WERNER JAEGER
DEMOSTHENES
DEMOSTHENES DER STAATSMANN UND SEIN WERDEN VON
WERNER JAEGER
ZWEITE AUFLAGE
1963
WALTER...
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WERNER JAEGER
DEMOSTHENES
DEMOSTHENES DER STAATSMANN UND SEIN WERDEN VON
WERNER JAEGER
ZWEITE AUFLAGE
1963
WALTER DE GRUYTER & CO · BERLIN VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG . J. GUTTENTAG VERLAGSBUCHHANDLUNG . GEORG REIMER . KARL J. TRÜBNER . VEIT & COMP.
Dieser Band ist ein unveränderter Nachdruck der im Jahre 1939 erschienenen 1. Auflage.
Archiv Nr. 3455631
© 1963 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp. Berlin 30 · Printed in Germany Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Druck: Rotaprint AG, Berlin
INHALT VORWORT
SEITE
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VII
KAPITEL I. DER POLITISCHE WIEDERAUFSTIEG ATHENS . .
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KAPITEL II. JUGENDGESCHICHTE UND ANWALTSBERUF . .
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KAPITEL III. DIE WENDUNG ZUR POLITIK
43
KAPITEL IV. DIE DREI ERSTEN REDEN ZUR AUSSENPOLITIK
69
KAPITEL V. DIE NORDGRIECHISCHE FRAGE UND DIE ERSTE PHILIPPICA
98
KAPITEL VI. DER KAMPF UM OLYNTH
125
KAPITEL VII. KRIEG ODER FRIEDEN?
149
KAPITEL VIII. DAS ENDE
174
ANHANG: DIE REDE DES ISOKRATES FÜR DIE PLATÄER UND DER ZWEITE SEEBUND
196
ANMERKUNGEN
203
REGISTER
254
VORWORT Den äußeren Anlaß zur Abfassung des Buches, das hier zum erstenmal in seiner deutschen Originalfassung erscheint, gab mir die 1932 an mich ergangene Einladung der University of California in Berkeley, die Sather Lectures des Jahres 1934 zu halten1. Aber wenn meine Gedanken über Demosthenes auch erst im Jahre 1932—1933 ihre vorliegende Form erhalten haben, sind sie doch weit früher entstanden. Im kommenden Frühjahr ist es fünfundzwanzig Jahre her, daß ich meine erste Vorlesung als Professor an der Baseler Universität hielt. Sie hatte Demosthenes zum Gegenstand, und es gibt kein Thema, das ich seither so häufig und von den verschiedensten Seiten in Vorlesungen behandelt habe wie dieses. Das umfassendere gelehrte Werk, das ich darüber zu schreiben gedachte, wird nun wohl unausgeführt bleiben, aber ich bin dem Zufall dankbar, daß er mir schließlich den Anstoß gegeben hat, die Ergebnisse meiner Forschungen in einer Form mitzuteilen, die auch einem größeren Kreise zugänglich ist. Nach einer Periode hoher Blüte im XIX. Jahrhundert sind die Demosthenesstudien Jahrzehnte lang mehr vernachlässigt worden als irgend ein anderes Gebiet der griechischen Geschichte und Literatur der klassischen Zeit. Die Geringschätzung des Demosthenes als Staatsmann durch die neuere Geschichtschreibung lahmte auch die literarische Beschäftigung mit dem Redner und seinen Werken. Doch schließlich ist es ohne Demosthenes ganz unmöglich, den geistigen und politischen Schicksalskampf der Griechen im IV. Jahrhundert zu verstehen. Dieses Buch gibt keine ins einzelne gehende Biographie und keine bloße Rekonstruktion des geschichtlichen Hergangs. Sein Ziel ist eine Neuinterpretation der Reden des Demosthenes als des authentischen Ausdrucks seines politischen Denkens und Handelns. Seltsamerweise ist das praktisch-poli1
Die englische Ausgabe ist unter dem Titel „Demosthenes The Origin and Growth of his Policy" als Band XIII der Sather Classical Lectures in der University of California Press (Berkeley 1938) erschienen.
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VORWORT
tische Denken der Griechen weit weniger erforscht worden als ihre politische Theorie. Ich will den Versuch wagen, aus den Reden des Demosthenes selbst die Kriterien ihres politischen Verständnisses zu gewinnen. In den am Schluß beigefügten Anmerkungen habe ich nicht nur das notwendige Belegmaterial gegeben, sondern auch eine größere Anzahl von Einzelproblemen ausführlicher erörtert. Dort ist, soweit das nicht im Texte selbst geschieht, zu der modernen Literatur Stellung genommen, wenn auch natürlich Vollständigkeit der Bibliographie nicht erstrebt ist. Ursprünglich beabsichtigte ich noch vier Anhänge beizugeben, von denen aber nur der über Isokrates' Platäerrede und den zweiten attischen Seebund übrig geblieben ist. Die drei anderen, über den „Areopagitikos" des Isokrates, über die erste philippische Rede des Demosthenes und über die Rede für die Reorganisation, mußten wegen ihrer Ausdehnung gesonderter Veröffentlichung vorbehalten werden. Ihr Inhalt ist von mir großenteils bereits in den Sitzungen der Berliner Akademie der Wissenschaften mündlich dargelegt und begründet worden. Der Textteil des Buches wurde der University of California unmittelbar nach Beendigung meiner Vorträge in Berkeley Anfang Dezember 1934 übergeben. Seither sind außer einigen Verbesserungen und Zusätzen nur die im Jahre 1936 abgeschlossenen Anmerkungen hinzugefügt worden. Die Drucklegung der englischen Ausgabe, die das Prioritätsrecht hatte, wurde durch Überlastung der University of California Press verzögert und dadurch auch das Erscheinen des deutschen Originals. Da die neueren Arbeiten von Paul Cloche, Gustave Glotz, Piero Treves erst nach Abschluß des Textteils erschienen oder zu meiner Kenntnis gelangt sind, konnte ich nicht mehr ausführlich auf sie eingehen. Es ist mir jedoch eine Genugtuung, nachträglich festzustellen, daß in allen diesen Beiträgen eine gerechtere Würdigung des Demosthenes sich anbahnt. CHICAGO, WE.HNACHTEN 1938
WERNER JAEGER
ERSTES KAPITEL
DER POLITISCHE WIEDERAUFSTIEG ATHENS EINLEITUNG
DER MANN, dem diese Blätter gewidmet sind,gehört heute nicht mehr zu den Gestalten des Altertums, deren Wertschätzung in der gelehrten Welt unerschütterlich feststeht, ja es könnte nötig scheinen, daß ich mich wegen der Wahl meines Gegenstandes erst entschuldigte. Wer den ungeteilten Beifall seiner Leser finden will, tut niemals gut sich als Helden einen Politiker auszusuchen, noch dazu einen Politiker, der nicht vom Sieg gekrönt wurde. Die Geschichte, die stets bereit ist die rein geistige Größe des Dichters oder des Philosophen anzuerkennen, auch wenn sie noch so unzeitgemäß und unbequem ist, pflegt den handelnden Staatsmann ausschließlich an seinem Erfolg zu messen, nicht an seinem Wollen. Der Beruf der Geschichte ist es, vollzogene Tatsachen, vor die sie sich gestellt sieht, zu begreifen, und dieses Begreifen wird nur zu leicht zu einer Rechtfertigung der Tatsachen, die für die unterlegene Partei nur ein Achselzucken übrig hat. Demosthenes, so wird man überdies einwenden, war nicht bloß ein Stiefkind der Tyche, das durch sein unverdientes Schicksal eine tiefere Sympathie in uns erwecken könnte. Nachdem der Klassizismus früherer Jahrhunderte ihm einen Heroenkultus geweiht hatte als dem unglücklichen letzten Vorkämpfer der griechischen Freiheit, hat das erwachende historische Denken des anbrechenden XIX. Jahrhunderts uns ernüchtert. Es hat gelehrt, daß das Entwicklungsgesetz der Zeit des Demosthenes die Griechen von dem alten, eng begrenzten Stadtstaat zum Weltreich Alexanders und zur Weltkultur des „Hellenismus" hinführte. In dieser großartigen neuen Perspektive betrachtet, schien die Gestalt des Demosthenes zusammenzuschrumpfen zu einem bloßen winzigen Hindernis auf dem Vormarsch eines unaufhaltsamen weltgeschichtlichen Prozesses. Es erschien als ein reiner Zufall der Überlieferung, daß sie uns gerade von seinen Reden so viele er1
J a e g e r , Demosthenes
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ERSTES K A P I T E L
halten hat, während sie die zusammenhängenden Darstellungen der Zeitgeschichte untergehen ließ, wodurch für die Nachwelt das Bild jener Epoche ein für allemal verfälscht und die wahren Größenverhältnisse auf den Kopf gestellt worden seien. Doch aus dieser Not machte man eine Tugend. Was Herodot und Thukydides für das V. Jahrhundert geleistet hatten, mußte der moderne Geschichtschreiber für das IV. Jahrhundert nachholen. Und war es nicht wirklich eine Tat echt historischer Erkenntnis, die seit zweitausend Jahren als klassisch gefeierte Beredsamkeit des Demosthenes als leeren Wortschwall zu enthüllen und sich zum Anwalt der wirklichen geschichtlichen Kräfte zu machen, welche über seinen Widerstand zur Tagesordnung übergegangen waren? Dies ist so ziemlich die communis opinio der Historiker des XIX. Jahrhunderts gewesen. Bei Johann Gustav Droysen, dem Entdecker des „Hellenismus", erklärt sich das mangelnde Interesse für Demosthenes ganz natürlich aus seinem Grundmotiv, dem feurigen Enthusiasmus für Alexander als den eigentlichen Helden und Bahnbrecher des neuen Zeitalters, neben dem alles übrige in nichts versinkt. Anders liegt es bei den großen Geschichtswerken der positivistischen Aera um das Ende des XIX. Jahrhunderts, insbesondere der „Griechischen Geschichte" Karl Julius Belochs.1 Er kann als Repräsentant dieser Gruppe gelten, nicht nur auf Grund der bekannten sachlichen Vorzüge seines Werkes, sondern auch insofern, als sein Bild der griechischen Entwicklung ausgesprochen von einer Idee beherrscht ist, die mehr oder minder bewußt das ganze historische Denken dieser Zeit bestimmt hat. In diesen Anschauungen sind wir alle aufgewachsen. Für den nationalen Einheitsdrang des XIX. Jahrhunderts war die staatliche Existenz der Griechen in Form einer Vielheit autonomer Stadtstaaten ein unbegreifliches Skandalon der historischen Vernunft. Wenigstens am Ende — so glaubte man — mußte dieser „Partikularismus" sich irgendwie in eine größere nationale Einheit auflösen, wie es mit den deutschen und italienischen Kleinstaaten im XIX. Jahrhundert geschehen war. Die Rolle des Einigers, die hier die Militärmächte Preußen und
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Savoyen übernommen hatten, schien in Hellas das Königreich Makedonien zu spielen. Von dieser falschen Analogie aus rekonstruierte man mutig die gesamte griechische Geschichte als den Prozeß der naturnotwendigen Entwicklung zu dem Ziel der Einigung der griechischen Nation unter der Führung der Makedonen. Was für Demosthenes und die meisten seiner Zeitgenossen das Ende der politischen Freiheit Griechenlands bedeutet hatte, verwandelte sich jetzt in die Erfüllung aller Verheißungen, die das Schicksal dem griechischen Volke in seine Wiege gelegt hatte. In Wahrheit maß man damit die griechische Geschichte an einem Maßstabe, der ihr gänzlich fremd war, und Demosthenes fiel als Opfer dieses Mißverständnisses. Eine vollkommene Umwertung aller geschichtlichen Tatsachen und Persönlichkeiten setzte ein. Allgemein ist bei den positivistischen Historikern der Sinn für politische, militärische und ökonomische Tatsachen stärker entwickelt als das Gefühl für die menschliche Persönlichkeit. Wie wäre es sonst möglich, daß mit dem Kurssturz des Demosthenes überraschend eine Aufwertung der Männer vom Range des Isokrates und Aischines Hand in Hand ging, die schon für das einfachste Gefühl aller psychologischen Wahrheit entbehrt. Vielleicht ist es heute nicht mehr allzu schwer, die Ungeschichtlichkeit des Maßstabes zu erkennen, den Beloch und andere Historiker der gleichen Schule an die Ereignisse der Zeit des Demosthenes anlegten.1 Doch wer es sich zum Ziel gesetzt hat, eine bestimmte Gesamtanschauung durchzuführen, der wird auch den Folgerungen schwerlich entfliehen können, die sich aus ihr für alle Einzelheiten ergeben. Die Verzerrung muß sich übertragen auf alle Detailfragen des geschichtlichen Urteils. Wenn der Maßstab künstlich ist, müssen die Ergebnisse genau so künstlich sein, zumal wenn ein gefühlsmäßiger Unterton sie begleitet. Auf diese Weise wird der Geschichtschreiber zum Tendenzschriftsteller, der mit der Hartnäckigkeit und dem Eigensinn des Gelehrten seine Beute bis in den letzten Schlupfwinkel verfolgt. Natürlich hat es auch nach dieser großen Umwälzung des i*
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ERSTES KAPITEL
historischen Urteils noch Verteidiger des Demosthenes gegeben. Das mit höchster philologischer Sorgfalt gearbeitete Werk Arnold Schaefers (I. Band 1856), das für die meisten Einzelfragen auch heute noch unser Fundament oder doch eine unentbehrliche Fundgrube bildet, ist von Droysens neuen Anschauungen noch so gut wie unberührt. Schon der Titel „Demosthenes und seine Zeit" verrät, daß hier die gesamte Geschichte des IV. Jahrhunderts von Demosthenes aus orientiert ist. Es ist der Versuch einer Transfusion des Geistes der alten klassizistischen Heldenverehrung, die dem großen Freiheitsredner galt, in den Körper eines detaillierten Geschichtsbildes, um das Ideal so gegen die neusten Erschütterungen zu sichern. Aber als Sohn eines noch ganz unpolitischen Landes war dieser liebenswerte deutsche Gelehrte leider ohne jeden Blick für die Dynamik des politischen Lebens, daher blieb sein enormer Fleiß in dem entscheidenden Punkte, was das Urteil über Demosthenes' Politik betrifft, ohne die erhoffte Wirkung. Anders liegt es bei der Darstellung George Grotes in seinem klassischen Werke, der „History of Greece". Aber der englische Bankier und Parlamentarier, der im Nebenberuf Geschichtschreiber und Forscher war, sah den Kampf der athenischen Demokratie gegen das makedonische Königtum zu einseitig von seinen streng liberalen Prinzipien aus und wurde daher nicht nur der Gegenpartei, sondern auch dem Demosthenes selbst nicht voll gerecht. Demosthenes' politische Entwicklung war, wie wir zu zeigen versuchen werden, viel zu persönlich, ihr Schwerpunkt zu eigenartig gelagert, um sie mit einer Parteimarke etikettieren zu können. Wenn ich die Zeit für gekommen halte, einen neuen Versuch zur Würdigung dieser Gestalt zu wagen, so kann das also keinesfalls eine Rückkehr zu Schaefer und Grote bedeuten. Die einfache Reaktion hat niemals Recht. Eine solche Rückkehr aber wäre in der Tat Reaktion. Demosthenes kann niemals wieder zum Zentrum der Geschichte eines Jahrhunderts gemacht werden, in dem das Pendel der Weltgeschichte mit so gewaltigem Schwünge von der zähen Selbstbehauptung des Bodenständigen
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zu einem Universalismus ausschlug, der sich über alle nationalen Grenzen hinwegsetzte. Aber daß die Weltgeschichte gegen ihn entschied, raubt dem geistigen Widerstand des Demosthenes gegen die Mächte seiner Zeit noch keineswegs unser Interesse. Und welcher verständige Mensch wollte ihn gering schätzen, weil er kein Alexander war! Darum wird die Geschichte des Demosthenes doch noch lange nicht zur Biographie eines beliebigen Parteimannes. In ihr verkörpert sich stellvertretend ein Schicksal von allgemeiner Bedeutung: der Untergang der historischen Lebensform des griechischen Staates in seiner klassischen Zeit, der Polis. Die Auflösung der alten gewachsenen Einheit des griechischen Lebens, der Polis, in das Weltreich und in seinen Kosmopolitismus war eine unabwendbare Notwendigkeit geworden. Die Frucht war reif, vom Baume zu fallen. Aber dieser für das Denken des Historikers ganz „organische" Vorgang war für die Zeitgenossen, in denen der Geist der griechischen Geschichte noch lebte, ein unerhörter Gewaltakt gegen die innerste Natur und geistige Form des alten Griechentums. Der Kampf des Demosthenes ist ein Aspekt dieser furchtbaren Krisis, Platos Versuch der Erneuerung des Staates ist ein anderer. So unrichtig es wäre, das platonische Ringen um den Staat in seiner Bedeutung als historischer Vorgang zu verkennen, weil Platos Staat nicht verwirklicht werden konnte, ebenso falsch wäre es, dem Endkampf um die wirkliche Polis, den Demosthenes fuhrt, die historische Größe abzusprechen, weil wir seine Aussichtslosigkeit mit nüchternem Verstand begreifen. Er läßt sich freilich aus der Realpolitik allein nicht restlos verstehen. Es bedarf seiner Einordnung in die geistige Geschichte des griechischen Staates seit dem Ausgang des peloponnesischen Krieges. Es ist vielleicht der größte Fortschritt, den das historische Verständnis des IV. Jahrhunderts seitDroysens Entdeckung des Hellenismus gemacht hat, daß wir die innere Entwicklung des griechischen Geistes im Zeitalter Platos und den äußeren Vorgang der sogenannten politischen Geschichte mehr und mehr in ihrer unlösbaren Verflechtung sehen gelernt haben, nachdem
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man sich früher die größte Mühe gegeben hatte, beide nach Möglichkeit unbefleckt voneinander fern zu halten.3 Ich will damit beginnen, die innere Geschichte des griechischen Staatsproblems bis zu den Anfängen des Demosthenes zu skizzieren, und dann seine Entwicklung durch seine Reden hindurch verfolgen. Zwar bleibt das Denken und Wollen des Politikers in jedem Augenblick mit den Gegebenheiten seiner äußeren Situation verkettet, und wer ihn als solchen beurteilen will, muß sein Auge für das Geschehen selbst offen halten, in das er handelnd eingreift. Daher können wir uns nicht nur auf das Bild beschränken, das wir aus den Reden des Demosthenes selbst erhalten. Es bedarf zu ihrer Wertung des Korrektivs der Tatsachen, soweit wir von ihnen noch etwas zu ermitteln imstande sind. Leider sind unserem Wissen enge Grenzen gezogen, denn was unserer Überlieferung den Stempel aufdrückt, ist doch letztlich immer wieder die geistige Persönlichkeit, die sei es als Darsteller wie Thukydides oder als Mithandelnder wie Demosthenes in ihrem Werke dem Geschehenen die Form ihres eigenen Denkens und Erlebens mitteilt. Eine volle Rekonstruktion des tatsächlichen Hergangs als solchen ist uns nicht erreichbar. Wir werden trotz aller Versuche, uns von der Überlieferung zu emanzipieren, doch ewig das V. Jahrhundert mit den Augen des Thukydides und das IV. Jahrhundert mit den Augen des Demosthenes sehen. Wir wollen also einmal ganz bewußt die Reden des Demosthenes als Quellen dessen nachlesen, was sie wirklich enthalten, nämlich als Quellen des inneren Prozesses der Entwicklung seines politischen Denkens. Es genügt nicht, nur ein paar geschichtliche Tatsachen von ihrer Oberfläche abzuschöpfen und den Rest fortzuschütten, wie der Historiker es so häufig tut; aber es ist ebenso unzulänglich, wenn der Philologe nur die Kunst der rhetorischen Form der Beachtung für wert hält, wie es etwa Friedrich Blaß in seiner „Geschichte der attischen Beredsamkeit" getan hat. 4 Dabei zerrinnt uns unter den Händen die eigentliche geistig-politische Substanz dieser Reden, die ihr Leben ausmacht und aus der
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auch ihre Form erst erwächst. Am Ende erfaßt so weder die historische noch die philologische Analyse den wirklichen Demosthenes. Eine solche Art der „Arbeitsteilung" scheint mir für die wahre Erkenntnis nicht förderlich. Wir wollen deshalb versuchen, einmal Demosthenes als Ganzes zu verstehen. DIE SITUATION
Der große Entscheidungskampf zwischen den beiden Staatengruppen Sparta und Athen war beendet. Auf ihn hatte seit dem überraschenden Aufstieg Athens in den Perserkriegen die Entwicklung der politischen, geistigen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse in Hellas nach dem Urteil des Thukydides hingedrängt. Diese beherrschende innere Notwendigkeit macht die griechische Geschichte von der Schlacht bei Salamis (480) und der Gründung des attischen Seebundes bis zur Kapitulation Athens im Jahre 404 für Thukydides zu einer Einheit, die der Blick des Historikers gleichzeitig in sein Gesichtsfeld fassen muß, um sie als solche zu verstehen. 5 Es liegt nahe, dieses Beispiel des Thukydides für die Geschichte des IV. Jahrhunderts mechanisch nachzuahmen, wie sein Nachfolger Xenophon es tut, und auf die Periode der athenischen Hegemonie die Hegemonie der Spartaner folgen zu lassen vom Fall Athens bis zur Schlacht bei Leuktra (371), wo sie durch die neu aufstrebende Macht Thebens gestürzt wird, um sich niemals wieder aufzurichten, und dann eine kurze Blütezeit Thebens unter Epaminondas anzuschließen, die zu Ende geht mit der Schlacht bei Mantinea (362), wo er siegend fällt, und seine Vaterstadt verwaist und führerlos wieder zu ihrem früheren Range herabsinkt. Aber abgesehen davon, daß diese Perioden immer kürzer werden und sich nach Mantinea in Hellas überhaupt kein ausgesprochener Führerstaat mehr findet, ist schon die spartanische Vorherrschaft mit der athenischen, die ihr voranging, nicht wirklich zu vergleichen. Zwar hat Sparta nach der Niederwerfung seiner Nebenbuhlerin rein machtmäßig mehrere Jahrzehnte hin-
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durch eine Alleinherrschaft in Griechenland ausgeübt, wie Athen sie selbst während seiner stärksten Expansion zur See und auf dem Festland in der ersten Zeit des Perikles niemals besessen hatte. Allein diese Stellung war von vornherein nur militärisch, nicht geistig und wirtschaftlich begründet, und man kann nicht behaupten, daß sich hier eine neue Entwicklung und Gruppierung aller lebendigen Kräfte der Nation unter dem umgestaltenden Einflüsse eines Staates von überwältigender Lebenskraft vollzogen habe, wie zur Zeit des Aufstiegs des athenischen Reiches. Sparta fangt nur die den Athenern entgleitende Macht auf und hält sie eine Weile lang fest, indem es von seinen besonderen Mitteln, Autorität und kriegerischer Disziplin, Gebrauch macht; aber durch die neu übernommene Machtfunktion wird es vollkommen aus seiner alten Bahn gerissen und die Zersetzung seiner inneren Kraft rapide beschleunigt. Noch viel weniger war Theben auf die ihm durch seine erfolgreiche Rebellion gegen die spartanische Willkürherrschaft plötzlich zufallende Führerrolle vorbereitet. So versagt für die Geschichte des IV. Jahrhunderts das hegemoniale Einteilungsprinzip. Es eignet sich höchstens für die äußerliche Abgrenzung mehrerer in die Augen fallender Teilabschnitte. Erst wenn wir sie von den umstürzenden Ereignissen der demosthenischen Zeit aus betrachten, schließt sich die ganze Entwicklung seit dem Zusammenbruch des attischen Reiches zu einer wirklichen Einheit, wenn auch nur im negativen Sinne, zusammen: es ist die Periode der Versuche einer Neugliederung des politischen Machtaufbaus in Griechenland bis zum endgültigen Verlust der Grundlage, auf welcher er seit jeher beruht hatte, so sehr, daß diese Grundlage mit dem Wesen des Griechentums geradezu identisch schien, des autonomen Polisstaates. Die Träger dieser Versuche wechseln schnell, weil bei keinem von ihnen die natürlichen Voraussetzungen für die wirkliche Konsolidierung einer fuhrenden Macht gegeben sind. So wenig dabei Sparta oder Theben dauernd ihre Stellung behaupten konnten, ebensowenig ließ sich Athen auf die Dauer in dem
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Zustande der Schwäche und Abhängigkeit erhalten, in den es durch den Frieden von 404 und seine vernichtenden Bedingungen geraten war. Wir sehen es schon nach nicht ganz einem Jahrzehnt wieder eine aktive Politik treiben und seine Isolierung glücklich überwinden, und von da an bleibt es dauernd an der allgemeinen Konkurrenz um den beherrschenden Einfluß auf die griechischen Angelegenheiten beteiligt. Die Kurve seiner Bestrebungen zur Wiederherstellung seiner Macht führt auf* und ab. Die Politik des Demosthenes bildet einen Teil, den endgültig entscheidenden Teil dieser Kurve. Die äußere politische Entwicklung ist begleitet von einem inneren Ringen des athenischen Geistes um das Problem des Staates, der durch den Sturz bis in die Grundfesten erschüttert war, und um das Verhältnis von Mensch und Staat. Das äußere und innere Ringen um die Erneuerung des athenischen Staates, welches das erste Drittel des IV. Jahrhunderts erfüllt, bestimmt die Atmosphäre, m die Demosthenes hineingeboren wurde. Aus ihr müssen wir sein Wollen, seinen Kampf und seine Ideale verstehen. Der athenische Redner, den Thukydides bei den entscheidenden Verhandlungen in Sparta vor Ausbruch des peloponnesischen Krieges auftreten läßt,6 um die Motive der Politik seines Staates während des verflossenen halben Jahrhunderts in großen Zügen darzulegen, weist den Sicherheitsgedanken als das Grundprinzip des gesamten athenischen Handelns auf. 7 Er erklärt es als der menschlichen Natur gemäß, daß Athen in der Verfolgung dieses Gedankens bis an die Grenze seiner Macht gegangen sei, und ist sich illusionslos darüber klar, daß der so Handelnde auf keinerlei Sympathien von Seiten der Betroffenen rechnen darf. Aber er weist nach, daß der allgemeine Haß gegen Athen, den dieser Imperialismus in der Welt hervorgerufen habe, nicht auf den besonders schlechten Charakter seines Volkes zurückzuführen sei, sondern im Falle eines Besitzwechsels der Macht auf die neuen Besitzer, das heißt auf die Spartaner übergehen werde.8 Diese Prophezeiung ist in Wahrheit, wie ich nach gewissen Anzeichen schließen möchte, eine bloße Konstatierung der Er-
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ERSTES K A P I T E L
fahrungen, die Thukydides nach Beendigung des peloponnesischen Krieges gemacht hat. Die allgemeine Sympathie für Sparta, dessen Kriegspropaganda mit der Parole der Befreiung Griechenlands von der athenischen Tyrannei gearbeitet hatte, schlug binnen weniger Monate in ihr Gegenteil um, als das despotische Sparta des Lysander an die Stelle Athens getreten war. 9 Die mit Sparta verbündeten Thebaner und Korinther, die vor kurzem von dem spartanischen Feldherrn nur mit Mühe davon zurückzuhalten gewesen waren, ganz Athen und nicht nur seine Mauern dem Erdboden gleich zu machen,I0 intervenierten nun zugunsten Athens, als die spartanische Besatzung fortfuhr, sich in die innere Politik der Besiegten einzumischen und ihr Land wie eine spartanische Kolonie zu behandeln.Ir Das war freilich zunächst nur ein vereinzeltes Symptom, aber es führt von ihm eine gerade Linie zu dem thebanisch-athenischen Bund, der im Jahre 395 zum offenen Angriff auf Sparta überging in dem Augenblick, als das spartanische Heer unter Agesilaos in Asien kämpfte und Griechenland leicht eine Beute des Aufstandes der unlustigen Bundesgenossen werden konnte. Der thebanische Gesandte, den Xenophon in seiner Griechischen Geschichte in Athen über das Bündnis verhandeln läßt, gibt in seiner Rede eine sehr interessante Charakteristik der inneren Lage unter der spartanischen Herrschaft, welche nur als bewußtes Gegenstück zu jener Rede im Werk des Thukydides aufgefaßt werden kann, weil sie genau die Erfüllung der dort gemachten Voraussagen bringt.1- Ein leidenschaftlicher Haß gegen die Spartaner bricht hier hervor, die die Früchte ihres mit fremder Hilfe errungenen Sieges allein einheimsen und die Bundesgenossen unterdrücken, statt die ihnen gemachten Versprechungen zu erfüllen. Statt der Freiheit haben sie doppelte Knechtschaft über Hellas gebracht, indem sie ein militärisches Bewachungssystem in allen Staaten einrichteten, und von wirtschaftlichen Vorteilen, um derentwillen die alten Feinde Athens, vor allem die Korinther, in den Krieg gegangen waren, ist überhaupt nichts zu merken. So entsteht eine neue Solidarität mit
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Athen, und es ist für dessen verhältnismäßig rasche Erholung nach der Katastrophe bezeichnend, wie der Thebaner um die athenische Hilfe wirbt,13 wenn wir auch sonst über dieses allmähliche Wiedererstarken nur wenig Genaueres wissen. „Wir alle verstehen, daß ihr Athener den Wunsch habt, eure frühere Herrschaft wiederzugewinnen. Wie kann das besser verwirklicht werden als dadurch, daß ihr die von Sparta ungerecht Behandelten unterstützt ? Ihr braucht auch keineswegs zu fürchten, daß sie über so viele herrschen, sondern müßt eben deswegen zuversichtlich sein, wenn ihr bedenkt, daß auch ihr zur Zeit der größten Ausdehnung eurer Herrschaft die meisten Feinde hattet." Es wird nun ein großer Plan entwickelt, in dem der Abfall der wichtigsten spartanischen Bundesgenossen und die Unterstützung des Königs von Persien als sichere Faktoren aufgezählt werden, und die zahlenmäßige Schwäche der spartanischen Bevölkerung in dem kommenden Kampf ein wichtiger Punkt ist. Von dem schwarzen Hintergrund der spartanischen Pleonexie hebt sich als Zukunftsphantom schon das Bild einer neuen attischen Hegemonie ab, die nicht wie die frühere nur eine Seeherrschaft sein wird, sondern auch die Bundesgenossen Spartas auf dem Festlande umfassen soll. Wir haben die Lage vor dem Ausbruch des korinthischen Krieges — denn auch Korinth, Arges und zahlreiche Städte Mittelgriechenlands traten dem Komplott gegen Sparta bei — so eingehend geschildert, um die Aussichten einer athenischen Außenpolitik nach dem Verlust des großen Krieges zu beleuchten. Zwar wurde das Ziel nicht erreicht, denn es gelang Sparta, militärisch den Angriff der Koalition im Rücken seines in Kleinasien kämpfenden Heeres durch schnelle und entscheidende Erfolge zu Lande zu parieren und diplomatisch den Gegnern bei dem mächtigen persischen Geldgeber den Rang abzulaufen. Aber es ließ sich nicht mehr rückgängig machen, daß inzwischen der Athener Konon als Admiral der persischen Flotte nach seinem Seesieg über die spartanischen Schiffe bei Knidos mit persischem Gelde die langen Mauern Athens wiederaufgebaut hatte. So stand
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Athen nach dem Antalkidasfrieden, der 387 den Krieg abschloß, nicht mehr so schutzlos den Spartanern gegenüber wie vorher. Die eigentliche Revision freilich war vertagt, denn der Friedensvertrag machte jeden Zusammenschluß der Staaten zu einem größeren antispartanischen Bund unmöglich durch das Autonomieprinzip, welches er feierlich verkündete. Diese der politischen Durchschnittsmoral der kleineren Staaten geschickt angepaßte Formel war die endgültige Legalisierung der spartanischen Alleinherrschaft, denn Sparta wurde jetzt der anerkannte Garant dieser Atomisierungspolitik, auf deren Durchführung sein Übergewicht in Hellas beruhte. Man muß sagen, daß Sparta die Aufgabe gut gelöst hatte, die ihm nach der Niederwerfung der früheren Herrschaft Athens über seine Bundesgenossen gestellt war: eine Formel zu finden, die die tatsächliche Despotie Spartas mit dem Schein der formalen Autonomie der übrigen Staaten zu vereinigen erlaubte. Es blieb dadurch seiner Rolle als Schützer der Freiheit, die es seit Ausbruch des peloponnesischen Krieges übernommen hatte, scheinbar treu,14 und machte aus der Schwierigkeit, in die es durch diese Rolle bei Erlangung der Alleinherrschaft geraten mußte, sogar einen Vorteil, indem es die „Freiheit" der übrigen zu unproduktiver Schwäche zu verwandeln verstand. In dieser völkerrechtlich sanktionierten starren Situation lag das schwerste Problem einer jeden künftigen konstruktiven Seebundspolitik Athens. In den siebzehn Jahren vom Kriegsende bis zum Antalkidasfrieden muß Athen auch im Innern Schritt für Schritt wieder erstarkt sein. Wer es rein äußerlich mit Sparta verglich, mußte ja überhaupt zu ganz anderen Eindrücken von der relativen Macht beider Staaten kommen, wie Thukydides an einer Stelle sagt, die meiner Ansicht nach ihre Pointe nur dann erhält, wenn sie nach dem Ende des Krieges geschrieben ist und nicht lange Jahre vorher, wie man meist annimmt. J 5 Von der wirtschaftlichen Not, die zunächst herrschen mußte, zeugen viele Einzelsymptome, ohne daß wir von der Gesamtlage ein Bild erhielten, und das gilt auch von dem Prozeß der langsamen Erholung.l6 Um so tiefer läßt
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unsere Überlieferung uns hineinschauen in die geistige und sittliche Not dieser Jahrzehnte. Gewiß haben auch die Staaten der Sieger an ihr teilgehabt, vor allem hat man in den konservativen Kreisen Spartas die innere Umstellung von der altspartanischen Einfachheit und Disziplin zu dem neuen Reichtum und zu dem brutalen Typus des skrupellosen Erfolgsmenschen, wie er in Lysander sich verkörperte, als schwere Gefahr empfunden. Aber die ganze Tiefe des Leidens hat doch nur der Staat der Besiegten zu durchleben gehabt, in dem jede Art der Problematik sich häufte. In Athen konzentriert sich schlechthin alles auf die innere Auseinandersetzung mit dem erschütternden Erlebnis der Katastrophe des perikleischen Reiches, dem Thukydides in der „Grabrede" ein so unvergängliches Denkmal gesetzt hat. Je fester sein Glaube stand, daß dieser Staat unter der Führung eines Staatsmannes wie Perikles zum Siege prädestiniert gewesen wäre, um so quälender mußte auch für das Denken des Realpolitikers die Frage der inneren Auflösung sein, die nach seiner Überzeugung die wahre Ursache des Zusammenbruchs gewesen war. J7 Die Belastungsprobe des langjährigen Krieges mit seinen Opfern und Entbehrungen schien ihm auch bei einem innerlich gesunden und widerstandsfähigen Volke zu groß für die Tragkraft der menschlichen Natur, selbst bei dem heroischsten Wollen, und die zersetzende Wirkung der Parteikämpfe im Innern der Staaten um die politische Führung mit ihren sich gegenseitig übertrumpfenden Brutalitäten, mit ihrer fortschreitenden Abstumpfung der Gewissen und Entwertung aller geltenden Ideale hat dieser Meister der Schilderung aller äußeren und inneren Realitäten als die rötliche Erkrankung des sozialen Organismus ergreifend beschrieben. l8 War hier der Machtwille des alten Athens als die naturgemäße Äußerung jeder wirklichen Kraft anerkannt und nachträglich aus der geschichtlichen Entwicklung gerechtfertigt worden, die nach der Ansicht des Thukydides dem athenischen Staate diese Rolle unausweichlich zugewiesen hatte, so erwächst daneben nach dem Kriege eine ganze Literatur über das Staatsproblem, die dieses
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von der ethischen Seite aus angreift. Sie kommt aus dem Kreise des Sokrates und strahlt die gleiche hochgespannte politische Leidenschaft aus, die sowohl die Anklage und Hinrichtung des Sokrates verrät wie sein freigewolltes Märtyrertum für eine sittlich bessere Form des Staates, für die er gekämpft hatte. Plato läßt den Sokrates in seiner „Apologie" vor den Geschworenen prophezeien, daß ihm nach seinem Tode aus dem Kreise seiner Schüler Fortsetzer seines Werkes erstehen würden, welche die Athener nicht in Ruhe lassen würden. Sie würden hinfort seine Fragen niemals wieder loswerden. In den Schriften Platos ist er wirklich auferstanden und tritt als geistige Gestalt vor sein bald schon von Reue erfaßtes Volk mit den alten Forderungen und Mahnungen. Der junge Plato stellt diesen echten Bürger, der nach der Erkenntnis einer neuen unumstößlichen sittlichen Norm des menschlichen Lebens sucht und für sie zu sterben bereit ist, mitten hinein in den erschütterten Staat, der schwer um die Wiederaufrichtung seiner geschwundenen inneren Autorität ringt. Im „Protagoras" und „Gorgias" wagt Plato Sokrates als den einzig wahren Lehrer der politischen Tugend der bloß formalen politischen Verstandesbildung und Redekunst der Sophisten gegenüberzustellen. Aber seine Kühnheit geht noch weit darüber hinaus, wenn er mit echt revolutionärer Kraft die Ideale des alten Athen, nicht die Demagogen der Zeit des Niedergangs, sondern die Gestalten vom Range des Themistokles und Perikles vor den Richterstuhl seiner Prüfung zitiert und ihre Politik der äußeren Macht und der wirtschaftlichen Prosperität an dem erzieherischen Ideal mißt, in dem er das Wesen der staatlichen Gemeinschaft sieht. So wird Sokrates, der doch von aller politischen Tätigkeit sich sein Leben lang ferngehalten hatte, für der einzige wahre Politiker seiner Zeit. Wer dem Staate helfen will, der soll nicht damit anfangen, neue Werften und Schiffe und Waffendepots zu bauen und der Zunahme des Wohlstandes alles andere unterzuordnen, sondern er soll im Sinne des Sokrates die Bürger besser machen.^ Hinter diesen seltsam neuen, aber eindrucksvollen platonischen Gesprächen, an denen wir nicht beliebige müßige Schwätzer, son-
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dem die bekanntesten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens beteiligt finden, verbergen sich innere Entwicklungen von unabsehbarer Tragweite für das Verhältnis von Mensch und Staat. Es gibt eine große neue Tatsache, um deren Bewältigung sich für den Staat alles dreht und die für seine Existenz vielleicht noch fundamentaler ist als ein Wiedererlangen äußerer Macht und Geltung, das ist die Entstehung des selbständigen Individuums. Die demokratische Staatsform Athens hatte das Ihrige dazu beigetragen, diese Individualisierung zu beschleunigen, obgleich Egalisierung und Individualisierung an sich nicht dasselbe sind. Aber die zwanglose Form des öffentlichen Lebens hatte dem individuellen Wünschen und Meinen des Einzelnen den bisher größten Spielraum gewährt. Nachdem man zunächst die Vorteile davon genossen hatte, hatte der Krieg hinter der harmlosen Fassade die gefährliche Kehrseite dieser Emanzipation des Einzelnen gezeigt und den Kampf aller gegen alle, der zwischen den Staaten tobte, auch in das Innere des Staates hineingetragen. Die Revolution der aristokratischen Gegenpartei hatte bewiesen, daß diese Frage nicht durch das bloße straffe Anziehen der Zügel äußerer Autorität zu lösen war. Eine interessante politische Reformschrift kurz nach Kriegsende, deren Verfasser wir nicht mit Namen kennen, zeigt, daß man jetzt auch von Seiten der Sophisten, die theoretisch viel zur Auflösung der alten Gesetzesautorität beigetragen hatten, das Problem der Autorität als den Brennpunkt der Situation empfand.20 Aber mit bloßen Nützlichkeitsgründen, wie der Autor sie vorträgt, ließ sich diese nicht wiederherstellen. Ein einziges Ereignis wie der Justizmord an Sokrates, dem gerechtesten Manne, wie Plato ihn nennt, beleuchtet grell die verzweifelte Lage, und die ganze Bedeutung des neuen Willens zum Staate, der in Platos Schriften bis zum „Staat" mit wachsender Kraft sich offenbart, wird uns erst klar, wenn wir uns vor Augen halten, daß Plato hier mit aller Kraft gegen den Strom schwimmt.2I Er ringt hier nicht so sehr um die sittliche Erneuerung des bestehenden Staates, den er für unheilbar hält, wie gegen die unter der intellektuellen Schicht allgemein um sich greifende Flucht aus dem
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Staate in ein kultiviertes Privatleben. Dieses „Metökenideal" war von sympathischer Reinlichkeit, aber es fehlte ihm das Gefühl der sozialen Verpflichtung, wenn man auch darauf Wert legte, seine Steuern und Schulden pünktlich zu zahlen.« Plato kann nicht zugeben, daß Staat und Geist sich fremd gegenüberstehen und der echte Geist kein volles Bürgerrecht habe, sondern nur Metöke sei. Gegenüber der Mißachtung des Geistes durch die Masse wie durch die illusionslose dünne Schicht der Politiker vom Schlag des Kallikles, die nur das Recht des Stärkeren achten und sonst nichts in der Welt, errichtet er das Bild eines Staates, der streng aristokratisch, aber uneigennützig von einer Elite sokratischer Herrscher-Weisen regiert wird. Plato sagt selbst, daß er diese Gedanken schon in dem Jahrzehnt nach Sokrates' Tod gefaßt und vertreten habe.23 Sein „Staat", der sie verewigte, ist erst wesentlich später geschrieben. Es ist bekannt, daß Plato versucht hat, seine Reform durch die Macht des syrakusanischen Tyrannen Dionysios I. und seines Nachfolgers zu verwirklichen. Wir müssen uns dessen immer wieder erinnern, um zu verstehen, in welch hohem Grade die geistige Bewegung, die von Sokrates ausging, ein Faktor im Leben des wirklichen Staats jener Zeit war. Wie man auch über die konkreten Vorschläge des platonischen „Staates" denken mag: ein Werk wie der „Gorgias", in dem sich ein Abgrund öffnet zwischen der rein machtmäßigen Auffassung des Staates und dem Erziehungswillen derVorkämpfer einer neuenGemeinschaftsidee, konnte nicht spurlos am Geiste der Zeitgenossen vorübergehen.2·* Es ist schon ein Mut zur tragischen Konsequenz, wenn der Tyrann Dionysios in seinem Drama die Tyrannis offen die Mutter der Ungerechtigkeit nannte25 und damit die neue philosophische Botschaft streng aus dem Bereiche aller wirklichen PoHtik verwies. Er zog mit seinem reinen Machiavellismus die Folgerungen aus den Lehren des Krieges, die, wie er glauben mochte, Staaten wie Sparta und Athen mit ihren großen geistigen und moralischen Traditionen niemals freiwillig zu ziehen vermochten. Sie mußten stets an einem inneren Widerspruche leiden, wie er im pelopon-
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nesischen Kriege offen zu Tage getreten war.2Ö Der Konflikt von Macht und Recht ist nirgendwo bei den Griechen so zynisch als im Wesen des Staates liegend anerkannt worden. Aber er zieht sich als ungelöstes Problem seit dem Ende des V. Jhrh. durch das gesamte politische Leben Griechenlands und macht es unsicher. Vielleicht hat die strikte sittliche Forderung des Sokrates dazu wirklich mehr beigetragen als der vielberufene Relativismus und Subjektivismus der Sophisten, und aus diesem Gefühl heraus haben so patriotische, aber beschränkte Bürger wie Anytos und seine Gesinnungsgenossen Sokrates als Verderber der Jugend anklagen können und hingerichtet. Platos tiefgreifende Kritik, die bis zu den Fundamenten des Staates vordrang, war gewiß eine geistige Macht in dem Athen der Nachkriegszeit, wenn sie für uns in ihrer unmittelbaren Wirkung auf die Umwelt auch ziemlich unberechenbar bleibt. Viel leichter faßbar ist uns die Wirkung einer ganz anders gearteten Persönlichkeit des geistigen Athens, die in jenen Jahren zuerst von sich reden macht und in langsamem Aufstieg zum Mittelpunkt eines großen und einflußreichen Kreises und zum Haupt einer blühenden Schule wird, des Rhetors Isokrates. Zu seinem vollen Glück fehlte ihm weder die Feier der literarischen Öffentlichkeit noch der goldene Boden des Handwerks noch die Länge des Lebens: es stand ihm nichts im Wege als der etwas unglückliche Ehrgeiz, der ihn sich lebenslänglich als mit Unrecht von Plato in den Schatten gestellt fühlen ließ. Zu einem solchen Vergleich berechtigte ihn allenfalls der unverhältnismäßige Ruhm, den das Publikum gern den Zeitgenossen spendet, die die Gabe haben, ihm seine eigenen Meinungen im Spiegel einer glücklichen und leicht verständlichen Form vorzuhalten. Isokrates wollte Lehrer einer politischen Bildung sein, wie schon die erste Generation der Sophisten sie zum Teil vertreten hatte. Angesichts der platonischen Kritik erscheint sie als die Bildung des politischen common sense: eine Mischung von Journalismus, Publizistik, Festrednertum und Hochschule für Politik, doch ohne die Fähigkeit unmittelbar zündender Wirkung auf eine Masse. Diese aka2
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demische, etwas auf Stelzen gehende Form der schriftlichen Beredsamkeit wollte vornehmer sein als die gewöhnliche Volksrede, aber sie teilte andererseits mit der Menge der Philister die instinktive Ablehnung alles dessen, was ihr an der echten Geistestiefe Platos verstiegen und für das Leben unbrauchbar erschien. Isokrates' politische Erziehung wollte vor allem „brauchbar" sein, aber sie wollte sich doch über das Niveau des bloßen Routiniers in Gericht und Volksversammlung durch eine gewisse Dosis politischer Reflexion erheben; dabei entrichtete sie der neuen Zeit insofern ihren Tribut, als sie auch ethischen Gedanken Einlaß gewährte. Neben allgemeinem Zeitgut findet sich bei Isokrates nicht wenig Sokratisches, das durch diesen Filter in das Denken weiterer Kreise, zumal der Politiker, durchsickert.3? Die Sophisten hatten viel von der politischen Eintracht geredet, bei Gorgias hatte das schon in seinem „Olympikos" zu der Aufforderung eines gemeinsamen Rachekrieges aller Griechen gegen Persien geführt, um die griechischen Staaten von der gegenseitigen Zerfleischung abzuhalten und ihre Kräfte nach außen abzulenken.28 Diese Ideologie nahm Isokrates in dem „Panegyrikos" auf, den er hauptsächlich in den Jahren nach dem Frieden des Antalkidas schrieb. Es ist für Athens wieder erstarkendes Selbstgefühl bezeichnend, daß hier schon von einem spartanisch-athenischen Dualismus in Hellas geredet werden kann, was in dem ersten Jahrzehnt nach dem Fall Athens unmöglich gewesen wäre. Dabei ist offenkundig, in welchem Maße diesmal die ungeheure geistige Macht Athens als Impuls des politischen Wiederaufstiegs wirksam ist und zu seiner Rechtfertigung dient. An ihr richtet sich der politische Wille wieder auf. Die Rede übt Kritik an den Prinzipien der reinen Gewaltpolitik, die dieser lebendigen Kraft Athens nicht die Freiheit der staatlichen Entfaltung gönnt, und führt gegenüber Sparta eine völlig neue Sprache von gleich zu gleich, die uns, wenn auch keine reale Macht dahinter steht, doch aufhorchen läßt und in ganz Griechenland ein Echo finden mußte.29 Das Ereignis, das die stagnierende Politik der griechischen Staaten wieder in Bewegung setzte, war die Besetzung Thebens
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durch ein spartanisches Korps, das den Durchmarsch durch böotisches Gebiet nach dem Norden zu diesem Handstreich benutzte, und die Wiederbefreiung Thebens, die Athen nach anfänglichem Zögern und Schwanken mit fortriß. Es war das Jahr 378, in dem die Hoffnungen der athenischen Patrioten sich erfüllen sollten. Eine Schar von Männern verschiedenster Herkunft und Geistesart schloß sich zusammen zur Leitung des Staates im Augenblick der lange ersehnten Entscheidung. Thrasybulos und Kephalos von Kollytos waren alte Praktiker und traditionelle Thebanerfreunde, vielleicht ohne wesentliche eigene Gedanken. Daneben stehen neuere Namen wie der Feldherr Chabrias, der genial begabte Improvisator und Erfinder des Schützengrabenkampfes, der in dem Insurrektionskriege in Ägypten die neuesten militärischen Erfahrungen gesammelt hatte, und Iphikrates, ein Mann von großer persönlicher Tapferkeit, der glückliche Schöpfer der Peltastentaktik, die seit dem korinthischen Kriege eine bisher unerhörte Bedeutung erlangt hatte. Eine führende Gestalt und überparteiliche Größe war Konons Sohn Timotheos, dem der Ruhm und Reichtum des Vaters den Weg geebnet hatte; doch er war auch selbst eine ungewöhnliche, geistig überlegene Persönlichkeit. Er vereinigte in sich die seltene Doppelbegabung des Strategen und Diplomaten. Ihm hatte Athen vor allem den Aufbau des neuen sogenannten zweiten Seebundes zu danken. Dazu trat als Staatsmann von hervorragendem Rednertalent und virtuoser Unterhändler, vielleicht ohne stärkeres persönliches Gepräge, aber für den Eiertanz der Bundesgenossenpolitik wie geschaffen, Kallistratos, später Timotheos' gefährlicher Rivale. Die bedeutenderen unter diesen Männern waren keineswegs bedingungslose Anhänger der athenischen Demokratie. Sie zogen in gewöhnlichen Zeiten das Leben an anderen Orten dem Aufenthalt unter ihren Mitbürgern vor. 3° Chabrias war im Privatleben ein Lebemann, Iphikrates leidenschaftlicher Berufssoldat, ein großer Handwerker des Krieges, Timotheos ein Fürst, der auf seinen auswärtigen Besitzungen residierte und am liebsten nur mit Königen umging. Wenn so verschiedene Köpfe sich auf ein gemein2*
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sames Programm vereinigten, das zu ihrer sonstigen individualistischen Lebensführung so wenig stimmte, so war der Grund offenbar nicht nur die Langeweile, die sie dazu antrieb, ihre Kräfte einmal auf diese Weise zu betätigen, sondern ein höherer Idealismus muß diese athenischen Führer beseelt haben. Gewiß, sie liebten nicht den Demos, aber sie waren Liebhaber des Genius der alten Stadt Athen und wollten ihr zu neuem Glanz verhelfen. 3! Nicht weniger deutlich offenbart sich der Schwung dieses geschichtlichen Augenblicks in den Verhandlungen Athens mit den übrigen Staaten und in dem Geist der zur Gründung des zweiten Seebundes neu geschlossenen Verträge. Es war gewiß auch Erfahrung und politische Klugheit, die Athen dazu bestimmte, diesmal auf jeden an Herrschaft über die Bundesgenossen erinnernden Zwang zu verzichten, aber zweifellos haben auch die Auseinandersetzungen seit dem Ende des peloponnesischen Krieges über die Pleonexie als die Wurzel alles Übels in der Politik daran ihren vollen Anteil gehabt. Diese Gesinnung sollte durch die finanziellen Schwierigkeiten des Seebundes später leider mehr und mehr zermürbt werden. Jedenfalls fand das Athen dieser ersten Jahre des zweiten Seebundes überall volles Vertrauen, und das kann nicht nur durch den allgemeinen Haß gegen Sparta erklärt werden. Die neuen Männer und der neue Geist haben Athen die Herzen von Hellas gewonnen. Daß sein Wiederaufstieg als geschichtliche Gerechtigkeit empfunden wurde, hatte es ihnen zu verdanken. Den Gang der militärischen Operationen selbst haben wir hier nicht zu schildern. Es wäre sonst interessant, den etwas allzu eigenwilligen Charakter der Führer in diesem Spiegel wiederzufinden. Der Friede zu Sparta 371 brachte Athen die unbestrittene Seeherrschaft. Kallistratos, der nach sieben Kriegsjahren die politische Leitung fast allein noch in der Hand hatte, hielt trotz starken Widerstandes der Partei der absoluten Kriegsfreunde die Zeit für gekommen, stillzustehen und das Errungene zu sichern, ehe Athens Kräfte sich erschöpften. 3* Ich breche ab auf dem Höhepunkt des Wiederaufstiegs der athenischen Macht. Die Vernichtung der spartanischen Vorherr-
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schaft zu Lande durch den Sieg der Thebaner bei Leuktra folgte unmittelbar auf den Friedensschluß, durch den Athen sich von seinem thebanischen Bundesgenossen getrennt hatte, und gab der athenischen Politik eine ganz neue Richtung. Doch die Darstellung der historischen Ereignisse ist für uns kein Selbstzweck. Wir wollten die geistige Umwelt der Jugend des Demosthenes schildern. Ungeheure Eindrücke, die für sein ganzes Leben bestimmend werden mußten, prägten sich seiner Seele unauslöschlich ein, während er zum Jüngling heranwuchs. Die Erhebung seines Vaterlandes aus resignierter Schwäche und hoffnungsloser Isolierung zu neuer staatlicher Geltung und zu selbständiger aktiver Politik mußte die Besten mit freudiger Hoffnung und echter Teilnahme an der Sache des Staates erfüllen, und in der heranreifenden Generation, deren Kopf schwer war von so viel philosophischem Ernst, weckte die mit neuem Glanz erstrahlende Erinnerung an die große Vorzeit Athens, die aus dem Erleben der Gegenwart frische loräfte sog, den Glauben an eine Zukunft, in der zu leben es sich lohnte.
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JUGENDGESCHICHTE UND ANWALTSBERUF ICH MUSS mit einer merkwürdigen Feststellung beginnen. Demosthenes ist der erste Mensch seit Erschaffung der Welt, über dessen Jugendgeschichte wir etwas Genaueres wissen. Ein Grund hierfür ist der, daß sein Leben in eine Zeit fällt, wo der menschliche Geist — oder richtiger der griechische Geist — sich zuerst für die Entwicklung und den Lebenslauf bedeutender Individuen zu interessieren beginnt und bewußt Material dafür sammelt. Wichtiger noch ist der für uns glückliche Umstand, daß Demosthenes bei seiner Mündigwerdung sogleich vor Gericht gehen mußte, um seine Vormünder zu verklagen, die sein väterliches Vermögen veruntreut hatten, und daß uns die Reden, die der Zwanzigjährige damals gehalten hat, unter seinen späteren Gerichts- und Staatsreden überliefert sind. Bei dieser Gelegenheit mußte er die unseligen Familien- und Vermögensverhältnisse seines Hauses eingehend schildern. Und so haben wir hier den unschätzbaren, auch im späteren Altertum seltenen Ausnahmefall, daß wir einmal einen antiken Menschen nicht nur in der heroisierenden Aufmachung einer mehrere Jahrhunderte später geschriebenen tatsachenarmen Schulbiographie als leibhaftig umherwandelnden Tugendkanon kennenlernen, sondern in seine wirkliche Umwelt und in seinen Lebenskampf mit all seinen Menschlichkeiten einen tiefen Einblick tun. Vielleicht ist es ganz gut, daß wir dieser Einsicht in anderen Fällen überhoben sind, denn ohne Zweifel erschwert es meist nur unsep? Stellungnahme zu dem, was ein bedeutender Mensch seinem wahren Wesen und seiner allgemeinen Wirkung nach ist, wenn wir ihn in der Zufälligkeit seines privaten Lebens und seiner täglichen Erscheinung allzu genau kennen. Nur aus der Distanz kann er wahrhaft erkannt werden. Es kann nicht unsere Neugier erregen, wenn wir hören, wie der greise Sophokles einen tiefen Seufzer der Erleichterung ausstößt, daß er jetzt endlich im Alter
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von dem schweren Joch des Eros befreit sei j1 und was wäre gewonnen, könnten wir Euripides' ganzes Unglück von nahem sehen, das in seinem Gesicht geschrieben steht. Wo wir jedoch wie bei Demosthenes unfreiwillig das Buch seines persönlichen Schicksals aufschlagen, muß dieses Mitwissen unser Verhältnis zu dem ganzen Mann umwandeln. Wir beginnen psychologisch zu verstehen, zum mindesten psychologisch zu deuten, wiederum eine Haltung, die wir gegenüber antiken Menschen nur selten einnehmen können, weil wir zu wenig von ihnen wissen, und selbst hier reicht unser Wissen in Wirklichkeit nicht aus. Dieser Lage kann nur gerecht werden, wer dem ringenden Menschen mit seinen Vorzügen und seinen Schwächen gleichsam als Freund gegenübertritt. Die Gerichtsreden des Demosthenes aus der Zeit vor seiner politischen Tätigkeit, die wir natürlich nicht um ihrer selbst willen betrachten können, geben überdies ein Bild von der athenischen Gesellschaft jener Periode, das als Hintergrund für das Persönliche von großem geschichtlichem Wert und noch gar nicht voll ausgenutzt worden ist. Demosthenes' Vater starb, als der Knabe sieben Jahre und seine kleine Schwester fünf Jahre alt war.2 Er war Besitzer mehrerer Fabriken und eines großen Vermögens gewesen. Als dessen Verwalter hatte er in seinem Testament seine zwei Neffen Aphobos und Demophon und seinen langjährigen Freund Therippides eingesetzt und ihnen zugleich die Vormundschaft über die beiden minderjährigen Kinder anvertraut. Die Mutter Kleobule war ein skythisches Halbblut aus der Krim. Solche Verbindungen waren besonders in den athenischen Kolonien häufig. „Skythe" wird Demosthenes später mehrfach von seinen Gegnern tituliert, Aischines nennt ihn einen griechisch sprechenden Barbaren. 3 Der Vater Demosthenes hatte in seinem letzten Willen auch an die Versorgung von Frau und Tochter gedacht, wie das in Griechenland Sitte war, wo die Verheiratung der Frau durch den Vater beziehungsweise durch den Ehemann geschah, wenn dieser für seine Gattin im Fall seines Todes einen neuen Ehegatten vorsah. Der Fall, daß dies nicht geschah, sondern die Wahl der Frau
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selbst freigestellt wurde, wie im Testament des Aristoteles, war wohl ungewöhnlich, zum mindesten in den besitzenden Kreisen. Dort wurde die Frage der Wiederverheiratung der Witwe in der Regel mit der Nachfolge im Geschäft verknüpft. 4 Übrigens haben die Vormünder weder die Mutter noch später die Schwester des Demosthenes geheiratet. Als der junge Demosthenes mit achtzehn Jahren volljährig wurde, übergaben die Vormünder ihm außer dem Hause und vierzehn Sklaven nur dreißig Minen Silber, im Gesamtwert etwa siebzig Minen. Dagegen macht Demosthenes in der ersten Rede gegen Aphobos eine Bilanz auf, nach der das Gesamterbe des Vaters rund vierzehn Talente betrug, für damals ein ungeheures Kapital. 5 Man würde es danach durchaus verstehen, daß nach Demosthenes' Aussage die Vormünder eine Schätzung des Vermögens in die Steuerlisten hatten eintragen lassen, derzufolge er während seiner Minderjährigkeit mit Timotheos, dem Sohn des Konon, und den Besitzern der größten Vermögen in Athen in derselben Steuerklasse rangierte.6 Das Testament selbst war verschwunden. Die Rekonstruktion des Demosthenes baut sich wohl nach Möglichkeit auf Geschäftsbüchern und Dokumenten auf; so waren zum Beispiel die Außenstände bei mehreren Banken nachträglich leicht festzustellen und werden mit Angabe der Firma aufgeführt. Allein bei der Schätzung der Lagerbestände, des Hauses und überhaupt der sachlichen Werte mußte eine Berechnung an Hand der Bücher nach zwölf Jahren auf große Schwierigkeiten stoßen, wie jeder weiß, der jemals Einblick in eine geschäftliche Bilanz genommen hat. Hier war der Mutmaßung ein weiter Spielraum gegeben, wenn auch Geschäftsverkehr und Vertragsabschluß sich, wie wir wissen, damals in Athen schon großenteils schriftlich vollzog, und die Werte, die Demosthenes anrührt, konnten natürlich zum Teil nur Idealwerte sein. Auch mußte man wahrscheinlich wesentlich mehr fordern als man hoffen durfte gerechterweise zu erlangen, denn alle derartigen Prozesse pflegen bekanntlich vor Gericht nachher zum reinen Handelsobjekt zu werden. Es ist also lächerlich, wenn moderne Philo-
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logen sich nach zweitausend Jahren noch als strenge Prüfer über die Bilanz hermachen und haargenau ausrechnen, wie viele Talente zuviel Demosthenes gefordert habe. 7 Für eine relativ hohe Schätzung der vorhandenen Werte spricht vielleicht die günstige Konjunktur, die eine Waffenfabrik beim Tode des alten Demosthenes, das heißt auf dem Höhepunkt des Krieges des zweiten Seebundes gegen Sparta, haben mußte. Der Prozeß entrollt ein Sittenbild aus den reichen Kreisen Athens in den siebziger und sechziger Jahren des IV. Jhrh. Da-' mals schrieb Plato seinen „Staat" und den „Theaetet", in dem jene unvergeßliche Schilderung des weltfernen Weisen vorkommt, der den Weg auf den Markt und zum Gericht nicht kennt. Im achten Buch des „Staates" wird die Psychologie der Demokratie gezeichnet ganz im Geiste der „nachsichtigen und nicht im mindesten pedantischen" Gesellschaft,8 in die Demosthenes' gerichtliche Reden uns einführen. Da sind zunächst die Vormünder, die nicht nur die ihnen zur Belohnung für ihre Mühe ausgesetzten Summen, sondern das ganze Geld einstecken und die Fabriken herunterwirtschaften, bis annähernd nichts mehr übrig ist. 9 Demosthenes muß gegen jeden von den Dreien einzeln klagen. Aphobos, gegen den der erste Angriff sich richtet, hatte kurz vorher (367), offenbar um sich zu sanieren, die Schwester eines schwerreichen Mannes aus der vornehmen Welt Athens namens Onetor geheiratet, die geschiedene Frau des Timokrates, der drei Jahre später Archon wurde. Demosthenes gibt das Vermögen des Onetor auf 30, das des Timokrates auf über 10 Talente an.10 Zwei Jahre nach der Heirat ließ Aphobos sich wieder scheiden. Inzwischen hatte Demosthenes den Prozeß gegen ihn angestrengt und gewonnen.11 Als er nun aber gestützt auf das rechtskräftige Urteil ein Grundstück des Aphobos pfänden ließ, wurde er von Onetor, dem Bruder der geschiedenen Frau des Aphobos, hinausgeworfen. Onetor beschlagnahmte nun seinerseits das Grundstück mit der Begründung, Aphobos schulde ihm noch die Herausgabe der Mitgift seiner geschiedenen Gattin.
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Die Folge war fur Demosthenes ein neuer Prozeß gegen Onetor." Er wirft ihm betrügerisches Einverständnis mit Aphobos vor und stellt unter Beweis, daß die Scheidung überhaupt nur ein Scheinmanöver gewesen sei, um dem Aphobos das Eigentum seiner Gattin zu erhalten. Denn er verkehre nach wie vor freundschaftlich mit Onetor, dieser sei sogar sein wärmster Fürsprecher im Vormundschaftsprozeß, die Frau aber habe trotz ihrer blühenden Jugend und ihres Reichtums nicht wieder geheiratet. Vielmehr wird das Zeugnis des Hausarztes dafür beigebracht, daß Aphobos während ihrer Krankheit nach der Scheidung an ihrem Bett geweilt habe. Auch die Beschlagnahme des Grundstücks durch Onetor sei eine bloße Schiebung. Er habe keinen Anspruch auf die Herausgabe der Mitgift von Seiten des Aphobos, da dieser eine solche überhaupt nicht erhalten, sondern bei der Heirat dem ehemaligen Gatten die weitere Nutznießung der Mitgift gegen entsprechende Verzinsung zugesichert habe, um nicht durch Gütergemeinschaft mit seiner Frau auch deren Besitz zu verlieren, wenn er, Aphobos, zur Rechenschaft gezogen würde. Denn bei der Heirat hätten bereits dauernd die Auseinandersetzungen wegen des veruntreuten Mündelgutes vor dem Archon gespielt, und Aphobos habe schon gewußt, daß Demosthenes sofort nach Erlangung seiner Volljährigkeit gerichtlich gegen ihn vorgehen werde. Diese unerfreulichen, nervenaufreibenden Streitigkeiten zogen sich Jahre lang hin. Demosthenes lud die Vormünder zwar sofort nach seiner Mündigwerdung vor den Schiedsrichter, aber zugleich mußte er seine militärische Dienstzeit als Ephebe antreten, und während dieser Jahre durfte er nach attischem Gesetz keinen Prozeß führen. Erst zwanzigjährig konnte er die Sache vor Gericht vertreten. Die Angelegenheit hatte wohl auf das Leben der Familie schon seit Jahren ihren Schatten geworfen. J3 Die Mutter hatte mit den beiden heranwachsenden Kindern ein ziemlich freudenarmes Leben geführt. Der Knabe war von zarter Gesundheit, und die Mutter hielt ihn ängstlich vom Besuch der Turnplätze zurück, wo die attische Jugend ihren Tag verbrachte und
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ihre Freundschaften schloß. Dafür vergräbt sich der Junge in frühreifem Ernst zu Hause in übermäßiges Bücherstudium. Doch die Art, wie er in dem Alter, wo die meisten nur harmlos ihre Jugend genießen, sein Leben selbständig in die Hand nimmt und für sein Recht kämpft, läßt schon früh die verbissene Zähigkeit erkennen, mit der der stille junge Mann einen unausweichlichen Entschluß durchzuführen fähig ist. Bei aller jugendlichen Bescheidenheit hat seine Haltung in den Reden, die er in diesem Prozeß gehalten hat, doch eine überraschende Festigkeit, und eine für sein Alter ungewöhnliche Kraft reifer und beherrschter Leidenschaft bricht mehr als einmal durch. Mit diesen Reden in eigener Sache hat Demosthenes zugleich seine eigentliche Laufbahn eröffnet. Sie verraten in ihrer ganzen Anlage trotz der Jugend ihres Verfassers schon den geschulten, bewußt seine Mittel wählenden Juristen und Redner. Er kann sich diese Form nicht nur für diesen einmaligen Zweck angeeignet haben, sondern hinter ihr verbirgt sich ein großes und mühsames Studium, das er nur aus innerster Neigung ergriffen haben kann und das Jahre der Ausbildung erforderte. Man muß es als einen einzigartigen Fall bezeichnen, daß ihm auf seinem beruflichen Wege das persönliche Schicksal so zum Stachel des Fortschritts wurde. Denn das ungeheure Risiko schon dieses ersten Einsatzes hat doch wohl wesentlich dazu beigetragen, daß er sogleich ein so einzigartiges Werk zustande gebracht hat, wie diese frühesten Versuche es sind. Nach unseren heutigen Begriffen ist das, was Demosthenes studiert hatte, freilich überhaupt kein bestimmtes Fach, etwa Jurisprudenz. Sie war in dem Athen des IV. Jhrh. noch nicht zu einer Wissenschaft ausgebildet, in die man in jahrelangem theoretischem Studium eindringt. Die Anfänge einer juristischen Wissenschaft finden wir erst bei dem Schüler des Aristoteles Theophrastos, der in seinem verlorenen Werk über die Gesetze ein systematisches Rechtsstudium begründet hat. M Diese Art des Betriebs der Rechtskunde ist vor allem bei den Römern zur Vollkommenheit entwickelt worden, wenn auch nicht in theoretischer
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Absicht, sondern zur praktischen Beherrschung des geltenden vielverzweigten Rechts. Es erscheint aus der Entfernung fast paradox, daß ein Volk von höchstem theoretischen Genie wie die Griechen an diesen Bereich des Lebens nicht mit wissenschaftlichem Sinne herangegangen sein sollte. Aber das, was der Grieche nennt, ist ursprünglich etwas tiefer Liegendes, Umfassenderes als unsere magere „Theorie". Es ist ein schauendes Betrachten der Welt in ihrem Totalzusammenhang, in den letzten Gründen ihrer Existenz. Erst allmählich löst sich aus diesem großen Zusammenhang die spezielle Kunde einzelner Teilgebiete ab, wie zum Beispiel eine empirisch betriebene Meteorologie oder Geographie. Aus der praktischen Heilkunst entwickelt sich im V. Jahrhundert, als das kausale Denken mehr und mehr an Stelle der mythischen Auffassung tritt, eine Wissenschaft der Medizin, wie schon früher die Anfänge der Mathematik erwachsen waren. Alle diese Wissenszweige entstanden zunächst selbständig. Erst in Platos Schule werden sie in ein allumfassendes System der Wissenschaft eingeordnet und der Herrschaft einer und derselben begrifflichen Methode unterworfen.15 Die Wirkung dieses Einflusses auf die systematische Durchbildung der einzelnen Wissenschaften wie Medizin und Mathematik ist im Laufe des IV. Jahrhunderts deutlich zu beobachten. Auch auf dem Gebiet des Rechts hegt es nicht anders. Schon imVII. und VI. Jhrh. finden wir bei den Griechen ein tiefes Nachdenken über das Wesen des Rechts und die Bedeutung einer rechtlichen Lebensordnung für den Menschen. Schrittweise folgt dann die Entstehung der einzelnen Gesetzgebungen in den Städten. Daraus erwächst bei weiterer Entwicklung der gesetzgeberischen Tätigkeit zwangsläufig mehr und mehr ein spezielles Studium. So hören wir in der älteren Komödie, daß schon die Sophisten in Athen neben ihren allgemeinen Betrachtungen über Staat und Recht mit ihren Schülern auch praktische Übungen in der Interpretation von Gesetzestexten abhielten, und daß die jungen Leute statt der Glossen im Homer jetzt das altertümliche Vokabular der Gesetze Solons, der Axones, kennen lernen mußten. Der Sophist Protagoras
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sieht in der Kenntnis der bestehenden Gesetze des Staates den wichtigsten Teil der Bildung eines Griechen im erwachsenen Alter.16 Um dieselbe Zeit nimmt die formale Kunst der Rede in den Städten einen großen Aufschwung. Sie fordert eine strenge Ausbildung des Redners vor Gericht wie in der Volksversammlung. Beides liegt für den Griechen dieser Zeit nicht so weit auseinander, da das Gericht immer mehr die Stelle wird, wo politische Kämpfe ihren Austrag finden, und auch das politische Leben genaue Kenntnis des Gesetzes voraussetzt. Die neue Kunst ist vielfach schon äußerlich an der überlegten Wahl ihrer sprachlichen Mittel zu erkennen. Wortwahl, symmetrische Satzgliederung und Figurenschmuck suchen die höchsten Ansprüche zu befriedigen. Freilich ist das, was man gewöhnlich als Inbegriff der neuen Kunstprosa ansieht, die im engeren Sinne sprachlichen und klanglichen Mittel, nicht einmal das Entscheidende.1? Die veränderte geistige und seelische Struktur des Menschen dieser Zeit führt zum vollkommenen Bruch mit der schlichten Einfachheit der Redeweise der Vorfahren und erzeugt ein unerhörtes Raffinement der Überredungskunst, das da am größten ist, wo es nicht durch auffällige und gesuchte Klangwirkungen auch den harmlosesten Hörer warnt, sondern scheinbar mit den natürlichsten Mitteln arbeitet. Diese Rhetorik schafft eine Bewußtheit der Psychagogie, wie sie selbst die Dichter der alten Zeit nicht gekannt hatten. Die logische Argumentation wird zum differenziertesten Instrument. Neben eine höchst ausgebildete Erzählungskunst, die jeden Fall so darzustellen vermag, wie sie ihn den Hörer sehen lassen möchte, tritt vor allem der Beweis in allen seinen Nuancen, von der massiven Augenscheinlichkeit gut bezeugter Tatsachen, um die es sich vor Gericht leider aber meist nicht handelt, bis zu den dünnsten Wahrscheinlichkeiten spintisierender Subtilität und zielsicherer Suggestionskraft. Diese Beweislogik steht im Dienst einer neuen bewußten Kunst p sychologischer Einwirkung auf den Hörer. Sie beherrscht virtuos alle Register des menschlichen Affektes.
