Die Abenteuer der Time-Squad IX
Peter Terrid
Das Zeit-Archiv
Peter Terrid · Das Zeit-Archiv
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Die Abenteuer der Time-Squad IX
Peter Terrid
Das Zeit-Archiv
Peter Terrid · Das Zeit-Archiv
Peter Terrid Die Abenteuer der Time-Squad 9. Heft
Terra Astra 350
Peter Terrid Die Zeit-Archiv
Der Römer und der Mazedonier – sie begegnen zwei Großen der Vergangenheit
1978
Peter Terrid - Das Zeit-Archiv
Wenigstens wußten wir bereits, worum es ging, als D. C. uns zusammenrufen ließ. Auf dem Plan konnte nur die Vorbereitung des Unternehmens Zeit-Archiv stehen, unseres Ausflugs nach Alexandria in die berühmte Bibliothek dieser Stadt. Unser Ausflug – das betraf mich und die anderen Agenten des TIC, des Time Intelligence Corps. Und was unser Auftrag sein würde, lag auf der Hand: Wir mußten Informationen sammeln, Informationen über einen geheimnisvollen Gegner, der immer wieder zu Anschlägen gegen die Menschheit ausgeholt hatte, die wir – bis jetzt – noch hatten vereiteln können. D. C. wartete in ihrem Besprechungsraum auf uns. Als ich den Raum betrat, fiel mein Blick zunächst auf den flachen Tisch. D. C. hatte veranlaßt, daß mein Lieblingstee gebraut wurde. Ein Tadel stand also nicht zu befürchten, und das beruhigte mich sehr. Außer D. C. und mir war noch der Stamm unserer Abenteurerbrigade anwesend – Anastasius Immekeppel beispielsweise, der Mann aus dem Zwanzigsten Jahrhundert. Er hatte sich noch immer nicht dazu aufraffen können, seinen absonderlichen Namen ändern zu lassen, und solange er so hieß, würde er weiterhin von uns Inky genannt werden. Er saß in einem Sessel und grinste mir freundlich zu. Neben ihm erkannte ich Corve Munther, unseren Goldjungen mit dem Biologietick. Jedesmal, wenn ich ihn sah, fragte ich mich, was dieser Schuljunge in unserem Team zu suchen hatte, obwohl ich längst wußte, daß Corve erwachsen war. Mit seinem freundlich, leicht pausbäckigen Jungengesicht und dem goldblonden Haarschopf sah er mindestens zehn Jahre jünger aus, als er war.
Die Abenteuer der Time-Squad IX
Nicht fehlen durfte in diesem Bund Don Slayter, Chef der Time-Squad in San Francisco und unser offizieller Chef bei der Time-Squad. Daß in dieser geheimen Polizeiorganisation eine Frau die Hosen anhatte, stand auf einem anderen Blatt. »Chefin«, sagte ich zur Begrüßung. »Sie sind so schön wie immer. Wie machen Sie das nur?« Demeter Carol Washington gab auf diese Frage keine Antwort; ich hatte auch keine erwartet. Gelogen hatte ich allerdings nicht. Sie war eine bewundernswert schöne junge Frau, dazu selbstsicher, intelligent und charakterfest. Längst hatten wir herausgefunden, daß D. C. es mit jedem von uns aufnehmen konnte und wir waren auf unsere Fähigkeiten und Tugenden mit Recht stolz. Slayter verzog sein angegrautes Buchhaltergesicht. »Setzen Sie sich, Bistarc, und halten Sie den Mund. Komplimente können Sie in Ihrer Freizeit machen!« »Wenn es welche gäbe«, maulte ich und ließ mich in den Sessel vor der Teetasse fallen. Mit meinem Protest hatte ich gar nicht einmal so sehr unrecht – Freizeit war in der Time-Squad tatsächlich weitgehend unbekannt. Wenn wir uns nicht gerade irgendwo in der Weltgeschichte herumtrieben – in unserem Fall konnte man diesen saloppen Ausdruck buchstäblich auffassen –, dann waren wir damit beschäftigt, unsere Expeditionen auszuwerten und neue Abenteuer vorzubereiten. Zur Ruhe kam man bei der Time-Squad fast nie. Das lag allerdings hauptsächlich daran, daß diese Arbeit so vielseitig und interessant war, daß alle freiwillig auf Freizeit verzichteten. »Haben Sie sich gut erholt, Tovar?« D. C. benutzte meinen Vornamen, ein gutes Zeichen.
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»Leidlich, Chefin, leidlich.« »Ihr Gesicht straft Sie Lügen«, kam es zurück, und damit war dieser Punkt erledigt. Die Verletzungen, die ich mir in der Goldenen Stadt geholt hatte, waren tatsächlich ausgeheilt. Ich war in der Form, die man von jedem Mitglied des TIC erwarten durfte – körperlich und geistig zu Höchstleistungen bereit. Immerhin wurden wir auch erstklassig bezahlt. »Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was auf der Tagesordnung steht: das Unternehmen Zeit-Arche. Don, wollen Sie erklären?« D. C. setzte sich und schlug die Beine übereinander. »Meine Herren«, begann Slayter. »Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, wie ernst die Lage ist. Während unser Feind überall zuschlagen kann, wissen wir noch nicht einmal, wie dieser Feind genau aussieht. Informationsbeschaffung steht darum auf unserer Dringlichkeitsliste obenan. Da der Gegner an der Geschichte der Menschheit herummanipuliert, müssen wir auch historische Daten sammeln. Es liegt nahe, daß man, um einen Baum zu fällen, an der Wurzel ansetzt. Die Wurzeln für die jetzige Kultur der Menschheit liegen in den Hochkulturen des Orients, bei den. Sumerern, Ägyptern, Babyloniern. Bislang haben wir von Angriffen auf diese Zeit noch nicht viel bemerkt, aber das kann sich naturgemäß jederzeit ändern. Was dem Gegner bei seinen Attacken helfen wird, ist die Tatsache, daß unsere Kenntnisse über diese Völker recht beschränkt sind. Daher werden wir, nach erprobtem Muster, einen Trupp zusammenstellen, der nach Alexandria reisen wird. Wir hoffen, in der berühmten Papyrus-Bibliothek der Antike Antworten auf viele Fragen zu finden, die uns beschäftigen.«
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»Sollen wir die Papyri einfach stehlen?« fragte Corve. »Fotografien reichen völlig«, antwortete Slayter. »Wie man mit Kleinstkameras umgeht, brauche ich Ihnen wohl nicht zu erklären.« »Und wie steht es mit der Sprache? Ich spreche kein Wort ägyptisch!« Ich wußte, was kommen würde. »Erstens haben wir eine junge Mitarbeiterin, die fließend altägyptisch spricht und auch schreibt. Und zweitens wird Alexandria in der Zeit, in der Sie dorthin reisen werden, von den Römern kontrolliert. Mit Latein kommen Sie mühelos durch.« Inky verzog das Gesicht, als habe er Magenschmerzen. »Ich habe es geahnt«, stöhnte er. »Ich habe es geahnt. Niemals wird das Schicksal mir verzeihen, daß ich die unregelmäßigen Verben nicht gelernt habe. Diese Verben verfolgen mich seit meiner Schulzeit.« »An euren Schulen wurde Latein gelehrt?« fragte Corve entgeistert. Inky nickte. »Acht Stunden in der Woche«, verriet er. »Sieben bis acht Jahre lang.« »Verrückte Welt«, murmelte Corve. »Also gut, ich lerne Latein.« »A, ab, e, ex und de, cum und sine, pro und prae stehen mit dem Ablativ!« murmelte Inky. Es klang wie eine Mischung aus Fluch und Beschwörung. »Oh Gott, was habe ich verbrochen, daß dies noch einmal über mich kommt?« »Fassen Sie sich, Inky«, ermahnte ihn Slayter. »Unser Plan sieht so aus. Wir werden Sie in den Alpen ab10
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setzen, von dort aus reisen Sie zunächst nach Rom und dann nach Alexandria. Auf der Reise können Sie erstens Ihre Lateinkenntnisse auffrischen und außerdem ein paar Brocken Griechisch und Ägyptisch lernen.« »Mehr nicht?« fragte Inky sarkastisch. »Wenn Sie ihre Aufgabe erfüllt haben, werden wir Sie wieder abholen«, versprach Slayter. »Haben Sie das begriffen?« Ich nickte. »Worüber sollen wir uns informieren?« erkundigte ich mich. Diesmal übernahm D. C. die Antwort. »Fotografieren Sie alle Dokumente, die sich mit der Vorgeschichte dieser Hochkulturen beschäftigen. Wir brauchen die alten Königslisten, die Gesetze und Erlasse aus dieser Zeit, Berichte über Bauwerke und wie sie erstellt wurden – kurz alles, woraus sich schließen läßt, wo unser Gegner den Hebel bereits angesetzt hat, um unsere Welt aus den Angeln zu heben.« »Eine Menge Arbeit«, vermutete Corve Munther. »Man schätzt, daß die Bibliothek von Alexandria in ihrer Glanzzeit ungefähr 700 000 Bände umfaßte«, erklärte D. C. ruhig. »Siebenhunderttausend Bücher?« rief ich entgeistert. Ich hatte gehört und gewußt, daß die alexandrinische Bibliothek weltberühmt war, aber so groß hatte ich sie mir bei weitem nicht vorgestellt. »Das wird Jahre dauern, Chefin!« »Allerdings«, sagte D. C. freundlich, wie es ihre Art war. Niemand konnte liebenswürdiger als sie ein Todesurteil überbringen oder dergleichen. »Wir rechnen mit zehn- und mehr Jahren. Schließlich können Sie nicht 11
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offiziell fotografieren. Diese Arbeit muß geheim erledigt werden. Außerdem dürfte es Sie geraume Zeit kosten, bis man Sie an die Archive heranläßt, die für unsere Fachwissenschaftler besonders interessant sind – nämlich die politischen Akten, der Briefwechsel zwischen den Pharaonen und ihren zeitgenössischen Kollegen.« Wir sahen uns an, als habe D. C. uns zum Tode verurteilt. Zehn Jahre waren zehn Jahre – jünger wurden wir auf diesen Zeitreisen nicht. Zudem wurden wir zwar regelmäßig bezahlt – aber nur nach dem gegenwärtigen Kalender. Wenn wir zehn Kalenderjahre in Ägypten verbrachten, konnten wir bei entsprechender Einstellung der Zeitmaschine nur wenige Wochen nach unserer Abreise wieder in der Normalzeit auftauchen. Dann waren wir zwar um zehn Jahre gealtert – aber Gehalt bekamen wir nur für die Monate unserer Abwesenheit nach jetziger Zeitrechnung. »Ein solcher Fall von Ausbeutung dürfte in der Geschichte der Menschheit einzig dastehen«, protestierte ich. »Wenn Sie weiterhin derart mit unseren Kräften umgehen, werden wir das Ende dieses Jahres als Greise erleben.« »Das ist durchaus möglich«, sagte D. C. freundlich. »Ob Sie nun hier altern oder im warmen, sonnigen Ägypten – das ist doch einigermaßen gleich.« »Nicht für die Rentenversicherung«, gab ich bitter zu bedenken. Unwillkürlich versuchte ich, mir einen Angestellten der Rentenversicherung der Polizei vorzustellen, dem ich mein Problem zu erläutern hatte – eingetreten in die Versicherung im Frühjahr als junger Mann, Rente fordernd einige Monate später als Greis. 12
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Die Versicherung wollte ich sehen, die dann auch nur einen Soldor herausrückte. »Auch daran ist gedacht worden!« wollte uns D. C. beruhigen. »Ihre Ansprüche werden nach physiologischen Jahren berechnet.« Das hieß, daß wir uns gegebenenfalls selbst in die Kategorie der Uralten einzustufen hatten, wenn wir Geld wollten. Eine feine Suppe, die D. C. da zusammengebraut hatte, die wir nun auslöffeln sollten. D. C. sah sich eine Zeitlang unsere entgeisterten Gesichter an, dann lächelte sie. »Macht euch keine Sorgen, Jungs«, munterte sie uns auf. »Ihr sollt nur die Lage untersuchen und das Terrain für die Fachleute vorbereiten. Als ich unseren Wissenschaftlern den Plan erläuterte, haben sie mich händeringend beschworen, keinen von euch Muskelathleten an die unersetzlichen Bücher heranzulassen.« »Wie liebenswürdig«, brummte ich. »Warum sollen wir eigentlich so viel Zeit mit der Anreise verbringen?« »Akklimatisierung«, antwortete Slayter. »Außerdem brauchen wir eine Legende für den Trupp Wissenschaftler, den wir euch nachschicken werden, sobald ihr euch in Alexandria eingerichtet habt.« Nachdem D. C. damit begonnen hatte, duzte uns nun auch Don Slayter. Offenbar war der hochoffizielle Teil des Gesprächs beendet. »Ihr sollt ein paar sehr reiche Privatleute darstellen«, klärte uns Slayter auf, »die zu Bildungszwecken nach Alexandria reisen wollen. Dort werdet ihr ein passendes Haus kaufen, nötigenfalls auch zwei oder drei, und euch einrichten. Nach und nach werden dann eure Sklaven kommen, die die Archive für euch untersuchen wer13
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den. Sobald eure Gruppe eingeführt ist, werden die reichen Herren abreisen und das Feld für die nächsten Jahre den Sklaven überlassen.« »Eine hübsche Geschichte«, gab ich zu. »Und womit begründen wir unseren Reichtum?« »Bernstein und Perlen«, verriet D. C. »Wir haben einige Zentner künstlichen Bernstein besorgt, dazu einige Tausend hochwertiger Zuchtperlen, außerdem Seidenballen und exotische Gewürze.« »Seide in Rom?« meinte ich zweifelnd. »Durchaus«, erklärte Slayter. »Ihr werdet euch wundern, wie fortschrittlich man in der Antike bereits war!« Er ahnte nicht, daß er in diesem Augenblick zum Propheten geworden war, wenn auch zu einem Wahrsager in der Nachfolge der berühmten Kassandra, deren Prophezeiungen nie auf etwas Gutes hinausliefen. »Andere Mitarbeiter wären glücklich, würde man ihnen einen Urlaub in Rom oder in Ägypten in Aussicht stellen.« »Chefin«, konnte ich darauf nur antworten. »Wann immer Sie uns Urlaub bewilligt haben, lief es am Ende auf Strapazen hinaus. Sparen Sie sich die Werbesprüche – wie schön ist es doch, für die Time-Squad zu arbeiten: viel Urlaub, viel Sonne …« »… viel Ungeziefer, viele Feinde, selten Schlaf«, setzte Inky die Litanei fort. »Wer ist übrigens der Mitarbeiter, der perfekt altägyptisch spricht?« »Sie kennen sich bereits«, erklärte D. C. »Von Ihrem Abenteuer auf Atlantis!« »Marleen«, riefen Inky und ich gleichzeitig. Das war eine angenehme Überraschung. Marleen hatte sich 14
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nicht nur als fähige Fachwissenschaftlerin erwiesen, sondern auch als Gefährtin, auf deren Hilfe man in kritischen Situationen zählen konnte – und das war mehr, als man von manchem Kollegen behaupten konnte. »Rechnen Sie mit irgendwelchen Schwierigkeiten?« erkundigte ich mich vorsichtshalber. D. C. zögerte einen Augenblick. »Nur heraus mit der Sprache«, forderte ich sie auf. Mir schwante, daß sie uns nichts Gutes zu melden hatte. »Nun gut«, sagte sie halblaut. »Ich halte es für fair, Sie wissen zu lassen, daß es Anzeichen dafür gibt, daß Sie nicht allein sein werden.« »Eine reichlich komplizierte Umschreibung für die Tatsache, daß wir auf unsere Haut aufpassen müssen!« bemerkte ich, »Machen wir es kürzer – der Gegner steckt ebenfalls in Alexandria, nicht wahr?« D. C. nickte. »Es gibt entsprechende Hinweise«, sagte sie. »Die Beweise sind allerdings nicht sehr konkret. Unsere Fachwissenschaftler haben in alten Dokumenten widersprüchliche Textstellen gefunden.« »Wir werden also aufpassen müssen«, faßte ich zusammen. »Nun, das sind wir ja gewöhnt. Darf ich fragen, in welches Jahr genau wir geschickt werden?« »Voraussichtlich ins Jahr 75 vor der Zeitenwende«, eröffnete uns D. C. freundlich. »In späteren Jahren könnten Sie Schwierigkeiten bekommen. Zu dieser Zeit kämpfte Pompeius Magnus gegen die Anhänger des Marius. Da diese Kämpfe hauptsächlich in Spanien stattfinden, werden Sie in einiger Ruhe reisen können. Im Jahre 74 wird dann der dritte Krieg zwischen den Römern und Mithridates von Pontus beginnen. 15
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Dieser Krieg wird zehn Jahre dauern und die damalige Welt hinreichend beschäftigen. Sie sehen, wir haben an alles gedacht. Entsprechende Kleidung und Ausrüstung ist in den letzten Monaten vorbereitet worden.« »Wo werden wir wieder abgeholt?« »Das wird davon abhängen, wie schnell Sie arbeiten«, gab Demeter Carol Washington bekannt. »Wir werden in regelmäßigen Abständen einen Zeit-Beobachter einsetzen, der Sie in Alexandria aufsuchen wird. Sobald Ihre Arbeit abgeschlossen ist, werden Sie einen Ausflug unternehmen – und zwar in die damalige Kantara-Senke. Sie werden sich erinnern …« Ich nickte sofort. In der Kantara-Senke waren wir auf die Goldene Stadt gestoßen. In unserer Realzeit gab es dort keine Senke mehr, sondern das Kantara-Meer. Die Ägypter hatten eine Verbindung zwischen Mittelmeer und der Senke hergestellt, um die Länge ihrer Badestrände zu vergrößern. Mit Erfolg, wie sich mittlerweile herausgestellt hatte. »Dort werden Sie dann abgeholt«, versprach D. C. »Wenn es Ihnen gelänge, dort noch Spuren der Goldenen Stadt zu finden, wäre das sehr begrüßenswert.« »Ihnen wäre es wohl am liebsten, wir würden auch noch im Schlaf arbeiten?« fragte ich bissig. »Durchaus nicht«, versetzte D. C. freundlich. »Sie brauchen mich nicht in jeder Beziehung nachzuahmen.« Damit verließ sie den Raum. Einmal mehr stellte ich fest, daß D. C. es an Schlagfertigkeit mit jedem von uns aufnehmen konnte. »Wer wird außer uns noch von der Partie sein?« fragte ich Don Slayter. Er zählte auf: »Sie, Tovar, Ihre 16
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Freunde und Kollegen Inky, Corve und Joshua, außerdem Miß de Vries, Charriba White Cloud …« »Ein Indianer in der Antike?« fragte ich entgeistert. »Wird das nicht auffallen?« »Natürlich«, sagte Slayter freundlich. »Das wird Charribas Wert als Sklave erhöhen. Wir haben eine spannende Geschichte für ihn vorbereitet. Sie geht davon aus, daß es zwischen den Ägyptern und den mittelamerikanischen Indianern kulturelle Kontakte gegeben haben muß.« »Und wie hätten die aussehen sollen?« fragte Inky amüsiert. »Über dreitausend Kilometer Atlantik hinweg?« »Per Schilfboot«, setzte Don Slayter seine Erklärung fort. »Sie können das nicht wissen, Inky, aber einige Jahrzehnte nach Ihnen, also nach dem Zeitpunkt, an dem Sie aus der Gegenwart, beziehungsweise aus der Vergangenheit …« »Ich kann mir vorstellen, was Sie sagen wollen«, kommentierte Inky grinsend. Es war wirklich nicht einfach, die Zeitreise sprachlich zu fassen. »Also, ein paar Jahrzehnte nach Immekeppel …« »… da wurde eine solche Fahrt mit einem Papyrusboot nachgemacht«, erklärte Slayter. »Und sie ist, wenigstens im zweiten Anlauf, geglückt.« »Und auf ähnliche Weise soll Charriba in die Alte Welt gelangt sein?« »Das ist die offizielle Erklärung. Vielleicht versucht der Gegner, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen. Sie wissen ja, wie wenig wir über diesen Gegner wissen, wie dringend wir mehr Informationen brauchen.« »Nun gut«, sagte ich abschließend. »Wir werden, das verspreche ich Ihnen, unser Bestes tun.« 17
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Es war entsetzlich kalt. Der Wind pfiff durch das Gebirge, und ich klapperte mit den Zähnen. Wir steckten in den Alpen. Nur noch wenige Kilometer trennten uns vom sonnigen Oberitalien. Gallia citerior hieß dieser Bereich des Römischen Reiches, jedenfalls in der Zeit, in der wir uns bewegten. In einigen Jahrhunderten würden sich in diesem Raum die Langobarden – die Langbärte – niederlassen. Nach ihnen würde dann dieser Landstrich Lombardei genannt werden. Noch war jedoch von Sonne nichts zu spüren. Man hatte uns mitsamt unserem Gepäck auf einem Gebirgspaß abgesetzt, der um diese Zeit gerade nicht benutzt wurde. Zwar waren wir beritten und hatten Maultiere, die unser Gepäck schleppten, aber das machte das Fortkommen keineswegs einfacher. Das Pferd, das ich ritt, wäre aus jeder modernen Zucht sofort hinausgeworfen worden, aber in die Antike paßte es, und die Maultiere schienen kein anderes Vergnügen zu kennen als das, die Sprichwörter über die Störrigkeit dieser Tiergattung zu bestätigen. Wir kamen nur äußerst langsam und mühevoll vorwärts. Der junge Corve Munther, der sich gleich am ersten Tag eine fiebrige Erkältung zugezogen hatte und unablässig nieste, wäre von normalen Reisenden zurückgelassen worden. Wir hatten ihn auf ein Pferd gesetzt und paßten auf, daß er nicht herunterfiel und sich das Genick brach. »In zweihundert Jahren«, schnaufte Inky neben mir, »hätten wir bequem reisen können. Schnurgerade waren die Römerstraßen, selbst im Gebirge, jedenfalls da, 18
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wo es sich ermöglichen ließ. Straßen in der Qualität römischer Militärstraßen wird es erst wieder in der Neuzeit geben. Aber noch haben die Römer Gallien nicht erobert.« Slocum tauchte neben mir auf. An der Nase hing ihm ein kleiner Eiszapfen, entstanden aus dem Augenwasser, das wir dem schneidend kalten Wind verdankten. Sein Bart war schneeüberkrustet. Er deutete auf einen Einschnitt zwischen zwei Felswänden. »Die Paßhöhe!« gab er bekannt. »Von da an wird es leichter gehen.« »Hoffentlich!« wünschte ich laut. »Noch zwei, höchstens drei Tage Marsch«, versprach Slocum, der an meinem Gesicht erkennen konnte, daß ich mir Sorgen machte. »Wenn wir erst Gallia citerior erreicht haben, wird alles wesentlich besser. Wir sprachen Latein. Sogar Inky hatte sich gequält und wochenlang Vokabeln gebüffelt. Danach hatte er feststellen müssen, daß sich Latein in gewisser Hinsicht kaum von anderen Sprachen unterschied. Stets verging eine gewisse Zeit, in der das Lernen schwerfiel und jeder Satz wie eine Art Mathematikaufgabe erschien, die es zu lösen galt – bis dann der Augenblick erreicht war, an dem sich der Informationsbrei abgesetzt und geordnet hatte und man plötzlich in der betreffenden Sprache denken konnte. Schwierigkeiten gab es eigentlich nur dann, wenn wir auf unseren Auftrag zu sprechen kamen – volltransistorisiertes Handfunkgerät ließ sich in Latein nicht ausdrücken. Unser Akzent ließ naturgemäß ebenfalls zu wünschen übrig. Es konnte allerdings nicht schaden, wenn wir als 19
