Das Zeit-Camp
von Peter Terrid
Die Hauptpersonen des Romans:
Demeter Carol Washington — Die schöne Chefin der „Zeits...
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Das Zeit-Camp
von Peter Terrid
Die Hauptpersonen des Romans:
Demeter Carol Washington — Die schöne Chefin der „Zeitschwadron“.
Tovar Bistarc — Agent der time-squad.
Don Slayter — Bistarcs Vorgesetzter.
Horatio Müller — Man nennt Ihn den. Leichen-Müller“.
Rayon-Corten — Kommandant des Zeit-Camps.
Sato, Mike und Inky — Bistarcs Bundesgenossen.
1. Morgen früh würden sie kommen, pünktlich bei Sonnenaufgang. Sie würden mich fesseln und aus meiner Zelle führen, irgendwohin ins Gelände, wo man Platz genug hatte. Der Richter würde mir sagen, daß ich wegen Wehrkraftzersetzung und anderer Delikte zum Tode verurteilt worden sei. Dann würden die Soldaten ihre Befehle erhalten, sich vor mir aufbauen und mit ihren Karabinern auf mich schießen. Morgen früh, pünktlich bei Sonnenaufgang. Ich konnte diesem Ereignis einigermaßen ruhig entgegensehen, viel konnte mir nicht geschehen. Ich war sicher, daß es zu der Hinrichtung nicht kommen würde; noch hatte ich einige Trümpfe in der Hand, die ich nur auszuspielen brauchte. So leicht erschießt man keinen Agenten der time-squad, wenn der es nicht will. * Urlaub hatte mir der Chef versprochen, unbegrenzten Urlaub sogar. Die ersten zehn Tage davon hatte ich hinter mir. Noch nie in meinem Leben hatte ich im Urlaub derartig geschwitzt, gestöhnt, geflucht und mich geschunden. Was Don Slayter unter Urlaub verstand, glich bei näherer Betrachtung dem Training für einen Weltmeisterschaftskampf im Schwergewicht. Als das Video summte und auf dem Bildschirm Slayters Gesicht erkennbar wurde, war ich erleichtert. Ein selbstmörderischer Einsatzauftrag war mir lieber als eine Fortsetzung der geistigen und körperlichen Strapazen, die man mir zumutete. „Guten Morgen“, begrüßte mich Slayter. „Haben Sie gut geschlafen?“ Zwar sah ich schlaftrunken aus, und meine Haare machten den Eindruck, als seien sie sehr lange Zeit nicht mehr mit einem Kamm in Berührung gekommen, aber das lag keineswegs daran, daß ich gerade erst aus dem Bett gestiegen war. Ich hatte drei Stunden Arbeit an einer Kraftmaschine hinter mir. So jedenfalls nannte man die Apparatur, die jeden mittelalterlichen Folterer entzückt hätte. „Ich wollte nur fragen, ob Sie noch immer erholungsbedürftig sind, Bistarc. Sollten Sie wieder fit sein, dann melden Sie sich bei mir. Wir machen einen Ausflug. Das wäre einstweilen alles!“ Slayter schaltete ab, während ich mich nachdenklich hinter dem Ohr kratzte. Was hatte er mit
dem Wort Ausflug gemeint? Ich brauchte zwanzig Minuten, um meinen äußeren Menschen leidlich herzurichten und einen kleinen Koffer zu packen, der all das enthielt, was man bei einer mehrtägigen Exkursion dringend benötigt. Ein aktiver Agent der time-squad hatte jederzeit reisefertig zu sein. Slayter erwartete mich im Fahrzeughangar. Er hatte sich auf den Beifahrersitz gesetzt, und der Motor des schweren Gleiters summte bereits. Ich verstaute wortlos meinen Koffer auf dem Rücksitz und entdeckte dabei, daß Slayter ebenfalls Gepäck mitgenommen hatte. Wortlos ließ ich den Gleiter anfahren und steuerte ihn aus dem Hangar. Erst als wir die drei Ausweiskontrollen hinter uns gebracht hatten und der Fernstraße zustrebten, öffnete ich den Mund. Slayter kam mir zuvor. „Ostwärts!“ bestimmte er knapp. Ich fädelte mich entsprechend ein, dann trat ich den Beschleunigungshebel des Gleiters durch. Die digitale Geschwindigkeitsanzeige kletterte höher und höher, aber von Slayter kam keine entsprechende Bemerkung. Mit höchster Geschwindigkeit rasten wir nach Osten. * Vier Stunden waren vergangen. Zweihundertvierzig Minuten, in denen sich unsere Unterhaltung darauf beschränkt hatte, daß Slayter ab und zu Kommandos gab und ich diese Anweisungen wortlos befolgte. In wenigen Minuten würden wir Indiana erreichen; langsam kam mir diese Fahrt merkwürdig vor. „Wenn Sie vorhaben, den Indianerstaat zu durchqueren, hätte es dafür bessere Transportmöglichkeiten gegeben, Chef. Wir hätten eine Transkontinentalmaschine benutzen können!“ „Wir werden das Indianerterritorium nicht durchqueren!“ eröffnete mir Slayter. „Unser Reiseziel liegt in diesem Staat.“ Ich war verblüfft. Seit achtzig Jahren gab es den Staat Indiana, gegründet und bevölkert von den Ureinwohnern des Kontinents beziehungsweise deren Nachkommen. Eingedenk der schlechten Erfahrungen, die die nordamerikanischen Indianer hatten machen müssen, lebten sie in ihrem eigenen Staatsgebiet sehr zurückgezogen. Mich wunderte, daß sie es zugelassen hatten, daß die time-squad auf ihrem Gebiet Einrichtungen erbaut hatte und unterhielt. Aber offenbar schien die Zusammenarbeit reibungslos zu sein. Ich konnte es sehen, als wir an der Grenze angekommen waren. Ein ziemlich finster dreinblickender Indianer kontrollierte die Ausweise, nur unser Fahrzeug ließ er ohne jede Kontrolle durch. Er produzierte sogar etwas wie ein Lächeln, als Slayter ihm zuwinkte. Einige Kilometer hinter der Grenze verließen wir die vorgezeichneten Straßen und bewegten uns auf freiem Gelände, soweit man die Täler der Rocky Mountains überhaupt als freies Gelände bezeichnen konnte. Slayter schien hier jeden Felsvorsprung zu kennen. Er dirigierte mich mit präzisen Anweisungen durch die Landschaft, die seit der Gründung des Staates langsam wieder in einen Zustand hineinwuchs, wie er vor der Ankunft der weißen Siedler vorherrschend gewesen war. Ich wußte, daß mehr als die Hälfte der Indianer in großen Städten lebten. Die anderen Indianer aber waren dazu übergegangen, wieder so zu leben, wie ihre Vorfahren es getan hatten, mit allen Vorzügen und Nachteilen, die diese Lebensweise mit sich brachte. Einige Male sahen wir Indianer, die offensichtlich keineswegs erfreut waren, in ihren Jagdgebieten schwere Gleiter herumreisen zu sehen, und einmal gelang es mir nur mit viel Mühe, eine Kollision mit einem zentnerschweren, voll ausgewachsenen Grislymännchen zu vermeiden. „Wer in dieser Landschaft spazierenfährt“, stellte ich erbittert fest, „kann sich keine technische Panne leisten.“ „Steuern Sie dorthin“, sagte Slayter unbeeindruckt und deutete mit dem Zeigefinger auf einen Felsspalt. Ich gehorchte und lenkte das Fahrzeug auf die Öffnung zu. Es gab mehrere Hinweise darauf,
daß wir am Ziel unserer Fahrt angelangt waren. Deutlichster Beweis dafür waren die Laserkanonen, mit denen der Felsspalt gesichert war. Außerdem gab es noch getarnte Säurewerfer und andere Sicherungssysteme. Ein Posten hielt uns auf und kontrollierte umständlich unsere Papiere, dann durften wir weiterfahren. Ein Tal nahm uns auf. Wenn man den schmalen Eingang mit berücksichtigte, sah das Tal aus der Luft wie der altgriechische Buchstabe Omega aus. Ich hielt auf das große achteckige Gebäude in der geographischen Mitte des Tales zu, gleichzeitig beäugte ich die Umgebung. Rechts hinter dem Eingang waren einige flache Gebäude zu erkennen, zum Teil in den massiven Fels hineingebaut. Die Sperren und die uniformierten Gestalten, die sich in der Abgrenzung bewegten, ließen den Schluß zu, daß es sich um das Lager der Wachen handelte, die das Tal sicherten. Ein zweites, etwas größeres Lager befand sich in einiger Entfernung auf der linken Seite des Tales. Der sternförmige Bau in der Mitte enthielt offensichtlich eine Zeitmaschine; die Ähnlichkeit mit der Anlage, die ich bereits kannte, ließ nur diesen einen Schluß zu. Rechts davon erhob sich ein Gebäude, dessen einfallslose Architektur sofort ein Verwaltungsgebäude ahnen ließ. Besonders auffällig war im Nordosten des Tales die irisierende Energiekuppel. Mit ihr wurde vermutlich ein Großreaktor geschützt. Eine andere Erklärung wäre wenig logisch gewesen, denn allein für die Aufrechterhaltung des Schirmes war schon eine Großanlage nötig. Slayter verhielt sich ruhig, als ich den Gleiter parkte und mich weiter umsah. Ziemlich genau im Norden erkannte ich einen Bach, der weißschäumend von den Felsen herunterstürzte und in einem See verschwand. Einen Ausfluß aus dem See konnte ich nicht erkennen, wohl aber eine halbzerfallene Tempelhalle, die hier eigentlich nichts zu suchen hatte. „Sehen Sie sich ruhig um“, ermunterte mich Slayter. „Sie werden längere Zeit hier bleiben müssen. Dies ist die Zentrale der time-squad!“ „Aha“, sagte ich halblaut. Ich mußte zugeben, daß der Platz außerordentlich gut gewählt war. Niemand würde das Hauptquartier der time-squad ausgerechnet auf dem Indianerterritorium suchen, und wer es dennoch tat, stieß vermutlich auf unüberwindliche Hindernisse. Wenn die Indianer mitspielten, dann wurde dieses Versteck von einigen Tausend umherschweifenden Indianern unauffällig, aber sehr wirksam bewacht. Endlich entdeckte ich auch Wohngebäude. Sie waren größtenteils in den Fels hineingearbeitet worden, nach dem Habitat-Verfahren: Das Dach einer Wohnung bildete gleichzeitig den Fußboden, die Terrasse und den Kleingarten der darüberliegenden Wohnung. Diese Lösung sparte Platz und Baumaterial und paßte sich der Umgebung hervorragend an. „Kommen Sie“, befahl Slayter und stieg aus. „Ich bringe Sie zum Chef!“ Ich war gespannt, den Mann kennenzulernen, der den mürrischen Slayter befehligen konnte, obwohl es in der time-squad eigentlich keine Rangunterschiede gab. Dafür waren die Aufgaben, die die einzelnen Teilbereiche zu erledigen hatten, viel zu kompliziert und zu unterschiedlich voneinander. Wir betraten das Gebäude, in dem sich nach meiner Vermutung die Zeitmaschine befinden mußte. Wie ich erwartet hatte, lag der weitaus größte Teil der gesamten Anlage unter dem Erdboden. Wenn man ausreichend tief in den Untergrund ging, konnte man in dem Talkessel ohne Schwierigkeiten die Bevölkerung einer mittelgroßen Stadt einquartieren und versorgen. Wie üblich wurde ich durch ein wahres Labyrinth von Gängen, Korridoren und Fluren geführt. Niemand schien auf mich oder Slayter zu achten, überall herrschte eine fast hektische Betriebsamkeit, die das Schlimmste befürchten ließ. Vor einer Tür blieb Slayter stehen. Ich betrachtete verblüfft die Aufschrift: WASHINGTON, D. C. „Hä?“ fragte ich entgeistert. „Die Notabsteige des Präsidenten?“
„Werden Sie nicht albern“, fauchte Slayter mich an. „Wenn es nach mir gegangen wäre... aber
mich fragt ja keiner!“
Er klopfte an, und Sekunden später öffnete ein Mann die Tür. Seine Haare waren blond und
militärisch kurz geschnitten.
„Ah, Slayter“, sagte der Mann. Das kleine Identifizierungsschild an seiner Brust behauptete,
daß der Mann Smith hieß; vermutlich hatte er einen Decknamen angenommen. „Der Chef
erwartet Sie bereits.“
Mich schien der Mann überhaupt nicht wahrzunehmen. Folgsam trottete ich hinter ihm und
Slayter her. Im Nachbarraum wartete der Chef auf uns.
* Sie heißt Demeter. Demeter Carol Washington, daher das befremdliche Namensschild. Ihre Eltern hatten einen absonderlichen Humor gehabt, ansonsten hätte ich ihnen den Nobelpreis für genetische Architektur verliehen, hätte es einen solchen Preis gegeben. Ich schätzte Demeter auf knapp dreißig Jahre. Sie hatte mattrote Haare, und ihre Figur machte erklärlich, warum ausgerechnet Smith ihr Vorzimmermann war. Ein Mann mußte entweder sehr alt, sehr krank oder ein Klotz von einem Mann sein, um in ihrer Nähe an Arbeit denken zu können. Sie trug ziemlich schäbige, abgetragene Jeans und darüber eine karierte Baumwollbluse, weit genug geschnitten, um ihre Mitarbeiter nicht sofort um den Verstand zu bringen. Die Füße steckten in halbhohen Lederstiefeln und ruhten auf der Platte des Schreibtischs. Zu einer solchen Sekretärin hätte man den Chef der time-squad nur beglückwünschen können. Leider ließ sich das nicht so ohne weiteres machen - sie war der Chef der time-squad. Slayter schien das nicht verwunderlich zu finden, offenbar war er zu alt dazu, aber ich brauchte einige Zeit, bis ich diese Informationen verdaut hatte. „Setzen Sie sich“, forderte uns Demeter auf. „Kaffee, Tee, Alkohol?“ Slayter wählte Alkohol, Whisky mit Eis. Ich erinnerte mich meiner Ausbildung in taktischer Psychologie und bestellte Tee. „Lapsang Souchong, wenn es möglich ist!“ Demeter drückte eine Taste. „William, das Übliche für Mister Slayter, für Mister Bistarc Tee. Nehmen Sie die vierte Büchse von rechts, zweite Reihe.“ „Aus dem Angeberfach?“ „Richtig“, bestätigte Demeter. Ich konstatierte technischen K. o. Als sie sich mir zuwandte, zeigte ihr Gesicht mehr klinisches Interesse als Sympathie. „Damit Sie klarsehen, Tovar“ - immerhin nannte sie mich jetzt bei meinem Vornamen -, „ich habe an der H. E. Richter-Akademie für Familienpsychoanalyse studiert und mein Examen am Janov-Institut gemacht. Außerdem habe ich noch einen Doktorhut für Verwaltungswissenschaften. Bevor ich die time-squad übernahm, leitete ich die Personalabteilung des Außenministeriums. Verstanden?“ Ich nickte bekümmert. Sie sah zwar hinreißend aus, aber Mädchen, die mehr Doktorhüte als Bikinis aufzuweisen hatten, lagen mir nicht besonders. „Haben Sie Tovar über seinen nächsten Einsatz unterrichtet?“ Die Frage galt Slayter, der sofort den Kopf schüttelte. Demeter sah mich sekundenlang nachdenklich an, dann zuckte sie ganz kurz mit den Schultern. Es sah aus, als wollte sie ausdrücken, es sei eigentlich schade um mich, aber... „Ich würde ihn vermissen“, warf Slayter ein. „Es gibt keine Alternative“, stellte Demeter sachlich fest, während ich herauszufinden versuchte, woher ihre Eltern wohl stammen mochten. Ihre Vorfahren schienen sich auf allen Kontinenten herumgetrieben und überall die besten Erbanlagen mitgenommen zu haben. „Wir haben bereits zwei recht gute Agenten bei diesem Unternehmen verloren“, fuhr Demeter fort. „Wenn die Könige nicht stechen, muß man entweder das Spiel beenden, und das können wir nicht, oder aber man setzt die Asse ein.“
„Danke“, sagte ich artig und lächelte ziemlich gequält. „Ein Kartenspiel hat üblicherweise vier Asse wo sind die drei anderen, beziehungsweise wer wird noch für ein As gehalten?“ „Eines ist unsere Zeitmaschine, ein weiteres Ihr Vorgesetzter Slayter, als drittes rechne ich mich selbst. Das Karo-As können Sie sich zuschreiben - Sie sind vermutlich am leichtesten zu ersetzen, notfalls.“ „Sie haben eine reizende Art, mein Selbstbewußtsein zu heben“, gab ich zurück. Wenn die Frau noch eine halbe Stunde mit mir in diesem Tonfall redete, würde ich explodieren, das wußte ich genau. D. C. Washington zeigte sich unbeeindruckt. William Smith servierte die Getränke und wurde mir in jeder Sekunde, in der ich ihn sah, mehr zuwider. Ich sollte offenbar kaltherzig in einem Risikounternehmen verheizt werden, und dieser dickfellige Bursche durfte sich tagtäglich in der Nähe Demeters herumtreiben. Ich hätte gern gewußt, ob sich unter dem Borstenhaar überhaupt ein paar Gramm Hirnmasse versteckten. D. C. und Slayter unterhielten sich über Verwaltungsprobleme, während ich mißmutig den Tee schlürfte. Er war vorzüglich, aber das tröstete mich nur wenig. Fast eine halbe Stunde lang kam ich mir vor wie ein überflüssiges Büromöbel, dann endlich wurde ich wieder in das Gespräch einbezogen. „Kommen Sie mit!“ Sie hatte die gleiche unpersönliche Art zu kommandieren, die ich schon bei etlichen Chefs kennengelernt hatte. Ob sie wohl nach Dienstschluß etwas umgänglicher wurde? D. C. betätigte einen Knopf, und an der Rückwand des Büros wurde der Eingang zu einem Schwerkraftschacht sichtbar. D. C. und Slayter gingen voran, ich folgte wie ein Schoßhündchen. Ich wagte nicht, mir vorzustellen, wie fürchterlich ein Einsatz werden mußte, der bereits so einen Anfang nahm. * Sie führten mich in eine Art Laboratorium. Ich sah blitzende Metallgegenstände,
Operationstische, Medikamentenschränke und folgerte, daß ich mich in der medizinischen
Forschungsabteilung befand. Hier war die Hektik noch entschieden größer als in den
Abteilungen, die wir vor einer Stunde passiert hatten. Unser Marsch endete in einem muffig
riechenden Raum.
In der Mitte des Raumes stand ein Tisch, von einer Deckenlampe grell erleuchtet. Ich starrte
verwirrt auf die Gegenstände, die den Tisch bedeckten.
„Sind das... ?“ brachte ich über die Lippen.
Es mußten drei gewesen sein, jedenfalls wurde ich von drei Schädeln angegrinst. Mehr als
eine Handvoll Knochen war von keinem der drei Toten erhalten. Ich fühlte, wie sich meine
Nackenhaare aufstellten.
„Das sind nicht die Kollegen, von denen ich sprach“, erklärte D. C. ruhig. Sie sah mich
schärfer an. „Haben Sie Angst?“
Ich grinste freudlos.
„Ein wenig“, gestand ich ehrlich. Ich hatte tatsächlich angenommen, bei den Überresten
handelte es sich um das, was von den Kollegen übriggeblieben war. Die Aussicht, bald einen
ebenso trostlosen Anblick zu bieten, war alles andere als anheimelnd.
„Sehen Sie sich die Knochen genauer an“, forderte mich D. C. auf.
Unsicher ging ich näher an den Tisch heran. Was, zum Teufel, hatte ich gesagt oder getan,
daß D. C. mich nun anlächelte, und das nicht einmal spöttisch oder boshaft? Verwirrt griff ich
nach dem Vergrößerungsglas, obwohl ich nicht wußte, was es auf dem Tisch zu suchen hatte.
