscha ute, aber er war ihm teuer, und weil er ihm so teuer war, war er ein würdiges Opfer. Er war ein Stück seines Lebens, etwas, das den Bogen zurückschlug zu dem wilden Olivenbaum in der Flußschleife, zu dem Leben, den Plätzen, den Dingen und den Menschen, zu denen der wilde Olivenbaum gehörte. Und plötzlich fühlte er, als er ihn in das Nest aus winzigen Sternen der Ebereschenblüten legte, daß er mit ihm – in ihm – auch sein altes Leben ablegte. Er streckte Esca seine Hand hin, um Feuerstein und Lunte zu bekommen, die Esca immer bei sich trug. Die goldenen Funken, die er schlug, fielen auf die trockene Birkenrinde und hingen dort einen kurzen Augenblick wie Juwelen. Dann, als er hineinblies und ihnen Leben einhauchte, schlugen sie als knisternde Flamme hoch; eine Blüte aus Flammen, in deren Mitte der Vogel aus Olivenholz saß wie eine Taube in ihrem Nest. Er nährte das Feuer sorgfältig mit Zweigen von einem abgefallenen Ast, den Esca ihm gebracht hatte.
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Der Pfeifer im Morgengrauen Den ganzen Sommer lang durchzogen Marcus und Esca die einstige Provinz Valentia, indem sie das Land immer wieder von Küste zu Küste überquerten und sich langsam nach Norden vorarbeiteten. Sie gerieten niemals ernstlich in Schwierigkeiten; Rufrius Galarius hatte recht gehabt, wenn er gesagt hatte, daß der Augenarztstempel ein Talisman war, der seinem Besitzer überall Durchlaß verschaffte. In Valentia gab es wie in ganz Britannien viele Fälle einer SumpfAugenkrankheit, und Marcus heilte viele Menschen, die ihn um Hilfe baten, mit den Salben, deren Anwendung der alte Feldarzt ihm gezeigt hatte. Es waren gute Salben, und Marcus hatte einen klaren Verstand und eine glückliche Hand, und er haßte es, eine Arbeit nur halb zu tun, und so hatte er mehr Erfolge als die meisten von den wenigen Quacksalbern, die in diese Gegenden gekommen waren. Die Einheimischen waren nicht gerade freundlich; es lag ihnen nicht im Blut, zu Menschen freundlich zu sein, die nicht ihres Stammes waren, aber sie waren nicht ausgesprochen unfreundlich. Es gab fast in jedem Dorf irgend jemanden, der ihnen bei Einbruch der Nacht Essen und Nachtquartier anbot; und immer fand sich, wenn der Weg schwer zu finden oder gefährlich war, ein Jäger aus einem Dorf, der ihnen als Führer bis zum nächsten diente. Die Leute wollten Marcus für seine Kunst auch gern und gut bezahlen, sie boten ihm eine Handvoll Perlen aus »Schwarzem Bernstein«, eine schöne Speerspitze oder ein gegerbtes Biberfell – Dinge, die südlich des Walles den Wert der Salben um ein Vielfaches übertrafen. Aber Marcus hatte sich nicht in dieses Abenteuer eingelassen, um sein Glück zu machen, und er wollte nicht mit Geklimper durchs Land ziehen wie ein vollbepackter Handelsmann. Er löste das Problem bei jedem Angebot so, daß er sagte: »Heb es für mich auf, bis ich wieder vorbeikomme, wenn ich nach Süden gehe.« Es wurde Spätsommer, und die Ebereschen, die in Blüte gestanden hatten, als Marcus bei ihrer ersten Rast in dem Tal seinen Altar aufgebaut hatte, trugen nun schwer an flammenden Dolden von Beeren. An einem Mittag im August saßen sie Seite an Seite und 132
sahen durch die Birkenwälder hinunter auf den langen Meerarm, der Valentia zur Hälfte von dem darunterliegenden Land abschnitt. Es war ein Tag wie ein Trompetenstoß, die bewaldeten Berge flimmerten in der Hitze, und die Stuten hinter ihnen stampften und tänzelten und schlugen mit den Schwänzen nach der Wolke von Fliegen, die sie plagten. Marcus hielt seine angezogenen Knie mit den Händen umschlossen und schaute über die Meerenge. Die Sonne brannte ihm im Nacken und sengte ihm die Schultern durch den Stoff seiner Tunika hindurch. Er hätte es allzugern Esca nachgetan, der neben ihm auf dem Bauch lag, seine Tunika ein für allemal abgelegt hatte und nun wie die Tätowierten mit bloßem Oberkörper ging. Aber im Hemd durchs Land zu reiten, wäre unter der Würde eines Demetrius von Alexandrien gewesen, und so blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als weiterhin in seiner wollenen Tunika zu schmoren. Er hörte die Bienen in der Glockenheide auf der Lichtung summen, er sog die warmen, aroma tischen Düfte der sonnendurchfluteten Birkenwälder ein, die stärker waren als der Salzgeruch von der See; er suchte sich eine der kreisenden Möwen aus und sah ihr nach, bis sie sich in einer flimmernden Wolke von sonnenglänzenden Flügeln verlor. Aber er war sich all dieser Dinge nicht wirklich bewußt. »Wir haben die Fährte irgendwie verloren«, sagte er plötzlich. »Ich habe das Gefühl, daß wir zu weit nach Norden gekommen sind. Wir sind jetzt fast an der alten Grenze.« »Der Adler wird eher jenseits des nördlichen Walles zu finden sein«, erwiderte Esca. »Die Stammesleute haben ihn sicher nicht in einem Gebiet gelassen, das auch nur dem Namen nach eine römische Provinz war. Sie werden ihn in eine ihrer heiligen Stätten gebracht haben.« »Ich weiß«, sagte Marcus. »Aber man müßte in Valentia eine Spur finden; und wenn an dem Gerücht aus Caledonien etwas Wahres ist, haben wir nur eine geringe Chance, unser Jagdwild in den Bergen zu sichten, wenn wir nicht eine Spur verfolgen können. Wir werden immer weiter durch Caledonien wandern, bis wir schließlich von der Nordspitze ins Meer fallen.« 133
»Eine heilige Stätte kann weithin Zeichen aussenden, wenn man nur Augen hat, sie zu sehen, falls man in ihre Nähe kommt«, meinte Esca. Marcus saß eine Weile schweigend da, die Arme noch um die Knie. Dann sagte er: »Wenn es nichts, aber auch gar nichts gibt, was einem Menschen seinen Weg weist, dann ist es an der Zeit, den Göttern das Urteil zu überlassen«, und er langte in die Brusttasche seiner Tunika, angelte eine kleine Ledertasche heraus und aus der Tasche eine Sesterze. Esca wälzte sich heran, setzte sich auf, und die blauen Kriegermuster auf seinen Armen und seiner Brust gerieten in Bewegung, als seine Muskeln unter der braunen Haut spielten. Die Silbermünze lag in Marcus’ Hand; sie zeigte den mit Lorbeer gekrönten Kopf von Domitian; in dieser kleinen Münze lag ihr Schicksal verborgen. »Kopf, wir ziehen weiter, Schiff, wir kehren um«, sagte Marcus und schleuderte die Münze hoch. Er fing sie mit dem Handrücken auf, deckte die andere Hand darüber, und für einen kurzen Augenblick sahen sie sich fragend an. Dann hob Marcus die obere Hand, und sie sahen die geflügelte Viktoria auf der unteren Seite der Münze, die seit den Tagen der Republik »Schiff« genannt wurde, weil dort damals der Bug einer Galeere eingeprägt gewesen war. »Wir gehen wieder nach Süden«, sagte Marcus. Also ritten sie wieder nach Süden, und ein paar Abende später rasteten sie in der alten Festung, die Agricola in Trinomontium, dem Platz der drei Hügel, erbaut hatte. Vor dreißig Jahren, als Valentia nicht nur dem Namen nach eine römische Provinz gewesen, bevor noch Agricolas Werk durch die Einmischung des Senats zerstört worden war, hatte in der Festung von Trinomontium reges Leben geherrscht. Eine Doppelkohorte war in dem großen Innenhof ausgebildet worden und hatte in der Reihe von Soldatenquartieren geschlafen, in den Ställen hatten viele Pferde gestanden, und auf dem sanft abfallenden Hang südlich der Wälle waren Reitermanöver abgehalten worden, bei denen die Helme der Reiter mit großen, gelben Federn geschmückt waren. Es hatte die üblichen Badehäuser und Weinschenken und die aus Torfsoden 134
gebauten Frauenhäuser gegeben; und über dem Ganzen waren die Wachen mit den Federbüschen auf- und abmarschiert. Aber jetzt war die Wildnis wieder hereingeflutet; Gras bedeckte das Kopfsteinpflaster, die Holzdächer waren eingefallen, und die roten Sandsteinmauern ragten öde und leer in den Himmel. Die Brunnen waren mit dem Laub von dreißig Herbsten vollgestopft, und ein Holunderstrauch hatte in einer Ecke des dachlosen Schreines Wurzeln geschlagen, wo einst die Standarte der Kohorte und der Altar ihrer Götter gewesen waren, und er hatte sich ein ausgezacktes Loch durch die Mauer gebohrt, weil er Platz zum Wachsen brauchte. Als Marcus und Esca in der lastenden Stille des Sommerabends durch diesen verödeten Ort wanderten, war das einzige Lebewesen, auf das sie stießen, eine Eidechse, die sich auf einem heruntergestürzten Mauerblock sonnte und bei ihrem Kommen schnell wie ein Peitschenhieb verschwand. Marcus sah auf den Stein nieder und erblickte den roh eingeritzten angreifenden Bären, das Zeichen der Zwanzigsten Legion. In diesem Augenblick wurde ihm die Verödung aufs neue schmerzlich bewußt. »Wenn die Legionen je wieder nach Norden kommen, werden sie eine ganze Menge zu tun haben«, sagte er. Sie waren abgesessen und führten ihre Pferde, deren Hufschläge in der Stille unnatürlich laut klangen; als sie an einem Kreuzweg anhielten, schien das über sie hereinbrechende Schweigen beinah etwas Bedrohliches zu haben. »Ich habe so ein Gefühl, als ob wir besser ins nächste Dorf geritten wären«, meinte Esca mit verhaltenem Atem. »Ich mag diesen Platz nicht.« »Warum nicht?« fragte Marcus. »Du fandest doch nichts dabei, als wir früher hier waren.« Sie hatten auf ihrem Weg in den Norden einen Abstecher zu der verlassenen Festung gemacht, weil sie die vage Hoffnung gehabt hatten, dort irgendeinen Hinweis zu finden. »Das war am Mittag. Jetzt ist es Abend, und bald wird es dunkel sein.« 135
»An einem hellen Feuer sind wir sicher genug«, sagte Marcus überrascht. »Wir haben oft draußen übernachtet, seit wir auf dieses Abenteuer zogen, und solange wir ein Feuer hatten, ist uns nie etwas zugestoßen. Die einzigen Geschöpfe, die womöglich in diesen Ruinen hausen, sind wilde Schweine, und von denen haben wir keine Spur gesehen.« »Ich bin Jäger, seit ich groß genug war, einen Speer zu halten, und ich bin daran gewöhnt, im Freien zu schlafen«, sagte Esca im gleichen verhaltenen Ton. »Nicht wegen der Waldtiere rieselt es mir kalt den Rücken herunter.« »Weswegen sonst?« Esca lachte und brach mitten im Lachen ab. »Ich bin ein Narr. Vielleicht wegen der Geister einer verlorenen Legion.« Marcus, der über den grasbewachsenen Platz geschaut hatte, sah sich rasch um. »Hier lag eine Kohorte der Zwanzigsten Legion, niemals der Neunten.« »Wissen wir denn, wo die Neunte lag«, fragte Esca, »nachdem sie in den Nebel marschiert war?« Marcus schwieg einen Augenblick. Er stammte aus einem Volk, in dem man sich nicht sonderlich wegen der Geister beunruhigte, aber er wußte, daß es mit Esca anders war. »Ich glaube nicht, daß sie uns etwas tun würden, wenn sie kämen«, sagte er schließlich. »Ich finde, dies ist ein guter Platz zum Schlafen, besonders weil die Brachvögel für heute nacht Regen ankünd igen; aber wenn du willst, wollen wir uns einen geschützten Ort zwischen den Haselsträuchern suchen und da schlafen.« »Dann müßte ich mich ja schämen«, entgegnete Esca ruhig. Marcus sagte: »Dann laß uns jetzt einen Schlafplatz suchen.« Sie ließen sich schließlich an einem Ende der Soldatenquartiere nieder, wo das Dach nicht eingefallen war und eine kleine Wand aus Holz und verfaultem Rohr sie gegen den aufkommenden Regen schützte. Sie packten die Pferde ab, rieben sie trocken und ließen sie nach britannischer Art frei in dem großen Gebäude laufen. Dann ging Esca, ein paar Armvoll Futter und Farnkraut für ein Lager zu holen, 136
während Marcus einen Stapel von dem alten Holz zusammentrug und ein Feuer machte, wobei Vipsania und Minna ihm sehr aufmerksam zuschauten. Später am Abend sah ihre verfallene Unterkunft sehr viel wohnlicher aus; im Eingang brannte ein kleines helles Feuer, der Rauch hatte sich einen Abzug in den dunkelnden Himmel durch ein Loch gesucht, das wie ein Fledermausflügel aussah; auf dem Lager aus Farn in der hinteren Ecke lagen die Schaffelle ausgebreitet, die bei Tage zusammengefaltet als Sättel dienten. Marcus und Esca verzehrten etwas von dem Essen, das sie aus dem Dorf mitbekommen hatten, in dem sie die letzte Nacht verbracht hatten, grobkörnige Gerstenkuchen und Streifen von halbgeräuchertem Wildfleisch, das sie über dem Feuer brieten; und hinterher legte sich Esca gleich zum Schlafen hin. Aber Marcus saß noch eine Weile neben dem Feuer, sah die Funken aufsteigen und hörte nichts als das gele gentliche Scharren der Stuten hinten im Schatten. Von Zeit zu Zeit beugte er sich vor und legte etwas Holz ins Feuer; sonst saß er ganz regungslos, während Esca auf dem aufgeschichteten Farn an der Wand den ruhigen, leichten Schlaf des Jägers schlief. Als Marcus ihn so betrachtete, fragte er sich, ob er den Mut gehabt hätte, sich so ruhig zum Schlafen hinzulegen, wenn er glaubte, daß hier Geister umgingen. Mit der Dunkelheit kam auch der Regen in leisen, dichten Schwaden; als er auf das verfaulte Rohr rauschte und pladderte, wirkte dieser Ort, der einst voll Leben und nun ausgestorben war, öder und leerer. Während er angestrengt in die Stille horchte, spürte Marcus plötzlich, daß ihn eine Menge Geister bedrängte, die auf den Wällen und durch das verlassene Forum huschten, so daß er sich schließlich dazu zwingen mußte, das Feuer zuzudecken und sich neben Esca niederzulegen. Wenn sie sonst im Freien schliefen, blieben sie abwechselnd wach und hüteten das Feuer, während der andere schlief, aber hier war das nicht nötig, weil sie vier Wände um sich und die Tür mit Dornbüschen versperrt hatten, damit die Pferde nicht weglaufen konnten. Eine Weile lag Marcus schlaflos, jeder Nerv in seltsamer Unruhe gespannt; aber er war müde, und die ausgebreiteten Felle und das duftende 137
hochgeschichtete Farnkraut waren sehr gemütlich. Es dauerte nicht lange, so schlief er ein, und er träumte, daß er Legionären bei den Waffenübungen zuschaute. Es waren ganz gewöhnliche Legionäre, nur daß sie – zwischen ihren Kinnriemen und dem Helmrand – keine Gesichter hatten. Er erwachte von einem leichten, anhaltenden Druck unter seinem linken Ohr. Er war sogleich hellwach, wie man es ist, wenn man auf diese Weise geweckt wird. Er öffnete die Augen und sah, daß vom Feuer nur noch etwas rote Glut übrig war und daß Esca in der ersten schwachen Blässe des Morgens neben ihm hockte. Er hatte noch den schlechten Geschmack von seinem Traum im Mund. »Was ist das?« flüsterte er. »Horch!« Marcus horchte, und ein kalter, unangenehmer Schauer durchrieselte ihn. Die Geistererscheinungen von gestern abend standen ihm wieder unheimlich vor Augen. Vielleicht hatte Esca doch recht gehabt mit diesem Platz. Denn irgendwo in der verlassenen Festung pfiff ein Mensch – oder sonst etwas – die Melodie eines Liedes, das er gut kannte. Er war mehr als einmal danach marschiert, denn es war zwar ein altes Lied, aber ein Lieblingslied der Legionen und hatte aus irgendeinem Grunde soundso viele andere Lieder überlebt, die sie irgendwo aufgelesen hatten und nach denen sie ein paar Monate marschiert waren, um sie dann zu vergessen. »Und als ich zu den Adlern kam – es geht mir um und um – küßt ich, bevor ich Abschied nahm, ein Mädchen in Clusium.« Die vertrauten Worte kamen Marcus bei der Melodie in den Sinn, als er leise aufstand und seine steif gewordenen Beine marschbereit machte. Das Pfeifen kam näher, und man konnte es jetzt immer deutlicher hören: »Ein weiter Weg, ein weiter Weg, und zwanzig Jahr sind um, da stand es in dem Scheunentor, mein Kind in Clusium.« Es gab noch viele Verse, in denen der Dichter des Liedes die Mädchen beschrieb, die er in den verschiedenen Teilen des Römischen Imperiums geküßt hatte. Aber als Marcus entschlossen auf den Eingang zuging und Esca sich bückte, um die Dornbüsche 138
wegzuziehen, hörte das Pfeifen auf, und eine Stimme – eine rauhe Stimme, die einen seltsamen, nachdenklichen Klang hatte, als ob die Gedanken des Sängers nach innen und rückwärts wanderten – sang den allerletzten Vers des Liedes: »Die spanischen Mädchen sind honigsüß und die in Gallien wie Gold, ihr sanften Vögel Thrakiens von Herzen war ich euch hold. Jedoch mein Kind in Clusium, das ich küßt und verließ in Clusium, ich nie vergessen sollt. Ein weiter Weg, ein weiter Weg, und zwanzig Jahr sind um, doch immer steht nach dir mein Sinn, mein Kind in Clusium.« Als sie um die Ecke der Soldatenquartiere herumkamen, sahen sie sich dem Sänger gegenüber, der am linken Tor stand. Marcus war sich nicht darüber im klaren, was er eigentlich erwartet hatte – vielleicht nichts, und das wäre am allerschlimmsten gewesen. Aber was er erblickte, setzte ihn in Erstaunen, denn der Mann – es war kein Geist , der die Zügel eines rauhhaarigen Ponys in der Hand hielt, war einer von den Tätowierten, unter denen Marcus den ganzen Sommer gelebt hatte. Der Mann war stehengeblieben, als er Marcus und Esca sah, und blickte nun wachsam, mit erhobenem Kopf, wie ein Hirsch, der Gefahr wittert, zu ihnen hinüber; seinen Jagdspeer hielt er wurfbereit in der Hand. Einen kurzen Augenblick musterten sie sich gegenseitig in dem fahlen Licht, dann brach Marcus das Schweigen. Er konnte sich inzwischen ohne große Mühe im Dialekt der nördlichen Stämme verständlich machen. »Du hast eine gute Jagd gehabt, Freund«, redete er ihn an, indem er auf den erlegten, halbausgewachsenen Rehbock wies, der auf den Rücken des Ponys gebunden war. »Ganz gut, bis etwas Besseres kommt«, meinte der Mann. »Ich habe nichts übrig.« »Wir haben selbst genug zu essen«, sagte Marcus. »Wir haben auch ein Feuer, und wenn du dir nicht lieber selbst eins machen oder dein Fleisch roh essen willst, bist du an unserem Feuer willkommen.« »Was macht ihr hier am Platz der drei Hügel?« fragte der Mann mißtrauisch. 139
»Wir haben hier geschlafen. Da wir nicht wußten, wie weit es bis zum nächsten Dorf ist, und weil wir den Rege n kommen sahen, wollten wir lieber hier übernachten als auf dem offenen Moor. Steht der Platz der drei Hügel nicht allen offen, oder ist er nur für die Raben, die Eidechsen und – für dich?« Der Mann antwortete nicht sogleich, dann drehte er langsam und bedächtig den Speer in seiner Hand um, so daß die Spitze nun nach unten zeigte, wie man ihn trägt, wenn man in friedlicher Absicht kommt. »Du bist wohl der Heiler der kranken Augen, von dem ich gehört habe?« fragte er. »Der bin ich.« »Ich will an euer Feuer kommen.« Er wandte sich um und pfiff, und auf seinen Pfiff kamen zwei schnelle, gescheckte Jagdhunde durch das Farnkraut auf ihn zugesprungen. Gleich darauf waren sie wieder unter ihrem schützenden Dach, und das kleine, zottige Pony, das nun nichts mehr zu tragen hatte, wurde an einen heruntergestürzten Balken neben der Tür angebunden. Esca warf einen Birkenast in die rote Glut, und als die silberne Rinde sich schwärzte und aufflammte, sah Marcus den Fremden etwas genauer an. Er war ein Mann mittleren Alters, mager und kräftig, mit wachsamen und etwas hinterhältigen Augen unter dem wilden Haar, das so rauh und grau war wie ein Dachsfell; er trug nichts als einen ockerfarbenen Kilt, und in dem Feuerschein sah man, daß sein Körper und seine Arme über und über mit eintätowierten Streifen bedeckt waren, wie es bei dem tätowierten Volk Sitte war. Sogar auf den Backen, auf der Stirn und den Nasenflügeln zeigten sich die blauen Kurven und Bogen. Die Hunde beschnüffelten den Tierkadaver, der zu seinen Füßen lag, und als ihr Herr sich bückte, um sie wegzujagen, fiel ein heller Feuerschein schräg auf seine Stirn und ließ die Narbe eines merkwürdig geformten Brandzeichens genau zwischen seinen Brauen hervortreten. Esca kauerte sich am Feuer nieder und steckte mehr Streifen von dem geräucherten Fleisch zum Garwerden in die heiße Asche, dann saß er da, hatte die Arme um die Knie gelegt, den Speer in Reichweite neben sich, und beobachtete den Fremden lauernd. Der kniete über 140
dem schon ausgeweideten Rehbock und fing an, den Bock mit dem langen Jagdmesser, das er aus seinem rauhen Ledergürtel gezogen hatte, abzuhäuten. Auch Marcus beobachtete ihn, wenn auch weniger auffällig. Er stand vor einem Rätsel. Der Mann sah aus wie alle Stammesleute hier; und doch hatte er in gutem Latein ›Das Mädchen in Clusium‹ gesungen; und irgendwann einmal, nach der undeutlich gewordenen Narbe zu urteilen vor vielen Jahren, war er in den RabenOrden des Mithras aufgenommen worden. Vielleicht hatte er das Lied von den Legionären gelernt, die hier gedient hatten; alt genug war er dafür. Und Mithras fand manchmal Anhänger, wo man es nicht vermuten sollte. Aber wenn man die beiden Dinge zusammen betrachtete, war das ungewöhnlich, und Marcus hatte den ganzen Sommer nach etwas Ungewöhnlichem Ausschau gehalten. Der Jäger hatte ein großes Stück Fell von der Flanke und der Keule des Bocks hinter sich gelegt. Er löste dicke Fleischstücke heraus und warf den Hunden, die um ihn herumkrochen, ein großes Stück vor, an dem noch Fell hing. Und während sie sich knurrend und beißend darum stritten, warf er das abgehäutete Reh über einen halbverfaulten Balken, wo es mit baumelnden Beinen außerhalb der Reichweite der Hunde hing. Er legte das Stück Fleisch, das er für sich selbst abgeschnitten hatte, in die heiße Asche zum Braten, wischte sich die Hände an seinem Kilt ab, denn sie waren blutig, hockte sich dann auf seine Hacken und ließ seine Augen mit einem merkwürdig fragenden Ausdruck zwischen Marcus und Esca hin- und herwandern, als ob ihre Gesichter – besonders das von Marcus – ihm irgendwie bekannt vorkamen, und als wisse er nicht, woher. »Ich danke euch für euer warmes Feuer«, sagte er, und seine Stimme klang nicht mehr ganz so rauh wie vorhin. »Ich fühle in meinem Herzen, daß ich meinen Speer schneller hätte umdrehen müssen; aber ich erwartete nicht, daß ich hier an dem Platz der drei Hügel jemanden treffen würde.« »Das glaube ich dir gern«, sagte Marcus. »Ja, in all den Jahren, die ich hier jage, habe ich an diesem Platz noch nie einen Menschen getroffen.« 141
»Und nun sind es gleich zwei. Und da wir uns an dem gleichen Feuer wärmen«, meinte Marcus mit einem Lächeln, »sollten wir doch wissen, wer wir sind. Ich bin Demetrius von Alexandrien, ein fahrender Augendoktor, wie du wohl schon weißt, und dieser, mein Freund und Speerträger, ist Esca Mac Cunoval vom Stamme der Briganten.« »Wir tragen das blaue Kriegsschild. Du hast vielleicht von meinem Stamm gehört, wenn auch nicht von mir«, fügte Esca hinzu, und seine Zähne blitzten weiß in seinem sonnenverbrannten Gesicht, als er den Kopf hob und lächelte. »Ich habe von deinem Stamm gehört – ein wenig, ja«, sagte der Fremde, und Marcus meinte, in seiner Stimme eine Spur von grimmer Belustigung zu vernehmen, obwohl in seinem hageren Gesicht nichts dergleichen zu sehen war, als er ins Feuer blinzelte. »Ich selber werde Guern genannt, ich bin Jäger, wie ihr seht. Meine Behausung liegt einen Tag weiter nach Westen, und ich komme manchmal hierher, weil es da unten in den Haselwäldern fettes Wild gibt.« Stille fiel wieder ein, während das Tageslicht langsam wuchs und die Hunde sich um ihr Stück Fleisch rauften und balgten. Dann begann Marcus, während er an einem Stock herumschnitzte, leise die Melodie zu pfeifen, die ihn vor einer Stunde so erschreckt hatte. Aus einem Augenwinkel sah er, wie Guern zusammenschreckte und ihn ansah. Einen Augenblick schnitzte und pfiff er weiter, und dann tat er so, als habe er plötzlich keine Lust mehr, warf den Stock ins Feuer und blickte auf. »Wo hast du dieses Lied gelernt, Freund Guern der Jäger?« »Wo sonst als hier?« sagte Guern. Für einen Augenblick nahm sein Gesicht einen Ausdruck an, als könne er nicht bis drei zählen, aber Marcus ahnte, daß er hinter dieser Fassade sehr angestrengt nachdachte. »Als dies noch eine römische Festung war, wurden hier viele römische Lieder gesungen. Dieses eine lernte ich von einem Centurio, mit dem ich auf Bärenjagd ging. Ich war damals erst ein Junge, aber ich habe ein gutes Gedächtnis.« »Lerntest du noch mehr Latein als die Worte des Liedes?« fragte Marcus schnell und ve rwendete dabei diese Sprache. 142
Der Jäger setzte zu einer Antwort an, zögerte und warf ihm unter herabgezogenen Augenbrauen einen schrägen Blick zu. Dann begann er, lateinisch zu sprechen, sehr langsam, wie jemand, der über Jahre hinweg eine Sprache zu ertasten versucht, die nur zögernd über seine Lippen kommen will. »An ein paar Worte kann ich mich noch erinnern, solche, die Soldaten gebrauchen.« Dann fragte er, in die keltische Sprache zurückfallend: »Wo hast du das Lied gelernt?« »Ich habe mein Gewerbe früher in Festungsstädten ausgeübt«, sagte Marcus, »und zwar in solchen, die nicht dem wilden Bären überlassen waren wie der Platz der drei Hügel. Ich behalte eine Melodie schnell.« Guern beugte sich vor, um das schmorende Fleisch mit seinem Jagdmesser umzuwenden. »Du kannst dein Gewerbe aber noch nicht allzulange ausgeübt haben. Du hast nicht viele Jahre in deinem Bart.« »Vielleicht mehr als du denkst«, entgegnete Marcus und strich sich sachte den Bart. Der war ganz schön gewachsen, seit sie nach Norden unterwegs waren, obwohl sich nicht verheimlichen ließ, daß er nicht sehr alt war. »Außerdem habe ich früh angefangen, in meines Vaters Fußstapfen zu treten… Und da wir gerade bei meinem Gewerbe sind, gibt es in deinem Dorf Leute mit kranken Augen?« Guern stoche rte in seinem Fleisch, um zu sehen, ob es gar war. Er schien über irgend etwas nachzudenken, und nach einem Augenblick sah er auf, als sei er zu einem Entschluß gekommen. »Ich bin ein Außenseiter und lebe mit meiner Familie allein«, sagte er, »und wir haben keine kranken Augen. Aber wenn ihr warten wollt, bis ich genug gejagt habe, sollt ihr mir willkommen sein. Wir wollen zusammen das Salz essen, und später bringe ich euch auf den Weg ins nächste Dorf. Das tue ich für den Platz, den ihr mir an euerm Feuer gegeben habt.« Marcus zögerte einen kleinen Augenblick; dann antwortete er, da er immer noch nicht von dem Gefühl loskommen konnte, daß dieser Mann ein anderer war als der, für den er sich ausgab: »Für uns sind alle Wege gleich. Wir kommen mit, und wir kommen gern.« »Da ist mehr Fleisch an meiner Jagdbeute, als ich dachte«, sagte Guern plötzlich mit beschämten Gesicht und stand mit dem Messer in der Hand auf. 143
So aßen die drei einträchtig das frisch gebratene Rehfleisch; und einen Tag später, als Guern genug gejagt hatte, machten sie sich auf den Weg, Marcus und Esca zu Pferd, der Jäger führte sein Pony, auf dessen Rücken ein großer erlegter Rothirsch gebunden war, am Zügel, und die Hunde jagten vorneweg. Raschelnd gingen sie durch das regenschwere Farnkraut, überquerten den Rücken des dreigipfeligen Eildon, zogen weiter westwärts und überließen die rote Festung aus Sandstein wieder einmal den Tieren der Wildnis.
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Die verlorene Legion Hoch oben im dunklen Moor lagen mehrere eng zusammengekauerte Torfhütten; das war Guerns Heim. Als sie dort ankamen, trieb ein kleiner Junge eine halb wild aussehende Kuhherde von der Tränke in ihre nächtliche Bleibe im Viehhof; er begrüßte die Ankommenden mit einer Art von entzücktem Entsetzen. Offenbar gehörten Fremde nicht in seinen Denkbereich, und während er unentwegt heimliche Blicke zu ihnen herüberwarf, bemühte er sich, den großen Leitbullen, den er mit gelegentlichen Püffen und Stößen antrieb, zwischen sich und die Gefahr zu bringen, als sie zusammen auf die Behausung zugingen. »Dies ist mein Haus«, sagte Guern der Jäger, als sie ihre Pferde auf die größte der Hütten zulenkten. »Es ist euers, solange ihr wollt.« Sie stiegen vom Pferd, während der schreiende kleine Junge und die muhende Herde in den Viehhof zogen, warfen ihre Zügel über einen Haltepfahl und gingen auf den Eingang zu. Ein kleines Mädchen von vielleicht achtzehn Monaten, das nichts trug als einen Riemen mit roten Korallen um den Hals, die den bösen Blick abwenden sollten, saß vor der Tür und spielte versunken mit drei Löwenzahnblüten, einem Knochen und einem gemaserten Kieselstein. Einer der Hunde beschnüffelte ihr das Gesicht, als er an ihr vorbeilief, sie langte nach seinem verschwindenden Schwanz und fiel um. Der Eingang war so niedrig, daß Marcus sich tief unter das Heidekrautdach bücken mußte, als er über die kleine, krabbelnde Gestalt trat und seinem Gastgeber ins Innere der feuererhellten Dunkelheit folgte. Der blaue Torfrauch kratzte ihn in der Kehle und biß ihm in den Augen, aber er war inzwischen daran gewöhnt. Eine Frau, die neben dem Herd in der Mitte gesessen hatte, stand jetzt auf. »Murna, ich habe den Heiler der kranken Augen und seinen Speerträger mitgebracht«, sagte Guern. »Kümmere dich um sie, solange ich für ihre Pferde und die Beute meiner Jagd sorge.« »Sie sind willkommen«, sagte die Frau, »obwohl es hier, Dank sei dem Gehörnten, keine kranken Augen gibt.« 145
»Glück sei mit dem Haus und mit den Frauen des Hauses«, sagte Marcus höflich. Esca war ihrem Gastgeber wieder nach draußen gefolgt, da er sich nur auf sich selber verließ, wenn es um die Pferde ging, und Marcus ließ sich auf dem Hirschfell nieder, das die Frau für ihn auf dem hochgeschichteten Heidekraut der Bettstatt ausgebreitet hatte, und sah ihr zu, als sie sich wieder ihrem Essen zuwandte, das in dem großen bronzenen Kessel über dem Feuer kochte. Als seine Augen sich an den Torfrauch und das schwache Licht gewöhnt hatten, das durch den engen Eingang und das Rauchloch im Dach hereinsickerte, sah er, daß sie viel jünger war als Guern. Sie war eine große, grobknochige Frau mit einem zufriedenen Ausdruck. Ihr Umhang war aus grober rötlicher Wolle, wie ihn im Süden nur arme Frauen trugen; aber offensichtlich war sie keine arme Frau oder besser, war ihr Mann kein armer Mann, denn sie trug Reifen aus Silber und Kupfer und blauem ägyptischen Glas um die Arme, und das volle, mattgoldene Haar, das sie hinten zu einem Knoten verschlungen hatte, wurde von Nadeln mit Bernsteinspitzen gehalten. Vor allem war sie die stolze Besitzerin eines Bronzekessels, der mehr als alles andere einer Frau den Neid der Nachbarinnen eintrug. Bald darauf ertönten draußen Fußtritte, Esca und Guern kamen geduckt herein, und gleich danach erschien der kleine Viehtreiber und ein noch kleinerer Junge, die beide Guern sehr ähnlich und schon wie er tätowiert waren, da ja auch sie eines Tages Krieger sein würden. Sie beobachteten die Fremden vorsichtig von unten und zogen sich in die hinterste Ecke der Hütte zurück, während ihre Mutter von drinnen schwarze Tonschalen holte und den drei Männern, die nebeneinander auf der Bettstatt saßen, dampfendes Schmorfleisch brachte. Sie goß ihnen goldenen Met in die großen Kuhhörner und setzte sich dann zum Essen auf die andere Seite des Feuers, die Frauenseite, und nahm das kleine Mädchen auf den Schoß. Der kleinere Junge setzte sich zu ihr, aber der größere überwand plötzlich seine Scheu, rückte langsam heran, um Marcus’ Dolch zu untersuchen, und aß schließlich sogar mit ihm aus einer Schüssel.
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Sie waren eine freundliche kleine Familie, die jedoch merkwürdig isoliert wirkte in einem Land, in dem die meisten Menschen wegen der größeren Sicherheit in Gruppen zusammenlebten; und es wollte Marcus so scheinen, als ob das noch etwas Ungewöhnliches sei, das zu dem Lied und zu dem Brandzeichen des Mithr as hinzukam… Am nächsten Morgen bestätigten sich seine Vermutungen endgültig. Guern beschloß, sich zu rasieren. Wie die meisten Britannier war er, außer auf der Oberlippe, mehr oder weniger glattrasiert, und es war wahrhaftig nötig, daß er sich rasierte. Sobald er seine Absicht kundgetan hatte, wurden Vorbereitungen getroffen wie für ein großes Fest. Seine Frau brachte ihm einen Topf mit Gänseschmalz zum Einreihen seiner Haut, und die ganze Familie versammelte sich, um ihrem Herrn und Meister bei seiner Toilette zuzusehen; so machte sich Guern der Jäger inmitten eines hingerissenen Publikums von drei Kindern und mehreren Hunden im frühen Morgenlicht vor seiner Hüttentür an die Arbeit, indem er sein Kinn mit einem herzförmigen bronzenen Messer abschabte. Marcus, der belustigt zuschaute, dachte, wie wenig sich doch die Kinder in aller Welt unterschieden und wie wenig die Väter oder zum Beispiel auch das Rasieren; das waren die kleinen und geselligen Vorkommnisse, die ein Familienleben ausmachten. Er erinnerte sich daran, wie fasziniert er seinem Vater bei solchen Gelegenheiten zugesehen hatte. Guern schielte nach seinem Spiegelbild in der glattpolierten Bronzescheibe, die seine geduldige Frau ihm vorhielt, und drehte seinen Kopf bald nach dieser, bald nach der anderen Seite, und man sah ihm an, daß das Rasieren eine sehr schmerzhafte Sache war, so daß Marcus dunkel ahnte, was ihm und Esca bevorstand, wenn sie sich eines Tages ihrer Bärte wieder entledigen würden. Guern war jetzt dabei, sich unter dem Kinn zu schaben und legte den Kopf dabei weit zurück, und da sah Marcus, daß genau unter seinem Kiefer die Haut blasser war als anderswo, und daß sie dicker wirkte, fast wie die Narbe von einer alten Scheuerstelle. Die Narbe war nur sehr schwach, aber doch deutlich zu erkennen; es war die Druckstelle von dem Kinnriemen eines römischen Helmes, die bei 147
jahrelangem Tragen entstand. Marcus hatte diese Scheuerstelle zu oft gesehen, als daß ein Irrtum möglich war, und sein letzter Zweifel war verflogen. Er fühlte, daß er Gue rn nicht hier inmitten des neuen Lebens, das er sich geschaffen hatte, nach seinem alten ausfragen konnte. Und so erinnerte er den Jäger ein wenig später, als er wieder im Aufbruch war, an sein Versprechen, sie auf den Weg ins nächste Dorf zu bringen. Er habe im Sinn, nach Westen zu gehen, sagte er, und Guern antwortete bereitwillig, daß er den ersten Tag mit ihnen reiten und das Nachtlager mit ihnen teilten wollte, wenn sie sich entschlossen hätten, in diese Richtung zu gehen, da westwärts zwei Tagesritte weit kein Dorf sei. So brachen sie also gleich auf. Und in den langen Schatten des Abends, viele Meilen nach Westen, aßen die drei ihre Abendmahlzeit im Schutz eines überhängenden Felsens und saßen hinterher um ihr kleines Feuer. Ihre drei Pferde, denen sie den Zügel um den Kopf und das linke Vorderbein geschlungen hatten, damit sie nicht weglaufen konnten, grasten friedlich auf dem kurzen Berggras, das sich hier und da, grünen Kanälen ähnlich, innerhalb des Heidelandes verbreitete. Unter ihnen dehnte sich das Gebirge nordwärts und fiel langsam bis zum blauen Dunst der Ebene ab, die ungefähr vierzig Meilen entfernt war. Marcus schaute über die sanft abfallenden Berge und wußte, daß irgendwo dort in der Bläue die Reste von Agricolas nördlichem Wall das Land zerteilten, des Walles, der Valentia gegen das Land auf der anderen Seite abschirmte, das die Römer Caledonia und die Kelten Albu nannten; und er wußte, daß irgendwo hinter der Bläue der verlorene Adler von seines Vaters Legion war. In der ganzen Welt schien es keinen Laut zu geben, außer dem leisen Rascheln des Windes im Heidekraut und dem lauten Krächzen eines Goldadlers, der hoch oben in der blauen Luft seine Kreise zog. Esca hatte sich etwas abseits ins Heidekraut gesetzt und polierte seinen Speer, und Marcus und Guern saßen allein am Feuer. Der Lieblingshund des Jägers lag, die Pfoten auf der Schnauze, die Flanke am Oberschenkel seines Herrn, neben ihnen. Plötzlich wandte Marcus sich seinem Gefährten zu. »Bald, sehr bald trennen sich unsere 148
Wege«, sagte er, »aber bevor du deinen Weg gehst und ich meinen, habe ich noch eine Frage an dich auf dem Herzen.« »Frage also«, sagte der andere und spielte mit den Ohren seines Hundes. Marcus sagte langsam: »Wie wurdest du Guern der Jäger, wenn du einst bei den Adlern dientest?« Es flackerte kurz in den Augen des anderen auf; und dann wurde er eine ganze Weile sehr still. Ein dumpfes Schweigen überkam ihn, während er Marcus einen Blick von unten zuwarf, wie es die Tätowierten taten. »Wer hat dir denn das erzählt?« fragte er schließlich. »Niemand. Ich schließe das aus einem Lied und der Narbe zwischen deinen Brauen, und vor allem aus der Scheuerstelle unter deinem Kinn.« »Wenn es so wäre, wie du sagst«, murmelte Guern, »warum soll ich es dir dann erzählen? Ich bin ein Mann meines Stammes, und wenn ich das nicht immer war, gibt es keinen unter meinen Schwertbrüdern, der es einem Fremden erzählen würde. Aus welchem Grunde soll ich es also tun?« »Aus keinem in der Welt«, entgegnete Marcus. »Ich fragte dich nur in aller Höflichkeit.« Wieder entstand ein langes Schweigen, und dann sagte sein Gefährte in einer seltsamen Mischung aus mürrischem Trotz und einem lang vergessenen Stolz: »Ich war einst sechster Centurio in der ersten Kohorte der Spanischen Legion. Nun geh und erzähl es dem nächsten Kommandeur auf dem Wall. Ich werde dich nicht daran hindern.« Marcus ließ sich Zeit. Er saß still und sah prüfend in das wilde Gesicht des Mannes vor ihm. Er suchte nach einer Spur des römischen Centurio von vor zwölf Jahren, die sich vielleicht noch unter der Bemalung des Jägers verbarg; und plötzlich glaubte er, sie gefunden zu haben.
