Hansjörg Martin
Das Zittern der Tenöre
Roman
WELTBILD
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Hansjörg Martin
Das Zittern der Tenöre
Roman
WELTBILD
Lizenzausgabe für Weltbild Verlag GmbH mit Genehmigung des Autors und der AVA (Autoren- und Verlags-Agentur GmbH, Breitbrunn) © 1981 by Hansjörg Martin
Editionsidee und Redaktion: Reinhold G. Stecher, Richard Mader Einbandgestaltung: Agentur Zero GmbH, München Titelbild: NDR Hamburg; Photonica, Hamburg; Bavaria Bildagentur GmbH & Co. KG, Gauting/München Tatort ist eine Produktion der ARD für Das Erste Gesamtherstellung: Presse-Druck, Augsburg Printed in Germany
Als Otto Fintzel, Tenor des überalterten Gesangsvereins Euterpe, auf seinem Dachboden einen alten, verstaubten Koffer findet, geraten die Sangesbrüder ins Zittern. Fintzel, zwar senil und selten nüchtern, kann sich dennoch genau erinnern, wann und wie der Koffer auf seinen Dachboden geriet: 1945, beim Einmarsch der Alliierten, vollgestopft mit Papieren aus dem Rathausarchiv… Gerne hätten sie allesamt vergessen, was sie damals taten, die Herren Tenöre: der Oberstudienrat, der Apotheker, der Wirt. Jeder für sich faßt den Entschluß, daß der Koffer beseitigt werden muß, ehe sein Inhalt Vergangenes wieder lebendig werden läßt. Plötzlich liegt eine Leiche in Fintzels Diele… Dieser Tatort wurde als Folge 125 am 31. Mai 1981 mit Erik Schumann als Kommissar Greve ausgestrahlt.
Wo man singet, laß dich ruhig nieder, Ohne Furcht, was man im Lande glaubt; Wo man singet, wird kein Mensch beraubt; Bösewichter haben keine Lieder…
Johann Gottfried Seume
Die Hauptpersonen
Otto Fintzel: singt und findet was… Ach ja: Er trinkt auch. Rainer Bundschuh, Walter Hanebutt, Klaus Möhlmann: singen, trinken unterschiedlich viel und haben alten Dreck am Stecken. Hermann Kroll jr.: hat keinen Dreck am Stecken, aber eine Idee. Else Bundschuh, Edda Hanebutt: haben – unabhängig voneinander – die gleiche Idee. Elfie: hat nur eine schwer zu bändigende Oberweite. Uwe Nowak, Peter Reißig: sind – mit unterschiedlichen Konsequenzen – anderer Ansicht. Herbert Knobloch: ist froh, wenn er auch mal was sagen darf. Der Dürre: hat – als einziger Profi – wirklich Pech. Kommissar Horst Greve: Sangesbruderschaft und Preußentum.
schwankt
zwischen
1
Die Treppe knarrte. Sie knarrte, seit Otto Fintzel denken konnte. Bei feuchtem Wetter – im Herbst oder Frühjahr – knarrte sie etwas leiser. Aber an trockenen Tagen, vor allem an mehreren nacheinander, in siedeheißen Sommern, die hier selten waren, oder während klarer, kalter Winterwochen – da knurrten die steilen Stufen wie Kettenhunde. Otto Fintzel, der in den neunundsechzig Jahren seit seiner Geburt in diesem Hause – im Erdgeschoß neben dem Kaminzimmer war er zur Welt gekommen –, Otto Fintzel also, der bestimmt mehrere tausendmal die Treppe hinauf- und hinuntergestiegen war, hörte das Ächzen des Holzes nur noch, wenn es besonders laut war. Heute zum Beispiel. Das mochte am Wetter liegen, denn draußen herrschte seit sieben Tagen klirrender Frost, vielleicht aber auch daran, daß Otto Fintzel so schwer beladen war. Am Fuße der geräuschvollen Treppe stand Frau Vorrath und schimpfte: «… ich glaub ja langsam doch, Sie sind übergeschnappt, Herr Fintzel! Das ist unglaublich! Schleppt in seinem Alter so schwere Sachen! Und auch noch treppauf! Und nachher wieder die Bandscheibe und tagelang auf allen vieren und Stöhnen und Jammern… unverantwortlich! Das konnten doch die Männer raufschaffen, die es hergebracht haben! Aber nein – wir müssen ja so tun, als ob wir dreißig wären… So was! Ich könnte zuviel kriegen, wenn ich Sie so sehe und höre!» Otto Fintzel hatte inzwischen den Treppenabsatz vor der Dachbodentür erreicht. Er ließ die dicke Rolle Glaswolle, die er auf dem Rücken getragen hatte, heruntergleiten, holte tief
Luft, reckte sich vorsichtig und klinkte, ohne auf Frau Vorraths Gezeter einzugehen, die Bodentür auf. Die Tür schwang gegen die Wand und schreckte die Tauben auf, die im Verschlag auf der linken Seite ihre Behausung hatten. Eine flatterte um Fintzels Kopf. «Hee…!» rief Fintzel und hob abwehrend die Arme. «Regt euch doch nicht auf, Kinder!» Dann zerrte er die dicke Rolle Glaswolle durch die offene Bodentür und schob sie vor einen alten, windschiefen Schrank, knipste das Licht an – eine kahle Sechzigerbirne oben über dem Türrahmen – und sah sich um. «Hm…» machte er, setzte sich auf die Rolle, angelte aus der Tasche seiner Strickjacke eine sehr hübsche silberne Schnupftabaksdose, auf deren Deckel in etwas brüchig gewordener Emaille-Intarsia ein Segelschiff zu sehen war, schüttete sich in die Kuhle, die sein gespreizter Daumen an der Handwurzel bildete, eine Prise Schmalzler und schnupfte genüßlich. «Aah…» machte er dann, blies die Backen auf und schickte blinzelnd über den Brillenrand einen zweiten Blick in die rummelige Runde, wobei er mit einem hohlen Pfeifton aus gespitzten Lippen die Luft ausstieß. «Viel zu tun, ehe das Zeug an die Dachsparren kann…» murmelte er und runzelte die Stirn, so daß seine langen, weißen Augenbrauen über den oberen Brillenrand zipfelten. Es wurde ihm jetzt, da er das ganze Ausmaß der Arbeit erkannte, die er sich vorgenommen hatte, ein wenig mulmig, und er mußte sich selbst gut zureden, um nicht zu verzagen. «Doch, das kriegen wir schon…!» brummelte er. «Ich räum die ollen Klamotten alle auf die eine Seite und nagele auf der freigeräumten Seite die Glaswolle an – und dann schiebe ich den Kram rüber und nagle dort. Die anderen Rollen laß ich erst mal unten im Flur, die behindern mich bloß, ‘türlich ist das ‘ne
Schietarbeit… aber es soll ja fast 30 Prozent Heizung sparen, sagt Bundschuh. Und Bundschuh weiß so was. Muß er ja als Studienrat. Oberstudienrat. Ich hätte es besser im Herbst gemacht, als es noch nicht so kalt war, verdammt! Doch das hilft nichts…Ja, also dann… Muß ja auch nicht in einem Tag fertig werden. Wenn ich nur schon mal den Anfang habe. Lohnt das heute noch?…» Er zog die Sprungdeckeluhr aus der Uhrentasche am Hosenbund und ließ sie aufspringen. «Halb sechs… gut… mach ich noch ‘ne Stunde, dann umziehen und was essen. Um acht zum Singen – und morgen früh weiter…» Er beendete seinen Monolog und stand auf. Von unten, vom Flur herauf, rief Frau Vorrath: «Hallo, Herr Fintzel!» Sie rief ein paar Phon lauter als nötig, weil sie sich über seine Dickköpfigkeit geärgert hatte. Immer, wenn sie sich über ihn ärgerte, sprach sie ein paar Phon lauter mit ihm, als notwendig war. Sie wußte, daß ihm das auf die Nerven ging, wenn er wie ein Schwerhöriger angesprochen wurde, obschon er für sein Alter noch ganz gut hören konnte. Aber er sagte in solchen Fällen nichts, weil er wußte, das war ihre Rache. Oft mußte er zwar überlegen, womit er diese Rache nun wieder heraufbeschworen hatte, aber es war gut, wenn sie sich nur auf solche Weise revanchierte und ihm nicht das Essen versalzte oder anbrennen ließ. Im großen ganzen war Fintzel sehr zufrieden mit Frau Vorraths Haushaltsführung. Sie kam von Montag bis Samstag früh um acht, kaufte ein, kochte für ihn und sich, putzte, wusch, bügelte, nähte und blieb bis fünf, sechs Uhr nachmittags. Dann ging sie in ihre Wohnung, die sie mit ihrer älteren Schwester teilte, mit der sie sich nur vertrug, wenn das Beisammensein nicht länger als sechs Stunden dauerte.
Frau Vorrath war etwa Mitte Fünfzig, verwitwet, besaß den Charme eines Zaunpfahls, aber die Zuverlässigkeit eines preußischen Postbeamten. «Hallo, Herr Fintzel!» rief sie jetzt noch einmal, und Otto Fintzel ging zur Bodenkammertür und rief zurück: «Ja, was gibt’s, Frau Vorrath?» «Ich gehe nun nach Hause!» rief sie. «Ihr Abendbrot steht in der Küche. Bloß Bier hab ich noch nicht hingestellt. Wegen der Wärme. Verkühlen Sie sich mal nicht da oben! Haben Sie vor, länger in der Eiseskälte rumzuwurschteln? Soll ich Ihnen den alten Mantel…?» «Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe!» rief Fintzel barsch zurück. «Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, daß ich mündig bin, zum Teufel!» «Ist schon gut!» rief sie nach oben. «Holen Sie sich ‘ne schöne Bronchitis, Herr Fintzel! Ich bringe morgen gleich Fencheltee mit!» Und für sich, leise, sagte sie: «Mündig! Da muß ich aber lachen!» Sie lachte wirklich – rief noch: «Schönen kalten Abend auf dem Dachboden! Wiedersehen, Herr Fintzel!»… und ging. «Fencheltee!» brummelte Fintzel und schnaufte verächtlich. Die Tauben hatten sich beruhigt. Einige saßen auf den Stangen und Brettern vor ihren Kästen, gurrten vor sich hin und sahen dem alten Mann zu. Andere hatten die Köpfe unter die Flügel gesteckt und schliefen… Otto Fintzel schob den wackeligen Schrank beiseite, wobei die eine Tür aufsprang und ihm gegen die Schulter schlug. Er fluchte, mehr aus Schreck als aus Schmerz. Hinter dem Schrank, in dem Winkel, in den seit vielen Jahren keiner geschaut hatte, lag und stand kreuz und quer alles mögliche Gerümpel: Zwei zerbrochene Jalousien, ein lädierter Paravent mit bemaltem Stoff bespannt, der zerschlissen und
mürbe war, ein Klaviersessel, dem ein Bein fehlte, Kisten und Kartons, leer oder mit irgendwelchem Krimskrams gefüllt. Alte Bücher, Schuhe, kleine und größere Bilderrahmen, verbeultes Küchengerät, abgestoßenes Steingut… «Ich muß viel wegschmeißen», murmelte Fintzel vor sich hin, «aber aufpassen, daß nichts Wertvolles dabei ist…» – und er zog und zerrte die sperrigen Gegenstände zur Seite, mußte wieder und wieder niesen vom aufsteigenden Staub und klemmte sich die Finger und riß sich den rechten Handrücken an einem Nagel auf und schimpfte und war trotzdem guter Dinge, obwohl er nicht hätte erklären können, warum, wenn ihn einer gefragt hätte. Ein paar uralte Skier mit morschen Lederriemen und verrosteten Bindungen forderte er zutage und hatte sofort seine einzige Winterreise vor Augen. Fünfzehn oder sechzehn war er da gewesen und mit diesen Skiern in den Harz gefahren. Er konnte nicht Ski laufen, er war überhaupt nie ein sportlicher Junge gewesen, dafür hatte ihm die Begabung gefehlt. Und nach vier oder fünf Tagen voll qualvoller Versuche, mit den idiotischen langen Brettern an den Füßen senkrecht stehen und dazu auch noch laufen zu lernen, hatte es Gott sei Dank Tauwetter gegeben, und er war hochfroh heimgefahren und hatte so eine wahnwitzige Fortbewegungsweise nie wieder gewagt… Er stellte die Skier beiseite, schleifte einen schweren, staubigen Seesack aus dem Dunkel, öffnete das zugebundene obere Ende und fand stockfleckige Stoffvorhänge, vergilbte Gardinen und ähnliches darin. Er stopfte das Zeug zurück, schob den derbleinenen Sack vor die Skier und bückte sich abermals in die dunkle Dachschräge. Er konnte nicht gut erkennen, was da noch war, zumal sein eigener Schatten die Dämmerung noch vertiefte. Ein großer Karton voll leerer
Einweckgläser kam zum Vorschein. In einem der großen Gläser lag eine mumifizierte Maus. Fintzel fröstelte. «Armes Luder…» murmelte er, schob den Karton mit der winzigen Leiche ins Licht und bückte sich noch einmal und entdeckte den Koffer.
2
Vierhundertfünfzig Schritte westlich von Fintzels altem Haus, in der Johannes-Pfeifer-Straße, die nach jenem Bürgermeister genannt worden ist, der 1945 die Zerstörung der Kleinstadt Endwarden durch rechtzeitige Übergabe an die heranrückenden Amerikaner verhindert hatte und dafür von einem fanatisierten neunzehnjährigen ‹Werwolf› erschossen worden war – in der Johannes-Pfeifer-Straße, im Hause Nr. 39, saß Oberstudienrat Rainer Bundschuh am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer und rechnete. Er hatte bereits einige Zettel mit Zahlen bedeckt, die er mit farbigen Filzstiften geschrieben hatte – rot, grün, blau –, dazu, ebenfalls bunt, die Kringel und Kritzeleien, die Konzentration hervorbringt. Außer den Zetteln lagen ein paar vielfarbige, auf Hochglanzpapier gedruckte Prospekte vor Bundschuh. Auf einigen Titelseiten waren wunderschöne Einfamilienhäuser zu sehen, schmucke Bungalows, die auf herrlichen Rasenflächen in parkähnlichen Gärten standen. Und zauberhafte Frauen schmiegten sich auf den rustikal gestalteten Terrassen an markige Männer, frisch gewaschene Kinder spielten – nein, tollten – wohlerzogen um die edlen Pflanzen… und nirgends ein Nachbarhaus, keine Fabrik, keine Straße, rundum nur Natur nebst Sonnenschein, blauem Himmel und deutlich sichtbarer, reiner Luft. Auf einigen anderen Prospekt-Titelblättern gab es Schwimmbäder zu bewundern – ‹Swimmingpools›, wie das neudeutsch genannt wird –, darum herum lagerten sich männliche Menschen und weibliche Wesen aus dem First-
class-Sortiment der Schöpfung: blond und blauäugig, schmalhüftig und breitschultrig, dynamisch und leise einfältig die Herren – rothaarig und grünäugig, vollbusig und langbeinig, anschmiegsam und ebenso einfältig die Damen. Einige hielten Sektgläser, andere rauchten. Es war ihnen anzusehen, daß sie Tiefschürfendes und Weltbewegendes plauderten, leichthin und lässig bewältigten sie die sozialen und wirtschaftlichen und politischen Probleme unserer Zeit, sprangen zwischendurch immer mal kurz in das vollautomatisch entkalkte, gereinigte und erwärmte Wasser und erholten sich vom Denken oder von dem, was sie dafür hielten.
Oberstudienrat Rainer Bundschuh, Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte, neunundfünfzigeinhalb Jahre alt, sportlich wirkend und ein beliebter Lehrer bei den Schülerinnen und Schülern, die von seiner Jovialität und Kameraderie zu korrumpieren waren – Oberstudienrat Bundschuh ließ sich weder von den dynamischen BungalowBesitzern und Swimmingpool-Besitzern noch von deren junonischen Gefährtinnen beeindrucken. Er interessierte sich vor allem für die Maße und Preise in den Prospekten. Bei den Zahlen auf seinen Zetteln handelte es sich um Quadrat- und Kubikmeterkosten, um Bauzeiten, Zinssätze etc. Frau Else Bundschuh, geborene Helferich, steckte den Kopf durch die Tür. «Willst du nicht wenigstens noch ein Wurstbrot essen, ehe du gehst, Rainer?» fragte sie. Bundschuh erwiderte abwesend: «Nein, danke… Ich hab wirklich keinen Hunger, Eischen!» Die Art, in der er antwortete, irritierte seine Frau. Woran arbeitete er?
Sie kam ins Zimmer, blieb aber an den Türrahmen gelehnt stehen. «Du kannst doch nicht ohne…» sagte sie mit der Fürsorglichkeit der guten Hausfrau und Gattin. «Ich meine, es wird ja vielleicht spät! Es ist jetzt erst zwanzig vor sieben. Du wolltest vorher noch zu deinen Jungs, ehe du zum Singen gehst. Ich meine, du kannst doch nicht noch vier, fünf Stunden, ohne was zu essen… wo du seit dem Toast zum Tee heute nachmittag nichts… Soll ich dir nicht doch fix eben was machen?» Bundschuh schüttelte den Kopf. Er war so sehr in seine Notizen vertieft, daß seine Frau näher trat und ihm über die Schulter schaute. «Was rechnest du denn da?» fragte sie erstaunt, denn sie hatte ein Aufsatzheft zu sehen erwartet oder einen Artikel in irgendeiner seiner Fachzeitschriften, so einen, über den er sich erbost, den er mit Randbemerkungen verzierte, den er beantworten wollte, um ‹dem Dummkopf mal zu zeigen, wo Barthel den Most holt› – den er dann aber nie beantwortete, weil er für die Erwiderung zu lange brauchte, zu keinem Ende damit kam, nicht zufrieden war… bis er sie in den Papierkorb warf oder in die dicke Mappe mit der roten Filzstiftaufschrift ‹zu erledigen› legte. «Was rechnest du denn da?» fragte Frau Bundschuh ein zweites Mal. Der Oberstudienrat legte den Stift aus der Hand, drehte seinen Schreibtischsessel zu ihr, faßte sie mit beiden Händen um die Hüfte und lehnte im Sitzen den Kopf an ihren Bauch. «Bergsträßer hat mir heute vormittag im Vertrauen gesagt, daß meine Beförderung zum Studiendirektor bevorsteht, und da – »
«Das sagst du mir erst jetzt?» rief sie, nahm seinen Kopf in ihre Hände und bog ihn in den Nacken, so daß sie ihm in die Augen sehen konnte. Bundschuh tätschelte ihr die Kehrseite und lächelte sie von unten an. «Ich wollte es dir am Sonntag sagen, Eischen! Beim Essen. Mit einem Schluck Wein. Ein bißchen feierlicher, sozusagen, gewissermaßen…» «Ja – natürlich», sagte sie gerührt. Dann erst ging ihr die ganze Bedeutung der Nachricht auf. «Studiendirektor!» flüsterte sie und schloß drei, vier, fünf Sekunden verzückt die Augen. «Aber das wird auch höchste Zeit!» fuhr sie fort. «Höchste Zeit, daß sie deine Verdienste endlich honorieren, Rainer!» Sie streichelte ihm jetzt das kurzgeschnittene weiße Haar. Er lehnte seinen Kopf glücklich an ihre Brust, verlor dabei fast seine Lesebrille, konnte sie jedoch gerade noch auffangen, ehe sie zu Boden fiel. «Es sind zweihundertdreiundsechzigkommaachtzig netto mehr im Monat!» sagte er. «Schön», sagte sie, «zweihundertwieviel?» «Zweihundertdreiundsechzigachtzig!» wiederholte er und fuhr fort: «Ich habe auch schon eine Idee, was wir damit machen, Eischen!» «Ja? Und was?» «Wir bauen uns ein Häuschen, Liebste!» «Du bist verrückt, Rainer! Von zweihundertdreiundsechzig Mark kriegst du doch kein Haus gebaut!» «Aber ja doch!» widersprach er, löste sich von ihr, drehte den Sessel zurück zum Schreibtisch und kramte einen der Zettel hervor. «Ich habe es genau ausgerechnet! Wir zahlen hier sechshundertfünfzig monatlich. Dazu die zwodreiundsechzig, macht neunhundertunddreizehn. Für neunhundertunddreizehn
kriege ich als Beamter bei jeder Bank den Betrag geliehen, den wir für das Haus brauchen, jedenfalls für den Anfang. Wir plündern die Sparbücher – und wenn alles gutgeht, lassen wir uns auch noch kleines, aber nicht allzu kleines Schwimmbecken in den Garten – » «Nun hör aber auf!» sagte Else Bundschuh und lachte. «Ein Schwimmbecken!» «Ja, ein Schwimmbecken», nickte er beharrlich. «Da können wir jeden Tag schwimmen, wenigstens im Sommer jeden Tag, wenn wir nicht gleich eine Heizung mit einbauen wollen und…» «Heizung! Und ein Dach drüber. Sauna gleich dabei! Oh, Rainer, du baust Luftschlösser! Ein Haus und dazu – ausgerechnet in Endwarden – ein Schwimmbad! Bundschuhs… wie heißt das?… Bundschuhs Fitnesszentrum! Was glaubst du, was da die Leute reden! Und deine lieben Kollegen! Aber schön war das schon!» «Ja! Und gesund! Hält jung. Also ich bin eigentlich fest entschlossen. Was soll denn das Geld auf einem Konto? ‹Man muß damit arbeiten›, hat gerade gestern im Lehrerzimmer der Kollege Brahm gesagt. Der versteht was davon, Eischen, glaub mir. Er hat schon sein zweites Mietshaus gebaut – alles mit einem kleinen Erbe und Bausparverträgen und mit günstigen Krediten, die wir als Beamte – » «Hat er auch ein Schwimmbad im Garten?» unterbrach Else Bundschuh ihren begeisterten Mann. «Das… das weiß ich nicht», erwiderte er indigniert. «Aber nun nimm mir doch nicht den Spaß, Else!» Er sah auf die Uhr und stand schnell auf. «Meine Güte!» rief er. «Gleich sieben! Ich hab den Jungs so fest versprochen, vor dem Singen noch in ihren Übungskeller zu kommen!»
«Da mußt du dich beeilen, Rainer!» sagte sie. «Aber so ohne Abendbrot…» «Ich esse im ‹Deutschen Haus› eine Kleinigkeit. Portion Sülze oder so was.» «Gut! Versprich es mir. Denn ich habe an dem Schwimmbad im Garten keine Freude, wenn mein Mann vorher an Hunger gestorben ist.» «Hungers!» korrigierte er. «Hungers gestorben ist!» Dann lachte er, schloß sie in die Arme: «Bist ja doch die Beste, Eischen! Guck dir mal die Prospekte an, während ich weg bin. Der von Krämer und Meißel, da links, der gefällt mir am besten. Da ist ein Swimming – ein Schwimmbad drin, drei mal acht. Hellblau gekachelt, Umwälzpumpe und alles… Aber ich muß los!» Er lief aus der Tür, griff sich im Flur Hut und Mantel, zog sich schnell an und rief durch die offene Tür zurück: «Ich komme so schnell wieder, wie ich irgendwie kann, Liebste! Dann reden wir noch drüber! Auf Wiedersehen!» Sie sah ihm lächelnd nach, nahm einen der bunten Prospekte von der Schreibtischplatte und blätterte darin. «Umwälzpumpe… so was!» sagte sie kopfschüttelnd.
3
Die Schwanenapotheke lag an der Hauptstraße Endwardens. Die Hauptstraße hieß auch Hauptstraße und war ungefähr einen Kilometer lang. Es gab drei Apotheken dort. Die Stadtapotheke am Südende der Hauptstraße, neben dem früheren Kino, das heute ein Supermarkt ist, weil die Endwardener, wie andere Leute anderswo auch, abends lieber fernsehen als ausgehen; die Bahnhofsapotheke am Nordende der Hauptstraße, gegenüber dem Bahnhofsplatz, auf dem die Omnibusse standen, die in die umliegenden Dörfer fuhren; und die Schwanenapotheke genau in der Mitte, neben der Buchhandlung Kienast, die eigentlich den Titel Buchhandlung nicht verdiente, weil es in dem Laden alles mögliche zu kaufen gab: Illustrierte, Schreibwaren, Spielzeug, Büroartikel, Kaugummis und Knallfrösche – aber kaum Bücher. Auf der anderen Seite der Schwanenapotheke, also links neben ihr, stand ein hohes, altes, sehr schön renoviertes Haus, in dem sechs Ärzte ihre Praxen eingerichtet hatten, was ein Himmelsgeschenk für die Apotheke war. Auch die Apotheke befand sich in einem sehr alten Haus, das ein Architekt mit einigem Fingerspitzengefühl renoviert hatte. Die klassizistische Fassade war bis auf das brüchige Steinmetzemblem am Giebel unverändert geblieben, und die zwei Schaufenster der Apotheke waren so geschickt in die Linien der alten Architektur eingefügt worden, daß sie nicht störten. Das Innere der Apotheke war richtig schön. Große Teile des alten Inventars und Mobiliars hatte man in die moderne
Ladengestaltung einbezogen – und das geschickt arrangierte Nebeneinander von neonbeleuchteten Stahlregalen und alten Schubladen mit verschnörkelt beschrifteten Emailleschildern, von modernen Kassen und Waagen und alten Mörsern, Gläsern und Pfannen wirkte bestechend harmonisch. Walter Hanebutt, der kleine dicke, fast siebzigjährige Apotheker, der das Geschäft gemeinsam mit seiner Tochter Edda, einer klugen, emanzipierten Enddreißigerin führte, hatte sich die Renovierung einiges kosten lassen… genauer: kosten lassen müssen, weil die Apotheken am Süd- und Nordende der Hauptstraße, beide viel jünger und moderner als die Schwanenapotheke, doch eine spürbare Konkurrenz bedeuteten. Die Renovierungskosten hatten Hanebutt zwar nicht in finanzielle Bedrängnis gebracht oder gar arm gemacht – und sie waren auch längst verwunden –, aber er wurde noch heute, vier Jahre danach, nervös bei dem Gedanken an die sechsstellige Zahl, die unter der Endabrechnung gestanden hatte. Hanebutt war ohnehin ein ziemlich zaghafter, ängstlicher Mann. Schon kleine Mißgeschicke konnten ihn aus der Fassung bringen, ein verlegter Giftschrankschlüssel zum Beispiel oder eine Kundenbeschwerde warfen ihn um… Und wenn er nicht seine Tochter Edda gehabt hätte, wäre er bald reif für eine psychiatrische Behandlung gewesen. An diesem Abend im Februar stand Walter Hanebutt im kleinen Laboratorium hinter dem Verkaufsraum seiner Apotheke und nörgelte vor sich hin: «… ist noch keine fünfzig, der Mensch, und redet von nichts anderem als von seinen Gebrechen! Immerzu und immerzu hat er was… mal sticht’s da, mal piekt’s dort – und immer nach Feierabend oder sonntags. Als ob unsereins nicht auch mal seine Ruhe haben
will! Und dauernd solche ausgefallenen Sachen! ‹Opodeldok›!» Hanebutt wog auf der alten Apothekerwaage irgendwelche Zutaten zu der Salbe Opodeldok ab, stark riechende Ingredienzien, ein Kampferöl und alles mögliche andere – und schüttete und löffelte die Sachen in einen kleinen Elektromixer. Die ganze Zeit, während er wog und mixte, quengelte er halblaut: «… Linimentum Saponato camphoratum… ich werde verrückt! Als ob es nicht ein einfaches Hexenschußpflaster sein dürfte… aber nein, da hat er was vom ollen Paracelsus gehört oder gelesen… prompt kommt er an, will es so und nicht anders gemacht haben und prahlt dabei noch mit seiner Bildung… Dieser Querulant, dieser… dieser… – » Bei den letzten Worten war seine Tochter ins Labor getreten. Sie nahm ihre große, modisch geformte Brille ab, die ihrem hageren Gesicht mit der Hakennase einen eulenhaften Ausdruck gab, und steckte den Brillenbügel zwischen die schmalen Lippen. Mit fast unbewegtem Mund fragte sie: «Was meckerst du denn, Väterchen?» Hanebutt sah seine Tochter an. Seine Blicke hatten wenig Väterliches. Das waren eher die Blicke eines kleinenjungen, der seine große Schwester ebenso liebt wie fürchtet. Hanebutt hatte überhaupt mit zunehmendem Alter immer mehr von einem kleinen, verzogenen, störrischen, eigensinnigen Jungen. Edda, die wegen ihrer kritischen Haltung und großen Intelligenz unverheiratet geblieben war – denn welche Männer mögen schon Frauen, die gescheit oder gar gescheiter als sie selbst sind –, Edda Hanebutt, genau: Frau Dr. Edda Hanebutt,bemutterte den Vater mit der gleichen Intensität, mit der sie auch studiert und promoviert hatte (‹Über die Heil- und Giftwirkungen der roten Heleborus niger – Christrose – im Vergleich zu Digitalis purpurea – Roter Fingerhut – und
Convallaria majalis – Maiglöckchen›… und mit der sie die Apotheke führte. Daneben war sie auch politisch aktiv, gehörte als Mitglied der liberalen Fraktion dem Stadtparlament von Endwarden an und leitete den Arbeitskreis der Akademikerinnen, kurz ADA genannt, auf Landesebene.∗ In der wenigen Freizeit, die ihr Ehrenämter, Vaterbetreuung und Apotheke ließen, las Edda Hanebutt und schrieb. Sie schrieb seltsamerweise keine intellektuellen oder politischen Essays oder psychologisierende Kurzgeschichten, sondern Märchen. Aber das durfte keiner wissen. Nicht mal der alte Hanebutt hatte eine Ahnung, was sich in der Schreibtischschublade seiner Tochter für ‹Es-wareinmal›-Sehnsüchte verbargen. «Was hast du denn schon wieder zu räsonieren?» fragte Edda jetzt noch einmal. «Ach, ich quäle mich mit dem Opodeldok für den dummen Eggers», sagte Hanebutt. «Soll ich dir helfen?» fragte seine Tochter. «Nein, danke», erwiderte der Apotheker, «ich bin gleich fertig. Gib mir eben den Ichthyoltopf rüber, ja… Danke!» Sie gab ihm den weißen Steinguttopf, er nahm mit dem dunklen Holzlöffel einen doppelt walnußgroßen Klumpen der schwarzen, nach Teer und Moor, Gesundheit und Vergangenheit riechenden Salbe und gab sie noch in das Gefäß, in dem er den Elektroquirl laufen ließ. «Bei jedem anderen hätte ich nein gesagt», fuhr er fort, «aber bei Eggers wäre das unter Umständen eine Katastrophe, Edda. ∗
Der ADA war ein Verein von etwa zwei Dutzend größtenteils blaustrümpfigen Damen unterschiedlichen Alters, die ihre Lebens- und Liebesfrustrationen in der Politik kompensierten oder, besser: zu kompensieren versuchten. Sie hatten, wenn man näher hinschaute, einen erstaunlichen Einfluß auf die Entscheidungen der kommunalen Parlamente.
Der sitzt als bürgerliches Mitglied im Sozial- und Gesundheitsausschuß und – » «Ich weiß», unterbrach ihn seine Tochter, «ich bin ja im selben Ausschuß!» «Ach so, ja – ‘tschuldige, Mädchen! Na, dann brauche ich dir nicht zu sagen, wie starrköpfig der Kerl ist. Der könnte mir Schwierigkeiten machen, daß es nur so rappelt! Also mach ich ihm sein Opodeldok in Gottes Namen, verstehst du?» «Ja – ich verstehe. Aber warum so eilig? Mußt du nicht zu deinem Gesangverein heute abend?» Sie hatte sich an den Labortisch gelehnt, sah ihm zu, überlegte zum hundertstenmal, was man gegen seine Fahrigkeit und Hippeligkeit tun könnte, und suchte in den Taschen ihres weißen Arbeitskittels nach der Zigarettenschachtel. «Eben drum», sagte Hanebutt, «ich hab ihm ja versprochen, das Pflaster mitzubringen.» Er sah auf die Uhr. «Meine Güte – schon sieben vorbei! Umziehen muß ich mich auch noch…» Edda hatte sich eine Zigarette in den Mundwinkel gesteckt, sie aber noch nicht angezündet. Jetzt schob sie ihren flatterigen Vater sanft zur Seite. «Geh los, Väterchen», sagte sie. «Ich mach das schon fertig!» «Du sollst nicht soviel rauchen!» quengelte er. «Und mit ‘ner Zigarette im Mund spricht man nicht. Auch nicht – ja, erst recht nicht – mit seinem Vater!» Sie nahm die Zigarette, die immer noch nicht brannte, aus dem Mund und sah ihren Vater spöttisch an. «Jawoll, Herr Hauptmann!» sagte sie und half ihm aus dem weißen Kittel. Hanebutt schüttelte den Kopf und verließ das Labor. Edda zündete sich ihre Zigarette an und begann, das Pflaster fertigzumachen.
«Opodeldok!» sagte sie zu sich selbst leise. «So was! – Nach dem Originalrezept des seligen Paracelsus!… Meine Güte, diese alten Männer!»
4
Otto Fintzel zog den alten Koffer in den Lichtkreis der nackten Glühbirne. «Meine Güte…» brummelte er überrascht, wischte sich den Staub und die Spinnweben von den Händen und bestaunte kopfschüttelnd seinen Fund, «meine Güte…! Was ist denn das für ein… für ein…? Ist das etwa der, den ich…? Das kann nicht sein!» Er griff nach dem Lappen, der neben dem kaputten Klaviersessel lag und wischte die zentimeterdicke Staubschicht ab, die sich auf das brüchig gewordene Leder gesetzt hatte. Zwei doppeltdaumenbreite Riemen waren um den Koffer geschnallt. Fintzel versuchte, die Metallschnalle des ersten zu lösen, aber sie saß so fest, daß er es nicht schaffte. Er zog und zerrte mit dem Erfolg, daß der Lederriemen riß und der Dorn der Schnalle sich in seinen Daumenballen bohrte. «Au!» stöhnte Fintzel, leckte die Blutstropfen weg, die sich gebildet hatten, und saugte an der Wunde. «Scheißding, blödes!» murmelte er, gab dem Koffer einen Fußtritt, setzte sich wieder auf die Rolle Glaswolle und betrachtete das alte Ledergehäuse. ‹Daß ich das Ding so völlig vergessen konnte›, dachte er. ‹Ist der seit… warte mal… seit… Wann war das? … Fünfundvierzig? Ja, Februar fünfundvierzig… Vor genau fünfunddreißig Jahren… Hat denn seitdem keine Menschenseele hier oben in die Ecken geguckt…? Bis zweiundfünfzig hat Mama doch noch gelebt… aber na ja, die ist in den letzten Jahren ihres Lebens nicht mehr auf den Boden gekommen mit der Arthrose… Und sonst hat ja niemand hier
oben was zu suchen gehabt… Durchaus möglich, daß das Dings da fünfunddreißig Jahre unberührt unter den Dachpfannen gestanden hat… Und nach und nach ist das ganze Gerumpel davorgestellt worden. Aber daß ich den Koffer so völlig vergessen konnte… Dabei war’s doch ziemlich aufregend, als ich ihn nach Hause geschleppt habe. Die Stadt brannte an vier, fünf Ecken… Sie hatten erst Sprengbomben geworfen und Phosphor hinterher… Es war das reine Inferno… Und ich hatte Luftschutzwache in der Kreisverwaltung. Ja… das war die Nacht vom 12. zum 13. Februar 45…Der wievielte ist heute? Der 12. – Ich werde verrückt! Heute vor genau fünfunddreißig Jahren. Was für ein phantastischer Zufall! Nur später war es damals. Halb elf – elf, glaub ich… Wie spät ist es eigentlich jetzt?› Er holte wieder die Klappdeckeluhr hervor und ließ sie aufspringen. ‹Hilfe… sieben vorbei! Da muß ich mich ja sputen…!› Er stand auf, sah noch mal kopfschüttelnd den alten Koffer an, knipste die nackte Birne aus und verließ den Dachboden. Während er sich wusch, umzog und das von Frau Vorrath vorbereitete Abendbrot aß, beschäftigte ihn immer noch die Erinnerung an jene Nacht vom 12. zum 13. Februar 1945. Sie saßen zu sechst im Keller der Kreisverwaltung: der einarmige Hausmeister Hoppenstedt, ein griesgrämiger, von steten Schmerzen kaputter Kriegsveteran, Ende Fünfzig; seine rosige, viel jüngere Frau, von der es hieß, sie schlafe mit dem Kreisleiter der Partei; die zwei Volkssturmmänner, die aus unerfindlichen Gründen das Verwaltungsgebäude zu bewachen hatten, und die zwei Mitarbeiter der Kreisverwaltung, ein alter Kanzleibote und er, Fintzel, als Kommunalbeamter und Leiter des Ordnungsamtes, die ‹Luftschutzwache› halten mußten. Sie saßen im Keller, denn es hatte Fliegeralarm gegeben. Feindliche Verbände hatten Endwarden überflogen, um die
Reichshauptstadt zu bombardieren. Fintzel war ordnungs- und pflichtgemäß mehrmals aus dem Keller nach draußen gelaufen, hatte die vorgeschriebenen Kontrollgänge gemacht, bei denen – wie immer – keine besonderen Ereignisse zu melden gewesen waren. Und nun saßen sie im trüben Licht der zwei schwachen Lampen, warteten darauf, daß die englischen oder amerikanischen Flugzeuge zurückflogen, und auf die anschließende Entwarnungssirene. Noch niemals in den vergangenen Kriegsjahren waren diese Nächte anders verlaufen. Fintzel empfand die im Dunkeln über ihnen vorüberdröhnenden Maschinen zwar als drohend, aber im Laufe der Zeit hatte die Drohung an Schrecken eingebüßt. Sie glich ein wenig der Gefahr des Sturms, der über dem Meer tobte und Schiffe gefährdete oder vernichtete, bei dessen Heulen sich jedoch der Binnenländer, der noch nie einen Sturm auf See erlebt hat, im Bett umdreht und weiterschläft. Endwarden war kein Ziel, dessen Bombardierung sich gelohnt hätte. Neuerdings – seit einigen Monaten – entstand am Stadtrand ein Werk größeren Ausmaßes. Man munkelte von einem Rüstungsbetrieb, der irgendwas mit der Wunderwaffe zu tun habe, die der Führer bauen lasse und mit der Großdeutschland endlich doch über die finsteren Mächte des Weltjudentums, des Bolschewismus und der Wallstreet-Imperialisten siegen werde. Doch man wußte nichts Genaueres, und von den zwei- oder zweieinhalbtausend Arbeitern, die da draußen das große Gelände planierten, riesige Betonflächen gossen und tiefe Löcher in den Boden bohrten, von denen hörte man nichts, denn man hatte keinerlei Kontakt zu ihnen und durfte auch keinen haben. Sie hausten in Zelten und Baracken hinter hohen Stacheldrahtzäunen und waren zu ‹Untermenschen› degradiert worden, weil ihre Nase eine andere Form als die
vorgeschriebene hatte oder weil ihnen eingefallen war, etwas anderes zu denken als das, was der Staat zu denken befahl. Die sechs Menschen saßen also im Keller der Kreisverwaltung und warteten auf die Entwarnung. Hoppenstedt schlief, aus seinem offenen Mund spann sich ein Spuckefaden zur Schulter, an der sein leerer Jackenärmel hing. Frau Hoppenstedt schälte Äpfel, gut riechende Renetten, und reichte reihum den vier Männern Stückchen davon. Fintzel erinnerte sich heute – fünfunddreißig Jahre danach – wieder genau an die kräftig-rundlichen Finger der Hausmeisterfrau, und er wunderte sich über das menschliche Gehirn, wie lange und wie präzise es Eindrücke speichern kann. Dann, gerade als die rundlich-rosige Frau die letzte Apfelschnitte Fintzel herüberreichte und sagte: «Nun hab ich keinen mehr!» – da krachte die erste Bombe… Die Mauern bebten, Kalk und Putz rieselte auf die Erschrockenen, und Fintzel, der bis dahin von den geräuschvollen Schrecknissen des Krieges verschont geblieben war, ertappte sich dabei, daß er die Hände faltete und mit zitternden Lippen ein Kindergebet zu flüstern begann: «Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich in den Himmel komm…» – indes vom irdischen Himmel weitere Bomben auf Endwardens Straßen und Häuser fielen. Fintzel erinnerte sich heute, in seiner Wohnküche, bei Leberwurstbrot, Gewürzgürkchen und Bier, ein halbes Menschenalter nach der höllischen Nacht, wieder ganz genau an alle Einzelheiten – und es schauderte ihn, wie immer, wenn er daran dachte. Er war, nachdem das Krachen und Bersten aufgehört hatte, mit seinem Kollegen, mit dem Hausmeister und mit den zwei Volkssturmmännern aus dem Keller in das darüber stehende Gebäude gelaufen. Sie hatten schnell festgestellt, daß es an
mehreren Stellen brannte, und hatten, während die Hoppenstedts wenigstens einen Teil ihrer Habe zu retten versuchten, ihrerseits probiert, ob es sinnvoll und aussichtsreich sei, die Brände zu löschen. Es war weder sinnvoll noch aussichtsreich gewesen, denn Phosphorbrände dieses Umfangs können vier unzulänglich ausgerüstete Männer, von denen drei auch nicht mehr im Vollbesitz ihrer Kräfte sind, kaum unter Kontrolle kriegen. Deshalb hatte Fintzel als ‹Ranghöchster› angeordnet, daß die Kisten, Kästen und Koffer, in denen die als wichtig bezeichneten Dokumente lagerten, aus dem Archiv in Sicherheit gebracht wurden. Das heißt, sie hatten – bis kurz vor dem Einsturz des Gebäudes – zwei, drei Dutzend Behälter in den Hof geschleppt und im Schnee gestapelt. Fintzel, pflichtbewußter Beamter, hatte die Sachen bewacht und für ihren Abtransport gesorgt, der mittels eines Wehrmachtautos in die Obhut einer zuverlässigen auswärtigen Verwaltungsstelle am nächsten Morgen erfolgte. Als alles abgefahren worden war, hatte Fintzel verfroren und übernächtigt den Koffer zwischen Hoppenstedts geretteten Möbeln gefunden, die ebenfalls im Hof gestapelt standen. Und er hatte diesen Koffer mit nach Hause genommen, um ihn im Auge zu behalten, weil der auch als wichtig gekennzeichnet war. Am Nachmittag desselben Tages war Fintzel krank geworden, hatte, als Folge der Bombennacht, eine böse und langwierige Nierengeschichte gehabt, die ihn bis Kriegsende – erst im Krankenhaus und dann in der eigenen Wohnung – ans Bett gefesselt hatte – ja… Und so war der ominöse Koffer in Vergessenheit geraten und irgendwie auf dem Dachboden seines Hauses gelandet und geblieben.