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Ausländer angesehen wurden. Marleen beispielsweise konnte ihr hellblondes Haar niemals auf Dauer verstecken. Sie mußte also als Sklavin aus dem Norden gelten, ähnliches traf auch auf Maipo Rueda zu, der angeblich in Afrika erbeutet worden war. Von unserem Team konnte genaugenommen keiner als waschechter Römer gelten. Dafür waren wir allesamt viel zu groß. Jeder von uns überragte die normalen Zeitgenossen mindestens um Haupteslänge. Außerdem kannte man sich in Rom. Niemals hätte ich mit Erfolg behaupten können, einer reichen und vornehmen Familie anzugehören. Meine Rolle stand fest. Ich war der Sohn eines einfachen Römers, der nach Gallien ausgewandert und bei den Barbaren sein Glück gemacht hatte. Glück, das hieß in meinem Fall, daß ich Gold und Edelsteine besaß und einige überaus exotische Sklaven, die in dieser Zeit einen beachtlichen Marktwert darstellten. Wir brauchten vier Stunden, dann war die Paßhöhe erreicht. In weiter Ferne sahen wir grünes Land. Nur noch wenige Kilometer. Diese wenigen Kilometer wurden zur Tortur. Zwei Maultiere stürzten mit dem Gepäck ab, die Pferde mußten geführt werden, so erschöpft waren sie. Und ausgerechnet hier, am Ausgang des Passes, mußten die Räuber lauern. Daß es in dieser Zeit Wegelagerer gab, verwunderte nicht, und es erschien mir auch logisch, daß sie die Reisenden am Ende des Weges überfielen, wo sie erschöpft und ausgelaugt waren und ihr Gepäck meist schon vorsortiert hatten. Wer diesen Punkt erreichte, schleppte nur noch das Kostbarste mit. 20
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Ich sah den ersten der Räuber hinter einem Baum hervorspringen, in der Linken einen arg verrosteten Schild, in der Rechten das traditionelle Kurzschwert der römischen Legionen. »Stehenbleiben«, forderte er uns auf. Im gleichen Augenblick erschienen auch seine Spießgesellen, bewaffnet mit Lanzen, Keulen und primitiven Bögen. Die Männer sahen heruntergekommen aus, einige wirkten halbverhungert. Ihre Kleidung war zerschlissen. Fast taten sie mir leid. In den Augen der Wegelagerer stand nackte Gier. Fast noch mehr als auf die Nahrungsmittel und die Handelswaren, die wir mitführten, hatten es die Räuber auf die Frauen abgesehen. Nun, für den Fall, daß es ihnen gelang, uns Männer zu überwinden, stand den Wegelagerern eine böse Überraschung bevor. Ich sah, wie der Anführer der Räuber zögerte. Er war fast einen Kopf kleiner als ich und unterernährt. Ich zog mein Schwert. Die Klinge blitzte in der Sonne. Es hatte die Time-Squad Monate gekostet, diese Waffen herzustellen. Sie bestanden aus einem sehr harten und scharfen Spezialstahl, der allem, was die Antike hervorgebracht hatte, weit überlegen war. Auf der anderen Seite mußte dieser Stahl aber ebenso leicht und gründlich rosten wie die Produkte der römischen Waffenfabriken. Keine leichte Aufgabe für die Spezialisten, aber sie hatten sie gelöst. »Komm nur«, ermunterte ich den Räuberhauptmann. Er zögerte, und seinen Spießgesellen schien die Sache ebenfalls nicht ganz geheuer zu sein. Inzwischen hatten auch meine Gefährten zu den Waffen gegriffen. Noch einen Augenblick lang zögerte der Anführer, dann kam Leben in seine Gestalt. 21
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»Auf sie!« brüllte er und stürmte los. Ziel seines Angriffs war ich, und ich mußte sehr rasch feststellen, daß es einen fundamentalen Unterschied zwischen Fechtstunden im Trainingssaal und echtem Kampf gab. Der Räuber hielt sich zum einen nicht an die Regeln, zum anderen war er nicht daran interessiert, mein Leben zu schonen. Ich mußte alle Kraft und Kenntnis aufwenden, um mir den Mann vom Leibe halten zu können. Unsere Lage war alles andere als angenehm. Uns stand nur wenig Platz zur Verfügung, und wir mußten obendrein auf die Frauen und auf unsere Saumtiere achten. Die Räuber hatten soviel Rücksichtnahme nicht nötig. Mit allen Mitteln attackierten sie uns, selbst dann noch, als ihre Spieße zerbrochen oder zerhauen waren. Ich hatte endlich eine Methode gefunden, mir den Anführer der Bande vom Leib zu halten. Mit schnellen, wirbelnden Schlägen trieb ich ihn zurück. Er keuchte, und auch mir wurde langsam die Luft knapp. »Gib auf«, stieß ich hervor. »Gib auf, oder ich schlage dir den Schädel ein!« Der Räuber schüttelte den Kopf und machte eine blitzschnelle Bewegung mit dem rechten Fuß. Der Felsbrocken war so groß wie mein Kopf und lag sehr locker. Der Stoß des Räubers reichte aus, den Stein vor meine Füße kollern zu lassen, und bevor ich mich versah, lag ich der Länge nach auf dem Boden. Sofort rollte ich zur Seite. Der erste Streich des Banditen traf nur die Luft. In seinem Gesicht erschien ein höhnisches Grinsen. Auf dem Rücken liegend versuchte ich, aus der Reichweite seines Schwertes zu kommen. Vergebens. Der Mann holte aus, um mir mit einem letzten Hieb den Garaus zu machen. 22
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Wieder rollte ich zur Seite, diesmal nach links. Das Schwert des Räubers zischte herab, traf meine Waffe nur Zentimeter über dem Heft und riß sie mir aus der Hand. Der Wegelagerer kam nicht mehr dazu, seinen Triumphschrei auszustoßen. Ich setzte einen Beinhebel an, der den Mann im Bruchteil einer Sekunde von den Beinen warf. Hilflos kippte er um, und im Sturz schlug er mit dem Schädel gegen den Felsbrocken, den er mir in den Weg gestoßen hatte. Ich kam rasch wieder auf die Füße. Als erstes griff ich wieder nach meinem Schwert, dann kümmerte ich mich um den reglosen Mann auf dem Boden. Er war nicht tot, nur besinnungslos. Bis er wieder zu sich kam, würde mindestens eine Viertelstunde vergehen, schätzte ich. Das gab mir Gelegenheit, meinen Gefährten zu Hilfe zu kommen. Die Lage sah nicht schlecht aus, als ich meine Freunde wieder erreichte. Zwei der Angreifer waren bewußtlos oder tot, drei andere lagen verletzt auf dem Boden, und der Rest kämpfte mit dem Mut der Verzweiflung gegen unsere Übermacht. Der Kampf war zu unseren Gunsten entschieden. Zufrieden stimmte mich vor allem, daß wir nicht hatten auf modernes Gerät zurückgreifen müssen, auf unsere Nadler oder gar Laserpistolen. Diese Waffen steckten wohlverborgen in unserem Gepäck auf den Maultieren. Meine Freunde hatten die Räuber in die Enge getrieben. Zurück konnten sie nicht mehr, und ich sah, daß ihre Verzweiflung wuchs, als sie mich erblickten. »Ergebt euch!« rief ich ihnen zu. »Niemals«, klang es zurück. »Lieber sterben wir, als daß wir uns in die Sklaverei verkaufen lassen.« 23
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Damit hatte ich nicht gerechnet. »Ihr werdet nicht versklavt«, versprach ich laut. »Ergebt euch!« Sie ließen die Waffen fallen, zuerst nur einer, der lange zögerte, dann der Rest, als sie sahen, daß wir nicht sofort über sie herfielen, um ihnen den Garaus zu machen. »Wie sieht es aus?« fragte ich Inky. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Keine Verluste, keine Verletzungen«, sagte er knapp. »Jedenfalls nicht auf unserer Seite.« Ich hielt mein Schwert noch in der Hand, als ich zu einem der Verwundeten hinüberging. Der Mann hatte einen Hieb auf den rechten Oberarm bekommen. Die Wunde blutete stark. Ich beugte mich über den Mann, um nach der Wunde zu sehen. »Vorsicht!« Ich hörte Inkys Ruf und warf mich sofort zur Seite. Ich sah den entgeisterten Gesichtsausdruck des Verletzten, dann hörte ich etwas an meinem Kopf vorbeizischen. Das nächste war das erschreckte Aufwiehern eines Maultiers. »Aufgepaßt!« rief Inky. »Das Tier wird wild!« Ich hatte keine Zeit, mich um den Anführer der Räuber zu kümmern, der plötzlich in meinem Rücken aufgetaucht war, die Lage mißverstanden und sein Messer nach meinem Hals geworfen hatte. Ich hatte nur Augen für das Maultier, das von diesem Messer verletzt worden war und sich nicht beruhigen lassen wollte. Es trat und biß und schlug aus, daß die Männer alle Hände voll zu tun hatten, sich vor dem Tier in Sicherheit zu bringen. Und dann sah ich etwas, was mir den Atem verschlug. Das Maultier geriet vom Saumpfad ab. Die Verletzung 24
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hatte es so erschreckt, daß es völlig den Kopf verloren hatte. »Lauft!« schrie ich. »Lauft, so schnell ihr könnt!« Ich packte den Verletzten und riß ihn in die Höhe. Der Mann schrie vor Schmerz laut auf, aber ich kümmerte mich nicht darum. Ich warf mir den Körper über die Schultern und setzte mich in Bewegung. Noch hatte das Maultier Halt für seine Hufe, noch stand es auf sicherem Boden. Meine Freunde begriffen sofort, was mich zu einer sofortigen Flucht angetrieben hatte. Auch sie stürmten los, die Räuber hinterdrein. Ich sah, wir Inky und Joshua Slocum sich um einen weiteren Verwundeten kümmerten, wie Marleen ein erschrecktes Maultier antrieb, das sich widerwillig in Marsch setzte. Uns blieben nur ein paar Augenblicke. Es kam darauf an, diese Augenblicke zu nutzen, sonst waren wir verloren. Nur ein paar Handbreiten trennten das tobende Maultier vom Abgrund. Dieses Maultier schleppte die Magazine für unsere Waffen, vor allem für die Laser. Vielleicht war das Glück auf unserer Seite, vielleicht beruhigte sich das Tier wieder. Wenn nicht … »Lauft!« schrie Inky. »Lauft, Leute!« Wir rannten wie besessen. Aus den Augenwinkel heraus sah ich, wie auch der Hauptmann der Räuber zu laufen begann. Er tat gut daran. Ich hörte den Schrei, den das Maultier ausstieß, als es abrutschte und in die Tiefe stürzte. Sekunden vergingen, in denen der Todesschrei des Tieres in unseren Ohren gellte, dann ging dieser Laut in einem Orkan von Lärm unter, der über uns hereinbrach. 25
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Die Magazine für die Laser flogen in die Luft, die Handgranaten, die Energiezellen für Funkgeräte. Hinter uns jagte eine grellrote Feuerlanze in den Himmel, dann folgte eine Druckwelle, die uns von den Beinen riß. Ich prallte im Fallen auf den Körper des Verletzten. Seinen schmerzerfüllten Schrei hörte ich nicht mehr. Das Donnern der Explosion ließ uns vorübergehend taub werden. Felstrümmer flogen durch die Luft, stiegen wie von Riesenhand geworfen in die Höhe und krachten auf den Boden zurück. Die Hölle, die in den nächsten Augenblicken über mich hereinbrach, hatten wir selbst hervorgerufen. Die Explosion der Magazine war so schlimm nicht gewesen, um so verheerender wirkte die Erschütterung auf die Landschaft. Schon Sekunden nach der ersten Explosion rieselten kleine Steine auf uns herab, die Geschosse aus Stein, die die Explosion verfeuert hatten, setzten dann eine Geröllawine in Bewegung. Ich barg den Kopf zwischen den Armen und preßte mich mit aller Kraft an den Boden. Ich spürte das Herabfallen kleinerer Stücke wie Hammerschläge auf dem Körper. Ich hörte das Poltern und Krachen, mit dem die ganze Lawine, Hunderte von Tonnen schwer, an uns vorbeidröhnte. In diesem Lärm ging alles andere unter, das Schreien der Menschen und der Tiere. Wir waren umfangen von einem Chaos aus Stein, Schnee und Lärm, das kein Ende zu haben schien. Irgendwann traf mich ein Stein am Kopf und stürzte mich in die Schwärze einer wohltuenden Bewußtlosigkeit. 26
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Das erste, was ich empfand, war ein stechender Schmerz im Schädel, der mir sofort ein Stöhnen entlockte. Dann wurde mir klar, daß ich noch lebte, und dieses Bewußtsein drängte den Schmerz zurück. Ich spürte einen Druck auf dem Rücken, und etwas Scharfkantiges lag auf meinem linken Bein. Ich versuchte, mich zu bewegen, es gelang. Langsam richtete ich mich auf. Ein paar kopfgroße Felsstücke lagen auf meinen Beinen, ansonsten war ich unter einer nur wenige Zentimeter dicken Geröllschicht begraben, die wegzuschaffen nicht viel Kraft kostete. Zu sehen war nicht viel. Der Steinschlag hatte eine riesige Staubwolke aufgewirbelt, die sich gerade erst zu setzen begann. Neben mir bewegte sich etwas. Ich half mit beiden Händen, und bald hatte ich den Räuber zutage gefördert, den ich auf meiner Flucht mitgerissen hatte. Er stöhnte unterdrückt und hielt sich den verletzten Arm, aber in seinen Augen stand Dankbarkeit geschrieben – und, unverkennbar, eine gehörige Portion Angst. Ich wußte, was geschehen war; ich konnte mir die Explosion erklären. Die Räuber mußten an Geister glauben – oder daran, daß Jupiter einen seiner vernichtenden Blitze nach uns geschleudert hatte. »Inky!« rief ich. »Josh! Corve!« »Nicht so laut!« hörte ich eine wehleidige Stimme. Ich erkannte Inkys Organ und atmete erleichtert auf. Inky war einer der letzten unserer Gruppe gewesen. Wenn er überlebt hatte, mußten eigentlich auch die anderen die Explosion überstanden haben. Das allein zählte in diesem Augenblick, alles andere war unwichtig. 27
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Nacheinander kamen unsere Freunde zu sich, und auch die Räuber wurden wach. Mit ihnen brauchten wir uns nicht mehr zu befassen. Die Männer waren restlos erschüttert. Was in den letzten Minuten geschehen war, überstieg ihre Vorstellungskraft vollkommen. Sie mußten sich in einem Wirklichkeit gewordenen Alptraum wähnen. Wir brauchten etwas mehr als eine halbe Stunde, um uns zu sammeln. Dann stand das Ergebnis fest. Inky faßte es in Worte. »Freunde«, sagte er ruhig. »Wir haben nahezu alles moderne Gerät eingebüßt, dazu sämtliche Tragtiere. Von der Handelsware ist der größte Teil übriggeblieben. Wir sind also nicht verarmt.« Sekundenlang herrschte Schweigen. »Wir können unseren Auftrag demnach immer noch ausführen«, sagte Joshua Slocum schließlich. »Wir haben allerdings jetzt praktisch keinen Rückhalt mehr in unserer eigenen Zeit, da unser ganzes modernes Gerät zerstört ist. Erst in Alexandria werden wir uns neue Ausrüstung besorgen können.« »Und da die Time-Squad nur dort nach uns suchen wird, um uns abzuholen«, setzte ich den Gedanken fort, »bleibt demnach alles beim alten. Wir müssen Alexandria erreichen.« Ich machte ein optimistisches Gesicht dazu, obwohl mir ganz anders zumute war. Uns zu finden, war für die Beobachter der Time-Squad eine sehr einfache Sache, vorausgesetzt, der Beobachter wußte, wo er nach uns zu suchen hatte – und vor allem, in welcher Zeit. Verpaßten wir uns aber, wurde die Angelegenheit ernst. Kam nämlich zu den drei Dimensionen des Rau28
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mes noch die vierte der Zeit hinzu, potenzierten sich die Möglichkeiten. In Alexandria würde der Beobachter nach uns suchen. Mit dem modernen Rüstzeug, das wir mitgeschleppt hatten, hätten wir diese Reise mit Sicherheit fristgemäß durchführen können. Jetzt aber stand uns nichts mehr von dieser Ausrüstung zur Verfügung – und es gab Tausende von denkbaren Gründen, die unsere Fahrt verzögern oder völlig unmöglich machen konnten. »Worauf warten wir?« fragte Inky unbekümmert. »Machen wir uns auf den Weg!«
»Auf der anderen Seite liegt Illyrien«, verkündete Inky, »und das Meer heißt schon in dieser Zeit das Adriatische, nach der Hafenstadt Hadria vermutlich. So ganz genau weiß man das nie. Wir standen auf einer sanften Anhöhe oberhalb von Ravenna und betrachteten das Meer. Ravenna war unser erstes großes Ziel. Von hier aus wollten wir die Reise zu Schiff fortsetzen. In den letzten Wochen waren wir ziemlich gut vorwärtsgekommen. In der ersten Stadt, die wir erreicht hatten, hatten wir Pferde und Maultiere gekauft. Bezahlt hatten wir sie mit dem Ertrag einiger Edelsteine, die ich zu Geld gemacht hatte. Mit den Tieren waren wir dann auf der Via Aemilia rasch und bequem – jedenfalls für die Verhältnisse der Zeit vorangekommen. Die Wegelagerer hatten wir ein Stück Weges als Begleitschutz mitgenommen, reichlich entlohnt und wie29
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der nach Hause geschickt. Vermutlich hatten sie immer noch nicht begriffen, wie ihnen eigentlich geschehen sei. Ich ließ mein Pferd zur Seite gehen, um einem schweren Ochsengespann Platz zu machen, das sich den Hügel hinaufquälte. Die schweren Scheibenräder aus Holz quietschten unablässig, und von dem Wagen schlug uns ein Geruch entgegen, der mir überaus vertraut vorkam. Als der Wagen an mir vorbeirollte, war ich meiner Sache sicher – garum, die Standardspeisewürze der Römerzeit, abgefüllt in große Krüge. Als wir aufgebrochen waren, hatte ich von der Existenz dieser gastronomischen Scheußlichkeit noch nichts geahnt, und das war gut so – ich hätte mich entschieden geweigert, die Reise überhaupt anzutreten. Garum wurde aus Fisch zubereitet. Die erste Stufe dieser Prozedur war das Liquamen: In einem Gefäß wurden Fischeingeweide und Fischstückchen zu einem gleichartigen Brei verarbeitet. Dieser Brei wurde in die Sonne gestellt, gerührt und geschlagen, und geriet dabei in Gärung. Später wurde in das Gefäß mit Liquamen ein engmaschiges Körbchen gesenkt – die Flüssigkeit, die langsam durch das Körbchen gefiltert wurde, war das garum, der Satz wurde allec genannt. Es gab die verschiedenartigen Sorten von garum – garum nigrum, garum piperatum (gepfeffert, passend zu Wildschwein), olegarum, (mit Olivenöl, zu gesalzenem Seeigel) – und sie schmeckten allesamt so, wie man es auch ohne Kostprobe aus dem Zubereitungsprozeß folgern konnte. Nach dem ersten Probieren war mir übel geworden. Und zu meinem Entsetzen hatte ich feststellen müssen, daß sich dieses garum in der römischen Kü30
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che einer Beliebtheit erfreute wie die Sojasauce in der fernöstlichen Küche – mit anderen Worten: Die Gerichte, die nicht mit dieser Sauce aus faulen Fischen versehen wurde, ließen sich an zwei Händen abzählen. Ich gab meinem Pferd die Sporen und ritt voran. Inky hielt sich an meiner Seite. »Irgendwo dort drüben«, sagte er halblaut und deutete mit der Hand nach rechts, »liegt ein Flüßchen namens Rubico, das jetzt kaum jemand kennen dürfte. Merkwürdig, nicht wahr?« Ich zuckte mit den Schultern. »Und dort drunten in der Stadt fehlt das Grabmal des großen Theoderich«, setzte Inky seinen Gedankengang fort. »Kein Mensch in dieser Stadt ahnt, was sich in den nächsten Jahrhunderten abspielen wird.« »Wir wissen auch nicht, was die Zukunft bringen wird«, antwortete ich. Einige hundert Meter von uns entfernt marschierten Soldaten durchs Gelände, in Kampfordnung. Die Tatsache, daß sich ein Bauer in der Nähe nicht um die Soldaten kümmerte, beruhigte mich. Offenbar handelte es sich nur um eine Übung. Inky sah interessiert zu den Soldaten hinüber. Die römische Armee war die beste ihrer Zeit. Jahrhunderte mußten noch vergehen, bis in diesem Teil der Welt Truppen auftauchten, die es mit den Legionen der Römer aufnehmen konnten. Als wir das Stadttor erreichten, dämmerte es bereits stark. Ein zerlumpter Gassenjunge führte uns gegen eine kleine Münze zu einem Gasthof, der unserem Rang und unserem Geldbeutel angemessen war. Wie alle Häuser der römischen Kultur, war er innenbezogen. Von außen sah man nur Mauerwerk, eintönig 31
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und gleichförmig. Der architektonische Reiz wurde erst im Innern offenbar. Wir betraten den Vorraum, das vestibulum, und zogen die staubigen Schuhe aus. Sklaven bedienten uns und reichten uns saubere Sandalen, mit denen wir durch die Tür in den zweiten Vorraum, die fauces, gelangten. Danach erst begann das eigentliche Haus, das um ein Atrium gruppiert war. Vier Säulen stützten das Dach, das über dem Wasserbecken eine rechteckige Öffnung aufwies. Katzbuckelnd kam der Wirt näher. Zunächst sah er mir ins Gesicht, danach konzentrierte er seine Aufmerksamkeit vornehmlich auf die Ringe, die ich mir an die Finger gesteckt hatte. Größe und Farbenpracht der Steine sollten meinen Reichtum anzeigen, und diese Maßnahme erwies sich als richtig. »Ich werde die besten Zimmer für die Herrschaften reservieren lassen«, beteuerte der Mann, Aussprache und Kleidung nach zu schließen ein Kelte. »Folgt mir, bitte. Das Mahl wird unverzüglich aufgetragen werden.« Ich blieb ruhig, obwohl mich der Gedanke an das unvermeidliche garum mit Schauder erfüllte. Ich winkte den Wirt zu mir. »Wir wollen nach Alexandria«, erklärte ich ohne Umschweife. »Besteht die Möglichkeit, hier ein Schiff zu besteigen, das nach Ägypten fährt?« »Ich werde sehen lassen«, versprach der Wirt, »Auf der Stelle werde ich einen Sklaven zum Hafen schicken.« »Die Mühe kannst du dir sparen, alter Weinpanscher«, sagte eine dunkle Stimme. Aus einer Nische im Halbdunkel löste sich eine Gestalt, ein Mann, hochgewachsen und muskulös, unse32
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rem Freund Charriba ähnlich. Seine Haare waren fast schwarz, die Augen dunkelbraun. »Ich komme aus Ägypten«, sagte der Mann im Näherkommen. »Wenn Ihr Euch meiner Sorge anvertrauen wollt …?« »Das wird eine Frage des Preises sein«, antwortete ich freundlich. Mit einer Handbewegung scheuchte ich den Wirt davon. »Über den Preis kann man sich einigen«, meinte der Ägypter. »Ich heiße Amose und bin der Kapitän des Schiffes. Wir werden in zwei Tagen in See stechen. Bis dahin müßten wir die Sache geregelt haben.« »Wir werden sehen«, antwortete ich. Joshua Slocum übernahm die Aufgabe, das Arrangement mit dem Wirt auszuhandeln. Für einen vornehmen Römer – selbst wenn er wie ich aus der finstersten Provinz kam war es selbstverständlich, daß solche Arbeiten von Sklaven erledigt wurden. Weniger selbstverständlich war der Aufwand, den ich mit meinen Sklaven, vor allem den weiblichen, trieb. Ich konnte schließlich nicht zulassen, daß Marleen de Vries, unsere unentbehrliche Sprachexpertin, als Barbarenmädchen in irgendeinem verlausten Keller nächtigen mußte. Amose sprach ein hartes, kehliges Latein, das ich nur mit Mühe verstand. Aber wahrscheinlich hatte er mit meiner Aussprache ähnliche Schwierigkeiten. »Wie lange wird die Reise nach Ägypten dauern?« wollte ich wissen. Wir gingen langsam zum triclinium hinüber. Es gab mehrere Speiseräume in diesem Haus, darunter Abfütterungssäle für Sklaven und Freigelassene. Die vornehmen Gäste, hauptsächlich Stadtrömer und Lokalprominenz, speiste in den klassischen Räumen. 33
