IM AUFTRAG DES TEUFELS
Die beiden Polizisten stehen vor der hastig hochgezogenen Mauer. Eine Kammer ohne Ausgang. «Riechst du das?», fragt Detective Poliakoff. Sein Partner Delaney nimmt wortlos einen Hammer und beginnt, einen Stein herauszuklopfen. Als er ihn ein Stück herauszieht, wird der Gestank so überwältigend, dass man ihn beinah schmecken kann. Er nimmt seine Maglite vom Gürtel. «Was siehst du?», fragt Poliakoff. Wo Menschen lebendig eingemauert werden, geht es nicht mehr um Kleinigkeiten. Es geht um Macht, Religion, Hightech und die Beherrschung der Welt. Wer da hineingezogen wird, kommt nicht mit heiler Haut heraus. Als der erfolglose Künstler Danny Cray im Nebenjob ein paar Recherchen übernimmt, stößt er auf teufelsanbetende Sekten und unbekannte Hochtechnologien, kann sich aber keinen Reim darauf machen. Doch schon bald sind seine Auftraggeber seine erbittertsten Feinde – eine abenteuerliche Flucht von Washington über den Vatikan und Istanbul bis ins tiefe Kurdistan beginnt … JOHN F. CASE, geboren 1942, Journalist, wurde für seine Reportagen mehrfach ausgezeichnet. Er hat zwei Bücher über die amerikanischen Geheimdienste geschrieben und leitet eine eigene Firma, die sich auf internationale Recherchen für Anwaltskanzleien und Gewerkschaften spezialisiert hat. John F. Case lebt mit seiner Frau in Virginia. Im Scherz Verlag erschienen seine Bestseller ‹Im Schatten des Herrn›, ‹Das erste der sieben Siegel› und ‹Gefälschtes Ge dächtnis›.
John F. Case
Der achte Tag
Roman
Aus dem Amerikanischen von
Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Non-profit ebook by tigger
Juli 2004
Kein Verkauf!
Scherz
Die Originalausgabe erschien 2002
unter dem Titel ‹The Eighth Day›
im Verlag Ballantine Publishing Group
www.fischerverlage.de Erste Auflage 2004
Erschienen bei Scherz, ein Verlag
der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Copyright © 2002 by John Case
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2004
Satz: H & G Herstellung, Hamburg
Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm
Printed in Germany
ISBN 3-502-10106-X
Für Elaine
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Die Meldung kam vom Postboten, eine halbe Stunde, bevor Delaneys Schicht zu Ende gewesen wäre. Der Pick-up stand in der Einfahrt, und im Haus brannte Licht, deshalb dachte der Postbote, es müsste jemand zu Hause sein. Aber schon seit Tagen öffnete niemand auf sein Klopfen. Der Briefkasten quoll über. Vielleicht, so fürchtete der Postbo te, vielleicht hatte Mr. Terio einen Herzinfarkt gehabt. Delaney schüttelte den Kopf und verfluchte das Timing die ses Postboten. Brent hatte um sechs ein wichtiges Spiel, und es war schon fünf nach fünf. Helen würde ihn umbringen. («Du musst da hin, Jack! Ihm zeigen, dass du für ihn da bist! Was ist wichtiger – dein Sohn oder deine Kumpel auf dem Revier?») Tja, eigentlich … war er wirklich gern dabei, wenn sein Sohn ein Spiel hatte, vor allem, wenn es wirklich um was ging. All mählich jedoch sah er seine Aussichten schwinden, es noch rechtzeitig zu schaffen. Er und Poliakoff waren jetzt schon viel zu weit draußen in der Pampa. Wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten. Poliakoff, der am Steuer saß, warf Delaney einen Seitenblick zu und lachte leise. «Immer schön ruhig bleiben. Soll ich die Sirene einschalten?» Delaney schüttelte den Kopf. «Der Typ ist wahrscheinlich bloß in Urlaub», sagte Poliakoff. «Wir sehen uns kurz um – ich schreib den Bericht. Kein Pro blem.» Delaney starrte zum Fenster hinaus. Die Luft war schwül und reglos, irgendwie düster, wie kurz vor einem Gewitter. «Könn te Regen geben», murmelte er. Der Streifenwagen bog in die Barracks Road ein, und obwohl sie die letzten Neubausiedlungen gerade erst eine Meile hinter 6
sich hatten, sahen sie schlagartig nur noch Wälder und Weiden. Ab und zu eine halb verfallene Scheune. «Warst du schon mal hier draußen?», fragte Poliakoff. Delaney zuckte die Achseln. «Da ist es, da vorn», sagte er und deutete mit einem Nicken auf ein Metallschild, das von Kugeln durchlöchert war. PREACHERMAN LANE. «Da müs sen wir ab.» Sie gelangten auf einen schmalen Feldweg, der von Unkraut gesäumt war und am Rande eines Waldes entlangführte. «Auch das noch», brummte Poliakoff, als der Wagen nach einer Bo denwelle unsanft aufsetzte. «Seit wann gibt es in Fairfax Coun ty unbefestigte Straßen?» «Ein paar haben wir noch», erwiderte Delaney und dachte, aber nicht mehr lange. Die Vorstädte von Washington D.C. wucherten in alle Richtungen, und das seit zwanzig Jahren. In ein oder zwei Jahren würde das Haus vor ihnen – ein gelbes Gebäude, das plötzlich auf der linken Seite in Sicht kam – ver schwunden sein, untergegangen in einer Flut von Neubausied lungen und Einkaufszentren. Der Briefkasten stand vorne an der Zufahrt, ein zerbeulter Aluminiumzylinder mit einem verblichenen roten Metallfähn chen auf einem Holzpfosten. Auf der Seite war ein Name auf gemalt: C. TERIO. Gleich unter dem Briefkasten steckten einige Zeitungen in einer weißen Plastikröhre mit der Aufschrift THE WASHING TON POST. Ein Dutzend weitere lagen beinahe säuberlich gestapelt auf dem Boden und vergilbten schon. Der Postbote hatte bei seinem Anruf gemeint: «Da sollte mal einer reingehen und im Haus nach dem Rechten sehen.» Aber das durften sie natürlich nicht. Unter den gegebenen Umständen durften sie höchstens an die Tür klopfen, um das Haus herumgehen, mit den Nachbarn sprechen – von denen es aber keine gab, soweit Delaney das beurteilen konnte. Die Polizisten stiegen aus, blieben einen Moment stehen, 7
schauten sich um und lauschten. Im Süden donnerte es, und sie konnten das Rauschen des Beltway in der Ferne hören. Mit einem Grinsen trällerte Poliakoff: «Auf in den Kampf, Tore-e e-e-ro.» «Bringen wir’s hinter uns», brummte Delaney und stapfte in Richtung Haus. Sie kamen an einem nicht mehr ganz neuen Toyota Tacoma vorbei, der am Ende der Zufahrt mit dem Heck zum Haus stand, als hätte der Besitzer irgendetwas ein- oder ausgeladen. Gemeinsam gingen die beiden Polizisten über den hoch ge wachsenen Rasen zur Haustür. Der Klopfer war recht kunstvoll – handgeschmiedetes Eisen in Form einer Libelle. Poliakoff hob ihn an und klopfte mehr fach laut. «Hallo?» Stille. «Hal-lo?» Poliakoff legte den Kopf schief und lauschte ange strengt. Als niemand kam, drehte er den Türknauf, stellte fest, dass abgeschlossen war, und zuckte die Achseln. «Sehen wir mal hinten nach.» Zusammen gingen die Beamten um das Haus herum und spähten unterwegs durch jedes Fenster. «Er hat jede Menge Lampen angelassen», bemerkte Delaney. Hinter dem Haus kamen sie an Gemüsebeeten vorbei – To maten und Paprika, Zucchini und Stangenbohnen –, die viel leicht mal ordentlich gepflegt gewesen, inzwischen jedoch von Unkraut überwuchert waren. Nicht weit davon entfernt führte eine Fliegentür in die Küche. Poliakoff klopfte vier,- fünfmal an den Holzrahmen. «Jemand zu Hause? Mr. Terio! Sind Sie da?» Nichts. Oder fast nichts. Die Luft vibrierte von dem plötzlich einset zenden und wieder aussetzenden Zirpen von Grillen und dem insektenhaften Summen des Verkehrs. Und da war noch etwas anderes, etwas … Delaney legte den Kopf schief und spitzte die Ohren. Er hörte … Lachen. Das heißt, kein richtiges La 8
chen sondern … wie vom Band. Er sagte: «Der Fernseher ist an.» Poliakoff nickte. Delaney seufzte. Er würde es nie und nimmer zu Brents Baseballspiel schaffen. Er hatte es im Gefühl. Aber sie konnten praktisch nichts tun. Die Türen waren abge schlossen, und ohne Durchsuchungsbefehl ging da gar nichts. Es gab keinen eindeutigen Hinweis auf einen medizinischen Notfall und schon gar nicht auf ein Gewaltverbrechen. Aber trotzdem, irgendetwas stimmte nicht. Poliakoff ging wieder zurück zu dem Zeitungsstapel, hockte sich hin und sah die Blätter durch. Die älteste Zeitung war vom 19. Juli – das war über zwei Wochen her. Ein paar Meter entfernt kontrollierte Delaney den Pick-up. Auf dem Beifahrersitz fand er einen verblassten und von der Sonne zusammengerollten Baumarkt-Kassenzettel. Er war auch auf den 19. Juli datiert und führte zehn Beutel Fertigmörtel auf, 130 Schlackensteine, eine Maurerkelle und einen Plastikkübel. «Ein echter Heimwerker», bemerkte Delaney und zeigte Po liakoff den Kassenzettel. «Ich seh mich mal auf der anderen Seite vom Haus um», sag te Poliakoff. Delaney sah auf die Uhr: 17.29. Sie verschwendeten hier bloß ihre Zeit, egal, wie man die Sache betrachtete. Er war in den zehn Jahren, die er bei der Polizei war, schon unzähligen solcher Anrufe nachgegangen, und in neun von zehn Fällen war die vermisste Person entweder senil oder auf einer Sauf tour. Ab und zu fanden sie auch mal einen Toten, auf dem Bo den im Badezimmer oder im Fernsehsessel. Das hier war ei gentlich keine Polizeiarbeit. Das war eher ein Hausmeister dienst. «Hey.» Delaney blickte auf. Poliakoff hatte ihn von der anderen Seite des Hauses gerufen. Er sah zum Himmel – im Süden hing ein 9
Regenvorhang, was seine Hoffnung schürte, dass Brents Spiel vielleicht verschoben würde –, dann ging er zu seinem Partner. Das Haus hatte einen Außeneingang zum Keller – eine Me tallflügeltür, hinter der ein kleine Treppe aus Zementstufen nach unten führte. Poliakoff stand schon oben auf der Treppe, die Türen links und rechts von sich aufgeklappt, wie verrostete Flügel. «Was meinst du? Sehen wir mal nach?» Delaney zog die Stirn kraus und nickte Richtung Tür. «Stand die schon auf?» Poliakoff nickte. «Ja. Ganz weit.» Delaney zuckte die Achseln. «Sieht nach Einbruch aus – aber wir werfen wirklich nur einen kurzen Blick rein.» Er dachte, lieber Gott, mach, dass da unten keine Leiche liegt, sonst sind wir die ganze Nacht hier. Poliakoff zog den Kopf ein und rief Terios Namen, als er die Treppe hinunterging, Delaney folgte direkt hinter ihm. Der Keller bestand aus einem langen, rechteckigen Raum mit einer gut zwei Meter hohen Decke, Backsteinwänden und ei nem Zementboden. Eine einsame Neonleuchte surrte und flak kerte über einer verstaubten Werkbank in einer Ecke des Rau mes. Eine Motte flatterte immer wieder gegen die Lampe. Delaney blickte sich um. Nervös. Er mochte keine Keller. Schon als Kind hatte er davor Angst gehabt, obwohl ihm in einem Keller nie etwas Unangenehmes passiert war. Und der hier, mit seinen billigen Regalen voller Farbtöpfe, Werkzeug und Kästchen mit Nägeln und Schrauben, sah aus wie jeder andere Keller, den er bisher gesehen hatte: normal und bedroh lich zugleich. Poliakoff rümpfte die Nase. «Riechst du was?», fragte Delaney und ließ die Augen su chend durch den Raum wandern. «Ja, ich glaub schon», erwiderte sein Partner. «Irgendwas ist da.» Auf einem Regal unter der Werkbank bemerkte Delaney 10
einen roten Plastikkanister mit der Aufschrift RASEN MÄHERSPRIT. «Vermutlich Benzin», sagte er zu seinem Partner. Poliakoff schüttelte den Kopf. «Nee, nee.» Delaney zuckte die Achseln. «Egal», sagte er, «jedenfalls ist hier unten keiner.» Er wandte sich um und wollte zur Treppe, blieb aber stehen, als er merkte, dass Poliakoff ihm nicht folg te. «Was ist denn?», fragte er, als er sah, dass sein Partner eine Maglite in Schulterhöhe hielt und den kräftigen Lichtstrahl in die hinterste Ecke des Raumes gerichtet hatte. «Ich weiß nicht genau», murmelte Poliakoff und ging auf die Wand zu, die er mit der Taschenlampe erhellte. «Aber das ist eigenartig.» Delaney blickte auf die Wand und musste Poliakoff Recht geben: Das war wirklich eigenartig. An der Nordwand des Kel lers war eine Ecke mit zwei Schlackensteinwänden abgeteilt, die, wie es aussah, in aller Hast hochgezogen worden waren. Sie standen im rechten Winkel zueinander, waren jeweils etwa einen Meter zwanzig breit und gingen vom Boden bis zur Dek ke, wie eine Art Zementschrank, eine Kammer ohne Ausgang. «Was soll das sein?», fragte Delaney. Poliakoff schüttelte den Kopf und ging näher heran. Die Kammer – oder was auch immer das sein sollte – war di lettantisch gebaut. Mörtelkleckse quollen zwischen den Steinen hervor, die ziemlich schlampig, aber eigentlich nicht stümper haft übereinander gesetzt worden waren. Die Polizisten blick ten auf das Machwerk. Schließlich sagte Poliakoff: «Sieht aus … sieht aus wie eine kleine Abstellkammer.» Delaney nickte, fuhr sich dann mit einer Hand durch das vol le, braune Haar. «Dafür waren wahrscheinlich die Sachen vom Baumarkt. Er hat bestimmt –» «Riechst du’s jetzt auch?», fragte Poliakoff. Delaney schnüffelte. Obwohl er die längste Zeit seines Le bens geraucht hatte, konnte er den Gestank deutlich riechen. Er 11
war zwei Jahre auf dem Luftwaffenstützpunkt von Dover in einer Einheit gewesen, die gefallene Soldaten identifizierte, und er wusste ganz genau, wie der Tod roch. «Könnte eine Ratte sein», sagte Poliakoff. «Die kriechen durch die Wände …» Delaney schüttelte den Kopf. Sein Herz schlug jetzt schnel ler, das Adrenalin rauschte ihm durch die Brust. Er holte tief Luft und sah sich die Wände genauer an. Der schludrigste Teil war dicht unter der Decke – dort lag die oberste Reihe Steine schief, und Mörtel war aus den Fugen getropft. Delaney brach ein Stück ab und zerbröselte es zwi schen Daumen und Zeigefinger. «Du glaubst doch nicht, der Typ …?» Poliakoff ließ den Satz unvollendet, denn Delaney ging zur Werkbank und kam mit einem Hammer und einem Schraubenzieher wieder. «Vielleicht machen wir besser Meldung.» Delaney nickte. «Ja», sagte er und fing an, mit dem Schrau benzieher als Meißel den Mörtel wegzuklopfen. Poliakoff sagte gereizt, sie dürften doch nichts verändern, doch sein Partner machte unbeirrt weiter, mit fast rasendem Herzen. «Wir müs sen erste Ermittlungen anstellen», knurrte er. «Was anderes mache ich hier nicht.» Nach nur einer Minute war der Stein mehr oder weniger vom Mörtel befreit. Ein letzter Hammerschlag, und es war ge schafft. Delaney legte das Werkzeug auf den Boden, griff nach oben und lockerte den Stein. Als er ihn ein Stück herauszog, wurde der Gestank so über wältigend, dass Delaney ihn beinahe schmecken konnte – als ob ihm ein fauler Zahn gezogen worden wäre und er mit der Zungenspitze die offene Stelle berührt hätte. «Hilf mir mal», sagte er, und zusammen mit Poliakoff zog er den Stein ganz aus der Wand und legte ihn auf den Boden. In zwischen hatte keiner der beiden Männer mehr den geringsten Zweifel daran, was sich hinter der Wand befand, aber sie konn 12
ten noch immer nichts sehen – die Öffnung war zu hoch. Dela ney griff erneut nach Hammer und Schraubenzieher und mach te sich an den zweiten Schlackenstein, attackierte ihn beinahe wild verzweifelt – mit angehaltenem Atem. Kurz darauf war der zweite Stein entfernt, so dass jetzt direkt über Delaneys Kopf ein Fenster in die Kammer entstanden war. Poliakoff hielt mühsam seinen Magen unter Kontrolle, wäh rend Delaney sich nach irgendetwas umsah, worauf er sich stellen konnte. Er entdeckte einen Stuhl neben der Kellertür und holte ihn. Er stieg darauf und nahm seine Maglite vom Gürtel. Dann leuchtete er durch das Fenster, das er geschlagen hatte – und sagte kein Wort. Von irgendwo über ihm erscholl Lachen aus dem Fernseher. «Was siehst du?», fragte Poliakoff. «Was –» Delaney schwankte. «Ich muss mich übergeben», sagte er. Und tat es. Der Gerichtsmediziner traf rund vierzig Minuten später ein, begleitet von einem Detective der Mordkommission, drei Be amten von der Spurensicherung, einem Assistenten und dem Leichenwagen. Ichabod Crane, der Gerichtsmediziner, war nicht mehr der Jüngste, fast einen Meter neunzig groß und brachte höchstens dreiundsechzig Kilo auf die Waage. Seinen stark gelb verfärbten Fingern nach zu urteilen war er seit der Geburt Kettenraucher, schätzte Delaney. Einige Minuten später brach das Gewitter los, mit Blitz und Donner. Der Regen rauschte wie ein Vorhang herab, als einer der Männer von der Spurensicherung eine Batterie Lampen vor «dem Grab» aufstellte, wie alle inzwischen sagten. Einer seiner Kollegen suchte in der Nähe nach Fingerabdrücken, während der dritte Aufnahmen vom Tatort machte und das Blitzlicht seiner Kamera die Blitze draußen imitierte. Schließlich gab der Gerichtsmediziner Anweisung, die Wände des Grabes so weit abzutragen, dass er die Leiche untersuchen könne. 13
Es war schließlich der Tatort eines Mordes – zumindest defi nierte man es so. Falls und solange der Gerichtsmediziner nicht zu einem anderen Ergebnis kam, waren auch Selbstmorde und tödliche Unfälle Sache der Mordkommission. «Irres Ding», brummte der Gerichtsmediziner. Delaney nickte düster und reichte dem Detective einen Zet tel, auf dem er und Poliakoff aufgelistet hatten, welche Stellen jeder von ihnen berührt hatte: die Türen des Hauses, vorn und hinten; die Zeitungen und den Briefkasten; die Tür des Pickup; und eines der Fenster an der Seite des Hauses. Hammer und Schraubenzieher, die Schlackensteine und den Lichtschalter. Den Kassenzettel vom Baumarkt. «Was muss das für ein Perversling sein, der so was macht», sinnierte Delaney laut vor sich hin. Der Gerichtsmediziner zündete sich eine Zigarette an und warf ihm einen Blick zu. «Inwiefern?» Delaneys Miene verfinsterte sich. «Inwiefern? Inwiefern denn wohl? Ich meine … die haben den lebendig begraben, Himmelherrgott noch mal!» «Wer?» Delaney blickte noch finsterer. War der Gerichtsmediziner ein Idiot? «Woher soll ich das wissen? Irgendwer. Ich will nur sagen –» «Er hat es vermutlich selbst getan.» Delaney starrte den Mann an, fassungslos. Der Detective schaltete sich ein. «Sehen Sie sich den Mörtel an», sagte er mit einem Nicken. «Der ist nur innen glatt gestri chen. Und da ist auch der Kübel. Und die Kelle. Die Säcke Fertigmörtel.» «Sie meinen, der hat sich selbst eingemauert?», fragte Dela ney. «Sieht so aus.» Delaney richtete die Augen auf das Grab, das jetzt fast offen war. Der Tote saß auf dem Fußboden, mit dem Rücken zur 14
Wand, die Beine gespreizt, die Augen weit aufgerissen. «Nein. Warum sollte jemand so was machen?», fragte Delaney. Er glaubte es nicht. Auch die Kelle, die zu Füßen des Mannes auf dem Boden lag, war kein Beweis. Schließlich hätte es eine zweite Maurerkelle, einen zweiten Kübel, noch mehr Säcke Fertigmörtel geben können. Der Gerichtsmediziner antwortete nicht sofort. Stattdessen sagte er zu dem Beamten, der die Wände abtrug, es würde ge nügen. Als der Mann beiseite trat, zwängte sich der Gerichts mediziner in den kleinen Raum, ging in die Hocke und streifte ein Paar Latexhandschuhe über. Dann durchsuchte er die Ta schen des Toten. «Menschen bringen sich aus zig Gründen um», sinnierte er. «Oft ist da jede Menge Selbsthass im Spiel.» Er förderte eine Brieftasche zutage, klappte sie auf und sah sich den Führerschein des Mannes an. «Terio. T wie Tom, -e-r-i-o. Wer schreibt mit?» Einer von der Spurensicherung meldete sich. «Vorname: Christian, zweiter Vorname: Anthony. Geboren: elfter-sechster-dreiundfünfzig.» Der Gerichtsmediziner steckte die Brieftasche in einen durchsichtigen Plastikbeutel, seufzte und leuchtete dem Toten mit einer kleinen Stablampe in die Augen. «Ich hatte da vor zwei Jahren einen Fall», sagte er. «Da hat sich einer selbst enthauptet – sich den Kopf abgerissen.» «Bullshit!», rief Poliakoff, der die Treppe herunterkam. «Wie soll das denn gehen?» «Na ja», erwiderte der Gerichtsmediziner. «Er hat ein Seil an einem Baum befestigt und sich das andere Ende um den Hals gebunden. Dann ist er in seinen Wagen gestiegen und hat Voll gas gegeben. Er hatte einen Camaro, der Kopf wurde also schön säuberlich abgetrennt.» «Aber … wieso?», wollte Delaney wissen. Der Gerichtsmediziner schüttelte den Kopf und untersuchte weiter den Leichnam. «Depressionen.» Poliakoff lachte laut auf – «Nicht zu fassen!» –, und Delaney 15
ging angewidert nach draußen in den Regen. Er brauchte zwar nur wenige Sekunden, bis er zum Streifenwagen gelaufen und eingestiegen war, aber das reichte, und er war nass bis auf die Haut. Er saß einfach da, während der Regen aufs Dach trom melte, sah zu, wie das Wasser über die Windschutzscheibe perlte, und versuchte, nicht an den Keller zu denken. Aber das war unmöglich. Der Anblick hatte ihn erschüttert. Er neigte selbst leicht zu Klaustrophobie – vielleicht mehr als nur leicht –, und die Vorstellung, allein in der finsteren Gruft zu sitzen und auf den Tod zu warten, war der reinste Alptraum. Und wenn der Gerichtsmediziner Recht hatte, dass es Selbstmord war, dann – der Gedanke huschte Delaney durch den Kopf, wie ein Insekt aus einem Abfluss flitzt – machte das alles nur noch schlimmer. Denn dieser Kerl, dieser Terio, hatte es sich offensichtlich noch anders überlegt. Da war sich Delaney ganz sicher. Das Erste, was er im Schein seiner Taschenlampe gesehen hatte, waren die Hände des Toten – das heißt, das, was noch von ih nen übrig war. Die Finger waren Stümpfe, die Nägel abge wetzt, das zerfetzte Fleisch blutverkrustet. Er hatte also versucht rauszukommen, schloss Delaney. Al lein im Dunkeln hatte er versucht, sich aus seinem Steinge fängnis zu kratzen.
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Der Wagen – Caleighs praktischer Saturn – war ein solides Gefährt, dachte Danny. Sie waren jetzt fünf Meilen außerhalb von Nag’s Head, fuhren mit 62 Meilen die Stunde nach Wa shington zurück, und man hörte nicht mal die Straße unter den Rädern. Man hörte eigentlich überhaupt nichts. Und gerade das war der springende Punkt. Danny saß auf dem Beifahrersitz, die Augen auf die flache Landschaft von North Carolina ge richtet, und wurde mit einem viel sagendem Schweigen be dacht. Was einfach nicht fair war. Sie hatten eine wunderschöne Zeit zusammen verbracht. Nur sie beide, in einer Hütte am Meer. Sie hatten sich mit seinem Boogie-Board in die Bran dung geworfen, im Meer gebadet, in der Sonne gelegen. An zwei von fünf Nächten hatten sie bis zwei Uhr morgens ge tanzt. Sie waren romantisch essen gewesen, hatten Minigolf gespielt und bei Sonnenuntergang lange Strandspaziergänge gemacht. Jetzt mussten sie wieder nach Hause, und das Schweigen seiner Freundin war wie eine kanadische Kaltfront. Er hatte ihr keinen Heiratsantrag gemacht. Nach all den Sonnenuntergängen und erotischen Nächten hatte er ihr noch immer keinen Antrag gemacht. Und das machte ihr zu schaffen, das spürte er. Sie waren jetzt schon drei Jahre zusammen, und obwohl sie noch immer verrückt nach einander waren, brachte er es einfach nicht fertig. Das Problem ist, so sagte Danny sich, ich bin ein Spätzünder – und sie ist auf der Überholspur. Anders ausgedrückt, Caleigh verdiente schon ein Jahr nach ihrem BWL-Studium achtzigtausend Dollar im Jahr, während er es vier Jahre nach seinem Kunststudium gera de mal auf achtzig Dollar am Tag brachte. Caleigh war der geborene Workaholic und akzeptierte ihre 17
Sechzig-Stunden-Woche als Assistentin der Geschäftsleitung beim John Galt Fund, ohne je zu jammern. Selbst im Urlaub war sie jeden Morgen um sieben Uhr aufgestanden, um eine von den vier Wall Street Journal-Exemplaren zu ergattern, die am einzigen Zeitungsstand im Ort zu haben waren. Zweimal täglich hatte sie am Computer in der Bücherei ihre E-Mails gecheckt und er hatte sie mehrfach dabei ertappt, wie sie sich bei leise gedrehtem Ton die Börsennachrichten ansah. Für Caleigh war Geldverdienen eine Kunst und ein Spiel, so spannend und anspruchsvoll wie Ballett für eine Profitänzerin. Nicht so für Danny, der gern im Scherz sagte, er sei als Künst ler «jenseits des schnöden Mammon». Was auch irgendwie stimmte, denn den größten Teil von sei nem bisschen Geld verdiente er mit Aushilfsjobs, nicht mit Kunst. Er arbeitete stundenweise in einer Galerie, die ihm kaum mehr als den Mindestlohn zahlte, aber dafür durfte er dort ausstellen. Richtig Geld, das heißt fünfundzwanzig Dollar die Stunde, verdiente er als freier Mitarbeiter von Fellner As sociates, einer großen Washingtoner Detektei. Die Ermitt lungsarbeit war einfach, wenn auch nicht sonderlich interes sant: Meistens holte er Informationen bei der Wertpapier- und Börsenaufsichtsbehörde ein, ging im Gericht Akten durch und interviewte drittklassige Informationen in Verbindung mit ir gendwelchen Fusionen, Unternehmenskäufen und Rechtsstrei tigkeiten. Soweit Danny sagen konnte, stand Fellner Associates stets auf der falschen Seite – worauf die Firma stolz war. Denn auf der «falschen Seite» befand sich nun mal das Geld, und dort machte Fellner Associates es sich gern gemütlich. Dennoch konnte Danny mit der Ermittlertätigkeit einigerma ßen seinen Lebensunterhalt bestreiten, obwohl es so einige Dinge gab, die er sich nicht leisten konnte – vor allem kein Profi-Videoschneidegerät, mit dem er die Art von Kunst hätte machen können, von der er bisher nur träumte. Das Gerät, das er haben wollte, kostete zwanzigtausend Dol 18
lar – etwa zwanzigmal so viel, wie er auf dem Sparkonto hatte. Womit der Traum unerfüllbar blieb. In seinem Job bei Fellner würde er sich das Geld niemals zusammensparen können, und was seine Kunst anging, lief zurzeit gar nichts. Nada de nada, wie Caleigh sagen würde. Er hatte seit Monaten nicht ein ein ziges Stück verkauft. Zuletzt hatte eine Südamerikanische Bank in Mount Pleasant eine Bronzeskulptur von ihm gekauft: Lautwald. Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und legte den Kopf an die zitternde Scheibe. Caleigh hatte den Sender NPR einge schaltet, das morgendliche Literaturprogramm, wo skurrile Geschichten vorgelesen wurden, die sie mochte und er nicht. Er blendete es aus und dachte, wenn ein Lautbaum im Wald umstürzt, wäre das zu hören? Caleigh hatte ihn wohl lächeln sehen, denn sie brach das viel sagende Schweigen und fragte: «Na … woran denkst du?» Er schüttelte langsam den Kopf, tat so, als wäre er im Halb schlaf. Woran denke ich? Ich denke daran, dass ich nichts ver kaufe, dass ich kein Geld habe, dass ich nicht heirate. Ich den ke an all die Knoten in meinem Leben. «Danny?» Seine Augenlider flatterten. Sie konnte so hartnäckig sein. «Was’n?» «Woran denkst du?» In Wahrheit dachte er über das Rätsel nach, wieso er und Ca leigh, die so gut wie nichts gemeinsam hatten, trotzdem fürein ander geschaffen waren. Als sie sich kennen lernten, war der Funke übergesprungen, und Danny war überzeugt, dass die Flamme niemals erlöschen würde. Wenn sie getrennt waren, und sei es auch nur für ein paar Tage, wurde Danny matt und antriebsschwach, ein Schiffbrüchiger. Bei Caleigh war es ge nauso, sagte sie zumindest. Zusammen waren sie unschlagbar. In Gegenwart des anderen begannen sie beide zu strahlen. Ob wohl sie vom Werdegang und von der Herkunft her kaum un 19
terschiedlicher hätten sein können, waren sie so aufeinander gepolt, dass sie die Gedanken des anderen lesen konnten. «Ge hirnverwandt», sagten sie, wenn einer den Gedanken des ande ren aussprach. Natürlich würden sie heiraten, irgendwann, wenn er das Ge fühl hatte, festeren Boden unter den Füßen zu haben, wenn er ein bisschen Erfolg hatte, wenn er zumindest etwas mehr Geld verdiente. Vielleicht muss ich mir einen richtigen Job suchen, dachte er, wenn nicht bald der große Durchbruch kommt. «Danny?», sagte Caleigh wieder. «Die Gedankenpolizei möchte einen Bericht aus deinem Gehirn.» Er öffnete die Augen. Blinzelte. «Ich habe einen Sonnen brand.» «Armer Schatz!» «Und ich bin überall voll Sand.» «Ohhhhh …» «Und ich hab mir gedacht … vielleicht bin ich zu alt, um noch ‹Danny› zu sein. Vielleicht wird es Zeit, dass ich ‹Daniel› werde.» Sie dachte darüber nach. Runzelte die Stirn. «Nein. Das glaub ich nicht.» «Ich werde morgen sechsundzwanzig.» «Na und? Du hast Geburtstag. Das ist noch lange kein Grund, deinen Namen zu ändern.» Er setzte sich anders hin. «Reden wir nicht über mich», sagte er, nahm Caleighs Hand und führte sie an seinen Mund. Küsste ihre Finger, die nach Salz schmeckten. «Reden wir über dich.» Caleigh kicherte. «Was ist denn mit mir?» «Ich wette, du kannst es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. General Electric abstoßen. Eine Tonne Schweine bauch kaufen. Ein paar Kaufoptionen machen –» «Man ‹macht› keine Kaufoptionen», unterbrach sie ihn. «Na, egal …» Sie seufzte und schaltete das Radio aus. «Ich weiß, du findest 20
das alles langweilig –» «Aber nein», sagte er. «Ich glaube, Finanzen sind wahr scheinlich interessanter als Kunst – ich meine, als Szene.» Caleigh lachte. «Das sagst du bloß, weil du dich auf Jakes Vernissage bei allen Galeristen einschleimen musst.» Er verzog das Gesicht, war aber erleichtert, dass die Kaltfront anscheinend vorbeigezogen war. «Kommst du mit?» Sie schüttelte den Kopf und warf einen dunkeläugigen Blick in seine Richtung. «Wer weiß …» «Dann wäschst du dir also lieber die Haare, guckst dir die Wall Street-Wochenübersicht im Fernsehen an –» «Das hab ich nicht gesagt.» «Nein, gesagt hast du das nicht, aber …» Sie lachte. «Gehirnverwandt.» Danny stöhnte. «Vielleicht bleib ich auch zu Hause und wasch mir die Haare – lohnt sich bestimmt bei dem vielen Sand drin.» Caleigh schüttelte den Kopf. «Das kannst du nicht machen.» «Was kann ich nicht machen?» «Jake im Stich lassen. Und ich auch nicht. Er zählt auf uns. Und so schlimm wird’s auch wieder nicht werden.» «Doch, wird es wohl», erwiderte er und ließ den Kopf mit ei nem dumpfen Knall gegen die Seitenscheibe fallen. Die Vernissage war in der Petrus Gallery in Georgetown. Die Galerie, ein einziger Raum mit hoher Decke, Neonröhren und rosaroten Backsteinwänden, befand sich in einem Stadtteil, den Danny schon immer interessant gefunden hatte – und sogar geheimnisvoll. Hier lag die K-Street. Ging man die Straße eine halbe Meile nach Osten, verwandelte sie sich in eine Schlucht aus Glashochhäusern, in denen Anwaltskanzleien und auslän dische Organisationen untergebracht waren. Doch hier, im ehemaligen Ghetto freigelassener Sklaven, verlief sie ein gan zes Stück am Potomac entlang – und unter dem erhöhten Whi 21
tehurst Freeway. Nach städteplanerischen Gesichtspunkten war dieser Ab schnitt der K-Street eine Katastrophe. Und für Danny war die Vernissage keinen Deut besser. Wenn er die Worte «kühlster Juli aller Zeiten» noch ein ein ziges Mal hörte, würde er, so schwor er sich, das Weite suchen – auch wenn die bereits ausgedünnte Besucherschar dann noch dünner würde. Es waren knapp über zwanzig Leute da, und niemand schien sich auch nur ansatzweise für die Riesenge mälde zu interessieren, die von der Decke herabhingen. Der Menge leerer Flaschen nach zu urteilen waren die Gäste wegen der kostenlosen Drinks da, nicht wegen der Bilder. Eine Stimme zu seiner Linken behauptete, es gebe «erst seit 1918 meteorologische Aufzeichnungen, deshalb ist es nur der kühlste Juli seit 1918». Das war’s, sagte Danny sich. Wir gehen. Caleigh, die von Ja kes treuherziger Mutter in ein Gespräch verwickelt worden war, warf ihm schon seit fünfzehn Minuten Lass-uns-bitte gehen-Blicke zu. Er hatte bereits bei den diversen anwesenden Geistesgrößen – dem Kritiker der Post, dem Redakteur von Flash Art – so gut er konnte seine Pflicht und Schuldigkeit getan. Es gab keinen Grund mehr zu bleiben. Und er war schon fast bei Caleigh, als eine Flüsterstimme ihm ins Ohr säuselte: «Sind Sie das, Danny Cray?» Lavinia. Kein Mensch wusste, wie alt Lavinia genau war, aber es gab Fotos, auf denen sie mit John F. Kennedy und An dy Warhol, Peggy Guggenheim und Lou Reed zu sehen war. Als Nestorin der Washingtoner Kunstszene leitete sie die Neon Gallery im Stadtteil Foggy Bottom und das Kunstblitz in Ber lin. «Allerdings», sagte er, als er und Lavinia sich rituell umarm ten. «Zumindest glaube ich es.» Er strich sich mit der Hand über das kurze, struppige Haar. Sie gluckste, als hätte er etwas Geistreiches gesagt, und be 22
äugte ihn fast kokett durch ihre dick getuschten Wimpern. Ca leigh, die ihn mit Lavinia zusammenstehen sah, hob die Au genbrauen und warf ihm einen aufmunternden Blick zu. «Na, ich hoffe doch sehr, dass Sie es sind», sagte Lavinia, «weil Sie der Mann sind, den ich suche.» Sie hielt ihm ihr leeres Wein glas hin. «Wein, bitte – weiß … und dann möchte ich was mit Ihnen besprechen.» Sie gingen nach draußen in den kleinen Garten hinter der Ga lerie, damit Lavinia eine Zigarette rauchen konnte. Die Luft war so bleiern und schwül, dass der Rauch nicht aufstieg, son dern wie Bodennebel in der Luft hängen blieb. Danny gab sich Mühe, ihr einen Kommentar über Jakes Ausstellung zu entlok ken (weil Jake natürlich fragen würde), aber sie schüttelte bloß abwehrend ihre berühmte Blondmähne. «Ist nicht mein Fall», sagte sie. «Wieso nicht? Er ist gut!» Sie schüttelte wieder den Kopf. «Nein, er ist nicht ‹gut›», sagte sie abfällig. «Seine Palette ist glanzlos, und er ist nicht besonders originell. Aber hören Sie», sagte sie, das Thema wechselnd. «Darüber möchte ich gar nicht mit Ihnen reden. Reden möchte ich über …» Sie stieß ihm einen rot lackierten Finger gegen die Brust. «Sie!» Nur eine Minute später war er im siebten Himmel. Sie er zählte ihm, sie habe eine Skulptur von ihm in der Banco Salva dor in Adams-Morgan gesehen und sei sehr beeindruckt gewe sen. Und zwar so sehr, dass sie nach weiteren Arbeiten von ihm Ausschau gehalten habe. Sie habe ein paar Lithographien gesehen, die er einem Restaurator in Georgetown geliehen hat te, ein Gemälde, das die Cafritzes gekauft hatten und das bei ihnen im Musikzimmer hing, und eine Installation, die er für die Torpedo Factory in Alexandria gemacht hatte. «Ich war hin und weg.» «Von welchem?», fragte er. «Na, von allen!» 23
«Das ist toll. Wirklich!» Es ging um Folgendes: Im Ausstellungsplan der Neon Galle ry hatte sich ein «Fenster» geöffnet. «Eigentlich», gestand sie, «ist es eher ein Oberlicht: zwei Wochen im Oktober. Eröffnung wäre am Freitag, dem fünften Oktober.» War er interessiert? «Na ja …» Sie würden am Mittwoch und Donnerstag, dem dritten und vierten, aufbauen. «Sie haben doch genug Arbeiten …?» Er nickte, ohne zu überlegen. «Klar, aber – was ist denn pas siert? Ich meine …» Sie schnalzte mit der Zunge und warf einen Blick gen Him mel. «Eins von meinen ‹Projekten›», gestand sie. «Jung, clever … und völlig depressiv. Den krieg ich vor Weihnachten nicht aus dem Bett, und bis dahin kann ich nicht warten – ich leite ein Unternehmen, keine Klinik.» Sie hielt inne, schien gedan kenverloren. «Also?» Er zögerte nicht ganz eine Sekunde, versuchte ein wenig überzeugendes cooles Achselzucken und sagte: «Ja – klar!» «Wunderbar.» Anschließend musste er noch bleiben, weil es ihm irgendwie nicht richtig vorkam, vor Lavinia zu gehen. Kurz darauf tauchte Caleigh neben ihm auf, mit Jake und Ja kes Mom im Schlepptau. «Das war doch Lavinia Trevor, nicht?», fragte sie aufgeregt. «Was wollte sie denn?» Danny wollte im Beisein von Jake nichts sagen. Die Neon Galery war eine viel größere Sache als die Petrus. Er zuckte die Achseln. «Sie brauchte jemanden, der ihr Wein holt und ihr Gesellschaft leistet, während sie eine raucht.» «Hat sie was gesagt?», fragte Jake. «Über die Ausstellung? Wie findet sie sie?» Danny zuckte wieder die Achseln. «Tut mir Leid. Sie hat bloß was von einem Freund erzählt, der depressiv ist.» Caleigh warf einen Blick auf ihre Uhr. Montags musste sie um halb sechs aufstehen, um ganz früh die Zeitungen zu lesen 24
und ihre Online-Kolumne zu schreiben, bevor die Börse öffne te. Danny drückte ihre Hand. «Fahr doch schon mal nach Hau se. Irgendjemand kann mich bestimmt mitnehmen.» Caleigh lächelte. Sie wusste, dass hinter der Sache mit Lavinia mehr steckte. Eine halbe Stunde nachdem Caleigh gegangen war, verab schiedete Lavinia sich endlich und winkte Danny beim Hi nausgehen verschwörerisch zu. Danny beschloss, besser doch bis zum Schluss zu bleiben. Jake hatte gehörig einen sitzen und war nicht mehr in der Lage zu fahren. Im Auto suchte Jake Zuspruch. «So ein Reinfall», sagte er und nahm einen kräftigen Schluck aus einer halb leeren Fla sche Merlot. «Überhaupt nicht, es lief gut», erwiderte Danny. «Wirklich?», fragte Jake, und Skepsis und Hoffnung wettei ferten in seiner Stimme miteinander. «Absolut! Ein voller Erfolg.» Sein Freund gab ein Knurren von sich und blickte zum Fen ster hinaus. «Nichts verkauft.» «Darum geht’s nicht», sagte Danny, obwohl es irgendwie schon darum ging. «Erst wird ausgestellt – dann verkauft. Das dauert ’ne Weile.» «Meinst du?» «Ja.» Jake legte den Kopf schief und musterte Danny misstrauisch. «Warum bist du eigentlich so gut gelaunt?» «Ich?», erwiderte Danny mit spöttischem Unterton. «Ich bin nicht gut gelaunt. Ich bin deprimiert!» Sein Freund überlegte einen Moment, nickte dann vor sich hin und schloss die Augen. «Gut», sagte er und fing fast au genblicklich an zu schnarchen. Vielleicht hatte Danny es sich ja selbst zuzuschreiben, aber nachdem er Jake abgesetzt hatte, ließ seine Hochstimmung tatsächlich nach. Er hatte zwar ein paar Arbeiten, die er zeigen 25
konnte, aber eigentlich nicht genug. Er würde alles zusammen suchen müssen, was er verkauft hatte, plus die Sachen, die er bei Freunden untergebracht hatte. Und so etwas wie die Instal lation in der Torpedo Factory – die Lavinia so gut gefiel –, würde ihm nicht wieder gelingen. Sie war multimedial, und er hatte keine Möglichkeit mehr, die erforderlichen komplizierten Videoeffekte zustande zu bringen. Das Schneidegerät, das er in der Künstler-Kooperative benutzt hatte, war nicht mehr ver fügbar, weil der Besitzer es zurückhaben wollte, um mit «Vi deo-Denkmälern» von verstorbenen Haustieren Geld zu ver dienen (nach allem, was man so hörte, ein lukratives Geschäft). Und es gab noch ein weiteres Problem: Seine interessanteste Skulptur, das Glanzstück jeder Ausstellung in naher Zukunft, war sein Babel On II. Es handelte sich um eine umwerfende Konstruktion aus über achttausend transparenten Legosteinen, die eine beinahe unsichtbare Stadt bildeten – in ihrer Mitte stand ein hohes Hologramm, das Walter Mondale zeigte, wie er an der Bahre von Kurt Cobain betete. Das Hologramm-Bild war wunderbar und aufregend, so zart und flüchtig wie die verblassende Berühmtheit der dargestellten Personen. Das Pro blem war nur, wie er die Arbeit in die Neon Gallery schaffen sollte, ohne sie zu zerstören? Das krieg ich schon hin, dachte er. Ich habe zwei Monate Zeit, um mir was einfallen zu lassen. Mit Jakes VW fand er auf Anhieb einen Parkplatz; mit sei nem eigenen Wagen, einem riesigen und verrosteten ’76er Oldsmobile, war die Parkplatzsuche in Adams-Morgan jedes Mal eine schier unlösbare Aufgabe. Als er aufgeregt die Treppe hinaufgerannt war und Caleigh von Lavinias Angebot erzählte, war sie noch begeisterter als er. «Ich hab’s gewusst», strahlte sie und fiel ihm um den Hals. Dann holte sie eine Flasche Mumm aus dem Kühlschrank («die war eigentlich für deinen Geburtstag gedacht, aber wir kaufen eine neue»). 26
Danny war leicht beschwipst, als das Telefon kurz nach Mit ternacht klingelte. Caleigh ging dran, reichte ihm dann mit ei nem erstaunten Blick den Hörer. «Judd Belzer», sagte sie. Er schüttelte den Kopf. Der Name sagte ihm nichts. Auch die Stimme nicht, die einen merkwürdigen Akzent hatte, den er nicht identifizieren konnte. «Mr. Cray?» «Danny.» «Wie Sie wollen. Verzeihen Sie, dass ich so spät anrufe, aber –» «Kein Problem», sagte Danny. «Ich bin Anwalt.» «Aha.» «Ein gemeinsamer Bekannter hat Sie mir empfohlen.» «Und wer genau?», fragte Danny. «Einer von Ihren vielen Fans bei Fellner Associates», erklär te der Anwalt. «Hören Sie, ich bin gerade aus Mailand ge kommen und muss morgen schon weiter nach San Francisco. Wäre es möglich, dass wir uns morgen früh treffen? Ich weiß, es ist sehr kurzfristig, aber –» «Ich weiß nicht …» «Ich habe ein Angebot für Sie, das Sie interessieren wird. Wir könnten uns im Admirals Club am Reagan National tref fen.» Danny verzog das Gesicht. Er lebte schon seit ewigen Zeiten in Washington. Für ihn hieß der Flughafen schlicht und ergrei fend «National». «Danny?» «Ja, ich bin noch dran.» «Wie wär’s … gegen zehn?» Danny wusste nicht, was er sagen sollte. Die NeonAusstellung würde groß ausfallen und viel Arbeit bedeuten. Andererseits würden die tausend Dollar auf seinem Sparkonto auch nicht ewig reichen. Und er konnte – wollte – sich nicht von Caleigh aushalten lassen. 27
Das Schweigen zog sich wohl zu lange hin, den Belzer fragte ein zweites Mal: «Danny?» «Ja, also gut – zehn Uhr würde gehen.» «Im Admirals Club?» «Okay. Am National.» Erst als er aufgelegt hatte, wurde Danny klar, dass sie gar nicht abgeklärt hatten, woran sie einander erkennen könnten. Aber irgendwie war ihm klar, dass das wohl kein Problem sein würde. Irgendetwas in Belzers Stimme, eher der Tonfall als der Akzent, sagte Danny, dass der Anwalt schon wusste, wie er aussah. Und vielleicht sogar noch einiges mehr.
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Er sah … passabel aus. So lautete Dannys Urteil, als er sich nach dem Duschen im Spiegel betrachtete, ein Handtuch um die Taille und noch tropfnass. Regelmäßige Gesichtszüge, blaue Augen, reine Haut. Einigermaßen groß, schlank und für jemanden, der nicht ins Fitnessstudio ging, ganz gut in Form. Aber ein wenig Sport trieb er ja. Er spielte zweimal die Woche auf der Mall Fußball, und er ging mit Caleigh im Rock Creek Park joggen, wenn er es schaffte, mit ihr zusammen aufzustehen (was zugegebener maßen nicht oft der Fall war). Also war er doch noch nicht ganz eingerostet. Alles in allem, so dachte er, sah er ganz anständig aus, viel leicht ein bisschen zu schräg für ein Treffen mit einem Anwalt. Zum Beispiel seine Haare. Kurz, braun und stachelig, mit blonden Spitzen (dank Caleigh, die offenbar als Kind nicht mit Puppen spielen durfte). Wenn er ein bisschen Gel nahm und sich die Haare glatt nach hinten kämmte, sah es vielleicht nur so aus, als wären sie von der Sonne gebleicht. Er fuhr sich mit einer Bürste durchs Haar, legte den Kopf schief und betrachtete das Ergebnis im Spiegel: nicht schlecht, bloß, dass er jetzt wie ein Pirat aussah. Ein junger und freund licher Pirat, aber trotzdem ein Freibeuter – was für einen Ge schäftstermin nicht unbedingt von Vorteil war. Es lag an seinem Tattoo. Und den Piercings. Das Tattoo war eine schwarze Silhouette, primitiv und ab strakt, und schlang sich um seine rechte Schulter. Die Piercings bestanden aus drei Goldringen am oberen Rand des linken Ohrs und einem vierten durch die rechte Augenbraue – die Folge einer verlorenen Wette. Aber das war kein Problem. Das Tattoo würde unter seinem 29
Hemd verschwinden, und die Ringe waren im Nu entfernt. Ge sagt, getan und schon war er wieder der Sohn seiner Mutter – ein netter, junger Mann ohne offensichtliche Macken. Er ging ins Schlafzimmer und holte die Sachen aus dem Schrank, die er für solche Gelegenheiten parat hatte: den Ze gna-Anzug mit Krawatte, beides Schnäppchen, die Caleigh in der schicken Second-Hand-Boutique Clad Rags erstanden hat te, die Cole-Haan-Halbschuhe (noch von der UniAbschlussfeier), das ach so coole Button-down-Hemd von Jo seph Aboud. Es war ein dunkles und geschäftsmäßiges Outfit, Beerdigung oder Gangster, je nachdem, wie man es sah. Und er musste lächeln, denn der schöne Anzug und die glänzenden Schuhe waren wie eine Verkleidung. Er verzichtete jedoch auf einen Aktenkoffer. Stattdessen ent schied er sich für eine Ledermappe, in die er einen Notizblock und den Mark-Cross-Federhalter steckte, den sein Vater ihm in einem Anfall von Wunschdenken und Großzügigkeit geschenkt hatte. In der U-Bahn zum Flughafen las er die Washington Post – genauer gesagt, den Doonesbury-Comic, die Klatschkolumne und den Sportteil. Dann war er am Ziel, mitten im Menschen gewimmel von Terminal B. Er erkundigte sich bei einem Si cherheitsmann nach dem Weg zur Lounge von American Airli nes und wurde in den dritten Stock am Südende des Terminals geschickt. An der Wand neben einer Holztür hing dort ein Messingschild mit der Aufschrift: ADMIRALS CLUB. Ein Summer neben der Tür gewährte ihm Einlass in einen großen und hellen Raum, dessen hintere Wand aus Glas be stand. Ein Mann am Empfang bat Danny, sich als Gast einzu tragen, und deutete dann mit einem Nicken in eine Ecke des Raumes, von wo man auf die Startbahn blicken konnte. Judd Belzer saß in einem Ohrensessel, der aussah wie ein Thron aus Leder, und beobachtete Danny, als der an einer Flot tille von leeren Sesseln und Couchen vorbei auf ihn zuging. In 30
der Nähe saßen drei Männer in Anzügen, die Erdnüsse knab berten und Coca Cola tranken. Obwohl sie sich nicht unterhiel ten, gehörten sie offensichtlich zusammen – eine gut gekleidete Garde, die ihren König bewachte. Auf Danny wirkten sie wie geklont: Sie waren in den Dreißi gern, stämmig gebaut und hatten kurz geschorenes schwarzes Haar. Sie wären bestimmt schwer zu unterscheiden, dachte er, mit Ausnahme des Burschen in der Mitte, dessen rechte Au genbraue in zwei Hälften geteilt war – so dass es fast aussah, als hätte er drei. Belzer trug die gleichen Farben wie seine Bodyguards (oder was immer sie waren). Alles an ihm war dunkel, vom Anzug bis zum pechschwarzen Haar und der sportlichen Sonnenbrille. Er nahm sie ab, als Danny auf ihn zukam, und offenbarte uner gründliche braune Augen. Als er zur Begrüßung aufstand, fiel Danny erstmals der Gehstock mit Silbergriff auf, die dicke gol dene Rolex und der Lederschuh, der irgendeine Missbildung verhüllte. «Danny Cray.» «Judd Belzer.» Belzer, eine schlaksige und sportliche Erscheinung, hatte ei nen festen Händedruck und sah gut aus, jedenfalls gut genug, um die junge Frau nervös zu machen, die plötzlich auftauchte und fragte, ob sie ihnen etwas zu trinken bringen könne. Der Anwalt hatte die Ausstrahlung eines Filmstars, und Danny konnte förmlich sehen, wie die Kellnerin hektisch überlegte, wo sie ihn an ihrem Firmament von Berühmtheiten einordnen sollte. Sie wurde rot und huschte schließlich davon, um die Bestellung auszuführen: Kaffee für Danny, Pellegrino für Bel zer. Belzer setzte seine Sonnebrille wieder auf und entschuldigte sich dafür. «Meine Augen sind sehr lichtempfindlich», sagte er mit Bedauern in der Stimme. «Also», sagte Danny und nahm in einem Sessel Platz. «Da 31
wären wir.» «Jawohl.» Mit einem Lächeln beugte Belzer sich vor und er klärte ohne Vorrede ruhig, worum es ging. «Ich möchte Sie für ein wenig Schadenbegrenzung engagieren.» «Soll heißen?» Belzers Hände klappten auf wie ein Buch. «Ein paar Nach forschungen. Das ist doch ihr Job, nicht?» Danny nickte. «Klar.» «Also dann …» Zähne blitzten. «Ich habe einen Mandanten – ein Geschäftsmann in Italien – Zerevan Zebek …» Der Anwalt hielt inne, als warte er auf eine Reaktion. Als keine kam, sprach er weiter. «Seit einiger Zeit ist Mr. Zebek das Ziel von … ich weiß nicht, wie ich es nennen soll … einer Kampagne, die seinen guten Ruf zerstören soll.» Dannys Stirn legte sich mitfühlend in Falten, als die Kellne rin mit den Getränken kam. «Wann hat das angefangen?», frag te er. «Vor ein paar Monaten», erwiderte Belzer. «Eine Zeitung – La Repubblica – hat gewisse Gerüchte veröffentlicht …» «Worüber?» «Mr. Zebeks Geschäfte. Unsere erste Reaktion –» «Was für Gerüchte?», fragte Danny. Belzer, der es nicht ge wohnt war, unterbrochen zu werden, zog die Augenbrauen hoch. «Ich meine – was waren das für Behauptungen?», erklär te Danny. Der Anwalt schüttelte den Kopf, schloss die Augen und machte eine ungehaltene Geste mit der Hand, als würde er je mandem, der ihm gleichgültig war, zum Abschied winken. «Was spielt das für eine Rolle? Die Behauptungen sind aus der Luft gegriffen.» Danny lehnte sich zurück, trank von seinem Kaffee und ließ das Schweigen zwischen ihnen andauern – was nicht leicht war. Die Körpersprache des Anwalts drückte eine Haltung aus, die irgendwo zwischen Verärgerung und Verachtung lag. 32
Schließlich gab Belzer mit einem Seufzen klein bei. «Also schön, es wird behauptet, dass er mit der Mafia unter einer Decke steckt – dass er ein Waffenhändler ist … ein Umwelt verschmutzer und Betrüger. Er soll der Teufel in Menschenge stalt sein.» Danny grinste. «Dabei ist er in Wahrheit …?» Belzer zuckte die Achseln. «Er ist Investor. Verschwiegen? Selbstverständlich. Aber das ist normal in der Branche, oder nicht? Wir reden hier von jemandem, der Hunderte von Millio nen Dollar in eine Reihe von mittelständischen Unternehmen investiert hat, von denen einige ausgesprochen gut laufen – und vielleicht noch besser laufen werden. Wir reden hier über Zu kunftstechnologien – Roboter und MEMS – nicht über Tele pizza.» Danny hatte zwar keinen Schimmer, was MEMS bedeutete, aber er verstand, worauf Belzer hinauswollte. Er hatte im Laufe der letzten anderthalb Jahre, die er für Fellner Associates arbei tete, genug Erfahrungen gesammelt, um zu wissen, dass in der unbarmherzigen High-Tech-Welt Milliarden kamen und gingen wie Tropenstürme. Der Anwalt glaubte offenbar, dass sein Mandant von einem Konkurrenten durch den Schmutz gezogen wurde. «Und warum geht er nicht vor Gericht?», fragte er. Belzer nahm einen Schluck Mineralwasser und beugte sich mit einem wölfischen Grinsen vor. «Tja, gerade darum geht es schließlich. Ich meine, darum sind wir hier.» «Aha.» Der ältere Mann lehnte sich zurück. «Wir wissen zum Teil, wer die Gerüchte in Umlauf bringt – Journalisten von Revol verblättern und andere. Aber um sie geht es nicht – das sind nur die Handlanger. Wir wollen wissen, wer dahinter steckt.» Danny überlegte. Das wäre genau sein Metier. «Einer, von dem wir wissen, dass er daran beteiligt war», fuhr Belzer fort, «ist Amerikaner.» «Aha …» 33
«Ein Mann namens Terio.» «Und woher wissen Sie das?», fragte Danny. Belzer betrachtete ihn kühl. «Jemand hat ein Gespräch mit gehört, das Mr. Terio mit einem Reporter geführt hat.» «Mitgehört?» Belzer nickte. «Heißt das, na ja … jemand hat zufällig am Nebentisch ge sessen oder … haben Sie ihn abgehört?» Belzers Gesicht verzog sich vor gespielter Empörung. «Ich habe noch nie im Leben jemanden abgehört», protestierte er. Dann hielt er inne und fügte hinzu: «Dafür haben wir unsere Leute.» Danny musste lächeln. Aber er hatte wohl auch besorgt dreingeschaut, denn der Anwalt beruhigte ihn rasch: «Das war in einem anderen Land, Mr. Cray. Mit anderen Gesetzen.» Danny nickte nachdenklich. «Also, was soll ich für Sie tun?» «Na ja, es wäre schön, wenn wir einen Blick in Mr. Terios Unterlagen werfen könnten …» «Seine ‹Unterlagen›», wiederholte Danny. «Was für Unterla gen?» Belzer zuckte die Achseln. «Alle, die es gibt. Und wenn wir herausfinden könnten, mit wem er in Kontakt stand, wäre das sogar noch besser.» Wieso auf einmal die Vergangenheitsform, dachte Danny. «‹In Kontakt stand›?» Belzer nickte. «Mr. Terio ist verstorben.» Danny blinzelte. Der Anwalt setzte sich im Sessel auf. «Es war in den Nach richten.» Danny bedachte ihn mit einem entschuldigenden Blick. «Ich war eine Weile nicht in der Stadt», sagte er. «Meine Freundin und ich waren ein paar Tage in North Carolina, deshalb –» «Es stand in allen Zeitungen», sagte Belzer. Er ließ einen Finger in der Luft kreisen. «Fernsehen. Radio.» Danny dachte nach. «Dann war der Typ also – prominent?» 34
Belzer schüttelte den Kopf. «Nein», erwiderte er. «Er war ei gentlich nicht ‹prominent›. Er war Dozent am College. Was ihn so interessant für die Medien gemacht hat, war eher die Art, wie er gestorben ist.» Danny trank noch einen Schluck Kaffee und beugte sich vor. «Wie er gestorben ist?» Belzer sah zu, wie eine 737 auf der Landebahn vor dem Fen ster aufsetzte. Dann sagte er: «Mr. Terio hat sich eingemauert.» Danny war sich nicht sicher, ob er richtig verstanden hatte. Zwei Sekunden verstrichen. «Wie bitte?» Belzer wandte sich ihm wieder zu. «Ich sagte, er hat sich eingemauert.» Der jüngere Mann blieb reglos sitzen und sagte eine Weile nichts. Dann löste sich sein gespieltes Geschäftsmanngehabe auf, und er sank mit einem ungläubigen Lachen nach hinten in den Sessel. «Tschuldigung, Mann, aber … er hat sich selbst eingemauert?» Belzer neigte bestätigend den Kopf. «Er hat sich lebendig begraben.» «Aber … wie stellt man denn so was an?», fragte Danny. Der Anwalt schüttelte verwundert den Kopf. Dann zog er die Stirn kraus und sagte: «Laut Polizeibericht hat er sich alles, was er brauchte, in einem Baumarkt besorgt. Dann hat er um sich herum eine kleine Kammer gebaut.» Danny konnte es nicht fassen. Es überstieg sein Vorstel lungsvermögen. «Aber wieso? Wieso sollte jemand so etwas machen? Dafür gibt es doch Schusswaffen. Brücken! Tablet ten!» Belzer schüttelte den Kopf, fast versonnen. «Er war offenbar verrückt.» Danny nickte, fuhr sich dann mit einer Hand durchs Haar. Schließlich versuchte er, wieder zur Sache zu kommen. «Okay, Mr. Terio ist also so was wie ein Rätsel. Aber warum ich? Ich meine, ich kann verstehen, dass Sie herausfinden möchten, wer 35
hinter der Kampagne gegen Ihren Mandanten steckt, aber – warum wenden Sie sich nicht an Fellner Associates?» Bevor der Anwalt antworten konnte, sprach Danny hastig weiter. «Verstehen Sie mich nicht falsch – ich fühle mich geschmei chelt. Ich meine bloß … Fellner ist schließlich ein Unterneh men mit besten Verbindungen. Ich bin ganz allein. Ich habe nicht annähernd solche Möglichkeiten wie die.» Er hätte es lieber nicht gesagt, aber es war so offensichtlich, dass es nun mal zur Sprache gebracht werden musste. Er war ein Teilzeitprivatdetektiv, der nicht mal eine Zulassung hatte – Fellner Associates dagegen hatte ein Dutzend Büros in einem halben Dutzend Ländern und 120 Mitarbeiter, darunter einen ehemaligen stellvertretenden CIA-Direktor. Außerdem hatte die Detektei Zugriff auf zig geheime Datenbanken und arbeite te mit einem Heer von Kriminalexperten jedweden Fachgebiets zusammen. «Der Grund», erwiderte Belzer, «ist der, dass Sie schon ein mal für Mr. Zebek tätig waren.» Danny blickte überrascht. «Ach ja?» Der Anwalt nickte. «Im Rahmen Ihrer Arbeit bei Fellner.» «Ich bin freier Mitarbeiter.» «Natürlich. Sie waren … ich glaube, so etwas wie ein ‹Sub unternehmer›.» «Ein Subunternehmer.» «Genau. Es ging um eine Angelegenheit, die Fellner für Mr. Zebeks Holdinggesellschaft erledigt hat.» Danny schüttelte den Kopf. «Helfen Sie mir auf die Sprün ge.» «Sistemi di Pavone.» Danny überlegte. Er hatte viele Aufträge von Fellner über nommen, aber ein so kleiner Fisch wie er erfuhr mitunter nicht einmal den Namen des Klienten. Sistemi di Pavone sagte ihm nicht das Geringste, aber das zuzugeben wäre vielleicht unhöf lich. «Ja, richtig.» 36
«Mr. Zebek engagiert Fellner häufig für – wie soll ich sagen? – geschäftsrelevante Dinge. Meist Überprüfungen von Finanz situationen, ein paar Fusionen und Unternehmenskäufe. Aber bei Terio liegt die Sache anders. Das ist ein persönlicher An griff.» Belzer hielt inne, um sicher zu gehen, dass Danny ver standen hatte, und fuhr dann fort. «Es besteht also keine Not wendigkeit, Fellner einzuschalten. Wir möchten die TerioErmittlungen von unseren sonstigen geschäftlichen Dingen getrennt halten – und gleichzeitig sollte die Angelegenheit so zusagen … intern bleiben.» Danny nickte. Das leuchtete ihm einigermaßen ein. Dann wurde er unruhig und beugte sich vor. Er musste das Honorar ansprechen – was ein bisschen knifflig war. Fellner zahlte ihm fünfundzwanzig Dollar die Stunde, stellte seinen Kunden aber das doppelte in Rechnung. Vielleicht sollte er fünfunddreißig verlangen. Oder sogar fünfzig (wenn er es schaffte, dabei keine Miene zu verziehen). Eine Lautsprecherdurchsage ertönte, und Belzer sah auf die Uhr. «Wann geht ihre Maschine?», fragte Danny. Belzer hob leicht das Kinn. «Wenn ich es sage», erwiderte er. Es dauerte ein Moment, bis Danny schließlich schaltete, und dann hörte er sich sagen: «Na ja, ich denke, ich könnte Ihnen helfen, aber … vielleicht erläutern Sie ein wenig genauer, wor um es Ihnen geht.» «Christian Terio», sagte Belzer mit Nachdruck und blickte leicht verärgert. «Es ist ganz einfach. Wer war er? Was hatte er vor?» «Sie sagten, er war Dozent.» «Für Philosophie und Religionswissenschaft an der George Mason University», erklärte Belzer. «Eigentlich unverständ lich, warum jemand in seiner Position Mr. Zebek verleumden wollte. Deshalb möchten wir mehr über seine Freunde und Kollegen herausfinden – die Menschen, mit denen er in enger 37
Verbindung stand, eventuell korrespondierte. Es wäre möglich, dass jemand ihn als Mittelsmann benutzt hat oder dass er für das, was er getan hat, bezahlt wurde.» «Wäre es möglich, die Artikel zu sehen?», fragte Danny. «Das könnte hilfreich sein.» Belzer dachte nach. «Können Sie Italienisch?» Danny zog ein bedauerndes Gesicht. Belzer zuckte die Achseln. «Tja, wir könnten sie für Sie übersetzen lassen, aber offen gestanden … halte ich sie nicht für besonders hilfreich.» Er hielt inne und schlug einen anderen Ton an. «Wir interessieren uns insbesondere für Unterlagen und Aufzeichnungen in jeder Form-Akten, Computer, egal, was Sie auftreiben können. Es könnte sein, dass darin Auf schlüsse über Verbindungen zu Mr. Zebek enthalten sind, die wir erkennen können, Sie jedoch nicht.» «Dinge, die für Ihren Mandanten aufschlussreich wären.» Belzer öffnete die Hände. «Ganz genau. Je mehr Daten wir erhalten, desto besser. Abgesehen davon möchten wir, dass Sie bei Ihren Ermittlungen zu Mr. Terio so vorgehen, als befänden wir uns in der Situation einer feindlichen Übernahme.» «Dann … soll ich also ein Profil von ihm erstellen.» «Richtig. Und zwar so detailliert wie möglich.» «Seine Vermögenslage überprüfen?» Der Anwalt nickte. «Ja – unter Berücksichtigung der Tatsa che, dass Terio nur Dozent war und kein nigerianischer Dikta tor. Eine Überprüfung seiner Vermögenslage könnte uns verra ten, wer ihn bezahlt hat.» Danny räusperte sich. «Ich sehe bislang keinerlei Probleme», sagte er, «obwohl ich wissen muss, wie hoch ihr Budget ist.» Der Anwalt machte eine wegwerfende Handbewegung. «Das Budget ist … nach oben hin offen. Wir zahlen Ihnen sämtliche Spesen – und Ihr Honorar, also … wie viel? Hundert Dollar die Stunde?» Danny hatte Mühe, nicht das Gesicht zu verziehen. Da 38
kämpfte er darum, die Dreistigkeit aufzubringen, sein Honorar auf fünfunddreißig oder vierzig Dollar aufzustocken, und Bel zer bot von sich aus hundert an! Er holte tief Luft. «Einver standen», brachte er hervor. Belzer schmunzelte. «Ich weiß, dass Sie Künstler sind, Mr. Cray –» «Dan.» «– und dass Sie noch auf den Durchbrach warten. Ich helfe Ihnen gern dabei, solange Sie den Interessen des Mandanten dienen.» «Natürlich.» «Und ich höre Beeindruckendes über Sie.» «Wirklich?» Das war so unwahrscheinlich, dass Danny ein nervöses Lachen nicht unterdrücken konnte. «Oh ja», sagte Belzer. «Ich habe in Les Yeux de Monde eine Arbeit von Ihnen gesehen – gebürstetes Aluminium – sehr schön. Und wie ich höre, hatten Sie etwas in der Torpedo Fac tory ausgestellt. Ich habe es nicht gesehen, aber ich habe gele sen, dass Sie dafür ausgezeichnet worden sind.» Danny war geschmeichelt und ein bisschen verunsichert. Belzer verstand sich offenbar auch selbst auf Ermittlungen. «Vielleicht, wenn die Sache erledigt ist», fuhr Belzer fort, «habe ich Gelegenheit mir Ihr … Œuvre einmal anzuschauen.» «Ich habe bald eine Ausstellung», sagte Danny. «Im Oktober – in der Neon Gallery.» «Wunderbar. Ich kaufe zwar nicht viel Kunst, aber ein paar Stücke habe ich, also wer weiß?» Und dann reichte Belzer ihm ein Kuvert mit dem Logo vom Admirals Club darauf. «Ihre Anzahlung», erklärte er. «Es sind fünftausend für den Anfang – für Honorar und Spesen. Sie führen Buch, und bei Bedarf er folgen weitere Zahlungen.» Danny hatte noch nie eine Anzahlung bekommen. Norma lerweise musste er zwei Monate warten, bis Fellner seine Stun den- und Spesenabrechnung erledigte. So viel Bargeld auf 39
einmal und im Voraus zu haben war fast erschreckend. «Also – » «Tun Sie einfach, was erforderlich ist», sagte Belzer. Dann stand er mit Hilfe seines Gehstocks auf und zog eine Visiten karte aus der Innentasche seines Jacketts. Auf der Karte stand eine Telefonnummer – sonst nichts. «Meine Handynummer», erklärte Belzer. «Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas haben.» Dann drehte er sich um, winkte kurz über die Schulter, stieß seinen Stock in den dicken Tep pichboden und ging hinaus. Danny stand einfach nur da, die Karte in der Hand und dach te, hundert Dollar die Stunde acht Stunden pro Tag fünf Tage die Woche – wo waren die Typen mit den Erdnüssen? Er sah sich um. Sie waren verschwunden. Vier Riesen die Woche, sechzehn Riesen im Monat … Erst als er wieder in der U-Bahn saß, ließ er den Gedanken zu, der ihm schon die ganze Zeit beunruhigte. Was für ein Anwalt hat Bodyguards?
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Es war ein Traum, und er wusste, dass es ein Traum war, wäh rend er ihn träumte. Und dennoch … Er stand auf einer Klippe am Ozean, und ihm war schwinde lig. Er hatte Belzers Visitenkarte in der Hand, aber er konnte sie einfach nicht lesen. So sehr seine Augen auch anstrengte, die Buchstaben waren undeutlich und verschwammen, verän derten sich dann in Zahlen, die im selben Moment schon wie der zu anderen Zahlen wurden. Das Telefon neben dem Bett klingelte, riss ihn aus dem Schlaf. Er wollte nicht drangehen. Er wollte die Karte lesen. Es war wichtig, die Karte zu lesen. Doch seine Hand gehorchte einem eigenen Reflex und griff tastend nach dem Telefon. Im Halbschlaf zog er den Hörer ans Ohr. «Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Sohn!» Die dröhnende Stimme seines Vaters. Danny murmelte irgendetwas Unverständliches, stützte sich dann blinzelnd auf einen Ellbogen. «Ich hab ihm gesagt, es ist noch zu früh», schaltete seine Mutter sich ein, «aber du weißt ja, wie er ist.» «Hi, Mom. Dad.» Er gähnte und rieb sich die Augen. Sie rie fen aus dem Cottage in Maine an, dem Sommerhaus, das sein Großvater gebaut hatte. «Es ist halb acht», sagte sein Vater mit einer Mischung aus gespieltem Erstaunen und vorgetäuschter Arglosigkeit. «Um halb acht schläft kein Mensch mehr! Das ist überall so!» «Danny, Schätzchen, alles Gute zum Geburtstag», zwitscher te seine Mutter. «Und tut mir Leid, dass wir dich geweckt ha ben.» «Wer zu lang pennt, den bestraft das Leben», verkündete sein Vater. 41
Danny lachte. «Okay, okay. Ich hab sowieso schlecht ge träumt.» «Dein Vater sollte langsam deinen Tagesrhythmus respektie ren», sagte seine Mutter mit Nachdruck. «Für Künstler läuft die Uhr anders als für uns Normalsterbliche. Ich verstehe das.» Ein Schnauben von seinem Vater. «Im Ernst, Frank!» Wie immer führten seine Eltern eigent lich kein Gespräch mit ihm, sondern lieferten sich in seinem Beisein ein kleines Geplänkel. An ihrer Zuneigung zueinander hatte er nicht den leisesten Zweifel. Er war der jüngste von drei Söhnen und bei weitem der gelassenste. Anders als Kevin und Sean mochte Danny die Frotzeleien seines Vaters und zahlte es ihm heim, so gut er konnte. «Was war das für ein schlechter Traum?», fragte sein Vater. «Der übliche, dass du dreißig Jahre alt bist –» «He!» «– und arbeitslos?» «Ich bin erst sechsundzwanzig!» Sein alter Herr stieß einen belustigten Schrei aus. «Frank! Er hat Geburtstag.» «Entschuldigung. Sechsundzwanzig Jahre», sinnierte sein Vater. «Die beste und teuerste Ausbildung, die man sich den ken kann …» «Frank.» Danny, der aufgestanden war, zog die Telefonschnur um die Ecke und trottete in die Küche. «Übrigens», sagte er, «ich habe eine gute Nachricht. Ich habe eine Ausstellung. Im Oktober. In der Neon Gallery.» «Wirklich», erwiderte sein Vater, plötzlich ernst. «Das ist eine ziemlich große Sache», gestand Danny, wäh rend er den Wasserkocher füllte. «Oh, Danny!» Er machte Kaffee, und seine Mutter schwärmte derweil, wie begabt er doch sei und alle hätten schon immer gewusst, es sei 42
«nur eine Frage der Zeit …» Schließlich reichte es seinem Va ter und er wechselte das Thema. «Wir besuchen die heimatli che Scholle, ich und deine Mum!», donnerte er. «Ihr macht was?» «Wir fahren nach Hause, Sohnemann – zwölf Tage und elf Nächte, Dublin, Waterford, Kerry und Cork. Das wird wunder bar.» Danny lachte. Die heimatliche Scholle. Soweit er wusste, war niemand aus seiner Familie in den letzten hundert Jahren in Irland gewesen. Bevor sie zur Arbeit gegangen war, hatte Ca leigh ihm ein Geburtstagsfrühstück gemacht, und Danny setzte sich, während seine Eltern ihm Näheres über die Reise erzähl ten. Wie Danny ernährte sich auch Caleigh überwiegend vege tarisch. Auf einem mit Frischhaltefolie abgedeckten Teller wa ren Räucherlachs und Frischkäse arrangiert, umgeben von hauchdünnen Zwiebelringen. Ein Mohn-Bagel steckte bereits im Toaster. Danny drückte den Hebel hinunter und sah zu, wie die Heizstäbe orangerot aufglühten. An den Salz- und Pfefferstreuern lehnte eine Geburtstagskar te: ein Teddybär, der vor einem Geburtstagskuchen saß und Luft holte, um die Kerzen auszublasen. Danny öffnete die Kar te und las die handgeschriebenen Worte: Happy, Hap-py Birthday, Ba-a-by. C. Dann kochte das Wasser, und er goss einen Schwall auf das Kaffeepulver, während er geduldig dem Monolog lauschte, den sein Vater über Caleigh hielt. (Wie war er bloß von Dublin auf Caleigh gekommen?, fragte Danny sich.) «Sie ist eine tolle Frau», sagte sein Vater gerade, «und eines schönen Tages wird sie morgens aufwachen und merken, dass sie mit einem Taugenichts zusammenlebt –» «Einem ‹Taugenichts›?! In welchem Jahrhundert lebst du, Dad?» Ein Knurren von seinem Vater. «He», sagte er, «wir haben ein Geschenk für dich – aber deine Mutter hat es nicht rechtzei 43
tig abgeschickt.» Ein Wimmern von Mom. «Ich hatte gehofft, du würdest her kommen, und wenn auch nur übers Wochenende. Dein Dad trägt sich mit dem Gedanken, ein neues Boot zu kaufen – er könnte deinen Rat gut gebrauchen.» Sein Vater pfiff. «Du wirst Augen machen, Kleiner! Da steckt Musik drin.» «Zu viel Musik, für meinen Geschmack!», rief seine Mutter. «So, du hast heute bestimmt noch was anderes zu tun, Schätz chen. Aber noch einen schönen Geburtstag!» «Danke.» Der Bagel im Toaster sprang heraus. «Wir vermissen dich.» «Ich euch auch.» Um zehn Uhr saß Danny mit seinem Laptop am Küchentisch und war seit fast einer Stunde im Internet. Als Erstes hatte er die Website der George Mason University aufgerufen, wo er Terios Telefon-, Handy und Faxnummer sowie seine Anschrift und E-Mailadresse fand. Der Fachbereich für Philosophie und Religionswissenschaft hatte eine eigene Website mit biographi schen Angaben über die einzelnen Dozenten. Terio hatte 1978 sein Studium an der Georgetown abgeschlossen. Zwölf Jahre später hatte er an der John Hopkins University promoviert. (Wieso hat er so lange gebraucht?, fragte Danny sich.) An schließend hatte er an der Boston University gelehrt und war dann an die George Mason gegangen. In den letzten zehn Jah ren hatte er in Fachzeitschriften ein Dutzend Aufsätze veröf fentlicht, und 1995 war von ihm ein Buch erschienen; der Titel lautete: Das strahlende Grab: Eremiten und Ekstase im frühen Christentum. Laut Amazon war das Buch vergriffen, aber im InternetAntiquariat Alibris.com fand Danny ein gebrauchtes Exemplar für achtundzwanzig Dollar und ein paar Cent. Nachdem er das 44
Buch mit Expresslieferung bestellt hatte, ging er zur Website der Washington Post, wo er, wie er wusste, sämtliche Artikel runterladen konnte, die dort über Terio und seinen Tod er schienen waren. Zu seinem großen Ärger war der Zugriff auf die Site «vorübergehend nicht möglich», was alles heißen konnte – ein paar Minuten oder aber ein paar Stunden. Er machte sich eine zweite Tasse Kaffee und versuchte sein Glück erneut. Wieder nichts. Seufzend wippte er auf seinem Stuhl vor und zurück und überlegte. Er kannte niemanden bei der Post persönlich, aber er kannte eine ganze Reihe von Leuten, die Zugang zu Nexis hat ten – eine sündhaft teure Datenbank, deren elektronisches Ar chiv sämtliche Artikel von Tausenden von Zeitungen und Zeit schriften gespeichert hatte. Er könnte über Fellner rein, aber … nein. Belzer wollte die Detektei raushalten, was Danny nur recht war. Er würde es auf die altmodische Art und Weise ma chen müssen – in der Stadtbibliothek. Er nahm ein Notizbuch und ging nach unten in die Eingangs halle, wo er zunächst in den Briefkasten schaute und feststellte, dass keine Post da war. Dann trat er hinaus auf die Straße. Das Haus, in dem er wohnte, war ein etwas heruntergekommenes dreistöckiges Gebäude am Mintwood Place, nur ein paar Schritte von der Columbia Road, wo ständig Trubel herrschte. Er überlegte, das Auto zu nehmen, entschied sich aber dage gen, seinen Parkplatz aufzugeben. Sein Oldsmobile brauchte nicht nur mehr Platz als ein normaler Pkw, sondern hatte auch noch ein Virginia-Kennzeichen, was bedeutete, dass er auf ei nem Anwohnerparkplatz nicht länger als zwei Stunden stehen durfte. Außerdem war die Klimaanlage defekt und der Anlasser launisch. Er würde den Bus nehmen. Das Hemd klebte ihm schon am Körper, als er an der Bushal testelle angekommen war. Plötzlich fiel ihm ein, dass seine Spesen ja bezahlt wurden. Und nicht bloß die Spesen, auch die Zeit: Bei hundert Mäusen die Stunde würde er seinem Klienten 45
keinen Gefallen tun, wenn er den Bus nahm. Also hielt er das erste Taxi an, das er sah, und fünf Minuten später stieg er vor der Cleveland Park-Bibliothek auf der Con necticut Avenue aus. Wenn möglich, mied er Bibliotheken. Mikrofiches waren für ihn ein Albtraum, und Mikrofilme wa ren auch nicht besser. Häufig fand er nicht, was er suchte, und wenn doch, spuckten die Kopierer graue, schlecht lesbare Blät ter aus, die sich in seiner Hand aufrollten. Zum Glück lag Terios Tod nicht sehr lange zurück, so dass die Zeitungen, die er suchte, noch in den Regalen lagen. Ob wohl die Ausbeute eher dürftig war. In der Post fand er nur einen Nachruf mit einem Foto dar über. Danny sah sich das Bild genau an, aber es gab nicht viel her. Terio war ein sympathisch aussehender Mann von Ende vierzig, mit einem sanften Lächeln und einem grau melierten Bart. Der Nachruf selbst war knapp gehalten; er fasste Terios Leben mit ein paar höflichen Sätzen zusammen und endete mit den Worten «hinterlässt keine Angehörigen». Dennoch war der Artikel nicht ganz uninteressant. Laut der Post war Terio sechs Jahre lang Jesuitenpriester gewesen, bevor er aus dem Orden austrat und Uni-Dozent wurde. (Also deshalb hat er so lange zum Promovieren gebraucht, dachte Danny.) Die Washington Times brachte keinen Nachruf, sondern be richtete über den Todesfall. Es wurden die Umstände der Ent deckung der Leiche geschildert. Der Artikel zitierte den Ge richtsmediziner, der als Todesursache Dehydrierung und als Todeszeitpunkt den 23. oder 24. Juli angab. Da die Zeitungen nicht viel mehr hergaben, suchte Danny in der Bibliographie für Fachzeitschriften nach Aufsätzen, die Terio geschrieben hatte. Es waren eine ganze Reihe, und Dan ny listete sie in seinem Notizbuch auf. (Damit könnte er zu mindest seinen Bericht ein wenig aufpolstern, wenn er in ande ren Bereichen nicht fündig wurde.) Er überflog die Titel und sah, welches die jüngsten Aufsätze waren: «Synkretismus im 46
westlichen Kurdistan» und «Uzelyurt: ‹Vatikan der Jesiden›». Danny hielt seine Allgemeinbildung für ganz ordentlich, aber mit Kurdistan kannte er sich nicht aus. Und von den Jesiden hatte er noch nie etwas gehört. Er ging zu den Lexika und nahm einen Band ‹K› hervor: Kurdistan: überwiegend von Kurden bewohntes Gebiet in Vorderasien, Schwerpunkt im Grenzgebiet Türkei/Irak/Iran, zum Teil auch im Norden Syriens und in Armenien. Soweit Danny wusste, war die Region häufig Schauplatz po litischer Unruhen, aber damit hatte es sich auch. Er war über die Gegend eigentlich kaum informiert. Er hatte nur die übli chen Bilder im Kopf: Diktatoren und Staub. Handwerk und Folter. Er griff sich einen anderen Lexikon-Band und fand nur einen einzigen Eintrag über die Jesiden: «Anhänger einer synkretisti schen Glaubensgemeinschaft in Vorderasien». Mehr gab die Bibliothek nicht her. Draußen auf der Connec ticut Avenue kaufte er sich an einem Stand ein Stück Pizza und winkte dann ein Taxi heran, das ihn zum Campus der George Mason University bringen sollte. Der Fahrer, ein ehemaliger liberianischer Diplomat, war neu im Land und kannte nicht einmal den Weg nach Virginia rüber. Aber Danny dirigierte ihn zur Key Bridge, und dann über den Beltway zur Interstate 66. Danny wusste, wo die Uni lag. Zwei Monate zuvor war er mit Caleigh ganz in der Nähe im Nissan Pavilion auf einem Kon zert von Dave Matthews gewesen. Als er den sanften Hügel zum Besucherzentrum hochging und sich fragte, ob der Taxifahrer je nach Washington zurück finden würde, beschlich ihn der Verdacht, dass er vielleicht nur mehr Stunden herausschlagen wollte. Was konnte er hier denn schon finden? Wahrscheinlich gar nichts, wenn er ehrlich war. Andererseits war ein Besuch der Uni unumgänglich – sonst würde sein Klient ihn für einen Idioten halten. (Soll das heißen, Sie waren nicht mal da, wo er gearbeitet hat?) 47
Im Besucherzentrum drückte ihm eine muskulöse junge Frau eine Broschüre mit einem Campus-Plan auf der Rückseite in die Hand. «Das Robinson-Haus», sagte sie. «Der Fachbereich Religionswissenschaft ist im ersten Stock.» Auf dem Weg zum Robinson-Gebäude dachte er sich einen glaubwürdigen Vorwand aus. Etwas Einfaches. Undramati sches. Zum Beispiel … Hi, ich bin ein Freund der Familie – ich soll mir mal Chris’ Büro ansehen, wegen der Sachen, die aus geräumt werden müssen. Oder besser: Ich habe ihm vor ein paar Wochen ein Buch geliehen – vielleicht liegt es ja bei ihm auf dem Schreibtisch. Ohne die ein oder andere kleine Lüge war man als Privatdetektiv aufgeschmissen. In diesem Fall war das jedoch gar nicht nötig. Die Fachbe reichssekretärin – eine resolute Frau in einem geblümten Kleid – erklärte ihm, dass der verstorbene Dr. Terio gar kein Büro hatte. «Sie meinen: keins mehr hat?», sagte Danny. Ihre Mundwinkel hoben sich zu einem geduldigen Lächeln. «Sozusagen», erwiderte sie. «Ich meine, natürlich hatte er ein Büro, aber … wir wachsen so schnell! Als Dr. Terio in For schungsurlaub ging, mussten wir sein Büro Dr. Morris geben – ein Gastdozent aus Oxford.» «Ach so», sagte Danny enttäuscht. «Dr. Terio sollte es zurückkriegen», erklärte die Sekretärin. «Dr. Morris ist vor Monaten nach England zurückgekehrt, aber … aus irgendeinem Grund hat Dr. Terio sich Zeit gelassen, sein Büro wieder zu beziehen. Es war allerdings auch keine Eile – und offenbar hatte er andere Dinge im Kopf – aber …» Sie schüttelte ihre grauen Locken und kniff die Augen zu. «Es tut mir Leid», sagt Danny. «Wir waren nicht befreundet oder so. Aber … na ja, es war einfach so entsetzlich. Wenn ich mir vorstelle, wie er da drin …» Sie schauderte und kniff erneut die Augen zu. Nach einem Moment fragte Danny: «Wie lange war er in 48
Forschungsurlaub?» Der Sekretärin schüttelte den Kopf. «Die normale Zeit. Ein Jahr. Er ist auf Forschungsreise gegangen. In die Türkei, heißt es, nach Ankara oder so. Und auch noch nach Rom, glaub ich.» «Tja … wissen Sie, wann er zurückgekommen ist?» «Oh, vor ein paar Monaten», sagte die Sekretärin. «Er sollte im Herbst wieder anfangen. Wir mussten seine beiden Semina re streichen. Zum Glück waren es keine Pflichtseminare.» «Was glauben Sie, warum er es getan hat?», fragte Danny. Sie schüttelte den Kopf. «Keine Ahnung. Er war wirklich der Letzte, von dem ich gedacht hätte, dass er … so etwas tut. Er war sehr gläubig. Aber vom religiösen Standpunkt her hat er sich ja eigentlich nicht umgebracht. Er hat bloß … die Bedin gungen geschaffen für seinen …» Wieder erschauderte sie. «Er war gläubig?», fragte Danny. «Ich dachte, er hätte seine Priesterwürde abgelegt.» «Oh, er hat seine Berufung verloren, stimmt, aber nicht sei nen Glauben.» Sie seufzte und neigte den Kopf zur Seite. «Was sagten Sie noch mal, wer Sie sind?» «Danny Cray.» «Und Sie sind … ein Freund?» Danny schüttelte den Kopf. «Ich arbeite in der Anwaltskanz lei, die Dr. Terios Nachlass abwickelt», erwiderte er und fragte sich, noch während er sprach, Wie komm ich denn darauf? «Wir müssen sichergehen, dass wir auch sein letztes Testament haben.» Diese Erklärung stellte sie offenbar zufrieden. Die Furchen auf ihrer Stirn glätteten sich, und ihr Lächeln kehrte zurück. «Eine Frage noch», fuhr Danny fort. «Ist vielleicht irgendei ner von seinen Kollegen da?» Die Sekretärin verzog das Gesicht. «Jetzt? Machen Sie Wit ze? Wir haben Semesterferien! Da sind nur wir Sklaven hier. Kommen Sie in zwei Wochen wieder …» Er sagte, das werde er, und verabschiedete sich, in der Hand 49
ein Vorlesungsverzeichnis für das nächste Semester. Auf dem Rückweg zum Gebäude des Studentenausschusses blätterte er das Vorlesungsverzeichnis durch und fand die zwei Veranstal tungen, die Terio geplant hatte: ein Seminar über islamischen Mystizismus und ein Seminar über etwas, das Meshefa Res – Die Schwarze Schrift hieß. Da er inzwischen Hunger hatte (es war kurz vor drei) ging er in die Cafeteria und bestellte über sein Handy ein Taxi. Dann schlang er einen Gemüseburger hinunter und schlenderte nach draußen. Fünf Minuten später (in denen Danny, wie er aus rechnete, 8,33 Dollar verdient hatte) war das Taxi da. Er sagte dem Fahrer, er wolle zum Gericht von Fairfax County. Dort hoffte er, Terios Testament zu finden, zumindest den Namen des Testamentsvollstreckers zu erfahren, der ihm würde sagen können, was mit Terios Unterlagen geschehen war. Da Terio keine Angehörigen hatte, würde der Testamentsvoll strecker vermutlich über den Verbleib von dessen persönlicher Habe Bescheid wissen. Danny war schon öfters in dem Gericht gewesen und wusste, dass es verwaltungstechnisch gut durchorganisiert war. Trotz dem dauerte es fast eine Stunde, bis er das Testament in Hän den hielt, und dann erwies es sich noch dazu als Enttäuschung. Das Dokument war auf fünf Jahre zuvor datiert, und Terio vermachte seinen Besitz «den Priestern und Nonnen des Wai senhauses, die mich umsorgt haben» – das Catholic Home Bu reau in Brooklyn, New York. Als Erbschaftsverwalter war die Anwaltskanzlei aufgeführt, bei der das Testament aufgesetzt worden war. Um fünf Uhr sagte man ihm, dass das Gerichtsgebäude schließen würde, und Danny schrieb sich rasch die wenigen Informationen auf, die er gefunden hatte, um dann draußen in den Strom von Menschen zu tauchen, die auf dem Weg nach Hause zur nächsten U-Bahn-Station wollten. Eine halbe Stunde später fuhr der Zug am Friedhof von Arlington vorbei und 50
Danny, noch ganz in Gedanken an Terio, fiel unvermittelt ein, dass er ja Geburtstag hatte – und er konnte sein Glück kaum fassen, dass er bis jetzt siebenhundert Dollar verdient hatte. Danke, danke, danke!
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Und vielen Dank auch für die wunderbare Frau an meiner Sei te, dachte Danny, als er und Caleigh zusammen die Columbia Road hinuntergingen. Sie stammte aus South Dakota, aus Pi erre – das, wie Caleigh alle und jeden gern belehrte, nicht wie der französische Männername ausgesprochen wurde, sondern schlicht und ergreifend Pier. Danny hatte letztes Jahr Weihnachten ihre Heimat kennen gelernt, und die Gegend war ihm nackt, schlicht, kahl und hart erschienen. Das Land war ein Hartholzboden, flach und beige, und erstreckte sich bis zum Horizont, und die Temperaturen konnten unvorstellbar tief sinken, bis minus zwanzig, dreißig Grad. Und dann die Familie … Caleigh war das jüngste Kind und einzige Mädchen und hatte sieben Brüder, große, kräftige, raue Burschen. Es war ihm ein Rätsel, wie Generationen von Farmern und Traktorverkäufern ein so zartes, intelligentes und wunderschönes Wesen hatten hervorbringen können wie die Frau an seinem Arm. Caleigh würde sich seiner Einschätzung allerdings nicht so euphorisch anschließen. «Ich bin ganz gut geraten, denk ich», war so ziemlich alles, das sie je über ihr Äußeres sagte. Sie blieben vor dem Schaufenster eines Tiergeschäfts stehen, wie immer, wenn sie vorbeikamen. Caleigh war verrückt nach Tieren – dass bei ihnen im Haus keine Tiere geduldet wurden, lastete wie ein Fluch auf ihr. Jeden Sonntag ging sie die Insera te in der Zeitung durch, auf der Suche nach einer «tierfreundli chen» Wohnung, und schleppte Danny ständig mit zu irgend welchen Besichtigungen. Doch Mietwohnungen waren knapp und die meisten für sie unerschwinglich – einfach «menschen feindlich», wie Danny gern sagte. Mittlerweile kannten Caleigh und Magda, die den Laden be 52
trieb, einander ganz gut. Wie meistens mussten er und Caleigh auf einen Sprung hineingehen, um irgendein Hündchen (dies mal einen «Otterhund») auf den Arm zu nehmen und zu strei cheln. Wenig später waren sie bei ihrem Stamm-Italiener, I Matti, wo der Besitzer sie mit einem theatralischen «Buona sera!» begrüßte. Marco nahm Caleighs Hände und fragte, wie immer, ob Danny auch gut zu ihr sei. Und als sie bejahte, löste sich sein strenger Blick in ein Lächeln auf und er geleitete sie zum besten Tisch, mit Blick auf die Straße. Als er gegangen war, murmelte Danny: «Marco ist in dich verknallt – weißt du das?» Caleigh verdrehte die Augen und winkte ab. «Blödsinn. Mar co ist einfach so. Er behandelt alle so.» «Ja, klar! Und deshalb kriegen wir diesen Tisch – du und ich und der Bürgermeister, falls er Glück hat.» «Ach was …» Sie zuckte die Achseln. Als sie bestellt hatten, sagte sie: «Erzähl mir von dem Fall.» «Dem Fall?» Sie wurde rot. «Jaaa! Du arbeitest doch an einem Fall, nicht? Genau wie Nero Wolfe.» Dannys Miene verfinsterte sich. «Nero Wolfe war ein Fett sack. Und alt! Und er hat seine Wohnung nie verlassen.» «Na ja», sagte sie, «die paar Unterschiede.» Er zuckte die Achseln. «Es läuft ganz gut, denke ich. Jeden falls lukrativ.» Ein Teller Bruschetta und zwei Gläser Greco di Tufo wurden gebracht, und Danny erzählte ihr von seinem enttäuschenden Abstecher zur George Mason University. «Danach war ich noch im Gericht.» «Weshalb?» «Um mir das Testament von dem Typen anzusehen.» «Aber was bringt das? Ich meine, so ein Testament ist be stimmt interessant, aber –» Sie biss in eine Bruschetta, und 53
ölige Tomatenwürfel purzelten herab. «Mist», schimpfte sie leise und schob die Würfel zu einem Häufchen auf ihrem Teller zusammen. «Ich weiß nicht, ob mich die Pasta gleich nicht überfordert», gestand sie. Es war zehn Jahre her, dass sie Pierre verlassen hatte, und Danny konnte noch immer die Prärie in ihrer Aussprache hö ren, genauso wie er das Sioux-Blut in ihren hohen Wangen knochen sah. Sie war ausgesprochen kultiviert und modebe wusst, aber nicht einmal das College Swarthmore, dann Har vard und Washington hatten der Farmerstochter in ihr etwas anhaben können. Caleigh konnte einen Traktor nicht nur fah ren, sondern auch den Motor reparieren. Auch seine Bruschetta zerfiel in ihre Einzelteile, als Danny hineinbiss, und Caleigh lachte. «Sieht so aus, als wären wir doch noch nicht so weit, in der Öffentlichkeit zu essen», stellte sie fest. «Aber egal, was ist jetzt mit dem Testament?» «Wie es aussieht, war der Typ Waise», sagte er. «Tatsache? Woher weißt du das?» «Weil er alles einem Waisenhaus in New York vermacht hat. Ansonsten war mein Besuch im Gericht eine Pleite. Das Te stament war fünf Jahre alt, und es stand nichts über die Papiere des Verstorbenen drin. Keine Verfügung, was mit den persön lichen Dingen geschehen soll – nichts.» «Und wer ist der Testamentsvollstrecker?», fragte sie. «Die Anwaltskanzlei», erwiderte Danny, «bei der das Testa ment aufgegeben wurde.» «Dann …» Caleigh verzog das Gesicht. «Dann hatte er gar keine Freunde? Angehörige?» «Sieht so aus.» «Wie schrecklich!» Typisch Caleigh, dachte Danny – Mitleid mit einem wild fremden Menschen zu haben. Der noch dazu tot war. «Was passiert denn dann mit seinen Papieren?», fragte sie. «Ich weiß nicht.» 54
«Aber es könnte sein, dass du sie kriegst, nicht?» Danny runzelte die Stirn. «Mhmm … eher nicht.» «Wieso nicht?» «Weil Anwälte mit im Spiel sind, und Anwälte stellen sich bei allem, was mit ‹Papieren› zu tun hat, ziemlich an und … streng genommen gehören sie dem Erben.» «Also dem Waisenhaus –» «Ja, dem Catholic Home Bureau in Brooklyn.» «Aber vielleicht lassen die dich einen Blick reinwerfen.» Danny nickte langsam. «Ja … könnte sein. Vielleicht aber auch nicht.» Caleigh riskierte einen weiteren Bissen. Schließlich sagte sie: «Also … dann kommst du in der Sache nicht richtig weiter.» Danny machte eine hilflose Geste. «Ich kriege hundert Mäu se die Stunde – was mir den Frust ein wenig versüßt. Ich mei ne, wenn ich ehrlich bin, das Schlimmste, was passieren könn te, wäre doch wohl, dass ich den Fall löse. Schnell. Was hätte ich dann davon?» Eine Stunde später waren sie wieder zu Hause, trunken von einander. «Und nun gibt’s ein sensationelles Dessert», versprach Ca leigh und ihre blauen Augen leuchteten auf, als sie in Richtung Schlafzimmer ging. Danny sah ihr nach, wie sie die Hüften schwang. Der Wein zeigt seine Wirkung, dachte er. Zwei Glä ser und sie verliert alle Hemmungen. «In einem anderen Jahr hundert», hatte Caleigh mal im Scherz gesagt, «hätte mir das Verlangen meines Körpers Höllenqualen bereitet. Aber das war damals.» Und das hier, dachte Danny, das hier ist heute – als sie den Kopf aus der Schlafzimmertür steckte und ihm einen Blick zuwarf. «Nicht weggehen.» Natürlich nicht. Doch während er wartete, kritzelte er eine Notiz auf einen Post-it-Zettel, den er an die Kühlschranktür klebte: Anwalt wg. Nachlass anrufen. Dann rief er noch rasch bei einem Infobroker in Daytona Beach an und erteilte den 55
Auftrag, ihm schnellstmöglich eine Liste mit Terios Anrufen in dem Monat vor seinem Tod zu besorgen. «Nicht nur die Num mern», sagte Danny. «Auch die Namen.» Er gab gerade seine VisaCard-Nummer und das Ablaufdatum durch, als Caleigh ins Wohnzimmer getänzelt kam, in einem durchsichtigen, schwar zen Haremskostüm. «Wow!», entfuhr es ihm und Caleigh musste lachen, als er so tat, als hätte er Schwierigkeiten, den Hörer aufzulegen. «Kann ich dir was anbieten?» «Was hättest du denn da?», fragte sie. «Weiß nicht. Mich?» Als Danny am nächsten Morgen aus der Dusche kam, war Ca leigh längst aus dem Haus. Er schlang sich ein Handtuch um die Taille, machte sich eine Tasse Kaffee und rief dann Alfred Dunkirk an, den Anwalt, der Terios Nachlass abwickelte. «Ich habe aus der Zeitung von Mr. Terios Tod erfahren», er klärte Danny, «und hab auch den Nachruf in der Post gelesen.» «Ja und?» «Ich interessiere mich für das Haus …» «Wie bitte?» Der Anwalt klang ehrlich verblüfft. «Ich wollte fragen, wann es verkauft werden soll.» Dunkirk machte keinen Hehl aus seinem Abscheu vor Dan nys Opportunismus, aber er wimmelte ihn auch nicht ab – nicht ganz. «Rufen Sie Spencer-Immobilien an», empfahl er. «Die wickeln die Sache ab.» Und das tat Danny prompt. «Al Dunkirk hat gesagt, Sie kön nen mir helfen», sagte er zu der Maklerin. «Er hat gesagt, dass Sie den Verkauf des Hauses von Christian Terio abwickeln.» «Das ist richtig», erwiderte die Frau. «Gut, ich würde es mir wirklich gern mal anschauen.» «Oh, tja … das freut mich – aber ehrlich gesagt, das ist noch ein wenig verfrüht. Die Ausschreibung erfolgt erst nächste 56
Woche.» «Oh.» Danny ließ seine Enttäuschung spüren. Und die Maklerin beruhigte ihn hastig. «Aber ich kann Ihnen das Haus auf jeden Fall zeigen!», versprach sie. «Ich kann es Ihnen bloß nicht verkaufen. Noch nicht! Aber wenn Sie wirk lich Interesse haben – wie wär’s mit heute Vormittag?» Mit seinem ‹Braunen Bomber› bei Adele Slivinski, der Makle rin, vorzufahren war wohl nicht ratsam – so ein Auto löste bei den Leuten Skepsis gegenüber dem Fahrer aus. Also nahm er ein Taxi. Adele, etwa vierzig Jahre alt mit halblangen, steifen, blonden Haaren und einer Stupsnase, die irgendwie nicht zum Rest des Gesichtes passte, war eine quirlige Frau mit einem weißen Mercedes, auf dessen Nummernschild HOMEY stand. «Ihr Kennzeichen gefällt mir», sagte Danny, als sie in Rich tung Route 50 losfuhren. «Ich wollte eigentlich HOMES, aber das war schon verge ben. Also habe ich mich für HOMEY entschieden, aber …» «Was?» «Na ja, das kapiert keiner.» Danny lachte. Die Maklerin ließ sich ausführlich über Kreditzinsen und Kreditbanken aus, zählte die Vor- und Nachteile von neuen im Vergleich zu alten Häusern auf, während der Mercedes Rich tung Westen brauste, vorbei an Gegenden mit teuren Stadthäu sern, bis sie ganz unvermittelt auf dem Land waren. «Ist das nicht herrlich?», fragte sie, als sie in eine holprige, unbefestigte Straße bogen. «Das hier ist eine der letzten Ecken von Fairfax, die noch von der Stadtentwicklung verschont ge blieben sind.» Von außen sah das Haus leicht heruntergekommen aus. Doch aus Sicht eines Kaufinteressenten machte es einen zufrieden stellenden Eindruck. Es sah gemütlich aus und war offenbar in gutem Zustand, es hatte Kupferdachrinnen, und eine große Ei 57
che schützte das Dach vor der Nachmittagssonne. Innen war es blitzsauber, mit blutroten Orientteppichen im Wohnzimmer. An den Wänden hingen sandfarbene Stiche aus dem neunzehn ten Jahrhundert in schlichten Holzrahmen: Wüstenlandschaf ten, überfüllte Karawansereien und Szenen aus den Souks. Schöne Stücke, dachte Danny, und alles echt – nichts aus ir gendeinem Billigladen. Die Möbel waren abgenutzt und schlicht, aber bequem, viel Holz, Polstersofas und -sessel. Danny folgte Adele, die hier und da einen leeren Schrank öffnete und wieder schloss, einen Blick in ein Badezimmer gewährte, bis sie in die Küche kamen – die Adele als «zweckmäßig» bezeichnete. «Ich allerdings», sagte sie, «würde diese weizengelben Elektrogeräte in den Ru hestand verabschieden. Die haben nun wirklich ausgedient.» Sie führte ihn weiter an der «Waschküche» und «einer hüb schen, geräumigen Kammer» vorbei – «so was ist Gold wert» – und blieb schließlich vor einer abgenutzten, weißen Tür stehen. «Und das ist das Arbeitszimmer», sagte sie seufzend. «Ich muss mich entschuldigen, da herrscht noch ziemlich Unord nung – aber das hier ist ja auch eine vorgezogene Besichtigung, und ich bin noch nicht zum Aufräumen gekommen.» Sie öffne te die Tür, trat beiseite und ließ Danny als Ersten hinein. Er hatte mit einem heillosen Durcheinander gerechnet, aber das Zimmer war einigermaßen ordentlich – vielleicht ein biss chen klein und voll gestopft. Ein paar schwarze Aktenschränke und zum Bersten gefüllte Bücherregale. Ein Holzschreibtisch mit einem Flachbildschirm inmitten von Stapeln Papier und Büchern, manche ziemlich alt – und alles war mit Staub be deckt. Unter dem Schreibtisch ein Computer der Marke Dell Dimension. An einer Wand eine Karte von der östlichen Tür kei, eine Karte vom Vatikan an einer anderen. Zum ersten Mal hatte Danny das Gefühl weiterzukommen.
«Es ist ziemlich muffig», sagte Adele.