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»Keine Patrouille könnte dich auftreiben, und das weißt du«, sagte er. »Aber selbst wenn es nicht so wäre, gibt es einen guten Grund, der mir den Mund verschließt.« »Und der wäre?« Marcus antwortete: »Daß ich auf meiner Stirn ein Zeichen trage, das ein Bruder von dem auf der deinigen ist«, und mit einer raschen Bewegung löste er das rote Band, an dem der Talisman hing, und riß ihn ab. »Hier!« Der andere beugte sich schnell vor. »So«, sagte er langsam. »Noch nie habe ich einen von deinem Gewerbe kennengelernt, der abends zu Mithras betet.« Und noch während er sprach, wurde sein Blick scharf und schneidend wie ein Dolchstoß. »Wer bist du? Was bist du?« fragte er; und plötzlich waren seine Hände auf Marcus’ Schultern und drehten ihn dem letzten, schwindenden Gold der untergehenden Sonne zu. Einen langen Augenblick hielt er ihn so, über ihm kniend und ihm ins Gesicht starrend. Marcus, der mit seinem lahmen Bein unter ihm eingezwängt lag, starrte zurück, runzelte seine schwarzen Brauen und hatte einen höchst verächtlichen Zug um den Mund. Der große Hund kroch sprungbereit näher, Esca stand ruhig auf und ergriff seinen Speer; Mann und Hund waren bereit, auf ein Wort zu töten. »Ich habe dich schon einmal gesehen«, sagte Guern mit heiserer Stimme. »Ich kenne dein Gesicht. Im Namen des Lichtes, wer bist du?« »Vielleicht ist es meines Vaters Gesicht, das du kennst. Er war dein Kohortenführer.« Langsam lockerte sich Guerns Griff, und er ließ die Hände fallen. »Ich hätte es wissen müssen«, sagte er. »Es war der Talisman und der Bart. Aber trotzdem hätte ich es wissen müssen.« Er setzte sich auf und schüttelte sich ein wenig, als habe er Schmerzen, und ließ seine Augen nicht von Marcus’ Gesicht. »Was tust du, deines Vaters Sohn, hier in Valentia?« sagte er schließlich. »Du bist kein Grieche aus Alexandrien und wahrscheinlich auch kein Augendoktor.«
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»Nein, ich bin kein Augendoktor. Trotzdem sind die Salben, die ich mithabe, gut, und jemand, der das Handwerk versteht, hat mir gezeigt, wie man sie anwendet. Als ich dir erzählte, daß ich in meines Vaters Fußstapfen getreten sei, war das die Wahrheit. Ich tat es, bis ich mir vor zwei Jahren dieses lahme Bein holte und meine Entlassung. Was ich hier in Valentia zu tun habe -«, er zögerte, aber nur für einen Augenblick. Er wußte, daß er zumindest in dieser einen Sache Guern vollkommen trauen konnte. Und so erzählte er ihm also in knappen Worten, was er in Valentia tat und warum er es tat. »Und als es mir schien, daß du nicht warst wie die anderen Jäger des tätowierten Volks«, schloß er, »schien mir auch, daß ich von dir die Antwort auf meine Fragen bekommen könnte.« »Und hättest du mich nicht gleich fragen können? Weil es mich zu dir hinzog, ich wußte nicht warum, und weil du Latein sprachst, das ich zwölf Jahre nicht gehört habe, nahm ich dich mit in mein Haus, und du schliefst unter meinem Dach und aßest von meinem Salz und ahntest die ganze Zeit in deinem Herzen, wie es mit mir steht. Es wäre besser gewesen, wenn du gleich gefragt hättest!« »Viel besser«, sagte Marcus zustimmend. »Aber alles, was ich in meinem Herzen von dir ahnte, war nur eine Vermutung, und diese Vermutung war reichlich kühn! Wenn ich zu dir gesprochen hätte, ohne sicher zu sein, und wenn ich zu spät gemerkt hätte, daß du schließlich doch nur der bist, als der du erscheinst, hätte sich dann nicht Ahriman der Dunkle gerächt?« »Was willst du denn wissen?« fragte Guern schwerfällig nach einem Augenblick. »Was wurde aus me ines Vaters Legion? Wo ist der Adler jetzt?« Guern sah auf seine Hand nieder, die auf dem Kopf des großen Hundes ruhte, der nun wieder still neben ihm lag; dann blickte er wieder auf. »Ich kann die erste deiner Fragen beantworten, wenigstens teilweise«, sagte er, »aber das ist eine lange Geschichte, und erst muß ich mich noch um das Feuer kümmern.« Er beugte sich beim Sprechen vor und legte Dornenzweige und Heidebüsche von dem Holzhaufen an seiner Seite auf die sinkenden Flammen. Er tat das langsam und mit Bedacht, als wolle er den Zeitpunkt hinausschieben, zu dem er mit 151
seiner Geschichte anfangen mußte. Aber selbst als die Flammen wieder aufflackerten, blieb er immer noch still hocken und starrte in den Rauch. Marcus’ Herz begann rasend zu klopfen, und plötzlich wurde ihm ein bißchen übel. »Du hast deines Vaters Legion nie gekannt«, begann Guern endlich. »Nein, und wenn du sie gekannt hättest, wärest du zu jung gewesen, um die Zeichen zu erkennen. Viel zu jung.« Er war ins Lateinische übergewechselt, und mit dem Wechsel schien zugleich alles Britannische von ihm abgefallen zu sein. »Die Spanische Legion war vom Tode gezeichnet, bevor sie noch das letztemal nach Norden zog. Die Todessaat wurde vor sechzig Jahren ausgestreut, als Männer der Legion den Befehl des Prokurators ausführten, die Königin der Ikener aus ihrem Besitz zu vertreiben. Boudicca war ihr Name, vielleicht hast du von ihr gehört. Sie verfluchte sie und die ganze Legion, so wird erzählt, weil sie ihr das antaten. Der Fluch war sicher ungerecht, denn sie handelten nach einem Befehl. Wenn sie schon jemand verfluchen wollte, dann hätte sie besser den Prokurator selbst verflucht. Aber eine Frau, die sich im Unrecht fühlt, kümmert sich nur selten darum, wohin ihr Hieb trifft und wo das Blut fließt. Ich selber glaube nicht an Flüche, wenigstens tat ich es früher nicht. Aber wie das auch sei, die Legion wurde in dem Aufstand danach in Stücke gerissen. Als er schließlich zusammenbrach, nahm die Königin Gift, und vielleicht wurde der Fluch durch ihren Tod wirksam. Die Legion wurde neu gebildet und wieder schlagkräftig gemacht, aber sie hatte nie mehr rechtes Glück. Vielleicht hätte man sie gerettet, wenn man sie an einen anderen Ort verlegt hätte, aber es ist nicht gut für eine Legion, wenn sie Jahr um Jahr, Generation um Generation bei Stämmen stationiert ist, die sie für verflucht halten. Kleine Unglücksfälle blähen sich zu großen auf, wenn Krankheiten ausbrechen, schreibt man das dem Fluch zu statt den Sumpf nebeln; die Spanier sind ein Volk, das sehr schnell an solche Dinge glaubt. So wurde es immer schwerer, neue Rekruten zu finden; und die, die man fand, wurden in jedem Jahr schlechter. Das ging zuerst nur sehr langsam – ich habe zusammen mit Männern gedient, die nicht älter 152
waren als ich und die sich an die Neunte erinnerten, als sie noch einigermaßen in Zucht war. Aber zuletzt ging es furchtbar schnell, und als ich als Centurio in die Legion eintrat, das war zwei Jahre vor ihrem Untergang – ich war vorher Soldat in der Dreißigsten gewesen, die eine stolze Legion war -, da sah die Neunte von außen gesund aus, aber ihr Inneres war verfault. Vollkommen verrottet.« Guern der Jäger spuckte ins Feuer. »Zuerst kämpfte ich in meiner eigenen Hundertschaft gegen die Fäulnis an, und dann – wurde der Kampf sinnlos. Der letzte Legat war ein harter und aufrechter Mann ohne Verständnis für seine Leute – was das Schlimmste für eine Legion ist -, und bald nachdem er gekommen war, zog Kaiser Trajan zu viele Truppen für seine ewigen Feldzüge aus Britannien ab; und wir, die zurückgeblieben waren, um die Grenze zu verteidigen, merkten, wie die Stämme unter unseren Händen gärten wie ein überreifer Käse. Dann starb Trajan, und die Stämme erhoben sich. Der ganze Norden ging in Flammen auf, und kaum waren wir mit den Briganten und den Ikenern fertig, als wir nach Valentia geschickt wurden, um die Caledonier zu unterwerfen. Zwei unserer Kohorten waren in Germanien eingesetzt; wir hatten schon schwere Verluste erlitten und mußten eine Kohorte als Besatzung in Eburacum lassen und wußten nicht, ob die Briganten sie eines schönen Tages zerstückeln würden. So blieben nur knapp viertausend Mann für den Marsch in den Norden. Und als der Legat wie üblich das Schicksal befragte, da war das Futter der heiligen Hühner schlecht geworden, und sie rührten die Erbsen nicht an, die er ihnen hinstreute. Da fühlten wir uns dem Untergang geweiht, und das ist schlimm für eine Legion, wenn sie ausmarschiert. Es war Herbst, und fast von Anfang an war das Bergland in Nebel gehüllt, und aus dem Nebel verfolgten die Britannier uns ständig. Oh, es kam nie zu einem offenen Kampf. Sie umschlichen unsere Flanken wie Wölfe, sie machten plötzlich Überfälle auf unsere Nachhut, sie schossen ihre Pfeile aus jedem nassen Heidebusch auf uns, verschwanden im Nebel, ehe wir sie fassen konnten; und die Patrouillen, die wir ausschickten, kamen nie zurück.
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Hätten wir einen Soldaten als Legaten gehabt, so hätte er uns retten können; unserer hatte vom Soldatsein nicht mehr gesehen als einen Scheinkampf auf dem Marsfeld, und er war zu stolz, um auf seine Offiziere zu hören, die Soldaten waren. Und als wir Agricolas altes Hauptquartier am nördlichen Wall erreicht hatten, von dem wir ausgehen sollten, hatten wir wieder fast tausend Mann durch Tod oder Desertion verloren. Die alten Befestigungen waren im Verfall, das Wasser war seit langem versiegt, und der ganze Norden war wieder mächtig und stark. Sie umlauerten die Wälle und schrien, so wie Wölfe den Mond anheulen. Wir hielten einem Angriff stand. Wir ließen die Toten die Böschung hinunter in den Fluß rollen; und als die Stämme sich zurückzogen, um ihre Wunden zu salben, wählten wir einen Sprecher aus und gingen zum Legaten und sagten: ›Laß uns mit den Tätowierten verhandeln, so gut wir können, daß sie uns den Weg zurückmarschieren lassen, den wir kamen, und überlaß ihnen Valentia, denn es ist nicht mehr als ein Name, und ein Name, der einen bitteren Geschmack auf der Zunge läßt!‹ Und da setzte sich der Legat in seinen Feldstuhl, den wir den ganzen Weg von Eburacum her tragen mußten, und beschimpfte uns mit bösen Worten. Bestimmt verdienten wir diese Worte, aber sie nützten nichts. Dann meuterte mehr als die halbe Legion, und viele aus meiner Hundertschaft waren dabei.« Guern wandte sich vom Feuer ab und blickte Marcus an. »Ich war keiner von denen. Das schwöre ich beim Gott der Legionen. Die äußerste Schande war noch nicht auf mich gekommen, und ich hielt die paar Männer, die ich hatte, vorläufig noch in Zucht. Dann sah der Legat ein, was er falsch gemacht hatte, er sprach freundliche r zu seiner revoltierenden Legion, als er je vorher getan hatte, und er tat das nicht aus Angst. Er bat die Meuterer, die Waffen niederzulegen, die sie gegen ihren Adler erhoben hatten, und er schwor, daß sie nicht insgesamt bestraft würden, nicht einmal die Anstifter; schwor, daß er bei unserer Rückkehr einen guten Bericht erstatten würde, von den Guten wie auch von den Schlechten, wenn wir von nun an unsere Pflicht tun würden. Als ob wir je zurückkämen! Aber selbst wenn der Weg zurück frei gewesen wäre, war es zu spät für solche Versprechungen! Seit dem Augenblick, da die Kohorten meuterten, 154
war es zu spät. Es gab kein Zurück mehr für sie, denn sie wußten allzu gut, was der Senat entscheiden würde.« »Dezimieren«, sagte Marcus ruhig, als der andere schwieg. »Ja, dezimieren. Es ist nicht leicht, Lose aus einem Helm zu ziehen, wenn man weiß, daß eins von zehn Tod durch Steinigen für den Mann bedeutet, der es zieht. So endete das Ganze mit Kampf. Dabei wurde der Legat getötet. Er war ein tapferer Mann, wenn auc h ein Narr. Er stellte sich dem Mob mit leeren Händen, sein Adlerträger und seine bartlosen Tribunen standen hinter ihm, er erinnerte die Meuterer an ihren Eid und beschimpfte sie als Halunken. Dann schlug einer ihn mit einem Speer nieder, und da war es aus mit seinen Reden… Die Britannier schwärmten über die Barrikaden herein und halfen bei dem Blutbad, und als es Morgen wurde, waren kaum mehr als zwei Kohorten in der Festung am Leben. Die anderen waren nicht alle tot, o nein; viele von ihnen kletterten mit den Britanniern über die Wälle zurück. Sie sind jetzt wohl über ganz Caledonien verstreut und leben dort wie ich mit britannischen Frauen und haben Söhne, die ihnen nachschlagen. Nach dem Morgengrauen rief dein Vater die wenigen Übriggebliebenen auf dem offenen Platz vor dem Prätorium zusammen, und dort hielten wir, das bloße Schwert in der Hand, einen eiligen Rat ab und beschlossen, aus der alten Festung auszubrechen, die eine Todesfalle geworden war, und den Adler, so gut wir konnten, nach Eburacum zurückzubringen. Es hatte keinen Sinn mehr, sich noch über Verhandlungen mit den Stämmen den Kopf zu zerbrechen, denn sie hatten keinen Grund mehr, uns zu fürchten. Und außerdem waren wir alle, glaube ich, davon überzeugt, daß der Senat uns nicht in Ungnade fa llen lassen würde, wenn wir durchkämen. In dieser Nacht feierten die Narren ihren Sieg – so gering schätzten sie uns -, und während sie tranken und den Mond anriefen, kamen wir alle, die übriggeblieben waren, heraus; wir entkamen ihnen über die südliche Böschung in die Dunkelheit und den Nebel – zum erstenmal war der Nebel unser Freund – und marschierten mit aller Kraft auf Trinomontium zu. 155
Die Stämme nahmen die Verfolgung noch bei Morgengrauen auf und jagten uns, als sei das ein Sport. Bist du jemals gejagt worden? Den ganzen Tag kämpften wir uns weiter durch, und die mit den schlimmsten Wunden, die liegenblieben, starben. Manchmal hörten wir ihre Todesschreie im Nebel. Dann blieb auch ich zurück.« Guern rieb sich die linke Seite. »Ich hatte eine Wunde, in die ich drei Finger legen konnte, und ich war krank. Aber ich hätte noch aushaken können. Es war das Gejagtwerden – das Gejagtwerden. Ich nutzte die Abenddämmerung aus, als die Jäger ein Stück zurück waren; ich schlüpfte in ein Ginstergebüsch und versteckte mich da. Gleich darauf trat einer von den Tätowierten fast auf mich, aber sie fanden mich nicht, und als es dunkel und die Jagd weit weg war, zog ich meine Rüstung aus und ließ sie liegen. Ich sehe aus wie eine Pikte, was? Das kommt, weil ich aus dem nördlichen Gallien stamme. Dann wanderte ich, glaube ich, die ganze Nacht. Ich weiß es nicht, aber im Morgengrauen kam ich in ein Dorf und fiel über die Türschwelle der ersten Hütte. Sie holten mich herein und pflegten mich. Murna pflegte mich. Und als sie merkten, daß ich ein römischer Soldat war, kümmerte es sie nicht weiter. Ich war nicht der erste römische Soldat, der zu den Stämmen überging; und Murna setzte sich für mich ein wie eine Löwin, deren Junges in Gefahr ist.« Für einen Augenblick klang ein Lachen in seiner Stimme mit, und dann wurde sie wieder rauh und schwer. »Ein paar Nächte später sah ich, wie der Adler, von einem triumphalen Fackelzug begleitet, wieder nach Norden getragen wurde.« Es entstand eine lange, spannungsgeladene Stille. Dann sagte Marcus mit ruhiger, fester Stimme: »Wo ging es zu Ende?« »Ich weiß nicht. Aber sie kamen nicht mehr bis Trinomontium. Ich bin dort wieder und wieder gewesen und habe keine Spur von einem Kampf entdeckt.« »Und mein Vater?« »Er war bei dem Adler, als ich zurückblieb. Es waren keine Gefangenen bei dem Adler, als sie ihn zurücktrugen.« »Wo ist der Adler jetzt?« 156
Guern streckte die Hand vor, berührte den Dolch in Marcus’ Gürtel und sah ihm in die Augen. »Wenn du Lust hast zu sterben, dann hast du hier den Dolch zur Hand. Spare dir die weitere Suche.« »Wo ist der Adler jetzt?« Marcus wiederholte seine Frage, als hätte der andere nicht gesprochen. Für einen Augenblick zwang er den Jäger, ihm in die Augen zu blicken; dann sagte Guern: »Ich weiß es nicht. Aber morgen, wenn wir wieder etwas sehen können, will ich dir die Richtung zeigen, so gut ich kann.« Und Marcus merkte plötzlich, daß er nur das Gesicht des anderen im Feuerschein erkennen konnte und daß alles um ihn herum in dem blauen Zwielicht verschwamm. Er schlief nicht viel in dieser Nacht, sondern lag starr, den Kopf auf den Armen. Diese ganzen Monate hindurch war er einem Traumbild nachgejagt; und irgendwie, das wußte er nun, war er ihm nachgejagt, seit er acht Jahre alt war. Es war hell und warm gewesen, nun war es zerbrochen, und ohne das fühlte er sich sehr kalt und plötzlich älter als noch vor ein paar Stunden. Was für ein Narr war er gewesen! Was für ein blinder Narr! Starrköpfig hatte er an dem Glauben festgehalten, daß alles mit der Neunten Legion in Ordnung war, weil es seines Vaters Legion war. Jetzt wußte er es besser. Seines Vaters Legion war morsch, war ein verrotteter Apfel gewesen, der bei einem Fußtritt zerfiel. Beim Gott der Legionen! Was mußte sein Vater gelitten haben! Aus den ganzen Trümmern ragte nur eines unverändert: daß der Adler gefunden und zurückgebracht werden mußte, wenn er nicht eines Tages zur Gefahr für die Grenze werden sollte. Das war das einzig Tröstliche. Ein Versprechen, das noch einzulösen war. Am nächsten Morgen, als sie gegessen hatten und das Feuer gelöscht und zugedeckt war, stand Marcus neben seinem Pferd und schaute nach Nordwesten, wohin Guerns Zeigefinger wies. Der leichte Wind strich ihm ins Gesicht, sein Schatten streckte sich hügelabwärts, als sei er begierig, vor ihm aufzubrechen, und er hörte den wilden, süßen Ruf des Regenpfeifers, der wie die Stimme der großen Einsamkeit war. 157
»Da drüben, wo das Tal sich öffnet«, sagte Guern gerade. »Du erkennst die Furt an der schiefen Fichte, die daneben steht. Da müßt ihr hinüber und dann am rechten Ufer bleiben, sonst habt ihr bald den breiten Meerarm von Cluta zwischen euch und Caledonien. Ein Ritt von zwei Tagen, höchstens von drei, bringt euch an die alte nördliche Grenzlinie.« »Und dann?« fragte Marcus, während er seine zusammengekniffenen Augen nicht von der blauen, dunstigen Ferne wandte. »Ich kann dir nur so viel sagen, daß die Männer, die den Adler nach Norden trugen, vom Stamme der Epidaier waren, die im Gebiet der steil abfallenden Fjorde und Berge an der Westküste hinter Cluta leben.« »Kannst du mir zufällig irgendeinen Hinweis geben, wo in diesem Gebiet ihr Heiligtum sein könnte?« »Keinen. Falls du den Königssitz findest, ist es möglich, daß das Heiligtum nicht weit davon ist; aber die Epidaier sind in viele Clans zerspalten, habe ich gehört, und es kann sein, daß der Königsclan nicht das Heiligtum und die heiligen Dinge des Stammes behütet.« »Du meinst – es könnte auch ein kleiner und unbedeutender Clan sein?« »Kein unbedeutender; er müßte so mächtig sein wie der Königsclan, wenn nicht mächtiger. Aber klein, ja. Weiter kann ich dir nicht helfen.« Sie schwiegen eine Weile, bis hinter ihnen das leise Klirren von Zaumzeug ertönte, als Esca die andere Stute heranführte. Dann sagte Guern hastig: »Folgt dieser Fährte nicht, sie führt in den Rachen des Todes!« »Ich will es wagen«, sagte Marcus. Er wandte den Kopf. »Und du, Esca?« »Ich gehe, wohin du gehst«, erwiderte Esca, während er eine Schnalle schloß.
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»Warum?« fragte Guern. »Ihr wißt doch jetzt die Wahrheit. Sie werden die Legion nicht wieder aufstellen. Warum sucht ihr also weiter? Warum?« »Der Adler muß wieder zurückgebracht werden«, entgegnete Marcus. Wieder wurde es still, und dann meinte Guern beinah demütig: »Du hast nichts über all das gesagt, was ich dir erzählt habe; nicht mehr, als hätte ich dir zum Zeitvertreib eine Geschichte erzählt.« »Was sollte ich sagen?« Der andere lachte kurz und bitter. »Das weiß Mithras allein! Aber mein Bauch wäre leichter, wenn du etwas sagtest.« »Gestern abend war mir so übel in meinem eigenen Bauch, daß mich deiner nicht kümmerte«, gab Marcus müde zurück. »Das ist nun vorbei, aber auch wenn ich die Spanische Legion mit allen dreckigen Flüchen vom Tiberufer, die ich weiß, verflucht hätte, so hätte ich meinem Vater damit keinen Dienst erwiesen, noch hätte ich den Gestank ihres Namens damit süßer machen können.« Er schaute den Mann neben sich zum erstenmal an. »Was dich angeht: Ich bin nie gejagt worden, und der Gott der Legionen verhüte, daß ich mich zu deinem Richter mache.« Der andere sagte trotzig: »Warum bist du gekommen? Ich war glücklich mit meiner Frau; sie ist mir eine gute Frau. Ich bin ein geachteter Mann in meinem Stamm, wenn ich auch abseits lebe. Oft vergesse ich – beinah -, daß ich nicht hier geboren wurde, bis es mich wieder einmal für eine Weile nach Trinomontium zieht. Und nun werde ich mich bis zu meinem Tode schämen, weil ich euch allein auf eure Suche nach Norden gehen ließ.« »Es ist nicht nötig, daß du dich über eine neue Schande grämst«, sagte Marcus. »Diese Suche können drei leichter durchführen als vier und zwei leichter als drei. Geh zu deinem Stamm zurück, Guern. Hab Dank für dein Salz und für dein Dach und für die Antwort auf meine Fragen.« Er drehte sich um und stieg auf sein Pferd, und gleich darauf ritt er, gefolgt von Esca, das Flußufer entlang. 159
Das Fest der Neuen Speere Etwa einen Monat später machten Marcus und Esca eine Verschnaufpause für ihre müden Pferde oben auf der Steilküste am westlichen Meer. Es war ein Abend in den Farben einer Taubenbrust; eine leichte Brise kräuselte das glänzende Wasser, und weit draußen schienen viele kleine Inseln auf der verträumten Helle zu schwimmen wie schlafende Seevögel. In dem geschützten Hafen landeinwärts lagen ein paar Handelsschiffe vor Anker, und ihre blauen Segel, die sie von Irland hergebracht hatten, waren eingezogen, als schliefen auch sie. Im Norden lastete über dem ganzen Bild hoch aufragend Cruachan, düster, in Schatten gehüllt, von Nebeln gekrönt, Cruachan, die Nabe der Welt. Die Berge und Inseln und die schimmernde See waren Marcus nun vertraut. Einen Monat lang hatte er das eine oder das andere ständig vor Augen gehabt, seit er hin und her durch die nebelumhangenen Täler zog, wo die Epidaier ihre Jagdgründe hatten. Es war ein niederdrückender Monat gewesen. Wie oft hatte er, nachdem er über die nördliche Grenze gekommen war, gemeint, daß er wenigstens auf der richtigen Spur sei, und immer stimmte es nicht. Es gab so viele Heiligtümer die Küste entlang. Wo immer die Alten, das kleine dunkle Volk, ein Hünengrab angelegt hatten, hatten die Epidaier ein Heiligtum errichtet, in dem sie zu ihren Göttern beteten; und das alte Volk hatte so viele Hünengräber hinterlassen. Und nirgends hörte Marcus auch nur das Geringste von dem verlorenen Adler. Diese Menschen sprachen nicht über ihre Götter und alles, was mit ihnen zusammenhing. Und plötzlich wurde Marcus an diesem Abend, als er auf die See hinausschaute, von Herzen betrübt und war nahe daran, alle Hoffnung aufzugeben. Er wurde durch Escas Stimme neben sich aus seiner düsteren Stimmung aufgeschreckt. »Sieh mal, wir haben Gefährten auf der Straße.« Sein Freund wies mit dem Daumen nach hinten, und als er sich umdrehte und den Wildwechsel hinunterschaute, auf dem sie gekommen waren, sah er eine Gruppe von Jägern, die zu ihnen 160
heraufkletterte. Marcus wandte Vipsania herum und erwartete die Männer, ohne vom Pferd zu steigen. Fünf waren es, von denen zwei einen erlegten schwarzen Keiler an Stangen trugen; ein Rudel Wolfshunde lief zwischen ihnen herum. Wie anders waren sie als die Männer in Valentia; dunkler und leichter gebaut. Vielleicht kam das daher, daß das Blut des dunklen Volkes noch stärker in ihren Adern rann als in den Adern der Stämme im Flachland; äußerlich wirkten sie kaum wie diese, aber auf die Dauer, dachte Marcus, waren sie gefährlicher. »Die Jagd war gut.« Er grüßte sie, als sie näher heran waren. »Die Jagd war gut«, erwiderte der Anführer, der den geflochtenen goldenen Halsriemen des Häuptlings um den Hals trug. Er blickte Marcus fragend an, da die Höflichkeit ihm verbot, ihn nach seinem Gewerbe zu fragen, aber in seinem Blick lag deutlich die Frage, was dieser Fremde, der keiner der Handelsleute von den Schiffen mit den blauen Segeln war, hier in seinem Gebiet zu suchen habe. Beinah unwillkürlich stellte Marcus die Frage, die ihm schon zur Gewohnheit geworden war: »Gibt es Leute in deinem Wohnsitz, die die Augenkrankheit haben?« Der Blick des Mannes wurde halb begierig, halb mißtrauisch. »Kannst du denn die Augenkrankheit heilen?« »Ob ich die Augenkrankheit heilen kann? – Ich bin Demetrius von Alexandrien. Der Demetrius von Alexandrien«, sagte Marcus, der längst gelernt hatte, was gute Reklame wert ist. »Nenne meinen Namen südlich von Cluta, nenne ihn im Königssitz selbst, und du wirst hören, daß ich wirklich alle Krankheiten der Augen heilen kann.« »Ich weiß von verschiedenen in meinem Wohnsitz, die die Augenkrankheit haben«, sagte der Mann. »Keiner, der deine Kunst versteht, kam bisher zu uns. Kannst du sie heilen?« »Wie kann ich das sagen, sogar ich, bevor ich sie gesehen habe?« Marcus lenkte seine Stute auf den Pfad. »Seid ihr auf dem Weg nach Hause? Laßt uns zusammen gehen.«
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So zogen sie los, Marcus mit dem Häuptling neben dem Pferd voran, dann Esca und die anderen Jäger mit dem aufgehängten Keiler zwischen sich, und die Hunde liefen ständig vor und zurück. Eine Weile gingen sie den Kamm entlang, wandten sich dann landeinwärts, schlängelten sich auf gewundenen Pfaden durch lichten Birkenwald, bis ein großer, vom Abendlicht perlblasser See zwischen den Bergen vor ihnen lag. Marcus und Esca kannten diesen See – sie waren mehr als einmal an den Ufern gegenüber gewesen. »Der See der vielen Inseln« wurde er genannt, weil viele Inseln über ihn verstreut waren, von denen einige steil und felsig, andere flach und von Weiden umsäumt waren; hier nisteten die Reiher. Es dämmerte schon, als sie den Wohnsitz auf dem Hügelrücken über den stillen Wassern des Sees erreichten; es war das sanfte, maulbeerfarbene Dämmerlicht der Westküste, in dem die feuererhellten Eingänge der Wohnhäuser glühten wie gelbe Krokusblüten mit zarten roten Adern. Die Hütten, die zu dem Wohnsitz des Häuptlings gehörten, lagen am höchsten Punkt der Siedlung, dort wo die Torfwälle einen engen Bogen bildeten. Marcus, Esca und der Häuptling strebten darauf zu, während sich die anderen Jäger, nachdem sie sich über die Teilung der Jagdbeute geeinigt hatten, auf ihre eigenen Hütten zu zerstreuten. Beim Geräusch ihres Kommens tauchte ein junger Mann, den Marcus für den Bruder des Häuptlings hielt, aus dem feuererhellten Eingang auf und kam auf sie zugerannt. »Wie war die Jagd, Dergdian?« »Die Jagd war gut«, sagte der Häuptling, »denn sieh mal, ich habe außer einem feinen Keiler einen Heiler für kranke Augen mitgebracht und auch seinen Speerträger. Sorg für die Pferde, Liathan.« Er drehte sich schnell zu Marcus um, der seinen Oberschenkel rieb. »Bist du steif vom Reiten? Seid ihr heute zuviel geritten?« »Nein«, sagte Marcus. »Es ist eine alte Wunde, die mir manchmal noch Kummer macht.« Er folgte seinem Gastgeber in die große Wohnhütte; als er durch die Tür ging, mußte er den Kopf einziehen. Drinnen war es sehr heiß, und der landesübliche Torfrauch kratzte ihn in der Kehle. Zwei oder drei 162
Hunde lagen auf dem warmen Farnkraut. Eine kleine, zusammengeschrumpfte Frau, offenbar eine Sklavin, stand über den hohen Herd gebückt, rührte die Abendsuppe in einem Bronzetopf und sah nicht auf, als sie hereinkamen; aber ein dürrer alter Mann, der neben dem Feuer saß, blickte sie mit scharfem, herrischem Blick durch die Rauchschwaden an. So war es im ersten Augenblick, dann wurde der Vorhang aus wunderbar gemusterten Hirschfellen, der vor dem Eingang zur Frauenseite hing, beiseite gezogen, und eine junge Frau erschien auf der Schwelle; eine große Frau, die selbst für eine Epidaierin sehr dunkel war. Sie trug ein schlichtes grünes Gewand, das an der Schulter von einer Fibel aus rotem Gold zusammengehalten wurde, die so groß und massiv war wie ein Schildbuckel. Sie kam vom Spinnen, wie es schien, denn sie hatte noch die Spindel und den Spinnrocken in der Hand. »Ich hörte deine Stimme«, sagte sie. »Das Essen ist fertig und wartet auf dich.« »Dann laß es noch ein bißchen länger warten, Fionhula, mein Herz«, entgegnete Dergdian der Häuptling. »Ich habe den Heiler der kranken Augen mitgebracht; bring ihm den kleinen Jungen her.« Ihre großen, dunklen Augen wandten sich augenblicklich mit einem Ausdruck von Furcht und Hoffnung Marcus zu. dann wieder dem Häuptling. Sie drehte sich wortlos um, ließ den Vorhang hinter sich zufallen und kam nach einem Augenblick mit einem kleinen Jungen von ungefähr zwei Jahren auf dem Arm zurück. Es war ein braunes, hübsches Kind, das wie alle Kinder eine Korallenschnur trug, aber als das Licht auf sein Gesicht fiel, sah Marcus, daß seine Augen so entzündet, rot und verschwollen waren, daß es sie kaum öffnen konnte. »Hier ist einer zum Heilen«, sagte der Häuptling. »Deiner?« fragte Marcus. »Meiner.« »Er wird blind werden«, meinte der alte Mann am Feuer. »Ich habe schon immer gesagt, daß er blind wird, und ich habe nie unrecht.«
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Marcus tat, als habe er nichts gehört. »Gebt mir den Jungen her«, forderte er. »Ich tue ihm nicht weh.« Er nahm der Mutter den kleinen Jungen ab und warf ihr ein aufmunterndes Lächeln zu; dann kniete er sich unbeholfen auf sein gesundes Knie neben dem Feuer nieder. Das Kind wimmerte und wandte sich vom Feuer ab, offensichtlich tat ihm das Licht weh. Blind war es also noch nicht. Das war schon etwas. Sehr vorsichtig drehte er das Gesicht des kleinen Jungen wieder dem Feuer zu. »Komm, mein Junge, es geht ganz schnell. Laß mich mal sehen. Was habt ihr dem Kind in die Augen getan?« »Krötenfett«, sagte der alte Mann. »Mit meinen eigenen Händen habe ich seine Augen gesalbt, obwohl das eigentlich Frauenarbeit ist, denn die Frau meines Enkels ist zu dumm.« »Ist es von dem Krötenfett denn besser geworden?« Der alte Mann zuckte mit den Achseln. »Wohl nicht«, brummte er verdrießlich. »Warum nimmst du es dann?« »Das ist so üblich. Unsere Frauensleute reiben solche Stellen immer mit Krötenfett ein, aber die Frau meines Enkels -« Der alte Mann spuckte kräftig aus, um seine Meinung über die Frau seines Enkels kundzutun. »Aber ich habe schon immer gesagt, daß das Kind blind wird«, fügte er im zufriedenen Ton eines wahren Propheten hinzu. Marcus hörte, wie die junge Frau hinter ihm tief Luft holte. Er spürte ihren Kummer und ihren stummen Protest, und er fühlte, wie der Zorn in ihm hochstieg, aber er war besonnen genug, um zu wissen, daß er sich den alten Teufel nicht zum Feinde machen durfte, sonst konnte er von vornherein die Hoffnung aufgeben, das Augenlicht des Kindes zu retten. So sagte er einigermaßen friedlich: »Wir wollen mal sehen. Krötenfett ist zweifellos gut für entzündete Augen, aber da es diesmal nicht gewirkt hat, will ich meine eigenen Salben ausprobieren, vielleicht helfen sie besser.« Und noch ehe der alte Mann etwas sagen konnte, wandte er sich an Fionhula. »Bring mir warmes Wasser und Leinen«, sagte er, »und zünde eine Lampe an. Ich muß Licht zum Arbeiten haben, nicht dieses flackernde Feuerlicht. Esca, hole mir meinen Medizinkasten.« 164
Und dann machte er sich an die Arbeit. Die Mutter hielt das Kind auf dem Schoß, und er wusch, salbte und verband die Augen beim Licht der Lampe, die die Sklavin für ihn hochhielt. Ihre Abendsuppe hatten sie derweil im Stich gelassen. Marcus und Esca blieben viele Tage in Dergdians Hütte. Sonst hatte Marcus seine Heilungen immer nur angefangen, hatte Salbe dagelassen und erklärt, wie man sie anwendet, und war dann weitergezogen. Aber diesmal war das etwas anderes. Die Augen des Kindes waren schlimmer, als er es bisher erlebt hatte, und dann mußte er mit dem Großvater und seinem Krötenfett rechnen. Diesmal würde er bleiben müssen. Nun, er konnte genausogut hier bleiben wie sonst irgendwo, denn er konnte ebensogut hier wie sonst irgendwo dem Adler auf der Spur sein. So blieb er also, wenn ihm die Zeit auch lang wurde. Die Tage schlichen dahin, es gab lange, leere Stunden, in denen er nichts zu tun hatte, und nachdem der erste harte Kampf um das Augenlicht des kleinen Jungen gewonnen war, und es nur noch darum ging, geduldig zu warten, schienen sie noch viel langsamer zu schleichen. Meistens saß er im Eingang der Hütte, sah den Frauen bei der Arbeit zu oder zerrieb getrocknete Salben in die kleinen Bleitöpfe, die wieder aufgefüllt werden mußten, während Esca mit den Jägern auszog oder bei den Hirten in den steil abfallenden Viehtriften war. Am Abend saß er mit den Männern um das Feuer, und die dunklen Handelsleute aus Irland, die manchmal zu den Hütten kamen, und er erzählten sich von ihren Fahrten. Zwischen Irland und Caledonien herrschte ein reger Handel mit Goldarbeiten und Waffen, Sklaven und Jagdhunden. Er hörte mit unendlicher Geduld dem alten Tradui, dem Großvater mütterlicherseits von Dergdian, zu, der endlose Geschichten von Seehundjagden erzählte, als er und die Welt noch jung und die Männer und die Seehunde stärker und wilder waren als heutzutage. Aber trotz all ihres angestrengten Horchens hörten weder er noch Esca in der ganzen Zeit irgend etwas, das darauf hindeutete, daß der Ort und das Ding, nach dem sie suchten, in der Nähe waren. Ein- oder zweimal erblickte Marcus in diesen Tagen eine schwarzgekleidete Gestalt, die durch die Hütte kam, eine Gestalt, die fremd wirkte gegen 165
die warme, lebensvolle Natürlichkeit des Stammes, und sie erinnerte ihn an den Berg Cruachan, der das Land rundum beherrschte. Aber Druiden gab es hier, wohin Roms Macht nicht mehr reichte, überall, genau wie Heiligtümer. Die Druiden wohnten nicht unter Menschen, sondern zurückgezogen in der Einsamkeit der nebligen Berge, in entlegenen Bergschluchten und in den Birken- und Haselwäldern. Sie herrschten mächtig über Siedlungen und Dörfer, aber niemand sprach von ihnen, wie auch niemand von den Göttern und den umgehenden Geistern seiner Vorfahren sprach. Auch von dem eroberten Adler sagte niemand ein Wort. Aber noch wartete Marcus, bis er sicher war, daß das Augenlicht des kleinen Jungen gerettet war. Als er eines Abends mit Esca von einem Bad in dem tiefen Wasser unterhalb der Siedlung zurückkam, ho ckte der Häuptling in seiner Hüttentür, hatte seine Jagdhunde um sich herum und polierte liebevoll einen schweren Kriegsspeer, der ein Band von Adlerfedern um den Schaft hatte. Marcus kauerte sich neben ihn und sah ihm zu, während eine deutliche Erinnerung an einen anderen Kriegsspeer mit einem Band von blau- grauen Reiherfedern in ihm aufstieg. Esca lehnte sich mit einer Schulter an den Türpfosten aus Eschenholz und sah auch zu. Plötzlich blickte der Häuptling auf und bemerkte ihre fragenden Augen. »Das ist für das Fest der Neuen Speere«, sagte er. »Für den Tanz der Krieger, der danach kommt.« »Das Fest der Neuen Speere«, wiederholte Marcus. »Ihr feiert es, wenn eure Jungen Männer werden, ja? Ich habe von solchem Fest gehört, aber ich habe noch nie eins gesehen.« »Du wirst es in drei Nächten sehen, in der Nacht des gehörnten Mondes«, sagte Dergdian und machte sich wieder ans Polieren. »Es ist ein großes Fest. Die Jungen aus dem ganzen Stamm kommen und ihre Väter mit ihnen. Und wenn es der Sohn des Königs wäre, so muß er doch zu uns kommen, wenn es Zeit für ihn ist, daß er seine Waffen empfängt.« »Warum?« fragte Marcus und hoffte dann, daß seine Frage nicht zu eifrig geklungen hatte.
