Atlan - Die Abenteuer.der SOL Nr. 589 Das Zeittal
Das Zeittal von Peter Griese Atlan und die SOL im Bann der eingefror...
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Atlan - Die Abenteuer.der SOL Nr. 589 Das Zeittal
Das Zeittal von Peter Griese Atlan und die SOL im Bann der eingefrorenen Zeit In den mehr als 200 Jahren ihres ziellosen Fluges durch die Tiefen des Alls haben die Besatzungsmitglieder des Generationenschiffs SOL schon viele gefährliche Abenteuer bestanden. Doch im Vergleich zu den schicksalhaften Auseinandersetzungen, die sich seit dem Tag ereignen, da Atlan, der Arkonide, auf geheimnisvolle Weise an Bord gelangte, verblassen die vorangegangenen Geschehnisse zur Bedeutungslosigkeit. Denn jetzt, im Jahre 3804 Solzeit, geht es bei den Solanern um Dinge von wahrhaft kosmischer Bedeutung. Da geht es um den Aufbau von Friedenszellen im All und um eine neue Bestimmung, die die Kosmokraten, die Herrscher jenseits der Materiequellen, für die Solaner parat haben. Und es geht um den Kampf gegen Hidden-X – einen mächtigen Widersacher, der es auf die SOL abgesehen hat. Nach der Vernichtung des »schlafenden Heeres«, der wohl letzten Aktivwaffe des Gegners, herrscht trügerische Ruhe im All. Die Reparaturen an der SOL und am Hypervakuum-Verzerrer schreiten voran. Von Atlan und auch von Hidden-X gibt es kein Lebenszeichen. Doch am 15.12. 3804 Bordzeit bekommen Atlan und die Solaner es mit einer neuen Teufelei von Hidden-X zu tun – sie geraten in DAS ZEITTAL …
Die Hauptpersonen des Romans: Breckcrown Hayes - Für ihn und die Solaner stehen alle Uhren still. � Bjo Breiskoll - Der Katzer landet auf dem VIVARIUM. � Cpt'Carch und Insider - Sie werden zu Zeithütern ernannt. � Atlan - Der Arkonide kämpft sich durch das Flekto-Yn. � Hidden-X - Die Supermacht baut eine neue Falle auf. �
1. Breckcrown Hayes Meine Stimmung war auf dem Nullpunkt. Ich saß in meiner Klause und grübelte vor mich hin. Zehn Tage waren seit jenem unglückseligen 4. Dezember des Jahres 3804 vergangen, seit jenen bitteren Stunden, in denen das schlafende Heer der Roboter von Hidden-X die SOL an den Rand des Untergangs gebracht hatte. Sicher, wir hatten schon so manche ernste Krise und so manche böse Gefahrensituation überstanden, seit wir uns auf die Spuren Atlans geheftet hatten und ihn auf seinem Weg gegen dieses mächtige Wesen begleiteten. Als High Sideryt des Generationenschiffs SOL mußte ich mich fragen, ob es richtig war, sich bedingungslos mit Mann und Maus dem Arkoniden und seinen Zielen zu verschreiben. Die jüngsten Verluste an Menschen gaben mir zu denken. Maschinen, Roboter und Raumschiffe ließen sich noch verschmerzen und mit der Zeit durch entsprechenden Arbeitsaufwand ersetzen. Aber die Solaner? Die Klause, die ich nach Gesichtspunkten der Behaglichkeit und Wohnlichkeit hatte umgestalten lassen, wirkte nun auf mich wieder so düster und unheilschwanger, wie sie es zu den Zeiten von Chart Deccon einmal wirklich gewesen war. Ich fühlte mich nicht wohl, aber ich wußte, daß nicht die Einrichtung der Klause der Grund dafür war. Es war die Trauer. Es war die Hoffnungslosigkeit in diesem Kampf gegen ein Wesen oder ein Etwas, von dem ich
eigentlich nicht wenig mehr wußte als den Namen. Hidden-X, der verborgene und unbekannte Feind! Das schlafende Heer war besiegt worden. Doch das war kein Trost für mich in dieser Stunde, denn der Preis war zu hoch gewesen. Neben dem Verlust an Menschen hatte das Schiff schwere Schäden erlitten. Seit Tagen kümmerte sich SENECA um fast nichts anderes als um die Wiederherstellung der äußeren Ordnung und um den Aufbau der zerstörten Decks und Anlagen. Und ein Mann machte wieder von sich reden, der schon einmal zum Wohl der SOL aufopfernd gearbeitet hatte, ohne sich selbst groß in den Vordergrund zu stellen. Gavro Yaal, der ehemalige Schläfer, ging in seiner selbstgestellten Aufgabe, alle Versorgungsprobleme zu lösen, vollkommen auf. Es war gut zu wissen, daß man tatkräftige Helfer besaß, auch wenn dieser Mann vielleicht nur eine Schuld abzutragen hoffte, von der er annahm, daß er sie in der fernen Vergangenheit auf sich geladen hatte – als Initiator einer neuen Form des Daseins für die Solaner. Wir werden das Schiff wieder in den alten Zustand versetzen, sagte ich mir. Die Robotfabriken würden neue Beiboote, Shifts und Roboter herstellen, aber die Toten konnte niemand zu neuem Leben erwecken. Unser weiterer Weg schien somit klar und eindeutig vorgezeichnet zu sein. Das anzunehmen wäre aber ein Trugschluß gewesen, denn selbst mit der Behebung der schweren Schäden wäre nichts Entscheidendes erreicht gewesen. Das Problem, das auf eine Lösung harrte, lag nicht innerhalb der SOL. Das Problem hieß Hidden-X, Flekto-Yn oder Hypervakuum. Drei vage Begriffe, die von einem Hauch des Imaginären, des Unfaßbaren umgeben waren. Selbst damit war das Problem nur unvollkommen beschrieben. Die CHART DECCON, jenes technische Wunderwerk, das wir in kürzester Zeit buchstäblich aus dem Boden gestampft hatten und das nicht nur unseren besten Wissenschaftlern und Ingenieuren
Rätsel aufgab, die sie zur Verzweiflung trieben, sondern auch SENECA, der scheinbar allwissenden Biopositronik, hatte ebenfalls einen schweren Schaden erlitten. Der Hypervakuum-Verzerrer, der uns allein ein Vordringen in den eigentlichen Machtbereich des Hidden-X erlauben würde, war nicht mehr einsatzbereit. Es würden Wochen vergehen, vielleicht Monate, bis an einen neuen Einsatz dieser Maschine zu denken war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Chance, Atlan und den anderen, die mit der PALO BOW und der HORNISSE in das Hypervakuum vorgestoßen waren, zu folgen. Zweifel kamen in mir auf, die ich niemand mitteilen konnte oder durfte. Die Verantwortung für annähernd 100.000 Lebewesen lastete auf meinen Schultern. Sollte ich die Leben dieser treuen Mitstreiter weiter aufs Spiel setzen und dem Arkoniden folgen? Ich hatte die freie Entscheidung, und ich wußte, daß Atlan sich meinem Entschluß beugen würde. Aber konnte ich überhaupt eine solche Entscheidung treffen? Konnte ich einfach den Bordrundspruch einschalten und dann sagen: Solaner! Wir haben nun lange genug unser Leben für Atlan und seine kosmischen Ideen und Nöte riskiert. Wir haben viele Tote zu beklagen und schwere Verluste erleiden müssen. Denkt nur an die Buhrlos, die durch den hinterhältigen Schachzug von Hidden-X praktisch dazu verdammt sind, langsam auszusterben, denn diese böse Macht hat die Wahrscheinlichkeit einer Buhrlo-Geburt auf ein Minimum reduziert, und wir haben kein Mittel, dies in absehbarer Zeit zu ändern. In wenigen Jahrzehnten werden von den über 4000 Gläsernen vielleicht noch ein paar Hundert übrig sein. Oder denkt an die, die im Kampf gegen die Riesenroboter gefallen sind. Keine Macht des Universums kann sie wieder zum Leben erwecken. Ich habe daher beschlossen, die SOL aus dieser feindlichen Umgebung abzuziehen und für uns einen ruhigeren Platz im weiten All zu suchen. Hätte ich das gekonnt? Auch dann, wenn nicht noch über 100 Solaner jenseits der undurchdringlichen Grenze zum Hypervakuum gewesen wären?
Es gab kein Lebenszeichen von den beiden Kreuzern, von Atlan oder irgendeinem seiner Begleiter. Vielleicht hätte ich meinen Stabsspezialisten und den Solanern einreden können, daß diese Menschen sowieso verloren seien, denn Hidden-X hatte uns oft genug bewiesen, wie mächtig es war. Wir hatten doch keine wirkliche Chance, diesen Feind zu besiegen. Ich hatte diese Chance nicht, die ganze SOL hatte sie nicht, und Atlan hatte sie ebenfalls nicht. Das war die harte Realität. Ein Roboter brachte mir unaufgefordert einen Becher mit einer dampfenden Flüssigkeit. Er stellte ihn vor mir auf den kleinen Lesetisch, in dessen unterem Fach das Logbuch der SOL lag. Als ich nach einer Weile das Gefäß immer noch nicht beachtet hatte, schob er es ein Stück näher zu mir heran. »Kaffee mit Rum«, erklärte die Maschine freundlich. »Das wird deine Lebensgeister wieder mobilisieren. Außerdem soll ich dich daran erinnern, daß die Zustandsberichte gelesen werden müssen.« »Wer hat dich mit dieser Erinnerung beauftragt?« Meine Frage klang unwirsch. »Du, High Sideryt.« Ich erhob mich schwerfällig. Mein Körper machte den Eindruck, als bestünde er aus einem einzigen Muskelkater. Dabei hatte ich keine extremen körperlichen Belastungen erlitten. »Ich also«, antwortete ich. Dann trank ich den Becher in einem Zug aus. Die heiße Flüssigkeit strömte durch meinen Körper, und ich genoß für Sekunden diese Erholung. Keine Minute später streckte ich mich auf der Liege aus, ohne den ungelesenen Zustandsberichten auch nur ein Auge gewidmet zu haben. Gegen meinen Willen fielen mir die Augen zu. Ich hörte im Einschlafen, wie der Roboter die Klause verließ und am Ausgang etwas sagte. Als ich erwachte, ging mein erster Blick zur Uhr. Ich führte ein gehetztes Leben, aber das ließ sich wohl nicht ändern. Es war kurz nach Mitternacht, und wir schrieben schon den 15. Dezember. Die
leisen Geräusche, die durch die halboffene Tür hereinklangen, waren mir vertraut. Sie strahlten etwas Beruhigendes aus, etwas Gewohntes, das mich meine wirren Träume vergessen ließ. Dort hatte ich mich als Kind gesehen. Wahrscheinlich hatte ich in den vergangenen Tagen zuviel im Logbuch der SOL gelesen, als ich versucht hatte, meine eigene Vergangenheit zu entschleiern. Erfreuliches hatte ich dort nur zu einem geringen Teil gefunden. Die Aktualität verlangte einen tatkräftigen High Sideryt. Der Schlaf hatte mir sehr geholfen. Ich fühlte mich wieder frisch und ausgeruht. Die pessimistischen Gedanken vom Vortag waren vergessen. Der Roboter mußte inzwischen wieder hier gewesen sein, denn der leere Becher war weggeräumt, und ein Stoß neuer Lesefolien lag auf meinem Arbeitsplatz. Mich wunderte das, denn normalerweise hörte ich auch im tiefsten Schlaf jeden, der meinen Wohnraum betrat. Ich tastete mir eine Tasse Kaffee aus dem ständig betriebsbereiten Automaten neben dem Ausgang, diesmal ohne Rum. Während ich das Getränk in kurzen Zügen schlürfte, blätterte ich die neuen Folien durch. Sie befaßten sich fast ausschließlich mit den Reparaturarbeiten auf der SOL. Ich erkannte mit einem Mal, mit welcher Tatkraft und mit welchem unbändigen Willen meine Solaner diese Arbeiten durchführten. Mit größerem Interesse las ich die Stimmungsberichte, die SENECA und ein paar Stabsspezialisten für mich verfaßt hatten. Die Ungeheuerlichkeit meiner gestrigen Gedanken wurde mir bewußt, und ich schämte mich. Meine Solaner dachten nicht im Traum daran, von Hidden-X abzulassen oder die Verschollenen zu vergessen. Sie bereiteten sich auch innerlich auf den weiteren Kampf vor. Es mußte wohl daran liegen, daß das Generationenschiff zu lange ohne wirkliche Aufgabe gewesen war. Die Menschen brauchten ein Ziel, eine Beschäftigung, die mehr von ihnen verlangte, als es der
tägliche Trott in der Einsamkeit des Weltalls geben konnte. Dabei spielte die Gefahr, die von dieser Aufgabe ausging, ganz offensichtlich eine untergeordnete Rolle. Ich lächelte, denn ein Gedanke zuckte durch mein Gehirn. Sollte es Atlan tatsächlich gelungen sein, einen Funken von dem heiligen Feuer, das er in seinen Adern verspürte, auf meine Solaner überspringen zu lassen? Ein anderer Bericht aus dem wissenschaftlichen Beraterstab befaßte sich mit der jüngsten Entwicklung seit der Schlacht gegen das schlafende Heer. Von der Mentalstrahlung, mit der Hidden-X uns zur Verzweiflung getrieben hatte, bis Akitar mit seinen Uralten erschienen war, war seitdem nichts mehr zu spüren. Sicher war dies ein Verdienst der Chailiden, ohne deren Hilfe Atlan auch nie in das Hypervakuum hätte vorstoßen können. Dennoch merkte ich mir, daß ich in nächster Zeit mit Akitar über dieses Problem sprechen mußte. Er konnte sicher besser beurteilen, was das mentale Schweigen von Hidden-X zu bedeuten hatte. Auch Ursula Grown hatte eine Nachricht von der CHART DECCON, die in optischer Sichtweite zur SOL stand, geschickt. Die Arbeiten an dem HV schritten voran, aber ein zeitliches Ende war noch nicht abzusehen. Die Kommandantin hatte Probleme mit den Rohstoffen und der Ersatzteilfertigung. Unsere Lage war bezüglich dieser Punkte besonders ungünstig, denn wir waren wegen der umgebenden Öde des Weltraums gezwungen, immer wieder Schiffe zu sehr weit entfernten Sternen und Planeten auszuschicken, um das erforderliche Rohmaterial herbeizuholen. Seit die Dunkelplaneten der Zone-X restlos verschwunden waren, gab es keine Möglichkeit mehr, Materie für die Konverter aus der unmittelbaren Nähe zu beziehen, und die Reserven der SOL waren bei dem Bau der CHART DECCON fast zur Gänze aufgebraucht worden. Es würde kein neues Rohstoffproblem geben, das war klar, und dafür hatten wir vorgesorgt. Der extreme Materialverschleiß der letzten Kämpfe hatte uns aber in eine ungünstige Lage gebracht,
in der es selbstverständlich war, jedes Wrack zu bergen und seine Materie erneut zu verarbeiten. Ursula Grown würde es schaffen, denn sie war ein tapferes Mädchen, das nie aufgab. Das hatte sie bewiesen, denn ohne ihren Wagemut hätte ich die Schlacht gegen die Roboter verloren. Außerdem standen ihr für die Arbeiten die fähigsten Techniker und natürlich SENECA zur Verfügung. Ich versuchte, mir selbst die ganze Lage mit einfachen Worten zu beschreiben. Es hatte wenig Sinn, sich noch länger mit den Verlusten der jüngsten Vergangenheit zu befassen. Das würde meine trübselige Stimmung von gestern nur neuerlich anheizen. Allein das, was vor mir lag, durfte mein Handeln bestimmen, auch wenn ich nicht wissen konnte, was das war. Ausschlaggebende Punkte waren das Fehlen eines jeden Lebenszeichens von Atlan und den beiden Schiffen PALO BOW und HORNISSE das passive Verhalten von Hidden-X und der noch nicht wieder betriebsbereite Hypervakuum-Verzerrer. Sie bestimmten die aktuelle Situation. Dahinter stand das große Fragezeichen, wie wir jemals unseren Erzfeind Hidden-X würden besiegen können. Ein Lichtsignal über meinem Arbeitstisch zeigte mir an, daß mich jemand in der Hauptzentrale zu sprechen wünschte. Ich schloß meine einfache Kombination mit dem Schriftzug HIGH SIDERYT. Auf andere Embleme hatte ich von Anfang an verzichtet. Dann warf ich einen kurzen Blick in den Spiegel und grinste mein zernarbtes Gesicht mit einer sarkastischen Grimasse an. »Der Tanz geht weiter, Breck«, murmelte ich, als ich mich auf den Weg in die Hauptzentrale machte.
* Hier lag ein fremder Geruch in der Luft. Die Klimaanlage des Mittelteils der SOL hatte bei dem Angriff des schlafenden Heeres
einen Schaden erlitten, der noch nicht vollständig behoben war. Es bestand kein Grund zur Beunruhigung, aber ich hatte es mir angewöhnt, jede Veränderung der gewohnten Umgebung sofort zu registrieren. Meine Aufgabe als High Sideryt, in die ich so plötzlich und unerwartet nach dem Tod von Chart Deccon hineingestellt worden war, machte das automatisch erforderlich. Dieses Registrieren aller Umstände war ein Teil der Verantwortung, die ich trug. Außerdem erwarteten die Solaner ein aufmerksames Verhalten von mir und daß ich für jeden von ihnen und für jedes Problemchen ein offenes Ohr hatte. Das galt sogar für die Stabsspezialisten, die früher einmal als Magniden in der Hierarchie der SOLAG weit über mir gestanden hatten. Ihre Erwartung gab mir aber auch die Sicherheit, die ich so dringend brauchte. Zugleich bewiesen mir diese Frauen und Männer jeden Tag erneut, daß sie uneingeschränkt hinter mir standen, wenn die Lage kritisch wurde. Gallatan Herts war da. Er blickte mich erwartungsvoll und schweigend an. Wahrscheinlich wollte er mir das erste Wort überlassen, denn es befanden sich mehrere junge Solanerinnen und Solaner in der Zentrale, die hier in den ruhigen Stunden ausgebildet wurden. Ich war ihm dankbar für diese Geste der Höflichkeit und der Toleranz. Früher, so erinnerte ich mich, hatte man Gallatan »Rumpelstilzchen« genannt. Und als ich ihn zum erstenmal gesehen hatte, war mir damals unbewußt das Wort »Giftzwerg« ins Gedächtnis gedrungen. Natürlich duzten ihn einige seiner Vertrauten auch heute noch mit diesem Begriff, deren Sinn nun aber ganz anders ausgelegt wurde. Seit die Brick-Zwillinge, der Große und der Kleine, den menschlichen Ton in der Hauptzentrale bestimmten, hatte sich hier manches geändert. Vorlan und Uster, nach denen ich mich vergeblich umsah, weil sie mit Atlan, Bjo Breiskoll und den anderen zu den Verschollenen im Hypervakuum zählten, hatten hier
positiver gewirkt, als ich es mit den besten Maßregeln je gekonnt hätte. Gallatan Herts war seit seiner Einsetzung als Stabsspezialist und Leiter der Hauptzentrale von Tag zu Tag ruhiger und sachlicher geworden. Mir war damals ziemlich klar gewesen, daß ich mit seiner Berufung ein gewisses Risiko eingegangen war. Sein Ruf in der Vergangenheit war nicht gerade überwältigend gewesen. Seine damalige Reizbarkeit und Streitsüchtigkeit waren aber wohl nur Ausdruck jener chaotischen Verhältnisse gewesen, die die Diktatur der SOLAG heraufbeschworen hatte. Ich hatte auf ihn gesetzt, und ich war bis zum heutigen Tag nicht enttäuscht worden. Man mußte den Menschen nur die richtige Verantwortung übergeben, und schon wuchsen sie über sich selbst hinaus. Und danach durfte man sie nicht mehr an die Fehler ihrer Vergangenheit erinnern, denn das Aufreißen dieser verheilten Wunden hätte alles wieder zerstört. Eigentlich war es mir nicht anders ergangen als Gallatan, Lyta oder Curie und Solania. »Wo brennt's?« fragte ich etwas locker. Viele Worte lagen mir ohnehin nicht. Gallatan fuhr sich mit einer Hand über das bleiche, hagere Gesicht. Seine schmalen Lippen waren noch geschlossen, und doch wußte ich schon, daß er sich seine Worte längst zurechtgelegt hatte. »Akitar«, meinte er schließlich und zuckte dabei leicht mit seinen verwachsenen Schultern. Dabei deutete er auf das geschlossene Schott zu einem Nebenraum. »Ich weiß nicht, was er möchte.« Ich nickte. Meine Augen flogen über die Anzeigen auf den Kontrollmonitoren. Die Nachwuchspiloten steuerten gerade die SOL in einer Simulation an den äußeren Schichten einer unruhigen Sonne entlang. SENECA, der die erfahrenen Lehrer mit dem entsprechenden Bildmaterial unterstützte, so daß ein täuschend echter Eindruck auf den Bildschirmen entstand, registrierte auch die Bewertung der Leistungen der Schüler auf einem weiteren Bildschirm.