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Die ältesten Proben dieser neuen Redeform, die wir haben, sind bloße Schuldeklamationen, bestimmt, in spielerischer Weise die Mittel ihrer Kunst an fingierten Beispielen aus der Welt des Mythos vorzuführen. Bald aber entsteht aus ihr eine neue literarische Gattung: die als Buch veröffentlichte Gerichtsrede. So merkwürdig diese Tatsache und der Umfang dieser Produktion uns erscheint, muß sie doch einem wirklichen Bedürfnis entsprochen haben. Antiphon und Lysias, die bedeutendsten älteren Verfasser solcher Plaidoyers, sind nicht selbst damit als Redner aufgetreten. Sie waren Redelehrer und wollten mit der Veröffentlichung Probestücke ihrer Kunst geben. Von den Sophisten unterscheidet sie andererseits die berufsmäßige Ausübung der Logographie. Das heißt sie schrieben für Geld Reden für andere Leute zum Gebrauch vor Gericht, da es in Athen keine Anwälte gab, sondern jeder, auch der ungeübteste, seine Sache selbst fuhren mußte. Hier verschmilzt also die neue Rhetorik mit der Gesetzeskunde, von der wir sprachen, zu einem eigenen neuen Beruf, einer Mischung von Schriftsteller, Redelehrer und Rechtsanwalt. Letzteres allerdings nur im privaten Sinne. Denn im Gegensatz zu den heutigen Gepflogenheiten gab es noch keine staatliche Zulassung der Anwälte, sondern es konnte sich als Redenschreiber anbieten, wer wollte: es kam nur darauf an, sich einen Namen zu machen, um Zulauf zu bekommen. l8 In der Natur dieses Berufes lag es, daß er einen vollblütigen Athener auf die Dauer kaum befriedigen konnte, weil er ihn auf die Tätigkeit in seiner Schreibstube beschränkte. Für Lysias war das etwas anderes, er war kein Vollbürger, sondern Metöke, ebenso stand es mit Isaios aus Chalkis, dem Lehrer des Demosthenes, der in Athen die Praxis eines Logographen ausübte. Für einen Athener von Talent aus guter Familie kam diese Tätigkeit nur als Durchgangsstadium zur Politik in Frage wie bei Demosthenes oder als Stufe zu einer höher angesehenen Lehrtätigkeit wie im Falle des Isokrates, der später als Haupt seiner politischen Rhetorenschule sich nicht mehr gern daran erinnerte,
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daß er als Gerichtsredenschreiber in einem kleinen Winkelbüro angefangen hatte, obgleich, wie Aristoteles sich moquiert, ganze Bündel von Rollen seiner früheren Gerichtsreden als Ladenhüter bei den Buchhändlern herumlagen. J9 Demosthenes spricht von seinem früheren Beruf freilich nicht mit geflissentlicher Geringschätzung, wie Isokrates es tut. Zu der Zeit, als Demosthenes heranwuchs, gehörte eine gute rhetorische Ausbildung schon zu den Selbstverständlichkeiten, und es war durchaus nicht zu empfehlen, ohne eine solche Ausrüstung vor ein Gericht zu treten. So wandte sich Demosthenes an den in Erbschaftssachen besonders erfahrenen Logographen Isaios und wurde sein Schüler.20 Eine schlechte Überlieferung bringt Demosthenes auch mit der Schule des Rhetors Isokrates in Verbindung. So sehr dieser sich seiner bekannteren Schüler sonst rühmt, hat er Demosthenes doch niemals erwähnt. Abgesehen von dem Gegensatz ihrer politischen Anschauungen paßt es auch an sich besser zum Charakter des Demosthenes, daß er sich in unbeirrbarer Konzentration auf ein festes Willensziel bei dem Spezialisten in die Schule begibt und sich dort mit zäher Energie auf den kommenden Kampf vorbereitet, als ihn sich bei Isokrates mit müßigen rhetorischen Schuldeklamationen beschäftigt vorzustellen. Soweit er über die Künste des alten Schlaukopfs Isaios hinaus für seine spätere Laufbahn der rhetorischen bedurfte, hat er sich die Rezeptbücher der bekanntesten Meister zu verschaffen gewußt, wie sie damals unter den Hörern abschriftlich von Hand zu Hand gingen. Darüber wußte die städtische Fama noch allerlei Einzelheiten zu berichten, die natürlich ohne Gewähr sind.31 Gerade dieses Autodidaktentum erscheint für Demosthenes bezeichnend. Er wußte überall mit sicherem Instinkt das ausfindig zu machen, wovon er lernen konnte. Wenn es sich für ihn auch nicht lohnte, für teures Geld langwierige Vorlesungen bei Isokrates zu hören, so konnte er doch schon an dessen publizierten Reden die große neue Kunst bewundern und nachahmen lernen, in der ihm keiner gleich kam,, den Bau der runden Perioden. Für den Ringkampf des gerichtl
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lichen Agon war diese Form im Grunde nicht geeignet, in der Isokrates' repräsentative Beredsamkeit sich ausschließlich bewegt. In ihr wandelt ein Satz nach dem anderen als in sich vollendetes Kunstwerk, das für sich genossen werden will, mit feierlicher Würde vorüber wie in festlicher Prozession. An einem jeden von ihnen hat der große Theoretiker ganze Tage hindurch geformt. Für ihn ist sein Ideal des Satzes absoluter Selbstzweck, und kein Inhalt ist hoch genug, um ihm als Substrat für diese Kunst der harmonischen Fügung des Gedankenumlaufs zu dienen, in der griechische Ohren stets eine der Gipfelleistungen hellenischen Formsinns empfunden haben. Demosthenes' Verhalten zu dieser Schöpfung ist interessant genug. Es zeigt die ganz natürliche Spannung zwischen dem reinen Kunstideal, das keine Rücksicht auf die Wirklichkeit kennt, und der Praxis, die gerne ihre Mittel dadurch bereichert, doch ohne sich dem aus der Höhe der Theorie kommenden neuen Kunstgeschmack bedingungslos zu unterwerfen. Der Stil der demosthenischen Reden, der gerichtlichen wie der politischen, ist allgemein dadurch charakterisiert, daß er in bewußter Reaktion gegen die akademische Programmkunst der isokrateischen Rhetorik und ihre gleichmäßige Monotonie den ganzen Reichtum der Temperamente und Ausdrucksarten des wirklichen Lebens spielen läßt. Indes an besonders akzentuierten Stellen seiner Reden macht er mit beabsichtigter Wirkung auch von dem Mittel der isokrateischen Periode Gebrauch. Seine frühesten Reden zeigen in dieser Hinsicht noch Proben von einer gewissen unfreien Gebundenheit an das Vorbild.« Aber bald wird er ein Meister in der ausgewählten Verwendung dieses Mittels, wie er denn gelegentlich auch ganze Reden in dieser Art stilisieren kann, wo er eine bestimmte Haltung einzunehmen beliebt. Wir werden darauf später noch zurückkommen. Denkwürdig bleibt bei dem größten Redner der Griechen der paradoxe Widerspruch zwischen der angeborenen Rednernatur und den körperlichen Schwächen, die ihrer Betätigung im Wege standen. Zu dem Autodidakten Demosthenes paßt aber gut der
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fanatische Fleiß und die eiserne Konsequenz, womit er sie zu überwinden sucht. Aussprache, Stimmbildung, Vortrag, kurz, alle die technischen Mittel, ohne die es keinen Redner gibt und die dem von der Natur Begünstigten mühelos zufallen, mußte er unter den größten Schwierigkeiten sich aneignen. Es war sein Glück, daß es für diese Künste zu seiner Zeit schon berufsmäßige Lehrmeister gab*3. Die bloße Tatsache ihrer Existenz beweist ja ein fortschreitendes Auseinanderfallen der vertragsmäßigen, eigentlich oratorischen Seite der Beredsamkeit und ihrer sprachlichen Form. Je mehr die Ansprüche der letzteren sich zur literarischen Kunst steigerten, um so häufiger mußten die Redekünstler werden, die wie Isokrates überhaupt nicht mehr als Vortragender öifentlich aufzutreten fähig waren oder dies wie Demosthenes ihrer Natur abringen mußten. Es bleibt für den gepriesensten aller Kunstredner eine seltsame Sache, daß er zeitlebens jeden glücklichen Improvisator zu beneiden Anlaß hatte und durch unvorhergesehene Angriffe leicht in Verlegenheit zu bringen war. Dieser Schranke seiner Natur hat er eine der peinlichsten und demütigendsten Situationen seiner Rednerlaufbahn zu verdanken gehabt, als er später, schon auf der Höhe seines Ruhmes, bei der Gesandtschaft an König Philipp von Makedonien in Gegenwart seines gehässigen Gegners Aischines in der Antwort stecken blieb und seine Rede abbrechen mußte. 2< In diesem Manne, den seine Feinde als mürrischen Wassertrinker verspotteten, rangen explosive Leidenschaft und zäher Wille mit den Hemmungen einer bis zur Unbeholfenheit schwerblütigen Anlage, und man begreift es aus den inneren Nöten seines Kampfes mit der eigenen Natur, daß Demosthenes den Vortrag für das Hauptstück aller Beredsamkeit erklärte, gerade weil diese Gabe ihm nicht von Hause aus eigen war.25 Und doch bewegt kein bloßer Literat mit angelernter Vortragskunst eine furchtsame und unschlüssige Volksmenge im Augenblick der wirklichen Gefahr. So muß denn das, was wir als wahre Rednernatur in Demosthenes anzuerkennen haben, seine Kraft wohl aus einer Tiefe des Innern schöpfen, die jenseits aller Kunst der Rede wie 3
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der Gebärde liegt. Doch der Weg von diesem eingeborenen Rednergeist, den er in seiner Seele trug, bis zu dem Auftreten als wirklicher Sprecher vor dem Volk war noch weit, und es war vielleicht kein Zufall, daß er nach dem ersten Erfolg vor Gericht in eigener Sache zuerst lange Jahre in dem Beruf des Redenschreibers untertauchte, ehe er den großen Schritt zur Politik tat, zu dem es ihn trieb und der ihn doch so viel Überwindung kostete. Es ist nötig, noch einen Blick auf die Zivilprozeßreden zu werfen, die Demosthenes als Logograph für andere geschrieben hat, einmal, um das Bild seiner Umwelt und Gesellschaftsschicht zu vervollständigen, das die Reden gegen die Vormünder uns enthüllt haben, aber auch um die eigentümliche Problematik dieser Tätigkeit noch etwas mehr von nahem zu betrachten. An sich galt sie, wie gesagt, nicht als etwas besonders Vornehmes, das beweist nicht nur Isokrates' Verleugnung seiner früheren Tätigkeit als Logograph, sondern auch der Spott des Aischines undDeinarchos über Demosthenes, er habe, obgleich ein reicher Mann, für andere gegen Bezahlung Gerichtsreden verfaßt.26 Wenn Demosthenes es in späteren Jahren nicht nötig hatte, sich so seinen Unterhalt zu verdienen, so hat er diese Beschäftigung offenbar eben aus einer Art Passiongetrieben. Dafür spricht auch, daß er in privatem Kreise nebenher junge Leute in der Kunst der Rede unterwies,2? genau wie es die großen römischen Sachwalter zur Zeit des Tacitus noch taten. Da das attische Gesetz ein persönliches Auftreten als Rechtsbeistand vor Gericht nur Angehörigen oder Freunden gestattete, waren die Fälle, wo Demosthenes selbst zum Plädieren kam, äußerst selten. Wir kennen einen solchen aus seiner späteren Zeit, denn bei der Rede gegen Leptines ist es nicht völlig sicher, ob Demosthenes selbst mit ihr als Fürsprecher aufgetreten ist. Doch unter der Regierung Alexanders hatte ein Verwandter des Redners namens Demon einen Prozeß gegen Zenothemis und bat Demosthenes um Fürsprache vor dem Gericht. Dieser erklärte ihm — so erzählt Demon den Richtern — er wolle diese eine Ausnahme machen,
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aber er habe sich sonst seit seinem Eintritt in die staatliche Laufbahn jedes Auftretens vor Gericht in Privatsachen grundsätzlich enthalten, aus begreiflichen Gründen.i8 Zwar machten sich nicht alle Politiker solche Skrupel, zumal in jener Zeit, wie das Beispiel des Hypereides beweist, aber Demosthenes wußte, was die Integrität für das Ansehen eines Staatsmannes bedeutet. Er hat sich jedoch nicht gescheut, bis tief in die Zeit seiner politischen Wirksamkeit hinein Gerichtsreden für andere zu schreiben, denn dies galt als Privatsache. Der Name des Verfertigers der Rede wurde vor Gericht nicht genannt, sondern blieb völlig aus dem Spiel. Es konnte also mit seiner Autorität kein Einfluß auf die Richter genommen werden. Wenn so die Genugtuung des persönlichen Einsatzes und öffentlichen Auftretens als Anreiz für den Logographen ganz fortfiel, springt der Unterschied von unserem Anwaltsberuf deutlich in die Augen. Es konnte sich in einem solchen anonymen Stande — wenn man von einem Stande hier sprechen kann — kaum ein eigenes Berufsethos entwickeln, da die Persönlichkeit des Schreibers oder Schriftstellers ja gar nicht mitsprach. Er hatte überhaupt nicht als Person für einen Mandanten, der ihm seine Sache anvertraute, Stellung zu nehmen, sondern umgekehrt sich völlig auszulöschen und zum Schreibgriffel dessen zu machen, aus dessen Mund er sprach. Die besondere Fähigkeit, auf die es dabei ankam und die schon Lysias bis zur Meisterschaft ausgebildet hatte, war die Ethopoiie, das heißt die bis zur höchsten Virtuosität ausgebildete Kunst der Charakterzeichnung des fremden Sprechers in den Worten, die man ihm lieh. Denn als echte Griechen verlangten die Richter von einer solchen Rede nicht nur die abstrakte Behandlung eines juristischen Falles, sondern sie wollten hinter dem Rechtsfall und in ihm den ganzen Menschen sehen, wenn nicht so wie er war, so doch wie er sich gab. Man kann sich ausmalen, welchen Anreiz diese Aufgabe für ein hochkünstlerisches Volk wie die Athener in einer Zeit haben mußte, da die dramatische Poesie diese Fähigkeit des sich Hineinlebens in die Seele eines anderen Menschen beim Dichter 3*
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und Hörer bis zum Gipfel geführt hatte. Um die Wende des V. zum IV. Jahrhundert, wo die lebendige Produktion des Dramas zu versiegen anfing, entstand in der veröffentlichten Gerichtsrede eine ganz neue Form dramatischer Unterhaltungsliteratur, die sich in höchst realistischer Lebensnähe bewegte. Man hat neben dem Zweck der Reklame, den diese Veröffentlichungen für den Logographen hatten, viel zu wenig ihre Bedeutung als begehrter Unterhaltungsartikel gewürdigt. Das ist fast merkwürdig in unserer Zeit, deren Blätter täglich ihre Spalten mit endlosen Prozeßberichten füllen und für die die Tribüne des Gerichtssaals gleich nach dem Theater kommt. Man muß also das Motiv der Nächstenliebe, die anderen Menschen in der Not helfen will, völlig fern halten, um diese Art der Betätigung zu verstehen. Es ist eine soziale Erscheinung, die sich zwangsläufig aus der Tatsache ergab, daß jeder vor Gericht sich selbst vertreten mußte, und daß es andererseits Leute gab, die davon lebten, ihre höhere Bildung anderen zu diesem Zweck zur Verfügung zu stellen. Eine Identifizierung mit dem Besteller einer solchen Gerichtsrede lag hierin nicht, im Gegenteil mußte der Schriftsteller bald einen Sport aus der Kunst entwickeln, sich in die verschiedensten Verkörperungen des genus humanum zu verwandeln und das eine Mal als distinguierte Persönlichkeit der höheren Gesellschaft, bald als treuherziger Biedermann vom Lande, bald als lamentierender Kriegsverletzter, bald als ruheliebender Spießbürger zu reden, der von radaulustigen jungen Zechbrüdern versehentlich halbtot geprügelt worden ist. Die Galerie der Typen ist unerschöpf lich, und wer sie auch nur einigermaßen überblickt, dem wird alle Lust vergehen, mit dem sittlichen Maßstabe heranzugehen und zu fordern, die Künstler hätten grundsätzlich nur für solche Klienten schreiben dürfen, die eine sichere Aussicht hatten, auch vor dem künftigen Gericht im Jenseits rein und makellos befunden zu werden, wenn ihre Seele nackend vor dem Unterweltsrichter Aiakos erscheinen würde. So fremdartig uns die bis zur Entpersönlichung des Schreibers getriebene Objektivität dieser formal so bewundernswerten Kunst not-
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wendig bleiben muß, war es von ihren Voraussetzungen aus doch das einzig Mögliche, aus der Not eine Tugend zu machen und den Auftraggeber so reden zu lassen, daß er das Gefühl haben mußte, noch niemals in seinem ganzen Leben seinem besseren Selbst so nahe gekommen zu sein. Die athenischen Geschworenen waren helle genug, nicht auf jedes Manöver glatt hereinzufallen, und sie wollten nebenbei auch unterhalten sein. Darum brauchte ein braver Logograph, wenn er aus der Rede eines bedrängten Schelms ein Meisterwerk von Unschuld und Tugend gemacht hatte, noch nicht gleich das Gefühl zu haben, als ob er mit der Hölle einen Bund geschlossen habe. Daß wir verhältnismäßig so wenige Gerichtsreden des Demosthenes haben, die meisten also wohl verloren gegangen sind, läßt darauf schließen, daß diese Erzeugnisse als ephemer empfunden und daher der Aufbewahrung meistens nicht für würdig erachtet wurden. Außer den fünf Reden in der eigenen Vormundschaftssache sind gerade aus der Frühzeit des Demosthenes, als er noch bloßer Logograph war, nur sehr wenige Reden erhalten. Die Objekte sind noch nicht sehr bedeutend, der Ruf des Verfassers steht offenbar noch in den Anfängen. Aus der Zeit des Beginns seiner politischen Tätigkeit ist uns jedoch eine Anzahl von Reden überliefert, die beweisen, daß er inzwischen bereits ein sehr begehrter Mann geworden war. Man sucht seine Hilfe jetzt außer für öffentliche Anklagen auch für Privatprozesse, bei denen es sich um große Summen handelt. Einen Fall dieser Art will ich zum Schluß herausgreifen, weil er ein Schlaglicht auf die damaligen Verhältnisse wirft. Es ist die Rede für Phormion und eng zu ihr gehörig die erste Rede gegen Stephanos. Phormion war der Geschäftsnachfolger des großen athenischen Bankiers Pasion, den wir aus mehreren Gerichtssachen kennen. Auch der Vater des Demosthenes hatte, wie wir in dem Vormundschaftsprozeß hören, einen Teil seines Vermögens auf der Bank des Pasion gehabt, der der Vertrauensmann vieler reicher Athener, unter anderen des Strategen Timotheos gewesen war.
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Wahrscheinlich rührt von dieser alten Beziehung Pasions zu dem Vater des Demosthenes auch Phormions Bekanntschaft mit Demosthenes her. Phormion war ein früherer Sklave des Pasion und hatte nach seiner Freilassung in dessen Geschäft Karriere gemacht, war — ein in Athen nicht seltener Fall — zum selbständigen Leiter der Bank aufgerückt und hatte schließlich, als Pasion zu kränkeln begann, die Bank sowie eine Schildfabrik, die er daneben betrieb, von ihm gepachtet. Pasion ging in seinem Vertrauen zu Phormion aber noch weiter. Er setzte ihn in seinem Testament als Vormund seines unmündigen jüngeren Sohnes Pasikles ein und gab ihm außerdem die Hand seiner Frau und früheren Geliebten, die dadurch — ähnlich wie im Testament des alten Demosthenes dessen Gattin — versorgt werden sollte. Der ältere, schon volljährige Sohn Apollodoros, ein ziemlich problematischer Charakter, erbte zunächst nur die Hälfte des baren Vermögens, außerdem bezog er natürlich die Hälfte der Pacht, die Phormion für die Bank und die Fabrik zu bezahlen hatte, solange der Pachtvertrag noch nicht abgelaufen war. Nach dessen Ablauf teilte Apollodor mit seinem Bruder auch Bank und Fabrik, und zwar übernahm er die Schildfabrik, Pasikles wurde Eigentümer der Bank. Nach dem Tode der Mutter teilten sie auch deren Vermögen. Apollodor beschuldigte jetzt den Phormion, daß er als der zweite Gatte seiner Mutter ihm große Summen vorenthalten habe. Es kam jedoch zu einem Vergleich, Phormion zahlte dem Apollodor eine Abfindung von 5000 Drachmen, wogegen dieser sich für endgültig befriedigt erklärte. Doch gewohnt dauernd Prozesse zu fuhren, um die Außenstände seines verstorbenen Vaters einzutreiben, trat Apollodor nach achtzehn Jahren mit neuen Forderungen an Phormion heran mit der Begründung, seine Mutter habe unter dem Einfluß Phormions die Geschäftsbücher des Vaters vernichtet. Die Gegenklage Phormions erhebt formell Einspruch gegen jede neue Forderung, nachdem Apollodor auf solche endgültig verzichtet habe, beweist aber überdies, daß die früheren Tei-
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lungen natürlich an Hand der Geschäftsbücher gemacht worden seien. Die Möglichkeit, daß daneben ein Geheimbuch existiert habe, wird nicht erwähnt. Da aber Apollodor auch die Ehe mit der Mutter, einer freien Athenerin, dem Phormion als früherem Freigelassenen des Vaters zum Vorwurf gemacht hatte, so beweist die Rede für Phormion an zahlreichen namentlich aufgezählten Beispielen, daß gerade die Bankleute in Athen wie auswärts besonders häufig bei ihrem Tode ihre Frau dem Manne ihres geschäftlichen Vertrauens gaben, um das Geschäft beisammen zu halten, auch wenn dieser früher kein freier Bürger gewesen war.29 Es ist wichtig zu sehen, wie im damaligen Athen rassefremde Leute in großer Zahl sich durch ihre geschäftliche Tüchtigkeit empor arbeiteten und nicht nur das Bürgerrecht erwarben, sondern in die führenden Kreise der Gesellschaft Einlaß fanden. Phormion verteidigt sich gegen Apollodors Angriff auf seine barbarische Rasse in geschickter Weise. Er vermeidet es wohlweislich, selbst aufzutreten, da er vielleicht nicht ganz akzentfrei attisch reden kann; er ist leidend und läßt Freunde für sich sprechen. 3° Den Apollodor aber erinnert er daran, daß sein Pfeil auf ihn selbst zurückspringt, da sein eigener Vater, der große Finanzmann Pasion, auf genau dieselbe Weise wie Phormion sich emporgearbeitet und das Bürgerrecht erlangt habe. 3l Die Rede schließt mit einem wenig schmeichelhaften Porträt des Apollodor. Er ist allerdings schon eine ganze Generation länger athenischer Bürger als Phormion, der es erst vor kurzem geworden ist, aber er hat sein Bürgerrecht hauptsächlich dazu benutzt, um sein Geld durchzubringen und gegen alle bekannten Athener zu prozessieren. Letzteres beweist nicht nur die Liste der Prozesse, die Phormions Fürsprecher aufzählt. 32 Unter den Reden des Demosthenes sind sieben allein für Apollodoros verfaßt, alle in verschiedenen Rechtshändeln. Die Kritik hat freilich seit langem festgestellt, daß von diesen sieben Reden nur eine einzige wirklich von Demosthenes stammt. Dieser einzigen verdanken wir offenbar die Erhaltung auch der sechs anderen. 33 Man hat sie
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wohl nach dem Tode des Demosthenes zusammen mit der echten Rede im privaten Nachlaß Apollodors gefunden, wo man nachgeforscht zu haben scheint, weil man noch wußte, daß Demosthenes früher einmal auch für diesen gearbeitet hatte. Wir müssen uns das Corpus der demosthenischen Reden zusammengestellt denken erstens aus den von ihm selbst noch zu Lebzeiten herausgegebenen Stücken, zweitens dem, was man in seinen Papieren unediert vorfand, und drittens den Reden zum Teil zweifelhafter Herkunft, die die Herausgeber in athenischen Privatarchiven ermittelten. So hatte speziell im Fall des Apollodor die städtische Fama eine Kunde davon bewahrt, daß Demosthenes einst für ihn geschrieben hatte, weil die Gegner des Demosthenes es laut getadelt hatten, daß er kurz nach der erfolgreichen Verteidigung Phormions dessen Gegner Apollodor seine Dienste geliehen habe, noch dazu in einer Sache, die mit demselben Prozeß in Zusammenhang stand. Apollodor hatte bald nach der Abweisung seiner Klage gegen Phormion dessen Entlastungszeugen Stephanos verklagt, und diese Rede hatte er bei Demosthenes ausarbeiten lassen. Es wird gewiß öfter vorkommen, daß der, der einen Prozeß verloren hat, den Anwalt der Gegenseite für klüger hält als seinen eigenen und sich bei nächster Gelegenheit an diesen wendet. Nicht einmal, daß er es in derselben Sache tat, scheint in Athen gesetzlich verboten gewesen zu sein. Wir werden das verstehen, nachdem wir uns den wesentlichen Unterschied zwischen einem athenischen Redenschreiber und einem heutigen Rechtsanwalt klar gemacht haben. Wahrscheinlich kam das in der Praxis der Logographen öfter vor. Aber auch unter den antiken Voraussetzungen haben manche offenbar doch daran Anstoß genommen; wenigstens haben die Feinde des Demosthenes Wind davon bekommen, und Aischines hat es bei Gelegenheit gebührend ausgenützt. 3 4 Es ist ziemlich müßig, nach dem Grunde zu suchen. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat die Vermutung für sich, daß Demosthenes irgendwelche Rücksicht auf Apollodor zu nehmen hatte, der um jene Zeit den Antrag stellte, die Theatergelder für das Volk ab-
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zuschaffen, deren Verwendung für die Kriegskasse gerade Demosthenes seit langem wünschte. 35 In jedem Fall sträubt sich unser Gefühl dagegen, daß derselbe Verfasser, der das Bild des Apollodor am Schluß der Rede für Phormion entworfen hatte, jetzt eine nicht minder beißende Karikatur des Phormion am Schlüsse seiner Rede gegen Stephanos zeichnete. 36 Man sieht, der Logograph ist tatsächlich nur das lebendige Instrument in der Hand dessen, für den er schreibt. Gerade der zugespitzte Fall dieser Arbeit für beide Parteien, mag er bei Demosthenes auch durchaus vereinzelt bleiben, führt durch die Gegenüberstellung der Porträts der beiden Gegner das völlig Unverbindliche und Unverantwortliche der Kunst des Redenschreibers vor Augen. Daß Demosthenes auf den bloßen Besuch des Apollodor hin seine Meinung geändert habe, ist unwahrscheinlich. Hat er vielleicht beide Bilder, das des Phormion und das des Apollodor, bewußt nur als Mittel zum Zweck, das heißt als Karikaturen aufgefaßt, die im Fall eines Kampfes vor Gericht erlaubt sein müssen, weil niemand dort anders vorgeht und derjenige den Kürzeren zieht, der sich von der Spielregel ausschließt ? Oder hat er sie am Ende trotz der karikierenden Ubertreibungen beide für ziemlich wahr gehalten und sich wie so mancher große Porträtist mit ernster Miene über seine beiden Opfer innerlich lustig gemacht ? Es pulsiert in der antiken Redenschreiberei genug echtes Künstlerblut, um eine solche Laune für nicht unglaubhaft zu halten, zumal wenn man aus dem Bilde des reichen Geizhalses Phormion, das Demosthenes in der Rede gegen Stephanos mit besonderem Behagen ausmalt, etwa eine kleine Enttäuschung über zu schmal ausgefallenes Honorar für den gewonnenen Riesenprozeß herauslesen dürfte. Wer täglich mit dieser athenischen Gesellschaft umzugehen hatte und so hinter die Kulissen sah wie der intime Rechtsberater all dieser gerissenen Geschäftsmänner und Repräsentanten zur Schau getragener Würde, mußte die Begriffe bürgerlicher Moral und Ehrbarkeit schließlich wie im konvexen Spiegel sehen und gefährlicher Skepsis ausgesetzt sein, doppelt gefährlich für einen Menschen von demostheni-
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scher Kraft der Leidenschaft und des Willens. Er konnte auf die Dauer in dieser Sphäre nicht sein Genügen finden, auf die ihn nur seine große Gabe der Rede hingewiesen hatte. Aber gerade sein wachsender Ruf als Redenschreiber sollte ihm den Weg zur Politik bahnen helfen, wo seine Kraft ein größeres Ziel fand.
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DIE WENDUNG ZUR POLITIK DIE POLITISCHE Laufbahn des Demosthenes begann, wie es auch in Rom später üblich war, nicht mit dem Auftreten vor Rat oder Volk, sondern mit der Beteiligung an großen Staatsprozessen. Fs geschah in einem Augenblick tiefster Depression der athenischen Politik und allgemeiner Verwirrung. Es ist unmöglich uns mit einem Ruck in ihn hineinzuversetzen, nachdem wir den athenischen Staat der Nachkriegszeit bei seinem Wiederaufstieg an der Spitze des zweiten Seebundes begleitet haben bis zu dem Höhepunkt des Friedens zu Sparta im Jahre 371, durch den Kallistratos die Ernte des Krieges rechtzeitig in die Scheuern zu bergen suchte. Um den Anschluß an die politischen Anfänge des Demosthenes zu gewinnen, müssen wir nun die absteigende Kurve der Entwicklung des Seebundes verfolgen. Denn die drei innenpolitischen Prozesse, mit denen Demosthenes debütiert, drehen sich ausschließlich um die Liquidation des verzweifelten Regierungssystems, das die Dinge bis zur vollkommenen Auflösung des Bundes und zur erneuten Isolierung Athens hatte kommen lassen. Schon während der letzten Jahre vor dem Frieden zu Sparta war eine wachsende Abkühlung zwischen den beiden Hauptbundesgenossen Athen und Theben zu spüren gewesen. Ein Symptom dafür war die wohl offiziell inspirierte1 Rede des Isokrates für die von Theben drangsalierten Platäer gewesen, in der dieser hochangesehene Vertreter des überparteilichen geistigen Athen unverhohlen aussprach, daß man sich von den Thebanern ausgenützt fühle und nur so weit mit ihnen gehen dürfe, wie es im Interesse Athens und des Seebundes liege, denn auf ihn sei Theben ja doch angewiesen. Natürlich gab es in Athen auch eine prothebanische Partei, sie scheint zahlenmäßig sogar die stärkere gewesen zu sein, wenn man nach der Zusammensetzung der athenischen Delegation auf dem Friedenskongreß in Sparta urteilen darf, die wie gewöhnlich aus Vertretern der verschiede-
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nen Richtungen der athenischen Politik bestand. In ihr hatten die Thebanerfreunde völlig die Oberhand. Aber Kallistratos mit seiner ganz unsentimentalen Gleichgewichtspoliti.k, wie sie in seiner klugen Hauptrede auf dem Kongreß von Xenophon vorzüglich charakterisiert wird, setzte sich mit großem Geschick durch und manövrierte die thebanischen Bundesgenossen in eine vollständige Isolierung hinein.2 Die Politik kennt keine Dankbarkeit, und man dachte in diesem Augenblick nicht mehr daran, daß Athens Aufschwung ohne Theben unmöglich gewesen wäre. Es erwies sich jetzt als eine durchaus richtige und vorsichtige Selbsteinschätzung der Kraft des neuen Seebundes, daß die Athener bei seiner Gründung die Autonomie der Bundesgenossen grundsätzlich und in aller Form gewährleistet hatten. Man hatte offenbar damit gerechnet, sich eines Tages auch im Falle der glücklichen Behauptung der neuen Machtgruppe doch in das alte System des Antalkidasfriedens einzuordnen, und hatte den Spartanern so eine Möglichkeit bieten wollen, sich mit der vollzogenen Tatsache abzurinden, wie hier das Autonomieprinzip von Seiten Athens interpretiert worden war. Es schloß nach dieser Interpretation (entgegen der ursprünglichen Absicht Spartas) auch die Möglichkeit des freien Zusammengehens einer größeren Anzahl autonomer Städte nicht aus. Wohl aber schloß es aus die zwangsmäßige Vereinigung der Städte einer Landschaft zu einem Einheitsstaat wie der böotischen Städte durch Theben, mochte diese auch aus wirtschaftlichen und stammesmäßigen Gründen durchaus gerechtfertigt scheinen. Kallistratos bot so den Spartanern die Handhabe dar, Theben in diese Sackgasse zu treiben und es zu isolieren, für den Preis der Anerkennung des athenischen Seebundes. Sparta war dieser Preis nicht zu hoch, da es mit seinen beiden Feinden nicht gleichzeitig fertig zu werden vermochte. Theben mußte unter Protest den Kongreß verlassen, da es seinen Anspruch nicht durchsetzen konnte, die Friedensvertragsurkunde als Vertreterin aller böotischen Städte zu unterzeichnen. Kallistratos aber kehrte als Triumphaler nach Athen zurück. Er hatte Thebens Übermut gedämpft, so schien es, ohne
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Athen mit dem Odium des Verrats zu belasten, und man konnte jetzt Sparta und Theben sich gegenseitig schwächen lassen, während Athen die gewonnene Stellung in Ruhe befestigte. Allein in der Politik kann auch die sicherste Rechnung täuschen. Die verzweifelte Lage Thebens vervielfachte seine Kräfte, und unter der genialen Führung eines noch so gut wie unbekannten Mannes, des Epaminondas, der zuerst bei den Friedensverhandlungen in Sparta als Vertreter seiner Stadt durch seine ganz unböotische Beredsamkeit großen Eindruck gemacht hatte, 3 vernichteten die Thebaner bei Leuktra das „unbesiegliche" spartanische Heer. Stufe für Stufe war Sparta von der Höhe der Macht herabgestiegen, die es nach dem ersten Aufstand der Bundesgenossen im korinthischen Krieg durch den Antalkidasfrieden neu begründet zu haben schien. Die Besetzung Thebens war eine Überspannung des Bogens gewesen. Seit seiner Befreiung und der Gründung des zweiten attischen Seebundes war es mit Sparta unaufhaltsam abwärts gegangen. Der militärischen Überlegenheit entsprach eben keine wirkliche physische, geistige und wirtschaftliche Kraft. Die altspartanische Ordnung beruhte auf einer verhältnismäßig kleinen Bevölkerungszahl, das spricht gerade ein Kenner der spartanischen Verhältnisse wie Xenophon aus, 4 und nach der Vernichtung seines Heeres bei Leuktra verfugte Sparta über keine Reserven mehr. Es hat sich niemals wieder von diesem Schlag erholt und wäre verloren gewesen, wenn Athen sich nachträglich doch noch Theben angeschlossen hätte zum vernichtenden letzten Hieb gegen den jetzt schutzlosen alten Todfeind. Aber für Athen war an die Stelle Spartas jetzt Theben getreten. Das immer weitere Abrücken von diesem bisherigen Bundesgenossen mußte nach dem Gleichgewichtsprinzip des Kallistratos jetzt mit logischer Notwendigkeit zu einem offenen Militärbündnis Athens mit Sparta fuhren, und er hat diese Folgerung kaltblütig gezogen, so schwer sie den Gefühlspolitikern in Athen auch wurde. Vergegenwärtigen wir uns die neue Lage der griechischen Politik. Die folgende Entwicklung ist beherrscht von der jetzt ein-
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setzenden Machtpolitik des unter der Führung des Epaminondas rasch emporstrebenden Theben. Sie richtet sich einerseits traditionell gegen Sparta und sucht es weiter zu schwächen. Anderseits strebt sie in dem Räume von Mittel- und Nordgriechenland ihre Einflußsphäre systematisch zu erweitern. Die Verlagerung des Schwerpunktes der gesamten griechischen Politik von ihren beiden historischen Kraftfeldern, dem Peloponnes und derÄgäis, nach dem kulturell und machtpolitisch noch unfertigen Norden, welche wir in demosthenischer Zeit als gegebene Voraussetzung vorfinden, ist während der thebanischen Vorherrschaft zur endgültigen Tatsache geworden. Der Wandel der Macht kommt am deutlichsten zur Erscheinung in dem wiederholten Einmarsch der Thebaner in die südliche Halbinsel Griechenlands, die früher nicht einmal das Heer der Perser betreten hatte. Außer der unmittelbaren militärischen Bedrohung Spartas, die sogar zur bewaffneten Intervention athenischer Truppen an der Seite der Spartaner führte, operiert die thebanische Politik im Peloponnes in den folgenden Jahren mit drei feststehenden Faktoren. Der eine ist die demokratische Bewegung in den früher unter dem Einfluß Spartas aristokratisch regierten peloponnesischen Staaten. Mit ihr Hand in Hand geht die von Theben unterstützte Unabhängigkeits- und Einigungsbewegung in dem bisher in lauter kleine Gemeinden zersplitterten arkadischen Bergland. Der dritte Faktor ist die von Theben kräftig geschürte Irredenta unter den seit Jahrhunderten von Sparta unterdrückten Messeniern. Die Politik des IV. Jahrhunderts hatte gelernt, mit den alten Idealen geschickt als Schlagwort zu arbeiten. Isokrates empfiehlt später König Philipp, 5 vor allem das Wort Freiheit gegenüber den Völkern Asiens öfter anzuwenden, denn dieses Wort habe durch seine verderbliche Wirkung auf die Griechen bewiesen, daß es das beste Mittel sei, um mächtige Reiche zu zerstören. Darin waren schon die Spartaner im peloponnesischen Kriege als Lehrmeister vorangegangen,6 und Epaminondas wandte diese Lehre nun erfolgreich gegen Sparta selbst an, indem er im Falle Messeniens zeigte, daß einer Rückwärtsrevision der Geschichte keine
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Zeitgrenzen gesteckt sind, mögen ihre „vollendeten Tatsachen*c nun Jahrzehnte oder Jahrhunderte alt sein. Wir werden auch die in diesem Jahrzehnt geschaffene neue Lage im Peloponnes: ein schwaches Sparta, ein selbständiges Messenien und ein geeintes Arkadien mit der neu gegründeten künstlichen Hauptstadt Megalopolis in der Politik der demosthenischen Zeit wiederfinden. Diese geschichtlichen Wirkungen haben ihren Urheber Epaminondas überlebt. Durch seinen Tod bei dem letzten Einfall in den Peloponnes, in der für Theben siegreichen Schlacht bei Mantinea (362), kam die Aurwärtsbewegung dieses Staates zum Stillstand. Sie hinterließ den Süden und Norden, wo von jetzt ab der thebanische Einfluß allmählich wieder schwand, im Zustande des Chaos. Es erwies sich, wieviel leichter es ist, die labile Ordnung einer politischen Welt zu stören als eine neue an ihre Stelle zu setzen. Während der neun Jahre thebanischen Glanzes von Leuktra bis Mantinea hat Athen seine im Frieden zu Sparta errungene Gleichgewichtslage in der griechischen Staatenwelt unter der zielsicheren und stetigen Leitung des redegewaltigen Kallistratos noch längere Zeit behauptet. Nach dem Abflauen der ersten Begeisterung der Gründungsjahre hat er die Stellung des Seebundes nach allen Seiten programmäßig zu festigen gesucht und ihn nach Leuktra zunächst sogar noch wesentlich ausgedehnt. Überhaupt ist die Haltung Athens formell von absoluter logischer Folgerichtigkeit. Niemals war die Diplomatie zu einer so bewußten Kunst entfaltet worden wie in dieser Periode. Sie wird jetzt zu einem aufregenden, nach festen Regeln sich vollziehenden virtuosen Spiel. Die Entwicklung der Form und Gedankenwelt der Diplomatie verdiente eine genauere Darstellung, sie ist bisher zu wenig beachtet worden. Die auf den ersten Blick verwirrende Verflechtung der griechischen Geschichte des IV. Jahrhunderts ist nicht zuletzt darum so interessant, weil sie sich bei näherem Zusehen fast in eine Schachpartie verwandelt, in der wir noch heute imstande sind, jeden Zug der Spieler mitdenkend oder vorwegnehmend auf seine Richtigkeit zu prüfen. Aber der geistigen
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Elastizität der politischen Leiter entspricht nicht die vitale Kraft der Staaten, und wenn die Kunst durch diesen Mangel auch gerade hervorgerufen wird, so vermag sie ihn doch nicht völlig auszugleichen. Das gilt auch von dem attischen Seebund nach Leuktra. Das weitere Anwachsen des attischen Seebundes nach der spartanischen Niederlage war eine bloße Scheingesundheit. Mit der Furcht vor Sparta war in Wahrheit das Hauptmotiv hinfallig geworden, das diese locker gefugte Einheit innerlich zusammenhielt. Die Bundesgenossen hatten nicht wie Athen ein Interesse daran, die Spitze des Bundes jetzt gegen Theben statt gegen Sparta zu kehren, denn die Insel- und Küstenstädte, die den Hauptteil der Bündner ausmachten, hatten keinerlei Reibungsflächen mit der agrarischen Landmacht Theben. Je weniger aber ihr Interesse sich mit dem athenischen deckt, desto mehr wird Athens sich anpassendes Lavieren zu einer bloßen Scheinpolitik ohne starken eigenen Kurs. Das erste Symptom, daß die Stellung der athenischen Führer auch innenpolitisch zu schwanken beginnt, ist der sogenannte oropische Prozeß (366), in dem Kallistratos und Chabrias von der böotischen Partei in Athen angeklagt werden, den Verlust des wichtigen Grenzortes Oropos an Theben verschuldet zu haben. Der Platz war nach dem Übergang der benachbarten Insel Euboia vom Seebund zu den Thebanern auf die Dauer kaum zu halten, und die Führer traf wohl keine Schuld. Die glänzende Verteidigung des Kallistratos war die erste große politische Rede, die der siebzehnjährige Demosthenes hörte. Es war ein „großer Tag", und er hatte sich hinter seinen Pädagogen gesteckt, daß er ihn heimlich bei der Verhandlung einschmuggeln solle. 7 Die Rede führte zum vollen Sieg und zur Freisprechung des überlegenen Staatsmannes, den Demosthenes zeitlebens bewunderte, und dessen Vorbild offensichtlich stark auf ihn gewirkt hat.8 Der letzte Erfolg des Kallistratos war es, den neuen Einheitsstaat der Arkader, den Theben im Peloponnes gegen Sparta geschaffen hatte, auf Athens Seite hinüberzuziehen. Er hatte sich bei dieser Gesandtschaft in Arkadien
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mit seinem großen thebanischen Gegenspieler Epaminondas im Redekampf gemessen und ihn besiegt. Aber es ist schwer zu sagen* welches der Ausgang gewesen wäre, wenn Epaminondas länger gelebt und die thebanische Hegemonie auf die See ausgedehnt hätte. Der erste Schritt zur Verwirklichung seines Wortes, man müsse die Propyläen von der Akropolis in Athen auf die thebanische Kadmea versetzen,9 war die Schaffung einer großen Flotte und die Anknüpfung von Verhandlungen mit den athenischen Bundesgenossen Chios, Rhodos und Byzanz, die durch die sensationelle Übungsfahrt der jungen thebanischen Flotte unter Epaminondas bis nach Byzanz einen besonderen Nachdruck erhielten. Der Abfall dieser wichtigen Handelsstaaten von Athen besiegelte bekanntlich einige Jahre später das Schicksal des Seebundes, und Epaminondas scheint schon damals scharfsichtig die Punkte erspäht zu haben, wo er brüchig war. Nach dem Tode des Gegners stürzte mit dem Nachlassen des Gegendruckes, der ihn noch gehalten hatte, auch Kallistratos in Athen, und der bedeutende Mann, dessen politischer Fähigkeiten Athen in diesem Augenblick mehr denn je bedurfte, ging in die Verbannung. Er hat zwar immer fest an seine Rückkehr geglaubt und mehrfach aus der Ferne Athen politisch zu nützen gesucht. Aber über den rechten Zeitpunkt der Heimkehr hat er sich getäuscht und mußte, als er nach Jahren den Versuch machte, den Giftbecher leeren. Es hatte in der letzten Zeit des Kallistratos nicht an Mißerfolgen gefehlt, die der Anlaß zu seinem Sturz werden konnten. Leider bleibt die Machtgruppe, die ihn herbeiführte und die Herrschaft an sich riß, für uns eine unbekannte Größe. Ein Name, der mehrfach hervortritt, ist Aristophon, ein betagter, angesehener Politiker, der schon in dem ersten Jahrzehnt nach dem peloponnesischen Kriege eine Rolle gespielt hatte. In unserer Überlieferung erscheint er als unentwegter Anhänger des Zusammengehens mit Theben. Schon dadurch mußte er in Gegensatz zu Kallistratos geraten. Aber die Gegnerschaft erstreckte sich auf die ganze Art der Staatsführung. Die neuen Leute hielten in jeder Hinsicht eine schärfere Tonart für angezeigt. Sie zogen die Zügel der Ver4
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waltung straffer an, stellten angeblich säumige oder eigenmächtige Feldherren vor Gericht und zogen ihre politischen Vorgänger zur Verantwortung. Es ist nicht leicht ihnen gerecht zu werden; nach ihren Erfolgen muß man urteilen, daß sie Athen in Grund und Boden regiert haben. Irgend eine feste Linie sucht man vergebens in ihren Unternehmungen. Statt dessen rücksichtslose Übergriffe und unverzeihliche Fehlgriffe. Der Überspannung der athenischen Stellung als Vormacht des Seebundes entspricht die drohende Geste der brutalen Schwäche, und das mühsam angesammelte Kapital von internationalem Vertrauen wird rasch wieder verausgabt. Es ist die Zeit der ständigen Interventionen Athens in auswärtigen Streitigkeiten, des Antichambrierens an fremden Fürstenhöfen, der tumultuarischen Söldnerstreifzüge in Kleinasien, wo das Perserreich zeitweise im Begriff stand, sich in eine Anzahl selbständiger Staaten aufzulösen, und die Statthalter des Großkönigs einander bekriegten, bis der neue Herrscher Ochos Artaxerxes Wandel schaffte. An den Dardanellen sucht Athen immer wieder Fuß zu fassen, aber ein Feldherr ersetzt den anderen, alle werden wegen Mißerfolgs abberufen und verurteilt. An der Küste von Makedonien geht Amphipolis an der Strymonmündung, der wichtigste Hafen für den Handel mit dem Binnenlande, den Athenern verloren, als nach dem Tode König Perdikkas III. (360) Philipp II., ein Mann von genialer Tatkraft, das Steuer ergreift. Der Verlust der für Handel und Seestrategie gleich wichtigen Insel Kerkyra wird durch den vereinzelten Lichtblick der Wiedergewinnung Euboias kaum ausgeglichen. Ein Jahr darauf (357) fallen die Bundesgenossen ab, Chabrias fallt in der unglücklichen Seeschlacht von Chios. Eine neue, mit der Kraft der Verzweiflung ausgerüstete Flotte läuft aus unter Iphikrates, Menestheus, Timotheos, den Männern aus der Zeit des Aufstiegs des Seebundes, und Chares, dem Vertrauensmann der jetzigen Machthaber. Aber als letzterer gegen den Widerspruch seiner Mitfeldherren den Feind angreift, wird er geschlagen, und den drei anderen wird der Prozeß gemacht. Nach zwei Jahren
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des Kampfes und der Erschöpfung bietet Athen den abgefallenen Bundesgenossen den Frieden an. Er drückt das Siegel unter die Vernichtung der alten Verträge, die den mit so großen Hoffnungen begrüßten zweiten Seebund gestiftet hatten. Athen steht wieder isoliert da wie vorher, finanziell zerrüttet, mit Theben zerfallen, ohne Rückhalt an Sparta, das nichts mehr bedeutet, auf dem Meer ohne Stützpunkte, mit dem Perserreich in schlechtesten Beziehungen. Die Helden der Periode des Aufschwungs, Kallistratos, Timotheos, Chabrias sind tot, und die Lage im Innern beleuchten die Worte des Isokrates im „Areopagitikos", worin er den Ruf nach einer Verfassungsreform erhebt:10 „Wir sitzen bei den Werkstätten herum und schelten auf die herrschenden Zustände und sagen, daß wir, so lange wir unter der Demokratie leben, noch niemals schlechter regiert worden sind." Die Flugschrift rät zur Rückkehr von der entarteten Massenherrschaft zu einem autoritären Staat mit einem starken Areopag als Zentralgewalt. Freilich verschweigt sie, woher das ihr sympathische11 besitzende Bürgertum die Macht nehmen soll, die der Träger einer solchen Autorität sein müßte. Es sind also nur fromme Wünsche nach einer Reaktion ohne irgend welche Andeutung, wie denn das Problem der Masse gelöst werden soll. Aber der „Areopagitikos" bleibt ein historisches Dokument von äußerster Wichtigkeit für die innenpolitische Entwicklung Athens in der Zeit des Niedergangs des zweiten Seehunds, und ich glaube, diese Wichtigkeit erhöht sich noch bedeutend, wenn diese Denkschrift nicht das Produkt des vollendeten Zusammenbruchs der athenischen Macht im Bundesgenossenkriege ist, wie man allgemein annimmt, sondern noch in der Friedensperiode abgefaßt worden ist, welche dem Ausbruch des Bundesgenossenkrieges unmittelbarvoranging. Dies läßt sich aber, wie mir scheint, mit zwingenden Gründen beweisen.12 Der „Areopagitikos" setzt noch eine erhebliche Macht Athens voraus, die Existenz einer zahlreichen Flotte und einer Bundesgenossenschaft, an deren gutem Willen für den Verfasser noch kein Zweifel erlaubt ist. Doch an dem außenpolitischen Horizont Athens ziehen sich drohende 4*
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Wolken zusammen. Die hellenischen Städte an der nordgriechischen Küste, die zum Seebund gehört hatten, als dieser auf dem Gipfel seiner Macht stand, d. h. nach der erfolgreichen Strategie des Timotheos in diesen Gegenden im Jahre 364, sind jetzt von Athen abgefallen und endgültig verlorengegangen. Das ist die Situation nach der Thronbesteigung König Philipps von Makedonien (359/8). Es handelt sich nicht nur um den Verlust von Amphipolis, sondern um alle Städte des chalkidischen Bundes auf der thrakischen Halbinsel, die im Verlauf des athenisch-makedonischen Streites um Amphipolis zu Philipp übergingen. Die Ausgrabungen in Olynth, die von der Expedition der Universität Baltimore seit Jahren veranstaltet worden sind, haben jetzt sogar den Wortlaut des Bündnisvertrages zwischen Philipp und den chalkidischen Städten, der ihren Abfall von Athen besiegelte, auf einer Inschrift in Olynth wieder zutage gefordert. Nicht lange danach, noch vor dem allgemeinen Abfall der übrigen Bundesgenossen, muß Isokrates den„Areopagitikosie geschrieben und veröffentlicht haben. Die Denkschrift gibt sich als einen Ruf zur Umkehr in letzter Stunde. Wie der „Plataikos" und „Archidamos" steht auch sie offensichtlich im Dienste der realen Politik. Sie ist nicht bloß aus Isokrates' persönlicher Initiative entsprungen. Er fordert eine entscheidende Verstärkung des staatserhaltenden Einflusses der besitzenden Klasse und den unverzüglichen Abbau der gegenwärtigen Demagogenherrschaft, die über kurz oder lang zum Ruin fuhren müsse. Von hier fuhrt eine stetige Linie zu der Friedensrede, die am Ende des Bundesgenossenkrieges steht. Zwar wäre es nicht möglich gewesen, während des Krieges den führenden Staatsmännern mit der Forderung einer Einschränkung der Demokratie in den Rücken zu fallen, aber es ist vollkommen deutlich, daß die Friedensrede nur ein neuer Vorstoß der Politik der reichen Kreise Athens ist, die schon im„Areopagitikos" ihre innenpolitischen Ansprüche angemeldet hatten und nun offen aussprechen, welchen Gebrauch sie in der Außenpolitik von der innenpolitischen Macht gemacht haben würden, wenn ihre Verfassungsreformwünsche seiner Zeit in Erfüllung gegangen
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wären. Aber damals war es noch zu früh für sie gewesen. Erst nach dem verlorenen Kriege ist ihre Stunde gekommen. Interessant ist nur, wie lange vorher sich der Umschwung des Jahres 355 vorbereitet hat, der die Opposition zur Macht führte. Sie mußte jetzt ohne Reform der Verfassung auskommen: es waren dringendere Aufgaben, die ihrer harrten. Ihr Umkreis wird umschrieben durch die Friedensrede des Isokrates und die Schrift Über die Einkünfte. Für die Außenpolitik hatte Isokrates in seiner Rede Über den Frieden bereits vor Friedensschluß einen vollkommenen Systemwechsel empfohlen: die Preisgabe des hegemonialenPrinzips und die Rückkehr zum Autonomiegedanken des Antalkidasfriedens. Er war eingetreten für die Selbstbeschränkung Athens auf den allerengsten Kreis, um die äußere Sicherheit des Staates zu gewährleisten, für Herstellung des inneren Friedens, für Hebung der Wirtschaft und für die Wiedergewinnung eines guten Namens bei den übrigen Staaten. Die durch mehrere Jahrzehnte sich erstreckenden Reden des Isokrates sind das Barometer der athenischen Macht. Wenige Jahre zuvor hatte er im„Areopagitikos"J3 Athen noch als Führerin der Seestädte darstellen können, würdig, nicht nur über seine Bundesgenossen zu gebieten, sondern die ganze Welt zu regieren; und einst im „Panegyrikos" hatte er die Stadt im Geiste mit Sparta zusammen an der Spitze von Hellas gesehen, wie sie den Krieg gegen den persischen Erbfeind eröffnete, der Hellas die Einheit bringen sollte. So wenig wie dieser Traum enthielt der jetzige Vorschlag irgend einen wirklich konstruktiven Gedanken; denn was bedeutete die Rückkehr zum formalen Autonomieprinzip des Antalkidasfriedens, wenn keine starke Macht wie einst Sparta als Garantin hinter dieser Ordnung stand ? Es ist in Wahrheit nur das Eingeständnis der vollständigen System- und Prinziplosigkeit der griechischen Staatenwelt. Zum erstenmal wird hier ihre Auflösung in ihre Atome als Selbstzweck ausgesprochen. Die Forderungen des wirtschaftlichen Wiederaufbaus und der moralischen Selbstbesinnung sind das einzige Positive in diesem Verzichtprogramm, das heißt die
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nächsten Zukunftsaufgaben liegen jenseits der Grenzen der Staatspolitik. Eine ähnlich nüchterne Sprache führt die unter Xenophons Namen überlieferte Flugschrift Über die Einkünfte, welche nicht viel später geschrieben ist und die Zustände nach dem Bundesgenossenkrieg voraussetzt.1* Auch sie will aus Athen endgültig eine friedliche Handelsrepublik machen, die politisch ohne Ehrgeiz ist und auf jedes Machtstreben grundsätzlich verzichtet. Die Kritik des Imperialismus und seiner Machtgier war zuerst nach dem peloponnesischen Kriege aufgekommen. Jetzt erneuert sie sich automatisch und wird hier dazu verwendet, um dem Programm der Beschränkung auf das rein Wirtschaftliche eine Art moralischen Unterbaus zu geben. Namentlich am Anfang und noch ausführlicher am Schluß erörtert der Verfasser dieses Problem. Seiner irenischen Natur entspricht es nicht, den Vertretern der bisherigen entgegengesetzten Politik leidenschaftliche Vorwürfe zu machen. Athen verträgt jetzt solche Kämpfe nicht. Er geht vielmehr von einer Verteidigung dieser Politik aus, die er gehört haben will: die athenischen Führer wüßten so gut wie andere, was gerecht sei und was nicht, sie seien aber durch die Armut Athens zu ihrer imperialistischen Seebundspolitik gezwungen gewesen . . . Er jedoch will beweisen, daß Athen auch ohne diese Politik existieren kann. *5 Das war nach dem Verlust aller auswärtigen Besitzungen und aller Bundesgenossen, die nach Athen Steuern zahlten, allerdings jetzt eine Notwendigkeit geworden. Den Hauptteil der Schrift füllen die konkreten Vorschläge zur Sanierung der Wirtschaft und der staatlichen Finanzen. Im Gegensatz zu Isokrates hören wir hier die Stimme eines wirklich erfahrenen Wirtschaftspolitikers, der von höherer Warte zu der neuen Lage Stellung nimmt. Ein trübes Bild der inneren Krisis nach dem Kriege enthüllt sich hier. Die Stadt ist entvölkert, Handel und Verkehr stocken, der Hafen ist leer von fremden Schiffen, die Staatskasse bedarf neuer Einnahmequellen. Die Hauptsteuerzahler, die reichen Nichtbürger mit ihren großen Vermö-
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gen, die sonst aus Lydien, Phrygien, Syrien und anderen Ländern zugeströmt waren, wie der Verfasser berichtet, um hier ihrem Vergnügen zu leben oder ihren Geschäften nachzugehen, sind massenhaft ausgewandert, weil sie im Krieg zum Militärdienst herangezogen wurden und auch sonst bei ihrer politisch rechtlosen Stellung zur Zeit mehr Nachteile als Vorteile von ihrem Aufenthalt in Athen hatten.16 Der Verfasser verspricht sich von der besseren Behandlung dieser Leute, ohne daß es den Staat etwas kostet, eine Belebung des Zuzugs und der Bautätigkeit und eine erhebliche Steigerung der Steuereinnahmen. Er empfiehlt sogar die Errichtung eines besonderen Metökenfursorgeamtes nach Art des Waisenfürsorgeamts. Man solle den Fremden nach sorgfältiger Prüfung ihrer Würdigkeit auch das Recht zum Erwerb von Grundeigentum geben, wenn sie bauen wollten, da in der Stadt so zahlreiche Grundstücke unbebaut lägen, und ihnen Athen möglichst zur Heimat machen. Auch für die Fremden, die nur vorübergehend zu Handelszwecken nach Athen kämen, solle man mehr neue Unterkunftsstätten und Geschäftshäuser am Hafen bauen, ebenso für die Kaufleute am Hafen und in der Stadt. Neben den Vorschlägen zur Hebung des Fremdenverkehrs und des Zustroms der Metökengeht die Schrift besonders ausfuhrlich auf die metallischen Bodenschätze Attikas ein und macht sehr genaue Angaben über die Geschichte der Silberbergwerke in Laureion und die Möglichkeiten ihrer rationelleren Ausbeutung durch die private und öffentliche Hand.1? Das Nebeneinander dieser beiden Vorschläge, der besseren Behandlung der Fremden und der Intensivierung der Silbergewinnung, wirkt auf den ersten Blick seltsam und zufällig, aber beide entspringen aus der Umstellung der athenischen Finanzpolitik, die sich aus der Auflösung des Seebundes zwangsläufig ergab. Der Gedanke der Autarkie lag der ökonomischen Theorie jener Zeit an sich nahe, und Athen schien durch seine neue Lage erst recht auf ihn hingewiesen. Aber die Bevölkerung konnte nicht von den landwirtschaftlichen Erzeugnissen ihres eigenen unergiebigen Bodens leben, man mußte im
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großen Maßstabe importieren ohne eine gleichwertige Ausfuhr. Man mußte daher versuchen, wenn man nicht mehr vom Geld der Bundesgenossen oder den Repressalien des Krieges leben konnte, die passive Handelsbilanz durch stärkere Ausnützung der nichtagrarischen Bodenschätze und vor allem durch die Gelder auszugleichen, die die Fremden nach Athen brachten. Das ist durchaus logisch und zeigt, daß der Verfasser die schwierige Situation nach dem Kriege in ihrer prinzipiellen Neuheit völlig klar erfaßt hat. Er zieht aus ihr die Folgerungen für die exklusive athenische Bürgerrechts- und Rassenpolitik, wie sie seit dem Ende des peloponnesischen Krieges manche patriotischen Staatsmänner mit ihren Gesetzen verfolgt hatten.18 Sie mußte in diesem Lande unter den gegenwärtigen Umständen mit grundlegenden Forderungen der Wütschaft in Widerstreit geraten und zu einem circulus vitiosus fuhren. Es blieb Athen gar nichts übrig als eine möglichst volkreiche Fremdenstadt zu werden oder allmählich zu verhungern. Die Schrift richtet sich gegen die bisherige Führerschaft des Staates, die sich auch nach dem Friedensschluß zunächst noch zäh am Ruder behauptete. Auf Seiten der Opposition finden wir auch Demosthenes in seinen drei ersten öffentlichen Prozeßreden, die der gleichen Zeit angehören. Auch sie drehen sich ausschließlich um die Liquidation des verzweifelten Regierungssystems, dessen Vertreter die Dinge so weit hatten kommen lassen und jetzt mit noch verzweifelteren Mitteln einen Ausweg aus der furchtbaren Lage suchten. Auch die drei Reden des Demosthenes wenden sich vor allem gegen die Finanzpolitik der Regierenden. Auf sie konzentriert sich offensichtlich im Augenblick der eigentliche Kampf. Demosthenes tritt auch jetzt zunächst noch nicht selbst hervor, wenigstens die beiden Reden gegen Androtion und Timokrates sind für andere geschrieben. Das Neue ist nur, daß Demosthenes hier zum Redenschreiber in ausgesprochen politischen Prozessen wird. Von hier bis zum eigenen Auftreten ist nur noch ein Schritt. Im Altertum hat man angenommen, daß dieser Schritt in der dritten der Reden, gegen
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Leptines, getan worden sei. Sicher ist das keineswegs, wenn auch nicht zu widerlegen. Jedenfalls wird aber durch die übereinstimmende Richtung aller drei Reden bewiesen, daß Demosthenes seine Kraft hier in den Dienst einer Offensive stellt, an der er innerlich beteiligt ist, und die sich ein weiteres Ziel gesteckt hat. Die Personen, gegen die sie vorstößt, sind alle drei Vertreter des Kreises um Aristophon. In ihnen sucht der unsichtbare Leiter des Angriffs das ganze System zu treffen. Wir haben also hier ein Beispiel dafür, wie in Athen die Opposition in einem derartigen Falle den Kampf führte. Man hat sich früher die Frage nach den parteipolitischen Hintergründen der ersten Staatsprozeßreden des Demosthenes kaum gestellt, aber sie ist von Bedeutung für das Verständnis des Staatsmannes Demosthenes, zunächst einmal für die Beurteilung seiner politischen Stellung in semer gleichzeitigen ersten Staatsrede über die Symmorien. J9 Hier wie dort handelt es sich letzten Endes um die Finanzpolitik oder doch um finanzpolitisch wichtige Maßnahmen des Staates. Es leuchtet ein, daß vor allem die Geldkreise hier interessiert sein mußten. Ihre radikale Kritik an der Ausartung der bisherigen Demokratie und ihrer Politik haben wir kennen gelernt. Es ist nicht wahrscheinlich, daß die von Demosthenes im gleichen Augenblick und in gleichem Sinne unternommene Offensive von einer anderen Gruppe ausgegangen ist, zumal da er von Geburt zu dieser Schicht gehörte. Da unsere Überlieferung uns in dieser Frage im Stich läßt, sind wir freilich auf bloße Rückschlüsse angewiesen, doch diese gewinnen um so mehr an Wahrscheinlichkeit, je mehr die Tendenz der verschiedenen Reden des Demosthenes in dieser Zeit in eine und dieselbe Richtung weist. Den Führer der Opposition nach dem Kriege kennen wir: es war der hervorragende Finanzpolitiker Eubulos, der nach dem Sturz des Aristophon und seiner Freunde lange Jahre entscheidenden Einfluß auf die Leitung des athenischen Staates ausgeübt hat, Demosthenes' späterer Gegner. Diese klassisch gewordene Gegnerschaft, in der sich zwei unversöhnliche Prinzipien des
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politischen Denkens verkörpern, hat die Nachwelt lange Zeit verhindert, aus den bekannten Tatsachen der ersten Reden des Demosthenes den unausweichlichen Schluß zu ziehen, daß er, wenn nicht als Eubulos' Parteigenosse, so doch im Kampf gegen dieselben Gegner seine Laufbahn begonnen hat. Für einen starren, moralistischen Demosthenesenthusiasten wie Arnold Schaefer war ein solcher Weg seines Helden freilich noch unvorstellbar. Für ihn war Demosthenes von Anfang an der bewußte und fertige Vaterlandsretter der Philippischen Reden, der unerbittliche Prinzipienstreiter und sittliche Erneuerer des Staates. Er steht von seiner ersten Rede an ganz auf eigenen Füßen und lehnt sich an niemand an. Dieser Demosthenes gleicht dem statischen Bilde der heroischen Charaktere der antiken Biographie. Aber auch die moderne Geschichtschreibung Belochs arbeitet noch mit denselben starren Typen, nur daß das klassizistische Ideal hier in sein Gegenteil umgeschlagen ist. Für diesen unerschütterlichen matter of fact-Sinn ist der kluge moderne Geschäftsmann Eubulos das Urbild des wahren Staatslenkers; es ist daher undenkbar, daß die Kurve des Demosthenes irgendwann eine Strecke lang mit der seinigen zusammengegangen wäre. Dieser Demosthenes ist von Anfang an der wirklichkeitsfremde Ideologe und Fanatiker, der zu seinem und des Vaterlandes Unglück in die Politik hineingerät und prädestiniert ist, dort Schiffbruch zu erleiden. Beide Auffassungen tun der Geschichte wie der Psychologie Gewalt an. Schon die antiken Historiker und Biographen haben ihre liebe Not, diesen Mann und sein politisches Wollen als eine wandellose Einheit zu sehen, weil ihnen der Gedanke einer Entwicklung fernliegt und deshalb jeder Wechsel der politischen Haltung für sie Charakterschwäche bedeutet. Ohne voreilig solche Folgerungen zu ziehen, werden wir aufmerksam auf jeden Zeugen achten, der die Tatsache dieses Wechsels bekundet. Da uns nähere Angaben über seine Art und seine Gründe fehlen, ist es an uns, die Reden des Demosthenes daraufhin zu verhören. Erst wenn die Tatsache einer Richtungsänderung seines Kurses als solche feststeht, kann der Versuch gewagt werden, in dem vermeint-
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lichen Widerspruch eine tieferliegende Einheit der staatsmännischen Haltung zu suchen und die Zugehörigkeit zu einer oder der ändern „Partei" von hier aus als etwas für Demosthenes Sekundäres zu begreifen. Androtion war ein Schüler des Isokrates20 und ist der Verfasser der attischen Chronik, die später oft zitiert wird. Seit den ersten Zeiten des Seebundes können wir seine politische Tätigkeit verfolgen. Auf einer Inschrift ist er als Kommandant der attischen Besatzung vonArkesine auf Amorgos bezeugt, wahrscheinlich im Bundesgenossenkrieg.21 In der Rede gegen Timokrates treffen wir ihn als Gesandten wieder. Er muß einer der wichtigsten Genossen des Aristophon gewesen sein und spielte nach dem Krieg auch in dessen Steuerpolitik eine Rolle. Die Unbeliebtheit, die er sich dabei zugezogen hatte, wird in der Rede des Demosthenes gegen ihn als Hebel benutzt, um ihn zu entfernen. Der formelle Anklagegrund ist jedoch ein anderer. Androtion hatte schon vor Rücktritt des Rates bei der Volksversammlung den Antrag gestellt, diesen für seine Geschäftsführung wie üblich zu bekränzen. Das geschah sonst aus naheliegenden Gründen erst nach Abschluß der Amtsperiode des Rates. Ein Antrag in der Volksversammlung erfolgte normalerweise auf Grund eines Vorbeschlusses des Rates. Da aber dieser nicht seine eigene Dekoration beantragen konnte, mußte Androtion den Antrag ohne Vorbeschluß stellen. Das schien eine reine Formfrage zu sein, war es jedoch gerade in diesem Fall nicht, denn die Bekränzung des Rates war durch ein besonderes Gesetz an die Bedingung geknüpft, daß er die vorgeschriebene Zahl neuer Schiffe hatte bauen lassen. Dies war nicht geschehen, freilich ohne Schuld des Rates, da der Schatzmeister der Schiffbaukasse mit dem Geld durchgebrannt war. Aber das Gesetz fragte nicht nach den Gründen, weshalb keine Schiffe gebaut waren, sondern nur nach der Tatsache. Es war ein politisches Gesetz, nicht ein moralisches, und wenn es ein Unglück für den Rat war, daß er die Schiffe nicht hatte bauen können, so war es doch nicht der Sinn des Gesetzes,, ihn für das Unglück auszuzeichnend22
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Dies führt die Rede des Demosthenes denn auch völlig schlagend aus. Aber die ganze Klage wegen Ungesetzlichkeit ist nur das Vorspiel eines großen politischen Angriffs auf die Ehre und die Amtsführung des Androtion. 23 Und hier wird erst klar, weshalb keine Persönlichkeit von Namen den Ankläger spielt, sondern zwei Leute einfacher Herkunft, Euktemon, ein subalterner Beamter, und Diodoros, ein kleiner Bürger. Sie hatten beide von Androtion zu leiden gehabt, ob mit Recht oder Unrecht, können wir nicht entscheiden, und sie wollen sich dafür jetzt rächen. Euktemon hat als erster gesprochen. Die demosthenische Rede ist die zweite bei der Verhandlung, sie ist für Diodor geschrieben. Daß er seine Privatrache sogleich am Anfang offen als Motiv bekennt, ist für antikes Empfinden wenn auch nicht gerade vornehm, so doch verständlich. In Wahrheit lenkt es geschickt die Aufmerksamkeit von den politischen Drahtziehern ab auf die Marionetten, die im Vordergrund agieren. Denn das sind die Ankläger, wie schon daraus folgt, daß sie auch in dem Prozeß gegen Timokrates in der gleichen Funktion auftreten. Auch für ihn hat Demosthenes die Rede geschrieben, und wieder ist der Angriff in der Hauptsache gegen Androtion gerichtet. 2< Man wählte die beiden volkstümlichen Typen als Ankläger kaum aus Mangel an Mut, sondern zur Stimmungmache bei der Masse der Geschworenen, die den einfachen Kreisen der Bevölkerung angehörten. Wenn man den Androtion25 unpopulär machen wollte, mußte der Angriff von unten kommen und an die Instinkte der Menge appellieren. Die älteren Interpreten des Demosthenes haben daran oft nicht genügend gedacht, sie haben stellenweise ganz vergessen, daß nicht Demosthenes diese Reden halten sollte. Als Bekenntnisse seiner persönlichen Überzeugung dürfen wir sie nur sehr indirekt verwerten. Selbst wenn er eine Rede im eigenen Namen hält oder veröffentlicht, ist immer die Frage notwendig: sind die Motive, die er verwendet, seine eigenen Gründe, oder sind sie gewählt mit Rücksicht auf die Masse? Zur Masse muß man anders reden als zu einem höher gebildeten Auditorium, das wußten die politischen Redner in dem demo-
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kratischen Athep aus 150jähriger Erfahrung, zumal da sie selbst durchweg nicht der Masse angehörten, sondern diese Kunst auch erst lernen mußten. Plato schildert das im „Staat" mit bitterem Humor und erklärt es für das Wesen aller politischen Rhetorik, durch lange Beobachtung die Töne zu erlauschen, auf die das „große Tier" freundlich oder erbost reagiert.26 Zwischen einer Rede vor der Volksversammlung und einer Gerichtsrede vor Hunderten von Geschworenen, noch dazu wenn sie ausdrück; lieh zur politischen Agitation dient, ist in dieser Beziehung kein Unterschied.2? Androtion muß sich durch die Steuereinziehung wirklich in weiten Kreisen unbeliebt gemacht haben. Die Regierung hatte nicht gewußt, sollte sie in der Geldnot die goldenen Geräte in den Tempeln der Götter einschmelzen lassen oder die Exekution gegen die Staatsschuldner, die mit der Zahlung ihrer Steuern im Rückstand waren, mit schärferem Zugriff betreiben. Sie hatte sich zu dem letzteren Mittel entschlossen. Androtion hatte sich bereit erklärt, das Odium auf sich zu nehmen. Natürlich wurden in erster Linie die besitzenden Klassen von der Maßregel betroffen, aber diese, zu denen Demosthenes und seinepolitischen Freunde gehörten, hatten kein Mitgefühl bei der Masse zu erwarten. Daher erzählt Diodor im Ton des vierschrötigen treuherzigen Biedermanns mehr volkstümliche Geschichten aus der Praxis der Steuereintreibung, bei denen auch den Geschworenen die Haare zu Berge stehen. Natürlich ist auch er nicht der Ansicht,28 als solle man das Geld von den Staatsschuldnern nicht eintreiben: „O nein, aber wie? Wie das Gesetz es befiehlt. Schon um der anderen willen. Das ist volksfreundliche Gesinnung. Denn ihr habt nicht so viel Gewinn, Athener, wenn solche Geldsummen auf diese Weise eingetrieben werden, wie ihr Schaden davon habt, wenn solche Sitten im Staate einreißen. Denn wenn ihr einmal überlegt, weshalb einer lieber in der Demokratie leben möchte als in der Oligarchie, so liegt es doch auf der Hand: weil in der Demokratie alles gemütlicher ist." Und nun schildert er,
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wie Androtion, dieser geborene Oligarch und Volksverächter, mit seinen Schergen in die Häuser eindrang, wo man doch selbst unter der Schreckensherrschaft der dreißig Tyrannen in Sicherheit war, wenn man sich nur nicht in der Öffentlichkeit betätigte. 29 „Doch was denkt ihr wohl, Athener, wenn so ein armer Mann (oder auch ein Reicher, der große Ausgaben gehabt und vielleicht gerade kein Geld hatte), über das Dach zu den Nachbarn hinübersteigen oder unter das Bett kriechen mußte, um nicht verhaftet und ins Gefängnis geschleppt zu werden, oder sonstwie in unwürdige Lagen kam, die für Sklaven, nicht für Freie passen, und das vor den Augen seiner Frau, mit der er sich als freier Mann und Bürger verlobt hatte. Wer aber an allem schuld ist, das ist dieser Androtion, dem das Gesetz nach seinem ganzen Vorleben nicht einmal seine eigene Sache zu fuhren erlaubt, geschweige denn die des Staates." Wie wenig der Geist der Milde, für den sich der Ankläger begeistert, und seine Philosophie der demokratischen Gemütlichkeit mit der Weltanschauung des Demosthenes zu tun hat, beweist die mit der Rede gegen Androtion eng zusammenhängende Anklage gegen Timokrates, einen politischen Freund und Helfer Androtions. Denn dort wird diese Milde und Nachsicht als Klüngelwirtschaft bekämpft, weil sie an der falschen Stelle, das heißt gegenüber Androtion, geübt worden ist. 30 Nicht anders ist die Kritik zu beurteilen, die die Androtionrede an der Unterlassung des Baus der Schiffe übt, und die an sich recht wirkungsvolle Partie über die Bedeutung der Flotte. Natürlich wird niemand bezweifeln, daß Demosthenes schon damals wirklich von ihr überzeugt und ein warmherziger Patriot war. Das dürften wir voraussetzen, auch wenn wir nicht aus seiner früheren Zeit die Rede Vom trierarchischen Kranze hätten, die eben diese Seite seiner politischen Anschauungen beleuchtet. Aber wir werden nicht annehmen, daß sein Eintreten für die Flotte gerade auf dem Motiv beruht, das er den Geschworenen gegenüber für wirksam hält, wenn er sie drastisch daran erinnert, wie es damals war, als Athen zeitweise keine Schiffe hatte und die Athener während der Blök-
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kade Kuhfutter für teures Geld hätten essen müssen, s1 Wer sich an diese schwer verdaulichen Mahlzeiten erinnerte, der konnte nicht für die Bekränzung eines Rates eintreten, der keine neuen Schiffe gebaut hatte! Übrigens ist es dem Verfasser der Rede doch nicht durchweg möglich gewesen, diesen für seinen Helden charakteristischen Ton festzuhalten. Besonders in den Partien gestraffter Beweisführung blickt der geschulte Jurist deutlich durch die Maske des Spießbürgers, und auch am Schlüsse erhebt sich die Sprache zu einem inneren Pathos des Stolzes auf die Vaterstadt, das weniger zu Diodor paßt als es einen starken Kontrast zu dem Wesen Androtions schaffen soll, der von dem Geiste dieser Stadt nie einen Hauch verspürt hat. Die Rede gegen Timokrates wirft nachträglich ein grelles Schlaglicht auf diesen im Interesse des Vaterlandes rücksichtslosen Steuereintreiber, der die rückständigen Zahler um wenige Drachmen chikanierte, aber selbst Staatsgelder im Betrage von neuneinhalb Talenten zusammen mit zwei politischen Freunden eingesteckt hatte. An Bord eines athenischen Kriegsschiffs waren diese drei als Gesandte zu dem König Mausolos von Karien gefahren — wahrscheinlich um die Zeit des Bundesgenossenkriegs.s* Man kaperte unterwegs ein ägyptisches Handelsschiff, und da Ägypten damals im Aufstand gegen den Perserkönig war und aus diesem Grunde des Schutzes durch das persische Reich entbehrte, so nahmen die Gesandten die Prisengelder an sich. Die Klage der Ausländer vor dem athenischen Gericht wurde abgewiesen. Androtion und Genossen behielten gleichwohl das Geld für sich. Als im Zusammenhang mit den scharfen Finanzmaßnahmen der Regierung Aristophon sein Gesetz durchbrachte zur Einsetzung einer Untersuchungskommission zwecks Eintreibung der Gelder von den Staatsschuldnern, beantragte Euktemon zur weiteren Verfolgung seiner Sache gegen Androtion Herausgabe der Prisengelder nebst Zinsen durch die Trierarchen jenes Kriegsschiffs und machte Androtion und seine Mitgesandten regreßpflichtig für den Fall, daß die Trierarchen nicht zahlen könnten. 33 Androtion und Konsorten bekannten sich jedoch freiwillig zum Besitz
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der Gelder. Ihre Gegenklage wurde abgewiesen und sie wurden zur Zahlung einer Gesamtsumme von 18 Talenten verurteilt. Da sie diese nicht zahlen konnten, verfielen sie, um der Schuldhaft zu entgehen, auf folgenden Ausweg. Das Fest der Kleinen Panathenäen stand bevor. Aber die Festkasse war leer wie alle anderen Kassen. Daher beantragte ein Parteifreund die Einsetzung einer gesetzgebenden Kommission auf den nächsten Tag zur Beschaffung der Gelder für das Fest. In dieser Kommission beantragte am folgenden Tag Timokrates,34 ebenfalls ein Parteifreund, der dem Androtion bereits während seiner Amtsführung als Schatzmeister der Athena als Adjutant zur Seite gestanden hatte, einen Trick zur Geldbeschaffung, der in diese Zeit dauernder Ebbe nicht übel paßt, weil er zwar kein bares Geld beschafft, aber Kredit erschließt: man solle den Staatsschuldnern auf ein Jahr die Haft erlassen, wenn sie Bürgen stellten. Der Staat sollte also, a conto seiner Steuerguthaben, bei diesen Leuten Schulden für die Ausstattung des Festes machen. So suchten sich Androtion und seine Genossen aus dem eigenen Netz, in das sie sich verwickelt hatten, wieder herauszuwinden. 1 Es war ein richtiger , wie Demosthenes ihn nennt, ein Privilegium. Das Gesetz wurde noch am Festtage von der außerordentlichen Kommission angenommen, und Androtion und seine Freunde waren fürs erste frei. Gegen dieses Gesetz klagten nun sofort Diodor und Euktemon, die Werkzeuge der Opposition, 3 s wegen Gesetzwidrigkeit, und die Schuldner mußten sich jetzt endlich auf Zahlung verstehen. Für den Philologen ist an der Rede formal interessant, daß 26 Paragraphen in ihr wörtlich aus der Rede gegen Androtion übernommen sind, nämlich die Invective gegen Androtions Steuereintreibung. Dieser Teil wird also einfach als Klischee benutzt, wie in einer Wahlkampagne. Ein solches Verfahren begegnet auch sonst bei Demosthenes öfter. Am bekanntesten ist die Sammlung fertig ausgearbeiteter Proömien, die unter seinen Reden überliefert sind und für deren überwiegende Echtheit außer ihrem Stil vor allem der Umstand spricht, daß wir sie in den
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Reden ganz oder teilweise fast wörtlich verwertet finden. Dieser Blick in die Werkstatt des Demosthenes ist in unserem besonderen Falle auch sachlich wichtig, weil er bestätigt, daß es sich bei diesen Reden um eine systematisch betriebene Agitation handelt. 3 6 Ein Teil dieses Feldzuges ist auch die etwa gleichzeitige Rede gegen Leptines.37 Er hatte ein Gesetz beantragt, das alte Privileg der Steuerfreiheit aufzuheben, die das Volk besonders verdienten Bürgern zu verleihen pflegte. Auch dies war eins von den zahlreichen kleinen Mitteln, um der Staatskasse neue Quellen zu erschließen. Ein Jahr lang blieb nach Annahme eines Gesetzes der Antragsteller haftbar, wenn eine Klage auf Gesetzwidrigkeit dagegen erhoben wurde. Dies war zwar geschehen, aber die Kläger hatten teils die Klage von selbst zurückgezogen oder hatten sich vonLeptinesgewinnen lassen. Ein Kläger namens Bathippos war gestorben, und als sein Sohn Apsephion die Klage vom Vater übernommen hatte, war das Jahr schon verstrichen gewesen. So wird nun dem Gesetz selbst der Prozeß gemacht, wie es in Athen in solchen Fällen Brauch war, und eine Fünferkommission eingesetzt, um es zu verteidigen. 38 Ihre Zusammensetzung aus den respektabelsten Mitgliedern der regierenden Gruppe, darunter Aristophon selbst, zeigt, daß man den Kampf ernst nahm. Offenbar hatte man aus der Affäre mit Androtion etwas gelernt. Die Verteidigung von Sonderrechten wie den durch das Gesetz des Leptines beschnittenen war zu keiner Zeit populär, um so mehr möchten wir wissen, ob wirklich Demosthenes für sie eingetreten ist und die Rede also für ihn selbst bestimmt war, wie die Überlieferung meldet. Als Grund für sein Auftreten in dieser Sache wird angegeben, er habe die Witwe des Feldherrn Chabrias heiraten wollen, der einer der in jüngster Vergangenheit durch Steuerfreiheit Ausgezeichneten war. Deshalb trete Demosthenes für dessen unmündigen Sohn Ktesippos als Fürsprecher auf. 39 Ist diese mit so großer Bestimmtheit auftretende Nachricht richtig, so ist die Rede hochbedeutsam als Selbstporträt des Verfassers. Der Mann, der hier spricht, gehört zu den vornehmen Kreisen Athens und läßt das, ohne es auszusprechen, in jeder Wendung 5
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fühlen. Er steht nicht mit dem Ankläger des Gesetzes Apsephion in Verbindung, er wünscht nur sich „des Knaben des Chabrias" anzunehmen. Natürlich hätten auch andere von dem Gesetz Betroffene mit gleichem Recht nach dem Ankläger das Wort nehmen können. Aber vielleicht war der Fall des Chabrias besonders geeignet, auf das Volk Eindruck zu machen. Das Bild des vor wenigen Jahren für Athen in der Seeschlacht gefallenen Flottenfuhrers trug jeder Patriot als verklärte Erinnerung im Herzen. Für ihn und seine Angehörigen war sicherlich mehr lebendige Teilnahme im Volk vorhanden als für irgend welche obskuren Nachkommen des Harmodios und Aristogeiton, die einzigen, bei denen das Gesetz des Leptines eine Ausnahme zuließ. 40 Mit etwas lässiger Anmut stellt der Redner sich als Fürsprecher des Chabriassohnes vor. Dieser Ton wird zwar nicht festgehalten, aber er ist doch für das Gentlemanideal des Sprechers bezeichnend. Nirgendwo fällt er aus dieser Rolle heraus. Seine Ausführungen bewegen sich durch alle Stufen einer protreptischen Rede: er beleuchtet die Frage vom Standpunkt der Gerechtigkeit, des Nutzens, der Ehrenpflicht des Staates und dessen, was dem „Ethos Athens" angemessen ist. Er bespricht dann eingehend eine Reihe von Einzelfällen, unter ihnen bieten Konon und Chabrias die meiste Gelegenheit, die Athener bei ihrer Vaterlandsliebe und ihrer Dankbarkeit gegen ihre großen Wohltäter zu packen. Das alles geschieht nicht mit geräuschvollem Pathos sondern in vornehmer Zurückhaltung, die sich bewußt ist, daß hier nicht die Familien dieser um Athen hochverdienten Männer sondern nur der Staat etwas zu verlieren hat, was nicht zu ersetzen ist, nämlich seinen guten Ruf. Die Form der Polemik gegen Leptines ist nicht weniger charakteristisch. Sie wird nirgendwo gehässig oder ordinär, wie es bei solchen Anlässen üblich war, sondern hält sich streng in den Grenzen bester gesellschaftlicher Form. Leptines möge ja ein hochanständiger Mann sein, aber es sei doch wohl richtiger, daß er den historischen Stil der Denkweise Athens annähme, als daß er von Athen verlange, sich dem Geist des Leptines anzupassen. An einer anderen Stellet1 heißt
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es: „Wenn es sich herausstellen sollte, daß Leptines mit aller Gewalt das Gesetz gültig machen will, so vermag ich für mein Teil das nicht zu loben, doch ich will es nicht tadeln". Auch die sprachliche Form der Rede ist sehr gepflegt, sie ist, obgleich vor Gericht gesprochen, fast mehr in eindringlich beratendem Ton gehalten, wie um den Athenern zu zeigen, was allein ihrer würdig wäre. Das Zwingende in ihr liegt weniger in Bitten, Beschwörungen oder dergleichen als in der freien Überlegenheit, mit der der Redner auftritt. Er hat wohl gehofft, damit dem Volk zu imponieren. Bewußt verschmäht er einen klangvollen Abgang. Er stellt sich am Schluß ausdrücklich in Gegensatz zu dem Geschrei, der Gewalttätigkeit und Unverschämtheit der Redner.