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»Wir sind die Hüter des Heiligtums, wir, das Seehundvolk«, antwortete Dergdian, den Speer auf seinen Knien umdrehend. »Wir sind die Wächter über das Leben des Stammes.« Nach einer langen Pause sagte Marcus beiläufig: »Ach so. Und ist es irgend jemandem erlaubt, bei der Weihe der Neuen Speere dabei zu sein?« »Nicht bei der Weihe, nein, da sind nur die Neuen Speere und der Gehörnte dabei, und niemand als die Priester darf sie sehen, ohne zu sterben; aber die Feiern im Vorhof des Mysteriums darf jeder sehen, der Lust hat. Sie sind nicht geheim, außer für die Frauen.« »Dann werde ich bestimmt, wenn du es erlaubst, bei denen sein, die Lust haben zuzusehen. Wir Griechen sind von Natur aus neugierig«, sagte Marcus. Am nächsten Tag ging ein geschäftiges Vorbereiten los, das, Marcus an sein eigenes etruskisches Dorf am Vorabend der Saturnalienspiele erinnerte, und gegen Abend kamen die ersten der Neuen Speere; es waren Jungen und ihre Väter aus den entferntesten Winkeln des Stammesgebiets. Sie kamen auf schönen kleinen Pferden geritten, trug ihre besten Kleider, und viele brachten ihre Jagdhunde mit. Merkwürdig, dachte er, als er sie beobachtete, daß Menschen, die in mancher Hinsicht so arm sind, daß Jäger und Hirten, die kein Ackerland haben und ärmlich in elenden Hütten wohnen, das Zaumzeug ihrer wohlgepflegten Pferde mit Silber und Bronze und Korallen schmücken und ihre Umhänge mit Fibeln aus rotem irischem Gold zusammenhalten. Noch andere Leute schwärmten gleichzeitig herbei: Handelsleute, Wahrsager, Harfenspieler und Pferdehändler, die ihr Lager mit den Stammesleuten zusammen an den flachen Ufern des Sees aufschlugen, bis endlich der ganze Landstreifen unterhalb der Siedlung schwarz von ihnen war. Alles wirkte warm und freundlich und menschlich, es war eine große Marktmenge, und nirgends war ein Zeichen von etwas Geheimnisvollem zu sehen, auf das Marcus gewartet hatte. Aber es würde noch genug Geheimnisvolles geschehen, bevor das Fest um war. 167
Es begann am zweiten Abend, als plötzlich die Jungen, die ihre Waffen empfangen sollten, verschwunden waren. Marcus sah sie nicht gehen, aber plötzlich waren sie weg, und die Siedlung war öde. Die Männer beschmierten sich die Stirn mit Lehm, die Frauen versammelten sich und wiegten sich wehklagend in feierlicher Trauer hin und her. Aus der Siedlung und aus dem Lager unter den Wällen erhob sich die Wehklage, als die Nacht kam, und bei der Abendmahlzeit wurde für jeden Jungen, der gegangen war, ein Platz freigelassen und ein Trinkhorn gefüllt, das nicht angerührt wurde, so wie man es für die Geister der Toten beim Fest von Samhain machte; und die Frauen sange n die ganzen langen Stunden der Nacht die Totenlieder. Als der Morgen kam, hörte das Wehklagen und Heulen auf, und statt dessen senkte sich tiefe, erwartungsvolle Stille nieder. Gegen Abend versammelte sich der Stamm an dem flachen Ufer des Sees. Die Männer standen in Gruppen herum, jeder Clan für sich. WolfClan bei Wolf-Clan, Salm bei Salm, Seehund bei Seehund; sie trugen Felle, hatten purpurrote, gelbe oder scharlachrote Umhänge, hatten ihre Waffen in der Hand, und ihre Hunde rannten zwischen ihnen herum. Die Frauen standen abseits von den Männern, viele der jungen Frauen mit Kränzen von Herbstblumen im Haar: von Jelängerjelieber, gelbem Weiderich und weißen, wilden Winden. Männer und Frauen schauten dauernd zum Himmel im Südwesten auf. Auch Marcus, der mit Esca und Liathan etwas abseits von der Menge stand, schaute wieder und wieder nach Südwesten, wo der Himmel immer noch golden war, obwohl die Sonne schon hinter den Bergen versunken war. Und dann war sie ganz plötzlich da, die blasse, geschwungene Feder des neuen Mondes, hing am Strahlenrand der untergehenden Sonne. Irgendwo auf der Frauenseite sah ein Mädchen den Mond im gleichen Augenblick und stieß einen seltsamen, unheimlichen, halb singenden Schrei aus, den die anderen Frauen und dann auch die Männer aufnahmen. Irgendwo aus den Bergen, hinter denen das Meer lag, ertönte ein Horn. Kein schmetterndes Kriegshorn, sondern ein
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klareres, helleres, das ein tönender Bruder der schlanken Feder zu sein schien, die fern am Abendhimmel hing. Die Menge geriet in Bewegung, als folge sie dem Ruf des Horns; die Männer zogen dem Hornruf zu. Es war ein langer, ungeordneter Zug von Kriegern, der langsam und stetig fortzog und nur die Frauen und die sehr alten und sehr jungen Männer in der Siedlung zurückließ. Marcus ging mit den Männern und hielt sich, wie er sollte, dicht an Liathan. Plötzlich war er sehr froh, daß Esca in dieser fremdartigen Menge dicht an seiner Seite war. Langsam erklommen sie den Berg und stiegen auf der Seeseite wieder abwärts. Sie überquerten eine enge Schlucht und folgten dann dem Kamm. Noch einmal ging es abwärts und wieder steil nach oben, dann waren sie plötzlich am Rande eines breiten, hochgelegenen Tales, das im Bogen verlief und sich zum Meer hin öffnete. Das Meer lag ihnen zu Füßen; schon war es von Schatten überzogen, während am Himmel das Licht, das aus der versunkenen Sonne hervorzubrechen schien, noch wirkte und webte. Aber vor dem Meer erhob sich jäh ein großer Grabhügel, in dessen dornenbewachsener Kuppe sich ebenso wie in den Spitzen großer aufrechtstehender Steine, die ihn wie eine Leibwache umstanden, die letzten Strahlen der Sonne verfingen. Marcus hatte die breiten Hünengräber des alten Volkes schon oft gesehen, aber keines hatte ihn so tief beeindruckt wie dieses hier am Ausgang des einsamen Tales zwischen dem Gold des Sonnenuntergangs und dem Silber des neuen Mondes. »Da drüben ist die Stätte des Lebens!« flüsterte Liathan ihm ins Ohr. »Dort ist das Leben des Stammes.« Die bunte Menge hatte sich nordwärts gewendet und zog nun durch das Tal auf die Stätte des Lebens zu. Der Grabhügel wirkte nun höher, und plötzlich merkte Marcus, daß er zwischen den Seehundleuten im Schatten eines der großen aufgerichteten Steine stand. Vor ihm dehnte sich weit und leer ein roh gepflasterter Vorhof, und jenseits der Leere, in dem steil ansteigenden, buschbewachsenen Grabhügel war ein Eingang, dessen massive Umrahmung aus uraltem Granit bestand. Ein Tor von einer Welt in die andere, dachte Marcus mit einem Schauer von Ehrfurcht, das scheinbar nur mit einem Fellvorhang mit Knöpfen 169
aus matter Bronze verschlossen war. War der verlorene Adler der Spanischen Legion irgendwo hinter diesem urtümlichen Eingang? Irgendwo im innersten Dunkel dieses Hünengrabes, das die Stätte des Lebens war? Plötzlich hörte man ein Zischen und das Aufflackern einer Flamme, als jemand an dem Feuertopf, den sie mitgenommen hatten, eine Fackel anzündete. Das Feuer flammte wie von selbst von Fackel zu Fackel, und mehrere junge Krieger traten aus der schweigenden, wartenden Menge hervor und stellten sich in den weiten, leeren Raum zwischen die aufrechtstehenden Steine. Sie hielten die brennenden Fackeln hoch über ihre Köpfe, und der ganze Platz, von dem das Licht langsam geschwunden war, wurde von einem flackernden, rotgoldenen Glanz überflutet, der auch die Schwelle jenes seltsamen Eingangs in vollem Licht erscheinen ließ. Es beleuchtete die steinernen Torpfosten, in die die gleichen Wellen und Spiralen eingeritzt waren, die auch auf den aufgerichteten Steinen wirbelten. Es glänzte auf den Bronzeknöpfen des Seehundfells, so daß sie zu Scheiben aus zuckendem Feuer wurden. Der leichte, nach See riechende Wind wirbelte Funken auf, die so hell waren, daß die Berge und der dunkle Grabhügel mit den Dornbüschen auf der Spitze in die schnell einfallende Dämmerung zurückzuweichen schienen. Für einen kurzen Augenblick sah Marcus den Umriß eines Mannes hoch oben zwischen den Dornbüschen; wieder ertönte der hohe, klare Ruf des Horns, und noch ehe das Echo in den Bergen verhallt war, wurde der Vorhang aus Seehundfell zurückgezogen, wobei die Bronzeknöpfe wie Zimbeln tönten. Eine Gestalt trat durch den niedrigen Eingang ins Fackellicht. Die Gestalt eines Mannes, der nur mit dem Fell eines grauen Seehunds bekleidet war, dessen Kopf er über seinen eigene n gezogen hatte. Der Seehund-Clan begrüßte sein Kommen mit einem kurzen, rhythmischen Schrei, der aufbrandete, verklang und wieder aufbrandete, so daß einem das Blut in den Adern stockte. Einen Moment stand der Mann – Seehundpriester oder Seehundmensch – vor ihnen und ließ sich bejubeln, und dann robbte er unbeholfen, wie ein Seehund auf trockenem Land, an eine Seite des Eingangs. Eine andere Gestalt sprang nun aus dem Dunkel hervor, sie hatte den 170
grimmigen Kopf eines Wolfes. Einer nach dem anderen kam hervor, alle waren sie nackt, hatten ihre Körper mit seltsamen Mustern aus Pflanzensäften bemalt, trugen Kopfschmuck aus Tierfellen oder Vogelfedern, hatten die Flügel eines Schwans oder waren mit einem Otterfell bekleidet, dessen Schwanz hinter dem Träger hin- und herwackelte, und das gestreifte Fell eines Dachses leuchtete schwarz und weiß im Fackellicht. Einer nach dem anderen kamen sie, bäumten sich auf, sprangen, scharrten, und sie waren nicht nur Männer, die die Rolle eines Tieres spielten, sondern die auf seltsame Weise und wider alle klare Vernunft wirklich im Augenblick die Tiere waren, deren Fell sie trugen. Immer mehr kamen, bis sich für jeden Clan des Stammes ein Totem-Priester dem makabren Tanz zugesellt hatte – wenn man es Tanz nennen konnte, denn es war kein Tanz, den Marcus je zuvor gesehen hatte und keiner, den er je wieder sehen wollte. Sie hatten eine Kette gebildet und hopsten, scharrten und bäumten sich nun im Kreise, während sich ihre Tierfelle hinter ihnen blähten. Es gab keine Musik – denn jede Musik, wäre sie auch noch so unheimlich und noch so mißtönend, war weltenweit von diesem Tanz entfernt; aber ein dumpfes Schlagen ertönte von irgendwoher – vielleicht schlug jemand mit der flachen Hand auf einen hohlen Stamm -, und die Tänzer folgten dem Takt. Schneller und schneller ertönte das Schlagen, es war wie ein heftig pochendes Herz, wie das Herz eines Menschen im Fieber; und das Rad der Tänzer drehte sich schneller und schneller, bis es mit einem gellenden Schrei durch das rasende Drehen zersprang. Und als es zerbarst, erschien jemand – etwas -, das unbemerkt aus dem Dunkel jenes Eingangs auf den Grabhügel in die Mitte des Kreises gekommen sein mußte. Marcus’ Kehle schnürte sich einen Augenblick zu, als er die Gestalt erblickte, die allein im vollen roten Licht der Fackeln stand, so daß es schien, als brenne sie von ihrem eigenen, hellen Licht. Eine unvergeßliche Gestalt von bedrückender Schönheit, nackt und herrlich, gekrönt mit dem mächtigen Geweih eines Zehnenders, in dessen blanken Enden sich das Fackellicht fing, als sei eine kleine Flamme in jeder Zinke. 171
Ein Mann mit einem Hirschgeweih auf seinem Kopfschmuck, so daß das Geweih ihm aus der Stirn zu wachsen schien – das war alles. Und doch war es nicht alles; sogar für Marcus war es das nicht. Die Menge begrüßte ihn mit einem dumpfen Schrei, der wuchs und wuchs, bis es war, als heule ein Wolfsrudel den Mond an; und als er mit erhobenen Armen dastand, schien eine dunkle Kraft von ihm auszuströmen wie Licht von einer Lampe. »Der Gehörnte! Der Gehörnte!« Sie lagen mit dem Gesicht auf der Erde, hingemäht wie ein Gerstenfeld unter der Sichel. Ohne zu wissen, was er tat, sank Marcus in die Knie; neben ihm lag Esca auf dem Boden und hatte seine Augen mit dem Arm verhüllt. Als sie sich wieder erhoben, war der Priestergott auf die Schwelle vor der Stätte des Lebens zurückgetreten und stand dort, die Arme schlaff herunterhängend. Er überschüttete sie mit einem Redeschwall, aus dem Marcus nur so viel entnehmen konnte, daß er dem Stamm jetzt verkündete, seine Söhne seien als Jungen gestorben und nun als Krieger wiedergeboren. Seine Stimme wurde zu einem triumphierenden Schreien, das nach und nach in eine Art von wildem Sprechgesang überging, in den die Stammesleute einfielen. Überall in der dichtgedrängten Menge wurden Fackeln erhoben, und die aufgerichteten Steine röteten sich von oben bis unten und schienen in dem stampfenden Rhythmus des Gesanges zu erbeben und erzittern. Als der Triumphgesang seinen Höhepunkt erreicht hatte, wandte sich der Priestergott um, rief etwas und gab den Eingang frei; und wieder trat jemand aus dem Dunkel des Inneren in das Licht der Fackeln. Ein rothaariger Junge in einem karierten Kilt, den die Stämme mit einem Willkommensruf begrüßten. Ein anderer folgte und noch einer, und dann noch viele mehr, und jeder wurde mit einem Schrei begrüßt, der aufstieg und sich wie eine Welle an den Steinen auf dem Grabhügel zu brechen schien. Endlich standen fünfzig oder mehr Neue Speere auf dem weiten Vorhof. Sie wirkten fast wie Schlafwandler, als sie mit geblendeten Augen in den plötzlichen Glanz der Fackeln blinzelten. Der Junge, der Marcus am nächsten stand, fuhr sich ununterbrochen mit der Zunge über die trockenen Lippen, und Marcus konnte sehen, daß er keuchend atmete, als sei er gerannt – oder in großer Furcht. Was war mit ihnen im Dunkeln 172
geschehen? fragte sich Marcus. Er dachte an seine eigene Stunde und an den Geruch von dem Blut des Stieres in der dunklen Höhle des Mithras. Nach dem letzten Jungen kam ein letzter Priester, kein TotemPriester wie die anderen. Sein Kopfschmuck war aus den glänzenden Federn eines Goldadlers gemacht, und die Menge brach in brausendes, lang anhaltendes Geschrei aus, als der Vorhang hinter ihm klirrend zurückfiel. Aber für Marcus war rundum plötzlich alles sehr still. Denn der letzte Priester trug etwas, das einst ein römischer Adler gewesen war.
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Der Gang ins Dunkel Ein Mann trat aus den Reihen der Stammesleute vor, er war nackt und bemalt wie zum Kampf und trug Schild und Speer; und im gleichen Augenblick trat ein Junge vor. Die beiden – sie waren offensichtlich Vater und Sohn – trafen sich in der Mitte des offenen Platzes, und Stolz ging von dem Jungen aus, als er Schild und Speer aus seines Vaters Hand bekam. Er drehte sich langsam um und stellte sich dem Stamm, damit er ihn aufnahm, wandte sich in die Richtung, wo Cruachan im Dunkel verborgen lag, und zuletzt in die des neuen Mondes, der sich aus einer blassen Feder in eine Sichel aus glänzendem Silber vor dem tiefgrünen Himmel verwandelt hatte. Schließlich ließ er zum Gruß seinen Speer krachend auf seinen Schild schlagen, bevor er seinem Vater folgte, um zum erstenmal bei den Kriegern seines Stammes zu stehen. Ein anderer Junge trat vor, dann noch einer und noch einer; aber Marcus nahm nichts wahr als eine Bewegung von Schatten, denn seine Augen waren auf den Adler gerichtet, auf den verstümmelten Rumpf des Adlers, den die Neunte Legion verloren hatte. Die vergoldeten Lorbeerkränze und Kronen, die die Legion in den Tagen ihres Ruhmes gewonnen hatte, waren nicht mehr an dem rotbewickelten Stab; die scharfen Krallen umklammerten noch immer die gekreuzten Blitzstrahlen, aber wo sich die großen silbernen Schwingen in wildem Stolz ausgebreitet hatten, waren nur zwei leere Löcher in der Seite der vergoldeten Bronze. Der Adler hatte seine Ehre verloren, und er hatte seine Schwingen verloren; so hätte er einem Demetrius von Alexandrien wie ein gewöhnlicher Hahn auf einem Misthaufen erscheinen können. Aber für Marcus war er trotzdem der Adler, in dessen Schatten sein Vater gefallen war, der verlorene Adler von seines Vaters Legion. Er nahm sehr wenig von dem langen Ritual wahr, das nun folgte, bis der Adler endlich wieder ins Dunkel zurückgetragen war und er selber in dem Triumphzug mitzog, der von den Neuen Speeren angeführt wurde und auf die Siedlung zustrebte: ein Kometenschweif 174
aus schwankenden Fackeln, ein Geschrei wie in einer siegreich heimkehrenden Armee. Als sie den letzten Abhang hinunterkamen, schlug ihnen der Duft von bratendem Fleisch entgegen, denn die Kochgruben waren wieder aufgedeckt. Große Feuer brannten auf dem offenen Grasplatz unterhalb der Siedlung, brannten wie tiefrote und goldene Blumen vor dem fernen, matt glänzenden See unter ihnen. Und die Frauen kamen Hand in Hand ihren zurückkehrenden Männe rn entgegengelaufen und holten sie heim. Nur wenige Männer, die nicht zum Stamm gehörten, waren mit den Kriegern zur Stätte des Lebens gegangen. Aber nun waren die ernsten Handlungen vorbei, es war Zeit zum Feiern; und Handelsleute, Wahrsager und Harfenspieler, eine Gruppe Seehundjäger aus einem anderen Stamm und sogar die Mannschaft von zwei oder drei irischen Schiffen waren aus dem Lager herbeigeströmt. Sie drängten sich mit den Kriegern der Epidaier um das Feuer und taten sich gütlich an dem gebratenen Fleisch, während die Frauen, die nicht mit ihren Herren gemeinsam aßen, mit großen Krügen voll feurigen gelben Mets zwischen ihnen herumgingen, damit die Trinkhörner immer randvoll blieben. Marcus, der zwischen Esca und Liathan am Feuer des Häuptlings saß, fragte sich, ob sie die ganze Nacht mit Essen und Trinken und Schreien verbringen wollten. Er merkte, daß ihn das zum Rasen bringen würde. Er wollte Ruhe, er wollte Zeit zum Nachdenken; und das fröhliche Lärmen schien in seinem Kopf zu hämmern und jeden Gedanken zu töten. Er wollte auch keinen Met mehr. Dann war die Feierei ganz plötzlich vorbei. Der Lärm, das ausgiebige Essen und viele Trinken war vielleicht nur ein Schild gewesen, mit dem man den übermächtigen Zauber abwenden wollte, der vorhin gewirkt ha tte. Männer und Frauen wichen langsam zurück, so daß zwischen den Feuern ein großer, leerer Platz entstand; Hunde und Kinder wurden gerufen. Wieder flammten Fackeln auf und warfen ihr helles Licht auf den leeren Platz. Wieder herrschte erwartungsvolles Schweigen. Marcus, der neben sich den Großvater des Häuptlings erblickte, wandte sich zu dem alten Mann und fragte mit verhaltenem Atem: »Was nun?« 175
»Sie tanzen jetzt«, sagte der andere, ohne sich umzublicken. »Da…« Noch während er sprach, wurden die brennenden Fackeln hochgewirbelt, und eine Gruppe junger Krieger sprang in den fackelerhellten Kreis und begann nach dem schnellen Rhythmus eines Kriegstanzes zu stampfen und sich zu drehen. Und dieses Mal fand Marcus, daß es ein Tanz war in dem Sinne, wie er das Wort verstand, mochte der Tanz auch fremd und barbarisch sein. Tanz folgte auf Tanz, einer ging in den nächsten über, so daß man kaum wußte, wann einer zu Ende war und ein neuer begann. Manchmal sah es so aus, als ob die ganze Männerseite tanzte, und der Boden erzitterte unter ihren stampfenden Füßen. Manchmal waren es nur ein paar Auserwählte, die sprangen, herumwirbelten und krochen und mimisch und mit Gesten Jagd oder Krieg darstellten, während die übrigen die schreckenerregende Musik machten, die die Britannier vor der Schlacht anstimmen, indem sie über ihre Schildränder streichen. Nur die Frauen tanzten nicht, denn das Fest der Neuen Speere war nicht für sie bestimmt. Der Mond war längst untergegangen, und nur der starke Schein der Fackeln und des Feuers erhellte das wilde Bild, die tanzenden Gestalten und schimmernden Waffen, als sich schließlich zwei Reihen von Kriegern auf dem zertrampelten Gras einander gegenüber aufstellten. Sie hatten wie alle Männer den Oberkörper entblößt und trugen ihre Schilde und die federgeschmückten Kriegsspeere; Marcus sah, daß die eine Reihe von den Jungen gebildet wurde, die heute Männer geworden waren, die andere von ihren Vätern, die ihnen die Waffen gegeben hatten. »Das ist der Tanz der Neuen Speere«, sagte Esca zu ihm, als die beiden Reihen mit erhobenen Schilden aufeinander zugingen. »So tanzen wir ihn auch, wir, die Briganten, in der Nacht, wenn unsere Jungen zu Männern werden.« Tradui, der auf Marcus’ anderer Seite saß, beugte sich zu ihm herüber und fragte: »Feiert ihr in deinem Volk nicht auch das Fest der Neuen Speere?« 176
»Wir feiern ein Fest«, sagte Marcus, »aber es ist nicht wie dieses. Dies alles ist mir fremd, und ich habe heute nacht viele Dinge gesehen, die mich verwundern.« »So? – und was ist das?« Der alte Mann, dessen erster Groll gegen Marcus wegen des Krötenfetts verraucht war, war im Laufe der Tage langsam etwas umgänglicher geworden. Und heute nacht, als auch noch das Fest und der Met das ihre taten, war er begierig, den Fremden unter seinem Dach zu unterrichten. »Ich will dir diese Dinge erklären, die dich verwundern, denn du bist jung und sicher wißbegierig, und ich bin alt und bei weitem der weiseste Mann in meinem Stamm.« Marcus merkte, daß er hier für ihn wichtige Einzelheiten erfahren konnte, wenn er auf der Hut war. »Wahrhaftig«, sagte er, »Weisheit umgibt Tradui, den Großvater des Häuptlings, und meine Ohren sind offen.« Und er machte sich bereit, zu fragen und zu hören, während sich der alte Mann sichtlich geschmeichelt fühlte. Es war eine mühsame Arbeit, aber Stück für Stück erfuhr er die Einzelheiten, um die es ihm ging, indem er den alten Mann höchst listenreich weiterlockte und geduldig eine ganze Menge anhörte, womit er nichts anfangen konnte. Er hörte, daß die Priester unterhalb des Heiligtums in den Birkenwäldern lebten und daß der Ort weder von Kriegern noch von Priestern bewacht wurde. »Wozu auch?« fragte der alte Mann, als Marcus sein Erstaunen ausdrückte. »Die Stätte des Lebens hat ihre eigenen Wächter, und wer würde wagen, in den Machtbereich des Gehörnten einzudringen?« Er brach ab, als habe er sich selbst dabei ertappt, daß er Verbotenes aussprach; er streckte seine alte, dickgeäderte Hand aus und spreizte die Finger in Hornform. Aber plötzlich begann er wieder zu sprechen. Unter dem Einfluß des Mets, der Fackeln und des Tanzens dachte auch er an seine eigene Nacht: die längst vergangene Nacht, in der er ein Neuer Speer gewesen war und zum ersten Male die Kriegstänze seines Stammes getanzt hatte. Indes er seine Augen nicht von den kreisenden Gestalten wandte, erzählte er von alten Kämpfen, alten Viehdiebstählen, von Helden, die schon lange tot waren und die seine Schwertbrüder 177
gewesen waren, damals, als die Welt noch jung war und die Sonne noch heißer schien als jetzt. Höchst erfreut darüber, daß er einen aufmerksamen Hörer gefunden hatte, der die Geschichte noch nicht kannte, erzählte er von einem großen Feldzug der Stämme vor zehn oder zwölf Herbsten. Er war mit nach Süden gezogen – obwohl einige Narren damals gesagt hatten, er sei zu alt, um auf den Kriegspfad zu gehen -, um das Heer der Roten Helmbüsche zu vernichten. Er erzählte, wie sie den Adler-Gott, den die Roten Helmbüsche vorantrugen, hergebracht hatten, nachdem sie die Roten Helmbüsche den Wölfen und Raben zum Fraß überlassen hatten, und wie sie den Adler-Gott den Göttern seines eigenen Volkes in der Stätte des Lebens übergeben hatten. Der Heiler der kranken Augen hatte ihn wohl heute gesehen, als er herausgebracht und den Männern gezeigt wurde? Marcus saß sehr still, hatte die Hände um seine hochgezogenen Knie geschlungen und sah den Funken nach, die von den geschwungenen Fackeln aufflogen. »Ich sah ihn«, sage er. »Ich habe schon früher solche Adler-Götter gesehen, und es verwunderte mich, daß ich hier einen sah. Wir sind immer neugierig, wir Griechen; außerdem haben wir wenig Ursache, Rom zu lieben. Erzähl mir mehr davon, wie ihr den Adler-Gott der Roten Helmbüsche erobert habt. Ich würde die Geschichte gern hören.« Es war die Geschichte, die er schon einmal von Guern dem Jäger gehört hatte, aber dieser hatte sie von der anderen Seite her erlebt; und wo Guerns Erzählung endete, ging diese weiter. Als erzähle er von einer alten Jagd, die gut gewesen war, berichtete der alte Krieger nun, wie er und seine Schwertbrüder die letzten Überlebenden der Neunten Legion zu Tode gehetzt hatten, wie sie sie eingeschlossen hatten, so wie ein Wolfsrudel seine Beute. Der alte Mann erzählte ohne eine Spur von Mitleid, ohne das geringste Verständnis für den Todeskampf der Gejagten; aber wilde Begeisterung erhellte sein Gesicht und sprach aus jedem Wort. »Ich war damals schon ein alter Mann, und es war mein letzter Kampf, aber was für ein Kampf! Hei-ho! Würdig für den letzten Kampf Traduis, des Kriegers! Manch eine Nacht, wenn das Feuer 178
erlischt, und wenn sogar die Kämpfe meiner Jugend fade und kalt wurden, habe ich mich an dem Gedanken an diesen Kampf gewärmt! Wir stellten sie schließlich in dem Sumpfland einen Tag weit von dem Platz, den sie die drei Hügel nennen; sie stellten sich zum Kampf wie ein Keiler. Uns war der leichte Erfolg zu Kopf gestiegen, denn bis zu dem Tag war alles ganz einfach gewesen. Sie wichen, wo man auch zustieß, aber an dem Tag war es anders. Die anderen waren nur die Splitter des Feuersteins gewesen, aber diese waren der Stein, ein kleiner Stein nur, ein ganz kleiner… Sie bildeten einen Kreis und hatten den geflügelten Gott in ihrer Mitte; als wir ihren Schildwall durchbrachen, trat einer von innen über seinen gefallenen Bruder, und siehe da, der Schildwall war wieder geschlossen wie vorher. Wir besiegten sie schließlich – ja, aber sie nahmen ein stattliches Geleit von unseren Kriegern mit sich. Wir kämpften weiter, bis nur noch ein kleiner Haufen von ihnen übrig war – nicht mehr als die Finger an meinen beiden Händen -, und der geflügelte Gott war immer noch in ihrer Mitte. Ich, Tradui, ich erschlug mit meinem letzten Wurfspeer den Priester in dem gescheckten Fell, der den Stab hielt; aber ein anderer ergriff den Stab, als er fiel, und hielt ihn hoch, so daß der geflügelte Gott nicht fiel, und er sammelte die paar, die noch übrig waren. Er war ein Häuptling unter den letzten, er hatte einen größeren Helmbusch, und sein Mantel war aus dem Scharlachrot der Krieger. Ich wünschte, ich hätte ihn getötet, aber ein anderer war schneller als ich… Nun, wir machten ein Ende mit ihnen. Jetzt werden keine Roten Helmbüsche mehr durch unsere Jagdgründe ziehen. Wir überließen sie den Raben und den Wölfen und dem Sumpf. Sumpfland löscht schnell alle Kampfspuren aus. Ja, wir brachten den geflügelten Gott mit; wir, die Epidaier, haben ein Recht auf ihn, weil es die Krieger der Epidaier waren, die beim Töten die Ersten Speere waren. Aber später fiel ein heftiger Regen, die Flüsse schwollen an; und bei einer Furt wurde der Krieger, der den Gott trug, weggeschwemmt. Wir fanden den Gott wohl wieder (drei Leben kostete uns die Suche), aber er hatte seine Flügel verloren, die nicht aus einem Stück mit dem Körper waren, sondern in Löcher eingesetzt, und verloren waren auch die glänzenden Lorbeerkränze, die an dem Stab hingen. Als wir den Adler zur Stätte 179
des Lebens brachten, sah er genauso aus, wie du ihn heute nacht gesehen hast. Trotzdem brachten wir ihn dem Gehörnten als Tribut, und er hat ihm gefallen, denn sind nicht unsere Kriege seitdem gut ausgegangen und ist das Wild in unseren Jagdgründen nicht fett? Und ich will dir noch etwas über den Adler sagen: Er gehört jetzt uns, den Epidaiern; aber wenn jemals der Tag kommt, daß wir gegen die Roten Helmbüsche ausziehen, wenn die Trum-trum- trum durch Albu geht und die Stämme zum Krieg zusammentrommelt, dann wird der AdlerGott wie ein Speer in der Hand aller Stämme von Albu sein und nicht der Epidaier allein.« Die hellen alten Augen schauten nun endlich nachdenklich in Marcus’ Gesicht. »Er war wie du, der Häuptling der Roten Helmbüsche, ja. Und doch sagst du, daß du ein Grieche bist. Ist das nicht merkwürdig?« Marcus sagte: »Viele von den Roten Helmbüschen haben griechisches Blut in den Adern.« »So. Dann kommt es wohl daher.« Der alte Mann langte unter die Schulterfalten des karierten Mantels, den er trug. »Sie waren wirklich Krieger, und wir ließen ihnen ihre Warfen, wie es Kriegern geziemt… Aber von dem Häuptling nahm ich dieses wegen der Kraft, die darin steckt, so wie man den Hauer von einem Keiler aufbewahrt, der stärker und tapferer war als die anderen; und ich habe es seitdem immer getragen.« Er hatte jetzt gefunden, was er suchte, und löste einen Lederriemen von seinem Hals. »Er geht nicht über meine Finger«, fügte er höchst ärgerlich hinzu. »Die Roten Helmbüsche müssen wohl schlankere Finger gehabt haben als wir. Sieh ihn dir mal an.« Ein Ring baumelte am Ende des Riemens; sein grünes Feuer funkelte leise im Fackelschein. Marcus nahm ihn und neigte den Kopf, um ihn anzuschauen. Es war ein schwerer Siegelring; in den adrigen Smaragd war das Delphinzeichen seiner eigenen Familie eingraviert. Er hielt ihn einen langen Augenblick in der Hand, hielt ihn sehr zärtlich, als sei er lebendig, und er sah das Fackellicht innen in dem Grün des Steines spielen. Dann legte er ihn in die ausgestreckte Hand des alten Mannes zurück, murmelte beiläufig ein Wort des Dankes 180
und wendete seine Aufmerksamkeit wieder den Tänzern zu. Aber der wilde Wirbel des Tanzes verschwamm vor seinen Augen, denn plötzlich waren die letzten zwölf Jahre oder mehr ausgelöscht, und er blickte zu einem dunklen, lachenden Mann auf, der über ihm zu stehen schien. Tauben kreisten hinter dem vorgeneigten Kopf des Mannes, und als er sich mit der Hand über die Stirn fuhr, fing sich das Sonnenlicht, das die Taubenflügel mit Licht umgab, in dem adrigen Smaragd des Siegelringes, den er trug. Für einen Tag hatte Marcus übergenug erfahren, und ganz plötzlich fühlte er sich bis ins Innerste seines Herzens erschöpft. Am nächsten Morgen saßen sie auf einem freien Hügelrücken, wo niemand sie belauschen konnte, und Marcus schmiedete sehr genaue Pläne mit Esca. Er hatte dem Häuptling schon gesagt, daß er am anderen Tag wieder nach Süden aufbrechen wollte, und der Häuptling und auch alle Bewohner der Siedlung wollten ihn nur ungern ziehen lassen. Er sollte doch bis zum Frühjahr bleiben, vielleicht wären wieder kranke Augen da, die er salben könnte. Aber Marcus war bei seinem Entschluß geblieben. Er sagte, er wolle noch vor dem Winter wieder im Süden sein, und da nun ohnehin alle, die zum Fest der Neuen Speere gekommen waren, aufbrachen und ihre eigenen Wege gingen, wäre es auch für ihn an der Zeit zu gehen. Die Freundlichkeit der Stammesleute ließ kein Gefühl der Schuld in ihm aufkommen, wenn er an seine Pläne dachte. Sie hatten ihn und Esca aufgenommen und beherbergt, dafür hatte Esca ihnen bei der Jagd und bei ihrem Vieh geholfen, und er hatte ihre kranken Augen geheilt, so gut er es konnte. So war keiner dem anderen etwas schuldig. Was den Adler betraf, waren sie der Feind, ein Feind, der sein Schwert zu brauchen wußte. Er mochte sie gern und achtete sie; sollten sie den Adler behalten, wenn sie konnten. Der letzte Tag verlief sehr friedlich. Nachdem sie sich über ihre Pläne im klaren waren und die wenigen nötigen Vorbereitungen getroffen hatten, saßen Marcus und Esca in der Sonne und taten – wie es schien – nichts Besonderes; sie beobachteten nur den eleganten Flug der Strandläufer über den stillen Wassern des Sees. Gegen 181
Abend badeten sie; sie planschten und spritzten nicht wie sonst zu ihrem Vergnügen herum, sondern vollzogen eine rituelle Reinigung, um für alles bereit zu sein, was die Nacht ihnen bringen mochte. Marcus verrichtete seine Abendgebete zu Mithras, Esca die seinen zu Lugh mit dem glänzenden Speer; beide waren sie Sonnengötter, Götter des Lichtes, und ihre Anbeter kämpften mit den gleichen Waffen gegen das Dunkel. So reinigten sie sich für den Kampf und aßen bei der Abendmahlzeit so wenig wie möglich, damit nicht ein voller Bauch ihren Geist träge machte. Als es Schlafenszeit wurde, legten sie sich wie üblich mit Tradui, den Hunden und Liathan in der großen Wohnhütte zum Schlafen hin; sie legten sich auf die Schlafplätze, die der Tür am nächsten waren. Sie hatten diese Plätze die ganze Zeit gehabt, weil sie immer gewußt hatten, daß eine Zeit kommen konnte, da sie heimlich bei Nacht herausschleichen würden. Als die anderen schon längst schliefen, lag Marcus wach und sah in die rote Glut des Feuers, während jeder Nerv in ihm angespannt war wie eine Saite, die am Zerspringen ist. Neben sich konnte er Esca ruhig und gleichmäßig atmen hören, wie immer, wenn er schlief. Dennoch war es Esca, der mit dem Instinkt des Jägers die Stunden verlaufen fühlte und der wußte, wann Mitternacht vorüber war – die Zeit, in der die Priester ihr nächtliches Opfer vollzogen – und die Stätte des Lebens wieder verlassen war. Er berührte Marcus, als es soweit war. Sie standen leise auf und schlichen aus der Hütte. Die Hunde schlugen nicht an, denn sie waren es gewohnt, daß jemand bei Nacht kam oder ging. Marcus ließ den Fellvorhang leise hinter sich zufallen, und sie gingen auf das nahe Tor zu. Es war nicht schwierig, nach draußen zu kommen, denn da die Siedlung voller Gäste war und viele vom Stamm draußen lagerten, waren die Dornbüsche, die gewöhnlich das Tor versperrten, nicht vor dem Eingang. Damit hatten sie gerechnet. Sie ließen die Lagerfeuer, die schlafenden Männer und die vertrauten Dinge dieser Welt hinter sich, stiegen den Berg hinauf, und die Nacht verschlang sie. Es war eine sehr stille Nacht; ein gewittriger Dunst verdunkelte die Sterne, und ein- oder zweimal sahen sie am 182
Horizont einen Sommerblitz aufzucken. Der Mond war längst untergegangen, in der Dunkelheit und der lastenden Stille schienen die Berge näher herangerückt zu sein als bei Tag; und als sie in das Tal hinunterstiegen, in dem die Stätte des Lebens lag, umschloß die schwarze Nacht sie wie eine dunkle Welle. Esca hatte einen Weg gewählt, der sie zum Taleingang führte, so daß sie die Stätte des Lebens von hinten erreicht en; in dem trockenen Gras dort würden ihre Schritte nicht zu hören sein, und keine Spur würde zurückbleiben. Aber an einer Stelle wucherte die Heide bis fast an die aufrechtstehenden Steine heran, und Esca bückte sich, brach sich eine lange Rute ab und steckte sie in seinen Leibriemen. Sie kamen an der tiefer gelegenen Seite des Heiligtums an und standen und lauschten, und es kam ihnen vor, als lauschten sie eine lange Zeit. Aber die Stille war wie Wolle in ihren Ohren; kein Vogel ließ sich hören, sogar die See schwieg heute nacht. Kein Laut in der ganzen Welt außer dem heftigen Pochen ihrer Herzen. Sie ließen die großen Steine hinter sich und standen in dem gepflasterten Vorhof. Mächtig und schwarz erhob sich über ihnen das Hünengrab; seine Krone von Dornbüschen zeichnete sich vor den verschleierten Sternen ab. Die massive Türumrahmung aus Granit leuchtete in fahler Blässe vor dem Gras rundum; der Granit schien größer zu werden, als sie auf den Eingang zugingen. Sie waren auf der Schwelle. Marcus sagte leise, aber sehr deutlich: »Im Namen des Lichtes«, tastete nach dem Vorhang aus Seehundfell und zog ihn zurück. Die Bronzebeschläge klirrten und tönten leise. Esca war an seiner Seite, als sie sich unter den niedrigen Eingang duckten und der Vorhang wieder zufiel. Die tiefe Dunkelheit schien sich auf seine Augen und auf seinen ganzen Körper zu legen, und mit der Dunkelheit bedrückte ihn die Atmosphäre des Ortes. Sie war nicht eigentlich böse, aber sie hatte etwas schrecklich Persönliches. Denn seit Tausenden von Jahren war dieser Platz der Mittelpunkt eines finsteren Ritus gewesen, und es war, als hätten diese Jahre dem Platz ein persönliches Leben eingehaucht. Marcus meinte, daß er nun gleich seinen Atem spüren würde, den langsamen, stetigen Atem eines lauerndes Tieres… Einen kurzen Augenblick schnürte ihm wilde Angst die Kehle zu, und 183