Mit etwas Wehmut dachte ich an die Berichte über die Zeiten, als die SOL noch von Emotionauten geflogen worden war. Als junger Mann war es einmal mein Traum gewesen, Emotionaut zu werden. Aber das Wissen und das Können um diese Halbmutanten waren verlorengegangen. Ein leichtes Zucken strich über meine Lippen. Immerhin war ein ganz ordentlicher Pilot aus mir geworden. Und die umfangreiche Ausbildung, die ich hatte genießen dürfen, hatte mir auch geholfen, die Aufgabe als High Sideryt mit hinreichender Beurteilungsfähigkeit auszufüllen. Ich war mir darüber im klaren, daß es mein Vater Chart Deccon gewesen sein mußte, der letztlich heimlich für meine Ausbildung gesorgt hatte. Auf SENECAS Kontrollmonitor las ich die vier Namen derer, die im Augenblick als Piloten geschult wurden. Ich erinnerte mich noch daran, daß am Anfang meiner Zeit als High Sideryt die Schüler nicht namentlich, sondern mit einer sogenannten SchülerAusbildungscode-Nummer, achtzehnstelligen und unpersönlichen Ziffernfolgen, registriert und geführt worden waren. Diesen Unsinn hatte Gallatan eines Tages ohne mein Zureden abgestellt, was für mich ein deutlicher Beweis dafür gewesen war, daß er meinen Denkvorstellungen folgte. Hinter den Namen standen die momentanen Fehlerpunkte. Es waren Werte zwischen 200 und 300, also durchschnittliche Ergebnisse für angehende Piloten, die sich mit dem Simulationsprogramm der SOL herumschlagen durften. Nur hinter einem Namen stand die Zahl zwei. Da in jeder Zeile auch die Anzahl der bereits durchgeführten simulierten Flugstunden angegeben war und diese für alle gleichmäßig bei 35 bis 40 lag, wurde meine Aufmerksamkeit von dem Schüler mit nur zwei Fehlerpunkten geweckt. Akitar mußte sich noch einen Moment gedulden. So dringend würde sein Anliegen nicht sein. Ich las den Namen »Cara Doz« und prägte ihn mir ein. Gallatan musterte mich aufmerksam aus seinen tiefliegenden
wasserblauen Augen, als wollte er meine Gedanken lesen. Wahrscheinlich fiel es ihm auch ohne telepathische Fähigkeiten nicht schwer zu erkennen, in welchen Bahnen sich meine Überlegungen bewegten. Die Schülergruppe bestand aus zwei jungen Frauen und zwei jungen Männern. Aus dem Vornamen Cara konnte ich nicht entnehmen, welches Geschlecht sein Träger hatte, denn bei der Freiheit der Namenswahl, die seit Generationen auf der SOL üblich war, konnte es sich um einen weiblichen oder einen männlichen Namen handeln. Erst als die beiden Lehrer das Simulationsprogramm unterbrachen – einer der Jungs hatte die SOL in die Sonne gesteuert! Der arme Kerl saß jetzt wie ein Häufchen Unglück in dem Pilotensessel und blickte sich hilfesuchend um –, wandte ich mich den Schülern zu. Ich legte dem Unglücksraben eine Hand auf die Schulter und versuchte es mit einem harmlosen Lächeln. SENECA kümmerte dies jedoch wenig, denn er plärrte ziemlich roh dazwischen: »15. Dezember des Jahres 3804, Uhrzeit: Null-ein Uhr und 37,4 Minuten. Der Pilotenschüler Jenk Marlow hat soeben die SOL in den Untergang geführt.« »Halt den Mund, SENECA!« fauchte ich, denn diese Art von Kommentar behagte mir wenig. »Das kann man auch etwas freundlicher sagen.« Die Zeitangabe SENECAS entsprach der Wirklichkeit. Der restliche Teil seiner Mitteilung war nur ein Teil des Lernprogramms. »Wie heißt du?« fragte ich den noch immer verstörten Solaner. Der versuchte aufzustehen. Sein Adamsapfel hüpfte wie ein Pingpongball hin und her, aber er brachte kein Wort hervor. Noch immer ruhte meine Hand auf seiner Schulter. Der eine der beiden Lehrer blickte mich an, als würde er an meinem Verstand zweifeln. Schließlich hatte SENECA den Namen des armen Burschen gerade genannt. Ich dachte mir aber, daß ich mehr als seinen Namen im Augenblick wohl kaum aus ihm
herausbekommen würde. Sekunden später mußte ich feststellen, daß ich mich getäuscht hatte. Jenk Marlow brachte gar kein Wort über seine zitternden Lippen. »Ich weiß nicht«, erklärte ich den Lehrpiloten, wobei SENECA natürlich auch zuhörte, »ob das die richtige Methode ist, Schüler auszubilden. Ich spreche von der rauhen Tonart SENECAS.« »Sie hat sich bewährt«, antwortete einer der Lehrer nicht gerade sehr sicher. Überzeugen konnte er mich mit seinem Argument nicht, aber ich hielt eine Diskussion über Ausbildungsmethoden vor den Schülern nicht für angebracht. Also wechselte ich das Thema. Mein Denkanstoß sollte den Betroffenen und SENECA genügen. »Wer ist Cara Doz?« wollte ich nun wissen. »Ich«, sagte das kleinere der beiden Mädchen scheu. Ihre Stimme war so leise, daß ich sie kaum verstanden hatte. Ich warf einen kurzen Blick auf sie. Cara wirkte fast unterernährt im Vergleich zu den Jugendlichen ihres Alters. Sie mußte zwischen 18 und 22 sein, denn die Ausbildungsteams wurden jeweils in Altersgruppen zusammengefaßt. »Eine sehr ordentliche Leistung«, lobte ich sie und deutete auf SENECAS Kontrollschirm. Sie senkte nur verschüchtert den Kopf. »Du solltest dir ihren Namen merken, High Sideryt«, mischte sich der Lehrer in das Gespräch, der mich bislang nur schweigend angeblickt hatte. »Wenn Vorlan und Uster nicht mehr zurück …« »Keinen falschen Pessimismus!« unterbrach ich den Mann scharf. Dann bedankte ich mich bei den Anwesenden und wandte mich ab. Immerhin hatten die Worte des Lehrers mich schnell wieder in die rauhe Wirklichkeit zurückgeholt. Der Chailide wartete auf mich, und das, was er wollte, hatte bestimmt etwas mit den aktuellen Problemen zu tun. Akitar stand aufrecht in dem kleinen Besprechungszimmer. Er begrüßte mich freundlich und bedankte sich für mein rasches
Erscheinen. »Was kann ich für dich tun?« fragte ich. Hinter mir glitt das Schott in die Verriegelung. Der Chailide war kein Mann von langen Worten. Er legte seine Karten ziemlich offen auf den Tisch. So empfand ich es zumindest, und das gefiel mir. »Ich habe mit ein paar Uralten die Lage sondiert. Die Dunkelplaneten sind ausnahmslos entfernt worden, so daß sich fast ein Gedränge auf der SOL und der CHART DECCON ergibt. Wir können uns allerdings über nichts beklagen.« Er machte eine kurze Pause und fuhr dann fort. »Seit dem Angriff des Roboterheers ist von der Mentalstrahlung des geistigen Faktors nichts mehr zu spüren.« Wieder legte er eine Pause ein, um mich die richtigen Schlußfolgerungen ziehen zu lassen. Seinen Gesichtsausdruck konnte ich nur schwer deuten, aber ich ahnte, worauf er hinauswollte. Typisch für ihn war, daß er Hidden-X noch immer geistiger Faktor nannte. Das war jene Bezeichnung, die seinerzeit die Roxharen auf Chail benutzt hatten. »Du meinst, ihr habt Hidden-X zurückgedrängt?« fragte ich interessiert. »Es ist sicher nicht allein unser Verdienst«, wehrte der Uralte bescheiden ab. »Möglicherweise hat Atlans Wirken jenseits der unüberwindlichen Schwelle den Ausschlag gegeben. Vielleicht hat der geistige Faktor sich auch verausgabt. Meine Uralten und ich haben ihm mit aller Kraft zugesetzt. Vielleicht schmerzt ihn auch der Verlust seiner Roboter. Vielleicht waren diese seine letzte Aktivwaffe an diesem Ort.« »Sehr viele Vielleichts«, meinte ich und blickte ihm dabei frei in die ruhigen Augen. Er sollte ruhig merken, daß ich weitere Auskünfte von ihm erhoffte. Akitar nickte. »Wahrscheinlich ist jedoch, daß alle genannten Punkte gemeinsam auf unseren Feind gewirkt haben. Er befindet
sich in keiner günstigen Position mehr. Er braucht eine längere Ruhepause.« »Könnt ihr seine Gedanken wahrnehmen?« Der Chailide schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich empfing manchmal ein paar wirre Fetzen, aus denen ich aber nicht mehr als die Fremdartigkeit des geistigen Faktors entnehmen konnte. Wir wissen schon seit langer Zeit, daß er sich nicht in seine wirklichen Gedanken schauen läßt.« »Du willst uns verlassen«, stellte ich fest. Sein Lächeln war ehrlich. »Meine Uralten haben noch andere Aufgaben zu erfüllen. Diese ruhen zur Zeit. Es wäre in unserem Sinn, wenn sie an ihre früheren Orte zurückkehren könnten. Ich selbst würde noch einige Tage an Bord der SOL bleiben. Unsere Überlegungen besagen, daß der geistige Faktor sich entweder innerhalb dieser kurzen Frist rühren wird oder aber, daß er Wochen oder Monate benötigt, um seine Kräfte zu regenerieren.« Ich glaubte ihm jedes Wort. Akitar hatte keinen Grund, mich in irgendeiner Weise zu belügen. »Während der kurzen Frist«, fuhr er fort, »kann ich jederzeit meine Freunde rufen, wenn erneut Hilfe notwendig sein sollte. Und auch danach werden wir aus der Ferne die SOL überwachen und eingreifen, wenn der Mentaldruck dieses Bösen erneut erstarken sollte. Für wahrscheinlich halten wir dies jedoch nicht, denn wenn«, er zögerte eine Sekunde, »Hidden-X einmal eingesehen hat, daß seine Mittel versagen, wird er diese nicht mehr anwenden.« So war das also. Nach Akitars Worten mußte ich glauben, daß die Gefahr des Mentaldrucks für alle Zeiten beseitigt war. Sein Bemühen, die Worte in meinem Sinn und in meiner Ausdrucksweise zu formulieren, hatte etwas Rührendes an sich. Ich reichte ihm wortlos die Hand, und er wußte, daß er mein uneingeschränktes Einverständnis besaß. Wieder einmal sah ich mich in einer Lage, in der ich gar nicht anders handeln konnte. Selbst wenn ich es gewollt hätte, wäre es
unmöglich gewesen, dieser weisen und hilfsbereiten Kreatur den Wunsch zu verweigern. Auch sagte ich mir, daß Akitar selbst das sehr wohl längst auch erkannt hatte. Gut eine Stunde später kehrte ich von einem Rundgang durch das Zentrum des Mittelteils der SOL in die Hauptzentrale zurück. Für diese Spaziergänge (wie ich sie nannte) benutzte ich üblicherweise einen Kurs, der mich einmal um SENECA herumführte. Unterwegs hatte ich die Meldung von Gallatan erhalten, daß alle Uralten von der SOL und der CHART DECCON verschwunden waren, Akitar ausgenommen. Diese großartigen Wesen mit einer unglaublichen geistigen Kraft und der Fähigkeit der Teleportation, der scheinbar keine Grenze gesetzt war, waren gegangen. Ich wünschte mir, daß jeder einzelne von ihnen etwas von dem Dank empfunden hatte, den ich im Namen aller Solaner und sicher auch Atlans in mir fühlte. Es war schon lange nach Mitternacht, aber die Zeit besagte nichts. Die Ereignisse der letzten Wochen hatten mein ohnehin künstlich aufrechterhaltenes Tag-Nacht-Gefühl völlig durcheinander gebracht. Ich fühlte mich wie am späten Vormittag, und doch wußte ich, daß schon bald der Bordmorgen mit seiner Betriebsamkeit hereinbrechen würde. Als ich auf mein Armbandchronometer blicken wollte, stellte ich fest, daß ich es wohl während der letzten Ruhepause abgelegt hatte. Vorhin beim Erwachen hatte ich es dann in der Klause vergessen. Mit großen Schritten eilte ich an den Wachrobotern vorbei in die Hauptzentrale. Mein erster Blick richtete sich auf eine der Datumsund Zeitanzeigen, die über den Konsolen angebracht waren. »Heh!« entfuhr es mir. Gallatan Herts schreckte aus einem Nickerchen empor. Er schaute sich kurz um und stand dann langsam aus dem Sessel auf. »Nichts Neues«, murmelte er schlaftrunken. »Wie spät ist es?« fragte ich, und dabei erinnerte ich mich noch
genau an die Zeit, die SENECA bei der Ausbildung der Schulerpiloten genannt hatte, ein Uhr und 37,4 Minuten. Nach meinem Gefühl waren inzwischen annähernd zwei Stunden vergangen. »Es ist …«, begann Gallatan schwerfällig zu erklären. Dabei stützte er sich auf die Lehne seines Kommandantensessels. Seine Augen ruhten der Reihe nach auf mehreren Zeitanzeigen, aber er beendete den begonnen Satz nicht. »Dann habe ich ja nur wenige Minuten geschlafen«, stieß er schließlich sichtlich verwirrt hervor. »Ich muß geträumt haben, denn es ist erst ein Uhr 48. Als ich einschlief, war es …« »Das kann nicht stimmen«, unterbrach ihn Curie van Herling, die auf der anderen Seite des Raumes stand und Tests mit den Hyperfunkanlagen durchführte. »Es muß viel später sein, obwohl meine Uhr auch diese Zeit anzeigt, ein Uhr 48.« Ich hatte plötzlich ein Gefühl, als ob eine eisige Faust nach meinem Herzen greifen wollte. Es war mehr als eine dumpfe Vorahnung. Mein Instinkt sagte mir, daß hier mehr nicht stimmte als ein paar stehengebliebene Uhren. Wortlos eilte ich in meine Klause. Auch hier zeigten alle Chronometer einschließlich meinem Armbandgerät die gleiche Zeit, ein Uhr 48, eine Zeit, die nie und nimmer richtig sein konnte. Bei genauerem Hinsehen stellte ich fest, daß die Sekundenanzeigen sich nicht mehr bewegten. »Das gibt es doch gar nicht!« Mit wenigen Schritten war ich wieder in der Hauptzentrale. Hier herrschte mittlerweile eine große Unruhe, aber man war sich darüber einig, daß alle Uhren die falsche Zeit anzeigten. Noch während ich den Diskutierenden lauschte und dabei versuchte, mir einen Reim auf diese Unmöglichkeit zu machen (denn schließlich konnten nicht alle Chronometer zufällig zur gleichen Zeit ihre Arbeit einstellen und schon gar nicht die, die SENECA mit Zeitimpulsen versorgte!), ging ein Anruf von der
CHART DECCON ein. Ursula Grown meldete sich persönlich. Sie war deutlich verwirrt, und noch bevor sie etwas sagte, wußte ich, was sie uns mitteilen wollte. Auf der Plattform des Hypervakuum-Verzerrers war das gleiche Phänomen beobachtet worden. »SENECA!« sagte ich laut und warte, bis sich die Biopositronik meldete. »Ja?« »Ich habe das dumpfe Gefühl«, erklärte ich mit eisiger Ruhe, obwohl sich meine Gedanken überschlugen, »daß hier sämtliche Uhren stehengeblieben sind.« »Das wüßte ich aber!« Ich hätte mir eigentlich denken können, daß SENECA darauf nur mit diesem dämlichen Satz antworten würde, der einmal bei seiner Erbauung von einem leicht überzogenen Programmierer in ihn eingegeben worden war, um ihm quasimenschliche Züge zu verleihen. »Daran kannst du erkennen, wie verkalkt du bist«, fauchte ich die Positronik an. »Ist das alles, was du mir mitteilen wolltest?« säuselte SENECA. »Nein. Beantworte eine Frage! Wie spät ist es jetzt?« »Gern, High Sideryt.« Noch klang seine wohlmodulierte Stimme über alle Maßen höflich. »Es ist jetzt genau …« Mit einem ungewöhnlichen Knacken brach die Biopositronik ab. »Heh, SENECA!« rief ich ärgerlich. »Was hat das zu bedeuten?« Statt einer Antwort ließ er einen deutlichen Seufzer vernehmen. Ja, er seufzte! Es gab keinen Zweifel. Schließlich meldete sich die Stimme mit einem veränderten Klang wieder. »Ich habe interne Schwierigkeiten«, gestand die Biopositronik unverblümt. »Ihr braucht euch nicht sonderlich zu beunruhigen. Es handelt sich nicht um die Störungen der vergangenen Jahre, aber es ist etwas eingetreten, was den Logikteil aus positronischen Elementen und den Plasmateil mit der Gefühlskomponente in
heftigen Widerstreit versetzt hat. Hier spricht nur ein Untersystem, das aus Sicherheitsgründen aktiviert wurde, um in solchen Augenblicken einen Totalausfall zu verhindern.« »Worin besteht denn dieser Widerstreit?« »Der positronische Sektor behauptet«, antwortete das Untersystem SENECAS, »es sei ein Uhr 48. Das Plasma jedoch meint, es sei schon drei Uhr morgens. Übrigens wurde der Konflikt durch die Frage des High Sideryt ausgelöst.« Jetzt sollte ich auch noch an diesem Dilemma schuld sein! Das war die Höhe! Gallatan Herts leitete eine Überprüfung aller Zeitsysteme an Bord ein. Ursula Grown machte das gleiche auf der CHART DECCON. Wenig später (ich konnte nicht sagen, wieviel Zeit verstrichen war, weil ich keine funktionierende Uhr mehr besaß) stand das Ergebnis fest. An Bord der SOL und des HV gab es keine einzige Uhr mehr, die noch lief. Dabei war es gleichgültig, nach welchem technischen Prinzip diese arbeiteten. Ich ließ Akitar rufen und fragte ihn, was das zu bedeuten hätte, aber der Uralte stand auch vor einem Rätsel und konnte mir auch mit seinen besonderen Fähigkeiten kein Stück weiterhelfen. Erneut startete ich ein Gespräch mit SENECA. Es gelang mir, das Untersystem davon zu überzeugen, daß ich der Reihe nach mit dem Plasma und mit der Positronik einzeln zu sprechen wünschte. Beiden gegenüber behauptete ich, daß wir einem Einfluß erlegen waren, der erst noch gedeutet werden müsse und ersuchte SENECA insgesamt, sich dieses Problems trotz seiner inneren Widersprüche anzunehmen. Nach langen Mühen fand SENECA wieder zu sich. Ich hatte ihn überzeugt, und er nahm seine normale Tätigkeit wieder auf. »Erste Analyse«, teilte er uns dann mit. »Mit Sicherheit liegt eine neue und heimtückische Attacke von Hidden-X vor. Was es damit erreichen will, ist jedoch völlig unklar. Daraus folgere ich, daß das Verharren der technischen Zeitsysteme nur eine Randerscheinung
eines ganz anderen Phänomens ist, das wir erst noch kennenlernen werden. Ich empfehle gründliche Recherchen auf allen wissenschaftlichen Gebieten, um diese wirkliche Gefahr frühzeitig zu analysieren. Eine Erklärung, die über diese Aussagen hinausgeht, ist derzeit nicht möglich.« Ich sah nur ratlose Gesichter in der Runde. Eine neue Attacke von Hidden-X! Dieser Gedanke allein weckte meine Geister. SENECA meldete sich noch einmal. »Ich habe einen meiner Roboter in etwas umgebaut, was die Terraner früher einmal Sanduhr nannten. Dabei handelt es sich um einen Zeitmesser, der ohne technisches Prinzip arbeitet. So kann ich wenigstens grob sagen, wieviel Zeit verstreicht. Dabei gehe ich davon aus, daß es jetzt drei Uhr 29 ist. Zumindest ist das der Schätzwert des Piamas. Leider besitze ich kein Normal, nach dem ich dieses Provisorium richtig eichen könnte. Gibt es vielleicht so etwas an Bord?« »Da kann ich dir helfen.« Gallatan Herts öffnete eine kleine Lade in einem seiner Privatfächer. Das Ding, das er aus seinem persönlichen Besitz herauskramte, bestand aus zwei kleinen Glaskugeln, die mit einem dünnen Röhrchen miteinander verbunden waren. In der einen Schale erkannte ich eine Handvoll feiner Körnchen. Das mußte eine von den erwähnten Sanduhren sein, folgerte ich, obwohl ich noch nie in meinem Leben so ein Ding gesehen hatte. Das Prinzip war mir jedoch klar. »Paß auf, SENECA«, verlangte der ehemalige Magnide, während er das kleine Ding auf sein Kommandantenpult stellte, den gefüllten Kolben nach oben. »Wenn der ganze Sand in der unteren Hälfte ist, ist genau eine Stunde vergangen.« »Genau?« fragte SENECA mißtrauisch. »Ziemlich genau«, lenkte Gallatan ein. »Fürs erste muß das reichen. Vielleicht finden wir noch etwas Besseres.« Dann verzog er sein Gesicht und drehte sich zu mir herum.
»Dieses Ding, Breck«, pfiff er durch die Zähne und deutete voller Stolz auf die Sanduhr, »bestimmt nun die Bordzeit der SOL. Zumindest so lange, bis SENECA eine andere Lösung gefunden hat.« »Oder bis er oder wir herausgefunden haben«, antwortete ich in dem dumpfen Vorgefühl einer kommenden Gefahr, »was sich hinter allem wirklich verbirgt.« »Meine Anhaltspunkte sind dürftig«, erklärte die Biopositronik, »aber ich gehe davon aus, daß Hidden-X das Interesse an uns verloren hat. Deshalb hat es uns verbannt. Wie diese Verbannung aussieht, muß geklärt werden. Der Ausfall der Zeitsysteme durch einen übergeordneten Einfluß ist nur eine Randerscheinung des Zeittals, in das wir gestoßen wurden.« Zeittal! Nach Hidden-X, Flekto-Yn und Hypervakuum begleitete uns nun ein weiterer rätselhafter Begriff.
2. Bjo Breiskoll Ich besaß ein gutes Gespür für meine kosmische Umgebung. Das hatte nur wenig mit meinen telepathischen Fähigkeiten zu tun. Sicher, beide Psi-Sinne waren in den Augen der Nichtmutanten miteinander verwandt. Für mich war das jedoch ganz anders. Zwischen den Gedanken und der Ausstrahlung eines Menschen und dem Wispern der Gefilde des Universums bestand ein Unterschied wie zwischen dem Geschnatter von Gänsen und dem Wohlklang einer fein abgestimmten Musik, die aus großer Entfernung an mein Ohr drang. Diese Musik des Kosmos berieselte mich ununterbrochen. Ich konnte die Empfindungen unterdrücken, wenn ich wollte. Beispielsweise wenn ich hart arbeitete oder schlief. Dann geschah das automatisch. Ich kannte das Flüstern der Dimensionen, es war
ein normaler Bestandteil meines Lebens. Nun war das Flüstern verschwunden. Nicht einmal das fremdartige Rauschen des Hypervakuums drang noch an mein inneres Ohr. Hatte das schon fremd und feindlich geklungen, so war es dennoch Musik im Vergleich zu dem jetzigen Zustand, denn da war – nichts. Das absolute Nichts war schlimmer als die furchtbarsten Mißtöne. Ich fühlte eine Leere, für die sich in meinen Gedanken keine passenden Worte bilden ließen. Nur langsam fand ich in die Wirklichkeit zurück. Meine Seele lehnte sich gegen die grausamen Wahrheiten auf, die mir widerfahren waren. Nicht nur mir, korrigierte ich diese Überlegung. Meine Begleiter waren fast genau so betroffen, auch wenn ihnen das Raunen der kosmischen Weiten verborgen blieb. Federspiel, Cpt'Carch, Insider und Joscan Hellmut standen um mich herum und warteten auf meine Reaktion. Dahinter lauerte der ehemalige Ahlnate Bolo Terebble, der Kommandant des Kreuzers SZ-2-2 mit dem Eigennamen HORNISSE. Man hätte dieses Schiff besser WESPE genannt, denn was wir gemacht hatten, war wahrlich ein Stich in ein Wespennest gewesen. Die Leere wirkte kalt auf mich. Verstärkt wurden diese Gefühle durch das Bewußtsein, daß ich vor wenigen Minuten einen Menschen getötet hatte. Die Geister des Kosmos werden mir diese Tat verzeihen, denn Seilossa Zerm war in der Sekunde ihres Todes kein Mensch mehr gewesen. Ich hatte eine umgeänderte Materiestruktur, die äußerlich Seilossa Zerm war und es in Wirklichkeit auch einmal gewesen war, in einen Transmitter gestoßen und ohne Zielkoordinaten und Gegenstelle abgestrahlt. Sekundenbruchteile hatten mir zur Verfügung gestanden, um zu erkennen, daß diese Solanerin das Werkzeug von Hidden-X geworden war, daß sie Tod und Verderben über die HORNISSE bringen wollte. Ihre Tarnung war so vorzüglich gewesen, daß nicht einmal
Sternfeuer auf Atlans Kreuzer PALO BOW etwas davon gemerkt hatte. Nur in Verbindung mit meinem kosmischen Gespür hatte ich das hinterhältige Manöver einigermaßen durchschauen können. Hatte uns die Erkenntnis und mein schnelles Handeln wirklich geholfen? Ich besaß Zweifel, denn als ich keine Minute später Atlan warnen wollte, war jener unfaßbare Vorgang geschehen, der mir die absolute Leere bescherte. Für die anderen hatte es nur so ausgesehen, als sei die PALO BOW von den Ortungsschirmen verschwunden und die Hyperfunkstrecke unterbrochen. Nur ich wußte sofort, daß viel mehr hinter allem steckte. Wie sollte ich es den anderen sagen, die die jüngsten Ereignisse noch nicht zur Gänze verkraftet hatten? Ich war ihnen mehr als diese Erklärung schuldig. Ich mußte ihnen einen Grund nennen, warum ich Seilossa in den Tod geschickt hatte. »Die PALO BOW ist verschwunden«, stellte Joscan überflüssigerweise fest, denn das hatte jeder längst gemerkt. »Und wir haben keinen Funkkontakt«, ergänzte Terebble. Er war mir von Anfang an nicht ganz geheuer gewesen, aber ich vermochte nicht zu sagen, was mich an ihm störte. »Nicht zur BOW, nicht zur SOL. Und das Flekto-Yn gibt auch kein Echo mehr auf den Anzeigen.« Das war es! Wir befanden uns an einem Ort, in dessen Nähe das Flekto-Yn, die Heimstatt des Hidden-X, stehen sollte. Vor wenigen Minuten war der Ortungsreflex noch deutlich erkennbar gewesen. Jetzt war da nichts. Joscan, der ein exzellenter Denker war, nahm mir die Arbeit ab, die Umstände den anderen zu erklären. »Wenn ich ein Bit und ein Bit zusammenzähle«, meinte er in Abwandlung einer alten Redensart, »dann hat man nicht die PALO BOW entfernt sondern uns.« Ich nickte nur stumm, denn noch immer tobten meine Gefühle. »Man?« knurrte Terebble. »Du meinst wohl deinen Freund HiddenX.«
Die Stimmung war angespannt. Ich mußte etwas sagen, bevor sie alle durchdrehten. Da mir die passenden Worte noch immer fehlten, verfluchte ich insgeheim die ganze Situation. »Wer sagt, daß Hidden-X mein Freund ist?« Joscans Augen bildeten schmale Schlitze. Ich hob eine Hand, weil ich die Anwesenden beruhigen wollte, aber keiner achtete auf mich. Statt dessen giftete Bolo Terebble weiter. »Ich sagte es! Wer ist denn auf die idiotische Idee gekommen, in dieses Hyperdings zu fliegen, in dem die Physik auf dem Kopf steht, nur um seinen Freund Hidden-X zu besuchen? Ich doch nicht! Ihr wart es. Ihr alle und dieser Kosmokratenphantast Atlan.« »Halt den Mund«, knirschte Insider, der nun zum Atlan-Team zählte. Er stand neben Cpt'Carch, und ich wußte, daß sich die beiden Extras gut verstanden. »Sonst gibt es eine Portion Patsch-uuh hoch zwei.« »Noch bin ich der Kommandant«, ereiferte sich der ehemalige Ahlnate. »Du hast nichts zu sagen, auch wenn du atlanhörig bist. Ist das klar?« »Plastiktüte«, entgegnete der Kowallek und zuckte verächtlich mit den Schultern. »Es ist genug.« Zu meinem Erstaunen hörte ich mich selbst reden. Man muß wissen, daß ich nie ein überzeugender Führer gewesen war, und jetzt war ich es auch nicht. Natürlich durfte ich mir nicht anmerken lassen, daß mir die Lage über den Kopf zu wachsen drohte. Atlan setzte auf mich, und ihn durfte ich nicht enttäuschen. »Die Situation ist nicht dazu angetan, daß wir uns herumstreiten. Es sieht in Wirklichkeit noch schlimmer aus, als ihr vermutet.« »Was?« Bolo Terebble sperrte seinen Rachen auf. Als er in meine Augen blickte, schwieg er jedoch. »Wir sind nicht nur von allem abgeschnitten«, versuchte ich zu erklären. »Wir befinden uns in einem Raum, den es gar nicht gibt.« »Darunter kann ich mir nichts vorstellen«, gab Federspiel zu. »Ich
fühle nur, daß mich ein unüberwindliches Hindernis von Sternfeuer trennt. Es ist so ähnlich wie damals, als wir mit der SOL im Sternenuniversum waren, während Sternfeuers Bewußtsein mit Carch und Oggar durch die heimatliche Region zog.« »Deine Worte decken sich mit meinen … Beobachtungen. Der Raum, in dem wir jetzt sind, durch welche Ursache auch immer, gibt nichts her. Ich meine, ich spüre keine kosmischen Impulse.« Sie alle schauten mich betreten an. »Wenn das jemand versteht«, fügte ich etwas matt hinzu. »Eine Erklärung muß es geben.« Joscan war eben doch Pragmatiker. »Das Problem besteht nur darin, sie zu finden und zu erkennen. Wenn das erreicht ist, ist es nur noch ein kurzer Schritt zur Beseitigung der Störung.« »So einfach ist das also!« höhnte Terebble. Es wurde wirklich Zeit, daß ihm mal jemand das Maul stopfte. Am Anfang unserer Reise in das Hypervakuum war er eher schweigsam gewesen. Jetzt schien er sich beflissen zu fühlen, zu allem seinen Senf dazuzugeben. »Eine Erklärung?« sinnierte ich. »Nenne es eine leblose Labilzone zwischen Realität und Nichts. Oder zwischen Hypervakuum und Normalraum. Es ist egal, was wir annehmen. Es ändert nichts an den Tatsachen.« »Ihr seid alle übergeschnappt.« Terebble rannte durch die Zentrale der HORNISSE auf den Antigravschacht zu. Dort blieb er stehen und drehte sich um. »Macht, was ihr wollt, aber laßt mich mit eurem Gefasel vom hyperlabilen Normalraum in Ruhe.« Ich atmete deutlich auf, als er in die Tiefe glitt. Wahrscheinlich hatte er einen Schock erlitten, der sich am besten dadurch beheben ließ, daß er sich ausruhte. »Was nun?« fragte Uster Brick, der als Pilot auf den Kreuzer gekommen war. »Wir werden erst einmal ausforschen«, sagte ich bestimmt, »was dies für eine Art Raum ist. Hast du die Ausgangskoordinaten der
SOL und Atlans letzten Standort in den Speichern?« »Welch eine Frage an einen Brick!« Uster brachte es fertig, mich anzulächeln.