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so verschieden von dem vierschrötigen Sprecher der Reden gegen Androtion und Timokrates wie von der grundanständigen, aber ungebildeten und rücksichtslosen Art des Utüitariers Leptines und seiner Genossen. Eine durchschlagende Wirkung hat die Rede nicht gehabt. Wenn sie trotzdem noch heute einen starken Eindruck macht, so verdankt sie das ihrem völlig einheitlichen, vornehmen und sicheren Ethos. Wir werden es am ehesten verstehen, wenn wir mit der Überlieferung annehmen, daß hier Demosthenes sich selbst geben wollte, und bereichern gern unser Bild der athenischen Gesellschaft um diese erfreulichen Züge. Wir müssen uns um der Gerechtigkeit willen klarmachen, daß der Pessimismus, dem wir verfallen, wenn wir die Menschheit aus der Perspektive der Gerichtstribüne betrachten, durch die Einseitigkeit des Standpunktes bedingt ist. Dann werden wir vor der Gefahr der Hoffnungslosigkeit geschützt sein.
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DIE DREI ERSTEN REDEN ZUR AUSSENPOLITIK Die Wendung zur Politik, die sich mit der Beteiligung des Demosthenes an den drei großen finanzpolitischen Prozessen vollzieht, ist nicht bloß durch den Zufall bedingt, daß von politischer Seite seine Hilfe als Verfasser hervorragender Gerichtsreden in Anspruch genommen wurde, sondern sie bedeutet ein bewußtes Herumwerfen des Lebenssteuers. Das beweisen schlagend seine gleichzeitig einsetzenden ersten Reden zur auswärtigen Politik. Mit ihnen betritt Demosthenes selbst die politische Bühne als Sprecher und Antragsteller in der Volksversammlung, und dieses Auftreten muß mit den politischen Prozessen in innerem Zusammenhang stehen. Der Weg vom Schreibtisch zur Rednertribüne geht über die enge parteimäßige Fühlungnahme mit einem Kreis gleichdenkender Gefährten, die, zusammengeführt durch ihre Übereinstimmung in der Kritik, bald auch dazu gedrängt werden müssen, gewisse politische Grundzüge eines gemeinsamen Programms herauszuarbeiten. Wir wissen leider zu wenig von dem athenischen Parteiwesen, um uns auch nur dessen typische Struktur vorstellen zu können. Organisierte Parteien im Sinne des Parlamentarismus der Neuzeit hat es jedenfalls nicht gegeben und entsprechend auch keine festen Mehrheitsverhältnisse in der Ekklesie. Was es gab, waren Klubs und ähnliche Gruppen, in denen die aktiveren Elemente sich zusammenfanden. Da die Volksversammlung nicht auf Wahlen beruhte, sondern alle freien Bürger umfaßte, konnte es keinen Regierungswechsel im heutigen Sinn geben, sondern nur ein überwiegender Einfluß der einen oder anderen Richtung sich herausbilden und zu einer gewissen Stetigkeit gelangen. Sie kam in der Person des Prostates des Demosl zum Ausdruck, der sich oft lange Jahre im Vertrauen des Volkes behauptete und sich natürlich auf einen festen Anhang stützte.
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Der Kampf gegen den bisherigen Protagonisten Aristophon, den wir in den Gerichtsreden verfolgten, setzt sich fort in den grundsätzlichen Debatten um die Außenpolitik. Wir vermögen nicht genau zu bestimmen, wie die Machtverhältnisse der um den Einfluß ringenden Strömungen jeweils lagen und wann die bisher vorherrschende Gruppe zurückzutreten begann. Aber wir sind durch die Reden des Demosthenes noch Zeugen des allmählichen Umschwungs und des Durchbruchs der Opposition. Die anhaltenden Finanzskandale, das Versagen der von den Regierenden ausgedachten Maßnahmen zur Besserung der Lage, das Fiasko ihrer auswärtigen Politik, alles das führt schließlich zum Systemwechsel, der sich bald bemerkbar macht. Zu seinen Symptomen gehört auch das öffentliche Hervortreten neuer Männer wie Demosthenes und Hypereides, die bisher ungenannt für die Sache der Opposition gearbeitet hatten. Versuchen wir das Wesen der neuen Richtung näher zu bestimmen, so weit man aus den Fehlern der Vorgänger, aus der Kritik des Demosthenes und endlich aus dem von ihrem Führer Eubulos später eingeschlagenen Wege Schlüsse ziehen kann. Danach umfaßt ihr Programm vor allem die Gesundung des Finanzwesens und die Wiedergewinnung des politischen und geschäftlichen Vertrauens, die Zusammenhaltung der Kräfte des Staates unter Verzicht auf alle Hegemoniebestrebungen, statt dessen rein athenische Interessenpolitik, Friedenspolitik nach außen und Verstärkung des Einflusses der konservativen besitzenden Schicht im Innern. Ein solches Programm trug zwar wie alle Programme die Möglichkeiten sehr verschiedener praktischer Anwendung in sich, aber es zog einen klaren Trennungsstrich gegen die Mißwirtschaft der letzten Jahre. Und das war für den Augenblick die Hauptsache. Eubulos selbst war ein ausgezeichneter Fachmann auf finanziellem Gebiet. Er kann den Grundsätzen, die in der Denkschrift über die Einkünfte niedergelegt sind, nicht sehr fern gestanden haben,2 jedenfalls darf man ihm eine ähnlich überwiegend vom Wirtschaftlichen ausgehende Denkweise zutrauen. Wir finden Demosthenes zunächst Schulter an Schulter
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mit ihm gegen die Finanzmisere kämpfend. Wenn er sich später von Eubulos getrennt hat, so lag der Grund in dem von Anfang an mehr dem eigentlich Politischen zugewandten Sinn des Demosthenes, für den das wirtschaftliche Moment sich stets dem Gesamtinteresse des Staates unterordnete. Gerade in Zeiten dauernder Wirtschaftskrisis ist dieses Verhältnis immer in Gefahr, sich umzukehren. Die größte Schwierigkeit liegt für uns darin, zu erkennen, wieweit Demosthenes in seinen ersten Reden auf außenpolitischem Gebiet der bloße Repräsentant der Richtung des Eubulos ist und wo er beginnt eigene Wege einzuschlagen. 3 Was wir aber mit aller Deutlichkeit sehen, ist dies, daß er in seinen ersten vier großen Reden bereits den ganzen Umkreis der Probleme der athenischen Außenpolitik umfaßt. Die vier Reden über die Symmorien, für die Megalopoliten, für die Freiheit der Rhodier und gegen Aristokrates sind kein zufälliges Konglomerat, sondern sie umgreifen mit fester Hand die vier hauptsächlichen Krisenfelder der außenpolitischen Interessen des athenischen Staates. Die Symmorienrede rollt die asiatisch-europäische Frage auf. Sie könnte besser heißen „Über die Politik gegenüber dem persischen Großkönig", wie schon Dionysios von Halikarnaß bemerkte. 4 Die Megalopolitenrede entwickelt den ganzen Komplex der peloponnesischen Angelegenheiten. Die Rhodierrede stellt die Frage der Politik Athens gegenüber den früheren Seebundstaaten. Endlich die Aristokratesrede greift das nordgriechische Problem an, dessen Bedeutung bald alles übrige weit überragen sollte. Wir wollen versuchen die Gedankenwelt dieser vier Reden aufzubauen und an ihrer Hand einen Maßstab für das politische Denken des Demosthenes zu gewinnen, indem wir uns zugleich die Lage auf den verschiedenen Krisengebieten vergegenwärtigen. Bei der Isolierung und Armut Athens war die Außenpolitik ein äußerst schwieriges Ressort. Es ist ein großer Vertrauensbeweis, wenn man dem Demosthenes trotz seiner Jugend das Wort zu diesen Fragen ließ, offenbar weil seine politischen Freunde seine besondere Neigung und Befähigung dafür er-
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kannten. In der Tat kann niemand diese Kundgebungen lesen ohne das Gefühl, daß der Mann, von dem sie stammen, hier in seinem Element ist. Es ist paradox, daß nur Gelehrte die Staatsmannschaft des Demosthenes angezweifelt haben, während die Staatsmänner, die sich damit beschäftigten, von aufrichtiger Bewunderung erfüllt waren. Ich nenne Barthold Georg Niebuhr, Lord Brougham und neuerdings Georges Clemenceau, den „Tiger", der sogleich nach dem Weltkrieg ein eigenes Studium an Demosthenes setzte und ein ganzes Buch über ihn schrieb, um, wie er sich ausdrückt, ein Volk von Künstlern und Ästheten mit wahrem Staatsgeist zu durchdringen, s Clemenceaus Buch enthält zwar allerlei historische Irrtümer, über die die Gelehrten lächeln, es ist aber, was die Sache selbst betrifft, völlig frei von den Scheuklappen des Stubenmenschen und hat für das politische Niveau des Demosthenes einen unbeirrbaren natürlichen Spürsinn, der nicht durch zu ausschließliches Bücherstudium abgestumpft ist. Sogleich die Symmorienrede des Demosthenes ist ein Meisterstück, freilich weniger einer produktiven Außenpolitik (die war zur Zeit überhaupt noch nicht möglich) als vielmehr der Fähigkeit, eine nicht leichte außenpolitische Situation innenpolitisch geschickt auszunützen und die Klippen, in deren Nähe sie führt, sicher zu umschiffen. Seit 359 regierte in Persien Artaxerxes III. Ochos. Sein Ziel war, das in allen Fugen krachende Reich der Achämeniden neu zu festigen, die rebellischen Satrapen zu bändigen und sie wieder unter eine starke Zentralgewalt zu beugen. Seit den Zeiten des Kyros, Tissaphernes und Pharnabazos war an der Küste Kleinasiens keine Ruhe mehr eingetreten. In Ägypten fochten die Aufständischen, die sich sogar einen eigenen König gewählt hatten, mit athenischer und spartanischer Hilfe erst unter Chabrias, dann unter Agesilaos. Teilweise kämpften dort auch Griechen auf Seiten des Perserkönigs. So sandten die Athener dem Großkönig den Iphikrates als militärischen Berater. Dementsprechend schwankt das Verhältnis Athens zu Persien seit Jahren hin und her. In Karien, im Süden der kleinasiatischen
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Westküste, hatte sich, dem Perserkönig äußerlich loyal ergeben, aber heimlich von ehrgeizigen Dynastengelüsten erfüllt, das provinziale Königtum des persischen Vasallen Mausolos erhoben. Im Bundesgenossenkrieg stand Chares mit seinen athenischen Söldnerbanden auf Seiten des aufständischen Satrapen Artabazos und reizte den Großkönig zu einem drohenden Ultimatum an Athen, das dann die Abberufung des Chares zur Folge hatte und zum Frieden von 355 führte. Aus diesem Kriege war der Dynast von Karien gestärkt hervorgegangen, in Athen war man sich über seine ehrgeizigen Pläne im klaren. Sein Umsichgreifen auf den vor dem Kriege athenischen Inseln Rhodos, Kos und Chios sollte Demosthenes bald in der Rhodierrede beschäftigen. Inzwischen dauerte die Spannung mit Persien auch nach dem Friedensschluß noch an, zumal da der Aufstand des Artabazos im Innern des persischen Reiches noch nicht niedergeworfen war.6 In Athen hoffte immer noch eine starke Partei auf diesen Empörer und plante Erneuerung des Krieges gegen Persien. Es werden die Anhänger des Chares und Aristophon gewesen sein. Sie wußten die in weiten Kreisen verbreitete Furcht vor einem persischen Angriff zu benutzen und predigten einen Präventivkrieg als einziges Gegenmittel. Sie scheinen auf die Perserkriege und auf die Siege der zehntausend Griechen unter Kyros und Klearchos sowie all der griechischen Führer hingewiesen zu haben, die seither in Kleinasien gegen persische Heere gestritten hatten, und stellten die Besiegung der Perser als ein Leichtes hin. Das Reich sei morsch und nicht mehr widerstandsfähig. Athen werde sich an den persischen Schätzen erholen und ein neues Reich gründen, stärker als das alte zerfallene. Je weniger reale Macht in Athen vorhanden war, um so unbeschränkter konnte die Phantasie sich ergehen. Man nahm so den Plan wieder auf, den einst Isokrates im Panegyrikos niedergelegt hatte. Er selbst freilich hatte ihn nach den traurigen Erfahrungen des Bundesgenossenkrieges fallen gelassen. 7 Aber für diese Träumer war auch der Zerfall des Seebundes kein Hinder-
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nis. Gegen sie und ihresgleichen richtet sich die Polemik in der Schrift von den Einkünften, die alle neuen Hegemoniepläne so scharf bekämpft.8 Auch Demosthenes steht in seiner Symmorienrede gegen sie und scheint damit die Richtung des Eubulos zu vertreten. Die Kriegshetze ist besonders verschärft, seit das Gerücht sich verbreitet hat, der Großkönig betreibe gewaltige Rüstungen, wie die Welt sie seit den Tagen des Xerxes nicht gesehen habe. In Athen fabelt alles nur noch von den 1200 Kamelen, die das unermeßliche Gold der Perser mitbringen, von dem Artaxerxes Söldner anwerben wolle. Die Militärs erklären, es sei ein leichtes Spiel, jetzt oder nie gelte es: man dürfe nicht zögern, Zeit zu verlieren sei Verrat. Die Volksmasse, schnell hingerissen, will nur vom Erbfeind und von Revanche hören, und die Freunde des Demosthenes, die die Lage äußerst nüchtern beurteilen, haben keinen leichten Stand, wenn sie ihren Mitbürgern klar machen wollen, daß sie nicht an einen neuen Xerxes glauben. Demosthenes ist Psychologe genug, um der für die Masse wirksamen Phraseologie der Gegner nicht bloße nüchterne Überlegung entgegenzusetzen. Er beantwortet die Aktion der Gegner mit einer neuen Reformvorlage für die Flotte. 9 Damit schützt er sich zunächst gegen jeden Vorwurf, falls er sich dennoch täuschen sollte, und beginnt mit der Gegenrüstung. Sie wird vermutlich niemals gegen die „persische Gefahr" gebraucht werden, aber sie wird in jedem Fall nützlich sein, und die Furcht vor den Persern wird so erreichen helfen, was sonst keine Beredsamkeit der Welt in dieser Zeit zustande gebracht hätte. Zugleich dient die Reformvorlage als kalte Dusche. Ein wesentlicher Punkt in ihr ist die Verteilung der Steuerlasten für die Ausrüstung der Kriegsschiffe, die eine Ehrenpflicht der Reichen war, auf eine größere Zahl von Schultern. Diese Maßregel, die der verminderten Steuerkraft der durch den langen Krieg ruinierten Reichen Rechnung trägt, erhöht durch eine neue Einteilung der Symmorien, d. h. der Steuergenossenschaften, die zusammen je eine bestimmte Flotteneinheit auszurüsten haben, die Zahl der Bürger, die in diesen
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Genossenschaften zusammengefaßt sind, von 1200 auf 2000. Diese Steuersenkung erweist sich bei nüchterner Betrachtung als der eigentliche Kern der Rede, die ein non plus ultra finanzpolitischer Taktik ist. Demosthenes stimmt zunächst ein in das laute Geschrei gegen den Perserkönig.10 Auch er betrachtet ihn als „den gemeinsamen Feind der Griechen". Leider seien nicht auch die Griechen gemeinsame Freunde, und solange sie einander auflauerten und sich gegenseitig nichts gönnten, müsse man sich hüten, einen offenen Angriffskrieg zu führen und müsse abwarten, bis der Perser angreife und sich selbst ins Unrecht setze. Dann wird Athen auch die anderen Griechen auf seiner Seite haben, wenn es jedoch selbst angreift, wird der Perser die Feinde der Athener in Hellas durch sein Geld gewinnen und gegen uns aufhetzen. Athen muß dem Perser möglichst für sich selbst gewachsen sein und ihm auch nicht einmal den Schein gönnen, sich als den Schützer der übrigen Griechen hinzustellen. Denen aber, die so kühn reden und den Krieg gern führten, erwidert Demosthenes, es sei nicht schwer, in der Beratung tapfer zu erscheinen, wohl aber sei es schwer und nötig, in der Gefahr tapfer und bei der Beratung besonnen zu bleiben. Die Militärs hatten wohl den Krieg gegen die Perser als einen leichten Wettkampf bezeichnet. Demosthenes stimmt dem zu: ein Wettkampfbedarf nur tapferer Männer, doch der Krieg gegen den Großkönig ist schwer, für ihn braucht man Schiffe, Geld und Land als Operationsbasis.11 Der Krieg ist auch ein wirtschaftliches Problem. Perikles hatte bei Ausbruch des peloponnesischen Krieges die finanzielle Bereitschaft Athens nicht minder als die militärische nachgewiesen, doch Demosthenes muß der Volksversammlung und ihren Beratern erst nachdrücklich einprägen, wie schlecht die Lage des Staates gegenwärtig ist. Die Stadt hat zwar noch Vermögen, aber wenn man heute eine direkte Steuer davon als Wehrbeitrag erheben wollte, wird kein Mensch zahlen. „Von Geld darf in diesem Augenblick überhaupt nicht die Rede sein."
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Es ist für uns sehr wichtig, einmal zu hören, wie die Besitzenden in dem demokratischen Athen gegenüber der Masse und ihren Führern ihren Standpunkt geltend machen, denn ohne Zweifel spricht Demosthenes hier als politischer Vertreter der Schicht, aus der er selbst stammt und mit deren Hilfe Eubulos den Staat wieder aufbauen will. Daß Demosthenes' Symmorienrede sich mit der Politik dieses Staatsmanns aufs stärkste berührt, wahrscheinlich sogar vollkommen deckt, zeigt eine unvoreingenommene Betrachtung auf Schritt und Tritt. Es ist nur deshalb lange Zeit nicht erkannt worden, weil die herkömmliche Auffassung in Demosthenes einen einheitlichen, unveränderlichen Typus sah. Daß schon die Alten es zum Teil besser wußten, hat Plutarch, selbst ein Anhänger jener heroisierenden Auffassung, ausdrücklich überliefert. Er berichtet das ungünstige Urteil Theopomps in seiner philippischen Geschichte über Demosthenes als Mensch und Politiker: er sei ein unbeständiger Charakter gewesen, der weder derselben Politik noch denselben Menschen lange Zeit habe treu bleiben können. J3 Plutarch stellt dem sein eigenes Urteil entgegen, Demosthenes habe die politische Stellung, die er einmal eingenommen habe, bis ans Ende behauptet und sogar sein Leben für sie gelassen. Er macht also ebenso wie Theopomp eine Frage des Charakters daraus. Beide sind eben strenge Moralisten, nur mit dem Unterschied, daß Plutarch seine Helden idealisiert, während Theopomp, der gehässige Satiriker, mit Wohlgefallen an den Männern der Geschichte die wirklichen oder vermeintlichen Flecken hervorkehrt, auch wenn er ihre Leistungen noch so sehr in den Himmel hebt.14 Daher hat er die Tatsache des Frontwechsels in der Politik des Demosthenes, um die er als Zeitgenosse noch gewußt hat, geflissentlich festgehalten, während Plutarch gar nicht mehr imstande war sie zu sehen. In Wahrheit ist sie auch ohne das ausdrückliche Zeugnis der Antike aus den Reden selbst noch abzulesen. Die Situation ist ganz parallel der bei Aristoteles, wo auch erst die neuere Forschung die starre Einheit des traditionellen Bildes, wie es seit der späteren peripatetischen Schule fort-
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lebte, durchbrochen hat. Auch da fehlte es nicht an Spuren einer inneren Wandlung des Philosophen in seinen Schriften und nicht an antiken Zeugnissen, die das ausdrücklich bestätigten. Aber der Drang nach geistiger Uniformierung der Gestalt war stärker als die Tatsachen.^ Die Antike selbst hat in ihrer Neigung zur Monumentalisiemng ihrer Helden das Meiste dazu getan, deren Züge zu verdunkeln, soweit sie nicht in das Schema paßten, vor allem die Schulüberlieferung des späten Altertums. Unabhängig von aller antiken Tradition ist in neuerer Zeit die nahe Beziehung der politischen Anfänge des Demosthenes zum Programm des Eubulos rein durch die philologische Interpretation der Symmorienrede wieder ins Licht gerückt worden.l6 Da die Sache von prinzipieller Bedeutung ist, so scheint es nicht überflüssig, dem unlängst dagegen laut gewordenen Widerspruch unsere Aufmerksamkeit zu schenken.:? Man hat gefunden, daß die Flottenrüstung, die Demosthenes in dieser Rede empfiehlt, durchaus zu seiner späteren Politik des aktiven Widerstands passe und kein Grund vorliege, an dem Ernst des Vorschlags zu zweifeln. Dieser stimme nicht zu dem Programm des Friedens und der Nichtintervention, das Eubulos vertrat. Daß Demosthenes gegen jede kriegerische Verwicklung mit Persien ist, kann man allerdings nicht bestreiten. Anderseits gewinnt die Beziehung zu Eubulos an Wahrscheinlichkeit durch den im vorigen Kapitel erbrachten Nachweis, daß Demosthenes auch in seinen gleichzeitigen ersten politischen Gerichtsreden die Sache der besitzenden Klasse vertreten hat, und zwar ausdrücklich gegen die Gegner des Eubulos. Die Gemeinsamkeit der Gegner läßt aber auf eine gemeinsame Front schließen, und die Symmorienrede bestätigt diesen Schluß auch in den sonstigen Einzelheiten. Es herrscht in ihr dieselbe weitgehende Rücksicht auf die Reichen und ihre Tragfähigkeit als Steuerzahler,18 dieselbe Abneigung gegen die kriegerische Phrase, wenn Demosthenes sich auch in dieser Hinsicht vorsichtig ausdrückt, dieselbe Verurteilung der Demagogen. Die Reichen sind in Athen seit jeher bekanntlich die Friedenspartei, der Demos war stets kriegs-
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lustig. Wenn der Rüstungsvorschlag wirklich ernst gemeint ist, so bedeutet er in jedem Fall eine wesentliche Entlastung der bisherigen Hauptsteuerzahler. Daß eine Neuverteilung der Steuerlast auf eine größere Zahl von Schultern die eigentliche Absicht bei dem Symmorienplan des Demosthenes war, verrät auch die noch nicht beachtete Tatsache, daß er gleichzeitig in der Rede gegen Leptines (23) einen ähnlichen Vorschlag befürwortete: man solle die Lasten, die mit einer analogen Ehrenpflicht reicher athenischer Bürger, der Ausstattung von Chören für das Theater, verbunden waren, in Form von Steuerzahlergenossenschaften ( ) auf eine größere Menge von Zahlern verteilen. Dasselbe bezweckte die Einrichtung der Syntrierarchie, auf die Demosthenes dort ausdrücklich als Beispiel hinwies. Es ist nicht zu bezweifeln, daß zwischen diesen beiden gleichzeitigen Schritten ein innerer Zusammenhang bestand. Sie sind Symptome einer Politik der systematischen Entlastung der besitzenden Klasse. Der Vorschlag des Demosthenes in der Rede über die Symmorien hat in Wahrheit nur dämpfend auf die Kriegsbegeisterung gewirkt, die Vermehrung des Flottenbaus dagegen, die er angeblich beabsichtigt, hat er nicht erreicht. Es liegt daher der Gedanke gar nicht so fern, daß er von vornherein dazu bestimmt war, durch Rüstungsforderungen abschreckend zu wirken. Das ist die bekannte Taktik, mit der der Kriegsgegner Nikias die athenische Volksversammlung abzukühlen versucht hatte, als das Volk sich in das sizilische Abenteuer zu stürzen im Begriff stand. J9 Wie nahe dieses Mittel dem Demosthenes selbst lag, zeigt am besten die zweite große Rüstungsrede, die er gehalten hat, die erste Philippica. Da ist es ihm zweifellos Ernst, aber da hält er es deshalb auch für nötig ausdrücklich auszusprechen,20 daß er diese Rüstungsforderungen nicht nur erhebe, um ein rasches und wirksames Vorgehen zu verhindern; daß er dies in der Symmorienrede tatsächlich gewollt hat, wird sehr wahrscheinlich durch das Zusammentreffen der neuen Rüstungsforderung mit der Feststellung, daß jetzt überhaupt kein Geld vorhanden sei.
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Wir sind geneigt, die Taktiker der athenischen Volksversammlung für zu harmlos zu halten und zu verkennen, daß sie, wie die Dinge lagen, ohne solche Mittel nicht auskommen konnten, am allerwenigsten die Führer der unpopulären besitzenden Klasse. Das gibt der Lektüre dieser Reden einen besonderen Reiz. Sie alle müssen die Kunst des diplomatischen Verbergens ( ) üben, die die antike Rhetorik vom politischen Redner fordert. So ist es auch in der Rede über die Symmorien.21 Demosthenes' Formulierung ist äußerlich korrekt und höflich, unter dieser Oberfläche jedoch verbirgt sich die reine Ironie, wenn er den Athenern ein Rätsel aufgibt,23 das ihnen zwar paradox erscheinen werde, aber doch Tatsache sei. „Wir haben eine große, schöne und gerechte Einnahmequelle, die aber, wenn wir sie jetzt suchen, auch in Zukunft nicht mehr fließen wird, geschweige denn, daß sie jetzt etwas ergibt. Wenn wir sie aber in Ruhe lassen, wird sie uns in Zukunft zur Verfügung stehen. Was ist das für eine Quelle, die jetzt nicht existiert, später aber vorhanden sein wird? Ich werde es euch sagen. Seht hier die ganze Stadt, Athener. In ihr gibt es Geld fast so viel wie in allen anderen Städten zusammen, aber die Besitzer dieses Geldes denken so: wenn auch alle Redner ihnen Angst machten, daß der König komme, daß er schon da sei, daß es gar nicht anders sein könne als wie sie sagen, und wenn auch mit den Rednern zusammen eine ebenso große Schar von Propheten es ihnen prophezeite, so würden sie trotz allem nicht nur keine Steuern zahlen, sondern nicht einmal so scheinen, als ob sie Geld besäßen. Wenn sie aber merkten, daß die Gefahren, die jetzt in bloßen Worten bestehen, in Wirklichkeit drohen, dann würde keiner so töricht sein, nichts zu geben und nicht als erster seine Steuern zu bezahlen. Denn wer wollte lieber selbst mitsamt seinem Vermögen zugrunde gehen als einen Teil für sich und für den Rest seines Vermögens als Steuer zu opfern. Geld also, sage ich euch, ist in dem Augenblick vorhanden, wo es wirklich gebraucht wird, doch vorher nicht. Ich rate daher, gar nicht erst danach zu suchen. Was ihr jetzt bekommen würdet, wenn ihr es euch vor-
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nähmet, ist mehr zum Lachen als gar nichts. Denn bitte, will einer jetzt eine Abgabe von 1% vorschlagen? Macht 60 Talente. Nun also, schlage er 2% vor, das Doppelte. Macht 120 Talente. Was ist das denn gegen die 1200 Kamele, die, wie man euch erzählt, das Geld für den König herbeischleppen!" Die überlegene Ruhe und stellenweise beißende Ironie, mit der Demosthenes sich panzert, erweckt von seinen taktischen Befähigungen keine geringe Vorstellung. Er selbst erzählt später in der Rhodierrede, er habe damals mit seinen Ausführungen ziemlich allein dagestanden, sei aber trotzdem durchgedrungen.23 Dazu wird der Eindruck des moralischen Mutes nicht wenig beigetragen haben, ohne den eine solche Sprache nicht zu denken ist. Ihre orakelhaften Andeutungen sind immerhin so unmißverständlich, daß niemand sich getrauen würde sie auszusprechen, noch dazu vor einer aufgeregten Masse, die der besitzenden Klasse stets mißtraut, wenn er nicht überzeugt wäre, im Namen der harten Tatsachen und der besseren Einsicht zu sprechen. Immer wieder finden wir Demosthenes in dieser Rede im Kampf gegen die Phrase, auch die patriotische Phrase, wenn sie nur eitle Selbstbespiegelung ist oder den Mangel eigener Gedanken verdeckt. Gegen ein solches Lob der Vorfahren wendet er sich sogleich in seinen einleitenden Worten und nennt es der großen Taten der Vergangenheit unwürdig. Wertvoller sei es, wenn jemand eine Maßregel vorschlage, die dem Staat wirklich helfen könne.2* Genau so fertigt er das Gerede von dem gemeinsamen Erbfeind und von dem Krieg als einem ritterlichen Wettkampf ab und unterstreicht geflissentlich die realistisch-nüchterne Betrachtung, die zwar im Augenblick wenig populär, aber darum um so notwendiger ist. Diese Züge im Bilde des Demosthenes genügen wohl, um ihn ein für allemal von dem haltlosen Vorwurf der Phrasenhaftigkeit und des Demagogentums zu bewahren, man müßte denn annehmen, wozu nichts uns berechtigt, daß er in den wenigen Jahren bis zu den großen philippischen Reden sein ganzes Wesen gewandelt habe und aus einem klar denkenden politischen Redner
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ein bloßer Maulheld geworden sei. Anderseits zeigt schon diese erste Rede eine starke agitatorische Kraft, wenn sie auch nicht als fortreißender Wille, sondern als kritische Vernichtung des Gegners wirksam wird. Stellen wie die Definition des Krieges, der kein Zweikampf ist, sondern Schiffe, Geld und Land verlangt, und die lächerliche Vision der 1200 Kamele, die von Asien zu den Küsten herab das Gold des Großkönigs tragen, sind für den gesunden Menschenverstand von natürlicher Schlagkraft und mußten dem Pathos der Gegner den Wind aus den Segeln nehmen. Trotzdem hält sich die Sprache der Rede, durch die Demosthenes sich zum erstenmal als beratender Staatsmann einführen wollte, im allgemeinen dieser drastisch-volkstümlichen Redeweise fern. Vorwaltend ist ein vornehm-sachlicher Ton, ganz verschieden auch von der biedermännischen Derbheit der Gerichtsreden gegen Androtion und Timokrates. Die Gebärde ist eher reserviert, belehrend und ruhevoll. Dieses Ethos rückt die Rede neben die Leptinea und ist zweifellos von Demosthenes bewußt gewählt worden, weil er es seiner Persönlichkeit und Stellung angemessen fand. Selbst der Stil des Satzbaus paßt dazu. Er ist noch stark isokrateisch und bevorzugt den gleichmäßigen Fluß der sicher zu Ende geführten Perioden.a5 Diese Art war für Demosthenes zu jener Zeit also noch gleichbedeutend mit der Vornehmheit der Haltung, die er erstrebt. Doch während in der Rede gegen Leptines teilweise mehr lässige Eleganz, Leichtigkeit und Charis herrscht, liebt die Symmorienrede die prägnante Rundung und gnomische Ausprägung der Gedanken, so daß antike Kritiker sich an Form und Geist thukydideischer Reden erinnert fühlten.26 Die eigene Form der politischen Rede mußte Demosthenes erst allmählich finden, und gemessen an der souveränen Freiheit, mit der er sich damals bereits in seinen Gerichtsreden bewegt, ist eine stärkere konventionelle Gebundenheit in dieser ersten Staatsrede unverkennbar. Es fehlt ihm noch an Erfahrung, wie man mit dem Volke sprechen muß, der ganze Ton ist noch zu akademisch, das Gefühl für den 6
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Kontakt mit der lauschenden Menge durchdringt noch nicht das Ganze bis in die Einzelheiten der Satzbildung. Um so reizvoller ist die Rede als Zeugnis für die gesellschaftliche und geistige Selbsteinordnung des jungen Redners. Seine Partei hatte jedenfalls alle Ursache, mit ihm zufrieden zu sein, und hat auch die bewußt innegehaltene Distanz, von dem üblichen Ton der Volksredner gewiß höchlichst bewundert. Wir wenden uns jetzt dem zweiten Krisenfelde der griechischen Politik zu, der peloponnesischen Frage. Seit der militärischen Niederlage Spartas und dem Sturz seiner Hegemonie hatten nicht nur die thebanischen Sieger, sondern auch die bisher unterdrückten Gegner Spartas im Innern des Peloponnes in der Aufrechterhaltung des neu errungenen Übergewichts ihre zukünftige Aufgabe gesehen. Für Theben blieb die Möglichkeit einer bewaffneten Intervention das Mittel, seine Vormacht im Süden jederzeit geltend zu machen. Unter Epaminondas erzwang es die Anerkennung seiner dauernden Schutzmachtstellung gegenüber dem arkadischen Bund und dem neugeschaffenen messenischen Staat. Beide politischen Gebilde waren im Grunde nur Erzeugnisse des thebanischen Vernichtungswillens gegen Sparta und bedeuteten für Epaminondas keinen Selbstzweck.2? Es war daher für die so unverhofft zur Freiheit gelangten Arkader und Messenier die Hauptschwierigkeit, sich gegenüber der wohlwollenden Tyrannei der Garantin ihrer Autonomie, Theben, möglichst selbständig zu erhalten. Von Spartas Seite hatten sie Ruhe, solange dieses nach innen zurückgeworfen sich nur der Reorganisation seiner Kräfte widmete.28 Nach der erneuten Niederlage Spartas bei Mantinea war König Agesilaos nach Ägypten gegangen, um dort in dem Aufstand gegen die Perser zu kämpfen, und war 360 auf der Rückkehr von diesem Abenteuer als greiser, verwitterter Söldnerfuhrer in Kyrene gestorben. Sein Sohn und Nachfolger Archidamos faßte den Plan der Wiederherstellung des peloponnesischen Bundes ins Auge. So war also seit 360 die Gefahr für die Messenier und Arkader wieder im Wachsen.2? Doch die Spartaner wagten
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keinen offenen Übergriff mitten im Frieden, sondern warteten den nächsten Krieg ab, in den Theben geraten würde, um ihm seine Schutzstaaten im Peloponnes wieder zu entreißen. Die Messenier sahen das voraus und kamen Sparta zuvor. Als Theben in den Krieg gegen Phokis verwickelt wurde, der seine Kräfte zehn Jahre hindurch in Mittelgriechenland festlegte, schlössen die Messenier, die jetzt fürs erste auf thebanische Hufe nicht mehr rechnen konnten, ein Defensivbündnis mit Athen, um sich so für den Fall eines spartanischen Angriffs auf Messenien zu schützen. Die Arkader unterließen diese Vorsichtsmaßregel und gerieten deshalb in große Bedrängnis, als Theben durch die von Onomarchos befehligten Phoker im Jahre 352 mehrere Niederlagen erlitt. 3° Nun begann Sparta gegen Arkadien zu rüsten, das ihm jetzt schutzlos preisgegeben war. Sparta und Athen waren verbündet gebheben, seit Kallistratos ihre Aussöhnung zustandegebracht hatte, und Sparta schickte jetzt Unterhändler nach Athen, um die zu erwartende Haltung seines Bundesgenossen im Falle eines spartanisch-arkadischen Krieges zu sondieren. Gleichzeitig trafen aber auch arkadische Gesandte in Athen ein, um so dringend wie möglich den Abschluß eines ähnlichen Defensivbündnisses zu betreiben, wie Athen es mit Messenien geschlossen hatte. Was sollte Athen in diesem Dilemma tun? Dies ist das Problem, das Demosthenes sich in seiner Rede für die Megalopoliten (das heißt für die Arkader) stellt. 31 Wenn es richtig ist, daß das Programm der Partei des Eubulos grundsätzlich für Nichtintervention war, so müssen wir schließen, daß Demosthenes bereits in dieser Rede zwar nicht mit Eubulos gebrochen, aber einen eigenen Weg eingeschlagen hat. Das wird der Grund sein, weshalb er diesmal nicht durchgedrungen ist. Die Entschließung, auf die er drängte, schien zu folgenschwer, seine Logik zu scharf, und die Autorität des jungen Mannes wog noch nicht schwer genug, wenn man auch schon aufmerksam seinen Ausführungen lauschte. So beging man einen schweren, niemals wieder gut zu machenden Fehler. Denn auch hier hat 6*
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nur Demosthenes das Richtige klar erkannt. Aber es gibt noch einen zweiten Grund zu hoher Wertschätzung dieser Rede. Die historischen Vorgänge selbst, um die es sich dabei handelte, haben zwar für die Nachwelt nur ein geringes Interesse. Aber die Gedankenarbeit, zu der sie den Geist des Demosthenes aufstachelten, ist von bleibendem Wert durch die allgemeinen politischen Lehren, die er an dem Fall entwickelt. Die Rede ist daher eine hohe Schule des politischen Denkens für die Nachwelt geworden und hat durch die Übertragung ihrer Grundgedanken auf die größeren modernen Verhältnisse die Politik Europas in der neueren Zeit maßgebend beeinflußt. Überhaupt wäre es ja kurzsichtig, die Geschichte der Griechen zu verachten, weil sie sich in kleinen Verhältnissen abspielte. Es kommt niemals auf die räumlichen und zahlenmäßigen Dimensionen an, sondern die Bedeutung liegt in der Kraft, mit der das Leben gelebt wird, und in der Tiefe der Erkenntnisse, die das Geschehen im Menschengeiste weckt. Von diesem Gesichtspunkte aber gibt es wenig, was sich mit der Geschichte der Griechen vergleichen läßt. Für Sparta sprach in erster Linie die Tatsache des Bündnisses, die seit den Einfallen des Epaminondas in den Peloponnes geleistete athenische Waffenhilfe, der Haß gegen Theben und die Furcht vor seiner weiteren Ausdehnung, während man von selten Spartas nichts befürchtete, da man es für zu sehr geschwächt hielt. Auch hatten seit dem Beginn der thebanisch-phokischen Auseinandersetzung Athen und Sparta von vornherein die Partei der phokischen Tempelräuber ergriffen. 32 Gegen Phokis lag zwar vom heiligen Rat der Amphiktyonen zu Delphi ein feierliches Urteil vor, aber jedes Kind wußte, daß in diesem heiligen Rat die Thebaner über eine sichere Stimmenmehrheit verfügten, er war also nur das Organ ihrer Übermacht in Mittelgriechenland, deren Bekämpfung stets der Zweck des spartanischathenischen Zusammengehens gewesen war. Andererseits war nicht zu leugnen, daß die Befürworter einer Intervention zugunsten der Arkader sich auf Sinn und Wortlaut
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der von Sparta, Athen und ihren Bundesgenossen einst beschworenen Verträge über Wahrung der einzelstaatlichen Autonomie stützen konnten, also gerade auf denjenigen prinzipiellen Punkt, um dessentwillen sich Athen angeblich auf dem Friedenskongreß zu Sparta von Theben getrennt hatte. Jetzt war es Sparta, das gegen diesen Autonomieparagraphen verstoßen wollte. Es war auch leicht zu zeigen, daß Sparta nur deshalb gegen Arkadien vorging, weil Messenien gegen einen spartanischen Angriff durch seinen Defensiwertrag mit Athen geschützt war und ein Angriff gegen diesen Staat Sparta in Konflikt mit Athen gebracht hätte. Daß aber die messenische und die arkadische Frage von gleicher Art waren und schon der Defensivvertrag mit Messenien ein Wiederabriicken Athens von Sparta bedeutete, lag auf der Hand. Eine Begünstigung der spartanischen Gelüste auf Arkadien war also eine Inkonsequenz, und hatten die Spartaner erst einmal Arkadien, würden sie dann noch vor der Wiedereinverleibung Messeniens zurückschrecken ? War also dann nicht Athen auf jeden Fall gezwungen, gegen Sparta aufzutreten ? In diesem Falle war es naturgemäß vorteilhafter für Athen, auch die Arkader auf seiner Seite zu haben. Demosthenes sucht gegenüber diesem Dilemma einen festen Standpunkt einzunehmen, wie er in der Einleitung und im Schlußwort seiner Rede ausdrücklich hervorhebt. Nachdem die athenischen Spartanerfreunde und Arkaderfreunde gesprochen haben, will er nicht nur der Sprache, sondern auch der Sache nach einmal attisch reden. Die Stimmungsgründe sprechen sei es für Sparta, sei es für Theben, ohne daß man sich nüchtern fragt: was fordert das Interesse Athens? Auf die Masse macht Eindruck vor allem das sentimentale Argument, man dürfe die Waffenbrüder von Mantinea nicht verraten, sondern müsse ihnen die Treue halten. Demosthenes hält das für eine faule Moral. Auch er ist für Treue, solange die Waffenbrüder ihren Verpflichtungen vertragsgemäß nachkommen. Allein das Bündnis mit Sparta sieht Waffenhilfe nur im Verteidigungsfalle vor. Unprovozierte Angriffe Spartas braucht Athen auch nicht einmal
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moralisch zu unterstützen. Wer den Vertrag als Basis beibehalten will, muß seinem Geist nach sogar für Intervention zugunsten der Aufrechterhaltung des Friedens im Peloponnes stimmen. Man beachte wohl, daß Demosthenes nicht etwa pathetisch erklärt: wir wollen lieber das Bundesverhältnis brechen als eine Vergrößerung der spartanischen Macht dulden, sondern klar den Rechtsstandpunkt wahrt, wie er es schon in der Symmorienrede hinsichtlich der Frage Verteidigung oder Angriff tat. 33 Er veranschlagt die Bedeutung der völkerrechtlichen Korrektheit sehr hoch. Man könnte Bismarcks Stellung in der schleswig-holsteinischen Frage vergleichen, wo die Politiker des deutschen Herzens für aufrichtigen Bruch der Londoner Deklaration waren, während der Staatsmann Bismarck es lieber den Dänen überließ, diesen Vertrag zu verletzen, um sich Europa gegenüber den Rücken zu decken und seinen guten Ruf zu wahren. Auch Demosthenes urteilt über den politischen Wert des formalen Rechts genau umgekehrt wie die übliche bürgerliche Moral, die das Schwergewicht rein politischer Begriffe und Stipulationen meist unterschätzt und die Freundschaft mit einem anderen Volk als eine Herzenssache anzusehen geneigt ist. Demosthenes gibt hier ein vorzügliches Beispiel dafür, was ein ausgebildetes politisches Denken im Sinne seiner Zeit ist. Man kann nicht anders als dabei an die Parallelität der gleichzeitigen Geistesentwicklung in der Philosophie denken, wenn man zu Anfang seiner Deduktion das Axiom aufgestellt findet: man müsse ausgehen von allgemein zugestandenen Sätzen, um daraus das zu Findende abzuleiten. 34 Natürlich hängt die Bedeutung eines Politikers nicht nur von seiner grundsätzlichen Klarheit und von der formalen Sauberkeit seines Denkens ab. Er kann aus einer richtigen Hypothesis — wie Isokrates diese allgemein zugestandenen politischen Sätze einmal nennt, 35 von denen Demosthenes spricht — auch falsche Folgerungen ableiten. Es scheint mir aber eine unumgängliche Forderung für die Beurteilung der Politik dieser Zeit, daß man ihre geistige Struktur und ihren Denkapparat zunächst einmal richtig erkennt, um ihren Operationen folgen
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zu können. In der wissenschaftlichen Literatur finde ich darüber nichts bemerkt, so daß man sich des Verdachts kaum erwehren kann, daß man diesen ganzen Bereich griechischen Denkens nicht immer mit dem nötigen Sachverständnis behandelt hat. Das nicht weiter des Beweises bedürfende Axiom, das Demosthenes als Ausgangspunkt nimmt, ist das Interesse Athens. Weder die Sympathie für die „Waffenbrüder" noch die „Treue" noch die geschriebenen Verträge dürfen für den Staatsmann starre Normen werden. Die Freundschaft mit Sparta war der Idee des Gleichgewichts entsprungen, wie sie zuerst Kallistratos angesichts des Aufstiegs der Thebaner und der neuen Dreimächtegruppierung in Griechenland für Athen zwingend formuliert hatte. Aber auch diese Politik konnte verderblich werden, wenn das Zusammengehen mit Sparta zumfeststehenden System wurde. Demosthenes hält den Zeitpunkt für gekommen, die athenische Bundespolitik von neuem an ihrem Prinzip zu überprüfen. Für ihn sind Bündnisse und Verträge nicht willkürliche Erzeugnisse diplomatischer Kunstfertigkeit. Sie haben nur soviel Wert und bieten nur so lange Gewähr, als sie der objektive Ausdruck der realen Interessen und des tatsächlichen Schwergewichts der Dinge sind. Jeder Vertrag wird durch die Verschiebung der realen Verhältnisse, deren völkerrechtlicher Ausdruck er war, innerlich wertlos und eine bloße. Formalität, die im Ernstfall die Belastungsprobe nicht besteht. Nicht der Buchstabe der Verträge, sondern das Schwergewicht der Interessen ist es, was die politische Freundschaft zwischen den Völkern stiftet. 36 Diesen Satz hält Demosthenes den Politikern entgegen, die entweder mechanisch an dem Bündnis mit Sparta festhalten, oder aber die Zuverlässigkeit der hilfesuchenden Arkader deshalb bezweifeln, weil sie dem Buchstaben der Verträge nach noch mit Theben verbunden seien. Es liegt in der Natur des demosthenischen Prinzips, daß es mit einem festen Bündnissystem nicht vereinbar ist. Es wird mit Notwendigkeit zum Prinzip des Schutzes der schwächeren Staaten, für Athen nicht anders als in der Neuzeit für England. Es braucht durchaus nicht moralisch aufgefaßt zu wer-
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den, jedenfalls liegt dies dem Demosthenes ganz fern. Für Athen wie für England ergab es sich mit zwingender Logik aus ihrer Stellung als Seemacht gegenüber den Landmächten als der archimedische Punkt, von dem aus sie versuchen konnten, die übrige Welt zu bewegen. Es ist ein englischer Politiker, Lord Brougham, ein großer Verehrer der politischen Begabung des Demosthenes, der in dieser Rede den obersten Grundsatz zum erstenmal entwickelt findet, 37 den England gegenüber den Staaten des europäischen Kontinents seit Jahrhunderten angewandt hat und dessen konsequenter Befolgung es zu einem wesentlichenTeile seine Macht verdankt: den Grundsatz von der balance of power. Absolut neu war der Gedanke nicht, wie wir bereits feststellten. 38 Schon Kallistratos hatte ihn angewandt. Demosthenes hat ihn nur mit klarem Bewußtsein von neuem erfaßt und für die gegenwärtige Entscheidung die Folgerungen aus ihm gezogen. Er hofft aus der Bedrückung der kleineren Staaten durch die beiden Landmächte Vorteil zu ziehen und auf loyalem Wege Bundesgenossen für Athen zu gewinnen, um aus seiner hilflosen Isolierung allmählich wieder herauszukommen. Demgegenüber glaubt er aus dem Zusammengehen mit Sparta zwar augenblickliche Vorteile, aber keinen dauernden Machtzuwachs gewinnen zu können. Vielmehr werde es nur auf ein Wettrennen Spartas und Athens um die Wiedergewinnung ihrer verlorenen Hegemonie hinauslaufen. Lasse man jetzt Sparta zu stark werden, so werde man bald selbst Theben retten müssen,39 dem man jetzt noch in blindem Hasse jede Schwächung wünsche, ohne an den eigenen Vorteil zu denken. Die Stellungnahme für die unbeliebte Partei wird dem Demosthenes noch dadurch erschwert, daß die Spartaner die Formel anbieten, den status quo ante herzustellen (2 ), was für Athen die Hoffnung auf Wiedergewinnung des an die Thebaner verlorenen Grenzortes Oropos einschloß. Aber erstens konnten auch die Spartaner Oropos nicht verschenken, und es war nicht anzunehmen, daß sie für Athen die Kastanien aus dem Feuer holen würden. Für diese unsichere Anwartschaft aber wollten sie sich die Neutralität Athens sichern,
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nicht nur für den Fall des Angriffs auf die Arkader, sondern entsprechend der durchsichtigen Allgemeinheit ihrer Formulierung auch für den Fall, daß Sparta sich Messenien wiederholen würde. Sie verlangten mit anderen Worten im voraus eine verhüllte Garantie Athens, daß es gegebenenfalls Sparta zuliebe auch zum Bruch seines Vertrages mit Messenien bereit sei. Dadurch daß er diese Eventualität so deutlich wie möglich als die Folge der Annahme des spartanischen Angebots hinstellt, sucht Demosthenes die Athener über Oropos zu trösten. Dabei zeigt er sich auch in der Kunst der diplomatischen Retuschierung auf der Höhe. Wo immer er genötigt ist, der herrschenden Ansicht zu widersprechen — und das ist das Los fast jedes wirklichen Politikers — weiß er doch zugleich die Lieblingsstimmung der Masse schonend zu behandeln. Wie seine Parole in der Svmmorienrede nicht nur einfach lautete: keinen Krieg, sondern: noch keinen Krieg! so sagt er hier nicht: laßt Oropos fahren, sondern: unter solchen Bedingungen wollen wir lieber selbst auf Oropos noch länger warten! Die Arkader wurden trotz der Fürsprache des Demosthenes abgewiesen. Die Folge war, daß sie Anschluß an einen Feind Athens, König Philipp von Makedonien suchten, 4° an dem sie auch später immer festhielten, und der dadurch so oft er wollte Gelegenheit fand, sich in die inneren Verhältnisse Griechenlands einzumischen. Das beweist die Richtigkeit des Rates des Demosthenes. Man kann nicht im Ernst behaupten, daß die Befolgung von Demosthenes' Rat Athen der Gefahr eines Krieges mit Sparta ausgesetzt hätte. Für einen solchen war Sparta viel zu schwach. Aber auch wenn man aus Furcht vor Theben Arkadien preisgab, war dies eine falsche Berechnung. Das Bündnisangebot der Arkader war eine verpaßte Gelegenheit. Die schweren Niederlagen des zur Zeit der Megalopohtenrede noch so sehr gefurchteten Theben im Kriege gegen die Phoker rückten bald den Augenblick näher, wo auch die Neuorientierung Theben gegenüber, wie sie hinter dieser Rede bereits als Programm des Demosthenes auftaucht, in einem anderen Licht erscheinen mußte.
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Auch in der Rede für die Freiheit der Rhodier sehen wir den beherzten Schwimmer weiter gegen die herrschende Strömung kämpfen. Diese Rede stellt sich nicht nur zeitlich v zu der für die Megalopoliten, sondern setzt ihre Politik fort, Athens Isolierung zu überwinden durch eine mit Auswahl und Vorsicht den Anschluß suchenden Staaten dargebotene Hilfe. Die Dynastie des Mausolos von Karien hatte sich in dem Bundesgenossenkrieg durch die Unterstützung der abtrünnigen Bundesgenossen Athens als dessen gefährlicher Feind im Südosten des ägäischen Meeres erwiesen. Eine karische Dynastie hatte es schon lange als Vasallen des persischen Großkönigs gegeben, aber in der Zeit der Auflösung des persischen Reichs im IV. Jahrhundert hatte sie unter Mausolos eine gesteigerte Bedeutung gewonnen. Das im Südwesten Kleinasiens in Halikarnassos residierende halb hellenisierte Fürstengeschlecht, von dessen Selbstgefühl seine großartige Bautätigkeit Zeugnis ablegt, vergleicht sich am besten mit einigen ähnlichen Erscheinungen derselben Jahrzehnte wie mit dem König von Cypern Euagoras, dem Gönner des Isokrates, und Hermias, dem Fürsten von Atarneus im Norden Kleinasiens, dem Freunde des Aristoteles. Sie alle suchen sich von der persischen Zentralmacht möglichst unabhängig zu machen und ihre Einflußsphäre auf die benachbarten griechischen Inseln und Küsten auszudehnen. Mausolos hatte in machiavellistischer Verschlagenheit erst die mit Athen verbündeten Seestaaten Chios, Kos und Rhodos zum Abfall vom Seebund verlockt, um sie nach dem Erliegen Athens in der Vereinzelung desto leichter zu überwältigen. Es ist das gleiche Verfahren, das der Makedone Philipp wenig später gegen Olynth anwandte. Rhodos zumal das der karischen Südküste vorgelagert war, erschien dem Mausolos als ein unentbehrliches Bollwerk, und nachdem er es zuerst für klüger gehalten hatte, durch geheime Beziehungen zu den Oligarchien der Insel einen indirekten Einfluß auszuüben, ließ er schließlich seine Maske fallen und ließ die Demokratie in Rhodos, in Mytilene auf Lesbos und in Chios stürzen. Was blieb jetzt den Vertriebenen anderes übrig, wenn sie je wieder heimkehren und zur
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Macht kommen wollten, als in eben jenem Athen Zuflucht zu suchen, von dem sie vor kurzem abgefallen waren? Jedenfalls ist die Situation unserer Rede die, daß eine Abordnung der verbannten rhodischen Demokraten in Athen eingetroffen ist, und die Leidenschaften in der Volksversammlung wogen hin und her zwischen gehässiger Schadenfreude gegen die Verräter, die das Unglück Athens und die Auflösung seines Seebundes verschuldet haben, und der Furcht vor dem weiteren Umsichgreifen der karischen Barbaren, die im Besitz von Kos und Rhodos den attischen Handel im östlichen Mittelmeer und im Südosten der Ägäis an sich zu reißen drohen. Die maßgebenden Führer in Athen stehen nach wie vor auf dem Boden der Nichtintervention. Der Perserkönig hatte noch 354 mit großen Rüstungen gedroht, und man fürchtete, ein Konflikt mit Karien könne zu Verwicklungen mit dem persischen Reich fuhren. Und wieder setzt sich Demosthenes mit den Nichtinterventionisten in unnachgiebiger Zähigkeit auseinander und sucht zu zeigen, daß sich hier für Athen eine Chance biete, die es nicht ungenützt lassen dürfe, um aus der gegenwärtigen Stagnation der außenpolitischen Lage herauszukommen. Wie zwischen dem Standpunkt des Demosthenes in der rhodischen und in der arkadischen Frage ein unverkennbarer Zusammenhang besteht, ebenso läßt die Haltung der ausschlaggebenden Persönlichkeiten, die diesen Standpunkt ablehnen, eine innere Konsequenz durchscheinen. Es mußte in der Tat sehr schwer zu entscheiden sein, ob und wann das geschwächte Athen wieder daran denken könne, aus seiner erzwungenen Passivität Schritt für Schritt herauszutreten und seinen Einfluß zu steigern, ohne sich mit einem zu großen Risiko zu belasten. Wir werden nach so vielen Jahrhunderten mit unserem Urteil erst recht zurückhalten müssen, und doch beginnt das geschichtliche Verstehen erst dort wirklich lebendig für uns zu werden, wo wir gleichsam wieder in die ursprüngliche Situation des Handelnden und seiner verantwortlichen Entscheidung versetzt werden. Wir wollen es an Hand der Rede des Demosthenes versuchen.
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Fassen wir Demosthenes konsequent als den primär außenpolitischen Denker auf, wie es sein Auftreten in den beiden ersten Reden nahelegt, so werden wir begreifen, weshalb er in dem Hilfsgesuch der von Mausolos hintergangenen rhodischen Demokraten eine nicht wiederkehrende Gelegenheit sehen mußte, die wichtigsten Inselstaaten wiederzugewinnen und damit den Grundstein zur Erneuerung des Seebundes zu legen. Das Verbindende, das die Rhodier zu Athen hinführte, war die gemeinsame demokratische Staatsform, die Athen von jeher zum festen Rückhalt aller demokratischen Städte gemacht hatte. Seit mehr als einem Jahrhundert war dies die Grundlage seiner Bündnispolitik' gewesen, und die Frage der Staatsform war für viele Städte schon längst in der Hauptsache nur noch eine Frage der Bündnispolitik geworden. Sparta hatte nach dem peloponnesischen Kriege allenthalben seine oligarchischen Zehnmännerregierungen eingeführt, um die Leitung der großen Masse der kleinen Staaten zu erleichtern, und umgekehrt war es das historische Erbe Athens, die Demokratien zu schützen. Mochte die innenpolitische Strömung nach dem verlorenen Bundesgenossenkrieg in den Gesellschaftskreisen des Demosthenes und Eubulos noch so entschieden für eine Beschränkung des Einflusses der Masse und der Demagogen sein, so war es doch ganz unmöglich, athenische Außenpolitik mit irgendeiner Aussicht auf Erfolg zu treiben, ohne die demokratische Ideologie in ihren Dienst zu stellen. Eben dies geschieht in der Rede für die Freiheit der Rhodier. Und so sehen wir in dieser Rede Demosthenes, dessen Gentlemanallüren wir in den Reden gegen Leptines, über die Symmorien und für die Megalopoliten als seine innerste Natur erkannten, plötzlich als Volksmann an die demokratischen Instinkte appellieren und mit seiner angeborenen agitatorischen Kraft die Wirkung dieser viel mißbrauchten Schlagworte auf die Menge erproben, um sie für sein aktuelles außenpolitisches Ziel zu begeistern, v Dieser Wechsel der Haltung erfordert natürlich eine Erklärung. Aber weder liegt hier ein wirklicher innerer Bruch vor, den wir nur durch die Annahme eines plötzlichen Parteiwechsels erklä-
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ren könnten, wie man es tun zu müssen geglaubt hat, noch zwingt uns die starke Betonung der demokratischen Interessen in dieser Rede, nun doch zu der früher üblichen Auffassung zurückzukehren, die Demosthenes' Politik von Anfang an aus einer festen Parteidoktrin ableitete und ihn zum Helden eines lebenslänglichen Kampfes für die demokratische Freiheitsidee machte. Diese letztere Auffassung moralisiert ihn in ungeschichtlicher Weise und verengt ihn zugleich. Sie macht uns unfähig, die Tatsache zu sehen und zu verstehen, die wir an der Symmorienrede aufgezeigt haben, daß Demosthenes, soweit er überhaupt von einer bestimmten Partei herkam, ursprünglich einer Gruppe von Politikern nahegestanden hat, die den radikalen demokratischen Einfluß heftig bekämpfte. Es ist eben nicht richtig, wie man es früher allgemein getan hat und auch jetzt noch vielfach tut, die hohe Idee von griechischer Freiheit, an die der Redner später in seiner Auseinandersetzung mit der Gefahr der makedonischen Fremdherrschaft naturgemäß appelliert hat, schon in seine frühesten Reden hineinzutragen. Erst im Kampf gegen die „Tyrannis" der makedonischen Eroberer erhält diese Idee für Demosthenes ihre echte Farbe und Bedeutung als ein hohes Gut der Nation. Damals hat er in der Tat immer wieder versucht, die gleichgültige Masse durch den Appell an ihre Freiheitsliebe für den Entschluß zum Kriege innerlich reif zu machen. Auch da stand allerdings diese Freiheitsparole für ihn durchaus im Dienst seiner äußeren Politik, doch in dieser späteren Zeit ist sie wirklich ein wesentlicher Bestandteil seines Bildes der Wirklichkeit geworden, in dem Griechentum und Makedonentum politisch, geistig und moralisch zwei möglichst kompakte und unversöhnliche Gegensätze bilden. In der Rede für die Freiheit der Rhodier ist die Berufung auf das gemeinsame Interesse der demokratischen Staaten noch weit entfernt von diesem sittlichen und nationalen Pathos der philippischen Reden. Sie ist hier bloß ein Instrument der kühlsten athenischen Interessenpolitik. Das wird durch nichts besser illustriert als durch die Tatsache, daß Demosthenes mit seinem unsentimentalen Eintreten für die Rhodier,
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die vor kurzem erst die athenische Schwesterdemokratie an den König von Karien verraten haben, ausdrücklich in Gegensatz tritt zu der Partei der wirklichen athenischen Gesinnungsdemokraten, die von Schadenfreude und Rachsucht gegen die jetzt unglücklichen Rhodier erfüllt sind und von deren Wiederanschluß an Athen nichts wissen wollen. Aber fur Demosthenes ist dies keine Frage des Gefühls und der demokratischen Grundsätze, sondern nur eine Frage der Politik, und das bedeutet in dieser Zeit für ihn lediglich eine Sache der klaren machiavellistischen Berechnung. Aus solch außenpolitischer Berechnung kommt er dazu, den athenischen Demokraten so stark zu opponieren und anderseits mit Gründen zu arbeiten, die so unmittelbar und zielsicher auf ihre Parteiinstinkte abgesehen sind, als spreche hier ein Redner ihrer eigenen Partei. In Wahrheit will Demosthenes nur verhindern, daß seine außenpolitischen Gegner, die grundsätzlichen Nichtinterventionisten, die schlechten Instinkte der Masse, ihre Schadenfreude und Rachsucht, dazu ausnutzen, um das Volk weiterhin von jeder außenpolitischen Aktivität fernzuhalten. Wir verstehen den Gebrauch, den er von den demokratischen Schlagworten hier macht, erst richtig, wenn wir uns vorstellen, wie geschickt Eubulos und seine Anhänger in diesem Fall nach alter Gepflogenheit der oligarchischen Opposition die gleichen demokratischen Schlagworte angewandt haben werden, um das Gegenteil zu erreichen und eine Aktion im Sinne des Demosthenes zu verhindern. Beide sich bekämpfenden Richtungen haben auch hier z. T. ganz andere Gründe ihres Handelns, als die Argumente es vermuten lassen, deren sie sich der Menge gegenüber bedienen. So war es in den vorhergehenden Reden, und es liegt kein Grund vor zu der Annahme, daß sich in der Rhodierrede daran irgend etwas geändert hätte. Denn das scheint mir jedem Zweifel entrückt, daß hier nicht plötzlich ein Parteiwechsel im weltanschaulichen Sinne dieses Wortes mit Demosthenes vorgegangen ist. Es ist eine seltsam primitive Vorstellung vom Wesen eines Staatsmannes, als könne er plötzlich von der illusionslosen Höhe politischer Erkenntnis
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herabsinken und zum unkritischen Nachbeter der allgemeinen Schlagworte der Masse werden. Die ungeheure und fast unheimliche Bewußtheit im Einsatz der Mittel, die wir in den ersten Reden kennengelernt haben, schließt eine solche Deutung des Sachverhalts vollkommen aus. Demosthenes sieht vor sich in greifbarer Nähe die Möglichkeit, die rhodische Volkspartei mit politischer, unter Umständen auch militärischer Unterstützung durch athenische Schiffe in ihre Heimat zurückzuführen und die Oligarchen in Rhodos zu stürzen. Denn inzwischen ist der König Mausolos in Karien gestorben und eine Frau, Artemisia, jüngst seine Nachfolgerin geworden. 43 Sie wird sich vor einem Kriege hüten, der König von Persien aber ist mit dem aufständischen Ägypten voll beschäftigt und wird Athen nicht hindern können, sich von der Zerstückelungspolitik loszusagen, zu deren Opfer der König es im letzten Friedensschlüsse gemacht hat. Auf die gestürzten Demokratien in Mytilene und Chios wird das wie ein Signal wirken, und Athen wird dann den Perserkönig vor die fertige Tatsache eines neuen Seebundes stellen. Demosthenes mußte das Gegenargument erwarten, daß er in der Symmorienrede anders gesprochen und davor gewarnt habe» den persischen Koloß zu reizen. Das war ohne Zweifel wahr, wenn es auch vielleicht weniger ein selbsterrungener Standpunkt als eine äußerst geschickte Vertretung der Gedanken des Eubulos gewesen war, und er mußte irgendwie dazu Stellung nehmen. Er tut es sogleich im Eingang der Rede, indem er erklärt, schon damals habe er geraten sich keine neuen Feinde auf den Hals zu laden, sondern die vorhandenen abzuwehren. 44 Sein jetziger Vorschlag sei also „durchaus konsequent". Seine Formel lautet: Aktion für die Rhodier „ohne den Vertrag mit Persien aufzuheben". 45 Diese Einschränkung mag man ernst nehmen oder für einbloß taktisches Manöver halten: unverkennbar ist, daß Demosthenes zur Zeit dieser Rede die Gefahr einer persischen Verwicklung weit kleiner sieht als Eubulos und die Regierungskreise, während diese ihm Philippos von Makedonien zu unterschätzen scheinen. Man kann nicht umhin, dabei an Isokrates*
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Bemerkungen über Philipp ein paar Jahre zuvor in der Rede über den Frieden zu denken, in der er wahrscheinlich den Ansichten des Kreises um Eubulos ziemlich nahe kam. Philipp, so hatte er dort erklärt, würde mit Athen nicht länger um den Besitz von Amphipolis streiten, wenn Athen grundsätzlich seine imperialistische Politik aufgeben würde. 46 Dieser Illusionismus ist der rechte Hintergrund, auf dem Demosthenes' Befürchtung in semer Rhodierrede hinsichtlich der wahren Absichten Philipps verständlich wird. Blitzartig taucht dieser Gedanke auf, um sogleich wieder zu verschwinden. *7 Aber niemand kann bezweifeln, daß er bereits als wesentlich bestimmendes Motiv hinter den Ausführungen zur Rhodierfrage steht. Ein vor einigen Jahrzehnten neu entdeckter Papyrus, der uns den Kommentar des Didymos zu den philippischen Reden zum Teil wiedergeschenkt hat, enthält ein Stück aus einer Rede des athenischen Politikers Philokrates, das der verlorenen Geschichte dieser Zeit von Theopomp entnommen ist. Der Redner schildert die ungünstige Lage Athens in einem offenbar etwas späteren Zeitpunkt: die Böoter und Megarer sind Athen feindlich gesinnt, der Peloponnes hält teils zu Sparta teils zu Theben, die Chier und Rhodier und ihre Bundesgenossen aber sind mit uns verfeindet und unterhandeln mit Philipp um den Abschluß eines freundschaftlichen Einvernehmens. 48 Es vollzieht sich also hier dasselbe wie mit den von Athen abgewiesenen Arkadern: entweder man überläßt sie ihren Unterdrückern oder sie werden Philipp in die Arme getrieben. So stehen die Seebundspolitik und die peloponnesische Frage mit dem Problem des Nordens in Verbindung, der sich zu einem politischen Krisenfeld ersten Ranges zu entwickeln droht. Diese Hintergründe, die unsere Rede nur an einer Stelle, wenn auch mit auffallender Heftigkeit, andeutet, werden sich uns in der nächsten Rede enthüllen. Wir durchschauen nicht klar, wie die Beziehungen des Demosthenes zu seinen früheren Kampfgenossen unter Eubulos um die Zeit der Rhodierrede sich gestaltet hatten. Aber die Kritik an der Passivität der maßgebenden Führer steigert sich hier zu harten Vorwürfen und bitterer Ironie und
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verrät einen Grad der Spannung, der den völligen Bruch mit ihnen erwarten läßt, wenn er nicht schon erfolgt ist. Die letztere Annahme würde den gefühlsmäßigen Appell an das Volk, der in dieser Rede so vernehmlich hervorbricht, besonders verständlich machen. Demosthenes ist gezwungen, sich eine neue Position zu schaffen, da er sich an die herrschende Gruppe seiner eigenen Schicht nicht mehr anlehnen kann. Er redet nicht mehr als ihr Vertreter und Wortführer, sondern muß jetzt versuchen, sich von ihren tauben Ohren unmittelbar an das Volk zu wenden: flectere si nequeo superos, Acheronta movebo.