Ich streckte die Hand aus und zog sie wieder zurück. Ich glaubte förmlich spüren zu können,
wie ich von hinten angestarrt wurde. Ich machte ein entschlossenes Gesicht und griff nach
einem Knochen. Wenn mich meine geringen medizinischen Kenntnisse nicht trogen, handelte es sich um einen Oberschenkelknochen, os femoralis. Einigermaßen erleichtert, daß mir wenigstens diese Information eingefallen war, sah ich mir den Knochen an. Er war zwar in zwei Teile zerbrochen, sah aber völlig normal aus. Hilflos zuckte ich mit den Schultern. „Nehmen Sie das Vergrößerungsglas und sehen Sie sich die Bruchstellen an!“ Endlich dämmerte es mir. Menschliche Knochen sahen zwar äußerlich außerordentlich stabil und kompakt aus, waren es aber nicht. Ein raffiniertes System von Bögen und Querverstrebungen feinster Bausteine, zwischen denen erstaunlich große Zwischenräume klafften, gab einem Menschenknochen eine unverkennbare Struktur, die hohe Belastbarkeit mit dem Vorteil geringen Gewichts kombinierte. Ähnliche Bauprinzipien hatten die Baumeister der Hochgotik angewandt, als sie mit fast zart wirkenden Strebebögen die gewaltigen Lasten abgefangen und abgeleitet hatten, die auf dem eigentlichen Körper der von ihnen gebauten Dome und Kathedralen ruhten. Von dieser Struktur war bei diesen Knochen nichts zu erkennen. Sie schienen vielmehr aus einem einförmigen Material zu bestehen, das an einer Stelle ziemlich glatt durchbrochen war. „Ossoplast!“ stellte ich fest. Ossoplast war ein synthetisches Material, das in der orthopädischen Chirurgie oft verwendet wurde. Mit Ossoplast konnte der echte Knochen millimetergenau nachgeahmt werden. Das Material war ebenso elastisch und hart wie das natürliche Knochenmaterial, wurde vom Körper ohne Schwierigkeiten angenommen und hatte vor allem den Vorzug, vollkommen unempfindlich gegenüber Knochenkrebs zu sein. Vor allem ältere Menschen trugen viel Ossoplast im Leib, denn im Alter verringerte sich üblicherweise die Knorpelmasse, die dem Knochen seine Elastizität verlieh. Ich setzte die Untersuchung der Knochen fort. Sie bestanden samt und sonders aus Ossoplast. Das war nicht verwunderlich, zumal von den mehr als zweihundert verschiedenen Knochen des Körpers weniger als ein Viertel vorhanden war. Völlig überrascht aber war ich, als ich feststellen mußte, daß auch der komplette Schädel aus Ossoplast bestand. Die beiden anderen Schädel lieferten das gleiche verblüffende Ergebnis. Ossoplast wurde warm gegossen und konnte vom operierenden Chirurgen über einer starken elektrischen Heizung noch etwas verformt werden. Einen Oberschenkelknochen auszutauschen und ihn dem Original anzupassen, machte wenig Schwierigkeit. Aber es war medizinisch völlig ausgeschlossen, einen vollständigen Schädel auszutauschen. Einzelne Teile mochten ersetzt worden sein, aber dann hätte ich die typischen und unverkennbaren Schweißnähte zwischen den einzelnen Teilen erkennen müssen. Sichtlich entgeistert drehte ich mich zu Slayter und Demeter herum. Erst nach einigen Sekunden wurde mir klar, daß ich einen der Schädel unter dem Arm hielt und einen etwas befremdlichen Anblick bieten mußte, denn D. C. und Slayter begannen fast gleichzeitig zu grinsen. Hastig legte ich den Schädel auf den Tisch zurück. Sehr rasch wurde D. C. wieder ernst. „Bei diesen Ossoplast-Skeletten handelt es sich nicht um einen Scherz. Wir haben die Knochen genau untersucht. Die Knochen sind mehr als vierhundert Jahre alt, das hat uns jedenfalls die C-14-Methode verraten.“ Ich rechnete hastig zurück. Vierhundert Jahre - die Knochen mußten demnach aus dem zwanzigsten Jahrhundert stammen, genauer gesagt, aus der Mitte dieses Jahrhunderts. Ich versuchte mich zu erinnern, wie weit die technische Entwicklung damals schon gediehen war. Mir fiel nur eines ein: Die Zeit mußte derart entsetzlich primitiv gewesen sein, daß ich damals nicht hätte leben mögen. „Damals gab es überhaupt noch kein Ossoplast“, sagte ich. Es war ein Schuß ins Blaue, aber er traf. D. C. nickte bedeutsam. Langsam klärten sich die Zusammenhänge. Mit jeder Sekunde fielen mir mehr Tatsachen zu der betreffenden Zeit ein. Selbstverständlich gab es damals noch kein Ossoplast, man konnte
noch nicht einmal Herzen verpflanzen. „Also hat irgend jemand die Knochen in diese Zeit zurückversetzt“ folgerte ich. „Unser unbekannter Gegner ist demnach immer noch am Werk.“ „Es kommt noch schlimmer“, sagte Slayter leise. D. C. deutete mit einer Handbewegung an, daß wir ihr folgen sollten. Im angrenzenden Raum wartete eine weitere Überraschung auf uns. „Das haben wir bei den Knochen gefunden“, sagte Demeter ruhig. Behutsam untersuchte ich die aufgehäuften Gegenstände. Es handelte sich um Uniformfetzen, vom Rost halbzerfressene Orden, andere Metallgegenstände, von denen sich einer bei genauester Prüfung, die die Wissenschaftler acht Wochen gekostet hatte, als Clip von einem Hosenträger entpuppt hatte. Daneben lag, arg verbogen, der Lauf eines urtümlichen Schießprügels, der noch mit Pulver betrieben werden mußte. Lederfetzen waren alles, was von den Stiefeln übriggeblieben war. Am besten erhalten waren die drei Stahlhelme. Als ich die merkwürdigen Verzierungen der Helme schärfer ins Auge faßte, wußte ich, in welcher Zeit diese Gegenstände entstanden waren. Es war die Ära des Zweiten Weltkriegs, der noch auf primitive Art geführt worden war. Sechs Jahre waren nötig gewesen, um fünfundfünfzig Millionen Menschen zu erschießen, verbrennen, zu sprengen, hinzurichten und auf andere Arten zu töten. In der Statistik jener Zeit waren nicht erfaßt worden: Verfolgte, Geschändete, Ausgeplünderte, Gefolterte, Gedemütigte, Vertriebene und die zahllosen Verwandten und Freunde der Opfer. Wenn D. C. und Slayter planten, mich in diese Zeit zurückzuschicken, stand mir allerhand bevor. „Es handelt sich um Robotdoubles“, sagte Demeter Carol Washington erklärend. „Wir haben in den Körpern der Opfer Kleinstcomputer gefunden, mit denen sie gesteuert wurden. Zu der elektronischen Ausrüstung der Doubles gehörte auch ein Empfänger- und Sendersystem auf einer extremen Kurzwellen-Basis. Sender dieser Bauart gab es in der fraglichen Zeit ebenfalls noch nicht. Mit Hilfe dieser Anlagen konnte das Robotdouble beliebig bewegt und gesteuert werden. Die Schaltungen lassen erkennen, daß die Person, die durch das Robot-Double ersetzt werden sollte, gelebt haben muß, als das Double im Kampf ausfiel. Offenbar hat unser unbekannter Gegner es vorgezogen, den Roboter von den jeweiligen Originalpersonen führen zu lassen.“ Ich nickte nachdenklich. Selbst in unserer Zeit war es noch nicht möglich, Robots herzustellen, deren Sprechweise sie nicht sofort verraten hätte. Wenn aber der Robot über eine Sender/Empfänger-Kombination mit dem Original in Verbindung stand, konnte dieser Befehle hören, verstehen und auch beantworten. Moderne Lautsprechersysteme waren klein und leistungsfähig genug, um auch aufmerksame Beobachter zu täuschen. Ein erstklassiger Dirigent wäre nötig gewesen, um den winzigen Unterschied zwischen der Originalstimme und der Lautsprecherstimme herauszuhören. „Ich habe verstanden“, sagte ich langsam. „Nur... zu welchem Zweck wurde dieser Aufwand betrieben?“ Slayter gab mir die Antwort. „Unsere Rechner sagen aus, daß der Gegner versucht, auf diese etwas umständliche Art und Weise Kämpfer zu rekrutieren. Er braucht dazu Männer, die an Kämpfe gewöhnt sind. Gleichzeitig aber müssen diese Rekruten genügend Intelligenz und auch einschlägige Erfahrungen mitbringen, um hochmodernes Gerät bedienen zu können. Es wäre sinnlos, einen römischen Soldaten in eine moderne Kampfmaschine zu setzen; er würde wahrscheinlich nach wenigen Augenblicken wahnsinnig werden. Die Zeit des Zweiten Weltkriegs ist für die Zwecke unseres Gegners nahezu ideal. Es gibt Millionen von Soldaten, die kampferprobt sind und etwas von Technik verstehen. Der Schritt von einem einsitzigen Jagdflugzeug mit Propellerantrieb zu einem modernen Kampfflugzeug müßte einem Piloten dieser Zeit vergleichsweise leichtfallen, ein französischer Grenadier aus der Zeit Napoleons wäre damit wahrscheinlich schon überfordert.“
„Der Gegner könnte sich Soldaten in unserer Zeit beschaffen“, wandte ich ein. D. C. schüttelte den Kopf. „Unsere Männer haben das Kämpfen verlernt“, erwiderte sie. „Vor allem wären sie in unserer Zeit heimisch, sie könnten sich zurückziehen, desertieren oder einfach weglaufen. Um dieses Risiko ausschalten zu können, muß der Gegner ziemlich weit in der Zeit zurückgehen. Ein Original zu diesen Kopien würde Jahre brauchen, bis es sich bei uns eingelebt hätte. Der Betreffende wird bei seinem Einsatz wissen, daß er nur einen Halt in dieser Zeit hat eben unseren Gegner. Psychologisch gut durchdacht, dieser Schachzug!“ „Sie müssen daran denken, daß es in unserer Zeit so gut wie keine Berufssoldaten mehr gibt. Damals aber gab es Tausende von Männern, die praktisch kein anderes Handwerk gelernt hatten? Daraus erklärt sich auch die politische Instabilität dieses Jahrhunderts.“ Slayters Bemerkung traf zweifellos zu. „Also zurück ins zwanzigste Jahrhundert“, überlegte ich laut. „Welcher Einsatzort und welche Einsatzzeit sind vorgesehen?“ „Cherbourg in Frankreich“, antwortete D. C. „Sie werden dort am 20. Juni 1944 ankommen. Ihnen stehen dann genau neun Tage zur Verfügung, bis zu dem Tag, an dem die Alliierten die Stadt eroberten.“ „Alliierte?“ fragte ich zurück. „Amerikaner, Engländer, Kanadier und Franzosen“, klärte mich Slayter auf. „Sie kämpften gegen Deutsche, Italiener, Norweger, Holländer, Rumänen und einige andere europäische Völker, teils für, teils gegen sie.“ Ich schüttelte irritiert den Kopf. Amerikaner gegen Europäer, die wiederum gegeneinander kämpften? Langsam begann ich zu begreifen, daß ich in eine Zeit zurückgeschickt wurde, in der die Logik des Wahnsinns offenbar zur Lebensweisheit geworden war.
2. Hoffnungslos verfahren war noch die gelindeste Umschreibung der Lage. Ich schwebte entkörperlicht über Cherbourg und betrachtete die Szenerie aus der Luft. In weitem Bogen hielten die Alliierten die Hafenstadt umklammert, und die deutsche Wehrmacht hatte alle Mühe, den Zusammenbruch ihrer Stellungen hinauszuzögern. Mehr als eine Verzögerung war nicht möglich, dafür waren die Alliierten zu stark. Ich hatte mich eine halbe Stunde lang an der Küste bei Bayeux umgesehen. Dort waren die Alliierten am frühen Morgen des 6. Juni 1944 gelandet, aber die gewaltigen Mengen an Truppen und Material, die sie in den ersten Tagen der Invasion an Land geschafft hatten, waren lächerlich gering, verglichen mit der Sturzflut von Soldaten und schwerstem technischen Gerät, das nun von den Transportern an Land geschafft wurde. Eine Division nach der anderen wurde ausgeschifft, an Land gebracht und mit nagelneuen Panzern und Geschützen ausgerüstet. Wie ein zorniger Hornissenschwarm zogen alliierte Jagdbomber und Tiefflieger über das Land und machten Jagd auf alles, was sich jenseits der Frontlinien bewegte. In den letzten Wochen hatte ich mich nur mit diesem einen Thema beschäftigt. Ich hatte Beginn, Verlauf und Ende dieses Krieges studiert, mich in die komplizierten gesellschaftlichen Zusammenhänge eingearbeitet. Witze auswendig gelernt, stundenlang geübt, bis ich bei jeder Armee zumindest korrekt grüßen konnte. Mein Schädel war gespickt mit Informationen, von denen ich keine einzige vergessen durfte, wenn ich nicht als Spion festgenommen und erschossen werden wollte. Die Deutschen beispielsweise hielten beim Essen die Gabel in der Linken und das Messer in der Rechten. Amerikaner fingen zwar in der gleichen Haltung an, legten aber nach dem Zerschneiden das Messer beiseite und nahmen die Gabel in die Rechte. Auf den ersten Blick eine sehr nebensächliche Information, aber dennoch wichtig. Normalerweise achtete niemand
auf solche Kleinigkeiten, aber wenn ich in einer deutschen Kantine auf amerikanische Art und Weise gegessen hätte, wäre dies sofort aufgefallen. Das Leben eines Spions hing sehr oft davon ab, daß er diese Kleinigkeiten peinlich genau beachtete, und meine Rolle war mit der eines Spions sehr gut zu vergleichen. Langsam ließ ich mich herabsinken. Die kleinen dunklen Punkte, die sich im Gewirr der Straßen und Gassen von Cherbourg bewegten, gewannen an Größe, bekamen Konturen und Gesichter. Die Gesichter waren gezeichnet von Müdigkeit und Erschöpfung, aber ohne einen Zug von Resignation. Die Soldaten waren abgerissen, ein großer Teil war offenbar verwundet worden und kämpfte trotz der Verletzungen weiter. Die Uniformen sahen aus, als seien sie seit Wochen ihren Trägern nicht mehr vom Leibe gekommen. Ich orientierte mich an den Verletzten. Mein erstes Ziel mußte eine Klinik sein, ein Militärhospital. Nur dort konnte ich hoffen, einen Körper zu finden, den ich gebrauchen konnte. Langsam sank ich durch das dicke Dach aus Beton, das das Lazarett vor Granattreffern schützen sollte. Vielleicht hatten die Franzosen, die von den Deutschen gezwungen worden waren, bei der Errichtung der Bunker und Unterstände zu helfen, den alten Trick angewandt und in die Betonmischmaschine einen Zuckerwürfel geworfen. Zehn Gramm Zucker reichten aus, um 100 Kilogramm Beton unwirksam zu machen. Das Calcium, das dem Beton die Härte verleihen sollte, verband sich statt mit der Kohlensäure der Luft mit dem Zucker. Das so entstandene Calciumsacharat war leicht löslich. Ein Granateinschlag konnte den anscheinend unzerstörbaren Beton wie Sandstein zermalmen. Theoretisch war ich auf den Anblick vorbereitet, der sich mir bot, aber Theorie und Praxis waren zwei verschiedene Dinge. Bett stand neben Bett, und in jedem lag ein Mann. Viele stöhnten vor Schmerz. Zufällig hatte ich den Saal erreicht, in dem die schwersten Fälle lagen. Langsam schwebte ich über die Betten hinweg. Was ich brauchte, war ein Mann mit einer Kopfverletzung, die sein Gehirn so stark in Mitleidenschaft gezogen hatte, daß er nicht mehr zu retten war. Ich war keineswegs stolz auf dieses Verfahren, aber es bot die einzige Möglichkeit, an einen Körper zu kommen. Und einen Körper brauchte ich, um meinen Auftrag erfüllen zu können. Es war das erste Mal, daß ich von einem fremden Körper Besitz ergreifen sollte. Aus der Sicht des Betroffenen kannte ich dieses Verfahren. Tovar Bistarc, der Beobachter der time squad, hatte damals - mir erschien die Zeit wie eine Ewigkeit, obwohl nur wenige Monate seither vergangen waren - einen Körper übernommen, den er in einer Spezialklinik in San Francisco gefunden hatte. Es war mein Körper gewesen. Ich war ein Idiot gewesen, und dies war keine bösartige Bezeichnung für einen dummen, ungeschickten Kerl, sondern vielmehr eine klinische Beschreibung meines Geisteszustands. Erst als Tovar Bistarc aus bislang ungeklärten Gründen sich dazu entschlossen hatte, meinen Körper für immer zu behalten, war der glimmende Geistesfunke, der meine Persönlichkeit ausgemacht hatte, erwacht und hatte vom Körper Tovar Bistarcs Besitz ergriffen. Es war ein langer, leidvoller Prozeß gewesen, bis ich in der Lage gewesen war, diesen Körper und seine physischen und geistigen Möglichkeiten voll zu nutzen. Der alte Tovar Bistarc war inzwischen tot, zumindest war sein Tod sehr wahrscheinlich. Ich hatte seine Rolle übernommen, seinen Verstand, seinen Körper und auch seinen Namen. Ich war Tovar Bistarc, und ich wollte es bleiben, um jeden Preis. Jetzt war es meine Aufgabe, den Körper eines Schwerverletzten zu übernehmen. Ich mußte in seinen Geist eindringen; das, was davon noch verblieben war, trat den umgekehrten Weg an, den ich zurückgelegt hatte - er wanderte durch die Zeit zu meinem reglosen Körper, der im Energiefeld der Zeitmaschine der time-squad lag. Dort würde er bleiben, bis ich mich entschloß, meinen Körper wieder zu übernehmen. Dann wanderte der fremde Geist aus meinem Körper in seinen alten Trägerkörper zurück.
Der Mann stöhnte unterdrückt. Er trug eine Wehrmachtsuniform, jetzt lag sie zusammengefaltet auf einem Stuhl neben dem weißlackierten Metallbett. Die Rangabzeichen wiesen den Verletzten als Leutnant aus. Ich peilte den Geist des Verletzten an. In der Nähe des Leutnants war eine amerikanische Fliegerbombe eingeschlagen, und einer der Splitter war durch den Schädel des Leutnants gerast. Es war fast ein Wunder zu nennen, daß das schwerverletzte Hirn des Leutnants überhaupt noch so weit funktionierte, daß es die unerläßlichen Lebensfunktionen aufrechterhalten konnte. Von dem, was früher einmal den jungen Leutnant Albert Schygulla ausgemacht hatte, war nicht mehr viel vorhanden. Der Granatsplitter hatte seinen Humor vernichtet, der Mann konnte kaum noch lallen, geschweige denn seine Vorgesetzten mit sorgfältig ausgesuchten Worten veralbern, ohne daß die Betroffenen es merkten. Verschwunden war seine Großzügigkeit, von einem stählernen Splitter zerfetzt jene Hirnzellen, die ihn zu seinem unbekümmerten Leichtsinn angestachelt hatten. Was unter mir auf einem Bett lag, das bei jeder Körperbewegung vernehmlich quietschte, war nicht mehr als ein Haufen Zellen, die von einer gerade noch funktionsfähigen Hirnzentrale am Leben erhalten werden konnten. Der Splitter hatte viel zerstört, merkwürdigerweise aber nicht genug, um mich zu behindern. Das Hirn des Leutnants war, wie fast alle menschlichen Gehirne, weitaus leistungsfähiger, als gemeinhin vermutet wurde. Die wichtigen Teile, die die Körperfunktionen steuerten, waren bei ihm nahezu unverletzt. Vor allem die Fähigkeiten, deren Sitz man im Großhirn vermutete, ließen sich oft durch ausreichendes Training regelrecht verlagern. Nach kurzer Zeit war ich mir sicher, einen geeigneten Körper gefunden zu haben. Der Körper und seine Steuermechanismen waren intakt, nur der Charakter, die Persönlichkeit, war auf einen winzigen Rest zusammengeschmolzen. Das erste Problem war gelöst, aber die Frage, die sich daran anschloß, war weit gewichtiger. Hatte ich das Recht, diesen Körper zu übernehmen? Mein Auftrag konnte dazu führen, daß ich mich in Lebensgefahr begab, aber dies war keine Gefahr für mein Leben. Ich konnte mich jederzeit in Sekundenbruchteilen in meinen alten Körper zurückziehen. Er lag auf der ovalen Platte der Zeitmaschine und wurde von einem argusäugigen Wissenschaftlerteam überwacht. Aber der übernommene Körper konnte sterben. Wenn ich mich zurückzog, kehrte der Geist des Leutnants in seinen Körper zurück, um dort zu sterben. Hatte ich dazu das Recht? Ich war mir klar, daß Leutnant Albert Schygulla ohnehin so gut wie tot war. Die medizinische Kunst dieses Zeitalters war nicht ausreichend, um die Schäden zu beheben, die der Granatsplitter angerichtet hatte. Nach menschlichem Ermessen würde der schwerverletzte Mann die nächsten zehn Tage nicht überleben, nicht einmal unter normalen Umständen. Angesichts der bevorstehenden Offensive der Alliierten auf Cherbourg waren seine Aussichten fast Null. Aber eben dieses fast hieß es, zu berücksichtigen. Es gab Fälle von Spontanheilungen, die an medizinische Wunder grenzten. Durfte ich dem Leutnant diese winzige Chance nehmen? Auf der anderen Seite der Waagschale lag die ungeheure Bedrohung der ganzen Menschheit durch den geheimnisvollen Gegner der time-squad, der ebenfalls über Zeitmaschinen verfügte und sie offenbar skrupellos für seine Zwecke einsetzte. Ich zögerte sekundenlang, dann faßte ich meinen Entschluß. * Er hieß Joachim Neumann und war Sanitätsgefreiter, und manchmal wußte er nicht, wer in dem großen Lazarett mehr zu bedauern war, die Verwundeten oder er, der unausgesetzt wegen dieser Kombination von Namen und Dienstrang gehänselt wurde. Was konnte er dafür, daß ausgerechnet ein Sanitätsgefreiter Neumann Held eines ebenso bekannten wie anrüchigen
Landsersongs war? Joachim Neumann wußte zu seinem Glück nicht, daß er vor langer Zeit einen Namensvetter gehabt hatte, der das berühmte Kirchenlied „Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren...“ gedichtet hatte. Nach diesem Joachim Neumann, der seinen Namen gräcisiert hatte, wurde ein Tal bei Düsseldorf Neandertal und ein dort vor langer Zeit ausgegrabener Urmensch Neandertaler genannt. Hätte man den Sanitätsgefreiten Joachim Neumann auch noch als unmittelbaren Nachkommen jenes Urmenschen veralbert, hätte der bullige Neumann seine Lazarettbetten vermutlich eigenhändig mit diesen Spöttern gefüllt. Neumann war gerade damit beschäftigt, sich eine Antwort für den jüngsten Vers des Neumann-Liedes auszudenken, als vom Bett vierzehn ein wehleidiges Stöhnen erklang. Offenbar war der schwerverletzte Leutnant, den man vor drei Tagen mehr tot als lebendig abgeliefert hatte, ins Koma verfallen. Neumann stand von seinem Sitz auf und ging zu dem Bett hinüber. Unruhig wälzte sich der Leutnant auf seinem Bett. Der Kopfverband war an einer Stelle blutdurchtränkt, aber Neumann dachte nicht daran, den Verband zu wechseln. Der Leutnant würde die nächsten Stunden ohnehin nicht überleben, und Verbandsmaterial war knapp. Neumann drückte den Oberkörper des Leutnants, der den Versuch machte, sich aufzurichten, sanft auf das Bett zurück. „Bald hast du es überstanden“, murmelte Neumann. Hunderte von Verletzten waren durch seine Hände gegangen; er konnte nicht mehr sagen, wie viele Männer vor seinen Augen gestorben waren. In Lazaretten war der Tod Stammgast. Der Leutnant schlug die Augen auf und starrte Neumann an. Der Blick schien durch den Sanitätsgefreiten hindurchzugehen. Der Verletzte zwinkerte, dann fixierte sein Blick den Gefreiten. „Ist der verdammte Krieg schon aus?“ fragte der Leutnant plötzlich. Für dich schon, dachte Neumann verbittert, dann wurde ihm klar, daß der Sterbende trotz seiner tödlichen Hirnverletzung einen mehr als nur vernünftigen Satz ausgesprochen hatte. „Noch nicht ganz“, antwortete er hastig. Zum Glück fielen ihm die Sprüche ein, mit denen die kämpf enden Soldaten seit Monaten belogen wurden. „Aber warten Sie nur, in ein paar Tagen kommen die Wunderwaffen zum Einsatz, und dann ist der ganze Spuk im Handumdrehen vorbei. Wenn Sie wieder aufstehen können, haben wir längst Frieden!“ Du wirst nicht wieder aufstehen, und der verdammte Krieg ist noch lange nicht zu Ende, dachte Neumann. Wenn wir erst den Separatfrieden mit den Amis haben, dann geht es erst richtig los, dann müssen wir zusammen mit den Amis und den Tommys den Iwan über den Ural zurückwerfen, und dann vielleicht gibt es Frieden. „Geben Sie mir eine Zigarette“, bat der Leutnant. Obwohl Neumann ihn daran zu hindern versuchte, hatte er sich aufgesetzt. * Ich hatte nur so viel vom Hirn des Leutnants übernommen, daß ich den tobenden Schmerz der Verletzungen nur stark gedämpft fühlen konnte, aber für meine Bedürfnisse reichte das vollkommen. Der Sanitäter starrte mich an, als habe er einen Verrückten vor sich. Verdenken konnte ich es ihm nicht, schließlich war ich praktisch gerade erst von den Toten auferstanden. Während er umständlich nach einem zerdrückten Zigarettenpäckchen fischte, dämmerte mir endlich, welchen Rang der Mann hatte. Mehr als die Rangabzeichen sagte allerdings der Gesichtsausdruck über den Mann aus, es war eine Mischung aus Verbitterung und Resignation. Der Sanitäter zündete eine Zigarette an und drückte sie mir zwischen die Lippen. Der erste Zug ließ mich fast zurückfallen. Was, zum Teufel, hatte man in die Zigaretten gestopft? Das Zeug troff förmlich vor Schadstoffen. Kein Wunder, daß man in dieser Zeit
nicht sonderlich alt wurde.
„Wann kann ich aufstehen?“ fragte ich. Vorsichtshalber paffte ich nur; schließlich hatte ich
den Leutnant nicht übernommen, um ihn an einer Nikotinvergiftung sofort wieder sterben zu
lassen.
„Mann“, sagte der Sanitäter. „Wissen Sie nicht, daß Sie ein bildhübsches Loch im Schädel
haben? Von Rechts wegen sollten Sie eigentlich...“
Er brach erschrocken ab, aber ich setzte fort: „... tot sein.“
„So ungefähr!“
Ich grinste nur. Ich würde höchstens einen Tag brauchen, um wieder einsatzfähig zu sein.
Deutlich konnte ich spüren, wie sich mein Geist im Körper des Leutnants festsetzte, immer
größere Bereiche seines Gehirns übernahm und wieder funktionsfähig machte. Zwar würde
ich für absehbare Zeit nicht an Kämpfen teilnehmen können, aber daran hatte ich auch wenig
Interesse.
„Wie sieht es draußen aus?“ wollte ich wissen. Der Gefreite zuckte mit den Schultern.
„Wir ziehen uns planmäßig zurück, um den Vorteil der inneren Linie besser nutzen zu
können. Außerdem laufen die Amis dann unseren Wunderwaffen geradezu in die Arme.“
Wieder grinste ich, obwohl es Schmerzen bereitete.
„Glauben Sie auch nur ein Wort von dem Unfug?“ fragte ich lächelnd. „Der Krieg ist längst
verloren.“
Der Gefreite hob abwehrend beide Hände und sah sich rasch um. Seine Antwort kam
flüsternd.
„Mann, sagen Sie das nie wieder, vor allem nicht laut. Sie haben zwar ein Loch im Kopf, aber
wenn Sie so reden, werden Sie bald auch noch ein paar Löcher in der Brust haben. Sie
verstehen?“
Ich schüttelte den Kopf, obwohl ich genau begriff, was der Gefreite sagen wollte.
„Seit zwei Monaten ist hier in Cherbourg ein Militärrichter an der Arbeit“, murmelte der
Gefreite. „Wir nennen ihn den Leichen-Müller.“
„Und warum das?“
„Der Mann steht irgendwie mit dem Teufel im Bunde“, raunte der Sanitäter in mein Ohr.
Ich war einigermaßen verblüfft.
„Mit dem Teufel?“
Der Gefreite nickte bedeutsam.
„Der Kerl hat mehr Leute zum Tode verurteilt, als andere Richter in ganz Frankreich
zusammengenommen“, berichtete er leise. „Aber das ist noch nicht das Übelste. Ab und zu
lädt er Offiziere und Unteroffiziere zu sich ein, und keiner von den Eingeladenen hat die
nächsten fünf Tage überlebt. Glauben Sie mir, er steht wirklich mit dem Teufel im Bunde!“
Ich hütete mich, über diesen Aberglauben zu lachen. Was der ängstliche Gefreite mir erzählte,
war zwar blanker Unfug, aber ich brauchte seine Hilfe, um schnell aus dem Lazarett entlassen
zu werden. Also imitierte ich sein Gesicht und zeigte Betroffenheit.
„Was Sie nicht sagen!“
Im Nachbarbett regte sich eine Gestalt. Ich blickte hinüber und sah einen Mann von etwa
fünfzig Jahren mit hoher Stirn, einer dicken Brille und einem sehr melancholischen Ausdruck
in den Augen. Der Mann sah zu uns herüber, dann fiel er wieder in die Kissen zurück.