* Auch das Stammpersonal der HORNISSE erkannte mich während der Abwesenheit Terebbles als den eigentlichen Kommandanten des Schiffes an. Bei den Leuten des Atlan-Teams hatte ich sowieso keine Bedenken gehabt. Gleiches galt auch für Uster Brick. Morstan Eloi, der der verantwortliche Arzt des Kreuzers war, befand sich inzwischen bei Terebble. So wußte ich diesen Wirrkopf in guten Händen und konnte mich in Ruhe den eigentlichen Problemen widmen. Es galt herauszufinden, welche Überraschungen diese leere Dimension für uns parat hatte, um einen Ausweg zu finden. Meine Erklärungen über den Tod Seilossas waren von allen akzeptiert worden. Wenn Terebble noch in der Zentrale gewesen wäre, hätte es sicher wieder sinnlose Diskussionen gegeben, aber dieses Problem hatte sich durch sein freiwilliges Verschwinden ja gelöst. Ich versuchte zu rekonstruieren, was geschehen war, als ich Atlan über Funk hatte warnen wollen. Wir waren mitten in dem Kontakt unterbrochen worden, so, als ob sich ein Hindernis zwischen uns geschoben hätte. Meine Vermutungen liefen insgesamt darauf hinaus, daß dieses Hindernis nichts anderes gewesen sein konnte, als eine Trennung unserer Existenzebenen. Eine andere Frage war damit aber keineswegs beantwortet. Drei verschollene Solaner hatte Atlan aus dem Flekto-Yn geborgen. Seilossa war es gelungen, durch einen Vorwand per Transmitter auf die HORNISSE zu kommen. Ich wußte zwar nicht genau, was mit ihr los gewesen war, aber sie hatte auf mich wie eine Bombe
gewirkt, die jeden Augenblick detonieren konnte. Ihre Absicht, die HORNISSE zu zerstören, hatte ich eindeutig erkannt. Somit mußte ich annehmen, daß ihre beiden Begleiter in der gleichen Weise umfunktioniert worden waren und damit für Atlan und die PALO BOW eine ungeheure Gefahr darstellten. Was der Arkonide mit meiner Warnung noch hatte anfangen können, vermochte ich ebenfalls nicht zu beurteilen. Ich durfte bei meinen Überlegungen nicht ausschließen, daß er den Tod gefunden hatte. Diese Gedanken belasteten mich schwer. Auch Federspiel war nach dem unterbrochenen Kontakt mit Sternfeuer anzumerken, daß es ihm ähnlich erging. Uster Brick begann auf meine Anweisung hin, den Raum systematisch abzufliegen. Carch und Insider kümmerten sich um die Ortungsanlagen. Wenn sich dort ein Echo zeigen würde, würden sie mich sofort alarmieren. Aber alle Anzeigen blieben dunkel. Selbst das ständige Hintergrundrauschen des Normal- oder des Hyperraums fehlte. Flugtechnisch gab es keine Schwierigkeiten. Die HORNISSE erreichte zuerst den Punkt, an dem nach den Aufzeichnungen der Bordpositronik die SOL stehen müßte. Wir fanden hier nichts. Unsere zweite Etappe führte uns an die Stelle, an der wir zuletzt die PALO BOW geortet hatten und in deren unmittelbarer Nähe das Flekto-Yn stehen mußte. Auch hier gab es kein greifbares Resultat. Ich behielt für mich, daß ich auch gar nichts erwartet hatte, denn ich wollte die deprimierende Stimmung nicht noch weiter auf den Nullpunkt treiben. Joscan hatte schließlich eine Idee, die typisch für ihn war. »Vielleicht bewegen wir uns gar nicht«, vermutete er. »Die physikalischen Verhältnisse des Hypervakuums waren schon unverständlich. Dort sind wir Kreisbögen geflogen, wenn wir eine gerade Strecke programmiert hatten. Wer weiß, welche Bedingungen hier herrschen. Sind wir überhaupt noch in dem imaginären Hypervakuum?«
Ich konnte ihm seine Frage nicht beantworten, bestätigte ihm aber, daß an seinen Überlegungen etwas Wahres dran sein könnte. Irgendwie setzte ich auch meine letzte Hoffnung darauf. Joscan hatte auch gleich eine einfache Lösung parat, um die Antwort zu finden. Er schlug vor, eine Funkboje auszuschleusen, so daß wir einen Bezugspunkt hatten. Danach sollten die Linearetappen noch einmal durchflogen werden und dazu ein paar kurze Strecken im Normalraum. Das Wort »Normalraum« klang wie Hohn in meinen Ohren, denn was war denn hier schon normal? Der Raum am allerwenigsten. Es ging auf den Mittag des 6. Dezember zu, als wir alle Manöver abgeschlossen hatten. Das Ergebnis war eindeutig. Wir bewegten uns nach den bekannten Gesetzen des Einsteinraums. Unsere Funkboje konnten wir jederzeit nach der Rückkehr aus den Linearetappen anpeilen und so die Entfernungen bestimmen. Es gab keine unerklärbaren Effekte, etwa Abweichungen von den Zielkoordinaten. Und doch besagten alle anderen Beobachtungsergebnisse, daß diese Dimension nie und nimmer unser Einsteinraum sein konnte. Es fehlte in ihm alles. »Wir sind gefangen«, stellte ich zusammenfassend fest. »Es handelt sich wohl um das merkwürdigste Gefängnis, in dem jemals jemand gewesen ist, denn es hat keine Mauern, keine Begrenzungen, keine Hindernisse. Wir können uns frei bewegen und doch nirgendwohin gelangen.« Ich war am Ende meiner Weisheit, und das Schweigen meiner Freunde bewies, daß es diesen nicht anders erging. Nur Uster Brick konnte sich eine für ihn typische Bemerkung nicht verkneifen. Er fragte ein paar Daten über die Bordpositronik ab und sagte dann: »Ein bißchen herumsuchen können wir ja noch. Unser Treibstoff reicht noch für 244,13 Jahre, wenn wir pro Tag 7,99 Stunden unterwegs sind.«
* Die Tage vergingen mit sinnlosen Beschäftigungen. Natürlich wußte jeder an Bord, wie unsere wirkliche Lage war. Auch Bolo Terebble hatte von unseren Versuchen erfahren. Er hatte schweigend zur Kenntnis genommen, was ihm seine Leute zu berichten wußten. Der Mediziner Eloi erschien drei Tage später bei mir. Er erklärte, daß Terebble sich wieder gefangen hatte und seinen Arbeiten nachgehen könne. Ich erhob keine Einwände, denn es gab nichts zu tun, als auf Hilfe von »draußen« zu warten, denn an der Lage hatte sich nichts geändert, wir steckten in der absoluten Isolation. So ließ ich denn auch den eigentlichen Kommandanten der HORNISSE frei herumlaufen, obwohl mich eine innere Stimme warnte. Die Zeit rann träge dahin. Die Verzweiflung wuchs, und auch Usters gutgemeinte Sprüche halfen bald nichts mehr. Ich versuchte die Frauen und Männer zu beschäftigen, so gut es ging. Joscan half mir dabei, alle möglichen Arbeiten und Forschungsprogramme zu erfinden, die uns unserem Ziel, der Befreiung aus diesem Gefängnis, näher bringen sollten. Es gab jedoch nur Mißerfolge und Fehlschläge, denn die Isolation war so total wie das kosmische Schweigen in meinem Psi-Bewußtsein. Dann kam die Nacht vom 14. zum 15. Dezember, in der sich alles veränderte. Ich lag unruhig in meiner Kabine und versuchte etwas Schlaf zu finden. Das Ergebnis war jedoch nur eine Mischung aus Halbschlaf, Dämmern und Träumen, wobei ich schon bald das Gefühl zwischen Wahrheit und Gedankengaukelei verlor. Riesige Planeten voller Leben und Pracht öffneten sich vor meinen Augen. Zwischen den Riesenfarnen war die SOL gelandet. Kleine goldene Wesen mit kugelrunden Augen begrüßten die Solaner und
führten sie durch die duftenden Wiesen. Es herrschte eine wonnige Stimmung, an der alle teilhaben konnten – nur ich nicht. Ich war zwar mitten unter den Solanern, sah Tausende von glücklichen Gesichtern, aber ich konnte die Freude nicht auf mich wirken lassen. In mir und um mich herum herrschten eisige Kälte und völlige Lautlosigkeit. Zwischendurch erwachte ich halb und erkannte, welchen Unsinn mir mein Unterbewußtsein vormachte. Dennoch schlief ich wieder ein. Diesmal sah ich Bolo Terebble. Der Solaner stand grinsend vor mir und hielt ein verkleinertes Modell der HORNISSE in seinen Händen. Als ich genauer hinsah, erkannte ich, daß in diesem Schiff Menschen lebten. Ihre Gedanken strömten zu mir herein. Ich fühlte Cpt'Carch, Federspiel, Insider, Uster Brick und … und meine eigene Person. Terebble drückte mit beiden Händen zu und zerquetschte den Kreuzer wie eine Apfelsine. Blut tropfte an der Terkonitstahlhülle herab. »Fang!« lachte der ehemalige Ahlnate und warf mir die Schrottkugel zu. Meine Arme bewegten sich wie durch einen zähen Brei. Sie kamen viel zu langsam in die Höhe. Das Wrack glitt durch meine Hände, prallte gegen meine Brust und fiel zu Boden. Verzweifelt versuchte ich es zu fassen. Mein Blick ging nach unten, wo ich den Aufprall erwartete, aber da war kein Boden, da war ein endloses Nichts. Das dröhnende Lachen von Terebble schmerzte in meinen Ohren. Es wurde immer schriller und höher und gleichmäßiger, bis ich schließlich erwachte und mich mit einem Ruck aufrichtete. Die Alarmsirene! Automatisch erhellte sich die Kabine. Die Interkomverbindung gab einen kurzen Signalton von sich. Der Bildschirm flammte auf. Ich erkannte das Gesicht von Uster. »Schnell, Bjo! Terebble stellt irgend etwas an!« »Ich weiß«, antwortete ich automatisch. »Er hat die HORNISSE
zermalmt und will sie nun …« Schlagartig erkannte ich, daß ich Unsinn redete. Der Traum war noch nicht vollständig von mir gewichen. »Vergiß, was ich gesagt habe, Uster«, stieß ich hervor. »Ich bin sofort in der Zentrale.« Schon unterwegs im Antigravschacht merkte ich, daß der Alarm nur in meiner Kabine ausgelöst worden war. Also handelt es sich um ein Problem, bei dem nicht die ganze Mannschaft benötigt wurde. Uster hatte sicher gute Gründe für diesen Schritt gehabt. In der Zentrale traf ich außer Brick nur zwei Besatzungsmitglieder der HORNISSE, die hier zur routinemäßigen Schicht gehörten. Mehrere Bildschirme waren erleuchtet, aber sie zeigten nur Abschnitte aus dem Innern des Kreuzers. Es handelte sich also um eine interne Gefahr. »Carch hat mich kurz alarmiert«, berichtete der Pilot. »Er behauptet, Terebble wolle das Schiff sprengen. Insider ist bei ihm.« Mir fiel sofort mein merkwürdiger Traum ein, der jetzt zwar keine praktische Bedeutung mehr hatte, mir aber zeigte, daß bisweilen meine telepathischen Fähigkeiten sogar im Schlaf wirksam waren. Daß sich dabei die empfangenen Informationen mit den Träumen des Unterbewußtseins vermischten, war eine andere Sache. Normalerweise lauschte ich nie auf die Gedanken der Menschen in meiner Umgebung. Unter allen Mutanten galt so etwas als tabu. Nur wenn Gefahr im Verzug war, ließ ich diese Schranke fallen. Ich versuchte Cpt'Carch, Insider und Bolo Terebble auszumachen. Bei allen dreien gelang dies nur vage. Daß ich die beiden Extras nicht vollständig aufspüren konnte, war keine Neuigkeit. Sie besaßen eine natürliche Immunität, die insbesondere bei dem Cpt'Cpt sehr stark ausgeprägt war. Aber auch bei dem Solaner hatte ich große Mühe, ihn überhaupt zu entdecken. Und was ich dann als Gedanken identifizierte, war ein einziges Chaos. »Terebble ist total übergeschnappt«, vermutete ich laut.
Uster versuchte mit den Beobachtungssensoren Bilder auf die Schirme zu zaubern, auf denen die drei zu sehen waren. »Ich habe seine Spur verloren«, meldete sich Insider über Interkom. Dann huschte Carch wie ein Schatten über einen Bildschirm. Ich rief nach ihm. »Keine Zeit«, antwortete der Extra. »Bolo will das Schiff sprengen. Ich habe es gehört, obwohl ich noch nicht geboren bin.« Der Teufel mochte wissen, was er damit meinte! Ich lokalisierte Terebble mit einiger Sicherheit. »Er befindet sich in der Nähe des Reservekraftwerks Beta auf Deck 17«, teilte ich den beiden mit. »Dort ist die Selbstvernichtungsanlage der HORNISSE untergebracht«, machte mich Uster aufmerksam. Normalerweise konnte diese nur von der Zentrale aus aktiviert werden. Auch waren dazu vier Schlüssel erforderlich, von denen jedes Besatzungsmitglied der Führungscrew nur jeweils einen kannte. Der vierte Schlüssel war in der Bordpositronik gespeichert. Er entfiel allerdings automatisch, wenn die Positronik ausgefallen war. Bolo Terebble war ein cleverer Bursche, das wußte ich, auch wenn ich keine Sympathien für ihn empfinden konnte. Wenn er im Zustand geistiger Umnachtung handelte, konnte es ihm auch gelingen, die Selbstvernichtungsanlage direkt zur Zündung zu bringen. Wahnsinn kannte keine Grenzen. Ich schüttelte meine restliche Müdigkeit ab. Jetzt noch zu den beiden Extras zu eilen, die Terebble auf den Fersen waren, war ziemlich sinnlos. Hier von der Zentrale aus konnte ich mit den Monitoren ein besserer Helfer sein. Leider war es nicht möglich, alle Bereiche in der unteren Hälfte auf den Bildschirmen darzustellen. Ich hatte aber Glück, denn ich erwischte den Solaner, als er gerade ein Schott öffnete und in einen Raum eindrang. Von der Bordpositronik ließ ich mir einen genauen
Lageplan dieses Abschnitts einblenden, während Uster die beiden Verfolger informierte. Der Raum, in dem sich Terebble befand, grenzte an den an, in dem die Selbstvernichtungsanlage installiert war. Beruhigend war, daß es von dort keinen direkten Zugang zu dem eigentlichen Sprengsatz gab. Sekunden später trafen sich Carch und Insider vor dem Schott. Ich hatte beide gut im Bild, und auch die Interkomverbindung zu dieser Stelle funktionierte ausgezeichnet. »Er hat das Schloß verriegelt und die Kombination geändert«, stellte der Cpt'Cpt fest. »Ohne Gewalt kommen wir da nicht hinein.« »Und er nicht heraus«, versuchte ich die beiden zu beruhigen und sagte ihnen, was ich dem Lageplan entnommen hatte. Cpt'Carch schüttelte sich unwillig. »Du siehst das falsch, Bjo«, meinte er. »Terebble ist schwer bewaffnet. Er kann sich von dort zu dem Sprengsatz durcharbeiten.« »Dann müssen wir diesen entfernen«, entgegnete ich. »Das ist nicht möglich«, belehrte mich die Bordpositronik. »Ein gewaltsames Entfernen des Selbstvernichtungssatzes führt zu dessen Auslösung.« »Aber das muß man doch umgehen können!« begehrte ich auf. »Sicher. Aber dieser Vorgang benötigt viel Zeit. Und Zeit ist dein Problem. Terebble kann schon viel erreicht haben.« »Gibt es einen Interkomanschluß in dem Raum, in dem er jetzt ist?« »Ja.« Die Positronik gab mir den Wählcode, und ich rief an. Mein Bildschirm blieb dunkel, aber Bolo Terebble meldete sich tatsächlich. Da er mich sofort mit meinem Namen ansprach, hatte er also nur seinen Bildsender desaktiviert. »Was wilst du, Breiskoll? Du störst den Kommandanten der HORNISSE bei einer enorm wichtigen Tätigkeit.« Ich versuchte, gelassen und ruhig zu bleiben.
»Dürfte ich erfahren, worin diese Tätigkeit besteht?« Terebble schnaufte erregt. »Natürlich, denn ändern kann es sowieso keiner mehr. Ich werde die Selbstvernichtungsanlage zünden, bevor uns die Höllengeister dieser Öde auffressen.« Die telepathische Ausstrahlung, die ich von ihm empfing, unterstrich meine Schlußfolgerung. Terebble war regelrecht übergeschnappt. Ich mußte versuchen, ihn hinzuhalten, damit Carch und Insider etwas unternehmen konnten. »Ich habe keine Höllengeister gesehen«, erklärte ich harmlos. »Du bist ein Idiot, Breiskoll«, ereiferte sich der Solaner. »Du bist von Blindheit geschlagen, und die anderen sind es auch. Nur ich sehe die Wirklichkeit. Du solltest mir dankbar sein, denn ich weiß es zu verhindern, daß du und deine Seele den Unheimlichen zum Fraß vorgeworfen werden.« Die beiden Extras machten sich noch immer an der verriegelten und gesicherten Tür zu schaffen, wie ich beobachten konnte. »Nun gut«, fuhr ich im Plauderton fort. »Du bist der Kommandant, und du kannst bestimmen, was geschieht. Warum kommst du nicht in die Zentrale und löst gemeinsam mit uns den Sprengsatz aus? Oder soll ich zu dir hineinkommen und dir helfen?« »Heh!« brüllte Terebble. »Du bist wirklich schon ein Opfer der Seelenfresser geworden, denn du redest irre. Da ihr alle bereits in den Klauen der Geister seid, werdet ihr euch gegen mich stellen. Also mache ich es allein.« »Wenn du das könntest.« Ich änderte meine Taktik und wurde etwas angriffsfreudiger. »Der Raum, in dem du bist, besitzt keinen Zugang zu dem Sprengsatz.« »Dummkopf! Ich weiß genau, wo hier die Energiekabel laufen. Und nur an die muß ich rankommen. Du wirst sehen, daß es geht. Das heißt, wenn du es siehst, bist du ja nicht mehr vorhanden.« Er lachte hämisch. Da gleichzeitig andere Geräusche aus dem
Interkom klangen, folgerte ich, daß er bereits intensiv mit den erwähnten Arbeiten beschäftigt war. Ich unterbrach die Verbindung und sprach kurz mit der Bordpositronik. Diese bestätigte, daß Terebble die Wahrheit gesagt hatte. »Allerdings«, schloß sie die Erklärung ab, »ist bisher noch niemand auf die Idee gekommen, auf diesem Weg den Notsprengsatz zu zünden.« Das war ein schwacher Trost. Immerhin war es mir während des kurzen Gesprächs gelungen, mich besser auf Terebbles Gedanken einzustellen. Der Mann befand sich im Zustand geistiger Umnachtung. Das war klar zu erkennen. Die chaotischen Gedanken überlagerten jede normale Tätigkeit seines Gehirns so stark, daß ein Identifizieren von Einzelheiten unmöglich war. Das bedeutete aber auch, daß es sinnlos war, Umstimmversuche zu starten. Ein Geist, der so stark verwirrt war, ließ sich durch Worte nicht beeinflussen. Oder doch? Ich erinnerte mich daran, daß Atlan schon so manches Mal mit einem kühnen Bluff scheinbar Unmögliches erreicht hatte. »Terebble!« Ich schaltete die Interkomstrecke wieder durch. »Es gibt interessante Neuigkeiten. Du solltest dir einmal ansehen, was wir auf den Bildschirmen haben.« »Ja, das solltest du wirklich«, pflichtete mir Uster Brick bei und klopfte mir heftig auf die Schultern. Ich war jedoch so mit meinen Überlegungen beschäftigt, daß ich mich nicht umsah. So redete ich weiter auf Terebble ein, bis dieser schließlich antwortete. »Was soll es schon Neues geben? Ihr arbeitet doch mit den seelenlosen Geistern zusammen. Mich könnt ihr nicht aufs Kreuz legen.« »Sieh her!« Uster war aufgesprungen. Er drehte die Aufnahmeoptik so herum, daß sie den Hauptschirm der Ortungsanlage erfaßte. Dort waren die
Echoimpulse eines kleinen Sonnensystems zu sehen. Sieben Planeten standen in unterschiedlichen Abständen zu einem Stern. Die Positronik mußte gut und schnell reagiert haben, denn nur sie konnte dieses Bild erzeugt haben. »Wir haben ein Sonnensystem entdeckt«, drängte ich Terebble. »Komm da heraus! Gib dein idiotisches Vorhaben auf!« Er lachte nur, und ich merkte, daß ich ein schlechter Bluffer war. »Ich hab's«, hörte ich Insider sagen. Auf dem Bildschirm mit den beiden Extras schwang das Schott zur Seite. Wie zwei Schatten huschten sie in das Innere des Raumes. Ich hörte dumpfe Schläge und unterdrückte Schreie. Dann fielen zwei Schüsse. Kurz darauf war Carch wieder an dem Interkomanschluß. »Tut mir leid, Bjo«, erklärte der Cpt'Cpt mit ehrlichem Bedauern. »Aber Terebble ist tot. Er hat es wohl selbst so gewollt.« Ich konnte nur mit dem Kopf schütteln. Sicher hatten Insider und Carch alles versucht. Sie hatten letztlich auch Erfolg gehabt und die drohende Gefahr beseitigt, aber den Tod des Solaners hatte keiner gewollt. »Bringt alles soweit in Ordnung«, antwortete ich Carch. »Dann sehen wir uns in der Zentrale.« Ich drehte mich zu Uster Brick um. Irgend etwas mußte ich jetzt sagen, denn der Tod eines Menschen machte mir jedesmal zu schaffen. Ich fühlte mich mitschuldig, und in gewisser Hinsicht war ich es auch. Wir hätten Terebble besser überwachen sollen. »Der Bluff mit dem Planetensystem sah gut aus«, sagte ich. »Aber gezogen hat er nicht.« »Terebble war ein Narr.« Ich merkte Uster sofort an, daß er keinen Scherz machte. »Denn das Planetensystem, Bjo, das du dort siehst, ist tatsächlich vorhanden!« Erst jetzt spürte ich das leise Rauschen dieser Dimension. Die Leere war einem anderen Ton gewichen.