«Nein, ein hübsches Zimmer», versicherte Danny ihr und sah
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sich dann die Bücher in einem der Regale an. Wie nicht anders zu erwarten, war es überwiegend Fachlite ratur mit Titeln aus verschiedenen religiösen Bereichen. Schmale Bändchen handelten vom Leben und Wirken mittelal terlicher Heiliger und Mystiker, andere und dickere Bände be fassten sich mit einer Vielzahl esoterischer Themen, von Ar beiten über die Juden im elisabethanischen Zeitalter bis hin zu Büchern auf Arabisch und Italienisch, deren Titel Danny nicht einmal entziffern konnte. Adele rümpfte die Nase. «Das Zimmer ist so voll gestopft, dass es kleiner wirkt, als es in Wirklichkeit ist», sagte sie. «Aber die eingebauten Regale sind eine hübsche Idee.» Danny nickte. «Stimmt», sagte er, «die sind sehr praktisch.» «Besonders schön finde ich an diesem Haus, dass alles ir gendwie ineinander übergeht, praktisch von einem Raum zum nächsten fließt. Das liegt am Grundriss – es ist alles so offen!» Danny nickte, hörte aber nicht zu. Ein einzelnes Regal, direkt hinter Terios Schreibtisch, hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Aufgefallen waren ihm die Bücher, die dort standen – sie sahen überwiegend hell und neu aus, anders als die auf den anderen Regalen. Seine Augen huschten über die Titel: Lipid-Tubules and the Paradigm of Molecular Engineering Die hermetische Apokalypse & Computer auf Proteinbasis Die magischen Schriften von Thomas Vaughan Nanotechnologie und der Quantenpferch «Für einen Büchersammler ein toller Raum», hörte Danny Adele sagen. «So viele Regale.» Er nickte wieder. «Lesen Sie gern, Adele?» «Ja», sagte sie, «sogar sehr gern. Im Moment lese ich das neue Buch von Margaret Atwood …» Danny gab interessierte Laute von sich, während er ein Buch aus dem Regal nahm und es aufschlug. Er las den ersten Satz, 59
der ihm ins Auge sprang: «Nanotechnologie ist die Kunst und die Wissenschaft, komplexe, praktische Apparaturen mit ato marer Präzision zu bauen.» Ach nee, dachte er. Stell dir vor. Aber er stellte es sich nicht vor. Stattdessen dachte er über die Bücher auf dem Regal nach, von denen nur wenige etwas mit Terios Fachgebiet zu tun hatten. Und auch untereinander hatten sie offenbar sehr wenig miteinander zu tun. Terio war Religionswissenschaftler, und die Bücher handelten von … was? Magie und Technologie? Alchemie und Molekularbiolo gie? Als wäre Terio schizophren gewesen, mit einem Fuß im Mittelalter und mit dem anderen im Jahre 3000. Die Maklerin gab ein leises Niesen von sich, ein helles Ge räusch. Tschi. «Gesundheit.» Sie lachte halb verlegen und wandte sich zum Gehen. Doch als er ihr nicht folgte, blieb sie in der Tür stehen. «Der Raum gefällt Ihnen wohl, was?» «Stimmt», sagte er. «Was wird eigentlich mit dem Compu ter?», fragte er und deutete Richtung Schreibtisch. «Ich meine, wenn das Haus verkauft wird.» «Oh, der wird versteigert», erwiderte sie, fischte ein Kleenex aus ihrer Handtasche und betupfte sich die Nase. «Ich denke, das Auktionshaus Laws macht das.» «Und die Aktenschränke?», fragte Danny, öffnete beiläufig eine Schublade und blickte hinein. «Wie gesagt –» Alphabetisch geordnet. Säuberliche, kleine Etiketten. «Es muss alles raus!», verkündete sie mit fröhlicher Stimme. «Ja, klar.» Sie drehte sich auf dem Absatz um, und er musste ihr folgen. Sie besichtigten noch die oberen Zimmer und warfen einen Blick auf den Speicher, der praktisch leer war. Dann gingen sie wieder nach unten und verließen das Haus. Als Adele die Tür abschloss, fragte Sie: «Wie gefällt’s Ihnen?» 60
Danny lächelte anerkennend. «Es ist wirklich hübsch, aber … was ist mit dem Keller?» Wenn schon, denn schon. Die Maklerin lächelte ihn strahlend and. «Wenn Sie ihn sich ansehen möchten», sagte sie und ging voraus um das Haus her um. Als sie kniend an dem Zahlenschloss hantierte, blickte sie plötzlich besorgt hoch. «Ich hoffe, Sie sind nicht abergläu bisch.» Danny blickte sie verdutzt an und schüttelte den Kopf. «Mr. Terio … ist im Keller … verstorben», erklärte sie. «Nein!» «Es stand in der Zeitung», sagte sie. «Selbstmord.» Danny verzog das Gesicht. «Manchen Leuten wird bei so was etwas mulmig zumute», sagte sie. Dann hatte sie das Schloss auf, und Danny half ihr, die rostigen Türflügel aufzuziehen, die sich quietschend öffne ten. Die Maklerin ging voraus die Treppe hinunter, mit über triebener Vorsicht, knipste dann eine Neonlampe an, die schwach flackerte. «Ich muss unbedingt die Röhre austau schen», murmelte sie. Und sie hatte Recht. Der Raum war dü ster und farblos. «Jedenfalls, das ist der Keller. Wie sie sehen, schön geräumig. Jede Menge Platz für Regale – Sie könnten ihn auch renovieren und einen Billardtisch aufstellen. Sind Sie verheiratet?» Danny schüttelte den Kopf. «Noch nicht», murmelte er und trat ein paar Schritte in den langen, rechteckigen Raum, Lang sam gewöhnten seine Augen sich an das künstliche Dämmer licht, und er starrte mit einem Mal auf die Reste des selbstge bauten Verlieses, in dem das Leben des vorherigen Hausbesit zers geendet hatte. «Die Werkbank ist gute Qualität», sagte Adele hastig, um ihn abzulenken. «Äußerst stabil und – ich habe nicht gefragt, aber ich bin sicher, die bleibt drin.» Danny nickte, ohne wirklich zuzuhören. Er wollte sich die Kammer (das heißt, das was noch übrig war) genauer ansehen, 61
aber irgendwas hielt ihn zurück. Adrenalin jagte ihm durch die Brust, und urplötzlich kam ihm der Raum stickig vor. Einen Moment lang war ihm fast, als könnte er nicht mehr atmen. Dann drehte die Maklerin sich auf dem Absatz um und stieg wieder die Treppe hinauf. «So, das wäre dann so ziemlich al les», zwitscherte sie. Danny war erleichtert, ihr zurück zu dem Mercedes zu fol gen. Unterwegs kamen sie an einer offenen Mülltonne vorbei, die halb voll war, wie Danny sah. «Ach, du meine Güte!», stieß Adele hervor. «Meinen Sie, wenn ich die Müllabfuhr anrufe, kommen die extra her?» «Könnte sein.» Danny klappte den Deckel zu und zog die Mülltonne, die Räder und einen Griff hatte, hinter sich her bis zur Straße, was auf dem Kies eine schwierige Angelegenheit war. Sobald sie wieder am Maklerbüro waren, rief Adele für Dan ny ein Taxi. Dann gab sie ihm eine Mappe mit Informationen über das Haus, ihre Karte hatte sie an den Umschlag geheftet. Sie reichte Danny die Hand und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. «Denken Sie drüber nach», sagte sie, «und rufen Sie mich an, wenn Sie noch Fragen haben.» Er brauchte fast eine Stunde bis nach Hause, doch als er an kam, sah er, dass UPS ihm ein Päckchen vor die Wohnungstür gelegt hatte. Es war das Buch, das er bei Alibris bestellt hatte. Er ging in die Wohnung, warf das Päckchen auf den Schreib tisch und sah auf dem Fußboden ein Fax liegen, das das Gerät ausgespuckt hatte. Es war von dem Infobroker in Daytona. Die erste Seite war eine Rechnung über 425,15 Dollar. Er wunderte sich, wie die fünfzehn Cents zustande gekommen waren, doch die zweite Seite enthielt, was er wollte: eine Liste der Ferngespräche, die Terio im letzten Monat seines Lebens geführt hatte. Neben Uhrzeit, Datum und Dauer der einzelnen Gespräche waren die Namen der Telefonteilnehmer aufgeführt. 62
Es war keine lange Liste, doch Danny sah, dass am Tag vor Terios Tod etliche Telefonate stattgefunden hatten – und zwar alle mit einer von drei Städten: Oslo, Istanbul oder Palo Alto. Die seltsame Kombination ließ ihn stutzen. Istanbul und Palo Alto waren wie Mutter Teresa und Sylvester Stallone. Und Oslo noch dazu, das war dann … Onkel Scrooge. Er sah sich die Namen an. Die Teilnehmer in Istanbul waren Remy Barzan und Agence France Presse. In Palo Alto war ein gewisser Jason Patel angerufen worden. Und die Nummer in Oslo gehörte Ole Gunnar Rolvaag am Oslo-Institut. Keiner der Namen sagte Danny irgendetwas, aber die Türkei war irgendwo vorgekommen. Genau, die Sekretärin an der George Mason – sie hatte ihm erzählt, Terio sei bis vor zwei Monaten auf For schungsreise gewesen. Und zwar in «Ankara oder so». Und in Rom. Die Anrufe hatten also etwas mit seinen Forschungen zu tun, schloss Danny. Das lag auf der Hand, denn Palo Alto war gleichbedeutend mit der Stanford University, und in Istanbul hatte Terio vermutlich über islamischen Mystizismus und die Schwarze Schrift geforscht (oder wie der Kram hieß). Andererseits: Die Agence France Presse war eine Nachrich tenagentur, und falls Terio Lügen über Belzers Mandanten ver breitet hatte, dann möglicherweise über die AFP. Vielleicht war das ja doch eine Spur. Was Oslo betraf … Ihm kam die Idee, eine oder mehrere der Nummern auf der Liste anzurufen, vielleicht brachte ihn das ja weiter. Aber lie ber nicht. Meistens, so Dannys Erfahrung, kriegte man nur eine Chance. Es war besser, erst noch mehr herauszufinden. Und in der Zwischenzeit konnte er sich einen guten Vorwand für die Anrufe überlegen. Außerdem, so überlegte er, würde Belzer bestimmt gern Be scheid wissen. Ja, er sollte Belzer anrufen. Ihm Bericht erstat ten. Ihm erzählen, was er bisher herausgefunden hatte. 63
Aber zuerst würde er noch beim Auktionshaus Laws anrufen. Die Telefonnummer stand in der Broschüre, die Adele Sli vinski ihm gegeben hatte. «Culpepper!» Die Stimme des Auktionators klang jovial. Als Danny fragte, ob er den Computer und die Aktenschränke aus Terios Nachlass kaufen könne, lachte der Mann zuerst schal lend auf und schlug dann einen bedauernden Ton an. «Tut mir Leid – ich wünschte, das ginge. Aber es geht beim besten Wil len nicht. Vor der Versteigerung ist da nichts zu machen.» «Wirklich nicht?» «Absolut nicht. So sind die Bestimmungen.» «Ich brauche nämlich dringend einen Computer und ein paar Aktenschränke», sagte Danny. «Und ich dachte – na ja, ge brauchte sind billiger und tun’s auch.» «Ja, ja. Wahrscheinlich machen Sie sogar ein Schnäppchen, aber … Sie müssen eben noch warten.» «Bis wann? Wann ist die Versteigerung?» Culpepper murmelte irgendwas in den Hörer, und Danny konnte hören, wie er Seiten umblätterte, vermutlich eines Ter minkalenders. Schließlich sagte er: «Ich hab’s … am ersten Oktober. Zwölf Uhr mittags – draußen in Manassas! Wenn Sie wollen, schicke ich Ihnen eine Liste mit den Sachen zu, die wir haben – und eine Wegbeschreibung. Würde Ihnen das helfen?» Danny bejahte und gab dem Mann seine Adresse. Dann legte er auf und sah auf seine Uhr. Es war kurz vor halb eins – was bedeutete, das es in San Francisco halb zehn war. Eine gute Zeit, um anzurufen, aber … er musste in die Galerie. Er arbei tete von eins bis fünf, und er wollte auf keinen Fall zu spät kommen. Selbst bei nur zehn Minuten konnte es passieren, dass der Galerist – ein neurotischer Brite namens Ian – den ganzen Nachmittag beleidigt vor sich hin schmollte. Er sagte dann kein Wort, verbreitete nur miese Stimmung, bis die ganze Atmosphäre vergiftet war. Wenn er sich beeilte, könnte er es schaffen. 64
Er nahm Belzers Karte aus seinem Portemonnaie und wählte die Nummer. Dann lauschte er dem Klingelton. Als der Anwalt sich meldete, war die Verbindung erstaunlich klar. Nicht so, als wäre er gleich nebenan – so, als wäre er in Dannys Kopf. «Ciao.» «Hi, ich bin’s … Dan Cray.» «Ah. Dan. Schööön.» «Ich dachte, ich melde mich mal. Hab ein paar Sachen raus gefunden.» «Schon?», sagte Belzer anerkennend. «Sie sind wirklich schnell.» Danny erzählte ihm von der Liste mit den Ferngesprächen. «Die habe ich von einer Quelle in Florida», erklärte er. «Terio hat ein paar Anrufe gemacht, bevor er, ähm, bevor er sich im Keller eingeschlossen hat. Soll ich dem weiter nachgehen?» «Wie meinen Sie das?» «Die Leute, die er angerufen hat – ich könnte versuchen, aus ihnen was rauszukriegen.» «Nein», erwiderte Belzer. «Nicht nötig, Dan. Faxen Sie mir die Liste, ich kümmere mich dann schon drum.» Der Anwalt nannte ihm eine Nummer mit der Vorwahl von San Francisco. «Ich faxe sie Ihnen gleich nach unserem Gespräch.» «Sehr schön», sagte Belzer. «Dann bin ich zu seinem Haus», erzählte Danny weiter. «Wessen Haus?» «Terios. Es ist einsames Haus außerhalb der Stadt.» «Verstehe.» «Da steht sein Computer – könnte interessant sein – und ein paar Aktenschränke.» «Ist irgendwas drin?» «Ja. Sieht so aus, als wären sie voll. Ich habe mir keine Akte ansehen können, aber wenn Sie interessiert sind, der ganze Krempel im Haus wird am ersten Oktober versteigert.» «Das ist ja noch Monate hin!» 65
«Stimmt.» «Tja, können wir nicht … im Voraus schon ein Gebot abge ben?» «Leider nein», erwiderte Danny. «Ich hab mit dem Auktiona tor gesprochen und –» Belzer murmelte etwas, was Danny nicht verstand. Schließ lich fragte er: «Sonst noch was?» «Nein, das ist so ziemlich alles bisher», antwortete Danny. «Bene – so weit, so gut. Halten Sie mich auf dem Laufenden, und ich bin sicher, wir kommen der Sache auf den Grund. Ciao!» Und schon legte der Anwalt auf. Danny zog seine schwarze Jeans und das lindgrüne TommyBahama-Hemd an, das Caleigh ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Vor dem Spiegel im Bad steckte er sich die Goldringe durch den oberen Rand des linken Ohrs. Dann nahm er etwas Gel, verteilte es wild mit den Fingern im Haar und verließ die Wohnung. Um Zeit zu sparen fuhr er mit dem Braunen Bomber zur Ga lerie – obwohl es Ian störte, wenn er den Wagen auf dem Kun denparkplatz abstellte. «Die Karre ist das reinste Schiff, Dan ny; sie blockiert zwei Parkplätze. Und sie sieht beschissen aus.» Was stimmte. Der Lack war ursprünglich metallic-braun gewesen, doch mit den Jahren war daraus matt-braun gewor den. Das Kunststoffarmaturenbrett hatte Risse, die Vordersitze waren verschlissen, und der Rückspiegel war mit Sekunden kleber befestigt. Der Wagen schluckte Unmengen Benzin und brauchte jede Woche einen halben Liter Öl. Er war, kurz gesagt, eine einzige Beleidigung – für die Um welt, für das Auge und für die Automobilindustrie. Trotzdem mochte Danny ihn. Er war ein Geschenk seines Großvaters (der ihn gehegt und gepflegt hatte, bis Dannys Großmutter sich schließlich kategorisch weigerte, noch damit zu fahren), und er hatte diesen Sound. Wenn man den Zündschlüssel drehte, er wachte er donnernd zum Leben. 66
Nachdem er den Wagen neben Ians Z3 Roadster geparkt hat te, betrat er die Galerie und sah seinen Boss neben einer etwa fünfzigjährigen Frau stehen, das Kinn auf die Faust gestützt, die wiederum von einem Ellbogen gestützt wurde, der auf der anderen Hand ruhte. Die beiden betrachteten ein unruhiges, kleines Aquarell von einem Ententeich im Regen. Schließlich warf Ian die Hände hoch und murmelte etwas von «zirkularer Komposition». Die Zeit verging wie im Schneckentempo. Ein halbe Stunde lang half Danny einer Frau in einem weißen Leinenkostüm bei der Auswahl eines Gemäldes, das zu dem Zinnoberrot eines Stücks Polsterstoff passen sollte, das sie als Muster mitgebracht hatte. Ian konnte es nicht fassen und ver drehte die Augen, als die Frau den Stoff vor die einzelnen Kunstwerke hielt, einschließlich einer RauschenbergLithographie, die eine fünfstellige Summe kostete. Den Rest des Nachmittags verpackte Danny Bilder für den Versand und füllte die Formulare aus – alles mit widerstreitenden Gefühlen. Denn hier arbeitete er für neun Dollar die Stunde, wo ihm die Nachforschungen für Belzer das Zehnfache brachten. Aber es wäre dumm, seinen Galerie-Job aufzugeben. Die Ermittlungs branche war unberechenbar, erst recht, wenn man wie er nur einen einzigen Kunde hatte, der ihn jederzeit abservieren konn te. Und außerdem wollte Danny Ian nicht im Stich lassen, auch wenn er nicht gerade große Sympathien für ihn hatte – weder als Mensch noch als Galeriebesitzer. Um fünf hatte er Feierabend und quälte sich im Berufsver kehr über verstopfte Straßen nach Fairfax County. Eine Stunde und zweiundvierzig Minuten später hielt er vor dem Haus von Chris Terio. Er stieg aus und kam sich wie ein Einbrecher vor, als er zur Mülltonne ging, um die Abfallbeutel herauszufi schen. Er überlegte kurz, dass er vielleicht irgendwie ins Haus gelangen könnte, um sich in aller Ruhe die Akten des Wissen schaftlers anzusehen. Aber nein. Es war eine Sache, den Abfall 67
zu stibitzen, aber etwas ganz anderes, in das Haus des Verstor benen einzusteigen und seine Akten zu durchstöbern. Die Mülltonne stand schließlich an der Straße, wo jeder, der wollte, sich bedienen konnte. Der Abfall war öffentliches Eigentum. Er machte sich also weder zum Einbrecher noch zum Dieb, wenn er sich aus der Mülltonne bediente. Es war auch nicht ungewöhnlich in der Branche; jede Privatdetektei hatte Leute an der Hand, die diese Drecksarbeit erledigten. Zu allem Übel lagen die Müllbeutel auch noch in Wasser, waren aber zum Glück nicht eingerissen. Er nahm sie heraus und trug sie zu seinem Wagen, öffnete den Kofferraum und warf sie hinein. Dann fuhr er zurück nach Adams-Morgan, umweht von dem Gestank faulender Früchte. Am nächsten Morgen kaufte er eine Dose Wick VapoRub, dik ke Plastikfolie, eine Packung Gummihandschuhe und ein Raumspray und fuhr mit den Sachen in sein Atelier, im zweiten Stock eines ehemaligen Kaufhauses an der Florida Avenue, Ecke Tenth Street. Das Gebäude, das bei den Krawallen nach der Ermordung von Martin Luther King geplündert und in Brand gesteckt wor den war, war mittlerweile eine mit Graffiti verzierte Ruine, die ringsherum mit Unrat und zerbrochenem Glas übersät war. Das alte Gemäuer bot ideale Bedingungen für Dealer und Penner. So heruntergekommen das Haus jedoch war, das Atelier selbst war lichtdurchflutet und ungeheuer geräumig. Und nicht zu vergessen spottbillig. Das Erdgeschoss war seit zwanzig Jahren zugemauert, aber die übrigen Stockwerke hatten auf allen Seiten riesige Fenster. Dannys Atelier war ein Eckraum mit drei Meter hohen Dek ken und hohen Glasfronten an beiden Außenwänden. Eine Ek ke des Raumes diente als «Büro», mit einem alten Stahl schreibtisch vor einer verschlissenen Couch und einem abge nutzten Ledersessel. Auf einem Aktenschrank vom Sperrmüll 68
thronte ein ramponierter Fernseher, und auf einer Spüle stand einer elektrischer Wasserkessel. Die Holzböden waren mit Farbe bespritzt, als hätte Jackson Pollock mit einem Pinsel in jeder Hand einen Anfall bekom men. In einer Ecke des Ateliers stand ein Schweißgerät vor einem Gewirr aus Stahlgeflecht, einer Skulptur – was sie dar stellen sollten, war Danny entfallen (falls er es überhaupt je gewusst hatte). Auf der anderen Seite des Raumes starrte eine Specksteinbüste von J. Edgar Hoover, eine Arbeit aus Dannys Studium, auf die Welt jenseits der Fenster. Etliche Gemälde lehnten an der Wand neben der Tür, die aussah, als wäre sie von der Drogenfahndung eingetreten worden – und nicht nur einmal. Die meisten Bilder waren auf Mallorca entstanden, wo Danny gleich nach dem College mit einer hübschen (und aus geflippten) Schauspielerin aus Holland gelebt hatte. Als er mit Terios Abfall und den Sachen, die er eingekauft hatte, ins Atelier trat, kam Danny der Gedanke, dass er unbe dingt eine Inventur machen sollte, welche Arbeiten er hatte und welche sich als Leihgabe bei Freunden befanden. Dann hätte er endlich einen Überblick für die Planung seiner Ausstellung in der Neon Gallery. Er ließ die Müllsäcke auf den Boden fallen, schaltete den Fernseher ein (das Radio war kaputt) und sah sich im Raum um. Was hatte er überhaupt da? Was könnte er ausstellen? Ein paar Drahtskulpturen, zwei Collagen, eine «Installation», die noch nicht ganz fertig war und deren Mittelpunkt eine grell weiße Linie auf dem Boden war. Auf den ersten Blick sah es aus wie die aufgeklebte Umrisslinie eines Mordopfers. Doch wenn man näher hinschaute, erkannte man eine Ausbuchtung an den Schultern, wie Flügel oder der Ansatz von Flügeln, und eine akkurat gemalte Hand am Ende eines ausgestreckten Arms. Die Wirkung der Flügel und der Hand war mehrdeutig und beunruhigend, weil man nicht wusste, ob sie gerade ent standen oder vergingen. Waren es Überreste – oder böse Vor 69
zeichen? Stürzte die Figur – oder stieg sie auf? Selbst Danny wusste es nicht. Fast eine Woche hatte er gebraucht, bis er die Silhouette (und die Hand) so hingekriegt hatte, wie er sie haben wollte, und jetzt wollte er ein rotierendes Blaulicht kaufen, wie Polizeiwa gen sie haben. Mit dem flackernden Licht über der Umrisslinie und Händels Messias im Hintergrund würde sich eine beunru higende Wirkung ergeben. Dann war da noch Babel On II. Mitten im Raum in Sonnenlicht getaucht, sah Dannys jüng stes Werk unwirklich und doch unbestreitbar schön aus – die durchsichtige Stadt mit dem geheimnisvollen Hologramm im Zentrum. Bei Tageslicht wirkte das schwebende Bild erst recht wie die Erscheinung, die Danny beabsichtigt hatte: das Holo gramm, verwaschen und verblasst, war wie eine Halluzination. Er riss die Fenster auf, breitete die Plastikfolie auf dem Fuß boden aus und betupfte sich die Nasenlöcher mit Wick VapoRub, um den widerlichen Geruch zu überdecken, der den Müllbeuteln entströmte. Dann schüttete er den ersten Beutel auf der Folie aus und zog sich die Gummihandschuhe über. Der Müll war schon älter, aber nicht so schlimm, wie Danny befürchtet hatte. Terio war anscheinend Vegetarier gewesen. Zumindest gab es keine Fleischreste, und daher auch keine Maden. Aber jede Menge Fruchtfliegen, die jetzt in der Luft über der Folie tanzten. Mit dem Stiel eines Besens stocherte er in dem Müll herum, suchte nach medizinischem Abfall. Es konnte schließlich sein, dass Terio Junkie, Diabetiker oder Bluter gewesen war. Aber Danny fand keine Spritzen oder Mullbinden oder sonst irgen detwas mit Blut. Dafür gab es alle möglichen Verpackungen: einen leeren Karton Cornflakes, einen Eierkarton, ein paar Jo ghurtbecher und eine Packung Maiskolben, schwarz ver schimmelt. Es gab gebrauchte Kaffeefilter, ein paar zusam mengedrückte Cola-Dosen und ein halbes Dutzend Wasserfla 70
schen. Ein zerrissener Schuhkarton, in dem mal ein Paar Nikes (Größe 44) gewesen war – und jede Menge alter Zeitungen. Kein Abfalltrenner, dachte Danny. Vielversprechender waren da schon Zettel mit handschriftli chen Notizen darauf, Post-its mit Telefonnummern, kurze Ein kaufszettel (Butter, Porree, Joghurt, Brot), Briefumschläge und Rechnungen, Wurfsendungen, Kataloge und Kreditkartenquit tungen. Danny legte den Papierkram beiseite, um ihn sich spä ter anzusehen – der Müll musste möglichst schnell wieder in die Tüten und in den Container auf der Straße, bevor sich der Gestank überall festsetzte. Zwischendurch fiel ihm auf, dass der Fernseher auf Caleighs Lieblingssender MSNBC eingestellt war, wo zwei Analysten sich über die aktuellen Börsenkurse ausließen. Für Caleigh war MSNBC unterhaltsamer als ein Popkonzert. Zu Hause war der Sender praktisch immer eingeschaltet. Als er begriffen hatte, dass ihr Interesse für Finanzen nicht nur berufsbedingt, sondern eine Berufung war, hatte er mit Misstrauen reagiert – als hätte er ein dunkles Geheimnis erfah ren. Er hatte befürchtet, dass für Caleighs Leidenschaft irgend ein tiefer sitzender Charakterfehler – nämlich Habgier – ver antwortlich war, was nicht unbedingt die beste Voraussetzung für eine gemeinsame Zukunft mit einem Künstler darstellte. Doch sehr schnell war Danny klar geworden, dass die Faszina tion, die Finanzen auf sie ausübten, zwar sehr viel mit Geld, aber nichts mit Konsum zu tun hatte. Sie war keine Frau, die gern shoppen ging. Für Caleigh waren die Aktienmärkte eine Art Sportveranstaltung, wo sie Glanzleistungen in den Diszi plinen Durchblick und Analyse zu bringen hatte. Das Geld selbst war lediglich ein Leistungsmesser, die finanzielle Ent sprechung zu einer Stoppuhr. Danny verstand das alles, aber er teilte ihre Begeisterung nicht – weder für den Markt noch für die Sender, die darüber berichteten. Für ihn war MSNBC so etwas wie ein visuelles 71
Schlafmittel, denn das endlose Gequatsche und die roten und grünen Symbole, die am unteren Bildschirmrand durchliefen, waren einfach ermüdend. Er hätte gern umgeschaltet, aber sei ne Hände waren schmutzig. Zumindest sorgte das Gerede für eine gewisse Unterhaltung, mit dem Vorteil, dass man es leicht ignorieren konnte. Sobald er mit dem ersten Beutel fertig war, schob er seinen Fund auf eine Seite der Folie. Den Rest des Mülls beförderte er zurück in den Beutel, den er fest verschnürte und zur Seite stellte. Dann schüttete er den zweiten Beutel aus, hockte sich hin und machte sich erneut an die unappetitliche Arbeit, wobei er ab und zu einen Blick auf den Fernseher warf. Die Zahlen auf dem Bildschirm waren überwiegend grün – was bedeutete, dass Caleigh gut gelaunt nach Hause kommen würde. Vielleicht sollte er zum Spaß mal etwas zum Thema Wall Street machen. Eine Installation mit einem Ticker, der sich wellenförmig bewegte. Oder ein Ticker auf der Stirn von so einem Typen im Nadelstreifenanzug. Und nicht irgendein Typ – der Mann mit der Melone aus Magrittes berühmtem Gemälde. Besser nicht den. Das wäre zu vordergründig. Im Handumdrehen war er mit dem zweiten Müllbeutel fertig und dachte noch immer über den Quoten-Ticker nach. Brauch te er dafür die Genehmigung von Dow Jones? Oder konnte er das Ding einfach mit Video aufnehmen und damit experimen tieren – auf seinem neuen Videobearbeitungsgerät. Das er nicht hatte. Noch nicht. Bisher hatte er vierzehn Stun den für Belzer gearbeitet – was vierzehnhundert Dollar machte. Das war ein Haufen Geld in sehr kurzer Zeit, aber noch lange nicht genug. Er brauchte zwanzig Riesen – fünfzehn, wenn er es im Großhandel kriegte. Der Gedanke ließ ihn innehalten, im wahrsten Sinne des Wortes. Es bestand kein Grund, seinen Auftrag überstürzt zu erledigen. Er konnte sich doch Zeit lassen. Gründlich sein. Seufzend blickte er zum Fernseher hoch und sah, dass einer 72
von den Reportern des Senders mit dem Mikro vor einer regel rechten Festung stand – wie in Blade Runner. Wo ist das denn?, fragte Danny sich, als der Reporter berichtete, dass im Silicon Valley pures Entsetzen über den Mord an einem leitenden Mitarbeiter der Entwicklungsabteilung herrsche. Danny horchte auf, denn über Mord wurde auf MSNBC normalerweise nicht berichtet. Der Reporter stand mit wehenden Haaren neben einem Schild mit der Aufschrift VSS und blinzelte in die Sonne. «… am Fuße der Berge, und die Menschen hier sind wirklich er schüttert, nicht nur weil das Unternehmen bekanntlich Investo ren sucht, und ein solches Verbrechen macht Geldgeber ge meinhin nervös. Nach Aussage der Polizei wurde Mr. Patel heute am frühen Morgen in der Mojave-Wüste gefunden, und zwar in einer entlegenen Gegend, in die sich selten Menschen verirren, nicht einmal Camper oder Wanderer. Wie ein Polizei sprecher sagte, grenzt es an ein Wunder, dass man das Opfer, das mit Fiberoptikdraht an einen Joshua-Baum gefesselt und allem Anschein nach gefoltert wurde, überhaupt gefunden hat, noch dazu so schnell.» Patel? Die Kamera schaltete zurück ins Studio, wo eine attraktive Asiatin fragte: «Hat die Firma, in der Mr. Patel beschäftigt war, schon ein Statement herausgegeben?» «Noch nicht, Pam.» Danny merkte plötzlich, dass er auf den Bildschirm glotzte, ein leicht blödes Halbgrinsen auf den Lippen. Das gibt’s nicht! Das ist ein anderer Typ – ganz bestimmt. Auf dem Bildschirm kam jetzt ein Mann mittleren Alters aus dem Gebäude und der Reporter trat ihm sofort in den Weg. Der Mann, mit krausem rotem Haar und scheuem Blick, wollte offenbar Reißaus nehmen, aber die Kamera bannte ihn auf der Stelle, wie ein Reh im Scheinwerferlicht. «Kannten Sie das Opfer?» 73
Es gibt bestimmt zig Patels, sagte Danny sich. Bob, Ravi, Omar – «Jeder hier kannte Jason.» Jason! «Unsere Firma ist nicht so groß. So, wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen –» «Er war Leiter der Entwicklungsabteilung von VSS, nicht wahr?», fragte der Reporter. «Ja», erwiderte der Mann, und blickte hektisch nach links und rechts, als suche er nach einem Fluchtweg. «Können Sie uns sagen, woran er gearbeitet hat?» «Nein.» Und schon entschwand der Interviewte aus dem Bild. Heilige Scheiße, dachte Danny. Weiß Belzer von der Sache? Vielleicht sollte er ihn anrufen. Nein, lieber noch nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass es in Kalifornien mehrere Jason Pa tels gab, war zwar gering, aber ausgeschlossen war es auch nicht. Bevor er Belzer informierte (falls der es nicht schon wusste), sollte er herausfinden, ob die Telefonnummer des Toten mit der übereinstimmte, die Chris Terio angerufen hatte. Im Grunde hatte Danny nicht den geringsten Zweifel, dass es sich um ein und denselben Mann handelte. Zwei Menschen, zwei groteske Todesarten. Der eine gefoltert, der andere ein gemauert. Vielleicht waren die Telefonate ein Zufall, aber das glaubte Danny nicht. Eine Pfeife war fast nie nur eine Pfeife, das hatte schließlich schon Magritte gewusst. Aber schön eins nach dem anderen. Er wandte den Blick vom Fernseher ab und machte sich wie der an den Müll, aus dem er einen Spielplan von der Fußball mannschaft der George Mason University fischte, die Liefer speisekarte eines chinesischen Restaurants sowie je ein Flug blatt von Greenpeace und der Vereinigung kriegsversehrter Veteranen. Schließlich stocherte er mit dem Besenstiel ein letz tes Mal durch den Müll und füllte ihn dann ebenfalls in einen Beutel, den er gut zuband. Die Plastikfolie war feucht und verschmiert. Er überlegte 74
kurz, sie sauber zu machen, beschloss dann aber, auch sie ein fach wegzuwerfen. Also stopfte er die Folie und die Gummi handschuhe in einen dritten Müllbeutel und trug alle drei nach unten zum Container. Zurück im Atelier, das unangenehm roch, nahm er die Spraydose und sorgte für bessere Luft. Dann setzte er sich auf den Boden und ging die Zettel und Papiere durch, die er aus sortiert hatte. Das meiste war nicht sonderlich interessant. Angebote für Kreditkarten, Kataloge und Quittungen für bezahlte Rechnun gen von den Elektrizitätswerken, AOL, vom Handy- und Ka belanbieter. Eine Mahnung von der Bibliothek in Fairfax, das die Leihfrist für das Buch Engines of Creation abgelaufen war. Und dann sah er es. Der Durchschlag eines FedExPaketscheins, feucht vom Müll und auf den 19. Juli datiert. Dasselbe Datum, an dem Terio Jason Patel und den Mann in der Türkei angerufen hatte, und dasselbe Datum, das in dem Artikel der Washington Post erwähnt wurde – das Datum auf der Baumarkt-Quittung für das Do-it-yourself-Grab. Danny setzte sich aufrecht hin und sah sich den Paketschein genau an: Empfänger: Piero Inzaghi, SJ SJ? Was konnte das heißen? Die Adresse war von der Feuch tigkeit verwischt, aber mit zusammengekniffenen Augen konn te er sie entziffern: Via della Scrofa, 42A
Rom, Italien
Danny las, was unter der Empfängeranschrift stand, in der Ru brik für den Zoll: Pakete insgesamt: 1 75
Gesamtgewicht: 3.500 Gramm
Bezeichnung des Inhalts: IBM Thinkpad (gebraucht)
Zollwert: $ 900
Volltreffer, dachte Danny. Das wird Belzer freuen. Damit ist – Verdammt. Plötzlich begriff er, dass seine Ermittlungen damit beendet waren. Seine Arbeit war erledigt. Der Mandant wollte nicht, dass er mit einer der offensichtlichen Informationsquellen sprach (Rolvaag, Barzan oder Patel). Und die Versteigerung von Terios Nachlass würde in zwei Monaten auch ohne ihn stattfinden. Könnte sein, dass Belzer ihn bat hinzugehen und mitzubieten, aber selbst wenn, mehr als zwei, drei Stunden würde er dafür nicht berechnen können. Der Laptop befand sich in Italien. Und der Mandant kam aus Italien. Das war’s also. Belzer würde die Sache jetzt selbst in die Hand nehmen. Schluss. Aus. Ende
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Aber es war noch nicht ganz zu Ende. Er hatte schließlich noch einen Bericht zu schreiben und ein paar offene Fragen zu klären. Er setzte sich an seinen PC im Atelier, ging auf die Website von FedEx und tippte die Num mer des Paketscheins ein, um festzustellen, ob Terios Laptop auch tatsächlich in Rom angekommen war. Ja. Dann zwei Klicks bei Google: «SJ» hieß «Societas Jesu». In zaghi war also Jesuit. Wahrscheinlich ein alter Freund von Te rio. Als Nächstes musste er sich vergewissern, dass es sich bei dem Jason Patel, der in Kalifornien ermordet worden war, um denselben Patel handelte, den Terio angerufen hatte. Dafür gab es mehrere Möglichkeiten, dachte Danny. So konnte er zum Beispiel einfach die Nummer anrufen, die er von dem Infobroker erhalten hatte, und sehen, wer sich melde te. Unsinn. Wenn es wirklich derselbe Jason Patel war, würde sich entweder niemand melden oder die Polizei – was die Din ge verkomplizieren könnte. Eine sicherere Methode war es, Jason Patels Kreditwürdig keit überprüfen zu lassen. Das war allerdings nicht ganz legal. Nicht jeder konnte Kreditauskünfte einholen; offiziell nur Vermieter und Arbeitgeber, Versicherungsgesellschaften, In kassounternehmen und Geschäfte, die Kreditkäufe ermögli chen. Das war’s. Theoretisch jedenfalls. In der Praxis genügte ein Konto bei einem der großen Kre ditbüros. Fellner Associates hatte eine ganze Reihe von Kon ten, die unter so nichts sagenden Namen wie Franklin Realty, First Manassas Investments oder Harriman’s Versandhandel liefen. Gelegentlich hatte Danny im Rahmen der ein oder ande ren Ermittlung schon Kreditauskünfte eingeholt, daher brauch 77
te er bloß wenige Minuten, bis er in einem seiner alten Notiz bücher das erforderliche Passwort gefunden hatte. Er ging auf die Website der Kreditagentur Experian und gab die wenigen Informationen ein, die er hatte – praktisch nur Patels Vor- und Nachname und die Telefonnummer. Dann klickte er das entsprechende Kästchen auf dem Bildschirm an, um nur die Informationen aufzurufen, die ihn interessierten, nämlich Patels aktuelle Adresse und seinen derzeitigen Arbeit geber. Danny musste nicht wissen, wie viel Patel verdiente oder ob er seine Rechnungen pünktlich bezahlte. Er wollte bloß wissen, ob er der Mann war, der zu Tode gefoltert worden war. Er drückte die RETURN-Taste, lehnte sich zurück und war tete. Kurz darauf flimmerte der Bildschirm, und die Informa tionen erschienen: Patels Name, Anschrift und Telefonnum mer. Dann die Worte: Very Small Systems, Inc.
Leiter der Entwicklungsabteilung
Himmel, dachte er. Es ist derselbe Typ. Sein erster Impuls war, Belzer anzurufen. Aber in San Fran cisco war es noch früh am Morgen – daher beschloss er zu war ten. Tatsächlich versuchte er, erst mal auf andere Gedanken zu kommen. Aus der obersten Schreibtischschublade nahm er ein kleines Notizbuch und blätterte es durch, bis er gefunden hatte, was er suchte – eine Liste von Skulpturen und Gemälden, Lithografien und anderen Arbeiten, alles Stücke, die als Leihgaben auf Ga lerien und Freunde verteilt waren. Insgesamt waren es fünf zehn, von denen ihm noch neun oder zehn gefielen. Zusammen mit den Sachen im Atelier und den Stücken zu Hause kam er auf rund zwanzig Arbeiten, die ausstellungswürdig waren. Er ging zu den Fenstern an der gegenüberliegenden Wand und starrte nach draußen über die Baumwipfel, ohne sie wahr 78
zunehmen. In Gedanken machte er einen virtuellen Rundgang durch die Neon Gallery und stellte die Ausstellung zusammen. Die Galerie bestand aus zwei großen Räumen mit sehr hohen Decken und einem kleineren Raum im ersten Stock. Die mei sten Sachen würden gut in einen der beiden großen Räume passen, vielleicht noch ein paar Kleinigkeiten in den kleinen im ersten Stock. Aber er konnte auf keinen Fall die gesamte Gale rie bestücken – nicht mit dem Material, das er hatte. Dann ist es ja vielleicht ganz gut, dass die Belzer-Sache zu Ende ist, dachte er. Ich muss loslegen. Einen kurzen Augenblick lang erinnerte er sich an Lavinias kühlen, abschätzenden Blick, ihre blutroten Lippen und den sachlichen Tonfall: « Sie haben doch genug Arbeiten …?» Heute war – der wie vielte? – der zehnte August. Die Aus stellung begann am fünften Oktober. Er hatte also fast zwei volle Monate. Natürlich abzüglich der zwanzig Stunden pro Woche für Ian. Es sei denn, er kündigte. Er dachte kurz darüber nach. Wäre vielleicht vernünftig. Die Ausstellung war schließ lich wichtiger als seine Arbeit in Ians Galerie. Andererseits hatte er gerade mal tausend Dollar auf dem Konto. Plus dem, was er von Belzer bekommen würde. Das reichte hinten und vorne nicht. Und er würde Extraausgaben haben, um die Aus stellung auf die Beine zu stellen. Was bedeutete, dass er, wenn er bei Ian aufhörte, auf Caleighs Kosten leben müsste. Und das wollte er auf keinen Fall. Frustriert nahm er eine Blechschere zur Hand und begann, ein Mobile zu überarbeiten, das er vor einer Woche angefangen hatte. Es war eine filigrane Arbeit aus Kupferdraht, so geknickt und gebogen, dass es wie eine verfremdete Skizze von Albert Einstein wirkte. Das Mobile hing an einem Nylonfaden von der Decke, drehte sich gemächlich um die eigenen Achse und sah aus, als wäre es in die Luft hineingezeichnet worden. Es war ein interessantes Experiment, und Danny war stolz darauf, aber wenn es funktionieren sollte, dann musste es aus jedem Blick 79
winkel funktionieren. Egal, in welche Richtung sich das Mobi le drehte oder wo man im Raum stand, es sollte sofort zu er kennen sein, dass es sich um eine Darstellung von Albert Ein stein handelte. Und das haute noch nicht richtig hin. Von hinten sah es mehr wie Jerry Garcia aus. Mit Blechschere und Zange drehte er den Draht mal hierhin, mal dorthin, fügte hier eine Linie aus Metall hinzu, nahm dort eine weg. Bald war er ganz in seine Arbeit versunken, nur auf seine Hände und den Draht konzentriert – das Bild, die Form, die überraschende Wirkung. Gut eine Stunde später blickte er unvermittelt auf und merkte wieder, wo er war. Der Übergang war so gewaltig und jäh wie bei einem Schwimmer, der aus dem Wasser auftaucht, sich von einem Element in ein anderes bewegt. Er trat zurück, legte den Kopf schief und betrachtete das Mobile. Dann ging er einmal drum herum. Nicht schlecht, fand er. Weniger Jerry. Mehr Al bert. Aber er würde zu spät kommen, wenn er sich nicht beeilte. Er musste um eins in der Galerie sein, und es war schon Viertel vor. Trotzdem blieb er noch einmal kurz stehen und betrachte unglücklich sein Babel On II. Es war seine bislang beste Ar beit. Er musste sie einfach auf der Ausstellung zeigen. Aber er wusste noch immer nicht, wie er sie heil transportieren sollte. Den Rest des Nachmittags verbrachte er in der Galerie. Caleigh rief an. («Für dich», sagte Ian mürrisch.) Sie sagte, sie müsse Überstunden machen. Außerdem müssten sie ihre Pläne fürs Wochenende über den Haufen werfen. Sie würde morgen nach Seattle fliegen – in der Firmenzentrale sei irgendeine Art Su pergau passiert. Nachdem dann auch noch Jake vorbeigekommen war, um sich zwanzig Piepen zu leihen, ließ Ian sich ziemlich ungehal ten über «private Telefonate und private Besuche am Arbeits platz» aus. Danny hörte geduldig zu, spielte gelangweilt mit 80
den Ringen im Ohr und empfand insgeheim Mitleid mit dem Burschen, der ihm nicht mal in die Augen sehen konnte. Es war peinlich. Der Mann hyperventilierte schon fast. «Alles klar», sagte Danny, als er den Eindruck hatte, dass Ian fertig war. «Reg dich nicht auf.» Aber das brachte ihn erneut in Rage. «Ich soll mich nicht auf regen?», keuchte Ian. «Wie bitte schön soll ich mich nicht wenn …» Und es ging von vorne los. Danny schaltete innerlich ab, aber als Ian schließlich doch noch zum Schluss kam, konnte er sich eine Bemerkung nicht verkneifen. «Vergiss nicht», sagte er, «du zahlst mir bloß neun Dollar die Stunde.» Wenn Ian sich nicht schon völlig verausgabt hätte, dachte Danny, wäre er jetzt endgültig ausgeflippt. Nach der Arbeit aß er bei Mixtec einen Teller Reis mit Boh nen und trank dazu zwei Fläschchen Negra Modelo. Dann fuhr er nach Hause, schrieb seinen Bericht und gab mit Hilfe eines Buchhaltungsprogramms die Arbeitsstunden und angefallenen Spesen ein. Als er fertig war, rief er Belzer an, um ihm von dem FedEx-Paketschein zu erzählen, den er in Terios Müll gefunden hatte. «Sehr gute Arbeit», bemerkte Belzer. «Sehr schlau!» «Danke.» «Und diesen Computer hat er nach Rom geschickt?» «Ja», sagte Danny, «an einen Priester namens Inzaghi.» «Inzaghi … und woher wissen Sie, dass der Mann Priester ist?» «Weil hinter seinem Namen «SJ» stand.» Als der Anwalt nicht reagierte, erläuterte Danny: «‹Societas Jesu›. Das bedeu tet, dass er Jesuit ist.» Zum Glück hatte er nachgeschaut. «Ich weiß, was das bedeutet», entgegnete Belzer. «Ich habe nur gerade nachgedacht … Roma.» «Hübsches Städtchen», witzelte Danny. «Falls Sie jemanden brauchen, der den guten Pater besucht … ich hätte Zeit.» 81
Zu seiner Überraschung wurde der Vorschlag mit langem Schweigen quittiert. Schließlich sagte Belzer: «Ich dachte, Sie sprechen kein Italienisch.» Danny lachte. «Tu ich auch nicht. Ich meine, ich kann Nu deln bestellen. ‹Penne penne penne. Vino›. Das macht dann dreimal Nudeln und einmal Wein.» Belzer lachte leise. «Ich denk drüber nach», sagte er. «Ich melde mich morgen wieder bei Ihnen.» Aye aye, Sir, dachte Danny. Ich rühr mich nicht vom Telefon weg. Er schmierte gerade Marmelade auf eine Scheibe Toast, als das Telefon klingelte. Zu seiner Überraschung war es tatsächlich Belzer. «Ich habe mir überlegt», sagte der Anwalt, «dass es vielleicht ein Vorteil sein könnte.» «Was?», fragte Danny. «Dass Sie Amerikaner sind. Dass Sie so amerikanisch sind. Und die Sprache nicht beherrschen.» Danny runzelte die Stirn. War das sein Ernst? «Ich komme nicht ganz mit. Inwiefern soll das denn hilfreich sein? Ich könnte den nicht mal nach dem Computer fragen. Und darum geht’s doch wohl, oder? Den Priester – den Computer?» «Genau. Aber was, wenn Sie eine gute Tarnung hätten? Sie könnten dem Priester erzählen, dass Sie bei der Kripo sind – ein Detective – und dass Sie Mr. Terios Tod untersuchen.» Der Vorschlag kam so unerwartet, und er war so abwegig, dass Danny, obwohl er allein in der Wohnung war, gespielt schockiert guckte. Das kann nur ein Witz sein, dachte er, wäh rend das Schweigen zwischen ihnen sich in die Länge zog. Nach einer Weile sagte Belzer: «Dan?» «Ja …» «Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?» «So was … mache ich nicht», erklärte Danny. «Aber sicher», entgegnete Belzer. «Genau so was machen 82
Sie. Als sie die Immobilienmaklerin angerufen haben, da haben Sie doch so getan, als wollten Sie ein Haus kaufen, nicht wahr?» «Ja, sicher, aber das ist ja wohl etwas völlig anderes, als ei nen Polizisten zu spielen. Das eine ist eine Notlüge, das andere ein Straftat.» «Nicht in Italien», sagte Belzer. «Ein Detective der Polizei von Fairfax County hat in Rom keinerlei Befugnisse, daher wäre es eher eine verschrobene Idee als eine Straftat, sich als Detective auszugeben. Sie maßen sich ja schließlich keine Amtsgewalt an – die hätten Sie ohnehin nicht.» Belzer hielt inne und fuhr dann fort. «Und wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, worum es eigentlich geht: Zerevan Zebek wird von einem Ende Europas zum anderen durch den Dreck gezogen – und das kostet ihn Millionen. Er kann das verkraften, zugege ben. Er ist ein reicher Mann. Aber er ist ja nicht der Einzige, der darunter zu leiden hat. Wenn eine Firma wie Sistemi di Pavone Schaden nimmt, bekommen viele Menschen Probleme. Zulieferer verlieren Geld, Menschen verlieren ihre Arbeit. Das ist ein richtiger Schneeballeffekt.» «Das sehe ich ein, aber –» «Eine kleine Kriegslist ist doch kein Weltuntergang. Ich bitte Sie ja nicht, etwas Illegales zu tun.» «Ich weiß, aber –» «Sie könnten es wenigstens versuchen», schlug Belzer vor. «Sie meinen –» «Fliegen Sie hin. Stellen Sie fest, wie es Ihnen dabei geht.» Danny dachte nach. Dachte: Roma! Dachte: Kein Ian mehr! Dami hörte er sich sagen: «Und wenn ich es mache?» «Sie würden sehr gut bezahlt.» «Und was soll ich machen?» «Sprechen Sie mit dem Priester. Versuchen Sie, den Compu ter zurückzubekommen.» Ein skeptischer Ausdruck machte sich auf Dannys Gesicht 83
breit. Und wie soll ich das bitte schön anstellen? «Ich gebe Ihnen zehntausend Dollar», fuhr Belzer fort. «Und zwar zusätzlich zu Ihrem Stundenhonorar und den Spesen. Vielleicht ist der Priester bereit, Ihnen den Computer zu ver kaufen. Wenn ja, können Sie den Rest des Geldes behalten. Wie Sie die Sache deichseln, ist mir ehrlich gesagt egal. Ich hoffe nur, dass Sie Ihre Phantasie benutzen und sich eine Er klärung einfallen lassen, die alle Seiten überzeugt. Und falls Sie doch keinen Erfolg haben – tja, dann sind Sie zumindest gut bezahlt worden.» Danny wusste nicht, was er sagen sollte. Die Vorstellung, sich als Cop auszugeben, behagte ihm nicht. Auch wenn es nicht illegal war, es war auf jeden Fall unappetitlich. Wie das Wühlen in anderer Leute Abfall. Auch das war legal, aber man wollte es nicht unbedingt in seinem Lebenslauf stehen haben. Und das war noch nicht alles … Am Abend zuvor hatte er in den Nachrichten einen Bericht über die «Kreuzigung in der Wüste» gesehen. Eine Frau in einem roten Kostüm stand vor einem riesigen Joshua-Baum, die Augen gegen die Sonne zu sammengekniffen. Sie sagte, dass Patels Körper von zahllosen Feigenkaktusstacheln durchbohrt worden war, die, wie sie er klärte, so hart und spitz waren, dass sie mühelos durch dicke Ledersohlen hindurchgingen. Doch das Opfer war nicht verblu tet. «Erste Untersuchungen deuten daraufhin, dass Mr. Patel an Dehydrierung gestorben ist.» Genau wie Terio, dachte Danny. Es war eine weitere Über einstimmung, und wie die erste machte sie ihn nervös. Ebenso wie Belzer. Der Typ war aalglatt, selbst für einen Anwalt. Und ein bisschen halbseiden. Sonst hätte er nicht vorgeschlagen, dass Danny sich als Cop ausgab. Andererseits … es warteten zehntausend Dollar auf ihn. Viel leicht konnte er dem Priester ja den Computer abkaufen. Wo möglich wollte der das Ding gar nicht haben. Der Vatikan konnte sich wahrscheinlich vor Computern nicht mehr retten. 84
Er würde ihm … zwei- oder dreitausend anbieten – dann blieben Danny … sieben oder acht Riesen. Und selbst wenn der Pater das dämliche Ding nicht verscherbeln wollte, würde Danny immer noch achthundert Dollar am Tag einstreichen, nur dafür, dass er ihn aufsuchte. «Wie ich schon sagte, wir übernehmen sämtliche Kosten», rief Belzer ihm in Erinnerung. «Mhm.» Danny war schon einmal in Italien gewesen – direkt nach dem College, auf einer Rucksacktour mit Jake. Obwohl sie sich ausschließlich von Brot und Käse ernährt und in Ju gendherbergen übernachtet hatten, war das Land damals sünd haft teuer gewesen – so dass sie es nicht mal bis nach Rom geschafft hatten. Sie hatten sich ein paar Tage in Florenz he rumgetrieben und in der Zeit so viel Geld ausgegeben, wie sie für zwei Wochen veranschlagt hatten. Bevor sie völlig pleite gewesen wären, waren sie per Bus den Stiefel hinuntergefahren und dann mit dem Boot rüber nach Korfu. Von Rom hatte er also nichts gesehen. Vielleicht war es an der Zeit, das nachzu holen … «Sind Sie noch dran?», fragte Belzer. «Was? Ja! Natürlich. Und ähm, klar – ich mach das für Sie.» «Ausgezeichnet! Ich freue mich.» «Ich kann Ihnen aber nichts versprechen.» «Das versteht sich von selbst. Sie können nur Ihr Möglichstes tun – mehr erwartet auch niemand.» Kurze Pause. «Wann könnten Sie abreisen?» Je früher desto besser, dachte Danny. Bei der vielen Arbeit, die er für die Ausstellung in der Neon Gallery noch vor sich hatte … «Ehrlich gesagt, am liebsten sofort.» «Morgen Abend?» «Morgen Abend wäre mir recht.» «Ich schicke Ihnen einen Wagen, der Sie abholt – um acht Uhr abends geht ein Flug vom Dulles Airport. Ich sorge dafür, dass der Fahrer alles hat, was Sie brauchen, Tickets, Ausweis –» 85
«Was für einen Ausweis?» «Die Tickets werden natürlich auf Ihren Namen ausgestellt sein, daher brauchen Sie Ihren Pass. Aber ich meinte den ande ren Ausweis. Sie wissen schon. Fairfax County. Detective.» Als Danny nicht reagierte, fügte Belzer hinzu: «Wir haben vor hin drüber gesprochen …» «Na, vielleicht wird das ja gar nicht nötig sein», sagte Danny optimistisch. «Wenn Ihnen eine andere Erklärung einfällt – eine, die ge nauso gut ist, die funktioniert –, umso besser. Aber nur für den Fall, dass dem nicht so ist …» Danny atmete tief aus. «Okay.» «Das wäre dann abgemacht. Buon viaggio, Daniele!» Caleigh freute sich riesig für ihn und beteuerte immer wieder, wie gern sie mitkommen würde. Aber das war unmöglich, und sie wussten es beide. Schließlich begossen sie sein Glück mit einer Flasche Rotwein. «Sag mir, was ich dir mitbringen soll», sagte er. «Wenn du schon nicht mitkannst, darfst dir was wün schen, egal was.» «Ein T-Shirt wäre toll», sagte sie, mit bemüht ernster Miene. «Wenn du eins findest mit dem Kolosseum drauf, das wäre prima. Von Schmuck und Diamanten hab ich wirklich die Nase voll.» Am nächsten Abend stand Danny am Fenster und wartete darauf, abgeholt zu werden. Eine tiefschwarze MercedesStretchlimousine fuhr vor und hielt in zweiter Reihe vor dem Haus. «Du Establishment-Hure», murmelte Danny, nahm seine Reisetasche und ging nach unten. Der Fahrer war ein stämmiger Mann um die vierzig und sah aus wie einem Hochglanzmagazin entsprungen: dunkler An zug, italienische Schuhe und schwarzer Hut mit breiter Krem pe. Er nahm Danny die Reisetasche aus der Hand und hielt ihm die Tür auf. «Für Sie», sagte er und deutete mit einem Nicken 86
auf den Aktenkoffer, der auf dem Rücksitz lag. Danny versuch te, möglichst lässig zu wirken, was ihm nicht ganz gelang, weil er nur mit Mühe ein Grinsen unterdrücken konnte. «Danke!» sagte er und stieg ein. Klompppf. Der Wagen war praktisch schallisoliert. Direkt hinter ihnen drückte der Fahrer eines Müllautos auf die Hupe, weil er nicht vorbeikam. Danny spürte förmlich, dass die Hupe laut sein musste, konnte sie aber kaum hören. Und den StretchlimoFahrer ließ das Gehupe völlig gleichgültig. In aller Ruhe ver staute er Dannys Reisetasche im Kofferraum, ging um den Wagen herum, stieg ein und schnallte sich an. Dann rückte er seinen Hut zurecht, begutachtete das Ergebnis im Rückspiegel und lächelte. «Jetzt wir fahren», sagte er mit einem Akzent, den Danny nicht genau einordnen konnte. Osteuropa, vielleicht. Die Limousine setzte sich in Bewegung, und Danny sah sich im Fond um. Es gab einen kleinen Fernseher, ein halbes Dut zend Zeitschriften und eine Flasche Champagner in einem sil bernen Eiskübel. Eine blutrote Rose stand kerzengerade in ei ner Vase aus geschliffenem Glas und verströmte einen ange nehmen Duft. Danny griff nach oben und schaltete eine Lese lampe ein, die das durch die getönten Scheiben der Limousine verursachte Halbdunkel erhellte. Es war alles sehr beeindruckend, ein wenig peinlich – und ein Riesenspaß. Dann sah er sich den Stapel Zeitschriften ge nauer an und musste schlucken. Art in America. Daruma. Bomb. Asian Art. Alles Kunstzeitschriften. Die waren offenbar extra für Danny ausgewählt worden. So schmeichelhaft das auch war, es beschlich ihn ein ungutes Gefühl, als er den Aktenkoffer neben sich öffnete. Darin lagen ein Handy mit Gebrauchsanweisung und eine kurze Mitteilung. «So können wir besser in Kontakt bleiben», las Danny. «Ame rikanische Handys funktionieren in Europa nicht, und Hotelte 87
lefone sind zu riskant. Benutzen Sie bitte dieses Handy. B.» Danny blätterte kurz die Gebrauchsanweisung durch, die (in sechs Sprachen) erläuterte, dass das Handy ein digitales Gerät mit GSM-Verschlüsselung war. Außer dem Handy enthielt der Aktenkoffer noch eine Le dermappe. Darin entdeckte Danny sein Ticket, einen Reisefüh rer und eine Bestätigung für die Buchung einer Suite – einer Suite! – im Hotel d’Inghilterra. Mit Büroklammer an den Rei seführer befestigt war die Visitenkarte einer gewissen «Paulina Pastorini, Dolmetscherin», und in einem beiliegenden Um schlag befanden sich der gefälschte Ausweis, den Belzer ver sprochen hatte, sowie ein paar teuer aussehende Visitenkarten, auf denen ebenso wie auf dem Ausweis ein kleines, goldenes Abzeichen prangte. Verblüfft sah Danny, dass der Ausweis mit einem Foto von ihm versehen war (Wo haben sie das denn her?, fragte er sich) und auf den Namen Frank Muller (Det.) lief. Sie hatten sogar an eine Dienstmarke gedacht – eine runde Metallscheibe mit Flügeln darauf und einer Nummer: 665. Die Dienstmarke machte ihn erst recht nervös. Was, wenn der Me talldetektor am Flughafen losging? Wie sollte er dann den fal schen Polizeiausweis erklären? Schön cool bleiben, beschwor er sich. Kein Mensch würde sich die Marke oder den Ausweis ansehen. Und selbst wenn, der Besitz allein war nicht illegal. Er würde sie einfach in die Reisetasche stecken und das Ge päck beim Check-in abgeben. Die Fahrt zum Flughafen dauerte rund vierzig Minuten. Dan ny nahm das Ticket, um nachzusehen, wann und mit welcher Airline er fliegen würde – und sah verdattert, dass er für die erste Klasse gebucht war. Statt sich zu freuen, fühlte er sich noch beklommener. Die Stretchlimo, die Suite im Hotel, die erste Klasse. Auf was habe ich mich da eingelassen?, fragte er sich. Die Dame am Check-in schenkte ihm ein strahlendes Lä 88
cheln, als sie seine Bordkarte ausstellte und den PRIORI TY/FIRST CLASS-Anhänger an seiner alten Reisetasche befe stigte. Und kurz darauf rekelte er sich auch schon in einem Ledersessel, trank ein Glas Champagner und starrte zum Fen ster hinaus, während die Stadt Washington allmählich unter den Tragflächen versank. Er könnte sich pudelwohl fühlen, wenn da nicht diese Dienstmarke in seiner Reisetasche wäre. Die Dienstmarke war nicht richtig. Sie machte ihn nervös. Sich als Cop auszugeben … na ja, so etwas machten eigentlich nur die Bösen. Und das warf eine Frage auf, eine sehr interes sante Frage, eine Frage, die so grundlegend war, dass er eigent lich gar nicht drüber nachdenken wollte. Was, wenn ich auf der falschen Seite stehe?
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Sobald er aus dem Bereich der Zollabfertigung in den An kunftsterminal trat, sah er in einem Pulk Menschen eine Reihe von Chauffeuren stehen, die darauf warteten, von ihren Fahrgä sten entdeckt zu werden. Dannys Chauffeur war ein untersetz ter, kleiner Mann mit buschigen, schwarzen Augenbrauen und einem handgeschriebenen Schild, auf dem stand: Cray
Sistemi di Pavone
Als er sah, dass Danny auf das Schild aufmerksam wurde, trat der Fahrer mit einem Lächeln vor. «Signore Cray?» «Si.» «Benvenuto!» Er nahm Danny die Tasche aus der Hand und ging flotten Schritts vor ihm her durch den Terminal. «Parla Italiano?», rief er über die Schulter. «Nein.» Die Schultern des Mannes hoben und senkten sich. «Non im porta. Ich fahren Hotel d’Inghilterra, okay?» «Si.» «Molto bene.» Als sie ins Freie traten, schlug Danny eine Wand aus Hitze, Krach und Dieselabgasen entgegen. So begeistert er auch da von war, endlich in Rom zu sein, er hatte im Flugzeug nicht schlafen können, und der Jetlag fühlte sich an, als flösse ihm Sirup durch die Adern. Dann blieb der Chauffeur stehen und hielt ihm die Tür eines glänzenden, neuen Alfa Romeo auf, der verbotenerweise am Taxistand parkte. Wenige Schritte entfernt stand ein Polizist in schmucker Uniform und nickte dem Fahrer ehrerbietig zu, der ihm kurz zuwinkte. Dann fuhren sie los. 90
Danny fand, dass die Industriegebiete am Stadtrand von Rom wie die Ausläufer jeder großen Stadt aussahen. Zwischen mo noton modernen, hässlichen Fabrikanlagen, Bürogebäuden und Autohändlern erstreckten sich von Unkraut und Abfall übersäte Felder. Wäre da nicht der Mittelstreifen der Autobahn gewe sen, wo eine Wand aus Oleanderbüschen als Leitplanke fun gierte, er hätte überall sein können, überall, wo es heiß war. Die Sonne war eine diffuse grelle Leuchte am farblosen Him mel. Dann – hatte er gedöst? – waren sie auf einmal mitten in der Stadt, und die heruntergekommene Pracht überall um ihn her um war überwältigend, atemberaubend. Der Chauffeur fuhr am Tiber entlang, vorbei an einer gewaltigen Burg und dann über die Brücke auf einen riesigen und verwirrenden Platz. Der Alfa scheuchte eine Gruppe Nonnen beiseite und rollte durch ein mächtiges Steintor in einen weitläufigen, von Bäumen beschat teten Park. Erstaunt über die grüne Stille, beugte Danny sich vor und fragte: «Wo sind wir? Dove?» «È la Villa Borghese», antwortete der Chauffeur mit ungläu bigem Unterton, als wollte er sagen, Wo denn sonst? Sie verließen den Park fast ebenso unvermittelt wieder, wie sie hineingefahren waren. Jetzt befanden sie sich auf einer be lebten Einkaufsstraße, wo es von Fahrzeugen und Menschen nur so wimmelte. Antiquitätengeschäfte und Designerläden gleich nebeneinander: Missoni, Zegna, Gucci, Bulgari. Dann verlangsamte sich der Verkehr auf Kriechtempo, und der Chauffeur schimpfte auf Fußgänger und andere Autofahrer, während er den Alfa behutsam durch die Menge lenkte. Danny staunte, dass der Mann kein einziges Mal hupte, sondern sich mit einer Litanei halblauter Flüche begnügte. Allmählich lichtete sich das Menschengewimmel; der Alfa bog in eine gepflasterte Straße und hielt kurz darauf vor einem verblichenen roten Teppich. Danny hörte, wie der Kofferraum aufsprang, als der Fahrer ausstieg und den Hotelpagen rief. 91
Gleich darauf wurde für Danny die Tür geöffnet, er stieg aus und sah sich vor dem Eingang eines altmodischen Hotels – ein ockerfarbenes Steingebäude, auf dessen Fassade ALBERGO D’INGHILTERRA stand. Danny ging zur Rezeption. Der Portier nahm seinen Pass. Der Chauffeur verschwand. Und ein altersschwacher Page brachte Danny zu seinem Zimmer. Es handelte sich tatsächlich um eine Suite – zwei Räume, die aussahen wie für eine Theateraufführung entworfen. Samtvor hänge an den Fenstern dämpften das Licht und die Geräusche von draußen. In der Mitte des größeren Raumes stand ein Will kommensstrauß auf einem runden Mahagonitisch, und der süße Duft der Blumen wetteiferte mit dem würzigen Aroma von Möbelpolitur. Im Nebenzimmer war die Atmosphäre ähnlich. Es war muf fig und luxuriös zugleich und wurde von einem wuchtigen, altertümlichen Bett mit unglaublich dicker Matratze beherrscht. Auf einer dünnen Daunendecke türmte sich eine Lawine von Federkissen gegen das Kopfende. Um die Matratze zu testen, ließ Danny sich rückwärts auf das Bett fallen – nur ganz kurz, sagte er sich, nur um ein bisschen Atem zu schöpfen – und spürte, wie ihm die Augen zufielen. Er erwachte mit einem Ruck und dem unsinnigen Gefühl, ir gendwie zu spät dran zu sein, und hechtete förmlich aus dem Bett. Es war später Nachmittag. Danny tappte über den Orient teppich ins Bad und stieg in die Marmordusche. Der Wasser strahl spülte ihm den Jetlag aus den Gliedern. Plötzlich war er hungrig und ganz begeistert, in Rom zu sein. Er zog sich schnell an, trabte die Treppe hinunter in die Hotel lobby und hinaus auf die Via Bocca di Leone. Ohne besonders darauf zu achten, wohin er ging, schlenderte er umher, bis er schließlich die Stufen der Spanischen Treppe hinaufstieg. In den Straßen oberhalb davon verlor er völlig die Orientierung 92
und erkundete das Labyrinth der kleinen Gassen. Zwanzig Mi nuten später stieß er auf die Via Veneto und hatte keine Ah nung, in welche Richtung jetzt sein Hotel lag. Vor dem Café de Paris setzte er sich an einen der Tische und bestellte ein Sandwich mit Mozzarella und Tomate (si, si, si, Signore – alla caprese), eine Flasche Pellegrino und einen Campari-Soda. Dann lehnte er sich zurück und ließ die Parade an sich vorüberziehen. Die Menschen, die vorbeiflanierten, waren elegant und schick. Die Frauen waren eine wie die andere schlank und gut gekleidet – ebenso wie die meisten Männer. Alle, aber auch alle schienen zu rauchen, und kein Mensch trug eine Gürtelta sche. Nur die Touristen. Die Hälfte der Leute waren anschei nend Amerikaner, so gut gepolstert wie sie waren. Was Danny selbst betraf, gut, er war nicht dick und er trug seine guten Cole-Haan-Schuhe. Aber abgesehen davon kam er sich im Ver gleich zu den Italienern fast schäbig vor in seiner Gap-Hose und dem No-Name-Polohemd. Er hatte jetzt zwei Möglichkeiten, dachte er. Entweder er fing sofort an zu arbeiten (weil er ja ein braver Junge war), oder er tat das, was ihm viel natürlicher erschien – und zwar einfach ein paar Stündchen in den Cafés vertrödeln, die Herald Tribune lesen und das Dolce Vita genießen. Schwierige Entscheidung, doch die Tugend setzte sich schließlich durch. Danny bezahlte die Rechnung mit seiner VisaCard und ging dann über die Straße zu einem Geldautoma ten der Banco Ambrosiano. Er entlockte dem Gerät 250 Euro und nahm ein Taxi zurück zum Hotel. In seinem Zimmer ließ er sich in einen Sessel am Fenster fal len, das Telefon in der Hand, und ging im Kopf noch einmal die kurze Rede durch, die er sich auf dem Flug hierher zurecht gelegt hatte. Als er sicher war, sie auswendig zu können, tippte er die Nummer von dem FedEx-Paketschein ein und wartete. Gleich darauf ertönte das Freizeichen am anderen Ende. Er 93
beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und konzen trierte sich. Schließlich ertönte eine Stimme vom Band: «Ciao! Avete raggiunto Inzaghi. In questo momento non posso rispon dere …» Das Einzige, was Danny wirklich verstanden hatte, war ciao, Inzaghi und momento. Aber die Botschaft war klar: Es war niemand zu Hause. Er würde ihn morgen früh noch einmal anrufen. Ansonsten hatte er eigentlich nichts zu tun. Pater Inzaghi war der einzige Grund, warum er nach Rom gekommen war. Falls der Priester verreist war oder sich weigerte, Danny zu treffen, tja, dann … hätte Belzers Mandant viel Geld zum Fenster hi nausgeworfen. Aber das war dessen Problem, dachte Danny. Daran kann ich nichts ändern. Falls Belzer wollte, dass er noch einen Tag, eine Woche oder einen Monat im Inghilterra blieb und alle paar Stunden dieselbe Nummer wählte, dann war das seine Entscheidung – und Danny hätte nichts dagegen. Er holte sich eine Flasche Peroni aus der Minibar und setzte sich vor den Fernseher. Schon bald war er ganz versunken in ein packendes UEFA-Cup-Spiel. Irgendwann während der zweiten Halbzeit klingelte das Telefon, und er meldete sich mit einem geistesabwesenden «Ja?» «Mr. Cray?» Eine Frauenstimme, aber tief und mit leichtem Akzent. Er drückte die Stummtaste der Fernbedienung. «Danny Cray am Apparat.» «Hier spricht Paulina Pastorini – Ihre Dolmetscherin. Ich glaube, Signore Belzer hat Ihnen gesagt, dass ich mich bei Ih nen melden würde?» «Stimmt.» «Tja, zunächst einmal: Herzlich willkommen in Rom –» «Danke.» «Kann ich irgendwas für Sie tun? Haben Sie irgendwelche Wünsche?» 94
«Eigentlich nicht», erklärte Danny, «aber … ich versuche, jemanden zu erreichen –» «Ja?» «Und das gestaltet sich ein bisschen schwierig. Der Mann ist Geistlicher. Und ich glaube, er arbeitet im Vatikan.» «Ja?» «Ich habe nur seine Telefonnummer, aber da meldet sich bloß der Anrufbeantworter. Und das natürlich auf Italienisch, daher …» Ein leises Lachen – sehr sexy. «Wenn Sie möchten … kann ich ihn für Sie anrufen. Feststellen, ob er Ihre Sprache spricht.» Danny überlegte einen Moment und runzelte die Stirn. «Die Sache ist ein bisschen kompliziert», sagte er. «Ich weiß. Unser Freund hat es mir erklärt. Aber das dürfte kein Problem sein. Ich sage einfach, dass ich Ihnen behilflich bin, ein Treffen zu arrangieren.» «Tja –» «Für einen gewissen Detective Muller, richtig?» «Ja.» «Dann rufe ich ihn gleich morgen früh an», erklärte die Dol metscherin. «Als Allererstes.» «Prima.» Er versuchte, sich sein Unbehagen nicht an der Stimme anmerken zu lassen, aber er wusste, dass ihm das nicht ganz gelang. Es störte ihn, dass diese Dolmetscherin über ‹De tective Muller› Bescheid wusste – obwohl das natürlich unum gänglich war. «Ich vereinbare nur einen Termin», sagte sie. «Mit mir zu sammen, falls er kein Englisch kann – ohne mich, wenn er Englisch kann. Ist Ihnen das recht?» «Vollkommen.» «Also abgemacht. Und Sie? Haben Sie morgen ansonsten frei?» «Ich bin frei wie in Vogel», entgegnete Danny. «Wie bitte?» 95
«Ich habe gesagt, ich bin frei wie ein Vogel.» Wieder dieses Lachen, ein leichtes Glucksen. «Verstehe. Sie müssen entschuldigen, aber – diese Redewendung haben wir in Italien nicht. Und Gott sei Dank, weil die Vögel in Rom fast nur Tauben sind – und die kann man sich kaum als ‹frei› vor stellen. Die sind nur bloß – wie sagt man? – obdachlos.» Jetzt musste er lachen. Nachdem sie aufgelegt hatte, nahm er sich noch eine Flasche Bier und rief zu Hause in den Staaten an, um seine Voicemail abzuhören. Die erste Nachricht war von Jake, der ihm erzählen wollte, dass er tatsächlich ein Bild verkauft hatte. «Ruf mal zurück, Alter! Der Rubel rollt!» Die zweite Nachricht war von Caleigh, die ihm die Telefon nummer ihres Hotels in Seattle durchgab. «Ich liebe dich, Dan ny-Schatz! Ciao!» Dann Mom: «Wollte mich nur mal kurz melden. Du denkst doch wohl daran, dass wir Dienstag nach Irland fliegen. Kevin weiß, wo wir zu erreichen sind.» Und dann fast verschwöre risch: «Du könntest doch mit Caleigh herkommen, solange wir weg sind. Ich lege den Schlüssel an die übliche Stelle. Captain ist bei Mr. Hutchins.» Und schließlich: «Dan? Hi, hier spricht Adele Slivinski. Ich habe leider keine gute Nachricht für Sie. Ich weiß ja nicht, wie groß Ihr Interesse an dem Terio-Haus war …» Tiefes Seufzen. «Aber es steht nicht mehr. Letzte Nacht ist dort ein Feuer aus gebrochen und jetzt … tja, jetzt ist nichts mehr davon übrig. Aber ich wollte Ihnen sagen, dass wir noch ein anderes Objekt in der Gegend haben, und ich denke, das könnte Ihnen gefal len.» Dann ratterte sie etliche Nummern herunter, unter denen sie zu erreichen war, und verabschiedete sich. Adieu, Terio-Unterlagen, dachte Danny und warf das Telefon auf die Couch. Er stand auf, ging zum Fenster, öffnete den Vorhang und starrte nach unten auf die Straße. Das Ganze wird 96
langsam beängstigend, dachte er. Zuerst Terio, dann Patel und jetzt das Haus. Obwohl das mit dem Haus vielleicht bloß Van dalismus war. Altes Haus, unbewohnt, Gruselgeschichten über ein «Kellergrab». Wahrscheinlich waren das Jugendliche aus der Gegend gewesen. Es war eine beruhigende Erklärung, und er wollte sie glau ben. Er stellte sich vor, wie die jungen Burschen sich einen hinter die Binde gekippt hatten, dann in Daddys Auto zum Haus von Terio gebraust waren. Eine Tür aufgebrochen, rein ins Haus, weiter gesoffen und vielleicht irgendwo ein paar Kerzen gefunden und … Konnte doch so gewesen sein! Gegen zehn Uhr schlief er vor dem Fernseher ein, während er CNN guckte, die Füße auf den Couchtisch gelegt. Mitten in der Nacht weckte ihn eine Gruppe betrunkener Amerikaner, die laut grölend unter seinem Fenster die Straße entlangtorkelten. Er konnte sich absolut nicht an den Traum erinnern – nur dass er ihm Angst eingejagt hatte. Und er wusste auch nicht mehr, dass er sich ausgezogen hatte und ins Bett gegangen war. Aber beides war der Fall, denn als die Sonne kurz nach sechs Uhr morgens durch die Fenster strömte, lag er friedlich in den Federn. Es war noch zu früh, um etwas zu unternehmen, also zog er los, um irgendwo eine Herald Tribune aufzutreiben, in der Hoffnung, dass vielleicht etwas über Jason Patel drin stand. Die meisten Geschäfte waren noch geschlossen, aber auf der Via del Corso entdeckte er einen Zeitungskiosk. Er kaufte eine Tribune und ging damit in ein Café an der Piazza Colonna. Dort stand er zunächst eine Weile an der Theke und beobach tete, wie man etwas bestellte. Zuerst bezahlte man beim Kas sierer, der dann die Bestellung an die Männer hinter der Theke weitergab, die einem das Gewünschte reichten. Der Raum war brechend voll, Geschäftsleute und Verkäufe rinnen, Angestellte auf dem Weg zur Arbeit und zwei italieni 97
sche Soldaten, die tatsächlich Federn an der Mütze trugen. Drei Männer in schmutzigen Blaumännern – sie waren wohl gerade von ihrer Schicht gekommen – spielten in einer Ecke Karten und tranken Kaffee mit Cognac. Alle lächelten und waren gut gelaunt. Die Sonne strahlte. Es war alles so anders als in Wa shington – es machte ihn munter. Wenn das Treffen mit Inzag hi vereinbart war, könnte er vielleicht am Nachmittag die Six tinische Kapelle besichtigen, im Park der Villa Borghese einen Spaziergang machen, ein Geschenk für Caleigh kaufen … Die Sonne fiel durch die Fenster des Cafés, beschien die Rauchglocke, die in der Luft hing. Wenn ich ehrlich bin, dach te Danny, will ich die Sache hier möglichst schnell über die Bühne bringen. Rom hin oder her, diese Belzer-Geschichte machte ihn nervös. Es waren einfach zu viele heftige Dinge passiert. Und trotz aller Annehmlichkeiten, der Auftrag war viel zu undurchsichtig, viel zu gut bezahlt. Danny aß seine beiden cornetti und rutschte von dem Hok ker. Tu’s einfach, sagte er sich. Bring’s hinter dich. So schwer kann das doch nicht sein. Frag den Priester, ob du den Compu ter haben kannst, und er sagt entweder Ja oder Nein. Dann fliegst du wieder nach Hause und machst dich wieder an die Arbeit – deine richtige Arbeit. Es war fast halb acht, als er ins Inghilterra zurückkam. Die Dolmetscherin hatte in der Lobby gewartet und kam zu ihm, als er am Empfang um seinen Schlüssel bat. «Mr. Cray? Ich bin Paulina.» Er wusste nicht genau, wie er sie sich vorgestellt hatte – viel leicht eine Frau um die vierzig, gebildet, kultiviert, Lesebrille. Aber die Frau vor ihm sah völlig anders aus: eine dunkle Schönheit, höchstens dreißig, mit der Art von Hochglanzgla mour, der richtig Geld kostet. Sie trug ein tief ausgeschnittenes, lindgrünes Leinenkostüm mit sehr kurzem Rock und braunen Krokodillederpumps. «Hi.» Mehr brachte er nicht heraus. 98
Ihr kokettes Lächeln, als sie unter dichten Wimpern zu ihm hochsah, war betörend. «Ich dachte, Sie wären älter», stellte sie fest. «Ich dachte, Sie wären älter.» Wieder dieses melodische Lachen. «Tja, wie dem auch sei. Entschuldigen Sie, dass ich hier einfach so auftauche. Gehen wir einen Kaffee trinken?» Sie wartete seine Antwort gar nicht erst ab, sondern drehte sich um und ging zielstrebig zu der Café-Bar des Hotels. Dan ny trottete hinter ihr her wie ein Hund, misstrauisch und hinge rissen zugleich, die Augen unverwandt auf das Wippen ihres Rocksaums gerichtet. Der Rock war so kurz, dass es gerade noch anständig war, und als sie sich auf einen Barhocker schob und die Beine übereinander schlug, hatte Danny das Gefühl, kein Wort mehr herausbringen zu können. Zum Glück erschien wie aus dem Nichts ein Kellner und er löste Danny von der Notwendigkeit, Konversation zu machen. Die Dolmetscherin richtete die Augen auf ihn. «Cappuccino?» Danny nickte. Mühsam fügte er hinzu: «Gern.» Als der Kellner weg war, sagte sie: «Es tut mir wirklich Leid, dass ich Sie so überfalle. Aber Sie sind nicht ans Telefon ge gangen. Und ich hasse es, auf die Mailbox zu sprechen, also …» Sie zuckte mit den Schultern, eine kleine Geste, die ihren langen geschwungenen Hals und die zarte Linie ihrer Schlüs selbeine betonte. «Ich wollte an der Rezeption eine Nachricht für Sie hinterlassen. Und dann» – ein wirklich betörendes Lä cheln – «waren Sie auf einmal da!» «Hm!», erwiderte Danny und konnte es selbst nicht fassen, wie dämlich er sich anhörte. Reiß dich zusammen! «Und, äh … worum wäre es in der Nachricht gegangen?» Wieder dieses glucksende Lachen. «Natürlich um Pater In zaghi. Ich hielt es für das Beste, ihn gleich heute früh anzuru fen – ehe er aus dem Haus geht und …» Sie hob die Hände und wedelte mit ihnen durch die Luft. «Ich weiß nicht, betet oder 99
so. Da ist mir klar geworden, dass ich keine Ahnung habe, was Priester den lieben langen Tag so machen. Ich meine, wohin gehen sie? Tja! Jetzt weiß ich es.» «Sie haben ihn also erreicht!» «Ja.» «Und was macht Pater Inzaghi nun den lieben langen Tag?» «Er rackert sich in der Vatikanischen Bibliothek ab.» «Was macht er da?» «Er … wie sagt man? Er digitalisiert die Inkunabeln.» «Was Sie nicht sagen», meinte Danny trocken. Sie nickte munter. «Und was sind diese Inkunabeln?», fragte Danny. «Oh, gut», erwiderte Paulina. «Ich hatte schon Angst, Sie wüssten das, weil ich es nämlich nicht wusste – ich musste fragen. Und wenn Sie es gewusst hätten und ich nicht, dann wäre das schlecht gewesen, weil – na ja, Worte nun mal mein Metier sind.» Sie beugte sich vor und schien nicht zu bemer ken, welche Wirkung ihr Dekolleté auf ihn hatte. Er versuchte, nicht hinzusehen, aber das war ungefähr so einfach, wie sich den Gesetzen der Schwerkraft zu widersetzen. «Inkunabeln», sagte sie mit funkelnden Augen. «Das sind Bücher, die vor dem Jahr 1500 gedruckt wurden. Dieser Prie ster, Inzaghi, ist Experte dafür. Für die Bücher oder für Com puter – eins von beidem. Vielleicht auch für beides. Aber er arbeitet schon so lange in den Archiven, dass sie ihn ‹Rex To po› getauft haben.» Danny blickte sie fragend an. «Rex Topo?» Ihre Augen blitzten. «König der Mäuse! Mäuse, so werden die Priester genannt, die mit den Büchern arbeiten. Und er ist ihr König.» Sie glitt geschmeidig von ihrem Hocker und stand auf. «Wenn Sie mich einen Moment entschuldigen.» Mit einem Lächeln schwebte sie von dannen, ihr Körper ein Magnet, der Blicke aus allen Ecken des Raumes anzog. Kurz darauf kam der Kellner. Mit der Geschwindigkeit und 100
dem Schwung eines professionellen Kartenspielers verteilte er zwei halb mit Kaffee gefüllte Porzellantassen, einen kleinen weißen Krug mit aufgeschäumter Milch und ein Behältnis aus Zinn und Glas mit vier verschiedenen Sorten Zucker darin. Danny trank einen Schluck von dem köstlichen Kaffee und lauschte dem Stimmengemurmel um sich herum. Noch ein Schluck, und auf einmal erstarb das Geräusch – eine plötzliche Zäsur, die ihn veranlasste aufzuschauen. Und da war sie; sie kam auf ihn zu, wobei ihre Handtasche provokativ gegen ihren Oberschenkel wippte. Es war schwer, sie nicht anzustarren. «Wo war ich stehen geblieben?», fragte sie, legte die Tasche auf die Theke und setzte sich wieder auf den Hocker. «Sie sprachen gerade von Mäusen.» «Stimmt!» Sie trank einen Schluck, stellte die Tasse ab und kam zur Sache. «Wie gesagt, ich habe heute Morgen mit In zaghi gesprochen. Und ich habe ihm auch erzählt, warum Sie sich mit ihm treffen möchten – ganz allgemein. Ich habe ge sagt, es ginge um eine polizeiliche Angelegenheit, Dr. Terio betreffend.» Danny nickte. «Und er hat gesagt …?» «Sie essen heute mit ihm zu Mittag. Ich habe in einer wun derbaren kleinen Trattoria auf der Via dei Cartari einen Tisch für Sie bestellt. Ich denke, wenn Sie ihm ein gutes Essen spen dieren, ein bisschen Wein – vielleicht reichlich Wein – könnte er hilfsbereit sein.» «Und was ist mit Ihnen? Sind Sie auch dabei?» Sie schüttelte den Kopf. «Sein Englisch ist ausgezeichnet. Fast perfekt. Er hat in Schottland studiert. Ohne mich kommen Sie besser zurecht.» «Oh, das bezweifle ich», entgegnete er und bereute es sofort. Dann kannst du ihr ja auch direkt zuzwinkern! Er kam sich vor wie ein Schwein. Obwohl er gar nichts ge macht hatte, die Frau nicht einmal angefasst hatte, hatte er Ca leigh hintergangen, so viel war klar, und wenn auch nur in sei 101
ner Phantasie. «Ach», sagte Paulina, und ihre dunklen Augen blickten amü siert. «Vielen Dank. Aber ich halte es für besser, wenn Sie bei de ungestört sind.» Danny zuckte bedauernd mit den Schultern. Er griff nach dem kleinen Milchkrug auf der Theke, goss etwas in seinen Kaffee und rührte. Während er das tat, fiel sein Blick auf ihre Handtasche. Es war ein seidiger Beutel in der Farbe von jun gem Broccoli, mit einem Kordelverschluss, der leicht offen stand. Und in der Tasche sah er den weißen Zylinder eines Tampons und daneben den dunkelblauen Zylinder eines Pisto lenlaufs. Er riss den Blick los und schaute sofort wieder hin. Er hatte mal gehört, dass Schusswaffen unwirklich wirken, wenn man sie sieht – wie Spielzeug. Und die da war so klein, dass sie durchaus ein Spielzeug hätte sein können, aber das war eindeu tig nicht der Fall. Die Pistole war überaus real – und leicht zu verstecken. Eine Taschenwaffe. Vielleicht ist das normal, dach te Danny. Vielleicht muss sich eine Frau wie Paulina in Rom schützen. Wahrscheinlich tragen in Rom alle schönen Frauen eine Waffe bei sich. «So», sagte sie. «Ich schreibe Ihnen den Namen des Restau rants auf, ja? Der Tisch ist für halb eins reserviert.» Und damit zog sie einen Stift aus ihrer Tasche und kritzelte die Adresse auf einen welligen Papieruntersetzer. «Wie lange brauche ich bis dahin?», fragte Danny. Sie zog die Nase kraus, was ganz reizend aussah, und wiegte den Kopf hin und her. «Zu Fuß zwanzig Minuten.» Ihr Stark stromlächeln. «Mit dem Taxi länger.» Dann warf sie einen Blick auf ihre Uhr, winkte dem Kellner und machte eine Be wegung, als schriebe sie etwas in die Luft. «Sie sind eingeladen», sagte Danny. «Gut, ich muss nämlich wirklich weg», sagte sie, stand auf und strich sich den Rock glatt. «Falls Sie irgendwas brauchen, 102
rufen Sie mich an, ja?» «Ja.» Auch er stand auf. Dann beugte sie sich zu ihm vor, ihr Haar streifte sein Ge sicht. Er sog den berauschenden Duft eines teuren Parfüms ein, als sie ihn zuerst auf die eine Wange, dann auf die andere küss te. Anders als bei den Luftküssen, die er aus der Galerie kann te, berührte ihr Mund ihn tatsächlich – und verweilte beim zweiten Kuss etwas länger. Ihre Lippen wurden weich, und er spürte ihren Atem auf seiner Wange. Dann löste sie sich von ihm, hielt seine Schultern mit beiden Händen fest. «Oh, nein», kicherte sie, «jetzt haben Sie Lippenstift abgekriegt.» Sie wischte ihm mit einer Serviette über die Wange, und warf sie anschließend auf die Theke. «Buona fortuna!» Und dann, noch ehe er ein Wort herausbrachte, war sie ver schwunden. Die «kleine Trattoria» war nicht das malerische Restaurant, das Danny sich vorgestellt hatte. Es gab keine karierten Tischdek ken, keine mit Bast umhüllte Chiantiflaschen. Stattdessen war sie ein Tableau in erlesenem Minimalismus, mit marineblauen Wänden und Tischen, auf denen weiße Gaze drapiert war. Danny fragte den Oberkellner nach Pater Inzaghi und wurde zu einem Tisch am Fenster geführt, wo ein rundlicher kleiner Mann Mitte fünfzig saß. Er erhob sich, als er Danny kommen sah. «Investigatore!», sagte er und neigte respektvoll den Kopf. «Es ist mir ein Vergnügen.» Sie reichten sich die Hände. Der Mann trug einen dunkelblauen Anzug, der schon bessere Tage gesehen hatte. Die Ärmel glänzten an den Aufschlägen vom langen Tragen, und die winzig kleinen Löcher in einem von beiden verrieten, dass es im Vatikan Motten gab, dachte Danny. Der einzige Hinweis auf die Priesterwürde seines Ge genübers war ein kleines goldenes Kreuz am Kragen direkt unter dem Kinn. 103
Ein Kellner brachte die Speisekarten und fragte, was sie trin ken wollten. Normalerweise trank Danny mittags keinen Alko hol, aber er schlug dennoch eine Flasche Wein vor und bat In zaghi, sie auszusuchen. Der Priester kam der Bitte liebend gern nach. Er setzte sich eine Lesebrille auf und studierte die Wein karte mit Kennermiene, dann klappte er sie zu und reichte sie dem Kellner. Es folgte ein kurzer Wortwechsel, und der Kell ner machte auf dem Absatz kehrt, um die fragliche Flasche zu holen. Inzaghi lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, putzte seine Le sebrille und musterte seinen Tischgenossen. «Sie sind sehr jung», stellte er fest. Danny zuckte die Achseln. «Für einen Detective, meine ich.» Danny nickte. «Dann sind Sie bestimmt sehr clever.» Danny verkniff sich ein zweites Achselzucken, wusste aber auch nicht, was er sagen sollte. Also nickte er nur und dachte: Das läuft nicht gut. Aber der Priester schien es nicht zu bemerken. «Ich war ent setzt», sagte er, «als ich von Christians Tod erfuhr.» Er schüt telte den Kopf. «Ich konnte ihn nicht erreichen. Ich habe ihm eine E-Mail nach der anderen geschickt. Ich habe angerufen, und … nichts. Also habe ich schließlich in der Uni angerufen. Und die haben es mir dann erzählt. Selbstmord!» Er schüttelte den Kopf, als wollte er ihn klar bekommen. «Dann hatten Sie also mit so etwas nicht gerechnet?», fragte Danny. «Dass er Selbstmord begeht? Absolut nicht. Das soll nicht heißen, dass er keine Probleme hatte, keine Sorgen. Aber eins müssen Sie wissen: Dieser Mann hat das Leben geliebt! Er hatte einen wunderbaren Sinn für Humor. Obwohl …» Der Priester beugte sich vor und fügte vertraulich hinzu: «Seine Witze waren furchtbar.» 104
Danny lächelte: «Inwiefern?» Inzaghi sah ihn hilflos an. «Vielleicht lag es an der Sprache. Mein Englisch ist –» «Ausgezeichnet!» «Nein, nein. Nur ausreichend. Und Chris, er hat immer … ir gendwelche Wortspiele gemacht. Schlechte Wortspiele, glaube ich, aber vielleicht hab ich sie einfach nicht richtig verstan den.» Danny nickte höflich. «Zum Beispiel!», rief der Priester. «Ich frage Sie: Was ist so lustig an ‹Heigh-ho the Terio!›? Was soll das überhaupt hei ßen?» Danny schmunzelte. «Nicht viel.» Er erinnerte sich dunkel, dass es aus irgendeinem Kinderlied war, aber er wusste nicht mehr, aus welchem. «Dachte ich mir», bemerkte der Priester. «Es ist einfach nicht lustig. Aber jedes Mal, wenn er das gesagt hat, hat er sich fast nicht mehr eingekriegt vor Lachen. ‹Heigh-ho the Terio!› Und dann hat er losgeprustet!» Der Priester schüttelte den Kopf. «Kaum zu glauben, dass er das so oft gesagt hat.» Inzaghi nickte mit einem wehmütigen Lächeln. «Stimmt. Aber das war seine – wie sagt man? – seine ‹Eselsbrücke›, falls er ein Passwort vergessen hatte», erklärte er. Dann erstarb das Lächeln und der Priester blickte traurig. «Ich habe ihn im Stich gelassen.» Danny sah ihn fragend an. «Warum sagen Sie das?» Pater Inzaghi ließ die Schultern hängen. «Weil ich sein Freund war!» Der Priester seufzte aus tiefem Herzen. «Ich hät te sensibler sein sollen. Ich hätte irgendwas merken müssen! Aber … ich war vollkommen überrascht.» Er warf Danny ei nen hoffnungsvollen Blick zu, wartete auf Mitgefühl. «Ich denke, das geht den meisten Menschen so», antwortete Danny, «wenn jemand stirbt … auf diese Weise. Selbst wenn es ein Unfall war, denken sie: Wäre ich nur bei ihm gewesen, 105
dann wäre er jetzt noch am Leben. Aber normalerweise kann man wirklich nichts machen. Niemand.» Der Kellner kam mit einer Flasche Barbaresco, entkorkte sie gekonnt und ließ Inzaghi kosten. Als der Priester mit einem Nicken sein Einverständnis signalisierte, füllte der Kellner ihre Gläser und nahm ihre Bestellung entgegen. Nachdem er ge gangen war, beugte Inzaghi sich vor und sagte verlegen: «De tective, dürfte ich vielleicht …» «Ja?» «Dürfte ich vielleicht … Ihren Dienstausweis sehen?» Die Frage kam völlig überraschend. Danny spürte einen Ad renalinstoß und merkte, dass ein nervöses Lächeln seine Mundwinkel in die Höhe zog. Am Telefon irgendwelche Aus reden zu erfinden war eine Sache, aber das hier war richtig schlimm. Sich als Polizist auszugeben. Was dachte er sich bloß dabei? «Aber ja», sagte er und griff in seine Innentasche, um den Ausweis zu zücken, den Belzer für ihn hatte machen las sen. Er gab ihm den Priester, der ihn mit einem entschuldigen den Blick entgegennahm. «Ich hab bloß gedacht, weil Sie so jung sind», sagte er. «Ich hätte einen älteren Mann erwartet.» Inzaghi warf nur einen flüchtigen Blick auf den Ausweis und gab ihn dann verlegen zurück. «Entschuldigen Sie bitte.» Danny schüttelte den Kopf. «Man kann nie vorsichtig genug sein.» «Das stimmt», entgegnete der Priester. «Also … hat man Ihnen erzählt, wie es passiert ist?» «Nein.» Inzaghi warf ihm einen neugierigen Blick zu und schüttelte den Kopf. «Was spielt das für eine Rolle?» «Nun ja, es war ein höchst ungewöhnlicher ‹Selbstmord›. Und das ist einer der Gründe, warum ich hier bin.» Der Priester runzelte die Stirn: «Was meinen Sie mit ‹unge wöhnlich›?» Danny schilderte die näheren Umstände, unter denen Terio 106
gefunden worden war, und sah, wie sich im Gesicht des Prie sters Entsetzen ausbreitete und der anfängliche Kummer durch pure Abscheu verdrängt wurde. Als Danny fertig war, nahm Inzaghi einen tiefen Schluck Wein und tupfte sich dann den Mund mit der Serviette ab. «Mein Gott! Das ist grotesk. Ich meine …» Danny sah ihn unglücklich an. «Genau darüber hat Chris doch geschrieben!» Danny blinzelte. «Was?» Der Priester nickte. «Im Kontext des Glaubens – im Kontext des Christentums – hat dergleichen eine lange Geschichte und Chris hat sie erforscht.» Inzaghi hob zur Betonung den ausge streckten Zeigefinger. «Tatsächlich?» Danny staunte. Seine religiöse Erziehung war zwar minimal gewesen und natürlich war alles möglich, aber er war sich ziemlich sicher, dass er schon mal davon gehört hätte, wenn sich irgendwo Menschen im Namen der Kirche einge mauert hätten. «Eine lange Geschichte?» Der Priester nahm einen großen Schluck Wein, hob dann sein Glas und erfreute sich an dessen Farbe im Licht des Fensters. «Die Welt», sagte er, «ist der Feind der Erlösung. Und das war sie schon immer. Sie ist für die Seele das Schlachtfeld, der Ort, wo der Leib dem Teufel begegnet. Zieh dich aus der Welt zu rück, und der Teufel kann dir nichts anhaben.» Wieder ein Schluck, und er beugte sich näher zu Danny. «Man nannte sie ‹Anachoreten›, nach dem griechischen Wort für ‹sich zurück ziehen›. Die ersten Anachoreten gingen in die Wüste und leb ten in Höhlen. Die seltsamsten Vertreter waren die so genann ten Styliten, die Säulenheiligen, die ihr Leben auf Säulen ver brachten.» Der Priester war ins Dozieren geraten, was ihm offenkundig lag. Danny folgte ihm, fasziniert, ungläubig. «Auf Säulen? Ihr ganzes Leben?» Der Priester nickte. «Die meiste Zeit ihres Lebens», bestätig 107
te er. «Später – im Mittelalter – wurden sie dann eingemauert. In den Mauern der Kirchen. Den Nordmauern.» «Eingemauert», wiederholte Danny. «Ja, man kann sagen, sie wurden lebendig begraben. Diese Anachoreten wurden also in kleine Zellen hinter dem Altar gesperrt. Es gab kleine Fenster, eher Schlitze, damit die heili gen Männer die Messe beobachten und Essen in Empfang nehmen konnten. Aber wenn sie einmal in dieser Zelle waren, kamen sie nie wieder heraus. Es gab keine Türen.» Danny war wie vor den Kopf geschlagen. Er stellte sich vor, wie das gewesen sein musste – nicht aus der Perspektive der Anachoreten, die offenbar verrückt gewesen waren, sondern aus der Perspektive der Menschen, die in die Kirche gekom men waren, um zu beten. Die Augen in den Mauern. Ihn frö stelte. Inzaghi fuhr leise fort. «Es waren nicht bloß Männer. Es gab auch Anachoretinnen. Und wie die Männer waren sie, sobald sie eingemauert und zu ‹Gefangenen des Glaubens› wurden, tot für die Welt. Ganz offiziell. Sie existierten nicht, außer dass sie Nahrung erhielten.» «Meine Güte», murmelte Danny. «Sie müssen Chris’ Buch lesen», sagte der Priester. Der Kellner servierte ihre Salate, streute noch ein wenig Pfef fer aus der Pfeffermühle darüber und zog sich mit einem leisen prego zurück. Inzaghi schauderte auf einmal. «Aber dass Chris …», sagte er und blickte starr auf sein Glas. «Es ist mir völlig unbegreif lich, dass er sich auf diese Weise … Aber –» «Aber?», fragte Danny. Wortlos legte der Priester seine Gabel auf den Tisch. Er über legte. «Chris war aufgebracht, als er Rom verließ. Er war be sorgt. Vielleicht etwas mehr als nur besorgt. Vielleicht veräng stigt.» Auf einmal musste Danny wirklich in die Rolle des Polizi 108
sten schlüpfen. «Und warum?» «Er hatte etwas erlebt.» «In Rom?» «Nein», antwortete der Priester. «Im Osten der Türkei.» «Was hat er dort gemacht?» Inzaghi breitete die Hände aus. «Er hat natürlich geforscht. Für sein neues Buch. Avatare des Synkretismus.» Der Priester lächelte. «Er hatte kein glückliches Händchen mit Titeln.» Danny dachte nach. Synkretismus, das hatte er in diesem Zu sammenhang schon gehört. Aber Avatare? Was könnte das sein? Inzaghi erbarmte sich seiner. «Christian hat sich mit einigen Religionsgründern im Nahen Osten beschäftigt, von Religio nen, die Elemente anderer Religionen in sich aufgenommen haben.» «Zum Beispiel …?» «Mani und Zarathustra», antwortete der Priester, «Baha Al lah und Scheich Adi. Haben Sie schon von ihnen gehört?» Achselzuckend sagte Danny: «Von den meisten.» «Aber nicht von Scheich Adi?» Danny nickte. «Dachte ich mir», sagte Inzaghi. «Die Jesiden sind ziemlich unbekannt.» «Jesiden?» «Scheich Adi. Er war Jeside.» Danny verdrehte fragend die Augen und fand, dass ihm die Rolle des begriffsstutzigen Detective wie auf den Leib ge schrieben war. «Die Jesiden sind ein kurdischer Stamm», erläuterte der Prie ster. «Eine ethnische Untergruppe. Scheich Adi war ihr Pro phet», fügte Inzaghi hinzu, griff nach seiner Gabel und spießte ein paar Salatblätter auf. «Chris ist dorthin gereist, um die Schwarze Schrift zu studieren.» Inzaghi blickte ihn ernst an. «Das ist ihre ‹Bibel›», erklärte er. «Ihre Heilige Schrift.» 109
Danny lehnte sich zurück, als der Kellner mit den Hauptge richten kam – ein köstlich aussehendes Steak für Inzaghi und für ihn Linguini mit hauchdünn gehobelten schwarzen Trüf feln. Er überlegte, wie er das Gespräch auf den Computer brin gen sollte. Geistesabwesend fragte er: «Und warum heißt sie die Schwarze Schrift?» Inzaghi kaute nachdenklich und nahm sich mit der Antwort Zeit. Dann sagte er: «Ich weiß es nicht. Bei den Jesiden ist ein fach alles irgendwie anders. Ich meine, wir sprechen hier über Leute, die den Pfauen-Engel anbeten!» Danny blickte ungläubig. «Die verehren einen Pfau?» «Satan», sagte der Priester. Danny verschluckte sich beinahe. «Tschuldigung Pater, aber wie kommen Sie jetzt von Pfauen auf Satan?» Inzaghi lächelte, was gewiss nicht herablassend wirken soll te, aber … «Sie sind ein Symbol für den Teufel.» «Pfauen?» «Ja. Die Jesiden verehren Satan.» Danny starrte ihn an. «Sie wollen mich auf den Arm neh men.» Der Priester schüttelte den Kopf und schnitt ein Stück von seinem Steak ab. Er erzählte, dass es heute noch ungefähr eine Million Jesiden gab. «Früher gab es sehr viel mehr. Aber sie sind sehr lange verfolgt worden, wie Sie sich denken können. Diese Menschen haben entsetzlich gelitten – als Kurden und dann noch als Jesiden. Wirklich ein doppeltes Unglück.» Danny zuckte die Achseln. «Tja, wenn man den Teufel anbe tet, muss man eben mit einer gewissen Kritik rechnen.» Inzaghi lächelte. «Sie machen sich da falsche Vorstellun gen», erklärte er. «Die Jesiden opfern keine kleinen Kinder und reiten auch nicht auf Besen herum. Sie verehren den Satan, weil in der Schwarzen Schrift steht, dass Gott am achten Tag der Welt überdrüssig wurde und sie dem Teufel übergab. Für sie ist der Teufel nicht böse; er ist der Tawus, sozusagen der 110
Oberengel.» «Wie Luzifer.» «Wie Luzifer vor dem Fall, ja.» «Faszinierend», sagte Danny, «aber … um auf Terio zurück zukommen … Sie sagten, dass er aufgebracht war, dass er in der Türkei irgendetwas erlebt hatte.» Der Priester veränderte seine Sitzhaltung, als wäre ihm sein Stuhl plötzlich unbequem geworden. «Richtig.» «Und? Was hatte er denn erlebt?» Inzaghi atmete tief durch. «Mit Chris eigenen Worten?» «Ja.» «Tja, Chris hat gesagt – ich weiß, das klingt lächerlich, aber … er hat gesagt, er hätte den Teufel gesehen.» Danny blieb die Spucke weg. «Wie bitte?» «Er hat gesagt … er hätte den Teufel gesehen.» Ein nervöses Lachen. «Nun hören Sie aber auf!» Der Priester schüttelte den Kopf. Danny wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er war zwar katholisch, aber Religion hatte in seiner Familie keine große Rolle gespielt. Die Crays heirateten vielleicht kirchlich und ließen auch ihre Kinder taufen, aber niemand in seiner Familie glaubte tatsächlich an den Teufel. Das Böse war real, das wusste er, aber es war nicht leibhaftig. Der Teufel war so etwas wie … der Weihnachtsmann. «Und wie hat er ausgesehen?», fragte Danny schließlich. «Hörner, Schwanz und so weiter?» Der Priester schüttelte den Kopf, wirkte peinlich berührt. «Das hat Chris nicht gesagt. Nur dass er in einem Bentley ge sessen hat –» «Der Teufel?» «Genau.» Inzaghi beugte sich mit einem hinterlistigen Schmunzeln vor und fügte hinzu: «Man sollte meinen, der Teufel hätte einen 111
Rolls Royce, nicht?» Danny lachte verunsichert. Was sollte er darauf erwidern. Was würde ein Cop darauf erwidern? Wollte der Priester ihn testen oder ihn aufziehen? «Eigenartig», sagte er. «Da stimme ich Ihnen zu.» Als der Kellner ihre Teller abräumte, beschloss Danny, end lich zur Sache zu kommen. Er nahm den FedEx-Paketschein aus der Tasche, den er aus Terios Müll gefischt hatte, und frag te Inzaghi, ob er sich den Computer mal ansehen dürfte. «Wir hoffen, dass vielleicht noch irgendwas drauf ist. Etwas, das uns bei den Ermittlungen weiterhelfen könnte,» Der Priester runzelte die Stirn. «Ich hab ihn leider nicht», er klärte er. «Noch nicht.» «Warum nicht?» fragte Danny. «Weil er noch beim Zoll liegt.» Er erläuterte, dass er eine Einfuhrsteuer von etwa fünfhundert Euro – zahlen müsse. Bis dahin würde das Gerät im Fracht-Terminal des Flughafens auf bewahrt. «Sie können sich vorstellen, wie so was läuft», sagte Inzaghi. «Ich hab die Mittel beantragt, aber das kann noch Mo nate dauern. Und ehrlich gesagt, es wäre zwar ganz nett, einen Laptop zu haben, aber ich brauche ihn eigentlich nicht. Ich kann andere Computer verwenden.» «Warum hat er ihn dann an Sie geschickt?» Inzaghi lächelte. «Es war ein Geschenk. Ich hab mir immer einen Laptop gewünscht, und Chris hat immer gejammert, sei ner wäre zu schwer. Ich weiß noch, dass er gewitzelt hat, ein ‹tragbarer Computer› wäre ein Widerspruch in sich.» Danny lachte. «Dann wollte er ihn also loswerden.» «Genau!», sagte der Priester. «Und wenn er ihn mir ins Büro geschickt hätte – in den Vatikan – dann hätte ich ihn schon längst. Aber er hat ihn an meine Privatadresse in der Via della Scrofa geschickt. Das ist in Rom, und da müssen wir dem Kai ser bezahlen, was des Kaisers ist.» Danny dachte kurz nach, dann stützte er die Ellbogen auf den 112
Tisch. «Was halten Sie davon, wenn ich ihn für Sie abhole? Ich könnte die Kosten über das Department laufen lassen. Und wenn ich ihn mir angesehen habe, sorge ich dafür, dass Sie ihn umgehend bekommen.» Der Priester spitzte die Lippen, lehnte sich zurück und wog den Vorschlag ab. Nach einem Moment neigte er zustimmend den Kopf, als wollte er sagen: Abgemacht. Dann griff er in seine Tasche und holte eine schöne Visitenkarte heraus, die er Danny überreichte. «Die obere Nummer ist die von meiner Wohnung in der Casa Clera. Meistens bin ich abends dort. Aber Sie können mich fast immer auf dem Handy erreichen – nur nicht, wenn ich in der Kirche bin. Dann schalte ich es aus.» «Prima», sagte Danny. Er kritzelte seine Handy-Nummer auf die Rückseite einer Visitenkarte von Frank Muller und gab sie dem Priester. «Ich stelle Ihnen für den Zoll eine Einverständniserklärung aus», versprach Inzaghi. «Das müsste reichen.» «Sehr freundlich von Ihnen», bedankte sich Danny. «Ganz und gar nicht», entgegnete der Priester. «Eine Hand wäscht die andere.»