Fintzel war jetzt fertig mit dem Abendbrot. Er hatte in Gedanken den ganzen Teller belegte Brote leergegessen und zwei Flaschen Bier dazu getrunken. Es war kurz vor acht, als er aus seinen Erinnerungen auftauchte. Er schüttelte sich wie einer, der friert, zog Schuhe und Mantel an, band seinen Wollschal um, setzte den Hut auf und ging zum wöchentlichen Übungssingen des Männergesangvereins ‹Euterpe e. V.›, das im Klubzimmer des Hotels ‹Deutsches Haus› stattfand und eines der regelmäßigsten, wichtigsten, ebenso gefürchteten wie beliebten gesellschaftlichen Ereignisse der Stadt Endwarden darstellte.
5
Hermann Kroll junior spießte das Sülzestück auf die Spitze des Messers und balancierte es sich in den Mund. «Hm…» machte er kauend, biß vom Butterbrot ab, das vor ihm auf dem Brettchen lag, spießte ein neues Stück Sülze aus der Schüssel, trank einen langen Schluck Bier und sagte zwischen Schlucken und Kauen: «Eine prima Sülze, Mama! Echt Spitze! Kannst du öfter kaufen!» Er saß in der Wohnküche der Wohnung über dem Büro seines Fuhrunternehmens. Die Wohnung bewohnte er gemeinsam mit seiner Mutter. Die Wohnküche war, im Gegensatz zu der kühlen Plüschpracht der ‹guten Stube› nebenan, richtig gemütlich. Eine Hängelampe mit rot-weiß gewürfeltem Schirm warf eine Insel warmem Lichts auf den hellen Holztisch, um den dänische Stühle mit Bezügen aus dem gleichen Stoff standen. Über Herd, Arbeitsplatte und Spülmaschine hingen an der schön gekachelten Wand Kupfergefäße. Die Vorhänge vor dem Fenster waren ebenfalls rot-weiß gewürfelt, und auf der Eckbank aus Holz lagen Kissen mit rot-weiß gewürfelten Bezügen. Es war eine fröhliche Küche – und die Frau, die neben Hermann Kroll am Tisch saß und ihm beim Essen zuschaute, hatte fröhliche Augen und Grübchen im Gesicht, wenn sie lachte. Sie sah nicht wie Ende Vierzig aus, sondern wie Ende Dreißig, und wer einem Fremden gesagt hätte, daß dies die Mutter des kauenden jungen Mannes sei, der wäre sicher ausgelacht worden. «Das freut mich, Jungchen!» sagte sie, und der mütterliche Diminutiv wirkte ganz unpassend aus ihrem Munde.
«Gibst du mir noch ‘n Schluck Bier?» fragte das Jungchen und schob ihr sein leeres Glas über die Tischplatte zu. «Willst du mit dem Auto zum Singen?» fragte sie besorgt an. Hermann Kroll runzelte die Stirn und sah seine Mutter ärgerlich an. «Also komm», sagte er, «das weiß ich schon selber, wann ich was trinken kann!» Sie nahm eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, drückte den Kronkorken auf und schenkte ihm ein. «Aber ja, natürlich, mein Jungchen», sagte sie. «So habe ich das doch nicht gemeint… Natürlich weißt du…» Sie brach ab, setzte sich wieder und sah ihn erwartungsvoll an. Als seine Stirn sich glättete, war sie sichtlich erleichtert. «Was singt ihr denn zur Zeit?» fragte sie. Hermann Kroll kaute, trank, biß Brot ab, kaute und sagte mit vollem Mund: «Weiß nicht. Ist mir auch schnurz. Ich würde sowieso viel lieber zu Hause bleiben und Fernsehen gucken! Diese blöde Singerei, blöde!» Frau Kroll war überrascht. «Was denn?» fragte sie. «Gehst du denn nicht gerne zum Singen, Hermann, mein Junge? Ich hab immer geglaubt, du gehst gerne hin! Papa ist bis kurz vor seinem Tod immer, jeden Dienstag – damals haben sie noch dienstags geübt – hingegangen. Mit richtiger Begeisterung ist er hingegangen, ja!» «Naja», sagte Hermann Kroll junior. «Papa! Der war da auch wer. So ‘ne Art Säulenheiliger, Gründungsmitglied, im Vorstand seit hundertfuffzig Jahren… Die Alten reden heute noch so von ihm: ‹Dein Vater› – sagen sie – ‹das war ein Tenor, Hermann! Und ein Sangesbruder von echtem Schrot und Korn!› – und so was alles. Solltest du mal hören, Mama!» Er wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab, trank sein Bier aus und erhob sich.
«Ja», sagte Frau Kroll, «das war er auch, Jungchen! Sein Gesangverein ging ihm über alles!» «Okay, okay», sagte Hermann Kroll junior ungeduldig, «von mir aus. Der eine kegelt gerne, und der andere singt gerne, und wieder ‘n anderer sammelt Briefmarken oder Bierdeckel und ist im entsprechenden Verein… Doch ich hab da, wenn ich ehrlich sein soll, überhaupt keinen Bock drauf, Mama!» «Aber du kannst nicht einfach wegbleiben oder gar austreten, Jungchen!» meinte Frau Kroll. «Es ist doch so wichtig fürs Geschäft, Hermann!» setzte sie hinzu. «Ja – ich weiß», sagte Kroll. «Da wird die Politik gemacht, und da werden die Aufträge vergeben, und da wird ausgeklüngelt, wer zum Beispiel den Zuschlag für die Schulbusfahrten kriegt und wer das Klopapier für das Schwimmbad liefern kann und in welchem Hotel die Stadt ihre Gäste und der Fabrikant Käselau seine Geschäftsfreunde unterbringt und… und… und… Und wenn du da nicht dazwischen bist und mitsingst: ‹Sah ein Knahab ein Röhöslein stehehen…› – oder solchen Quark, dann merkst du das spätestens bei deiner nächsten Bilanz! – Also! Also gehe ich hin, markier den Sangesbruder und verkneif mir das Lachen oder das Kotzen und singe mit!» Er sang laut und wütend: «Sah ein Knahab ein Röhöslein stehen… Röslein auf der Heiden… war so jung und morgenschön…» «Ach, hör auf, Jungchen!» rief Frau Kroll, half ihm ins Jackett und gab ihm die Zigarettenschachtel vom Tisch, als er suchend an seine Taschen klopfte. ‹Du tust mir ja leid…› wollte sie noch hinzufügen – aber da war er schon aus der Wohnküche, polterte die Treppe hinunter und schlug die Haustür hinter sich zu.
6
Der Lärm war im wahrsten Sinne des Wortes ohrenbetäubend. Jeder, der auf das einzeln stehende Haus zwischen dem Holzlager und der Steinmetzwerkstatt zukam, mußte denken, da probiere ein gutes Dutzend Verrückter die Strapazierfähigkeit von Trommeln, Pauken, Becken, Flöten, Saxophonen, Klarinetten, Elektrogitarren und sonst was aus. Dabei waren es nur fünf Jungen, die Rock ‘n’ Roll übten. Ihre Bemühungen wurden jedoch von mehreren meterhohen Lautsprecherboxen verstärkt, die so dröhnten, kreischten und klirrten, daß die Fensterscheiben des Souterrains klirrten, in dem das Inferno stattfand. Die fünf Siebzehnjährigen saßen und standen mit roten Gesichtern und glänzenden Augen, berauscht von dem Krach, den sie machten, zwischen Kisten, Kästen, Kabeln und Schnuren. Sie zuckten im Rhythmus ihrer Gitarrenschläge und des Schlagzeughämmerns und waren so hingerissen und gefangen von ihrer Beschäftigung, daß sie alles vergaßen, was sie sonst bedrückte und quälte: die Schule mit dem idiotischen Leistungsdruck, ihre Eltern, die keine Zeit und kein Verständnis für sie hatten, die Schwierigkeiten mit Mädchen, die Angst vor den Anforderungen der Gesellschaft… Alles war weg und unwichtig, wenn ihre Musik stampfte. Oberstudienrat Bundschuh gab sich Mühe, ein freundliches Gesicht zu machen, als er die Stufen zum Übungsraum der Gruppe hinunterging und – nach kurzem, aber sinnlosem Klopfen – die Tür öffnete. Es fiel ihm schwer, ein Lächeln aufzusetzen, denn der Radau bereitete ihm fast körperliche Schmerzen.
«Hallo, Jungs!» rief er in den hellerleuchteten Raum. Einer der Jungen entdeckte ihn, hörte auf, sein Instrument zu bearbeiten und brüllte seinem Nebenmann etwas zu, das nicht zu verstehen war. Dabei deutete er über die Schulter mit dem Daumen zur Tür, in der Bundschuh stand. Der Angebrüllte hob den leicht verglasten Blick vom Griffbrett, schaltete die Elektrogitarre aus und legte sie behutsam, fast zärtlich auf einen leeren Stuhl. Jetzt merkte auch der dritte, daß irgendwas los war, und unterbrach seine Klarinettenläufe. So reagierte schließlich auch der vierte und legte die Rumbanüsse aus der Hand. Nur der fünfte, ein krullerhaariger blonder Junge, der am Schlagzeug saß, ratterte völlig selbstvergessen auf den Trommeln und Becken weiter, bis ihm einer die Hand aufs Trommelfell legte. Nun hob auch er den Blick und sah den Lehrer im Türrahmen, der dort stand und verlegen lächelte. Da legte der Blonde seine Trommelstöcke auf die Pauke und erhob sich. Die plötzliche Stille war ganz seltsam und unwirklich. «Hallo, Herr Bundschuh!» sagte einer der Jungen. «Prima, daß Sie tatsächlich kommen!» «Hallo!» sagten die anderen. Bundschuh betrat mit betont federnd forschem Schritt den Raum. «Einen schönen guten Abend, die Herren!» sagte er, mußte sich räuspern, weil seine Unsicherheit auf die Stimme geschlagen war, setzte erneut an, war noch immer heiser, hustete seine Stimmbänder frei und sprach dann weiter: «… ja, da bin ich. Wie versprochen! Noch mal schönen Dank für die Einladung! Freut mich, euch bei so … na, sagen wir – bei so künstlerisch-kreativer Tätigkeit zu sehen oder richtiger zu hören oder, ganz genau – eben gehört zu haben! Gegenpol gegen die Konsumhaltung der Masse, gegen die Lethargie –
Verzeihung, das meint Trägheit, Teilnahms- und Interesselosigkeit. Das kommt aus dem Griechischen und stammt von dem Wort Lethe. Lethe ist in der griechischen Sage der Name des Flusses, der in die Unterwelt führt… und man sagte im übertragenen, im dichterischen Sinne, daß aus seinem Wasser der Trunk des Vergessens – aber was doziere ich da, entschuldigt, Leute – das ist ja im Augenblick überhaupt nicht – äh… ich wollte nur meiner Zustimmung zu eurer Musik Ausdruck geben und bin ins Schwafeln geraten. Alte Lehrerkrankheit! Darf ich mich setzen?» «Aber klar!» «Natürlich!» «Hier bitte!» riefen die Jungen und beeilten sich, einen Stuhl frei zu machen. «Danke!» sagte Bundschuh und nahm Platz. Sie hockten sich alle hin, bis auf Uwe Nowak, der sich – seine E-Gitarre noch vor dem Bauch – an die Wand lehnte und den Lehrer aus schmal gekniffenen Augen beobachtete. «Nein, ich finde das wirklich großartig, daß ihr so was treibt!» wiederholte Bundschuh. «Habt ihr denn damit was vor? Ich meine, wollt ihr auftreten? Geld verdienen?» «Darüber haben wir noch nicht nachgedacht!» sagte einer der Jungen. «Das ist bis jetzt nicht diskutiert», fügte ein anderer hinzu. «Aber die Sachen – Verzeihung –, die Instrumente und die ganze elektrische Einrichtung – das kostet doch ein Heidengeld?» sagte Bundschuh, indem er sich umsah und die Blicke über Verstärker, Mischpult, Mitschnittgeräte und so weiter wandern ließ. «Woher… wenn ihr mir die Frage erlaubt… woher habt ihr denn den Zaster?» Das Wort ‹Zaster› wirkte sehr aufgesetzt. Es klang so falsch wie fehl am Platze, so anschmeißerisch, so nach billiger Kumpelmacherei, daß Uwe Nowak die Mundwinkel senkte.
«Ja, schon», sagte der Junge am Schlagzeug, «Haufen Kohle – aber zum Teil ist das nicht unsere Anlage. Haben wir geliehen. Und Ullis Alt – eh, Vater, hat ‘n paar Blaue springen lassen…» und er übersetzte gleich, als er Bundschuhs verständnisloses Gesicht sah: «Herr Kämmerling hat ‘n paar hundert Mark gestiftet!» «Ah ja, Herr Kämmerling!» sagte Oberstudienrat Bundschuh und nickte dem Jungen mit der Klarinette zu, dessen Vater die paar Blauen hatte springen lassen. «An Auftreten ist sowieso noch nicht zu denken», sagte jetzt der Junge hinter dem Schlagzeug. «Wir fangen ja … wir sind ja gerade erst im… äh… im Anfangen!» «Am Anfang – meinst du, Peter», verbesserte Bundschuh freundlich. «Ja», sagte der Junge, «wir spielen ja erst seit paar Wochen. Und ich hab die Schießbude erst vor vierzehn Tagen zum Geburtstag gekriegt.» «Die… was?» fragte Bundschuh. «Das Schlagzeug, Herr Oberstudienrat», erläuterte der Junge mit den Rumbanüssen. «Ach so, das Schlagzeug…» Bundschuh lachte. «Aber laß mal den Oberstudienrat, Junge! Wer bist du denn? Ich kenne dich gar nicht!» «Ich heiße Heiner Sachse», sagte der Junge, «und gehe auf die Realschule.» «Ach so», sagte Bundschuh, «aber auch für dich heiße ich einfach Herr Bundschuh. Okay?» Das ‹Okay› war wieder so ein schiefer Ton wie vorhin ‹Zaster›. Bundschuh spürte das selbst und ärgerte sich über sich. Er sah Uwe Nowaks Mundwinkel zucken und wäre am liebsten aufgestanden und weggegangen. «Ich habe leider nicht viel Zeit», sagte er statt dessen, «aber ich würde gerne noch was hören, wenn ich auch gestehen muß,
daß ich eure Form des Protestes gegen die Gesellschaft nicht ganz verstehen kann. Am meisten wundert mich – wenn ich es mal zu formulieren versuche –, daß eure Musik, daß der musikalische Ausdruck eures Widerstandes sozusagen… daß der so laut ist… Laute Musik gegen die laute Zeit – da sehe ich einen Widerspruch, wenn ihr versteht, was ich meine, gewissermaßen. Unsere Zeit ist so laut, nicht nur akustisch, sondern überhaupt! Düsenjägergejaule und ÜberschallKnallerei und Radios und Lautsprecher und Motorenlärm an allen Ecken und Kanten. So viel Lärm! Viel zuviel, als daß man ihn mit Elektrogitarren und Verstärkern und – wie sagt ihr? – Schießbudengerappel übertönen könnte. Deshalb erscheint mir das, was und vor allem wie ihr musiziert, eher als Anpassung an Geräusch und Rhythmus der Zeit und nicht als Widerstand gegen sie… oder?» Das war gut und kam, obschon es eine Provokation war, auch gut an bei den Jungen. Sogar Uwe Nowak hob interessiert das Kinn. «Darüber müßten wir mal ausführlich reden», sagte er, «aber nicht jetzt und nicht so aus dem Handgelenk – wenn Sie keine Zeit haben. Was für eine Art von Musik würden Sie denn als echten Protest empfinden?» «Vielleicht eine ganz leise, romantische, so was mit Geige und Cello… ich weiß nicht…?» erwiderte Bundschuh. «Leise?» fragte der Junge mit der Klarinette. «Damit macht man aber keinen an…» «Ich glaube schon», widersprach Uwe Nowak. «Denk bloß an Joan Baez, Mann!» Oberstudienrat Rainer Bundschuh wußte zwar nicht genau, wer Joan Baez war, aber er freute sich, daß ausgerechnet Uwe Nowak ihm beistand. «Haben Sie denn wenigstens so viel Zeit, sich unsere Glanznummer anzuhören?» fragte der Junge am Schlagzeug. «Wenn wir sie hinkriegen…» sagte der mit der Klarinette.
«Wollen Sie sie hören?» fragte der Realschüler mit den Rumbanüssen. «Als Konsument sozusagen, gewissermaßen…?» sagte Uwe Nowak frech, den Lehrer imitierend. «Jaja – eine Viertelstunde habe ich noch Zeit, Herrschaften!» sagte Bundschuh und tat so, als habe er die Frechheit nicht bemerkt. «Denn mal los! Zieht mal eure Glanznummer ab, Leute!» «Es ist ein Rock ‘n’ Roll», sagte der Schlagzeuger. «Ziemlich hartes Stück!» fügte Uwe Nowak hinzu. «Ich habe nicht erwartet, daß ihr mir das Forellenquintett vorspielt», sagte Bundschuh lachend. «Wenn es zu toll wird, kann ich mir ja die Ohren zuhalten!» Er setzte sich erwartungsvoll zurecht. Die Jungen griffen nach ihren Instrumenten, schalteten die elektrischen Geräte ein, stöpselten die Schnuren und Kabel in die entsprechenden Buchsen, sahen sich an und begannen auf ein Zeichen Uwe Nowaks. Es ging mit einem dumpfen Akkord los, den die E-Gitarren dröhnten. Dann setzten gleichzeitig Schlagzeug und Rumbarassel ein, und dann rasten klirrend-grelle Klarinettenläufe dazwischen, so schrill und laut, daß Bundschuh eine Meisterleistung an Heuchelei vollbringen mußte, um seinem Gesicht einen Ausdruck von Interesse zu geben, obwohl er es lieber vor Schmerzen verzogen hätte.
7
Das Mädchen hieß Elfriede und wurde Elfie gerufen, obschon es mit einer Elfe soviel Ähnlichkeit hatte wie ein Meerschweinchen mit einer Schwalbe. Elfie hatte runde, rote Arme, einen heftigen Busen von der Sorte, von der Männer sagen, daß man einen Floh draufknacken kann, eine stramme Taille und ein apfelförmiges Hinterteil, für das alle Hosen und Kleider, die obenrum paßten, zu eng waren. Auch das Gesicht des Mädchens Elfie hatte nichts Elfenhaftes, es war ein richtiges Bauernmädchengesicht, ein buntes, etwas einfältiges Gesicht, so eins, wie Leibl sie gemalt hat, mit weizenblondem derbem Haar und aquamarinblauen Augen, die immer ein bißchen schwammen. Darunter eine verhältnismäßig zierliche Nase voll Sommersprossen und ein üppiger Mund mit aufgeworfenen Lippen von richtigem echtem Kirschrot. Das ganze, ganz und gar nicht elfische Mädchen Elfie strahlte eine animalische Sinnlichkeit aus, die vor allem etwas ältere Männer zum Schlucken brachte, als liefe ihnen das Wasser im Munde zusammen, wenn sie Elfie sahen. Jetzt – an diesem Donnerstagabend im Februar – war das animalisch-sinnliche Fluidum gesteigert durch den Aufzug, in dem sie vor dem Heißwasserhahn in der Spülküche des Hotels ‹Deutsches Haus› stand und Teller vorwusch, ehe sie in die Geschirrspülmaschine gestapelt wurden. Da es heiß in dem ziemlich engen, dampferfüllten Raum war, trug Elfie nur eine dünne Baumwollkittelschürze, einen Schlüpfer darunter, Holzpantoffeln – und sonst nichts. Sie hatte die oberen Knöpfe des Kittels geöffnet. Kleine Rinnsale aus
Schwitzwasser und Schweiß liefen ihr von der Stirn am Ohr vorbei den Hals hinab zwischen die Brüste. In den Achselhöhlen klebte der Stoff am Körper. Elfie sang. Sie sang nicht sehr laut, denn das hatte Frau Möhlmann, die Wirtin, gerade vorige Woche verboten, weil die Gäste im Restaurant sich – vor allem über die Art der Lieder – mokiert hatten. Es war auch nicht sehr passend, daß aus der Küche eines so gutbürgerlichen Hotelrestaurants den da speisenden Damen und Herren per Singstimme mitgeteilt wurde: ‹… denn es kann ja nichts Schöneres geben, als in Hamburg ein Mädchen fürs Geld…› – und was an ähnlich moralischem Liedgut von Mädchen wie Elfie erhalten und weitergegeben wird. Also sang Elfie leiser. Sie sang heute jedoch nichts so Unmoralisches wie das Hamburger Lied, sondern eine moderne Variation zum Thema Liebe – irgendwas zwischen Udo Jürgens und Freddy Quinn. Sie sang innig, aber ziemlich falsch, doch das war gleichgültig, da sie leise sang, wie gesagt. Sie war so in ihr Lied und in ihre Arbeit vertieft, daß sie das Hereinkommen des Wirtes Klaus Möhlmann erst merkte, als der Dicke ihr von hinten unter den Armen hindurch an die Brüste griff und gleichzeitig einen Kuß auf den Hals drückte. «Iii…!» rief sie. «Hören Sie auf, Chef,» – wand sich aus seinem Griff, kicherte und wischte sich mit der Hand über die Stelle am Hals, die er geküßt hatte. «Lassen Sie mich doch in Ruhe!» fuhr sie fort. «Wenn das mal einer sieht!» Möhlmann, den das dralle Mädchen, das mit halboffenem Kittel vor ihm stand, sehr erregte, griff erneut nach ihr. Er sagte schnaufend: «Hee, Mädchen, Elfie! Nun stell dich doch nicht an! So’n bißchen Streicheln… Da ist doch nichts dabei! Das hast du doch ganz gerne! Willst es bloß nicht zugeben… Nu komm schon…!»
Er hatte die rechte Hand unter ihren Kittel geschoben und zog sie mit der linken an sich. Elfie wehrte sich, halb animiert und geschmeichelt – aber auch ängstlich. Sie kicherte und wollte Möhlmanns Hände wegdrücken, da riß der drittobere Knopf ihrer Kittelschürze und ihr Busen rutschte heraus, was den Wirt völlig aus dem Häuschen brachte. «Nein… ich will nicht!» flüsterte Elfie. «Ich will das nicht, Chef! Lassen Sie mich doch… Wenn jetzt Ihre Frau kommt… Hören Sie auf, bitte, hören Sie auf!» – und in diesem Augenblick, wie aufs Stichwort, ging die Tür zur Küche auf, und Frau Möhlmann steckte den Kopf durch den Rahmen. Sie sah sofort, was los war, obschon Möhlmann flink zurückgetreten war und Elfie losgelassen hatte. Das Mädchen drehte sich um und knöpfte sich die Kittelschürze vor der Brust zu. «Oh, da bist du!» sagte die Wirtin scharf. «Ja – was ist denn?» fragte der Wirt so betont harmlos, daß seine Frau fast gelacht hätte. «Ich suche das Tranchierbesteck… Hast du es irgendwo…?» «Es liegt nebenan auf dem Tisch direkt neben dem Braten!» und sie tat so, als hätte sie gar nichts bemerkt. «In der Gaststube sitzt der alte Fintzel, der will dich sprechen!» «Ich komme!» sagte der Wirt. Er wußte nicht, ob er wirklich nicht ertappt worden war – oder ob die Abrechnung nur aufgeschoben wurde. Er beeilte sich, an seiner Frau vorbei nach vorn zu laufen. Frau Möhlmann blieb in der Tür stehen und schaute dem Mädchen, das weiter Teller wusch, stumm eine halbe Minute zu. Sie schaute mit bitterem Ausdruck die junge Nebenbuhlerin an, ließ den Blick ihrer müden Augen über Arme, Nacken und Figur Elfies gleiten und sagte dann: «In Zukunft ziehst du dich ordentlich an, wenn du zur Arbeit kommst, verstanden!» Das Mädchen wandte sich um und sah die Wirtin an.
«Mir ist aber heiß!» sagte sie aufmüpfig. «Wenn du’s lieber kälter hast, entlasse ich dich auf der Stelle! Draußen ist es schön kalt! Brauchst es nur zu sagen, hörst du!» Damit drehte sich Frau Möhlmann um und verließ die Aufwaschküche. «Pah!» machte das Mädchen hinter ihr und setzte den nächsten Stapel Teller unter den Heißwasserhahn.
Links neben der Theke des Hotelrestaurants ‹Deutsches Haus› war in einer Nische ein runder Tisch, auf dem immer ein kleiner Messingständer stand, der das Wort STAMMTISCH trug und damit anzeigte, daß hier nicht jedermann Platz nehmen dürfe. Oft saßen Skatspieler dort, zu denen sich, wenn es ruhig war im Lokal, der Wirt gesellte, um zu kiebitzen oder – wenn es noch ruhiger war – ein paar Runden mitzuspielen. Donnerstags fand keine Skatrunde statt, da die Skatbrüder nahezu alle auch Sangesbrüder waren und damit das bürgerliche Potential an abendlichen Gästen des Restaurants erschöpft war. Die skatspielenden, kegelnden oder singenden Arbeiter Endwardens verkehrten sowieso nicht im Deutschen Haus. Die trafen sich in der ‹Linde› oder im ‹Turnerheim›, wo die Getränke billiger, aber die Witze die gleichen waren, manche vielleicht ein bißchen deftiger erzählt und bestimmt keiner akademisch verbrämt… doch im Endeffekt alle ums gleiche Thema kreisend. Heute abend saß Otto Fintzel allein am Stammtisch, als der Wirt in die Gaststube kam. Es war noch leer. Zwanzig vor acht. Von den Sängern war Fintzel der erste. Der Kellner, ein fußkranker, grauer Mann in den Sechzigern, dem Möhlmann, wie er sagte, ‹das Gnadenbrot› gab, indem er
ihn an den Sängerabenden und Wochenenden beschäftigte, stand bei Fintzel. «… alle drei heute stehengeblieben, Herr Kranz!» sagte Otto Fintzel. «Haben Sie so was schon mal erlebt? Fast könnte man das als böses Zeichen nehmen, wenn man abergläubisch wäre. Die Standuhr halb sechs, die Küchenuhr um sechs und meine Taschenuhr kurz nach sieben. Alle drei Uhren! So was ist mir überhaupt noch nie passiert. Ihnen schon? Ich wußte gar nicht mehr, wie spät es war. Na, so was!» «Haben Sie denn kein Telefon, Herr Fintzel?» fragte der Kellner. «Telefon? Sicher habe ich ein Telefon!» sagte Otto Fintzel. «Einunddreißig-zweiundfünfzig ist meine Nummer. Warum?» «Da hätten Sie doch die Zeitansage anrufen können, meine ich bloß», sagte der Kellner. Fintzel legte erstaunt und zweifelnd den Kopf schief. «Zeitansage? Im Telefon? Was denn… da kann man…? Also, das hab ich auch noch nicht gewußt!» Der Wirt trat an den Stammtisch. «‘n Abend, Otto!» sagte er und gab dem Alten die Hand. «‘n Abend, Klaus!» sagte Fintzel. «Ich bin viel zu früh. Alle meine drei Uhren im Hause waren stehengeblieben. Hast du so was schon mal erlebt? – Aber andererseits paßt das ganz gut, weil ich dich da gleich was fragen kann, ehe die anderen kommen. Das kann ich nämlich nicht, wenn die da sind…» «Ja, dann frag mal los, Otto!» sagte der Wirt. «Wie ist das mit einem Kurzen? Darf ich dich einladen?» «Naja… eigentlich soll ich ja nicht, sagte Dr. Wendrich, wegen der Galle… aber einen… ehe ich mich schlagen lasse, gerne, danke!» Der Wirt gab dem Kellner, der wieder hinter den Bierhahn geschlurft war, ein Zeichen. Der Kellner nickte, stellte zwei Schnapsgläser auf die löcherige Stahlplatte der Theke und
bückte sich, um die Kornflasche aus dem Eisfach zu angeln. Er schenkte ein und brachte die randvollen Gläser, ohne einen Tropfen zu verschütten, an den Stammtisch. «Zum Wohl», sagte er. «Gieß dir auch einen ein, Kurt!» sagte der Wirt. «Danke, Chef!» sagte der Kellner und lächelte erfreut. «So. Was gibt’s denn? Prost!» sagte der Wirt. Sie tranken. Fintzel schüttelte sich. «Also, was kann ich für dich tun?» fragte der Wirt, der ohne sichtbare Reaktion getrunken hatte. «Ich werde am dritten März siebzig», flüsterte Fintzel geheimnisvoll nach vorn gebeugt, «und da wollte ich – » «Was? Siebzig…» rief Klaus Möhlmann mit geheuchelter Überraschung. «Nein, Otto, also das hätte ich wirklich nicht…! Erste Hälfte sechzig bestenfalls, aber siebzig – das glaubt dir keiner, Otto, weiß Gott nicht!» «Das haben schon viele gesagt», meinte Fintzel geschmeichelt, «aber es stimmt, Klaus! Siebzig! Wir haben vor fünf Jahren hier bei dir meine Pensionierung gefeiert. Da hattest du so ein wundervolles Büfett gemacht. Aal, Krabben und Schinkenröllchen mit Spargel … weißt du nicht mehr?» «Aber sicher! Meine Güte… Ist das schon wieder fünf Jahre her…Wie die Zeit vergeht, Junge, Junge!» «Jaja», bestätigte Fintzel, «eins, zwei, drei im Sauseschritt… aber zur Sache, Klaus: Ich wollte dich bitten, am dritten März wieder so was zu richten. Für fünfzehn, achtzehn Personen. Im Klubzimmer, abends. Es ist ein Montag, da hast du ja keine Vereine, nicht wahr? Ich sag dir die genaue Zahl rechtzeitig – aber viel mehr werden es nicht. Ich kann meiner alten Frau Vorrath das nicht mehr zumuten, verstehst du…» «Aber ja», sagte der Wirt, kramte einen Kalender aus seiner Innentasche und nickte, als er das Datum gefunden hatte. «Jaja,
das geht gut, Otto! Am dritten März. Paßt prima. Welche Zeit abends? So gegen sieben, halb acht?» «Ja, sieben – halb acht!» meinte Fintzel. «Und mit welchen Kosten muß ich da etwa rechnen?» «Wie viele Leute waren das noch?» fragte Möhlmann. «Maximal zwanzig», erwiderte Fintzel. «Es kommt mir dabei nicht auf ‘n Fünfziger rauf oder runter an, Klaus, versteh mich recht – man wird ja im allgemeinen nur einmal siebzig, nicht wahr, hahaha! Aber so ungefähr möchte ich’s schon wissen…» «Was für Getränke?» «Einen schönen Wein – weißen und roten. Und ein Cognac zum Kaffee, wer will… ich weiß nicht. Keinen Sekt. Ich mag keinen, und das hat auch gleich immer so was Protziges, findest du nicht?» «Das ist Ansichtssache», sagte der Wirt zurückhaltend. Er überlegte. Schließlich sagte er: «Da ist die Spanne ziemlich weit, Otto. So’n privates Fest – das kann man für zweihundertfünfzig machen – aber auch für sechshundert. Je nachdem…» Er sah auf die Uhr, tippte auf sein leeres Kornglas und fragte: «Noch einen, Otto?» «Nein, danke!» sagte Fintzel. «Ich muß ja nachher noch. Und dann find ich mein Haus nicht mehr heute nacht!» Der Wirt winkte dem alten Kellner, der hinter der Theke Gläser putzte. Er kam mit der Kornflasche und goß seinem Chef ein. «Danke, Kurt!» sagte der Wirt. «Zweihundertfünfzig…? Sechshundert…? Das ist allerdings ein ziemlicher Unterschied – » sagte Fintzel nachdenklich. «Aber es darf auch nicht popelig sein, Klaus. Andererseits muß ich mich natürlich auch ein bißchen nach der Decke strecken, verstehst du?» Der Wirt nippte an seinem Korn und lachte.
«Na – du, Otto!» sagte er und knuffte dem Alten sachte seinen Daumen an die Schulter. «So eine gute Beamtenpension möchte ich wohl haben. Unsereins kann sich genaugenommen überhaupt nie leisten, mit der Arbeit mal aufzuhören. Ich bin ja auch schon in den Sechzigern, Otto – aber da ist kein ruhiges Alter in Sicht! Nichts für ungut, Otto – prost!» Er kippte das klare Getränk hinunter und zündete sich eine Zigarette an. Durch den dunkelgrünen Filzvorhang an der Tür zur Straße kamen mehrere Männer. «Ah – da kommen die ersten!» sagte Fintzel. «Also gut, Klaus: Am dritten März abends. Mach was für etwa – na ja, sagen wir fünfhundert – du weißt schon. Die genaue Zahl der Gäste sag ich dir noch. Einverstanden?» «Alles klar!» sagte der Wirt noch und wiederholte: «Dritten März abends, kaltes Büfett, etwa zwanzig Leute – rund fünfhundert Eier… ist gebongt, du wirst zufrieden sein, Otto!» Er stand auf. Auch Fintzel erhob sich. «Singst du mit heute abend?» fragte der Wirt. «Ich glaube nicht, daß ich es schaffe», erwiderte Möhlmann. «Wir haben morgen ein Essen für vierzig Leute. Der Verband reisender Kaufleute. Jahrestagung. Da muß ich noch ‘ne Menge vorbereiten. Vielleicht, daß ich später ‘ne halbe Stunde…»
8
Walter Hanebutt kam aus der Wohnung, die im ersten Stock des alten Hauses über der Apotheke lag, frisch rasiert, nach Lavendel duftend und in seinem dunkelblauen Blazer, für den er eigentlich zwanzig Jahre zu alt war. Er trat ins Labor. «So… fertig!» sagte er. «Ich auch», sagte seine Tochter. «Hier ist dein Opodeldok für den hypochondrischen Sangesbruder, Väterchen! Und aufgeräumt hab ich auch schon. Hast du was gegessen?» Sie zupfte ihm ein Fusselchen vom Revers und zog ihm die Krawatte zurecht, die ein wenig schief saß. «Danke, Eddamädchen», sagte Hanebutt und tätschelte seiner Tochter, die fast einen ganzen Kopf größer war als er, unbeholfen die Wange. «Aber ich kann jetzt nichts mehr essen. Es ist schon zu spät. Und Fiedler macht immer gleich Sprüche, wenn man nicht pünktlich kommt. Das ist ja im Prinzip auch richtig. – Ich laß mir von Klaus Möhlmann was machen, wenn die Bässe üben und wir Pause haben. Paar Spiegeleier oder so was…» Edda half ihrem Vater in den Mantel. «Sieh dich bloß vor, daß er sie nicht mit Hundefett brät!» sagte sie. «Du kannst ihn nicht ausstehen, wie?» fragte Hanebutt. «Ein Ekelpaket!» sagte sie böse. «Wie der Frauen immer anguckt. Als ob er einen gleich ausziehen wolle. Widerwärtig – überhaupt ein widerwärtiger Patron!» «Ich glaube, da bildest du dir was ein, Edda», beschwichtigte Hanebutt seine Tochter. «Möhlmann ist kein schlechter Kerl!»
Er war auf halbem Wege zwischen Labor- und Apothekentür stehengeblieben, band sich den Schal um und setzte den Hut auf. «Ich sehe ihn immer noch als Jungen, Edda. Du wirst dir das heute nicht mehr vorstellen können – es gibt ja auch keine Fotos mehr, leider. Vor lauter Angst haben alle Leute alles vernichtet, was sie in Verbindung mit den Nationalsozialisten hätte bringen können, als die Amis kamen – fünfundvierzig, weißt du! Aber du hättest ihn mal sehen sollen, damals, Mädchen, den Klaus Möhlmann! Er ist ein halbes Dutzend Jahre jünger als ich – oder noch mehr – ich weiß nicht… doch sogar wir Älteren haben ihn bewundert!» Edda hatte sich bis dahin den Vortrag ihres Vaters mit hochgezogenen Augenbrauen angehört. Jetzt schaltete sie sich ein: «Bewundert? Ihr habt ihn bewundert?» «Ja», sagte Hanebutt, «bewundert, Edda! Er war der schneidigste Jungzug- und später Fähnleinführer der Stadt! Und sein Haufen – äh – ich meine, seine Einheit war so auf Zack, daß sogar der Jungbannführer… aber ach, lassen wir das!» Er brach mit einer resignierenden Handbewegung ab und wandte sich zur Tür. «Ich wußte gar nicht, daß du noch so aktiv in der Hitlerjugend gewesen bist, Vater!» sagte Edda. «Was heißt aktiv…» sagte der alte Apotheker. «Du mußt das in der Zeit sehen. Es gab ja nichts anderes für uns. Und für Jungens war das eine große Sache: Uniform und Trommeln und Fahnen und Lagerfeuerromantik und so weiter… Ich war im Jungvolk, wie Klaus – wie Möhlmann. Nur bis sechsunddreißig. Zuletzt war ich Stamm-Pressewart… naja. Und dann habe ich ja studiert und war weg von hier. Aber du kannst mir glauben, daß alle den Klaus prima fanden – alle!»
Edda verbiß sich eine böse Bemerkung und sagte nur kopfschüttelnd: «Der fette Möhlmann als Knabenidol!» Hanebutt zuckte die Achseln. Er ging zur Tür. Als er sie öffnete, kam ihm Frau Kroll entgegen. «Oh, Herr Hanebutt», rief sie, «wollten Sie gerade zumachen? Ich brauche noch ein bißchen was zur Beruhigung…» «Wir haben eigentlich schon zu, Frau Kroll», sagte der Apotheker, «aber meine Tochter gibt Ihnen was! – Gibst du Frau Kroll bitte ein Sedativum, Edda?» «Mach ich, Väterchen», sagte Edda Hanebutt, «und nun lauf schon los zu deinem Gesangverein! Sonst schimpft der Herr Fiedler… oder dein Fähnleinführer!» Hanebutt grinste verlegen, schüttelte den Kopf und ging hinaus. «Was denn für ein Fähnleinführer, Fräulein Doktor?» fragte Frau Kroll. «Ach… mein Vater hat mir gerade erzählt, daß der Wirt vom ‹Deutschen Haus› mal so was gewesen ist…» «Ja, das weiß ich noch», sagte Frau Kroll eifrig, «Klaus Möhlmann, natürlich! Ich hab auch für ihn geschwärmt als kleines Jungmädel. Schneidiger Junge, der Klaus! – Aber dann, nach dem Krieg, da war es eine ganze Weile ziemlich still um ihn. Da war auch was mit ‘ner Anzeige.» «Anzeige? Hat ihn einer angezeigt? Und weshalb?» «Jaja – es hat ihn jemand angezeigt…» Frau Kroll schloß die Augen und legte den Kopf ins Genick, um die Erinnerung zu zwingen – «Ich weiß nicht mehr genau, ich glaube, sie haben ihm Schwierigkeiten gemacht, weil er im letzten Kriegsjahr jemanden angeschwärzt hatte – bei der Partei oder bei der Gestapo – irgend so ‘ne finstere Sache. Aber ich kriege es nicht mehr zusammen. Mein Mann hat mir das ausführlich… aber mein Gedächtnis… nein, ich weiß wirklich nicht mehr.»