* Eine halbe Stunde später war ich immer noch wie benommen. Ob dies nun an dem plötzlichen kosmischen Hintergrundrauschen lag oder an Bolo Terebbles Tod oder an der zehntägigen Isolation oder an dem unweit georteten Sonnensystem, das vermochte ich nicht zu sagen. Manchmal habe ich sehr sensible Tage, und dann reagiere ich auf alle möglichen Dinge, ohne immer den Grund für meine Unruhe zu erkennen. Uster Brick ließ sich von derartigen Gefühlsregungen nicht anstecken. Er hockte in dem Kommandantensessel und spielte mit der Positronik und den Ortungssystemen, als habe er diesen Job schon seit einer Ewigkeit ausgeführt. Das Wort Nerven schien dieser Solaner nicht zu kennen. »Die erste Auswertung ist abgeschlossen«, berichtete er. Inzwischen waren alle wichtigen Besatzungsmitglieder in der Zentrale anwesend. »Beim Einflug in das Hypervakuum wurde kurzzeitig ein Sonnensystem beobachtet, das in Absprache mit Atlan »Utopia« genannt worden war. Die Daten darüber liegen vor, wenn auch nur als Grobwerte, denn der Stern Utopia und seine sieben relativ kleinen Planeten zeigten sich nur für wenige Minuten. Es besteht jedoch kein Zweifel, daß das jetzt geortete System mit dem Utopia-System identisch ist.« Mir war nicht wohl bei diesen Gedanken, denn ich überlegte schon einen Schritt weiter. Das Hypervakuum war ein für uns fremdartiger Raum mit teilweise unverständlichen physikalischen Gesetzen. In ihm hatte wahrscheinlich das Utopia-System sein erstes Echo abgegeben. Dann war es aber wieder verschwunden. Da ich hinter allem die Machenschaften von Hidden-X vermutete, stellte ich mir vor, daß dieses eine Art Unterversteck in seinem Hypervakuum besessen hatte, in das Utopia mit seinen Planeten dann verschwunden war.
Wir selbst waren danach in eine Umgebung verstoßen worden, in der ich nicht einmal ein kosmisches Signal verspürt hatte. Und nun befanden wir uns wieder in einer veränderten Umgebung – und hier war das Utopia-System. Ich teilte meine Überlegungen den anderen mit allen Bedenken mit und zog meine Schlußfolgerungen. »Hidden-X handelt unkontrolliert. Es versuchte, uns zu isolieren. Es versuchte, das Utopia-System zu verbergen. Es trennte die Existenzebenen von der PALO BOW und von uns. Was das alles letztlich zu bedeuten hat, bleibt rätselhaft. Aber ich erkenne ein gewisses Schema, denn eines haben wir noch nicht wieder bemerkt, das Flekto-Yn. Es ist auch jetzt nicht da, obwohl es vor Tagen zumindest für eine kurze Zeit auf der gleichen Existenzebene war wie wir oder wie Utopia.« »Das könnte bedeuten«, vermutete Joscan Hellmut, »daß unser Feind etwas Neues plant. Aber was?« »Er setzt sich ab«, behauptete Cpt'Carch. »Ich nehme das nicht nur an.« Wie so oft, so drückte sich der Cpt'Cpt auch jetzt wieder einmal reichlich unklar aus. »Du behauptest also«, sagte ich, »daß du es weißt, daß Hidden-X sich absetzt?« »Eigentlich weiß nicht ich es«, antwortete Carch. »Er hat es mir gesagt.« »Er? Wer?« »Das weiß ich nicht.« Uster räusperte sich. »Du drückst dich reichlich verworren aus, Banane. Ich empfehle dir, diese Tonart zu ändern, sonst erinnere ich mich daran, daß geröstete Bananen zu meinen Lieblingsspeisen gehören.« »Frische Luft tut auch gut.« Carch fuchtelte mit seinen Armen. »Sie enthält aber weniger Kalorien. Also, überlege dir, ob es nicht sinnvoller ist, mit verständlichen Worten zu sagen, was du weißt.«
Cpt'Carch machte eine eindeutige Geste der Zustimmung. »Wenn ich erst geboren wäre, richtig, meine ich«, stöhnte er, »dann wäre alles viel einfacher.« »Sprich weiter, wenn deine Märchenstunde vorüber ist«, verlangte Uster. Der Extra blickte erst Insider hilfesuchend an, aber der schwieg beharrlich. Dann sagte er: »Ich fühle, daß Hidden-X sich absetzt. Wohin, weiß ich nicht. Und ich fühle, daß ein Mann eures Schiffes euch alle mit der Selbstvernichtungsanlage in die Luft sprengen will.« Ich erkannte sofort, daß Carch nicht von sich selbst sprach. Er zitierte! Wen, fragte ich mich. Die anderen verstanden gar nicht, was er meinte, deshalb griff ich ein. »Wenn ich dich richtig interpretiere, so willst du uns sagen, daß dir jemand diese Nachricht zukommen ließ.« »Davon rede ich doch die ganze Zeit«, klagte der ehemalige Basiskämpfer. »Schon vorhin habe ich Uster gesagt, daß ich eine Warnung erhielt, die mich auf Terebbles Spur brachte.« Der Pilot schüttelte unfreundlich den Kopf. Natürlich gefiel ihm nicht, daß Carch ihm jetzt den Schwarzen Peter zuschieben wollte. Ich ging nicht darauf ein. »In Ordnung«, sagte ich geduldig. »Du bist also gewarnt worden. Und du hast von der gleichen Person einen dürftigen Hinweis darüber bekommen, daß Hidden-X von hier verschwinden will.« Wieder machte Carch eine zustimmende Geste. »Wer hat dich gewarnt?« wollte ich wissen. »Wenn ich das wüßte, hätte ich es doch längst gesagt«, warf der Cpt'Cpt mir vor. »Manchmal benehmt ihr euch, als wärt ihr auch noch nicht geboren.« »Wenn du weiter in Rätseln sprichst«, giftete Uster Brick, »dann bin ich vor Schreck gestorben, bevor ich in deinen Augen geboren bin.«
»Meine Augen sind kein geeigneter Platz für eine Geburt«, konterte Carch. »Das sollte selbst ein mäßiger Pilot wissen.« »Von wem spricht er?« staunte Uster und blickte mich an. »Von einem Unbekannten, der ihn gewarnt hat«, entgegnete ich, um das Thema wieder auf mein eigentliches Anliegen zu bringen. Wenn wir hier einen Helfer hatten, so würde mich schon interessieren, wer das ist. »Hast du einen Verdacht, Carch?« fragte ich. »Atlan? Chybrain? Sternfeuer?« »Keinen Verdacht«, bedauerte der Extra. »Der Kontakt war einseitig und viel zu kurz. Was zählt, ist doch nur, daß der eine Teil der Aussage inzwischen in seiner Richtigkeit bestätigt wurde. Terebble wollte die Anlage zur Selbstvernichtung der HORNISSE zünden. Für mich reicht das aus, um auch die Andeutungen über Hidden-X für wahr zu halten.« Ich konnte ihm nicht widersprechen, und ich fühlte, daß Carch die Wahrheit sagte. »So kommen wir also nicht weiter«, stellte ich fest. »Es soll uns vorerst egal sein, wer der Warner war. Wenn wir einen Helfer haben, so ist das ein Vorteil. Andererseits sehe ich dort ein hübsches kleines Sonnensystem. Mich würde interessieren, was es damit auf sich hat. Wenn wir nicht schnell handeln, dann verschwindet es womöglich wieder, und wir stürzen in die trostlose Leere zurück.« »Einverstanden«, antwortete Uster. »Die HORNISSE ist startbereit.« In der nächsten Stunde hatte ich alle Hände voll zu tun, um eine aufkommende Euphorie zu verhindern. Federspiel und Uster als echte Solaner waren ebenso dafür, die Planeten schnell und direkt anzufliegen wie Insider und Cpt'Carch als Extras. Ich konnte mir dieses Verhalten nur damit erklären, daß sie alle nichts von dem besaßen, was mit meinem Empfinden für kosmische Klänge zu vergleichen gewesen wäre. Dieser Raum war zwar nicht so tot wie jener, in dem wir über zehn Tage isoliert
gewesen waren, er strahlte aber nichts Beruhigendes oder Vertrautes aus. Nach wie vor befanden wir uns in einer äußerst fremdartigen Umgebung, die schon allein durch ihre Andersartigkeit mein heftigstes Mißtrauen weckte. Auf meine Argumente schien so niemand hören zu wollen. Auch die regulären Besatzungsmitglieder der HORNISSE hielten meine Bedenken für überspitzt. »Ihr seid euch der eigentlichen Lage gar nicht bewußt«, versuchte ich es schließlich. »Gut, für euch ist dieser eine Stern mit seinen Planeten ein Ziel und ein Hinweis zugleich. Deswegen dürft ihr aber nicht glauben, alle Probleme seien bewältigt. Schaut euch die Bilder der Fernortung an! Es gibt weit und breit keinen einzigen weiteren Himmelskörper. Selbst in dem entferntesten Winkel leuchtet keine Galaxis. Dieses kann also nicht der Raum sein, aus dem wir kommen.« Joscan Hellmut spielte schließlich den Vermittler zwischen den beiden Parteien, wobei ich mir bewußt war, daß die eine Partei eben nur von mir repräsentiert wurde. »Es muß eine Möglichkeit geben, die allen Seiten gerecht wird. Bjos Bedenken dürfen wir nicht einfach vom Tisch wischen. Andererseits wird er nicht wollen, daß wir das Utopia-System unbeachtet lassen und auf weitere Wunder hoffen. Daher scheint es aus meiner Sicht auszureichen, wenn wir die Erkundung dieses Sternes und seiner Planeten mit der gebotenen Vorsicht durchführen.« Insider schwenkte als erster auf meine Seite über. Er hatte sich während der anhaltenden Diskussionen intensiv mit den Ortungsanlagen befaßt und alle verfügbaren Ergebnisse der Bordpositronik vorgelegt. Die HORNISSE glitt unterdessen mit halber Lichtgeschwindigkeit auf das Utopia-System zu. Bei diesem Tempo würden wir es erst in achteinhalb Jahren erreichen. »Die Messungen bestätigen«, erklärte der Kowallek, »daß Bjos
Vorsicht begründet ist. Utopia strahlt zwar in einer rötlichen Farbe, weicht aber ansonsten von allen normalen Werten eines kleinen roten Sterns ab. Ich würde eher sagen, es handelt sich hier um einen sehr massereichen Stern, der trotz seiner Farbe eher mit einem weißen Zwergstern zu vergleichen ist. Daß diese Biester gefährlich sein können, ist klar. Ihre Gravitation übersteigt bisweilen Werte, die für unser Schiff verträglich sind.« Nach einer weiteren Viertelstunde der Beratung waren wir über unser Vorgehen einig. Die HORNISSE sollte unter dem Kommando von Joscan Hellmut zunächst außerhalb der siebten Planetenbahn bleiben. Der Kreuzer war schließlich unser einziger Zufluchtsort. Eine der beiden Space-Jets, die wir mitführten, sollte eine erste Naherkundung durchführen. Uster Brick maulte zwar, aber ich bestand darauf, daß er auf der HORNISSE blieb. So bestand schließlich die Besatzung der Jet aus Federspiel, Cpt'Carch, Insider und mir. Der kleine Vier-Mann-Diskus trug den Eigennamen TORSTEN. Wir bewegten uns zunächst in der unmittelbaren Nähe der HORNISSE, um alle Kommunikationssysteme zu überprüfen, denn dieser Raum war mir nicht geheuer. Ich glaubte nämlich, wispernde Stimmen zu hören, je näher wir Utopia kamen, behielt diese Beobachtungen aber für mich. Ich konnte nicht ausschließen, daß meine Sinne überreizt waren. Es ergaben sich keine Schwierigkeiten. So schleusten wir uns wieder ein, um mit der HORNISSE in einer Linearetappe in die unmittelbare Nähe des Utopia-Systems zu gelangen. Auch dieser Schritt verlief unproblematisch. Bei der Rückkehr aus dem Linearraum hörte ich wieder die wispernden Stimmen. Sie klangen wie menschliche, allerdings konnte ich kein einziges Wort erkennen. Noch bevor wir uns wieder mit der TORSTEN ausschleusten, verstummten sie allerdings. Damit legte sich auch meine Aufregung. Der Funkkontakt zu Joscan und Uster funktionierte fehlerfrei,
während wir uns Planet Nummer 7 näherten. Die Ortungsanlagen der HORNISSE ermittelten bereits erste genaue Ergebnisse, die wir auch erfuhren. Ergänzt durch unsere Nahbeobachtung stellte sich sehr bald heraus, daß es sich hier um keinen natürlichen Planeten handeln konnte. Technokrat, der Name stammte von Uster Brick, durchmaß 350 Kilometer. Die Feinmessung ergab schon aus großer Entfernung, daß es sich um eine exakte Kugel handelte. Die Energieortung vermittelte jedoch von dieser Welt den Eindruck, als handle es sich um ein gigantisches Raumschiff oder zumindest um ein künstliches Gebilde. Eine Reihe von gestaffelten Energieschirmen hüllte Technokrat ein. Waffensysteme konnten wir nicht entdecken, so daß wir uns schließlich darauf festlegten, daß wir es mit einem technischen Außenposten des Utopia-Systems zu tun hatten. Die Energieschirme besaßen defensiven Charakter, waren aber nach Abwägung aller Faktoren nicht nur für die TORSTEN, sondern auch für die HORNISSE wohl undurchdringlich. Die Massetaster stellten immerhin fest, daß gewaltige Mengen von Metallen und anderen Stoffen diese Kunstwelt bildeten. Die Anordnung wies Systematik auf, die den technischen und künstlichen Charakter untermauerte. Um was es sich aber wirklich handelte, blieb ein Geheimnis. Ich verspürte auch keine Lust, mit unseren schwachen Mitteln dieses Rätsel zu lösen. Technokrat war ein lebloses Objekt, wenn mich mein Psi-Sinn nicht betrog. Gedankenimpulse konnte ich auch in der verschwommenen Form nicht orten. Auf der TORSTEN waren wir uns einig, die Finger von diesem Koloß aus unbegreiflicher Technik zu lassen, und auch Joscan und Uster stimmten diesem Vorschlag zu. Ich spürte, daß die anfängliche Euphorie nun allmählich einem sachlichen Verhalten wich. Das freute mich, denn es erhöhte unsere Überlebenschancen.
Wir ließen diese Welt hinter uns und drangen tiefer in das System ein. Dabei wurden die Bahnen der Planeten vermessen und alle Daten in der Positronik der HORNISSE abgespeichert. Besonderheiten gab es keine. Der kleinste Planet besaß einen Durchmesser von rund 200 Kilometern, der größte von etwa 400 Kilometern. Die Daten stimmten genau mit denen überein, die Atlan von der PALO BOW bei der Annäherung an das Flekto-Yn ermittelt hatte. Monde oder andere kleinere Himmelskörper fehlten vollständig. Die Erkundung der Planeten 6 bis 2 verlief ohne Überraschungen. Hier handelte es sich um tote Himmelskörper aus Gestein und ohne Atmosphäre oder Wasser. Unser Interesse an ihnen schwand schnell, so daß auch niemand auf die Idee kam, diesen Welten einen Namen zu geben. Je näher wir der massereichen Sonne kamen, desto unruhiger wurde ich. Ganz anders erging es Cpt'Carch. Der lebte förmlich auf. Er rannte unruhig in der kleinen Zentrale auf und ab, bis er mich mit einer Mitteilung überraschte. Vor uns stand in nur mehr 250.000 Kilometern Entfernung der innerste Planet von Utopia. »Das muß unser Ziel sein«, erklärte Carch aufgeregt. »Nach den bisher bekannten Daten«, antwortete Insider, »ist dort Leben vorstellbar.« »Nicht nur vorstellbar, Zwo! Dort ist Leben. Der Planet ist DAS VIVARIUM. So heißt er, wobei der Name natürlich nicht von mir stammt. Das ist auch unerheblich. Viel wichtiger ist, daß ich soeben erkannt habe, daß die Stimme des unbekannten Warners von dort gekommen ist.«
* Insider ließ die Funkempfänger laufen, um irgendwelche Signale
des VIVARIUMS aufzufassen. Ich streckte meine telepathischen Fühler aus und tastete so die Oberfläche des kleinen Planeten ab. Carch befaßte sich mit der Aufstellung der technischen Daten. Er war der einzige von uns, der ein konkretes Ergebnis vorweisen konnte. DAS VIVARIUM besaß eine Gravitation von 0,24 Gravos. In Anbetracht der geringen Größe von 380 Kilometern war dies ein erstaunlich hoher Wert. Die Empfänger schwiegen auf allen Normalund Hyperfrequenzen. Auch ich konnte nichts feststellen, obwohl ich ständig das Gefühl hatte, die Gedanken von Lebewesen zu erhaschen. Wir erlebten eine Überraschung, als die optischen Sensoren unserer Jet die ersten Bilder auf die Schirme übertrugen. Der Kleinplanet schien kultiviert und bewohnt zu sein. Er glich einer Miniaturausgabe einer normalen Sauerstoffwelt. Ich entdeckte eine Vielzahl von kleinen Ansiedlungen und dazu Landstriche, die nach bestellten Feldern aussahen. Eine hochstehende Technik gab es wohl nicht, dafür aber eine ausgewogene Landwirtschaft. Auf den Feldern weideten verschiedene Tiere, die mich an Rinder und Schafe erinnerten, wie ich sie aus den Berichten über die Erde kannte. Die Flüsse, die allesamt in einen großen See mündeten, waren begradigt und an den Ufern befestigt. Trotz dieses erfreulichen Eindrucks wirkte DAS VIVARIUM tot, denn wir fanden keine konkrete Spur der zu erwartenden intelligenten Lebewesen. Die wildesten Spekulationen kamen auf, wichen aber bald einer bedrückenden Stimmung, als ich endgültig feststellte, daß hier keine Gedanken zu empfangen waren. Daran änderte auch Cpt'Carchs undurchsichtige Behauptung nichts, er habe von hier die bewußte Warnung vor dem Anschlag Bolo Terebbles erhalten. Wir drangen in die Atmosphäre ein. Die Zusammensetzung der Luft entsprach annähernd den Werten der SOL. Sie war jedenfalls
ohne Zusatzgeräte atembar. Auch das war physikalisch gesehen ein Rätsel, denn eine so geringe Schwerkraft von nur 0,24 g konnte normalerweise keine Atmosphäre halten. Die Instrumente der Space-Jet konnten das Problem nicht lösen, und auch auf der HORNISSE, zu der wir ständig alle ermittelten Daten übertrugen, rätselte man herum. Paradiesische Landstriche zogen unter uns vorbei. Eine Kleinstadt kam in Sicht, und Federspiel verlangsamte den Flug. Die Stadt zeigte keine Spur von Leben. »Alle ausgeflogen«, staunte Insider. »Aber wohin?« »Wenn Hidden-X hier seine schmutzigen Finger im Spiel hatte«, sagte ich, »dann wundert mich nichts. Wir wissen inzwischen, wie rücksichtslos er mit ganzen Völkern umgeht.« Ich suchte einen Landeplatz außerhalb dieser Stadt aus und entschied mich für einen Waldrand auf einer Anhöhe, von dem aus wir die Stadt weiter beobachten konnten. Insiders Daten vermittelten, daß in wenigen Stunden hier die Nachtphase beginnen würde. »Wir bleiben in unmittelbarer Umgebung der Jet«, ordnete ich an, »denn wir wissen nicht, welche Gefahren hier auf uns lauern.« »Ich höre nichts«, erklärte Federspiel, wobei er seinen telepathischen Sinn meinte. Wir schlugen ein kleines Lager vor dem Diskus auf. Insider und Carch untersuchten den Boden und noch einmal die Atmosphäre, fanden aber keine erwähnenswerten Dinge. Noch bevor die Nacht hereinbrach, besaßen wir eine Hypothese über DAS VIVARIUM. Der Planet war zweifellos bis vor kurzem von intelligenten Wesen bewohnt gewesen. Von diesen fanden wir jedoch keine Spur. Fauna und Flora hatten jedoch keine Veränderungen erlitten. Es war so, als habe jemand hier eine Totalevakuierung vorgenommen. Ich führte ein längeres Gespräch mit Joscan, und wir kamen überein, daß die HORNISSE erst landen sollte, wenn weitere 24 Stunden ohne Zwischenfälle vergehen würden.
Federspiel bereitete in der kleinen Robotküche eine Mahlzeit vor, während ich mit Carch und Insider unter dem Zeltdach stand, das wir neben dem Schiff aufgebaut hatten. Die beiden Extras diskutierten noch immer über die verschwundenen Bewohner des VIVARIUMS, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Spekulationen waren einfach, denn Hidden-X hatte uns schon damals auf den Molaatenwelten bewiesen, daß es in der Lage war, intelligentes Leben in großer Zahl räumlich zu versetzen. Bis heute wußten wir nicht, wie es die Molaaten auf die Dunkelwelten der Zone-X versetzt hatte, von wo es diese als »kleine Baumeister« in das Flekto-Yn abgerufen hatte. Ein ähnlicher Vorgang war auch für DAS VIVARIUM vorstellbar. Ich zuckte sichtlich zusammen, als in unserer Nähe plötzlich aus dem Nichts eine Stimme erklang. »Guten Abend!« sagte jemand in fehlerfreiem Interkosmo, und eine zweite Stimme fügte hinzu: »Willkommen auf dem VIVARIUM. Die Zeithüter begrüßen euch und bedanken sich. Ihr seid noch rechtzeitig erschienen, um eine große Aufgabe zu übernehmen.« An den Gesichtern der beiden Extras erkannte ich, daß auch sie diese Stimmen hörten. Es waren reale Leute, die von keiner telepathischen Sendung begleitet wurden. Ich blickte mich um, aber ich konnte kein anderes Wesen erkennen. Es stürzte mich in tiefste Verwirrung, daß da jemand war, der mit mir und meinen Begleitern sprach und zugleich nicht nur unsichtbar sein mußte, sondern auch keinerlei Gedanken aussendete, die Federspiel oder ich mit unserem Psi-Sinn erfassen konnten. Einem solchen Phänomen war ich noch nie begegnet. Insider handelte pragmatisch. Er kümmerte sich nicht um die Unsichtbaren, die sich Zeithüter genannt hatten. Er informierte die HORNISSE über das Vorkommnis, während Carch und ich versuchten, eine vernünftige Verständigung zu erzielen.