„Verschüttet“, kommentierte der Sanitätsgefreite trocken. „Ich glaube nicht, daß er noch
einmal normal wird.“ Ich drückte die Zigarette aus. „Holen Sie einen Arzt, der mich
untersuchen kann“, befahl ich dem Sanitäter. „Ich möchte hier so schnell wie möglich „raus.“
*
Seit zwei Tagen konnte ich mich wieder einigermaßen frei bewegen. Da die Kopfverletzung noch nicht völlig ausgeheilt war, brauchte ich an keinen Einsätzen teilzunehmen, zumal die
Einheit, der ich eigentlich angehörte, längst an einen anderen Frontabschnitt verlegt worden war, der auf dem Landweg nicht mehr zu erreichen war. Cherbourg war vollkommen eingekesselt. Der Ärmelkanal wurde von alliierten Schiffen kontrolliert, und die Luftherrschaft der Alliierten war so vollkommen, wie sie nur sein konnte. Mit einigen tausend Soldaten saß ich in Cherbourg fest. Man schrieb den 24. Juni 1944. Die Alliierten rückten immer näher. Am 30. Juni würde Cherbourg fallen, so stand es jedenfalls in der Chronik dieses Krieges, der noch länger als ein Jahr dauern würde. Ich hielt mich im Offizierskasino auf und trank ziemlich hastig. Vor einer Viertelstunde hatte Leichen-Müller das Kasino betreten. Der Zeitpunkt war gekommen, an dem der zweite Teil meines Einsatzes begann. Ich mußte den Militärrichter auf mich aufmerksam machen. Neben mir an dem Tisch saß ein junger Mann, ebenfalls Leutnant und gleich mir verwundet. Er trug den linken Arm in einer Schlinge und war noch ziemlich blaß, da er viel Blut verloren hatte. Der Richter war knapp fünf Meter von uns entfernt. Wenn wir laut genug sprachen, mußte er jedes Wort verstehen können. „Auf den Endsieg!“ wünschte der Leutnant und hob sein Glas. Ich lachte leise. „Auf wessen Endsieg?“ fragte ich zurück. Schlagartig wurde es still ringsum. Erschrockene Gesichter sahen uns an. Mit der freien Hand griff der Leutnant nach meinem Arm. „Leise“, murmelte er. „Man kann uns hören.“ Ich war sicher, daß fast jeder im Raum genau wußte, daß der Krieg für seine Partei verloren war. Aber niemand wagte es, diesen Gedanken laut auszusprechen. Jedem saß die Angst im Nacken, jeder hoffte, daß er es schaffen würde, die unvermeidliche Niederlage zu überleben. Wer weiterkämpfte und das tat, was man ihm als seine Pflicht erklärt hatte, hatte vielleicht eine Chance. Vielleicht wurde er nur verwundet, vielleicht kam er auch ohne einen Kratzer davon. Wer aber offen von der absehbaren Katastrophe sprach, hatte keine Chance mehr; ihm war ein baldiger Tod sicher. Das System funktionierte perfekt, niemand redete, alle dachten und kämpften an zwei Fronten. „Eines ist jedenfalls sicher“, sagte ich laut. „Lange wird dieser Krieg nicht mehr dauern. Im nächsten Mai ist alles vorbei.“ Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete ich den Militärrichter. Er bewegte sich nicht, schien mich überhört zu haben. Mein Gegenüber grinste. „Kennst du vielleicht auch das genaue Datum?“ spottete er. „Achter Mai“, sagte ich ruhig und nahm einen Schluck aus dem Glas. Der Leutnant schüttelte verwundert den Kopf. „Dieser Granatsplitter hat dich offenbar ziemlich übel erwischt“, sagte er besorgt. Offenbar wollte er mir eine goldene Brücke bauen, die meine lästerlichen Reden entschuldigen konnte, aber ich dachte nicht daran, meine Prophezeiung abzubrechen. „Merke dir den 6. August des nächsten Jahres“, fuhr ich fort. Ich brauchte mich nicht einmal zu verstellen; der Körper des Leutnants Schygulla war so geschwächt, daß selbst die geringe Menge Alkohol, die ich getrunken hatte, ausreichte, um die Zunge schwer zu machen. „Merke dir dieses Datum. Mit ihm beginnt ein neues Kapitel der Weltgeschichte!“ Ich hob bedeutungsvoll einen Finger, dann ließ ich meinen Kopf mit der gebotenen Vorsicht nach vorne fallen. Offenbar hatte ich mich etwas übernommen, ich war tatsächlich sehr müde, und die Stimme meines Gesprächspartners hörte ich nur schwach und nebelhaft. „Los, faßt an, wir bringen ihn in sein Quartier zurück. Er hat genug für heute!“ Schneidend scharf drang die Stimme des Militärrichters an mein Ohr. „Nehmen Sie den Mann fest, Leutnant. Er wird sich wegen wehrkraftzersetzender Äußerungen zu verantworten haben.“ „Aber... der Mann ist doch schwer betrunken... !“ Ich konnte nicht sehen, was sich rings um mich abspielte. Meiner Rolle entsprechend hielt ich
die Augen geschlossen und mimte den Schlafenden. Aber ich konnte mir vorstellen, wie der
Richter den Leutnant bedeutungsvoll ansah und dieser seinen Versuch, mir zu helfen,
herunterschluckte. Tapfer waren diese Männer, zweifelsohne, nur den Mut hatte man ihnen
gründlich ausgetrieben.
Was für eine Zeit.
* Leichen-Müller hatte einen Blick, der ein Gefrierfach ersetzen konnte. Die anderen Beteiligten an dem Kriegsgerichtsverfahren machten einen ähnlich liebenswürdigen Ein-, druck. Ich stand in strammer Haltung vor dem Richtertisch und wartete auf das Urteil. Gleichzeitig studierte ich sorgfältig meine Umgebung. In einem winzigen Augenblick, in dem zufällig alle anderen Beteiligten mit anderen Dingen beschäftigt waren, sah der Richter mich an und verzog sein Gesicht zu einem Lächeln. Es war ein merkwürdiges Lächeln, und es schien so, als wollte der Mann sagen: Haben wir dich, Bürschchen! Ich wußte, daß ich den Richtigen erwischt hatte. Was hatte ein schwerer Herrenring mit dem Zeichen, das vor radioaktiver Strahlung warnte, in dieser Zeit zu suchen? Das international standardisierte Zeichen war später entstanden, folglich kam Leichen-Müller wie ich aus der Zukunft oder wußte zumindest mehr davon als seine Kollegen. Mir war klar, daß ich mich mit meinen Äußerungen als Mensch aus der Zukunft entlarvt hatte - zumindest für den Richter. Aus dieser Tatsache ergaben sich einige schwerwiegende Schlußfolgerungen. Müller, oder wie immer er in Wirklichkeit heißen mochte, wußte nun, daß ich aus der Zukunft kam. Aus der Art und Weise, in der ich mich für ihn verraten hatte, ließ sich folgern, daß auch ich mir darüber im klaren war, daß er mich erkannt hatte. Warum ich mich in so augenfälliger Form an ihn herangemacht hatte, war ein Problem, das der Richter zu klären haben würde. Für mich war wichtig, daß er nun wußte, daß ich mit ihm Verbindung aufnehmen wollte, aus welchen Gründen auch immer. Nun hing alles von ihm ab. Vier Schritte von mir entfernt stand mein Gesprächspartner vom gestrigen Abend. Hilfesuchend sah er mich ab und zu an. „Was sollte ich machen?“ sagte dieser Blick. „Wenn du so dumm bist, warum soll ich ausgerechnet für dich meinen Kopf riskieren?“ Ich konnte nur hoffen, daß meinem unfreiwilligen Partner in diesem Spiel kein Schaden erwachsen würde. Was mir bevorstand, lag auf der Hand. Leichen-Müller persönlich erklärte mir, was mit mir geschehen würde. Tod durch Erschießen, lautete das Urteil. Ich hatte einige Mühe, mit diesem Urteil klarzukommen. Selbst in dem völlig verrückten Logikgebäude, das ein solcher Krieg mit sich brachte, erschien es mir absurd, daß einige Offiziere nebst zehn oder mehr Soldaten einen ganzen Vormittag damit verbringen würden, mich formvollendet mit Bleikugeln vollzuschießen, wenn gleichzeitig jeder Mann an der Front dringend gebraucht wurde. Der Leutnant wurde ermahnt, in ähnlichen Fällen sofort einzuschreiten und den betreffenden Mann festzunehmen, dann wurde er entlassen. Vier Mann traten auf mich zu und führten mich in die Zelle ab, in der ich am Morgen erwacht war. Man schrieb den 25. Juni 1944. Noch fünf Tage bis zur Kapitulation von Cherbourg. Fünf Tage, in denen der Richter, der vermutlich etliche Helfer hatte, einen Robotersatz für meinen Körper anfertigen und mich gegen dieses Double austauschen konnte. Ich war sicher, daß mein Gegner genügend Einfluß haben würde, um die Vollstreckung lange genug verzögern zu können.
*
Morgen früh also würden sie kommen, pünktlich bei Sonnenaufgang. Sollten sie. Ich hatte noch einige Möglichkeiten, das Erschossenwerden zu verhindern. In der Zukunft wartete mein Körper auf mich. Wenn es wirklich kritisch wurde, konnte ich jederzeit zurückkehren und diesen Körper übernehmen. Es war kalt und feucht in der Zelle. Der einzige angenehme Umstand war, daß mir als Henkersmahlzeit ausnahmsweise keine Normalkost vorgesetzt wurde. Der Privatkoch des Oberbefehlshabers von Cherbourg hatte ein Menü für mich komponiert, dazu gab es sogar eine Flasche vorzüglichen Wein. Der Wein wirkte rasch und gut, kurz nach Sonnenuntergang schlief ich tief und fest, obwohl ich damit rechnen mußte, gestört zu werden. Schließlich mußte man wenigstens Maß nehmen, wenn man für mich ein Double anfertigte. * Mit zusammengebissenen Zähnen starrte Don Slayter auf den Körper, der auf dem Tisch der
Zeitmaschine lag. Die Temperatur des Raumes schien um einige Grad höher zu liegen als
üblich, obwohl die Klimaanlage einwandfrei arbeitete.
Eine Gestalt im weißen Kittel trat an Slayter heran, im Gesicht den Ausdruck höchster Sorge,
in der Hand einen Papierstreifen.
„Es sieht düster aus“, murmelte der Wissenschaftler. „Er stirbt.“
Slayter schüttelte unwirsch den Kopf.
„Das ist ausgeschlossen“, protestierte er. „Er kann nicht sterben.“
„Offenbar hat Bistarc den Körper eines Sterbenden übernommen“, versuchte der
Wissenschaftler zu erklären. „Wir haben immer wieder vor solchen Experimenten gewarnt.
Der schmale Grenzbereich zwischen Leben und Tod ist immer noch so gut wie unerforscht.
Wir wissen nicht, ob der Tod vom Körper oder vom Geist ausgeht. In jedem Fall wird ein
Mensch sterben, das steht fest, und dieser Sterbende wird einen Körper mitnehmen.“
„Versuchen Sie, ihn am Leben zu erhalten!“ forderte Slayter erregt.
„Noch etwas. Wenn der übernommene Körper sterben sollte, was wird dann geschehen?“
„Bistarc wird wieder hier auftauchen“, lautete die Antwort.
„Und im anderen Fall?“
„Dann müssen wir Bistarcs eigenen Körper begraben. Sein Geist wird sich mit dem Körper in
der Vergangenheit verbinden. Bistarc ist dann in der Zeit abgeschnitten. Er wird nicht mehr
zurückkehren können!“
D. C. Washington mischte sich ein.
„Nimmt Bistarc von diesem Prozeß etwas wahr? Merkt er in der Vergangenheit, daß er in
Gefahr schwebt?“
Der Wissenschaftler zuckte hilflos mit den Schultern.
„Wir wissen es nicht“, gestand er nervös. „Wir können nur darauf hoffen. Aber...“
„Sprechen Sie!“
„Wenn wir die Zeitmaschine abschalten, wird Bistarc augenblicklich zurückkehren, Chef.
Damit wäre die Gefahr beseitigt. Sollen wir abschalten?“
„Noch nicht. Wir warten noch.“
Slayter wandte sich zu D. C.
„Sagen Sie, was war eigentlich Ihr Vater von Beruf?“
D. C. runzelte die Stirn. „Kinderpsychologe.“
„Pokerte er gern?“
„Gern, aber nicht gut. Das Geld, das ich zum Studium brauchte, habe ich ihm abgewonnen.“
„So ist das!“
Ein zweiter Wissenschaftler näherte sich.
„Der Körper verfällt zusehends, Chef. Wir müssen abschalten, und zwar bald, sonst ist Bistarc
abgeschnitten.“
D. C. überlegte sekundenlang, dann nickte sie. „Holen Sie Bistarc zurück!“
Wenige Sekunden nach ihrem Befehl erlosch das Energiefeld, das den Körper auf der Platte
einhüllte. Erschreckt sah Slayter, daß der Körper deutliche Verfallserscheinungen auf wies.
Fast glaubte er, bereits Leichenflecken sehen zu können.
Mit steigender Unruhe starrte Slayter auf Bistarcs Körper. Normalerweise wurde ein
Zeitreisender Sekunden nach der Rückkehr wach, aber Bistarc rührte sich nicht. Die
Kontrollinstrumente zeigten zwar an, daß sich der Puls festigte und der Körper sich zu erholen
begann, aber dennoch rührte sich Tovar Bistarc nicht.
„Was ist los, zum Teufel?“
Slayter zuckte zusammen, als er die beiden letzten Worte aus dem Mund seiner Chefin hörte.
„Wir sind noch ratloser als vorher, Chef“, lautete die verwirrte Antwort. „Es sieht so aus, als
sei Bistarc verschwunden. Die Instrumente zeigen keinerlei geistige Tätigkeit an. Die
Verbindung zwischen Bistarcs Geist und seinem Körper ist offenbar blockiert.“
„Ist er tot?“
Die Antwort kam zögernd.
„Noch nicht, Chef!“
3. Ich erwachte, weil es Lärm an der Tür gab. Sonnenlicht fiel durch die Gitter in die Zelle. Die Sonne konnte erst vor sehr kurzer Zeit aufgegangen sein. Langsam richtete ich mich auf. Wieso war der Gegner nicht erschienen? Wollte man keine Kopie von mir anfertigen? Verwirrt starrte ich auf die eiserne Tür, in deren Schloß sich vernehmlich ein Schlüssel drehte. Ein klotzig gewachsener Soldat erschien im Rahmen, als die Tür geöffnet wurde. Um den Hals trug er ein halbmondförmiges, breites Blechschild. Es handelte sich also um einen Feldjäger. „Machen Sie sich fertig!“ schnauzte er mich an. Entgeistert starrte ich ihn an. „Augenblick“, wehrte ich verblüfft ab. „Ihr wollt mich doch nicht etwa erschießen?“ Daß diese Frage in diesem Zusammenhang ausgesprochen idiotisch klingen mußte, fiel mir erst auf, als der Feldjäger den Unterkiefer sinken ließ und mich wie vor den Kopf geschlagen ansah. „Zu welchem Zweck, glauben Sie, sind wir hergekommen?“ Langsam stand ich auf. Ich hatte einige Mühe, mich mit den veränderten Verhältnissen abzufinden. Offenbar war mein Plan bereits im Ansatz gescheitert. Der Gegner dachte überhaupt nicht daran, mit mir Verbindung aufzunehmen - er schickte mich einfach auf dem schnellsten Wege dahin zurück, woher ich gekommen war. Rasch zog ich mich an, dann wurde ich abgeführt. Vor dem Gefängnis wartete ein Lastwagen, auf den ich hinaufgestoßen wurde. Vor dem Lkw fuhr ein Kübelwagen mit den Offizieren, die sich pflichtgemäß davon zu überzeugen hatten, daß der Wehrkraftzersetzer tatsächlich korrekt erschossen worden war. „Der Tag fängt ja gut an“, seufzte ich. An einer Kiesgrube hielten die beiden Wagen an. Ich wurde auf den Boden gesetzt, dann nahm die Prozedur ihren vorgeschriebenen Lauf. Das Urteil wurde verlesen und die
augenblickliche Vollstreckung angeordnet. Man fesselte mir die Hände und führte mich an den Rand der Kiesgrube. Während man mir eine nach Schweiß riechende Stoffhaube über den Kopf stülpte, konnte ich noch erkennen, wie sich das Erschießungskommando vor mir aufbaute. Was mochten diese Männer in den nächsten Jahren ihren Verwandten über die Art ihrer Kriegserlebnisse berichten? Sobald es um mich herum dunkel wurde, konzentrierte ich mich auf ein anderes Problem. Ich hatte keine Lust, voll auszukosten, wie es war, wenn sich ein halbes Dutzend Geschosse in meinen Leib bohrten. Ich machte mich fertig, den übernommenen Körper in dem Augenblick zu verlassen, wo das Kommando „Feuer“ nur noch Sekundenbruchteile auf sich warten lassen würde. Es tat mir zwar leid, daß ich den sterbenden Leutnant Schygulla vor ein Erschießungskommando geführt hatte, aber das ließ sich nicht mehr ändern. Sekunden später, der Befehl „legt an“ wurde gerade gegeben, mußte ich feststellen, daß sich nicht nur an dieser Tatsache nichts mehr ändern ließ. Ich kam aus dem Körper nicht mehr heraus! Irgend etwas hielt mich wie mit Saugnäpfen fest. Ich versuchte mich zu konzentrieren, meinen Geist aus dem Körper zurückzuziehen. In jeder Zehntelsekunde, in der ich mich mehr und ergebnisloser anstrengte, stieg die Angst in mir empor. Ich war halb bewußtlos vor Furcht, als ich das scharfe Kommando hörte: „Gebt Feuer!“ Ich spürte noch einen wahnsinnigen Schmerz, der von meiner Magengrube zum Hirn hinaufzuckte, dann wurde es Nacht um mich. * Vom Standpunkt der Vernunft aus betrachtet, hätte ich tot sein müssen. Die rasenden Schmerzen aber bewiesen mir das Gegenteil. Mindestens sechs oder sieben Bleikugeln mußten in meinem Körper stecken. Ich versuchte zu schreien, um mir wenigstens auf diese Weise ein wenig Luft machen zu können, aber entweder versagten meine Stimme oder aber die Ohren. Ich konnte nichts hören. Bevor mich die Schmerzen wieder in Ohnmacht fallen ließen, erinnerte ich mich der zahllosen Trainingsstunden. Wer die entsprechende Technik beherrschte, konnte körperliche Schmerzen bis zu einem gewissen Grad unterdrücken; es war nur eine Frage des Trainings und der Konzentration. Langsam ließ der Schmerz nach, gleichzeitig machte sich in mir ein Gefühl der Beklemmung breit. Ich konnte kein Glied meines Körpers mehr spüren, nicht einmal den Schlag meines Herzens. Ich öffnete die Augen. Eine Lampe strahlte mich an, dahinter erkannte ich das stumpfe Grau einer Betondecke. Ich lebte also noch, und sehen konnte ich auch. Wie war ich an diesen Ort gekommen? Was hatte ich hier überhaupt zu suchen? Leichenhalle, schoß es mir durch den Kopf. Du liegst in einer Leichenhalle. Wieder überfiel mich die Angst. War ich dazu verurteilt, durch Zufall lebendig begraben zu werden? Ich hatte ein sehr gutes Gedächtnis, und fast schlagartig fiel mir die Geschichte von Edgar Allan Poe ein, die dieses Thema behandelte. Ich versuchte einen Arm zu bewegen. Eine Hand tauchte vor meinem Gesicht auf und bewegte sich entsprechend den Befehlen, die ich den Fingern gab. Nur spüren konnte ich die Hand nicht. Als ich mit den Fingerspitzen über mein Gesicht fuhr, konnte ich weder einen Sinneseindruck der Hand noch einen der Stirn wahrnehmen. Was war mit mir geschehen? „Sie können aufstehen, wenn Sie wollen“, sagte jemand. Ich drehte mich zu dem Sprecher um. Obwohl ich keinen Körper fühlen konnte, gelang die Bewegung einwandfrei. Leichen-Müller tauchte in meinem Blickfeld auf. Er grinste mich spöttisch an.