während er sich dagegen wehrte, hörte er ein Rascheln und sah einen schwachen Schein. Esca hatte Feuertopf und Docht mitgebracht und holte beides unter seinem Mantel hervor. Dann züngelte eine winzige Flamme auf, sank wieder nieder und stieg aufs neue, als der Docht in dem Klumpen Bienenwachs anbrannte. Escas Gesicht wuchs plötzlich aus dem Dunkeln, als er die kleine Flamme anfachte. Als sie stetig brannte, sah Marcus, daß sie in einem Gang standen, der rundherum mit großen Steinplatten ausgelegt war. Man konnte nicht sehen, wie lang der Gang war, denn der Lichtschein reichte nicht so weit. Er streckte seine Hand nach dem Licht aus. Esca gab es ihm, und er hielt es hoch, als er voranging. Der Gang war so eng, daß sie nicht nebeneinander gehen konnten. Die Dunkelheit wich unwillig vor ihnen zurück und schlug wieder begierig hinter ihnen zusammen. Nach hundert Schritten standen sie auf der Schwelle des Raumes, der einstmals wohl die Grabkammer gewesen war, und sahen dicht vor sich auf einer niedrigen Steinplatte neben dem Eingang eine flache, höchst kunstvoll bearbeitete Bernsteinschale, die bis zum Rand mit etwas angefüllt war, das dicklich und dunkel im Licht der Kerze schimmerte. Hirschblut vielleicht oder das Blut eines schwarzen Hahnes. Sonst lag alles im Schatten, aber als Marcus mit dem Licht an der mitternächtlichen Opferung vorbeiging, wichen die Schatten zurück, und er sah, daß sie in einer weiten, runden Kammer standen, deren Steinmauern über den Bereich des Lichtes hinausstiegen und sich hoch oben zu einer Art Gewölbe zu schließen schienen. Zwei Nischen in den beiden Seiten der Kammer waren leer, aber in der Wand dem Eingang gegenüber war eine dritte. In dieser Nische war etwas, das ein wenig schief angelehnt stand und sich dunkel gegen die Steine abhob; aber es war zu weit weg, als daß ein Funke sich in seinen vergoldeten Federn hätte verfangen könnten; es mußte der Adler der Neunten Legion sein. Sonst war die Kammer leer, und ihre Leere machte sie hundertmal bedrohlicher. Marcus wußte nicht, was er hier eigentlich erwartet hatte, aber er hatte kaum erwartet, daß er nichts finden würde – gar nichts. Das einzige war ein großer Ring aus weißem Stein von etwa einem Fuß Durchmesser, der genau in der Mitte des Bodens lag, und eine wunderbar geformte Axt aus dem gleichen Material, die so 184
hingelegt war, daß eine Seite der Schneide ein klein wenig über den Ring ragte. Das war alles. Esca griff nach seinem Arm und flüsterte ihm beschwörend ins Ohr: »Es ist ein starker Zauber. Rühr ihn nicht an!« Marcus schüttelte den Kopf. Er wollte ihn nicht anrühren. Sie gingen um den Ring herum und kamen zu der Nische auf der anderen Seite. Ja, es war der Adler. »Halt das Licht«, flüsterte Marcus. Er na hm den Adler hoch und dachte dabei daran, daß die letzte römische Hand, die seinen befleckten und schlimm zugerichteten Schaft berührt hatte, die seines Vaters gewesen war. Was für ein seltsames und starkes Band, das sie über die Jahre hin verknüpfte! Und er klammerte sich an diesen Gedanken wie an einen Talisman, als er den Adler von seinem Schaft löste. »Halte das Licht hierher – ein bißchen höher. Ja, so.« Esca gehorchte und hielt den Schaft .mit seiner freien Hand, damit Marcus beide Hände zum Arbeiten frei hatte. Es wäre einfacher gewesen, wenn sie den Adler auf den Boden gelegt und sich hingekniet hätten, aber sie hatten beide das Gefühl, daß sie besser auf den Füßen blieben, denn wenn sie sich hinknieten, wären sie dem Unbekannten ausgeliefert. Das Licht fiel auf die Köpfe der vier schlanken Bronzenägel, die durch die Klauen des Adlers gingen und sie mit den gekreuzten Blitzen auf dem Schaft verbanden. Sie hätten eigentlich leicht herausgehen müssen, aber sie hatten sich fest in ihre Löcher eingefressen, und nachdem Marcus einen Augenblick versucht hatte, sie mit den Fingern zu lösen, zog er seinen Dolch und begann, sie damit zu lockern. Sie lockerten sich, aber sie lockerten sich nur langsam. Es würde eine ganze Zeit dauern – eine ganze Zeit, hier an dieser grausigen Stätte, die wie ein anschleichendes Tier war, das jeden Augenblick zum Sprung ansetzen konnte. Der erste Nagel kam heraus, Marcus steckte ihn in seinen Gürtel und begann mit dem zweiten. Angst und Schrecken krochen wieder in ihm hoch, und wieder unterdrückte er sie. Es hatte keinen Sinn, daß er sich beeilte; denn wenn er hastig zu Werke ging, würde er die Nägel nie herausbekommen. Einen Augenblick lang überlegte er, ob es nicht 185
besser wäre, das Ganze nach draußen zu nehmen, sich ein Versteck in der Heide zu suchen und in der frischen Luft zu arbeiten. Aber die Arbeit mußte getan werden, denn die ganze Standarte war zu groß für das Versteck, das er im Sinn hatte; die Zeit war knapp, und ohne Licht konnte er nicht schnell arbeiten, und wenn sie draußen ein Licht brannten, konnte es sie, selbst wenn sie es noch so sorgsam abschirmten, verraten. Nein, dieses war der einzige Ort, an dem sie keine Unterbrechung zu befürchten hatten (denn wenn nichts Außergewöhnliches dazwischenkam, würden die Priester nicht vor der nächsten Mitternacht wiederkommen) – jedenfalls keine Unterbrechung durch Menschen. Marcus bekam plötzlich keine Luft mehr. »Ruhig«, sprach er sich zu. »Ruhig atmen; nicht zu schnell.« Der zweite Nagel kam, und er steckte ihn zu dem anderen in seinen Gürtel, und als Esca den Schaft umdrehte, machte er sich an den dritten. Dieser löste sich leichter, und er hatte gerade mit dem vierten und letzten angefangen, als er merkte, daß er nicht mehr so deutlich sehen konnte wie noch eben vorher. Er blickte auf und sah in dem Licht der Kerze, daß Escas Gesicht schweißüberzogen war; und ließ nicht auch das Licht nach? Noch während er hinsah, begann die kleine Flamme in sich zusammenzusinken, und die Dunkelheit kroch heran. Vielleicht war nur die Luft schlecht oder der Docht nicht in Ordnung. Er beschwor Esca: »Denk an das Licht! Esca, denk an das Licht!« Und noch als er sprach, schwand die Flamme zu einem blauen Funken. Neben sich hörte er Escas Atem, der pfeifend durch seine bebenden Nasenflügel fuhr; sein eigenes Herz pochte rasend, und er spürte, wie ihn nicht nur die vielfingrige Dunkelheit, sondern auch die Wände und die Decke umklammerten, daß sie ihn zu ersticken drohten, als ob eine sanfte, kalte Hand ihm Nase und Mund zuhielt. Plötzlich überkam ihn die entsetzliche Gewißheit, daß kein Gang mit einem ledernen Vorhang ihn mehr mit der Außenwelt verband, sondern daß sich über ihnen der Erdhügel wölbte, aus dem es keinen Weg nach draußen gab. Keinen Weg nach draußen! Die Dunkelheit streckte ihre Finger leise nach ihm aus. Er stellte sich aufrecht gegen die kalten Steine und spannte seine ganze Willenskraft an, um die Wände zurückzudrängen und das Gefühl des Erstickens zu 186
bekämpfen. Er tat, was er Esca gesagt hatte: Er dachte mit aller Kraft, die in ihm war, an das Licht, so daß vor seinem inneren Auge der Platz mit Licht erfüllt war, mit hellem, klarem Licht, das bis in den letzten Winkel drang. Plötzlich dachte er an die Flut von Abendlicht in seiner Schlafkammer in Calleva, damals an jenem Abend, als Esca und Wolf und Cottia ihm in seiner Not geholfen hatten. Er beschwor es jetzt, das Licht wie goldenes Wasser, wie ein Trompetenstoß, das Licht des Mithras. Er schleuderte es in die Dunkelheit und zwang sie zurück – zurück – zurück. Er wußte später nicht mehr, wie lange er so stand, bis er den blauen Funken langsam wachsen, wieder etwas sinken und dann plötzlich als kleine, schlanke Flamme aufsteigen sah. Vielleicht war der Docht nicht in Ordnung gewesen… Er merkte, daß sein Atem sehr schwer und stoßweise ging und daß der Schweiß ihm über Gesicht und Brust rann. Er blickte Esca an, und Esca erwiderte seinen Blick; keiner von beiden sagte etwas. Dann machte er sich wieder an den vierten Nagel. Er saß am festesten von allen, aber schließlich gab er nach, und er hatte den Adler und die Blitzstrahlen in der Hand. Er hob sie mit einem tiefen, bebenden Atemzug hoch und steckte seinen Dolch in die Scheide. Da es nun geschafft war, hätte er am liebsten den Schaft beiseite geworfen und sich blindlings ins Freie gestürzt, aber er bezähmte sich, nahm Esca den Schaft ab und stellte ihn auf seinen Platz in der Nische, legte die Blitzstrahlen und die vier Nägel daneben auf den Boden und wandte sich endlich mit dem Adler im Arm zum Gehen um. Esca hatte seine Heiderute aus dem Gürtel gezogen und folgte ihm mit der Kerze in der Hand; er ging rückwärts und wischte alle erkennbaren Spuren aus, die sie vielleicht im Staub gemacht hatten. Marcus wußte, daß seine eigenen Spuren allzu verräterisch waren, weil er immer noch sein rechtes Bein etwas nachzog, so sehr er sich auch bemühte, das zu vermeiden. Der Weg quer durch die Grabkammer wurde ihnen sehr lang, und Esca warf immer wieder eilige Blicke auf den Ring und die Axt, als sei dort eine Schlange, die gerade beißen wollte. Aber sie gelangten schließlich zur Öffnung des Ganges und kamen langsam voran. Esca 187
löschte immer noch ihre Spuren. Marcus ging seitwärts an der Mauer entlang und deckte seinen Rücken und den seines Freundes. Durch sein Kriechen löschte Esca fast den ganzen Schein des Lichtes aus, das er in der Hand hatte; das Licht fiel nur auf die staubigen Bodenplatten und auf die hin- und herfahrende Heiderute, und sein Schatten verschluckte ihren Weg, so daß jeder Schritt, den Marcus tat, ein Schritt ins Dunkel war. Der Gang kam ihnen jetzt viel länger vor als auf dem Hinweg, so lang, daß ein neuer, furchtbarer Schrecken Marcus überkam: Entweder gab es zwei Gänge, und sie waren in den falschen geraten, oder der eine war inzwischen ein Gang ohne Ende geworden. Aber das Ende war noch da. Plötzlich fiel Escas Schatten auf den Seehundvorhang, und sie waren am Ausgang. »Mach dich bereit, das Licht zu löschen«, sagte Marcus. Marcus hatte die Hand am Vorhang, als sie wieder in Dunkel gehüllt waren. Er zog den Vorhang sehr langsam und sehr vorsichtig zurück und horchte und spähte angestrengt, ob sich ein Zeichen von Gefahr zeigte, und dann schlüpften sie beide unter den Türsteinen hindurch. Er ließ den Vorhang sachte zufallen, legte dann eine Hand auf Escas Schulter und atmete in tiefen Zügen die klare Nachtluft ein, die nach Sumpfmyrte und salzigem Seetang duftete, und schaute hinauf zu den verschleierten Sternen. Es war ihm, als seien sie viele Stunden im Dunkeln gewesen, aber die Sterne waren auf ihrer Bahn nur ein kleines Stück vorgerückt, seit er sie zuletzt gesehen hatte. Sommerblitze zuckten noch die Berge entlang. Er merkte, daß Esca am ganzen Leibe bebte, wie ein Pferd, wenn es Feuer riecht, und er legte seine Hand fester auf die Schulter seines Freundes. »Wir sind draußen«, sagte er. »Wir haben es geschafft. Es ist vorbei. Ruhig, alter Wolf.« Esca antwortete ihm mit einem gebrochenen Lachen. »Mir ist furchtbar übel.« »Mir auch«, sagte Marcus. »Aber wir haben jetzt keine Zeit zu verlieren. Wir können hier nicht warten, bis die Priester uns entdecken. Komm.« 188
Sie überquerten wieder die Berge, schlugen einen weiten Halbkreis um die Siedlung und das Lager und tauchten eine ganze Weile später aus den steil abfallenden Wäldern über dem freien Seeufer auf, dort wo sich eine Landzunge mit hohem Gras, Erlenbüschen und Felsbrocken weit in die graue, steinige Bucht streckte. Genau oberhalb der Bucht machten sie halt, und Esca zog sich eilig aus. »Gib mir jetzt den Adler.« Er nahm ihn und faßte ihn ehrfurchtsvoll an, obwohl es nicht sein Adler gewesen war; und gleich darauf war Marcus allein. Er hielt sich mit einer Hand an dem überhängenden Ebereschenast fest und sah Escas schattenhaft verwischter Gestalt nach, die unter dem Erlenbusch durchschlüpfte und wieder auf dem schmalen Landstück darunter auftauchte. Das Wasser spritzte leise auf, als springe ein Fisch, dann war es wieder still; weit in der Ferne grollte ein Donner, und ein Nachtvogel durchstieß mit einem unheimlichen Schrei die lastende Stille. Marcus kam es vor, als warte er sehr lange; seine Augen waren angestrengt ins Dunkle gerichtet, dann bewegte sich eine schattenhafte Gestalt auf dem schmalen Landstück, und gleich darauf war Esca wieder neben ihm und wrang das Wasser aus seinem Haar. »Wie ging es?« murmelte Marcus. »Er paßt in das Loch unter dem Ufer wie eine Nuß in ihre Schale«, sagte Esca zu ihm. »Sie können suchen, bis der See austrocknet, und werden ihn nicht finden; aber ich finde den Platz, wenn ich wiederkomme.« Die nächste Gefahr war die, daß man ihre Abwesenheit bemerkt haben könnte; aber als sie die Siedlung erreichten und ungesehen durch das Tor gingen, war alles still. Sie kamen nicht zu früh. Der Himmel war noch dunkel – dunkler als bei ihrem Aufbruch, denn Wolken waren aufgezogen, und die Sterne waren ausgelöscht. Aber die Luft war vom Geruch des Tagesanbruchs erfüllt, der ebenso unverwechselbar war wie der Geruch eines kommenden Gewitters. Sie schlüpften durch die Hüttentür. In der Dunkelheit leuchtete nur die Feuersglut wie rote Juwelen, und nichts rührte sich. Dann knurrte ein Hund halb im Schlaf, seine Augen schimmerten grün im Finstern, und
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plötzlich entstand eine Unruhe, und man hörte ein schläfriges Murmeln von Liathan, der am dichtesten an der Tür lag. »Ich bin es nur«, sagte Marcus. »Vipsania war unruhig, es ist Gewitter in der Luft. Dann ist sie immer unruhig.« Er legte sich hin. Auch Esca legte sich dicht beim Feuer nieder, damit er am Morgen keine Rechenschaft über feuchtes Haar abzulegen hätte. Stille senkte sich wieder über die Schlafhütte.
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Die Mantelspange Ein paar Stunden später verabschiedeten sich Marcus und Esca von der Siedlung und brachen auf. Sie ritten durch eine Welt, die nach dem Gewitter, das endlich bei Morgengrauen losgebrochen war, reingewaschen und so dunkel gefärbt war wie eine Purpurtraube. Zuerst zogen sie nach Süden, indem sie immer am Seeufer entlangritten, dann folgten sie einem Viehweg nordostwärts durch die Berge, der sie gegen Abend an die Ufer eines anderen Sees brachte, eines langgestreckten Sees, der vom Geschrei der Ufervögel erfüllt war. In dieser Nacht schliefen sie in einem Weiler, der nur aus einem Haufen armseliger Torfhütten bestand, die sich an einen schmalen Küstenstreifen zwischen den Bergen und dem grauen Wasser klammerten, und am nächsten Morgen brachen sie auf, um zum Ende des Sees zu gelangen, an dem ein Dorf lag, durch das sie schon früher gekommen waren. An diesem Tag ließen sich sich Zeit beim Reiten und ruhten ihre Pferde häufig aus. Es drängte Marcus, aus diesem Land der Seen herauszukommen, durch das man sich im Zickzack schlagen mußte wie eine Schnepfe, und in dem man so leicht umzingelt werden und in eine Falle geraten konnte, aber es war sinnlos, sich zu weit von der Stätte des Lebens zu entfernen, bevor sie den nächsten Zug in ihrem Spiel getan hatten. Die Priester würden den Verlust des Adlers um Mitternacht entdecken, sobald sie kämen, um das Opfer zu erneuern, und der Verdacht würde ganz bestimmt am stärksten auf ihn und Esca fallen, wenn er sich auch auf alle diejenigen des Stammes erstrecken könnte, die zum Fest der Neuen Speere gekommen waren. Es konnte also nicht mehr lange dauern, bis der Stamm hinter ihnen herjagte. Da sie ihren Weg kannten, rechnete Marcus damit, daß ihre Verfolger sie bald nach Mittag eingeholt hätten, wenn sie den See in ihren Flechtbooten überquerten und Pferde an dem anderen Seeufer einfangen würden, was sie zweifellos tun würden. Aber er hatte vergessen, daß sie über ein paar schwierige Bergpässe mußten, und es dauerte sehr viel länger, als er gedacht hatte, ehe er endlich das leise Trommeln von unbeschlagenen Hufen weit in der Ferne hörte; und als er zurückschaute, erblickte er eine 191
wilde Gruppe von sechs oder sieben Reitern, die in halsbrecherischem Tempo einen steilen Hang herunterkamen und sich ihnen näherten. Er holte tief Luft, fast erleichtert, denn das Warten hatte seine Nerven aufs äußerste gespannt. »Da kommen sie also endlich«, sagte er zu Esca; und dann, als das Echo eines fernen, gellenden Schreies aus den Bergen tönte, »hör, wie die Hunde anschlagen.« Esca lächelte still, und seine Augen strahlten in Erwartung der Gefahr. »Ruhig, ruhig«, sprach er den Pferden leise zu. »Wollen wir weiterreiten oder wollen wir sie erwarten?« »Die Pferde zügeln und warten«, entschied Marcus. »Sie wissen wahrscheinlich, daß wir sie gesehen haben.« Sie lenkten ihre Pferde herum und warteten aufgesessen, während die wilde Reiterschar, deren Ponys so leichtfüßig wie Geißen durch die Felsen des steilen Hanges sprangen, auf sie zujagte. »Mithras! Was für eine Reitertruppe sie abgeben würden!« sagte Marcus, als er sie beobachtete. Vipsania war unruhig, sie tänzelte und schlug aus, schnaubte und hatte die Ohren gespitzt, und er strich ihr beruhigend über den Nacken. Die Stammesleute hatten nun den Talgrund erreicht und schwenkten am Seeufer um; gleich darauf waren sie bei den beiden angelangt, die auf sie warteten, zügelten ihre Ponys aus vollem Galopp und sprangen ab. Marcus schaute sie von oben bis unten an, als sie ihn umringten; es waren sieben Krieger des Stammes, Dergdian und sein Bruder waren dabei. Er sah ihre feindlichen Blicke und die Kriegsspeere, die sie trugen, und sein Gesicht nahm einen erstaunten und fragenden Ausdruck an. »Dergdian? Liathan? Was wollt ihr in so großer Eile von mir?« »Du weißt ganz genau, was wir von dir wollen«, sagte Dergdian. Sein Gesicht war versteinert, und seine Hand umklammerte den Speer fester. »Aber ich weiß es wirklich nicht«, sagte Marcus im Tone wachsenden Verdrusses, und er tat so, als merke er nicht, daß zwei der Reiter ihre Ponys im Stich gelassen hatten und neben Vipsania und Minna getreten waren. »Du mußt es mir schon erzählen.« 192
»Ja, das werden wir dir erzählen«, warf ein älterer Jäger ein. »Wir kommen und wollen den geflügelten Gott wiederholen; und wir wollen Blut, damit wir den Schimpf abwaschen können, den ihr uns und den Göttern unseres Stammes angetan habt.« Die anderen stießen drohende Schreie aus und umdrängten die beiden, die inzwischen vom Pferd gestiegen waren. Marcus blickte sie erstaunt an. »Den geflügelten Gott?« wiederholte er. »Den Adler-Gott, den wir beim Fest der Neuen Speere sahen? Ihr meint -«, und ihm schien eine Erleuchtung zu kommen. »Ihr meint, daß ihr ihn verloren habt?« »Wir meinen, daß er gestohlen ist, und wir sind gekommen, um ihn von denen zurückzuholen, die uns beraubt haben«, sagte Dergdian sehr leise; und gerade weil er so leise sprach, war es Marcus, als streiche ihm eine eiskalte Hand über den Rücken. Er sah dem anderen ins Gesicht, und seine Augen weiteten sich langsam. »Und ausgerechnet ich muß es sein, der ihn gestohlen hat?« sagte er und schleuderte ihnen entgegen: »Warum im Namen des Donners sollte ich mir einen flügellosen römischen Adler wünschen?« »Du könntest deine Gründe haben«, sagte der Anführer mit derselben leisen Stimme. »Ich wüßte keine.« Die Stammesleute wurden ungeduldig und riefen: »Schlagt sie tot!« Sie rückten ihm näher auf den Leib; wilde, zornige Gestalten bedrohten Marcus, und einer fuchtelte ihm mit dem Speer vor den Augen. »Tötet die Diebe! Schluß mit dem Reden!« Erschreckt durch die zornigen Stimmen, schlug Vipsania nach allen Seiten aus, und man konnte das Weiße in ihren Augen sehen, Minna wieherte und bäumte sich hoch auf, als sie sich von dem Mann loszureißen versuchte, der sie festhielt, dann wurde sie durch einen Schlag zwischen die Ohren wieder zum Stehen gebracht. Marcus erhob seine Stimme über den Tumult. »Ist es Sitte bei den Seehundleuten, die zu jagen und zu erschlagen, die ihre Gäste waren? Recht tun die Römer daran, die Männer des Nordens Barbaren zu nennen.« 193
Das Geschrei ging in ein dumpfes, bedrohliches Gemurmel über, und er fuhr ruhiger fort. »Wenn ihr so sicher seid, daß wir den Gott der Roten Helmbüsche gestohlen haben, dann braucht ihr doch nur unsere Sachen zu durchsuchen, um ihn zu finden. Sucht doch!« Das Gemurmel schwoll an, und Liathan war schon bei Escas Pferd und streckte die Hand nach dem Gurt aus, mit dem das Gepäck festgeschnallt war. Marcus trat angewidert beiseite, blieb stehen und sah zu. Escas Hand umklammerte einen Augenblick den Speer fester, als habe er Lust zuzustoßen; dann zuckte er die Achseln, drehte sich um und stellte sich zu Marcus. Sie sahen zusammen an, wie ihre wenigen Habseligkeiten auf das Gras geworfen wurden; zwei Mäntel, ein Kochtopf, ein paar Stücke geräuchertes Wildfleisch wurden hastig auseinandergezerrt. Der Deckel des bronzenen Medizinkastens wurde mit Gewalt aufgerissen, und einer der Jäger begann darin zu stöbern wie ein kleiner Hund nach einer Ratte. Marcus sagte ruhig zu dem Häuptling, der mit gekreuzten Armen neben ihm stand und auch zusah: »Sage bitte deinen Hunden, daß sie etwas weniger roh mit meinem Handwerkszeug umgehen. Es könnte sein, daß es noch immer kranke Augen in Albu gibt, wenn auch die deines kleinen Sohnes geheilt sind.« Dergdian errötete, als er daran erinnert wurde, und blickte einen Augenblick beiseite. Dann sagte er in scharfem Ton zu dem Mann, der zwischen den Salben herumwühlte: »Vorsicht, du Narr, es ist nicht nötig, daß du die Salbenstöcke zerbrichst.« Der Mann murrte, aber behandelte die Sachen jetzt vorsichtiger. Inzwischen hatten die anderen die Satteltaschen aus Schafleder aufgeschnürt und ausgebreitet und durch ihr unsanftes Vorgehen beinah die bronzene Spange aus einem violetten Mantel herausgerissen. »Seid ihr nun zufrieden?« fragte Marcus, als sie alles gründlich durcheinandergewühlt hatten und die Stammesleute enttäuscht und mit leeren Händen dastanden und auf das Chaos starrten, das sie angerichtet hatten. »Oder wollt ihr uns noch bis auf die Haut durchsuchen?« Er streckte seine Arme aus, und sie maßen Esca und ihn mit ihren Blicken. Es war nur allzu klar, daß sie nichts unter ihren 194
Kleidern versteckt haben konnten, was auch nur ein Zehntel von der Größe und dem Gewicht des Adlers hatte. Der Häuptling schüttelte den Kopf. »Wir müssen unser Netz weiter spannen, wie es scheint.« Marcus kannte die Stammesleute alle, mindestens vom Sehen; sie sahen verwirrt aus, trotzig, ein wenig beschämt und konnten ihm nicht mehr in die Augen blicken. Auf ein Zeichen des Häuptlings machten sie sich daran, die verstreuten Sachen wieder einzusammeln und zu bündeln und steckten den zerrissenen Mantel mit der herunterhängenden Spange in die Packtasche. Liathan bückte sich nach dem entleerten Medizinkasten, warf Marcus einen raschen Blick zu und schaute wieder beiseite. Sie hatten gegen ihre eigenen Gesetze der Gastfreundschaft verstoßen. Sie hatten zwei Männer gejagt, die ihre Gäste gewesen waren, und hatten den geflügelten Gott trotzdem nicht gefunden. »Kommt mit uns zurück«, sagte der Häuptling. »Kommt mit zurück, daß nicht Schande über unsere Herdfeuer kommt.« Marcus schüttelte den Kopf. »Wir wollen im Süden sein, bevor das Jahr um ist. Geht und spannt euer Netz weiter aus für euren flügellosen, geflügelten Gott. Wir werden daran zurückdenken, daß wir eure Gäste waren, Esca und ich.« Er lächelte. »Das übrige haben wir schon vergessen. Möge eure Jagd diesen Winter reiche Beute bringen!« Als die Stammesleute ihre Ponys herbeigepfiffen hatten, die die ganze Zeit ruhig mit den Zügeln über dem Kopf gewartet hatten, und als sie wieder aufgesessen waren und den Weg, den sie gekommen waren, zurückritten, stand Marcus eine ganze Weile reglos da. Er starrte ihnen nach, als sie durch die Bergschlucht ritten, bis sie zu kleinen Punkten wurden, während seine Hand unbewußt sein aufgeregtes und unruhiges Pferd streichelte. »Wünschst du den Adler auf den Platz zurück, von dem wir ihn geholt haben?« fragte Esca. Marcus starrte immer noch den entschwindenden Punkten nach, die nun fast nicht mehr zu erkennen waren. »Nein«, sagte er. »Wenn er noch an dem Platz wäre, von dem wir ihn geholt haben, wäre er 195
immer noch eine Gefahr für die Grenze – eine Gefahr für andere Legionen. Und es war meines Vaters Adler und nicht ihrer. Sie sollen ihn behalten, wenn sie können. Aber mein Herz wünscht, daß wir nicht Dergdian und seine Schwertbrüder beschämt hätten.« Sie versorgten ihr Gepäck, zogen die Gurte der Pferde an und saßen auf. Bald wurde der See schmaler und die Berge drängten sich heran, so daß sie unmittelbar aus dem Wasser aufzusteigen schienen; und endlich erblickten sie das Dorf, die fernen, zusammengekauerten Torfhütten am Ende des Sees, das Vieh auf den steilen Triften dahinter und den senkrechten blauen Rauch von Herdfeuern, der blaßgrau vor dem dunklen Braun und Rot der Berge aufstieg, die sich über ihnen türmten. »Es wird Zeit, daß mich das Fieber überfällt«, sagte Esca und begann ohne weitere Umstände, mit halbgeschlossenen Augen von einer Seite zur anderen zu schwanken. »Mein Kopf!« jammerte er. »Mein Kopf brennt.« Marcus streckte die Hand aus und übernahm seine Zügel. »Laß dich ein bißchen mehr zusammensacken und schlenkre nicht so hin und her; es ist Fieber und kein Met, der deinen Kopf in Brand gesetzt hat; vergiß das nicht!« sagte er, während er nun beide Pferde führte. Wie üblich strömte ihnen eine Menge Männer, Frauen und Kinder entgegen, als sie ins Dorf kamen, und hier und da riefen ihnen Leute einen Gruß zu und bedeuteten damit auf ihre etwas verhaltene Weise, daß sie sich über ihre Wiederkehr freuten. Esca hing zusammengesunken über Minnas Hals, und Marcus ritt auf den alten Häuptling zu, grüßte ihn mit gebührender Höflichkeit und erklärte ihm, daß sein Diener krank sei und ein paar Tage ausruhen müßte, zwei Tage, höchstens drei. Es sei eine alte Krankheit, die von Zeit zu Zeit wiederkäme und nicht länger dauern würde, wenn man sie richtig behandele. Der Häuptling erwiderte, sie seien als Gäste an seinem Herd willkommen, genauso wie das letztemal, als der Weg sie hier vorübergeführt hatte. Aber Marcus schüttelte den Kopf. »Gib uns einen Platz für uns allein, er kann noch so schlecht sein, wenn er uns 196
nur vor Wind und Regen schützt. Aber er muß möglichst weit von euren Wohnhütten entfernt sein. Die Krankheit meines Dieners wird von Teufeln in seinem Bauch gemacht, und um sie auszutreiben, muß ich einen starken Zauber gebrauchen.« Er machte eine Pause und sah rundum in die fragenden Gesichter. »Der Zauber wird im Dorf keinen Schaden anrichten, aber man kann ihn nicht ungestraft ansehen, wenn man nicht die Zeichen der Abwehr kennt. Darum müssen wir weitab von den Wohnhütten unterkommen.« Sie sahen sich an. »Es ist immer gefährlich, verbotene Dinge anzusehen«, sagte eine Frau, die die Geschichte als etwas Selbstverständliches hinnahm. Sie würden ihnen auf keinen Fall ein Obdach verwehren; Marcus kannte die Gesetze der Stämme. Sie besprachen sich eilig untereinander und kamen endlich zu dem Ergebnis, daß Conns Kuhstall, der jetzt nicht gebraucht wurde, der beste Platz wäre. Conns Kuhstall erwies sich als die übliche Torfhütte, die sich nur dadurch von den Wohnhütten unterschied, daß sie nicht so tief in die Erde eingelassen war und daß sie in der Mitte des getrampelten Lehmbodens keinen Herd hatte. Sie lag ein gutes Stück von den anderen Hütten entfernt und hatte den Eingang an der Seite, so daß man aus der Hütte heraus- und wieder hereinschlüpfen konnte, ohne daß irgendwelche Beobachter vom Dorf es allzu leicht sehen konnten. So weit, so gut. Die Dorfbewohner, die wohl meinten, daß man einen Mann, der Teufel austreiben konnte, am besten gut behandele, taten ihr Bestes für die beiden zurückgekehrten Fremden. Als es dunkel wurde, hatten sie die Pferde versorgt, in der Hütte Lager aus frischem Farn bereitet und einen alten Fellvorhang vor die Tür gehängt; und die Frauen hatten gekochtes Wildschweinfleisch für Marcus und warme Schafsmilch für Esca gebracht, der auf dem Farnlager lag und höchst realistisch stöhnte und phantasierte. Später, als die Tür sorgfältig mit dem Fellvorhang verschlossen war und die Dorfbewohner um ihre eigenen Feuer saßen und ihre Blicke und Gedanken vorsichtig von der abgelegenen Hütte und dem Zauber abwandten, der dort getrieben wurde, sahen sich Marcus und Esca bei 197
dem schwachen Licht an, das von der Muschelschale mit dem ranzigen Seehundöl ausging, in dem der Docht aus Rohr schwamm. Esca hatte den Löwenanteil von dem Fleisch bekommen, denn er brauchte ihn am dringlichsten; und nun hatte er ein paar Stücke geräuchertes Wildfleisch in einen Mantel gerollt und war zum Gehen bereit. Im letzten Augenblick sagte Marcus grimmig: »Oh, dieses verfluchte Bein! Ich müßte eigentlich zurückgehen und nicht du.« Der andere schüttelte den Kopf. »Dein Bein ändert die Sache nicht. Wenn es auch so gesund wäre wie meins, ist es doch besser, schneller und sicherer, wenn ich gehe. Du kannst hier nicht im Dunkeln gehen und kommen, ohne daß die Hunde anschlagen, aber ich kann das. Du kannst nicht über die Pässe finden, die wir erst ein einziges Mal überquert haben. Das kann nur ein Jäger – einer, der als Jäger geboren und aufgewachsen ist, und nicht ein Soldat, der ein bißchen von der Jägerei versteht.« Er langte nach der stinkenden Lampe, die am Deckenbalken hing, und löschte sie aus. Marcus zog den Vorhang ein wenig beiseite und spähte in das weiche Dunkel der Berge. Zu seiner Rechten schimmerte ein Goldstreifen durch eine Ritze im Fellvorhang einer fernen Hüttentür. Der Mond stand hinter den Bergen, und der See war etwas heller als die Dunkelheit ringsum, aber er war glanzlos und matt. »Freie Bahn«, sagte er. »Kannst du den Weg auch bestimmt finden?« »Ja.« »Dann gute Jagd, Esca.« Ein dunkler Schatten schlüpfte an ihm vorbei und verschwand in der Nacht. Marcus war allein. Er stand eine Weile in der Tür des Stalles und lauschte angestrengt, ob irgendein Laut die Stille der Berge zerstörte, aber er hörte nur, wie sich der schnelle Fluß als tosender Wasserfall in den See ergoß, und eine ganze Zeit später röhrte ein Hirsch. Als er sicher war, daß Esca ungehört und ungesehen weggekommen war, ließ er den Vorhang zufallen. Er zündete die Lampe nicht wieder an, sondern saß lange im Stockdunkeln auf dem Farnlager, hatte die Arme um die hochgezogenen Knie geschlungen und grübelte. Sein einziger Trost 198
war die Gewißheit, daß er das Schicksal des Freundes sehr schnell teilen würde, falls Esca etwas zustoßen sollte. Drei Nächte und zwei Tage bewachte Marcus eine leere Hütte. Zweimal am Tag brachte eine Frau mit abgewandtem Gesicht gekochtes Fleisch und frische Schafsmilch, manchmal auch Heringe, einmal eine goldene Honigwabe von wilden Bienen und legte sie in gebührendem Abstand auf einen flachen Stein; Marcus holte sich alles und setzte später die leeren Schüsseln zurück. Nach dem ersten Tag waren nur Frauen und Kinder im Dorf; offensichtlich waren die Männer in den Stammessitz gerufen worden. Marcus überlegte, ob er besser einige Geräusche machen solle, aber dann entschied er, daß Stille wirkungsvoller sei. Also murmelte und stöhnte er nur, wenn er den Eindruck hatte, daß jemand in Hörweite sei, so daß sie denken mußten, in der Hütte wären zwei Menschen, aber sonst verhielt er sich ruhig. Er schlief, wenn er konnte, aber er wagte nicht, viel zu schlafen, denn er fürchtete, daß irgend etwas geschehen konnte, wenn er nicht ständig auf der Hut war. Er saß fast die ganze Zeit, Tag und Nacht, im Eingang und beobachtete durch eine Ritze des Vorhangs die grauen Wasser des Sees und die steilen, felsübersäten Hänge der Berge, die sich so hoch über ihm türmten, daß er den Kopf weit zurücklegen mußte, um ihre ausgezackten Gipfel zu sehen, wo die Nebelfetzen zwischen Bergspitzen und Schrunden hinge n. Der Herbst war in den Bergen beinah über Nacht gekommen, dachte er. Noch vor ein paar Tagen war es sommerlich gewesen, wenn die Heide auch schon verblüht war und die flammenden Vogelbeeren längst verdorrt waren. Aber nun war die Zeit der fallenden Blätter; der Wind brachte den Geruch herüber, die Bäume im Tal wurden kahl, und der brausende Fluß schimmerte golden von gelben Birkenblättern. In der dritten Nacht fuhr bald nach Monduntergang eine Hand ohne ein Zeichen der Warnung über den Fellvorhang vor dem Eingang, und als Marcus in der tiefen Dunkelheit zusammenfuhr, hörte er einen sehr leisen Pfiff: den Pfiff aus zwei Tönen, mit dem er immer Wolf herbeigerufen hatte. Der Vorhang wurde beiseite gezogen, und eine dunkle Gestalt schlüpfte herein. »Alles in Ordnung?« flüsterte Esca. 199