J a e g e r , Demosthenes
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DIE NORDGRIECHISCHE FRAGE UND DIE ERSTE PHILIPPISCHE REDE Es gibt keine vollständigere Einführung in die Probleme der athenischen Politik während der nächsten fünf Jahre nach dem Ende des Bundesgenossenkriegs und dem Zusammenbruch des zweiten Seebundes als die ersten Staatsreden des Demosthenes. Sie sind die Zeugnisse seiner systematischen Besitzergreifung von allen Gebieten der athenischen Außenpolitik und eines raschen und intuitiven Eindringens in die sie zur Zeit bestimmenden Fragen. Zweifellos bieten sie kein erschöpfendes Material, um eine griechische Staatengeschichte dieser Jahre zu schreiben, denn eine solche dürfte nicht ausschließlich von Athen aus orientiert werden; aber wenn es sich darum handelt, den geistigen Werdegang des Demosthenes als Politiker zu erfassen, so bilden diese Reden, die uns von einem Krisenfelde der athenischen Politik zum anderen führen und dabei den Zusammenhang des Ganzen allmählich immer klarer zu Tage treten lassen, ein schlechthin unvergleichliches Material, wie wir es für keinen anderen griechischen Staatsmann besitzen. Nach der Stellungnahme des Demosthenes zur persischen, peloponnesischen und Seebundspolitik führt uns die nächste große Rede, die uns erhalten ist, zu dem nordgriechischen Problem. Es war schon in der Rhodierrede gestreift worden, zwar nur flüchtig, aber mit auffallendem Ernst und Nachdruck.1 Es sollte in Zukunft schlechthin das Problem aller athenischen und griechischen Politik werden, das Thema, dem alle weiteren Staatsreden des Demosthenes gewidmet sind. Das gibt der ersten Behandlung dieser Dinge in der Rede gegen Aristokrates ihre historische Bedeutung und sichert ihr unsere besondere Aufmerksamkeit. Die Aristocratea ist freilich keine programmatische Staatsrede wie die zuletzt besprochenen. Sie ist eine Gerichtsrede für einen jener großen politischen Prozesse, deren Typus wir in den Reden
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gegen Androtion und Timokrates kennengelernt haben. Zu diesen innenpolitischen Prozeßreden gesellt sich hier als Gegenstück eine Anklage, die durch ihren Gegenstand wie die Staatsreden des Demosthenes aus jener Zeit seine Hinwendung zur auswärtigen Politik ankündigt. Demosthenes tritt auch hier nicht selbst als Ankläger auf, er will offensichtlich seinen noch jungen Ruf als Politiker nicht unnütz aufs Spiel setzen. Es scheint ihm dabei ein bestimmtes Bild des Staatsmannes vor Augen zu stehen. Aber da es ohne das Mittel der politischen Prozesse in dieser Zeit nun einmal nicht mehr geht, weil alle sich seiner bedienen, so überläßt er es einem Vertrauensmann, den Angreifer zu spielen, und begnügt sich damit, für ihn die Anklage zu schreiben. Doch die Wahl dieses Mannes ist bezeichnend. Demosthenes nimmt dazu nicht irgend ein parteimäßig zuverlässiges, aber skrupelloses Subjekt wie seinerzeit im Kampf gegen Androtion und seine Clique, wo die Ankläger ihm einfach von Seiten seiner Partei gestellt worden sein werden, sondern einen hochachtbaren Bürger der besten Gesellschaft und früheren militärischen Kameraden, Euthykles von Thria, mit dem zusammen er am Hellespont als Trierarch kommandiert hatte. Dieser Mann konnte also die in der Rede auf dem Spiel stehenden athenischen Interessen aus eigener Anschauung sachverständig beurteilen. Der Gegensatz zur Kampfesweise der Rede gegen Androtion wird auch sofort von Demosthenes bewußt hervorgehoben. Der damals als Ankläger vorgeschobene Diodor hatte gleich zu Anfang sein Vorgehen als persönlichen Racheakt bezeichnet; die politischen Drahtzieher hatten nur seinen Vergeltungstrieb als Werkzeug für ihre Zwecke benutzt, um die verhaßte Persönlichkeit Androtions zu Fall zu bringen. Hier dagegen handelt es sich um einen Gegner von anderem Kaliber; der Ankläger verdient durchaus Glauben mit der Versicherung, daß er ausschließlich aus sachlichen Gründen handle.2 Es war unzweifelhaft das klügste für ihn, das ganz offen auszusprechen und dadurch seine Anklage von vornherein auf ein höheres Niveau zu erheben. Da war in der Tat nichts weiter zu verstecken. Diesmal handelte es sich um 7*
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einen Antrag in der Volksversammlung, den Demosthenes nicht nur für verfehlt hielt, sondern der sich außerdem als ungesetzlich erwies und dadurch besondere Angriffsflächen bot, und Demosthenes versäumte nicht gegen ihn die Handhabe der gerichtlichen Anklage zu ergreifen. Denn daß die für Euthyides geschriebene Rede nicht wie eine gewöhnliche private Gerichtsrede nur den Standpunkt des Klägers vertritt, sondern ganz und gar als politische Aktion des Demosthenes zu werten ist,3 folgt schon aus der Tatsache, daß er größere Stücke der Rede, in denen er die Regierenden angriff, auch in anderen, rein politischen Reden verwendet hat, wo er im eigenen Namen spricht.* Der Antrag des Aristokrates war freilich schon vom Rat kassiert worden, insofern konnte die ganze Angelegenheit als erledigt gelten, s Wenn Demosthenes trotzdem die Anklage auf Gesetzwidrigkeit durchführt, so hat das nicht sowohl persönliche als prinzipielle Gründe. Es muß ihm darum zu tun sein, diese wichtige Frage der äußeren Politik vor dem Volksgericht zum Austrag zu bringen und in der Behandlung der nordgriechischen Angelegenheiten durch ein Urteil eine feste Grundlage für seinen weiteren Widerstand gegen die offizielle Politik zu gewinnen. Zur Agitation gegen sie waren Prozeß und Urteil ein stärkeres Mittel als eine neue Rede in der Volksversammlung, über die man doch nur wieder zur Tagesordnung überging, wie es seinen beiden neuesten Versuchen, einen eigenen Kurs einzuschlagen, den Reden für die Megalopoliten und für die Rhodier, ergangen war. Der Antrag des Aristokrates, den Demosthenes bekämpft, enthielt ein richtiges Privilegium zum Schütze eines einzelnen Mannes. 6 „Wer den Charidemos tötet, darf aus dem ganzen Gebiet der Bundesgenossen Athens weggeführt und vor Gericht gestellt werden. Wenn aber ein Staat oder ein einzelner den Mörder der Strafe entzieht, soll er von jedem Vertragsverhältnis mit Athen ausgeschlossen sein." Der Mörder wird also fast für vogelfrei erklärt. Charidemos war ein ehemaliger athenischer Söldnergeneral, der inzwischen der Schwager und politische Berater des Königs Kersobleptes von Thrakien geworden war. Wie kamen ein-
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flußreiche Kreise in Athen auf den Gedanken, diesen Mann mit so besonderen Maßregeln zu ehren und in die Obhut des athenischen Staates zu nehmen? Name und Person des Charidemos bedeuten hier selbstverständlich ein politisches Programm. Der Grundsatz, den Athen gegenüber dem halbzivilisierten Stamm der Thraker an der Nordküste des ägäischen Meeres von jeher befolgt hatte, um sie zu beherrschen, war: divide et impera. Die Thraker waren für die Kriege Athens brauchbare Hilfskräfte, und im Frieden war ihr Land ein unverächtliches Betätigungsfeld für den attischen Handel. Die unausgesetzten Thronstreitigkeiten der thrakischen Fürsten machten es Athen leicht, durch gelegentliche Intervention im Norden mit geringem Aufwand von Kräften seine Vormachtstellung zu wahren. Diese Tradition aus der Blütezeit seiner Seeherrschaft setzte sich auch in der Periode ihres Niedergangs während der 50er Jahre des IV. Jahrhunderts noch fort, als nach dem Tode des tatkräftigen und verschlagenen Odrysenkönigs Kotys, der Athen viel zu schaffen gemacht hatte, dessen Söhne Kersobleptes, Berisades und Amadokos sich in die Herrschaft Thrakiens teilten. Sie gerieten bald miteinander in Streit und bemühten sich um die Wette um die Gunst Athens. Der Grieche Charidemos, der früher aus athenischen Diensten in die des Königs Kotys übergegangen und sogar sein Schwiegersohn geworden war, hatte als der gegebene Mittelsmann zwischen Athen und seinen drei regierenden Schwägern diesen den Rat erteilt, den thrakischen Chersonnes an Athen zurückzugeben, den König Kotys ihm mit Erfolg streitig gemacht hatte, jene schmale Halbinsel am europäischen Ufer des Hellespont, von deren griechischen Städten aus Athen von jeher diese hochwichtige Schlüsselstellung am Eingang des Marmarameers beherrscht hatte. Von dem Besitz des thrakischen Chersonnes hing für Athen die Zufuhr des Getreides aus dem Schwarzen Meere ab und damit die gesamte Ernährung seiner Bevölkerung. Der vorübergehende Verlust dieses Bollwerks seiner überseeischen Machtstellung hatte das beängstigende Bewußtsein von der Bedrohtheit dieses Punktes in Athen hinterlassen. Was sollte z. B. werden, wenn einmal
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ein Athen feindlich gesinnter Thrakerkönig stark genug sein würde, die Griechenstädte auf dem Chersonnes ihrer Freiheit zu berauben und seine Hand auf diesen Stützpunkt zulegen? Es war durch die widrigen Passatwinde im Archipelagos Monate lang unmöglich, Schiffe und Truppentransporte dorthin zu werfen, oder doch nur unter erheblichen Schwierigkeiten. Währenddessen konnte man Athen aushungern. Ein wirksamer Schutz dagegen war natürlich nur eine starke Flotte, aber so lange es sie noch nicht gab, mußte man froh sein, mit den mächtigen thrakischen Nachbarn des Chersonnes auf möglichst freundschaftlichem Fuß zu bleiben. Es war die Rechnung der maßgebenden Kreise Athens, die hinter dem Antrag des Aristokrates standen, sich diesen Einfluß dadurch zu erhalten, daß sie den Charidemos durch so ungewöhnliche Ehrungen für Athen interessierten. Damit „setzten" sie auf König Kersobleptes, dessen spezieller Freund und Vertrauter Charidemos war und dessen Reich unmittelbar an den Chersonnes grenzte. Charidemos hatte ihnen unter der Hand versprochen, auch die an König Philipp von Makedonien verlorene Hafenstadt Amphipolis an der Mündung des Strymon den Athenern wiederzuverschaffen, und hatte dafür wohl seine Bedingungen gestellt, und athenische Staatsmänner mochten sich damals noch der Täuschung hingeben, so leichten Kaufes wieder in den Besitz dieses Zankapfels zwischen Athen und Philipp gelangen zu können. Der Zusammenhang der thrakischen Angelegenheit mit der makedonischen Politik war also sehr eng. Aber wer waren diese offenbar einflußreichen politischen Kreise in Athen, deren thrakisch-makedonische Pläne Demosthenes mit seiner Anklage gegen den Antrag des Aristokrates durchkreuzen wollte ? Die Namen der Hintermänner des Aristokrates bleiben in der Rede in schonendem Dunkel. Dieses bewußte Schweigen hat den modernen Forschern Anlaß zu einem Wettlauf im Rätselraten gegeben. Nach der neuesten paradoxen These stände Demosthenes in der Aristocratea noch immer wie in der Symmorienrede im Dienst der Politik des Eubulos.? Sein Vorschlag laufe
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auf eine unblutige Lösung der nordgriechischen Frage hinaus, sei also den pazifistischen Grundsätzen des Eubulos gemäß. Aber andererseits kann man die von Demosthenes bekämpfte Politik, die zu dem Antrag des Aristokrates geführt hatte, nicht gerade als kriegerisch bezeichnen. Aus diesem Grunde kann das Kriterium der Nichtintervention, die für Eubulos' Außenpolitik im allgemeinen symptomatisch ist, in diesem Falle nicht angewandt werden. Die Rede ergeht sich in auffallend langen Tiraden gegen den übermächtigen Einfluß einzelner Politiker, deren großartige Paläste und ausgedehnter Besitz an Ländereien in agitatorischen Farben geschildert werden.8 Das würde man in jedem Falle am wahrscheinlichsten auf Leute vom Typus des reichen Bankmanns Eubulos beziehen, aber es kommt hinzu, daß diese agitatorische Partie der Rede sich in der dritten olynthischen Rede beinahe wörtlich wiederholt. Daß dort Eubulos der Angegriffene ist, hat seit dem Altertum noch niemand bezweifelt. Die Parallele der wiederholten Verwendung desselben agitatorischen Klischees in den Reden gegen Androtion und Timokrates im Kampfe gegen Androtion drängt sich auf. Offenbar hat Demosthenes von den Methoden, die er unter Eubulos' Führung gelernt hatte, gegen diesen selbst Gebrauch gemacht, als er sich von ihm trennen mußte, und die Vorgeschichte des Sturmangriffs gegen die auswärtige und finanzielle Politik des Eubulos in der dritten olynthischen Rede reicht bis in die Aristocratea zurück. So scharfe und aggressive Töne hatte die rein sachliche Auseinandersetzung mit ihm in der Megalopoliten- und Rhodierrede noch nirgendwo angeschlagen. Wer die Aristocratea als noch im Dienst des Eubulos geschrieben ansieht, müßte zunächst einmal das ganz Unglaubhafte glaubhaft machen, daß Demosthenes die Waffe dieser Polemik zuerst in der Aristocratea gegen Eubulos' Gegner geschmiedet und sie später in den olynthischen Reden wörtlich gegen Eubulos selbst verwendet habe. Auf der anderen Seite kann ich hier wie schon für die Rhodierrede nicht zugeben, daß Demosthenes — wie eine andere Gruppe von Gelehrten annimmt — in der Rede gegen Aristokrates als
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Sprecher der radikalen Demokraten auftritt, also einen Parteiwechsel vollzogen hat. 9 Zwar bekämpft er heftig den übertriebenen Personenkult der neuesten Ära der attischen Demokratie, angeblich aus demokratischen Grundsätzen, und über die politischen Verdienste von ausgezeichneten Männern wie Iphikrates, Chabrias, Timotheos, die er noch in der Rede gegen Leptines in den Himmel erhoben hatte, urteilt er in der Aristocratea völlig anders. Aber das bedeutet keineswegs einen Wandel der Gesinnung oder auch nur der äußeren Parteiangehörigkeit, sondern ergibt sich in dieser Rede mit rhetorischer Folgerichtigkeit aus ihrer Tendenz der Bekämpfung der für Charidemos geplanten Ehrung.I0 Denn abgesehen von der persönlichen Unwürdigkeit des zu Ehrenden, die Demosthenes wirkungsvoll schwarz in schwarz malt, sucht er auch grundsätzlich zu beweisen, daß jede übertriebene Ehrung einzelner dem Geist eines demokratischen Staatswesens widerspreche, und daß Athen in dieser Beziehung in letzter Zeit leider schon oft viel zu weit gegangen sei. Dieses überraschende Zugeständnis an die Denkweise der Masse, die Demosthenes in der Rede gegen"Leptines als niedrig und banausisch getadelt hatte, hat seine durchaus erealpolitischen' Gründe. Da er den mächtigen Eubulos nicht gewinnen kann, sucht er das Volk durch Gründe, die der Psychologie des Neides und der Furcht entnommen sind, gegen dessen Pläne einzunehmen. Das ist die gleiche Taktik des inneren Kampfes wie in der Rede für die Freiheit der Rhodier. Sie drängt ihn im weiteren Verlauf immer mehr dazu, sich gegen Eubulos auf das Volk zu stützen. Nicht um seinen Übertritt in eine historisch gegebene Partei handelt es sich dabei, sondern um einen Kampf in zunächst vollkommen isolierter Stellung, der auf die Dauer zur Bildung einer eigenen Gefolgschaft fuhren muß, einer sozusagen demosthenischen Partei. Daß sie notgedrungen eine große Zahl von Anhängern der früheren radikalen Gruppe um Aristophon würde umfassen müssen, war von vornherein klar, denn in dem demokratischen Athen war die radikale Menge von jeher die Kerntruppe der außenpolitischen Aktivisten. Demosthenes mußte
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sozusagen auf höherer Ebene die Politik wieder aufnehmen, die in der letzten Phase des zweiten Seebundes Schiff bruch gelitten hatte. Dazu brauchte er das Volk, und die erste Philippica wird bald den höchsten Einsatz seiner Kraft zeigen, um dieses Ziel zu erreichen. Aber tragisch mutet es an, daß er, während er sucht die Masse in seine Hand zu bringen, sicher nicht nur aus verderblichem Ehrgeiz, sondern in dem besten Wollen, zugleich ihren schlechten Trieben fröhnen muß und diese für seine Ziele skrupellos ausnutzt. Man sollte annehmen, daß Demosthenes, der in der Rede über die rhodische Frage die Regierung mit solchem Nachdruck auf die Dringlichkeit der von Philipp von Makedonien drohenden Gefahr hingewiesen hatte, zu dem Gedanken hätte gelangen müssen, ein starkes Thrakien zu begünstigen, um es als Pufferstaat zwischen Makedonien und die Dardanellen zu schieben. Bereits die allernächste Zeit sollte zeigen, daß auch für die Dardanellen der König von Makedonien die eigentliche Gefahr war. Vollends seit dem Frieden des Philokrates, sieben Jahre später, hat Philipp konsequent nach den Meerengen hingedrängt. Er brauchte jetzt den Chersonnes einmal als Brückenkopf zur Beherrschung des Übergangs nach Kleinasien im Interesse seiner persischen Politik; zugleich konnte er Athen von dort aus am ehesten in Schach halten. Unbegreiflich scheint es für den, der die Frage von diesem nicht mehr fernen Zeitpunkt aus rückschauend betrachtet, daß nicht nur die athenische Regierung zur Zeit der Aristokratesrede, sondern auch Demosthenes nicht gesehen haben soll, daß ein starkes und geeintes, mit Athen verbündetes Thrakien eine elementare Forderung war. Moderne Beurteiler haben sich diese Unterlassungssünde nur dadurch erklären zu können geglaubt, daß man annahm, Athen wäre damals durch eine Entente mit Persien gebunden gewesen.11 Demosthenes habe sich von Anfang an, obgleich in den erhaltenen Reden dieser Zeit keine Spur davon zu finden ist, gegen Philipp von Makedonien auf Persien gestützt, wie er tatsächlich zehn Jahre später vielsagende Andeutungen über seme Hoff-
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nung auf den bevorstehenden Abschluß eines athenisch-persischen Bündnisses in seinen Reden gemacht hat. Man meint nun, Athen habe diese Anlehnung schon vor der Zeit erstrebt, wo Demosthenes zu führendem Einflüsse kam. Zur Zeit der Rede gegen Aristokrates habe Persien für die Konsolidierung seines Reiches im Innern und zur Bekämpfung des ägyptischen Aufstandes Ruhe an den Meerengen gebraucht, und Demosthenes' Stellungnahme zur thrakischen Frage erkläre sich aus der Rücksicht auf diese Macht. Aber bei näherem Zusehen erkennen wir, daß Demosthenes zwar an eine Gefahr für die Meerengen sofort gedacht hat, daß er diese aber wie in den letzten Jahrzehnten ausschließlich von selten des unmittelbar an den Hellespont angrenzenden Teiles von Thrakien befürchtet hat. Er will daher den König dieses Gebietes, Kersobleptes, möglichst klein halten, während er dessen Bruder und Konkurrenten Amadokos stärken möchte. Seine Politik war also derjenigen des Kreises um Aristokrates genau entgegengesetzt. Der politische Gedanke des Demosthenes war dabei der, die wachsame und elastische Gleichgewichtspolitik, die er kürzlich in der Rede für die MegalopoHten gegenüber Sparta und Theben zu befolgen geraten hatte, auch auf die thrakische Frage anzuwenden. Daß es sich hier wirklich um eine solche bewußte Übertragung des im Großen angewandten Prinzips auf das vorliegende Einzelproblem handelt, also System in der Haltung der beiden Reden liegt, sagt Demosthenes selbst mit ausdrücklichen Worten;12 und das sollte nicht überhört werden. Das Gebiet des Amadokos grenzte außerdem direkt an Makedonien und war von dorther am meisten bedroht. Amadokos hatte schon einmal bei einem Einmarschversuche Philipps diesem mit den Waffen Halt geboten, während Kersobleptes gemeinsame Sache mit ihm gemacht hatte. Demosthenes sieht daher in Amadokos den natürlichen Bundesgenossen Athens nicht nur gegen etwaige Übergriffe des Kersobleptes an den Meerengen, sondern vor allem auch gegen Makedonien.J3 Daß Charidemos König Philipp Amphipolis werde entreißen und es
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an Athen zurückgeben können, wie die Regierenden in Athen wähnten, hat Demosthenes keinen Augenblick geglaubt. Darin bewährt sich durchaus sein auch in der Rede gegen Aristokrates wiederholtes Urteil, daß Philipp der größte Feind Athens sei.14 Allein daß er Thrakien eines Tages einfach überrennen und bis an die Dardanellen vormarschieren könne, ist ein Gedanke, der offenbar auch dem Demosthenes damals noch nicht gekommen ist. Er hätte sonst in Amadokos kaum eine genügende Garantie gegen diese Möglichkeit sehen können. Ob Athens Einfluß überhaupt ausgereicht hätte, die Vereinigung der thrakischen Teilreiche in einer Hand noch rechtzeitig herbeizuführen, um sich dann gegen Philipp auf dieses Bollwerk zu stützen, wie es uns nachträglich als das einzig Richtige erscheint, ist freilich ganz ungewiß. Klar ist allein, daß die Politik der athenischen Regierung eine kurzsichtige Illusion war, denn Charidemos konnte ihr nicht nur Amphipolis nicht wieder verschaffen, sondern dadurch, daß Athen Amadokos, seinen bisherigen Schützling, diesem zuliebe fallen ließ, trieb es ihn seinem Feinde Philipp in die Arme und öffnete diesem den Eingang in Thrakien. Diese Konsequenz der von ihm bekämpften Regierungspolitik hat Demosthenes völlig richtig vorausgesehen. Im übrigen wird es in der Geschichte der Diplomatie immer wieder solche ungeheuren Überraschungen geben wie die, die Philipp von Makedonien der Welt vielleicht noch im Herbst desselben Jahres bereitete, in welchem diese Kämpfe in Athen ausgefochten wurden. Plötzlich rückte er in Thrakien ein zur Schlichtung der von Athen geflissentlich genährten Thronstreitigkeiten zwischen den fürstlichen Brüdern. Diesmal gab es für ihn kein Halten. Er marschierte bis an die Meerengen vor, und im November vernahm man in Athen mit stockendem Atem die alarmierende Kunde, daß er die feste Seestadt Heraion Teichos am Eingang der Propontis belagere.1? Wie war es möglich gewesen, daß selbst ein so scharfer Beobachter wie Demosthenes sich über Philipps wahre Absichten so täuschen konnte, wenn er ihn doch für einen so erbitterten
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Gegner Athens hielt? Denn es ist nicht zu bezweifeln, daß er in der Rede gegen Aristokrates ganz anders gesprochen hätte, als er es getan hat, wenn das Ereignis dieses Einmarsches schon einige Monate vorher eingetreten wäre. Es ist natürlich billig, hinterher aus unserer Kenntnis der weiteren Entwicklung Philipps und seiner Macht Kritik zu üben. Daß die Rechnung der offiziellen athenischen Außenpolitik nicht stimmte, konnte man freilich schon vorher mit Bestimmtheit sagen, und Demosthenes hatte es richtig ausgesprochen. Wenn auch er selbst sich verrechnet hat, so erklärt sich das vielleicht am ehesten durch die Tatsache, daß Philipp bei seiner Intervention im Phokerkriege in Thessalien vor noch nicht allzu langer Zeit zwei Niederlagen erlitten hatte, und daß sein Vormarsch, auch nach seinem Siege über die Phoker, an den Thermopylen zum Stillstand gebracht worden war. Philipps Ruhm war noch zu jung, um dem Eindruck dieser Mißerfolge widerstehen zu können. Was hatte überhaupt Makedonien bisher bedeutet? Aber nun war es Philipp dennoch gelungen, sich in Thessalien dauernd festzusetzen, und die rasche Überwältigung Thrakiens ließ die ganze Furchtbarkeit der Tatkraft dieses Feindes jetzt plötzlich in mitleidlosem Licht erscheinen. Demosthenes erwähnt diesen Moment drei oder vier Jahre später — in der dritten olynthischen Rede — als den Wendepunkt der attischen Politik gegen Philipp, wo man sich zum erstenmal unmittelbar unter dem Eindruck des Schreckens zum Handeln aufraffte, freilich ohne bei diesem Entschluß zu beharren.16 Er muß vor allem für ihn selbst ein entscheidender Wendepunkt geworden sein, denn von jetzt an richtet sich sein ganzes Denken und Wollen nur noch auf dieses eine, alles andere überschattende Ziel, die Bekämpfung der makedonischen Gefahr. Daß seine Voraussagen von der Wirklichkeit noch übertreffen worden waren, daß die von ihm vorgeschlagenen Mittel sich als bei weitem nicht ausreichend erwiesen hatten, war für seine sorgenvolle, doch mit einem zähen Willen begabte Natur der ungeheure Impuls, dessen sie bedurfte, um sich zu äußerstem Einsatz ihrer Kräfte zu entfalten.
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Wie lange war es denn her, seit Makedonien im griechischen Norden ein Faktor zu werden begonnen hatte? Zum erstenmal hatte König Archelaos um das Ende des V. Jahrhunderts mit Erfolg den von Thukydides bewunderten1? Versuch gemacht, dem seit alters in patriarchalischen Lebensformen beharrenden streitbaren Bauernvolk in den Tälern des Strymon und Haliakmon und an der Nordwestküste des ägäischen Meeres die fortgeschrittene Zivilisation der benachbarten Griechen aufzuzwingen. Er hatte zuerst seinem Land eine straffere militärische und staatliche Organisation gegeben, um es gegenüber dem fortgesetzten Vordringen der illyrischen und päonischen Völkerschaften im Nordwesten und Nordosten Makedoniens und den Übergriffen der räuberischen Thraker im Osten zu schützen, vor allem auch um sich der Übermacht der rasch emporblühenden griechischen Kolonialstädte auf der Makedonien vorgelagerten Halbinsel Chalkidike zu erwehren. Diese bildeten spätestens seit 432, als Olynth beim Ausbruch des peloponnesischen Krieges sich vom attischen Seebund getrennt hatte, unter der Führung Olynths eine verbündete Macht, die immer geneigt war, ihr auf primitiver Kulturstufe stehendes makedonisches Hinterland als bloßes Ausbeutungsobjekt und als materielle Hilfsquelle anzusehen.18 Es war naturgemäß eine mehr äußerliche Hellenisierung gewesen, was Archelaos, dieser typische aufgeklärte Despot der Jahrhundertwende, erreicht hatte. Ausgebaute Militärstraßen durchschnitten jetzt nach verschiedenen Richtungen das Land, ohne daß dies an dem sozialen Aufbau seiner auf ihren Höfen weitverstreuten Bevölkerung viel änderte. Nur für den Kriegsfall sollte das Volk modernen Anforderungen technisch genügen. Daß es innerlich von dieser Zivilisation noch ziemlich unberührt war, konnte seine kriegerische Brauchbarkeit nur erhöhen. Wie überall, wo intellektuelle Kultur von einer noch primitiven Seele eingesogen wird, war der König Archelaos selbst eine widerspruchsvolle Natur: als Charakter war er skrupellos und galt den Griechen als grausamer Tyrann, doch zugleich versammelte er bildungseifrig an seinem Hofe
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griechische Dichter und Künstler, darunter Euripides und Agathen, die größten Tragiker der Zeit. Nach dem Tode dieses Herrschers fiel das Land erneut der alten Anarchie anheim und blieb Jahrzehnte lang der Schauplatz blutiger Thronstreitigkeiten und Usurpationen. Es kann nicht wundernehmen, daß Makedonien in dieser Zeit außenpolitisch beständig der Anlehnung an stärkere Mächte bedurfte. So war es unter der zwanzigjährigen Regierung Amyntas III. gezwungen, gegen die Illyrier bei seiner größten Feindin Olynth Schutz zu suchen. Doch diese mächtigste Handelsherrin des Nordens trat seit dem Zusammenbrach der attischen Seemacht, ihrer alten überlegenen Rivalin, nach dem Ende des peloponnesischen Krieges immer selbständiger und kühner auf. Sie hatte die umliegenden Griechenstädte zu einem chalkidischen Einheitsstaat vereinigt, dem an den nordgriechischen Küsten keine Macht ebenbürtig entgegenzutreten vermochte. Im Jahre 381 hatte Amyntas von Makedonien sich in Spartas Schutz begeben müssen, das damals noch die unbestrittene Vormacht von Hellas war, und es war zum Krieg zwischen Sparta und Olynth gekommen. Er wurde entschieden durch den Fall Olynths. Der olynthische Bund wurde dadurch zeitweise geschwächt. An seiner Stelle hatte sich während der 70er Jahre in dem seit alters feudalen Agrarlande Thessalien eine neue, rasch um sich greifende nordgriechische Vonnacht aufgeschwungen. Dies war die Tyrannis des gewaltigen lason von Pherai. Er hatte den altthessalischen Adel entmachtet, indem er sich auf die revolutionäre Masse stützte, und das Land größtenteils in seiner Hand vereinigt. Als er schließlich auch auf Makedonien übergriff, mußte König Amyntas III. von neuem zu der Hegemonialmacht des griechischen Südens seine Zuflucht nehmen. Das war jetzt nicht mehr Sparta, sondern das neu aufstrebende Athen des zweiten Seebundes, J9 das den Tyrannen lason in Schach zu halten wußte und gern die Gelegenheit wahrnahm, um die athenische Übermacht in den nordhellenischen Gewässern wiederherzustellen.
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Seit der Zeit des attischen Seebundes hatte Athen die Stadt Amphipolis für sich gefordert, aber die makedonischen Könige hatten diesen Anspruch nicht anerkannt. Obwohl eine attische Gründung, war diese Stadt mit ihrer ziemlich gemischten Bevölkerung von jeher Athen feindlich gesinnt. Sie hatte sich schließlich König Perdikkas von Makedonien förmlich unterworfen; seitdem war sie makedonisch. Gewiß war sie für Athen von höchstem Wert, doch für Makedonien war der Besitz des Hafens an der Mündung des Strymonflusses einfach eine Lebensfrage, und man begreift es, daß selbst ein makedonischer Usurpator wie Ptolemaios, der Mörder des Amyntassohnes Alexander II., der seine schwache Herrschaft nur mit Hilfe des athenischen Feldherrn Iphikrates behaupten konnte, die athenischen Ansprüche auf Amphipolis nicht anerkannt hat. Man kann sagen, daß die Beziehungen Athens und Makedoniens an der Amphipolisfrage hingen. Sie mußte von neuem akut werden in dem Augenblick, wo nach Jahren der Wirrnis mit dem Regierungsantritt Philipps II. in Makedonien eine Konsolidierung aller Verhältnisse einsetzte und die makedonische Politik nach innen und nach außen einen selbständigen und festen Kurs einschlug. Im ersten Augenblick hatte Philipp den Athenern entgegenkommende und hinhaltende Versprechungen machen müssen, bis seine Stellung im eigenen Lande und gegenüber den in Makedonien eingefallenen Barbarenstämmen soweit geklärt war, daß er sicherer auftreten konnte. Dann nahm er selber Amphipolis in Besitz. Seither befand sich Athen im Kriegszustande mit ihm. Von einem Angriff Philipps auf Attika konnte natürlich keine Rede sein, da er keine Flotte besaß, auch hatte er daran gar kein Interesse. Er beschränkte sich darauf, Amphipolis zu halten und die Athener Schritt vor Schritt von der makedonischen Küste zu verdrängen. Aber auch Athen war jetzt nicht mehr in der Lage wie zur Zeit des Seebundes unter Timotheos und Iphikrates, Makedonien von der See her anzugreifen, und eine Blockade war gegenüber diesem agrarischen Lande, das
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sich ganz selbst ernährte, keine sehr wirksame Waffe. So blieb es bei gelegentlichen Streifzügen und Kapereien. Philipps letztes Ziel mußte naturgemäß die Gewinnung der ganzen Küstenlinie sein, aber dort war nicht einmal Athen sein Haupthindernis, sondern die griechischen Küstenstädte der Chaüddike. Nachdem die stärkste von ihnen, Olynth, sich von der spartanischen Eroberung im Jahre 379 wieder erholt hatte, und die spartanische Hegemonie zusammengebrochen war, war der alte chalkidische Städtebund unter der Führung Olynths zu neuer Macht emporgestiegen. Damit mußte natürlich auch der alte Gegensatz Makedoniens gegen diesen unbequemen Nachbarn wieder aufleben, aber bei der ausgesprochenen Feindschaft der chalkidischen Städte gegen Athen suchte Philipp sich vorerst noch auf sie zustutzen und schloß sogar ein Bündnis mit Olynth. Die amerikanischen Ausgrabungen an der Stätte dieser mächtigen alten Handelsstadt haben vor wenigen Jahren sogar die Inschrift mit dem Wortlaut des denkwürdigen Vertrags zwischen Philipp und Olynth wieder an das Licht gebracht.20 Zum aktiven Eingreifen in die innergriechischen Verhältnisse und zur Ausdehnung seiner Macht nach Süden gab ihm erst der Ausbruch des sogenannten amphiktyonischen Krieges zwischen Theben und Phokis Anlaß. In ihm wurden Athen und Sparta schon durch ihre traditionelle Feindschaft gegen Theben auf die Seite der phokischen Tempelräuber gedrängt, während Philipp sich mit der thebanischen Partei verband. Seine Kräfte für die Ordnung der Verhältnisse in Mittelgriechenland einzusetzen hatte er zwar an sich kein Interesse, noch weniger an dem verzweifelten Kampf des böotischen Bundes, die von ihm abtrünnigen Phoker von neuem zu unterwerfen, um die nach dem Tode des Epaminondas unhaltbar gewordene Vormachtstellung Thebens in Mittelgriechenland zu behaupten. Die Folge ihrer Wiederherstellung konnte ja nur sein, daß Theben seine Einflußsphäre weiter nach Norden auszudehnen strebte und seine Einmischungsversuche in Thessalien wieder aufnahm, wodurch es Makedonien bedenklich nahe gerückt wäre. Aber gerade an
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Thessalien war Philipp selbst unmittelbar interessiert, und das Bündnis mit Theben und Thessalien schien ihm der einfachste Weg, dem in Mittelhellas durch den Krieg beschäftigten thebanischen Bundesgenossen in Thessalien zuvorzukommen und. dauernd dort Fuß zu fassen. Die innere Zersetzung des Landes bot den Boden für neue Machtbildungen, die den Nachbarstaaten leicht gefährlich werden konnten; das hatte die Herrschaft lasons von Pherai gezeigt. Zum Glück für Makedonien hatte er nur schwächliche Nachfolger gefunden. Um so mehr schien in Thessalien jetzt die Gelegenheit für die Einmischung einer auswärtigen Macht gekommen. Sie konnte mit der Mission des Friedensstifters auftreten und die Herrschaft über die ungefähr gleich schwachen Parteien des Landes an sich reißen. Die Thessaler waren in dem Krieg gegen Phokis zunächst fast einmütig auf Thebens Seite getreten. Aber schon bald ging diese Eintracht in die Brüche, und der alte thessalische Adel rief gegen die Tyrannen von Pherai König Philipp ins Land. Er ergriff die Aufgabe, die sich seiner feurigen Tatkraft und diplomatischen Verschlagenheit hier bot, mit zäher Energie und sicherem Zielbewußtsein. Die bedrängten pheräischen Tyrannen suchten ihrerseits jetzt eine Philipp gewachsene Macht, die in Mittelgriechenland gegen Theben siegreichen Phoker, in die Kämpfe Thessaliens hineinzuziehen. So wurde der eigentliche Schauplatz des Phokerkrieges im zweiten Akt nach Thessalien verlegt, und Philipp übernahm in ihm an Stelle der schon erschöpften Thebaner jetzt die erste Rolle. Aber wenn auch die ersten Kämpfe (354) mit dem kühnen und kriegserprobten phokischen Söldnerführer Onomarchos gegen Philipp entschieden, gelang es ihm im folgenden Jahre, die phokischen Raubscharen am Golf von Pagasai vernichtend zu schlagen und die Tyrannen von Pherai zu stürzen. Jetzt fiel ihm ganz Thessalien von selbst zu, er wurde als Retter bejubelt und zum Oberfeldherrn des thessalischen Bundes ernannt. Er wäre alsbald als Triumphator in Mittelgriechenland eingerückt und hätte den Krieg dort wahrscheinlich mit einem Schlage beendet, hätten 8
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sich die Athener und Spartaner nicht aufgerafft und ein Hilfskorps an die Thermopylen geworfen, das ihm diese Pforte von Hellas sperrte. Das nötigte ihn seinen Vormarsch einzustellen. Er begnügte sich mit dem Erreichten, und das war wahrlich genug. Aber er stand keinen Augenblick still. Wenn Athen ihm neuerdings an den Thermopylen aktiv in den Weg trat,21 ohne daß er es hindern konnte, so parierte er jetzt den Schlag, nachdem er sich Thessaliens versichert hatte, indem er sich auf Thrakien stürzte, einen Vorstoß gegen die Meerengen unternahm, und den Thrakerkönig Kersobleptes zwang, sich ihm anzuschließen und seinen zu Athen neigenden Minister Charidemos zu entlassen. Philipps überraschender Vormarsch bis zum Hellespont durchkreuzte alle Berechnungen der athenischen Politik, aber auch die ihres strengen Kritikers Demosthenes, die er in seiner Rede gegen Aristokrates vorgetragen hatte. In seiner wenige Jahre späteren ersten Rede für Olynth fuhrt Demosthenes seinen Hörern die ganze stürmische Laufbahn König Philipps noch einmal in ihrer dramatischen Unwiderstehlichkeit suggestiv vor Augen.22 Wenngleich Demosthenes in ihm frühzeitig den gefährlichsten Feind Athens erkannt hatte, muß es doch einen bestimmten Moment gegeben haben, wo diese Unaufhaltsamkeit im Vordringen des Gegners ihm so bedrohlich zum Bewußtsein gekommen ist, wie er sie in diesem Satz von atemloser Spannung so meisterhaft geschildert hat. „Bedenkt denn einer von euch, ihr Athener, und stellt sich vor Augen die Art, wie Philipp, der anfangs so schwach war, groß geworden ist? Zuerst nahm erAmphipolis, dann Pydna, hierauf Poteidaia, dann wieder Methone. Daraufrückte er in Thessalien ein, und nachdem er dort Pherai, Pagasai, Magnesia, alles wie er es wollte, in seine Hand gebracht hatte, brach er auf nach Thrakien. Dort setzte er Könige ab und setzte andere ein, dann erkrankte er. . .." Dies ist der Augenblick, in dem wir stehen, und wir unterbrechen hier, um nicht der Entwicklung vorzugreifen, die faszinierende nacherlebende Schilderung. Denn diese Erkrankung Philipps, die ihn zwang,
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die begonnene Belagerung von Heraion Teichos abzubrechen, gab der Welt eine Pause, um Atem zu holen, ehe die Fortsetzung des Schauspiels ihren Lauf nahm. In diesem Augenblick muß die unwiderstehliche Dynamik der Machtentfaltung des Gegners dem Demosthenes mit einem Ruck zum Bewußtsein gelangt sein. Der Schrecken, der die außenpolitisch passive athenische Staatsleitung veranlaßt hatte, beim Vordringen Philipps in Südthessalien ein Korps an die Thermopylen zu senden, wurde weit übertrumpft durch das blitzartige Erscheinen der Makedonen am Hellespont. Die Furcht für die Sicherheit der Meerengen, der Demosthenes in der Aristocratea Ausdruck gegeben hatte, richtete sich jetzt plötzlich nicht mehr gegen die benachbarten Thraker, sondern gegen Philipp, und als die Nachricht von seiner ernstlichen Erkrankung eintraf, mußte sie als das Werk einer rettenden Vorsehung erscheinen, die den Athenern diesen Aufschub gewährte, um Gegenmaßregeln gegen neue ähnliche Überraschungen zu treffen. Wir möchten um jeden Preis etwas ermitteln können über Demosthenes' Stellung zu den aufrüttelnden Ereignissen dieser Zeit, weil sie nicht ohne den tiefsten Eindruck auf seinen Geist bleiben konnten. Haben wir für diesen Eindruck noch irgendwelche gleichzeitigen Dokumente ? Nach einer antiken Tradition würde die erste philippische Rede 352/1 gehalten sein, also ein solches Dokument darstellen. Der Rhetor Dionysios von Halikarnaß, der dieses Datum mitteilt, schöpft seine Zeitangaben zwar zum Teil aus guten Quellen, aber er entnimmt ihnen nicht die Datierung der Reden selbst, sondern nur die Zeit der Ereignisse, die er als ihren historischen Anlaß betrachtet. Er ist aber leider in der Beziehung der Reden auf möglichst bestimmte historische Situationen zuweit gegangen; der Anlaß der einzelnen Reden läßt sich nicht mehr durchweg feststellen, und so schweben die Datierungsversuche des Dionysios, die die einzige Grundlage unserer Chronologie sind, oft in der Luft. Gerade sein Ansatz der ersten Phüippica wird von der neueren Forschung fast allgemein als unhaltbar angesehenes Man rückt die Rede herab 8*
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in das Jahr 349/8, das heißt in die Zeit, als Philipp Olynth angreift. Der Grund für diese spätere Datierung ist die Erwähnung eines plötzlichen Überfalls Philipps auf Olynth, den man auf die berühmte Belagerung im Jahre 349 bezieht. Lassen wir die Zeitfrage zunächst offen, um die Rede selbst genauer zu betrachten. In jedem Fall ist sie ja die erste erhaltene Rede des Demosthenes, die sich nach jener entscheidenden Wendung mit den Beziehungen Athens zu Philipp beschäftigt. Demosthenes steht in ihr als Warner auf, er ruft auf zum energischen Betrieb der Rüstungen gegen Philipp, dessen Macht reißend um sich greift. Schon oft ist über die makedonische Frage in der Volksversammlung gesprochen worden, und lange hat Demosthenes ruhig den Gewohnheitsrednern das Wort gelassen. Er könnte auch heute abwarten, was sie zu sagen haben, und etwa nach ihnen seinen Vorschlag machen; aber nachdem sie so oft früher geredet haben, ohne daß die Sache dadurch vorwärtsgekommen ist, ergreift Demosthenes diesmal als erster das Wort.2* Diese Initiative ist für die ganze Rede charakteristisch. Schon die Einleitung schlägt den Grundton an, und der Hörer horcht auf. Das Neue gegenüber den bisherigen Reden ist die bewußte Betonung des Heraustretens aus der Zurückhaltung. Daß Demosthenes es trotzdem für nötig hält, wegen seiner Wortmeldung um Nachsicht zu bitten, erhöht die Wirkung. Es ist also ein Wagnis für ihn — so spricht ein Redner, dessen Ruf als politischer Berater des Volkes noch jung ist —, aber er tut den Schritt mit ruhiger Festigkeit. Und nun tritt er in die Sache ein, aber wir vernehmen zunächst nichts von bestimmten Tatsachen. Sie sind den Athenern nur zu bekannt. Erst im weiteren Verlauf der Rede geht Demosthenes mehr auf sie ein. Er setzt ein*5 bei dem Seelenzustand der Hörer: „Zu allererst, ihr Athener, dürft ihr nicht mutlos sein über die gegenwärtige Lage, auch wenn sie sehr schlecht zu sein scheint. Denn was vom Standpunkt der Vergangenheit das Schlimmste an ihr ist, gerade das ist im Hinblick auf die Zukunft das Beste an ihr.
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Und was ist das? Daß es euch schlecht geht, weil ihr nichts von dem tut, was notwendig ist. Denn wenn ihr alles getan hättet, was erforderlich war, und es stände doch so schlecht, gäbe es nicht einmal eine Hoffnung auf Besserung der Lage." Das ist die Sprache eines männlichen Herzens, das fühlt, worauf es in diesem Augenblick ankommt. Die kühle Ironie, der von oben herabkommende Spott der Symmorienrede, ihre virtuose Fechtweise mit cachierten Motiven, aber auch die politisch belehrende Haltung etwa der Megalopolitenrede, die Verständnis in der Masse erwecken will für die logischen Gedankengänge des Politikers vom Fach, alles dies ist hier abgestreift. Wer an die Reden der Staatsmänner im Geschichtswerk des Thukydides denkt, an die strenge Sachlichkeit, mit der sie sofort in die Materie eingehen und sie gedanklich durchdringen, der muß mit Erstaunen bemerken, welch großer Raum bei Demosthenes dem Ethischen gegeben ist.26 Aber dieses schwebt nicht als reine Pflicht- und Gesinnungsforderung über dem sachlichen Gehalt, noch weniger erleichtert Demosthenes seinen Athenern die Erfüllung seiner Forderungen durch Beschönigung oder gar durch Verschweigen der bitteren Wirklichkeit. Er stellt höhere Ansprüche. Er ehrt seine Hörer, indem er sie geistig als mündig behandelt und ihnen die volle Wahrheit sagt. Bei einem Volk, das aus lauter selbstdenkenden Individuen zusammengesetzt ist, die sich so oder so doch ihr Urteil bilden, gibt es keine wirksamere Pädagogik als diese. Aber seine Wahrheit besteht nicht nur aus der Mitteilung der bloßen Tatsachen, die doch niederdrückend wirken müßten, sondern er lehrt diese Tatsachen als die notwendige Folge der Passivität und Leichtfertigkeit der athenischen Politik verstehen. Er macht nicht den Zufall, nicht das Mißgeschick für den Mißerfolg verantwortlich, sondern sucht den Grund ausschließlich im eigenen Verhalten der Athener. Indem er die Ursache nicht in einer unentfliehbaren Notwendigkeit der historischen Entwicklung sieht, sondern in einem ethischen Versagen, findet er, daß die Quelle der begangenen Fehler zugleich die Quelle aller noch vorhandenen
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Hoffnung ist. Er stellt die Frage des Willens und verlangt Konzentration aller Kräfte auf die Aufgabe, die bisher zu leicht genommen, ja überhaupt noch nicht wahrhaft erkannt worden ist.2? Von hier aus lehrt er die Athener die neue Übermacht Philipps in Griechenland zu betrachten, deren überwältigender Eindruck sie niederschmettert. Es hat schon einmal eine ähnliche Situation für Athen gegeben, als es nach dem Verlust des peloponnesischen Krieges isoliert der gewaltigen Überlegenheit Spartas und seiner Verbündeten gegenüberstand. Damals ist es ihm durch die Anspannung aller seiner Energien gelungen, dieser Lage Herr zu werden.28 Auch Philipps Macht ist nur die Frucht des unermüdlichen Einsatzes seiner ganzen Kraft, seiner nicht nachlassenden Wachsamkeit, die jede Blöße des Gegners sofort erspäht und überall am Punkt des geringsten Widerstandes einsetzt, um seine eigene Lage zu verbessern. So hat er alle athenischen Plätze an der nordgriechischen Küste in seine Hand gebracht, Pydna, Poteidaia, Methone, und die Völker, die ihm jetzt Heeresfolge leisten, auf seine Seite gezwungen — hier ist außer an Thessalien wohl an die neuerdings hinzugewonnenen Thraker gedacht —, aber an wen sollten sie sich sonst anschließen, da die anderen schliefen und nur Philipp zur Stelle war ? Der Abwesende hat immer Unrecht. So hat Philipp seine Vasallen gewonnen. Sie sind nicht alle aus reiner Begeisterung ihm gefolgt, sie müssen sich bloß ducken, da sie außer ihm keine Zuflucht haben. 29 Aber daran ist nur die Saumseligkeit und Leichtherzigkeit Athens Schuld. Wir müssen es ebenso machen, wie Philipp es gemacht hat. 3° Jeder von uns, der dem Staat etwas nützen kann, muß alle Drückebergerei fahren lassen: der eine muß zahlen; wer in dem Alter dazu ist, muß Soldat werden; kurz, jeder muß seinen Mann stehen. Es geht nicht länger so weiter, daß jeder hofft, der andere werde alles für ihn machen, er selbst brauche nichts zu tun. Schon ist es soweit gekommen, daß die Athener gar nicht mehr die freie Wahl haben, ob sie Ruhe haben oder eingreifen wollen. Ihr Nichtstun reizt den
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Feind zu immer größerer Dreistigkeit, und während sie dasitzen und zögern, kreist er sie von allen Seiten ein. Sie warten wohl auf einen Zwang, der sie nötigen werde, Hand anzulegen. Aber gibt es einen größeren Zwang als das Gefühl der Scham über den jetzigen Zustand ? Alle laufen umher und fragen nach den letzten Nachrichten. „Ist Philipp gestorben?" „Nein, aber er ist krank." Welchen Nutzen habt ihr denn davon, Athener? Denn wenn ihm wirklich etwas zustieße, würdet ihr doch sogleich einen zweiten Philipp machen, wenn es euch so an jedem Interesse fehlt. 31 Denn nicht seine Kraft, sondern eure Unbekümmertheit hat ihn groß gemacht. Sollte er wirklich sterben und das Schicksal besser für euch sorgen als ihr selbst, so würde es euch kaum dazu helfen, Amphipolis zurückzugewinnen, da ihr so fern vom Schuß seid. Nur wenn ihr in der Nähe seid, könnt ihr nach Wunsch eingreifen, wo der Augenblick es fordert. Es ist klar, daß kein bloßer aktueller äußerer Anlaß, sondern eben diese Auffassung der gesamten Situation Demosthenes bestimmt hat, die nach diesem ersten ethischen Teil der Rede folgenden praktischen Vorschläge zu machen. Er fordert eine zweifache Rüstung, wie er ausdrücklich sagt, nicht für einen bestimmten Hilfszug, der im Augenblick an dem, was geschehen ist, doch nichts ändern könnte, sondern zu dauernder Bereitschaft. Die ganze Kampfesweise muß geändert werden. Die Athener sollen eine Macht bereitstellen, die jeden Augenblick zur Verfügung steht, um bei einer Wiederholung jener plötzlichen Überfälle Philipps sogleich an Bord der Schiffe zu gehen. Sie soll aus Bürgern, nicht aus Söldnern bestehen. Der Kampf des Demosthenes für die Verwendung der Bürger selbst zum Kriegsdienst zieht sich durch seine gesamten Reden gegen Philipp hindurch. Dieses Korps mit 50 Schiffen soll den Gegner im eigenen Lande angreifen, sobald er nach irgend einer Richtung Vorstöße unternimmt, die ihn zwingen Makedonien ungeschützt zurückzulassen, wie die nach den Thermopylen oder zum Hellespont. 32 Eine zweite Macht soll dauernd im Felde stehen, wo immer es möglich ist, ihm schaden und ihn
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beständig in Atem halten. Sie soll nicht zu groß sein, damit man nicht wegen des Soldes in Schwierigkeiten kommt. Auch ihr sollen athenische Bürger zugeteilt werden, doch sollen in ihr die Söldner überwiegen. Sie sollen eine Art Raub- und Kaperkrieg fuhren, wie sich dies schon seit langem unter den Söldnerfuhrern des zweiten Seebundes ausgebildet hatte. 33 Auf dieses Beispiel beruft sich denn auch Demosthenes, wenngleich unter scharfer Kritik der Auswüchse dieses Systems der Kriegführung, das oft den gebrandschatzten Bundesgenossen mehr geschadet hatte als den Feinden. Ein Mindestbeitrag zur Besoldung soll diesem fliegenden Korps vom Staate garantiert werden, im übrigen müsse der Krieg den Krieg ernähren. Leider ist der Teil der Rede, wo Demosthenes die Quellen zur Beschaffung der staatlichen Zuschüsse zur Unterhaltung dieses Korps aufwies, in der für die Öffentlichkeit bestimmten Fassung der Rede gestrichen worden. Er ist nur noch durch das Stichwort „Nachweis der Geldmittel" (iropbu ) kenntlich. 34 Hier hat offenbar später bei der Herausgabe eine Redaktion der ursprünglichen Rede eingegriffen, weü dieser Teil Demosthenes nicht mehr befriedigte und inzwischen durch radikalere und wirksamere Maßregeln überholt war. Wir verfolgen in den olynthischen Reden des Demosthenes noch selbst den hartnäckigen Kampf um die Verwendung der nach dem athenischen Gesetz an das Volk ausgezahlten Theatergelder für Kriegszwecke. Demosthenes hat in der ersten Philippica sicherlich noch nicht gewagt, so eingreifende Vorschläge zu machen, die ihm leicht gefahrlich werden konnten. Als der Krieg dann doch radikalere Maßnahmen unumgänglich machte, wird er die älteren Vorschläge in der ersten Philippica gestrichen haben. Sind noch andere Spuren dieser späteren Redaktion 3 5 der Rede erkennbar, und in welcher Situation ist sie gehalten? Unter den plötzlichen Vorstößen Philipps erwähnt Demosthenes außer denjenigen gegen die Thermopylen und den Hellespont auch den Angriff auf Olynth, von dem wir im nächsten Kapitel zu sprechen haben werden. Neuere Forscher
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haben die Rede deshalb in die Zeit gesetzt, wo Philipp in olynthisches Gebiet einmarschierte, um die Belagerung der Stadt zu eröffnen. Aber in diesem Augenblick wären die Vorschläge des Demosthenes schlecht angebracht gewesen, sie hätten dann notgedrungen eine viel bestimmtere Form annehmen müssen. Er hätte unmöglich ein Reservekorps fordern können, das für solche Fälle in Athen bereitliegen solle, sondern direkt eine Hilfsexpedition nach Olynth beantragen müssen, wie er es in den olynthischen Reden später getan hat. Aber auch nach dem Falle Olynths kann die Rede nicht gehalten worden sein. Demosthenes hätte damals ganz andere Töne anschlagen müssen. Nachdem er die olynthischen Reden gehalten, hätte er nicht sagen können: während bisher immer nur die anderen geredet haben, will jetzt ich einmal mit einem Vorschlag hervortreten. Der Rhetor Dionysios hat gewiß Recht damit, daß er unsere Rede als die erste Philippica zählt. 36 Nun ist man neuerdings auf den Ausweg verfallen, unter der erwähnten Expedition Philipps gegen Olynth nicht den bekannten Angriff des Jahres 349 zu verstehen, sondern den Angriff auf die zum olynthischen Städtebund gehörende Stadt Stagira, der ein oder zwei Jahre früher stattgefunden hat, als Philipp gegen Thessalien zog. Doch es scheint mir etwas gesucht, hätte Demosthenes diesen Vorstoß als einen Feldzug „nach Olynth" bezeichnet. Die Vorschläge der ersten Philippica passen einzig in die Zeit nach der furchtbaren Überraschung des plötzlichen makedonischen Vorstoßes gegen den Hellespont. Demosthenes sagt uns selbst in der ersten olynthischen Rede, daß Philipp damals bei der Belagerung von Heraion Teichos erkrankt sei, und dies ist ja eben, wie wir sahen, zur Zeit der ersten Philippica der Fall. Demosthenes tadelt scharf die Athener, die nun wieder ihre ganze Hoffnung auf diese Krankheit Philipps setzen, statt selbst etwas zu tun. Ausgezeichnet paßt in diese Zeit, wo Philipp verhindert war etwas Neues zu unternehmen, auch der Vorschlag des Demosthenes, die Zeit auszunützen, um für neue Überraschungen gerüstet zu sein. Der Hinweis auf Olynth kann dann nur bei jener späteren
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Überarbeitung der Rede, die wir erwiesen, hinzugefugt worden sein, nachdem inzwischen Philipp durch diesen neuen Überfall alles Dagewesene übertreffen hatte. Es gibt auch noch andere Spuren dieser Überarbeitung, die im übrigen nicht sehr tiefgreifend gewesen zu sein scheint. Demosthenes kann mit seinem Vorschlag nicht durchgedrungen sein, denn in den olynthischen Reden nimmt er ihn später wieder auf, zum großen Teil mit bemerkenswert wörtlicher Anlehnung an seine ursprüngliche Begründung in der ersten Philippica. Ist unser Ansatz richtig, dann haben wir in der ersten Philippica das unmittelbare Zeugnis der ungeheuren Wirkung, die Philipps Vorgehen gegen den Hellespont wie sein Vormarsch bis zu den Thermopylen auf die politischen Anschauungen des Demosthenes gehabt hat. Die Rede ist der Beweis dafür, daß er die Einschätzung der Faktoren, wie seine Rede gegen, Aristokrates sie noch vor kurzem entwickelt hatte, sofort als irrig erkannt und sich sofort mit ganzer Kraft der Bekämpfung Philipps zugewandt hat. Die erste Philippica ist der Versuch kraftvoller Initiative in der makedonischen Politik, der die gradlinige Fortsetzung der Sonderaktionen des Demosthenes im Falle der Megalopolitenund der Rhodierfrage bildet, aber wie diese nicht zum Ziel gelangt ist. Erst seit Philipps Angriff auf Olynth hat sich das Verständnis für diese Politik Bahn gebrochen. Demosthenes will die Außenpolitik Athens aus ihrer Passivität herausreißen, er will zuvorkommen, ehe noch Schlimmeres geschieht. 37 „Bis zum heutigen Tag sitzen wir zu Hause, obgleich wir die größte Macht von allen haben, Trieren, Schwerbewaffnete, Reiter, Einnahmequellen, und machen davon keinen Gebrauch. Ihr hört nicht auf Philipp so zu bekämpfen, wie die Barbaren es im Faustkampf machen. Wenn einer -sie boxt, greifen sie nach der getroffenen Stelle, schlägt er sie und trifft sie anderswo, so greifen ihre Hände dahin, aber keiner wagt, einen Ausfall zu tun oder auch nur geradeaus zu blicken. Wenn ihr hört, Philipp ist am Chersonnes, beschließt ihr dorthin zu Hilfe zu kommen, wenn ihr hört, er ist an den Thermopylen., dorthin, wenn sonstwo, so
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lauft ihr hinauf und hinunter hinter ihm drein und laßt euch von ihm die Kriegführung vorschreiben." Eben dieses Geradeausblicken und Zum Angriff Vorgehen fordert Demosthenes von den Athenern. Er glaubt noch nicht daran, daß die Kraft seines Volkes dazu nicht mehr fähig sein sollte. Er sieht es debattieren und Beschlüsse fassen, aber niemand handelt. Wenn in den militärischen Unternehmungen und Dienstleistungen auch nur annähernd die gleiche Ordnung und Stetigkeit herrschte wie bei den jährlichen Vorbereitungen für die Theateraufführungen am Fest der Dionysien, wenn die Vorschläge, die er für den Krieg macht, ebenso durch Gesetz festgelegt würden wie die Fürsorge des Staates für jene Schaustellungen oder für die Prozession der Panathenäen, so wäre alles gerettet. 38 Welch bitterer Hohn! Aber wer wird ihn verstehen? Wird man dies alles nicht vielmehr ganz in der Ordnung finden in einem Volk, das nur dem materiellen Gewinn lebt oder dem übermäßigen Genuß seiner überfeinerten Nerven am ästhetischen Spiel der Kunst und am philosophischen Sport des Intellekts frönt? Welch ungeheure Selbsterkenntnis spricht aus diesem Appell an den reinen Willen! „Vielleicht war es früher möglich, es so zu machen wie ihr, aber jetzt geht es um die Entscheidung". 39 Das Gefühl der nahenden Entscheidung ist es, was der Rede ihre neue Mächtigkeit gibt. Es erfüllt die Phantasie des Redners mit Bildern von einer Wucht und packenden Großartigkeit, wie sie keine Beredsamkeit der Welt wieder hervorgebracht hat. Der Stil, den wir im eigentlichen Sinne demosthenisch nennen, das echte Pathos, das nicht nur ein Pathos der Worte sondern der Seele ist, tritt hier plötzlich fertig in die Erscheinung. Was in den ersten Staatsreden noch gezirkelt und sorgsam abgewogen war, bricht hier wie aus glühender Tiefe, als elementare Kraft und doch mit ungeheurer Zielsicherheit gemeistert ans Licht. Nichts ist diesem Zusammenspiel der heißen Leidenschaft und des kalten Verstandes vergleichbar. Ein Sich Gehenlassen duldet dieser Geist nicht. Er ist die vollkommenste Bewußtheit. Aber eine Art visionärer Besessenheit ist in ihr gebändigt zu höchsten Momen-
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ten des seelischen Ausdrucks, die die Grenzen des bloßen «politischen Denkens" überschreiten und das Leiden dieses Menschen zu einem neuen, unerhörten Künstlertum reifen lassen. Wie sich in diesem Mann mit der Nüchternheit der Erkenntnis, mit der Kraft des eisernen Wollens und der Prophetic des drohenden Verhängnisses die Fonngewalt des echten Künstlergeistes verschmilzt, das wird ewig das Geheimnis der griechischen Seele bleiben.
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DER KAMPF UM OLYNTH Es gibt Perioden der Geschichte, über deren äußere Ereignisse wir ziemlich gut unterrichtet sind und die uns dennoch verschlossen bleiben, weil wir keine Einsicht in die inneren Motive der handelnden Menschen mehr gewinnen können. Bei Demosthenes sind wir oft in der umgekehrten Lage. Seine Reden offenbaren uns noch heute seine Auffassung der politischen Probleme jener Zeit und rücken sie wie gegenwärtig vor unser Auge. Aber unsere lückenhafte Kenntnis der äußeren Ereignisse beraubt uns vielfach des tatsächlichen Hintergrundes und damit eines wichtigen Maßstabes zur Beurteilung seiner Reden. Wir sehen die Entwicklung der Dinge daher stellenweise nur oder überwiegend im Spiegel der Entwicklung seines politischen Denkens. Das ist für Tatsachenmenschen äußerst ärgerlich, aber es wäre doch ungerecht gegen die Gunst des Schicksals, das uns diese primären geschichtlichen Urkunden in den Schoß gelegt hat, wollten wir darin nur nach Tatsachen fischen und den Reichtum des politischen Lebens und der politischen Ideen beiseite werfen, wie es die Darstellungen der Geschichte jener Zeit meistens tun. Das gilt gerade von den drei Reden des Demosthenes für Olynth, welche in der Mitte stehen zwischen dem warnenden Signal der ersten Philippica und der tiefen Resignation, die im Jahre 346 Athen zwang, den Frieden mit Philipp zu suchen. Fiel die erste Philippica in die unerwartete Pause, die Philipps Erkrankung während seines Angriffs auf den Hellespont den Athenern gab,l so setzen diese drei Reden für Olynth die nordgriechische Politik des Demosthenes fort in dem Augenblick, wo Philipp vom Krankenlager wieder aufstand und sich seinem wie Feuer um sich greifenden Tatendrang von neuem überließ. Nach der Wegnahme von Amphipolis, Pydna, Poteidaia, Methone und Pagasai, lauter Städten in der Nähe der Küste des ägäischen Meeres, lag sein Ziel klar vor aller Augen. Er war gewillt Make-
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donien aus einem drittrangigen agrarischen Binnenstaat in eine auch die See umfassende Großmacht zu verwandeln. Das mußte die wachsende Furcht Olynths erregen, des einzigen großen griechischen Handelsstaats im Norden, der an makedonisches Gebiet angrenzte. Olynth hatte sich seit Philipps Anfangen gegen die alten nordgriechischen Ansprüche Athens auf diesen gestützt, noch ohne zu ahnen, welche Gefahr seiner Freiheit von seilen des makedonischen Nachbars drohte. Im ersten Stadium dieser neuen Gruppierung im Norden hatte Olynth sogar ein Bündnis gegen Athen mit Philipp geschlossen,2 aber bald folgte die Reue diesem übereilten Schritt, der aus bloßem Krämerneid und aus der traditionellen Furcht vor dem Wiedererstarken der athenischen Stellung zur See geschehen war. Die rapide Ausdehnung Philipps hatte Athen schon völlig in die Verteidigung gedrängt, 3 und Olynth sah sich gegenüber seinem undurchdringlichen Bundesgenossen in Kürze schutzlos isoliert. Aus den Worten des Demosthenes in der Rede gegen Aristokrates geht klar hervor, daß Olynth trotz der gegenseitigen Verpflichtung der beiden Bundesgenossen, keinen Separatfrieden zu schließen, schon mit Athen Frieden geschlossen hatte und nichts sehnlicher gewünscht hätte als den sofortigen Abschluß eines Bündnisses mit Athen. 4 Seitdem dieser Separatfrieden zur Tatsache geworden war, lag ein Angrüf Philipps gegen den olynthischen Städtebund in der Luft, und Olynth hatte das Bündnis mit Athen wohl nur deshalb nicht so schnell geschlossen, um diesen Angriff nicht noch zu beschleunigen. Im Jahre 349/8 rückte Philipp in olynthisches Gebiet ein und begann dort die Städte zu belagern. 5 Dies war der Augenblick für ein neues Eingreifen des Demosthenes nach dem niederdrückenden Mißerfolg seiner ersten philippischen Rede. Was er mit seinen Vorschlägen damals verhüten wollte, war jetzt geschehen. Ein neuer plötzlicher makedonischer Überfall, wie er ihn vorausgesagt hatte, fand Athen abermals schutzlos und unvorbereitet, wo Schnelligkeit des Zugreifens die erste Bedingung des Erfolgs gewesen wäre. Man hatte früher Demosthenes gegenüber auf die Isolierung Athens hingewiesen
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und erklärt, zuerst müsse man Olynth in einen Krieg mit Philipp verwickeln,6 erst dann lasse sich über eine Politik wie die des Demosthenes ernsthaft reden. Dieser Fall war nun von selbst eingetreten, und sogar die athenischen Friedenspolitiker beantragten jetzt sofortige Aktion zur Unterstützung Olynths. In ihm hatte man jetzt einen Bundesgenossen gefunden,? dessen Zuverlässigkeit ebenso groß war wie seine Bedrängnis, und man durfte nichts versäumen, sich ihn zu erhalten. Es war eine einzigartige Gelegenheit, dem sich tatenlos hinschleppenden Kriegszustand mit Philipp eine aktive Wendung zu geben. Allerdings in dem Kampf des Demosthenes gegen die bisherige Führung war dieses Einlenken der offiziellen Staatsmänner in seine Linie zunächst noch kein entscheidender Sieg.8 Sie wußten dadurch ihre Stellung zu sichern, und gegen den naheliegenden Vorwurf, Demosthenes habe das alles vorausgesagt und rechtzeitig zu handeln geraten, werden sie ohne Zweifel daran festgehalten haben, daß der rechte Zeitpunkt zum Handeln eben erst jetzt gekommen sei. So unrichtig dies auch war, es ging dem Demosthenes in erster Linie um die Sache und nicht um seine Person. Bei seiner Jugend — er stand erst in der ersten Hälfte der Dreißiger — fühlte er sich bei aller Kritik noch nicht berechtigt, Anspruch auf die Führung des Staates zu erheben, und er war froh, daß überhaupt der Bann der Untätigkeit gebrochen wurde. Einen großen Zuwachs an moralischer Autorität bedeutete das unausgesprochene Zugeständnis der Gegner für ihn auf alle Fälle. Nur mußte er es jetzt natürlich ihnen überlassen, die entscheidenden Anträge zu stellen. Ob die erste olynthische Rede und die ihr folgenden beiden in der Volksversammlung einmal so oder ähnlich gehalten worden sind, wie wir sie lesen, oder von Hause aus bloße Broschüren waren, wird sich wohl niemals mit Bestimmtheit ausmachen lassen. Der Anlaß, den jede der Reden voraussetzt, kann durchaus real gewesen sein, auch wenn wir heute nicht mehr im Stande sind, die Zeitpunkte der drei Reden mit unserer nicht sehr ins einzelne gehenden Kenntnis des geschichtlichen Hergangs genauer fest-
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zulegen. Dies hat schon im Altertum Dionysios von Halikarnaß ohne Erfolg versucht, indem er die drei Reden auf die verschiedenen Hilfsexpeditionen verteilte, die die Athener den belagerten Olynthiern geschickt haben. 9 Aber darauf kommt für das Verständnis der Reden auch nicht viel an, da der allgemeine Anlaß feststeht und seine Bedeutung innerhalb der Entwicklung der Politik des Demosthenes von der ersten Philippica her ohne weiteres klar ist. Wie schon an den außenpolitischen Reden der ersten Periode, so fallt auch an den philippischen Reden des Demosthenes als erstes die Festigkeit der darin innegehaltenen Linie auf. Die Ereignisse treffen ihn durchaus vorbereitet. Die Situation ist in ihrer politischen Logik von ihm im Geiste bereits vorweggenommen worden. Daher ist er im Stande, sofort den Rat zu erteilen, der unter den gegebenen Umständen der beste ist. Für eine Seemacht wie Athen war Philipp, dessen Macht ihren Kern im makedonischen Binnenlande hatte, ein schwer angreifbarer Gegner. Er war nicht an der Wurzel zu treffen. Man konnte ihn zu beunruhigen, zu ermüden, ihm den Weg zur See abzusperren suchen, wo immer sich die Gelegenheit dazu bot. Man konnte durch dauernde Aktionen den zum Teil unfreiwilligen Bundesgenossen Philipps zeigen, daß sie ihm nicht auf Gnade oder Ungnade ausgeliefert wären, weil die Athener mit ihren Schiffen stets in der Nähe lauerten, bereit, jede für ihn ungünstige Lage, jede im Moment ungedeckte Blöße zu erspähen. Für diese Art der Kriegführung, wie sie sich aus der richtigen Erkenntnis der eigenen Möglichkeiten und der des Gegners notwendig ergab, war der Vorschlag, den Demosthenes in der ersten Philippica gemacht hatte, in der Tat einzig geeignet. Es bedurfte gegen Philipp eines doppelten Operationskorps, um gegen ihn im Falle eines plötzlichen Angriffs gleichzeitig am Zielpunkt seines Vorstoßes und in seinem eigenen Lande den Gegenangriff führen zu können. In dem Augenblick, wo die athenischen Führer eine Hilfssendung nach Olynth beantragten, stellte daher Demosthenes seinen früheren Vorschlag erneut zur Debatte. Er war ein Rahmen für eine mög-
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liehst aktive Kriegführung, nahm aber der militärischen Leitung nichts vorweg und war darum fähig, sich jeder Lage elastisch anzupassen. Dies ist der Grund, warum Demosthenes sein Programm nach so einschneidender Veränderung der Kriegslage einfach wieder aufnehmen konnte.I0 Aber die erste olynthische Rede ist nicht nur die Erneuerung des praktischen Vorschlages der ersten Philippica. Sie ist wie diese in erster Linie ein Werk der politischen Erkenntnis, das sich an das athenische Volk wendet. Die Einsicht, was der Augenblick erfordert, ist ein einfacher, rasch zugreifender praktischer Akt. Demosthenes macht ihn in dem Mittelteil der Rede ab, der um so mehr wirkt, je kürzer er ist. Den weitaus größten Raum nimmt die Vorbereitung des Hörers zum Entschluß und die Anbahnung des richtigen Augenmaßes für die Bedeutung des Moments in Anspruch. Auch hier greift Demosthenes auf seine frühere grundlegende Rede zurück. Die geschickte Variation läßt doch die Konstanz der Grundgedanken auf Schritt und Tritt erkennen. Galt es damals zu begreifen, daß eine Änderung der Kriegführung nötig sei, auf die die Athener sich einstellen müßten, auch wenn im Augenblick kein Anlaß zur Rüstung vorzuliegen schien, so ist in der ersten olynthischen Rede aller Nachdruck auf die These gelegt : die Gelegenheit ist da, die uns noch einmal die Möglichkeit bietet zu entscheidendem Eingreifen in das Geschehen, dessen Zeugen wir alle sind.11 Die immer unglücklichere Entwicklung unserer Lage ist die Folge unseres Treibenlassens der Dinge. Wenn es wahr ist, daß wir uns aus dieser Passivität nur dann noch werden ermannen können, wenn eine besondere Gunst der Umstände uns gestattet zu handeln, so ist der Augenblick des Entschlusses jetzt unwiderruflich gekommen. Der Wüle zum Entschluß muß unmittelbar aus dieser Erkenntnis entspringen. Für den Staatsmann, der ein selbstdenkendes, aber aus den verschiedensten persönlichen Motiven urteilendes Volk wie das athenische in einem solchen Moment führen will, ist es immer wieder die Hauptaufgabe, mit der Kraft seiner tieferen Erkenntnis die Menschen zu durchdringen und so die Einheit des Willens her9
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vorzurufen, die einen Haufen ziellos schwankender Einzelwesen in eine geschlossene Gefolgschaft verwandelt. Demosthenes weiß, durch eigene Erfahrung belehrt, daß dies nicht zu vollbringen ist, indem er der Menge ein diplomatisches Rechenexempel vor Augen führt, das ihr Fassungsvermögen und Wissen übersteigt. Er muß die Menschen in der Tiefe ihrer Seele zu packen versuchen, daher macht er es, wie der Dichter der griechischen Tragödie es mit seinen Personen macht. Er zwingt die Athener mit aller Bewußtheit, zu der die Trägheit des philiströsen Alltags sich aufzuraffen fähig ist, sich in ihr Schicksal hineinzustellen, vor allem aber den gegenwärtigen Moment als Augenblick des Schicksals zu erkennen. Daraus erwachsen die für unseren Begriff merkwürdig langen Betrachtungen über die Götter und ihren Anteil an der gegenwärtigen Lage. Nichts wäre falscher als darin ein bloßes Zugeständnis an den Volksglauben zu sehen, auf das für die Beurteilung des Politikers in Wahrheit wenig ankomme. Wir sind diesem religiösen Motiv schon in der ersten Philippica begegnet, es nimmt aber jetzt einen noch breiteren Raum ein und ist in eigenartiger Weise verflochten mit dem Gedanken des Kairos, der günstigen Gelegenheit, der in der Politik jener Zeit eine so große Rolle spielt.IZ Im allgemeinen ist der Kairos für die Griechen damals nichts anderes als unser heutiger formaler Begriff der Gelegenheit, der Chance. Man schrieb in diesem Sinne ganze Werke über Politik in Form einer Kasuistik d. h. von Verhaltungsmaßregeln für jeden denkbaren Fall. J 3 Nun ist aber die Gelegenheit, wenn man es tiefer betrachtet, eine besonders sichtbare Form der Schicksalsfügung, der Tyche, und wie die Tyche in dem religiösen Denken jener Zeit die größte Macht ist, die schließlich in den Jahrhunderten des Hellenismus alle Götter des Olymps von ihrem Thron verdrängen sollte, so hat man damals auch den Kairos zum Gott gemacht, und die griechischen Künstler haben ihn als solchen büdlich dargestellt. Für Demosthenes sind „Götter" und „Tyche" mitunter fast schon synonyme Begriffe. Auch der Kairos ist ihm eine unmittelbar erlebte religiöse Realität. Er ist in beson-
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derem Maße Ausdruck des Waltens einer höheren Macht. Die alte Frage der Vernunft oder Unvernunft, der Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit des menschlichen Schicksals erhält dadurch eine neue Zuspitzung. Sie hängt für ihn zusammen nicht so sehr mit dem, was der Mensch erleidet, denn daran trägt er oft selbst die Schuld, sondern mit der Chance, die das Schicksal ihm bietet. Es handelt sich bei der Frage nach der Tyche fur Demosthenes keineswegs nur um die nachherige Überlegung, ob man für erlittenes Unglück dem Schicksal die Schuld geben solle oder dem eigenen Tun. In dieser Form war die Frage schon alt, wir können sie so in den politischen Reden von Solon bis Thukydides stetig verfolgen.1'» Für Demosthenes ist die Frage noch verwikkelter. Nicht nur was der Mensch tut, sondern auch was er unterläßt, hat seine Folgen. Die Erkenntnis des richtigen Augenblicks ist deshalb so wichtig, weil hier die Gottheit dem Menschen ihre Hand entgegenstreckt, und alles darauf ankommt, daß er sie ergreift. Das ist ein sehr aktiver, wachsamer Glaube, der gar nichts zu tun hat mit dem Fatalismus und der Passivität, zu der der gewöhnliche Tycheglaube den Menschen zu verurteilen scheint. Demosthenes erfüllt diesen Allerweltsglauben seiner Zeitgenossen vielmehr aufs neue mit der alten, von Solon her dem athenischen Volk eingeprägten Idee der Mitverantwortung des Menschen an seinem Geschick und gewinnt ihm dadurch eine ethisch aufrüttelnde Wirkung ab. So führt er den Kampf mit der Schwäche des Zeitgeistes, indem er sie bei ihrer religiösen Wurzel packt. Der Grieche will in seinem Denken unter allen Umständen immer gerecht sein: nun, ist es denn gerecht, so ruft Demosthenes aus, es den höheren Mächten zuzuschreiben, wenn unser Glück uns in der letzten Zeit immer mehr verlassen hat ? Ein gerechter Rechner kann der Tyche den Dank nicht versagen, denn sie hat uns genug Gelegenheit geboten. Wir haben sie in unserer Gleichgültigkeit nur nicht ergriffen. Wir haben dann begreiflicherweise über dem Mißerfolg den Dank vergessen; denn der Mensch beurteilt alles Frühere stets nach dem schließlichen Ausgang der 9*
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Sachets Damit vergleicht Demosthenes in wirksamer Weise die Aktivität Philipps, der keinen Augenblick mit dem Erreichten zufrieden ist und sich Ruhe gönnt, sondern von einer Unternehmung zur anderen eilt. Und er sieht im Geist voraus, daß der König den Athenern ins eigene Land kommen wird, wenn sie nicht kräftig Hand anlegen. Die Ruhe, die sie jetzt noch genießen, ist trügerisch, wie wenn ein Mensch sein Geld unsicher für zu hohe Zinsen anlegt und so eine Weile üppig lebt, bis er nach kurzer Zeit das ganze Kapital verliert.16 Man hat diese Weltanschauung des Demosthenes, seine Haltung gegenüber Leben und Schicksal, bisher nicht recht der Beachtung gewürdigt, doch mit Unrecht, denn für den Griechen ist das, was wir Politik nennen, keineswegs vom Ethischen und von der Religion zu trennen. Es umfaßt bei den bedeutenden Köpfen unter den griechischen Staatsmännern immer das Ganze der menschlichen Existenz und des menschlichen Schicksals und ist nur für die kleineren Geister ein bloßes Handwerk, bei dem man sich mehr oder weniger verrechnen kann. Zwar wenn man Demosthenes in der Rede für die Megalopoliten seine Idee des politischen Gleichgewichts entwickeln sieht, so könnte es immerhin scheinen, als habe sich für das Denken dieser Zeit die Aufgabe des Staatsmanns in eine bloße virtuos verfeinerte Technik verwandelt. Aber dieser rationale Aspekt ist nur die eine Seite der Sache. Das zeigen die Reden gegen Philipp, in denen die irrationale Bedingtheit des historischen Geschehens und des politischen Handelns in Gestalt der Tyche und des Kairos mit ausgesprochen religiöser Empfindung zu Tage tritt. Daß es gerade bei diesem Anlasse geschieht, ist natürlich kein Zufall. Denn hier ging es um Sein oder Nichtsein, wenigstens war dies dem Demosthenes von Anfang an gewiß. Je tiefer aber die innere Folgerichtigkeit in der Entwicklung der Dinge seinem Auge offenbar wurde, um so mehr bedurfte gerade er einer starken Hilfe gegen die aus solcher Einsicht fließende Entmutigung. Er fand sie als echter Grieche nicht in dem subjektiven Mystizismus eines blinden Tatglaubens, der die Augen gegen alle realen Widerstände
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schließt, sondern in der Erkenntnis der Bedeutung des glückhaften Zusammenwirkens menschlicher Wachsamkeit und Bereitschaft mit der vom Schicksal dargebotenen Gunst des richtigen Augenblicks. Es ist hier nicht die Frage, ob wir auch heute noch in diesen Gedanken des Demosthenes eine uns befriedigende Erklärung der großen historischen Vorgänge finden, die sich ihm unter diesem Bilde darstellten. Es mag genügen kurz daraufhinzuweisen, daß die Tyche auch bei den griechischen Historikern eine ähnlich bedeutende Rolle spielt. In Platos Briefen begegnen wir in der Erzählung der Ereignisse seines eignen Lebens einer »göttlichen Tyche" als aktiv eingreifender Macht. Wenn die Griechen keine „Philosophie der Geschichte" in unserem Sinne kennen, so darf man vielleicht sagen, daß an ihrer Stelle in der vorchristlichen Welt eben die Idee der Tyche stand.J 7 Als Faktor des politischen Wollens und Handelns ist sie für Demosthenes jedenfalls von Wichtigkeit und verdient unsere volle Aufmerksamkeit. So ist zum Beispiel auf dem Kairosmotiv, wenn wir genauer zusehen, die ganze erste olynthische Rede aufgebaut. Nachdem der erste Teil diesen Gedanken ausführlich zur Entfaltung gebracht18 und die von der Tyche gebotene Gelegenheit zum Anlaß einer scharfen Kritik der athenischen Untätigkeit und Fahrlässigkeit gemacht hat, werden die praktischen Vorschläge des Demosthenes, wie bereits gesagt, recht kurz erledigt. Dann folgt in dem wieder viel ausführlicheren dritten Teil der Rede die Gegenüberstellung der Akairia d. h. der Ungunst des Augenblicks für Philipp : 3 9 er hätte diesen Krieg gegen Olynth wahrscheinlich niemals unternommen, wenn er geglaubt hätte, daß man sich diesmal seinen Drohungen nicht fügen und daß es ernstlich zum Kriege kommen würde. Dazu kommt die Unzuverlässigkeit seiner thessalischen Bundesgenossen, die nun einmal in ihrem treulosen Charakter liegt. Als Symptom ihrer Unzufriedenheit fuhrt Demosthenes an, daß sie beschlossen hätten Pagasai von Philipp zurückzufordern, und ihn verhindert hätten Magnesia zu befestigen. Sie sollen ihm nach neueren Informationen auch die Häfen
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und Märkte ihres Landes nicht mehr überlassen wollen. Die barbarischen Nachbarstämme der Illyrier, Päoner etc. sind Freiheit liebende Völker und möchten ihr ungewohntes Joch lieber heute als morgen abwerfen. Philipp selbst ist die Hybris in Person. Sein unverhofftes Glück ist ihm zu Kopf gestiegen, und es wird ihm schwerer fallen es zu behaupten als es zu gewinnen. Das alles ist für die Athener ebenso günstig wie für ihn ungünstig. Welchen Gebrauch würde Philipp von der Gelegenheit machen, die sich jetzt den Athenern bietet, wenn er sie hätte: den Krieg unmittelbar an den Grenzen des feindlichen Landes zu führen. Die Athener haben jetzt die Wahl, ob sie dies vorziehen oder lieber warten, bis Philipp den Krieg in das attische Land tragen wird; denn wenn er Olynth einnimmt, wird nichts ihn hindern können nach Attika zu marschieren10. Die Haltung, die Demosthenes in den philippischen Reden einnimmt, ist nicht die des Politikers am grünen Tisch, der zu seinesgleichen spricht, oder des Parlamentariers. Es ist die Haltung eines Mannes, der erkannt hat, daß es unumgänglich ist, sich das Vertrauen des Volkes selbst zu erobern. Die ersten Anfänge dazu fanden wir in der Rhodierrede.21 In den Reden gegen Philipp wird er vollends zum Erzieher des Volkes.22 Es bleibt ihm kein anderer Weg. Er sieht, daß die Menge leichtfertig und sorglos in den Tag lebt, und daß die Redner immer so sprechen, wie es der Menge genehm ist. Das ist menschlich, man kann nicht einmal sagen, daß die Redner das Volk verderben. Sie sind so, wie das Volk sie haben will. Wer ihren schädlichen Einfluß ausschalten will, darf sich nicht damit begnügen, ihre Ansichten zu bekämpfen, sondern er muß die Seele des Volkes ändern. Er muß es zu einem höheren Begriff seiner Pflicht und seiner Aufgabe emporreißen, so schwierig, ja unmöglich dies auch scheint. Dann werden auch die Redner sich auf eine andere Sprache besinnen müssen oder sie werden nicht mehr das Ohr des Volkes haben. So spricht Demosthenes, oder wer sonst der Verfasser ist, am Schluß der Rede Über die Neuordnung ( ). 2 3 Da diese Rede großenteils aus Glanzstellen anderer demostheni-
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scher Reden zusammengesetzt ist, wurde sie im XIX. Jahrhundert allgemein als unecht betrachtet. In neuerer Zeit ist die Richtigkeit dieses Verwerfungsurteils bezweifelt worden, und gegenwärtig scheint der Sieg der neuen Richtung so gut wie entschieden. 23 Ich kann hier nicht näher auf das Problem eingehen, aber es ist vielleicht doch schwieriger, als es den meisten bewußt ist, die die Echtheit der Rede heute mit voller Zuversicht beurteilen. ·* In jedem Fall ist in dem Schlußteil dieser Rede die Stellung des Demosthenes zu dem großen Problem, wie man die Gesinnung des Volkes von Grund auf umgestalten könne, durchaus richtig getroffen. Dies ist in der Tat das eigentliche Ziel der philippischen Reden in den kommenden Jahren. Wenn man dieses Zusammenstimmen bisher noch nicht für die Echtheit der umstrittenen Rede ins Feld geführt hat, so ist das nur so zu erklären, daß man diese volkserzieherische Seite der philippischen Reden über den realpolitischen Einzelheiten, welche man vor allem in ihnen suchte, nicht mehr klar gesehen und damit ihr eigentliches Wesen verkannt hat. Wie bewußt er an diese erzieherische Aufgabe herangeht, beweist der Anfang der zweiten olynthischen Rede. Offenbar haben die führenden Politiker die Dringlichkeit der von ihnen vorgeschlagenen Maßregeln damit begründet, daß sie Philipps Macht in ihrer ganzen paradoxen Größe ausmalten. Diese Pädagogik hält Demosthenes für grundfalsch. Nach der ersten Philippica mußten wir das bereits erwarten. Nachdem er in der ersten olynthischen Rede die praktischen Maßregeln der Regierenden als unzulänglich getadelt hat, setzt er sich in der zweiten auseinander mit ihrer verkehrten Art, das Volk zu behandeln. Sie scheint ihm eher geeignet es zu entmutigen als es zu kräftigem Handeln fortzureißen.25 Er vermißt in ihren Reden das ethisch anfeuernde Moment, das wir in der ersten Philippica wie in der ersten olynthischen Rede so entscheidend in den Vordergrund gerückt fanden, wenn er dort die Athener vor allem bei ihrem Willen zu fassen sucht, so daß es fast so scheint, als habe nur ihr Mangel an Entschlossenheit
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Philipp groß gemacht.26 Dieses Bild erhält in der zweiten Rede seine positive Ergänzung, indem nun auch der eigene Anteil Philipps an seinem Aufstieg beleuchtet wird. Doch wir werden natürlich auch hier keine objektive Würdigung seiner großen Eigenschaften erwarten, wie etwa ein zeitgenössischer Historiker wie Theopomp sie geben würde.2~ Auch hier legt Demosthenes vor allem den ethischen Maßstab an. Er sucht zu beweisen, daß die Macht Philipps, soweit er sie nicht der Fahrlässigkeit der athenischen Politik verdankt, hauptsächlich durch Trug und Hinterlist zustande gekommen sei. An dieser ihrer inneren Schwäche muß sie auch wieder zu Grunde gehen. Es ist unmöglich, auf solchem Fundament ein festes Gebäude zu errichten, wenigstens nicht für die Dauer.28 Demosthenes schlägt daher die unverzügliche diplomatische Bearbeitung der Thessaler durch athenische Gesandte vor und verspricht sich von ihr um so mehr Erfolg, je mehr sie auf dem Kriegsschauplatz von Taten begleitet sein werde.29 Philipps eigene ererbte makedonische Macht hält er nur im Bunde mit anderen für gefahrlich, wie er aus ihrer Geschichte zu zeigen sucht. Er baut aber auch darauf, daß das makedonische Volk selbst nicht von demselben unablässigen Tatendrang erfüllt sei, da es nicht denselben Vorteil von seinen kriegerischen Unternehmungen habe, wie sein König. 3° Von der Umgebung Philipps entwirft Demosthenes kein schmeichelhaftes Bild, und hier stimmt er mit dem Historiker Theopomp überein, der Philipp für den größten Herrscher hält, den Europa jemals hervorgebracht habe, aber ihn und seine Umgebung trotzdem moralisch schonungslos bloßstellt. Es dominiert dort ein herrischer, ehrgeiziger militärischer Typus, keiner läßt den anderen neben sich aufkommen oder seine Verdienste gelten. Vernünftige und gerechte Leute, die die tägliche Zügellosigkeit des Lebens, die Trunksucht und Unflätigkeit nicht ertragen können, stehen in keinem Ansehen und werden ausgeschlossen. Der König ist von Schmeichlern, Räubern und schamlosem Gesindel umgeben. Theopomp nennt sie wilde Bestien. Alles was Philipp von athenischen sogenannten Künstlern heranzieht, stammt aus dem Tingeltangel und ist von derselben Art.