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Vom Restaurant aus gingen sie zum Vatikan. Danny folgte Inzaghi durch einen Irrgarten von alten Sträßchen, die so schmal waren, dass selbst an diesem Sommernachmittag Halb dunkel herrschte. Ab und zu bogen sie um eine Ecke und ka men unversehens auf eine sonnenüberflutete Piazza. Einen Au genblick später tauchten sie wieder in eine Gasse ein, und das Licht verblasste von golden zu silbern. Sie überquerten den Tiber auf einer Fußgängerbrücke im Westen der wuchtigen Engelsburg. Die Brücke war eigentlich ein Marktplatz, wo Araber alles Erdenkliche feilboten, von Haschisch, Regenschirmen und Karikaturen bis hin zu batterie getriebenen Zinnsoldaten, die auf dem Bauch robbten, das Ge wehr in den Armen. Auf der Via della Conciliazione war es heiß. Touristen und Reisebusse steuerten auf dem breiten Boulevard direkt auf den Petersplatz zu, wo ein Meer von Klappstühlen aufgestellt wor den war, weil man erwartete, dass der Papst sich zeigte. Inzag hi führte Danny durch ein von der Schweizer Garde bewachtes Tor in eine Seitenstraße, die auf einen großen Hof mündete – den Cortile della Pigna. Der Hof wurde von einer Arkade erd brauner Gebäude umringt und war durch gepflasterte Wege in grün bepflanzte Quadranten eingeteilt, in deren Mitte jeweils ein Springbrunnen rauschte. Am hinteren Ende entdeckte Dan ny zu seiner Freude einen gigantischen bronzenen Pinienzapfen – etwa zweieinhalb Meter hoch und vermutlich aus Marmor –, der auf einem herrlich gearbeiteten Kapitell ruhte. «Wo kommt der denn her?», fragte er. Inzaghi zuckte die Achseln. «Ein Geschenk», sagte er. «Oder ein Beutestück.» Sie gingen die Arkade entlang und betraten schließlich ein 114
Gebäude, das innen fast so modern war, wie es außen alt aus sah. Inzaghi meldete sie beide an dem kleinen Empfangsschal ter an und führte Danny dann zum Aufzug. Nachdem sie zwei Stockwerke nach unten gefahren waren, befanden sie sich in einer Art Zwischengeschoss, einem hell erleuchteten, mit Glas eingefassten Warteraum. Jenseits der Glasscheiben war ein unterirdisches Lagerhaus mit endlosen Regalen voller Bücher und Manuskripte. Auf einem kleinen Schild stand ARCHIVIO SEGRETO. «Vor rund zehn Jahren ist hier alles von Grund auf renoviert worden – praktisch ein Neubau», erklärte Inzaghi. «Das Archiv platzte aus allen Nähten. Und jetzt haben wir das hier! Drei undvierzig Kilometer billige Metallregale. Man könnte einen Marathon laufen.» Der Priester lächelte. «Wenn Sie einen Moment warten, erledige ich rasch den Papierkram.» Danny blieb in Gesellschaft einer älteren Nonne zurück, die hinter einem uralten Schreibtisch saß und ihn keines Blickes würdigte. Sie sprach leise in ein Headset, die Augen starr auf einen Monitor, während ihre rechte Hand unablässig die Maus betätigte. Schließlich kehrte Inzaghi mit einem Umschlag zurück. «Tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat», sagte er, «aber ich habe Ihnen eine Kopie des Lieferscheins gemacht und eine Erklärung aufgesetzt, dass Sie berechtigt sind, den Computer für mich abzuholen. Ich weiß nicht, ob Sie die brauchen, aber –» Ein Lachen. «– wir sind schließlich in Italien, je mehr Papiere, desto besser.» «Danke.» «Und Sie halten mich auf dem Laufenden?» «Versprochen.» Das lief ja alles prima, dachte Danny. Den unangenehmsten Teil seines Auftrags, den Teil, der ihm richtig Kopfschmerzen bereitet hatte – nämlich sich dem Priester ge genüber als Polizist auszugeben –, hatte er mehr oder weniger hinter sich. Und so schlimm war es gar nicht gewesen. Im Ge 115
genteil, es war so gut gelaufen, dass ihm dieser großzügige Mann sogar noch erlaubte, den Computer für ihn abzuholen. «Was meinen Sie, wie lange Sie brauchen werden?», fragte Inzaghi. Danny zögerte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Belzer den Computer lange behalten würde. Aber was wusste er schon? Falls die Dateien verschlüsselt waren, könnte es eine Weile dauern. Andererseits würden sie den Computer nicht mehr brauchen, sobald die Dateien kopiert waren. «Nicht sehr lange», versprach Danny, «es sei denn, wir haben Glück. Falls wir was finden, dann sind das Beweismittel und …» Er sprach den Satz nicht zu Ende, breitete die Hände aus. «Dann könnte es eine Weile dauern», gab er zu. Inzaghi nickte. «Ich verstehe. Nun ja, Sie haben ja meine Te lefonnummer, und ich habe Ihre.» «Stimmt.» «Aber ich glaube – heute sollten Sie es nicht mehr probie ren.» «Was probieren?», fragte Danny. «Den Computer abzuholen», erwiderte Inzaghi. Dann tippte er auf seine Armbanduhr. «Wir haben jetzt drei, und bei dem Verkehr … schaffen Sie das nicht mehr rechtzeitig.» «Der Zoll hat bis fünf geöffnet», wandte Danny ein. «Ich hab mich erkundigt.» Inzaghi nickte. «Richtig. Aber das heißt, dass ab vier Uhr kein Mensch mehr da ist.» Leise lachend führte der Priester ihn zum Fahrstuhl, wo er sich mit einem so herzlichen Lächeln von ihm verabschiedete, dass Danny sich, während er langsam aus den Tiefen der Bibliothek nach oben fuhr und noch auf dem ganzen Weg zurück zum Inghilterra, regelrecht davon verfolgt fühlte. Die Freundlichkeit dieses Mannes war deprimierend. Aber der Nachmittag war es nicht. Die Sonne schien, und Rom lag ihm zu Füßen. Danny ging auf sein Zimmer und holte Terios Buch, Das strahlende Grab, aus der Reisetasche. Das 116
dünne Bändchen hatte ein Foto von Terio auf dem Umschlag – dasselbe Foto, das in der Washington Post gewesen war. Dan ny klemmte sich das Buch unter den Arm, fuhr mit dem Auf zug nach unten, ging auf die Straße und hielt ein Taxi an. «Villa Borghese», sagte er zu dem Fahrer, und weil er richtig abenteuerlustig war, fügte er hinzu: «Per favore.» Die Fahrt war kurz, und der Park war, wie er vermutet hatte, ein wunderbarer Platz, um an einem Sommernachmittag zu lesen. Große Bäume warfen ihre Schatten auf Rasen und Bän ke. Liebespaare schlenderten umher. Kinder spielten. Eisver käufer schoben ihre Handwagen über die Wege. Danny kaufte sich ein kleines Pistazieneis, setzte sich auf eine Bank und schlug das Buch auf. Die erste Hälfte von Das strahlende Grab beschäftigte sich mit den frühen Anachoreten. Terio vertrat die These, dass der heilige Antonius von Ägypten und diejenigen, die nach ihm kamen, den Grundstein für das Entstehen des Mönchswesens in Europa gelegt hatten. Und zwar deshalb, so behauptete Terio, weil fromme Eremiten unweigerlich eine Anhängerschaft an lockten. Es war absurd, je entschiedener ihr Rückzug aus der Welt – je tiefer sie in die Wüste gingen –, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie am anderen Ende mit einem Ge folge wieder auftauchten. Und das war auch gut so, denn schließlich pflegten und bewahrten die Mönchsorden im finste ren Mittelalter das geschriebene Wort und schützten somit die abendländische Zivilisation vor Unwissenheit und Vergessen. Das war alles ganz interessant, aber richtig fesselnd fand Danny erst ein Kapitel ziemlich am Ende des Buches. Es han delte von den «widerstrebenden Anachoreten». Anachoreten, die gar keine sein wollten. Eine noch viel erschreckendere Vor stellung. Männer und Frauen, Säuglinge und Kinder, die gegen ihren Willen eingemauert wurden. In diesem Zusammenhang erwähnte Terio eine Ballade oder ein Volkslied, das angeblich über tausend Jahre alt war. Das Lied mit dem Titel «Die ein 117
gemauerte Frau» war bekannt von Bombay bis Bukarest. Es gab, so schrieb Terio, über siebenhundert verschiedene Versio nen in unterschiedlichen Sprachen und Mundarten. In der jugoslawischen Variante wird eine Frau in die Wände einer Festung eingemauert. In der Türkei ist es eine Karawan serei. In Persien die Säulen einer Brücke. Und immer, um das Glück zu beschwören oder, wenn es sich um Brücken handelt, um die Flussgötter zu besänftigen, die solche Übergänge er zürnten. Am erschütterndsten fand Danny das transsilvanische Lied: Eine Gruppe von Maurern schuftet fern der Heimat an der Er richtung einer Brücke. Doch jede Nacht wird die Arbeit der Männer wieder zerstört. «Geister», so heißt es, sind die Übeltä ter, und die Maurer sind verzweifelt: Werden sie denn nie nach Hause zurückkehren können? Eines Tages hört ihr Vorarbeiter eine Stimme, die ihm sagt, dass die Flussgötter nur milde ge stimmt werden können, wenn ihnen eine Frau geopfert wird. Die erste Frau, die sich der Baustelle nähert, muss in das Fun dament der Brücke eingemauert werden. Froh darüber, eine Lösung gefunden zu haben, erzählt der Maurer seinen Kollegen die Geschichte, und sie pflichten ihm bei: Die erste Frau, die sich der Baustelle nähert, wird lebendig begraben werden. Am nächsten Morgen beobachten sie angespannt die Straße, und schon bald sehen sie in der Ferne eine Frau. Doch als sie näher kommt, schlägt die Aufregung des Maurers in Entsetzen um, weil er erkennt, dass es seine eigene junge Frau ist, die ihm Blumen, Essen und Wein bringen will. Der Maurer fleht Gott an, sie möge sich umwenden und zurückgehen, aber sie tut es nicht. Sie wird in das Fundament einzementiert, und ihr Mann stirbt vor Gram. Terio räumte zwar ein, dass es viele Deutungen des Liedes gab, doch für ihn stand fest, dass es nicht metaphorisch, son dern wörtlich verstanden werden sollte. Seiner Ansicht nach war «Die eingemauerte Frau» nicht mehr und nicht weniger als 118
mündliche Überlieferung – die volkstümliche Beschreibung einer uralten Sitte, die verlangte, dass Frauen oder Kinder bei lebendigem Leibe verbrannt oder eben eingemauert wurden, um das Gelingen großer Bauvorhaben zu sichern. Alles in allem war es eine gruselige Materie, zwar trocken und sachlich beschrieben, aber faszinierend. Und zwar so fas zinierend, dass Danny, als er das Buch endlich zuklappte, er staunt feststellte, dass es Abend geworden war. Die Lichter im Park waren bereits angegangen, und die langen Schatten des Spätnachmittags waren einer diffusen Dunkelheit gewichen. Er stand auf und ging in die Richtung eines Lichtscheins in der Ferne, weil er hoffte, dass dort die Piazza del Popolo lag. Und wenn nicht, wäre das auch nicht schlimm. Er war tief in Gedanken versunken, und alles andere war ihm im Augenblick egal. Irgendwo würde er schon ein Taxi finden, das ihn zum Hotel bringen würde, wo er noch in aller Ruhe zu Abend essen und sich dann schlafen legen wollte. Währenddessen stapfte er durch den Park, vorbei an Statuen von Dritte-Welt-Dichtern und Revolutionären, Das strahlende Grab in den Händen auf dem Rücken. Zum ersten Mal fragte Danny sich ernsthaft, ob Chris Terio tatsächlich Selbstmord begangen hatte. Er schüttelte den Gedanken ab, aber der nächste war auch nicht besser. Wenn es doch Selbstmord gewesen war und Terio sich tatsächlich selbst eingemauert hatte, was hatte er dabei gedacht? Was hatte er gedacht, als er den letzten Stein einsetz te? Am nächsten Morgen war es heiß, die Luft auf seiner Haut fühlte sich an wie Sand, als Danny am Schalter des Zollamtes im Flughafen Leonardo da Vinci stand. Hinter dem Schalter hämmerte ein eleganter junger Mann auf einer alten Schreib maschine herum, während die Zigarette in seinem Mundwinkel vor sich hin qualmte. Der Zollbeamte war erstaunlich eifrig, als wäre die Tastatur ein echtes Mysterium. Gelegentlich schob er wie in Zeitlupe den Wagen wieder an den Anfang, blinzelte 119
durch den Rauch und tippte weiter. Schließlich hielt er inne und las ungemein langsam und gründlich das Getippte durch. «Va bene», erklärte er und zog das Formular aus der Maschi ne. Er stand auf, trat an den Schalter und schob Danny das Blatt hin. «Sie unterschreiben.» Danny tat wie geheißen, und der Zollbeamte stempelte das Blatt ab und unterschrieb selbst. Dann zeigte er auf eine Zahl und sagte: «Jetzt, Sie zahlen.» Danny tat erneut wie geheißen, blätterte die Scheine von einem Packen, den er am Morgen von der Bank geholt hatte. Der Beamte zählte nach und verstaute die Scheine dann in einer Schublade unter dem Schalter. Dann verschloss er die Schublade, nuschelte irgendetwas, das Danny nicht richtig mitbekam, und verschwand in einen Nebenraum. Eine Minute später kam er mit einem Paket zurück, das er vor sich hertrug, als wäre es eine Krone auf samtenem Kissen. «Grazie!» «Prego!» Auf dem Rückweg ins Inghilterra saß Danny im Fond des Taxis, den Computer neben sich. Er hatte vor, Belzer das Gerät umgehend per FedEx zu schicken, doch dann kam ihm die Idee, dass es zu riskant sein könnte, den Computer zu versen den, ohne zuvor die Dateien kopiert zu haben. Bei FedEx ging nicht viel verloren – aber man konnte nie wissen, und wenn diesmal was schief ging, dann könnte das Danny ein Stange Geld kosten. Es war besser, die Dateien auf Diskette zu kopie ren, für alle Fälle. Auf Dannys Anweisung hin hielt der Taxifahrer vor einem schicken, kleinen Laden für Bürobedarf auf der Via del Corso. Er parkte den Wagen auf dem Bürgersteig und griff nach einer Fußballzeitschrift, während Danny hineinging und eine Pak kung Disketten und einige Adressaufkleber kaufte. Kurz darauf war er wieder in seiner Hotelsuite, wo er sich aufs Bett setzte und mit einem Brieföffner behutsam das Paketband aufschlitz te. 120
Wie er gehofft hatte, steckte der Laptop in einer schwarzen Tragetasche, mitsamt dem Zubehör, darunter ein externes Dis kettenlaufwerk und die Adapter für italienische Steckdosen. Im Handumdrehen hatte er alles eingestöpselt und angeschaltet. Er ging sofort ins Hauptverzeichnis. Er fand ein Dutzend Verzeichnisse mit Textdateien. Der Rest waren Systemdateien und Anwendungen, die er absolut nicht brauchte. Also legte er die gleichen Verzeichnisse auf einer Diskette an und kopierte dann die Textdateien hinein. An schließend schob er die Diskette in einen Briefumschlag des Hotels, schrieb Terio auf die Vorderseite und schob sie in seine Reisetasche. Dann packte er den Laptop zurück in die Trageta sche und schob ihn wieder in die FedEx-Verpackung. Es war Zeit, Belzer zu verständigen. Zeit, bezahlt zu werden. Danny nahm das Handy und wählte die Nummer des An walts. Die Verbindung war störungsfrei, Totenstille, nur unter brochen von einem fernen elektronischen Gurgeln. Dann: «Prego.» «Ahh … könnte ich vielleicht Mr. Belzer sprechen?» Die Stimme wurde herzlicher. «Daniel! Mein Freund! Wie gefällt Ihnen die Ewige Stadt?» «Umwerfend. Ich bin hin und weg.» «Wunderbar! Und? Haben Sie irgendwelche Neuigkeiten für mich?» «Ich habe gute Neuigkeiten für Sie», antwortete Danny. «Aha! Dann haben Sie also mit dem Priester gesprochen.» «Noch besser – ich habe den Computer.» «Was?! Das ist ja großartig!» «Ja, äh –, wie soll ich ihn Ihnen zukommen lassen?», fragte Danny, Stift schon in der Hand. «Ich dachte, ich schicke ihn vielleicht mit FedEx …» Belzer lachte amüsiert. «Ja, das wäre eine Möglichkeit. Aber es gibt da eine preiswertere Lösung.» «Okay … lassen Sie hören.» 121
«Nehmen Sie doch einfach den Lift.» «Was haben gesagt?» Danny dachte, er hätte irgendwas missverstanden. «Ich sagte, Sie können den Lift nehmen und mir den Compu ter nach oben bringen, ich bin im zweiten Stock.» Danny blinzelte. Fragte sich: Was macht der hier – wie lange ist er schon da? Irgendwie störte ihn die Vorstellung, dass Bel zer zur selben Zeit im selben Hotel wohnte – ohne dass Danny davon wusste. Es gab ihm ein ungutes Gefühl. Andererseits: Warum sollte der Mann nicht hier sein? Vielleicht war das sein Stammhotel, deshalb hatte er ihn auch hier untergebracht. Viel leicht hatte er geschäftlich in Rom zu tun. Eigentlich war es egal. Es erleichterte Danny nur die Arbeit. «Welches Zim mer?», fragte er. Belzer lachte leise. «Alle.» «Die ganze Etage?» Danny konnte förmlich sehen, wie der Anwalt mit den Ach seln zuckte. «Eine Sicherheitsmaßnahme», erklärte Belzer. «Außerdem bin ich so ungestörter, und überhaupt, es sind ja nur ein paar Zimmer.» Nur ein paar Zimmer? Für fünfhundert Dollar die Nacht? «Ich bin gleich da», versprach Danny. Der Fahrstuhl brachte ihn in den zweiten Stock, wo augen blicklich klar wurde, dass hier wirklich Belzers Reich war. Sobald sich die Türen öffneten, erhob sich ein kräftiger Mann in schwarzem Anzug von einem Stuhl und näherte sich dem Lift. Seine Augen glitten über Danny, dann neigte er höflich den Kopf und deutete den Gang hinunter, wo zwei weitere Männer standen. Der Anwalt erwartete Danny in einer altmodischen Biblio thek mit walnussholzvertäfelten Wänden. «Dan!», rief Belzer, kam um den altertümlichen Schreibtisch herum und schüttelte Danny die Hand. Wieder trug er einen dunklen, gut geschnitte nen Anzug und eine Brille mit getönten Gläsern – nicht ganz so 122
dunkel wie eine Sonnenbrille, aber dunkel genug, dass man seine Augen kaum sehen konnte. «Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie erfreut ich bin. Im Ernst!» Er fasste Danny am Arm und führte ihn zu einem ovalen Tisch vor einem Flügelfenster mit Blick auf die Straße. «Ist er das?», fragte er, und nahm Danny das Paket ab. «Ja, das ist er», erwiderte Danny. Dann setzte er sich in einen Ledersessel und sah zu, wie Belzer das Paket in Augenschein nahm. Als der Anwalt merkte, dass es offen war, blickte er fragend in Dannys Richtung. «Ich wollte ganz sichergehen, dass auch alles drin ist», er klärte Danny. Belzer nickte und setzte sich an den Tisch. In dem Moment kam ein Kellner mit einem Tablett herein und goss ihnen bei den ein Glas Eiswasser ein. «Möchten Sie etwas Alkoholi sches?», fragte Belzer, und seine manikürte Hand beschrieb einen Kreis in der Luft. «Nein, danke, ich –» «Zigarre? Kaffee?» Danny schüttelte den Kopf. «Nein, wirklich – ich bin zufrie den.» Belzer verscheuchte den Kellner, als wäre er eine Fliege in der Luft, und zog den Laptop aus dem Paket. Er stellte ihn auf den Tisch zwischen ihnen, klappte den Monitor hoch und schob den ON-Schalter nach vorn. Es dauerte etwa eine Minu te, bis die Fanfare erklang, und dann begannen die Finger des Anwalts unter Dannys aufmerksamen Blick auf der Tastatur zu klimpern. Er konnte nicht sehen, was Belzer da tat – der Bildschirm zeigte in die entgegengesetzte Richtung –, aber Danny nahm an, dass der Anwalt Terios Verzeichnisse durchsah und nach etwas Bestimmtem suchte. Vielleicht aber auch nicht. Viel leicht verschaffte er sich nur einen groben Überblick. 123
Fünf Minuten vergingen, dann zehn. Gelegentlich hielt Bel zer inne, um sich irgendetwas Interessantes durchzulesen. Danny achtete nicht darauf, saß einfach da, addierte seine Stunden im Kopf auf und versuchte, sich zu erinnern, was Bel zer genau gesagt hatte, als sie den Deal mit dem Computer aushandelten. Ich gebe Ihnen zehntausend Dollar … zusätzlich zu Ihrem Stundenhonorar … Vielleicht ist der Priester bereit, Ihnen den Computer zu verkaufen. Wenn ja, können Sie den Rest des Geldes behalten … Belzer hantierte noch weitere fünf Minuten an dem Computer herum. Ein- oder zweimal wollte Danny etwas sagen – sollte er warten oder sollte er gehen? –, doch der Anwalt gebot ihm zu schweigen, indem er die rechte Hand hob und sachte abwinkte, während seine Augen unverwandt weiter auf den Bildschirm starrten. Schließlich öffnete er einen Aktenkoffer, der neben dem Schreibtisch auf dem Boden stand, und nahm eine CD heraus. Er schob sie in das Laufwerk, schloss es und fing an zu tippen. Schon bald begann die Festplatte zu rumoren, ein rhythmi sches, pulsierendes Geräusch, dass in diesem altertümlichen Raum völlig fehl am Platze wirkte. Vielleicht kopierte er ir gendetwas; Danny wusste es nicht. Dann, nach fast einer Minu te, verstummte das Gerät. Belzer schaltete es aus und klappte den Bildschirm herunter. «Ich bin sehr zufrieden mit Ihnen», sagte er und hüllte Danny in ein breites Lächeln ein. Danny wurde beinahe rot. «Danke.» Belzer schüttelte den Kopf. Nahm seine Brille ab, hielt sie in einer Hand. Mit dieser Geste, so wusste Danny inzwischen, kündigte der Anwalt meist etwas Wichtiges an. Um dann ver traulicher zu werden. «Nein. Der Dank ist ganz meinerseits. Wenn Sie diesen FedEx-Paketschein nicht gefunden hätten – noch dazu im Müll …» Danny nahm das Kompliment mit einem bescheidenen Ach selzucken entgegen. 124
«Ich habe nachgedacht», sagte Belzer. «Sie sind ein interes santer junger Mann: Clever, schnell, einfallsreich – und nach dem, was ich bisher so mitbekommen habe, gibt es nichts, was sie aufhalten kann. So was ist selten.» Das Lob war Danny peinlich. Fast hätte er das Gesicht ver zogen, doch es gelang ihm, Belzers Blick standzuhalten. Zum ersten Mal bemerkte Danny, dass die Augen des Anwalts die Farbe und die Struktur von Schlamm hatten. «Danke», sagte er. «Ich habe also nachgedacht … und ich finde, es wäre keine schlechte Idee, unsere Zusammenarbeit auf eine regelmäßigere Basis zu stellen.» Danny blickte ihn verwundert an. «Wie meinen Sie das?» «Ich meine: Ich möchte, dass Sie für mich arbeiten – auf Dauer.» Danny musste keine Sekunde überlegen. «Danke», sagte er, «aber das geht leider nicht. Diese Arbeit ist für mich … nur eine Art Nebenbeschäftigung.» Er hielt inne, wollte sich gerade über Kunst auslassen und wie wichtig sie für ihn war, als der Anwalt ihn unterbrach. «Hören Sie mir doch erst mal zu», sagte er. «Ich habe mir überlegt, dass wir Ihr Stundenhonorar in ein reguläres Gehalt umwandeln. Sie müssten viel reisen, aber natürlich immer nur erster Klasse – das dürfte Ihnen die Anstrengung etwas versü ßen.» «Und wohin würde ich reisen?», erkundigte er sich. Belzer zuckte die Achseln. «Unser Mandant ist weltweit tä tig. London, Moskau, Tokio … Los Angeles. Schwer zu sagen. Ich sehe Sie als eine Art Feuerwehrmann. Ein so genannter Troubleshooter. Wenn irgendwo ein Problem auftaucht, steigen Sie ins Flugzeug, überprüfen die Sache und erstatten Bericht. Und zwar mir. Ich denke, das könnte interessant für Sie sein, auch wenn es nur für ein oder zwei Jahre wäre.» Jetzt setzte Belzer die Brille wieder auf und lehnte sich im Sessel zurück, als wollte er Danny in Ruhe nachdenken lassen. 125
Und er dachte tatsächlich nach. Die Kalkulation drängte sich ja förmlich auf: Hundert Dollar die Stunde bei vierzig Stunden die Woche bei zweiundfünfzig Wochen machte … wie viel? Zweihunderttausend im Jahr? Nicht schlecht für einen sechs undzwanzigjährigen Künstler. Caleigh wäre platt. Andererseits wäre er dann kein Künstler mehr, er würde für diesen Kerl da arbeiten und – Belzer sah ihn an. «Wie bitte?», fragte Danny. «Ich sagte, Sie müssen sich nicht sofort entscheiden. Denken Sie ein paar Tage drüber nach – und sagen Sie mir am Wo chenende, wie Sie sich entschieden haben.» «Am Wochenende?» «Wir können uns in Siena weiter unterhalten. Ich möchte, dass Sie zum Palio kommen.» Palio?, dachte Danny. «Wo ist der Palio?» Belzer runzelte die Stirn. «Sie machen Witze.» Danny schüttelte den Kopf. Der Anwalt lächelte und beugte sich vor. Er stützte die Ell bogen auf den Tisch, legte die Fingerspitzen aneinander und erklärte: «Das ist das älteste und spektakulärste Pferderennen der Welt. Es findet zweimal pro Jahr auf dem Campo statt – der schönsten Piazza in ganz Italien, eine große, muschelför mige Piazza. Jede von den Contrade schickt ein Pferd ins Ren nen, also –» «Was ist eine Contrade?», fragte Danny. «Contrada im Singular», verbesserte Belzer ihn. «So nennt man die verschiedenen Stadtviertel in Siena.» Dann lachte er. «À la West Side Story – à la Romeo und Julia. Montagues und Capulets – und ich.» Wieder lachte er. «Es fängt mit einem Kanonenschuss an. Fünfzigtausend Menschen drängen sich auf dem Campo, Schulter an Schulter, Pferde rasen im Kreis. Die Jockeys reiten ohne Sattel.» «Klingt beeindruckend.» 126
Belzer nahm erneut seine Brille ab. «Es ist herrlich. Italien hält die Luft an. Während des Rennens ist es, als hätte das Land einen Herzinfarkt. Für einen Künstler wie Sie … ist es das wahre Leben. Menschenmassen, Blut, Geschwindigkeit.» Belzers schlammfarbene Augen fixierten ihn, ein schwaches Lächeln umspielte die vollen Lippen. Danny überlegte: War das das wahre Leben? Wahrscheinlich nicht. Und im Grunde wollte er sein Geld kassieren, das näch ste Flugzeug in die Staaten erwischen, mit Caleigh ins Bett fallen. Andererseits … «Bei der Gelegenheit können Sie Zebek kennen lernen – er möchte Sie kennen lernen –, und wir stellen Ihnen sofort einen Scheck aus. Der liegt schon für Sie bereit, wenn Sie ankom men.» Danny wusste nicht, was er sagen sollte. Der Anwalt schmunzelte. «Es ist nur für ein, zwei Tage», versprach er. «Und für die Zeit zahlen wir Ihnen weiter Ihr Honorar und die Spesen.» «Das ist nicht das Problem», sagte Danny. «Ich hab dem nächst eine Ausstellung, und …» Belzer blickte enttäuscht, und Danny wurde klar, dass er un dankbar wirkte. Der Anwalt war ungemein großzügig und – plötzlich durchfuhr ihn ein entsetzlicher Gedanke. Wenn er seinen Scheck nicht in Siena abholte, wie lange würde es dann dauern, bis er ihn zugeschickt bekam, falls er ihn überhaupt zugeschickt bekam? Und dieser Zebek? Es wäre doch interes sant, die Bekanntschaft eines so wohlhabenden und einflussrei chen Mannes zu machen. Vielleicht war er Kunstsammler. Vielleicht – «Okay», erklärte Danny. «Warum nicht? Schließ lich komme ich nicht alle Tage nach Italien.» «Wunderbar», erwiderte Belzer. «Ich erwarte Sie morgen Abend um acht. Zum Abendessen, im Freien, direkt auf dem Campo. Es ist eine besondere Nacht, die Nacht vor dem Ren nen.» 127
«Und wie finde ich Sie?» Belzer zuckte die Achseln. «Sie gehen zum Campo und hal ten Ausschau nach dem Palazzo di Pavone. Davor werden die Tische gedeckt sein. Die Fahnen sind nicht zu übersehen.» Danny kramte in seinen Taschen nach einem Stift. «Sie müssen sich das nicht aufschreiben», sagte Belzer. «Das kennt jeder. Achten Sie auf einen Balkon, mit Pfauen drauf, die alles voll scheißen. Er ist nicht zu übersehen.» Er lachte und bemerkte daher nicht den verstörten Ausdruck in Dannys Au gen. Pfauen? «Soll das heißen, er hält sich Pfauen – mitten in der Stadt?» Belzer lachte. «Warum nicht? Die sind besser als Wachhunde – und Zebek konnte einfach nicht widerstehen.» «Widerstehen?» «Dem Palazzo. Der ist aus dem sechzehnten Jahrhundert, und als er zum Verkauf stand – na ja, das können Sie sich ja den ken. Da passte alles zusammen.» Danny zog fragend die Augenbrauen hoch. Belzer lächelte. «Ich vergaß. Sie sprechen ja kein Italie nisch.» Er überlegte kurz, dann erklärte er: «Jede Contrada hat ein Symbol. Meistens ist das ein Tier, aber nicht immer. Und eins davon ist eben il pavone – der Pfau. Wenn Sie nun eine Firma haben, die sich Sistemi di Pavone nennt und ihren Hauptsitz in Siena hat … dann bietet es sich doch an, den Pa lazzo di Pavone zu kaufen, schon allein zur Imagepflege.» Mit einem Achselzucken stieß Belzer seinen Stock auf den Boden und stemmte sich hoch. «Was ist mit dem Computer?», fragte Danny und stand auf. Der Anwalt warf einen flüchtigen Blick auf den Laptop. «Was soll damit sein?» «Ich hab dem Priester gesagt, ich würde mich darum küm mern, dass er ihn zurückbekommt.» «Dann geben Sie ihn zurück», sagte der Anwalt. Er schaute 128
auf seine Rolex. «Ach, das hätte ich beinahe vergessen.» Aus der Jacketttasche zog er einen braunen Umschlag und reichte ihn Danny. «Was ist das?» «Ihre Fahrkarte für den Schnellzug nach Siena. Abfahrt mor gen Vormittag um zehn Uhr zweiunddreißig. Und es ist auch ein Hotelgutschein für die Villa Scacciapensieri drin.» Er blickte bedauernd. «Ein schönes Hotel, aber nicht gerade zen tral gelegen. Aber es ist der Palio … da können wir von Glück sagen, dass Sie nicht im Zelt wohnen müssen. Die Stadt ist überfüllt.» Die beiden verabschiedeten sich mit einem Händedruck. «Dann also bis morgen.» «Um acht», erinnerte Belzer ihn. «Und übermorgen können Sie sich dann das Rennen mit uns zusammen vom Balkon aus ansehen. Es ist wirklich was Besonderes, und die Aussicht – das sagen alle – ist unübertrefflich.» Am nächsten Morgen ließ sich Danny beim Frühstück Zeit. Er saß an einem Tisch im Speisesaal des Inghilterra, und es gab viel, worüber er nachzudenken hatte. Einerseits hatte er daheim sein Leben. Und es lag auf der Hand, zu diesem Leben zurück zukehren und zu arbeiten, so viel er konnte. Er konnte sich jetzt das Videoschneidegerät kaufen, das er brauchte, und … wer weiß, vielleicht ein paar Stücke verkaufen. Mehr konnte ein Künstler schließlich nicht verlangen. Er sollte zufrieden sein, wenn er so viel Geld verdiente, dass er weiter Kunst machen konnte. Falls er irgendwann mal den großen Durchbruch schaffte, umso besser. Aber entscheidend war die Kunst. Nicht das Geld. «Noch etwas Kaffee, Signore Cray?» Danny blickte auf. Nickte. «Gern.» Der Kellner füllte die Tasse erneut, neigte den Kopf und zog sich zurück. 129
Andererseits … konnte er den ganzen Schönheits- und Wahrheitskram sausen lassen und zur dunklen Seite überlaufen – nicht für immer, natürlich nicht, aber lange genug, um die Welt der Privatjets und piekfeinen Hotels mit belgischen Prali nen auf dem Kopfkissen richtig auszukosten. Denn genau das bot Belzer ihm an – die Chance, auf großem Fuß zu leben. Und das war verlockend. Aber die Verlockung warf auch Fragen auf. Zum Beispiel: die Sache mit «der dunklen Seite». Seiner (zugegebenermaßen beschränkten) Erfahrung nach wa ren die Reichen nur selten diejenigen, die für eine gute Sache kämpften. Das war nun mal so. Und bei dieser Belzer-Geschichte wusste er absolut nicht, wer im Recht und wer im Unrecht war – noch nicht einmal, worum es eigentlich ging. Die Frage lautete: Interessierte es ihn wirklich, auf welcher Seite er stand? Angesichts von Bel zers Angebot beschlich ihn der Verdacht, dass sein bisheriges tugendhaftes Leben nicht so sehr auf charakterliche Standhaf tigkeit, sondern vielmehr auf einen Mangel an Gelegenheiten zurückzuführen war. Vielleicht war er doch nicht der gute Jun ge, als den er sich selbst gern sah – bloß ein Gauner, der auf die Chance wartete, endlich loszulegen. Danny trank einen Schluck Kaffee. Bewunderte die creme farbene Porzellantasse. Eines war klar: Diese Sache mit Terio und Belzer stand irgendwie unter einem schlechten Stern. Das spürte er. Am liebsten hätte er sich bekreuzigt, und das war – Herrgott!, dachte Danny, ich drehe durch. Von seinen eigenen Bedenken genervt, unterschrieb er die Rechnung und ging in seine Suite. Er holte Terios Laptop unter seinem Bett hervor, setzte sich aufs Sofa und schaltete den Computer ein. Vielleicht ist ir gendwas drauf, das mir bei meiner Entscheidung hilft. Irgendwas über Terio oder Zebek. Aber da war nichts.
Da war gar nichts mehr.
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Null. Nix. Niente. Danny starrte auf den Monitor, eine Wand aus weiß leuch tenden Pixeln. Zuerst dachte er, das Gerät wäre kaputt – aber nein, bei Belzer hatte es ja noch funktioniert. Er schaltete es aus und startete erneut. Unverändert. Eine ganze Weile saß er auf der Sofakante, den Computer auf dem Schoß. Er dachte an Belzer, wie er in der Bibliothek vor dem Monitor gesessen hatte. Nach einer Weile hatte der An walt eine CD ins Laufwerk gelegt – um die Dateien zu kopie ren. Das hatte Danny zumindest geglaubt. Eines der Laufwerke hatte angefangen zu rumoren. Und jetzt … Plötzlich wurde ihm klar, dass Belzer die Dateien nicht ko piert hatte. Er hatte die Festplatte neu formatiert und sie mit DiscWipe oder einem anderen Programm überschrieben. Dafür hatte er die CD gebraucht. Je länger er darüber nachdachte, desto deutlicher wurde ihm, was das zu bedeuten hatte. Zum ersten Mal wusste er jetzt mit Sicherheit, auf welcher Seite er stand – der falschen Seite. Die Tatsache, dass Belzer die Dateien vernichtet hatte, rückte ihn und die von ihm in Auftrag gegebene «Ermittlung» in ein ganz neues Licht. Es ging nicht darum, irgendwas herauszufinden – es ging darum, Spuren zu verwischen. Es ging nicht darum, dass Terio falsche Informationen verbreitet hatte, denn dann hätte Belzer die Dateien kopiert, ehe er Danny den Computer zurückgab. Sie waren Beweise für das, was Terio getan hatte. Doch der Anwalt hatte sie zerstört. Danny schlug sich vor den Kopf. Er war weder einer von den Guten noch einer von den Bösen. Er war bloß einer von den Blöden, den Marionetten. Der Anwalt bezahlte Danny nicht, weil er so clever war – Fellner Associates, die waren clever. Belzer bezahlte ihn, weil er so naiv war. Denn die FellnerLeute hätten Belzers Plan durchschaut. Bei all den Möglichkei ten, die die Firma besaß, hätten sie zuallererst über Nexis nachgeforscht, was es mit der Kampagne gegen Zebek auf sich 131
hatte. Und wenn sie nicht fündig geworden wären, hätten sie erkannt, dass ihr Klient sie belog – und sie hätten den Fall ab gelehnt. Danny kochte vor Wut. Er war ein freundlicher Mensch, meistens, aber er hatte irisches Temperament – und wenn das mit ihm durchging, machte man am besten einen großen Bogen um ihn. Seine Mutter war deshalb immer besorgt. «Du bist wie ein Hammer mit zerbrochenem Stiel, Danny! Du fliegst durch die Gegend und es interessiert dich gar nicht, wen du triffst.» Doch, das interessierte ihn schon. Sehr sogar. Im Augenblick wollte er Belzer treffen. Aber das war unmöglich. So gut wie ausgeschlossen. Also schob er den Computer zur Seite, ließ sich nach hinten auf das Sofa fallen und starrte an die Decke. Was jetzt?, fragte er sich. Die Antwort war sofort da: Hol dir dein Geld. Belzer zur Rede zu stellen würde nichts bringen. Danny musste mitspielen, das Geld abholen, das ihm zustand, und sich in gutem Einvernehmen verabschieden: Vielen Dank für ihr Angebot, Mr. Belzer – es ist wirklich ungeheuer verlockend –, aber ich muss mich jetzt um meine Ausstellung kümmern. Ciao! Und in der Zwischenzeit würde er es ihm heimzahlen. Er würde die Computerdateien wiederherstellen, mit Hilfe der Sicherungskopien, die er gemacht hatte. Belzer wusste nichts von diesen Kopien – und er würde es auch nicht herausfinden. Der Priester würde alles bekommen, was auf der Festplatte gewesen war, was Terio ihm hatte zukommen lassen wollen – falls da überhaupt was gewesen war. Vielleicht war der Laptop ja gar keine Hightech-Flaschenpost. Vielleicht hatte Terio den Computer ja tatsächlich nur seinem guten Freund schenken wollen – wie Inzaghi glaubte – und mehr nicht. Falls ja, brauchte der Priester Terios Dateien nur noch einmal zu lö schen. Aber irgendwas musste drauf gewesen sein, sonst hätte Bel 132
zer die Festplatte nicht neu formatiert. Danny Cray würde den Laptop mit den wiederhergestellten Dateien an den Priester zurückgeben. Und sich um einiges besser fühlen. Was dann damit passierte, konnte ihm schnuppe sein. Danny setzte sich an den Laptop und lud sämtliche Textda teien, die Belzer gelöscht hatte, von der Diskette mit der Kopie. Das Ganze dauerte ungefähr zwei Minuten, und gleich darauf rief er Inzaghi an. «Das ging aber schnell», sagte der Priester mit unverhohle nem Erstaunen. «Ich dachte, Sie wollten ihn ein paar Tage be halten.» «Es war nichts drauf, was uns weiterhelfen könnte», erklärte Danny. «Wie soll ich Ihnen den Laptop zukommen lassen? Ich reise morgen ab. Ich könnte ihn per FedEx schicken.» Inzaghi zögerte. «Das ginge, aber – wohin reisen Sie? Zurück nach Amerika?» «Nein, ich fahre nach Siena.» «Zum Palio! Natürlich! Eine schöne Stadt – ich beneide Sie. Sie müssen sich unbedingt den Dom ansehen.» «Das werde ich.» Der Priester stockte, als wäre ihm gerade ein Gedanke ge kommen. «Und wie reisen Sie?» «Mit dem Zug.» «Das passt ja gut!», rief Inzaghi. «Ich fahre nämlich morgen Vormittag nach Frascati – wir könnten uns im Bahnhof tref fen.» «Wirklich?» «Absolut. In der Haupthalle ist eine Informationstafel. Rie sengroß, können Sie gar nicht verfehlen. Wann geht Ihr Zug?» «Zehn Uhr zweiunddreißig.» «Dann treffen wir uns dort um, sagen wir, Viertel vor zehn. Aber …» «Aber was?», fragte Danny nach. «Nehmen Sie sich vor den Kinder in Acht», riet ihm der 133
Priester. «Was für Kinder?» «Die Zigeunerkinder. Die sind goldig, aber sie klauen wie die Raben.»
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Menschenmassen und Staub und Lärm. Danny und der Priester saßen an einem Tisch im Café Ter mini, direkt am Eingang zur Bahnhofshalle. Inzaghi hatte einen Arm durch den Trageriemen des Laptop gesteckt – als Vor sichtsmaßnahme gegen die Kinderdiebe, die auf der Suche nach offenen Handtaschen und unbeaufsichtigtem Gepäck den Bahnhof durchstreiften. Er nippte versuchsweise an seinem Espresso und verzog das Gesicht. «Nicht besonders gut.» Danny nickte, hörte aber gar nicht richtig hin. In Gedanken war er schon in der Zukunft, hatte den Mann ihm gegenüber und die Hektik im Bahnhof fast ausgeblendet. Nicht nur dieses Treffen, sondern auch die Reise nach Siena, der Palio und jenes Sehr-freundlich-aber-nein-danke-Gespräch, das er vielleicht noch mit Belzer führen würde, lagen hinter ihm. Er war Tau sende von Meilen weit weg und kaufte sich gerade eine Video ausrüstung in einem Geschäft in Lower Manhattan. «In jeder Tankstelle auf dem Land bekommt man einen bes seren als den hier, Detective», sagte Inzaghi jetzt. «Ich schäme mich, Italiener zu sein.» Danny zuckte die Achseln. Detective. Das Wort holte ihn zu rück in die Gegenwart, zurück nach Italien. Er sah den Priester an. «Hören Sie», sagte er. «Ich muss Ihnen was sagen.» Inzaghi runzelte die Stirn. Der Detective hatte ihm ganz of fensichtlich gar nicht zugehört. «Ja?» «Na ja … wie soll ich sagen, ich bin kein Detective. Ich bin … Detektiv.» Inzaghi nickte. Na und? «Privatdetektiv», fügte Danny erklärend hinzu, «kein Poli zist.» Die Augen des Priesters flackerten. 135
«Ich arbeite nicht bei der Polizei von Fairfax County», sagte Danny weiter. «Aber …» Jetzt war Inzaghi verwirrt. Er fuhr mit den Hän den durch die Luft, legte sie dann wieder auf den Tisch. «Ihr Ausweis – den hab ich doch gesehen. Fairfax County.» Er run zelte die Stirn. «Virginia. Und außerdem – haben Sie mir das hier gebracht.» Er klopfte mit dem Handrücken auf den Com puter. Danny nickte. «Ich weiß, aber … mein Name ist Danny Cray. Und eigentlich bin ich Künstler, Bildhauer. Die Arbeit als Ermittler ist für mich reiner Broterwerb. Manchmal muss man in dem Job zu einer Tarnung greifen, und … es tut mir Leid.» Inzaghi blickte überrascht, aber ohne jede Verärgerung. Dann fragte er: «Wer hat Sie denn engagiert?» Die Frage war nahe liegend, und es war genauso nahe lie gend, dass Danny sie nicht beantworten wollte. Aber er tat es. Er erzählte Inzaghi von Belzer und Zebek und der Kampagne. Als er fertig war, drehte er einen Zeigefinger in der Luft neben seinem Kopf. «Es ging mir ums Geld. Im Geiste klingelte bei mir schon die Kasse. Und schwupp hat Belzer mich an der An gel und ich bin Detective Muller.» Inzaghi lehnte sich zurück, zog die Stirn in Falten, trommelte mit den Fingern auf dem kleinen Tisch. «Wie bei den Zigeu nern. Die Kinder einsetzen.» «Wie meinen Sie das?» «Dass sie die Arglosigkeit anderer ausnutzen.» Verlegen blickte Danny auf seine Hände hinab. «Ich hab ge wusst, was ich tat. Es war eine Menge Geld. Ich würde also nicht sagen, dass ich so arglos war.» Der Priester lächelte. «Ich meinte nicht Sie. Ich meinte mich.» Dannys Verlegenheit wurde größer. Der Priester legte ihm eine Hand auf den Arm. «Ich bin Ih 136
nen nicht böse. Entscheidend ist, dass Sie die Wahrheit gesagt haben – und dass ich den Computer habe. Machen Sie sich keine Gedanken.» Danny entspannte sich. «Danke», sagte er, ein wenig unsi cher. Inzaghi vertraute ihm nach wie vor, und er war sich nicht sicher, ob er das verdient hatte. Der Priester presste die Hände zusammen. «Andererseits, wenn ich’s mir recht überlege», sagte er, «sollten Sie sich viel leicht doch Gedanken machen.» Danny blickte ihn an. Inzaghi beugte sich vor. «Ich meine, Sie sollten vorsichtig sein», sagte er. Danny zuckte die Achseln. «Ich fahre bald nach Hause –» «Nein. Sie fahren bald nach Siena. Nach Hause fahren Sie später.» Er zögerte. «Was ich sagen will, ist: Seien Sie in Siena vorsichtig.» «Gut.» «Ich möchte Sie etwas fragen», sagte Inzaghi. «Dieser Zebek – was wissen Sie über ihn?» «Nicht viel.» «Das habe ich mir gedacht», erwiderte der Priester. «Ich glaube, er ist jemand, der sehr viel Wert auf seine Privatsphäre legt. In den großen Zeitungen taucht sein Name nämlich so gut wie nie auf. Wenn überhaupt nur am Rande, und zusammen mit anderen Namen.» «Was für Namen?» «Die der Reichsten. Der Mächtigsten. Eben der Superlativen. Er ist immer dabei: Agnelli, Berlusconi, Zebek. Und der Mann ist nicht mal Italiener.» «Nein?» Der Priester schüttelte den Kopf. «Er ist Türke. Obwohl er seit vielen, vielen Jahren in Italien lebt.» Danny wusste nicht, worauf der Priester hinauswollte, und das war ihm auch anzusehen. 137
Inzaghi bemerkte Dannys Unsicherheit. «Was ich sagen will: Es hat keine Schmutzkampagne gegen Zerevan Zebek gege ben.» «Sind Sie sicher?» Der Priester nickte. «Absolut. Es ist so gut wie nichts über ihn erschienen – weder in Italien noch sonst wo. Ich erinnere mich an ein Foto in Oggi. Eine Party in Mailand. Gucci oder ein AIDS-Benefizball. Sein Name mit anderen Namen, ja. Aber mehr nicht.» Danny blickte skeptisch. «Wenn er so reich ist, sollte man doch meinen –» «Er ist berüchtigt dafür, dass er schnell vor Gericht zieht. Was einiges erklären könnte. Natürlich sind da noch andere Dinge.» «Was denn zum Beispiel?» Danny wollte nicht neugierig sein – er wollte die ganze Geschichte endgültig hinter sich bringen –, aber er konnte nicht anders. Der Priester spitzte die Lippen. «Vielleicht hat er Verbindun gen zur Mafia.» Danny wurde blass. «Oder Schlimmeres», sagte der Priester. «Schlimmeres? Was kann denn noch schlimmer sein?» Inzaghi machte eine Geste. «Türkische Mafia. Das Land wird von der Armee und von bestimmten Clans beherrscht. Die be sitzen zusammen Banken und Mohnfelder, Rüstungsbetriebe und Speditionen. Vordergründig betrachtet sieht alles völlig respektabel aus, und sie haben westliche Firmen als Partner. Aber wenn man tiefer gräbt, stößt man auf Vereinbarungen mit libanesischen Milizen auf beiden Seiten der ‹grünen Linie›, wie man früher sagte. Bulgarische Banden. Politische Splittergrup pen in Armenien und im Irak, im Iran und in Syrien. Es wird im großen Stil geschmuggelt. Dagegen ist unsere Mafia regel recht provinziell.» «Woher wissen Sie so gut Bescheid?» 138
«Ich lese Le Monde.» «Und Sie denken, Zebek –» Der Priester schüttelte den Kopf. «Ich weiß nichts über Ze bek – nur, dass ich vieles nicht weiß. Mr. Zebek ist ein Rätsel. Aber das sind Sie auch.» Danny hob abwehrend die Hände. «Das bin ich nicht mehr.» «Oh doch. Ich weiß noch immer nicht, warum man sie be zahlt hat, um an den Computer ranzukommen.» «Belzer wollte die Dateien löschen», erwiderte Danny. «Und er hat sie gelöscht.» Das Gesicht des Priesters wurde lang vor Enttäuschung. «Als Chris mir erzählte, dass er mir den Laptop schenken wollte, hat er gesagt, auf der Festplatte wären noch ein paar Vorarbeiten für sein aktuelles Forschungsprojekt, die ich mir durchlesen sollte. Ich dachte, ich könnte vielleicht was für ihn tun. Zum Beispiel seine letzte Arbeit posthum veröffentlichen, seine Re cherchen für das Buch. Damit ist ja jetzt wohl nichts mehr; ich –» «Keine Sorge», fiel Danny ihm ins Wort. «Ich hatte Kopien gemacht, auf Diskette – Belzer wusste nichts davon. Ich hab die Dateien neu für Sie aufgespielt. Also was auch immer da drauf war …». Inzaghis Mundwinkel zuckten kurz nach oben. «Das war sehr nett von Ihnen. Aber jetzt bin ich mir ganz sicher. Sie sollten nicht nach Siena fahren.» Danny rollte mit den Augen. «Es ist Zahltag, Padre. Ich fahre auf jeden Fall dahin.» Und er fuhr. Am frühen Nachmittag stieg er in Siena aus dem Zug und war sofort hingerissen von der Schönheit dieser tos kanischen Stadt. Sie war ein Juwel, eingebettet in eine goldene Landschaft. Bauernhöfe und Olivenhaine umgaben eine Colla ge aus Palästen und Türmen, die sich über drei sanft ge schwungene Hügel erstreckte. 139
Vor dem Bahnhof stieg er in ein Taxi – einen zerbeulten Fiat –, lehnte sich zurück, und sofort ging es in halsbrecherischem Tempo durch ein schmales Sträßchen, das schließlich hinaus in die Berge führte und in engen Serpentinen höher und höher stieg. Siena, umgeben von alten Steinmauern, kam immer wie der in Sicht, während das Taxi sich in der flirrenden Sommer hitze die Berge hinaufschraubte. «Sie kommen zum Palio, nicht?» Der Fahrer war ein kleiner, dunkler Mann mit einem leuchtenden Seidentuch um den Hals – ein Accessoire, das neben dem verwaschenen Polohemd und der grauen Hose nicht ganz passend wirkte. Das Halstuch selbst war rot-grün, und Danny sah, dass aus den Falten ein goldener Drachen hervorlugte. «Ja, stimmt!», erwiderte Danny mit lauter Stimme über den Motorenlärm hinweg. «Der Palio!» Der Fahrer ergriff die Spitze des Halstuchs und hob den Stoff an. «Drago», verkündete er und spähte in den gesprungenen Rückspiegel, um zu sehen, ob Danny auch verstand, was er meinte. Danny seinerseits zupfte leicht am Kragen seines Hemdes und erklärte, wem er sich verpflichtet fühlte: «USA.» Der Fahrer lachte, riss dann das Lenkrad nach rechts und wieder nach links, um im letzten Moment einem schwarzen Renault auszuweichen. Fluchend drehte er sich um und strafte den Wagen, der ihn kurz auf den Randstreifen genötigt hatte, mit einem langen, wütenden Blick. Dann fluchte Danny, als er einen Laster um die nächste Bie gung und direkt auf sie zukommen sah. Zögerlich blickte der Fahrer wieder nach vorn auf die Straße und trat auf die Bremse. «Drago heißt Drache», sagte der Fahrer. Langsam erreichte das Taxi wieder seine überhöhte Geschwindigkeit, während der Fahrer unbekümmert weiterplauderte. «Wir gewinnen be stimmt. Ich hab das Pferd gesehen.» Er nahm eine Hand vom Lenkrad und küsste die zusammengelegten Fingerspitzen. Er 140
nahm die andere Hand vom Lenkrad und machte eine ausla dende Geste. «Das Pferd ist gut auf den Beinen.» Durch reine Willenskraft zwang Danny die Hände des Man nes zurück ans Lenkrad. Seine Erleichterung, als sie schließlich auf den Kieshof des Hotels einbogen, drückte sich in einem großzügigen Trinkgeld aus. Das Hotel lag überaus romantisch an einem Hang oberhalb eines Olivenhains. Beim Einchecken stellte sich heraus, dass schon wieder eine Suite für ihn reserviert worden war. Sie lag separat in einem stillen Hof, dessen Mauern von Kletterrosen überwuchert waren. Bienen schwirrten träge in der Luft und sausten dann plötzlich in die Sonne. Vögel zwitscherten. Was ser plätscherte. Überall standen Terrakotta-Töpfe mit überquel lenden Blumen und herabhängenden Grünpflanzen. Und der Duft von Rosen und Lavendel war allgegenwärtig. Dannys Zimmer waren angenehm kühl und freundlich einge richtet, dunkle Balken an der Decke, in der Ecke ein Kamin und das Badezimmer aus Marmor. Er überlegte, ob er gleich in die Stadt fahren sollte – er konnte es kaum erwarten, Siena zu erkunden –, entschied sich aber doch, vorher auf der Terrasse etwas zu trinken. Er war gerade bei seinem zweiten Campari-Soda, die Augen auf die Olivenhaine im Tal gerichtet, als Paulina Pastorini in sein Blickfeld tänzelte. Sie erblickte ihn, winkte kurz und kam dann mit geschmeidigem Gang auf ihn zu. Sie bewegte sich dermaßen sinnlich, dass es auf der Straße verkehrsgefährdend gewesen wäre. Sie trug ein orangerotes, rückenfreies Kleid und weiße San dalen mit hohen Absätzen, die Augen hinter eine teuren Son nebrille versteckt. Mit ihrer Café-au-lait-Haut und dem kasta nienbraunen Haar war die Wirkung einfach umwerfend. Eine Stimme in seinem Hinterkopf beteuerte, dass er nicht froh war, sie hier zu sehen, dass er lieber allein gewesen wäre, dass sie ihm gefährlich werden könnte. Aber es funktionierte nicht. 141
Nicht eine Sekunde lang. Die Frau war einfach eine Sensation. «Ah, da sind Sie ja», sagte sie mit blitzenden Zähnen. Sie warf ihr glänzendes Haar zurück. «Darf ich mich zu Ihnen set zen?», fragte sie und zog, ohne eine Antwort abzuwarten, einen Stuhl heran und nahm Platz. Der Kellner tauchte wie aus dem Nichts auf. «Signorina?» Sie plapperte auf Italienisch los. Der Kellner nickte und ging. Mit einem sanften Lächeln senkte sie das Kinn und blickte Danny über ihre Sonnebrille hinweg an. Rehaugen, dachte er. «Sind Sie auch schön brav gewesen?», fragte sie. Danny rutschte unruhig hin und her. Überlegte krampfhaft, was er Geistreiches sagen könnte: «Ich glaub schon.» Sie lachte. «Sind Sie wegen des Palio hier?», fragte er. Sie schüttelte den Kopf. «Ich bin Ihretwegen hier», erwiderte sie. Stockte. «Um Ihnen Siena zu zeigen, zu dolmetschen – was immer Sie brauchen.» Ihre eleganten Schultern hoben sich zu einem Achselzucken. Gleich darauf kam der Kellner mit einer Flasche Pinot Grigio und zwei Gläsern. Er hielt die Flasche in Paulinas Richtung und wartete auf ihre Zustimmung. Als sie nickte, entkorkte er den Wein gekonnt und goss ihr einen kleinen Schluck ein. Pau lina kostete und leckte sich dann verzückt die Lippen. Der Kellner und Danny lachten. Es war alles ungemein entspannt, passend zu der wunderbar schläfrigen Nachmittagsstimmung. So muss es sein, wenn man reich ist, dachte Danny. Mit einer Frau wie P-a-u-1-i-n-a. Als die Flasche fast leer war, ließen sie Paulinas Wagen kommen – einen weißen Lancia – und fuhren den Berg hinun ter in die Stadt. Paulina war eine gute Fahrerin, hundertmal besser als der Taxifahrer, und schaltete gelassen vor jeder Kur ve zurück. Danny merkte, dass er auf ihre Beine starrte, und wandte die Augen ab. 142
«Ich habe gehört, Sie sind Künstler», sagte sie. Er nickte. «Signore Belzer sagt, Sie sind gut. Ein richtiger Picasso!» Danny lachte. «Ja, klar – ganz genau. Ein richtiger Picasso!» «Das waren seine Worte», sagte sie. «Ich wiederhole sie bloß. Ich hab mit jedenfalls gedacht, wir schauen uns etwas Kunst an. Ich kann Ihnen tolle Sachen zeigen, Sie werden ganz aus dem Haus sein.» Er wusste erst nicht, was sie meinte. Dann fiel der Groschen. «Aus dem Häuschen», korrigierte er sie. «Wie bitte?» «Aus dem Häuschen. Es heißt, man ist ganz aus dem Häu schen – nicht aus dem Haus.» Sie warf ihm einen Blick zu. «Wirklich? Nicht aus dem Haus? Aus dem Häuschen?» Ihr Lachen war einfach zauber haft, aber irgendwie hatte er den Verdacht, dass sie die Rede wendung absichtlich falsch benutzt hatte – dass sie auf ihn niedlich wirken wollte. Während sie sich Meisterwerke anschauten – die berühmten Fresken «Das gute Regiment» und «Das schlechte Regiment» im Palazzo Publico, den Dom mit dem Baptisterium und den Reliefs von Donatello –, erzählte sie ihm vom Palio. «Siena – ist keine große Stadt, wissen Sie? Nur etwa sechzig tausend Menschen in siebzehn Contrade.» Sie blickte ihn an. «Wissen Sie, was eine Contrada ist?» Er nickte. «Ein Stadtviertel.» Sie blickte beeindruckt. «Erstaunlich», sagte sie. «Das wissen die wenigsten Amerikaner.» Sie hielt inne und fuhr dann fort. «Na, dann wissen Sie bestimmt auch, dass jede Contrada in nerhalb der Stadt eigene Grenzen hat – eine eigene Kapelle, ein Museum und Gemeindehaus, einen eigenen Schutzheiligen, eine Fahne, ein Wappen.» «Wie zum Beispiel den Drachen.» «Ja, Drago. Es gibt auch einen Panther und einen Wolf, aber 143
längst nicht alle liegen auf dieser Linie. Ich meine, ich weiß, bei euch in Amerika habt ihr … Symbole für Sportmannschaf ten, aber das sind meistens … wie sagt man … wilde Tiere. Kräftig. Schnell. Aggressiv. Aber hier ist das anders.» Ein me lodisches Kichern. «Ganz anders.» «Ach ja? Wie denn?» «Na, es gibt eine Gans, eine Schnecke und eine Welle, einen Wald. Sogar eine Raupe.» Sie kicherte wieder, und ihm kam der Gedanke, dass sie möglicherweise beschwipst war. «Und nicht einmal eine hübsche, wie diese blaue in Alice im Wunder land. Bloß eine ganz gewöhnliche grüne.» «Glaub ich nicht.» Sie tippte ihm mahnend mit einem perfekt manikürten Finger auf den Bizeps. «Sie werden’s ja sehen. Wie dem auch sei, die Treue zum Stadtviertel hält ein Leben lang. Einmal Schnecke, immer Schnecke – und das gilt für alle anderen auch. Man kann außerhalb der eigenen Contrada heiraten, aber man bleibt ihr immer verbunden.» «Und Sie?», fragte Danny. «Ich?» «Ja, zu welcher Contrada gehören Sie?» Wieder dieses Kichern. Dann: «Mmmmm … ich bin ein, wie heißt der Song noch mal, ‹Uptown Girl›.» Sie lachte. Und er lachte auch. Nachdem sie sich einige frühe Michelangelos im Palazzo Pic colomini angesehen hatten und wieder nach draußen kamen, lag die Stadt im Schatten, die Sonne ein rosa Leuchten über den Bergen im Westen. «Gehen wir zum Campo», schlug Pau lina vor, nahm Dannys Hand und führte ihn durch ein Laby rinth aus Gassen und Sträßchen. «Wir sind auf Onda-Gebiet», sagte Paulina. «Die Welle. Se hen Sie?» Tatsächlich. An jedem Balkon hing eine Onda-Fahne, welli 144
ge Streifen in Weiß und Königsblau, immer abwechselnd über einander. Das Motiv war allgegenwärtig, es zierte Pflanzenkü bel und Türen, sogar die Fundamentsteine der Häuser um sie herum. Vor ihnen ging flackernd eine Straßenlaterne an, und Danny musste lachen, als er sah, dass ihre Halterung die Form eines Fisches hatte – ein stilisierter Fisch, der auf stilisierten Wellen tanzte. «Wissen Sie», fragte Paulina, «dass Soziologen aus aller Welt hierher kommen, um das Contrada-System zu studieren? Im Ernst! Sie sagen, die Contrade waren vor langer Zeit alte Stämme. Und diese Stämme sind wie große Familien. Alle sind miteinander verwandt. Deshalb haben sie so einen festen Zu sammenhalt. Aber außerhalb der Contrada gibt es immer nur Streit. Heutzutage, denke ich, halten diese Rivalitäten die Stadt zusammen.» Sie spazierten über einen kleinen Platz, wo Kinder, die PalioHalstücher trugen, mit einem roten Gummiball Fußball spiel ten. «Und das Rennen selbst?», fragte Danny. «Findet zweimal im Jahr statt», erwiderte Paulina. «Immer am selben Datum, ob Wochenende oder nicht. Am zweiten Juli und sechzehnten August. Und nicht alle Contrade machen bei beiden Rennen mit. Es ist nur Platz für zehn. Im Juli nehmen die sieben teil, die im August des Vorjahres nicht dabei waren – plus drei, die ausgelost werden. Im August kommen dann die sieben dran, die im Juli nicht mitgemacht haben, plus drei aus geloste.» «Und was ist das Ganze? Ein historisches Festspiel? Oder ein echtes Rennen?» «Es ist auf keinen Fall nur ein Spiel. Es kommen Pferde ums Leben. Manchmal auch Reiter. Hin und wieder auch ein Zu schauer.» «Im Ernst?»
Sie nickte. «Oh ja. Die Contrade nehmen das Rennen sehr
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ernst. Es findet seit tausend Jahren statt. Eine ganze Woche lang wird gefeiert, ja, wirklich. Ein Spektakel. Sie werden’s erleben – und heute ist der letzte Abend vor dem Kampf, da geht es immer besonders ausschweifend zu. Tage- und nächte lang ist es wie ein mittelalterliches Fest, mit Gesang und Fah nenschwenken. Das läuft noch alles vollkommen friedlich ab. Aber wenn die Kanone den Startschuss zum Rennen abfeuert … tja, dann herrschen Brutalität und Bestechung. Sie werden das morgen sehen. Drei Runden um den Campo, ohne Sattel, in der Mitte fünfzigtausend Menschen, die brüllen, während die Pferde vorbeirasen. Nach anderthalb Minuten ist schon wieder alles vorbei.» «Was meinen Sie mit Bestechung?» Sie zuckte die Achseln. «Das gehört zum Wettkampf dazu. Alles ist möglich. Alles ist erlaubt. Die meisten Reiter kommen aus der Maremma, und sie können mit der Peitsche umgehen, obwohl sie damit vor allem aufeinander einschlagen, weniger auf die Pferde. Einige Pferde werden unter Drogen gesetzt, und jedes Jahr kommen ein oder zwei in der San-Martino-Kurve ums Leben – die ist zwar außen mit Matratzen ausgelegt, aber trotzdem noch sehr gefährlich.» Sie hielt kurz inne und fuhr dann fort. «Und natürlich ist das Ganze manipuliert. Das ist immer so, obwohl es nicht immer funktioniert, weil das Ren nen völlig chaotisch ist. Ein Reiter wird geschmiert, damit er verliert – ein zweiter, damit er einen dritten behindert. Trotz dem entscheiden am Ende die Pferde – die können nämlich auch ohne Reiter gewinnen.» «Wie bitte?» Sie schüttelte den Kopf. «Das ist nicht wie beim Kentucky Derby. Die Hälfte der Reiter wird heruntergestoßen oder in den Kurven abgeworfen. Das Pferd, das als Erstes über die Ziellinie läuft, gewinnt. Ob mit oder ohne Reiter spielt keine Rolle.» «Wer hat im Juli gewonnen?» Sie legte die Stirn in Falten. «Pavone war’s nicht. Ich glaube, 146
Istrice.» «Und was ist das für ein Tier?» Sie lächelte. «Das heißt Stachelschwein.» Sie bogen nach rechts, gingen eine sehr schmale Gasse hin unter, und Paulina hielt ihn mit einer Hand am Arm fest, um ihn darauf hinzuweisen, dass die Fahnen und Dekorationen sich verändert hatten. Die Fahnen waren jetzt türkis-gold, und überall war ein Pfau abgebildet, die Schwanzfedern ausgefä chert. «Jetzt sind wir auf Pavone-Gebiet», sagte sie. «Eine der Contrade im Stadtzentrum.» Kurz darauf legte sie sich einen Finger an die Lippen. «Psst», sagte sie. «Hören Sie das?» Er legte den Kopf schief, und dann nahm er es wahr: ge dämpftes Stimmengewirr, darüber das Klirren von Essbesteck, das Klimpern von Tellern und Gläsern. Und dann ertönten schwache Melodien. Er hörte das dünnen Schmettern von Trompeten. «Zauberhaft, nicht?» Sie gingen weiter. Paulina stolperte und fasste seinen Arm, lehnte sich gegen ihn. Ihr Duft lag in der warmen Luft, und Danny bemerkte den schwachen Glanz von Schweiß auf ihrem Gesicht, die feuchten Haarsträhnen auf ihrer Stirn. Sie kamen um eine Ecke und traten durch den Bogen einer schmalen Ar kade, und mit einem Mal überflutete sie ein Wasserfall aus Lärm. Der Campo. Die Piazza, von Patrizierhäusern gesäumt, die älter waren als ganz Amerika, war mit dem typischen rotbraunen Backstein der Stadt gepflastert – «gebrannte Sienna» von Millionen Ma lerpaletten. Im Augenblick fand auf der ganzen Piazza ein rie siges Bankett statt. Schwitzende Kellner eilten hin und her, trugen Tabletts mit Pasta, Fisch und Wild zu fünfzig Meter langen Tischen, an denen Tausende von festlich gekleideten Menschen saßen. Überall waren seltsame und wunderschöne 147
Flaggen zu sehen, auf den Tischen, an den Balkonen. Alte Lieder und der Klang von Trompeten erfüllten die Luft. Danny trat einen Schritt zurück und bemerkte erst jetzt, dass er auf einer provisorischen Rennbahn stand, denn rings um den Campo waren die alten Steine mit Sand bedeckt. Paulina führte ihn zu einem Bereich, der für die Contrada Pavone reserviert war, wo Hunderte Menschen an Tischen mit goldfarbenen Tischtüchern saßen und schlemmten. Zu wem sie gehörten, machten Wimpel und Halstücher und Pfauenfedern unübersehbar klar. Paulina zeigte auf ein umbrafarbenes Ge bäude, dass sich im Dunkeln hinter den Tischen erhob. «Der Palazzo di Pavone», sagte sie. «Da sind wir morgen. Man hat einen fantastischen Blick.» Danny schaute zu den langen, geschwungenen Balkonen hoch, wo Pfauen inmitten eines Waldes aus Topfpalmen um herstolzierten. «Was ist mit heute Abend?», fragte er. «Ich dachte, Belzer will mich sehen.» Sie machte entschuldigend einen Schmollmund. «Ich hab mit ihm gesprochen. Er kann erst später kommen, aber er möchte nicht, dass Sie den ganzen Spaß hier verpassen. Er hat gesagt, er trifft sich morgen mit Ihnen.» Als sie Dannys Enttäuschung sah, legte Paulina den Kopf schief und zog einen noch über triebeneren Flunsch. «Bin ich Ihnen als Gesellschaft nicht gut genug?» «Nein, so meine ich das nicht, aber –» Sie nahm seine Hand und zog ihn mit. «Kommen Sie. Wir sitzen an Tisch drei.» Obwohl er noch keine Sekunde an essen gedacht hatte, merk te er, dass er hungrig war – und das war auch gut so, denn er wurde förmlich von Essen überschwemmt. Die Gänge nahmen einfach kein Ende, und zu jedem gab es einen neuen Wein. Alles schmeckte köstlich, und die Energie auf dem Campo war geradezu elektrisierend. Plötzlich erklang eine Fanfare. Die Gespräche verebbten, die Menge verstummte, und dann bran 148
dete tosender Applaus auf, als eine Parade von Männern und Frauen in mittelalterlichen Kostümen durch einen der von Steinbögen überspannten Zugänge auf den Platz zog. Gemes senen Schrittes näherten sie sich durch eine breite Schneise zwischen den Tischen. Mit Rufen und Gesang wurde der Auf marsch der Contrada-Gruppen begrüßt, die große Banner zur Mitte des Platzes trugen, wo eine mit Fackeln gesäumte Bühne aufgebaut war. Als die Pavone-Gruppe die Mitte des Campo erreichte, stand ein Meer von Menschen um Danny herum auf, und alle fingen an zu singen, schwenkten Fähnchen, auf denen das Pfau-Symbol prangte. Von den Balkonen hinter ihnen reg nete es Konfetti, ein Schneesturm aus Gold und Azurblau, der die Menge in eine glitzernde Pracht tauchte. Es war so laut, dass man sich nur mit den direkten Tisch nachbarn unterhalten konnte – und der einzige Mensch, mit dem Danny sprechen konnte, war Paulina. Niemand schien seine Sprache zu sprechen. Paulina dolmetschte für ihn, was umständlich war, und als sie zu Bekannten an anderen Tischen ging, fühlte er sich verlassen. Er konnte nur das freundliche Lächeln seiner Tischnachbarn erwidern und sein Glas heben, wenn sie so Dinge sagten wie Buona fortuna und Victoria a Pavone! – was sie recht häufig taten. Als der Kaffee und Vin Santo und dann der Grappa serviert wurden, war es nach elf. Er hätte sich gerne verabschiedet, aber Paulina saß zehn Me ter entfernt, am Kopfende des Tisches, und unterhielt sich an geregt mit einem eleganten, grauhaarigen Mann. Sie schaute hoch, fing Dannys Blick auf, lächelte ihm zu. Danny tippte auf seine Uhr, winkte ihr nonchalant zu und stand auf. Der Campo schwankte. Hoppla … «Grazie tutto», rief er laut, «grazie mille!». Sein Italienisch war richtig gut, fand er. «Arrivederci, mon amici» Seine Tischnachbarn lachten und hoben ihre Gläser. «Danny», sage Paulina, die plötzlich neben ihm stand und sich bei ihm einhakte. «Ich wusste gar nicht, dass Sie Italie 149
nisch sprechen!» «Ich auch nicht», nuschelte er. «Aber wo wollen Sie denn hin?» «Hotel.» Er fing an, den Leuten am Tisch die Hand zu schüt teln. «Jetzt schon? Aber es ist noch nicht mal Mitternacht.» Er blickte sie an. «Ich bin ein bisschen … müde.» Sie kicherte. «Ich glaube, Sie sind ein bisschen … betrun ken.» Er dachte einen Moment darüber nach. «Da könnte was dran sein», erwiderte er und nickte mit übertriebenem Ernst. «Als gut», sagte sie und nahm einen letzten Schluck von ih rem Vin Santo. «Gehen wir!» Danny schüttelte den Kopf. «Ich besorge ein Taxi.» «Seien Sie nicht albern. Ich soll auf Sie aufpassen. Und heute Nacht kriegen Sie ohnehin kein Taxi. Nie im Leben.» Sie gingen zurück zu Paulinas Wagen. Danny konzentrierte sich auf die Pflastersteine, die Navigationsgeschick verlangten, während Paulina auf ihren hochhackigen Schuhen hin und her schwankte, ab und zu gegen ihn stolperte, lachte, flüsterte, sei nen Arm berührte, redete. Ihr unbekümmertes Gekicher schwebte über ihnen. Dann saß sie im Lancia und brausten den Berg hoch zum Ho tel. Paulina legte eine CD ein, und Thelonious Monk berieselte sie. Danny dachte gerade, was für eine wunderschöne Nacht es war, was Paulina doch für eine wunderschöne Frau war, als ihre Hand seinen Oberschenkel streifte. Er glaubte nicht, dass das ein Versehen war. Er gab sich alle Mühe, treu zu sein, wirklich, aber es war nicht leicht. Dennoch, er war fest entschlossen, keine Dumm heiten zu machen, weil Caleigh die Richtige war – ganz sicher. Und sie würde ihn verlassen, wenn er sie betrog, denn Treue bedeutete für sie alles. Das hatte sie von Anfang an klar ge macht. 150
Ein paar Regentropfen besprenkelten die Windschutzscheibe, aber so wenige, dass Paulina die Scheibenwischer nicht an schaltete. Die Tropfen klebten an der Scheibe wie flüssige Ju welen, erleuchtet vom Licht entgegenkommender Scheinwer fer. Paulina erzählte gerade von ihrer letzten Reise in die USA – wie riesengroß sie dort alles gefunden hatte. «Häuser, Autos, das Essen in den Restaurants. Alles!» Danny nickte und zwang sich, nicht auf ihre Beine zu starren, die er inzwischen in- und auswendig kannte. «Und was ist mit Ihnen?», fragte sie. «Was soll mit mir sein?» «Sind Sie auch riesengroß?» Ihm klappte der Unterkiefer herunter. Ich hab wirklich zu viel getrunken, dachte er. Denn sie konnte es unmöglich so gemeint haben. Vielleicht war ihr nicht klar, wie man das in seiner Sprache verstehen konnte. «Nein», sagte er, «ich bin ein bisschen größer als der Durchschnitt, mehr nicht.» Sie lachte, und ihre Hand streifte wieder seinen Oberschen kel, als sie vor einer Kurve zurückschaltete. Sie würde es nie erfahren, sagte sich Danny in Gedanken an Caleigh. Sie war Tausende von Meilen entfernt, und die Wege der beiden Frauen würden sich niemals kreuzen, nicht in einer Million Jahren. Sein Blick senkte sich auf Paulinas Knie, auf die cremefarbene Haut darüber. Whatcha gonna do, boy? Whatcha gonna do? Er lachte leise, blickte weg. «Warum lachen Sie?», fragte Paulina. Danny schüttelte den Kopf. «Mir ist nur gerade ein Song ein gefallen, den ich früher oft gehört habe.» Die Sache war die: Es spielte keine Rolle, dass Caleigh es nie erfahren würde. Darum ging es nicht. Es ging darum, nicht zu betrügen, nicht zu lügen. Geheimnisse vergifteten eine Bezie hung, und andere Frauen waren wie Landminen – man wusste nie, wann eine von ihnen explodieren würde. Paulinas Hand legte sich sacht auf sein Knie. Vielleicht bin 151
ich zu betrunken, um richtig von falsch unterscheiden zu kön nen, hoffte Danny. Plötzlich ragte das Hotel vor ihnen auf und der Lancia brau ste auf den Hof des Scacciapensieri. Paulina stellte den Motor ab, öffnete die Tür und stieg aus dem Wagen. Dann warf sie dem Pagen den Schlüssel zu, nahm Dannys Arm und legte ih ren Kopf an seine Schulter. Zusammen gingen sie in die Lobby und fuhren mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock. Als sie auf den Flur traten, zögerte Paulina. Dannys Zimmer lag rechts und ihres links. «Also dann», sagte sie, und ihre vollkommenen Mandelaugen suchten seinen Blick. «Nacht», murmelte er. «Danke. Es war richtig toll.» Er gab ihr einen Kuss auf die Wange und ging zu seinem Zimmer. Er war erleichtert und enttäuscht zugleich. Als er vor der Tür von Zimmer 302 stand und mit dem Schlüssel hantierte, verfluchte er den Anfall von Tugend, der ihn ergriffen hatte. Eine Stimme in seinem Kopf – eine Art Antigewissen – rief: Was soll denn das? Bist du noch zu retten? Sie ist einfach hinreißend! Caleigh ist sechs Zeitzonen weit weg! Sie ist nicht mal im selben Tag wie du! Nun mach schon! Nein. Er war brav. Der Schlüssel drehte sich im Schloss, und die Versuchung war ausgestanden. Er ging ins Bad, zog sich langsam aus, wusch sich und putzte die Zähne. Er hatte gar nicht so viel getrunken, aber der Wein war ihm richtig zu Kopf gestiegen. Er nahm zwei Aspirin und hoffte, dass sie ihn vor einem Kater am nächsten Morgen bewahrten. Dann knipste er das Licht aus und ging zu seinem Bett. Und da lag sie – in seinem Bett, die Haare auf dem Kissen ausgebreitet, ein aufreizendes Lächeln auf den Lippen. Ach, du Schande, dachte er, als er in seinen Boxershorts mit ten im Zimmer stand. Was nun? Ohne es zu wollen, näherte er sich wie von selbst dem Bett, als stände er auf einem Rollband am Flughafen. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Sie reckte sich, und ihre Brüste hoben und senkten sich. «Ich 152
muss noch ein bisschen länger auf dich aufpassen», säuselte sie und klopfte neben sich auf das Bett. Das ist zu viel, dachte er. Ich schaff s nicht. Alles hat seine Grenzen – Wortlos schlug sie die Decke zurück, und er sah mit stieläu gigem Blick, dass sie völlig nackt war. Der Ausdruck in seinen Augen amüsierte sie. «Worauf wartest du noch, Picasso? Rein mit dir.»
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Danny lag mit geschlossenen Augen im Bett, döste weg und wachte wieder auf, nahm das Sonnenlicht im Zimmer immer stärker wahr. Er war blind, sein Blickfeld eine leere Seite – grell und leuchtend. Was ihm nur recht war. Genauso gefiel es ihm. Er wollte nicht aufstehen. Er wollte bleiben, wo er war, im Nimmerland, im Land der Träume. Aber nein. Er musste aufstehen. Er hatte etwas zu erledigen und musste den Tatsa chen ins Auge sehen. Tapfer, weil er wusste, dass er einen Ka ter hatte, öffnete er die Augen und schloss sie gleich wieder vor dem Blitzlicht des Morgens. Ohhh Mann, dachte er. Behutsam bewegte er den Arm in einem Bogen über die Bettdecke und atmete erleichtert auf, als seine Hand nichts an deres entdeckte außer Stoff und Luft. Mit einem leisen Stöhnen öffnete er die Augen ein zweites Mal, setzte sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Du bist ein Scheißkerl, sagte er sich. Scheinbar endlos lange saß er da, die Sonne auf dem Rücken, starrte auf seine nackten Füße und dachte benommen an den vergangenen Abend. Lorenzettis Fresken, Donatellos Reliefs, Paulinas … Langsam stand er auf, trottete ins Badezimmer, drehte den Hahn am Waschbecken auf, ließ sich Wasser in die hohlen Händen laufen und klatschte es sich auf Wangen und Augen. Die Kälte ließ ihn nach Luft schnappen und gleichzeitig seufzte vor Erleichterung auf. Er blickte hoch und sah einen roten Ab druck auf dem Spiegel. Ein Kuss. Und da, an dem verchromten Zahnbürstenhalter, lehnte eine Nachricht auf Hotelbriefpapier – adressiert an «Danielissimo»:
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Bin zur Arbeit, bei Sistema (laaangweilig). Bin gegen zwei wieder da und fahr dich dann in die Stadt. B. erwartet dich um halb drei im Palazzo. Mmmmmm … was für eine notte di amore! Unvergesslich für mich – und für dich hoffentlich auch. Tausend Küsse (und du weißt, wo überall)! P. Meine Güte, dachte Danny und knüllte den Zettel zusammen. Eine «notte di amore». Er versuchte, nicht daran zu denken, aber es war unmöglich. Schon während er die Wassertemperatur der Dusche testete, blitzten Bilder der vergangenen Nacht vor seinem inneren Au ge auf. Paulina in allen Variationen, wie sie schmeckte, wie sanft sich ihr Bauch wölbte, ihre Brüste sich hoben und senk ten. Als er in die Dusche stieg, kam ihm der Gedanke, dass es untertrieben wäre zu sagen, er sei mit Paulina «ins Bett gegan gen». Er hatte sich regelrecht an ihr ergötzt. Kein schöner Gedanke. Er drehte das Gesicht zum Duschkopf und ließ sich Paulina vom Wasser abspülen. Allmählich spürte er, wie sein Kater besser wurde. Als der Raum voller Dampf war und er sich wie der wie ein Menschen fühlte, stieg er aus der Duschkabine und trocknete sich mit einem dicken Frotteebadetuch ab. Danach nahm er einen Waschlappen und machte sich daran, Paulinas Kuss vom Spiegel abzuwischen, verschmierte ihn aber nur. Er gab es auf, bürstete sich die Haare und zog sich an. Sei ne Augen waren blutunterlaufen. Er würde eine Sonnenbrille brauchen. Schließlich ging er die Treppe hinunter nach unten auf die Terrasse, wo er sich mit einem doppelten Espresso aufzuput schen versuchte und anschließend ein Glas frisch gepressten Orangensaft trank. Es klappte. Halbwegs. Es war kurz vor Mittag. Die Sonne brannte, stach ihm in den Augen. Der Empfangsportier sagte ihm, wo er eine Sonnenbril 155
le kaufen könnte, und bestellte ihm ein Taxi. Als Danny gehen wollte, händigte er ihm seinen Pass aus. «Grazie.» Das Taxi brachte ihn in an den Stadtrand von Siena, wo er eine Maui-Jim-Brille kaufte. Dann fuhr er zurück ins Hotel. Als er seine Reisetasche packen wollte, war er unschlüssig, was er mit der Diskette machen sollte, auf der er Terios Dateien geladen hatte. Er brauchte sie nicht mehr. Seine Arbeit für Belzer war erledigt, und Inzaghi hatte die Dateien bereits. Plötzlich überkam ihn Neugier und er dachte sich, es könnte bestimmt nichts schaden, wenn er einen Blick darauf werfen würde, sobald er wieder in den Staaten war. Also stopfte er die Diskette in seine Reisetasche und zog den Reißverschluss zu. Unten in der Lobby erkundigte er sich an der Rezeption nach den Zugverbindungen von Siena nach Rom. Leider, so erfuhr er, fuhren die Züge nur sehr unregelmäßig. «Das Problem ist: Mein Flug geht heute Abend um Viertel nach neun.» «Aber Sie sehen sich doch noch den Palio an?», fragte der Portier. «Auf jeden Fall.» «Dann wird es schwierig. Das Rennen ist um vier, dann könnten Sie nur den Zug um fünf Uhr achtundvierzig nach Chiusi nehmen. Von dort fährt der nächste Zug nach Rom um Viertel vor sieben. In Rom wären Sie dann um …» – seine Hand rotierte in einer Richtung, dann in die andere – «acht oder kurz nach acht. Dann mit dem Taxi zum Flughafen – das dauert noch mal eine halbe Stunde. Ich weiß nicht …» Er blickte skeptisch und enttäuscht zugleich. Danny nickte. «Das wird eng, aber ich hab ein Ticket für die erste Klasse, deshalb –» «In dem Fall», sagte der Portier, «würde es gehen. Aber es wird trotzdem schwierig. Sie könnten ein Taxi nehmen.» Er verzog das Gesicht. «Obwohl, jetzt am Wochenende ist viel 156
los, vielleicht geht es doch nicht.» «Und wie viel würde das kosten?», fragte Danny und dachte, dass er zu Hause ein kleines Vermögen dafür hinblättern müss te. «Nach Rom?» Der Portier zuckte die Achseln. «Vielleicht zweihundert Dollar.» Danny bat ihn, ein Taxi zu bestellen, und dachte sich, dass er die Kosten auf die Spesenrechnung setzen könnte, da er, wenn er das Flugzeug verpasste, schließlich ein Hotel nehmen müss te. Der Portier versprach, es zu versuchen, aber er könne nichts versprechen. «Beim Palio sind dreimal so viele Menschen in der Stadt, aber die Taxis sind genauso viele wie immer, verste hen Sie?» Danny sagte, dass er das einsehe, checkte dann aus und ließ seine Tasche an der Rezeption, damit er sie, wenn er aus der Stadt zurückkam, einfach nehmen und gehen konnte. Er saß in der Lobby und wartete auf Paulina, obwohl es ihm lieber gewesen wäre, sie nicht zu sehen und einfach ein Taxi zum Campo zu nehmen. Um zwanzig nach zwei fragte er sich, wie lange er noch warten sollte. Belzer war ein viel beschäftig ter Mann, und Danny wollte auf keinen Fall zu spät kommen. Wenn sie in fünf Minuten nicht da war – Ehe er den Gedanken zu Ende denken konnte, klingelte sein Handy mit einem drängenden und trillernden Ton. Er klappte es auf und drückte es sich ans Ohr, dachte, es müsste Paulina sein. Jemand schnarrte seinen Namen. «Daniel?!» Die Stimme ei nes Mannes. «Ja … wer ist denn da?» «Inzaghi! Können Sie mich hören?» «Klar und deutlich.» «Wie bitte?» «Ich sagte, ich kann Sie gut hören. Sie brauchen nicht zu schreien.» 157
«Wo sind Sie?», wollte der Priester wissen, wobei er sich wenig oder gar nicht bemühte, seine Stimme zu dämpfen, de ren Lautstärke eine gewisse Dringlichkeit verriet. «In Siena. Auf dem Weg zum Palio. Aber das wissen Sie doch.» «Gehen Sie nicht hin. Es ist gefährlich für Sie.» «Was?» «Kommen Sie zurück nach Rom. Ich muss mit Ihnen reden.» «Reden? Worüber?» «Hören Sie. Ich habe mir die ganze Nacht die Dateien ange sehen», sagte der Priester, «und –» «Und?» Bevor Inzaghi antworten konnte, kam Paulina in die Lobby gehastet, sie trug ein knappes, schwarzes Kostüm, einen gro ßen, weißen Hut und eine riesige Sonnenbrille. Danny sah auf seine Uhr. Halb drei. «Bleiben Sie bitte einen Moment dran», sagte er zu Inzaghi. Und stand auf. «Tut mir Leid, dass ich so spät komme», sagte Paulina zu ihm und hielt dabei ihren Hut mit einer Hand fest. «Bist du so weit? Ich hab den Termin auf drei verschoben, aber wir müssen uns beeilen.» Danny nickte bloß, sprach dann wieder ins Handy. «Ich muss Schluss machen. Ich ruf Sie ihn zwei Stunden an, in Ord nung?» «Nein, Danny, es ist nicht in Ordnung. Sie müssen unbedingt –» Paulina tippte eindringlich auf ihre Uhr und sah ihn an. «Hören Sie, es tut mir wirklich Leid, aber … ich muss Schluss machen», sagte Danny ins Telefon. «Ich rufe sobald ich kann zurück.» Und trotz der Proteste des Priesters beendete er das Gespräch und folgte Paulina nach draußen zum Wagen. Wieder klingelte das Handy, doch als er die Stimme des Prie sters hörte, tat Danny so, als wäre die Verbindung schlecht. «Ich kann Sie nicht verstehen», sagte er über Inzaghis Proteste 158
hinweg. «Tut mir Leid, Pater. Die Verbindung ist gestört.» «Hartnäckig», sagte Paulina, als sie in den Lancia stiegen. Vorsichtshalber schaltete Danny das Handy aus, sobald er im Wagen saß. Er war zwar neugierig, was der Priester ihm Drin gendes sagen wollte, aber im Augenblick wollte er nur noch auf dem schnellsten Weg zu Belzer, sich bezahlen lassen und dann weiter zum Flughafen nach Rom, um seinen Flug zu er wischen. Im Beisein von Paulina könnte er ohnehin nicht mit Inzaghi über Terios Dateien sprechen. Es war besser, den Prie ster auf der Fahrt nach Rom anzurufen. «Hast du auch einen Kater?», fragte er Paulina, als sie Rich tung Stadt brausten. «Oooooh – und wie. Ich bin halb tot.» Sie lachte, aber es klang ein wenig gedämpft. Kurz darauf waren sie an der Stadtmauer. Eine rot-weiß be malte Barrikade, mit einem uniformierten Polizisten bemannt, versperrte den großen Torbogen. Paulina fuhr rechts ran, ließ den Motor aber laufen. «Die Innenstadt ist heute für Autos gesperrt», sagte sie. «Ich lass dich hier raus. Geh einfach die Straße hinunter. Sie führt zum Campo, und wo der Palazzo ist, weißt du ja. Geh direkt zum Tor – es ist unter dem langen Balkon. Dein Name steht auf einer Liste.» Sie sah auf die Uhr. «Du musst nicht rennen, aber … für einen Schaufensterbummel hast du keine Zeit, ja?» «Kommst du nicht mit?» «Äh – nein.» Sie zuckte die Achseln. «Ich fahr nach Torino, ich hab da einen Job. Dolmetschen. Ziemlich dringend. Außer dem habe ich den Palio schon so oft gesehen.» «Tja dann – danke für alles.» Sie nahm ihren Hut ab, schleuderte ihn auf den Rücksitz, warf ihr Haar zurück, beugte sich vor und küsste ihn voll auf die Lippen. «Ciao, Danny. Vielleicht sehen wir uns mal wie der. Es war schön, nicht?»