»Alles in Ordnung«, antwortete Marcus, indem er Zunder und Flintstein rieb, um die Lampe anzuzünden. »Und bei dir? Wie war die Jagd?« »Die Jagd war gut«, sagte Esca, als die kleine Flamme aufsprang und stetig wurde, und er bückte sich und legte etwas hin, das in einen Mantel gehüllt war. Marcus schaute es an. »Ist dir irgend etwas zugestoßen?« »Nichts, nur die Uferböschung ist ein bißchen abgebrochen, als ich mit dem Adler hinunterrutschte. Sie muß wohl schon weich gewesen sein – aber es wird wohl niemand verwundern, daß ein Stückchen Ufer abgerutscht ist.« Er setzte sich erschöpft hin. »Hast du irgend etwas zu essen?« Marcus hatte immer die letzte Mahlzeit aufgehoben, die ihm gebracht worden war, und aß sie erst, wenn er die nächste bekam, so daß er ständig eine Mahlzeit in seinem alten Kochtopf bereit hatte. Er holte ihn nun vor, setzte sich hin, legte seine Hand auf das Bündel, das ihm so teuer war, und sah dem anderen beim Essen zu, während er zuhörte, wie Esca die Geschichte der letzten drei Tage leise und bruchstückweise zwischen seinen Bissen erzählte. Esca war ohne große Schwierigkeiten über die Berge gekommen, aber als er beim See der vielen Inseln ankam, hatte der Tag schon gegraut, so daß er sich den ganzen Tag in den dichten Haselwäldern verbergen mußte. Zweimal waren an dem Tag Gruppen von Kriegern dicht an seinem Versteck vorbeigekommen, sie hatten Flechtboote mit und wollten offenbar wie er selbst auf dem kürzesten Weg über den See in die Siedlung. Sie trugen auch ihre Kriegsspeere, sagte er. Sobald es dunkel war, hatte er begonnen, den See zu durchschwimmen. Er war an der Stelle etwas breiter als eine Meile, und auch das war nicht schwierig gewesen. Esca war am anderen Ufer entlanggegangen, bis er zu der Landzunge kam, an der er den Platz wiedererkannte, wo der Adler verborgen lag, hatte ihn gefunden, war wieder ans Ufer gelangt und hatte dabei ein Stück von der Böschung abgebrochen. Dann hatte er den Adler in den nassen Mantel gehüllt, den er sich um die Schultern gewickelt hatte. Er war auf dem gleichen Weg zurückgekehrt, so schnell er konnte, denn in der Siedlung surrte 200
es wie in einem aufgestöberten Bienennest. Fraglos sammelte sich der Stamm. Es war alles ganz einfach gewesen – fast zu einfach. Escas Stimme wurde gegen Ende des Berichtes immer undeutlicher. Er war todmüde, fiel, sobald er mit dem Essen fertig war, auf das Farnlager zurück und schlief ein wie ein Jagdhund nach einem Jagdtag. Aber noch ehe die Sonne am nächsten Tag über den Bergen stand, waren sie wieder unterwegs, denn obgleich sie jetzt frei von Verdacht waren, hatten sie keine Zeit zu verlieren. Die Dorfbewohner hatten sich über Escas plötzliche Wiederherstellung nicht überrascht gezeigt, wenn sich die Teufel nicht mehr im Bauch des Mannes befanden, war er ihrer Meinung nach wieder gesund. Sie hatten den beiden mehr von dem dauerhaften geräucherten Fleisch mitgegeben und außerdem einen Jungen – einen wilden, finster dreinblickenden Burschen, der zu jung für das Stammestreffen und deswegen wütend war -, der sie ein Stück Weges bringen sollte. Sie hatten ihnen gute Jagd gewünscht und sie ziehen lassen. Der erste Tag war sehr mühsam; sie konnten nicht dem ebenen Ufer eines Sees folgen, sondern mußten steil nordwärts in die Berge hinaufsteigen, wandten sich dann ostwärts – soweit man überhaupt eine Richtung einhalten konnte – über enge Pässe zwischen steilen, mit Heidekraut überzogenen schwarzen Felsen, zogen lange Bergkämme entlang und überquerten kahle Grate, die aussahen wie das Dach der Welt, bis sich endlich das Land nach Süden zu senkte und sie auf den weiten Hang gelangten, der in der Ferne in das Sumpfland des Cluta überging. Hier trennte sich der Junge von ihnen; er wollte das Nachtlager nicht mit ihnen teilen und schlug sogleich den Weg ein, den sie gekommen waren, unermüdlich wie eine Bergziege in ihren Bergen. Sie sahen ihn gehen, leicht, ohne Eile, mit dem langen, schwingenden Schritt des Bergsteigers. So würde er die ganze Nacht weitergehen und vor der Morgendämmerung zu Hause sein, nicht einmal sehr müde. Marcus und Esca stammten beide aus den Bergen, aber das hätten sie beide nicht geschafft, nicht in diesen Felsen und Pässen. Nachdem sie einen letzten Blick auf den Cruachan geworfen hatten, wandten sie sich um und strebten nach Süden, auf 201
geschützteres Land zu, denn wieder lag Sturm in der Luft, kein Gewitter dieses Mal, aber Wind – Wind und Regen. Nun, das war nicht so schlimm; das Schlimmste, was kommen konnte, war Nebel, und den würde ein Herbststurm wenigstens vertreiben. Nur ein einziges Mal in seinem Leben war Marcus das Wetter so wichtig gewesen wie jetzt: an dem Morgen in Isca Dumnoniorum, als sie angegriffen wurden und das Rauchsignal nicht aufsteigen wollte. Beim letzten Abendlicht gelangten sie zu den Ruinen eines Brochs, eines jener seltsamen wabenartigen Türme, von einem vergessenen Volk erbaut, der wie ein Falkenhorst am äußersten Ende der Welt ragte. Hier schlugen sie ihr Lager auf und hatten als Gesellschaft nur das Skelett eines Wolfes, das von Raben blankgepickt war. Sie hielten es für besser, kein Feuer zu machen, banden den Pferden nur die Vorderfüße zusammen, sammelten Farn für ein Lager, füllten ihren Kochtopf an dem Bergbach, der durch sein enges Bett herunterstürzte, und setzten sich mit dem Rücken gegen die zerbröckelnden Steine des Eingangs, um ihre ledrigen Streifen Trockenfleisch zu essen. Marcus streckte sich dankbar aus. Sie hatten einen anstrengenden Tagesmarsch hinter sich; fast den ganzen Tag war es eine mühsame Kletterei gewesen, bei der sie Vipsania und Minna führen mußten, und sein lahmes Bein schmerzte ihn furchtbar, obwohl Esca ihm immer geholfen hatte. Es tat gut zu liegen. Zu ihren Füßen verlor sich nach Süden zu eine Hügelkette hinter der anderen in die blaue Ferne, in der tausend Fuß unter ihnen und vielleicht zwei Tagesmärsche weit die alte Grenze Valentia von der Wildnis trennte. Der nördliche Teil des tief unten liegenden Sees spiegelte ihnen durch die dunklen Kiefern die Flammen des Sonnenuntergangs zu; und Marcus grüßte den See wie einen alten Freund, denn Esca und er waren vor fast zwei Monaten auf ihrem Weg nach Norden an seinen Ufern entlanggezogen. Jetzt lag ein gerader Weg vor ihnen; sie brauchten nicht mehr kreuz und quer zwischen Seen und nebelumhüllten Bergen herumziehen, dachte er. Dennoch wurde er ein gewisses abergläubisches Gefühl nicht los, daß alles zu einfach gewesen sei – er hatte eine dunkle Ahnung, daß ihnen 202
noch etwas bevorstand. Der Sonnenuntergang schien seine Stimmung wiederzugeben. Ein höchst prächtiger Sonnenuntergang, der ganze Himmel schien in Brand zu sein, und hoch oben fingen zerrissene, jagende Windwolken das Licht auf und wurden zu großen Flügeln aus Gold, die sich in feuriges Scharlachrot verwandelten, während Marcus in den Himmel schaute. Stärker und stärker wurde das Licht, bis der Westen ein Feuerofen war, eingefaßt von einem roten Wolkensaum, bis die ganze Welt zu glühen schien und der steil ansteigende Bergrücken weit hinter dem See tiefrot brannte wie verschütteter Wein. Der ganze Sonnenuntergang verkündete drohend das nahe Unwetter, Wind und Regen und vielleicht noch mehr. Plötzlich war es Marcus, als sei das Dunkelrot jenes fernen Bergrückens nicht Wein, sondern Blut. Er schüttelte sich ungeduldig und schalt sich einen Narren. Er war müde, und Esca und die Pferde waren ebenso müde, und ein Sturm zog auf. Das war alles. Es war gut, daß sie einen geschützten Platz für die Nacht gefunden hatten; mit etwas Glück würde das Unwetter bis zum Morgen vorüber sein. Plötzlich fiel ihm ein, daß er den Adler überhaupt noch nicht angesehen hatte. In dem Dorf, aus dem sie heute morgen aufgebrochen waren, hatte er es lieber nicht tun wollen; aber jetzt… Er lag neben ihm, und kurz entschlossen nahm er das Bündel und fing an, es auseinanderzurollen. Als er den Mantel auffaltete, wurden seine dunklen Falten vom Sonnenuntergang glänzender und verwandelten sich von Violett zu warmem Kaiser-Purpur. Die letzte Hülle fiel, und er hatte den Adler in der Hand, kalt, schwer, im Sonnenuntergang rotgolden brennend. »Gut so!« sagte er leise. Er gebrauchte das Wort, mit dem er einen Sieg in der Arena gepriesen hätte, und sah zu Esca auf. »Es war eine gute Jagd, Bruder.« Aber Esca starrte mit geweiteten Augen auf eine Ecke des Mantels, die vor ihm lag, und antwortete nicht; als Marcus auf die gleiche Stelle schaute, sah er, daß das Tuch an der Ecke zerrissen und ausgefranst war. »Die Spange!« sagte Esca. »Die Spange!« Während Marcus den Adler noch im Arm hielt, schüttelte er den Mantel hastig hin und her, aber er wußte, daß es sinnlos war. Die Spange hatte an der Ecke 203
gesessen. Plötzlich erinnerte er sich, nun, da es zu spät war, mit äußerster Klarheit an die Szene am Seeufer, an die drohenden Gesichter der Stammesleute, die sie umstanden, an ihre Habseligkeiten, die auf dem Gras verstreut waren, an den Mantel, mit dem sie in ihrer Wut so roh umgegangen waren, daß die Spange herunterhing. Er war ein Narr, daß er das vollkommen vergessen hatte; und Esca hatte es offenbar auch vergessen. »Sie kann irgendwann abgefallen sein – vielleicht sogar, als du im Wasser warst«, sagte er. »Nein«, entgegnete Esca langsam. »Sie schlug auf die Kieselsteine, als ich den Mantel fallen ließ, bevor ich nach dem Adler tauchte.« Er rieb sich die Stirn mit dem Handrücken, als er sich an alles erinnerte. »Als ich den Mantel wieder aufhob, verhakte er sich einen Augenblick in einer Erlenwurzel; du weißt doch, wie die Erlen dort bis ans Wasser heranwachsen. Jetzt weiß ich es wieder, aber damals bemerkte ich es kaum.« Er ließ seine Hand sinken, und sie saßen sehr still und schauten sich starr an. Es war eine wertlose bronzene Spange gewesen, aber sie hatte ein ungewöhnliches Muster, und die Stammesleute hatten bestimmt oft gesehen, daß Demetrius von Alexandrien sie trug. Außerdem steckte, nach dem Zustand des Mantels zu urteilen, wahrscheinlich noch ein Stück violettes Tuch in ihr, und das würde ihrem Gedächtnis nachhelfen. Marcus brach als erster ihr Schweigen. »Wenn sie sie finden, wissen sie, daß einer von uns zurückgekommen ist, nachdem sie uns durchsucht hatten, und dafür gibt es nur einen einzigen Grund.« Beim Sprechen fing er an, den Adler wieder sorgfältig einzuwickeln. »Wenn sie mit den Kriegern in dem Dorf sprechen, aus dem wir heute kamen, werden sie hören, daß ich es war, der zurückging«, sagte Esca hastig, aber stockte dann. »Nein, das nützt auch nichts, denn sie werden sich denken, daß du davon wußtest… Hör, Marcus. Du mußt allein weiter. Wenn du Vipsania nimmst und gleich aufbrichst, kannst du davonkommen. Ich will mich ihnen in den Weg stellen. Ich erzähle ihnen, daß wir uns wegen des Adlers gestritten haben; wir haben da 204
unten am Ufer gekämpft, und du bist in den See gefallen und der Adler mit dir.« »Und Vipsania?« fragte Marcus, dessen Hände immer noch mit dem Einwickeln beschäftigt waren. »Und was werden sie mit dir tun, wenn du ihnen diese Geschichte erzählt hast?« Esca erwiderte, ohne zu zucken: »Sie werden mich töten.« »Tut mir leid, aber ich halte nicht viel von deinem Plan«, sagte Marcus. »Du darfst den Adler nicht vergessen«, drängte Esca. Marcus machte eine rasche, ungeduldige Geste. »Der Adler wird keinen sinnvollen Zweck mehr haben, wenn wir ihn nach Hause bringen. Das weiß ich nur zu gut. So lange er nicht wieder den Britanniern in die Hände fällt und als Waffe gegen Rom dienen kann, liegt er ebensogut in einem caledonischen Sumpf wie auf einem römischen Schutthaufen. Wenn es zum Schlimmsten kommt, werden wir schon einen Weg finden, um den Adler loszuwerden, bevor sie uns ergreifen.« »Dann kommt es mir seltsam vor, daß du so ein wertloses Ding nicht längst in einen See geworfen hast. Warum dann all die Mühe, ihn nach Süden zu bringen?« Marcus zog eben die Beine unter sich hoch, aber er hielt einen Augenblick an und schaute Esca in die Augen. »Um einer Idee willen«, sagte er. Er erhob sich mit steifen Gliedern. »Wir haben dies zusammen angefangen, und wir werden es zusammen ausfechten oder gar nicht. Vielleicht dauert es Tage, bis sie diese verfluchte Spange finden, trotzdem sollten wir versuchen, Valentia so schnell wie möglich zu erreichen.« Esca sagte nichts und stand auch auf. Es gab nichts mehr zu sagen, und er wußte es. Marcus sah rasch zu den wilden Wolken auf, die dahinjagten wie vom Sturm getriebene Vögel. »Wieviel Zeit haben wir, bis der Sturm ausbricht?« Der andere schien das Wetter zu riechen. »Auf alle Fälle genug, um ans Seeufer zu kommen; da unten in den Kieferwäldern wird es etwas 205
windgeschützt sein. Vielleicht schaffen wir heute nacht noch ein paar Meilen.«
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Die wilde Jagd Zwei Tage später lag Marcus morgens lang ausgestreckt in einer Mulde der Hügel im Tiefland und sah durch die Blätter des Farnkrauts nach unten. Graues und gelbbraunes Sumpfland lag unter ihm, erstreckte sich bis zu den blauen Höhen Valentias im Süden, und durch die Ebene wand sich der silberne Cluta, der sich im Westen zu seiner Bucht weitete. Hier kauerte sich Are-Cluta, einst eine Grenzstadt und immer noch Treffpunkt und Marktstadt für alle benachbarten Stämme, hinter Torfwällen am nördlichen Ufer zusammen. Auf dem Fluß lagen Flechtboote, die aus der Ferne wie winzige Wasserkäfer aussahe n. Ein oder zwei größere Schiffe mit eingezogenen blauen Segeln lagen unterhalb der Siedlung vor Anker, und der Rauch von vielen Herdfeuern stieg in einen hohen grauen Himmel; einen Himmel, der nach dem Herbststurm vor Erschöpfung freundlich war, dachte Marcus, als er so dalag und an die beiden letzten Tage zurückdachte wie an einen wüsten Traum. Der Sturm war gegen Mitternacht über sie hereingebrochen, der wilde Westwind, der von den Berggipfeln auf sie niederfuhr wie ein böses Wesen, das sie vernichten wo llte, der die Wasser des Sees zu tobenden Schaumkronen peitschte, der den scharfen, beißenden Regen vor sich hertrieb, der sie bis auf die Haut durchtränkte. Sie hatten den größten Teil der Nacht damit verbracht, mit zwei erschreckten Pferden unter einem hohen, überhängenden Felsen durchzukriechen, während Wind und Regen und Dunkelheit sie von allen Seiten tosend umgaben. Gegen Morgen hatte der Sturm ein wenig nachgelassen, und sie waren weitergezogen, bis Mittag längst vorüber war und sie eine geschützte Höhle unter dem Stamm einer entwurzelten Kiefer gefunden hatten. Sie hatten die Pferde an den Knöcheln zusammengebunden, waren unter die großen, in die Luft ragenden Wurzeln gekrabbelt und hatten geschlafen. Als sie aufwachten, war es Nacht, und der Regen fiel leise, der Wind ließ nach, er seufzte und stöhnte noch in den Kiefern, aber er schlug nicht mehr nach ihnen wie ein lebendiges Wesen. Sie hatten den Rest des geräucherten Fleisches gegessen und sich durch den verebbenden Sturm weitergekämpft, bis sie endlich bei 207
Tagesanbruch in der Stille nach dem Sturm hier in den Hügeln über dem Cluta haltgemacht hatten, während die nassen Eichenwälder beim Gesang von Buchfink, Rotkehlchen und Zaunkönig erwachten. Sobald es hell geworden war, war Esca nach Are-Cluta aufgebrochen, um die Pferde zu verkaufen. Die Trennung fiel ihnen allen schwer, denn sie waren in den letzten Monaten gute Freunde geworden, Marcus und Vipsania, Esca und Minna; und die Pferde hatten deutlich gespürt, daß es ein Abschied für immer war. Es war ein Jammer, daß sie sie nicht behalten konnten, aber mit dem alten Brandzeichen der Kavallerie im Nacken waren sie leicht zu erkennen, und so blieb ihnen nichts weiter übrig, als sie gegen andere einzuhandeln. Aber wenigstens würden sie gute Herren bekommen, denn die Britannier liebten ihre Pferde und ihre Hunde, sie verlangten viel von ihnen, so wie sie von sich selbst viel verlangten, aber sie behandelten sie wie Glieder ihrer Familie. Es würde Vipsania und Minna gutgehen, redete Marcus sich energisch ein. Er streckte sich aus. Es war gut, hier im weichen Gras am Waldrand zu liegen, zu fühlen, wie die Tunika am Leibe trocknete, und das schmerzende Bein auszuruhen. Es war gut zu wissen, daß ihre Verfolger sie zwar noch einholen, aber ihnen nicht mehr den Weg abschneiden konnten. Doch wie stand es um Esca da unten in der Siedlung? Immer war es Esca, der mehr tun mußte, der mehr aufs Spiel setzte. Es konnte nicht anders sein, denn Esca, der Britannier, konnte unbemerkt durchkommen, wo Marcus mit seiner olivenfarbigen Haut, seinem dunklen Aussehen, sofort überall Verdacht erregen würde. Er wußte das, aber es versetzte ihn trotzdem in Wut; all seine Erleichterung schwand dahin, und als der Morgen sich mehr und mehr hinzog, wurde er immer unruhiger. Ihn überfiel eine furchtbare Angst. Was ging da unten vor? Warum blieb Esca so lange? Hatte die Nachricht von dem gestohlenen Adler Are-Cluta vor ihnen erreicht? Es war beinah Mittag, als Esca plötzlich im Tal unten auftauchte; er ritt auf einem zottigen, mausgrauen Pony und hatte ein zweites neben sich laufen. Marcus atmete erleichtert auf, und als der andere zu seinem Versteck aufblickte, teilte er das Farnkraut und hob eine Hand 208
zum Gruß. Esca grüßte zurück, und gleich darauf war er bei Marcus in der Mulde und ließ sich völlig erschöpft von dem zottigen Tier fallen. »Sollen diese moosgesichtigen Dinger Ponys sein?« fragte Marcus interessiert, während Esca sich herumrollte und hinsetzte. Esca war mit dem Bündel beschäftigt, das er von einem Pony genommen hatte. Für einen Augenblick zuckte sein langsames, ernstes Lächeln um die Mundwinkel. »Der Mann, der sie mir verkaufte, hat geschworen, daß sie aus den Ställen des Großkönigs von Irland stammen.« »Bist du vielleicht darauf hereingefallen?« »O nein«, sagte Esca. Er hatte die Zügel der beiden Ponys über einen niedrigen Ast geworfen und setzte sich mit dem Bündel zu Marcus. »Ich erzählte dem Mann, dem ich unsere Pferde verkaufte, daß sie aus den Ställen der Königin Cartimandua stammten. Er glaubte mir genausowenig.« »Es waren tüchtige Viecher, woher sie auch stammen mochten. Hast du einen guten Herrn für sie gefunden?« »Ja, und denselben Herrn für beide; einen Mann wie ein Fuchs, aber einen mit einer guten Hand. Ich erzählte ihm, daß mein Bruder und ich uns nach Irland einschiffen wollten. Das war ein guter Grund, die Pferde zu verkaufen, und falls ihn jemals irgend jemand fragen sollte, kann das sie auf eine falsche Spur bringen. Wir handelten eine ganze Zeit, denn die Pferde waren beinah am Zusammenbrechen. Ich mußte deshalb eine lange Geschichte mit Wölfen erfinden, und natürlich behauptete er, sie wären überanstrengt, was bestimmt eine Lüge war. Aber schließlich handelte ich für sie eine schöne Decke aus Seehundfell, zwei Kriegsspeere mit Emailarbeit, einen bronzenen Kochtopf und ein Ferkel ein. Oh, und drei schöne Armreifen aus Bernstein.« Marcus warf seinen Kopf in einem Lachanfall zurück. »Was hast du mit dem Ferkel gemacht?« »Es war ein kleines schwarzes Ferkel, das furchtbar quiekte«, sagte Esca nachdenklich. »Ich ve rkaufte es für dieses an eine Frau.« Er hatte beim Sprechen das Bündel aufgeschnürt und holte nun einen 209
grobgewebten Kapuzenmantel hervor, der früher einmal rot und blau kariert gewesen sein mochte, jetzt aber so beschmiert und verblichen war, daß er lehmfarben wirkte. »Auch eine Kleinigkeit kann das Aussehen einer ganzen Gesellschaft verändern – mindestens von weitem… Und für getrocknetes Fleisch. Hier ist es. Dann ging ich wieder auf den Pferdemarkt und kaufte diese beiden mit ihrem Zaumzeug für die Kriegsspeere und alles andere. Der Mann hat einen günstigen Tausch gemacht; möge er ihm schlecht bekommen! Aber ich konnte es nicht ändern.« »Wir können in unserer Lage nicht allzuviel feilschen«, stimmte Marcus mit vollem Mund zu. Sie aßen inzwischen beide. »Ich hätte dich zu gern mit dem Ferkel gesehen«, fügte er gedankenverloren hinzu. Keiner von beiden verschwendete Zeit für weitere Worte. Sie aßen schnell und nicht zu viel, da sie nicht wußten, wie lange sie mit ihrem Vorrat reichen mußten; um die Mittagsze it hatten sie ihre wenigen Habseligkeiten in dem gelben Packtuch verstaut, die Satteldecken aus Schafleder über die Rücken ihrer zottigen kleinen Ponys geworfen, die Gurte strammgezogen und waren wieder unterwegs. Marcus trug den Mantel, den Esca für das schwarze Ferkel eingehandelt hatte. Er zog sich die Kapuze tief in die Stirn, denn er hatte den handförmigen Talisman abgelegt, der jetzt zu auffällig gewesen wäre; und unter dem schmierigen, übelriechenden Mantel trug er den verlorenen Adler. Er hatte ein paar Streifen von dem Mantel abgerissen, und daraus eine Art Schlinge gemacht, in der der Adler hing, um beide Hände frei zu haben; aber beim Reiten trug er ihn in der Beuge des Zügelarmes. Sie schlugen einen weiten Halbkreis um Are-Cluta und erreichten den Fluß wieder an der Stelle, wo er in südöstlicher Richtung nach Valentia hineinfloß. Ihr Rückweg war ganz anders als der Hinweg. Damals waren sie frei von Dorf zu Dorf gezogen und hatten jeden Abend ein Mahl und ein Nachtlager an einem Herd gefunden. Nun waren sie Flüchtlinge, die tagsüber in einem versteckten Tal lagen, bei Nacht nach Süden zogen und hinter denen die Jagd her war. Seit drei Tagen hatte nichts mehr darauf hingedeutet, daß sie verfolgt wurden, 210
aber sie wußten es trotzdem in ihrem Innern. Und sie zogen unentwegt weiter, während sie beständig lauschten, ob hinter ihnen etwas zu hören war. Sie kamen gut voran, denn die Ponys waren, wenn sie auch nicht schön aussahen, in den Bergen aufgewachsen und tüchtige kleine Tiere. Sie waren so zäh wie Peitschenschnur und so sicher auf den Beinen wie Geißen, und Marcus und Esca konnten sie lange Strecken reiten. Sie wußten, daß sie die Ponys vielleicht jeden Augenblick laufenlassen mußten, um zu Fuß durch die Heide zu gehen. Daher ritten sie nun in verzweifelter Hast, damit sie so weit wie möglich in den Süden kamen. Am vierten Abend waren sie wieder auf dem Weg, nachdem sie den Tag in einem Dickicht aus Dornbüschen gelegen hatten. Die Düsternis senkte sich unter einem tiefen grauen Himmel nieder. In den Niederungen hinter ihnen dämmerte es schon, aber hier oben in den Hochmooren hing noch das Tageslicht und wurde von den vielen kleinen silbrigen Bergseen zwischen der braunen Heide zurückgeworfen. »Noch drei Tage«, sagte Marcus plötzlich. »Drei Tage sind es noch, schätze ich, bis wir am Wall sind!« Esca wandte sich um, um zu antworten, und dann warf er plötzlich seinen Kopf mit einem Ruck hoch, als ob er etwas höre. Gleich darauf hörte Marcus es auch, sehr schwach und weit in der Ferne: ein Hund, der anschlug. Sie hatten den höchsten Punkt eines langen Hochmoorrückens erreicht, und als sie zurückblickten, sahen sie eine Menge dunkler Flecke, die über einen niedrigeren Bergrücken hinter ihnen kamen; weit weg noch, aber nicht so weit weg, daß man sie nicht erkennen konnte. Es waren Männer auf Ponys und viele Hunde. Und in diesem Augenblick schlug ein zweiter Hund an. »Ich habe mich zu früh gefreut«, meinte Marcus, und er hörte selbst, wie sich seine Stimme merkwürdig überschlug. »Sie haben uns entdeckt«, sagte Esca, dem das Lachen in der Kehle steckenblieb. »Jetzt jagen sie uns, um Rache zu nehmen. Reite, verfolgter Bruder!« Und noch während er sprach, sprang sein kleines Pony unter dem Druck seiner Schenkel schnaubend los. 211
Marcus spornte gleichzeitig sein eigenes Pony zu einem wilden Galopp an. Die Tiere waren ziemlich frisch, aber die beiden Flüchtigen wußten, daß es im offenen Land nur eine Frage der Zeit war, bis sie von den besser berittenen Stammesleuten eingeholt und von den bellenden Hunden wie von einem Wolfsrudel gestellt waren. Und von der gleichen Überlegung getrieben änderten sie ihre Richtung ein wenig und ritten auf das höher gelegene Land vor ihnen zu; es schien hügeliges Land zu sein, in dem sie vielleicht ihre Verfolger abschütteln konnten. »Wenn sie uns bis zum Dunkelwerden nicht eingeholt haben«, schrie Esca gegen die trommelnden Hufe und den Wind an, »dann könnten wir ihnen in den Schluchten da drüben entkommen.« Marcus antwortete nicht, sondern ritt, wie er nie in seinem Leben geritten war. Die dunkle Heide schnellte unter den hämmernden Hufen seines Ponys zurück, die langen, harten Haare der Mähne schlugen auf seine Handgelenke, und der Wind sauste ihm in den Ohren. Für einen kurzen Augenblick zuckte in ihm eine unbändige Freude an der Schnelligkeit auf, jenes wogende Hochgefühl des Lebens, das er einst für immer verloren geglaubt hatte. Der Augenblick verflog, schnell wie der sausende Flug eines Eisvogels. Er ritt um sein Leben, verfolgt von der dunklen, laut schreienden Meute, und er war aufs äußerste bemüht, versteckte Hindernisse zu vermeiden, die Erdwälle und Aststümpfe und Heidebüschel, über die er stürzen könnte, und gleichzeitig packte ihn ein wilder Zorn, weil er mit seinem rechten Knie keinen Halt finden konnte und weil er wußte, daß er vorn über den Kopf des Ponys stürzen würde, wenn es in diesem fliegenden Galopp strauchelte. Weiter und weiter rasten sie, bald an einem rohrumstandenen Hochlandteich entlang, bald um ein Stück Sumpfland herum, das im schwindenden Licht hellgrün schimmerte; hügelauf, hügelab, durch bronzene Fluten verwelkender Heide, schreckten hier eine Schar Regenpfeifer auf, dort einen einzelnen Brachvogel aus dem hohen Gras, und ständig kamen die Verfolger hinter ihnen näher. Marcus hörte durch den Hufdonner, wie die Hunde anschlugen, immer näher; aber zum Zurückschauen war keine Zeit. 212
Weiter und weiter. Nun wurden die Ponys müde. Marcus fühlte die Flanken seines Tieres beben, Schaum flog aus seinem Maul und bespritzte ihn. Er beugte sich tief über den schwitzenden Hals, spornte es mit den Schenkeln an und trieb es mit aller Gewalt vorwärts, obwohl das arme Tier so verängstigt war, daß es ohnehin hergab, was es konnte, denn es wußte ebenso gut wie sein Reiter, was der Lärm hinter ihm bedeutete. Das Land stieg nun an, und das Licht schwand mehr und mehr. Die kleinen Bergtäler und die Haselwälder rückten nahe heran; aber auch die Jagd kam näher. Als Marcus einen raschen Blick über die Schulter warf, sah er die rasenden Schatten von Reitern und tief geduckt rennenden Hunden, die im Zwielicht nur undeutlich zu erkennen waren. Jetzt rasten sie über das offene Grasland, und der erste Hund war nur knapp einen Bogenschuß entfernt. Fast am Ende ihrer Kräfte, den Lärm der wilden Jagd in den Ohren, kämpften sie sich verzweifelt über den Kamm eines neuen Bergrückens und sahen in der Dämmerung unter sich den schmalen Strich eines fließenden Gewässers. Ein sehr schwacher, unerwarteter Duft trieb ihnen entgegen, ein süßer schwerer Duft wie von Moschus, und Esca stieß einen Laut aus, der halb Lachen, halb Schluchzen war. »Hinunter zum Fluß, bevor sie über dem Berg sind, dann können wir ihnen vielleicht entkommen.« Marcus wußte nicht genau, was der andere meinte, aber er vertraute darauf, daß Esca die Wildnis besser kannte als er, und preßte seine Schenkel wieder und wieder in die bebenden Flanken seines Ponys und trieb es zum Letzten und Äußersten an. Zitternd und schwitzend, mit blutbeflecktem Schaum vor dem Maul, jagte es in rasender, äußerster Geschwindigkeit dahin. Nacken an Nacken stürzten sie durch das hohe Farnkraut, und der Moschusduft wurde jeden Augenblick stärker; abwärts, abwärts, auf die niedergetrampelte Mulde am Fluß zu, aus der bei ihrem Nahen zwei kämpfende Tiere mit großen Geweihen ausbrachen und das Tal hinunter raschelten. Esca war schon von seinem Pony herunter und in der moschusduftenden Mulde, wo eben noch zwei große Hirsche um die Herrschaft über das Rudel gekämpft hatten, als Marcus sich von dem 213
seinigen halb warf, halb hinabfiel. Esca stützte ihn mit dem Arm, noch ehe er ganz auf der Erde war. »Ins Wasser, schnell!« keuchte Esca, während die beiden Ponys angstschnaubend und reiterlos in der Dunkelheit verschwanden. Sie krochen durch das Erlengestrüpp und rutschten kopfüber die Böschung hinunter, Marcus auf Escas Arm gestützt, und ließen sich in das eiskalte, schnellfließende Wasser gleiten, als gerade die erste Welle der Verfolger über den Hang kam. Als sie unter die überhängende Uferböschung krochen, hörten sie die Ponys in wilder Flucht stromabwärts jagen, sie hörten, wie ihre Verfolger auf sie zufegten, wie sie anhielten, hörten das Gebell und das Getrampel und den plötzlichen Lärm von Stimmen, und sie duckten sich tiefer, so daß das Wasser ihnen fast in die Nase drang. Es kam ihnen wie eine Ewigkeit vor, daß sie sich so duckten, daß sie den Aufruhr unmittelbar über ihren Köpfen hörten und daß sie beteten, die Dämmerung möchte die Spuren verwischen, die sie bei ihrem schnellen Abstieg durch das Erlengestrüpp hinterlassen hatten, und die Hunde, die auf Pferde angesetzt waren, möchten nicht die Fährte von Menschen aufnehmen und verfolgen. Aber in Wirklichkeit konnte es nur ein kurzer Augenblick gewesen sein, bis ein triumphierender Schrei ihnen verriet, daß ihre Verfolger die wild fliehenden Ponys entdeckt hatten. Die Hunde jagten schon bellend der frischen Fährte von Hirschen oder Ponys oder von beiden nach. Wieder ertönten Rufe und Pferdegetrampel und das schrille, aufgeregte Wiehern eines Pferdes, und so schnell und rätselhaft, wie ein Alptraum sich löst, waren Männer, Hunde und Pferde mit lautem Geschrei hinter den fliehenden Schatten her. Ein wenig weiter unten machte das Tal eine Biegung, so daß die beiden, die sich unter die Böschung duckten und ihnen angespannt nachstarrten, ihre Verfolger voll ins Blickfeld bekamen; sie sahen sie schattenhaft das in Dunkel gehüllte Tal hinunterfegen, während mit jedem Schlag der fliegenden Hufe der Lärm schwächer und schwächer wurde. Sie waren schnell gekommen, vorüber und fort, als seien sie die wilde Jagd, die hinter den Seelen der Menschen her ist. 214
Die Dunkelheit verschluckte sie; der Nachtwind trug das letzte langgezogene Heulen eines Hundes herüber, und das war alles. Kein Laut mehr als der Ruf eines Brachvogels irgendwo und das rasende Pochen ihrer eigenen Herzen. Esca stand schnell auf. »Sie werden eine ganze Weile sausen wie der Wind«, meinte er. »Ohne uns und erschreckt wie sie sind; aber es wird nicht allzulange dauern, bis sie sie eingeholt haben, und dann werden sie zurückkommen, um uns zu suchen, darum laß uns hier so schnell wie möglich wegkommen.« Marcus prüfte, ob der Adler noch fest in seiner Schlinge saß. »Ich mache mir Kummer wegen der Ponys«, sagte er. »Denen wird nichts geschehen, wenn sie nicht überanstrengt sind. Die Hunde sind Jagdhunde, die dazu erzogen sind, eine Beute zu stellen und nicht zu töten, bevor sie den Befehl dazu bekommen. Auf uns hätte man sie wohl zum Töten angesetzt, aber diese Jäger töten niemals mutwillig ein Pferd; sonst müßte ihr Stamm schon anders sein als alle anderen Stämme Britanniens.« Esca hatte beim Sprechen unter die Böschung gelangt und holte nun mit einem zufriedenen Grunzen seinen Speer hervor. »Wir bleiben besser eine Weile am Fluß, damit unsere Fährte sich verliert«, sagte er und stützte Marcus mit einer Hand. Es kam ihnen vor, als müßten sie sich endlos lange stromaufwärts kämpfen; bald wateten sie knietief durch flache Stellen, bald tauchten sie bis zu den Hüften in den kalten, starken Fluß. Jeder einzelne Schritt vorwärts war ein harter Kampf gegen die Strömung des Flusses und den nachgebenden Grund und ein Kampf um Zeit; ständig lauschten sie mit äußerster Spannung, ob nicht das Bellen eines Hundes das leise Rauschen des Flusses durchdränge. Es war jetzt ganz dunkel, denn der Mond war hinter tiefhängenden Wolken versteckt; die Berge stiegen dunkel rings um sie auf und schlossen sie ein. Der Fluß führte sie nun weit nach Osten, sie konnten ihm ohnehin nicht zu lange folgen. So krabbelten sie schließlich aus dem Wasser, als ein enges Seitental nach Süden ging, bis auf die Knochen durchgefroren und dankbar, daß sie den eisigen Fluß hinter sich lassen konnten. Sie schüttelten sich wie die Hunde, wrangen so 215
viel Wasser wie möglich aus ihren Kleidern und machten sich wieder auf den Weg. Nachdem sie einen steilen Hang überquert hatten, waren sie gleich in einem anderen Tal, in dem Haselsträucher und Vogelbeerbäume wuchsen und durch das sich brausend und schäumend ein anderer Bach ergoß. In diesen Bergen gab es wirklich keinen Ort, an dem man nicht ein Wasser rauschen hörte. Sie stolperten endlich in eine ausgezackte Kuhle, die der letzte Regen ausgewaschen hatte, sie fielen mehr oder weniger hinein und saßen dann eng aneinandergekauert, um sich gegenseitig zu wärmen, um Atem zu schöpfen und zu überlegen, was sie tun sollten. Die wenigen Vorräte, die sie noch gehabt hatten, waren mit den Ponys verschwunden, und von nun an mußten sie mit leerem Magen weiter, weil sie sicher nicht unterwegs haltmachen und Fallen stellen konnten. Sie waren immer noch mindestens zwei volle Tagesmärsche von der nächsten Stellung am Wall entfernt und mußten den Weg zu Fuß durch eine unbekannte Gegend machen, während ihnen die wilde Jagd dauernd auf den Fersen war. Alles in allem waren das nicht gerade rosige Aussichten. Marcus saß und rieb sich sein Bein, das furchtbar weh tat, und schaute durch das dunkle Haselgestrüpp auf das weiße Wasser. Das Gefühl, gejagt zu werden, lastete schwer auf ihm, und er wußte, daß es Esca nicht anders ging. Selbst das Land um sie herum schien jetzt etwas Feindliches und Bedrohliches zu haben, als seien nicht nur Menschen hinter ihnen her, sondern als jage und verfolge sie das ganze Land, als umzingelten die dunklen Berge sie wie ein Jagdwild. Und dennoch hatte sich die Wildnis heute nacht einmal als ihr Freund gezeigt, sagte er sich, indem sich im Augenblick ihrer höchsten Not zwei kämpfende Hirsche zwischen sie und ihre Verfolger gestellt hatten. Sie gönnten sich noch eine kurze Ruhepause, bevor sie weiterzogen; aber sie wagten nicht, lange zu rasten, weil sie noch vor dem Morgengrauen viel weiter von der Stelle weg sein mußten, wo sie an den Fluß gekommen waren, und weil sie ein besseres Versteck brauchten. Marcus seufzte und wollte gerade aufstehen, als er merkte, 216
daß Esca plötzlich neben ihm erstarrte; dann hörte auch er, lauter als das Rauschen des Wassers, daß irgend jemand oder irgend etwas sich unten im Tal bewegte. Marcus duckte sich zusammen und lauschte regungslos mit erhobenem Kopf auf die Geräusche, die sich ihnen näherten. Merkwürdige, unerklärliche Geräusche waren es, die von einem Mann oder mehreren kommen konnten, ein Schurren und Rascheln in den Haselsträuchern. Langsam kam es durch das Tal auf sie zu, während sie ohne sich zu regen in ihrem Versteck hockten, näher und näher kam es, bis es unmittelbar über ihren Köpfen zu sein schien. Und Marcus, der durch den Vorhang aus Hasel- und Erlenzweigen schaute, erkannte einen bleichen Schatten und einen dunklen. Sie hatten alles andere erwartet als das freundliche Bild eines Mannes, der eine Kuh trieb. Zudem pfiff der Mann ganz leise durch die Zähne, als er die Böschung entlangging, so leise, daß sie die Melodie erst erkannten, als er ein paar Fuß entfernt war. Eine vertraute Melodie. »Und als ich zu den Adlern kam – es geht mir um und um – küßt ich, bevor ich Abschied nahm ein Mädchen in Clusium.« Marcus langte nach vorn und teilte die tropfenden Vogelbeerzweige. »Du kommst uns recht, Guern der Jäger«, sagte er in seiner Muttersprache.