«Naja», sagte Edda Hanebutt, «das ist ja heute auch kaum noch wichtig. Bestraft wird es sowieso nicht mehr - und bei bestimmten Leuten gilt es ja schon wieder als ehrenvoll, ein strammer Nazi gewesen zu sein. Ist es nicht so?» «Ich weiß nicht», sagte Frau Kroll. «Ich interessiere mich nicht für Politik…» «Da haben Sie recht», sagte Edda Hanebutt spöttisch – aber Frau Kroll spürte den Spott nicht. «Das ist Männersache! – Ein Beruhigungsmittel wollten Sie? Zum Schlafen?»
9
Das Klubzimmer des Hotelrestaurants ‹Deutsches Haus› war altdeutsch eingerichtet und entsprechend gemütlich, zumal die eichenen, handgeschnitzten, hochlehnigen Stühle und der lange, zirka sechs Zentner schwere Tisch schwarz gebeizt den Frohsinn einer Friedhofskapelle verbreiteten. Unterstützt wurde die düstere Drechsel- und Schnitzpracht von einem flachen, ebenfalls schwarz gebeizten und mit Handschnitzerei verzierten Wandschrank, hinter dessen Butzenscheibentür die Fahne des MGV Euterpe zu sehen war. Auch die zwei schmalen, hohen Fenster hatten Butzenscheiben aus buntem Glas, was die weihevolle Stimmung im Raum sehr erhöhte. Wer damit noch nicht zufrieden war, wem der Sinn nach noch mehr deutscher Kunst und Kultur stand, der brauchte nur die Pokale und Plaketten zu betrachten, die auf dem – selbstverständlich schwarz gebeizten und mit einem Handschnitzfries verschönten – Sims an der Längswand aufgereiht standen. Die detaillierte Beschreibung dieser Trophäen, auf denen sich nackte Damen und Herren von Daumen- bis Unterarmgröße in Silber und Gold, Kupfer und Ebenholz, Stein und Porzellan tummelten, wäre zwar kulturhistorisch wie psychologisch interessant – würde aber zu weit ab vom Thema führen. Das Thema sind nicht die Helden auf dem Sims, sondern die Herren am Tische. Achtundzwanzig waren an diesem Donnerstag versammelt. Der MGV Euterpe zählte vierundvierzig Mitglieder. Neun davon hatten mehr eine Fördererfunktion oder waren aus
repräsentativen Gründen geworben und aufgenommen worden. Der Stadtdirektor zum Beispiel und der Polizeichef Endwardens, die beide niemals mitgesungen hatten oder mitsingen würden – aber ihre Namen zum Schmuck und zur Aufwertung der Mitgliederliste zur Verfügung gestellt hatten. Fünf, sechs fehlten immer, mal aus geschäftlichen, mal aus familiären, mal aus gesundheitlichen Gründen… und einer oder zwei kamen stets zu spät. Wie immer saßen die selben Tenöre an der linken Seite des langen, schweren Tisches, hatten die Baritone in der Mitte Platz genommen und die Bässe rechts. Alle hatten Biergläser vor sich und dicke schwarze Kunstledermappen. Vor dem Tisch, mit dem Rücken zur Schiebetür, die in die Gaststube führte, stand Lothar Fiedler, der Chorleiter, ein magerer und meist mürrischer Musiklehrer, der sich autoritär gebärdete und überzeugt war, respektiert zu werden, obschon er, genaugenommen, nur lächelnd geduldet wurde. Halb rechts hinter ihm, neben der Schiebetür, stand das wackelige Klavier. Es war aufgeklappt und zeigte die Tasten wie ein altes Pferd die Zähne – ja, auch so wackelig und gelb. Vor Fiedler stand ein stakeliger Notenständer, darauf lag ein Stapel loser Notenblätter, in dem Fiedler jetzt herumsuchte. Die achtundzwanzig Versammelten, Männer aller Altersklassen zwischen Mitte Zwanzig und Ende Siebzig, redeten durcheinander. Der Chorleiter klatschte in die Hände. Allmählich wurde es ruhiger. «Aufstehen, Sangesbrüder!» befahl Fiedler. Die Männer erhoben sich. Durch die Schiebetür kam jetzt noch Hanebutt. Er dienerte nach allen Seiten und hob mit einer um Entschuldigung bittenden Geste die Hände zu Fiedler. Der nickte ihm jovial zu und hob nun seinerseits die Hände zum Dirigieren.
In die Stille hinein rief Max Schreiber, der Spaßvogel des Gesangvereins, dem Apotheker zu: «Hast fix noch einen vergiftet, Walter, wie?» Alle lachten – nur Fiedler und Hanebutt nicht, der jetzt an seinem Platz bei den Tenören stand. Nun gab Fiedler summend den Ton an und das Zeichen zum Einsatz, und die neunundzwanzig Männer sperrten die Münder auf und sangen aus voller Brust: «Grüß Gott mit hellem Klang! Heil deutschem Wort und Sang…» Das ist der ‹deutsche Sängergruß›, und er wird vor jedem Singeabend in nahezu allen deutschen Gesangvereinen geschmettert, als Ouvertüre, sozusagen. «Ich danke euch, Sangesbrüder!» tönte Fiedler. «Unser Vorsitzender, Sangesbruder Herbert Knobloch hat jetzt das Wort!» Alle setzten sich. Viele griffen zum Bierglas. Aus der Riege der Bässe kam ein völlig kahler Mann vor den Tisch. Sein Kopf war wirklich ohne jedes Haar, auch die Wimpern waren nur winzig, Augenbrauen hatte er gar nicht. Knobloch, von Beruf Ingenieur und Besitzer einer Heizungsbaufirma, ein wohlhabender und ehrgeiziger Mann, der vor vier Jahren wie ein Berserker um den Vorsitz des bürgerlichen Gesangvereins gekämpft hatte – Knobloch also sagte: «Liebe Sangesbrüder, ehe wir mit dem Singen beginnen, muß ich einiges ansagen…» «Gibt’s Freibier?» fragte einer der Bässe. Lacher. «Weil Herberts Schwiegermutter gestorben ist, was?» fragte der Spaßvogel Schreiber. Großer Lacher. Fiedler, der neben dem Vorsitzenden stehengeblieben war, rief unwirsch: «Wenn das ein Witzabend werden soll, kann ich ja nach Hause gehen!» Gemurmel. Gekicher.
«Ruhe, bitte!» rief nun Oberstudienrat Rainer Bundschuh mit der geübten Lehrerstimme. «Sonst läßt euch der Herr Studienrat nachsitzen!» sagte einer vom Bariton. Lacher. «Oberstudienrat!» verbesserte ein anderer. «Mach dir nichts draus, Rainer!» sagte Hanebutt zu Bundschuh, der die Stirn runzelte. «Albernheiten…» knurrte Bundschuh. Knobloch hob die Hände und bewegte sie, als wolle er die Unruhe wegwischen. «Kann ich jetzt wohl mal…?» fragte er. «Woher sollen wir denn wissen, ob du mal kannst, Herbert?» rief Schreiber und überzog damit sein Konto als Vereinskasper. «Ruhe jetzt!» – «Ruhe, zum Donnerwetter!» riefen nun mehrere. Zischen. Noch ein einzelner Lacher. Stille. Knobloch sagte: «Am neunzehnten März findet also, wie ihr vielleicht schon alle wißt, in Neustadt in der großen NordlandHalle der diesjährige Landes-Sängerwettstreit statt. Dazu spielt das Neustädter Mandolinenorchester, die Akkordeongruppe Roßkämper und der Spielmannszug des TSV Neustadt. Jeder Verein darf drei Lieder singen. Der Liedausschuß hat ja die drei Lieder, die wir singen werden, schon ausgewählt. Wenn wir einen Preis erringen wollen, liebe Sangesbrüder, müssen wir stramm üben. Ich habe deshalb mit Lothar einen Übungsplan ausgearbeitet und bitte euch, die Daten zu notieren, die ich jetzt ansage. Das geht morgen mit einem zusätzlichen Übungsabend der Tenöre los… am Montag…» Knobloch redete. Da er sonst nicht oft Gelegenheit zum Reden hatte, zumal auch seine Frau nie zuhörte, wenn er was sagte, nutzte er seine Chance als Vorsitzender des
Männergesangvereins Euterpe genießerisch aus und hielt oft endlose Ansprachen, die sicher noch länger ausgefallen wären, wenn sich Lothar Fiedler, der Chorleiter, nicht stets – nach zehn, fünfzehn Minuten – eingeschaltet hätte. Auch an diesem Donnerstagabend ging das so vor sich. Schließlich aber, die ersten Biere waren schon getrunken, kamen sie doch dazu, das erste Lied zu singen. Es war ein wunderschön sentimentales Lied, in dem Bächlein leise flossen und von fern eine Glocke hallte, während das Veilchen still im Grase betete… unsagbar schön und ein Gefühlsvollbad für tremolierende Stimmbänder. Auch die Intellektuellen unter den Sängern, der Apotheker, der Oberstudienrat, der Buchhändler, der Zahnarzt – auch die sangen den Edelkitsch mit Hingabe: «… in allen Wipfeln rauschet es der dunkle Wald…» und so weiter. Volle Pulle Gemüt zwischen altdeutscher Eichenholzhandschnitzkunst, Biergläsern und dem dumpfwohligen Gefühl von brüderlicher Kameradschaft und Gemeinsamkeit.
10
Die Straße zum ‹Deutschen Haus› bog rechtwinklig von der Hauptstraße ab. Sie hieß Gneisenaustraße. Von ihr zweigten die Moltkestraße ab, die Scharnhorst-, die Bismarck-, die Lüderitz- und die Roonstraße. Da war eine Ansammlung großer deutscher Vergangenheit in Straßennamen zu finden – allerdings gab es keine Marx-, Bebel- oder Liebknechtstraße. Das wäre für die Endwardener Bürger-Parlamentarier auch zuviel Geschichtsbewußtsein gewesen. Die Gneisenaustraße entlang, auf das ‹Deutsche Haus› zu, liefen zwei der Jungen, die vor einer knappen Stunde dem Oberstudienrat Bundschuh ihre Rock ‘n’ Roll-Glanznummer vorgespielt hatten. Uwe Nowak schob sein Fahrrad. Peter Reißig ging neben ihm her. Die Straße war menschenleer. Es war so kalt, daß der Atem der Jungen zu sehen war, trotzdem gingen die zwei ziemlich langsam. «Ich verstehe überhaupt nicht, daß du nicht auf den Bundi kannst, Uwe!» sagte Peter. «Ich find, der ist schon okay. Nicht gerade ‘n Heuler, nee, aber ziemlich fair und gegen jeden gleichmäßig.» «Das ist es auch nicht, was mich nervt», sagte Uwe. Er hatte einen Zahnstocher im Mundwinkel und kaute darauf herum, deshalb klang das, was er sagte, recht undeutlich. «Was denn sonst?» wollte Peter wissen. «Daß er nie richtig lacht? Der ist eben so ‘ne ernste Type. Solche gibt’s doch mehrere. Aber wenn ich an den ollen Hauser denke, Mann, der mit seinem öligen Grinsen in einer Tour, wenn er seine Sprüche abläßt… Der ist doch nicht echt, Mann! Hat mir ‘ne
Sechs verpaßt in der Mathe-Arbeit, volles Pfund – und ganz ungerecht und echt tückisch. Da ist mir so ‘n Superkorrekter, so ‘n Korinthenkacker wie der Bundschuh aber dreimal lieber! Da weißt du wenigstens, woran du bist…» «Bestreite ich ja gar nicht», meinte Uwe. «Das ist es nicht… Doch mein Alter hat mir eine Geschichte von dem erzählt. Da flippst du aus, Peter! Ganz böse Kiste!» Sie waren vor dem Schaufenster des Wäsche-, Trikotagenund Corsettagengeschäfts Sengebiel stehengeblieben. Da standen einige Busenbüsten – nur Busen, keine Köpfe oder sonstigen Körperteile – zwischen den dekorierten Nachtgewändern und Morgenröcken. Die fleischfarbenen Frauensegmente waren mit spitzenbesetzten, rüschenverzierten Büstenhaltern in vielen Farben und – teilweise kuriosen – Formen bestückt. Uwe und Peter sahen sich das Angebot an, doch sie verzogen weder die Lippen, noch machten sie Bemerkungen dazu, wie sonst – sie wandten sich ab und drehten den Figuren ihre Rücken zu. «Böse Kiste?» fragte Peter neugierig. «Was denn? Hat er eine aus seinem Literaturkurs angebumst? Oder was?» «Der und bumsen – da lachen die Hühner! Bundschuh, haha! Nee… ich soll da nicht drüber reden. Hab ich meinem Vater versprochen!» Peter war sauer. Er ging weiter. Uwe schob sein Rad nebenher. «Finde ich echt doof, Uwe!» schimpfte Peter. «Erst machste mich spitz – böse Kiste und so –, und nachher kommste nicht raus mit dem Plot! Also los, sag schon! Was hat Bundi auf dem Kerbholz?» Uwe antwortete nicht. Sie liefen schweigend nebeneinander her. Uwe Nowak ärgerte sich, weil er sich mit den Andeutungen über Bundschuh
zwischen zwei Stühle gesetzt hatte – hier die Freundschaft mit Peter… da das Versprechen, das er seinem Vater gegeben hatte. Und Peter war richtig gekränkt. Als sie die rotgraue Backsteinfront des Hotels ‹Deutsches Haus› erreichten, sangen die Euterpe-Mitglieder gerade zum zweitenmal ihr gefühlvolles Lied. Neben den bunten Butzenscheiben der Klubzimmerfenster befand sich ein Ventilator in der Wand. Der war geöffnet. Aus der runden Öffnung klang, wie aus einem Lautsprecher, der Gesang: «… in allen Wipfeln rauschet es der dunkle Wald. Alle Bächlein leise fließen, alle Vöglein wonnig grüßen, und von fern die Glocke hallt…» Die Jungen waren direkt unter dem Ventilator stehen geblieben und lauschten. Peter grinste. Uwe zog die Mundwinkel nach unten. «Nun hör sich das einer an!» sagte er. «Irre! Hast du schon mal ein Vöglein wonnig grüßen gesehen?» «Da singt mein Alter auch mit!» sagte Peter. «Und Bundschuh…» sagte Uwe. «Ja – und Bundschuh», wiederholte Peter. «Also los, Uwe – was ist mit dem?» Uwe Nowak gab sich einen Ruck, sah sich sichernd um, beugte sich dann zu seinem Freund und flüsterte ihm etwas ins Ohr, während aus dem Ventilator die Stimmen des Männerchores erklangen: «… am Zaun das Veilchen betet still im Gras für sich … Rose hebt die süßen Augen, und die roten Lippen hauchen ein Gebet demütiglich…» «Nein!» rief Peter, der Uwe mit wachsendem Entsetzen zugehört hatte. «Wenn ich es dir sage!» bekräftigte Uwe.
«Erschossen…?» flüsterte jetzt Erschossen?» «Ja – erschossen!» sagte Uwe.
Peter.
«Sag
bloß?
Im Klubzimmer hinter der Mauer hatten sich die Sänger schwer atmend gesetzt. «Ich danke euch, Sangesbrüder!» sagte Fiedler. «Das war schon sehr ordentlich! Wir sollten uns übrigens dieses Lied merken. Das ist mit Sicherheit was für unser Konzert im Altersheim. Das wird den alten Leutchen dort außerordentlich gefallen, glaub ich! – Aber jetzt zur Abwechslung was Heiteres, Freunde! – Nummer 5, bitte!» Alle blätterten in ihren Notenmappen. Die alten Mitglieder, die alle Lieder und die dazugehörigen Nummern im Kopf hatten, summten schon die Melodie. Fiedler ging ans Klavier und schlug b an. «Fertig?» sagte er, als die neunundzwanzig sich erhoben hatten. «Bitte, Luft holen, jaaa! Luft, Luft, Luft – das ist das wichtigste!» «Aber nicht hinten raus, Kameraden!» ulkte Schreiber. Einige lachten. Fiedler rügte: «Du bist heute wieder besonders witzig, Max! Kannst du dir nicht ein bißchen was davon für später aufheben?» Die Wirtin steckte den Kopf durch die Tür und winkte ihrem Mann. Möhlmann hatte sich vor zehn Minuten erst hereingeschlichen und während des gemütvollen Liedes zwischen Hanebutt und Fintzel gestellt, um mitzusingen. Jetzt ging er mit wütendem Gesicht wieder hinaus. «Achtung!» rief Fiedler, hob die Hände, schlug einen Vortakt – dann setzte der Chor mit Kraft und großer Lautstärke ein:
«Johann, nu spann de Schimmels an…» – und die achtundzwanzig ruckten mit Kehlen und Köpfen, daß es eine Lust war.
Vor der Schiebetür erwartete Lydia Möhlmann ihren Mann. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt in die Taschen ihres weißen Kittels gestopft und zischte ihn an: «Du singst – und ich mach inzwischen alles alleine, wie? Das neue Faß ist noch nicht angestochen, und mit Körner hast du auch noch nicht telefoniert, wegen dem Fleisch für morgen. Aber bei den Saufbrüdern mitsingen! – Ich möchte mal sehen, was du für ein Gesicht machen würdest, wenn ich beim Damenkegelklub mitkegeln würde mitten in der Geschäftszeit und ließe dich allein mit dem ganzen Betrieb!» Klaus Möhlmann hatte sich an ihr vorbei hinter die Theke geschoben und angelte sich jetzt die Kornflasche aus dem Kühlfach. Die Wirtin nahm ihm die Flasche aus der Hand, drückte den Korken, den er schon gelockert hatte, wieder drauf und stellte sie beiseite. «Laß das!» zischte sie. «Hee, Lydia?!» begehrte er auf. «Was soll das denn?» – und wollte wieder nach der Flasche greifen, aber sie schlug ihm, nach einem kurzen, sichernden Blick in die Runde (die Gaststube war fast leer, nur drei Männer saßen neben dem Zigarettenautomaten und spielten Karten, und ein einzelner saß mit dem Rücken zur Theke und las in einer Illustrierten) – sie schlug ihm also kurz und hart auf die Hand: «Du sollst das lassen, hab ich gesagt! Tu was und sauf nicht! Wenn ich mir schon kein Vergnügen leiste…» Möhlmann versuchte, sie friedlich zu stimmen: «Ich hab nie was dagegen gesagt! Nie, Lydia, das mußt du zugeben! Von mir aus könntest du ruhig mitkegeln mit den Damen, wenn es
dir Spaß macht. Ich kann gut mal ‘n Abend den Laden alleine machen…» «Was du wohl alleine machst», erwiderte Lydia Möhlmann bitterböse. «Das kann ich mir lebhaft vorstellen: Elfie an die Wäsche, alter Bock! – Aber das seh ich mir sowieso nicht länger an! Glaub bloß nicht, daß ich eifersüchtig bin. Ich pfeife auf deinen schmierigen Sex, mein Lieber, und von mir aus kannst du vögeln, wen du willst – wenn du es überhaupt noch zustande bringst. Doch hier im Geschäft läßt du die Pfoten von den Mädchen, mit denen ich arbeiten muß, verstanden? Sonst vergeß ich mich eines Tages, sag ich dir, und – » Sie brach ab. Ihr drohender, verbiesterter Gesichtsausdruck wechselte plötzlich zu einem honigsüßen Lächeln, denn aus der Schiebetür zum Klubraum quollen die Sangesbrüder und setzten sich in Gruppen an die freien Tische. Klaus Möhlmann schob frische Gläser unter den Bierhahn und drehte ihn auf. Zigaretten wurden angezündet. Die Wirtin ging von Gruppe zu Gruppe und begrüßte die Sänger. Es gab Rufen, Begrüßungsfloskeln, Späßchen und Lacher. «Hallo, Frau Wirtin, das Leben noch frisch…?» «Haste ‘ne schöne saftige Frikadelle für ‘n hungrigen Baß, Lydia? Und viel Senf! Scharfen Senf für ‘n scharfen Verehrer, haha!» – und so weiter. Möhlmann hatte sich heimlich fix einen doppelten Korn einverleibt und zapfte flink zwei Dutzend Biere. Er arbeitete schnell und mechanisch und sah beflissen, untertänig, hündisch seine Frau an, als sie an ihm vorbei in die Küche ging. Er lächelte ihr schief zu – sie reagierte darauf mit einem verächtlichen Lippenschürzen und scheuchte den alten Kellner auf, der am Küchentisch saß und Kaffee trank: «Auf, Herr
Kramer!» sagte sie so scharf, daß der alte Mann sich vor Schreck Kaffee aufs Jackett kleckerte. «Auf, auf! Draußen ist Betrieb! Wir haben Sie nicht zum Kaffeetrinken angestellt – also bitte, bißchen dalli!»
11
Am großen, runden Tisch in der Mitte des Restaurants hatten sechs der Tenöre Platz genommen, dabei waren Oberstudienrat Rainer Bundschuh, Apotheker Walter Hanebutt, Amtmann i. R. Otto Fintzel und der Spediteur und Fuhrunternehmer Hermann Kroll junior. Die Herren rauchten alle außer Bundschuh. Hanebutt und Fintzel hatten sich Zigarren angezündet. Zwischen Krolls Zeige- und Mittelfinger klemmte eine schwarze, französische Zigarette jener Sorte, die außer nach brennendem Holz und Papier auch noch nach glimmenden Hufspänen riecht. Sie hatten alle bei dem Kellner Bier bestellt und viele bei Lydia Möhlmann was zu essen. Es war laut im Lokal. Der Gast mit der Illustrierten – ein Textilvertreter –, dem die Gesangsprobe nebenan vorhin heftig auf die Nerven gegangen war, hatte sich, als die Sangesbrüder zur Pause ins Restaurant strömten, gerächt. Er hatte den Musikautomaten neben der Tür zu den Toiletten vorprogrammiert, indem er die vier ElvisPresley-Nummern gewählt und dafür Geld eingeworfen hatte. Nun knödelte Presley, vom Gehämmer der Band unterstützt, und die Sänger mußten, wenn sie sich unterhalten wollten, einige Grade lauter reden. Das war anstrengend und behinderte außerdem den Austausch des aktuellen Kleinstadtklatsches, weil man sein Wissen vom Verhältnis des Drogisten Höllriegel mit der katholischen Kindergärtnerin ebensowenig laut über den Tisch rufen konnte wie die Frage nach der Höhe der Bestechungssumme, die Bauunternehmer Rust dem Redakteur Vock für die überschwengliche Lobeshymne bezahlt habe, die Vock vorgestern im Tageblatt auf die großen Verdienste Rusts
für den Wohnungsbau Endwardens gesungen, nein, geschrieben hatte. Der Textilvertreter hinter seiner Zeitschrift grinste triumphierend, weil Elvis’ Stimme die Kommunikation der Sänger wirklich erheblich störte. Am großen, runden Tisch tönte Bundschuh: «Ich überlege schon die ganzen letzten Jahre, was wir tun können, um frisches Blut in den Verein zu kriegen. Aber die Jugend heute, die singt nicht, glaube ich. Und wenn, dann so amerikanisches Zeug…» Er deutete auf die Musikbox. «Beat und Rock und so. Du bist da sicher besser informiert, Hermann, wie?» Hermann Kroll fuhr zusammen. Er fuhr noch immer zusammen, wenn Bundschuh ihn ansprach, obwohl es neun Jahre her war, daß er vor ihm auf der Schulbank gesessen und in Deutsch und Gemeinschaftskunde unterrichtet worden war. «Ich?» fragte er. «Haben – äh – hast du mich gefragt?» Das unter Sangesbrüdern übliche Du fiel Kroll dem Lehrer gegenüber schwer, denn er hatte ihn damals sehr gefürchtet, weil Deutsch sein schwächstes Fach war. «Ja», sagte Bundschuh, der die Verwirrung des jungen Mannes bemerkte und als immer noch wirkenden Respekt ansah und genoß. «Ich… ich mach mir… nichts aus Beat- und Rockmusik!» sagte Kroll junior, und das klang tatsächlich wie die Antwort eines verschüchterten Schülers. Hanebutt, der Bundschuh schon deshalb nicht so recht leiden konnte, weil dieser nie krank war und seine seltenen kleinen Wehwehchen statt mit Aspirin oder ähnlichem mit Kräutertee zu kurieren pflegte, den er noch dazu im Reformhaus kaufte – Hanebutt also sprang dem jungen Kroll bei: «Du bist auch eine Ausnahme, Hermann! Eine rühmliche, ja, aber eine Ausnahme! Sonst wärest du ja wohl auch kaum der einzige Jüngling in unserem Verein, wie?»
Er lachte und klopfte dem gequält Lächelndem auf die Schulter. «Na… Walter, weißt du…» erwiderte Kroll, «… ist nett gemeint…aber Jüngling ist ja wohl ein bißchen übertrieben, was?» «Gegen mich bist du ein Säugling, Hermann!» schaltete sich Otto Fintzel ein. «Wie alt – Pardon – wie jung bist du?» «Immerhin bald siebenundzwanzig!» sagte Kroll junior. «Siebenundzwanzig!» Fintzel schlug verzückt die Augen gen Himmel, so daß die roten Äderchen in den gelben Augäpfeln sichtbar wurden. «Siebenundzwanzig! Da könntest du ja der Bruder meiner Urenkel sein!» Oberstudienrat Bundschuh verstand das nicht. «Wie bitte?» fragte er nervös zwinkernd, weil ihm das andauernde Presley-Gesinge zunehmende Schwierigkeiten bereitete. «Ich verstehe nicht… der Bruder deiner… wie bitte?» Der alte Kellner brachte ein Tablett gefüllte Biergläser, die stürmisch begrüßt wurden. «Haah!» rief Hanebutt. «Das Bier!» «Der edle Gerstensaft!» sagte Bundschuh, dessen Frage an Fintzel offenblieb. «Die kühlen Blonden!» kicherte Fintzel. Sie prosteten sich zu und tranken. «Das Essen kommt auch gleich!» sagte der Kellner und schlurfte zum Nebentisch.
Die zwei Jungen waren vor Reißigs Haus angelangt. Alle Fenster waren dunkel. «Keiner zu Hause bei euch?» fragte Uwe. «Nee», erwiderte Peter Reißig, «mein Vater ist beim Singen, wie gesagt – und meine Mutter ist in der Volkshochschule.»
«Was macht sie denn dort?» «Sie poliert ihr Englisch auf.» «Will sie nach England?» «Bestimmt nicht. Was soll sie denn in England?» «Na, Urlaub oder so… Weiß ich doch nicht! Warum lernt sie sonst Englisch?» «Sie hat gesagt, sie will Dickens im Original lesen können.» «Himmel, hast du ‘ne Mutter, Mann! Find ich irgendwie doll! Meine liest bloß, ob Königin Beatrix noch ‘n Kind kriegt oder Soraya am Grab des Schah einen Rosenstrauß niedergelegt hat oder warum Prinzessin Hohenlohe nun doch nicht mit dem englischen Thronfolger Tennis spielen will – lauter so’n Scheiß.» «Willst du noch eben mit reinkommen?» fragte Peter, indem er die Haustür aufschloß. «Ich finde sicher ‘ne Flasche Bier irgendwo!» «Nee, danke!» sagte Uwe. «Ich muß noch Bio fertigmachen.» Peter hatte sichtlich noch was auf dem Herzen: «Sag mal – » hob er zögernd an, «weiß eigentlich keiner außer deinem Alten was von der Sache Bundschuh?» «Ich glaube nicht», sagte Uwe Nowak, «sonst könnte der sich doch nirgends mehr blicken lassen.» «Und warum hängt’s dein Vater nicht an die große Glocke?» «Das hab ich ihn auch schon gefragt…» «Na – und?» «Er sagt, das bringt nichts. ‹Damit wird der Tote auch nicht wieder lebendig›, sagt er. – Ich finde ja auch, wir sollten da was draus machen…» «Was draus machen? Mann, Uwe, was willst du denn dadraus machen?» «Das weiß ich auch nicht – irgendwas, das Bundschuh die Sprüche versalzt, die er immer losläßt, weißt du… Neulich erst wieder, erinnerst du dich? ‹Tu deine Pflicht so lange, bis sie
deine Freude wird› – Himmel, Arsch und Zwirn! Und eine ganze Stunde Gelaber über Pflicht und Selbstzucht und Gehorsam und all den verquasten Quatsch…» «Na ja», warf Peter ein, «aber er meint das ja ehrlich, wenn er davon redet.» «Hör doch auf, Mensch! Ehrlich! Das stimmt hinten und vorne nicht mehr, wenn du weißt, er hat vor lauter falsch verstandenem Pflichtbewußtsein so was gemacht…» «Das ist richtig», gab Peter zu, «aber was willst du denn machen?» «Ich sag ja, ich weiß es noch nicht – irgendwas! Das ist so ein Hammer, Peter! Vielleicht fällt mir was ein. Nacht, denn!» «Nacht!» sagte Peter und sah ihm nach, wie er davonradelte.
Obschon der Chorleiter Lothar Fiedler bereits zweimal versucht hatte, die Sangesbrüder zum Weitersingen zu bewegen, saßen sie immer noch im Restaurant, tranken und redeten. Seine Versuche waren bei einigen auch an dem Argument gescheitert, daß sie hungrig seien und was zu essen bestellt hätten. So lange könne er ja wohl warten, verflixt noch mal, so weit gingen ja wohl seine Chorleiterbefugnisse nicht, daß er sie darben lassen dürfe. Da kamen auch Möhlmann und der Kellner und brachten und verteilten die Bockwürste, Spiegeleier, Schinkenbrote und Frikadellen mit dem dazugehörigen Kartoffelsalat und so weiter. «Guten Appetit, allerseits!» wünschte Bundschuh. «Hab ich, danke!» sagte der alte Fintzel und langte zu, als habe er seit zwei Tagen nichts gegessen. «Wenn bei mir alles noch so gut wäre wie der Appetit, Freunde…»
«Na aber, Otto!» sagte Hanebutt mit vollem Munde. «Dir fehlt doch nichts! Wenn ich lauter solche schlechten Kunden hätte wie Rainer und dich, wäre ich längst pleite.» «Gegen das, was mir fehlt, gibt’s ja keine Medikamente, Walter. Oder hast du was gegen kein Gedächtnis?» sagte Otto Fintzel. «Gegen was, bitte?» fragte Bundschuh, der aus irgendeinem Grunde heute abend harthörig zu sein schien, denn er mußte auch jetzt noch, obwohl Elvis Presley längst nicht mehr sang, immer nachfragen. Vielleicht hatte die halbe Stunde Rockmusik seiner Schüler seine Trommelfelle betäubt. «Gegen Löcher in der Erinnerung, Rainer!» erklärte Fintzel. «Ich habe Sachen vergessen, das glaubt ihr gar nicht, was für Sachen.» «Die Haarfarbe deiner ersten Bettgenossin, oder was?» flachste einer der Tenöre. Fintzel griente. «Nee», sagte er, «die war dunkelbraun, soweit ich das in der Dunkelheit sehen konnte, damals!» «Am ganzen Körper?» fragte Hanebutt. «Eine Negerin – o lala! Entwicklungshelfer Otto Fintzel. Sieh mal einer an!» «Spinner!» konterte Fintzel. «Ihr Haar war schwarzbraun…» «Schwarzbraun ist die Haselnuß…» sang Klaus Möhlmann, der am Tisch stehengeblieben war und zuhörte. Alle lachten. Sogar Bundschuh, der auf zweideutige und erst recht auf eindeutige Späße immer sehr verklemmt und säuerlich reagierte, verzog leicht die vom Salat fettigen Lippen. «Nun mal im Ernst», sagte Fintzel. «Ich habe die Absicht, meinen Dachboden zu isolieren. So ‘ne wärmedämmende Verkleidung will ich annageln. Soll ja einen Haufen Energie sparen. Da muß ich aber erst mal aufräumen. Und nun stellt euch vor, was ich gefunden habe!»
«Die Leiche des Gerichtsvollziehers, den du vor zwanzig Jahren erschlagen hast, als er die Alimente eintreiben wollte, wie?» fragte Hanebutt. «Schon mumifiziert, was?» fügte einer der anderen Tenöre hinzu. Bundschuh, der gerade einen Bissen in den Mund schieben wollte, ließ angewidert die Gabel sinken: «Das ist ja wohl eigentlich kein Tischgespräch, Herrschaften!» – wovon jedoch keiner Notiz nahm, weil sie alle gespannt darauf warteten, zu erfahren, was Otto Fintzel gefunden hatte. «Nein – keine Leiche», sagte Fintzel kichernd, «aber einen uralten Koffer hab ich unter dem ganzen Gerumpel gefunden. Den hatte ich völlig vergessen. Völlig!» «Und was war da drin?» wollte Hanebutt wissen. «Goldbarren?» fragte Möhlmann. «Geld? Aktien?» fragte Kroll junior. Vom Nebentisch beugte sich Knobloch, der Vorsitzende, herüber: «Was ist los?» «Otto Fintzel hat einen uralten Koffer auf dem Dachboden seines Hauses gefunden!» erklärte Hanebutt. «Und da waren Goldbarren drin?» fragte Knobloch. Fintzel amüsierte sich: «Nun hört euch mal an, wie ein Gerücht entsteht!» sagte er. «Herbert Knobloch kriegt am Nebentisch einen halben Satz mit – und morgen steht als Schlagzeile im Tageblatt: ‹Pensionierter Kreisamtmann findet Millionenvermögen› – haha!» «… und heiratet junge Negerin!» fügte Hanebutt zum Vergnügen der Runde hinzu. «Das fehlt mir grade noch!» gluckste Fintzel. «Und was war nun also wirklich in dem mysteriösen Koffer?» fragte Bundschuh. «Los, mach es nicht so spannend, Otto!»
«Ich weiß es ja noch gar nicht, Freunde!» sagte Fintzel. «Ich hab ihn ja noch nicht aufgemacht!» Hanebutt empörte sich: «So was! Erst spannst du uns auf die Folter, Otto – und nun ist es bloß warme Luft!» Alle nickten. Fintzel war gekränkt: «Ich weiß überhaupt nicht, was ihr wollt! Von meinem miserablen Gedächtnis hab ich erzählt und als Beispiel den alten Koffer erwähnt – und nun meckert ihr mich an, weil ich nicht weiß – noch nicht weiß – was da drin ist. Vielleicht ist ja was ganz Heißes drin, viel heißer als warme Luft…!» «Nun sprichst du in Metaphern, Otto!» sagte Bundschuh mißbilligend. «Was? In was spricht er?» fragte Möhlmann. «In Bildern, meine ich», erklärte der Oberstudienrat. «In rätselhaften Gleichnissen, sozusagen, gewissermaßen…» «Was könnte denn da Heißes drin sein in deinem Koffer, Otto?» bohrte Hanebutt. «Ist er schwer?» «Ziemlich schwer», sagte Fintzel. «Also das ist ein Koffer, den ich vierundvierzig – im Februar –, als die Kreisverwaltung abbrannte, nach dem ersten Luftangriff – einige von euch werden sich ja sicher erinnern –, da habe ich ihn in Sicherheit gebracht, weil sie ihn unter den geretteten Möbeln im Schnee hatten stehen lassen, als die anderen wichtigen Akten schon alle abtransportiert worden waren. Wahrscheinlich sind da Berichte drin, Meldungen, Protokolle – Sachen jedenfalls, die nicht jedermann sehen durfte… Was weiß ich…» Er unterbrach sich und trank einen großen Schluck Bier. Bundschuh hatte aufgehört zu essen, obschon sein Teller nicht leer war. Er hatte Messer und Gabel hingelegt und sah Fintzel an. Auf seiner Stirn glitzerten winzige Schweißtropfen. Hanebutt suchte mit zitternden Fingern in seinen Taschen nach einem Pillendöschen. Er öffnete es, entnahm ihm eine
Tablette, schluckte sie und trank schnell Bier nach, wobei er die ganze Zeit die Augen nicht von Fintzel ließ. Möhlmanns Grinsen, das noch seit der ‹jungen Negerin› auf seinem Gesicht lag, erlosch. Er ließ das Metalltablett fallen, auf dem er die Teller gebracht hatte. Das gab ein donnerndes Geschepper. Alle Männer im Lokal wandten die Augen zum runden Tisch. Ein paar Sekunden herrschte völlige Stille. Von der Tür her klang in die Stille hinein eine Stimme: «Guten Abend rundum! Schon beim Stimmbänder-Ölen, Freunde, wie?» Der untersetzte Mann, der eingetreten war, nahm die Mütze ab. Durch sein kurzgeschorenes, eisengraues Haar schimmerte rosa die Kopfhaut. Er hatte ein richtig viereckiges Gesicht mit auffallend breitem Mund und einer deformierten Nase, die nach Boxkämpfen aussah. Seine Augen waren hellgrau und schmal und flink wie Sonnenreflexe auf den Chromleisten vorüberfahrender Autos. «Ach, der Kommissar!» sagte Kroll junior erfreut. «Na endlich, Horst», rief Lothar Fiedler und stand in der Hoffnung auf, daß nun das Singen weitergehen würde. «Du hast uns echt gefehlt! Ohne dich ist der zweite Bariton mickrig!» «Nach Feierabend noch fix einen Mörder gefangen?» fragte Max Schreiber, der Witzbold. Horst Greve, der Kommissar, setzte sich zu Fintzel und den Tenören. «Für mich ein großes Pilsner, Klaus!» sagte er zu dem Wirt, der noch immer am Tisch stand und so verstört war, daß er nicht gleich antworten konnte. Er stammelte Unverständliches, räusperte sich, kriegte aber nichts heraus, bückte sich, um das Tablett aufzuheben, verschluckte sich und hustete.
«Nanu, was ist denn mit dir los?» fragte Greve. «Hat dir mein Auftritt die Sprache verschlagen?» Fintzel feixte: «Oder hast du’s mit der Angst gekriegt, in meinem Koffer könnten die Rechnungen der Hundefänger sein, von denen du immer dein Hackfleisch kaufst, Klaus, wie?» Alle, die es hörten, oder richtiger: fast alle – lachten laut und herzhaft. Auch Bundschuh und Hanebutt lachten, doch einem guten Beobachter wäre aufgefallen, daß hinter ihrem Lachen der Schreck saß. Der Wirt hatte sich abgewandt und ging zur Theke. Einer der Tenöre am runden Tisch sagte: «Das ist vielleicht ein schöner Witz, Otto, zumal ich den letzten Bissen Frikadelle noch nicht runter habe, zum Kuckuck!» «Wonach schmeckt sie denn, nach Dackel oder nach Dobermann?» fragte Max Schreiber. Der Kommissar sagte: «Ich kapier das nicht, Otto! Was ist mit dem Koffer?» Chorleiter Fiedler stand jetzt zum drittenmal auf und klatschte energisch in die Hände: «Laßt uns weitersingen, Freunde!»