„Sie können auch reden, wenn Sie wollen“, sagte er. Er schien sich angesichts meines Zustands königlich zu amüsieren. „Was haben Sie mit mir gemacht?“ fragte ich. Ich hatte Schwierigkeiten, meine eigene Stimme wiederzuerkennen. Sie klang fremd, unsagbar fremd. „Ein ziemlich einfaches technisches Verfahren“, erklärte mir mein Gegenüber. Er genoß seine Überlegenheit in vollen Zügen. „Daß Sie Agent der time-squad sind, lag nach Ihren Reden klar auf der Hand. Wer sonst würde das Datum der deutschen Kapitulation und den Tag des ersten Atombombenabwurfs kennen? Sie wollten uns provozieren, mit uns in Kontakt kommen. Nun, wir haben Ihnen die Möglichkeit verschafft.“ „Wie?“ wollte ich wissen. „Uns war natürlich klar, daß Sie einen fremden Körper übernommen hatten. Um zu verhindern, daß Sie sich einfach in Luft auflösten, haben wir einen Psychokollektor auf Sie gerichtet, als wir Sie erschießen ließen. Ihr Geist konnte deshalb den Gastkörper nicht mehr verlassen. Als Leutnant Schygulla starb, zumindest sein Körper, konnte Ihr Geist nur in eine Richtung fliehen. Sehen Sie sich das Ergebnis im Spiegel an!“ Ich stand auf und ging zu dem Wandspiegel hinüber. Ich sah einen jungen Mann, der auf den ersten Blick völlig normal aussah. Gekleidet war ich in die Uniform eines Marinesoldaten, und die Abzeichen wiesen mich als U-Boot-Mann aus. „Wir haben Ihnen einen Robotkörper verschafft“, erklärte mir mein Gegenüber. Ich hätte gern den wirklichen Namen gewußt. „Sie werden diesen Körper nicht verlassen können, dafür haben wir gesorgt. Sie sind jetzt eine Art Androide. Ihr Geist ist echt, nur der Körper nicht. Sie können sich dazu beglückwünschen, er ist wesentlich kräftiger, reaktionsschneller und widerstandsfähiger als Ihr alter Körper, Mister Bistarc!“ Ich zuckte zusammen. „Natürlich kennen wir Ihren Namen nicht mit Sicherheit, aber nachdem wir zwei Männer der time-squad bereits außer Gefecht gesetzt hatten, war anzunehmen, daß die time-squad ihren besten Mann schicken würde - und das konnten nur Sie sein.“ Er erkundigte sich nicht einmal, ob seine Vermutung zutraf, und damit vermittelte er mir einen Eindruck von der Selbstsicherheit, die der Gegner der time-squad offenbar besaß. Innerhalb kurzer Zeit waren ihm drei Agenten der time-squad in die Hände gefallen, und selbst wenn ich den Wert meiner Person richtig, das hieß, niedriger rechnete, als dies der Gegner und die Time-squad taten, war dies ein bemerkenswerter Erfolg, ein Erfolg, der die time-squad arg zurückwarf. Das Schlimmste war, daß wir überhaupt nicht wußten, worauf der Gegner abzielte, welche Strategie er verfolgte. Klar war nur, daß er ebenfalls über Zeitmaschinen verfügte, zu allem Überdruß über bessere, als sie der time-squad zur Verfügung standen. Die time-squad war immer noch nicht in der Lage, einen Agenten mitsamt seinem Körper in die Vergangenheit zu schicken und ihn von dort wieder zurückzuholen. Der Gegner beherrschte diese Technik offenbar souverän. Ob die Australier dahintersteckten? Ich verwarf den Gedanken rasch wieder. Seit sich der Kontinent vor mehr als achtzig Jahren von der Außenwelt hermetisch abgekapselt hatte, waren Informationen über Australien Mangelware. Die Australier ließen keine Fremden ins Land, und die eigenen Bewohner zeigten wenig Interesse, den Inselkontinent zu verlassen. Nicht einmal durch Spionagesatelliten ließ sich Genaueres über Australien erfahren. In der Zeit seit der Absonderung Australiens hatte es keinerlei Hinweise gegeben, daß von dort aus irgend etwas gegen den Rest der Welt geplant oder unternommen wurde. Die Australier wünschten, in Ruhe gelassen zu werden, basta! „Wie soll es jetzt weitergehen?“ fragte ich. Während ich auf die Antwort wartete, studierte ich mein Bild im Spiegel. Ich konnte auch meinen Gesichtsausdruck nach Belieben verändern, die Lippen bewegen, die Ohren spitzen
abgesehen von der Tatsache, daß ich diesen Körper nicht fühlen konnte, verhielt er sich wie alle anderen Körper auch. „Sie werden es erleben“, lautete die vieldeutige Antwort. Auf dem Fußende des Bettes, in dem ich gelegen hatte, lag eine Waffe, eine moderne Laserpistole. Mein Gegenüber rührte kein Glied, als ich mit einem raschen Schritt das Bett erreichte und zur Waffe griff. Ich zielte auf den Mann, und die Ladeanzeige bewies mir, daß die Waffe geladen war. Aber ich wußte plötzlich mit erschreckender Klarheit, daß ich es niemals schaffen würde, den Finger krumm zu machen, selbst dann nicht, wenn mein Gegner versuchen würde, mich zu erschießen. Irgendein Relais im Innern meines halbrobotischen Körpers verhinderte jede Aktion, die sich gegen den Gegner richtete. Ich konnte ihn nicht angreifen, mich nicht gegen ihn zur Wehr setzen, und ich war sicher, daß sich mein Körper einfach weigern würde, sich zu bewegen, wenn ich mit diesen Bewegungen eine Flucht einleiten wollte. Ich war gefangen, in mehr als einem Sinne. Ich konnte nur noch frei denken, alle anderen Funktionen wurden von dem Robotkörper nach dem Gutdünken des Gegners gesteuert und beeinflußt. Ich konnte nichts unternehmen, was dem Willen des Gegners zuwiderlief. Wenn das Schicksal es wollte, dann blieb ich in diesem Gefängnis so lange, bis der Körper, der in der Zukunft verweilte, an Altersschwäche gestorben war. Von diesem Zeitpunkt an war ich endgültig ein Sklave des Robotkörpers. „Kommen Sie mit!“ ordnete Leichen-Müller an. „Überprüfen Sie Ihre Scheinidentität, damit Sie keine Fehler machen. Ich warne Sie, wenn eine Bleikugel Ihren Schädel trifft, sind Sie tot, auch in dieser Zeit!“ Jetzt begriff ich. Die einzige Bewegungsfreiheit, die es für meinen Geist noch gab, war das Überschreiten jener Grenze, die das Leben vom Tod trennte. Von dort gab es keine Rückkehr, trotz Zeitmaschine und anderer technischer Hilfsmittel. Ich hieß nun, wie mir der in meinen neuen Körper integrierte Kleincomputer verriet, Horst Schneider und war abkommandiert zum Dienst auf U-456. Die Informationen besagten weiter, daß Leichen-Müller die nächste Fahrt des Bootes begleiten sollte, um das Verhalten der Besatzung während der Feindfahrt zu überprüfen. Ich machte gar nicht erst den Versuch, wegzulaufen. Cherbourg wimmelte von Soldaten aller Waffengattungen, die sich mit dem Mut der Verzweiflung gegen das Unausweichliche stemmten. Meine Flucht wäre, selbst wenn der Robotkörper das überhaupt zugelassen hätte, bereits nach wenigen hundert Metern beendet gewesen. Ich bemühte mich, ein normales Gesicht zu zeigen, während ich meinem Gegner folgte. Dennoch war mir alles andere als wohl zumute. Immerhin, ich hatte den Kontakt zum Gegner hergestellt, wenn auch auf andere Weise, als ich es im Sinn gehabt hatte. Was, sich aus diesem Kontakt ergeben würde, lag nun beim Gegner. * Selbst die ersten Raumfahrzeuge der Menschheit hatten ihren Crews wahrscheinlich mehr Platz geboten als dieses U-Boot. Nach wenigen Minuten begriff ich, warum die Boote „Eiserne Särge“ genannt wurden, einmal des unerhört hohen Risikos wegen, das die Besatzungen eingingen, zum anderen der erdrückenden Enge wegen. Zu meinem Erstaunen hatte man mir volle Bewegungsfreiheit gegeben. Dem Kommandanten von U-456 war ich als Assistent des Richters vorgestellt worden, daher konnte ich mich im Boot so frei bewegen, wie dies nach Lage der Dinge überhaupt möglich war. Die Stammbesatzung war offenkundig über die Zwangseinquartierung wenig erfreut. Zwei sachfremde Passagiere an Bord des engen Bootes, die nur unnütz im Wege herumstanden, den Bordbetrieb hinderten und im Ernstfall sogar ausgesprochen gefährlich werden konnten in ihrer Unerfahrenheit - Kommandant und Besatzung begegneten uns gleichermaßen mit
Skepsis, teilweise sogar mit offener Ablehnung. Von den Maschinen an Bord verstand ich nicht viel. Es waren altmodische, plumpe Anlagen mit einem unglaublich geringen Wirkungsgrad. Ein paar der Geräte aber erkannte ich ziemlich rasch wieder, sie stammten aus meiner Zeitebene. Unter anderem handelte es sich um einen Radarschlucker, der dem Gegner die Ortung unmöglich machte, dann fand ich einen Sonar-Streuer, der dem Beobachter am Echopeilgerät vorgaukelte, er habe es mit einem ausgedehnten Fischschwarm zu tun. Wenn sich U-456 nicht bei einer Überwasserfahrt vom Gegner erwischen ließ, war es für die alliierten Seestreitkräfte nicht aufzufinden. Diese Tatsache trug viel dazu bei, mich zu beruhigen. Mir war unverständlich, wie die Männer an Bord das Risiko ertrugen, unter Umständen mit mehr als hundert Metern Wasser über ihren Köpfen ruhig zu bleiben, wenn feindliche Zerstörer die Umgebung mit Wasserbomben abgrasten. In Sehrohrtiefe durchfuhr U-456 dem Ärmelkanal, dann steuerte das Boot den mittleren Atlantik an. Tag um Tag verging, ohne daß sich etwas ereignete. Das Wetter war ziemlich unfreundlich, und ich verdankte es nur der Tatsache, daß ich praktisch keinen Magen mehr besaß, daß ich nicht seekrank und zum Gespött der Besatzung wurde. Ansonsten half ich, wo ich konnte; vor allem der Koch war sehr erfreut, daß ich ihm einen Teil seiner Arbeit abnahm. Leichen-Müller- ich hatte inzwischen herausfinden können, daß er offiziell Horatio Müller hieß - kümmerte sich nur wenig um mich. Offenbar genügte ihm die Sicherheit, die ihm mein Robotkörper bot. Einmal hatte ich einen Versuch unternommen, dem Koch meine Lage zu schildern, aber der Kontrollcomputer hatte jede verräterische Äußerung unterdrückt. Mehr als ein ersticktes Husten hatte ich nicht hervorbringen können. Mir blieb nichts anderes übrig, als geduldig auf das zu warten, was die Gegenseite unternehmen würde. * Der Alarm riß mich aus dem Schlaf. Hastig sprang ich auf und zog mich an. Offenbar hatte der Kommandant von U-456 ein Schiff im Sehrohr, vermutlich ein feindliches. Ich hatte nicht herausfinden können, ob er den Sinn der - aus seiner Sicht zukünftigen Maschinen in seinem Boot verstanden hatte. Die heftige Reaktion auf den Anblick eines fremden Schiffes war daher mehr als verständlich. Horatio Müller hielt sich in der Nähe des Kommandanten auf. Er machte einen ruhigen Eindruck, einen überraschend ruhigen Eindruck, Hatte er gewußt, daß U-456 auf dieses Schiff treffen würde? „Sie können auftauchen, Kommandant“, sagte Müller plötzlich, nachdem er eine Zeitlang das am Horizont näher kommende Schiff betrachtet hatte. „Es ist zwar ein britisches Schiff, aber der Kommandant und seine Offiziere stehen in unseren Diensten.“ Der Kommandant starrte Müller entgeistert an. „Können Sie das beweisen?“ fragte er erregt. „Das ist ein englischer Zerstörer. Wenn der uns erst einmal erfaßt hat, gehen wir baden.“ Müller lächelte überlegen und drückte dem Kommandanten ein Stück Papier in die Hand, offenbar ein dienstliches Schreiben. Der Kommandant las rasch den Text, dann schüttelte er verwirrt den Kopf. Nachdenklich starrte er auf die Unterschrift. „Mir soll es egal sein“, sagte er schließlich. „Sie tragen die Verantwortung für dieses Wahnsinnsunternehmen!“ In rascher Folge gab er die Befehle an die Mannschaft. Ich konnte das Wasser rauschen hören, als der Turm des U-Bootes sich aus dem Wasser schob. Der Kommandant war mit dieser Entwicklung der Dinge nicht einverstanden; nervös öffnete und schloß er die Hände, die er auf dem Rücken verschränkt hielt. Horatio Müller zeigte ein selbstzufriedenes Lächeln, als er langsam die Leiter im Turm hinaufzusteigen begann. Die Besatzungsmitglieder wechselten
erstaunte Blicke, aber sie stellten keine Fragen. Der Kommandant stieg als zweiter die Leiter hinauf, mit ersichtlichem Unbehagen. Ich schloß mich ihm an. Der britische Zerstörer kam rasch näher. Müller griff in die Tasche und brachte ein kleines Funksprechgerät zum Vorschein. Ich sah, wie sich die Augen des Kommandanten weiteten. Ein Radio von solch extremer Kleinheit hatte er noch nie gesehen. Müller winkte einen Bootsmann heran und deutete auf die Signallampe. „Geben Sie durch: Schickt Boot!“ Dem Bootsmann war anzusehen, daß die Lage seinen Horizont überstieg, aber er gehorchte. Während er den Spruch hinüberblinkte, kam der Zerstörer längsseits und stoppte die Maschinen. Für einen Fluchtversuch war es nun zu spät. Bis wir wieder im Innern des Bootes verschwunden sein und ein Nottauchmanöver einleiten konnten, hätte der Zerstörer uns mehrere Male mit Breitseiten eindecken können. Das Boot kam näher und legte an der Bordwand an. Acht englische Seeleute kamen an Bord. Sie sahen uns erwartungsvoll an. „Kommandant!“ Der Kommandant des U-Bootes biß die Zähne zusammen und nahm Haltung an. „Sorgen Sie dafür, daß die gesamte Besatzung an Bord des Zerstörers gebracht wird. Das wäre alles!“ Müller gab mir ein Handzeichen. Er und ich waren die ersten Passagiere, die an Bord des Zerstörers in Empfang genommen wurden. Als ich meine Füße an Deck setzte, sah ich ziemlich bald, daß es sich um keinen normalen Zerstörer der britischen Marine handeln konnte. Äußerlich wirkten die Geschütze in ihren Drehtürmen echt, aber ich sah genau, daß es Laserkanonen waren. Mit der Bewaffnung an Bord hätte der Zerstörer ohne großes Risiko die gesamte Home-Fleet der Briten angreifen und versenken können. Die Lasergeschütze hätten jede Panzerung wie dünnes Blech zerschnitten, sobald der Gegner in Sichtweite gekommen wäre. Die Aufbauten des Schiffes bestanden zum größten Teil aus Hartplastik in Metallfarbe. Notfalls konnten die Decksaufbauten innerhalb eines Tages umgearbeitet werden, vorausgesetzt, die entsprechenden Werkstätten waren an Bord vorhanden. Ich zweifelte nicht daran, daß der Gegner dieses Schiff für alle Eventualitäten hergerichtet hatte. Nach meiner Schätzung konnte dieses Schiff noch mindestens zehn bis fünfzehn Jahre lang die Weltmeere unsicher machen, bevor es Gefahr lief, im immer dichter werdenden Netz der internationalen See- und Luftverkehrskontrollen hängenzubleiben. Horatio Müller stand neben mir und verfolgte, wie die Besatzung des U-Bootes an Bord des Zerstörers geschafft wurde. Die Männer fluchten erbittert über ihre Gefangennahme. Das war um so verwunderlicher, als ich wußte, daß gerade die deutsche U-Boot-Waffe größere Verluste an Menschen gehabt hatte als jede andere Waffengattung. Wenn mich meine Erinnerungen nicht trogen, hatten von vierzigtausend Männern, die auf U-Boote kommandiert worden waren, nur ein Viertel den Krieg überlebt. „Ein hübsches Schiff, nicht wahr?“ fragte mich Müller spöttisch. „Sie werden staunen, es kann sogar tauchen. Selbstverständlich verwenden wir an Bord nur modernstes Gerät.“ Was das bedeutete, wußte ich nur zu gut. Die Hoffnung, daß irgendein alliiertes oder - falls es das noch gab deutsches Kriegsschiff mißtrauisch wurde, den Zerstörer aufbrachte und uns befreite, war praktisch gleich Null. Das einzige Mittel, mit dem dieses Schiff ernsthaft bedroht werden konnte, war eine Atombombe, wie sie zur Zeit von den Amerikanern gebaut wurde. Die Männer an Bord des Zerstörers trugen entsicherte Maschinenpistolen, mit denen sie die wütenden Deutschen bedrohten. Nur wer genau hinsah und entsprechend informiert war, konnte sehen, daß die MPis Miniaturraketen verfeuerten. Müller ließ die Gefangenen auf dem Deck antreten.
„Männer“, sagte er kalt. „Ihr seid Gefangene, aber nicht Gefangene der Alliierten. Ich gehöre einer anderen Macht an, aber darüber werdet ihr später mehr erfahren. Einstweilen soll der Hinweis genügen, daß jeder, der zu fliehen versucht, ohne lange Formalitäten erschossen wird.“ Plötzlich begann Müller zu lächeln. „Mit wem ihr es zu tun haben werdet, werde ich euch bald zeigen.“ Als er endete, war das Gurgeln zu hören, mit dem das verlassene U-Boot in den Wellen versank. Müller ging lächelnd zur Reling, sah noch einmal die Gefangenen an und sprang. In elegantem Bogen flog er über die Bordwand und landete im Wasser. Der Körper verschwand - und tauchte nicht wieder auf. Die Gefangenen starrten ebenso entgeistert über die Reling wie ich. Hatte der Mann Selbstmord begangen? Hatte er sich nur für diesen billigen Effekt geopfert? Oder war er geopfert worden? Ich wußte nicht, wie ich aussah, aber die Gefangenen waren alle blaß geworden. Ihre Verblüffung wuchs noch, als in beträchtlicher Entfernung von dem Zerstörer das Meer plötzlich zu leuchten begann. Ein Buchstabe wurde sichtbar, ein großes V. Horatio Müller aber blieb verschwunden, und ich begriff, daß es unserem Gegner auf ein paar Menschenleben mehr oder weniger nicht ankam, vermutlich auch nicht auf das Leben eines Agenten der time-squad.
4. „Wir können ihn also abschreiben“, stellte Don Slayter fest. In seiner Stimme schwang Wut mit, Wut darüber, daß man seinen besten Mann auf eine Reise ohne Wiederkehr geschickt hatte. „Ich denke nicht daran“, antwortete Demeter Carol Washington energisch. „Tovars Körper zeigte nun keinerlei Verfallserscheinungen mehr. Er lebte also noch, wenn auch unter Umständen, die ihm eine Rückkehr nicht gestatten. Es ist der gleiche Fall wie bei den beiden anderen Agenten. Auch ihre Körper liegen noch auf den Tischen und rühren sich nicht.“ „Und wenn wir einfach abschalten?“ überlegte Slayter halblaut. Zum dritten Mal innerhalb weniger Minuten griff er zum Glas, das vor ihm auf dem Tisch stand, hob es an und setzte es dann wieder ab. „Dann müßte Tovars Geist in seinen Körper zurückkehren.“ „Und was passiert, wenn wir uns verrechnet haben?“ fragte D. C. ruhig. „Der Körper ist nur deshalb noch lebensfähig, weil immer noch eine, wenn auch geringe mentale Verbindung zwischen Körper und Geist besteht. Diese Verbindung wird durch das Zeitfeld aufrechterhalten. Wenn wir es abschalten, wird der Kontakt beendet. Das würde mit Sicherheit dazu führen, daß Tovars Körper stirbt, und was mit seinem Geist wird, wage ich nicht, mir auszumalen. Wir haben keine andere Wahl, wir müssen warten!“ „Warten!“ wiederholte Slayter unruhig. Er stand auf und begann im Zimmer hin und her zu gehen. „Warten! In der Zwischenzeit kann der Gegner ungestört seine nächsten Attacken planen. Wir wissen ja nicht einmal, mit wem wirres überhaupt zu tun haben. Bedenken Sie den Multiplikatoreffekt der Gegner kann auf tausend verschiedenen Zeitebenen planen und Vorbereitungen treffen, aber wir wissen nicht einmal, wann und wo wir nach was suchen sollen, nach wem wir zu suchen haben!“ „Ich bin sicher“, sagte D. C. sanft, „daß uns Tovar Bistarc alles Wissenswerte erzählen wird, wenn er erst wieder in unserer Zeit ist. Bis zu diesem Zeitpunkt bleibt die Zeitmaschine aktiviert.“ „Das bedeutet eine ungeheure Energiever...“, Slayter brach den Satz ab. „... schwendung wollten Sie sagen“, beendete D. C. „Sie haben Tovar also schon aufgegeben.
Ich nicht. Wenn ein Notfall eintritt, können wir die Verbindung für kurze Zeit unterbrechen, wie wir es schon einmal getan haben. Mehr können wir im Augenblick nicht tun, wir müssen warten, wie sich die Dinge entwickeln.“ „Warten!“ schnaubte Don Slayter verächtlich. Das Gerät glich bis in die Einzelheiten der Zeitmaschine, wie sie von der time-squad verwendet wurde. Ich sah die ovale Tischplatte aus dunklem Metall. Durch zahllose kleine Löcher in der Platte wurde Druckluft geblasen, die den Körper des Zeitreisenden in der Schwebe hielt. An der Decke des Raumes sah ich die charakteristischen sechzehn Projektoren, die auf die Oberfläche des Tisches zielten. Dunkelrot schimmerte das Metall der Projektorspitzen, darüber saßen die weißen Ringe der fünf Isolatoren. Die Räume hinter der Zeitmaschine konnte ich nicht sehen, aber ich war mir sicher, daß auch sie der Anlage der time-squad zum Verwechseln ähnlich sahen. Es gab allerdings auch einen Unterschied. Die Platte, auf der der Reisende zu ruhen pflegte, wurde von acht v-förmigen Metallstützen gehalten. Der Bereich unter der Platte war bei den Anlagen der time-squad frei einsehbar. Hier aber entdeckte ich unter dem Tisch einen quaderförmigen Kasten, der ganz offensichtlich mit der Zeitmaschine gekoppelt war. War dies der geheimnisvolle Rückkoppler, mit dem man eine Person körperlich in die Vergangenheit schicken und auch wieder zurückholen konnte? Bei der time-squad kannte man nur zwei Verfahren der Zeitreise, die rein geistige und die sogenannte Einbahnstraße. Ich war nur als Geist auf die Reise gegangen, mein Körper verweilte noch in der Zukunft und lag auf der Platte der Zeitmaschine. Beim Einbahnstraßenverfahren hätte ich meinen Körper in die Vergangenheit mitnehmen können aber ich hätte nie wieder die Zukunft erreichen können. Daher der Name Einbahnstraßenverfahren. Unser Gegner hatte dieses technische Problem offenbar bereits gelöst, das machte ihn doppelt gefährlich. Dazu kam die raffinierte Psychofalle, die er erfunden hatte, und in der ich jetzt steckte. Schon bei meinem ersten Einsatz als Agent der time-squad war mir aufgegangen, daß die time-squad es mit einem Gegner zu tun hatte, der weiträumig dachte und plante, umsichtig und geschickt vorging und seine Ziele mit Hartnäckigkeit und Bedacht verfolgte. Dieser Eindruck wurde verstärkt durch das, was ich sehen konnte. Der Gegner verfügte offenkundig über Hilfsquellen, Verbindungen und Einfluß, und das in einem erschreckenden Maße. Wie der Gegner es geschafft hatte, mitten im Zweiten Weltkrieg einen britischen Zerstörer zu übernehmen und, ohne entdeckt zu werden, umzubauen, war mir ein Rätsel. „Teufel auch“, murmelte ein Mann neben mir. Er trug die Rangabzeichen eines Wehrmachtsgefreiten und war erschreckend dürr und hochaufgeschossen. Der Mann trug eine halblange Frisur, bei der die Hände den Kamm und den Friseur ersetzen konnten. Ich brauchte nur einen Blick in das Gesicht zu werfen, um zu wissen, daß dieser Mann zwar offenkundig verblüfft war, sich aber schwerlich durch etwas aus der Ruhe bringen lassen würde. „Kann mir einer verraten, was das für eine Maschine ist?“ wollte der Mann wissen. „Wird hier ein Spielfilm gedreht?“ Ich schüttelte den Kopf. „Das ist eine Zeitmaschine“, klärte ich meinen Nachbarn auf. Er sah mich verblüfft an, dann musterte er mich eindringlich. Er wußte natürlich, daß ich der sogenannte Assistent von Horatio Müller gewesen war, aber seine kurze Prüfung, was für eine Art Mensch ich wohl sein konnte, schien ihn zufriedenzustellen. „Der Suff, nicht wahr?“ erkundigte er sich teilnahmsvoll. „Kenne ich, aber das gibt sich wieder.“ Ich mußte lachen. Die Besatzung des Zerstörers hatte offenbar klare Aufträge und wenig Zeit. Die Männer schoben einen Matrosen nach vorne und zwangen ihn, sich auf die Platte der Zeitmaschine zu legen. In den Gesichtern der anderen Gefangenen spiegelte sich die Spannung.
Das Bedienungsteam an Bord des Zerstörers war gut eingespielt. Das Transportfeld baute sich rasch auf, und noch während der Matrose vor Entsetzen schrie, verschwand er vor den Augen der Gefangenen. Ich sah. wie einige der Männer bleich wurden. „Junge, Junge“, murmelte mein Nachbar. „Das bringt nicht einmal die UFA zuwege. Weißt du, wie der Trick funktioniert?“ Ich nickte, während die nächsten Gefangenen durch die Zeit geschickt wurden. Sie wehrten sich heftig, aber die Überzahl der Briten war zu groß. Nacheinander wurden die Männer auf die Platte gezwungen und abgestrahlt. Schließlich waren nur noch zwei Personen zu transportieren, der hagere Gefreite und ich. Ich schlug dem Mann leicht auf die Schulter. „Keine Angst“, raunte ich. „Es wird nicht weh tun.“ Die Bemerkung war zumindest teilweise falsch, denn einen Sekundenbruchteil später ruckte der Boden unter unseren Füßen mit Fahrstuhlgeschwindigkeit in die Höhe. Während meine Ohren vom Donnern einer Explosion schmerzten, wurde ich zur Seite geschleudert und prallte gegen die stählerne Seitenwand. Schmerz zuckte durch die linke Schulter, gleichzeitig sah ich, wie mein Nachbar durch den Raum rutschte und an einer der Stützen der Zeitmaschine hart gebremst wurde. Ich brauchte einige Sekunden, bis ich wieder klar denken konnte. Was sich außenbords abgespielt hatte, konnte ich nicht wissen, wohl aber vermuten. Vielleicht hatte ein deutsches U-Boot den Zerstörer angegriffen und torpediert, möglich war auch, daß das Schiff zufällig auf eine wild umhertreibende Mine gelaufen war. Daß sich der Zerstörer nicht mehr lange würde über Wasser halten können, war für mich klar. Ich rappelte mich auf und zerrte den Gefreiten in die Höhe. Mit einem Armschwung beförderte ich ihn auf die Platte der Zeitmaschine, dann legte ich mich neben ihn. Mit einem Handzeichen forderte ich die Bedienungsmannschaft auf, ihre Arbeit zu beginnen, und zu meinem Erstaunen gehorchten sie prompt. Der Schmerz in meiner Schulter verstärkte sich, gleichzeitig schien eine gewaltige Faust mein Hirn aus dem Körper zerren zu wollen. Der Schmerz strahlte vom Nacken aus tief in die Schultern hinab. Obendrein mußte ich meine ganze Kraft aufwenden, um den sich wehrenden Gefreiten daran zu hindern, von der Platte zu rutschen. Die Flüche, mit denen er mich bedachte, nahm ich nur verschwommen wahr. Das letzte, was ich bewußt sah, waren die Wasserfäden, die sich durch die Ritzen eines Schottes wanden, dann verschwand die Welt in einem roten Nebel. Die Zeitmaschine hatte uns erfaßt und strahlte uns ab. Wo würden wir herauskommen falls wir überhaupt wieder rematerialisierten? * Langsam ließen die Schmerzen nach. Ich konnte wieder sehen und hören.
Auf den ersten Blick schien es, als hätten wir den Zerstörer überhaupt nicht verlassen. Die
Umgebung sah völlig gleich aus, dann aber entdeckte ich, daß die Männer, die auf uns
warteten, keine britischen Matrosenuniformen trugen und mit Laserwaffen ausgerüstet waren.
„Sie scheinen ein leichtsinniger Vogel zu sein, Tovar Bistarc“, sagte eine helle Stimme.
Ich drehte mich ächzend auf der Platte um und fixierte den Sprecher. Er hatte helle, fast weiße
Haare, hellblaue Augen und den Gesichtsausdruck eines Waisenhausdirektors, freundlich,
sanft und liebenswürdig. Der Strahler in seiner Hand paßte wenig zu diesem Eindruck.