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»Das hängt vom Wetter ab«, versuchte Amose zu erklären. »Zwei Wochen, drei Wochen, man kann das vorher nie genau wissen.« Das hörte sich reichlich vage an, aber ich wußte, daß der Seeverkehr in der Antike bereits Ausmaße gehabt hatte, die weit über das hinausgingen, was man ein Jahrtausend später zuwege gebracht hatte. Wie es sich gehörte, standen in dem Speiseraum drei Ruhebetten, lectus genannt, und ein niedriger Tisch namens mensa. Die meisten Plätze waren bereits belegt. Jeder lectus und jeder Platz hatte einen Namen – einen Rang. Von rechts nach links gesehen, hießen die Ruhebetten summus, medius, imus, die drei Plätze entsprechend locus summus, locus medius, locus imus. Bis in meine Zeit stritten sich die Gelehrten, welcher dieser neun Plätze der Ehrenplatz gewesen sei. Aus der Tatsache, daß das Mahl noch nicht begonnen worden war und die bereits anwesenden Gäste nach einem raschen Blick auf meinen Schmuck die Plätze tauschten, ließ sich folgern, daß in diesem Fall ich der Ehrengast war. Der Platz, den man mir offerierte, war der imus in medio. Die Gäste aßen in schräg liegender Stellung, den Ellenbogen des linken Armes auf ein Kissen gestützt, die Füße nach rechts ausgestreckt. Die linke Hand hatte den Teller zu halten, gegessen wurde mit den Fingern der rechten Hand. Es erforderte Übung, so zu essen, ohne sich dabei Gesicht und Hände vollzuschmieren. Sobald ich mich niedergelassen hatte, wurde die Unterhaltung wieder aufgenommen. Ich hörte dabei hauptsächlich zu. Diskutiert wurden politische Intrigen in der Stadt Rom, von denen ich nicht viel verstand. Zudem hatte ich ge34
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nug damit zu tun, die Mahlzeit mit einigem Anstand hinter mich zu bringen. Ausnahmsweise schmeckte es mir. Vielleicht war dem Koch das garum ausgegangen, das – vornehmlich in Pompeji – bereits industriell in riesigen Mengen erzeugt und exportiert wurde. Zudem sprachen die Gäste dem Wein nur mäßig zu. Mich wunderte das nicht, er war sauer und obendrein geharzt. Wie üblich wurde der Wein mit Wasser verdünnt – pur wurde er nur zu Trinkopfern verwendet oder von Skythen getrunken. Corve Munther erschien im Eingang des tricliniums, und sofort erstarb das Gespräch. Ich hätte mich am liebsten geohrfeigt. Mit seinen hellblonden, fast weißen Haaren und den hellblauen Augen mußte Corve in diesem Land dunkelhaariger Menschen wie ein Wundertier wirken. Außerdem sah Corve, obwohl fast dreißig Jahre alt, aus wie ein Jüngling – und ich hatte völlig vergessen, daß die Römer – den Griechen darin ähnlich – in ihrem Liebesleben durchaus nicht auf Frauen fixiert waren. Folgerichtig schwankte der Gesichtsausdruck meiner Speisegenossen auch zwischen blankem Neid und unverhohlener Gier. Ich winkte Corve heran. »Gibt es etwas Besonderes?« fragte ich leise. Er schüttelte den Kopf. »Bei uns ist alles ruhig«, meldete er mit gedämpfter Stimme. »Wir haben zwei Räume für uns freigemacht. Ich habe mit ein paar Sklaven gesprochen. Dieser Ägypter, Amose, hat einen vorzüglichen Ruf. Er läuft Ravenna drei bis vier Mal im Jahr an. Wir sind dafür, es mit ihm zu versuchen.« Ich nickte. »Einverstanden«, sagte ich. Corve lächelte dienstbeflissen und zog sich zurück. Er ahnte nicht, was für Ver35
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heerungen er im Gemüt meiner Tafelgenossen mit diesem Lächeln anrichtete. »Einen hübschen Sklaven, den Sie da haben«, begann ein älterer Mann das Gespräch. »Woher stammt er?« »Aus Germanien«, log ich und war froh, daß Corve nicht im Raum war. Er war gebürtiger Texaner, und er und seine Leute hatten sich immer noch nicht damit abgefunden, daß die Polachse der Erde nicht aus texanischem Boden ragte, wie es sich eigentlich gehört hätte. »Eine Kriegsbeute.« »Verkäuflich?« Ich lächelte zurückhaltend. »Würden Sie verkaufen?« Zu dieser Antwort konnte ich mich beglückwünschen, denn dieses Argument leuchtete der Runde ein. Für den Rest des Abends wurde nicht mehr über Corve Munther gesprochen. Um so mehr war die Rede von Gnaeus Pompeius, den man bereits Magnus, den Großen, zu nennen begann. Von einem anderen Römer namens Cäsar hingegen war nicht die Rede – noch nicht. Die See war unruhig, die Wellen zeigten weiße Schaumstreifen, und mir war so übel, daß ich Lust verspürte, mich in mein Schwert zu stürzen. Zu der Übelkeit, die vom Seegang verursacht wurde, kam noch ein zweites Übel hinzu – der unmenschliche Gestank, der aus der Tiefe des Schiffes aufstieg und von den Rudersklaven stammte. Die Sklaven dauerten mich, aber das änderte nichts an der Tatsache, daß sie grauenvoll stanken. Einmal an ihren Ruderbänken angekettet, bekamen sie nie wieder das Tageslicht zu sehen. Dies war eines von vielen Dingen, die wir stillschweigend hinzuzunehmen hatten bei unseren Einsätzen. 36
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Gegen die Barbarei des jeweiligen Zeitalters waren wir machtlos. »Diese Seefahrt verleiht Euch eine ergreifende Blässe«, sagte Amose spöttisch. Er hatte herausgefunden, daß ich mir Spötteleien von meinen Sklaven gefallen ließ und tat nun sein bestes, sie an Bosheit zu übertreffen. »Man wird Euch für eine Statue halten, wenn wir Alexandria erreichen.« »Wenn …!« stöhnte ich. Wir waren irgendwo auf dem Mittelmeer – mare nostro, wie es die Römer knapp und zutreffend nannten, unser Meer – und nur die Götter und Joshua Slocum wußten, wo genau wir uns befanden. Slocum war erfahrener Jachtsegler, der sich auf allen Weltmeeren auskannte. Zu meinem Erstaunen war Amoses Schiff keineswegs ein brüchiger Seelenverkäufer gewesen. Er hatte uns vielmehr mit einem Weizentransporter aus Alexandria überrascht, der bei einer Länge von 180 Fuß und 45 Fuß Breite einen Tiefgang von schätzungsweise 43 Fuß auf zuweisen hatte – was auf eine Gesamttonnage von 2 670 Registertonnen hinauslief. Eineinhalb Jahrtausende in der Zukunft würde eine kleine Flotte von drei Schiffen zu einer Fahrt aufbrechen, die Jahrhunderte später noch berühmt war – und keines der drei Schiffe, Nina, Pinta und Santa Maria, des Kolumbus konnte sich auch nur annähernd mit unserem Weizentransporter messen. Unser Schiff war lateinergetakelt und wurde zusätzlich von Ruderern angetrieben. So machten wir flotte Fahrt, die Tag um Tag, Stunde um Stunde fortgesetzt wurde. Von unserem Kurs wußte ich nur, daß wir in Ravenna aufgebrochen waren und zunächst die Adria über37
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quert hatten. Danach hatten wir uns stets im Sichtbereich der griechischen Küste gehalten. Zur Zeit mußten wir, so reimte ich mir die Lage zusammen, irgendwo in der Inselwelt der Ägäis stecken. Joshua Slocum kam langsam näher. Ihm machte diese Reise Spaß, das war deutlich zu sehen. »Ich habe noch nie erlebt«, sagte er und lächelte verhalten, »daß jemand so ausdauernd von der Seekrankheit gepeinigt wird.« Ich starrte ihn mit glasigen Augen an. Hinter ihm tanzten die Wellen auf und ab. Es sah scheußlich aus. »Kann ich irgendwie helfen?« fragte er. Wir sprachen einen gallischen Dialekt; das behaupteten wir jedenfalls. In Wirklichkeit handelte es sich um modernes Englisch. Allerdings beschränkten wir unsere Verwendung dieser Sprache auf das unvermeidliche Minimum. Ansonsten sprachen wir Latein, das uns immer glatter über die Lippen kam, und ägyptisch. In dieser Sprache unterrichteten uns Marleen und Amose. »Wenn nur dieser elende Sturm nachlassen würde«, jammerte ich. Slocum kicherte unterdrückt. »Von Sturm kann überhaupt keine Rede sein«, behauptete er amüsiert. »Wir haben prachtvolles Segelwetter.« Ich brachte ein gequältes Grinsen zuwege und deutete auf die Kimm, wo in diesem Augenblick etwas aufgetaucht war, das sich bewegte. »Was ist das?« fragte ich würgend. Amose schnippte mit den Fingern. Sofort kletterte einer der Schiffsjungen an dem Mast in die Höhe. Der Knabe war nicht älter als neun oder zehn, und er besaß die Gewandtheit eines jungen Affen. Nach wenigen Se38
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kunden hatte er den Mastkorb erreicht und hielt nach dem Etwas Ausschau. »Ein Schiff«, rief er zu uns herab. »Es hält auf uns zu.« Ich sah, wie unser Kapitän das Gesicht verzog. »Sind es Seeräuber?« rief er in die Höhe. »Das wäre möglich!« gab der Junge zurück. Amose stieß einen Fluch aus, den ich nicht verstand. »Was gibt es?« fragte ich ihn. »Können uns die Seeräuber gefährlich werden?« Amose lächelte verzerrt. »Das wird davon abhängen, was wir unternehmen und wie sie gelaunt sind. Vielleicht geben sie sich mit einem Lösegeld zufrieden.« »Wer sollte für uns Lösegeld zahlen?« fragte ich und deutete auf meine Begleiter. »Die Küstenstädte«, sagte er dumpf. »Die meisten Seeräuber kommen aus den großen Städten an der Küste, und es gibt ein Gesetz, daß die Städte das Lösegeld für die Geiseln aufzubringen haben. Auf diese Weise sollen sie sich ins eigene Fleisch schneiden.« »Und wenn die Städte das nicht tun?« fragte Joshua Slocum. »Dann«, sagte Amose kaltblütig, »werden wir bald auf dem Sklavenmarkt landen.« »Nie wieder Seefahrt«, gelobte ich wütend. »Nie wieder!« Am Horizont kam das Schiff näher, dessen Besatzung dafür sorgen konnte, daß mein Wunsch in Erfüllung ging. Und ausgerechnet in diesem Augenblick verschwand die Übelkeit in meinen Eingeweiden, als hätte es sie nie gegeben. 39
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Widerstand wäre zwecklos gewesen. Die Seeräuber waren in der Überzahl – sie konnten auch ihre Rudermannschaften gegen uns ins Feld führen. Hätte Amose es gewagt, seine Ruderer loszuketten und zu bewaffnen, hätten wir die Seeräuber gar nicht mehr gebraucht. Es waren Bilderbuchgestalten, die sich über die Bordwand schwangen, Messer zwischen den Zähnen, Schwerter und Keulen in den Händen. Wir standen am Mast, ebenfalls bewaffnet. Im Innenraum des Kreises standen die Frauen. Die Piraten zögerten einen Augenblick. »Wir ergeben uns«, sagte ich hastig. »Nennt eure Forderungen.« Eine Gestalt drängte sich durch die Reihen der Piraten, ein herkulisch gebauter Mann, dem das linke Auge fehlte. Die Haut war sonnenverbrannt und wies ein dichtes Netz weißer Linien auf – die Narben von Peitschenschlägen. »Wenn ihr uns zwingt, zu kämpfen«, drohte ich, »wird es Tote geben. Für Tote bekommt man kein Lösegeld.« Der Piratenhäuptling spuckte auf die Planken unseres Schiffes. »Werft die Waffen fort!« befahl er uns. »Falls du um die Weiber bangst, Fremder, wir haben genug Frauen.« Ganz wohl war mir nicht, aber uns blieb nichts anderes übrig. Wir mußten die Waffen abgeben, das letzte, was uns von der Ausrüstung geblieben war, mit der 40
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wir aufgebrochen waren. Nach dieser Kapitulation war nur noch der Inhalt unserer Gedanken nicht zeitgemäß, unsere Ausstattung war es nunmehr. Das hieß für uns, daß wir doppelt vorsichtig, doppelt wachsam sein mußten. Die Piraten trieben uns im Heck des Schiffes zusammen. Ich atmete erleichtert auf, als ich feststellte, daß sich die Seeräuber an ihr Wort hielten. Die Frauen blieben unbelästigt. »Mein schönes Schiff !« klagte Amose. Er hatte sich neben mir auf den Boden gehockt und sah wütend und betrübt zugleich zu, wie die Piraten das Kommando übernahmen. Ich zuckte mit den Schultern. Helfen konnten wir Amose einstweilen nicht. Alles kam darauf an, einen günstigen Zeitpunkt zu finden, an dem wir unsere Fähigkeiten und Kenntnisse voll ausspielen konnten. Vielleicht gab es in dem Versteck der Piraten noch mehr Gefangene, mit denen wir uns verbünden konnten. »Was hast du vor?« raunte Inky. »Abwarten«, gab ich in gleicher Lautstärke zurück. »Wir müssen warten, bis die Piraten betrunken sind, dann schlagen wir los. Vor allem muß für die Rudersklaven feststehen, daß sie von den Piraten nichts zu erwarten haben.« Inky nickte stumm. Noch hatten die Piraten darauf verzichtet, die Rudersklaven loszuketten, und ich nahm an, daß sie diese Maßnahme auch gar nicht erst planten. Wahrscheinlich würde Amoses Herr, der ägyptische Reeder, ein fettes Lösegeld zahlen müssen, damit Schiff, Ladung und Bemannung freigegeben würden. Ohne die 41
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Rudersklaven war das Schiff praktisch wertlos – sie gehörten, so grausam sich das auch anhören mochte, zum Inventar. Wirklich fraglich war nur, was aus uns werden sollte. Es gab niemanden, der für uns ein Lösegeld gezahlt hätte. Niemand kannte uns, wir hatten keinen prominenten Beschützer. Was uns drohte, wenn nach einigen Wochen Wartezeit kein Geld eingetroffen war, konnte ich mir ausrechnen – Sklaverei. »Es sieht übel aus«, murmelte Inky. »Sehr übel.« »Wo sind wir eigentlich?« wollte ich wissen. An meiner Seite war Slocum aufgetaucht. »In der Ägäis«, antwortete er leise. »Wenn meine Berechnungen stimmen, sind wir nicht weit von der Standardroute Rom-Rhodos entfernt. Vielleicht sichtet uns ein römisches Kriegsschiff.« Amose hatte mitgehört und schüttelte den Kopf. »Nicht um diese Jahreszeit«, sagte er düster. »Die Römer haben außerdem den größten Teil ihrer Flotten im westlichen Mittelmeer stehen.« Nach diesen Worten wurde es sehr still auf dem Heck des alexandrinischen Weizenschiffes. Am Horizont zog die Nacht herauf. Der Mond leuchtete den Weg aus. Das Meer, nun ruhiger geworden, glänzte im Licht des Vollmonds. Die Piraten fuhren ihren Kurs mit voller Geschwindigkeit, und sie nahmen dabei noch weniger Rücksicht auf die Rudersklaven, als es Amose getan hatte. »Land voraus!« sagte Joshua Slocum halblaut. Er war, wie auch Inky und ich, wach geblieben, um die Seeräuber beobachten zu können. »Irgendeine der kleineren Inseln, welche, kann ich nicht sagen.« 42
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»In diesem Inselgewirr kann eine Flotte lange suchen«, murmelte Inky verdrossen. Es hatte sich keine Chance ergeben, die Piraten zu überfallen. Der Mond schien zu hell, als daß die Verbindung zwischen unserem Schiff und der Seeräubergaleere abgerissen wäre. Und solange wir mehr als zweihundert bewaffnete Ruderknechte in Hörweite wußten, waren uns die Hände gebunden. Langsam stieg die Insel am Horizont auf, ein kleines Eiland, spärlich bewachsen und vermutlich nur Einheimischen bekannt. Sich im Gewirr der ägäischen Inseln zurechtzufinden, war ein Kunststück besonderer Art – die Seefahrer kannten weder genaue Karten noch einen Kompaß oder Sextanten. Trotzdem war das Mittelmeer das meistbefahrene Meer seiner Zeit, und die ägyptischen Seefahrer hatten sogar eine regelmäßige Verbindung zwischen Ägypten und Indien hergestellt. »An Land sind unsere Chancen besser«, sagte ich leise, aber ohne Zuversicht. Immerhin war damit zu rechnen, daß dort vielleicht Kerker und Ketten auf uns warteten. »Irgendwie werden wir durchkommen«, meinte Inky zuversichtlich. »Unsere wichtigsten Waffen haben wir schließlich noch – unsern Verstand.« Der Anführer der Piraten kam heran. »Weckt eure Freunde«, herrschte er uns an. »Sobald wir Land erreicht haben, werdet ihr das Schiff verlassen!« Bevor wir protestieren konnten, hatte er sich wieder umgedreht und war zum Bug zurückgekehrt. Während ich unsere Gefährten aus dem Tiefschlaf weckte und mir ihre erbosten Kommentare anhören 43
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mußte, umfuhr unser Schiff eine Felsspitze und lief dann langsam in einen dunklen Felsenhafen ein. »Hier kann man ganze Flotten verstecken«, murmelte Joshua Slocum anerkennend. Finden wird man uns hier niemals.« »Es freut mich«, giftete ich ihn an, »wie du zur Hebung unserer Moral beiträgst! Hast du noch andere ermutigende Ein- und Ansichten?« Slocum grinste nur. Ihn schien die ganze Angelegenheit lediglich vom rein seemännischen Standpunkt aus zu interessieren, und auf dieser Basis fand er die Piraten vermutlich fabelhaft. Ein Knirschen war zu hören, und das Schiff verzögerte deutlich spürbar, als der Kiel den Kiesboden des Strandes berührte. Die Ruder wurden eingezogen, der rhythmische Schlag der großen Pauke im Innenraum verstummte. Es war nicht mehr nötig, den Ruderern den Takt anzugeben. Wir waren am Ziel. Vom Strand her kam ein Boot gefahren, und mit diesem Boot wurden wir nacheinander an Land gebracht. Dann standen wir am Strand der Insel, umringt von schwerbewaffneten Seeräubern mit knisternden Fackeln in den Händen. »Los, vorwärts!« befahl der Einäugige. Er trug keine Fackel, sondern hatte die Hand am Schwertgriff – am Griff meines Schwertes. Die Seeräuber hatten mittlerweile herausgefunden, daß unser Waffenstahl entschieden besser war als der ihre. Irgendwie erschien es mir absurd, mir vorzustellen, daß ich vielleicht mit meiner eigenen Waffe getötet werden könnte. Wir wurden einen schmalen Pfad entlanggetrieben, der ziemlich steil in die Höhe führte. Wo dieser Pfad 44
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endete, war lange Zeit nicht zu erkennen. Erst als wir den Höhenzug erreicht hatten, sahen wir hinab in das Tal und entdeckten die Wachfeuer der Piraten. Mit Stößen und Puffen wurden wir hinuntergetrieben. Die Piraten hatten es sich in den Höhlen bequem gemacht. Vor jeder Höhle brannte ein Feuer. Der Höhenzug verhinderte, daß dieser Feuerschein auf See gesehen werden konnte. Dumm waren die Piraten nicht – das konnten sie sich auch gar nicht leisten. Auf die Männer wartete, für den Fall, daß sie von den Römern gefaßt wurden, das Kreuz. »Los, dort hinein!« befahl der Kapitän. Er griff nach Marleens Schulter und wollte die junge Frau auf eine ganz bestimmte Öffnung zustoßen. Marleen war erst seit kurzer Zeit bei der Time-Squad; noch war ihr die eiserne Disziplin nicht so in Fleisch und Blut übergegangen. Ehe der Bandit sichs versah, hatte sie ausgeholt und dem Kapitän eine Ohrfeige verabreicht, deren Lautstärke die Piraten schlagartig verstummen ließ. Dann brach ein tobendes Gelächter über den Geohrfeigten herein. Im unruhigen Licht des Wachfeuers sah ich, wie sich die Züge des Seeräubers zu einer Grimasse des Hasses veränderten. Seine Hand fuhr zum Gürtel hinab … »Was hat das zu bedeuten?« fragte eine junge Stimme voller Empörung in das plötzlich ausgebrochene Schweigen hinein. »Ihr Tölpel, glaubt ihr, ich zahle euch fünfzig Talente, damit ihr mich mit eurem grauenvollen Lärm stören könnt? Ich werde euch ans Kreuz schlagen lassen, alle miteinander.« Wieder brachen die Piraten in Gelächter aus. Ich erstarrte. 45
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Der Mann, der plötzlich im Feuerschein auftauchte, war noch jung, etwa fünfundzwanzig Jahre alt. Er trug die Toga mit der Lässigkeit und Eleganz, die typisch für ihn war. Das Haar war sorgfältig frisiert, und über das Feuer hinweg nahm ich den Geruch teurer Salben und Essenzen wahr. »Es ist ungeheuerlich«, beschwerte sich der junge Mann, sobald wieder Ruhe herrschte. »Ich bin mit einem Drama beschäftigt, also stört mich nicht. Es wird euch reuen, meinen Schlaf gestört zu haben. Ich werde euch allesamt kreuzigen lassen, so wahr ich Gaius Julius Cäsar heiße.« Ich fühlte, wie Inkys Hand sich in meine Schulter krallte. »Cäsar!« flüsterte er. Auf den ersten Blick sah er nicht so aus, wie man sich Cäsar vorstellte, wie ich ihn mir vorstellte. Merkwürdigerweise sah er auch den Büsten nur wenig ähnlich, die es von ihm gab. Er war noch zu sehr Großstadtmensch, an Wohlleben gewöhnt, an Mode mehr denn an Militär interessiert, jung, gutaussehend, überaus gebildet – die Seeräuber hatten ihn auf seiner Reise nach Rhodos erwischt, wo er bei dem berühmten Redner Appolonios Molon Rhetorik Studieren wollte. »Gebt jetzt endlich Ruhe«, befahl Cäsar. »Ich bin um euretwillen hier, nicht umgekehrt.« Mit diesen Worten zog er sich zurück. Ich kannte diese Episode aus seinem Leben. Es war eine der ersten Anekdoten, die sich um diesen Mann rankten. Ihre Zahl würde sich in den nächsten Jahren 46