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Demosthenes glaubt, daß vorläufig Philipps Erfolg noch alles dies überschatte. Aber wenn es auch scheinbar geringfügige Dinge sind, so sind es doch Symptome seiner Wesensart. Ein Krieg an den Grenzen des eigenen Landes werde, so meint Demosthenes, alle Schwächen Philipps am ehesten aufdecken. 3l Wir müssen diese moralische Kritik des Gegners, ich wiederhole es, durchaus als das nehmen, als was sie selbst sich gibt, als den Versuch, den Willen des Volkes, der durch den Eindruck der Unbezwinglichkeit Philipps gelähmt ist, zu befreien, nicht nur durch die Erkenntnis der eigenen Unterlassungssünden, sondern auch durch die Einsicht in die menschlichen Schwächen der Macht des Gegners. Daß Demosthenes ihn keineswegs nur so gesehen hat, wie er ihn hier schildert, daß er ein scharfes Auge hatte für das Außerordentliche der Persönlichkeit Philipps, lassen zahlreiche andere bewundernde Äußerungen erkennen. Aber darum wird er doch geglaubt haben, was er hier als seine Überzeugung bekennt: daß die moralische Struktur einer politischen Macht eine wesentliche Bedingung für ihre Haltbarkeit ist. 3* Es war also notwendig für ihn, an diesem Punkte einzusetzen. Die Frage ist nur, ob sich diese moralische Struktur wirklich in den von Demosthenes angeführten Symptomen charakteristisch offenbart, oder ob sie doch noch andere, gesundere Wurzeln hatte, die der Athener nicht erkennen konnte. Es ist zweifelhaft, ob die bürgerliche Moral des Großstädters Demosthenes oder des Kleinstädters Theopompos mit ihrem Begriff von Anstand der passende Maßstab für eine Rasse von Menschen war, die nicht auf vergleichbarer Stufe der Kulturentwicklung standen, sondern in all ihrer Roheit eine primitivere Kraft der Natur noch ungebrochen bewahrten. Jedenfalls mußte die Überzeugung des Demosthenes Philipps Erfolge nur um so geheimnisvoller für ihn machen. Und so führt denn Demosthenes als schwersten Einwand gegen sich selbst jenen unbestreitbaren und unberechenbaren Faktor ins Feld, den wir das Genie Philipps nennen würden, der Grieche des IV. Jahrhunderts aber Philipps Tyche nennt. Es ist schwer zu sagen, was dieses Wort, von der großen geschichtlichen
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Persönlichkeit ausgesagt, für Demosthenes in sich schließt. Mehr als unser psychologischer Begriff des Genies weist die griechische Vorstellung auf den Zusammenhang mit dem Übermenschlichen, Dämonischen hin. 33 „Wer einen solchen Feind für einen furchtbaren Gegner hält, der ist gewiß ein besonnener Mensch i denn in den menschlichen Dingen gibt die Tyche den entscheidenden Ausschlag, ja sie ist alles. Und doch, wenn man mir die Wahl freistellte, so würde ich mich trotzdem für die Tyche unserer Stadt entscheiden, wenn ihr nur einigermaßen tun wollt, was ihr müßt, und nicht für Philipps Tyche. Denn ich sehe für euch mehr Möglichkeiten als für ihn, der Götter Wohlwollen zu erlangen." Hier rührt Demosthenes an die tiefsten Wurzeln des Vertrauens zu dem guten Genius Athens. Dem Irrationalen in Philipp, das dämonisch schreckt, setzt er gegenüber das Irrationale dieses Glaubens, der darum stärker ist, weil in ihm das unvordenkliche Dasein und der geschichtliche Ruhm Athens verschmilzt mit den Grundlagen der sittlichen Existenz jedes einzelnen Bürgers. Dieses tief in der Seele des Volkes verschüttet liegende Vertrauen gräbt Demosthenes aus und zieht es wieder ans Licht, und so entzaubert er die Macht seines Feindes, wie er es am Eingang dieser Rede als die Aufgabe des wahren Volksführers hingestellt hatte, um dann zum Schluß noch einmal mit den schärfsten Akzenten seines herben Tadels die Untätigkeit der Athener zu geißeln und sie aufzurufen, alle ein Opfer zu bringen und selbst zu Felde zu ziehen. Die olynthischen Reden müssen einander rasch gefolgt sein. Demosthenes schürt das Feuer solange es brennt. Nach dem Antrag der ersten Rede, statt eines einfachen Hilfszugs eine zweifache Expedition ins Feld zu senden und Philipp zugleich in der Heimat und vor Olynth anzugreifen, und nach dem Vorschlag der zweiten Rede, sofort zu versuchen die Thessaler von dem Bündnis mit Philipp abspenstig zu machen, glaubt Demosthenes die Athener genug von Eifer für die Sache erfüllt, um den schwersten innenpolitischen Vorstoß zu wagen, der sich gegen die Grundlagen der ganzen bisherigen athenischen Politik seit dem
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Bundesgenossenkrieg richtet. Günstige Nachrichten von Olynth, die sich bald als verfrüht erweisen sollten, geben ihm den Anlaß, gegen die Phantasten aufzutreten, die jetzt schon voreilig davon reden, an Philipp Rache zu nehmen, während es sich doch einzig darum handelt, mit aller Macht, soweit es in Athens Kräften steht, Olynth zu helfen. Denn wer könnte Philipp nach der Niederwerfung dieses letzten Bollwerks im Norden hindern, den Krieg nach Mittelhellas zu verlegen, da Theben den Athenern feindlich ist, und den Phokern bereits die Mittel ausgehen, den Krieg fortzusetzen. Doch der Wille, Olynth zu helfen, ist da. 3 4 Die Frage ist nur, wie er zur Tat werden soll. Jeder fühlt, daß die üblichen kleinen Hilfssendungen nichts nützen können. Etwas Außerordentliches muß geschehen, neue finanzielle Hilfsquellen müssen erschlossen werden. Ohne Zweifel war der Boden für Demosthenes' Vorschlag, der äußerst kühn und revolutionär ist, seit langem vorbereitet. Es galt ein sehr unpopuläres Gesetz durchzubringen, das jeden einzelnen, vor allem aber die kleinen Leute traf. Es rüttelte an einem seit Perikles geheiligten Vorrecht des Volkes, das fast wie eine Art Symbol der Demokratie erschien, und auf dessen Antastung schwere Strafe stand. Das waren die Theatergelder, die „Theorika", die jeder Bürger aus der Staatskasse empfing, um die Aufführungen im Theater an den großen Festen des Staates zu besuchen. 3 5 Gewiß war es nicht nur der Wunsch gewesen, die Menge angenehm zu unterhalten, was Perikles bewegen hatte, diese Einrichtung zu treffen. Der Staat machte sich dadurch den erzieherischen Geist zu eigen, der die großen Dichter der attischen Tragödie beseelte, und indem er jedem Athener freien Eintritt zum Theater gab, wurde dieses erst wahrhaft zu einer Bildungsstätte des ganzen Volkes. Aber abgesehen davon, daß der Geist der attischen Bühne und Dichtung sich seither tief gewandelt hatte, war es in diesen Zeiten der Not ein ungeheurer Luxus, die beschränkten Mittel der Staatskasse so unproduktiv auszugeben. Schon in der ersten olynthischen Rede hatte Demosthenes auf die Theorika angespielt, um zu zeigen, daß Geld genug da sei, um
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den Krieg nach seinem Vorschlage zu führen, wenn das Volk keine neuen Steuern zahlen wolle. Aber er hatte sich dort noch gehütet direkt den Antrag auf Abschaffung der Theatergelder zu stellen. 36 In jenem Stadium hätte das nicht nur die Masse verstimmt und widerwillig gemacht, sondern auch die Einigkeit der Führung gestört, deren es zunächst vor allem bedurfte. Denn das war die Kehrseite der Sache: wer die Theorika angriff, traf damit zugleich Eubulos, das Haupt der damaligen Führerschaft des athenischen Staates, der seine ausschlaggebende Macht als Finanzpolitiker in erster Linie seiner langjährigen Stellung als Verwaltungschef der Theorikenkasse verdankte.37 Dieser Mann hatte seine unbestreitbaren Verdienste um die Sanierung der attischen Staatsverwaltung nach den Erschütterungen des Bundesgenossenkrieges, besonders um die Reorganisierung der Finanzen. Aber seit langem schon bekämpfte Demosthenes seine halben Maßnahmen in der Außenpolitik. Daß Eubulos jetzt endlich sich aufgerafft und überhaupt etwas unternommen hatte, war zwar ein kleiner Fortschritt, aber es erschien dem Demosthenes doch bald schon nur als Hindernis, weil alle Maßregeln der Regierung seinem Eifer bei weitem nicht genügten. Was er forderte, war der äußerste Einsatz aller Kräfte. Ihm schien es, als ob das Volk jetzt Opfer zu bringen bereit sei, wenn man es nur richtig anpackte und ihm den Ernst der Lage klar machte. Offenbar war sein in der ersten olynthischen Rede gemachter Doppelvorschlag wieder abgelehnt worden; man schickte lieber die Hilfssendungen tropfenweise. Der Grund wird immer wieder die Kostenfrage gewesen sein. So greift Demosthenes schließlich den Stier bei den Hörnern an: er fordert die Verwendung der Theatergelder für den Krieg und eröffnet damit den offenen Kampf gegen die Staatsleitung des Eubulos. 38 Aber hieß das nicht, sie an dem Punkt des größten Widerstandes angreifen ? Mußte sie nicht gerade in dieser Frage das Volk auf ihrer Seite haben? Nach normaler Rechnung allerdings, aber Demosthenes vertraut schon so fest auf die Kraft seiner erzieherischen Autorität beim Volke, daß er hofft gegen den allmächtigen
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Gegner seiner Politik, den Eigennutz und die Bequemlichkeit, den Sieg davonzutragen. Er sucht also dem Volk zu zeigen, daß die Gewährung der Theatergelder nur der Köder ist, um den athenischen Demos nach dem Willen einer kleinen plutokratischen Minderheit zu lenken. Er beteuert, er rede so nicht aus der bloßen Sucht, sich möglichst verhaßt zu machen, sondern stelle nur in der Hoffnung etwas zu nützen die Rettung des Ganzen über seine persönliche Beliebtheit, wie es die wirklichen Staatsmänner zur Zeit der Vorfahren getan hätten, die sich noch nicht von den Wünschen und Launen des Volkes leiten ließen, sondern von dem, was sie als das Beste erkannten. 39 Und nun entrollt er den Gegensatz der großen Zeit Athens, als der Staat noch mächtig und reich war, aber die Führer schlicht und einfach lebten und in anspruchslosen Häusern wohnten, und der Gegenwart, wo der Staat schwach und hilflos dasteht, aber die Leute, die ihn leiten, in Palästen residieren, die prunkvoller und großartiger sind als die öffentlichen Gebäude. Sie haben sich am Staate bereichert, aber ihre einzigen Leistungen zum Heile Athens bestehen darin, daß sie die Straßen und die Brunnenleitungen ausbessern urid die Zinnen der Mauern tünchen. 1° Der Grund ist der, daß das Volk in früheren Zeiten selbst handelte und selbst ins Feld zog, daher war es auch selber Herr des Staates und seiner Güter. Jetzt dagegen verteilen die politischen Führer das Eigentum des Staates, wie es ihnen paßt, das Volk aber hat keine Sehnen mehr in den Gliedern, ist des Geldes und der Bundesgenossen beraubt und daher nur noch ein Anhängsel und Bedienter, der froh ist, wenn ihm seine Gebieter etwas Eintrittsgeld für das Theater geben, und der sich dafür auch noch bei ihnen bedanken muß. Ihr werdet in die Stadt eingeschlossen, um euch gefügig und zahm zu erhalten, man pflanzt euch keinen höheren Schwung der Gesinnung ein, sondern bei kleinlichen Beschäftigungen erzieht man euch geflissentlich zu kleinkrämerischer Denkweise, t1 Die Rede gipfelt in der erneuten Aufforderung, selbst ins Feld zu ziehen, Athens würdig zu sein und die vorhandenen Mittel für die Rettung der auswärtigen Interessen einzu-
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setzen. Wer das Geld des Staates empfangen will, soll auch etwas für den Staat leisten. Er soll es sich im Krieg verdienen, statt es als Müßiggänger zu verzehren. Demosthenes schließt mit dem Appell, die von den Vorfahren unter Mühen und Gefahren eroberte Stellung nicht preiszugeben und nicht nur von anderen zu erwarten, daß sie etwas für die Athener tun, sondern vor allem selber für sich einzustehen, v Es war nicht das erste Mal, daß dieser Tadel des Eubulos in Athen öffentlich laut wurde. Demosthenes hatte dieselbe Kritik des herrschenden Systems schon in der Rede gegen Aristokrates dem Ankläger Euthykles in den Mund gelegt; sie ist von da in die dritte olynthische Rede übernommen.« Aber sie mußte von ganz anderer Wirkung sein, wenn sie mit Demosthenes' leidenschaftlichem Temperament und im Zusammenhang mit seiner Forderung der Abschaffung der Theatergelder in diesem Augenblick ausgesprochen wurde. Ihre agitatorische Kraft war durch diese Verbindung gefährlich gesteigert. Für uns erhöht den Eindruck die noch wache Erinnerung an die Sprache, die Demosthenes in seiner ersten politischen Rede für die Symmorien einst als Vertreter eben der reichen Friedenspolitiker geführt hatte, die er jetzt um so wirksamer angreifen kann, als er ihre Mentalität aus eigener früherer Zugehörigkeit kennt. Es war, wie schon einmal hervorgehoben wurde, nicht eine theoretische Bekehrung zu demokratischer Anschauungsweise, was Demosthenes von diesen Kreisen mehr und mehr getrennt hatte. 44 Er war kein engstirniger Parteidoktrinär. Aber er hatte sich durch die Erfahrung belehren lassen, daß die besitzende Schicht in dem demokratischen Athen notgedrungen und aus langer Gewöhnung immer geneigt war, den Frieden um jeden Preis zu erhalten, weil alle materiellen Opfer des Krieges einseitig ihr zur Last fielen, während die Menge, seit sie ihre Kriege durch Söldnerheere fuhren ließ, im Falle der Niederlage wenig riskierte, aber am Gewinn des Sieges stets Teil hatte. Von den Besitzenden war nach dem Verlust des Bundesgenossenkriegs die Parole ausgegeben worden: nie wieder Krieg, keine neuen Erwerbungen und Ausdehnungsbestrebungen
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mehr, sondern friedliche Entwicklung Athens zum reinen Handelsstaat. Dieses Programm hatte in Eubulos seinen konsequenten Vertreter gefunden. Aber Philipps politisches Umsichgreifen auf Kosten Athens hatte gezeigt, daß ein Staat wie Athen nicht einfach, wenn er Ruhe benötigt, aus der Reihe der handelnden Mächte in Reservestellung zurücktreten kann, ohne auch noch den Rest seiner Macht zu verlieren. Es stellte Athen vor die Frage, ob es nach seiner politischen Vergangenheit nun freiwillig sich ganz, auslöschen woÜte oder den letzten Einsatz wagen, der dann freilich nicht nach dem Prinzip des kleinsten Kraftaufwandes bemessen werden durfte, wie es in der Art der eubulischen Politik lag. Demosthenes mußte hier eine klare Entscheidung suchen, und es konnte für ihn keinen anderen Weg geben als den Aufruf an das Volk als letzte Instanz. Mochte er dabei auch dessen radikale Instinkte streifen und zum Schwingen bringen, so war doch was er wollte etwas viel Größeres: er wollte das Volk selbst durch den Appell an seine höchsten Kräfte fähig machen, den Regierenden die letzte Entscheidung aus der Hand zu nehmen,, zu der sie sich ihrer Natur nach niemals aufraffen konnten. Der Träger eines wirklichen Opferwillens konnte nur das Volk sein. Doch darin gingen eben die Ansichten des Demosthenes und seiner politischen Gegner diametral auseinander, ob das Volk diese moralische Kraft noch besitze, die es einst hochgehoben hatte, oder ob es wirklich reif sei für die Rolle des kleinen Altersrentners,, welche die ruhebedürftigen Reichen und Intellektuellen ihm zugedacht hatten. 45 Das war dann freilich kein Staat mehr, der Anspruch auf diesen großen Namen hatte, und die Erinnerung an die Vorfahren, die die Redner in Athen so gern beschworen, mußte dann verstummen, weil sie nur schmerzlich an unwiederbringlich Verlorenes gemahnte. Aber Demosthenes hat sie bewußt gerade in diesem Augenblick wieder zu beschwören gewagt, wo er den Leuten in den Weg trat, welche aus Athen eine stifte Bürokratie machen wollten. Es liegt in der Natur seiner Entscheidung, daß er mit diesem Schritt sich von jener Besitz- und Bildungsschicht trennen mußte, für die Athens Zukunft ein Pro-
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blem des kühlen Verstandes, nicht eine Frage des Willens und des Charakters war. So ist Demosthenes zum Volksmann geworden, aber nicht im Sinne eines Anwalts der Masseninstinkte, wie Plato den Demagogen schildert, sondern als jener fordernde Erzieher und Führer des Volkes, als der er sich in den olynthischen Reden vor unseren Augen entfaltet. Wenn es überhaupt noch einen Weg zur Rettung gab, so war es sicher der, den Demosthenes zeigte. Das Schicksal Athens wollte, daß er nicht durchdrang. Die Verwandlung der Theatergelder in eine Kriegskasse wurde ebensowenig angenommen wie der Antrag auf eine gleichzeitige Kriegführung auf zwei Schauplätzen, 46 und wenn auch beschlossen wurde, daß die Bürger selbst ausrückten, fehlte es doch an Geld zur wirksamen Ausführung der Beschlüsse. Es blieb alles, wie Demosthenes es immer wieder mit größter Heftigkeit getadelt hat: an Beschlüssen ist bei uns kein Mangel, aber von Taten ist keine Rede. Der Widerstand der Kreise des Eubulos gegen den unbequemen self-made man war zu groß und verstärkte sich dauernd mehr. Leider haben wir von der Gegenpartei kein klares Bild. Sie muß Demosthenes schon seit langem gehaßt und gefürchtet haben. Mit welchen Waffen man ihn bekämpfte, zeigt der Prozeß gegen Meidias, der um dieselbe Zeit spielte. Dieser Mann gehörte zu den reichsten Athenern und war mit Eubulos befreundet. Demosthenes schildert ihn als brutalen Protzen, der sich nicht ohne ein Gefolge von drei bis vier Dienern auf der Straße zeigt und der sich alles herausnehmen darf, was die Gesetze verbieten, weil sein Geld ihm über alle Schwierigkeiten hinweghilft. Die Feindschaft mit ihm war privaten Ursprungs und ging in die Zeit des Vormundschaftsprozesses zurück, in den Meidias sich als völlig Unbekannter eingemischt hatte. 47 Daran knüpfte sich eine endlose Kette von Injurien der schwersten Art, deren Demosthenes sich jahrelang zu erwehren hatte und die aus einem offenbar pathologischen Geisteszustand seines Hassers entsprangen. Dieser Kleinkrieg fand seinen Höhepunkt in der Zeit, als Demosthenes freiwillig die Ausstattung des Chors seiner
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Phyle für das Dionysosfest übernommen hatte und sich alle Mühe gab, mit seinem Chor den ersten Preis zu erringen. Meidias suchte ihn die ganze Zeit hindurch öffentlich zu verunglimpfen und ihm in jeder Weise zu schaden. <8 Er drang nachts in die Werkstatt des Künstlers ein, der für Demosthenes das Festgewand und die goldenen Kränze des Chors arbeitete, und zerstörte sie. Er bestach den Chorführer, die Ausbildung des Chors zu vernachlässigen, bis es entdeckt und der Mann entlassen wurde. Er bestach die Preisrichter und beschimpfte den ganzen Chor am Festtag im Theater. Er riß dem Demosthenes das heilige Gewand vom Leibe und ohrfeigte ihn vor versammeltem Volke, das den Täter erregt auspfüf. Die Sache wuchs sich zum Riesenskandal aus; das Volk veranstaltete am folgenden Tage eine Vorabstimmung gegen Meidias wegen Ungebühr am Feste des Gottes, und Demosthenes klagte gegen ihn. Aber die Sache wurde durch Intrigen des einflußreichen Meidias jahrelang verschleppt. 49 Demosthenes beklagt sich in dem Entwurf seiner Rede, daß die Prozeßangelegenheiten der Reichen abgestanden vor die Gerichte kämen. Er betont scharf, daß seine Klage keine politischen Gründe habe, sondern die reinste Notwehr sei. Diese Feststellung war nötig, weil unter anderen Freunden des Meidias auch Eubulos für ihn auftreten wollte, der bei jener um Jahre zurückliegenden Vorabstimmung nach der Tat keine Hand geregt hatte, jetzt aber dem Demosthenes feindlich gesinnt ist und daher für Meidias einspringt. Auch andere Politiker werden für Meidias sprechen, Demosthenes aber steht allein da, wie er auch in seinem politischen Kampf bisher allein gestanden hat. 5» Aber er gesteht, daß ihn das nicht schrecke, denn er habe dem Volke stets nur geraten, was er für das Beste hielt, und niemals etwas dafür empfangen, sondern fast sein ganzes Vermögen für die Zwecke des Staates gegeben. Wenn man ihn also jetzt einen Rhetor nennen wird, will er sich den Titel in dem Sinn, wie er diese Tätigkeit ausgeübt hat, gern gefallen lassen. 51 Es ist deutlich, daß die Sache ursprünglich wirklich nicht politischen 10
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Charakter 52 getragen hatte, aber sie hatte ihn durch die inzwischen eingetretenen Ereignisse für die Gegner des Demosthenes nachträglich erhalten. Sie mußten suchen ihn zu Fall zu bringen oder mindestens einander gegen ihn beistehen. Der Streit mit Meidias steht in innerem politischem Zusammenhang mit dem Prozeß, den Stephanos gleichzeitig auf Betreiben des gleichen Kreises um Eubulos gegen Apollodoros anstrengte, um diesen unschädlich zu machen, als er im Einverständnis mit Demosthenes die gesetzlichen Hindernisse der Verwendung der Theatergelder für Kriegszwecke zu beseitigen suchte. Die Zeitanspielungen in der Rede des Demosthenes gegen Meidias fuhren für die Abfassung ungefähr auf die Zeit des olynthischen Krieges. 53 Demosthenes hat sie im übrigen niemals gehalten, sondern zuletzt einen Vergleich geschlossen, über dessen wahrscheinlich politische Motive wir auf bloße Vermutungen angewiesen sind. Der Fall Olynths und die barbarische Rache Philipps, der alle Städte des olynthischen Bundes zerstören ließ, im Jahre 348 machte allen Hoffnungen, die man in Athen an die Hineinziehung dieser Macht in den Krieg geknüpft hatte, ein jähes Ende. Das Verhalten der beiden politischen Richtungen in Athen in diesem Moment ist bezeichnend. Eubulos und seine Freunde müssen jetzt für ihre Stellung zittern und beantragen Gesandtschaften an alle Griechen, um sie zum Kriege gegen Philipp aufzurufen, natürlich ohne Erfolg, s* Demosthenes ist durchdrungen von der Notwendigkeit, Frieden zu schließen, wenn dieser auf ehrenvolle Weise für Athen zu erlangen ist. Das ist völlig logisch und folgerichtig. Es ist unbegreiflich, daß man im Ernst die Gegner, die jetzt genau so wie früher die Lage verkennen, für die besseren Politiker hält. Demosthenes hat in allen Stücken richtiger gesehen als sie. Er sieht das Drama in steiler Kurve seinem Ende zustreben und gibt sich nicht der Illusion hin, den Kampf noch fortsetzen zu können. Wenn er sich sogar in die Friedensdelegation an König Philipp als zehnter und jüngster wählen ließ, so hat ihn dazu wohl, abgesehen von
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seinem Mißtrauen gegen die Vertrauensmänner des Eubulos, die Hoffnung bestimmt, eine etwa bei dem Gegner zutage tretende leise Bereitschaft zum Entgegenkommen für Athen auszunutzen. Philipp begehrte mit dem Frieden zugleich das Bündnis, und man konnte vielleicht noch denken, es ihm als Konzession zu gewähren und dafür die Durchsetzung von Forderungen zu erlangen, auf die nicht zu verzichten auch für ein besiegtes Athen noch Ehrensache schien wie die Rückgabe von Amphipolis. Aber Philipp blieb in der Sache unerschütterlich fest und zog die Unterhändler durch seine sichere Klugheit und persönliche Liebenswürdigkeit größtenteils so sehr in seinen Bann, daß sie den Empfang durch Philipp bei ihrem Bericht in Athen nicht genug rühmen konnten und von Demosthenes erst zur Sache gerufen werden mußten. Und doch hatten sie alle ihre Sache gut gemacht und lange, wohlausgearbeitete Reden vor dem König gehalten, auf die dieser zu ihrem Staunen mit natürlicher Beredsamkeit und großer Geistesgegenwart geantwortet hatte. Nur einer, so erzählt als Augenzeuge sein Gegner Aischines, war nach kurzer Rede verstummt und, wie man glaubte, stecken geblieben; das war Demosthenes selbst, der als letzter das Wort erhielt. 55 Hatten die Vorredner ihm alles Wesentliche schon vorweggenommen und war er, der große Kunstredner, zur Improvisation, die immer seine schwache Seite war, in diesem Augenblick nicht fähig? Sein rednerischer Konkurrent Aischines, der selbst die Peinlichkeit des Steckenbleibens in einer auswendig gelernten Rolle aus seiner früheren Laufbahn als Schauspieler kannte, gibt diese Erklärung und schildert seinen eigenen Erfolg in den hellsten Farben. Der König habe denn auch in seiner Entgegnung Aischines' Namen mehrfach erwähnt. Die Demosthenesbewunderer haben sich ihrerseits bemüht, den Bericht als unwahr zu erweisen, wozu unser Wissen jedenfalls nicht ausreicht. War es der starke Eindruck der Persönlichkeit Philipps, was Demosthenes den Atem raubte? Oder war er vielleicht auch hier der Einzige, der das theatralische Spiel sofort richtig durchschaute ? Mußte er nicht die vernichtend geringe 10*
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Aussicht der athenischen Sache und die ungeheure Verantwortung vor der Geschichte stärker fühlen als die eitle Genugtuung, vor dem gefürchteten Gegner die attische Redegabe glänzen zu lassen, von der dieser aus der Ferne so viel gehört und der er sicher seinen gnädigen Beifall zu spenden gern bereit war, wenn die Athener nur seine unerbittlichen Bedingungen anerkannten und sich restlos unterwarfen? Dem endgültigen Friedensdiktat hat Demosthenes trotz seiner klaren Erkenntnis der Friedensbedürftigkeit Athens die Zustimmung verweigert. Der Vertrag band Athen durch das erzwungene Bündnis die Hände, er lieferte Amphipolis an Philipp aus, und indem er von allen Bundesgenossen Athens einzig die immer noch verzweifelt mit Theben weiterkämpfenden Phoker von dem Frieden ausschloß, gab er sie Philipp ausdrücklich preis und erteilte diesem indirekt die Vollmacht zur Einmischung in die mittelgriechischen Verhältnisse, die aller menschlichen Voraussicht nach die Ausdehnung seiner militärischen Oberherrschaft und seines moralischen Einflusses bis an die Grenzen Attikas zur Folge haben mußte. Demosthenes hatte diesen Krieg nicht verursacht oder zu ihm getrieben, sondern ihn vorgefunden. *>6 Er hatte versucht seine Durchführung mit größerer Entschiedenheit zu betreiben und trug für den Ausgang nicht die Verantwortung, da er sich nicht durchgesetzt hatte. Es ist zwar nicht wahrscheinlich, daß er einen anderen Ausweg sah als die Annahme der feindlichen Gebote, aber es ist begreiflich, daß er es anderen überließ, den Antrag zu stellen, den er als wahrer Freund seines Vaterlandes bis zuletzt bekämpfen mußte. Mochten jetzt Eubulos und sein Anhang es sein, die den Frieden mit Philipp ratifizierten, an dessen schlechtem Ausfall sie nach Ansicht des Demosthenes die eigentliche Schuld trugen.
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KRIEG ODER FRIEDEN? Der Friede Athens mit König Philipp brachte die von allen als notwendig erkannte Atempause. Aber er bedeutete für keinen der Beteiligten ein Versinken in tatenlose Träume, sondern stellte alle mit ungeheurem Ernst vor die Schicksalsfrage der Zukunft Griechenlands. Trotz aller von der Politik abziehenden Tendenzen des Zeitgeistes lag dennoch wieder die letzte Entscheidung bei dem Problem des Staates und seiner kommenden Gestaltung. Aber es machte sich ein Irrewerden der Menschen an den gewohnten Voraussetzungen und Methoden der Politik bemerkbar. Alle denkenden Geister des griechischen Volkes sind um den Staat bemüht, aber seinen bisherigen Ärzten traut man nicht mehr recht. Man hatte sie nicht entbehren können, als es galt, nach dem Zusammenbruch des V. Jahrhunderts einen neuen Kosmos der griechischen Stadtstaaten aufzubauen. Doch nach seinem erneuten Zerfall glauben diejenigen ihre Stimme wieder vernehmlicher erheben zu müssen, die, außerhalb der professionellen Politik stehend, kraft ihrer geistigen Einsicht weiter zu schauen suchen als die Männer des Tages, vor denen sie in der lauten politischen Arena das Feld geräumt haben. Als ihr Stimmführer richtet der neunzigjährige Isokrates in einer Denkschrift das Wort an König Philipp, und mit der ganzen Würde seines Alters und Namens, der in der griechischen Welt des weitesten Widerhalls sicher sein darf, fordert er ihn auf als Helfer in der Not zu erscheinen. Schon nach dem Bundesgenossenkriege hatte Isokrates in seiner Flugschrift für den Frieden in ähnlicher Lage die Athener zu überzeugen gesucht, daß das Heil des geschwächten Staates nicht in der Fortsetzung der imperialistischen Politik des jetzt auseinandergefallenen Seebundes liege, sondern in dem bewußten Verzicht auf jede gewaltsame Herrschaft über andere Staaten. Damals hatte er sich als Ergebnis dieser negativen
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Politik versprochen, daß die Griechen, erfreut über diese moralische Gesundung der Beziehungen zwischen den Staaten, freiwillig Athen eine Art Hegemonie honoris causa übertragen würden.1 Die Zwischenzeit mußte ihn eines Besseren belehrt haben, denn Athens außenpolitische Passivität hatte nur dazu geführt, daß die meisten der griechischen Staaten, selbst die im fernen Peloponnes, sich mit der neu aufstrebenden makedonischen Macht verbündet hatten und dabei ihren Vorteil suchten. Athen war isolierter als je. Selbst der größte Ideologe konnte seine Augen nicht gegen die Tatsache verschließen, daß in Philipp eine neue Größe in die Erscheinung getreten war, mit welcher diejenigen nicht gerechnet hatten, die es mit Isokrates für möglich gehalten hatten, die Beziehungen zwischen den griechischen Staaten durch die einfache Übertragung der normalen bürgerlichen Anstands- und Moralbegriffe auf die Außenpolitik zu bessern.2 Auch Isokrates spricht es in seiner neuen Denkschrift an König Philipp offen aus, daß nur das Interesse der Staaten für ihr Handeln den Ausschlag gebe. 3 Aber eben diese Erkenntnis läßt ihn hoffen; denn die Hauptstaaten von Hellas, Athen, Sparta, Theben, Argos sind sämtlich so geschwächt, daß sie der Ruhe bedürfen und keiner von ihnen fähig ist, ein entscheidendes Übergewicht über die anderen zu erlangen. 4 Ein Gedanke wie der früher im Panegyrikos von Isokrates vertretene einer Verständigung zwischen Sparta und Athen, um die Griechen dann vereint gegen das persische Reich zu führen, wäre jetzt nicht mehr denkbar. Aber Isokrates' Wunschpolitik findet für die bange Frage, die auf allen Gemütern lastet, wie sich das Verhältnis Griechenlands zu der neuen Macht im Norden endgültig gestalten soll, eine überraschend einfache Lösung. Was jeder Mensch von nüchternem Verstand fürchten muß, daß der Krieg sich nach kurzer Pause erneuern werde, das will Isokrates unter allen Umständen verhüten. Soll aber Philipp nicht die außerhalb der griechischen Welt stehende dauernde Drohung bleiben, so muß er positiv in das Schicksal von Hellas hineingezogen werden. Denn ihm
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auszuweichen ist unmöglich. Vom Standpunkt der einzelnen historischen Staaten Griechenlands bedeutet dieses Problem freilich nicht weniger als die Quadratur des Kreises. Aber der Ideologe hat längst gelernt, sich über die beengenden Schranken der politischen Wirklichkeit hinwegzusetzen, an denen sich die Wünsche so vieler griechischer Herzen seit langem stießen. Es war die Welt des Geistes, nicht die der Politik, in der erstmals panhellenisches Denken Wurzel gefaßt hatte, und keiner verkörperte seit Platos Tode diese panhellenische Kultureinheit, die sich über allen Eifersüchten und Interessenkämpfen der Stadtstaaten erhob, eindrucksvoller als Isokrates. Nachdem die Hoffnung seiner Mannesjahre auf einen politischen Neuaufbau Griechenlands auf Grund einer friedlichen athenisch-spartanischen Einigung gescheitert war, hatte er schon längst nach einer anderen Macht ausgeschaut, die fähig wäre Hellas unter ihrer Führung in einem Staatenbund zu einigen. Dionysios von Syrakus war vielleicht der erste gewesen, an den Isokrates einen Brief gesandt hatte, in dem er ihm diese Rolle anbot. 5 Es lag nicht fern, auf diese Idee jetzt wieder zurückzugreifen und Philipp von Makedonien zu ihrem Träger zu machen. Der Gedanke, die um die Herrschaft von Hellas ringenden Bruderstämme zu einigen, indem man sie durch einen gemeinsamen Heereszug gegen den persischen Erbfeind von sich selbst ablenkte, war von Hause aus ein ausgesprochenes Erzeugnis politischer Romantik gewesen. Und wenn wir wirklich annehmen müßten, daß Isokrates' Brief an Dionysios, dessen Hauptteil jetzt verloren ist, den Zweck hatte, ihn zur Übernahme dieser Mission zu bewegen — Dionysios, den Beherrscher des griechischen Westens und entschlossenen Vorkämpfer Siziliens gegen die ständig wachsende Flut der karthagischen Invasion! —, so mußte der Plan damit jeden Rest einer tatsächlichen Grundlage einbüßen, den er für die Griechen des Mutterlandes in seiner ursprünglichen Gestalt besessen haben mochte.6 Jedoch auf Philipp angewandt, gewinnt der alte Traum mit einem Male eine neue, gewiß auch für Isokrates selbst überraschende Wirklich-
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keitsnähe. Denn wenn Philipp sich zum Führer der griechischen Staaten aufzuschwingen berufen war, wie es den Anschein hatte, mußte er dann nicht naturgemäß auch der Erbe jenes uralten geschichtlichen Gegensatzes der Völker zu beiden Seiten des ägäischen Meeres werden? Das schien um so unvermeidlicher, als sein Reich doch bald an den Dardanellen mit dem persischen zusammenstoßen und für dieses dann eine unmittelbare Gefahr werden mußte. Freilich noch stand dort Gewehr bei Fuß Athen, das sich diese letzte und wichtigste Stütze seiner Seegeltung beim Friedensschluß unversehrt erhalten hatte. Aber für Isokrates war das kein Hindernis. Er hatte in seinem Innern die Unmöglichkeit jedes Widerstandes gegen Philipp längst endgültig anerkannt und suchte nur nach einem Wege, um die Tatsache der unvermeidlichen Unterwerfung aller Griechen unter Philipps Willen auf eine für sie möglichst wenig entehrende Weise auszudrücken. Auch dafür fand er die erlösende Formel in dem Plan der makedonischen Hegemonie in einem Perserkrieg. Denn nichts schien Philipps Hineinziehung in die geschichtliche Linie der griechischen Entwicklung so zu erleichtern wie sein Eintritt in diese Rolle, der alle Vorbehalte der Griechen gegen die kulturelle und rassenmäßige Fremdheit der Makedonen zum Schweigen bringen mußte.? Isokrates versuchte ihn für die Griechen wie für Philipp annehmbar zu machen durch das mythische Symbol des Herakles. Er hatte als erster siegreich die griechische Gesittung nach Asien hinübergetragen, und als sein Nachfolger soll der Heraklidensproß Philipp das Griechentum zum Siege über die Barbaren des Orients fuhren. Es ist das Vorrecht des Ideologen, der für keine reale staatliche Macht verantwortlich zu handeln hat, in seinem Denken eine oder mehrere Stufen der Wirklichkeit zu überspringen, während diese für den handelnden Staatsmann ein oft schlechterdings unüberwindliches Hindernis bilden. Isokrates hat die richtige Witterung für die Zukunft gehabt, und das soll keineswegs gering geachtet werden. Sein Programm und dessen Verbreitung in der griechischen Welt muß, wenn nicht der unmittelbare
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Anstoß, so doch eine wichtige Voraussetzung für Philipps „korinthischen Bund" und für Alexanders Zug nach Asien gewesen sein.8 Aber zugegeben diese unleugbare Bedeutung der Idee als Wegweiserin der geschichtlichen Tat — sind wir berechtigt, Isokrates nicht nur für den Herold eines nationalen Traums, sondern auch für den wahren Staatsmann zu halten? Als solchen stellt er selbst sich freilich in der Denkschrift an Philipp den lauten Schreiern auf der Tribüne gegenüber,9 die im Volk Mißtrauen erregen und den König verleumden, als ob er nicht für, sondern gegen Griechenland seine ungeheure Machtausdehnung erstrebe.I0 Sie unterstehen sich schon jetzt zu behaupten, so berichtet Isokrates dem König, Philipp werde, sobald er die Angelegenheiten der Phoker geordnet habe, gestützt auf sein Bündnis mit den Messeniern im Peloponnes intervenieren, und nachdem er auch im griechischen Süden Fuß gefaßt, werde er den Rest der Griechen, das heißt vor allem Athen, leicht beherrschen. Offenbar ist dieses Mißtrauen seit dem „Frieden" rasch im Wachsen begriffen, und Isokrates ermähnt Philipp besonders nachdrücklich, es dadurch zu zerstreuen, daß er schon jetzt gegen alle Griechen als ihr Wohltäter auftrete und nicht die einen bevorzuge, die anderen aber schlecht behandle. Denn er sieht ihn im Geiste schon nicht mehr als Feind und als Partei, sondern als den über dem Widerstreit aller partikularen Kräfte stehenden, von der Tyche selbst auserkorenen Hüter der kommenden neuen Ordnung.11 Es ist nicht schwer zu begreifen, ein wie wichtiger Bundesgenosse der patriotische Zukunftstraum des isokrateischen „Philippos" für den König von Makedonien bei der Gewinnung der öffentlichen Meinung Griechenlands werden konnte. Diese Ideologie ermöglichte es Philipp, die unter dem ständig wachsenden Druck von außen und innen erstarkenden panhellenischen Gefühle zu seinen eigenen Gunsten auszunutzen. Er wußte mit Hilfe der ihm von Isokrates zugewiesenen Rolle seiner gänzlich unsentimentalen makedonischen Machtpolitik in den Augen vieler Griechen das Ansehen eines Erlösungswerkes für Hellas
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zu geben. Was er gerade in diesem Augenblick am meisten brauchte, war nicht Gewalt, sondern geschickte Propaganda, und sie konnte von keinem makedonischen Agenten wirksamer gemacht werden als von dem ehrwürdigen und uneigennützigen Greis Isokrates, der sich ihm dazu freiwillig anbot und zu dem weite Kreise in Hellas gläubig emporblickten. Doch lassen wir die schwierige Frage des nationalen Bewußtseins und der richtigen Politik in diesem Augenblick vorläufig noch beiseite und folgen kurz dem Gang der weiteren Ereignisse. Mit dem Abschluß des Friedens war für Athen die Sorge um das Schicksal der Phoker in den Vordergrund gerückt, deren Ausschluß von dem Vertrage Philipp zur Bedingung gemacht hatte. Sie waren ihm jetzt auf Gnade und Ungnade ausgeliefert, und trotz aller angeblichen Versprechungen Philipps, mit denen die athenischen Unterhändler das Volk über diesen Punkt zu beruhigen gesucht hatten, konnte niemand bezweifeln, daß die jetzt nicht mehr zu hindernde Unterwerfung der Phoker für Philipp der seit langem gewünschte Anlaß sein würde, Mittelgriechenland in seine Macht zu bringen. Bald traf die Nachricht ein, daß er durch die Thermopylen in Phokis eingedrungen sei und der phokische Söldnerführer Phalaikos gegen freien Abzug ohne Kampf kapituliert habe. Philipp gab jetzt der Welt das Schauspiel der feierlichen Zusammenberufung des heiligen Rats der Amphiktyonen in Delphi, um über die Phoker zu Gericht zu sitzen, weil sie, von Theben bedrängt, zu den Schätzen des delphischen Tempels gegriffen und diese für den Krieg verbraucht hatten. Ihre Stimmen in der Amphiktyonie wurden ihnen genommen und Philipp gegeben, der damit den entscheidenden Einfluß in dieser altehrwürdigen Ratsversammlung der griechischen Staaten erhielt, da er mit seinen Bundesgenossen über die Mehrheit der Stimmen verfugte. Durch diese Mehrheit ließ er beschließen, die 22 festen Plätze in Phokis zu zerstören, das Volk zu entwaffnen und in Dorfschaften zerstreut neu anzusiedeln. Bis zur Amortisation der Gesamtschuld an das delphische Heiligtum sollten die Phoker jährlich eine Summe
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von 60 Talenten abtragen. Die Spartaner wurden nach einer freilich unsicheren Überlieferung aus der Amphiktyonie ausgestoßen, die thebanischen, lokrischen und thessalischen Bundesgenossen Philipps dagegen erhielten die Erfüllung ihrer Hauptwünsche bewilligt. Athen behielt seinen Sitz im heiligen Rat und durfte dort Zeuge der Beschlüsse sein, die es so tief entehrten, ohne sie verhindern zu können. Der Vertreter Athens bei diesen Verhandlungen war Aischines, der Vertrauensmann des Eubulos, der bereits an der Friedensgesandtschaft führend beteiligt gewesen war und jetzt bei der Liquidation des Friedensvertrages immer stärker in den Vordergrund tritt. Er wird dadurch notwendig zum Hauptgegner des Demosthenes. Als seine Folie ist er von ihm untrennbar, neuerdings hat man ihn als Staatsmann sogar hoch über Demosthenes gestellt. Dieser Mißgriff des Urteils korrigiert sich selbst. Aischines fehlte weder die Anmut noch die Suada des geborenen Redners. Er hatte als Schauspieler begonnen und war dann zur Staatslaufbahn übergegangen, hatte sich als Sekretär das Vertrauen des Eubulos erworben, was für die Anständigkeit seiner Gesinnung wie für seine geschäftliche Begabung spricht, und hatte schließlich die Rednerbühne als sein eigentliches Wirkungsfeld entdeckt. Seine erhaltenen Reden stehen an elementarer Kraft und Kunst der Gestaltung hinter denen des Demosthenes weit zurück.12 Es zeigt sich hier wie in seiner politischen Haltung ein Mangel an Persönlichkeit, der durch die sichtbaren Vorzüge des Mannes nicht aufgewogen wird. Man empfindet seine gewinnende Charis, die ihm als Unterhändler zugute kam, freilich unnachgiebige Härte nicht kannte. Er hatte die Harmonie des Wesens, die dem schwerblütigen Demosthenes abging, auch den ihm gänzlich fehlenden attischen Humor. Die Gedanken, die bei diesem unter stärkstem inneren Druck hervorgepreßt scheinen, entfalten sich bei Aischines mit ungezwungener Leichtigkeit. Er hat natürlichen Blick für Menschen und Dinge, und da er stets sachlich und kühl bleibt, sieht er sie in ihren richtigen Proportionen, während Demosthenes' fanatischer Haß
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ihn verleitet, einen Gegner wie Aischines zum Popanz zu verzeichnen, wenn er sein Bild entwirft.'3 Er sieht in ihm den wissentlichen Verräter, der von Philipp gekauft ist und daher alles beschönigen muß, was jener gegen Athen unternimmt, und glaubt zweifellos fest an seine Karikatur. Der Hohn des Aischines ist feiner, er trifft daher mehr. Und doch dringt Demosthenes in der Erkenntnis Philipps und der Lage Athens tiefer als der durch keine Leidenschaft der Empfindung gehemmte Intellekt seines Gegners, der die Wirklichkeit im entscheidenden Punkt trotz allem verfehlt, weil er ein allzu nüchterner Rechner ist. Aischines war des höheren Schwunges gewiß nicht unbedingt unfähig, aber er kannte nicht das zähe Beharren des Demosthenes bei dem einmal als richtig Erkannten, sondern wußte sich, sobald ein Rückschlag kam, den Tatsachen zu fugen. Neben Demosthenes muß sein Bild verblassen, denn dieser ist der Träger eines Schicksals; zu solchem höheren Adel aber war Aischines von der Natur nicht auserwählt. Philipp stand jetzt vor der Aufgabe, die Athener zur Anerkennung der delphischen Beschlüsse gegen die Phoker zu zwingen, und schickte Gesandte nach Athen, wo starke Opposition herrschte. Doch gegenüber dem schlagfertigen Heer wenige Tagemärsche von der attischen Grenze ist man wehrlos, und auch Demosthenes rät zur Nachgiebigkeit. Seine Rede über den Frieden ist das wichtigste Dokument der politischen Haltung, die er in dieser schwierigen Zeit einnimmt. Er erinnert in ihr an alles, was Aischines und seine Freunde sich und dem Volke von dem Entgegenkommen Philipps versprochen hätten: die Wiederbesiedlung der mit Athen befreundeten, von Theben zerstörten böotischen Städte Thespiai und Plataiai, die Rettung der Phoker, die Wiederherausgabe von Oropos durch Theben, die Abtretung Euboias statt Amphipolis, sogar den Dioikismos des den Athenern verhaßten Theben. M Er führt die Reden an, die er selbst gegen diese Phantastereien gehalten habe, denn er habe nichts von alledem geglaubt und keins seiner Bedenken verschwiegen, sondern alles so vorausgesagt, wie es gekommen
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sei. Er geht noch weiter zurück und erinnert daran, wie er fast zerrissen worden sei, als er als einziger die Athener vor dem kostspieligen und unrühmlichen Feldzug nach Euboia gewarnt habe, mit dem sie dem Tyrannen Plutarch von Eretria zu Hufe zu kommen beabsichtigten, welcher sie dann zum Dank verriet. Seit jeher ist die richtige Vorhersage ein Beweis für die Fähigkeit des politischen Ratgebers. Demosthenes bedarf jetzt dieser Legitimation gegenüber denen, die für radikale Ablehnung der Beschlüsse des delphischen Amphiktyonenrats sind und sich wundern, gerade bei Demosthenes keine Zustimmnug zu finden. is In Wahrheit kennen sie ihn schlecht, wenn sie ihn für nichts mehr halten als einen gewöhnlichen Heißsporn ihresgleichen.16 Und nicht besser verstanden ihn die philologischen Kritiker alter und neuer Zeit, die Zweifel an der Echtheit dieser Rede erhoben haben oder wenigstens nicht an ihre Veröffentlichung durch Demosthenes glauben wollten, weil sie ihn darin nicht wiedererkannten. Ihre Auffassung tut ihm in Wahrheit keine Ehre an. Sie macht aus ihm einen unentwegten Schreier und verkennt völlig in ihm den folgerichtigen politischen Denker. Nicht im Gefühl, aber im Urteil scheidet er sich tief von jenen Leuten, die ihm bei seinen früheren Reden so oft Beifall geklatscht hatten, ohne seinen Ernst und seinen Wirklichkeitssinn im mindesten zu begreifen. Wie er in den olynthischen Reden die Regierung angriff, weil sie die Gelegenheit nicht genug ausnutzte und die Gefahr der Lage verkannte, warnt er jetzt davor, zur Unzeit sinnlosen Widerstand zu leisten. Zwar kann er mit Recht die Verantwortung für das Geschehene anderen überlassen, aber er erklärt, es komme ihm jetzt nicht auf den billigen Ruhm an, die begangenen Fehler zu tadeln, wo es doch zu spät ist. Er will nur diejenigen, die sonst auf sein Wort etwas gaben, darüber belehren, weshalb er heute scheinbar mit seinen Gegnern geht. Der Ton seiner Rede ist deshalb von dem emporreißenden Schwung der großen Volksreden vor drei Jahren himmelweit verschieden. Er ist ganz verwandt der ruhig belehrenden, überlegenen Haltung der Symmorien- und Megalopolitenrede, und
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wir begreifen nun, daß dieser Redner die Aufgabe des wahren Staatsmannes wie Perikles1? darin sieht, das Volk aufzurichten und anzustacheln, wenn es taten- und mutlos ist, aber ebenso die Zügel straff anzuziehen, wenn es über die Stränge schlägt. Demosthenes hält den Frieden nicht für dauernd. Seine Worte lassen keinen Zweifel daran, daß er einen letzten Entscheidungskampf mit Philipp als unvermeidlich ansieht. Er gehört nach wie vor zu den Mißtrauischen, die Philipp für den größten Feind Athens halten, und wenn Isokrates diese Leute in seiner Rede verunglimpft hatte, so haben die brutalen Geschehnisse in Phokis und kurz darauf in Delphi Demosthenes Recht gegeben. Doch Athen befindet sich jetzt in einer Zwangslage, aus der es sich nur Schritt für Schritt befreien kann. Die Politik ist die Kunst des Möglichen, und wenn über möglich und unmöglich die Ansichten oft in entscheidenden Punkten auseinandergehen, so ist es um so nötiger für den Politiker, das scheinbar Unmögliche erst in den Bereich der Möglichkeit überzuführen. Demosthenes' Rat ist, sich auf keinen Fall jetzt in einen Krieg zu stürzen, bei dem Athen alle die griechischen Staaten gegen sich haben würde, die mit hinter den delphischen Beschlüssen stehen.l8 Athen darf im Augenblick nichts tun, was den Frieden gefährdet. Der Friedensvertrag ist die Plattform, deren Athen bedarf, um sich aus seiner Lage aufzurichten. Es wäre gegen die elementarste politische Spiekegel, die Bundesgenossen Philipps ausgerechnet in demjenigen Punkt zu verletzen, in dem sie aÜe übereinstimmen. Es ist umgekehrt davon auszugehen, daß ursprünglich ganz verschiedene Interessen einen jeden von ihnen in den Bund mit Philipp geführt haben. Dieses Bündnis hat dann alle zu Opfern genötigt, die weit über das hinausgehen, was ihr eigener Vorteil von ihnen verlangt hätte. Bei diesen ihren Sonderinteressen muß man sie zu fassen suchen. Das ist nur möglich bei einer Politik auf weite Sicht, die systematisch auf Philipps Isolierung hinarbeitet. Als Ankündigung einer solchen ist die Friedensrede des Demosthenes ein Programm seiner gesamten politischen Tätigkeit in
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den folgenden Jahren. Bereits in der Megalopolitenrede hatte er ausgesprochen, man müsse die mit Sparta verfeindeten peloponnesischen Staaten an Athen heranzuziehen suchen, d. h. Arkadien, Messenien und — wie wir hinzufügen dürfen — Argos, die praktisch wichtiger waren als das aktionsunfähige Sparta. Daß er auf diese Politik jetzt wieder zurückgreift, wird sich in der zweiten Philippica zeigen. Es ist die logische Konsequenz des in der Friedensrede vorgezeichneten Weges. Hinter dieser peloponnesischen Politik hatte schon in der Megalopolitenrede, wie ich nachwies, als letztes Ziel ein Gedanke gestanden, der damals noch zu kühn gewesen war, um ihn ohne Umschweif auszusprechen, der aber die notwendige Voraussetzung für den Vorschlag des arkadischen Bündnisses war: ein zukünftiger radikaler Kurswechsel gegenüber Theben. J9 Es ist sicher nicht nur die Rückspiegelung eines späteren Stadiums seiner Politik, wenn er später sagt, die Verbindung Athens mit den Phokern habe er immer für unsinnig gehalten. Kein Wunder also, daß in der Friedensrede, die die ersten Andeutungen der von Demosthenes jetzt ins Auge gefaßten Neuorientierung der athenischen Bündnispolitik enthält, die im Augenblick noch paradoxe Idee auftaucht, sich mit Theben aufrichtig zu vertragen. Damit schlägt Demosthenes dem gewöhnlichen athenischen Chauvinismus offen ins Gesicht, denn dieselben Schichten, in denen er seine Gefolgschaft im Kampf gegen die makedonische Gefahr gefunden hatte, waren gefühlsmäßig erbitterte Feinde Thebens. Sie waren gerade über die erneute Bestätigung Thebens im Besitz von Oropos aufs äußerste empört. Demosthenes hat den Mut, den Athenern offen zu raten, Oropos den Thebanern zu überlassen,20 ebenso wie Chios, Rhodos und Kos dem König von Karien, d. h. auch innerlich auf diese Ansprüche zu verzichten.31 Er geht also gradlinig auf das Ziel los, Philipp von seinen wichtigsten Bundesgenossen zu trennen. Wenn man aber im Interesse der zukünftigen Verbesserung der eigenen Lage solche Opfer bringe, sei es sinnlos, so schließt Demosthenes seine Rede, gegen die gesamte Griechenwelt in diesem Augen-
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blick „wegen des Schattens in Delphi" einen Krieg zu beginnen. Mit dieser Friedensrede ist die innere Entscheidung für den Krieg der Zukunft im Grunde bereits gefallen. Demosthenes muß nur wieder von vorn anfangen — unter noch viel unglücklicheren Umständen als zur Zeit seines ersten Eintritts in die Politik. Der einzige Vorteil ist für ihn, daß es sich jetzt nicht mehr um eine Mehrzahl gleichwertiger Probleme handelt wie damals, sondern nur um ein einziges Ziel, den Kampf gegen Philipp. In ihm hat Demosthenes den Gegner gefunden, der erst seine ganze Kraft entfesselt und ihn auf die Höhe seines Schaffens fiihrt. Schlimm aber ist für ihn, daß er den -Kampf gegen diesen Gegner als einen Zweifrontenkrieg zu fuhren hat, nach außen und zugleich nach innen. Das unselige Erbe des innenpolitischen Kampfes der letzten fünf Jahre vor dem Friedensschluß nimmt er in die neue Ära mit hinüber, und es ist vom ersten Augenblick an klar, daß dieser innere Kampf jetzt erst in sein entscheidendes Stadium treten muß. Für Eubulos und Aischines ist der Friede nicht wie für Demosthenes die Vorbereitung auf den kommenden Krieg, sondern etwas Endgültiges. Es ist vorauszusehen, daß sie immer wieder in die Lage kommen müssen, Philipps Handlungen gegen Athen zu verteidigen und als harmlos hinzustellen und die gegenteilige Deutung als frevelhafte Kriegshetze zu brandmarken. Als Philipp nach den für Athen demütigenden Amphiktyonenbeschlüssen in Delphi im Kreise der Delegierten aller Staaten das Fest des Gottes feierlich beging und beim Festmahl der Päan angestimmt wurde, da hatte auch Aischines im Chore mitgesungen, denn es kam ihm wohl nicht passend vor, als einziger den Mund zu halten, wenn alle dem Gotte Lob und Dank sangen. Das erscheint Demosthenes als symbolisch für Aischines' ganze Haltung, und noch mehr seine ironische Ausrede, er habe nicht geglaubt, daß man seine Stimme heraushören werde.« Demosthenes muß den Kampf gegen ihn vom Friedensschlüsse an zielbewußt aufgenommen haben. So sehr er sich in der Friedensrede, wie es der parlamen-
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tarischen Sitte entsprach, von persönlichen Angriffen ferngehalten hatte, klagte er Aischines bald nach seiner Rückkehr von der Gesandtschaft der Bestechung und des Verrates an. Während dieser Prozeß durch die Intrigen seiner Gegner drei Jahre verschleppt wurde, ging er politisch weiter seinen Weg. Hätte es in Athen eine verantwortliche Regierung gegeben, so hätte es schon jetzt zu einer Entscheidung kommen müssen, in welchem Sinne die Außenpolitik gefuhrt werden solle. In der antiken Demokratie war dies nicht so, sondern die Volksversammlung hörte von Fall zu Fall auf den, der ihr das Beste zu raten schien. So bleibt Athens Politik zunächst der Spielball schroff entgegengesetzter Bestrebungen. Eine ungehinderte aktive Betätigung war für Demosthenes dabei unmöglich; er konnte nur die Gelegenheit wahrnehmen, wenn es galt, neue Gefahren abzuwehren, die von der Fortfuhrung der innergriechischen Politik Philipps drohten. So wurde er als Gesandter an die mit diesem verbündeten Staaten Messenien und Argos geschickt, als Philipp eine bewaffnete Intervention im Peloponnes zum Schutz dieser Staaten gegen Sparta ankündigte. Aber die Mission des Demosthenes war zur Erfolglosigkeit verurteilt durch das gleichzeitige Festhalten Athens an seiner Freundschaft mit Sparta. Die Feinde Spartas führten darüber stets heftige Beschwerde und erklärten, daß diese Haltung sie zum Anschluß an Philipp triebe. Es rächte sich jetzt, daß man in Athen nicht damals auf Demosthenes gehört hatte, als die Arkader und Messenier bereit gewesen waren, sich auf Athen zu stützen. In der zweiten philippischen Rede, die zwei Jahre nach dem Frieden geschrieben ist, berichtet Demosthenes ausführlich über seine Reden an die Messenier und Argiver, durch die er ihr Mißtrauen gegen Philipp wachzurufen versucht hatte.23 Sie hatten ihm und den anderen Gesandten zwar lauten Beifall gespendet, als er sie vor Philipp warnte, aber trotzdem halten sie an Philipp fest, nicht anders als die Optimisten unter den Athenern, die ihre Augen wissentlich gegen die Tatsache verschließen, daß Philipp Athen schon völlig eingekreist hat.1« .11
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Wir erfahren hier nachträglich auch etwas über die inneren Kämpfe, die dem Friedensschlüsse vorausgegangen waren und über Demosthenes' Anteil an ihnen. Er erinnert an den Tag, wo er, von der zweiten Gesandtschaft an Philipp zurückkehrend, alles vorausgesagt und die Athener beschworen habe, nicht die Thermopylen und die Phoker. preiszugeben.2? Man solle jetzt die Leute rufen, die damals die Athener überredet hätten diesen Frieden zu schließen. Sie hätten damals Demosthenes für einen Wassertrinker und übellaunigen Hypochonder erklärt und hätten dem Volk die Erfüllung aller Wünsche versprochen, jetzt aber seien sie überführt.26 „Ich sage das nicht, um zu schmähen und Worte zu machen. Aber ich glaube, daß Philipps Tun euch noch schlimmer treffen wird als alles, was wir bis jetzt erlebt haben. Denn ich sehe, wie die Sache weitergeht, und ich fürchte, die Entscheidung ist schon allzu nahe." Unglücklicherweise ist es nicht mehr möglich, die konkreten Umstände zu bestimmen, unter denen die Rede gehalten wurde. Demosthenes hat sie offensichtlich zum Zweck der Veröffentlichung überarbeitet, und dabei ist eine Stelle gestrichen worden, die die nähere Formulierung seines Vorschlags gab. Diese Stelle bestand in der Verlesung des Entwurfs einer Antwort, die an eine gewisse auswärtige Macht erteilt werden sollte.2? Demosthenes deutet an, daß die Athener in der Volksversammlung, zu der er spricht, nicht unter sich sind und daß sie deshalb die Erörterung der jetzt zu unternehmenden Schritte auf eine zweite Versammlung verschieben müssen.28 Man ergänzt unschwer, daß die anwesenden Nichtathener die Gesandten eben der fremden Macht sind, an die die Antwort sich richten soll; wir hören nur leider nicht, welche Macht das ist, und die Frage hat zu sehr entgegengesetzten Hypothesen Anlaß gegeben. Eins aber ist klar, daß diese Rede nicht in bloßen gehässigen Ausfällen gegen Philipps Politik seit dem Friedensschluß besteht, wie manche ungünstige Kritiker glauben, sondern daß ein bestimmter Anlaß die Athener zwingt Stellung zu nehmen — ein Anlaß, der irgendwie mit einer bevorstehenden Intervention
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Philipps im Peloponnes zusammenhängt. *9 Demosthenes findet es schwierig, die athenische Antwort zu formulieren. Dies ist offenbar der Grund, weshalb er nach Verlesung der von ihm empfohlenen Antwort ausruft, man sollte diejenigen Politiker herzitieren, die das Volk durch ihre falschen Vorspiegelungen mißleitet haben und an den augenblicklichen Schwierigkeiten die Schuld tragend0 Zuletzt spricht Demosthenes nur noch von einem einzigen, der für alles verantwortlich ist. Und die Rede läuft aus in eine mächtige Invektive gegen Aischines. Demosthenes will jeden der Athener einzeln daran erinnern, obgleich ja jeder es selbst weiß, wer es war, der sie dazu überredet hat, die Phoker und die Thermopylen preiszugeben. Durch ihre Beherrschung ist Philipp in den Besitz des Weges nach Attika und zum Peloponnes gelangt. 31 Zur Zeit des Friedensschlusses wäre Philipp weder zur See jemals nach Attika gekommen noch hätte er sich durch den Thermopylenpaß zu Lande den Durchgang erzwungen. Mit dem Hinweis auf den schwebenden Prozeß gegen Aischines schließt die Rede. Sie soll, nachdem die Gegner die Abrechnung jahrelang hinausgezögert haben, die öffentliche Meinung, die ja vergeßlich ist, auf den gerichtlichen Endkampf vorbereiten und durch sie wohl auch einen Druck ausüben, damit eine weitere Verschleppung der Verhandlung des Prozesses verhindert wird. 3* Die Rede läßt uns in die schweren innenpolitischen Kämpfe des Demosthenes während dieser Zeit hineinblicken, in der die Dinge letzten Entscheidungen entgegenreifen. Die geistige Zerrissenheit Griechenlands wird grell beleuchtet durch ein erneutes Sendschreiben des Isokrates an Philipp, das uns erhalten ist. Während Demosthenes seine verzweifelten Anstrengungen macht, das Volk aufzurütteln und ihm die Augen über die Politik Philipps zu öffnen, bittet Isokrates den König, doch noch Geduld mit Athen zu haben, und er redet voller Verachtung von gewissen Leuten, die nicht imstande seien ihrer Stadt irgend etwas Gutes zu erweisen, sondern nur Mißtrauen gegen die hochherzigen Absichten Philipps säen könnten. 33 Er bittet ihn, statt *
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zu zürnen, lieber durch Entgegenkommen Athen umzustimmen, und Philipp hat 343 wirklich zugleich mit einer scharfen Beschwerde gegen die Hetzer eine Revision des Friedensvertrags angeboten, wenigstens formell. Freilich hat er die intransigenten Forderungen ungnädig aufgenommen, welche die Anhänger des Demosthenes daraufhin formulierten. Sie verlangten schlechthin die Herausgabe des athenischen Besitzes. 34 Sie wußten natürlich, daß Philipp weit davon entfernt war, darauf einzugehen. Aber wenn er wirklich geglaubt hat einen Gegner wie Demosthenes, wenn er ihm einen kleinen persönlichen Erfolg auf Kosten der Ansprüche Athens gönnte, zum Schweigen bringen zu können, so hatte er sich getäuscht. Der Prozeß gegen Aischines, aus dem uns die Reden beider Parteien erhalten sind, steigerte die Leidenschaften bis zum äußersten Grade der Verwilderung. Es gibt keine erschütternderen Dokumente des politischen Mißbrauchs der Justiz in der athenischen Geschichte des IV. Jahrhunderts als diese beiden Reden mit dem gleichlautenden Titel: Über die Truggesandtschaft. Das gerichtliche Verfahren ist nur noch ein Werkzeug des demagogischen Angriffs im Dienst eines politischen Kampfes, der nichts Ritterliches hat und in welchem der Zv/eck alle Mittel heiligt. Hier ist nichts zu beschönigen. Aber es wäre eine unverzeihliche historische Urteilslosigkeit, die moralische Verantwortung für diese Entwicklung des öffentlichen Lebens dem einzelnen aufzubürden, der von ihr fortgerissen wird und sich ihrer bedient. Hier vor Gericht, vor den aufgeregten Massen der Geschworenen, wird der eigentliche persönliche Kampf zwischen den Vertretern der um die Entscheidung ringenden Prinzipien ausgefochten, der aus der Volksversammlung grundsätzlich verbannt war. Unmittelbar nach der Rückkehr der Gesandtschaft hatte Demosthenes seiner Zeit den Angriff gegen Aischines eröffnet, indem er sich des gleichen Mittels bediente, das die Gegenpartei zur Verhinderung der Abänderung des Gesetzes über die Theatergelder gegen ihn selbst jüngst so erfolgreich angewandt hatte: er schickte eine Kreatur namens Timarchos zur gerichtlichen Anklage vor.
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Doch dabei hatte er sich in der Wahl seines Werkzeuges vergriffen oder wer immer die waren, die ihm den Mann zur Verfügung stellten. Aischines inszenierte in geschicktem Gegenangriff den Riesenskandal eines Sittlichkeitsprozesses gegen TimarchoSj der diesen als politischen Ankläger völlig unmöglich machte. Das zweite Mal mußte Demosthenes selbst, so ungern er es offenbar getan hat, den Ankläger machen, und das Ergebnis ist interessant genug. Aischines wurde freigesprochen. Aber die knappe Mehrheit, die er errang, zeigte, daß Demosthenes fortschreitend an Boden gewann, und die Wiederaufwühlung der Erinnerung an die allzu menschlichen Vorgänge, die seiner Zeit zum Frieden geführt hatten, mußte die Autorität des Aischines schwer erschüttern. Kurz vorher war auch sein Gefährte Philokrates, der dem Frieden den Namen gegeben hatte, von Hypereides angeklagt worden und ins Ausland geflüchtet. Das Gericht verurteilte ihn zum Tode. Es wäre vermessen, wollten wir heute noch ein eigenes Urteil über Schuld oder Unschuld dieser Männer gewinnen und uns zutrauen, die Beweisgründe für und wider nachzuprüfen. Es geht in diesen Kämpfen um die rücksichtslose Vernichtung des Widerstandes gegen den Kriegsgedanken mit allen Mitteln eines überwältigenden agitatorischen Pathos und mit einem Trommelfeuer der Schlagworte, wo jeder ein Verräter heißt und fortgefegt wird, der der wachsenden Lawine in den Weg kommt. Unmöglich sich vorzustellen, Demosthenes hätte diese Schlagworte kalten Blutes gegen seine Widersacher gedrechselt. Er hat seine Waffen geschmiedet in der Glut der gewaltigen Besessenheit von der einen Idee, die ihn beseelte, und wenn die Leidenschaft des Kampfes ihn hinriß zu Worten der Gewalt, ja des Terrors, so ist er doch durch die Uneigennützigkeit seiner Motive und durch die Kraft seiner Hingabe an das eine Ziel der Rettung des Vaterlandes allen seinen Zeitgenossen überlegen. Immer wieder stehen wir bei der Beurteilung der Politik des Demosthenes vor der entscheidenden Frage, ob er sich nicht getäuscht hat, ob es wirklich so war, wie er in der zweiten Philippica
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die Athener zu überzeugen sucht, daß Philipp gar nicht anders als gegen Athen feindlich sein könne, weil Athen sein einziger ernsthafter Antagonist in Griechenland sei. 3 5 Hat er damit nicht die Bedeutung, die Athen als politischer Faktor für Philipp haben konnte, überschätzt? Konnte sein Friedenswille nicht ehrlich sein? War es nicht Demosthenes und die antimakedonische Partei in Athen, die ihrerseits aggressiv vorging, wo immer sich eine Gelegenheit dazu bot ? Dies war jedenfalls die Ansicht seiner Gegner und die Rechtfertigung ihrer loyalen Haltung gegen den Sieger, der durch Bande persönlicher Freundschaft seinen moralischen Einfluß auf die Stimmung der fuhrenden Leute in Athen unter der Hand beständig verstärkte und diejenigen, die er nicht durch Geld gewinnen konnte, durch Geist und Liebenswürdigkeit bestach. Sie sahen Athens Stellung zu Philipp nicht anders als die der übrigen Griechen, die seit langem seine Bundesgenossen und Vasallen waren und sich dabei mehr oder minder wohl fühlten. Ihre Gegenfrage an Demosthenes: was soll man denn tun? offenbart das Gefühl der vollkommenen Hoffnungslosigkeit als den tiefsten Grund ihrer Ergebung in die durch den Frieden anscheinend für immer besiegelte Abhängigkeit. Sie schien ihnen erträglicher in der Form eines Bündnisses zwischen Gleichberechtigten als in der des Zwanges und der Unterwerfung. Demosthenes hält diese Kapitulation für ebenso voreilig, wie die einstige Tatenlosigkeit und Schlaffheit leichtsinnig war. Die Selbstbehauptung eines Staates ist für ihn zunächst eine Frage des Willens, und Philipps Handeln scheint ihm zu bestätigen, daß der Feind Athen anders beurteilt. Mit Recht legt er auf Athens Gefolgschaft höheren Wert als auf alle seine Bundesgenossen und wäre zufrieden, wenn es sich an seine neue Lage dauernd gewöhnte. Damit wäre er wirklich endgültig der Herr Griechenlands. Aber weshalb sucht er die Staaten rings um Athen herum so fest in die Hand zu bekommen wie nur möglich, wenn nicht, um gegen Athen sicher zu sein? Er hatte Mittel- und Südgriechenland schon überwiegend in seiner Macht, aber seine Unternehmungen seit dem Frieden bewiesen unwiderleglich den
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Willen, seine Herrschaft über die Griechen restlos durchzuführen. Die finanziellen und militärischen Rüstungen wurden fortgesetzt, die kleine makedonische Flotte wurde ausgebaut, die Thermopylenfestungen verstärkt, Truppen in den Peloponnes geschickt, um das Übergewicht der mit ihm verbündeten Staaten zu sichern. Seit 343 legte er die Hand auf die Insel Euboia, die, Attika vorgelagert, den athenischen Handel beherrschte, und suchte die dortigen Städte durch Erregung innerer Unruhen und Entsendung von Truppen zur Unterstützung der promakedonischen Akteure der Reihe nach an sich zu bringen. Es folgt der Zug nach Epirus, wo er den König vertreibt und seinen Schwager Alexander an dessen Stelle setzt. Von dort stößt er in Akarnanien schon bis an den ambrakischen Golf nach Süden vor und erreicht so im Westen unter Umgehung Attikas die Verbindung mit dem Peloponnes. In kurzem wird er von neuem in Thrakien einmarschieren und dieses Land, das an die Athen gehörenden Meerengen grenzt, sich endgültig unterwerfen. Schon ist er befreundet oder insgeheim verbündet mit dem Tyrannen Hermias von Atarneus auf der asiatischen Seite des Hellespont. 36 Es scheint unausbleiblich, daß er auf den Chersonnes übergreifen wird, wo ihm die alte Feindschaft der Stadt Kardia mit Athen jederzeit Anlaß gibt sich einzumischen. Der Chersonnes aber ist der letzte und wichtigste Stützpunkt über See, den Athen zu verHeren hat. Eine aktive athenische Politik hatte jetzt zwei Aufgaben vor sich: erstens die noch nicht mit Philipp verbündeten Griechen für das Bündnis mit Athen zu gewinnen, um so das Vorrücken des Feindes auf seinen beiden äußersten Flankenstellungen im Westen am adriatischen Meer und im Osten auf Euboia aufzuhalten, zweitens ihm am Hellespont zuvorzukommen und den Chersonnes nach Möglichkeit zu schützen. Der Zeitpunkt schien am günstigsten für Verhandlungen mit den durch Philipps letzte Angriffe unmittelbar bedrohten Staaten, und Demosthenes ging an der Spitze einer Gesandtschaft nachKorinth und Achaia und nach einigen anderen Staaten. Dadurch wurde der Boden für die Bündnisse bereitet, die später zum Abschluß kamen. Die Gegenwir-
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kung gegen die Fortschritte der makedonischen Ausbreitung auf Euboia hatte schon etwas früher eingesetzt, sie ging von der Hauptstadt der Insel, Chalkis, aus, wo als führender Politiker Kallias mit Demosthenes von jetzt an in engem Einvernehmen steht. Auch Megara hat er damals als Bundesgenossen gewonnen. Nach dem Chersonnes schickte Athen als Verstärkung einen neuen Schub von Ansiedlern, dem als militärischer Schutz ein Geschwader unter dem Befehl des Diopeithes beigegeben wurde. Die Ankömmlinge gerieten mit der Stadt Kardia wegen des Bodens für ihre Niederlassung in Streit, und während Philipp in Thrakien kämpfte, machte Diopeithes vom Chersonnes aus einen Überfall auf makedonisches Gebiet an der Küste der Propontis. Die Hochspannung in Athen kam zur Entladung, als Philipp, wie zu erwarten war, eine drohende Note sandte, und die makedonische Partei die sofortige Abberufung des Diopeithes forderte. Wir haben die Rede des Demosthenes in dieser Sache. In der Rede über die Lage auf dem Chersonnes widersetzt er sich der Abberufung heftig. Athen würde nach Auflösung des Operations-Korps am Hellespont keine Truppen mehr haben, um Byzanz zu Hilfe zu kommen, wenn Philipp es nach Niederwerfung Thrakiens angreifen sollte, oder um den Chersonnes vor ihm zu schützen. Die militärische Zweckmäßigkeit überwiegt also schon ganz die diplomatischen Rücksichten. Kurz darauf hält Demosthenes die dritte Philippica, die gewaltigste seiner Reden, die nicht von einem einzelnen Anlaß ausgeht, sondern den Sinn des geschichtlichen Augenblicks in großartiger Schau vor Augen führt.3" Für Demosthenes ist es jetzt die schwerste Aufgabe: dem Volke klarzumachen, daß es nicht mehr vor einem letzten Entschlüsse von fast untragbarer Schwere steht, daß es auch nicht mehr warten dürfe auf irgendeinen besonderen Angriff oder eine feindliche Kriegserklärung, sondern daß der Krieg schon in vollem Gange ist. Niemals wird Philipp von sich aus erklären, daß es so ist, wenn seine Opfer es nicht selbst merken38. Demosthenes geht alle Übergriffe Philipps durch, von dem Frieden bis zu seiner neuerlichen Einmischung auf dem Chersonnes, der Okkupation
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Euboias, der Eroberung Thrakiens und der Intervention im Peloponnes. Krieg herrscht in diesem Sinne streng genommen schon seit Philipps brutalem Vorgehen gegen die Phoker unmittelbar nach Friedensschluß. Jetzt aber handelt es sich nicht mehr um die bloße Einzelfrage, wie dem Chersonnes oder Byzanz zu helfen ist, die diesmal von ihm bedroht sind, sondern um die Tatsache, daß ganz Griechenland in höchster Gefahr schwebt. 39 Diese Erkenntnis zwingt Maßregeln zu ergreifen, um, wenn nicht die anderen, so doch sich selbst zu schützen. Die Griechen stehen dem Umsichgreifen der Macht Philipps seit Jahren untätig gegenüber. Während sie sich untereinander früher zur Zeit der attischen, spartanischen und thebanischen Hegemonie jeder Machterweiterung eines Staates auf Kosten der übrigen mit allen Mitteln widersetzten, scheint ihr Wille zum Widerstand Philipp gegenüber erlahmt. Die Aufzählung seiner Rechtsverletzungen, die Demosthenes gibt, umfaßt alle seine Verstöße nicht nur gegen das Interesse Athens sondern gegen ganz Griechenland, und die Anklage der unwürdigen Schlaffheit, die Demosthenes erhebt, trifft in gleicher Weise alle Griechen, ihren Mangel an Gemeinsinn, ihre Willenlosigkeit. Sie stehen dem Geschehen gegenüber wie einer Krankheit, der man ihren Lauf lassen muß, oder wie einem Naturereignis, einem Hagelschlag, bei dem man betet, daß er das Haus des Nachbarn treffen möge. Er schildert die systematische Unterminierung der moralischen Widerstandskraft in allen Städten durch Philipps Geld, den unterirdischen Kampf gegen die paar aufrechten Männer, die sich der Korruption widersetzen, und beschwört die Erinnerung der altgriechischen Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit in den Zeiten des gemeinsamen Freiheitskampfes gegen die Perser. Ihre geschichtliche Stellung legt den Athenern die Pflicht auf, auch jetzt voranzugehen und die ganze Nation mitzureißen zum letzten Versuch, die Fesseln zu zerbrechen in einer edelmütigen und selbstaufopfernden Aufwallung ihrer wahren Natur. Er fordert sie daher auf Gesandtschaften überall hin zu senden, die Griechen zusammenzurufen, zu sammeln, zu belehren und zu ermähnen, vor
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allem aber selbst die nötigen Schritte zu tun und ihre Pflicht zu erfüllen. 40 Das politische Denken des Demosthenes ist in diesem Aufruf an die gesamte griechische Welt an einem entscheidenden Wendepunkt angelangt. In seinen ersten Reden war er der reine Realpolitiker, der als nüchterner Rechner die Interessen des athenischen Staates vertrat. Er wurzelte ganz in athenischer Staatstradition und bewegte sich ausschließlich auf der klassischen Linie ihrer innergriechischen Gleichgewichtspolitik. 41 Durch das Auftreten des mächtigen neuen Feindes außerhalb der Grenzen Griechenlands wird er aus dieser Richtung herausgedrängt. Die alten Formen der innergriechischen Politik erweisen sich als unanwendbar oder unzureichend angesichts der neuen Lage. In diesem kritischen Moment war Isokrates, wie wir am Anfang dieses Kapitels zeigten, wieder mit seiner panhellenischen Idee hervorgetreten. Er hatte, alle Realitäten der hoffnungslos in sich zerspaltenen griechischen Staatenwelt überfliegend, das Wunschbild einer Einheit der Nation unter der Führerschaft des makedonischen Königs hingestellt. Dieser Aufruf hat seinen Eindruck auf das Nationalgefühl der modernen Historiker nicht verfehlt, stand doch die Geschichte des XIX. Jahrhunderts unter dem Zeichen der nationalen Einigung der Völker, die seit Jahrhunderten unter der Ohnmacht ihrer Zerrissenheit gelitten hatten. So erschien Isokrates manchen neueren Forschern als der Künder der besseren Zukunft und als Träger der nationalen Idee, Demosthenes aber als der Vertreter eines überlebten und engherzigen kleinstaatlichen Egoismus. Allein abgesehen von grundsätzlichen Bedenken gegen den Vergleich der modernen Nationalstaatsbewegung, die alle Glieder eines Volkes zu einem einheitlichen Staat zusammenzufassen strebt, mit dem panhellenischen Gedanken des Isokrates, der die „Eintracht" ( ) zahlreicher individueller Staaten forderte, 42 hat man dabei völlig übersehen, daß die ganze Politik des Demosthenes seit dem unglücklichen Frieden des Philokrates ein einziger Kampf um die nationale Einigung der Griechen war.
KRIEG ODER FRIEDEN?