„Rayon Corten“, stellte sich der Mann vor. „Ich bin der Kommandant dieses Lagers, und ich
werde derjenige sein, der den Befehl zu Ihrer Erschießung gibt, falls Sie versuchen sollten,
gegen mich zu arbeiten.“
Neben mir erklang eine Aufforderung, die zum deutschen Zitatenschatz gehörte und von den
solcherart Angeredeten nur selten wahrgenommen wurde. Ob Corten deutsch sprach, ließ sich aus seiner Reaktion nicht ablesen. „Wir stellen es Ihnen frei, sich zuerst einmal umzusehen. Später werden wir uns dann über Ihre Zukunft unterhalten. Der andere kommt zu den übrigen!“ Die letzten Worte galten den Wachen, die meinen Nachbarn packten und von der Platte der Zeitmaschine zerrten. Unsaft schleppten sie den wütend Fluchenden aus dem Raum. Corten lächelte mir noch einmal auffordernd zu, dann verließ er den Raum. Ich war allein, aber ich hatte keinerlei Werkzeug bei mir. Ein Blick auf den schwarzen Kasten genügte mir, um zu wissen, daß ich ohne Werkzeug nicht an sein Innenleben herankommen würde. Immerhin stand jetzt fest, was ich zu tun hatte. Ich mußte das technische Geheimnis dieser Zusatzeinrichtung lüften, dem Gegner diese Trumpfkarte aus dem Ärmel ziehen. Gelang mir dies, dann waren die Chancen in dem Wettkampf der time-squad mit dem Gegner wieder annähernd gleich. Bislang konnte die time-squad ihre Überlegenheit an Menschen und Material nicht ausspielen, waren die Hilfsquellen, die Verbindungen zur Regierung und zum Militär wirkungslos angesichts der Möglichkeit des Gegners, ohne Spuren zu hinterlassen, in der Zeit zu verschwinden. Mit langsamen Schritten verließ ich den Raum. * Es war drückend heiß, und die hohe Luftfeuchtigkeit verwandelte das Land in eine gigantische Waschküche. Schon nach einigen Minuten rann mir der Schweiß über das Gesicht, waren Hemd und Jacke unter den Armen tropfnaß. Es gab keinen Zweifel, das Lager des Gegners lag irgendwo in der Nähe des Äquators, entweder in Afrika, Südamerika oder in den tropischen Regenwäldern Asiens. Es war Mittag, zumindest nach meiner Uhr. Wenn es mir gelang, den Sonnenstand annähernd zu schätzen, konnte ich vielleicht herausfinden, auf welchem Erdteil das Lager zu suchen war. Wesentlich wichtiger als dieses Problem war allerdings die Frage, wann wir uns befanden, in welches Jahr das Versteck gelegt worden war. Ich tippte auf ein Datum im sechzehnten Jahrhundert. Zu dieser Zeit hatte noch kein weißer Mann diese Gebiete betreten. Das war wichtig, um die Gefangenen an der Flucht zu hindern. Selbst mit modernster Ausrüstung war es ausgeschlossen, eine Flucht erfolgreich abzuschließen. Hätte ich es versucht, hätte ich monate- vielleicht jahrelang durch den Regenwald irren müssen, das menschenfeindlichste Gebiet, das sich auf der Erde denken ließ. Als ich mit diesem Gedanken spielte, wurde mir auch klar, wo ich mich befand - im Amazonasdschungel, dem größten zusammenhängenden Regenwaldgebiet. Die Gründe für diese Standortwahl lagen auf der Hand. Wenn meine Schätzung stimmte, dann hätte ich selbst im günstigsten aller nur denkbaren Fälle niemals mehr einen Kontakt zur abendländischen Zivilisation herstellen können. Eine Flucht hätte bedeutet, mindestens dreißigtausend Kilometer zu Fuß zu marschieren, unter steinzeitlichen Bedingungen. Wenn ich es gewagt hätte, wären meine Nachkommen vermutlich erst im Jahre 2000 am Ziel gewesen. Eine Flucht durch den Raum war ausgeschlossen. Wenn es überhaupt eine Fluchtmöglichkeit gab, dann konnte sie nur durch die Zeit führen. Die Zeitmaschine aber war im Besitz des Gegners. Ich atmete tief durch. Die Lage war einigermaßen klar. Ich mußte zunächst einmal Informationen sammeln, feststellen, wo und wann genau ich mich befand. Erst dann konnte ich darangehen, Pläne zu schmieden und Vorbereitungen zu treffen. *
Nach zwei Stunden wußte ich mehr. Auf dem großen Platz zwischen den Baracken war die Lagermannschaft angetreten. Zweitausend Männer, davon ein Viertel Wachpersonal. Die Mannschaft war bunt gemischt; ich sah zahlreiche Soldaten des Zweiten Weltkriegs, Briten, Amerikaner, Deutsche, Franzosen, Russen, Italiener, Spanier. Etwas merkwürdig nahmen sich die achtzig Römer aus, die sich beharrlich geweigert hatten, das Abzeichen ihrer Legion herauszurücken. Wenn mich meine spärlichen Lateinkenntnisse nicht trogen, hatten sie einmal zur berühmten zehnten Legion eines gewissen Caius Julius Cäsar gehört. Ich sah japanische Samurais, eine Abteilung kriegerischer Janitscharen, französische Grenadiere - Soldaten aus allen Ländern und fast allen Epochen waren in dieses Lager verschleppt worden. Bei fünfhundert der Gefangenen konnte ich nicht sagen, aus welcher Zeit sie stammten. Sie trugen die gleiche Uniform wie die Wachmannschaften, allerdings ohne Rangabzeichen. Wahrscheinlich waren sie schon längere Zeit im Lager und hatten sich in ihre neue Rolle eingelebt. Vor den angetretenen Männern stand Rayon Corten und hielt eine Ansprache. Der Informationsgehalt der Rede war gering, aber ich wußte nun, daß dieses Lager tatsächlich am Amazonas lag und man das Jahr 1480 schrieb. Zwölf Jahre mußten noch vergehen, bis Kolumbus die Westindischen Inseln erreichen würde. Ich kannte sein Leben nicht genau, aber die Geschichtsschreibung hätte es sicherlich registriert, hätte er dort weiße Männer gefunden und nach Spanien zurückgebracht. Ein großer Teil der Gefangenen nahm diese Information teilnahmslos hin, aber die Europäer wurden ausnahmslos bleich. Ihr Entsetzen steigerte sich noch, als Corten ihnen vorführte, wie das Lager bewacht wurde. Über die Gassen zwischen den Baracken schoben sich langsam Körper nach vorne. Pechschwarze Panther mit funkelnden Lichtern und gefleckte Jaguare. Lautlos kamen die Tiere näher und begannen die Männer langsam zu umkreisen. Wie von unsichtbarer Hand gelenkt, schlichen sie um die schreckensbleichen Gestalten, und keine der großen Katzen gab auch nur den geringsten Laut von sich. Corten hatte sich eine fürchterliche Wachtruppe beschafft. Selbst die Lasergewehre der menschlichen Wachen waren nicht so beängstigend wie die Klauen und Pranken der Raubkatzen, die den Tod auf leisen Sohlen brachten. Corten sprach langsam und eindringlich, ohne Pathos und Leidenschaft. Er machte den Gefangenen klar, was sie zu erwarten hatten, wenn sie sich den Befehlen ihrer Vorgesetzten widersetzten. Gelassen trug er die gleichen Gedankengänge vor, die auch mich beschäftigt hatten. Die Gesichter der Gefangenen verhärteten sich, je klarer ihnen wurde, daß es aus diesem Lager kein Entkommen gab, daß nur ein Weiterleben möglich war, wenn sie sich Rayon Corten bedingungslos unterwarfen. Sie kamen vereinzelt, summten über den Platz und begannen dann, neben Rayon Corten einen verwirrenden Tanz aufzuführen. Sie sahen aus wie Mücken, auf jeden Fall handelte es sich um Insekten, die einem ähnlich geheimnisvollen Willen zu gehorchen schienen wie die Katzen, die in Dreiergruppen mit gleichmäßigem Schritt die Gefangenen umkreisten. Die Zahl der Insekten vergrößerte sich. Jetzt war der Schwärm mit bloßem Auge zu sehen, ein verwirrendes Durcheinander von Körpern, die sich rhythmisch bewegten, zu pulsieren schienen. Immer dichter wurde der Schwärm, und allmählich wurden die äußeren Konturen schärfer. Eine Gestalt zeichnete sich ab, der Körper eines Menschen. Längst konnte man den summenden, sirrenden Schwärm nicht mehr mit den Augen durchdringen, die schwärzliche Masse der Insekten wurde zusehends kompakter. Ein fahles Leuchten glomm auf und hüllte den zuckenden Insektenschwarm ein, dann dröhnte ein Donnern an unsere Ohren. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, daß selbst den Wachen der Angstschweiß auf der Stirn stand.
Die Gestalt wurde sichtbar, und plötzlich schienen die Insekten verschwunden zu sein; ein Mann stand vor uns, groß und schlank, ziemlich alt, aber noch sehr beweglich. Ich sah ein schmales, fast asketisches Gesicht, die Augen lagen tief in den Höhlen und funkelten bedrohlich, ähnlich den Lichtern der großen Katzen, die sich jetzt niederließen und zum ersten Mal ein leises Knurren hören ließen. Der Kopf des Mannes war fast haarlos, die verbliebenen Haare glänzten grausilbern im Licht der Sonne. Bekleidet war der Mann mit einem Umhang aus dunkelblauer Seide, auf der Brust erkannte ich eine stark verschnörkelte Sieben. Der Mann bewegte sich nicht. Es war heiß, und die Luft war mit Feuchtigkeit überladen. Dennoch fror ich, und den anderen Männern erging es nicht anders. Der eisige Hauch des Unfaßlichen schien von dem Mann auszugehen und uns einzuhüllen. Ich begann zu ahnen, daß hier mit Mitteln gearbeitet wurde, die das menschliche Begriffsvermögen überstiegen. Leichen-Müller fiel mir ein und sein rätselhaftes Verschwinden, das leuchtende V auf dem Atlantik. Der Geheimnisvolle sagte kein Wort. Langsam ging er auf die erste Reihe der Gefangenen zu. Aus der Menge erklang ein unterdrücktes Stöhnen. Ich sah zitternde Kiefer und dickperligen Schweiß auf vielen Gesichtern. Das Grauen hielt die Männer gefangen und lahmte ihre Glieder. Der Mann hatte den ersten der Gefangenen erreicht, einen schnauzbärtigen französischen Grenadier. Ich sah, wie der blasse Mann die Hand hob, um ein Kreuz zu schlagen, aber die Hand sank wieder nach unten, als der Geheimnisvolle ihm die Rechte auf die Schulter legte. Alle Muskeln des Grenadiers schienen sich gleichzeitig zu verkrampfen, ein Zittern ging durch seine Glieder. Langsam ging der Geheimnisvolle durch die Reihen. Er sah die Männer an, legte ihnen eine Hand auf die Schulter und schritt dann weiter. Minuten vergingen in quälender Langsamkeit. Endlich erreichte der Mann auch mich. Seine Augen fixierten mich, und mich überkam das Gefühl, als werde mein Innerstes nach außen gekehrt. Wie glühende Nadeln fraß sich der Blick in mein Hirn, und als der Unheimliche mir seine rechte Hand auf die Schulter legte, floß eine eisige Kälte durch meinen Körper. Ich wollte die Augen schließen, aber der Blick hielt mich gefangen. Mein Rücken begann zu schmerzen, meine linke Schulter schien eine Zentnerlast auffangen zu müssen. Das Grauen hatte mich im Griff und würgte mich. Als der Geheimnisvolle sich wieder in Bewegung setzte, war ich nahe daran, zusammenzubrechen. Dieser kurze Kontakt, der nur wenige Sekunden gedauert haben konnte, mir aber wie eine Ewigkeit erschienen war, hatte mein seelisches Gleichgewicht völlig erschüttert. Die Angst, die dieser Kontakt zurückgelassen hatte, sagte mir, daß selbst der Tod nicht so grauenvoll sein konnte wie die Macht, die der Geheimnisvolle verkörperte. Der Mann ging langsam zu dem Platz zurück, an dem er aufgetaucht war. Er verharrte dort für einen Augenblick und sah noch einmal die Männer an. Innerhalb weniger Sekunden löste sich der Körper auf und verschwand in einer Schar tanzender Insekten, die sich zu einem Schwärm formierten und über unseren Köpfen schwärzlich wimmelnd ein großes V bildeten. Wenig später zerfaserte der Schwärm und verschwand. Minutenlang stand ich regungslos, auch die Gefangenen rührten kein Glied. Cortens Stimme klang in die beklemmende Stille. Ruhig gab er seinen Anweisungen, und die Männer marschierten langsam in ihre Quartiere. Allmählich fand auch ich meine Ruhe wieder, obwohl mir mit erschreckender Deutlichkeit klargeworden war, daß der Gegner der time-squad uns nicht nur technisch überlegen war. Der Geheimnisvolle hatte für einen kurzen Zeitraum den Vorhang geöffnet und mir einen Blick in jenes Reich erlaubt, aus dem er stammte und aus dem er seine Macht bezog. Und ich begann zu fürchten, daß der Kampf zwischen der time-squad und dem Gegner auf einem Gelände ausgefochten werden mußte, das sich menschlichem Zugriff entzog, das schrecklichere Gefahren aufzuweisen hatte, als Menschen sie je durchzustehen gehabt hatten.
*
Der Raum war etwa fünfzehn Quadratmeter groß. Ein Bett stand darin, es gab einige Einbauschränke, eine moderne Naßzelle, Schreibtisch, Stühle und an der Wand ein Gemälde, das auf den ersten Blick wie eine surrealistische Zeichnung anmutete, bei näherer Betrachtung aber den Betroffenen in seinen Bann schlug, ihn an das Grauen erinnerte, das ihn auf dem Appellplatz erschüttert hatte. Der Raum war mir als Quartier zugewiesen worden. Mehr hatte ich nicht erfahren, man hatte mir keine Befehle gegeben, keine Verbote ausgesprochen. Offenbar war sich die Gegenseite sicher, daß ich meinen Robotkörper niemals gegen sie verwenden konnte. Ich lag auf dem Bett und starrte an die Decke. Meine Gedanken kreisten um Flucht, um viele Ansätze zu einem Handstreich, der das Höllencamp in meine Gewalt bringen würde, der aber von vornherein zum Scheitern verurteilt war, solange ich nicht einmal Herr meines neuen Körpers war. Ich hatte genügend Zeit gehabt, mich mit diesem Körper vertraut zu machen. Er besaß Muskeln und Knochen und auch ein Nervengewebe. Nach einigen Tagen der Übung konnte ich mit den Fingerspitzen tasten, Hitze wahrnehmen und auch schmecken. Gehör und Augen funktionierten einwandfrei. Wäre der Kleincomputer nicht gewesen, der irgendwo in meinem Körper steckte - ich vermutete ihn in der Brusthöhle -, hätte ich mich mit diesem Körper fast anfreunden können, zumal er einige Vorzüge aufzuweisen hatte, die ein normaler menschlicher Körper nicht besaß. Meine Reaktionsgeschwindigkeit war mehr als doppelt so hoch wie zuvor; ich vermochte mühelos Gewichte zu stemmen, die ich früher nicht einmal hätte anheben können. Außerdem schien dieser Körper keine Ermüdung zu kennen. Wenn der verflixte Kleincomputer nicht gewesen wäre... Da der Körper die Befehlsimpulse meines Geistes präzise befolgte, war nicht einmal auszuschließen, daß es möglich war, meine Gedanken auf ähnliche Weise anzumessen und zu kontrollieren. In diesem Fall war ich verloren, dann hatte ich überhaupt keine andere Möglichkeit mehr als die, mich bedingungslos zu unterwerfen. Ich stand auf und ging zum Fenster hinüber. Auf dem Appellplatz wurde trainiert. Die Ausbildung, die ich bei der time-squad genossen hatte, konnte nicht besser sein als dieses Training. Die Männer lernten den Umgang mit Laserwaffen, die Verschleppten aus Japan und Korea unterwiesen die Männer in den asiatischen Kampfkünsten. Systematisch wurden hier erstklassige Einzelkämpfer herangezogen. Bogenschießen stand ebenso auf dem Programm wie Messerkampf; Chiffrieren wurde geübt und die Herstellung von Bomben und Geheimtinten. Aus der Frühzeit der USA hatte man einen jener schießwütigen Killer geholt, der die Männer unterrichtete, wie man so schnell wie möglich seine Waffe zog; außerdem brachte er ihnen noch bei, wie man selbst mit schlechten Blättern beim Pokern gewann. Ich hatte auch herausgebracht, daß in einigen Baracken Simulatoren standen. Dort wurden Kampfflieger ausgebildet. Was mich am meisten bedrückte, war die Tatsache, daß der größte Teil der Männer eifrig und oft sogar begeistert bei der Sache war. Viele der Zeit-Verschleppten hatten nie einen anderen Beruf gekannt, sie waren Soldaten gewesen, seit sie bewußt denken konnten. Es waren jene Söldnertypen, die nur töten konnten und denen die Rückkehr in ein friedliches Zivilleben erschreckender erschien als die Aussicht, im Kampf sein Leben zu lassen. Corten hatte ihnen klargemacht, daß sie die ersten Soldaten der neuen Armee seien, daß sie die größten Aussichten auf eine Karriere hätten - und das hatte gewirkt. Wenn ich mir vorstellte, daß in einem Jahr diese zweitausend Männer in die Zukunft einsickern würden, um unsere Zivilisation raffiniert zu sabotieren, überkam mich die Angst. Es klopfte an der Tür.
„Herein!“ rief ich und wandte mich um.
Die Tür wurde geöffnet, und ein Mann stand im Rahmen, der mein Zwillingsbruder hätte sein
können. Hinter ihm befand sich ein zweiter Mann, der den gleichen Anblick bot. Ich hatte
sofort den Verdacht, daß es sich um zwei Kollegen handelte, die in die gleiche Falle wie ich
getappt waren.
„Slayter läßt grüßen!“ knurrte ich. Beide Männer verzogen das Gesicht zu einem säuerlichen
Grinsen.
„Richtig getippt, Kollege“, murmelte der erste betroffen. „Wir gehören zur time-squad.“
„Tovar Bistarc“, stellte ich mich vor.
„Sato Mishimura.“
„Michael Addams.“
„Herzlich willkommen im Höllencamp“, wünschte Sato. Er hatte sich ein breites Klebeband
am rechten Arm befestigt, das rot leuchtete. Addams trug ein Band in Blau. „Was sagen Sie
zu Valcarcel?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Wen meinen Sie?“
„Den Hexenmeister“, antwortete Sato, während er sich auf mein Bett setzte. Mike hockte sich
auf die Schreibtischkante. „Der Bursche im blauen Kimono mit der Sieben darauf.“
„Beeindruckend“, antwortete ich kurz. Bevor ich aus mir herausging, mußte ich erfahren, wie
weit die beiden mit dem Gegner zusammenarbeiteten. Unmöglich schien es mir nicht, daß
selbst Zeit-Agenten zum Gegner überliefen. Ich konnte nicht einmal ausschließen, daß ich
selbst zum Verräter wurde. Wenn ich an die Auftrittsvorstellung des Mannes Valcarcel
dachte...
Mike bedachte mich mit einem erheiterten Blick.
„Sie glauben, wir sind übergelaufen?“
Ich nickte kurz, und Sato begann zu kichern.
„Keine Angst“, beteuerte er. „Wir machen seit unserer Gefangennahme immer das gleiche
wir überlegen, wie wir dieses Höllencamp so schnell wie möglich in Richtung Zukunft
verlassen können.“
„Und? Haben Sie eine Möglichkeit gefunden?“
Beide schüttelten fast gleichzeitig die Köpfe.
„Fehlanzeige“, sagte Sato trocken. Allmählich lernte ich die beiden Männer anhand ihrer
Bewegungen voneinander zu unterscheiden. Sato war schneller, und ein Teil seiner Gesten
verriet den Asiaten. „Die einzige Möglichkeit, die wir sehen, besteht darin, zu den Inkas zu
reisen und ein Floß zu bauen. Sie erinnern sich - Kon-Tiki. Vielleicht kann man auf diese
Weise Indien erreichen. Dort sitzen zur Zeit die Portugiesen, es besteht also eine Verbindung
mit Europa.“
„Und anschließend?“ fragte ich zurück. „Bedenken Sie, in welcher Zeit wir leben. Sie werden
keine zwei Schritte in Europa machen können, dann hat Sie die Heilige Inquisition
eingefangen. Ich habe meine Zweifel, ob diese Körper es vertragen, öffentlich verbrannt zu
werden.“
Die beiden machten betroffene Gesichter.
„Wenn es einen Ausweg gibt“, fuhr ich fort, „dann führt er über die Zeitmaschine dieses
Camps. Haben Sie schon einmal versucht, sich die Maschine näher anzusehen?“
Sato nickte und lachte bitter auf.
„Wir haben es versucht, aber sobald wir dem Gebäude näher als fünfzig Meter kamen,
versagten die Körper den Dienst. Ich möchte Ihnen empfehlen, keinen derartigen Versuch zu
unternehmen - es tut höllisch weh.“
Ich kratzte mich hinter dem Ohr.
„Kann man überhaupt das Lager verlassen?“
„Ohne Schwierigkeiten“, versetzte Addams. „Wir müßten erst die Wachen passieren, dann die
Jaguare und Panther vertreiben, anschließend können wir durch den Urwald marschieren. Wir befinden uns übrigens in der Nähe der brasilianischperuanischen Grenze. Später wird in diesem Gebiet die Stadt Puerto Pardo liegen, am Rio Jurua.“ Ich rief mir die Karte Südamerikas ins Gedächtnis zurück. Das Lager war teuflisch geschickt angelegt. Wir hatten die Wahl - entweder einige tausend Kilometer Urwald oder die Kordilleren mit höchsten Höhen bis weit über sechstausend Meter. Ein Plan nahm langsam in mir Gestalt an. Sobald ich diese vage Vorstellung hatte, formulierte ich die ersten Schritte meines Vorhabens in Gedanken, so klar und deutlich, daß ein Kontrolleur sie verstehen konnte, wenn es einen solchen Kontrolleur gab. Der Kleincomputer in meinem Körper reagierte nicht. Vielleicht... ? „Wir treffen uns morgen abend in meinem Zimmer“, schlug ich vor. „Dann sehen wir weiter. Vielleicht gelingt es mir... ?“ Sie sahen mich gespannt an, aber ich machte ein möglichst geheimnisvolles Gesicht und schwieg mich aus. Ziemlich ratlos trollten sich meine Kollegen. Ich sah auf die Uhr, in wenigen Stunden würde es dunkel sein.
5. Ein großer Freund selbstbereiteter Schmerzen war ich nie gewesen, und darum zögerte ich ziemlich lange, bevor ich mir die Messerklinge ins Fleisch rammte. Die erste Probe mit einer Nabel hatte ergeben, daß mein Robotkörper Blut besaß. Das war nicht verwunderlich, denn schließlich mußte das künstliche Hirn, in dem mein Verstand gefangengehalten wurde, mit Nahrung und Sauerstoff versorgt werden. Der restliche Körper aber arbeitete auf anderer Grundlage, Blutgefäße waren dort nicht nötig. Ich biß die Zähne zusammen, als sich die Klinge in die Haut bohrte, und im gleichen Augenblick war mir klar, daß ich im Falle des Falles niemals auf diese Art und Weise Selbstmord begehen würde, wenn es nötig sein sollte. Lieber irgendwelche Pillen. Ich begriff nicht, wie es möglich war, daß sich auch noch in meiner Zeit Menschen durch das Aufschneiden der Pulsader töteten. Es tat höllisch weh, und das um so mehr, als ich den Schmerz erwarten konnte. Wieder stöhnte ich unterdrückt auf, als ich das Messer aus der Wunde zog. Ich hatte genau gezielt, auf den schwachblauen Streifen unter der Haut, der ein dickes Blutgefäß verriet. Es blutete aus der Wunde, aber nur sehr schwach. Eine Arterie hatte ich mit Sicherheit nicht getroffen. Ich folgerte daraus, daß sich die Blutversorgung des Körpers auf die Oberfläche beschränkte. Wenn ich mich in den Finger schnitt, mußte Blut fließen, damit die wahre Natur des Körpers nicht verraten wurde. Größere Blutverluste konnte ich allerdings nicht erleiden. „Um so besser“, murmelte ich. In der Naßzelle gab es auch einen Verbandskasten. Ich verband den linken Unterarm, dann ging ich zur Tür. Sie bewegte sich fast lautlos in ihren Scharnieren. Es war dunkel draußen, aber der Mond gab genügend Licht, um Gebäude und Menschen so weit zu erhellen, daß man sie erkennen konnte. Im Lager war es still, die Männer schliefen bereits. Das war nicht verwunderlich, denn sie hatten den ganzen Tag über hart trainieren müssen. Wer nach solchen Anstrengungen nicht wie ein Bleiklotz schlief, konnte nicht ganz normal sein. Waffen hatte ich nicht, aber ich konnte mich auf meine Arme und Beine verlassen. Ob meine Robotgliedmaßen allerdings auch mit einem Jaguar fertig werden konnten, stand auf einem anderen Blatt. Ich mußte dieses Risiko eingehen.