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Die Wasser der Lethe Das Pfeifen hörte plötzlich auf. Die weiße Kuh, die vor der überraschenden Stimme erschrocken war, senkte die Hörner, trampelte und schnaufte, und der Mann, der mit einem Grunzen stehengeblieben war, starrte durch die Vogelbeerzweige. Dann verwandelte sich das leise Knurren des Hundes, den Marcus zuerst nicht bemerkt hatte, plötzlich in ein freudiges Winseln und wurde durch einen Hackenstoß des Jägers unterbrochen. »Und du kommst mir recht, Demetrius von Alexandrien!« Für Überraschungen und Erklärungen war jetzt keine Zeit. Marcus sagte rasch: »Guern, wir brauchen deine Hilfe.« »Ja, das kann ich mir denken. Ihr habt den Adler geholt, und die Epidaier sind hinter euch her«, sagte Guern. »Ich hörte es bei Sonnenuntergang, und die Dumnonier und mein eigener Stamm sind unter Warfen.« Er kam einen Schritt näher. »Was soll ich für euch tun?« »Wir brauchen etwas zu essen – und jemand, der eine falsche Spur legt, wenn möglich.« »Zu essen könnt ihr haben, aber ihr braucht mehr als eine falsche Spur, wenn ihr heil zum Wall kommen wollt. Jeder Bergpaß nach Süden ist jetzt bewacht, und ich kenne nur einen einzigen Weg, der wahrscheinlich noch frei ist.« »Sag uns, wo er ist.« »Sagen nützt nichts. Es ist ein Weg, der ohne Führer den sicheren Tod bedeutet. Darum werden die Stämme sich auch wohl kaum die Mühe machen, ihn zu bewachen.« »Und du kennst diesen Weg?« Esca sprach zum erstenmal. »Ja, ich kenne den Weg. Ich – gehe mit euch.« »Und wenn sie dich mit uns finden?« fragte Marcus. »Wenn du zu Hause vermißt wirst und jemand sich Gedanken darüber macht, wo du sein könntest?« »Man wird mich zu Hause nicht vermissen, denn in den nächsten Tagen werden viele Männer auf der Jagd sein. Sollte jemand uns 218
zusammen entdecken, dann kann ich immer noch einen von euch erstechen und habe dann die Ehre, der Erste Speer unter den Jägern zu sein.« »Eine schöne Aussicht«, sagte Marcus. »Sollen wir jetzt mit dir kommen?« »Ja. Es ist am besten, wenn wir das erste Stück gleich schaffen«, entschied Guern. »Wir müssen die Kuh mitnehmen, Pech für sie. Sie muß immer streunen.« Marcus lachte, stand auf und hielt den Atem an, als ein stechender Schmerz durch sein überanstrengtes Bein zuckte. »Wenigstens ist ihr Streunen uns heute nacht gerade recht gekommen. Stütz mich ein bißchen, Esca, dieser Abhang ist – ziemlich – steil.« Viele enge Täler und Hochmoorrücken lagen zwischen ihnen und der Stelle, wo die Hirsche gekämpft hatten, und der Morgen dämmerte schon fast, als Guern sie endlich in einen alten Steinbruch führte, der nicht mehr benutzt worden war, seit die Römer aus Valentia geflohen waren. Er schob sie in eine abbröckelnde Höhle oder eine Art Gang, der anscheinend zeitweilig wilden Schweinen als Höhle gedient hatte, und bat sie, sich bis zu seiner Rückkehr ruhig zu verhalten, verschwand dann mit der Kuh, die sehr müde zu sein schien. »Vielleicht hast du nun gelernt, nicht wieder auszureißen, Tochter von Ahriman!« hörten sie ihn sagen, als er sie bei den Hörnern den steinigen Hang heraufzog. Als Marcus und Esca allein waren, zogen sie die herunterhängenden Brombeer- und Heckenrosenzweige vor den Eingang ihrer Höhle und machten es sich so bequem wie möglich. »Wenn die Decke nicht einstürzt und die Schweine nicht wiederkommen und uns stören, könnten wir einen friedlichen Tag vor uns haben«, sagte Marcus und schob die Arme unter den Kopf. Nichts von dem geschah, und der Tag verstrich langsam, indem Marcus und Esca abwechselnd schliefen und sich bemühten, ihre leeren Mägen zu vergessen. Jenseits der Büsche vor ihrem Eingang wurde das Licht golden und verblaßte dann. Die Dämmerung war schon vorbei, als Guern der Jäger wiederkam und außer den 219
unvermeidlichen Streifen von ledrigem geräuchertem Fleisch ein Stück frisches, gekochtes Wildfleisch mitbrachte. »Eßt das frische Fleisch jetzt«, sagte er, »aber schnell.« Sie taten, wie er gesagt hatte, während er mit dem großen Hund zu seinen Füßen auf einen Speer gestützt im Höhleneingang stand, und noch ehe es draußen ganz dunkel war, waren sie wieder auf den Beinen. Sie kamen zuerst nur langsam voran, denn Marcus’ Bein war nach dem Ruhetag steif, aber der Weg war weniger schwierig als letzte Nacht, weil es fast immer bergab ging. Nach und nach wurde das Bein wieder geschmeidiger, und Marcus fiel das Gehen nicht mehr so schwer. Still wie Schatten folgten sie Guern auf Pfaden, die nur der Jäger und das Wild kannten, und sie wechselten kein einziges Wort. Aber Marcus wurde verwirrt, als eine Stunde nach der anderen verging und er nicht wußte, wodurch sich dieser Weg eigentlich von all denen unterscheiden solle, die sie in den Bergen zurückgelegt hatten; nichts deutete darauf hin, daß dies ein Pfad sei, auf dem man ohne Führer verloren war. Aber als sie dann einen langen Hang herunterkamen, änderte sich die Luft, und der Boden unter ihren Füßen fühlte sich anders an, und plötzlich wußte er, was es war. Sumpf! Sumpf, durch den wahrscheinlich ein versteckter Pfad lief, den nur die fanden, die sein Geheimnis kannten. Sie standen beinah so plötzlich am Rand des Sumpfes, als beginne er so unmittelbar wie ein See, und die Luft war von einem merkwürdig fauligen Geruch erfüllt. Guern lief hin und her wie ein Hund, der eine Fährte aufnehmen will. Plötzlich blieb er stehen, und sein Hund wartete neben ihm. »Hier. Hier ist er«, sagte er mit verhaltenem Atem. Es waren seine ersten Worte seit ihrem Aufbruch. »Von nun an müssen wir hintereinander gehen. Bleibt genau hinter mir und bleibt keinen Herzschlag lang stehen; sogar auf dem geheimen Pfad ist der Boden weich. Wenn ihr tut, was ich euch gesagt habe, kommt ihr sicher durch; tut ihr es nicht, versinkt ihr.« So einfach war das. »Alles klar«, flüsterte Marcus zurück. Für nutzloses Gerede war weder Zeit noch Platz: Mithras allein wußte, wie nahe ihnen ihre Verfolger waren. 220
Den Hund dicht an seiner Seite, wendete Guern sich dem Sumpf zu. Marcus trat hinter ihn, und Esca kam als letzter. Der Boden unter ihren Füßen fühlte sich schwammig an, sie sanken ein und schienen bei jedem Schritt nahe am Versinken zu sein; sie waren erst ein kleines Stück vorangekommen, als Marcus bemerkte, daß ein leichter Nebel aufstieg. Zuerst hielt er es nur für den Dunst, der über dem Sumpf lag, aber bald wurde ihm klar, daß es mehr als das war. Höher und höher stieg er, wurde zu hellen, dichten Schwaden, die sich über ihnen zu einer Decke schlossen. Als er hochblickte, konnte er den Mond noch erkennen, aber nur schwach durch Nebelschleier an einem schimmernden Himmel. Nebel! Das war das schlimmste Wetter, das sie zu fürchten hatten. Und daß er ausgerechnet jetzt kommen mußte! Es gab kein Zurück; aber wie konnte ein Mensch in dieser Dunkelheit einen Weg finden wie den, den sie gingen? Und wenn sie vom Weg abkamen? Aber es hatte keinen Sinn, darüber nachzugrübeln. Der Nebel wurde ständig dichter. Bald gingen sie wie blind, und ihre Welt bestand nur aus ein paar Fuß nassem Gras und buschigem Sumpfrohr, aus manchmal aufleuchtenden Wasserlachen, die schnell wieder dem glänzenden Nebel wichen, und von einem Pfad war nichts zu sehen. Aber Guern schien keinen Augenblick unsicher zu sein, er ging leicht und stetig weiter, änderte von Zeit zu Zeit seine Richtung, und die anderen beiden folgten ihm. Der dumpfe, faulige Geruch wurde immer stärker und schärfer, der Mond stand nun ganz tief, und der Nebel wurde eins mit der Dunkelheit, und immer noch ging Guern der Jäger weiter. Weiter und weiter. Es war sehr still, nur eine Rohrdommel schlug irgendwo zu ihrer Rechten, und aus dem Sumpf stiegen kleine, unheimliche, glucksende Laute auf. Marcus war längst über seine ersten unangenehmen Zweifel hinaus, ob Guern den geheimen Pfad im Nebel finden könnte, aber nun begann er sich zu fragen, wie lange er noch so sicheren und gleichmäßigen Schrittes weitergehen würde; und dann war ihm plötzlich, als ob der Boden unter seinen Füßen fester würde. Noch ein paar Schritte, und er wußte, daß es wirklich so war. Sie kamen höher und aus dem Sumpf heraus. Der Nebel roch anders, kalt noch, aber leichter und süßer. Bald lag der geheime Weg hinter ihnen wie ein Traum. 221
Um die Zeit fing es langsam an zu dämmern, und der Nebel wuchs wieder aus der Dunkelheit hervor, kein schimmernder Nebel mehr, sondern dumpfgrauer wie die Asche eines längst erloschenen Feuers. Im wachsenden Licht, als sie das letzte Sumpfloch hinter sich hatten, machten sie dankbar auf der Wiese vor einer Gruppe uralter Dornbüsche halt und schauten sich gegenseitig an, während der Hund sich zu ihren Füßen ausstreckte. »Ich habe euch so weit gebracht, wie ich kann«, sagte Guern. »Jeder soll in seinen eigenen Jagdgründen bleiben, und von nun an kenne ich das Land nicht mehr.« »Du hast uns sicher durch die von unseren Feinden bewachten Gegenden gebracht, und wir kommen nun allein durch«, entgegnete Marcus schnell. Guern schüttelte zweifelnd seinen zerzausten Kopf. »Sie werden wahrscheinlich diese Berge auch noch durchkämmen. Darum wandert bei Nacht und versteckt euch bei Tag, und wenn ihr euch nicht im Nebel verirrt oder in die Hände der Stämme fallt, müßtet ihr den Wall irgendwann in der zweiten Nacht erreichen.« Er zögerte, setzte zum Sprechen an und zögerte wieder. Endlich sagte er halb grimmig, halb demütig: »Bevor unsere Wege sich trennen, fühle ich in meinem Herzen, daß ich den Adler noch einmal sehen möchte. Er war einmal mein Adler.« Zur Antwort löste Marcus das fest zusammengewickelte Bündel von der Schlinge, schlug das Tuch zurück und wickelte den verlorenen Adler aus. Er war im grauen Morgenlicht dunkel und glanzlos, nichts als ein Klumpen arg zugerichtetes Metall in Vogelgestalt. »Er hat seine Flügel verloren«, sagte er. Guern streckte begierig die Hände aus, als wolle er ihn nehmen, zögerte dann und ließ die Hände an der Seite herunterfallen. Die verräterische Geste traf Marcus für einen Augenblick tief im Innersten, so daß er hätte aufheulen können wie ein Hund. Eine geraume Zeit hielt er den Adler in der Hand, während der andere mit vorgeneigtem Kopf starr dastand und kein Wort sagte. Dann hüllte er, als Guern zurücktrat, den Adler wieder in das dunkle Tuch und verbarg ihn unter seinem Mantel. 222
Guern sagte: »So, nun habe ich den Adler noch einmal gesehen. Vielleicht werde ich von heute an kein römisches Gesicht mehr sehen und meine Muttersprache nicht mehr hören… Es wird Zeit, daß ihr euch auf den Weg macht.« »Komm mit uns«, forderte Marcus ihn impulsiv auf. Guern hob seinen zerzausten Kopf und sah Marcus unter zusammengezogenen Brauen starr an. Einen kurzen Augenblick schien er es wirklich zu überlegen. Dann schüttelte er den Kopf. »Sie könnten mich zu hitzig willkommen heißen. Ich habe kein Verlangen danach, gesteinigt zu werden.« »Was du heute nacht getan hast, würde alles ändern. Du hast uns das Leben gerettet, und wenn wir den Adler wieder an seinen Platz zurückbringen, haben wir das dir zu verdanken.« Guern schüttelte wieder den Kopf. »Ich gehöre zu den Selgovern. Ich habe mir eine Frau aus dem Stamm genommen, und sie ist mir eine gute Frau. Ich habe Söhne, die dem Stamm gehören, und mein Leben ist hier. Wenn ich jemals – etwas anderes war und mein Leben woanders war, so liegt das alles in einer anderen Welt, und die Männer, die ich dort kannte, haben mich vergessen. Es gibt keinen Weg zurück durch die Wasser der Lethe.« »Dann gute Jagd in deinen eigenen Jagdgründen«, sagte Marcus nach einer Stille. »Denk an uns, wenn wir auf dem Weg zum Wall sind.« »Ich denke an euch, und ich fühle in meinem Herzen, daß ich mich danach sehnen werde, bei euch zu sein. Wenn ihr durchkommt, werde ich es hören, und ich werde froh sein.« »Wenn wir es schaffen, hast du ein gut Teil dabei geholfen«, antwortete Marcus ihm, »und wir beide werden es dir nicht vergessen. Das Licht der Sonne sei mit dir, Centurio.« Als sie ein paar Schritte gegangen waren, blickten sie sich um, und er stand da, wie sie ihn verlassen hatten, schon halb vom Nebel verschluckt, eine dunkle Gestalt vor den treibenden Schwaden. Ein halbnackter Stammesmann mit wüstem Haar, der einen wilden Hund zu Füßen hatte; aber in der weit ausgreifenden, gut geschulten 223
Bewegung seines Armes, den er zu Gruß und Abschied hob, lag das ganze Rom. In ihm war der Paradeplatz und die kurzen Trompetensignale, die eiserne Disziplin und der Stolz. In diesem Augenblick war es Marcus, als habe er nicht den wilden Jäger vor sich, sondern den jungen Centurio im Stolz auf sein erstes Kommando, bevor noch der Schatten der verdammten Legion auf ihn fiel. Und es war dieser Centurio, dem sein Gruß galt. Dann trennte der treibende Nebel sie. Als sie sich umwandten, stieg in Marcus die Hoffnung auf, daß Guern sicher zu dem neuen Leben zurückkehren möchte, das er sich geschaffen hatte, daß er nicht für die Treue bezahlen müsse, die er ihnen gehalten hatte. Nun, der Nebel würde ihn wohl auf seinem Heimweg decken. Fast als hätte er die unausgesprochenen Gedanken seines Freundes gehört, antwortete Esca darauf: »Er wird hören, wenn wir lebendig hier herauskommen, aber wir werden nie hören, ob er heil durchkommt.« »Ich wollte, er hätte sich entschlossen, mit uns zu kommen«, sagte Marcus. Aber schon während er sprach, wußte er, daß Guern der Jäger recht hatte. Es gab kein Zurück durch die Wasser der Lethe. Zwei Morgengrauen später waren Marcus und Esca immer noch ein ganzes Stück vom Wall entfernt. Der Nebel, der sie auf dem geheimen Weg überfallen hatte, hatte sie ständig verfolgt; trügerische Nebelschwaden, die manchmal nur die fernen Hügel umschleierten, manchmal aber über sie herfielen und alle Wahrzeichen in der Landschaft in ein wirbelndes Grau auflösten, in dem der Boden sich unter ihren Füßen zu verlieren schien. Sie wären mehr als einmal verloren gewesen, wenn nicht Esca die Gabe des Jägers besessen hätte, die ihn befähigte, den Süden zu riechen, so wie ein Stadtmensch Knoblauch riechen kann. Und selbst mit Escas Spürsinn kamen sie nur schrecklich langsam voran; sie zogen weiter, sobald der Nebel lichter wurde, und legten sich hin, wo sie gerade waren, sobald er so dicht wurde, daß sie nicht mehr weiter konnten. Ein- oder zweimal wären sie beinah gescheitert; oftmals mußten sie wieder zurück, um ein Hindernis zu umgehen, das sie im Nebel nicht eher gesehen hatten, 224
und Marcus, der wie immer Esca die Führung überließ, hatte genug mit sich selber zu tun. Sein lahmes Bein, das ihn ganz tapfer auf den angestrengten Märschen und bei den mühseligen Klettereien getragen hatte, begann ihn im Stich zu lassen, und zwar gründlich. Er zog verbissen weiter, aber er wurde langsam unbeholfener, und wenn er stolperte, mußte er die Zähne zusammenbeißen, um den Schmerz zu unterdrücken. An diesem Morgen wurden sie zum ersten Male gewahr, daß die Feinde wirklich, wie Guern gesagt hatte, auch diese Berge durchkämmten, als die Nebelschwaden sich teilten und sie hoch oben auf einem Bergrücken, nicht mehr als einen Bogenschuß entfernt, einen Mann zu Pferd sahen, der offensichtlich Wache hielt. Zum Glück blickte er nicht in ihre Richtung, und sie warfen sich flach in die Heide und verbrachten ein paar bange Minuten, während sie ihn den Bergrücken entlangreiten sahen, bis der Nebel sich zwischen ihn und sie schob. Sie brachten einen Teil des Tages im Schutz eines großen Felsens zu, aber sie machten sich wieder auf den Weg, als sie noch ein paar Stunden Tageslicht vor sich hatten. Solange der Nebel anhielt, konnten sie nicht nur, wie sie eigentlich geplant hatten, bei Nacht wandern, sondern sie mußten voran, wo und wann immer sie konnten. »Was meinst du, wie weit wir es noch haben?« fragte Marcus, während er sich sein steifes Bein rieb. Esca schnürte sich seinen ledernen Leibriemen enger, der ihm zu weit geworden war, nahm seinen Speer auf und richtete, so gut er konnte, das plattgedrückte Gras auf, auf dem sie gelegen hatten. »Das ist schwer zu sagen«, meinte er. »Wir sind bei diesem Nebel nur langsam vorangekommen, aber ich glaube nicht, daß ich weit von unserem Weg abgekommen bin. Nach dem flacheren Land zu urteilen, würde ich sagen, es sind noch zwölf oder vierzehn von euren römischen Meilen. So, wenn ein Jäger hier dicht vorbeikommt, sieht er, daß wir hier gelegen haben, aber ein paar Schritte weiter ist nichts mehr zu sehen.« Sie machten sich wieder auf den weiten Weg nach Süden. Gegen Abend erhob sich ein leichter Wind, und wo er hinkam, ging der 225
Nebel, der den ganzen Tag dicht gewesen war, in Fetzen auf wie der Mantel eines Bettlers. »Wenn der Wind zunimmt, kommen wir vielleicht aus diesem Hexengebräu ‘raus«, sagte Marcus, als sie in der Biegung eines engen Tales haltmachten, um ihre Richtung zu prüfen. Esca hob den Kopf und zog die Luft ein wie ein Tier, das plötzlich eine Witterung aufnimmt. »Aber jetzt sehne ich mich nach einem Fuchsloch, in dem wir bis zum Morgengrauen bleiben können.« Doch sie hatten die Suche nach einem Fuchsloch zu lange aufgeschoben. Die Worte waren kaum über seine Lippen, als der Nebel sich zusammenzurollen schien. Er zog seitwärts ab wie vom Wind getriebener Rauch; die braune Heide und das goldene Farnkraut über dem Bach leuchteten plötzlich warm durch die abziehenden Nebelschwaden, und im nächsten Augenblick stieg ein schriller, langer und merkwürdig triumphierender Schrei am Ende des Tales auf, und eine Gestalt im gelben Kilt kam aus der Deckung hervor und rannte geduckt auf den Kamm des Berges zu. Escas Speer folgte ihr, aber sie war für einen Speerwurf zu weit weg. In sechs rasenden Herzschlägen hatte der Mann die Kuppe erreicht und verschwand mit lauten Schreien. »Abwärts«, sagte Esca rauh. »In die Wälder.« Sie schwenkten um, auf die nächste Ecke des Birkenwaldes zu, die sich wie ein Fleck in den Nebelfetzen ausnahm, aber noch ehe sie dort waren, stieg der Warnruf aus den goldenen Bäumen zur Antwort auf. In dieser Richtung konnten sie nicht entkommen, und als sie wieder umkehrten, stieg fernab im Tal hinter ihnen der gleiche Schrei so dünn wie ein Vogelruf auf. Nur ein Weg stand ihnen offen, und sie schlugen ihn ein; den Berg zu ihrer Rechten steil hinauf, und was jenseits des Berges lag, wußte nur der Herr der Legionen. Sie erreichten den Kamm, Marcus wußte später nie mehr wie, und als sie auf dem kahlen Rücken einen Augenblick zögerten, stieg der Schrei – der sich inzwischen in einen Jagdruf verwandelt hatte – wieder hinter ihnen auf und wurde unten aus dem sich wieder zusammenziehenden Nebel beantwortet und weitergegeben. Sie mußten in einen großen Haufen ihrer Verfolger geraten sein. Südlich am Hang schien ein dunkles Ginstergebüsch eine gewisse Deckung zu 226
bieten, und sie tauchten in ihm unter wie gejagte, zu Boden gehende Tiere und bahnten sich einen Weg mitten hinein. Danach war alles ein wildes Gewirr aus Nebel und geknickten Ginsterzweigen und ein Chaos aus dunklen Inseln, durch die rotbraune Strudel aus Farn und Blaubeeren wirbelten, während Marcus und Esca erstarrt zwischen den dolchscharfen Ginsterwurzeln lagen und der Geruch von Füchsen ihnen die Kehle zuschnürte und das Entsetzen der gejagten Kreatur ihre Herzen rasend pochen ließ, während der Tod mit vielen reiherfeder-geschmückten Kriegsspeeren in dem dunklen Labyrinth um sie herumschlich. Überall um sie herum waren Männer, zu Pferd, zu Fuß, streiften ungeachtet der Dornen durch das Gestrüpp und rissen sich die Haut auf, sprangen mit gestreckten Beinen wie Jagdhunde, die ihre Beute in hohem Gras suchen, stießen bellende Laute aus wie die Hunde, bald auf dieser Seite, bald auf jener. Einmal zischte ein aufs Geratewohl geworfener Speer wie eine Schlange eine Spanne weit an Marcus’ Schulter vorbei. Und dann merkten sie plötzlich, daß die Jagd sie wider alles Erwarten verfehlt hatte. Sie war über sie hinweggefegt und war nicht mehr auf allen Seiten, sondern hinter ihnen! Sie begannen wieder, sich langsam und mit marternder Vorsicht auf dem Bauch voranzuarbeiten. Sie wußten nicht, wohin sie kamen, sie wußten nur, daß sie von dem Feind hinter ihnen weg wollten. Ein dunkler und offenbar viel benutzter Tunnel öffnete sich im Ginster vor ihnen, und sie schlüpften hinein, Esca voran. Es roch immer schärfer nach Fuchs. Der Tunnel machte eine Biegung, die langsam bergab führte, und sie konnten nichts tun, als dem Tunnel folgen, denn durch den dichten Ginster, der Dach und Wände bildete, gab es kein Entkommen. Er endete plötzlich mit dem Unterholz, und vor ihnen lief ein felsiger, mit Büschen bestandener Streifen Grasland querab vom Bergrücken. Nebelschwaden, die aus dem tiefen Tal aufstiegen, trieben immer noch vor dem zunehmenden Wind vorüber, aber am Ende des Grasstreifens, etwas mehr als einen Bogenschuß weit, schimmerte etwas durch das Grau, das so etwas wie ein Broch zu sein schien. Es sah nicht gerade einladend aus, aber sie konnten nicht bleiben, wo sie waren, denn sie hörten die Geräusche der Jagd wieder näher kommen, und es gab kein Zurück. 227
So waren sie wieder im Freien, verbargen sich so gut sie konnten hinter Felsen und Büschen und suchten einen Weg nach unten. Sie hätten am nordwestlichen Hang verhältnismäßig leicht nach unten kommen können, aber als sie dort durch die Büsche krochen, hörten sie das Klirren vom Zaumzeug eines Ponys und die Bewegungen von wartenden Männern. Dieser Weg war sicher bewacht. Der südöstliche Hang fiel praktisch senkrecht in die treibenden Nebelschwaden ab, aus denen unverkennbar der schwer zu beschreibende Geruch von tiefem Wasser aufstieg. Das konnte vielleicht der letzte Ausweg für den Adler sein, aber es war ganz bestimmt kein Weg für Marcus. Angetrieben von den Geräuschen der Jäger, die den Ginster hinter ihnen durchstreiften wie Hunde auf der Suche nach einer Fährte, kämpften sie sich ein paar Schritte weiter, hielten dann keuchend und verzweifelt an und blickten gehetzt hierhin und dorthin, um einen Ausweg zu finden. Aber Marcus war fast am Ende seiner Kräfte, und Esca stützte ihn mit dem Arm. Sie konnten nicht mehr weiter, selbst wenn der Weg frei gewesen wäre, sie saßen in der Falle, und sie wußten es. Die Mauern, die sie durch den Nebel gesehen hatten, waren jetzt ganz deutlich zu erkennen; es war doch kein Broch, sondern ein alter römischer Signalturm. Sie rafften sich zusammen und strebten auf ihn zu. Es war ein sehr auffälliges Versteck, so auffällig, daß sie dort kaum sicher sein würden, vielleicht aber wenigstens Atem schöpfen konnten, denn es war möglich, daß die Jäger es schon durchsucht hatten. Wenn es zum Schlimmsten kommen sollte, konnten sie sich dort wenigstens zur Wehr setzen; und einmal würde es ja auch wieder dunkel werden. Der enge, nun türlose Bogengang war ein schwarzes Loch in der Mauer, und sie stolperten durch ihn hindurch in einen kleinen Innenhof, in dem das Gras die Pflastersteine längst überwuchert hatte. Ein anderer, leerer Eingang lag ihnen gegenüber, und Marcus steuerte darauf zu. Sie waren nun im Wachraum. Tote Blätter raschelten auf dem Boden, und das milchige Licht, das durch ein hochgelegenes Fensterloch floß, ließ erkennen, daß drüben eine Treppe hochging. »Rauf«, keuchte er. 228
Die Stufen waren aus Stein und noch gut in Ordnung, wenn sie auch von der Feuchtigkeit glitschig waren; sie stolperten aufwärts, und ihre Schritte klangen sehr laut in der Stille des steinernen Schneckenhauses, in dem eine kleine römische Besatzung gelebt und gearbeitet und in den wenigen Jahren, in denen die Provinz Valentia mehr als ein leerer Klang gewesen war, über die Grenzberge Wacht gehalten hatte. Sie duckten sich unter eine niedrige Tür unter der Signalrampe und gelangten auf das flache Dach des Turmes, hinaus in das Tageslicht, das nach der Dunkelheit unten so durchscheinend war wie ein Mondstein. Als sie hinaustraten, wurde Marcus die Sicht durch große schwarze Flügel, die sein Gesicht fast streiften, für einen Augenblick genommen, ein erschreckter Rabe flog auf und stieß dabei seinen heiseren, mißtönenden Warnschrei aus und flog mit langsamem, trägem Flügelschlag krächzend nach Norden. Verflucht! Nun weiß jeder, der es wissen möchte, genau, wo wir sind, dachte Marcus, war aber plötzlich so müde, daß ihm alles gleichgültig war. Völlig erschöpft schleppte er sich an die andere Seite des Daches und sah durch eine zerbröckelnde Schießscharte nach unten. Unterhalb des Turmes ging es senkrecht abwärts, und weit unten konnte er durch die letzten dunstigen Nebelfetzen ein dunkles Wasser erkennen, das sehr tief sein mußte, einen stillen, düsteren Bergsee zwischen dem Vorwerk und dem Bergkamm, der über seinen eigenen Geheimnissen brütete. Ja, hier war ein Ausweg für den Adler. Auf der landeinwärts gekehrten Seite hockte Esca an der Brüstung, wo mehrere große Steine abgebröckelt waren, so daß ein Loch entstanden war. »Sie durchsuchen noch den Ginster«, flüsterte er, als Marcus zu ihm kam. »Wir haben Glück, daß diese Gruppe keine Hunde mit hat. Wenn sie nicht vor Dunkelwerden kommen, könnten wir ihnen noch entkommen.« »Sie kommen noch vor Dunkelwerden«, flüsterte Marcus zurück. »Dafür hat der Rabe gesorgt. Horch…« Unterhalb der nördlichen Seite des Vorwerks ertönte ein Laut, ein verworrener, undeutlicher Freudenausbruch, vom Nebel und der Ferne 229
halb verschluckt, ein Laut, der ihnen allzu deutlich verriet, daß der wartende Mann die Botschaft des Raben verstanden hatte. Marcus ließ sich mühsam auf sein gesundes Knie neben seinen Freund nieder, rückte in eine bequemere Lage, lehnte sich seitwärts auf einen Arm und senkte den Kopf. Nach einer kleinen Weile blickte er auf. »Ich glaube, ich habe mich dir gegenüber schuldig gemacht, Esca. Für mich ging es immer um den Adler, aber was hattest du zu gewinnen?« Esca lächelte ihm zu, ein langsames, ernstes Lächeln. Marcus sah, daß seine Stirn von einem gezackten Riß durchzogen war, wo eine Ginsterwurzel ihn geritzt hatte, aber seine Augen darunter blickten ganz ruhig. »Ich bin noch einmal ein freier Mann unter freien Männern gewesen. Ich bin mit meinem Bruder zusammen auf die Jagd gegangen, und es war eine gute Jagd.« Marcus erwiderte sein Lächeln. »Es war eine gute Jagd«, sagte auch er. Aus dem Nebel unten drang das leise Trommeln von unbeschlagenen Hufen, die über Gras ritten; die verborgenen Jäger im Ginstergebüsch zogen jetzt auf die freie Stelle zu und schlugen dabei auf den Ginster, damit ihnen ihr Wild nicht noch einmal entschlüpfte. Bald würden sie hier sein, aber die Reiter von unten würden zuerst kommen. »Eine gute Jagd; und nun wird sie wohl zu Ende sein.« Er fragte sich, ob die Nachricht vom Ausgang ihrer Jagd eines Tages über den Wall gelangen würde, ob sie den Legaten Claudius und durch ihn auch Onkel Aquila erreichen würde. Und Cottia in dem Garten unter den schützenden Mauern von Calleva! Er wäre froh, wenn sie wüßten… daß Esca und er eine gute Jagd gehabt hatten. Plötzlich wurde ihm klar, daß sie sich gegen allen äußeren Anschein gelohnt hatte. Ihn überkam eine große Ruhe. Der Wind nahm zu und blies den letzten Nebel weg; ein flüchtiger, leicht verhangener Sonnenschein huschte über den alten Signalturm, und erst jetzt sah er, daß in einer Spalte der zerbröckelten Brüstung neben ihm ein Büschel Glockenblumen Wurzel geschlagen hatte, das wegen des Platzes, auf dem es wuchs, spät geblüht hatte und jetzt noch auf einem 230
geschwungenen, fadendünnen Stengel eine zarte Blüte gen Himmel streckte. Sie beugte sich unter einem Windstoß und richtete sich mit einem kleinen kecken Ruck wieder auf. Marcus meinte, noch nie etwas so Blaues gesehen zu haben. Außen am Vorwerk tauchten drei wilde Reiter auf, die auf den Bogengang losritten.