Er streift in dieser Zeit die Begrenztheit des athenischen Interessenpolitikers bewußt ab und erhebt sich zu einer Höhe der Zielsetzung, wie sie vor ihm kein griechischer Staatsmann erreicht hat und erreichen konnte. 43 Er kann und muß also in dieser Hinsicht durchaus mit Isokrates verglichen werden. Der Unterschied zwischen ihnen ist nur der, daß Demosthenes sich die „Einigung" nicht als die mehr oder minder freiwillige Unterwerfung unter den Willen des fremden Siegers denkt. Er fordert umgekehrt die einmütige Erhebung aller Griechen gegen den makedonischen Feind. Sein Panhellenismus ist geboren aus dem entschlossenen Willen zur nationalen Selbstbehauptung. Er setzt sie mit vollem Bewußtsem der nationalen Selbstpreisgabe entgegen, die Isokrates' Programm trotz seiner romantischen Einkleidung in den Plan des Perserkriegs unter makedonischer Führung bedeutet. So packt Demosthenes den stärksten inneren Gegner, den er im Kampf um die Gefolgschaft Griechenlands zu bestehen hat, den in das pathetische Gewand eines höheren Patriotismus gehüllten Defaitismus, und eignet sich mit kühnem Griff dessen geistige Waffen an. Wie der Erfolg seines Aufrufs an die griechischen Staaten bewiesen hat, beurteilte Demosthenes die realpolitische Aussicht einer wirklichen nationalen Erhebung unter dem unmittelbaren Druck des Feindes durchaus richtig. Seit den Tagen der Perserkriege hatte Hellas eine ernstliche Bedrohung von außen nicht wieder erlebt. Sich selbst überlassen, hatten seine Städte Muße gehabt, sich gegenseitig zu zerfleischen. So mußte die bisherige Geschichte der Griechen wenigstens in diesem Augenblick erscheinen. Ein gemeinsames nationales Empfinden konnte bei dieser gegenseitigen Aufreibung nicht gedeihen. Sein Nährboden konnte nur der gemeinsame Gegensatz gegen einen starken äußeren Feind sein und die gemeinsame Not. Der Feind und die Not waren jetzt da, und dieses Schicksal mußte die Griechen zusammenfuhren, wenn noch ein Funke von der freien Sinnesart der Väter in ihrer Seele lebendig war. Die drittePhilippica ist ein einziges machtvolles Bekenntnis zu diesem panhellenischen Geiste, 44 der ganz die Tat des Demosthenes ist.
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Es ist kein Zufall, daß der künstlerische Höhepunkt der griechischen Beredsamkeit zusammenfällt mit diesem elementaren Ausbruch des nationalen Bewußtseins in der Stunde der höchsten Gefahr. Die unerhörte neue Redegewalt dieser Philippica, in deren Symphonie die Motive der früheren philippischen Reden sich organisch mit hineinverweben und deren neuem Grundmotiv sie sich unterordnen, nährt ihre Sprachkraft aus zwei Quellen, die sich hier zusammenergießen: aus der natürlichen Leidenschaft des Gefühls der bluthaften Gemeinschaft, die in ihrer Existenz bedroht ist, und aus dem Ethos eines sittlichen Rechts, wie es niemals unerschütterlicher hinter einer politischen Forderung gestanden hatte, der Idee der Freiheit, auf die die griechische Kultur sich gründete. Auf dieser doppelten Idee beruht die Stärke der geistigen Position des Demosthenes. Während für den Interessenpolitiker die Sprache nur ein Mittel zur sachlichen Erläuterung der Tatsachen ist, wird sie jetzt im Munde des Vorkämpfers der Freiheit zum alleinigen und unwiderstehlichen Werkzeug, um dem erwachenden Gefühl der Solidarität aller Griechen seine Form zu geben. Eine Situation wie diese kehrt in der Geschichte nicht wieder bis in die Zeit des Freiheitskrieges der Völker Europas gegen Napoleon. Wahrhaft ungeheuerlich und gigantisch war die Aufgabe der Improvisation, die damit in die Hand des Demosthenes gelegt war, in einem Volke, das die Kriegsrüstung nicht wie sein Gegner als Selbstzweck seit langen Jahren betrieben hatte und sich auch seelisch erst mit Mühe in die neue Lage finden mußte. Demosthenes liefert in der dritten Philippica die seelische Durchbruchsschlacht. Von seinem Sieg in ihr hing alles ab. Die technischen Mittel und Möglichkeiten der Rüstung darzulegen, war eine andere Etappe der Vorbereitung. Sie gehörte nicht in ein Manifest, das sich ausschließlich an den Willen der Nation wandte. Und so gilt es auch für uns, diese Rede als den höchsten Ausdruck der politischen Kraft des Demosthenes zu erfassen. Sie ist wie schon die früheren Reden gegen Philipp in erster Linie eine geistig-sittliche Kraftleistung. Der mächtige Bund von Ethos und Pathos, der in
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diesem Augenblick in der Seele des Demosthenes besiegelt wird, bedeutet den Anbruch einer neuen Periode des seelischen und künstlerischen Ausdrucks in der Geschichte des griechischen Geistes, deren Entwicklungslinie symbolisch ausgedrückt in der Richtung auf den Stil des pergamenischen Altars verläuft. Diese hochpathetische Ausdruckskraft hat von der Gewalt des erlebten Schicksals ihre Prägung erhalten. Wir finden ihre tiefen Schatten zuerst und gleichzeitig in den philippischen Reden des Demosthenes und in der bildenden Kunst des Skopas. In der dritten Philippica ist die in gemeinsamem Wollen sich selber findende Seele der griechischen Nation, die politisch noch nie zuvor ihre Form erlangt hatte, in die Sprache gebannt, nicht als patriotische Festrednerphrase, beglänzt vom Ruhm der großen Vergangenheit, sondern als der gebieterische Ruf des Schicksals, der aus dem ziellosen Widerstreit der Interessen das Volk noch einmal zur Gemeinschaft der Tat und des Leidens zusammenführt.
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DAS ENDE Der Ruf, den Demosthenes in der dritten Philippica an ganz Griechenland richtet, ist der Auftakt zur letzten Entscheidung. Unwiderstehlich ist die ungeheure Magie des Willens, die von ihm ausströmt. Sie überträgt sich noch heute auf den Leser in stiller Studierstube und erhitzt sein Blut. Wir fühlen, dieses Wort muß zu der Zeit, da es lebendig gesprochen wurde, die Masse in seinen Bann geschlagen haben. Den Intellektuellen aber und kühlen Skeptiker vom Schlage der politischen Gegner des Demosthenes oder der kritisch abseits stehenden Gelehrten und Philosophen der platonischen Akademie ließ es in eben dieser Wirkung eine Macht empfinden, der der Verstand sich wohl entziehen konnte, aber der sich entgegenzuwerfen ein vergeblicher Kampf mit Blitz und Sturm gewesen wäre. Dieses Wortes eigentliche Kraft lag nicht im persönlichen Temperament des Redners, sondern in der Idee. Der Sturm, den sie rief, mußte kommen, und gegenüber diesem heiligen Muß hatte ein politischer Verstand, der nur mit den landläufigen Zweckmäßigkeiten und Sicherungen operierte, sein Recht verloren. Nehmen wir an, daß auch in diesem Augenblick so gut wie bisher die Gegenkräfte vorhanden und in der Stille wirksam waren, so bleibt es doch das Erstaunliche, daß sie sich ganz verkriechen mußten. Auch in der athenischen Demokratie gab es jetzt keine Redefreiheit, kraft deren irgend jemand dagegen aufzutreten wagte. Die Nichts als Fachpolitiker mußten nun abtreten, Demosthenes aber, der ihnen auf ihrem eigensten Gebiet seine Überlegenheit so oft gezeigt hatte, entfaltete jetzt eine Größe, die einer höheren Dimension angehört. Sie machte ihn einzig dazu geeignet, das Volk in diesem Augenblick seiner Geschichte zu führen und stellvertretend für es zu wollen. Wer von denen, die nachträglich an ihm Kritik zu üben für notwendig halten, hätte, wenn er in jenen Zeiten gelebt hätte, den Mut gehabt, Demosthenes zu widersprechen ? Nur der konnte mit seiner
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Kritik bestehen, der sich ganz außerhalb der Gemeinschaft der athenischen Polis stellte, außerhalb des Willens, der sie durch das Schicksal der Gegenwart von neuem zusammenschmiedete. Aber auch außerhalb Athens konnte neutrale Skepsis bald nicht mehr Fuß fassen. Denn wie jeder echte Sturm ergriff die Bewegung, die Demosthenes entfacht hatte, die gesamte Umwelt, beginnend mit der nächsten Nachbarschaft, mit Megara und der Insel Euboia, deren Städte Oreos und Eretria in Philipps Botmäßigkeit waren. Nach Abschluß eines Bündnisses zwischen Athen und Chalkis wurden auf ganz Euboia im Sommer und Herbst 341 die Tyrannen von Philipps Gnaden gestürzt.1 Die dritte Philippica hatte noch über die Teilnahmlosigkeit des übrigen Griechenlands geklagt. In der erweiterten Fassung dieser Rede, die uns neben einer kürzeren erhalten ist — ich halte beide für echt — spricht Demosthenes von Gesandtschaften, die man nach dem Peloponnes, nach Rhodos, Chios und zum Perserkönig schicken solle, um zum Widerstand gegen den Eroberer aufzurufen.2 Die im Bundesgenossenkrieg abgefallenen Staaten Chios, Rhodos, endlich auch Byzanz, das durch Philipps Vordringen in Thrakien am stärksten bedroht war, wurden jetzt für Athen zurückgewonnen, teilweise durch das Verdienst des Hypereides.3 Diese Bemühungen fallen in den Herbst und Winter 341. Demosthenes selbst reiste im Peloponnes von Stadt zu Stadt, und was seine Gesandtschaft nach dem Philokratesfrieden vergeblich zu erreichen gesucht hatte, glückte jetzt seiner Beredsamkeit in vollem Umfang. 4 Nicht nur Korinth und Achaia traten bei, sondern auch Philipps Vasallen Messenien, Arkadien und Argos fielen von ihrem makedonischen Bundesgenossen ab und traten zu Athen über. Im März 340 wurde der Vertrag zu Athen formlich geschlossen. Auf Sparta kam schon seit langem nicht mehr viel an, um so wichtiger war Theben, bisher Philipps treuester Bundesgenosse neben Thessalien. 5 Man konnte hier nur schrittweise vorwärtskommen, doch Demosthenes wird es an zäher Arbeit nicht haben fehlen lassen, um seinem schon lange ins Auge ge-
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faßten Ziel näher zu kommen: die unversöhnlichen Feinde Theben und Athen auf dem Boden seines nationalen Programms zur Einigung zu fuhren. Erreicht hat er es erst in letzter Stunde; aber durch die Gewinnung der peloponnesischen Bundesgenossen Thebens, der Messenier und Arkader, war man auch diesem Ziel jetzt schon nähergerückt. Seine Verwirklichung mußte nun endlich gelingen. Die trennenden Schranken der Eifersucht und Selbstsucht zwischen den griechischen Landschaften und Städten fielen jetzt eine nach der anderen, und was Jahrhunderte hindurch unvorstellbar gewesen war, gelang der durch die Drohung des Feindes und durch die zündende Redegewalt des Demosthenes entfachten allgemeinen Bewegung. Mit Recht hat schon die antike Geschichtschreibung diese Erfolge, für die Demosthenes an den Dionysien 340 von der Bürgerschaft Athens mit dem goldenen Kranze geehrt wurde, als etwas Großes anerkannt.6 Man kann nicht umhin, dieses mühsame und zähe Ringen zu vergleichen mit der Lage zu Beginn des peloponnesischen Krieges, als sich auf den Wink des Perikles die ungeheure militärische und finanzielle Maschinerie der athenischen Macht und ihrer ganzen Bundesgenossenschaft in Bewegung setzt. Wie arm ist dagegen das geeinigte Hellas des Demosthenes, wie provisorisch seine materielle Rüstung. Und doch, wie ergreift uns der Augenblick, wo es sich aus seiner Schwäche und Zerfahrenheit zum letzten Mal erhebt und in dieser schönen und heldenmütigen Ermannung zum Schluß den tragischen Höhepunkt des niemals sehr starken Bewußtseins seiner politischen Einheit erlebt. Der Moment des Erwachens der Griechen zur Nation fällt zusammen mit ihrem Untergang als Nation. Aber kann das unserer Anerkennung der Tatsache Abbruch tun, daß der Mann, der in dieser Stunde dem Volk gesandt war und es seinem Schicksal entgegenführte, in der beflügelnden Erkenntnis von der absoluten Notwendigkeit seines Tuns eine schier übermenschliche Leistung zustande gebracht hat, die jeden anderen Staatsmann in einer Zeit des Aufstiegs bis an die Sterne heben würde ?
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Philipp hielt sich während dieser Vorgänge in Griechenland noch in Thrakien auf, wo der Krieg alle seine Kräfte festlegte. Er suchte Zeit zu gewinnen, indem er an Athen drohende Noten sandte, in welchen er seine Beschwerden aufzählte und sich als Verteidiger seines Rechts, den Gegner aber als Rechtsbrecher und Angreifer hinstellte. Doch angesichts der um sich greifenden Bewegung in Griechenland waren diese Fragen von untergeordneter Natur, und jeder fühlte, daß es lächerlich war über Zwischenfälle zu verhandeln, während man sich bereits im Kriegszustande befand. Philipp hatte mit einem allgemeinen Siege des Unabhängigkeitswillens in Griechenland wohl kaum gerechnet und war ein zu guter Politiker, um den neuen Gegner zu unterschätzen. Er konnte sich sagen, daß die verbündeten Griechen ohne Schwierigkeit eine Heeresmacht aufzustellen vermochten, die der seinigen an Zahl ebenbürtig war oder nur wenig hinter ihr zurückstand, und daß der Gedanke der Freiheit für sie ein unwägbarer, aber starker Bundesgenosse sein würde, i Der Vorteil der Lage Philipps war seine Unangreifbarkeit im eigenen Lande, die ihm erlaubte den Zeitpunkt des Entscheidungskampfes selbst zu bestimmen. Bis dahin war er zwar dem Kaperkrieg und der Blokkade durch die gegnerische Seemacht ausgesetzt, aber er hatte die Nerven, diese Geduldsprobe ruhig zu ertragen. Schwieriger war die Frage, wo die Entscheidung fallen sollte. Zur See war er den Griechen nicht gewachsen, ob er aber ohne weiteres mit der Landarmee in Attika einrücken könnte, war bei der schon jetzt ganz undurchsichtigen Haltung seiner mittelgriechischen Bundesgenossen höchst zweifelhaft. Es war unwahrscheinlich, daß er die Thebaner dazu bringen könnte, in einem Kampf für rein makedonische Interessen mit ihm gegen die gesamten übrigen Staaten von Hellas zu marschieren oder ihm auch nur den Durchmarsch durch Böotien zu gestatten.8 Demosthenes wußte das wohl und erwartete deshalb den Angriff Philipps an dem für Athen nächst Attika empfindlichsten Punkte, an den Dardanellen oder am Bosporus, wohin er sich durch den thrakischen Feldzug soeben den Weg zu bahnen im 12
J a e g e r , Demosthenes
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Begriff war. 9 Der Chersonnes war durch die athenischen Ansiedler und durch eine Truppenmacht unter Chares leidlich geschützt; es war daher vorauszusehen, daß Philipp unter Umgehung dieser Stellung am Hellespont seinen Angriff direkt gegen die griechischen Städte am Bosporos, vor allem gegen Byzanz richten würde, um von dort den Ausgang des Schwarzen Meeres zu beherrschen, Athen die Getreidezufuhr abzuschneiden und seinen Handel lahmzulegen. Demosthenes mußte verhindern, daß hier ein zweiter Fall Olynth entstände, und obgleich das eigenherrliche Byzanz bis dahin seine Politik stets gegen die Konkurrentin Athengerichtet hatte, mußte man es jetzt rückhaltlos unterstützen, wo es sich in der Verzweiflung Athen in die Arme warf. Zugleich hoffte Demosthenes jetzt, wenn Philipp auf das europäische Ufer des Marmarameeres offen seine Hand legte, die bisher uninteressierte persische Großmacht auf der asiatischen Seite zu alarmieren und zu tätiger Hilfe zu gewinnen, da Philipps neue Front hier zugleich Persien bedrohte. Demosthenes wußte durch seine Spione von einer geheimen Militärkonvention zwischen Philipp und dem auf der asiatischen Seite des Hellespont residierenden persischen Vasallenfürsten Hermias von Atarneus. Er hatte schon 341 in der vierten Philippica Andeutungen gemacht, er hoffe, die Aufdeckung dieses Komplotts durch die Perser werde bald zur Beteiligung Persiens am Kriege gegen Philipp führen.I0 Er hatte jedoch den politischen Weitblick der persischen Regierung überschätzt, so klar auch deren Interesse am Tage lag. Persien hatte seit Jahren genug mit sich zu tun und überließ die Griechen sich selbst, soweit nicht seine Grenzen direkt bedroht schienen. Doch diese Gefahr rückte eben jetzt näher, als Philipp die Festung Perinth am Marmarameer zernierte und zu belagern begann. Das war die letzte Station auf seinem Wege nach Byzanz, daher schickten die Byzantiner und der persische Satrap Arsites Truppen und Lebensmittel zu Hilfe. Die Angriffe Philipps waren vergeblich. Schließlich sah er seinen Fehler ein und ging unter Zurücklassung eines Belagerungskorps zum Angriff auf Byzanz selbst über.11 Bei seinem Vormarsch gelang es ihm, eine athe-
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nische Handelsflotille fortzunehmen, und da man Byzanz auf keinen Fall im Stich lassen konnte, erklärte Athen jetzt offen den Krieg und warf ein Hilfskorps unter Phokion nach Byzanz. Dank der heldenmütigen Verteidigung konnte Philipp die Stadt trotz größter Anstrengungen nicht erobern und mußte den Feldzug gegen die Meerengen schließlich resultatlos aufgeben.12 Die glückliche Beendigung dieses ersten Abschnitts des Krieges war ein großer Erfolg der demosthenischen Politik, wenn man an das zurückdachte, was einst beim Angriff Philipps auf Olynth versäumt worden war. Olynth hatte so wenig zu fallen brauchen wie jetzt Byzanz. Ein Unglück war es jedoch und mußte einen vorausschauenden Staatsmann wie Demosthenes an den Rand der Verzweiflung bringen, daß mit der glücklichen Abwehr Philipps am Bosporos das Interesse Persiens am Kriege der Griechen gänzlich erlosch. Es war vielleicht der klügste Schachzug Philipps, um die Gegner sicher zu machen, daß er unmittelbar danach zum Kampf gegen seine barbarischen Grenznachbarn auf dem nördlichen Balkan überging. Er war also beschäftigt, und wenn es wirklich zum ernsthaften Kriege zwischen Makedonen und Griechen kam, so konnte man persischerseits denken, daß es besser sei, diese Gegner sich gegenseitig aufreiben zu lassen, als sich wie in früheren Zeiten einzumischen. Diesen Irrtum hat das persische Reich fünf Jahre später mit seinem Untergang bezahlt. Wir haben uns hier nicht unseren Phantasien darüber hinzugeben, welchen Gang die Geschichte genommen hätte, wenn Persien sich in diesem Augenblick seiner Tradition entsprechend wie zur Zeit des Alkibiades oder Konon entschlossen auf die Seite der von Athen geführten Griechen gestellt hätte. Hätte es die ihm drohende Gefahr erkannt, so hätte es noch immer die Mittel gehabt, im Bunde mit den Griechen Philipp ernstliche Schwierigkeiten zu bereiten. In der vierten Philippica hatte Demosthenes diese Gefahr gesehenes „Wenn der Perser uns im Stich läßt und wir zu Fall kommen sollten, wird nichts Philipp hindern, den König von Persien anzugreifen." Doch für diese Erkenntnis fehlte dem Perser jede geistige Voraussetzung, darum blieben die 12·
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großen vorhandenen realen Möglichkeiten unausgemitzt. Hellas mußte seinen Kampf für die Freiheit allein führen. Es geht hinein mit vollem Wissen von der Bedeutung dieser Entscheidung und ihrer inneren Notwendigkeit, während der Barbar seinem nahenden Geschick tatenlos und dumpf entgegendämmert. Philipps Kämpfe im Norden waren für Demosthenes geschenkte Zeit, um die Rüstung Athens zu vervollständigen. Er wurde zum Rüstungsdiktator mit außerordentlichen Vollmachten ernannt, ein neues Amt, kraft dessen er eine Neuordnung der Symmorien für die Ausstattung der Kriegsschiffe durchsetzte, wonach den 300 Reichsten die eigentlichen Lasten zufielen. Ihre finanziellen Kräfte wurden aufs äußerste angespannt, auch die Überschüsse der Staatskasse und die Etats für öffentliche Bauten wurden der Verwendung für Kriegszwecke zugeführt. H Wir machen uns nur schwer eine Vorstellung von den innenpolitischen Schwierigkeiten, die dabei zu überwinden waren. Die besitzende Schicht war von jeher gegen den Krieg eingestellt gewesen, in ihr hatte Demosthenes den schwersten inneren Widerstand zu besiegen. Das wäre unmöglich gewesen ohne einen Mann von seiner anerkannten Unbestechlichkeit und unantastbaren vaterländischen Gesinnung. Die großartigen Opfer, zu denen er die Reichen veranlaßte, erinnern an die besten Zeiten der athenischen Geschichte. Jetzt war der Augenblick da, wo sie Geld hatten und bezahlten, wie Demosthenes einst in seiner Symmorienrede gesagt hatte, und der Mann, der sich damals dafür einsetzte, daß kein Pfennig für einen unnützen Krieg gegen einen nur vermeintlichen Feind von den Besitzenden zu haben wäre, führte jetzt selbst höchst drakonische Bestimmungen durch, da der wirkliche Feind drohte. Aber auch seine alte Forderung an die Masse, die er in den olynthischen Reden erhoben hatte, der Verzicht auf die Theatergelder, wurde jetzt durchgesetzt, so unvolkstümlich sie war.1? Man sieht: nichts ist falscher als die Auslegung der finanzpolitischen Maßregeln des Demosthenes zur Heranziehung der großen Vermögen im einseitig parteimäßig demokratischen Sinne.
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Schon zwei Jahre vorher hatte Demosthenes in der vierten Philippica das soziale Problem mutig angepackt.l6 Das hing für ihn mit seinen hohen Forderungen für die Sache zusammen, und diesen Zusammenhang hat er von vornherein klar erkannt. Athen war verloren, wenn der kommende Krieg nur Sache einer einzelnen Klasse war, sei es der Armen oder sei es der Reichen. Er mußte sich zwar eingestehen, daß er die inneren Vorbehalte der dem Staat durch seine Klassenpolitik seit langem entfremdeten Besitzund Bildungsschicht nicht mit einem Schlage entkräften konnte durch seinen Berge versetzenden Glauben an die gute Tyche Athens und Griechenlands. Er mußte schon zufrieden sein, wenn keiner sich drückte und jeder seine Pflicht tat. Aber was er wollte, war etwas Höheres. Sein Ziel war es, unter dem Eindruck der Größe des geschichtlichen Augenblicks die Kluft zwischen den beiden feindlichen Klassen der Gesellschaft zu überbrücken und keinem zu Gefallen zu regieren, sondern alle Glieder des Volkes zusammenzuführen in dem einen einzigen Willen, sich unter Preisgabe aller sozialen Ressentiments mit ehrlichem Herzen ganz der Sache des Vaterlands zu widmen. Es war so viel gedacht und geschrieben worden über den wahrhaft gerechten Staat und seinen idealen Aufbau, aber nirgends war man über bloße Theorien und Ideale hinausgekommen. Und doch war der innere Zerfall so weit vorgeschritten, daß diese Gedanken irgendwie verwirklicht sein mußten, ehe daran zu denken war, die große Kraftprobe dieses Krieges zu bestehen. Aber was bisher nur im luftigen Nirgendheim der philosophischen Utopie möglich schien, das mußte die Macht der Stunde der Nation vollbringen helfen. Dieses innenpolitische Programm der vierten Philippica ist das Bekenntnis zu dem neuen sozialen Opfergeist, der dann in der Finanzpolitik der beginnenden Kriegszeit seinen Ausdruck gefunden hat. Es ist daher wohl der grundsätzlichen Beachtung würdig, die es bisher noch nicht gefunden hat. Philipp harrte währenddessen der günstigen Gelegenheit zur Einmischung in die griechischen Verhältnisse, die ihm gestatten würde in Mittelgriechenland einzurücken, denn nur durch einen
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großen Erfolg zu Lande konnte er hoffen aus seiner behinderten Lage herauszukommen, sich der dauernden Umklammerung durch die athenische Flotte zu entziehen und den Krieg vielleicht mit einem Schlage zu entscheiden. Er bediente sich dazu wie schon im Jahre 346 der delphischen Amphiktyonie. Anläßlich einer möglicherweise bestellten Provokation des athenischen Abgeordneten durch die Vertreter der mit Philipp verbündeten Lokrer kam es zu Gewalttätigkeiten zwischen den Lokrern und der Bevölkerung von Delphi, und der heilige Rat der Pylagoren beschloß die militärische Exekution gegen die Lokrer, wesentlich auf Betreiben des athenischen Delegierten. Dieser war kein anderer als Aischines.1? Zu seiner Ehre wollen wir annehmen, daß er bei dieser Gelegenheit auch einmal seine stramme Gesinnung beweisen wollte, da man ihm als Abgeordneten im delphischen Rat nach dem Friedensschluß von 346 unpatriotisches Verhalten vorgeworfen hatte. Aber wenn dem so ist, so muß ihn der Wunsch erneut eine Rolle zu spielen mit Blindheit geschlagen haben, denn der Beschluß der Pylagoren mußte unmittelbar zur Herbeirufung Philipps als Vollstrecker des Ratsbeschlusses fuhren. Was half es, daß Demosthenes in der Volksversammlung in Athen beim Bericht des Aischines erregt aufsprang und rief: Du bringst uns den Krieg ins Land, Aischines, einen amphiktyonischen Krieg! und daß Athen die Bestätigung des Beschlusses verweigerte. Philipp rückte mit seinem Heer in Mittelgriechenland ein, und man stand jetzt plötzlich vor der Notwendigkeit eines Kampfes im offenen Felde, vor der Demosthenes schon in der dritten Philippica nachdrücklich gewarnt hatte, weil man militärisch dem makedonischen Heer nicht ebenbürtig sei.l8 Er hatte dort nachzuweisen gesucht, daß sich seit dem dekeleischen Krieg die Kriegführung ungeheuer verfeinert habe. Damals hatte man, an der Politik des Perikles festhaltend, den Feind ins Land gelassen und sich auf die Verteidigung der Stadt beschränkt, aber jetzt hieße das sich kopfüber in den Abgrund stürzen. Es ist bemerkenswert, daß Demosthenes die Chancen eines Krieges gegen Philipp in der dritten philippischen Rede genau umgekehrt einschätzt, wie er
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diejenigen eines Krieges mit Persien einst in seiner Rede über die Symmorien beurteilt hatte. Die Verwendung desselben Begriffspaares : Agon und Polemos, ritterlicher Wettkampf und Krieg, zur Charakterisierung des Krieges in beiden Reden macht diese Tatsache noch augenfälliger. Vom Kampf gegen Persien hatte Demosthenes zur Zeit der vollkommenen finanziellen Erschöpfung Athens nach dem Bundesgenossenkrieg abgeraten, selbst wenn er militärisch nur ein ehrenvoller Agon sei, den Athen, wie seine Offiziere erklärten, durchaus bestehen würde; denn zu einem wirklichen Kriege gehörten als Hilfsquellen Schiffe, Geld und Land. Inzwischen hatte Athens Lage sich gebessert. Demosthenes glaubte jetzt die Auseinander Setzung mit Philipp am leichtesten führen zu können, soweit sie „Krieg" in diesem Sinne sei, das heißt durch Blockade und Schädigung des Gegners an seinen eigenen Küsten; doch im Agon, in der militärischen Entscheidung im offenen Felde, wären die Athener dem makedonischen Heer und seiner modernen Kriegskunst nicht gewachsen. Es müsse das Ziel der athenischen Politik sein, Philipp nicht aus seinem Lande herauszulassen, nicht aber einen Ringkampf mit ihm anzufangen. Inzwischen waren zahlreiche Bündnisse geschlossen und die Macht Athens erheblich verstärkt worden. Aber der Ausruf des Demosthenes bei der Nachricht aus Delphin beweist, daß er trotzdem an jenem Standpunkt der dritten Philippica festhielt und daher durch diesen unüberlegten Streich ungeheuer getroffen wurde. Nach seiner späteren Deutung hätte Aischines bewußt im Sinne Philipps gehandelt, um durch dessen Aufmarsch an der attischen Grenze die antimakedonische Regierung in Athen zu stürzen und so dem Kriege rasch ein unblutiges Ende zu machen. Das mag zutreffen oder nicht, jedenfalls kam es anders. Philipp besetzte blitzartig Elateia an der böotischen Grenze und bedrohte damit aus nächster Nähe seinen thebanischen Bundesgenossen, der seit einiger Zeit unsicher war. In einer dramatisch unvergleichlich packenden Schilderung seiner Kranzrede hat Demosthenes die Erinnerung an diesen furchtbaren Augenblick festgehalten, wo Panik und Auflösung Athen
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bedrohten.20 Als in der dumpf schweigenden Volksversammlung die Nachricht mitgeteilt war und der Herold rief: Wer will das Wort ergreifen? da hatte kein Politiker und kein Militär sich erhoben. Da betrat Demosthenes die Rednerbühne und setzte in ruhiger Sprache dem Volke auseinander, daß diese Stunde habe kommen müssen und daß jetzt keine Zeit zu verlieren sei. In Gefahr schwebe jetzt nicht so sehr Athen wie Theben. Deshalb riet er, den Thebanern sofort ein Bündnis anzubieten, wenn sie sich jetzt entschieden auf Athens Seite stellten, und zugleich mit der gesamten waffenfähigen Mannschaft an die Grenze auszurücken, um den Gutgesinnten in Theben gegen ihre makedonisch gesinnten Gegner bei der Entscheidung das Rückgrat zu stärken. Er selbst ging als Gesandter dorthin ab und riß die alten Feinde Athens, die Thebaner, im Sturme mit sich fort.*1 Hier endet die Politik und die Waffen entscheiden. Sie entscheiden gegen Demosthenes. Nach anfänglich günstigen Gefechten kämpfen die Griechen — unter ihnen Demosthenes als einfacher Hoplit — bei Chaironeia unglücklich gegen das in langen Kriegen gestählte Heer Philipps. Die alten Gegner des Demosthenes, Aischines und Phokion werfen ihm vor, daß er nicht den Tod in der Schlacht gesucht habe. Das wäre in der Tat der stilgerechte Abschluß eines Heldenlebens gewesen, und was hätte er dem Demosthenes erspart! Aber wenn er auch so gut wie jeder seiner Mitbürger die Zähne zusammengebissen und seine soldatische Pflicht erfüllt hat — ein Freiheitsheld in dem Sinne war Demosthenes nicht, daß er den Tod um jeden Preis bei Chaironeia hätte suchen müssen. war und blieb der Fanatiker seiner Idee. Sie gestattete ihm nicht ruhmvoll zu sterben, solange es auch nur den Schatten einer Möglichkeit gab, sie festzuhalten, und daß er, der die unerbittlich nüchterne Einschätzung der Gefahr von jeher gefordert hatte, trotz seines Wirklichkeitssinnes auch jetzt nicht aufhören konnte, an diese Möglichkeit wie an ein Wunder zu glauben, das eben war seine Form der Tragik. Wie hätte es aber anders sein sollen, nachdem das zähe Streben langer Jahre nach diesem einen Ziel durch
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den fast unbegreiflich rasch vorübergehenden Akt der kriegerischen Entscheidung mit einem Schlage gegenstandslos geworden war. Nach der Niederlage geht man in Athen an die Befestigung der Mauern, man ist auf eine Belagerung gefaßt, und Demosthenes setzt seine Kraft und sein Vermögen an diese nächstliegende Aufgabe, die so symbolisch ist für seine ganze Existenz von diesem Tage ab. Er verschanzt sich in der Polis und ist entschlossen, sie bis zum äußersten zu verteidigen. Er erwartet für Athen ein Schicksal wie dasjenige Olynths. Aber das Tragische ist, daß die innere Widerstandskraft des Volkes gebrochen ist. Es ist ein unvorstellbarer Gedanke, daß es in dem damaligen Athen zu dieser letzten verzweifelten Gegenwehr gekommen wäre. Nicht weil man für eine Belagerung nicht gerüstet war, sondern weil das Volk vorzog, durch einen Systemwechsel in der Führung leichteren Kaufs den glimpflichen Frieden zu erlangen, zu dem Philipp sich klugerweise sofort bereit erklärte. Er züchtigte das abtrünnige Theben und schonte das „verführte" Athen. Was hätte er auch anderes wünschen sollen, als daß es ihm auf solche Weise erspart blieb, seinen Sieg durch Gewaltanwendung gegen die Bewahrerin der ruhmreichen geschichtlichen Tradition Griechenlands zu beflecken. Sollte er etwa den griechischen Bund unter makedonischer Führung, den er kurz darauf in Korinth feierlich proklamierte, über den rauchenden Trümmerhaufen der Metropole der griechischen Kultur errichten ? Hätte der Perserzug, den er plante, noch Sinn gehabt für ein Hellas, aus dem jenes Athen ausgelöscht war, das einst die Griechen befreit hatte und dessen Zerstörung durch die Barbaren zu rächen die einzige historische Rechtfertigung dieses Unternehmens war? Die Einordnung Athens war in der Tat die schwierigste Aufgabe, die das Programm seiner griechischen Politik ihm stellte, weil sie nicht mit bloßer Gewalt lösbar war. Es war mehr eine psychologische Aufgabe, die den höchsten Takt erforderte, und es erweckt von Philipps politischer Klugheit keine geringe Vorstellung, daß er einsah, diese Aufgabe sei
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nicht mit einem Schlage zu meistern, sondern erheische eine geduldige Behandlung auf lange Sicht. Für die frühere Geschichtsauffassung bedeutete der Verlust der politischen Freiheit der griechischen Staaten das Ende der griechischen Geschichte. Die moderne Forschung hat dieses in sich geschlossene Bild, das mit Chaironeia seinen heroischen Abschluß fand, durch ein anderes, weiträumigeres Bild ersetzt, das die eigentliche Weltwirkung des Griechentums, den sogenannten Hellenismus, erst mit diesem Zeitpunkt beginnen läßt. Für diese Auffassung war Chaironeia ein unbedeutender Zwischenfall und Demosthenes' ganzes Lebenswerk ein unnötiger Aufenthalt auf dem unaufhaltsamen Marsch des geschichtlichen Fatums. Der Vollstrecker dieser Vorsehung, Philipp, wächst auf diesem Gemälde als Persönlichkeit ins Riesenhafte, sein menschlicher Umriß verschwimmt und fließt völlig untrennbar zusammen mit dem bis an die Wolken reichenden Schatten des Weltgeistes, der über Völker und Länder dahinschreitet. Und die berufen waren ihm zu widerstehen, schrumpfen zusammen zu häßlichen kleinen Pygmäen. Ihrer einer war Demosthenes. Er war kein Staatsmann, selbstverständlich, aber war er überhaupt ein Patriot? Der berühmte Droysen, der Schöpfer der „Geschichte des Hellenismus", legte diese Frage einem unglücklichen Kandidaten im Doktorexamen vor und war gewiß über die Kühnheit dieses armen Delinquenten sehr erstaunt, als dessen gesundes Gefühl sich dagegen sträubte, den großen Professor durch ein klares und unerbittliches Nein zu erfreuen, sondern es wagte Demosthenes für einen glühenden Patrioten zu halten, während er das inappellable Rhadamanthysurteil über seine staatsmännische Begabung bescheiden der Allwissenheit des Professors überließ.22 Uns will die ungeheure Veränderung des Bildes als eine unausbleibliche Folge der Verschiebung der Perspektive erscheinen, in der man es betrachtet. Aber man sollte heute schon wieder einen Schritt weiter sein und sich darüber klar werden, daß Perspektiven niemals etwas Absolutes sind. Von der Zukunft aus gesehen ist Demosthenes
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eine vorübergehende Episode auf dem Wege zum Weltreich und Kosmopolitismus, und niemand wird verkennen, daß das Griechentum auf diesem Wege sich noch großer Leistungen fähig gezeigt hat, während es sich in der bisherigen Form seines Daseins allmählich aufgerieben hätte. Aber gerade wenn man die Notwendigkeit dieses Prozesses so stark betont, ist es da nicht erstaunlich, daß man für die historische Notwendigkeit einer Persönlichkeit wie Demosthenes und sein Heldentum keinen Blick gehabt hat? Liegt es etwa daran, daß man zwar die dynamische Notwendigkeit im materiellen geschichtlichen Geschehen zu begreifen fähig ist, aber die organische Notwendigkeit nicht scharf genug sieht, die in der geistigen Struktur der geschichtlichen Gebilde wurzelt? Die griechische Polis war seit den Anfangen höherer Gesittung in Hellas nicht nur der äußere Rahmen des Lebens gewesen, sondern sie hatte auch die klassische Form der geistigen und sittlichen Existenz des griechischen Menschen geprägt. Der Prozeß seiner Ablösung von dieser Grundlage war zwar seit dem Ende des V. Jahrhunderts an vielen Symptomen des inneren Zerfalls für die Augen tiefer bückender Zeitgenossen kenntlich, und niemand hat nach Plato und Isokrates den Gegensatz der Gegenwart und der großen Vergangenheit Griechenlands in tragischeren Farben gemalt als Demosthenes. Aber je lebendiger die Vergangenheit in ihm und in allen bewußteren Zeitgenossen war, nicht nur als schattenhafte historische Erinnerung, sondern als innere geistige Form und Substanz ihres Daseins, um so weniger kam es für sie in Betracht, den äußeren Bestand dieser Polis der ersten schweren Gefahr, die ihr von außen drohte, ohne Widerstand preiszugeben. Dies war überhaupt keine Frage des Weitblicks oder der Kurzsichtigkeit, sondern der Notwehr, des Freiheitssinnes und der Willenskraft. Denn daß das Einmünden in die Weltherrschaft einer nichtgriechischen Macht — mochte sie persisch sein oder makedonisch — den Tod und Zerfall der nationalgriechischen Lebensform bedeuten würde, konnte zwar ein ethischer Rationalist wie
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Isokrates, aber niemals eine blutvolle und bodenständig fühlende Persönlichkeit wie Demosthenes verkennen. So stellte das, was er als die conditio sine qua non der hellenischen Existenz empfand und verteidigte, seinem realpolitischen Denken das unverrückbare Ziel. Über dieses Ziel hinauszudenken, war in den Augen des Demosthenes kein Weitblick, sondern Verrat an sich selbst und am griechischen Wesen, und wer dies nicht ebenso heiß und leidenschaftlich empfand, war ein bedauernswerter Narr oder ein Entarteter, aber kein großer Geist, der seiner Zeit vorauseilte. Der moderne Betrachter steht dem Kampf, in welchem Demosthenes sich verzehrt, nicht in parteiloser Neutralität gegenüber. Der Riß, der durch dieses Zeitalter geht, geht auch durch unsere Seele mitten hindurch. Die neue Welt des Hellenismus, die sich über dem Fall der Freiheit Griechenlands erhebt, ist mit ihrer übernationalen Wesensart, ihrer Loslösung des Geistes von Boden, Landschaft, Volk, ihrer kosmopolitischen Kultur und Religion die Voraussetzung der Weltreligion des Christentums und der universalen Philosophie und Wissenschaft geworden, ohne die unsere heutige Kultur nicht entstanden wäre. Aber dieser Gewinn an geistiger Weite wurde von den Griechen erkauft durch den Verlust der geschichtlichen Substanz, der Wurzelhaftigkeit als Volk und der leibseelischen Ganzheit des Menschen. Wenn das Griechentum jener Zeit reif war zu dieser Entwicklung, durch die es erst fähig wurde die ganze Welt zu befruchten, und wenn die griechische Menschenbildung zuerst in der Form dieser Universalität zu uns und den anderen Völkern gelangt ist, so empfinden wir das frühere Griechentum doch als verwandter in dem Maße, wie wir selbst bewußt um die höchste uns erreichbare geistige und sittliche Ausprägung unseres Wesens als Nation ringen. Demosthenes' Kampf ist unsterblich, wenn auch die Nation sterblich war, für die er kämpfte. Es ist wie ein Gesetz des Geistes, daß die großen geschichtlichen Formen der menschlichen Gemeinschaft erst, wenn ihr Leben sich dem Ende zuneigt, die innere Bewußtheit und den Willen zur Selbst-
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erhaltung entfalten, die sie befähigt sich jene höchste geistige Prägung zu geben, in der sie auch nach ihrem Untergang in der Menschheit weiterwirken. So ist es mit der klassischen Staatsfonn des Griechentums, der Polis. Auch sie hat erst im Augenblick ihrer höchsten Gefährdung, schon im Untergehen, ihre dauernde geistige Gestalt gefunden, philosophisch in Platos Staat und Gesetzen, politisch in den Reden des Demosthenes. Doch wenden wir uns zur Geschichte zurück. Wer sich von der makedonischen Hegemonie die innere Einigung der Griechen versprochen hatte, wurde enttäuscht. Philipp legte um Athen in respektvoller Entfernung ein Viereck makedonischer Garnisonen, das übrige überließ er seinen Anhängern und Agenten in den Städten. Letztere waren äußerlich „autonom". Diese Formel des Antalkidasfriedens, die den Griechen teuer war, räumte man ihnen bereitwillig ein. Der „Garant" dieser Autonomie aber war Makedonien, das gegen Revolution oder Aufruhr in den Städten die Bundesexekution aufbieten konnte. Dies war im wesentlichen die staatsrechtliche Grundlage der neuen Ordnung in Griechenland. Philipp hatte unverzüglich seinen Sieg ausgenützt, indem er Abgeordnete aller griechischen Staaten zu einer Tagung nach Korinth entbot, auf der das neue System seine dauernde, vertragsmäßig festgelegte Form empfing. Er brachte hier die Gedanken des Isokrates praktisch zur Anwendung, wenn auch natürlich zugunsten Makedoniens. Philipp ging nicht soweit, Griechenland in aller Form zu annektieren. Aber er sorgte dafür, daß alle Staaten der Halbinsel sich zu einem Bunde zusammenschlössen, welcher vollkommen unter seiner Leitung stand. Isokrates' Ideale fanden auch in dem offen betonten Ziel des Bundes gewissermaßen ihre Anerkennung, das bei seiner Gründung feierlich ausgerufen wurde; denn die erste von dem neuen Bundesrat gefaßte Entschließung war die Kriegserklärung an Persien.23 Der einzige Unterschied war der, daß dieser Eroberungskrieg, der leidenschaftlich als ein Vergeltungskrieg beschrieben wurde, nicht als ein Mittel zur Einigung der Griechen gedacht war, wie Isokrates es gewünscht
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hatte, sondern ausschließlich als ein Werkzeug des makedonischen Imperialismus. Philipp hatte klar erkannt, daß er die Weltherrschaft nicht erreichen, noch viel weniger sie aufrecht erhalten könne ohne die Hufe der griechischen Kultur. Indem er sie als Instrument gebrauchte, gab er ihr eine neue Bedeutung in der Weltgeschichte. Aber wenn auch die Griechen auf diese Weise dazu kamen, als Pioniere der Kultur und in diesem Sinne als die geistigen Teilhaber und Erben des makedonischen Weltreichs eine unvergleichlich einflußreiche Rolle zu spielen, waren sie politisch doch einfach ausgelöscht aus den Reihen der freien Völker, selbst wenn Philipp der Form nach darauf verzichtet hatte, Griechenland zu einer makedonischen Provinz zu machen. Die Griechen waren sich dessen bewußt. Äußerlich suchten die „autonomen" Stadtstaaten möglichst streng korrekte Beziehungen zu Makedonien aufrecht zu halten. Innerlich war es eine Zeit des dumpfen Drucks und des schwelenden Mißtrauens, das regelmäßig zur hellen Flamme aufloderte, sobald das geringste Anzeichen einer Erschütterung oder Schwäche der makedonischen Fremdherrschaft — denn als solche empfand man sie allgemein — sich bemerkbar machte. Dieser Zustand war eine Marter. Er dauerte, solange man noch hoffte. Erst als die letzte Hoffnung erloschen war, nach dem Scheitern des letzten Aufstandes, trat endgültig die Ruhe des Friedhofs ein. Demosthenes ist in dieser Zeit politisch kaltgestellt. Es war mutig, daß man wagte, ihm die Grabrede auf die Gefallenen von Chaironeia zu übertragen, aber in der unter diesem Titel überlieferten Rede erkennen wir den Demosthenes nicht wieder, obgleich man neuerdings ihre Echtheit an Hand vieler Einzelsymptome nicht ohne Geschick verteidigt hat. Aber wenn auch die Worte von Demosthenes geborgt sind, die Kraft seiner Seele lebt nicht in ihnen.2* In der Folgezeit muß er seinem alten Widersacher Aischines in der Öffentlichkeit das Feld räumen, aber was für eine Öffentlichkeit war das! Es lohnte sich nicht, in ihr zu dominieren. Aber als Aischines versucht, auch das Bild der Vergangenheit von der traurigen Gegenwart her zu formen,
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und jener bis in unsere Zeit hinein dauernde Kampf um das endgültige Urteil der Geschichte über Demosthenes beginnt, da hebt er sich noch einmal empor aus schmerzlichem inneren Ringen mit der grausamen Wahrheit, um sich ein letztes Mal zu seinen Taten zu bekennen. Aischines hatte den Ktesiphon angeklagt, der für Demosthenes die Verleihung eines goldenen Kranzes beantragt hatte. Da tritt Demosthenes als Verteidiger des Antragstellers vor Gericht und legt die Hand auf den Kranz, den ihm der Gegner unter dem Schutz der makedonischen Waffen zu entreißen hofft. Die Situation ist von einer großartigen Symbolik. Wie die Anklagerede des Aischines die ganze Politik des Demosthenes wieder aufrollt, so wird die Kranzrede des Demosthenes notgedrungen zur Verteidigung seines gesamten Handelns seit dem Eintritt in die politische Laufbahn. Es ist schon Jahre her, daß Philipp ermordet und der erste große Aufstand der Griechen von dem jungen König Alexander mit blutiger Strenge niedergeschlagen worden ist. Aus Asien, wohin der jugendliche Eroberer Makedonen und Griechen im Sturme geführt hat, kommen romanhaft klingende Nachrichten von Griechensiegen über die Perser, unter denen das Weltreich der Achämeniden zusammenbricht. Die Griechen hören es staunend, doch im Grunde teilnahmlos. Es ist ja nicht ihre Sache, um die es dort in der Ferne geht. Aber als nach langer Verzögerung der Prozeß des Aischines gegen Ktesiphon in Athen zur Verhandlung kommt, da horcht ganz Griechenland auf, und aus allen Landschaften strömt das Volk herbei, um dieses große Schauspiel zu erleben, das man die Rednerschlacht genannt hat. Es ist in Wahrheit weit mehr als ein Kampf der Worte. In ihm sehen die Zeitgenossen auf der ideellen Ebene historischer Anklage und Rechtfertigung die ganze Tragödie ihres Schicksals noch einmal mit leidenschaftlicher Anteilnahme vor ihrem geistigen Auge abrollen. Noch einmal ziehen alle Etappen des Dramas vorüber; um jede einzelne wird heiß gekämpft. Noch einmal hallt die athenische Pnyx wieder von dem längst verklungenen gewaltigea
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Pathos der philippischen Reden, das jetzt ein tragisches geworden ist. Die große Entscheidungsfrage von einst: Was sollen wir denn tun? ist jetzt in das Präteritum verwandelt: Was hätten wir denn tun sollen ? 2 5 Das ist eine noch schwerere Entscheidung als einst, denn jetzt gilt es innerlich ein Schicksal zu bejahen, das schon gegen die entschieden hat, die es wählten. Demosthenes schildert die schwierige Lage bei Beginn seines staatsmännischen Wirkens, die sich zusammenziehende Gefahr, die Ahnungslosigkeit der Griechen, die Feilheit oder Feigheit der Führer. Damals ist er es gewesen, der sich an die politische Front gestellt und das Gefühl dafür zu wecken versucht hat, was Athen sich schuldig sei.26 Oder sollte man sich mit Thessalern und Dolopern auf eine Stufe stellen und Philipp bei der Ausführung seiner Pläne Handlangerdienste leisten? „Was sollte unsere Stadt tun, Aischines, da sie sah, wie Philipp sich die Herrschaft und Tyrannis über die Griechen zu verschaffen suchte? Oder was sollte ich als Berater Athens sagen oder beantragen,.. . der ich wußte, wie mein Vaterland von jeher bis zu dem Tage, von dem an ich selbst die Rednerbühne betrat, immer um den ersten Preis der Ehre und des Ansehens gerungen hatte.. ., und der ich sah, wie Philipp selbst, gegen den der Kampf ging, für seine Macht und Herrschaft sich ein Auge hatte aus dem Kopf hauen, sich das Schlüsselbein zerbrechen, sich die Hand, den Schenkel verstümmeln, jedes Glied seines Leibes, das die Tyche ihm entreißen wollte, hatte fahren lassen, um in Zukunft im Bunde mit Ruhm und Ehre zu leben ? Aber auch das wird niemand zu sagen wagen, daß gerade in diesem Manne aus Pella, einem damals unangesehenen und unbedeutenden Ort, eine solche Großgesinntheit habe wachsen müssen, daß es ihm in den Sinn kam, nach der Herrschaft über die Griechen zu begehren, ihr aber, die Athener, die ihr täglich in jedem Wort und Anblick die Denkmäler der Größe eurer Vorfahren vor Augen habt, hättet so erbärmlich sein sollen, euch als Freiwillige vorzudrängen, um die Freiheit an Philipp zu verraten? Niemand wird das behaupten. Also blieb nur übrig
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und war es notwendig, allem Unrecht, das er euch tat, im Namen des Rechts entgegenzutreten. Das habt ihr von Anfang an getan, wie es Recht und Pflicht war, und der es beantragt und geraten hat, war ich, solange ich politisch tätig war. Ich gestehe es zu. Aber was sollte ich denn anderes tun? Ich frage dich." Der Staatsmann ist frei in seinem Entschluß, solange er noch will und handelt, mögen auch die Umstände sein Wollen in feste Grenzen einschließen. Dieses Gefühl hat Demosthenes in den philippischen Reden mehrfach ausgesprochen. Doch die Zeit verwandelt das Unentschiedene der Gegenwart in die unveränderlich starre Entschiedenheit des Vergangenen, und in dem Augenblick, da der Geist seinem eigenen früheren Wollen und Handeln als einem Stück Geschichte gegenübersteht, begreift er es als notwendig und als Teil eines Gesamtgeschehens, in das der Mensch als Wollender verflochten war. Diese Übersetzung aus dem Imperativ in das Präteritum, aus der Dimension der sittlichen Forderung in die des unentrinnbar notwendigen Geschehens, ist die erschütternde Transposition, die Demosthenes in der Rede vom Kranz an seinem eigenen Leben und Wirken vollzieht. In dem Drama der philippischen Reden war er handelnde Person; in der Kranzrede wird der Held, der entgegen den Regehi des Theaters die Katastrophe überlebt hat, zum nacherlebenden Zuschauer seiner eigenen Tragödie. Er begreift das Verhängnis der Erbschaft, die er bei seinem Antritt übernommen.2? Er erkennt die unentfliehbare Macht der geschichtlichen Vergangenheit, die es dem athenischen Staatsmann unmöglich machte, den von den Vorfahren ererbten Rang des Vaterlandes einem bisher wenig geachteten Gegner kampflos preiszugeben. Er ist aber auch fähig geworden, seine Hörer die dämonische Größe des Feindes mit der Bewunderung des echten Hasses empfinden zu lassen, wie nie die dichterische Kraft eines Historikers es nach ihm vermocht hat.z8 Das Gefühl der Tyche und ihrer Allmacht, das in jedem Augenblick der großen Entscheidungsreden gegenwärtig war, bricht von neuem hervor. Aber was vor unseren Blicken erscheint, ist nicht das Bild der 13
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auf der Kugel vorüberschwebenden Göttin, deren ausgestreckte Hand der Sterbliche beherzt erfaßt, sondern jener „sinnlosen Tyche", die sich in der Tragödie des Euripides offenbart, und deren Unberechenbarkeit allen Menschenwitz zu schänden macht. 29 Aber nicht die ganze Kranzrede ist auf diesen Ton gestimmt. Sie enthüllt das Bild der ganzen Entwicklung des Demosthenes, seiner Jugend und Schulzeit, seines bürgerlichen Lebens und seiner Opfer für den Staat, seiner glühenden Liebe zu Athen. Sie geißelt die Sitten der Zeit und die Korruption der Politiker, und mit der ins Bizarre gesteigerten Kraft des alten verzehrenden und verzerrenden Hasses treffen ihre Hiebe den Ankläger Aischines, der diesen Endkampf heraufbeschworen hat in der Gewißheit, über den gestürzten Demosthenes einen späten Triumph des Besserwissens zu feiern, jetzt, da er durch die Geschichte selbst widerlegt ist. Aber mochte Athen auch ohnmächtig sein gegen die Kraft des makedonischen Siegers, es behielt sich die Unabhängigkeit des Urteils vor und erklärte Demosthenes als durch keine Geschichte widerlegbar. Um die gleiche Zeit, als der letzte König der Perser bei Arbela an Alexander Schlacht und Reich verlor, ging Demosthenes vor dem athenischen Volksgericht als Sieger hervor und empfing den Kranz, während sein geschlagener Gegner Athen für immer verließ. Aber die Tragödie war noch nicht zu Ende, wenn Demosthenes sie auch in der Kranzrede als vollendet betrachtet hatte. Die Schicksale des wirklichen Lebens sind in ihrem Verlauf oft schleppender als die der Bühne. Nichts ist schauriger als dieses langsame innere Siechtum, das immer wieder durch ein jähes Aufflammen der Hoffnung unterbrochen wird. Als Alexanders Schatzmeister Harpalos mit den erbeuteten Schätzen Asiens flüchtig wurde und in Athen Zuflucht suchte, schien zum erstenmal seit der Ermordung Philipps ein Weg sich zu öffnen, um im Rücken des im Orient kämpfenden Eroberers einen Aufstand ganz Griechenlands zu organisieren. Demosthenes erkannte die Sache nach den ersten Verhandlungen als aussichtslos und veruneinigte sich darüber mit seinen eigenen alten Mitkämpfern,
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die jetzt mit wüsten Schmähungen über ihn herfielen und ihm den Prozeß machten. Er wurde eingekerkert, entfloh aber und lebte einige Zeit in der Verbannung auf Aigina. Als dann Alexander plötzlich in der Blüte der Jahre starb, erhob sich Griechenland zum letztenmal, und auch Demosthenes stellte sich zur Verfügung und kehrte nach Athen zurück. Aber nach glänzenden Erfolgen der Griechen fällt Leosthenes, ihr ausgezeichneter Feldherr, sein Nachfolger wird bei Krannon angeblicH am Jahrestage von Chaironeia geschlagen, die Athener kapitulieren und lassen sich unter dem Druck der makedonischen Drohungen dazu herbei, die Führer des Aufstandes zum Tode zu verurteilen. Während seine alten Kampfgenossen Hypereides und Himeraios von den Makedonen festgenommen und in Kleonai hingerichtet werden, wird Demosthenes auf der kleinen Insel Kalauria, wo er im Tempel des Poseidon am Altare Zuflucht sucht, von den Schergen des Feindes umzingelt und stirbt durch das Gift, das er im Griffel bei sich trug. So fand er zuletzt das Ende, das seinem heroischen, doch unglücklichen Kampf entsprach. Sein Leben war im wahren Sinn ein Ganzes: es war von der Hand eines Schicksals geformt. Er hat es gelebt für die höchste Idee, die vielen seiner Zeitgenossen nichts mehr galt, aber von der er nicht lassen konnte: für die dreifache Idee seines Volkes, seines Vaterlandes und der Freiheit. Ein letztes Mal offenbart in ihm der griechische Geist die Kraft, die aus dieser Wurzel aufsteigt in Stamm und Frucht. Wer sollte nicht die Zähigkeit dieses Willens bewundern, die durch kein Schicksal zu brechen war. Wir erkennen sie wieder in der ungeheuren Spannung der Züge und den krampfhaft verschlungenen Händen des großartigen Denkmals, durch das ihn Athen wenige Jahrzehnte später verewigt hat. Sie wird geadelt durch die Hoheit des Geistes und belebt durch das innere Feuer der einen großen Leidenschaft, von der er besessen ist. Aber noch höheren Adel verleiht ihm die Weihe des Leidens, das über dem nervösen, von tiefer Sorge durchfurchten Antlitz seine Schatten breitet. 13*
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DIE REDE DES ISOKRATES FÜR DIE PLATÄER UND DER ZWEITE SEEBUND DIE ZEIT des isokrateischen Plataükos ist nicht genau bestimmbar, unser terminus post quern für diese Rede ist die Zerstörung von Plataiai, die von Diodor XV 46, 6 ins Jahr 374/3, von Pausanias IX l, 8 aber 373/2 gesetzt wird. Für eine Entscheidung der umstrittenen Frage fehlen durchschlagende Gründe. Neuerdings hat G. Matthieu, Les idees politiques d'Isocrate (Paris 1925) S. 87, den Plataikos eingehender behandelt. Er betont mit Recht, daß auch diese Rede des Isokrates, die einem Bürger des zerstörten Plataiai in den Mund gelegt wird, eine politische Flugschrift ist und nicht, wie sie vorgibt, für die einmalige Erörterung des Übergriffs der Thebaner in der Volksversammlung in Athen oder im Synedrion der Bundesgenossen bestimmt zu sein braucht. Das Beispiel des isokrateischen Nikokles und Archidamos beweist dies hinlänglich. Wenn freilich Matthieu von hier aus eine neue Datierung des Plata'ikos versucht und ihn als Flugschrift in das Milieu des Friedenskongresses zu Sparta 371 versetzt, weil manche politischen Anschauungen in ihm sich mit den Gedanken der Rede des Kallistratos auf diesem Kongreß (Xen. Hell. VI 3, l Off.) berühren, so kann ich nicht zustimmen. Ich glaube überhaupt, daß der Verfasser zu weit geht in dem Bestreben, Isokrates überall in möglichst enge Beziehung zur realen Politik zu bringen, so daß dann möglichst an keinem wichtigeren Wendepunkt der politischen Entwicklung eine eigene Stellungnahme des Rhetors fehlen darf. Wenn Matthieu diese Stellungnahme zu der Situation, die in Sparta 371 zur Verhandlung stand, im Plataikos findet, so erhält er damit zugleich die Möglichkeit, die Politik des Kallistratos auf dem Friedenskongreß zu Sparta auf Isokrates zurückzuführen. Ich halte auch diese Einschätzung nicht für richtig. Isokrates ist überhaupt kein Realpolitiker im
DIE REDE DES ISOKRATES F R DIE PLAT ER
Sinne des Kallistratos oder sp ter Philipps von Makedonien, und der etwas m hsame Versuch, eine stetige Linie der politischen Entwicklung des Isokrates vom Panegyrikos bis zum Plata'ikos zu konstruieren, scheint mir wenig Erfolg zu versprechen. Von dem urspr nglich noch ganz ideologischen Programm der Einigung aller Griechen und des gemeinsamen Perserzuges f hrt kein Weg zu der Haltung des Rhetors im Plataikos, die durchaus der Politik des normalen athenischen Partikularismus zur Zeit des zweiten Seebundes entspricht, und auch der dann unumg ngliche Versuch, das Programm des Seebundes und seiner Gr nder mit dem Panegyrikos in Verbindung zu bringen, mu te notwendig mi ungen. Es geht nicht an, alle jene Gedanken in dem Panegyrikos zu bersehen, welche sich mit der Politik des Seebundes nicht vereinigen lassen, und nur den einen Punkt in der Rede herauszugreifen, der in dieses Programm pa t, Athens Anspruch auf die Seeherrschaft. Welches das wahre Verh ltnis des Isokrates zu den leitenden M nnern des Seebundes war, zeigt am besten der wertvolle Bericht des Verfassers der Biographien der zehn Redner (Ps. Plut. 837 C): . . . Τιμόθεος ό Κόνωνος, συν φ και πολλάς πόλεις επήλθε συντιθείς τάς προς Αθηναίους υπό Τιμοθέου πεμπομένας έπιστολάς· όθεν έδωρήσατο ούτω τάλαντον των όπτό Σάμου περιγενομένων. Matthieu S. 84 h tte nicht Bedenken tragen sollen, diese Reisen des Isokrates, wie er es erw gt, um 365 zu setzen statt wieDrerup undM nscher in die Zeit zu Beginn des zweiten Seebundes, denn sie sind unabtrennbar von der Zeit der Vertreibung der Samier, mit der der Bericht sie ausdr cklich verkn pft. Auch der Plataikos ist bereits bestellte Arbeit, das ist so deutlich wie m glich. Dadurch ist er von der rhetorischen Ideologie des Panegyrikos grunds tzlich verschieden. Im Plataikos stellt Isokrates seine Kunst in den Dienst einer ganz konkreten realpolitischen Situation. Sie ist entstanden durch die eigenm chtige Zerst rung der b otischen Stadt Plataiai durch die Thebaner „mitten im Frieden" — es ist der Friede des Jahres 374 gemeint — und durch das Hilfsgesuch der Plat er an Athen, wo
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die Vertriebenen Aufnahme gefunden hatten. Es hieße die Dinge auf den Kopf stellen, wenn man sich vorstellen wollte, Isokrates habe hier durch sein Eingreifen der athenischen Seebundspolitik die entscheidende antithebanische Wendung gegeben, die zum Frieden von 371 führte, weil er in Theben das Hindernis für die Einheit der Griechen sah, wenn man also mit anderen Worten den Plataükos als ein Stück der zielbewußten praktischen Ausführung des im Panegyrikos enthaltenen Programms betrachtete, wie Matthieu es tut. Es läßt sich aber auch noch zeigen, daß der Plata'ikos zeitlich ganz in die Nähe der Zerstörung von Plataiai gehört, und daß Isokrates die Fiktion der Anklage gegen Theben wegen dieser Tat nicht erst Jahre später angewandt hat, als die erste Empörung darüber sich schon gelegt hatte und eine weit umfassendere Frage zur Erörterung stand: die des böotischen Einheitsstaats, an der denn auch Thebens Beitritt zum Friedensvertrage von 371 gescheitert ist. Im Plata'ikos geht es nicht um Thebens Stellung auf diesem Kongreß aller griechischen Staaten, sondern um seine Stellung im athenischen Seebund, unmittelbar nach Verletzung seiner Bundespflicht. Es ist eine interne Angelegenheit. Und obgleich die Bestrebungen Thebens zur politischen Bevormundung der Städte Böotiens im Plataikos von athenischer Seite schon mit wachsender Sorge angesehen werden, ist doch noch nicht zu fürchten, daß Theben es wagen könnte vom Seebund abzufallen, wenn es etwa jetzt wegen Plataiai zur Rechenschaft gezogen wird. Diese Möglichkeit des Abfalls, die die prothebanischen Politiker in Athen benutzen werden, um zu schwächlicher Nachgiebigkeit gegen Theben zu raten, erwähnt Isokrates nur (Plat. 33—38), um zu zeigen, daß sie nicht ernstlicher Erwägung wert sei. Das kann schwerlich noch die Meinung der athenischen Delegation gewesen sein, als sie 371 die Reise zum Kongreß nach Sparta antrat; vielmehr war Kallistratos umgekehrt damals seinerseits fest entschlossen, Theben fallen zu lassen, wenn der Friedensschluß an dem Projekt des böotischen Einheitsstaates zu scheitern drohen sollte.
DIE REDE DES I S O K R A T E S FÜR DIE P L A T Ä E R
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Damals war die gewaltsame Einigung Böotiens durch Theben schon erheblich weiter fortgeschritten, als es im Plataükos der Fall ist. Xen. Hell. VI 3, l berichtet, daß 371 nicht nur die Zerstörung von Plataiai ein fait accompli war, sondern auch die Thespier durch Theben aus ihrer Stadt vertrieben waren. Isokr. Plat. 9 dagegen sagt nur, daß Thespier und Tanagräer zur Zeit der Rede von Theben gezwungen sind eis . Das ist der erste Schritt zur Aufhebung ihrer Unabhängigkeit gewesen, aber sie sind dadurch noch keineswegs geworden, wie ihre Lage bei Beginn der Friedensverhandlungen 371 von Xenophon charakterisiert wird. Plat. 13 setzt vielmehr voraus, daß zur Zeit des Falls von Plataiai noch eine lakedämonische Besatzung zum Schutz der Bewohner gegen Theben in Thespiai lag. Die Politik des Kallistratos, die zur Preisgabe Thebens auf dem Friedenskongreß von 371 führte, wird durch das Ereignis von Plataiai zuerst bestimmtere Umrisse angenommen haben, zunächst wohl nur als der feste Wille, Theben keinerlei eigenmächtige Sonderaktion zu gestatten, wie er im Plataikos zum Ausdruck kommt. Isokrates hat die Broschüre ersichtlich verfaßt, um für diese Haltung in Athen wie in Bundeskreisen Stimmung zu machen. Seit der Gründung des zweiten attischen Seebundes und dem Ausbruch des Krieges mit Sparta war die Verwirklichung seiner eigenen panhellenischen Idee, die er im Panegyrikos auf der Wunschvorstellung eines friedlichen spartanisch-athenischen Dualismus aufgebaut hatte, zunächst eher ferner als näher gerückt. Er konnte daher mit der neuen Rolle durchaus zufrieden sein; denn obgleich die Rede für die Platäer ein begrenzteres Ziel verfolgte, brachte sie ihn zum erstenmal in engere Beziehung zu der wirklichen Politik des athenischen Staates. Die Vermutung liegt nahe, daß Timotheos, sein Freund und Schüler, ihm den ehrenvollen Auftrag verschafft hat. Dann gewinnen wir eine gewisse Wahrscheinlichkeit für den diodorischen Ansatz der Zerstörung von Plataiai 374/3 noch unter dem Archon Sokratides; denn im November 373 wurde bereits der Prozeß gegen
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Timotheos in Athen verhandelt, der zu seiner Abberufung als Oberbefehlshaber führte. Isokrates' eingehende Darstellung der Taten seines Schülers und seines tragischen Sturzes Antid. 101—139 zeigt noch zwei Jahrzehnte später, wie ihn selber dieser Schlag getroffen hat. Es ist kaum anzunehmen, daß Isokrates unmittelbar, nachdem er erfolgt war, hätte Neigung spüren sollen, den Plata'ikos für Kallistratos zu schreiben, der sich im kritischen Augenblick als Gegner des Timotheos entpuppt hatte.
ANMERKUNGEN
A N M E R K U N G E N ZU KAPITEL I 1
Karl Julius Beloch, Griechische Geschichte, III. Bd. 1. Abteilung (2. Auflage), XIII.—XIV. Abschnitt. Ich beabsichtige nat rlich nicht, hier die gesamte Literatur ber Demosthenes zu er rtern. z Eine gerechtere und verst ndnisvollere W rdigung des Demosthenes gibt Pickard-Cambridge in der Cambridge Ancient History Vol. VI (1927) S. 221 ff. 3 Schon in den Geschichtswerken von E. Curtius, K. J. Beloch, Ed. Meyer und in der Cambridge History, die im wesentlichen nur die politische Geschichte darstellen, dr ngt diese Erkenntnis sich auf, und die geistige Entwicklung wird in mehreren eingeschobenen Abschnitten im Querschnitt berblickt. Aber w hrend die ber hmten kulturhistorischen Kapitel in Mommsens r mischer Geschichte ihrem Zweck gerecht werden, erweist es sich bei der griechischen Geschichte grunds tzlich als unm glich, die Kultur als eine blo e Appendix zu behandeln. Der innere Proze des griechischen Geistes ist mit dem politischen Schicksal der Nation substantiell eins. Er ist es zu keiner Zeit mehr als im IV. Jahrhundert, obgleich die Politik sich gerade damals am st rksten zu spezialisieren strebt. Der enge Zusammenhang wird aber dabei nur um so offenkundiger. 4 Friedrich Bla , Die attische Beredsamkeit, III. Bd. 1. Abteilung: Demosthenes (2. Auflage), Leipzig 1893. Das Werk ist grundlegend f r alle Fragen der rhetorischen Form. Wenn es vor dem Formproblem im tieferen Sinne des Wortes trotzdem versagt, so liegt der Grund darin, da es Demosthenes zu sehr vom Standpunkt einer sp teren, schon erstarrten und schematisch gewordenen Schulrhetorik betrachtet und seine Reden mit diesem Ma stab mi t. s Dies ist der tiefere Grund f r den Einschub der sogenannten Pentekontaetie, Thuk. 189—118, nicht irgend ein blo es Streben nach stofflicher Vollst ndigkeit oder Erg nzung der bisherigen Literatur (Hellanikos). 6 Thuk. I 73—78. 7 Thuk. I 75, 3 εξ αύτοΰ δε τοΟ ipyou κατηνα/κάσθημεν το πρώτον •προαγάγειν αυτήν lg τόδε, μάλιστα μεν ΰττό δέους, Ιπειτα καΐ τιμής, ύστερον καΐ ώφελίας. Im folgenden wird das betont. Eine sinngem e Vereinfachung des Gedankens dieser thukydideischen Stelle gibt Isokr. Areop. 6 δια το δεδιέναι . . . έττρώτευσαν των Ελλήνων. Sein Denken ist
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voll von thukydideischen Ideen, so sehr es sich im ganzen von Thukydides entfernt. 8 Thuk. I 77,6. 9 Vgl. meine „Paideia" Bd. I (2. Auflage, Berlin 1936) S. 496. Es ist ein klares vaticinium ex eventu. Die Ausschreitungen des Pausanias gegen die brigen Griechen bei seiner T tigkeit au erhalb Spartas nach dem Perserkriege, auf die der Redner anspielt, sind schon ausgew hlt im Hinblick auf Lysander und seine Harmosten und ihre Ausschreitungen nach dem Ende des peloponnesischen Krieges. » Xen. Hell. II 2, 19. « Xen. Hell. II 4, 30. » Xen. Hell. III 5, 8—15. Ich wei nicht, ob die Tatsache der vollkommenen Parallelit t dieser Rede und ihres Leitmotivs zu derjenigen des Atheners bei Thuk. I 77, 6 schon bemerkt worden ist. Sie kann nur bewu t sein, ebenso wie — um nur dieses Beispiel anzuf hren — die Wiederankn pfung Xenophons in den Hell. II 2,10 beim bevorstehenden Fall Athens an die Melierepisode Thuk. V 84 bis 115. Wenn man das nicht schon aus der allgemein gehaltenen Formulierung Xenophons in § 10 selbst erkennt, kann man es jedenfalls nach dem vorangehenden § 9 nicht mi verstehen, wo die Wiederansiedlung der Melier in Aigina durch Lysander ausdr cklich berichtet wird. Wenn die Athener im selben Atem f r sich das Schicksal der Melier f rchten, so ist dieser Wechsel der Rollen eine unverkennbare Ankn pfung Xenophons an die Worte der Melier bei Thuk. V 90, es sei auch im Interesse der Athener, Billigkeit walten zu lassen, da sie selber noch einmal in die gleiche Lage kommen k nnten: καΐ rrpos υμών ούχ ήσσον τούτο δσω καΐ έτπ μεγίστη τιμωρία: σφαλέντες αν τοΐ$ άλλοις παράδειγμα γένοισθε. Diese Prophezeihung erf llt sich nun. Die Folgerung, die wir aus diesen Beobachtungen zu ziehen haben, ist, da Xenophon sein Werk als Fortsetzung des Thukydides, nicht nur als die u erliche Ankn pfung an den Vorg nger in einem bestimmten Zeitpunkt aufgefa t hat. Er hat vielmehr oifenbar an solchen Stellen eine Einheit der inneren Haltung und der Darstellung des Geschehens erstrebt, die uns vor ein ernsthaftes Problem stellt. Wie weit ist diese Sinngebung im Geiste des Thukydides, worin u ert sie sich sonst noch, und wie weit ist es dem Xenophon m glich gewesen, sie wirklich durchzuf hren ? '3 Xen. Hell. III 5, 10.
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*4 Vgl. Thuk. I 69, 1; II 8, 4; V 9, 9. J 5 Thuk. 110, 2. Die herrschende Meinung ist bekanntlich, daß diese Stelle und die ganze Archäologie, in der sie steht, zu den frühesten Teilen des thukydideischen Werkes gehöre. Vgl. dagegen meine „Paideia" Bd. I2 S. 485. Ich gedenke auf dieses schwierige Problem an anderem Ort ausführlicher zurückzukommen. 16 Es ist auffallend, wie unsere antiken Quellen über das wirtschaftliche Problem der Liquidation des Krieges hinweggehen. Krieg^ führen kostet Geld, das war auch in Griechenland nicht anders. Auch des Ursprunges der Kriege aus wirtschaftlichen Ursachen war man sich von Anfang an bewußt. Aber das Prinzip der Reparationen d. h. der wirtschaftlichen Haftbarmachung des Besiegten durch den Sieger war für die klassische Periode des Griechentums noch nicht vorhanden. Das gibt der Wirtschaftslage nach dem peloponnesischen Kriege ein ganz anderes Aussehen, als wir es von modernen Analogien her erwarten. Athen konnte seine natürlichen Kräfte vom Augenblick des Friedensschlusses an ungeteilt der Aufgabe seiner Gesundung widmen. '7 Thuk. II 65,12—13. 18 Thuk. III 82—84. '9 Die großen Staatsmänner Athens werden kritisiert Plat. Gorg. 503 C, vor allem 515 Cff., 518 B—519 A; Sokrates der „allein wahre Staatsmann" Gorg. 521 D, die „wahre Politik" 521 A. 20 Vgl. meine „Paideia" Bd. I2 S. 405 ff. über Sophisten und Staatskrisis. Der Sophist, von dem im Text die Rede ist, ist der sog. Anonymus lamblichi, zuerst entdeckt von F. Blaß, Kieler Universitätsprogramm 27. Januar 1889, Text bei H. Diels, Fragmente der Vorsokratiker Bd. II, fördernder Kommentar von Richard Roller, Untersuchungen zum Anonymus lamblichi Phil. Diss. Tübingen 1931. Vgl. besonders Kapitel 7 über die als Grundlage des Lebens der Individuen wie der Gesamtheit. Interessant ist, wie der Verfasser die Bedeutung der staatlichen Autorität für die Stabilität der Wirtschaft und für die Wiederkehr des wirtschaftlichen Vertrauens in den Vordergrund stellt. Damit tritt er für uns in scharfen Gegensatz zu Platos rein idealer Begründung des Gesetzes von innen her. Aber der Zusammenhang von Staat und Wirtschaft muß damals eine brennende Frage gewesen sein. Der Verfasser erörtert auch das Problem, ob die jetzige Zersetzung des Staates zur Diktatur oder Tyrannis führen müsse. Auch der dorisch schreibende Autor der ( 8),
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ERSTES KAPITEL
H. Diels, Vorsokratiker Bd. II5 405 zeigt, wie ganz neue ethische Fragen aus dem Krieg hervorwachsen. Er bezieht sich ausdr cklich auf den f r Sparta siegreichen Kriegsausgang. 21 Vgl. meine Berliner Universit tsrede: Die griechische Staatsethik im Zeitalter des Plato 1924, abgedruckt in: Die Antike Bd. X (1934) und in Humanistische Reden und Vortr ge von Werner Jaeger (Berlin 1937) S. 93. " βίος ξενικός καΐ της πολιτικής κοινωνίας άπολελυμένος Arist. Pol. VII 2, 1324 a!6. F r die Auffassung des Met ken von seinen sozialen Pflichten ist das άποδιδόναι αν τίς τι παρά του λαβή charakteristisch, worin sich f r den reichen alten Kephalos Plat. Pol. I 331 B—C die Gerechtigkeit ersch pft. J
3 Plat. Epist. VII 326 A—B. Der Ausdruck λέγειν ήναγκάσΟην an dieser Stelle bezieht sich nicht auf die bekannte schriftliche Formulierung des gleichen Gedankens im „Staat" V 473 C, sondern auf m ndliche Aussprache, vgl. Gnomon Bd. IV (1928) S. 9. 24 Diese Einsch tzung der geistigen Bewegung, die von Sokrates und Plato ausging, hat sich erst neuerdings durchgesetzt. Noch f r Wilamowitz' gro es Platowerk (1919) waren Platos politische Versuche nichts als vor bergehende Episoden seines Lebens, und ein Historiker wie Beloch konnte Plato bezeichnenderweise noch unter der summarischen berschrift „Der Ausbau der Wissenschaft" behandeln, ohne auf Platos „Staat" oder „Gesetze" einzugehen. Die Unm glichkeit aller solchen k nstlichen Grenzziehungen, die die lebendigen historischen Zusammenh nge zerrei en, sollte heute deutlich genug erkannt sein. Vgl. E. Barker, Greek Political Theory (London 1925), sowie meine Ausf hrungen Die griechische Sta tsethik im Zeitalter des Plato 1924, Die Antike Bd. X (1934) = Reden und Vortr ge S. 93, und Platos Stellung im Aufbau der griechischen Bildung, Die Antike Bd. IV (1928) = Reden und Vortr ge S. 125ff., besonders den 2. und 3. Teil. Eine vollst ndige Geschichte der Forschung kann hier nat rlich nicht gegeben werden. 2
5 Die Fragmente der Trag dien des Tyrannen Dionysios sind gesammelt bei Nauck, Tragicorum Graecorum Fragmenta (2. Auflage 1889) S. 793. Vgl. frg. 4 ή γαρ τυραννίς αδικίας μήτηρ εφυ. 26
Vgl. Die Antike Bd. X (1934) S. 11 ff. Den inneren Widerspruch im Leben des Staates seiner Zeit, der vergebens Recht und Macht zu vereinigen trachtet, stellt Thukydides verschiedentlich dar. Es ist
DER POLITISCHE WIEDERAUFSTIEG ATHENS
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eine seiner grundlegenden Einsichten. Vgl. vor allem den Dialog der Athener und Melier Thuk. V 84—115. *7 Vgl. H. Gomperz, Isokrates und die Sokratik, Wiener Studien Bd. XXVII (1905) 163ff. und Bd. XXVIII (1906) Iff. 28 Die Fragmente des Olympikos des Gorgias bei H. Diels, Vorsokratiker Bd. II B 7—8a, vgl. A l, 4. 2 9 Vgl. die Kritik der spartanischen Oberherrschaft Isokr. Paneg. HOff. 3° Vgl. Theopompos im XIII. Buch der Philippica (F. Gr. Hist. IIB frg. 105 Jacoby) und die Anmerkung zur Stelle II D S. 374—375. 31 Es ist unzweifelhaft, daß Isokrates' Panegyrikos, soweit es sich um Athens Anspruch auf eine mitbestimmende Rolle in der griechischen Politik handelt, für die Gesinnung nicht nur eines einzelnen Mannes wie Timotheos, der Isokrates' Lieblingsschüler war, sondern überhaupt für die Generation der Gründer des zweiten Seebundes eine Art repräsentativer Bedeutung hat. Der Panegyrikos versucht nicht nur Athens historische Verdienste um Hellas ins hellste Licht zu rücken, sondern bezeichnenderweise auch die Kritik gegen das Athen der Zeit des peloponnesischen Krieges zu entkräften. Vgl. jetzt Georges Matthieu, Les idoes politiques d'Isocrate, Paris 1925 S. 74. Dieser glaubt den Panegyrikos sogar direkt mit den politischen Zielen des zweiten Seebundes in Verbindung bringen zu sollen, und Wilamowitz, Aristoteles und Athen Bd. II 380 ff., trägt kein Bedenken, vom Panegyrikos einfach als dem „Programm" des Seebundes zu reden. Das hält bei Licht betrachtet jedoch nicht Stand. Vgl. den Anhang über Isokrates' Plataikos und den zweiten Seebund, wo der Unterschied zwischen Isokrates dem Ideologen und Isokrates als Werkzeug im Dienst der Realpolitik aufgewiesen wird. 3* Vgl. die große Rede des Kallistratos für die Politik der Verständigung auf dem Friedenskongreß zu Sparta Xen. Hell. VI 3,10 ff.