Einfach war das nicht, denn die Zeithüter zeigten sich unseren Fragen gegenüber nur wenig aufgeschlossen. Sie drängten vielmehr darauf, daß wir ihre Probleme lösen sollten. Es mußten 20 oder 30 Wesen sein, von denen immer nur eins sprach. Da die verschiedenen Stimmen unterschiedlich klangen, war diese Erkenntnis eindeutig. Auch kamen sie aus verschiedenen Richtungen. Alle unsere Versuche, die zweifellos anwesenden Unsichtbaren mit technischen Mitteln zu orten, scheiterten. Auffällig war ferner, daß sie nie untereinander sprachen. Sie besaßen entweder für sich eine andere Kommunikationsmöglichkeit, von der wir nichts spürten oder hörten, oder sie stellten in irgendeiner Form ein gemeinschaftlich verbundenes Wesen dar. Unsere Fragen nach Namen stießen auf Verwirrung. Sie nannten sich die Zeithüter, und daneben kannten sie keine Begriffe zur Identifizierung. »Woher beherrscht ihr unsere Sprache?« fragte ich. »Was ist eine Sprache?« kam die Gegenfrage. »Eine Methode, sich zu verständigen.« »Es gibt nur eine solche Methode, und die benutzen wir.« Solche Auskünfte halfen uns also kaum weiter. »Woher stammt ihr?« bohrte Insider nach. Dabei benutzte er seine Ursprache. »Daher, wo alles Leben kommt«, lautete die Antwort. Ich konnte sie so verstehen wie alle anderen. »Er hat in meiner Sprache geantwortet«, behauptete der grüne Extra. »Es verhält sich anders«, folgerte ich. »Der Kontakt besteht doch wohl auf geistiger Ebene, denn ich habe Interkosmo verstanden. Da ich allerdings nicht den Hauch eines telepathischen Gedankens spüre, müssen diese Unsichtbaren ganz absonderlich sein.« »Warum diskutiert ihr über unwichtige Probleme?« kam eine neue Stimme aus einer anderen Richtung.
»Für euch mag das unwichtig sein«, entgegnete ich nicht gerade freundlich. »Für uns ist es das jedoch nicht.« »Ihr seid unwissend.« Wieder wechselte der Sprecher. »Es kommt darauf an, daß intelligentes Leben weiter die Zeit hütet. Es könnte sonst passieren, daß er sich selbständig macht.« »Wer? Ihr sprecht in Rätseln. Und was geschieht, wenn er sich selbstständig macht?« »Wir sind nicht befugt, darüber zu sprechen. Die neuen Zeithüter werden die Umstände nach und nach erfahren, wenn sie sich als verantwortungsvolle Wächter erweisen.« »Neue Zeithüter?« Ich zog die Stirn kraus. »Was hat das zu bedeuten?« »Ihr werdet es erfahren. Zunächst sollt ihr wissen, daß euch hier auf dem VIVARIUM keine Gefahr droht. Euer Hauptschiff könnte bedenkenlos landen.« »Das solltet ihr uns überlassen.« »Es könnte sein, daß weitere von euch benötigt werden.« Diesmal glaubte ich eine weibliche Stimme zu erkennen. »Es steht ja schließlich nicht fest, ob mindestens zwei von euch die Voraussetzungen erfüllen.« Die Sache wurde mir immer unheimlicher und verworrener. Ich beschloß, meine drängenden Fragen zurückzustellen und die Zeithüter sprechen zu lassen. Daher sagte ich nur: »Wir warten auf eure Erklärungen.« »Das ist gut«, entgegnete eine zufriedene Stimme. Eine andere fuhr fort, und diese klang alt und brüchig: »Unsere Zeit ist abgelaufen. Bevor wir uns für immer auflösen dürfen, müssen wir neue Zeithüter bestimmen. Da ihr die einzigen intelligenten Wesen seid, die hier noch existieren, ist es logisch, daß ihr die neuen Zeithüter stellen müßt. Die Tradition will, daß es mindestens zwei sein müssen.« »Und wenn wir uns weigern?« fragte Cpt'Carch kampfeslustig. »Das würde euch nichts nützen. Denn wie wolltet ihr etwas gegen
uns unternehmen? Wir sind für euch doch gar nicht vorhanden.« Da hatte dieser Sprecher nur zu recht. »Welche Aufgabe hat ein Zeithüter?« Ich stellte diese Frage, um mehr zu erfahren und um keinen Mißton aufkommen zu lassen. Über die wirklichen Möglichkeiten dieser Unsichtbaren bestand ja keinerlei Klarheit. »Diejenigen, die die Prüfungen bestanden haben, werden es rechtzeitig herausfinden«, lautete die rätselhafte Antwort. »Wir sollen uns also bereit erklären«, folgerte ich, »uns einer Prüfung zu unterziehen?« »Davon war keine Rede. Wir haben bereits entschieden, daß die neuen Zeithüter von euch gestellt werden. Wenn unter euch keine geeigneten Prüflinge sind, müßt ihr euer Schiff landen lassen, damit auch die dortigen Wesen getestet werden können.« »Patsch-uhh!« stöhnte Insider. »Das hört sich nicht gerade friedlich und freundlich an.« »Wir sind friedlich und freundlich.« »Wenn man mich zu etwas zwingen will, ist das nicht freundlich«, antwortete Insider laut. »Es gibt oft Dinge, deren Notwendigkeit man im Augenblick nicht erkennt.« Diesmal sprach wieder die weiblich klingende Stimme. Sie hörte sich an, als stünde dieses Wesen nur wenige Meter neben mir. »Da magst du wohl recht haben.« Ich versuchte es weiter mit der friedvollen Methode. »Wir haben aber ganz andere Bedürfnisse und Wünsche. Wir stammen nicht aus diesem Raum. Unbegreifliche Vorgänge haben uns hierher verschlagen. Wir wollen zurück zu unserem Volk. So müßt ihr das einmal sehen.« Schweigen schlug mir entgegen, während mein Psi-Sinn weiter in die Leere tastete. Schließlich meldete sich die brüchige Stimme wieder. »Da wir von unserer Vergangenheit nichts wissen, fällt es uns schwer, euer Ansinnen zu verstehen. Wir wissen wohl, daß wir eine
Vergangenheit hatten, nicht jedoch, wie diese war. Vielleicht waren auch wir einmal körperlich realer und vielleicht ähnlich wie ihr. Vielleicht entstammen auch wir nicht dieser Dimension.« »Darüber sollten wir ausführlicher sprechen. Es würde unsere Zusammenarbeit erleichtern«, sagte Federspiel. »Darüber gibt es nichts zu sagen.« Diese junge Stimme klang etwas unfreundlich. »Es ist überhaupt genug gesagt worden. Die Zeit verstreicht, und unsere Nachfolger sind immer noch nicht gefunden.« »Ihr seid mir schöne Zeithüter«, höhnte Insider. »Laßt die Zeit nutzlos verstreichen!« Die Unsichtbaren reagierten nicht auf diesen Vorwurf. »Es ist alles vorbereitet«, erklärte einer von ihnen. »Die ersten beiden Prüflinge sind Insider und Cpt'Carch.« Die beiden Extras starrten sich an. Bevor einer von ihnen etwas sagen konnte, lösten sich ihre Gestalten vor meinen Augen auf. »Heh!« brüllte ich noch, aber niemand antwortete mir. Federspiel berichtete alle Vorkommnisse an die HORNISSE. Er teilte Joscan mit, daß wir ratlos waren. Als sich nach Ablauf der Nacht immer noch nichts Neues ereignet hatte, beschloß ich, den Kreuzer landen zu lassen. Ich hoffte, so bessere Möglichkeiten zu haben, die Rätsel des VIVARIUMS zu lösen und uns die Rückkehr zur SOL zu ermöglichen. Und ich hoffte, eine Spur von Insider und Cpt'Carch zu finden. Wir erreichten nichts, aber nach rund achtzehn Stunden standen die beiden Extras plötzlich wieder mitten unter uns. Sie waren schweißüberströmt, aber unversehrt. Was sie berichteten, trug in keiner Weise zur Klärung der Lage bei. Es war außerdem eine so abenteuerliche Geschichte, daß ich an deren Wahrheitsgehalt zweifeln mußte. »Patsch-uuh!« jammerte der Kowallek, dann begann er zu erzählen.
* Von einer Sekunde zur anderen befand ich mich an einem anderen Ort. Um mich herum herrschten völlige Dunkelheit und totale Stille. Erst nach einer Weile hörte ich gleichmäßige Atemzüge. Das war Carch, dem es ebenso ergangen sein mußte. Schließlich kramte ich die Handlampe aus meiner Ausrüstung hervor. Der Lichtstrahl erhellte ein vermutlich unterirdisches Gewölbe von mehreren hundert Metern Durchmesser. Der Cpt'Cpt stand etwa zwanzig Schritte von mir entfernt. »Hörst du es, Insider?« rief er mir zu. Ich verstand nicht, was er meinte. Aber seit meinen Erlebnissen mit Oggar war ich an alle Absonderlichkeiten gewöhnt, und so blieb ich gelassen. »Was soll ich denn hören?« fragte ich. »Die Stimme!« Carch setzte seine dünnen Insektenbeinchen voreinander und kam langsam auf mich zu. Die hauchdünnen Fühler auf seinem Kopf waren in heftiger Bewegung. Licht an! »Was hast du gesagt?« fragte ich, weil ich dachte, er hätte gesprochen. »Nichts habe ich gesagt, Grüner. Das war die Stimme des Unbekannten.« Ich begriff es immer noch nicht. »Es ist die gleiche Stimme, die mich vor dem Anschlag Terebbles gewarnt hat«, erklärte der Cpt'Cpt. »Patsch-uhh oder Klatsch-hurra?« fragte ich zurück. Wenn der Embryo mich »Grüner« nannte, dann sollte er sich gefälligst auch mit meiner Sprache herumschlagen. »Ich hoffe«, antwortete Carch, »es ist klatsch-hurra, also gut.« Diese Antwort versöhnte mich etwas, und so folgte ich der Anweisung und schaltete die Lampe aus.
Ausgang finden. Test eins. Diesmal hörte ich die Stimme deutlicher. Sie unterschied sich so sehr von dem Gerede der unsichtbaren Zeitwächter, daß ich sofort daraus schloß, daß es sich hier um jemand anderes handeln mußte. Wer jedoch sollte dieser Ratgeber sein? Identifizieren konnte ich ihn nicht. Die Stimme klang hohl und etwas blechern, so als ob jemand in großer Entfernung aus einer alten Blechtonne zu uns sprach. »Wir sollen also den Ausgang finden«, wiederholte Carch. »Warum? Mir gefällt es hier ganz gut. Auch kann ich ohne Licht die Umrisse der Höhle gut erkennen.« Ich konnte seine Meinung nicht teilen. Zeit drängt. »Was sollen wir tun?« fragte ich ihn. »Das wüßte ich, wenn ich erst einmal richtig geboren wäre.« »Du sprichst im Wahn, Embryo.« Ich war ungehalten. »Für deine Albernheiten ist jetzt der denkbar ungeeignete Zeitpunkt. Wenn die Unsichtbaren erfahren, daß du noch nicht geboren bist, streichen sie dich sicher sofort von der Aspirantenliste für den Zeithüterjob.« »Ich kann darauf verzichten.« »Ich auch. Aber die Unsichtbaren wohl nicht.« »Auf der anderen Seite befinden sich vier Kamine, die in die Höhe führen.« Er wechselte plötzlich das Thema. »Das könnten Ausgänge sein. Wir sollten uns um Bjo und Federspiel kümmern. Vielleicht machen sie sich Sorgen.« »Hast du nicht einmal darüber nachgedacht, was mit uns geschehen ist?« Er schritt voran, und ich folgte ihm. Auch ich hatte jetzt die vier Röhren entdeckt, die in leichter Schräge aus einer Felswand in diesen unterirdischen Dom führten. »Das hätte wenig Sinn«, schrillte Carch. »Ich wüßte es vielleicht, wenn ich …« »… erst richtig geboren wäre«, unterbrach ich ihn. »Ich weiß, aber du langweilst mich allmählich.«
Statt einer Antwort steuerte er wahllos auf einen der Schächte zu. Falsch! Tödlich! Er zuckte zusammen, das konnte ich in dem fahlen Licht, das aus den vier Röhren fiel, erkennen. Seine gelbe Körperhülle überzog sich mit Feuchtigkeit, ein deutliches Zeichen seiner Erregung. »Dann vielleicht dieser!« Ich schritt auf die nächste Röhre zu. Falsch! Wahnsinnsstrahlung! Wieder hatte sich unser unbekannter Helfer gemeldet. »Warum sagt er nicht gleich, welches der richtige Ausgang ist«, schimpfte ich. »Dann könnten wir dieses umständliche Verfahren abkürzen.« Eine Antwort bekam ich nicht. »Vielleicht kann er das nicht«, vermutete mein Begleiter. Auch die dritte Öffnung, die wir anpeilten, erwies sich als nicht richtig. Falsch! Wassersturz! »Da will sich jemand über uns lustig machen«, sagte ich und schickte mich an, in das Rohr zu klettern. Es gab viele kleine Felsvorsprünge, an denen ich mich mit meinen vier Händen gut festhalten konnte. Carch blieb unten zurück. Er rief mir etwas nach, aber ich konnte ihn nicht verstehen. Schnell gewann ich an Höhe. Von oben schimmerte ein rötliches Licht herein, aber ich konnte nichts Genaues erkennen, denn der Gang wand sich in Kurven durch das Erdreich. Narr! Umkehren! Die Warnung kam zu spät. Plötzlich war über mir ein Dröhnen und Rauschen. Gleichzeitig verschwand der Dämmerschein. Ein gewaltiger Sturzbach füllte Sekunden später die ganze Röhre aus. Ich wurde in die Tiefe gerissen und prallte dabei mehrfach gegen die Felswände. Meine Orientierung war verloren. Irgendwo hörte ich noch eine Stimme durch das Donnern der Wassermassen. Dann packte mich jemand und riß mich in die Höhe. Es war Carch, der unten an der Einmündung in den Felsdom
gewartet hatte. Der Wasserstrom raste weiter. Auch als ich festen Boden unter den Füßen hatte, stoppte er nicht. Der Wasserspiegel stieg schnell an, und die heftigen Strömungen und Strudel drohten mich erneut umzureißen. Beeilung! Der Unbekannte hatte gut reden. Was sollte ich tun? Mein Freund handelte jedenfalls schneller als ich. Er zerrte mich durch die Fluten auf die vierte Röhre zu. »Klettern mußt du!« brüllte er mir zu. »Schließlich hast du ein Paar Arme mehr.« Ich verstand. Carch klemmte sich auf meinen Rücken, während ich mit dem Aufstieg begann. Die nachdrängenden Wassermassen, die in diesem Schacht nun schon in die Höhe stiegen, spornten mich zu einer gewaltigen Leistung an. In dem dämmrigen Licht war es fast ein Wunder, daß ich immer wieder Halt an dem Gestein fand. Endlich erreichte ich den Ausgang. Carch glitt sofort von meinem Rücken und sah sich um. Zweifellos war dies die Oberfläche des VIVARIUMS. Wir befanden uns aber weitab jener Stelle, an der wir gelandet waren, denn ich erkannte keine bekannte Formation in der Umgebung. »Was nun?« fragte ich den Cpt'Cpt. »Danke, daß du mich mitgenommen hast«, antwortete der. »Allein wäre ich da nicht herausgekommen.« »Ich habe dir zu danken, Carch. Du hast mich aus dem Wasser gerissen. Außerdem könnte ich mir vor Wut ein Ohr abbeißen, denn erst dadurch, daß ich nicht auf den Warner gehört habe, habe ich den Wassersturz ausgelöst.« »Das mit dem Ohr könnte ich dir abnehmen«, kicherte Carch. »Sag mir lieber, wo wir sind.« »Es ist nicht erforderlich, daß ihr das wißt!« Ich zuckte bei dieser Stimme zusammen, denn sie gehörte zu den unsichtbaren Zeithütern. Natürlich fing ich mich schnell wieder.
»Seid ihr auch wieder da?« höhnte ich. »Das ist aber nett von euch. Im übrigen möchte ich jetzt nach Hause.« »Zukünftige Zeitwächter kennen kein Zuhause. Außerdem war dies erst die erste Prüfung. Immerhin habt ihr sie bestanden, wenn auch nur knapp. Wir sind guter Hoffnung, denn noch nie vor euch kam jemand lebend aus der Gruft.« »Das kann ja heiter werden«, stöhnte ich. »Absolut nicht«, antwortete der mit der brüchigen Stimme. Ich fühlte, wie meine Umgebung verschwamm. Da ich diesmal gewarnt war, konnte ich den Vorgang genauer verfolgen, auch wenn er sich nur in Sekundenbruchteilen abspielte. Ein Energiefeld hüllte Carch und mich ein. Durch es hindurch geriet die Landschaft ins Wanken und verschwand. Als sie wieder auftauchte, starrte ich auf kahle Metallwände. Der Raum war künstlicher Natur und nur etwa zehn mal zehn Meter groß und ebenso hoch. An der Decke brannte ein Beleuchtungskörper. Sonst gab es keine hervorstechenden Merkmale, auch keine Fenster oder Ausgänge. Nicht sprechen! Unser unbekannter Helfer war wieder zur Stelle. Ich beschloß, diesmal besser auf ihn zu hören. Plötzlich veränderte sich eine Wand. Erst bildeten sich große Kreise heraus, dann verwandelten sich diese in Ziffernblätter altertümlicher Uhren. Wir beobachteten die mindestens 50 Uhren, ohne zu verstehen, was dieses Theater sollte. »Die Uhren gehen«, stellte Carch fest. Er flüsterte, aber sofort erklang wieder die Stimme. Nicht sprechen! Wir hielten uns an diese Anweisung. »Nun seid ihr in der Halle der Zeit«, erklang kurz darauf eine uns nun schon bekannte Stimme aus dem Kreis der Zeitwächter. »Ihr seht eine Auswahl aus einigen wichtigen Zeiten. Entscheidet euch für die beste daraus.«
Ich wollte ob dieser unsinnigen Aufgabe laut losbrüllen, aber Carch warnte mich noch rechtzeitig mit einer Geste. Also beschäftigte ich mich mit der Frage der Zeitwächter, obwohl ich eigentlich keine Lust dazu verspürte. Die beste Zeit! Welch eine Blödsinnigkeit! Wenn es mir nur gelänge, den Sinn dieses Spieles zu durchschauen. Keine Zeit! Das war nur ein dürftiger Hinweis. Natürlich hatte auch Carch ihn verstanden. Seine vier Knopfaugen huschten über die Wand mit den Uhren. Endlich verharrte er in der untersten Reihe vor einer der Zeitanzeigen. Ich blickte genauer hin und erkannte, daß die Zeiger sich nicht bewegten. Hatte das unser unbekannter Freund gemeint? Nun überprüfte ich nochmals das ganze Feld. Tatsächlich war dies die einzige Uhr, die sich nicht veränderte. Carch nickte mir zu. Ich machte ein paar Schritte nach vorn und legte eine Hand auf das Ziffernblatt. Zu meiner Überraschung glitt mein Arm durch die Materie, als sei diese nicht vorhanden. Es mußte sich um eine Projektion oder etwas Ähnliches handeln. Als ich einen Schritt weiter nach vorn ging, durchquerte ich die ganze Wand und fand mich auf einer grünen Wiese wieder. In der Nähe weideten einige der Tiere, die wir schon beim Anflug beobachtet hatten. Cpt'Carch folgte mir ins Freie. »Gut gemacht«, log er. »Danke«, wehrte ich ab. »Es war nicht der Rede wert.« »Grüner«, zirpte er. »Ich meine nicht dich. Ich meine unseren Freund mit den guten Ratschlägen. Wer weiß, was passiert wäre, wenn du auf eine andere Uhr gedeutet hättest. Erst bei deiner Berührung wurde die Wand durchlässig.« »Woher willst du das wissen, Embryo?« »Ich weiß es eben.« Keinen Streit! Wichtig! »Hast du das gehört?«
»Natürlich.« Ich lenkte wieder ein, obwohl mir alles wie ein Alptraum vorkam. »Vertragen wir uns wieder, mein zukünftiger Zeithütergenosse.« Carch nickte. »Sicher wird es gleich wieder eine Veränderung geben.« Bevor ich etwas antworten konnte, meldete sich die brüchige Stimme des Unsichtbaren wieder. »Zu unserer Freude habt ihr wieder die richtige Entscheidung getroffen und euch damit befreit. Wir können daher die nächste Prüfung überspringen und direkt zum Abschlußtest kommen.« »Wenn der wüßte!« konnte ich noch sagen, dann wurden wir wieder versetzt. Ich hatte das Gefühl über eine lange Distanz durch den Raum zu torkeln, bis ich endlich wieder festen Boden spürte. »Wo sind wir denn jetzt?« stöhnte Carch. »Ich spüre die Nähe einer Positronik.« Da ich mich auf seine Gefühle nicht verlassen wollte, schaute ich mich lieber gründlich um. Tatsächlich machte alles, was ich entdeckte, einen hochkomplizierten und technischen Eindruck. Damit war aber nicht gesagt, daß ich von den vorhandenen Geräten auch nur eins in seiner Funktion erkennen konnte. Es summte und brummte um uns herum. Zahllose Lichter blinkten auf. Große Rohre bewegten sich hin und her. Vielleicht handelte es sich um eine Verteilerstation für Energie. »Dürfen wir hier wenigstens sprechen?« fragte ich laut. »Warum nicht.« Carch starrte die vielen Maschinen an, die sich in endlose Höhen türmten. Ich regelte das kleine Gerät zur Anpassung an eine gewohnte Gravitation etwas herunter, denn hier herrschten mehr als die 0,24 Gravos des VIVARIUMS. »Wir scheinen den Planeten verlassen zu haben«, folgerte ich aus dieser Beobachtung. »Kennst du dich mit solchen Maschinen aus, Carch? Ich habe etwas Derartiges noch nie gesehen. Was sollen wir hier?«
»Eine Prüfung bestehen.« Auf meine erste Frage ging er nicht ein. Wahrscheinlich stand er ebenso wie ich in meiner Ratlosigkeit da. »Ich schätze, daß sich die Unsichtbaren auch hier melden und uns sagen, was wir zu tun haben.« Plötzlich standen alle Maschinen still. Nichts rührte sich mehr. Wir gingen auf und ab, blickten hierhin und dorthin, aber eine Ursache für die Veränderung war nicht zu erkennen. »Sicher sollen wir alles wieder in Gang bringen«, vermutete ich. »Unwahrscheinlich. Als zukünftige Zeithüter muß alles etwas mit der Zeit zu tun haben.« »Vielleicht befinden wir uns in einer Zeitmaschine?« »Das wüßte ich, wenn ich erst richtig …« »Ja, ja, Embryo!« Carch unterbrach auf meinen Einwurf den begonnenen Satz. Nicht bewegen! Unser hohl klingender Freund war also auch wieder da. Ich befolgte seine Anweisung sofort und verharrte auf der Stelle. Carch tat das ebenso. Sogar seine ewig in Bewegung bleibenden Fühler standen plötzlich steif in die Höhe. Ich erkannte ein gewisses System. Bei jeder Prüfung war irgend etwas streng untersagt. Zuerst war es die Benutzung einer künstlichen Beleuchtung gewesen, dann das Sprechen. Und jetzt waren wir – getreu dem Rat unseres unbekannten Helfers – zur Bewegungslosigkeit verurteilt. Daneben hatten die beiden ersten Tests noch aus einer anderen Aufgabe bestanden. Also, so folgerte ich, mußte es hier auch so sein. Da Carch schwieg, hielt auch ich den Mund. Selbst die Bewegung der Lippen konnte vielleicht schon ein Fehler sein. Es verging eine ganze Weile, bis sich eine Stimme meldete. Sie gehörte keinem der Zeithüter, denn sie klang künstlich und mechanisch. »Die letzte Aufgabe besteht in der Beantwortung einer Frage«, erklärte die Blechstimme. »Wieviel Zeit ist verstrichen, seit ihr hier angekommen seid? Es gilt nur eine Antwort, die für euch beide
zählt. Eine Verständigung führt zur sofortigen Disqualifikation.« Ich wollte instinktiv auf mein Chronometer blicken, das ich an meinem rechten, unteren Arm trug, aber der Unbekannte warnte mich rechtzeitig. Es war, als ob er meine Gedanken erraten hätte. Bewegen verboten! Also konnte ich nur nach dem Gefühl antworten. Daß ich antworten mußte, war mir klar, denn Cpt'Carch würde nichts sagen, bevor er richtig geboren war. Das stand für mich fest, und es konnte noch Jahrtausende dauern. Also mußte ich mich auf mein Gefühl verlassen. Zwei Minuten waren etwa vergangen, in denen die Maschinen rumort hatten. Darin war ich mir ziemlich sicher. Aber dann wurde es schwierig. Wenn man sich nicht bewegt, verliert man irgendwann das Gefühl dafür, wie schnell die Zeit verstreicht. Es mochten zehn oder auch zwanzig Minuten gewesen sein. Warum meldete sich unser Freund nicht und gab uns die Antwort? Im Jetztzustand kein Zeitgefühl, keine Hilfe, ertönte es prompt. Carch sprach bekanntlich über eine Membrane, die sich auf seinem Rücken befand. Er brachte es fertig, damit etwas zu sagen, ohne daß sich dieses kleine Organ sichtbar bewegte. Seine zirpende Stimme klang deutlich leiser als gewöhnlich. Bei dem Schweigen ringsum war es aber kein Problem für mich, ihn zu verstehen. »Nicht bewegen, Grüner. Ich ahne etwas Furchtbares. Kannst du irgendwie auf deine oder meine Uhr blicken? Wenn ja, wirst du erkennen, ob sie noch geht.« Ich verstand den Sinn seiner Worte nicht – wie üblich. Aber ich befolgte seinen Vorschlag. Mein Chronometer lag völlig außerhalb meines Blickwinkels, und daß er so etwas wie eine Uhr tragen sollte, war für mich eine Neuigkeit. »Nun mach schon, Grüner«, zischte der Cpt'Cpt. Ich wünschte ihn zur Hölle und die unsichtbaren Zeithüter ebenfalls.