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Traduis Geschenk Als die drei sich im Innenhof von ihren Ponys fallen ließen, zogen sich Marcus und Esca von der Brüstung zurück. »Nur drei bis jetzt«, flüsterte Marcus. »Gebrauche dein Messer nur, wenn es nötig ist. Sie sind für uns vielleicht tot weniger wert als lebendig.« Esca nickte und steckte sein Jagdmesser wieder in den Gürtel. Das Leben war in sie zurückgekehrt, und sie waren von dem Bewußtsein erfüllt, daß es nun um die Entscheidung ging. Auf beiden Seiten der Treppe gegen die Wand gepreßt, warteten sie und horchten, wie ihre Verfolger jetzt das Lagerhaus und den Wachraum durchstöberten. »Narren!« flüsterte Marcus, als ein Schrei ihnen verriet, daß sie die Treppe entdeckt hatten; dann hörten sie schnelle Fußtritte, die auf dem Absatz unter ihnen stockten und dann heraufgestürmt kamen. Marcus war ein guter Bo xer, und Esca stand ihm durch viel Übung im letzten Winter mit den bleibesetzten ledernen Handschuhen nicht viel nach; zusammen bildeten sie trotz ihrer Müdigkeit ein gefährliches Paar. Die ersten beiden Männer, die geduckt durch den niedrigen Eingang kame n, sanken ohne einen Laut um wie gestochene Ochsen. Der dritte, dem der Angriff nicht ganz so überraschend kam, wehrte sich heftiger. Esca warf sich auf ihn, und sie fielen zusammen krachend ein paar Stufen hinunter, während sie beide mit Armen und Beinen wild um sich schlugen. Nach einem kurzen, harten Kampf kam Esca nach oben, richtete sich taumelnd auf und trug dann einen bewußtlosen Mann über die Schwelle. »Ihr jungen Narren«, sagte er, als er sich nach einem Speer auf dem Boden bückte. »Ein junger Hund hätte sich klüger benommen als ihr.« Zwei der Männer – sie waren alle sehr jung – lagen noch völlig betäubt, wo sie umgefallen waren, aber einer fing an, sich zu regen, und Marcus beugte sich über ihn. »Es ist Liathan«, sagte er. »Um den kümmere ich mich. Fessele und knebele du die anderen beiden.« Der junge Krieger stöhnte, und als er die Augen öffnete, sah er, daß Marcus über ihm kniete und seinen eigenen Dolch auf seine Kehle 232
gerichtet hatte, während dicht neben ihm Esca die beiden bewußtlosen Männer ha stig mit Tuchstreifen band und knebelte, die er von einem ihrer Mäntel abgerissen hatte. »Das war ein Fehler«, bemerkte Marcus. »Ihr hättet euch zu den anderen Jägern halten und nicht auf eigene Faust hier eindringen sollen.« Liathan sah zu ihm auf. Seine schwarzen Augen waren haßerfüllt; Blut sickerte ihm aus dem Mundwinkel. »Vielleicht sahen wir den Raben und wollten der Erste Speer sein, damit nicht ein FlachlandStamm den Adler-Gott für sich fordern konnte«, sagte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Ich verstehe. Was ihr getan habt, war tapfer, aber schrecklich töricht.« »Vielleicht; aber wenn wir es auch nicht geschafft haben, werden bald andere kommen.« Seine schwarzen Augen leuchteten im wilden Triumph. »So«, nickte Marcus. »Wenn sie kommen, diese anderen, wirst du ihnen sagen, daß wir nicht hier sind, daß wir euch doch im Nebel entschlüpft sein müssen; und du wirst sie dahin zurückschicken, von wo sie gekommen sind, über den Bergrücken da drüben, gegen Sonnenaufgang.« Liathan lächelte. »Warum werde ich das alles tun?« Er warf einen raschen, geringschätzigen Blick auf den Dolch in Marcus’ Hand. »Deswegen?« »Nein«, sagte Marcus. »Weil ich den Adler – hier ist er – in den Bergsee da unten werfen werde, sobald der erste von deinen Freunden seinen Fuß auf die Treppe setzt. Wir sind noch lange nicht am Wall, und ihr könnt uns noch erwischen – du oder andere von unseren Verfolgern -, bevor wir ihn erreichen; aber wenn wir hier sterben, könnt ihr alle Hoffnung aufgeben, den Gott der Roten Helmbüsche jemals wiederzubekommen.« Einen langen Augenblick lag Liathan da und starrte Marcus ins Gesicht; und während dieser Zeit ertönten ein leichtes Schlagen von 233
Pferdehufen und ferne Schreie. Esca erhob sich schnell und ging geduckt hinüber zur abgebröckelten Brüstung. »Die Jagd geht los«, sagte er leise. »Sie sind mit dem Ginster fertig. Hei! Wie ein Wolfsrudel kreisen sie uns ein.« Marcus zog den Dolch zurück, ließ aber die Augen nicht von dem Gesicht des jungen Mannes. »Wähle«, sagte er sehr ruhig. Er stand auf, ging an die andere Seite der Brüstung und wickelte dabei den Adler aus. Liathan hatte sich auch erhoben und stand ein wenig schwankend auf den Beinen, während er von Marcus zu Esca blickte und wieder zurück. Marcus sah, wie er schluckte, sah, wie er sich mit der Zunge über den Riß in seiner Lippe fuhr. Er hörte die Jäger nun näher kommen, sehr nahe jetzt, er hörte die Männer keuchen wie aufgeregte Hunde, und in der Leere hinter sich den klagenden Schrei eines Sumpfvogels in der winddurchsausten Stille. Er ließ die letzte violette Hülle von dem Adler fallen und hielt ihn hoch. Das Abendlicht, das sich ausgebreitet hatte, als der Nebel wich, fiel auf den kühnen vergoldeten Kopf. Liathan deutete mit einer seltsamen Geste an, daß er sich geschlagen gab. Er wandte sich um, ging etwas unsicheren Schrittes an die eingefallene Brüstung und lehnte sich hinüber. Der erste der Verfolger war schon fast am Tor und begrüßte Liathan mit einem Ruf von unten. Liathan rief zu ihnen herunter: »Sie sind doch nicht hier. Sie müssen in diesem verfluchten Nebel nach der anderen Seite entkommen sein.« Er wies mit wilden Gesten dorthin, und seine Stimme brach sich wie der Schrei eines Sturmvogels. »Versucht es in den Wäldern da drüben, wahrscheinlich sind sie dahin durchgebrannt.« Ein Durcheinander von zornigen Stimmen antwortete ihm, und ein Pony wieherte schrill, er trat von der Brüstung zurück, als wolle er eilends tun, was er ihnen gesagt hatte, und als die Verfolger zurückstürmten, kehrte er sich wieder zu Marcus um. »Das habe ich gut gemacht, was?« Marcus nickte, ohne etwas zu sagen. Durch eine der Schießscharten beobachtete er, wie die Jäger durch das Vorwerk, durch das Ginstergestrüpp auf dem Bergrücken davonstürmten, Männer auf 234
Ponys und zu Fuß, wie sie sich etwas zuriefen und beim Gehen andere sammelten, bis sie endlich in den letzten Nebelfetzen verschwanden. Er blickte wieder auf den jungen Krieger. »Das hast du wirklich gut gemacht«, sagte er, »aber nimm deinen Kopf runter, damit nicht irgendein Nachzügler sich Gedanken darüber macht, warum du noch hier bist, falls er sich umsieht.« Liathan senkte seinen Kopf gehorsam – und sprang zu. Sprang zu wie eine Wildkatze. Aber Marcus, der einen Moment vorher durch ein Flackern in den Augen des anderen gewarnt war, warf sich zur Seite, halb fiel er, mit dem Adler unter sich, und währenddessen war Esca auf dem Hochländer und brachte ihn krachend zu Fall. »Du Narr«, sagte Marcus einen Augenblick später, als er sich hochgerafft hatte und auf Liathan niedersah, der sich unter Escas Knien wand. »Du junger Narr; wir sind zwei, und du bist allein gegen uns.« Er ging zu den beiden gefesselten Männern hinüber, und als er sich vergewissert hatte, daß alles in Ordnung war, riß er noch ein paar Streifen von dem Mantel, der neben einem von ihnen lag, und ging zu Esca zurück. Sie fesselten die Hände und Füße des jungen Kriegers, der sich nicht mehr wehrte, sondern steif und mit abgewandtem Gesicht dalag. »Wir können den Knebel vorläufig noch weglassen«, sagte Marcus, als sie fertig waren. Er nahm den Adler auf und begann, ihn wieder fest einzuwickeln. »Esca, geh du jetzt und sieh zu, ob die Ponys bereit sind. Wir werden sie brauchen.« Als Esca gegangen war, stand er mit steifen Gliedern auf und trat an die südliche Brüstung. Der Bergsee lag nun klar und dunkel unter der steilen Wand am Vorwerk. Der Wind hatte den Nebel fast gänzlich von den Bergen geblasen, aber im Tal hingen immer noch weiße Nebelstreifen; und leise, leise kam der Abend. Irgendwo im Süden hinter diesen Bergen, gewiß nicht mehr weit, war der Wall. »Warum bist du zu uns gekommen und hast dich einen Heiler der kranken Augen genannt, um uns den geflügelten Gott zu stehlen?« Beim Klang der zornigen Stimme hinter ihm fuhr Marcus zusammen und drehte sich um. »Dann muß ich erstens fragen, ob ich 235
denn keinen Erfolg beim Heilen von kranken Augen hatte. Der Sohn deines Bruders wird wenigstens nicht blind werden.« Er lehnte eine Schulter müde an die Brüstung und sah nachdenklich auf seinen Gefangenen herunter. »Zum zweiten kam ich, um den geflügelten Gott zurückzuholen – zurückzuholen und nicht zu stehlen, denn er war niemals eurer – , weil er der Adler von meines Vaters Legion war.« Sein Gefühl sagte ihm, daß Liathan, genau wie Cottia, diesen Grund am ehesten einsehen würde, und er wußte zugleich, daß es für den Frieden der Grenze besser war, wenn das Ganze als eine persönliche Fehde zwischen ihm und den Stämmen angesehen wurde. In Liathans dunklen Augen zuckte es merkwürdig auf. »Also hat mein Großvater recht gehabt.« »Wirklich? Womit hat er denn recht gehabt?« »Als die Priester merkten, daß der geflügelte Gott verschwunden war«, sagte Liathan wie von einem Zwang getrieben, »da schwor mein Großvater, daß du es wärst, der ihn geholt hätte. Er behauptete, du hättest das Gesicht des Häuptlings der Roten Helmbüsche, den er unter den Schwingen des Gottes sterben sah, und er sagte, er müßte blind und närrisch gewesen sein, daß er dich nicht als seinen Sohn erkannt hätte. Aber als wir dich eingeholt und dein Gepäck durchsuchten und nichts gefunden hatten, glaub ten wir, daß mein Großvater alt und wunderlich würde. Dann fand Gault der Fischer deine Mantelspange am Seeufer, und er sah, daß die Böschung abgebrochen und daß unter dem Wasserspiegel ein Loch war. Und später hörten wir eine merkwürdige Geschichte aus der Siedlung, wo dein Schwertbruder krank wurde, und da wußten wir Bescheid. Und mein Großvater sagte: ›Ich habe also doch recht gehabt, denn nie habe ich unrecht‹, und er schickte nach mir, denn mein Bruder war von einem Seehund verletzt worden, und die Wunde war so schlimm, daß er nicht mitziehen konnte. Er schickte nach mir und sagte: ›Vielleicht bist du es, der ihn stellt, denn das Schicksal seines Hauses und unseres ist miteinander verbunden. Wenn es so wird, töte ihn, wenn du kannst, denn er hat Schande über die Götter des Stammes gebracht, aber gib ihm auch den Ring seines Vaters, denn er ist der Sohn seines Vaters durch mehr als das Blut.‹« 236
Beide schwiegen sie einen kurzen Augenblick, und dann sagte Marcus: »Du hast ihn hier?« »An dem Riemen, den ich um den Hals habe«, sagte Liathan finster. »Du mußt ihn schon selber abnehmen, weil mir die Hände gebunden sind.« Marcus ließ sich auf sein gesundes Knie nieder und schob eine Hand vorsichtig unter die Schulterfalten vom Mantel des anderen. Aber es war keine List, er fand den Ring, der nach hinten gerutscht war, zog ihn hervor, durchschnitt den Riemen und steckte ihn sich an den leeren Ringfinger. Das Licht schwand nun langsam, und der große Stein, der voll grünen Feuers gewesen war, als er ihn das letztemal sah, war tiefgrün wie Ilexblätter und strahlte nur schwach den Himmel wider. »Wenn das Glück des Krieges es anders gewollt hätte und Esca und ich durch eure Speere umgekommen wären, dann hättest du mir wohl kaum meines Vaters Ring zurückgeben können. Wie hättest du dann deines Großvaters Befehl ausgeführt?« fragte er neugierig. »Wir hätten dir den Ring mitgegeben, so wie man einem Mann seine Waffen und seinen Lieblingshund mitgibt.« »Ich verstehe«, sagte Marcus. Er blickte vom Ring zu Liathan zurück, und ein Lächeln zog über sein Gesicht. »Wenn du nach Hause kommst, sage Tradui, daß ich ihm dafür danke, daß er mir meines Vaters Ring geschenkt hat.« Er hörte Escas Schritte auf der Treppe, und gleich darauf trat dieser geduckt in das Abendlicht. »Alles in Ordnung mit den Ponys«, meldete er. »Ich habe mich auch ein bißchen umgesehen und herausgefunden, daß wir westwärts durch das Tal hinunter müssen. Da sind wir beinah von Anfang an durch Birken gedeckt, und außerdem sind unsere Verfolger gegen Sonnenaufgang geritten.« Marcus warf einen raschen Blick gegen den Himmel. »Das Licht wird fort sein, ehe eine halbe Stunde um ist, aber viel kann in der Zeit geschehen, und ich fühle in meinem Herzen, daß wir besser jetzt aufbrechen.«
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Esca nickte und stützte ihn beim Aufs tehen mit der Hand; dabei sah er den adrigen Smaragd und warf ihm einen raschen, fragenden Blick zu. »Ja«, sagte Marcus. »Liathan hat mir meines Vaters Ring als Geschenk seines Großvaters gebracht.« Er wandte sich um und sah den Krieger an. »Wir nehmen zwei eurer Ponys, Liathan, und reiten damit bis zum Wall, aber wir lassen sie frei, wenn wir sie nicht mehr brauchen, und wenn ihr Glück habt, werdet ihr sie wiederfinden – später. Ich hoffe, ihr findet sie wieder, denn du hast mir meines Vaters Ring gebracht… Knebele ihn, Esca.« Esca knebelte ihn. Als Marcus die zornigen Augen über dem Knebel sah, sagte er: »Es tut mir leid, aber wir können es uns nicht leisten, daß du anfängst zu schreien, sobald wir hier weg sind, denn irgend jemand könnte noch in Hörweite sein. Es wird sicher nicht lange dauern, bis deine Schwertbrüder wiederkommen und dich finden, aber um ganz sicher zu gehen, werde ich dafür sorgen, daß deine Stammesleute erfahren, wo du bist, wenn wir den Wall erreicht haben. Das ist alles, was ich für dich tun kann.« Sie gingen zur Treppe hinüber. Esca blieb stehen und sammelte die Waffen der Stammesleute von der Stelle auf, auf die er sie gelegt hatte, und warf sie alle – außer einem Speer, den er für den seinen hielt – über die Brüstung in den See unten. Marcus hörte sie nacheinander leise ins Wasser platschen, während er sich über die beiden Gefangenen beugte, die beiden wieder bei Bewußtsein waren und ihn haßerfüllt ansahen, und prüfte, ob ihre Fesseln noch fest saßen. Dann gelangten sie durch den Bogengang in die einbrechende Dunkelheit. Die Spannung des knappen Entkommens hatte Marcus aufs äußerste erschöpft, und durch die Ruhepause auf dem Signalturm, so kurz sie auch gewesen war, begann die alte Wunde wieder steif zu werden. Er mußte sich zu jedem Schritt zwingen, und ihm war, als hätte die Treppe viel mehr Stufen auf dem Rückweg als auf dem Weg nach oben. Aber sie kamen schließlich unten an und gelangten in den kleinen Hof, wo die drei Ponys mit den Zügeln über dem Kopf 238
standen. Sie suchten sich zwei davon aus, die am frischesten zu sein schienen, ein schwarzes und ein graubraunes, und führten sie durch das Tor, nachdem sie die Zügel des dritten über einen umgestürzten Balken geworfen hatten, damit es ihnen nicht folgte. »Die letzte Runde«, sagte Marcus, während er dem schwarzen Pony mit der Hand über den Nacken strich. »Morgen früh werden wir in eine der Stellungen am Wall einreiten.« Esca half ihm beim Aufsitzen, bevor er sich selbst auf den Rücken des Graubraunen schwang. Für eine kleine Weile hatte Marcus genug damit zu tun, sein Pony zu bändigen, denn das kleine, feurige Tier wehrte sich heftig gegen den unbekannten Reiter, es schnaubte und schlug aus wie ein noch nicht zugerittenes Füllen, bis es plötzlich den Kampf satt zu haben schien und gehorsam folgte, als Marcus es zu einem Galopp antrieb, wobei es den Kopf hochwarf und der Schaum ihm über Brust und Knie spritzte. Esca war nun auf dem Graubraunen an seiner Seite, und sie ritten über den steilen Hang am Vorwerk und strebten bergabwärts auf die Wälder unter ihnen zu. »Dank sei Lugh, daß sie noch ziemlich frisch sind, denn wir haben noch einen scharfen Ritt vor uns.« »Ja«, sagte Marcus ziemlich düster und biß sogleich die Zähne zusammen. Der aufreibende Kampf mit seinem unwilligen Pony hatte ihn ans Ende seiner Kräfte gebracht. Das Licht wich sehr schnell, als sie in die weite Kurve einschwenkten, die das Tal nach Süden zu bildete. Der Wind brauste durch die Birken und Haselsträucher in den Wäldern, und der Himmel oben zwischen den jagenden Wolken flammte gelb auf wie eine Laterne. Eine ganze Weile später kam es einem Wachsoldaten auf einem der nördlichen Wälle von Borcovicus so vor, als höre er in einem Augenblick der Windstille irgendwo weit unten das Schlagen von Hufen. Er blieb stehen und sah nach unten, weit nach unten, wo der Bach hundert Fuß unter den Mauern der Festung das wilde Tal kreuzte, aber eine jagende, silberumrandete Wolke war vor den Mond gekommen, und das Tal unter ihm war ein schwarzes Nichts, und ein neuer Windstoß fegte alle Geräusche hinweg. Verfluchter Wind! 239
Immer wehte ein Wind hier oben an der höchsten Stelle des Walles – außer wenn der Nebel kam; Tag und Nacht hörte man nichts anderes als den Wind und das Kiwitt der Kiebitze. Das konnte einen Menschen wirklich dahin bringen, daß er schlimmere Dinge in seinem Kopf hörte als das Schlagen von Hufen. Der Wachsoldat spuckte voll Ekel in den dunklen Abgrund und setzte seine Runde gemächlichen Schrittes fort. Noch eine Weile später wurde der Wachposten am Nordtor davon überrascht, daß jemand heftig gegen die Balken ballerte und rief: »Öffnet in Cäsars Namen!« Auf diese Weise pflegte sich ein Bote mit einer eiligen Nachricht bemerkbar zu machen, wenn er an eines der anderen Tore kam; aber die wenigen Menschen, die von Norden kamen – Pferdehändler, Jäger oder so etwas -, hämmerten nicht an das Tor, als wenn sie der Legat selber wären, der im Namen des Kaisers Einlaß fordere. Vielleicht war das irgendeine List. Der Optio ließ seine Torwache in Bereitschaft vor dem Tor und lief auf den Ausguck über dem Torgang. Die Wolken waren nun vom Mond gewichen, und der Optio konnte bei seinem zurückfallenden Licht direkt unter sich im Schatten des Bogens undeutlich zwei Gestalten erkennen. Der steile Hang des Berges lag im Schatten, aber er konnte bei dem Licht erkennen, daß bis hin zu dem weißen Strich des Baches kein Mensch weiter war. Keine List also. »Wer verlangt Eintritt in Cäsars Namen?« Eine der beiden Gestalten blickte auf, und ihr Gesicht war in der Dunkelheit nur ein blasser Schatten. »Zwei, die in einer dringenden Angelegenheit zum Kommandeur müssen und die gern mit heiler Haut hineinkommen möchten. Mach auf, Freund.« Der Optio zögerte einen Moment und kam dann klappernd die wenigen Stufen herunter. »Aufmachen«, befahl er. Männer gehorchten ihm eilig, der schwere Eichenflügel schwang sich langsam in seinen steinernen Angeln nach außen, und in der Öffnung, die nun von dem gelben Licht aus der Wachstubentür erhellt war, erschienen zwei wilde, bärtige Gestalten, die dem Herbststurm entsprungen zu sein schienen. Einer der Männer stützte sich schwer 240
auf die Schulter des anderen, der ihn mit einem Arm um die Hüfte zu stützen schien; und als sie vorwärts taumelten, trat der Optio, der energisch angefangen hatte: »Nun, was -« hinüber und faßte ihn gutmütig um die andere Seite und sagte: »Scherereien gehabt, was?« Aber der andere lachte plötzlich, und dabei blitzten seine Zähne in dem dunklen Gestrüpp des Bartes weiß auf; und nachdem er sich von dem stützenden Arm seines Freundes losgemacht hatte, lehnte er sich gegen die Mauer des Wachraumes und stand ermattet da, während sein Atem ihm schnell und stoßweise durch die geweiteten Nasenflügel strich. In dreckige Lumpen gehüllt, mager und fast so verkommen wie die Hungersnot selbst, zerkratzt und blutbeschmiert, als sei er häufig mit Stechginster in Berührung gekommen, war er eine derartig verdächtige Gestalt, wie der Optio lange keine mehr gesehen hatte. Als das Tor sich rasselnd schloß, sagte diese Erscheinung in dem nüchternen, kurzen Ton eines Kohorten-Centurio: »Optio, ich möchte sofort den kommandierenden Offizier sprechen.« »He?« sagte der Optio und blinzelte mit den Augen. Nach einem Gewirr von wechselnden Gesichtern, von rauhen Soldatenstimmen und klappernden Fußtritten, von langen schwankenden Gängen zwischen Gebäuden, deren Ecken nie ganz dort waren, wo er erwartet hatte, fand sich Marcus plötzlich auf der Schwelle eines lampenerhellten Raumes. In seinen Augen, die an das winddurchzogene Dunkel gewöhnt waren, strahlte das Licht wie eine plötzlich erblühte goldene Blume; es war ein kleiner Raum, der fast ganz von einem abgenutzten Schreibtisch und Protokollrollen eingenommen wurde. Marcus sah das Ganze in merkwürdiger, traumhafter Unwirklichkeit vor sich. Ein breitgebauter Mann, halb in Uniform, erhob sich von dem Feldstuhl und blickte fragend zur Tür. »Ja, was -« begann er, beinah genauso wie der Optio. Als die Tür sich hinter ihm schloß, sah Marcus auf die untersetzte, vertraute Gestalt, auf das breite Gesicht mit den Haaren, die aus der Nase wuc hsen, und er spürte keine Überraschung. Er war in eine vertraute Welt zurückgekehrt und fand es nur natürlich, daß er in ihr alte Freunde wiederfand. 241
»Guten Abend, Drusillus«, sagte er. »Ich gratuliere dir zu – deiner Beförderung.« Verwirrung zeigte sich im Gesicht des Centurio, und er hob ein bißchen steif den Kopf. »Erkennst du mich nicht, Drusillus?« fragte Marcus mit einem flehentlichen Ausdruck. »Ich bin -« Aber seinem alten Centurio war schon ein Licht aufgegangen, und die Verwirrung in seinem breiten, braunen Gesicht wich einem puren Erstaunen und verwandelte sich dann in ungläubige Freude. »Centurio Aquila!« sagte er. »Ja, Herr, ich erkenne dich. Ich würde dich im Tartarus selbst erkennen, wo ich dich nun genau ansehe!« Er kam trampelnd um den Tisch. »Aber was im Namen des Donners bringt dich hierher?« Marcus legte sein Bündel behutsam auf den Tisch. »Wir haben den verlorenen Adler der Spanischen Legion wiedergebracht«, sagte er leicht benommen und sank ganz sachte vornüber auf ihn nieder.
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Abschied Im späten Oktober ritten Marcus und Esca gegen Abend die letzte Steigung der Straße nach Calleva hinauf. Sie hatten in Eburacum erfahren, daß der Legat Claudius noch nicht zurück war, und da sie wußten, daß sie ihn unterwegs nicht verfehlen konnten, waren sie weiter nach Süden gezogen und wollten in Calleva auf ihn warten. Sie hatten sich die Bärte abgenommen und waren leidlich sauber, und Marcus trug sein Haar wieder nach römischer Sitte kurz geschnitten; aber da sie immer noch in den zerfetzten Kleidern ihrer abenteuerlichen Fahrt steckten, und da sie noch mager und hohläugig und verdächtig aussahen, hatten sie mehr als einmal das Schreiben gebraucht, das Drusillus ihnen mitgegeben hatte, um sie gegen den Verdacht zu schützen, daß sie die römischen Postpferde gestohlen hätten, auf denen sie ritten. Sie waren müde, todmüde, und hatten keinen wärmenden Funken eines Triumphgefühls in sich, der ihre bleierne Starre lösen konnte. Sie ließen die Pferde mit losem Zügel laufen, und man hörte nichts als den Klang der beschlagenen Hufe auf der beschotterten Straße und das Knirschen von nassem Leder. Aber nach vielen Monaten in der wilden Einsamkeit des Nordens hatte Marcus jetzt das Gefühl, daß dieses lieblichere und freundlichere Land ihn willkommen hieß, und als er sein Gesicht in den leichten grauen Nieselregen hielt und in der Ferne hinter hügeligen, buntgescheckten Wäldern die vertrauten und plötzlich geliebten südlichen Downs (Kreidekalkhügel im südlichen England) sich abheben sah, war ihm fast, als komme er nach Hause. Sie ritten durch das Nordtor in Calleva ein, ließen die Pferde im »Goldenen Wein«, von wo sie am nächsten Tag in das Durchgangslager gebracht werden sollten, und machten sich zu Fuß auf den Weg zu Aquilas Haus. Sie kamen in die enge Straße, wo die Pappeln schon kahl waren und die Erde glitschig von verschrumpelten, nassen Blättern. Das Tageslicht verging schnell, und die Fenster von Onkel Aquilas Wachtturm waren von zitronengelbem Licht erfüllt, das wie ein Willkommensgruß war. 243
Die Tür war nur eingeklinkt, sie stießen sie auf und traten ein. Das Haus war von höchst ungewohntem, geschäftigem Lärmen erfüllt, als sei jemand eben angekommen oder werde jeden Augenblick erwartet. Als sie aus dem engen Eingangsraum kamen, ging der alte Stephanos gerade durch das Atrium auf den Eßraum zu. Er warf ihnen einen raschen Blick zu, stieß einen erschreckten Laut aus und ließ beinah die Lampe fallen, die er in der Hand trug. »Erschrick nicht, Stephanos«, sagte Marcus, während er aus seinem nassen Mantel schlüpfte und ihn über eine nahe Bank warf. »Wir sind nur dem ›Goldenen Wein‹ entsprungen und nicht dem Hades. Ist mein Onkel in seinem Studierzimmer?« Der alte Sklave antwortete etwas, aber niemand vernahm, was er sagte, denn seine Stimme wurde von einem wahnsinnigen Gebell übertönt, das im gleichen Augenblick losbrach. Ein wildes Pfotengetrappel erklang den Säulengang entlang, und ein gescheckter Schatten sprang mit gespitzten Ohren und aufgeregtem Schweifwedeln über die Schwelle, sauste über den Boden und rutschte auf der glatten Oberfläche aus. Wolf, der trübselig im Säulengang gelegen hatte, hatte Marcus’ Stimme gehört und war ihr nachgerannt. »Wolf!« rief Marcus und setzte sich schnell auf seinen Mantel, weil er sonst im nächsten Moment von Wolf überrannt worden wäre wie ein vor Schreck erstarrter Hase, denn Wolf landete mit einem kühnen Sprung an seiner Brust. Sie rutschten zusammen mit einem lauten Knall von der Bank. Marcus hatte den jungen Wolf um den Hals gefaßt, und dieser bestürmte ihn winselnd und kläffend und leckte ihm in toller Freude das Gesicht von Ohr zu Ohr. Inzwischen hatte sich die Nachricht von ihrem Kommen im Haus verbreitet, und Marcipor kam schurrend in gemessener Eile durch eine Tür, während Sassticca, einen großen eisernen Löffel noch in der Hand, durch eine andere gerannt kam; und irgendwie schaffte Marcus es, sich zwischen Wolfs freudigen Angriffen den beiden zuzuwenden und sie zu grüßen und sich begrüßen zu lassen.
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»Siehst du, Marcipor, du bist uns doch nicht losgeworden! Sassticca, wenn ich dich sehe, blühen mir alle Blumen des Frühlings! In den Nächten, wo ich von deinen Honigkuchen geträumt habe -« »Ah, ich dachte, ich hörte deine Stimme – unter anderen.« Es wurde plötzlich still, und Onkel Aquila stand am Fuß der Treppe zum Wachtturm, der alte, graubärtige Procyon war ihm zur Seite und hinter ihm die dunkle ernste Gestalt von Claudius Hieronimianus. Marcus stand langsam auf, die Hand immer noch auf dem großen wilden Kopf, der sich fest gegen sein Bein schmiegte. »Wir haben anscheinend die Zeit unseres Kommens glücklich gewählt«, sagte er. Er setzte sich im gleichen Augenblick in Bewegung wie sein Onkel, und sie trafen sich in der Mitte des Atriums. Marcus ergriff beide Hände des älteren Mannes. »Onkel Aquila! Es ist gut, dich wiederzusehen. Wie geht’s dir?« »Seltsamerweise geht es mir jetzt besser als sonst, weil ich sehe, daß du heil wieder nach Hause gekommen bist, wenn du auch wie eine Tiberratte aussiehst«, sagte Onkel Aquila. Er blickte rasch zu Esca hinüber und wieder zurück. »Wenn ihr auch wie zwei Tiberratten ausseht.« Und dann fragte er nach einer kurzen Pause sehr ruhig: »Wie steht es?« »Wir haben ihn wiedergebracht«, sagte Marcus ebenso ruhig. Und das war im Augenblick alles über den verlorenen Adler. Die vier waren nun allein im Atrium, denn die Sklaven waren wieder an ihre Arbeiten gegangen, als der Herr des Hauses erschienen war, und Onkel Aquila winkte die beiden jungen Männer mit einer gebieterischen Handbewegung dorthin, wo sich der Legat, der sich bei ihrer Begrüßung zurückgezogen hatte, still am Kohlenbecken wärmte. Während sie alle in Bewegung waren, sprang Wolf einen Moment beiseite, um seine Schnauze zum Gruß in Escas Hand zu stecken, und kehrte dann zu Marcus zurück. Procyon begrüßte niemanden, er war so sehr auf seinen Herrn eingestellt, daß für ihn sonst kaum ein Mensch existierte. »Er hat es geschafft!« verkündigte Onkel Aquila in einer Art von triumphierendem Brummen. »Er hat es geschafft, bei Jupiter! Das hast du nicht für möglich gehalten, was, mein Claudius?« 245
»Ich – weiß nicht«, sagte der Legat, während seine seltsamen schwarzen Augen nachdenklich auf Marcus ruhten. »Nein, ich weiß – wirklich nicht, mein Aquila.« Marcus begrüßte ihn und zog dann Esca zu sich nach vorn. »Herr, darf ich dich an meinen Freund Esca Mac Cunoval erinnern?« »Ich erinnere mich noch sehr gut an ihn«, sagte Claudius, indes er den Britannier lächelnd anschaute. Esca beugte den Kopf vor ihm. »Du unterzeichnetest meine Freilassung, glaube ich, Herr«, sagte er in einem so glanzlosen Ton, daß Marcus ihm einen erschreckten Blick zuwarf, bei dem ihm plötzlich klar wurde, daß ihre Rückkehr für Esca kein Heimkommen gewesen war, denn in diesem Haus war er einst Sklave gewesen. »Das tat ich. Aber gewöhnlich erinnern mich andere Dinge an einen Menschen als die Papiere, die ich für ihn unterzeichnet habe«, sagte der Legat freundlich. Ein Ausruf von Onkel Aquila unterbrach die kleine Unterhaltung, und als sich Marcus umsah, merkte er, daß der andere auf seine linke Hand starrte, mit der er unbewußt das kostbare Bündel umklammerte, das er immer noch in der Schlinge trug. »Was ist denn das für ein Ring!« rief Onkel Aquila, »zeig mal her!« Marcus zog den schweren Siegelring ab und reichte ihn ihm. »Du erkennst ihn sicherlich wieder?« Sein Onkel betrachtete ihn einen Augenblick mit undurchdringlichem Gesicht. Dann gab er ihn zurück. »Ja, bei Jupiter, ich erkenne ihn wieder. Wie kamst du zu deines Vaters Ring?« Aber da Sassticcas Stimme in der Nähe ertönte und der eine oder der andere von den Sklaven, die das Essen vorbereiteten, jeden Augenblick durch das Atrium kommen konnten, konnte Marcus sich nicht entschließen, jetzt mit dieser Geschichte anzufangen. Er steckte den Ring wieder an den Finger und sagte dabei: »Onkel Aquila, können wir das und alles andere nicht aufschieben, bis Ort und Zeit günstiger sind? Es ist eine lange Geschichte, und dieser Raum hat viele Türen.« 246
Ihre Augen begegneten sich, und nach einer Pause sagte Onkel Aquila: »Ja, gut. Beide Dinge haben lange genug gewartet, daß eine Stunde nun auch nichts mehr ausmacht. Stimmt es, Claudius?« Der Ägypter nickte. »Ganz gewiß stimmt das. In deinem Wachtturm wird uns, nachdem wir gegessen haben, niemand mehr stören. Dann kann Marcus alles berichten.« Plötzlich kräuselte sich sein Gesicht in tausend Lachfältchen, und er wechselte rasch den Ton, so daß die ganze Geschichte des verlorenen Adlers hinter einem seidenen Vorhang verborgen zu sein schien, der ihn allen Blicken entzog, bis die Zeit kam, wo man ihn wieder hervorholen und betrachten konnte. »Mir scheint, daß ich immer in einer glücklichen Stunde in dieses Haus komme. Das letztemal war es Wolf, der zurückkam, und diesmal bist du es, aber das macht kaum einen Unterschied.« Marcus sah auf Wolf nieder, der sich gegen ihn drängte, den Kopf erhoben, die Augen vor Wonne halb geschlossen. »Wir sind froh, daß wir uns wiederhaben, Wolf und ich«, sagte er. »Das sieht man. Es ist kaum zu glauben, daß ein Wolf so ein guter Freund werden kann. War er eigentlich sehr viel schwerer zu erziehen als ein Hund?« »Ich glaube, er war starrköpfiger und ganz bestimmt wilder. Aber Esca hat ihn hauptsächlich erzogen und nicht ich. Er kennt sich damit aus.« »Ah, natürlich.« Der Legat wandte sich zu Esca. »Du stammst doch von den Briganten ab? Mehr als einmal habe ich Wolfs Brüder zwischen den Hundemeuten deines Stammes laufen sehen, und ich habe mich immer gefragt – « Aber Marcus vernahm nichts mehr. Er hatte sich rasch gebückt und fuhr mit der Hand über den jungen Wolf, wobei er etwas bemerkte, was ihm in der ersten Freude des Heimkommens entgangen war. »Onkel Aquila, was habt ihr mit Wolf gemacht? Er besteht ja nur noch aus Haut und Knochen.« »Wir haben nichts mit Wolf gemacht«, sagte Onkel Aquila in höchst ärgerlichem Ton. »Wolf hat zu seinem eigenen Vergnügen 247
seinen schrecklichen Dickkopf durchgesetzt. Seit du weg bist, hat er von niemandem Futter angenommen als von diesem Kind Cottia, und seit sie fort ist, hat er es vorgezogen zu verhungern. Dieses Biest wollte einfach mitten zwischen uns krepieren, während der ganze Haushalt ihn umschwärmte wie die Schmeißfliegen einen an Land gespülten Fisch.« Marcus hatte aufgehört, Wolf liebevoll über den Nacken zu streicheln, und er fühlte, wie etwas in seinem Innern sich zusammenkrampfte und kalt wurde. »Cottia«, sagte er. »Wohin ist Cottia gegangen?« Er hatte kaum an sie gedacht in all den Monaten, die er weggewesen war – nur zweimal; aber ihm wurde die Zeit sehr, sehr lang, ehe sein Onkel antwortete. »Nur nach Aquae Sulis für den Winter. Ihre Tante Valaria entdeckte, daß sie unbedingt die Brunnen trinken muß und zog vor ein paar Tagen mit dem ganzen Haushalt um.« Marcus stieß die Luft aus, die er angehalten hatte. Er fing an, mit Wolfs Ohren zu spielen, die er wieder und wieder durch seine Finger gleiten ließ. »Hat sie irgendeine Nachricht fü r mich hinterlassen?« »Sie kam wutentbrannt am Tage, bevor sie weggezerrt wurde, zu mir, um deinen Armreifen zu bringen.« »Hast du ihn genommen?« »Nein. Da du ihn ihr übergeben hattest, sagte ich ihr, daß ich es am besten fände, wenn sie ihn behielte, bis sie im Frühling wiederkäme und ihn dir selbst geben könnte. Ich versprach ihr auch, dir zu sagen, daß sie im Winter gut auf ihn achtgeben würde.« Er streckte seine blaugeäderte Hand über das Kohlenbecken, um sie zu wärmen, und sah lächelnd auf sie herab. »Sie ist eine Füchsin, die Kleine, aber eine treue Füchsin.« »Ja«, sagte Marcus. »Ja… wenn du erlaubst, will ich jetzt Wolf nehmen und ihn füttern.« Esca, der die Fragen des Legaten über das Zähmen von Wolfsjungen beantwortet hatte, sagte schnell: »Laß mich ihn nehmen.« 248
»Wenn wir beide gehen, können wir vielleicht inzwischen etwas von unserem Reisestaub abwaschen, während wir für Wolf sorgen. Haben wir Zeit dafür, Onkel Aquila?« »Zeit in Hülle und Fülle«, sagte sein Onkel. »Das Essen wird bestimmt auf Jupiter weiß was für eine Stunde verschoben, weil Sassticca euch zu Ehren ihre sämtlichen Vorräte plündert.« Onkel Aquila hatte nur allzu recht. Marcus zu Ehren plünderte Sassticca ihre Vorräte mit wahrer Wonne; und das Traurige dabei war, daß sie es so gut wie umsonst tat. Jedenfalls für Marcus war dieses Essen etwas vollkommen Unwirkliches. Er war so müde, daß ihm das milde Licht der Palmöl- Lampen wie ein goldener Nebel schien, daß er nichts von dem schmeckte, was er aß, und daß er nicht einmal die Handvoll regennasse Krokus bemerkte, die Sassticca, stolz darauf, daß sie römische Sitten kannte, über den Tisch verstreut hatte. Nachdem sie so oft im Freien oder neben Torffeuern hockend gegessen hatten, war es seltsam, wieder an einem gepflegten Tisch zu essen, die glattrasierten Gesichter und die weichen, weißen Tuniken der anderen Männer zu sehen – Esca hatte eine von ihm geborgt -, seltsam, die ruhigen, festen Stimmen seines Onkels und des Legaten zu hören, wenn sie sich unterhielten. Sehr seltsam, wie etwas aus einer anderen Welt, aus einer vertrauten Welt, die plötzlich so fern war. Er hatte fast vergessen, was man mit einem Mundtuch tut. Nur Esca, dem man ansah, wie merkwürdig und unbequem er es fand, auf den linken Ellenbogen gestützt im Liegen zu essen, war in dieser seltsamen, brüchigen Unwirklichkeit etwas Wirkliches. Es war eine unbehagliche Mahlzeit, bei der alle schnell und ohne viel zu reden aßen, denn sie dachten alle vier an das gleiche, das sorgfältig hinter seinem seidenen Vorhang verborgen war und das jede andere Unterhaltung sinnlos erscheinen ließ. Es war ein seltsames Begrüßungsessen, über dem der Schatten des verlorenen Adlers lag; und Marcus war dankbar, als Onkel Aquila endlich den Krug niedersetzte, nachdem er das letzte Opfer gespendet hatte, und sagte: »Wollen wir nun in mein Studierzimmer gehen?« Als Marcus den beiden älteren Männern folgte, noch einmal mit dem Adler im Arm, und schon vier oder fünf von den Stufen zum 249
Wachtturm hoch war, merkte er, daß Esca nicht hinter ihm war, und als er sich umblickte, sah er ihn noch unten an der Treppe stehen. »Ich will lieber nicht mitkommen«, sagte Esca. »Nicht mitkommen? Aber du mußt kommen!« Esca schüttelte den Kopf. »Es geht nur dich und deinen Onkel und den Legaten an.« Marcus kam, wie immer von Wolf gefolgt, die Stufen wieder herunter. »Es geht uns alle vier an. Was hast du für Grillen im Kopf, Esca?« »Ich darf und will nicht in das Zimmer deines Onkels gehen«, sagte Esca düster. »Ich bin Sklave in seinem Haus gewesen.« »Du bist kein Sklave mehr.« »Nein, ich bin jetzt dein Freigelassener. Es ist merkwürdig. Ich habe erst heute abend daran gedacht.« Auch Marcus hatte nie daran gedacht, aber er wußte, daß es wahr war. Man konnte einen Sklaven freilassen, aber nichts konnte die Tatsache auslöschen, daß er Sklave gewesen war; und zwischen ihm, einem freigelassenen Mann, und zwischen jedem freien Mann, der nie unfrei gewesen war, würde immer ein Unterschied sein. Wo die römische Lebensweise auch galt, würde dieser Unterschied bestehen bleiben. Darum hatte es in all den Monaten, da sie weggewesen waren, nichts ausgemacht; darum machte es jetzt etwas aus. Plötzlich fühlte er sich niedergeschlagen und hilflos. »Du hast es nicht gespürt, bevor wir in den Norden gingen. Warum ist es jetzt anders?« »Das war zuerst. Ich hatte noch keine Zeit gehabt, es zu – verstehen. Ich wußte nur, daß ich frei war – ein Hund ohne Leine; und eines Morgens ließen wir das alles hinter uns. Nun sind wir zurückgekommen.« Ja, sie waren zurückgekommen und mußten der Sache ins Gesicht sehen, und zwar sofort. Impulsiv streckte Marcus seine freie Hand aus und faßte seinen Freund keineswegs sanft an der Schulter. »Hör mich an«, sagte er. »Willst du den ganzen Rest deines Lebens so verbringen wie einer, der einmal ausgepeitscht worden ist und es 250
nicht vergessen kann? Wenn du das vorhast, tust du mir leid. Du bist nicht gern ein freigelassener Mann, was? Nun, ich bin auch nicht gern lahm. Wir sind also zwei, und wir können nur eins tun, du und ich, nämlich lernen, unsere Wunden mit Anstand zu tragen.« Er rüttelte die Schulter freundschaftlich und ließ seine Hand fallen. »Komm nun mit mir nach oben, Esca!« Esca antwortete nicht gleich. Dann hob er langsam den Kopf, und in seinen Augen zuckte ein Blick auf, der immer in ihnen stand, wenn es zum Kampf ging. »Ich komme«, sagte er. Als sie in Onkel Aquilas Wachtturm eintraten, standen die beiden älteren Männer bei dem schmiedeeisernen Kohlenbecken, das in der Nische an der anderen Seite des Raumes rot glühte. Sie sahen sich um, als Marcus und Esca kamen, aber niemand sprach; nur der Regen plätscherte leise und sanft an die schmalen Fenster. Der kleine, vom Lampenlicht erhellte Raum lag weit außerhalb der Welt, sehr hoch über ihr. Marcus war es, als ob unermeßliche Tiefen in der Dunkelheit lägen, als ob er vom Fenster aus hinunterblicken könnte und der Orion wie ein Fisch unter ihm schwämme. »Nun?« fragte Onkel Aquila endlich, und das Wort fiel hart in die Stille wie ein Kieselstein in einen Teich. Marcus ging zu dem Schreibtisch hinüber und legte sein Bündel hin. Wie armselig und ungestalt es aussah, wie ein Bündel mit Stiefeln oder mit Wäsche. »Er hat seine Flügel verloren«, sagte er. »Darum wirkt er so klein.« Der seidene Vorhang war nun beiseite gezogen, und damit war die brüchige Hülle des Alltäglichen, das sie den ganzen Abend bewahrt hatten, zerbrochen. »Das Gerücht war also doch wahr«, meinte der Legat. Marcus nickte und begann, das unförmige Ding auszuwickeln. Er schlug die letzte Falte zurück, und da stand auf dem auseinandergeschlagenen, zerfetzten violetten Tuch der verlorene Adler, plump und ohne Würde, aber dennoch irgendwie voll Macht, auf seinen ausgespreizten Beinen. Die leeren Flügellöcher waren schwarz in dem Lampenlicht, das auf den vergoldeten Federn das tiefe Gelb von Ginsterblüten aufleuchten ließ. Ein wilder Stolz ging von 251
dem erhobenen Kopf aus. Wenn er auch flügellos war und ohne seinen alten Rang, war er doch immer noch ein Adler; und nach seiner zwölfjährigen Gefangenschaft war er zu seinem eigenen Volk zurückgekehrt. Eine ganze Weile sagte niemand etwas, und dann fragte Onkel Aquila: »Wollen wir uns dabei nicht hinsetzen?« Marcus ließ sich dankbar auf einer Seite der Bank nieder, die Esca an den Tisch gerückt hatte, denn er stand nur noch unsicher auf seinem verletzten Bein. Er war sehr glücklich, daß Wolf seine Schnauze zufrieden auf seinen Fuß legte und daß Esca neben ihm saß, als er anfing zu berichten. Er sprach klar und überlegt und beschönigte nichts von den Geschichten, die Guern der Jäger und der alte Tradui ihm erzählt hatten, obwohl es ihm manchmal schwer wurde, sie weiterzugeben. Wenn es Zeit war, ließ er Esca für sich selber sprechen. Und niemals ließ er die Augen von dem gespannten Gesicht des Legaten. Der Legat saß ein wenig nach vorn gebeugt in Onkel Aquilas großem Stuhl, die Arme auf dem Tisch vor sich gekreuzt, das Gesicht, in dem sich auf der Stirn noch eine schwache rote Schwiele vom Helmrand abzeichnete, vor den Schatten im Hintergrund wie eine scharf geschnittene goldene Maske. Niemand regte sich oder sprach, als der Bericht zu Ende war. Marcus selbst saß sehr still und forschte in den schmalen schwarzen Augen nach ihrem Urteil. Der Regen trommelte nun ungeduldig gegen das Fenster. Dann machte Claudius Hieronimianus eine Bewegung, und der Bann war gebrochen. »Ihr habt es gut gemacht, alle beide«, sagte er, und er blickte von Marcus zu Esca und wieder zurück und zeigte, daß er sie beide meinte. »Es ist euch zu danken, daß eine Waffe, die eines Tages gegen das Römische Reich hätte gebraucht werden können, niemals ge gen uns verwendet werden kann. Ich begrüße zwei sehr tapfere Verrückte.« »Und – die Legion?« »Nein«, sagte der Legat. »Daraus wird nichts.« Da hatte Marcus sein Urteil. Es hieß »Daumen nach unten« für die Neunte Legion. Er hatte geglaubt, daß er das seit jener Nacht gewußt habe, als er Guerns 252
Bericht gehört hatte. Nun spürte er, daß es ihm nie recht klar gewesen war. Im Innersten seines Herzens hatte er sich wider alle Vernunft an die Hoffnung geklammert, daß sein eigenes Urteil doch nicht das endgültig richtige sei. Er kämpfte noch einen letzten verzweifelten Kampf für seines Vaters Legion, und er wußte von Anfang an, daß er vergeblich war. »Herr, mehr als drei Kohorten blieben zurück, als die Legion nach Norden marschierte. Viele Legionen sind wieder aufge stellt worden, in denen weniger Überlebende übrig waren – wenn der Adler noch in römischer Hand war.« »Diese Kohorten wurden vor zwölf Jahren aufgelöst und auf andere Legionen des Römischen Imperiums verteilt«, sagte der Legat sehr freundlich. »Inzwischen wird mehr als die Hälfte der Männer ausgedient haben, und alle anderen haben schon lange ihrem neuen Adler Treue geschworen. Wie du selbst sagtest, ist der Name und die Nummer der Neunten Spanischen Legion kein Erbe, das man einer neuen Legion übergeben kann. Es ist besser, wenn sie vergessen wird.« »Es gibt kein Zurück durch die Wasser der Lethe.« Hinter den Worten des Legaten meinte Marcus, Guern den Jäger zu hören. »Kein Zurück durch die Wasser der Lethe – kein Zurück -« Onkel Aquila stand polternd vom Tisch auf. »Und ihr letzter Widerstand, von dem uns Marcus eben erzählt hat? Ist das nicht ein Erbe, das jeder Legion würdig ist?« Der Legat rückte ein bißchen in seinem Stuhl, um zu ihm aufzublicken. »Die Tapferkeit von einer Handvoll Männer kann nicht gegen das Verhalten einer ganzen Legion in die Waagschale geworfen werden«, sagte er. »Das mußt du einsehen, Aquila, auch wenn einer von ihnen dein Bruder war.« Onkel Aquila brummte grimmig, und der Legat wandte sich wieder an Marcus. »Wie viele Menschen wissen, daß der Adler wieder hier ist?« »Im Süden vom Wall wir vier, dein eigener Lagerkommandant, dem du es wohl selbst gesagt hast, und der Kommandeur der Festung von Borcovicus. Er war mein alter Stellvertreter in Isca 253
Dumnoniorum, der seine Kohorte für die Verteidigung der Festung bekam, nachdem ich verwundet wurde. Wir haben sorgfältig vermieden, daß irgend jemand in Borcovicus hörte, was los war, und er wird nichts sagen, ehe ich es ihm erlaube. Es könnten natürlich Gerüchte aus dem Norden durchsickern, aber wenn das passieren sollte, werden sie genauso verstummen wie die ersten.« »Das glaube ich auch«, bemerkte der Legat. »Selbstverständlich muß ich die ganze Sache vor den Senat bringen. Aber ich bin nicht im Zweifel über seinen Spruch.« Onkel Aquila machte eine schnelle, ausdrucksvolle Bewegung, als ob er etwas abwürgte und ins Kohlenbecken schleuderte. »Was soll aus dem da werden?« fragte er, indem er mit dem Kopf auf den trotzig dastehenden Adler wies. »Gebt ihm ein ehrenvolles Begräbnis«, sagte der Legat. »Wo?« fragte Marcus nach einer Weile mit rauher Kehle. »Warum nicht hier in Calleva? Hier treffen fünf Straßen aufeinander, und die Legionen ziehen durch, während der Ort selbst keiner besonderen Legion gehört.« Er beugte sich vor, um mit einem Finger leise über die vergoldeten Federn zu streichen, und das Lampenlicht lag auf seinem nachdenklichen Gesicht. »Solange das Römische Reich besteht, werden Adler unter den Mauern von Calleva hin- und herziehen. Könnte es einen besseren Platz für ihn geben?« Onkel Aquila sagte: »Als ich dieses Haus baute, hatte es hier in der Gegend Unruhen gegeben, und so ließ ich unter dem Boden des Hausschreines ein kleines Versteck einbauen, wo ich notfalls meine Papiere unterbringen könnte. Da kann er liegen und vergessen werden.« Sehr viel später in jener Nacht standen sie alle vier vor dem kleinen, in die Wand eingelassenen Hausschrein am Ende des Atriums. Die Sklaven waren schon längst in ihren eigenen Räumen, und sie hatten das Haus und seine Stille für sich allein. Eine Bronzelampe auf dem Altar ließ eine hohe Flamme aufzüngeln, die wie ein wunderbar gebildetes Lorbeerblatt aussah; und bei ihrem Schein war es, als ob 254
die Hausgötter aus ihren Nischen in der weißgetünchten Wand zusammen mit den vier Männern auf das kleine, viereckige Loch in dem Mosaikboden vor dem Schrein herabschauten. Marcus hatte den Adler aus dem Wachtturm heruntergeholt, und er trug ihn in seinem angewinkelten Arm, wie er ihn so viele Meilen getragen und wie er so viele Nächte mit ihm geschlafen hatte. Und während die anderen schweigend zuschauten, kniete er nieder und legte ihn in das kleine eckige Loch, das durch die Warmwasserheizung bis in die dunkle Erde hinunterreichte. Er war nicht mehr in dem zerfetzten, violetten Tuch, sondern er hatte ihn in seinen alten Soldatenmantel gehüllt und schlug das rote Tuch liebevoll über ihm zusammen. Er war sehr stolz gewesen, daß er diesen Mantel tragen durfte; und darum war er nun seines Vaters Adler würdig. Die vier Männer standen mit gesenkten Köpfen. Drei von ihnen hatten zu ihrer Zeit bei den Adlern gedient, einer war in Sklaverei geraten, weil er die Waffen gegen sie erhoben hatte; aber in diesem Augenblick gab es keinen Riß zwischen ihnen. Der Legat trat an den Rand des eckigen Loches und sah hinunter in die Tiefe, in die das Lampenlicht nicht hinunterreichte, so daß das Scharlachrot von Marcus’ Mantel kaum mehr zu erkennen war. Er hob eine Hand und begann sehr schlicht das Valedictori zu sprechen, die Abschiedsworte, die man sonst für einen toten Kameraden sprach. Plötzlich meinte Marcus durch all seine Müdigkeit hindurch noch andere Menschen vor dem lampenerhellten Schrein zu bemerken; zwei waren deutlich: ein schlanker dunkler Mann mit begeisterten Zügen unter dem großen Helmbusch eines Kohortenführers, und ein Britannier mit strubbeligem Haar in einem gelben Kilt. Und als er den Britannier ansah, verschwand er und statt dessen war der junge Centurio da, der er einst gewesen war. »Hier liegt der Adler der Neunten Legion, der Spanischen«, sagte der Legat. »Oft hat er Ruhm erworben im Kampf gegen Feinde vor den Grenzen und gegen Rebellion im eigenen Land. Schmach ist über ihn gekommen; aber zuletzt wurde er ehrenhaft verteidigt, bis die letzten, die ihn trugen, unter seinen Flügeln starben. Er hat tapfere Männer angeführt. Hier soll er liegen und vergessen werden.« 255
Er trat zurück. Esca sah Onkel Aquila fragend an, dann bückte er sich auf ein Zeichen von ihm nach der Mosaikplatte, die an der Wand stand, und setzte sie sorgfältig in die offene Stelle über dem Loch ein. Es war gut gemacht, dieses Versteck, das Onkel Aquila für seine Papiere vorbereitet hatte; als die Mosaikplatte eingesetzt und das Muster wieder vollständig war, war nichts mehr zu sehen als eine kaum wahrnehmbare Spalte, die gerade breit genug für eine Messerklinge war. »Morgen wollen wir es versiegeln«, bestimmte Onkel Aquila schwer atmend. Der leichte, feuchte Wind trug die langgezogenen, geisterhaften Töne der Trompeten aus dem Durchgangslager, die zur dritten Nachtwache riefen, leise in ihre Stille. Marcus, der immer noch unbewußt auf den Fleck starrte, wo das Loch gewesen war, kam es vor, als bliesen sie in unsäglicher Traurigkeit für den verlorenen Adler und für die verlorene Legion, die in den Nebel ausmarschiert und niemals zurückgekommen war. Dann aber, als die fernen Trompeten zu dem leuchtenden Ruf übergingen, der das Signal beendete, fiel das Gefühl des Umsonst von ihm ab wie ein zerfetzter Mantel, und er wußte wieder, wie damals in dem verfallenen Signalturm, als die große Jagd unter ihnen zu Ende ging, daß sich alles doch gelohnt hatte. Es war ihm nicht gelungen, seines Vaters Legion wieder erstehen zu lassen, damit war es für immer vorbei, aber der verlorene Adler war wieder bei seinem Volk und konnte nicht mehr als Waffe gegen es verwand t werden. Er hob seinen Kopf gleichzeitig mit Esca, und ihre Augen begegneten sich. Gute Jagd? schien Esca zu fragen. »Es war eine gute Jagd«, sagte Marcus.