A N M E R K U N G E N ZU KAPITEL II I
Vgl. Plat. Pol. 1329 C.
* Vgl. die ausf hrliche Behandlung der Jugend des Demosthenes und der antiken Zeugnisse ber sie bei Arnold Schaefer, Demosthenes und seine Zeit, Bd. I 235 ff. und Friedrich Bla , Die attische Beredsamkeit III l* S. lOff. s Die Vorm nder Demosth. Aphob. 14. Der Spottname „Skythe" Aisch. III172, Dinarch. Dem. 15. 4 Das Testament des Aristoteles Diog. L. V 11—16, besonders 13: έπιμελεΐσθαι δε τους επιτρόπους καΐ Νικάνορα, μνησθέντας έμοϋ, καΐ Έρπυλλίδος . . . των τ§ άλλων καΐ εάν βούληται άνδρα λαμβάνειν, όπως μη άναξίω ημών δοθτ). Analog dem Testament des alten Demosthenes, der die Hand seiner Gattin f r seinen Todesfall einem bestimmten Manne gibt, ist Demosth. Phorm. 8 επειδή τοίνυν 6 Πασίων έτετελεντήκει ταύτα διαθεμένο?, Φορμίων ούτοσΐ την μεν γυναίκα λαμβάνει κατά την διαθήκην, τον δε παϊδ' έπετρόπευεν. Auch da der zweite Mann der Frau zugleich Vormund der Kinder wird, entspricht dem Fall des Demosthenes. 5 Demosth. Aphob. 111. 6 Demosth. Aphob. I 7. 7 .Das Inventar des Nachlasses und die Bilanz wurde nachgepr ft und kritisiert von Buermann, Neue Jahrb cher f r das klass. Altertum Bd. 111 (1875) S. 800ff. Gegen Buermann wandte sich ausf hrlich Otto Schulthe , Programm Frauenfeld 1899: Die Vormundschaftsrechnung des Demosthenes. s Vgl. Plat. Pol. VIII 558 B. 9 Das Testament selbst war verschwunden vgl. Demosth. Aphob. 140. 10 Demosth. Onet. 110. II Von den drei erhaltenen Reden gegen Aphobos gilt die dritte vielfach als unecht. Die Frage mu von neuem aufgenommen werden. (Dies ist inzwischen erfolgreich geschehen durch G. M. Calhoun, Trans. American Philol. Assoc. Bd. LXV (1934) S. 80—102.) Zuletzt hat sich F. Bla a. O. 232 eingehender dar ber ge u ert, vgl. auch Engelbert Drerup, Aus einer alten Advokatenrepublik (Paderborn 1916) S. 48 A. 46. Die Sache ist auch wegen der Angaben wichtig, die die dritte Rede ber den Ausgang des Prozesses macht.
J U G E N D G E S C H I C H T E UND A N W A L T S B E R U F 11
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Vgl. zum folgenden vor allem die 1. Rede gegen Onetor. !3 Vgl. Demosth. Onet. I 6, auch Mid. 77if. J 4 Über die 24 Bücher der „Gesetze" des Theophrastos vgl. Ed. Zeller, Phil. d. Griechen II 23 865 und H. Usener, Rheinisches Museum Bd. XVI S. 470ff. Platos Gesetze zeigen, daß die Akademie mit dem vergleichenden Studium des Rechts vorangegangen war. '5 Vgl. meinen Aristoteles (Berlin 1923) S. 15ff. 16 Vgl. über das Studium der solonischen Axones und ihrer Glossen im Unterricht der Sophisten Aristophanes' Daitaleis frg. XV (A. Meineke, Fragmenta poet, comoediae ant. vol. II 2 S. 1031—1033). Das Studium der Gesetze als Abschluß der Bildung eines normalen Bürgers Plat. Prot. 326 D. Über Demosthenes' theoretische Bildung ist nach seinen Reden schwer zu urteilen. Man fühlt sie nur an der Höhe des geistigen Niveaus und der Strenge der Form; aber er prunkt nicht mit seinen Lesefrüchten wie der Verfasser der 1. Rede gegen Aristogeiton, der eine sophistische Schrift in aller Breite ausschreibt, vgl. Max Pohlenz, Anonymus , Nachrichten der Göttinger Ges. d. Wiss. 1924 S. 19 ff. Neuerdings suchte C. H. Kramer, De priore Demosthenis adv. Aristogitonem oratione, Diss. Lips. 1930, die Rede als echt zu erweisen. J 7 Vgl. das grundlegende Werk von Eduard Norden, Die antike Kunstprosa Bd. I, erstes Kapitel des ersten Teils. Dieses Buch beschränkt sich im übrigen bewußt auf die äußeren Formmittel der Kunstprosa, in deren Anwendung eine Konstanz durch die Jahrhunderte zu beobachten ist. Vgl. S. 16: „Es handelt sich für uns also darum, die drei wesentlichsten Charakteristika der Kunstprosa auf ihre Ursprünge zu verfolgen: die gorgianischen Redefiguren, die mit poetischen Worten ausgestattete Prosa, die rhythmische Prosa." Die Wissenschaft brauchte als Ergänzung eine Geschichte der Prosa, die die künstlerischen Individualitäten der hauptsächlichen Prosaschriftsteller und die Gesamtentwicklung des Sprachstils darstellt. In einer solchen würde Demosthenes im Vordergrund stehen, während er in Nordens Werk naturgemäß nur gestreift wird. Doch eine solche Stilgeschichte der Prosakunst, die mit Nordens Begriff der „Kunstprosa" nicht identisch sein würde, könnte nicht ausschließlich im formalen Sinne geschrieben werden; denn an der Bildung des platonischen oder demosthenischen Stils hat der philosophische bzw. politische Gehalt ihres Denkens entscheidenden Anteil. Formgeschichte 14
J a e g e r , Demosthenes
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ZWEITES KAPITEL
und Geistesgeschichte sind f r die fr he und klassische Zeit der griechischen Literatur eine Einheit. 18 Engelbert Drerup hat in seinem Kriegsbuch Aus einer alten Advokatenrepublik (Demosthenes und seine Zeit), Paderborn 1916, dem Advokatenwesen in Athen und schien Beziehungen zur Politik besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Wenn er auch durch die Analogie der modernen Verh ltnisse in parlamentarisch regierten Staaten dazu verf hrt worden ist, eine lebensvolle geschichtliche Pers nlichkeit zur blo en schematischen Verk rperung eines Schlagwortes der Kriegspresse zu machen, so hat doch gerade das, was er ber die Typik des Advokatenberufs in Athen sagt, seine Berechtigung. Eine eigene kulturgeschichtliche Studie hat diesem Beruf einer der hervorragendsten Kenner des griechischen Rechts gewidmet: R. I. Bonner, Lawyers and Litigants in Ancient Athens. The Genesis of the Legal Profession. University of Chicago Press 1926, vgl. besonders S.200ff. "9 Vgl. Dionys.Hai. Isokr. c. 18: μηδεί? δ' άγνοεΐν <μ"> ύπολάβτ) ... ότι δέσμαξ πάνυ πολλάς δικανικών λόγων Ίσοκρατείων περιφέρεσθαί φησιν υπό των βιβλιοπωλών Αριστοτέλης, V. Rose, AristOt. fragm. 140 (ed. Lips. 1886). Dionysios dr ckt seinen Zweifel an der Tatsache aus und sucht sie abzuschw chen, da sie zu seinem Bilde des Isokrates nicht pa t. Isokrates Antid. 2 zielt mit seiner Abwehr der ao(pi
J U G E N D G E S C H I C H T E UND A N W A L T S B E R U F
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hat, als man mit den Publikationsverh ltnissen der klassischen Zeit, besonders was die Vorlesungen in Rhetoren- und Philosophenschulen der ersten H lfte des IV. Jahrhunderts betrifft, nicht mehr vertraut war. F r diese gilt zweifellos bereits, was ich in meiner Entstehungsgeschichte der Metaphysik des Aristoteles (Berlin 1912) S. 131 ff., besonders 135 ff. ber das Verh ltnis von άνάγνωσις und έκδοσις in der peripatetischen Schule ausgef hrt habe. Mit Isokrates hat man Demosthenes wohl erst nachtr glich auf Grund dieser und hnlicher Geschichten in Zusammenhang gebracht, weil man in ihnen ein Mittel sah, die Tatsache zu erkl ren, da er sich schon in seinen fr hesten Reden vollkommen mit der isokrateischen Kunst vertraut zeigt. Nachschriften von τέχναι konnten leicht ber den esoterischen Kreis hinausdringen. Wie h tte Aristoteles sonst seine τεχνών συναγωγή zustande bringen sollen! 22 Um das zu zeigen, gen gt die Lekt re einer isokrateischen Periode wie z. B. in der ersten Rede gegen Aphobos § 60—61, die trotz der Kunst des syntaktischen Auf baus und der Verwendung des Mittels der Periodisierung an besonders betonter Stelle der Beweisf hrung etwas Geschraubtes hat. Sie ist freilich ein Kunstst ck, das Demosthenes sich nicht allzu oft erlaubt. 2 3 Eine eigentliche τέχνη der ύττόκρισι; f r Redner existierte zur Zeit des Demosthenes allerdings noch nicht, wie Arist. Rhet. III l, 1403b 20—35 ausf hrt. Aber die Stelle zeigt, da man dieser Seite der Beredsamkeit damals die gr te Bedeutung beimi t (δ δύναμιν μεν έχει μεγίστην, ούττω δ' έτπκεχείρηται) und da man die ύττόκρισι; vor allem f r eine Sache der φωνή h lt. Vorangegangen ist auch hier wie in der λέξις die Dichtung, das hei t die Trag die und die rhapsodische Kunst der epischen Rezitation, die wir aus Platos Ion kennen, freilich erst relativ sp t, als der Dichter nicht mehr selbst vortrug. ber υπόκριση und φωνή im Vortrag poetischer Werke scheint Glaukon von Teos geschrieben zu haben — so verstehe ich Aristoteles' Worte a. O. 24. Eine entsprechende Theorie fordert nun Aristoteles f r den rhetorischen Vortrag, der in der Praxis jener Zeit l ngst der tragischen υπόκριση gefolgt war. Da der Redner damals vom Schauspieler zu lernen hatte, bezeugen als etwas Neues ja auch die bekannten Geschichten ber Demosthenes' Verh ltnis zu ber hmten Schauspielern, die die antiken Biographen zu erz hlen wissen (die Zeugnisse bei Bla a. O. 22). Es ist bezeichnend, da Aristoteles zwar als Pla14*
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ZWEITES KAPITEL
toniker diese Entwicklung als ein Zeichen der Zeit beklagt, aber im selben Atem den st rkeren Ausbau dieser Seite der Rhetorik fordert. »4 Aisch. II 34. *5 Vgl. Cic. Brut. 142 und die Parallelzeugnisse bei Bla a. O. 23 Anm. 2. * Vgl. Aisch. I 94; II 165; II 180; Din. I 111. »7 Vgl. Aisch. I 117,170ff. 28 Demosth. Zenothem. 32, vgl. zur Stelle Bla a. O. 31, Drerup a. O. 48. 2 9 Demosth. Phorm. 28 ff. 3° Demosth. Steph. I 30 σολοικφι TTJ φωνή (seil. Phormion). Er wird wegen απειρία TOO λέγειν vor Gericht von Freunden vertreten (vgl. Phorm. l und 57). 31 Demosth. Phorm. 43 und 45. 3* Demosth. Phorm. 53. 33 Echt ist die erste Rede gegen Stephanos (XLV), f r Apollodoros verfa t, unecht sind die gleichfalls von irgend einem Logographen f r Apollodor geschriebenen Reden XLVI, IL, L, LII, LIII, LIX. 34 Aisch. II165 zeigt eine zum mindesten recht ungenaue Kenntnis des Sachverhalts. Demosthenes habe zuerst eine Rede f r Phormion geschrieben (Aischines sagt nat rlich „Reden") und diese dann dem Proze gegner Apollodor verraten (έκφέρειν τοϊ? άνπδίκοι$). Dies ist endg ltig widerlegt, nachdem seit dem Tode des Demosthenes beide Reden, die f r Phormion und die f r Apollodor, publiziert vorliegen. Wenn moderne Demostheneshasser wie Drerup a. O. 50 das Urteil des Aischines ohne weiteres der ffentlichen Meinung in Athen oder der Standesmoral der Logographen gleichsetzen, so geht das ersichtlich zu weit. Anderseits Plutarch (Demosth. 15), der den wahren Sachverhalt kennt, hat von den Verh ltnissen indem athenischen Anwaltsberuf des vierten Jahrhunderts keine konkrete Vorstellung mehr und legt an seinen Heros den Ma stab des in seiner Schreibstube g ltigen philosophischen Tugendkanons an. 35 Vgl. Kap. VI Anmerkung 38. 36 Vgl. Ivo Bruns, Das literarische Portr t der Griechen (Berlin 1896) S. 534ff., der aber dieses Problem zu ausschlie lich moralisierend betrachtet.
A N M E R K U N G E N ZU K A P I T E L III I
Vgl. Anhang: Die Rede des Isokrates für die Platäer und der zweite Seebund S. 196. • Vgl. Xen. Hell. VI 3, 10 ff. Von den Mitgliedern der athenischen Delegation Kallias, Autokies, Demostratos, Aristokles, Kephisodotos, Melanopos, Lykaithos und Kallistratos vertritt Kallias die gefühlsmäßig spartafreundliche alte Aristokratie, Kallistratos die nüchterne Politik der Verständigung mit Sparta, Autokies ist prothebanisch und antispartanisch, wie seine Rede zeigt (VI3, 7), ebenso Kephisodotos und Demostratos, der Sohn des Aristophon; Melanopos ist zum mindesten als Gegner des Kallistratos bekannt (vgl. A. Schaefer a. O. 1131). Mit der Bezeichnung der Politik des Kallistratos als „kimonischer Dualismus" (Ed. Meyer, Geschichte d. Altert. Bd. V 407) scheint mir ihr Wesen nicht erfaßt. Die Art, wie Kallistratos unmittelbar nach Thebens Sieg bei Leuktra das Steuer herumwirft und sich schützend vor das geschwächte Sparta stellt, beweist, daß es sich um eine ausgesprochene Politik des Gleichgewichts mit elastischer Anpassung handelt, die mindestens drei Partner zur Voraussetzung hat. 3 Vgl. Plut. Ages. 27. 4 Xen. Resp. Laced. l, 1. 5 Isokr. Phil. 104. 6 Vgl. oben S. 14. 7 Plut. Dem. 5. 8 Vgl. unten S. 88 uud 106. 9 Aisch. II105. Plan der Seeherrschaft vgl. Diod. XV 78. 10 Isokr. Areop. 15. II Gegen mechanische Gleichheit, für das Prinzip suum cuique Isokr. Areop. 21; Verteidigung gegen den Vorwurf der Volksfeindschaft 56ff. Vgl. auch Isokr. Fried. 128. 11 Über die Zeit dieser wichtigen Denkschrift herrschen, wie mir scheint, unrichtige Ansichten. Die einen setzen sie nach dem Bundesgenossenkrieg (Drerup, Münscher, Mesk), andere während des Bundesgenossenkriegs (Ed. Meyer, Miltner). Die Gründe, die einen früheren Ansatz erforderlich machen, werde ich anderswo genauer darlegen. '3 Isokr. Areop. 2 und 66.
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DRITTES K A P I T E L
4 Über die Zeit der Schrift vgl. C. G. Cobet, Novae Lectiones (1858) S. 756ff. Dazu die reiche seither erschienene Literatur. Der Verfasser selbst macht c. 5,9 die Angabe, daß er dies schreibe, kurz nachdem die Phoker das von ihnen besetzte delphische Heiligtum verlassen und die Thebaner es eingenommen haben. Leider hilft uns das wenig bei der heillosen Verwirrung der überlieferten Chronologie des Phokerkrieges, die immer umstritten bleiben wird, so oft sie auch schon „in Ordnung gebracht" worden ist. Zur Frage der Echtheit vgl. Friedrich, Jahrbücher für class. Philol. (1896). Eine Besprechung der Hauptthesen der Schrift gibt R. Herzog, Festschrift für Blümner (1914) 469—80. Mir scheinen Geistesart und Interessen des Verfassers der zu Xenophon schlecht zu passen. '5 De vectig. l, 1. 16 Vgl. zur Metökenfrage De vectig. 2. '7 Vgl. über die Silberbergwerke De vectig. 4 ff. 18 Es ist hier wohl auch an die Gesetzgebung über den Ausschluß der Kinder aus Ehen zwischen Athenern und Nichtathenerinnen vom Bürgerrecht zu denken. Gerade Aristophon, gegen den die Opposition nach dem Bundesgenossenkrieg sich vor allem richtet, hatte früher (vgl. Ath. XIII 577 B—C) unter dem Archontat des Eukleides diese Bestimmung zum Gesetz erhoben. Ob er auch hinter der von dem Verfasser der üopot bekämpften Metökenpolitik gestanden hat, entzieht sich unserer Kenntnis. Vgl. Otto Müller, Untersuchungen zur Geschichte des attischen Bürger- und Eherechts, Jahrbücher f. class. Philologie Suppl. Bd. XXV (1899) S. 666ff. J 9 Hier ist Ed. Schwartz vorangegangen mit seinem kräftig in die politisch-historischen Probleme eingreifenden Aufsatz: Demosthenes' erste Philippika, in: Festschrift für Theodor Mommsen, Marburg 1893. Er geht von den Staatsreden aus, die Gerichtsreden haben dann seine Göttinger Schüler Stavenhagen und Kahle in ihren Arbeiten herangezogen (vgl. Anm. 21). 20 Es scheint mir bezeichnend für die Situation, daß Isokrates den Androtion, der doch ein berühmter Mann war, in der eingehenden Aufzählung seiner um Athen verdienten Schüler in der Antidosisrede 93 ff. (im Jahre 353) gar nicht erwähnt. Der Prozeß gegen Androtion war damals vorüber, der gegen Timokrates schwebte noch. Lysitheides, der in diesem Prozeß mit angegriffen, aber weniger stark kompromittiert war, ist dagegen von Isokrates lobend erwähnt.
DIE W E N D U N G ZUR P O L I T I K 21
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Vgl. den Artikel Androtion von Ed. Schwartz in Pauly-Wissowa, Realenzyklopädie d. kl. Altert. I 2174. Die überlieferte Zeit der Rede gegen Androtion (355/4) hat sich in den neueren Untersuchungen bestätigt, vgl. F. Kahle, De Demosthenis orat. Androtioneae, Timocrateae, Aristocrateae temporibus, Diss. Göttingen 1909. In dieser Arbeit und der kurz vorangehenden von C. Stavenhagen, Quaestiones Demosthenicae, Diss. Göttingen 1907, wird sonst mehrfach die bei Dionysios von Halikarnaß überlieferte Chronologie der Reden, die aus den gelehrten Handbüchern der hellenistischen Zeit geschöpft ist (Dion, ad Amm. 3 S. 724), einer radikalen Kritik unterworfen. Die beiden scharfsinnigen Untersuchungen stimmen jedoch unter sich nicht überein. Ihre Ergebnisse und diejenigen von U. Kahrstedt, Forschungen zur Geschichte des ausgehenden fünften und des vierten Jahrhunderts (Berlin 1910) sind dann in der von Walter Otto angeregten, sehr sorgfältigen Arbeit von E. Pokorny, Studien zur griechischen Geschichte im 6. und 5. Jahrzehnt des IV. Jahrhunderts, Diss. Greifswald 1913, einer nochmaligen Prüfung unterzogen worden. Diese hat in den wichtigsten Punkten zu der von Arnold Schaefer auf den Angaben des Dionysios aufgebauten Chronologie zurückgeführt. Es könnte scheinen, als sei hier viel Scharfsinn und Gelehrsamkeit unnütz vertan. Aber die Schärfung des kritischen Gewissens gegenüber dem blinden Traditionsglauben ist stets ein Fortschritt; ein Fortschritt ist auch die Einsicht in die engen Grenzen des Wißbaren, die unserer historischen Forschung auch in den Perioden reichlicher fließender Überlieferung im Altertum gezogen sind. Das Beste, was wir haben, sind die zusammenhängenden Texte. Wenn die Rekonstruktion des historischen Hergangs in seinen Einzelheiten meistens nicht voll gelingt, ist es um so mehr der Mühe wert, diese Texte lebendig zu verstehen, ein Ziel, von dem wir oft noch weit entfernt sind. » Vgl. Demosth. Androt. 5—20. 2 3 Angriff auf Androtions Ehre Demosth. Androt. 21 ff., auf seine Amtsführung 42 ff. ; 4 Vgl. über die persönlichen Motive des Anklägers Androt. l—3. Die geflissentliche Betonung der Privatrache als Motiv der Anklage muß bedenklich stimmen. F. Blaß a. O. 259 glaubt freilich daran, er glaubt auch, Demosthenes habe den Prozeß für Diodor nur übernommen aus Entrüstung darüber, daß der Rat die Kriegsschiffe nicht
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DRITTES KAPITEL
gebaut hatte. A. Schaefer zieht wenigstens in Betracht, da die Parteipolitik dabei im Spiele sei. *s Androtion wird als καλός κάγαΟός ironisiert Demosth. Androt. 47. * Plat. Pol. VI 493 A. 2 7 Die agitatorische Seite der demosthenischen Beredsamkeit ist von den lteren Forschern, welche die Reden behandelt haben, wie Schaefer und Bla , berhaupt noch nicht verstanden worden. Da gegen ihre moralisierende Auffassung eine schroffe Reaktion einsetzte, die nicht weniger moralisierend und nicht weniger ungeschichtlich war, ist nur nat rlich. Die Methoden der Agitation bed rften einer Darstellung, die auch die Geschichte des politischen Schlagworts zu behandeln h tte. Den besten Kommentar geben bis jetzt die Ausgaben von Henri Weil. 28 Demosth. Androt. 51. *9 Demosth. Androt. 53. 3° Demosth. Tim. 190—193. 31 Demosth. Androt. 15. 3» Ob vorher oder nachher ist umstritten, auch die Zeit der Rede gegen Timokrates und des aristophontischen Psephisma, das ihr zugrundeliegt. Vgl. Kahle a. O. 33ff., dessen Resultat (354/3) jedoch unsicher bleibt. Jedenfalls f llt der Proze nach dem gegen Androtion. 33 Vgl. Demosth. Tim. 11 ff. 34 Demosth. Tim. 24—27. 35 Kahle a. O. 37 will in der Timocratea schon die ersten Spuren des bergangs von der Partei der Reichen zu der sp teren Politik des Demosthenes finden, weil dieser in der Rede gegen Aristokrates offenbar bereits den Eubulos angreife; die Rede gegen Leptines dagegen r ckt er zeitlich und politisch nahe an die Rede gegen Androtion (355/4) heran. Letzteres ist richtig beobachtet. Aber wenn sich der Proze gegen Timokrates auch noch etwas l nger hinzog, kann man diese Rede doch unm glich von der gegen Androtion trennen, mit der sie durch die Gleichheit der bestellten Ankl ger wie der angegriffenen Clique aufs engste verbunden ist. Die Stellen Tim. 112 und 124 sprechen an sich weder f r noch gegen die Verbindung des Redenschreibers, der diese Worte dem Ankl ger in den Mund legt, mit den πλούσιοι oder πένητες; sie sind einzig auf das Publikum, den δήμος zugeschnitten. Der Gedanke Tim. 124, da die Staatsm nner aus Armen Reiche geworden sind, wird z. B. hnlich von Isokrates
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De pace 124 verwendet, d. h. in einer Schrift, die doch wahrlich ausgesprochen den Standpunkt der Reichen vertritt. Und wie speziell Eubulos es stets verstand, dem δήμος nach dem Munde zu reden, ist ja ausdr cklich berliefert. Man sollte die Begriffe Arm und Reich berhaupt nicht einfach als scharf geschiedene Parteien in Athen gebrauchen, wenn auch die Reaktion von 355 haupts chlich von der besitzenden Schicht ausging. Am allerwenigsten ist Demosthenes' sp tere Abkehr von Eubulos als der blo e bergang zu einer festen, schon bestehenden Partei zu interpretieren, die man etwa im Gegensatz zu den πλούσιοι als die πένητες bezeichnen m te. Mit dieser Konstruktion w rde man sich das Verst ndnis dieses wichtigen geschichtlichen Hergangs nur verbauen. 36 Demosth. Tim. 160—186 sind fast ganz aus der Rede gegen Androtion bernommen (Androt. 47—56 und 65—78). Nur der kurze Abschnitt Tim. 169—171 ist dazwischen eingeschoben. Eine vollst ndige Untersuchung aller Dubletten im Demosthenes ist erw nscht. Ohne sie schwebt die Er rterung der Echtheit einzelner Reden, die reich an solchen Dubletten sind, wie der Rede Περί συντάξεως etwas in der Luft. 37 Wir behandeln die Rede gegen Leptines erst nach der Timocratea, obgleich sie ihr zeitlich vorangeht, um den inneren Zusammenhang der Prozesse gegen Androtion und Timokrates nicht zu zerrei en. 38 Vgl. Demosth. Lept. 144—146. 39 Vgl. Plut. Demosth. 15. Schon A. Schaefer a. O. I 374ff. hebt mit Recht hervor, da keiner der Gegner des Demosthenes auf sein Verh ltnis zur Witwe des Chabrias zu sprechen kommt. Die Synegorie f r den minderj hrigen Ktesippos kann jedoch Tatsache sein, auch wenn diese Geschichte eine Erfindung ist. Sie ist dann hinterher gemacht, um die F rsprache zu motivieren. Es liegt doch an sich nahe genug, da die Parteiregie beim Angriff auf das Gesetz des Leptines in der Deuterologie dem Volke einen Spezialfall vorf hrte, der besonders geeignet war eine sentimentale Wirkung zu ben. 4° Vgl. Demosth. Lept. 29. 41 Vgl. Demosth. Lept. 143. 42 Vgl. Demosth. Lept. 167. 43 Vgl. Demosth. Lept. 161 άλλα χρή γ ανθρώπους όντας τοιαύτα και λέγειν και νομοδετεϊν οίς μηδείς αν νεμεσήσαι, και τάγαθά μεν προσδοκδν και τοις θεοϊς εΟχεσθαι διδόναι, πάντα δ' ανθρώπινα ήγεΐσθαι.
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Vgl. vor allem Arist. Resp. Ath. (Stellen in Kenyon's Berliner Akademie-Ausgabe S. 144); der ganze erste, geschichtliche Teil dieser Schrift ist aufgebaut nach dem Prinzip der Sukzession der προστάται του δήμου. * Bestritten wird diese Beziehung von C. G. Cobet, Novae lectiones S. 758, bejaht von A. Boeckh, Die Staatshaushaltung der Athener (Berlin 1886) 3. Auflage, Bd. II 689, obgleich Boeckh sich zu den Vorschl gen der Schrift im einzelnen kritisch verh lt. Zum Nachweis der Verwirklichung der Vorschl ge der Schrift Περί πόρων durch die Folgezeit vgl. Rud. Herzog, Festschrift f r Bl mner, S. 478—480. 3 Die Frage wird er rtert von E. Pokorny a. O. 77ff. Abweichend die Ansicht Drerups a. O. 51 ff. 4 Dionys. Hai. Thuk. 54, PS. Dionys. Hai. Ars rhet. IX 10. Demosth. Rhod. 5 zitiert den Inhalt der Rede bereits in der Form Οπερ των βασιλικών. Dies ist offenbar der Ansto f r die Kritik des Titels περί συμμοριών bei Dionys gewesen, cf. ad Amm. 4. 5 Au er Niebuhrs bekanntem Urteil vgl. Henry Lord Brougham, Works vol. VII (zuletztEdinburgh 1872; ich zitiere im folgenden nach der alten Ausgabe von 1856) und Georges Clemenceau, Demosthene (Paris 1926). Die Geschichte der Wertsch tzung des Demosthenes im modernen Europa, besonders in England und Amerika, hat Charles Darwin Adams skizziert in seinem anziehenden kleinen Buch Demosthenes and his influence (London 1927, in der Serie: Our debt to Greece and Rome). Adams hat gut die Bedeutung des Demosthenes f r die Demokratien des XVIII. Jahrhunderts gezeigt und die Reaktion der deutschen Forschung des XIX. Jahrhunderts, die die gro en makedonischen K nige Philipp und Alexander in ein gerechteres Licht stellte, w hrend sie Demosthenes vielfach gering wertete. Aber der Gegensatz beider Auffassungen findet bei Adams noch keine Aufl sung in einer h heren Einheit. 6 Der Bundesgenossenkrieg mu te beendigt sein, ehe Athen daran denken konnte, sich in einen neuen Krieg mit Persien zu st rzen, so auch Ed. Meyer a. O. V 494, ohne Angabe von Gr nden. Beloch a. O. III 2 (2. Aufl.) S. 261 bringt die Symmorienrede mit den Verhandlungen in Verbindung, die in Athen w hrend der letzten Phase
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des Bundesgenossenkrieges dem Abschlu des B ndnisses mit Artabazos voraufgegangen sein m ssen. Aber diese Kombination gen gt nicht, um den Ansatz des Dionys (ad Amm. 4) zu entkr ften. Er setzt die Rede unter Archon Diotimos 354/3. 7 Vgl. oben S. 18. 8 Vgl. De vectig. 5, 5, wo die Pl ne derer bek mpft sind, die unmittelbar nach dem verlorenen Kriege durch Krieg die Hegemonie Athens wiederherstellen m chten. Auch diese Stelle spricht gegen Belochs Kritik der berlieferten Zeit der Symmorienrede (vgl. oben Anm. 6). 9 Demosth. Symm. 14 if. 10 Demosth. Symm. 3. 11 Demosth. Symm. 9. 12 Demosth. Symm. 24. J 3 Plut. Demosth. 13 = Theopompos frg. 326 Jacoby (F. Gr. Hist. II B S. 603ff.), der aber im Kommentar z. St. (II D S. 396) mit Recht bemerkt, da Theopomps Urteil offenbar hier wie auch in anderen F llen nicht einheitlich war, vgl. frg. 327, wo er den moralischen Mut des Demosthenes gegen ber der tobenden Masse hervorhebt (ich lese mit Jacoby hier wie Plut. c. 25 am Schlu θεόπομ-iros, nicht Θεόφραστος wie die neuesten Herausgeber Lindskog und Ziegler). Diese Zwiesp ltigkeit Theopomps ist bezeichnend. Er konnte sich eben nicht freimachen von dem Eindruck des Enderfolges und war seiner ganzen Tendenz nach φιλιτητί^ων. Nicht einmal die subjektive innere Notwendigkeit in der politischen Entwicklung und Haltung des Demosthenes hat dieser angeblich erste psychologische Geschichtschreiber begriffen. Die Behandlung dieser Dinge bei Engelbert Drerup, Demosthenes im Urteile des Altertums (W rzburg 1923), ist zwar sehr gelehrt, aber so sichtlich tendenzi s, da ich ihr nicht zu folgen vermag. Sie h ngt zusammen mit dem in Drerups Kriegsbuch „Aus einer alten Advokatenrepublik" eingenommenen Standpunkt, vgl. oben S. 210. '* Das gilt besonders von Theopomps zwiesp ltigem Urteil ber Philipp von Makedonien, vgl. unten S. 235 A. 27 und 31. J 5 Vgl. meinen Aristoteles, Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung S. 2ff., ber die antiken Zeugnisse f r die Entwicklung des Aristoteles S. 33—38. Weitere Zeugnisse, die seither dazu gekommen sind, vgl. in der englischen Ausgabe meines Aristoteles
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(Oxford 1934) S. 33—38. Bei weitem am wichtigsten unter diesen ist dasjenige, das Ettore Bignone, L'Aristotele perduto e la fonnazione filosofica di Epicuro (Firenze, La Nuova Italia Editrice, ohne Jahr) Bd. I S. 125 ff. auf meinen Spuren weiterforschend entdeckt hat. 16 Vgl. Ed. Schwartz, Demosthenes' erste Philippika, Festschrift f. Th. Mommsen (Marburg 1893). Ihm haben sich Stavenhagen, Kahle, Kahrstedt, Pokorny in ihren oben zitierten Doktorarbeiten, ferner Drerup und mit gewissen Modifikationen Paul Wendland, G ttinger Nachrichten 1910 S. 294ff. und 318ff. angeschlossen. Doch nimmt man zum Teil die Vorschl ge des Demosthenes betreffs der Symmorienreorganisation noch immer viel zu positiv. '7 Paul Cloche, Bulletin de correspondance hellenique Bd. XLVII (1923) S. 98ff. und derselbe in seinem mir erst nach Abschlu des Textteiles dieses Buches zu Gesicht gekommenen Buche La politique etrangere d'Athenes de 404 338 avant Jesus-Christ (Paris 1934), das in vielen Punkten eine wertvolle Erg nzung zu Belochs bekanntem Werk Die attische Politik seit Perikles (Leipzig 1884) gibt und die seitherige Forschung mit n chternem und umsichtigem Urteil verwertet. Ich bedauere in dem vorliegenden wichtigen Punkt seiner sorgf ltigen Epikrisis nicht zustimmen zu k nnen. Da ich Belochs Auffassung der demosthenischen Politik sowohl im ganzen wie in vielen Einzelheiten nicht zu folgen vermag, sei nur hier einmal nachdr cklich ausgesprochen. Auf Polemik im einzelnen habe ich verzichtet. 18 Die Steuerm digkeit der Reichen nach dem Bundesgenossenkrieg betonen auch Isokr. Fried. 128 (Klage ber die Steuerlasten der Symmorien!) und Xen. De vectig. 6, 1. J 9 Thuk. VI 19, 2 καΐ ό Νικίας γ νους ότι άττό μεν των αυτών λόγων ουκ αν άποτρέψειε, παρασκευής δε ττλήθει, εΐ πολλήν επιτάξετε, τάχ' αν μεταστήσειεν αυτούς, παρελθών . . . έλεγε τοιάδε. brigens nimmt Bla a. O. 278 gerade die Flottenreform als den Hauptzweck der Rede ber die Symmorien an. Umgekehrt wie in der Symmorienrede hat Demosthenes in der Kranzrede 102 hervorgehoben, da er bei seinem sp teren Flottengesetz im Krieg gegen Philipp die rmeren entlastet und die Reichen st rker als bisher zur Trierarchie herangezogen habe. Auch das illustriert deutlich den Wechsel seiner politischen Stellung, der sich inzwischen vollzogen hat (vgl. unten Anm. 21).
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Demosth. I. Phil. 14 μηδ' αν εξ άρχήί δοκώ τινι κοανήν τταρασκευήν λέγειν, άναβάλλειν με τα πράγμαθ' ήγείσθω. 21
Zu fordern ist eine Untersuchung ber die traditionelle Taktik und diplomatische Redeweise der Sprecher der Schicht der Reichen und Konservativen gegen ber dem athenischen Demos. Vgl. PS. Dionys. Hai. Ars rhet. IX 10, der diese rhetorische Kunst des κλέτττειν gerade durch Beispiele, die der Symmorienrede des Demosthenes entnommen sind, anschaulich macht. Er weist bereits auf das Vorbild des Thukydides hin, und zitiert die Rede des spartanischen K nigs Archidamos (Thuk. I 80—85), der ebenfalls die unmittelbar drohende Kriegsgefahr dadurch abzulenken sucht, da er gigantische R stungen fordert. Archidamos und Nikias (vgl. oben Anm. 19) sind bezeichnenderweise beide Vertreter einer konservativen und zum Frieden geneigten Minderheit, genau so wie es Demosthenes in der Rede ber die Symmorien ist. 22 Demosth. Symm. 24 ff. J 3 Demosth. Rhod. 6. 2 4 Demosth. Symm. l—2. 2 5 Vgl. etwa Demosth. Symm. 19—20. 26 Dionys. Thuk. 54. Wenn Bla a. O. 279 umgekehrt mehr den Unterschied zwischen Leptinea und Symmorienrede betont, so beruht dieser auf der nat rlichen Verschiedenheit von Gerichtsrede und Demegorie. Das belehrende Ethos ist jedoch in beiden Reden merkw rdig hnlich und mu Demosthenes' eigene Haltung zu den politischen Problemen in dieser Periode widerspiegeln. 2 ? Vgl. oben S. 46. 28 Ich bergehe hier die Versuche Spartas in den 60er Jahren des IV. Jahrhunderts, wieder Einflu in Arkadien zu gewinnen, die schlie lich zum letzten Einfall des Epaminondas und zur Schlacht bei Mantinea f hrten (vgl. Xen. Hell. VII 4 bis Schlu ). 2 9 Demosthenes charakterisiert den damaligen Zustand im Peloponnes und im brigen Hellas sp ter in der Kranzrede (§ 18) als eine άκριτο? ... fpts και ταραχή, augenscheinlich eine Reminiszenz des Schlu satzes der Hellenika des Xenophon. 3° Paus. IV 28, 2 gibt die Geschichte Messeniens seit der Befreiung von Sparta nur sehr summarisch. A. Schaefer a. O. I 462 vermutet als Zeitpunkt f r das B ndnis Athens mit Messenien das Jahr 355. Jedenfalls war es bald nach Ausbruch des Phokerkrieges,
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w hrend die Arkader Athen erst um ein B ndnis bitten, als die Thebaner schon ganz in die Verteidigung gedr ngt sind (Demosth. Megal. 4). Das fr her (vgl. Xen. Hell. VII 4, 2) durch Lykomedes zwischen Arkadien und Athen abgeschlossene B ndnis des Jahres 366 wird von Demosthenes gar nicht mehr erw hnt, hat also wohl nur tempor re Bedeutung gehabt. Es war ebenfalls wie das athenischmessenische ein Defensivbund gewesen, der Athens Verpflichtungen gegen Sparta nicht ber hrte, sondern nur Arkadien von Theben unabh ngig machen sollte. Der casus foederis ist f r Athen effektiv geworden im Kriege der Arkader gegen Elis (364), wo Athener auf Seiten der Arkader gek mpft haben (vgl. Xen. Hell. VII 4, 29). Vielleicht geh rt in diesen Zusammenhang die milit rische Hilfe Athens f r Arkadien unter dem Befehl des Lysistratos, die der Verfasser von De vectig. 3,7 erw hnt und die sonst schwer unterzubringen ist. Durch die Gruppierung der Staaten bei Mantinea (362), wo Athen Sparta gegen Theben zu Hilfe kommt, wird die Verbindung mit Arkadien gel st worden oder in den Hintergrund getreten sein, um so eher, als Arkadien in sich selbst jetzt uneinig war und die Mantineer auf der spartanisch-attischen Seite standen. 31 Vgl. Demosth. Megal. l if. Dionys. ad Amm. 4 setzt die Zeit der Rede f r die Megalopoliten ins Jahr des Archonten Thudemos 353/2. Dagegen ist von neueren Forschern nichts Stichhaltiges vorgebracht worden, soweit ich sehen kann. 3* An die Anleihen par force bei reichen Heiligt mern hatte sich zwar nicht das religi se Gef hl des Volkes, wohl aber der durchschnittliche Gesch ftspolitiker in den letzten Zeiten schon gew hnt durch die Verwendung der heiligen Sch tze von Olympia durch die Arkader (Xen. Hell. VII 4, 33ff.) im Kriege mit Elis. 33 Demosth. Symm. 3 ff., vgl. Megal. 6 ff; 34 Demosth. Megal. 3. 35 Isokr. Fried. 18. 36 Demosth. Megal. 27 ού[κ είναι] στήλας, αλλά το συμφέρον είναι το ποιοϋν την φιλίαν (Text hergestellt von Dobree). Demosthenes vermeidet es geschickt, den machiavellistischen Grundsatz in dieser Sch rfe der Formulierung selbst zu verk ndigen. Er legt ihn lieber den Arkadern in den Mund, die dadurch zeigen wollen, da ihr Bundesverh ltnis zu Theben sie nicht hindern werde, mit Athen zu gehen, wenn die Athener ihnen tats chlich beistehen, w hrend das
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Bündnis mit Theben zur Zeit lediglich „auf dem Papier" steht. Aber selbstverständlich hält Demosthenes die Logik der Arkader für durchaus überzeugend. 37 Henry Lord Brougham, Works vol. VII 54. Blaß a. O. 291 Anm. 5 zitiert die berühmte „Dissertation on the Eloquence of the Ancients", aber nur für das formale rhetorische Urteil Broughams über die Megalopolitenrede. Auch bei diesem selbst steht die Formfrage im Vordergrund, aber als geschulter Politiker spricht er im Vorübergehen die entscheidende Einsicht aus: „The speech for Megalopolis is a calm and judicious statement of the sound principle of foreign policy on which the modern doctrine of the balance of power rests." Für ihn ist diese Rede sozusagen die Bibel seines politischen Systems. Die Zusammenhänge der Rede mit dem Aufkommen der Idee der balance of power in der Politik der Neuzeit bedürften jetzt einer genaueren Untersuchung. 38 Vgl. oben S. 44. 39 Demosth. Megal. 20. Dieser Blick in die Zukunft ist interessant genug. Demosthenes hat also schon damals kühl mit der Möglichkeit einer späteren Wiederannäherung an Theben gerechnet. Vorerst will er versuchen, Theben und Sparta gegeneinander auszuspielen, doch schon bedarf Sparta eines stärkeren Gegengewichts als Theben. Vielleicht wird eine Verbindung mit Arkadien, Thebens Bundesgenossen, auf diesem Wege weiterführen. Daß er die Verbindung Athens mit Phokis stets für unglücklich gehalten habe, hat Demosthenes später selber ausgesprochen, und es wäre nach dem, was er prinzipiell über den Wert der rechtlichen Korrektheit des politischen Vorgehens hier und in der Symmorienrede ausgeführt hat, durchaus verständlich, wenn er die Unterstützung der anrüchigen Sache der phokischen Tempelräuber für unrichtig hielt. Dahinter mag schon der Wunsch stehen, Thebens augenblickliche Schwäche auszunutzen und es in neue Abhängigkeit von Athen zu bringen, wie zur Zeit der Gründung des z weiten Seebundes. Wenn wir berücksichtigen, daß die Wiederannäherung an Theben gerade die Politik des Eubulos war (Cor. 162), so würde sich die Möglichkeit ergeben, daß Demosthenes durch den Hinweis auf diese Hintergründe des Problems die damaligen Machthaber für das Bündnis mit Arkadien zu erwärmen gesucht hat. Das bedeutet dann: nicht den Bruch mit Eubulos, sondern den Versuch, ihn auf seiner eigenen Linie zu Konsequenzen
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hinzuführen, die ihn von dem starren Standpunkt der Nichteinmischung abbringen mußten. Bei unserem lückenhaften Wissen ist dies alles nicht mit Sicherheit auszumachen. Es ergibt jedoch wenigstens die Möglichkeit einer plausiblen Deutung der Haltung des Demosthenes in der Zeit der Megalopolitenrede. 4° Vgl. Paus. VIII 6, 2. 27, 10 (aus gleicher Quelle geschöpft wie Pausanias IV 28, 2), Polyb. II 48 und besonders XVIII 14. An letzterer Stelle verteidigt Polybios als Megalopolite in überzeugungstreuem Lokalpatriotismus seine arkadischen Landsleute gegen ihre Bezeichnung als Verräter der griechischen Sache, den Demosth. Gor. 295 später gegen sie erhoben hat. Das konnte Demosthenes natürlich erst von seinem späteren panhellenischen Standpunkt aus; zur Zeit der Megalopolitenrede und von ihrem machiavellistischen Partikularismus aus wäre es völlig unmöglich gewesen. Diesen muß Polybios besonders gut verstanden haben, dagegen ist ihm der nationale und ethische Gedanke des späteren Demosthenes fremd und unverständlich geblieben, so sehr er im übrigen zur Anerkennung des Demosthenes geneigt ist (vgl. XVIII 14, 1). Isokr. Phil. 74 setzt schon voraus, daß Messenier und Arkader auf Philipps Seite stehen (346). 41 Dionys. ad Amm. 4 setzt die Rhodierrede unter Archon Theellos 351/0, was A. Schaefer a. O. I 436ff. verteidigt hat. Schwierigkeiten macht bei diesem Ansatz einmal die Bezugnahme in § 12 auf den Fehlschlag der Expedition des Perserkönigs Ochos gegen das aufständische Ägypten, gegen das er bereits zur Zeit der Symmorienrede (354/3) rüstete. Leider ist die Chronologie der ägyptischen Vorgänge bei Diodor selbst verwirrt, doch sprechen mehrere Umstände dafür, daß der in Frage kommende Feldzug des Ochos gegen Ägypten früher fällt als 351/0, wenn er auch wohl nicht aufs Jahr genau festzulegen ist. Zuversichtlicher ist Focke, Demosthenesstudien (Stuttgart 1929) S. 18ff., der auf das Jahr 352 schließt. In dessen zweite Hälfte will er die Rhodierrede setzen. Ein unanfechtbarer Schluß ist auch nicht aus der Erwähnung der Artemisia als Königin von Karien in § 11 zu ziehen, denn es ist nicht sicher, ob das dort wirklich auf die Zeit kurz nach ihrem Regierungsantritt geht. Doch halte ich Fockes Ergebnis für das wahrscheinlichste. t* Vgl. Demosth. Rhod. 30. Die Athener sollen sein. Darin sollen sie auch außenpolitisch
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ihre St rke suchen. Man tut gut nicht zu vergessen, da auch Alexander sp ter seine Herrschaft in lonien auf die Demokratien gest tzt hat (vgl. Beloch III lz S. 402). Die Situation f r den Verteidiger der verr terischen rhodischen Demokraten vor der athenischen Ekklesie ist schwierig genug: die Behandlung wird zwangsl ufig agitatorisch (§ 17ff.). Es ist deutlich auf die Masse der H rer berechnet, wenn er sich § 18 zu der These versteigt, es w rde f r Athen vorteilhafter sein, alle Griechen zu Feinden zu haben, wenn sie nur alle gute Demokraten w ren, als alle zu Freunden zu haben, wenn sie alle Oligarchen w ren. Dieser Grad von Gesinnungst chtigkeit h tte ein besseres Schicksal verdient als die Ablehnung des rhodischen Hilfsgesuchs durch den Demos von Athen. § 19 ff. wird die Oligarchie in den Inselstaaten, wie sie jetzt emporgekommen ist, als Gefahr f r den Bestand der athenischen Demokratie hingestellt. Wer ist so naiv zu glauben, da Demosthenes das selbst alles buchst blich f r wahr gehalten habe? Es ist „Argumentation", weiter nichts. Gew hnlich nimmt man dies freilich alles f r bare M nze und sieht nicht einmal den Unterschied der Haltung zu der Symmorienrede oder Leptinea, der doch so in die Augen springt. Es ist mit der Demokratie in der Rhodierrede ebenso wie mit der Behandlung der Rechtsfrage; Demosthenes verf hrt ganz nach machiavellistischem Rezept. Denen, die ihm das δίκαιον und die Vertr ge entgegenhalten, erwidert er: la t zuerst unsere Gegner damit anfangen, die Vertr ge zu respektieren, dann wollen wir es auch tun. Auch wenn es nicht Recht w re, ist er f r sein Projekt, solange nicht auch die Gegner sich auf den Rechtsboden stellen (§ 28). 43 Demosth. Rhod. 11. 44 Demosth. Rhod. 5—8. Demosthenes mu hier einem offenbar von seinen damaligen politischen Freunden erhobenen Einwand begegnen. 45 Demosth. Rhod. 9—10 μη λύοντα τάς σπονδάς τάς προς τον βασιλέα. Die Formel ist auf Eubulos und die Nichtinterventionisten berechnet. 46 Isokr. Fried. 22 μη γαρ οίεσθε μήτε Κερσοβλέπτην ύττέρ Χερρονήσου μήτε Φίλιππον ΰττέρ Άμφιπόλεως ττολεμήσειν, όταν ϊδωσιν ήμας μηδενός των άλλοτρίων έφιεμένους. 47 Vgl. Demosth. Rhod. 24 ορώ δ' υμών ένίους Φιλίππου μεν ως •δρ' ούδενός αξίου πολλάκις όλιγωροΰντας, βασιλέα δ'ώς Ισχυρόν έχθρόν οΐς αν προέληται φοβούμενους.
4S Didymos in Demosth. XIV 52 (Theopomp, frg. 164 Jacoby, F. Gr. Hist. II B S. 571). Die Zeit der fingierten Rede des Philokrates war bei Theopomp offenbar kurz vor dem Frieden von 346. 15
J a e g e r , Demosthenes
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Vgl. das vorige Kap. Anm. 47. Vgl. die Hypothesis der Rede sowie die sehr interessante Selbstvorstellung des Euthykles Aristocr. l—5. Seine Wahl als Ankläger war eine durchaus individuelle, während Diodor und Euktemon in den Reden gegen Androtion und Timokrates bloße Kreaturen der Partei gewesen waren. Schon darin zeigt sich die veränderte Situation des Demosthenes: für diesen Angriff hatte er eben keine feste Gruppe mehr hinter sich, die ihm die geeigneten Leute stellte, geschweige daß er selbst sich als politischer Außenstürmer verwenden ließ. Er stand jetzt auf sich allein, vgl. noch Mid. 190. Nur ein persönlicher Freund kam daher zur Erhebung der Anklage in Betracht, und zwar war Euthykles wie Demosthenes selbst an der Frage der Sicherheit des Hellespont direkt interessiert, seit beide als Trierarchen dort gemeinsam befehligt und ihre Erfahrungen gesammelt hatten. Ich kann also Ed. Schwartz a. O. 27, Kahle, Pokorny nicht beistimmen, wenn sie meinen, daß Demosthenes die Aristocratea „für die radikale Partei" schrieb. 3 Beloch a. O. III l 2 S. 489 Anm. 2 glaubt, Demosthenes schreibe die Rede nur für seinen „Klienten" Euthykles. Daher dürfe man den Demosthenes selbst für die hier vertretene Politik nicht verantwortlich machen, die ja ganz töricht sei, da Athen sich damals in Thrakien selbstverständlich nur auf Kersobleptes habe stützen können. Die Unrichtigkeit dieser Voraussetzung vom Standpunkt des damaligen Beobachters wird sich im weiteren Verlauf der Darstellung ergeben. Entscheidend wichtig ist aber vor allem, daß Demosthenes im vollen Umfange als der Urheber der Politik anzusehen ist, die Euthykles hier verficht. Beloch hat vom Verhältnis des Verfassers der Rede zu dem, der sie vor Gericht gehalten hat, eine grundsätzlich falsche Vorstellung, sie trifft aber auch für die Reden gegen Androtion und Timokrates nicht zu, da auch diese Leute nur bestellte Ankläger sind. Man hat die Angaben des Anklägers über seine Motive in allen drei Fällen zu kritiklos geglaubt. Auch der Antragsteller des Psephisma, gegen das Demosthenes vorgeht, Aristokrates, ist wie Leptines ein Gefolgsmann der führenden Männer der Gegenseite. 4 Die polemische Partie gegen die Demosth. Aristocr. 206ff. kehrt beinahe wörtlich in der III. Öl. 25 ff. wieder, wo sie 2
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zugestandenerma en gegen Eubulos geht. Dazu w rde noch die Rede Περί συντάξεως kommen, wenn sie echt ist (vgl. oben S. 134 und Kap. VI Anm. 24); denn auch sie verwendet umfangreiche St cke der Aristocratea, und zwar ebenfalls gerade die, welche gegen die zur Zeit einflu reichsten reichen ρήτορες gerichtet sind. 5 Vgl. Demosth. Aristocr. 92. 6 νόμος έπ' άνδρί vgl. Demosth. Aristocr. 86 und 218. Der Wortlaut des Psephisma wird in der Rede gegen Aristokrates nirgendwo vollst ndig, sondern nur in Abs tzen mitgeteilt, vgl. 16; 34—35; 91 und andere Stellen. 7 Vgl. nach dem Vorgang seines Lehrers E. Drerup auch Liborius Vorndran, Die Aristocratea des Demosthenes als Advokatenrede und ihre politische Tendenz, Diss. W rzburg 1922, in: Rhetorische Studien herausgegeben von E. Drerup, 11. Heft (Paderborn 1922). 8 Vgl. oben Anm. 4. 9 Ed. Schwartz, Demosthenes' erste Philippika, Festschr. f r Mommsen (Marburg 1893) S. 27. Ihm folgen Kahle a. O. 32 und Pokornya. O. 81 ff. 10 Schon Paul Wendland, G ttinger Nachrichten 1910 S. 320ff. hat hnliche Einwendungen gegen Ed. Schwartz' Interpretation als zu weitgehend erhoben, vgl. jetzt auch L. Vorndran a. O. passim, dem ich in diesem Punkte durchaus zustimme, w hrend ich seiner eigenen Deutung des Sachverhalts nicht folgen kann. 11 Vgl. U. Kahrstedt a. O. S. lllff. Dagegen P. Wendland, G ttinger Nachrichten 1910 S. 322, gegen ihn wieder Kahrstedt, Zur politischen Tendenz der Aristocratea, Hermes XLVI (1911) 464ff. Vgl. seither besonders die ausf hrliche und umsichtige Kritik Pokornys a. O. 95 ff. und jetzt Paul Cloche a. O. 195. Grunds tzlich scheint es mir notwendig, die unbekannte Gr e Persien aus dem Spiel zu lassen, da der Einflu dieses Faktors, den Demosthenes und unsere sonstigen Quellen nirgendwo erw hnen, von Kahrstedt lediglich durch ein Subtraktionsverfahren errechnet wird (vgl. besonders Hermes XLVI 468). ber Demosthenes' sp tere Einbeziehung Persiens in seine Rechnung vgl. IV. Phil. 31 und 52 ff. Aber damals war der K nig von Makedonien l ngst ein Faktor der internationalen Politik geworden, auf den auch Persien R cksicht nehmen mu . Unbeweisbar ist auch Schwartz' Erkl rung der Wendung des Demosthenes gegen Charidemos aus innenpolitischen Motiven, um den S ldnerf hrer Chares, den „Heros 15*
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der Demokratie" gegen seinen Konkurrenten Charidemos zu unterstützen. Das ist rein aus der Gegnerschaft der beiden Strategen erschlossen, aber wenn Demosthenes überhaupt an Chares gedacht hat, dann gewiß nicht aus Parteigründen, da er vielmehr zwischen den Parteien stand, seit er sich von Eubulos zu entfernen begonnen hatte (vgl. seine eignen Auslassungen darüber Mid. 190). 12 Vgl. Demosth. Aristocr. 102—103. J 3 Die Chronologie der thrakischen Vorgänge ist sehr umstritten. Klar ist nur, daß die von Philipps Seite in Thrakien drohende Gefahr in der Aristocratea nicht allzu groß veranschlagt wird, und daß diese irrige Auffassung irgendwie in der augenblicklichen Situation ihren Grund haben muß. Daß das zu einer Zeit gewesen sei, während Philipp in Thrakien stand (Kahrstedt), ist so gut wie ausgeschlossen. Anderseits wird erwähnt (Aristocr. 183) der erste Einmarsch Philipps in Thrakien, der ihn als Begleiter der durch Thrakien nach Kleinasien ziehenden Thebaner unter Pammenes bis Maroneia geführt hatte (Frühjahr 353). Damals hatte Amadokos, wie es scheint, ihm Halt geboten, jedenfalls war Philipp freiwillig umgekehrt. Daraus erklärt sich zur Genüge die freundliche Haltung des Demosthenes gegen Amadokos. Bei oder vor Philipps zweitem Thrakerzuge fiel Amadokos zu ihm ab (vgl. Harpokration s. v. Amadokos) und wandte sich mit ihm gegen Kersobleptes. Davon weiß die Aristocratea noch nichts. Zwischen beide Züge muß die Rede also fallen. Der zweite Zug ist datiert durch Demosth. III Öl. 4, wo er sagt, der Vorstoß Philipps gegen Heraion Teichos, der bei dieser Gelegenheit stattfand, sei $ (vor 349/8) erfolgt, also 352 oder 351. Focke, Demosthenesstudien (Stuttgart 1929) 14, versucht für die Rede einen terminus post quern zu gewinnen, indem er die Verfluchung der Megarer (Aristocr. 212) auf die Vorgänge zwischen Megara und Athen bezieht, die nach seiner Deutung der Einsetzung der Kommission für die heilige Orgas im Anfang des Jahres 351 (Dittenberger, Sylloge D 279) unmittelbar gefolgt sind. Aber da wir nicht wissen, ob das erhaltene Psephisma der einzige Beschluß der Athener in dieser Sache gewesen ist oder ob ihm bereits andere ähnliche vorhergegangen waren (Demosth. XIII 33 spricht von unausgeführten gegen Megara und Phlius), so ist der Schluß unsicher. Als Spielraum für die Aristocratea bleibt also die Zeit 352—351. Auch wenn die Belagerung von Heraion Teichos 351 und nicht schon ein Jahr früher gewesen
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sein sollte (wof r vielleicht die Tatsache spricht, da Philipp bei der Belagerung ernstlich erkrankte, nach seiner Wiederherstellung aber „sofort" Olynth angriff), d. h. 349/8 (vgl. Demosth. I l. 13), so entschiede das immer noch nicht die Frage, ob die Aristocratea im Jahr 351 oder 352 gehalten ist. Auch da Phayllos als F hrer der Phoker erw hnt wird (§ 124), hilft uns nicht, denn in der Bestimmung der Zeit seines Todes schwankt man neuerdings zwischen 352 und Winter 352/1 (vgl. Pokorny und Focke). So ist eigentlich die Datierung durch Dionys von Halikarna (352/1) nicht ersch ttert. J
4 Demosth. Aristocr. 121 μάλιστα δοκών νυν -ήμϊν έχθρόζ είναι ΦίλπτπΌ?. Doch das hei t noch nicht: unser st rkster Feind, sondern nur: unser heftigster Gegner.
'5 Vgl. oben Anmerkung 13. 16 Demosth. III. l. 4. T 7 Thuk. II100, 2. Vgl. Fritz Geyer, Makedonien bis zur Thronbesteigung Philipp's II. (M nchen und Berlin 1930) S. 84if. 18 ber die Geschichte der Chalkidier vgl. Allen B. West, The Formation of the Chalcidic League, Classical Philology IX(1914)24ff. und derselbe, The History of the Chalcidic League (Madison 1918). Wichtige Erg nzungen und Berichtigungen der herrschenden Vorstellungen ber Struktur und Entwicklung des chalkidischen Staates gibt der Aufsatz Franz Hampl's: Olynth und der chalkidische Bund, Hermes LXX (1935) S. 177ff., der mir erst nach Abschlu des Buches in die H nde kommt. Er zeigt, da es schon seit der ersten Besiedlung Olynths durch die Chalkidier (479) einen chalkidischen Staat gab, dieser also nicht erst 432 entstanden ist (oder, wie andere annehmen, um 420 oder 400). Dieser Staat ist identisch mit Olynthos. Entscheidend ist der Nachweis, der mir gegl ckt scheint, da die beiden Bezeichnungen Χαλκιδεϊς und Όλύνθιοι staatsrechtlich synonym gebraucht werden, und zwar von jeher. Eine Aufl sung des chalkidischen Staates durch Sparta nach dem Kriege 382—379 hat es niemals gegeben. J 9 Vgl. Geyer a. O. S. 122. 10 Vgl. zum Aufstieg Philipps Beloch a. O. III l1 S. 468ff. Der Vertrag Philipps mit Olynth ist wiederentdeckt worden durch die dritte erfolgreiche Ausgrabungskampagne der Johns Hopkins Universit t in Baltimore an der St tte des alten Olynth unter der Leitung von Prof. David M. Robinson im Jahre 1934. Professor Robinson
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FÜNFTES KAPITEL
hatte die Güte, mir den Text der neugefundenen Inschrift mit seinen Ergänzungen vor der Publikation zugänglich zu machen, wofür ihm auch hier gedankt sei. Er hat ihn inzwischen mit ausführlichem Kommentar veröffentlicht in Trans, of the Am. Philol, Association LXV (1934) S. 103ff. 21 Das Zeitintervall ist nicht exakt zu bestimmen (vgl. oben Anm. 13). Wenn die mit so außerordentlichem Scharfsinn geführte Diskussion von Schwartz, Kahle, Kahrstedt, Pokorny, Focke irgend ein sicheres Resultat ergeben hat, so ist es das negative, daß wir mit unserem lückenhaften Wissen zu einer sicheren Entscheidung nicht gelangen können. Es kann unseren Wahrheitssinn auf die Dauer nicht befriedigen, mit den Ereignissen, die in dieses Intervall fallen, in dem betreffenden Zeitraum hin und her zu rücken und alle Möglichkeiten der Datierung abwechselnd zu versuchen. Ob Philipp 352 oder 351 den zweiten Zug nach Thrakien unternahm, der ihn nach Heraion Teichos führte, wissen wir nicht. » Demosth. I. Öl. 12. 2 3 Demosth. I. Phil. 17. Die Umdatierung der Rede nahm Ed. Schwartz vor: Demosthenes' erste Philippika, Festschrift für Theodor Mommsen (Marburg 1893). Ihm folgten Stavenhagen, Kahle, Kahrstedt und Pokorny. *4 Demosth. I. Phil. 1. *5 Demosth. I. Phil. 2. 26 Eine vergleichende Untersuchung des ethischen Elements in den politischen Reden des Thukydides und Demosthenes verspricht wertvolle Einsichten in das Wesen der demosthenischen Beredsamkeit und Politik. Ich habe solche Analysen gelegentlich im Philologischen Seminar der Berliner Universität durchführen lassen. 2 7 Der Frage des richtigen und entschlossenen Willens zur Tat ist der ganze erste Teil der I. Philippica gewidmet (§ 2—12). 28 Demosth. I. Phil. 3. Das Beispiel Athens und seiner Lage nach dem peloponnesischen Kriege ist lehrreich. Dies ist der Tiefstand, zu dem es in den letzten Jahren wieder herabgesunken ist und aus dem es gilt sich wieder zu erheben. Diese Anwendung des historischen Beispiels hat Demosthenes von Isokrates gelernt, doch seine Beispiele sind von einer völlig wesensverschiedenen politischen Dynamik erfüllt.
DIE N O R D G R I E C H I S C H E F R A G E 2
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9 Demosth. I. Phil. 4—6 ethische Analyse von Philipps Machtposition. 3° Demosth. I. Phil. 7—12 Anwendung des Resultats der Analyse des Gegners auf die eigene innere Haltung. 3' Demosth. I. Phil. 11. 31 Demosth. I. Phil. 16—18. Demosthenes nennt neben Thermopylai und Chersonnes als dritte eine Expedition gegen Olynth, vgl. über diese unten S. 120. 33 Demosth. I. Phil. 19 ff. 34 Demosth. I. Phil. 30. 35 Auf das Problem der späteren Bearbeitung der I. Philippica gedenke ich an anderem Orte zurückzukommen. 36 Seine Zählung (vgl. Epist. ad Amm. 4) ist bemerkenswert, weil die drei olynthischen Reden in den antiken Ausgaben, denen die unsrigen hierin folgen, später durchweg der I. Philippica vorangestellt wurden. Im Lexikon des Harpokration wird die I. olynthische Rede dementsprechend als I. Philippica, und unsere I. Philippica als IV. gezählt. 37 Demosth. I. Phil. 40—41. 38 Demosth. I. Phil. 35. 39 Demosth. I. Phil. 41.
A N M E R K U N G E N ZU KAPITEL VI 1
Demosth. I. l. 13. Vgl. oben S. 112 und Mabel Gude, A history of Olynthus (Baltimore 1933) S. 33. 3 Vgl. Demosth. I. Phil. 38-^1. 4 Demosth. Aristocr. 107—109. Auch Libanios in der Hypothesis zur I. olynthischen Rede scheidet zeitlich den Friedensschlu und das Gesuch der Olynthier um ein B ndnis mit Athen. Seine Quelle ist offenbar vorz gliche ltere Gelehrsamkeit von der Art des Didymos. Libanios' Angabe ber die Bestimmung des Vertrags zwischen Philipp und Olynth, keinen Separatfrieden zu schlie en, ist durch die neuentdeckte Inschrift von Olynth (vgl. oben S. 112) indirekt best tigt worden. Der Separatfrieden mit Athen wurde von Olynth geschlossen, w hrend Philipp abwesend war (Libanios); vgl. auch Dem. III. l. 7. Wenn die Worte Aristocr. 109 (Όλύνθιοι) ύμδ;... φίλου? πεποίηνται auf diesen Frieden gehen, wie es das Nat rliche ist, so ist mit der Abwesenheit Philipps, w hrend deren er geschlossen wurde, wahrscheinlich Philipps Feldzug in Thessalien gemeint (vgl. Schaefer a. O. II 114). 5 Diod. XVI 52, 9. 6 Demosth. I. l. 7. 7 Der Abschlu des B ndnisses f llt in die Zeit der Invasion Philipps in die Chalkidike, vgl. Schaefer a. O. II 117 Anm. 1. 2
8
Demosth. I. l. 2 beginnt seine sachlichen Ausf hrungen mit den Worten: εστί δη τα γ'έμοι δοκοϋυτα ψηφίσασθαι . . . ήδη την βοήθειαν . . .
Da haben andere vor ihm den Antrag offenbar schon gestellt, den Olynthiern zu Hilfe zu kommen, und er unterst tzt diesen Antrag. 9 Vgl. Dionys. Hai. Ep. ad Amm.9. Wir sehen hier, wie Dionysios oder seine Quelle zur Datierung und Einordnung der Reden die Atthis des Philochoros heranzieht. Da er bei ihm (Philochoros frg. 132 F. H. G. I p. 405 Mueller) drei Hilfssendungen der Athener erw hnt findet, betrachtet er jede dieser βοήθειαι als das Ergebnis je einer der drei demosthenischen Reden. Da dies reine Willk r ist, wird heute allgemein zugestanden. Ebenso wird keiner mehr die schon von dem zeitgen ssischen Rhetor Caecilius von Kaieakte bestrittene hypothetische Anordnung der olynthischen Reden (II, III, I) durch Dionys ernst nehmen, die hiermit zusammenh ngt. Philochoros selbst sagte nichts
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davon, da die drei Hilfsz ge auf Antrag des Demosthenes erfolgt seien, es ist vielmehr durchaus unwahrscheinlich, da einer von seinen Vorschl gen ausgef hrt oder auch nur beschlossen worden ist. Vgl. Schaefer a. O. II 140ff. und Hartel, Demosthenische Studien Ber. Wiener Akad. Phil. Cl. Bd. 87—89 (1877—1878). Der Versuch, die Reden in eine konkrete Situation einzuordnen, mu te zwar gemacht werden, aber er gelingt bei der l ckenhaften Beschaffenheit unseres geschichtlichen Wissens schlie lich auch hier nur so weit, als aus den Reden selbst noch deren Voraussetzungen in typischen Umrissen hervortreten. 10 Vgl. Demosth. I. l. 16—20. Dieser kurze Mittelteil enth lt die praktischen Vorschl ge. Es ist bemerkenswert, da Demosthenes die Vorschl ge der I. Philippica wiederholt, ohne auf diese Rede zur ckzuverweisen. Wahrscheinlich geschieht das, um die Vorschl ge nicht von vornherein zu diskreditieren oder den fr heren Gegnern die Zustimmung zu erschweren durch die Unterstreichung der Tatsache, da die Vorschl ge schon einmal abgelehnt worden sind. 11 Demosth. I. l. 2 ff. 12 Die G tter und Athens Schicksal: Demosth. I. l. 10. J 3 Vgl. Theophrast's vier B cher Πολιτικών προς τους καιρούς. Cic. Fin. V 4, 11 hebt die Behandlung der Politik in diesem Stile als das Besondere seiner politischen Theorie gegen ber Aristoteles hervor: hoc amplius Theophrastus, quae essent in republica inclinationes rerum et momenta temporum, quibus esset moderandum utcunque res postularet. J 4 Ich habe das Problem der Tyche oder Moira und der Zurechnung des menschlichen Handelns bei Solon in meiner Paideia Bd. I2 S. 196ff. behandelt, ausf hrlicher in Solons Eunomie, Sitz. Berliner Akademie 1926 S. 73ff. F r Thukydides vgl. etwa I 140, l ber die eigene Verantwortung und das αϊτιασθαι την τύχη ν, όσα αν παρά λόγο ν ξυμβή (Kriegs rede des Perikles). '5 Demosth. I. l. 10—11. 16 Demosth. I. l. 12—15. '7 Das Problem der Auffassung der Griechen von dem Wesen des Geschehens im Leben der Menschen, sowohl der Individuen wie der V lker, ist von gr ter Bedeutung f r das Verst ndnis der Poesie wie der politischen Reden und der Geschichtschreibung. Speziell f r die Prosa ist es kaum ernsthaft in Angriff genommen. Die lteren Disser-
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SECHSTES K A P I T E L
tationen ber die Tyche bei Thukydides oder Polybios sind viel zu mechanisch und u erlich angelegt und beschr nken sich meist auf u erliche Sammlung des Materials. Dieses ist berhaupt nicht auf lexikalischem Wege zu erfassen. Wir brauchen eine Analyse der gesamten Geschehensauffassung und -darstellung bei den gleichzeitigen Schriftstellern. Speziell die Geschichte der griechischen Philosophie pflegt an diesen wichtigen Fragen achtlos vor berzugehen. Ich hoffe dem Problem noch genauer nachgehen zu k nnen. 18 Der Kaipos-Gedanke zieht sich durch den ganzen ersten Teil der Rede vgl. § 7,8, 9 (gegen Ende), 11. *9 Vgl. den dritten Te der Rede Demosth. I. l. 21 ff. Das Stichwort Steht § 24: δει τοίνυν ΰμας . . . την άκαιρίαν την εκείνου κ α ι ρ ό ν ϋμέτερον νομίσαντας έτοίμως συνάρασθαι τα -πράγματα. 20
Vgl. Demosth. Ι. ΟΙ. 24—27. Mit dem Gedanken, da der Krieg den Athenern ins Land kommen wird, wenn sie ihn nicht au erhalb zu f hren bereit sind, schlie t der Redner den dritten Teil (§ 25, 27) wie bereits den ersten (§ 15). Er ist sein st rkster Hebel. 21 Vgl. oben S. 92 und 97. 22 Dieselbe hohe erzieherische Auffassung von der Aufgabe des Volksf hrers in einem Staat wie Athen finden wir vor Demosthenes bei den gr ten Staatsm nnern wie Solon und Perikles; vgl. ber Solon meine Paideia Bd. I2 192ff., ber das Bild des Perikles als vorbildlicher Staatslenker bei Thukydides vgl. Paideia I2 506. 2 3 Demosth. Περί συντάξεως 36. Die „Neuordnung" bedeutet die finanzielle und administrative Organisation, die der Redner empfiehlt, vgl. zum Ausdruck Demosth. Symm. 17, 23 und fter. 2 4 Nachdem Wilamowitz, Aristoteles und Athen Bd. II 215 und Ed. Schwartz, Demosthenes' erste Philippika, Festschr. f. Mommsen 1893 S. 54ff. die Unechtheit der Rede Περί συντάξεως kurz und ohne Anf hrung ihrer Gr nde f r unbewiesen und unbeweisbar erkl rt hatten (vgl. auch P. Wendland, G ttinger Gelehrte Anzeigen 1906, 364), hat sich erneut genauere philologische Untersuchung damit befa t, vgl. I. Heimer, De Demosthenis or. XIII, Diss. M nster 1912 und Fr. W. Lenz, De Demosthenis Περί συντάξεως oratione, Diss. Berlin 1919. Hier sind vor allem die bekannten bereinstimmungen der Rede mit den brigen Reden des Demosthenes und die Frage der Priorit t der verschiedenen Fassungen der gemeinsamen Partien behandelt. Auf Grund dieses sorgf ltig durchgef hrten Vergleichs kommt
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Lenz zu dem Ergebnis, da die olynthischen Reden in der Rede Περί συντάξεως bereits benutzt und auf weite Strecken ausgeschrieben sind. Er setzt die Rede daher unmittelbar nach der dritten olynthischen, Ende 349/8, wozu auch Eduard Schwartz zu neigen schien, der sie eng mit den olynthischen Reden zusammennehmen wollte. Heimer setzt die Rede dagegen ins Fr hjahr 350. Mehr von der Frage der chronologischen Anspielungen ausgehend setzt H. Francotte, Le Musee Beige 1913 S. 271 ff. sie 353/2 und neuerdings Fr. Focke a. O. S. 12ff. ins Jahr 351. Zweifellos f hren die Hinweise der Rede auf Zeitereignisse, besonders die Stelle ber „die verfluchten Megarer" und den Streit um die heilige Orgas (§ 32) in die Zeit zwischen 352 und 350, wie Focke m. E. richtig ausgef hrt hat. Doch allein von der chronologischen Seite her l t sich das verwickelte Problem nicht l sen, und die Frage des Verh ltnisses der Dubletten in unserer Rede zu den entsprechenden Stellen der olynthischen Reden hat Focke nur kurz gestreift. Es bleiben noch erhebliche Hindernisse fortzur umen, die einem fr hen Ansatz von dieser Seite im Wege stehen. Andererseits hat Lenz sich die Sache mit den chronologischen Angaben der Rede zu leicht gemacht. Sollten aber beide Arten der Untersuchung wirklich auf eine verschiedene Entstehungszeit f hren, so w re dadurch die Unechtheit der Rede erwiesen. Ich gedenke eine neue Untersuchung der Frage vorzulegen. -> Vgl. Demosth. II. l. 3. 26
Vgl. Demosth. I. l. 9: νυν δε ... ηύξήσαμεν ... Φίλιτπτον ημείς καΐ καττεστήσαμεν τηλικοΟτον ήλίκος ουδείς ττω βασιλεύς γέγονεν Μακεδονίας. 3
7 Bekanntlich sagt Theopomp von Philipp bei Polybios VIII11, l (F. Gr. Hist. II B S. 541 frg. 27 Jacoby), Europa habe noch niemals einen Mann wie ihn hervorgebracht. 28
Demosth. II. l. 5iF. Vgl. besonders § 10: ου γαρ εστίν, ουκ εστίν . . . άδικοοντα κάτπορκοΰντα δύναμιν βεβαίαν κτήσασθαι . . .
-9 Demosth. II. ΟΙ. 11—13. 3° Demosth. Π. ΟΙ. 14—16. 31 Demosth. II. ΟΙ. 17—21, vgl. Theopomps vernichtendes Urteil ber die Moral Philipps und seiner Umgebung frg. 224—225 Jacoby (F. Gr. Hist. II B S. 582—585). Die bereinstimmung der beiden so verschieden gearteten Kritiker ist zweifellos von Wert, was die tats chlichen Grundlagen ihres Urteils betrifft.
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SECHSTES KAPITEL
3* Man beachte den von der körperlichen Gesundheit genommenen Vergleich II. Öl. 21, durch den Demosthenes seinen Satz begründet. Der Vergleich erinnert unmittelbar an die politischen Einsichten SoIons (frg. 3,17ff. Diehl). Dort ist er von der inneren Gesundheit eines Staats gebraucht. 33 Demosth. II. Öl. 22. In hellenistischer Zeit wird der Begriff einer Tyche, die einer bestimmten Stadt oder Persönlichkeit zugehört, sehr verbreitet. Das haben dann die großen Römer übernommen, und Sulla und Caesar haben jeder an seine Tyche geglaubt. 34 Vgl. über die Notwendigkeit und vorhandene Bereitwilligkeit, Olynth wirksam zu helfen, Demosth. III. Öl. l—9. 35 Herkunft der Theorika von Perikles vgl. Plut. Per. 9. Der Demagoge Kleophon führte die Diobelie ein, wie wir jetzt aus Arist. Resp. Ath. 28,3 wissen. Vgl. neuerdings den Artikel„Theorikon" von Schwahn in Pauly-Wissowa, Realencyklpoädie d. kl. Altert. Bd. V A 2233 if. Der radikale Redner Demades nannte das Theorikon den „Kitt der Demokratie" (Plut. Plat, quaest. 1011 B). 36 Demosth. I. Öl. 19—20. 37 Vgl. Schwahn a. O. 2236. 38 Demosth. III. Öl. 10—13. Demosthenes fordert nicht direkt die Umwandlung der Theorika in Stratiotika, sondern er verlangt die Einsetzung von Nomotheten, um die Gesetze abzuschaffen, die dem im Wege standen. Aus dieser Vorsicht seines Vorgehens hat Libanios Hypoth. Demosth. I. Öl. 5 (Butcher) geschlossen, daß damals bereits Todesstrafe auf einem solchen Antrag gestanden habe, aber dieses Gesetz wird von den Scholien zu I. Öl. 9 (p. 33,11 Dindorf) als Folge des Antrags des Apollodor bezeichnet, die Verwendung der Überschüsse der Staatskasse zu Theater- oder Kriegszwecken alljährlich dem Volke freizustellen. Das Psephisma Apollodors, das wir aus [Demosth.] c. Neaeram 3—5 kennen, wurde von Schaefer in die vermeintliche Zeit der Schlacht von Tamynai (350) auf Euboia während des Meidiasprozesses gesetzt. Doch da diese nicht mehr an sich feststellbar ist, wie gerade Blaß' Versuch einer Neudatierung unabsichtlich bewiesen hat, kann sie nur aus der ungefähren Gleichzeitigkeit des apollodorischen Antrags mit der Politik der olynthischen Reden bestimmt werden. Es ist ja auch klar, daß Demosthenes nicht aufgefordert hätte, die Nomotheten zur Abschaffung der Theorikagesetze einzusetzen, wenn bereits Todesstrafe darauf stand (so schon richtig
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Weil ui'd Bla ). Apollodors Psephisma kann den olynthischen Reden also nicht vorangegangen sein, sondern mu ihnen gefolgt sein und steht sicher mit Demosthenes' Politik in Zusammenhang. Eubulos' Gesetz, das Todesstrafe auf derartige Antr ge setzt, ist durchgebracht worden, nachdem Apollodors Psephisma durch die παρανόμων-Klage des Stephanos (vgl. c. Neaeram 5) noch einmal gl cklich zu Fall gebracht worden war. Stephanos, den schon Kallistratos als Ankl ger verwendet hatte (cf. c. Neaer. 43), ist nat rlich nur der Strohmann des Eubulos, und die Privatrache nur ein vorgeschobener Grund wie in der Androtionea. In Wahrheit ist seine Anklage Apollodors durchaus politisch, wie das Gesetz des Eubulos dann bewies, durch das dieser seine Antikriegs- und Wirtschaftspolitik und damit zugleich seine eigene Stellung von neuem zu sichern suchte. Es ist die Parade gegen den Vorsto des Demosthenes und seiner sich eben damals bildenden Gefolgschaft. Es ist ziemlich wahrscheinlich, da — wie man vermutet hat — Demosthenes' Hilfe f r Apollodor in dem Proze gegen Stephanos, f r den er ihm die Rede verfa te, mit seiner politischen Bindung an ihn zusammenhing (vgl. Bla a. O. 316ff.). 39 Demosth. III. l. 21. 4° Demosth. III. l. 23—29. 4' Demosth. III. l. 30—32. 4* Demosth. III. l. 33—36. 43 In demTeile der III. olynthischen Rede, der die Kritik des Eubulos enth lt, besonders § 26 ff. bis 31 ist die Rede gegen Aristokrates 207 bis 210 satzweise fast w rtlich benutzt, vgl. oben S. 103. 44 Vgl. oben S. 92 ff. 45 Die Frage, ob die φύσις der lebenden Generation schlechter geworden ist als die der Vorfahren, wird aufgeworfen Demosth. Περί συντάξεως 25. 46 Beide Vorschl ge, der der I. und der der III. olynthischen Rede, erscheinen nicht direkt als Antr ge gestellt. Diese Tatsache, die sich auch sonst findet, f hrte neuere Gelehrte wie Eduard Schwartz, Paul Wendland u. a. zur Deutung der demosthenischen Staatsreden als Brosch ren, die f r literarische Verbreitung geschrieben seien und nur die Form der gesprochenen Rede wahrten, wie man das von Isokrates her kennt. Am weitesten ging darin K. Hahn, Demosthenis contiones num revera in contione habitae sint quaeritur (Diss. Gie en 1910). Dagegen wandte sich in eingehender Kritik Ch. D.