Dann aber erblickte ich in einer blanken Metallfläche in meiner Nähe ein Spiegelbild von mir. Deutlich erkannte ich meinen Arm mit dem Chronometer. Die Stunden- und Minutenanzeige leuchtete in sanftem Grün. Allerdings waren die Ziffern durch die Entfernung so klein, daß ich keine Zeit ablesen konnte. Das hätte auch wenig genützt, denn ich wußte ja nicht, zu welchem Zeitpunkt wir an diesen Ort versetzt worden waren. Ich starrte längere Zeit auf das schwache Spiegelbild und erinnerte mich dabei an Carchs Worte. Er hatte gewollt, daß ich feststellen sollte, ob die Uhr noch lief! Nicht etwa, welche Zeit sie anzeigte. Und tatsächlich! Die unklare Ziffer der Minutenanzeige veränderte sich auch nach längerer Zeit nicht. War das Ding defekt? Oder war an der Vermutung des Embryos tatsächlich etwas daran? Ich beschloß, mich einmal auf ihn zu verlassen und schwor mir insgeheim, ihn gebraten zum Frühstück zu verspeisen, wenn er mich enttäuschen sollte. Geht dann nicht mehr! teilte mir unser Helfer mit. Eine weitere Frage beschäftigte mich. Was war mit den zwei Minuten, als die Maschinen noch liefen? Zählten diese? Zählte die ganze Zeit? Weiß nicht! Unser unbekannter Helfer schien auch am Ende seiner Weisheiten zu sein. Also mußte ich raten. Da die ersten zwei Minuten mir verdammt real in der Erinnerung waren, beschloß ich, sie als echte Zeit zu zählen. Noch einmal vergewisserte ich mich, daß sich die unleserliche Zahl im Spiegelbild nicht verändert hatte. »Es sind zwei Minuten vergangen«, sagte ich dann laut. »Vielleicht ein paar Sekunden weniger oder mehr. Aber im Prinzip müßte es stimmen.« Wieder packte mich der unerklärliche Wirbel. Keine Sekunde später landeten wir hier.
* � Das war Insiders Bericht. Ich wurde nicht recht schlau daraus, zumal nach unserer Zeitrechnung achtzehn Stunden vergangen waren. Was er und Carch erlebt hatten, ergab zusammen nicht einmal eine Stunde. »Was folgert ihr aus diesem Erlebnis?« fragte ich die beiden. »Nichts!« antwortete Cpt'Carch sofort. »Zumindest nichts, was nach meiner Erfahrung vernünftig wäre. Für mich sind die unsichtbaren Zeithüter irgendwie krank oder verwirrt. Ich weiß nur, daß wir keine einzige Prüfung überlebt hätten, wenn dieser Flüsteronkel nicht gewesen wäre.« »Vielleicht war dieser einer der Zeithüter, der sich heimlich auf eure Seite geschlagen hat«, vermutete Joscan Hellmut. »Das glaube ich nicht.« Insider schüttelte den grünen Kopf. »Seine Stimme klang völlig anders. Irgendwie vertraut oder fast menschlich, aber völlig anders als die der Unsichtbaren.« Der Cpt'Cpt bestätigte das. Wir diskutierten noch eine Weile herum, während Joscan alle Beobachtungen der Bordpositronik der HORNISSE vorlegte. Aber alles half nichts. Wir fanden keine annähernd vernünftige Erklärung. Unsere Lage änderte sich auch nur wenig, als plötzlich mitten unter uns die brüchige Stimme erklang. »Die Prüfungen wurden auf Anhieb bestanden«, erklärte der Unsichtbare. »Unsere Aufgabe ist damit erfüllt. Cpt'Carch und Insider sind die neuen Zeithüter. Erfüllt eure Aufgabe. Die anderen sind schon vergangen. Ich gehe jetzt. Lebt wohl!« Für ein paar Sekunden erreichten mich die Gedanken eines Sterbenden. Sie waren schwach, aber eindeutig schied dieses Wesen dahin. Es war kein Trost für mich, daß seine Überlegungen Zufriedenheit ausstrahlten, denn schlauer wurden wir dadurch auch nicht.
Ich verständigte mich schweigend mit Federspiel, der die gleichen Empfindungen wahrgenommen hatte. Aber auch er hatte keine Einzelheiten verstanden. »Ich begrüße die neuen Zeithüter.« Uster Brick trat auf die beiden Extras zu und machte eine tiefe Verbeugung. »Wie fühlen sich unsere Hoheiten?« »Idiot!« antwortete Insider. »Ich fühle mich wie eh und je. Und die Banane brauchst du gar nicht zu fragen, bevor sie nicht richtig geboren ist.«
3. Atlan Ich stand auf einer Plattform aus reinem Nickel, einer der skurrilen Auswüchse des Flekto-Yns. Unseren Vorstoß in die Heimstatt von Hidden-X hatte ich mir eigentlich ganz anders vorgestellt. Meine Gefühle waren daher nicht sonderlich positiv, und auch mein Optimismus hatte einen gewaltigen Dämpfer bekommen. Den Gesichtern meiner 57 Begleiter war anzusehen, daß es ihnen nicht viel anders erging. Nur Blödel, der Roboter Nockemanns, verzog natürlich keine Miene. Mein ursprünglicher Plan war es gewesen, mit der PALO BOW und der HORNISSE durch die von der CHART DECCON erzeugte Öffnung in das Hypervakuum vorzustoßen, um die Voraussetzungen für das Nachdringen der SOL zu schaffen. Anfangs hatte alles ganz gut ausgesehen. Wir hatten eine Einrichtung zerstört, die gegen das volle Öffnen des Zugangs zum Hypervakuum gewirkt hatte, aber die SOL war uns nicht gefolgt. Nicht nur das, der Kontakt zu Breckcrown Hayes war vollkommen abgerissen, und der mögliche Rückweg war gar nicht mehr zu erkennen gewesen. Deinem Optimismus waren schon immer Grenzen gesetzt, lästerte mein Logiksektor. Eigentlich geschieht es dir recht, daß du in diese Lage
geraten bist. Ich beachtete diese Bemerkungen gar nicht, denn sie halfen mir wenig. Was dann geschehen war, hatte unsere Lage Stück für Stück verschlechtert. Daß der Hilferuf der drei verschollenen Solaner Seilossa Zerm, Dyck Tranand und Mürskan Bollwin eine Falle sein würde, war mir klar gewesen. Dennoch hatte ich die drei nicht einfach ihrem Schicksal überlassen können. Wenig später hatte sich das als ein Fehler herausgestellt, denn die beiden Männer hatten durch eine unerklärliche energetische Verwandlung binnen weniger Minuten für die völlige Zerstörung und Auflösung unseres Kreuzers gesorgt. Ob es Bjo mit der HORNISSE nicht auch so ergangen war, vermochte ich nicht zu beurteilen. Fest stand nur, da er die Gefahr früher identifiziert haben mußte. Unseres Raumschiffs beraubt, hatten wir kaum noch Möglichkeiten, etwas gegen Hidden-X zu unternehmen. Unsere Ausrüstung war zwar komplett, aber was bedeutete das schon. Auch konnte ich davon ausgehen, daß die jüngsten Kämpfe HiddenX zumindest geschwächt hatten. Über einen wirklichen Vorteil, der sich daraus ergab, konnte ich aber nur spekulieren. Immerhin kannte ich unseren Feind, auch wenn ich ihn noch nie gesehen hatte. Hidden-X neigte zur Selbstüberschätzung, zu Unaufmerksamkeiten und sogar zu Fehlern in Form von Fehleinschätzungen seiner Gegner. Nur dadurch war es uns seit dem Beginn der Auseinandersetzungen gelungen, ihm immer wieder ein Schnippchen zu schlagen. Besonders gegen ganz primitive Tricks zeigte es sich ausgesprochen einfältig. Ich dachte daran, wie wir mit einem Roboterheer auf der Landschaft im Nichts vorgetäuscht hatten, alle Solaner seien von Bord gegangen. Nun hatte uns dieser Erzfeind höhnisch begrüßt und uns wissen lassen, daß wir den zerstörten großen Spiegel wieder aufbauen sollten. Unsere Kampfkraft war zwar gering, aber ich schwor mir, daß es sein blaues Wunder erleben sollte.
Jetzt machst du den Fehler, den du bei deinem Feind zu sehen glaubst, warnte mein Extrasinn. Selbstüberschätzung! Ich würde vorsichtig sein, aber jede Chance, die sich bieten sollte, voll ausnutzen. Das stand fest. Leise verständigte ich mich mit meinen Begleitern Sternfeuer, Sanny, Argan U und Hage Nockemann. Sie stimmten mir zu, nicht klein beizugeben. Auch Vysta Kempp, die Kommandantin der PALO BOW gewesen war, teilte meine Meinung. Geräusche aus dem Innern des Flekto-Yns ließen vermuten, daß dort eine große Schar Roboter heranstapfte. Blödel drängte sich zu mir heran und schwenkte einen seiner Tentakelarme. »Roboter kommen, sagt Wuschel.« Damit meinte er den jungen Bakwer, einen der seltsamen Bewohner des Flekto-Yns, den er bei unserem letzten Aufenthalt mitgenommen hatte. Das eingeschlechtliche Wesen lebte jetzt in einer Laborkammer Blödels. »Das haben wir auch vermutet«, antwortete ich. »Man wird uns abführen und in Baumeister umfunktionieren. So hat Hidden-X es angekündigt«, fuhr Blödel fort. »Für mich ist das ein Zeichen, mich aus dem Staub zu machen. Wenn du gestattest.« »Was hast du vor, Blechkasten?« schimpfte Nockemann. »Habe ich dir denn nicht x-mal gesagt, du sollst ein braver Roboter sein?« »Ich kann mich nur an das Geschwätz von einem perfiden Komplex mit Hicks erinnern«, erklärte der Roboter hochnäsig. »Aber dein Palaver habe ich inzwischen durchschaut.« Ich mußte eingreifen, denn die Schritte kamen schnell näher. Einen Rückweg gab es für uns nicht, denn im Leerraum hätten uns die Maschinen des Hidden-X sicher ebenso aufgefischt wie hier. Ein Ausweichen war auch nicht möglich. »Es ist eine unpassende Zeit, sich zu streiten«, sagte ich scharf. »Blödel, was planst du?« Statt einer Antwort reichte mir der Roboter ein kleines Gerät. »Befestige diesen Mini-Empfänger an deiner Halskrause. Dann
kann ich dich immer informieren. Ich weiß nämlich noch nicht, was wir tun werden.« »Wir?« »Sanny und Argan wollen mich begleiten. Kleine Leute können sich besser verstecken.« »Du spinnst, Blödel«, schimpfte Nockemann. »Wenn es nach der Körpergröße ginge, dann müßte ich dich Hidden-X sofort ausliefern.« »Nach dir, Herr und Gebieter. Du hast schließlich dafür gesorgt, daß ich einen Zentimeter kleiner bin als du.« »Geht es schon wieder los?« drohte ich unwirsch. »Es liegt nur an diesem perfid-komplexbehafteten GallenFrenetiker«, wehrte sich Blödel. »Aber einmal abgesehen davon wäre es ganz nützlich, wenn ihr ein bißchen Spektakel machen könntet, damit wir uns besser absetzen können.« Ich nickte Vysta Kempp zu. Die ehemalige Vystidin verstand sofort und gab entsprechende Anweisungen an ihre Leute. Als die Roboter auftauchten, veranstalteten die Solaner ein chaotisches Durcheinander. Alle brüllten und schrien, rannten hin und her und kreuz und quer. Das hatte zwar zur Folge, daß diejenigen, die es besonders wild trieben, von den Maschinen paralysiert wurden, aber als ich mich nach Blödel, Sanny und dem Puschyden umblickte, fand ich sie nicht mehr. Es war ihnen gelungen zu entkommen. Die Roboter kreisten uns ein und wiesen uns die Richtung. Es ging hinein in diesen Teil des Flekto-Yns, der mir zwar unbekannt war, sich aber nicht sonderlich von jenen Regionen unterschied, die ich zuletzt mit der Hilfe Wöbbekings aufgesucht hatte, um Chybrain zu finden und den großen Spiegel zu zerstören. Ich fragte mich, ob das Verschwinden der drei nicht doch bemerkt worden war. Hinweise gab es keine, und so tröstete ich mich mit dem Gedanken, daß der Bakwer Wuschel vielleicht Verstecke kannte, in denen sich Blödel und seine Begleiter verbergen konnten.
Doch was würden sie erreichen können? War der Roboter in der Lage, sich mit Sannys Paramathematik zusammenzuschließen und etwas zu unternehmen? Meine Gedanken wurden unterbrochen, als wir in einen großen Raum geführt wurden. Die Wände und Ecken waren hier so unregelmäßig, wie ich es schon kannte. Es fehlte jegliche Einrichtung, wenn man von einem großen Beleuchtungskörper an der schrägen Decke absah. Unruhe kam in unsere Wächter. Während ein Teil von ihnen weiter dafür sorgte, daß niemand seitlich ausreißen konnte, wo ich verschiedene Ausgänge erblickte, bewegten sich etwa ein Dutzend Roboter in die Gruppe aus Solanern hinein. Sie suchten etwas oder jemand, vermutete ich. Sie suchen dich, behauptete mein Logiksektor. Dem Griff des Roboters, der mich um einen Meter überragte, hatte ich nichts entgegenzusetzen. Ich wunderte mich zwar, daß man mir meine komplette Ausrüstung und auch alle Waffen beließ, folgerte daraus aber, daß sich Hidden-X so sicher fühlte, daß er es gar nicht nötig hatte, mich dieser Dinge zu berauben. Wahrscheinlich wollte es damit auch seine Überlegenheit demonstrieren. Andererseits weckte es mein Erstaunen, daß bislang von dem geistigen Druck nichts zu spüren war. Hatten die Kämpfe tatsächlich an seiner Substanz gezehrt? Als ich aus dem Kreis der Solaner gezerrt worden war, hatten diese auch noch die komplette Ausrüstung besessen. Da wir uns gut mit allen möglichen Waffen eingedeckt hatten, war dieses Verhalten von Hidden-X ein Rätsel. Ich wurde durch einen rechteckigen Gang geschleppt, nach meinem Gefühl in Richtung des Zentrums. Blanke Nickelwände huschten an mir vorbei, die nur gelegentlich von Sockeln und Abzweigungen unterbrochen waren. Bei diesem Weg schien es sich nicht um jene Röhren zu handeln, von denen wir vermuteten, daß sie dem Transport von Energien zu den vielen kleinen oder dem
einen großen, jetzt zerstörten Spiegel dienten. Schließlich ging es durch einen Antigravschacht abwärts. Dieser Weg endete auf einer Platte, die nicht fest an den Seitenwänden verschweißt war. Der riesige Roboter ließ mich fallen und setzte sich sofort wieder in Bewegung. Er glitt in die Höhe und war Sekunden später aus meinen Augen verschwunden. Noch während ich überlegte, was diese Prozedur zu bedeuten haben könnte, warnte mich wieder der Extrasinn. Mach dich auf einen tiefen Fall gefaßt! War das bildlich gemeint? Oder vermutete er, daß die Bodenplatte verschwinden würde? Ich konnte nicht mehr rückfragen, denn schon kippte die Platte zur Seite, und ich fand keinen Halt mehr. Da es unter mir dunkel war, konnte ich nicht erkennen, wie weit es abwärts ging. Noch während des Falles krümmte ich meinen Körper zusammen, um mich im Moment des Aufpralls abrollen zu können. Der Sturz endete jedoch sanft, weil plötzlich die Gravitation nachließ und mich für Sekunden sogar in die andere Richtung zog. Über mir rastete die Nickelplatte wieder in ihre Fassung. Kurz darauf flammte ein Leuchtband an einer Wand auf. Ich fand mich in einem würfelförmigen Raum wieder, der im wesentlichen so aussah wie jener, von dem Sanny bei ihrer Gefangennahme berichtet hatte. Es gab nur kahle Wände und keine Ausgänge oder Fenster. Lange brauchte ich nicht zu warten. Dicht über dem Boden öffnete sich eine quadratische Platte. Aus dem Loch wieselten in schneller Folge ein Dutzend Bakwer herein. Sie stellten sich in einem Halbkreis vor mir auf. Ich konnte nur ihre äußere Hülle sehen, die stark übergroßen Igeln glich. Obwohl wir mit Wuschel einen jungen Bakwer auf unsere Seite hatten, wußte ich über die Wesen nur wenig. Sie wurden in ihrer wahren Intelligenz von Hidden-X unterdrückt, so daß sie kaum noch eine Eigenständigkeit besaßen. Nur die ganz jungen Bakwer waren unbeeinflußt. Darüber hinaus war mir bekannt, daß sie eine Art organisches Reinigungskommando im Flekto-Yn darstellten, also praktisch alle
Abfälle aus den Arbeiten der früheren Baumeister, der Roxharen und der Molaaten, zu entfernen hatten. Darüber hinaus pflegte Hidden-X diese Allesfresser auch als Angriffswaffe einzusetzen, wie wir aus eigener Anschauung wußten. Ich mußte also auf der Hut sein. Unauffällig überprüfte ich den Sitz meiner Waffen. Die Öffnung in der Wand blieb bestehen, aber sie wäre viel zu klein gewesen, als daß ich hätte hindurchschlüpfen können. Ein besonders großes Exemplar in der Mitte des Halbkreises wölbte seinen Körper auf. Als seine harte, männliche Stimme erklang, konnte ich zunächst nicht genau erkennen, ob es dieser Bakwer war. Sein Sprechorgan war meinem Blick entzogen, aber der Körper pulsierte leicht. »Nun bist du also endgültig in meine Falle gegangen«, sagte der Bakwer. Ich stutzte. »Wer spricht dort?« fragte ich zurück. »Wer?« Der Bakwer lachte höhnisch. »In dieser Form erkennst du mich nicht, denn es spricht nur ein winziger Bruchteil von mir, der im Augenblick den Körper des Bakwers Yst beherrscht. Du solltest mich aber dennoch erkennen.« Hidden-X! erklärte mein Extrasinn, der die Zusammenhänge schnell durchschaut hatte. Wir hatten in den letzten Wochen verschiedene Theorien über das wirkliche Wesen des Hidden-X aufgestellt. Eine davon, die wir als die wahrscheinlichste erklärt hatten, besagte, daß Hidden-X aus vielen oder verschiedenen Bewußtseinsanteilen bestand. »Hidden-X läßt sich herab«, sagte ich laut, »mit einem Millionstel seines Ichs zu mir zu sprechen. Welch eine Ehre!« Es sollte ruhig merken, daß ich es verhöhnte. »Es spielt keine Rolle, welcher Teil von mir spricht«, antwortete der Bakwer, »denn kein Teil kann etwas anderes sagen als das ganze Ich.«
»Warum zeigst du nicht deine wirkliche Gestalt?« drängte ich. Und als ich keine Antwort erhielt, fuhr ich fort: »Wahrscheinlich weil du Angst hast, alle Welt würde über dich lachen. Du besitzt nämlich gar keine Gestalt. Du bist ein Nichts, ein Schatten.« »Du kommst der Wahrheit nahe, Atlan«, antwortete Hidden-X durch den Bakwer Yst. »Aber deine Worte können mich nicht treffen. Ich habe mir gedacht, daß du in der Lage bist, Schlußfolgerungen über mich zu ziehen. Wie alle lächerlichen Zwerge hast du dir einen Vorteil davon erhofft. Es würde dir nichts nützen, wenn du mich erkennst.« »Dann sprich, Hidden-X! Ich bin sehr interessiert. Wenn ich dir ohnehin nicht mehr schaden kann, so gönne mir die Freude, dich zu erkennen.« »Ein lächerliches Ansinnen und ohne Sinn. Aber niedrige Wesen, wie du eins bist, laben sich wohl an überflüssigen Erkenntnissen. Erinnerst du dich an Seth-Apophis? Du hast von diesem Wesen gehört, das ihr eine Superintelligenz nennt. Aus ihr bin ich hervorgegangen. Sie hat einmal vor langer Zeit einen Teil ihrer Bewußtseinsinhalte gespiegelt oder verdoppelt. Nenne es, wie du willst. Diese Spiegelung hat sich selbständig gemacht. Das bin ich.« Ich hatte zwar etwas Ähnliches schon seit längerer Zeit vermutet, denn es gab Hinweise in dieser Richtung. Daß Hidden-X sich selbst so darstellte, verwunderte mich dennoch. Zwei wichtige Folgerungen ergaben sich daraus. Einmal erkannte ich so etwas von der Macht dieses Wesens, obwohl ich über Seth-Apophis' Charakter und Absichten nur wenig wußte. Diese Superintelligenz war der aktuelle Gegenspieler von ES, dem Mentor der Menschheit, dem ich meinen Zellaktivator verdankte. Zum anderen glaubte ich nun den Auftrag der Kosmokraten besser verstehen zu können. Letztlich kam es diesen Wesen ja darauf an, eine kosmische Kräftekonstellation zu schaffen, die bei
einer zu erwartenden Auseinandersetzung der Superintelligenzen den positiven Mächten zum Sieg verhelfen sollte. Also war dein Weg über Osath, Chail, Bumerang, All-Mohandot bis hierher doch nicht zufällig, wie du manchmal angenommen hast, kommentierte mein Extrasinn diese Überlegungen. Ich konnte ihm nicht widersprechen. Was Hidden-X unter einer »Spiegelung« verstand, war mir nur bedingt klar. Es arbeitete ja teilweise selbst nach diesem Prinzip, wie wir an den Raumschiffen gesehen hatten, die aus der echten SOL »gespiegelt« worden waren. Ich zog es vor, nichts auf Hidden-X' Erklärungen zu antworten. Statt dessen erschien es mir zweckmäßiger, es weiter zu reizen, damit es sich vielleicht eine Blöße geben würde, die ich dann für mich ausnutzen konnte. »Und mußt du dich vor mir in so einfachen Kreaturen verstecken«, höhnte ich, »wie es die Bakwer sind. Nach den vielen Niederlagen, die wir dir zugefügt haben, muß das eine schlimme Erniedrigung sein.« Es reagierte nicht spürbar darauf, aber ich glaubte aus der Stimme des Bakwers jetzt Zorn zu erkennen. »Deine Leute werden zunächst den großen Spiegel wieder aufbauen«, teilte Hidden-X mir mit. »Dann werde ich wieder unangreifbar sein. Ihr werdet die mentale Gewalt zu spüren bekommen.« Es ist geschwächt, behauptete der Logiksektor. Die Chailiden müssen ihm schwer zugesetzt haben. Nutze das aus. »Du mußt wohl erst wieder auftanken, weil deine Kräfte verbraucht sind. Und deswegen versteckst du dich in diesen Wesen.« »Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Überlege lieber, wie du deine Haut am besten verkaufst, denn du wirst nicht zu dem neuen Kommando der Baumeister gehören.« Ich ahnte, was jetzt kommen würde.