12
Das Zimmer, in dem Uwe Nowak saß, war klein und winkelig. Es hatte eine schräge Wand und lediglich ein kleines Fenster zum Hof. Seltsamerweise wirkte es weder bei Tage eng noch jetzt, abends, kurz vor zehn, da es nur von einer kleinen, kaffeetassengroßen Klemmlampe erhellt wurde. Das lag an den drei großen Postern, die der Junge an die schräge Wand geheftet hatte und die alle drei gewaltige Wolkenhimmel zeigten, vor denen Sportflugzeuge kreisten. Denn Uwes Wunschtraum war es, mal Flieger zu werden. Augenblicklich jedoch war er mit etwas sehr viel Irdischerem beschäftigt. Er saß im Lichtkreis der kleinen Lampe vor seinem wackeligen Schülerschreibtisch und schnitt – vor Konzentration die Zunge in die Backe gebohrt – aus einem Stapel alter Zeitungen Wörter aus. Die Wörter lagen aneinandergereiht auf dem Schulatlas, den er links von sich hingelegt hatte. Zum Teil hatte er die einzelnen Wörter auch aus verschiedenen anderen Wörtern zusammensetzen müssen, so daß zum Beispiel das Wort ‹Bundschuh› aus einem großen ‹Bund› – ausgeschnitten aus der Zeitungsüberschrift ‹Skandal in der Bundeshauptstadt› – und aus einem kleinen ‹schuh› in anderer, kleinerer Druckschrift bestand, das einem Inserat für Schuhcreme entstammte. Der bisher ausgelegte Text lautete: ‹Bundschuh, wir wissen alles! Dein Mord vom Januar vierundvierzig wird gerächt werden, bevor die – › Jetzt suchte Uwe nach dem Wort ‹Sonne›. Er schimpfte halblaut vor sich hin, weil das in keiner der alten Zeitungen zu
finden war und er es aus: ‹Saison› und ‹Panne› zusammenfitzeln mußte. Uwe prüfte die ausgeschnittenen Wörter, fand nach kurzem Blättern den Rest: ‹zehnmal aufgehn› – so hießen die zwei Wörter, die er ausschnitt und zu den anderen legte… Dann begann er, das Ganze auf einen weißen Briefbogen zu kleben. Er grinste und bewegte den Oberkörper im Takt der Musik aus dem kleinen, plärrigen Transistorradio, die er leisegedreht hatte, damit seine Mutter nicht heraufkam. Jetzt nahm er einen roten Filzstift und malte eine fünfmarkstückgroße Hand unter die aufgeklebten Worte. Schließlich wischte er mit einem Papiertaschentuch den Briefbogen gründlich ab, faltete ihn zusammen, wozu er auch das Papiertuch benutzte und steckte ihn in ein ebenfalls abgewischtes Kuvert, das er mit Klebstoff und nicht mit Spucke schloß, weil er mal irgendwo gelesen hatte, daß die Kriminaltechnik die Blutgruppe und sonstige Merkmale eines Täters aus Spucke analysieren könne. Nun war er fertig, wickelte das Kuvert ins Papiertaschentuch, nachdem er außendrauf unter Anwendung aller Vorsichtsmaßregeln eine zweite rote Hand gemalt hatte, und steckte das Ganze zwischen die Blätter eines Lesebuches, das er in die zerbeulte Schultasche packte. Der Titel des deutschen Lesebuches hieß ‹Die gute Saat›. Ein paar Minuten saß er noch nachdenklich am Schreibtisch, dann stand er auf, stellte seinen Wecker eine Stunde früher als nötig und ging aus der Mansarde hinunter ins Wohnzimmer, in dem seine Mutter vor dem laufenden Fernseher in einem Sessel schlief. Die Zeitschriften, die sie so gern las, waren ihr vom Schoß auf den Teppich gerutscht. Vom Titelblatt des oberen Heftes guckte Prinz Klaus der Niederlande menschlich lächelnd auf die dicken Beine der schlafenden Frau.
Uwe Nowak weckte seine Mutter, indem er ihr behutsamzärtlich die Hand auf die Schulter legte. Sie schreckte hoch und blinzelte. «Ach, du liebe Güte…» sagte sie, «… bin ich doch tatsächlich wieder eingeschlafen. Das war aber auch ein langweiliger Quatsch. Früher hab ich Papa immer ausgelacht, wenn er vor dem Fernseher einschlief… und jetzt mache ich es genauso… Wie spät ist es denn?» «Kurz nach zehn, Mama», sagte Uwe, «ich geh schlafen! Morgen muß ich eine Stunde früher los. Wir haben SMVBesprechung.» «SMV?» fragte sie. «Schülermitverwaltung», sagte Uwe. «So früh! Vor dem Unterricht?» «Ja, es ist wichtig. Dann können wir ja zusammen frühstücken, oder mußt du morgen nicht halb sieben los?» «Doch – wie immer!» sagte sie. «Fein, Uwe, dann frühstücken wir zusammen. Knips mal die Kiste aus! Ich geh auch ins Bett!» Uwe schaltete den Fernseher aus und schnitt damit dem Politiker, der gerade lichtvolle Sätze über sein Demokratieverständnis von sich gab, das Wort ab. «Nacht, Mama!» sagte der Junge, beugte sich zu seiner Mutter und küßte ihr die Wange. «Nacht, mein lieber Junge!» sagte Frau Nowak und schaute ihm zärtlich nach, als er aus dem Zimmer ging. Das Schlafzimmer des Ehepaars Bundschuh war ganz herkömmlich eingerichtet. Nußbaumfurnier, Schrankwand, Doppelbett. Bundschuhs Kopfkissen höher als das seiner Frau, der kleinen Herzanfälle wegen, die ihn manchmal nachts überkamen – nicht schlimm, ‹Verschleißerscheinungen› hatte der Arzt gesagt –, und außer Else Bundschuh und dem Doktor wußte keiner was davon… und keiner durfte es wissen.
Über dem Bett hing natürlich kein Elfenreigen, aber eine Heidelandschaft in Öl. Mit Wacholderbüschen und anderen Koniferen, einem Findling im Vordergrund, der wie ein totes Nilpferd aussah, und blühender Erika. Auf dem linken Nachttisch lagen ein paar Bücher, obschon Bundschuh, der wegen der Zugempfindlichkeit seiner Frau links – also rechts von ihr an der Fensterseite – schlief – obschon Bundschuh niemals vor dem Einschlafen oder nachts las. Aber er legte sich immer mal wieder ein oder das andere Buch hin – ohne daß er hätte sagen können, warum er das tat. Else Bundschuh wachte aus dem ersten Schlaf auf, als ihr Mann nach Hause kam. Er hatte sich auf Zehenspitzen bewegt und durch das dunkle Schlafzimmer zum Bad getastet und klinkte gerade die Badezimmertür auf, als sie erwachte: «Rainer? Bist du’s?» flüsterte sie. «Aber ja», sagte er, «so eine Frage…!» «Häng deine Sachen bitte auf den Balkon, ja!» sagte sie. «Der Tabakgeruch…» «Jaja…» erwiderte Bundschuh müde und nervös. Er zog sich Jackett und Hose aus, hängte beides sorgfältig über den Bügel und öffnete, nachdem er alle Taschen geleert hatte, die Tür des Schlafzimmerbalkons, um die Sachen nach draußen zu bringen, von wo es kalt hereinwehte. Else Bundschuh knipste ihre Nachttischlampe an und sah auf den Wecker. Sie blinzelte erstaunt, horchte an der Uhr, schüttelte sie und dann den Kopf und fragte ihren Mann, der fröstelnd in der Unterwäsche vom Balkon hereinkam: «Ist es wirklich erst elf, Rainer?» «Ja, elf!» sagte er und zog sich im Hintergrund des Schlafzimmers weiter aus. Hemd, Wäsche und Socken legte er ordentlich auf den Stuhl, nahm den Pyjama vom Fußende seines Bettes und zog die Hose an.
«War denn kein Singen heute?» fragte Else Bundschuh. «Doch», erwiderte er einsilbig. «Aber sonst kommst du nie vor zwölf, halb eins. Ist was? Fühlst du dich nicht?» «Doch, doch…» sagte er. «Alles in Ordnung!» – doch sie hörte mit dem Gespür der über dreißig Jahre verheirateten Frau aus seinen fünf Worten, daß irgend etwas durchaus nicht in Ordnung war: «Aber da stimmt doch was nicht, Rainer!?» sagte sie. «Hast du was gegessen?» «Ja, habe ich, Else!» Sie richtete sich auf und sah ihn erschrocken an. Mit hängendem Kopf saß er da, die Pyjamajacke noch nicht zugeknöpft, ein Bild der Verzweiflung. Sie legte ihm, indem sie sich über sein Bett beugte, die Hand auf die Schulter. «Willst du es mir nicht sagen?» Da ließ er sich rücklings aufs Bett fallen, schlug die Hände vors Gesicht und stieß einen Laut aus, der sowohl ein Stöhnen wie ein Schluchzen sein konnte. «Vielleicht ist alles aus, Else!» sagte er dumpf in seine Handflächen und fing plötzlich an zu weinen.
13
«Was denn, was denn, Hermann Kroll junior? Du willst jetzt schon nach Hause?» fragte Otto Fintzel den jungen Sangesbruder, der gerade aufgestanden war und erklärt hatte, daß er sich nun verabschieden müsse. «Eben sind wir mit dem Singen fertig. Es ist noch nicht mal Mitternacht…» Er sprach schon ein bißchen schwerzüngig, und so ein Satz wie der letzte: «noch nicht mal Mitternacht», kam so holprig über seine Lippen wie ein Handwagen auf Kopfsteinpflaster. Hanebutt war auch schon leicht beschwipst, aber er hatte sich besser in der Gewalt. Sogar ein Zitat fiel ihm noch ein: «Willst du schon gehen? Der Tag ist ja noch fern…» sagte er nachdenklich und sah sich stolz im Kreise um, aber niemand nahm seine klassische Bildung recht zur Kenntnis. «Es war die Nachtigall und nicht die Lerche, die eben jetzt dein banges Ohr durchdrang…» Da erst wurden wenigstens zwei der Zechgenossen stutzig. «Was redest du da für ‘n Quark, Walter?» fragte der Vorsitzende Knobloch. «Nachtigall? Wo hörst du denn eine Nachtigall?» Hanebutt schob verächtlich die Unterlippe vor und ging nicht darauf ein. «Wirklich nix mehr los mit der Jugend», mäkelte Fiedler. «Dein Vater, Hermann, war immer einer der letzten hier!» «Einer der letzten, einer der nettesten…» brummte Fintzel. «Und ein Tenor, mein Junge – so einen kriegen wir so bald nicht wieder!» fügte Fintzel hinzu. Hermann Kroll junior stöhnte leise.
«Heben wir unsere Gläser auf das Andenken Hermann Krolls des Älteren!» rief Fintzel. Kroll junior lächelte mühsam. Er hatte nichts mehr im Glas, und das machte ihn noch verlegener und ärgerlicher. Hanebutt entdeckte Krolls leeres Glas und rief zur Theke: «Kurt! Herr Ober! Einen Korn auf meine Rechnung für Hermann Krolls Sohn. Damit er mit uns auf das Andenken seines Vaters anstoßen kann!» Sie saßen alle mit erhobenen Gläsern und warteten, bis der Kellner mit der Kornflasche kam und Krolls Glas füllte. «Prost!» sagte Fintzel, in dessen erhobener Hand das Glas schon zu zittern begonnen hatte. Sie tranken. Möhlmann trat dazu. Er gab dem Kellner einen Wink, noch einmal reihum einzuschenken und die Flasche auf dem Tisch stehenzulassen. «Das ist meine Runde!» sagte er und setzte sich zwischen Fintzel und Hanebutt auf den Stuhl des jungen Kroll, der stehen geblieben war und nun auch den neuen Schnaps im Stehen austrank. «Hallo, Klaus Möhlmann!» sagte Knobloch. «Die Spendierhosen an?» «Ist deine Frau schon schlafen gegangen?» fragte Fiedler. Kroll junior raffte seinen Mut zusammen. «Aber ich muß jetzt los!» sagte er. «Morgen früh um fünf ist für mich die Nacht zu Ende – also…!» Er machte eine schnelle, grüßende Rundumbewegung und ging zum Garderobenständer, um Hut und Mantel zu holen. «Grüß die Mama, Hermann!» rief Fintzel ihm nach. «Hört, hört!» sagte Knobloch feixend. «Wäre das nicht überhaupt ‘ne Frau für dich, Otto!» «Damit du jemanden hast, der dir sagt, was in deinem komischen Koffer drin ist!» spottete Fiedler und erschreckte damit den Wirt so, daß der fast sein Bierglas umgeworfen
hätte. Hanebutt, der ebenfalls zusammengezuckt war, überspielte seinen Schreck mit übertriebenem Lachen. «Agathe Kroll? Das fehlte mir noch! Zwanzig Jahre jünger und eine Zunge wie ‘n Fallbeil…» sagte Fintzel. «Wie was…?» fragte der Chorleiter. «Wie ein Fallbeil!» wiederholte Fintzel und erklärte: «Wenn die zu reden anfängt, bist du kopflos, Lothar!» Alle lachten, doch es war ein mäßiges Gelächter, da keiner Fintzels Witz wirklich witzig fand. Der Wirt goß dem Alten ganz beiläufig und so, daß keiner der anderen Männer am Tisch es mitkriegte, das Glas wieder voll. Er warf erst vorsichtig einen Blick in die Runde, ehe er das tat. Knapp zwanzig Minuten später – in Endwarden sind die Entfernungen nicht so groß; wer länger als eine halbe Stunde laufen muß, um von seiner Wohnung ins Rathaus zu kommen, ist schon kein Einwohner der Stadt mehr –, knapp zwanzig Minuten später also schloß Hermann Kroll junior leise die Tür der Wohnung über dem Büro auf und hinter sich wieder zu und ging, die knarrende Diele vor der Flurgarderobe verfluchend, auf Zehenspitzen den Korridor entlang, dessen Wände voller Jagdtrophäen – Geweihe und ausgestopfte Vögel – hingen. Hermann Kroll senior nämlich, der vor vier Jahren zu früh verblichene Spediteur, war nicht nur ein wunderbarer Tenor, standfester Trinker, sondern auch ein leidenschaftlicher Weidmann gewesen. In den zweiundzwanzig Ehejahren, die er mit seiner Frau Agathe verbracht hatte, war er nur wenige Wochenenden zu Hause, sondern fast immer irgendwo auf der Pirsch oder auf einem Hochsitz gewesen, um Hasen, Fasanen, Rehe und anderes Wildgetier totzuschießen. Manchmal hatten die Rehe, denen er nachstieg, auch nur zwei Beine gehabt und hatten Mizzi oder Lou oder sonstwie
einschlägig geheißen. Aber das wußte Agathe Kroll nicht oder wollte es nicht wissen. Sie hatte ihrerseits, vom häufigen Alleingelassenwerden hungrig auf Gesellschaft, gelegentliche Gelegenheiten genutzt, die Franz oder Alfred – einmal sogar Luigi – hießen… und von denen Kroll nichts wußte und beileibe nichts hätte wissen dürfen. Das ist eine Geschichte für sich. Es ist jedoch keine allzu interessante Geschichte, weil sie zu oft und überall und immer wieder passiert – in Varianten – und nicht immer so glimpflich abläuft, aber zu den Alltagsgewohnheiten zahlloser Damen und Herren aller Kreise gehört. Kroll junior stelzte also auf Zehenspitzen zwischen den Hörnern hindurch, die sein Vater aufgehängt hatte – die, die ihm aufgesetzt worden waren, hingen nicht an den Korridorwänden –, und hatte noch fünf, sechs Schritte bis zu seiner Zimmertür vor sich, da trat seine Mutter aus ihrem Schlafzimmer. Sie trug einen fliederfarbenen, wattierten Morgenrock aus changierender Kunstseide und sah darin und mit ihrem hochgesteckten blonden Haarschopf ein bißchen wie eine große Puppe aus. «Da bist du ja, mein Jungchen!» sagte sie und strahlte. «Ja. ‘n Abend, Mama!» gab Hermann Kroll junior zurück, blieb stehen und sah sie – halb ärgerlich wegen der bevorstehenden Demonstration ihrer raumgreifenden Mutterliebe, halb auch gerührt deswegen – blinzelnd vor Bier und Müdigkeit an. «Du bist ja noch auf? Warum schläfst du nicht, wenn ich mal weg bin? Ich hab dir schon so oft gesagt – » «Ich kann ja nicht schlafen, wirklich!» sagte sie mit Schmollmund, was ihr molliges, rosarotes Gesicht noch puppiger machte. «Wenn du unterwegs bist, kann ich nicht schlafen!»
«Aber ich bin erwachsen, Mama!» sagte Kroll unwirsch. «Ich könnte ja auch schon verheiratet sein und gar nicht mehr mit dir zusammenwohnen… Was dann? Wenn ich noch ein Kind wäre, ja, okay – aber so…» «Ich konnte auch nicht schlafen, wenn Papa nicht da war!» sagte sie und glaubte das in diesem Augenblick sogar selber. «Und was hast du gemacht, wenn er auf Geschäftsreise war? ‘ne Woche oder wie lange…?» «Das war auch immer ganz furchtbar. Er hat zwar jeden Abend angerufen – aber trotzdem…» Kroll mußte lachen. «Soll ich dich auch aus dem ‹Deutschen Haus› anrufen, wenn wir dort singen, Mama?» fragte er spöttisch. «‹Verzeihung Sangesbrüder – ich muß eben meine Mama anrufen… sonst macht sie sich Sorgen…!› haha, das wäre ein Erfolg!» Frau Kroll verzog das Gesicht zu einer Kleinmädchenmiene. «Ach Männe, mein Junge, mußt mich nicht auf die Schippe nehmen! Du weißt doch ganz genau, daß ich nun mal so eine Glucke bin.» Sie band den Gürtel ihres Morgenmantels fester, ging auf ihn zu, tätschelte ihm die Wangen und hielt ihm die gespitzten Lippen hin. Hermann Kroll küßte sie, wie sechsundzwanzigjährige Söhne ihre überängstlichen Mütter küssen. Sie lächelte glücklich und ging zur Küchentür. «Komm», sagte sie, «ich mach dir noch was zu essen, ja? Ein Salamibrot? Oder was Süßes? Es ist noch Pudding da vom Mittag. Vanillepudding mit Himbeersaft?» Hermann Kroll, der von Süßspeisen zu korrumpieren war, was man seinem Embonpoint auch ansah, Hermann Kroll lachte. «Ja, gut, Mama – ein Schüsselchen Pudding – ehe ich mich schlagen lasse!»
Das Ehepaar Bundschuh lag nebeneinander – jeder in seinem Nußbaumbett. Beide lagen auf dem Rücken. Beide hatten die Arme unter dem Kopf verschränkt. Beide starrten mit offenen Augen zur Zimmerdecke, auf der sich die zwei Lichtkreise der oben offenen Nachttischlampen überschnitten. Es herrschte intensives Schweigen, das durch das laute Ticken des alten Weckers auf dem Nachttisch des Oberstudienrats quälend wurde. Sie lagen schon lange so – ohne einen Laut. Mindestens seit zehn Minuten lagen sie so… Und zehn Minuten können lang sein wie eine Bahnfahrt im Bummelzug bei Nebel. Besonders lang für einen, der auf die Antwort, auf irgendeine Reaktion des Partners wartet, dem er ein lange gehütetes Geheimnis offenbart hat… die Antwort, die vielleicht alles ändert. Nach langer Stille sagte Else Bundschuh, ohne den Kopf zu ihrem Mann zu drehen, leise: «Du hast mir nie davon erzählt, Rainer. Das ist ja schrecklich…» Bundschuh schluckte. «Verurteilst du mich?» fragte er. Else Bundschuh zögerte drei Sekunden. «Verurteilen? Nein, ich… ich muß mich nur an den Gedanken gewöhnen, daß du zu so was… zu so was fähig bist. Verzeih – fähig gewesen bist!» Bundschuh richtete sich auf. Er war völlig durcheinander. Jetzt fing er an zu reden. Leise, hektisch verteidigte er sich, obschon er wußte, alles, was er sagte, konnte die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß er ein Menschenleben auf dem Gewissen hatte. «Aber du mußt das doch aus der Situation sehen, Else! Ich hatte überhaupt keine andere Wahl, so, wie die Dinge lagen. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als nach dem geltenden Recht und Gesetz zu handeln. Ich unterlag als Offizier dem Kriegsrecht. Es war Befehlsnotstand – oder wie immer man es
nennen will. Auch unsere Feinde – äh – die Amerikaner – stellten Deserteure an die Wand, schon um die Disziplin und die Schlagkraft ihrer Truppe zu erhalten und – » «Hör auf, bitte!» sagte Else Bundschuh und schloß die Augen, als ob ihr Worte wie ‹Befehlsnotstand›, ‹Disziplin›, ‹Schlagkraft› körperliche Schmerzen bereiteten. «Verzeihung…» murmelte Bundschuh betroffen. Das – und der Ton, in dem er es sagte – rührte seine Frau so sehr, daß sie sich überwand und ihm – allerdings, ohne ihn anzusehen – die Hand auf die Schulter legte. Bundschuh griff nach der Hand, wie der berühmte Ertrinkende nach dem ebenso berühmten Strohhalm, und hielt sie fest. Wieder trat eine lange Pause ein. «Und du glaubst allen Ernstes», fragte Else Bundschuh schließlich, «daß in Fintzels Koffer Dokumente sein könnten, die den Vorgang belegen?» «Ja», sagte Bundschuh, der immer noch die Hand seiner Frau festhielt, «Otto Fintzel war in der Kreisverwaltung Bürochef des sogenannten Ordnungsamtes, Else. Da lief alles zusammen. Die Akten über Enteignungen, alle Personalsachen und auch die Unterlagen vom Volkssturm… was weiß ich, was alles…» «Ja…» sagte Frau Bundschuh nach einer weiteren kurzen Pause und einem langen Seufzer, «ich versteh, Rainer. Und ehe da was in falsche Hände kommt und dir Schwierigkeiten gemacht werden, müssen wir eben sehen, wie wir an diesen unheimlichen Koffer herankommen, nicht wahr?» Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und lächelte ihn fast mitleidig und doch zärtlich an. Bundschuh drehte sich auf die Seite und streckte die Arme nach ihr aus. «Oh, Else», sagte er mit vor Erregung stockender Stimme: «‹Wir›… hast du eben ‹wir› gesagt, Liebste?»
Am Tisch in der gemütlichen Küche saß Hermann Kroll junior und mampfte genüßlich Vanillepudding mit viel Himbeersaft. Seine Mutter hatte ihm gegenüber Platz genommen und sah glücklich zu, wie es ihm schmeckte. «… kann ich überhaupt nicht verstehen, Jungchen», sagte sie, «daß es dir unangenehm ist, der Jüngste zu sein! Was ist denn da so schlimm? Papa war schon mit zweiundzwanzig Jahren im Gesangverein!» «Papa! Papa! Papa!» sagte Kroll junior gereizt und imitierte den Chorleiter Fiedler: ‹«… das war ein Tenor! So einen kriegen wir so bald nicht wieder!› Wenn die mich sehen oder meinen Namen hören oder wenn ich mal was sage – und ich sage ja schon kaum was –, immer kommt Papa aufs Tapet! Der beliebte Sangesbruder, der einmalige Tenor, der trinkfeste Biertischkumpan! – Das hängt mir vielleicht zum Halse raus, Mama! Sonst vergessen die senilen Knacker alles, aber Hermann Kroll senior nicht!» «Nun reg dich doch nicht auf, Jungchen!» sagte Frau Kroll und fuhr neugierig fort: «Sonst vergessen sie alles? Was denn?» «Na, der olle Otto Fintzel zum Beispiel – kennst du den?» «‘türlich, so eine Frage! Was hat Otto Fintzel denn vergessen?» Hermann Kroll junior war fertig mit dem Pudding. Er schob die leere Glasschüssel beiseite und wollte sich eine Zigarette anzünden, aber seine Mutter legte ihm die Hand aufs Feuerzeug. «Was ist denn?» fragte er. «Nicht soviel rauchen sollst du! Es ist schon Mitternacht! Nachher kannst du nicht schlafen!» «Ich kann immer schlafen!» widersprach Kroll junior, steckte aber doch die Zigarette wieder zurück in die Schachtel. Dabei zerbrach sie. Er warf die zerknautschten Reste wütend in die
leere Puddingschüssel. Agathe Kroll schüttelte mißbilligend den Kopf. Normalerweise hätte sie ihn jetzt angemeckert. Aber da ihre Neugierde wach geworden war und weil sie hinter den Worten ihres Sohnes mit dem Instinkt der neugierigen Frau irgendwas witterte, unterdrückte sie die Kritik und fragte noch mal: «Sag, was hat Otto Fintzel vergessen? Zu bezahlen? Das sähe ihm ähnlich. Der ist ja stadtbekannt für seine Knickerigkeit! Frau Winter hat ihm früher den Haushalt geführt, vor der jetzigen – ich weiß nicht, wie die heißt. Die Anne Winter, weißt du – die Schwester von – » «Ja, ich weiß schon!» unterbrach Kroll und winkte ab. Er war zum Umfallen müde. Aber seine Mutter ließ nicht locker: «Also nun sag schon, Hermann – und laß dir nicht jedes Wort aus den Zähnen ziehen!» «Meine Güte, Mama! So wichtig ist das ja nun auch wieder nicht: Otto Fintzel hat einen Koffer vergessen, den er im Krieg in Sicherheit gebracht hat, als sein Amt brannte. Völlig vergessen. Und nun hat er ihn wiedergefunden – das ist alles!» «Und was war da drin?» «Das weiß er noch nicht. Er hat noch nicht reingeguckt.» «Und das findest du nicht wichtig, Hermann? Otto Fintzel war ein großes Tier damals – beim Kreisamt. Sie haben ihn nicht mal eingezogen – auch nicht ganz zuletzt, als sie alle eingezogen haben. So wichtig war er. Der hat doch nichts Wertloses oder Unwichtiges in Sicherheit gebracht!» Sie machte richtig große Augen vor Sensationslust und Nachdenklichkeit. «Vielleicht sogar so ein paar schöne, saftige Arisierungsdokumente… wer weiß?» «Was?» fragte Kroll. «Was für Dokumente? Verstehe nicht…!» «Na, da haben sich doch manche Leute gesundgestoßen, als die jüdischen Betriebe zwangsenteignet wurden, Hermann. Die
wurden dann für ‘n Apfel und ‘n Ei von arischen Interessenten übernommen. Und das Geld kriegten die Juden nicht mal. Siegfried Rosenbaum zum Beispiel. Der mußte verkaufen – und nachher hätte er ganze zehn Mark mitnehmen dürfen, als er nach Südamerika auswandern wollte – Chile, oder sonstwohin. Aber soweit ist es ja gar nicht gekommen…» «Was hatte der denn für einen Betrieb?» «Keinen Betrieb. Die Schwanenapotheke. Die hat Hanebutt von ihm gekauft – als ganz junger Mann. Eben mit dem Studium fertig. Arisieren nannte man das!» Hermann Kroll junior, jetzt auf einmal ganz wach, fragte: «Walter Hanebutt? – Ach! Und du meinst, Mama, darüber könnte es noch was Schriftliches geben, und das könnte in Fintzels Koffer sein?» «Das weiß ich nicht – aber es ist durchaus möglich!» Hermann Kroll junior zündete sich nun doch eine Zigarette an. Versonnen sagte er: «Dann wäre es ja unter Umständen ziemlich interessant, sich den Inhalt des Dings mal anzusehen, wie? Wenn da solche Sachen drin sind, dann hat der, der sie hat, möglicherweise ‘ne ganze Masse Macht in der Stadt – oder?» «Aber sicher, Jungchen!» sagte Frau Kroll. Der junge Mann erhob sich. Er stellte sich in den Türrahmen der Küchentür und sah seiner Mutter zu, die das Geschirr abräumte, die Puddingschüssel mit der zerbrochenen Zigarette säuberte und alles in die Spülmaschine stellte. «Aber wie soll man da rankommen?» überlegte er laut. «Direkt danach fragen kann ich ja Fintzel wohl nicht. – Also bliebe bloß ein Einbruch!» Frau Kroll schüttelte den Kopf. «Einbruch – wie das klingt, Hermann! Es geht ja nicht darum, etwas zu stehlen. Eine – ja, eine ‹Überprüfung› würde ich das nennen … oder noch besser: eine Sicherstellung gefährlichen Materials! Mal dir das doch
bloß mal aus, Hermann, wenn so was in falsche Hände gerät! Wenn das die Kommunisten finden – oder sonstwelche Linken oder Verbrecher, die damit nachher alle Welt erpressen. Das wäre doch eine richtige Katastrophe… immer vorausgesetzt, es sind wirklich belastende Unterlagen und Dokumente…» «Ja, da hast du recht, Mama!» pflichtete Hermann Kroll ihr bei. Frau Kroll stand jetzt vor ihm und redete sich richtig in Rage: «Aber wenn es einer hat, der den richtigen Gebrauch davon zu machen versteht, der kann ja sogar allerlei Gutes damit bewirken, abgesehen davon, daß er selber wahrscheinlich viele Vorteile hätte, verstehst du?» «Jaja, ich verstehe, Mama! Ich habe längst verstanden! Aber es bleibt dabei, daß man sich den Koffer auf illegalem Wege beschaffen muß. Und wenn das schiefgeht – dann ist der Ofen aus! Oder kannst du dir vorstellen, daß ein Speditionsunternehmen in Endwarden, dessen Chef wegen Einbruchsdiebstahl im Knast sitzt, noch einen einzigen Auftrag kriegt? Oder zum Stadtverordneten gewählt oder auch nur im Gesangverein Mitglied bleiben kann? Nicht mal im dritten Tenor!» Frau Kroll nickte schweigend. Sie setzte sich gedankenvoll auf einen der rustikalen Stühle. Hermann Kroll junior lehnte im Rahmen der Tür und rauchte. Die Schwarzwälder Kuckucksuhr, die im Korridor zwischen den Jagdtrophäen hing, rief Mitternacht. Frau Krolls Gesicht erhellte sich. «Man könnte ja vielleicht einen engagieren… einen Fremden beauftragen, das zu machen, wie?» «Glaubst du, das geht?» fragte Hermann Kroll junior. «Aber sicher – so was hab ich schon so oft gehört und gelesen. Es müßte nur schnell gemacht werden, Jungchen!
Erkundige dich doch mal, wenn du morgen früh nach Hamburg fahrst. Hör dich mal um!»
Am runden Tisch im Hotelrestaurant ‹Deutsches Haus› saßen nur noch Fintzel, Hanebutt, Knobloch, Möhlmann und Max Schreiber, der Vereinsspaßmacher. Der alte Kellner zog sich gerade hinter dem Tresen die nicht mehr ganz weiß gebliebene Kellnerjacke aus, sein Ziviljackett und den Wintermantel an. Die übriggebliebenen Sangesbrüder waren schon ziemlich betrunken. Sie sangen, und Möhlmann, der noch nüchtern war, aber so tat, als habe er auch einen in der Krone, schlug mit der Faust den Takt auf dem Sitz des leeren Stuhles neben sich: «Es dröhnet der Marsch der Kolonne. Der Tambour schlägt das Fell. Es leuchtet vor uns die Sonne. Sie leuchtet so klar und so hell. Und keiner ist da, der feige verzagt, der müde nach dem Weg uns fragt, den uns die Trommel schlägt…» Sie sangen nicht mehr ganz taktfest, trotz Möhlmanns Rhythmustrommelei… aber es war erstaunlich, wie textsicher sie alle waren, nur der fünfte, Max Schreiber, sang nicht mit. Er war zehn oder zwölf Jahre zu jung für diese Lieder. «Die geliebte unbewältigte Vergangenheit», sagte er schwerzüngig und stand auf. «… na, dann werde ich mal lieber die Kurve kratzen. Die Herren Kameraden wollen sicher unter sich sein. Außerdem kenne ich eure Lieder nicht. Ich war noch ein ganz kleiner Junge, als ihr die gesungen habt!» Der Kellner rief von der Tür her: «Gute Nacht, die Herren! Gute Nacht, Chef!» «Gute Nacht, Kurt, bis Sonnabend!» rief Möhlmann zurück.
«Macht mal bald Schluß, Freunde», riet Max Schreiber. «Ihr seid jetzt schon über die Promillegrenze. Wenn einer ‘n Streichholz an euch hält, geht ihr sicher sofort in Flammen auf! Also: gute Nacht!» «Gute Nacht, klei… kleiner Junge!» stotterte Fintzel, der durch Möhlmanns heimliches Kornnachgießen am betrunkensten von allen war. «Gute Nacht! So’n kleiner … kennt die alten… alten Lieder nicht, die schönen alten…» Der Spaßvogel war gegangen. Möhlmann goß eine neue Runde Korn in die Gläser, nur nicht in sein eigenes, aber er umfaßte das Glas so mit der Hand, daß keiner die Mogelei merkte. Er stimmte ein neues altes Lied an: «Nun laßt die Fahnen fliegen in das große…» Bei dem Wort ‹Morgenrot› fielen alle ein, und nun sangen sie zu viert weiter: «… das große Morgenrot, das uns zu neuen Siegen leuchtet – oder brennt zum Tod!» Die zweite Strophe begann Hanebutt, der einen tomatenroten Kopf von Bier, Korn und Begeisterung hatte, allein: «Denn mögen wir auch fallen…» Und nun sangen sie wieder gemeinsam weiter: «… wie ein Dom steht unser Staat…» Wobei sie das Wort ‹Dom› sangen, als habe es vier O – und Knobloch tremolierte die vier O so wundervoll, daß sie alle gerührt waren über das schöne Lied, über sich selbst und von ihrer Erinnerung an die wunderschöne Zeit. «… ein Volk hat hundert Ernten», sangen sie laut, «und geht hundertmal zur Saat!» Möhlmann hob sein leeres Glas in der hohlen Hand, als die Strophe zu Ende gesungen war, und rief: «Prost, Kameraden! Prost ex auf die alten Lieder und Zeiten!» – und kippte sein
leeres Glas so, daß alle denken mußten, es sei gefüllt wie ihre Gläser. «Prost!» riefen sie, und Hanebutt atmete tief aus und sagte: «Weißt du noch, Klaus, wie der Jungbannführer kam, am ersten Mai… und wie er von der Rednertribüne vor allen Leuten gesagt hat, daß er noch nie so ein gutlein – Fädlein – äh… gutes Fäd… feines, zackiges … Fähnlein gesehen…» Er geriet ins Stammeln, brach ab und sah mit Augen, die langsamer als seine Kopfbewegungen waren, auf dem Tisch herum, als suche er seinen verlorenen Faden. Möhlmann nickte und goß wieder allen ein. Nur sich selber nicht. Otto Fintzel lallte volltrunken: «… ein Volk hat hundert, hundert, hundert Ernten… und geht hundert…» Hanebutt bemerkte in einem Anflug von Vernunft und Nüchternheit Fintzels Zustand und wollte ihm das volle Schnapsglas wegnehmen. «Der Otto hat genug, Klaus! Gib mir den Schnaps, Otto!» Aber Fintzel wehrte sich. Er nahm das Glas und kippte den Korn mit zitternder Hand in den Mund. «Soweit kommt das noch, Walter Hanebutt – daß die jungen Hüpfer uns alte Sänger unter Ku… Ka… Kuta … Kuratell…» Er sang: «… Wie ein Dooom steht unser…» dann wußte er nicht mehr weiter, versuchte aufzustehen, knickte jedoch in den Knien ein und kippte über den Tisch, wobei er zwei Gläser umwarf. Das eine zersplitterte, aber Otto Fintzel verletzte sich – wie durch ein Wunder – nicht. Der Wirt faßte mit routiniertem Griff zu und richtete ihn auf. «Ach, du heiliger Strohsack!» sagte Knobloch. «Wie kriegen wir ihn nun nach Hause?» Alle waren aufgestanden und standen nun mit weichen Knien um den Tisch herum, hielten sich an der Tischplatte fest und sahen sich mit unterschiedlich verglasten Augen an. «Laßt nur», sagte Möhlmann. «Ich bringe ihn hier ins Bett!»
Fintzel sang: «… in das grohohoße Morgenrooooot … das unsern neuen Fliegen… aber brennt zur Not…» Hanebutt versuchte, sich der singenden Schnapsleiche zu bemächtigen. «So ein Um-, Umstand, Klaus», sagte er. «Herbert und ich nehmen ihn in die Mitte und schaffen ihn nach Hause. Das ist… ist ja nicht das erste Mal, daß ich einen Sangesbruder – » «Klar», pflichtete Knobloch dem Apotheker bei. «Ist sowieso… mein Weg. Komm, reich ihn her!» Er begann zu singen: «Reich mir die Hand, mein Leben! Komm auf mein Schloß…» Möhlmann schob Hanebutt beiseite. Er war jetzt ganz klar und nüchtern. «Das kommt nicht in Frage! Ich bin als Gastronom mitverantwortlich, was aus meinen Gästen wird, wenn sie das Lokal verlassen. Und in solchem Zustand erst recht!» «Wir rufen einfach ein Taxi!» schlug Knobloch vor. «Richtig! Ein Taxi!» sagte Hanebutt. «Wir fahren mit und bringen ihn ins Bett. Wo ist das Telefon?» Er wollte zur Theke, wo der Telefonapparat stand, aber Möhlmann hielt ihn am Ärmel fest. «Kein Taxifahrer fahrt jemanden nach Hause, der so blau ist, Walter. Die riskieren nicht, daß ihnen der Wagen vollgekotzt wird. Nein, Otto bleibt bei mir! Nicht wahr, Otto? Ich pack dich in einem der leeren Zimmer ins Bett!» Fintzel, der sich angesprochen fühlte, sang: «… wie ein Dooom steht unser Staaaat… Ein Volk hat hun… hundert Ernten und geht hundertmal zur…» Hanebutt fing an, in den Jackentaschen des alten Sangesbruders zu kramen. Möhlmann, der Fintzel immer noch hielt, schnauzte den Apotheker an: «Was ist denn nun kaputt? Nimmst du wohl sofort die Pfoten da weg, Walter!»
«Heee, heee, Klaus…!» sagte Hanebutt, erschrocken über die Heftigkeit des unerwarteten Anschnauzers. «Ich such doch bloß Ottos Schlüssel!» «Und was, zum Teufel, willst du mit Ottos Schlüsseln?» fragte Möhlmann, dem Schweißperlen auf die Stirn traten, weil Fintzel schwer zu halten war. «Ich… also ich… ich leg seiner Haushälterin einen Zettel hin, daß er hier ist, bei dir, Klaus!» sagte Hanebutt beschwichtigend. «Sonst erschrickt sie morgen früh, wenn sie kommt und er ist verschwunden!» «Das ist richtig. Sehr gut!» rief Knobloch und tätschelte Hanebutt anerkennend den Oberarm. «Du denkst aber auch an alles, Walter!» «Daran hab ich längst gedacht!» sagte Möhlmann. «Unser Küchenmädchen, die Elfie, die fahrt gleich morgen früh, wenn sie kommt, mit dem Fahrrad hin und sagt Bescheid. Also muß der Schlüssel hierbleiben, klar?» «Ich will nach Hause!» erklärte Fintzel jetzt plötzlich mit deutlicher Stimme. «Siehst du, Klaus!» sagte Hanebutt triumphierend. «Aber du kannst gerne hierbleiben!» versuchte Möhlmann den Alten zu überreden. «Nein, ich will in meinem eigenen Bett schlafen!» sagte Fintzel wie ein trotziges Kind. «Seid nett und bringt mich ein Stückchen. Ich hab mächtig getankt!» Er wankte zum Garderobenständer neben der Musikbox, fand erstaunlicherweise auch gleich seinen Mantel, hatte jedoch sehr große Schwierigkeiten, in die Ärmel zu kommen. Möhlmann half ihm schließlich und machte dabei noch einen letzten Versuch, ihn zum Bleiben zu bewegen. «Wäre ja wirklich vernünftiger, wenn du oben in einem der Hotelzimmer übernachten würdest», sagte er halblaut. «Herbert und Walter sind ja auch ziemlich – na ja – wackelig. Ich hab da
ernsthaft Sorgen, wenn ich euch drei jetzt durch die Stadt torkeln lasse…» «Dann setz dir doch dein Hütchen – hick – auf und spiel den Sar… den Satimar… den Samir… mariter…» sagte Otto Fintzel und wollte sich über seine eigene Fremdwortstolperei ausschütten vor Lachen. Darauf war Möhlmann auch schon gekommen. Er hatte zwar nicht für ‘n Sechser Lust, jetzt mit den drei blauen Sangesbrüdern in der kalten Nacht herumzuziehen, aber wenn er sein Ziel erreichen und an den Koffer wollte, den verdammten Scheißkoffer, mit dem ihm Fintzel so einen Schrecken eingejagt hatte, dann blieb ihm gar nichts anderes übrig, als mitzugehen. «Also gut», sagte er, «ich gehe ein Stückchen mit. Muß nur eben meinen Mantel holen. Wartet bitte eine Minute!» «Ich muß noch bezahlen!» rief Hanebutt. «Herr Ober!…» «Ihr wart meine Gäste!» sagte Möhlmann. Fintzel hatte sich bei Knobloch untergehakt und sang schon wieder: «… leuchtet oder brennt zum Tod!» Drei Minuten später gingen sie los. Links außen Hanebutt, dem es an der frischen, kalten Luft gleich so schlecht wurde, daß er nach zweihundert Schritten stehenbleiben mußte und sich schrecklich würgend zwischen zwei Rhododendronbüschen vor dem Haus der Gewerbeoberlehrerin Sieglinde Pohl erbrach. Danach wurde ihm sofort viel besser, aber er lief den drei anderen nicht mehr nach, sondern ging die Gerbergasse entlang auf dem direkten Wege nach Hause.