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Als er den Campo erreichte, kämpfte Danny sich auf der Suche nach Zebeks Palazzo durch das Menschengewimmel. Er ließ den Blick über die Häuser an dem alten Platz schweifen und entdeckte die blau-goldenen Flaggen, die an einem langen, geschwungenen Balkon flatterten. Er steuerte auf die Flaggen zu und bemerkte, dass die Tische, die rings um den Platz ge standen hatten, verschwunden waren. Dicke Matratzen hingen an den Wänden der Gebäude um den Platz herum. Als er schließlich vor den offenen Eisentoren stand – in deren ge schmiedetes Metall Pfauen eingearbeitet waren –, war es kurz vor drei. Hinter den Toren auf dem schattigen Hof, der mit Paliofah nen geschmückt war, stand ein muskulöser Wachmann neben einem plätschernden Springbrunnen. Er war wie alle seine Kol legen gekleidet: schwarze Stoffhose und Doc-Martens-Schuhe und ein teures, schwarzes T-Shirt mit einem aufgedruckten pavone auf der Brust. Das O in pavone war das türkis-goldene Auge einer Pfauenfeder. Der Wachmann fragte nach Dannys Namen und sah auf einer Liste nach. Nachdem er ihn gefunden hatte, flüsterte er etwas in ein Handy und bat den Amerikaner zu warten. Kurz darauf erschien eine kurvenreiche junge Frau in einem goldenen Minirock und einem blauen, rückenfreien Oberteil, das kurz über dem Bauchnabel aufhörte. «Halloo-oo», säuselte sie mit einem Akzent, der nicht italienisch klang. «Ich bin Veroushka.» «Danny», stammelte er. «Ich weiß.» Sie hakte sich bei ihm ein und sagte: «Ich soll mich um Sie kümmern, einverstanden?» Was sollte er sagen? «Toll.» Zusammen stiegen sie eine Steintreppe hoch, näherten sich Gelächter und Klaviermusik, und Danny dachte: Die Frau kenne ich, aber … woher? Ich müsste mich doch erinnern. So jemanden vergisst man doch nicht. Sie war umwerfend. Oben an der Treppe wandte er sich ihr zu. «Woher kenne ich Sie?» 160
Sie kicherte. «Ich weiß nicht.» Und dann fiel es ihm ein: Sie war eins von den Models im Victoria’s Secret-Katalog, den Caleigh jeden Monat erhielt. Gleich darauf befanden sie sich mitten in einer Party, wie sie Danny nur aus Hochglanzmagazinen kannte: Eine skandinavi sche Chanteuse saß an einem gewaltigen schwarzen SteinwayFlügel und sang mit einer wunderbar wehmütigen Stimme «When did you leave heaven?», während NATO-Generäle und Scheichs in weißen Gewändern mit zwei Blondinen flirteten, die, wie Danny von Veroushka erfuhr, die geschlechtsumge wandelten Erbinnen eines deutschen Industrievermögens wa ren. Danny erkannte ein paar Leute aus Zeitschriften und aus dem Fernsehen wieder. Bei anderen half Veroushka ihm auf die Sprünge. Es waren Bankiers und Geschäftsleute, Schrift steller und Politiker. Sie drückte seinen Arm und deutete mit dem Kinn auf einen jungen Mann, der allein für sich saß und ein Comic-Heft las. «Rivaldo», raunte sie. Veroushka angelte ein Glas Champagner vom Tablett eines vorbeikommenden Kellners, nahm Danny an die Hand und führte ihn hinaus auf den Balkon, von wo aus sie über das Treiben auf dem Campo blickten. Unter ihnen stolzierten Kin der-Trommler in mittelalterlichen Kostümen vorbei, eine ande re Gruppe warf Flaggen in die Luft. «Wo sind die Pferde?», fragte Danny. Seine Begleiterin kicherte. «In der Kirche», erwiderte sie, «die werden gesegnet.» Als sie seinen skeptischen Blick sah, drückte sie sich an ihn und lachte. «Im Ernst!» «Sie bringen sie in die Kirche?» «In die Kapelle – jede Contrada hat eine. Dann führen sie die Pferde her und stellen sie am Start auf.» Sie deutete nach rechts. «Da drüben. Sie bringen sie erst wenige Minuten vor dem Rennen und riegeln dann den Campo ab, bis das Rennen vorbei ist.» Sie nahm einen Schluck von ihrem Champagner. «Wenn Sie wetten wollen, sollten Sie ihr Geld auf Pavone set 161
zen.» «Wird denn viel gewettet?» Sie hickste, kicherte, nickte dann ernst. «Ohhh, ja.» Danny lächelte und plauderte weiter mit ihr, aber eigentlich war ihm nicht danach. Alle auf der Party waren offenbar reich und be rühmt – bis auf ihn. Und trotzdem war er hier, mit dieser Des sous-Queen am Arm. Was stimmt nicht an diesem Bild?, fragte er sich. Und dann fiel ihm die Antwort ein, du bist im falschen Film, Kleiner. Du bist schon lange im falschen Film. «Wo ist denn nun unser Freund?», fragte er. Veroushka bedachte ihn mit einem verwirrten Blick. «Belzer», half er ihr auf die Sprünge. Sie blickte verständnislos. «Zebeks Anwalt?» Sie schüttelte den Kopf. «Ich glaube, unser Gastgeber hat viele Anwälte. Aber ich denke nicht, dass sie zu seinen Partys kommen.» Er wollte sie gerade fragen, wie sie das meinte, als einer von den Sicherheitsleuten – unverkennbar ein Bodybuilder – ihn an der Schulter berührte. «Scusi – Signore Zebek möchte Sie jetzt sehen.» Mit einem bedauernden Schulterzucken in Richtung seiner Begleiterin (oder seiner Prämie oder was immer sie war) folgte Danny dem Mann eine Marmortreppe hinauf, dann über einen langen Gang in eine große und düstere Bibliothek, wo ihn Bel zer in einem Lederohrensessel hinter einem mit Schnitzereien verzierten Schreibtisch erwartete. Hinter ihm an der Wand hing eine angestrahlte Skizze zu Die Schindung des Marsyas. Danny vermutete, dass es sich bei der Zeichnung um ein Original han delte – Tizian. Belzer deutete auf einen Stuhl, und Danny nahm Platz. «Nur wir beide?» Belzer nickte. Danny blickte enttäuscht. «Ich habe noch nie einen Milliar 162
där kennen gelernt. Ich hatte gehofft, Mr. Zebek ist bei unse rem Gespräch dabei.» Die Lippen des Anwalts verzogen sich zu einem ironischen Grinsen. «Haben Sie schon. Und er ist es.» Es dauerte einen Augenblick, bis bei Danny allmählich der Groschen fiel. Unsicher blickte er über seine Schulter. Sah den muskulösen Wachmann an der Tür stehen. Sonst niemanden. Nur Belzer, er selbst und der Wachmann. Und dann begriff er. «Das darf doch nicht wahr sein», sagte er und lachte laut. Belzers Brauen hoben sich, und er spitzte die Lippen. «Der Detektiv, endlich!», sagte er. Danny überging die sarkastische Bemerkung, konnte aber seine Verblüffung nicht verhehlen. «Ich versteh das nicht, Ich meine, wozu die Geheimnistuerei? Warum haben Sie das ge macht?» Belzer – Zebek – zuckte die Achseln. «Ich bleibe gern im Hintergrund – zumal, wenn ich direkt mit jemandem zu tun habe.» Er griff in die Schublade seines Schreibtisches, nahm einen dicken Briefumschlag heraus und warf ihn Danny zu. «Honorar, Prämie und Spesen. Zählen Sie nach.» Danny schüttelte den Kopf, elektrisiert durch das Gewicht des Umschlags. «Nicht nötig. Ich bin sicher –» «Zählen Sie nach.» Verlegen öffnete Danny den Umschlag und nahm einen Pak ken Einhundert-Dollar-Scheine heraus. Er zählte sie durch und kam insgesamt auf 164. «Stimmt das ungefähr?», fragte Zebek. Danny nickte. «Ja, das ist –» «Jetzt geben Sie es mir zurück.» Danny blickte ihn mit verständnisloser Miene an. «Wie bit te?» Zebek streckte ihm die Hand hin und wackelte mit den Fin gern. Reflexartig gab Danny ihm das Geld. «Ich lasse mich nicht gern reinlegen», sagte Zebek. 163
Die Worte hingen in der Luft, so unerwartet, dass Danny meinte, sich verhört zu haben. Es zumindest hoffte. Aber nein. Zebek legte das Geld wieder ihn die Schublade und schloss sie. «Was soll das?», fragte Danny. Zebek überging die Frage. Er beugte sich vor und stellte selbst eine Frage. «Sie sind für mich schon so wie Bruco, wis sen Sie das?» «Bruco?» «Die Raupe. Die ist im Augenblick meine Nemesis.» Danny blinzelte. Es sah immer mehr danach aus, dass er tat sächlich kein Geld bekommen würde, und er war so enttäuscht, dass im richtig schwindelig wurde. «Wovon reden Sie?» «Dem Palio», erwiderte Zebek. «Es gibt Favoriten, wissen Sie, genau wie beim Kentucky Derby. Diesmal werden zwei Pferden die besten Chancen eingeräumt – der Pfau und die Raupe. Pavone oder Bruco.» Er ließ die rechte Hand kreisen, um Unsicherheit auszudrücken. «Bruco oder Pavone. Ich habe Bruco ein Angebot gemacht, aber … wer weiß? Der Reiter ist von hier. Die meisten Reiter kommen aus der Maremma, sie sind richtige Profis. Ausgesprochen umgänglich. Dieser Junge … ich glaube, er möchte ein Held für die Mädchen werden.» Er schüttelte den Kopf. «Nicht besonders clever.» Danny verzog das Gesicht. Der Milliardär ging ihm langsam auf die Nerven. «Soll das eine Parabel sein?» Zebek lachte leise. «Ja. Aber egal. So macht es mehr Spaß. Die anderen Reiter kümmern sich schon um Bruco. Dafür wer den sie bezahlt.» Danny nickte, während sich seine Gedanken überschlugen. Er denkt, er ist reingelegt worden – und das stimmt. Aber das kann er doch gar nicht wissen. Nicht mit Sicherheit. Dann ist das hier – bloß ein Test. Ein Bluff. Beiß die Zähne zusammen. «Dann werden Sie also nicht für mich arbeiten», fuhr Zebek fort. Danny ging ein Licht auf. Da liegt also der Hund begraben, 164
dachte er. Er ist es gewohnt zu kriegen, was er will, deshalb ist jeder, der nein sagt, plötzlich der Feind. «Hören Sie», begann Danny. «Das Angebot war toll, aber –» Zebek brachte ihn mit einem höhnischen Schnauben zum Schweigen. Er nahm seine Sonnenbrille ab, blickte Danny starr in die Augen, und das Schweigen zog sich in die Länge. Danny fiel eine Frage ein. «Woher wissen Sie, dass ich den Job nicht annehmen will?» Zebek drückte einen Knopf auf einer Konsole am Rand sei nes Schreibtisches. Sogleich füllte Inzaghis Stimme den Raum. «Kommen Sie zurück nach Rom. Ich muss mit Ihnen reden.» Dannys Herz machte einen Ruck, als er daraufhin seine eige ne Stimme hörte: «Reden? Worüber?» «Hören Sie», sagte der Priester. «Ich habe mir die ganze Nacht die Dateien angesehen, und –» «Und?» Danny sank tiefer in seinen Sessel und dachte: Nicht gut, nicht gut … Zebek stellte das Gerät aus. «Wie haben Sie das angestellt?», fragte Danny. «Ich dachte, Handys wären hier verschlüsselt. GSM-Standard oder wie das heißt.» Zebek grinste. «Sie haben Recht. Handys sind verschlüsselt. Aber wenn man die Smartcard klont, hat man ein zweites Tele fon, das praktisch ein Nebenanschluss ist.» Er hielt inne, um seine Worte wirken zu lassen. «Jetzt möchte ich Sie etwas fra gen», fuhr er fort. «Was haben Sie eigentlich gemacht? Haben Sie die Dateien für ihn kopiert? Haben Sie sie wieder auf den Computer geladen?» Danny blickte weg. Zebek blickte betrübt. «Und dieser irre Priester nennt Sie ‹Daniel›?» Der Amerikaner zuckte die Achseln. Zebek schüttelte ungläubig den Kopf, kostete den Augen blick aus. «Haben Sie denn nicht mal den Ausweis benutzt, den 165
ich Ihnen gegeben habe?» Danny holte tief Luft und blickte ihm in die Augen. «Doch», sagte er, «ich habe ihn benutzt.» Er hielt inne und wechselte das Thema. «Hören Sie alle Leute ab, die für Sie arbeiten?» Zebek reagierte unbeeindruckt. Er zog eine Grimasse und sagte: «Nur die Neuen.» Dann stockte er, und seine Augen ver engten sich. «Ich sag Ihnen was, Daniel, bevor Sie jemanden über den Tisch ziehen, sollten Sie sich genau ansehen, mit wem Sie es zu tun haben.» Er legte den Kopf schief und füge hinzu: «Wissen Sie überhaupt, womit ich mein Geld verdiene?» Der Amerikaner schüttelte den Kopf, bemüht, sich nicht durch den bösartigen Unterton in der Stimme des Milliardärs einschüchtern zu lassen. Er spürte, dass er nervös wurde, und er sagte sich, dass Zebek ihm nur eins aufs Dach geben wollte. Es war nicht das erste Mal, dass er zusammengestaucht wurde. Er musste lediglich die Ruhe bewahren – und sehen, dass er bezahlt wurde. «Ich hab gefragt, ob Sie wissen, womit ich mein Geld ver diene», wiederholte Zebek. «Mit Investitionen», erwiderte Danny. Zebek spitzte die Lippen. «Na, ein bisschen präziser, bitte! Wir investieren in erster Linie in junge Unternehmen, die sich auf Proteinfaltung und MEMS spezialisiert haben, modernste Technologien. Sie wären über die Anwendungsmöglichkeiten erstaunt. Wie das hier.» Sein Finger tippte auf einen schwarzen Metallkasten, der über ein Kabel mit der Konsole auf seinem Schreibtisch verbunden war. Unwillkürlich wurde Danny neugierig. «Wofür ist das Ding?» «Das ist ein Prototyp … um Persönlichkeitskopien herzustel len.» Danny runzelte die Stirn. Dann sagte er: «Wie bitte?» «Tja, wie soll ich das erklären … Sie wissen doch, was ein Doppelgänger ist.» 166
«Sie stellen Doppelgänger her?» Zebek lächelte. «Die Doppelgänger, die wir herstellen, sind virtuell. Zumindest bisher noch.» Sein Plauderton war enervie rend, wie der herablassende Vortrag eines geduldigen Erwach senen für ein begriffsstutziges Kind. Das reizte Danny, zumal er immer noch nicht wusste, wovon sein Gegenüber eigentlich sprach. «Das ist folgendermaßen», fuhr Zebek in einem noch ver traulicheren Tonfall fort. «Wenn Sie uns eine Audio- oder Vi deoaufnahme geben – selbst gemachte Aufnahmen reichen völlig aus –, können wir daraus eine Schablone herstellen.» «Um was damit zu machen?», fragte Danny. «Die Schablone sieht in etwa so aus wie eine Kreditkarte», sagte Zebek, ohne auf die Frage einzugehen. «Aber sie ist mit einem Algorithmus kodiert, der aus den Bewegungen und dem Mienenspiel einer Person abgeleitet wurde. Das Ergebnis nen nen wir ‹Persönlichkeitskopie›. Wenn wir so eine Karte in ei nen Kasten wie den hier stecken, können wir jedes Bild und jede Stimme animieren, die ich senden oder projizieren kann. Ich brauche nur ein Foto. Oder eine Bandaufnahme.» Zebek hielt inne, sichtlich zufrieden mit sich. «Wir haben Patente in den Vereinigten Staaten angemeldet. Im Augenblick laufen die Beta-Tests. Es dauert noch gut ein Jahr, aber Sie können sich vorstellen, was das für Auswirkungen auf die Filmindustrie haben wird. Wir werden neue Filme mit toten Schauspielern machen können; die Schablonen stellen wir aus ihren alten Filmen her. Und das ist nur die Unterhaltungsbranche. Im Poli tikbereich wird es dann noch interessanter.» «Film bleibt Film», sagte Danny. «Ach ja? Da bin ich mir nicht sicher. Was, wenn wir das Prinzip auf die Biologie übertragen?» Zebek legte eine Kunst pause ein. «Zum Beispiel aufs Klonen», fuhr er fort. «Wir kön nen heute die biologische Identität eines Menschen kopieren – aber nicht seine Persönlichkeit. Noch ist alles dem Zufall über 167
lassen. Selbst wenn wir ein genetisches Duplikat herstellen, ist es nach wie vor bloß eine Kopie, die sich ganz anders verhält. Sobald sie sich bewegt, wissen wir, dass sie nicht echt ist. Aber wenn wir das Erbgut eines Menschen mit den Persönlichkeits kopien verbinden können, die wir im Labor herstellen, könnten wir Doppelgänger erzeugen, die in jeder Hinsicht perfekt sind.» Danny glaubte ihm kein Wort. Und was er da hörte, war ihm eigentlich auch völlig gleichgültig. Er wollte nur sein Geld. «Viel Glück», sagte er. Der Sarkasmus ließ Zebek aufhorchen. «Sie sind skeptisch.» Danny zuckte die Achseln. «Ich zeige Ihnen mal, was ich meine», sagte der Milliardär. Aus der Schublade seines Schreibtisches holte er eine Plastik karte, steckte sie in einen Schlitz in dem schwarzen Kasten und betätigte einen Kippschalter an der Seite. Ein grünes LEDLämpchen ging an. «Das hier hab ich mit einer Tonbandauf nahme gemacht», sagte er. «Es ist nur die Stimme, aber … Sie werden verstehen, was ich meine.» Zebek verband sein Handy mit der Konsole, gab Danny einen Kopfhörer und sagte, er sol le ihn aufsetzen. Dann signalisierte er dem Wachmann, sich hinter seinen Gast zu stellen. «Gaetano, se dice qualcosa, ucci dilo.» An Danny gewandt, erklärte er: «Wenn Sie den Mund aufmachen, bricht Ihnen mein Freund das Genick.» Als er die Überraschung des Amerikaners sah, fügte er hinzu: «Ich meine es ernst. Er hat das schon einmal getan, und zwar ohne mit der Wimper zu zucken.» Grinsend wählte Zebek eine Nummer auf seinem Handy und lehnte sich zurück. Danny, der den Kopfhörer aufgesetzt hatte, hörte ein Telefon klingeln. Schließlich meldete sich eine Stimme. «Pronto?» Danny wollte aufstehen, als er Inzaghis Stimme hörte, sank aber wieder in seinen Sessel, als er eine Hand im Nacken spür te. Es war eine große Hand, aber sie fühlte sich fast schwerelos 168
an. Zebek sagte ins Handy: «Ich bin’s, Danny, Pater –» Danny schnappte nach Luft. Die Stimme war seine – Akzent, Tonlage und Timbre, haargenau so hörte er sich an. Und es war beängstigend. Er spürte, wie sich ihm die Nackenhaare sträub ten. Im Kopfhörer seufzte Inzaghi erleichtert auf. «Ich hab mir schon Sorgen gemacht! Wo sind Sie?» «In Siena», erwiderte Zebek. «Machen Sie, dass Sie da wegkommen! Im Ernst, Danny- Sie haben keine Ahnung, was da läuft. Und halten Sie sich vor allen Dingen von diesen Leuten fern. Die sind gefährlich!» «Keine Sorge», sagte Zebek. «Ich komme heute Abend nach Rom – dann können wir uns unterhalten. Ich trau diesen Han dys nicht.» Danny gelang es nur mit Mühe, im Sessel zu bleiben. Zebeks Stimme war einfach nicht von seiner zu unterscheiden, und ihm war, als hätte man ihm die Seele gestohlen. «Da haben Sie Recht», sagte der Priester. «Daran habe ich nicht gedacht. Wann sind Sie hier?» «Um neun oder zehn», antwortete Zebek mit Dannys Stim me. «Können wir uns bei Ihnen treffen? Ich hab noch kein Ho telzimmer.» «Ja, sicher – aber es ist nicht leicht zu finden», erwiderte In zaghi. «Haben Sie was zu schreiben?» Danny hielt es nicht mehr aus. Er musste Inzaghi warnen. Aber der Bodyguard hatte anscheinend seine innere Unruhe gespürt, denn er verstärkte den Druck seiner Hand. Er beugte sich nach unten, zog den Kopfhörer ein Stück von einem Ohr ab und flüsterte: «No.» Danny ließ sich gegen die Lehne sacken, während Zebek die Wegbeschreibung zu Inzaghis Zimmern in der Casa Clera wie derholte. Dann waren sie fertig. Sie verabschiedeten sich, und die Verbindung wurde beendet. Zebek richtete seine schlamm 169
farbenen Augen auf Danny und lächelte. «Und jetzt?», fragte Danny, der sich nie zuvor so weit weg von zu Hause gefühlt hatte. Der Milliardär schüttelte den Kopf, bedauernd und unsicher zugleich. Dann setzte er seinen Stock mit dem Silbergriff auf den Boden auf und hievte sich auf die Beine. «Was soll ich bloß mit Ihnen machen, Danny? Sie sind ein richtiges Entsor gungsproblem, wissen Sie das?» Danny wurde heiß. Zebek dachte mit übertriebener Theatralik über das Problem nach, schritt vor den Bücherregalen auf und ab. «Einerseits könnten wir Ihnen das Genick brechen und behaupten, Sie wä ren gestürzt –» Danny war fassungslos. «Ist das nicht ein bisschen übertrie ben – ich meine, ich hab doch nur ein paar Dateien auf Diskette kopiert?» Zebek lachte glucksend. «Mal im Ernst», sagte Danny. «Sie haben es selbst gesagt: Ich hab keine Ahnung, was läuft. Und Sie reden davon, mich umzubringen? Ich will bloß mein Geld. Also was soll das al les?» Zebek winkte ab. «Wir haben wirklich keine Zeit für große Erklärungen. Deshalb drücke ich es mal so aus: Sie haben Mist gebaut – Ende.» Danny holte tief Luft und beugte sich vor. «Da draußen sind jede Menge Leute», sagte er, entsetzt über den schrillen Ton seiner Stimme. Vielleicht, so dachte er plötzlich, konnte er sich auf Zebek stürzen, irgendwas umkippen, einen Heidenlärm veranstalten, rumbrüllen. «Andererseits», sagte Zebek und hob einen Finger, als wollte er etwas Wichtiges sagen, «würde das keinen großen Spaß ma chen.» Plötzlich hatte der Milliardär ein Grinsen aufgesetzt und blieb abrupt stehen. «Wissen Sie was?» Danny schüttelte den Kopf, spannte alle Muskeln an. Wenn 170
Zebek aufblickte – wenn er seinem Gorilla zunickte – würde Danny über den Schreibtisch hechten. «Sie können gehen», beschloss Zebek. «So macht es mehr Spaß. Wie beim Rennen mit Bruco, ein richtiger Wettkampf.» Der Amerikaner blinzelte. «Was?» «Ich gebe Ihnen fünf Minuten Vorsprung. Danach sind Sie Freiwild.» Danny blickte den Bodyguard hinter sich an, dann wieder zu Zebek. «Sie sind wahnsinnig. Ich meine, im Ernst: Sie sind nicht ganz dicht. Ich meine – krank. Hab ich Recht?» Zebek nickte. «Wahrscheinlich.» Er sah auf seine Uhr. «Viereinhalb Minuten.» Er blickte auf und legte den Kopf schief. «Noch da?» Ein ungläubiges Grinsen. Danny sprang leise fluchend aus seinem Sessel und eilte zur Tür, rechnete halb damit, dass man ihn aufhielt, bereit, jedem einen Haken zu verpassen, der sich ihm in den Weg stellte. «Ich sehe vom Balkon aus zu!», rief Zebek ihm nach. Danny stürmte auf den Korridor, hastete an einer Gruppe NATO-Generäle vorbei zur Treppe und sprang zwei Stufen auf einmal nehmend nach unten. Die Party war in vollem Gange, Lachen und Musik hallte durch den Raum, Stimmengewirr und sonstige Geräusche von hundert Menschen, die sich amüsieren. Bis auf ihn. Er fegte im Laufschritt in den Hof, wartete an der Tür, während einer der Wachmänner leise in ein Handy sprach. Schließlich riss der Wachmann die Tür auf und nickte respekt voll. «Ciao.» Dann war er auf einer Sandbahn, rund zehn Schritte von ei nem Zaun aus rot-weiß gestreiften Barrikaden entfernt. Hinter den Barrikaden standen fünfzigtausend Italiener – und Touri sten –, dicht zusammengedrängt im Innern des Campo. Der Lärm war ohrenbetäubend, die Luft grell und stickig. Ein Poli zist stürmte auf ihn zu, packte ihn am Arm und führte ihn, thea tralisch gestikulierend, von der Rennbahn und schob ihn zu der zusammengepferchten Menschenmenge. Danny zwängte sich 171
zwischen die Barrikaden hindurch und verschmolz mit dem Gewimmel von Zuschauern, hoffte, unter ihnen unsichtbar zu werden. Instinktiv wollte er nur noch laufen und laufen, möglichst viel Distanz zwischen sich und Zebek bringen. Aber in dem dichten Menschengewühl war nicht daran zu denken. Er schob sich Schritt für Schritt weiter, wie durch Treibsand. «Scusi, scusi –» Plötzlich geriet die Menge in Bewegung, und er wurde förm lich von einer menschlichen Flut mitgerissen, hilflos, wie ein Blatt auf einem Fluss. Er war Teil der Menge, und er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Nie zuvor war er in einer solchen Menschenmasse gewesen – es war schlimmer als auf dem Times Square an Sylvester. Die ganze Piazza war ein einziger Pferch in sengender Hitze und wahnsinnigem Lärm, und es stank nach Schweiß, Knoblauch und Pferdemist. Es raubte Danny den Atem, während ihm das Adrenalin durch die Adern schoss. Körper pressten sich von allen Seiten gegen ihn. Ein Ellbogen stieß ihm in die Rippen, eine Gürtelschnalle grub sich in seine Wirbelsäule. Ständig bildeten sich neue Gruppen, denn die Menschen wurden immer wieder von unsichtbaren Kräften getrennt. Contrada-Fans hiel ten sich über die Köpfe hinweg vergeblich an den Händen, um möglichst zusammenzubleiben, während sie lachend und quiet schend in alle Richtungen geworfen wurden. Fahnen flatterten in der Luft. Lieder wurden angestimmt. Menschen riefen ein ander in etlichen Sprachen und Dialekten etwas zu. Irgendwo schlug jemand eine Trommel. Während etwas abseits auf der rechten Seite eine Zeremonie stattfand. Eine Trompetenfanfare schmetterte los, und die Menge brüllte begeistert auf. Danny stellte sich auf die Zehenspitzen und sah, wie die Pferde an den Start geführt wurden. Okay, okay, immer ruhig bleiben, dachte er. Er war eine Na del im Heuhaufen, und es würde an ein Wunder grenzen, wenn 172
Zebeks Gorilla ihn hier fand. Er ließ sich mit der Menge trei ben, bis er in der Mitte des Campo war. Hier war das Auge des Sturms, es herrschte relative Ruhe, Menschen saßen im Schneidersitz auf den Pflastersteinen, erschöpft von der Hitze, dem Lärm und dem langen Warten auf den Beginn des Ren nens. Es war natürlich der schlechteste Platz, um das Rennen zu sehen. Trotz seiner Größe musste Danny sich auf die Fußballen stellen, um die Menge absuchen zu können. Jemand, der klei ner war als er, würde lediglich Hinterköpfe sehen – bis auf die Kinder und jungen Mädchen, die auf den Schultern ihrer Väter und Freunde saßen. Aber Danny interessierte sich nicht für das Rennen. Er ließ den Blick über die Häuser rings um den Platz herum schwei fen, suchte die Balkone ab, bis er Zebek fand. Der Milliardär stand neben einem Pfau, blickte durch ein Fernglas in Dannys Richtung und sprach ruhig in ein Handy. Ihre Blicke trafen sich (Zebek hatte die Sonnenbrille abge nommen), und mit einem Mal fiel es Danny wie Schuppen von den Augen. Der Campo war eine Todesfalle, wo jeder Ausgang blockiert war und es kein Entrinnen gab. Zebek hatte ihn im Visier, seit er den Palazzo verlassen hatte, und Dannys Tod war nur noch eine Frage der Zeit. In dem Getrommel und Gesang, dem Jubel und Lachen würde es kein Mensch mitkriegen, wenn ein Amerikaner mit einem Messer im Rücken zu Boden sank. Als Danny Zebek sah, begriff er, was der Milliardär da oben mit dem Handy machte. Er jagte ihn per Fernbedienung, sagte seinen Leuten, die Danny töten sollten, wo sich ihr Opfer be fand. Die fünf Minuten Vorsprung waren inzwischen längst abge laufen – falls es sie je gegeben hatte. Er blickte sich hektisch um, suchte vergeblich nach den Männern, die ihm auf den Fer sen waren, senkte dann den Kopf und tauchte tiefer in die Menge. Wie aufs Stichwort ging mit einem Donnerschlag ein 173
Kanonenschuss los. Zehn Pferde, mit allen Farben geschmückt, preschten von der Startlinie los, die Menge brüllte, und der Campo verwandelte sich in ein Trampolin, denn Tausende Menschen hüpften auf der Stelle. Neben Danny fuchtelte eine blonde Frau, die auf den Schultern eines Mannes saß und ihm die Fersen in die Rippen grub, wild mit der Faust in der Luft und schrie: «Oca, Oca, Oca!» Danny bewegte sich nach links, den Kopf so tief eingezogen wie möglich, und strebte auf den Torbogen zu, der vom Palaz zo die Pavone am weitesten entfernt lag. Dass ihm in diesem Menschengetümmel jemand folgen würde, hielt er für ausge schlossen – bis er plötzlich etwas sah, das ihn jäh erstarren ließ. Unmittelbar vor ihm zwinkerte ihm von einem schwarzen TShirt eine Pfauenfeder zu. Er blickte hoch und sah direkt in die Augen von Gaetano. Ein Schritt weiter, und er wäre ihm in die Arme gelaufen. Einen langen Augenblick verharrten die beiden auf der Stelle, ein Stillleben inmitten einer tobenden Menge. Zebeks Gorilla hatte ein Handy in der linken Hand und ein Messer in der rechten. Instinktiv senkte Danny zur Täuschung die rechte Schulter, tauchte dann aber nach links ab. Gaetano, der auf die Finte he reingefallen war, hatte im selben Moment seine Waffe mit sol cher Kraft nach oben geschwungen, dass er glatt Dannys Wir belsäule durchtrennt hätte. Danny entdeckte eine Lücke und huschte geduckt durch die Menge, den Kopf tief zwischen den Schultern, von den Balko nen rings herum nicht zu sehen. Die tosenden Zuschauer gerie ten jetzt außer sich, schrien lauter und lauter, als die Pferde, angetrieben von Peitschenschlägen sich der Ziellinie näherten. Und dann war es vorbei, so schnell, wie es begonnen hatte. Die Menschen hielten den Atem an – und dann verebbte das Ge brüll zu einem enttäuschten Raunen, bis plötzlich eine Frau wütend schrie und ein ganzer Chor mit einfiel. Er hat jemanden verletzt, dachte Danny. Als er das Messer 174
nach mir gestoßen hat, muss er jemanden verletzt haben. «E Pavone», klagte ein Mann. «Pavone vince.» Das Schreien der Frau wurde lauter und hysterischer. Danny ging auf das Tor zu. Er hoffte, dass Zebek ihn aus den Augen verloren hatte, aber sicher konnte er sich da nicht sein. Und er konnte auch nicht die ganze Zeit geduckt bleiben. Die Palio-Besucher waren ihren eigenen Zentrifugalkräften hilflos ausgeliefert, strömten den Ausgängen des Platzes zu. Wie alle anderen bewegte Danny sich in Zeitlupe, kam nur mit kleinen Schritt voran. Gut zwanzig Meter vor ihm ragte ein alter Torbogen auf, und wenn er ihn erreichte, konnte er vielleicht entkommen. Zumin dest konnte er dann die Beine in die Hand nehmen. Doch dann spürte und sah er zugleich, wie es links von ihm unruhig wur de, und als er in die Richtung blickte, drängte sich Gaetano rücksichtslos durch die Menge auf seine Beute zu. Die Leute hinter ihm taten ihren Unmut lautstark kund und mussten entsetzt mit ansehen, wie Gaetano einer Frau seine Hand ins Gesicht drückte und sie aus dem Weg stieß. Ein Mann, vielleicht ihr Ehemann, protestierte wütend, sackte dann auf die Knie, als ein Stoß mit dem Kopf ihm das Nasenbein zertrümmerte. Kinder schrien, jemand holte zum Schlag aus, und die Menge wogte in Panik. Neben Danny begann eine dunkelhaarige Frau mit sorgfältig gezogenen Augenbrauen vor Angst zu wimmern. Er wusste, wie ihr zumute war. Nur drei Meter vor dem Aus gang stand die Menge jetzt so dicht gedrängt, dass eine Mas senpanik nicht auszuschließen war. Danny wappnete sich in nerlich dagegen, hielt instinktiv den Atem an, als der Boden zu schlingern schien. Dann drängte die Menge vorwärts und er wurde durch den Torbogen katapultiert, wie ein Champagner korken durch ein Zimmer. Die Menschen stoben vom Campo in alle Richtungen, und der Abstand zwischen ihnen wurde zunehmend größer. Danny 175
fiel in Trab, und dann lief er so schnell er konnte. Er nahm den Weg des geringsten Widerstandes und sprintete im Zickzack kurs eine alte Straße hinunter, die mit Flaggen behängt war. Links, recht, links, eine Gasse hoch und eine Arkade hinunter, bis er nicht mehr konnte. Als ihm der Atem ausgegangen und das Adrenalin verbraucht war, lehnte er sich gegen ein Schau fenster und schnappte nach Luft. Er hatte keine Ahnung, wo er war, wusste nur, dass er vom Campo aus bergab gelaufen war. Eine dunkelhaarige Frau in einem lavendelfarbenen Rock kam um die Ecke, mit einem kleinen Mädchen an der Hand. Als sie den schnaufenden Danny sah, den sie vermutlich für betrunken hielt, wechselte sie auf die andere Straßenseite. In einem Café gegenüber standen einige Männer und sahen sich die Wiederholung des Rennens im Fernsehen an. Sobald Danny wieder zu Atem gekommen war, folgte er der Straße den Hügel hinab und überlegte, wo er sich befand, wo er hin gehen und was er tun sollte. Als Erstes, dachte er … Inzaghi anrufen. Er hatte die Telefonnummer des Priester auf einem Zettel in seiner Brieftasche stehen, und er hatte auch noch Ze beks Handy. Er wusste zwar, dass der Milliardär seine Anrufe zurückver folgen konnte, doch er hatte keine Wahl, er musste Inzaghi warnen. Zebek hatte ohnehin vor, sie beide umzubringen. Das Telefon klingelte viermal, dann sprang der Anrufbeant worter an. Danny wartete den Piepston ab und sprach eine ziemlich chaotische Nachricht auf: Vergessen Sie unsere Ver abredung. Sie müssen verschwinden. Er weiß das mit den Da teien. Fragen Sie Ihren Anrufbeantworter ab. Ich rufe alle paar Stunden wieder an. Als Nächstes: Er musste an seine Tasche aus dem Hotel kommen. Sein Ticket war darin. Und die Diskette. Dann würde er mit einem Taxi in eine andere Stadt fahren, wo Zebek ihn nicht suchen würde. Dann mit dem Zug nach Rom, in ein Hotel und am nächsten Morgen zum Flughafen. Wenn er wieder zu 176
Hause war, würde er der Sache auf den Grund gehen. Sich die Diskette mit Terios Dateien ansehen. Das FBI einschalten. Himmel und Hölle in Bewegung setzen. Aber zuerst die Reisetasche. Zum Hotel konnte er nicht. Ze bek würde es ganz bestimmt beobachten lassen. Aber er konnte die Rezeption anrufen und sich sein Gepäck mit einem Taxi bringen lassen. Danny ging in ein Café in einer kleinen Straße der DrachenContrada, bestellte einen doppelten Espresso und suchte die Visitenkarte des Hotels in seiner Brieftasche. Als er sie fand, bat er den barista, ob er mal telefonieren dürfte. Dann wählte er die Nummer vom Scacciapensieri. «Wäre es wohl möglich, dass Sie mir ein Taxi schicken?», fragte Danny den Portier. «Kein Problem, Signore –» «Mit meiner Reisetasche, die ich bei Ihnen deponiert habe.» Der Portier lachte. «Das ist leider zu spät. Signore Zebek hat Ihr Gepäck vor einigen Minuten abholen lassen. Aber keine Sorge, die Herrschaften sind noch da. Sie warten draußen auf Sie. Vielleicht brauchen Sie also gar kein Taxi. Möchten Sie einen von ihnen sprechen?»
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Außerhalb der Stadt traf er auf drei Engländer aus Liverpool, die mit ihrem Mietwagen, einem VW Golf, eine Reifenpanne hatten. Sie hatten schon einige Dosen Bier intus und mühten sich vergeblich mit einem Wagenheber ab. «He, Kumpel!», rief einer von ihnen Danny zu und hob den Wagenheber in die Luft. «Kennst du dich vielleicht mit dem Ding hier aus?» Es war ein moderner Scherenwagenheber, mit dem Danny sich in der Tat auskannte. Schnell war der Reifen gewechselt, und seine neuen Freunde waren ihm so dankbar, dass sie ihm eine Dose Bier in die Hand drückten und ihm anboten, ihn überallhin mitzunehmen – vorausgesetzt, er fuhr. Sie entschieden sich für das gut zwanzig Meilen entfernte San Gimignano, das berühmte Städtchen in den Bergen, das wegen seiner Türme, die sich gegen den Himmel abzeichneten, das Manhattan der Toskana genannt wurde. Danny brachte die Engländer zu einer kleinen Pension und machte sich dann auf die Suche nach einem Taxi. Keine Chan ce. Einer nach dem anderen schenkten die Taxifahrer von San Gimignano ihm einen bedauernden Blick oder lachten ihm ins Gesicht. Gegen eine Fahrt nach Rom hätten sie nichts einzu wenden, erklärten sie, nur die Rückfahrt schmeckte ihnen nicht. Dann wären sie ja erst am nächsten Morgen wieder da. Ein Packen Scheine hätte vielleicht geholfen, aber den hatte er nicht. Am Busbahnhof hatte er mehr Glück. Es gab einen Über landbus, der in einer halben Stunde nach Florenz abfuhr, von wo er eine Viertelstunde später mit einem anderen Bus nach Rom fahren könnte. Er kaufte eine Fahrkarte nach Florenz, ging dann in ein Café auf der anderen Straßenseite und bestell 178
te eine Flasche Peroni. Er holte das Handy heraus und wählte Inzaghis Nummer. Diesmal wartete er nicht, bis der Anrufbeantworter ansprang. Nach dem dritten Klingeln legte er auf. Er hätte ohnehin nur die gleiche Nachricht hinterlassen wie zuvor. Und außerdem bereitete ihm das Handy allmählich Kopfzerbrechen. Konnte man damit seine Spur verfolgen? Er hatte mal in der Zeitung von einer Frau gelesen, die ent führt worden war. Sie war in den Kofferraum eines Wagens eingesperrt gewesen und hatte mit ihrem Handy die Polizei angerufen, die den Anruf dann von einer Handyantenne zur nächsten verfolgen konnte. Auf diese Weise fanden sie ziem lich bald heraus, dass der Wagen nur auf einer bestimmten Straße unterwegs sein konnte. Dort wurde dann eine Straßen sperre errichtet, und die Frau konnte befreit werden. Konnte Zebek das auch? Danny starrte das Handy in seiner Hand an. Wahrscheinlich nicht, beschloss er. Und falls doch, Danny hatte schließlich nicht vor, ständig zu telefonieren und an einem Ort zu bleiben. Also dürfte keine Gefahr bestehen, es sei denn … Es sei denn, das Handy war moderner als das der Frau im Kofferraum – was eigentlich anzunehmen war. Zebek hatte ja selbst gesagt, dass er bei so ziemlich allen Technologien auf dem neuesten Stand war. Und es gab bereits Handys mit GPSSender, die bis auf wenige Meter genau zu orten waren. Weg damit, dachte Danny, trank sein Glas leer, warf das Handy auf dem Weg nach draußen in einen Abfalleimer und ging zurück zur Bushaltestelle. Eine Stunde später war er in Florenz, und zwanzig Minuten danach saß er in einem zweiten Bus nach Rom. Diesmal hatte er einen Platz ganz vorn, wo er einen guten, aber auch unausweichlichen Blick auf einen Mo nitor hatte, der einen Videofilm zeigte. Es war ein Disney-Film – Die unglaubliche Reise –, und er fing an, als der Bus losfuhr. 179
Danny sah aufmerksam zu, wie zwei Hunde und eine Katze in einer gefährlichen Welt den Weg nach Hause suchten. Sie erlebten ein Abenteuer nach dem anderen, wobei sie sich aus so manch brenzliger Situation nur mit knapp Not retten konn ten, und die ganze Zeit über sprachen sie Italienisch. Natürlich war es ein Kinderfilm, aber trotzdem war Danny völlig von der Geschichte gebannt. Für Ian wäre das wieder ein Beweis gewesen, dass er die emotionale Reife eines Fünfjähri gen hatte. Er konnte Dannys Popkultur-Vorlieben gnadenlos verurteilen. «‹Offen› sein, dagegen ist ja nichts einzuwenden», hatte er mal gesagt, «aber deshalb sollte man sich nicht gleich aufführen wie ein Mülleimer mit aufgeklapptem Deckel.» Und damit spielte er darauf an, dass Danny die Cowboy Junkies hörte und Calvin & Hobbes interessanter fand als Andy War hol. Caleigh mochte gerade diesen Aspekt an Danny. Dass er ebenso gern in ein Verdi- wie in ein Punk-Konzert ging. Caleigh. Der Gedanke an Caleigh erinnerte ihn an Paulina, und Paulina erinnerte ihn an die Schwierigkeiten, in denen er steckte – bis über beide Ohren. Ein leises Stöhnen entfuhr sei nen Lippen, was die Frau neben ihm veranlasste zu nicken und in Richtung Fernseher zu lächeln. «Si», flüsterte sie, «è così triste.» Ihre Augen waren feucht, wie Danny sah, und was noch schlimmer war, seine Augen auch. Während der Bus durch die Dämmerung fuhr, starrte er auf sein Spiegelbild im Fenster und fing an, mit Gott zu verhan deln. Falls er die Sache überlebte, würde er Caleigh heiraten und ihr auf immer und ewig treu sein. Obwohl er nicht an Gott glaubte. Nicht richtig. Aber irgendwie doch. Ein unauslöschli cher katholischer Kern musste seine Kindheit überstanden ha ben, denn er dachte plötzlich, dass es ihm eigentlich Pluspunk te einbringen müsste, wenn es ihm gelang, Inzaghi zu retten. Schließlich war der Mann Priester. Zebeks Gesicht tauchte vor seinem inneren Auge auf, die 180
dunklen Augen des reichen Mannes fixierten ihn, sein Stock durchschnitt die Luft: Ich sag Ihnen was, Daniel, bevor Sie jemanden über den Tisch ziehen, sollten Sie sich genau anse hen, mit wem Sie es zu tun haben. Danny dachte an Chris Terio in seiner kleinen Gruft, an den in der Wüste zu Tode gequälten Jason Patel, an Terios niedergebranntes Haus. Wer sich Zebek widersetzte, starb. Er musste daran denken, was der Milliardär mit Dannys Stimme am Telefon zu Inzaghi gesagt hatte. Er hatte dem Prie ster gesagt, er werde um neun oder zehn in Rom sein – ein oder zwei Stunden, bevor Danny dort eintreffen konnte. Zebek hatte Danny das Telefonat mithören lassen, er konnte sich also den ken, dass Danny versuchen würde, den Priester zu warnen. Vielleicht zählte Zebek genau darauf und würde Danny dort auflauern. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Aber das würde Danny nicht zulassen. Sobald er bei Inzaghi war, würde er ein richtiges Tohuwabohu veranstalten – Feueralarm auslösen, die Polizei rufen, egal was. Er war entschlossen, den Priester zu warnen. Irgendwie. «Ecco!», rief der Fahrer plötzlich, denn der Bus hatte den Busbahnhof von Rom erreicht. Die Türen öffneten sich zi schend und entließen die Fahrgäste in die warme römische Nacht. An allen Haltebuchten warteten Menschen auf Freunde und Verwandte, während Reisende sich durch das Gedränge in die Busse zwängten. Die Fahrer zogen Gepäckstücke aus den Ladeklappen der Busse, Lautsprecher dröhnten unverständlich. Danny folgte dem Menschenstrom vom Busbahnhof zur Straße. Grüppchenweise warteten die Leute an scheinbar belie bigen Stellen am Straßenrand auf Taxis. Von einer Warte schlange oder irgendeinem erkennbaren System konnte keine Rede sein. Nach zehn Minuten schnappte Danny einer gut ge kleideten Frau in Rot das Taxi weg, indem er ungeachtet ihrer wilden Gesten und lautstarken Beschwerden an ihr vorbei auf den Rücksitz schlüpfte. Als der Fahrer ihn auf Italienisch an 181
sprach, gab Danny ihm die Visitenkarte mit Inzaghis Adresse. Der Fahrer warf einen Blick darauf, kurbelte dann das Seiten fenster herunter und beschimpfte die Frau in Rot, die auf den Kotflügel des Taxis geschlagen hatte. Dann lachte er. «Andia mo», sagte er, und das Taxi fuhr mit einem Ruck los. Die Innenstadt von Rom hatte anscheinend keinerlei Durch gangsstraßen, so dass die Fahrt zur Via della Scrofa auch nach zwanzig Minuten und mindestens ebenso so vielen Abbiegun gen noch immer nicht zu Ende war. Regentropfen spritzten auf die Scheibe. Der Asphalt glänzte. Neonlicht bildete Pfützen auf der Straße, genau wie in einem Film von Michael Mann – oder einem Hiroshige-Holzschnitt. Trotz der späten Stunde und des Regens waren die Straßen belebt. In den Cafés, den Bars und vor den Eisständen drängten sich Menschen, an den Straßenecken standen Fußgänger in dichten Gruppen und warteten auf eine Lücke im Verkehr. Der Fahrer drückte hin und wieder auf die Hupe, um einem Bumm ler Beine zu machen. An einer Ecke sah Danny, wie ein junges Pärchen aus dem Weg sprang. Sie lachten – der Mann hatte einen Arm um die Schulter der Frau gelegt. Sie hatte ein Eis in der Hand und leckte daran, rundete dann den Mund zu einem genießerischem O. Irgendwas an ihr erinnerte ihn an Caleigh, was ihm plötzlich einen Stich versetzte. Was hatte er bloß hier in Rom zu suchen? Alles, was er liebte, war in Washington. Was hatte er sich nur dabei gedacht, hierher zu kommen? Der Fahrer trommelte mit den Fingern auf dem Armaturen brett. «Merda», brummte er, drehte sich dann zu Danny um und schleuderte ihm eine Frage entgegen. «Tut mir Leid», sagte Danny mit hilfloser Miene. «Non capisce?» Der Fahrer lehnte sich zurück und seufzte. Eine Vespa knatterte vorbei, mit nur einer Handbreit Abstand, während der Fahrer ein kleines Buch nahm und darin blätterte. Schließlich stellte er den Taxameter ab, stieg aus und öffnete 182
die hintere Tür. «Camminata», sagte er. «Sie jetzt gehen.» «Ich tu was?» «Nicht weit. Accidente.» Danny sah, was er meinte. Der Verkehr staute sich. Danny stieg aus, bezahlte den auf dem Taxameter angezeigten Betrag und legte noch etwas Trinkgeld drauf. «Wohin?», fragte er und blickte in die eine und andere Richtung. Der Fahrer seufzte und zeigte rechts und links und wieder rechts. «A destra, a sinistra, a destra, okay?», sagte er. Danny nickte, nicht sicher, ob es okay war oder nicht. Der Fahrer lächelte ihn aufmunternd an und klopfte ihm leicht auf die Schulter. «Ciao», sagte er und schob sich wieder hinters Steuer. Danny folgte der Wegbeschreibung und gelangte immer tie fer in eine Arbeitergegend. Nach jeder Biegung setzte der Stau sich fort. Leute standen auf Zehenspitzen neben ihren Autos, reckten den Hals, um zu sehen, was passiert war. Danny ging weiter, bis er an einer Häuserecke ein Schild sah: VIA DELLA SCROFA. Es war eine breite, von Geschäften gesäumte Straße, aber sie verlief nicht gerade. Nach einem kurzen Stück bog sie scharf nach links ab. «Che cos’è questo?», fragte ein silberhaariger Mann, doch Danny konnte nur mit den Schultern zucken. Er kam an einer Galerie vorbei, einem Schuster, einem Antiquariat. Dann bog er wieder um eine Ecke und sah, was den Stau verursachte. Blaulicht flackerte über die Wände der alten Gebäude, warf Lichtpfützen auf das nasse Pflaster. Mitten auf der Straße drängten sich Menschen vor einer Polizeiabsperrung, reckten die Hälse, um etwas sehen zu können. «Che cos’è?» «Che è questo?» «Alastair?», fragte eine Frau mit stark britischem Tonfall. «Ist da ein Unfall passiert?» «Keine Ahnung, Liebes. Ich kann nichts sehen.» 183
Danny zog sich der Magen zusammen, als er einen Blick auf die Wand über dem Antiquariat warf. Der Hausnummer nach musste Inzaghi ganz in der Nähe wohnen. Alastair wandte sich an ihn und stellte die Frage fließend auf Italienisch. Danny zuckte die Achseln. «Und?», wollte die Frau wissen. «Er weiß es auch nicht», erwiderte ihr Mann. Dann teilte sich die Menge, als ein weiterer Polizeiwagen hupend zu der Absperrung rollte. Die Leute im Stau verloren langsam die Geduld. Ein Hupkonzert ertönte. «Ich frage einen Polizisten, wie lange das noch dauert. Geh du schon mal zurück zum Wagen.» «Das kann ja noch Ewigkeiten dauern», klagte die Frau. «Vielleicht auch nicht», beruhigte Alastair seine Frau und schob sich durch die Menge. Danny wusste nicht, was er tun sollte. Er ahnte Furchtbares und merkte, dass er wie erstarrt war. Schließlich kam Alastair zurück, und Danny fragte ihn: «Ein Verkehrsunfall?» Der Brite musterte den Amerikaner leicht verblüfft, schüttelte dann das silberne Haupt. «Selbstmord», sagte er. «Einer von den Padres aus der Casa Clera. Ist aus dem Fenster gesprun gen.» Als er Dannys entsetzte Miene sah und sie für Verärge rung hielt, beugte er sich vor und knurrte: «Keine Rücksicht auf andere, wie üblich.» Danny hätte am liebsten Reißaus genommen, doch die Ab sperrung zog ihn an, lockte ihn immer näher zum Schauplatz des Geschehens. Er sah zwei Polizeiwagen und einen Ret tungswagen, und zwei Polizisten hielten die Schaulustigen fern. Hinter der Absperrung war ein Fotograf bei der Arbeit, wie das immer wieder aufzuckende Blitzlicht vermuten ließ. Danny drängte sich bis ganz nach vorn und hatte schließlich unverstellte Sicht. Inzaghi, mit blauem Hemd und dunkler Ho se bekleidet, lag auf der Straße, tot. Ein Arm war ausgestreckt, 184
die rechte Hand brutal nach hinten geknickt. Ein Bein lag ver dreht unter dem anderen, als hätte man sein Knie in einen Schraubstock gespannt und das Bein um hundertachtzig Grad gedreht. Das Blitzlicht des Fotografen ging immer wieder los, wie die perverse Imitation eines Modeshootings. Im kalten Licht der Kamera sah Danny, dass der Kopf des Priester nicht mehr symmetrisch war. Die linke Seite war grotesk abgeflacht, und Flüssigkeit sickerte heraus. Danny war fast so reglos wie der Priester, unfähig, seine Au gen von der Blutlache um Inzaghis Kopf loszureißen. Alle werden denken, es war Selbstmord, dachte Danny. Inzaghis Freunde und seine Familie, die Menschen, die ihn geliebt ha ben – in ihre Trauer werden sich Schuldgefühle mischen, dass sie nicht für ihn da waren, als er sie gebraucht hätte. Eine Rollbahre holperte über das Pflaster. Die Absperrung wurde geöffnet, um einen Sanitäter durchzulassen. Ein Kollege folgte mit einem Leichensack. Nach einem kurzen Gespräch mit einem Kripobeamten zogen die Sanitäter sich Latexhand schuhe über und hoben den toten Priester behutsam in den ge öffneten Leichensack. Dann zogen sie den Reißverschluss zu. Die Menge begann, sich aufzulösen. Hinter der Absperrung sah Danny eine Gestalt, die ihm bekannt vorkam. Ein bulliger Typ, der den Blick über die Schaulustigen gleiten ließ. War das Gaetano? Sicher war Danny sich nicht, aber es lag auf jeden Fall im Bereich des Möglichen. Zebek rechnete damit, dass er herkommen würde. Rätselhaft war nur, warum sie nicht einfach still und ruhig in der Wohnung des Priesters gewartet hatte. Aber vielleicht hatten sie das ja – und Inzaghi hatte sich ge wehrt. Vielleicht – Vielleicht sollte ich lieber woanders darüber nachdenken, dachte Danny, drehte sich um und schlenderte davon. Es koste tet ihn große Mühe, nicht nach hinten zu schauen. Ein- oder zweimal tat er so, als würde er sich die Auslage in einem Schaufenster ansehen, während er in Wahrheit das Spiegelbild 185
der Straße in der Scheibe studierte. Es regnete nicht mehr so stark, und das Nieseln wurde zu einem Dunstschleier. Dann hörte es ganz auf, und die Wärme schien die Feuchtigkeit förmlich aus der Luft herauszusaugen. Er konnte nicht sagen, ob er verfolgt wurde. Es waren zu viele Leute auf der Straße unterwegs, und im Grunde wusste er auch nicht, nach wem er Ausschau halten sollte – Gaetano, klar, aber Zebek hatte ja noch mehr Gorillas. Danny bog um eine Ecke und beschleunigte seine Schritte, bis er lautes Lärmen hörte und gleich darauf auf einen großen Platz gelangte. Er wusste sogleich, wo er war. Berninis VierStröme-Brunnen war wie ein reißender Strudel inmitten des Platzes – er befand sich auf der Piazza Navona. Obwohl es schon spät war, wimmelte der Platz vor Men schen. Und es herrschte richtige Marktatmosphäre. Er schlen derte an Karikaturisten vorbei, die rings um den Platz im Licht der Laternen arbeiteten. Auf Tischen wurden Souvenirs, Rosen und Halstücher und Gott weiß was sonst noch feil geboten, alles schön mit Plastikfolie abgedeckt. Er kam an einer Gruppe Jungen vorbei, die eine Gruppe Mädchen ärgerte, und sah sich plötzlich von batteriebetriebenen Katzen umgeben, die einem Afrikaner offenbar ungeheuren Spaß bereiteten. Mit grünen, glühenden Augen wippten die Roboter von Pfote zu Pfote und stießen leises Miauen aus. Danny ging zu dem Brunnen, schöpfte Wasser mit der hohlen Hand und ließ es sich über den Nacken laufen. Was nun? Seine Augen ruhten auf dem monumentalen Werk, das von Schein werfern im Wasser angestrahlt und von einer Mückenwolke umschwirrt wurde. Was jetzt? Er kam sich wie gestrandet vor, in Zeit und Raum. Bis er In zaghis Leichnam vor Augen gehabt hatte – den zerschmetterten Kopf und das Blut –, war seine eigene missliche Lage eher theoretisch als real gewesen. Er hatte Zeitungsberichte über Terios Tod gelesen, einen Fernsehbericht über Patels Ermor 186
dung gesehen und aus Zebeks Mund erfahren, dass der Milliar där ihn umbringen wollte. Aber jetzt war alles anders. Auf dem Boden war Blut. Wenn er gewollt hätte, dann hätte er einen Finger – ja, die ganze Hand – in die Wunden des Priester stek ken können. Ihm fiel ein, dass er vielleicht zur amerikanischen Botschaft gehen und um Hilfe bitten sollte. Aber was könnte die Bot schaft schon ausrichten? Sie würden ihn einfach zur Polizei schicken – und was könnte er denen sagen? Dass Zebeks Leute einen Priester umgebracht hatten? Danny konnte sich die Reak tion gut vorstellen. Sie würden ihn auf das Naheliegende hin weisen – dass Zebek ein bedeutender Mann sei. Sie würden Danny skeptisch betrachten und fragen: Was für Beweise ha ben Sie? Wenn er die Diskette mit der Kopie von Terios Akten noch hätte, würde es vielleicht etwas bringen, zur Polizei zu gehen. Er wusste nicht, was die Dateien enthielten und jetzt würde er es wahrscheinlich auch nicht mehr erfahren, aber worum es sich auch handelte, es musste wichtiges Beweismaterial sein. So wichtig, dass Inzaghi dafür umgebracht worden war. Aber die Diskette war natürlich in seiner Reisetasche, und seine Rei setasche hatten Zebeks Leute in Siena aus dem Hotel geholt. Er hatte also nichts in der Hand. Und wenn die Polizei wissen wollte, in welcher Beziehung er selbst zu dem Priester gestanden hatte? Wahrscheinlich würden sie dahinter kommen, dass er sich als Polizist ausgegeben hatte. Das würde sie neugierig machen, aber nicht so, wie Danny es lieb wäre. Und wenn Danny dann noch einen Zusammenhang zu den Morden an Terio und Patel beschwor, was dann? Die Cops würden entweder die Hände überm Kopf zusammen schlagen (das fiel nun weiß Gott nicht in ihre Zuständigkeitsbe reich), oder sie würden ihn einsperren – ob nun ins Gefängnis oder in eine Anstalt, bliebe abzuwarten. Die Polizei kam also nicht in Frage. 187
Damit blieb nur noch Plan B. Klappe halten und ab nach Hause. Danny wünschte sich nichts sehnlicher, als wieder bei Caleigh und in seinem Atelier zu sein. Leider kam die Heim reise genauso wenig in Frage wie ein Gespräch mit der Polizei. Denn damit rechnete Zebek bestimmt. Er würde Danny zu Hause auflauern, wartete vielleicht schon auf ihn. Aber … Danny wäre wieder auf vertrautem Gebiet. Und was auch ge schah, es würde in seiner Muttersprache geschehen. Er würde zumindest verstehen, was passierte. Andererseits hatte der Heimvorteil weder Chris Terio noch Jason Patel viel genützt. Und dann war da noch Caleigh. Wenn er jetzt nach Hause zurückkehrte, brachte er sie direkt in die Schusslinie, wenn sie sich nicht schon darin befand. Bei dem Gedanken setzte Danny sich kerzengerade auf. Wie viel wusste Zebek über ihn – wirklich? Danny überlegte und kam zu dem Schluss: Ziemlich viel. Er wusste von der Ausstellung in der Torpedo Factory, und er hatte die Skulptur aus gebürstetem Aluminium in Les Yeux de Monde gesehen. Dann wusste er vermutlich auch von Caleigh. Und wahrscheinlich noch einiges mehr. Er musste dringend telefonieren. Danny suchte sich eine Telefonzelle. Er brauchte eine Weile, bis er ausgeknobelt hatte, wie es funktionierte. Als die Verbin dung zustande kam, war sie verblüffend klar. Doch er hörte nur seine eigene Stimme. «Hi, hier ist der Anschluss von Caleigh und Dan. Wir sind zurzeit nicht zu Hause …» Es war kurz nach Mitternacht in Rom, also sechs Uhr abends in Washington – Caleigh konnte überall sein. Noch im Büro. In der Metro. Oder sie kam gerade die Treppe zur Wohnung hoch. Er rief bei ihr im Büro an; dort meldete sich nur ihre VoiceMail. Aber jetzt hörte er wenigstens ihre Stimme, was eine brennende Sehnsucht in ihm weckte. Nach dem Piepton wollte er schon sagen, dass er in Schwierigkeiten stecke, in großen Schwierigkeiten, aber worum es genau gehe, sei schwer zu 188
erklären. Er wollte sagen, sie solle besser für ein paar Tage zu ihrer Freundin Michelle gehen – Nein. Dann würde sie sich bestimmt nur ängstigen … um ihn. Sie würde bleiben, wo sie war und auf einen weiteren Anruf von ihm warten. Also sagte er: «Hallo, Schatz. Schade, dass ich dich nicht mehr erwischt habe. Hier ist es ziemlich verrückt, aber … ich ruf morgen noch mal an. Denk immer schön dran, äh, die Wohnungstür abzuschließen, ja?» Und wie ging’s jetzt weiter? Er war zu müde, um noch einen klaren Gedanken zu fassen. Er brauchte ein Hotel. Doch die meisten in der Gegend um die Piazza Navona hatten drei oder vier Sterne neben ihrem Namen, und er brauchte etwas Billige res. Am liebsten etwas ganz ohne Sterne. Ein Meteorit oder ein Halbmond wäre schön, vielen Dank. Nach einer Weile kam Danny auf die kleine, belebte Piazza della Rotonda, wo er dem düsteren Pantheon gegenüber das Zwei-Sterne-Hotel Abruzze entdeckte und prompt hineinmar schierte. Er füllte die Anmeldung aus und zahlte in bar. «Nessun bagaglio?», fragte der Mann an der Rezeption. Danny konnte sich denken, was er meinte. «Die Airline hat es verloren», erklärte Danny. Der Portier verdrehte die Augen und lachte traurig. Dann nahm er einen Schlüssel vom Schlüsselbrett hinter sich und ging vor Danny die Treppe hinauf in den zweiten Stock, wo er die Tür zu einem kleinen Zimmer mit hoher Decke öffnete. «Caldo», sagte der Mann, ging zum Fenster und klappte die Läden auf. Eine milde Brise bewegte die Vorhänge. Der Portier lächelte und nickte aufmunternd. Dann lächelte er wieder. Müde wie er war, kapierte Danny zuerst nicht, was der Mann von ihm woll te. Als ihm endlich ein Licht aufging, suchte er in seinen Ta schen und holte einen Dollar hervor. «Grazie, e buona notte», sagte der Mann, nahm das Geld und ging aus dem Zimmer. 189
Endlich allein ließ Danny sich rückwärts aufs Bett fallen und schloss die Augen. Draußen auf dem Platz seufzte angenehm ein Saxophon, ein Brunnen plätscherte. Zwischen herzhaftem Lachen war mal Italienisch, mal Französisch, mal Englisch zu hören. Was spielte der Saxophonist da unten? Der Titel des Songs wollte ihm einfach nicht einfallen – doch dann erinnerte er sich. «My Funny Valentine.» Er wusste nicht, ob er weinen oder lachen sollte. Und er wusste auch nicht, wann er eingeschlafen war, aber wer weiß das schon. Irgendwann jedenfalls spürte er die Sonne im Gesicht und hörte die ersten Takte einer allmählich anschwellenden Sinfo nie von geschäftigen Müllwagen und Motorrollern. Blinzelnd wurde er wach, blickte auf seine Uhr und sah, dass es kurz nach sechs Uhr morgens war. Er hätte länger schlafen sollen, dachte er. Aber nein, er muss te mit Caleigh sprechen, und je eher er sie anrief, desto besser. In Washington war es jetzt kurz nach Mitternacht – Caleigh würde bestimmt zu Hause sein. In seinem Zimmer war kein Telefon, also ging er nach drau ßen zu einer Telefonzelle. Caleigh meldete sich nach dem zweiten Klingeln, ihre Stimme klang verschlafen und irgendwie bedrückt – als würde sie ihn vermissen. Das unsichere «Hallo?» rührte ihn, und am liebsten hätte er ihr auf der Stelle einen Heiratsantrag gemacht, aber er unterdrückte den Impuls. Einen Heiratsantrag machte man nicht am Telefon. «Hallo, Schatz …» Die Verbindung war absolut klar, und als Caleigh nicht antwortete, knisterte ihr Schweigen förmlich. «Caleigh?» «Du Scheißkerl.» Und weg war sie. Eine Sekunde lang dachte er, er hätte sich verwählt. Aber das war reines Wunschdenken. Natürlich war sie das gewesen. Nicht gut, dachte er. Das kann ich jetzt gar nicht gebrauchen – 190
überhaupt gar nicht. Er wählte erneut. Diesmal meldete sich der Voice-MailService, was nur zweierlei bedeuten konnte: Sie wollte weder mit ihm sprechen noch seine Stimme auf dem Anrufbeantwor ter hören. Als das Signal ertönte, sagte er: «Hör zu, Caleigh, ich stecke hier in ziemlichen Schwierigkeiten, also …» Also was? «Ich bin im Hotel Abruzze in Rom. Ruf mich an.» Er kramte die Visitenkarte vom Hotel aus der Tasche und gab die Telefonnummer durch. Dann stand er fast eine volle Minute lang da und dachte über ihren Tonfall nach. Wütend, verletzt, wütend – eher das eine als das andere, aber er konnte nicht sagen, was. Nicht anhand zweier Worte. Er war verwirrt, und nicht nur das: Er war stink sauer. Er hatte auch so schon genug Sorgen, sie musste ihm nicht auch noch die Hölle heiß machen, nur weil er nicht jeden Abend angerufen hatte. Was hatte sie überhaupt für ein Pro blem? Er musste wissen, was los war, doch obwohl es in den Staa ten schon Schlafenszeit war, wollte er nicht bis zum Nachmit tag warten. Er rief Jake an. Leider war er stoned – und hatte Caleigh seit der Ausstellung in der Petrus Gallery nicht mehr gesehen. «Von wo rufst du an?» «Rom.» Pause. «Italien?» «Ja.» Kurzes Schweigen. «Was machst du in Italien? Urlaub?» «Nein. Ich arbeite. Das heißt, ich versuche vor allem, nicht umgebracht zu werden.» Jake lachte. «So kenn ich dich! Detektiv Magnum!» «Ich meine es ernst!» «Klar meinst du es ernst. Aber das ist nun mal dein Job. Du stellst dich der Gefahr. Genau wie ein Flugzeugträger, bloß …», er überlegte kurz … «kleiner.» 191
«Was rauchst du?», fragte Danny. «Was glaubst du denn wohl, was ich rauche?», erwiderte Ja ke. «Ich bin Künstler.» So ging es ein oder zwei Minuten weiter, dann fragte Danny nach der Telefonnummer von Michelle Peroff. Sie war Ca leighs beste Freundin und hatte mal ein Date mit Jake gehabt. Wenn jemand wusste, was mit Caleigh los war, dann Michelle. Und tatsächlich. «Ich glaub’s nicht», sagte Michelle, als er sie am Apparat hatte. «Wieso?» Ihrem Tonfall konnte er entnehmen, dass das nicht freudig gemeint hatte. «Du bist so ein Arsch! Wie konntest du nur?» «Wie konnte ich was?» «Ihr das schicken.» «Ihr was schicken?» «Diesen … Anhang.» Er hatte keinen Schimmer, wovon sie redete. «Was für einen Anhang?» «Den Videoclip – in deiner E-Mail? Zum Runterladen. Was sie auch prompt getan hat.» Danny schüttelte den Kopf, als wollte er ihn klar bekommen. Dann holte er tief Luft und atmete aus. «Hör mal, Michelle –» «So was ist doch krank!» «Ich hab ihr gar nichts geschickt», erklärte Danny. «Ich hab hier ja nicht mal einen Computer. Was für einen Videoclip?» «Ach, hör doch auf.» Allmählich hatte er die Nase voll. «Michelle, ich weiß nicht, was du meinst, wirklich nicht. Deshalb frage ich dich. Wovon redest du?!» «Ich rede von dir und deiner Tussi.» «Meiner ‹Tussi›? Welche Tussi?» «Woher soll ich das wissen? Sie ist schließlich deine Tussi! Was sollte das, wolltest du angeben oder was?» 192
Er wusste nicht, was er sagen sollte. «Hast du gedacht, du kannst Caleigh damit eifersüchtig ma chen –» «Nein –» «Es ist dir nämlich auch nicht gelungen. Du hast sie … bloß dadurch verloren. Wie betrunken kann man eigentlich sein?» «Ich weiß nicht», gestand Danny. «Ich meine, ich weiß über haupt nicht, worüber wir hier reden.» Michelle lachte hämisch. «Ach nein?» Sie hielt inne. «Weißt du was? Ich hab wirklich gedacht, du wärst ein netter Kerl, aber … ruf mich nicht mehr an, ja?» Und sie legte auf. Lange Zeit rührte er sich nicht von der Stelle, während er das Gespräch noch einmal Revue passieren ließ und versuchte, daraus schlau zu werden. Irgendwie hatte er den leisen Ver dacht, dass Michelle von Paulina geredet hatte. Was anderes kam eigentlich nicht in Frage. Deine Tussi. Aber ein E-MailAnhang? Wie war das möglich? Dann hätte im Zimmer eine Kamera sein müssen, und … Wäre Zebek dazu imstande? Danny überlegte und kam zu dem Schluss: Ja. Was Dannys plötzliche und wirklich überaus verblüffende Beliebtheit beim anderen Geschlecht erklärte. Er war also doch nicht unwiderstehlich. Bloß ein Trottel. Was hatte Paulina zu ihm gesagt? Sind Sie auch riesengroß? Er schüttelte den Kopf. Leise vor sich hinmurmelnd stolperte er zurück in sein Ho telzimmer, zog sich aus und ging unter die Dusche, die eher ein Nieselregen als ein Regenguss war, eher lauwarm als heiß. Trotzdem ließ er sich zehn Minuten einweichen und dachte nach. Er hatte zwar keine Idee, aber er musste etwas unterneh men. Er trocknete sich in aller Eile ab, zog sich an und hastete aus dem Hotel. Ihm war eingefallen, dass er am Abend zuvor auf einer Seitenstraße der Via del Corso ein Internet-Café ge sehen hatte. Unterwegs überlegte er, was er tun sollte. Zur Polizei konnte er nicht und nach Hause auch nicht. Da mit blieb nur noch … Plan C. Herausfinden, was Sache war – 193
zumindest so viel, dass die Polizei ihm Gehör schenken muss te, wenn er sich dann doch an sie wendete. Leider Gottes waren seine einzigen Anhaltspunkte nur die paar Telefonate, die Terio geführt hatte; bevor er sich einmauerte. Zwei mit Palo Alto, zwei mit Istanbul, eins mit Oslo. Palo Alto hatte sich erledigt, aber der Typ in Istanbul war vielleicht noch erreichbar. Danny zermarterte sich das Gehirn, wie der Mann hieß. Remy Soundso. Irgendwas mit B. Balzac vielleicht. Remy Balzac. So ähnlich. Barzan. Das war’s. Und die Agence France Presse. Dort hatte Terio auch angerufen. Vielleicht konnte sich jemand erinnern oder kannte ihn. Wie viele Leute arbeiteten im Istanbuler Büro? Zwei oder drei? Zehn oder zwanzig? Das konnte er nur herausfinden, wenn er anrief und fragte. Gleich darauf stand er vor dem Internet-Café, das in einem barocken, aber ansonsten eher unauffälligen Gebäude unterge bracht war. Er ging hinein, bestellte einen doppelten Macchiato und bezahlte für eine Stunde Internet. Er nahm vor einem Computer Platz, wählte sich bei Yahoo ein und überprüfte aus Gewohnheit seine E-Mail. Die einzige interessante Nachricht war von Lavinia, die erzählte, dass Flash Art bei der Vernissa ge dabei sein wolle, und fragte, wie es lief. «Alles paletti», schrieb er, froh, dass er nicht erklären muss te, wo er war. «Arbeite wie verrückt!» Dann klickte er auf ‹ABSENDEN›, lehnte sich zurück und dachte nach. Caleigh … Was konnte er sagen? Dass es ihm Leid tat? Dass er betrun ken gewesen war? Dass er es nie wieder tun würde? Mit einem leisen Stöhnen beugte er sich vor und klickte NEUE MAIL an. Ein neues Fenster öffnete sich, und er gab Caleighs Adresse ein. Darunter tippte er: Caleigh, mein Schatz,
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Dann lehnte er sich zurück und blickte auf den blinkenden Cur sor. Eine Minute verstrich, dann eine zweite und eine dritte. Schließlich hatte er eine Idee. Er setzte sich aufrecht hin, beug te sich über die Tastatur und schrieb: Du darfst deinen Augen nicht trauen. Ich weiß, es hört sich verrückt an, aber bitte – lies, was ich dir zu sagen habe.
Er hielt einen Moment lang inne, las noch einmal die Worte auf dem Bildschirm. Das ist schlimm, sagte er sich. Aber sie zu verlieren wäre schlimmer. Ich würde sie nicht belügen, wenn ich sie nicht lieben würde. Ich stecke in der Klemme. Ich spare mir die Einzelheiten, nur so viel: Ein Typ, ein durchgeknallter Hightech-Milliardär, will mich fertig machen. Er verfügt über eine Technologie, mit der er Filme machen kann, bei denen er die Hauptrolle ganz nach Belieben mit al lem und jedem «besetzen» kann. Er benutzt alte Filme als Schablone, und er kann – und das denke ich mir nicht aus – virtuelle Schauspieler schaffen, und zwar mit Hilfe von «Per sönlichkeitskopien», wie er das nennt. Er könnte also zum Beispiel Star Wars neu verfilmen mit Humphrey Bogart – oder mir – als Luke Skywalker. Und nicht bloß Star Wars. Er könnte auch ein Remake von Basic Instinct drehen, und nach dem, was ich von Michelle gehört habe, hat er das schon getan. Sie sagt, du hast eine E-Mail bekommen, angeblich von mir, mit einem Videoclip als Anhang. Ich schwöre, die Mail ist nicht von mir. Wieso sollte ich dir so was schicken? Ich mei ne, wie stoned müsste ich da gewesen sein? Überleg doch, so high kann doch keiner werden! Trotzdem, ich kann es dir nicht verdenken, wenn du mir nicht glaubst. Man glaubt nun mal nur das, was man sieht. Das weiß ich. Aber das darf man nicht – nicht mehr. Womit ich zum nächsten Punkt komme. Dieser Typ, Zebek, kann mit 195
Stimmen das Gleiche machen wie mit Bildern. Also wenn
«ich» dich anrufe, glaub nicht, dass ich es bin. Ich sage dir,
«ich» bin es nicht. Er ist es.
Das Gleiche gilt für alles andere, was angeblich von mir
kommt, glaube es nicht. Warte, bis ich persönlich vor dir ste
he. Und denk dran, egal, was passiert, ich liebe dich. Immer.
D.
PS. Lösch diese Mail.
Jetzt musste er noch eine andere E-Mail schreiben. Mamadou Boisseau war vierundzwanzig und Mitarbeiter bei Fellner As sociates. Er war in Washington aufgewachsen, sein Vater war Diplomat von der Elfenbeinküste und seine Mutter Amerikane rin. Dew, wie er genannt wurde, hatte einen Abschluss in Wirt schaftsinformatik und war ein ziemlich schräger Typ. Am lieb sten las er Sciencefiction, spielte Dudelsack (und das gar nicht schlecht) und kannte sich ausgezeichnet mit Datenbanken aus. Danny mochte Dew sehr und hatte absolutes Vertrauen zu ihm. Da Dews Honda voller Aufkleber war, die die Leute aufforder ten, ihren Fernseher abzuschaffen und Autoritäten in Frage zu stellen, vermutete Danny stark, dass Dew nicht zu der Sorte Angestellte gehörte, die gleich zu ihrem Boss liefen, wenn je mand sie um einen Gefallen bat. Dew, ich habe ein Riesenproblem mit einem unserer Kunden: Er will mich umbringen. (Das ist wirklich kein Witz.) Ich habe für ihn was nebenbei gemacht und jetzt … na ja, ist alles nicht so toll gelaufen. Jedenfalls wäre ich dir unendlich dankbar, wenn du für mich zwei Firmen überprüfst. (Und den Boss der Firmen.) Die er ste heißt Sistemi di Pavone, S.A., sie sitzt in Siena (Italien), die zweite ist Very Small Systems Inc. in Palo Alto. Beide Firmen gehören einem gewissen Zerevan Zebek (alias Judd Belzer). Alles, was du rausfindest, könnte interessant sein, aber in 196
erster Linie muss ich wissen, was die Firmen machen. Sie sind beide nicht an der Börse, soweit ich weiß, aber Zebek muss von irgendwoher Kredite beziehen. Ich möchte was über ihre Finanzen wissen, woran ihre Forschungsabteilun gen arbeiten und was wir bei Fellner für sie tun. Außerdem interessiert mich alles, was du über Jason Patel in Erfahrung bringen kannst – er war bei Very Small Systems in der Ent wicklungsabteilung und wurde in Kalifornien ermordet.
Nachdem er die E-Mail abgeschickt hatte, ging Danny hinaus auf die Via del Corso. Es herrschte dichter Verkehr, aber die Autos fuhren schnell, in einer Dunstwolke aus Ozon und Koh lenmonoxid. Danny kam zufällig am Kaufhaus La Rinascente vorbei und ging hinein, um sich Sachen zum Wechseln zu kau fen. Zwanzig Minuten später kam er wieder heraus, in der Hand eine Tüte mit Polohemden, Socken, Unterwäsche und einer Hose. Auf dem Rückweg zur Piazza della Rotonda kaufte er bei einem Straßenhändler einen Rucksack und stopfte seine neuen Sachen hinein. Der Tag wurde langsam heiß. An einem Reisebüro blieb er stehen und sah sich das Schau fenster an. An einem Totempfahl waren farbige Papierquadrate befestigt, auf denen preisgünstige Flüge und Pauschalreisen angeboten wurden. Teneriffa, Prag, Mallorca, Bangkok, Orlan do, und – sieh an – Istanbul für 150 Euro. Einige Minuten später befand er sich im Schatten des Pan theon. Das alte Gebäude, wuchtig und gewaltig, schien aus allen Poren Vergangenheit zu atmen. Danny spürte förmlich, wie die Zeit dem Stein entströmte wie Wärme vom Asphalt einer sommerheißen Straße. Angezogen von den mächtigen Türen stieg Danny die abgetretenen Stufen hoch und trat fast unsicher ein. Die Wände des Gebäudes lagen in immer währendem Schat ten, doch in der Mitte schien die Sonne, denn durch den Ocu lus, eine kreisrunde Öffnung hoch oben in der Decke, fiel Licht 197
herein. Danny, der das Pantheon zum ersten Mal von innen sah, war gebannt von der erhabenen Atmosphäre und vergaß vorübergehend seine Sorgen. Doch als er tiefer in den Tempel hineinging, schob sich eine Wolke zwischen Oculus und Sonne, und ein grauer Umhang hüllte alle im Gebäude ein. Dannys Schritte verlangsamten sich, dann blieb er stehen, denn plötzlich ergriff ihn ein banges Gefühl. Das große Kuppelgewölbe wirkte wie eine von Gespenstern heimgesuchte Käseglocke. Touristen schlenderten durch das dunkle Dämmerlicht und flüsterten untereinander. Langsam, mit ungeheurer Beklemmung, hob Danny die Augen zur Dek ke, rechnete fast damit, dort Zerevan Zebek zu sehen, wie er durch den Oculus auf ihn herabblickte. Ich drehe durch, dachte Danny. Auf einmal verschwand die Dunkelheit so unvermittelt, wie sie gekommen war. Ein Strahl Sonnenlicht durchbohrte das Dach, erhellte ein Fresko. Der Anblick von Engeln und Sonnenstrahlen machten ihm das Herz leichter. Er ging wieder nach draußen und überquerte gerade den Platz auf dem Weg zum Abruzze, als er sie aus dem Hotel kommen sah. Zwei Typen mit breiten Schultern und wie aus dem Ei gepellt. Dunkle Anzüge und Sonnenbrillen. Sie sahen nicht wie Touristen aus. Eher wie Profi-Boxer, die sich gerade komplett neu ausstaffiert hatten. Danny duckte sich in den Schatten eines CaféSonnenschirms. Die Männer standen vor dem Hotel und blick ten sich um. Dann nahm einer von ihnen die Sonnebrille ab. Selbst aus der Entfernung erkannte Danny «Augenbraue» aus dem Admirals Club wieder. Aber wie hatten sie ihn gefunden? Waren sie ihm am Abend zuvor, als er Inzaghi warnen wollte, von der Casa Clera aus gefolgt? Möglich. Aber wenn ja, wieso hatten sie ihn nicht gleich dort erledigt? 198
Er machte kehrt und entfernte sich. Am liebsten wäre er los gerannt, aber das hätte nur die Aufmerksamkeit der Killer auf ihn gelenkt. Also ging er gemächlich, immer schön einen Fuß vor den anderen, ohne zu wissen wohin – Hauptsache, er kam wohlbehalten dort an … Erst als er den Tiber überquert hatte, wurde er ruhiger und fragte sich auf einmal, ob er vielleicht schon Gespenster sah. Er ging in eine Bar auf der Via della Renella, bestellte einen Campari-Soda und rief das Abruzze an. Als der Portier sich meldete, fragte Danny, ob jemand nach ihm gefragt habe. «Si, Signore Cray! Zwei Gentlemen wollten zu Ihnen.» «Waren Sie im Hotel?» «Sie wollten in Ihrem Zimmer warten, aber das –» Eine Pau se. «– das erlaube ich nicht.» «Wo sind sie jetzt?» «Draußen. Ich glaube, Sie trinken Kaffee.» Danny legte auf, trank seinen Campari aus und warf ein paar Euro auf die Theke. Dann ging er auf die Straße und marschier te einfach los. Wie hatten Sie ihn gefunden? Von der Casa Cle ra aus waren sie ihm nicht gefolgt, denn dann wäre er jetzt nicht mehr am Leben. Sie konnten nicht in jedem Hotel in Rom nachgefragt haben, ob er dort Gast sei. Doch irgendwie waren sie dahinter gekommen, wo er abgestiegen war. Aber wie? Er hatte nicht reserviert. Er hatte bar bezahlt, nicht mit Karte. Was blieb denn noch? Sein Anruf bei Caleigh. Für eine Anfrage bei einem Infobro ker, wie er es bei Terios Anrufen gemacht hatte, war die Zeit zu kurz gewesen. Es dauerte mindestens achtundvierzig Stun den, bevor Anruflisten abgefragt werden konnten. Es dauerte ein Weile, aber schließlich ging ihm ein Licht auf. Es gab keine andere Möglichkeit. Sie mussten die Voice-Mail-Box ange zapft haben. Danny selbst hatte das zwar noch nie gemacht, aber er wuss te, dass es möglich war. 199
Er hatte es ihnen wirklich sehr leicht gemacht. Was hatte er noch mal auf die Mailbox gesprochen? Seine genauen Worte? «Ich bin im Hotel Abruzze in Rom. Ruf mich an.» Er hatte sogar die Nummer hinterlassen. Du musst noch viel lernen, Sherlock. Er musste hier weg. Denn so dumm es auch gewesen war, ei ne solche verräterische Nachricht aufs Band zu sprechen, es wäre ein noch größerer Fehler, davon auszugehen, dass er Ze bek durchschaut hatte, dass er wusste, wie dessen Gorillas ihn gefunden hatten. Wahrscheinlich lag er richtig, aber falls er sich täuschte, würde sie ihn erneut aufspüren. Und dann, so ahnte er, konnte er der Welt Lebewohl sagen.
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Also sagte er stattdessen Rom Lebewohl. Die Stadt zu verlassen war nicht gerade die schwerste Ent scheidung seines Lebens. Die Frage war nur, ob Istanbul oder Oslo – und Istanbul erschien ihm einleuchtender. Norwegen wäre zwar kühler gewesen, aber Terio hatte in der Türkei gear beitet, also flog Danny in die Türkei. Die Maschine landete pünktlich zu einem blutroten Sonnen untergang. Als er den türkischen Zoll passierte, spürte Danny, wie die Anspannung von ihm abfiel und er seufzte vor Erleich terung auf. Der Flughafen Atatürk war steril, modern und effizient. Dan ny zog mit seiner Bankkarte an einem Automaten Bargeld im Wert von zweihundert Dollar und erhielt sage und schreibe rund dreihundert Millionen türkische Lire. Er nahm das Geld genauer unter die Lupe und stellte fest, dass alle nagelneuen Scheine praktisch gleich aussahen, sie unterschieden sich nur farblich. Solange er sich die Farben noch nicht eingeprägt hat te, würde er jedes Mal, wenn er bezahlte, die Nullen auf jedem Schein zählen müssen. Vor dem Terminal wartete eine Taxischlange, und Danny ging zum Seitenfenster des Ersten. «Nach Cankurtaran, wie teuer?», fragte er, denn über den Stadtteil hatte er während des Fluges in einer Bordzeitschrift gelesen. Die Blaue Moschee lag in der Nähe, gegenüber der Hagia Sophia, die einst eine der ältesten und prächtigsten Kirchen des Christentums gewesen war. Dort würde es von Touristen nur so wimmeln. Und er nicht auffallen. «Zehn Millionen», erwiderte der Fahrer. Danny lachte. «Einverstanden.» Die Straßen in die Stadt waren ziemlich verstopft, aber im 201
mer wenn der Verkehr sich staute, wich der Fahrer auf die Straßenbahnschienen aus. So kam er zügig an Hunderten Pkws und Lastwagen vorbei – bis der Scheinwerfer einer Bahn in der Ferne aufleuchtete und rasch größer wurde. Der Fahrer scherte zurück auf die Straße, und sobald die Bahn vorbei war, ging es wieder auf die Schienen. «Ist das, äh, erlaubt?», fragte Danny. «Oh nein», sagte der Fahrer vergnügt. «Wenn ich erwischt werde, großer Ärger. Letzten Monat zwei Menschen so gestor ben.» Danny tastete nach dem Sicherheitsgurt. Es gab keinen, aber das beunruhigte ihn nicht sehr. Die Fahrt war zwar aufregend, aber er war sich ziemlich sicher, dass es ihm nicht bestimmt war, bei einem Verkehrsunfall zu sterben. Nicht jetzt. Nicht unter diesen Umständen. Das wäre so, als würde einem Ster benskranken ein Klavier auf den Kopf fallen. Inzwischen glitt die Innenstadt am Fenster vorbei, ein Gewirr aus alten und modernen Gebäuden, großen Mietshäusern, Mo scheen und Märkten. Als erneut eine Bahn entgegenkam, fädel te der Fahrer sich wieder in den fließenden Verkehr ein. Plötz lich waren sie auf einer Straße, die nach Präsident Kennedy benannt war und am Hafen entlang verlief. Durch das schmut zige Fenster des Taxis sah Danny vor Anker liegende Frachter, die mit beleuchteten Decks auf dem kohlrabenschwarzen Marmarameer glitzerten. Es war ein atemberaubender Anblick, aber Danny deprimier te er nur. So etwas konnte man nur genießen, wenn man einen geliebten Menschen bei sich hatte. Jemanden wie Caleigh, die zuletzt zu ihm gesagt hatte: «Du Scheißkerl.» Das Hotel «Asian Shore» war ein altes Holzgebäude, das der türkische Automobilclub zehn Jahre zuvor renoviert hatte. Es lag nicht weit vom Cankurtaran-Bahnhof an einem Hang mit Blick auf das Goldene Horn, hatte zehn Zimmer und einen 202
Dachgarten, wo Drinks serviert wurden. Die Zimmer waren ganz passabel, etwas verwohnt, aber sau ber und groß. Doch die Aussicht war bombastisch, denn halb Istanbul breitete sich unter den Fenstern aus. Und für dreiund zwanzig Millionen pro Nacht war das Zimmer praktisch ge schenkt: rund fünfzehn Dollar. Da er nur den Nylonrucksack aus Rom bei sich hatte, brauch te Danny nicht viel auszupacken. Er sprang kurz unter die Du sche, zog sich frische Sachen an und ging nach draußen, um irgendwo einen Happen zu essen. Es war zwar schon zehn Uhr durch, die meisten Restaurants hatten aber noch geöffnet. Dan ny entschied sich für ein verqualmtes, kleines Lokal in der Nä he und verschlang einen Teller Gemüsespieße mit Reis und einen pikanten Auberginensalat. Auf dem Rückweg zum Hotel versuchten vier verschiedene Typen, ihm einen Teppich anzu drehen. Und das Unglaubliche war: Er hätte fast einen gekauft. Wieder im Hotel bat er den jungen Portier, auf dessen Na mensschildchen HASAN stand, um ein aktuelles Telefonbuch von Istanbul. Hasan schüttelte den Kopf. «Es ist schon seit Jahren kein neues mehr erschienen», sagte er. «Wessen Nummer brauchen Sie denn? Ich kann die Auskunft anrufen.» «Von einem gewissen Remy Barzan», erwiderte Danny. «Remy Barzan.» Hasan griff zum Telefon, wählte einen Nummer und sprach auf Türkisch in den Hörer. Dann wandte er sich kurz an Danny und fragte: «Brauchen Sie nur die Telefonnummer?» «Die Adresse auch», sagte Danny. Hasan murmelte wieder etwas in den Hörer, wartete kurze und kritzelte dann etwas auf einen Schreibblock. Er legte auf, riss den obersten Zettel vom Block und sagte: «Das ist in Beyoglu, nicht weit von der großen katholischen Kirche.» Danny bedankte sich und bat um einen Weckruf am nächsten Morgen. 203
Hasan lächelte. «Sie brauchen keinen.» «Oh doch», erwiderte Danny. «Ich –» «Glauben Sie mir! Sie wirklich brauchen keinen.» Danny blickte ihn an. «Glauben Sie mir. Ich brauche wirklich einen.» Der junge Mann lachte. «Wie spät?» «Acht Uhr wäre schön.» «Sie werden rechtzeitig geweckt. Kein Problem.» In seinem Zimmer wählte Danny die Nummer, die Hasan ihm gegeben hatte, und lauschte, wie das Telefon in Beyoglu am anderen Ende der Stadt klingelte. Er wusste nicht genau, was er sagen wollte, aber wichtig war, ein Treffen zu vereinba ren – und zwar bald. Doch Barzan war nicht da. Es meldete sich bloß der Anrufbeantworter mit einem türkischen Ansage text. Und nach dem, was in Rom passiert war, wollte er keine Nachricht hinterlassen. Er legte den Hörer wieder auf, zog sich aus und warf sich erschöpft aufs Bett. Der Ruf zum Gebet – der über Lautsprecher verstärkte ohren betäubende Ruf zum Gebet – fegte ihn im Morgengrauen aus dem Bett. Es war ein klagendes Heulen, das kein Ende nehmen wollte, flehend, mahnend, schmeichelnd, wimmernd. Für Dan ny hörte es sich an, als säße der Muezzin auf einem glühenden Ofen, umgeben von Lautsprechern, mit denen Metallica das Yankee-Stadion hätte beschallen können. Als der Ruf schließ lich erstarb, war Danny hellwach. Er ging nach unten in den Frühstücksraum, setzte sich an ei nen der ordentlich gedeckten Tische und ließ sich Brot und Oliven, Käse und Tomaten schmecken, dazu trank er frischen Orangensaft und heißen, schwarzen Kaffee. Als er gerade fertig war, tauchte Hasan in der Tür auf. «Ach!», rief er. «Sie sind aber schon früh auf den Beinen.» Danny lachte. «Ja, ich dachte, ich hätte draußen was gehört.» «Wir sind ein sehr frommes Volk.» 204
«Das hab ich gemerkt.» «Brauchen Sie ein Taxi?», fragte Hasan. «Ich kann Ihnen eins besorgen, billig.» Danny schüttelte den Kopf. «Ich denke nicht», erwiderte er. «Ich habe Lust auf einen Spaziergang. Aber Sie können mir sagen, wo ich lang muss. Ich möchte zur Agence France Pres se.» «Kein Problem.» Der junge Türke drehte sich auf dem Ab satz um, ging aus dem Frühstücksraum und kam eine Minute später mit der Adresse wieder. «Das ist in Taksim», sagte er. «Sehr weit zu Fuß, aber Sie können ja jederzeit ein Taxi neh men. Sie gehen am besten zu den Docks, wo die Fähren abfah ren. Das ist in Eminönü. Am Wasser gehen Sie nach links und dann über die Galatabrücke auf die andere Seite vom Goldenen Horn. Dort gehen Sie bergauf zum Turm und immer weiter. Diese Adresse – sie ist da ganz in der Nähe.» «Was für ein Turm?» «Der Galataturm. Rund, aus Stein, siebzig Meter hoch, gut siebenhundert Jahre alt. Ist nicht zu übersehen. Dort fragen Sie am besten noch mal – die Straße ist nämlich … es ist nicht wie in den Staaten.» Er hielt Danny den Zettel mit der Adresse hin und zögerte. «Vielleicht nehmen Sie doch besser ein Taxi», sagte er. «Ich finde es schon», erwiderte Danny und nahm den Zettel. Er freute sich richtig, die Stadt zu Fuß zu erkunden, die ihm vom ersten Eindruck her wie eine Kreuzung aus San Francisco und Tanger vorkam. Er fand mühelos den Weg zum Wasser und ging dann nach Eminönü, wo geschäftiges Treiben herrschte. Boote legten an den Docks an und ab, fuhren zu nahen und fernen Zielen auf beiden Seiten des Bosporus. Fußgänger strömten durch einen Schleier aus Qualm, der von kleinen Booten am Kai aufstieg, wo gegrillter Fisch und Fladenbrote mit Sesam verkauft wur den. Frauen waren so gut wie gar nicht zu sehen – bloß ein 205
Heer von Männern mit kurzen, schwarzen Haaren und dichten Schnurrbärten. Danny schlängelte sich durch das Gewimmel zur Galatabrücke, wo er sich unter die Scharen von Männern mischte, die zur Arbeit oder nach Hause gingen. Auf dem Wasser herrschte fast genauso reges Treiben wie an Land. Verrostete Frachter durchpflügten die Wellen neben prächtigen Kreuzfahrtschiffen, Segelbooten und Tankern. Aus allen Richtungen kam arabische Musik – dissonant und schrill. Möwen schwebten im Wind. Der Himmel war strahlend blau. Die ganze Szene nahm sich aus wie ein Gemälde von Childe Hassam auf Dope. Auf der anderen Seite der Brücke ging es bergauf, und Dan ny stieg eine schmale Straße hoch, die von kleinen Läden ge säumt war, die alles Erdenkliche verkauften bis hin zu Satelli tenschüsseln, Kabeldosen und Descramblern. Am Galataturm trank er in einem Café einen türkischen Kaffee und zeigte dem Kellner den Zettel, den Hasan ihm gegeben hatte. Die Redaktion von Agence France Presse lag in der dritten Etage eines schlichten Backsteingebäudes in der Istiklal Cad desi, einer belebten Einkaufsstraße. Ein gelehrt aussehender dicker Mann, der eine eckige Brille trug und sich kümmerliche Haarsträhnen über die Halbglatze gekämmt hatte, öffnete auf Dannys Klopfen hin. Hinter ihm sah Danny zwei alte Holz schreibtische mit hohen Zeitungsstapeln, Büchern und Berich ten. Ein Gewirr von Kabeln verknüpfte die Computer mit ei nem Quartett Telefonen, einem Faxgerät und einem Drucker. Im hinteren Teil des Raumes arbeitete eine Frau an einem Lap top, während sie lebhaft in ein Handy sprach. «Oui?» Der Mann in der Tür beäugte ihn neugierig. Offenbar bekamen sie nicht oft Besuch. «Ich suche …» Danny brach ab. Dass Chris Terio sowohl bei Remy Barzan zu Hause als auch in der Redaktion von AFP angerufen hatte, musste nicht heißen, dass Barzan bei AFP 206
arbeitete. Möglicherweise ja, möglicherweise nein. Vielleicht kannte Terio mehrere Leute in Istanbul. Doch … «Ja?» Der Mann in der Tür blickte ungeduldig. «Ich suche Remy Barzan.» Die Miene des Mannes verfinsterte sich, und seine Stimmung schlug offensichtlich um. «Er ist nicht da.» «Aber Sie kennen ihn, ja?» «Natürlich.» «Dann … ist er Journalist bei Ihnen?» «Er ist für die kurdischen Belange zuständig.» Der Mann leg te den Kopf schief, als wollte er Danny genauer unter die Lupe nehmen. Er runzelte die Stirn, als würde ihm das, was er sah, nicht gefallen. «Was wollen Sie von ihm?» Danny zögerte. Gute Frage. Aber eine ehrliche Antwort war unmöglich. Wo sollte er anfangen? «Ich sollte mal bei ihm vorbeischauen, wenn ich in Istanbul bin, tja … und hier bin ich. Wissen Sie, wann er wieder da ist?» «Nein. Wir haben ihn länger nicht gesehen. Ehrlich gesagt, wir wissen nicht mal, ob er überhaupt wiederkommt.» Dannys Enttäuschung war so offensichtlich, dass der Mann etwas ent gegenkommender wurde. «Haben Sie es schon bei ihm zu Hau se versucht?» «Ich habe angerufen, aber es ist niemand drangegangen.» Der Mann nickte. «Donata», rief er nach hinten. «Hier ist je mand, der Remy sucht!» Donata behielt das Handy am Ohr, verdrehte aber mitfühlend die Augen. Sie zuckte übertrieben mit den Schultern und wand te sich ab. Der ältere Mann machte eine bedauernde Geste, die das Gespräch beenden sollte, aber Danny wollte nicht gehen. Barzan war praktisch die einzige Spur, die er hatte, also blieb er stehen, wo er war und dachte: Was nun? Norwegen? Die Frau hinten im Büro hörte auf zu telefonieren und kam zu ihnen herüber. Sie war kräftig gebaut, hatte maskulin wir kende Gesichtszüge, rotes Kraushaar und war stark ge 207
schminkt. «Donata», sagte sie und hielt eine dickliche Hand hin. «Danny Cray.» «Sie möchten zu Remy?» «Stimmt.» «Und es ist wichtig?» Danny blickte den älteren Mann an. «Ja», gab er zu, «es ist sehr wichtig.» Der Mann schnaubte. «Ich dachte, Sie sollten nur mal bei ihm vorbeischauen.» «Glauben Sie mir», entgegnete Danny, «es ist eine lange Ge schichte. Stimmt, ich sollte bei ihm vorbeischauen – aber es ist wirklich wichtig.» Donata presste den Mund zu einer schmalen Linie zusam men. Überlegte. Und kam zu einem Schluss. «Ich glaube, er könnte im Südosten sein.» «Im Südosten», wiederholte Danny, als wäre es eine Adresse. «Er ist Experte für Kurdenfragen», fuhr Donata fort. «Er ist daher oft in Diyarbakir. Aber ich rate Ihnen, nicht dahin zu fahren.» «Oh.» Der Mann musterte Danny und schien zu merken, dass der keine Ahnung hatte. Mit einem Seitenblick auf Donata, als würde er ihre Erlaubnis einholen, erklärte er: «Dort sind Terro risten. Kurdische Separatisten. Es wimmelt also nur so von Militär. Jede Menge Ausschreitungen. Jede Menge Unruhen. Gut für Journalisten. Schlecht für Touristen.» Donata seufzte. «Ich weiß nicht, was wir machen sollen, wenn Remy nicht wiederkommt. Als er bei uns anfing, dachte ich, er macht das nur zum Spaß. Ein Junge aus reichem Hause, der ab und an mal ein Artikelchen schreibt. Aber in Wirklich keit ist er sehr gut. Ein ernsthafter Journalist.» Sie schüttelte den Kopf. «Er wird nicht leicht zu ersetzen sein.» «Sie reden so, als ob Sie nicht mehr damit rechnen, dass er 208
wiederkommt», sagte Danny. Die beiden wechselten einen Blick und schienen eine wortlo se Übereinkunft zu treffen. «Ich denke, es macht nichts, wenn Sie es erfahren», sagte Donata. «Remy ist verschwunden» – sie blickte zur Decke, als wäre dort ein Kalender aufgedruckt – «vor etwas über einer Woche. An dem Tag ist sein Wagen –» Sie schlug die Hände zusammen und sagte: «Wumm! In tau send Stücke.» «Aber er saß nicht drin, oder?» Danny tanzte das Herz in der Brust. Der Mann schüttelte den Kopf. «Er hatte seiner Haushälterin den Wagen geliehen. Eine Studentin.» Danny wurde elend zumute. War er dafür verantwortlich? Vermutlich. Er hatte Zebek die Liste mit Terios Anrufen gege ben. «Und wer –?» Der Mann stieß die Luft aus. «Weiß der Henker. Diese Kur dengeschichte ist ganz schön kompliziert», erklärte er. «Viel leicht hat Remy was geschrieben, was irgendwem nicht in den Kram passte. Von der PKK. Vom Militär. Von irgendeiner Splittergruppe. Wer weiß? Es läuft aufs selbe hinaus. Er ist verschwunden.» Donata sagte: «Remy hat aber angerufen, nach der Auto bombe, und er hat gesagt, es wäre vorläufig nicht zu errei chen.» Sie wandte sich an den Mann. «Wie hat er es noch mal ausgedrückt?» «Er hat gesagt, er muss für eine Weile untertauchen», erwi derte ihr Kollege. «Wir wissen also, dass er wohlauf ist, im Moment», fuhr Do nata fort. «Ich glaube, er ist nach Hause gefahren. Sein Volk – lebt dort. Und sie bilden eine enge Gemeinschaft. Halten zu sammen wie Pech und Schwefel», fügte sie hinzu. «Sie meinen die Jesiden», sagte Danny. Donata blickte verblüfft. «Genau.» «Und wo ist er zu Hause?», fragte Danny. 209
«Uzelyurt», erwiderte der Mann. Danny blinzelte. Donata lachte. «Sie kennen Uzelyurt nicht?» Er schüttelte den Kopf. «Also, das liegt im östlichsten Zipfel der Türkei», erwiderte sie. «Und Sie denken, dort könnte er sein?», fragte Danny. Sie spitzte die Lippen. «Ich denke, ja. Dort stammt er her. Seine Familie lebt dort – alt, einflussreich.» Sie zuckte die Achseln. «Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass er dort ist.» Sie runzelte die Stirn. «Er könnte allerdings auch in Paris sein. Er hat viele Jahre dort gelebt.» Sie überlegte. «Ehrlich gesagt, er könnte überall sein.» «Aber wenn Sie dringend mit ihm sprechen müssten, wo würden Sie ihn suchen?» Donata blickte ihren Kollegen an und zuckte die Achseln. «Zuerst im Südosten.» «Und dieses Kaff – Uzelyurt –, in der Nähe von was liegt das?» Der ältere Mann schnaubte belustigt. «Von gar nichts», sagte er. «Das liegt am Ende der Welt.» Auf dem Rückweg zum Hotel beschlich Danny das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Wenn er nicht bereit war, ans «Ende der Welt» zu fahren, in der vagen Hoffnung, dass Remy Barzan dort war und ihm etwas Nützliches erzählen konnte, würde er nicht weiterkommen. Aber da er schon mal in der Türkei war, kam es auf eine Reise mehr oder weniger auch nicht mehr an. Als er Hasan fragte, wo Uzelyurt lag, kramte der junge Mann eine zerknitterte Straßenkarte von der Türkei hervor. Er strich sie glatt, sah im Index nach und fuhr dann mit einem Finger von P nach unten und mit einem zweiten von 12 quer. Die Fin ger trafen sich an einem Punkt gut zwei Zentimeter rechts von der Stadt Diyarbakir. 210
Hasan runzelte die Stirn. «Da wollen Sie hin?», fragte er. Der Gedanke schien ihm gar nicht zu behagen. Danny zuckte die Achseln. «Ich weiß nicht. Ist es kompli ziert?» «Es ist ein langer Flug – aber dort ist nichts. Kontrollpunkte. Ausgangssperre. Es ist gefährlich. Was wollen Sie denn da?» Danny ging nicht auf die Frage ein. «Was meinen Sie mit ge fährlich?» «Da ist Bürgerkrieg. In Diyarbakir leben praktisch nur Kur den. Die Zeitungen sagen, der Krieg ist vorbei, die Armee hat alles im Griff. Aber das gilt nur für tagsüber. Nachts herrschen da Verbrecher. Terroristen.» Danny dachte kurz darüber nach und fragte dann: «Aber wenn ich dahin müsste – beruflich – wie mache ich das?» «Sie meinen, nach Uzelyurt?» Danny nickte. Hasan überlegte. «Tja, Sie müssten nach Diyarbakir fliegen und dann … keine Ahnung. Vielleicht mit dem Bus. Oder per Taxi, wenn Sie eins kriegen.» Als er sah, dass sein Gast die Möglichkeit in Erwägung zog, wiederholte Hasan seine Be denken. «Aber ich sage Ihnen: Da ist nichts. Weder für Ge schäftsleute noch für Touristen. Nur Steppe.» Dann blickte der Portier ihn durchdringend an. «Haben Sie den Topkapi-Palast besichtigt?» Danny schüttelte den Kopf. «Die Hagia Sophia?» «Noch nicht.» «Die Blaue Moschee?» «Nein.» Hasan faltete die Karte wieder zusammen. Dann setzte er ei ne traurige und tadelnde Miene auf. «Sie gehen nicht zur Hagia Sophia – die im sechsten Jahrhundert erbaut wurde und nur einen Katzensprung vom Hotel entfernt ist, ein UNESCOWeltkulturerbe – aber Sie wollen nach Uzelyurt?» 211
«War bloß so ein Gedanke», sagte Danny mit einem Lächeln. «Und den Topkapi und alles andere sehe ich mir ganz bestimmt noch an. Aber vorher muss ich was trinken. Ist der Dachgarten offen?» «Natürlich», erwiderte Hasan und deutete freundlich zur Treppe. Danny ging hinauf und trat schließlich aufs Dach, wo ein halbes Dutzend Tische unter großen Sonnenschirmen stand und man auf das riesige, turbulente Istanbul blicken konnte. Er setzte sich an einen Tisch und bestellte bei dem Kellner ein Glas süßen Apfeltee. Plötzlich fühlte sich Danny hier so fremd wie nirgendwo sonst zuvor und – auch einsamer denn je. Eine Gruppe Rucksacktouristen saß am Nebentisch im Schat ten eines grünen Sonnenschirms. Es waren Landsleute von Danny, und sie lachten und plauderten über libanesisches Hackfleisch, die besten Clubs in Bodrum und die billigsten Pensionen in Ephesus. Danny beneidete sie um ihre Sorglosig keit. Sein Tee schmeckte köstlich. Als Danny auf die Schiffe im Goldenen Horn blickte, überkam ihn der dringende Wunsch, Caleigh anzurufen, doch er unterdrückte den Impuls. Auf ei nem unbesetzten Tisch neben sich sah er eine International Herald Tribune liegen. Er nahm sie und signalisierte dem Kell ner, ihm noch ein zweites Glas Tee zu bringen. Dann lehnte er sich zurück und schlug den Sportteil der Zeitung auf. Er nahm sich vor, erst ein Weilchen zu lesen, dann zur Hagia Sophia zu spazieren. Anschließend würde er in ein Reisebüro gehen und ein Ticket nach Diyarbakir für den nächsten Tag kaufen. Doch während er dasaß, von seinem Tee trank und die Zeitung las, drangen von unten aus der Lobby wütende Stimmen herauf. Die Rucksacktouristen verstummten, wechselten Blicke und kicherten, während Danny angestrengt lauschte, was gesagt wurde. Doch bevor er ein Wort verstehen konnte, wurde es abrupt leise. Ein kurzer Schmerzensschrei ertönte, und gleich 212
darauf polterten Schritte die Treppe in den zweiten Stock hoch. Dann … Stille, ein plötzlicher berstender Knall, und Danny wusste – er wusste es einfach –, dass jemand seine Tür einge treten hatte. Er stand auf, blickte sich wild um, sah aber sofort, dass er sich hier oben weder verstecken noch von hier fliehen konnte. Der einzige Weg vom Dach führte über die Treppe oder war ein Sprung in die Tiefe – glatter Selbstmord, so oder so. «Dov’è?!» «Porca miseria!» Das war eindeutig Italienisch, und es kam mit Sicherheit aus seinem Zimmer oder dem Flur. Er sah sich nach irgendetwas um, das sich als Waffe eignen würde, aber vergeblich. Einer von den Touristen hatte einen Wanderstock, aber damit würde er nichts gegen seine Verfolger ausrichten können. Er brauchte mindestens eine Kettensäge oder eine Pistole. Am besten beides. Rasch ging er an den Rand des Daches und schätzte die Ent fernung zu dem Kastanienbaum vor dem Hotel ab. Wenn er ordentlich Anlauf nahm, könnte er es vielleicht schaffen. Aber ob er sich auch würde festhalten können, stand auf einem ande ren Blatt. Doch dann wurde ihm klar, dass ein Sprung doch nicht in Frage kam. Das Dach war von einer niedrigen Mauer umrandet, keine zwanzig Zentimeter hoch, aber das hieß, dass er noch früher würde abspringen müssen – unmöglich. Und dann waren sie da – nicht auf dem Dach, sondern unten auf der Straße vor dem Hotel. Sie standen im Schatten der Ka stanie, Augenbraue und sein Freund, und schienen unschlüssig, was sie machen sollten. Entsetzt sah Danny, dass sie direkt neben dem Pult mit der Speisekarte standen, die zu kulinari schen Freuden in den Dachgarten lockte. Wenn die Italiener sie bemerkten, würden sie bestimmt nachsehen wollen. Aber sie bemerkten sie nicht. Augenbraue zog ein Handy aus der Tasche und wählte eine 213
Nummer. Während er es klingeln ließ, schaute er hoch und ließ den Blick über die oberen Fenster gleiten, von links nach rechts. Dann hatte sich am anderen Ende der Leitung wohl je mand gemeldet, denn Augenbraue löste sich aus seiner Starre, drehte sich auf dem Absatz um und sprach angeregt ins Tele fon. Knapp zwanzig Sekunden später steckte er das Handy wieder in die Tasche und ging mit seinem Freund in Richtung der Blauen Moschee. Danny atmete aus. Himmel, dachte er. Das war knapp. Wo kommen die denn auf einmal her? Er eilte die Treppe hinunter in den zweiten Stock und sah, dass die Tür zu seinem Zimmer eingetreten war. Er lief in die Lobby, wo Hasan auf dem Fußboden saß, mit dem Rücken gegen das Rezeptionspult gelehnt, und sich ein blutbeflecktes Taschentuch an die Nase drückte. Hasan blickte auf. «Ich glaube, die haben Sie reingehen se hen.» «Wer?», fragte Danny. «Die Italiener. Sie haben nach Ihrem Zimmer gefragt, ich wollte es ihnen nicht sagen, aber …» Er zuckte vor Schmerz zusammen. «Macht nichts.» Hasan sah ihn über sein Taschentuch hinweg an. «Die wuss ten nichts von dem Dachgarten.» Danny nickte. Hasan lachte, aber unter Schmerzen. «Die haben mich ge schlagen.» «Das sehe ich.» Hasan legte den Kopf in den Nacken, um die Blutung zu stoppen. «Ich glaube, meine Nase ist gebrochen.» Danny nickte. «Sieht so aus. Hören Sie, Hasan –» Er wollte ihm danken. Der Portier deutete Richtung Frühstücksraum. «Sie können hinten raus, durch den Garten. Dahinter ist eine Gasse.» Als 214
Danny gehen wollte, fügte Hasan hinzu. «Aber eine Frage noch …» Danny blieb stehen und blickte ihn an. «Ja?» «Hatten Sie was … aus der Minibar?» Durch die Gasse kam er zu einer belaubten Straße mit Teppich läden, Cafés und kleinen Hotels. Er sah, dass er nur in zwei Richtungen konnte. Entweder bergauf auf die gewaltige Kup pel der Hagia Sophia zu oder bergab zu der Straße, die am Ha fen vorbeiführte. Wenn er Glück hatte, würde er ein Taxi fin den und sich zum Flughafen bringen lassen. Wenn er Glück hatte … davon konnte nun wirklich keine Rede sein, dachte Danny, sonst würde er sich wohl kaum auf einer Straße namens Yeni Sarachane Sok dauernd hektisch umschauen. Er lief bergauf an der alten Kirche vorbei und sah rechts von sich den Topkapi-Palast. Dann kamen ein kleiner Park mit ei nem einsamen Zoo und ein längeres Stück mit Kebab-Imbissen und Läden, bevor es wieder bergab Richtung Eminönü ging, wo die Docks lagen. Als er um eine Ecke bog, entdeckte er ein Internet-Café, das mit einem Waschsalon kombiniert war, und trat ein, um nach zusehen, ob Mamadou ihm schon eine Mail geschickt hatte. Er setzte sich an einen Computer und wählte sich bei Yahoo ein. In der Nähe saß ein ergrauter, alter Mann vor einer Waschma schine und las in einem abgegriffenen Taschenbuch, während ein junge Frau an einem Tisch Hemden und Unterwäsche falte te. Viele persönliche Mails hatte er nicht, das meiste war Wer bung. Seine Bruder Kev hatte ihm ein paar Witze geschickt, doch schließlich sah er, wonach er suchte: Absender:
[email protected]
Betreff: Dein großes Problem
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Zebek will dich UMBRINGEN? Das kann nicht dein Ernst sein! Er ist einer von Fellners besten Kunden. Ich glaube, wir haben ihm letztes Jahr fast eine halbe Million in Rechnung gestellt. Was hat du ihm denn bloß getan? Wenn das keiner von deinen Witzen ist –, hast du schon mal dran gedacht, zur Polizei zu gehen? Ich glaub nämlich nicht, dass eine Kreditauskunft dir aus der Klemme hilft. Aber wenn du meinst … kümmere ich mich drum. Ich habe auch schon zwei Datenbanken konsultiert und Folgendes heraus gefunden: Zerevan Khali Zebek: geb. 6. Juni 1966, Azizi, Türkei. Vier Semester Betriebswirtschaft an der Università Ca’ Foscari, Venedig, Abschluss des Studiums am Massachusetts Insti tute of Technology, 1989. Wohnhaft: Palazzo di Pavone, Siena. Im Vorstand von Zebek Holdings AG (Liechtenstein); Vorstandsvorsitzender von Sistemi di Pavone, AG (Siena). Keine Vorstrafen in USA oder Italien. Very Small Systems, Inc.: Tochtergesellschaft von Sistemi di Pavone. Sistemi wird durch Inhaberaktien kontrolliert, die of fenbar bei der Holding-Gesellschaft in Liechtenstein geparkt sind, (nicht feststellbar) Kroll hat vor gut einem Jahr einen Bericht über VSS ge macht, aber an den bin ich nicht rangekommen. Irgendeine japanische Zaibatsu (es gibt ja nur japanische) hat sich für die Firma interessiert und ein Angebot gemacht – ist aber nichts passiert. Was überraschend war, denn die Firma hat ernste Cash-Flow-Probleme. (Laut einer Mitteilung von Rappaport, Reich 38; Green hatte VSS Kredite in Höhe von $ 32,4 Millionen laufen, das war im Februar. Keinen Erlös und einen Verbrauch von $ 4 Millio nen im Monat. Sieht also ganz so aus, als brauchten sie ei nen Geldgeber- und möglichst schnell.) Die Firma tut ganz schön geheimniskrämerisch – und man kann sehr geheimniskrämerisch sein, wenn man keine Kun den hat, keinen Erlös macht und auch keine Produkte her 216
stellt. Soweit ich weiß, ist alles noch Forschung und Entwick lung – jedenfalls im Moment noch. Wie du dir sicherlich denken kannst, hab ich die ganzen In formationen direkt aus dem Internet – also, den großen Durchblick habe ich nicht. Aber es hört sich für mich ganz so an, als wärst du mitten in einen Fall von Industriespionage geraten. Womit ich wieder bei meinem ersten Vorschlag wä re: geh zur Polizei. Muss Schluss machen. Mach’s gut, Mann! Dew PS. Über Patel nichts Neues. Er war in der Entwicklungsab teilung von VSS. Hatte einen guten Ruf im Valley. Die Poli zei denkt, sein Mord hätte was mit der Schwulenszene zu tun (was immer das heißen mag). Aber das stand ja alles in der Zeitung. Schau öfter mal in deine Mailbox, beim näch sten Mal mehr.