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beträchtlich vergrößern, bis sein Name und sein Ruhm unsterblich waren. »Verrückter Kerl«, hörte ich den Piratenchef sagen, darin schlug er sich auf die Schenkel und begann selbst zu lachen, bis ihm dicke Tränen über das Gesicht liefen. Er hatte überhaupt nicht begriffen, daß sein angeblicher Gefangener mit ihm spielte. »Fünfzig Talente«, kicherte er. »Fünfzig Talente für diesen Narren!« Ursprünglich hatten die Piraten nur zwanzig Talente Lösegeld für den jungen Cäsar fordern wollen. Cäsar selbst hatte sich gegen diese Geringschätzung verwahrt und seinen Wert auf mindestens fünfzig Talente festgelegt – in dieser Zeit ein Kopfgeld in astronomischer Höhe, das nur noch von der Höhe des Schuldenbergs übertroffen wurde, den Cäsar bereits hatte. Aus dem Innern der Höhle erklangen Satzfetzen. Cäsar dichtete, und wenn ich den griechischen Text dieser Satzfetzen richtig verstand, verfaßte er gerade ein Spottgedicht auf seine Wächter. »Ja, wenn das so ist«, sagte Inky und grinste breit. »Dann brauchen wir uns wohl keine Sorgen mehr zu machen. Was fürchten wir, wir haben Cäsar bei uns und sein Glück.« Amose, der natürlich wenig mit dem Namen Cäsar anzufangen wußte, sah uns nicht minder verblüfft an, als die Piraten Cäsar betrachteten. Sie hielten ihren genialen Gefangenen für überspannt, und das war er zweifelsohne auch. Sie sahen allerdings nicht den Kern dieser Persönlichkeit. Dieser verweichlicht wirkende Mann war der gleiche Cäsar, der in wenigen Jahren Eilboten von Rom nach Gallien schicken würde, dann selbst auf47
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brach, im Reiten diktierte, Tag und Nacht ritt und dabei seine eigenen Eilkuriere überholte. Angst brauchten wir jetzt nicht mehr zu haben, schließlich wußten wir, wie die Geschichte ausgehen würde. Wir ließen uns von den Piraten in getrennten Höhlen abführen. Dort bekamen wir zu essen – Wildgeflügel, und ganz ohne garum – und zu trinken, ägyptischen Wein, schwer, feurig und berauschend. Amose sah in diesem Mahl offenbar die letzte Annehmlichkeit seines Lebens und betrank sich, während wir uns zurückhielten. Die Stunden bis zur Morgendämmerung verbrachte ich in einem flachen Schlaf. Zu meinem Erstaunen rührte sich im Lager nichts, auch die Wachen schliefen. Die Posten auf dem Hügel und in dem gut versteckten Hafen allerdings schliefen nicht. Ein Fluchtversuch war, das zeigte eine rasche Musterung des Geländes, von vornherein aussichtslos. Es war fast Mittag, als sich Cäsar erhob, und erst nachdem er seine Nachtruhe in aller Form für beendet erklärt hatte, wagten die Piraten zu lärmen. Zum Frühstück las Cäsar seinen Wächtern ein Dramenfragment vor, das er in der Nacht verfaßt hatte. Die Seeräuber lachten, und Cäsar schalt sie Narren und Hohlköpfe, die er allesamt würde ans Kreuz schlagen lassen. Der beständige Hinweis auf das, was er mit ihnen machen würde, amüsierte die Seeräuber mehr als alles andere. Der Anführer wollte sich ausschütten vor Lachen, und um dem allgemeinen Gelächter zur Spitze zu verhelfen, bat er Cäsar flehentlich um Gnade. »Nun gut«, sagte dieser schließlich unter dem Gekicher der Piraten. »Obwohl ihr ein Gesindel von Ba48
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nausen seid, werde ich Gnade walten lassen, wenn ihr in meine Hände gegeben sein Werdet. Zwar muß ich viel unter eurem schändlichen Barbarentum leiden, und eure Dienstbarkeiten reichen bei weitem nicht an das heran, was ich gewöhnt bin, aber ich verspreche euch, kein Blut fließen zu lassen. Ich werde euch aufknüpfen lassen.« Er veralberte seine Wächter derartig, daß ich es fast mit der Angst zu tun bekam. So dumm konnte doch kein Pirat sein, daß er diesen furchtbaren Spott nicht begriff, dachte ich. Er behandelte sie wie sein Dienstpersonal, das inzwischen in den Küstenstädten das selbstbestimmte Lösegeld aufzutreiben hatte. Erst nach einer Weile wurde mir klar, daß die Piraten ja nicht wissen konnten, es mit Cäsar zu tun zu haben. Noch war dieser Jüngling ein politischer Niemand, nur in Spezialistenkreisen bekannt und dort nicht übermäßig geschätzt. Die Piraten hielten gleichermaßen nicht viel von ihm, und das sollte sie ebenso teuer zu stehen kommen wie einige seiner Zeitgenossen in Rom, allen voran ein Mann, der zu dieser Zeit den Höhepunkt seiner Karriere erreichte, Pompeius Magnus. Während Cäsar rezitierte und die Piraten sich amüsierten, frühstückte ich in aller Ruhe. »Seit wann haltet ihr diesen närrischen Vogel im Käfig?« fragte ich einen der Piraten, der neben mir saß und sich vor Lachen kaum halten konnte. »Beinahe vierzig Tage«, erhielt ich zur Antwort. »Heute werden wir ihn freilassen, vorausgesetzt, seine Gefährten haben es tatsächlich geschafft, die fünfzig Talente zu besorgen.« 49
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Ich sah zu Inky hinüber. Er kannte die Geschichte vom Zusammentreffen Cäsars mit den Seeräubern. Er grinste zufrieden. Tatsächlich vergingen nur zwei Stunden, in denen Cäsar pausenlos deklamierte, bis lautes Jubelgeschrei vom Hafen her bis zu uns drang. Wenig später tauchten auf dem Hügel erste Gestalten auf. Ihr Schwanken verriet, daß die Mission erfolgreich gewesen war. Singend und Lachend stiegen die Piraten ins Tal hinab. Schon von weitem bewarfen sie ihre Kameraden mit Goldmünzen. Zufällig sah ich zu Cäsar hinüber. Auf dem blassen Gesicht erschien ein Lächeln. Mich hätte dieses Lächeln im höchsten Maße alarmiert, selbst wenn ich nicht gewußt hätte, um wen es sich handelte. Es drückte Geringschätzigkeit aus und überlegene Zuversicht. »Du bist frei, Cäsar«, verkündete der Einäugige feierlich. »Nichts wird dich hindern, deine Stücke aufführen zu lassen. Eines unserer Boote wird dich zum Festland bringen.« Cäsar verneigte sich freundlich und ging in sein Gefängnis zurück, um die Schriftrollen mit seinen Dramen zu holen. »Damit den kostbaren Texten nichts zustößt, wenn ich euch verlasse«, sagte er spöttisch. »Ihr könntet sie verbrennen, bis ich wieder zurück bin.« Diese Ankündigung löste eine neue Welle des Gelächters aus. Inky hatte sich neben mich geschoben. »Ein Wort«, murmelte er nachdenklich. »Eine kurze Bemerkung an den Piratenhäuptling …« Ich nickte langsam. Es war ein ungeheuerliches Gefühl, das mich bewegte. Ein Stück Weltgeschichte war in unsere Hand 50
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gegeben, ein gewaltiges Stück. Starb Cäsar jetzt, mußte die Geschichte einen Lauf nehmen, der sich beim besten Willen nicht abschätzen ließ. Es lag an uns, diese Veränderung herbeizuführen. Wir brauchten nur dem Piratenchef einen Tip zu geben oder einen Ratschlag an Cäsar, der ihm half, den Idus des März 44 zu überleben. In diesem Augenblick war nicht Cäsar der Gestalter der Weltgeschichte – wir waren es, die Mitarbeiter des Time-Squad. Meine Phantasie reichte nicht aus, mir vorzustellen, was sich alles ändern ließ, wenn wir nur wollten. Die Chance zu solchen Veränderungen verstrich ungenutzt. Ich sah Cäsar nach, als er den Hügel hinaufstieg, ängstlich bemüht, die Fransen seiner Toga vor Verschmutzung zu bewahren. Trotz einer fast vierzigtägigen Gefangenschaft wirkte er wie aus dem Ei gepellt. Er hatte es auch nicht versäumt, seine Barthaare auszuzupfen, wie er es in Rom gelernt hatte. Einen blasierteren jungen Snob hätte man zu dieser Zeit schwerlich auftreiben können. Dann verschwand die hagere Gestalt hinter dem Hügelkamm. Inky grinste. »Jetzt können wir nur hoffen, daß die Geschichtsbücher stimmen«, sagte er leise. Völlig aus der Luft gegriffen war die Bemerkung nicht. Immerhin bestand die Hauptaufgabe der Time-Squad darin, gegen einen Gegner anzukämpfen, der aus einstweilen noch unerfindlichen Gründen die Geschichte der Menschheit zu manipulieren versuchte.
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»Dreißig Talente«, forderte der Piratenhäuptling und nahm einen Schluck aus dem Silberpokal. »Und für deine Freunde noch einmal soviel. Schreibe einen Brief an die Städte!« Zwei Tage waren vergangen, seit Cäsar verschwunden war. Und seit diesem Zeitpunkt waren die Seeräuber hauptsächlich damit beschäftigt gewesen, zu feiern. Es war unglaublich, welche Mengen Wein sie in sich hineingeschüttet hatten. Bis zu diesem Augenblick hatten sie sich damit begnügt, sich vollzuschlagen und zu betrinken. Jetzt war offenbar ein Stadium erreicht, wo ihnen der Sinn nach gröberen Spaßen stand. »Vierzig«, versuchte ich zu feilschen. »Für uns alle. Denkt daran, daß die Küstenstädte gerade erst fünfzig Talente für diesen Irren ausgegeben haben.« Betroffen sah der Piratenhäuptling mich an. »Er hat recht«, grölte eine Stimme aus dem Hintergrund. Es war dunkel, und der Mann stand nicht im Feuerschein. »Vielleicht haben die Städte überhaupt kein Geld mehr.« »Hmmm!« machte der Pirat. Sein Blick ging an mir vorbei und blieb an Marleen de Vries hängen. »Sollte sich unser Fischzug tatsächlich nicht gelohnt haben? Du da, komm her!« Ich sah, wie Marleen die Lippen aufeinanderpreßte. Sie rührte sich nicht und gab auch keine Antwort. »Muß ich mir das Kätzchen selbst einfangen?« sagte der Einäugige grinsend. Im Schein des Feuers wirkte 52
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sein Gesicht doppelt häßlich. Langsam stand er auf, unsicher vom Wein. Er umrundete das Feuer und bewegte sich geradewegs auf Marleen zu. Als er unmittelbar vor ihr stand, streckte er den linken Arm aus – und lag eine Sekunde später der Länge nach auf dem Boden. Marleen hatte ihn mit einem gekonnten Schulterwurf von den Beinen gebracht. Nach der Aktion stand sie wie zuvor und rührte sich nicht. Auf die Attacke des Piraten war so prompt, schnell und geschickt die Abwehr gefolgt, daß die Piraten teilweise gar nicht begriffen, was vor sich gegangen war. Mit unsicheren Bewegungen kam der Einäugige wieder auf die Beine. Er machte zwei Schritte auf Marleen zu und landete erneut krachend auf dem Felsboden, diesmal nur einen Schritt von dem Feuer entfernt. »Bei Zeus!« staunte der Seeräuber. »Dieses Weib …« Eine gedankenschnelle Bewegung zum Gürtel, und der Pirat hielt ein unterarmlanges Messer in der Hand. Meine Besorgnis stieg. Marleen hatte zwar am normalen Training für Mitarbeiter der Time-Squad teilgenommen, aber ob sie in der Lage war, einen Angriff mit dem Messer abzuwehren, stand auf einem ganz anderen Blatt. Die Piraten wichen zurück und bildeten einen Kreis um das Feuer, der uns Geiseln und den Einäugigen einschloß. Schwielige Hände zogen uns an den Rand des Kreises. Ich leistete keinen Widerstand – vorläufig. Marleen zeigte sich völlig unbeeindruckt. Sie richtete ihre Augen auf den Mann mit dem Messer und entließ ihn nicht aus ihrem Blick. Der Einäugige grinste sie an und ließ das Messer von einer Hand in die andere wandern. 53
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Er machte gerade einen Schritt nach vorn, auf Marleen zu, als ich von der Höhe hinter mir eine kühle Stimme sagen hörte: »Packt sie!« Einen Sekundenbruchteil später hatte ich mich umgedreht. Die Piraten waren völlig überrascht, und uns erging es nicht viel anders. Wir hatten aber gelernt, uns auf Überraschungen schnell einzustellen. Während ich dem Piraten, der mir am nächsten stand, einen Faustschlag in den Solarplexus versetzte, sah ich, wie Marleen mit zwei raschen Schritten zu dem Einäugigen eilte, der sich von ihr abgewandt hatte, und ihn mit einem Handkantenschlag ins Genick zu Boden schickte. Als endlich Bewegung in die Schar der Piraten kam, war es für die Seeräuber schon zu spät. Dreißig und mehr Piraten waren nach nur sekundenlangem Kampf von den Mitarbeitern der Time-Squad ausgeschaltet worden, den Rest erledigten die Männer, die als schreiende und waffenklirrende Teufel die Hügel hinabeilten und alles ausschalteten, was sich ihnen in den Weg stellte. Cäsar kämpfte in der vordersten Reihe. Ich sah ihn lachen, als er sein Schwert schwang und einen hünenhaften Seeräuber vor sich her trieb. Ich nahm dem Piraten, den ich zur Strecke gebracht hatte, das Schwert weg – es war eine der Waffen aus der Time-Squad-Werkstatt – und griff in den Kampf ein. Dies war vielleicht die letzte Möglichkeit, den Kampf mit dem römischen Kurzschwert unter erträglichen Bedingungen zu üben. Die Auseinandersetzung dauerte nur wenige Minuten, dann waren die Piraten überwältigt. Während seine 54
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Männer die entwaffneten Seeräuber fesselten, beugte sich ein zufrieden grinsender Cäsar über den besinnungslosen Anführer der Bande, dann fiel sein Blick auf Marleen. Was dem Piraten nicht gelungen war, schaffte Cäsar in einer Sekunde – Marleen lief rot an und schaute zur Seite. Ich unterdrückte mit Mühe ein Grinsen. Es war diese Eigenschaft des Cäsar, die dazu führen sollte, daß seine Soldaten über ihn sangen: »Heim bringen wir den kahlen Hurenjäger / Römer, schließt eure Frauen ein! / Alles Gold, das ihr ihm borgtet / strichen Gallierdirnen ein.« Die berühmteste seiner zahllosen Geliebten war zu diesem Zeitpunkt allerdings noch gar nicht geboren. Cäsar bedachte Marleen noch mit einem Lächeln, dann wandte er sich mir zu. »Euch gebührt ein Teil der Beute«, sagte er knapp. Ich machte eine abwehrende Geste. »Wir werden morgen kurz nach Tagesanbruch verschwinden«, eröffnete ich ihm. »Da es uns nicht zum Ruhme gereicht, werden wir dieses Erlebnis verschweigen – und auch, was aus den fünfzig Talenten geworden ist.« Diese Bemerkung verstand Cäsar sofort. Er lachte halblaut. »Sehr gut«, sagte er amüsiert. »Ich fürchtete schon, teilen zu müssen.« Die Küstenstädte würden das Riesenvermögen, das sie für diesen jungen Mann aufgebracht hatten, niemals wiedersehen, und für Cäsar war es nicht mehr als ein Tropfen auf einen heißen Stein – vor mir stand der wahrscheinlich größte Schuldenmacher aller Zeiten. »Verrat!« heulte plötzlich ein Mann. Cäsar drehte sich um. Der Einäugige war erwacht. Cäsar bedachte ihn mit einem überlegenen Grinsen. 55
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»Sagte ich nicht, wir würden uns wiedersehen?« meinte er. »Wie zu sehen ist, habe ich Wort gehalten.« Cäsar hatte binnen weniger Stunden und aus eigener Machtvollkommenheit eine Truppe an der Küste aufgetrieben und war damit unverzüglich den Piraten gefolgt. Es war nicht zuletzt diese Fähigkeit, sich blitzartig zu entscheiden und diese Entschlüsse rasch durchzuführen, die ihn groß und bedeutend machen würden. »Wir haben sogar das Holz mitgebracht«, verkündete Cäsar. Seine Stimme bekam einen eisigen Tonfall. Gewiß, er hatte mit den Piraten gespielt, sie nach Kräften verspottet und sich lustig über sie gemacht, aber die Beleidigungen, die sie ihm durch die Gefangennahme zugefügt hatten, konnte er nicht vergessen – und ich wußte, daß es sinnlos war, ihm zuzureden. »Holz?« fragte der Einäugige, obwohl er sehr wohl wußte, wovon Cäsar sprach. »Holz wofür?« »Für die Kreuze«, sagte Cäsar kalt. »Seeräuber werden nach römischem Recht gekreuzigt!« »Ich bin kein Römer!« heulte der Pirat auf. Cäsar sah ihn verächtlich an. »Rom ist, wo Cäsar steht!« lautete die Antwort. »Und dort gilt das Recht des römischen Volkes.« Der Pirat sah in sein Gesicht, und da wußte er, daß er den Willen dieses Mannes nicht beugen konnte. Er ließ den Kopf sinken. »Es wurde versprochen«, sagte Inky plötzlich, »daß kein Blut fließen soll, und es war Cäsar, der dieses Versprechen gab.« Cäsar fuhr herum und musterte Inky sekundenlang. 56
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»Ich erinnere mich«, sagte er knapp. »Mein Wort gilt.« Er wandte sich ab und verließ den Feuerschein. Wahrscheinlich kümmerte er sich nun darum, daß das Lösegeld auch wirklich ihm zugute kam. »Was wird er tun?« fragte Marleen und sah dem Davonschreitenden nach, bis ihn die Nacht aufnahm. »Er wird die Piraten erdrosseln lassen und dann ans Kreuz heften«, sagte Inky rauh. »So berichten es die Quellen, »und ich werde keinen Finger krümmen, sie Lügen zu strafen.« »Entsetzlich«, murmelte Marleen. »Wie kann man nur so grausam sein?« Ich faßte sie an der Schulter und führte sie weg. Wir brachen auf, bevor Cäsar seinen Befehl in die Wirklichkeit umsetzte. Ich wollte uns die Hinrichtungen ersparen, obwohl ich sehr gut wußte, daß die Piraten ein geradezu gnädiges Ende gefunden hatten, stellte man die Gebräuche der Zeit in Rechnung. Mehr als diese Verkürzung des Todes hätten wir beim besten Willen nicht erreichen können und auch nicht erreichen dürfen: Die historischen Quellen berichteten von exakt diesem Ausgang der Piratenangelegenheit. Das Meer war ruhig, und wir machten flotte Fahrt. Zur Linken konnten wir im Dunst die Küste von Palästina erkennen. Nach dem Überfall durch die Piraten hielt Amose es für besser, stets im Sichtbereich einer Küste zu bleiben. Wir konnten von Glück sagen, daß die Angelegenheit so günstig für uns verlaufen war. Wir hatten keinerlei Verluste an Toten oder Verletzten, unsere Waffen 57
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hatten wir zurückbekommen, und Schiff und Ladung waren unversehrt. Und wenn ich richtig beobachtet hatte, war es Amose gelungen, in der Schatzkammer der Piraten ein »Andenken« von beträchtlichem Wert zu erbeuten. »Wann werden wir in Alexandria ankommen?« fragte ich unseren Kapitän. »Morgen abend«, versprach Amose. »Wenn wir einlaufen, werden wir den Pharos sehen können. Der Leuchtturm von Alexandria gehörte zu den berühmten Sieben Weltwundern der Antike, von denen in unserer Zeit nur noch eines zu bestaunen war – die Pyramiden von Gizeh. Unter der Herrschaft von Ptolemäus II. war der Pharos erbaut worden. Baumeister war ein gewisser Sostrates von der Insel Knidos gewesen. Das waren die Daten, die man in jedem besseren Lexikon nachschlagen konnte. Wie wichtig und großartig dieses Bauwerk wirklich war, ließ sich daran ermessen, daß die Bezeichnung Pharo für einen Leuchtturm aus dem Ägyptischen in die Alltagssprache der Mittelmeervölker eingegangen war. In unserer Zeit war von dem antiken Alexandria kaum etwas zu finden. Teils lag das frühere Stadtgebiet unter dem Meeresspiegel, teils erhoben sich an gleicher Stelle moderne Häuser, die naturgemäß nicht dem Interesse der Archäologen geopfert wurden. Um das Problem vollends unlösbar zu machen, hatten die Araber auf den Trümmern des antiken Alexandria eigene Bauwerke errichtet, die zwar inzwischen ebenfalls zu Ruinen geworden waren, deren Trümmer aber nicht einfach beiseite geräumt werden durften. Ich warf einen Blick auf das Ufer. Man schrieb das Jahr 75 vor unserer 58
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modernen Zeitrechnung, die von einem Ereignis ausging, das dort drüben stattfinden würde. Merkwürdig genug, ich verspürte nicht die geringste Lust, das Jahr 1 zu erforschen. Ich hätte es auch nicht gedurft. In diesen Dingen verstand die Time-Squad keinen Spaß. »Was mag D. C. jetzt unternehmen?« fragte Inky halblaut. Ich zuckte mit den Schultern. »Hoffentlich ist der Beobachter noch unterwegs«, wünschte ich. Es gab nur zwei Einsatzmöglichkeiten für die Zeitmaschine der Time-Squad. Die erste Möglichkeit bestand darin, daß nur der Geist des Zeitreisenden in der Zeit reiste. Der Körper verblieb in der Zentrale, und die Reise konnte von außen jederzeit gestoppt werden. Dieses Verfahren wurde mit Beobachtern praktiziert. Der Nachteil war, daß man pro Beobachter eine Zeitmaschine brauchte, und das fortlaufend. Wir, die Besatzung dieser Expedition in die Zeit, reisten körperlich. Die Zeitmaschine, die wir benutzt hatten, war nur ein paar Augenblicke lang eingeschaltet gewesen. Die Zentrale konnte mittlerweile Dutzende von anderen Expeditionen auf die Reise geschickt haben. Die Sache hatte nur den einen Pferdefuß, daß es bei dieser Art Zeitreise ziemlich schwierig war, in unsere Realzeit zurückzukehren. Da war unser Gegner besser bestellt, er hatte ein Verfahren gefunden, Zeitreisen schnell, sicher und problemlos zu machen, wenn man davon absah, daß es unsere Aufgabe war, diesem Gegner möglichst viele Probleme zu schaffen. In diesem speziellen Fall wartete irgendwo und irgendwann in Alexandria ein Beobachter auf uns. Ver59
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paßten wir den Kontakt mit diesem Kollegen, sah es sehr übel für uns aus. Ich deutete nach vorn. Der Lichtschein war gerade noch zu erkennen, ganz knapp über der Kimm. »Der Pharos!« sagte Amose stolz. Es hörte sich an, als habe er den Leuchtturm mit eigenen Händen gebaut. Alexandria lag voraus, die Stadt, die Alexander der Große gegründet hatte, eine der glanzvollsten Metropolen der Antike, Standort des Pharos, der weltberühmten Bibliothek, zur Zeit Hauptstadt des Ptolemäerreichs … »Wer regiert zur Zeit in Alexandria?« fragte ich. »Wenn er noch lebt – Ptolemäus XII. Neos Dionysos Auletes«, antwortete Amose ehrfürchtig. »Mögen die Götter ihn schützen.« Dieser Ptolemäus XII. war der vorletzte Pharao seines Namens. Es würde noch einen allerletzten geben, den Bruder, Mitregenten und – nach ägyptischer Tradition – Ehemann der berühmten Cleopatra. Beide waren zur Zeit noch nicht geboren, und das war gut so – die Thronwirren nach dem Regierungsantritt dieser beiden hätten unsere Arbeit vielleicht unmöglich gemacht. Ich für meinen Teil hätte Cleopatra liebend gern persönlich kennengelernt, aber dieses Erlebnis blieb dem unverhofften Gefährten unseres letzten Abenteuers vorbehalten, Cäsar. Es war Nacht, und das Feuer des Pharos wies uns den Weg nach Alexandria. Den Rudersklaven war gesagt worden, daß das Ziel dicht voraus lag, und darum ruderten sie auch nachts, Stunde um Stunde, im steten 60