Er betrat das alte Haus an der Hauptstraße durch die Apothekentür. Das war auch der kürzere Weg zur Wohnung. Die schmale Haustür daneben wurde von Edda und ihm nur selten benutzt. Sie war schwer auf- und zuzuschließen. Man
gelangte durch sie erst in den Hof und vom Hof über eine steile eiserne Außentreppe an der Rückfront des Hauses in den ersten Stock. Dort mußte abermals eine Tür aufgeschlossen werden, ehe man in die Wohnung kam. Hanebutt trat also in die Apotheke, die dunkel war. Nur durch das Schaufenster fiel von einer der Straßenlaternen ein Lichtschimmer in den Raum und ließ die Glasschränke und Kupfergefäße glitzern. Im kleinen Büro hinter dem Verkaufsraum brannte noch Licht. Die alte Tür schloß nicht gut. Hanebutt konnte das Licht durch die Ritze schimmern sehen. Er war sich nicht sicher, ob Edda es auszuschalten vergessen hatte oder ob sie noch wach war und dort saß – deshalb schlich er vorsichtig und leise zur Treppe. Doch da öffnete Edda schon die Tür und sah heraus. «Guten Abend, Edda…» sagte Hanebutt und grinste verlegen. «Du… du bist noch auf?» «Nein, Väterchen, ich schlafe schon», gab Edda lächelnd zurück. «Aber es ist spät, Mädchen», sagte Hanebutt, der den Spott nicht verstanden hatte. «Schon zwei oder gar zwei vorüber…» Edda sah auf die Armbanduhr. «Zwei Uhr vierzehn! Brauchst du ein Aspirin oder ein Alka Seltzer?» «Das nehme ich mir selbst, Mädchen», sagte Hanebutt, «danke!» «Wieder ordentlich in die Kanne gestiegen, wie?» fragte sie. «Es ging… Möhlmann hat ein paar Runden geschmissen… Na ja. Und dann waren wieder die alten Lieder dran – Möhlmann Knobloch, Fintzel und ich…» «Ach ja – und der ewig jugendbewegte Oberstudienrat Bundschuh, nicht wahr?» «Nein, Bundschuh ist gleich nach dem Singen weg… Wir waren nur noch zu viert am Schluß.»
Edda Hanebutt griff hinter sich und knipste das Licht im kleinen Büro aus. «Da ist die Fahne mal wieder mächtig vorangeflattert, wie? Ich riech sie bis hierher! Himmel, Väterchen, daß ihr euch da nun nicht mal langsam selber ein bißchen an die Kandare nehmen könnt. Erwachsene Männer! Otto Fintzel ist ja vielleicht schon wieder kindisch – aber ihr anderen…!» Sie ging an ein Regal im Verkaufsraum, holte ein Päckchen Alka Seltzer heraus, warf eine der Tabletten in ein Glas, ließ Wasser laufen und hielt immer mal probierend den Finger in den Wasserstrahl, bis es kühl genug war. Dann füllte sie das Glas zur Hälfte, schwenkte es mit der sprudelnden weißen Tablette, wartete, bis sie sich aufgelöst hatte, und reichte ihrem Vater, der stumm zugesehen hatte, die trübe, perlende Flüssigkeit. «Ja, vielleicht ist Fintzel schon ein bißchen kindisch», sagte Hanebutt, trank, verzog das Gesicht und fuhr fort: «Aber ich wollte, ich wüßte, wie weit er seine fünf Sinne noch beieinander hat. Wenn nämlich nicht, gibt’s womöglich Kladderadatsch, Edda!» «Was denn für Kladderadatsch, Vater?» fragte Edda. «Komm, laß uns raufgehen in die Wohnung, Mädchen! Ich erzähl es dir! Vielleicht mußt du mir sogar helfen, Unheil zu verhindern!» «Unheil – um Gottes willen, was ist denn passiert?» fragte sie und folgte ihrem Vater voll unruhiger, ängstlicher Neugierde, als er mit Knickeknien vor ihr die Treppe hinaufstieg. Im gutbürgerlich möblierten, aber nicht sehr ordentlich wirkenden Wohnzimmer setzte sich Hanebutt, nachdem er Mantel und Hut über einen Stuhl geworfen hatte, auf das rotsamtene Kanapee und berichtete seiner Tochter von Fintzels wiedergefundenem Koffer und von seiner Sorge, daß darin
auch irgendwelche Unterlagen über die seinerzeitige ‹Arisierung› der Schwanenapotheke sein könnten. Edda war während seines Monologs rauchend auf und ab gegangen. Jetzt blieb sie vor ihm stehen: «Aber das ist doch wohl Unsinn, Väterchen, daß du dir da irgendwelche Sorgen machst! Selbst wenn in Fintzels Koffer die Unterlagen sind, aus denen der krumme Kauf der Apotheke hervorgeht – damit entsteht ja nicht die mindeste Gefahr für dich! Du hast bezahlt. Okay – einen niedrigen Preis, aber du hast bezahlt! Daß der damalige Staat dem armen Rosenbaum das Geld nicht gegeben hat, daß sich Rosenbaum ein paar Tage vor seiner Ausreise nach Chile das Leben genommen hat, weil sie seine Frau noch abgeholt hatten – das alles kann dir ja wohl kein Mensch anlasten! Ja… so Leute wie Möhlmann, dein Knabenideal, der viel massiveren Dreck am Stecken hat – solche müssen sich vielleicht fürchten, daß da aus dem Koffer was rauskommt, was ans Tageslicht kommt…» «Was denn – der Klaus Möhlmann? Weil er so ein zackiger Fähnleinführer war?» fragte Hanebutt. «Nein, weil er Leute ans Messer geliefert hat mit seinen Denunziationen, bei der Partei oder Gestapo. Das hab ich zufällig heute, nein, gestern abend, von der Frau Kroll gehört.» Hanebutt erschrak: «Weiß die denn auch schon was von Fintzels Koffer!» «Nein, sie hat’s in einem ganz anderen Zusammenhang erzählt – ich weiß jetzt nicht mehr», Edda brach ab, ging zur Kredenz, goß sich einen großen Cognac ein und zündete sich eine neue Zigarette an. «Gib mir auch einen!» bat Hanebutt. «Ich denke nicht daran!» erwiderte Edda. «Du hast genug gehabt, heute abend!» – Als sie jedoch sein betroffenes Gesicht sah, mußte sie lachen, goß noch einen zweiten Cognac ein und gab ihm das Glas.
«Wie hätte ich dir übrigens helfen sollen oder können, wenn da wirklich Gefahr bestünde?» «Es besteht wirklich Gefahr, Edda», sagte Hanebutt, nippte an seinem Cognac und sah seine Tochter ernst an. «Wenn es rauskommt und publik gemacht wird, wie ich an Rosenbaums Apotheke gekommen bin – daß der alte Ju… der Rosenbaum sich erhängt hat… wenn das die wilden Jungs von den Jusos oder die vom Tageblatt erfahren… dann krieg ich Wind von vorn, Mädchen – und du auch im Stadtparlament und in deiner Partei. Und die Leute, einmal aufgehetzt, kaufen sich ihre Medikamente in der Bahnhofsapotheke oder am Markt – das wirst du erleben!» «Vielleicht hast du ja recht», sagte Edda Hanebutt nach kurzem Nachdenken. «Und was hast du gedacht, sollen wir machen?» «Ich weiß noch nicht – » sagte der Apotheker. «Wenn ich in den verfluchten Koffer bloß mal reingucken könnte!»
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Kurz vor Otto Fintzels altem Haus war Herbert Knobloch in die Seilerstraße eingebogen, in der er wohnte. Den Rest des Weges hatten Möhlmann und Otto Fintzel allein zurückgelegt. Für die knapp vierhundert Meter hatten sie gut fünfzehn Minuten gebraucht, denn der Alte war alle zwanzig, dreißig Schritte stehengeblieben, um langatmige, ziemlich laute Reden zu halten. Das waren ziemlich verworrene Reden gewesen, Kraut-und-Rüben-Reden, die von den guten alten Zeiten handelten und von der Notwendigkeit, mittels Isolierung der Dächer und Wände Energie zu sparen, und von der Tyrannei, der ledige ältere Herren ausgesetzt seien, wenn sie rabiate Haushälterinnen hätten, und von wunderbaren Liedern, die leider bei den jungen Leuten immer mehr in Vergessenheit gerieten, und so weiter… und so weiter. «Kennst du noch alle Texte?» fragte Fintzel den Wirt, der ihn stützte. «Ich weiß nicht», sagte Möhlmann müde, «aber viele bestimmt noch!» «Kennst du denn noch ‹Heilig Vaterland, in Gefahren… Deine… deine Söhne sich um dich scharen…›», fragte Fintzel. «Ja», sagte Möhlmann, «und auch ‹Es zittern die morschen Knochen›…» «Ja», sagte Fintzel, «aber das habe ich nie gemocht…» «Nein», sagte Möhlmann, «das war keins der schönen Lieder. Komm weiter, Otto, gleich sind wir bei dir zu Hause! Und dann husch in die Falle, Kumpel!» «Ich will aber noch gar nicht», quengelte Fintzel. «Was soll ich denn im Bett? Da kennt mich doch jeder … haha!»
Er lachte über den uralten Witz, als höre und mache er ihn jetzt zum erstenmal. Dann ging er weiter mit – und endlich erreichten sie das Haus. Möhlmann war so sehr damit beschäftigt, den alten Otto Fintzel die sechs Stufen zur Haustür hochzukriegen, aufzuschließen und den störrischen, betrunkenen Sangesbruder in den Hausflur zu bugsieren, daß er die Gestalt im dunklen Mantel nicht bemerkte, die, den Hut tief ins Gesicht geschoben, auf der anderen Straßenseite in einer Mauernische stand. Er bemerkte den Vermummten auch nicht, als der, fünf, sechs Minuten nach ihm durch die offengebliebene Tür ins Haus kam und sehr schnell die Treppe nach oben ging – Möhlmann hätte den Mann – daß es ein Mann war, konnte man am Schritt und an der Figur sehen – auch nicht bemerken können, denn Fintzel aufs Bett zu legen, ihm die Schuhe auszuziehen und die Hose und ihn zum Liegenbleiben zu überreden, das war eine solche Sisyphosarbeit, daß ganze Gruppen geheimnisvoller Gestalten unbemerkt von Möhlmann hätten ins Haus schleichen können. Als Otto Fintzel endlich ruhig lag und schlief, war eine gute Viertelstunde vergangen. Möhlmann verließ das Schlafzimmer des Alten, schloß die Tür nicht, sondern ließ sie eine Handbreit offen, lauschte, im halbdunklen Flur stehend, eine oder zwei Minuten, hörte hinter sich Fintzel leise schnarchen, grinste, wartete noch eine kleine Weile und begann nun ebenfalls – wenn auch nicht so gelenkig schnell wie die unbemerkte Gestalt vorher –, die Treppe zum Obergeschoß hinaufzusteigen. Als er den Fuß auf die siebente der sechzehn Stufen setzte, schlug die große Standuhr im Flur zweimal. Oben auf dem Dachboden, dem Möhlmann jetzt kurzatmig zustrebte, huschte der Lichtkegel einer Taschenlampe umher, glitt über das Gerümpel und blieb schließlich auf dem alten
Koffer haften, den Fintzel gefunden und neben den morschen Schrank hinter der Bodenkammertür gestellt hatte. «Da ist er!» flüsterte der Vermummte, ging auf den Koffer zu und wollte sich gerade bücken, um ihn zu öffnen, als Möhlmanns Schritte auf der Bodentreppe hörbar wurden. Sofort trat er zurück, ließ den Lampenstrahl kreisen und glitt fast lautlos hinter den Kamin. Er knipste die Taschenlampe aus und blieb ohne Bewegung stehen. Die Tür wurde aufgestoßen. Möhlmann kam über die Schwelle, tastete an der Wand nach dem Lichtschalter, fand ihn schließlich und knipste das trübe Deckenlicht an. Er schnaufte. Treppensteigen brachte ihn immer völlig außer Puste. Ein halbes Dutzend schwerer Atemzüge lang blieb er stehen und sah sich um, dann entdeckte er den Koffer und ging darauf zu. «Na also…» ächzte er. Ein Triumphlächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er griff nach dem Koffer – da trat der Vermummte aus dem dunklen Mauerwinkel. Möhlmann hörte hinter sich das Geräusch, fuhr erschrocken herum und riß, als er die hohe Gestalt mit dem breitkrempigen Hut auf sich zukommen sah, entsetzt die Augen auf. Rückwärts ging er zur Tür, die offengeblieben war. Die Gestalt hob den Arm wie zum Schlag. Möhlmann stöhnte, machte zwei schnelle Schritte zurück, blieb mit dem Absatz an der Schwelle hängen, stolperte, griff haltsuchend um sich, verfehlte das Treppengeländer und stürzte laut polternd die Treppe hinab. Dann war Stille… Der Vermummte stand starr, flüsterte Unverständliches, sah sich noch einmal um und lief schnell hinter dem Gestürzten her hinab, ohne noch einen Blick auf den Koffer geworfen zu
haben, bückte sich kurz über den Liegenden, sah, daß der ohne Besinnung war, stöhnte und blieb verstört eine halbe Minute in der dunklen Diele stehen. Dann fuhr er zusammen, verließ das Haus und rannte davon.
15
Kriminalkommissar Greve schrak auf und tastete schlaftrunken nach dem scheppernden Telefon auf seinem Nachttisch. «Ja…?» knurrte er mit rostiger Stimme. «Hier Greve!» «Obermeister Brennecke», sagte die Polizistenstimme ihm ins Ohr, «tut mir ja leid, Herr Greve – aber Sie müssen eben herkommen. Wir sind angerufen worden – anonym – ‘ne Flüsterstimme, nicht zu erkennen, ob Mann oder Frau – hier liegt der Wirt vom ‹Deutschen Haus›, Möhlmann. Schwer verletzt. Sieht böse aus… und – » «Ja, wo denn, zum Teufel?» unterbrach der Kommissar den Polizisten ungeduldig. «Im Hause des alten Herrn Fintzel in der – » «Ich weiß!» rief Greve. «Nichts anfassen! Ich bin in ein paar Minuten da. Ende!» – und warf den Hörer auf die Gabel, schwenkte die Beine aus dem Bett und knipste die Nachttischlampe an. Er blinzelte sich die restlichen Krümel Schlaf aus den Augen, sah auf den Wecker, murmelte: «Halb vier… verdammt!» und stand auf, um sich anzuziehen. Es war kalt in seinem Schlafzimmer. Auch das unordentliche Wohnzimmer war klamm und kalt. Greve suchte seine Siebensachen zusammen, die auf den drei Sesseln verstreut lagen, und überlegte, während er sich ankleidete, zum hundertstenmal, ob es nicht doch vernünftiger sei, wieder zu heiraten. Es war ja nicht auszuschließen, daß er das zweite Mal mehr Glück hatte… Er suchte fluchend seinen anderen Strumpf, fand ihn endlich unter dem Couchtisch – weiß der Geier, wie der dahin
gekommen war-, zog die Schuhe an und lief übernächtigt und übelgelaunt aus der Wohnung. Er setzte sich in sein kaltes Auto, das nicht gleich anspringen wollte, und fuhr fröstelnd durch die leeren Straßen zu Otto Fintzels Haus. Auf dem Bürgersteig vor den Stufen zur Haustür stand ein Krankenwagen hinter dem Funkstreifenwagen. Bei beiden Autos waren die Türen offen. Im Vorbeilaufen sah Greve, daß im Funkstreifenwagen die Zündschlüssel steckten. ‹Leichtsinnig!› dachte er, ‹aber es ist hier noch nie ein solches Fahrzeug gestohlen worden, soviel ich weiß! Schließlich ist Endwarden ja auch nicht Chicago – noch nicht, obschon es bereits gewisse Anzeichen dafür gibt, daß sich hier die Kriminalität auch dem Fortschritt anpassen wird.› Vor zwei Monaten hatten drei Halbstarke versucht, die Stadtsparkasse zu überfallen, aber das war so dilettantisch gelaufen, daß er, Greve, und seine Crew nach zwei Stunden die Jungs schon hinter Schloß und Riegel gehabt hatten. Wenn die auch ausgerechnet den an den Geldschalter schickten, der stotterte und auffällig lang und dünn war, dann durften sie sich nicht wundern, daß Greve nach den Schilderungen des Kassierers keine Mühe gehabt hatte – trotz des vors Gesicht gebundenen Halstuches –, den Mann zu finden, der da: ‹Ge… Ge… Geld her! D… das ist ein Ü… Ü… Überfall!› gerufen und mit der Pistole gefuchtelt hatte. Naja – aber immerhin: Früher wäre kein Mensch auf die Idee gekommen, ausgerechnet in Endwarden ein Geldinstitut zu überfallen… In der düsteren Diele des Fintzelschen Hauses traf Greve die Sanitäter, die zum Krankenwagen gehörten, und die zwei Polizeibeamten. Vor dem röchelnd-stöhnenden Möhlmann am Fuße der steilen Treppe kniete der Notarzt, den Obermeister Brennecke pflichtgemäß telefonisch gerufen hatte. «Morgen, Doktor!» sagte Greve.
Der Arzt – es war ein jüngerer Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten – richtete sich auf, nahm die Stethoskopstöpsel aus den Ohren und erwiderte Greves Morgengruß mit einem müden Lächeln. «Es ist eine commotio cerebri gravis», sagte er, «was nicht heißt, daß da unter Umständen auch eine Fraktur der Schädelbasis…» «Sagen Sie’s deutsch, Doktor!» brummte Greve. «Meine humanistische Halbbildung reicht nicht für ärztliche Diagnosen. Ich habe nur ein schwach ausreichend in Latein gehabt und bin in der elften Klasse schon deshalb zur Naturwissenschaft gewechselt.» «Also bitte: Es ist eindeutig eine schwere Gehirnerschütterung», erklärte der Arzt, «und möglicherweise ein Schädelbasisbruch – aber das kann ich so nicht mit Sicherheit feststellen, Kommissar!» Er sagte betont nur ‹Kommissar› und nicht ‹Herr Kommissar› oder ‹Herr Greve›, weil es ihn ärgerte, daß der Kriminalbeamte ihn einfach mit ‹Doktor› angesprochen hatte. Greve ignorierte das. Wahrscheinlich merkte er es nicht einmal. «Und können Sie sagen, ob es ein Unfall – ein Sturz war…» Er sah die steile Stiege an «… oder ob die Verletzungen durch Schläge hervorgerufen worden sind?» «Das kann ich nicht sagen. Nicht jetzt und hier», gab der Arzt zurück und stand auf. Er klopfte sich den Schmutz von den Knien, klappte sein Hörrohr zusammen und legte es in die offene Ledertasche, in der Medikamente, Verbandsstoff, Injektionsgeräte und andere Erste-Hilfe-Mittel bunt durcheinander lagen. «Jedenfalls muß der Verletzte schnellstens ins Krankenhaus, geröntgt und ruhig gelegt werden. Der Kreislauf ist nicht in Ordnung. Das Herz holpert. Ich habe ihm schon was injiziert – aber er muß schnellstens versorgt werden!»
«Okay», sagte Greve, fragte den Polizisten, der ihn auch angerufen hatte, ob sie Möhlmann so – in dieser Lage, an dieser Stelle – gefunden hätten, und gab, als der Beamte das bejahte, die Anweisung, den bewußtlosen Wirt abzutransportieren. Der Arzt verabschiedete sich. «Ich fahre voraus ins Krankenhaus!» sagte er. «Okay. Danke, Doktor!» erwiderte Greve. «Ich werde mich erkundigen, wie es ihm geht und wann er vernehmungsfähig ist.» Die Sanitäter hoben den schrecklich stöhnenden Möhlmann auf eine Tragbahre und brachten ihn hinaus. Greve wandte sich an die Polizisten: «Wo ist eigentlich der Herr Fintzel?» fragte er. «Liegt tief in Sauer!» sagte Obermeister Brennecke und deutete mit dem Daumen über die Schulter zur Tür, hinter der Otto Fintzel schlief und blubbernd schnarchte. «Ich krieg ihn nicht wach», fügte der zweite Polizeibeamte hinzu, «mit noch soviel Rütteln und Rufen nicht.» «Es ist also ausgeschlossen, daß er angerufen hat?» wollte Greve wissen. «Ausgeschlossen!» sagte mit Bestimmtheit der Obermeister. «Der, der am Telefon war, hat ganz nüchtern geredet: ‹Kommen Sie sofort ins Haus Geibelstraße 39, Otto Fintzel, dort liegt ein Schwerverletzter›, hat er gesagt. Und als ich wiederholt habe: ‹Geibelstraße 39…ja … wer spricht denn da?› – da hat er aufgelegt. Und wir sind hergefahren, Kollege Hansen und ich. Ich bin gleich selber mit – in der Wache ist der Kollege Seifried am Telefon – » «Okay!» winkte Greve ab, den es nicht interessierte, wer in der Wache am Telefon saß. «Und wie sind Sie hereingekommen ins Haus?» fragte er. «Es war offen!» sagte Brennecke.
«Die Haustür stand offen?» fragte Greve. «Nein – sie war geschlossen, aber nicht zugeschlossen. Ich habe geklingelt – da kam keiner, und als ich die Klinke bewegt habe, ist die Tür aufgegangen!» berichtete der Polizeibeamte. «Ja, und dann fanden wir den Wirt, den Herrn Möhlmann. Und da hab ich Sie gleich vom Telefon dort – » Er zeigte zum Telefonapparat auf der Flurgarderobe – «zu Hause angerufen, denn ich wußte ja nicht…» «Ist okay!» sagte Greve. «Und den Notarzt…» sagte Brennecke. «Ja…» nickte Greve nachdenklich. «Gesehen haben Sie niemanden? Vor dem Haus – oder auf der anderen Straßenseite?» «Keine Seele!» sagte Brennecke. Der Kommissar ließ sich aus dem Funkstreifenwagen eine Taschenlampe holen und begann, die Treppenstufen suchend abzuleuchten. Die Polizisten sahen ihm schweigend und interessiert zu. Oberstudienrat Bundschuh zog den langen, dunklen Mantel aus, hängte ihn sorgfältig auf einen Bügel, band den Schal ab und nahm den breitkrempigen Hut vom Kopf. Er machte das alles sehr langsam und so geräuschlos wie möglich, weil er hoffte, seine Frau sei eingeschlafen. Doch als er sich auf die Truhe im Korridor setzte, um die Schuhe auszuziehen, kam sie aus dem Schlafzimmer. Sie kam geräuschlos wie ein Gespenst heraus, und auch ihre Gestalt hatte etwas Gespenstisches in der Dämmerung des Flures, der nur durch das Mattglasfenster der Wohnungstür vom Treppenhaus her beleuchtet wurde. Denn ihr fußlanger Morgenrock aus silbergrauer, wattierter Kunstseide glich einem Gespenstergewand, und die Blässe ihres Gesichts unterstützte den unwirklichen Eindruck. «Was ist los, Rainer?» flüsterte sie erregt. Er saß mit hängenden Armen vor ihr.
«Oh, Else…» sagte er – und seine Grabesstimme vollendete den Eindruck des Gespenstischen der Szene: «… ich war in Fintzels Haus… Oh…» «Was denn?» fragte sie eindringlich. «Nun red doch schon! Hast du den Koffer? Wo ist er? Oder hast du wenigstens hineingeschaut? Rainer! Sag doch was!» Er legte ihr beide Arme um die Hüfte und lehnte den Kopf an ihren Bauch. «Ich bin… bin völlig durcheinander, Liebste! Es ist alles so furchtbar…!» Er sprach in die Falten ihres Morgenrocks. Es kostete sie Mühe, ihn zu verstehen. «Ich verstehe dich so schwer!» sagte sie und legte ihm die Hand auf den Scheitel. «Möhlmann war in Fintzels Haus!» sagte er mit nach oben zu ihr gewandtem Kopf. «Das heißt, er brachte den total betrunkenen Fintzel nach Hause. Das war sehr gut, denn so konnte ich direkt nach ihm hinein in das Haus, ohne durch irgendein Fenster klettern zu müssen oder sonstwas. Denn er hatte die Haustür hinter sich und Fintzel nicht abgeschlossen. Ich bin langsam und leise auf den Dachboden geschlichen… Meine Güte – wenn ich doch nur ein bißchen schneller…» Er schluchzte. «Weiter… und?» spornte sie ihn an. «Ich fand den Koffer nicht gleich», fuhr er fort. «Er stand hinter der Bodenkammertür. Aber dann hatte ich ihn und war gerade im Begriff, ihn zu öffnen, da kam Klaus Möhlmann die Treppe herauf. Ich versteckte mich noch schnell neben dem Schornstein. Möhlmann sah den Koffer sofort und ging darauf zu, ohne mich zu sehen. Und da habe ich dumm und panisch reagiert: Ich bin raus aus meinem Versteck und auf ihn los – das heißt, ich habe den Arm erhoben… und er erschrak und wich zurück und stürzte rücklings die steile Bodentreppe
hinunter. Unten blieb er liegen… regungslos! O Gott, Else, das war so entsetzlich: Das Haus, der Lärm, als Möhlmann hinunterstürzte, die plötzliche Stille…» «Ja… mein Armer! – Und dann?» «Ich bin kopflos davongelaufen, Else, ohne Sinn und Verstand bin ich davon…» «Und ohne den Koffer…» sagte sie leise. Bundschuh hob den Kopf. «Aber natürlich ohne den Koffer! Da lag ein vielleicht toter Mann – ein Mann, an dessen Tod ich schuldig bin… und – » «Das ist doch Unsinn, Rainer!» rief Else Bundschuh. «Red dir doch so was nicht ein! Er ist gestürzt! Es ist ein Unfall!» «Ein Unfall – ja, aber ich hab ihn verursacht! Ich! Ich ganz allein!» «Ruhig, ruhig, Liebster!» sagte sie und klopfte ihm sachte den Rücken. «Was muß jetzt geschehen? Möhlmann kann doch da nicht so liegenbleiben. Bist du sicher, daß er tot ist?» «Nein, nicht sicher. Ich weiß es nicht. Aber ich habe von der Telefonzelle neben dem Kino schon die Polizei angerufen. Mit verstellter Stimme natürlich. Die sind sicher längst dort… Oh, Else… hoffentlich bleibt er am Leben!» «Das wird schon gut gehen, Rainer», beschwichtigte Else Bundschuh ihren verzweifelten Mann. Er stand auf und begann geistesabwesend, sich auszuziehen.
16
Eine Viertelstunde nach sechs Uhr morgens trat Hermann Kroll junior aus der Haustür und ging zwischen den Lastwagen und Möbelwagen hindurch, auf denen in großen blauen Buchstaben KROLLTRANS stand. Er las die plakativen Schriftzüge immer wieder mit leisem Triumphgefühl, weil das Wort ‹KROLLTRANS› seine Erfindung war und weil er die Beschriftung unglaublich mühsam gegen den Willen seines bereits todkranken Vaters durchgesetzt hatte, als er die Geschäftsführung übernahm. Früher war auf den Fernlastzügen und Möbeltransportern in schwer lesbarer Schnörkelschrift der volle Firmenname zu sehen gewesen, und Hermann Kroll senior hatte nicht eingesehen, daß die Fahrzeuge auch ein Werbemittel darstellten und daß man sie schon deshalb klar, deutlich und einprägsam beschriften mußte, wenn sie wirklich werbend wirken sollten. Kroll junior ging zur Garage, schob das Tor auf und setzte sich in seinen geliebten Mercedes. Er ließ den Motor an, freute sich am Schnurren der Maschine, setzte den schnittigen Sportwagen zurück und rangierte ihn geschickt und sicher zur Haustür, in der Agathe Kroll im großgeblümten Morgenrock stand und ihren Sohn erwartete. Kroll junior drehte das Seitenfenster auf. Frau Kroll gab ihm eine Tüte ins Auto: «Ein Apfel und zwei Apfelsinen, Jungchen! Die Apfelsinen sind schon geschält und geteilt. Vergiß sie nicht, hörst du! Vitamin C ist besser zum Wachbleiben als Kaffee und Zigaretten!» «Ja, ja, Mama!» sagte der junge Mann gequält lächelnd.
«Und fahr nicht so schnell, hörst du?!» «Ja, ja – alles klar, Mama!» «Und sei vor allem vorsichtig, wenn du…» Sie unterbrach sich und sah nach beiden Seiten, dann redete sie leise weiter: « – wenn du die Sache in Gang bringen willst!» «Natürlich, Mama!» gab Kroll junior zurück. «Ich paß schon auf. Mach dir keine Sorgen!» «Kein Geld im voraus, hörst du? Und laß dich nicht mit dem Mann zusammen irgendwo sehen, wo dich jemand kennen könnte!» Kroll junior nickte, hob grüßend die Hand, legte den ersten Gang ein, schloß das Autofenster und fuhr aus dem Hof.
Zur gleichen Zeit trank Uwe Nowak den letzten Schluck Kaffee aus und stand vom Frühstückstisch auf. Er nahm seine Tasse und den Teller und trug das Geschirr hinaus in die Küche. Auf dem Bord neben der Spüle lag – wie immer – seine Brotbüchse mit dem Pausenproviant. Er steckte sie in die Schultasche. Seine Mutter räumte den Tisch ab. «Ich fahr los, Mutti!» sagte er. «Schade, daß ich noch kein Auto habe und nicht fahren kann, sonst könnte ich dich morgens immer zur Arbeit bringen und nachmittags dort abholen. Aber warte nur, wenn ich erst mal verdiene, dann brauchst du überhaupt nicht mehr arbeiten zu gehen.» Frau Nowak lächelte: «Und was soll ich dann den ganzen Tag machen?» «Lesen!» sagte Uwe. «Auch mal einen guten Roman oder so. Und Spazierengehen. Und aus dem Fenster gucken… Oder reisen. Na, du wirst schon sehen, daß es viel einfacher ist, nichts zu tun, als du glaubst!» Er redete manchmal wie ein guter Onkel mit seiner Mutter, und das rührte sie immer fast zu Tränen.
«Lauf los, du Luftschloßbaumeister!» sagte sie heiser. Er gab ihr einen Kuß auf die Stirn, verließ das Haus, holte sein Fahrrad aus dem Schuppen, wischte den feuchten Sattel mit dem Ärmel seiner Parka trocken, klemmte die Schultasche auf den Gepäckträger, stieg auf und radelte los. Sein Atem kam in kleinen Dampfwolken aus seinem Mund und zerflatterte über seiner Schulter. Uwe Nowak fuhr über den Marktplatz, querte die Hauptstraße, bog jedoch dann nicht nach links in die GerhartHauptmann-Straße ein, die zur Schule führte, sondern radelte geradeaus bis zum Heimatmuseum und gleich danach links in die Mühlenstraße. Es war noch ziemlich dunkel, aber die Straßen waren schon belebter, als Uwe gedacht hatte. Er erwog die Möglichkeit, sein Vorhaben zu verschieben – morgen vielleicht noch eine Stunde früher aufzustehen oder den Brief spätabends in Bundschuhs Briefkasten zu werfen – aber dann entschloß er sich, es doch gleich zu machen. Er war auch zu gespannt auf die Reaktion des Lehrers, wenn der überhaupt reagierte. Also fuhr er die Mühlenstraße entlang, hielt vor dem Eingang zum Kino, stieg ab, ging in dieselbe Telefonzelle, von der aus Bundschuh ein paar Stunden früher die Polizei angerufen hatte, nahm den Brief aus dem Lesebuch (‹Die gute Saat›), steckte ihn in die Parkatasche und stieg wieder aufs Rad. Er fuhr langsam, sah sich prüfend um, als er das Vierfamilienhaus erreichte, in dem Bundschuh wohnte. Er hielt fünfzig Meter hinter dem Haus, das noch ganz dunkel war, stellte das Fahrrad gegen einen Laternenpfahl, lief zurück, sah, daß die Straße leer war, ging schnell ins Haus und warf das Kuvert durch die Messingklappe in den Briefkasten des Oberstudienrats. Er erschrak, weil die Klappe viel lauter schepperte, als er angenommen hatte, rannte aus dem Haus zurück zu seinem Rad und fuhr schnell davon.
Oberstudienrat Rainer Bundschuh war vom Scheppern der Briefkastenklappe erschrocken aus tiefem Schlaf aufgefahren. Er wußte ein paar Sekunden nicht, wo er sich befand, tastete mit unsicheren Fingern nach dem Wecker, um nachzusehen, wie spät es sei – warf das gute alte Stück mit den martialischen Glocken um und weckte damit seine Frau, die, den Kopf unter der Daunendecke, das Briefkastengerappel nicht gehört hatte. Sie stöhnte. «Was ist los?» fragte sie und blinzelte. «Schon sieben?» «Nein – erst zehn vor halb», sagte Bundschuh. «Du kannst noch ein bißchen duseln.» «War das nicht der Wecker?» fragte sie weiter. «Nein… ja… Ich hab ihn umgeworfen», erklärte der Oberstudienrat. «Schlaf weiter, Liebste!» Sie murmelte etwas Unverständliches, kuschelte sich tief in ihr Kopfkissen und schloß wieder die Augen. Bundschuh schob die Beine unter der Bettdecke hervor, fuhr in die Hausschuhe und schlüpfte in den Kamelhaarhausmantel, der über der Stuhllehne am Fußende des Bettes lag und den er sehr liebte, obschon – oder vielleicht auch weil – der Mantel durch jahre-, jahrzehntelangen Gebrauch jenen Grad Schäbigkeit erreicht hatte, der Kleidungsstücke gemütlich macht. Bundschuh fröstelte. Er schloß behutsam die Blocktür zum Balkon und ging leise in den Flur, wo er erst das Licht anknipste, als er die Schlafzimmertür hinter sich fast geräuschlos zugemacht hatte. Er sah das Briefkuvert sofort, hielt die rote Hand, die darauf gemalt war, zunächst für einen Eilboten-Aufkleber, bückte sich, hob den Brief auf, setzte gleichzeitig die Lesebrille auf, die er in der Tasche des Kamelhaarhausmantels hatte, und erkannte nun, daß der rote Fleck auf dem Umschlag eine etwas schief geratene, gemalte Hand war. Bundschuh erschrak.
Er überlegte lange zwanzig Sekunden, ob er das Kuvert öffnen, ob er es gleich wegwerfen oder ob er es verschlossen beiseite legen solle. Er ahnte, daß dies ein unangenehmer Brief sei und daß es Ärger damit geben würde, und er betrachtete den Umschlag und die schief gemalte rote Hand mit einem Gemisch aus Angst und Ekel – wie jemand eine fette Spinne betrachtet oder eine warzige Kröte. Doch dann überwand er sich, er faßte Mut – oder gab seiner Neugier nach (was ja manchmal das gleiche ist) – und riß das Kuvert auf. Die kleine Flurleuchte verbreitete nicht genug Licht, so mußte Bundschuh direkt unter das rosa beschirmte Lämpchen neben dem Garderobenständer treten, um den zusammengeklebten Text entziffern zu können. ‹Bundschuh, wir wissen alles! Dein Mord vom Januar vierundvierzig wird gerächt werden…› Bundschuh schluckte. Das Papier in seiner Hand zitterte. Die Schlafzimmertür öffnete sich. Else Bundschuh stand im Türrahmen. «Was ist?» fragte sie heiser. «Es geht schon los!» sagte der Oberstudienrat, hielt ihr den Brief hin und ließ den Kopf hängen. «Es ist ein anonymer Brief. Eben reingeworfen worden. Ich hab’s klappern gehört. Ein Erpresser. Säuberlich aus Zeitungen ausgeschnitten. Sie wissen es also schon, daß in Fintzels Koffer…» «Unsinn!» rief Else Bundschuh. «Das ist kompletter Unsinn, Rainer! Purer Zufall! Wenn Fintzel den Koffer gestern abend gefunden hat, dann müßte er der Erpresser sein – falls überhaupt Unterlagen über deine Sache darin waren. Und wenn er der Erpresser wäre, überleg mal, Rainer – dann hätte er ganz gewiß nicht im Gesangverein über seinen Fund geredet. Das ist doch wohl logisch – oder? Also kommt dieser Schmierkram woanders her. Du mußt die Polizei einschalten, glaub ich!»
«Die Polizei? Und wenn sie wissen wollen, was es mit 1944 auf sich hat? Greve ist ja kein Dummkopf, Else. Unter Umständen wird er noch Parallelen ziehen zwischen dem Brief und Fintzels Koffer, von dem er ja vielleicht weiß, wenn er es gestern abend mitgekriegt hat… Und dann ist es nicht mehr weit bis zum Unfall Möhlmanns.» Er las noch mal den Text, der da stand, schüttelte ratlos den Kopf, was ihm weh tat, und lehnte sich mit einer so hilflosen Bewegung an die Wand, daß seine Frau zu ihm trat, die Hand auf seinen Arm legte und sagte: «Es ist besser, glaub ich, wenn du heute nicht zur Schule gehst, Rainer. Ich werde anrufen und dich entschuldigen. Zahnschmerzen oder eine Magenverstimmung…irgendwas… und du bleibst zu Hause!» Oberstudienrat Bundschuh, eben noch ein Bild des Jammers, richtete sich bei ihren Worten auf, stand nun frei mit durchgedrücktem Kreuz und erhobenem Kinn und rief: «Das kommt nicht in Frage, Else!» Und dazu ließ er einen seiner Lieblingssprüche ab: «Schwierigkeiten sind dazu da, überwunden zu werden! – Außerdem würde ich mich ja eher verdächtig machen, wenn ich den Kopf in den Sand stecke, Else! Nein, man muß sich der Gefahr stellen!» Seine Frau, die derlei Vorstellungen edler Männlichkeit nach so langjähriger Ehe eher liebevoll belächelte als rückhaltlos bewunderte, sah ihn an und verbiß sich das Lächeln, weil sie genau wußte, daß das jetzt ganz fehl am Platze gewesen wäre. «Das mußt du selber wissen, Rainer!» sagte sie. Mehr nicht. Dann wandte sie sich zur Küche. «Ich werde uns also das Frühstück machen. Möchtest du ein Ei?»
«Nein, danke!» wiederholte er. «Eine Tasse Tee… sonst nichts. Mir ist der Appetit gründlich vergangen.» «Oh, ihr Männer», sagte Else Bundschuh, schon im Rahmen der Küchentür über die Schulter, «immer gleich Weltuntergang, wenn es mal ein bißchen regnet. Nichts essen. Kopf in den Sand… und nach mir die Sintflut…» «Was denn, was denn?» wehrte sich Bundschuh. «Eben hast du mir noch vorgeschlagen, zu Hause zu bleiben – und jetzt…?» «Das war nur eine taktische Überlegung, keine Kapitulation», sagte sie. «Oh, Logik – dein Name ist Weib!» rief Bundschuh. Das rief er immer, wenn seine Frau ihm überlegen war. «Also doch ein Ei?» fragte sie, ohne eine Miene zu verziehen. «Ja, gut, meinetwegen…» sagte er und ging ins Badezimmer, um sich zu rasieren.
17
Das Polizeirevier Endwardens war in einem alten Haus am Markt untergebracht, in dem sich früher die Werkstatt und das Lager eines Kürschnermeisters befunden hatten. Deshalb roch es dort noch immer nach Naphtalin, mit dem der Pelzspezialist damals, mangels anderer, geruchloser Mottenschutzmittel, wie sie heute gebräuchlich sind, seine Felle vor den gefräßigen Insekten bewahrt hatte. An warmen Sommertagen, aber auch zur Winterszeit, wenn die Zentralheizung auf vollen Touren lief, war der penetrante, durch nichts zu übertönende oder zu vertreibende Mottenpulverduft derart intensiv, daß die Frauen der Polizisten die Nase kraus zogen, wenn ihre Männer vom Dienst nach Hause kamen. Im Sommer konnten die Ordnungshüter wenigstens die Fenster öffnen, obwohl das auch wieder seine Nachteile hatte, weil die Gespräche – die direkten Dialoge wie auch die Telefonate – dann von der Straße oder vom Marktplatz her mitgehört werden konnten. Daraus ergab sich, daß die Endwardener Polizisten in den Ruf gekommen waren, zur Sommerszeit höflich, leise, gedämpft zu sprechen, während sie bei kühleren Temperaturen polterten und bullerten und räsonierten … wie andere Polizisten auch. An diesem Morgen, einem kalten Morgen im Februar, roch es heftig nach Naphtalin in der Wachstube, und Obermeister Brennecke stauchte seinen Untergebenen, den Polizeimeister Klawitter in Winterlautstärke gerade fürchterlich zusammen. «… einen Scheißdreck interessiert es mich, ob die Tante achtzehn ist oder achtzig! Straßenverkehrsordnung hat mit
Alter nichts zu tun! Merken Sie sich das! Wenn die Oma bei Rot über die Straße dattelt, gehört sie bestraft und nicht auch noch hinübergeführt und belehrt! Ein für allemal: Wir sind kein Altersheim und kein Kindergarten, wir sind für Ruhe, Sicherheit und Ordnung – » Da klingelte das Telefon. Brennecke griff zum Hörer und meldete sich. Klawitter zupfte sich vor Ärger am Schnurrbart, den er sich eigentlich für andere Zwecke hatte wachsen lassen. Brennecke horchte in den Hörer. «Nein», sagte er dann, «Kommissar Greve ist nicht da. Ich weiß auch nicht, wann er wiederkommt. Soll ich ihm was ausrichten?… Wie?… Ach, du liebe Güte…! Tot, sagen Sie?… Na ja, ich sag es ihm, sobald er kommt oder anruft. Ende!» Er legte auf. «Möhlmann ist tot!» sagte er. «Noch vor der Operation gestorben…» Er schob die Unterlippe vor und runzelte nachdenklich die Stirn. Schließlich sah er auf. «Fahren Sie los, Herr Klawitter, und suchen Sie Kommissar Greve. Er muß es schnell wissen. Wahrscheinlich finden Sie ihn in der Sparkasse oder in der Schule oder in der Apotheke – bei einem der Gesangvereinsbrüder. Machen Sie dalli!» «Okay!» sagte Klawitter. Er sagte absichtlich ‹okay›, weil er genau wußte, daß sich Brennecke darüber ärgerte, wenn die untergebenen Polizisten nicht ‹Jawoll, Obermeister!› oder sogar ‹Zu Befehl, Obermeister!› oder sonst so was aus der guten alten Zeit sagten. Vormittags halb zehn gleicht die Reeperbahn einer müden Katze, die, schmutzig und ramponiert von den Aufregungen der letzten Nacht, nur mühsam blinzelnd wach wird, sich unlustig reckt und mißgelaunt zum Futternapf stelzt.