»Sondern?« fragte ich. »Du bist eine permanente Gefahr, Atlan. Deshalb wirst du beseitigt.« »Du willst mich töten?« »Nicht direkt.« Hidden-X lachte. »Es gibt Dinge, von denen du nichts verstehst. Deshalb werde ich dich von deinesgleichen töten lassen.« »Du sprichst in Rätseln. Willst du dir die Hände nicht schmutzig machen? Sollte es tatsächlich möglich sein, daß in dir noch ein Funken Anstand vorhanden ist?« »Du siehst alles falsch, Knecht. Es sind die Mächte aus dem Jenseits, die etwas von ihrer Aura an dir haben haften lassen. Das allein verbietet mir, dich direkt zu töten, denn noch bin ich nicht so stark, daß ich auch die Jenseitigen unterjochen könnte.« »Die Mächte aus dem Jenseits?« Diese Eröffnung erbrachte völlig neue Aspekte, wenn meine Vermutung zutraf. »Du sprichst von den Kosmokraten? Du kennst sie?« »So nennst du sie, und ich weiß, daß es sie gibt. Das genügt. Ich werde mich jetzt um meine neuen Sklaven kümmern. Meine Bakwer werden dich beseitigen. Sie haben keine Scheu vor deiner Aura.« Plötzlich kam Bewegung in die Igelartigen. Sie krochen von allen Seiten auf mich zu.
* »Ich werde dir zeigen, daß ein alter Arkonide noch kämpfen kann«, stieß ich hervor, als die Bakwer sich schnell näherten. Zugleich bemerkte ich, daß weitere der kleinen Biester durch die Öffnung in der Wand gekrochen kamen. Ich hatte eigentlich nichts gegen diese igelähnlichen Wesen, die ja auch nur Opfer von Hidden-X waren. Aber wenn es mir an den Kragen gehen sollte, durfte ich keine Rücksicht walten lassen. Zu
gut erinnerte ich mich noch an den Fehler, den ich mit Seilossa und ihren beiden Begleitern gemacht hatte. Dort war ich zu rücksichtsvoll gewesen, was uns nur geschadet und den drei Solanern auch nicht geholfen hatte. Zunächst stellte ich meine Waffen auf Paralyse und feuerte damit in die vorderen Reihen der Bakwer. Sie wurden zwar etwas langsamer, die Paralysestrahlen wirkten bei ihnen aber nicht richtig. Ich schob den Hebel des einen Kombistrahlers nach vorn und drückte erneut ab. Der Flammenstrahl fraß sich in die Nickelwand über der Öffnung. Das glutflüssige Metall verbreitete eine enorme Hitze und tropfte nach unten. Nach einem zweiten Feuerstoß mit Fächerwirkung war das Loch vorerst verschlossen und damit die nachdrängenden Angreifer abgewehrt. Etwa Bakwer befanden sich unmittelbar in meiner Nähe. Sie bestrich ich pausenlos mit dem Paralysator, während ich gleichzeitig versuchte, seitlich von mir ein Loch in die Wand zu schmelzen. Als die Bakwer immer näher kamen, zog ich eine glühende Spur in den Boden. Ich hoffte, daß diese sie aufhalten würde, bis mein Fluchtweg frei war. Hinter der zugeschmolzenen Öffnung hörte ich ein heftiges Scharren. Dort draußen machten sich also meine Feinde daran, den Weg regelrecht frei zu fressen. Endlich schien mir das herausgeschossene Loch groß genug. Du weißt nicht, was dich dahinter erwartet, warnte mich der Logiksektor. Nach den bisherigen Feststellungen gibt es etwa 100.000 Bakwer im Flekto-Yn. Erinnere dich an das Sprichwort der Terraner: Viele Hunde sind des Hasen Tod. Ich stürzte auf die Öffnung zu und feuerte dabei mit beiden Kombistrahlern, auf Paralyse gestellt, hinter mich. Mit einem Satz war ich durch das Loch hindurch. Dunkelheit empfing mich. Ich schaltete den Brustscheinwerfer ein und rannte den schmalen Korridor entlang, den ich erblickte. Nach etwa 50 Metern blieb ich stehen. Ich mußte meine Verfolger auf
Distanz halten. Wieder sprachen die beiden Waffen. Ich ließ die Flammenstrahlen an den Seitenwänden in die Höhe fahren und dann über die Decke hinweg. Sofort geriet das Nickel in Glut. Beim zweiten Überstreichen der Flächen lösten sich ganze Fladen heraus und stürzten zu Boden. Ich setzte das Feuer fort, bis sich ein gut ein Meter hoher Wall aus glühendem Metall aufgehäuft hatte. Erst dann setzte ich meinen Weg fort. Hidden-X gibt dir noch eine Gnadenfrist, verhöhnte mich mein Extrahirn. Ich rannte weiter und kam auf eine breite Fläche, die beleuchtet war. Auffällig war, daß dieser große Raum nur drei unmittelbare Wände besaß. Die vierte Seite war offen. Hier erkannte ich erst in einigen hundert Metern eine neue Nickelwand. Mit wenigen Schritten war ich an dem Rand. Vor mir öffnete sich eine riesige Halle. Der nächste feste Boden war etwa 50 Meter unterhalb von mir. An der Decke brannte eine Kunstsonne, und der Boden war mit verschiedenen Geräten angefüllt. Ich kannte diese Maschinen nicht, aber es handelte sich vermutlich um Werkzeuge für den Ausbau des Flekto-Yns. Seitlich von mir war ein Sockel in Kopfhöhe und darüber ein zweiter. Da die Wände davor glatt waren, stellten diese Sockel ein Hindernis für die Bakwer dar. Das glaubst du! stichelte mein Extrasinn. Ich schwang mich auf den ersten Sockel und von dort auf den zweiten. Vorerst schien mir dieser Platz sicher. Von hier aus konnte ich auch seitlich in die Tiefe blicken, wo die Geräte standen. Von den verfolgenden Bakwern war noch nichts zu sehen. Das war ein Trost. Dafür erregte eine Veränderung dort unten zwischen den Maschinen meine Aufmerksamkeit. Im Gänsemarsch marschierten dort die Leute der PALO BOW, eskortiert von Robotern, in die Halle. Die Solaner bewegten sich wie Marionetten. Zweifellos standen sie unter der mentalen Gewalt von
Hidden-X. Ich erkannte Vorlan Brick und neben diesem Sternfeuer und Vysta Kempp. Da die Entfernung beachtlich war, zog ich das kleine positronische Fernglas aus meiner Kombination und betrachtete meine Freunde genauer. Mein Verdacht, daß sie dirigiert wurden, wurde so bestätigt. Allerdings fiel mir in Sternfeuers Augen eine ungewöhnliche Unruhe auf. Sie blickte von Zeit zu Zeit aufmerksam nach allen Seiten. Das war ungewöhnlich. Sie konnte sich dem mentalen Bann entziehen, erklärte der Logiksektor. Das war überflüssig, denn diesen Schluß hatte ich längst selbst gezogen. Sie ist Mutantin. Ich überlegte für einen Moment, ob ich sie mit dem Normalfunkgerät anrufen sollte. Trotz der vielen Nickelwände dürfte es auf dieser kurzen Entfernung keine Probleme geben. Ich verwarf den Gedanken aber wieder, denn ich wußte nicht, über welche Überwachungsmechanismen Hidden-X verfügte. Was sich dort unten vollzog, sah zunächst wie eine normale Einweisung von Arbeitern aus. Die mentalen Befehle und die Anweisungen der Roboter steuerten das Geschehen. Schließlich rückten kleine Arbeitstrupps durch verschiedene Ausgänge ab. Ich öffnete meine Gedanken, als Sternfeuer zufällig in meine Richtung blickte. Sie zuckte nur ganz kurz zusammen. Dieses Zeichen genügte mir, um zu zeigen, daß sie mich entdeckt hatte. Als Antwort ließ sie eine Bombe an ihrer Kombination heruntergleiten. Dann gab sie dem winzigen Körper einen Stoß, so daß er unter eine der Maschinen rollte, die offensichtlich nicht für den bevorstehenden Arbeitseinsatz benötigt wurde. Ich lachte innerlich, denn keiner der Roboter reagierte darauf. Die Solanerin konnte also in aller Ruhe an verschiedenen Stellen hochexplosive Sprengsätze legen. Du trägst auch ein Dutzend davon mit dir herum, wurde ich erinnert. »Natürlich«, sagte ich leise. »Und ich werde sie schon an dem
Mann bringen.« Unten leerte sich die Halle. Die Trupps verschwanden mit ihren Maschinen, und auch Sternfeuer verlor sich aus meinem Blickfeld. Es war ein schwacher Trost, daß sie als einzige Unbeeinflußte bei den rund 50 Solanern war, denn allzuviel würde sie nicht ausrichten können. Da sie mir kein weiteres Zeichen gegeben hatte, ging ich davon aus, daß die Bomben in der Standardzeit sich selbst zünden würden. Mir blieben also noch knapp zwei Stunden, um etwas zu unternehmen. Um den Bakwern zu entkommen, du Narr! schimpfte der Logiksektor. »Seit wann bist du so ängstlich«, flüsterte ich. In diesem Moment hörte ich eine leise Tonfolge. Sofort fielen mir die dazugehörigen Worte ein. »In eighteen-fourteen, we took a little trip, along with Colonel Jackson, down the mighty Mississipp …« Mit diesem uralten Lied der Terraner hatte Blödel schon einmal eine gefährliche Situation gerettet, als ich mit ihm im Flekto-Yn gewesen war. Das war sein Erkennungszeichen. Der kleine Hyperfunkempfänger, den er mir ausgehändigt hatte, bevor er mit Sanny und Argan U untergetaucht war, hatte angesprochen. Antworten konnte ich nicht, denn dies war eine einseitige Verbindung. Ich wollte es auch nicht, um nicht Hidden-X oder seinen Robotern meinen Aufenthaltsort zu verraten. Keine Minute später merkte ich, daß Blödel ebenso gedacht hatte. Ich kauerte mich in die äußerste Ecke des Simses, so daß ich meine Umgebung gerade noch im Auge behalten konnte. Meine Waffen lagen griffbereit neben mir. Dann lauschte ich den leicht verzerrt klingenden Worten des Roboters. He, Arkonide! Ich hoffe du hörst mich noch. Gerate nicht in Panik, weil ich hier Hyperfunk benutze. Ich bin längst nicht mehr an dem Ort, von dem aus diese Sendung zu dir kommt. Wenn Hidden-X den Sender anpeilt, nützt ihm das nur wenig. Er kann ihn zwar aufspüren lassen und zerstören, aber meine Worte kann dieser
Flekto-Yn-Banause nicht verstehen. Ich verwende einen speziellen Code, der nur in deinem Gerätchen verstanden werden kann. Gut, nicht wahr? Also laß dir schnell berichten, was geschehen ist. Das Wichtigste zuerst. Sanny, Argan und mir geht es gut. Allerdings ist Wuschel verschwunden. Er hat keine langen Erklärungen abgegeben. Er meinte nur, er müsse seine Leute aufsuchen. Da ich in der vergangenen Woche diverse Medikamente entwickelt und ihm diese mitgegeben habe, sollte er gegen die Mentalattacken dieses HiddenX gefeit sein. Was er wirklich beabsichtigt, weiß ich nicht, aber wir können ihm vertrauen. Meine letzte Bitte an ihn war, daß er seine Leute überreden soll, nicht die perfid-komplexe Flüssigkeit zu entfernen. Hm, ja. Ich muß dir wohl erklären, was das ist. Vielleicht stößt du bei deinem Spaziergang auch darauf. Das Zeug sieht so ähnlich aus wie Marmelade. Chemisch gesehen, ist es ein völlig uninteressantes Geschmier. Es eignet sich nicht einmal zum Fetten von beweglichen Teilen. Ist auch egal. Jedenfalls sieht die PKF, so habe ich die perfidkomplexe Flüssigkeit genannt, so ähnlich aus. Ich habe sie an verschiedenen Stellen ausfließen lassen. Sie ist auch in Antigravschächte gesickert und in Ritzen zwischen den Nickelwänden geflossen, wobei ich nicht wußte, was dahinter war oder ist. Jedenfalls habe ich schon eine ganze Ecke des Flekto-Yns damit versaut. Sanny kann sich prima orientieren. Sie führt uns in immer neue Abschnitte, und sie kann auch geschickt den Bakwern ausweichen. Argan hält mir den Rücken frei. Was mich an ihm stört, ist, daß er mich »Schmierseifer« nennt, seit ich mit dem Ausstoß der PKF begonnen habe. Er hätte wohl lieber gehabt, wenn ich Zuckerwasser produziert hätte. Das ist aber nicht drin, denn ich brauche meine ganze Kapazität für die PKF. Du siehst also, mein Freund und Gesinnungsgenosse, wir sind nicht faul. Schade, daß das Nockemännchen mich nicht in Aktion sieht. Er würde vor Ärger seinen Schnauzbart abbeißen. Das wäre
ein Spaß! Das ist also die erste Sendung, Atlan. Viel mehr geht auch nicht in den Speicherkristall. Dann halt dich wacker bis zur nächsten Botschaft. O je! Eins hätte ich beinahe vergessen, dir zu sagen. Du darfst nicht glauben, daß Hidden-X auf der PKF ausrutschen und sich das Genick brechen könnte. Dafür ist die PKF zu klebrig. Aber kleben bleiben wird er auch nicht. Die PKF kann auf mein Signal aber etwas anderes. Sie verwandelt sich in einer Nanosekunde in einen Stoff, der hochexplosiver ist als TNT. Das müßte doch einen hübschen Feuerzauber geben. Ich muß nur noch abwarten, was mit den Leuten von Vysta Kempp geschieht, damit sie nicht in Gefahr geraten. Und natürlich muß ich wissen, wie es dir geht. Nun aber Schluß, den Minisender versteckt und dann weg von hier. Bis später, Atlan! Die Colonel-Jackson-Tonfolge, mit der Blödel seine Nachricht abschloß, war noch nicht am Ende, als ich eine Bewegung bemerkte. Auf zwei gegenüberliegenden Seiten drängten sich wahre Unmengen von Bakwern in den Raum. Trotz meines guten Verstecks schienen sie genau zu wissen, wo ich mich befand, denn sie hielten zielstrebig auf den doppelten Sockel zu. Ohne unvertretbares Risiko wäre ich nie früh genug auf den Boden gekommen, um von dort zu fliehen. Der Überfall der Bakwer war einfach zu schnell über die Bühne gegangen. So blieb ich erst einmal dort, wo ich war. Wenn es ganz brenzlig werden sollte, so konnte ich noch das kleine Antigravgerät einsetzen, das ich mitführte und damit in der Tiefe verschwinden, wo die Werkzeuge der Bautrupps standen. Sicher gab es dort weitere Verstecke und auch Möglichkeiten, die Bakwer abzuschütteln. Als die ersten von ihnen unterhalb von mir angekommen waren, erkannte ich ihre Absicht. Mit ihren zirpenden Lauten verständigten sich diese Intelligenzen. Mein Translator übersetzte ein paar Brocken, aus denen ich erkannte, daß sie sich zu einer regelrechten
»Nickel-Freß-Kolonne« formierten. In vier Reihen bauten sich die Wesen hintereinander auf. Der vorderste biß ein Stück Nickel aus dem untersten Sockel heraus. Sofort rückte der nächste nach und tat das gleiche. Bei dieser Piranha-Taktik, sagte mein Extrasinn, werden sie dich bald von deinem hohen Roß geholt haben, wenn du dich nicht wehrst. Ich spürte den Widerwillen in mir, erneut auf diese bedauernswerten Geschöpfe zu schießen. Sicher, mit den Impulsstrahlern hätte ich sie reihenweise töten können, aber das hätte nichts genützt. Erstens wußte ich, daß ich niemals alle zigtausend Bakwer auf diese Weise hätte beseitigen können, und zweitens wußte ich, daß ich sie damit nicht abschrecken konnte. Da sie unter dem Zwang von Hidden-X handelten, würden sie sich rücksichtslos in den Kampf werfen. Unter mir hatte sich bereits eine deutliche Ausbuchtung in dem Nickelblock gebildet. »Hört auf mit dem Unsinn«, rief ich nach unten. Mein Translator übersetzte die Worte. »Ich werde euch verschonen.« Sinnlos, höhnte der Logiksektor. Du lernst es nie. Wo ist deine frühere Konsequenz geblieben? »Das sind Dinge, von denen du nichts verstehst«, antwortete ich verärgert. »Oder bist du dir nicht darüber im klaren, daß die Bakwer eigentlich auf meiner Seite stehen?« Narr! Die drei Solaner, die du aus dem Flekto-Yn an Bord der PALO BOW geholt hast, standen auch einmal auf deiner Seite. Und wo sind sie jetzt? Und wo ist die PALO BOW? Und wo sind deine Begleiter? Irgendwie hat mein Extrasinn ja recht. Ich feuerte ein paar Warnschüsse über den Bakwern ab, aber erwartungsgemäß reagierten sie gar nicht darauf. »Siehst du?« sagte ich. Der Logiksektor zog es vor zu schweigen. Allmählich wurde meine Lage wirklich gefährlich, denn ich konnte nicht mehr erkennen, wie weit diese Allesfresser schon unter
mir vorgedrungen waren. Also regelte ich den Antigrav hoch und schwebte in den Raum hinein. Die Bakwer benötigten ein paar Sekunden, bis sie merkten, daß ihnen ihre Beute zu entkommen drohte. Sie stießen schrille Pfiffe aus und türmten sich unter mir zu einem Haufen zusammen. »Nun versucht mal, mich zu kriegen«, schrie ich hinab, und der Translator übertrug auch diese Worte. Ich dirigierte mich zur Seite, bis ich über den Abgrund kam, der in die tiefer gelegene Halle mit den Maschinen führte. Die Bakwer folgten bis an den Rand. Die nachdrängenden Wesen schoben die vorderen vor sich her. Ein halbes Dutzend von ihnen stürzte in die Tiefe, bis die Masse merkte, daß sie falsch handelte. Der ganze Raum war von den schrillen, zirpenden Tönen angefüllt. Der Translator unterbrach seine Tätigkeit, weil in dem Gewirr keine Einzelstimme mehr zu identifizieren war. Langsam glitt ich in die Tiefe. Unter mir erkannte ich die reglosen Körper der Abgestürzten. Ob sie noch lebten, vermochte ich nicht zu sagen. Kümmere dich lieber um dein Leben! stachelte der Extrasinn erneut. Ich sank zwischen zwei riesigen Maschinen zu Boden. Ein mächtiger Kran, der denen der SOL sehr ähnelte, denn auch er besaß einen Antigrav-Verstärker, schwebte direkt über meinem Kopf. Deckungsmöglichkeiten gab es genug. Ich wollte aber auch freies Sichtfeld haben, denn es war mir klar, daß die Bakwer über kurz oder lang auch hier erscheinen würden. Über kurz, behauptete der Extrasinn. Eine harmlos aussehende Maschine auf acht Rollen kam auf mich zu. Ich hielt meine Waffen schußbereit. »Noch lebst du«, erklärte die Maschine. Ihr Tonfall erinnerte mich an die Mentalsprache von Hidden-X. »Und das macht mir Spaß. Entkommen kannst du jedoch nicht.« »Du wirst immer primitiver, Hidden-X«, lachte ich. »Jetzt mußt du
dich schon lebloser Objekte bedienen, um mir etwas von deiner Feigheit zu erzählen.« Bevor eine Antwort kam, drückte ich beide Waffen ab. Die Maschine zerbarst in einer Wolke aus Feuer und Rauch. Dümmer kann man seinen Standort kaum verraten, klagte der Logiksektor. Ich rannte los und brachte eine große Strecke hinter mich, bis ich eine Wand erreichte. Hier gab es mehrere Ausgänge. Ich wählte einen, durch den auch eine Gruppe Solaner geführt worden war. Das Labyrinth des Flekto-Yns nahm mich erneut auf. Eine vernünftige Orientierung war hier unmöglich. Es herrschte zwar überall eine gleichmäßige Gravitation, die den Normalwerten der Molaaten entsprach, also gab es ein Oben und Unten, aber ich vermochte nicht zu sagen, ob die Richtungen dieser künstlichen Schwere sich nicht krümmten, wenn man sich von einem Ort weit entfernte. Das spielt auch keine Rolle. Ein Platz ist so gefährlich wie der andere. Ich drang in dunklere Regionen vor. Nur vereinzelt drang noch Licht aus Seitengängen in die Röhren und Schächte, durch die ich lief. Zu Fuß kam ich aber immer noch schneller voran als mit dem schwachen Antigravgerät. Plötzlich stand ich vor einem verschlossenen Tor. Es war merkwürdig kühl hier, und ich vermutete, daß ich zu einer Außenwand des Flekto-Yns gelangt war. Ich mußte umkehren. Aus einer undefinierbaren Entfernung drangen Geräusche an mein Ohr. Auch die Richtung konnte ich nicht genau lokalisieren. Waren da die Solaner am Werk? Dann mußte ich mich in der Nähe des großen Spiegels oder seiner Trümmer befinden. Oder gaukelte mir Hidden-X etwas vor? Wie stark war die angebliche Aura der Kosmokraten, die mir anhaften sollte? Auch das war eine unbeantwortete Frage, die für das Kräfteverhältnis eine Rolle spielen konnte. Ich drehte um und begann mit der Suche nach einem Quergang,
der mich zu dem Herkunftsort der Geräusche führen sollte. Weit kam ich nicht, denn plötzlich baute sich vor mir buchstäblich aus dem Nichts eine Nickelwand auf. Um ein Haar wäre ich gegen sie gerannt. Die Falle beginnt sich zu schließen, vermutete der Logiksektor. Es war ein schwacher Trost, daß er sich geirrt hatte. Logik hilft bei einem Wesen wie Hidden-X nur selten. Dessen Mentalstimme wandte sich direkt an mich. »Mir gefällt nicht, wo du dich herumtreibst«, donnerte die Stimme. Oder war da ein leichtes Vibrieren, eine Unsicherheit, herauszuhören? »Deshalb werde ich dich an einen anderen Ort versetzen.« Ein Energiefeld schoß aus den Wänden und hüllte mich ein. Die Umgebung verschwand. Ich spürte einen Entzerrungsschmerz und fühlte mich hinweggerissen. Keine Sekunde später befand ich mich an einem ganz anderen Ort, aber zweifellos noch im Flekto-Yn, wie die Nickelstrukturen zeigten. In diesem Raum war alles quadratisch oder würfelförmig. Die etwa 100 mal 100 Meter große Halle besaß Tausende von kantigen Vorsprüngen und Höckern, die den Boden, die Decke und alle Wände bedeckten. Die Größe dieser Würfel betrug zwischen drei und zehn Metern. Ich hatte keine Zeit, über diese skurrile Anordnung und ihre Sinn nachzudenken, denn zwischen den Würfeln wimmelte es von Bakwern. Mit gezogenen Waffen lief ich auf eine einigermaßen freie Fläche zu. Die Bakwer folgten mir langsam, aber konsequent. Sie bildeten einen Kreis aus einigen tausend Leibern. Geräusche machten mich aufmerksam. Es knirschte und knackte, als ob Metall auf Metall gerieben und geschoben wurde. Rasch blickte ich mich um und prägte mir das Aussehen der Wände genau in mein fotografisches Gedächtnis ein. Diesmal war der Logiksektor eine wirkliche Hilfe, denn er erkannte die Zusammenhänge sehr schnell.