Leise schlich ich durch das verlassene Lager. Nur aus einer der Baracken kam noch Lärm. Es klang wie eine Rauferei, aber als ich mich näher schlich und durch das Fenster spähte, sah ich einige Männer beim Kartenspiel. Einer der Männer war der hagere Soldat, der zusammen mit mir in die Vergangenheit gereist war. Der Zufall wollte es, daß er genau in dem Augenblick zum Fenster sah, als mein Kopf sichtbar wurde. Er zuckte mit keiner Wimper, aber ich sah sofort, daß er mich erkannt hatte. Ich hörte, wie er seinen Freunden erklärte, er fühle sich nicht ganz wohl, dann hörte ich Schritte, die sich der Tür näherten. Sofort zog ich mich in den Schatten zurück. Die Tür wurde geöffnet, dann wieder geschlossen. Ich hörte leise Schritte näher kommen. Mit einem Satz war ich bei dem Mann. Ich legte ihm die Hand auf den Mund und setzte einen Würgegriff an. Der Mann ließ sich durch diesen plötzlichen Angriff nicht aus der Fassung bringen. Ein Ellenbogen landete in meiner Magengrube, und ein harter Schuhabsatz krachte gegen mein Schienbein. Ob ich wollte oder nicht, ich mußte meinen Griff lockern. Sekundenbruchteile danach krallten sich zwei Hände wie Stahlklammern in meine Haare. Wenn ich mir nicht den Skalp vom Schädel ziehen lassen wollte, mußte ich der Bewegung folgen. Ich rollte über die Schulter des Mannes ab und landete im Staub. „Still!“ flüsterte mein Gegner hastig. „Eine Wache kommt. Los, steh auf!“ Er reichte mir die Hand und zerrte mich in die Höhe. Ich kam hastig auf die Beine und folgte dem Mann. Hinter der Baracke stieß er mich unsanft in den Staub und preßte nun seinerseits mir eine Hand auf den Mund. Er packte nicht fest zu, aber ich spürte hinter diesem leichten Druck die Entschlossenheit, mir das Gesicht auf den Rücken zu drehen, wenn ich einen Laut von mir gab. Die Schritte der Wachen verklangen in der Dunkelheit. Mein Gegner löste seinen Griff und setzte sich auf. „Zigarette?“ Ich nahm leise dankend an, obwohl ich wußte, daß mir die Schadstoffe die Lunge zerfressen würden. Mir fiel auf, daß der Hagere eine merkwürdige Art hatte, die Zigarette zu halten. Er verbarg die glimmende Spitze in der hohlen Hand und hielt die Hand vor die Brust gepreßt. Was diese Bewegung zu bedeuten hatte, begriff ich erst, als er mich mit energischen Griffen dazu zwang, die gleiche Haltung einzunehmen. „Bist du lebensmüde?“ fauchte er mich an. „Die Glut ist kilometerweit zu sehen. Wenn hier russische Scharfschützen wären...“ Ich unterdrückte ein Kichern. Immerhin, der Mann hatte mir sehr eindrucksvoll - das Schienbein schmerzte noch immer - bewiesen, daß er zu kämpfen verstand. Daß er selbst unter diesen Bedingungen keine Vorsichtsmaßnahmen außer acht ließ, sprach ebenfalls für ihn. „Los, rück mit der Sprache heraus, Bruder! Was hast du vor?“ „Ich wollte nur Spazierengehen“, log ich. Er rammte mir seine harte Faust in den Magen. „Versuche nicht, mich zu verkohlen. Ich will nicht Anastasius Immekeppel heißen, wenn du nicht irgend etwas planst.“ „Hast du noch einen anderen Namen?“ fragte ich zurück. „Nenne mich Inky, das genügt“, lautete die kurze Antwort. „Und jetzt, Bruder, sprich, oder es setzt Keile! Ich bekomme bei diesem Haufen sicher ein Verdienstkreuz, wenn ich verrate, daß du hier nachts die Landschaft verunzierst.“ Ich sah rasch auf meine Uhr. Es würden noch einige Stunden vergehen, bis es wieder hell wurde. Ich hatte also genug Zeit, Inky so weit mit den Dingen vertraut zu machen, wie es mir richtig schien. Zuerst aber suchten wir uns einen Ort, an dem wir uns unterhalten konnten, ohne daß Zeugen zu befürchten waren. Inky hörte sich meinen Bericht mit unterdrücktem Schmunzeln an. „Bruder“, sagte er schließlich. „Du stellst selbst den alten Münchhausen in den Schatten, aber
ich glaube dir. Nur eines begreife ich nicht. Du hast mir bis jetzt nicht verraten, auf welchem
Weg du diesen Saftladen wieder zu verlassen gedenkst. Spuck aus, Bruder!“
Abgesehen davon, daß er mich ständig mit Bruder anredete, zeigte er eine erstaunliche
Sprachgewandtheit. Ich brauchte stets einige Zeit, bis ich sein Vokabular verdaut hatte.
„Wer sagt dir, daß ich das vorhabe?“
„Hältst du mich für schwachsinnig?“ fragte er grinsend. „Hier kommt doch keiner freiwillig
her, und wenn du der Gegenpartei angehörst, wirst du wohl auch wieder dorthin zurückkehren
wollen. Und wenn du das tust, werde ich dich begleiten.“
„Kommt nicht in Frage“, wehrte ich ab. Wieder grinste Inky.
„Du hast die Wahl“, stellte er sachlich fest. „Entweder bringst du mich um, oder du nimmst
mich mit. Tust du das nicht, werde ich dich verpfeifen. Man muß sehen, wo man bleibt, in
diesen Zeiten!“
„Also gut, komme mit!“
Ich gab mich geschlagen.
* Die Tür zum Simulatorraum war nicht verschlossen. Offenbar war sich die Gegenpartei ihrer
Sache sehr sicher. Leise huschten wir in den Raum. Inky kannte ihn bereits, er hatte schon
dort trainiert - daher war ihm auch klar, daß er tatsächlich eine Zeitreise gemacht haben
mußte. Die hochgezüchtete Elektronik einer modernen Kampfmaschine war zu sehr
verschieden von den primitiven Instrumenten, mit denen damalige Flugzeuge ausgerüstet
gewesen waren.
Das Hauptlicht durften wir nicht einschalten, aber die Innenbeleuchtung der Simulatorkabine
reichte für unsere Zwecke aus. Rasch hatte ich gefunden, was ich suchte. Neben dem
Simulator gab es in dem Raum auch eine Reparaturabteilung, für den Fall, daß an dem Gerät
Defekte auftraten.
„Eine Unordnung ist das...“ brummte Inky kopfschüttelnd.
Mir kam der wenig ausgeprägte Sinn für Ordnung sehr gelegen. Es würde nicht auffallen,
wenn ich mir einige Gegenstände aneignete, die ich für mein Vorhaben brauchte.
Anschließend stattete ich der Lagerapotheke einen Besuch ab, und auch dort fand ich rasch,
was ich suchte.
Ich trennte mich von Inky.
„Morgen abend“, sagte ich leise. „An dieser Stelle. Aber ich warne dich - deine Aussichten
sind verdammt gering. Denke an die Katzen.“
„Ich mag Katzen“, gab Inky trocken zurück. „Bis morgen!“
Zehn Minuten später lag ich in meinem Bett. Die Beute meines Streifzugs war in den
Schränken versteckt. Man konnte sie vergleichsweise leicht finden, aber ich rechnete nicht
damit, daß man danach suchen würde.
Was mir allerdings für den Fall blühte, daß gesucht wurde und man die Dinge bei mir fand,
wagte ich nicht, mir auszumalen.
* Man hatte nicht gesucht, und der Abend dämmerte herauf. Mike und Sato hatten sich pünktlich bei mir eingefunden. Wir warteten auf die Dunkelheit. Mein Bündel war geschnürt. Es enthielt die gestohlenen Gegenstände, die ich den beiden vorsichtshalber nicht gezeigt hatte, dazu die komplette Ausstattung des Medizinschränkchens. Ich hatte mir noch einige Feuerzeuge beschafft und andere Kleinigkeiten, die von Nutzen sein konnten. Mike und Sato waren ziemlich erstaunt, daß ich weder Waffen noch Lebensmittel besorgt hatte.
Mir konnte das gleichgültig sein. Ich hatte nicht vor, mich längere Zeit im Dschungel aufzuhalten. Wir warteten geraume Zeit, bis ich endlich das Zeichen zum Aufbruch gab. Leise schlichen wir aus meiner Unterkunft. Am vereinbarten Treffpunkt wartete Inky auf uns. Er grinste mir erwartungsvoll entgegen. „Alles gutgegangen?“ fragte er knapp. Ich nickte. „Hör zu, Inky. Wir werden dich mitnehmen, wenn wir fliehen. Aber noch fliehen wir nicht. Mein Plan sieht anders aus, und du wirst verstehen, daß ich dich nicht informieren kann, was genau ich vorhabe. Wir werden aber zurückkommen und die Gefangenen des Höllencamps befreien.“ „Ich komme mit“, sagte Inky entschlossen. „Ich werde keinen Tag länger in diesem Lager bleiben. Wenn ich euch nicht begleiten kann, gehe ich eben allein.“ Dieser Schuft wußte ganz genau, wo er mich packen konnte. Ich gab seufzend auf. Immerhin ging er das größte Risiko ein. Wenn es ihm bei dieser Flucht an den Kragen gehen würde, hatte er sich das selbst zuzuschreiben, und ich hatte den bestimmten Eindruck, daß er sich darüber klar war. Aus der Luft betrachtet war das Höllencamp kreisförmig, mit einem Durchmesser von knapp fünfhundert Metern. Innerhalb dieses Bereichs war der Boden von allen größeren Pflanzen gesäubert worden, außerhalb der Grenzen lag der Dschungel, dicht, grün, fieberverseucht, von Leben wimmelnd und die größte Ansammlung von Todesgefahren, die es auf dem festen Boden gab. In diesem Bereich der Erde hatte der Mensch fast keine Möglichkeit, mit der Natur zu leben. Er konnte sich ihr unterwerfen und dafür einen hohen Preis zahlen, er konnte sie aber auch mit seinen Mitteln bekämpfen und sie vernichten. Der Preis, der dafür zu zahlen war, war unter Umständen - es hing von der Betrachtungsweise ab - noch höher. Auf der freien Fläche gab es für uns keine Hindernisse. Die Wachen wußten, daß der eigentliche Schutz des Lagers von den Raubkatzen übernommen wurde. * Sie warteten offenbar bereits auf uns. Die gelben Lichter funkelten uns an, die Fänge waren geöffnet, die Körper zum Sprung geduckt. Ein Jaguar und ein prachtvoller schwarzer Panther. Wir zögerten. Ich sah, daß Sato und Mike nervös waren, Inky hingegen zeigte ein zuversichtliches Grinsen. Wußte der Mann mehr, als er zugeben wollte? Oder vertraute er rückhaltlos auf unsere Fähigkeiten? Ich zog die Flasche aus der Tasche. Sie enthielt geringfügige Reste von Rasierwasser, konzentrierte Schwefelsäure und hochprozentigen, fast reinen Äthylalkohol. Mike hatte den Kaugummi besorgt, den ich seit unserem Aufbruch im Mund hatte. Ich brachte einen Wattebausch zum Vorschein und drückte ihn gegen den Kaugummi, dann tränkte ich die Watte mit dem Äther, der aus der Schwefelsäure und dem Äthanol entstanden war. Vielleicht hatte sich nur ein Teil der Substanzen verbunden, dann mußte die Wirkung noch größer sein. Der betäubende Geruch des Schwefeläthers stieg in meine Nase. Ich warf die Watte dem Panther an den Leib. Wie ich erwartet hatte, blieb der klebrige Kaugummi am Fell des Tieres haften, das Sekunden später aufbrüllte. Der Jaguar fauchte uns wütend an, während der Panther beide Tatzen einsetzte, in dem vergeblichen Versuch, den betäubenden und ätzenden Watteballen von seinem Körper zu entfernen. Das Tier begann sich im Kreis zu drehen, schlug um sich und fauchte vor Wut und Schmerz. Der Jaguar wich langsam zurück, während ich das zweite Geschoß vorbereitete. Kurze Zeit später war auch dieser Angreifer außer Gefecht gesetzt. Beide Tiere verschwanden in eiliger Flucht im Dschungel. Ich grinste meine Kollegen an, die meinen Handlungen mit völligem Unverständnis gefolgt waren. „Vorwärts“, kommandierte ich. Der Dschungel nahm uns auf. Die schwüle Hitze, die wir
bereits vom Höllencamp kannten, war unbedeutend im Vergleich zu der Luft, die uns jetzt empfing. Diese erdrückende Schwüle war gesättigt mit den Ausdünstungen des Dschungels, dem betäubenden Duft der Blumen, dem strengen Geruch harzigen Holzes, dem Moder langsam verfaulender Blätter und Stämme. Ekelerregender Aasgestank schwang darin mit, die scharfe Ausdünstung von Raubtieren. Über allem erklangen die Geräusche der Tiere, die ihr Leben in der tropischen Nacht verbrachten. „Inky, du gehst in der Mitte!“ ordnete ich an. Vor den Mond hatten sich Wolken geschoben, wir sahen gerade noch die eigenen Füße, zu mehr reichte die Beleuchtung nicht. Ich wußte, was das bedeutete. Wir konnten in Schlammlöcher treten und uns die Knöchel brechen. Es gab die berühmten Wanderameisen, die nachts in Nestern lebten, die sie aus ihren eigenen Körpern bauten. Wenn einer von uns in ein solches Nest trat, war er aufs höchste gefährdet. Töten konnten ihn die Insekten nicht, aber eine genügend große Ladung Ameisensäure setzte auch den stärksten Mann für geraume Zeit außer Gefecht. Es gab giftige Schlangen in diesem Dschungel. Sie würden zwar keinen Menschen angreifen, aber Wenn sie sich durch uns bedroht fühlten, würden sie beißen, und ich wußte nicht, welche Auswirkungen ein solcher Biß auf meinen Körper haben würde. Inky würde einen solchen Angriff nicht überleben - wir führten keine Sera mit uns. Die Anakonda fiel mir ein, die südamerikanische Riesenschlange, die bis zu zehn Meter lang werden konnte. Sie würde wenig Schwierigkeiten haben, selbst meinen Robotkörper zu zerquetschen. Jede dieser Gefahren konnte uns scheitern lassen. Vor allem Inky war gefährdet, da sein Körper wesentlich schwächlicher war als unsere Robotleiber. Daher ließ ich ihn in der Mitte gehen. Wir kamen nur langsam vorwärts. Wir hatten keine Macheten, mit denen wir uns den Weg durch das dichte Gefilz des Dschungels hätten bahnen können. Wir mußten die Lianen und Luftwurzeln mit der Hand trennen. Es erwies sich als Vorteil, daß Mike, Sato und ich über Robotkörper verfügten. Mit einem Handkantenschlag konnten wir unterarmdicke Äste abschlagen und die Lianen leicht zerreißen. Mich wunderte, daß die Kleincomputer sich noch nicht gemeldet hatten. Ich kalkulierte, daß der Gegner nichts gegen einen Fluchtversuch einzuwenden hatte - nach seiner Auffassung konnte er nur kläglich scheitern und uns klarmachen, daß ein Widerstand gegen seine Macht hoffnungslos und sinnlos war. Inky tippte mir plötzlich auf die Schulter. „Habt ihr eigentlich einen Kompaß?“ wollte er wissen. „Leider nicht“, antwortete ich. „Hast du vielleicht einen?“ Trotz der miserablen Beleuchtung konnte ich sehen, daß der Mann grinste. Offenbar waren die Linsensysteme meines Robotkörpers leistungsfähiger als menschliche Augen. „Ich habe“, verkündete er triumphierend. „Ihr werdet staunen!“ Aus einer Tasche brachte er einen antiken Füllfederhalter zum Vorschein. Mit einem Griff löste er die Metallklammer, mit der man den Halter in einer Tasche feststecken konnte. Dann schraubte Inky die Kappe des Halters ab und hielt die Spitze in die Höhe. Sehr vorsichtig setzte er die Klammer auf die Spitze. Zu meinem Erstaunen konnte er das kleine Metallstück dort stabilisieren. Die Klammer bewegte sich langsam und blieb schließlich stehen. Jetzt erst erkannte ich, daß an einem Ende der Klammer zwei kleine Punkte leuchteten. Inky deutete in die Richtung, die von den beiden Leuchtpunkten angezeigt wurde. „Dort ist Norden“, verkündete er. „Woher hast du das Ding?“ fragte Sato mißtrauisch. Technisch war die Angelegenheit ziemlich simpel. Die Klammer war dauermagnetisiert und die Nordrichtung mit zwei winzigen Leuchtfarben gekennzeichnet worden. Im Schwerpunkt der Klammer gab es wahrscheinlich eine kleine Vertiefung, in der die Spitze des Füllfederhalters einrastete. Aber es war erstaunlich, daß ausgerechnet Inky einen solchen
Minikompaß besaß. Wieder stieg in mir der Verdacht auf, daß der Mann wesentlich mehr wußte, als er uns verraten hatte. „Ganz einfach“, erklärte Inky lachend, während er den Kompaß wieder demontierte. „Seit einiger Zeit rüsten die Engländer ihre Piloten mit solchen Haltern aus, um ihnen die Flucht aus der Gefangenschaft zu erleichtern. In dem Ding sind noch zwei Ampullen mit hochkonzentriertem Farbstoff versteckt, mit denen man Uniformen umfärben kann. Dazu kommen noch Benzedrintabletten und eine hervorragende Karte des Deutschen Reiches. Das Lustige ist, daß man mit diesem Ding sogar richtig schreiben kann, wenn auch keine epischen Erzählungen.“ Ich erinnerte mich, einmal von solchen Fluchthilfen gehört zu haben, und mein Verdacht schwand. Der Kompaß konnte für uns sehr nützlich sein. Wir marschierten in westlicher Richtung, auf die Kordilleren zu. Allerdings würden wir bestimmt einige Wochen brauchen, bis wir das Gebirge erreichten. Ich hatte aber nicht vor, längere Zeit zu marschieren mein Plan sah vor, ziemlich bald wieder in das Lager zurückzukehren. * Der Morgen dämmerte herauf, und die Geräuschkulisse des Dschungels schwoll zu ohrenbetäubendem Lärm an. Endlich konnten wir auch genauer erkennen, auf welchem Grund wir marschierten. Der Boden war etwas fester geworden, offenbar hatten wir uns vom Einzugsgebiet des Rio Jurua entfernt. Das war mir lieb, denn ich hatte wenig Lust, meinen Plan in einem von Insekten, Schlangen und Alligatoren wimmelnden Sumpfgebiet durchzuführen. Wir waren fast ohne Pause marschiert, und Inky machte einen sehr erschöpften Eindruck. Mein Körper zeigte noch keine Ermüdungserscheinungen, aber die Konzentration, die wir gebraucht hatten, um keinen Fehltritt zu tun, war nicht ohne Folgen geblieben. „Jungs“, sagte Inky plötzlich. „Es ist Zeit fürs Frühstück!“ Sato lachte leise. Ich gab das Zeichen zum Halten. Seufzend ließ sich Inky auf den Boden sinken, und auch ich war froh, meine Glieder einmal strecken zu können. Inky sah mich herausfordernd an. „Wie sieht es aus“, fragte er. „Ich ziehe Brötchen vor, ein weichgekochtes Ei, besser zwei, dazu Kaffee, Marmelade, Wurst und Käse.“ Das hörte sich verführerisch an, aber wir führten keinerlei Lebensmittel mit uns. Mir war von Anfang an klar geworden, daß es aussichtslos war, für den ganzen Zeitraum, den wir außerhalb des Lagers verbringen mußten, Lebensmittel mitzuschleppen. Wir mußten uns von dem ernähren, was das Land bot, und es war besser für uns, wenn wir früh damit begannen. „Dort ist unser Frühstück“, sagte ich und deutete auf die Bäume. „Hier gibt es alles, was der Mensch braucht: Eiweiß, Kohlehydrate, Fett, Mineralien und Vitamine. Ich habe gehört, daß Schlangen vorzüglich schmecken sollen.“ Sato wiegte nachdenklich den Kopf, während Mike und Inky angeekelt auf die Schlange starrten, deren Kopf von einem Ast herunterhing und sich langsam bewegte. Ich brach dem Tier mit einem Handkantenschlag das Genick, dann schickte ich die anderen los, Nüsse und Früchte zu sammeln, vor allem aber Feuerholz. Die Zeit, in der ich mit der toten Schlange allein war, reichte aus. Ich schaffte es, das Tier zu enthäuten und auszunehmen. Dann teilte ich das Fleisch in vier Portionen und rieb zwei der Stücke großzügig mit einem flüssigen Schlafmittel ein, das ich in der Apotheke gestohlen hatte. Mit dieser Arbeit war ich gerade fertig geworden, als meine Begleiter zurückkehrten. Wenig später hatte ich ein Feuer entfacht, jedem der Männer sein Fleisch zugeteilt und vier Stöcke präpariert, an denen das Fleisch gebraten werden konnte. Sato hatte, wie sein Name verriet, asiatische Vorfahren und war an solche Kost gewöhnt.