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SECHSTES KAPITEL
Adams, Trans. Am. Philol. Association XLIII (1912) S. 5ff. Vgl. auch E. Drerup, Aus einer alten Advokatenrepublik S. 58. Es leuchtet ein, da die Reden des Demosthenes f r die Ver ffentlichung sorgf ltig gefeilt wurden, wobei die durch Isokrates einmal geschaffene Form in mancher Beziehung einwirkte, z. B. in der Fortlassung von Urkunden, Antr gen und dergleichen, wie ich das in der L Philippica gezeigt habe (vgl. oben S. 120). hnlich evident ist der Fall der II. Philippica (vgl. S. 162). Da auch die Symmorienrede urspr nglich in einen Antrag m ndete, der als solcher zwar nicht berliefert ist, der aber in seinen Grundlinien aus der publizierten Rede noch v llig deutlich hervorgeht, kann nicht geleugnet werden, vgl. oben S. 74ff. Das sind nur ein paar Beispiele. Wie will man denn unter der Voraussetzung, da dies nur literarische Brosch ren sind, die wiederholte Verwendung derselben Klischees in verschiedenen Demegorien zwei-, ja dreimal nacheinander erkl ren? Das w re nicht einmal in heutigen Zeitungsartikeln denkbar, und Isokrates z. B. meidet Wiederholungen dieser Art in seinen Brosch ren durchaus. Die langen Selbstzitate in der Antidosisrede sind von anderer Art. Wenn man diese Wiederholungen in den demosthenischen Gerichtsreden gegen Androtion und Timokrates mit Recht aus der Praxis der gesprochenen Gerichtsrede erkl rt, so ist diese Deutung f r die Staatsreden nicht weniger nat rlich. Auch die Form der demosthenischen Rede widerstrebt der Erkl rung als blo er γραφικός λόγος. Sie ist geboren aus der Hitze des politischen Kampfes und geschrieben f r die Entscheidungen der Ekklesie. Sie ist nicht prim r f r die stille Lekt re bestimmt, sondern f r das Ohr der lauschenden Menge. Selbst in der geschriebenen Form folgt sie einzig diesem Gesetz, wenn dabei auch vieles als απρεπές unterdr ckt werden mu te, was in der gesprochenen Rede m glich war, wie die Reden gegen Ais chines zeigen. 47 Vgl. Demosth. Mid. 77ff. 4» Vgl. Demosth. Mid. 13 ff. 49 Vgl. die προβολή Mid. § l, Verschleppung des Prozesses § 112. 5° Vgl. Demosth. Mid. 206 ber Eubulos' Verhalten einst bei der προβολή und jetzt, wo Demosthenes sein politischer Gegner geworden ist. Andere Reiche, die f r Meidias vor Gericht auftreten werden, vgl. § 208ff. und 213ff. Demosthenes steht allein § 190.
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s1 Vgl. die f r das Selbstbewu tsein des Politikers und Redners Demosthenes wichtige Stelle Mid. 189. v Vgl. Demosth. Mid. 218. 53 Die Chronologie der Rede gegen Meidias ist sehr schwierig und mit derjenigen der Reden gegen Boiotos verquickt. Sie bedarf einer neuen Behandlung, da Bla a. O. 328if. seine Untersuchung mit zu viel Hypothetischem belastet hat. Dionys setzt die Ausarbeitung der vor Gericht nicht gehaltenen Rede 349/8. Jedenfalls ist klar, da die Vorgeschichte der Midiana in den olynthischen und eub ischen Feldzug hineinspielte. 54 Vgl. Schaefer a. O. II 156ff. Beloch a. O. III l* S. 500 geht ber diese Phase kurz hinweg und nennt die Urheber dieses Schrittes, Eubulos und Aischines, nicht einmal mit Namen, obgleich er f r ihre Politik sehr bezeichnend ist. Logischerweise m te er das ganze Bild, das Beloch sich von ihnen gemacht hat, ndern. 55 Vgl. den Bericht der beiden Gegner Demosthenes und Aischines ber die Gesandtschaft in ihren beiden Reden Περί τή$ τταραπρεσβείας; ber Demosthenes' Rolle bei der Audienz vor K nig Philipp Aesch. II 34ff. 56 Dies betont er sp ter cor. 18.
A N M E R K U N G E N ZU KAPITEL VII 1 2
Vgl. oben S. 53, Isokr. Fried. 23—26 und passim. Vgl. Isokr. Fried. 119 ff.
3 Vgl. Isokr. Phil. 45 ορών τά$ πόλεΐζ μήτ' έχθρα; μήθ' όρκων μήτ' δλλου μη8ενό$ φροντι^ούσσ; πλην ότι αν ύπολάβωσιν ώφέλιμον σύτσϊς είναι, τοΟτο δε στεργούσα$ μόνον καΐ πασά ν την σπουδή ν περί τούτου ποιούμε να$ . . . 4 Isokr. Phil. 40 οΐδα γαρ άπάσα$ (seil. τό$ πόλεις) ώμαλισμένα; υπό των συμφορών.
5 Vgl. Isokr. Phil. 81 und Epist. 1. Der Brief scheint, nach dem allein erhaltenen Prooemium zu urteilen, darauf hinaus zu wollen, nachdem Sparta bei Leuktra geschlagen und aus der Reihe der f hrenden Staaten verdr ngt sei, dem Tyrannen von Syrakus die Rolle anzubieten, die Isokrates im Panegyrikos urspr nglich Sparta und Athen gemeinsam zugedacht hatte: die F hrung in Hellas zu ergreifen (vgl. besonders Epist. l, 8), ob zum Krieg gegen Persien, wird nicht klar. Es ist auch nicht klar, was unter dem συναχωνί^εσθαι Athens Epist. 1,8 gemeint ist. Die Logik des Satzes l t eigentlich erwarten, da nach Spartas Ausscheiden seit Leuktra Dionysios an dessen Stelle treten soll, also ein Zusammenwirken mit Athen auf gleichem Fu e gemeint ist. Freilich gebraucht Isokrates auch Phil. 56 das Wort σνναγων(3εσοαι von Athens Mitwirkung bei dem von ihm gew nschten Zuge gegen die Perser unter Philipps F hrung. Da ist es nur ein h flicher Ausdruck f r die Unterordnung Athens, die aber um das Jahr 370 nach dem gl cklichen Frieden zu Sparta, wo der Brief an Dionysios geschrieben zu sein vorgibt, gegen ber diesem nicht so selbstverst ndlich, ja eigentlich recht unglaubhaft ist. Wenn also das erhaltene Prooemium nicht eine F lschung ist, deren Verfasser die Situation des „Philippos" einfach nach r ckw rts projiziert hat auf Grund von Anregungen wie Phil. 56 und 81, so mu man wohl oder bel dem Wort συναγωνίχεσθαι an beiden Stellen eine verschiedene Deutung geben. Was die Echtheit des Prooemiums betrifft, so ist sie durch die rasch hingeworfenen Bemerkungen von Wilamowitz, Aristoteles und Athen Bd. II S. 391, bisher noch keineswegs gesichert. Die „Nachwirkung der sch nen platonischen Kritik" (Phaidr. 275 E), die Wilamowitz wohl mit Recht in § 3 sp rt, macht die Sache nur ver-
KRIEG ODER F R I E D E N ?
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wickelter, denn wer glaubt heute noch, da Platos Phaidros um 370—367 schon existiert hat? Die Annahme Ed. Meyers, Gesch. d. Alt., Bd. V S. 442, da Isokrates mit dem Brief nicht zu Ende gekommen sei, ist nicht mit dem Wortlaut von Phil. 81 zu vereinigen: άττερ Ιττέστειλα καΐ irpoy Διονύσιον τον την τυραννίδα κτησάμβνον, WO der Brief als abgeschickt, nicht nur als im Konzept angefangen zitiert wird. Weshalb aber dann nur das Prooemium erhalten ist, bleibt dunkel. Es wird auch durch die Tatsache nicht weniger dunkel, da zwei weitere Briefprooemien berliefert sind (Epist. 6 und 9), an lasons Kinder und an Archidamos, mit welchen auch Wilamowitz nicht viel anzufangen wei und von denen er das letztere sogar f r sicher unecht h lt. Der unter dem Namen des Speusippos berlieferte Brief an Philipp (Socraticorum Epist. XXX p. 629 ed. Hercher), den E. Bickermann und Joh. Sykutris in Ber. Sachs. Akad. Phil.-hist. Kl. Bd. 80 (Leipzig 1928) scharfsinnig erl utert haben und als einzigen von den erhaltenen Speusipposbriefen f r echt halten, behauptet § 13, Isokrates h tte den Aoyos, den er zuerst „f r Agesilaos" geschrieben habe, sp ter „mit geringen nderungen dem Tyrannen Dionysios verkauft" — als w re der Brief von diesem bestellt gewesen. Wenn Speusippos den Brief an Dionys im Jahre 342, wo sein eigner Brief an Philipp geschrieben zu sein vorgibt, so genau kannte, dann m te er von Anfang an, und zwar als Ganzes ver ffentlicht gewesen sein und inhaltlich dem „Philippos" und „Panegyrikos" hnlich gesehen haben; denn ich zweifle nicht, da unter dem Aoyos des Isokrates, den er πρώτον έγραφεν Άγησιλάω (ήγησιλάου cod. V ήγησιλάω corr. B), der Panegyrikos gemeint ist, der vor allem an die Adresse Spartas gerichtet war, das hie aber damals eben an Agesilaos. Es bleibt immerhin m glich, da der Verfasser des Speusippbriefes seine Kenntnis von dem Brief des Isokrates an Dionysios ebenso wie wir nur der Stelle des „Philippos" (§ 81) verdankt, wo Isokrates von ihm redet, und da er wie manche Neueren die Parallelit t der Situation, auf die Isokrates dort hinweist, ohne weiteres auch als Gleichheit des Inhalts des verlorenen Schreibens und des „Philippos" verstanden hat, wovon Isokrates selbst nichts sagt (vgl. die folgende Anmerkung). 6 Beloch a. O. III l* 523 nimmt ohne weiteres an, da das verlorene Schreiben des Isokrates an Dionysios ihm die F hrung in einem Perserkrieg angetragen habe. In dem Selbstzitat Isokr. Phil. 81 16
J a e g e r , Demosthenes
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SIEBENTES KAPITEL
und in dem erhaltenen Prooemium Isokr. Epist. l steht davon nichts. Ed. Meyer a. O. 443 und Wilamowitz a. O. 391 drücken sich mit Recht vorsichtiger über den mutmaßlichen Zweck des Briefes aus. Belochs Annahme hindert ihn aber nicht, den vermeintlichen Vorschlag des Isokrates für ganz erwägenswert zu halten, obgleich er doch unleugbar noch weit illusionärer gewesen wäre als der des Panegyrikos. Aber was bewirkt nicht blinde Voreingenommenheit! 7 Der Streit der modernen Gelehrten über die Rasse der Makedonen ist interessant und reich an Aufschlüssen gewesen, besonders die sprachwissenschaftliche Analyse der Reste des Makedonischen durch O. Hoffmann, Makedonen u. a. Vgl. den letzten allgemeinen Überblick über die Kontroverse bei F. Geyer a. O. 30ff. sowie das Kapitel Vorgeschichte ebendort S. 19ff. Wenn die Makedonen außer illyrischem z. T. griechisches Blut hatten, sei es ursprünglich oder durch spätere Beimischung, so ist es doch unmöglich, daraufhin ihre Rasse mit der der Griechen gleichzusetzen und durch diese prähistorische Konstruktion den Herrschaftsanspruch des kriegerischen Bauernvoikes, das kulturell mit den Griechen des IV. Jahrhunderts überhaupt nicht vergleichbar war, über die Stammesbrüder im Süden der Balkanhalbinsel geschichtlich zu legitimieren. Es ist auch nicht richtig, daß die Rolle der makedonischen Eroberung im Prozeß der Hellenisierung des Ostens sich nur von hier aus verstehen läßt. Doch wir können diese Frage ganz ausscheiden, da uns hier zunächst nur interessiert, was die Griechen dabei gedacht und empfunden haben. Und da brauchen wir Demosthenes' bekannte Aussprüche gar nicht erst zu zitieren, da selbst Isokrates, der Herold der Idee der makedonischen Führung über Hellas, Phil. 108 das Volk der Makedonen als fremdrassig ( ) bezeichnet. Er vermeidet zwar das Wort absichtlich, aber im Kampf der Griechen für ihre nationale Unabhängigkeit stellt es sich mit voller Selbstverständlichkeit ein und drückt die Ansicht aller Hellenen aus. Nicht das Volk der Makedonen soll denn auch nach Isokrates das griechische beherrschen, sondern nur der makedonische König Philipp soll die Griechen führen, und Isokrates sucht die Berechtigung dieses einen Mannes zu dieser Aufgabe durch die rassengeschichtliche Konstruktion zu erweisen, daß Philipp ja kein Sohn seines Volkes sei, sondern wie seine ganze Dynastie ein Herakles-Sprößling und also von griechischem Blut.
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Vgl. unten S. 189 und die ausgezeichnete Untersuchung von Ulrich Wilcken, Philipp II. von Makedonien und die panhellenische Idee, Sitz. d. Berl. Akad. d. Wiss. 1929 S. 291 ff. Wilcken hat konkret gezeigt, worin die „Anregungen" bestanden, die Isokrates der Politik Philipps gegeben hat, wir dürfen vielleicht sagen: wie Philipp es verstanden hat, von der Existenz eines Mannes wie Isokrates und der neuen überparteilichen Geistesart, die er vertrat, politisch für Makedonien Vorteil zu ziehen. Damit hat Wilcken zugleich der allzu naiven Überschätzung des Isokrates als Politiker durch Beloch und manche anderen neueren Gelehrten ihre Grenzen gezogen. Die Dinge liegen, wie Wilcken mit Recht betont, viel komplizierter. Vielleicht hat Ernest Barker, Cambridge Ancient History Bd. VI 518 absichtlich etwas übertrieben, wenn er sagt, Isokrates' Pamphlete hätten keine Wirkung ausgeübt, wogegen Wilcken sich wendet; aber sicher ist Philipp niemals zum Werkzeug isokrateischer Ideen geworden, sondern höchstens umgekehrt. 9 Vgl. Isokr. Phil. 81—82. 'o Vgl. Isokr. Phil. 73 ff. » Vgl. Isokr. Phil. 15 und 152. 12 Beloch a. O. III l- 359 nennt Aischines' Reden „mit das Vollendetste, was die Beredsamkeit aller Zeiten hervorgebracht hat, völlig ebenbürtig den Reden seines Gegners Demosthenes in denselben Prozessen". Das ist ein durchaus unverständliches Urteil. Seine Verkennung des Politikers Demosthenes macht Beloch sogar für dessen rednerische Größe taub. Die Kranzrede steht hoch über Aischines' Rede gegen Ktesiphon, doch Demosthenes' rednerische Höhepunkte liegen überhaupt nicht einseitig in den Gerichts reden, sondern mehr noch in den Philippiken. Ihnen ist auf seiten des Aischines schlechterdings nichts gegenüberzustellen. '3 Vgl. Ivo Bruns, Das literarische Porträt der Griechen (Berlin 1896) S. 570 und 578. J 4 Vgl. Demosth. Fried. 10. '.i Voraussage des gegenwärtigen Rückschlages Demosth. Fried. 10, seine früheren Voraussagen Fried. 4—9, seine Voraussage bezüglich Euboias 5. Über die richtige Voraussage als Kriterium des wahren Staatsmannes vgl. schon Solon frg. 3 und 8 (Diehl) und die ganze Rede des Perikles Thuk. II 60ff. 1C*
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SIEBENTES K A P I T E L
Man wird hier an Leute vom Typus des alten Aristophon denken, des Redners der radikalen Demokraten, dessen Kampf gegen den Frieden des Philokrates Theopompos frg. 166 Jacoby (F. Gr. Hist. II B 572) anschaulich zeigt. Wenn er ihm die Hauptrede gegen den Frieden in den Mund legt, so mu er damals noch irgendwelche Bedeutung gehabt haben, auch wenn er sich nicht durchsetzte. '7 Vgl. Thuk. II 65, 9 und Schol. zu Demosth. Fried. 12, das bereits den Vergleich mit Perikles zieht, den Schaefer a. O. II 285 passend weiterf hrt, wohl durch Plut. Dem. 14 angeregt. 18 Vgl. zum Folgenden Demosth. Fried. 17—19. '9 Vgl. oben S. 88 ff. und Kap. IV Anm. 39. 20 Thebanophile Stellen vgl. Demosth. Fried. 15; 18; 24. An der letzteren Stelle verficht er wieder seine alte Politik (vgl. Megal. 18), den Thebanern Oropos nicht wieder streitig zu machen. Dieser athenische Anspruch war ein Haupthindernis f r die Verst ndigung zwischen Theben und Athen. 21 Preisgabe von Chios, Kos und Rhodos Fried. 25. 22 Aischines' Verhalten bei der Siegesfeier Philipps vgl. Demosth. De fals. leg. 128 und 338, dazu vgl. Aischines' Erwiderung II 162. 2 3 Vgl. ber diese Reden den ausf hrlichen Bericht Demosth. II. Phil. 19—26. Da die Freundschaft Athens mit Sparta die brigen Peloponnesier Philipp in die Arme treibt, ist schon Demosth. Fried. 18 ausgesprochen. Als Zeit der II. Philippica gibt Dionysios (ad Amm. 10) das Jahr 344—43, und dies ist nach Schaefer durch Belochs Pr fung a. O. III 22 S. 290 aufs neue best tigt worden. Die Situation ist aber nicht identisch mit der offenbar sp teren Gesandtschaft Pythons nach Athen, von der Demosth. cor. 136 spricht (vgl. Halonn. 20ff.), und die II. Phil, ist nicht die Gegenrede des Demosthenes gegen Python, die er dort erw hnt. 2 4 ber die Einkreisung Athens (περιστοιχί^εσθαι) vgl. Demosth. II. Phil. 27. 2 5 Vgl. Demosth. II. Phil. 28—30. 26 Vgl. Demosth. II. Phil. 32. 2 7 Vgl. Demosth. II. Phil. 28. Es ist v llig klar, da die Antwort, die der Redner einer bestimmten, nicht mit Namen genannten ausw rtigen Macht zu erteilen vorschl gt, nach den Worten ταϋτ' ήδη λέξω § 28 ausgefallen ist. Unwahrscheinlich ist es, da dieser Ausfall ein Zufall der berlieferung ist. Demosthenes wird den Antrag
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in seiner urspr nglichen Formulierung in dem endg ltigen Text der Rede, der f r die Publikation bestimmt war, gestrichen haben. hnliches ist anscheinend auch sonst in seinen ver ffentlichten Reden mehrfach vorgekommen. So ist in der I. Philippica § 30 die Πόρου άπόδειξις nachtr glich bei der Publikation der Rede gestrichen worden (vgl. oben S. 120). Es mu uns philologisch u erst willkommen sein, an Stellen wie diesen noch Spuren der Gl ttung der gesprochenen Rede f r die Ver ffentlichung mit H nden greifen zu k nnen. Sie sind wertvoll zur Entkr ftung der modernen Theorie, da wir es in den politischen Reden des Demosthenes nur mit literarischen Brosch ren zu tun haben, nicht mit wirklich gehaltenen Reden (vgl. oben Kap. VI Anm. 46). 28
2
Vgl. Demosth. II. Phil. 28 καθ' υμάς αυτούς ύστερον βουλεύσεσθε.
9 Vgl. Demosth. II. Phil. 15 τοις Μεσσηνίοις δε καΐ τοις Άργείοις έιτί τους Λακεδαιμονίους συλλαμβάνειν ου μέλλει, αλλά καΐ ξένους είσιτέμπει καΐ χρήματ' αποστέλλει καΐ δΰναμιν μεγάλην έχων αυτός εστί προσδόκιμος. Ferner § 16 αφ'ων νυν ποιεί. Vgl. neuerdings die Ausf hrungen von G. M. Calhoun, Trans. Am. Philol. Assoc. LXIV (1933) S. Iff., der die Zugeh rigkeit der II. Philippica zu einer sich in ihr noch deutlich abhebenden, wenn auch nicht mehr genau bestimmbaren konkreten Situation durch seine sorgf ltige Interpretation gegen jeden Zweifel erneut sichergestellt hat. Es kann also nicht davon die Rede sein, da die II. Philippica blo eine allgemeine „Hetzrede" sei, wie Beloch a. O. III 2* S. 290 auch die Reden des Demosthenes im Peloponnes nennt. Insofern ist das richtige Verst ndnis dieses Dokuments in der Tat, wie Calhoun betont, f r die Beurteilung der ganzen Politik des Demosthenes seit dem Frieden von erheblicher Wichtigkeit. Die fr here Literatur ber die Rede vgl. jetzt bei Calhoun a. O., der der interessanten Geschichte des Problems bis in seine Anf nge nachgegangen ist. Es bleibt nur die Frage offen, welches die Gesandtschaft war, der die Athener die § 28 erw hnte Antwort erteilen sollen, und damit bleibt auch die Zeit der Rede unbestimmt. Die Hypothesis des Libanios zeigt (§ 2), da man schon im Altertum nichts dar ber wu te, da man aber glaubte, dies εκ των Φιλιππικών Ιστοριών noch feststellen zu k nnen. Man dachte an eine Gesandtschaft Philipps gleichzeitig mit einer solchen der Messenier und Argiver (vgl. dazu Schaefer a. O. II 332), die sich ber Athens Verhalten zu den Peloponnesiern wie zu Philipp be-
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SIEBENTES KAPITEL
schweren sollten. Wir wissen zu wenig über das, was man in einer attischen Ekklesie in Gegenwart auswärtiger Gesandten gegen diese offen aussprechen konnte, um zu entscheiden, ob der Freimut, mit dem Demosthenes sich über Philipps Hinterhältigkeit und die Dummheit der Peloponnesier äußert, deren Anwesenheit ausschließt. Ist dies der Fall, so sind wir freilich ganz aufs Raten angewiesen. a« Vgl. Demosth. II. Phil. 28. 31 Vgl. Demosth. II. Phil. 35. 32 Vgl. Demosth. II. Phil. 37. Der Zusammenhang des letzten gegen Aischines gerichteten Teils der II. Philippica (28—37) mit dem Prozeß des Demosthenes gegen diesen wegen ist seit Libanios öfter hervorgehoben worden. Er genügt jedoch nicht als einziges Motiv zur Erklärung der Rede, wie oben gezeigt ist. 33 Vgl. Isokr. Epist. 2, 15. Der Brief des Isokrates an Philipp, der jetzt gemeinhin als echt gilt, ist datierbar geworden durch die Erwähnung einer Lebensgefahr, der Philipp sich im Kriege unnötig ausgesetzt habe (§ 3 ff.). Sie ist nach aller Wahrscheinlichkeit identisch mit einer der drei ernstlichen Verwundungen, welche jetzt Didymos in Demosth. comm. col. XII 64ff. näher bezeichnet. Die zweite dieser Verwundungen, die ins Jahr 344 fällt und die der König sich im Illyrierkrieg zuzog, ist von Benno von Hagen, Philologus LXVII (1908) 122 und unabhängig davon von Ed. Meyer, Sitz. d. Berl. Akad. d. Wiss. 1909 S. 761 ff., als die im II. Brief des Isokrates erwähnte erkannt worden. Dadurch ist der Brief eindeutig auf das Jahr 344 datiert. Aber die Lösung dieses Problems hat ein neues schwierigeres Problem entstehen lassen. Seit Wilamowitz (Arist. und Athen II 398) galt es als feststehend, daß das Billet des Isokrates (Epist. V) an den Kronprinzen Alexander, das vom Schreiber eingangs als Beilage zu einem Brief an König Philipp bezeichnet wird, zu dem echten Brief II gehört. Wilamowitz war nicht abgeneigt, auch das Billet an Alexander für echt zu halten und in seiner moquanten Erwähnung des Aristoteles als Prinzenerzieher eine besondere „Feinheit des Alten" zu erkennen, obwohl oder vielleicht gerade weil da manches nicht ganz stimme. Aber nachdem jetzt der Brief an Philipp (Epist. II) auf 344 datiert ist, kann die Beilage an Alexander nicht länger als zu ihm gehörig betrachtet werden, denn Aristoteles kam erst 343/2 (Diog. L. IV 10) an den makedonischen Hof. Hagen hilft sich aus dieser Schwierigkeit, indem er Brief II „in den Anfang" von 343 hinab-
KRIEG ODER F R I E D E N ?
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zunicken sucht. Aber damit erreicht er immer noch nicht das Archontenjahr des Pythodotos (343/2), das erst im Juli begann. Ed. Meyer und neuerdings Matthieu a. O. 165 sahen dies richtig und gaben zu, da der Brief an Alexander dann wohl doch zu einem anderen Brief an Philipp geh ren m sse. Dieser zugeh rige wichtige Brief, dem gegen ber die Beilage an Alexander durchaus die Nebensache sein sollte, m te dann seltsamerweise verloren gegangen sein. Denn der einzige sonst noch erhaltene Brief an Philipp (Epist. III) ist entweder unecht (Wilamowitz) oder geh rt doch in eine sp tere Zeit, in der Aristoteles nicht mehr der Lehrer Alexanders war. Die Ausflucht mit dem verlorenen Brief ist, man mu es sich eingestehen, h chst unwahrscheinlich. Hier hilft, wie mir scheint, nur die Erkenntnis, da der Brief an Alexander als unecht preiszugeben ist. Es w re doch auch recht unklug gewesen, wenn Isokrates sich so weit h tte gehen lassen, den vertrauten Freund und Lehrer des Kronprinzen bei diesem aus der Ferne mit ein paar Worten zu ironisieren. Vollends die Vorstellung des Briefs, da Aristoteles dem kriegerischen J ngling die knifflichen Finessen der platonischen Dialektik zu erschlie en suche, statt, wie er es wohl in Wirklichkeit getan hat, mit ihm die Gedichte Homers zu lesen und ihm einen Begriff von den hohen Pflichten seines k niglichen Berufs zu geben, sieht doch allzu hnlich der Torheit des zweifellos unechten Briefes des K nigs Alexander an Aristoteles, wo er seinem Lehrer vorwirft, die bisher nur ihm zug nglichen Vorlesungen ber Metaphysik der ffentlichkeit bergeben zu haben. 34 Tr ger dieser Gesandtschaft Philipps war Python, ein Sch ler des Isokrates. Vgl. ber diese Gesandtschaft oben Anm. 23. 35 Vgl. Demosth. II. Phil. 17 λογφσθε γαρ' άρχειν βούλεται, τούτου 5' άντογωνιστάς μόνους ύπείληφεν ύμα$.
36 Vgl. Demosth. IV. Phil. 32 und die Scholien. Die Verbindung Philipps mit Hermias ist wichtig zur Beurteilung der Frage, ob er berhaupt an einen Perserkrieg gedacht hat. Letzteres wird von Ed. Meyer, Sitz. d. Berl. Akad. d. Wiss. 1909 S. 765 bestritten, f r die Zeit nach Chaironeia sicher mit Unrecht. Aber auch f r die Zeit gegen Ende der 40er Jahre des IV. Jahrhunderts l t sich jetzt erweisen, da Philipp damals schon weiterreichende Pl ne betreffs Asiens gehegt hat, vgl. meine Ausf hrungen Aristoteles S. 118—120.
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SIEBENTES KAPITEL
37 Ein unmittelbarer Anla zur Besorgnis war selbstverst ndlich auch jetzt vorhanden, vgl. III. Phil. 34 νυν επί Bujavrious πορεύεται, ebenda § 17 καΐ v v επί Θράκην παριόντα καΐ τα Ιν ΤΤελοποννήσω σκενωρούμενον, doch vgl. oben S. 172.
3» Vgl. Demosth. III. Phil. 8ff. 39 Vgl. Demosth. III. Phil. 15—20. 40 Vergleich mit den fr heren Hegemonien Demosth. III. Phil. 23 ff., πλεονεξίαι Philipps § 25 ff, passives Verhalten der Griechen immer wieder betont vgl. §22, διορωρύγμεθα κατά πόλεις §28; wir stehen Philipps Vordringen wie einem Naturereignis gegen ber, vgl. § 29 (medizinischer Vergleich mit einer περίοδο; ή καταβολή πυρετού) und § 33 (meteorologischer Vergleich mit der χάλαϊα). Dies ist eine der merkw rdigsten Wiederholungen der Rede. hnlich die Reihe der F lle von O pis Philipps § 32 nach der Aufz hlung seiner πλεονεξίαι § 25 ff. Die Unbestechlichkeit und der Freiheitssinn der fr heren Griechen § 36 ff. Vork mpfertum Athens f r ganz Hellas § 70ff. 41 Vgl. oben Kap. IV. Den partikularistischen Realpolitiker hat in Demosthenes neuerdings vor allem Arnaldo Momigliano, Contributi alia caratteristica di Demostene, in Civilt Moderna (Jahrgang 1931) S. 711 ff. gesehen. Aber wie Piero Treves, Rivista di Filologia Bd. LX (1932) 68ff bereits gegen diese Auffassung geltend macht, hat Momigliano Demosthenes zu einseitig von seiner fr hen Periode aus verstehen wollen und die Entwicklung nicht gen gend gew rdigt, welche er seither unter der Einwirkung des m chtigen historischen Schicksals, das 'Philipp' hie , durchgemacht hat. 42 Es existierte zwar ein wachsendes Gef hl nationaler Solidarit t bei den Griechen des IV. Jahrhunderts, dem Philosophie und Rhetorik Ausdruck gaben. Aber es war der Fehler der modernen Historiker, welche diese Lage mit derjenigen Deutschlands oder Italiens im XIX. Jahrhundert verglichen, da sie diesem Panhellenismus ohne weiteres die moderne Tendenz zur Schaffung eines nationalen Einheitsstaates unterschoben, von der Isokrates mit seiner Idee der ομόνοια aller Griechen und der ηγεμονία Philipps weit entfernt ist. Ich freue mich, in dieser Kritik bereinzustimmen mit der Auffassung von Piero Treves, dessen anregendes B chlein Demostene e la Liberia Greca (Bari 1933) mir erst nach dem Abschlu des Textes dieser Vortr ge in die H nde kam.
KRIEG ODER FRIEDEN?
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43 Die panhellenische Linie ist durch alle Reden des Demosthenes seit dem Frieden des Philokrates mit wachsender Deutlichkeit zu verfolgen. Schon das Programm der Friedensrede mit seiner Idee, Philipp zu isolieren, schlie t in sich das k nftige Zusammengehen mit den brigen Griechen, besonders den Thebanern und Peloponnesiern. In der II. Philippica vgl. Stellen wie § 2, 8, 10, 12. Die Chersonnesrede ist zwar in einer spezifisch athenischen Angelegenheit gehalten, l t aber das Gesamtinteresse der Griechen nirgendwo aus dem Auge, vgl. § 46, 49, 55. Die III. Philippica ist schlechthin der Gefahr ganz Griechenlands gewidmet, vgl. § 20 ouλεύεσθαι περί πάντων των Ελλήνων cbs εν κινδύνω μεγάλω καθεστώτων, ferner § 25 ff., besonders 28. Auch bei dem Vergleich von Gegenwart und Vergangenheit § 36 ff. ist durchweg nicht von Athen, sondern von Hellas die Rede, ebenso in der Aufz hlung von Philipps bergriffen. 44 Direkt gegen den antipersisch orientierten Panhellenismus des Isokrates und seiner Gesinnungsgenossen richtet sich, wie mir scheint, Demosth. IV. Phil. 33—34. Hier stellt er seinen antimakedonischen Panhellenismus jenem als den einzig realpolitischen gegen ber. „Aus allen diesen Gr nden m ssen wir meines Erachtens eine Gesandtschaft aussenden, um mit dem K nig von Persien zu unterhandeln, und m ssen die Torheit ablegen, die euch schon manchmal geschadet hat, alle die Phrasen wie „der Barbar", „der gemeinsame Erbfeind aller Griechen" und was dergleichen mehr ist. Wenn ich jemand sehe, der den Perser in Susa und Ekbatana f rchtet und f r einen Feind Athens erkl rt, obgleich er schon einmal an der Wiederaufrichtung unseres Staates mitgewirkt und jetzt das gleiche angeboten hat (wenn ihr es nicht angenommen, sondern abgelehnt habt, so ist das nicht seine Schuld), und wenn ich sehe, da dieser selbe Jemand von dem Banditen, der dicht vor unserer T re mitten in Griechenland m chtig wird und alle Griechen anf llt, ganz anders redet, so wundere ich mich und f rchte diesen Jemand, wer er auch sein mag, weil er den Philipp nicht f rchtet."
ANMERKUNGEN ZU K A P I T E L VIII 1
Jetzt datiert durch Philochoros bei Didymos in Demosth. comm. I 14—25. Danach wurde Oreos von den Athenern und Chalkidiern befreit im Juni 341 (noch unter dem Archon Sosigenes); im Herbst desselben Jahres (unter Archon Nikomachos) fiel auch Eretria. Demosthenes stellte die Anträge. 2 Vgl. Demosth. III. Phil. 71. Die Namen der Staaten, an welche Gesandte geschickt werden sollen, stehen in allen Handschriften außer dem Parisinus S. Über die beiden Rezensionen der Rede und ihre Echtheit vgl. Spengel, Abh. Bayr. Akad. III l (1839) 157, IX l (1860) 112. Im Vorübergehen streift die Frage (im Sinne der Echtheit beider Fassungen) G. Pasquali, Storia della tradizione (Firenze 1934) 274. 3 Die spärlichen Fragmente eines und ' des Hypereides (vgl. die Ausgabe von Chr. Jensen S. 141 und 146) können sehr wohl aus Reden stammen, welche gelegentlich der von Demosthenes erwähnten Gesandtschaften gehalten wurden (vgl. Vit. X or. 850 A). Über die Gesandtschaft nach Persien vgl. unten Anm. 13. Auch dem Anschluß von Byzanz an Athen (vgl. Gor. 80) müssen natürlich Verhandlungen voraufgegangen sein. Demosthenes sagt Gor. 94, daß Athen die Anerkennung und Bekränzung für die Rettung von Byzanz ihm zu verdanken habe. 4 Über die erste Gesandtschaft des Demosthenes in den Peloponnes nach dem Frieden des Philokrates vgl. oben S. 161, und III. Phil. 72 erwähnt eine weitere frühere Gesandtschaft des Demosthenes zusammen mit Polyeuktos, Hegesippos und anderen, die Philipps Intervention im Peloponnes und in Ambrakia verhinderte (im Jahre 343/2). Die Gesandtschaft in den Peloponnes, welche Demosth. III. Phil. 71 (ausführlichere Fassung des Textes) zugleich mit der nach Rhodos, Chios und Persien im Frühjahr 341 fordert, ist im selben Jahre von ihm selbst mit Kallias von Chalkis zusammen ausgeführt worden, vgl. Aisch. III 94—98. Kallias war offenbar schon zur Zeit der III. Phil, eine treibende Kraft, denn Demosthenes spottet § 74, Athen solle die Rettung von Hellas nicht von den Chalkidiern und Megarern allein erwarten. Damals hatte die Befreiung Euboias durch Athen im Bunde mit Chalkis noch nicht stattgefunden.
DAS ENDE
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5 Vgl zu dieser von Demosthenes seit seinen Anf ngen verfolgten Politik oben S. 88—89 und 159. 6 Vgl. Plutarch Demosth. 17—18. Dieser reflektiert zugleich den Bericht Theopomps, der sich die Erfolge des Demosthenes bei den brigen Griechen infolge seiner geh ssigen Einstellung nur aus ή του ρή-ropos δύναμη erkl ren konnte, die den Leuten, insbesondere den Thebanern vor Chaironeia ganz den Verstand raubte (F. Gr. Hist. II B S. 604 frg. 328 Jacoby). Goldener Kranz f r Demosthenes im Jahr 340 vgl. Gor. 83. 7 ber die Heeresst rke der verb ndeten Griechen vgl. Aisch. Ktes. 95, Demosth. Cor. 237, wo beidemal nur die Zahl der S ldner angegeben wird. Dazu kommen noch die B rgerkontingente. Beloch a. O. 568 sch tzt die Streitkr fte bei Chaironeia auf beiden Seiten ungef hr gleich. 8 Diese berlegungen ber Athens Chancen in einem Kriege mit Philipp vgl. Demosth. Cor. 145 if. 9 Vgl. Demosth. III. Phil. 34. 10 Vgl. oben S. 167 und Kap. VII Anm. 36. 11 Vgl. Diod. XVI 75, 1; Paus. I 29, 10; Ps.Demosth. gegen Philipps Brief 5. 11 Wegnahme der Handelsflotte Demosth. Cor. 139, Aufhebung der Belagerung von Byzanz Plut. Phok. 14, Diod. XVI 77, 3. '3 Vgl. Demosth. IV. Phil. 33. Der Gedanke einer Gesandtschaft nach Persien, der III. Phil. 71 schon auftaucht, wird IV. Phil. 31—34 eingehender er rtert (vgl. oben Kap. VII Anm. 44). H Vgl. Aisch. Ktes. 222 ber Demosthenes als έτπστάτης του ναυτικοί/. Das neue Symmoriengesetz Demosth. Cor. 102—108. Baugelder f r den Krieg verwendet Philochoros bei Dionys. ad Amm. 11. 1 5 ber die der Politik der Symmorienrede entgegengesetzte Tendenz des neuen Symmoriengesetzes vgl. oben S. 74ff. Verwendung der Theorika f r die Kriegskasse vgl. Philoch. bei Dionys. ad Amm. 11. 16 Vgl. Demosth. IV. Phil. 35 ff. Hinsichtlich der Echtheit der Rede hat m. E. Alfred Koerte, Rheinisches Museum Bd. LX (1905) das Schlu wort gesprochen. *7 Vgl. ber den lokrischen Zwischenfall im Amphiktyonenrat und seine Folgen Aisch. Ktes. 106ff. Demosth. Cor. 140ff.
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ACHTES KAPITEL
Vgl. den für die Beurteilung der Politik des Demosthenes wichtigen und nicht genügend beachteten Abschnitt über die militärischen Chancen in einem Kriege mit Philipp Demosth. III. Phil. 47—52 (dazu Gor. 145—147). J 9 Vgl. Demosth. Gor. 143. » Vgl. Demosth. Gor. 169. 21 Vgl. das Urteil Theopomps über die Leistung des Demosthenes als Redner in Theben, die er vergeblich herabzusetzen sucht, F. Gr. Hist. frg. 328 Jacoby. Sein eigener Bericht über das fortreißende persönliche Auftreten des athenischen Staatsmannes wird zur höchsten Anerkennung für diesen, dem vier Gesandte Philipps gegenüberstanden, unterstützt von der promakedonischen Partei und von der Tatsache, daß die Armee des Königs Gewehr bei Fuß nahe bei Theben in Elateia stand. " Ich verdanke die wahre Anekdote der liebenswürdigen Mitteilung Professor Robert Philippsons in Magdeburg, der sie selbst im Examen bei Johann Gustav Droysen erlebt hat. Wenn sie im Zusammenhang der großen Schicksalsentscheidungen, von welchen hier die Rede ist, etwas von der trivialen Komik einer scholastischen Prinzipientüchtigkeit hat, die, ohne es selbst zu merken, an die Wirklichkeit der Geschichte überhaupt nicht heranreicht, so ist gerade das vielleicht geeignet, uns gegenüber allem professoralen Besserwissen — eigenem und fremdem — die notwendige Distanz zu geben. *3 Über das Verhältnis der staatsrechtlichen Form des korinthischen Bundes zu Isokrates „Philippos" vgl. Ulrich Wilcken, Philipp II. von Makedonien und die panhellenische Idee, Sitz. d. Berl. Akad. 1929 S. 297ff. Wilcken hat gezeigt, daß Philipp die Idee der und ihre Abzweckung auf den Perserkrieg von Isokrates übernommen hat. In dieser Weise konnte er die leicht verletzbare Ehre der Griechen schonen, wenigstens in der Form. Wichtig ist aber weiter Wilckens Nachweis, daß Alexander sich in seinem Verhältnis zu den Griechen nur in der ersten Zeit auf den Boden des korinthischen Bundesvertrags gestellt hat. Später hat er das Synedrion zu Korinth nur noch als die Publikationsstelle für seine absolut geltenden Willensäußerungen angesehen, vgl. U. Wilcken, Alexander der Große und der korinthische Bund, Sitz. d. Berl. Akad. 1922 S. 117, und neuerdings U. Wücken, Alexander der Große (Leipzig 1931) S. 200ff. Die
DAS ENDE
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Wahrung der Form der Autonomie der griechischen Staaten war ihm jetzt zu l stig geworden und entsprach nicht mehr seiner Auffassung der wirklichen Lage. 2 * Vgl. I. Sykutris, Hermes LXIII (1928) 240ff., dazu best tigend mit neuen Gr nden P. Maas ebenda S. 258 ( ber scheinbare Zitate aus dem Epitaphios des Demosthenes bei Lykurgos). Gegen Sykutris vgl. S. Trachile Αθηνά XLII (1930) 197 und dazu die Entgegnung von Sykutris Αθήνα XLIII (1931) 114ff. Es ist nat rlich richtig, wenn man neuerdings gegen die Athetese auf Grund generischer Verschiedenheit des Stils eingewendet hat, da ein Autor, der so bewu t schreibt wie Demosthenes, nicht nur einen Stil schreibe. Auf den ersten Blick scheinen die neueren Verfechter der Echtheit des demosthenischen Epitaphios auch im einzelnen die strengere philologische Observanz auf ihrer Seite zu haben. Doch ihre Art der stilistischen und lexikalischen Vergleichung d nkt mich zu mechanisch und hat mich gerade auch nach der sprachlichen Seite nicht berzeugt. 2
5 Vgl. Demosth. Chers. 38 τί ούν χρή ποιεϊν (w rtlich wiederholt IV. Phil. 11), dagegen Cor. 62 τί προσήκον ην έλέσθαι ττράττειν καΐ ττοιεϊν την πάλιν; vgl. auch 66, 69, 71/2. 26
Vgl. Demosth. Cor. 66. 7 Vgl. Demosth. Gor. 18 ff. 28 Vgl. Demosth. Gor. 67. 2 9 Vgl. besonders Demosth. Gor. 252, wo er auf die Ausf hrungen des Aischines ber die schlechte Tyche des Demosthenes antwortet. 2
I. AUTOREN-REGISTER AlSCHINES
or. I (Timarchus) 94 117 170
212 212 212
or. II(Defals.legat.) 34 . 212, 239 105 213 162 244 165
212
ISO
212
or. Ill (Ktesiph.) 94—98 . 250, 251 io6ff 251 172 208 222
ANONYMUS JAMBLICHI C. 7 (Diels) ARISTOPHANES Daitaleis Frg. XV (Meineke) ARISTOTELES Politico VII 2, I324a 16 Rhetorica III I, i4O3b 20-35 Resp. Ath. 28, 3 Frg. 140 (Rose) ATHENAIOS XIII 577 B—C
251
DEMOSTHENES—Fortsetzung Phorm. I 8 28ff 43-45 53-57 Stephan. I 30 Neaer. 3-5 43 Aristog. I Zenoth. 32 Androt. 1-3 5-20 15 2lff.
205 209 206 211 236 210 214
CICERO Brutus 142 Definibus ban. V 4, n
212 233
D DEMOSTHENES Aphob. I 4 17 I ii I 40 I 60-61 Onet. 16 Ι ίο
208 208 208 208 2ii 209 208
42ff. 47 47-56 51-53 65-78 Timocr. 11 24-27 112
124 160-186 169-171 190-193 Leptin. 23 29 143 144-146 161. 167 Symmor. 1-2 3 9 I4ff. 17 19-20 23 24ff.
212 208 212 212 212 212 236f. 237 209 212 215 215 216 215
215 216 217 216 217 216 216 2l6
216 217 217 216 217 217 217 217 217 221 219, 222 219 219 234 221 234 219, 221
AUTORENREGISTER DEMOSTHENES—Fortsetzung Megal. i ff 3
222 222
4
222
6
222
18
244
20
223
27
222
Rhod. 5 5-8
218 225
255
DEMOSTHENES—Fortsetzung Phil.l 38-41 40. 41 De ord. 25 32 33 36 O/.I 1.2.7
231 232 237 234 228 234 232
2ff.
233
T-" 9 loff
234 235 233
6
221
9-10
225
11
225
12
230
12
224
12-15
17.19 24
225 225
13
233
30
28
Aristocr. 1-5 16 34-35 86 91. 92 102-103 107-109 I2i. 124 183 206ff
233
225
19-20
236
224
2lff
234
226 227 227 227 227 228 232 229 228
24-27
234
226
207-210
237
212
228
218
227 230
Phil. I i 2. 3. 2-12
230
n 4-6. 7-12
231 231
14
221
16-18 17
231 230
18
221
I9ff 30 35
229,232
16-20
231 231, 245 231
01. II 3 5ff
235 235
uff
235
I7ff
235
21
236
22
236
Öl. III i-9 4 7 10-13 21.23-29 25ff 26-31.30-32 33-36 Midiana i I3ff 77 77ff 112
236 228, 229 232 236 237 226 237 237 238 238 209 238 238
189 239 190 226, 228, 23& 206. 208 238
213
238
256
AUTORENREGISTER
DEMOSTHENES—Fortsetzung Midiana 218 De pace 4-9 5 ίο 12 15-25 17-19 18 25 Phil.ll2 8.10.12 I5f 17 19-26.27 28 28-30 28-37 32 35-37 Defaisa legat. 128 338 Cherson. 38 46·49 55 Phil. III 8ff 15-20
239 243 243 243 244 244 244 244 244 249 249 245 247 244 245, 246 244 246 244 246 244 244 253 249 249 248 248 249
20
23-25 285 36,70 25.28
29,
32,
DEMOSTHENES—Fortsetzung Phil.IV52 .
227
De epist. Phil. 5 251 De cor. i8ff. 239, 253 62 253 66,67,69,71-72.... 253 80 250 »3 251 94 250 102 220 102-108 251 136 244 139 251 140,143,145-147.251, 252 145-147 252 162 223 169 252 237 251 252 253 295 224 Epitaph 253 Halonn. 20 244 DIDYMOS In Demosth. Comm. 114-25 . 250 XII 64ff. 246 XIV 52. 225 DlNARCHUS
248 249
34 248,251 36ff 249 47-52 252 71, 72, 74 . . . . 250, 251 Phil. IV ii 252 31 227 31-34 251 32 247 33 251 33-34 249 35ff 251
Adv. Demosth. 15
208
DlODORUS
XV 46 ...' XV 78 XVI 52, 9 XVI 75, i XVI 7 7>3
DIOGENES LAERTIUS IV ίο V n-i6
'
196 213 232 251 251
246 208
AUTORENREGISTER DIONYSIUS HALICARNASSENSIS Thuc. 54 218, 22l Isokr. 18 210 Ad Ammaeum 3 215 4 ... 218, 222, 224 9 232 ίο 244 ii 251 DIONYSIUS HALIC. QUI DICITUR Ars rhetorica IX 10 . . . . 218, 221 Δισσοί λόγοι Ι, 8 (Diels) 205
GORGIAS II B 7-8a (Diels)
207
H HARPOCRATION s.v. Amadokos . 228 HYPEREIDES Or. Chiaca 250 Or. Rhodiaca 250
257
ISOKRATES—Fortsetzung Ph ippus 15 40 45 56 73ff 74 8iff 104 108 152 Epist. I II 3 ff II 15 ΙΠ V VI IX
243 240 240 240 243 224 240-243 213 242 243 240, 242 246 246 247 246 241 241
LlBANIOS
Hypoth.Demosth. I. l 5 .. 236 II. Phil. 2 245
I ISOKRATES
Sophist, ipff Panegyricus noff De pace 18 22 23-26 119 124 128
Anlidosis 2 37 ff 93ff IOI-I39
Areopagiticus 2 6 15
17
210 207 222 225 240 240 217 213, 220
210 210 214 20
°
213 203 213
PAUSANIAS
I 29, 10 IV 28, 2 VIII 6,2 VIII 27, io IX 1,8 PHILOCHOROS Frg. 132 (Mueller) PLATO Protagoras 3260 Gorgias 5030 5I5C 5i8B-5i9A
251 22l, 224 224 224 196 232
209 205 205 205
21
213
52ΙΛ
205
56ff 66
213 213
52 ID
205
Pol, I 3290
208
J a e ii e r , Demostliencs
2S8
PLATO—Fortsetzung Pol. I 33IB-C V 473C VI 493A VIII 5588 Phaedr. 2j$E Epistulae VII 320A-B
AUTORENREGISTER 206 216 208 240 206
PLUTARCHOS Agesil. 27 Dem. 5 13 14 15 17-18 25 Per. 9 Phokion 14 Vita X oral. 8370 SSOA Plat, quaest. IOIIB POLYBIOS II 48 VIII, ii XVIII, 14
213 213 219 2 44 217 251 219 236 251 197 250 236
224 235 224
THEOPOMPOS Frg. 27 (Jacoby) 105 164 166 224-225 326 327 328
235 207 225 244 235 219 219 251,252
THUKYDIDES I 10,2 I 69, ι I 73-78 I 75, 3 I 77> 6
205 205 203 · · · · 203 204
I 80-85
221
I 89-118 I 140 II 8,4 II 6off II 65, 9 II 65, 12-13 II loo, 2 III 82-84 V 9, 9 V 84-115 V 90
203 233 205 243 244 205 229 205 205 204, 207 204
VI 19, 2
220 2
Socraticorum Epistulae XXX . . 241 SOLON Frg. 3, 17if. (Diehl) 3 und 8 (Diehl)
236 243
SPEUSIPPOS Epistula ad Philippum 241 (S. ob. Socrat. epist.) Sylloge inscriptionum Graecarum (ed. Dittenberger) I3, S. 279 . 228
Tragicorum Graecorum fragm. p. 793 (Nauck) frg. 4 206 X
XENOPHON Hellenika II II II III III VI VI
2, 10
2O4
2, 19
204
4> 30 5, 8-15 5, ίο 3, ι 3, 7
204 204 204 199 213
AUTORENREGISTER XENOPHON—Fortsetzung Hellenika VI 3, 10 . 196, 207, 213 VII 4ff. 22l VII 4, 2
VII 4, 29 VII 4, 33 Resp. Laced. ι, ι
25Q
XENOPHON—Fortsetzung De vectigalibus ι, ι 2
214 214
222
3, 7
222
222 222 213
4ff 5, 5 6, i
214 219 220
II. NAMEN- UND SACHREGISTER Achämeniden, Weltreich der ~ 191 Achaia 167,175 Agathon no Agesilaos 82 Akairia (s. Philipp v. Makedonien) 133 Akarnanien 167 Aischines 33, 147, 155, 160, 163, 165, 182, 184, igoff., 212, 253 Alexander der Große 5, 153» I9i> I94f., 246 Alexander (Schwager Philipps) 167 Alexander von Epirus 167 Amadokos , 106 die Amphiktyonie 155, 157, 182 Amphipolis 50, in Amyntas III, no Androtion 59 ff., 99, 214-17 Anonymus Jamblichi 15, 205 Antalkidasfrieden 12, 44, 53, 187 Antiphon 30 Aphobos, Prozeß gegen ~ 25f. Apollodoros, Sohn des Bankiers Pasion 385 Prozeß des ~gegen Phormion 38ff.; die sechs angeblichen Demosthenischen Reden für ~ 39; Prozeß des Stephanos g. ~ 146 Archelaos 109 Argos 161,175 Aristokrates, Rede gegen ~ 98 ff., 226 Aristophon 49, 57, 59, 65, 70, 73, 104, 214, 244 Aristoteles 24., 27, 208, 210f.; 218, 219; - und Athen (Wilamowitz) 234, 246 f. Arkadien 46, 82ff., 91, 96, 161, 175, 176, 222 Arsitcs (Satrap) 178 Artabazos 73
Artaxerxes III. Ochos 50, 72, 224 Artemisia 95 Athen in der griechischen Geschichte 7ff.; Demosthenes' Stellung in der Geschichte ~s im 4. Jahrh. 8ff.; der Sicherheitsgedanke als Grundprinzip des ~ischen Handelns im 5. Jahrh. 9; Thukydides über ~s Rolle in d. griech. Geschichte 9; ~ und die übrigen griech. Mächte nach dem pelop. Kriege 9ff.; ~s Stellung nach dem Seesiege bei Knidos uff.; Innere Erstarkung ~s 12ff.; Philos. Bewegung in ~ zur Erneuerung des Staates 13ff.; Sokrates' und Platos Bedeutung für ~ I4ff.; Isokrates als Lehrer der politischen Bildung in ~ 17; Isokrates und Plato 17; der zweite Seebund und seine Führer 19 ff; ~ nach dem Frieden von 371, 20f., 47; der Genius des alten ~ und die polit. Realität 20; die neuen Männer und der neue Geist in ~ 20; ~s Trennung von Theben i. J. 371 2l; Gesellsch. Zustände im Spiegel der Demosthenischen Prozesse g. s. Vormünder 25-27; Plato über das ~ seiner Zeit 25; die Kunst der „Logographie" in ~ und die Darstellung der attischen Gesellschaft 30-36; gcschäftl. Leben in ~ sich widerspiegelnd in den Prozeßreden für Phormion und gegen Stephanos 37-41; - unter Kallistratos 20, 44ff.; unter Aristophon 49ff.; soziale Lage ~s 50ff.; (vgl. auch Amphipolis); wirtschaftl. Lage ~s nach dem Bundesgenossenkrieg 54; Lage der reichen Nichtbürger ~s 54f.; Finanzpolitik nach dem Bundesgenossenkrieg 55ff.;
NAMEN- UND SACHREGISTER Athen—Fortsetzung Perserpolitik 8iff.; die peloponnesische Frage 82ff.; Verhältnis ~s zur rhodischen Frage 90ff.; Verhältnis ~s zu den demokr. Staaten 91 if.; Beziehungen zu den Thrakern lOiff.; Mazedonische Politik-s 102; Lage ~s nach dem Frieden des Philokrates 149ff.; Bündnisse ~s mit anderen griech. Staaten gegen Philipp 175ff.; militärische Lage ~s beim Kriege gegen Philipp 183; ~ und Kardia 167; ~ und Chalkis 175; Schonung ~s durch Philipp 185 Autonomie als Grundsatz der spartanischen Politik iif.; Athens Stellung dazu 12; ~gedanke bei Gründung des zweiten Seebundes 20; nach dem Bundesgenossenkrieg 53; (s. Antalkidasfrieden); äußerliche -nach Chaironeia 189 B
Bathippos 65 Berisades Boeckh 218 Bosporos 177, 178 Brougham, Lord 71, 88,218,223 Bundesgenossenkrieg s. Athen 183 Byzanz 49, 168, 169, 175, 178, 179
Chabrias 19, 66 Chaironeia 184, 189 Chalkidike 109 ff. Chalkis 168, 175; Geschichte der Chalkidier 229 Chares 73, 178 Charidemos looff., 114 Chersonnes loiff., 122, 168, 169, 178 Chios 48, 73, 9off., 159, 175, Seeschlacht von *· 50
201
G. Clemenceau 71 Cypern 90 D Dardanellen 50,99 ff., 107,114!"., 119, 152, 167, 177 Delphi 154, 156, 158, 160, 1821". Demokratie 19, 20; Psychologie der ~ 25 (s. Plato), 46 (im Peloponnes), 51, 6if.; 76, 92—94. I04f., I39ff. Demosthenes: Bild des ~ im XIX. Jahrhundert iff.; falsche Bewertung des ~ durch die positivistischen Historiker 3; Überbewertung des Aischines und Isokrates im Verhältnis zu ~ 3; Arnold Schaefers Auffassung 4; George Grotes einseitig liberaler Standpunkt 4; ~ kein Parteimann 5; D. u. die Krisis der Polis 5; Rhetorik u. Politik bei D. untrennbar 6; Einseitige Analyse der rhetorischen Form der Reden d. ~ bei Fr. Blaß 6; Neue Zielsetzung dieses Buches über ~ 6f.; ~' Persönlichkeit als Ganzes zu verstehen 7; ~ u. die Geschichte des IV. Jahrhunderts 8; geistige Umwelt der Jugend des ~ 21; Kap. I passim; Jugendgeschichte des ~ 22ff.; Eltern und Knabenzeit des ~ 23; Vermögensverhältnisse des ~ und sein Prozeß g. d. Vormünder 24-27; 208; Charakter und Entwicklung des ~ 26f.; ~ Schüler des Logographen Isaios; seine rhetorische und juristische Ausbildung 31 f.; 210; ~' Beziehungen zu Isokrates 3iff.; 210; Art der damaligen Beredsamkeit 211; Rednematur und körperliche Schwächen bei ~ 32f.; Rede des ~ vor Philipp v. Makedonien 33; ~ „Wassertrinker" 33; wahre Redncrnatur des ~ 33f.; Übung als Rcdcnschreibcr 34; ~ Lehrer der Rhetorik i. s. späteren
202
NAMEN- UND SACHREGISTER
Demosthenes—Fortsetzung Jahren 34; Rechtsberater in den Prozessen gegen Leptines und Zenothemis 34; Rede des ~ für Phormion 37 i gegen Stephanos 37; 212; Prozeßreden gegen und für Apollodoros 38ff.; Beziehungen des ~ zu Apollodoros 39; nur eine echte ApollodorosRede 39; ~ und die Opposition nach dem Bundesgenossenkrieg 56; 69; 76; parteipolitische Hintergründe der ersten Staatsprozeßreden d. ~ 57ff.; politische Entwicklung des ~ 58; 92; Reden des ~ gegen Timokrates und Androtion 59ff.; gegen Leptines 65; 81; 104; der persönliche Stil des ~ in der Leptinea 66; ~' drei erste Reden zur Außenpolitik 69ff.; ~' Symmorienrede (die asiatisch-europäische Frage) 7iff.; 117; 157; 180; 183; Plutarch u. Theopomp über den Charakter des ~ 76; ~ und Theopomp über Philipps Umgebung 136; taktische und diplomatische Geschicklichkeit des ~ 79; 80; 89; partikularistischer Standpunkt des frühen ~ 85; pro-thebanischer Standpunkt des ~ 89; (vgl. „Theben"); Rede des ~ f. d. Megalopoliten ( Arkader) 83; 103; 106; 117; 132; 157; 159; Rede des ~ f. d. Freiheit der Rhodier 90; 103; 134; Rede des ~ gegen Aristokrates 98ff.; 114ff.; 126; 142; Stellung zu der nordgriechischen Frage 98ff.; Verhältnis des ~ zur Demokratie Kap. III und IV passim; vgl. auch oben „Demokratie". Gleichgewichtspolitik des ~ 84; 88 (balance of power); 106; 132; 170; Wendepunkt der makedonischen Politik des - 108; 115ff.; die erste Philippica 78; 105; 115ff.; 125;
Demosthenes—Fortsetzung 128; 129; olynthische Reden 108; 114; 120; 121; I25ff.; 157; 180; der eigentlich demosthenische Stil 123; Kampf des ~ gegen Eubulos 102ff.; vgl. auch „Eubulos"; Tyche und Kairos bei ~ 130—133; I37f.; 233; Rede des ~ über die Neuordnung I34f.; 233f.; ~ Erzieher des Volkes I34ff.; ~ über Philipp i35ff.; ~ gegen Meidias i44ff.; ~' Hauptgegner Aischines 155; über den Frieden I56f.; 158f.; die zweite Philippica I59ff.; loff.; Kampf gegen Aischines 160; Pcloponnesische Politik des ~ nach 346 i63ff.; die Reden des Aischines und des ~ über die Truggesandtschaft 164; Rede des ~ über die Lage auf d. Chersonnes 168; die dritte Philippica 168; 175; 182; 183; Aufruf des ~ zur Einigung der ganzen Nation 169ff.; 175ff.; 224f.; ~ rät zu Gesandtschaften n. d. Peloponnes, Rhodos, zum Perserkönig, um zum Widerstand g. Philipp aufzurufen 175; die vierte Philippica 178; 181; ~' finanzielle Maßnahmen nicht parteimäßig demokratisch 180; ~ Rüstungsdiktator 180; ~ bei Chaironeia 184; die Polis Grundlage der hell. Existenz nach ~' Ansicht 188; ~' Grabrede auf die Gefallenen 190; Kranzrede des ~ 191; 193f.; ~ verbannt auf Aigina 195; das Ende 195 f.; Denkmal des ~ in Athen 195. Didymos 96, 225, 246, 250. Diodoros 6off.; 99; 196; 199. Dionysios von Halikarnaß 71; 115ff.; 128 Dionysios von Syrakus; Isokrates' Brief an ~ 151 f. Diopeithes 168
20-
NAMEN- UND SACHREGISTER Diplomatie, Regeln und Kunst der - im IV. Jahrh. in Athen 47; ~ gleich Kunst des Verbergens 795 88; taktische Geschicklichkeit der ~ 80; die richtige „Hypothesis" in der ~ nach Isokrates u. Demosthenes 86j ~ und Gleichgewichtspolitik vgl. die Artikel: „Demosthenes" und „Kallistratos" Doloper 192 Droysen, Geschichtschreiber des Hellenismus 4; 186
Elateiai83; s. Philipp H. England (balance-of-power-Politik) 88 Epaminondas 45ff.; Streben des ~ nach Seeoberherrschaft von Theben 49; unter ~ Theben Schutzmacht auf dem Peloponnes 82; Niedergang Thebens n. d. Tode des ~ 113 Epirus 167 Eretria 175 Euagoras 90 ff. Euboia, Insel 50, 167, 168, 175 Eubulos 57, 70, 74, 77, 83, 95 f., I03ff., 140, 145, 160 Euktemon 60 if. Euripides no Euthykles 99f., 226
Freiheit: die politische ~ Griechenlands 3; ihr Ende 188; - als Schlagwort d. spartanischen Politik im pelop. Kriege 12; 46; Isokrates empfiehlt das Schlagwort ~ im Kampf mit Asien 46
Geschichtsschreibung—Fortsetzung Jahrh. u. Demosthenes i; positivistische ~ 3; Droysens - 2; 4f.; Belochs ~ 3ff.; Arnold Schaefers - 4; sein moralistischer Standpunkt 585 liberale ~ von George Grote 4; organische Auffassung 4; einseitig rhetorische Auffassung von Friedrich Blaß 6 Gesellschaft s. Athen Gorgias „Olympikos" 18, 205, 207 Griechische Geschichte: moderne Auffassung der ~ 2ff.; Perioden der ~ im IV. Jahrhundert 7f.; Hegemonieprinzip unangebracht 7f.; ~ u. Athen 7; kein führender Geschichtschreiber f. d. IV. Jahrh. vorhanden 2; Demosthenes und die hellenistische Ära der ~ 186; 187; 188; Kultur und Politik in der - untrennbar 203 H
Haliakmon 109 Harmodios und Aristogeiton 66 Harpalos 194 Hellespont s. Dardanellen Heraion Teichos 107, 115 Hellenismus: die Weltkultur des - i; Demosthenes u. der ~ if.; Droysens Bedeutung für den - 2; 5; 186; Weltwirkung des - 186; hellenistische Tyche - Religion 130f.; (s. Tyche); - in Karien 90ff.; in Makedonien 109; hellenisierte Fürsten 90 Hermias von Atarneus 90, 167, 178 Himeraios 195 Humanität: die attische - 67 Hypereides 70, 165, 175, 195, 250 I
Genie und Tyche 137 Geschichtsschreibung:
des XIX.
Illyrier no, 134 Imperialismus s. Pleonexie
204
NAMEN- UND SACHREGISTER
Iphikrates 19, 50, 72, in Isaios aus Chalkis 30 f. Isokrates: Stellung und Programm des ~ nach Kriegsende 17ff.; ~ und Platos verschiedene politische und geistige Bedeutung 17f.; ~ und Gorgias 18; die „Ideologie" des ~ in seinem Panegyrikos 185253573; ifof., 199; sein Panegyrikos nicht „Programm" des zweiten Seebundes 2075 ~ vertritt die kulturelle Hegemonie Athens iSf.j „praktische" und journalistische Einstellung des ~ 17f.; ~ Rhetor, nicht führender Philosoph 17; ~ beginnt als Redenschreiber, lehnt aber später diesen Beruf ab 31 f.; 34; Rede des ~ für die Platäer 43; 52; 199; Zeitbestimmung und Tendenz dieser Rede igöff.; Tendenz und Zeit des „Areopagitikos" 51 f.; Rede des ~ über den Frieden 53; I49> 155i ~ für das besitzende Bürgertum 51; der „Archidamos" des ~ 525 politische Entwicklung des ~ 53; ~ und Euagoras 90; Denkschrift des ~ an König Philipp i49ff., 240f., 2525 an Dionysios von Syrakus 151 f.; 24of.; ~ über Philipps„Tyche" 153; ~ Werkzeug des makedonischen Imperialismus 189; ~ im Dienste des Timotheos 199; ~ und Theben i96ff. ~ und Thukydides 203f.; Briefe des ~ 240ff.; 246, 247 lason von Pherai no, 113 K Kallias 168 Kallistratos: Führer beim zweiten Seebunde 20; bei der FriedensKonferenz von 371 43; Gleichgewichtspolitik des ~ 44f., 47ff., 88 f., 213; Prozeß wegen Oropos 48;
Kallistratos—Fortsetzung Gewinnung der Arkader durch ~ 48; Sturz und Tod 49, 51 Kardia 167f.; (s. Athen) Karien 63, 90 (s. Mausolos) Karthago 151 Kephalos von Kollytos 19 Kerkyra 50 Kersobleptes , , 106, 114 Klearchos 73 Konon ii, 19, 66 Korinth uff., 167, 175 der Korinthische Bund 153, 185 der Korinthische Krieg loff.; 19; 175 Kos 73, 90 ff., 159 Kotys Ktesiphon 191 Ktesippos 65 Kyros 72
Leosthenes 195 Leuktra Schlacht bei ~ 45, 48 Libanios 232 die Lokrer 155 Lysias 30, 35 Lysistratos 222 M Magnesia 114; 133 Makedonien iO5ff., logff., 177, 190, 229; Fritz Geyers Buch über d. Rasse der Makedonen 242; s. auch Philipp II. Marmarameer 178 Mausolos 63, 73, 9off., 95 Megalopolis, vgl. Demosthenes und Arkader Megara 168, 175 Meidias 145 ff. Menestheus 50
N A M E N - UND SACHREGISTER Messenien 46, 82, 153, 161, I75f., 221
Methone H4ff 0 n8 N Nation: Erwachen u. Untergang der Griechen als ~ 176 Nationalismus: ~ und Partikularismus in der griech. Geschichte 2; falsche hist. Parallelen in der Wissenschaft d. XIX. Jahrh. 2ff.; „nationale Einheit" nicht das Ziel der griech. politischen Entwicklung 2f.; Isokrates und die „nationale Einheit" 150; Griechenland und das Nationalgefühl der modernen Historiker 170; Demosthenes als Führer im Kampf um die nationale Einigung gegen Philipp 171 ff., 248, s. Panhellenismus B. G. Niebuhr 72, 218 Nikias ~ als Kriegsgegner 78
O Olynth 90, noff., i2off. 3 i26ff., 147, 185 Onetor 25 f., 208f. Onomarchos 83, 113 Oreos 175 Oropos s. Theben
Päoner 134 Pagasai 114, 133 Panathenäen: Fest der kleinen ~ 64 Panhellenismus (s. Isokrates) 151, 170, 248 f. Pausanias 224 Peloponnesischer Krieg 12 Perdikkas III. 50, in Perinth am Marmarameer 178 Perikles 83 13, 14, 75, 139, 158, 182,
265
Perikles—Fortsetzung 220, 233, 234, ~ und die Theorika 236 Persien 53, 63, 71, goff., 105, 151, 169, 178 (politische Kurzsichtigkeit ~s); iSoff., 189 Phalaikos 154 Pharnabazos 72 Pherai 113, 114 Philipp II. 33, 50, 9°, 95 fo 105 ff-, in sein Vormarsch bis zum Hellespont H4;~s Übermacht in Griechenland 118 S.; Angriff auf Olynth i2Off., I25ff., Demosthenes' Beurteilung ~s in moralischer und psychologischer Hinsicht 133-1375 ~ und die Denkschrift des Isokrates an ihn 1491!.; ~ und das griechische Schicksal 150; ~ ein zweiter Herakles (nach Isokrates) 152; ~ nach dem Frieden des Philokrates I54ff., ~s Intervention im Peloponnes 161, 162; ~ in Thrakien beschäftigt 177; ~ auf dem Wege nach Byzanz 178f.; Besetzung von Elateia durch ~ 183; Tagung in Korinth 189; Kriegserklärung an Persien 189, ~ und Hermias 247 Philokrates 96; der Frieden des ~ 105, 165, 175 „Philosophie der Geschichte", keine ~ bei den Griechen 133 der phokische Krieg 83, 84, H2ff., 153, 154, 158, 162 Phokion 179 f., 184 Phormion 37 ff. Plataiai 156, Rede für die Platäer s. Isokrates Plato ~ und der Staat I4ff.j 206, Sokrates der „echte Bürger" 14, der „gerechteste Mann" 15; ~ als politischer Reformer I4ff., „Apologie" 14, „Protagoras" 14, „Gorgias" 14,
266
N A M E N - UND SACHREGISTER
Plato—Fortsetzung Verhältnis von „Staat u. Geist" nach P. 16; Versuche ~s, sein Ideal zu realisieren 16; Ablehnung des „Metökenideals" 16; P. und Isokrates 17; „Staat" 25; „Theaetet" 25; ~ schildert die Psychologie der Demokratie 25 - über die Demagogie 61 (im „"Staat"), 144; ~s Briefe (über die „Tyche") 133; Staat und Gesellschaft bei ~ 189 Pleonexie: die spartanische ~ 11; Kritik der ~ und die athenische Politik während des zweiten Seebundes 20; nach dem Bundesgenossenkrieg 54 Plutarch 213; heroisierende Auffassung bei ~ 76 Plutarch von Eretria 157, 158 Polybios 224, 234 Politik: ~ f. d. Griechen mit Ethik u. Religion eng verbunden 132 Poteidaia 114, 118 Prosa s. Rhetorik Ptolemaios in Pydna 114, 118 Python 247 R Rasse: ~ des Demosthenes 235 — fremde Leute gewinnen Einfluß in Athen 39; die Bankiers Phormion und Pasion ~- fremde Leute 39; Metökenfürsorgeamt 55; ~ und Bürgerrecht 214; die ~ der Makedonen 242 Recht: theoretisches ~s-Studium im Athen des ausgehenden V. und des IV. Jahrh. 209, 210; Theophrastos Begründer der system. Jurisprudenz 27; Studium der Gesetze SoIons d. d. Sophisten 28; das wissenschaftliche ~ s-Studium beginnt in
Recht—Fortsetzung Athen 28; Redenschreiber und Rechtspraktiker 30 ff.; Prozesse als Mittel der Politik Kapitel III passim; 99ff.; Strohmänner als Ankläger verwendet 59ff., 99ff. Redekunst s. Rhetorik Redenschreiber (Logographen): Beruf des ~s 30ff.; Ursprung und Wesen der ~ 30; Lysias und Isaios als ~s 30f.; Isokrates und Demosthenes beginnen als ~ 30f.; der Fall des Hypereides 35; der Beruf des ~s nicht sehr geachtet 36, 35; Sprungbrett zur Politik 30; Anonymität des ~s 35; die „Ethopoiie" (Charakterzeichnung) 35; der ~ mehr Künstler als Jurist in Athen 35ff.; unerschöpfliche Galerie der Typen 36; die Reden für Phormion und gegen Stephanos typische Beispiele für das mangelnde Berufs-Ethos der - 37-41; vgl. auch „Recht" und „Rhetorik" Rhetorik: ~ in den Reden des Demosthenes vom polit. Inhalt untrennbar 6; Ursprung der formalen Kunst der ~ 29ff.; Bedeutung der für Gerichtshof und Volksversammlung 29f.; psychol. und logische Momente in der neuen ~ 29; ~ und Schul-Deklamationen 30 ff.; Veröffentlichung der Muster-Plaidoyers 30; Lysias und Antiphon 30; s. Redenschreiber; ~ und Kunst des diplomatischen Verbergens 79, s. Diplomatie; Benutzung von fertigen Klischees in den Reden 64,103, 141 f.; „Geschichte der attischen Beredsamkeit" von Fr. Blaß 6, 203; Nordens „Antike Kunstprosa" 209; rhetorische Schulung 211 Rhodos 49, 73, 9°, 92, 175
NAMEN- UND SACHREGISTER Skopas173 Sokrates: ~ und der Staat 14 (in der „Apologie"); der Justizmord an ~ 15; ~ „Verderber der Jugend" 17; sein „Rigorismus" und die Politik 17 Solon 28, 131, 234 Sparta: Hegemonie ~s nach d. pelop. Kriege 7ff.; ~s und Athens Hegemonie 7f.; Pleonexie ~s n; ~s Kampf gegen die Koalition n; - und die Autonomie der Kleinstaaten ii f.; Atomisierungspolitik ~s 12; - Schützer der „Freiheit" 12; ~ für die „Autonomie" 12; Streben nach Alleinherrschaft 12; Niederlage bei Leuktra 45; Bündnis mit Athen 45ff., 82ff., 163, ~ und Messenien 82; ~ und Arkadien 82; - als Schützer des Amyntas von Makedonien no; Athen trennt sich von ~ 175 Sparta: Frieden zu ~ 43 Speusippos 241 Staat s. Stadtstaat Stadtstaat (Polis) 2, 190; ~ als typische Form d. griech. Staates 5, Endkampf um die Polis 5; Gründe der Auflösung des ~s am Ende des pelop. Krieges 12f.; Sokrates u. die moral. Wiedergeburt des ~ es 14; Machtfrage und das Problem des Individuums 15; Problem der sittl. Erneuerung des ~s d. d. Philosophie I4ff.; Flucht in ein kultiviertes Privatleben 16; Autorität und Gemeinschaftsidee 16; kultureller und pol. Wiederaufstieg des ~es i8f.; Rassefremde erwerben Bürgerrecht im athenischen ~ 39; ~ und Weltwirkung des Griechentums 186; Rasse und Bürgerrecht 214 Stephanos 37ff., 146 Strymon 50, 109
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Tacitus 34 Terenz: ~ Citat 67 Theatergelder („Theorika") I393 144, 236 Theben: Haltung von ~ nach dem pelop. Krieg 8; Gesandtschaft und Bündnis mit Athen ; ~ und die Platäer 43, igoff.; Trennung ~s von Athen 43; Einigung von Böotien durch ~ 44; Sieg bei Leuktra u. seine Folgen 45 (s. Epaminondas); Sieg bei Mantinea 82; Protektorat über Arkadien und Messenien 82; die Frage von Oropos 48; 88 f., 156, 159) 223; prothebanische Politik des Demosthenes 88, 159, I75f 0 184; ~ durch Philipp gezüchtigt 185 Themistokles 14 Theophrastos: Begründung der Jurisprudenz bei ~ 27; ~ und Aristoteles 233 Theopompos 76, 96, 136; über Philipp II. 136, 235 Thermopylen 114,122,154, 162,163, 167 Thespiai 156 Thessalien nofF., 115, 136, 138, 155, 175, 192 Thrasybulos 19 Thrakien 52, looff., I09ff., 175 Thukydides: ~ über Athens Anteil an der griech. Geschichte des V. Jahrhunderts 7; über das Prinzip der attischen Politik 9; vaticinia ex eventu im Werk des ~ 9, 204; ~ über die relative Macht von Athen und Sparta 12; die „Archäologie" 205; ~ über die Katastrophe des perikleischen Reiches 13; die „Grabrede" 13; ~ über die Makedonen 109; die Reden des - 117; ~ und die Tyche 130; die PentekontaCtie 203
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NAMEN- UND SACHREGISTER
Timokrates 59 ff., 64 Timotheos, Sohn des Konon; ~ Führer beim zweiten Seebunde 19; ~ einer der größten Steuerzahler in Athen 24; Phormion Bankier des ~ 37'> 5O> 51 f.; ~ und Makedonien iii; Prozeß und Abberufung d. 199f.; s. Isokrates Tissaphernes 72 Tragödie: griechische ~ 130; die „Theatergelder" 139, 211 Tyche: die ~ die größte Macht im relig. Denken 130; ~glaube nicht = Fatalismus 131 f.; die ~ von Athen und Philipp ~ 138 (nach Demo-
Tyche—Fortsetzung sthenes); 192; Behandlung des ~Problems in „Paideia" I, 196ff.; Sullas und Caesars Glaube an die ~ 236 U Universalismus: ~ ohne Rücksicht auf die nationalen Grenzen 5 X Xenophon 7, 10, 44, 199, 204; ~s Schrift über die Einkünfte 535 74, 214; ~ und Thukydides 10, 204 Xerxes 74
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