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Rhythmus der großen Pauke. Im Hafen warteten einige ruhige Tage auf die Männer, bevor sie ihren schweren Dienst wieder aufnehmen mußten. Ich hatte in Erfahrung gebracht, daß ihr Schicksal nicht ganz so schlimm war, wie ich befürchtet hatte – getauscht hätte ich allerdings nicht mit einem von ihnen. Als der Morgen graute, war der Leuchtturm deutlich zu sehen. Er erhob sich auf einer flachen Insel, die der Stadt vorgelagert war. Einhundertsechzig Meter hoch war dieser gewaltige Turm, um 280 vor unserer Zeitrechnung erbaut. Es hieß, man könne sein Licht des Nachts 50 Kilometer weit sehen. Aus dem Informationsmaterial, das die Time-Squad vor jeder Expedition zusammenstellte, wußte ich, daß der Turm erst im vierzehnten nachchristlichen Jahrhundert bei einem Erdbeben zerstört wurde – mehr als sechzehnhundert Jahre hatte er seinen Dienst getan. Das war gleichzeitig auch ein Tatsachenkompliment an den Erbauer. Drei Geschosse hatte der Turm, der zu Recht zu den Weltwundern gezählt wurde. Im Näherkommen konnten wir sie deutlich erkennen. »Wundervoll«, rief Marleen neben mir aus. »Diese Menschen bauten wirklich für die Ewigkeit.« »Das ist kein Vorrecht ihres Zeitalters«, sagte ich leise. Die Insel, auf der der Leuchtturm stand, hieß ebenfalls Pharos. Mit dem Festland wurde sie durch einen breiten Damm, das Heptastadion, verbunden. Wir hielten uns nordwestlich. Der Portus Eunostos war unser Ziel, im Portus Magnus auf der anderen Seite des Heptastadions ankerten Kriegsschiffe, mit denen wir wenig 61
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zu tun haben wollten. Zudem war der Eunostos-Hafen durch einen langen Kanal, der die Stadtteile Rakotis und Nekropolis voneinander trennte, mit dem Lacus Mereotis verbunden, einen großen Binnensee. Dort wollten wir ankern. Mit gleichmäßigen Ruderschlägen trieben die Sklaven unser Schiff vorwärts. Andere Schiffe begegneten, uns, schwer beladen mit dem ägyptischen Weizen, den Rom so dringend brauchte. Kaum zu glauben, daß ausgerechnet Ägypten und die Provinzen des heutigen Nordafrika einmal die Kornkammern des Imperium Romanum gewesen waren. Ohne das billige ägyptische und afrikanische Korn, das unentgeltlich an die Stadtrömer, die sogenannten Plebs, verteilt wurde, hätten sich die Römer nicht so lange als Vormacht im Mittelmeer halten können, wie sie es getan hatten. »Die Griechen«, sagte Marleen, »nennen die Ruderreihen eines Schiffes seine weißen Schwingen.« Der Vergleich paßte, wie wir an den auslaufenden Schiffen sehen konnten – man durfte bei diesem poetischen Bild allerdings keinen Gedanken an die Verhältnisse unter Deck zulassen. Was sich dort abspielte, hatte mit Poesie nichts zu tun. Unser Schiff umrundete die Insel Pharos. Zuunterst erkannten wir eine Art Kastell, die niedrigste, quadratische Stufe des Turmes. Die mittlere Stufe war achteckig, die höchste zylindrisch. An ihrer Spitze brannte das Leuchtfeuer, das tagsüber mit feuchter Wolle beschickt wurde – eine Rauchsäule entwickelte sich, die man im günstigsten Fall mehr als einhundert Kilometer weit sehen konnte. Das war der Pharos, der Turm von Alexandria. 62
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Unser eigentliches Ziel lag auf der anderen Seite des Heptastadions, die Halbinsel Lochias. Dort stand der Palast der Ptolemäer, die königlichen Gärten und Parks lagen dort. An die Königsstadt schloß sich das Stadtviertel an, in dem die Bibliothek stand, unser eigentliches Ziel. Unsere Fahrt wurde nun langsamer. Wir glitten an dickbäuchigen Schiffen vorbei und an stinkenden Fischerkähnen, die in diesem Becken stationiert waren. Den anderen Teil der Hafenanlagen, den Großen Hafen, konnten wir nicht einsehen. Ich wußte aber, daß dort einige der größten Schiffe festgemacht hatten, die in der Antike gebaut worden waren – darunter eine Barke, zu deren Fortbewegung viertausend Männer an vierhundert Riemen arbeiten mußten. »Meine Stadt«, sagte Amoses, dann schränkte er ein, »wenigstens teilweise.« Alexandria war eine Gründung der Griechen, und die Griechen gaben in dieser Stadt auch den Ton an – jedenfalls noch ein paar Jahre lang, bis Alexandria zum Imperium Romanum gehören würde. Jede der verschiedenen Bevölkerungsgruppen der Stadt hatte ein eigenes Wohnviertel. Die Ägypter hielten sich überwiegend in Rhakotis auf – so hatte auch das kleine Nest geheißen, das vor Alexandria hier gelegen hatte. Hafen der glücklichen Heimkehr hieß das Becken, durch das unser Schiff glitt, auf die Einmündung des Kanals zu, der den Portus Eunostos mit dem Maerotis-See verband. Das Wasser war kristallklar und hatte eine leicht grünliche Farbe; deutlich konnte man die Gewächse des Meeresboden sehen, die sich sanft im Takt der Ruderschläge bewegten. 63
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Am Himmel stand die Sonne und leuchtete die Stadt aus, die marmorglänzenden Tempel mit den goldüberzogenen Kapitellen und den bunten Gesimsen, die gekalkten Wände der Häuser mit den flachen Dächern. Man schätzte, daß Alexandria knapp dreihunderttausend Einwohner hatte, dazu kamen die Sklaven, die in den Augen ihrer Herren zum Inventar zählten. Rechnete man sie, wie wir es gewohnt waren, zu den Bewohnern, dann kam man auf eine stattliche Bevölkerung von fast einer Million Menschen. Und irgendwo in diesem Menschengewimmel gab es einen oder zwei oder mehr, die uns feindlich gesinnt waren, noch bevor wir den Boden Alexandrias betreten hatten, und ich ahnte noch nicht, wie feindlich diese Menschen sein würden.
Der Zeremonienmeister überbot sich förmlich selbst, als er den Raum betrat. Er, das war der Gouverneur dieser Provinz, des »Westlichen Harpunengaus«, Amasis genannt. Für jeden Buchstaben seines eigentlichen Namens ließ er vom Zeremonienmeister ein halbes Dutzend Ehrentitel ausrufen. Licht des Westens, Abglanz des Thot, Bruder der Mächtigen … die Aufzählung schien kein Ende nehmen zu wollen. Wie alle im Raum hatte ich mich demutsvoll verneigt, – und in Gedanken verfluchte ich die Eitelkeit des Dickwansts, von dem ich nur die Beine sehen konnte, was aber zur Abschätzung seines Leibesumfangs völlig ausreichte. Für jemanden, der wie ich nicht an demutsvolle Grußzeremonien gewohnt war, wurde diese 64
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Haltung – auf den Knien, beide Arme weit nach vorn gestreckt, das Haupt gebeugt – von Minute zu Minute unerträglicher. Den Blick zu heben, durfte ich nicht wagen. Es hätte den Gouverneur beleidigt, und von diesem Mann hing für uns einiges ab. Er konnte uns die Erlaubnis erteilen, mit dem Oberpriester zu sprechen und diesen zu bitten, daß man uns in das Museum und die angrenzende Bibliothek ließ. Der Behördenweg mitsamt seiner Umständlichkeit war keine Erfindung des Zeitalters von Druckerschwärze und Blei – auch ohne Formulare ließ sich eine famose Bürokratie aufziehen. Ich sah die dicken Beine an mir vorbeiwandern. Amasis schritt – stampfte wäre der angemessenere Ausdruck gewesen – auf dünnen Ledersohlen, die mit golddurchwirkten Fäden an den Schenkeln gehalten wurden. Die Enden der Schnürsenkel wurden von zwei Katzenköpfen gebildet – eine künstlerisch hervorragende Arbeit aus purem Gold mit kostbaren, wenn auch kleinen Edelsteinen an der Stelle der Augen. Endlich nahm der Gouverneur Platz. Wir durften uns aufrichten. Als ordinärer Provinzialrömer bekam ich naturgemäß nicht den Pharao selbst zu Gesicht. Er war dem Zugriff seiner Untertanen entzogen. Aber an dem Gouverneur ließ sich mühelos ablesen, wie sein Vorgesetzter beschaffen sein mußte – schließlich war Amasis fast täglich im Palast des Ptolemäus und teilte seine Laster. Neos Dionysos ließ sich Ptolemäus nennen, den neuen Dionysos. Das hatte nichts mit einer etwaigen Abkunft von diesem griechischen Gott zu tun, sondern bezeichnete nur die Tatsache, daß dem Ptolemäus kaum ein Vergehen so verächtlich erschien wie das, nicht je65
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derzeit volltrunken zu sein. In den wenigen Stunden, in denen Ptolemäus keine Orgien feierte, spielte er Flöte, was ihm den Namen Auletes (Flötenspieler) eingebracht hatte. Zu mehr war der Pharao nicht in der Lage. Amasis war ein sehr diensteifriger Diener seines Herrn. Auf dem Thron sah ich ein aufgeschwemmtes Monstrum von einem Mann, rotgesichtig vom Wein, die Augen blutunterlaufen, die Hände stetig zitternd. Mit einem gutmütigen, weinfreudigen Zecher hatte Amasis nichts gemein; sein Blick sprach Bände – von Heimtücke und Habgier, Verschlagenheit und Hochmut. Ich mußte warten. Vor mir waren andere Bittsteller an der Reihe. Einer nach dem anderen traten sie vor, äußerten ihre Bitte und warteten auf Bescheid. Die Antworten des Amasis teilte dieser seinem Hofmarschall flüsternd mit, und der gab sie laut an den Bittsteller weiter. Endlich kam ich an die Reihe. Langsam ging ich zum Thron. Amasis kniff die Augen zusammen. An meiner Kleidung erkannte er den Römer, und noch konnten es sich die Alexandriner leisten, über Rom Schlechtes nicht nur zu denken. Dann wanderte der Blick des Gouverneurs weiter und blieb, wie nicht anders zu erwarten, an Marleen de Vries hängen. Vorsichtshalber hatte sie ihre Haare geschwärzt, aber gegen hellblaue Augen gab es kein Mittel, und die der Hitze wegen in Alexandria übliche Kleidung war nicht dazu geeignet, körperliche Vorzüge zu verschleiern. Amasis und sein Marschall überboten sich förmlich in ihren Blicken. Ich hütete mich, ein böses Gesicht zu machen. Ich brauchte Marleen, sie fungierte als Dolmetscherin. Langsam und mit ernstem Gesicht trug sie unser Gesuch vor. Dabei wechselte auch ein Stück Bernstein den 66
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Besitzer, ungefähr kinderkopfgroß und mit einem Einschluß, der Amasis entzücken mußte – seine Hieroglyphe in Gold. Der eigentliche Pfiff dabei war, daß der Name Amasis in einem Serech genannten Viereck auftauchte, das vom Horusfalken gekrönt wurde. Dieses Serech stellte eine symbolische Darstellung des Palastes dar. Es war dem Pharao vorbehalten, seinen Namen in dieser Weise schreiben zu lassen. Als Amasis das Geschenk betrachtete, traf ihn fast der Schlag. Über Bernstein kursierten im Altertum die wildesten Gerüchte, nicht zuletzt der elektrischen Eigenschaften dieses Materials wegen – das Wort Elektrizität leitete sich vom griechischen Wort für Bernstein ab. Besonders begehrt waren natürlich jene Bernsteinexemplare, die etwas einschlossen. Die Glyphe in unserem Bernstein mußte dem Gouverneur förmlich als offizielle Einladung des Himmels erscheinen, verhieß sie ihm doch unbezweifelbar, daß er vom Schicksal ausersehen war, eines Tages die Doppelkrone des Reiches zu tragen. Dieser sogenannte Bernstein war in Wirklichkeit in den Labors der Time-Squad entstanden und erst einige Tage alt. In der letzten Nacht war er, zusammen mit anderer moderner Ausrüstung, geliefert worden. Ich hatte mich nicht geirrt. Dieses Geschenk ließ Amasis völlig über Marleen hinwegsehen. »Woher hast du dieses Kleinod?« Der gesamte Hofstaat erstarrte förmlich. Amasis hatte mich unmittelbar angesprochen, ohne den Hofmarschall zwischenzuschalten. Ich schnippte mit dem Finger, und Charriba trat heran. 67
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Er trug Kriegsbemalung und einen bestickten Lederschurz. Bei dieser Kleidung war seine imponierende Muskulatur besonders gut zu sehen. Er machte ein steinernes Gesicht, trat langsam bis an Amasis heran, der beim Anblick des furchterregenden Indianers zurückzuweichen versuchte, und verbeugte sich tief. »Es heißt«, erklärte ich mit Marleens Hilfe, »es gebe jenseits der Säulen des Herakles ein Land, dessen Bewohner so aussehen.« »Atlantis!« rief Amasis aus. »Er ist ein Atlanter?« »Vielleicht«, antwortete ich. »Man fand ihn ohne Besinnung und ohne Gedächtnis an unserer Küste. Bei sich trug er das Kleinod, das deinen Namen trägt, o Amasis. Er wußte nur das eine, daß er diesen Schmuck zu übergeben habe – in göttlichem Auftrag.« Die Lügen kamen mir leicht und flüssig von den Lippen, ich wunderte mich über mich selbst. »Ich bin gekommen«, fuhr ich fort, »dieses Geheimnis zu klären. Dazu brauche ich deine Erlaubnis, in den Beständen der großen Bibliothek nach Urkunden suchen zu dürfen.« »Ich werde dem Oberpriester befehlen, daß man dich einläßt, wann immer du Einlaß begehrst!« versprach Amasis eilig. »Ich werde das Kleinod behalten, und du wirst mir sagen, was du herausgefunden hast.« »Dein Wunsch ist mir Befehl«, erklärte ich und verbeugte mich. Ich wollte mich zurückziehen, aber Amasis befahl mir mit einer Handbewegung, stehenzubleiben. Mein Auftritt brachte das ganze Zeremoniell durcheinander. »Wo wohnst du?« fragte er mich. »Im Viertel der 68
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Griechen, Brucheion«, antwortete ich. Amasis verzog das Gesicht. »Du sollst in meinem Palast wohnen«, entschied er und gab seinem Marschall einen Wink. Amasis war, ungeachtet seines ägyptischen Namens, Grieche. Der Hofmarschall war unverkennbar Ägypter, und ihm paßte mein rasend schneller Aufstieg überhaupt nicht. Er verbeugte sich zwar demutsvoll, aber der Blick, den er seitwärts auf mich warf, verhieß mir nichts Gutes. »Sobald du etwas gefunden hast, wirst du mir Nachricht geben. Man wird dich ohne Verzug bei mir vorlassen. Hier, nimm diesen Ring, er wird dir den Weg bahnen!« Amasis zog einen schweren Ring vom Finger und warf ihn mir zu. Es war ein prachtvolles Schmuckstück, eine Kostbarkeit der Goldschmiedekunst. Ich verneigte mich noch einmal sehr tief, dann zog ich mich mit meinen Begleitern zurück. Charriba behielt seine Ruhe bei, nur Marleen reagierte sich ab, sobald wir die Audienzhalle des Gouverneurspalasts verlassen hatten. »Dieser Fettwanst!« schimpfte sie. »Ich möchte einmal wissen, warum hierzulande alle Männer mich wie ein Stück Schlachtvieh taxieren!« »Von Emanzipation hat man hierzulande noch nichts gehört«, antwortete ich. »Hier gelten andere Gesetze – hier sind Menschen Gebrauchsgegenstände, und das gilt für Frauen ebenso wie für Sklaven.« Marleen nickte grimmig. »Meinetwegen«, sagte sie, »können wir in den Palast ziehen. Aber ich sage dir, wenn dieser Amasis nach mir zu greifen versucht – ich kratze ihm die Augen aus!« 69
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»Das würdest du nicht lange überleben«, murmelte Charriba. »Und wir auch nicht.« Trotz dieser Aussichten hatte ich ausgesprochen gute Laune. Der erste, und wie mir schien auch schwerste Teil unserer Arbeit war gelungen. Wir hatten Alexandria erreicht, und wir hatten Zutritt zur Bibliothek. Und wenn ich den Wert des Ringes richtig einschätzte, dann stand uns auch der Bereich der Bibliothek zur Verfügung, der normalen Besuchern verschlossen blieb. Was wollte ich mehr? Am Nachmittag dieses Tages zogen wir in den Palast um. Trotz der Abneigung des Hofmarschalls wurden wir geradezu fürstlich untergebracht. Wir bewohnten einen ganzen Flügel des weitläufigen Palasts. Der Himmel allein mochte wissen, wer unseretwegen hatte weichen müssen. Eine Hundertschaft von Dienern und Sklaven war ausschließlich damit beschäftigt, sich um unser Wohlergehen zu kümmern. Ein Fingerschnippen genügte, um einen der dienstbaren Geister wie aus dem Boden gewachsen erscheinen zu lassen. Was die armen Ägypter aßen, wußte ich nicht – wie die reichen speisten, bekamen wir sehr bald zu spüren. Eilschiffe schafften Delikatessen aus allen Ländern herbei, frisches Obst, Gemüse, und was die Köche aus dem Meeresgetier zu machen verstanden, versetzte uns in Staunen. Die Weine stammten überwiegend aus Griechenland, schwere Rotweine, wie sie Amasis und sein Herr liebten. Daneben schafften die Schiffe der Handelsflotte Amphoren aus Italien, Sardinien und Nordafrika heran. Ich wurde nicht müde, mir das Treiben in den beiden Häfen anzusehen. 70
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Und während ich mich dort herumtrieb, arbeiteten meine Freunde in der Bibliothek. Ich war nur einmal mitgekommen, um meinen Ring vorzuweisen – der sämtliche Bibliotheksdiener zusammenklappen und dienern ließ – und meine Freunde einzuführen. Mehr konnte ich nicht tun. Weder verstand ich ausreichend ägyptisch, noch akkadisch, babylonisch … Die Liste ließ sich beliebig verlängern. Die Spezialisten jedenfalls, allen voran Marleen de Vries, hatten genug zu tun. Sie sichteten die Dokumente, Keilschrifttafeln, Papyri, Bücher auf Leder, Holztafeln und anderem Material. Nach der Sichtung wurden die interessantesten Dokumente ausgewählt und fotografiert. Die dazu nötige Ausrüstung hatte uns ebenfalls die Time-Squad geliefert. Etwa alle zehn Tage meldete sich der Beobachter der Time-Squad im Palast, lieferte neues Material und nahm die belichteten Filme mit. Längst hatten wir auch unseren Vorrat an modernen Waffen wieder aufgefüllt. So betrachtet war die Aktion Zeit-Archiv ein voller Erfolg. Ja, langsam fing sie sogar an, ausgesprochen langweilig zu werden. Vier Monate waren vergangen. Ich hatte es mir auf einem Lectus bequem gemacht und prüfte gerade den Wein, den mir ein schwarzer Sklavenjunge gereicht hatte – ein vorzüglicher Falerner. In den ersten Tagen hatte es mich einige Mühe gekostet, die Rolle des Sklavenhalters zu spielen. Zu meiner Schande mußte ich nach kurzer Zeit gestehen, daß man sich in diese Rolle verteufelt schnell einleben konnte, und das beschämend gut – jedenfalls dann, wenn man auf der richtigen Seite stand. Unsere Sklaven waren um 71
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so diensteifriger, als wir sie niemals schlugen, demütigten oder auf andere Weise quälten. Sie waren zwar Sklaven und blieben es nominell auch, aber das Verhältnis ließ sich etwa mit dem zwischen dem Personal und den Gästen eines erstklassigen Hotels vergleichen. In jedem Fall – Marleen hatte das herausgebracht – taten die Sklaven des Amasis am liebsten in unserem Flügel des Palasts Dienst. Als der schwere Gong ertönte, gab ich den Pokal zurück und richtete mich auf. Der Türsteher hatte zwei Goldkugeln in das Becken fallen lassen, also bekamen wir Besuch von einer höhergestellten Person. »Willkommen«, sagte ich freundlich, als der Hofmarschall den Raum betrat. Unser Verhältnis hatte sich inzwischen erheblich gebessert, nachdem wir darauf verzichtet hatten, uns aufdringlich bei Amasis in Erinnerung zu bringen. Der Marschall, der um seinen Rang gebangt hatte, war zu der Einsicht gekommen, daß wir ihm seine Stellung nicht streitig machen wollten. Er verneigte sich leicht, wie es seinem Rang entsprach, und nahm auf einem Lectus Platz. Ich bot dem Mann Wein an. Anders als sein Gebieter trank er nur wenig. »Amasis möchte wissen«, begann er ohne Umschweife, »wie weit ihr gekommen seid. Es eilt!« Ich zog fragend die Brauen in die Höhe. Thothmes, der Hofmarschall, nahm eine handvoll Trauben aus der Marmorschale und begann zu essen. »Der Wein«, erklärte er langsam, »verändert den Menschen, und das nicht zu seinem Vorteil. Es heißt, bei der Erschaffung des Weines seien drei Tiere zugegen gewesen, deren Einfluß den Wein geprägt habe – ein Löwe, ein Affe und ein Schwein. Das erste Glas über 72
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den Durst macht einen Löwen aus dem Trinker, verleiht ihm Mut und Kraft. Das zweite läßt ihn albern werden wie einen Affen, und nach dem dritten wälzt er sich unter dem Tisch, einem Schwein ähnlich.« Ich wartete geduldig, worauf Thothmes mit seiner Erzählung hinauswollte. »Unser Herrscher«, erklärte der Marschall weiter, »mag ein Schwein sein, das ist allein seine Sache. Amasis aber verhält sich einem Affen ähnlich. Er beginnt zu schnattern und zu schwatzen.« Ich spürte, wie mein Puls schneller zu schlagen begann. Thothmes aß in aller Ruhe weiter. »Er träumt davon, selbst Pharao werden zu können«, sagte Thothmes. »Und er trinkt. Beides zusammen mag angehen, aber nicht dann, wenn er in seinem Rausch zu plaudern beginnt – von himmlischen Zeiten, einem Wink der Vorsehung und dergleichen mehr. Gerüchte sind an die Ohren des Pharaos gedrungen.« Ich wußte, was das hieß. Kam der Hochverratsplan des Amasis ans Licht, dann waren wir und Thothmes ebenfalls verloren. Der Beobachter der Time-Squad war gestern letztmalig in unserer Zeitebene gewesen. In neun Tagen ließ sich sehr viel veranstalten. »Unser Herr, der Pharao, den die Griechen den Flötenspieler nennen, ist besorgt. Sehr besorgt.« Ich nickte und schwieg. »Unglücklicherweise nun«, fuhr Thothmes fort, »hat auch Amasis mitbekommen, daß der Pharao Verdacht geschöpft hat. Er glaubt jetzt, den Plänen des Pharao zuvorkommen zu müssen. Wie sieht es aus? Habt ihr Urkunden, Weissagungen, Dokumente gefunden, die Amasis ein Recht auf den Thron geben?« Ich schüttelte den Kopf. 73