Mike sah ihn skeptisch von der Seite an, bevor er den ersten Bissen in den Mund nahm. Ich konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Inky zeigte weniger Vorurteile; der Krieg hatte ihn kreuz und quer durch Europa geführt. Er kannte Froschschenkel und Borschtsch, gefüllte Weinblätter und Gazpacho Andaluz, Sauerbraten und Minestrone. Ihn konnte Schlangenfleisch nicht aus der Ruhe bringen. Ich achtete wenig auf den Geschmack des Fleisches, ich wartete auf das Schlafmittel. Sato zeigte als erster schwere Lider, und es dauerte nur eine halbe Minute, bis auch Mike heftig schnarchend neben Sato im Gras lag. Inky betrachtete mißtrauisch das Fleisch. „Ich weiß, daß es Giftschlangen gibt“, sagte er langsam und beäugte mich skeptisch. „Aber ich habe noch nie etwas von giftigen Schlangen gehört. Was ist mit den beiden los?“ „Ich habe sie betäubt“, erklärte ich zufrieden. „Sie werden jetzt einige Stunden schlafen.“ Inky erschrak. „Keine Sorge“, beruhigte ich ihn. „Dein Fleisch ist nicht präpariert.“ Ich überließ ihn sich selbst und seinem Hunger, während ich nach passenden Stelen suchte. Ich brauchte fast eine halbe Stunde, bis ich ein schmales Steinmesser mit extrem dünner Klinge hergestellt hatte. Vielleicht wäre es besser gewesen, so lange zu warten, bis sich die Gelegenheit bot, ein richtiges Messer zu stehlen, aber die Waffen wurden im Lager mit besonderer Aufmerksamkeit bewacht, und die Zeit drängte. Jeden Tag konnte Valcarcel erscheinen, um auch die Agenten der time-squad zu übernehmen. Ich traute es diesem Mann zu, auch uns zu überwältigen und gefügig zu machen. Was ich tat, war im höchsten Grade gefährlich. Ich wußte das, aber ich sah keine andere Möglichkeit. Ich narkotisierte die beiden Männer mit dem Rest des Äthers, dann machte ich mich an die Arbeit. Inky sah mir fassungslos zu, als ich Mikes Brustkorb mit einem Schnitt von der Magengrube bis zum Brustbein auftrennte. Ein wenig Blut floß, aber Mike rührte sich nicht. Ich zog die Ränder der Wunde auseinander und winkte Inky heran. „Festhalten“, kommandierte ich. Inky schüttelte zwar den Kopf, griff aber zu und hielt die Wunde auf. Jetzt wurde unübersehbar, daß unsere Körper nicht natürlichen Ursprungs waren. Eine Lunge gab es nicht, nur einen kleinen Kompressor mit Pumpe, der den Sauerstoff ansaugte und an eine faustgroße Herz-Lungen-Maschine weiterleitete. Den größten Platzbedarf hatte der künstliche Magen. Andere Organe, Milz, Leber, Nieren und Bauchspeicheldrüse waren durch diese technische Lösung überflüssig geworden. Es gab genügend Platz in den Hohlräumen des Körpers, um die Steuermechanismen für die Skeletteile unterzubringen. Ich konnte sehen, daß Inky bleich wurde, als sein Blick auf die technischen Innereien von Mike fiel. „Ihr seid Roboter?“ fragte er. Ich wunderte mich, daß er das Wort überhaupt kannte. Die ersten Robots waren erst lange nach seiner Zeit gebaut worden. „Nicht ganz“, klärte ich ihn auf. „Unser Verstand ist natürlichen Ursprungs!“ Nach kurzer Zeit hatte ich das gefunden, wonach ich gesucht hatte. Jetzt konnte ich die Werkzeuge einsetzen, die ich in der Simulatorbaracke gestohlen hatte. Der kritischste Augenblick meines Planes war gekommen. Wenn der Gegner sich auch gegen solche Eingriffe abgesichert hatte, durch eine Sonderschaltung beispielsweise, die eine Sprengladung auslöste, würde ich Mike töten. Ich muß dieses Risiko eingehen. Mehr noch, ich fühlte mich verpflichtet, in diesem Fall anschließend auch Sato und mich zu töten. Unser Wissen durfte dem Gegner unter keinen Umständen zufallen. Die Freiheit der halben Menschheit, die in diesem Augenblick des Jahres 1480 den Begriff Freiheit kaum kannte, stand auf dem Spiel. Vorsichtig löste ich die Klemmverbindungen des faustgroßen Minicomputers, dann verfolgte ich das Schaltbild, vor allem aber die Leitungen, die von dem Kleinrechner zu den einzelnen Organen des künstlichen Körpers führten. Jetzt konnte jeder Beobachtungsfehler
verhängnisvoll werden. Ich hatte Mühe, das Zittern meiner Hände zu dämpfen, als ich die ersten Verbindungen löste. Der betreffende Bauteil des Computers hob sich deutlich vom Rest des Gerätes ab, aber ich konnte nicht hundertprozentig sicher sein, daß er für die Schaltungen verantwortlich war, die ein Handeln, das sich unmittelbar gegen unseren Feind richtete, im Keim erstickten. Die letzte Verbindung war gelöst. Noch arbeiteten alle Geräte. Ich mußte warten, bis Mike wieder zur Besinnung kam. Er hatte weniger von dem Fleisch gegessen als Sato und mußte daher als erster wieder zu sich kommen. Ich schloß die klaffende Brustwunde und verband Mike sorgfältig. „Wenn ich das beim nächsten Stammtisch erzähle“, murmelte Inky mit käsigem Gesicht. „Es wird keinen nächsten Stammtisch für dich geben“, eröffnete ich ihm. „Du wolltest uns doch begleiten, oder?“ Inky nickte, während er nach seinen Zigaretten suchte. Er hatte einige Schwierigkeiten, die Hände ruhig zu bekommen. „Wir kommen aus dem Jahr 2378, Inky. Von deinen Freunden wird dann keiner mehr leben.“ , Inky setzte sich langsam auf den Boden. „Vierhundert Jahre“, murmelte er nachdenklich. „Wenn ich von meiner Zeit vierhundert Jahre zurückrechne, lande ich im ausgehenden sechzehnten Jahrhundert. Ist der Sprung in die Zukunft ähnlich groß?“ Was sollte ich auf diese Frage antworten? Die entscheidenden technischen Erfindungen fielen in seine Ära. Inky kannte bereits elektrischen Strom und hatte eine vage Vorstellung von dem, was sich damit anfangen ließ - das Weltverständnis eines Barockmenschen war noch von Aberglauben und Wissenschaftsfeindlichkeit gekennzeichnet. Damals wurde gerade die Luftpumpe erfunden, betrieben führende Astronomen überwiegend das Geschäft der Astrologie. „Es wird schwer werden, aber der Sprung ist nicht so groß.“ Technologisch gesehen mochte ich damit recht haben, aber wie stand es mit den gesellschaftlichen Verhältnissen? Inky war noch mit dem archaischen Rollenverständnis seiner Zeit aufgewachsen, in dem Frauen mit den berühmten drei K - Küche, Kirche, Kindbett - abgestempelt wurden. Wie würde er reagieren, wenn er die Filmaufnahmen sah, die schon vor langen Jahren entstanden waren? Ethel McGruder war darauf zu sehen, die achte von bislang vierzehn Präsidentinnen der USA, eine attraktive Schwarze, die während einer innenpolitischen Senatsdebatte ihren neugeborenen Sohn gestillt hatte. Würde Inky den Schritt vollziehen können, diesen Vorgang so zu sehen, wie er war - so bedeutungslos, daß er keiner besonderen Erwähnung wert war? Es gab Hunderte von ähnlichen Problemen, vor denen Inky stehen würde, wenn er uns in die Zukunft begleitete. Das gleiche galt für die anderen Zeit-Gefangenen. Mike stöhnte leise auf und begann sich zu bewegen. „Elender Hund“, knurrte er. „Wolltest du mich vergiften?“ Ich atmete erleichtert auf. Der Eingriff schien ohne Folgen geblieben zu sein, Mike war offenbar wieder der alte. Er richtete sich langsam auf, dann sah er den Verband um seine Brust. Erschrocken blickte er mich an. „Was ist passiert?“ „Wir haben dich operiert“, erklärte ich ihm. „Wenn ich keinen Fehler gemacht habe, kannst du Rayon Corten und Valcarcel jetzt nach Herzenslust verdreschen.“ Unwillkürlich ballte Mike die Fäuste, dann grinste er. Das Lächeln verschwand schlagartig, als er das blutige Steinmesser auf dem Boden sah. „Damit?“ Ich nickte. Mike seufzte auf. „Deine Nerven möchte ich haben“, murmelte er. „Und Sato?“ „Er ist als nächster an der Reihe. Ich wollte erst abwarten, welchen Erfolg ich bei dir hatte.“ Es war kennzeichnend für den Ausbildungsstand bei der time-squad, daß Mike diese Information ungerührt zur Kenntnis nahm, obwohl ein Fehlschlag ihm den Tod gebracht hätte. An einem von beiden hatte ich das Wagnis eingehen müssen, und Mike war
nachträglich damit einverstanden, daß ich ihn ausgewählt hatte. Eine Stunde später erwachte auch Sato. Auch bei ihm lief die Operation glatt, es gab keine Komplikationen. Trotzdem wurde ich etwas nervös. Das Schlafmittel war aufgebraucht, und auch von dem Äther waren nur noch einige Tropfen vorhanden. Das durfte aber Mike und Sato nicht daran hindern, an mir die gleiche Operation vorzunehmen. Ich überlegte verzweifelt, ob es nicht eine Möglichkeit gab, den Eingriff ohne qualvolle Schmerzen hinter mich zu bringen. Es mußte Inky gewesen sein, der eine Lösung fand, denn als mir etwas Hartes von hinten auf den Kopf krachte, war nur er nicht in meinem Blickfeld. Ich fühlte noch, wie meine Beine nachgaben, dann fiel ich bewußtlos um.
6. Ich kam nur langsam wieder zu mir. In meinem Schädel wütete noch der Schmerz des Niederschlags, aber dieses Gefühl wich schlagartig, als ich feststellen mußte, daß ich blind war. Ich konnte die Hand vor Augen nicht sehen. Ich murmelte einen Fluch. „Mike! Sato! Inky!“ Niemand antwortete, aber plötzlich erhielt ich einen Tritten die Magengrube. Ich krümmte mich vor Schmerz zusammen. Was war geschehen? Hatte man uns einige der Wachen nachgeschickt? Ich konnte kaum klar denken, denn Sekunden später erhielt ich einen zweiten Tritt, diesmal in die Nierengegend. Nieren hatte ich zwar nicht, aber der Schmerz war dennoch kaum zu ertragen. Ein Schwall von Worten prasselte auf mich nieder. Ich verstand nichts, aber langsam klärten sich meine Sinne. Die erste bewußte Wahrnehmung war eine umwerfend starke Ausdünstung nach ranzigem Fett und Körperschweiß. Wo, zum Teufel, steckte ich? Eine harte Hand packte mein linkes Bein und zerrte daran. Der Boden war fest und uneben, aber ich fand keine Möglichkeit, gegen das Geschleiftwerden anzugehen. Erbittert stellte ich fest, daß ich gefesselt war. Grelles Sonnenlicht stach in meine Augen. Dazu erklang ein ohrenbetäubendes Geschrei. Langsam dämmerte mir, daß ich offenbar von Ureinwohnern dieses Gebiets gefangengenommen worden war. Die Indianer, die am Amazonas hausten, genossen durch die Jahrhunderte einen extrem schlechten Ruf. Sie galten als blutgierig, grausam und fremdenfeindlich. Wenn ich an die Methoden zurückdachte, die die ersten Besucher dieser Gegend angewandt hatten, war dieses Verhalten erklärlich. Man hatte sie wie Wild gejagt, zur Sklavenarbeit gepreßt und sie durch rücksichtslose Behandlung, Alkohol und europäische Viren und Bazillen fast ausgerottet. Aber noch waren die Spanier und Portugiesen nicht im Lande. Schlechte Erfahrungen konnten die Indianer kaum gemacht haben. Vielleicht ließ sich mit ihnen reden. Meine Augen hatten sich an das grelle Licht gewöhnt. Ich konnte ungestört meine Umgebung betrachten. Von primitiven Indianern konnte keine Rede sein. Was ich sah, war eine sauber durchkonstruierte Stadtanlage. Die Gebäude waren beeindruckend groß, teils aus geschickt zurechtgehauenen Steinen gebaut, teils aus luftgetrockneten Ziegeln. Die Bewohner waren zwar nur mit Lendenschurzen bekleidet, die mit Perlen geschmückt waren, aber sie machten einen durchaus zivilisierten Eindruck - wenn man von der kriegerischen Ausrüstung der Männer absah. Die Krieger waren mit Bögen, Pfeilen, Keulen und Hartholzschwertern bewaffnet, deren Schneiden mit Gesteinssplittern gespickt waren. Mit einem Schwert dieser Art ließ sich durchaus ein Kopf vom Rumpf trennen.
„Herzlich willkommen“, murmelte eine niedergeschlagene Stimme neben mir. Ich wandte mich um und erkannte meine Begleiter, die ebenfalls gefesselt waren. An Inkys Kopf sah ich eine beachtliche Beule. „Was ist passiert?“ wollte ich wissen. Mit leiser Stimme berichtete Sato: „Wir waren gerade mit der Operation fertig, als die Indianer auftauchten. Sie waren leise wie der Mond und so schnell wie ein Laserstrahl. Bevor wir begriffen, was uns drohte, hatten sie uns bereits gepackt. Wir bekamen die Keulen zu schmecken und wurden bewußtlos. Von da an weiß ich nicht mehr weiter. Wir sind erst vor kurzer Zeit wieder aufgewacht.“ Ich hatte nie etwas über eine Indianerstadt am Rio Jurua gehört, aber das war nicht erstaunlich. Der Dschungel konnte eine solche Stadt innerhalb weniger Jahre derart überwuchern und zudecken, daß man jahrelang suchen konnte, ohne etwas zu finden. Probeweise spannte ich meine robotischen Muskeln an. Man hatte uns mit Lederstreifen gefesselt, die offenbar erst kurze Zeit vorher aus der Haut eines Tieres geschnitten worden waren. In der Hitze der Sonne trocknete das Rohleder und zog sich dabei immer enger zusammen. Nach einigen Versuchen wußte ich, daß ich eine Chance hatte, diese Fesseln zu sprengen. In die Reihen der Indianer kam Bewegung. Eine Gasse wurde gebildet, und Musik wurde hörbar, eine wilde, fremdartige Musik, die geradezu bedrohlich klang. Die Gasse wurde zusehends breiter, und wenig später konnten wir die Spitzen der Prozession sehen, die sich uns näherte. Ich nahm an, daß es sich um Priester handelte. Sie trugen ebenfalls Lendenschurze, mit prachtvollen Stickereien verziert, die aber nur schlecht zu erkennen waren, da die Schurze von altem Blut starrten. An den Handgelenken sah ich breite Armbänder aus Gold, auf der Brust Ketten und Anhänger aus dem gleichen Material. An der Hüfte trugen die Priester lange Obsidianmesser in perlengeschmückten Lederscheiden. Die Bekleidung wurde vervollständigt durch lang herabfallende Mäntel, die mit Edelsteinen, Goldfäden und zahllosen ausgesucht schönen Federn geschmückt waren. „Ein Aufwand wie im alten Hollywood“, murmelte Mike beeindruckt. Eskortiert wurden die Priester von Soldaten mit langen Speeren und umgehängten Bögen. Die Männer zeigten ein feierliches Gesicht, nur ab und zu sah ich, daß einer der Soldaten zu den Mädchen schielte, die sich an den Rändern der Gasse drängten. Ich konnte die Soldaten verstehen, ein großer Teil der Mädchen war ausnehmend hübsch. Den Abschluß der Priesterprozession bildete offenbar ein Oberpriester. Er trug die gleiche Kleidung wie seine Kollegen, dazu aber eine üppige Federhaube auf dem Kopf. Dahinter erschienen vier Träger, dann wurde eine Sänfte sichtbar. Selbst wenn das Metall, das uns entgegenglänzte, nur Messing war, hätte es ein kleines Vermögen dargestellt. Ich war aber sicher, daß es sich um Gold handelte. In der Sänfte saß ein Mann, dessen Haut goldfarben glänzte. Mike stöhnte erstickt auf. „El Dorado!“ murmelte er. Ich kannte die Sage von dem Indianerkönig. Je nach Erzähler pflegte dieser Mann sich täglich oder jährlich mit Goldstaub zu pudern, den er - täglich oder jährlich - in einem nicht sehr großen See abwusch. Je nach Erzähler mußte dieser See Zentimeter- bis meterdick mit Goldstaub am Grund bedeckt sein. Der Goldene hatte ein Gesicht, das einen Bildhauer entzückt hätte. Der Mann war hochgewachsen und schlank. Das Gesicht zeigte den Ausdruck eines Mannes, der seine unbegrenzte Machtfülle mit ruhiger Selbstverständlichkeit ausschöpfte, sich dabei aber seiner Verantwortung für sein Volk voll bewußt war. Schlagartig wurde es still auf dem Platz. Wir saßen auf den Steinplatten, die den Boden bedeckten. Als sich der Goldene uns näherte,
standen wir langsam auf. Mit weiten Schritten kam der Goldene näher. Aus seinem Gesicht ließ sich keine Gefühlsregung ablesen. Vor mir blieb der Goldene stehen, dann sprach er mich an. Ich zuckte hilflos mit den Schultern. Prüfend fuhr der Goldene mit dem rechten Zeigefinger über mein Gesicht, aber dadurch änderte sich an meiner hellen Hautfarbe nichts. Bei Mike und Sato machte er die gleiche Probe. Sie ließen die Prozedur ruhig über sich ergehen, nur Inky zeigte ein Grinsen, das in unserer Lage mehr als leichtsinnig war. Der Goldene entfernte sich einige Schritte von uns und sah uns aufmerksam an. Ich hatte den Eindruck, es sei an der Zeit, daß wir die Initiative übernahmen. Ich spannte die Armmuskeln an. Die Fesseln schnitten tief ins Fleisch, aber ich verbiß den Schmerz. Der Goldene trat einen Schritt zurück und faßte mich schärfer ins Auge. Seine Leibwache kam mir daraufhin näher. Die Spitzen ihrer Speere bewegten sich leicht vor meiner Brust. Die Männer brauchten nur auszuholen, um mich aufspießen zu können. Mit einem Ächzen gab das Leder nach, noch einmal spannte ich die Muskeln an. Das Schwierige dabei war, daß ich dabei lächeln mußte. Ich durfte weder zeigen, wie sehr mich dieser Kraftakt anstrengte, noch einen Anflug von Schmerz verraten. Endlich gaben die Fesseln nach. Sofort zuckten die Speerspitzen bedrohlich näher. Ich zeigte mein freundlichstes Lächeln, während ich die zerrissenen Lederriemen von den blutigen Handgelenken streifte und auf den Boden fallen ließ. Dann verschränkte ich die Arme vor der Brust und sah den Goldenen erwartungsvoll an. Sein Gesicht zeigte Betroffenheit, ja sogar einen Anflug von Furcht. „Ruhig bleiben“, murmelte ich. „Bewegt euch nicht!“ Für die Indianer gehörten wir zum gleichen Volk. Es konnte nur gefährlich werden, wenn auch Sato und Mike sich befreiten, Inky aber gefesselt blieb. Es blieb nur die eine Möglichkeit, daß sich einer von uns - in diesem Fall ich - als Anführer mit besonderen Fähigkeiten profilierte. Der Goldene winkte einen seiner Leibwächter heran und flüsterte ihm einen Befehl ins Ohr. Der Mann nickte, dann zog er seinen Dolch und ging auf Sato zu. Wenige Augenblicke später waren auch meine Begleiter frei, aber auch sie wurden von Lanzenträgern umringt. Ein wenig zärtlicher Stoß in meinen Rücken forderte mich auf, zu gehen, auch meine Freunde wurden vorwärtsgedrängt. Der Goldene stieg in seine Sänfte zurück und wurde uns vorangetragen. Langsam setzte sich die Prozession in Bewegung. Hinter den Priestern folgte das Volk, das die Vorgänge mit sichtlicher Spannung beobachtet hatte. „Was nun?“ wollte Inky wissen. Ich zuckte mit den Schultern. „Entweder sind wir bald die Herren der Stadt oder mausetot“, prophezeite Sato, und ich wußte, daß diese Aussage ihre Berechtigung hatte. * Inky hielt sich prachtvoll. Obwohl seine Beine mit Sicherheit unter der strammen Fesselung gelitten hatten, stieg er ruhig und gleichmäßig die Stufen hinauf. Ich bewunderte die Geschicklichkeit der Sänftenträger, die alle Mühe hatten, die schwere Last beim Anstieg im Gleichgewicht zu halten. Vermutlich starben sie eines raschen Todes, wenn sie die Sänfte nicht mehr halten konnten und sie samt Inhalt die steilen Treppen hinabkollerte. Die Tempelpyramide ragte mindestens dreißig Meter in die klare Luft, in der ein merkwürdiger Geruch lag. Nervös leckte ich mir die Lippen. Wartete ein Altar auf uns? Ich wußte, daß einige Indianervölker ihren Göttern Menschenopfer dargebracht hatten. Die Azteken sollten angeblich zur Einweihung ihres großen Tempels nicht weniger als achtzigtausend Menschen geopfert haben, hieß es in der einschlägigen Literatur, und sie
waren auch nicht davor zurückgeschreckt, ihrem Kriegsgott gefangene Spanier zu opfern. Sie hatten dafür einen fürchterlichen Preis bezahlt. In den Jahren zwischen 1519 und 1568 starben von den 25 Millionen Bewohnern Zentralamerikas fast 22 Millionen. Wir erreichten die Spitze des Tempelhügels, auf dem sich ein weiträumiges Tempelgebäude erhob. Ein prüfender Blick genügte, um mir zu zeigen, was uns bevorstand. Der Boden der Tempelhalle war eben, aus Steinquadern gefügt. In der Mitte gab es eine rechteckige Vertiefung, deren Grund ich nicht sehen konnte, wohl aber den Altar auf der anderen Seite der Grube. Er war schwarz von geronnenem Blut, ein gräßlicher Gestank wehte zu uns herüber. Inky war aschfahl geworden. Für eine Flucht war es zu spät. Eine Speerspitze zitterte nur wenige Zentimeter vor meinem Kehlkopf. Ein wahnwitziger Gedanke durchzuckte mein Hirn. „Aufpassen, Freunde“, rief ich halblaut. „Wir müssen erreichen, daß Inky nicht als erster auf dem Altar landet.“ Sato und Mike nickten, zum Zeichen, daß sie mich verstanden hatten. Wir hatten noch eine winzige Chance. Wenn die Indianer einem von uns den Körper aufschnitten, um das Herz des Betreffenden herauszureißen und auf dem Altar zu opfern, würden sie eine böse Überraschung erleben - wir hatten keine Herzen. Vielleicht wurden sie von unseren technischen Innereien derart geschockt, daß sie die Flucht ergriffen. Möglich war aber auch, daß sie dann mit uns kurzen Prozeß machten. Es gelang uns, die Plätze zu tauschen. Inky ging in die Mitte. Er gab sich Mühe, seine blutleeren Lippen zu einem Lächeln zu verziehen. Mir war nicht anders zumute. In Gedanken versuchte ich, die Sekunden zu zählen, die vergehen würden, bis der Priester sein Obsidianmesser in meine Brust senkte. Wir wurden an der rechteckigen Grube entlanggeführt. Ich sah hinunter und entdeckte eine große Menge sonnengebleichter Knochen, dazwischen etliche Menschenschädel. Aus der Grube stieg ein widerlicher Verwesungsgeruch auf. Die Indianer schienen diesen Gestank nicht wahrzunehmen. Er wurde vollends unerträglich, als der Oberpriester das Altarfeuer entzündete und eine Handvoll Räucherharz in die Flammen warf. Nachdenklich sah der Goldene in unsere Gesichter, dann deutete er auf Inky. Ich erstarrte. Bevor ich mich von dieser Überraschung erholt hatte, war Inky bereits von vier Männern an den Armen gepackt und weggezerrt worden. Ich spürte einen leichten Schmerz am Hals, als sich eine Speerspitze dagegenpreßte, dazu hörte ich Inky lautstark fluchen. Zu meinem Erstaunen wurde er nicht zum Altar geschleift, sondern an den Rand der Grube. Der Goldene stieß einen heiseren Ruf aus, der wenig später von einem durchdringenden Fauchen beantwortet wurde. Erst in diesem Augenblick entdeckte ich, daß es in der Seitenwand der Grube eine mannshohe Öffnung gab. Aus diesem Loch schob sich langsam ein Körper. Ich konnte nicht sehen, um was für eine Katze es sich handelte. Ich sah nur ein fleckenlos weißes Fell, rötliche Augen und ein mörderisches Gebiß, das uns entgegenbleckte. Inky versuchte instinktiv zurückzuweichen, aber die Wachen hinderten ihn mit harten Griffen. Ich hatte noch nie etwas von einer schneeweißen Raubkatze gehört. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Albino, darauf deuteten auch die roten Augen hin. Inky stieß einen gellenden Schrei aus, als er nach vorne gestoßen wurde und fiel. Die Indianer verharrten schweigend. Plötzlich wurde mir klar, wie die Zusammenhänge lagen. Die Indianer verehrten die weiße Katze offenbar als Stadtgottheit. Das überraschende Auftauchen von vier weißen Männern hatte die Weltvorstellung der Indianer offenbar ins Wanken gebracht. Jetzt wollten sie feststellen, wer der Stärkere war. Daß sie sich für diesen Test ausgerechnet Inky ausgesucht hatten, lag wahrscheinlich daran,
daß er der bleichste von uns war. Der Zufall hatte entschieden - gegen uns. Inky kam, noch immer schreiend, hart auf, aber er rollte instinktiv ab und stand rasch wieder auf den Beinen. Die Katze ließ ein heiseres Fauchen hören. Sie bewegte sich langsam und begann Inky zu umkreisen. In wenigen Sekunden, die seit seinem Sturz in die Grube vergangenwaren, hatte sich Inkys Gesichtsausdruck entscheidend verändert. Er war weniger blaß als zuvor und zeigte einen Ausdruck wütender Entschlossenheit. Offenbar wollte er sein Leben so teuer wie möglich verkaufen - aber es war nicht daran zu zweifeln, daß er es letztlich würde hergeben müssen. Die Katze kannte ihre Aufgabe und machte sich offenkundig einen Spaß daraus, das Schauspiel zu verlängern. Die Indianer starrten mit versteinert wirkenden Gesichtern in die Tiefe, nur die Wachen nicht, die uns gefangenhielten. Ihre Aufmerksamkeit ließ in keinem Augenblick nach. Ich biß auf die Unterlippe, als die Katze zum Sprung ansetzte. Ein weißer Schemen flog auf Inky zu. Inky ließ sich nach hinten fallen und rollte ab. Die Katze landete auf dem Steinboden und fauchte wütend. Sofort setzte sie zum zweiten Sprung an. Blitzschnell duckte sich Inky, gleichzeitig stieß er die geballten Fäuste in die Höhe. Im Flug überschlug sich die Katze und brüllte auf. Inkys Schlag schien voll getroffen zu haben. Auf den Gesichtern der Indianer spiegelte sich Fassungslosigkeit. Der dritte Sprung der Katze endete an einer Wand. Fast glaubte ich das Brechen von Knochen hören zu können. Inky zögerte keinen Augenblick. Noch während sich die Albinokatze vor Schmerzen wand, griff er nach einem massiven Knochen und schlug damit zu. Die Katze wurde am Kopf getroffen und prallte zurück. Der nächste Hieb traf noch präziser, und diesmal war es keine Sinnestäuschung, wenn ich brechende Knochen hörte. Inky warf den durchgebrochenen Knochen beiseite und stürzte sich auf die halb betäubte Katze. Blitzschnell setzte er seinen Griff an. Woher er die Kraft nahm, die schwere Katze anzuheben, war mir ein Rätsel. Das Tier fauchte und schlug mit den Pranken um sich, aber es konnte den Mann nicht erreichen, der seinen Hals umklammerte und diesen Griff verstärkte. Das Fauchen wandelte sich in ein ersticktes Gurgeln, dann war ein leises Knirschen zu hören. Die Pranken der Katze sanken kraftlos herab, der Kopf fiel zur Seite. „Unglaublich“, murmelte Sato neben mir. Inky ließ das Tier fallen. Er hatte ihm das Genick gebrochen. Jetzt wußte ich, was es hieß, wenn ein Mensch über sich hinauswuchs - nur unter diesen extremen Umständen war der Mann in der Lage gewesen, dieses Maß an Konzentration, Kaltblütigkeit und Kraft zu entwickeln. Die Indianer starrten entgeistert auf Inky. Fast mechanisch ließen sie ein Seil herab, an dem Inky in die Höhe kletterte. Sein Gesicht zeigte einen Anflug von Lächeln, als er müde auf uns zuging. Die Wachen zogen ihre Speere zurück, der Goldene starrte Inky an, als habe man ihm sein Lieblingsspielzeug abgenommen. „Nett, daß ihr dageblieben seid“, murmelte Inky, als er uns erreicht hatte. „Es blieb uns wohl nichts anderes übrig“, sagte Sato mit einem Seitenblick auf die Wachen. Inky sah ihn verwundert an. „Ich denke, die Computersperre ist beseitigt? Ihr müßtet eigentlich jederzeit in eure alten Körper zurückkehren können!“ Mir klappte der Unterkiefer herunter, und meinen Freunden ging es nicht anders. „Vergessen“, murmelte Sato und schüttelte den Kopf vor soviel Dummheit. „Einfach vergessen.“ Inky brauchte eine halbe Sekunde, bis er den Sinn dieser Worte begriffen hatte, dann begann er zu lachen, daß die Tempelhalle widerhallte. Wir fielen nach kurzem Zögern ein. Langsam und unterwürfig kam der Goldene näher. *
„Ihre Geduld möchte ich haben“, rief Don Slayter und schlug mit der geballten Faust auf die Platte des Schreibtischs. „Zwei Wochen sind vergangen, und wir haben noch immer kein Lebenszeichen von Tovar Bistarc!“ „Aber auch noch keine Nachricht von seinem Tod“, versetzte Demeter Carol Washington ruhig. „Sie scheinen ein ziemlich aufbrausender Charakter zu sein. Waren Sie schon immer so?“ „Erst seit ich Sie kenne“, wollte Slayter sagen, aber er schluckte den Satz hinunter. Der Pflicht zu antworten wurde er enthoben, als sich das Video mit einem durchdringenden Summen meldete. „Washington“, meldete sich C. D. kurz. Der Bildschirm wurde heller und zeigte den Saal mit einer Zeitmaschine. Die Platte war leer. Tovar Bistarc stand vor dem Objektiv und grinste D. C. an. „Ich melde mich wohlbehalten in der Zukunft zurück, oder in der Gegenwart, ganz wie Sie
wollen, Chef!“
D. C. hob leicht eine Braue. „Berichten Sie ausführlicher, Bistarc“, ordnete sie kühl an.
Tovar schüttelte den Kopf.