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Der Vogel aus Olivenholz Dieser Winter war nicht einfach für Marcus. Monatelang hatte er sein krankes Bein rücksichtslos überanstrengt, und als die übermäßige Beanspruchung vorbei war, fing es plötzlich an, Rache zu nehmen. Es war nicht der Schmerz, der ihn bekümmerte, außer wenn er ihm nachts den Schlaf raubte, sondern was ihn aufs tiefste beunruhigte, war die Tatsache, daß die alte Wunde ihm wieder so zu schaffen machte, nachdem er geglaubt hatte, nun sei alles gut. Er fühlte sich krank und war rasend ungeduldig; und er vermißte Cottia an den langen Wintertagen mehr als je zuvor. Außerdem bedrückte ihn die Frage, was aus ihm werden sollte. Für Esca sah die Zukunft einfacher aus – jedenfalls was sein äußeres Leben anging. »Ich bin dein Waffenträger, wenn ich auch nicht mehr dein Sklave bin«, sagte er, als sie die Frage besprachen. »Ich will dir dienen, und du gibst mir zu essen, und ab und zu will ich vielleicht noch einmal Jäger sein, das bringt mir von Zeit zu Zeit eine Sesterze ein.« Noch bevor das Jahr sich wendete, hatte Marcus mit seinem Onkel über seinen alten Plan gesprochen, bei irgend jemand Sekretär zu werden. Aber Onkel Aquila hatte die Idee mit ein paar wohlgezielten und verächtlichen Worten beiseite geschoben, und als Marcus beharrlich an seinem Plan festhielt, hatte der Onkel ihm das Versprechen abgenommen, wenigstens zu warten, bis er wieder bei Kräften sei. Das Jahr schleppte sich hin, es wurde langsam Frühling, und Marcus’ Bein wurde wieder kräftiger. Der März kam, und der Wald unter den Wällen rötete sich von den steigenden Säften, und die vielen Dornbüsche, denen er seinen Namen verdankte, befiederten die bewaldeten Hügel mit Weiß. Und ganz plötzlich erwachte Kaesos Haus. Ein paar Tage lang war ein Kommen und Gehen von geschäftigen Sklaven, Wandteppiche wurden vor der Tür ausgeschüttelt, und der Rauch der neu angezündeten Warmwasserheizung trieb in die Sklavenquartiere von Onkel Aquilas 257
Haus und schuf Verstimmung zwischen den beiden Haushalten. Dann trafen Marcus und Esca eines Abends, als sie von den Bädern zurückkamen, ein Leihgespann mit Maultieren, das leer von Kaesos Haus zurückkam, und sahen, daß eine Menge Gepäck nach drinnen getragen wurde. Die Familie war wieder da. Am nächsten Morgen ging Marcus in den unteren Teil des Gartens und pfiff nach Cottia, wie er immer getan hatte. Es war ein wilder Tag mit tobendem Wind und einem dünnen, glänzenden Regen, und die kleinen, einheimischen Narzissen im Winkel am Wall wankten und schwankten unter den Windstößen wie die Spitzen von windgepeitschten Flammen, durch deren Zungen eine grelle Sonne dringt. Cottia kam aus der gleichen Richtung wie der Wind, hinten um die wogende Ecke herum und begegnete ihm unter den kahlen Obstbäumen. »Ich hörte dich pfeifen«, sagte sie, »und da kam ich. Ich habe dir deinen Armreifen wieder mitgebracht.« »Cottia!« rief Marcus. »Cottia, wahrhaftig!« und er stand da und sah sie an, ohne eine Bewegung zu machen, um ihr den Armreifen abzunehmen, den sie ihm entgegenstreckte. Es war fast ein Jahr her, daß sie sich das letztemal gesehen hatten, aber er hatte gedacht, sie wäre noch genau die gleiche. Aber sie war nicht mehr die gleiche. Sie stand vor ihm und war viel größer geworden, hatte den Kopf zurückgeworfen und erwiderte seinen Blick, wobei sie plötzlich etwas unsicher wurde. Sie hatte sich fest in ihren grüngoldenen Umhang gehüllt, den sie über der schlichten weißen Tunika trug; ein Ende des Umhangs, den sie über dem Kopf gehabt hatte, war zurückgefallen, und ihr flammendes Haar, das sonst frei herumgeflattert war, war zu einer glänzenden Haarkrone geflochten, so daß sie mehr denn je ihren Kopf trug wie eine Königin. Auf ihren Lippen lag ein leichtes Rot, ihre Augenbrauen waren geschwärzt, und im Ohr hatte sie einen kleinen Goldschmuck. »Wahrhaftig, Cottia«, sagte er wieder, »du bist groß geworden«, und dabei spürte er plötzlich, daß er etwas verloren hatte. »Ja«, antwortete Cottia. »Magst du mich so groß?« 258
»Ja – ja, natürlich«, sagte Marcus. »Danke, daß du meinen Armreifen für mich aufbewahrt hast. Onkel Aquila hat mir erzählt, daß du ihn deswegen gefragt hast, als du weg mußtest.« Er nahm ihr den schweren goldenen Armreifen ab und legte ihn sich um das Handgelenk, während er sie immer noch anschaute. Er wußte nicht mehr, wie er mit ihr reden sollte, und als das Schweigen andauerte, fragte er mit verzweifelter Höflichkeit: »Warst du gern in Aquae Sulis?« »Nein!« Cottia spuckte das Wort durch ihre kleinen scharfen Zähne, und ihr Gesicht war plötzlich zornerfüllt. »Ich haßte jeden Augenblick in Aquae Sulis! Ich wollte überhaupt nicht hin, ich wollte auf dich warten, weil du mir gesagt hattest, daß du vielleicht vor dem Winter zurück sein würdest. Und den ganzen Winter habe ich kein Wort von dir gehört, nur eine kleine – kleine Nachricht in irgend so einem dummen Brief, den dein Onkel an meinen schickte wegen der neuen Wasserversorgung der Stadt; und ich habe gewartet und gewartet, und nun freust du dich nicht einmal, mich wiederzusehen! Glaub nur nicht, daß ich mich freue, dich wiederzusehen!« »Du kleine Füchsin!« Marcus erfaßte ihre Handgelenke, als sie wegrennen wollte, und drehte sie zu sich um. Plötzlich fing er leise an zu lachen. »Aber ich freue mich, dich zu sehen! Du weißt nicht, wie sehr ich mich freue, Cottia!« Sie zerrte sich von ihm fort und versuchte, ihre Handgelenke freizubekommen, aber bei seinen Worten hörte sie auf und sah zu ihm auf. »Ja, jetzt bist du froh«, bemerkte sie erstaunt. »Aber warum warst du es nicht gleich?« »Ich erkannte dich zuallererst nicht wieder.« »Oh«, sagte Cottia, der die Worte fehlten. Sie schwieg einen Augenblick und fragte plötzlich besorgt: »Wo ist Wolf?« »Er umschmeichelt Sassticca wegen eines Knochens. Er wird jetzt gefräßig.« Sie atmete erleichtert auf. »Es ging ihm also gut, als du nach Hause kamst?« 259
»Er war sehr mager, weil er nicht mehr fressen wollte, als du weg warst. Aber nun geht es ihm wieder gut.« »Das habe ich mir gedacht; daß er halb verhungern würde, meine ich. Das war ja einer der Gründe, warum ich nicht nach Aquae Sulis wollte. Aber ich konnte ihn nicht mitnehmen, wirklich nicht, Marcus. Tante Valaria hätte das niemals erlaubt.« »Davon bin ich auch überzeugt«, sagte Marcus, und es zuckte bei der Vorstellung um seinen Mund, daß jemand Tante Valaria vorschlagen könnte, sie solle einen jungen Wolf mit in einen modernen Badeort nehmen. Inzwischen saßen sie Seite an Seite auf Marcus’ Mantel, den er über die feuchte Marmorbank gebreitet hatte, und nach einer kleinen Weile fragte Cottia: »Hast du den Adler gefunden?« Er blickte sie an, indes seine Hände auf seinen Knien ruhten. »Ja«, sagte er endlich. »Oh, Marcus, ich bin froh! So froh! Und nun?« »Gar nichts.« »Aber die Legion?« Sie sah ihm fragend in die Augen, und der Funken in ihren erlosch. »Wird es nun doch keine neue Neunte Legion geben?« »Nein, es wird nie wieder eine Neunte Legion geben.« »Aber Marcus -« begann sie und brach dann ab. »Nein, ich will keine Fragen stellen.« Er lächelte. »Eines Tages werde ich dir vielleicht einmal die ganze Geschichte erzählen.« »Ich werde warten«, sagte Cottia. Eine ganze Weile saßen sie so da, wechselten dann und wann ein Wort, schwiegen aber meistens und sahen sich von Zeit zu Zeit mit einem raschen Lächeln an und blickten dann wieder weg, denn sie fühlten plötzlich eine merkwürdige Scheu voreinander. Auf einmal erzählte ihr Marcus, daß Esca nun kein Sklave mehr sei. Er dachte, das würde sie überraschen, aber sie sagte nur: »Ja, das hat Nissa mir erzählt, als ihr eben fort wart, und ich war froh – für euch beide.« Und dann schwiegen sie wieder. 260
Hinter ihnen in den kahlen, schwankenden Zweigen des wilden Birnbaums begann eine Amsel mit einem krokusfarbenen Schnabel zu flöten, und der Wind fing die perlenden Töne auf, wirbelte sie hoch und ließ sie auf sie niederregnen. Sie wandten sich zusammen um und blickten zu dem Sänger auf, der vor dem kalten, windgejagten Blau des Himmels auf- und niederschaukelte. Marcus sah mit zusammengekniffenen Augen in das dünne, helle Sonnenlicht und pfiff zurück, und der Vogel, der auf dem windgepeitschten Ast aufund abgeblasen wurde, schien ihm mit freudegeschwellter Kehle zu antworten. Dann segelte eine Wolke vor die Sonne, und die leuchtende Welt wurde in Schatten getaucht. Im gleichen Augenblick hörten sie ein Pferd die Straße herunterkommen, dessen Hufschläge laut auf der nassen Straße klangen. Es hielt vor dem Haus oder dem Nebenhaus an, Marcus konnte nicht genau hören, vor welchem. Die Amsel sang noch immer, aber als er sich umwandte und Cottia ansah, schien ein Schatten auf sie gefallen zu sein, der nicht nur von der vorüberziehenden Wolke kam. »Marcus, was willst du denn nun tun?« fragte sie plötzlich. »Nun?« »Nun, wo du wieder gesund bist. Du bist doch wieder gesund?« Dann hastig: »Nein, ich glaube das nicht, denn du humpeltest eben mehr als das letztemal, als ich dich sah.« Marcus lachte. »Ich habe den ganzen Winter gelegen wie ein kranker Dachs, aber jetzt komme ich mächtig voran.« »Ist das die Wahrheit?« »Das ist die Wahrheit.« »Was – was willst du denn tun? Willst du wieder in die Legionen zurück?« »Nein. Bei einem kleinen Scharmützel wäre ich wohl ganz brauchbar, aber ich könnte meine Kohorte nicht in Tagesmärschen von zwanzig Meilen von Portus Itius nach Rom bringen, und für den Paradeplatz tauge ich bestimmt nicht mehr.« 261
»Für den Paradeplatz!« sagte Cottia verächtlich. »Ich habe sie durch die Tore des Durchgangslagers auf dem Paradeplatz gesehen. Sie marschieren gerade ausgerichtet mit gleichmäßig geschwenkten Beinen herum und machen komische Figuren, während ein Mann mit einer Stimme wie ein Bulle sie anschreit. Was hat das mit dem Führen von Kriegen zu tun?« Marcus raffte eilig seinen ganzen Witz zusammen, um Cottia klarzumachen, was das mit dem Führen von Kriegen zu tun habe, aber er brauchte sich nicht um weitere Erklärungen zu bemühen, denn sie fuhr hastig fort, ohne auf eine Antwort zu warten: »Wenn du also nicht in die Legion zurück kannst, was willst du dann tun?« »Das – das weiß ich noch nicht genau.« »Vielleicht gehst du in deine Heimat«, sagte sie; und dann schien ihr plötzlich klarzuwerden, was ihre Worte bedeuteten, und ihre Augen waren schreckerfüllt. »Du gehst nach Rom zurück und nimmst Wolf und Esca mit!« »Ich weiß es nicht, Cottia, ich weiß es wirklich nicht. Aber ich glaube keinen Augenblick, daß ich je wieder nach Hause gehe.« Aber Cottia schien ihn nicht zu hören. »Nimm mich mit.« Plötzlich nahm ihre Stimme einen flehentlichen Klang an. »Sie bauen bald die Stadtmauer hier herum, und du darfst mich nicht einfach in einem Käfig sitzen lassen! Das darfst du nicht! Oh, Marcus, nimm mich mit!« »Auch wenn es Rom wäre?« fragte Marcus, dem plötzlich einfiel, wie sehr ihr von jeher alles Römische verhaßt war. Cottia rutschte von der Bank und wandte sich ihm zu, als er auch aufstand. »Ja«, sagte sie. »Überallhin, wenn es nur mit dir ist.« Marcus fühlte zwei Wellen über sich zusammenschlagen, die so dicht zusammen waren, daß sie fast wie eine schienen. Die erste war die freudige Überraschung, etwas gewonnen zu haben, die zweite die Verzweiflung, es wieder zu verlieren… Wie sollte er Cottia erklären, daß er sie nicht mitnehmen könne, da er nichts in der Welt besaß und nicht einmal wußte, was er anfangen sollte? »Cottia«, fing er unglücklich an. »Cottia, es hat keinen Sinn -« 262
Aber ehe er weitersprechen konnte, hörte er Esca mit aufgeregter Stimme rufen. »Marcus, wo bist du, Marcus?« »Hier unten. Ich komme«, rief er zurück und griff nach Cottias Hand. »Komm jetzt erst einmal mit mir.« Der Regen umsprühte sie nun von allen Seiten, aber die Sonne schien gleichzeitig, und der Regen funkelte im Fallen. Wolf kam ihnen bei den Stufen zum Hof entgegen und rannte freudig bellend um sie herum, während sein kurzer, buschiger Schwanz wackelte. Und Esca kam dicht hinter Wolf her. »Dies ist eben für dich angekommen«, sagte er und hielt eine dünne, versiegelte Papyrusrolle hoch. Marcus nahm ihm die Rolle ab und zog die Brauen hoch, als er das Zeichen der Sechsten Legion auf dem Siegel sah, während Cottia und Esca und Wolf sich auf ihre Weise begrüßten. Als er eben dabei war, das Siegel zu erbrechen, sah er Onkel Aquila auf sich zukommen. »Wenn man sehr alt wird, hat man das Vorrecht, neugierig zu sein«, sagte Onkel Aquila, der auf die Gruppe im Eingang zum Säulengang heruntersah. Marcus rollte das knisternde Papyrusblatt auf. Er war von dem hellen Tageslicht halb geblendet, und die geschriebenen Worte schienen inmitten von roten und grünen Wolken zu verschwimmen. »Gruß dem Centurio Marcus Flavius Aquila von Claudius Hieronimianus, Legat der Sechsten Victrix«, begann der Brief. Er überflog die wenigen, dichtgeschriebenen Zeilen, sah dann auf und fand Cottias große, goldene Augen fest auf sich gerichtet. »Bist du eine Hexe aus Thessalien, die den Mond vom Himmel holen und sich aus ihm ein Netz für ihr Haar machen kann? Oder hast du nur das zweite Gesicht?« fragte er und wandte sich wieder dem Brief in seiner Hand zu. Er begann ihn ein zweites Mal zu lesen, sorgfältiger jetzt, und nun ging ihm auf, was er beim erstenmal kaum verstanden hatte, und er erzählte ihnen beim Lesen das Wichtigste. »Der Legat hatte die Sache dem Senat vorgelegt, und der Beschluß des Senats war, wie wir vermutet haben. Aber er sagt, daß ›in 263
Anerkennung der Verdienste um den Staat, die nichts an Wert einbüßen, wenn sie auch nicht öffentlich bekanntgemacht werden können…‹« Er blickte schnell auf. »Esca, du bist ein Römischer Bürger.« Esca war verwirrt, fast ein bißchen mißtrauisch. »Ich weiß nicht, ob ich das recht verstehe. Was bedeutet das?« Es bedeutete so viel: Rechte und Pflichten. Es konnte sogar auf eine Weise bedeuten, daß das gekappte Ohr ungültig wurde, denn wenn ein Mann Römischer Bürger war, war diese Tatsache viel gewichtiger als die Tatsache, daß er Sklave gewesen war. Esca würde das später schon noch merken. Für Esca war es seine Befreiung in Ehren: das hölzerne Rapier, das ein Gladiator bekam, der in der Arena seine Freiheit ruhmhaft errungen hat, es war die Lossprechung von aller Verschuldung. »Es ist, als ob sie dir dein hölzernes Rapier geben«, sagte er und sah, daß Esca, der einst Gladiator gewesen war, langsam zu verstehen begann, bevor er sich wieder seinem Brief zuwandte. »Der Legat schreibt, daß ich für den gleichen Dienst die Abfindung bekommen soll, die ein ausgedienter Kohorten-Centurio bekommt – im alten Stil, teils in Sesterzen, teils in Land.« Nach einer langen Pause las er Wort für Wort weiter. »Nach altem Herkommen wird das Land dir hier in Britannien geschenkt, da das die Provinz ist, in der du zuletzt als Soldat gedient hast. Aber ein guter Freund von mir, der im Senat sitzt, schreibt mir, daß es nicht schwierig sein dürfte, statt dessen Land in Etrurien zu bekommen, von wo du ja wohl stammst, falls du das wünschen solltest. Die amtlichen Dokumente werden euch zu ihrer Zeit erreichen, aber da die Verwaltungsmühlen bekanntlich langsam mahlen, hoffe ich, daß ich euch als erster die Nachricht sende…« Er hörte mit dem Lesen auf. Langsam sank die Hand, in der er den Brief des Legaten hielt, herunter. Er sah in die Gesichter, die ihn umgaben: in Onkel Aquilas alte Augen, die mit gelassenem Interesse beobachteten, wie ein Experiment ausging, in Escas Gesicht, das wachsam und gespannt war, in Cottias, das ganz plötzlich sehr spitz und weiß geworden war, auf Wolfs wachsamen, erhobene n Kopf. Gesichter. Und plötzlich hatte er den Wunsch, ihnen allen zu 264
entfliehen, sogar Cottia und sogar Esca. Sie gehörten alle zu seinen Plänen und Überlegungen, sie gehörten zu ihm und er zu ihnen, aber in diesem Augenblick wollte er allein sein, um sich darüber klar zu werden, was geschehen war, wollte niemanden dabei haben, der es noch schwieriger machte. Er wandte sich von ihnen ab, lehnte sich über die niedrige Mauer an den Treppen zum Hof und starrte über den regennassen Garten, wo die kleinen einheimischen Narzissen unzählig viele Punkte aus tanzenden Flammen unter den wilden Obstbäumen waren. Er konnte nach Hause gehen. Als er so dastand und die letzten, kalten Regentropfen ihm ins Gesicht schlugen, dachte er: »Ich kann nach Hause gehen«, und er sah die lange Straße vor sich, die nach Süden führte, die Straße der Legionen, weiß im etruskischen Sonnenlicht, sah die Höfe in den Terrassen mit Olivenbäumen und den traubendunklen Apennin dahinter. Ihm war, als spüre er den harzigen, würzigen Duft der Kiefernwälder, die sich bis zur Küste hinzogen, und den warmen Duft von Thymian, Rosmarin und wilden Zyklamen, der im Sommer über seinen heimatlichen Bergen lag. Zu all dem konnte er nun zurückgehen, zu den Bergen und zu dem Volk, bei dem er aufgewachsen war, nach denen er sich hier im Norden so bitterlich gesehnt hatte. Aber wenn er es tat, würde er dann nicht sein ganzes Leben lang einen anderen Hunger leiden? Nach anderen Düften und Landschaften und Lauten, nach dem bleichen, stets wechselnden nördlichen Himmel und dem Ruf des grünen Regenpfeifers? Plötzlich wußte er, warum Onkel Aquila in dieses Land zurückgekommen war, als seine Dienstzeit um war. Sein ganzes Leben lang würde er an seine eigenen Berge denken, manchmal würde er mit Sehnsucht an sie denken; aber Britannien war seine Heimat. Das überkam ihn nicht als eine neue Erkenntnis, sondern als ein altvertrautes Wissen, so daß er erstaunt war, daß ihm das nicht gleich klar gewesen war. Wolf schob seine kalte Schnauze unter seine Hand, und nach einem tiefen Atemzug wandte er sich den anderen wieder zu. Onkel Aquila hatte die Arme immer noch übereinandergeschlagen und den großen 265
Kopf ein wenig vornüber geneigt und blickte mit der gleichen Miene gelassenen Interesses vor sich hin. »Meine Glückwünsche, Marcus«, sagte er. »Mein Freund Claudius würde bestimmt nicht für jeden so schwitzen, wie er geschwitzt haben muß, um beim Senat Gerechtigkeiten zu erwirken.« »Ich weiß nicht, wie ich ihm danken soll«, erwiderte Marcus still. »Es ist ein neuer Anfang – ein neuer Anfang, Esca!« »Natürlich wird es eine ganze Weile dauern, bis der Austausch geordnet ist«, meinte Onkel Aquila nachdenklich. »Aber ich denke doch, daß ihr im Herbst in Etrurien sein könnt.« »Ich gehe nicht nach Etrurien zurück«, sagte Marcus. »Ich nehme mein Land hier in Britannien.« Er blickte zu Cottia. Sie stand noch genauso, wie sie gestanden hatte, seit er angefangen hatte, den Brief des Legaten vorzulesen, still und wartend wie eine Weide im Winter. »Also doch nicht Rom; aber du hast gesagt ›überallhin‹, das sagtest du doch, liebe Cottia?« fragte er und streckte ihr eine Hand entgegen. Sie blickte ihn einen kurzen Augenblick fragend an. Dann lächelte sie und raffte mit einer schnellen Bewegung ihren Umhang zusammen, als sei sie bereit, auf der Stelle mit ihm zu kommen, überallhin, wohin es auch sein mochte, und legte ihre Hand in seine. »Und nun muß ich wohl auch noch eure Sache mit Kaeso in Ordnung bringen«, sagte Onkel Aquila. »Bei Jupiter! Warum habe ich nie gemerkt, wie friedlich das Leben war, bevor du kamst!« An diesem Abend stieg Marcus, nachdem er dem Legaten in Escas und seinem Namen geantwortet hatte, zu seinem Onkel in den Wachtturm hinauf, während Esca dafür sorgte, daß der Brief abgeschickt wurde. Marcus lehnte an dem hohen Fenster, hatte die Ellenbogen auf das Fenstersims gestützt, das Kinn auf die Hände, und Onkel Aquila saß aufrecht an seinem Schreibtisch, umgeben von seiner Geschichte der Belagerungen. Der hohe Raum hielt das schwindende Tageslicht fest wie ein Gefäß, aber unten im Hof wurden die Schatten dichter, und die wogenden Wälder hatten die sanfte Farbe 266
von Rauch, als Marcus auf das vertraute, wellige Land der Downs schaute, die hinter den Wäldern begannen. Das Land der Downs, ja, das war das Land, das er bebauen wollte. Es gab Thymian für Bienen und gutes Weideland und vielleicht sogar einen Hang nach Süden, an dem er Terrassen für Wein anlegen konnte. Er und Esca und die Knechte, die sie sich leisten konnten, wenn das auch fürs erste kaum viele sein würden; aber sie würden es schon schaffen. Mit freien oder freigelassenen Männern zu arbeiten, würde ein Wagnis sein, aber manche hatten es schon vor ihm versucht, wenn auch nicht viele. Durch Esca hatte er eine tiefe Abneigung dagegen, menschliche Wesen als Eigentum zu haben. »Wir haben es besprochen, Esca und ich; wenn ich bei der Sache mitzureden habe, möchte ich gern Land in den Downs haben«, sagte er, das Kinn noch auf die Hände gestützt. »Ich nehme an, daß das bei den zuständigen Stellen auf keine großen Schwierigkeiten stoßen dürfte«, sagte Onkel Aquila, der in der geordneten Unordnung auf seinem Tisch nach einer verlegten Schreibtafel suchte. »Onkel Aquila, hast du es gewußt – vorher, meine ich?« »Ich wußte, daß Claudius die Absicht hatte, dem Senat eure Namen zu nennen, aber ob etwas dabei herauskommen würde, war ganz etwas anderes.« Er schnaufte. »Es sieht dem Senat ähnlich, seine Schulden in der üblichen Weise zu bezahlen! Land und Sesterzen; so viel Land und so wenig Sesterzen wie möglich; das kommt billiger.« »Und ein römisches Bürgerrecht«, warf Marcus schnell ein. »Das mit Geld nichts zu tun hat und nichts kostet«, stimmte Onkel Aquila zu. »Ich finde, sie hätten bei deiner Abfindung nicht so zu sparen brauchen.« Marcus lachte. »Wir werden schon gut zurechtkommen, Esca und ich.« »Daran zweifle ich nicht – vorausgesetzt, daß ihr nicht vorher verhungert. Du mußt bedenken, daß ihr zuerst bauen und alles einrichten müßt.« 267
»Das meiste können wir selbst bauen; Flechtwerk und Lehm genügen erst mal, bis wir reich werden.« »Und was wird Cottia dazu sagen?« »Cottia wird damit zufrieden sein«, sagte Marcus. »Na ja, du weißt ja, wohin du kommen kannst, wenn du Hilfe brauchst.« »Ja, das weiß ich.« Marcus trat einen Schritt vor. »Wenn wir Hilfe brauchen – wenn wir sie nach drei schlechten Ernten wirklich brauchen -, dann werde ich kommen.« »Sonst nicht?« »Sonst nicht. Nein.« Onkel Aquila sah ihn mit einem durchdringenden Blick an. »Du bist unmöglich! Du wirst deinem Vater von Tag zu Tag ähnlicher!« »Wirklich?« fragte Marcus. Ein Lachen huschte über sein Gesicht, und er zögerte; er hatte noch etwas auf dem Herzen und wußte nicht recht, wie er es dem älteren Mann sagen sollte. »Onkel Aquila, du hast schon so viel für Esca und mich getan. Wenn ich dich nicht gehabt hätte -« »Bah!« sagte Onkel Aquila, der immer noch nach seiner verlegten Schreibtafel suchte. »Ich habe ja sonst niemanden. Keinen eigenen Sohn, der mich plagt.« Er fand die Schreibtafel schließlich und begann mit großer Sorgfalt, das schon benutzte Wachs mit seinem Federkiel zu glätten, wobei er offenbar der Meinung war, daß es das flache Ende von seinem Stylus sei. Plötzlich blickte er unter seinen Brauen hervor. »Wenn du dich um einen Austausch deines Landes beworben hättest, wäre ich hier wohl ziemlich einsam geworden.« »Dachtest du denn, ich würde mich mit der ersten Flut wieder auf den Weg nach Clusium machen?« »Das dachte ich nicht, nein«, sagte Onkel Aquila bedächtig, indes er überrascht und ärgerlich auf die Überreste seines Federkiels niederblickte und ihn hinlegte. »Nun habe ic h deinetwegen eine tadellose Feder zerbrochen und mehrere höchst wichtige Notizen verdorben. Jetzt bist du hoffentlich zufrieden… Nein, das dachte ich 268
nicht, aber ehe die Zeit kam, wo du dich frei entscheiden konntest, konnte ich es nicht genau wissen.« »Ich auch nicht«, sagte Marcus. »Aber nun weiß ich es.« Ganz plötzlich, und ohne daß er eigentlich wußte, warum, mußte er an seinen Vogel aus Olivenholz denken. Als die kleinen Flammen von dem Scheiterhaufen aus Birkenrinde und trockener Heide aufleckten, auf den er ihn gelegt hatte, war ihm gewesen, als verbrenne er mit der Kostbarkeit aus seiner Kindheit sein ganzes früheres Leben. Aber aus der grauen Asche war ein neues Leben, ein neuer Anfang für ihn selbst und Esca und Cottia aufgestiegen; vielleicht auc h für andere Menschen und sogar für irgendein Tal in den Hügeln, das er eines Tages bebauen würde. Irgendwo schlug eine Tür, und Escas Schritt erklang unterhalb des Säulenganges, begleitet von einem hellen, fröhlichen Pfeifen. »Und als ich zu den Adlern kam – es geht mir um und um – küßt ich, bevor ich Abschied nahm, ein Mädchen in Clusium.« Und Marcus wurde es plötzlich klar, daß Sklaven nur sehr selten pfiffen. Sie sangen vielleicht, wenn ihnen danach zumute war oder wenn der Rhythmus ihnen bei der Arbeit half, aber mit dem Pfeifen war das ganz etwas anderes; zu den Tönen, die Esca hervorbrachte, gehörte ein freier Mann. Onkel Aquila unterbrach sich bei der Reparatur der Feder und sah auf. »Ach, übrigens habe ich etwas Neues gehört, das dich vielleicht interessiert, falls du es nicht schon weißt. Sie bauen Isca Dumnoniorum wieder auf.«
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