Die Wände schieben sich auf dich zu. Auch die Decke senkt sich herab. Die kantigen Körper passen genau ineinander. Am Ende dieses Vorgangs wird in der Mitte noch ein Raum von etwa 20 mal 20 Metern sein und in diesem der Würfel mit dem schimmernden Blauton. Das ist der Ort, den Hidden-X für deinen Tod bestimmt hat. Ich überprüfte diese Aussagen und beobachtete nun genauer, wie sich die Wände und die Würfelblöcke verschoben. Es stimmte, was der Extrasinn gesagt hatte. Dies war nichts weiter als eine Falle, aus der es kein Entrinnen gab. Ausgänge konnte ich nirgends entdecken. Du hast noch zwei Minuten Zeit, um dir etwas einfallen zu lassen, erinnerte mich der Logiksektor. Mir fiel nichts ein. Die wartenden Bakwer schienen genau zu wissen, wie diese Sache enden würde. Sie hockten geduldig in dem Kreis, der am Ende auch in dem freien Raum bleiben würde. Töte die Bakwer! forderte das Extrahirn. So kannst du dein Leben noch etwas verlängern. Ich schüttelte den Kopf. Mit einem fragwürdigen Zeitaufschub war mir nicht geholfen. Ausgerechnet in diesem Moment erklang Blödels Melodie wieder. Na, Kosmokraten-Hiwi, wie sieht die Sache aus? Hier gibt's ein paar Neuigkeiten, die du wissen solltest. Argan ist auf einen Trupp Solaner gestoßen. Er hilft jetzt Sternfeuer, die dort wohl die einzige immune Person ist, beim verstecken von kleinen Bömbchen. Hört sich gut an, nicht wahr? Ich habe Nockemann in Trance gesehen. Ein wahrhaft gigantischer Anblick! So sollte er immer sein. Und nur auf meine Befehle hören. Meine PKF-Produktion habe ich eingestellt, weil das Rohmaterial aufgebraucht ist. Neue Grundsubstanzen konnte ich nicht finden. Wir haben uns darauf geeinigt, daß wir alles zur gleichen Zeit hochgehen lassen. Das wäre von dem Zeitpunkt ab, zu dem du diese Sendung hörst, in etwa 30 Minuten. Richte dich also danach und nach der Marmelade. Du wirst dich schon durchboxen.
Außerdem hat Sanny einen Plan entwickelt, wie wir dich finden könnten. Nun noch zu Wuschel. Er war einmal kurz hier und hat berichtet, daß er nicht …
* Die Art des Abbruchs ließ nur den Schluß zu, daß Hidden-X und seine Helfer diesmal den Sender sehr schnell gefunden hatten. Viel Zeit zum Zuhören hätte ich sowieso nicht mehr gehabt. Der freie Innenraum war auf knapp 30 Meter zusammengeschmolzen. Die Vorsprünge waren fast völlig verschwunden. Sie hatten sich zu glatten Flächen umgeformt und dabei ineinandergeschoben. Die Bakwer harrten noch immer geduldig der Dinge, die da kommen würden. Die Decke reichte nur mehr in sechs oder sieben Meter Höhe. Mit dem Antigrav würde ich mich also auch nur kurz aus der Gefahr bringen können. In der Mitte des freien Raumes stand ein einzelner bläulich schimmernder Block. Die Bakwer umschlossen auch ihn in ihrem großen Kreis. Irgend etwas mußte ich tun. Vielleicht ist der blaue Würfel nicht massiv, vermutete der Logiksektor. Wenn er eine Grabstätte für dich sein soll, und das ist sehr wahrscheinlich, dann muß er auch einen Zugang haben. Von drinnen kannst du dich besser verteidigen. »Ich dachte, ich sollte den Bakwern zum Frühstück vorgeworfen werden«, antwortete ich. Vielleicht sollten sie dich nur anknabbern. Oder Hidden-X hat seine Absichten geändert. Eine echte Rettungschance sah ich in dem Würfel nicht, aber mir blieben ja keine anderen Möglichkeiten. Ich schaltete den Antigrav ein und schwebte in die Höhe. Die Bakwer blieben ganz ruhig, so als
ob sie geahnt hätten, daß ich so handeln würde. Mir sah das alles nach einer noch hoffnungsloseren Falle aus, aber mein Extrasinn schwieg dazu. Tatsächlich besaß der Würfel auf seiner Oberseite in der Mitte eine Öffnung, durch die ich gerade paßte. Ich glitt hindurch. Der Innenraum war vollkommen leer. Auch gab es keine weiteren Öffnungen, von einem kleinen Guckloch, durch das nicht einmal mein Arm paßte, einmal abgesehen. Ich lugte hindurch. Die Nickelwand war hier gut 20 Zentimeter dick. Die Bakwer gerieten plötzlich in Aufruhr. Ihr Gezirpe ließ sich jedoch nicht übersetzen, denn sie quietschten alle durcheinander. Durch die Öffnungen drangen ihre Laute auch nur gedämpft zu mir herein. »Eine schöne Grabstätte hast du mir da ausgesucht«, warf ich dem Extrasinn vor. »Da hätte ich mir gleich ein Loch in den Kopf jagen können.« Ich habe sie nicht ausgesucht, wurde ich ungerührt verbessert. Es war Hidden-X. Draußen gerieten die Bakwer in Bewegung. Sie strömten auf mein freiwilliges Gefängnis zu. Damit entschwanden die meisten auch aus meinem Blickfeld. Dafür hörte ich nun wieder die bekannten Geräusche. An mindestens drei Stellen begannen sie, die Wand aufzuknabbern. Das Metall knirschte nervtötend unter ihren Bissen. Ich stellte mich an der Wand auf, aus der keine Geräusche hereinklangen. Noch einmal überprüfte ich meine Waffen. Das Antigravgerät würde mich vom Boden abheben, so daß ich während des Kampfes über den Allesfressern schweben würde. Sicher würde dann irgendwann die Decke einstürzen, wenn die Wände genügend zerstört waren. Ich konnte mir das Ende ausmalen und ich verfluchte den Gedanken, auf eine solche Art sterben zu müssen.
Hatten die Kosmokraten auf den falschen Mann gesetzt? Ausgerechnet jetzt erklang wieder Blödels Melodie. Durch die scharrenden und kratzenden Geräusche konnte ich sowieso nichts verstehen, und so ignorierte ich diese Sendung. Als das erste Loch auf der gegenüberliegenden Seite entstand, hob ich die beiden Kombistrahler. Ein Bakwer erschien und purzelte in den Raum. Er stieß ein schrilles Zirpen aus. »Halt!« übersetzte mein Translator. Im gleichen Moment stoppten die Bakwer ihr Zerstörungswerk und Blödels unverstandene Nachricht war auch zu Ende. »Ich heiße Syth«, sagte der Bakwer und richtete sich auf. »Bitte schieße nicht. Ich bin der Elter von Wuschel.« Er sagte tatsächlich »der Elter«. Die Bakwer sind eingeschlechtlich, erinnerte mich der Logiksektor mit gelindem Vorwurf. »Ich begrüße dich, Syth«, antwortete ich vorsichtig, ohne die Waffen zu senken. »Du mußt schnell hier heraus«, erklärte der Bakwer. »Natürlich wirst du mißtrauisch sein. Da die Zeit drängt, kann ich dir nur eine kurze Erklärung geben. Wuschel hat mit uns gesprochen und uns ein Präparat gegeben, das unsere Geistesfähigkeiten wieder normalisiert hat. Noch sind nur wenige von uns vom Zwang des großen Meisters Hidden-X befreit. Aber die Bakwer, die hier sind, sind auf meiner Seite. Wir wurden gerade noch rechtzeitig von unserem Trauma befreit. Auch weiß ich nicht, wie lange die Wirkung des Stoffes anhält. Es könnte also sein, daß wir rückfällig werden. Außerdem wird Hidden-X irgendwann merken, was geschehen ist. Und diese Bestie kann sehr böse werden.« Ich atmete erst einmal auf, denn im Augenblick war die Gefahr wohl beseitigt. Da hast du also tatsächlich einmal recht behalten, meinte der Logiksektor, als du sagtest, die Bakwer stünden auf deiner Seite.
Um solch unwichtige Dinge wollte ich mich jetzt nicht kümmern. Ich mußte handeln. Als ich Syth über meine Freunde und deren Lage informieren wollte, mußte ich feststellen, daß dieser besser Bescheid wußte als ich. Unterdessen setzten die Bakwer draußen ihr Zerstörungswerk fort. Im Nu war eine Öffnung entstanden, durch die ich bequem ins Freie konnte. »Wie komme ich aus diesem Raum?« fragte ich Syth. Ringsum erblickte ich nur geschlossene, glatte Wände aus Nickel. »Meine Leute sind schon dabei, eine Öffnung zu schaffen. Es wird gleich soweit sein. Bist du bereit, uns zu folgen?« »Gern. Aber ich wüßte gern, wohin.« »Ich sagte dir, daß wir unsere Freiheit nur kurz werden genießen können. Unsere eigentliche Bitte ist daher, uns zu helfen, Hidden-X zu besiegen. Allein können wir das niemals. Im Augenblick ist es schwach wie fast noch nie zuvor. Nur damals, als es aus dem Ysterioon vertrieben worden war und einen Teil seines Ich verloren hatte, war es ähnlich müde. Es kann sich schnell regenerieren. Und wenn es erst eines Tages die Quelle der Jenseitsmaterie gefunden hat, so sagt es, dann ist es unbesiegbar.« »Ich will tun, was ich kann, Syth. Doch im Augenblick habe ich keine guten Karten.« Ich wußte, daß der Translator eine sinngemäße Übersetzung anfertigen würde, denn der Satz war mir herausgerutscht. »Das weiß ich von Wuschel, wie ihr mein Kind genannt habt. Es genügt uns auch, wenn du uns deine Hilfe zusagst. Du hast starke Freunde, sagt der Kleine. Der stärkste von ihnen soll ein gewisser Blödel sein. Mit ihnen könntest du es schaffen.« Fast hätte ich trotz der prekären Situation losgelacht. Welchen Unsinn mochte Nockemanns Roboter da wieder erzählt haben. Aber immerhin stimmte der Kern der Sache, denn mit der SOL und ihren Menschen, mit den Leuten meines Teams und vielleicht mit Chybrain und Wöbbeking oder gar mit Oggar war ich nicht allein in
diesem Kampf. »So ist es«, antwortete ich. »Und ich versichere dir, daß meine Freunde und ich für euch tun werden, was möglich ist.« »Danke«, sagte Syth. »Ich schlage vor, du suchst die Halle der Geheimnisse auf. Dort stehen mächtige Maschinen, die wir nicht verstehen. Dort kannst du vielleicht etwas erreichen. Ich werde dafür sorgen, daß Blödel und Sanny dort sind.« Ich vertraute mich voll diesen kleinen Wesen an, obwohl mir tausend Fragen auf den Lippen brannten. Eine Wand der Halle wich zur Seite. Weitere Bakwer strömten herein. Wieder hob ein zirpendes Stimmengewirr an, das der Translator nicht bewältigen konnte. Ich merkte jedoch, daß alle Wesen auf Syth hörten. »Formt eine Plattform!« rief der Bakwer. Ehe ich mich's versah, drängten sich etliche Dutzend Bakwer um mich herum. Sie krochen eng zusammen und schoben mich dabei in die Höhe. Unter mir entstand eine annähernd waagrechte Sitzfläche. Meine Hände faßten in das Fell von zwei Bakwern. Dann rannte die Formation los, daß mir die Luft nur so um die Ohren fegte. Die kleinen Wesen erreichten im Verbund eine Geschwindigkeit von annähernd 200 Kilometern in der Stunde. Auch schienen sie zu wissen, daß die Zeit drängte. Ich blickte kurz auf meine Uhr. In etwa 20 Minuten würden Sternfeuers und Argans Bomben hochgehen. Dann würde Blödel auch seine PKF zünden. Die rasende Fahrt endete in einer riesigen Halle, die mit fremdartigen Maschinen angefüllt war. Ich konnte keine Wand auf der anderen Seite entdecken, aber die Bakwer rasten weiter. Sie schienen ihr Ziel zu kennen. Als wir um einen Maschinenblock bogen, erblickte ich Blödel und Sanny. Sie standen vor einer Tafel, die mit unverständlichen Symbolen gefüllt war. »Endlich kommst du, Atlan«, schimpfte Blödel. »Muß man hier
denn alles allein machen?« Die Bakwer setzten mich ab. Syth, den ich mittlerweile identifizieren konnte, kam zu mir. »Wir erzeugen ein kleines Spektakel am anderen Ende der geheimnisvollen Halle«, erklärte er. »Das wird Hidden-X ablenken, falls es unsere Aktionen bemerkt.« »Einverstanden. Aber was soll ich hier?« »Hier liegt der Schlüssel zu allem. Mehr wissen wir auch nicht.« Damit entfernten sich die Bakwer. Nur einer blieb zurück. Ich erkannte Wuschel. »Na, Chef, gute Arbeit, was?« Jetzt fing der kleine Kerl auch schon an, wie der Roboter zu sprechen! Ich begab mich zu Blödel und Sanny. Die Molaatin starrte gebannt auf die Symbole. Ihre halbgeschlossenen Augen bewiesen mir, daß sie paramathematisch intensiv beschäftigt war. »Der Schlüssel zu allem«, murmelte sie, ohne mich zu beachten. Dann gab sie Blödel Anweisungen in Zahlenkolonnen. Der Roboter fuhr seine beiden langen Tentakelarme aus und berührte bestimmte Zeichen und Symbole. »Es klappt ja«, freute er sich dann. Oberhalb von uns erhellte sich ein Bildschirm. Ich erkannte Sternfeuer, Argan, Nockemann und die Leute der PALO BOW. Sie sammelten sich vor einer transparenten Fläche, hinter der die Schwärze des Hypervakuums drohend glänzte. Die Solaner befanden sich zweifellos nicht unter der Kontrolle von Hidden-X, denn sie diskutierten heftig miteinander. »Es hat ihnen eine Pause gegönnt«, erläuterte Sanny, »weil es sich um etwas anderes kümmern muß. Um uns.« »Vorsicht!« warnte Wuschel im gleichen Moment. »Hidden-X streckt seine Fühler nach den Bakwern aus. Er will …« Der kleine Kerl rannte plötzlich los und verschwand in einer Klappe, die Blödel an seinem Rumpf geöffnet hatte.
»Laßt ihn in Ruhe«, sagte der Roboter traurig. »Hidden-X hat soeben seinen Elter getötet.« Ich ahnte, daß sich jetzt die Ereignisse überschlagen würden. Im gleichen Augenblick erschütterte eine Detonation am anderen Ende der Halle die Luft. »Syths letzte Tat«, erklärte Blödel. »Unsere Bomben gehen in zwei Minuten hoch.« »Zünde direkt!« bat Sanny. »Das lenkt Hidden-X noch mehr ab. Ich brauche noch etwas Zeit, um wenigstens etwas von diesen Symbolen zu entschlüsseln.« Sekunden später drangen aus der Ferne grollende Klänge herein. Ein Zittern lief durch den Boden. Für Momente schwankte die Gravitation, dann folgten neue Erschütterungen. »Da ist es«, schrie Sanny aus Leibeskräften. »Die Steuerung der Spiegelungen. Jetzt brauche ich noch den Speicher.« Ich begann zu begreifen, was Sanny versuchte. Wenn dies die Maschinen waren, mit denen Hidden-X seine materiellen Spiegelungen erzeugt hatte, dann … Dann soll sie eine Spiegelung erzeugen, die euch aus der Patsche hilft, ergänzte der Logiksektor. Sanny sprudelte mehrere Reihen von Zahlen und Begriffen hervor. Blödel führte Anweisungen aus, die im Berühren von bestimmten Feldern mit Symbolen bestanden. Plötzlich entstand aus dem Nichts neben mir ein Transmitter, wie wir ihn als tragbare Version auf der SOL verwendeten. »Auf 18-K-29-Z justieren«, rief Sanny mir zu. Ich machte mich sofort an die Arbeit. Dabei beobachtete ich, wie auf dem Bildschirm bei den Solanern ein größerer Transmitter erschien. »Nun noch die Gegenstelle«, schrillte die Molaatin. Sie war schweißüberströmt. »Aber wohin sollen wir?« Ich spürte den Druck sehr spät, aber ich konnte ihn abwehren. Die Wut von Hidden-X drang dennoch bis in mein Bewußtsein. Seine
Mentalworte ließen eine wilde Tötungsabsicht erkennen. »Achtung!« rief Blödel. »Die anderen Bömbchen.« Da meine Justierarbeiten beendet waren, blickte ich kurz auf das Chronometer. Jetzt war der Zeitpunkt für die Sprengsätze gekommen, die Sternfeuer und Argan ausgestreut hatten. Die Erschütterung waren diesmal noch schlimmer. Im gleichen Moment brach aber der Strom der mentalen Gedanken von HiddenX ab. Notstation. Drittes Feld von oben, zweite Zeile! sagte der Logiksektor. Ich verstand nicht, was das bedeuten sollte, aber ich wiederholte die Worte laut. »Richtig«, jubelte Sanny. »Das ist besser als gar nichts. Los, Blödel, ab zu den Solanern. Justiere dort den Transmitter.« Der Roboter sprang in das Feld, das ich aufgebaut hatte und verschwand. Im gleichen Moment erschien er auf dem Bildschirm bei Sternfeuer. »Berühre diese Platte«, bat Sanny und zeigte auf das Feld, das der Logiksektor genannt hatte. »Und dann hebe mich hoch.« Ich tat, was sie verlangte. Sie tastete. In rascher Folge huschten ihre Händchen über verschiedene Flächen. Sie lächelte mich dabei an und sagte: »Frage mich nicht, was ich mache.« Spiegelungen erzeugen, kommentierte der Extrasinn. Dann betraten wir zusammen den Transmitter. Ich vergaß nicht, alles an Sprengsätzen, was ich noch bei mir trug, zu schärfen und zurückzulassen.
* Ich stand auf der obersten Plattform unseres neuen Domizils, einer Kugel von etwa 50 Metern Durchmesser, die Sanny außerhalb des Flekto-Yns »gespiegelt« hatte. Wir waren Hidden-X mit dessen eigenen Mitteln entkommen. Auch die Solaner waren über ihren
Transmitter alle hier angekommen. Durch eine transparente Fläche sah ich das Flekto-Yn. Viele Lichter waren erloschen, aber dennoch wirkte es von hier wie eine uneinnehmbare Festung. »Es geschieht etwas.« Sternfeuer war neben mich getreten. »Ich empfange vage Gedanken von Hidden-X. Es will sich absetzen und eine immerwährende Falle aufbauen. Es ist geschwächt und wütend. Es will fliehen, aber wir sollen unseren Triumph nicht genießen dürfen. Die Falle hat etwas mit der Zeit zu tun. So verstehe ich es. Auch die SOL soll davon betroffen werden.« Unser Erzfeind gab den Kampf also auf! Das war eine gute Nachricht, auch wenn unsere eigene Lage noch unklar war. Es gibt den Kampf vorläufig auf, belehrte mich das Extrahirn. »Es hat seine Gedanken wieder vollkommen in der Gewalt und abgeriegelt«, erklärte Sternfeuer. »Die wirklichen Absichten bleiben ein Geheimnis.« »Das Versorgungssystem der Rettungskugel funktioniert«, sagte Sanny. »Wenn wir mehr Zeit gehabt hätten, hätten wir einen ganzen Kreuzer spiegeln können.« Unsere Aufmerksamkeit wurde wieder auf das Flekto-Yn gelenkt. Das gewaltige Gebilde hüllte sich in einen hellgrünen Schirm. In meinen Ohren summte es, als tobten sich hyperenergetische Urgewalten aus. »Eine Selbst-Teleportation von enormen Ausmaßen«, stöhnte Hage Nockemann. Sekunden später war das Flekto-Yn verschwunden. »Das sind Dinge«, sagte Blödel zu seinem Herrn, »von denen du nichts verstehst. Kümmere dich erst einmal um Marmelade ála PKF!«
4. Hidden-X
Sie haben mich schwer getroffen. Es gibt keinen Zweifel. Ich war zu leichtsinnig. Ich hatte zuviel Respekt vor der Aura, die Atlan anhaftet. Die Bakwer haben versagt. Wenn ich nicht sofort von hier verschwinde, bringen sie ihren Hypervakuum-Verzerrer wieder in Ordnung. Und dann käme die SOL, dieses Ungeheuer. Diese Winzlinge würden es wagen, gegen meinen Willen Atlan und seine Begleiter wieder zu sich zu holen. Das darf nicht geschehen. Ich brauche Ruhe. Ich muß mich regenerieren. Die Schäden des Flekto-Yns müssen beseitigt werden. Der große Spiegel muß wieder arbeiten. Wenn ich schon einen sicheren Platz suche, dann muß dies einer sein, den die Solaner nicht erreichen können. Ich kenne diesen Platz, denn ich habe vorgesorgt. Sicher, ich muß meine letzten Reserven auf den Plan rufen. 100.000 Zyaner! � Das Versteck für den Wiederaufbau! � Und … die Zeithüter! � Die Zeithüter mit dem ewigen Auftrag. Sie werden dafür sorgen, � daß für die SOL und den Hypervakuum-Verzerrer nie wieder eine reale Sekunde vergeht. Die Solaner werden leben, und doch werden sie kosmisch tot sein. Die Energiereserven reichen für Äonen. Sie werden in der Zeit eingefroren sein – für die Ewigkeit! Indessen werde ich schon in wenigen Jahren so stark sein, um aus meinem neuen Versteck heraus das Universum zu dirigieren. Und du, Atlan, du wirst eine Nebenisolation erleben, die dir die Sinne raubt. Deinen Helfern aus dem anderen Schiff soll es ebenso ergehen! Zeithüter! Aktiviert alles nach meinem Plan. Und haltet Wacht. Vor eurem Untergang ernennt würdige und starke Nachfolger. Ich warte, bis der Bestätigungsimpuls des planetaren Motors eintrifft. Jetzt ist es geschehen. Atlan, die SOL und der Mutant mit dem
kosmischen Gespür, wißt ihr, daß ihr euch seit diesem Tag, den ihr den 15. Dezember 3804 nennt, nie wieder sehen werdet? So wird es allen ergehen, die es wagen, sich gegen mich zu stellen. Die totale Isolation ist perfekt. Das Zeittal steht, und niemand kann ihm und seinen Regionen entrinnen. Meine Kräfte sind aufgebraucht, aber den Ego-Transmitter muß ich noch aktivieren. Er wird das Flekto-Yn an den sichersten Ort bringen, den es aufsuchen kann, in das Universum ohne nennenswertes Leben. Ich überprüfe die Datenspeicher, gebe die mentalen Befehle. Dieser Teil des Flekto-Yns ist unbeschädigt. Dann taste ich mich durch die Dimensionen, über Grenzen hinweg an den Ort, der mein zukünftiges Zuhause sein soll. Von dort werde ich meine Herrschaft neu errichten, und von dort werde ich die Quelle der Jenseitsmaterie finden, durch die ich unbesiegbar werde. Lebt wohl, Atlan und SOL! In meinem Dasein habt ihr keinen Platz mehr.
ENDE
Was Atlan und die Solaner weiterhin im Zeittal erleben, ist Gegenstand des übernächsten Atlan-Bandes. Der Roman der nächsten Woche hingegen enthält den 6. Bericht aus dem Logbuch der SOL. Er ist von Horst Hoffmann geschrieben und erscheint unter dem Titel: EXKURSION IN DIE VERGANGENHEIT