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Natürlich gab es keine Dokumente dieser Art. Historisch gesichert war, daß Ptolemäus der Flötenspieler bis ins Jahr 51 leben würde. Danach war dann seine noch ungeborene Tochter aus seiner noch nicht geschlossenen zweiten Ehe an der Reihe – Cleopatra. Von einem Pharao Amasis war nichts bekannt. Allerdings stand in den überaus lückenhaften Quellen auch nichts über einen Provinzgouverneur Amasis, dessen Hochverrat und Hinrichtung – hätten die Chronisten alle Putschversuche in der ägyptischen Geschichte aufzeichnen wollen, wäre dies eine wahre Sysiphusarbeit gewesen. Thothmes sah mich prüfend an. »Es gibt Menschen, die an Götter glauben«, sagte er langsam. »Und es gibt Ungläubige. Ich bin ein Ungläubiger. Gib zu, ihr habt diesen Elektron gefälscht, wie auch immer!« »Und wenn?« »Dann sieh auch zu, daß diese Prophezeiung Wahrheit wird«, sagte Thothmes. »Zusammen mit dem Kopf des Amasis müßte auch der meine fallen.« »Ich werde das zu verhindern wissen«, sagte er knapp. »Da du der wichtigste Mann eurer Gruppe bist, wirst du nämlich die Ehre haben, den Gouverneur auf eine Reise zu begleiten.« »Wohin?« »Zum Gau der Weißen Mauer«, antwortete Thothmes. »Der Ort hat verschiedene Namen. Cheret-Netjer, Imentet oder auch Ergesher.« Cheret-Netjer bedeutet Nekropole, Totenstadt; Imentet hieß einfach Westen, und Ergesher hieß soviel wie: 74
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an der Seite der Erhöhung – gemeint war in jedem Fall das gleiche: der Pyramidenbezirk von Gizeh. Ich lächelte. Endlich eine Unterbrechung des eintönigen Alltags. Um diese Zeit mußten die Pyramiden noch unbeschädigt sein, ich freute mich auf ihren Anblick. Thothmes verstand mein Lächeln nicht. »Du wirst Amasis begleiten«, sagte er nervös geworden. »Du darfst zwei deiner Gefährten mitnehmen. Die Reise wird ungefähr zwei Monde dauern. Soviel Zeit wird euch noch gewährt. Wenn wir von dieser Reise zurückkehren, wird der Tod in Alexandria umgehen – er wird entweder den Pharao und seine Sippe treffen … oder uns alle!«
»Rrrheee!« Der Ruf des Führers verlor sich in der Einsamkeit der Wüste, aber er wurde gehört. Die Kamele stoppten, die Pferde wurden gezügelt. Leise knirschend kamen die Wagen zum Stillstand. Ich schüttelte den Kopf, um den feinkörnigen Sand aus den Haaren zu bekommen. Mein Pferd tänzelte leicht. Es witterte Wasser. Amasis, der sich in einem vierspännigen Wagen transportieren ließ – anders wäre er schwerlich fortzubewegen gewesen – winkte mir zu. Ich trieb mein Pferd zu seiner Kutsche. »Erkundet die Oase«, befahl er mir. »Vielleicht gibt es Räuber dort.« Ich nickte und trieb mein Pferd an. Mit Handzeichen dirigierte ich Inky und Charriba an meine Seite. Vor al75
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lem Charriba saß auf seinem Pferd wie angewachsen und erregte den Neid jedes Reiters. Wir trabten die Düne hinauf und blieben auf dem Kamm stehen. In Bogenschußweite lag die Oase, ein Loch mit üblem Wasser, dürftig von Gestrüpp umstanden – aber es war Wasser, und das allein zählte. Menschen waren nicht zu sehen, aber das besagte nicht viel. Wer sich in diesem Gebiet auf den ersten Augenschein verließ, schloß die Augen bald für immer. Die Heimtücke der Wüstenräuber war nachgerade sprichwörtlich, trotz der überall stationierten Soldaten des Pharao. Amasis war fett und faul, aber beileibe nicht feige. Davon zeugte die Reiseroute, die er uns befohlen hatte, quer durch den Westgau, den Südlichen Neithgau und den Schenkelgau fast geradlinig in den Gau der Weißen Mauer. Während dieser Reise hatten wir den Nil nur einmal, im Südlichen Neithgau, gesehen, ansonsten hatten wir öde, unbewohnte Landstriche durchquert. Wir, das waren Inky, Charriba und ich aus unserem Team, Amasis und Thothmes, dazu fünf Personen aus dem Hofstaat des Amasis – und fünfzig Soldaten, bei denen man nicht genau wußte, wen sie zu bewachen oder zu beschützen hatten. Ich gab meinem Pferd die Sporen und trabte den Hügel hinab. Charriba und Inky folgten mir. Die ungefähr 220 Kilometer Luftlinie zwischen Alexandria und Gizeh hatten wir in sechs Tagen bewältigt. Amasis hatte uns zur Eile getrieben. Jetzt waren wir nur noch eine Tagesreise von den Pyramiden entfernt. »Nichts!« sagte Charriba nach einer halben Stunde intensiver Prüfung. »Keine Räuber in der Nähe.« 76
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Ich wußte, daß wir uns auf diese Angabe verlassen konnten. Charriba war ein Phänomen, wenn es um Spuren ging. Aus winzigen Andeutungen hatte er zwei Überfälle vorhergesehen, mit denen keiner von uns gerechnet hatte. Durch Charriba gewarnt, hatten wir die Räuber mit blutigen Köpfen in die Wüste zurückgejagt. Ich winkte Thothmes zu, der uns auf den Hügelkamm gefolgt war. Er gab das Zeichen an die Karawane weiter. Ich hörte die heiseren Rufe, mit denen die Soldaten ihre erschöpften Tiere antrieben. Während sich die Karawane näherte, ließen wir unsere Tiere saufen. Dann erst tranken wir selbst von dem Wasser. Es war warm, schmeckte abscheulich – aber es löschte den Durst. Nach einem viertägigen Ritt durch die Wüste, bei dem alles Wasser den Tieren geopfert werden mußte, hätten wir aus der fauligen Lache mit Begeisterung getrunken. Der Quell bot Wasser genug für alle Tiere und Menschen. Die Ergiebigkeit der Oase verriet, daß der Nil nicht mehr sehr weit entfernt sein konnte. Zelte oder dergleichen waren in diesem Klima nicht vonnöten, Decken genügten vollauf, um die nächtliche Kälte abzuhalten. Auch ich hatte mir nicht, vorstellen können, wie es in der Wüste kalt werden sollte – die erste Nacht im Freien hatte mich eines Besseren belehrt. Für das Wohlbefinden des Gouverneurs sorgten seine Begleiter; wir mußten uns um uns selbst kümmern, wie die Soldaten, allerdings war unsere Ausrüstung erheblich besser. Soldat zu sein war kein Zuckerlecken in diesem Zeitalter. 77
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Wir aßen von dem kalten Braten, der von den Mahlzeiten des gestrigen Tages übriggeblieben war. Dazu gab es Früchte, hauptsächlich Feigen. Das Wasser in den Schläuchen schmeckte noch abgestandener und fauliger als das des Brunnens. Wir tränkten die Tiere damit. Nach dem Mahl stand ich auf und entfernte mich. Angeblich suchte ich die Einsamkeit, um mit meinen Göttern reden zu können. Und für solche Beweggründe hatte man im götterreichen Ägypten viel Verständnis. Niemand folgte mir. Ich schritt weit aus, bis ich außer Sicht- und Hörweite war. Ich suchte mir einen Platz auf einem Dünenkamm aus, von dem aus ich die Umgebung im Auge behalten konnte. Bei dem, was ich zu tun vorhatte, durfte mich niemand beobachten. Das Funkgerät war im Kolben meiner Streitkeule versteckt, einem stachelgespickten Monstrum von Waffe. Da es außer der Sonne keinen Störsender in dieser Zeit gab, klappte die Verständigung hervorragend die einzige Schwierigkeit bestand darin, ohne Uhren die richtige Zeit für die Kontaktaufnahme zu finden. Ich verließ mich da auf meine ägyptischen Begleiter – sie kannten die Zeiten für ihre Standardgebete fast auf die Minute genau. »Marleen, bitte melden!« Es knisterte leise im Lautsprecher, der kaum größer war als ein Menschenauge. Das Mikrophon ließ sich mit bloßem Auge kaum noch wahrnehmen. Das ganze Funkgerät war ungefähr daumengroß; in die Keule eingebettet, konnte es auch eine echte Auseinandersetzung mit dieser Waffe überstehen. 78
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»Tovar?« Das war unverkennbar Marleens Stimme. »Gibt es Neuigkeiten?« erkundigte ich mich. »Wir sind auf ein Geheimarchiv gestoßen«, wußte Marleen zu berichten. »Die Texte klingen außerordentlich geheimnisvoll, wir wissen noch nicht genau, was wir davon halten sollen. In jedem Fall steht eines fest: Diese Texte passen nicht in unsere Vorstellung von der Antike.« »Also ein voller Erfolg?« fragte ich erfreut. »Man kann es so nennen«, antwortete Marleen. Während sie sprach, sah ich mich um. »Nur eines noch, wir haben einen Hinweis gefunden, daß es bei den Pyramiden nicht ganz geheuer sei.« »Ernsthaft? Oder nur ein Aberglaube?« »Das wissen wir noch nicht genau. Die Grenzen sind da ziemlich fließend. Gib in jedem Fall auf dich acht.« »Wird gemacht«, versprach ich. Wir tauschten noch Grüße aus, dann schaltete ich das Gerät aus und ließ es wieder im Innern der Keule verschwinden. Langsam ging ich zum Lager zurück. Bei den Pyramiden war es also nicht geheuer, interessant, dachte ich. Ich war gespannt, was für eine Überraschung auf uns wartete. Weiß und glänzend ragte der Kalkstein in den klaren Himmel. Die Luft flimmerte vor Hitze über der Ebene von Gizeh. In steinerner Ruhe lagen die Pyramiden da, von Menschenhand erbaute Gebirge, einmalig und vollkommen. Von den Ummantelungen fehlte kein Stück, auch die Sphinx war noch unversehrt. Wir standen auf dem Hügelkamm oberhalb von Gizeh. Es war still in unserer Gruppe. Ich und meine 79
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Freunde, wir kannten das Bild, wenn auch nur als Abbildung. Die Wirklichkeit aber übertraf unsere Vorstellungen. Vor allem deshalb, weil das gesamte Feld rings um die Pyramiden noch nicht zerfallen war. In den Tempeln wurde noch gebetet, brachten die Priester Opfer dar für die Ka des verstorbenen Pharao. Und dieser Pharao war zu diesem Zeitpunkt schon fast drei Jahrtausende tot. Kaum zu glauben, daß die gleichen Menschen, die uns begleiteten, ohne jeden Maschinenpark diese Riesengebilde aufgetürmt hatten. »Vorwärts!« rief Amasis schrill. Die Karawane setzte sich wieder in Bewegung, die Hügel hinab auf das Gräberfeld zu. Eine Unzahl von kleineren, weniger bedeutenden Gräbern umgab den Bezirk der Pyramiden. In diesen Mastaba genannten Gräbern lagen die Angehörigen des Hofstaats, auch sie teilweise mit für uns unvorstellbarem Prunk begraben. Im Näherreiten versuchte ich, mich zu erinnern, was man in unserer Zeit von den Pyramiden wußte. Jahrtausendelang hatte man sie für die Gräber der Pharaonen gehalten, inzwischen wußte man, daß es sich dabei nicht um Gräber handeln konnte – zum einen gab es entschieden mehr Pyramiden, als es in der betreffenden Zeit Pharaonen gegeben hatte; allein von Pharao Snofru aus der Vierten Dynastie, die 2613 v. Chr. begann, waren drei große Pyramiden bekannt –, zum anderen waren die Sarkophage teilweise so groß, daß sie schon während des Baues in die Pyramiden gebracht worden sein mußten. In diesen Fällen hätte man die Mumie des Pharao durch die Pyramide schleppen müssen und sie erst im Innern feierlich einsargen können – unvorstellbar im alten Ägypten. 80
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Im ausgehenden, 20. Jahrhundert war dann eine Theorie aufgestellt worden, die bis in unsere Zeit als die plausibelste galt. Sie ging davon aus, daß es sich bei den Pyramiden um Gemeinschaftsaufgaben des ganzen Volkes gehandelt haben mußte – Aufgaben, die das Ziel hatten, aus den Bewohnern des Nilgebiets eine Gemeinschaft, ein Volk zu machen. In den Monaten der Nilüberschwemmung, in denen es für die Ägypter nichts zu tun gab, seien Hunderttausende von Menschen zusammengebracht und mit dem Pyramidenbau beschäftigt worden – bis sie sich als Gemeinschaft des pyramidenbauenden Volkes gefühlt hätten. Dazu kam die Tatsache, daß für eine solche Aufgabe ein funktionierender Verwaltungsapparat geschaffen werden mußte – der danach zur Verwaltung eines Staatswesens geworden war. Wie fast alle Theorien hatte auch diese Schwachstellen. Der Plan, den sie voraussetzte, verlangte unerhört viel Verständnis für Soziologie und Völkerpsychologie, und das im dritten vorchristlichen Jahrtausend. Solche Kenntnisse traute ich den Ägyptern nicht unbedingt zu, wohl aber dem geheimnisvollen außerirdischen Gegner der Time-Squad. Waren die Pyramiden vielleicht nichts anderes als das Ergebnis einer Art Beschäftigungstherapie für unterentwickelte Völker? Ich konnte mich mit dieser Idee gar nicht befreunden, zumal dann nicht, als ich am Fuß einer der Pyramiden stand. Es war die des Chefren, die zweitgrößte der drei großen Pyramiden. Wie Chefren – ägyptisch Chaefre – zu seinen Lebzeiten ausgesehen hatte, ließ sich mit einem Blick feststellen – die Sphinx trug sein Gesicht, das in dieser Zeit noch unbeschädigt war. Bis französische 81
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und Mameluckenkanonen ein Zielschießen darauf veranstalten würden, mußten noch achtzehn Jahrhunderte vergehen. Auch der Tempel zwischen den ausgestreckten Pfoten des Löwen mit dem Menschenantlitz stand noch. Ich sah, wie ihn Gläubige aufsuchten. »Phantastisch«, murmelte Inky neben mir. »Einfach phantastisch!« Ich nickte. Es war phantastisch. Menschen, die hochkomplizierte technisches Gerät mit sich führten, trieben sich unter anderen Menschen herum, deren Welt noch von Götzen und Dämonen erfüllt war. Die Ptolemäerzeit, in der wir uns bewegten, lag einigermaßen exakt zwischen der Pyramidenzeit und unserer Ära. Zweieinhalb Jahrtausende waren vergangen, seit Echet Chufu – Horizont des Chufu – erbaut worden war; und erst in weiteren zweieinhalb Jahrtausenden würde die TimeSquad entstehen. Im eigentlichen Tempelbezirk von Gizeh durften wir naturgemäß nicht lagern. Uns wurde ein kleines, windgeschütztes Tal als Lager angewiesen. Bequemer wäre es gewesen, die nächste größere Stadt aufzusuchen, aber Amasis wollte den Kontakt mit den Göttern möglichst rasch herstellen. Wahrscheinlich hoffte er, dann auch sehr rasch Pharao werden zu können und einen Platz in den Reihen der Halbgötter zu bekommen. Auf der anderen Seite des Nils lagen einige kleinere Nester, die später zu der Millionenstadt Kairo zusammenwachsen sollten. Von dort kamen die fliegenden Händler mit ihren Waren, Wasser, Fleisch, Früchten, Broten. Die Preise waren unverschämt, und der Rang eines Gouverneurs von Alexandria schüchterte die Händler nicht im mindesten ein. Sie verlangten, was ihnen in 82
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den Sinn kam, ließen sich ein wenig herunterhandeln – mehr zum Spaß als ernsthaft – und dann verkauften sie. Wer mit den Preisen nicht zufrieden war, mochte sehen, wo er blieb. Amasis schimpfte unaufhörlich, über das Essen, das schlechte Wasser, den Starrsinn der Lasttiere und Kamele, den mangelnden Diensteifer seiner Untergebenen und vor allem über die Sandflöhe. Diese winzigen Insekten waren eine Landplage allererster Güte; sie konnten selbst starke Männer in kurzer Zeit zum Wahnsinn treiben. Mein Blut schmeckte den kleinen Saugern nicht; es war vor unserem Start in die Vergangenheit vorsorglich mit Medikamenten angereichert worden. Offenbar hatte sich diese Tatsache unter den Sandflöhen herumgesprochen. Auch Inky und Charriba hatten unter den Plagegeistern nicht zu leiden. Ich ging zu Charriba und Inky hinüber. »Ich will versuchen, mir heute nacht einmal die Pyramiden anzusehen«, flüsterte ich ihnen zu. »Kommt ihr mit?« Beide nickten und grinsten. »Selbstverständlich«, erklärte Inky. »Welche hast du dir ausgesucht? Cheops?« »Richtig«, bestätigte ich. »Ich weiß, wo der Eingang zu suchen ist. Dreizehnte Steinlage, in der Nordfront.« »Norden festzustellen, ist nicht schwierig«, sagte Inky. »Aber wie willst du die dreizehnte Steinlage finden? Die Pyramide hat eine völlig glatte Verkleidung!« »Wenn später Grabräuber hineingekommen sind, dann werden wir es auch schaffen«, erklärte ich. 83
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»Hoffentlich hast du recht«, wünschte Inky halblaut. »Ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache. Ich laufe ungern in anderer Leute Gräbern herum.« »Das sind keine Gräber«, hielt ich ihm entgegen. »Nein?« fragte Inky zurück. »Was denn sonst? Getreidespeicher?« Ich mußte lachen. In den wenigen Hohlräumen, die die Pyramiden aufwiesen, Weizen zu speichern, wäre der Weltrekord an Sinnlosigkeit gewesen. »Ich kann – logisch jedenfalls – beweisen, daß es sich nicht um Gräber handeln kann«, versuchte ich zu erklären. »Es heißt, und diese Theorie wird von fast allen Wissenschaftlern verfochten, daß die Ägypter an die Unsterblichkeit der Seele glaubten. Sie nahmen an, daß es eine Seele gäbe – die sie Ka nannten –, die eines fernen Tages in den toten Körper zurückkehrt. Jedenfalls taten die Pharaonen alles, ihren Körper möglichst unversehrt für die Ewigkeit vorzubereiten. Und damit es in einem künftigen Leben an nichts fehle, ließen sie sich alles Notwendige ins Grab legen, Geräte, Möbel und nicht zuletzt Gold. Darüber herrschte in Fachkreisen Einvernehmen. Das Wichtigste überhaupt war für den Pharao ein ungestörtes Grab.« »Darum türmte er ja auch ein kleines Gebirge über seine Leiche«, warf Charriba ein. »Und setzt damit für die nächsten zehntausend Jahre ein gigantisches Signal in die Wüste. Schatzgraben? Bitte hier! Ein Millionen Tonnen, schweres Ausrufezeichen, das man sogar aus einem Raumschiff mühelos erkennen kann! Der Pharao konnte zu seinen Lebzeiten sehen, wie die Pyramide gebaut wurde. Er konnte sich auch an den Fingern abzählen, wieviel Zeit später nötig 84
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sein würde, seine Leiche wieder ans Tageslicht zu fördern – zumal es überhaupt keinen Zweifel geben konnte, wo nach dieser Leiche und ihren Schätzen zu suchen war.« Inky und Charriba sahen mich verblüfft an. »Ist das dein Einfall?« wollte Inky wissen. Ich nickte. »Wenn ich meinen Körper der Ewigkeit anvertrauen möchte«, fuhr ich fort, »dann würde ich für eine möglichst schlichte und unauffällige Grabstelle sorgen. Alles andere erschiene mir unsinnig- und ich bin sicher, daß die Pharaonen auf den gleichen Gedanken gekommen sind.« »Ja … aber …«, stotterte Inky verwirrt. »Wozu waren die Pyramiden dann zu gebrauchen?« Ich lächelte. »Das werden wir heute nacht herauszufinden versuchen!« Einfach war unsere Aufgabe nicht, das stand von Beginn an fest. Der gesamte Heilige Bezirk von Gizeh wurde von Bewaffneten bewacht. Die Gottesdienste wurden bei Tag und Nacht durchgeführt. Wir konnten durch die Säulenreihen die Tempelfeuer sehen, wir rochen den schweren Duft des Weihrauchs, der in Tonnenmengen verbrannt wurde. Ich hoffte allerdings darauf, daß die Wachen die Pyramiden für unersteigbar hielten und dort nicht sonderlich gut aufpaßten. Außerdem zu irgend etwas mußte die harte Spezialausbildung der Time-Squad gut sein. Wenn es uns nicht gelang, an die Pyramiden heranzukommen, mußten wir unser Lehrgeld zurückgeben. 85
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Es war spät nach Mitternacht. Amasis schnarchte dem Morgen entgegen, seine Begleiter taten es ihm gleich. Das Mondlicht wurde immer wieder von sehr hohen Wolkenschleiern getrübt, aber es reichte für unsere Zwecke. Die Geste, mit der ich Inky und Charriba unseren Aufbruch signalisierte, wurde jedenfalls gesehen. Charriba schlich voran. Er hatte sich jahrzehntelang in diesem Gewerbe geübt. Es gab keine Fährte, die er nicht entdeckte, kein Versteck, in das er nicht kriechen konnte. Selbst wenn Inky und ich auffallen sollten von Charriba würden die ägyptischen Wachen nicht das geringste zu sehen bekommen. »Leise!« zischte er mir entgegen. Der Indianer mußte Infrarotoptiken im Gesicht haben, so sorgfältig setzte er einen Fuß vor den anderen, ohne auch nur das geringste Geräusch zu verursachen. Auf dem Weg von unserer Lagerstelle zum Heiligen Bezirk mochte es noch angehen, wenn einmal ein Steinchen kollerte – im Bezirk selbst mußten wir möglichst lautlos operieren. Für den Weg zum Tempelbezirk brauchten wir nur eine Viertelstunde. Die Ziegelmauer hinderte uns nur ein paar Augenblicke lang, dann hatten wir sie überstiegen und schmiegten uns in den dunklen Winkel zwischen Mauer und Boden. In der Ferne hörten wir schwach den Strom von Gebeten, der niemals versiegte. Der Geruch nach Weihrauch verstärkte sich. Wir hörten, wie die Wachen auf der Krone der Mauer aneinander vorbeigingen. Ihre Waffen klingelten. Ich spürte es nur am Luftzug, daß sich Charriba wieder in Bewegung setzte. Ich folgte ihm hastig. Unser Weg führte zur Cheopspyramide, der größten auf dem Feld von Gizeh. Es gab noch andere Pyramiden – in 86
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Meidum, Dschahur und Sakkara beispielsweise –, aber keine war so groß und gewaltig wie die des Cheops. Diesen Namen würde vermutlich kein Normalbürger mehr kennen, dachte ich, wenn er nicht die Pyramide hätte bauen lassen. Die Arbeiter, die wirklich und tatsächlich daran mitgewirkt hatten, blieben für alle Zeiten namenlos. Die Sphinx sah – verächtlich schien es – auf uns herab, als wir an ihr vorbeischlichen. Nachdem wir sie passiert hatten, begann die Sache schwierig zu werden. Die Anlage von Gizeh bestand nicht aus den drei Pyramiden des Cheops, Chefren und Mykerinos allein. Es gab im näheren Umkreis dieser drei noch acht weitere, kleinere Pyramiden, dazu Tempel, Mastaben in großer Zahl und die Sonnenschiffe, die mit dem Pharao begraben worden waren. Auf dem Weg zwischen der Sphinx und Echet Chufu gab es geradezu Ansammlungen von Bauten. Es kostete uns alle Aufmerksamkeit, an den zahlreichen Menschen ungesehen vorbeizukommen, die sich in diesem Bereich aufhielten – in der Mehrzahl Priester und Jünglinge, die sich auf den Priesterberuf vorbereiteten. Ich atmete erleichtert auf, als wir die Prozessionsstraße vom Taltempel zur Pyramide des Cheops überquert hatten. Der Bereich im Norden und Nordosten der Pyramide war nur sehr spärlich bebaut. Wir fielen also nicht auf. Nach weiteren zehn Minuten konnte ich die Hand ausstrecken und berührte kalten, glatten Kalkstein, die Verkleidung der Großen Pyramide.