Die Lichtreklamen sind erloschen und stehen nur als Drahtgerüst an den Fassaden oder vor dem griesegrauen Hamburger Himmel. Die Eingänge zu den Bars, Sexshops, Erotikshows, Tanzsalons – abends von lockenden Lampen umflackert – sind geschlossen. Ein Trupp fröstelnder dunkelhäutiger Matrosen läuft breitbeinig und stumm suchend umher, ob nicht doch irgendwo ein Striptease stattfindet oder wenigstens eine Kneipe mit Oben-Ohne-Bedienung geöffnet ist…
Ein frisch frisierter Zuhälter, sonnengebräunt, Zahnstocher im Mundwinkel, Goldkettchen am Handgelenk, dunkle Brille zwischen den hellblonden langen Koteletten, saß an diesem Vormittag in seinem silbernen Jaguar, spuckte den Zahnstocher aus, machte ein so blasiertes Gesicht, daß man ihn, wenn er anders kostümiert gewesen wäre, für einen Fliegeroffizier hätte halten können – und fuhr dann los. Hinter einem der Fenster des Hotel garni, vor dem der Luxusschlitten geparkt hatte, guckte ihm ein blasses, müdes Mädchen nach, das verheult aussah. In die Parklücke glitt jetzt der Mercedes Hermann Krolls. Der Spediteur kletterte aus seiner geliebten Feine-Leute-Kutsche und schaute sich um. Das verheulte Mädchen oben hinter der Fensterscheibe zog die Gardine zu. Kroll schloß den Wagen ab, kontrollierte, ob auch alle Türen und der Kofferraum richtig verriegelt waren, und steckte für eine Stunde Münzen in die Parkuhr. Dann lief er an den verschiedenen geschlossenen Etablissements entlang bis zur Großen Freiheit, sah, daß in der schmalen Straße auch nichts los war, wagte nicht, eine der Frauen anzusprechen, die in bunten, engen Pullovern und noch
engeren Hosen beieinander standen, rauchten und schwatzten – und ging schließlich in die Bier- und Imbißstube an der Ecke, die geöffnet war. Er stellte sich an die Theke. Der Wirt hinter der blanken Stahltresenplatte mit den Ablauflöchern und Rillen sah grau und krank aus. Er hatte dunkle, fast schwarze Ringe unter den Augen, eine großporige, gelbe Haut voller Leberflecken und schadhafte Zähne hinter den dicken, rissigen, bläulichen Lippen. «Was soll’s sein?» fragte er speichelsprühend und sah Kroll junior von unten an, wodurch das gelbe Weiße in seinen Augen sichtbar wurde. «Einen Kaffee, bitte!» sagte Kroll. «Kaffee…» echote der Wirt. Das klang verächtlich. Wenn einer bloß Kaffee bestellte – mit dem war nichts los. Kroll spürte das und fügte, weil er ja von dem Wirt was wollte, hinzu: «Ja …und einen doppelten Cognac!» «Cognac…» echote der Wirt, und das klang schon wesentlich freundlicher. Kroll hatte nicht die Absicht, den Cognac zu trinken. Er überlegte, noch ehe der Wirt ihn eingeschenkt hatte, wohin er ihn kippen könnte, und sah sich nach einer Gelegenheit um. An einem der sechs, sieben Tische saß ein bereits beschwipster Seemann im blauen Troyer und tätschelte einer ältlichen Hure über die nackten Oberarme. Neben der Musikbox in der Ecke hockten drei Männer mittleren Alters, alle drei mit Gesichtern ohne jedes besondere Kennzeichen. Sie tuschelten. Am Tisch neben der Tür saß ein alter, stark behaarter Mann allein und stopfte sich eine Pfeife. Er hatte eine geradezu unheimliche Ähnlichkeit mit einem Hamster.
«Der Cognac», sagte der Wirt, stellte ein Glas vor Kroll und schenkte ein. Kroll hatte erwartet, daß seine Hand zitterte, aber sie zitterte nicht. «Kaffee kommt gleich», setzte der grauhäutige Mann noch hinzu und wandte sich ab, um die blitzende Kaffeemaschine zu bedienen, die zischend hinter ihm stand. Kroll nutzte die Gelegenheit und ließ den gut riechenden Cognac zwischen Hüfte und Thekenwand auf den dunkel gefliesten Fußboden rinnen. «Erst kommste rüber mit dem Kies!» keifte die ältliche Hure den beschwipsten Matrosen am Tisch an. «Erst die Knete, Mann, und denn die Finger an meine Figur! Für nüscht is nüscht, verstanden? Auch kein Gefummel, klar?» Der Seemann antwortete irgendwas Undeutliches. Der Hamster kicherte. «Ihr Kaffee!» sagte der Wirt und schob die volle Tasse vor Hermann Kroll. Er blickte erstaunt auf das leere Cognacglas. Eine Art Hochachtung erschien in seinem Blick. «Noch ‘n Cognac?» fragte er. «Im Augenblick nicht, danke!» sagte Kroll und griff zur Kaffeetasse. Er nahm einen kleinen Schluck, wobei er sich fast die Zungenspitze verbrühte. Der Wirt zündete sich eine Zigarette an. Der Hamster war aufgestanden und mit seiner brennenden Pfeife – einen Rauchwolkenstreifen hinter sich lassend – zur Musikbox gegangen. Er warf Münzen ein und drückte die Wähltasten. Die Musik plärrte los. Zu Hermann Krolls Verblüffung ertönte weder ein Shanty noch ein Militärmarsch, sondern ein Kinderlied, das von einer quäkigen Frauenstimme mit Kinderchorbegleitung gesungen wurde.
«Wenn ich groß bin, liebe Mutti, will ich alles für dich tun… und dann haben deine Hände endlich Zeit, sich auszuruuuhn…» Der Hamster blieb an der Musikbox stehen, schlug den Takt und nickte im gleichen Rhythmus mit dem behaarten Haupt. Der angetrunkene Seemann begann mit der ältlichen Hure auf dem Gang zwischen den Tischen nach dem Kinderlied zu tanzen. Die drei gesichtslosen Männer in der Ecke klatschten im Takt Beifall, was das tanzende Paar zu immer groteskeren Verrenkungen anstachelte. Der Wirt griente und sah Kroll aus den Augenwinkeln an. Jetzt klang das Kinderlied aus. Eine Tangogeigenschnulze jaulte los. Das Tanzpaar kapitulierte nach wenigen Schritten und wankte wieder an den Tisch. Kroll lehnte sich über die Theke zu dem Wirt: «Ich suche jemanden, der mir eine etwas schwierige Arbeit abnimmt, Herr Wirt», sagte er leise. «Haben Sie da vielleicht eine Adresse?» «Das kommt auf die Arbeit an, junger Mann», erwiderte der Wirt ebenfalls leise. Einer der drei Männer, die miteinander getuschelt hatten, war an den Tresen gekommen, stand nun neben Hermann Kroll und wollte ein Fünfmarkstück gewechselt haben, um sich Zigaretten aus dem Automaten zu ziehen. Kroll schwieg, bis er wieder weg war. Der Tango aus der Musikbox ging zu Ende. «Es geht um die Beschaffung eines… äh… eines Gegenstandes», fuhr Kroll stotternd fort. «Es ist für mich ziemlich wichtig, aber… äh… ich kann das nicht… ich kann da nicht rein… in… das Haus, wo er ist…» «Einen Bruch wollen Sie also bestellen, wie?» fragte der Wirt, und als Kroll ihn verständnislos ansah, sagte er noch
direkter: «Sie suchen einen, der für Sie irgendwo einsteigt und was holt, wie?» Kroll nickte, nachdem er sich fix umgeschaut hatte. «Da sind Sie bei mir an der falschen Adresse», brummte der Wirt. «Ich kann Ihnen ‘ne Biene besorgen oder ‘n Jungen, wenn Sie auf Jungens stehen – aber so ‘ne krumme Sachen, da liegen Sie hier falsch, junger Mann!» Er schüttelte zur Bekräftigung seiner Absage heftig den viereckigen Kopf und schaute Kroll an. «Macht vier fuffzig!» sagte er abschließend und wies mit seinem dicken rechten Zeigefinger auf das leere Cognacglas und die Kaffeetasse. Kroll bezahlte, hob verlegen die Achsel, trank den Kaffee aus, der bitter schmeckte, und verließ die Kneipe. Er war gerade aus der Tür, da winkte der Wirt dem Mann, der eben das Fünfmarkstück gewechselt hatte. Der kam schnell an die Theke. «Lauf hinter dem her!» sagte der Wirt. «Das ist einer vom Lande. Der hat ‘n Job für dich oder Kuddel!» Der Mann zwinkerte, tippte mit zwei Fingern an die Schläfe, sagte: «Danke, Otto!» und lief hinter Kroll her hinaus.
18
Kommissar Greve betrat die Schwanenapotheke und blinzelte irritiert, denn der Verkaufsraum war voller Leute. Hanebutt und seine Tochter Edda hatten alle Hände voll zu tun. Edda sah den Kommissar gar nicht kommen, weil sie gerade hinter einem der Regale kauerte und aus einer unteren Schublade irgendein Medikament holte. Walter Hanebutt bemerkte Greves Kommen, stutzte aber nur den Bruchteil einer Sekunde – nicht deutlich genug, als daß darauf irgendwelcher Verdacht zu gründen gewesen wäre –, lächelte dem Kommissar zu und bediente die mollige Frau weiter, die mit der Röte des hohen Blutdrucks im Gesicht vor ihm stand. «Nein, Frau Schiemann», sagte er, «das tut mir leid! Ich darf Ihnen dieses Präparat nicht ohne Rezept aushändigen. Es enthält Digitalis. Und Digitalis ist nur auf ärztliche Anordnung…» «Aber es hilft mir, Herr Doktor! Ich habe es ja nun ausprobiert. Es hilft wirklich. Da brauche ich doch nicht noch mal extra wieder zum Arzt und stundenlang im Wartezimmer – bloß wegen einem Rezept…» «Bedaure aufrichtig, Frau Schiemann – doch ich mach mich strafbar, wenn ich Ihnen ein rezeptpflichtiges Medikament verkaufe. Außerdem ist es auch sehr teuer. Wenn Ihnen Ihr Doktor – wer behandelt Sie denn?» «Doktor Voss», sagte die Frau. «Wenn Ihnen Herr Doktor Voss das verordnet, dann zahlen Sie nur die Krankenkassengebühr, überlegen Sie mal! Da sparen Sie fast dreißig Mark!»
«Dreißig?» fragte die Frau ungläubig. «Aber ich hab neulich doch nur zwei Mark…» «Jaja», erwiderte Hanebutt mit Engelsgeduld, «ja, das sage ich doch, Frau Schiemann! Mit Rezept zwei Mark – ohne Rezept… warten Sie mal…» Er blätterte in einer Liste, die neben der Registrierkasse lag, einer elektronischen, supermodernen Kasse, die der geschickte Innenarchitekt bei der Renovierung der Apotheke hinter der Front einer alten Kasse mit Schnörkelbuchstaben versteckt hatte. «… ohne Rezept», wiederholte Hanebutt, «kostet es 29,50. Warum wollen Sie da nicht lieber zu Doktor Voss gehen?» «Ja, das leuchtet mir ein. Wenn das so teuer ist…» sagte die Frau nickend. «Ich danke schön, Herr Doktor!» Damit drehte sie sich um und ging zur Tür. Der Apotheker kam um den Tresen herum auf Greve zu und gab ihm die Hand. «Tag», sagte Greve, «ich wußte gar nicht, daß Sie promoviert haben!» «Habe ich auch nicht», gab Hanebutt zurück, «aber viele Leute sagen ‹Herr Doktor› zu mir. Das macht der weiße Kittel und das viele Latein auf den Packungen und Dosen und Flaschen rundrum und der Geruch nach Kamillentee, Spiritus und Krankheit beziehungsweise Gesundheit. Anfangs habe ich immer gesagt, daß ich kein Doktor bin – aber es hat keinen Zweck. Also lasse ich es. Schadet ja keinem…» «Nein», sagte Greve und trat beiseite, um einem jungen Ehepaar Platz zu machen, das einen Zwillingskinderwagen in die Apotheke schob. «Was kann ich für Sie tun?» fragte Hanebutt. «Ich habe ein paar Fragen wegen des… wegen eines Unfalls, der sich heute nacht nach dem Singen ereignet hat», erklärte Greve.
«Unfall? Um Himmels willen! Kommen Sie mit in meine Hexenküche!» sagte Hanebutt und wies mit ausgestrecktem Arm zum Durchgang, der vom Verkaufsraum der Apotheke nach hinten ins Labor führte. In diesem Augenblick ging die Tür zur Straße wieder auf, und Polizeimeister Klawitter kam forsch herein. «Oh – da sind Sie!» rief er so laut, daß sich alle Kunden nach ihm umdrehten. «Was ist denn?» fragte Greve ärgerlich. «Ich soll Ihnen ausrichten, daß…» hob Klawitter laut an, besann sich dann aber, brach ab und winkte den Kommissar mit einer Kopfbewegung zur Seite. «Ich soll Ihnen sagen, Herr Greve, daß der Verunglückte tot ist», flüsterte er. «Möhlmann?» fragte Greve leise, obschon das eigentlich klar war, denn es gab keinen weiteren Verunglückten zur Zeit. «Jawohl, der Gastwirt», flüsterte Klawitter. «Das Krankenhaus hat angerufen. Er ist noch vor der Operation gestorben. Obermeister Brennecke meinte, das sollten Sie unbedingt wissen, wenn Sie jetzt rundrum die Leute vernehmen!» «Ja. Ist gut!» sagte Greve. «Vielen Dank, Herr Klawitter!» Der Polizist legte grüßend die Hand an die Schirmmütze und ging. «Ärger? Unannehmlichkeiten?» fragte Hanebutt neugierig. «Wie man’s nimmt», sagte Greve. «Da ist aus einer möglichen Körperverletzung ein möglicher Mord oder Totschlag geworden!» «Ach, du lieber Himmel!» sagte Hanebutt, wiederholte seine einladende Geste und ging hinter dem Kommissar her ins Laboratorium.
Hermann Kroll lief die Große Freiheit hoch. Er wunderte sich, daß richtige Schulkinder mit richtigen Ranzen auf dem Rücken ihm entgegenkamen und daß ein richtiger Briefträger Post austrug. Solche normal-bürgerlichen Vorgänge hatte er hier nicht erwartet zwischen den Absteigen, Animierlokalen, Stripkabaretts, Pornokinos und mehr oder minder schaurigen Show-Etablissements in der Nebenstraße der ‹sündigsten Meile der Welt›, die jetzt geschlossen waren und deren Schaukastenschönheiten und Nackedeis bei dem grauen Tageslicht trotz der zwei-, nein, eindeutigen Einladungstexte eher abstoßend als verführerisch wirkten. Hermann Krolls Appetit auf Genüsse dieser Art war ohnehin nie sehr groß gewesen, und jetzt und hier, angesichts der Tristesse rundum, den Kopf voll ganz anderer Gedanken – jetzt und hier empfand er eher Ekel vor den vielen Busen und Schenkeln, Hüften und Hinterteilen, die da auf Fotos feilgeboten wurden. ‹Vielleicht am Hauptbahnhof?› dachte er. ‹Dort treiben sich ja oft so Leute herum. Könnte doch sein, daß ich da einen finde, der Fintzels Koffer aus dem Haus holt…› – und er blieb stehen und drehte sich um und wollte zurück zu seinem Auto. Da sprach ihn der unscheinbare Mann an, der von der Kneipe aus hinter ihm hergelaufen war. «Haben Sie vielleicht Feuer für mich, bitte?» fragte er mit einer Stimme, die wie das Kratzen eines Blumentopfs auf einer steinernen Fensterbank klang. «Ja, Augenblick», sagte Kroll, knöpfte seinen gefütterten Trenchcoat auf, den er beim Verlassen der Kneipe fröstelnd zugeknöpft hatte, und suchte in seiner Jackentasche nach dem Feuerzeug. Der unscheinbare Mann, ein dürrer, zu scharf rasierter Vierziger mit schiefen Zähnen zwischen ständig leise zuckenden Lippen, sah Kroll aus schmalen Augen an.
«Sie suchen jemanden für ‘n schwierigen Job?» fragte er leise. Kroll stutzte. «Ja…» sagte er nach kurzem Zögern, «aber wieso? Woher wissen Sie…?» «Hat mir mein kleiner Finger verraten!» krächzte der Mann und kicherte. Kroll gab ihm Feuer. Der Mann machte einen tiefen Atemzug. Als er weitersprach, quoll ihm der Rauch aus Mund und Nase. «Na? Stimmt’s? Suchen Sie jemand?» – Und als Kroll nickte, redete er schnell weiter: «Okay. In zehn Minuten im ‹Paradiso›, Wohlwillstraße. Dort können wir in Ruhe reden. Ist gebongt?» «Ja!» sagte Kroll. Der Mann lief davon. Eine Frau im Bademantel kam aus einer der Haustüren zwischen den Eingängen zu den Lokalen. Sie hatte strähniges rotes Haar, eine Zigarette im Mundwinkel und kniff das linke Auge zu, um keinen Rauch hineinzukriegen. Sie sah nach links und rechts die Straße entlang. «Ist der Postbote schon durch, Kleiner?» fragte sie Kroll. «Ja – vor fünf Minuten!» sagte Kroll mit verlegenem Lächeln. «Scheiße!» sagte die Frau, spuckte die Zigarette in den Rinnstein und verschwand. Kroll lief in der Richtung die Große Freiheit hoch, in die auch der unscheinbare Mann gelaufen war. Zwei Polizeibeamte, die an der nächsten Straßenseite in ihrem Streifenwagen saßen und den nicht existierenden Straßenverkehr überwachten, sahen ihm gelangweilt nach.
Kommissar Greve griff in die Tasche seines Mantels, um die Zigarettenschachtel herauszuholen, doch er ließ sie dann drin, denn er war plötzlich nicht sicher, ob er hier in Apotheker Hanebutts Labor überhaupt würde rauchen dürfen. Es roch so heftig nach Chemikalien in dem kleinen, hellen Raum, daß möglicherweise Explosionsgefahr bestand, wenn er sich eine Zigarette anzündete. «… nein, es war eigentlich wie immer», sagte Hanebutt. «Wir sind, nachdem die meisten weg waren, noch ein bißchen tiefer in die Kanne gestiegen, wenn du… äh, wenn Sie verstehen, was ich meine…» Er brach ab, erschrocken über den Versprecher, denn der Kommissar hatte ihn ja vorher im Verkaufsraum auch betont gesiezt – und deshalb war das rausgerutschte ‹Du› während der dienstlichen Handlung Greves bestimmt unangebracht. «Na, und dann», fuhr er, da Greve schwieg, fort, «dann sind wir mit Otto, mit Otto Fintzel, zusammen nach Hause: Möhlmann, Knobloch und ich. Ich bin nach ein paar Minuten schon abgebogen. Mir war ziemlich schlecht. Die drei sind dann weiter – ich bin heim. Meine Tochter war noch wach. Sie kann dir – äh, Ihnen – sicher die genaue Zeit sagen, wo ich hier war.» «Wieso ist Herr Möhlmann eigentlich mitgegangen?» wollte der Kommissar wissen. Er hatte sich an die Kante des Labortisches gelehnt und stand mit dem Rücken zum Fenster dem Apotheker gegenüber. Hanebutt versuchte angestrengt, im Gegenlicht den Gesichtsausdruck des Kommissars zu erkennen, aber das gelang ihm nicht. «Weil wir sehr blau waren», sagte er. «Er hatte so ‘n Anfall von Verantwortungsgefühl. Er ließ sich nicht davon abbringen, uns – besonders Otto Fintzel – zu begleiten. Ich muß ihn nachher mal anrufen und mich erkundigen, ob sie – aber stopp,
Sie sagten was von einem Unfall? Ist denn da noch irgendwas passiert?» «Ja», sagte Kommissar Greve, «Klaus Möhlmann ist tot.» Hanebutt erstarrte. «Tot?» fragte er heiser. «Ja, ich habe es eben erfahren», sagte Greve. «Als wir ihn gefunden haben, lebte er noch.» «Wo habt ihr ihn denn gefunden?» Hanebutt vergaß das dienstliche Sie. «Auf der Straße?» «In Otto Fintzels Haus», berichtete der Kommissar. Sie standen – beide in Nachdenken versunken – eine halbe Minute lang schweigend vis à vis. Aus dem Verkaufsraum waren Stimmen zu hören. Im Hof vor dem Laborfenster knatterte ein Mofa. «Tja, dann will ich mal weiter…» sagte der Kommissar. «Wenn dir noch irgendwas einfällt, Walter, irgendwas Ungewöhnliches, was gestern abend vorgekommen ist, laß es mich wissen, bitte!» Er gab dem Apotheker die Hand. Der nickte stumm. Greve ging. In der Tür wandte er sich noch einmal um. «Wer, sagst du, war der Dritte? Herbert Knobloch?» «Ja…!» sagte Hanebutt und sah ihm kopfschüttelnd nach.
19
Die Spielhalle ‹Paradiso› hinter der Reeperbahn, die Hermann Kroll nach einigem Suchen gefunden hatte, gehörte zur schäbigeren Sorte dieser Art Vergnügungsunternehmen. Sie war in einer früheren Wäscherei und Chemischen Reinigung beheimatet und bestand aus zwei sehr nüchternen neonbeleuchteten Räumen, in denen vor fleckiggraugelb gestrichenen Wänden etwa zwei Dutzend unterschiedliche Spielautomaten standen. An einigen der Geräte klebten Pappschilder, auf denen – krakelig mit Filzstift geschrieben – AUSSER BETRIEB stand. Außerdem gab es Automaten für Zigaretten, Cola, Kaugummis – und auf der Herrentoilette einen für Präservative. Und es gab im vorderen Raum einen wackeligen Schreibtisch mit schmieriger Plastikplatte, hinter dem der Aufpasser saß. Das war ein welk gewordener Catcher, dessen rotgeränderte trübe Augen den Augen eines alten Hundes glichen. Er rollte einen erloschenen Zigarrenstummel zwischen seiner gelben, schlecht sitzenden Zahnprothese und wandte kaum den Kopf, wenn Kunden kamen oder gingen. Es roch nach kaltem Tabakrauch, schalem Bier, Pisse und ungewaschenen Leuten. Scheppernde Rockmusik kam aus mehreren Lautsprechern. Vor zwei, drei Spielapparaten standen junge und ältere Männer. Die einen flipperten, die anderen schossen auf sich bewegende Figuren, die dritten lenkten ein imaginäres Auto durch einen Film, der rasanten Großstadtverkehr vorführte. Alle waren sehr auf ihr Spiel konzentriert. Auch die Danebenstehenden verfolgten gespannt, wie viele Figuren der
Spieler umlegte, wie hoch der Flipper seine Zahl schraubte, wie oft der Autofahrer gegen die Straßenverkehrsordnung verstieß oder kollidierte. Hermann Kroll junior, von dem alten Catcher nur mit müdem Bernhardinerblick registriert, sah sich suchend um und entdeckte den unscheinbaren Mann im zweiten Raum, in dem der an einer Art Maschinenpistole stand, die er auf schattenhafte Gestalten abfeuerte, die hinter Mauern und Buschwerk vorsprangen – mal hier, mal dort auf der Mattscheibe – und die offenbar Verbrecher darstellen sollten, die es zu erledigen galt. Vier hatte der Mann schon erledigt, ein fünfter war ihm entkommen, einen sechsten erschoß er gerade, als Kroll hinzutrat. Der siebente und achte ging ihm durch die Lappen, weil er sechs Sekunden unaufmerksam geworden war durch Krolls Kommen, aber den neunten und zehnten killte er korrekt. Das Licht auf dem Spielgerät erlosch. Oben erschien die Zahl 7 in flackerndem Rot. Für eine neue Schießerei hätte man wieder fünfzig Pfennig einwerfen müssen. «Wollen Sie mal?» fragte der Unscheinbare und trat zur Seite. «Eigentlich…» sagte Hermann Kroll zögernd. «Nun machen Sie schon, Mann!» zischte der Dürre. «Ich guck Ihnen zu. Dabei können wir unauffällig reden. Los, dort rein den Fuffziger. Haben Sie keinen?» «Doch, doch», sagte Kroll eilig, fummelte eine Münze aus seinem Portemonnaie, steckte sie in den Geldschlitz und griff so langsam zur Maschinenpistole, die noch feucht von der Hand des Dürren war, daß die ersten zwei Schatten hinter Mauer und Gebüsch bereits verschwunden waren, ehe er den ersten Schuß abgab. «Worum geht’s also?» fragte der Unscheinbare. «Um einen Koffer», sagte Kroll, schoß daneben, schoß wieder, traf immerhin den vierten ‹Verbrecher›, schoß weiter,
nervös, wurde langsam ärgerlich, aber schoß weiter und fuhr fort: «Er steht auf dem Dachboden eines alten Hauses in Endwarden. 280 Kilometer von hier. Ich suche jemanden, der ihn mir dort unbemerkt rausholt…» Peng, peng – die letzten zwei Schüsse – beide daneben. Die flackernde Zahl am Kopf des Geräts zeigte eine 2. «Nicht doll!» sagte der Dürre verächtlich. «Das ist mir schnuppe», sagte Kroll. «Können wir nicht an ein anderes Ding gehen? Eins, das weniger nervt?» «Okay», meinte der Mann und stellte sich an einen Tischflipper neben den Schießapparat. «Ist auch billiger», sagte er und steckte zwei Groschen in den Schlitz, worauf fünf Kugeln klappernd vor den Federbolzen rollten, mit dem man sie auf Umlaufbahn zwischen Kontakten, Lämpchen und Löchern katapultieren mußte. Er flippte die erste Kugel los. Kroll sah sich um. Sie waren immer noch allein in dem zweiten Raum der Spielhalle ‹Paradiso›. «In dem Koffer sind Papiere», sagte Kroll, «keine Wertpapiere – aber ein paar alte Dokumente, die nicht in falsche Hände fallen dürfen. Ich bin bereit, für die Beschaffung dieses Koffers 250 Mark zu bezahlen.» Der dürre Unscheinbare tat so, als sei er ganz und gar mit seinem Spiel beschäftigt. Ohne Kroll anzusehen, sagte er: «250 für einen Einbruch? Da kichern die Hühner, werter Herr!» Er spielte weiter. Das machte er unglaublich geschickt. Die Kugeln, die er auf die Reise schickte, waren so gut gezielt, daß sie alle nur möglichen Kontakte berührten, zurückgeschnipst wurden in die Ausgangsposition, in Löcher rollten, die hohe Summen auslösten, durch Engpässe kullerten, die einen Hagel von Stromstößen hervorriefen… Es war faszinierend. «280 Kilometer. Das macht hin und her sechs Stunden Fahrt», fuhr der Dürre nun fort, «und drei bis vier Stunden für
das Ausbaldowern der Möglichkeiten und eine Stunde für den Bruch selber und dann den Koffer irgendwohin… also sagen wir mal zwölf Stunden zusammen. Für ‘n Automechaniker zahlen Sie heute wenigstens vierzig Mark die Stunde beim Achtstundentag und sechzig für die Überstunde… Das wären schon…» Er rechnete, während er weitere Kugeln rollen ließ. «… fünfhundertsechzig plus Reisespesen plus Risikozuschlag, von der Facharbeiterzulage gar nicht zu reden. Sagen wir tausend, dann haben Sie’s billig!» Er blickte auf und lächelte. Hermann Kroll blieb ernst. Auf dem Flippergerät stand oben jetzt die Zahl 94600. Das war sensationell. Kroll trat an den Apparat, warf zwei Groschen ein und schickte die erste silberne Kugel los. Sie lief gut. Er hatte Glück. Sie lief besser als die erste des Dürren und brachte nach mehrmaligem Zurückschnappen 21000 Punkte. «Hallo!» sagte der Dürre anerkennend. Kroll gewann an Sicherheit und Selbstbewußtsein. Der Kaufmann erwachte in ihm. «Ausgeschlossen», sagte er, «mein äußerstes Angebot sind vierhundert!» «Dafür besorg ich Ihnen paar handgemalte Postkarten von ‘nem blinden Hausierer!» gab der Dürre zurück. Kroll schickte die zweite Kugel los. Er paßte nicht auf. Sie rutschte ihm durch die Klappen und brachte nur 7000. «Na gut», sagte er, «weil Sie was von Facharbeiterzulage gesagt haben. Das leuchtet mir ein. Also fünfhundert, mein letztes Wort!» Die dritte Kugel lief großartig. Wieder und wieder konnte Kroll sie zurückschnipsen gegen die Kontakte – und zum Schluß fiel sie sogar in das Loch ‹Freikugel›, nachdem sie schon 19000 Punkte gebracht hatte.
«Bravo!» sagte der Dürre. «Aber trotzdem kann ich Ihnen nicht weiter als bis achthundert entgegenkommen!» «Dann muß ich mir wohl jemand anders suchen», sagte Kroll, dem der Handel Spaß zu machen begann, zumal seine vierte – nun noch mal dritte – Kugel 18200 Punkte holte. Wenn er ein bißchen Glück hatte, würde er mit den letzten beiden auf mehr als 94600 kommen. Er sagte nichts, tat so, als sei das Gespräch für ihn erledigt, und schoß die vierte ins Feld. «Okay, siebenfünf!» sagte der Mann, als die Kugel mit 128000 Punkten ins Aus fiel. «Achtundsiebzigtausend» sagte Kroll stolz. «Noch 16,7, dann hab ich Sie!» – und katapultierte gleichzeitig die fünfte Kugel in die Bahn. «Haben Sie nicht gehört?» sagte der Dürre. «Ich habe siebenfünf gesagt.» «Augenblick», gab Kroll zurück und schnipste die Kugel mit Schwung wieder zwischen die Spiralen. 13… 13,5… 15… tickten die Zahlen auf dem unteren Lichtfeld, und jetzt witschte das Glitzerding in die schmale Gasse und löste die Ratterkontakte aus, so daß die Hunderter nur so purzelten: 16,1… 16,5… 17… 17,5… 17,9… 18… – und noch mal dreihundert, jawohl! Kroll richtete sich auf und ließ die Kugel einfach weglaufen. Die Leuchtzahl oben zeigte 96300. «Okay, abgemacht!» sagte er. «750 Mark!» «250 sofort und den Rest bei Lieferung des Koffers!» sagte der Dürre. «Nein», sagte Kroll, «ich gebe Ihnen das Geld für eine Rückfahrkarte mit der Bahn. Erster Klasse, wenn Sie als Facharbeiter darauf bestehen – und das andere bei Übergabe des Koffers. Hier ist ein Zettel…» Er kramte den vorbereiteten Zettel aus seiner Brieftasche, auf neutrales Papier mit der
Schreibmaschine getippt, «… auf dem die Adresse steht, wie der Koffer aussieht und wo er steht. Und wo ich Sie heute abend damit erwarte!» «Heute? Heute abend?» «Ja, sicher. Die Sache eilt, sagte ich das nicht?» sagte Kroll, und er sagte das so bestimmt und autoritär, daß sein Vater helle Freude an ihm gehabt hätte. «Ich warte also um 20 Uhr am Kiosk vor dem Bahnhof in Endwarden. Der ist ab sieben geschlossen. Sie kriegen dann den letzten Zug um halb zehn noch leicht und sind gegen halb zwei wieder hier.» «Ich fahr mit dem Auto», sagte der Dürre, eingeschüchtert von dem Befehlston Kroll juniors. «Um so besser», erwiderte Kroll, «dann sparen Sie noch am Fahrgeld. Hier sind hundert Mark! Ich bin ja nicht kleinlich…» Er gab dem unscheinbaren Mann, nachdem er sich noch mal sichernd umgeblickt hatte, zwei Fünfzig-Mark-Scheine. «Alles okay?» «Naja», sagte der Dürre mißmutig, «es ist nicht gerade das Geschäft meines Lebens…» Kroll lächelte jetzt. Sie gaben sich nicht die Hand, sondern gingen grußlos auseinander.
20
In der fünften Stunde hatte die Klasse 12b des JohannWolfgang-Goethe-Gymnasiums in Endwarden bei Oberstudienrat Bundschuh Deutsch. Uwe Nowak, den die Deutschstunde sonst nicht sonderlich beunruhigte, hatte diesmal Mühe, seine Aufgeregtheit zu verbergen. Er hatte keinem von seiner ‹Aktion› erzählt, denn er wußte nicht, wieweit er sich auf Solidarität und Verschwiegenheit der Kumpane würde verlassen können, wenn Bundschuh die Sache vielleicht der Kripo übertrug und wenn es dann Verhöre gab oder so was. Es schien Uwe zwar unwahrscheinlich, daß der Oberstudienrat das machte – aber wer weiß, möglicherweise kannte er irgendeinen höheren Polizeibeamten, der auch keine ganz weiße Weste hatte und dem er sich anvertrauen konnte… Solche Kameraderien kannte man ja – das war überall üblich. Also besser, er behielt für sich, was er da angezettelt hatte, obwohl es natürlich schade und nur die halbe Freude war, die Reaktion des Oberstudienrats allein beobachten zu müssen. Bundschuh setzte sich hinter das Katheder und ließ den Blick über die neunundzwanzig Mädchen und Jungen gleiten, bis Ruhe eingetreten war. «Wir haben in der letzten Stunde anläßlich unserer Beschäftigung mit Goethes ‹Hermann und Dorothea› über die vielfältigen Formen der Liebe geredet», sagte er. «Jeder hat auf einem Zettel unter dem Stichwort ‹Liebe› alles an Gedankenverbindungen aufgeschrieben, was ihm in den Sinn kam. Ihr erinnert euch sicher, wie viele Begriffe wir dem Begriff ‹Liebe› assoziieren konnten. Ich möchte euch, aus
gegebenem Anlaß, jetzt auffordern, dieses Gedankenspiel zu wiederholen. Nehmt bitte einen Zettel, schreibt obendrauf euren Namen und darunter, so schnell und spontan ihr könnt, alles, was euch zu dem Begriff ‹Haß› einfällt! Bitte! Ihr habt fünf Minuten Zeit!» Ein großes Raunen, Kramen und Geraschel hob an. Alle neunundzwanzig begannen zu schreiben. Uwe Nowak schrieb auch. ‹Das ist ein raffinierter Bursche›, dachte er und schrieb: ‹Krach, Fehde, Streit, Feindschaft, Mord, Rache, Krieg, Verbrechen, Sadismus…› und überlegte und schrieb dann weiter: ‹Drohung, Schlag, Quälerei, Druck, Revolte, Putz, Wut…› und überlegte abermals und verkniff sich ein Lächeln und schrieb: ‹Erpressung, Aggression, Zwist, Groll, Bitterkeit…› und wollte schon den Kugelschreiber beiseite legen, da fiel ihm noch ein: ‹Brutalität, Bösartigkeit, Zorn…› – dann hörte er auf. Kurz darauf sagte Bundschuh: «Die Zeit ist um. Inge, sammle bitte die Zettel ein, ich möchte sie mir in Ruhe zu Hause ansehen! Und nun bitte ich um Wortmeldungen zur Frage: Ist Haß ein Motiv, ein Thema, das Dichter gern behandeln? Und: Wer weiß Beispiele von großen literarischen Gestaltungen des Themas Haß – im weitesten Sinne? Da kann es sich um Mord handeln, um Mißhandlungen, um Bedrohung, meinetwegen auch um die mieseste Form der Haßäußerung, um anonyme Drohung… na, ihr wißt sicher, was ich meine. Wer will dazu etwas sagen?» Die Klasse schwieg nachdenklich. Uwe Nowak merkte, daß er nasse Hände hatte. ‹Verdammtes Schlitzohr!› dachte er. ‹Heizt mir ein›… ‹mieseste Form der Haßäußerung›… ‹aber ich pfeif dir was, Alter!›
Die ersten Finger hoben sich. Ralf Heumann laberte was von Schillers Räubern, vom Haß des Franz Mohr. Dann meldete sich Agnes Bärwinkel und sagte, daß der Schuft Wurm in Kabale und Liebe ja vor lauter Neid und Haß und Eifersucht auch schon mit anonymen Drohungen gearbeitet habe. Und dann gaben noch ein paar andere ihren Senf dazu. Uwe meldete sich nicht. Er hätte gerne was gesagt, hätte gerne gesagt, daß es ein Unterschied sei, wer hasse und wer gehaßt werde… Daß es wichtig sei, zu wissen, ob der Gehaßte ein Unschuldslamm oder ein Verbrecher sei… und so weiter… und so weiter. Aber er meldete sich nicht und sagte nichts, doch diese Stunde war für ihn eine der längsten Schulstunden, die er je erlebt hatte. Als es endlich klingelte, erhob sich Bundschuh, sagte, das sei eine gute und interessante Stunde für ihn gewesen, nahm den Stoß Zettel vom Pult und ging hinaus.
Die Uhr zeigte kurz vor zwei Uhr mittags als Greve das Restaurant ‹Deutsches Haus› betrat. Er wunderte sich, daß es geöffnet war, denn er hatte eigentlich an der Tür ein Schild erwartet: ‹Wegen Trauerfall geschlossen›. Der Kommissar kannte diese Schilder. Es gab vornehme, gedruckte, Frakturschrift mit schwarzem Rand auf starkem Karton, mit richtigen Ösen zum Aufhängen; es gab aber auch einfache Zettel aus irgendeinem Heft oder von einem Briefblock abgerissen mit Kugelschreiber oder Filzstift ungelenk geschrieben. Immer wieder traf Greve auf diese Schilder, wenn er nach unklaren Unglücksfällen recherchieren mußte. Doch an der Tür des ‹Deutschen Hauses›, wo er es nun bestimmt zu finden erwartet hatte, war keins. Das Lokal war fast leer.