„Keine Zeit, Chef. Ich muß so bald wie möglich In die Vergangenheit zurück. Aber ich habe
eine Bitte. Lassen Sie eine weitere Zeitmaschine freimachen, und geben Sie mir die
Justierdaten. Es eilt.“
„Wissen Sie endlich, wer unser Gegner ist?“ fragte Slayter eilig. Tovar schüttelte erneut den
Kopf.
„Später, kann ich die Justierdaten haben? Machen Sie sich übrigens auf eine Invasion gefaßt.
Ärzte und Sanitäter werden gebraucht, je mehr, desto besser.“
„Können Sie mir wenigstens sagen, was Sie vorhaben?“ wollte D. C. wissen.
Tovar grinste unverschämt.
„Ich sagte es bereits, ich plane eine Invasion!“
7. Die drei waren die dümmsten Indianer, die wir hatten auftreiben können, und das war nicht ganz leicht gewesen. Vor allem unser Abmarsch aus der Stadt hatte sich schwieriger gestaltet, als wir geahnt hatten. Die Eingeborenen zeigten sich wenig erfreut darüber, daß sie nicht nur ihren Weißen Katzengott verloren hatten, sondern nun auch auf die neuen Götter verzichten mußten. Aber wir hatten uns durchsetzen können, vor allem Inky hatte derart getobt und gewettert, daß die Indianer es mit der Angst zu tun bekommen hatten. Blöde grinsend trotteten die Indianer hinter uns her. Ihnen war eine Statistenrolle zugedacht in dem Plan, den ich ausgeheckt hatte. Zunächst kam es darauf an, herauszufinden, welche Reaktion es im Lager auf unser Verschwinden gegeben hatte. Es war auch wichtig, zu wissen, ob sich an der Einstellung der Verschleppten zu ihren Wachen etwas geändert hatte - wir wollten versuchen, sie auf unsere Seite zu ziehen. Wir spähten durch das Buschwerk ins Lager hinein. Ich bedeutete den Indianern, daß sie zurückzubleiben hatten, bis wir sie riefen. Es dauerte einige Zeit, bis sie begriffen hatten - zu ihrer unglaublichen Geistesschwäche kam noch der Umstand, daß ich mit Zeichensprache klarmachen mußte, was ich von ihnen wollte. Ich brauchte fast zehn Minuten, dann war ich leidlich sicher, daß sie begriffen hatten. Wir standen auf und wankten auf die Lagergebäude zu.
Es fiel uns nicht schwer, die Erschöpfung zu mimen. Der Marsch von der Indianerstadt zum Lager hatte vier Tage in Anspruch genommen und uns außerordentlich angestrengt. Unsere Kleidung bot einen bejammernswerten Eindruck, zerbissen, durchlöchert, fürchterlich verschmutzt und an einigen Stellen blutdurchtränkt. Rayon Corten kam uns hämisch grinsend entgegen. „Nun, meine Herren“, sagte er. „Hat Ihnen der Ausflug gefallen?“ Unsere Aufmachung gab auf diese Frage eine beredte Antwort, die verstärkt wurde, als Inky mit einem leisen Seufzer neben uns zusammenbrach und alle viere von sich streckte. „Heben Sie den Kerl auf und bringen Sie ihn mit“, herrschte Corten uns an. „Ich werde Ihnen zeigen, was künftig mit Deserteuren geschieht!“ Wir hoben Inky an und schleppten ihn hinter dem davoneilenden Corten her. Inky zwinkerte vergnügt zu uns hinauf. Die gesamte Lagerbesatzung war angetreten. Die Wachen hielten ihre Waffen schußbereit. Die Zeit-Gefangenen hatten sich in Trupps aufgestellt. Vor ihnen lagen nagelneue Lasergewehre. Etwa dreißig Mann waren abgesondert worden. Sie machten finstere Gesichter, einige waren auffällig blaß. „Bringt ihn zu den anderen!“ forderte Corten uns auf. Wir trugen Inky zu den dreißig Mann und legten ihn dort ab. Die Männer griffen zu und stellten Inky wieder auf die Beine. Er schwankte heftig und starrte aus glasigen Augen verwirrt um sich. Er hatte Talent zum Schauspieler, stellte ich erheitert fest. Corten trat vor die versammelten Männer und begann eine Ansprache. Ausführlich lobte er die Trainingsergebnisse der Männer, und er versprach ihnen den Himmel auf Erden, wenn sie sich bei den zu erwartenden Einsätzen ähnlich geschickt und einsatzfreudig zeigten. Dann kam er zum wesentlichen Punkt. Die abgeteilten dreißig Männer hatten sich irgendwelche Kleinigkeiten zuschulden kommen lassen und waren von Corten daraufhin zum Tode verurteilt worden. Als Corten das Urteil verkündete, gab es die erste Bewegung des Unwillens unter den Angetretenen. Laute Rufe der Empörung wurden hörbar, als er die Männer aufforderte, die Ungehorsamen selbst zu erschießen. Langsam schritten die Wachen durch die Reihen und drückten jedem der Männer einen geladenen Laserkarabiner in die Hand. Als alle bewaffnet waren, zogen sich die Wachen etwas zurück. Corten trat zur Seite und gab das Schußfeld auf die Verurteilten frei. „Legt an!“ befahl er. Fast eintausendfünfhundert Gewehre wurden gehoben. Selbst wenn sich die Mehrzahl der Männer dazu durchrang, absichtlich vorbeizuschießen, hatten die Verurteilten keine Überlebenschancen. Allein die Streuhitze hätte genügt, sie innerhalb einer Zehntelsekunde verkohlen zu lassen. Ich konnte mich nicht länger beherrschen. Mit einem Schritt war ich bei Corten und riß ihm die Laserpistole aus dem Gürtel. Eine Sekunde später konnte der Mann die Mündung seiner Waffe im Nacken spüren. „Stop!“ befahl ich. „Oder euer Kommandant ist eine Leiche!“ Ein hörbares Seufzen ging durch die Menge. Unser Handstreich schien geglückt. * Ich hatte mit vielen Überraschungen gerechnet, nicht aber mit dieser. Die Wachsoldaten
zögerten nur sekundenlang, dann hoben sie ihrerseits die Waffen. Bevor ich reagieren konnte,
zischten die ersten Laserschüsse über den Platz.
Ich spürte den Schmerz an der Hüfte, gleichzeitig hörte ich einen gellenden Schrei von Rayon
Corten. Tödlich verletzt brach der Mann zusammen. Sie hatten nicht gezögert, ihren eigenen Kommandeur zu erschießen, wenn die Lage es erforderte. Diese Reaktion zeigte den Zeit-Gefangenen, was sie zu erwarten hatten - sie waren Kanonenfutter, standen in der Planung des Gegners auf den gleichen Rangplätzen wie Munition und Brennstoff. Sie reagierten mit der Schnelligkeit, der sie in den jeweiligen Kriegsjahren ihr Leben zu verdanken gehabt hatten. Die Männer spritzten wie Wasser auf einer Herdplatte auseinander, auch die Verurteilten sahen zu, daß sie aus dem Schußfeld kamen. Ich erreichte die Deckung gerade noch rechtzeitig. Ein Laserschuß zischte über meinen Kopf hinweg und schlug in der Seitenwand der Baracke ein. Ein faustgroßes Loch entstand, dessen Ränder weiterglommen. Nach meiner Schätzung konnten nur Sekunden vergangen sein. Über den weiten Appellplatz spann sich ein Netz von ineinander verwobenen Strahlbahnen. Verwundete schrien auf, Handgranaten explodierten, und von den zahlreichen kleinen Brandstellen wehte dichter Rauch über den Platz. „Inky!“ brüllte ich über den Platz, dann fühlte ich eine Hand auf meiner Schulter. Irgendwie hatte es Inky geschafft, nicht nur in Deckung zu kommen, sondern sich auch einen Laserkarabiner zu verschaffen. Sein Gesicht war geschwärzt, weiße Zähne blitzten mich daraus an. „Das hattest du dir anders vorgestellt, nicht wahr?“ fragte er grinsend. Rasch hob er den Karabiner und schoß einen Wachsoldaten an, der versuchte, über ein Barackendach zu laufen. Aufschreiend fiel der Verwundete zur Seite und rutschte auf dem Dach entlang. Das Chaos konnte nicht kompletter sein. Alle Männer trugen die gleiche Uniform. Die Wachsoldaten unterschieden sich von ihren Gefangenen nur durch die Rangabzeichen, die in der allgemeinen Verwirrung kaum zu erkennen waren. Aber langsam schälten sich zwei Fronten heraus, die Männer suchten und fanden die Gruppen, zu denen sie gehörten. Neben mir fluchte ein Mann laut und erbittert, jedenfalls folgerte ich das aus dem Tonfall, denn der Mann machte seiner Wut in fließendem Latein Luft. Die Lagerwachen formierten sich ebenso wie die Gefangenen. Zu meinem Leidwesen kontrollierten sie auch die Gebäude, die wir erreichen mußten, vor allem die Halle, in der die Zeitmaschine stand. „Gebt mir Feuerschutz!“ forderte ich die Männer in meiner Nähe auf. Ein Hagel von Laserschüssen ging auf die Wachen nieder. Eine Ecke eines Hauses wurde in eine Flammenkugel gehüllt, aus der es ab und zu zu uns herüberzuckte. Ich sprang auf und rannte los. Daß ich dabei über eine weggeworfene Waffe stolperte, rettete mir das Leben. Der Schuß zischte über meinen Rücken hinweg, aber die Streuhitze reichte aus, um mich aufschreien zu lassen. Dennoch rollte ich weiter, auf die rettende Wand des Gebäudes zu. Als ich sie erreicht hatte, stellte Inky das Dauerfeuer ein. Er beschränkte sich darauf, die Wachen zurückzuhalten. Wo immer sich ein Kopf oder ein Arm zeigte, wurde die betreffende Stelle unter Feuer genommen. Was sich im Rest des Lagers abspielte, entzog sich meiner Kenntnis, aber der Lärm ließ nur den einen Schluß zu, daß die Wachen und die Gefangenen einen mörderischen Kampf untereinander austrugen. Dann hörte ich einen gellenden Ruf. „Die Katzenkommen!“ Ein geheimnisvoller Befehl hatte die Tiere in Marsch gesetzt. Bei ihrem ersten Auftreten hatte ich mindestens hundert der großen Raubtiere gezählt, vielleicht waren es jetzt noch mehr. Ein schwerer Körper prallte neben mir auf den Boden, ein Jaguar, von Inky getroffen. Das Tier war auf das Dach gesprungen und dort von Inkys Laserschuß erwischt worden. Im
Todeskampf schlug der Jaguar um sich und fetzte mir den Ärmel der Jacke auf. Ich schlug mit der Handkante gegen das Genick des Tieres und schaltete es so aus. Ich lag unter dem Fenster, das durch die Hitze der Schüsse geborsten war. Die Eingangstür zum Zeitmaschinenraum lag auf der mir zugewandten Seite, aber ich konnte die Tür nicht benutzen, ich wäre den Wachen genau vor die Laser gelaufen. Langsam zog ich mich am Fensterbrett in die Höhe. Der Raum war leer, wenn man von dem Panther absah, der aufgeregt durch den Raum strich, und dem toten Wachtposten, den das Tier auf dem Gewissen hatte. Mit einem Schuß streckte ich das Tier nieder, dann schwang ich mich auf das Fensterbrett und ließ mich in den Raum fallen. An der Rückwand ertönten Schreie, die mir verrieten, daß die Katzen ohne Unterschied Wachen und Gefangene angriffen. Vielleicht reichte das aus, um sie genügend zu beschäftigen. Ich ging zum Fenster zurück. „Hierher!“ rief ich laut, dann duckte ich mich rasch. Funken regneten auf mich herab, als ein Schuß in das Gebälk traf. Rasch schlug ich mit der Hand die glimmenden Haare aus. Eine halbe Minute später schwang sich ein über das ganze Gesicht grinsender Inky durch das zerschossene Fenster. „Wir haben die Wachen zurückdrängen können“, berichtete er atemlos. „Unsere Männer halten die Stellung, sie sind zum Äußersten entschlossen.“ „Sorge dafür, daß sich die Männer langsam zu diesem Gebäude zurückziehen“, befahl ich. „Vor allem schicke mir Mike und Sato, ich brauche ihre Hilfe!“ Es vergingen nicht mehr als höchstens fünf Minuten, dann waren die beiden Männer zur Stelle. Wir steckten die Waffen in die Gürtel und machten uns an die Arbeit. Die Aufgabe war schwer, aber nicht unlösbar. Wir mußten die Arbeit übernehmen, die normalerweise von entsprechenden Spezialisten der time-squad ausgeführt wurde. Zehn Minuten später war die Zeitmaschine justiert. Der Abmarsch konnte beginnen. Sato verließ seinen Körper und trat die Reise durch Raum und Zeit als erster an. Nach kurzer Zeit kehrte er zurück. „Alles in Ordnung“, erklärte er atemlos. „Die Maschinen sind aufeinander eingestellt!“ Ich winkte drei der Verschleppten heran. Folgsam legten sie sich eng aneinander geschmiegt auf die Platte und verschwanden bald darauf. „Nachsehen!“ befahl ich Mike. Er brauchte nur einige Sekunden, dann kehrte er in die Vergangenheit zurück. „Sie sind angekommen, Tovar.“ „Dann los!“ * Die Lage wurde zusehends bedrohlicher. Mit jedem Dreiertrupp, den wir in die rettende Zukunft schickten, wurde unser Verteidigungsring dünner und schwächer. Die Wachen rückten uns immer näher auf den Pelz. Es war eine Frage der Zeit, wann ihr Übergewicht so groß sein würde, daß sie uns einfangen konnten. Mike und Inky arbeiteten mit fieberhafter Geschwindigkeit. Ein Mann nach dem anderen wurde auf die Reise geschickt. Es waren viele Verletzte darunter, auch einige, die von den Katzen gebissen worden waren und sofort eine Tetanusspritze brauchten. Sato kam vorsichtig von seinem Beobachtungsposten zurück. „Merkwürdig“, murmelte er. „Die Wachen ziehen sich plötzlich zurück. Was haben die Burschen vor?“ „Das kann uns gleichgültig sein“, gab ich hastig zurück. „Um so schneller können wir arbeiten.“
Die Reihen der Gefangenen lichteten sich. Zu diesem Zeitpunkt warteten nur noch fünfzehn
Mann darauf, die Reise antreten zu können, darunter Inky, der sich vorbehalten hatte, als
letzter „Normaler“, wie er sich ausdrückte, die Reise in die Zukunft machen zu dürfen.
Zwölf Männer.
In rasender Eile verfinsterte sich der Himmel über dem Lager. Dicke Wolken zogen auf, erste
Blitze zuckten. Eine Windstille trat ein, die uns die Luft nahm. Es war nicht zu übersehen, ein
Sturm zog auf - und mit einer Geschwindigkeit, die völlig unnatürlich war.
Neun Männer.
Ein Blitz schlug in ein Gebäude ein und zerfetzte es. Gleichzeitig setzte der Sturm ein und
wirbelte die Trümmer durcheinander. Ich sah, wie die Wachen in panischer Angst die Flucht
ergriffen. Hoffentlich waren unsere Indios so schlau, ebenfalls zu flüchten.
Sechs Männer.
Ein Balken wurde vom Sturmwind emporgetragen und krachte gegen das Dach. Splitter
regneten auf uns herab, die Balken des Hauses begannen unter der Belastung zu ächzen. Das
Gebäude war das stabilste des Lagers, aber diesen Naturgewalten würde es nicht mehr lange
standhalten.
Am pechschwarzen Himmel wurde ein Zeichen sichtbar, ein riesiges grell strahlendes V.
„Valcarcel!“ stöhnte einer der Verschleppten auf und warf sich förmlich auf den Tisch der
Zeitmaschine.
Drei Männer.
„Auf Wiedersehen in der Zukunft“, wünschte Inky fröhlich. Sekunden später war auch er
verschwunden.
„An die Arbeit, Mike!“ forderte Sato ihn auf.
Ich blieb am Fenster, während Mike und Sato versuchten, den schwarzen Kasten zu öffnen.
Wir wollten wenigstens ein paar Informationen mit in die Zukunft nehmen.
Metall kreischte auf, als der Orkan das Gebäude abdeckte. Ein Hagel von Trümmern ging auf
uns nieder, herumgewirbelte Blätter, zersplitterte Äste, Stämme von jungen Bäumen. Ich
konnte sehen, wie ein Urwaldriese, den wir drei nicht hätten umfassen können, sich
zeitlupenhaft langsam neigte und dann stürzte.
Von dem Lager waren nur noch Ruinen zu sehen. Blitz auf Blitz schlug in die Gebäude ein,
riß sie auseinander und setzte sie in Brand. Ich sah einen erschossenen Zeitgefangenen, dessen
Körper vom Wind fortgerollt wurde.
Dann begriff ich, daß die Zeit für uns gekommen war.
„Verschwinden wir!“ brüllte ich mit höchster Stimmkraft, um das Toben des Sturmes zu
übertönen. Mike und Sato hatten keinen Erfolg gehabt, sie hatten nicht eine der
Verkleidungsplatten lösen können.
Langsam neigten sich die Wände auf uns herab. Immer schneller kippten sie, dann wurden
wir unter ihnen begraben. Das letzte, was ich noch sah, war das fahle Leuchten eines Blitzes,
der in die letzte noch stehende Wand einschlug.
* Die drei Indios hatten so gehandelt, wie ich es erwartet hatte. Als der Sturm aufgezogen war, hatten sie die Flucht ergriffen. Wir übernahmen sie, als sie etwas mehr als einen Kilometer von dem Lager entfernt waren. Die Übernahme machte keine Schwierigkeiten, wir hatten die drei eigens für diesen Zweck ausgesucht. Stunden vergingen, in denen wir nicht mehr tun konnten, als uns flach auf den Boden zu pressen und zu hoffen, daß uns der Sturm verschonen möge. Länger als einen Tag wütete der Sturm, dann flaute er ebenso rasch ab, wie er gekommen war. Eine unnatürliche Stille breitete sich aus. Wir standen langsam auf und befühlten unsere Glieder. Größerer Schaden war nicht
entstanden. Mein Indio hatte einige Abschürfungen davongetragen, Mikes Trägerkörper hatte sich einen Finger verrenkt. „Sehen wir nach, was von dem Lager noch übrig ist!“ schlug ich vor. Meine Stimme klang merkwürdig fremd, und ich hatte Schwierigkeiten, die Worte exakt auszusprechen. Die Stimmbänder meines Indios waren an solche Laute nicht gewohnt. Vorsichtig schlichen wir durch den Dschungel, vielmehr das, was davon noch übrig war. Die Grenzen der Vernichtung waren scharf wie mit einem Zirkel gezogen. Als wir sie erreichten, lag hinter uns ein arg mitgenommener Dschungel, der sich aber rasch wieder erholen würde. Vor uns befand sich eine schwarze Fläche, auf der nicht mehr zu sehen war als einige Rauchfäden, die aus Schwelbränden langsam in die Höhe kräuselten. Ich schluckte betroffen. Die Station des Gegners existierte nicht mehr. Die Gebäude, die Maschinen - die wie Trommelfeuer einschlagenden Blitze hatten sie förmlich atomisiert. In beträchtlicher Entfernung konnten wir einige Gestalten ausmachen, wahrscheinlich Wachsoldaten, die die Katastrophe überlebt hatten. Wir konnten den Männern nicht helfen, selbst wenn wir das gewollt hätten. Sie waren in der Zeit gestrandet. Die Jahre würden ihre Spur verwischen, die Jahrzehnte sie völlig verschwinden lassen. Es war kein angenehmes Schicksal, das diese Männer erwartete, aber wir konnten nichts daran ändern. Vielleicht bot sich später, wenn wir das Geheimnis der Rückkopplung kannten, eine Möglichkeit, die Männer zu retten. Im Augenblick konnten wir nichts unternehmen. „Genug gesehen“, kommentierte Sato. Er machte einen niedergeschlagenen Eindruck. „Gehen wir zurück“, schlug ich vor. „Unsere Träger müssen in Sicherheit gebracht werden!“ * Es war ein unbeschreibliches Gefühl, nach langer Zeit endlich wieder einmal die eigenen Augen öffnen, mit der eigenen Stimme sprechen zu können. Wir hatten unsere drei Indios zu ihrem Volk zurückgebracht. In der Woche, die wir dafür gebraucht hatten, war der Intelligenzquotient der drei beachtlich gestiegen. Mit etwas Glück konnten sie danach in ihrem Volk ein normales Leben führen. Wahrscheinlich würden sie sogar einen besonderen Rang bekleiden; wir hatten sie dazu benutzt, ihrem Volk eine Warnung vor den Wachsoldaten zukommen zu lassen, selbstverständlich in dunkle Orakelsprüche gekleidet. Ich richtete mich auf und glitt Von der Platte der Zeitmaschine herunter. Das erste, was ich sah, war D. C.. Sie sah noch hübscher aus, als ich sie in Erinnerung hatte. Wenn sie nur den Anflug eines Lächelns gezeigt hätte... Hinter ihr stand Inky und grinste unverschämt. „Wenn die Chefs überall so nett sind“, sagte er amüsiert, „wird es mir in eurer Zeit sicher gut gefallen!“‘ Nett? Eine Woche Realzeit War vergangen, seit Inky aus der Zeitmaschine herausgekommen war. Was war in dieser Woche vorgefallen, daß er in dieser Art vom Chef der time-squad sprach? „Aber Inky“, sagte D. C. vorwurfsvoll. Ich hatte den Eindruck, daß sie sogar ein wenig errötete. Langsam dämmerte mir, daß selbst Zeitagenten, die Raum und Zeit überwinden konnten, ab und zu einfach zu spät kamen- um eine lumpige Woche.
ENDE