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Der Böschungswinkel der Cheopspyramide betrug 51 Grad und 52 Bogensekunden. Nur bei exakt diesem Böschungswinkel ergab sich, daß sich die Höhe der Pyramide zur Grundlinie in einem Verhältnis befand, das die Zahl pi einschloß. Man hatte früher viel gerätselt, ob vielleicht die alten Ägypter diese wichtige Zahl gekannt haben konnten. Selbstverständlich hatten sie sie gekannt – in der Praxis. Jeder runde Käselaib enthielt die Zahl, jede gleichmäßige Walze. Mit pi und den Ägyptern war es ähnlich wie mit modernen Menschen und ihren Taschenrechnern – man benutzte sie, ohne zu wissen, wie das Ganze überhaupt funktioniert. »Puh!« machte Charriba. »Und da willst du hinauf ?« Ich nickte, dann fiel mir ein, daß Charriba mich nicht sehen konnte. »Ich will es zumindest versuchen!« sagte ich. »Und irgendwo, zwischen sechsundzwanzig und neununddreißig Meter Höhe ist der Eingang, je nachdem, wie dick die Steinlagen sind.« »Da kommst du nie hinauf«, verhieß Inky mir skeptisch. Ich zuckte mit den Schultern und unternahm einen ersten Versuch. Vor zweieinhalb Jahrtausenden mochte der TuraKalkstein der Ummantelung noch glatt wie polierter Marmor gewesen sein. Auch jetzt saßen die einzelnen Blöcke noch so dicht aufeinander, daß man nicht einmal eine Rasierklinge hätte dazwischen schieben können – von ausgewachsenen Messern ganz zu schweigen. 88
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Aber die Jahrtausende waren nicht ganz ohne Wirkung geblieben. Die Witterung hatte die Oberfläche aufgerauht, genug jedenfalls, daß Reibung entstand, die einen Körper halten konnten. Nicht genug für mich. Ich kam ein paar Meter weit, dann rutschte ich ab. Zum Glück landete ich im weichen Sand. Leise fluchend rappelte ich mich auf und unternahm einen zweiten Anlauf. Diesmal kam ich ein Stück höher – mit dem Ergebnis, daß auch mein Absturz etwas heftiger ausfiel. Nach einem dritten Anlauf war mir zweierlei klargeworden zum einen, daß ich nicht der Mann war, an dieser Wand dreißig und mehr Meter in die Höhe zu klettern, zum anderen, daß ich bei einem weiteren Fehlversuch, der in noch größerer Höhe scheiterte, Gefahr lief, mir mindestens ein paar Knochen, im schlimmsten Fall aber das Genick zu brechen. Zudem geriet ich bei jedem Anlauf mehr außer Atem. »Gibst du endlich Ruhe?« fragte Charriba trocken. Er hatte sich – abseits, damit ich ihm nicht auf den Kopf fallen konnte – auf den Boden gesetzt und lehnte gemütlich gegen die Pyramide. Die Pyramide des Cheops als Rückenstütze – auch ein Verfahren, mit Altertümern und Weltwundern umzugehen, dachte ich. »Ja!« schnaufte ich. Ich mußte mich anstrengen, möglichst geräuschlos zu atmen. »Soll ich es einmal versuchen?« Ich rechnete mir aus, daß – wenn es mir nicht gelang – es niemanden gab, der an diesem Bauwerk dreißig Meter in die Höhe klettern konnte. Und es würde guttun, den Übermut zu dämpfen, den ich aus Charribas Stimme herauszuhören glaubte. Es konnte ihm nicht schaden, wenn wie es mir passiert war – ein paar Fetzen seiner Haut an der Pyramide hängen blie89
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ben. Inky schien sich für die ganze Angelegenheit überhaupt nicht zu interessieren. Charriba stand auf. Es war stockfinster in diesem Augenblick, aber ich hätte zehn Monatsgehälter gewettet, daß er grinste. Eine Zeitlang blieb es still. Dann hörte ich ein leises Scharren. Ich wartete auf den Plumps, mit dem Charriba auf dem Sand landen würde. Statt dessen sagte eine ungeheuer gelangweilte Stimme aus der Höhe: »Paßt auf, ich werfe euch ein Seil zu!« Die verflixte Rothaut hatte es tatsächlich geschafft. Ich konnte es kaum glauben. Ich hörte das Seil leise herabrauschen. Das Ende fiel mir passenderweise genau auf den Kopf. Mit dem Strick in der Hand war es ein Kinderspiel, in die Höhe zu klettern. Nacheinander turnten wir hinauf. »Gut gemacht, Winnetou«, sagte Inky anerkennend. »Nenn mich nicht …«, zischte Charriba unterdrückt und verstummte dann. Es klirrte und klapperte vernehmlich. Wir hatten es gerade noch vermeiden können, einer Patrouille in die Arme zu laufen. »Hast du den Plan im Kopf ?« fragte Inky leise. »Ihr könnt euch darauf verlassen«, versprach ich. Zunächst ging es einen Stollen entlang, der schräg in die Pyramide hineinführte. Nach etwa zwanzig Meter mußten wir den Stollen verlassen. Er führte weiter in die Tiefe und endete tief unter der Pyramide im Fels in einer 90
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Kammer. Unser Weg ging im gleichen Winkel aufwärts, in dem der erste Stollen abwärts geführt hatte. Nach vierzig Meter gab es eine Abzweigung in die Horizontale. Die Abzweigung endete in einer Kammer, die man der Königin zuschrieb, allerdings ohne sonderlichen Grund. Diese Kammer lag unter dem Scheitelpunkt der Pyramide, wenn auch nur knapp dreißig Meter über dem Felsboden des Untergrunds. Unser Weg verlief dann durch die Verlängerung des Schrägstollens, die man die »Große Galerie« nannte. Erst nach dem Passieren dieses siebenundvierzig Meter langen Ganges hatten wir die horizontale Abzweigung erreicht, über die wir in die eigentliche Grabkammer kamen. Auf dem Papier nahm sich dieser Weg leicht aus. In Wirklichkeit erwies er sich als überaus anstrengend und gefährlich. Zwar hatten wir Taschenlampen bei uns, aber das machte den Weg nur wenig einfacher. In den Gängen stapelte sich der Abfall der Steinmetze, überall lagen die Trümmer herum. Außerdem herrschte im Innern der Pyramide ein mörderisches Klima. Es gab zwar Luftschächte, aber trotzdem war die Luft stickig, und es war brütend heiß. Schon nach kurzer Zeit waren unsere Kleider schweißnaß. »Ihr seid euch hoffentlich darüber klar«, sagte Inky, als wir die Große Galerie erreicht hatten, »daß hinter uns jederzeit die Tür zufallen kann. Dann sitzen wir fest.« »Man hat niemals in historischer Zeit eine Leiche in dieser Pyramide gefunden«, erklärte Charriba. »Heraus kommen wir also in jedem Fall. Außerdem ist es jetzt ohnehin zu spät.« Mit dieser Bemerkung hatte er zweifelsohne recht. Wir verdrängten das Thema und schlichen uns weiter vor. 91
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Wir brauchten eine Viertelstunde, dann hatten wir die Grabkammer erreicht. Wir konnten unsere Taschenlampen ausschalten. Es gab Licht in der Grabkammer, ein rotes Leuchten, das den ganzen Raum erfüllte, der Millionenwerte in Form von Statuen, Schmuck und Einrichtungsgegenständen enthielt. Irgendwann in den nächsten Jahrhunderten würden all diese Kostbarkeiten verschwinden. Wir standen reglos. Dieses Leuchten kannten wir. Es hatte uns umfangen, als wir zu dem Unternehmen Zeit-Archiv aufgebrochen waren. Es begleitete jeden Start zu einer Zeitreise. In einem rötlich leuchtenden Feld lag der Körper des Beobachters auf der Transportplatte, während sein Geist durch die Zeit reiste. »Eine Zeitmaschine!« flüsterte Inky; seine Stimme klang heiser vor Erregung. Ich schüttelte den Kopf. Das war keine normale Zeitmaschine. Es fehlte die Transportplatte, die Druckluft, die das Transportobjekt in der Schwebe hielt, es fehlten die Projektoren, die Energiezufuhres fehlte an beinahe allem. Aber das Transportfeld war da, daran konnte es nicht den leisesten Zweifel geben. Eine andere Erklärung für das rote Leuchten bot sich an. »Ich glaube«, sagte ich langsam, »wir wissen jetzt, wozu die Pyramide zu gebrauchen ist.« Inky sah mich fragend an. Seine Lippen zuckten vor Aufregung. »Irgendwo in diesem Riesenbau verlaufen Kabel, Leitungen oder etwas Ähnliches«, versuchte ich zu er92
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klären. »Diese Leitungen sammeln Energie, die Energie, die für ein Zeit-Transportfeld gebraucht wird. Jahrtausende sind vergangen, seit diese Anlage gebaut wurde, und ich bin sicher, daß noch einmal Jahrhunderte vergehen müssen, bis das Feld stark genug ist, den Körper des toten Pharao aufzulösen und durch die Zeit zu schicken. Die Pyramide ist eine Art Kollektor. Sie sammelt Quant um Quant, bis die Transportenergie ausreicht.« Charriba zuckte mit den Schultern und verzog schmerzlich das Gesicht. »Ziehen wir uns zurück«, sagte er leise. »Das Feld greift auf uns über!« Erst jetzt sah ich, von Charriba aufmerksam gemacht, daß die Luft um seinen und Inkys Körper herum unmerklich zu flimmern begann. Und nun spürte auch ich, daß irgend etwas mit meinem Körper vor sich ging. Es war kein angenehmes Gefühl. »Also zurück«, sagte ich. »Halt, einen Augenblick noch!« In der entferntesten Ecke der Grabkammer hatte ich eine Vase entdeckt, aus deren Öffnung Papyri ragten. Dieser Versuchung konnte ich nicht widerstehen. Ich deutete auf die Dokumente. »Das werden wir mitnehmen!« erklärte ich. Ich bemühte mich, nichts zu zertreten, als ich mich durch die Kammer bewegte. Zwar strengte ich mich dabei hauptsächlich für die Grabräuber an, aber ich wollte aus der Gruft nicht verschwinden mit dem Gefühl, etwas zerstört zu haben. Ich erreichte die Vase und hob sie auf. Die Papyri waren trocken und raschelten leise. Ich machte mich auf den Rückzug. »Vorsicht!« sagte Inky. 93
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Ich zog den Fuß zurück, mit dem ich beinahe eine Kanope umgestoßen hatte, einen kostbaren Behälter, in dem die Eingeweide des Pharao für die Ewigkeit bewahrt wurden. Mein Rückzug fiel etwas zu hastig aus. Ich begann zu schwanken. Mit dem rechten Arm hielt ich die Vase umklammert, mit der linken suchte ich Halt. Meine Finger berührten den Sarkophag, von dem nur noch schemenhafte Umrisse in dem Feld zu sehen waren. Ich schrie auf, als hätte ich einen weißglühenden Stahlkasten angefaßt. Ein unerträglicher Schmerz zuckte von den Fingerspitzen hoch und verbreitete sich im Körper. Daß ich die Vase fallen ließ und sie auf dem Boden zerschellte, nahm ich nicht mehr wahr. Im Bruchteil einer Sekunde hatte ich den Kontakt zur Wirklichkeit verloren. Ich fühlte, wie mein Geist förmlich aus dem Körper gesogen wurde, wie er hineingerissen wurde in einen Wirbel aus Rot. Es gab keine Gegenwehr, diese Kraft war stärker. Irgend etwas geschah mit mir, von dem ich nicht wußte, was es war. Es schmerzte, es tat höllisch weh, aber ich war längst nicht mehr in der Lage, zu schreien. Ich besaß keinen Körper mehr, und das, was ich meinen Geist nannte, wurde von fremden Gewalten umhergewirbelt, gezerrt, gestoßen. Und dann kam nach dem Schmerz, die Angst. Sie überschwemmte den letzten Winkel meines Bewußtseins, ließ nichts aus; ich hatte keine Möglichkeit, dagegen zu reagieren. Bilder tauchten in meinem Bewußtsein auf. Marschierende Kolonnen, die sich durch den Wüstensand quälten. Streitwagen, an den Achsen blitzende Mes94
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ser, von struppigen Pferden gezogen. Städte, deren Häuser himmelhoch brannten, deren Bewohner den Nil rot färbten mit ihrem Blut. Ich begriff, daß ich Cheops war, der Herr der Welt, König der Könige, Pharao von Unterund Oberägypten. Träger der Doppelkrone aller Gaue … Aber da war mehr. Ganz entfernt spürte ich, daß in diesem chaotischen Wirbel von Bildern, Assoziationen, Gefühle, Wahrnehmungen und Empfindungen nicht nur zwei Beteiligte standen, nicht nur ich und der Pharao. Da war mehr. Es war noch ein Bewußtsein mit im Spiel, ein Bewußtsein, das unsagbar fremd war, so fremd, daß es sich nirgendwo mit dem menschlichen zu decken schien. Die Fremdartigkeit selbst. Nur eines brachte dieses Bewußtsein in den Wirbel ein, einen alles verzehrenden Haß, einen abgründigen Neid. Neid, verbunden mit einer tiefverwurzelten Angst, und aus diesen beiden Gefühlen bezog der Haß seine Nahrung. Der Haß galt mir, mir und dem Pharao. Irgend etwas, eine Macht, die ich nicht verstand, begriff, fassen konnte, hatte die Seele des Pharaos festgehalten, eingesperrt in einen Leichnam, der die Jahrtausende überdauert hatte. Längst hatte der Pharao darüber den Verstand verloren, wurden ihm seine Erinnerungen zur Qual, die Hoffnung zur immerwährenden Tortur. Wer war das? Was war das, das sich einmischte? Woher kam dieses Etwas, das den Pharao übernommen, von ihm Besitz ergriffen hatte und nicht zögerte, den Wehrlosen unausgesetzt zu quälen? Übergangslos tauchte ein Bild vor mir auf. 95
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Ich sah: die Schwärze des freien Raumes, das blendende Leuchten einer riesigen, grell weißen Sonne, eine Schar von Planeten, die um diese Sonne kreisten. Rasend schnell bewegte ich mich durch das All, flog ich auf einen der Planeten zu. Zunächst nicht mehr als ein schwach leuchtender Punkt, wurde er langsam zum Fleck, zur Scheibe. Blauweiß war diese Scheibe gemasert, Wolken über dem Meer, dazwischen dunklere Flecken, braun, grün, schwarz. Ich kam näher … Ich kam wieder zu mir. Ich hörte mein Schreien von den Wänden widerhallen, ich spürte die Kraft, die Charriba aufwenden mußte, um mich festzuhalten. Von hinten hatte er mir die Arme um den Leib geschlungen, und dieser Mann mit Muskeln aus Stahl stöhnte vor Anstrengung. Inkys Gesicht war käsig. Mein Schreien verebbte und wurde zu einem Stöhnen. Der rasende Schmerz in allen Gliedern ließ nach. »Du kannst mich loslassen, Charribu«, ächzte ich. Der Druck auf meinen Brustkorb wurde geringer. »Allmächtiger«, flüsterte Inky heiser. »Tovar, du hast getobt und geschrien wie ein Besessener. Du hättest dich sehen sollen. Wir haben dich kaum wiedererkannt. Was hast du gefühlt – dein Gesicht bestand nur noch aus Haß und Schmerz?« Ich winkte ab. In allen Knochen steckte der Schmerz, lästig, aber noch zu ertragen. Ich fühlte mich völlig zerschlagen, als hätte ich gerade den Kampf meines Lebens ausgefochten. Was wirklich mit mir geschehen war, konnte ich nicht sagen. Ich wußte es nicht. Ich wußte nur, noch ein96
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mal würde ich den Sarkophag des Cheops nicht berühren, nicht um alles Gold der Welt. Ich bückte mich und las die Papyri auf. Vielleicht waren sie durch mein Erlebnis wichtiger geworden denn je. »Beeilen wir uns«, stieß ich hervor; fast erschrak ich, so verändert klang meine Stimme. Der Weg zurück war leichter. Wir rutschten mehr, als daß wir gingen. Durch die Große Galerie, den Schrägstollen entlang. Unsere Angst war unbegründet gewesen – im Näherkommen sahen wir die Öffnung sich gegen den nachtdunklen Himmel abheben. Der Stollen zielte ziemlich präzise auf den Polarstern, also nach Norden. Wir konnten die Sterne sehen, und das trug sehr zu unserer Erleichterung bei. »Wie bringen wir den Verschlußstein wieder in seine alte Lage zurück?« fragte ich, als wir den kleinen Raum unmittelbar vor der Öffnung erreicht hatten. »Eine Handbewegung genügt«, sagte Charriba. Er hatte sich auf den Bauch gelegt und war zum Eingang gerobbt. Vorsichtig spähte er in die Tiefe. »Nichts rührte sich«, flüsterte er. »Ich lasse das Seil herab. Tovar, du gehst als erster!« Ich nickte nur. Fast lautlos ließ Charriba das Seil an der Wand heruntergleiten. »Los jetzt!« stieß er leise hervor. Drei Minuten später stand ich auf dem weichen Sandboden, der den Fuß der Pyramide umgab. Von Inkys Abstieg hörte ich nur seine heftigen Atemzüge. Dann glitt er wie eine Schlange das Seil herab. Ich sah Inky an. Daran hatten wir beide nicht gedacht. In die Höhe zu klettern war an einer solchen Wand schon eine Spitzenleistung – aber herab? Im Dun97
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keln? Und dann noch den Verschlußstein in seine Lage zurückwuchten? Bevor ich dazu kam, mich wirklich zu sorgen, stand Charriba schon neben uns. Er grinste zufrieden. »Erledigt«, verkündete er. »Zufrieden?« »Natürlich«, sagte ich. »Erstklassige Arbeit, Winnetou«, lobte Inky. Ausnahmsweise ging Charriba nicht darauf ein. Auch ich hätte gern gewußt, was Inky zu der seltsamen Anrede bewog, aber ich hütete mich zu fragen. Inky – eigentlich hieß er Anastasius Immekeppel – war im Zwanzigsten Jahrhundert geboren worden; ich hatte ihn sozusagen als Kriegsbeute aus dem Zweiten Weltkrieg mitgebracht. Bei solchen Menschen mußte man auf Eigentümlichkeiten gefaßt sein. Der Weg zurück ins Lager war das reinste Vergnügen. Wir erlaubten uns sogar den Spaß, die Wachen ein wenig zu foppen, indem wir zwei emsigen Schläfern die Bogensehnen durchschnitten, mit ihren eigenen Messern, die wir danach im Wüstensand verschwinden ließen. »Und jetzt berichte«, forderte Charriba mich auf, als wir unseren Lagerplatz wieder erreicht hatten. Von unseren Mitreisenden hatte anscheinend niemand unser kurzzeitiges Verschwinden bemerkt. Ich erzählte, was ich empfunden hatte, als ich den Sarkophag berührt hatte. Im Nachhinein spürte ich noch etwas von den ausgestandenen Ängsten. »Und wie erklärst du dir die Sache?« fragte Inky dann. Ich hatte mir auf dem Weg ins Lager zurück eine Theorie überlegt. Vielleicht stimmte sie mit den Tatsachen überein. 98
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»Ich vermute«, begann ich zögernd, »daß einer unserer Gegner durch Zufall – oder vielleicht durch eine Panne – in der Zeit des Cheops gelandet ist. Ich vermute weiter, daß er den Körper des Cheops sozusagen übernommen hat. Wir tun ja ähnliches, wenn wir als Beobachter eine Zeitreise unternehmen.« »Aber wir können nur Kinder oder Schwachsinnige übernehmen«, warf Charriba ein. »Ein Erwachsener kann eine solche Übernahme mühelos abwehren.« »Mag sein«, antwortete ich unsicher, »daß der Fremde diese Kunst besser beherrscht, mag sein, daß Cheops als abergläubiges Menschenkind sich nicht zu widersetzen gewagt hat. Jedenfalls wurde im Auftrag des Cheops die Pyramide gebaut, und sie arbeitet wie ein Kollektor für Zeitenenergie. Auf diese Weise kann der Fremde doch noch zu seinesgleichen zurück.« »Aber völlig ungerichtet«, gab mir Inky zu bedenken. »Oder hast du irgendeine Justierung bemerkt?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube«, sagte ich langsam, »daß der Fremde hauptsächlich daran interessiert war, sein heimatliches Sonnensystem zu erreichen. Dort kann er sich wahrscheinlich der Hilfsmittel seines Volkes bedienen und in die Zeit zurückkehren, die zu ihm paßt.« »Eine verwegene Theorie«, murmelte Charriba. »Eine Theorie mit vielen Lücken.« »Eine bessere Erklärung weiß ich nicht«, sagte ich gereizt. »Oder hast du eine schlüssigere These?« Charriba schüttelte den Kopf. Er sah an mir vorbei auf meine Waffen. Ich drehte mich herum. Der erste Stachel der Keule, unmittelbar über dem Griff, hatte sich verbogen. Das war keine Folge ei99
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nes Kampfes – das war ein vereinbartes Zeichen, daß die Freunde in Alexandria dringend eine Verbindung wünschten. Ich sah mich hastig um. Wortlos standen Charriba und Inky auf und postierten sich so, daß sie das Lager überblicken konnten. Ich öffnete die Keule und schaltete das Funkgerät ein. Was immer in Alexandria geschehen war, die Sache war brenzlig. Ich bekam sofort Verbindung. Die Freunde in Alexandria mußten seit Stunden unablässig am Gerät sitzen. »Tovar!« meldete ich mich. »Endlich«, hörte ich Marleen seufzen, »Ihr müßt sofort zurückkommen.« »Was gibt es?« »Erstens«, sagte Marleen, »ist etwas von den Thron absichten des Amasis durchgesickert. Ptolemäus war gestern beinahe nüchtern – wenn er zu sich kommt, werden Köpfe rollen.« »Ich höre«, antwortete ich. »Und weiter?« »Ich glaube«, sagte Marleen nach einer kurzen Pause, »wir haben einen der Fremden gefunden. Wir können ihn gefangennehmen und in die Zentrale bringen.« Ich spürte, wie sich meine Nackenhaare aufrichteten. Ich schloß die Augen und holte tief Luft, bevor ich den Namen aussprechen konnte: »Valcarcel?« Ich sah, wie Inky und Charriba herumfuhren. Auch in den sonst unbeweglichen Zügen des Indianers zeichnete sich Erschrecken ab. Marleens Stimme kam aus weiter Ferne. »Nein, nicht Valcarcel – Alexander der Große!« 100