Er sah sie, als er aus dem Internet-Café kam. Sie waren auf der anderen Straßenseite. Augenbraue sprach in sein Handy, sein Kumpel – ein untersetzter Typ mit langen Haaren und Sonnen brille – marschierte neben ihm her. Danny mischte sich unter eine Touristengruppe, den Kopf gesenkt, die Augen auf den Boden gerichtet, um sich möglichst unsichtbar zu machen. Klug war das nicht, dessen war er sich bewusst. Es war Vogel-Strauß-Verhalten. Aber sein Instinkt sagte ihm, dass die Italiener seine Blicke irgendwie spüren würden, wenn er sich ständig umschaute. Und sie würden wis sen, dass er ganz in der Nähe war. Der Zufall wollte es, dass die Sehenswürdigkeit, auf die es die Touristen abgesehen hatten, schon nach zwanzig Metern erreicht war: die Basilika-Zisterne, wie Danny auf einem gel ben Informationsschild lesen konnte. Gleich darauf ver schwand er mit der Gruppe in einem niedrigen und unscheinba ren Gebäude und stellte sich an einem Kartenschalter an. Da 217
hinter sah er ein Drehkreuz an einer dunklen und schmalen Treppe, die nach unten führte. Dannys Puls raste, als er allen Mut zusammennahm und ei nen Blick nach hinten riskierte. Er kaufte eine Eintrittskarte, schaute kurz über die Schulter und war erleichtert, keinen von seinen Verfolgern zu sehen. Bloß Touristen. Wie er. Kein Gae tano. Kein langhaariger Schlägertyp. Kein Augenbraue. Er ging durch das Drehkreuz und folgte seiner Touristen gruppe, älteren Briten, die Treppe hinunter. Die Reiseführerin war eine rothaarige Frau, die ab und zu einen Spazierstock mit einem Strauß Plastikblumen am Griff in die Luft hob, um ihre Schützlinge zusammenzuhalten, die ihr nicht von den Fersen wichen. Seinem Verständnis nach war eine Zisterne ein Auffangbek ken für Regenwasser. Dass ein Loch im Boden eine Touristen attraktion sein könnte, hielt er jedoch für unwahrscheinlich. Und dann blickte er auf und sah, wo er war – in einer unterirdi schen Kathedrale, die zur Hälfte eine Lagune war. Sie war alles andere als primitiv, die reinste Pracht, mindestens drei Stock werke hoch, mit Gewölbedecken, die von einem Wald aus mächtigen Steinsäulen gestützt wurden. Die Säulen standen in einem See aus schwarzem Wasser, das anscheinend etwa einen halben Meter tief war. Der See war lang gezogen und breit, und seine Dunkelheit wurde von Scheinwerfern durchdrungen, was einen Chiaroscuro-Effekt erzeugte. Aus Lautsprechern drang klassische Musik. «Da wären wir», sagte die rothaarige Frau, die auf einem der Holzstege stand, die kreuz und quer über den unterirdischen See verliefen. «Klasse, nicht wahr?» Zustimmendes Raunen von der Gruppe. «Das Wasser kam über einen Aquädukt von einer siebzehn Kilometer entfernten Quelle. Und weil die Stadt häufig über längere Zeit belagert wurde, baute man etliche Zi sternen, um Wasser zu speichern. Manchmal stand hier das Wasser bis zur Decke. Beeindruckend, was?» 218
«Oh, da sind Fische!», rief eine Frau mit dichten, grauen Locken. Alle reckten den Hals, um die Schar Karpfen zu sehen, die an den Säulen vorbeischwamm. «Die Zisterne wurde vermutlich zur Zeit Konstantins errich tet», fuhr die Reiseführerin fort. «Im fünften Jahrhundert brannte die Basilika ab, nach der sie benannt ist und die dar über stand. Wenn Sie mir jetzt bitte weiter folgen …» Sie blieben an dem Wunschteich stehen, wo die Hälfte der Gruppe (einschließlich Danny) gehorsam Kleingeld ins Wasser warf. Danny sah, wie klein die abwärts trudelnden Münzen wurden; das Wasser war tiefer, als er gedacht hatte – vielleicht anderthalb Meter. Er wünschte sich … dass er hier heil heraus kam … und dass Caleigh im verzieh. «Hier entlang …» Die rothaarige Frau warf Danny einen Sei tenblick zu, der Bände sprach: du Trittbrettfahrer. Aber was konnte er anderes tun? Die Stege waren schmal, und die Tour ging in eine Richtung, brachte alle zum selben Ausgang. Trotzdem ließ er etwas Abstand zwischen sich und dem letzten Briten. Am Ende des beleuchteten Bereichs kamen sie zu einem Steg, der um zwei Säulen herum verlief, bevor er weiter zum Ausgang strebte. Danny sah zwei von Licht angestrahlte Mar morköpfe. Sie waren wuchtig, einer von ihnen war umgedreht, und beide stützten sie je eine riesige Säule. Dahinter war gäh nende schwarze Leere. Die Reiseführerin erklärte, dass nur ein kleiner Teil der Zisterne beleuchtet sei und über Stege begeh bar. Der Rest lag in Dunkelheit. «Das Haupt der Medusa in zweifacher Ausfertigung», sagte die Reiseführerin. Danny sah, dass die Lockenhaare tatsächlich Schlangen darstellten. Aber es war kein Gewimmel von Schlangen, sondern man musste schon genau hinsehen, um die Reptilien zu erkennen. Die Medusen hatten auch nichts Grau enhaftes. Es waren große, blinde, arglos wirkende Köpfe mit breiten, pausbäckigen Gesichtern. «Justinian ließ die Zisterne 219
wieder erneuern», erzählte die Frau, «und es heißt, die Medu sen wurden aus heidnischen Tempeln im Libanon gestohlen – wie auch viele der Säulen hier. Justinian hatte was übrig für Recycling!» Einige Lacher ertönten. «So», sagte sie forsch, «das war’s. Wir gehen jetzt zum Ausgang. Zeit für einen klei nen Happen!» Begeistertes Gemurmel erhob sich, und die Briten schlurften zum Ausgang, freuten sich auf ihren Nachmittagstee. Langsam stiegen sie die steile Treppe empor. Danny ließ sie vorgehen, bis er von einer nachfolgenden spanischen Touristengruppe eingeholt wurde. Dann machte er sich an den langen Aufstieg ans Tageslicht. Auf halber Treppe hörte er, wie die Reiseführerin ihre Schützlinge bat, «schnurstracks» zum Bus zu gehen. Je höher Danny kam, desto wärmer wurde es, bis er schließ lich oben war, wo die Hitze des Tages ihn wie eine Welle über flutete. Nach der kühlen, feuchten Dunkelheit in der Zisterne raubte ihm die Istanbuler Hitze den Atem, und das Licht entzog der Welt alle Farben. Einen Moment lang blieb er vor dem Ausgang stehen und wartete blinzelnd, bis seine Augen sich an die Helligkeit ge wöhnt hatten, und plötzlich sah er sie. Das heißt, er sah sie eigentlich nicht richtig, nicht klar und deutlich, denn die Welt vor ihm kam ihm vor wie ein überbelichtetes Foto ohne De tails. Er nahm sie eigentlich nur wahr, ihre Umrisse und Mas sigkeit, wie sie an einem geparkten Auto lehnten. Einer von ihnen aß anscheinend einen Döner, stand vorgebeugt, um sich das Jackett nicht mit Sauce zu bekleckern. Danny reagierte instinktiv und drehte sich auf dem Absatz um. Bevor er noch recht wusste, was er tat, stieg er schon die Treppe wieder hinunter, drängte sich an den heraufkommenden Spaniern vorbei. Die Treppe war nur knapp einen Meter breit, und er erntete lauten Protest. Dann war er unten, eilte in Richtung Medusen, gegen den 220
Strom der Touristen. Hinter ihm schrie jemand auf, und die Kaskade von empörten Rufen verriet ihm, dass Zebeks Leute ihn verfolgten – ihm sogar ganz dicht auf den Fersen waren. Sein Plan, wenn man das einen Plan nennen konnte, war es, zum anderen Ausgang zu gelangen, doch es hörte sich so an, als wären seine Verfolger nicht so rücksichtsvoll wie er und holten auf. Bei den Medusen abgekommen, vertraute er nur noch auf seinen Instinkt. Er schlüpfte unter dem Geländer des Stegs hindurch, verharrte einen Augenblick und machte einen Hechtsprung in das eiskalte Wasser. Es durchfuhr ihn wie ein Stromschlag. Doch seine Angst war noch stärker und trieb ihn durch das Wasser auf die dunkelste Ecke der Zisterne zu. Auf den ersten gut dreißig Metern konnte er die Säulen er kennen. Sie standen in Reihen, und er schwamm zwischen ih nen hindurch, mit möglichst wenig Geräuschen. Alle zehn oder zwanzig Meter schwamm er so weit er konnte unter Wasser, tauchte zum Luftholen auf. Schließlich konnte er nichts mehr sehen und wurde langsamer, verharrte dann auf der Stelle. Sei ne Füße berührten den Boden, das Wasser konnte höchstens einen Meter zwanzig tief sein. Er blickte nach hinten zu dem beleuchteten Teil – unwirklich und überwältigend, ein versun kener Palast – und war erstaunt, wie weit er geschwommen war. Er war mindestens sechzig Meter von den Medusen ent fernt, wo das Licht ihn längst nicht mehr erreichen konnte. Von der Stelle, wo er ins Wasser gesprungen war, hörte er noch immer aufgeregte Geräusche – eine seltsame Kakophonie von Rufen, die durch den Widerhall der Steinwände und des Ge wölbes verstärkt wurden. Sein Sprung hatte die Wasseroberflä che in Bewegung gesetzt, und das davon reflektierte Licht huschte Schwindel erregend über Säulen und Decke. Und Dan ny war nicht mehr allein im Wasser. Ihm klapperten die Zähne, und er presste die Lippen zusam men. Sein Unterkiefer zitterte, und sein Körper bebte. Irgendwann würde er vor Kälte erstarren. Lange konnte er nicht mehr 221
im Wasser bleiben. Doch fürs Erste blieb er, wo er war, spähte in die Dunkelheit und lauschte. Der Lärm hinten bei den Medusa-Köpfen ließ nach, und Stimmen wurden erkennbar. Offenbar waren Wach leute gekommen, die die Touristen aus der Höhle scheuchten. Sie suchten jetzt auch das Wasser ab, gingen mit Taschenlam pen über die Stege. Sie fürchteten wohl, dass er ertrunken war. Früher oder später würden sie ihn entdecken. Ganz sicher. Und dann läge sein Schicksal in den Händen von Wachperso nal, das für die Sicherheit einer Zisterne zuständig war – eine Aussicht, die ihn nicht gerade mit Zuversicht füllte. Sie würden ihm wahrscheinlich Handschellen anlegen und der Polizei übergeben, was Danny nur recht wäre. Aber zu der Übergabe würde es vermutlich gar nicht mehr kommen. Seine Verfolger warteten bestimmt draußen auf ihn. Und wenn er herauskam, würden sie ihn umlegen. Handschellen würden die Sache nur vereinfachen. Also schwamm er auf das Licht zu. Mit seinen Unterwasserscheinwerfern war der Wunschteich – auf halbem Weg zwischen Ausgang und Eingang – die hellste Stelle in der Höhle. Als Danny näher kam, duckte er sich hinter einer Säule und blickte sich um. Links von ihm, nicht weit von den Medusa-Köpfen, standen Wachleute auf dem Steg. Zwei weitere paddelten in einem kleinen Schlauchboot zwischen den Säulen umher und leuchten mit ihren Taschenlampen in die Dunkelheit. Die meisten Besucher waren fort. Die letzten – etwa zwanzig Leute – wurden gerade die Treppe hoch geschleust. Die Treppe vom Eingang nach unten war leer. Danny schwamm auf die breite Plattform unterhalb der Trep pe zu, wo die Touristengruppen stehen blieben, um ihre Augen an die Dämmerung zu gewöhnen. An der Plattform angekom men, kletterte er aus dem Wasser, wobei er mehr Geräusche machte, als ihm lieb war. Sein vor Kälte steif und unbeweglich 222
gewordener Körper lockerte sich wieder, als er die Treppe hochhetzte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Er flankte über das Drehkreuz und stürzte auf die Straße, wo er einen Moment stehen blieb – triefend nass, keuchend, von der Sonne geblendet. Dann sah er Augenbraue etwa fünf Schritte links von sich, wieder mit dem Handy am Ohr. Die Zisterne hatte nur zwei Ausgänge. Offenbar bewachte Augen braue diesen hier, sein Kumpel den anderen. Als der kräftige Mann sich umdrehte, hatte er gerade noch Zeit, ein verblüfftes Gesicht zu ziehen, denn schon rannte Danny in ihn hinein, ka tapultierte ihn fünf oder sechs Schritte rückwärts und sprintete davon. Er wollte es nun wirklich nicht auf einen Kampf mit dem Muskelpaket ankommen lassen. Er brauchte ein Menschengewimmel, in dem er untertauchen konnte, und er wusste, wo er fündig werden würde – am Fuße der Galatabrücke, an der Fährenanlegestelle. Er rannte in eine Gasse, seine tropfnassen Schuhe glucksten, bog dann in eine Seitenstraße und lief einfach drauf los, ohne zu wissen, wo er war, Hauptsache bergab. Ab und zu vergewisserte er sich mit einem Blick über die Schulter, ob jemand hinter ihm war, aber nein – die beiden Kolosse waren nicht auf Schnelligkeit ange legt. Ihm fiel eine Karte ein, die er an Bord von Turkish Airlines in der Zeitschrift gesehen hatte. Auf ihr waren die Routen der Fähren eingezeichnet, sie fuhren in parabolischen Kurven von einer Seite des Bosporus und des Goldenen Horns zur anderen. Von Eminönü aus konnte man jedes Ziel in Istanbul erreichen oder das Schwarze Meer befahren. Wie New York war Istanbul eine Wasser-Stadt. Wenige Minuten später hatte er die Docks erreicht, wo wie üblich ein in Qualm gehülltes Gefummel herrschte. Danny fiel zwar immer noch auf, weil er so nass war, aber er tropfte nicht mehr, und stellte sich in die Warteschlange, um eine Fahrkarte für die nächste Fähre zu kaufen. 223
Üsküdar. Abfahrt in zwei Minuten. Er eilte zu der Fähre, drehte sich zwei-, dreimal um, doch es war ihm keiner auf den Fersen – zumindest keiner, den er kannte. Er sah bloß ein paar türkische Männer. Er ging über die Gangway aufs Schiff, stieg aufs Oberdeck und setzte sich auf eine abgewetzte Kiefernbank mit dem Rücken zum Schott, so dass er vom Ufer aus nicht zu sehen war. Eine Minute ver strich, die Sekunden schleppten sich dahin. Schließlich ertönte das Horn. Das Deck erzitterte. Und die Fähre legte ab. Danny stieß einen erleichterten Seufzer aus, und die Anspan nung wich aus seinen Schultern. Er war vorläufig in Sicherheit, aber nur vorläufig. Irgendwie fanden sie ihn immer wieder. Aber wie? Er hatte seine Kreditkarten nicht benutzt, nur bar bezahlt. Auf diese Weise hatten sie ihn also nicht aufgespürt, falls das überhaupt ging. Und sie hatten ihn nicht nur einmal, sondern dreimal gefunden. Erst im Hotel Abruzze in Rom, aber da war er selbst Schuld gewesen, weil er Caleigh auf die Mailbox ge sprochen hatte, wo er war. Dann im Hotel in Istanbul. Aber wie? Er hatte nur einen einzigen Anruf gemacht – bei Remy Barzan –, und er hatte wohlweislich keine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Vielleicht durch das Anmeldeformular, das Danny im Hotel ausgefüllt hatte. Die Formulare wurden ja jeden Morgen von der örtlichen Polizei abgeholt, und mit Fahndungslisten abge glichen. Das war überall auf der Welt so. London. Paris. New York. Man musste sich anmelden. Aber hatte Zebek wirklich so gute Beziehungen? Und war die Polizei dermaßen schnell? Vielleicht, befand Danny. Sah ganz so aus. Ein verrostetes Containerschiff glitt in sein Gesichtsfeld und verdeckte die Skyline von Istanbul. Aber … wie hatten sie ihn das dritte Mal entdeckt, auf der Straße vor der Zisterne? Danny hatte selbst nicht mal gewusst, 224
wohin er gehen würde, als er das Hotel verließ. Wie hatte Au genbraue es dann wissen können? War es reines Glück gewe sen? Eher unwahrscheinlich, dachte er. Cankurtaran hatte nicht viele Zugangsstraßen. Der Stadtteil lag auf einer Landzunge mit Blick auf das Marmarameer. Wer nicht mit dem Kanu fuhr, musste an der Hagia Sophia und der Blauen Moschee vorbei. Bergauf und bergab. Und jetzt, wo er darüber nachdachte, mit wem hatte Augenbraue dauernd über Handy telefoniert? Ze bek? Möglich. Oder Augenbraue und sein Freund waren doch nicht allein gekommen. Mit mehreren Leuten wäre es nicht schwer gewesen, ihn auf dem Rückweg von Cankurtaran zu finden. Ein paar Schulmädchen drängten sich kichernd an Danny vorbei, warfen ihm schüchterne Blicke zu. Er merkte, dass er mit sich selbst gesprochen hatte, und die Blicke der Mädchen sprachen Bände: Seht euch den Typen an! Der ist ja klatsch nass! Der ist verrückt! Danny schüttelte den Kopf und lachte. Der reinste Alptraum, dachte er. Das riesige Containerschiff entschwand aus seinem Gesichts feld, und Istanbul tauchte wieder auf, als wäre ein Vorhang zur Seite gezogen worden. Am anderen Ufer schlängelten sich Wolkenkratzer am Hang hinab zum Wasser, ihre breiten, wei ßen Schultern leuchtend im Sonnenschein. Plötzlich befiel ihn eine beängstigende Ahnung. Könnte es sein, dass … ich einen Sender trage? Einen Minisender, der im Kragen seines Hemdes eingenäht oder im Schuhabsatz ver steckt war. Das Hemd kam nicht in Frage. Das Hemd war neu. Alles, was er am Leibe trug, war neu – er hatte die Sachen in Rom gekauft. Bis auf die Schuhe. Die Schuhe hatte er auch ange habt, als er am Tag des Palio bei Zebek gewesen war. Seine «guten» Schuhe, seine Cole-Haan-Schuhe. Er starrte auf seine Füße, kam sich vor wie ein Kalb mit einer 225
Marke am Ohr. Dann griff er nach unten und zog sich die Schuhe aus. Er wackelte an den Absätzen, aber sie bewegten sich nicht. Sie sahen normal aus. Aber das wäre ja auch nicht anders zu erwarten. Zebeks Leute waren Profis. Elite-Gangster. Wahrscheinlich hatten sie im Knast eine Schusterausbildung gemacht. Eines war klar: Er konnte nicht wissen, wie sie ihn ausfindig gemacht hatten. Die Möglichkeiten waren einfach zu zahlreich. Er musste den Tatsachen ins Augen sehen, er würde sich nir gendwo verstecken können. Er nahm seine Schuhe in die Hand, trottete hinüber zur Re ling der Fähre und ließ seine Slipper nacheinander ins grüne Wasser plumpsen. Von jetzt an, sagte er sich, trage ich Gum milatschen.
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Usküdar erwies sich als eleganter Vorort mit einigem Abstand von den hektischeren Stadtteilen Istanbuls. Von der Fähre aus spazierte Danny einen baumbestandenen Boulevard am Ufer des Bosporus entlang. Da er nicht genau wusste, was er tun oder wo er hingehen sollte, kaufte er im erstbesten Laden ein Paar Tennisschuhe. Kurz danach kam er an einem Friseurge schäft vorbei und sah im Fenster ein signiertes Foto von einem türkischen Fußballstar. Der junge Mann hatte sich die Haare so kurz scheren lassen, dass es aussah, als läge nur ein Schatten auf seinem Kopf. Er trat in den Laden und zeigte begeistert auf das Foto und dann auf sich. Der Friseur bat ihn freudig, Platz zu nehmen, und erfüllte ihm den Wunsch innerhalb von drei Minuten mit einem elektrischen Scherapparat. Während ein Lehrling die Locken des Amerikaners zusammenfegte, betrachtete Danny sich im Spiegel – entsetzt und froh zugleich. Er erkannte sich selbst kaum wieder. Anschließend ging er zurück zum Hafen und kaufte sich eine Fahrkarte nach Besiktas, auf der anderen Seite des Bosporus. Auf der Überfahrt bot sich ihm ein herrlicher Blick, denn die Fähre steuerte auf eine Art Versailles zu, ein Schloss am Meer, vor einem Wald aus Apartmenthäusern und Bürogebäuden. Er hätte gern den Namens des Schlosses gewusst, aber es war niemand da, den er hätte fragen können und außerdem … Von der Anlegestelle aus machte er sich auf die Suche nach einem Reisebüro und wurde bald fündig. Ein junger Mann, der nur Türkisch sprach, signalisierte ihm zu warten, und gleich darauf erschien ein wesentlich älterer Kollege. Er beäugte Danny durch eine Nickelbrille und sagte: «Und wohin möchten Sie reisen?» 227
«Nach Uzelyurt», erwiderte Danny. Der Mann blinzelte und fuhr sich mit einer Hand durch das graue Haar. Dann beugte er sich vor, um besser hören zu kön nen. «Bitte?» «Es soll nicht weit von Diyarbakir liegen», erklärte Danny. Stirnrunzelnd überlegte der Mann eine Weile, als hätte er wieder nicht richtig verstanden. «Diyarbakir!», entfuhr es ihm dann. «Eine interessante Stadt!» «Tatsächlich?» «Auf jeden Fall! Vom Flughafen ins Zentrum – garantiert ei ne Messerstecherei. Und im Zentrum selbst, wer weiß?» Am Flughafen hätte er am liebsten im Nichtraucherrestaurant gewartet, doch er sah mit einem Blick, dass er dort der Einzige wäre, und er wollte auf keinen Fall auffallen wie ein bunter Hund. Es war besser, in der klaustrophobischen Enge des Kon kurrenzrestaurants unterzutauchen, wo rauchen nicht nur er laubt war, sondern mit Begeisterung betrieben wurde. Er suchte sich einen freien Tisch und setzte sich mit dem Rücken zur Wand, die Augen auf den Eingang gerichtet. Mit seiner Kleidung und dem geschorenen Schädel wäre er gut als Türke durchgegangen, ein Eindruck, den er dadurch verstärkte, dass er vor sich auf dem Tisch eine Ausgabe der Istanbuler Tageszeitung Cumhuriet ausbreitete. Anders als für die übrigen Gäste verging die Zeit für ihn nicht wie im Fluge. Einen Teller Suppe. Einen Mokka. Ein Glas Apfeltee. Dann gab eine Frauenstimme über Lautsprecher bekannt, dass der Flug nach Diyarbakir auf Viertel vor zehn verschoben worden sei. Draußen war es stockdunkel, als sein Flug endlich aufgerufen wurde. Er ließ weitere zehn Minuten verstreichen, um den Hauptandrang zu vermeiden, und eilte dann zu seinem Gate. Er rechnete fast damit, dass Gaetano und Augenbraue auf ihn warten würde, aber es war niemand zu sehen. Ihm fiel ein Stein 228
vom Herzen, doch sie würden weiter nach ihm suchen, und er wusste nach wie vor nicht, wie sie ihm immer wieder auf die Spur kamen. Das mit dem Sender im Schuh war reine Vermu tung. Und dass sie Anrufe abhörten oder Zugang zu Hotelregi strierungen hatten, war genauso ungewiss. Aber irgendwas in der Art musste im Spiel sein, sonst kämen nur noch übersinnli che Kräfte in Frage. Wussten Zebeks Schläger, dass er sich bei AFP nach Remy Barzan erkundigt hatte? Wussten sie, dass er auf dem Weg nach Uzelyurt war? Möglich. Wahrscheinlich. Es war nicht allzu schwer, sich das zusammenzureimen. Überall um Danny herum wurde Türkisch gesprochen, und er fühlte sich isoliert. Während er in der Warteschlange allmäh lich vorrückte, überlegte er, welche Möglichkeiten er noch hat te, wenn seine Verfolger jeden seiner Schritte vorausahnten. Er hatte das Gefühl, dass es da irgendwas gab, was Zebek bedroh lich werden konnte, etwas, was er unbedingt verbergen wollte. Schließlich hatten schon etliche Menschen deshalb sterben müssen. Danny musste herausfinden, was dieses Etwas war, und dazu fielen ihm nur zwei Möglichkeiten ein: Barzan und Rolvaag. Und selbst wenn das bedeutete, dass seine Schritte vorhersehbar waren, es waren nun mal die einzigen Schritte, die er unternehmen konnte. Auf dem Weg zum Gate mussten die Passagiere durch den Metalldetektor und schließlich an den Gepäckkarren vorbei und ihre Koffer identifizieren, die dann von einem Sicherheits beamten mit einem Kreidezeichen markiert wurden. Als Danny an der Reihe war, wollte er dem Mann pantomimisch klar ma chen, dass er kein Gepäck dabei hatte, was der aber nur mit finsterem Blick quittierte. Schließlich mischte sich lachend eine Frau mit Kopftuch ein: «Er versteht Sie nicht. Er denkt, Sie würden sich über ihn lustig machen.» Sie wandte sich an den Wachmann und sagte etwas auf Türkisch. Mürrisch winkte er Danny durch. 229
Das Flugzeug war bis auf den letzten Platz besetzt. Keine er ste Klasse. Keine Businessclass. Danny saß am Fenster neben einem Mann mit olivfarbener Haut und Goldzähnen. Lächelnd bot der Mann Danny eine Hand voll Pistazien an. Es war schon der zweite Türke, der nett zu ihm war – der Erste war Hasan gewesen, der für ihn den Kopf hingehalten hatte –, und diese Nettigkeiten brachten ihm die Menschen in diesem Land näher. Als die Maschine eine halbe Stunde in der Luft war, wurde das Abendessen serviert. Auf der Verpackung war die rote Sil houette eines Schweins in einem Kreis mit einem diagonalen Strich hindurch aufgedruckt. Darunter stand auf Türkisch und Englisch: Garantiert ohne Schweinefleisch. Während Danny aß, dachte er über Mamadous E-Mail nach. Er glaubte nicht, dass Patels Tod irgendetwas mit der Schwu lenszene zu tun hatte. Nie im Leben. Außerdem hatte Mama dou auf Industriespionage getippt. Vielleicht hatte er damit den Nagel auf den Kopf getroffen. Zebek hatte die Dateien auf Terios Computer zerstört, und der Grund dafür konnte nur sein, dass diese Dateien ihn bela steten. Vielleicht hatten Terios Dateien Entwürfe und Berichte enthalten oder Briefwechsel zwischen Zebek oder seinen Handlangern und Wissenschaftlern in anderen Firmen. Terio war kein Naturwissenschaftler gewesen, aber er hatte sich für sehr spezielle Technologien interessiert. Das bewiesen die Bücher in seinen Regalen, die über «Proteincomputer» und dieses Zeug. Danny hatte keinen Schimmer, was ein Proteincomputer war – der Begriff war für ihn ein Widerspruch in sich, wie kalte Wärme, nicht miteinander zu vereinbaren. Das Einzige, was er sich dabei vorstellen konnte, war ein saftiges Steak mit einem kleinen Fähnchen drauf, auf dem stand: INTEL INSIDE. Aber es musste irgendwie um Hightech gehen, denn Terio hatte mit Jason Patel zu tun gehabt, und Patel war Hightech-Experte bei Very Small Systems gewesen. 230
Danny starrte zum Fenster hinaus in die Dunkelheit. Na und?, dachte er. Es ging also um Technologie – aber ging es heutzutage nicht bei allem um Technologie? Er saß auf einem Kunststoffsessel in über zehntausend Metern Höhe und aß genmanipulierten Reis, der in der Mikrowelle von einer Ste wardess aufgewärmt worden war, die man vermutlich geklont hatte. Alles hatte mit Technologie zu tun. Das Einzige, was er ganz sicher wusste, war, dass Zebek Menschen ermorden ließ. Inzaghi war ermordet worden, weil der Priester die Computerdateien gelesen hatte. Und auch Terio war sehr wahrscheinlich ermordet worden, weil er diese Dateien auf seinem Computer gehabt hatte, Dateien, deren Inhalt Zebek schaden könnte. Jason Patel war seine Mitwisserschaft zum Verhängnis geworden. Bis Danny Zebek von Terios Anru fen bei Patel erzählt hatte, war der Wissenschaftler gesund und munter gewesen. Dann wurde er aus dem Weg geräumt. Und Dannys Aussichten waren auch nicht gerade rosig. Er hätte die Dateien lesen können – das allein wäre für Zebek schon Grund genug, ihn um die Ecke zu bringen. Außerdem hatte er Zebek reingelegt, indem er die Dateien für Inzaghi ko piert hatte. Es ging also um Informationen und Technologie – aber was für Informationen und welche – Das Flugzeug sackte ab wie ein Stein. Das Essen vor ihm auf dem Klapptisch hob ein Stück ab und knallte dann wieder nach unten. Luftloch, dachte Danny, als sich die Stimme des Piloten knisternd aus den Lautsprechern meldete, zuerst auf Türkisch, dann auf Englisch. Danny verstand auch von der englischen Durchsage kein Wort, aber niemand legte den Kopf auf die Knie oder fing an zu schreien, also war wohl alles in Ordnung. Das Lämpchen, das zum Anschnallen aufforderte, ging an, als das Flugzeug wieder einen Satz machte, dann rüttelnd in eine Wolkenwand schoss. Auf der anderen Seite des Ganges fiel klappernd das Tablett einer Frau zu Boden, und der Mann ne 231
ben ihr lächelte nervös und hob die Augenbrauen. Danny war erstaunt, dass er die Ruhe bewahrte, obwohl er normalerweise Angst vorm Fliegen hatte. Irgendwie wusste er, dass weder Turbulenzen noch Luftlöcher für das Flugzeug eine Gefahr bedeuten würden. Weil Zebek ihm nach dem Leben trachtete, hatte Danny jetzt wieder das gleiche Gefühl wie wäh rend der halsbrecherischen Taxifahrt nach Istanbul. Er war immun gegen die alltäglichen Katastrophen, die andere Leute heimsuchten. Ihr Tod war unbestimmt und wahllos, seiner da gegen geplant. Der Flughafen in Diyarbakir war zwar kein Armeelager, aber es fehlte nicht viel. Überall waren Soldaten zu sehen, die mit Maschinengewehren bewaffnet jeweils zu zweit patrouillierten. Noch beunruhigender war allerdings, dass sie nicht so gelang weilt wirkten, wie man es von Soldaten kannte, die routinemä ßig ihren Dienst versahen. Die Männer hier schienen sehr wachsam und nervös, was der normalerweise langweiligen Prozedur im Ankunftsterminal spürbare Anspannung verlieh. Danny stand am Gepäckband und wartete aus Gewohnheit auf seinen Koffer, bis ihm einfiel, dass er ja gar keinen hatte. Er war somit der Erste, der durch die automatischen Türen ging, hinter denen ein Pulk wartender Menschen stand. Danny schob sich durch die Menge und ging zum Schalter von Tur kish Air. «Ich möchte nach Uzelyurt», sagte er zu dem Mitarbeiter. «Gibt es –» Der Mann runzelte die Stirn. «Uzelyurt? Nie gehört.» Danny schrieb den Namen auf einen Zettel, den er dem Mann gab. «Es ist eine Kleinstadt», sagte er. «Oder ein Dorf.» Der Mann winkte eine junge Kollegin herbei, die einen Blick auf den Zettel warf und zu Danny sage: «Das liegt in der Nähe von Sivas. Sie können mit einem Dolmus zum Busbahnhof fahren und dann einen Bus nehmen. Oder …» Sie musterte ihn 232
von oben bis unten, als wüsste sie nicht recht, ob er es sich leisten könnte. «Oder Sie nehmen ein Taxi.» «Was ist ein Dolmus?» «Ein Kleinbus – ein Sammeltaxi. Die fahren vom Flughafen aus überallhin. Auch zum Otogar – das ist der Busbahnhof. Der Busbahnhof liegt auf der anderen Seite von Diyarbakir.» Sie zögerte. «Wenn Sie dort sind, könnte es sein, dass sie ein paar Stunden auf einen Bus warten müssen.» «Wie teuer wäre die Fahrt mit dem Taxi?» Sie überlegte, wackelte dann mit dem Kopf. «Nach Uzelyurt? Vielleicht fünfzig, sechzig Dollar.» Es war verlockend. Aber Danny wusste nicht, wie lange sein Geld noch reichen würde, also … lieber nicht. Er würde mit dem Bus fahren. «Ich möchte zum Otogar», sagte er. Der Mann schrieb die Worte Diyarbakir Otogar auf einen Zettel. «Zeigen Sie den einem Dolmus-Fahrer», sagte er. «Er sorgt dann dafür, dass Sie ans Ziel kommen.» Als er aus dem hell erleuchteten Terminal trat, sah er draußen eine Parade von Taxen und Kleinbussen ankommen und abfah ren. Die Nacht war warm. Er zeigte den Zettel einem Mann mit einem gewaltigen Schnauzbart und wurde zu einem weißen Kleinbus dirigiert, in dem bereits einige Passagiere saßen. Er stieg ein, und als ein Mann ihn ansprach, zuckte er entschuldi gend die Achseln und sagte: «Amerikaner», was ihm von eini gen tatsächlich ein freundliches Lächeln eintrug. Die Leute um ihn herum, die gerade von einer Reise zurück gekehrt waren, unterhielten sich aufgeregt. Er fand ihre Leb haftigkeit sympathisch – ganz anders, als er es von zu Hause gewohnt war, wo gelangweilte und erschöpfte Flugreisende in ihr Handy nuschelten. Alle hier waren freundlich – wenn auch vielleicht nur, weil er ihre Sprache nicht konnte. Sie behandel ten ihn mit einer Herzlichkeit, die man meistens Kindern vor behält. Doch ihr Lächeln und ihre aufmunternden Blicke taten 233
ihm gut. Und außerdem war von seinen Verfolgern nichts zu sehen. Fünf Minuten vom Flughafen entfernt hielt der Dolmus an einem Armeekontrollpunkt. Die beiden Soldaten, die an den Wagen traten, waren humorlose Teenager in Tarnanzügen, und ihre Waffen waren, wie Danny vermutete, Uzis oder Kalasch nikows. Sie forderten die Passagiere auf auszusteigen und überprüften dann am Straßenrand Ausweise und Gepäck. Dan nys Pass war noch feucht von seinem Bad in der Zisterne, und er erntete Murren und Fragen, die er nicht verstand. «Waschmaschine», sagte er und machte eine, wie er zugeben musste, nicht gerade anschauliche Geste mit den Händen. Die Soldaten starrten ihn an und runzelten ratlos die Stirn. Schließlich lächelte einer von ihnen. «Bosch», sagte er und erklärte die Situation seinem Kameraden, der daraufhin ver ständnisvoll dreinblickte. Sie salutierten freundlich und gaben Danny den Pass zurück, schwenkten dann ihre Waffen in Rich tung Dolmus: Alle Passagiere sollten wieder einsteigen. Zwanzig Minuten später erreichten sie die Randbezirke von Diyarbakir und folgten einer Ringstraße um den alten Teil der Stadt. Danny wusste nicht, was er erwartet hatte, aber Diyarbakir war eine Überraschung. Es war eine moderne und offenbar schnell wachsende Stadt, mit großen Mietshäusern, in deren Fenstern das Licht von Fernsehgeräten flackerte. Aber wieso war er überrascht? Hatte er denn gedacht, dass die Menschen außerhalb von Istanbul in Zelten hausten? Eigentlich nicht. Eigentlich hatte er keinerlei Vorstellungen gehabt. Bis vor kurzem hatte er an die Türkei nicht mehr Ge danken verschwendet als an Bulgarien oder Kirgisistan. Und jetzt saß er in der Türkei mit fröhlichen Fremden in einem Dolmus zusammen, und damit nicht genug, er war auch noch auf dem Weg zu einem Ort, der so abgelegen war, dass selbst Türken auf einer Karte nachsehen mussten. 234
Um kurz nach Mitternacht trafen sie am Busbahnhof ein. Als Danny die Schalterhalle betrat, um eine Fahrkarte zu kaufen, sah er sich einer verwirrenden Phalanx von Schaltern gegen über, offenbar einer pro Buslinie. Aber es spielte ohnehin keine Rolle: Sie waren alle geschlossen. Danny ging wieder nach draußen, um sich von einem Taxi zum nächstbesten Hotel bringen zu lassen. Aber es waren keine Taxis da. Und um ein Uhr morgens zu Fuß in Diyarbakir nach einem Schlafplatz zu suchen, kam auch nicht in Frage. Seuf zend ging er zurück in die Schalterhalle, entdeckte eine Pla stikbank und streckte sich darauf aus, unter dem wachsamem Blick eines Fotos des «Gründers der modernen Türkei – Kemal Atatürk». Kurz darauf schlief er tief und fest. Die Dämmerung kam in Form eines Gummiknüppels, der ihn unsanft in die Rippen stupste. Danny öffnet die Augen und sah einen verärgerten Polizisten vor sich stehen, der etwas wieder holte, das sich anhörte wie «Uyanmak!» «Wie bitte?» Der Polizist trat zurück, überrascht, verlegen. «Amerik?» Danny kam hoch, rieb sich die Augen und stand auf. «Ja. Hö ren Sie. Es tut mir Leid – » «Ist gut», sagte der Polizist und drehte sich mit einem knap pen Nicken auf dem Absatz um. Danny sah, dass die Schalterhalle allmählich zum Leben er wachte. Licht strömte durch die schmutzigen Deckenfenster, und Passagiere mit großen Koffern und prallen Rucksäcken kamen herein. An einem Stand kaufte er sich einen Mokka und überlegte, wie er an sein Ziel kommen könnte. Gut die Hälfte der Schalter waren inzwischen geöffnet, und Danny ging von einem zum anderen und sagte immer wieder «Uzelyurt?», als wollte er etwas zu essen verkaufen. Doch er sprach das Wort offenbar nicht richtig aus, denn er erntete je des Mal nur Schulterzucken. Schließlich schrieb er den Namen 235
auf einen Zettel und zeigte es einem älteren Mann in einer ab getragenen blauen Uniform. Der Mann warf einen Blick darauf und nickte. Dann fasste er Danny am Ellbogen und führte ihn zu einem Schalter am Ende der Halle. Der Uniformierte wech selte ein paar Worte mit dem gähnenden Mann am Schalter und wandte sich dann wieder Danny zu. Er deutete auf seine Uhr, malte einen Kreis in der Luft und hielt dann zwei Finger hoch. Zwei Stunden. Danny nickte und erstand eine Fahrkarte. Während der langen Wartezeit kaufte Danny sich eine türki sche Pizza mit Käse und Gemüse und trank dazu Mineralwas ser. Dann schlenderte er nach draußen, in Gedanken bei Ca leigh. Er hatte ihr zwar eingeschärft, auf keinen Fall mit ihm zu re den, aber es sprach nichts dagegen, dass er sie anrief. Er würde zumindest ihre Stimme hören – sie würde spüren, dass er es war – und wenn sie doch was sagte, würde er seine Warnung wiederholen, und zwar so, dass sie sie ernst nehmen musste. Somit hatte er also einen guten Grund, sie anzurufen. Das rede te er sich zumindest ein. Außerdem war Danny inzwischen nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss gelangt, dass Zebek ihm in Rom und Istanbul nicht dadurch auf die Spur gekommen war, dass er die Anrufe, die Caleigh erhielt, zurückverfolgen konnte. Selbst wenn ihr Telefon angezapft war, konnten seine Verfolger nicht wissen, von wo er anrief – es sei denn, er selbst verriet seinen Aufent haltsort oder telefonierte länger, als er vorhatte. Und eine Aus kunft von der Telefongesellschaft war frühestens nach acht undvierzig Stunden zu bekommen. An einem Kiosk in der Schalterhalle kaufte er eine Telefon karte und machte sich auf die Suche nach einem Telefon. Er entdeckte eins auf der anderen Straßenseite, am Rand eines kleinen Parks. Er schob die Karte in den Schlitz und stellte erfreut fest, dass der Apparat funktionierte. Dann wählte er die Nummer und wartete mit angehaltenem Atem, während es am 236
anderen Ende der Leitung klingelte. Einmal. Zweimal. Dreimal. Und dann sprang der Anrufbe antworter an. Aber der Ansagetext war ein anderer, es war auch nicht seine Stimme, die sagte: «Hi, hier ist der Anschluss von Caleigh und Dan …» Es war ein neuer Text, diesmal von Ca leigh gesprochen, und sie sagte: «Hallo! Hier ist der Anschluss von Caleigh. Wenn Sie eine Nachricht hinterlassen, rufe ich zurück.»
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Die Landschaft außerhalb von Diyarbakir war uniform blond – die Farbe von Weizenfeldern, die Farbe von Bausand, die Far be von Caleighs Haar. Für Abwechslung sorgten allein die Pappeln, die als Windschutz in schnurgeraden Reihen gepflanzt worden waren, und der ein oder andere Weingarten. Anders als Danny es kannte, wuchs der Wein hier nicht an Rebstöcken, sondern wucherte dicht am Boden. Anatolien. Die Steppe. Sanfte Hügel, giftgelber Himmel. Alle fünfzehn oder zwanzig Minuten fuhr der Bus durch eine Ortschaft. Gunesli, Urkelet, Sarioglan. Danny hatte den Ein druck, dass die erwachsene Bevölkerung fast ausschließlich aus Männern bestand. Es waren so gut wie keine Frauen zu sehen, und wenn doch, waren sie von Kopf bis Fuß in Schwarz oder Weiß gehüllt, wie Nonnen. Zuerst hatte es den Anschein, als wäre jeder Ort eine einzige Baustelle. Überall lagen Steinhaufen herum, und Kräne reckten sich in den Himmel. Die robusten, eckigen Häuser hatten So larplatten und Heißwasserspeicher auf den Dächern. Doch je tiefer der Bus sich in die Landschaft schlängelte, desto kleiner und einsamer wurden die Dörfer. Es wurde ländlicher, und die ersten Schafherden tauchten auf. Bauern bestellten die Acker mit primitiven Pflügen, die nicht von Traktoren, sondern von Tieren gezogen wurden. Dann änderte die Landschaft erneut ihr Gesicht. Unversehens fuhr der Bus an bizarren, konischen Felsformationen vorbei. Sie hatten die gleiche honigblonde Farbe wie die Erde und er innerten Danny an Muscheln, die sich in Trauben an den Rumpf eines Schiffes hefteten. Der Stein war offenbar weich, denn es waren richtige Behausungen hineingeschlagen worden. Es sah es aus, als wären die Fenster und Türen exakt mit Neun 238
zig-Grad-Winkeln in den Felsen gehauen worden. An einigen Höhlen waren Satellitenschüsseln angebracht, und vor man chen parkten Autos. Stromleitungen hingen in der Luft wie Bleistiftstriche. An einem seltsameren Ort war Danny nie zuvor gewesen, und er hätte sich dergleichen auch nicht vorstellen können. Alles war fremd, und nicht bloß fremd – es war befremdlich. Je weiter sie fuhren und je mehr Zeit verging, desto unwahr scheinlich schien es ihm, dass er an einem derart abgelegenen Ort etwas in Erfahrung bringen könnte, was ihm weiterhalf. Er sprach nicht einmal Türkisch, hatte sich nur vier Wörter ge merkt: evet, yok, tuvalet und merhaba. Danny war zwar froh darüber, aber die Fähigkeit Ja, Nein, Toilette und hallo zu sa gen, würde wohl kaum reichen, um die Probleme zu lösen, die ihn hierher geführt hatten. Schon den ganzen Vormittag wartete er darauf, ein weiteres türkisches Wort zu hören: Uzelyurt. An jeder Haltestelle hoffte er, dass es endlich so weit war, aber er wurde immer wieder enttäuscht. Wieder veränderte sich die Landschaft. Die Straße verlief über viele Kilometer an einer tiefen Schlucht entlang, die ein breiter Fluss gegraben hatte, an dem Dinosaurier vor langer Zeit ihren Durst gestillt hatten. Die Straße schwenkte nach Sü den ab, und die Hügel wurden sanfter. Die blonde Erde nahm eine satte, goldene Farbe an, schien dann förmlich Feuer zu fangen, als der Bus an Mohnfeldern vorbeibrauste, die in der Hitze flimmerten. In der Ferne lag eine mediterrane Villa in der Sonne. Dann bog der Bus um eine Kurve und die Villa war verschwunden, und ebenso die Mohnblumen. Kurz darauf hielt der Busfahrer auf einer Art Parkplatz am Rande einer sehr kleinen Ortschaft. Ein verrostetes Schild ver riet den Namen: UZELYURT. Es war kurz nach Mittag. Danny stieg aus. Etliche Busse parkten unter einem Well blechdach, Menschen drängelten in den Bus, andere warteten 239
gelangweilt. Arbeiter mit Wollmützen auf dem Kopf lehnten an einer Backsteinwand und rauchten, die Augen auf den Ameri kaner gerichtet. Dann fuhr der Bus, mit dem er gekommen war, wieder ab und rumpelte der Sonne entgegen. Ohne es zu wol len, atmete Danny den Dieselqualm ein, als er dem Bus nach sah und gegen den Impuls ankämpfte, ihm nachzulaufen. Der Ort bestand aus einer einzigen, asphaltierten Straße, von der gut eine Hand voll Nebenstraßen abgingen. Auf beiden Seiten der Hauptstraßen lagen kleine Läden für jeden Bedarf. Danny sah eine Tankstelle mit einer einzigen Zapfsäule, ein Haushaltswarengeschäft, wo es nach Öl stank, und eine Schweißerei, aus der es zischte und knallte. Das einzige Re staurant hatte offenbar geschlossen, aber er entdeckte eine er staunlich nette Konditorei. Er trat ein, um ein Glas Apfeltee zu trinken, bestellte dann ein zweites Glas und aß ein Stück Baklava. Wieder draußen auf der Straße bemerkte er ein Hinweisschild mit der Aufschrift OTELIHITTITE, ein dreistöckiges Gebäu des, das er ein Stück bergauf liegen sah. Auf dem Weg dorthin betrat er einen Laden, dessen Eingang von offenen Jutesäcken voller Pistazien, Datteln und anderen Früchten flankiert war. Die Regale im Innern waren gefüllt mit Pepsi, Bier und Was ser, Cornflakes und Waschmittel. Neben der Theke stand ein Regal mit Videos, hauptsächlich amerikanische Filme in türki scher Verpackung. Danny nahm das Angebot in Augenschein: Er sah Password Swordfish, Pulp Fiction und Matrix. Er kaufte eine Zahnbürste und eine Flasche Mineralwasser, zwei Flaschen Efes Pilsener und eine Tüte getrocknete Apriko sen. Der Besitzer lächelte ihn an, als er das Wechselgeld auf einen Zehn-Millionen-Lire-Schein herausgab. «Kanadier?» Danny schüttelte den Kopf. «Amerikaner.» Das Lächeln des Mannes wurde breiter. «Mein Sohn! Er war Columbia University. Jetzt ist er Morgan-Stanley!» Er deutete 240
auf ein Columbia-Abziehbild auf der Rückseite der Kasse, zeigte dann auf eine Harz-Nachbildung der Felsformationen unweit des Ortes. «Gestern in Höhle – heute auf Eliiete-Uni. Morgen … wir sehen!» Ein dröhnendes Lachen. Danny lachte auch. «Er muss schlau sein. Columbia ist schwer.» Der Mann nickte und lächelte, aber Danny sah ihm an, dass das englische Vokabular des Mannes nicht viel größer war als sein türkisches. «Na denn», sagte er. «Bis später.» «Oh, ja!», erwiderte der Mann. «Später!» Das Oteli Hittite hatte keinen Stern, war also sehr einfach. Die «Lobby» bestand aus einem kleinen Raum mit einer hohen Decke und die Rezeption aus einem Tisch. An dem Tisch saß ein alter Mann, der kein Englisch sprach, doch ein Schild an der Wand verriet, dass ein Einzelzimmer sechs Millionen Lire – rund fünf Dollar – die Nacht kostete. Danny holte seinen Pass heraus und reichte ihn dem alten Mann, der mit der Zunge schnalzte, als er den ramponierten Zustand des Dokumentes sah, und ihn zusammen mit einer Anmeldekarte zurückgab. Er hielt Danny einen Stift hin und wartete lächelnd, während Danny die Karte ausfüllte. Als das erledigt war, warf der Alte einen kurzen Blick auf die Karte und legte sie dann auf ein halbes Dutzend anderer. Schließlich stand er auf und bedeutete Danny mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. Was Danny auch tat – nachdem er sich seine Anmeldekarte geschnappt und rasch in die Tasche gesteckt hatte. Sie gingen einen langen Flur hinunter und hinaus auf einen Hof mit Plastiktischen im Schatten großer, roter Sonnenschir me. Ein Blumenmeer rankte sich an Betonmauern hoch, in de ren Krone Glasscherben eingelassen waren. Der alte Mann zupfte Danny am Ärmel und signalisierte mit den Fingern eine Essbewegung. 241
Danny lächelte. «Kapiert. Vielleicht später.» Mit einem respektvollen Nicken gab der Mann ihm einen Schlüssel mit der Nummer 7 darauf und zeigte auf eine Treppe. Dannys Zimmers enthielt ein großes Bett mit einer dünnen Matratze, einen Metalltisch mit zwei ungleichen Stühlen und eine morsche Kommode aus Holz. Auf dem Fliesenboden lag ein fadenscheiniger Teppich unter einer Fensterfront, die zur Straße ging. Vor den Fenstern ohne Fliegendraht waren schwe re, blau gestrichene Läden. Von der Decke baumelte eine ein same Lampe. Das war’s, bis auf die Dose Insektenspray neben dem Bett, was Danny kurz stutzen ließ. Doch so schäbig das Zimmer auch war, es war peinlich sauber, die Bettwäsche blendend weiß und geradezu einladend. Danny widerstand der Versuchung, schrieb Barzans Name auf die Rückseite des Bus tickets und ging wieder nach unten. Der alte Mann blickte auf den Namen, überlegte einen Au genblick und schüttelte den Kopf. Dann sah er auf und gab dem Amerikaner das Busticket mit einem freundlichen Lächeln zu rück. Danny ging aus dem Hotel, und als er in die Gluthitze des Nachmittags trat, kniff er die Augen gegen das grelle Licht zusammen. Die blonden Steine und die baumlose Landschaft. Der gebleichte Himmel und die flirrende Hitze. Es raubte ei nem den Atem. Eine Frau unbestimmten Alters, von Kopf bis Fuß in Weiß gehüllt, zeigte ihre Goldzähne in einer stummen Begrüßung. Auf der anderen Straßenseite trottete ein Junge von höchstens zehn Jahren mühsam bergauf, über der Schulter ein totes Lamm mit starren weißen Augen. Es war alles so verwir rend – als wäre er in eine Bühnenkulisse geraten. Ein Stück die Straße hinunter erkundigte er sich in den Ge schäften nach Remy Barzan, indem er den Besitzern das Bus ticket mit dem Namen zeigte. In einem verstaubten Teppichla den saßen drei junge Männer über ein Backgammon-Brett ge beugt, sie lachten und tranken Tee. Der größte von den dreien, 242
der ein neu aussehendes Nike-T-Shirt trug, sprang auf, als er Danny sah, und begrüßte ihn tatsächlich mit offenen Armen und einem Redeschwall. Danny blickte bedauernd und sagte: «Ich bin Amerikaner.» Der junge Türke grinste. «Kein Problem. Woher kommen Sie?», fragte er. «Aus Washington», erwiderte Danny, erstaunt, seine Mutter sprache zu hören. Das Gesicht des Türken verzog sich zu einem mitleidigen Ausdruck. «Mein Freund», sagte er, «eure Jungs schaffen es nie im Leben bis in die Endrunde.» Er übersetzte für seine Freunde, und sie fielen in Dannys Lachen ein. «Warten wir’s ab», sagte Danny. «Jedenfalls, ich bin hier –» «Weil Sie einen Teppich suchen?» Bevor Danny etwas erwi dern konnte, fügte er hinzu: «Da sind Sie bei mir genau richtig, Mann.» «Hören Sie –» «Ich mache Ihnen einen Superpreis.» «Danke, aber –» «Mein Freund – ich meine es ernst. Einen Superpreis!» Danny schüttelte den Kopf. «Vielleicht ein anderes Mal, aber im Augenblick suche ich keinen Teppich, aber eine Person.» Der Türke blickte ihn fragend an. «Einen Freund», sagte Danny. «Vielleicht kennen Sie ihn?» Er reichte dem Türken das Busticket, der einen Blick darauf warf und es den beiden anderen Männern zeigte. Einer von ihnen murmelte etwas und schüttelte den Kopf. «Der Mann ist bestimmt nicht von hier», sagte der junge Türke. Er sah seine Freunde an. «Sonst würden wir ihn ken nen.» Er nahm wieder Platz und trank einen Schluck Tee. Das Gespräch war für ihn offensichtlich beendet. Plötzlich war keine Rede mehr von «mein Freund», und Danny stand verlegen an der Tür. «Na denn», sagte er, «trotz dem vielen Dank.» Die anderen nickten, ohne aufzublicken. 243
Niemand hatte gesagt, dass es leicht werden würde. Danny ging zu dem kleinen Busbahnhof auf der anderen Straßenseite und betrat das Häuschen mit dem Fahrkartenschal ter, vor dem sich eine kurze Schlange gebildet hatte. Als Danny an der Reihe war, zeigte er dem Mann am Schalter das Ticket mit Remy Barzans Namen. Der Fahrkartenverkäufer spähte durch seine Goldrandbrille kurz auf den Namen, schob das Ticket zurück, legte den Kopf schief, schloss die Augen und machte mit dem Zeigefinger eine Scheibenwischerbewegung. Dann hielt er inne und öffnete die Augen wieder. «Sie kennen ihn?», fragte Danny. Der Mann wiederholte die Bewegung mit dem Finger und blickte dann demonstrativ über Dannys Schulter die nächste Person in der Warteschlange an. Danny kapierte allmählich. Das Polizeirevier, ein Betonwürfel am Ende der Hauptstraße, war geschlossen. Wie kann denn ein Polizeirevier geschlossen sein?, fragte sich Danny. In der Nähe stand ein Jeep mit zwei Soldaten darin. Danny ging lächelnd zu ihnen und zeigte ihnen das Busticket mit Bar zans Namen. Ein gelangweilter Blick, ein Schulterzucken, und das war’s. Dann drang Danny der Geruch von gebratenen Paprika, Knoblauch und Zwiebeln in die Nase, und er merkte, wie hung rig er war. Er folgte dem Duft bis zu einem Restaurant im er sten Stock eines Hauses; das Schild über der Tür war vor lan ger Zeit heruntergefallen. Danny trat ein und kam in einen gro ßen Raum mit Ventilatoren und moderner Neonbeleuchtung an der Decke. Ein älterer Kellner begrüßte ihn mit einer Verbeugung und führte ihn dann zu einer Vitrine mit einer Auswahl an Vorspei sen. Danny zeigte auf die gefüllten Weinblätter, einen Toma ten-Auberginen-Salat, Hummus und Pide und eine Schüssel grünes Gemüse. Der Kellner nickte und schickte ihn dann zu 244
einem langen Grill. Ein hellhaariger Mann mit einem blauen T-Shirt stand hinter einer Pyramide aus Kebabspießen, säuberlich abgedeckt mit Plastikfolie. Als Danny auf einen der kleineren Berge zeigte, setzte der Koch eine missbilligende Miene auf und deutete auf das Lamm-, Hähnchen- und Wurst-Kebabs. Danny schüttelte den Kopf. «Bloß Gemüse», erklärte er.
Der Koch blickte erstaunt. «Amerika?»
Danny nickte.
«Ich habe einen Cousin», sagte der Koch.
«Ah ja?»
«Rehoboth Beach, Delaware. Er hat da eine Reinigung.»
«Das ist nicht weit von Washington, wo ich herkomme.»
«Wirklich? Rehoboth – ist es gut da?»
«Ja», sagte Danny. «Richtig toll. Sonne, Sand, der Ozean.»
Er zuckte die Achseln. «Ganz anders als hier.» Der Mann streckte ihm eine Hand entgegen. «Ich bin Attila», sagte er und strahlte übers ganze Gesicht. «Wie der Hunne.» Danny musste lachten. «Danny Cray.» Attila deutete auf Spieße. «Also nur Gemüse, was?» «Richtig.» «Mensch, Sie sind im falschen Land!» Er drehte an einem Schalter und Flammen schossen hoch; er regulierte sie, bis sie ruhig brannten. «Außer unsere Pistazien. Wir haben die besten Pistazien der Welt.» «Wo haben Sie meine Sprache so gut gelernt?»
«Schule.»
«Habt ihr gute Schulen hier?»
Attila nahm zwei Gemüsespieße, pinselte sie mit Öl ein und
beträufelte sie mit dem Saft einer Zitrone. Dann bestreute er sie mit Salz und Pfeffer und legte sie auf den Grill. «Ja», sagte er, «das Bildungssystem ist gut. Alle gehen zur Schule, bis sie zwölf sind. Wer das Zeug hat, kann dann auf weiterführende Schulen – und die ganz Schlauen zur Universi 245
tät. Wir haben dreißig Unis.» «Und jeder kann studieren?» Attila schüttelte den Kopf. «Oh nein. Es ist ziemlich schwer. Man muss einen Test bestehen. Die Konkurrenz ist groß.» Danny verzog mitfühlend das Gesicht. Attila lachte. «Ich weiß, was Sie denken – ich brate hier Ke babs. Aber ich war kein schlechter Student. Ich war an der Bo gazici-Universität in Istanbul. Hab da Volkswirtschaft stu diert.» «Volkswirtschaft?» «Ich wollte Tierarzt werden, aber der Staat entscheidet, was er braucht. War aber nicht weiter schlimm. So hab ich wenig stens Englisch gelernt. An der Uni ist nämlich fast alles in Eng lisch.» Er wendete die Kebabs. «Und …» «Was ich hier mache?» Danny nickte. Attila lächelte verschmitzt. «Na was wohl? Ich brate Kebabs für Sie.» Er hielt einen Augenblick inne und fügte dann hinzu. «Ich bin von hier. Das Restaurant gehört meinem Vater, aber … Er kann im Augenblick nicht hier sein. Deshalb springe ich für ihn ein.» «Verstehe.» «Ich glaube nicht, dass Sie das verstehen.» «Wieso?» «Weil er im Gefängnis sitzt.» Als er Dannys Verblüffung sah, fügte er hinzu: «Wir sind Kurden. Alle hier. Bis auf die Soldaten – die sind … was auch immer. Es gibt hier viele Un ruhen.» «Ich hab davon gehört.» «Sie wollen unsere Kultur zerstören, und bei unserer Sprache fangen sie an. Bis vor zehn Jahren durften wir unsere Sprache weder unterrichten noch sprechen, auch im Radio und Fernse hen war sie verboten. Nicht einmal meine Kinder durften kur 246
dische Namen haben. Ich musste ihnen türkische geben.» «Hat sich die Lage inzwischen gebessert?» Attila wendete die Kebabs erneut. «Nicht viel. Ich persönlich gehe in die Staaten, fang bei meinem Cousin an. Sobald ich ein Visum habe. Andere geben auf. Oder schließen sich der PKK an, den kurdischen Separatisten. Sehr kompromisslos. Ankara bezeichnet sie als Terroristen.» «Und? Sind sie das?», fragte Danny. Attila lächelte. «Allerdings. Und wie. Nur in letzter Zeit hal ten sie sich etwas bedeckt.» Er lachte auf. «Warum denn das?» «Ihr Führer ist geschnappt worden.» «Das scheint Ihnen ja nicht unbedingt Leid zu tun.» Attila zuckte die Achseln. «In kleinen Orten wie hier sitzen die Menschen zwischen den Stühlen. Die PKK und die Armee haben dieselbe Denkweise: Entweder du bist Teil der Lösung oder Teil des Problems. Also bist du auf jeden Fall der Dum me, egal, was du machst.» Danny runzelte die Stirn. «Sie meinen –» «Diese Kerle kommen hierher – ich meine die PKK –, die kommen hierher und wollen Hilfe. Essen, Geld, einen Platz zum Schlafen. Wenn du ihnen nicht gibst, was sie wollen, ma chen sie dich fertig. Und wie. Dann nehmen sie sich, was sie brauchen. Sie haben Waffen. Also gibst du ihnen, was sie wol len, und dann ziehen sie weiter. Wie die Heuschrecken. Dann taucht die Armee auf. Und die sagen: ‹Ihr habt den Rebellen geholfen.› Zack», er lachte verbittert. «So landen Männer wie mein Vater im Gefängnis. Und deshalb stehe ich hier und grille Kebabs.» Grinsend hob er die brutzelnden Spieße vom Grill und ließ sie auf einen Teller gleiten. Dann häufte er etwas Reis und einen Klecks Joghurt daneben und deutete ins Restaurant. Danny ging mit seinem Teller zu einem Tisch, wo schon die Vorspeisen bereitstanden. «Möchten Sie was trinken?», fragte Attila. «Limonade? Die 247
ist nicht aus der Dose.» «Ja, gern», erwiderte Danny und nahm Platz. Attila rief dem Kellner etwas zu. In der Ecke saßen vier alte Männer und spielten Karten. Der Kellner kam mit zwei Gläsern Limonade herbeigeeilt. Attila deutete auf den Stuhl gegenüber Danny. «Darf ich?» «Ja, sehr gern.» Außer den Kartenspielern war Danny der einzige Gast. Attila setzte sich und trank einen Schluck von seiner Limo. «Sie sind kein Tourist», sagte er. Danny lachte. «Merkt man das?» «Ja.» «Woran?» «Weil es hier keine Touristen gibt. Wir sind zehn Meilen von Syrien entfernt, zwanzig Meilen vom Irak. Deshalb kommen nur Drogenhändler her. Spione. Teppichhändler. Menschen schmuggler. Ab und zu ein Forscher. Was davon sind Sie?» Danny schüttelte den Kopf. «Nichts … ich bin Bildhauer.» Das Hummus schmeckte köstlich. «Bildhauer», wiederholte Attila ungläubig. «Ja», sagte Danny, «aber ich bin nicht als Künstler hier. Ich suche jemanden, einen Mann.» «In Uzelyurt?» Attila blickte wieder ungläubig. «Genau.» «Na, das dürfte nicht schwer sein. Wie heißt er?» «Barzan», erwiderte Danny. Die Gesicht des Türken wurde ausdruckslos. «Remy Barzan», fügte Danny hinzu. Attila nickte nachdenklich, trank dann seine Limonade in ei nem Zug auf und erhob sich. «Ich muss wieder an die Arbeit.» «Warten Sie!» Zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde war jede Freundlichkeit aus einem Raum gewichen. «Sie kennen ihn, stimmt’s?» Der Türke zuckte die Achseln. «Vielleicht. Und wenn?» 248
«Wie kann ich ihn finden?» «Hören Sie sich um.» Er wollte sich abwenden, stockte dann und sagte: «Aber vielleicht lassen Sie es doch besser bleiben.» Danny verstand nicht. «Wieso?» «Weil er, glaube ich, nicht gefunden werden will.» Der Amerikaner nickte. «Das hab ich mir schon gedacht, aber –» Attila stützte die Hände auf den Tisch und beugte sich vor. «Hören Sie», sagte er. «Sie können hier nicht einfach auftau chen und alle möglichen Fragen stellen. Remy gehört zu einer großen Familie, einem großen Clan. Die Barzans sind mit jedem verwandt, und sie mischen in vielen Dingen mit.» «Was denn so?» Attila richtete sich mit einem spöttischen Schnauben auf. «Hier herrscht Bürgerkrieg – seit hundert Jahren. Die Barzans tun, was sie tun müssen.» «Und das wäre?» «Alles, was erforderlich ist. Und sie tun es für uns alle.» Danny wusste nicht, wie das gemeint war, und es war ihm anscheinend anzusehen. «Der alte Mann – der Großvater – trägt viel Verantwortung», erklärte Attila. «Er ist ein Ältester.» Bei Danny machte es Klick. «Sie meinen … die Jesiden.» Jetzt war der Koch verblüfft. Schließlich sagte er. «Richtig.» «Dann –» «Hören Sie – Sie wollen Remy finden? Vielleicht sollten Sie mit Mounir sprechen.» «Wer ist Mounir?» «Der alte Mann. Scheich Mounir. Er ist Remys Großvater. Er wird Ihnen zwar nichts verraten, aber wenn Sie hier weiter von Tür zu Tür gehen …» Er schüttelte den Kopf. «Könnte Ihnen was passieren.» Danny hob die Hände in gespielter Kapitulation. «Wo finde ich ihn?» 249
Der Koch seufzte. «Haben Sie die Mohnblumen gesehen?» Danny überlegte. Die Fahrt mit dem Bus hierher. Die Felder, die vor Blumen leuchteten. «An der Straße hierher?» Attila nickte. «Und das Haus? Das große Haus –» «Auf dem Berg? Diese Villa?» Der Taxifahrer weigerte sich, ihn an das gewünschte Ziel zu bringen, doch ein gut gelaunter Farmer erbarmte sich und nahm ihn in seinem Laster mit. Im Wagen roch es stark nach Bauern hof, aber es waren nur wenige Meilen bis zu der Villa. Nach zehn Minuten bog der Laster um eine Kurve, und da lag das Haus, an einem Hang in einem Meer von Mohnblumen. «Ich kann hier aussteigen», sagte Danny und lächelte dank bar. Der Bauer warf einen Blick auf das Haus und fluchte ge presst. Dann gab er Gas. «He! Anhalten! Wir sind da!» Der Bauer fuhr unbeirrt weiter. Danny wusste nicht, was er tun sollte. Nach einer halben Meile nahm Danny allen Mut zusammen und wollte schon den Zündschlüssel abziehen, doch da waren das Haus und die Mohnfelder endlich nicht mehr zu sehen und der Bauer brachte das Fahrzeug mit einer Vollbrem sung mitten auf der Straße zum Stehen. Er beugte sich über Danny und stieß die Beifahrertür auf. «Ayril!», befahl er. «Ay ril!» Jetzt kannte Danny also ein fünftes Wort auf Türkisch. Wenn das so weitergeht, dachte er, spreche ich die Sprache in hundert Jahren fließend. Nach einem zehnminütigen Marsch kam Danny wieder an die Stelle, wo ein Feldweg abbog und durch die Mohnfelder zum Haus der Barzans führte. Während er bergauf ging, sah er, dass die Villa hinter einer Steinmauer stand, auf deren Krone Glasscherben glitzerten. Einem solchen Haus konnte man sich bestimmt nicht unbehelligt nähern, und irgendwie hatte Danny 250
das Gefühl, dass er nicht allein war. Er drehte sich um und sah, dass zwei junge Männer ihm im Abstand von gut fünfzig Me tern folgten. Beide rauchten sie eine Zigarette und trugen in einer Hand eine automatische Waffe wie einen Henkelmann. Danny lächelte nervös und winkte ihnen kurz zu, doch sie rea gierten nicht. Seine Begleiter gingen einfach weiter, mit aus drucklosen Gesichtern, in einem respektvollen Abstand, der aber leicht aufzuholen war. Kurz darauf war Danny an der Mauer vor dem Haus und trat durch einen Steinbogen, dessen massive Holztüren weit offen standen, in einen schlichten Hof, den nur ein silberner Jaguar und ein plätschernder, vor Algen glänzender Brunnen zierte. Inzwischen waren die jungen Schützen bei ihm. Nachdem der ältere der beiden festgestellt hatte, dass ihr Be sucher kein Türkisch sprach, signalisierte er Danny, dass er sich nicht von der Stelle rühren solle. Dann raunte er seinem Freund etwas zu und ging ins Haus. Die Minuten verstrichen, während Danny am Brunnen lehnte und das Haus bestaunte, wobei ihn der junge Mann mit der Waffe nicht aus den Augen ließ. Es war eine große Villa im mediterranen Stil, mit hohen Fenstern und ungestrichenen, ver putzten Wänden. An sämtlichen Fenstern waren die Vorhänge geschlossen. Schließlich kam der erste Wachmann zurück. Er bedeutete Danny, die Hände zu heben und die Beine zu spreizen, reichte dem anderen Burschen seine Waffe und tastete Danny mit be dächtiger Gründlichkeit ab. Anschließend ließ er sich seine Waffe zurückgeben und winkte Danny, ihm ins Haus zu fol gen. Das Innere der Villa war völlig anders, als Danny es sich vorgestellt hatte. Er hatte so etwas wie aus einem Katalog über französischen Landhausstil erwartet, doch stattdessen kam er sich vor wie in der Lobby eines Luxushotels. Gedämpftes Licht. Klimaanlage. Holztäfelung. Kostbare und geschmack 251
volle Möbel ohne erkennbare Herkunft. Aus einem anderen Raum ertönte leise klassische Musik, und Danny hatte das Ge fühl, dass er überall auf der Welt sein könnte. Der einzige Hinweis auf den tatsächlichen Standort der Villa war eine Sammlung alter Drucke, die in schlichten Goldrahmen an den Wänden hingen. Als er sie näher betrachtete, sah er, dass es Stahlstiche aus dem neunzehnten Jahrhundert waren und os manische Motive zeigten: der bedeckte Souk in Istanbul, Dhaus auf dem Goldenen Horn – «Avete desiderato vedermi?» Danny drehte sich rasch zu der Stimme um und sah einen äl teren Mann in einem dunklen Anzug, der ihn durch eine Gold brille hindurch betrachtete. Trotz seines Alters hatte der Mann volles, eisengraues Haar und einen kurzen Spitzbart im glei chen Farbton. Obwohl er vom Alter gebeugt war und sich auf einen Stock stützte, war er noch immer so groß wie Danny. «Verzeihen Sie», sagte Danny, «aber –» «Sie nichts capire.» Der alte Mann schmunzelte. «Mein Freund hier denkt, Sie sind Italiener.» Erleichtert, dass der alte Mann seine Sprache sprach, stellte Danny sich vor und fragte, ob er der Großvater von Remy Bar zan sei. «Ja. Ich bin Scheich Mounir Barzan.» «Ich hatte gehofft, Sie könnten mir helfen», sagte Danny. «Ich muss Ihren Enkel unbedingt sprechen.» Der alte Mann runzelte die Stirn. «Sie sind ein Freund von Remy?» Danny schüttelte den Kopf. «Das nicht gerade. Ich meine, wir sind uns nie begegnet.» «Und trotzdem … kommen Sie den weiten Weg hierher?» Danny hob die Achseln. «Ich war in Rom. Das ist nicht ganz so weit, und … ich muss ihn dringend sprechen.» Der alte Mann blickte skeptisch. «Ich glaube, Remy möchte im Augenblick nicht gestört werden.» 252
«Das verstehe ich», erwiderte Danny. «Aber wir haben ein Problem, ein gemeinsames Problem. Und ich dachte, wir könn ten uns vielleicht gegenseitig helfen.» Der alte Mann ging langsam ans Fenster und blickte hinaus auf den Hof. «Leider habe ich Remy seit Wochen nicht gese hen.» «Aber Sie wissen, wo er ist», rief Danny. «Vielleicht», erwiderte der Scheich. Danny seufzte, unsicher, wie viel er preisgeben sollte. Schließlich sagte er: «Remy ist in Gefahr.» Mounir Barzan nickte. «Ich weiß. Deshalb ist er ja nach Hau se gekommen. Und was haben Sie für ein Problem, Mr. Cray?» «Ich bin auch in Gefahr.» Der alte Mann bedachte in mit einem mitleidigen Blick. «Tut mir Leid, das zu hören. Vielleicht sollten Sie auch nach Hause fahren.» Danny schüttelte den Kopf. «So einfach ist das nicht. Ich muss wirklich mit Ihrem Enkel sprechen.» Die Schultern des alten Mannes hoben und senkten sich, als wollte er sagen, es tut mir Leid, aber ich kann da nichts ma chen. «Hören Sie», sagte Danny. «Ich weiß nicht, wie viel Sie wis sen, aber –» «Ich weiß gar nichts, Mr. Cray. Remy hat mir nichts erzählt.» «Tja, ich weiß, es klingt übertrieben, aber … die Sache ist die: Es gibt einen Mann, der ihn umbringen will.» Das Gesicht des alten Mannes verfinsterte sich. Dann wurde es ganz langsam wieder weich. «So etwas passiert nun mal. Junge Männer geraten in Schwierigkeiten. Dort, wo er ist, ist er in Sicherheit.» Danny blickte ihn skeptisch an. «Der Mann, der nach ihm sucht, hat sehr viele Möglichkeiten.» Mounir Barzan lächelte dünn. «Wir sind eine große Familie», sagte er. «Wenn Remy Hilfe braucht, weiß er, wo er sie finden 253
kann.» «Mr. Barzan, ich glaube, Sie verstehen nicht –» «Ich glaube, ich verstehe sehr gut. Sie sagten, dass Sie und Remy ein gemeinsames Problem haben. Was bedeutet, dass der Mann, der nach Remy sucht, auch auf der Suche nach Ihnen ist. Habe ich Recht?» Danny nickte. «Dann werden Sie doch bestimmt verstehen, dass Remy nun wirklich keinen Besuch von einem Fremden gebrauchen kann.» Er schwieg kurz, um seine Worte wirken zu lassen, dann wand te er sich dem jungen Wachmann zu und erteilte ihm einen Befehl. «Yusuf bringt Sie zurück in Ihr Hotel», sagte er. «Wenn ich Remy sehe, sage ich, dass Sie da waren. So, wenn Sie mich bitte entschuldigen, ich verreise morgen.» Als Danny wieder in seinem Hotelzimmer war, schaltete er den Ventilator an, streifte die Schuhe ab und ließ sich aufs Bett fallen, erschöpft von der Hitze und entmutigt von seinem Be such in der Villa. Er wollte nur ein kurzes Nickerchen machen, höchstens eine halbe Stunde, aber dagegen hatte sich einfach alles verschworen. Die kühle Bettwäsche. Die wohltuende Bri se vom Ventilator. Die künstliche Dämmerung, die die ge schlossenen Fensterläden erzeugten. Ohne es zu wollen, schlief er ein paar Stunden, und als er aufwachte, war er einen langen Augenblick durcheinander. Das Hotelzimmer kam ihm irgendwie fremd, fast surreal vor, und er fühlte sich, als hätte er die ganze Nacht geschlafen. Aber nein. Er war am späten Nachmittag eingeschlafen, und die Fenster ladendämmerung war einer tieferen Dunkelheit gewichen. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es kurz vor zehn war. Ob wohl er keinen Hunger hatte, wusste er, dass er etwas essen sollte – und außerdem konnte er sowieso nicht mehr schlafen. Was sprach also dagegen, ein Bier trinken zu gehen? Auf dem Weg zum Restaurant spürte er die Kälte. In Step 254
penlandschaften, so dachte er, fällt die Temperatur bei Ein bruch der Dunkelheit rapide ab. Vielleicht lag das ja daran, dass es nichts gab, was die Sonnenwärme speichern konnte. Die Landschaft war Marilyn-Monroe-blond, die Asphaltstraße klassisch grau. Die meisten Gebäude waren zementfarben, die Übrigen weiß getüncht. Außerdem war der Ort nicht groß ge nug, um ein Mikroklima zu erzeugen. Ein paar Autos und Lastwagen, hier und da eine Straßenlaterne, Neonlampen in den Häusern – das war alles. Wenn die Hitze verschwand, war sie weg. Kurz darauf entdeckte er in einer Seitenstraße eine Kneipe, die ihm bisher noch nicht aufgefallen war. In der Ecke eines Hofes stand ein Holzkohlegrill, die Glut mit weißer Asche überzogen, und an einer Wand flimmerte ein Fernseher. Grau haarige Arbeiter saßen an stabilen Holztischen, rauchten und spielten Karten. Danny erkannte einige Leute wieder – einer von den jungen Burschen im Teppichladen, der Kellner aus dem Restaurant, ein paar Männer, die er nach Remy Barzan gefragt hatte. Er nickte den Einheimischen zu, setzte sich an einen Tisch nicht weit von dem Grill und bestellte eine Flasche Efes Pilse ner. Dann lehnte er sich zurück und blickte zum Himmel, rech nete mit einem so überwältigenden Sternenzelt, wie man es nur in der tiefsten Provinz sehen kann. Aber Fehlanzeige. Die Nacht war staubverschleiert, die Sterne schmutzig und blass. Genauso fühlte er sich. Fast den ganzen Tag war er den Leu ten hier mit seinen Fragen auf die Nerven gegangen. Sein Be such in der Villa war ein Reinfall gewesen, und jetzt … falls Remy Barzan in Uzelyurt war, dann wurde er gehütet wie ein Staatsgeheimnis. Und was jetzt? Mit dem Bus am nächsten Morgen nach Diy arbakir. Von dort war es ein kurzer Flug nach Istanbul. Aber was würde das bringen? Istanbul war auch nicht besser als Uzelyurt oder Washington. Er würde sein Glück in Oslo versu 255
chen, klar, aber optimistisch war er nicht. Danach gab es keine Spur mehr, der folgen könnte, dann hieß es nur noch … Lauf, was du kannst. Aber wie lange würde er das können? Früher oder später – eher früher – würde ihm das Geld ausgehen, und Zebek würde ihn aufspüren. So schwer war das nicht. Wahrscheinlich würde er Fellner Associates dafür einspannen. Danny wusste, dass Fellner gut darin war, Leute zu finden, die nicht gefunden wer den wollten. Er war selbst das ein oder andere Mal mit solchen Fällen betraut gewesen: ein Steuerberater, der die Konten sei ner Mandanten geplündert hatte, ein Ehemann, der seine Kin der nach Paraguay entführt hatte. Es würde nicht lange dauern. Und Zebeks Auftrag würde schlicht und ergreifend lauten: Fin den Sie raus, wo er ist, alles weitere erledigen wir. Ich bin so gut wie tot, dachte Danny. Am Ende hatte er nichts gegessen, aber statt einem Bier drei getrunken, und kurz vor Mitternacht machte er sich auf den Weg zurück zum Hotel. Wenn auch nicht bewusst, so hatte er dennoch eine Entscheidung getroffen. Vergiss Oslo. Er konnte diesen Roolvaag auch telefonisch ausfindig machen, oder im Internet – obwohl er nicht davon überzeugt war. Rolvaag war vermutlich tot. Danny wollte am nächsten Morgen mit dem Bus nach Diyar bakir fahren, von dort nach Istanbul fliegen und die nächste Maschine nach Washington nehmen. Dann wäre er zumindest wieder in heimischen Gefilden. Wenn er zur Polizei ging und ordentlich Krach schlug, vielleicht würde Zebek ja einen Rückzieher machen. Er spürte, wie seine Stimmung sich besserte. Das kam natür lich vom Bier, aber es lag auch an der Aussicht, Caleigh wieder zu sehen. Als er an einem verwilderten, kleinen Park mit ver kümmerten Kiefern vorbeikam, merkte er plötzlich, wie dunkel es war. Die wenigen Straßenlaternen, die funktionierten, stan 256
den weit auseinander. Die meisten waren mutwillig zerstört worden: das Glas fehlte, und Kabel ragten aus der Fassung. Ein Traktor ratterte vorbei, und dann folgte ein Kipplaster mit kaputtem Auspuff. Danny sah eine Gruppe Teenager, die offenbar Fangen spielten. Sie waren kaum zu erkennen, rannten in der Dunkelheit umher, schrien, kicherten und lachten. An der Stelle, wo die Straße zum Hotel anstieg, passierte Danny einen Kramladen, der natürlich längst geschlossen war. Trotzdem sah es aus, als hätte er noch offen. Denn die Waren befanden sich noch immer draußen. Kessel und Waschbretter, Siebe und Klobürsten, Kerzen und Fahrradreifen und einiges mehr hingen mit einer Kette gesichert über der Tür. Wie in einer Geisterstadt, dachte Danny, und ich bin der Geist. Ein schwarzer Mercedes kam ihm entgegen. Als das schwa che Licht einer Straßenlaterne über die Motorhaube glitt, wur de es ihm schlagartig klar: Hier kamen die Geisterjäger.
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Es geschah in Sekundenschnelle. Der Mercedes beschleunigte mit quietschenden Reifen, stell te sich quer und blockierte die Straße vor ihm. Danny hatte keine Zeit zu reagieren. Als er sich umdrehte, sah er, wie ein zweiter Wagen direkt hinter ihm am Straßenrand hielt. Türen flogen auf. Männer sprangen heraus. Reflexartig trat Danny einen Schritt zurück und wollte sich erneut umdrehen, doch da legten sich schon zwei Arme um seinen Hals und rissen ihn von den Füßen. Während Danny zum Mercedes geschleppt wurde, trat er um sich, traf etwas Weiches, und jemand jaulte vor Schmerzen auf. Dann wurde er auf die Rückbank bugsiert und auf den Boden gestoßen. Ein Knie presste sich fest gegen seine Wirbelsäule und blieb, wo es war. Der Wagen raste bergauf zur Stadt hinaus, jagte in die Dun kelheit hinein. Wütend und panisch rappelte Danny sich auf Hände und Knie hoch, sackte dann wieder auf den Teppichbo den, als eine Faust gegen sein Ohr krachte. Ein Lichterschauer explodierte in seinem Gesichtsfeld, Schmerz pochte ihm hinter den Augen. Eine Stimme flüsterte: «Eine Bewegung, und ich steche zu.» Er spürte die Spitze eines Messers an seinem Hals. Er konnte nichts tun. Er wurde schlaff und ließ sich auf den Boden sinken. Jemand drehte ihm die Arme auf den Rücken und band ihm die Hände mit Plastikfesseln. Dann nichts mehr. Er lag da, lauschte dem Trommeln seines Herzens, den synthetischen Geruch des Tep pichs in der Nase. Er hatte keine Ahnung, wo sie ihn hinbrach ten. In eine Höhle oder in eine von den Schluchten, die er auf der Fahrt nach Uzelyurt gesehen hatte. Irgendein dunkles Ver steck, wo sie ihn umbringen und einfach liegen lassen konnten. 258
Schier endlos lange hörte er nichts anderes als das Surren der Reifen und das gedämpfte Dröhnen des Motors. Er hatte Angst. Und nicht bloß vor dem Sterben. Sondern vor Zebeks Metho den, Menschen beseitigen zu lassen. Plötzlich schwenkte der Wagen nach rechts, donnerte über eine holprige Fläche und kam dann auf ein langes Stück Kies boden. Danny hörte, wie Steinchen gegen das Fahrgestell pras selten. Dann hielt der Wagen, und das Adrenalin schoss Danny durch das Herz. Es ist so weit, dachte er. So geht es also mit mir zu Ende. Nachts, in der Kälte, am Straßenrand. Bald bin ich nur noch Abfall. Dann heißer Atem an seinem Ohr: «Keinen Mucks», flüsterte der Mann mit dem Messer. Danny rührte sich nicht, die kalte Klinge an der Gurgel. Die Sekunden schlichen dahin, als wären sie Minuten. Dann öffnete der Fahrer die Tür. Kalte Luft und ein türki scher Wortschwall drangen herein. Der Mann mit dem Messer packte Danny am Hemdkragen und zog ihn in eine sitzende Position. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte er etwas se hen: einen Hinterkopf, einen Lichtstrahl durch die Windschutz scheibe, Gestalten. Er sagte: «Wa-», und dann klatschte ihm jemand in Stück Klebeband auf den Mund und ein Kissenbe zug wurde ihm über den Kopf gestülpt. Schließlich band man ihm die Kapuze mit einer Kordel am Hals fest und er wurde aus dem Wagen gezerrt. Der Kissenbezug roch nach Seife. Ein Arm legte sich ihm um die Schultern und zog ihn dicht heran. «Hör gut zu – mein Freund.» Danny erstarrte, erkannte die Stimme. Der Typ aus dem Tep pichladen! Der mit dem Nike-T-Shirt. Ganz sicher. «Schön ruhig bleiben», sagte der Mann mit besänftigender Stimme. «Mach keinen Ärger, ja? Wenn du dich wehrst, muss ich dir eine Spritze geben. Das möchte ich wirklich nicht. Von Ketamin wird einem schlecht, du musst kotzen – du könntest 259
dran ersticken. Also schön ruhig bleiben, ja?» Danny nickte. Nuschelte. Schwankte auf der Stelle. «Wir laden dich jetzt in einen Laster. Könnte ein bisschen holprig werden.» Dannys Magen zog sich zusammen. Er wusste, er war so gut wie tot. Ob er an seinem eigenen Er brochenen erstickte oder in einer einsamen Gegend totgeschla gen wurde, war Jacke wie Hose. Er hatte nichts zu verlieren. Und so machte er einen Schritt in die Richtung, aus der die Stimme kam, ließ den Kopf vorschnellen und rammte die Stirn gegen etwas, das hoffentlich die Nase des anderen Mannes war. Ein befriedigendes Knacken ertönte, ein Schmerzensschrei, und … in seinem Gehirn platzte eine rot glühende Bombe. Er sah den Blitz, spürte, wie sein Kopf explodierte, dann nur noch Dunkelheit. Als er wieder zu sich kam, eine Minute oder eine Stunde oder einen Tag später, wusste er nicht, wo er war oder auch nur, wo er sein könnte. Irgendwo, wo es heiß war. Er war in Schweiß gebadet. Und er hörte ein Rauschen, das aus dem Innern seines Kopfes zu kommen schien. Seine Hände waren auf dem Rük ken gefesselt, und er konnte nichts sehen. Er hatte noch immer den Kissenbezug über dem Kopf, und auch sein Mund war noch zugeklebt. Doch er spürte, dass er in einem engen Raum war. Einer Kiste oder … Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, und blankes Entsetzen raubte ihm den Atem. Sein Körper krümmte sich, und er zappelte vor Panik wie ein Fisch an Deck eines Bootes. Ich bin lebendig begraben. Aber das konnte nicht sein. Das Geräusch. Es kam nicht aus seinem Kopf. Es kam von einem Motor. Es war ein Straßenge räusch, und wo er auch war, er bewegte sich. Er war in einem Auto, oder einem Laster. Im Kofferraum oder unter dem Chas sis. 260
Langsam wurde er wieder ruhiger, und allmählich funktio nierten auch seine anderen Sinne wieder. Er konnte heißes Me tall riechen, Öl, Dieselabgase. Ab und zu schlug ein Stein ge gen das Metall unter ihm. Wenn der Fahrer bremste oder ab bog, rollte oder rutschte Dannys Körper mal hierhin, mal dort hin. Ein paar Mal fuhr der Laster – es konnte nur ein Laster sein – durch ein Schlagloch, und Danny knallte gegen die Wände des Behälters. Auf diese Weise bekam er eine ganz gute Vorstellung von den Ausmaßen seines Gefängnisses. Es war etwa so groß wie ein Sarg. Aber es war kein Sarg, sagte er sich. Denn der Behälter war aus Metall. Und er hing offenbar unter einem Lastwagen. Es war so stickig, dass er kaum Luft bekam. Er nagte an dem Klebeband auf seinem Mund, hoffte es durchbeißen zu können, um besser atmen zu können, aber es war unmöglich. Er hatte einen widerlichen Gummigeschmack im Mund. Danny, der mit Mühe einen Brechreiz unterdrückte und nur durch die Nase atmen konnte, spürte, wie ihm langsam das Bewusstsein entglitt. Die Dunkelheit wurde stärker und dann … Der Lastwagen hielt. Oder vielleicht hatte er bereits gestan den. Danny wusste es nicht. Er wusste nicht, ob er mitbekom men hatte, wie der Laster zum Stehen kam, oder ob er aufge wacht und erst da gemerkt hatte, dass sein Gefängnis nicht mehr rollte. Wie auch immer, er erlebte die Stille um sich her um wie einen freien Fall, als wäre der Boden unter ihm wegge brochen. Das Motorgeräusch war sein einziger Bezugspunkt gewesen. Jetzt war er allein und ruhte sanft. Sein Herz stolperte. Dann hörte er, wie sich die Türen des Lasters öffneten. Stimmen. Der Motor knackte, während er abkühlte. Zuerst dachte Danny, dass sie am Ziel angelangt seien, dass sie ihn jetzt jeden Augenblick holen würden, doch dann begriff er (warum wusste er nicht), dass sie an einem Kontrollpunkt stan 261
den. Er versuchte zu schreien, aber das Geräusch blieb in sei nem Kopf. Er wälzte sich gegen die Seiten des Behälters, aber es war nicht genug Platz, um ein Geräusch zu machen. Dann sprang der Motor wieder so plötzlich an, wie er ausgegangen war. Das Getriebe knirschte, und sie fuhren wieder. Ihm war schlecht. Sein Körper zitterte unkontrollierbar. Sein Kopf hämmerte, und er musste würgen. Die Panik kam in Wel len. Er hatte Angst, dass er keine Luft mehr bekäme und dann dass er brechen müsste und daran ersticken würde. Schweiß lief ihm an den Schläfen herab und brannte ihm in den Augen. Er war völlig ausgetrocknet. Er war klatschnass. Er dachte, dass er wahrscheinlich sterben würde, ehe seine Entführer ihn umbringen konnten. Er überlegte, wohin sie ihn brachten und warum sie ihn nicht schon erledigt hatten. Es ergab keinen Sinn – es sei denn, sie hatten was ganz Spezielles mit ihm vor. Nicht doch, sagte er sich. Denk nicht dran. Denk an … zu Hause. An deine Freun de, deine Kollegen. Er dachte an Ian, an die Galerie, stellte sich vor, wie er von einer Kundin gefragt wurde: Was ist eigentlich aus Danny Cray geworden? So ein netter junger Mann. Und Ian, einen schmerzlichen Ausdruck im Gesicht: Haben Sie das denn noch nicht gehört? Man hat ihn tot aufgefunden – entsetzlich, bei lebendigem Leibe gehäutet. In der Türkei oder so. Für seine Freundin war es ein furchtbarer Schock! Kann man sich ja denken. Aber das Leben geht nun mal weiter. Er kicherte. Schluchzte. Vergaß, woran er gedacht hatte. In der dröhnenden Dunkelheit des Behälters verlor Danny immer wieder jeden klaren Gedanken, als hätte sich in seinem Gehirn eine Verbindung gelockert. Die Zeit verging – schubweise –, bis plötzlich eine Salve Kies unten gegen den Laster prasselte und eine Höllenlärm verursachte. Danny spürte, wie der Fahrer bremste und der Wagen knirschend zum Stehen kam. Es war so weit! 262
Er hörte, wie eine Kette durch den Bügel eines Vorhänge schlosses gezogen wurde, erstarrte, als Hände ihn unter den Armen packten und hinaus in die kühle Nachtluft zogen. Dann stand er da, schwankte blind hin und her. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten, seine Muskeln gaben nach, und er sank auf die Knie wie ein Priester zum Gebet. Er dachte, ich werde den Schuss nicht hören, nicht mal spü ren. Er stellte sich die Austrittwunde vor, die Kugel, die ihm das Auge zerfetzte. Dann packte ihn jemand am Arm und zog ihn mit einem Ruck auf die Beine. Er stolperte über unebenen Boden vorwärts. Eine Tür öffnete sich quietschend, und er wurde zu einem Stuhl gebracht. Jemand schnitt ihm die Hand fesseln durch, band ihm dann mit Klebeband die Arme seitlich an die Rückenlehne. Eine zweite Person fesselte seine Knöchel an die Stuhlbeine, auch mit Klebeband. Dann riss man ihm den Kissenbezug vom Kopf und das Kle beband vom Mund. Die kalte, sauerstoffreiche Luft machte ihn euphorisch. Aber nicht lange. So unangenehm die Kapuze auch gewesen war, sie hatte ihm auch Hoffnung gegeben: So lange seine Entführer nicht wollten, dass er sie sah, bestand zumin dest eine geringe Chance, dass sie ihn freilassen würden. Jetzt nicht mehr. Zögernd hob er den Kopf. Es waren zwei Männer mit ihm im Raum. Der eine war, wie er erwartet hatte, sein Freund aus dem Teppichladen. Mit einem Bluterguss an der Wange, die er sich mit ausdrucksloser Miene hielt, während Danny ihn ansah. Der andere Mann war um die Dreißig und der Größere von beiden. Er war glatt rasiert, sah gut aus und trug eine Strick kappe, ein blassrosa T-Shirt mit dem Aufdruck Chicago Bulls, eine khakibraune Hose und Laufschuhe. Als der Mann sich umdrehte, sah Danny verwundert, dass auf dem Rücken der Name Kukoc stand, nicht Jordan. Der Raum war klein, der Boden nackter Beton, die Wände aus Schlackesteinen. Die Einrichtung bestand aus einer einfa 263
chen Pritsche, zwei Stühlen und einem schäbigen Kelim an der hinteren Wand. An der Decke summte und flackerte eine Ne onröhre. Das war alles, bis auf eine Werkzeugbank in der Ecke und Streifen Fliegenpapier, die mit toten Insekten übersät wa ren. «Ungemütliche Fahrt, was?», sagte der mit dem ChicagoBulls-Hemd. Auf seinen Lippen lag ein Lächeln, das nicht freundlich wirkte. Als Danny nicht reagierte, wurde «Kukoc» redselig. «Nor malerweise transportieren wir Leute nicht so. Wir haben einen speziellen Laster – mit Toilette und allem. Aber der ist zur Zeit leider in Bukarest.» Er zuckte die Achseln. «Man muss neh men, was da ist, nicht?» Es war eine rhetorische Frage, und Danny sagte nichts. Er war damit beschäftigt herauszufinden, ob er vielleicht die Hän de bewegen konnte, um sie irgendwann freizubekommen. Es ging nicht. Kukoc beugte sich zu ihm herab. «He, du! Aufwachen.» Er hatte unergründliche braune Augen. «Ich rate dir, antworte. Dann kommen wir gut miteinander klar!» Als Danny nichts erwiderte, schüttelte Kukoc fassungslos den Kopf. «Willst du mich verarschen?» Danny seufzte. Egal, was er sagte, er würde geschlagen wer den. Mindestens. Es war nur eine Frage der Zeit. Also sagte er: «Leck mich doch am –» Weiter kam er nicht. Er hörte den mit dem Nike-T-Shirt ungläubig schnauben. Dann holte Kukoc aus und landete einen Haken, der Danny die Vorderzähne glatt durch die Lippe trieb. Und dann lag er auch schon auf dem Boden, noch immer an den Stuhl gefesselt, im Mund salzigen Blutgeschmack. Seine beiden Entführer packten ihn samt Stuhl und richteten ihn wie der auf. Dann hoben sie den Stuhl vom Boden, kippten ihn nach vorn und ließen Danny aufs Gesicht fallen. Er fiel «nur» aus einem 264
Meter Höhe, aber klatschte auf wie ein Pfannkuchen und brach sich einen Vorderzahn ab. Die Schmerzen waren unbeschreib lich, das Geräusch widerwärtig. Sie ließen ihn so liegen, benommen und blutend, und gingen zur Werkzeugbank. Sie lehnten sich dagegen, rauchten eine Zigarette und unterhielten sich auf Türkisch, während Danny auf ihre Füße starrte. Der Boden war verstaubt und roch schwach nach Urin – kein gutes Zeichen, dachte Danny. Offenbar war er nicht der Erste, der hier verhört wurde. Einige Minuten später wurde sein Stuhl wieder aufrecht hin gestellt. Der Nike-Typ blickte ihn an und schüttelte fast be wundernd den Kopf. «Das war lustig», sagte er. «Ich musste lachen. Aber jetzt ist Schluss mit lustig, verstanden? Ich ver zeih dir das hier.» Er legte einen Finger an seine Wange. «Ich kann’s dir nicht verdenken – du sitzt in der Falle, wie ein Tier. Aber ich rate dir, sei clever, Mann. Wenn du meinen Freund sauer machst, verlierst du mehr als nur einen Zahn.» Danny biss sich innen auf die Wange, um das Zittern zu stoppen. Vor Tränen konnte er nur verschwommen sehen, und er wusste, dass er nicht lange durchhalten würde. Er war Künstler, kein Guerillero. Und war es nicht sowieso egal? Ze bek würde ihn töten lassen, ganz gleich, was er sagte oder nicht sagte. «Also», sagte Kukoc in sachlichem Tonfall, «wie war Ihre Fahrt? Angenehm?» Danny schüttelte den Kopf. «Nein.» «Schon viel besser.» Kukoc hielt inne, und Danny konnte fast hören, wie seine grauen Zellen arbeiteten. «Also, was hast du in Uzelyurt gemacht?» Danny traute seinen Ohren nicht. Was sollte die Frage? Das war doch inzwischen allgemein bekannt. Er hatte sich schließ lich im ganzen Ort nach Remy Barzan erkundigt. Doch er wusste (aus schmerzlicher Erfahrung), dass eine sarkastische 265
Antwort seiner Sache nicht dienlich wäre. Also sagte er: «Ich habe Remy Barzan gesucht.» Während er sprach, merkte er, dass sein Unterkiefer knackte. Klingt nicht gut, dachte er. «So ist recht», sagte Kukoc. «Ich stelle dir einfache Fragen, und du gibst mir einfache Antworten. Weiter: Warum hast du ihn gesucht?» Danny schüttelte den Kopf. «Das ist eine lange Geschichte», erwiderte er. Der Nike-Typ hob mahnend den Zeigefinger. «Wir haben Zeit», sagte Kukoc. Danny seufzte: «Vor etwa drei Wochen hat sich ein Mann namens Belzer mit mir in Verbindung gesetzt. Judd Belzer. So hat er sich genannt.» «Und weiter?», sagte Kukoc. «Wir haben uns getroffen.» «Wo?» «Am Flughafen.» «In Istanbul?» Danny schüttelte den Kopf. «In Washington.» «Und was hat er gewollt?» «Er hat mich engagiert», erwiderte Danny. «Remy zu finden?», fragte Kukoc. «Nein. Er hat gesagt, jemand hätte eine Schmutzkampagne in der Presse gegen ihn gestartet.» Die beiden wechselten ein paar Worte auf Türkisch. «Du meinst, Lügen erfinden?», fragte Kukoc. «Ja. So was in der Art. Und sie in den Zeitungen veröffentli chen.» Kukoc wiegte den Kopf hin und her und blickte skeptisch. «Und er wendet sich an dich … bist du ein großer Spion, was?» «Nein.» «Bist du CIA? Bist du MacGyver, der Mann für alle Fälle?» «Ich bin Künstler», sagte Danny. «Manchmal arbeite ich ne 266
benbei als Ermittler. Freiberuflich. Recherchiere für Anwalts kanzleien und so. Aber … das wisst ihr doch längst alles, wieso –» Kukoc schüttelte den Kopf. «Ich weiß nichts davon.»
«Schön, aber Zebek weiß es.»
Die beiden Entführer horchten auf. «Zebek?»
«Ja», erwiderte Danny, verwirrt durch die erstaunte Frage.
«Zerevan Zebek?»
«Richtig.»
«Was weißt du über Zerevan Zebek?», wollte Kukoc wissen.
«Ich hab für ihn gearbeitet. Deshalb bin ich doch hier.»
Kukoc lief rot an und fluchte leise. Dann kochte seine Wut
über, und er schlug Danny mit beiden Händen fest auf die Oh ren. Es tat zwar nicht sehr weh, aber es kam völlig unerwartet, und wieder stiegen Danny Tränen in die Augen. «Willst du mich verarschen?», rief Kukoc.
«Nein!»
«Du hast gesagt, du arbeitest für diesen … Belzer.»
«Ja, das stimmt», erwiderte Danny. «Judd Belzer.»
«Und der hat dich hergeschickt?»
«Ja, aber –»
«Oder war es Zebek?», fragte Kukoc.
«Ja, genau! Es war Zebek, aber –»
Wumm! Er sah nicht, was ihn traf. Plötzlich klappte seine Kinnlade hoch, er biss sich auf die Zunge, irgendetwas loderte hinter seinen Augen auf – und er wurde bewusstlos. Wie lange, wuss te er nicht. Ein paar Sekunden. Eine Minute. Eine halbe Stun de. Er konnte es nicht sagen. Als er wieder zu sich kam, lag er mit dem Gesicht nach unten auf der Pritsche und sah, wie eine Fliege auf dem Betonboden herumwirbelte. Todestanz, dachte er. Dann hörte er ein Zischen und gleich darauf, wie ein Streichholz angezündet wurde. Dann nichts. Kukoc fluchte. Danny drehte den Kopf, um zu sehen, 267
was los war, und als er es sah, wich ihm alle Farbe aus dem Gesicht. Seine beiden Peiniger standen an der Werkbank und versuch ten, eine Lötlampe anzuzünden. Danny hörte sich sagen: «He, was soll denn das?» Dann ein zweites Streichholz und ein Drittes, und Kukoc wurde immer wütender. Die Gaskartusche war leer. Gott sei Dank! Fluchend warf Kukoc die Kartusche auf die Werkbank und sagte etwas zu seinem Kumpanen. Der Nike-Typ kam zu Danny, schüttelte ungläubig den Kopf und sagte: «Heute muss dein Glückstag sein. Propangas ist die Hölle.» Dann zog er Danny Schuhe und Socken von den Füßen und fesselte ihm die Knöchel mit Klebeband. Die Luft war kühl und wohltuend an den Fußsohlen. «Was … habt ihr vor?», fragte Danny. Kukoc ging ans Fußende der Pritsche, in der Hand ein verro stetes Rohr. «Jetzt reicht’s, Mann. Ich hab dir gesagt: Ich stelle eine Frage, und du antwortest.» «Aber –» Kukoc ging neben Danny in die Hocke und sagte mit plötz lich freundlicher und vertraulicher Stimme: «Hör zu, Kumpel, ich will ehrlich zu dir sein. Hiernach weiß ich nicht mehr wei ter.» Hiernach? Wonach? «Hiernach kommt ein Acetonbad, und wir werfen dich auf die Straße mit einem Zettel im Mund. Also hilf mir …» «Will ich ja! Mach ich!» Acetonbad? Was war Aceton? Kukoc richtete sich wieder auf, und sein Helfer packte Dan nys Knöchel. In dem darauf folgenden langen, stillen Augen blick hörte Danny, wie Kukoc tief Luft holte. Ein Lösungsmit tel, dachte Danny. Wie Nagellackentferner. Es löst Dinge auf. Dann krachte das Rohr auf seine Fußsohlen und quetschte die Nerven. Dannys Mund flog auf, schnappte nach Luft, die aber nicht mehr für einen Schrei reichte. Dann schlug Kukoc erneut 268
zu und wieder und wieder, bis die Nerven in Dannys Füßen nur noch Brei waren. «Falakka», sagte der Nike-Typ, als wäre er ein Reiseführer. «So nennt man das.» «Wer ist Belzer?», rief Kukoc. Es war Wahnsinn. Und wenn sie hier fertig waren, würden sie ihn in Aceton auflösen. Schmerz hat seine eigene zerklüftete Landschaft, mit Spalten, in denen das Opfer Zuflucht sucht und glaubt, es sei entkom men, die Tortur sei vorüber, müsse vorüber sein, weil der Kör per nicht mehr aushalten kann. Aber der Körper hält noch mehr aus. Er hält durch, und der Schmerz hält an. Auch wenn es nichts half – es war nicht mal ein schwacher Trost –, aber Danny sah dem Nike-Typ an, dass die Brutalität ihm Angst machte. Seine Lippen waren zu einer Grimasse ver zogen, und er sah aus, als müsste er jeden Moment kotzen. Was Danny nur noch mehr Furcht einjagte, denn schließlich war er derjenige, der geschlagen wurde. Es dauerte eine Weile, aber er kriegte die Geschichte auf die Reihe. Alles von Anfang an, vom Admirals Club bis zu der Flucht durch die Zisterne, Terios Selbstmord und Pater Inzag his Fenstersturz. Die Informationen brachen aus ihm heraus, stoßweise und unter Tränen und Schreien, ständig unterbrochen von Fragen seines Peinigers, wenn etwas nicht ganz logisch klang. Wie viel von dem, was Danny sagte, verständlich war, wusste er nicht – wahrscheinlich weniger als die Hälfte. Aber nachdem er die Geschichte mehrmals wiederholt hatte, war Kukoc endlich ein Licht aufgegangen: Judd Belzer war der Name, den Zebek für seine Kontaktaufnahme mit Danny be nutzt hatte – und Danny war vor Zebek geflohen, um Remy Barzan zu warnen, um ihrer beider Leben zu retten. Danny wurde bewusstlos, und als er wieder wach wurde, hör te er Kukoc und den Nike-Typ auf Türkisch – oder vielleicht 269
auch Kurdisch – debattieren. Dann fiel das Rohr scheppernd auf den Boden, und die beiden verließen den Raum. Danny blieb allein auf seiner Pritsche zurück. Trotz seiner Qualen kam ihm der Gedanke, dass an Fußre flexzonenmassage doch etwas dran sein musste, denn er spürte seine Schmerzen überall, nicht nur in den Füßen. Der Schmerz bewegte sich durch seinen Körper wie eine Melodie, tanzte an der Wirbelsäule rauf und runter, zermürbte jeden Nerv, den er berührte. Danny spürte, dass seine Füße anschwollen, wie überreife Tomaten, bis Risse in der Haut aufplatzten und Flüs sigkeit heraussickerte. Sein Mund fühlte sich an, als hätte er Rasierklingen gekaut, und sein hämmerndes Herz setzte immer wieder kurz aus, um gleich wieder weiterzurasen. Als er aufblickte, sah er hinter dem Kelim an der Wand ein Rechteck aus Licht. Eine Sekunde lang glaubte er, Halluzina tionen zu haben, dann begriff er, dass der Kelim vor einem Fenster hängen musste. Es war also Morgen. Und er war win delweich geschlagen worden. Schließlich wich der Schmerz einer Taubheit, und Danny konnte sich ganz auf seine Angst konzentrieren. Jetzt, da sie ihn zum Reden gebracht hatten, waren seine Entführer be stimmt dabei, das Acetonbad vorzubereiten, das sie ihm ver sprochen hatten. Sie hatten ihn nicht verhört, sie hatten bloß wissen wollen, wie viel er wusste – in Zebeks Auftrag. Und jetzt musste Dan ny nur noch entsorgt werden. Die beängstigende Vorstellung mobilisierte ungeahnte Kräfte in ihm, und Danny zerrte an seinen Fesseln, bis er plötzlich die Hände frei hatte. Atemlos setzte er sich auf und riss das Klebe band um seine Knöchel ab. Nichts wie weg hier. Er holte tief Luft, schwang die Füße auf den Boden und – Oh Gott! Seine Füße waren entsetzlich angeschwollen und weich wie Gelee. Schon die leiseste Berührung tat höllisch weh. Aufkeuchend hob er die Füße vom Boden, ließ sich zu 270
rück auf die Pritsche fallen und dachte: Das war’s. Ich bin tot. Flucht ist unmöglich. Er musste eingeschlafen sein – vielleicht hatte er auch wieder das Bewusstsein verloren –, denn als er die Augen aufschlug, kauerte der Nike-Typ neben ihm, einen kleinen Plastikeimer in der Hand. Danny beäugte den Eimer, fragte sich, was darin war. Säure? Aceton? Sein Körper verkrampfte sich, entspannte sich dann wieder, als der Türke einen Lappen in den Eimer tauchte und ihn ausdrückte. Er trug weder Handschuhe noch eine Schutzbrille. «Mein Freund», säuselte er, «du solltest vorsichtiger sein.» Vorsichtig wischte er Danny das Blut aus dem Gesicht und wusch ihm dann die Füße, fuhr mit dem Lappen zwischen die Zehen. Es war wohltuend und schmerzhaft zugleich, und Dan ny fragte sich, ob das bei den Kurden vielleicht eine rituelle Waschung der Toten vor der Beerdigung war. Schließlich streifte der Nike-Typ Danny die Socken über und versuchte, ihm die Schuhe anzuziehen. Keine Chance. Er ver schwand und kam mit einem Paar großer Gummisandalen wie der. Er schob sie Danny an die Füße, machte die Schnallen zu, half Danny auf die Beine und führte ihn mit einem aufmun ternden Lächeln zur Tür. Es ging nur sehr langsam, weil Danny trippelte wie eine Chinesin mit gebundenen Füßen. Die Tür öffnete sich, und sie traten hinaus in die pralle Son ne. Als Dannys Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah er, dass er in einem Steinschuppen neben einem Tierpferch gefangen gehalten worden war. Sein Entführer ging mit ihm um das Gebäude herum zu einem leuchtend grünen Kleintrans porter, haargenau das gleiche Modell wie das von Caleighs Eltern auf ihrer Farm in South Dakota. Als er Dannys Gesicht sah, grinste er und deutete auf den Beifahrersitz. Vielleicht hatten sie ja doch nicht vor, ihn umbringen, dachte Danny. Der Transporter fuhr einen Kiesweg hoch, der von gekappten 271
Weiden gesäumt wurde. Eine leichte Brise wehte durch die silbrigen Blätter, spielte mit ihnen, sodass sie in der Sonne zu glitzern schienen. So schön es auch war, jede Unebenheit auf dem Weg ließ Danny vor Schmerz zusammenzucken. Der Weg führte einen Hügel hinauf zu einem Torbogen in ei ner langen Steinmauer, die mit den üblichen Glasscherben ge sichert war. Ein Wachmann beugte sich aus dem Fenster eines kleinen Pförtnerhauses, grüßte kurz und verschwand wieder. Gleich darauf öffnete sich automatisch das Tor, und der Trans porter fuhr langsam hindurch in einen weitläufigen Hof, der mit Blumen und Bäumen bepflanzt war. Inmitten der Bäume stand eine prächtige Villa aus honigfarbenem Stein. Danny sah, dass das Haus zwei Stockwerke hatte, die Wohn räume lagen im ersten Stock über einer Arkade, in denen sich offenbar die Wirtschaftsräume befanden. Mit Hilfe des NikeTypen kletterte Danny aus dem Wagen und stieg eine lange Treppe hinauf in die erste Etage. Oben angekommen tippte sein Begleiter auf einem Tastenfeld an der Wand eine Nummer ein und die schönen, alten Holztüren schwangen lautlos auf. Noch während Dannys Augen sich an die Lichtveränderung gewöhn ten, hörte er zuerst Klaviermusik und dann ein leises Knurren, das ihn erstarren ließ. Er stand stocksteif da und hörte gleich darauf ein zweites Knurren – ein irgendwie satteres Geräusch, höchstens zehn Zentimeter von seinem Schritt entfernt. Er senkte den Blick und schaute in die wilden Augen zweier mus kelbepackter Hunde – Rhodesian Ridgebacks. Der Nike-Typ lachte leise und rief dann die Namen der Hun de. «Castor … Pollux …» Sofort wurde aus dem Knurren ein Gähnen. Der eine Hund trollte sich, der andere legte sich hin und fing an, sich zu lecken. Gemeinsam mit seinem früheren Peiniger ging Danny tiefer in das Haus hinein und kam in das prachtvollste Wohnzimmer, das er je gesehen hatte. Es war riesig, mit einer Tonnengewöl bedecke, mindestens sechs Meter hoch. Zwei Wände und die 272
Decke bestanden aus massiven, honiggelben Natursteinblök ken. Die dritte und vierte Wand waren aus Glas. Hinter der einen lag der Garten, hinter der anderen ein üppig bewachsenes Atrium in der Mitte des Hauses. Orientteppiche leuchteten wie Juwelen auf dem Marmorboden. Die Goldberg-Variationen tanzten in der Luft. An einer Wand verlief eine Steinbank, auf der Kissen mit Kelim-Bezügen lagen. Über der Bank hingen Gemälde und Zeichnungen deutscher Expressionisten. Auf den ersten Blick erkannte Danny Werke von Otto Dix, Emil Nolde und Oskar Kokoschka. Vor der anderen Wand war eine lange Arbeitsplatte aus Ka stanienholz mit einem Computer und einer Bose-Stereoanlage, in die Wand selbst waren vier Flachbildschirme eingelassen. In einem Drehsessel vor den Monitoren saß ein Mann, der auf einer ergonomischen Tastatur tippte, hinten im Hosenbund eine ausgesprochen unergonomische, großkalibrige Pistole. Der Nike-Typ berührte Danny an der Schulter und bedeutete ihm zu warten. Dann ging auf den Mann am Computer zu. Danny sah auf die Bildschirme, die offenbar mit Überwa chungskameras verbunden waren, denn sie zeigten verschiedene Tore und Türen, den Zufahrtsweg zur Villa und das Innere des Schuppens, in dem er gefoltert worden war. Schaudernd richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Gemälde, insbesonde re auf eines, das sich stark von den anderen abhob. Es war ein Matisse, eine Arbeit, die der Künstler auf einer seiner Marok ko-Reisen geschaffen hatte. Die leuchtenden Blau- und Grün töne griffen wunderbar die Farben des Atriums auf. Vor lauter Verzückung hatte Danny nicht bemerkt, dass der Mann am Computer neben ihn getreten war. Er war ein paar Jahre älter als Danny und etwa gleich groß. Er hatte pechschwarzes Haar, dem ein Friseurbesuch gut getan hätte, und einen Bartschatten auf den Wangen. Als er zur Be grüßung die Hand ausstreckte, glitzerte eine Rolex an seinem 273
Handgelenk. «Remy Barzan», sagte er und deutete auf einen Diwan. «Kann ich Ihnen etwas anbieten?» Danny antwortete nicht sofort, sondern nahm zuerst Platz. Er versuchte zu verstehen, wie jemand, der einen Matisse besaß, vor einem Monitor sitzen und sich anschauen konnte, wie ein anderer gefoltert wurde. Mit den Goldberg-Variationen als Hintergrundbegleitung. Er brauchte einen Moment, um sich zu orientieren, dann sagte er: «Ja. Eine Betäubungsspritze und ein Glas Champagner.» Sein Gastgeber war verblüfft. «Champagner?» «Ich hab was zu feiern», erklärte Danny. «Und darf ich fragen, was?» «Dass ich kein Acetonbad nehmen muss.» Barzan blickte verlegen und bedauernd zugleich. Dann seufz te er und sagte: «Na ja, der Abend ist ja noch jung.»