Nur an zwei Tischen saßen Leute. An dem einen ein Ehepaar, das offenbar schon sehr lange verheiratet war, denn der Mann las Zeitung, während die Frau stumm ihren Pudding löffelte. Am anderen Tisch saß ein einzelner Mann, der Kaffee trank und irgendwelche Bestellzettel oder Formulare sortierte. Hinter dem Biertresen stand mit rotem Gesicht die dralle Elfie und wusch Gläser. Vor dem Tresen lehnte der alte Kellner Kranz und knaupelte an seinen Fingernägeln. «Guten Tag!» sagte Greve. «Oh, Herr Kommissar!» rief der Kellner, woraufhin der zettelsortierende mann den Blick hob und die Stirn runzelte und der Ehemann die Zeitung sinken ließ und Greve wie eine Erscheinung betrachtete. Greve bemerkte diese Reaktionen nur mehr am Rande. Immer und überall, wo sein Titel oder richtiger: seine Dienstbezeichnung genannt wurde, löste das Wort Erschrecken, Neugierde, Befremden – jedenfalls eine Aufmerksamkeit aus, die eine Anrede wie ‹Herr Pastor› oder ‹Herr Oberlehrer› oder ‹Herr Direktor› niemals hervorgerufen hätte. Greve hatte im Lauf der Zeit gelernt, mit dieser Reaktion zu leben. Es schmeichelte ihm schon lange nicht mehr, und es störte ihn nur dann, Mittelpunkt des allgemeinen Interesses zu sein, wenn seine Arbeit darunter litt, wenn das Wort ‹Kommissar› zum Beispiel dazu führte, daß die gewarnt wurden, die er sonst vielleicht mit seinen Fragen hätte überrumpeln können. «Ist Frau Möhlmann da?» fragte er den Kellner. «Ja, in der Küche!» sagte der Alte. «Daß Sie geöffnet haben…? Hätte ich nicht gedacht. Nach dem Unglücksfall…» sagte der Kommissar leise. «Wir haben Stammgäste», erklärte der Kellner, «Mittagstisch im Abonnement. Da konnte die Chefin ja nicht einfach
zumachen und die vor der Tür stehen lassen. Ich bin ja sonst nicht da tagsüber, aber heute hat sie mich holen lassen. Sonst bedient der Chef meistens selber – aber nun…» Er brach ab, hob die Schultern, ließ sie fallen und seufzte. Das dicke Mädchen hinter dem Tresen schluchzte laut auf. «Fragen Sie Frau Möhlmann, ob ich sie einen Augenblick sprechen kann!» ordnete Greve an. Das Mädchen verschwand durch die Klapptür. «Ja – so schnell geht’s manchmal», sagte der Kellner. Aus der Küche war beim Hinausgehen des Mädchens ein Schwall Essensgeruch in die Gaststube geweht. Bratensoße oder Bouillon. Greve lief das Wasser im Munde zusammen. Er hatte seit seinem dürftigen Junggesellenfrühstück noch nichts gegessen. Seine verschiedenen Besuche und Vernehmungen waren ergebnislos geblieben. Weder der alte Apotheker noch Herbert Knobloch, der Heizungsinstallateur und Gesangsvereinsvorsitzende, hatten irgendwas zur Sache sagen können. Otto Fintzel lag noch in Sauer, und seine resolute Haushälterin, Frau Vorrath, hatte den Schlaf ihres Brotgebers wie ein Zerberus verteidigt. Und nun, nach fünfstündigem Umherlaufen, hatte der Kommissar einen solchen Hunger, daß er bei dem Gedanken an einen Teller Suppe gequält die Augen schließen mußte. Aber er wußte nicht, wie er es anfangen sollte, hier etwas zu essen zu bestellen. Das ging nicht zusammen: dienstliche Fragen und persönliche Bedürfnisse, verdammt noch mal! Lydia Möhlmann kam aus der Küche. Sie trug ein schwarzes Strickkleid, vor das sie eine hellblaue Schürze gebunden hatte, und machte einen gefaßten, kühlen Eindruck. «Herr Kommissar?» sagte sie fragend und gab Greve die Hand.
«Mein… mein aufrichtiges Beileid, Frau Möhlmann!» stotterte der Kommissar verlegen. Obschon er die Beileidsfloskel häufiger als andere zu sagen gezwungen war, kam sie ihm immer wieder schwer über die Lippen. «Vielen Dank!» sagte die Wirtin mit schmalen Lippen. «Aber Sie sind nicht nur gekommen, um mir zu kondolieren, wie ich annehme – oder?» «Nein», erwiderte Greve, von ihrer Gefaßtheit etwas aus der Fassung gebracht, «doch ich wollte zuerst… also ich meinte, ich müßte zuerst… Ihr Mann ist…äh … war ja gewissermaßen ein Freund… und da wollte ich… da dachte ich…» «Schon gut. Danke!» sagte sie. «Und was kann ich sonst für Sie tun? Wollen wir ins Klubzimmer…?» «Ja, wenn Sie ein paar Minuten Zeit haben», erwiderte Greve. Sie ging voraus, schob die dunkle Tür auf und sagte über die Schulter: «Bitte!» Greve folgte ihr. Das Klubzimmer war bei dem Tageslicht, das durch die bunten Butzenscheiben fiel, noch häßlicher als abends, wenn der Kronleuchter brannte, Sie standen, nachdem der Kommissar die Tür hinter sich geschlossen hatte, zwischen den hochlehnigen Stühlen und dem Wandschrank mit der Fahne des MGV Euterpe und sahen sich unsicher an. «Es ist eigentlich nur eine Frage, die ich habe», sagte der Kommissar und fuhr fort, als Lydia Möhlmann schwieg: «Können Sie sich zusammenreimen, Frau Möhlmann, was Ihren Mann dazu bewogen hat, Herrn Fintzel nach Hause zu bringen?» «Nein», sagte die Wirtin. «Machte er das öfter, daß er letzte Gäste begleitete?» «Bestimmt nicht», sagte sie, schränkte dann aber ein: «Jedenfalls weiß ich es nicht. Vielleicht hat Otto Fintzel ihn gebeten…?»
«Das glaube ich nicht», meinte der Kommissar. «So wie ich Otto Fintzel kenne, kann ich mir nicht vorstellen, daß er sich von irgendwem helfen ließ.» «Was sagt er denn selbst? Haben Sie ihn schon gefragt?» wollte die Wirtin jetzt wissen. «Er ist noch nicht recht ansprechbar. Seine Haushälterin, Frau Vorrath, sagt, er schläft noch – und ich habe keine rechtliche Möglichkeit, ihn zu wecken, und sehe auch keinen Sinn darin. Ich werde wohl warten müssen, bis er wieder ganz nüchtern ist.» «Glauben Sie denn, mein Mann ist…?» Sie stockte, weil ihr der Gedanke neu und schrecklich war. «… ist niedergeschlagen worden, Herr Greve?» «Ich weiß es nicht», sagte der Kommissar. «Wir müssen bei unklaren Unfällen – vor allem bei solchen mit Todesfolge – immer tätig werden und versuchen, den genauen Hergang zu ermitteln. Das ist Vorschrift. Und bevor wir nicht den Obduktionsbefund haben, ist sowieso nichts Genaues zu sagen, Frau Möhlmann.» Die Wirtin schluckte, ohne das Gesicht zu bewegen. «Wie lange dauert so was?» «Drei bis vier Tage, denke ich», sagte Greve. «Sie bekommen sofort Nachricht, wenn die Lei… äh… wenn Sie Ihren Mann… also, wenn seitens der Kriminalpolizei der Beerdigung nichts mehr im Wege steht, sozusagen.» «Ach ja», sagte Lydia Möhlmann mit herabgezogenen Mundwinkeln. «Und? Und wie geht das dann weiter? Muß ich ihn abholen? Oder schicken sie ihn? Ins Haus…oder wohin? Ich habe keine Erfahrung mit solchen Sachen, Herr Greve!» «Das erledigt normalerweise das Beerdigungsinstitut, Frau Möhlmann», sagte der Kommissar. «Ach ja?» sagte die Wirtin, «Normalerweise… Ja! Also vielen Dank! Sonst noch was?»
«Nein», gab Greve zurück, «weiter nichts. Ich bedanke mich.» Er gab ihr die Hand. Sie schob vor ihm die Tür auf. «Wiedersehen!» sagte der Kommissar und ging schluckend durch die Essensgerüche aus dem Restaurant auf die Straße hinaus.
21
Walter Hanebutt, sonst ein guter Esser, legte nach dem dritten Bissen Messer und Gabel neben den fast vollen Teller, wischte sich mit der Serviette den Mund ab, faltete sie nicht wie gewohnt sorgsam zusammen, sondern warf sie zerknüllt auf den Tisch und erhob sich. «Was ist los, Väterchen?» fragte seine Tochter erstaunt. «Schmeckt’s dir nicht?» Hanebutt antwortete nicht gleich. Er ging zum Wandschrank, einem schönen, alten Stück mit kleinfenstrigen Glastüren – Buddelei heißen solche selten gewordenen Möbel – und nahm die Cognacflasche heraus. «Doch… aber ich habe nicht für ‘n Fünfer Appetit», erwiderte er schließlich, schenkte sich mit leise zitternder Hand ein Glas voll, trank es im Stehen, goß es abermals voll und kam damit an den Eßtisch zurück. «Ist dir nicht gut?» fragte Edda, Besorgnis in der Stimme, mit prüfendem Blick. «Magenschmerzen? Herz?» «Nein – alles in Ordnung…» gab der Apotheker zurück, setzte sich, nippte an seinem Glas und schloß mit gequältem Ausdruck die Augen. «Aber daß Möhlmann tot ist…!» Er ließ den halben Satz in der Luft hängen und stöhnte. «Nun – du liebe Güte – das ist sicher tragisch», sagte Edda kühl, als spräche sie von einer zerbrochenen Kellerfensterscheibe im Nachbarhaus. «Aber wenn sich einer im Suff den Hals bricht, kann ich nicht allzusehr trauern.» «Das ist es ja», sagte Hanebutt, «genau das ist es, das mich so… so…na ja, richtig verrückt macht, Mädchen: Klaus Möhlmann war nicht betrunken! Mir fehlen zwar Einzelheiten,
ich erinnere mich nicht an alles, weil ich selber – nun ja… aber ich weiß noch ganz genau, daß er völlig klar war, als wir seine Gaststube verließen. Er hat sich also nicht, wie du herzlos sagst, im ‹Suff den Hals gebrochen›… Aber wie ist das dann passiert?» Hanebutt trank aus und griff nach der Flasche. Seine Tochter faßte gleichzeitig zu und hielt seine Hand fest. «Nein, Papa», sagte sie, «sei vernünftig! Du hast einen kleinen Schock – aber mit Cognac auf leeren Magen kommst du nicht drüber weg. Ich pack dich ins Bett. Ein Glück, daß wir mittwochs den Laden dichthaben. Du schläfst jetzt Schreck und Kater aus, heute abend sieht sich das alles viel leichter an. Komm!» «Nein», brummte Hanebutt störrisch, «nein, ich will nicht ins Bett! Ich kriege kein Auge zu! Das geht mir im Kopf rum, wie… wie…» Er suchte nervös zwinkernd nach einem Vergleich. «… wie so ‘ne Aufziehmaus, Edda! Kennst du die…Aufziehmäuse? Hatten wir als Jungen. Irrsinnig naturgetreu, nur daß sie so ratterten, wenn sie herumhuschten.» «Kenn ich», sagte Edda, beunruhigt vom Ton, in dem ihr Vater redete. Sie kannte ihn barsch, nörgelig und auch albern – kicherig –, aber diese atemlose Aufgeregtheit, die nach Angst klang, das war neu an ihrem Vater. Und es machte sie selbst ängstlich und regte sie auf. «Ja, die kenn ich», wiederholte sie und räusperte sich ihre Aufregungsheiserkeit von den Stimmbändern. «Soll ich dir eine Valium holen?» «Nein, danke!» sagte Hanebutt. «Ich muß bei klarem Verstand bleiben. Ich muß schon aus ganz egoistischen Gründen bei klarem Verstand bleiben, Mädchen. Sonst gibt’s vielleicht doch noch Ärger, verstehst du?» «Nein», sagte Edda.
«Wenn Klaus Möhlmann am Fuß der Treppe gefunden worden ist, die in Fintzels Haus hinauf zum Dachboden führte», erklärte er, «dann hat das mit Otto Fintzels idiotischem Koffer zu tun, darauf möchte ich wetten. Klaus wollte wissen, was da drin ist, nehme ich an. Er wollte es genauso wissen wie ich – und vielleicht noch andere… ein anderer oder mehrere andere, was weiß ich?!» «Noch andere? Wie kommst du darauf?» fragte Edda. Sie hatte auch ihren Teller stehenlassen, hatte sich eine Zigarette angezündet und neben ihrem Vater am Tisch Platz genommen. «Weil der andere – oder die anderen – keine Ahnung, wer und wie viele –, weil der oder die also Klaus Möhlmann umgebracht haben… möglicherweise. Ich weiß es nicht, ich hab nur so ‘ne Ahnung, daß da was nicht mit rechten Dingen zugegangen ist…» Er schwieg und schenkte sich nun, ehe seine Tochter es verhindern konnte, doch einen dritten Cognac ein. «Umgebracht? Du siehst Gespenster!» sagte sie. «Du bringst dich um mit der Trinkerei! Möhlmann wollte vielleicht auf den Boden, da gebe ich dir recht, aber dann ist er gestolpert und gestürzt. Am Ende war er doch nicht mehr ganz sicher auf den Beinen. Du selber warst so duhn, daß du gar nicht beurteilen konntest, ob er nüchtern war, Papa. Da haben wir schon wieder ein schönes Beispiel für die Relativitätstheorie… haha!» Sie lachte, aber ihr Lachen klang schief, wie die Pfeifversuche eines Mannes mit neuer Zahnprothese. «Die Idee, daß ihn jemand erschlagen haben könnte, ist jedenfalls eine Schnapsidee, Väterchen!» Hanebutt schüttelte den Kopf. «Kann sein – kann auch nicht sein…» sagte er. «Aber das ist es ja nicht allein, was mir auf die Nerven geht, Edda. Der Kommissar – Greve – Sangesbruder Greve – weiß noch nichts
von dem Koffer. Ich habe wohlweislich nichts gesagt. Hoffentlich hat er bei den anderen auch noch nichts gehört inzwischen. Wenn er aber draufkommt, dann wird die Koffersache amtlich. Dann wird das ein, wie heißt das… corpus delicti, verstehst du? Und dann gibt’s keine Chance mehr, hineinzugucken und zu sehen, ob da eine Mine drin ist, die früher oder später hochgehen und mich, uns beide und die Apotheke zu Schaden bringen oder gar kaputtmachen kann.» «Ja…» sagte Edda nachdenklich, «wir müssen also tatsächlich was unternehmen, meinst du?» «Ja, Mädchen, wir müssen tatsächlich was unternehmen!» «Das klingt, als hättest du sogar schon einen Plan?» sagte Edda und verhinderte jetzt mit Energie, daß ihr Vater sich den vierten Cognac ins Glas goß. «Wir gehen nachher zusammen hin, wenn seine Haushälterin weg ist, hab ich gedacht», erläuterte Hanebutt. «Die geht so gegen sechs, soviel ich weiß. Dann ist es auch schon dunkel genug…» «Willst du etwa einbrechen in Fintzels Haus?» fragte Edda entsetzt. «Aber nein», erwiderte Hanebutt. «Sehe ich aus wie ein Einsteigedieb?» «Eigentlich nicht», meinte Edda und mußte lächeln. «Ich hab da eine bestimmte Idee», verkündete Hanebutt. «Komm, gieß mir noch einen ein – einen halben wenigstens, Mädchen! Ich erkläre es dir!» Sie ließ sich breitschlagen. Er setzte ihr seinen Plan auseinander. «Ja – so mag es gehen!» sagte sie, als er fertig war. «Und jetzt legst du dich hin, damit du fit bist, wenn es nachher drauf ankommt…» Und sie nahm ihn am Arm und brachte ihn, der diesmal keinen Widerstand leistete, in sein Schlafzimmer.
Der Schreibtisch des Oberstudienrats Rainer Bundschuh bot an diesem Nachmittag einen geradezu chaotischen Anblick: Wo sonst schiere Geometrie herrschte, weil nicht nur die Schreibmappe im rechten Winkel zum Telefonbuch lag, sondern auch die vierfarbigen Filzstifte, der Kugelschreiber und mehrere akkurat gespitzte Bleistifte korrekt ausgerichtet ihre bestimmten Plätze hatten – dort überfluteten heute Zettel die Fläche, brachen alle Linien und verbreiteten in ihrer – fast malerischen – Unordnung den Eindruck von Auflösung und Anarchie. Sogar die gleichgerahmten und penibel aufgereihten Fotos an der Fensterseite des Mahagonimöbelstücks waren in Mitleidenschaft gezogen: Quer über dem Bild eines würdig dreinblickenden Herrn in Uniform mit kurzem, an den Schädel geklebtem Haar und einem Bart à la Wilhelm II, quer über Bundschuhs Vaterporträt also hing ein solcher Zettel – noch dazu einer mit ausgefranstem Rand und mit großen, krakeligen Schriftzeichen bedeckt. Auch das Foto des Heidedichters Hermann Löns, das zwischen dem martialischen Vaterfoto und einem Schattenriß, Goethe darstellend, stand, wurde verdeckt vom linierten Blatt aus einem Schulheft, das ebenfalls beschriftet war. Vor dieser kleinen Katastrophenkulisse saß, still vor sich hinbrütend, der Studienrat. Er hatte das Kinn auf die gefalteten Hände gestützt und ließ die Mundwinkel hängen. So tief war er in düstere Gedanken versunken, daß er richtig zusammenfuhr, als ihm seine Frau, die leise ins Arbeitszimmer gekommen war, die Hand auf die Schulter legte. «Nimm es doch nur um alles in der Welt nicht so schwer, Rainer!» sagte sie und strich ihm übers Haar. «Wenn es einer deiner Schüler war, dann hat deine geschickte Aufgabe ihn zumindest gewiß gewarnt… Und wenn den Brief sonst jemand geschrieben hat, dann wird er sich bestimmt noch mal
irgendwie melden… falls er dich erpressen will. Und dann sollten wir doch überlegen, ob wir nicht die Polizei einschalten. Red doch mal mit Schlobohm. Ihr seid alte Freunde. Als Anwalt ist er zur Verschwiegenheit verpflichtet – und außerdem kennt er solche Probleme aus eigener Erfahrung. Wenn ich mich recht erinnere, war er Offizier bei irgendeiner SS-Einheit… oder?» Sie schwieg nachdenklich. Bundschuh griff nach ihrer Hand. «Du bist die Allerbeste!» sagte er und sah ein bißchen wehmütig lächelnd, aber immerhin lächelnd, zu ihr auf. «Zerbrichst dir meinen Kopf, Else! Aber das ist eine gute Idee. Schlobohm! – Ja, sie hatten ihn von der Marine zur SS gesteckt… Ich werde ihn anrufen. Doch die Sache mit Fintzels Koffer…» «Dazu habe ich auch eine Idee», unterbrach Else Bundschuh ihn. Sie lehnte sich an die Schreibtischkante, schüttelte verneinend den Kopf, als er auf seinem breiten Sessel beiseite rückte und ihr mit einer Handbewegung den freigewordenen Platz anbot, und hob an: «Du gehst einfach hin zu Fintzel, Rainer – und zwar bald, vielleicht heute noch, vor dem Abendbrot…» «Und was soll ich dort?» fragte der Oberstudienrat erstaunt. «Nun wart es doch ab!» sagte seine Frau. «Kommt ja gleich! Du gehst zu ihm und erzählst ihm, daß du in deinem Geschichtsunterricht in einigen Klassen auch die jüngere deutsche Vergangenheit behandelst und daß du immer schon Mühe hast, dafür gutes Anschauungsmaterial zu kriegen, und daß du nach seinem Bericht gestern abend von dem Koffer aus dem Kriege auf die Idee gekommen bist, ihn zu bitten, da mal reinschauen zu dürfen. Vielleicht sind da ja Fotos oder irgendwelche Urkunden oder so was drin, anhand deren du den Schülern die Zeit deutlich machen könntest… verstehst du?» Bundschuh zwinkerte mit offenem Mund. Er war überwältigt.
«Ein Goldstück bist du, Else!» rief er, stand auf und schloß seine Frau in die Arme. «Natürlich! Das ist überhaupt die Lösung! Und falls er es zuläßt – warum sollte er nicht? –, dann kann ich nachsehen, ob meine Akte…! Oh, Liebling, wenn ich dich nicht hätte! Ich mach mich sofort auf die Socken!»
Der graue Mann in dem grauen Auto, der gerade von Süden – also von Hamburg her – in Endwarden einfuhr, hatte nicht nur den ideal unscheinbaren, schwer zu beschreibenden Wagen für einen Ganoven, sondern wirklich auch ein ebensolches Gesicht: Ohne besondere Kennzeichen, ganz und gar unauffällig. Er fuhr sehr vorschriftsmäßig. Das tat er immer, wenn er (in Geschäften) mit dem Auto unterwegs war. Denn eine Unternehmung, einen Coup, ein Geschäft dadurch zu gefährden, daß man falsch parkte, zu schnell fuhr, eine Vorfahrt mißachtete oder so – und damit auffiel –, das wäre hirnrissig gewesen. Und der graue Mann im grauen Mittelklassewagen älteren Baujahrs war alles andere als hirnrissig. Er war im Gegenteil gerissen – so gerissen, daß er trotz einer langen Reihe Einbrüche, Diebstähle und Betrügereien aller Art noch nie gefaßt und bestraft worden war. Sein polizeiliches Führungszeugnis trug den honorigen Vermerk: Keine Eintragung. Er hätte also keinerlei Schwierigkeiten gehabt, Beamter zu werden, Kirchenältester oder Abgeordneter – wenn ihn danach gelüstet hätte. Aber es gelüstete ihn nicht danach. Er hatte keinen einschlägigen Ehrgeiz. Es genügte ihm, unter der Rubrik ‹Kellner› geführt zu werden. Dem Fiskus gegenüber lebte er von Gelegenheitsengagements, kellnerte auch
tatsächlich gelegentlich mal, um den Schein zu wahren, zahlte von diesen mittelmäßigen Einkünften brav – wenn auch sehr wenig – Steuern, war sozialversichert, in einer Krankenkasse und unterschied sich darin und auch äußerlich nicht von hunderttausend anderen Mitmenschen zwischen Nord- und Südpol. Daß er zu alldem auch noch Werner Meyer hieß, ist so unglaublich, daß man es kaum zu sagen wagt. Der unscheinbare Herr Meyer fuhr in Endwarden ein, stoppte sein Auto auf dem Parkstreifen vor dem ‹Filmpalast Lichtburg›, in dem gerade die Nachmittagsvorstellung (Sonderpreise für Rentner) eines Heimatfilms lief, und studierte die Zeichnung, die Kroll ihm im Spielsalon ‹Paradiso› in die Hand gedrückt hatte. Nachdem er sich orientiert hatte, fuhr er weiter, querte den Marktplatz, registrierte aus den Augenwinkeln, daß dort die Polizei stationiert war, lenkte seinen Wagen in die schmale Einbahnstraße neben der katholischen Kirche, von deren Turm just in diesem Augenblick die Glocken zu läuten begannen, als ob sie den Unscheinbaren begrüßen wollten, und fand nach zweihundert Metern, wie aufskizziert, die Geibelstraße, die er links hinabfuhr, bis er das Haus sah, das als braunroter Backsteinbau mit hellgrauen Fenstersimsen bezeichnet war. «Aha», sagte der Unscheinbare, fuhr noch langsamer, entdeckte die Hausnummer, verglich, nickte und gab wieder etwas Gas, um nach rechts in die Rückertstraße einzubiegen. Die Namen Geibel und Rückert sagten ihm gar nichts, es hätten ebensogut die Erfinder der Glühbirne oder des Kaugummis sein können, das war ihm gleichgültig. Er war zufrieden, das Haus so schnell gefunden zu haben, und beschloß, ehe er irgendwo ein Bier trinken und irgendwas essen wollte, noch mal ums Viereck zu fahren und sich ein zweites Mal das Objekt seines Auftrags anzusehen.
«Greve, Kriminalpolizei», sagte Kommissar Greve, als Frau Vorrath die Tür von Fintzels Haus öffnete, und wollte seinen Ausweis aus der Brusttasche holen. «Ja, ich kenn Sie!» sagte die Hagere mit dem glatten grauen Haar, das wie ein Helm auf ihrem Kopf wirkte. «Sie waren doch mit Eva Bragrock verheiratet, nicht wahr? Kommen Sie rein! Das hätte ich Ihnen gleich sagen können, daß das nicht gutgehen würde mit der kleinen Bragrock. Die hab ich schon als Kind gekannt. So was von Eigensinn! Hübsches Mädchen, ja, sehr hübsch – aber ‘n niedlicher Po und ‘n reizendes Lärvchen allein, das macht’s ja auch nicht, sag ich immer… Nun kommen Sie doch schon rein, Herr Greve! Oder muß ich ‹Herr Kommissar› zu Ihnen sagen, wie?» Greve, der sonst gewohnt war, daß die Leute vor seinem Titel verstummten, wenn nicht gar ängstliche Augen bekamen, Greve also betrat verwirrt unter Frau Vorraths Wortschwall das Fintzelsche Haus. «Sie wollten Herrn Fintzel heute mittag schon sprechen – aber das ging nun beim besten Willen nicht, Herr Greve!» sagte die Haushälterin mit dem Haarhelm. «Das müssen Sie schon verstehen. Der Gute war so verkatert. Da hätten Sie auch nichts erfahren. Man soll Leute mit so ‘nem Kater erst nach dem Kaffeetrinken am Nachmittag ansprechen, nicht wahr? Aber solche Weisheiten sind für Sie ja wohl nix Neues, wo Sie doch Menschenkenntnis schon aus beruflichen Gründen brauchen, wie? Ich meine ja – also nichts für ungut –, viel los kann mit Ihrer Menschenkenntnis nicht sein, Herr Greve, sonst wären Sie nicht auf Eva Bragrock reingefallen… Aber da waren Sie noch jünger, und Liebe macht blind, nicht wahr?» «Ja», sagte Greve erschüttert, als sie mal Luft holte. Zu mehr kam er nicht, weil sie bereits wieder loslegte: «Wollen Sie ablegen? Sonst erkälten Sie sich nachher! Geben Sie mal den Mantel her! Wir haben nämlich gut geheizt – trotz der
wahnwitzigen Ölpreise. Aber Herr Fintzel sagt: ‹Lieber hungern – bloß nicht frieren!› Er isoliert ja jetzt auch das Dach, eben weil die Ölpreise verrückt spielen. Damit soll man mehr als 30 Prozent sparen. Na… so ‘n dünnes Mäntelchen – das ist aber leichtsinnig, Herr Greve! Haben Sie nichts Wärmeres für den Winter? So schlecht verdienen doch heutzutage Polizeibeamte auch nicht mehr – oder? Oder soll das sportlich sein? Warten Sie nur, wenn Sie nachher Rheuma kriegen oder Ischias, dann werden Sie an mich denken!» Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und dirigierte ihn sanft, aber bestimmt über den weiten, dunklen Flur, am Fuße der Treppe vorüber, wo vor etwa vierzehn Stunden der sterbende Möhlmann gelegen hatte, ins Wohnzimmer. Greve war zwar schon in Fintzels Wohnzimmer gewesen, zuletzt gestern nacht, als die Leute von der Spurensicherung sich dort – ergebnislos – umgesehen hatten, aber er mußte immer wieder, auch jetzt, an sich halten, um nicht loszuprusten, wenn er in den großen Raum kam. Noch nie und nirgendwo anders hatte der Kommissar eine solche Anhäufung von künstlerisch gestalteten Vaterlandsliebe gesehen. Die Bilder – Drucke und Lithographien, Aquarelle und sogar ein paar echte Ölgemälde – und die zwei Dutzend Sprüche – Kunstschrift gotisch bis Brandmalerei – hielten sich ja noch in Grenzen. Die Lorelei und das Niederwalddenkmal, das Brandenburger Tor oder den Königssee sah man, mehr oder minder gelungen, auch anderswo. Selbst verschnörkelte Schriftzeilen wie «Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun!» oder «Deutsche Freiheit, deutscher Gott, deutscher Glaube ohne Spott, deutsches Herz und deutscher Stahl sind vier Helden allzumal» – auch solche Weisheiten hatte der Kommissar anderweitig bereits bewundert.
Was Otto Fintzel jedoch an nationalen Nippes auf Borden, in Regalen und in Vitrinen versammelt hatte, das überstieg alles Vorstellbare. Da gab es zum Beispiel einen Glas-Eckschrank, in dem Bierkrüge aufgebaut waren. Die Kollektion reichte vom grauen Steinkrug mit schwarzweißrot umrahmter Inschrift: «Deutscher Gerstensaft bringt dir Mut und Kraft», über Bierseidel, die Köpfe großer Deutscher darstellten. Das ging von Bismarck, dessen Helm als Deckel aufzuklappen war, über Hindenburg mit dem gleichen Effekt – bis hin zu Krügen, die ganze Landschaften und Bauwerke auf ihren Rundungen hatten. Wieder die Lorelei, den Kölner Dom, die Münchener Liebfrauenkirche, das Danziger Krantor, den Roland von Bremen… manche von kleinen Eichenlaubzweigen umrankt, richtig plastisch und bunt, oder von Bändern umflattert, bei den älteren Trinkgefäßen schwarzweißrote, bei den jüngeren schwarzrotgoldene Bänder – hie und da gekreuzte Schwerter oder auch mal ein Sonnenrad…kurzum, alle Zutaten zum Kuchen, aus dem gutbürgerliche deutsche Vaterlandsverehrung gebacken wird. Auf einem Wandbord über dem schönen alten Sofa tummelten sich bronzene und gußeiserne Figuren von Daumenhöhe bis Unterarmlänge. Greve hoffte, bevor er sich auf das schöne Sofa setzte, daß man das Bord gut in der Wand verankert habe, denn es war lebensgefährlich, darunter zu sitzen, falls das Ding mal ins Kippeln kam und einem dann der Alte Fritz mit dem Dreispitz oder Siegfried der Gehörnte oder ein flügelspreizender Adler oder ein alter Germane oder die Büste Bismarcks oder der Unbekannte Soldat mit der Fahne oder sonst eine der Gestalten und Figuren auf den Kopf fiel. Greve nahm also mit gewissen Vorbehalten dort Platz, als Otto Fintzel ihn dazu aufforderte: «Komm, hock dich her, Horst Greve! Hier aufs Kanapee! Willst du einen Schnaps?»
«Danke, nein! Im Dienst…» sagte Greve abwehrend. «Hallo!» rief Fintzel, der sich zur Begrüßung Greves nicht aus seinem Ohrensessel erhoben hatte. «Hallo, du bist dienstlich hier? Da muß ich wohl ‹Herr Kommissar› zu dir sagen – wie?» «Nein», sagte Greve, «das ist nicht nötig, Otto. Ich hab nur ein paar Fragen wegen des Unfalls letzte Nacht.» Otto Fintzel verlor sein bisheriges Kumpelgrinsen, wie einer im Wind seine Mütze verliert. «Tja…» brummte er leise, «wie geht’s Klaus?» «Er ist tot», sagte Greve. «Nein…!» ächzte Fintzel. «Doch!» sagte Greve. «Ach, du heiliger Bimbam!» stöhnte Fintzel. In diesem Augenblick kam Frau Vorrath ins Zimmer und brachte ein Tablett voll Teegeschirr. «Was ist denn los?» fragte sie erschrocken, als sie Fintzels entsetztes Gesicht sah. «Klaus Möhlmann ist gestorben», sagte Fintzel mit Grabesstimme. «Ach, du heiliger Bimbam!» rief Frau Vorrath im gleichen Tonfall, nur eine Oktave höher als ihr Brotgeber. Sie war jedoch nicht so erschüttert wie Otto Fintzel, stellte das Teetablett auf den Tisch und verteilte geschäftig Untertassen, Tassen und Teelöffel. «Sie trinken ja wohl eine Tasse Tee mit, Herr Greve?» fragte sie, wartete jedoch seine Antwort gar nicht ab, sondern goß gleich ein. «Danke, vielen Dank!» sagte der Kommissar. Er merkte plötzlich, daß er unsagbar hungrig war, hätte gern ein Stück Brot oder wenigstens ein paar Kekse gehabt, mochte jedoch nicht fragen und begnügte sich deshalb mit dem süßen,
sahnigen Tee, der seinen leise knurrenden Magen auch gleich ein wenig beruhigte. Frau Vorrath hatte sich zu ihnen gesetzt und sah Greve erwartungsvoll an. Otto Fintzel schlürfte seinen Tee und schüttelte zwischen den einzelnen Schlucken immer mal leise den Kopf. Seine schlaffen Backen, die ihm das Aussehen einer alten Bulldogge gaben, wackelten dabei. Eine angenehme Schläfrigkeit erfaßte den Kommissar. Am liebsten hätte er die Augen geschlossen, sich in die Samtpolster des schönen alten Sofas zurückgelehnt und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Aber Frau Vorraths auf ihn gerichteter Blick und sein anerzogenes Pflichtbewußtsein veranlaßten ihn, sich einen Ruck zu geben und mit den Fragen zu beginnen, die ihn hergeführt hatten. Da Otto Fintzel ihn sofort und ohne sich zu besinnen geduzt hatte, blieb Greve nichts anderes übrig, als ebenfalls ‹du› zu dem Alten zu sagen. Das nahm dem dienstlichen Vorgang) zwar das Gewicht, aber es wäre lächerlich und schwer zu begründen gewesen, wenn er nun plötzlich am Teetisch den Vernehmungston angeschlagen hätte. «Wer hat dich nach Hause gebracht, Otto?» fragte er. «Drei», sagte Fintzel. «Ich bin sicher, daß wir zum Schluß nur noch vier in der Gaststube waren. Und ich weiß auch noch ganz genau, daß Klaus Möhlmann mich unbedingt dortbehalten wollte. Ich sollte in einem seiner Hotelzimmer bleiben – aber das wollte ich nicht. Hätte ich nur… dann lebte Klaus wahrscheinlich noch…» Fintzel schüttelte wieder backenwackelnd den Kopf. «So was… nein, so was!» fügte er noch hinzu und starrte auf die gestickte Tischdecke. «Das war außer dir und Klaus Möhlmann also nur noch Walter Hanebutt und – »
«Herbert!» ergänzte Fintzel, stolz auf sein Erinnerungsvermögen. «Herbert Knobloch! Aber zum Schluß waren wir bloß noch zu zweit. Klaus und ich.» «Zum Schluß?» fragte Greve. «Ja, hier am Haus», erklärte Fintzel. «Und du hast sonst niemanden gesehen?» wollte Greve wissen. «Nein», sagte der Alte. «War denn die Haustür verschlossen?» fragte der Kommissar. «Aber sicher», sagte Fintzel. «Natürlich war sie verschlossen. Wer sollte sie denn aufgeschlossen oder offengelassen haben? Haben Sie die Haustür offengelassen, Frau Vorrath?» «So ein Unsinn», erwiderte die Haushälterin ärgerlich. «Ich bin vor halb sieben weg. Da waren Sie noch oben auf dem Boden mit dem Isolierzeug. Wenn einer nicht abgeschlossen hat, können das nur Sie gewesen sein, Herr Fintzel!» «Jaja, ist ja schon gut!» begütigte sie der Alte. «Warum fragst du so was, Horst?» «Weil ich immer noch nicht verstehe, wie Klaus Möhlmann ums Leben gekommen ist», erläuterte der Kommissar und hielt Frau Vorrath, die ihm mit fragender Miene die Teekanne entgegenhob, dankbar seine Tasse hin. «Danke! – Er war doch nicht halb so blau wie ihr drei anderen. Das sagen jedenfalls Walter Hanebutt und auch Herbert Knobloch. Übereinstimmend. Wieso ist er also derart unglücklich gestürzt? Hat ihn nicht vielleicht doch jemand niedergeschlagen?» «Wer denn?» fragte Fintzel. «Ich hab keinen gesehen im Haus!» «Du hast überhaupt nichts mehr richtig wahrgenommen, Otto! Ihr müßt alle ziemlich tief in die Kanne gestiegen sein. Was war denn los? Hatte einer Geburtstag … Oder was?»
«Nichts», sagte Fintzel. «Wir waren bloß so ins Singen gekommen. Die alten Zeiten und die alten Lieder – na, das könnt ihr jungen Spunde nicht verstehen, Horst! Und Möhlmann hat eine Runde nach der anderen geschmissen…» «Ach?» warf der Kommissar ein. «Möhlmann hat eine Runde nach der anderen…? Das ist aber – pardon, das war aber sonst nicht seine Art, wie?» «Verstehe nicht», sagte Fintzel. Greve sah seinem Gesicht an, daß er wirklich nicht verstanden hatte, und erläuterte das Gesagte: «Ich habe Klaus Möhlmann als – nun, vorsichtig formuliert, als sparsam kennengelernt. In den fünf oder sechs Jahren, seit ich mitsinge, hat er meiner Erinnerung nach nur einmal eine Runde gestiftet – das war zu seinem fünfundfünfzigsten Geburtstag, weil der gerade auf einen Singabend fiel. Und gestern, sagst du, hat er viele Runden…?» «Ja. Er hat die ganze Zeche auf seine Kappe genommen, die wir gemacht hatten», sagte Fintzel. «Ich habe jedenfalls nichts bezahlt. Mein Geld im Portemonnaie ist noch alles da. Ich hab schon nachgeguckt. Alles vollzählig.» Greve schwieg nachdenklich. Außer dem leisen Klirren des Silberlöffels, mit dem Frau Vorrath ihren Tee umrührte, war kein Geräusch im Raum zu hören. «Schade, daß du dich nicht an mehr erinnern kannst, Otto», sagte der Kommissar schließlich. «Überleg doch noch mal, bitte: Hat Klaus Möhlmann irgendwas gesagt, das vielleicht auf Angst schließen lassen könnte?» «Angst? Nein!» brummte Fintzel, dem die Fragerei allmählich auf die Nerven ging. «Ich glaube nicht, daß Klaus sich vor irgendwas gefürchtet hat.» «Wovon habt ihr denn so geredet?» bohrte der Kommissar. «Wir haben fast gar nicht geredet», erwiderte Fintzel. «Fast gar nicht geredet?» Greve zwinkerte zweifelnd.
«Nein, wir haben gesungen. Das habe ich doch nun schon ‘n paarmal erzählt. Wir haben die alten Lieder gesungen. Aus der Zeit vor dem Zusammenbruch. Du kennst die nicht, Horst. Da hast du noch in die Windeln gemacht – wenn überhaupt schon. Was für ‘n Jahrgang bist du eigentlich?» «Vierundvierzig», sagte der Kommissar. «Na also», meinte Fintzel, «vierundvierzig – liebe Güte! Da hättest du gestern nacht bestimmt nicht mitsingen können.» «Ich bin auch gar nicht so sicher, daß ich daran Spaß gehabt hätte», sagte der Kommissar, «denn ich hab eine ziemliche Abneigung gegen gewisse Töne und Texte…» «Was für Töne und Texte?» fragte Fintzel, jetzt mit wachem Blick und so aggressiv vorgeschobenem Kinn, daß die Falten seines alten Halses wie gespannte Sehnen aussahen. «Nun – fast alles, was ihr da so singt», gab Greve zurück. «Ich habe ja schon Kostproben davon gehört. Fahne und Tod und Volk und Opfer und was weiß ich. Du mußt wissen, daß mein Vater an den Folgeerscheinungen solcher Lieder gestorben ist, Otto.» «An den Folge-…? Was?» Fintzel fragte mit verkniffenem Gesicht. «An dem, was diese Lieder ausgelöst haben, Otto, am Krieg!» sagte Greve. «Er ist im letzten Kriegsmonat noch in der Nähe von Berlin gefallen – für die Fahne und das Volk und den Kniich, der sich ‹Führer› nannte. Ich habe keine Erinnerung mehr an meinen Vater, natürlich nicht, aber ich hab erlebt, wie meine Mutter sich hat durchackern müssen und wie gebrochen sie war… Naja!» Er brach ab und trank seinen Tee aus. «Das habe ich nicht gedacht, daß du so’n Linker bist!» zischelte Fintzel. «Als Polizeibeamter…!» «Ach, Otto», gab Greve zurück, «wenn einer bei dir schon ‹links› ist, bloß weil er was gegen den Faschismus hat…»
Er stand auf. Frau Vorrath erhob sich gleichzeitig. «Besser, Sie hören auf mit der Politik, Herr Greve», sagte sie. «Das regt Herrn Fintzel immer so auf!» «Ich gehe ja schon», sagte der Kommissar traurig lächelnd. «Mach’s gut, Otto! Und vielen Dank für den schönen Tee, Frau Vorrath!» Er gab dem Alten, der sitzen geblieben war, die Hand, ging, von der grauhaarigen Haushälterin begleitet, aus dem Zimmer, zog seinen Mantel an und schickte sich an, das Haus zu verlassen. An der bereits offenen Haustür wandte er sich noch mal um, gab Frau Vorrath seine Visitenkarte und bat sie: «Rufen Sie mich an, bitte, wenn Ihnen oder Herrn Fintzel noch irgendwas einfällt, was im Zusammenhang mit Herrn Möhlmanns Tod von Bedeutung sein könnte!» «Ja, mach ich!» sagte Frau Vorrath und nickte ihm nach. Als Kommissar Greve hinaustrat und vor Kälte schaudernd die Schultern zusammenzog, fuhr auf der dämmerigen Straße ein grauer Pkw so langsam vorüber, daß Greve stutzig wurde und – mehr unbewußt und gewohnheitsmäßig – registrierte, daß der Wagen ein Hamburger Nummernschild hatte. Aber da war der auch schon um die Ecke. Der Kommissar stieg in sein kaltes Auto, startete und fuhr davon. Ohne es zu bemerken, fuhr er an dem fremden Wagen vorbei, der zwischen mehreren anderen auf dem Parkplatz vor dem Gemeindehaus der SIEBEN-TAGE-ADVENTISTEN in der Nebenstraße stand. Zehn oder fünfzehn Minuten danach verließ Frau Vorrath Otto Fintzels Haus. Sie schloß sorgfältig ab und lief die Geibelstraße entlang nach Hause. Die Straßenbeleuchtung flammte auf. Der graue Unscheinbare stieg aus dem geparkten, grauen unscheinbaren Auto und schlenderte, die Hände tief in die Taschen seiner Joppe gesteckt, auf sein Ziel zu.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befanden sich zwei Geschäfte. Das eine war die Filiale einer Wäscherei und Reinigung. Durch die Fensterscheibe konnte man eine blasse, im bläulichen Neonlicht fast leichenhaft blasse Frau sehen, die Zettel an Kleidungsstücken befestigte und diese in große Leinensäcke stopfte. Der graue Herr Meyer blieb, obschon ihn das interessierte wie eine Wettervorhersage von vorgestern, vor dem Schaufenster stehen und sah der Leichenblassen zu, bis die ihn entdeckte, verblüfft und verwirrt anschaute und hinter den Gestellen voller Kleider, Anzüge und Mäntel verschwand. Der Graue wandte sich dem Fenster des zweiten Geschäftes zu, das dreißig Schritt neben der Wäscherei und Chemischen Reinigung lag. Das war eine Lederwarenhandlung mit Sattlerwerkstatt. Das kleine Schaufenster beherbergte eine Reihe lederner Gegenstände, die der Graue noch nie gesehen hatte und bei deren Anblick er sich als echter Großstädter absolut nicht vorstellen konnte, wofür sie gebraucht wurden. Da lagen ein paar Trensen an der Wand, ein Halfter und einige Steigbügelriemen, da waren schwarzlederne Scheuklappen für Kutschpferde aufgereiht, und in einem hohen Steinguttopf standen Reitgerten. Das alles war staubig und sah aus, als läge, hinge und stünde es schon seit Jahren in dem matt erleuchteten Fenster. Ein Pappschild, um das die Dinge gruppiert waren, verkündete in verblichener Kunstschrift, der man die Mühe ansah, mit der sie geschrieben worden war, daß Reparaturen angenommen würden, aber auch Neuanfertigungen in Auftrag gegeben werden könnten. Der graue Großstädter gab es nach kurzem Grübeln auf, die Funktion der seltsamen Gegenstände zu ergründen, aber er blieb noch vor dem Schaufenster stehen, denn er konnte in der Scheibenspiegelung sehr gut die Straße und das Haus beobachten, das er zu besuchen beabsichtigte.