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Unsere Pferde waren schweißnaß und verdreckt. Meine Augen waren rotgerändert. Vor Müdigkeit fiel ich fast aus dem Sattel. Nur noch wenige hundert Meter. Die Via Canopica entlang, dann war der Palast des Amasis erreicht. Bis dahin mußten die Tiere noch durchhalten, bis dahin mußten auch wir noch durchhalten. Wir waren wie Besessene durch die Wüste gehetzt. Keine zehn Minuten nach dem Anruf der AlexandriaGruppe waren wir aufgebrochen, und seit diesem Augenblick hatten wir uns praktisch keine Erholung gegönnt. Versehen mit einer guten Karte waren wir den Weg zurückgaloppiert, den wir gekommen waren. Wo nötig und möglich, hatten wir die erschöpften Pferde verkauft und ohne langes Feilschen neue Reittiere erstanden. Mein Beutel war leichter geworden, und das gleiche galt für mich. Nur wenige Stunden lang hatten wir geschlafen, in der übrigen Zeit hatten wir unsere Tiere angetrieben. Noch einen Reisetag mehr hätten wir vermutlich nicht überstanden. Selbst der eisenfeste Charriba zeigte offenkundige Spuren von Erschöpfung. Inky und ich waren dem Zusammenbruch nahe. Wir bogen nach rechts ab, von der Via Canopica in den Palastbezirk. Die Mauer tauchte vor uns auf, die den Palast des Amasis von der Außenwelt abschnitt. Am Tor erkannte ich Joshua Slocum. Er stieß einen Ruf aus. Die Flügel des großen Holztors schwangen zur Seite. Wir galoppierten hindurch, und während die schweren Türen sich hinter uns wieder schlossen, sprangen wir von den Pferden. »Wegbringen«, befahl ich einem Sklaven. Joshua Slocum kam näher. In seiner Miene stand Besorgnis. 101
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»Wieviel Zeit haben wir?« rief ich ihm entgegen. »Ein paar Stunden noch«, antwortete Slocum. »Wenn der Beobachter pünktlich ist.« War er es nicht, konnten wir mit dem Leben abschließen. »Ein Bad, Essen und frische Kleidung!« sagte ich hastig. »Mehr brauchen wir fürs erste nicht. Und dann eine Pille aus der Apotheke!« »Wurde vorbereitet«, erwiderte Slocum. Es tat gut, einen Mann wie ihn als Begleiter zu haben, schnell und umsichtig in den Entscheidungen, intelligent und kaltblütig in den Handlungen. Ohne uns um die zahlreichen Sklaven zu kümmern, die uns belagerten und Neuigkeiten aus Gizeh erfahren wollten, schritten wir über den Marmorboden des Palastes. Es ging zielstrebig ins Bad. Erleichtert warf ich die verstaubte, nach Pferdeschweiß riechenden Gewänder ab und stieg in die Wanne. Wohlig stöhnte ich auf, als ich das warme Wasser auf der Haut spürte. Was das Badewesen anging, konnte es die Antike mit jedem Zeitalter aufnehmen. »Und jetzt würde ich gern Näheres erfahren«, sagte ich, nachdem ich Platz genommen hatte. Badesklaven schütteten ab und zu auf Wunsch kaltes oder warmes Wasser nach. Slocum klatschte in die Hände. Drei Frauen erschienen, darunter Marleen. Sie brachten uns das Essen an die Wannen. Während sich die Sklavinnen zurückzogen, blieb Marleen an meiner Wanne sitzen. Ich aß gierig, während Marleen berichtete. »Unsere Arbeit in der Bibliothek ist nahezu abgeschlossen«, erzählte sie. »Wir haben unerhört viel in Er102
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fahrung gebracht. Wo aber unter dem Gestrüpp von Sagen und Heldenerzählungen sich ein harter Kern von Wahrheit verbirgt, müssen wir noch herausfinden. Für mich gab es in den letzten Tagen nicht soviel zu tun, also habe ich mich in der Stadt umgesehen. Es existiert hier ein Gebäude, das ringsum von Mauern umgeben ist. Dort sind die Ptolemäer begraben, und deren Gräber sind um ein Mausoleum gruppiert, das den Leichnam Alexanders enthält. Der erste Ptolemäer, Ptolemäus I. Soter, hat ihn mitgebracht. Alexander hatte testamentarisch verfügt, daß er hier begraben werden wollte.« »Haben Außenstehende Zutritt?« »Sie dürfen den vergöttlichten Herrschern opfern«, erklärte Marleen. Sie rückte ein Stück zu Seite, damit ich aus der Wanne klettern und in das große Kaltwasserbecken springen konnte. Der abrupte Wechsel von heiß zu kalt, ließ meine Lebensgeister schlagartig wieder erwachen. »Gestern habe ich dieses Mausoleum aufgesucht. Alexander liegt in einem Sarg aus Kristall. Die Züge sind nicht sehr gut zu erkennen, aber unglaublich gut erhalten. Nicht wie bei Mumien, wo man sich Vorstellen kann, wie der Tote zu Lebzeiten ausgesehen hat – Alexander sieht aus, als sei er gerade eingeschlafen.« »Das hört sich noch einigermaßen normal an«, prustete Inky, als er neben mir den Kopf aus dem Wasser streckte. »Nennst du es auch normal, daß in diesen Kristall Bilder eingraviert wurden, die zu Lebzeiten Alexanders einfach niemand kennen durfte? Eine Wiedergabe eines Atoms, vollständig mit Kern und Elektro103
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nenbahnen! Ein Abbild des Sonnensystems – mit allen Planeten!« Inky pfiff leise durch die Zähne. Charriba kletterte unterdessen aus seiner Wanne und machte es sich auf einem Tisch bequem. Ein Sklave ging daran, die Rothaut zu massieren. Der Geruch des parfümierten Öles drang zu uns herüber. »Nennst du es auch normal, wenn aus dem Boden des Mausoleums Schlangen hervorkriechen, dicke Schlangen aus Metall, deren Köpfe sich in die vier Ecken des Sarges verbissen haben? Deren Zähne eine merkwürdige Ähnlichkeit mit den Halmanderson-Projektoren haben, die wir bei unserer Zeitmaschine brauchen? Ist das normal?« Wir sahen uns entgeistert an. »Natürlich nicht«, beantwortete ich Marleens Frage. »Du hast erstklassige Arbeit geleistet, Mädchen. Und deine Verdienste um diese Expedition werden sich noch vergrößern, wenn du mir das große Tuch zum Abtrocknen reichst.« Das Tuch landete an meinem Kopf. »Alles bereit?« Ich blickte mich um und sah ein allgemeines Nicken. Die Stunden, die wir noch in Alexandria verbringen würden, waren gezählt. Wir hatten alles zusammengepackt, was wir in unsere Zeit mitnehmen wollten hauptsächlich Mikrofilme, dazu natürlich unsere Waffen. In den Palast des fetten Gouverneurs würden wir nicht zurückkehren. Nur der Beobachter würde noch einmal den Palast aufsuchen und dort einen nur für ihn verständlichen Hinweis darauf finden, daß wir im Sema, dem Grabdenkmal des Alexander, auf ihn warteten. 104
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Verspäten durfte er sich nicht. Unser Plan hatte Risiken, sehr große Risiken sogar. Über mehr als zwei Jahrtausende hinweg mußte die Time-Squad auf die Minute genau arbeiten, keine leichte Aufgabe, aber wir hatten, wie immer, größtes Vertrauen in die Fähigkeiten unserer schönen Chefin. Wir brachen auf. Angeblich unternahmen wir einen Ausflug, vor dessen Antritt wir noch den vergöttlichten Ptolemäern opfern wollten. Ich ritt voran, hinter mir trieben Inky und Charriba ihre Tiere an – wir hatten sie aus den Beständen des Amasis ausgeliehen. Irgendwo, etwas mehr als zwei Kilometer entfernt, wurden jetzt vielleicht die Befehle gegeben, die eine Hundertschaft Soldaten in Bewegung setzten, mit dem Auftrag, uns zu verhaften. Langsam bewegten wir uns die Straße entlang, auf das Sema zu. In Alexandria brodelten die Straßen vor Leben. Unser Zug fiel daher nicht weiter auf. Es achtete auch niemand darauf, daß ich Inky immer neue Sehenswürdigkeiten der Metropole zeigte. Niemand fand etwas dabei, wenn ich die Hand ausstreckte … … jedenfalls bis zu dem Augenblick, da wir das Sema erreicht hatten. Wie herbeigezaubert, tauchten in unseren Händen die Nadler auf. Zwei gedankenschnelle Schüsse schalteten die Soldaten auf den Torzinnen aus. Die beiden Wachen am Fuß des Tores ließen uns passieren. In den Rücken getroffen, brachen sie eine halbe Minute später zusammen. Unser Vorgehen war abgesprochen worden. Während eine Gruppe auf alles schoß, was sich im Hof bewegte, verriegelte eine zweite Gruppe das Tor. Sobald das geschehen war, überquerten wir den Hof. 105
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Das Sema bestand aus einem großen Rundbau mit Arkaden und einer sehr sorgfältig ausgeführten Kuppel, die den Mittelteil überwölbte. In der zweistöckigen Ringkonstruktion waren die Pharaonen der PtolemäerDynastie untergebracht. Alexander würden wir unter der Kuppel finden. Es war Mittag, und in dieser Stunde wußten die Alexandriner Besseres zu tun als zu beten. Der Hof war verlassen, und in den Arkaden lagen nach kurzer Zeit zehn patrouillierende Soldaten. Ein weiteres Dutzend wurde im zweiten Stock von unseren Nadeln überrascht. Im Innern des Rundbaus war es still. Wir hörten nur das Geräusch unserer Schritte auf dem fugenlos erscheinenden Fußboden aus weißem Marmor. Wir schritten an den Sarkophagen der Ptolemäer vorbei. In Nischen standen Porträtbüsten dieser Herrscher – angetan mit den Insignien der, Pharaonenmacht und in der klassischen ägyptischen Art porträtiert. Und das, obwohl kein einziger der Ptolemäer auch nur daran gedacht hatte, ägyptisch zu lernen. Sie waren Griechen, Erben des Alexander, und die Ägypter hatten ihnen zu dienen. Erst Cleopatra würde die Sprache des von ihr beherrschten Volkes sprechen – und nicht nur dies. Wir erreichten den Kuppelbau. Die Kuppel war nur wenige Zentimeter dick und bestand aus reinem, weißem Marmor. In dieser Dicke war er durchscheinend und erleuchtete förmlich den Innenraum der Kuppel. Ich blieb stehen. Marleen hatte sich nicht geirrt. Wenn dieser Zierrat nicht hauptsächlich einen technischen Sinn hatte, wollte ich nicht länger Tovar Bistarc heißen. 106
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Der Sarg stand auf einem Sockel aus schwarzem Basalt. Die griechischen Buchstaben darin waren mit Gold ausgelegt. Alexander. Mehr stand da nicht. Mehr war auch nicht nötig. Wir sahen uns an und lächelten. Ein seltsamer Zufall hatte es gefügt, daß wir in kurzer Zeit die beiden vielleicht größten Gestalten ihres Milleniums kennengelernt hatten zuerst Cäsar, jetzt Alexander. »An die Arbeit«, bestimmte ich, nachdem ich mich gefangen hatte. Eine Gruppe übernahm die Außensicherung, die andere beschäftigte sich mit dem Kristallsarg. Ich trat langsam näher. Ob Alexander tatsächlich Augen hatte, die so strahlten, daß man ihren Blick kaum ertrug, ließ sich nicht feststellen. Daß er ein ausgesprochen gutaussehender Mann gewesen war, wurde trotz der Verzerrung durch den Kristall deutlich. Marleen trat zu mir. »Was sollen wir tun?« fragte sie. »Den Sarg öffnen?« Ich schüttelte den Kopf. »Wir warten!« entschied ich. »Es wird langsam Zeit«, murmelte Inky. Er hatte den Satz noch nicht ganz beendet, als Marleen einen kleinen Schrei ausstieß. Ich fuhr herum, dann lächelte ich zufrieden. Knapp vier Meter von mir entfernt entstand über dem Marmorboden das unverkennbare Transportfeld der TimeSquad. D. C. hatte die Botschaft bekommen und kam uns zu Hilfe. 107
Die Abenteuer der Time-Squad IX
»Marleen, du gehst als erste!« bestimmte ich. »Soldaten!« rief Charriba in diesem Augenblick. »Gebt acht, Leute!« Eine Viertelstunde zu spät, dachte ich. Aber noch ließ sich der Fehler ausbügeln. Ich stellte mich neben eine Säule und nahm meinen Nadler zur Hand. Hinter mir lief das abgesprochene Programm ab. Zuerst stießen unsere Freunde die Bündel mit den Mikrofilmen in das Transportfeld. Diese Daten waren das eigentliche Ziel unserer Bemühungen, sie mußten vordringlich in Sicherheit gebracht werden. Dann ließ sich Marleen in die Zukunft entführen. Ich sah noch, wie sie in dem Feld verschwand. Danach konnte ich mich nicht mehr um diese Vorgänge kümmern. Die Angreifer erforderten meine ganze Aufmerksamkeit. Wir verwendeten nur Nadler, da die kleinen Geschosse aus Hartgelatine und Narkotikum keinerlei Spuren hinterließen. Im menschlichen oder tierischen Körper lösten sie sich nahezu rückstandsfrei auf, und in der Witterung zerfielen sie nach wenigen Stunden. Zudem war es oberstes Gebot der Time-Squad, daß Menschenleben wo und wann auch immer zu schonen waren. Wir handelten nach diesem Grundsatz, als wir unsere Waffen betätigten und den angreifenden Soldaten des Pharaos die Nadeln entgegen jagten. Sie brachen blitzartig zusammen, und als die erste Reihe ausgeschaltet war, zögerten die nachrückenden Krieger. Die Sache schien ihnen nicht geheuer – aber von den Peitschen ihrer Offiziere hatten sie nach einigem Nachdenken doch mehr Angst. Also griffen sie unter gellendem Geschrei an und brachen ebenso rasch zusammen wie ihre Vorgänger. 108
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»Aktion läuft planmäßig!« Das war Marleens Stimme. Sie war in unsere Zeit zurückgekehrt, wie es zum Plan gehörte. Die dritte Welle der Angreifer brauchte noch länger, bis sie Prügel und die Gefahr voraus gegeneinander abgewogen hatten. Das gab mir Gelegenheit, mich kurz umzusehen. Ich kam gerade noch zurecht, um den Abtransport Alexanders mitzuerleben. Das Zeitfeld senkte sich langsam auf den Kristallsarg herab. Ich leckte mir die Lippen. Das war ein kitzliges Manöver – der Sarg durfte nicht beschädigt werden. Für einige Augenblicke verdichtete sich das Feld. Der Körper des Mazedoniers verschwand. Der Sarg war leer. Neben mir betätigte Marleen ihre Waffe. Auf der Umwallung brach ein Bogenschütze zusammen. Sein Pfeil zischte in den Himmel und kam weit entfernt auf den Boden zurück. Wieder verdichtete sich das Feld, und als es sich wieder hob, lag erneut ein Körper auf den seidenen Kissen des Sarges. Ein Glück für uns, daß Aktionen, die in der Realität der Time-Squad-Zentrale Tage dauerten, in unserer Zeit auf ein paar Augenblicke zusammenschrumpften. Künftig würden die Alexandriner eine Schaufensterpuppe verehren. »Rückzug!« rief ich laut. Es wurde Zeit, daß wir uns absetzten. Wieder ließ sich Marleen als erste in die Realzeit zurückholen. Dieser Vorrang war eines der letzten Überbleibsel der galanten Zeiten; nur hier galt noch: Frauen und Kinder zuerst. Nacheinander ließen wir uns zurückbringen. Absetzmanöver dieser Art hatten wir hundertfach geübt – sie 109
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waren meist die kritischsten Augenblicke einer Operation. Vor allem der letzte Mann war gefährdet. Während er schon so entmaterialisiert war, daß er zu keiner Handlung mehr fähig war, konnte er dennoch von Bewohnern der Zeit, die er gerade verließ, verletzt, wenn nicht gar getötet werden. Als Expeditionsleiter fiel es mir zu, die Rolle des letzten Mannes zu übernehmen. Ich wartete also, bis sich auch Inky und Charriba abgesetzt hatten und ich allein in dem Mausoleum stand. Wenn es den Soldaten einfiel … Es fiel ihnen ein. Ich hörte sie schreien, und dann standen sie plötzlich überall, die Schwerter in den Händen, die Bögen gespannt. Die Pfeile zielten auf meinen Körper. Ich schielte in die Höhe. Das Transportfeld senkte sich auf mich herab. Langsam, sehr langsam, viel zu langsam. Die Gesichter der Soldaten waren bleich vor Angst. Ich wußte, daß es nichts Gefährlicheres gab als einen Mann, der eine schußbereite Waffe in der Hand und in seinem Hirn nur noch Angst hat. Katastrophen pflegten sich aus solchen Lagen zu ergeben. »Nimm die Hände in die Höhe!« herrschte mich ein Offizier an. »Und laß den Gegenstand in deiner Hand fallen.« Ich lächelte verzerrt. Die Hände heben konnte ich. Die Waffe fallen zu lassen, durfte ich nicht wagen. Zu einem Pardoxon durfte es nicht kommen. Ich mußte Zeit gewinnen. Nur ein paar Augenblicke. 110
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Das Zeitfeld senkte sich mit einer Langsamkeit, die fast an Sadismus grenzte. Ich wußte nicht, wieviel der Befehlshaber der Soldaten von unserem Abmarsch mitbekommen hatte. Wenn es das Feld – rötlich leuchtend und nicht zu übersehen – mit dem Verschwinden meiner Freunde in Verbindung brachte … Dann hörte ich eine wohlvertraute Stimme rufen: »Fallenlassen!« Ich zögerte keinen Augenblick und ging zu Boden. D. C. hatte gerufen. Einen Augenblick später fegten einige Hundert Nadlergeschosse aus dem Transportfeld. Ich konnte mir genau vorstellen, wie die Kollegen um einen leeren Transporttisch herumstanden und ihre Nadlermagazine in das rote Leuchten über der Plattform leerten. Für die alexandrinischen Soldaten kam diese Attacke völlig überraschend. Sie fielen um wie die sprichwörtlichen Fliegen. Diese Fliegen hielten allerdings gespannte Bögen in den Händen, und im Zusammenbrechen ließen sie die Sehnen los. Pfeile zischten durch die Halle, ungezielt zwar, aber nicht minder gefährlich. Eines der Geschosse traf mich am Bein, ein anderes rasierte mir ein Stück Haut vom Hinterkopf. Dann war Ruhe. Das Transportfeld senkte sich herab, hüllte mich ein … »Willkommen in der Gegenwart«, sagte D. C. freundlich. »Doktor, kümmern Sie sich um ihn.« Zwei Ärzte nahmen sich sofort meiner an. Sie entfernten, noch während ich auf dem Transporttisch lag, 111
Die Abenteuer der Time-Squad IX
den Pfeil aus meiner linken Wade. Sehr zartfühlend gingen sie dabei nicht zu Werke. Im Hintergrund des Raumes erkannte ich ein fahrbares Bett. Darauf lag ein Körper, von einem Laken bedeckt. »Alexander?« fragte ich undeutlich, weil ich die Zähne zusammenbeißen mußte. Das Desinfektionsmittel tat höllisch weh. D. C. nickte. »Ein wirklich erstaunlicher Fang«, sagte sie halblaut. »Vielleicht gelingt es uns, ihn ins Leben zurückzurufen. Er könnte uns sehr brauchbare Informationen über den Gegner liefern.« Das war typisch für Demeter Carol Washington. Jeder normale Mensch hätte daran gedacht, daß der leblose Körper unter dem Laken vielleicht den Schlüssel zur biologischen Unsterblichkeit darstellte – D. C. dachte nur daran, wieviel dieser Fund dazu beitragen konnte, die Menschheit vor dem Schicksal zu bewahren, von den Fremden versklavt zu werden. »Chefin«, sagte ich. »Sie sind einfach fabelhaft!« Sie sah mich nicht so an, als glaubte sie mir. Um so betretener blickten mich die anderen im Raum an. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Ich konnte es mir nicht vorstellen. »Wann werden Sie wieder einsatzbereit sein, Mister Bistarc?« Das war die eisige, die dienstliche D. C. Wenn sie gutgelaunt war, nannte sie mich beim Vornamen – noch weiter war ich nie gekommen. »Bald«, versprach ich eilig. »Sehr bald sogar.« »Das freut mich«, antwortete D. C. geistesabwesend. »Ich brauche Sie nämlich für unsere nächste Aktion.« 112
Peter Terrid - Das Zeit-Archiv
»Und wohin soll es diesmal gehen?« D. C. lächelte zurückhaltend. »Das weiß ich noch nicht genau«, antwortete sie mit heimtückischer Freundlichkeit in der Stimme. »Aber für Sie werde ich mir etwas Besonderes einfallen lassen.« Da wußte ich, wohin es beim nächsten Mal gehen würde – geradlinig in den Rachen der Hölle. Wie immer. ENDE
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