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Mit einer Betäubungsspritze konnte Barzan zwar nicht dienen, dafür aber mit Nelkenöl. Danny träufelte etwas von dem Ex trakt auf einen Wattebausch und drückte ihn auf seinen Zahn stummel. Es brannte, aber der Schmerz ließ wundersamerweise sofort nach. «Tut mir Leid, was passiert ist», sagte Barzan. «Schon gut», murmelte Danny, obwohl es nicht sein Ernst war. Barzans lapidare Entschuldigung konnte das, was ihm angetan worden war, wohl kaum wieder gutmachen. Aber er hatte seine Lektion gelernt, er würde sich nicht mehr aus einer schwachen Position heraus mit jemandem anlegen, der überle gen war. Und dieser Mann war sein Gastgeber. Er konnte kaum gehen. Er wartete besser ab. «Das mit Chris wusste ich nicht», sagte Barzan. «Obwohl ich schon befürchtet hatte, dass ihm etwas zugestoßen war.» «Waren Sie mit ihm befreundet?» «Ja.» Barzan führ sich mit einer Hand durchs Haar. «Hören Sie. Wie wär’s, wenn Sie sich etwas ausruhen? Ich lasse Ihnen was zum Anziehen besorgen, und wir unterhalten uns später.» Es war eigentlich kein Vorschlag, und Danny war ohnehin nicht nach Reden zumute – noch nicht. Beim Sprechen hatte er ständig ein Klingeln im linken Ohr und ein stechender Schmerz schoss ihm durch den Kiefer. Einer von Barzans Männern wur de losgeschickt und kam mit einem alten Rollstuhl zurück. Danny hätte zwar lieber drauf verzichtet, aber seine geschwol lenen Füße taten bei jedem Schritt höllisch weh. Mit einem heiseren Seufzer nahm er vorsichtig in dem Rollstuhl Platz und ließ sich nach hinten sinken. «Bis zum Abendessen», sagte Barzan.
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Er schlief in einem Ledersessel ein, der in einem Gästezimmer mit Blick auf den Hof stand. Die Füße hatte er in ein schmerz stillendes Bad aus eiskaltem Wasser getaucht. Sein Schlaf war tief und traumlos und endete mit einem jähen Nervenzucken, das ihn ruckartig hochschrecken ließ. Zunächst war er orientie rungslos. Und panisch. Dann fiel es ihm wieder ein. Draußen war die Sonne über der Hofmauer nur noch ein Hauch von Rosa. Das Wasser seines Fußbades war lauwarm. Billie Holidays Stimme schwebte über den Flur. Langsam erhob er sich und humpelte über den Steinboden ins Bad, wo er an der Wanne das Wasser aufdrehte und die Tem peratur regulierte. Dann ging er zum Waschbecken und stützte sich darauf, ihm war schwindlig, alles tat ihm weh und er hatte ein flaues Gefühl im Magen. Sich innerlich wappnend hob er die Augen zum Spiegel, und als er sich sah, stöhnte er auf. Sein Hemd war blutbesudelt, als wäre er mit Schlammwasser be spritzt worden. Die Unterlippe war aufgeplatzt, eine Wange ein einziger blauer Fleck, das rechte Auge zugeschwollen. Er ver zog das Gesicht und sah mit Schreck die Lücke, wo ein Zahn gewesen war. Das Bad war eine Wohltat – obwohl er sich noch lange nicht gut fühlte. Erst die Percocet, die zusammen mit einer kalten Flasche Bier auf einem Silbertablett in sein Zimmer gebracht wurden, zeigten die erwünschte Wirkung. Er nahm zwei Ta bletten und zog dann die Sachen an, die Barzan hatte besorgen lassen. Dunkle Leinenhose, weißes Hemd und Ledersandalen. Große Ledersandalen. Während er noch auf die Wirkung der Tabletten wartete, folgte er hinkend einem Hausangestellten in ein Kaminzimmer, wo Remy Barzan in einem Sessel neben einem prasselnden Feuer saß. Ein Angestellter brachte eine zweite Runde Bier. Barzan hob sein Glas und sagte zu Danny: «Cheers. Jetzt erzählen Sie mir von sich und Zebek.» 276
Zunächst fiel ihm das Reden schwer, doch als die Tabletten wirkten und die Schmerzen abebbten, sprudelte es fast nur so aus ihm heraus. Er brauchte knapp eine Stunde für die wichtig sten Ereignisse – das Treffen mit Zebek im Admirals Club, die Suche nach Terios Laptop, der Mord an Inzaghi und seine ei gene Flucht nach Istanbul. Barzan lauschte aufmerksam, wie von einem guten Journalisten nicht anders zu erwarten, und stellte nur dann und wann eine Zwischenfrage. Zwischendurch brachte ein Hausangestellter dampfendheiße Schüsseln Kno blauchsuppe und einen Teller mit Brot und Käse. Danny schlang das Essen hinunter, verblüfft, wie hungrig er war. Als er zu Ende erzählt hatte, ließ sich Barzan das ein oder andere noch einmal ausführlicher schildern – Terios Anrufe bei Patel, die Tatsache, dass Zebek Danny überall aufgespürt hatte, der Verlust der Diskette, auf die Danny die Laptopdateien kopiert hatte. «Sie haben ihm also die Namen der Leute geliefert, die Chris angerufen hat», sagte Barzan. Danny nickte. «Wie viele Namen?», fragte Barzan. «Nur ein paar», erwiderte Danny. «Na ja, drei.» «Patel –» «– ein Mann namens Rolvaag –» «Der Norweger», sagte Barzan, fast zu sich selbst. «Ole Gunnar Rolvaag.» Barzan nickte. «Patel, Rolvaag und –?» «Und Sie», gab Danny zu. Barzan überlegte kurz. «So hat Zebek also von mir und Chris erfahren. Dass wir Verbindung zueinander hatten.» «Sieht so aus. Ich meine: ja. Genau so.» Der Kurde schüttelte den Kopf und seufzte. «Ich hatte wirklich keine Ahnung, was ich damit anrichte», sagte Danny. «Die Anrufe zu überprüfen war reine Routine. Das macht jeder Privatdetektiv.» 277
«Tja, nur diesmal hat das ein paar Menschen das Leben ge kostet, nicht?» «Ja.» Barzan blickte traurig. «Patel und dann …» Er hob die Hand ans Gesicht, eine Geste der Erschütterung. «Meine Haushälte rin – sie wollte sich nur kurz meinen Wagen ausleihen, mehr nicht.» «Ich hab davon gehört – in Istanbul. Ich war bei AFP, und Donata hat mir von der Autobombe erzählt. Es tut mir sehr Leid.» «Die Polizei hat gesagt, es muss ein Kilo C4 gewesen sein», fuhr Barzan fort. «Der Zünder war mit dem Anlasser verbun den. Als der Wagen in die Luft ging, sah es aus, als wäre die ganze Straße explodiert. Überall Glassplitter. Körperteile.» «Deshalb sind Sie hierher geflohen», sagte Danny. Barzan nickte und wechselte das Thema – gewissermaßen. «Haben Sie eine Vermutung, wonach Zebek gesucht hat?» Danny überlegte. «Sie meinen, in den Dateien auf dem Lap top …? Nein. Er hat nichts gesagt. Ich habe nicht gefragt.» Pause. «Industriegeheimnisse?» Wieder Pause. «Wissen Sie es denn?» Zu Dannys Erstaunen nickte sein Gastgeber fast unmerklich. «Ich glaube, ja …» Danny wartete, dass Barzan ausführlicher würde, und platzte beinahe, als es nicht geschah. «Na und? Was denn nun?» «Jahresringe.» Danny glaubte, sich verhört zu haben. «Wie bitte?» «Ich glaube, er hat nach Jahresringen von Bäumen gesucht. JPEG-Dateien, mit Abbildungen von Jahresringen.» Er dachte, es läge am Percocet … «Nein», sagte Danny. Und dann: «Was soll das heißen, Jahresringe?» Barzan antwortete nicht. «Deshalb hat Chris mit Rolvaag in Norwegen telefoniert. Übrigens, haben Sie versucht, ihn zu erreichen?» 278
«Noch nicht.» «Vielleicht wird es langsam Zeit. Wissen Sie, wo er zu errei chen ist?» «Oslo – am Oslo-Institut.» «Wir müssen ihn warnen, wenn es noch nicht zu spät ist», sagte Barzan mit neutraler Stimme. Ein Gedanke erhellte seine Miene. «Und vielleicht kriegen wir den Bericht!» «Was für einen Bericht?» Aber das Gesicht hatte sich schon wieder verfinstert. «Könn te sein, dass es schon zu spät ist.» Barzan stand auf und ging zu einem antiken Schreibtisch, auf dem ein sehr modern ausse hendes Telefon stand. Er setzte sich und telefonierte, vermut lich mit der Auskunft, um sich Rolvaags Nummer in Norwegen geben zu lassen. Es war offenbar nicht so einfach. Danny spür te die Wirkung des Medikaments und starrte ins flackernde Feuer. Ihm fielen schon die Augen zu, als er einen Wählton aus dem Telefonlautsprecher hörte. Barzan hatte auf Mithören ge schaltet. Ein Anrufbeantworter sprang an, die Stimme einer Frau auf Norwegisch. «Ach ja», sagte Barzan. «Es ist ja schon spät – wo habe ich bloß meinen Kopf? Die haben schon Feierabend.» Barzan saß über den Schreibtisch gebeugt und wollte gerade auflegen, als sich jemand am anderen Ende der Leitung meldete. «Hallo!» Dann kam etwas Unverständliches. Wahrscheinlich bat die Frauenstimme den Anrufer zu warten, bis sich der An rufbeantworter abstellte. Barzan gehorchte. Es dauerte gut zwanzig Sekunden. «Hallo», sagte die Frau wieder. «Sprechen Sie Englisch?», fragte Barzan. «Oh, ja», sagte sie. «Ich möchte mit Ole sprechen, Ole Rolvaag.» «Ole?», sagte sie mit erstaunter Stimme. «Tut mir Leid, das ist nicht möglich.» 279
«Kann ich eine Nachricht für ihn hinterlassen?» «Tut mir Leid, das ist nicht möglich.» «Aber –» Sie sprach hastig weiter. «Ich meine – er ist … gestorben?» So wie sie es sagte, klang es nach einer Frage. «Er ist – am 11. August – er ist ums Leben gekommen.» «Verstehe», sagte Barzan. Es knisterte und rauschte in der Leitung, dann sprachen beide gleichzeitig. «Ich –» «Er –» «Nach Ihnen», sagte Barzan. «Es war ein Unfall?», sagte die Frau, schon wieder in diesem fragenden Tonfall. «Ole war auf dem Weg von der Arbeit nach Hause, mit dem Fahrrad, und ein Auto hat ihn angefahren. Es war ein Unfall mit – wie sagt man, wenn das Auto einfach wei terfährt?» «Fahrerflucht», sagte Barzan tonlos. «Ach ja. Er war auf der Stelle tot. Das Auto wurde nie ge funden.» Barzan räusperte sich. «Mr. Rolvaag –» «Dr. Rolvaag, ja?» «Er hat für einen Freund von mir, einen gewissen Christian Terio, einen Auftrag erledigt.» «Ach ja?» «Er hat eine Probe analysiert. Ich brauche eine Kopie von dem Bericht. Wer kann mir da weiterhelfen?» «Ich», sagte sie skandinavisch gelassen. «Sämtliche Berichte kommen in die Datenbank. Wenn Sie das Honorar bezahlen, können Sie den Bericht haben.» Sogleich rasselte Barzan Informationen herunter: Terios Na me, das ungefähre Datum der Auftragserteilung, doch die Frau bremste ihn. «Bitte buchstabieren Sie den Namen des Auftraggebers.» Barzan tat es. 280
«Danke. Ich schaue nach.» Sie konnten das Klickern der Computertastatur hören. Gut eine Minute lang. «Nein?», sagte sie. «Ich kann nichts finden? Aber das Computersystem hat kürzlich Ärger gemacht. Ich schau mal in den Akten bei den Proben nach. Wollen Sie war ten? Oder soll ich zurückrufen?» «Nein, ich warte», sagte Barzan. «Ich warte.» Danny wusste nicht, was es mit dieser Jahresring-Geschichte auf sich hatte, aber Barzans ungeduldiger und nervöser Körpersprache nach zu schließen, musste die Sache sehr wichtig sein. Endlich kam die Frau wieder ans Telefon. «Tut mir Leid», sagte sie. «Ich kann nichts finden – die Datei fehlt! Selbst die Probe ist nicht da – aber sie war da. Ich hab den Plexiglasbe hälter gesehen. Und offiziell mitgenommen hat sie niemand, sonst wäre sie ausgetragen worden.» Sie war deutlich ungehal ten. «So etwas kommt im Oslo-Institut normalerweise nicht vor. Wir haben unsere Vorschriften …» Ihre Stimme verlor sich. «Tja», setzte Barzan an. «Ich könnte mich morgen genauer erkundigen», schlug sie vor. «Vielleicht rufen Sie dann noch einmal an?» «Das wäre furchtbar nett», sagte Barzan ohne viel Hoffnung. «Vielen Dank.» «Gut. Und Sie sind …» «Remy Barzan.» Sie bat ihn, den Namen zu buchstabieren. «Okay», sagte sie. «Ich hinterlasse dann eine Nachricht für Sie.» «Danke.» «Auf Wiederhören», sagte sie munter. Barzan legte auf. «Was für ein Bericht? Was für eine Probe? Worüber haben Sie da eben geredet?», fragte Danny, doch seine Stimme klang, selbst für seine eigenen Ohren, als wäre er im Halbschlaf. Barzan neigte den Kopf zur Seite und sah ihn an. Dann warf 281
er einen Blick auf seine Uhr und stand auf. «Wir reden morgen weiter. Ich muss ein paar Anrufe erledigen, und Sie müssen zu einem Zahnarzt. Sie sollten etwas schlafen.» Am nächsten Morgen nähte eine schüchterne junge Frau, die möglicherweise Barzans Freundin war, vielleicht aber auch nicht, Danny die Lippe. Anschließend brachte sie ihn nach draußen zu einem Jeep, in dem ein junger Bursche hinterm Lenkrad saß und ein Comic-Heft las, neben sich eine Maschi nenpistole. Als er Danny sah, lächelte er und warf das ComicHeft auf den Rücksitz. Sie fuhren schweigend in eine kleine Stadt etwa dreißig Meilen entfernt und hielten vor einer Laden front mit einem großen Schild über der Tür. Ein überdimensio naler, grinsender Backenzahn, von dem Freude signalisierende Striche abstrahlten, verkündete unmissverständlich, dass sie am Ziel angelangt waren. Trotz Dannys Zweifel an den Möglich keiten der Zahnmedizin in einem solchen Kaff war Dr. Cirliks Behandlung schmerzlos und gelungen zugleich. Nach nur einer Stunde ersetzte eine Stahlkappe den abgebrochenen Zahn, und Danny konnte das Werk in einem Handspiegel begutachten. Das glänzende Metall sah für ihn noch schlimmer aus als die Lücke. Als er zurück zur Villa kam, saß Barzan im Hof an einem langen Holztisch und las Zeitung. Rechts und links von ihm lagen die Hunde schlafend auf der Erde. Barzan deutete auf einen Stuhl gegenüber, und Danny nahm Platz. «Ihr Haus ist sehr schön.» Barzan lächelte. «Es ist nicht mein Haus.» Als er Dannys Verwunderung sah, fügte er hinzu: «Es gehört einem Freund in Ankara. Er sitzt im Parlament. Wenn ich bei jemandem aus meiner Familie untergetaucht wäre, hätte Zebek mich nach ein, zwei Tagen gefunden. So braucht er ein wenig länger.» «Verstehe», sagte Danny. «Und wenn er mich findet, kriegt er Sie obendrein.» 282
«Dann sollte ich vielleicht besser –» Barzan fiel Danny ins Wort: «Es steht Ihnen frei zu gehen.» Aber natürlich konnte Danny nirgendwohin, konnte sich nir gendwo verstecken. Es erinnerte ihn daran, dass Danny Cray ganz oben auf Zebeks Liste mit den unerledigten Dingen stand, genau wie Remy Barzan. Barzan hatte ihn ja eigentlich nicht aufgespürt und entführt. Nein. Danny war in die Villa gebracht worden, weil seine Absichten missverstanden worden waren, aber er war nach Uzelyurt gekommen, um den Mann zu su chen, der ihm gegenübersaß. Weil Remy Barzan eine seiner zwei noch verbliebenen Spuren gewesen war. Die andere war Ole Gunnar Rolvaag gewesen. «Vielleicht findet er uns ja gar nicht», sagte Danny. Barzan schüttelte den Kopf. «Oh, er wird uns finden», sagte er. «Er ist Jeside. Auch wenn die Hälfte der Jungs an den Kon trollpunkten mir unterstellt ist … es ist nur eine Frage der Zeit.» «Dann sind wir also so gut wie geliefert.» Barzan lächelte. «Vielleicht nicht. Vielleicht sind wir hier weg, bevor er uns findet. Vielleicht durchschauen wir ihn, be vor er uns durchschaut. Hoffen wir’s.» Obwohl der Mann ihn hatte foltern lassen und noch dazu da bei zugesehen hatte, fand Danny Barzan sympathisch. Er mochte seinen Humor und seine zurückhaltende Art. Er merk te, dass er gern mehr über seinen Gastgeber erfahren wollte. «Haben Sie eine große Familie?», fragte Danny. «Das kann man wohl sagen», antwortete Barzan. «Wir sind sechs Söhne, drei Töchter, vier Onkel, fünf Tanten, zwanzig Cousins und Cousinen, Großeltern. Ich habe zwei Brüder beim Militär – einer ist in der Armee und jagt den anderen bei der PKK. Zwei machen Geschäfte – der eine legale, der andere nicht. Von den übrigen zwei ist einer in der Politik, der andere nicht. Und zwar ich. Ich habe bei Kappadokien einen Wein berg, der ganz interessante Weine hervorbringt, und ich schrei 283
be für die französische Presse über die Sache der Kurden. Ich bin der Kunstliebhaber in der Familie.» Er lachte und goss ih nen beiden einen Scotch ein, ohne Eis. «Und Sie?» Danny zuckte die Achseln. «Meine Familie ist nicht so groß. Zwei Brüder und ich. Keine Generäle oder Senatoren.» «Seien Sie froh», witzelte sein Gastgeber. Als der Mokka mit einem Teller Pistazien-Baklava gebracht wurde, fragte Danny nach den Jahresringen. Barzan spitze die Lippen. «Dazu kommen wir später. Sagen Sie – wie viel wissen Sie über uns?» «Wer ist ‹uns›?» «Die Jesiden», erwiderte Barzan. «Oder die Kurden, wenn wir schon mal dabei sind.» Danny musste an sein Gespräch mit Pater Inzaghi denken. «Inzaghi hat davon gesprochen», sagte er, «aber … ich hatte nur den Computer im Kopf.» Er hielt inne und überlegte. «Er hat gesagt, sie beten den Teufel an – die Jesiden, meine ich.» Barzan lachte. «Das behalten die meisten Leute», sagte er, «aber das ist längst nicht alles.» Die Kurden, erklärte er, waren ein Volk ohne Land – wie die Juden vor Israel. Die Heimat der Kurden umfasste die Region, die bei den Historikern Mesopotamien heißt und aus mehr oder weniger großen Landstrichen in der Türkei, im Irak und Iran, in Syrien und Aserbaidschan bestand. «Wir sind dreißig Millio nen Menschen», sagte Barzan, «auf einem Gebiet von der Grö ße von Texas. Wenn wir ein eigenes Land hätten – wenn es ein Kurdistan gäbe –, wären das mehr Menschen als in jeder ande ren Nation der Arabischen Liga außer Ägypten. Deshalb wird es nie dazu kommen.» Obwohl sie eine eigene Sprache und eigene Bräuche hatten, hielt Barzan es für unwahrscheinlich, dass die Kurden jemals in einem souveränen Staat leben würden – wie sehr sie auch dafür kämpften. Stammesdenken hatte sie auseinander gerissen, und die Realpolitik der betroffenen Staaten zielte darauf ab, es da 284
bei zu belassen. Die Jesiden waren eine ethnische Untergruppe der Kurden. Einige Kurden waren Christen, einige waren Muslime, einige waren Zoroastrianer, einige waren Jesiden, und einige waren schlichtweg nicht bestimmbar. Aber sie alle hatten eine lange Geschichte, die von Auflehnungen gegen ihre jeweils herr schenden Machthaber geprägt war. Die Regierungen schlugen mit beispielloser Gewalt zurück, ganze Dörfer wurden ausra diert und die kurdische Sprache und Kultur unterdrückt. Im Irak waren die Kurden mit chemischen und biologischen Waf fen angegriffen worden. In der Türkei führten sie seit Jahrzehn ten einen Guerillakrieg, wenn auch in letzter Zeit mit weniger Engagement. Danny verzog das Gesicht. «Hört sich hart an.» Barzan zuckte die Achseln. «Ich hatte Glück», sagte er. «Für Zebek war es härter – viel härter.» «Inwiefern?» «Als seine Eltern getötet wurden, wurde er in die unterirdi sche Stadt gebracht –» «Es gibt eine unterirdische Stadt?» «Sogar sehr viele», erwiderte Barzan. «Der ganze Osten Ana toliens ist voll davon. Allein in Kappadokien gibt es ein gutes Dutzend. Die Touristen kommen in Scharen, um sie sich anzu sehen.» Er zuckte die Achseln. «Hier im äußersten Osten sind es nicht ganz so viele, obwohl es in Syrien ein paar berühmte unterirdische Städte gibt.» «Aber wenn Sie ‹Städte› sagen –» «Es ist eigentlich ein Netz aus Räumen und Tunneln, die in den weichen Tuffstein geschlagen worden sind. Uralte Sied lungen. Archäologen schätzen, die Ersten sind um 5 vor Chri stus entstanden – zweieinhalb Jahrtausende älter als die Sphinx.» «Und sie sind richtig groß?», fragte Danny. «So groß wie die Zisterne in Istanbul?» 285
«Viel, viel größer. Die bei Uzelyurt – Nevazir – hat einen Durchmesser von einem Kilometer und ist sieben Stockwerke tief. Sie hat ein eigenes Belüftungssystem, Falltüren und Vor ratsräume für Lebensmittel und Wasser», erzählte Barzan. «Tausende von Menschen könnten wochenlang dort leben.» «Aber wozu waren diese Städte gut?» «Ganz sicher ist man sich da bis heute nicht. Aber vermutlich dienten sie dem Schutz, als Verstecke vor eroberungswütigen Horden. Jedenfalls brachte man Zebek in die unterirdische Stadt Nevazir, nachdem seine Eltern ermordet worden waren. Es schien der sicherste Platz, um ihn zu verbergen, und in ge wisser Weise war er dort auch sicher. Aber es lief nicht ganz so wie geplant. Die Leute, die ihn dort versteckt hatten, wurden am nächsten Tag umgebracht.» «Und da …?» «Da war er allein. Er war sechs Jahre alt. Die Kerze brannte herunter, und er saß im Dunkeln, dreißig Meter unter der Er de.» «Um Gottes willen – wie lange war er dort?», fragte Danny. Barzan zuckte die Achseln. «Ein paar Tage. Vielleicht vier oder fünf.» «Du lieber Himmel!» «Er soll ganz schön verstört gewesen sein, als er wieder rauskam.» «Na, wer hätte das gedacht», sagte Danny, mit sarkastischem Unterton. «Ab dann wurde es besser für ihn.» «Es konnte ja auch nur noch besser werden.» «Bei den … Pogromen, die immer wieder stattfinden, werden manche Kurden regelrecht abgeschlachtet. Aber wenn eine Familie Geld hat, kann sie ihr Haus verriegeln und fliehen. Abwarten, bis die Lage besser wird. Meine Eltern sind mit mir nach Paris gegangen, als ich fünf war. Zebek wurde etwa zur selben Zeit von Verwandten mit nach Rom genommen. Ich bin 286
erst vor fünf oder sechs Jahren wiedergekommen.» «Dann ist Ihre ganze Familie geflohen?» Barzan schüttelte den Kopf. «Nicht ganz. Mein Großvater ist geblieben.» «Scheich Mounir?» Barzan nickte. «Sie sind nicht erstaunt, dass ich weiß, wer Ihr Großvater ist?», fragte Danny. «Natürlich nicht. Was denken Sie wohl, warum Sie hier sind?» «Ich weiß nicht», murmelte Danny. «Ich dachte, die beiden, die mich in die Mangel genommen haben –» «Die haben Sie hergebracht, klar», sagte Barzan, «aber –» «Die beiden arbeiten für Mounir?», riet Danny. Barzan runzelte die Stirn. «‹Arbeiten›, nicht ganz. Sie sind so was wie … sein verlängerter Arm. Sie tun, was er verlangt, aber sie handeln auch in seinem Interesse. Manchmal ohne sein Wissen.» «Dann ist Mounir so was wie ein Bürgermeister?» Barzan lachte. «Er ist einer von den Ältesten.» Danny blickte verwirrt. Als er den Ausdruck im Gesicht seines Gastes sah, sagte Barzan: «Sie können sich geehrt fühlen.» Dann erklärte er, dass das Oberhaupt der Jesiden ein Imam sei, der auf Lebenszeit von einem Ältestenrat gewählt werde, und zwar von neun Älte sten aus verschiedenen geographischen Regionen. «Wie der Papst», sagte Danny. «Mehr oder weniger.» «Wenn Ihr Großvater Jeside ist, dann müssen Sie auch einer sein.» Barzan nickte. «Die Jesiden sind ein sehr altes Volk. Einer der frühesten Flutmythen – der spätere ist der mit Noah und seiner Arche –, findet sich erstmals in den Überlieferungen der kurdischen Jesiden.» 287
Danny legte die Stirn in Falten. «Sie sind also Jeside. Heißt das, Sie beten den Teufel an?» Barzan sah nicht danach aus. Barzan lächelte. «Ich bin nicht religiös.» «Was sind Sie denn dann – ein verweltlichter Jeside oder so?» «Ganz genau.» «Und Scheich Mounir?», fragte Danny. «Ach, das ist eine andere Geschichte. Mein Großvater ist von der alten Schule.» «Was bedeutet das?» «Dass er den Pfauen-Engel, Malak Tawus, anbetet. Ihr nennt ihn ‹Luzifer›.» Danny blinzelte. «Nennen Sie es ruhig Teufelsanbetung», sagte Barzan, «aber das trifft es nicht. Die Jesiden glauben nämlich, dass Tawus der mächtigste, der wundervollste von allen Engeln war. Gottes Liebling.» «Genau wie Luzifer», bemerkte Danny. «Aber in der jesidischen Tradition», erklärte Barzan, «fällt er nicht in Ungnade, gibt es keinen Kampf um die Seele des Men schen. Die Schwarze Schrift sagt uns, dass Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen und am siebten geruht hat. Und am achten hat er das Interesse verloren. Er hat sich anderen Dingen gewidmet, und der Tawus wurde sein Aufseher. Eines Tages, so heißt es, wird der Tawus unter uns auf der Erde wandeln. Und dann wird die Welt den Jesiden gehören – weil wir seine einzigen Anhänger sind.» Danny konnte sich nicht vorstellen, inwieweit das alles mit seiner misslichen Lage zusammenhängen sollte oder mit Terios und Patels Ermordung. Also versuchte er, das Gespräch wieder auf das Ausgangsthema zu bringen. «Gestern Abend sagten Sie, Terio hätte Ihnen ein paar Dateien geschickt.» «Als E-Mail-Anhang. Sie sind nicht angekommen.» «Sie sagten, die hätten irgendwas mit Jahresringen zu tun ge 288
habt», half Danny ihm auf die Sprünge. Barzan nickte. «Ich habe Chris während seines Forschungs semesters in Istanbul kennen gelernt. Wir fanden uns sympa thisch, und ich konnte ihn mit ein paar Leuten in Diyarbakir in Kontakt bringen. Er war dort, als der Imam ermordet wurde.» Auf Dannys fragenden Blick hin, rief Barzan ihm in Erinne rung, dass der Imam das geistige Oberhaupt der Jesiden war. Mit siebenundachtzig Jahren hatte der Ermordete diese Positi on fast fünfzig Jahre innegehabt. «Was ist passiert?» Barzan winkte ab. «Zwei Männer auf einem Motorrad. Einer fuhr. Der andere hat geschossen.» «Und sie sind entwischt?» Barzan nickte. «Aber wieso?», fragte Danny. «Wenn der Mann siebenund achtzig Jahre alt war –» «Die Frage müsste lauten: Wer? Die Polizei hat es jedenfalls der kurdischen Arbeiterpartei angehängt.» «Und was denken Sie, wer es war?» «Ich weiß, wer es war: Zebek.» «Aber wenn der Imam siebenundachtzig war, wieso –» Barzan hob beruhigend die rechte Hand, als wollte er sagen: Geduld. «Nach dem Mord kam Chris nach Uzelyurt. Er wollte über die Imam-Nachfolge schreiben. Eine einmalige Gelegenheit, wie er sagte. Und natürlich wollte er den Sanjak sehen. Er musste einfach den Sanjak sehen.» Es war unübersehbar, dass Danny mit dem Wort nichts an fangen konnte. «Das ist eine religiöse Statue», erklärte Barzan. «Es gibt etli che Jesiden-Stämme, und jeder von ihnen hat einen eigenen Sanjak – einige sogar zwei. Unseren bewahren wir in Nevazir auf, der unterirdischen Stadt, von der ich vorhin erzählt habe.» Einer von den Hunden an Barzans Seite hob den Kopf, stellte 289
die Ohren auf und drehte den Kopf. Wuuuff. Es war ein leises, nachdenkliches Bellen, als hätte das Tier etwas gehört und würde sich fragen, was das war. Barzan kraulte den Hund hin ter den Ohren und sagte: «Chris war von den unterirdischen Städten fasziniert. Er sagte, sie seien für ihn das weltweit ein zige Beispiel für kollektive Bestattung.» «Und da unten drin steht eine Statue?» «Der Sanjak.» Barzan lachte. «Die Statue hatte fast fünfzig Jahre niemand zu Gesicht bekommen. Und es war … na ja … ein Regelver stoß von mir, sie Chris sehen zu lassen. Aber –» Er zuckte die Achseln. «Wie gesagt, ich bin nicht religiös. Für mich ist sie ein kulturelles Artefakt.» «Wieso hat sie denn fünfzig Jahre lang keiner zu Gesicht be kommen?» «Erstens einmal wäre sie zerstört worden, wenn sie nicht ver steckt worden wäre. Auch nach Atatürk ist die Türkei nämlich ein islamischer Staat. Und Sie wissen vielleicht, dass der Islam vorschreibt, nichts abzubilden, was eine Seele hat. Deshalb wurden die Fresken in den alten Kirchen zerstört, und aus dem gleichen Grund haben die Muslime in der Hagia Sophia die Mosaike übermalt. Wenn die Sunniten Bilder oder Statuen von Heiligen entdecken, zerstören sie sie – wie die Taliban es mit den Buddhas in Afghanistan getan haben. Wie die Leute, die bei euch die Bilder zerstört haben – wie nennt ihr die noch gleich?» «Ikonoklasten», erwiderte Danny und staunte über sich selbst. «Richtig!», sagte Barzan. «Überall in der Türkei wurden Öl bilder und Wandgemälde vernichtet. Man kratzte die Gesichter weg, zerstörte die Bilder. Auch bei Tierdarstellungen. Schon bevor sich der Islam durchsetzte, gab es christliche Ikonokla sten – um das Jahr 800 herum. Jahrehundertlang war jedes Kunstwerk, das ein Gesicht darstellte, zur Zerstörung freigege 290
ben. Deshalb wurde der Sanjak versteckt! Sogar in Nevazir ist die Statue stets verhüllt, außer wenn die Ältesten sich treffen, um einen neuen Imam zu wählen. Dann wird die Statue ent hüllt, damit sie die feierliche Handlung überwachen kann – oder vielleicht Einfluss darauf nehmen.» «Einfluss nehmen?» Barzan zuckte die Achseln. «Vielleicht gibt sie ein Zeichen. Für mich persönlich ist es nur ein Ritual. Der Sanjak ist eine Statue, nicht mehr. Für meinen Großvater ist das Ganze voller tiefer Bedeutung, und die Statue ist ein heiliges Objekt.» Interessant, dachte Danny, aber wie irgendetwas davon ihm das Leben retten sollte, war ihm schleierhaft. Er wollte Barzan gerade noch einmal nach den Jahresringen fragen, als die Hun de aufsprangen und wie verrückt bellend ums Haus rannten. Plötzlich klingelte Barzans Handy, und er meldete sich. Nach einigen Worten stand er auf und sagte: «Ich bin gleich wieder da.» «Ein Problem?», fragte Danny. Barzan schüttelte den Kopf. «Zwei Soldaten vom Kontroll punkt auf der Straße. Sie schauen hier alle zwei Tage nach mir.» Während sein Gastgeber zu den Soldaten ging, versuchte Dan ny, sich auf das soeben Gehörte einen Reim zu machen. Doch irgendwie konnte er keinen roten Faden erkennen. Wenn Bar zan Recht hatte, dann war das Oberhaupt der Jesiden von Ze bek ermordet worden – aber warum? Als Barzan einige Minuten später mit seinen Hunden zurück kam, erinnerte Danny ihn an die Jahresringe. «Sie sagten, dar um würde sich alles drehen.» «Genau so ist es auch», erwiderte Barzan. «Aber vorher muss ich Ihnen noch etwas über den Sanjak erzählen, sonst verstehen Sie das Ganze nicht. Chris wollte ihn sehen. Er wollte sogar ein Foto davon machen – und ich habe ihm dabei geholfen.» Er 291
hielt inne. «Möchten Sie es sehen? Das Foto?» «Unbedingt.» Barzan stand auf und ging ins Haus. Gleich darauf kam er mit einem Foto in der Hand und einem Schmunzeln auf den Lippen zurück. «Ich bin gespannt, was Sie davon halten», sagte er und reichte Danny das Foto. Danny sah, dass die Aufnahme mit Blitzlicht gemacht wor den war. Grelles, weißes Licht erhellte eine höhlenartige Ka pelle, die aus dem honigfarbenen Tuffstein geschlagen worden war. In der Mitte des Fotos, auf einem Altar, stand eine wun derschöne Holzbüste – von Zerevan Zebek. Danny verschlug es den Atem. Die Nackenhaare sträubten sich ihm. Es war gruselig. «Das darf doch nicht wahr sein.» Die Ähnlichkeit war verblüffend. «Chris hat genauso reagiert.» Danny konnte es nicht fassen. Die Augen mit den schweren Lidern und die hohen Wangenknochen, das Grübchen im Kinn und die Geheimratsecken. Das konnte kein Zufall sein. Der Sanjak war Zebek. «Wieso wusste Terio, dass das Zebek ist?» «Er wusste es nicht. Er konnte sich nur erinnern, dass er das Gesicht schon mal in Diyarbakir gesehen hatte. Ein Mann, der aus einem Bentley gestiegen war.» «Und daran konnte er sich erinnern?» Barzan nickte. «Man sieht so weit von Ankara entfernt nicht häufig einen Bentley. Und wenn doch, dann guckt man sich schon ganz genau an, wer da aus dem Fond steigt.» Danny musste an sein Mittagessen mit Inzaghi denken; der Priester hatte gescherzt, Man sollte meinen, der Teufel hätte einen Rolls Royce … Barzans Handy klingelte erneut, und er griff mit einem unge haltenen Stöhnen danach. Nach einem kurzen Gespräch in ei ner Sprache, die Danny nicht verstand, erhob Barzan sich. «Wir müssen unsere Unterhaltung später fortsetzen», sagte er. «Ein Wagen wartet auf mich.» 292
«Ein Wagen?» «Ich muss zu meinem Großvater.» «Mounir? Und wann kommen Sie wieder?», fragte Danny. «In einem Tag. Vielleicht zwei. Er fährt morgen früh nach Diyarbakir – und reist dann weiter nach Zürich. Ich muss vor her dringend mit ihm sprechen.» «Und wenn man Sie sieht?» «Ich passe schon auf.» «Und wenn die Soldaten kommen?», fragte Danny. «Was mach ich dann?» «Layla kümmert sich schon darum. Die Frau, die Ihre Lippe verarztet hat. Lassen Sie sich nicht blicken, dann passiert nichts.» Den Abend verbrachte Danny in der Bibliothek, die Füße in einer Schüssel mit Epsomer Bittersalz und den Kopf mit Per cocet betäubt. Auf dem Schreibtisch hatte er eine Crimpzange und ein Stück Kupferdraht gefunden, und so vertrieb er sich die Zeit bis zum Abendessen damit, eine Maske von Zerevan Ze bek zu machen. Als er ein ganz passables Resultat erzielt hatte, drückte er sein Werk zusammen und warf es in den Papierkorb. Der Besitzer der Villa hatte vielfältige Interessen, wie die große Jazz-Sammlung und die Regalwand mit Kunstbüchern bewies, die Danny nie zuvor gesehen hatte. Er blätterte gerade einen Katalog mit Bildern von Caillebotte durch und hörte eine Lisa-Ekdahl-CD, als ein Hausangestellter ihm das Abendessen auf einem Kupfertablett hereinbrachte. Hummus und Fladen brot, Tabbouleh, Reis und Gemüse-Kebabs. Eine gekühlte Fla sche Weißwein. Es war fast vollkommen. Was noch fehlte, war Caleigh. Aber er widerstand der Versuchung, sie anzurufen – sie würde wahr scheinlich ohnehin gleich wieder auflegen, und wenn nicht, wüsste er nicht, was er sagen sollte.
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Am nächsten Morgen hatten seine Füße fast wieder ihre nor male Größe. Er bekam sogar seine Schuhe wieder an, aber sie anzubehalten war doch noch etwas viel verlangt. Nach dem Frühstück im Hof holte er die Crimpzange und den Draht aus der Bibliothek und setzte sich damit unter einen Aprikosen baum. Nach gut zwei Stunden kam die Frau, die ihm die Lippe genäht hatte, und bewunderte die kleinen Objekte, die er inzwi schen gebastelt hatte. «Für Schach – ja?» Danny nickte. «Für Schach», erwiderte er. «Die hier», sagte sie und hielt die größte Figur in die Sonne, «ist König?» «Richtig!», bestätigte er. «Das ist der König – und das da ist der Turm. Und das der Läufer.» «Sehr gut!», sagte sie. «Vielleicht … ja, ich glaube … er ist Künstler!» «Danke», sagte Danny. Es war das netteste Kompliment, das er seit langem bekommen hatte. Inzwischen waren seine Hände müde und die Finger taten ihm weh. Er legte die Zange beisei te, ging in die Bibliothek und setzte sich an den Computer. Während das Gerät hochfuhr, sah er sich die Monitore an der Wand hinter dem Schreibtisch an. Einer zeigte das Haupttor, wo die Hunde auf der Erde schliefen wie Zwillings-Sphinxe. Ein zweiter Monitor wechselte alle paar Sekunden die Bilder, vom Wohnzimmer zur Küche zur Eingangshalle. Auf dem drit ten Monitor war die Landschaft außerhalb des Haupttores zu sehen, und ein Vierter übertrug noch immer das Bild von dem Raum, in dem Danny gefoltert worden war. Wie viel davon, fragte er sich, hatte Barzan sich angesehen? Er wollte seine E-Mails überprüfen, doch als er seinen Na men eintippte, überlegte er es sich anders. Bei Zebeks Mög lichkeiten würde es Danny nicht wundern, wenn er sich sogar Zugang zu den Servern von AOL oder Yahoo verschafft hätte. Und Danny wusste, dass es möglich war, eine Nachricht zu 294
dem Computer zurückzuverfolgen, nicht nur bis zum InternetProvider, sondern zu dem Computer, von dem die Mail abge schickt worden war. Also schaltete er den Computer wieder aus und sah die Bü cherregale durch. Er fand eine englische Ausgabe von Orhan Pamuks Roman Die weiße Festung, legte sich auf die Couch am Fenster und fing an zu lesen. Irgendwann weckte Layla ihn. «Jetzt essen», sagte sie. «Ist Abend, ja?» Lächelnd knipste sie die Lampe hinter der Couch an und deutete auf ein Tablett neben dem Computer. «Gut», versprach sie und verließ mit einem schüchternen Winken den Raum. Danny stand auf und sah sich das Tablett an: eine dampfende Schüssel Linsensuppe, ein Teller gefüllte Weinblätter, Pita, eine Flasche gekühltes Bier. Es sah alles köstlich aus, und er ließ es sich schmecken, während er sich ein Fußballspiel im Fernsehen anschaute. Ein gutes Spiel. Ein guter Abend. Er spürte, wie sein Körper heilte. Barzan kehrte tags darauf am späten Abend zurück – zu spät für ein Gespräch. Aber er brannte darauf, mit Danny zu spre chen, und weckte ihn morgens um sieben zum Kaffee in der Bibliothek. Der Kaffee wurde serviert, und sie nahmen Platz, doch bevor sie ein Wort wechseln konnten, knallte etwas gegen die Fenster zum Atrium. Barzan stand auf und ging nachsehen. «Ein Vogel», sagte er. «Die sehen die Spiegelung der Bäume in den Scheiben und fliegen drauf zu.» Er schüttelte den Kopf. «Es sind jeden Monat ein paar, hat der Gärtner mir erzählt. Das Atrium ist weniger ein ungestörter Ort des Friedens und der Ruhe – wie es der Architekt geplant hatte – als eine Todesfal le.» Danny blickte auf den Vogel auf der Erde, neben einem blü henden Strauch. «Vielleicht ist er nur benommen.» Verstohlen klopfte er sich dreimal auf den Kopf, wie er es von seiner Tan 295
te Martha gelernt hatte: eine Art Zauberbann, denn tote Vögel bedeuteten Unglück. Barzan rührte Zucker in seinen Kaffee. «Ich wollte Mounir überreden, das Treffen zu verschieben, aber ohne Erfolg.» Er schüttelte den Kopf. «Was für ein Treffen?» «Die Ältesten. Und Zebek. Sie treffen sich in Zürich», erwi derte Barzan. «Morgen in einer Woche. Im Hotel Baur au Lac.» «Mit Zebek? Aber der Typ ist ein Psychopath», protestierte Danny. Barzan zuckte gedankenverloren die Achseln. «Es ist sehr schwer, meinen Großvater davon abzuhalten, nach Zürich zu fahren.» «Und wieso?» Barzan verdrehte die Augen. «Weil Großvater dort … tja, wie soll ich sagen … eine Schweizer Freundin hat.» «Eine Freundin.» «Genauer gesagt, irgendeine Dame von einem Escortser vice», erklärte Barzan. «Er nimmt die Dienste jedes Jahr in Anspruch.» «Aber er ist doch bestimmt achtzig Jahre alt!», entfuhr es Danny. «Fünfundsiebzig. Er verbindet eben das Geschäftliche mit dem Angenehmen, denn in erster Linie fährt er natürlich ge schäftlich nach Zürich. Alle Ulema kommen dort hin. Die Schura findet jedes Jahr zur selben Zeit am selben Ort statt. Aber dieses Jahr aus einem äußerst wichtigen Anlass.» Offenbar stand Danny sein Unverständnis ins Gesicht ge schrieben. «Ulema, das sind die Ältesten», erklärte Barzan. «Wenn sie zusammenkommen, nennt man das eine Schura. Es ist eine Ratsversammlung der verschiedenen Stämme, aber in diesem Fall ist es eigentlich eine Vorstandssitzung von Tawus Hol 296
dings.» Danny schüttelte kurz den Kopf. «Ich kapier kein Wort», sagte er. «Wissen Sie noch, was ich Ihnen über den Sanjak erzählt ha be?», fragte Barzan. Danny nickte. «Also», sagte Barzan, «ich weiß nicht, von wem Zebek sich die Statue hat schnitzen lassen, aber –» «Sie glauben, sie ist gefälscht? Dass er das Original ausge tauscht hat?» «Natürlich», erwiderte Barzan. «Aber wieso?» «Damit er zum neuen Imam ernannt wird. Wenn die Ältesten sich treffen, um die Nachfolge zu besprechen, wird der Sanjak dazugeholt, so ist das Ritual. Um das Verfahren zu überwa chen, wenn Sie so wollen. Der letzte Imam wurde gewählt, als er erst vierzig war, und er ist sehr alt geworden. Den Sanjak hatte fast fünfzig Jahre lang kein Mensch mehr gesehen.» «Ich verstehe.» «Wenn der Imam stirbt, bleiben die Ältesten so lange in der unterirdischen Stadt, in Nevazir, bis sie sich auf einen Nach folger geeinigt haben. Sie beraten sich mit dem Sanjak in ei nem Raum. Das kann Tage, ja Wochen dauern. Wie bei der Papst-Wahl. Es steht viel auf dem Spiel.» «Und wie lange hat es gedauert, bis sie sich für Zebek ent schieden hatten?» «Ich schätze, eine Sekunde», antwortete Barzan. «Sobald die Statue enthüllt wurde, haben sie das als ein Zeichen gesehen.» «Haben Sie Ihrem Großvater die Sache erzählt?», fragte Danny. «Natürlich.» «Und?» «Und nichts. Ohne einen Beweis sind ihm die Hände gebun den. Er kann ihn nicht einfach so beschuldigen. Sie müssen 297
wissen –» Er beugte sich zu Danny vor. «Viele von den Älte sten glauben, dass Zebek die Erfüllung der Prophezeiung in der Schwarzen Schrift ist. Dass er der wiedergekehrte Tawus ist. Dass sie jetzt die Erde erben werden.» Er schüttelte den Kopf. «Sie werden ihn nicht in Frage stellen – sie halten ihn für eine Gottheit, den lebendigen Gott. Deshalb war Rolvaags Bericht so wichtig.» Danny seufzte. Barzan legte die Fingerspitzen aneinander und stützte das Kinn darauf. «Als Chris das Foto von dem Sanjak sah, fiel ihm ein, dass er den Mann einige Tage zuvor aus dem Bentley hatte steigen sehen. Chris war wütender über die Sache als ich. Für ihn war es die Pervertierung einer uralten Tradition. Er war entschlossen, Zebek nicht damit durchkommen zu lassen.» «Und dann?», drängte Danny. «Was habt ihr unternommen?» «Wir wollten beweisen, dass der Sanjak gefälscht ist», sagte Barzan. «Dass Zebek die Statue ausgetauscht hat, damit er zum Imam gewählt wird.» «Und wie wolltet ihr das beweisen?», fragte Danny. «Jahresringe. Chris hatte die Idee. Man kann das Alter von Holzobjekten – Schiffsmasten, Balken in einem Haus – bestimmen, indem man die Maserung des Holzes mit Quer schnitten von Bäumen vergleicht, deren Alter bekannt ist – vorausgesetzt sie stammen aus derselben Gegend. Die Verglei che sind möglich, weil die Regenfälle in verschiedenen Teilen der Erde in verschiedenen Jahren unterschiedlich sind.» «Und Terio kannte sich damit aus?» Barzan schüttelte den Kopf. «Chris war Religionswissen schaftler. Und Religionswissenschaftler arbeiten häufig Hand in Hand mit Archäologen. Und Archäologen arbeiten mit Den drochronologen zusammen – das sind Jahresringforscher. Mit dieser Technik lässt sich das Alter von Holzproben bestimmen, die manchmal aufschlussreich für religiöse Chronologien sind. Chris wusste natürlich davon und hat sich mit Rolvaag in Nor 298
wegen in Verbindung gesetzt.» «Rolvaag war Dendrochronologe?» «Richtig. Und über diese Region hier gibt es eine riesige Da tenbank – schließlich sind wir in Mesopotamien. Seit zweihun dert Jahren graben Archäologen hier alles um. Sie haben alles datiert. In erster Linie anhand von Keramiken und Jahresrin gen.» Danny überlegte. «Dann wolltet ihr also das Alter der Statue bestimmen lassen.» Barzan nickte. «Sie müsste acht-, neunhundert Jahre alt sein. Scheich Adi hat sie angeblich selbst geschnitzt.» Danny blickte verwirrt. «Aber wie –» «Wir sind ein zweites Mal nach Nevazir und haben den Auf seher bestochen, damit er uns ein Weilchen mit dem Sanjak allein lässt. Dann haben wir ein bisschen Holz vom Sockel abgeschält – wie ein Stückchen Furnier – und es dem Mann in Norwegen geschickt.» «Rolvaag.» «Ja. Übrigens, ich hab noch mal im Oslo-Institut angerufen», sagte Barzan, «mich erkundigt, ob der Bericht aufgetaucht ist. Oder die Probe.» Er zeigte mit dem Daumen nach unten. «Aber», setzte Danny an. «Was?», fragte Barzan. «Wir könnten es doch noch einmal machen. Wir könnten noch eine Probe von der Statue nehmen –» Barzan schüttelte den Kopf. «Nein.» «Wieso denn nicht?» «Die Statue ist bestimmt längst verschwunden. Bis zur näch sten Schura muss schließlich keiner mehr einen Blick darauf werfen. Mit anderen Worten, bis Zebek stirbt. Außerdem hatte der Mann, der uns in Nevazir reingelassen hat, einen Unfall», erklärte Barzan. «Einer von Zebeks Leuten arbeitet jetzt dort. Ohne Erlaubnis kommen wir nicht mehr an sie ran.» «Dann besorgen wir uns eben eine Erlaubnis. Ihr Großvater –» 299
Barzan schüttelte den Kopf. «Die kann nur der Imam geben – oder die Ältesten. Alle Ältesten zusammen.» «Und das werden sie nicht tun?» «Was denken Sie denn? Sie halten Zebek für den lebendigen Gott.» Die beiden Männer sagten eine ganze Weile nichts. Schließ lich brach Danny das Schweigen. «Eins kapier ich immer noch nicht», sagte er. «Warum? Was hat Zebek davon? Warum die ganze Mühe? Er ist doch schon so was wie ein Gott.» «Es geht um Geld», sagte Barzan. «Er braucht das Geld.» «Welches Geld?» «Das Geld des Stammes.» Barzan lächelte schwach. «Es ist sehr viel Geld.» «Ach ja?», fragte Danny mit skeptischen Unterton. «Ich weiß, was Sie denken. Ich weiß, wie es aussieht», sagte Barzan. «Die Touristen hier, die wenigen, die sich hierher ver irren, sehen Schäfer, Bauern, die Aprikosenbäume pflanzen, Frauen, die Kelims weben. Sie sehen die staubigen Dörfer und kleinen Läden mit den billigen Neonröhren. Und in den Läden gibt es kaum was zu kaufen. Also halten sie die Jesiden für arm, aber das sind wir nicht. Es ist zum Verrücktwerden.» «Wie soll ich das verstehen?», fragte Danny. «Als der alte Imam starb, war ich zunächst froh. Einige Dör fer hier haben nicht mal eine zuverlässige Wasserversorgung. Manche Orte haben keine Möglichkeit, ihre Produkte zum Markt zu bringen. Der Imam hätte etwas dagegen tun können, aber das hat er nicht. Siebenundvierzig Jahre lang hat er bloß Geld für ‹Kurdistan› ausgegeben – also für C4, Schusswaffen und Semtex. Anders ausgedrückt, überwiegend für die PKK. Was die Leute hier brauchen, ist eine Startbahn ins einund zwanzigste Jahrhundert. Und das Geld dafür ist da.» Dann blickte verdutzt. «Und wo kommt das viele Geld her?» «Guano.» «Vogelmist?», fragte er. 300
«Fledermaus-Mist», erwiderte Barzan. «Zumindest früher kam das Geld daher. Inzwischen wird es durch Investitionen verdient. Aber vor gar nicht so langer Zeit zogen JesidenKarawanen von Uzelyurt los und über die Seidenstraße nach China. Einige von den Händlern kehrten übers Meer zurück. Und auf einer dieser Reisen tauschte ein Jeside namens Derai ein Kilo Safran gegen ein paar unbewohnte Inseln im SuluMeer.» «Safran», wiederholte Danny. Barzan nickte. «Unter den Inseln war eine Labyrinth von Höhlen, und in den Höhlen wimmelte es nur so von Fleder mäusen. Der Guano hatte sich über Jahrhunderte aufgehäuft und war in der Dunkelheit getrocknet. Das war besser als eine Goldmine. Dieser Guano war der beste Dünger der Welt. Er war vom Gewicht her leicht, einfach abzubauen und mühelos zu transportieren. Und die Inseln erstickten praktisch dran.» «Und der Typ, der das Zeug entdeckt hat –» «Derai –» «– hat dann alles bekommen, wovon er je geträumt hat?», fragte Danny. «Nein», sagte Barzan. «Er hat Cholera bekommen und ist auf dem Weg nach Hause gestorben. Die Inseln gingen in den Be sitz des Stammes über und warfen fast hundert Jahre lang Gua no ab. Schließlich versiegte die Quelle, aber da kam auch schon Kunstdünger auf den Markt. Mittlerweile hatten wir un ser Kapital längst gut angelegt.» «Durch die Holding-Gesellschaft», sagte Danny. «Tawus Holdings.» «Erraten.» Layla kam mit Mokka auf einem Silbertablett herein, und Dan ny sah, dass sie wirklich mit Barzan liiert war. Der Kurde legte einen Arm um sie und zog sie zu sich heran. Sie lächelte ver stohlen und entfernte sich wieder. 301
«Sie ist sehr nett», sagte Danny. Barzan grinste. «Die Beste. Und sie hat ein großes Herz.» Danny nippte an seinem Mokka. «Am Anfang habe ich das Gleiche gedacht wie Sie», sagte Barzan. «Was meinen Sie?» «Zebek hat Geld wie Heu. Er hat ein Privatflugzeug. Wozu braucht er dann noch unser Geld?» Danny zuckte die Achseln. «Stimmt. Leuchtet irgendwie nicht ein.» «Tja … er braucht es aber.» Barzan stand auf, reckte sich und wippte auf den Fußballen. «Er braucht es dringend. Was immer er bei VSS entwickelt – und die haben noch nicht mal ein Pro dukt –, es ist furchtbar teuer. Ich habe mit einem Freund bei Morgan-Stanley gesprochen. Ich habe ihm gesagt, ich trüge mich mit dem Gedanken, in VSS zu investieren. Zwei Tage später ruft er mich an und sagt, VSS hat dreihundert Millionen Schulden und gibt im Monat vier Millionen aus.» «Wann war das?» «Vor zwei Monaten.» «Dann geht Zebek mit VSS den Bach runter», sagte Danny. «Es sah ganz danach aus. Aber sobald er Tawus Holdings an sich gerissen hat – sobald die Ältesten ihm die Kontrolle geben – ist er aus dem Schneider.» «Geht es um so viel Geld?» «Ja», sagte Barzan. Danny nickte. Und zog die Stirn kraus. Das also steckte da hinter? Die Angst, dass eine Hightech-Firma Pleite machte? Er war irgendwie enttäuscht. Und so richtig glaubte er es auch nicht. Es wollte ihm einfach nicht einleuchten. Er konnte nach vollziehen, dass jemand für Geld mordete, aber Zebek hatte nicht einfach nur unliebsame Menschen aus dem Weg räumen lassen, er hatte sie unvorstellbar brutal umbringen lassen. «Man beerdigt jemanden nicht bei lebendigem Leibe», sinnierte Dan 302
ny, «nur um wieder kreditwürdig zu sein.» Und während er das sagte, wurde ihm klar, dass sein Verdacht zur Gewissheit ge worden war: Chris Terio hatte nicht Selbstmord begangen. «Aber wie ist Zebek auf Terio aufmerksam geworden?», fragte Danny. «Ich meine, wie hat er herausgefunden, dass Te rio sich für ihn interessierte?» Chris hatte Nachricht aus Norwegen erhalten. Die Tests seien abgeschlossen, sagte er mir am Telefon, und wir hätten Recht gehabt. Natürlich hatten wir Recht gehabt! Chris wartete noch auf den schriftlichen Bericht, aber Rolvaag hatte ihm schon am Telefon gesagt, dass unsere Holzprobe von dem Sanjak höch stens hundert Jahre alt war, wahrscheinlich weniger, und dass das Holz aus dem Jemen stammte. Das war also der Beweis: Der Sanjak war falsch. Chris sagte mir, er habe direkt über Tawus Holdings einen Brief an die Ältesten geschickt und dar in die Echtheit der Statue in Zweifel gezogen. Ich vermute, das hat ihn das Leben gekostet. «Aber wieso?» «Weil Tawus nur eine einzige Mitarbeiterin hat – eine gewis se Pastorini. Sie ist neu, und Sie können darauf wetten, dass sie für Zebek arbeitet.» Danny stöhnte. Barzan sah ihn fragend an. «Sie kennen sie?» «Wir sind uns mal begegnet.» Dannys Augen huschten zu den Monitoren hinüber. «Ihre Freunde sind wieder da», be merkte er. Barzan blickte auf die bläulichen Bildschirme. Die meisten zeigten keinerlei Aktivität, doch am Haupttor stiegen zwei Männer in Uniform aus einem Jeep. Einer der Männer rückte sein Barett zurecht, klopfte dann an die Tür des Wachhäu schens. Auf dem Hof fingen die Hunde an zu bellen. Barzan erhob sich. «Ausgezeichnet», sagte er. «Ich wollte sie sowieso fragen, ob sich jemand nach uns erkundigt hat.» Genau in dem Moment, als Barzan aufstand, hörten sie es – 303
einen einzelnen Schuss und dann zwei weitere, wie eine Kin derpistole, die in der Ferne losgeht. Sie blickten wieder auf die Monitore und sahen, dass die Soldaten mit gezückten Waffen Seite an Seite bereit standen. Barzan riss fluchend die Fünfundvierziger aus seinem Gürtel und lud sie durch, während er zur Tür lief. «Ziehen Sie den Kopf ein», befahl er und stürmte aus dem Zimmer. Wie gebannt starrte Danny auf die Bildschirme. Die Hunde drehten jetzt durch, warfen sich gegen das Tor, prallten zurück und sprangen wieder hoch. Auf einem Monitor rannte Layla über den Hof, während Barzan auf einem anderen aus der Haustür gestürzt kam. Der junge Bursche, der Danny zum Zahnarzt gefahren hatte, lief mit einer Maschinenpistole in der Hand an dem Brunnen vorbei. Dann schwang das Tor auf. Die Hunde sprangen. Die Hölle brach los.
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Dannys Augen huschten von Monitor zu Monitor, während im Hof Schüsse fielen. Auf einem Bildschirm sackte ein Soldat neben dem Brunnen auf die Knie, einen schwarzen Fleck auf der Brust und einen verwunderten Ausdruck im Gesicht. Auf einem zweiten Monitor kam ein Laster auf das Haus zugerast, hinter sich eine Staubwolke. Auf der offenen Ladefläche saß ein halbes Dutzend Soldaten, deren Gewehre zum Himmel zeigten. Die übrigen Monitore schienen zu blinken, denn stän dig liefen Menschen und Hunde an den Kameras vorbei und tauchten an verschiedenen Stellen des Hauses und Gartens wieder auf. Danny wusste, dass er etwas unternehmen musste. Seine Ge danken überschlugen sich, aber er konnte sich einfach nicht rühren, konnte die Augen nicht von den Bildschirmen losrei ßen. Was er da sah, war ein Massaker, etwas unscharf durch das Unterwasserblau der Monitore. Rufe und Schreie durch schnitten die Luft, irgendwie unabhängig von den kleinen Fernsehern an der Wand, während Gewehre und Pistolen schossen. Danny sah, wie ein Soldat zusammenbrach und einer der Hunde ihn an der Gurgel packte. Gleich darauf stürzte sich der zweite Ridgeback auf ihn und biss sich im Unterleib des Mannes fest. Ein anderer Soldat kam wild feuernd zu Hilfe geeilt. Dann explodierte sein Kopf, als der junge Bursche mit seiner Maschinenpistole auftauchte und aus der Hüfte schoss. Plötzlich stand Barzan wieder neben Danny. «Hier», sagte er und drückte Danny die gleiche Pistole, wie er sie hatte, in die Hand. Danny starrte kurz darauf, mit einem hilflosen Gefühl, während ein Monitor zeigte, wie zwei Laster vor dem Haus zum Stehen kamen. Soldaten sprangen von den Ladeflächen. Als Danny sich erhob, sah er Layla auf der anderen Seite des 305
Atriums in den Raum gehastet kommen. Einen Augenblick lang trafen sich ihre Blicke, dann ertönte ein Feuerstoß – und wie eine Balletttänzerin, die das Gleichgewicht verliert, segelte Layla durch die Luft und fiel dann zu Boden. Eine zweite Salve verwandelte das Atrium-Fenster in einen Wasserfall aus Glas. Danny humpelte so schnell er konnte hinter Barzan her, sah, wie der Kurde den Flur hinuntereilte und dann um eine Ecke verschwand. Wie viele Soldaten sind es?, fragte Danny sich. Mindestens zwei Lastwagen voll. Vielleicht ein Dutzend, wahrscheinlich mehr. Und er mit seinen kaputten Füßen und einer Waffe, mit der er nicht umgehen konnte. Plötzlich tauchte Barzan wieder auf. Er ging rückwärts, die Hände in die Luft gestreckt, und redete mit jemandem, den Danny nicht sehen konnte. Danny, der jetzt vor Adrenalin übersprudelte, hob die Pistole mit beiden Händen, wie er es aus dem Fernsehen kannte. Er wartete, dass derjenige, der Barzan mit einer Waffe bedrohte, um die Ecke kam. Aber es kam niemand. Stattdessen fielen Schüsse aus einer automatischen Waffe und durchlöcherten Barzan vom Bauch bis zur Brust. Er taumelte rückwärts gegen einen Tisch, schleuderte eine Vase mit Rosen hoch und sackte zu Boden. Dann kam der Soldat, der Barzan erschossen hatte, in Sicht und blickte völlig überrascht, als er Danny sah. Danny hatte Anfängerglück – der erste Schuss traf den Sol daten seitlich im Kopf. Der zweite und dritte Schuss zer schmetterte das Fenster zum Atrium. Danny lief zu Barzan, rutschte in einer Blutlache aus, konnte das Gleichgewicht gerade noch halten und holte tief Luft. Der Kurde war tot. Er konnte es an den Augen sehen, die starr blickten und hell und steinern wie Murmeln wirkten. Er hörte noch immer Schüsse im Hof, aber weniger als zuvor, und jetzt hörte er auch, dass Soldaten von Raum zu Raum gingen und Türen eintraten. Es gab keine Fluchtmöglichkeit. Er konnte nirgendwohin. 306
Die Soldaten kamen aus beiden Richtungen den Flur herunter, trieben ihn in die Enge. Sobald die Ersten um die Ecke bögen … Instinktiv schnappte er sich ein Kissen von der Bank an der Wand und lief zu dem Fenster, das er gerade zerschossen hatte. Mit dem Kissen als Schutz für seine Hände drückte er die grö ßeren Scherben aus dem Rahmen und blickte nach unten. Bis zum Boden waren es gut drei Meter – schon unter besten Bedingungen ein schmerzhafter Sprung, aber beim jetzigen Zustand seiner Füße … Er legte das Kissen über die gezackten Scherben im Fensterrahmen und sammelte seinen ganzen Mut. Er hörte Schritte im Flur. Er blickte zu Barzan hinüber, der in einer Blutlache lag, kletterte durch das zerbrochene Fenster, hockte sich auf den Sims – und sprang. Er landete auf den Füßen, und einen Augenblick lang hätte er geschworen, dass er auf ein Nagelbett gesprungen war. Der Schmerz schoss von seinen Fußsohlen hoch und explodierte hinter seinen Augen wie ein Feuerwerk. Er ballte instinktiv die Fäuste und biss die Zähne in einem lautlosen Schrei zusam men, taumelte dann durch das Atrium zu der umlaufenden Ar kade. Die Arkade war eine Reihe von Bögen, die das erste Stock werk des Hauses mit den Wohnräumen stützten, und barg die Wirtschaftsräume, mit Durchgängen zum Hof. Mehrere Waschmaschinen säumten eine Wand zu Dannys Rechten, wo eine dicke Frau mit einem weißen Kleid und Kopftuch schlot ternd neben einem Trog Wäsche stand. Hinter ihr sah er Trok kengestelle mit Bettwäsche und eine Kiste mit leeren Flaschen. Danny legte einen Finger an die Lippen und schlich an der Frau vorbei bis an den Rand des Hofes. Überall Leichen. Vier Soldaten. Eine Frau, die er nicht kannte. Der junge Bursche, der ihn zum Zahnarzt gebracht hatte. Einer von den Hunden. Und hinter den Toten die honiggelbe Mauer des Grundstücks. Oben auf der Mauer glitzerten die Glasscherben. Er sah keine 307
Tür. Ihm blieb nur der Weg über die Mauer oder durch das Haupttor – wo es sicherlich von Soldaten wimmelte. Eine ge scheckte Katze döste ungerührt neben der trocknenden Bettwä sche in der Sonne und rollte sich auf den Rücken, als er näher kam. Die Mauer war etwa einen Meter achtzig hoch, plus noch mal rund fünf Zentimeter wegen der Glasscherben. Springen kam also nicht in Frage, obwohl er in der Highschool ein guter Hochspringer gewesen war. Aber das war lange her. Danny wandte sich von der Mauer ab, und da zerriss ein Schuss die Stille im Haus. Im ersten Augenblick dachte er, jemand hätte ihn gesehen und auf ihn geschossen. Doch nein. Nach dem Schuss folgte eine lange Pause. Dann ein zweiter Schuss und wieder eine Pause. Dann ein Dritter. Die Katze bekam es mit der Angst und schlich sich tief gebückt zur Mauer. Das hörte sich nicht nach einem Feuergefecht an. Eher als würde jemand Schießübungen machen. Dann begriff er. Jemand ging von Leichnam zu Leichnam und gab allen sicherheitshalber noch einen Gnaden schuss. Nichts wie weg hier, dachte Danny. Er huschte über den Hof zur Mauer und sprang hoch, um hinüberzuschauen, aber mit seinen wunden Füßen brachte er gerade mal einen Hüpfer zu stande. Und er hatte vorhin noch ernsthaft überlegt, über die Mauer zu springen! Er bekam nur den dämmrigen Himmel und weiter nach rechts die fedrigen Wipfel der Weidenbäume an der Zufahrt zu sehen. Er ging zurück in die Waschküche, riss die Matratze von der Pritsche, was bei der Frau mit dem Kopftuch ein Wimmern des Protestes auslöste. Schlief sie hier? Der leise Laut brach ihm das Herz. «Kommen Sie», sagte er und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Aber nein. Blödsinn. Nie im Leben würde die veräng stigte Frau mit ihm über die Mauer klettern. «Die werden Sie umbringen», sagte er zu ihr. 308
Sie schüttelte heftig den Kopf, verstand ihn nicht. Zur Verdeutlichung fuhr er sich mit einem Finger über die Gurgel und zeigte auf Haus. Sie wurde noch panischer, presste die Augen zu, als würde er verschwinden, wenn sie ihn nicht mehr sah. Danny konnte nichts für sie tun. Also nahm er einen Holzstuhl und überquerte, die Matratze hinter sich herziehend, den Hof. Sein Rücken prickelte vor Anspannung. Er spürte schon fast, wie ihm eine Kugel die Wirbelsäule durchschlug und ihm beim Austritt ein Loch in die Brust riss. Er konnte sich vorstellen, wie … Reiß dich zusammen. Er stellte den Stuhl dicht an die Mauer, stieg darauf und ris kierte einen Blick. Die Zufahrt lag rechts von ihm. Von den Militärlastern war nichts zu sehen, sie waren vermutlich schon durchs Tor gefah ren, aber am Wachhäuschen zirka dreißig Meter entfernt stand ein Jeep mit laufendem Motor. So nahe, dass er das Funkgerät knistern hören konnte. Hinter dem Lenkrad saß ein Soldat, ein Walkie-Talkie am Ohr. Zwei weitere lehnten am Wachhäu schen und rauchten, unbeeindruckt von der Leiche zu ihren Füßen. Weit links von ihm sah er den Schuppen, in dem er gefoltert worden war. Dahinter lagen weitere Schuppen, Gehege und Ställe. Vielleicht schaffte er es dorthin. Er legte die Matratze über die Scherben, und schwang ein Bein über die Mauer. Dann ließ er sich von der Matratze rollen und landete so leise es ging auf der Erde. Er schob die Matratze einfach von der Mauer in den Hof zurück und lief in gebückter Haltung los. Instinktiv steuerte er auf den Folterschuppen zu – dann fiel ihm die Überwachungskamera ein, und er schwenkte nach rechts. Er trabte durch einen Schafspferch, dessen Boden von getrocknetem Mist weich gefedert war, und erreichte eine klei ne Scheune mit einer halb geöffneten Schiebetür. 309
Das Erste, was er beim Betreten der Scheune bemerkte, war der Geruch – ein fruchtiger Geruch, der einfach nicht hierher passte. Er verharrte und lauschte auf seinen Herzschlag, wäh rend sich seine Augen an die Dämmerung gewöhnten. Bald nahm er eine ordentliche Reihe von Schaufeln und Harken wahr, die an der Wand lehnten. Eine Kiste mit alten Lappen, eine Ackerfräse, ein leerer Trog und gestapelte Plastikkanister. Auf jedem Kanister stand in säuberlicher Blockschrift das Wort ACETON. Danny lehnte sich gegen die Wand und rutschte langsam zu Boden. Die dürfen mich hier nicht finden, dachte er. Nicht hier. Irgendwo draußen. Ein Schuss in den Kopf, und es ist vorbei. Wenn sie mich hier finden und das Aceton sehen … dann den ken sie vielleicht: Amüsieren wir uns ein bisschen. Nichts wie weg hier. Er rappelte sich hoch, ging zur Tür und spähte hinaus. Ein Wagen kam die Zufahrt hoch. Ein dicker Wagen, dachte Danny und erstarrte dann, als er erkannte, was für ein Wagen das war: ein Bentley. Kurz darauf hielt die schwarze Limousine an. Ein Soldat lief mit umgeschnalltem Gewehr, das ihm gegen die Seite schlug, vom Haus auf den Wagen zu. Er legte eine Hand auf das Dach, beugte sich hinunter und wartete, bis sich das hintere Seitenfenster senkte. Ein kurzes Gespräch folgte, wobei der Soldat lachend zum Haus deutete. Dann trat er von dem Bentley zurück und salutierte knapp. Der Wagen blieb, wo er war, mit leise laufendem Motor. Kurz darauf öffnete sich die hintere Tür, und Zerevan Zebek stieg aus. Mit einem kurzen Blick nach links und rechts öffnete er den Reißverschluss seiner Hose und pinkelte in Dannys Richtung. Einen Augenblick lang war Danny sicher, dass er entdeckt worden war, dass Zebek ihn beleidigen wollte. Als er fertig war, stieg der Geschäftsmann jedoch wieder in den Wa gen und fuhr weiter zur Villa. Plötzlich sah Danny, dass Soldaten die Felder durchkämm 310
ten, Gewehr im Anschlag. Sie suchten jemanden, ihn. Er drehte sich um und hielt in der Scheune panisch nach ei nem Versteck Ausschau. Er sah eine zusammengezimmerte Leiter am Heuboden lehnen und kletterte hinauf. Oben waren Strohballen gestapelt, und als er die Leiter hochzog, sah er aus den Augenwinkeln etwas huschen, im Heu verschwinden. Eine Maus, so hoffte er, aber von der Bewegung her eine Schlange. Danny konnte Schlangen nicht wirklich gut leiden. Nachdem er sich in die hinterste Ecke verkrochen hatte, be merkte er plötzlich, dass sein Bein nass war. Die schöne Lei nenhose von Barzan klebte ihm an der Haut, direkt unterhalb des Knies. Er zog das Hosenbein hoch und sah, dass seine Wa de ganz blutig war. Als er das Blut mit einer Hand voll Stroh wegwischte, kam ein tiefer Schnitt zutage. Wo ist das denn passiert?, fragte er sich. Vielleicht auf der Mauer. Egal. Er musste die Blutung unbedingt stillen. Er zog den geflochtenen Gürtel aus der Hose, wickelte ihn sich um die Wade, direkt über der Wunde, und zurrte ihn fest. Die Blutung hörte auf. Gut zehn Minuten lag er da, voller Angst vor den Soldaten, vor der Schlange, vor Zebek. Ab und zu lockerte er seinen selbst gemachten Druckverband ein wenig und zog den Gürtel dann wieder fest. Wahrscheinlich, so überlegte er, hatte er sich verletzt, als er durch das zerbrochene Fenster geklettert war. Oder vielleicht doch auf der Mauer. Jedenfalls hatte er schon eine ganze Weile geblutet und vermutlich eine Blutspur hinter lassen. Mit einem unglücklichen Stöhnen kroch er zum Rand des Heubodens und schaute hinunter. Der Boden der Scheune war aus Beton, und tatsächlich, überall waren Blutflecken, von der Tür bis zu der Stelle, wo die Leiter gestanden hatte. Er hätte genauso gut ein Schild mit einem nach oben zeigenden Pfeil aufstellen können. Inzwischen konnte er in dem Dämmerlicht alles gut erkennen 311
und ließ den Blick durch die Scheune schweifen. Er suchte eine Wasserquelle und erspähte auf dem Boden einen Garten schlauch, der mit einem Wasserhahn verbunden war. Danny stieg die Leiter hinab, ging zu dem Wasserhahn und drehte ihn auf. Das Wasser brach mit solcher Kraft hervor, dass der Schlauch sich aufbäumte und auf den Beton klatschte. Danny drehte den Hahn ein wenig zu und spritzte dann das Blut auf dem Boden weg. Hatte irgendwer was gehört? Ganz bestimmt. Der Schlauch war wie eine Blechtrommel. Und au ßerdem – wieso hatte er nicht daran gedacht? – würden die Soldaten sich über den nassen Boden wundern, wenn sie he reinkamen. Ich bin für so was nicht geschaffen, dachte Danny, drehte das Wasser ab und wickelte den Schlauch auf. Dann stieg er wieder auf den Heuboden und zog die Leiter hoch. Sobald es dunkel wird, versprach er sich, bin ich hier weg. Irgendetwas huschte an der Wand lang. Die Zeit kroch dahin. Danny fühlte sich mehr als unbehag lich. Er hatte Hunger, Schmerzen und Angst. Der Acetonge ruch – vermischt mit Heu und Stallmist – war fast unerträglich. Fliegen attackierten sein Gesicht. Mücken saugten sein Blut. Er wusste nicht mehr, wo die Pistole war, hatte sie wohl verloren und verfluchte sich dafür. Mit einer Waffe hätte er vielleicht eine Chance gehabt … Durch das Aceton musste er an Nagellackentferner denken, und dann an Caleigh, was ihn noch mehr runterzog, in eine Mischung aus Sehnsucht und Selbstmitleid. Wie konnte er sie zurückgewinnen?, fragte er sich. Erster Schritt: Lass dich nicht umbringen. Aber wie? Warten, bis zum Einbruch der Dunkelheit. Ein Auto klauen oder trampen und … nichts wie zur Grenze. So machten sie’s in Filmen doch immer. Sie überquerten die Grenze und waren in Sicherheit – die Guten waren immer in Sicherheit. Aber wie sollte er die Grenze überqueren, wenn er 312
es überhaupt bis dahin schaffte? Sein Pass und seine Briefta sche lagen im Haus – bei all den Toten. Und den Soldaten. Von denen er einen getötet hatte. Er wollte nicht daran denken, aber er kriegte die Bilder nicht aus dem Kopf. Barzan, wie er von Kugeln durchsiebt rückwärts gegen den Tisch taumelte. Wie die Vase und die Rosen in die Luft flogen. Wie der Soldat in Sicht kam, seine verblüffte Mie ne, wie sein Blick in dem Augenblick zu der Pistole huschte, als Danny abdrückte. Und wie dann der Kopf des Soldaten getroffen wurde und Blut und Hirnmasse aufspritzten. Und um zur Grenze zu gelangen, musste er erst mal einige Kontrollpunkte passieren, und auch wenn ihm das gelang, wür de man ihn nicht so ohne weiteres nach Syrien oder in den Irak lassen. Er konnte ja nicht mal einen Führerschein vorzeigen, geschweige denn ein Visum. Blieb noch die Botschaft. In Ankara. Keine Grenzkontrollen, aber achthundert Meilen Berge und Steppe. Mit ein bisschen Glück … Die dicke, braune Schlange mit dem hässlichen Kopf glitt durchs Stroh auf Dannys Bein zu, ihre kleine Zunge flatterte bei dem Geruch nach Blut. Als Danny sie in sein Gesichtsfeld kriechen sah, erstarrte er. Die Schlange hielt inne und richtete ihre Knopfaugen auf die Stelle zwischen Dannys Sandale und dem blutgetränkten Hosenbein. Sie dachte darüber nach – er konnte eindeutig ihre Gedanken lesen –, in das verlockende Loch hineinzukriechen, während Danny überlegte, vom Heuboden nach unten zu springen. Und wenn er sich das Genick brach? Egal, zumindest – Die Soldaten kamen lautlos herein, blickten nach links und rechts, die Maschinengewehre im Anschlag. Danny stockte der Atem. Die Soldaten sprachen leise miteinander, während sie sich langsam durch die kleine Scheune bewegten, auf der Suche nach irgendetwas oder irgendwem – vermutlich nach Danny. 313
Die Schlange hob den Kopf und schwenkte ihn nach links und dann nach rechts und dann senkte sie ihn. Fast gelangweilt glitt sie einige Zentimeter auf seinen Fuß zu, und im selben Mo ment stieg etwas in Dannys Kehle hoch. Zunächst wusste er nicht, was es war, aber dann. Es war ein Schrei. Er schluckte ihn hinunter. Doch dann kam ein zweiter – direkt aus seinem Herzen –, und er war sich ganz und gar nicht sicher, ob er auch den wür de unterdrücken können. Er spürte dieses schrille Zischen nackter, purer Angst, und er war überzeugt, dass die Soldaten es auch spüren mussten, so wie die Schlange sein Blut roch. Dann wandte sich die Schlange ab, und einer von den Solda ten sagte etwas, das den anderen zum Lachen brachte. Und sie stapften nach draußen. Danny weinte.
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Er erwachte jäh im Dunkeln, und der Acetongestank erinnerte ihn daran, wo er war. Er war erstaunt, dass er überhaupt hatte schlafen können, aber vermutlich aus purer Erschöpfung und durch den Blutverlust. Er tastete nach der Leiter, ließ sie nach unten und kletterte hinab. Die Hände vor sich ausgestreckt, schlurfte er mit unsicheren Schritten durch die pechschwarze Stille der Scheune. Draußen war der Mond ein verschmierter Fleck hinter einer Kuppel dahinjagender Wolken. An der Tür lauschte er auf ir gendwelche Geräusche und hörte in der Ferne dünnes Geplap per aus einem Radio oder Fernseher. Ansonsten nichts. Keine Stimmen. Keine Stiefelschritte. Keine Fahrzeuge. Er überlegte, welche Richtung er einschlagen sollte. Wo lag die Straße? Er wusste es nicht. Plötzlich glitt der Mond hinter den Wolken hervor, und Dan ny sah die Wipfel der Weiden, deren Blätter silbrig im Mond licht schimmerten. Die Bäume säumten die Kieszufahrt wie eine Allee. Sie waren ihm auf der Fahrt zum Zahnarzt aufgefal len. Die Fahrt mit dem jungen Burschen – der jetzt tot war. Er ging los in Richtung der Weiden, fand die Zufahrt und marschierte an ihr entlang, auf dem Sandstreifen, nicht auf dem Kies. Im Mondschein konnte er gut sehen, und er wäre gelau fen, wenn er gesunde Füße gehabt hätte. Am Ende der Zufahrt standen zwei Pfeiler mit Steinkugeln obendrauf. Auf den ersten Blick hielt er sie für Wachposten und blieb wie angewurzelt stehen. Das Licht fiel durch die schwankenden Bäume, und es sah aus, als würden die Pfeiler sich bewegen. Dann begriff er, dass es nur eine optische Täu schung war, und er eilte weiter zur Straße am Ende der Zufahrt. Aber welche Richtung? Die Straße verschwand nach rechts 315
und links in der Dunkelheit. Er blickte zum Nachthimmel und fand den Großen Wagen, dessen Deichsel, wie er sich erinner te, nach Norden zeigte. Oder nach Süden? Vielleicht nach Osten oder Westen. Er ging nach links. Verkehrsgeräusche waren normalerweise über weite Entfer nungen zu hören, doch es war alles still, während er am Stra ßenrand entlangtrottete. Als er plötzlich ein Auto hörte – er schätzte die Entfernung auf gut eine Meile, weil das Dröhnen des Motors in dem hügeligen Gelände mal lauter, mal leiser klang –, bekam er Panik. Vielleicht war es ein Armeefahrzeug? Vielleicht Zebek? Er versteckte sich hinter einem Gebüsch und lauschte, während der Wagen näher kam. Und dann, als das Auto schon fast an ihm vorbei war, überlegte er es sich anders und sprang wie verrückt winkend auf die Straße. Zu spät – er verfluchte sich selbst, als ein BMW an ihm vor beiraste und mit den Scheinwerfern die Dunkelheit durchbohr te. Er war wütend auf sich selbst. Was blieb ihm denn anderes übrig? Er konnte schließlich nicht zu Fuß nach Ankara. Er brauchte jemanden, der ihn mitnahm, und es war im Dunkeln ausgeschlossen, jedes Fahrzeug, das in seine Richtung fuhr, genau in Augenschein zu nehmen. Er musste es drauf ankom men lassen. Andererseits … er hatte einen Soldaten getötet. Zwar in Notwehr, aber er hatte ihn getötet. Danny wusste so gut wie nichts über die türkische Justiz – nur das, was er in dem Film Midnight Express gesehen hatte. Das wollte er nicht riskieren – vor allem nicht mit Zebek als Gegner. Dann wiederum … er wusste ja nicht, ob die Männer in der Villa wirklich Soldaten waren. Klar, sie trugen Uniformen, aber das musste nichts heißen. Und plötzlich kam ihm der Ge danke, dass die Männer, die die Villa gestürmt hatten, viel leicht gar nicht wussten, dass er da war. Sie hatten es eindeutig auf Barzan abgesehen. Ihn wollten sie ausschalten, und nur mit 316
ihm hatten sie gerechnet. Dass Danny Cray dort war, wussten nur wenige, soweit Danny es sagen konnte, und die waren Bar zan treu ergeben. Oder tot. Je mehr er darüber nachdachte – und je länger er unterwegs war, ohne dass ihm jemand folgte –, desto wahrscheinlicher erschien ihm seine Theorie. In dem Chaos in der Villa, bei der Schießerei und der ganzen Hektik hatte vermutlich niemand gemerkt, dass Danny da war. Falls doch, wären sie ihm jetzt auf den Fersen. Und danach sah es nicht aus. Aber über kurz oder lang würden sie seinen Pass finden – und dann würde bei ihnen der Groschen fallen. Eine Stunde verging, vielleicht auch zwei, ehe er wieder ein Fahrzeug hörte. Es war noch ein ganzes Stück entfernt und vom Geräusch her ein Laster, der sich mit seinem zu schwa chen Motor die Steigungen hinaufquälte. Als er schließlich in Sicht kam, sah Danny nur einen einzigen Scheinwerfer, was ihn hoffen ließ, dass es kein Militärfahrzeug war. Er trat auf die Straße, hob die Arme, die Handflächen nach vorn, und betete. Der Laster, der sich als kleiner Pick-up entpuppte, kam gut zehn Schritte vor ihm klappernd zum Stehen. Türkische Musik plärrte aus dem Radio. Danny stand im Licht des einzigen Scheinwerfers, mit hämmernden Herzen. Ein süßlicher Geruch wehte ihm entgegen … Kantalupen. Auf der offenen Ladeflä che des Pick-up lag ein Berg mit den Früchten. Aus dem Fah rerhaus stieg ein Mann Ende zwanzig, Anfang dreißig. Er trug Jeans, T-Shirt und eine nach hinten gedrehte Baseballmütze, die er nun abnahm und dichtes schwarzes Haar enthüllte. Er blieb auf Distanz, rief etwas auf Türkisch. «Brauche Hilfe», rief Danny und setzte ein unglückliches Grinsen auf. «Großes Problem.» Der Mann musterte ihn von oben bis unten und drehte die Mütze in der Hand. «Was für ein Problem?», sagte er. «Ich bin in Schwierigkeiten», erwiderte Danny, bemüht um den richtigen flehenden Tonfall. «Ich –» Und dann wurde ihm 317
klar, dass er so eben seine Muttersprache gehört hatte. Wie vom Donner gerührt, stand er einfach da und starrte. «Was machst du hier draußen, Mann? Wo ist dein Auto? Hast du einen Unfall gehabt?» «Du sprichst meine Sprache», sagte Danny, noch immer baff. «Du merkst auch alles. Also, was ist passiert?», fragte der Mann. «Weißt du nicht, wie gefährlich es hier ist? Wie bist du überhaupt hier hergekommen?» «Ich –» Scheinwerfer kamen in der Ferne um eine Biegung, aus Richtung der Villa. «Darf ich einsteigen?» Die ersten Anzeichen des Morgengrauens erhellten schon den Himmel, als Danny seinem Helfer eine hanebüchen klingende Geschichte erzählt hatte, wie er blutverschmiert und ohne Ausweispapiere hier in der Einöde gelandet war: Er sei mit dem Zug unterwegs gewesen, habe nette Leute kennen gelernt, sei mit ihnen im Speisewagen was trinken gegangen und zwei Tage später hier am Straßenrand aufgewacht. Brieftasche, Pass, Gepäck, alles weg. Der Fahrer, Salim, nickte wissend. «So was hört man öfter», sagte er. «Aber meistens sind Frauen die Opfer – und sie wer den vergewaltigt.» Er blickte Danny an. «Hat man dich verge waltigt?» «Nein», erwiderte er. «Zum Glück nicht.» «Sei froh, dass du noch am Leben bist», sagte Salim. Danny nickte. Er belog seinen Helfer nicht gern, aber was hätte er sagen sollen? Dass er gerade ein Massaker erlebt und einen Soldaten erschossen hatte? «Die Gegend hier», fuhr Salim fort, «lockt zurzeit nicht viele Touristen an. Bis letztes Jahr war sie sogar für Touristen ge sperrt. Aber es kommt noch immer niemand. Zu gefährlich. Dieser Teil der Türkei ist nicht zu empfehlen.» Er warf Danny einen tadelnden Seitenblick zu. «Wem sagst du das.» 318
Salim blickte ihn verwirrt an. «Na, dir.» Danny lächelte. «Ist bloß so eine Redewendung.» «Ach so», Salim lächelte und wurde dann wieder ernst: «Man hat dir also den Pass gestohlen? Das ganze Geld?», fragte er. «Alles.» «Schöner Mist.» Danny nickte. «Deshalb muss ich zur amerikanischen Bot schaft. Die ist in Ankara, nicht?» «Richtig.» «Und die Melonen, die du geladen hast? Fahren die nach Ankara?» Salim lachte. «Nein. Die Melonen fahren nach Dogubeyazit.» «Wohin?» «Das ist eine Stadt am Fuße des Ararat. An der Grenze zum Iran.» «Iran?» «Ja. Meine Heimatstadt – ich lebe dort. Aber ich werde ver suchen, jemanden zu finden, der dich mit nach Ankara nimmt.» Dannys Miene erhellte sich. «Meinst du, du findest jeman den?» Salim zuckte die Achseln. «Kann sein.» «Ich …» Danny wusste nicht, was er sagen sollte, wie er sei ne Dankbarkeit ausdrücken könnte. Vielleicht sollte er verspre chen, später Geld zu schicken, aber irgendwie spürte er, dass er Salim damit beleidigen würde. «Ich werde dir immer dankbar sein.» «Irgendwann werde ich mal Hilfe brauchen», sagte Salim. Sie fuhren dahin, eingehüllt vom Lärm der holprigen Straße und dem Duft reifer Kantalupen. Danny hielt sich nur mit Mü he wach, während Salim seine Geschichte erzählte. Er war frü her Bergführer gewesen, doch er musste den Job an den Nagel hängen, weil wegen der politischen Unruhen kein Tourist mehr den Ararat besteigen wollte. Obendrein hatte er durch die Wäh rungskrise eine Stange Geld verloren und mit seinem Handy 319
Großhandel Pleite gemacht. Er war verheiratet, hatte zwei Kin der und arbeitete jetzt für seinen Schwiegervater als Lastwa genfahrer, während er auf einen Wirtschaftsaufschwung warte te. «Das ist hart», sagte Danny Salim zuckte die Achseln und lä chelte. «Wem sagst du das.» Er lachte und rückte seine Base ballmütze zurecht. «Es kommen bestimmt wieder bessere Zei ten, irgendwann. Mal sehen, was ich dann mache.» Als die Sonne aufging, bot sich ihnen ein prächtiger Anblick; der Ararat mit seinem schneebedeckten Gipfel und der voll kommenen Kegelform nahm sich aus wie ein japanischer Druck vom Fudschijama. Aber er war gewaltig. Der höchste Berg, den Danny je gesehen hatte. Er war überwältigt. Salim erklärte, dass der Berg über fünftausend Meter hoch sei, aber größer wirke, weil er keine Ausläufer habe – er ragte schnur stracks aus der Ebene in die Höhe. Danny war sprachlos. Sie passierten zwei Militärkontrollen, bevor sie Dogubeyazit erreichten, und Danny stellte sich in beiden Fällen auf Salims Rat hin schlafend. Angespannt lauschte er den unverständli chen Gesprächen zwischen Salim und den Soldaten, aber man ließ ihn in Ruhe. Am frühen Morgen kamen sie zu einer Markthalle, wo Salim den Pick-up geschickt rückwärts an eine Laderampe rangierte. Sogleich machten sich Arbeiter daran, die Melonen in große Körbe umzuladen. Danny folgte Salim in ein voll gestopftes Büro, wo der Türke ein paar Papiere unterschrieb. Dann gingen sie ein Stück zu Fuß zu einer Straßenecke, wo sie auf den Dolmus warteten. Salim wohnte in einem Mietshaus am Stadtrand. Die kleine Wohnung lag im obersten Stock, und dicke Vorhänge an den Fenstern schützten vor der Sonne – um sieben Uhr morgens war es schon über fünfundzwanzig Grad warm. Salims hübsche Frau begrüßte ihren Mann, verbeugte sich vor Danny und 320
brachte ihnen eine Glas Apfeltee. Während Danny seinen Tee trank, lieferten die beiden sich eine hitzige Diskussion, bei der es sich, wie er erfuhr, um das Blut an seinem Hosenbein drehte. «Ayala meint, die Wunde muss verarztet werden», sagte Salim zu ihm. «Und sie hat Recht.» Ayala holte eine Schere, eine Schüssel mit Wasser und einen weißen Waschlappen. Sie weichte den Stoff des Hosenbeines mit Wasser ein, damit er sich von der Haut löste, und schnitt ihn mit der Schere auf. Dann wusch sie das getrocknete Blut mit dem Lappen ab. Die Verletzung war nicht so schlimm – ein sauberer Schnitt, etwa acht Zentimeter lang. Ayala ging ins Bad und kam mit einem Fläschchen wieder, das Wasserstoffperoxid enthielt. «Ist nicht nötig», sagte Danny. «Es geht auch ohne –» Sie schwang ihren Zeigefinger wie ein Pendel vor seinen Augen, öffnete das Fläschchen und goss etwa die Hälfte des Inhalts auf die Wunde. Schaum quoll auf, und Danny hatte das Gefühl, als hätte man ihm das Bein mit einer Lötlampe abge flammt. Fast hätte er aufgeschrien. Salim lachte. «Brennt wie der Teufel, was?» Als Ayala fertig und die Wunde verbunden war, bereitete sie noch einen Tee zu und zog sich ins Schlafzimmer zurück. Während er und Salim Tee tranken, hörte Danny Ayalas Stim me, die murmelnd ein weinendes Baby beruhigte, und ab und zu die hohe, helle Stimme eines Kindes. Kurz darauf kam sie mit den beiden Kindern ins Wohnzimmer – anscheinend waren die Kleinen gerade aufgewacht. Salim spielte und sang ein Weilchen mit dem älteren Kind, während Ayala das Baby wiegte und ihnen mit unverhohlener Freude zusah. Der kleine Junge öffnete den Mund und zog an einem seiner Zähne. Er sprach aufgeregt mit seinem Vater und zeigte auf Danny. Ein rätselhafter Ausdruck huschte über Salims Gesicht, doch dann zuckte er die Achseln. «Er will wissen, warum du einen silbernen Zahn hast.» 321
Danny war verlegen. Offensichtlich glaubte sein Gastgeber die Geschichte nicht ganz, die er ihm aufgetischt hatte. «Ich hatte eine Krone aus Porzellan», sagte er. «Die ist mir abgefallen. Das hier ist nur provisorisch.» Er verzog das Ge sicht. «Sieht toll aus, was?» «Mein Sohn ist hin und weg», sagte Salim. «Er denkt, das ist ein ganz starker Zahn. Ein Superzahn.» Danny verzog den Mund zu einem irren Grinsen und zeigte den blitzenden Zahn, und der Kleine quietschte vor Lachen. Dann nahm Ayala die Kinder, sagte etwas auf Türkisch und warf Salim eine Kusshand zu. «Sie geht mit den Kindern zu ihren Eltern», sagte Salim, «damit ich schlafen kann. Möchtest du ein Bad nehmen? Ayala meint, das wird dir gut tun.» Zehn Minuten später stand Danny in dem winzigen Bade zimmer vor einer dampfenden Wanne. Die diversen Hautab schürfungen brannten höllisch, als er sich ins Wasser hinabließ, und für einen Augenblick vergaß er die Schmerzen in den Fü ßen, im Gesicht und in der Schulter. Er vermied tunlichst, sich seine Füße anzusehen, deren violette Färbungen gerade erst anfing zu verblassen. Sie hatten exakt die Farbe von Caleighs Lieblingsjacke, eine Erkenntnis, die in ihm die Frage weckte, was Caleigh jetzt wohl gerade machte? In den Staaten war es Mitternacht, also schlief sie vermutlich … und träumte vielleicht von ihm. Von ihm, im Bett mit Paulina. Er setzte ein kleines Plastikboot aufs Wasser und sah zu, wie es neben seinen verfärbten Füßen auf und ab hüpfte. Mit den Händen erzeugte er so viel Wellengang, dass das Bötchen ein mal ganz um die Wanne herumgeschaukelt wurde. Eine schöne Beschäftigung am frühen Morgen. «Willst du jetzt schlafen?» Danny kam aus dem Bad, in den Sachen, die Salim ihm hin 322
gelegt hatte. Eine Hose, die ihm nicht ganz bis zu den Knö cheln ging, und ein T-Shirt. «Das wäre toll», erwiderte Danny. Der Türke deutete auf eine Bank mit Kelims, wo er ein Bett gemacht hatte. Dann entschuldigte er sich und ging ins Schlaf zimmer. Danny streckte sich aus, schloss die Augen und döste lang sam ein, während er den Geräuschen um sich herum lauschte. Gedämpfte Stimmen und türkische Musik. Verkehrslärm. Au tohupen in der Ferne. Und ab und an spielte Salims Handy die Anfangstakte der Wilhelm-Tell-Ouvertüre, wenn ein Anruf kam. «Bist du wach?» Danny öffnete die Augen, blinzelte und setzte sich auf. Salim stand in der Tür zur Küche und lächelte. Es war Abend. Und noch immer sehr warm. «Das hat gut getan», sagte Danny. «Ich hab dringend Schlaf gebraucht.» «Gut», erwiderte Salim. «So, jetzt ziehen wir los und sehen mal, wer nach Ankara fährt.» Der Türke hatte einen flotten Gang, und Danny hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Es dauerte nicht lange, und sie betra ten ein Café voller Männer, die Tee tranken, Karten spielten und redeten. An der Wand hing ein Fernseher. CNN lief, aber kein Mensch achtete darauf. Mit Danny an seiner Seite ging Salim von Tisch zu Tisch, plauderte hier, scherzte dort und nickte zwischendurch Danny zu, der verlegen lächelte und sehr oft mit den Schultern zuckte. «Ich … ähm … Mannomann», sagte Danny beim soundso vielten Tisch. «Wahrscheinlich bereust du schon, dass du mich mitgenommen hast.» Der Türke blickte gekränkt. «Aber das ist meine Gelegenheit, dir zu helfen», entgegnete Salim. «Der Prophet hat dich mir nicht ohne Grund geschickt.» 323
Schließlich setzten sie sich zu anderen Männern an einen Tisch und nahmen ein Glas Apfeltee an. Alle waren freundlich und lächelten, aber das Ergebnis war wieder das Gleiche. Salim schüttelte traurig den Kopf und drehte die Handflächen zur Decke, was so viel hieß wie: Er hat kein Geld, ist absolut plei te. Danny hatte nur noch wenig Hoffnung und stellte sich inner lich schon darauf ein, trampen zu müssen. Doch Salim gab nicht auf, und nach einer weiteren Runde Apfeltee hatten sie Glück. Ein älterer Mann kam an den Tisch und unterhielt sich mit Salim, dessen Miene aufleuchtet. «Wir müssen los», sagte er und sprang auf. Auf dem Weg zu einem anderen Café eine Straße weiter sagte er: «Hakan Gultepe fährt heute Abend in Richtung Ankara! Pistazien. Ich frage seinen Chef, ob du mit fahren kannst.» Sobald sie in dem Café waren, steuerte Salim auf einen der hinteren Tische zu und sprach kurz mit einem skeptisch blik kenden Mann, der offensichtlich von Salims Ansinnen nicht begeistert war. Doch schließlich wurde die Angelegenheit mit lächelnden Gesichtern und Händeschütteln besiegelt. «Du kannst mitfahren», verkündete Salim, «aber wir müssen uns sputen.» Sie eilten zu der Markthalle, wo Salim seine Kantalupen ab geliefert hatte, und Danny wurde Hakan Gultepe vorgestellt. Er war ein kräftiger Mann in den Dreißigern mit einem dichten, schwarzen Schnurrbart und einem Mund voller Goldzähne. Hakan tätschelte Danny beruhigend den Arm, wie einem Pferd oder Hund. «Er spricht nur Türkisch», sagte Salim. «Aber er nimmt dich mit nach Bingöl. Von dort fährst du mit dem Bus weiter. Ich gebe dir Geld – nein, keine Widerrede. Es ist nicht viel, keine Sorge. Hakan lässt dich am otogar in Bingöl aussteigen, dann nimmst du den Bus nach Kayseri. In Kayseri steigst du um in den Bus nach Ankara.» Er schrieb ihm die Stationen auf die 324
Rückseite seiner Visitenkarte und gab ihm obendrein einen Zehn-Millionen-Lire-Schein. Danny fehlten die Worte. «Ich zahl’s dir zurück.» Salim zuckte die Achseln. «Musst du nicht. Das ist eine der Säulen des Islam», sagte er. «Den Armen Almosen zu geben … ist eine Pflicht. Du siehst, in der Türkei gibt es auch nette Men schen.» «Salim –» «Auf meiner Karte steht meine E-Mail-Adresse», sagte Salim. «Wenn du zu Hause bist, schreibst du mir, ja?» «Ja, klar, mach ich. Versprochen.» Nach einer kurzen Umarmung wandte Salim sich um und ging Richtung Ortsmitte. Danny sah ihm nach und hörte ein letztes Mal die Wilhelm-Tell-Ouvertüre dudeln. Dann stieg er in einen Pick-up, der genauso aussah wie der von Salim, nur dass er mit Säcken voller Pistazien beladen war. Der Motor sprang röchelnd an, Hakan Gultepe schenkte ihm ein güldenes Lächeln, und schon fuhren sie beim Klang türkischer Musik aus dem Radio in die Nacht hinein.
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Es war ein langer Fußweg vom Busbahnhof in Ankara zur amerikanischen Botschaft am Atatürk-Boulevard, aber Danny hatte keine andere Wahl. Mit den rund eine Million Lire, die ihm noch von Salims Spende geblieben waren, konnte er sich einen Döner, aber kein Taxi leisten. Er aß ihn unterwegs und wäre fast an einem Stück grüner Paprika erstickt, als der Mu ezzin am Mittag über Lautsprecher ohrenbetäubend loslegte. Gut eine Stunde später sah er die amerikanische Flagge schlaff in der drückenden Hitze hängen. Sein Herz machte ei nen kleinen Satz. Und zumindest für einen Augenblick war er so gut wie zu Hause. Aber weit gefehlt. Er hatte immer gedacht, die amerikanischen Botschaften in aller Welt seien unter anderem dazu da, Landsleuten zu helfen, die im Ausland in eine Notlage geraten waren. Schön gedacht. Der Botschaftsmitarbeiter, mit dem er sprach, war ein junger Mann etwa in seinem Alter. Aber damit hatte sich die Ähnlich keit auch schon. Im Gegensatz zu Danny, der in Khaki-Hose und T-Shirt und mit Blut an den Sandalen einen verwahrlosten Eindruck machte, war sein Gegenüber wie aus dem Ei gepellt: dunkelblauer Anzug, weißes Hemd und rostbraune Krawatte. Der Botschaftsmitarbeiter saß zurückgelehnt in seinem Schreibtischsessel, den er hin und her schwenken ließ, und hörte sich Dannys Geschichte mit der Miene eines viel älteren Mannes an, einer Mischung aus ungeduldiger Langeweile und ungeschminkter Verachtung. Schließlich seufzte er und sagte: «Haben Sie sich denn vorher nicht informiert? In Reiseführern oder im Internet? Die Gegend um den Van-See ist nicht unge fährlich.» 326
«Na ja –» «Kein Wunder, dass Sie sich Schwierigkeiten eingehandelt haben.» «Stimmt», erwiderte Danny. «Sie haben’s erfasst. Ich stecke in Schwierigkeiten.» «Das ist kaum zu übersehen», sagte der Mann von der Bot schaft leise lachend und schüttelte den Kopf. «Aber mir ist nicht ganz klar, was Sie jetzt von mir erwarten?» Die Frage war für Danny ein Schock, und einen Augenblick lang fehlten ihm die Worte. Dann sagte er: «Ich dachte, Sie könnten mir helfen. Ich meine, dafür sind Sie doch da, oder? Um Amerikanern zu helfen?» Wieder ein Seufzen. «Ehrlich gesagt», stellte Dannys Gegen über fest, «bin ich eigentlich für wichtigere Aufgaben da.» «Ach ja?» «Ja, allerdings.» Danny hätte ihm am liebsten eine geknallt, aber er wollte nun mal dringend nach Hause. Und möglichst nicht in Handschellen. Also schluckte er seinen Stolz hinunter und sagte: «Das glaube ich Ihnen gern, aber … was raten Sie mir? Wie komme ich nach Hause?» Um mit meinen Steuern Ihr Gehalt zu zahlen, lag ihm auf der Zunge, doch er konnte sich gerade noch bremsen. Der Mann von der Botschaft bedachte ihn mit einem entnerv ten Blick und schraubte die Kappe eines Mont-BlancFederhalters ab. «Sie sagten, Sie haben Ihren Pass verloren –» «Ich sagte, er wurde mir gestohlen.» «Ach ja. Gestohlen. Wann?» «Vor drei Tagen.» «Und wo?» «In Dogubeyazit», erwiderte Danny. «Wo?» «Dogubeyazit. Ein kleiner Ort an der iranischen Grenze.» Der Mann von der Botschaft wiederholte den Namen Silbe für Silbe und notierte ihn sich. Dann blickte er auf. «Wo ist Ihr 327
Gepäck?» «Gepäck?» «Ja. Ihre Kleidung und so. Koffer.» «Ich hatte bloß einen Rucksack», erwiderte Danny. «Der ist auch weg.» «Wie steht’s mit Geld?», fragte der Botschaftsmitarbeiter. Danny schüttelte den Kopf. «Die Brieftasche wurde auch ge klaut.» «Dann haben Sie also keinerlei Papiere. Nicht mal einen Füh rerschein.» Danny nickte. «Stimmt. Keine Kleidung. Kein Geld. Keinen Ausweis. Nichts. Ich bin Tabula rasa.» Ein verächtliches Lachen. «Was hat die Polizei gesagt?» «Polizei?», fragte Danny. «Als Sie den Diebstahl angezeigt haben.» «Aber das habe ich nicht.» «Und wieso nicht?» Danny zuckte die Achseln. «Ich war völlig durcheinander.» Der Mann von der Botschaft legte den Federhalter hin und lehnte sich zurück. Er faltete die Hände im Schoß und betrachte te Danny mit stechendem Blick, als würde er ihn durchschauen. Dann sah er auf die Uhr an der Wand – zwölf Uhr sechsund zwanzig – und schob seufzend ein Formular über den Tisch. «Füllen Sie das aus», sagte er. «Wir machen ein paar Anrufe in die Staaten – auf Ihre Kosten – und stellen Ihnen einen vorläufi gen Pass aus. Dann kriegen Sie ein Ticket nach Washington.» «Danke.» Der Mann schnaubte. «Kein Grund zu danken. Die Sache kommt Sie verflucht teuer. Wir sind keine Reiseagentur, und alles hat seinen Preis. Das vorgestreckte Geld müssen Sie binnen dreißig Tagen zurückzahlen. Tun Sie das nicht, geht die Sache vor Gericht und Ihr Gehalt wird gepfändet.» Ein böses Lächeln, als ihm ein Gedanke kam. «Haben Sie überhaupt einen Job?» 328
Danny setzte das gleiche Lächeln auf. «Nein», sagte er. «Ich bin Künstler.» Drei Stunden später händigte man ihm einen funkelnagelneuen Pass, einen Umschlag mit vier Zwanzig-Dollar-Scheinen und ein Flugticket nach Dulles aus. Er unterschrieb eine Verpflich tungserklärung, dass er dem amerikanischen Fiskus die Summe von 1.751 Dollar zurückerstatten werde. Auf seinem Passfoto sah er übermüdet und mitgenommen aus. Für die Nacht suchte er sich ein billiges Hotel, wo das Zim mer 8,25 Dollar kostete. Es war einfach, aber sauber, eine Art Fegefeuer – weder Himmel noch Hölle, irgendwo dazwischen. Auf der harten, dünnen Matratze des Bettes lag er im Dunkeln, starrte an die Decke und dachte an das Massaker vom Vortag. Oder war es schon zwei Tage her? Ohne Zeitung oder Fernse hen – und nur mit dem eigenen Überleben beschäftigt – verlor er allmählich jedes Zeitgefühl. Und er selbst veränderte sich auch, wurde irgendwie älter. Er konnte es spüren. Layla und Barzan. Die Waschfrau. Die Hunde. Der Soldat, dem er in den Kopf geschossen hatte. Er erinnerte sich – an die Pistole. Er hatte sie ganz bewusst neben den toten Remy Bar zan gelegt, als würde er ein geliehenes Buch zurückgeben. Schließlich schlief er ein. Am nächsten Morgen fuhr er mit dem Taxi zum Flughafen, wo er eine halbe Stunde lang bei der Sicherheitskontrolle Fra gen beantworten musste. Kein Wunder. Er hatte ein HinflugTicket und kein Gepäck. Die Sachen, die er trug, gehörten of fensichtlich nicht ihm, wie die zu kurze Hose bewies. Und dann erst seine merkwürdige Frisur, die Kratzer und blauen Flecken. Der Zahn. Wenn er Polizist gewesen wäre, hätte er sich verhaftet. Den noch, aus so manchem Übel erwächst dann ja doch noch etwas Gutes. Die Botschaft hatte ihm, obwohl die Maschine kaum besetzt war, weder einen Platz am Gang noch am Fenster re 329
serviert, sondern mitten zwischen einem achtjährigen Jungen und einer korpulenten Dame. Aber kaum hatte er sich niederge lassen, da drückte die Frau auch schon den Rufknopf. Eine hastige Besprechung mit der Stewardess erfolgte, und gleich darauf hatte Danny eine ganze Sitzreihe für sich allein. Seine Gedanken schweiften zu Caleigh. Was sollte er tun? Was konnte er tun? Vielleicht sollte er einfach so, wie er war, verwundet und Mitleid erregend, bei ihr auftauchen. Lieber nicht. Mitleid würde die Sache nicht aus der Welt schaffen, genauso wenig wie Blumen. Er würde sich auf einen Feldzug einstellen müssen, um Caleigh zurückzugewinnen. Auf eine Belagerung, und selbst dann stand das Ergebnis in den Sternen. Bis zu seiner Ankunft in der Botschaft war er praktisch vom Erdboden verschluckt gewesen, Zebek konnte also unmöglich wissen, wo er war (obwohl er sich wahrscheinlich gedacht hat te, dass Danny noch in der Türkei war). Wie weit verzweigt war Zebeks Netz? Hatte er auch Zugang zu den Computern der Passkontrolle an den Flughäfen? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber früher oder später würde Zebek wissen, dass Danny wieder in den Staaten war – und früher kam der Wahrheit ver mutlich näher. Und was sollte Danny anstellen? Er konnte nicht sein Leben lang auf der Flucht bleiben. Unvorstellbar, seine Eltern und Freunde nie wieder zu sehen. Von Caleigh ganz zu schweigen. Es gab also nur eine Lösung. Er musste Zebek entlarven. Als Mörder und Betrüger. Aber wie? Der Atlantik glitt unter dem Bauch des Flugzeugs dahin. Der Gin Tonic, den er sich hatte bringen lassen, zeigte allmählich Wirkung, denn er fiel in eine erschöpfte Benommenheit, die eher einem Koma glich als richtigem Schlaf. Als die Stewar dess ihn weckte, war es dunkel, und die Maschine steuerte im Sinkflug auf ein diesiges Lichtermeer zu, das Washington war.