22
Dem alten Haus des alten Otto Fintzel, das der Unscheinbare in der Schaufensterspiegelung von der gegenüberliegenden Straßenseite her beobachtete, näherte sich jetzt Edda Hanebutt mit ihrem Vater. Etwa hundert Schritt vor der eichenhölzernen Haustür blieben die beiden stehen. «Warte fünf oder sechs Minuten, Väterchen», sagte Edda, «bis ich mit ihm im Wohnzimmer sitze. Hast du die Taschenlampe?» «Ja, Mädchen!» sagte der Apotheker nervös. «Sei nicht so zappelig!» mahnte seine Tochter und legte ihm die Hand auf die Schulter. «Sonst schmeißt du noch was um in Fintzels Flur und alarmierst den Alten. Schön ruhig! Du brauchst keine Sorge zu haben, daß du erwischt wirst. Ich halte ihn schon lange genug unten in seinem Wohnzimmer auf. Und mehr als eine Viertelstunde wirst du wohl nicht nötig haben, um in den verdammten Koffer zu gucken. Also ganz ruhig, hörst du? Bis nachher!» Sie stocherte ihm ermunternd den Zeigefinger zwischen die Rippen, drehte sich um und lief zu Fintzels Haustür. Hanebutt blieb stehen und sah ihr nach. Dann querte er die schmale Straße und stellte sich vor das Schaufenster der Wäscherei- und Reinigungsfiliale und sah der bleichen Frau zu, die unterdessen zwischen ihren Regalen wieder hervorgekommen war und immer noch Kleidungsstücke ordnete. Der graue Unscheinbare, der nebenan vor dem Sattlerfenster gestanden hatte, war in den Schatten einer Einfahrt getreten. Hanebutt bemerkte ihn nicht. Er sah auf die Uhr. Er fröstelte.
Die Frau in der Reinigung hob den Blick und erschrak, daß da schon wieder ein Mann vor dem Schaufenster stand und sie anstarrte. War irgendwas an ihr? Sie konnte das Gesicht des Mannes nicht sehen, weil die Hutkrempe es verdunkelte. Sie lief wieder hinter die Gestelle und prüfte ihren Rock, ihre Bluse, ihre Strümpfe … fand jedoch nichts Auffälliges an sich und spähte durch die Reihen der Mäntel nach vorn. Der Mann war nicht mehr da.
Edda Hanebutt hatte an Fintzels Tür geklingelt. Während sie wartete, schaute sie sich noch mal um und sah ihren Vater über der Straße vor dem Schaufenster der Reinigung stehen. Sie lächelte ein bißchen wehmütig, bemerkte nebenbei den unscheinbaren Mann, der vom Lederwarenfenster in die dunkle Toreinfahrt trat, machte sich keine Gedanken darüber, vergaß die Gestalt auch sofort und setzte eine fröhliche Miene auf, als Otto Fintzel jetzt die Tür öffnete. «Guten Abend, Herr Fintzel», sagte sie. «Ich komme mit einem schönen Gruß von meinem Vater und bringe Ihnen was.» «Ach Gott, Edda!» rief der Alte überrascht. «Ich hab Sie gar nicht gleich erkannt! Das ist aber…! Kommen Sie rein! Na so was!» Er machte die Tür weit auf und hob zu einer einladenden Geste den Arm. «Ich will aber nicht stören!» sagte Edda Hanebutt, war jedoch mit einem Fuß schon über der Schwelle. «Sie stören mich auch nicht, im Gegenteil!» sagte Fintzel und faßte sich flink-verstohlen an die Hose, ob sie auch zugeknöpft sei, denn er war gerade auf dem Klo gewesen, als es klingelte. Edda trat in den Flur. Fintzel schloß hinter ihr die Haustür, ließ aber den Schlüssel innen stecken.
«Legen Sie ab und leisten Sie mir ein bißchen Gesellschaft!» bat er. «Die Abende sind immer schrecklich lang, wenn man allein ist. Und zuviel lesen oder gar fernsehen vertragen meine Augen nicht mehr.» Er half der jungen Frau aus dem gefutterten Trenchcoat und hängte ihn an die Garderobe, deren Haken aus den Hörnern mehrerer Rehböcke bestanden. «Darf ich vorausgehen? Danke! Na, das freut mich ehrlich, so ein reizender Besuch am Abend! Schade, daß meine Frau Vorrath schon weg ist, sonst ließe ich sie gleich einen Tee oder Kaffee für uns kochen – aber…» «Das ist wirklich nicht nötig», sagte Edda Hanebutt, die sich freute, daß es genauso lief, wie sie gedacht hatte. «Aber einen Cognac schlagen Sie mir nicht ab – oder einen Sherry? Oder ein Glas Portwein? Was darf ich Ihnen bringen, Edda? Sie erlauben doch, daß ich ‹Edda› sage, nicht wahr? Schließlich habe ich Sie schon, als Sie ein Baby waren, auf den Knien reiten lassen, hahaha… Bitte, nehmen Sie Platz – nein, hier in dem Ledersessel, das ist der bequemste… Also was? Cognac, Sherry, Portwein?» «Einen Sherry gern, wenn es keine Mühe macht, Herr Fintzel!» sagte Edda mit Gurrstimme und Augenaufschlag – woraufhin Otto Fintzel, gegen seine Gewohnheit, den besten Sherry aus der Vitrine holte, jene Sorte, die er sonst nie Gästen anzubieten pflegte, weil die Flasche fast fünfzehn Mark kostete. Eine halbe Minute lang hatte Edda Angst, daß er vielleicht noch mal aus dem Zimmer liefe, aber er stellte die Gläser auf den Tisch und setzte sich in seinen Ohrensessel, ihr gegenüber. «Ach – nun hab ich mein Mitbringsel in der Manteltasche!» rief sie gespielt – geschickt gespielt – ärgerlich und sprang auf, drückte ihn, der auch aufstehen wollte, in seinen Sessel zurück,
sagte: «Nein, Sie bleiben sitzen, Herr Fintzel – ich hole es schon!» und lief hinaus. Sie drehte – hustend, um das Klirren zu übertönen – flugs den Schlüssel im Haustürschloß um und kam mit ihrem Päckchen zurück ins Wohnzimmer mit den nationalen Nippes. «Hier», sagte sie, nachdem sie sorgfältig die Zimmertür hinter sich zugemacht hatte, «das schickt Ihnen mein Vater mit den besten Grüßen!» – und gab dem Alten die eingewickelte Pillenschachtel. «Na so was!» brummte Fintzel, verdutzt-neugierig. «Was ist das denn?» «Remembran», sagte Edda, «ein Medikament gegen Vergeßlichkeit!» – und sie fing mit ernstem Gesicht an, ihm die chemische Zusammensetzung und physiologische Wirkung der Pillen weitschweifig zu erklären, wobei sie mit halbem Ohr nach draußen lauschte, um im Notfall durch Stuhlrücken oder Lachen, Husten, Händeklatschen oder irgendwelche sonstigen Äußerungen eventuelle Geräusche zu übertönen. Der alte Fintzel hätte allerdings sowieso nichts gehört, weil seine Ohren nicht mehr die allerempfindlichsten waren und weil er auch ganz und gar auf die junge Frau fixiert war, die ihm gegenübersaß. Er strahlte sie an und ließ die wässerigen graugrünen Augen nicht eine Sekunde von ihr. Er nickte immerzu heftig und froh zu ihren Worten, obschon er mehr als die Hälfte dessen, was sie da erklärte, nicht verstand. Er gockelte und balzte wie ein Zwanzigjähriger, legte ihr die leberfleckige Hand auf den Arm, drückte ein bißchen an ihm herum, als sie sich nicht wehrte. «Sie sind mir aber einer, Herr Fintzel!» gurrte Edda, die es trotz aller Abneigung gegen den Alten genoß, wie er sich an der Nase herumführen ließ. «Ein ganz Schlimmer sind Sie! Das haben Sie offenbar bei aller Vergeßlichkeit noch gut in Erinnerung, wie man Frauen den Hof macht, wie?» – und
rutschte nun doch ein Stückchen zur Seite, weil Fintzel seine Hand zu nahe an ihre Brust schob. «Geben Sie mir noch einen Sherry, ja?» «Aber gerne», sagte der alte Mann schwer atmend, und es kostete ihn große Mühe, das Zittern seiner Hand zu verbergen, als er die Flasche über Eddas Glas neigte. Walter Hanebutt war ohne jede Schwierigkeit ins Haus gelangt, hatte die Tür langsam und leise hinter sich wieder geschlossen und sich Stufe um Stufe die Treppe hinauf zum Dachboden geschlichen. Auf der siebenten Stufe, die krächzend knarrte, war er heftig erschrocken und ein paar lange Sekunden lauschend stehen geblieben. Aber außer der Stimme seiner Tochter und dem gackernden Lachen Otto Fintzels hinter der Wohnzimmertür war nichts zu hören gewesen. Hanebutt stieg also weiter, wagte es jetzt auch, die Taschenlampe zu benutzen, die er bis dahin nur für kurze Augenblicke hatte aufflammen lassen, und öffnete die Bodentür. Es wehte ihm kalt entgegen, und ein weiterer Schreck durchfuhr ihn, als zwei Tauben flügelschlagend ihren Schlafplatz wechselten, weil er den Lichtkegel der Lampe durch den Dachboden wandern ließ. Da stand der Koffer! Jawohl, das mußte er sein! Ein anderer war nicht zu sehen. Alt und morsch genug sah das Ding aus. Gott sei Dank – nun, der Rest würde im Handumdrehen zu erledigen sein… Hanebutt legte die brennende Taschenlampe so auf eine staubige Truhe, daß sie den Koffer anstrahlte, und kniete sich vor das alte Gepäckstück, um die Schnappschlösser zu öffnen. Er hatte sich zwei Schraubenzieher und eine Zange mitgebracht, da ihm eingefallen war, daß Fintzel erzählt hatte, das Ding sei schwer aufzukriegen, weil die Schlösser verrostet seien. Er setzte, als sich die rostigen Verschlüsse wirklich nicht
rührten, gerade den stärkeren Schraubenzieher an, um sie aufzubrechen, da hörte er die Treppenstufe knarren, die vorhin auch unter seinem Tritt geknarrt hatte, sprang auf, griff sich die Taschenlampe und hatte im gleichen Moment die Nische neben dem Schornstein erreicht und die Lampe ausgeknipst, als die Bodentür aufgedrückt wurde und jemand hereinkam. Es war ein Fremder – ebenfalls mit einer Taschenlampe ausgerüstet –, ein schmaler Mann mittleren Alters, den Hanebutt nicht kannte. Der Apotheker atmete mit offenem Mund, so leise er nur konnte. Das Blut klopfte in seinen Ohren. Der Kragen wurde ihm eng. Er hatte das Gefühl, als würden seine Augäpfel zu groß in den Höhlen. Er zitterte. Der Fremde hatte sich über den Koffer gebeugt und hob ihn an. «Uff», ächzte er halblaut und setzte das schwere Stück wieder ab. Hanebutt hielt es nicht mehr aus. Er machte einen großen Schritt nach vorn, richtete seine Lampe auf den Mann und stammelte: «Sie… was machen… was wollen Sie… wollen Sie hier?» Der Fremde reagierte nach zwei Schrecksekunden blitzschnell. Er sprang Hanebutt an, schlug ihm die Lampe aus der Hand, stieß ihn zurück, um Platz und Zeit für seine Flucht zu gewinnen, und drehte sich um. Da stolperte er über den Koffer und fiel polternd zu Boden. Seine Taschenlampe rollte noch brennend zwei Meter weit auf die Dachschräge zu. Hanebutt, der nicht gefallen, sondern nur gestrauchelt war, griff den Liegenden an. «Bleiben Sie hier!» ächzte er. «Sie bleiben hier, verdammt noch mal! Das werden wir… werden wir sehen, ob Sie jetzt… jetzt wegrennen!» – und hielt den Fremden am Kragen seiner Jacke fest und wußte nicht, warum er das tat, und hätte fast
nach Hilfe geschrien – aber da drehte sich der Untenliegende gewandt auf den Rücken, stieß mit dem Fuß nach Hanebutt, traf ihn in der Leistengegend und richtete sich flink auf, als der alte Apotheker mit einem Schmerzenslaut in die Knie ging. Der Fremde trat noch mal zu, erwischte diesmal – nicht so hart, aber mit Schwung – Hanebutts linke Brustseite, worauf der Apotheker auf die Seite fiel und nach einem tiefen Seufzer still liegenblieb. Der graue Mann erschrak. Er bückte sich nach seiner Taschenlampe, hob sie auf und leuchtete Hanebutt ins Gesicht. Der Apotheker lag da mit offenen Augen. Er zwinkerte nicht, als ihm der Lichtstrahl ins Gesicht fiel. «Hee!» sagte der Graue. Die Tauben flatterten aufgeregt. Hanebutt rührte sich nicht. «Hee… Sie?!» wiederholte der Graue. Er fror. Aufsteigende Angst schnürte ihm die Kehle zu. «Verdammte Scheiße!» murmelte er, warf noch einen Blick auf den Bewegungslosen, einen zweiten auf den Koffer und lief dann schnell und leise zur Bodentür, schlich die Treppe hinab und verließ das Haus. Im Wohnzimmer sagte Edda gerade neckend zu Otto Fintzel: «Na, warten Sie, wenn ich meinem Vater erzähle, wie Sie mir die Kur schneiden!»
23
Oberstudienrat Rainer Bundschuh begegnete dem unscheinbar grauen Großstädter an der Ecke Geibel- und Rückertstraße, ohne die geringste Notiz von dem eilig laufenden Fremden zu nehmen, der sechsundzwanzig Schritte weiter in sein graues Auto stieg, tief Luft holte, startete und – in vorschriftsmäßigem Tempo – davonfuhr. Dem Oberstudienrat kann daraus kein Vorwurf gemacht werden, denn er hätte, in Gedanken versunken, wie er war, nicht mal einen nackten Neger bemerkt, wenn ihm jetzt und hier einer begegnet wäre, obwohl nackte Neger in norddeutschen Kleinstädten relativ selten sind, besonders im Winter. Der Oberstudienrat war so in Gedanken versunken, weil ihm, in einem jähen Anfall von Selbstkritik und -erkenntnis, aufgegangen war, daß seine Frau in ihrer Ehe die führende Rolle spielte, ohne ihn das je spüren zu lassen. Im Gegenteil, sie hatte ihn immer bewundert, bestätigt, zu ihm aufgeblickt und war dabei, genaugenommen, stets, vor allem in Krisensituationen, diejenige gewesen, die das Steuer in die Hand genommen, Auswege gefunden, Entscheidungen getroffen und das Richtige gewußt und getan hatte. Da war zum Beispiel vor einigen Jahren die scheußliche Geschichte mit der Schülerin aus der zwölften Klasse gewesen, die zu Hause erzählt hatte, er, Bundschuh, habe sie unsittlich berührt, als sie mit ihm allein in der Schulbücherei gewesen sei, die er damals verwaltete. Das war eine reine – oder vielmehr eine ausgesprochen unreine Erfindung gewesen, obwohl… nun ja, Bundschuh hatte
dem Mädchen die Hand auf die Schulter gelegt und ‹mein Herzchen!› gesagt oder so was. Der Vater des Mädchens war wutschnaubend zum Direktor gelaufen und hatte gefordert, daß Bundschuh angezeigt, aus dem Amt gejagt, eingesperrt würde… weiß der Himmel, was noch alles. Zum Glück hatte der Direktor sich nicht ins Bockshorn jagen lassen und war zu Bundschuh gekommen – und der Oberstudienrat hatte seiner Frau sofort berichtet, was da los war. Ja – und da hatte sich Else Bundschuh ihr hübschestes Sommerkleid angezogen – Juni war es, kurz vor den großen Ferien – und hatte das Mädchen nach der Schule am nächsten Vormittag abgefangen und zum Eisessen eingeladen. Das Mädchen war zu verblüfft gewesen, um nein zu sagen, war mitgegangen und hatte – in einer Ecke der italienischen Eisdiele am Marktplatz – nach einem Viertelstundengespräch heulend zugegeben, daß die Vorwürfe pure Phantasie – vielleicht sogar Wunschträume – gewesen waren… Und dann die Sache mit dem wütenden Leserbrief, den er geschrieben hatte, wegen des Pornofilmes im Kino. Der Brief, den Else mitgenommen hatte, um ihn in den Postkasten zu stecken, den sie aber nicht in den Kasten gesteckt hatte. Glücklicherweise nicht, denn der von Bundschuh beanstandete Film bekam drei Tage drauf einen hohen Preis wegen seiner künstlerischen Qualität. Das wäre entsetzlich blamabel für den Oberstudienrat geworden … und so weiter und so fort… eine faszinierende Reihe von Beispielen für Else Bundschuhs dominierende Rolle in ihrer Ehe. Und auch jetzt wieder: Die Idee zu diesem Besuch bei Fintzel, das war ihre Idee. Sie hatte die Lösung gehabt, die vielleicht, ja wahrscheinlich, die Gefahr bannte und alles wieder ins rechte Lot brachte.
Der Oberstudienrat war in seiner Grübelei an Otto Fintzels Haus vorbeigelaufen, erschrak, als er sich zweihundert Schritt weiter wiederfand, lächelte kopfschüttelnd und machte kehrt. So kam es, daß er Edda Hanebutt gerade aus der Haustür treten sah, als er die Steinstufen hinaufstieg. «Nanu!» rief er, korrigierte sich aber sofort, zog den Hut und sagte artig: «Guten Abend, Fräulein Hanebutt!» Er sagte immer ‹Fräulein› zu unverheirateten Frauen, auch in seinem Lehrerkollegium, weil er unsicher war, ob die Angeredete den Titel ‹Frau› nicht möglicherweise als kränkend empfinden könne. «Hallo, Herr Bundschuh!» gab Edda zurück. «Wollen Sie zu Herrn Fintzel?» «Ja, wegen einer Schulsache», sagte Bundschuh, obwohl er gar nicht gefragt worden war, weshalb er zu Fintzel wollte. Edda dachte: ‹Hoffentlich fangt er jetzt keine Konversation hier vor der Haustür an, sonst kommt Papa gerade herausgelaufen, während wir uns über die bundesrepublikanische Bildungspolitik oder sonstwas Verfahrenes unterhalten.› «Ich wünsche Ihnen viel Erfolg», sagte sie deshalb schnell und lief nach einem kurzen «Guten Abend!» davon. Bundschuh überlegte, ob sie das anzüglich gemeint haben konnte: Viel Erfolg? Oder wußte sie irgendwas? Und wieso war sie eigentlich überhaupt hier? Hatte der Sangesbruder Hanebutt auch Interesse an dem vermaledeiten Koffer? Hatte auch Hanebutt Angst vor der Entdeckung, der Wiederentdeckung alter Geschichten? Bundschuh wußte kaum etwas von des Apothekers Vergangenheit. Es interessierte ihn im Grunde genommen auch nicht. Er klingelte. Fintzel öffnete.
«Na so was, Sangesbruder Bundschuh!» knarrte der Alte. «Das geht ja heute abend bei mir zu wie im Taubenschlag! Komm herein! Eben war Walter Hanebutts Tochter da. Bist du…?» «Ja, ich habe sie noch getroffen», sagte Bundschuh. «Ja? Ach, natürlich – ihr müßt euch begegnet sein!» sagte Fintzel. «Sie hat mir ein Medikament gebracht. Gegen Vergeßlichkeit. Was es nicht alles gibt! Was kann ich für dich tun? Willst du ablegen?» «Nein, danke», sagte Bundschuh. «Das ist nicht nötig. Ich will dich auch nicht stören. Nur eine Frage, Sangesbruder: Du hast gestern abend von einem Koffer gesprochen, den du wiedergefunden hast. Wenn ich es recht verstanden habe, war das eine Art Aktenkoffer aus dem Dritten Reich, nicht wahr?» «Ja», sagte Fintzel, «ich hab ihn seinerzeit aus der Kreisverwaltung mitgenommen, in der Bombennacht, als sie brannte. Aber ich hab selber immer noch nicht reingeguckt…» «Deshalb bin ich hier», erklärte Bundschuh. «Du mußt wissen, daß ich mit den Schülern der Oberstufe im Geschichtsunterricht gerade die Weimarer Republik und die jüngere deutsche Vergangenheit bis 45 durchnehme – und da dachte ich, vielleicht ist in dem Koffer irgendwas an Material… also Aufrufe oder Zeitungsausschnitte oder sonstwelche Dokumente, die den jungen Leuten helfen, auch einen optischen Eindruck von jener Zeit zu kriegen, verstehst du?» «Verstehe!» sagte Fintzel, und seine Backen wackelten im Takt seines bejahenden Nickens. «Das ist eine gute Idee. Solche modernen pädagogischen Methoden finde ich großartig und unterstützenswert. Natürlich weiß ich nicht, ob du fündig wirst in dem alten Koffer… Und ich weiß auch nicht, ob da nicht Vorgänge drin sind, die noch immer als Verschlußsachen angesehen werden müssen. Aber da kann ich mich auf dich ja
verlassen, daß du mich nicht in Schwierigkeiten bringst, nicht wahr?» «Ich versichere dich meiner vollsten Diskretion!» sagte Bundschuh im Casinoton und deutete zackige Haltung an, indem er das Rückgrat steifte und den Kopf leicht vorschob. «Soll es denn gleich sein?» fragte Fintzel. «Nun ja», gab Bundschuh zurück. «Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen! – Immer vorausgesetzt natürlich, daß es dir paßt, würde ich sehr gern mal einen Blick hineinwerfen!» «Gut», sagte Fintzel, «am besten, du holst das Ding runter. Er ist schwer – und du bist jünger und noch viel kräftiger als ich!» Er deutete die Treppe hinauf. «Oben direkt hinter der Bodentür! Wenn du ihn holen willst, dann bring ihn gleich in die Küche. Ich muß ihn erst mal ein bißchen sauberwischen. Da liegt der Staub von fast vierzig Jahren drauf. Paß auf, daß du dich nicht dreckig machst!» «Ja», sagte Bundschuh, «ich passe auf!» Er stieg beschwingt, froh, seinem Ziel so schnell so nah gekommen zu sein, die Treppe hinauf. «Der Lichtschalter ist links außen!» rief Fintzel ihm nach. «Danke!» rief Bundschuh zurück, fand den Lichtschalter, drückte ihn, öffnete die Tür und sah Hanebutt liegen. «Um Gottes willen!» flüsterte er, spürte, wie ihm die Brust eng wurde, schloß zwei, drei Sekunden entsetztungläubig die Augen, mußte sich an den Türrahmen lehnen und hoffte inständig, das möge ein böser Traum sein.
24
Bis zu diesem Augenblick, da Oberstudienrat Rainer Bundschuh mit geschlossenen Augen am Türrahmen der Bodenkammertür von Otto Fintzels Haus lehnte, schwer atmend und in der irrwitzigen Hoffnung, der offensichtlich Tote zu seinen Füßen sei Teil eines Alptraums… bis zu diesem Augenblick lief die Geschichte des Koffers und der durch ihn ausgelösten Begebenheiten im ritardando – zögernd, langsam… zwar nicht ohne Ansätze von Leidenschaft, con brio, um im Musikalischen zu bleiben – aber vom Augenblick an, da Bundschuh die Augen öffnete, sich entsetzt klar wurde, daß Hanebutts bewegungsloser Körper eine Tatsache und kein Traum war, als sich der Oberstudienrat abwandte und die Treppe hinunterrannte… abermals, wie siebzehn Stunden zuvor, in panischem Schrecken die Stufen hinabsprang – von diesem Augenblick an lief die Geschichte schneller und schneller ab – accelerando, gewissermaßen… Aus dem schweren, aber drohenden Schritt wurde ein gehetztes staccato, ein furioser Schluß, von dem sich eigentlich nur in Stichworten berichten läßt, wenn man dem Tempo und der Aufregung gerecht werden will. 19 Uhr 26: Bundschuh schob den verwirrten Fintzel beiseite, griff sich den Telefonhörer und wählte die Rufnummer der Polizei. «Ist Kommissar Greve von der Kriminal…» fragte er, wurde jedoch von der Frauenstimme unterbrochen: «Ich verbinde!» «Greve», sagte Greve.
«Hier Bundschuh», sagte Bundschuh, «bitte, Freund Greve, komm sofort hierher! In Otto Fintzels Haus! Ich habe eben Hanebutt gefunden. Er ist tot, glaub ich!» «Ich komme!» gab Greve zurück. «Ja… gut!» sagte Bundschuh. «Soll ich einen Arzt…?» «Nein, das mach ich. Bitte, nichts anfassen!» rief Greve und legte auf. «Was ist denn los…?» fragte Fintzel, der nur die Hälfte mitgekriegt hatte, blinzelnd. Bundschuh nahm ihn am Arm. «Komm ins Wohnzimmer, Otto!» sagte er. 19 Uhr 29: Der unscheinbare graue Großstädter Werner Meyer stoppte sein unauffälliges graues Auto, ließ es rechts auf den Randstreifen der Landstraße rollen und überlegte. Die Straße war leer. Meyer stieg aus, holte aus seinem Kofferraum eine mittelgroße Handtasche aus Kunststoff, kippte den Inhalt – Werkzeug, Abschleppseil und Warnlampe – auf den Rücksitz des Wagens und sah sich suchend um. Zehn Schritte vor ihm lag an der Abzweigung eines Feldwegs ein Haufen Steine. Meyer wollte ein paar aufheben, aber sie waren festgefroren. Fluchend trat er dagegen. Das half nicht viel, denn seine leichten Halbschuhe waren als Brecheisen ungeeignet. Sein Fuß schmerzte nur. Die Steine rührten sich nicht. Er lief zurück zum Auto, holte den Wagenheber, schlug damit ein Dutzend faustgroße Steine los, wickelte sie in zwei alte Lappen und verstaute sie in der Tasche. Dann stieg er wieder ein, wendete und fuhr die zwölf Kilometer nach Endwarden zurück. Auf seinem mürrischen, vom vorhin erlittenen Schock noch immer ernsten Gesicht breitete sich langsam ein Grinsen aus – wie ein Öltropfen auf einer unbewegten Wasserfläche. 19 Uhr 34:
Hermann Kroll junior stand vom Küchentisch auf, an dem er gesessen hatte. «Ich fahre los, Mama!» sagte er. «Jaja», erwiderte Agathe Kroll. Sie hatte einen ängstlichen Ausdruck in den Augen. «Paß bloß auf, daß dir nichts passiert, Jungchen!» «Was soll mir denn passieren?» fragte Kroll barsch, entnahm seiner Brieftasche fünf Hundert- und drei Fünfzig-Markscheine und steckte sie zusammengefaltet in die Außentasche der Autojoppe, die er übergezogen hatte. «Bis nachher!» sagte er. «Ich fahr vom Bahnhof aus gleich zur Probe, wenn die heute abend überhaupt stattfindet nach Möhlmanns Tod… Mal sehn!» «Toi, toi, toi!» rief seine Mutter ihm nach. 19 Uhr 40: Zur gleichen Zeit, als Kroll den Hof querte und in seinen Mercedes stieg, betrat Greve zusammen mit dem Arzt vom Bereitschaftsdienst, den Kollegen der Spurensicherung und dem Fotografen das Haus Otto Fintzels. Der Arzt stellte Hanebutts Tod fest, wollte sich aber nicht festlegen, ob der Apotheker an einem Infarkt gestorben war – wofür die bläuliche Farbe seines Gesichtes sprach – oder ob etwas anderes sein Ableben verursacht hatte. Denn da war ein merkwürdiges Würgemal an Hanebutts Hals und eine Kratzspur auf der linken Wange… Für Greve war die ganze Kette von Seltsamkeiten außerordentlich rätselhaft. «Was wollte Herr Hanebutt auf Ihrem Dachboden?» fragte er Fintzel. «Ich weiß nicht», sagte der Alte, der verstört in seinem Ohrensessel saß. «Hat er Ihnen denn nicht gesagt, was er dort oben wollte?» fragte Greve irritiert.
«Er hat mir gar nichts gesagt», erwiderte Fintzel. «Ich wußte ja überhaupt nicht, daß er oben ist… äh… war, nein – immer noch ist… na, so was!» «Und Sie?» wandte sich der Kommissar, der in Gegenwart seiner Kripokollegen die Sangesbrüder siezte, an den Oberstudienrat. «Was wollten Sie auf Fintzels Boden?» Bundschuh erklärte sein pädagogisches Interesse an dem Koffer. Greve hörte ihm zu, glaubte ihm kein Wort, weil Bundschuh sich bei seiner Erklärung dauernd verhaspelte, und ließ von einem der Leute den Koffer herunterholen. «Aber vorsichtig, bitte!» sagte er. Es war 19 Uhr 56, als der alte Koffer die Treppe heruntergebracht wurde, kurz bevor die Sanitäter Hanebutts Leiche den gleichen Weg hinabtrugen. 19 Uhr 57: Kroll stieg aus dem Auto, das er vor dem Bahnhof geparkt hatte, und ging zu dem Zeitungskiosk auf den Bahnhofsvorplatz. Der Kiosk war – wie vorgesehen – geschlossen. Kroll stand davor und sah sich die Zeitschriftentitel hinter der Glasscheibe an. Aus dem Schatten des Backsteingebäudes der Güterabfertigung kam der Graue. «Wo haben Sie den Koffer?» fragte Kroll – ohne guten Tag oder guten Abend zu sagen. «Haben Sie das Geld dabei?» fragte der Graue zurück. «Ja, sicher!» sagte Kroll und klopfte mit der flachen Hand an die Außentasche seiner Joppe. «Das Ding ist in der Gepäckaufbewahrung!» sagte der Graue und hielt einen Gepäckschein hoch. «Warum das denn?» fragte Kroll ärgerlich. «Ich schleppe so heiße Sachen nie länger als unbedingt nötig mit mir rum…» sagte der Graue.
«Heiße Sachen?» fragte Kroll. «Na – da ist doch der Wurm drin in Ihrem Koffer», sagte der Graue, «sonst hätten Sie mich ja wohl nicht zu engagieren brauchen – oder?» Kroll schwieg. «Also – was ist?» fuhr der Graue fort. «Gepäckschein gegen Kohle…!» – und streckte Kroll den gelblichen Zettel hin, aber außer Reichweite. Kroll zögerte. Mit so einer Komplikation hatte er nicht gerechnet. «Das ist aber so nicht ausgemacht!» protestierte er. «Dann holen Sie ihn!» «Nein», sagte der Graue, «das ist mir zu kipplig. Vielleicht stehen die Bullen schon am Abfertigungsschalter und warten auf den Abholer. Was weiß ich denn, was da drin ist? Schwer, wie das Ding ist… Ich hab’s Ihnen so billig gemacht, werter Herr – siebenhundertfünfzig Eier für so’n Risiko… Und nun wollen Sie die Sore auch noch am liebsten frei Haus geliefert haben! – Nein, das ist nicht drin! Hier der Gepäckschein. Der gehört Ihnen, wenn ich das Moos habe, und dann Servus. Sonst schmeiß ich ihn weg, und dann kriegen Sie Ihren komischen Koffer nie – wo Sie ihn nicht mal beschreiben können!» Kroll sah ein, daß der Graue recht und ihn in der Hand hatte. An die Gefahr, die Polizei könne bereits am Gepäckschalter stehen, glaubte er nicht. Außerdem brauchte er den Koffer ja nicht selbst abzuholen – obschon er sehr neugierig war und gespannt, was wohl drin sei. Er konnte ja morgen einen seiner Fahrer schicken… mal sehn. Das würde sich finden. Kroll gab sich einen Ruck, streckte dem Grauen das Bündel Geldscheine hin und nahm – Zug um Zug – den Gepäckschein entgegen.
Der Graue blätterte das Geld flink durch, nickte, sagte «Okay!» fügte «alsdann, vielleicht andermal wieder!» hinzu und ging davon. Kroll lief zu seinem Wagen, sah, als er einstieg, den unscheinbaren Mittelklassewagen mit der Hamburger Nummer vorüberfahren, konnte aber das Kennzeichen im Halbdunkel nicht entziffern und machte sich zunächst auch keine Gedanken. Er fuhr nun doch vor die Bahnhofshalle, um den Koffer, der so schwer sein sollte, nicht zu weit schleppen zu müssen, entriegelte vorsorglich den Kofferraum seines Autos und ging zur Gepäckabfertigung. Er wollte nicht bis morgen damit warten. Der Bundesbahnangestellte kannte ihn. «‘n Abend, Herr Kroll!» sagte er. «‘n Abend!» sagte Kroll. Weit und breit kein Polizist. So ein Quatsch! Daß solche ausgekochten Jungs so ängstlich waren! Kroll gab dem Mann hinter dem Schalter den Gepäckzettel. Der Mann ging damit in den Lagerraum. Kroll wartete. Die Normaluhr im Bahnhof klickte. Der große Zeiger sprang auf 20 Uhr 10: Das Telefon in Otto Fintzels Flur schepperte. «Gehen Sie ran!» sagte Greve, als der Alte aus dem Wohnzimmer kam und ihn fragend ansah. Fintzel hob den Hörer ab und meldete sich. «Wo, zum Kuckuck, bleibst du?» rief Lothar Fiedler ihm ins Ohr. «Ich weiß gar nicht, was los ist! Nur drei Leute sind da! Wir haben Tenorprobe, Otto. Das hatte ich doch gestern deutlich angesagt. Aber Bundschuh ist nicht da, Hanebutt fehlt, Kroll glänzt durch Abwesenheit… und du? Was ist denn bloß los?»
«Sangesbruder Bundschuh ist bei mir», sagte Fintzel, hielt für drei Sekunden die Sprechmuschel zu und erklärte dem neben ihm stehenden Kommissar: «Das ist Fiedler. Er schimpft!» Dann redete er weiter ins Telefon: «… und Walter Hanebutt war eben noch hier.» «Kommt der hierher?» fragte Fiedler. «Nein, bestimmt nicht», sagte Fintzel. «Er ist tot. Horst Greve ist übrigens auch hier. Dienstlich. Das wird wohl nichts mehr mit der Tenorprobe heute…» Er wartete Fiedlers Reaktion nicht ab, rief: «Tschüß, Lothar!» in den Apparat und legte auf. 20 Uhr 21: Hermann Kroll fuhr vor dem ‹Deutschen Haus› auf den fast leeren Parkplatz, schloß – nach einem wütenden Blick auf die gammelige, steingefüllte Kunststofftasche auf dem Fußboden vor dem Beifahrersitz – den Wagen ab und wollte ins Klubzimmer des Hotelrestaurants. Aus der Tür des Lokals kamen vier Männer. Fiedler und Knobloch und zwei andere Tenöre. «Steig mal gleich wieder ein!» rief Lothar über die Straße. «Wir gehen zu Otto Fintzel. Da ist was passiert! Irgendwas mit Hanebutt. Bundschuh ist auch schon dort. Und Greve…» «Greve ist doch kein Tenor!» rief Kroll verwirrt zurück. «Aber Kriminalkommissar!» antwortete Fiedler. Die Männer stiegen in einen gelben Opel und fuhren los. Kroll schüttelte ratlos den Kopf, setzte sich aber dann doch in seinen Wagen und fuhr ihnen nach. Sie trafen 20 Uhr 27 bei Fintzel just in dem Augenblick ein, als Kommissar Greve sich anschickte, den mysteriösen Koffer zu öffnen. Es war der gleiche Augenblick – ganz genau 20 Uhr 27 Minuten und 20 Sekunden –, in dem der rechte Vorderreifen
des grauen Hamburger Wagens mit hoher Geschwindigkeit über die Scherben einer Bierflasche rollte, laut knallend platzte, das Auto aus der Spur riß, worauf es ins Schleudern kam, von der Bundesstraße 72 kurz vor der Ortschaft Ostgroßefehn in den Graben raste, sich überschlug und den unscheinbaren Herrn Meyer, der durch die Windschutzscheibe katapultiert worden war, unter sich begrub. 20 Uhr 28 war der graue Mann schon tot.
Greve überlegte nicht lange. Er forderte die anwesenden Sangesbrüder auf, sich im Halbkreis um den Tisch zu stellen, den er aus Fintzels Küche in den Flur hatte holen lassen und auf dem nun der alte Koffer lag. Oben auf dem Boden hantierten noch die Männer der Spurensicherung. Hier, unten im Flur, standen die übriggebliebenen sechs Tenöre des Männergesangvereins Euterpe e. V. und Chorleiter Fiedler stumm und mit verstörternsten Gesichtern um das Gepäckstück aus brüchigem, staubigem Leder und warteten. Bundschuh hatte noch einen schwachen Versuch gemacht, die Öffnung des Koffers zu verhindern oder wenigstens unter Ausschluß der Öffentlichkeit vornehmen zu lassen – aber auf seine Argumente: «Vielleicht darf der Inhalt gar nicht publik und überhaupt nur amtlich in Augenschein genommen werden…» – darauf war Greve nicht eingegangen. «Ich bin amtlich genug», hatte er gesagt und sich von Fintzel einen Schraubenzieher holen lassen – denn der, den sie neben Hanebutts Leiche gefunden hatten, war als Beweismittel in Verwahrung genommen worden. Bundschuh wagte nicht, mehr zu sagen, um sich nicht verdächtig zu machen. Er stand ebenso stumm wie die anderen
im Halbkreis und hatte große Mühe, das Beben seiner Lippen zu unterdrücken. Greve brauchte fast fünf Minuten, um die verrosteten Schlösser zu Öffnen. 20 Uhr 33: Das zweite Schloß brach unter dem Hebeldruck des starken Schraubenziehers. Der Kommissar hob den Deckel. In dem Koffer lagen wohlgeordnet, zu Stapeln gebunden, Lebensmittelkarten für die Monate April und Mai 1944. Die Papiere waren vergilbt und mürbe – aber es war noch deutlich zu erkennen, daß es auf die Abschnitte F 1-4 je 100 Gramm Fleisch oder Fleischwaren geben sollte und auf die Abschnitte N 1 bis N 12 je 50 Gramm Nährmittel. Zwischen den Kartenstapeln, die mit festen Fäden verschnürt waren und außerdem von einer gesiegelten Banderole zusammengehalten wurden, befand sich eine Pappschachtel in Größe eines Schuhkartons. Greve hob ihn heraus und nahm den Deckel ab. In Seidenpapier gewickelt lagen in dem Kasten mehrere Dutzend Orden und Ehrenzeichen des tausendjährigen Reiches: Mutterkreuze, Kriegsverdienstkreuze verschiedener Klassen und andere metallene Bescheinigungen für treue Dienste. «Tja…» sagte Greve und zeigte den Kasten herum. «Mir scheint, Klaus Möhlmann und Walter Hanebutt sind an einem Irrtum gestorben, Freunde… wie?» Einige der Männer räusperten sich. Bundschuh nickte tief atmend und stellte erleichtert fest, daß seine Lippen nicht mehr zitterten. «Na so was…!» brummte Otto Fintzel.