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Seine Eltern wohnten noch immer in dem Haus, in dem Danny aufgewachsen war, auf der anderen Seite des Potomac, in Ro semont, einem beschaulichen Wohnviertel in Alexandria, nur eine Viertelstunde vom Flughafen entfernt. Das Haus im Stil der Jahrhundertwende mit einem großen Garten war ihm so vertraut wie sein Herzschlag, der mehr oder weniger jäh zum Stillstand kam, als er hinter dem Blumenkübel nach dem Haus türschlüssel tastete und plötzlich in grelles Licht getaucht wurde. Du meine Güte! Wann haben sie sich das denn einfallen las sen? Er schüttelte den Kopf und wartete, bis der Tumult in sei ner Brust sich wieder legte. Seit er Rentner war, hatte sein Dad sich zum leidenschaftlichen Heimwerker entwickelt, der sich stets neue Projekte ausdachte. Danny steckte den Schlüssel ins Schloss und ging ins Haus, froh, dass sein Vater sich eine Alarmanlage bislang noch verkniffen hatte. Wie seinen Eltern wohl die «heimatliche Scholle» gefiel? In der Küche schaltete er die Klimaanlage an und nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Leise tappte er durchs Haus nach oben ins Bad und zog sich aus. Dann nahm er eine lange, heiße Dusche, ließ sich das Wasser auf Rücken und Schultern prasseln, das Gesicht zur Decke, die Augen geschlossen. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte er gedacht: Das Leben ist schön. Als das Wasser kalt zu werden drohte, wickelte er sich ein Badetuch um die Hüfte und ging in sein altes Zimmer unter dem Dach. Wie für den jüngsten Sohn angemessen, war es das kleinste Zimmer, mit Schrägen und Dachluken. An einer Wand stand eine Kommode mit Kleidung, die er seit Jahren nicht getragen hatte, die seine Mom aber immer bereit hielt – offenbar für Tage wie diesen. Er ließ das Bade tuch fallen und nahm sich eine Jeans, ein rotes Sweatshirt, fri sche Unterwäsche und Socken. Mit den sauberen Sachen am Körper fühlte er sich wie neu geboren. Das Zimmer war fast unverändert: klobige Holzmöbel und 331
karierte Stoffe. Ein Phish-Poster an einer Wand, ein «früher Cray» an einer anderen. In der Ecke, auf einem kleinen Bü cherregal, eine kitschige Sammlung verstaubter Fußballtrophä en und eine Medaille für den zweiten Platz im 5000-MeterLauf bei einem Highschool-Sportfest. Auf dem Schreibtisch lag ein kleiner Stapel Post – ein paar unwichtige Dinge gingen noch immer an die Adresse seiner Eltern. Seine Mom bewahrte alles auf, und wenn er alle paar Wochen kam, sah er die Post durch. Und es war immer der gleiche Kram: Einladungen zu Treffen ehemaliger Kommilito nen, Kataloge für Künstlerbedarf und Angebote von Kreditkar tenfirmen, unwichtiges Zeugs im Grunde, doch diesmal weckte ein Briefumschlag sein Interesse. Er musste das Kuvert nicht erst öffnen; er konnte fühlen, was drin war: ein Kreditkarte. Eine VisaCard vom College William & Mary, wie sich her ausstellte. Er hatte die Kreditkarte seit seiner Studentenzeit und eigentlich längst kündigen wollen. Doch jetzt war er froh, dass sie automatisch verlängert worden war. Sie war bis 2004 gültig und der Kreditrahmen betrug 10 000 Dollar – ein Geschenk des Himmels. Laut beiliegendem Informationsblatt musste die Karte vom Privattelefon aus – in diesem Fall offenbar das Telefon seiner Eltern – aktiviert werden. Also ging er in das frühere Zimmer seines Bruders Kev und wählte vom dortigen Apparat die ent sprechenden Nummern. Mit dem Hörer am Ohr sah er den Rest seiner Post durch. Ein Stoß Postkarten von Galerien, die ihre Adresslisten immer noch nicht aktualisiert hatten, einschließ lich der Neon Gallery: Vorne drauf war ein Foto von Lautwald. Auf der Rückseite stand: FREITAG
5. OKTOBER: 19 UHR
ARBEITEN VON DANIEL CRAY
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Die Ankündigung sah toll aus – Lavinia hatte ihre Sache gut gemacht. Aber du meine Scheiße! Die Vernissage! Womit soll te er die Ausstellung bestücken? Schließlich meldete sich eine Stimme am anderen Ende der Leitung, und er aktivierte die Kreditkarte. Er legte auf und ging zurück in sein Zimmer. Die Kreditkarte erinnerte ihn an Geld, und Geld erinnerte ihn an – Den Wandschrank in seinem Zimmer. Genauer gesagt, an das Geheimversteck, wo seine Brüder und er jeden Cent gehortet hatten, den sie erübrigen konnten. Ihr Ziel: ein Rennpferd zu kaufen, genauer gesagt: einen Araber, genauer gesagt: einen Hengst, genauer gesagt: einen schwarzen Hengst. Kevin, der sich schnell für Dinge begeistern konnte, hatte die Idee gehabt, aber das spielte keine Rolle. Alle drei verfolgten sie den Traum über Monate hinweg. In der ersten Zeit sparten sie sogar bis zu fünfzehn Dollar in der Woche zusammen – durch Rasenmähen oder, so die Legende, durch das Suchen in den Ritzen der Couch und der Autositze nach verlorenem Kleingeld –, und Danny tauschte die Münzen aus Platzspar gründen regelmäßig in Scheine um. Erst jede Woche, dann jede zweite Woche, dann einmal im Monat und schließlich alle zwei Monate. Kev rechnete irgendwann aus, dass sie rund dreihundert Jah re brauchen würden, bis sie das Geld für ihren Yankee Pasha (sie hatten sich nämlich schon einen Namen ausgedacht) zu sammen hätten. Und so blieb das Geld, wo es war, wartete darauf, dass die drei Brüder sich irgendwann einigten, wofür sie es ausgeben würden. Und dazu war es nie gekommen. Danny kniete sich vor den Wandschrank hin, griff in das Versteck unter der Bodendiele, holte das Geld heraus und brachte es zum Bett, wo er es zählte. Es waren 182 Dollar in 126 Scheinen. Er ging nach unten in die Küche, suchte in der Krimskrams 333
schublade neben dem Herd nach einem Gummiband, das er über das zusammengerollte Bündel Scheine stülpte, und steckte das Geld in die Hosentasche. Dann ging er durchs Haus und überlegte, ob er unten im Ehebett seiner Eltern schlafen sollte, doch als er davor stand, kam es ihm irgendwie nicht richtig vor. Sein eigenes Bett war zwar kurz und schmal, aber das kleine Zimmer unter dem Dach war seine ganze Kindheit und Jugend hindurch immer ein Re fugium gewesen. Jetzt war es genauso. Die Vögel weckten ihn um sechs. Seine Mutter fütterte sie, und wenn sie verreist war, erledigte das ein Mädchen aus der Nachbarschaft gegen Bezahlung. Die Stechpalme vor seinem Fenster klang wie ein ganzer Vogelpark. Er ging nach unten und machte sich eine Tasse Kaffee, setzte sich dann an das Fenster mit Blick in den Garten und kritzelte auf einem Schreibblock herum. Er wollte jemanden anrufen – am liebsten Caleigh –, aber ir gendwen auf jeden Fall. Seine Brüder. Seine Eltern. Nichts da. Das würde sie nur gefährden, und es würde ihm ohnehin nichts bringen – außer Trost. Und so selbstsüchtig war er denn doch nicht. Außerdem war er noch nicht gewappnet für Caleigh, die ungeheuer frostig werden konnte, wenn sie wütend war oder sich schlecht behandelt fühlte. Es war besser – sicherer –, wenn Zebek dachte, ihre Beziehung wäre zu Ende (was sie auch war, wenn nicht noch ein Wunder geschah). Inzwischen war das Blatt Papier voll mit Strichen und Punk ten. Danny überlegte einen Moment, dann schrieb er: 1) Dew 2) Fall Patel Er griff zum Telefon und wählte eine Nummer, die er auswen dig kannte: Fellner Associates und Mamadous Durchwahl. 334
Eine sanfte Stimme meldete sich geistesabwesend: «Bois seau.» «Dew? Ich bin’s –» Klick. Er starrte das Telefon an, baff. Als er die Nummer erneut wählte, sprang die Voice-Mailbox an. Vielleicht ist jemand bei ihm im Büro, dachte Danny und brühte sich eine zweite Tasse Kaffee auf. Er würde Dew später anrufen, zu Hause. Aber wenige Minuten später klingelte das Telefon, und als er abnahm, war Mamadou in der Leitung, außer Atem und drau ßen im Freien. «Hast du sie noch alle?», explodierte Dew. «Bist du noch zu retten?» «Ich hoffe», erwiderte Danny. «Wovon redest du?» «Zuerst arbeitest du auf eigene Faust für einen unserer lukra tivsten Kunden. Fellner ist natürlich stinksauer, aber er kann dir ja nichts, weil der Kunde ja auf dich zugegangen ist – richtig?» «Richtig.» «Und dann bittest du mich – deinen armen afroamerikani schen Freund – ein Dossier über den Typen zusammenzustel len, womit ich mich quasi der Beihilfe schuldig mache.» «Beihilfe zu was?» «Was denn wohl?» «Ich hab keine Ahnung. Ich weiß überhaupt nicht, wovon du sprichst.» «Industriespionage!», bellte Dew. «Was?!» «So nennen die das. Das ist die Anklage, die sie vorberei ten», erklärte Dew. «Du lässt dich von dem Typen engagieren, machst dir die Informationen von Fellner zunutze –» «Ach, Blödsinn –» «Ich muss dich was fragen», sagte Dew. «Nur zu», erwiderte Danny, dem zunehmend mulmig zumute wurde. 335
«Hast du für irgendwen einen Computer abgeholt? In Itali en?» «Ja.» «Und da hast du dich als Cop ausgegeben, nicht wahr?» «Na ja –» «Herrgott, Mann! Du wanderst in den Knast!» «Dew –» «Das ist kein Blödsinn – dieser Zebek hat uns engagiert, dich ausfindig zu machen!» «Reg dich ab», erwiderte Danny. «Von wegen: Du bist unser größter Fall! Ich telefoniere ge rade mit unserem größten Fall!» Danny holte tief Luft und hoffte, dass Mamadou die Gele genheit nutzen würde, das Gleiche zu tun. «Wer leitet den Fall?» «Pisarcik.» Ach du Schande! Pisarcik war bis vor einem Jahr Leiter der operativen Abteilung beim CIA gewesen. «An deiner Stelle», sagte Dew, «würde ich mich von bekann ten Lieblingsorten fern halten. Um ehrlich zu sein, würde ich mich abseilen … nach Yokohama. Oder in die Bering-Straße oder so.» «Heißt das –» «Das heißt, deine Wohnung wird rund um die Uhr observiert, sieben Tage die Woche.» Er ließ seine Worte wirken. «Weißt du, wie viel so was kostet? Drei Teams à zwei Mann?» Danny stöhnte. «Wo noch?» «Überall! Pisarcik hat eine Wandkarte mit Nadeln drin: die Galerie, dein Atelier, das Haus deiner Eltern, Caleighs Büro –» «Das Haus meiner Eltern?» «Ich sag doch – überall. Pisarcik lässt sogar das Cottage dei ner Eltern in Maine überwachen, von jemandem, der in der Gegend wohnt. Also da kannst du auch nicht hin. Aber nur deine Wohnung wird ständig beobachtet. Alles andere mobil. 336
Turnusmäßig.» Danny seufzte. Er hörte, wie der Verkehr an seinem Freund vorbeirauschte. Schließlich sagte er: «Danke. Ich bin dir was schuldig.» «Noch was!» «Was denn?», fragte Danny. «Zebeks Firma.» «Sistema –» «Nicht die», fiel Mamadou ihm ins Wort. «Die an der West küste! VSS.» «Was ist damit?» «Die macht in Nanotechnologie.» «Soll heißen?», fragte Danny. «Großes mit kleinen Dingen. Verstehst du?» «Nein.» «Nanotechnik. VSS – Very Small Systems! Das ist eine von diesen viel versprechenden Zukunftstechnologien. Sie wird alles verändern.» «Und wie stellt sie das an?», fragte Danny. «Keine Ahnung. Aber entscheidend ist: Sie ist klein. Sehr klein. Very Small, capito? Da geht es beispielsweise um Robo ter in Molekülgröße. Diese Nanobots, so nennt man die, sind wie … Proteine. Und das ist Zebeks Hauptinteresse. Offiziell ist VSS eine Filiale des italienischen Unternehmens, aber glaub mir, da wackelt der Schwanz mit dem Hund, verstehst du?» Danny wollte gerade Ja sagen, als die Türklingel in seinem Kopf losgellte – und sein Herz einen Satz machte. «Da ist je mand an der Tür», flüsterte er. «Mach bloß nicht auf.» Danny überprüfte, ob man ihn sehen konnte. Nein. Und es brannte keine Lampe im Haus. Es war Vormittag, und die Kü che war der hellste Raum. Mit dem Hörer am Ohr ging er ins Esszimmer, das zur Straße hin lag und dessen Fensterläden geschlossen waren. Durch 337
einen Ritz sah Danny zwei Männer in Anzügen vor der Haustür stehen. Es klingelte ein zweites Mal. «Zwei Typen in Anzügen», flüsterte Danny. «Von uns?» «Nein.» «Dann wahrscheinlich freie Mitarbeiter.» «Möglich», pflichtete Danny bei. Einer der Männer presste die Nase an die Scheibe neben der Tür, schirmte die Augen mit der Hand ab und spähte ins Haus. Gleich darauf sagte er etwas zu dem zweiten Mann, und sie gingen zu ihrem Wagen zurück, einem grauen Camry, der auf der anderen Straßenseite parkte. Danny wartete, dass sie wei terfuhren, aber … das taten sie nicht. «Jetzt hocken sie im Wa gen», sagte er. «Die bleiben nicht lange», sagte Dew. «Die haben eine ganze Liste mit Stellen, die sie überprüfen müssen. In einer halben Stunde sind sie weg.» «Und dann?» Dew lachte. «Kopf einziehen und abhauen. Fremdsprache lernen.» Er holte einen alten Rucksack aus dem Keller, nahm aus der Kommode in seinem Zimmer Sachen zum Wechseln und pack te noch ein paar T-Shirts und Boxer-Shorts, eine Zahnbürste und Rasierzeug hinzu. Dann vergewisserte er sich, dass er sei nen Pass, die neue Kreditkarte und das Bündel Geldscheine eingesteckt hatte. Schließlich nahm er sich eine Zeitschrift, setzte sich hin und wartete. Dew kannte sich offenbar aus. Nach fünfundzwanzig Minuten sprang der Camry an und fuhr los. Danny wartete weitere zehn Minuten ab und gelangte dann durch eine alte Garagentür, die von einem dichten Kamelienbusch überwuchert war, nach drau ßen. Als er sich durch das Gestrüpp zwängte, musste er daran denken, wie oft er früher als Kind diesen Weg benutzt hatte. Er 338
kam sich ein wenig albern vor, als er durch den Nachbargarten schlich. Bis ihm Remy Barzan einfiel. Inzaghi. Chris Terio. Es waren nur wenige Minuten zu Fuß bis zur U-Bahn-Station an der King Street, wo er sich am Automaten eine Fahrkarte zog. Er stieg in einen Zug nach Rosslyn, eine scheußliche An sammlung von Hochhäusern gegenüber von Georgetown, auf der Virginia-Seite des Potomac. Er dachte über Nanotechnologie nach. Im Fernsehen hatte er mal einen Bericht darüber gesehen, aber das meiste wieder vergessen. Soweit er sich erinnerte, hatte Mamadou Recht: Es ging um die Entwicklung von Maschinen, die auf molekularer Ebene arbeiten konnten. Anstatt Minen in einen Berg zu gra ben, um Diamanten zu fördern, baute man die Diamanten Atom für Atom auf – wie die Natur es tat. Theoretisch ließ sich alles herstellen – ob nun Diamanten oder eine perfekte Rose –, und zwar aus so gewöhnlichen Materialien wie Meeresalgen, Luft und Sand. Und nicht nur die Produktionsmöglichkeiten machten die Nanotechnologie so viel versprechend, sondern auch ihre sonstigen Verheißungen: Durch die Arbeit auf mole kularer Ebene könnte man eines Tages in der Lage sein, das Ozonloch zu flicken, Schadstoffe im Trinkwasser unschädlich zu machen und vieles mehr. Der Zug rollte dahin: Crystal City, Pentagon City, Pentagon. Danny dachte an das Bücherregal in Chris Terios Arbeitszim mer. Die einzelnen Titel hatte Danny vergessen, aber in einem war der Begriff «Proteincomputer» vorgekommen und in ei nem anderen – in mindestens einem anderen – das Wort Nano technologie. Terio war also an der Sache dran gewesen, hatte genug ge wusst, um mit Patel Kontakt aufzunehmen. Und wer war Patel? Der Leiter der Entwicklungsabteilung von Very Small Sy stems. Und was war VSS? Laut Remy Barzan war die Firma Zebeks Ein und Alles. Und sie verschlang Unsummen.
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Danny fuhr mit der Rolltreppe hinauf nach Rosslyn und trat in das hitzeflimmernde Tageslicht, umgeben von Häusern mit zwanzig und dreißig Stockwerken. Er hatte Rosslyn schon im mer irgendwie fremdartig gefunden; es war ganz plötzlich da, stieg aus dem Nichts empor, wie ein architektonisches Äquiva lent von Ayer’s Rock in Australien. Die silbernen Türme des Zeitungskonzerns Gannett schimmerten in der Sonne, als Dan ny über die Key Bridge nach Georgetown ging. In sicherer Entfernung zum Geschäftsviertel der Stadt war der Campus der Georgetown University um einen altmodi schen, viereckigen Gebäudekomplex angeordnet. Als Danny die Unibibliothek betrat, umhüllte ihn wohltuende arktische Luft. Durch seine Arbeit für Fellner wusste er, dass die meisten Universitäten die Benutzung ihrer Computer und sonstigen Recherchehilfsmittel großzügig handhabten. Sie gingen einfach davon aus, dass man Student war oder einem Fachbereich an gehörte. Danny setzte sich an einen Computer, wählte sich in die Da tenbank Lexis/Nexis ein und suchte nach Zeitungs- und Zeit schriftenartikeln, in denen Jason Patel erwähnt wurde. Im Gegensatz zu Chris Terios «Selbstmord» war Patels Tod ein brutaler und ungelöster Mord, über den die Medien aus führlich berichtet hatten. In Minutenschnelle hatte Danny 126 Treffer – Transkripte von MSNBC-Nachrichten, Zeitungsbe richte sowie Nachrufe im San Jose Mercury und in anderen, kleineren Zeitungen. Danny suchte vor allem nach Namen. Freunde, Angehörige, Kollegen – jeder, der Patel gekannt hatte, und vielleicht bereit war, über ihn zu reden. Er druckte ein paar Artikel aus und klickte NEUE SUCHE an. Er wollte sehen, wie viel im Netz über «Very Small Systems oder VSS oder V.S.S.» zu finden war. Nicht viel, wie sich her ausstellte: nur siebenundzwanzig Treffer – fast nichts, wenn 340
man bedachte, dass Nexis sogar ganz unbekannte technische und wirtschaftliche Fachzeitschriften enthielt. Danny sah sich jede Seite an und stellte fest, dass die meisten sich auf eine einzige Fachtagung über Protein-Engineering bezogen, die drei Jahre zuvor in Philadelphia stattgefunden hatte. VSS war einer der Sponsoren gewesen, was die Veran stalter der Tagung in der Presseverlautbarung erwähnt hatten. Die Suche nach «Zerevan Zebek» ergab keine Ergebnisse. Danny fragte sich, wie jemand, der so reich war, so unauffällig leben konnte. Schließlich verließ er Nexis und suchte bei Google nach Ar tikeln über Nanotechnologie. Er erhielt fast eine halbe Million Treffer. Über eine Stunde lang sprang er von einem zum näch sten und druckte sich schließlich ein Dutzend Artikel aus. Dann ordnete er seine Ausbeute zu einem ordentlichen Stapel und ging nach draußen, um irgendwo etwas zu essen. Auf der M-Street kaufte er sich für seine Ausdrucke einen Pappordner, überquerte dann die Straße und ging in eine Pizzeria, wo er sich ganz hinten, weit weg von den Fenstern, an einen Tisch setzte. Während er auf die Pizza wartete, überflog er ein paar von den Artikeln. Eine Stunde später hatte er gegessen und trank seine zweite Tasse Kaffee. Der offizielle Nachruf stand im Cupertino Cou rier. Patel hatte an der University of California in Berkeley und am California Institute of Technology studiert und seinen Ab schluss in Informatik und Molekularbiologie gemacht. Nach seiner Promotion hatte er am Massachusetts Institute of Tech nology gearbeitet, etliche Aufsätze veröffentlicht und für seine Forschungen in der Mikrosystemtechnik den Sidran-Preis er halten. Zum Zeitpunkt seines Todes war er zweiundvierzig Jahre alt. Er hinterließ eine Schwester, Indira, wohnhaft in Delhi, und einen Lebensgefährten namens Glenn Unger aus Cupertino. In den Artikeln über Patels Tod erwähnten Polizeisprecher 341
vage «viel versprechende Spuren», und der Verdacht, es könne sich um ein «Verbrechen aus Leidenschaft» handeln, wurde rasch begraben, als die grausigen Einzelheiten bekannt wurden, überwiegend durch die schockierten Mitglieder der Gruppe, die den toten Patel zufällig in der Wüste entdeckt hatte. Danny las ein interessantes Interview mit einem Archäolo gen, der die Theorie aufstellte, dass die Art und Weise, wie Patel in der Wüste dem Tod überlassen worden war, an die Bestattungsrituale bestimmter Indianerstämme erinnere. Die Praxis war die so genannte Exkarnation – Tote, die den Vögeln zum Fraß dargeboten wurden. Der Professor ließ sich langat mig darüber aus, dass es sich um ein sehr altes Ritual handelte, das noch heute in Teilen des Nahen Ostens von Sekten prakti ziert werde, und er erwähnte einen Zusammenhang zur Prome theus-Sage. Der Patel-Mord, so der Professor, enthalte darüber hinaus Elemente der christlichen Kreuzigungsmystik. Die Stämme und Sekten, die Exkarnation praktizierten, vollzogen sie als ein Ritual nach dem Tod und legten Begräbnisstätten oder Flächen an, wo die Leichname für die Vögel hingelegt wurden. Patel jedoch war noch am Leben gewesen, als sein Körper von Kakteendornen durchbohrt wurde, und er war noch am Leben gewesen, als man ihn an den kreuzförmigen JoshuaBaum fesselte. Als man ihn kreuzigte.
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Danny ging zurück in der Unibibliothek und suchte im Internet nach billigen Flügen nach San Francisco. Er musste ohnehin weg aus Washington, und Kalifornien bot sich als Ziel gerade zu an, weil er unbedingt mehr über Very Small Systems erfah ren musste. Die Firma war der Schlüssel zu allem. Er wollte mit Patels Freund Glenn Unger sprechen, ihn zu Hause überraschen. Eine Pop-up-Werbung von Hertz erinnerte Danny daran, dass er ohne Auto in Kalifornien aufgeschmissen war. Aber wie sollte er einen Wagen mieten? Er hatte keinen Führerschein mehr. Konnte er es sich leisten, mit dem Taxi zu Glenn Unger zu fahren? Wie weit war es überhaupt vom Flughafen bis Cuperti no? Was war mit San Jose? Gab es dort einen Flughafen? Er machte sich im Internet schlau und musste einsehen, dass er dringend einen Mietwagen brauchte. Er würde zur Zulassungs stelle müssen, um sich einen neuen Führerschein ausstellen zu lassen. Doch er hatte nur eine Stunde Zeit, um den Superschnäpp chenflug zu buchen, den er im Internet aufgetrieben hatte. Als er das Formular schon fast ausgefüllt hatte, überlegte er es sich anders. Er wollte möglichst nicht seine Kreditkarte benutzen. Zebek hatte sehr wahrscheinlich keinen Zugriff auf Kreditkar ten-Transaktionen, aber wetten wollte Danny nicht darauf. Er musste seine Reiseroute ja nicht publik machen, wenn es sich vermeiden ließ. Mit dem Bündel Geldscheine würde er zwar nicht weit kommen, aber er konnte immerhin mit der Kredit karte zu einer Bank gehen und Bares abheben. Zum Schluss rief er die Website des Straßenverkehrsamtes von Virginia auf. Sein Oldsmobile war noch immer in Virginia 343
zugelassen, über die Adresse seiner Eltern, weil die Versiche rung günstiger war. Der Website entnahm Danny, dass die nächste Zulassungsstelle in Rosslyn war, auf der anderen Seite des Flusses. Er verließ die Bibliothek, ging durch eine Hitze wand zur Riggs-Bank an der Wisconsin Avenue Ecke M-Street und kam wenige Minuten später mit zweitausendfünfhundert Dollar wieder heraus, so viel, wie er in bar abheben konnte. Nach einem zwanzigminütigen Fußweg zog er sich im Stra ßenverkehrsamt eine Nummer und wartete. Als er schließlich an die Reihe kam, erklärte er der Frau am Schalter, dass er sei ne Brieftasche beim Segeln verloren habe. «Wie haben Sie denn das angestellt?», fragte sie. «Beim Ausreiten.» «Beim Ausreiten?» Sie verzog das Gesicht. «Sagten Sie nicht, beim Segeln?» «Man spricht von Ausreiten, wenn man sich über den Rand des Bootes hinauslehnt», erläuterte er, «damit man schneller fährt.» «Warum nehmen Sie dann nicht gleich ein Motorboot?», fragte sie schmunzelnd. «Weil es dann kein Segeln mehr wäre», erwiderte er. Mit einem gutmütigen Kopfschütteln tippte sie etwas in ihren Computer und schickte ihn dann weiter. Kurz darauf saß er auf einem Hocker vor einer schielenden Frau mit krallenartigen Fingernägeln. «Sagen Sie ‹cheese›», wies sie ihn an. Er lächelte schwach. Sie wartete, ein Auge auf ihn, das andere auf den Nächsten in der Schlange gerichtet. Zehn Sekunden später sagte er: «Cheese.» Sie lächelte, und die Kamera blitzte. Schließlich wurde er zum Ausgabeschalter zitiert, wo ein eingeschweißter Führerschein auf ihn wartete. Er blickte auf das Foto. Ach, du Schreck! Er hatte den wahnsinnigen, halb weggetretenen Blick den man von Verbrecherfotos kennt – die 344
Augen weder offen, noch geschlossen, mitten im Blinzeln ein gefangen, der Mund kurz vor einem Lächeln erstarrt, aber schon weit genug geöffnet, um die silberne Zahnkappe sehen zu können. Und das Ganze vor einem leuchtend blauen Hinter grund. Aber immerhin hatte er wieder Haare – ansatzweise. Der Flug ging über Salt Lake City. Danny hatte einen Platz fast ganz hinten in der Maschine, zwischen zwei älteren Golfspie lern, Freunde, die im schottischen Hochland gewesen waren. Kaum waren sie in der Luft, ließ einer von ihnen sich von der Stewardess zwei Plastikgläser bringen, die er aus einem silber nen Flachmann mit Single-Malt-Whisky füllte. «Spielen Sie Golf?», fragte einer der beiden. Danny schüttelte den Kopf. «Nein, ich –» «Na, warten Sie’s ab», sagte der zweite Mann. «Irgendwann fängt jeder damit an.» Sie erzählten von ihrer Reise, wobei Dannys Kopf sich hin und her bewegte, als würde er bei einem Tennismatch zuschau en. Schließlich schliefen beide ein, so dass Danny sich den Artikeln widmen konnte, die er in der Bibliothek ausgedruckt hatte. Es war eine eher willkürliche Auswahl. Er hatte einfach alles angeklickt, was sich interessant anhörte, mit dem Ergebnis, dass er eine kunterbunte Mischung hatte. Manches war das reinste Fachchinesisch, während ihm anderes einfach zu abwe gig und an den Haaren herbeigezogen erschien. Doch als das Flugzeug die Rocky Mountains überflog, konnte er sich schon einigermaßen ein Bild von der Nanotechnik und ihren Verhei ßungen machen. Der Pionier auf dem Gebiet war ein Mann namens Eric Drex ler, der in den achtziger Jahren ein Buch mit dem Titel Engines of Creation – Schöpfungsmaschinen – geschrieben hatte. Drex ler, Student und späterer Mitarbeiter am Massachusetts Institu 345
te of Technology, galt bei den einen als hellsichtiger Visionär, als spinnerter Träumer bei den anderen. Erstere waren über zeugt, dass Drexler den Schlüssel zum Paradies gefunden habe, Letztere hielten seine Hypothesen für völlig unrealistisch. Wenn Danny es richtig verstand, ging es im Grunde darum, Materie mit atomarer Präzision neu zu erschaffen. ProteinDesigner sollten gemeinsam mit Informatikern Roboter pro grammieren und bauen, die sich selbst vermehren konnten und nicht größer als Moleküle waren. Durch das Anordnen einzel ner Atome könnten diese Nanobots oder «Assembler» alles Mögliche herstellen, ob nun hauchdünne Diamantbeschichtun gen oder submikroskopische Sprays, mit denen sich im Hand umdrehen Wunden heilen ließen. Andere Nanobots würden im Körper Krebszellen zerstören oder Arterienwände von Kalk befreien, wieder andere darauf programmiert werden, Schad stoffe in der Luft und im Wasser zu vernichten. Die Folge wür de eine Welt des absoluten Überflusses sein. Armut würde der Vergangenheit angehören. Die Umwelt wäre sauber, und Mensch und Tier würden länger leben. Nanobots, dachte Danny. Wie Roboter, aber doch keine Ro boter – weil sie aus DNA bestehen würden. Sie wären also le bendig. Kleine Frankensteinmonster. Seine beiden Sitznachbarn stiegen beim Zwischenstopp in Sah Lake City aus, und Danny begann, während er auf den Weiter flug wartete, einen Artikel über etwas zu lesen, das sich «nütz licher Nebel» nannte. Es handelte sich um eine Art Urstoff, ein Netzwerk aus Assemblern, das in der Lage war, für alle alles zu sein, im wahrsten Sinne des Wortes. Der «nützliche Nebel» konnte zum Beispiel so programmiert werden, dass er die Form und Eigenschaften eines Hauses annahm, er konnte auf Kom mando nicht nur seine Textur und Farbe verändern, sondern auch seinen Aggregatzustand. Das heißt, er konnte stabil sein wie eine Ziegelwand oder durchlässig wie Luft. Mit einer 346
Handbewegung könnten die Bewohner eines solchen Hauses durch Wände gehen und je nach Bedarf aus dem Fußboden Möbelstücke hervorziehen, in jeder beliebigen Form und aus ganz gleich welchem Material. Kurz, die Nanotechnik ver sprach (oder drohte), eine Welt zu erzeugen, in der schier alles möglich war – so flexibel, dass selbst die alltäglichsten Hand lungen nicht mehr von Zauberei zu unterscheiden wären. Sobald die Maschine wieder in der Luft war, bestellte Danny sich einen Gin Tonic und las weiter. Aber die Lektüre war kei ne einfache Kost. Manche von den Artikeln waren über fünfzig Seiten lang und zum Teil völlig unverständlich für ihn, denn mit Begriffen wie «Petaflops», «Extropianer» und «Knuths Pfeilnotation» konnte er nicht das Geringste anfangen. Er ver fügte einfach nicht über das erforderliche Hintergrundwissen. Doch beim Landeanflug auf San Francisco war er immerhin um einiges schlauer geworden: Nanotechnologie, so wusste er jetzt, war ein wichtiges, umstrittenes und vor allen Dingen noch größtenteils theoretisches Gebiet. Die Verheißungen wa ren groß, so dass Unsummen in die Forschung gesteckt wur den, und zu den Geldgebern gehörten namhafte Firmen wie Hewlett-Packard, IBM und dergleichen. Die Clinton-Regierung hatte die Nanotechnik für so viel versprechend gehalten, dass sie die Fördermittel auf eine halbe Milliarde Dollar aufstockte. Die Nanotechnik könnte sich auf die Herstellung von praktisch allen, vom Menschen geschaffenen Dingen auswirken – von Automobilen, Reifen und Computern bis hin zu Medikamenten und Gewebeersatz – und die Erfindung von Dingen ermögli chen, die heute noch nicht vorstellbar waren … Die Nanotech nik könnte für die Gesundheit, den Wohlstand und die Sicher heit der Weltbevölkerung mindestens ebenso bedeutsam sein wie Antibiotika, der integrierte Schaltkreis und künstliche Po lymere. Und das wollte was heißen. Anscheinend ging man überein stimmend davon aus, dass die meisten Anwendungen noch 347
mindestens zehn Jahre auf sich warten lassen würden. Gewisse Neuerungen (wie Impfstoffe und dergleichen) waren mögli cherweise schneller realisierbar, und der unlängst gebaute Na notransistor war ein Durchbruch gewesen. Für die Mikroelek tronik bedeutete das nämlich, dass es möglich wurde, unvor stellbar kleine integrierte Schaltkreise herzustellen, die bei Zimmertemperatur funktionieren und nicht so empfindlich auf Staub und Kontamination reagieren würden wie Silikon und andere Materialien. Bislang jedoch muteten die bedeutsamsten Fortschritte aller dings wie Spielereien an. Ein Wissenschaftler hatte eine Nano gitarre gebaut, ein anderer eine so kleine Pinzette fabriziert, dass sich damit einzelne Moleküle aufnehmen ließen. Ein Mo lekularschalter und ein «Quantenpferch» waren entstanden. Diese bescheidenen Erfolge hatten geniale Wissenschaftler teams ungeheure Anstrengungen gekostet. Viele Fachleute glaubten nach wie vor, dass die technischen Probleme, As sembler mit funktionstüchtigen «Armen» zu bauen die auf atomarer Ebene Materie manipulieren konnten, nicht zu lösen waren. Der wichtigste Einwand der Anti-Drexlerianer war der, dass die Mittel, mit denen die Nanotechnik arbeiten sollte, haupt sächlich von Informatikern entworfen wurden, aber die eigent liche Umsetzung überließen sie den Biochemikern, Mikrobio logen und Molekulartechnologen – die oftmals keinen Schim mer hatten, wie sie diese Hilfsmittel herstellen sollten. So herrschte zum Beispiel die Meinung vor, dass die Rohma terialien für die Assembler Luft, Wasser und Sand sein sollten. Diese Materialien sollten auf Molekularebene zerlegt und je nach Spezifizierung wieder neu zusammenfügt werden. Aber woher bekamen die Assembler ihre Energie? Von der Sonne? Vielleicht. Aber selbst wenn es mit Sonnenenergie möglich wäre, das Auseinandernehmen und Zusammensetzen von Mo lekülen würde auf jeden Fall Wärme erzeugen – und wahr 348
scheinlich sehr viel. Was sollte damit geschehen? Während Visionäre niedliche Karikaturen von Wesen mit Nanoröhren als Armen ersonnen, die imstande waren, Moleku larketten zu spalten und zu verschmelzen, fragten sich Skepti ker, wie Werkzeuge hergestellt werden sollten, die so klein waren, dass sich damit einzelne Atome manipulieren ließen. Und was war mit den «Armen» an den Assemblern? Wie soll ten sie einzelne Atome «halten» können, so dass sie planmäßig wieder zusammengesetzt werden könnten? Auf den Vorschlag, chemische Ketten zu verwenden, damit die Fragmente «haften» blieben, erwiderten Skeptiker, solche Ketten wären oft sehr stark. Wie sollten die Assembler dazu gebracht werden, die Atome oder Fragmente, die sie hielten, auch wieder loszulas sen? Auf manche dieser Fragen würde es Antworten geben. Viel leicht auf alle. Aber es würde eine Weile dauern – vielleicht eine ganze Weile. Also warum, so fragte Danny sich, mussten jetzt Menschen dafür sterben? Um kurz nach acht landete die Maschine in San Francisco. Ein Shuttle-Bus brachte Danny zur Mietwagenfirma, wo ein weißer Prism für ihn bereit stand. Er wollte bar bezahlen, aber aus versicherungstechnischen Gründen musste er seine Kreditkar tennummer in den Mietvertrag eintragen, sonst hätte er den Wagen nicht bekommen. Er sagte sich, es sei schließlich ein Auto, ein bewegliches Ziel. Und obwohl die Gültigkeit der Karte überprüft wurde, würde ja keine Transaktion stattfinden. Wenn er Glück hatte, würde der Betrag erst verbucht, wenn er den Wagen zurückgab. Er unterschrieb den Vertrag. Gut eine Stunde lang suchte er nach dem richtigen Weg und als er ihn schließlich fand, war es zu spät geworden, um noch nach Cupertino zu fahren. Glenn Unger wäre bestimmt nicht begeistert, wenn Danny um elf oder halb zwölf bei ihm vor der Haustür stand. Er kam an einem Motel vorbei, wendete kurz 349
entschlossen und nahm sich ein Zimmer. Eine halbe Stunde später schlief er tief und fest, hatte vor Müdigkeit nicht einmal die Nachttischlampe ausgemacht. Er hatte gedacht, er würde früh wach werden, weil sein Körper mittlerweile überhaupt nicht mehr wusste, in welcher Zeitzone er gerade war, doch er schlief vierzehn Stunden durch. Er früh stückte trotzdem in aller Ruhe und las dabei einen Artikel in einer Zeitschrift, die er aus dem Flugzeug mitgenommen hatte. Er hatte die Zeitschrift, eine Ausgabe des National Geo graphic Traveler, vor sich in der Sitztasche entdeckt und sie herausgenommen, um sich eine Pause von seinem Nanotech nik-Studium zu gönnen. Beim Durchblättern stieß er auf einen Artikel über die Osterinsel. Und deshalb hatte er das Magazin mitgenommen. Als er sich die Fotos anschaute, sah er die be rühmten Steinköpfe zum ersten Mal nicht als Relikte einer ge heimnisvollen Kultur, sondern als Skulpturen. Und als Skulptu ren interessierten sie ihn. Die Geschichte der Osterinsel war wie eine Fabel. Die ersten polynesischen Siedler waren zufällig auf das Paradies gesto ßen. Die Insel war voller Naturreichtümer – Wasser, Holz, Fi sche, gewaltige Vogelscharen –, so dass die Bevölkerung sich rasch vermehrte. Wie die komplizierten hieroglyphischen In schriften und die unzähligen gewaltigen Steinfiguren beweisen, war die Kultur der Insulaner hoch entwickelt. Nach Ansicht von Experten wäre es selbst heutzutage schwierig, das Gestein für die riesigen Figuren zu gewinnen, die Statuen zu transpor tieren und aufzustellen. Die Techniken, mit denen die Inselbe wohner diese Glanzleistung vollbracht haben, waren noch heu te strittig. Nach tausend Jahren war die üppige Natur jedoch zerstört und die Osterinsel ein ökologisches Desaster. Die Wälder wa ren komplett abgeholzt, und somit konnten die Inselbewohner sich keine Boote mehr für die Flucht oder zum Fischen bauen. Auch die Pflanzen waren verschwunden, wahrscheinlich ver 350
tilgt. Ohne Bäume, die für Feuchtigkeit sorgten, trockneten die Quellen aus, die Vogelschwärme – die nirgendwo mehr nisten konnten und auch keine Nahrung und kein Wasser fanden – zogen ab und kamen nie wieder. Die Bewohner spalteten sich in feindliche Gruppen, die sich gegenseitig bekämpften. Als die Insel 1720 am Ostersonntag von einem Holländer «entdeckt» wurde, aßen sich die Insulaner gegenseitig auf. Kannibalismus war die Hauptquelle für Protein geworden. Allerliebst, dachte Danny, froh, dass er Vegetarier war. Es war schon kurz vor Mittag als er eine letzte Tasse Kaffee trank und sich auf den Weg nach Cupertino machte. Nach einigen Meilen hatte er eine Idee für eine Installation für die Neon Gallery. Talking Heads, würde er sie nennen. Er würde aus Pappmaché ähnliche Köpfe wie auf der Osterinsel herstellen, aber sie würden … Fernsehprominente darstellen. Jay Leno. David Letterman. Oprah Winfrey. Moderne Ikonen. Die meisten Steinköpfe auf der Osterinsel waren auf Plattfor men errichtet, die anu genannt wurden und in denen die Insu laner rituelle Objekte platziert hatten. Für seine Installation könnte Danny offene Plattformen bauen – ein Holzgerüst – und die Köpfe oben drauf stellen. In dem Gerüst selbst könnten … Fernsehapparate stehen. Laufende Fernseher … die Nachrich tensendungen oder Talksshows oder MSNBC zeigen würden. Die etwas verschwommene Logik daran gefiel ihm. Er wuss te nicht genau, was es eigentlich bedeutete, aber egal. Er stellte das Radio an und ließ seinen Gedanken weiter freien Lauf, während er Richtung Cupertino fuhr. Patels Haus – das jetzt Glenn Unger gehörte – war ein tadellos renovierter Bungalow, der in dieser Wohngegend bestimmt eine Million Dollar wert war. Die wunderschöne Eichentür, die von rautenförmigen Seiten fenstern flankiert wurde, war abgebeizt worden, so dass das natürliche Eichenholz zu sehen war – was den schwarzen Kranz 351
in der Mitte stärker zur Geltung brachte. Danny hatte noch nie einen Trauerkranz gesehen, und es lief ihm ein Schauer über den Rücken. Das Ding war tatsächlich aus Federn, aus schwarzen, gekringelten Federn, die so glänzend waren, dass sie beinahe schillerten. Danny verzog das Gesicht, als er den Messingklop fer ergriff, der von dem Kranz umgeben wurde. Kaum hatte seine Hand das Metall berührt, da wurde die Tür auch schon aufgerissen. Vor Schreck fuhr Danny zusammen. «Ja bitte?» Der Mann in der Tür war über vierzig und körperlich in TopForm, wie nicht zu übersehen war, da er nicht mehr als eine Jogging-Shorts trug. Zumindest an Textilien, ansonsten trug er eine Lesebrille und Badelatschen. «Kann ich Ihnen helfen?» Danny tauchte nicht gern einfach so vor fremden Haustüren auf, aber mitunter blieb einem Detektiv nichts anderes übrig, weil manche Leute einfach nicht ans Telefon gingen. Und falls doch, waren sie nicht immer gewillt, sich mit dem Detektiv zu treffen. Als Danny zum ersten Mal einen widerwilligen Infor manten unaufgefordert zu Hause aufsuchen sollte, hatte er pro testiert: «Und was soll ich dann sagen? Ich kenn den Typen ja nicht mal.» «Na und?», hatte sein Boss erwidert. «Erzählen sie ihm von mir aus, Sie wären von den Zeugen Jehovas, und drehen Sie ihm einen Wachturm an. Egal was. Tun Sie’s einfach.» Und das hatte er getan. Und sich gar nicht mal so schlecht dabei angestellt. «Mr. Unger?» Der Mann kniff die Augen zusammen. «Jaaa?» «Mein Name ist Danny Cray, und … ich würde gern mit Ih nen über Ihren Freund sprechen. Mr. Patel.» Ein verärgertes Seufzen. «Ach, Herrgott noch mal. Sind Sie Reporter oder was?» «Nein –» «Weil ich nämlich kein Interesse an Publicity habe.» 352
«Das verstehe ich, aber –» «Schön. Dann verstehen Sie sicherlich auch, dass ich jetzt die Tür schließe. Auf Wiedersehen!» Danny hatte noch bei niemandem einen Fuß in die Tür ge steckt, aber diesmal tat er es. «Ich komme von weit her», sagte er. Unger blickte auf den zudringlichen Fuß, schaute dann hoch. «Ich darf doch wohl bitten.» «Tausende von Meilen.» «Schämen Sie sich eigentlich nicht, so was zu machen?» Danny zuckte die Achseln, ließ den Fuß aber, wo er war. «Ich glaube, ich weiß, warum Mr. Patel ermordet wurde.» Unger runzelte die Stirn, legte den Kopf schief und musterte Danny von oben bis unten. «Soll das ein Witz sein? Jeder weiß, warum Jason ermordet wurde.» Danny war überrascht. «Ernsthaft?» «Klar.» Danny blinzelte. «Er wurde von irgendeinem verrückten Schwulenhasser um gebracht. Oder einer ganzen Bande. So was kommt immer noch vor. Also, wenn Sie Informationen haben –» «Ich glaube das nicht.» Unger bedachte ihn mit einem skeptischen Blick. «Wie bit te?» «Ich glaube nicht, dass seine Ermordung irgendwas mit sei ner sexuellen Orientierung zu tun hatte.» Der Mann vor ihm zauderte, die Unentschlossenheit stand ihm ins Gesicht geschrieben. «Wenn Sie mich reinlegen wollen …» «Ganz bestimmt nicht», erwiderte Danny. Mit einem Seufzer trat Unger zurück und hielt die Tür weit auf. «Also schön», sagte er, «dann können Sie auch herein kommen.»
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Die Einrichtung des Bungalow mutete an wie aus dem Katalog. Alles war im selben Stil, jeder Bilderrahmen, jeder Kunstge genstand. Danny hätte sich nicht gewundert, wenn überall noch die Preisschilder dran gewesen wären. Unger führte ihn von der großen Diele durchs Wohnzimmer, durch eine Stilküche und schließlich auf eine kleine Terrasse. Sie war genauso perfekt wie das Haus selbst, mit einem klei nen Springbrunnen, der in der Ecke plätscherte. Auf einem schmiedeeisernen Tisch standen ein Krug Eistee und ein Teller mit hauchdünnen Ingwerplätzchen. Unger deutete auf einen Stuhl, und die beiden Männer nahmen einander gegenüber Platz. Mit einem Plastikstäbchen in Form einer Giraffe mit sehr langem Hals rührte Unger den Inhalt des Kruges um und blick te auf. «Eistee?» Danny nickte. «Danke, gern.» Das Schwerste – ins Haus zu kommen – war geschafft. Jetzt musste Danny den trauernden Unger dazu bringen, sich einem Wildfremden anzuvertrauen. Der beste Methode war die, so Dannys Erfahrung, mit einem Geständnis anzufangen. Also räusperte er sich. «Ich glaube, ich bin – indirekt – für Mr. Patels Tod mitverantwortlich.» Ein scharfes Luftholen auf der anderen Seite des Tisches und ein alarmierter Blick. «Ich wurde von einem Mann namens Zerevan Zebek enga giert», erklärte Danny, «und ich sollte herausfinden, mit wem ein Uni-Dozent namens Terio Telefonate geführt hatte.» Er nahm einen Schluck Tee. «Zebek sagte, er werde in der Presse durch den Schmutz gezogen», fuhr Danny fort, «und Terio stecke dahinter – Terio und einige andere Leute.» Unger verschränkte die Arme und lehnte sich zurück, einen Ausdruck argwöhnischer Ungeduld im Gesicht. «Um herauszufinden, mit wem Terio telefoniert hatte», sagte Danny, «hab ich mir den Einzelgesprächsnachweis für seinen Anschluss besorgt –» «Wie haben Sie das denn angestellt?» 354
«Für so was gibt es Infobroker», erwiderte Danny. «Und Sie hatten nicht das Gefühl, dass das ein Eingriff in Ja sons Privatsphäre sein könnte?» Danny machte eine bedauernde Geste. «Für einen Detektiv ist das nun mal Routine. So was macht man in derartigen Fäl len.» Unger blieb unbeeindruckt. «So was machen Sie in derarti gen Fällen.» «Stimmt», gab Danny kleinlaut zu. «Weiter.» «Ich hab also herausgefunden, dass Terio mit Ihrem Freund telefoniert hatte – und mit zwei anderen Männern. Einem Wis senschaftler in Oslo. Und einem Journalisten in Istanbul.» Ungers Skepsis machte sich mit einem Schnauben Luft. «Ja son war in seinem Leben weder in Oslo noch in Istanbul.» «Darum geht es auch nicht», sagte Danny. «Worum dann?» «Darum, dass alle jetzt tot sind», sagte Danny. «Wer?» «Terio. Der Wissenschaftler in Oslo. Der türkische Journa list. Patel.» Unger nahm einen Schluck Tee. Dann beugte er sich vor und sagte: «Blödsinn.» «Nein», erwiderte Danny. «Sie wollen also sagen, Zebek hat Jason umbringen lassen –» «Richtig.» «Aber Zebek ist der Chef von VSS.» «Richtig», sagte Danny. «Er ist der Chef.» «Und er hat Jason angeblich umbringen lassen, nachdem er ihn von Protein Dynamics abgeworben hat? Ihn förmlich weg gelockt hat mit Prämien und Aktienoptionen?» «Ja.» «Nie im Leben», sagte Jason mit Nachdruck. «Jason war nicht nur arbeitswütig, er war so was wie ein Guru. VSS findet 355
niemals Ersatz für ihn. Sein Verlust ist eine Katastrophe. Das sagt jeder. Er war ein Genie.» «Davon bin ich überzeugt», erwiderte Danny. «Aber irgendwas ist passiert.» «Sie meinen diesen Blödsinn, jemand hätte die Firma in Ver ruf gebracht?» «Nein, das war nur ein Vorwand –» «Was dann?», drängte Unger. Danny seufzte. «Ich weiß es nicht. Ich hatte gehofft, das könnten Sie mir sagen.» Danny schilderte die ganze Geschichte von Anfang an, und er konnte zusehen, wie die Skepsis in Glenn Ungers gut ausse hendem Gesicht verschwand, um erst einem verwirrten und schließlich einem bekümmerten Blick zu weichen. «Ich könnte noch mehr erzählen», sagte Danny. «Aber das ist das Wichtigste.» «Haben Sie die Polizei informiert?», fragte Unger. Danny schüttelte den Kopf. «Ich glaube nicht, dass die hiesi ge Polizei was ausrichten kann. Es geht hier um fünf Morde in vier Ländern. Plus die ‹Kollateralschäden› in der Türkei. Und beweisen kann ich lediglich, dass alle Ermordeten denselben Mann kannten – Terio.» Unger nickte, die Stirn zerfurcht. «Jay war wegen irgendwas besorgt – irgendwas mit der Arbeit. Und er kannte diesen Terio wirklich. Sie haben telefoniert, ein- oder zweimal. Sie haben sich wahrscheinlich auch Mails geschrieben, und ich glaube, einmal haben Sie sich irgendwo auf einem Kongress getrof fen.» Er blickte auf, versuchte, sich zu erinnern, schüttelte dann den Kopf. «Aber …» Er legte eine Hand über die Augen, ver deckte sein Gesicht. Einen langen Augenblick verweilte er so, dann schob er die Hand nach oben über die Stirn und ließ sie auf dem Kopf liegen. Eine ganze Weile saß er so da und die Finger fest gegen die Schädeldecke gedrückt. Schließlich ließ 356
er den Arm sinken und schüttelte den Kopf. «Ich weiß es nicht», sagte er. «Ich weiß es einfach nicht.» Er hatte Tränen in den Augen. «Alles in Ordnung?», fragte Danny. Unger nickte. «Was Sie über Zebek sagen – wenn das stimmt.» Eine Pause. «Es bringt mir Jason nicht wieder – klar. Aber es bestätigt mir in gewisser Weise, dass ich mich nicht in ihm getäuscht habe. Weil die Polizei … weil alle denken, dass wir ständig nach Sexpartnern suchen, wahllos. Aber die Wahr heit ist: Ich muss so verdammt hart arbeiten – ich bin Archi tekt. Und Jason erst, bei ihm war es noch schlimmer. Ich muss te ihn förmlich von der Arbeit nach Hause schleifen. Aber die Polizei … die denken anscheinend, es ist normal, dass jemand wie Jason so ermordet wird. Für sie hängt die ‹Schwulenszene› damit zusammen und basta.» Er hielt inne, holte tief Luft und atmete aus. «Also … bin ich Ihnen was schuldig.» «Aber nicht doch –» «Sagen Sie mir, was ich für Sie tun kann.» Danny überlegte. «Sie könnten mir seinen Computer zeigen.» Unger wiegte den Kopf hin und her. Dann stand er auf und winkte Danny, ihm zu folgen. Sie gingen ins Esszimmer, wo in einem Erker ein alter Eichenschreibtisch stand, darauf ein Flachbildschirm. Unger setzte sich in einen Drehsessel, griff unter den Schreibtisch und schaltete den Computer ein. «Ist er das?», fragte Danny. Der Rechner sah aus wie ein Dell-Computer, und er hätte ein ausgefalleneres Modell erwar tet – obwohl er nicht hätte sagen können, was für eins. «Das ist meiner», erwiderte Unger. «Jay hatte einen Laptop, den er immer dabei hatte, und noch einen im Büro. Und einen Palmtop.» «Wo sind die Geräte?» «Die Polizei hat sie», sagte Unger und lehnte sich zurück. Als der PC hochgefahren war, zeigte das Hintergrundbild Unger und einen anderen Mann, wie sie sich über die Reling 357
eines Kreuzfahrtschiffes lehnten. Der zweite Mann war klein, dunkel und gut aussehend. «Ist das Jay?», fragte Danny. Unger nickte. «Was ist mit seiner Mailbox?», fragte Danny. «Kommen Sie da rein?» «Nein», erwiderte Unger. «Ich bin bei Yahoo, und Jay hat ei ne Firmen-Adresse. Die Mailbox ist durch eine Firewall und so Zeugs gesichert.» «Kennen Sie sein Passwort?» Unger schnaubte. «Das war kein Wort. Es war ein Sammel surium von Buchstaben und Ziffern und weiß der Teufel was noch alles. Es waren eine ganze Reihe, und überhaupt, aus Si cherheitsgründen mussten alle Mitarbeiter jeden Monat ihr Passwort ändern.» Danny überlegte. «Was ist mit VSS?», fragte er. «Könnten Sie mich da reinschleusen?» «Reinschleusen?» «Ja. Ich möchte mit irgendeinem Mitarbeiter reden. Rausfin den, was da so läuft. Woran sie arbeiten –» Unger drehte die Handflächen nach oben und schüttelte den Kopf. «Das ist unmöglich», sagte er. «Ich kann Sie hinfahren, aber Sie kommen nicht mal am Empfang vorbei. Das ist eine Festung.» «Mhm.» «Aber ich kann Ihnen sagen, woran sie arbeiten», sagte Un ger. «Sie entwickeln ein Mittel gegen Krebs.» Danny blickte skeptisch. «Im Ernst?» Komisch, dachte er, das hätte ich von Zebek nicht erwartet … «Ja, im Ernst. Zuerst Brustkrebs. Dann andere Tumorarten.» Er machte eine ausladende Geste. «Das wird ein Riesending.» «Brustkrebs», wiederholte Danny. «Deshalb hat Jason bei Protein Dynamics gekündigt. Er woll te was bewirken. Sich nicht nur mit Kleinkram abgeben. Und es war nicht nur Theorie. Jays Mutter ist an Brustkrebs gestor 358
ben, das spielte auch eine Rolle. Und natürlich ging es auch um sehr viel Geld. Irgendwann. Aber das war für ihn nicht aus schlaggebend. VSS hat an einer wichtigen Sache gearbeitet. Ich kann nicht mal genau sagen, was. Sie haben diese Tumorbom ben gebaut, so was wie eine Nanogranate, die in die Brust krebszellen, und zwar nur in Brustkrebszellen, eindringt und sie zerstört. Und natürlich soll die Technik irgendwann auch auf andere Krebsarten anwendbar sein.» Danny runzelte die Stirn. Je mehr er erfuhr, desto weniger verstand er. «Sie haben vorhin gesagt, dass Jason wegen irgen detwas besorgt war. Irgendwas mit der Arbeit.» Unger nickte. «Grauer Schleim.» Danny blinzelte. «Wie bitte?» «Jay hat lange Zeit geglaubt, die Sache mit dem grauen Schleim sei ein Hirngespinst der Fortschrittsgegner. Aber in letzter Zeit … war er doch besorgt deswegen.» Danny hob abwehrend die Hände. «Wovon reden Sie?» Unger blickte erstaunt. «Vom dem Problem des grauen Schleims.» «Was ist das?» «Das wissen Sie nicht?» Danny schüttelte den Kopf. Unger seufzte. Er überlegte einen Moment und sagte: «Na, es ist … das Ende der Welt. Mindestens.»
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Danny schwieg eine ganze Weile. Schließlich sagte er: «Mr. Unger –» «Nennen Sie mich doch Glenn. Dieses Mr. Unger erinnert mich immer an meinen Vater.» «Gern. Glenn. Also … worum geht’s? Ich meine: das Ende der Welt, das ist ja … Ich komm mir vor wie Alice im Wunder land –» Unger fragte: «Wie viel wissen Sie über Nanotechnologie?» Danny überlegte kurz, seufzte. «Ich weiß ungefähr, worum es geht.» «Aber von grauem Schleim haben Sie noch nie gehört?» Danny schüttelte den Kopf. Unger öffnete den Mund, als wollte er zu einer Erklärung an setzen, schloss ihn dann wieder. Schließlich sagte er: «Ich den ke, Sie sollten sich mal mit Harry unterhalten. Ich bin Archi tekt, kein Wissenschaftler.» «Ja, aber –» Unger sprang auf. «Das geht schon in Ordnung. Erst recht, wenn ich ihn zum Essen einlade.» Er legte den Kopf schief, dachte nach, fand die Idee gut. «Es kann aber sein, dass er ein bisschen nervös wird, wenn ich ihn anrufe und es sich wie ein Plan anhört.» «Um wen geht’s?», fragte Danny. «Harry Manziger. Er ist Protein-Designer bei VSS. Ich den ke, es ist besser, wir tauchen unangemeldet bei ihm auf …» Unger bat Danny, den Prism zur Seite zu fahren, öffnete dann die Garage, und zum Vorschein kam ein kobaltblauer T-Bird, ein Oldtimer. Er setzte ihn rückwärts raus, überlegte es sich dann anders und fuhr ihn wieder in die Garage. «Falls wir es sen gehen, ist kein Platz für Harry. Wir fahren doch besser mit 360
Ihrem Wagen.» Es fing leicht an zu regnen. Die Straßen waren rutschig, der Verkehr dicht, Danny fuhr nach Ungers Anweisungen und dachte: Ich weiß nicht, wo das hinführt. Wenig später hielten sie vor einem Bungalow, der von außen so aussah wie der von Unger. Aber damit hatte sich die Ähn lichkeit auch schon. Statt des liebevoll gestalteten Vorgartens war Manzigers Haus hinter wuchernden Sträuchern versteckt. Der Rest des Gartens war kahl oder von Unkraut übersät, die offene Garage war ein Sammellager für Kartons, Spielzeug, Fahrräder, Harken, Skier, Farbdosen und alte Computer, Moni tore und Fernsehapparate. Ein dicker Junge im Teenageralter, von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet, kam an die Haustür, die totenblasse Haut voller Akne. «Ist dein Vater zu Hause?» «Dad?! Besuch für dich!» «Wer ist denn da?», brüllte eine Stimme. «Der Mann von der Lottozentrale!», erwiderte der Junge. «Jordan!» Der Junge hielt die Tür auf, und sie traten ein. Ein alter Pu del, ein Auge milchig vom grauen Star, fing wie verrückt an zu jaulen. Aus dem Keller rief eine Stimme: «Bin gleich oben!» Der Junge wandte sich dem Pudel zu. «Turing!», knurrte er. «Halt die Klappe.» Der Hund blickte beleidigt, und der Junge nahm einen Schlüssel von einem Haken neben der Tür. «Sagen Sie Dad, dass ich den Wagen genommen hab, ja?» Unger verdrehte die Augen. Im Haus sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Die beiden Männer standen auf einem blutroten, zottigen Teppich, der mit Hundehaaren und Trockenfutter übersät war. Ein Couchtisch, auf dem sich Zeitungen und Zeitschriften stapel ten, stand vor einem schäbigen, grünen Sofa. Überall lagen irgendwelche Dinge oder Kleidungsstücke herum. Leere Li 361
modosen. Ein Sweatshirt. Auf einem Beistelltisch standen zwei leere Bierflaschen neben zwei Plastiktabletts von einem Re staurant mit Lieferservice. Bis auf einige undefinierbare rote Kleckse sahen die Tabletts aus wie sauber geleckt. «Harry wird am Anfang vermutlich etwas nervös sein», warnte Unger Danny. «Scheuer Typ.» Schritte dröhnten die Treppe hoch, und Harry Manziger trat aus der Kellertür. In den Händen hatte er einen rosa Wäsche korb voll gestopft mit ungefalteten Sachen. Und er war ein Koloss. Weit über ein Meter achtzig und mindestens hundert dreißig Kilo. Er trug eine Chinohose, über die sein Bauch hing, und ein so enges Hemd, dass sich die Speckrollen deutlich ab zeichneten. Im linken Ohr hatte er einen Diamantohrring. «Glenn», sagte er, und sein pausbäckiges Gesicht nahm sogleich einen besorgten Ausdruck an. «Was gibt’s?» Er warf Danny einen Blick zu, schaute dann wieder weg. Als er den Kopf drehte, sah Danny, das er seitlich am Hals eine Kürbisla terne eintätowiert hatte. «Das ist Dan Cray», sagte Unger. «Ich dachte, du könntest ihm ein paar Sachen erklären. Dürfen wir uns setzen?» Ohne auf eine Antwort zu warten, ging er ins Wohnzimmer, warf ein paar Kleidungsstücke beiseite und ließ sich auf der Armlehne eines Ohrensessels nieder, der offenbar in der Mauser war. Danny folgte ihm, obwohl eine größere Ausgrabungsaktion nötig gewesen wäre, um eine Sitzfläche freizulegen. Manziger kam hinter ihnen her. «Was erklären?» «Oh … zum Beispiel das Problem mit dem grauen Schleim und was Jay bei VSS sonst noch alles Kopfzerbrechen gemacht hat.» Der dicke Mann drückte sich den Wäschekorb an die Brust, wie einen Schutzschild. «Und warum sollte ich das tun?» «Weil du Jays Freund warst. Und weil Dan glaubt, dass Jays Ermordung was mit VSS zu tun hatte.» 362
Manzigers blaue Augen huschten im Raum herum, als suchte er nach einem Fluchtweg. «Die Polizei hat da eine andere Theorie», sagte er. Ungers Entrüstung machte sich mit einem kräftigen Seufzer Luft. «Die Polizei – ich bitte dich!» Der Koloss verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, die Augen auf den Boden gerichtet. «Also ich weiß nicht», sagte er. «Harry? Tu es für Jason. Du sollst doch keine Firmenge heimnisse ausplaudern. Erzähl Dan bloß von dem Schleim – das reicht vielleicht schon.» «Das ginge natürlich», setzte Manziger an, wackelte dann mit dem Kopf. «Aber ich weiß nicht recht.» «Na, bis du dich entschieden hast, kipp ich noch aus den Lat schen. Ich hab Unterzuckerung.» «Ich könnte dir einen Muffin machen», bot Harry an. «Wie wär’s, wenn wir essen gehen? Dann können wir uns in Ruhe unterhalten – die Rechnung übernehme ich.» Die Aussicht auf ein kostenloses Essen schien Manziger zu überzeugen. Er stellte den Wäschekorb auf den Couchtisch und ging sich frisch machen, wie er sagte. Als er kurz darauf wie derkam, hatte er die Haare gekämmt und roch nach Old Spice. «Also», sagte er auf dem Weg zur Haustür, «ich werde nicht über das Projekt an sich reden. Jedenfalls nicht in allen Einzel heiten. Das ist geheim.» Sie fuhren zu einem Restaurant namens Blue Potato, und Un ger entschuldigte sich im Voraus für den Fall, dass es ein Rein fall würde. «Es ist neu, und ich war noch nicht drin, aber die ganzen anderen Restaurants hier …» Er zuckte die Achseln und fügte hinzu: «Erinnerungen …» Eine blasse Kellnerin, die nicht nur blutjung war, sondern auch nicht viel Erfahrung in ihrem Job zu haben schien, brach te die Speisekarte und nahm die Getränkebestellung auf. Die 363
drei Männer studierten schweigend die Karte. Die meisten Ge richte, so stellte Danny fest, hatten Kartoffeln als Bestandteil. Schließlich kamen die Getränke. Pinot Grigio für Unger, ein Martini-Cocktail für Manziger und ein Bier für Danny. Dann gaben sie die Bestellung auf. Als die Kellnerin gegangen war, sagte Unger zu Manziger: «Also?» «Moment, Moment», erwiderte Manziger, fischte die Olive aus seinem Drink und steckte sie sich in den Mund. «Also, es geht um exponentielle Kurven. Und beschränkte Umgebun gen.» Seine Stimme verlor sich. Offenbar sollte nichts mehr kommen. «Das ist alles?», fragte Danny. Manziger rutschte unruhig hin und her und seufzte schwer. «Hören Sie, Jay hat praktisch während seines ganzen Berufsle bens – bis auf den letzten Monat – das Thema grauer Schleim als die schlimmste Art von Hysterie abgetan. Und ich bin nach wie vor dieser Meinung. Das einzige Problem bei VSS ist Geld. Keiner kriegt mehr Gehalt, und wir kriegen nichts mehr geschafft. Aber das wird sich anscheinend bald ändern. Wir haben ein Memo von ganz oben bekommen –» «Von Zebek?», fragte Danny. «Wir haben ein Memo von ganz oben bekommen», wieder holte Manziger. «Wir erwarten eine größere Geldspritze, und ab September wird wieder mit Volldampf gearbeitet. Aber we gen der anderen Sache …» Er schüttelte den Kopf. «Du warst nicht beunruhigt?», fragte Unger. «Kein biss chen?» «Nein», sagte Manziger. Er hielt Daumen und Zeigefinger einen winzigen Spalt breit auseinander. «Na ja, vielleicht so viel. Ich dachte, Jay hätte … eine Art Midlife-Crisis.» «Wegen des grauen Schleims?», fragte Danny. «Was ist denn nun damit?» Er wurde langsam ungeduldig. Manziger nickte und nahm einen Schluck von seinem Marti 364
ni. «Die Meinungen gehen da weit auseinander. Ich persönlich bin deswegen nicht beunruhigt. Und ich glaube, ich weiß, wo von ich rede. Die Nanotechnik verspricht, den Hunger und schwere Krankheiten zu besiegen – vielleicht sogar den Tod. Sie verspricht, jede Form von Mangel auf der Welt zu besiegen und jede Form von Hierarchie abzuschaffen – aber nur wenn wir die Möglichkeiten dieser Technik nicht beschneiden. Und zurzeit gibt es Leute, die den grauen Schleim als Vorwand be nutzen, um etwas zu behindern, das sich nur ungehindert ent falten kann.» «Was meinen Sie damit, dass die Nanotechnik Hierarchien abschaffen wird?», fragte Danny. Manziger zuckte die Achseln. «Das liegt doch auf der Hand», sagte er. «Wenn man praktisch alles aus Rohmaterial herstellen kann, das im Grunde kostenlos zu haben ist … werden manche Leute nicht glücklich darüber sein. Ich meine, wenn man Öl, Diamanten, Gold herstellen kann … was wird dann aus Exxon, De Beers und Homestake? Glauben Sie, die werden sich freu en?» «Ich verstehe, was Sie meinen», sagte Danny. «Es wird eine Neuverteilung von Wohlstand geben!», schwärmte Manziger. «Dank der Nanotechnik! Deshalb ist es so wichtig, den Dingen ihren Lauf zu lassen – wie dem Inter net. Ja, das Internet ist chaotisch, aber wenn es sich nicht so uneingeschränkt, organisch entwickelt hätte, würde es über haupt nicht existieren. Oder falls doch, wäre es für die meisten von uns nutzlos, auf eine Weise beschränkt, wie wir es uns nicht vorstellen können.» «Verstehe», sagte Danny, «aber ich kapier immer noch nicht, was das mit diesem Schleim zu tun haben soll.» «Ich glaube, Harry ist noch dabei, das Fundament zu legen», warf Unger ein. «Stimmt. Ich lege das Fundament.» Er erwärmte sich offen bar für sein Thema, doch bevor er richtig Feuer fing, servierte 365
die Kellnerin zwei Teller mit Kalamaris-Ringen und eine ge backene Kartoffel für Danny. Unger tauchte einen Kalamaris-Ring in Marinara-Sauce, kau te, schluckte und verkündete: «Erstaunlich gut.» Manziger sagte: «Wirklich?», und machte sich über seine Vorspeise her. Danny fuhr sich mit der Hand durchs Haar, seufzte und war tete, während Manziger es sich schmecken ließ. Schließlich tupfte der Wissenschaftler sich den Mund mit einer Serviette ab. «Sie wissen, wie die Nanotechnologie funktioniert», sagte er. Danny zuckte die Achseln. «Einigermaßen.» «Gut», sagte Manziger. «Eine wesentliche Rolle spielen die Assembler …» Es war faszinierend, wie Manziger seine sozia le Unbeholfenheit verlor, während er über sein Fachgebiet sprach. Er hätte das Zeug zu einem guten Lehrer gehabt. «Ro boter mit maßgeschneiderten Proteinen bauen Moleküle nach Wunsch. Egal was, sie stellen es her. Man könnte sogar Häuser aus Diamanten bauen, wenn man wollte. Aber jede Aufgabe ist anders. Jede Aufgabe verlangt ein Künstliches-Intelligenz-Programm und spezialisierte Assemb ler. Unzählige! Man braucht Milliarden von den kleinen Bur schen!» Er hielt inne und verschlang noch ein paar KalamarisRinge. «Ich habe was darüber gelesen», sagte Danny. «Weiter im Text. Also, der Bau des ersten Assembler ist ein ganz schöner Schlauch. Bei VSS arbeiten wir seit gut sechs Jahren an einem Assembler, der Nanogeräte für die Bekämp fung von Brustkrebs bauen soll. Und ganz gleich, was die As sembler machen sollen, so viele, wie man braucht, könnte man niemals herstellen! Es würde eine Ewigkeit dauern und ein Vermögen kosten. Also was ist die Lösung? Man muss sie so konstruieren, dass sie sich selbst vermehren.» «Anders ausgedrückt», warf Unger ein, «man baut den ersten 366
Assembler und programmiert ihn so, dass er Kopien von sich selbst herstellt.» «Richtig. Und das finden manche beunruhigend. Obwohl, wenn man drüber nachdenkt … warum eigentlich?» Er deutete mit dem Daumen auf sich. «Ich reproduziere mich selbst – und ihr euch auch – zumindest mit jemand anderem zusammen.» Er zeigte auf Dannys Teller. «Ihre Kartoffel reproduziert sich selbst. Also wozu die große Aufregung?» Danny schüttelte den Kopf und schob sich eine Gabel Quarkkartoffel in den Mund. «Die große Aufregung», fuhr Manziger fort, «rührt daher, dass wir die Burschen herstellen, nicht Mutter Natur, daher hat niemand das Vertrauen, dass sie irgendwann aufhören, von sich selbst Kopien zu machen – obwohl es zig Möglichkeiten gibt, das einzuprogrammieren.» «Wie denn?», fragte Danny. Manziger fuhr mit der Gabel durch die Saucenreste auf sei nem Teller und leckte sie ab. «Man könnte die Assembler so programmieren, dass sie sich nur bei bestimmten Temperaturen vermehren – zum Beispiel bei minus neunzig Grad Celsius – oder nur in Atmosphären, die es in der Natur nun mal nicht gibt. Da gibt es etliche Möglichkeiten.» Danny nickte. «Und der graue Schleim …?» «Dazu komme ich gleich.» Er hielt inne und deutete mit ei nem Nicken auf Dannys Kartoffel. «Wollen Sie nicht mehr?» Danny schüttelte den Kopf. «Darf ich?», fragte Manziger. «Ja. Greifen Sie zu.» Manziger tauschte rasch mit Danny die Teller. «Also, mal angenommen eine Firma wie VSS hat eine Riesenmenge Ar beitsstunden investiert und den ersten Assembler fertig. Es hat etwa zehn Jahre gedauert, aber jetzt läuft das verdammte Ding, und der Assembler braucht vielleicht zehn Minuten, um eine Kopie von sich herzustellen. Jetzt hat man also zwei. Zehn Jahre 367
für den Ersten, zehn Minuten für den Zweiten. Und so geht es weiter …» Lächelnd beugte er sich zu Danny vor und blickte ihn aus feuchten Augen an. «Wie weit sind Sie in der Schule in Mathe gekommen?» «Dreisatz», erwiderte Danny. «Im Ernst?» Danny schüttelte den Kopf. «Kleiner Scherz … wieso fragen Sie?» Manziger blickte erleichtert. «Sie wissen, was eine exponen tielle Kurve ist?» «Nicht genau», erwiderte Danny. «Doch, Sie wissen es – Sie wissen bloß nicht, dass sie so heißt.» Er tauchte einen Finger in seinen Martini und malte eine Art Hockeyschläger auf den Tisch. «Man muss verstehen», erklärte Manziger, «dass die Be schleunigung in den frühen Stadien einer exponentiellen Pro gression praktisch unsichtbar ist.» Er zeigte auf den Anfang der Kurve, wo die Kelle in den Schaft übergeht. «Sie ist fast hori zontal. Aber wie Sie sehen» – sein Finger folgte der Kurve den Schaft hoch – «sobald die Sache läuft, schwenkt die Linie in die Vertikale.» «Schön, aber –» Manziger hob eine Hand. «Ich bin noch nicht fertig. Und keine Sorge, ich habe eine tolle Geschichte für Sie.» Danny trank sein Bier aus und zeigte der Kellnerin sein lee res Glas. Wie bin ich bloß hier gelandet?, fragte er sich. An genau diesem Punkt. Dass ich in diesem Restaurant sitze und diesem zugegebenermaßen intelligenten Riesen zuhöre, wie er über exponentielle Kurven redet, um mir irgendwas zu erklä ren, das sich grauer Schleim nennt. Und jetzt auch noch eine «tolle Geschichte». Was ist nur aus mir geworden? Was stimmt mit meinem Leben nicht? Unger hatte Danny anscheinend irgendetwas angesehen, denn seine Augen unter den gewölbten Brauen blickten ihn 368
fragend an. «Alles in Ordnung, Danny?» Danny zuckte die Achseln. «Ja», sagte er. «Alles in Ordnung. Ich weiß bloß nicht, worauf das hier hinausläuft.» «Glauben Sie mir», sagte Manziger. «Die Geschichte müssen Sie sich anhören. Dann wird Ihnen alles klar. Mit Zahlen allein werden Sie es nicht verstehen.» Danny sagte nichts. «Schieß los, Harry», drängte Unger und blickte ihn aufmun ternd an. «Also gut», sagte Manziger und drückte die fleischigen Hän de zusammen. «Los geht’s.» Er hielt inne. «Spielen Sie Schach?», fragte er. «So gut wie nie», erwiderte Danny und musste an die Schachfiguren denken, die er in Barzans Versteck aus Draht gebastelt hatte. Und an Layla. Er spürte einen Druck in der Brust. «Die hier», hatte sie gesagt und die größte Figur in die Sonne gehalten, «ist König?» «In der Geschichte geht’s um Schach. Die Erfindung des Schachspiels», sagte Manziger, «die in China stattfand. Und der chinesische Kaiser ist so begeistert von dem Spiel, dass er den Erfinder, einen der Hofmathematiker, belohnen will. Der Kaiser sagt also zu dem Erfinder, er kann sich wünschen, was er will. ‹Egal was, du bekommst es›, sagte er. Und der Erfin der, ein kluges Kerlchen, zeigt auf das Schachbrett. Er möchte Folgendes: Ein Reiskorn auf das erste Feld, dann zwei Reis körner auf das Zweite, vier auf das Dritte … und so weiter. Die Zahl der Körner soll sich auf jedem folgenden Feld verdop peln.» Manziger kam richtig in Schwung, erzählte angeregt, wäh rend Danny auf seinem Stuhl saß, nur halb hinhörte und immer deprimierter wurde. «Der Kaiser ist ganz begeistert», fuhr Manziger fort. «Weil er so billig davonkommt.» Danny dachte, Wahrscheinlich werde ich in der Türkei 369
wegen Mordes gesucht … «Und am Anfang sieht es auch ganz so aus. Weil die Pro gression langsam anfängt. Eins, zwei, vier, acht … die Körner werden von einem Teelöffel mit Reis abgezählt.» Meine Freundin hasst mich … «Aber dann brauchen Sie einen Esslöffel, eine Tasse, eine Schüssel, ein Fass. Und so geht es weiter.» Manziger blickte ihn an. «Hören Sie zu?» Danny nickte. Manziger wedelte mit der Hand in der Luft. «Inzwischen hat der Kaiser begriffen, dass er in Schwierigkeiten steckt. Sie sind erst bei der Hälfte des Brettes und brauchen schon einen Och senkarren! Zwei oder drei Felder weiter und sie brauchen ein Silo!» Manziger lachte und lehnte sich mit einem zufriedenen Blick zurück. «Aber was ist aus dem Erfinder geworden?», fragte Unger. «Sie haben ihm den Kopf abgeschlagen», antwortete Manzi ger. «Was blieb ihnen auch anderes übrig? Der Bursche hatte achtzehn Trillionen Reiskörner verlangt! Das ist … das ist –» «– mehr als ganz China Reis hat», sagte Danny. Manziger prustete los «Genau! Ja, mehr als alle Reisfelder der Erde produzieren könnten. Deshalb hat der Kaiser den Klugscheißer abmurksen lassen.» «Und was hat das nun mit dem grauen Schleim zu tun?», fragte Danny. «Die Assembler würden sich exponentiell vervielfachen, ge nau wie der Reis», sagte Unger. «Es fängt mit einem an …» Manziger schnippte mit den Fingern vor Ungers Nase. «Bin go! Und man würde es nicht mal merken. Zunächst nicht. Nach zwanzig Minuten hat man vier Assembler. Nach weiteren zwanzig Minuten sind es sechzehn. Vier Stunden später hat man schon hundertachtundzwanzigtausend – aber man kann sie noch immer nicht sehen! Das geht nur mit einem Rastertun nelmikroskop. Aber nach rund zehn Stunden sind es an die 370
achtundsechzig Milliarden Assembler! Jetzt kann man sie se hen. Das ist eine Menge Biomasse. Und dann – und erst dann – geht es richtig ab! Gleich am ersten Tag ist man auf dem verti kalen Teil der Kurve, von der ich gesprochen habe.» Er leckte sich die Spitze eines Fingers an und zeichnete den Hockey schläger nach. «Genau hier», sagte er, auf die Stelle direkt oberhalb der Kelle deutend. Danny starrte auf den kleinen Fleck. «Nach zwei Tagen sind die Assembler», fuhr Manziger fort, «falls man ihre Vervielfältigung nicht aufhalten kann, schon schwerer als die Erde. Noch mal vier Stunden später, und sie übertreffen die Sonne und die Planeten an Masse. Und weitere vier Stunden später … das heißt, wenn sie die erforderliche Nahrung und Materialien finden, greifen sie nach den Sternen.» Er kippte seinen Martini herunter und setzte das Glas so fest auf, dass ein Gast am Nebentisch aufblickte. «Das ist das Pro blem mit dem grauen Schleim», sagte er. «In der Kurzfas sung.» «Und wieso wird es so genannt?», fragte Danny, der allmäh lich ahnte, was es bedeuten könnte. Manziger hielt einen Finger hoch, deutete auf den letzten Ka lamaris-Ring auf Ungers Teller, zog eine Augenbraue hoch. Unger nickte, und der Wissenschaftler bediente sich, tauchte den Tintenfisch-Ring in die Marinara-Sauce und steckte ihn sich in den Mund. «Das habe ich Jay auch mal gefragt», sagte Unger zu Danny. «Und?» «Er hat gesagt, es sei grauer Humor.» Danny nickte. Was sollte denn das heißen? «Grauer Schleim», sagte Manziger. «Formlos, farblos. Ein Nichts. Verstehen Sie? Es ist bloß … eine langweilige Masse!» «Und …?» «Das ist es ja gerade!», fuhr Manziger fort. «Theoretisch könnten die Assembler das ganze Universum in drei Tagen 371
vertilgen – und es wäre dennoch nichts Interessantes passiert.» Er rieb die Hände aneinander. «Ich meine, sie hätten auch Klo papier oder Fußbälle herstellen können – und das wär’s! Ar mageddon. Der Untergang des Universums in … Schleim.» Manziger lachte noch immer, als die Kellnerin mit den Hauptgerichten kam. Auf Dannys Teller türmte sich eine Ge müse-Pyramide, deren Instabilität der Kellnerin Probleme be reitete. Danny hätte fast applaudiert, als sie es schaffte, das kunstvolle Arrangement intakt auf den Tisch zu bringen. Unger beäugte misstrauisch das Gericht vor sich, eine Konstruktion aus Kartoffeln und Shrimps. Manziger machte sich mit Genuss über sein Steak mit Pommes her. Die Aussicht auf den Weltun tergang hatte ihm offenbar nicht den Appetit verdorben. «Könnte das tatsächlich so passieren?», fragte Danny. «Was? Das Ende der Welt?» Danny nickte. Manziger zuckte abfällig die Achseln. «Theoretisch, ja. Die Assembler leben, und sie sind so programmiert, dass sie sich selbst reproduzieren. Aber in Wirklichkeit?» Er schüttelte ver neinend den Kopf. «Sehen Sie es mal so: Sie haben ein Mon ster. Aber es erledigt jede Menge Arbeit. Also was machen Sie? Töten Sie es? Nein. Sie sperren es in einen Käfig. Einen stabilen Käfig.» Er sägte an seinem Steak, verkleinerte es auf mundgerechte Stücke, die er zu einem Quadrat zusammen schob. «Alles andere hieße, das Kind mit dem Bade ausschüt ten. Jay hat ständig darüber gesprochen.» Unvermittelt hob Manziger die Stimme, wohl um Jason Patel zu imitieren, wie Danny vermutete. «‹Es reicht mir nicht, dass nervöse Angstha sen sagen, das und das könnte passieren. Ich bin Wissenschaft ler. Ich brauche Beweise. Ansonsten …›» Manziger zuckte die Achseln, schob sich ein Stück Steak in den Mund und grinste. «Wie muss ich mir denn den Käfig vorstellen?», fragte Dan ny. «Wie haltet ihr die Assembler unter Verschluss?» «Da gibt es viele Möglichkeiten», erwiderte Manziger. 372
«Zum Beispiel?» Manziger tupfte sich die fleischigen Lippen ab, kratzte an seinem Tattoo. «Also, als Erstes würden die Assembler so pro grammiert, dass sie sich ab einem bestimmten Punkt – wenn es genug sind – nicht weiter vermehren. So funktioniert das Sy stem. Man programmiert sie so, dass sie sich vermehren und eine bestimmte Aufgabe ausführen, und man programmiert sie, sich selbst zu zerstören, wenn die Arbeit erledigt ist.» Danny dachte darüber nach. «Also wie ein SoftwareProgramm.» Manziger nickte. «Wie Windows», sagte Danny. Manziger nickte erneut. Danny schüttelte den Kopf. «Na, ich weiß ja nicht, wie das bei ihrem Computer ist», sagte er, «aber meiner stürzt zwei-, dreimal die Woche ab. Vom Nanotechnik-Aquivalent zu Win dows 98 würde ich die Zukunft unseres Planeten nicht abhän gig machen wollen.» Manziger lachte. «Gutes Argument. Aber wir setzen natür lich nicht alles auf eine Karte. Weil Programmierer nun mal nicht fehlerlos sind, müssen wir Sicherheitsvorkehrungen tref fen.» «Was denn zum Beispiel?» «Man kann die Assembler so programmieren, dass sie sich nur in einer wirklich ungewöhnlichen Umgebung reproduzie ren. Einer, die in der Natur nicht vorkommt.» «Zum Beispiel?», fragte Danny. Manziger musste nicht lange nachdenken. «Extreme Minus temperaturen. Die Assembler werden so programmiert, dass sie sich nur innerhalb einer bestimmten Temperaturspanne ver mehren können. Das ist bei vielen Viren so. Solange die Kör pertemperatur um die siebenundreißig Grad herum liegt, geht es ihnen gut. Kriegt der Wirt Fieber, gehen sie ein. Wenn man also die Reproduktion auf eine Umgebung beschränkt, die käl 373
ter als siebenundzwanzig Grad unter null ist – und die Fabrik ist hier in Silicon Valley –, dann dürfte keine Gefahr beste hen.» «Verstehe.» «Genauso gut könnte man das Rohmaterial für die Assembler beschränken. Wenn sie etwas benutzen sollen, das billig und reichlich vorhanden ist – Seetang oder so –, könnte man noch etwas Seltenes dazugeben. Osmium vielleicht, oder Xenon. Wenn wir dann hier einen Kälteeinbruch kriegen und die As sembler drehen durch, funktionieren die kleinen Biester trotz dem nicht!» Danny wollte etwas sagen, aber Manziger war noch nicht fer tig. «Eine weitere Möglichkeit», sagte der Wissenschaftler, «ist die, die Assembler so zu programmieren, dass sie die Arbeit einstellen, wenn zu viele von ihnen in der Nähe sind. So funk tionieren Bakterien. Sie beschränken sich selbst.» Der beleibte Mann schaufelte sich eine Gabel Pommes in den Mund und kaute geräuschvoll. «Eins verstehe ich nicht», sagte Danny, «warum hat Ihr Freund seine Meinung geändert? Ich meine, jahrelang macht er sich keine Sorgen – und dann auf einmal doch. Was ist pas siert?» Ungers Augenbrauen schnellten hoch. «Er war besorgt, weil bei VSS aus Zeitknappheit so viele Verfahren abgekürzt wur den. Das hat er mir jedenfalls erzählt. Es muss diesbezüglich einen großen Druck gegeben haben.» «Druck?», wiederholte Manziger. «Wir reden hier über die Heilung von Krebs! Jedenfalls Brustkrebs. Weißt du eigentlich, wie viele Menschen wir retten würden? Oder was deine Aktien dann wert wären?» Er schnaubte. «Und da kriegt Jay kalte Fü ße, wegen etwas so Unwahrscheinlichem …» Er schüttelte den Kopf. «Und was war das?», fragte Danny. 374
Manziger schien die Frage zu überhören. «Das Problem ist», sagte er, «das Ganze ist ohnehin schon ein langer Prozess. Man braucht die Genehmigung von der zuständigen Behörde und muss dafür jede Menge Zugeständnisse machen. Die Schutz vorrichtungen, von denen Jason sprach, hätten uns um minde stens zwei Jahre zurückgeworfen – und dafür hat VSS nicht das Geld. Nicht bei dieser Wirtschaftslage.» Manziger regte sich so sehr auf, dass er beim Sprechen Pommesstückchen versprühte. «Wir haben uns also auf die Seite der Wissenschaft geschlagen, statt uns von … wie soll ich sagen, von der Furcht leiten zu lassen. Ist das so schlimm?» «Was hat denn nun den Sinneswandel bei Jason Patel be wirkt?», wollte Danny wissen. Die Kellnerin kam mit der Dessertkarte. Danny und Glenn lehnten ab, während Manziger einen raschen Blick darauf warf. «Ich nehme eine Crème brûlée und einen koffeinfreien Cap puccino.» Die Kellnerin entschwand, und Manziger wandte sich wieder Danny zu. «Jason hat sich Sorgen gemacht wegen angeblicher Mutationen», sagte er. «Mutationen?» «Ja. Es war was passiert. Im Labor. Eine seiner Nukleotidse quenzen hatte sich von einer Generation zur nächsten verän dert.» «Jay ist ausgerastet!», warf Unger ein. «So aufgebracht hatte ich ihn noch nie erlebt.» Manziger nickte. «Es hätte alles Mögliche gewesen sein kön nen. Es ist schließlich ein Labor. Aber Jay dachte, es sei eine Mutation. Und vielleicht hatte er ja Recht. Ich meine, die As sembler leben ja nun mal. Theoretisch könnte das also passie ren.» «Und das wäre schlimm», spekulierte Danny. «Das kann man wohl sagen.» Manziger verdrehte die Augen. «Das Albtraum-Szenario – das heißt, angenommen, der Nano bot ist so programmiert, dass er sich nur beim Vorhandensein 375
von Rhodium oder so reproduzieren kann?» Er tat es mit einer Handbewegung ab. «Egal was – aber irgendeine Beschrän kung.» «Egal», sagte Danny. Die Kellnerin brachte das Dessert, und Manziger verstumm te, bis sie wieder gegangen war. Dann nahm er den Faden wie der auf. «Jay dachte, die Assembler könnten möglicherweise wie Kakerlaken reagieren – oder Bakterien oder Virusorganis men. Vielleicht würden sie eine Resistenz entwickeln. Viel leicht würden sie sich anpassen. Nicht alle natürlich. Aber das ist es ja gerade. Ein einziger würde genügen.» «Und das Monster wäre aus dem Käfig», sagte Danny. Manziger schaufelte seine Crème brûlée in sich hinein. «Richtig. Ganz genau.» Danny lehnte sich zurück und wechselte einen Blick mit Un ger. «Ich hab mich immer gefragt», sagte Unger, mit einem leich ten Zaudern in der Stimme, «warum dich das nicht beunruhigt, Harry.» Der Koloss zuckte die Achseln. «Weil ich nicht an eine Mu tation glaube. Ich denke, Jason hat Mist gebaut. Vermutlich in seinem Programmierprotokoll.» «Aber er hat das nicht so gesehen», mutmaßte Danny. «Nein. Er war felsenfest überzeugt, dass es zu einer Mutation gekommen war, aber er konnte es nicht beweisen. Die ur sprünglichen Proben – die Nukleotidsequenzen, mit denen er angefangen hatte – waren zerstört. Und das zeigt, wie paranoid er war. Er hat gedacht –» «Harry!», protestierte Unger. Manziger betrachtete ihn verständnislos. «Was ist?» «Jason kann sich nicht mehr verteidigen», erwiderte Unger. Manziger gelang eine zerknirschte Miene, während er ach selzuckend seine Crème brûlée weiter aß. «Jay behauptete, die Proben wären absichtlich zerstört worden. Was lächerlich 376
war.» Manziger fuhr mit dem Löffel an der Innenwand der Schüssel entlang, um die letzten Reste seines Desserts zu ergat tern. «Lächerlich?», fragte Danny. «Natürlich», entgegnete Manziger wie aus der Pistole ge schossen. «Wieso?» Manzigers Augen wurden groß. «Weil kein Mensch so was machen würde», sagte er. «Undenkbar.» Danny bedachte ihn mit einem skeptischen Blick. «Sie haben doch selbst gesagt, es steht viel Geld auf dem Spiel.» Manziger schnaubte. «Geld? Wenn Jason Recht hatte … sind wir im Eimer. Nanobots dürfen nicht mutieren. Sie müssen absolut stabil sein. Egal, was für eine Mutation Jay gesehen haben will. Denn eins steht fest, wenn es zu einer Mutation kommt, egal was für eine, wäre es das Aus der Nanotechnik – über Nacht.» Manziger senkte den Kopf, nahm mit dem Löffel etwas Schaum von seinem Cappuccino und schlürfte ihn. «Denn das würde bedeuten …?» «Schleim!», Manziger schrie das Wort regelrecht, so dass ei nige Gäste sich jäh zu ihnen umdrehten. Er hob die Hand und setzte ein entschuldigendes Lächeln auf. «Aber Jay hatte nicht Recht. Er kann nicht Recht gehabt haben.» «Wie kannst du dir da so sicher sein?», fragte Unger. «Weil wir Artefakte von unserem ganzen Code haben – Er probungen, alles. Wir haben ein Archivsystem, ja? Dazu sind wir verpflichtet. Man programmiert eine Sequenz, sie funktio niert oder nicht. Wenn sie nicht funktioniert, macht man eine Notiz und verändert sie. Damit man weiß, was zu modifizieren ist, muss man wissen, was vorher war. Nicht?» Danny und Unger schwiegen. «So läuft das und nicht anders. Also, verratet mir mal, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass die eine Code-Sequenz, von der Jay geredet hat – ausgerechnet die eine Sequenz – aus 377
dem Archiv gelöscht wurde?» Als weder Danny noch Unger antworteten, fragte Manziger: «Wer würde so etwas machen?» «Irgendwer bei VSS», sagte Danny. «Ihr werdet alle reich, nicht? Ich meine, wenn die Firma nicht den Bach runtergeht.» Manziger schüttelte den Kopf. «Sie kapieren das nicht, was? Es geht hier nicht um eine Pille gegen Arthritis. Ich rede nicht davon, dass klinische Versuche frisiert werden, damit das Pro dukt besser aussieht, als es ist. Wenn die Assembler mutieren, dann heißt das, sie passen sich an. Nicht heute, nicht morgen, aber irgendwann. Und die Beschränkungen, die wir eingebaut haben, funktionieren nicht.» «Dann wären sie nicht mehr aufzuhalten?», fragte Unger. «Vielleicht würde das Programm, das die Reproduktion kon trolliert, trotzdem wirken. Falls nicht, blieben ungefähr zwölf Stunden», erwiderte Manziger. «Man könnte versuchen, die Assembler atomar zu vernichten. Ansonsten … willkommen auf dem Schleim-Planeten.» «Wenn ich Sie richtig verstanden habe», sagte Danny, «dann müsste jeder, der weiß, dass die Biester mutieren können, und trotzdem weiter macht, verrückt sein.» Manziger schnaubte laut, trank seinen Cappuccino mit einem Schluck auf und sagte mit Milchschaum an der Oberlippe: «Verrückt? Das trifft es nicht. So jemand wäre von Grund auf böse.» Er dachte einen Moment lang nach. «Mehr als böse», sagte er. «So einer wäre … der Teufel in Menschengestalt.»
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Danny konnte sie im Nacken spüren, die Spinnenbeine der Angst. «Mir läuft es kalt den Rücken runter», hatte seine Großmutter immer gesagt. Und genau das Gefühl beschlich ihn jetzt, eine kalte Bedrohung, eine Ahnung seiner eigenen Sterb lichkeit. Der Teufel in Menschengestalt. Das waren «Belzers» Worte gewesen. Was hatte er noch mal gesagt, als er von der Rufmordkampagne gegen Zebek erzähl te? «Es wird behauptet, dass er mit der Mafia unter einer Decke steckt – dass er ein Waffenhändler ist … ein Umweltver schmutzer und ein Betrüger. Er soll der Teufel in Menschenge stalt sein.». Und es stimmte. Er war der «Pfauen-Engel», der auf den Balkonen von Sistemi di Pavone stolzierte, auf dem Dach von Tawus Holdings hockte und zusah, wie in der Villa nicht weit vom Van-See Menschen starben. Er war es, den Terio in Diy arbakir aus einem Bentley hatte aussteigen sehen. Aber er war nicht der Teufel. Danny hatte Angst, ja, aber es war nichts Übernatürliches im Spiel. Da war er ganz sicher, obwohl er nicht sicher war, ob das eine Rolle spielte. Zebek war verrückt und böse, egal, was von beidem mehr Gewicht hatte. Und Danny konnte ihn nicht aufhalten. Wie denn auch? Ihm war, als würde sich die Luft im Restaurant dicht um ihn schlie ßen. Seine Stimmung sackte auf den Tiefpunkt. Die Ältesten würden ihre Versammlung in Zürich abhalten und Zebek die Kontrolle über das Jesiden-Vermögen übergeben – und mit dem Geld würde Zebek den ersten Assembler bauen. Innerhalb von einem Jahr wäre dann vielleicht der Brustkrebs vernichtet. Aber vielleicht auch alles Leben. 379
Danny bezahlte die Rechnung, bedankte sich bei Manziger und Unger und brachte sie nach Hause. Dann fuhr er zum Flughafen von San Francisco, um möglichst noch einen Nacht flug nach Washington zu erwischen. Aus der Dämmerung wurde Dunkelheit, eine diesige Dunkelheit, in die die Schein werfer seines Mietwagens Tunnel hineinbohrten. Alle paar Sekunden glitten die Scheibenwischer über das feuchte Glas. Er drehte das Radio an, suchte die Sender durch, schaltete es wieder aus. Was hatte er zu finden gehofft? Was für Musik könnte wohl zu seiner momentanen Gefühlslage passen? Ein Blues. Er schüttelte bei dem Gedanken den Kopf und ge stattete sich ein bitteres Lächeln. Denn schließlich hatte er es geschafft. Er hatte das Rätsel gelöst, hatte Zebeks Motiv für die Ermordung von Terio, Patel, Barzan, Inzaghi, Rolvaag heraus gefunden. Die Toten waren die Opfer von Zebeks Gier und Ehrgeiz, eliminiert, damit der Milliardär nicht entlarvt würde – als Hochstapler, der sein Volk betrog, als Wahnsinniger, der bereit war, die Zukunft des Universums aufs Spiel zu setzen. Zebek würde jeden töten, der sich ihm in den Weg stellte, jeden, der seinen Zugriff auf das Jesiden-Vermögen bedrohte – das Geld, das er zur Finanzierung seines Projektes bei VSS dringend brauchte. Und Danny hatte ihm die menschlichen Hindernisse auf dem Silbertablett serviert. Er hätte sie genauso gut als Schießbudenfiguren aufstellen können. Und jetzt? Jetzt konnte Danny ihn nicht mehr aufhalten. Das Spiel war aus. Und er hatte verloren. Es war kurz nach halb neun, als er vom Autoverleih mit dem Shuttle-Bus zum Terminal gelangte. Er hatte keine Mühe, noch einen Nachtflug zu erwischen: Abflug um Viertel vor zwölf, Ankunft in Washington um Viertel vor neun am nächsten Mor gen. Er hatte also noch reichlich Zeit totzuschlagen. Er trank eine Flasche Bier im Lindbergh Pub, wo ein paar einsame Reisende 380
ein Footballspiel im Fernsehen guckten. Er überlegte kurz, sich zu betrinken – dann würde er im Flugzeug wenigstens schlafen können –, entschied sich aber dagegen. Er trank nicht viel Al kohol. Und außerdem wollte er es denen nicht zu einfach ma chen. Wenn er schon dran glauben musste (und davon ging er aus), dann nicht mit verkatertem Schädel. Als verließ er die Bar und schlenderte durch das Terminal, auf der Suche nach einem Zeitungskiosk. Stattdessen fand er einen Laden, der sich Hook Me Up! nann te, wo man Internetzugang, Telefon und Fax mieten konnte. Für dreißig Dollar die Stunde bekam Danny ein eigenes kleines Büro und konnte seine Mails überprüfen, im Net surfen und herumtelefonieren – obwohl die einzige Person, die er gern anrufen würde, nicht mehr mit ihm sprach. Ein junger Mann in schwarzer Jeans und T-Shirt führte ihn in zu einem durch Trennwände abgeschirmten Arbeitsplatz und überließ ihn dann sich selbst. Er saß eine Minute lang da, starr te auf das Dell-Logo auf dem Monitor und fragte sich, was das alles noch sollte. Es war zu Ende. Jeder, der irgendetwas über Zebek wusste, war tot. Bis auf Danny – und dem war, wie man so schön sagte, auch nicht gut. Doch er könnte alles aufschreiben. Alles, was geschehen war, dokumentieren und an verschiedene Leute verschicken. Eine Ausfertigung an Caleigh (falls er es nicht mehr bis zu ihr schaffte, bevor Zebek ihn erwischte); eine Ausfertigung an seine Brüder Kev und Sean; eine Ausfertigung an Mounir (vermutlich war der Älteste postlagernd über Uzelyurt erreich bar); und eine an die Cops, die den Mord an Patel untersuchten. Es würde wahrscheinlich nicht viel bringen. Aber egal. Also bewegte er den Cursor auf das Word-Icon, klickte es an und schrieb: Im Falle meines Todes … Eine Stunde später hatte er auf fünf Seiten alles dokumen tiert, was sich ereignet hatte, angefangen mit Zebeks Anruf, um sich mit ihm am National Airport zu treffen. Danny erzählte 381
von der Telefonliste, die er besorgt hatte, und von seiner Suche nach Terios Computer, alles im Auftrag von Zebek, um die Drahtzieher der angeblichen Rufmordkampagne gegen ihn aus findig zu machen. Er schilderte, was er in Italien erlebt hatte, einschließlich seiner Flucht von Siena nach Rom, wo er Pater Inzaghi nur noch tot vorgefunden hatte. Er schrieb von seiner Suche nach Remy Barzan in Istanbul und «Kurdistan», ließ aber seine eigene Entführung unerwähnt. («Ich konnte Barzan über Umwege ausfindig machen», so seine Formulierung.) Anschließend wiederholte er, was Barzan ihm über Zebeks Machterschleichung bei den Jesiden erzählt hatte – wie der Finanzier in Geldnöten den heiligen Sanjak gegen eine Fäl schung mit seinem Konterfei austauschen und den Imam er morden ließ. Es war eine komplizierte Geschichte, und Danny tat sich schwer, sie halbwegs verständlich wiederzugeben. Er hatte so eben die Rolle des Dendrochronologen geschildert (und das unglückliche Schicksal, das den Norweger ereilt hatte, als er merkte, dass er noch mit keinem Wort Tawus Holdings er wähnt hatte. An anderer Stelle fiel ihm auf, dass er es versäumt hatte, auf Zebeks Ziel einzugehen – nämlich an das JesidenVermögen heranzukommen, um damit den ersten Assembler bei VSS fertig zu stellen. Und, ach ja – das würde dann wahr scheinlich den Weltuntergang bedeuten. So unzusammenhängend das Dokument insgesamt auch aus fiel, es würde Zebek vielleicht trotzdem irgendwann Ärger be reiten. Danny verlor noch ein paar Sätze über den ersten As sembler und verwies zwecks näherer Informationen auf Glenn Unger und Harry Manziger. Dann druckte er den Bericht mehr fach aus und setzte noch das Wall Street Journal und das Amt für Technologiebewertung auf seine Empfängerliste. In Wahrheit hatte er nur wenig Hoffnung, dass das langatmige Schreiben, das der Drucker neben ihm ausspuckte, irgendwas bewirken würde, aber er wollte etwas tun, und etwas anderes 382
fiel ihm nicht ein. Als alles ausgedruckt war, sortierte er die Blätter zusammen und kaufte bei dem jungen Mann in Schwarz Briefmarken und Kuverts. Er setzte sich wieder an den Computer, suchte im In ternet die Adressen heraus, die er nicht hatte, und warf die Um schläge in den Briefkasten vor dem Laden. Dann beschloss er nachzusehen, ob er irgendwelche Mails erhalten hatte. Und ob. Es waren siebenundsechzig an der Zahl, das meiste allerdings Witze und Werbung. Nachdem er alles Überflüssige gelöscht hatte, blieben noch drei interessante Nachrichten üb rig. Eine war von Lavinia Trevor. Danny, mein Bester! Wo stecken Sie denn? Ich hoffe, Sie sind fleißig bei der Arbeit! Am 1. & 2. Okt. räumen wir die September-Ausstellung. Sie müssten also am 3. mit dem Aufbau anfangen können. Die Vernissage ist Freitag, 5. Okt. um 19.00. Melden Sie sich dringend bei mir. Ich bin doch ein bisschen verunsichert.
Er schrieb eine kurze Antwort: «Kein Problem – alles klar – freu mich schon – bis bald!» Was soll’s? Falls er noch lange genug am Leben blieb, würde er für die Ausstellung schon irgendwas auf die Beine stellen. Die Idee mit den Talking Heads gefiel ihm immer besser. Die praktische Ausführung würde nicht allzu viel Zeit kosten, und der Aufbau selbst wäre ein Klacks. Babel On II wäre sicherlich kniffliger, ebenso wie die Beschaffung von Ausstellungssok keln für alles andere. Doch es war machbar. Falls er dann noch unter den Lebenden weilte. Die nächste Nachricht war von seinen Eltern. Sie waren wie der in Maine, und wo war er? Sie hatten mit Caleigh gespro chen: «Was ist passiert? Wir machen uns Sorgen, ruf an!» Er klickte auf ANTWORTEN und schickte ihnen eine Nachricht, die sie beruhigen sollte, ohne viel zu verraten. 383
Willkommen zu Hause! Bis bald. Macht euch keine Sorgen. Die Sache mit Caleigh bringe ich schon wieder ins Reine. Al les Liebe, Danny.
Die dritte Nachricht war ein einziges Gejammer von Ian, mit der Erklärung, dass Danny gefeuert sei. In einem Anflug von ungewohnter innerer Reife widerstand Danny der Versuchung, ihm eine rotzfreche Antwort zu schicken und entschuldigte sich für seine unvorhergesehen lange Abwesenheit. Er würde alles erklären, wenn er wieder da sei. Er überlegte, ob er Caleigh eine E-Mail schicken solle, ließ es aber. Es wäre reine Zeitverschwendung. Jede Mail von ihm würde ungelesen gelöscht werden. Aber er schickte eine Mail an Salim, seinen Wohltäter in Do gubeyazit. Er bedankte sich noch einmal und wünschte ihm und seiner Familie alles Gute. Irgendwann würde er irgendwas für den netten Mann tun, sich für alles revanchieren. Jetzt war es nur noch eine Stunde bis zum Abflug. In zwei Tagen würde Zebek sich mit den Jesiden-Ältesten in Zürich treffen – und das wär’s dann. Mounir und die anderen würden Dannys Bericht erst nach dem Treffen erhalten. Der würde ohnehin nichts bewirken. Ganz sicher nicht. Er enthielt zu we nig und kam zu spät – eine Geste, wo doch Beweise vonnöten waren. Dannys Wort gegen das Wort des leibhaftigen Tawus, eines lebendigen Gottes. Keine Chance, dachte Danny. Er hatte keinen Zweifel, dass es die Beweise irgendwo da draußen gab. Terio und Barzan hatten sich eine Probe in der unterirdischen Stadt verschafft. Der Jahresringexperte hatte die Fälschung ganz bestimmt irgendwie dokumentiert, aber er war tot und sein Gutachten verschwunden. Vernichtet oder ver schwunden. Aber vielleicht ist es ja in irgendeinem Aktenschrank abge heftet, dachte Danny, in Oslo. Oder es ist auf Rolvaags Privat computer. Aber das hatte Zebek bestimmt überprüfen lassen. 384
Wie Terios Haus war das von Rolvaag wahrscheinlich auch in Flammen aufgegangen. Der Typ aus dem Laden kam bei Danny vorbei und fragte: «Brauchen Sie was?» «Nein, ich hab alles», sagte Danny geistesabwesend. Geistes abwesend, weil ihm gerade eine Idee gekommen war. «Wenn doch, schreien Sie.» Danny lehnte sich zurück, drehte sich mit dem Bürosessel hin und her. Er musste an etwas denken, das Remy Barzan gesagt hatte. Barzan und Terio hatten auf Rolvaags schriftliches Da tierungsgutachten gewartet. Irgendwann hatte Terio mit Rol vaag telefoniert und von ihm das Ergebnis in groben Zügen geschildert bekommen. Daraufhin hatte Terio seinen Brief an Tawus Holdings geschrieben und um ein Treffen gebeten, in dem er über die Echtheit des Sanjak sprechen wollte. Paulina hatte den Brief, der auf ihrem Schreibtisch gelandet war, Zebek gegeben – der prompt Terios Ermordung in die Wege leitete. Aber hatte Rolvaag von dem Mord an Terio gewusst?, fragte Danny sich. Wahrscheinlich nicht. Terios eingemauerter Leichnam war erst nach Wochen gefunden worden. In der Zwi schenzeit hatte Rolvaag seine Untersuchung vermutlich abge schlossen und das Gutachten geschrieben. Vielleicht hatte er es seinem Klienten per Post oder als E-Mail-Anhang geschickt. Oder beides. Danny warf den Kopf in den Nacken und ließ seinen Stuhl einmal um die eigene Achse kreiseln. Auch wenn man schon tot war, kriegte man noch Post. Und E-Mails. AOL sperrte ei nem den Zugang, wenn die Rechnung nicht mehr bezahlt wur de – aber vorher nicht. Und bei freien Anbietern wie beispiels weise Yahoo, tja, so weit Danny wusste, blieben solche EMail-Konten immer aktiv. Und bei E-Mail-Konten an einer Universität war es wahrscheinlich nicht anders. Vermutlich wurden sie einmal im Jahr überprüft – wenn überhaupt. Was bedeutete, dass Rolvaags Gutachten – und damit der 385
Beweis, den Danny brauchte – vielleicht noch irgendwo auf einem Server war. Er brauchte bloß fünf Minuten, um Terios E-Mail-Konto an der George Mason University ausfindig zu machen. Seine MailAdresse stand auf der Fachbereichs-Site und lautete
[email protected]. Danny wusste, dass die meisten Universitäten ein mehrstufi ges Serversystem hatten und der Zugang über Telnet erfolgte. Er rief eine Nummer auf der Website an, um sich über OnlineRegistrierung zu informieren und wurde mit einer höflichen jungen Frau verbunden. Sie glaubte ihm, als er sich als freier Journalist ausgab, der einen Artikel über Web-Server schrieb, und erzählte ihm, was er über die Server der George Mason University wissen müsse. Bislang gab es vier, und sie waren nach bekannten Amerikanern benannt: Madison, Jefferson, Adams und Hale. Er wählte sich in Telnet ein, probierte alle vier Namen aus und fand Terios Konto in «Adams». Jetzt verlangte das System ein Passwort. Der Cursor – ein graues Quadrat auf schwarzem Hintergrund – blinkte geduldig. Danny wusste – aus Gesprächen mit den Technikern bei Fellner Associates –, dass das Passwort, das von rund neunzig Prozent der Leute mit einem Computer benutzt wurde, Pass wort lautete. Da er noch etwas Zeit bis zu seinem Flug hatte, probierte Danny sein Glück: Passwort Zugang verweigert
Alles klar, dachte Danny. Terio hatte also nicht zur großen Masse gehört. Er war Passwort-Individualist. Er benutzte also den Namen von einem seiner Haustiere, seiner Kinder oder Ehefrauen, wie es neunzig Prozent von den restlichen zehn 386
Prozent taten (laut Bob LaBrasca, dem Computer-Spzialisten bei Fellner). Leider Gottes war Terio aber unverheiratet und kinderlos gewesen, und er hatte auch keine Haustiere gehabt (soweit Danny wusste). Danny sah sich den Lebenslauf des Uni-Dozenten an und suchte nach einer Eingebung. Als er das Geburtsdatum sah, schrieb er: 14-10-60 Zugang verweigert
Er versuchte es mit dem College, an dem Terio studiert hatte: Georgetown Zugang verweigert
Er versuchte es mit etlichen Varianten, darunter «johns hopkins», probierte dann Namen und Wörter aus, die in Terios Geisterwelt einen besonderen Platz hatten: mani, zoroaster, scheich-adi, jesiden, pfau, sanjak, mesopotamien, avatara … Es war hoffnungslos, beschloss Danny. Selbst wenn er zufällig das richtige Wort fand, konnte es durchaus sein, dass Terio es rückwärts geschrieben oder eine 1 angefügt hatte. Danny wuss te einfach zu wenig über den Mann. Danny schloss die Augen und durchforstete sein Gedächtnis. Was wusste er noch über Terio? Er dachte an seine Gespräch mit Pater Inzaghi, Terios einzi gem guten Freund auf der Welt. inzhagi Zugang verweigert
Der Priester hatte erzählt, wie überrascht er über Terios «Selbstmord» gewesen sei, dass Terio das Leben geliebt habe, gern gelacht habe. 387
groucho
Zugang verweigert
harpo
Zugang verweigert
chico
Zugang verweigert
Schluss jetzt, ermahnte Danny sich. Du wirfst bloß Geld zum Fenster raus. Okay, den noch: Zeppo
Zugang verweigert
Inzaghi hatte auch irgendwas von einer «Eselsbrücke» erzählt. Irgend ein Spruch, den Terio witzig fand. Ein Wortspiel? Wie ging das noch mal? Danny überlegte. Irgendein Reim aus ei nem Kinderlied. Dann fiel es ihm wieder ein: heigh-ho the terio
Zugang verweigert
Er versuchte es ohne den Bindestrich, mit dem gleichen Ergeb nis. Danny fuhr sich mit einer Hand durchs Haar (es war jetzt wieder so lang, dass das ging) und betrachtete die Wörter. Die Zeile in dem Kinderlied lautete richtig Heigh-ho the derio. Es hatte etwas mit einem Farmer zu tun. Danny saß vor dem Monitor, die Augen gebannt auf den blinkenden Cursor, und dann fiel ihm die Strophe wieder ein. Er summte die Melodie: The farmer’s in the dell. The farmer’s in the dell, Heigh-ho the derio, The farmer’s in the dell.
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Farmer. Dell. Das bedeutete «Tal». Wieso Tal? Nein! Dell, die Computermarke! The farmer’s in the Dell. Im Computer. Und da stand das Wort ja auch, direkt vor ihm, und zierte den Monitor: Dell. Der Farmer war im Computer. farmer Zugang verweigert thefarmer Zugang verweigert farmersinthedell
Augenblicklich erschien eine lange E-Mail-Liste auf dem Bild schirm. Dannys Herz tat einen Sprung, und er sah mit einem Blick, dass die ungelesenen Mails fast zwei Monate zurück reichten. Er ging die Mails durch. Es waren, geordnet nach Absender, Datum, Größe und Betreff, über hundert ungelesene Mails und gut tausend andere, die nicht gelöscht worden waren. Genau wie Danny es bei Yahoo machte, hatte Terio den Universitäts server sozusagen als Online-Aktenschrank benutzt. Anhand der Betreffzeilen stellte Danny sofort fest, dass die meisten Nachrichten unwichtig waren – fakultätsinterne Mittei lungen oder Anfragen von Studenten und dergleichen. Doch dann entdeckte er rasch, wonach er suchte: Absender O. Rolvaag
Datum 22.70.01
Größe 7k
Betreff Nevazir-Probe
Er klickte die Mail an: Sehr geehrter Mr. Terio, die Ergebnisse der Radiokarbonanalyse sind aus dem AMSLabor eingetroffen, und in Verbindung mit der JahresringAnalyse, die wir in unserem eigenen Labor vorgenommen 389
haben, ergeben sie eindeutig, dass die getestete Probe höchstens 111 Jahre alt ist. Tatsächlich ist die 100 Gramm schwere Zedernprobe ver mutlich sogar noch jünger. Falls Sie eine präzisere Altersbe stimmung wünschen, können wir weitere Tests durchführen, die allerdings zeitaufwändig und relativ kostspielig sind. Wir haben uns lediglich auf die Maßnahmen beschränkt, die zur Beantwortung der für Sie interessanten Frage erforderlich waren, nämlich ob die Probe mindestens 800 Jahre alt ist.
Danny hörte, wie über Lautsprecher sein Flug aufgerufen wur de. Ohne zu reagieren, widmete er sich wieder der E-Mail. Die Probe stammt offenbar von einem Baum, der sein Wachstum zwischen 1890 und 1920 eingestellt hat. Erste Array-Vergleiche deuten darauf hin, dass der Baum vermut lich im Jemen heimisch war. Beigefügt sind folgende Anhänge: 1) eine JPEG-Datei, die die Vergleichs-Jahresringe sowie die Ergebnisse einer Kor relation-Scan-Analyse zeigt und eine Erläuterung unseres Verfahrens enthält. 2) digitalisierte Analysefotos mit für Laien verständlichen Erläuterungen 3) das Gutachten vom AMSLabor, das Informationen über Altersbestimmung, vorberei tende Methoden und das Analyseverfahren (in diesem Fall die Radiokarbonmethode) umfasst. Die Rechnung geht Ih nen per normaler Post zu.
«Die Passagiere des Fluges United Airways eins-sechs-eins nach Washington werden zum Gate dreiundzwanzig gebeten. Die Passagiere des Fluges …» In der Hoffnung, dass Sie mit unserer Arbeit zufrieden sind, verbleibe ich mit freundlichen Grüßen Dr. Ole Rolvaag
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Danny holte tief Luft, stieß sie wieder aus und ließ sich gegen die Rückenlehne fallen, wie elektrisiert und wie gelähmt zu gleich. Der Beweis für Zebeks Betrug war auf dem Monitor vor ihm. Jetzt hab ich dich, dachte er. Und dann dachte er: Und jetzt? Er speicherte die E-Mail samt Anhang auf einer Diskette, machte dann einen Ausdruck, um ihn auf dem Flug nach Wa shington zu lesen. Auf jeder Seite, so sah er, stand oben am Rand: «Oslo-Institut – Dendrochronologie-Projekt Mesopota mien. Nevazir-Probe.» Das Gutachten enthielt offenbar eine Erläuterung der Altersdatierung mit dem Radiokarbonverfah ren, und auf drei Seiten wurde dargestellt, wie die Ergebnisse der C-14-Datierung aufgrund bekannter Kalibrationen von Baumringen mit einem Kalenderjahr verknüpft werden konn ten. Wieder ertönte eine Durchsage: Dannys Flug wurde zum dritten Mal aufgerufen. Danny stand auf, sammelte seine aus gedruckten Seiten zusammen, heftete die verschiedenen Be richte zusammen, ging bezahlen und rannte in Richtung Gate dreiundzwanzig. Nach nur einer Minute war er außer Atem am Gate, wo die Airline-Mitarbeiterin ihm ein Lächeln schenkte, dass ihn schmerzhaft an Caleigh erinnerte. Sie setzte jedoch gleich eine tadelnde Miene auf, nahm seine Bordkarte und schob sie vor sich in das Gerät: «Lassen Sie es immer auf die letzte Sekunde ankommen?», fragte sie und winkte ihn eilig durch. «Ja», sagte er halb benommen. «Das tu ich. Das tu ich tat sächlich.»
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Als die 747 Richtung Washington flog, saß Danny auf einem Fensterplatz mit einem Glas Rotwein und blickte hinaus über die dunkle Weite des Landes. Es war nach Mitternacht, doch in der pechschwarzen Finsternis leuchteten noch immer vereinzel te Lichter, die plötzlich zu ganzen Galaxien aufflammten, wenn unter den Flügeln eine Stadt vorbeiglitt. Die Maschine war fast leer. Danny hatte eine ganze Sitzreihe für sich, wie eigentlich die meisten Passagier an Bord. Er ver suchte, sich zu erinnern, was Barzan ihm von den Ältesten und ihrem Treffen in Zürich erzählt hatte. Es war eine Vorstands versammlung von Tawus Holdings, aber da jeder im Vorstand ein Jesiden-Ältester war, hatte sie noch einen anderen Namen. Eine Schura. Und Barzan hatte gesagt, sie sei «morgen in einer Woche». Im Baur au Lac. Das Baur au Lac war vermutlich ein Hotel. Aber wie lange war es her, dass Barzan gesagt hatte, das Treffen sei «morgen in einer Woche?» Sechs Tage, sieben? Fünf? Es war wichtig. Es wäre sinnlos, nach Zürich zu fliegen – und er musste nach Zürich, jetzt, da er Rolvaags Gutachten und die JPEG-Dateien hatte –, wenn die Versammlung schon stattgefunden hatte. Also trank er seinen Wein und zermarterte sich das Hirn. Barzan hatte es in ihrem letzten Gespräch erwähnt, unmittel bar bevor die Schießerei anfing. Ein Treffen der Ältesten in Zürich, «morgen in einer Woche». Als Barzans «morgen» begann, saß Danny in Salims Pick-up. Dann folgte eine Fahrt in einem zweiten Pick-up und eine wei tere mit dem Bus nach Ankara. In Ankara hatte er die Nacht in einem Hotel verbracht und war am nächsten Tag nach Wa shington geflogen. Und dann hatte Danny im Haus seiner El tern übernachtet (noch am Tag drei) und war am Nachmittag 392
darauf nach Kalifornien geflogen. Wie viele Tage machte das? Vier, die Nacht im Motel außerhalb von San Francisco mitge zählt. Das Gespräch mit Unger und Manziger war heute gewe sen. Am Tag fünf. Dann ist also heute der sechste Tag, dachte Danny, der An fang des sechsten Tages, denn es war kurz nach ein Uhr mor gens. Und die Versammlung ist … morgen. In Zürich war auch der sechste Tag, aber es war bereits Frühstückszeit. Trotz der Zeitverschiebung müsste er es eigentlich schaffen. Gegen neun würde er am Flughafen Dulles landen. Um zwei, drei Uhr am Nachmittag wäre er schon über dem Atlantik. Und am frühen Morgen des siebten Tages, am Tag der Versammlung, würde er in Zürich eintreffen. Er nickte, um sich selbst zu beruhigen, trank sein Glas Wein leer und stellte es auf ein Tablett zwei Sitze weiter. Er knipste das Leselicht aus, zog sich eine Wolldecke unters Kinn, lehnte sich zurück, den Kopf am Rand des Fensters, und dachte: Hab ich auch richtig gerechnet? Der Informationsschalter im Züricher Flughafen war leicht zu finden, denn er war mit einem riesigen Ausrufungszeichen markiert. Von einer lächelnden brünetten Frau erfuhr Danny, dass er am besten mit dem Zug in die Stadt kam. «Die Roll treppe führt direkt auf den Bahnsteig. Alle zwölf Minuten fährt ein Zug zum Hauptbahnhof.» Sie schaute auf einen Fahrplan. «Der Nächste geht um 9.04 Uhr, Gleis fünf, der um 9.16 Uhr fährt von Gleis drei ab. Am Hauptbahnhof können Sie dann ein Taxi nehmen. Wenn Sie nicht viel Gepäck haben, können Sie auch zu Fuß gehen. Haben Sie schon ein Hotel?» «Das Baur au Lac.» Er sah, wie sie ganz kurz die Augenbrauen zusammenzog, während sie sein Sweatshirt und seine Jeans musterte. Seinen Zahn. «Sehr schönes Hotel», sagte sie. «Haben Sie dort Be scheid gegeben, wann Sie ankommen?», fragte sie. «Die Gäste 393
werden nämlich normalerweise abgeholt.» «Nein», erwiderte Danny. «In der Eile …» Er zuckte die Achseln. Sie blickte ihn forschend an. Schließlich sagte sie: «Jeden falls, das Hotel ist auf der Talstraße, nicht weit vom Bahnhof.» Sie faltete einen Stadtplan auseinander, drehte ihn um, damit Danny ihn richtig sehen konnte, und malte einen Kreis um den Hauptbahnhof und das Hotel Baur au Lac. Er erwischte den Zug um 9.04 Uhr noch, setzte sich ans Fen ster und sah hinaus, wo die kleinen Orte vorbeirollten. Er hatte sich die Schweiz anders vorgestellt. Keine Kühe, keine Berge, keine Skifahrer, nur propere Häuser mit gepflegten Gemüsegärten. Als die Stadt näher kam, sah er Mietshäuser mit Graffiti an den Wänden. Die Sprayer-Werke waren vom Stil her anders als die in den Staaten, mit vielen bildhaften Darstellungen und einer abwechslungsreichen Farbpalette. Er hatte sich die Schweiz auch kühler vorgestellt. Er kam aus dem Bahnhof, und eine drückende Schwüle schlug ihm entge gen, wie an einem Sommernachmittag an der Golfküste. Die Luft vibrierte, war dicht und grau, als wollte der Himmel jeden Augenblick explodieren. Danny folgte der leicht geschwungenen Bahnhofstraße mit ihren teuren Geschäften, Privatbanken und flotten Straßenbah nen, bis er kurz vor dem Zürichsee zur Talstraße kam. Nicht weit entfernt tuckerte vor einem Hintergrund aus tannenbe standenen Berghängen eine Fähre über den See. Er bog rechts in die Talstraße und geriet urplötzlich in eine kleine Parklandschaft, in der ein stattliches weißes Steingebäu de stand: das Baur au Lac. Auf dem Dach wehten drei Flaggen, die der Schweiz in der Mitte. Ein uniformierter Wachmann stand am Anfang der Zufahrt. Sie tauschten ein Lächeln aus, und Danny steuerte auf den Haupteingang zu, schwenkte aber im letzten Moment ab und betrat das Terrassencafé. Er blieb stehen, tat so, als wollte er 394
sich umzuschauen, doch in Wahrheit wollte er sich beruhigen. An den Tischen unter weißen Schirmen saßen vereinzelte gut gekleidete und teuer frisierte Gäste – viele davon Asiaten. Die ganze Terrasse wurde von zwei riesigen Bäumen beschattet, die Danny nicht benennen konnte. Drei Männer in maßge schneidertem Golfdress – die Golftaschen auf den Stühlen des Nachbartisches – saßen in der Nähe und schimpften über das Wetter. Im Garten hinter der Terrasse plätscherte ein Brunnen in Form einer Leier, deren «Saiten» von drahtdünnen Wasser strahlen dargestellt wurden. Ein Ober mit einem weißen Tuch über dem Arm nahm vor Danny Haltung an und verbeugte sich forsch. «Kann ich Ihnen helfen, Sir?» «Nein, danke», erwiderte Danny. «Ich muss weiter.» Mit ei nem Lächeln wandte er sich zur Lobby und dachte, Auf geht’s. An der Rezeption betrachtete eine Frau im mittleren Alter, dezent geschminkt und mit weißer Spitzenbluse, ihn über den Rand ihrer Halbbrille. Auf jede seiner Fragen antwortete sie kurz und knapp. Die Versammlung von Tawus Holdings beginne um sech zehn Uhr. Im Winterthur-Saal. Zweiter Stock. Und ja, Mr. Bar zan sei Gast im Hause, aber – sie rief in seinem Zimmer an – derzeit nicht erreichbar. «Möchten Sie eine Nachricht hinter lassen?» «Ja.» Sie lächelte und reichte ihm einen dicken, cremefarbenen Schreibblock mit dem Logo des Hotels darauf sowie ein pas sendes Kuvert und einen weißen Stift. Sie deutete zur Lobby, wo eine ganze Flotte von Sesseln auf einem Fliesenmeer trieb. Statt sich irgendwo hinzusetzen, stellte Danny sich an ein anti kes Schreibpult mit burgunderrotem Ledereinsatz und fing an zu schreiben. Wie spricht man einen Scheich an?, fragte Danny sich. Wie ist die Begrüßung? 395
Mr. Barzan, schrieb er, hielt dann inne und überlegte, wie er sein Anliegen möglichst nachdrücklich formulieren könne. ich bin im Besitz von ungeheuer wichtigen Informationen, über die Sie vor der Versammlung von Tawus Holdings Kenntnis haben sollten. Er blickte hoch und überlegte, wie viele Details er bereits ver raten sollte. Sicherlich wissen Sie inzwischen, dass Ihr Enkel, den ich kennen und schätzen gelernt habe, ermordet wurde. Um vier Uhr heute Nachmittag werden Sie sich mit dem Mann tref fen, der diesen Mord in Auftrag gegeben hat. Kurz vor seinem Tod hat Remy mir erzählt, dass er sich be müht hat, für Sie den Beweis zu erbringen, dass der Sanjak gefälscht ist. Ich habe diesen Beweis. Wieder hielt er inne. Wie sollte Mounir sich mit ihm in Ver bindung setzen? Danny hatte weder ein Hotelzimmer noch ein Handy. Es war wohl am Besten, wenn er den Scheich zu einer bestimmten Uhrzeit anrufen würde. Er blickte auf seine Uhr, aber sie zeigte noch immer die Washingtoner Zeit. Es war also fünf Stunden früher. Oder waren es sechs? Auf der Suche nach einer Uhr drehte er sich zur Rezeption um – und sah sie dort stehen. Die schöne Paulina, und sie starrte ihn mit ihren klaren, braunen Augen an, aus denen die Zuneigung eines Raubvogels sprach. Beide blieben einen langen Moment, wo sie waren, völlig perplex. Dann setzte Paulina sich in Bewegung und eilte mit klappernden Absätzen über den Fliesenboden zu den Fahrstüh len, wo, wie Danny jetzt sah, Augenbraue mit dem Rücken zur 396
Lobby stand. Danny ging in die andere Richtung. Auf der Terrasse be schleunigte er seinen Schritt, hastete an verdutzten Männern und Frauen vorbei und lief los, als er auf dem Rasen war. Er rannte zwischen Bäumen und Beeten hindurch und gelangte zu einem Kanal. Er hielt sich links, erreichte die Talstraße und ging auf die andere Seite in einen kleinen Park, wo an Ständen Eis und Getränke verkauft wurde. Er warf einen nervösen Blick über die Schulter und sah Augenbraue gut fünfzig Meter ent fernt an der Ecke Bahnhofstraße stehen und nach links und rechts schauen. Danny wäre am liebsten losgelaufen, hätte seine Reisetasche einfach stehen lassen, um auf dem belebten Platz auf der ande ren Seite der Limmat unterzutauchen. Wenn er es unbemerkt bis zur Brücke schaffte, wäre er in dem Menschengewimmel in Sicherheit. Aber das hieß, dass er ganz normal gehen musste. Danny stellte sich bei einem Eisverkäufer in eine Warte schlange, zog sein Sweatshirt aus und stopfte es in die Reiseta sche. Paulina und ihre ‹Freunde› würden nach einem roten Sweatshirt, nicht nach einem weißen T-Shirt Ausschau halten, das er jetzt trug. Er blickte auf und sah, dass sich ein zweiter Mann zu Augenbraue gesellt hatte. Die beiden standen vor ei nem Fotogeschäft und reckten die Hälse, schauten in entgegen gesetzter Richtung die Bahnhofstraße hoch. Ein Stück entfernt stand Paulina und sprach in ihr Handy. Danny holte tief Luft, drehte sich auf dem Absatz um und ging langsam auf den überfüllten Platz zu. Zu seiner Rechten lag der Zürichsee, zu seiner Linken die Limmat. Notfalls könn te er sich auch über das Geländer schwingen und ins Wasser mitten zwischen die Schwäne springen. Der kurze Weg über die Brücke schien kein Ende zu nehmen. Wie in Rom kostete es ihn ungeheure Anstrengung, sich nicht nach seinen Verfolgern umzudrehen. Er war allerdings ziem lich sicher, dass er, falls einer von ihnen ihn entdeckte, hören 397
würde, wie sie einander etwas zuriefen. Dann würde er seine Tasche fallen lassen und die Beine in die Hand nehmen. Und wenn er sich täuschte? Wenn Augenbraue ihn sah und seelenruhig hinter ihm herspaziert kam? In dem Fall würde der Tod ihn überraschen. Ein Messer zwischen die Rippen. Eine Kugel in den Hinterkopf. Ein Arm um den Hals und eine ra sche Drehung. Ich gehe nicht, ich «walke», dachte Danny und verlangsamte zähneknirschend sein Tempo. Er spürte förmlich ihre Augen im Rücken, eine Art visuelle Schwerkraft, die beharrlich gegen seine Schulterblätter drückte. Dann war er über die Brücke hinweg und wurde wieder schneller. Er folgte dem Weg des geringsten Widerstandes, huschte zwischen Autos und Fußgängern hindurch, mit häm mernden Herzen. Rasch hatte er den Platz hinter sich und kam in die Altstadt. Teure Läden und Restaurants säumten die ver winkelten Sträßchen, die für Autos zu schmal waren. Er folgte einer langen Treppe in einen kleinen Park mit Blick auf die Limmat. In der Mitte des Parks stand ein kreisrunder Brunnen mit drei Löwen, die das Wasser in Fontänen aus ihren Schlün den spien. An dem Brunnen stand eine junge, blonde Frau, die eine Thermosflasche auswusch. Sie verzog plötzlich das Ge sicht, und Danny dachte schon, es sei seinetwegen, weil er et was abgerissen aussah und außer Atem war. Aber das war es nicht. Es regnete, wie an der gesprenkelten Wasseroberfläche im Brunnen zu erkennen war. Die ersten Tropfen waren so groß und langsam, dass Danny praktisch zwischen ihnen hindurch gehen konnte, ohne getroffen zu werden. Dann wurde der Re gen stärker, und gleich darauf schüttete es wie aus Eimern, so heftig, dass es wehtat. Überall drängten sich Menschen schutz suchend in Hauseingänge und unter Vordächer. Danny fand einen leeren, schmalen Eingang und drückte sich gegen die Wand. Der Regen war so stark, dass er die Rinnstei 398
ne in reißende Bäche verwandelte. Direkt vor seinem Gesicht rauschte ein Wasservorhang auf den Bürgersteig. Er brauchte dringend ein Hotelzimmer – mit Telefon. Die Nachricht, die er Mounir geschrieben hatte, steckte zerknittert und unvollständig in seiner Tasche. Er würde den Scheich an rufen müssen, um ihn zu einem Treffen zu überreden. Also … erst mal ein Hotel. Aber welches? Danny spähte in den grauen Regenguss. Nicht hier, dachte er. Ich brauche ein Hotel in einem anderen Teil der Stadt. Das Labyrinth von Gas sen, das ihm eben noch genutzt hatte, konnte mir nichts dir nichts zum Nachteil für ihn werden. Die Altstadt mit ihrem Gewirr von Sträßchen war geradezu dazu angetan, jemandem über den Weg zu laufen, den man kannte. Danny wollte niemandem über den Weg laufen, den er kann te. Als der Regen aufhörte, folgte er den Bächen, die über das Kopfsteinpflaster bergab liefen. Kurz darauf bog er um eine Ecke und kam auf eine breite und belebte Straße, wo Leute mit Regenschirmen an einer Straßenbahnhaltestelle standen. Eine moderne Bahn mit der Nummer 23 hielt gerade, und Danny sprintete los. Er schaffte es noch so eben durch die hintere Tür. Die Bahn war voll besetzt – was gut war. Und niemand schien zu bezahlen. Der Fahrer fuhr. Es gab keinen Kontrolleur. Alle Plätze waren besetzt, und die Menschen standen dicht gedrängt im Gang. Auf dem Boden hatten sich Pfützen gebil det. Die Fenster waren beschlagen. Es dauerte nicht lange, und die Bahn kam zu einer Kreuzung, wo offenbar mehrere Linien zusammenliefen. Eine Computerstimme verkündete: «Belle vueplatz.» Durch die offene Tür sah Danny ein Riesenrad am See. Spontan stieg er mit den meisten Leuten aus, überquerte im Gedränge die Gleise und stieg in eine andere Bahn. Die Nummer vier. Diesmal riskierte er einen Blick nach draußen durch die beschlagenen Scheiben und suchte die Menschen menge nach Paulina und den Bodyguards ab. Als die Bahn 399
losfuhr, meinte er, Augenbraue zu sehen, wie er durchnässt allein am Fluss entlangging. Aber vielleicht täuschte er sich auch. Eine Weile später stieg Danny aus der Bahn und sah, dass er sich in einem Wohnviertel befand. Auf dem Straßenschild an der Ecke stand SEEFELDSTRASSE. Die Geschäfte, an denen er vorbeiging, sahen nicht exklusiv aus, sondern wie normale Läden: Haushaltswaren, Elektrogeräte, Reformhaus, Friseur, Reisebüro und zwei oder drei Secondhandgeschäfte für Desig nerkleidung. Er sah auch ein Jagdgeschäft, mit diversen Schusswaffen und Messern im Schaufenster. Eine Schaufen sterpuppe in Jägermontur zielte mit einem Gewehr auf ein aus gestopftes Wildschwein. Weitere Läden folgten. Drei Querstraßen später wollte er schon wieder in die nächste Bahn steigen, als er auf das Hotel Seefeld traf. An der Rezeption stand eine attraktive Blondine mit weißem Lippenstift und langen Silberohrringen. Er fragte, ob er ein Zimmer haben könne, und erhielt die knappe Antwort: «Selbstverständlich.» Während die Frau auf der Computertastatur tippte, sagte sie: «So eine Hitzewelle hatten wir schon lange nicht mehr», schob ihm dann den Zimmerschlüssel über die Chromtheke und schenkte ihm ein klägliches Lächeln. «Ich habe den Eindruck, dass Sie nicht zu den Amerikanern gehören, die überall auf der Welt klimatisierte Hotelzimmer erwarten, oder doch?» Danny schüttelte den Kopf. Natürlich nicht. Sein Zimmer im zweiten Stock war klein, aber modern. Und der reinste Backofen. Er zog die Vorhänge zur Seite und wollte die Doppeltür zu dem winzigen Balkon mit Blick auf die See feldstraße öffnen. Aber das war eine knifflige Angelegenheit, denn die Türen hatten einen komplizierten Mechanismus. Er ging in die Hocke wie ein Safeknacker und probierte fünf Mi nuten lang alle Möglichkeiten der Griffe und Hebel durch, bis 400
ihm der Schweiß an den Schläfen herunter tropfte. Schließlich sprangen die Türen auf und schwüle Luft strömte herein. Er ging zum Telefon, rief die Rezeption an und ließ sich mit dem Baur au Lac verbinden. Gleich darauf klingelte das Tele fon in Mounir Barzans Zimmer. Nach dem sechsten Klingel zeichen fragte eine Computerstimme, ob er für den Gast eine Nachricht hinterlassen wolle. Er überlegte kurz. Und legte auf. Mit einem schweren Seufzer zog er sich bis auf die Boxer shorts aus und legte sich auf die frische, weiße Tagesdecke, um nachzudenken. Er durfte sich nichts vormachen: Er war erst ein paar Stunden in Zürich, und die Situation war schon völlig eskaliert. Jetzt, da Paulina ihn gesehen hatte, war es so gut wie unmöglich, auf die Versammlung der Tawus Holdings zu gelangen. Zebek würde seine Leute überall postieren, in der Lobby, vor der Tür, ein fach überall. An einen Überraschungscoup war nicht mehr zu denken. Dennoch, Zebek konnte nicht wissen, wie viel Danny wusste. Er konnte nicht wissen, wie viel Remy Barzan Danny erzählt hatte, ja, vielleicht wusste er nicht einmal, dass Danny bei Bar zan gewesen war – je nachdem, ob man seinen Pass in der Vil la gefunden hatte oder nicht. Zebek konnte nicht wissen, was Danny von Manziger erfahren hatte. Auch nicht, dass es Danny gelungen war, Terios Mailbox zu knacken und an Rolvaags Gutachten zu gelangen. Aber das war eigentlich auch egal. Zebek würde ihn ohnehin umbringen lassen, nur um ihn sterben zu sehen. Auch wenn er von nichts eine Ahnung hatte. Auf dem Nachttisch zeigte eine Digitaluhr 12.18 an. Er musste unbedingt mit Mounir sprechen – vor der Versamm lung. Aber wie? Als er die Augen schloss, fiel ihm ein, dass Remy erwähnt hatte, sein Großvater habe hier eine «Schweizer Freundin». Danny setzte sich auf, nahm die Gelben Seiten zur Hand, 401
schlug das Register auf und suchte den Eintrag «Escortser vice». Es gab an die dreißig, und die Aussicht, überall anzurufen, war nicht gerade erheiternd. Aber da er ja sonst nichts zu tun hatte, machte er sich an die Arbeit. Sprachliche Probleme gab es keine, da weniger die Einheimischen eine «Begleitperson» wünschten als vielmehr ausländische Geschäftsleute, die für ein oder zwei Tage in Zürich waren. Bei jedem Anruf gab er sich als persönlicher Assistent von Mounir Barzan aus und sagte, er müsse ihn dringend sprechen, es sei ein Notfall. Die Damen waren freundlich, aber keine konnte ihm helfen. Als er fast die Hälfte der Liste abgearbeitet hatte, sagte eine Dame mit kehliger Stimme, er würde nur seine Zeit verschwenden. Danny war verblüfft. «Wie darf ich das verstehen?» Sie lachte glucksend. «Erstens», sagte sie, «wenn Sie wirk lich der Assistent dieses Burschen wäre, hätten Sie doch wohl den Service für ihren Chef vereinbart, oder?» «Na ja, möglich, aber –» «Zweitens», fuhr sie mit belustigtem Unterton fort, «glauben Sie wirklich, Sie könnten hier einfach anrufen und nach einem Kunden fragen? Und dass wir sagen würden, ‹Momentchen, bitte, ich glaube, er ist gerade bei Helena›? Wohl kaum.» «Da haben Sie Recht», gab Danny zu. «Aber ich muss den Mann unbedingt finden. Er steckt in großen Schwierigkeiten.» «Sie meinen, Sie stecken in großen Schwierigkeiten.» Dann wollte widersprechen, seufzte dann aber und sagte: «Ist das so offensichtlich?» «Eine Frage», sagte sie. «Bitte.» «Der Gentleman, den Sie suchen? Ist er Araber oder Afrika ner oder so?» «Warum wollen Sie das wissen?», fragte Danny. «Gewisse Etablissements sind auf eine bestimmte Kund 402
schaft spezialisiert.» «Oh. Das wusste ich nicht. Er ist … Kurde.» «Kurde, lassen Sie mich nachdenken. Ich glaube Thai Cen terfold ist bei Kunden aus dem Nahen Osten beliebt. Und Little Black Book. Aber schmücken Sie die Sache nicht aus. Sagen Sie einfach, es ist ein Notfall und der Typ soll Sie anrufen.» Es war ein guter Rat, und Danny bedankte sich. «Keine Ursache», sagte sie. «Und wer weiß. Vielleicht haben Sie ja Glück.» Um Viertel nach eins hatte Danny jedes Etablissement angeru fen, das im Telefonbuch stand. Und niemand schien Mounir zu kennen. Er war müde vom Jetlag und gähnte, aber er wollte nicht einschlafen. Er rief die Rezeption an und fragte, ob das Hotel Zimmerservice habe. Nein. Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, was ihn für ein paar Minuten wach machte, doch durch die drückende Luft und seinen Schlafmangel döste er bald wieder ein. Er durfte nicht einschlafen. Er musste sich irgendetwas einfallen lassen, wie er Mounir erreichen konnte. Er hatte noch knapp zweieinhalb Stunden Zeit, um sich etwas einfallen zu lassen. Er zwang sich zur Konzentration, beschwor Inzaghis zerschmetterten Körper herauf, den brutalen Mord an Remy Barzan, rief sich Manzigers Szenario mit dem grauen Schleim in Erinnerung, um die Müdigkeit zu vertreiben. Doch er war so benebelt, dass ihm nicht das Geringste einfiel, wie er an Mounir herankommen könnte. Und das Gähnen wollte ein fach nicht aufhören. Er brauchte Kaffee, wenigstens Kaffee. Er hängte den Hörer aus, weil er sich sagte, dass Mounir Barzan, wenn er anrief und das Telefon besetzt war, es be stimmt noch einmal versuchen würde. Er flitzte nach unten zu dem Café an der Ecke, und schon allein die kühlere Luft auf der Straße und der Kaffeegeruch, der ihm entgegenwehte, weckten seine Lebensgeister. Er bestellte sich einen dreifachen Espresso mit Milch zum Mitnehmen und kehrte im Schnell 403
schritt zum Hotel zurück, wobei ihm der heiße Becher fast die Hand verbrannte. Er war höchstens fünf Minuten weg gewesen, aber als er den Hörer wieder auf die Gabel legte, sah er am Telefon das rote Lämpchen blinken. Fluchend drückte er den Knopf, um die Nachricht abzuhören. Mounirs sonore, förmlich klingende Stimme meldete sich: «Hier spricht Mounir Barzan. Sie haben mich um Rückruf gebeten, aber Sie sind nicht da. Ich wohne im Hotel Baur au Lac. Ich bin den ganzen Tag in einer Ver sammlung. Wenn es dringend ist, können Sie mich heute Abend erreichen.» Anschließend erfolgte auf Englisch eine Zeitansage: zwölf Uhr fünfundvierzig. Mounir hatte also ange rufen, während Danny mit den Escortservices telefonierte. Die Telefonanlage des Hotels hatte offenbar keine Anklopffunkti on, und die eingegangenen Nachrichten wurden erst nach einer gewissen Verzögerung in der Voice-Mail gespeichert. Dannys Erleichterung darüber, dass er Mounirs Anruf nicht verpasst hatte, weil er sich einen Kaffee geholt hatte, verflog gleich wieder und wich frustrierter Wut. «Scheiße!» Er knallte den Hörer auf die Gabel und blickte sich wild im Zimmer um. Dann trat er auf den Balkon und knurrte: «Beruhig dich wieder!» Er drehte langsam durch. Er ließ sich aufs Bett fallen und lag da, starrte an die makel los weiße Decke und hatte das Gefühl, als hätte er einen Schlag mit dem Hammer abbekommen. Und was jetzt? Eine Straßen bahn sauste unter seinem Balkon vorbei, ihre Eisenräder durch schnitten das dumpfe Verkehrdröhnen. Vom Flur her ertönten Frauenstimmen in einer Sprache, die er noch nie gehört hatte. Eine von ihnen lachte, und ihre Freude war so echt, dass Danny sich noch schlechter fühlte. Und so ging es weiter – zehn, fünf zehn, zwanzig Minuten. Schließlich brachte er den Mut auf, noch einmal sein Glück im Baur au Lac zu versuchen. Doch Barzan war nicht in sei 404
nem Zimmer. Danny saß auf der Bettkante, den Kopf auf die Hände gestützt, und überlegte, welche Möglichkeiten ihm noch blieben. Er war der Verzweiflung nahe, als ihm plötzlich eine Idee kam. Er erinnerte sich an das Jagdgeschäft, an dem er auf dem Weg zum Hotel vorbeigekommen war. In der Schule hatte er mal ein Referat über die These halten müssen, dass sich durch eine Verschärfung der Waffengesetze in den USA die Kriminalitätsrate gar nicht oder nur wenig ver bessern würde. Als Beleg hatte er die Schweiz angeführt, die trotz sehr liberaler Gesetze sogar weniger Verbrechen ver zeichnete als Länder wie England, Kanada und Japan, wo die Kontrollen am rigorosesten waren. In der Schweiz wurden die Wehrpflichtigen nach der Entlas sung aus der Armee angehalten, ihre Sturmgewehre mit nach Hause zu nehmen und dort aufzubewahren. Eine besondere Erlaubnis war lediglich für den Besitz von Pistolen und auto matischen Waffen erforderlich. Der Kauf eines Schrotgewehrs war dagegen problemlos, selbst für Ausländer. Daher wusste Danny, dass er nur in den Laden unten auf der Straße spazieren musste, um sich eine Flinte zu besorgen. Er konnte bloß nicht damit umgehen. Zwar hatte er vor nicht mal einer Woche einen Mann erschossen, aber mit einer Pisto le, die ihm geladen und schussbereit in die Hand geschoben worden war. Er hatte nur noch abdrücken müssen. Eine Schrot flinte war etwas ganz anderes. Caleigh könnte es. Sie kam vom Lande und war eine fantasti sche Schützin. Aber was nützte ihm das jetzt? Trotzdem, dachte er, so schwer kann das doch nicht sein. Einfach anlegen, zielen und abdrücken. Wie bei dem Mann letzte Woche, da hatte er schließlich auch getroffen. Vielleicht war er ja ein Naturtalent. Aber so ganz überzeugt war er nicht davon. Egal. Etwas Besseres fiel ihm nicht ein. Er versuchte ein letztes Mal, Mounir im Baur au Lac zu er 405
reichen. Wieder Fehlanzeige. Mühsam hievte er sich vom Bett und hüpfte auf und ab, ver suchte, sich eine Energie vorzumachen, die er gar nicht ver spürte. Dann verließ er das Zimmer und eilte über die Treppe hinunter in die Lobby und auf die Straße. Zwei Minuten später stand er in dem Jagdgeschäft. Der Mann hinter der Theke war um die fünfzig, mit stechenden blauen Augen und einem frischen Gesicht. Er neigte den Kopf. «Was kann ich für Sie tun?» «Ich suche eine Schusswaffe», sagte Danny. Der Mann hob eine Augenbraue und setzte ein kleines Lä cheln auf. «Da sind Sie bei mir genau richtig. Was für eine Schusswaffe?» Eine, die Eindruck macht, dachte Danny. «Was ist mit der da?», fragte er und deutete mit einem Nicken auf eine schwar ze, gefährlich aussehende Waffe. «Das ist eine Uzi.» «Aha.» Der Mann schloss die Augen und nickte beifällig. «Ein Sturmgewehr, wenig Gewicht, sehr zuverlässig und leicht zu transportieren, da zusammenklappbar.» Er führte es vor. «Genau das, was ich suche», sagte Danny. «Ausgesprochen handlich.» Der Verkäufer wiegte die Waffe in der Hand. «Pistolengriff, das Magazin wird unten in den Griff geschoben – besonders praktisch im Dunkeln.» «Wieso?», fragte Danny. «Weil man nachladen kann, ohne hinzuschauen. Alles in al lem ein kompaktes Sturmgewehr.» Er legte die Uzi auf die Theke. «Wie teuer?» Der Mann griff nach seiner Lesebrille, die er an einer Kordel um den Hals hängen hatte, und setzte sie auf. «In Dollar?» Danny nickte. Der Mann wandte sich einem Computer zu, der auf einem 406
kleinen Pult hinter der Theke stand. Er tippte einige Sekunden auf der Tastatur herum und wartete. Schließlich drehte er sich wieder zu Danny um und sagte: «Zweitausendzweihundert achtzig Dollar.» «Tja», sagte Danny zaudernd. Er brauchte manchmal Tage, um sich für den Kauf eines bestimmten Pullovers zu entschei den. Und jetzt sollte er sich einfach so eine Uzi leisten – «Ich nehme sie», sagte er und holte seine Brieftasche hervor. Der Verkäufer war sichtlich erfreut. Dann seufzte er: «Aber zuerst», sagte er, «müssen wir den leidigen Papierkram erledi gen.» Danny blickte fragend. «Papierkram?» «Ja, natürlich, Sie brauchen einen Waffenerwerbsschein.» «Seit wann?» Der Verkäufer zuckte die Achseln. «Seit ein paar Jahren.» Als er die Enttäuschung seines Kunden sah, zeichnete sich in seinem Gesicht die Befürchtung ab, dass ihm ein lukratives Geschäft entgehen würde. «Ist das ein Problem?» Danny wusste nicht, was er sagen sollte. Er überlegte ange strengt. Schnell. «Es soll ein Geburtstagsgeschenk sein. Für meinen Schwiegervater. Er ist Sammler und – ich fliege mor gen schon zurück in die Staaten.» «Verstehe …» Sie standen eine Weile da und sahen einander an. Schließlich fragte Danny: «Könnten wir das Ganze vielleicht beschleuni gen?» Der Verkäufer blickte verwirrt. «Ich hab meinen Pass dabei», sagte Danny. «Wir füllen die Anträge aus, ich bezahle die Waffe, und Sie schicken die Pa piere an die entsprechenden Stellen. Und wenn sie zurück kommen, könnten Sie sie mir … zuschicken.» «Ja, aber ich brauche ein Bestätigung von der zuständigen Behörde in Ihrer Heimat, dass Sie nicht verrückt sind, nicht vorbestraft –» 407
«Die kann ich besorgen. Kein Problem. Ich könnte Sie Ihnen zufaxen.» Der Verkäufer blickte unsicher. «Das ist gegen die Vorschrif ten», sagte er. «Allerdings», fuhr er fort, «wenn wir den Betrag aufrunden würden?» Danny runzelte die Stirn. «Sie meinen, auf zwei-fünf?» Der Verkäufer zuckte die Achseln. «Ja. Und wenn Sie auch den Betrag aufrunden würden, wie viel wäre das dann?» «Das wären glatt dreitausend Dollar.» «Genau!» Danny überlegte. Schließlich sagte er: «Können Sie’s mir als Geschenk einpacken?»
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Der Verkäufer wickelte die Uzi in Schaumstofffolie und legte sie in einen Karton mit einer passenden Einlage aus festem Polystyren. Dann packte er den Karton und das Munitionsmaga zin in Packpapier und verschnürte das Paket mit einer Kordel. Es sah aus wie ein Päckchen für die Post. Auf dem Weg zum Hotel grübelte Danny darüber nach, wie er in den Saal gelangen konnte, in dem die Versammlung von Tawus Holdings stattfand. Vielleicht könnte er mit dem Taxi zum Baur au Lac fahren, dort mit der verpackten Uzi auf die Herrentoilette verschwinden, die Waffe herausnehmen und in den Saal stürmen. Nein, so weit würde er gar nicht kommen. Da Zebek wusste, dass Danny in Zürich war, hatte er seine Leute bestimmt um das Baur au Lac verteilt. Um in das Hotel zu kommen, brauchte Danny irgendeine Tarnung. Oder Verkleidung. Wieder in seinem Zimmer im Seefeld rief er im Baur au Lac an und ließ sich mit Mounirs Zimmer verbinden. Inzwischen kannte er die Nummer auswendig. Wenn er den alten Mann doch bloß erreichen könnte, dann könnte er sich mit ihm ir gendwo außerhalb des Hotels treffen, ihm die Diskette mit Rolvaags Gutachten geben und den nächsten Flug nach Hause nehmen. Aber das wäre natürlich zu einfach gewesen. Das Te lefon klingelte und klingelte, das Freizeichen traurig wie ein Nebelhorn, weil niemand dran ging. Also doch kein Wunder. Jetzt lag alles an ihm – an ihm und seiner Freundin, der hübsch verpackten Uzi. Er brauchte also dringend eine Verkleidung, um in die Hotel lobby zu gelangen. In den Saal würde er dann schon mit der Waffe kommen. Während er überlegte, was als Tarnung in Frage käme, fiel ihm ein, wie Remy Barzan auf die Ankunft 409
der «Soldaten» reagiert hatte oder besser gesagt nicht reagiert hatte. Erst als sie das Feuer eröffneten, war Barzan klar gewor den, dass sie ihn töten wollten. Menschen sahen nun mal die Uniform, nicht die Person, die sie trug. Leider gab es im Baur au Lac keine Uniformierten. Nur der livrierte Portier, und bis zum Haupteingang würde Danny es nie im Leben schaffen. Die einzigen Gäste, die er gesehen hatte, waren Geschäftsleute und Golfspieler. Das Bild der Golfspieler, die er auf der Terrasse hatte sitzen sehen, war für ihn wie eine Erleuchtung. Golfspieler trugen Golftaschen. Und Golftaschen eigneten sich vorzüglich, um ein Maschinengewehr durch die Lobby eines Luxushotels zu schmuggeln. Danny rief sich die Golfspieler auf der Terrasse genau in Erinnerung. Sie hatten Kappen getragen – sehr gut –, und Sonnenbrillen – noch besser. Er sah auf die Uhr: 14.43. Er klemmte sich die UziVerpackung unter den Arm und vergewisserte sich, dass er die Diskette mit dem Gutachten eingesteckt hatte. Dann lief er hin unter in die Lobby, um die blonde Frau an der Rezeption zu fragen, wo er eine Golfausrüstung kaufen könne. «Steht Ihnen ausgezeichnet, Sir!», sagte der dunkelhaarige Verkäufer und trat mit einem zufriedenen Seufzer einen Schritt zurück. Danny dagegen starrte sich entgeistert in dem großen Spiegel der Sportabteilung des Kaufhauses Jelmoli in der Bahnhofstra ße an. Sich jemals in Golfmontur zu sehen hätte er sich nun wirklich nicht träumen lassen. Doch da stand er, in rehbraunen Knickerbockers, Kniestrümpfen und schwarz-weißen Golf schuhen. Oberhalb der Taille schmückte ihn ein goldfarbenes Polohemd mit Wellenmuster, eine neue Ray-Ban und eine Golfmütze, die edlen Velourshandschuhe steckten lässig in der Gesäßtasche. «Benötigen Sie sonst noch etwas? Einen Regenmantel? 410
Einen Regenschirm?» «Nein, das wäre alles.» Eine jagdgrüne Gore-Tex-Golftasche gab seinem sündhaft teuren Outfit den letzten Schliff. Sie enthielt eine Grundausstattung mit den preiswertesten Schlägern, die im Jelmoli zu haben waren. Danny hatte die Tasche nur aus einem einzigen Grund gekauft: für die Uzi, die sich zwischen den Schlägern wunderbar verstecken ließ. «Ich denke, ich behalte alles gleich an», sagte Danny. «Ich bin in einer Stunde zum Golf verabredet.» «Wie Sie wünschen. Ich packe Ihnen Ihre Sachen ein.» Der Verkäufer faltete Jeans und Sweatshirt ordentlich zusammen und tat die Sachen in eine Tüte. Danny zahlte mit VisaCard und ging. Das Baur au Lac war nur einen Katzensprung von der Bahn hofstraße entfernt, doch in seinem Outfit kam Danny sich vor wie auf einem Laufsteg. Er nahm lieber ein Taxi und steuerte den nächsten Taxistand an. Der Fahrer öffnete den Kofferraum und verstaute die Golftasche und das Paket mit der Uzi. Dann hielt er Danny die Tür auf. Die ersten Wachleute von Zebek sah er am Ende der Zufahrt zum Hotel. Gaetano, der beunruhigt und äußerst konzentriert wirkte. Er spähte ins Taxi, als es an ihm vorbeifuhr, erkannte Danny mit Sonnenbrille und Golfkappe aber nicht. Auch sonst schenkte niemand Danny Beachtung. Er stieg aus dem Taxi, bezahlte den Fahrer, nahm seine Golftasche und das Paket und schlenderte an einem muskelbepackten Italiener vorbei, der an der Tür herumlungerte. Auf dem Weg zur Rezeption bemerkte Danny ein goldge rahmtes Schild auf einem Ständer: NOVARTIS-PHARMA AG
Jungfrauensaal
14.15 Uhr
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TAWUS HOLDINGS
Winterthursaal
16 Uhr
Danny ging an der Rezeption vorbei, strebte dann schnur stracks auf eine Eichentür mit der Aufschrift HERREN zu, betrat die Toilette und schloss sich in einer Kabine ein. Er lehn te die Golftasche an die Tür und setzte sich mit dem Paket aus dem Jagdgeschäft auf den Klodeckel. Er riss das Packpapier ab, nahm die Uzi aus ihrer Schaumstoffhalterung und schob das Magazin in den Griff. Es rastete hörbar ein. Dann schob er die Uzi zwischen die Schläger in der Golftasche, stellte die Tüte mit seinen alten Anziehsachen neben dem Klo auf den Boden und betätigte die Wasserspülung. Als er wieder in die Lobby kam, spürte er einen Adrenalin schub und hätte sich am liebsten aus dem Staub gemacht. Doch stattdessen ging er gemächlich zum Fahrstuhl und beschwor sich innerlich, nur die Ruhe zu bewahren. Ein dunkler Mann im schwarzen Anzug gesellte sich zu ihm und wartete mit ihm auf den Aufzug, der einfach nicht kommen wollte. Danny drückte immer wieder auf den Knopf und suchte nach einer Anzeige, in welcher Etage der Fahrstuhl sich befand. Aber es gab keine. Schließlich öffneten sich die Türen mit einem leisen Pling und ein Page schob einen Wagen voller Gepäck heraus. Die Fahrt in den ersten Stock, wo der Geschäftsmann hin wollte, dauerte gut eine Minute, was nicht sehr lang ist, wenn man nicht dabei den Atem anhielt. Was Danny tat, wenn auch nicht bewusst. Es machte Pling, als der Fahrstuhl anhielt. Der Geschäftsmann stieg aus. Die Türen schlossen sich. Danny holte tief Luft. Sein Plan, wenn man überhaupt von einem Plan sprechen konnte, war ganz einfach. Im zweiten Stock aussteigen. Die Uzi aus der Tasche ziehen, den Saal stürmen und «Keine Be wegung!» rufen. 412
So würde Bruce Willis das machen. Ein leises Pling verkündete die Ankunft im zweiten Stock. Die Türen glitten auf. Neben der geschlossenen Doppeltür des Winterthursaals, direkt gegenüber vom Fahrstuhl, saß auf ei nem Stuhl das Muskelpaket, das Danny Augenbraue getauft hatte. Sie sahen einander im selben Augenblick, aber Augenbraue brauchte zwei, drei Sekunden, bis er kapierte, dass der GolfDandy, der da vor ihm stand, der heruntergekommene Künstler war, den er umlegen sollte. Als er endlich von seinem Stuhl aufsprang, schlossen sich die Fahrstuhltüren schon wieder. Danny wusste nicht, welchen Knopf er gedrückt hatte, doch als die Türen wieder aufgingen, sah er an den Nummern auf den Zimmertüren, dass er im dritten Stock war. Er klemmte einen Fuß in die Tür und spähte rechts und links den Flur hin unter. An beiden Enden befand sich ein Treppenhaus, wie ein beleuchtetes grünes Schild mit einer laufenden Figur und einer stilisierten weißen Treppe verkündete. Er stellte die Golftasche auf den Boden des Fahrstuhls und zog die Uzi heraus. Die Waffe fühlte sich kalt und sperrig an. Sie verströmte einen öligen, metallischen Geruch. Und ob schon sie ihm gehörte, war sie ihm so fremd, dass sein Herz vor Angst ins Stolpern geriet. Er trat zurück. Die Türen glitten zu, und eine klaustrophobi sche Welle traf ihn wie ein Fausthieb in den Magen. Was mach ich denn!? Er konnte es nicht fassen. Die Waffe. Die Klamot ten. Die ganze Situation. Er schüttelte den Kopf, versuchte, das Gefühl, in der Falle zu sitzen, abzuschütteln, aber es ging nicht. Die Luft war stickig, der Fahrstuhl eng, die Waffe in seinen Händen schwer wie Blei. Was mach ich denn was mach ich denn? In seinem Kopf zischte es, als hätte er eine brennende Zündschnur von einem Ohr zum anderen. Und wenn was schief geht? Ich hab hier ein Maschinengewehr. Ich könnte damit ein Massaker anrichten. Alle im Saal töten. Panik durchfuhr ihn. 413
Pling! Das leise Geräusch detonierte in seinem Kopf wie eine Granate. Als die Tür aufglitt, stand Augenbraue vor dem Winterthur saal und sprach aufgeregt in ein Handy. Er erspähte die Uzi, bevor er sah, wer sie in der Hand hielt, und erstarrte. Er sagte noch: «Ciao», ließ das Telefon fallen und streckte die Hände in die Luft. Aus den Augenwinkeln nahm Danny Bewegung wahr, Män ner, die von beiden Enden des Korridors, wo sie wohl die Tü ren zum Treppenhaus bewacht hatten, auf ihn zugelaufen ka men. Doch sie wurden abrupt ihre langsamer und blieben dann stehen, als sie seine Waffe sahen. «Bleibt, wo ihr seid», sagte Danny zu ihnen und gab Augenbraue dann mit dem Lauf seiner Uzi zu verstehen, dass er voraus in den Saal gehen solle. Zebek saß am Kopfende eines langen Holztisches, dessen Oberfläche im Nachmittagslicht schimmerte. Um den Tisch herum saßen neun ältere Männer, die genau wie Zebek einen dunklen Businessanzug trugen. «Entschuldigen Sie die Stö rung», sagte Danny und stieß Augenbraue von sich weg. Jeder der Männer hatte vor sich auf dem Tisch ein Glas Was ser, eine blaue Mappe und einen teuer aussehenden Stift. Auf den Mappen stand in erhabener Goldschrift «Tawus Holdings». Das also war der Ältestenrat der Jesiden, und Danny sah, dass drei Männer, einschließlich Scheich Mounir, einen Laptop vor sich stehen hatten. «Scheich Mounir», sagte Danny «ich muss dringend mit Ih nen sprechen.» Seine Stimme klang hohl, als würde er in einem Raum ohne Widerhall sprechen. «Rufen Sie den Sicherheitsdienst», befahl Zebek und nickte Paulina zu. Sie griff nach ihrem Handy. «Ich schieß dir den Arm weg», sagte Danny zu ihr. Sie legte das Handy wieder hin. «Und wenn du nach der Pistole in deiner Handtasche greifst», fügte er hinzu, «blas ich dir den Kopf weg.» 414
Jetzt blickte sie beleidigt, faltete die Hände im Schoß und zog einen Schmollmund. Einer von den Altesten stellte Mounir auf Türkisch eine Fra ge. Mounir schüttelte den Kopf. Er wandte sich an Danny und fragte: «Kennen wir uns?» «Ich war bei Ihnen zu Hause – in Uzelyurt, wissen Sie nicht mehr? Vor zwei Wochen.» Aus den Augenwinkeln sah Danny, dass Augenbraue langsam näher kam. «Wag es nicht», schnauzte er ihn an und schwang die Uzi in einem Bogen her um, bis sie auf die Brust des Mannes zeigte. Augenbraue erstarrte. Danny wandte sich wieder Mounir zu und nahm die Golf kappe ab. «Sie haben mich kidnappen lassen», sagte er zu ihm. «Von zwei Männern, die mich in die Mangel genommen und dann zu Ihrem Enkel Remy gebracht haben. Das hat er Ihnen doch bestimmt erzählt.» Mounirs Augen in ihrem Nest aus Falten musterten Danny, und es war deutlich zu sehen, wie dem alten Mann langsam ein Licht aufging. «Ohhh, ja, natürlich», sagte er mehr zu sich selbst. «Aber Remy –» «Ich weiß», sagte Danny. Zebek lachte auf. Er wandte sich an Paulina und Augenbraue und sagte etwas auf Italienisch. Paulina kicherte und blickte zu Danny hoch. Augenbraue fluchte, und ohne sich noch von der auf ihn gerichteten Uzi abhalten zu lassen, trat er auf Danny zu, holte aus, als wollte er einen Baseball werfen, und landete ei nen blitzschnellen Haken auf Dannys Kinn. Danny sah nur noch flackernde Lichter, taumelte und fiel. Als er sah, wie Augenbraue eine Pistole unter seinem Jackett hervorzog, warnte er ihn einmal – «Waffe weg!» –, dann drückte er ab. Klick! Paulina kicherte. Klick klick klick! 415
Zebek lachte herzhaft. Sogar Augenbraue lächelte, als er die Uzi packte und sie dem Amerikaner aus den Händen riss. «Die funktioniert nur, wenn sie entsichert ist», erklärte Zebek. «Schön blöd», gestand Danny ein, und als er langsam vom Boden aufstand, stürzte er sich auf Zebek. Alle waren völlig überrumpelt, einschließlich Danny, der Zebek dreimal ins Ge sicht schlug und ihn von seinem Stuhl schleuderte. Er rammte ihm ein Knie in die Brust und wollte eben ein weiteres mal zuschlagen, als Augenbraue ihn am Kragen seines Polohemdes packte und wegzerrte. «Bringt ihn raus!», keuchte Zebek. «Der Mann ist ja wahnsinnig!» Augenbraue beförderte Danny schon Richtung Tür, als Mounirs Stimme das aufgeregte Geplapper der anderen Älte sten übertönte. «Ich will hören, was er zu sagen hat», verkün dete er. Zebek, der noch immer am Boden lag, traute seinen Ohren nicht. «Was!?» Er rappelte sich hoch, schlug mit der Faust auf den Tisch und fing an, in einer Sprache zu reden, die Danny nicht verstand. «Ich habe gesagt, ich will hören, was er zu sagen hat.» Zebek sprach erneut, und seine Worte waren so unverständ lich wie ihre Bedeutung klar. Er warnte Mounir vor irgendet was. Der alte Mann nickte. «Sie sind der Imam», sagte er. «Und ich bin hier der Vorsitzende. Da wir hier auf einer Geschäfts versammlung sind, werden wir den Mann anhören.» Er wandte sich an Danny. «Wie ist mein Enkel gestorben?» «Er hat ihn umgebracht!», sagte Zebek beschwörend. «Stimmt das?», fragte Mounir. «Nein», erwiderte Danny. «Das ist eine Lüge.» «Dann erzählen Sie uns, was passiert ist», befahl Mounir.
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Während einer der Ältesten leise für einige seiner Kollegen dolmetschte, erklärte Danny, dass Remy Barzan sich vor Zebek versteckt hatte – demselben Mann, vor dem Danny auf der Flucht war. Zweimal fiel Zebek ihm ins Wort, wurde jedoch sofort wie der von Mounir zum Schweigen gebracht. «Remy hatte eine Vereinbarung mit den Soldaten an einem Kontrollpunkt in der Nähe», berichtete Danny. «Sie kamen ein-, zweimal die Woche zum Haus, um nach dem Rechten zu se hen. Ich weiß nicht, ob sie richtige Soldaten waren oder sich nur verkleidet hatten. Jedenfalls, als ich bei Remy war, tauch ten sie irgendwann wie gewohnt auf … Remy hat sie auf dem Überwachungsmonitor gesehen. Er war überhaupt nicht beun ruhigt. Er ist rausgegangen, um mit ihnen zu sprechen! Und plötzlich fingen sie an, alle zu erschießen.» Zebek schnaubte. «Und Sie?», fragte Mounir, die Augen bohrend auf Danny gerichtet. «Ich bin weggelaufen und hab mich versteckt.» «Und Sie wissen nicht, wer die Männer waren?» «Und ob ich das weiß! Es waren Zebeks Leute!», erwiderte Danny. Bevor Zebek Einspruch erheben konnte, verbot Mounir ihm mit einer Handbewegung den Mund. «Woher wissen Sie das?», fragte er. «Weil ich ihn am Haus gesehen habe.» «Blödsinn!», fauchte Zebek. «Er ist mit einem Bentley gekommen.» Mounir blickte Danny lange in die Augen, holte dann tief Luft und wandte sich mit einem fragenden Blick Zebek zu. Zebek überlegte kurz und rieb sich das Kinn, wo Danny ihn geschlagen hatte. Schließlich räusperte er sich und sagte: «Wie Sie vorhin selbst sagten, Mounir: Wir sind hier auf einer Ge schäftsversammlung. Was zwischen Remy und mir geschehen 417
ist – oder nicht geschehen ist –, tut hier nichts zur Sache. Ich schlage vor, wir setzen unsere Besprechung fort und klären diese andere Angelegenheit später.» Mounir wandte sich an Danny. «Stimmt das, was er sagt? Dass Remys Tod nichts mit der Sache zu tun hat, die wir hier verhandeln?» Danny schüttelte den Kopf. «Im Gegenteil. Sie hat sehr wohl damit zu tun.» «Inwiefern?», fragte Mounir. Danny atmete tief durch. «Ich habe Ihnen alles aufgeschrie ben», erwiderte er. «In einigen Tagen erhalten Sie einen Brief von mir. Bis dahin …» Er griff in seine Tasche und holte die Diskette mit Rolvaags Gutachten hervor. Er schob sie Mounir mit Schwung über den Tisch zu und sagte: «Da ist alles drauf.» Mounir gab die Diskette einem älteren Mann, der neben ihm saß. Der ältere Mann schob sie in einen Laptop und rief eine von den Dateien auf. Mounir schaute auf den Monitor, auf dem ein Diagramm mit Jahresringvergleichen zu sehen war. «Was ist das?», fragte Mounir mit verdutzter Miene. Zebek lehnte sich zurück, um besser auf den Bildschirm blik ken zu können. Der fragende Ausdruck auf seinem Gesicht und verhärtete sich zu etwas anderem, als er mit großen Augen er kannte, was er dort sah. «Lassen Sie mich von Anfang an erzählen», schlug Danny vor. «Sonst verstehen Sie es nicht.» Mounir nickte ihm aufmunternd zu. «Dieser Mann da», begann er und deutete auf Zebek, «rief mich vor gut einem Monat an und sagte, sein Name sei Belzer und er würde sich gern mit mir treffen …» Es war eine lange Geschichte, die eine Weile dauerte, zumal Danny die ein oder andere Einzelheit vergaß und dann wieder zurückspringen musste, um alles verständlich zu machen. Eini ge Male bat ihn der Dolmetscher, kurz zu pausieren, damit er 418
mit dem Übersetzen nachkam. Aber schließlich schaffte er es. Zum Schluss sagte Danny: «Um es noch mal auf den Punkt zu bringen: Unser Freund hat den von Scheich Adi geschnitzten Sanjak gegen eine Fälschung ausgetauscht, weil er zum neuen Imam gewählt werden wollte, um so an das Geld zu kommen, das er für seine Firma braucht. Chris Terio und Ihr Enkel sind dahinter gekommen und haben das Holz der Skulptur testen lassen. Rolvaags Gutachten finden Sie auf der Diskette, aber das Ergebnis ist eindeutig. Mr. Zebek ist …» Danny überlegte. «Eine Gefahr.» Der Saal war stickig und völlig ruhig, das lauteste Geräusch ein gelegentliches Klicken von einer der Tastaturen. Dann fing Zebek an zu applaudieren, klatschte voller Sarkasmus langsam in die Hände. Als sich die Aufmerksamkeit aller Anwesenden ihm zugewandt hatte, legte er die Finger wie zum Gebet zu sammen und sagte mit sachlicher Stimme: «Er dringt in unsere Versammlung ein, bewaffnet mit einem Maschinengewehr. Er greift euren Imam mit Fäusten an. Und trotzdem schenkt ihr ihm Gehör?» Er hielt inne. «Begreift ihr denn nicht», fragte Zebek, «dass der Mann dort und die anderen – dieser Terio und Remy Barzan –, begreift ihr denn nicht, dass sie eigene Pläne hatten?» «Was für Pläne?», fragte Danny. Zebek würdigte ihn keines Blickes. «Er arbeitet bei Fellner Associates, einer Detektei, die Industriespionage betreibt. Die wollen meine Firma vernichten, um an die Patente zu kom men.» «Schwachsinn!», entfuhr es Danny. Mounir machte eine beschwichtigende Geste und deutete dann auf den Monitor vor sich. «Und das da?» «Was ist damit?», fragte Zebek. «Wollen Sie behaupten, die Dateien da sind eine Lüge?», fragte Mounir. Zebek zog die Augenbrauen hoch. «Sie meinen das Gutach 419
ten vom – wie heißt das noch gleich? Oslo-Institut? Das Gut achten von diesem Dendrochronologen?» Mounir nickte. Alle Ältesten fixierten Zebek. Der schnitt eine kleine Grimasse und sagte: «Nein, ich be haupte nicht, dass das Gutachten unrichtig ist. Ich bin sogar sicher, dass es vollkommen richtig ist.» Er hielt inne, um die Worte wirken zu lassen. «Dann …», setzte Mounir an. «Ich bin überzeugt, das Holz ist genauso alt, wie der Wissen schaftler festgestellt hat. Fünfzig Jahre, einhundert Jahre! Je denfalls, viel zu jung, um von dem Sanjak zu stammen.» Er machte wieder eine Pause. «Aber was beweist das?», fragte er. «Dass der Sanjak eine Fälschung ist? Wohl kaum. Es beweist lediglich, dass Terio und Barzan diesem Wissenschaftler, Rol vaag, ein Stück Holz übergeben haben, das nicht von dem San jak stammen kann.» «Wovon denn dann?», fragte Danny. Zebek zuckte die Achseln. «Vielleicht von einer Zigarrenki ste.» Dann schüttelte er den Kopf. «Ich finde, wir verschwen den mit diesem Unsinn nur unsere Zeit», sagte er. Die Altesten gerieten untereinander in eine Diskussion. Da Danny kein Wort verstand, sagte er zu Zebek: «Sie sind wirk lich ein total gestörter Mann, wissen Sie das?» Zebek blickte weg. Nach einem Moment hob Mounir eine Hand, und alle ver stummten. «Wir müssen diese Sache klären, bevor wir unsere Versammlung fortsetzen.» «Ich bin ganz Ihrer Meinung», sagte Zebek. «Ihr müsst ent scheiden, wem ihr glaubt. Eurem Imam – oder diesem … die sem Irren aus Amerika.» Sogar Mounir musste bei dieser Charakterisierung schmun zeln. «Dann sind wir uns ja einig», sagte er und erhob sich langsam. «Ihre Maschine steht am Flughafen?» «Meine Maschine?», echote Zebek. 420
«So viel ich weiß, haben Sie ein Privatflugzeug.» «Ja, stimmt», sagte Zebek, «aber –» «Dann sollten wir uns gleich auf den Weg machen.» «Aber wohin?», wollte Zebek wissen. «Wohin wollen Sie?» Mounir antwortete nicht, sondern wandte sich stattdessen an die anderen Ältesten. Er sprach kurz mit ihnen. Dann standen sie einer nach dem anderen auf und folgten ihm aus dem Saal. Das Flugzeug hob um kurz nach neunzehn Uhr ab und flog voll aufgetankt in südöstlicher Richtung. Den Piloten war gesagt worden, Athen anzufliegen, doch das war, wie sich herausstell te, ein Trick gewesen. Nach einer Stunde ging Mounir ins Cockpit und gab das neue Ziel bekannt: Diyarbakir. Zebek versuchte zwar, sich nichts anmerken zu lassen, aber der unerwartete Kurswechsel machte ihn sichtlich nervös, und er wurde merkwürdig still. Auch Danny schwieg. Es war sein erster Flug in einem Privatjet, und er fühlte sich zutiefst un wohl. Erstens gab es kein Personal an Bord, was bedeutete, dass es nichts zu essen geben würde. Zweitens, und das hatte er Mounir zu erklären versucht, gab es keinen Grund für ihn, ir gendwohin zu fliegen – außer nach Hause. Er hatte den Älte sten Rolvaags Gutachten gegeben, und er hatte ihnen alles er zählt, was er wusste. Wieso musste er sie noch nach Diyarbakir begleiten? «Weil einer von euch beiden lügt», erwiderte Mounir. Es war ein langer Flug, vergleichbar der Strecke New YorkDenver. Irgendwo über dem Kaukasus stand Zebek auf, ging nach hinten, wo Danny saß und nahm neben ihm Platz. «Sie hätten reich werden können», flüsterte Zebek. Danny warf ihm einen kurzen Seitenblick zu, schaute dann wieder durchs Fenster in die Dunkelheit. «Es ist noch nicht zu spät», sagte Zebek. Danny wandte ihm zu. «Haben Sie keine Angst, dass ich Ih nen noch eine verpasse?» 421
Zebek zuckte die Achseln. «Ich habe gesagt, es ist noch nicht zu spät.» Danny sah sich nach einem anderen Platz um, aber es waren alle besetzt. «Es geht hier um Träume», raunte Zebek. «Nicht um irgend ein Honorar. Ich rede von so viel Geld, wie Sie sich nur er träumen können, mehr Geld, als Sie je im Leben ausgeben können.» Danny rutschte unruhig hin und her. «Es geht nicht nur um Geld, auch um Zeit», fuhr Zebek fort. «Die Zeit, die ein Künstler braucht, um seinen Weg zu finden. Denken Sie an Paris … zusammen mit Paulina, wenn Sie möchten –» Danny schaute ihn an. «Wovor haben Sie Angst?» Bei der Frage fuhr Zebek zusammen, ein kurzes Zucken der Schulter, als hätte er durch statische Aufladung einen leichten Schlag bekommen. «Ich habe vor nichts Angst. Aber Sie hätten allen Grund dazu. Ich glaube, Mounir bringt uns nach Uzelyurt –» «Wozu?», fragte Danny. Zebek zuckte die Achseln. «Es wird eine große Versamm lung abgehalten – eine Art Dorfversammlung –, und es soll entschieden werden, wer von uns beiden die Wahrheit sagt. Offen gestanden, kann ich mir nicht vorstellen, dass das gut für Sie ausgeht.» Danny auch nicht. Zebek war der Imam, sprach fließend den Dialekt der Bevölkerung. Danny … war ein brotloser ausländi scher Bildhauer in Golfklamotten. «Also was wollen Sie?», fragte er. «Was soll ich tun?» «Sagen Sie denen, dass Sie gelogen haben», erwiderte Zebek. «Ich bringe die Sache mit Ihrer Freundin in Ordnung – über zeuge sie, dass das Video ein schlechter Scherz war. Ich kann alles in Ordnung bringen – auch die Probleme, die Sie bald mit den Jesiden haben werden. Aber Sie müssen Mounir sagen, 422
dass Sie gelogen haben. Und zwar bald. Vertrauen Sie mir –» Danny überlegte kurz und sagte: «Nee.» Sie landeten um kurz nach zwei Uhr morgens in Diyarbakir. Während die Piloten sich um die Zollformalitäten kümmerten, führte Mounir die Gruppe hinaus zum Parkplatz, wo eine Reihe schwarzer Mercedes-Limousinen wartete. Zu Dannys Überra schung tauchten seinen beiden kurdischen Kidnapper, Kukoc und der Nike-Typ, aus dem Terminal auf. Auf Mounirs Anwei sung hin brachten sie Zebek zum ersten Wagen, ließen ihn hin ten einsteigen und nahmen rechts und links von ihm Platz. Danny wurde zum zweiten Wagen geleitet, wo sich Mounir und zwei der Ältesten zu ihm gesellten. Sie saßen eine Minute da, und dann setzte sich der Konvoi in Bewegung. «Wann ist die Versammlung?», fragte Danny und musste ein Gähnen unterdrücken. «Ich hoffe, am Nachmittag, ich würde nämlich gern –» «Es wird keine Versammlung geben», erklärte Mounir. Danny lief eine Schauer den Rücken hinunter. «Aber … ich dachte, in Uzelyurt gäbe es eine Art Dorfversammlung. Zebek –» «– irrt sich», fiel Mounir ihm ins Wort. «Wir fahren nicht nach Uzelyurt.» Danny war perplex. Wohin denn dann? Mounir schien seine Gedanken zu lesen. «Wir fahren nach Nevazir», sagte er. «Die unterirdische Stadt?» Danny verstand gar nichts mehr. Er war benommen vom Jetlag, verängstigt und körperlich am Ende. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. «Aber wieso?», fragte er. «Was gibt’s denn da?» Mounir zündete sich eine Zigarette an, inhalierte tief und blies den Rauch in einem langen, dünnen Streifen aus. Er blick te zum Seitenfenster hinaus, schüttelte den Kopf und sagte: «Ich weiß es nicht. Vielleicht nichts.»
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Zwei Stunden ging die Fahrt über Serpentinen durch die Hügel und in die Berge hinein, deren blonde Erde jetzt grau im Mond licht lag. Schließlich bog der Konvoi von der Hauptstraße ab, bewegte sich dann im Kriechtempo über einen Sandweg und hielt endlich auf einer von Zypressen umstandenen Lichtung. Die Motoren verstummten, und die Passagiere stiegen aus. Zebek, dem seine beiden Bewacher nicht von der Seite wi chen, knurrte vor Zorn und Furcht zugleich. Danny verstand zwar kein Wort, aber Zebeks Tonfall ließ keinen Zweifel dar an, dass er sich hintergangen fühlte. Er hatte offenbar nicht damit gerechnet, dass man ihn hierher bringen würde. Sie standen rund zwanzig Meter vor einem Eingang, der in den Berg führte. Zwei gewaltige, alte Eisentüren öffneten sich und gaben den Blick auf eine schwarze Höhle frei. Neben dem Eingang stand ein junger Mann mit einer Kiste voller Taschen lampen, die er an die Ältesten verteilte. Danny eilte zu Mounir. «Was ist denn da drin?», fragte er. Mit einem Schulterzucken sagte der alte Mann: «Nevazir.» «Ah ja, also, ähm, wenn’s Ihnen nichts ausmacht, warte ein fach ich hier draußen», sagte Danny. Mounir grinste, schüttelte dann den Kopf. Er nahm Danny am Arm, drückte ihm eine Taschenlampe in die Hand und führ te ihn in einen langen, niedrigen Gang, der sich durch eine Reihe höhlenähnlicher Räume immer tiefer nach unten wand. Die unterirdische Stadt, so wusste Danny inzwischen, war wie ein riesiger Termitenbau, mit weit verzweigten Stollen. Das Licht der Taschenlampen bohrte sich durch die Dunkel heit und tanzte über die Felswände. «Wohin gehen wir?», frag te Danny, der bewusst durch die Nase atmete, um nicht zu hy perventilieren. Er kam sich vor wie in einem Bergwerk mit aberhundert Gängen. Hoffentlich verirren wir uns nicht, dachte Danny. Hoffentlich halten die Taschenlampenbatterien. Sein Jetlag war wie weggeblasen, verdrängt von einem überwälti genden klaustrophobischen Gefühl. 424
«Was ist das?», fragte Danny und blieb neben einem runden Felsbrocken, der in einer Art Nische an der Seite des Ganges bedrohlich auf einem primitiven Sockel lag. Es sah aus, als würde der Fels lediglich von einem sehr viel kleineren Stein, der in dem Spalt zwischen Sockel und Felsen klemmte, an Ort und Stelle gehalten. «Damit wurde früher der Tunnel blockiert», erklärte Mounir. «Wenn Feinde in diese Stadt eindrangen, konnten die Men schen unseres Volkes die Gänge hinter sich verschließen. Ir gendwann gaben ihre Feinde dann auf.» «Und was dann? Haben Sie den Felsen wieder weggerollt?» Mounir schüttelte den Kopf. «Unmöglich. Sie mussten einen neuen Gang graben.» Sie waren jetzt seit gut fünfzehn Minuten unterwegs. Es ging langsam voran, weil einige von den Altesten nicht mehr gut zu Fuß waren. Vielleicht waren auch schon weit mehr als fünf zehn Minuten vergangen. Danny hatte hier unten jedes Zeitge fühl verloren. Und jede Orientierung. «Wo sind wir?», fragte er. «Etwa zwanzig Meter unter der Erde», erwiderte Mounir. «Es ist nicht mehr weit.» Und tatsächlich. Einige Minuten später weitete sich der Gang zu einer Höhle mit hohen Decken und einer gewölbten Nische in einer Wand. Ein goldener Vorhang hing schlaff im Dunkeln an einer Eisenstange und verbarg, was sich dahinter befand. Zebek stand mitten im Raum, flankiert von seinen Bewa chern, und machte seinem Zorn Luft. Der Schein der Taschen lampen zitterte in der modrigen Luft. Danny hatte ein mulmi ges Gefühl. «Da wären wir also!», erklärte Zebek mit einer ausladenden Armbewegung. «Und wozu? Was soll das werden?» Seine Stimme klang höher als sonst. Mounir räusperte sich. «Ich habe mir gedacht, dass Sie viel leicht Recht haben», sagte er. «Dass dieser junge Mann hier 425
und Remy – und der Mann namens Terio – sich gegen Sie ver schworen haben.» «Ganz genau!», rief Zebek. «Kein Wunder! Schließlich war keiner von ihnen ein Anhänger des Glaubens! Wieso sollte jemand diesem amerikanischen Jungen glauben und nicht mir? Wir – die wahren Jesiden, die Treuen – sind seit tausend Jahren Opfer von Intrigen!» Mounir nickte, als würde er zustimmen. «Ich habe mich ge fragt», sagte er, «wie wir feststellen können, ob der Sanjak eine Fälschung ist – oder ob das Gutachten ein Schwindel ist. Hat der Wissenschaftler in Norwegen ein Holzstück getestet, das von dem Sanjak stammt – oder war es vielleicht ein Stück Treibholz, das irgendwer am Ufer des Van-Sees gefunden hat? In jedem Fall ist die Sache ernst. Falls der echte Sanjak, unser größtes Heiligtum, das Scheich Adi höchstpersönlich geschaf fen hat, durch eine Fälschung ersetzt wurde, dann ist ein unge heures Sakrileg begangen worden.» Der alte Mann räusperte sich. «Andererseits», fuhr er fort, «könnte es sein, dass gewisse Gruppierungen aus politischen oder persönlichen Gründen gegen den Imam sind, den die Älte sten den Regeln entsprechend gewählt haben. Es könnte sein, dass solche Gruppierungen danach trachten, durch ein falsches Gutachten Zweifel zu säen, was die Richtigkeit der Wahl und die Legitimität des neues Imam angeht. Vielleicht wollen sie Zeit schinden, während sie ein Attentat planen.» Der alte Mann blickte Danny an, der plötzlich nervös wurde. Schön ruhig bleiben, ermahnte er sich, bemüht, Mounirs gelassenem Blick nicht auszuweichen. «Ein falsches Gutachten», fuhr der alte Mann fort, «wäre gleichfalls ein Sakrileg, der Versuch, den Willen des Tawus und die Prophezeiungen der Schwarzen Schrift zu unterlaufen.» Mounir brach ab, blickte von Danny zu Zebek, schüttelte den Kopf. «Aber wie sollen wir darüber be finden?» Zebek setzte an, etwas zu sagen, doch Mounir hob eine 426
Hand, und der Milliardär verstummte. «Ich hatte folgenden Gedanken», sagte Mounir. «Falls der Sanjak, den wir Ältesten während der Wahl des neuen Imam gesehen haben, eine Fälschung war, dann hätte der Fälscher ihn sicherlich zerstört, sobald die Statue ihren Zweck erfüllt hatte. Der Sanjak ist stets verhüllt. Sein Antlitz wird ausschließlich während des Wahlvorgangs enthüllt. Der neue Imam ist jung. Er wird wahrscheinlich jeden Ältesten überleben. Es ist sogar möglich, dass der echte Sanjak wieder an seinen angestammten Platz zurückgebracht wurde, aber das würden wir natürlich sofort wissen, wenn wir sehen, dass es ein anderer Sanjak ist als der, der unseren Wahlvorgang überwacht hat.» Dannys Augen huschten von Zebek zu der Nische und wie der zurück. Der bankrotte Milliardär war wie ein Reh, das im Scheinwerferkegel eines Autos erstarrt. «Aber wenn das Gutachten Schwindel ist», fuhr Mounir fort, «dann hätte jedes beliebige Stück Holz als Testprobe herhalten können. Und in diesem Fall wäre der Sanjak, den wir gesehen haben, noch immer hier.» Der alte Mann seufzte. «Also, womit haben wir es hier zu tun?», fragte er und blickte von Danny zu Zebek. «Ich hab genug von dem Theater», polterte Zebek und wand te sich zum Gehen. Einer der Bewacher stellte sich ihm in den Weg. «Schön hier geblieben», sagte er. Mounir schritt langsam zu der Nische in der Wand. Als er nach dem Vorhang griff, wollte Zebek sich auf ihn stürzen, wurde aber von Kukoc und dessen Helfer zurückgehalten. «Das ist verboten!», rief Zebek. «Der Sanjak muss verhüllt bleiben –» Der alte Mann zog den Vorhang beiseite, und allen Ältesten verschlug es den Atem. Hinter dem Vorgang stand ein schwar zer Marmorsockel, auf dem ein kleines Samtquadrat lag – das war alles. Einer der Ältesten ging mit einem Schnappmesser 427
auf Zebek los. Zebek wich ihm aus und wollte durch den Gang entkommen – doch Kukoc stellte sich ihm in den Weg. «Was haben Sie mit dem echten Sanjak gemacht, Zerevan?», fragte Mounir mit leiser Stimme. «Wo ist er?» Zebek schien kleiner geworden zu sein, geschrumpft. «Wenn ich es euch sage», erwiderte er, «lasst ihr mich dann gehen?» Mounir schnaubte und schüttelte den Kopf. «Ali und Suha werden es schon aus dir herauslocken», sagte er, auf Kukoc und dessen Helfer deutend, «aber Sie können sich die Qualen ersparen.» «Ich bin nicht dafür verantwortlich», jammerte Zebek. «Ich hab nichts damit zu tun.» Das war Zebeks letzter, schwacher Protest. Dannys ehemali ge Folterer packten Zebek, und Danny wappnete sich innerlich. Er war nicht sicher, ob er mit ansehen konnte, wie der Milliar där in die Mangel genommen wurde. Doch Zebek wusste ge nau, dass jeder Widerstand nur sinnlose Schmerzen bedeuten würde. Er gab nach, ehe ihm auch nur ein Haar gekrümmt wurde. Kaum hörbar sagte er: «Sotheby’s.» Mounir war so entsetzt, dass er die Worte kaum herausbrach te. «Sie haben den Sanjak verkauft?» «Noch nicht», erwiderte Zebek kühl. «Die Versteigerung ist nächsten Monat.» Mounirs Gesicht wurde hart, und er richtete sich kerzengera de auf, um dann eine knappe, förmliche Verbeugung auszufüh ren. «Wir lassen Sie jetzt allein», sagte er, rief dann einen Be fehl, den Danny nicht verstand. Einer nach dem anderen ver ließen die Ältesten langsam den Raum. Zebek wütete auf Kur disch, und sein Ton verriet, was er sagte: Das nicht! Um Gottes willen! Ich bring euch alle um! Irgendsowas in der Art, wie Danny sich zusammenreimte, ei ne Mischung aus Flehen und Drohungen. Kurz bevor sie den Raum verließen, legte Mounir eine Hand auf Dannys Ärmel. 428
«Geben Sie ihm Ihre Taschenlampe», befahl er. «Später wer den wir ihn draußen hinlegen, für die Vögel. Das ist alter Brauch.» Die Vögel? Wie bitte? Danny erinnerte sich undeutlich dar an, aber er wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Er wollte nur noch hier raus. Er drehte sich um und ging rasch zu Zebek: «Hier», sagte er und drückte ihm die Taschenlampe in die Hand. Der in Ungnade gefallene Imam starrte einen langen Augenblick auf die Lampe, hob dann den Blick und sah Danny an. Tränen der Angst glitzerten auf seinen Wangen. «Bitte», sagte er. «Das könnt ihr doch nicht machen.» Sag das Chris Terio, dachte Danny, behielt es aber für sich. «Ciao», murmelte er, drehte sich um und ging rasch hinaus. Als er wieder bei Mounir und den Ältesten war, sah er zu, wie Kukoc ein Stemmeisen hinter den Stein klemmte, der den Fels brocken in der Nische sicherte. Plötzlich bewegte sich der Fel sen und kippte langsam nach vorn. Danny warf einen verstör ten Blick auf Zebek, der wie angewurzelt dastand und mit der Taschenlampe auf den Boden leuchtete, und sah noch so eben, wie er den Mund zu einem stummen Schrei öffnete. Dann wichen alle zurück, als der Felsbrocken vor den Durchgang stürzte und Zebek in das pechfinstere Grab seiner Kindheit einschloss.
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Epilog
Das Schwierigste waren nicht die Vorbereitungen für die Aus stellung. Das Schwierigste war die Rückeroberung von Ca leigh. Die Installation Talking Heads hatte ihn hundert Dollar geko stet. Aus Kleiderbügeln und alten Bettlaken hatte er die Gestel le gebastelt, und auch die Pappmachéköpfe waren so gut wie fertig. Es waren sieben Stück, und es fehlten nur noch ein paar La gen Kleisterpapier, damit sie stabil genug waren, um die Reise in die Galerie zu überstehen. Im Moment standen sie im Keller seiner Eltern und trockneten. Die Idee mit den Köpfen gefiel ihm immer besser. In der bürgerlichen Umgebung seines Elternhauses wirkten sie fast so geheimnisvoll wie ihre Vorbilder auf der Osterinsel. Bald wür de er sie mit Collagen aus Zeitungsschlagzeilen und Fotos von Nachrichtenmoderatoren und Talkmastern bekleben. Jay Leno, Oprah Winfrey und David Letterman. Wenn sie fertig war, würde die Installation etwas darüber aussagen, wie Amerika Starruhm zu einer fast religiösen Bedeutung erhob. So hoffte er jedenfalls. Wenn er nicht an den Köpfen arbeitete, hing er am Telefon; eine Gärtnerei konnte er überreden, ihm Fertigrasen zu spen den, mit dem er den Galerieboden auslegen wollte, und er lieh sich Fernsehapparate, die er in das lackierte Sperrholzgerüst stellen wollte, das sein Vater netterweise für ihn gebaut hatte. Vor lauter Arbeit war er noch nicht einmal dazu gekommen, sich den Zahn in Ordnung bringen zu lassen. Er hatte ohnehin kein Geld dafür, aber seine Mutter, die jedes Mal zusammen zuckte, wenn sie ihn lächeln sah, bekniete ihn geradezu. «Da niel, ich bezahl dir die Behandlung. Meinetwegen als verspäte 430
tes Geburtstagsgeschenk. Bitte lass es machen, du siehst un möglich aus.» Aber er erstickte in Arbeit. Er organisierte einen Transporter, um Gemälde und Skulpturen – darunter Babel On II – in die Neon Gallery zu schaffen. Sein Vater würde ihm helfen, die Skulptur auseinander zu nehmen und die Einzelteile farblich zu kennzeichnen, damit alles wieder richtig zusammengesetzt werden konnte. Die Arbeit nahm kein Ende, aber Danny spürte, dass die Ausstellung gut werden würde. Dass sie wunderbar werden würde. Und sie schlug sogar schon im Voraus Wellen. Von Lavinia erfuhr er, dass Culturekiosque mit ihm ein OnlineInterview vorhabe und das die Post ihn im Feuilleton der Sonn tagsausgabe vorstellen wolle, in einem Artikel über «drei Wa shingtoner Künstler auf dem Weg nach oben». Wenn doch sein Liebesleben nur halb so viel versprechend gewesen wäre. Aber Caleigh weigerte sich, auch nur mit ihm zu sprechen. Er hatte sich verrückte Sachen überlegt, wie er sie zurückgewin nen könnte, aber sie waren allesamt kitschig oder zu teuer und manchmal beides: eine Werbewand oder besser ein Flugzeug, das an den Himmel schrieb: Danny loves Caleigh. Körbe mit Margeriten (ihren Lieblingsblumen), die ihr ins Büro geliefert wurden. Ein Opernsänger, der unter ihrem Fenster eine Arie schmetterte. Ein Hundewelpe. Nicht das Kitschige hinderte ihn daran, etwas davon in die Tat umzusetzen – er mochte Kitsch –, sondern er wusste ein fach, dass nichts davon fruchten würden. Was er getan hatte, war in Caleighs Augen unverzeihlich, und das waren die einzi gen Augen, die zählten. Du hast es vermasselt, sagte er sich. Ganz einfach. Aber so einfach nun doch nicht. Er saß gerade bei seinen El tern im Wohnzimmer und schaute sich Forrest Gump im Fern sehen an, als ihm die rettende Idee kam. Wenn Gump mit Elvis 431
tanzen und John F. Kennedy die Hand schütteln konnte – dann bestand auch noch Hoffnung für Danny. Sein Einfall war zwar nicht unbedingt moralisch unantastbar, aber er war Erfolg ver sprechend. «Als ich zuletzt mit ihr gesprochen habe», sagte Caleighs Va ter, «wollte sie verständlicherweise nichts mehr von dir wissen, mein Sohn.» Verständlicherweise! Das Wort traf ihn ins Herz. Mit den Jahren waren er und Caleighs Vater so was Ähnliches wie Freunde geworden. Er seufzte, wusste nicht, was er sagen soll te. «Ihre Mutter und ich, wir verstehen das einfach nicht.» Wieder ein Stich ins Herz. «Wir haben immer gedacht, du und Cay, ihr würdet irgendwann heiraten», sagte Clint. «Uns ein paar süße Enkelkinder schenken.» «Ich will sie ja heiraten», sagte Danny, «Aber ich komm nicht nah genug an sie dran, um sie zu fragen. Sie … spricht kein Wort mehr mit mir.» Es gab so viel zu sagen, dass sie beide eine ganze Weile schwiegen. Schließlich fragte Clint: «Wieso hat sie dir eigent lich den Laufpass gegeben?» Ehe Danny antworten konnte, fügte Clint hinzu: «Schon gut. Du musst es mir nicht erzählen.» «Ich war … ein Idiot», sagte Danny. Clint seufzte. «Ich kann’s mir schon denken», sagte er. «Eine andere Frau.» «Es war im Ausland, und … ich war betrunken.» «Genau das hab ich zu Ralph Tanner gesagt, als ich seinen Hund überfahren hab», sagte Clint. «Nur dass es nicht im Aus land war und außerdem – der Hund war trotzdem tot, verstehst du?» «Ja», erwiderte Danny. «Ich weiß.» «Aber das Problem bei Cay ist, sie ist nicht der Typ, der ei 432
nem so etwas verzeiht.» «Ich weiß.» «Sie ist absolut nicht der Typ.» «Keine Chance.» «Das kannst du laut sagen.» «Hör mal, Clint … ich hab da eine Idee. Vielleicht eine Mög lichkeit, sie zurückzuerobern.» «Im Ernst?» «Ja. Aber dazu brauche ich ein Video.» «Was für ein Video?», fragte Clint. «Irgendwas, wo Caleigh drauf ist. Ein paar Minuten genügen. Von einer Geburtstagsparty … hast du nicht eine Aufnahme, wo sie Hockey spielt?» «Was willst du denn damit?» Danny zögerte. «Das ist schwer zu erklären.» «Wieso?», hakte Caleighs Vater unbeirrt nach. «Na ja, wie soll ich sagen. Ich dachte … wenn ich einen Film mache – und der gefällt ihr –, dann krieg ich vielleicht wieder einen Fuß bei ihr in die Tür.» Clint knurrte misstrauisch. Schließlich sagte er: «Ich seh mal nach, was ich da habe.» «Danke!» Danny seufzte erleichtert. «Ich hoffe, du schaffst es», sagte Clint. «Ich hätte nie ge dacht, dass ich das mal zu dir sage, weil ich ziemlich skeptisch war, als Cay dich das erste Mal mit hierher gebracht hat. Ein vegetarischer Künstler? Meine Güte. Aber ich glaube, du bist der Richtige für unsere Cay.» Jake half ihm. Sie nahmen das Video mit zu einer Firma na mens Technicality und ließen es digitalisieren. Dann luden sie von der Beta-Seite von Sistema das Probemodul der SimulacraSoftware herunter und speicherten sie auf Jakes iMac. Danny war froh, dass die Website noch vorhanden war, obwohl Jake ihm versicherte, dass man auf anderen Sites ähnliche Software 433
finden könne. Mittlerweile arbeiteten nämlich etliche Firmen an der Technologie. Ein brauchbares Video über Freeclimbing zu finden war schon schwieriger. Die Google-Suche erbrachte zwar 109 Tref fer, doch nur wenige Websites boten ein Clip zum Herunterla den an, und auf denen waren fast ausschließlich Männer zu sehen. Es dauerte also eine Weile, bis er fand, was er suchte: eine junge Freikletterin an einer Felswand in den australischen Blue Mountains. «Und jetzt», sagte Jake, «wird das Ganze ver rührt.» Der PC surrte, während das Simulacra-Programm aus geführt wurde. Zwei Stunden später hatten sie ein dreiundfünf zig Sekunden langes Video, das eine kleine Caleigh in Nahauf nahme zeigte, wie sie sich an eine Felswand klammerte und eine Hand nach dem nächsten Halt ausstreckte. Dann fuhr die Kamera zurück, und Caleigh war aus einiger Entfernung zu sehen. Sie versuchte gerade einen Überhang zu bewältigen, als sie plötzlich den Halt verlor und abstürzte – nicht in den Tod, sondern zehn, fünfzehn Meter tief, bis das Seil sie bremste. Die Kamera zoomte die kleine Gestalt heran, die sich am Ende ih res leuchtenden Seils im Kreis drehte. Sie hatte die Augenbrau en hochgezogen, und auf den Lippen hatte sie ein Lächeln, das zu sagen schien, Danke, lieber Gott! – doch in Wahrheit war es die Reaktion eines Kindes auf einen Geburtstagskuchen. Es war durch und durch Caleigh, und abgesehen davon, dass die Kletterin erst neun Jahre alt war und keine Kletterausrü stung trug, sondern Jeans, Cowboystiefel und eine gelben Pul lover mit Pandas auf dem Rücken, war das Video absolut reali stisch. «Das ist ja unglaublich!», rief Jake. «Ja, nicht?», sagte Danny. «Aber auch ganz schön unheimlich.» «Findest du?» Sie sahen es sich noch einmal an. Und noch einmal. «Caleigh wird ihren Augen nicht trauen, wenn sie das 434
sieht!», sagte Jake. «Es ist unglaublich – das wird sie überzeu gen.» Danny nickte, obgleich ihm nicht ganz wohl dabei zumute war. Aber nur so konnte er sie zurückgewinnen. Trotzdem war er ein wenig abergläubisch. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, ausgerechnet mit Zebeks Software die Frau, die er liebte, an der Nase herumzuführen, damit sie ihm verzieh. Viel leicht war es schlechtes Karma. Andererseits, dachte er, war es vielleicht «ausgleichende Gerechtigkeit». Der Zweck heiligt die Mittel, hieß es, und gab es einen besseren Zweck als die Liebe? Er schwor hoch und heilig, dass er sich einer zweiten Chance würdig erweisen würde. Und irgendwann würde er ihr auch die Wahrheit sagen, eines Tages, ganz bestimmt – «Erde an Danny! Hallo?» «Was ist?» Er blickte von dem iMac auf. «Ich hab gesagt, das wird sie überzeugen!» «Überzeugen …?» «Davon, dass man seinen Augen nicht trauen darf.» Er wartete bis zum Tag der Vernissage, als endlich alles fertig war – damit er sich noch auf irgendetwas freuen konnte, falls das mit dem Video nicht klappte. Er kaufte einen Riesenstrauß Margeriten und stellte erleichtert fest, dass Caleigh das Schloss von der Wohnungstür nicht hatte austauschen lassen. So muss te er zumindest nicht einbrechen. Es war komisch, wieder in der Wohnung zu sein – nicht bloß wegen der Margeriten, die er überall verstreut hatte. Caleigh hatte alle seine Sachen in Kartons gepackt, die in einer Ecke gestapelt waren. Er kam sich vor wie zu Besuch in einer Woh nung, in der jemand gestorben war. Erst recht wegen der Blu men. Er war gerade zwanzig Minuten in der Wohnung, da hörte er sie auf der Treppe, und als sie hereinkam, saß er auf der Couch mit einer Blume zwischen den Zähnen, und das Herz schlug 435
ihm bis zum Hals. Sie wirkte nicht erfreut, ihn zu sehen. «Süß», sagte sie und hängte ihre Handtasche an die Gardero be neben der Tür. «Sehr romantisch. Und jetzt raus.» Er ließ die Blume fallen. «Bevor ich gehe –» «Raus.» «Nun warte doch mal – gib mir nur eine Sekunde Zeit. Erin nerst du dich an die Mail, die ich dir geschrieben habe? In der ich dir gesagt habe, du sollst deinen Augen nicht trauen? Erin nerst du dich?» Sie blickte weg. «Nein. Vielleicht. Ich weiß nicht. Aber ich erinnere mich genau an deine Mail mit dem kleinen Video clip.» Sie hielt inne. «Würdest du jetzt bitte gehen? Ich möchte ein Bad nehmen.» «Nein. Ich meine, ich hab dir dieses Ding nicht geschickt. Ich schwöre es.» Sie beäugte ihn. «Wer dann?» Bevor er antworten konnte, warf sie die Arme hoch und sagte: «Und es ist sowieso egal. Es ist egal, von wem das Video ist!» «Nein. Es ist nicht egal – weil das Video nicht echt ist. Ich möchte dir was zeigen.» Er hielt das Video hoch, das er mit Jake gemacht hatte. «Nein, danke», sagte sie und blickte gelangweilt und wütend zugleich. «Caleigh. Ich möchte, das du mich heiratest.» Sie wurde rot. «Dich heiraten?!» «Ja!» Ihre Augen wanderten zu der Kassette. «Und was soll das da sein? Teil Zwei?» «Nein. Da … bist du drauf.» «Ja, klar.» «Im Ernst», sagte Danny. «Der Film dauert nur eine Minute. Und wenn du ihn gesehen hast und immer noch willst, dass ich gehe … dann gehe ich.» «Okay», knurrte sie. Sie nahm ihm die Kassette aus der 436
Hand, schob sie in den Videorecorder und drückte auf Start. Mit verschränkten Armen und vorgeschobener Unterlippe war tete sie auf das Bild. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen. Sie stand mit dem Rücken zu ihm, aber als er sie aufkeuchen hörte, wusste er, dass er ge wonnen hatte. Sie hatte Höhenangst, aber es war auch so klar, dass die Aufnahme nicht echt war. Schließlich drehte sie sich zu ihm um, ihre Miene ein großes Fragezeichen. «Dann war dieser Anhang von deiner E-Mail –» «Die Mail war nicht von mir.» Er deutete auf den Fernseher, wo die virtuelle Caleigh gerade am Seil baumelte. «Es ist ein Trick», sagte er. «Ein Software-Trick.» «Na, eins weiß ich jedenfalls», sagte sie mit kühler Stimme. «Ich weiß, dass ich das da nicht bin.» Da war etwas in ihren Augen, ein skeptisches Glimmen, bei dem ihm angst und bange wurde. Ihm war zittrig, fast schwindelig, und er war überzeugt, dass sie das Video als Akt der Verzweiflung durchschaut hatte. Gehirnverwandt, dachte er, und plötzlich wurde ihr Blick schärfer, fast so, als hätte er seine Gedanken ausgesprochen. Sie musterte ihn einen langen Augenblick. Er hoffte, dass sie das Video als eine Brücke zur Zukunft akzeptieren würde, als ein Konstrukt, das es ihnen ermöglichen würde, es noch einmal miteinander zu versuchen. Er hoffte, dass sie die Wahrheit erraten, aber ihm trotzdem verzeihen würde. Schließlich machte sie zwei Schritte auf ihn zu, eine Margeri te zwischen zwei Fingern. Sie fing an, Blütenblätter von der Blume zu zupfen. «Er liebt mich, er liebt mich nicht, er liebt mich, er liebt mich nicht, er liebt mich, er liebt mich nicht …» Danny sah die Blätter zu Boden fallen, sah, wie sie landeten, wie weiße Tränen. Kein gutes Zeichen. «Ich liebe dich so sehr», sagte er. Er hatte den Atem angehal ten, und die Worte kamen wie ein schrilles Keuchen heraus, als hätte er einen tiefen Zug von einem Joint genommen und ge sprochen, während der Rauch noch in der Lunge war. «Ich liebe 437
dich so sehr», versuchte er es erneut, bemüht um einen innigen Tonfall. Diesmal klang seine Stimme wie Darth Vader. Und es stimmte. Er liebte sie wirklich so sehr. Er liebte sie so sehr, dass er es kaum aushielt. Er liebte sie so sehr, dass er nicht sprechen konnte. Er brauchte sie zum Überleben, wie Luft oder Wasser. «Dew hat angerufen», sagte sie, als hätte sie ihm gar nicht zugehört. Die Hälfte der Blütenblätter waren abgerissen. Sie hörte auf zu zupfen und drehte die Blume zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. «Ich hab mir wirklich Sorgen deinetwegen gemacht», fuhr sie in derselben sachlichen Stimme fort. «Ehrlich?» «Aber ich weiß nicht … ich weiß wirklich nicht, ob ich dich heiraten soll», sagte sie, «wenn das vorhin überhaupt ein ernst gemeinter Antrag war.» Was sollte das denn nun bedeuten? Das bedeutet, sie fällt nicht drauf rein, dachte er. Ihm war kalt, er fror, war wie er starrt. Er stellte sich auf den K.-o.-Schlag ein: Scheißkerl. Oder vielleicht bloß: Mach’s gut, Danny. Schließlich brachte er her vor: «Wieso denn nicht?» Diesmal klangen seine Worte viel zu laut. «Na», sagte sie, «zum Beispiel dieser neue Zahn.» Sie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, doch ein kleines Lächeln ver eitelte ihren Versuch, keine Miene zu verziehen. «Der steht dir nicht besonders.» Seine Hand flog hoch zu seinem Mund, und im selben Moment fiel ihm ein Stein von Herzen. Dann beugte sie sich vor und lächelte und steckte ihm die Blume hinters Ohr. «So», sagte sie, «schon besser.»
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